Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Jerzy Edigey Mord nach Alphabet
Kriminalroman
Zabiego...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Jerzy Edigey Mord nach Alphabet
Kriminalroman
Zabiegowo, eine polnische Kleinstadt mit ungefähr zehntausend Einwohnern, wird von einem Verbrecher in Atem gehalten, der bereits vier Menschen getötet hat. Da die Opfer – Adamiak, ein jugendlicher Rowdy, Borzęcka, eine alte Rentnerin, Czerwonomiejski, ein Gärtnereibesitzer, und Delkot – in keiner Weise etwas miteinander zu tun haben, vermuten Major Zajączkowski und seine Mannschaft die Tat eines Verrückten, dessen Manie darin besteht, alphabetisch morden zu müssen. Jeder, dessen Name mit „E“ beginnt, glaubt, das nächste Opfer des Abc-Mörders zu werden. In der Stadt herrscht panikartige Stimmung. Da trifft zur Unterstützung Oberleutnant Barbara Śliwińska aus der Nachbarwojewodschaft ein, und sie vertritt eine völlig andere Hypothese, die sie jedoch erst beweisen muß.
Jerzy Edigey
Mord nach Alphabet
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Alfabetyczny morderca © Iskry, Warschau 1981 Aus dem Polnischen von Kurt Kelm
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1986 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/214/86 • LSV 7224 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 704 0 00200
1. KAPITEL Ein Weib auf dem, Hals Fräulein Helena, Sekretärin des Kreisamtes der Bürgermiliz in Zabiegowo, betrat das Arbeitszimmer des Leiters und legte die Post auf den Schreibtisch. Im Hinausgehen ließ sie wie üblich die Tür halb offen. Sie wußte, daß Major Stanisław Zajączkowski die Gewohnheit hatte, die Korrespondenz laut zu kommentieren und sofort die entsprechenden Anweisungen zu geben. Dabei rief er die Sekretärin nicht zu sich, sondern begnügte sich mit ihrer Anwesenheit im Nebenzimmer. Sowohl Fräulein Helena als auch die anderen Mitarbeiter des Kreisamtes hatten in letzter Zeit die schlechte Laune ihres Chefs zu spüren bekommen und gingen ihm aus dem Wege, wo sie nur konnten. Verwunderlich war das nicht. Major Zajączkowski hatte eine ausgesprochene Pechsträhne. Sein Stellvertreter hatte einen ernsten Motorradunfall erlitten, und von den übrigen fünf Offizieren, die dem „Alten“ unterstanden, war einer zu einem Lehrgang auf dem Gebiet der Kriminalistik delegiert worden, ein anderer war schwer erkrankt und mußte sich zu einer längeren Behandlung in ein Sanatorium begeben. In Zabiegowo waren also nur drei 6
Offiziere geblieben, davon kam einer geradewegs von der Schule. Aber auch die Planstellen für den Unteroffizierskader waren nicht voll besetzt. Vor allem aber gab es da jene geheimnisvollen Morde, die seit zwei Monaten nicht nur die Mitarbeiter der Miliz in Atem hielten, sondern in der Stadt und im Kreis eine Panik hervorgerufen hatten. Der „Alte“ machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und ging bei jeder Kleinigkeit in die Luft. Der heutige Tag hatte schon fatal begonnen. Gleich am frühen Morgen war Obersergeant Falkowski unangenehm aufgefallen und hatte sein Fett abbekommen, während der Major sich in seinem Zimmer einschloß. Helena hatte mindestens fünf Minuten überlegt, ob sie die Post schon hineingeben oder noch etwas warten sollte. Schließlich hatte sie sich entschieden, die Korrespondenz auf den Schreibtisch zu legen, und harrte nun, Bleistift und Schreibblock in der Hand, der Dinge, die da kommen sollten. Lange brauchte sie nicht zu warten. „Da soll doch gleich ein Donnerwetter dreinfahren!“ ließ sich Zajączkowskis Bariton vernehmen. „Die haben sich ja wieder was ausgedacht! Hauptmann Poleszczuk!“ Die Sekretärin griff nicht zum Telefonhörer, sondern lief aus dem Zimmer, und einen Augenblick später stand Zygmunt Poleszczuk, der sich normalerweise im Kreisamt mit Fragen des Territoriums befaßte und nun Stellvertretender Leiter geworden war, vor dem Major. „Es ist zum Verrücktwerden!“ Der Major wies nicht einmal auf einen Stuhl. „Weißt du, was diese Schlauberger bei der Wojewodschaftsbehörde sich da ausgedacht haben?“ Dem Hauptmann war bekannt, daß Zajączkowski an die Wojewodschaftsbehörde mehrere Schreiben gerichtet hatte, in denen er die verzweifelte Kadersituation in Zabiegowo dargelegt und um die Entsendung einiger Leute gebeten hatte; vor allem aber sollte die Wojewod7
schaftsbehörde die Untersuchung der geheimnisvollen Morde selbst in die Hand nehmen. „Sie schreiben mir“, fuhr der Major fort, „daß sie im Augenblick keinen Grund sehen, den Fall zu übernehmen. Sie versprechen konsultative Hilfe. Und auf unsere Bitte nach Verstärkung teilen sie mir mit, daß sie in Częstochowa einen Oberleutnant …“, hier beugte sich der Major über das Schreiben, „einen Oberleutnant Barbara Śliwińska ‚ausgeliehen‘ haben. Sonst können sie uns niemanden geben, weil sie selbst keine Leute haben.“ „Ist doch klar. Jetzt ist Urlaubszeit, und Arbeit gibt es mehr als sonst.“ „In jedem Zimmer sitzen drei Mann, und die können mir nicht einmal für zwei Monate jemanden geben.“ „Immerhin schicken sie uns diese Śliwińska, zwar nicht aus Katowice, sondern von der Wojewodschaftsbehörde in Częstochowa, aber das ist doch schon etwas.“ „Ein Weib! Was soll ich hier mit einem Weib! Ich brauche Leute, die arbeiten, und nicht Modepüppchen, die den ganzen Tag in den Spiegel gucken, sich die Lippen schminken oder die Nase pudern.“ „Jetzt übertreibst du aber, Stach“, versuchte der Hauptmann zu beschwichtigen. „Wir haben doch einige Frauen, und die schuften wie die Ackergäule. Du selbst hast die Kałużowa zur Auszeichnung durch den Leiter der Wojewodschaftsbehörde vorgeschlagen, und Krystyna Lawińska willst du zur Offiziersschule der Bürgermiliz in Szczytno schicken.“ „Das ist etwas anderes!“ Zajączkowski war keinerlei Argumenten zugänglich. „Die Kałużowa ist für Verkehrsfragen zuständig, und Krystyna sitzt in der Wirtschaftsabteilung. Wir aber haben hier vier Tote, und wer weiß, wieviel es noch werden. Immerhin sind noch achtundzwanzig Buchstaben im Alphabet übriggeblieben.“ „Jedenfalls wird uns diese Śliwińska die Situation er8
leichtern. Sie könnte die Bagatellfälle erledigen und alles, was an die Schiedskommissionen überwiesen wird. Dann hätten wir mehr Zeit, und einer von uns beiden könnte sich mit dem ‚Abc-Mörder‘ befassen.“ „Kommt gar nicht in Frage!“ Der Major wurde nicht nur immer wütender, er offenbarte auch eine hervorstechende Charaktereigenschaft: Trotz. „Wenn diese Herrschaften bei der Wojewodschaftsbehörde so schlau sind und mir ein Weib auf den Hals schicken, dann soll es auch zeigen, was es kann. Ich übergebe dieser Śliwińska die Mordfälle.“ „Sei nicht so eigensinnig, Stach“, redete der Hauptmann auf den Freund ein, „sie könnte uns eine große Hilfe sein. Aber wenn du sie an diesen Fall setzt, ist sie von vornherein verloren.“ „Genau darum geht es mir. Dann habe ich wenigstens einen Grund, sie nach Częstochowa zurückzuschicken. Und den Herrschaften aus Katowice sage ich bei der nächsten Besprechung meine Meinung. Der Leiter der Wojewodschaftsbehörde kennt bestimmt nicht unsere Situation; das hier hat irgend so ein Neunmalkluger hinter seinem Rücken erledigt.“ Der Hauptmann verzichtete auf jede weitere Diskussion. Er kannte seinen Vorgesetzten nicht erst seit heute und wußte, daß Zajączkowski im Grunde ein herzensguter Kerl war, aber manchmal zeigte er sich eigensinniger als zehn Esel auf einem Haufen. Und was die Arbeit von Frauen in der Miliz betraf, so hatte er seit langem seine vorgefaßte Meinung. Er tolerierte sie höchstens im Verkehrsdienst und in der Ökonomie. Kein Amt der Bürgermiliz in der ganzen Wojewodschaft beschäftigte so wenige Frauen wie Zabiegowo. Überhaupt war Zajączkowski ein typischer alter Junggeselle mit allen Vorbehalten gegenüber dem schönen Geschlecht. Nach dem Grund dieser Abneigung hatte keiner der Untergebenen den „Alten“ je zu fragen gewagt. 9
„Ich übergebe ihr diesen Fall“, wiederholte der Major. „Mach, was du für richtig hältst“, meinte der Hauptmann achselzuckend. „Meinetwegen schicke das Mädchen zurück, aber vergiß nicht, daß wir es mit einem äußerst wichtigen Fall zu tun haben, der darunter nicht leiden darf.“ „Ich werde ihr den Aufenthalt hier so vermiesen, daß sie von selber darum bitten wird, nach Częstochowa zurückkehren zu dürfen. Und was den Fall betrifft, so mach dir mal keine Gedanken. Ich übergebe ihn ihr, werde aber selber darüber wachen, daß das Mädchen keine Dummheiten macht. Notfalls greife ich auch ein.“ „Wir sind in dieser Angelegenheit noch nicht vom Fleck gekommen, obwohl wir doch die Gegend hier nicht schlecht kennen. Ein Neuling wäre von vornherein zum Mißerfolg verurteilt.“ „In solchen Fällen, wo der Täter wahrscheinlich ein Triebverbrecher oder einfach ein Verrückter ist, kommt man nur durch mühselige Arbeit zu Ergebnissen. Man muß mit Hilfe vieler Mitarbeiter Razzien durchführen oder einen Hinterhalt organisieren.“ „Uns fehlen sowohl für das eine als auch für das andere die Leute und die entsprechende Ausrüstung.“ „Darüber habe ich nicht erst einmal an die Wojewodschaftsbehörde berichtet. Statt einer Hilfe habe ich ausschließlich gute Ratschläge bekommen, und jetzt hat man mir auch noch ein Weib auf den Hals geschickt. Hol’s der Teufel, unter solchen Bedingungen soll man nun arbeiten! Und wer kriegt später eins auf den Deckel? Ist doch klar, Major Stanisław Zajączkowski.“ Zygmunt Poleszczuk mußte zugeben, daß die Worte des Vorgesetzten viel Wahrheit enthielten. Das Kreisamt der Bürgermiliz in Zabiegowo befand sich wirklich in einer schwierigen Lage. Doch der Major wollte nicht begreifen, daß ein ähnlicher Zustand in fast jedem Kreis herrschte, so daß die Wojewodschaftsbehörde 10
beim besten Willen nicht sofort jeder ihr unterstellten Dienststelle helfen konnte. Der Hauptmann konnte sich lebhaft vorstellen, welchen Aufruhr in Częstochowa der Befehl hervorgerufen hatte, Oberleutnant Barbara Śliwińska nach Zabiegowo zu delegieren. Er versuchte also wieder, den Major zu beschwichtigen. „Du hast das Mädchen noch gar nicht gesehen und stellst dich von vornherein gegen sie. Dabei ist sie vielleicht eine hervorragende Fachkraft. In Katowice kennen sie unsere schwierige Lage sehr gut, und der ‚Abc-Mörder‘ wird auch ihnen Kopfzerbrechen bereiten. Zabiegowo ist doch nur anderthalb Stunden Fahrt von Katowice entfernt. Der Verbrecher kann also ohne weiteres auf ihr Territorium überwechseln. Außerdem sind sie Warschau gegenüber für die ganze Wojewodschaft verantwortlich, also auch für uns. Deshalb werden sie uns bestimmt keinen Neuling schicken.“ „Eine Fachkraft!“ Der Major lachte ironisch auf. „Kennst du die Anekdote von der Stenosekretärin und der Fachkraft? Eine solche Hilfe kann mir gestohlen bleiben. Nicht genug, daß sie zu nichts zu gebrauchen sein wird, wird sie auch noch meinen Jungs schöne Augen machen. Ich sehe das schon kommen.“ „Vielleicht ist sie häßlich? Vielleicht schielt sie, hinkt und hat einen Buckel?“ „Das wäre noch schlimmer!“ Zajączkowski erschrak ernstlich. „Da ist mir ein hübsches Frauenzimmer doch lieber.“ „Man kann nicht gerade behaupten, daß du konsequent wärst. Deshalb hoffe ich, daß du auch darauf verzichtest, ihr diesen Fall zu übertragen.“ „Ganz bestimmt nicht. Wenn die Wojewodschaft meint, daß sie so begabt ist, dann soll sie auch zeigen, was sie kann.“ „Ich fürchte, diese Śliwińska wird in Zabiegowo kein leichtes Leben haben.“ 11
„Darum geht es mir ja. Je früher sie wieder verschwindet, desto besser.“
2. KAPITEL Einen Kaffee für den Major Selbst ein so strenger Offizier wie Major Zajączkowski mußte im stillen zugeben, daß an Oberleutnant Barbara Śliwińska nichts auszusetzen war. Sie erschien im Amt in vorschriftsmäßiger Uniform und meldete sich bei dem Vorgesetzten nach allen Regeln der Dienstvorschrift. Das schlanke, gutgewachsene Mädchen präsentierte sich hervorragend in der enganliegenden Uniform, während der Rock (drei Finger oberhalb des Knies) ein Paar wohlgeformter Beine freigab, was durch die dunkle Strumpfhose noch unterstrichen wurde. Hauptmann Poleszczuk, der im ganzen Amt in dieser Hinsicht als Kenner galt, stellte aus tiefster Überzeugung fest, daß die neue Errungenschaft der Stadt Zabiegowo sich höchst interessant präsentierte. Das kurzgeschnittene dunkle Haar, das ovale Gesicht mit den braunen Augen und der hübschen, leicht gebogenen Nase, die vielleicht etwas zu vollen Lippen und das scharf gezeichnete Kinn bildeten ein angenehmes Ganzes. Man konnte das Mädchen beileibe keine Schönheit nennen, doch ihre Gestalt und ihr Gesicht strahlten etwas aus, was die Männer außerordentlich anzog. „Setzen Sie sich, Genossin Oberleutnant.“ Der Major schien dem Zauber der neuen Mitarbeiterin zu erliegen. Barbara Śliwińska nahm auf dem Stuhl Platz, auf den Zajączkowski gewiesen hatte. „Was haben Sie in Częstochowa gemacht?“ „Zuerst habe ich im Verkehrswesen gearbeitet, dann in der Wirtschaftsabteilung. Daneben hat man mich an 12
die Offiziersschule in Szczytno zum Fernstudium delegiert. Zuletzt habe ich in der ‚K‘ gearbeitet. Diese Einteilung war eigentlich ziemlich formal, denn auch in Częstochowa gibt es nicht zu viele Leute, so daß manchmal verschiedene Dinge gleichzeitig bearbeitet werden mußten.“ „In der ‚K‘?“ wiederholte Zajączkowski. „Das trifft sich gut. Ich freue mich, daß man uns einen Fachmann geschickt hat. Wir haben hier gerade einen recht schwierigen Fall. Sicherlich haben Sie schon davon gehört?“ „Der ‚Abc-Mörder‘! Ganz Polen hat davon gehört.“ „Ja. Den meine ich.“ „Ich kenne natürlich nicht die Einzelheiten dieser Geschichte. Nur so viel, wie die Zeitungen darüber berichtet haben.“ „Die Einzelheiten werden Sie kennenlernen. Ich habe die Absicht, Ihnen diesen Fall zu übertragen.“ Barbara lächelte. Poleszczuk stellte fest, daß sie mit diesem Lächeln noch anmutiger wirkte. „Ich hatte schon befürchtet, Sie würden die Entsendung einer Frau wie einen Schicksalsschlag aufnehmen und mich nur zum Zustopfen von Löchern verwenden. Dabei erwartet mich hier eine so angenehme Überraschung. Ich danke Ihnen sehr, Genosse Major, und werde mich bemühen, Ihr Vertrauen zu rechtfertigen.“ Hauptmann Poleszczuk mußte an sich halten, um nicht laut aufzulachen, als er die Miene seines Vorgesetzten sah. Der Major war geradezu verblüfft über die begeisterten Worte des Mädchens. Er hatte eine andere Reaktion erwartet. „Natürlich unter meiner Kontrolle“, fügte er hinzu. „Jawohl, Genosse Major!“ Barbara machte eine Bewegung, als wollte sie aufspringen und stramme Haltung annehmen. „Freuen Sie sich nicht zu früh, liebe Kollegin“, warf Zygmunt Poleszczuk ein, „der Fall ist verdammt kom13
pliziert. Seit zwei Monaten zerbrechen wir uns den Kopf, wie wir diesen Verrückten schnappen können, und kommen nicht vom Fleck. Sie werden bei Null anfangen müssen.“ „Das ist ausgezeichnet. Dann kann ich ganz unbeeinflußt arbeiten.“ Barbaras Begeisterung war nicht kleinzukriegen. In Częstochowa hätte sie auf einen solchen „eigenen“ Fall viele Jahre warten müssen, wenn sie ihn überhaupt je bekommen hätte. Hier fiel er ihr sozusagen in den Schoß. Trotz aller Verfassungsnormen und schönen Worte über Gleichberechtigung haben die Frauen doch weit geringere Chancen, sich hervorzutun und zu avancieren. Überall, auch bei der Miliz. Barbara Śliwińska konnte sich natürlich denken, weshalb der Major ihr diesen Fall übertragen hatte, der in der Wojewodschaft, wenn nicht gar im ganzen Land als der wichtigste galt. „Wo bringen wir Sie bloß unter?“ überlegte der Leiter besorgt. „Wenn es in Zabiegowo kein Hotel gibt, dann könnte ich vielleicht irgendwo privat unterkommen? Schlimmstenfalls auch in einer leeren Zelle des hiesigen Arrestlokals“, meinte die neue Mitarbeiterin lachend. „Ein Hotel gibt es in Zabiegowo, aber es ist ziemlich klein und primitiv. Sie haben nur Mehrbettzimmer. Daß Sie dort länger wohnen könnten, ist völlig ausgeschlossen“, erklärte der Hauptmann. „Wir haben unterm Dach ein Gästezimmer. Während der letzten Renovierung wurde es hergerichtet, um nicht die Plätze im Hotel zu blockieren“, berichtete der Major. „Das Problem ist nur, daß dort drei Betten stehen, und Sie sind nun mal eine Frau.“ „Wohnt dort jemand?“ „Im Augenblick nicht, aber wir bekommen häufig von außerhalb Besuch, auch von der Wojewodschaftsbehörde. Deshalb möchte ich das Zimmer stets zur Verfügung haben.“ 14
„Das ist kein Problem. Wenn jemand kommt, verschwinde ich innerhalb einer halben Stunde. Ich habe nur einen Koffer, vorläufig steht er noch auf dem Bahnhof bei der Gepäckaufbewahrung. Wenn ich mich in der Stadt umgeschaut habe, finde ich bestimmt irgendwo eine Privatunterkunft.“ „Das ist bei uns nicht einfach.“ „Machen Sie sich bitte um mich keine Sorgen, Genosse Major. Ich werde mir schon zu helfen wissen.“ „Dann richten Sie sich bitte heute ein und sehen Sie sich in der Stadt um, und morgen fangen Sie mit der Arbeit an.“ „Ich werde der Genossin das Zimmer in der Mansarde zeigen“, erbot sich der Hauptmann. „Und wegen des Gepäcks schicken wir unseren Wagen zum Bahnhof.“ Der Major wollte schon dazwischenfahren und den Hauptmann dafür tadeln, daß er einfach über den Dienstwagen verfügte. Doch dann winkte er ab. Die Śliwińska und der Hauptmann verließen das Arbeitszimmer. Zajączkowski hörte noch, wie Poleszczuk die neue Kollegin mit Fräulein Helena bekannt machte und wie die beiden Mädchen über irgend etwas sprachen. „Helenka, verbinde mich mit dem Parteikomitee!“ befahl er. Zajączkowski duzte seine Sekretärin. Er kannte sie von Kind auf. Helena Malenko war die Tochter seines besten Jugendfreundes. „Ich verbinde.“ Nachdem der Major gesprochen hatte, rief er sie wieder zu sich. „Helenka!“ Die Sekretärin erschien in der Tür. „Brüh mir bitte einen starken Kaffee. Und … was hältst du von ihr?“ „Ein sehr nettes Mädchen. Ich denke, wir werden unsere Freude an ihr haben.“ Plötzlich war auf der Treppe ein Poltern zu hören und 15
dann der unterdrückte Aufschrei einer Frau. Einen Augenblick später betrat Barbara Śliwińska, stark hinkend, das Sekretariat, gefolgt von dem Hauptmann, der ziemlich verlegen dreinblickte. „Ich bin auf der Treppe gestürzt.“ „Ich habe vergessen, die Kollegin darauf aufmerksam zu machen, daß die eine Stufe etwas lose ist.“ „Ist Ihnen nichts passiert?“ „Nein. Aber der Absatz ist abgebrochen. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt tun soll, meine anderen Schuhe sind im Koffer auf dem Bahnhof.“ „Helenka, laß morgen den Tischler kommen, damit er die Stufe repariert, und wegen der Schuhe schicken wir gleich den Wagen zum Bahnhof.“ „Die Stufe ist kein Problem. Wenn sich ein Hammer und ein paar Nägel finden, bessere ich das selbst aus. Mein Vater war Tischler, so daß ich etwas Ahnung davon habe.“ „Ich helfe Ihnen gern dabei. Und einen Hammer werden wir schon finden“, erbot sich Poleszczuk. „Ziehen Sie den Schuh aus. Gegenüber wohnt ein Schuhmacher. Der repariert unserem ganzen Amt die Schuhe. Er arbeitet billig und solide. Ich laufe schnell hinüber, und in ein paar Minuten ist der Schaden behoben.“ Helenka schnappte sich den beschädigten Schuh und rannte aus dem Zimmer. Barbara humpelte in nur einem Schuh zum nächsten Stuhl und setzte sich. „Geben Sie mir den Aufbewahrungsschein“, schlug der Hauptmann vor, „ich fahre zum Bahnhof und hole den Koffer.“ Während der Major sich in sein Arbeitszimmer zurückzog und gegen seine Gewohnheit die Tür schloß, dachte er bei sich: Es ist ihr schon gelungen, alle zu behexen. Aber bei mir beißt du auf Granit, meine Liebe! Der Kaffee fiel ihm ein, den er bestellt hatte, doch 16
von Kaffee war nichts zu sehen, denn Helenka war zum Schuster gelaufen. Der Major trat ans Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein kleiner Laden, den sich vor einigen Jahren der neu nach Zabiegowo gekommene Schuhmacher Józef Kunert als Werkstatt eingerichtet hatte. Da die Tür zur Werkstatt offenstand, konnte der Major von diesem Platz aus alles genau beobachten. Helenka saß auf einem niedrigen Schemel und ihr gegenüber ein älterer, grauhaariger Mann, der in der rechten Hand einen Schuh hielt und den abgebrochenen Absatz festnagelte. Nicht einmal den Apparat hat sie umgestellt, dachte Zajączkowski wütend. Aus diesem Mädchen wird nie eine gute Sekretärin! Im selben Augenblick klingelte das Telefon. Der Major langte nach dem Hörer. „Genosse Major“, meldete Oberleutnant Śliwińska, „ein Anruf von der ‚Gegenseitigen Bauernhilfe‘. Soll ich durchstellen?“ „Bitte.“ Major Zajączkowski blieb in seinem Zimmer. Er hörte, wie der Hauptmann mit dem Koffer zurückkehrte. Kurz danach kam Helenka mit dem reparierten Schuh. Nun wurde nach Nägeln gesucht. Zum Ausbessern der Treppe hatten sich gleich drei Milizionäre gemeldet. Wenig später vernahm der Major lautes Hämmern. Sie arbeiteten mit solchem Eifer, daß sie wohl ein halbes Paket Nägel verbrauchten. Offenbar leitete der Hauptmann die gesamte Operation, denn seine Stimme drang bis in Zajączkowskis Zimmer. Dabei wurde laut gescherzt und gelacht. Unterdessen erschienen im Sekretariat nach und nach alle Mitarbeiter des Kreisamtes und machten sich mit Barbara Śliwińska bekannt. Selbst jene beiden Frauen, die der „Alte“ in diesem Haus tolerierte. Das kleine Sekretariatszimmer verwandelte sich in einen Empfangssalon. 17
Wenn ich hinausgehe, können die was erleben! schimpfte der Major vor sich hin, rührte sich jedoch keinen Schritt von seinem Schreibtisch weg. Danach gab es noch einen kleinen Streit darüber, wer der Genossin Oberleutnant den Koffer in die Mansarde hinaufbringen sollte, und plötzlich war alles still. Die Leute waren zu ihrer normalen Beschäftigung zurückgekehrt. Nur an den Kaffee für den Leiter des Amtes hatte keiner gedacht. Selbst Fräulein Helena hatte vergessen, was zu ihren täglichen Pflichten gehörte.
3. KAPITEL Eine Kette von Verbrechen Als Major Zajączkowski am nächsten Morgen das Gebäude des Kreisamtes betrat, waren die beiden Mädchen, Fräulein Helena und Oberleutnant Śliwińska, in ein Gespräch vertieft. Der Major lauschte nicht, doch als er die Treppe hochstieg, hörte er, daß die Mädchen sich duzten und natürlich über irgendwelchen Kleiderkram redeten. Beim Anblick des Vorgesetzten nahm Barbara wieder Haltung an und meldete sich vorschriftsmäßig. Das besänftigte Zajączkowski ein wenig. „In Zukunft ist das nicht nötig“, sagte er und winkte ab, „hier halten wir uns nicht so streng an die Dienstvorschrift wie in Częstochowa.“ „Haben Sie es sich auch nicht anders überlegt, Genosse Major, bekomme ich den Fall wirklich?“ fragte Barbara besorgt. „Keine Bange.“ „Ich habe die halbe Nacht vor Aufregung nicht geschlafen.“ 18
„Sie werden den Augenblick noch verfluchen, in dem Sie zum erstenmal diese Akte in die Hand genommen haben.“ „So schlimm wird es nicht sein.“ „Nun, seien Sie sich nicht so sicher. Die Akte händige ich Ihnen gleich aus. Arbeiten können Sie hier nebenan, im Zimmer meines Stellvertreters, der zur Zeit krank ist. Beginnen Sie mit dem genauen Studium der gesamten Dokumentation. Nehmen Sie sich Zeit. Wenn Sie sich mit den Einzelheiten vertraut gemacht haben, unterhalten wir uns darüber, was zu tun ist.“ „Jawohl, Genosse Major.“ Es handelte sich um vier dicke, einzeln verschnürte Hefter mit Akten. Barbara Śliwińska, die in dem ihr zugewiesenen Zimmer saß, sah sich zunächst einmal jeden dieser Hefter von außen an. Sie besaßen nicht alle die gleiche Signatur. Jeder Hefter trug die Aufschrift „Mordfall …“ (hier folgten Vor- und Zuname) und darunter das Datum. Der älteste der vier Hefter enthielt die Akte Wincenty Adamiak und war mit dem Datum des 25. Juni 1975 versehen. Die Genossin Oberleutnant löste den Bindfaden und begann, die Akte zu studieren. Am Anfang befand sich, wie gewöhnlich, eine kurze Notiz, die „Verbrechensmeldung“, die der Diensthabende, Sergeant Jan Lisowski, angefertigt hatte. Die Meldung besagte, daß während des Dienstes des Sergeanten, um zwölf Uhr fünfunddreißig Minuten, auf der Wache zwei Jungen erschienen: Janusz Malaga und Jan Gawiński. Sie berichteten, daß sie beim Angeln im Fluß Stróżanka einen im Gebüsch liegenden Mann bemerkt hatten. Der Mann bewegte sich nicht, und als die Jungen näher traten, erblickten sie eine Blutlache. Erschrocken rannten sie zur Miliz und meldeten den Vorfall. Die daraufhin entsandte Streife stellte fest, daß im Gebüsch der Leichnam eines jungen Mannes lag, der mit 19
einem scharfen Gegenstand ermordet worden war. Die Genossen der Funkstreife konnten ohne große Schwierigkeiten die Identität des Toten feststellen. Es handelte sich um den in Zabiegowo berüchtigten Rowdy Wincenty Adamiak, einen häufigen Gast in den Arrestzellen der Miliz. Adamiaks Mutter, die man benachrichtigte und an den Tatort holte, bestätigte dessen Identität. Weiterhin befanden sich in den Akten ein Protokoll der Untersuchungskommission und mehrere Aufnahmen, die der Milizfotograf gemacht hatte. Auf einigen Fotos sah man dichtes Gebüsch, aus dem die Beine eines auf dem Bauch liegenden Mannes hervorschauten. Andere, aus näherer Entfernung gemacht, ließen erkennen, daß das Hemd des Mannes links auf dem Rücken etwa in Höhe des Herzens, blutig und zerrissen war. Deutlich zu sehen war auch eine nicht allzu große Wunde. Die folgenden Aufnahmen zeigten das Gesicht eines jungen Mannes. In der Akte befanden sich auch die Fingerabdrücke des Toten. Das Protokoll der Untersuchungskommission war kurz. Es stellte fest, daß der Leichnam ins Gebüsch geschleift worden war. Darauf wiesen die noch recht gut sichtbaren Blutspuren im Gras hin. Der Tatort lag wahrscheinlich direkt am Fluß, an seinem hohen Ufer, etwa zehn Meter von der Stelle entfernt, wo man den Toten gefunden hatte. Am Ufer war man auf Papier mit Wurstresten und Brotkrümeln sowie auf zwei leere Flaschen gestoßen. Die eine hatte einen minderwertigen Obstwein enthalten, die andere „Feuerwehrlikör“, einen billigen Schnaps also. Interessant war, daß auf keiner der Flaschen Papillarlinien entdeckt wurden, nicht einmal die Fingerabdrücke des Toten. Hatte der Mörder die Flaschen so sorgsam abgewischt? Weshalb hatte er sie dann nicht einfach in den Fluß geworfen? Die Obduktion hatte ergeben, daß der Tod am vier20
undzwanzigsten Juni, wahrscheinlich zwischen neunzehn und einundzwanzig Uhr, erfolgt war. Als Ursache wurde der Durchstich der linken Herzkammer und eine innere Blutung angegeben. Der Stoß in den Rücken, dicht unter das Schulterblatt, war von links erfolgt und mit einem schmalen Gegenstand von mindestens zwölf Zentimetern Länge ausgeführt worden, vermutlich mit einem Kappmesser. Ein Küchen- oder Fleischmesser hätte eine breitere und größere Wunde hinterlassen. Das Opfer war sofort tot gewesen, da die Klinge ins Herz gedrungen war. Die Sektion der Leiche hatte ausgewiesen, daß der junge Mann bei Eintritt des Todes eine größere Menge Alkohol im Blut gehabt und völlig benommen oder an der Grenze der Bewußtlosigkeit gewesen war. Die Recherchen im Milieu hatten nichts Außergewöhnliches erbracht. Wincenty Adamiak war nirgends beschäftigt gewesen. Gelegentlich hatte er seiner Mutter geholfen, die einen Gemüsestand auf dem hiesigen Markt besaß. Er hatte die sieben Klassen der Grundschule beendet und anschließend die Berufsschule besucht, doch dort warf man ihn wegen ständigen Fehlens und Rowdytums hinaus. Der Tote war dreiundzwanzig Jahre alt gewesen. Militärdienst hatte er nicht geleistet. Zum letztenmal hatte man Adamiak gegen vier Uhr nachmittags vor einem Bierstand in der Nähe des Bahnhofs gesehen. Wie die mit ihm trinkenden Kumpane aussagten, war Adamiak schon zu diesem Zeitpunkt ziemlich blau gewesen. Nach zwei oder drei Gläsern Bier hatte er kein Geld mehr gehabt und versucht, seine Kumpels zu überreden, ihm ein weiteres Bier zu spendieren. Es sah sogar nach einer Auseinandersetzung aus, doch der Besitzer des Bierstandes, Bernard Formanowski, der bei seiner Klientel wegen seiner schweren Hand bekannt war, griff rechtzeitig ein. Das beruhigte 21
den jungen Rabauken, der im Weggehen geäußert haben soll, er wolle sich von seiner Mutter Geld holen. Leider hatte man nicht feststellen können, wie spät es da gewesen sein mochte. Den Glücklichen am Bierstand schlägt keine Stunde, und die Zeit verrinnt ihnen schnell. Auch Formanowski, der darauf achten mußte, daß es bei ihm nicht zu laut zuging, weil ihn das die Konzession kosten konnte, hatte nicht bemerkt, um wieviel Uhr der junge Adamiak davongetorkelt war. Die Mutter des Ermordeten, Janina Adamiakowa, eine Witwe, die sich und ihre Familie (die außer Wincenty noch aus zwei jüngeren Söhnen und zwei Töchtern bestand) vom Gemüsehandel ernährte, sagte aus, daß sie ihren Sohn zum letztenmal am Morgen gesehen hatte, als er ihr half, die Ware zum Markt zu transportieren. Für diesen Dienst hatte er der Mutter dreißig Złoty abgeschwatzt. Am Nachmittag war Wincenty weder auf dem Markt noch zu Hause erschienen, was seine jüngeren Geschwister bestätigten. Also war Adamiak wahrscheinlich auf dem Nachhauseweg seinem künftigen Mörder begegnet. Auf Kosten dieses Unbekannten hatte man sich mit Alkohol versehen und war zum weiteren Umtrunk an den Fluß gezogen. Am Körper des Toten waren keinerlei Kratzwunden zu sehen. Auch die Spuren im Gras deuteten nicht darauf hin, daß es zwischen den beiden Streit und dann eine Prügelei gegeben hätte, in deren Verlauf der Todesstoß erfolgt wäre. Die Miliz hatte alle Mitarbeiter des Handels verhört, die Wein und Schnaps verkauften. Zabiegowo ist keine große Stadt. Sie zählt kaum achttausend Einwohner. In einer solchen Gemeinde kennt jeder jeden. Keiner dieser Mitarbeiter erinnerte sich daran, an irgend jemanden eine Flasche Obstwein und eine Flasche Schnaps zusammen verkauft zu haben. Auch Adamiak hatte keinerlei Alkohol gekauft. 22
Aus der Zusammenstellung all der Fakten hatte die Miliz die richtige Schlußfolgerung gezogen, daß es sich hierbei nicht um eine Affekthandlung während einer Schlägerei oder eines plötzlichen Streits handelte, sondern um geplanten und kaltblütig verwirklichten Mord. Jemand hatte Adamiak an den Fluß gelockt und dort den bereits Angetrunkenen bis zur Bewußtlosigkeit mit Alkohol traktiert, um ihn dann durch einen Messerstich in den Rücken zu töten. Den Leichnam hatte der Mörder in das nahe Gebüsch gezerrt. Dem Mörder war nicht einmal daran gelegen, die Tat zu verbergen oder ihre Entdeckung zu verzögern. Deshalb hatte er die Flaschen nicht beseitigt oder sie wenigstens in den Fluß geworfen, wo man sie sicherlich nicht so rasch gefunden hätte. Für die Miliz, die die hiesigen „Assis“ ausgezeichnet kannte, war es nicht allzu schwer, die zahlreichen Kontakte des Ermordeten festzustellen. Einige Kumpane, die sich ebenso wie Adamiak ihre Hände noch nie durch Arbeit schmutzig gemacht hatten, ein paar Mädchen, die diese Gesellschaft sexuell bedienten, die Nachbarn der Adamiaks, die dem jungen Raufbold in weitem Bogen aus dem Wege gingen – damit war der Kreis der Zeugen auch schon geschlossen. Die Miliz verhörte der Reihe nach jede und jeden. Adamiaks Kumpanei wurde zum Kreisamt gebracht und für alle Fälle, um eine Absprache zu verhindern, in getrennten Räumen festgehalten. Sie verhielt sich durchaus nicht solidarisch und ließ sich auch nicht von dem alten christlichen Grundsatz leiten „De mortuis nil nisi bene“ – über die Toten spricht man nur Gutes. Im Gegenteil, sie schilderten die nicht gerade farbige Gestalt ihres Kumpans sehr deutlich, ohne mit schwarzer Farbe zu sparen. Doch zu dem Verbrechen wußten sie nichts Konkretes zu sagen. Die jungen Leute waren verwundert, ja sogar ziemlich erschrocken. Sie behaupteten, dieser Tod käme für 23
sie völlig überraschend. Jeder versuchte, der Miliz ein mehr oder minder glaubhaftes Alibi vorzustellen. Alle Aussagen wurden sorgfältig überprüft. Es wurden erhebliche Lücken und Abweichungen von der Wahrheit festgestellt. Vor allem, was den Aufenthaltsort während der Zeit betraf, in der Adamiak mit seinem künftigen Mörder am Fluß gesessen hatte. Das genügte jedoch nicht, um gegen einen dieser jungen Nichtstuer den Vorwurf des Mordes zu erheben. Und außerdem – was hätte der Grund eines solchen Verbrechens sein können? Bestimmt nicht Raub, denn Adamiak hatte keinen Groschen bei sich gehabt. Ebensowenig eine Uhr, die hatte er längst vertrunken. In dieser Gesellschaft kam es häufiger zu Streitereien, Auseinandersetzungen und sogar blutigen Prügeleien. Dieses Verbrechen trug jedoch einen völlig anderen Charakter. Es war kaltblütig, mit Überlegung ausgeführt worden. Während Oberleutnant Barbara Śliwińska Seite um Seite dieses Falles las, zollte sie der Arbeit ihrer Kollegen aus Zabiegowo volle Anerkennung. Sie hatten schnell und exakt eine Riesenarbeit bewältigt, unzählige Personen verhört und deren Aussagen überprüft. Außerdem hatten sie viele Expertisen angefertigt und Besichtigungen durchgeführt. Trotzdem hatte sich die Untersuchung festgefahren. Während die Miliz sich noch abmühte, das Rätsel um den Tod von Wincenty Adamiak zu lösen, wurde die Öffentlichkeit der Stadt durch ein neues blutiges Verbrechen aufgeschreckt. Am Sonntag, dem achtzehnten Juli, kam Justyna Feliksiakowa, eine Einwohnerin von Zabiegowo aus der Świérczewskistraße, zum Kreisamt gerannt und meldete, daß sie bei ihrer Nachbarin, Maria Borzęcka, ein Glas Zucker borgen wollte. Als die Nachbarin auf ihr Klopfen nicht öffnete, schaute Frau Feliksiakowa zum Fenster 24
hinein. Der Anblick‚ der sich ihr bot, war gräßlich: Auf dem Fußboden, in einer Blutlache, lag die Borzęcka. Die Streife, die in die Świérczewskistraße entsandt wurde, bestätigte die Mitteilung von Frau Feliksiakowa. Die Untersuchungskommission öffnete die Tür des Häuschens, in dem die alleinstehende Witwe Maria Borzęcka wohnte. Sie stellte fest, daß die Frau tot war. Ihr Hinterkopf war durch einen Schlag mit dem stumpfen Ende einer Axt zerschmettert worden. Die Axt, die – wie man später feststellte – Eigentum der Toten war, lag übrigens noch neben dem Leichnam. Interessant war, daß man auf dem Axtstiel keinerlei Fingerabdrücke fand. Offenbar waren sie weggewischt worden. Der kleine Raum wies keine Spuren eines Kampfes auf. Es handelte sich auch nicht um Raubmord. In einem Holzköfferchen, das unter dem Bett stand und durch ein ziemlich primitives Schloß gesichert war, entdeckte die Miliz achtzehntausend Złoty in bar sowie drei goldene Fünfdollarmünzen, die in einen weißen Lappen eingewickelt waren. Die Obduktion bestätigte, daß der Tod infolge der Zerschmetterung der Schädeldecke und einer Beschädigung des Hirns erfolgt war. Als Zeitpunkt des Todes nannte der Milizarzt den Sonnabend zwischen achtzehn und dreiundzwanzig Uhr. Maria Borzęcka war bei der Miliz in Zabiegowo ebenfalls gut bekannt. Die Witwe eines Eisenbahners erhielt eine kleine Rente und „verdiente“ sich etwas durch den heimlichen Verkauf von Schnaps hinzu. Wer sich nicht rechtzeitig in einem der offiziellen Läden mit Alkohol versorgt hatte und von Durst geplagt wurde, dem half „Tante“ Borzęcka zu jeder Tages- und Nachtzeit mit einem halben Liter aus. Die Miliz stattete dem Häuschen in der Świérczewskistraße häufig genug plötzliche „Besuche“ ab. Sie kon25
fiszierte den gesamten Alkoholvorrat, den sie fand, und gab den Fall entweder an die Schiedskommission oder an das Gericht ab. Die Borzęcka wurde mit hohen Geldstrafen belegt und sogar mit Gefängnis bestraft. Die Strafe bezahlte sie, vor einer Gefängnishaft versuchte sie sich mit dem Hinweis auf ihr Alter und den schlechten Gesundheitszustand – sie litt an schwerem Bronchialasthma – zu drücken. Danach nahm sie den illegalen Handel wieder auf. Auch jetzt, nach dem Tod der „Tante“, entdeckte die Miliz unter dem Fußboden ein raffiniertes Versteck mit neunzehn Halbliterflaschen. In Zabiegowo war zum letztenmal vor mehr als siebzehn Jahren ein Mensch ermordet worden. Damals hatte ein junger Mann seine Verlobte, die ihn verlassen hatte, aus Eifersucht umgebracht und sich dann am Ast einer Eiche im nahegelegenen Wald erhängt. Und nun in einem Abstand von kaum vier Wochen gleich zwei Tote. Kein Wunder, daß dies in der ganzen Wojewodschaft großes Aufsehen erregte. Die Kundschaft von „Tante“ Borzęcka war sehr zahlreich. Zabiegowo gehörte durchaus nicht zu den „trockenen“ Städten. Im Gegenteil, in der Wojewodschaftsstatistik über Alkoholverbrauch befand es sich nahezu an der Tabellenspitze. Daran konnten auch das in der gesamten Region geltende Verkaufsverbot von Schnaps an Sonnabenden nichts ändern; denn solche hilfsbereiten „Tanten“ gab es in Zabiegowo und Umgebung eine Menge. Die Leute, die die Dienste der „Tante“ in Anspruch nahmen, rühmten sich dessen nicht vor der Miliz. Doch zum Glück herrscht in kleineren Städten die Gewohnheit, daß die Frauen nachmittags in den Fenstern sitzen, die Vorbeigehenden beobachten und über sie tratschen. Ähnlich war es auch an jenem Sonnabend in der Świérczewskistraße gewesen. So ließ sich denn ohne Schwierigkeiten eine ansehnliche Liste von Kunden aufstellen, 26
die an diesem Tag das Haus aufgesucht hatten, ja, man bekam sogar die Reihenfolge heraus, in der sie hinter der gastfreundlichen Tür der Maria Borzęcka verschwanden. Der letzte, der aus diesem Haus eine Halbliterflasche hinaustrug, war Marian Palicki. Als man ihn verhörte, gab er widerwillig zu, daß er gegen halb neun abends die Borzęcka aufgesucht hatte. Um diese Stunde brach bereits die Dämmerung herein. Er behauptete, die Witwe heil und gesund verlassen zu haben. Die Miliz behielt Palicki achtundvierzig Stunden in Haft. Einer Verlängerung stimmte der Staatsanwalt nicht zu, denn am Körper und der Kleidung des Festgenommenen fand man nicht die geringsten Blutspuren, die – wäre Palicki wirklich der Mörder gewesen – hätten vorhanden sein müssen. Es deutete auch nichts darauf hin, daß sein Anzug in den letzten Tagen gereinigt oder gewaschen worden wäre. Außerdem fehlte ein Motiv. Dieser Schnapsbruder, ein Stammkunde der „Tante“, hätte seine Schnapslieferantin umbringen sollen? Also hatte sich erst nach Palicki, als die Straße schon im Dunkeln lag und die Beobachterinnen die Fenster geschlossen hatten und an ihre Arbeit gegangen waren, jemand in das Häuschen geschlichen und die Besitzerin ermordet. Es mußte ein guter Bekannter der Borzęcka gewesen sein, denn sie hatte ihn ohne weiteres hereingelassen. Dabei war sie doch überaus vorsichtig gewesen, Fremden hatte sie nicht geöffnet, wohl weniger aus Angst vor Dieben als vor Mitarbeitern der Miliz, die der alten Frau das Leben schwermachten. Auf volles Vertrauen gegenüber dem Mörder wies auch die Art und Weise hin, wie das Verbrechen begangen wurde. Die Borzęcka kehrte dem Angreifer den Rücken zu, der die gewöhnlich in der Ecke stehende Axt ergriff und damit der nichtsahnenden Frau den tödlichen Schlag versetzte. Noch eine weitere Schlußfolgerung drängte sich Barbara Śliwińska auf, die über den Aufnahmen vom Tat27
ort saß. Der ganze Hinterkopf des Opfers war durch einen Schlag zerschmettert worden, der mit ungewöhnlicher Kraft geführt worden war. Der Täter mußte also ein kräftiger Mann gewesen sein, der wahrscheinlich körperlich arbeitete und häufig mit einer Axt hantierte. Auf dem Küchenschrank in der Wohnung der Borzęcka lagen mehrere rote Hundert-Złoty-Scheine, kleinere Banknoten und eine Handvoll Münzen. Der Mörder hatte das Geld nicht angerührt, obwohl man aus der Lage der Toten schließen durfte, daß er während der Tat neben diesem Möbelstück gestanden hatte. Es sah auch nicht danach aus, als hätte jemand den Täter verscheucht. Der Miliz gelang es nicht, festzustellen, ob ein Kunde der „Tante“ noch am späten Abend oder in der Nacht vergebens an ihre Tür geklopft hatte. Den Mörder der Borzęcka zeichnete große Selbstsicherheit aus. Er schloß die Wohnung mit dem Schlüssel, den er im Hause seines Opfers fand, seelenruhig ab und warf dann den Schlüsselbund achtlos in den Vorgarten, der das Häuschen von der Straße trennte. Die Miliz fand ihn kaum drei Meter vom Weg entfernt. Nachdenklich stimmte Barbara Śliwińska, die aufmerksam alle Einzelheiten studierte, die Beschreibung des Häuschens. Zusammen mit dem kleinen Garten stellte es das Eigentum der Witwe dar und bestand aus zwei Räumen: einem Zimmer und der Küche. Das Verbrechen war in der Küche verübt worden. Dorthin führte auch die Eingangstür. In der Küche gab es ein Fenster, im Zimmer zwei, aber alle waren vergittert. Die von innen mit dickem Blech beschlagene Tür wurde gleich von drei Schlössern gesichert. Eines davon war modern, von komplizierter Bauart und bot selbst einem erfahrenen Fachmann außerordentliche Schwierigkeiten. Ein solches Schloß ließ sich bestimmt nicht mit einem „Paßschlüssel“ aus Blei öffnen oder gar mit einem angebogenen Stahldraht, wie das bei den meisten 28
so solide aussehenden Schlössern der Fall ist, die in der Praxis für einen Dieb nicht die geringsten Schwierigkeiten darstellen. Immerhin hatte die Miliz, um in die Wohnung gelangen zu können, eine Scheibe eindrücken und das Fenstergitter durchsägen müssen. Erst dann war der schmächtigste Beamte hineingeschlüpft und hatte die Tür von innen geöffnet. Die Schlüssel fand man erst viel später im Gras. Diese massiven Sicherheitsvorkehrungen in dem bescheidenen Häuschen der Maria Borzęcka verwunderten Frau Oberleutnant sehr. Mußte die arme Witwe befürchten, überfallen und ausgeraubt zu werden? Oder hatte sie vielleicht einen Todfeind gehabt, der es nicht auf ihr bescheidenes Vermögen, sondern auf ihr Leben abgesehen hatte? Der tragische Tod der älteren Frau schien diese Befürchtung vollauf zu bestätigen. Wem konnte jedoch an der Ermordung der Borzęcka gelegen sein? In ihrer Wohnung fand die Miliz alles in allem etwas über neunzehntausend Złoty. Barbara Śliwińska wußte von ihrer eigenen Tätigkeit her, daß zuweilen Menschen weitaus geringerer Beträge wegen umgebracht wurden. Doch hier lagen die Dinge anders, der Mörder hatte ja keinen Groschen genommen. Man stellte fest, daß Maria Borzęcka zwei Kinder hatte. Einen Sohn, der in Kraków die Akademie für Bergund Hüttenwesen beendet hatte und in einer Grube in Oberschlesien arbeitete, sowie eine Tochter. Die Tochter hatte in Wrocław eine Schule für Krankenschwestern besucht und danach in derselben Stadt mehrere Jahre im Wojewodschaftskrankenhaus gearbeitet. Später heiratete sie einen jungen Arzt, zog mit ihm in die Gegend von Szczecin. Die Miliz, die in dieser Angelegenheit niemandem traute, überprüfte für alle Fälle das Alibi der beiden Kinder und ihrer Ehepartner. Sohn und Tochter der 29
Borzęcka, die vom Tod ihrer Mutter benachrichtigt wurden, kamen zum Begräbnis, bestellten beim hiesigen Steinmetz eine Grabplatte und übertrugen einem Rechtsanwalt die Abwicklung der Erbschaftsangelegenheiten. Ihm erteilten sie auch die Vollmacht zum Verkauf des Häuschens und des Gartens. Die Erbschaftsangelegenheiten wurden noch geregelt. In dem Häuschen wohnte niemand. Die Miliz hatte das Gitter wieder in Ordnung bringen lassen, die Wohnung verschlossen und sogar versiegelt. Die Angehörigen nahmen aus der Wohnung nichts mit. Die Möbel waren mehr als bescheiden, und auch die persönlichen Sachen der Verstorbenen stellten keinerlei Wert dar. Das Bargeld, das die Miliz gefunden und bei Gericht hinterlegt hatte, wurde zur Erbschaftsmasse hinzugefügt. Alles deutete darauf hin, daß nach Abwicklung der gesetzlichen Formalitäten die Familie sich um die Verstorbene, die auf dem Friedhof von Zabiegowo beigesetzt wurde, nicht mehr kümmern würde. Immerhin mußte sie eine tapfere Frau gewesen sein, sagte sich Barbara. Vor fünfzehn Jahren war ihr Mann gestorben. Damals besuchten die Kinder noch die Mittelschule. Trotzdem hatte sie ihnen eine gute Ausbildung ermöglicht. Den Sohn hatte sie zum Ingenieurstudium geschickt und die Tochter einen gefragten Beruf lernen lassen. Das war ihr bestimmt nicht leichtgefallen. Weshalb hatte es mit dieser Frau ein so tragisches Ende genommen?
4. KAPITEL Der dritte Buchstabe des Alphabets Zwei Morde, und das in so kurzem Zeitabstand, versetzten die Öffentlichkeit des Städtchens in Erregung. Doch 30
vorläufig sah noch niemand einen Zusammenhang darin, daß der Name des ersten Opfers mit A begann und der des zweiten mit B. Auch die Miliz brachte zunächst die beiden Fälle nicht in Verbindung. Scheinbar waren sie ja grundverschieden. Zuerst war ein junger Bursche ermordet worden, ein stadtbekannter Rowdy und Säufer, dann eine Frau von über siebzig Jahren. Eine Witwe, Mutter zweier Kinder. Eine Person, die in der Meinung ihrer Straße und der Stadt als solide galt. In ihren Streitigkeiten und Auseinandersetzungen mit der Miliz und dem Gesetz stand die Stadt auf der Seite der armen Witwe. Wem schadete es denn, wenn die alte Frau den Leuten aus Gutmütigkeit eine Gefälligkeit erwies und ihnen zwei oder drei Flaschen Schnaps abgab, gerade dann, wenn die Namenstagsgäste die häuslichen Vorräte bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken, die Lokale aber alle geschlossen hatten und der Durst noch immer nicht gelöscht war? War es da so schlimm, wenn die arme Witwe bei Gelegenheit ein paar Groschen verdiente? Wer sich den Schnaps leisten konnte, war auch in der Lage, etwas mehr zu bezahlen, wenn die gastfreundlichen Staatsläden nun mal ihre Tore geschlossen hielten. So beschäftigte sich denn im Kreisamt der Miliz von Zabiegowo mit jedem dieser Fälle ein anderer Offizier. Den einen Fall bearbeitete Hauptmann Zygmunt Poleszczuk, den anderen der Stellvertreter des Leiters, Hauptmann Janusz Wolski. Bald darauf erlitt Wolski einen Unfall. Auf dem Heimweg kam er mit seinem Motorrad ins Rutschen und landete mit schweren Verletzungen im Krankenhaus. Nur diesem Umstand war es zuzuschreiben, daß Poleszczuk beide Fälle in die Hand bekam. Hauptmann Poleszczuk mußte also sowohl die Kumpane Wincenty Adamiaks verhören als auch die Schnapsbrüder, die sich bei „Tante“ Borzęcka mit dem 31
„Trostspender“ versahen. Es waren jedoch kaum drei Wochen vergangen, als die Nachricht von einem neuen Mord die Stadt erschütterte. Am Freitag, dem zweiten August, wurde der wohl reichste Mann von Zabiegowo, Władysław Czerwonomiejski, ermordet. Der zweiundsechzigjährige Czerwonomiejski, ein Emigrant aus Frankreich, war erst 1968 in Zabiegowo aufgetaucht. In Unterhaltungen mit Bekannten erwähnte er zuweilen Afrika und Schweden, doch auch England war ihm nicht fremd. Über seinen Reichtum erzählte man sich Wunderdinge. Zweifellos war etwas dran, denn Władysław Czerwonomiejski war mit einem herrlichen französischen Wagen nach Zabiegowo gekommen. Später trafen noch drei Waggons mit verschiedenen Gütern aus Frankreich ein. Der „Heimkehrer“ kaufte von der Stadtverwaltung die Ruine eines ausgebrannten, ehemals deutschen Hauses, das vor der Stadt stand, und dazu drei Hektar Land. Innerhalb weniger Monate verwandelte sich die Bruchbude in eine prächtige Villa. Auf dem Grundstück neben dem Haus ließ Czerwonomiejski große Gewächshäuser errichten, aus Segmenten, die ebenfalls aus Frankreich stammten. Lediglich das Glas für die Wände kam aus Piotrków. Hinter den Gewächshäusern entstand ein großer Obstgarten. Die Einheimischen betrachteten mißtrauisch die niedrigen, höchstens zwei Meter hohen Bäumchen, deren Äste sich an Schnüren entlang spannten, so daß sie fast eine Hecke bildeten. Manch einer lächelte da ironisch, als er diese Art von Gartenbau sah. Doch den Spaßmachern verging das Lachen, als kaum drei Jahre später diese Zwergbäumchen die schönsten Apfel hervorbrachten. Und das in solcher Fülle, daß kein traditioneller Garten mithalten konnte. Czerwonomiejski kaufte noch Land hinzu und ergänzte sein Inventar durch einen Lastwagen, mit dem er jetzt 32
fast täglich Obst oder Frühgemüse und Blumen aus den systematisch erweiterten Gewächshäusern nach Katowice brachte. Sechs Arbeitskräfte waren ständig in diesem Betrieb beschäftigt, und der Gärtnereibesitzer selbst packte auch kräftig mit an, Czerwonomiejski wohnte in dem Haus mit seiner Frau und dem jüngsten Sohn, der an der Hochschule für Landwirtschaft Gartenbau studiert hatte und vom Vater die blühende Wirtschaft übernehmen sollte. Der ältere Sohn und die einzige Tochter waren in Frankreich geblieben. Dort hatten sie irgendwelche Schulen beendet und Familien gegründet. Nur im Sommer besuchten sie ihre Eltern. Im Winter verbrachte Frau Czerwonomiejska immer einige Monate bei ihren Kindern im Ausland. Der alte Gärtner gönnte sich nur selten einen kurzen Urlaub. Man weiß ja, unter dem Blick des Besitzers blüht und gedeiht alles besser. An jenem Tag, es war ein Freitag, hatte man eine größere Partie Frühkirschen für die Versorgung von Katowice vorbereitet. Der Wagen sollte noch vor acht Uhr losfahren, damit das frische Obst rechtzeitig in den Geschäften eintraf. Deshalb hatten sich sowohl die ständig Beschäftigten als auch die zum Pflücken zusätzlich eingestellten Leute schon im Morgengrauen im Garten eingefunden. Der alte Gärtner hatte wie gewöhnlich den Tag mit der Arbeit in den Gewächshäusern begonnen. Zwar waren die Gurken und Tomaten um diese Jahreszeit schon abgeerntet, doch Czerwonomiejski bereitete den Platz für Nelken und Chrysanthemen vor, um zum Herbst, vor allem zu Allerheiligen, die entsprechende Ware anbieten zu können. Der Wagen war beladen worden, und der Fahrer. Eryk Roslin, ging zum Chef, um sich letzte Anweisungen zu holen. Er fand den Gärtner leblos zwischen den Blumensetzlingen liegend. Der Fahrer sah, daß man 33
Czerwonomiejski mit einer Pistole erschossen hatte. Die sofort alarmierte Polizei bestätigte diese Diagnose. Doch das war das einzige, was sich vorläufig feststellen ließ. Die in der Gärtnerei Beschäftigten standen alle außerhalb jeden Verdachts. Sie hatten sich im Garten befunden, und jeder hatte jeden gesehen. Um die fragliche Zeit war man dabeigewesen, die Obsthorden zum Wagen zu bringen, wo der Sohn des Gärtners, Andrzej, zusammen mit dem Fahrer die Ware überprüft und gewogen hatte. Einen Schuß hatte keiner gehört. Später, als bereits feststand, daß der Gärtner mit einer Siebenfünfundsechziger erschossen worden war, wahrscheinlich mit einer alten „Walther“, machte die Miliz die Probe aufs Exempel. Der Knall war draußen kaum zu vernehmen. Offenbar wirkten die Pflanzen als natürlicher Schalldämpfer. Die mit ihrer Arbeit Beschäftigten hatten den schwachen Knall nicht beachtet. Immerhin führte in der Nähe eine stark befahrene Chaussee vorbei, und selbst wenn jemand etwas gehört hatte, durfte er annehmen, daß es sich um eine Fehlzündung bei einem Auto handelte. Außerdem war jeder bemüht, so schnell wie möglich mit der Arbeit fertig zu werden, denn davon hing die Höhe des Verdienstes ab. Natürlich gab es in Zabiegowo genug Menschen, die auf den reichen Gärtner voller Neid blickten. Sie wollten nicht begreifen, daß sein Erfolg etwas mit schwerer Arbeit und solidem Wissen zu tun hatte. Erfolg bei anderen können manche Leute nicht ertragen. Aber von Mißgunst bis zum Verbrechen ist es ein langer Weg. Wer also hatte einen Grund, diesen Menschen umzubringen? Man stellte fest, daß der Schuß aus einer Entfernung von etwa zweieinhalb Metern abgegeben worden war. Nach der Größe des Gärtners, der ein hochgewachsener Mann gewesen war, und dem Weg der Kugel in seinem Körper zu urteilen, war der Schütze etwa zwanzig Zen34
timeter kleiner als Czerwonomiejski, also ungefähr einssiebzig groß. Weder die beim Gärtner beschäftigten Leute noch die Bewohner der benachbarten Grundstücke hatten in der Nähe eine unbekannte Person bemerkt. Dabei war doch das Verbrechen schon kurz nach sieben entdeckt worden. Um diese Zeit herrschte in den Vorortstraßen von Zabiegowo kaum Verkehr, so daß jeder Fremde sofort bemerkt worden wäre. In diesem Fall brauchte nicht einmal überprüft zu werden, ob es sich um Raubmord handelte. Der Verbrecher hatte auf Czerwonomiejski im Gewächshaus geschossen. Er hatte keinerlei Möglichkeit, sich auch nur das Geringste anzueignen, nicht einmal eine Blume, denn auch die gab es dort noch nicht. Der Gärtner trug Arbeitskleidung und hatte außer einem Taschentuch und einem Gärtnermesser nichts bei sich. Das Gesicht des Toten war in Verwunderung und Schrecken erstarrt. Daraus konnte man schließen, daß das Opfer seinen Mörder gut gekannt und geahnt hatte, weshalb er gekommen war. Da die Miliz in Zabiegowo keine Feinde des Gärtners fand, versuchte sie, sie in seiner Vergangenheit aufzuspüren. Czerwonomiejskis Frau, Janina, sagte aus, daß sie und ihr Mann im Jahre 1935, damals noch ein junges Ehepaar, aus der Gegend von Cieszyn nach Frankreich ausgewandert waren und dort, im Elsaß, bei einem reichen Gärtner Arbeit gefunden hatten. Nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges und Frankreichs Niederlage hatte Hitler diese Gebiete in das Deutsche Reich eingegliedert. Czerwonomiejski, der aus Oberschlesien stammte, wurde als Deutscher eingestuft und zur Wehrmacht eingezogen. Er kämpfte an der Ostfront, kam bis nach Stalingrad und geriet dort in sowjetische Gefangenschaft. Erst 1948 kehrte er ins Elsaß zurück. Bald darauf gaben die Eheleute die Arbeit 35
auf fremdem Besitz auf und pachteten eine größere Wirtschaft bei Lyon, die sie später kauften. Die Erfahrung, die Czerwonomiejski beim Gärtner gesammelt hatte, kam ihm nun zustatten. Er nutzte die Nähe der großen Industriestadt und stellte sich auf den Anbau von Gemüse ein. Im Verlauf von zwanzig Jahren kam er zu einem beträchtlichen Vermögen. Als die beiden älteren Kinder aus dem Hause waren, verkauften die Eheleute ihren Besitz in Frankreich und kehrten mit dem jüngsten Sohn sowie ansehnlichen Ersparnissen in die Heimat zurück. Czerwonomiejski reiste mehrere Wochen hindurch in ganz Schlesien umher, denn hier wollten sie sich ansiedeln. In Zabiegowo fand er dann ein Haus, das sich für den Ausbau eignete, sowie ein Stück Land, auf dem sich eine Gärtnerei betreiben ließ. Frau Janina Czerwonomiejska behauptete entschieden, daß sie weder in Frankreich noch in Polen irgendwelche Feinde gehabt hätten. Natürlich gab es mal eine Auseinandersetzung mit einem Verkaufsstellenleiter, dem der Gärtner seine Erzeugnisse lieferte, oder mit einem Mitarbeiter, der im Garten oder Gewächshaus beschäftigt war. Doch das waren geringfügige Vorfälle, ohne Bedeutung gewesen. Die Untersuchung des Mordes an Władysław Czerwonomiejski hatte man Leutnant Paweł Ratajczak übertragen. Der junge Offizier erklärte schon nach drei Tagen, daß er in dieser Angelegenheit völlig ratlos sei. Er habe keinerlei Anhaltspunkte für Ermittlungen gefunden. Leutnant Ratajczak bearbeitete diesen Fall auch nur kaum vierzehn Tage. Dann wurde er zu einem Speziallehrgang an das Institut für Kriminalistik delegiert und übergab mit großer Erleichterung die Akte Major Stanisław Zajączkowski. Es war nicht einmal die Miliz, die darauf stieß, daß die Namen der drei Opfer mit den aufeinanderfolgenden 36
Buchstaben des Alphabets begannen, und zwar in der Reihenfolge, wie sie ermordet wurden. Derjenige, dem das zuerst aufgefallen war, zog daraus auch den Schluß, daß das nächste Opfer des geheimnisvollen Mörders jemand sein werde, dessen Name mit „D“ begann. Und solche Personen gab es in Zabiegowo genug. Diese Entdeckung wirkte auf die Einwohner der Kreisstadt wie die Detonation einer Bombe. Im Kreisamt der Miliz erschien Doktor Dębicki, Chefarzt des Krankenhauses, und verlangte mit dem gebührenden Ernst, die Miliz solle ihm den erforderlichen Schutz gewähren. Zajączkowski versuchte zunächst, den Arzt, der eine der angesehensten Personen der Stadt war, zu beruhigen, doch als bald darauf auch andere Einwohner vorsprachen, sogar der Pfarrer des Städtchens, sowie einige Funktionäre aus Wirtschaft und Politik, beschloß der Major, den Fall selbst zu übernehmen und die drei Fälle zusammenzulegen. Da Zajączkowski nicht über genügend Leute verfügte – vor allem fehlte es ihm an Offizieren der Abteilung K –, sandte er verzweifelte Schreiben an die Wojewodschaftsbehörde und bat darum, eine übergeordnete Dienststelle möge den Fall übernehmen oder ihm wenigstens drei Fachleute nach Zabiegowo schicken. Leider hatte die Wojewodschaftsbehörde ähnliche Sorgen. Erst nach Überwindung heftiger Widerstände in Częstochowa gelang es, dort zur Unterstützung des Majors Oberleutnant Barbara Śliwińska „auszuleihen“. Major Zajączkowski war erfahren genug, die in der Stadt ausgebrochene Panik nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Deshalb verwarf er auch nicht die These, daß die alphabetische Reihenfolge der Namen der drei Opfer vielleicht kein Zufall war. Auf seine Anweisung hin stellte die Abteilung Meldewesen eine Liste aller Einwohner von Zabiegowo zusammen, deren Namen mit dem Buchstaben „D“ begann. Auf dieser Liste stan37
den dreiundzwanzig Personen. Ihre Wohnorte wurden in einen großen Stadtplan eingetragen. Milizstreifen durchquerten Tag und Nacht die Stadt, wobei sie besonders die Punkte berücksichtigten, die auf dem Stadtplan mit blauen Fähnchen gekennzeichnet waren. Man führte vertrauliche Gespräche mit allen Bedrohten durch und bat sie, weitestgehende Vorsicht walten zu lassen und der Miliz jedes verdächtige Vorkommnis zu melden. Die Wojewodschaftsbehörde, die von diesen Maßnahmen benachrichtigt wurde, akzeptierte sie. Dort schloß man ebenfalls nicht aus, daß die drei Verbrechen, so unterschiedlich sie auch waren, von ein und derselben Person verübt worden sein konnten. Von einem Wahnsinnigen vielleicht, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, ein Alphabet des Todes aufzustellen. Natürlich bat man alle Einwohner, deren Namen mit dem Buchstaben „D“ begannen, um Diskretion. Die Folge war, daß schon am nächsten Tag in ganz Zabiegowo die wildesten Gerüchte umgingen. Jedermann glaubte, in dieser Angelegenheit seine Meinung kundtun zu müssen, und jedermann wollte der Miliz helfen. Und so liefen nun beim Kreisamt Hunderte von Informationen ein. Leider enthielten diese Informationen nichts Konkretes. So schrieb zum Beispiel ein Bürger, daß der Mörder der drei Menschen bestimmt der Adam Kowalski sei. Denn als Doroszewski die Straße entlangging, betrachtete Kowalski ihn äußerst aufmerksam und schlug sogar die gleiche Richtung ein. Es unterliege also keinem Zweifel, daß das nächste Opfer des „Vampirs“ Doroszewski sein werde, das sei doch klar, der bloße Name weise schon darauf hin, und sein künftiger Mörder heiße Adam Kowalski. Zum Leidwesen der Miliz häuften sich jetzt solche Mitteilungen. Und jede mußte genau studiert und überprüft 38
werden, denn jedes dieser anonymen Schreiben – in der Mehrzahl der Fälle blieben die Absender anonym – konnte einen wahren Kern enthalten, der vielleicht in den Ermittlungen die Wende brachte. So hatte denn die schmale Belegschaft des Kreisamtes alle Hände voll zu tun, um den vielen Aufgaben gerecht zu werden, ohne die normalen, täglichen Pflichten zu vernachlässigen. Die Verkehrsmiliz ging ihrer Beschäftigung nach, die Abschnittsbevollmächtigten achteten auf die Ordnung, die Abteilung „K“ wurde fast täglich alarmiert und irgendwohin gerufen. Das Leben in der Stadt und in den umliegenden Gemeinden verlief in den üblichen Bahnen mit all den Unfällen, Schlägereien und Auseinandersetzungen. In dieser Situation verließ Major Zajączkowski selten das Kreisamt. Man konnte kaum erwarten, daß er gute Laune ausstrahlte. Ständig ging er die Wojewodschaftsbehörde um möglichst schnelle Hilfe an. Und immer wieder beschwichtigte man ihn mit der Versicherung, daß man seine Schwierigkeiten nicht vergessen habe. Endlich erlebte der Major das Ergebnis seiner Bemühungen. Man teilte ihm mit, man habe aus Częstochowa einen Offizier der „K“ nach Zabiegowo delegiert, und zwar Oberleutnant … Barbara Śliwińska. Nicht eine solche Unterstützung hatte Major Zajączkowski erwartet. Doch noch ehe die Wojewodschaftsbehörde alle Formalitäten erledigt hatte – nach Überwindung des Widerstandes des Amtsleiters in Częstochowa, der sich ohne sonderliche Begeisterung damit einverstanden erklärte, eine seiner Mitarbeiterinnen für unbestimmte Zeit abzustellen –, ereignete sich in Zabiegowo die nächste Tragödie.
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5. KAPITEL Wieder stirbt ein Mensch Zabiegowo, die kleinste Stadt in der ganzen Wojewodschaft Katowice, ist dennoch ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt mit einem großen Güterbahnhof. Die Stadt liegt an einem Punkt, an dem sich schon vor Jahrhunderten die Handelswege von Ost nach West und von Nord nach Süd kreuzten. Heute gehen durch Zabiegowo die Eisenbahntransporte aus Oberschlesien nach allen Gegenden des Landes, aber auch ins Ausland. So ist der Bahnhof der Polnischen Staatsbahnen der größte Betrieb der Stadt Zabiegowo. In der Nacht zum fünfzehnten August läutete in der Wohnung von Major Zajączkowski das Telefon. Bevor Zajączkowski zu sich kam und nach dem Hörer langte, blickte er aus beruflicher Gewohnheit auf die neben ihm liegende Uhr. Es war zwei Uhr fünfundzwanzig. Es meldete sich der Diensthabende im Kreisamt, Wachtmeister Wąsikowski. „Obersergeant Szczygielski hat von der Bahnstation aus angerufen“, meldete der Wachtmeister. „Auf den Gleisen hat man einen Toten gefunden.“ „Um wen handelt es sich?“ Der Major war von den schlimmsten Ahnungen erfüllt. „Um einen Rangierer. Adam Delkot heißt er.“ „Wie ist er ums Leben gekommen?“ „Er wurde mit einer Pistole erschossen.“ „Alarmieren Sie die kriminaltechnische Abteilung und den Gerichtsmediziner. Sie sollen sofort zum Bahnhof fahren und mit der Spurensicherung beginnen. Ich werde ebenfalls gleich dort sein.“ „Soll Sie der Funkwagen abholen, Genosse Major?“ „Nicht nötig. Der Wagen soll die Leute der Ermittlungsgruppe zusammenholen. So geht es schneller. Ich hab es sowieso nicht weit bis zum Bahnhof.“ 40
„Zu Befehl!“ Der Wachtmeister legte auf. Der Major kleidete sich eilig an. Adam Delkot, Adam Delkot …, überlegte er. Der Name stand doch gar nicht auf unserer Liste, also war der Mann auch nicht gewarnt worden. Na, die können was erleben … Eine Viertelstunde später hörte sich Zajączkowski den Bericht des Obersergeanten Andrzej Szczygielski an, der mit Sergeant Bytoń in dieser Nacht auf dem Bahnhof Dienst tat. „Die Nacht auf dem Bahnhof“, meldete der Obersergeant, „verlief ruhig. Wir brauchten nicht ein einziges Mal einzugreifen. Nicht einmal Betrunkene gab es. Um ein Uhr siebenundvierzig stürmte der stellvertretende Bahnhofsvorsteher in unseren Dienstraum, der Bürger Stefan Miękosz … Kennen Sie ihn, Genosse Major?“ „Sprechen Sie weiter.“ „Zu Befehl. Der Bürger Miękosz war sehr aufgeregt. Er berichtete, daß sie ihn vom Ablaufberg aus angerufen und gemeldet haben, auf den Gleisen liegt ein Toter.“ „Woher haben sie angerufen?“ „Vom Ablaufberg“, erklärte der Obersergeant. „Das ist so eine Aufschüttung, von der die Waggons allein herabrollen. Auf diese Weise werden die Güterzüge zusammengestellt.“ „Ist schon klar, Sie brauchen mir nicht zu erklären, was ein Ablaufberg ist. Sprechen Sie weiter.“ „Der Tote ist Adam Delkot, ein Eisenbahner. Heute nacht hatte er dort Dienst. Ich bin sofort mit Sergeant Bytoń und dem Bürger Miękosz zu der Unglücksstelle gegangen.“ „Ist es weit?“ „Etwas über einen Kilometer, Genosse Major.“ „Sprechen Sie weiter!“ Der Major mußte dem Obersergeanten jedes Wort aus der Nase ziehen. „Der Bahnhofsvorsteher führte uns zu der Unglücks41
stelle. Adam Delkot lag zwischen den Gleisen, auf dem Rücken, aber wie ich feststellte, hatte er vordem mit dem Gesicht zur Erde gelegen. Seine Kollegen hatten ihn umgedreht, in dem Glauben, daß er noch lebt und daß es sich nur um einen Schwächeanfall handelt. Er hat einen Einschuß in der linken Brustseite. Ich habe Sergeant Bytoń bei dem Leichnam gelassen und bin schnell zum Bahnhof gelaufen, um die Dienststelle zu benachrichtigen. Am Apparat war Wachtmeister Wąsikowski. Er hat mir dann auch mitgeteilt, daß Sie gleich hier sein werden, Genosse Major, deshalb habe ich auf dem Bahnhof gewartet.“ „Sind die Kriminaltechniker schon hier?“ „Noch nicht. Wąsikowski wollte den Funkwagen losschicken, um sie zusammenzuholen. Sie wohnen an verschiedenen Enden der Stadt“, erläuterte der Obersergeant, „und nicht alle haben Telefon. Ehe man sie alle beisammen hat, ehe sie in der Dienststelle ihre Geräte holen … Aber nun müßten sie bald eintreffen.“ „Wer ist dieser Delkot?“ „Keine Ahnung. Ich kannte ihn nicht.“ „Ist Miękosz irgendwo in der Nähe?“ „Nein. Der stellvertretende Bahnhofsvorsteher ist am Ablaufberg geblieben. Ob Unglück oder nicht, die zusammengestellten Züge müssen laut Fahrplan abgehen. Der Bürger Miękosz kümmert sich darum, daß die Leute wieder ihre Posten beziehen, und außerdem sucht er nach jemandem, der den toten Delkot vertreten könnte. In meiner Gegenwart hat er mit dem Bahnhofsvorsteher telefoniert, damit dieser den Dienst auf dem Bahnhof übernimmt.“ „Nun ja“, stimmte der Major zu, „das war schon richtig, die Züge müssen schließlich fahren. Ist denn der Vorsteher schon hier?“ „Da bin ich.“ In der offenen Tür stand ein Mann in Eisenbahneruniform. „Kollege Miękosz hat mich be42
nachrichtigt. Das ist ja schrecklich. Man kann es kaum glauben. Also wieder ein Mord in Zabiegowo? Und wie alle angenommen haben, mußte ein Mensch daran glauben, dessen Name mit dem Buchstaben ‚D‘ beginnt.“ „Haben Sie ihn gekannt?“ fragte Zajączkowski, nachdem er den Bahnhofsvorsteher begrüßt hatte. „Natürlich. Wir haben mehr als zwölf Jahre zusammen gearbeitet. Ein ruhiger Mensch, ein guter Fachmann, und nun mußte ihn ein solches Schicksal treffen. Wofür?“ „Das möchte ich auch wissen. Wo hat er denn gewohnt?“ „In Paprotnia. Sechs Kilometer von hier entfernt, in Richtung Katowice.“ „Ich weiß Bescheid. Ich kenne Paprotnia.“ „Delkot hat dort zunächst bei der Unterhaltung der Gleise gearbeitet. Dann hat er einen Lehrgang für Weichenwärter und Rangierer beendet und wurde nach Zabiegowo versetzt. Zur Arbeit fuhr er mit der Bahn. In Paprotnia hat er ein Stückchen Land und ein Häuschen.“ „War er schon älter?“ „Etwa fünfzig. Vater von vier Kindern. Seine beiden Söhne arbeiten ebenfalls bei der Bahn. Die eine Tochter ist verheiratet, die jüngste hat, glaube ich, in diesem Jahr ihr Abitur gemacht.“ „Ich verstehe“, meinte der Major mit einem leichten Kopfnicken, „Delkot hat außerhalb von Zabiegowo gewohnt, deshalb stand er nicht auf meiner Liste.“ „Aber Bescheid wußte er natürlich, daß die Miliz alle Einwohner gewarnt hat, deren Namen mit dem Buchstaben ‚D‘ beginnen“, sagte der Bahnhofsvorsteher. „Doch was nützt das? Einen Eisenbahner umzubringen, der auf dem Rangierbahnhof arbeitet, ist nicht schwierig. Es genügt, daß der Täter sich hinter einem Waggon versteckt und wartet. Danach kriecht er unter den Waggons hindurch und flieht ins freie Feld.“ 43
„Der Rangierbahnhof wird doch wohl bewacht?“ „Zwei Wächter auf mehreren Kilometern Gleisanlagen, das ist soviel wie gar nichts.“ In diesem Augenblick betraten die Kriminaltechniker und der Arzt den Dienstraum. Der Major erhob sich. „Gehen wir“, schlug er vor und fügte, an den Bahnhofsvorsteher gewandt, hinzu: „Kommen Sie mit?“ „Nein. Ich möchte mir den armen Kerl nicht ansehen. Und außerdem muß ich hierbleiben, bis der Kollege Miękosz zurückkehrt und wieder seinen Dienst übernimmt. Es sei denn, die Herren brauchen mich dort dringend.“ „Das glaube ich kaum“, erwiderte der Major. „Notfalls wissen wir ja, wo wir Sie finden können.“ „Kann man bis zu der Stelle mit dem Wagen fahren?“ erkundigte sich einer der Milizionäre. „An den Gleisen führt zwar ein schmaler Weg entlang“, erläuterte der Vorsteher, „und am Tage wäre es vielleicht möglich, ihn mit dem Wagen zu befahren, aber im Dunkeln würde ich es nicht riskieren.“ „Gehen wir“, entschied der Major. „Obersergeant Szczygielski kennt den Weg und wird uns führen.“ „Seien Sie nur vorsichtig, meine Herren, dort herrscht reger Verkehr“, warnte der Vorsteher. „Wir stellen vier Güterzüge zusammen, und die Waggons rollen ziemlich geräuschlos über die verschiedenen Gleise; vom Ablaufberg kommen sie ohne Lokomotive herunter.“ Sie gingen ziemlich lange über das Gewirr der Gleise. Das gesamte Gelände wurde von starken Scheinwerfern erleuchtet, die an hohen Metallmasten hingen. Es war also ziemlich hell. In einiger Entfernung erkannten sie ein flaches Gebäude, das auf einer etwa zehn Meter hohen Aufschüttung stand. „Das ist der Ablaufberg“, erklärte Szczygielski, der auf dem Bahnhof häufiger Dienst tat und sich hier gut auskannte. „Dieses Gebäude ist der Standort des Dispat44
chers, und dort ist auch das Stellwerk untergebracht. Von oben kann man alle Gleise überblicken und die Bewegung der Waggons dirigieren. Delkot wurde auf der anderen Seite des Ablaufberges erschossen. Etwa einen halben Kilometer hinter dem Stellwerk.“ „Wissen Sie, wer ihn gefunden hat?“ „Der Gehilfe des Dispatchers. Karol Lipkowski heißt er. Ich habe ihm gesagt, daß er im Stellwerk auf uns warten soll.“ Im Obergeschoß des Gebäudes, das eher ein quadratischer Turm war, trafen die Milizionäre drei Personen an. Den einen kannte der Major vom Sehen, da er ihm häufig auf dem Bahnhof begegnete. Das mußte der Stellvertreter des Bahnhofsvorstehers, Franciszek Miękosz, sein. Die beiden anderen stellten sich vor: Der eine war der von Szczygielski erwähnte Karol Lipkowski, der andere der Dispatcher Edward Nowak. „Waren Sie es, der den Toten gefunden hat?“ fragte der Major Lipkowski. „Können Sie uns den Hergang schildern?“ „Ich habe bemerkt“, antwortete statt des Gefragten der Dispatcher, „daß die Waggons nicht zusammengekoppelt sind, und habe den Kollegen Lipkowski losgeschickt, damit er nachsieht, was dort los ist. Lipkowski hat Delkot gesucht, ihn gerufen, schließlich fand er ihn zwischen dem dritten und vierten Gleis, auf der Erde liegend. Daraufhin alarmierte er mich und die übrigen Mitarbeiter unseres Stellwerks.“ „Wie haben Sie bemerkt, daß die Waggons nicht zusammengekoppelt sind?“ Der Major war auf diesem Gebiet nicht sonderlich bewandert. „Vielleicht darf ich Ihnen erklären“, mischte sich Miękosz ein, „worin die Arbeit dieses Stellwerks und des Ablaufberges besteht. Wenn Sie an das Fenster treten möchten?“ Drei Wände des Raumes bestanden aus großen Fens45
tern. An eines davon trat Miękosz mit den Milizionären. „Auf dieser Seite des Ablaufberges sehen Sie Eisenbahngleise, die sich fächerförmig ausbreiten. Auf der anderen Seite des Berges gibt es nur ein Gleis. Hier können wir gleichzeitig sechs oder sieben Güterzüge zusammenstellen. Aus Katowice, Bytom, Sosnowiec und anderen Städten Oberschlesiens treffen bei uns Eisenbahnwagen mit verschiedenen Bestimmungsorten ein. Wir ordnen sie und stellen sie zusammen, daß Direktzüge entstehen, die von Zabiegowo bis zu einem großen Zielbahnhof fahren, zum Beispiel nach Szczecin. Oder aber Nahgüterzüge, die auf einer festgelegten Strecke fahren und ihre Ladung zu den einzelnen Stationen bringen, die an dieser Strecke liegen. Die direkten Züge fahren natürlich schneller, sie halten kaum einmal, erst auf der Endstation. Man könnte sie Güterexpreßzüge nennen. Die Nahgüterzüge halten überall, wo ein oder mehrere Waggons abgehängt werden müssen oder wo man weitere ankoppelt.“ „Kann man denn die Züge nicht gleich in Katowice oder in Bytom zusammenstellen?“ „Ja, natürlich. In Oberschlesien gibt es mehrere große Rangierbahnhöfe, wo täglich Hunderte verschiedener Güterzüge zusammengestellt werden. Doch das alles genügt nicht. Selbst der größte Rangierbahnhof besitzt seine optimale Größe, so daß jeder weitere Ausbau den gegenteiligen Effekt hervorbringt. Deshalb muß es auch solche Bahnhöfe wie Zabiegowo geben, wohin aus den verschiedenen Gegenden Oberschlesiens die für den Norden und Westen bestimmten Güter gesandt werden; aus diesen Wagen stellen wir die entsprechenden Züge zusammen.“ „Wie geschieht das?“ Der Major war der Meinung, daß er die Ermittlungen um so besser würde führen können, je mehr Eisenbahngeheimnisse er kennenlernte. 46
„Auf den Richtungsgleisen unterhalb des Ablaufberges stellen wir die Züge zusammen. Auf dem ersten Gleis zum Beispiel einen Direktzug nach Szczecin. Auf dem zweiten einen Nahgüterzug nach Zielona Góra und Gorzów. Auf dem dritten einen Direktzug nach Wrocław, auf dem vierten einen Nahgüterzug nach Wałbrzych und Jelenia Góra. Auf dem fünften einen Nahgüterzug nach Kielce und Radom. Die Züge, die aus dem Raum Oberschlesien nach Zabiegowo kommen, fahren nacheinander von der anderen Seite den Ablaufberg hinauf. Hier werden die Züge zerlegt, und die Waggons rollen durch ihr Eigengewicht den Ablaufberg hinab, wobei sie gleich auf die entsprechenden Gleise geleitet werden. Dort koppelt der Rangierer sie zu neuen Güterzügen zusammen.“ „Und woher weiß der Rangierer, auf welches Gleis der Waggon rollen wird?“ „Er hat einen Rangierzettel, den gleichen wie ich und der Dispatcher. Außerdem sieht er, wie die Weichen gestellt sind. Das liest er an den Weichensignalen ab.“ „Trotzdem ist mir noch immer nicht klar, wie der Dispatcher von hier aus feststellen konnte, daß die Waggons nicht aneinandergekoppelt sind. Obwohl überall die Lampen brennen, ist es ziemlich dunkel und auch zu weit, um das zu erkennen.“ „Er hat das nicht gesehen, sondern gehört.“ „Was hat er gehört?“ „Wenn der Waggon vom Ablaufberg herabrollt, stößt er gegen eine Wagengruppe und wird im gleichen Moment an sie angekoppelt. Man hört deutlich einen einzelnen Stoß. Koppelt nun der Rangierer den Waggon nicht an, so prallt dieser zurück und bleibt einige Meter hinter der Wagengruppe stehen.“ „Folglich hört man auch nur einen Aufprall.“ „Richtig, Herr Major. Aber wenn wir anschließend weitere Waggons auf dieses Gleis hinablassen, dann 47
schlagen sie zunächst gegen den einzeln stehenden Wagen, worauf dieser gegen die bereits zusammengestellte Wagengruppe stößt, zurückprallt und auf die Wagen trifft, die sich zwischen ihm und dem Ablaufberg befinden. Wir hören also mindestens zwei Stöße, oft sogar mehr. An diesen Geräuschen hat Kollege Nowak nun erkannt, daß etwas nicht in Ordnung ist, und Lipkowski losgeschickt, damit er nach dem Rechten sieht.“ „Genauso war es“, bestätigten die beiden anderen Eisenbahner. „Und dann?“ „Ich gehe also auf die Gleise runter“, begann Lipkowski, „und sehe, daß an dem Sammelzug nach Kielce drei Waggons nicht angekoppelt sind. Auch an dem nach Szczecin ist ein Wagen frei. Ich rufe: ‚Delkot, was ist denn los?‘ Keine Antwort. Ich dachte, er mußte mal austreten. Manchmal muß das ja sein, nicht wahr? Ich schaue mich um, niemand zu sehen. Ich gehe über das vierte Gleis, wo Wałbrzych zusammengestellt wurde, da sehe ich von weitem etwas Dunkles zwischen den Schienen liegen. Ich trete näher. Jetzt ist mir schon klar, daß dort ein Mensch liegt. Ich laufe zu ihm. Ja, es war Delkot. Er lag auf der Erde zwischen dem dritten und vierten Gleis, den Kopf auf einer Schwelle. Ich dachte, daß er vielleicht bewußtlos ist. Ich drehe ihn um. An der Hand spüre ich etwas Feuchtes, und er sackt wieder zu Boden. Da sehe ich, daß meine Finger ganz rot sind. Und auf Delkots Uniformjacke ist auf der Brust ein einziger nasser Fleck. Da wurde mir klar, daß etwas Schreckliches geschehen war. Auf dem Nachbargleis kam gerade eine Rangierlok vorbei, die habe ich gestoppt. Der Lokführer und sein Gehilfe sind ausgestiegen und haben sich ebenfalls den Rangierer angesehen. ‚Dem kann keiner mehr helfen‘, sagten sie. ‚Der ist tot. Wir müssen die Miliz benachrichtigen.‘ Ich bin zum Stellwerk zurückgelaufen, Kollege Nowak hat so48
fort den Bahnhofsvorsteher angerufen und ihm von dem Vorfall berichtet.“ „Und ich“, warf Miękosz ein, „bin sofort zum Dienstraum der Miliz hinübergerannt.“ „Vorläufig danken wir Ihnen. Nachher fertigen wir ein offizielles Protokoll an. Jetzt gehen wir erst einmal zum Tatort. Szczygielski, kennen Sie den Weg?“ fragte der Major. „Ich gehe mit Ihnen“, erbot sich Lipkowski. „Dort herrscht jetzt starker Verkehr, da muß man sehr auf die Waggons achten.“ Der Leichnam wurde von Sergeant Bytoń bewacht. Nach einer kurzen Untersuchung stellte der Arzt fest, daß der Tod auf Grund einer Schußverletzung eingetreten war. Über die Schußrichtung ließ sich nichts mehr sagen, weil die Körperlage des Toten verändert worden war. Die Frage, aus was für einer Pistole das tödliche Geschoß stammte, konnte erst eine Sektion der Leiche beantworten. Spuren fand man nicht, nicht einmal die Patronenhülse. Die Stelle war von den Eisenbahnern, die ihren Kollegen gefunden hatten und ihm Hilfe leisten wollten, gründlich zertreten worden. Unter diesen Umständen beschränkte sich die Untersuchung auf mehrere Aufnahmen, obwohl auch sie die ursprüngliche Körperlage des Toten nicht wiedergaben. „Hat Delkot hier allein gearbeitet?“ „Ja. Nachts stehen wir nicht so unter Druck wie am Tage, so daß ein einzelner die Arbeit gut schafft. Man läßt die Wagen in solchen Abständen hinunterrollen, daß der Rangierer Zeit hat, sie an die entsprechende Wagengruppe anzukoppeln. Am Tage kann da nicht gewartet werden, und die Waggons rollen ununterbrochen. Dann braucht man natürlich mehr Leute“, erläuterte Lipkowski. „Sonst war niemand in der Nähe?“ „Auf den Nachbargleisen fuhr die Rangierlok hin und 49
her. Sie schleppte die fertigen Wagengruppen ab und stellte die leeren Wagen zusammen, die hier abgehängt werden und mit anderen Zügen nach Oberschlesien zurückkehren.“ „Und wo ist die Lok jetzt?“ Die Eisenbahner sahen sich um. „Sie kommt gleich vorbei“, erklärte einer von ihnen. „Sie holt gerade die Wagen von Gleis fünfzehn.“ „Ich möchte mit dem Lokführer und seinem Gehilfen sprechen.“ „Wenn sie hier vorbeikommen, stoppen wir sie. Sie werden gleich hier sein.“ Drei kurze Pfiffe brachten die Lokomotive, die fünf Wagen hinter sich herzog, zum Stehen. Der Lokführer und sein Gehilfe stiegen in der Nähe der Milizionäre von der Maschine. „Haben Sie gesehen, daß Delkot hier arbeitete?“ fragte der Major. „Ob es Delkot war, wußten wir nicht“, sagte der Lokführer, „weil wir auf den weiter entfernten Gleisen arbeiteten. Aber wir haben gesehen, daß jemand die Wagen ankoppelte.“ „Aber Sie kannten Delkot?“ „Na klar“, bestätigte der Gehilfe. „Wenn man so viele Jahre auf demselben Rangierbahnhof arbeitet, kennt einer den anderen.“ „Haben Sie noch andere Gestalten auf den Gleisen bemerkt?“ „Nein“, erklärten die beiden Eisenbahner übereinstimmend. „Und den Schuß? Den müßten Sie doch gehört haben.“ „Unsere Maschine macht ziemlichen Lärm. Auch die Wagen, die den Ablaufberg runterrollen, poltern auf den Schienen. Und auf den Nachbargleisen kommt alle paar Minuten ein Personenzug oder ein direkter Güterzug vorbei, der in Zabiegowo nicht hält. Hier könnte man 50
auch aus Kanonen schießen, ohne daß jemand darauf achtet.“ Wie zur Bestätigung raste im selben Augenblick ein grell erleuchteter D-Zug vorbei. Das Getöse war so groß, daß der Major nicht verstand, was die kaum zwei Meter vor ihm stehenden Männer zu ihm sagten. Der Major erteilte die notwendigen Anweisungen, die den Abtransport des Ermordeten betrafen, und kehrte mit seinen Mitarbeitern zum Bahnhofsgelände zurück. Bevor er ging, verpflichtete er alle Eisenbahner, am nächsten Tag im Kreisamt der Miliz zu erscheinen und ihre Aussagen zu Protokoll zu geben. Auf die Frage des Bahnhofsvorstehers, welches Ergebnis die bisherige Untersuchung erbracht habe, konnte Major Zajączkowski nur mit einem Schulterzucken antworten. „Wir werden das Gelände bei Tage absuchen. Vielleicht finden wir dann etwas.“ Der Eisenbahner lächelte skeptisch, kommentierte jedoch die Worte des Majors nicht, sondern bemerkte mit einem Anflug von Galgenhumor: „Nur gut, daß mein Name mit dem Buchstaben ‚R‘ beginnt. Da hab ich noch ein bißchen Zeit. Jetzt ist erst einer mit ‚E‘ an der Reihe.“ Diese Worte waren vielleicht gar nicht so abwegig. Bisher waren ermordet worden: Adamiak, Borzęcka, Czerwonomiejski und Delkot. Alle in alphabetischer Reihenfolge. Major Zajączkowski spürte, daß ihn das Entsetzen ergriff. Er hatte getan, was in seiner Macht stand, aber den neuerlichen Mord hatte er nicht verhindern können. Wie viele waren in dem einst so ruhigen und stillen Zabiegowo noch zu erwarten?
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6. KAPITEL Eine Stabsbesprechung Am vierten Tag nach dem Mord an Adam Delkot traf Oberleutnant Barbara Śliwińska in Zabiegowo ein. Tags darauf schloß sie sich im Kreisamt in dem ihr zugewiesenen Zimmer ein und begann mit dem Studium der dicken Akten. Major Stanisław Zajączkowski warf zumindest zweimal täglich einen Blick in dieses Zimmer. Doch er sah die junge Frau immer nur an dem mit Papieren bedeckten Tisch sitzen. Und wenn er sich erkundigte, wie es denn vorangehe, erhielt er von Barbara stets die Antwort, sie habe noch kein umfassendes Bild von den geheimnisvollen Morden, die die Einwohner von Zabiegowo in solche Unruhe versetzt hatten. Der Leiter wurde ungeduldig und fragte sich, was diese Frau bloß mache, wenn sie es in vier Tagen nicht geschafft hatte, die paar Ordner mit Papieren durchzulesen. Der Fall lag doch wohl klar auf der Hand. Das einzige Problem war, wie man diesen Wahnsinnigen ergreifen konnte, ehe er das nächste Verbrechen beging. „Ist sie so begriffsstutzig oder lernt sie alles auswendig?“ vertraute sich Zajączkowski Hauptmann Poleszczuk an. „Ich hatte zu Recht die schlimmsten Befürchtungen, als ich erfuhr, daß die Bezirksbehörde mir ein Weib auf den Hals schicken will.“ „Warten wir erst mal ab, was sie uns zu sagen hat.“ Der Hauptmann versuchte, seinen allzu hitzköpfigen Vorgesetzten zu beschwichtigen. Am fünften Tag teilte Śliwińska dem Leiter mit, daß sie mit dem Aktenstudium fertig sei. Der Major beschloß, sofort eine Beratung aller Offiziere einzuberufen, denn die Dinge entwickelten sich denkbar schlecht. In Zabiegowo war eine regelrechte Panik ausgebrochen, doch die Bezirksbehörde, die man ja so oft um Hilfe gebeten hat52
te, schien es damit nicht eilig zu haben. Statt dessen tadelte sie das Kreisamt in Zabiegowo dafür, daß es nicht operativ genug sei, weil es ein neues Verbrechen zugelassen habe, obwohl man hätte voraussehen können, daß das nächste Opfer jemand sein werde, dessen Name mit dem Buchstaben „D“ begann. Als Zajączkowski von seiner vorgesetzten Behörde diese Zigarre verpaßt bekam, tobte er so, daß selbst Fräulein Helenka sich fürchtete, sein Zimmer zu betreten. Nun versammelten sich alle bei Major Zajączkowski. Helenka brachte Kaffee, schenkte jedem der Offiziere ein und schloß leise hinter sich die Tür. Sie hatte strikte Anweisung, jede Störung fernzuhalten, ganz gleich, was passierte. „Genossen“, eröffnete der Major die Beratung der kleinen Gruppe, „ich brauche euch nicht erst zu erzählen, welche Lage in der Stadt und hier im Kreisamt entstanden ist. Ihr kennt sie selbst. Ich möchte feststellen, daß alle Mitarbeiter, die an der Untersuchung dieses verdammten Falls beteiligt waren, buchstäblich alles getan haben, was man tun konnte, ja manchmal sogar mehr als das. Leider ohne Erfolg. Wir sind in der Sache nicht vorangekommen und haben jetzt schon vier Tote. Was also ist zu tun? Haltet mit eurem Rat nicht hinterm Berg.“ „Leg los, Barbara“, ermunterte Hauptmann Poleszczuk die neue Kollegin, „du hast einen frischen Blick für die Dinge.“ Die sind schon ein Herz und eine Seele! ging es Zajączkowski durch den Kopf. Ihm erschien das höchst unangebracht. Diesem Poleszczuk genügt es, daß jemand einen Rock trägt und sein Gesicht etwas hübscher ist als ein verrußter Topf, und schon macht er sich ran. So ein Schürzenjäger. Und sie hat auch nichts Besseres zu tun, als ihm ihre Zähnchen zu zeigen! „Nun, ich bin ja gerade erst einmal fünf Tage in Za53
biegowo“, wehrte sich Barbara. „Vielleicht sollten zuerst erfahrenere Genossen sprechen, als ich es bin.“ „Also gut, dann fange ich an“, entschied Zajączkowski. „Wir haben es mit einem Besessenen zu tun, mit einem Verrückten oder Perversen. Mit einem Menschen, der von Mordlust beherrscht wird. Er tötet ohne Grund und ist nur auf die alphabetische Reihenfolge der Namen seiner Opfer bedacht. Die Irrationalität dieser Morde ist das größte Hindernis bei der Entdeckung des Verbrechers. Es fehlt ein Motiv, weshalb gerade Delkot sein Leben lassen mußte und nicht Dębicki oder Dederko. Diese zufällige Zusammensetzung der Opfer hat die Panik in der Stadt hervorgerufen. Ich muß bekennen, daß unsere Rolle, die Rolle der Miliz, außerordentlich schwierig ist. Wir tappen im dunkeln. Wir können den Täter nur fassen, wenn wir ihn auf frischer Tat erwischen. Und da der Verbrecher, wie wir wissen, neben anderen Mordinstrumenten auch über eine Pistole verfügt, stellt sich die Situation, von unserem Standpunkt aus gesehen, äußerst ungünstig dar. Selbst der am besten vorbereitete Hinterhalt kann den Tod des nächsten Opfers und vielleicht auch eines unserer Leute zur Folge haben.“ „Trotzdem müssen wir diesen Weg gehen. Ich sehe keine andere Möglichkeit“, unterstützte Hauptmann Poleszczuk die Ausführungen seines Leiters. „Selbstverständlich. Wer den Dienst bei der Miliz aufgenommen hat, muß bereit sein, Gefahren, ja selbst den Tod auf sich zu nehmen. Das Schlimme ist nur, daß wir denen, die am meisten gefährdet sind, keinen hundertprozentigen Schutz bieten können.“ „Den Personen, deren Name mit ‚E‘ beginnt“, ergänzte Leutnant Rzeszotko. „Zum Glück haben wir in Zabiegowo nur sieben Personen mit solchen Namen“, erläuterte Hauptmann Poleszczuk, „und in den umliegenden Gemeinden sind es elf. Einer solchen Handvoll Menschen können wir 54
schon noch persönlichen Schutz bei Tag und Nacht gewährleisten.“ „Nicht sieben, sondern sechs“, korrigierte ihn Zajączkowski. „Vor einer Stunde rief Emilianowicz, dieser Zahnarzt, hier an und teilte mir mit, daß er bis zur Klärung dieser Angelegenheit Zabiegowo verläßt. Er fügte noch hinzu, daß zwar jeder Mensch sterben muß, es ihm aber lieber ist, wenn dies nicht so bald und nicht durch die Unfähigkeit der Miliz erfolgt. Mich hätte fast der Schlag getroffen, aber was konnte ich ihm schon darauf antworten?“ „Um so besser, wenn es nur sechs sind. Dann hat der Mörder eine immer geringere Auswahl.“ „Vielleicht springt er auf den nächsten Buchstaben über? Mit ‚F‘ gibt es wahrscheinlich mehr Personen“, gab Leutnant Rzeszotko zu bedenken. „Schließlich muß er nicht unbedingt in alphabetischer Reihenfolge morden.“ „Natürlich muß er das!“ widersprach ihm der Major energisch. „Ein so verrückter Kerl ist nicht imstande, kühl zu überlegen. Wenn er sich nun mal in den Kopf gesetzt hat, daß es in alphabetischer Reihenfolge geschehen soll, dann wird er sich auch daran halten. So lange, bis er reinfällt.“ „Hoffentlich bald“, meinte Rzeszotko seufzend. „Zusammenfassend läßt sich also sagen“, schaltete sich Hauptmann Poleszczuk wieder ein, „daß wir wie eine Spinne unser Netz spannen und warten müssen, bis unsere Fliege sich darin verfängt. Seit drei Tagen schon stehen alle Personen, die das nächste Opfer dieses Verrückten werden könnten, unter der Obhut unserer Mitarbeiter. Unsere Leute sind bewaffnet und haben Anweisung, ihre Waffe auch ohne Warnung zu gebrauchen. Leider müssen wir dieses Risiko auf uns nehmen. Der Schutz ist so organisiert, daß niemand außer den Betroffenen etwas davon merken dürfte.“ 55
„Das ist unmöglich“, erklärte Oberleutnant Andrzej Stefański, der im Kreisamt für Verkehrsfragen zuständig war und bisher der Diskussion schweigend gefolgt war. „Weshalb?“ fragte Hauptmann Poleszczuk verwundert. „Deshalb, weil hier in Zabiegowo jeder jeden kennt. Die Stadt ist zu klein, als daß es möglich wäre, irgend etwas zu verheimlichen. Unsere Leute wird man auf der Straße immer erkennen, ganz gleich, ob sie in Uniform herumlaufen oder in Volkstracht. Der Verbrecher ist ein Einwohner unserer Stadt. Er kennt bestimmt, und wenn es nur vom Sehen ist, unseren gesamten Offiziers- und Unteroffizierskader. Er wird also so lange still sitzen, bis wir die Schutzmaßnahmen aufheben. Schließlich können wir sie nicht bis in die Unendlichkeit ausdehnen. Und am Tag darauf wird er dann kaltblütig das nächste Opfer umbringen.“ „Dann gibt es also Ihrer Meinung nach“, rief Major Zajączkowski erregt, „keinerlei Möglichkeit, diese Kette von Morden zu zerreißen?“ „Das habe ich nicht behauptet“, verteidigte sich Stefański. „Ich will damit nur sagen, daß die von Hauptmann Poleszczuk vorgeschlagene Methode erfolglos bleiben muß.“ „Und was schlagen Sie statt dessen vor?“ „Ich weiß es wirklich nicht.“ „Vielleicht sollten wir lieber Beobachter aus anderen Städten und aus der gesamten Wojewodschaft einsetzen?“ meinte Leutnant Rzeszotko. „Wir ziehen demonstrativ unsere Leute ab, und die anderen, die kein Mensch kennt, übernehmen in aller Stille, so daß es nicht einmal die Betroffenen merken, den Schutz. Das könnte den Verbrecher täuschen; er würde sich sicher fühlen und versuchen, seine verbrecherische Tätigkeit fortzusetzen.“ „Die Methode ist vielleicht ganz gut, aber leider undurchführbar. Die Lage in anderen Städten und in der 56
gesamten Wojewodschaft sieht zur Zeit so aus, daß wir ausschließlich auf unsere eigenen Kräfte angewiesen sind. Wirksame Hilfe hätten wir frühestens Anfang Oktober zu erwarten.“ „Bis dahin ist unser Herr X das halbe Alphabet durch“, meinte Hauptmann Poleszczuk mit einem bitteren Lächeln. „So schlimm wird es nicht kommen“, meldete sich plötzlich Oberleutnant Śliwińska zu Wort. „Glaubst du das wirklich, Barbara?“ Der Hauptmann schien unterstreichen zu wollen, auf welch vertrautem Fuß er mit dem hübschen Mädchen stand. „Ich glaube es nicht. Ich bin überzeugt davon.“ „Vielleicht könnten Sie uns das etwas eingehender erläutern?“ Den Major ärgerte die ruhige Gewißheit der jungen Frau. „Bitte sehr“, Barbaras Wangen röteten sich leicht vor Aufregung, „ich will versuchen, mich möglichst kurz zu fassen.“ „Wir haben Zeit bis zum nächsten Mord“, brummte Stefański. „Ich bitte um Entschuldigung, daß ich es wage, Genossen zu kritisieren, die mir – was Dienstgrad, Alter und Erfahrung betrifft – überlegen sind. Aber mir scheint, daß in dieser Angelegenheit ein grundsätzlicher Fehler begangen wurde.“ „Welcher?“ fuhr Major Zajączkowski auf, der diese Worte durchaus auf sich beziehen durfte, denn er leitete ja von Anfang an die Ermittlungen. „Man hat die Hypothese aufgestellt, daß wir es mit einem Wahnsinnigen oder Besessenen zu tun haben, und in dieser Richtung wurden auch die Ermittlungen geführt.“ „Wie sonst soll man die Tatsache erklären, daß die Menschen in der alphabetischen Reihenfolge ihrer Namen ermordet werden?“ 57
„Wollte ich Major Zajączkowski umbringen“, meinte Barbara lächelnd, „so würde die Untersuchung einen ganz normalen Verlauf nehmen. Man würde versuchen, Antwort auf die Frage zu finden, wem das Verbrechen nützt, wem besonders daran gelegen war, den Leiter dieses Amtes aus dem Kreis der Lebenden zu entfernen. Wenn ich jedoch der Reihe nach Uzdowski, Wojtaszek, Zajączkowski und Żebrowski ermorde, wird niemand die Ursache des Mordes an Zajączkowski untersuchen, sondern alle werden nach einem Unzurechnungsfähigen, einem Besessenen suchen.“ „An dem, was Barbara sagt, ist etwas dran“, brummte Stefański, und der Major erfuhr auf diese Weise, daß Poleszczuk nicht der einzige war, der sich mit der neuen Kollegin bereits angefreundet hatte. Was doch ein hübsches Lärvchen ausmacht! „Das ist eine These, die sich nicht beweisen läßt“, widersprach Poleszczuk. „Eure These von dem Wahnsinnigen wird auch durch keinerlei Fakten bewiesen.“ „Der Beweis sind die Toten. Und zwar gleich vier.“ „Ein ebensolcher Beweis sind sie für meine Überlegungen. Ich habe alle Bücher über Kriminalistik durchgesehen, natürlich nur die in polnischer Sprache.“ „Alle beide“, meinte Stefański lächelnd. „Ein paar mehr waren es schon“, entgegnete Barbara. „Außerdem habe ich die verschiedenen Pitavale gelesen, auch die Prozesse unserer einheimischen ‚Vampire‘. Eines wiederholt sich dort immer wieder. Diese Triebverbrecher oder ‚Besessenen‘, wie Hauptmann Poleszczuk sie nennt, besitzen bei all ihrer Schlauheit, die es ihnen zuweilen gestattet, ihr mörderisches Handwerk recht lange zu betreiben, keine Phantasie. Sie töten nach einem fest umrissenen Schema.“ „Fast jeder Berufsverbrecher hat seine bevorzugte Technik, derer er sich auch meist bedient.“ Leutnant 58
Rzeszotko hielt es für richtig zu betonen, daß auch er sich in diesen Dingen auskannte. „Das ist wahr“, stimmte ihm Oberleutnant Śliwińska zu. „Gewöhnlich gehen sie stets nach der gleichen Methode vor. Die Technik des einen Geldschrankknackers läßt sich leicht von der eines anderen unterscheiden. Hier jedoch haben wir es mit einem ganz anderen Fall zu tun. Vier Morde und gleich drei Arten der Ausführung. Zuerst ein spitzes Messer, dann eine Axt, und erst die nächsten beiden Verbrechen wurden mit Hilfe einer Pistole ausgeführt. Der Grund ist übrigens einleuchtend.“ „Und was ist der Grund?“ fragte der Major. „Die Bedingungen, unter denen die letzten beiden Morde ausgeführt wurden, setzten den Gebrauch einer Pistole voraus.“ „Das verstehe ich nicht“, bemerkte Oberleutnant Stefański. „Sehen Sie sich bitte die Aufnahme an, auf der das Gesicht Czerwonomiejskis abgebildet ist. Es drückt ungeheures Entsetzen, aber auch Verwunderung aus. Dieser Mann hätte den Mörder nicht näher an sich herangelassen. Zumindest hätte er mit ihm gekämpft. Immerhin hatte er ein Messer in der Hand. Die Spuren eines solchen Kampfes wären im Gewächshaus und vielleicht auch an der Person des Verbrechers zu erkennen gewesen. Mit einer Pistole dagegen kann man den Betreffenden auf eine bestimmte Entfernung in Schach halten.“ „Aber der Schuß auf Czerwonomiejski“, erinnerte Zajączkowski, „wurde aus geringer Entfernung abgegeben. Zweieinhalb bis drei Meter, wie die Experten festgestellt haben.“ „Das schließt nicht aus, daß der Mörder sein Opfer schon vorher mit der Pistole eingeschüchtert und sich ihm dann, immer mit vorgehaltener Pistole, auf drei Meter genähert hat, um nichts zu riskieren und es mit 59
einem einzigen Schuß töten zu können. Noch deutlicher wird dies sichtbar, wenn wir die Umstände von Delkots Tod betrachten. Der Eisenbahner hat inmitten rollender Waggons gearbeitet. Er wußte, daß er auf diesem Gelände allein war. Und er hatte auch bestimmt vom ‚Abc-Mörder‘ gehört, wie man ihn hier in Zabiegowo gewöhnlich nennt. Der Name des Eisenbahners begann ebenfalls mit dem Buchstaben ‚D‘. Als Einwohner des Nachbarortes fühlte Delkot sich vielleicht nicht so bedroht wie die Leute in Zabiegowo, deren Namen mit dem gleichen Buchstaben begannen, aber einen Fremden hätte er in dieser Einöde bestimmt nicht näher an sich herangelassen.“ „Ebensogut konnte es ein guter Bekannter von ihm sein.“ „Selbst die Anwesenheit des besten Bekannten um Mitternacht auf einem Rangierbahnhof würde jedem verdächtig erscheinen. Um so mehr dann, wenn die ganze Stadt von Panik erfaßt ist. Anders verhält es sich da mit einem Schuß aus dem Hinterhalt auf einen nichtsahnenden Eisenbahner. Danach braucht er nur über die Felder zurück zur Stadt zu fliehen. Eine Pistole gab dem Verbrecher das Gefühl hundertprozentiger Sicherheit. In meinen Überlegungen gehe ich davon aus, daß sowohl Czerwonomiejski als auch Delkot aus derselben Waffe und von der Hand desselben Menschen getötet wurden, denn theoretisch hätte es auch ganz anders sein können, eine dritte Person hätte den Umstand nutzen können, daß wir einen Mörder suchen, und auf dessen Konto eine persönliche Rechnung begleichen können.“ „Es war dieselbe Waffe“, erklärte der Major. „Heute sind aus Katowice die Ergebnisse der Expertise eingetroffen. Ich bin noch nicht dazu gekommen, sie zu der Akte zu geben.“ „Ich war überzeugt davon, daß wir es in allen diesen Fällen mit ein und demselben Verbrecher zu tun haben.“ 60
„Schön, Barbara, und welche Schlußfolgerungen ziehst du nun aus dem bisher Gesagten?“ fragte der Hauptmann. „Ich bin der Meinung, daß der Verbrecher, um sich Straffreiheit zu sichern und die Ermittlungen auf ein falsches Gleis zu lenken, drei zufällig ausgesuchte Menschen ermordet hat und außerdem diesen vierten, den er wirklich beseitigen wollte.“ „Delkot?“ „Nicht unbedingt. Jedenfalls einen von diesen vier.“ „Und warum nicht einen von sechs oder neun Leuten?“ Major Zajączkowski konnte seine Verärgerung über die Ausführungen dieser Frau und ihre kühle Selbstsicherheit kaum verbergen. „Einen von neun deshalb nicht, weil der Verbrecher sich im klaren darüber ist, daß sich das Risiko für ihn mit jeder Tat zum Quadrat vergrößert. Vier Opfer stellen für ihn die beste Konstellation dar. Ein Mord hat Verwunderung hervorgerufen. Den zweiten hat noch niemand mit dem ersten in Verbindung gebracht. Beim dritten fingen die Leute an zu überlegen, ob wir es nicht mit einem Verrückten zu tun haben. Der vierte Mord schließlich hat nicht nur die öffentliche Meinung von Zabiegowo in dieser Ansicht bestärkt, sondern die des ganzen Landes, sogar die Experten der Miliz. Der Verbrecher hat sein Ziel mit einem verhältnismäßig geringen Risiko erreicht. Wozu also braucht er weitere Leichen?“ „Sie behaupten also, daß nach den vier Morden in Zabiegowo Ruhe einkehren wird?“ „Dessen bin ich mir völlig sicher. Um so mehr, als der Verbrecher eine ideale ‚Ausrede‘ hat, seine Tätigkeit einzustellen.“ „Welche?“ „Die, daß er den Buchstaben ‚E‘ erreicht hat, daß es in der Stadt nur wenige Namen gibt, die mit diesem 61
Buchstaben anfangen, daß alle Personen, die einen solchen Namen tragen, unter dem Schutz der Miliz stehen. Die öffentliche Meinung wird sich die nachlassende Aktivität des Verbrechers gern damit erklären, daß er es mit der Angst zu tun bekommen hat und nun, wenigstens vorläufig, Ruhe gibt. Dabei würde es doch ein Besessener, wie er im Buche steht – und für einen solchen hält man ja wohl den Verbrecher auch in diesem Zimmer –, nicht mit seiner Ehre vereinbaren können, auch nur einen Buchstaben des Alphabets auszulassen.“ „Sie sind also der Meinung“, sagte der Leiter bissig, „daß alle Vorsichtsmaßnahmen, die ich angeordnet habe, nicht den geringsten Sinn haben, nicht wahr?“ Oberleutnant Barbara Śliwińska wurde verlegen. „Das habe ich doch nicht gesagt“, erwiderte sie. „Aber das geht deutlich aus Ihrer Behauptung hervor, daß es keine weiteren Morde mehr geben wird. Ist es nicht so?“ „Ich bin überzeugt, daß es sie nicht geben wird“, bestätigte Barbara, „doch bei einem Fall wie diesem kann man nie vorsichtig genug sein. Deshalb bin ich auch der Meinung, daß die Anordnungen, Genosse Major, die Sie getroffen haben, richtig sind und bestehen bleiben sollten …“ „Ich freue mich, daß Sie uns wenigstens soviel zubilligen“, unterbrach sie Zajączkowski. „… aber“, beendete Barbara ihren Gedanken, „diese Maßnahmen werden nicht zur Ergreifung des Mörders führen.“ „Und was könnte Ihrer Ansicht nach dazu führen?“ „Ausschließlich sehr sorgfältige und genaue Ermittlungen. Die Untersuchung eines jeden Mordes für sich als auch im Gesamtzusammenhang. Das ist die einzige Methode, das Ende des Fadens zu finden, der uns schließlich zum Ziel führen wird.“ 62
„Ihrer Meinung nach wurden die Ermittlungen schlecht geführt?“ Der Major kochte vor Wut. „Leider ja.“ Barbara nickte betrübt. „Vielleicht gar nicht einmal so schlecht wie oberflächlich. Das trifft vor allem auf die beiden ersten Fälle zu, denn die Fehler in den beiden übrigen sind die logische Folge der falschen Annahme, daß die Verbrechen das Werk eines Wahnsinnigen sind.“ „Welche Fehler sollen wir denn begangen haben?“ Hauptmann Poleszczuk fühlte sich ebenfalls durch die harte Kritik des Gastes aus Częstochowa gekränkt. „Es handelt sich in der Tat um einen unerhört schwierigen Fall.“ Barbara war sichtlich bemüht, die entstandene Spannung zu mildern. „Aber die Ermittlungen wurden wirklich allzu oberflächlich geführt. In keinem der vier Fälle wurde versucht, die grundsätzliche Frage nach dem Nutznießer zu beantworten, die schon im römischen Recht bekannt war: ‚Is facit, cui prodest‘, also der ist der Täter, der den Nutzen davon hat. Was wissen wir über die beiden ersten Opfer? So gut wie nichts. Ein junger Rowdy, der sich, immer einen Schritt vom Gefängnis entfernt, durch das Leben mogelt, und eine mit Wodka oder Selbstgebranntem handelnde Greisin. Man hat ein paar Kontakte dieser Leute festgestellt, das ist alles. Wir kennen weder ihre Vergangenheit noch ihren Charakter. Das Milieu, in dem sie sich bewegten, wurde durch flüchtige Befragungen nur gestreift, und auch nur unter dem Gesichtspunkt, so schnell wie möglich jemanden zu finden, den man wegen des Verbrechens verdächtigen könnte. Ich gebe zu, daß bei gewöhnlichen Verbrechen eine solche Art genügt. Aber nicht in einem so schweren Fall.“ „Jetzt haben wir aber unser Fett abbekommen“, meinte Hauptmann Poleszczuk lachend. Ihm imponierten der Eifer und die Offenheit der Kollegin, die sich nicht gescheut hatte, ihren Vorgesetzten ins Gesicht zu 63
sagen, was sie von deren Arbeit hielt. „Du gehst ja scharf ran, Barbara!“ „Sei nicht zu süß“, parierte das Mädchen, „sonst benutzen sie dich als Lutscher. Wußtest du das nicht?“ „Sprechen Sie weiter.“ Der Major war bemüht, als Leiter einer Stabsbesprechung Unparteilichkeit zu wahren. „Meiner Meinung nach muß man ganz von vorn beginnen, sozusagen bei ‚A‘ anfangen.“ „Stimmt genau. Mit Adamiak!“ Oberleutnant Stefański war relativ wenig an dem Fall beteiligt, deshalb regte er sich auch nicht auf und verlor nicht seine gute Laune. „Richtig, mit Adamiak, wobei wir die nächsten drei Opfer nicht vergessen dürfen. Das, was wir in den Akten haben, können wir vergessen und mit den Ermittlungen bei Null beginnen. Wir müssen diese Menschen genau kennenlernen, ihre Vergangenheit und ihre Charaktere erforschen, jedes, auch das kleinste Geheimnis kennenlernen.“ „Was gibt uns das? Wir schreiben keinen psychologischen Roman, sondern führen Ermittlungen, um vier Morde aufzuklären.“ „Das habe ich nicht einen Augenblick lang vergessen. Wenn wir die Opfer eingehend kennenlernen, finden wir wenigstens in einem der Lebensläufe einen dunklen Punkt. Irgend etwas, was uns bei der späteren Identifizierung des Verbrechers helfen könnte, was uns in die Lage versetzen würde, ein Motiv für seine Tat zu finden. Auch über die Psyche des Mörders sollten wir uns Gedanken machen. Aus den Fakten können wir schon heute bestimmte Schlußfolgerungen über seine Person ziehen.“ „Da bin ich aber gespannt“, knurrte der Major. „Zu Befehl, Genosse Major.“ Barbara ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. „Ich würde den Verbrecher 64
als kalten und rücksichtslosen Menschen charakterisieren, der, um sein Ziel zu erreichen, über Leichen geht Um einen Menschen zu töten, hat er kaltblütig drei weitere Personen ermordet. Ich bin sicher, daß er nicht zum erstenmal einen Menschen tötet. Er ist ein Rückfalltäter.“ „Bravo!“ Stefański lächelte der neuen Kollegin wohlwollend zu. „Außerdem muß diesem Menschen von einem der Opfer ein großes Unrecht zugefügt worden sein, ob es wirkliches oder eingebildetes Unrecht war, möchte ich dahingestellt bleiben lassen. Er ist ein rachsüchtiger Mensch, der seine Rache jahrelang heimlich mit sich herumgetragen hat. Ich bitte darauf zu achten, daß bei keinem der vier Verbrechen der Täter auch nur den Versuch unternommen hat, den Eindruck zu erwecken, es könnte sich um Raub oder um die Erlangung eines materiellen Vorteils handeln. Wir können also mit Sicherheit davon ausgehen, daß das Tatmotiv Rache ist.“ „Oder Liebe“, warf Leutnant Rzeszotko ein. „Liebe könnte ein solches Motiv sein, wenn nicht eines der Opfer eine dreiundsiebzigjährige Greisin wäre.“ „Mit der Liebe weiß man nie so recht“, wandte Oberleutnant Stefański ein. „Vielleicht handelt es sich um einen Liebhaber, der vor Jahren einmal einen Korb bekommen hat!“ Alle lachten. Dem Oberleutnant war es gelungen, sein Ziel zu erreichen. Sogar der Major lächelte schwach. „Ich fürchte“, sagte er, „daß diese Art von Ermittlung, wie sie der neuen Kollegin vorschwebt, unter unseren Bedingungen sehr schwierig, wenn nicht gar undurchführbar sein wird. Wir haben zu wenig Leute, und auf irgendwelche Hilfe von außerhalb dürfen wir nicht rechnen.“ „Für euch, die männlichen Vertreter der Miliz, sind solche Ermittlungen natürlich undurchführbar. Den 65
Männern fehlt die erforderliche Intuition. Hier ist weibliches Feingefühl gefragt, um Wahrheit von Lüge, Wohlwollen von Abneigung und einem Täuschungsversuch unterscheiden zu können. Ein Mann ist einfach zu dickfellig, um sich in bestimmte Situationen hineinversetzen zu können, sie zu verstehen und konkrete Schlußfolgerungen daraus zu ziehen.“ „Jetzt haben wir aber eine Abreibung bekommen!“ Stefański amüsierte sich köstlich. Die übrigen Beratungsteilnehmer wußten nicht recht, ob sie die Worte ihrer Kollegin ernst nehmen und sich gekränkt fühlen sollten oder ob es besser war, sie als Scherz aufzufassen und darauf mit Gelächter zu reagieren. Schließlich wählten sie letzteres. „Und was die Hilfe betrifft“, Barbara geriet immer mehr in Eifer, „so sollten wir nicht auf Katowice oder das Präsidium der Miliz in Warschau blicken, sondern hier, in Zabiegowo, Hilfe suchen.“ „Willst du die ORMO, die Freiwilligen Helfer der Bürgermiliz, mobilisieren?“ erkundigte sich der Hauptmann. „Natürlich nicht. Ich denke an die hiesige Bevölkerung.“ „Vielen Dank!“ rief Hauptmann Poleszczuk erschrocken. „Wir haben mehr als achthundert Briefe und Telefonanrufe erhalten. Mit sehr verschiedenen Hinweisen. Die Sohlen haben wir uns abgelaufen, um diesen Berg von Informationen zu überprüfen. Und nicht ein einziger Anhaltspunkt war dabei. Nicht ein einziger.“ „Ihr habt die Bevölkerung ebenfalls getäuscht. Also ist es kein Wunder, wenn Ihr falsche Hinweise erhalten habt.“ „Wieso haben wir die Bevölkerung getäuscht?“ rief der Major empört. „Ihr habt nach einem Verrückten gesucht. Statt dessen hätte die Vergangenheit der Opfer erforscht und der 66
Mörder unter den normalen Menschen gesucht werden müssen. Ich bin überzeugt, daß die Bevölkerung uns helfen wird. Besser, als dies Bataillone von Kriminalisten tun könnten.“ „Welche Schlußfolgerungen für Ihre Arbeit ziehen Sie aus dieser Beratung?“ fragte Major Zajączkowski trocken. „Die Ermittlungen auszuweiten. Die Vergangenheit der Opfer dieses geheimnisvollen Mörders genau zu untersuchen.“ „Wer soll das tun?“ „Ich“, antwortete Barbara kurz. „Sie allein?“ „Nein. Mit Hilfe der Einwohner von Zabiegowo.“ „Sie laden sich da eine große Verantwortung auf.“ „Darüber bin ich mir im klaren. Aber ich scheue diese Verantwortung nicht.“ „Schön. Wir nehmen das Angebot an. Für alle Fälle bleiben meine früheren Anordnungen in Kraft. Und die Ermittlungen werden wir auch in der bisherigen Richtung weiterführen.“ „Wie Sie meinen, Genosse Major.“ „Natürlich möchte ich ständig über den Verlauf Ihrer Arbeit unterrichtet werden“, betonte Major Zajączkowski. „Ebenso können Sie mit unser aller Hilfe rechnen. Hier geht es nicht um persönlichen Ehrgeiz oder um die Erlangung eines spektakulären Erfolgs, sondern darum, einen gefährlichen Verbrecher, den Mörder von vier Menschen zu ergreifen.“ „Zu Befehl, Genosse Major.“ Nach der Beratung ging wieder jeder an seine Arbeit. Im Zimmer blieben nur der Major und der Hauptmann. „Was hältst du davon?“ fragte Zajączkowski den Freund. „Die Kleine macht mir Spaß. Und wie selbstsicher sie ist.“ 67
„Ich würde eher sagen: eine dumme, eingebildete Gans!“ Der Major konnte die Kritik der jungen Frau nicht verwinden. „Und mit welcher Unverschämtheit sie sich über die Männer geäußert hat! Als wüßte ich nicht, daß sie sich bei euch einzuschmeicheln versucht und euch schöne Augen macht.“
7. KAPITEL Die Aussage der Serviererin „Deine Frau ist in den Ferien, du hast einen freien Abend“, sagte Barbara Śliwińska zu Hauptmann Zygmunt Poleszczuk, „folglich könntest du mir Zabiegowo zeigen.“ „Sehr gern. Was möchtest du sehen?“ „Das Nachtleben eurer Stadt.“ „Das wird nicht so einfach sein. In der ‚Karolinka‘ ist zwar Tanz, aber nur bis zwölf.“ „Wir gehen nicht in die ‚Karolinka‘, zunächst trinken wir im ‚Sternchen‘ Kaffee, und dann essen wir in der ‚Śląska‘ Abendbrot.“ „Um Gottes willen, in die ‚Śląska‘ willst du? Das ist doch eine schreckliche Spelunke. Es vergeht kaum eine Woche, in der unsere Streifen dort nicht einschreiten müssen. Aber wie ich sehe, kennst du Zabiegowo ausgezeichnet. Zumindest, was die Lokale betrifft.“ „Eine alleinstehende Frau muß schließlich irgendwo zu Mittag essen und ab und zu einen Kaffee trinken.“ „Die Kantine, in der wir alle essen, ist der gnädigen Frau wohl nicht gut genug?“ „Von Zeit zu Zeit muß man in das Kantinenessen Abwechslung bringen.“ „Ich rate dir trotzdem zur ‚Karolinka‘. Das Lokal ist ganz ordentlich, über die Küche kann man sich ebenfalls 68
nicht beklagen, und das Publikum ist ganz anders als in der ‚Śląska‘.“ „Dieses andere Publikum interessiert mich überhaupt nicht. Da ziehe ich das aus der ‚Śląska‘ vor.“ „Ich dachte schon, du hast mich einfach so, aus Herzenssehnsucht, eingeladen. Aber wie ich sehe, geschieht das dienstlich.“ „Man kann doch das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden, meinst du nicht auch?“ „Mir scheint, du willst dich lustig über mich machen.“ „Durchaus nicht. Ich möchte mir einfach mal Adamiaks Kumpane ansehen, und die treffe ich bestimmt nicht in der ‚Karolinka‘, wo ja wohl die angesehenen Bürger der Stadt verkehren. Ich esse seit ein paar Tagen in der ‚Śląska‘ zu Mittag. Sie kennen mich dort schon. Aber abends kann ich nicht allein hingehen.“ „Du möchtest also, daß ich dir als Anstandswauwau diene?“ „Als angenehme Gesellschaft.“ „Und was bekomme ich dafür?“ „Ich wußte nicht, daß du so berechnend bist.“ „So ist nun mal die Welt.“ „Nun, ich werde … ich werde zu dir so nett sein, wie ich nur kann. Sowohl im ‚Sternchen‘ als auch in der ‚Śląska‘. Einverstanden?“ „Nun ja … Und später?“ „Später rechne mit nichts mehr. Ich sage dir das im voraus, damit du dann nicht enttäuscht bist.“ Am späten Nachmittag holte Zygmunt Barbara ab. In einem eleganten, aber unauffälligen Kleid und frisch frisiert, präsentierte sich Frau Oberleutnant überaus interessant. Sie traten auf die Straße. Der Hauptmann legte den Arm um das Mädchen und zog es leicht an sich. Barbara protestierte nicht. Sie nahm auch nicht die Hand aus der seinen. Sie gingen wie ein verliebtes Paar die Straße ent69
lang. Die Vorübergehenden betrachteten sie mit vielsagenden Blicken. Die meisten grüßten sie auch. Den Offizier der Miliz kannte ja fast jeder im Städtchen, und die Personalien des jungen Mädchens stellten ebenfalls kein Geheimnis mehr dar. „Ich könnte wetten,“ meinte Barbara lachend, „daß du für diesen Spaziergang und das Händchenhalten eins auf den Deckel bekommst, wenn deine Frau aus dem Urlaub zurück ist.“ Poleszczuk lächelte, ließ aber für alle Fälle Barbara los und rückte ein wenig von ihr ab. „Meine Frau weiß“, prahlte er, „daß ein Milizionär zuweilen bestimmte Dinge tun muß, wenn es der Dienst erfordert.“ „Na schön, wart’s nur ab.“ Ihr Erscheinen in dem einzigen Café von Zabiegowo rief eine kleine Sensation hervor. Sie wurden Gegenstand eindringlicher Beobachtung, einige Gäste zogen es vor, eilig ihre Rechnung zu bezahlen und das Lokal zu verlassen. Die Serviererin trat an den Tisch. „Für Frau Oberleutnant wie gewöhnlich ein Eis oder etwas anderes? Und Sie, Herr Hauptmann?“ Sie gaben ihre Bestellung auf, und als die Serviererin sich entfernt hatte, bemerkte Poleszczuk: „Da siehst du, wie das bei uns zugeht. Versuche mal, hier irgend jemanden zu beobachten oder etwas über ihn zu erfahren. Die Einwohner kennen uns mit Dienstgrad, mit Namen und wissen sogar, wo jeder von uns wohnt. Unter diesen Umständen ist es schwierig, irgend etwas herauszubekommen.“ „So schwierig ist das gar nicht“, widersprach das Mädchen. „Man muß eben das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen, ihr erklären, daß sie uns helfen sollte. Im Interesse der Allgemeinheit und in ihrem eigenen. Dann wird die Tatsache, daß jeder jeden kennt, nicht zum Hindernis, sondern zu einer Trumpfkarte für uns.“ 70
„Du bist eine Optimistin. Ich bin neugierig, wie du das Vertrauen dieser Strolche gewinnen willst. Du hast ja selbst gesehen, wie sie sich bei unserem Anblick davongemacht haben.“ „Ihr Vertrauen brauche ich nicht unbedingt. Mir genügt das derjenigen, die sie kennen und mir erzählen, was ich erfahren möchte.“ „Ich trinke auf deinen Erfolg.“ Der Hauptmann hob sein Glas an die Lippen. „Auf unseren Erfolg“, korrigierte ihn das Mädchen. Nach einer angenehm verbrachten Stunde im Café warf Frau Oberleutnant einen Blick auf die Uhr und entschied: „Ein Viertelstündchen bleiben wir noch hier, dann gehen wir in die ‚Śląska‘.“ Zygmunt machte ein unzufriedenes Gesicht. „Was hast du dich so auf diese Kneipe versteift? Falls du Hunger hast, lade ich dich in die ‚Karolinka‘ ein. Dort können wir auch tanzen.“ Doch alle Überredungskünste des Offiziers halfen nichts. Barbara ließ sich nicht überzeugen. Als sie das Lokal betraten, war die Stimmung auf dem Höhepunkt. Die Hälfte der anwesenden Gäste hätte die Prüfung, auf einem Brett entlangzubalancieren, bestimmt nicht bestanden. Die Tische waren alle besetzt. Auf jedem stand entweder eine Batterie leerer Bierflaschen oder zumindest eine Halbliterflasche Schnaps. Dafür sparte man eindeutig am Essen. Nur vereinzelt zeugten Reste auf den Tellern davon, daß eine warme Mahlzeit verzehrt worden war. Es überwogen marinierte Heringe oder Wurst und saure Gurken. Beim Anblick der beiden Milizangehörigen wurde es im Saal zunächst still. Da und dort rief man nach der Rechnung. Den neuen Gästen eilte Herr Stanisław entgegen, der in der „Śląska“ gleich eine dreifache Funktion ausübte: die des Saalchefs, des Garderobiers und – falls notwendig – die eines Rausschmeißers. Für letztere 71
Funktion war der athletische ehemalige Boxer besonders gut geeignet. „Der Herr Hauptmann bei uns? Dienstlich?“ „Aber woher denn“, entgegnete Barbara lachend. „Wir sind nur vorbeigekommen, um Abendbrot zu essen. Schade, daß kein Tisch frei ist.“ Herr Stanisław zeigte keinerlei Verwunderung. Er verriet auch mit keiner Miene, daß er diesen Versicherungen nicht glaubte. Dies war kein Lokal, das die Miliz nur deshalb aufsuchte, um sich zu stärken. Und schon gar nicht zwei Offiziere der „K“. „Für so liebe Gäste muß sich einfach ein Tisch finden. Wo möchten Sie gern sitzen? Vielleicht dort am Fenster?“ Der Saalchef trat an den Tisch und wechselte ein paar Worte mit der bereits angeheiterten Gesellschaft von Biertrinkern. Die Zechbrüder nickten und setzten sich widerspruchslos zu ihren Nachbarn, die sich an drei zusammengestellten Tischen vergnügten. Die Serviererin hatte schon das Schlachtfeld leerer Flaschen, Gläser und überfüllter Aschenbecher abgeräumt und brachte eine frische Tischdecke. „Wenn Sie gestatten …“ Herr Stanisław wies stolz auf das Tischchen. „Sie dürfen Platz nehmen.“ „Ich kann Ihnen erstklassige Schnitzel empfehlen“, riet ihnen die Serviererin. „Wir haben ganz frisches Kalbfleisch bekommen.“ „Also gut, nehmen wir Schnitzel“, stimmte der Hauptmann zu. „Doch vorher“, entschied Barbara, „Hering in Sahne und ein halbes Fläschchen Wodka. Und wenn Sie auch noch Salzkartoffeln hätten …“ „Leider. Um diese Zeit?“ entschuldigte sich die Serviererin. „Nun, dann eben Brot und Butter. Und zwei Flaschen Selters.“ 72
„Kommt sofort.“ Die Serviererin bedachte die Frau Oberleutnant mit einem anerkennenden Blick. „Mädel, was soll das?“ fragte Zygmunt belustigt, aber auch ein wenig erschrocken. „Morgen wird die ganze Stadt davon reden, wie die Miliz in der ‚Śląska‘ gesumpft hat.“ „Laß sie reden. Ein bißchen liegt mir sogar daran.“ „Bist du immer noch im Dienst?“ „Was glaubst du denn?“ „Dabei war es im ‚Sternchen‘ so nett!“ „Ach, Zygmunt, Zygmunt …“ Barbara drohte ihm mit dem Finger. „In drei Tagen ist deine Frau aus den Ferien zurück, und du möchtest das unbedingt vergessen.“ „Ich dachte …“ „Du dachtest, dein persönlicher Charme wirkt so auf mich?“ Barbara lachte ihrem Kollegen ins Gesicht. „Gib mir eine Zigarette.“ „Verdammt, ich hab sie im ‚Sternchen‘ liegenlassen. Ich bringe dir gleich welche.“ Der Offizier hatte sich noch nicht erhoben, da war der aufmerksame Herr Stanisław schon bei ihnen. „Herr Hauptmann haben die Zigaretten vergessen? Ich bringe sofort welche. Dürfen es ‚Piast‘ sein? Und Streichhölzer auch?“ „Ja, bitte.“ Herr Stanisław eilte zum Tresen, und der Hauptmann bemerkte: „In diesem Nest wissen sie sogar, welche Zigarettenmarke der jeweilige Milizionär raucht.“ „Das finde ich ausgezeichnet. Wenn sie soviel über die Miliz wissen, dann wissen sie über ihre Nachbarn noch mehr. Darum geht es mir ja.“ Die Serviererin brachte die Gedecke und kehrte einen Augenblick später mit den Vorspeisen wieder. Sie gab sie auf die Teller, füllte die Selters in die Gläser und schenkte in zwei kleinere Gläschen Wodka ein. Ganz wie in einem vornehmen Lokal der Kategorie „Lux“. 73
„Guten Appetit“, wünschte sie. „Fräulein Jadwiga“, Barbara hielt das Mädchen zurück, „wir kennen uns doch eigentlich schon, nicht wahr? Seitdem ich in Zabiegowo bin, esse ich täglich hier.“ „Ich hoffe doch, Frau Oberleutnant, daß Ihnen unsere Küche zusagt.“ „Ganz bestimmt. Aber heute hätte ich gern mit Ihnen angestoßen. Es gibt nämlich einen Anlaß: Ich habe Geburtstag.“ Der Hauptmann betrachtete seine Kollegin verwundert, sagte jedoch kein Wort. „Uns ist es nicht erlaubt, mit den Gästen zu trinken.“ „Nur ein Gläschen. Zu meinem Ehrentag. Tun Sie mir den Gefallen, ich bitte Sie. Bringen Sie noch ein Gläschen.“ „Wenn das der Chef sieht, kann ich was erleben.“ Die Serviererin sträubte sich noch immer. „Wir bringen das schon in Ordnung“, schaltete sich nun auch Zygmunt ein. „Herr Stanisław ist doch ein alter Freund von mir.“ „Nun, das ist etwas anderes. Ich bedanke mich für die Einladung und hole nur noch schnell das Gläschen.“ In einer Kneipe wie der „Śląska“ benutzte man natürlich keine kleinen Gläschen; hundert Gramm waren das übliche Maß. Ungläubig beobachtete der Hauptmann, wie Barbara, ohne mit der Wimper zu zucken, das Glas bis zur Neige leerte. Die Serviererin, die zunächst nur die Lippen benetzt hatte, blickte anerkennend auf diese merkwürdige Frau Oberleutnant; denn in Polen imponiert den Leuten nichts so sehr wie ein guter Zug. „Essen Sie eine Kleinigkeit dazu.“ Barbara schob der Serviererin ein Tellerchen mit Hering zu. „Danke. Ich kann wirklich nicht. Die Gäste warten. Der Chef hat mich auch schon gesehen. Der wird mir was erzählen! Also, dann noch mal alles Gute zum Geburtstag.“ 74
Die Serviererin entfernte sich zur Küche hin. „Barbara, was treibst du bloß?“ „Wieso? Ich amüsiere mich.“ „Amüsieren nennst du das? Du bestellst einen halben Liter Schnaps und verleitest dann das Personal einer staatlichen gastronomischen Einrichtung zum Alkoholmißbrauch. Ein schönes Beispiel gibt da die Miliz dem Bürger.“ Der Hauptmann sagte das halb im Scherz und halb im Ernst. „Mach dir nichts draus, mein Lieber.“ Barbara langte nach der Flasche und schenkte abermals ein. „Auf die baldige Rückkehr deiner Frau aus den Ferien.“ Das ganze Lokal beobachtete das Paar. Die Tatsache, daß sie mit der Serviererin Schnaps getrunken hatten, wurde natürlich sehr positiv bewertet. Und als Barbara ebenso anstandslos die nächsten hundert Gramm hinunterschüttete, akzeptierte man Frau Oberleutnant vorbehaltlos in der „Śląska“, und das Interesse für die ungewöhnlichen Gäste erlosch allmählich. Man war zu dem Schluß gekommen, ein Milizionär sei auch nur ein Mensch, folglich muß er sich zuweilen einen hinter die Binde kippen. Die Serviererin brachte die bestellten Schnitzel. Barbara schlug vor, noch einen zu nehmen, da man ja auf einem Bein nicht stehen könne, doch das Mädchen lehnte ab. Auf sie warteten noch einige Stunden Arbeit, sie hatte Rechnungen auszustellen und zu kassieren. Da brauchte sie einen klaren Kopf. „Dieses Schnitzel ist wirklich gut zubereitet“, stellte der Hauptmann fest. „Und der Hering war hervorragend.“ „Kein Wunder. In solchen Spelunken ist die Küche meist sehr gut. Hier weiß man einen Gast, der nicht nur einen heben will, sondern auch anständig essen möchte, durchaus zu schätzen. Immerhin esse ich seit einigen Tagen in diesem Lokal. Um die Mittagszeit geht es hier 75
viel gesitteter zu. Aber du verstehst sicherlich, daß ich auf deine nette Gesellschaft zurückgreifen mußte, wenn ich sehen wollte, wie das hier abends aussieht.“ „Was wolltest du eigentlich sehen?“ „Sag mal, sind Adamiaks Kollegen hier im Lokal?“ „Ich würde sagen, seine Kumpane“, berichtigte der Hauptmann. „Natürlich sind sie hier. Zum Beispiel dort, an dem Tisch an der Wand. Der da mit dem Kopf auf der Tischplatte schläft, das ist Bogdan Paluch. Nach Wiceks Tod ist er wohl jetzt der Bandenchef.“ „Treiben sie’s schlimm?“ „Nun, es geht, aber sie sind natürlich eine Last, sowohl für die Stadt als auch für uns. Schlägereien, wenn sie betrunken sind, Belästigungen friedlicher Bürger. Mit einem Wort, Rowdytum. Bei ernsteren Vergehen, so daß man die ganze Gesellschaft hinter Schloß und Riegel bringen könnte, hat man sie noch nicht ertappt. Aber sie sind häufig Gäste in unserem Arrestlokal und ebenso häufig die Hauptpersonen vor den Schiedskommissionen. Jeder von ihnen hat einige tausend Złoty Strafschulden. Sie zahlen nicht, und da sie meist auch nicht arbeiten, gibt es keine Möglichkeit, das Geld zwangsweise einzubehalten. Im übrigen müßtest du das von Częstochowa her kennen.“ „Natürlich, dort haben wir ähnliche Sorgen mit einigen Galgenvögeln. Aber ich war neugierig, wie dieses Problem in einer Kleinstadt aussieht.“ „Wohl noch schlimmer, weil es offensichtlicher ist.“ „Dafür ist es schwieriger, ein schwereres Verbrechen ungestraft zu verüben.“ „Es sei denn, man bringt gleich vier Personen um“, bemerkte der Hauptmann sarkastisch. „Ich muß jedoch zugeben, daß unsere einheimischen Rowdys nach Adamiaks Tod stiller geworden sind. Offenbar haben sie das als Warnung aufgefaßt. Sie sind eindeutig ruhiger geworden.“ 76
„Na, siehst du“, meinte Barbara lächelnd, „selbst du lieferst mir wertvolle Informationen, die mir bei den Ermittlungen von Nutzen sein könnten.“ „Ich?“ „Ja, du. Du hast festgestellt, daß Adamiaks Bande den Tod ihres Anführers als Warnung aufgefaßt hat. Wahrscheinlich haben sie etwas Ernsteres auf dem Gewissen als die üblichen Raufereien am Bierstand. Sie haben Angst, daß nach Adamiak die Reihe an sie kommen könnte.“ „Mit Verrückten weiß man nie, woran man ist.“ „Du bist schon wieder bei eurer Lieblingskonzeption von dem Besessenen und dem Alphabet. Ich glaube, Adamiaks Kumpane sehen in dieser Angelegenheit klarer als die Miliz. Nun, bestell einen Kaffee und bitte um die Rechnung. Natürlich zahlen wir gemeinsam.“ „Damit kann ich mich nicht einverstanden erklären.“ „Und doch wirst du es tun“, erwiderte Barbara. „Ich möchte keinerlei Verpflichtungen haben. Weder dir noch irgend jemand anderem gegenüber.“ Diesmal protestierte Zygmunt Poleszczuk nicht. Er begriff, daß dies nichts nützen würde. Barbara wußte nur zu gut, was sie tat und was sie wollte. Nicht einmal die Flasche Schnaps, die sie gemeinsam getrunken hatten, konnte sie in ihrer Überzeugung schwankend machen. Am nächsten Tag erschien Barbara Śliwińska schon um halb eins in der „Śląska“. Sie rechnete damit, die Gaststätte würde um diese Zeit noch leer sein und sie könnte ein paar Worte mit der Serviererin wechseln. Man begrüßte sie wie eine gute, alte Bekannte. „Wie hat es Ihnen gestern bei uns gefallen?“ erkundigte sich Fräulein Jadwiga und informierte gleichzeitig, was „heute die Küche empfiehlt.“ „Danke, sehr gut.“ „Ich wundere mich nur, daß die Herrschaften zu uns 77
gekommen sind und nicht die ‚Karolinka‘ besucht haben.“ „Ich wollte mal sehen, wie es in der ‚Śląska‘ am Abend aussieht.“ „Gestern war es ruhig. Wahrscheinlich, weil die Leute wußten, daß die Miliz anwesend ist. Da nimmt sich jeder ein bißchen zusammen. Aber es hat sich überhaupt etwas beruhigt, seitdem Adamiak tot ist.“ „Haben Sie ihn gekannt?“ „Ich kenne diese ganze Bande nur zu gut. Hab ich mich hier nicht oft genug mit ihnen herumgeärgert?“ „Was glauben Sie, wer hat ihn umgebracht?“ „Na, dieser ‚Abc-Mörder‘ doch.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, daß da ein Verrückter dahinterstecken soll.“ Barbara hielt auch hier ihre These aufrecht. „Vielleicht war es auch kein Verrückter“, stimmte ihr die Serviererin bereitwillig zu. „Und was diesen Adamiak betrifft, so gab es bestimmt welche, die ihm den Tod wünschten.“ „Weshalb?“ „Das war ein ganz besonderer Strolch. Aber er hatte immer irgendwie Glück, so daß er nie länger gesessen hat.“ „Soviel ich weiß, ist gegen Adamiak nie eine ernstere Klage eingegangen. Auch gegen seine Kumpane nicht. Es handelte sich immer nur um kleinere Vergehen und Prügeleien im Suff.“ „Weil die Leute vor ihnen Angst hatten. Vor allem die Mädchen.“ „Die Mädchen?“ „In so einer Kleinstadt ist es für ein junges Mädchen nicht einfach, bei der Miliz oder beim Staatsanwalt Klage zu erheben. Eine, die das wagt, ist hier ein für allemal unten durch. Die kann dann ihre Koffer packen. Man wird sie nur auslachen. Kein junger Mann wird sie 78
mehr heiraten, ja sich nicht einmal mit ihr auf der Straße zeigen. Da ist es schon besser, man beißt die Zähne zusammen und schweigt.“ „Sie glauben, daß Adamiak auch solche Sachen auf dem Kerbholz hat?“ „Er und seine Bande. Sie haben damit noch geprahlt und die Mädchen ausgelacht, daß sie so dumm sind.“ „Unmöglich! Das hätten sie nicht gewagt. Dafür gibt es doch vor Gericht bis zu zwölf Jahren.“ „Ich habe es selbst gehört. Hier, in diesem Lokal, hat Wicek am Tisch gesessen, dort links von der Theke. Zusammen mit seinen Kumpanen. Sie hatten damals alle schon ganz schön gepichelt, und Adamiak hat damit angegeben, wie sie zu viert ein Mädchen aus Kowalewo ‚durchgepustet‘ haben. Sie haben sie in ein Wäldchen am Weg gezerrt und sich dort reihum über sie hergemacht.“ „Kowalewo?“ „Das ist ein Dorf an der Chaussee nach Opole. Etwa vier Kilometer von Zabiegowo entfernt. Aus diesem Dorf arbeiten viele Leute hier in der Stadt. Wahrscheinlich auch dieses Mädchen.“ „Ist es schon lange her, daß sie dieses Gespräch gehört haben?“ „Das war etwa vierzehn Tage, bevor sie ihn abgemurkst haben.“ „Bei uns liegt keine Meldung über eine Vergewaltigung vor.“ „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß es bei uns kein Mädchen wagt, zur Miliz zu gehen. Nicht einmal eine verheiratete Frau. Und schon gar nicht so ein Mädchen vom Dorf. Ihr Vater würde sie halb totschlagen und die anderen sie wahrscheinlich aus dem Dorf hinaustreiben.“ „Ja, aber was kann denn das Mädchen dafür, daß man es vergewaltigt hat?“ 79
„Hier wird jeder sagen: ‚Wenn sie selber nicht gewollt hätte, wäre es nicht dazu gekommen.‘ “ „Das ist schrecklich.“ „Vielleicht ist auch was Wahres dran. Damals hat Adamiak damit angegeben, daß sie in der Stadt ein Mädchen getroffen haben und mit ihr im ‚Sternchen‘ waren. Dann haben sie eine Flasche Obstwein gekauft, sie im Park geleert, und das Mädchen hat sich damit einverstanden erklärt, daß die vier sie nach Kowalewo begleiten. Durch den Wald. Vielleicht war sie auch mit allem einverstanden, wer weiß? Es gibt solche Nimmersatten. Sie kennen ja wohl die Redensart: Das Ding ist nicht aus Seife …“ „Na, hören Sie!“ „Frau Oberleutnant, wenn man in einer Kneipe arbeitet, sieht und hört man so manches. Im Leben geht es manchmal seltsam zu, es gibt sehr verschiedene Menschen und auch verschiedene Frauen, Ich behaupte ja auch gar nicht, daß es so gewesen sein muß. Wenn sie naiv ist, war sie sich vielleicht gar nicht im klaren darüber, wie so ein Spaziergang enden kann. Nun hat sie die Quittung bekommen. Natürlich hat sie dann kein Sterbenswörtchen gesagt, und wenn diese Ferkel nicht geredet hätten, hätte kein Mensch etwas erfahren. Aber die mußten doch damit angeben, was für Kerle sie sind.“ „Ich würde gern mit diesem Mädchen sprechen.“ „Mehr weiß ich nicht. Ich habe nur die Prahlereien Adamiaks gehört.“ „Wie könnte ich mehr darüber erfahren?“ „Ich nehme an, daß Wicek und seine Kumpane die Angelegenheit schön breitgetreten haben und daß die Gerüchte darüber bestimmt bis Kowalewo gedrungen sind, auch zu den Eltern des Mädchens. Vielleicht können Sie dort etwas erfahren.“ Barbara verriet mit keiner Miene, wie wichtig ihr die80
se Informationen waren. Rache für die Vergewaltigung der Tochter, der Schwester oder Verlobten konnte die letzte Ursache für den Mord an Adamiak gewesen sein. So war es auch einleuchtend, daß die Kumpane des Ermordeten aus Angst um den eigenen Kopf ihr Verhalten geändert hatten und nun weniger in Erscheinung traten. Doch war das schon der sprichwörtliche Faden, der sie zum Ziel führen würde? Oberleutnant Barbara Śliwińska beschloß, dieser Spur nachzugehen.
8. KAPITEL Das Kappmesser Angesichts seines schmalen Führungskaders hielt Major Zajączkowski jeden Morgen eine kurze Beratung ab, um die Aufgaben für den laufenden Tag zu verteilen und sich über die erledigten Dinge Bericht erstatten zu lassen. Von einer festen Arbeitseinteilung konnte längst keine Rede mehr sein, jeder Offizier war ein „Omnibus“ – er tat, was getan werden mußte. Als Oberleutnant Barbara Śliwińska ihren Kollegen vom Ergebnis ihrer Nachforschungen in der „Śląska“ berichtete, mußte selbst Zajączkowski zugeben, daß die neue Mitarbeiterin ausgezeichnete Arbeit geleistet hatte. Er fügte jedoch hinzu: „Wir sind nicht auf Sizilien, in Polen gibt es nicht die Tradition der Blutrache. Außerdem ist mir nach wie vor unklar, weshalb jemand, der das Unrecht an dem Mädchen rächen wollte, sich ausgerechnet Adamiak ausgesucht haben sollte und nicht zum Beispiel Paluch.“ „Weil Adamiak sich als erster damit gebrüstet hat, er war auch der Initiator dieser Vergewaltigung. Eine gewisse Rolle könnte auch die Tatsache gespielt haben, 81
daß gerade sein Familienname mit ‚A‘ beginnt. Das bot unserem Rächer eine gute Tarnmöglichkeit.“ „Ich stelle die Verdienste unserer jungen Kollegin durchaus nicht in Frage, sie hat immerhin die Ermittlungen vom toten Punkt weggebracht. Aber ich zweifle daran, daß die neue Spur zur Festnahme des vierfachen Mörders führen könnte. Ebenso zweifle ich an einer Rache der Familie des Mädchens. Ich meine vielmehr, daß das Verbrechen dieses Adamiak und seiner Bande unseren Täter inspiriert hat. Und als er dann die erste Person ermordet hatte, beschritt der den Weg weiterer Verbrechen. Diese Art von Tätern berufen sich immer auf die ‚unwiderstehliche Kraft‘, die sie gezwungen hat, neue Morde zu verüben.“ Der Major hielt also hartnäckig an seiner Theorie von einem „Besessenen“ fest. Er ist durchaus ritterlich, dachte Barbara, aber ein Dickschädel. Laut sagte sie natürlich kein Wort. „Trotzdem sollten wir diese Informationen überprüfen“, bemerkte Hauptmann Poleszczuk, der Barbara helfen wollte. „Sehr richtig“, stimmte ihm der „Alte“ zu, „deshalb lasse ich auch der Genossin Śliwińska völlig freie Hand. An Unterstützung kann ich ihr leider nicht mehr bieten als einen Streifenwagen, der sie nach Kowalewo bringen würde. Aber Sie kennen ja inzwischen selbst unsere Situation“, wandte er sich wieder direkt an Barbara. „Danke, aber einen Wagen werde ich nicht brauchen. Die Busverbindung nach Kowalewo ist gut, und mir ist es auch lieber, wenn mein Erscheinen dort kein Aufsehen erregt.“ „Ich verstehe“, stimmte ihr der Major zu, „auch ich bin der Meinung, daß es so besser sein wird.“ „Trotzdem, Barbara“, warf Oberleutnant Stefański ein, „möchte ich dir Jan Kopyt empfehlen. Er ist Bürgermeister in Kowalewo. Ein kluger Bursche. Er kennt seine Gemeinde ausgezeichnet und weiß auch zu 82
schweigen, wenn es notwendig ist. Auf ihn kann man sich verlassen, er hat uns schon öfter bei verschiedenen Gelegenheiten geholfen. Was das Dorf selbst betrifft, so ist die Zusammensetzung der Bevölkerung dort sehr uneinheitlich. Wie das hier in der Gegend häufig der Fall ist, arbeiten viele Kleinbauern zusätzlich in der Industrie, aber es gibt auch eine Reihe größerer Wirtschaften, die sehr gut dastehen, denn der Boden dort ist ausgezeichnet. In der Hauptsache Bodenklasse eins und zwei. Sie bauen Weizen an, es gibt viele Verträge über die Ablieferung von Zuckerrüben, und in letzter Zeit ist auch das Interesse an einer großangelegten Schweinezucht stark gestiegen. Das Dorf ist reich, das reichste wohl in der ganzen Umgebung.“ Noch am selben Tag fuhr Barbara Śliwińska nach Kowalewo. Gegen Ende August sind die Tage schon etwas kürzer, und Barbara wählte den Bus so, daß sie bei Einbruch der Dämmerung im Dorf eintraf. Oberleutnant Stefański hatte ihr genau erklärt, wo das Haus des Bürgermeisters stand und wie man von der Bushaltestelle dorthin gelangte. Sie ging geradewegs zu dem Gehöft. Jan Kopyt war soeben vom Feld heimgekehrt und saß beim Abendbrot. Barbara wartete auf der Bank vor dem Haus auf ihn. Als der Bürgermeister erschien, bat ihn Barbara um ein Gespräch unter vier Augen. Im ganzen Anwesen sah man den Wohlstand seines Besitzers. Ein massiver Kuhstall, ein neuerrichteter Schweinestall, eine geräumige Scheune. Das Haus war aus Holz, aber von Grund auf renoviert. Barbara vermutete, daß sich im Erdgeschoß eine große Küche und etwa drei Zimmer befanden und darüber noch einmal zwei Räume. Kopyt führte die Besucherin in eines der Zimmer, das ihm als kleine Werkstatt und Büro diente. „In welcher Angelegenheit kommen Sie?“ fragte er in amtlichem Ton. Barbara zeigte ihm ihren Dienstausweis. 83
„Ich komme vom Kreisamt der Bürgermiliz in Zabiegowo“, erklärte sie. Der Hausherr betrachtete aufmerksam den Ausweis. „Stimmt“, sagte er, „aber Sie können noch nicht lange dort sein, denn ich kenne doch alle, einschließlich des Leiters, Major Zajączkowski.“ „Das ist richtig. Ich bin erst vor einer Woche aus Częstochowa hierher abkommandiert worden.“ „Wohl wegen des ‚Abc-Mörders‘?“ vermutete der Bürgermeister. „Ich bin bloß neugierig, wie viele er noch umbringt, ehe ihr ihn schnappt.“ „Ich hoffe, keinen mehr.“ Barbara hatte keine Lust, dieses Thema jetzt zu erörtern. „Und in welcher Angelegenheit kommen Sie zu uns, Frau Oberleutnant?“ „Vielleicht haben Sie gehört, Herr Kopyt, daß ein Mädchen aus Ihrem Dorf auf dem Weg von der Arbeit von einigen Strolchen vergewaltigt worden ist?“ „Nun, es gibt solche Gerüchte.“ Der Bürgermeister war vorsichtig. „Ich hätte gern etwas über dieses Mädchen erfahren.“ „Die Leute haben dies und jenes erzählt, aber das Mädchen hat alles abgestritten. Ich weiß nichts Bestimmtes. Wird im Dorf wenig geklatscht?“ „Oberleutnant Stefański hat mir gesagt, daß man mit Ihnen, Herr Bürgermeister, offen sprechen kann und daß nie etwas aus diesen vier Wänden nach außen dringt. Schade, daß Sie zu mir kein Vertrauen haben. Es handelt sich hierbei nicht einmal um diesen Adamiak. Wir wissen nur zu gut, was das für ein Typ war. Aber es sind noch andere Menschen umgebracht worden. Die geringste Einzelheit, die wir in dieser Angelegenheit erfahren, kann für die Ermittlungen von größter Bedeutung sein.“ „Das verstehe ich, Frau Oberleutnant. Aber ist dieses Mädel nicht schon gestraft genug? Alle im Dorf haben 84
über sie gelacht. Jetzt, wo der Tratsch langsam verstummt, wollt ihr sie vor die Gerichte schleppen und den Fall wieder breittreten?“ „Sie wissen doch, Herr Bürgermeister, daß eine Vergewaltigung nur dann vor Gericht verhandelt werden kann, wenn die Geschädigte selbst Mitteilung über das Verbrechen macht. Eine solche Mitteilung ist nicht erfolgt, also kann es auch keine Verhandlung geben. Ich wollte nur den Namen dieses Mädchens erfahren und mich diskret mit ihr unterhalten. Ohne Zeugen. Schade, daß Sie mir dabei nicht helfen wollen.“ Der Bauer kratzte sich am Kopf. „Später wird es heißen, daß Kopyt es der Miliz zugetragen hat.“ „Das wird es nicht, weil niemand davon etwas erfahren wird. Nicht einmal davon, daß ich in Kowalewo war und mit dem dortigen Bürgermeister gesprochen habe. Alles bleibt unter uns. Jeder Bürger sollte der Miliz helfen, ein Verbrechen aufzudecken, erst recht, wenn es sich um den Mord an vier Personen handelt.“ „Das verstehe ich schon …“ „Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß mir, genau wie Ihnen, an der vollen Diskretion gelegen ist.“ „Ich weiß wirklich nicht viel.“ Der Bürgermeister hatte sich doch dazu entschlossen, zu sprechen. „Eines Tages redete das ganze Dorf darüber, daß Hanka Niziołek auf dem Heimweg von der Arbeit in diesem Wäldchen an der Straße von vier Burschen ins Gras gelegt wurde. Sie soll so betrunken gewesen sein, daß sie sich kaum nach Hause geschleppt hat. Das Mädel hat alles abgestritten, aber das Gerücht zog immer weitere Kreise, es kamen ständig neue Einzelheiten hinzu. Schließlich erfuhr auch der alte Niziołek davon und verdrosch seine Tochter so, daß sie sich vier Tage nicht bewegen konnte. Und er drohte, sie totzuschlagen, wenn sie sich noch ein einziges Mal nach Zabiegowo wagt.“ 85
„Was kann denn das Mädchen dafür?“ „Frau Oberleutnant“, Kopyt teilte die Meinung des ganzen Dorfes, „schon Reymont hat geschrieben, ‚daß, wenn die Hündin nicht will, der Rüde nicht herankann‘! Wußte sie etwa nicht, was sie tat, als sie mit den Burschen in den Wald ging?“ „Sie ist mit ihnen nicht in den Wald gegangen. Die Strolche haben sie mit Gewalt hineingezerrt.“ „Das weiß ich nicht. Ist sie nun von selbst gegangen oder nicht, aber wozu treibt sie sich nachts mit solchen Rowdys herum? Allein dafür hat Niziołek sie zu Recht vermöbelt. Und Witek Grobelny hat ihr noch von sich aus zugelegt.“ „Was für ein Grobelny?“ „Ein Bursche hier aus dem Dorf. Er wollte das Mädel heiraten.“ „Ihr Verlobter?“ „Er ist mit ihr gegangen, aber sowohl sie als auch ihre Eltern haben die Nase gerümpft. Ist ja auch klar, Niziołek ist einer der reichsten Bauern im Dorf, während der alte Grobelny gerade mal drei Hektar hat, dafür aber fünf Mäuler zu stopfen. Ein solcher Schwiegersohn war nicht nach dem Geschmack des alten Niziołek. Da jedoch nichts Besseres bei der Hand war, haben sie ihn nicht davongejagt, aber von einer Heirat wollten sie nichts wissen.“ „Und jetzt hat es sich dieser Witek wohl überlegt?“ „So dumm wird er nicht sein. Niziołek hat zwölf Hektar Land und einen Boden wie Butter. Seine beiden Söhne haben das Dorf verlassen. Wahrscheinlich hat ihnen der Mist zu sehr gestunken. Der eine arbeitet als Bergmann in Bytom, der andere in der Hütte Baildon. Die kommen nicht mehr ins Dorf zurück, so daß Grobelny mitsamt dem Mädchen die ganze Wirtschaft einstreicht.“ „Aber diese Hanka hat doch auch in Zabiegowo gearbeitet.“ 86
„Das ist richtig. Die jungen Leute haben jetzt nichts wie Flausen im Kopf. Es ist keiner mehr da, der den Boden bearbeiten möchte. In tiefster Seele ist der alte Niziołek vielleicht sogar froh, daß es so gekommen ist, weil sie die Arbeit in der Stadt aufgeben mußte. Grobelny wird ebenfalls davon profitieren, weil die Niziołeks jetzt nicht mehr die Nase so hoch tragen und auf den Märchenprinzen warten können. Wie ich gehört habe, soll im Herbst das Aufgebot erfolgen, und zu Weihnachten wird dann geheiratet.“ „Und was sagt das Mädchen dazu?“ „Hat sie denn eine andere Wahl? Hier wird man weiter über sie lachen. Etwas anderes ist es, wenn das Aufgebot erfolgt und dann auch geheiratet wird. Dann wird es keiner mehr wagen, sich mit den Niziołeks oder Grobelnys anzulegen. Den Mund werden sie nicht auftun. Und schließlich werden es die Leute vergessen. Selbst wenn sie in die Stadt gehen wollte, wird ihr der Tratsch folgen. Andererseits ist sie auch keine solche Schönheit, daß sie viel herummäkeln könnte. Dagegen ist dieser Witek ein stattlicher Bursche. Er sieht gut aus, versteht etwas von der Wirtschaft, gegen ihn läßt sich nichts einwenden.“ „Dann ist also Ihrer Meinung nach alles in Ordnung, Herr Bürgermeister?“ Barbara konnte sich mit dieser eigentümlichen Philosophie nicht abfinden. „Eigentlich ja. Sicher, das Mädel hat viel durchgemacht, aber sie hätte auch auf sich aufpassen sollen.“ „Meinen Sie nicht, daß Niziołek oder Grobelny diesen Adamiak umgebracht haben könnten? Wurde sein Name im Zusammenhang mit der Vergewaltigung genannt? Sozusagen als Anstifter?“ „Er hat doch selbst damit geprahlt. Vor unseren Burschen, die in Zabiegowo arbeiten.“ „Dann war also Adamiak in eurem Dorf bekannt?“ „Er wurde hier geboren. Seine Mutter ist eine gebo87
rene Paczeska. Die Tochter des alten Paczeski, der vor fünf oder sechs Jahren gestorben ist. Die Adamiakowa hat mit ihrem Mann und den Kindern bei ihrem Vater gewohnt. Erst vor etwa zehn Jahren, als sie mit dem Gemüsehandel begann, ist sie in die Stadt gezogen, weil ihr das bequemer war, außerdem hatte sich der alte Paczeski mit dem Schwiegersohn zerstritten und ihnen gedroht, daß er sie hinauswirft.“ „Ich hätte gern mit Hanka gesprochen, aber so, daß es niemand erfährt.“ „Das läßt sich einrichten. Ich schicke jemanden zu Niziołek, er soll sofort den Fragebogen wegen der Ablieferungsverträge zurückgeben. Das sind so Vordrucke für die Statistik. Er hätte sie schon längst abgeben müssen. Ich lasse ihm sagen, daß ein Instrukteur vom Kreis gekommen ist und diese Papiere einsammelt.“ „Ich möchte nicht mit Herrn Niziołek sprechen.“ „Keine Bange“, meinte der Bürgermeister lächelnd, „ich kenne ihn doch. Der rührt sich jetzt nicht aus dem Haus. Er ist müde, er hat den ganzen Tag gepflügt, und auf dem Hof gibt es auch noch genug zu tun. Der kommt nicht selbst, sondern schickt bestimmt seine Tochter mit dem Fragebogen. Ich schaue gleich mal auf die Straße hinaus und sage jemandem Bescheid, der in diese Richtung geht.“ Nach wenigen Minuten kam Jan Kopyt wieder und berichtete, daß Niziołek das Papier gleich herschicken würde, er müßte es nur noch ausfüllen. Barbara Śliwińska beschloß, tatsächlich die Rolle eines Instrukteurs vom Rat des Kreises zu spielen, falls der Bauer selbst beim Bürgermeister vorsprechen sollte. Doch dazu kam es nicht. Es war noch keine Viertelstunde vergangen, als in der Tür ein junges Mädchen erschien. Sonderlich hübsch war es nicht. Kräftig, untersetzt und nicht sehr groß. In dem runden Gesicht eine Stupsnase, das dunkelblonde Haar glatt nach hinten gekämmt. 88
Nun ja, dachte Barbara, der Bürgermeister hatte recht, dieses Mädchen kann nicht sehr wählerisch sein. Aber was hat diese Jungs so an ihr gereizt? „Guten Abend. Vater schickt mich, ich soll Ihnen das hier abgeben.“ Hanka hielt einen Viertelbogen Papier in der Hand. „Danke schön, Hanka. Die Frau Instrukteur hier möchte noch ein paar Worte mit Ihnen wechseln.“ Der Bürgermeister verließ das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. „Mit mir?“ fragte das Mädchen verwundert. „In welcher Angelegenheit?“ „Ich bin Offizier der Miliz.“ Barbara holte zum zweitenmal ihren Dienstausweis hervor. „Bitte, setzen Sie sich.“ Hanka erbleichte zunächst, dann bedeckte sich ihr sonnengebräuntes Gesicht mit dunkler Röte. „Sie können sich sicherlich denken, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte?“ „Laßt mich endlich in Ruhe. Ich weiß von nichts. Das ist doch alles dummes Gerede!“ Hanka war dem Weinen nahe. „Bitte, beruhigen Sie sich“, sagte Barbara in sanftem Ton. „Ich weiß sehr gut, daß das leider kein dummes Gerede ist. Ich bin auch nicht hergekommen, um Ermittlungen in Ihrer Angelegenheit anzustellen. Sie wissen sicherlich selbst, daß ohne eine Anzeige von Ihnen kein Strafverfahren gegen die Täter eingeleitet werden kann. Mir geht es um etwas anderes. Adamiak ist tot. Ich möchte mit Ihnen nicht als Offizier der Miliz sprechen, sondern von Frau zu Frau oder wie eine ältere Freundin.“ „Gut, daß sie den Strolch mit seinem eigenen Messer umgebracht haben. Soll ich ihn vielleicht noch bedauern?“ „Hatten Sie ihn vorher gekannt?“ 89
„Er stammte doch aus unserem Dorf. Ich bin mit ihm zur Schule gegangen sogar in dieselbe Klasse.“ „Ich leite die Ermittlungen in der Mordsache Adamiak und der drei übrigen Personen. Jede, selbst die geringste Kleinigkeit kann wichtig sein.“ „Ich habe ihn nicht umgebracht.“ „Davon bin ich überzeugt. Aber woher wissen Sie, daß er mit seinem eigenen Messer umgebracht wurde?“ „Weil …“ Das Mädchen verstummte. „Ich verstehe“, sagte Barbara behutsam, „mit diesem Messer hat man Sie damals im Wald bedroht.“ Hanka schwieg. „So vertrauen Sie mir doch. Wenigstens ein bißchen. Ist Ihnen denn nicht klar, daß die Miliz ohnehin über die Vergewaltigung Bescheid weiß? Daraus folgt die logische Schlußfolgerung, daß Adamiak im Zusammenhang mit diesem Verbrechen getötet wurde. Irgend jemand, vielleicht Ihr Vater, vielleicht auch Witold Grobelny, hat sich an ihm gerächt.“ „Weder mein Vater noch Witek haben ihn umgebracht. Sie waren den ganzen Tag in Kowalewo.“ „Trotzdem halte ich es für besser, wenn wir das alles im stillen untersuchen, ohne Aufsehen zu erregen und ohne Ihr schlimmes Erlebnis ans Licht zu ziehen. Meinen Sie nicht auch?“ „Na ja“, stimmte ihr das Mädchen zu. „Wie war das mit diesem Messer?“ „Adamiak hat es uns gezeigt.“ „Im Wald?“ „Nein. Vorher. Als wir im Park den Wein tranken. Er hat damit angegeben, daß er es von einem Westdeutschen gekauft hat. Für zwei Hunderter.“ „Was war das für ein Messer?“ „Es hatte so einen Knopf. Wenn man da draufgedrückt hat, ist aus dem Griff eine lange, schmale Klinge hervorgesprungen.“ 90
„Und die anderen hatten nicht so ein ähnliches Messer?“ „Nein. Paluch wollte Wicek das Messer abkaufen.“ „Haben Sie dieses Messer nur das eine Mal gesehen?“ „Nein“, das Mädchen errötete, „später im Wald hat Adamiak gedroht, daß er mir die Klinge über das Gesicht zieht, wenn ich mich nicht schnell ausziehe. Und dann, Sie wissen schon …“ „Nun ja, es ist passiert. Aber erklären Sie mir bitte, Fräulein Hanka, wie es dazu gekommen ist, daß Sie mit diesen Burschen abends durch den Wald gegangen sind?“ „Mit einem allein wäre ich nicht gegangen. Da hätte ich Angst gehabt. Aber sie waren doch zu viert. Und ich kannte sie alle gut. Mit dem einen habe ich zusammen gearbeitet. Und mit Wicek Adamiak bin ich zur Schule gegangen. Jetzt weiß ich, wie dumm ich war.“ „Adamiak ist am vierundzwanzigsten Juni ermordet worden. Woher wissen Sie, daß Ihr Vater und Grobelny damals in Kowalewo waren? Es ist doch schon schwierig, sich an das zu erinnern, was vor einer Woche passiert ist, und erst recht, wenn es zwei Monate zurückliegt.“ „Als ich am nächsten Tag, das war Mittwoch, der fünfundzwanzigste Juni, von Adamiaks Tod erfuhr, dachte ich selbst einen Augenblick daran, ob ihn mein Vater nicht umgebracht hat. Deshalb kann ich mich noch daran erinnern, daß wir am Dienstag den ganzen Tag Rüben verzogen haben. Vater, Witek, ich und zwei Nachbarinnen, die wir für diese Arbeit gedungen hatten. Später, als es dunkel wurde, kam Herr Kopyt zu uns und hat zusammen mit unseren Männern bis in die Nacht hinein unseren Trecker repariert. Der Bürgermeister erinnert sich bestimmt auch noch daran.“ Barbara Śliwińska bedankte sich bei Hanka für die Informationen und versprach ihr noch einmal feierlich, daß von diesem Gespräch nie jemand etwas erfahren 91
würde. Jan Kopyt bestätigte das Alibi der beiden Männer. Sie hatten tatsächlich in den Rüben gearbeitet und dann zusammen mit dem Bürgermeister, der im Dorf als der beste Mechaniker galt, bis Mitternacht Niziołeks Trecker repariert. Noch in derselben Nacht führte die Miliz bei allen Mitgliedern von Adamiaks Bande Haussuchungen durch. Man brauchte nicht lange zu suchen. In der Jackettasche von Tadeusz Januszewski fand man ein Kappmesser. Das Aussehen des Messers stimmte mit der von Hanka Niziołek gegebenen Beschreibung überein. Tadeusz Januszewski wurde festgenommen und im Arrestlokal der Miliz untergebracht. Das Messer schickte man nach Katowice zur kriminaltechnischen Untersuchung. In einigen Rillen des Messers fand man Spuren menschlichen Blutes. Es entsprach der Blutgruppe des Wincenty Adamiak. Versehen mit dieser Expertise, ließ sich Barbara Śliwińska Januszewski vorführen und begann mit der offiziellen Vernehmung des Festgenommenen. Nachdem die Personalien des jungen Mannes aufgenommen waren, zeigte ihm Oberleutnant Śliwińska das Messer. „Gehört das Messer Ihnen?“ „Ja. Wieso? Darf man kein Messer mehr haben?“ „Sie wissen sehr gut, daß man ohne Genehmigung keine Schußwaffe besitzen darf. Und Schlagringe oder Kappmesser darf man überhaupt nicht besitzen, weil dafür keine Genehmigungen erteilt werden.“ „Das höre ich zum erstenmal.“ „Nehmen wir einmal an. Woher haben Sie es?“ „Ich hab’s gekauft.“ „Von wem?“ „Nach dem Namen habe ich nicht gefragt. Ich habe zweihundert dafür gegeben. Weil es mir gefallen hat. Was denn, ist das etwa nicht erlaubt?“ wiederholte er. 92
„Ein solches Messer darf man nicht kaufen.“ „Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich das nicht wußte.“ „Wir müssen das Messer beschlagnahmen.“ „Nichts zu machen. Dann kaufe ich mir eben ein anderes. Und um mir das zu sagen, haltet ihr mich zwei Tage im Knast fest?“ „Nein. Nicht deshalb. Aber ich habe Ihnen tatsächlich etwas zu sagen.“ „Ich bin nicht neugierig.“ Januszewski trat immer unverschämter auf. „Trotzdem will ich es Ihnen sagen. In Ihren Worten steckt nicht ein Körnchen Wahrheit.“ Der junge Rowdy lachte. „Das Messer“, fuhr Barbara fort, „gehörte Adamiak.“ „Von ihm habe ich es auch für zwei Hunderter gekauft.“ „Am Abend des vierundzwanzigsten Juni im Gebüsch der Stóżanka.“ „Was sagen Sie da?“ Oberleutnant Śliwińska schlug den Hefter auf und entnahm ihm die Waffenexpertise. „Auf dem Messer wurde Adamiaks Blut gefunden. Form und Größe der Klinge entsprechen der Wunde in der Brust des Toten. Mit diesem Messer wurde Adamiak ermordet.“ Erst jetzt begriff Januszewski, daß der Spaß ein Ende hatte und es galt, die eigene Haut zu retten. „Dann will ich Ihnen schon lieber alles sagen, Frau Oberleutnant. Wie bei der heiligen Beichte.“ „Ich bin gespannt.“ „Anfang Juni waren in Zabiegowo ein paar junge Deutsche aus Westberlin. Adamiak, der ein bißchen Deutsch konnte, hat zu Ihnen Kontakt aufgenommen. Die hatten solche Messer. Wicek hat damit angegeben, daß er Ihnen eins für zwei Hunderter abgekauft hat, 93
aber wahrscheinlich hat er es geklaut. Keiner von uns hatte ein solches Messer. Paluch wollte ihm dafür sogar fünfhundert geben, aber Adamiak hat es nicht verkauft.“ „Und wie ist dieses Kappmesser in Ihren Besitz gelangt?“ „Das will ich ja gerade erzählen, Frau Oberleutnant. Als sie Wicek umgelegt hatten und die Bullen … Verzeihung, die Herren Milizionäre zu seiner Mutter kamen, bin ich zusammen mit ein paar anderen zum Fluß gerannt. Aber dort stand schon ein Streifenwagen, und man hat uns nicht näher herangelassen. Ich habe nur von weitem Wiceks Beine gesehen. Auf dem Rückweg sehe ich plötzlich im Gras etwas blinken. Ich gehe näher heran. Ein Messer. Adamiaks Kappmesser. Jetzt brauchte er es doch nicht mehr. Also hab ich es eingesteckt. Jeder hätte es so gemacht, stimmt’s?“ „Daß da noch das Blut Ihres Freundes dran klebte, hat Sie gar nicht gestört?“ „Ich habe kein Blut gesehen.“ „Merkwürdig. Die Miliz hat nach so vielen Wochen noch welches gefunden, und Sie haben damals nichts gesehen.“ „Ich habe Wicek damit nicht umgebracht. Warum sollte ich auch? Am Dienstag haben wir noch zusammen ein Bier getrunken. An diesem Stand neben dem Bahnhof. Dann hat sich Adamiak verkrümelt, weil er kein Geld mehr hatte und ihm keiner was spendieren wollte. Ich bin geblieben. Herr Formanowski, der dort Bier verkauft, kann sich bestimmt an mich erinnern.“ Das war richtig. Die Aussage des Bierstandpächters hatte Barbara in ihren Akten. Sie fragte dennoch: „Und was haben Sie danach gemacht? Adamiak wurde erst am Abend umgebracht.“ „Danach war ich erst einmal ganz schön fertig. Deshalb hab ich mich auf dem Bahnhof auf eine Bank ge94
setzt und bin eingenickt. Der Herr Sergeant Bytoń hat mich geweckt und mich nach Hause geschickt. Aber die Beine wollten noch nicht. Und da gerade ein Funkwagen vor dem Bahnhof stand, haben sie mich mitgenommen.“ „Ins Arrestlokal?“ „Nein. Der Sergeant meinte, daß es nicht lohnt, mit Leuten wie mir ein anständiges Arrestlokal zu verunreinigen, und warf mich vor unserem Haus hinaus. Die Miliz mußte sowieso dort vorbei. Die Leute in unserem Haus haben das gesehen und werden es bezeugen können. Meine Mutter hat mir ein paar aufs Maul gegeben, weil ich den ganzen Wochenlohn vertrunken habe.“ Januszewski wanderte wieder hinter Schloß und Riegel, während Barbara das Alibi des Rowdys überprüfte. Beide Milizionäre, sowohl Bytoń, der damals Dienst auf dem Bahnhof tat, als auch Wachtmeister Wąsikowski, der den Funkwagen fuhr, bestätigten die Aussage des jungen Mannes. Nachdem Barbara Śliwińska sich mit Major Zajączkowski und dem Kreisstaatsanwalt beraten hatte, kam sie zu dem Schluß, daß es keinen Grund gab, Januszewski des Mordes zu verdächtigen. Für die anderen Tage, an denen die übrigen Morde geschehen waren, besaß er zwar kein hundertprozentiges Alibi, doch es stand außer Zweifel, daß alle vier Morde dieselbe Person begangen hatte. Der Festgenommene mußte entlassen werden. Die Spur, die so vielversprechend ausgesehen hatte, führte dennoch nirgendwohin. „Habe ich nicht gesagt, daß das so enden wird?“ bemerkte Major Zajączkowski boshaft. „Ich hatte die richtige Nase.“ „Offenbar“, verteidigte sich Barbara, „war Adamiak nicht die Hauptperson, an der dem Täter gelegen war. Wir müssen weitersuchen.“ 95
„Wen knöpfst du dir als nächsten vor?“ fragte Oberleutnant Stefański lachend. „Adam Delkot. Diese Spur ist am frischesten. Vielleicht ist sie noch nicht ganz erkaltet?“
9. KAPITEL Ein Schuster sieht alles Auf der Suche nach Personen, die ihr über die Opfer des geheimnisvollen Täters hätten Auskunft erteilen können, berücksichtigte Oberleutnant Barbara Śliwińska von Anfang an solche Berufe wie Kellner in populären Gaststätten, Verkäufer und Verkaufsstellenleiter, Briefträger und Schalterbeamte, aber auch Handwerker, die für die Bevölkerung arbeiteten. Zabiegowo zählte knapp achttausend Einwohner. Jeder von ihnen konnte sicherlich viel über seine Nachbarn sagen, doch es ging darum, an die richtigen Informanten heranzukommen und sie aus der Reserve zu locken. So konnte Frau Oberleutnant auch nicht die Handwerker außer acht lassen. Vor allem die Schuhmacher, die man gemeinhin häufiger aufsucht als zum Beispiel einen Schneider. Immer mehr Männer und Frauen kaufen fertige Kleidung, während alle ihre Schuhe reparieren lassen. Am einfachsten war es für Barbara, mit Józef Kunert ins Gespräch zu kommen. Dieser Schuster hatte seine Werkstatt gegenüber dem Kreisamt. Es genügte, ans Fenster zu treten, um den Meister mit einem Schuh in der Hand auf einem niedrigen Schemel sitzen zu sehen. Kunerts Kundschaft war sehr zahlreich. Zu ihr gehörten fast alle Mitarbeiter des Kreisamtes. Kein Wunder, er war ein Handwerker, der Wort hielt und die Schuhe schnell und solide reparierte. 96
Barbara wußte, daß dieser etwa sechzigjährige Mann alleinstehend war. Hinter der Werkstatt befand sich ein kleines Zimmer, in dem Kunert aß und schlief. Nach Zabiegowo war er vor knapp zwei Jahren gekommen, und es war ihm gelungen, seine Werkstatt an einem günstigen Punkt der Stadt zu eröffnen, in einem Raum, in dem sich früher ein kleines Lebensmittelgeschäft befunden hatte. Mit seiner Arbeit erwarb er sich rasch Anerkennung. Er war ein stiller und ruhiger Mann. In Gaststätten ließ er sich nicht blicken, und niemand hatte ihn jemals betrunken gesehen. Zum Gehilfen hatte Kunert einen halbwüchsigen Burschen, den der erfahrene Meister auf den Beruf vorbereitete. Eine Frau findet leicht einen Anlaß, eine Schusterwerkstatt aufzusuchen. Bald drückt ein Schuh, bald ist ein Riemchen zu eng, oder ein Absatz muß ausgebessert werden. Kein Wunder also, daß Józef Kunert Barbara schon bald wie eine alte Bekannte begrüßte. „Sie kennen wohl alle Menschen hier in der Stadt“, sprach sie den Schuster an, der gerade ihre Sandaletten reparierte. „Alle sicherlich nicht, aber man kennt doch eine Menge Leute. Es ist nun mal so, daß der Schuhmacher auf einem Fleck sitzt und die Menschen ihn besuchen. Und mit jedem wechselt man ein paar Worte.“ „Dann kannten Sie wohl auch die Ermordeten?“ Barbara beschloß, mit der Befragung zu beginnen. „Sie wissen ja wohl, daß ich diesen Fall übernommen habe?“ „Natürlich weiß ich es“, meinte Kunert lachend. „Es gibt wohl keinen Menschen in Zabiegowo, der nicht davon gehört hätte und nicht wüßte, daß man Frau Oberleutnant aus Częstochowa geschickt hat, weil unsere Spezialisten in eine Sackgasse geraten sind. Wer weiß, wie lange es dauert, bis dieser Verrückte den nächsten Menschen umbringt.“ „In Zabiegowo läßt sich eben nichts verbergen. Um so 97
mehr wundert es mich, daß wir in dieser Angelegenheit überhaupt nicht vorankommen. Auch ich kann mich nicht rühmen, mehr erreicht zu haben als meine Vorgänger.“ „Diesen Frauenmörder aus Katowice und Umgebung haben sie wohl fast sechs Jahre gesucht. Ich habe in den Zeitungen gelesen, daß er zwanzig Überfälle auf dem Gewissen hatte, aber schließlich hat man ihn doch gefaßt. Ich denke also, daß auch Sie Erfolg haben werden, Frau Oberleutnant.“ „Es geht darum, ihn so schnell wie möglich zu Finden.“ „Natürlich“, stimmte ihr der Schuster zu, „bevor er so viele umbringt wie jener aus Katowice.“ „Sie haben mir aber noch nicht auf meine Frage geantwortet, ob sie die Ermordeten gekannt haben.“ „Adamiak war überall bekannt wie ein falscher Fuffziger. Ich gehe nicht in die Kneipen, stehe nicht an Bierkiosken herum, also bin ich auch nicht diesem Wicek begegnet. Aber gehört habe ich so manches über ihn und seine Kumpane.“ „Wer könnte ihn umgebracht haben?“ „Darüber habe ich schon oft nachgedacht. Wie wohl jeder in unserer Stadt. Ich meine, daß dieser Verrückte vielleicht gar nicht so verrückt ist. Als ersten hat er den schlimmsten Banditen der Stadt um die Ecke gebracht. Die anderen haben sofort einen Schreck bekommen und sind ruhiger geworden. Adamiak wäre sowieso früher oder später im Kittchen verfault, oder er hätte am Galgen geendet. Er gehörte schon seit langem hinter Schloß und Riegel, aber er hatte Glück und ist nie auf ein mutiges Mädchen gestoßen, daß sich aus dem dummen Gerede nichts gemacht hätte. Den brauchen wir nicht zu bedauern, Frau Oberleutnant. Die ganze Stadt hat erleichtert aufgeatmet.“ „Sie haben nicht ganz unrecht, Herr Kunert. Ich gebe 98
zu, daß Adamiak kein Heiliger war. Doch Gerichte und Rechtsprechung unterstehen nun mal dem Staat, und nur er hat das Recht, Verbrechen zu bestrafen. Wo kämen wir hin, wenn jeder selbst Gerechtigkeit üben wollte.“ „Das ist richtig“, stimmte ihr der Schuster zu, „aber diese Gerechtigkeit läßt sich manchmal viel Zeit. Nehmen wir zum Beispiel diesen Adamiak. Wie viele Saufereien, Schlägereien und Skandale? Wie viele Mädchen haben er und seine Bande vergewaltigt? Ist das in unserer Stadt nicht bekannt? Und was ist geschehen? Der Strolch ist frei umhergelaufen und würde noch heute frei umherlaufen, hätte ihm dieser Unbekannte nicht ein Messer zwischen die Rippen geschoben.“ „Gegen Adamiak hat niemand Klage erhoben.“ „Natürlich nicht. Wer Prügel bezogen hat, ist nicht zur Miliz gegangen, weil er Angst hatte, daß sie ihn das nächste Mal totschlagen. Also hat er lieber die Zähne zusammengebissen und geschwiegen. Und die Mädchen fürchteten die Schande. Selbst wenn die Miliz den Strolch mal bei einem Vergehen erwischt hat, hat ihm die Schiedskommission tausend oder zweitausend Złoty Strafe aufgebrummt, und er hat sich eins ins Fäustchen gelacht.“ „Der Staatsanwalt war machtlos. Selbst wenn die Gerüchte über eine Vergewaltigung bis zu ihm gedrungen sind und das betreffende Mädchen nicht Anzeige erstattet hat, konnte er kein Strafverfahren einleiten.“ „Und Sie halten das für richtig?“ „Ich habe das Strafgesetzbuch nicht verfaßt. Das haben Klügere getan als wir. Offenbar waren sie der Meinung, daß es so sein sollte. Dieses Gesetz hat nicht den Schutz des Verbrechers zum Ziel, sondern den Schutz der Frau. Ihr hat man es überlassen, darüber zu entscheiden, ob sie das an ihr begangene Unrecht offen darlegen möchte oder ob es ein Geheimnis bleiben soll. 99
Damit ein Unrecht nicht noch weitere nach sich zieht. Sie wissen doch, wie die Menschen sind und wie sie manchmal auf solche Dinge reagieren.“ „Das, was Sie sagen, Frau Oberleutnant, mag in der Theorie durchaus richtig sein, aber Sie sehen ja selbst, wie es damit in einer Kleinstadt steht.“ „Außer Adamiak sind noch drei Personen umgekommen. Geachtete Menschen, die keinem etwas Böses getan haben. Haben Sie sie gekannt?“ Barbara zog es vor, diese Diskussion abzubrechen. „Wahrscheinlich ist dieser Verrückte nach dem ersten Mord auf den Geschmack gekommen und kann jetzt nicht mehr aufhören. Weiß man denn, was in einem solchen Kopf vorgeht? Die anderen Ermordeten habe ich nicht gekannt. Czerwonomiejski wohnt am anderen Ende der Stadt. Bis hierher zum Schuster zu kommen wäre ihm zu weit. Abgesehen davon ist ein Gärtner, selbst wenn er noch so reich wäre, ein schlechter Kunde.“ „Weshalb?“ „Gärtner tragen kaum Schuhe. Meistens Gummistiefel. Das ist bequemer und gesünder. In Gewächshäusern und Gärten hat man viel mit Wasser zu tun. Da muß man darauf achten, daß die Füße trocken bleiben. Deshalb die Gummistiefel. Einem Gärtner reichen zwei Paar Lederschuhe ein halbes Leben lang. Außerdem hatte es ein so reicher Mann nicht nötig, seine Schuhe besohlen zu lassen. Der konnte sich einfach neue kaufen.“ Der Schuhmacher hatte ins Schwarze getroffen. Barbara erinnerte sich an die Aufnahme, die der Milizfotograf gleich nach Entdeckung des Verbrechens gemacht hatte. Czerwonomiejski lag merkwürdig verkrümmt zwischen den abgebrochenen Nelken. An den Füßen trug er lange, schwarze Gummistiefel. „Diese Rentnerin, Maria Borzęcka, habe ich nie im Leben gesehen. Ich bin kein Mensch, der auf die Dienste solcher ‚Tanten‘ angewiesen ist. Wenn ich eine Flasche 100
Bier oder ein Gläschen Schnaps trinken will, so kann ich mir das am Tage im Laden kaufen. Im übrigen erlaubt mir das meine Gesundheit nicht.“ „Sie sehen nicht aus, als ob Sie krank wären.“ „Ich weiß nur zu gut, daß ich nicht mehr lange machen werde. Der Arzt meint, daß mit meiner Leber etwas nicht in Ordnung ist. Er gibt mir verschiedene Tropfen und Pulver, die nichts helfen. Er streitet das zwar ab, aber ich bin sicher, daß es Krebs ist.“ „Erzählen Sie nicht! Wie kommen Sie gleich auf Krebs? Gibt es wenig Leute, die etwas mit der Leber haben?“ „Frau Oberleutnant, ich weiß, was ich weiß. Und früher oder später muß jeder mal sterben, also mache ich mir nichts daraus. Ich bin alleinstehend und habe mein Leben gelebt. Also hat es keinen Sinn, irgend etwas zu bedauern und sich krampfhaft an das Leben zu klammern. Flüchtig gekannt habe ich diesen Delkot. Ein oder zweimal hat er mir die Schuhe zum Besohlen gebracht Und einmal, es war gerade niemand hier, denn auch mein Lehrling war unterwegs, kam er zu mir in die Werkstatt und fragte, ob ich Leder kaufen will.“ „Was für Leder? Selbstgegerbtes, aus einer illegalen Gerberei?“ „Nein. Er hat mir sehr schönes Gamsleder angeboten. Sogar eine Probe hat er mir gezeigt. Beste Qualität, Wahrscheinlich Importleder. Er wollte gleich die ganze Partie verkaufen.“ „War es viel?“ „Für über hunderttausend Złoty. Ganz billig. Von der Menge und dem Preis her war mir klar, daß es sich um gestohlene Ware handelte. Natürlich habe ich es nicht gekauft. Ich habe mich damit herausgeredet, daß ich kein Geld habe und Gamsleder auch gar nicht brauche, weil ich ja keine neuen Schuhe mache, sondern nur alte repariere. Er hat übrigens gesagt, daß er einen Käufer 101
für das Ganze hat, aber nicht hier in Zabiegowo, und er hätte es lieber an Ort und Stelle verkauft.“ „Woher mochte Delkot das Leder haben?“ Der Schuster lächelte. „Frau Oberleutnant“, sagte er, „kommen denn wenig Züge mit den verschiedensten Gütern hier durch? Wer, wenn nicht ein Eisenbahner, der die Züge zusammenstellt, muß wissen, was sich in diesen Waggons befindet?“ „Die sind doch verschlossen und verplombt.“ „Was ist das schon für ein Kunststück, den Draht aus der Plombe herauszuziehen und ihn später wieder hineinzustecken? Man wärmt das Blei etwas an, und niemand erkennt, daß die Plombe beschädigt wurde.“ „In Zabiegowo gab es in letzter Zeit keinerlei Meldungen über Eisenbahndiebstähle.“ „Ich sage ja nicht, daß sie die Waren aus den für unsere Stadt bestimmten Waggons gestohlen haben. Wenn einer zum Beispiel das Leder aus einem Waggon nimmt, der aus der Tschechoslowakei nach Szczecin fährt oder umgekehrt, dann wird der Diebstahl erst in Szczecin oder Prag bemerkt. Ich will diesen Menschen nicht verdächtigen“, verwahrte sich Kunert. „Ich weiß nur, daß er mir eine große Partie Gamsleder erstklassiger Qualität verkaufen wollte, ohne dessen Herkunft zu erwähnen, und ich es nicht kaufte, und Delkot ist gegangen. Er hat sich auch nie wieder in meiner Werkstatt blicken lassen.“ „Es war so gut wie sicher, daß es sich um gestohlene Ware handelte, Herr Kunert. Weshalb haben Sie das nicht im Kreisamt gemeldet oder einem unserer Leute erzählt?“ „Frau Oberleutnant, dieser Eisenbahner war doch nicht dumm. Der war bestimmt kein Neuling in diesem Geschäft. Selbst wenn ich es gemeldet hätte, hättet ihr bei ihm nichts gefunden. Der war zu klug, heiße Ware 102
bei sich zu Hause zu verstecken. Er konnte ja alles abstreiten, schließlich haben wir unter vier Augen darüber gesprochen, oder das Ganze für einen Scherz ausgeben: daß er mir nur ein Stückchen Leder gezeigt hat, um mich auf die Probe zu stellen. Was hättet ihr tun können? Für achtundvierzig Stunden festnehmen und wieder freilassen. Und die ganze Stadt wüßte, daß Józef Kunert ein Zuträger im Dienste der Miliz ist. Jetzt, wo der Mann tot ist, kann ihm nichts mehr schaden oder helfen. Und da Sie mich nach ihm gefragt haben, Frau Oberleutnant, habe ich Ihnen erzählt, was ich wußte. Wie Sie sehen, ist es nicht viel.“ „Trotzdem danke ich Ihnen sehr. Das kann mir ebenfalls von Nutzen sein.“ „Ich freue mich, daß ich unserer Miliz einen Dienst erweisen konnte. Es gibt ja wohl keinen Menschen in unserer Stadt, der ruhig schlafen könnte, solange ihr diesen Verbrecher nicht gefaßt habt. Selbst ich alter und kranker Mann möchte lieber in meinem Bett sterben als erschossen zu werden, wenn ich auf meinem Schemel sitze und Nägel in einen Schuh schlage.“ „Würden Sie“, fragte Barbara, „gegebenenfalls Ihre Worte bei einer offiziellen Vernehmung bestätigen?“ Der Schuster wurde verlegen. „Ich möchte, Frau Oberleutnant, daß das unter uns bleibt. Wir haben uns freundschaftlich unterhalten, und ich wollte Ihnen einfach helfen. Was soll ich alter Mann mich noch auf den Gerichten herumtreiben? Sicher, wenn es sein muß, kann ich es nicht ändern. Der Behörde muß man gehorchen, aber ich würde es lieber vermeiden. Zabiegowo ist wirklich ein Nest.“ Oberleutnant Śliwińska begriff die Vorbehalte des Schuhmachers sehr gut. Sie versprach ihm, die erhaltenen Informationen als „aus einer vertraulichen Quelle stammend“ zu behandeln. Sie hoffte, Major Stanisław Zajączkowski würde eine solche Lösung akzeptieren, 103
und bedankte sich sehr herzlich bei dem Schuhmacher für das ihr erwiesene Vertrauen und die Hilfe. Major Zajączkowski und die ihm unterstellten Offiziere zeigten großes Interesse für das Ergebnis von Barbaras Unterhaltung mit Kunert. Ihnen war das Problem nicht unbekannt. Śliwińska, die ja in Częstochowa gearbeitet hatte, war offenbar mit Diebstählen bei der Bahn nicht konfrontiert worden. Sie waren schon zu einer echten Plage geworden, und die Wojewodschaftsbehörde in Katowice wußte ein Lied davon zu singen. Die Eisenbahn zahlte hohe Entschädigungssummen für die fehlenden Waren. Man hatte sogar festgestellt, daß am häufigsten die Züge bestohlen wurden, die von Süden nach dem Norden gingen. Der Diebstahl wurde erst an Ort und Stelle offenbar, wenn die Waggons entladen werden sollten. Die Schlösser und Plomben waren scheinbar unberührt. Es verschwanden ausschließlich hochwertige Waren, wie Leder, Woll- und Seidenstoffe. Auf den großen Rangierbahnhöfen wie Tarnowskie Góry, Bytom oder Zabrze hatten Miliz und Bahnpolizei den Dieben schon mehrmals Fallen gestellt, und auch in anderen Wojewodschaften machte man auf die dreisten Einbrecher Jagd. Doch ohne größeren Erfolg. Zwar ertappte man manchmal einen Dieb auf frischer Tat, doch die Untersuchungsorgane waren sich im klaren darüber, daß die Festgenommenen einzeln oder in kleinen Grüppchen handelten und nicht einer gefährlichen, hervorragend organisierten Gang angehörten. Bislang hatte niemand vermutet, daß die Diebe auch in Zabiegowo operierten. Dieser Bahnhof stand in dem Ruf, unbedingt ehrlich zu sein. Barbaras Entdeckungen warfen ein neues Licht auf die Angelegenheit, so daß der Major sich sofort mit Katowice in Verbindung setzte. Diesmal reagierten die „da oben“ sofort. In der Wojewodschaftsbehörde war man sich dessen bewußt, daß das schwach besetzte Kreisamt von Zabiegowo nicht 104
imstande war, eine Operation in großem Stil durchzuführen. So mobilisierte man denn alle Reserven, über die die Wojewodschaft verfügte, und zog auch Kräfte aus anderen Kreisämtern heran. Wenige Tage nach Barbaras Unterhaltung mit Józef Kunert wurde eine umfassende Aktion gestartet. Man führte in großem Umfang Haussuchungen beim Eisenbahnpersonal durch, das auf den Güterbahnhöfen zwischen Katowice beziehungsweise Opole und Zabiegowo beschäftigt war, wobei die Kreisstadt besonders berücksichtigt wurde. Die Miliz klopfte an alle Wohnungstüren zur gleichen Zeit, um eine Verständigung zwischen den Betroffenen unmöglich zu machen. Die Ergebnisse der Durchsuchungen waren nicht überwältigend, aber man konnte die Aktion auch nicht als erfolglos bezeichnen. Die Miliz stöberte zwar keine Waren auf, die aus Diebstählen stammten, doch in einigen Fällen fand sie Schlüssel, wie sie für die Schlösser an Eisenbahnwaggons verwendet werden. Ebenso einige Plomben und Draht. Bei einigen Eisenbahnern förderte man Geldbeträge in Złoty und fremder Valuta zutage, welche die legalen Verdienstmöglichkeiten dieser Leute bei weitem überschritten. Die verbrecherische Rolle des Adam Delkot bestätigte auch die Haussuchung in seiner Wohnung. Zwar fand man nichts in dem Häuschen, das er bewohnt hatte, doch das Interesse der Milizionäre für die Bienenstöcke, die in dem kleinen Garten standen, erwies sich durchaus als richtig. Bienenstöcke sind ein beliebtes Versteck bei den verschiedensten Verbrechern. Das wissen selbst Anfänger unter den Milizionären. Hier brachte die Durchsuchung ein falsches Plombiergerät ans Tageslicht. Kein Wunder also, daß die Plomben in den bestohlenen Waggons unberührt schienen. Die Wojewodschaftsbehörde war mit dem Ergebnis der Aktion sehr zufrieden. Mehr als ein Dutzend Perso105
nen wurden festgenommen. Es war abzusehen, daß im Verlauf der Untersuchung die Solidarität der Gang in die Brüche gehen und jeder versuchen würde, seine Haut dadurch zu retten, daß er Fakten preisgab und die Schuld auf andere abwälzte. Endlich tat sich vor der Miliz eine reale Möglichkeit auf, die gefährliche Bande zu liquidieren. Das Kreisamt der Bürgermiliz in Zabiegowo erhielt viel Lob für sein operatives Handeln. Dem Major muß man zugestehen, daß er die Verdienste der Genossin Oberleutnant aus Częstochowa nicht verschwieg oder schmälerte, aber der Ruhm ergießt sich ja nicht nur über eine einzelne Person, sondern über das ganze Amt und seinen Leiter. Zum erstenmal erkannte Stanisław Zajączkowski an, daß das „Weib“, das man ihm „auf den Hals geschickt“, sich als wertvoller Mitarbeiter erwiesen hatte und zu Ergebnissen gelangt war, um die sie so mancher ältere Mitarbeiter der Bürgermiliz, der sich im Territorium besser auskannte, beneiden konnte. Doch bei allem Lob vergaß die Behörde auch nicht den Tadel. Die Liquidierung der Bande von Eisenbahndieben sei ein Erfolg, hieß es. Es sei nur schade, daß das Kreisamt in Zabiegowo nicht auch in der noch wichtigeren Angelegenheit der geheimnisvollen Morde einen ähnlichen Erfolg aufweisen könne. Die Tatsache, daß man bei den Ermittlungen in dem eigentlichen Fall ein anderes Verbrechen aufgedeckt habe, sollte nicht zur Selbstzufriedenheit führen. Die Kollegen gratulierten Barbara Śliwińska aufrichtig. Sogar Major Zajączkowski sparte nicht mit anerkennenden Worten. „Erzählen Sie uns jetzt bitte“, begann er, „wer Ihnen Mitteilung über Adam Delkot und dessen verbrecherische Rolle gemacht hat. Diese Person hat eine hohe Belohnung verdient. Sicherlich würde es der oberste Chef 106
der Bürgermiliz für richtig erachten, Ihren Informanten zu belohnen. Auch die Eisenbahn, die hohe Entschädigungen zu zahlen hatte, würde sich nicht lumpen lassen und eine Prämie an denjenigen zahlen, der sie von diesen Sorgen befreit hat.“ Barbara befand sich in einer schwierigen Situation. Sie wußte nicht, wie sie da herauskommen sollte, ohne ihren Vorgesetzten, dessen Empfindlichkeit sie ja kennengelernt hatte, zu verletzen. „Die Information“, erklärte sie, „hat mir ein Einwohner von Zabiegowo zukommen lassen. Aber ich mußte ihm mein Wort geben, daß ich die Quelle meiner Informationen niemandem verraten würde.“ „Wir sind hier doch unter uns“, bemerkte Leutnant Rzeszotko. „Mir wäre es jedoch lieber …“ „Barbara hat recht.“ Hauptmann Zygmunt Poleszczuk unterstützte die Kollegin. „Wenn sie ihr Wort gegeben hat, muß sie es halten. Ich bin selbst neugierig, es zu erfahren, aber in dem Fall muß ich eben darauf verzichten. Ist es nicht so, Genosse Major?“ „Zweifellos“, stimmte ihm der Leiter ohne sonderliche Begeisterung zu. „Mir ging es auch gar nicht um die Befriedigung meiner Neugier, sondern um eine Belohnung für diesen Bürger.“ „Ich verstehe sehr gut die Absichten des Genossen Leiters“, meinte Barbara friedfertig, „und ich will auch noch einmal mit diesem Bürger sprechen. Ich werde ihm erklären, daß er die Chance hat, eine hohe Belohnung zu erhalten, vielleicht auch eine Auszeichnung. Das ist kein wohlhabender Mensch, und die paar Złoty könnte er bestimmt gebrauchen. Mag er selbst entscheiden.“ „So wird es am besten sein“, pflichtete ihr der Major bei. „Ich habe eine neue Konzeption“, meldete sich Ober107
leutnant Andrzej Stefański zu Wort, „was unseren ‚AbcMörder‘ anbelangt.“ „Schieß los!“ ermunterte ihn Poleszczuk. „Zwei Opfer dieses Menschen waren, wie wir jetzt wissen, gefährliche Verbrecher. Einer von ihnen hatte außer kleineren Vergehen auch Vergewaltigungen auf dem Gewissen. Der andere war Mitglied einer Bande, die Güterzüge bestahl. In diesem Licht stellt sich die Person ihres Mörders als selbsternannter Richter dar, der blutige Gerechtigkeit übt. Nun wird es interessant sein zu erfahren, ob die beiden übrigen Opfer ebenfalls keinen so untadeligen Ruf besaßen, wie das in ihren Nachrufen behauptet wurde.“ Barbara lächelte triumphierend. „Meine Konzeption, daß man an den Mörder nur über eine genaue Untersuchung des Lebens seiner Opfer herankommen kann, bestätigt sich in der Praxis. Andrzej hat zweifellos recht. Dieser Mensch hat solche Personen umgebracht, die nach seinem Gerechtigkeitsempfinden den Tod verdient hatten. Nichtsdestoweniger hat er vier Morde wegen eines einzigen begangen, der für ihn am wichtigsten war.“ „Aber welchen? Wen wollte er töten: Adamiak oder Delkot?“ „Daß es Adamiak war, bezweifle ich, obwohl ich es nicht ausschließen kann. Aber ich weiß, daß es nicht aus Rache wegen der Vergewaltigung eines bestimmten Mädchens aus Kowalewo war. Die anderen Opfer Adamiaks kenne ich nicht. Auch dahinter könnte sich ein Rächer verbergen.“ „Und Delkot?“ „Auf diese Frage werden wir eine Antwort wissen, wenn wir die ganze Mechanik der Eisenbahndiebstähle kennengelernt und festgestellt haben werden, welche Rolle dabei Delkot gespielt hat. Natürlich kann es sich dabei auch um blutige Auseinandersetzungen innerhalb 108
der Bande gehandelt haben. Aber ich meine, daß es in diesem Fall einfacher gewesen wäre, einen Unfall auf den Gleisen vorzutäuschen.“ „Es handelt sich bestimmt um einen Besessenen, der, wie Stefański richtig bemerkt hat, sich das Recht anmaßt, Gerechtigkeit zu üben, der jedoch von dem Wahn beherrscht wird, in alphabetischer Reihenfolge morden zu müssen.“ Zajączkowski unternahm noch einmal den Versuch, seine Lieblingstheorie zu verteidigen, hatte sie allerdings unter dem Einfluß der Fakten ein wenig abgewandelt. „Jeder Mörder ist ein Besessener.“ Barbara wollte nicht mit dem Leiter streiten. „Wie denken Sie sich nun den Fortgang?“ „Ich werde weitersuchen. Jetzt will ich mich mit der armen Rentnerin beschäftigen. Die paßt am wenigsten zu Andrzejs Konzeption.“ „Aber Barbara, ich bitte dich sehr, paß auf dich auf“, warnte Hauptmann Poleszczuk. „Du bist nun keine Unbekannte mehr in Zabiegowo. Alle wissen, daß vor allem du zu den letzten, so zahlreichen Verhaftungen in Zabiegowo beigetragen hast. Und es ist auch kein Geheimnis, daß es die Hauptaufgabe unseres Oberleutnants im Minirock ist, den vierfachen Mörder festzunehmen. Wenn der Täter dich bisher unterschätzen durfte, so weiß er nun, daß du ihm auf den Fersen bist. Der Spaß hat aufgehört.“ „Um mich braucht ihr keine Angst zu haben. Mir wird schon nichts passieren.“ „Spiel dich nicht auf. Solche Helden gibt es genug auf jedem Friedhof.“ „Der Hauptmann hat recht. Ich bitte Sie, größte Vorsicht walten zu lassen. Tragen Sie immer eine Waffe bei sich.“ Barbara war über die Worte des Majors erstaunt. Daß dieser Mann sich seit dem ersten Augenblick ihrer An109
kunft in Zabiegowo ihr gegenüber ablehnend verhalten hatte, war auch für sie kein Geheimnis. Woher also diese plötzliche Fürsorge um ihre Person? Schon am nächsten Tag betrat Barbara mit einem Paar Schuhe in der Hand die Werkstatt des Meisters. Vorher hatte sie sich durch einen Blick aus dem Fenster vergewissert, daß Kunert allein war. Er begrüßte sie mit einem freundschaftlichen Lächeln und gratulierte ihr ebenfalls zu dem großen Erfolg. „Sie wissen nur zu gut, daß das nicht mein Erfolg ist, sondern Ihrer. Ohne Ihre Informationen hätte ich nichts bewirken können. Außerdem habe nicht ich die Aktion durchgeführt, sondern die Wojewodschaftsbehörde. Sie hat die Adressen der Verdächtigen zusammengestellt und auch die Haussuchungen durchgeführt. Ich kenne nicht einmal die Namen.“ „Aber Sie haben es verstanden, alles zusammenzutragen und es an die richtige Stelle zu bringen, damit diese Strolche entdeckt und hinter Schloß und Riegel gebracht werden konnten.“ „Herr Kunert, das ist vor allem Ihr Verdienst, und deswegen bin ich auch gekommen, um mit Ihnen zu sprechen.“ „Ich“, wehrte sich der Schuster, „habe nur meine Pflicht getan. Sie haben selbst gesagt, Frau Oberleutnant, daß jeder Bürger der Miliz helfen sollte, das Böse zu bekämpfen.“ „Das verstehe ich alles sehr gut und wollte Ihnen noch einmal für die wertvollen Hinweise danken. Dadurch konnte eine Bande liquidiert werden, die Millionendiebstähle auf dem Gewissen hat. Sie haben eine hohe Belohnung verdient. Von der Miliz und von den Polnischen Staatsbahnen.“ „Gott bewahre!“ Kunert winkte ab. „Ich habe das nicht wegen des Geldes getan, sondern für Sie. Sie sind so nett, so jung und sympathisch. Sie haben für einen 110
alten Mann immer ein gutes Wort oder ein freundliches Lächeln übrig. Wozu brauche ich Geld? Zwei Mittage auf einmal kann ich sowieso nicht essen, und für eins verdiene ich mir noch das Geld. Familie habe ich nicht mehr, meine Angehörigen sind alle entweder im Warschauer Aufstand oder während der Okkupation umgekommen. Und mein Licht wird auch bald verlöschen.“ „Außer einer Belohnung können Sie eine staatliche Auszeichnung bekommen. Das Verdienstkreuz zum Beispiel.“ „Frau Oberleutnant, wem sollte ich denn einen solchen Orden zeigen? Ich bin ein ruhiger, bescheidener Mensch, und so werde ich auch sterben. Wir hatten doch ausgemacht, daß Sie Ihren Gesprächspartner nicht nennen.“ „Ich habe Wort gehalten. Ihr Name ist nicht gefallen. Nicht einmal Major Zajączkowski kennt ihn.“ „Ich bitte Sie sehr darum, daß dies so bleibt. Für immer.“ Trotz aller Überredungskünste Barbaras änderte der alte Schuster seine Meinung nicht. Ihr blieb nichts anderes übrig, als Kunert erneut volle Diskretion zuzusichern. Unterdessen führte die Bezirksstaatsanwaltschaft in Katowice energisch die Ermittlungen im Falle der Eisenbahndiebstähle weiter. Die alte Erfahrung, daß angesichts einer Gefahr die Solidarität von Verbrechern in die Brüche geht, bestätigte sich erneut. Keiner der Verdächtigen, die der Staatsanwalt vernahm, „hielt dicht“, und jeder war bemüht, seine Rolle innerhalb der Gang so gering wie möglich erscheinen zu lassen. So war es kein Wunder, daß die Akte dieses Falls von Tag zu Tag anschwoll und die Staatsanwaltschaft immer neue Festnahmen veranlaßte. Dabei, stellte sich heraus, daß die Gang hervorragend organisiert war. Geleitet wurde sie von einigen Verbrechern in Katowice. Diese Leute, die als völlig unverdäch111
tig galten, kassierten das Geld für die gestohlenen Waren und teilten es unter die Mitglieder der Bande auf, von denen jeder seine fest umrissene Rolle zu spielen hatte. Die einen, die Zugang zu den Transportbriefen besaßen und den Inhalt der verschlossenen Waggons kannten, gaben die Nummern der Wagen, in denen sich wertvolle Waren befanden, an die Eisenbahner weiter, die auf den Gleisen arbeiteten. Diese wiederum brachten an den Wagen kleine, nur den Eingeweihten bekannte Zeichen an. Der Zug fuhr zur nächsten Station. Dort entzifferte einer der Eingeweihten diese Zeichen, öffnete mit nachgefeilten Schlüsseln die Schlösser und entfernte die Plomben. Auf der nächsten Station lud ein weiteres Mitglied der Bande im Schutze der Nacht die wertvolle Ware aus und verbarg sie in einem vorbereiteten Versteck. Andere Leute, die sich nur mit dem Transport beschäftigten, holten dort das Diebesgut ab und brachten es in die Lager der Hehler. Der Hehler zahlte an den Chef der Gang. Der bestohlene Waggon fuhr weiter, nach Zabiegowo. Hier wachte Adam Delkot. Er verschloß die Schlösser wieder und verplombte mit Hilfe des falschen Plombiergeräts die Tür. Die Mitglieder der Gang kannten einander meist nicht. Jeder hatte höchstens zu einem oder zwei anderen Kontakt. Deshalb war es auch nicht leicht, bis zur Spitze der Verbrecherbande vorzudringen. Aus dieser Fülle von Material ging jedoch nicht hervor, daß jemand daran interessiert gewesen sein könnte, Adam Delkot zu ermorden. Der Eisenbahner aus Zabiegowo war ein kleines Rädchen in der Verbrechermaschinerie gewesen. Bei denen „da oben“ hatte er sich nicht unbeliebt gemacht, und nur die Leitung hätte daran interessiert sein können, Delkot aus dem Kreis der Lebenden zu entfernen. 112
Nachdem Oberleutnant Barbara Śliwińska alle Umstände bedacht hatte, kam sie zu dem Schluß, daß sie auch diesmal nicht zum Kern der Dinge vorgedrungen war.
10. KAPITEL Die Verkaufsstellenleiterin Die Świérczewskistraße ist die größte und längste Straße in Zabiegowo. Sie beginnt am Markt und geht in die Chaussee nach Katowice über. Am Anfang der Świérczewskistraße stehen die stattlichsten Häuser von Zabiegowo. Dort ist auch das Geschäftsleben der Stadt konzentriert. Je weiter man nach Süden kommt, desto lockerer wird die Bebauung, die Häuser werden niedriger und sind von kleinen Gärten umgeben. In einem dieser Häuschen am Ende der Straße lebte und starb Maria Borzęcka, eine Rentnerin und Eisenbahnerwitwe. An der Świérczewskistraße stand auch der Stolz der Stadt – einer der drei Selbstbedienungsläden, und zwar der größte. Er war in einem eigens hierfür errichteten Flachbau untergebracht, der etwas zurückversetzt von der Straße lag. Es war eine Kaufhalle, die von den Einheimischen stolz „Supersam“ genannt wurde. Kenner wußten zu berichten, er sei besser beliefert als der „Supersam“ in Katowice. An letzterer Behauptung war sogar einiges dran, denn in den Regalen der Zabiegowoer Kaufhalle gab es häufig Waren, die in Katowice Seltenheitswert besaßen, wie Pralinen der Firma „Wedel“ oder „Goplana“ oder Büchsen mit Pampelmusensaft. Die Kaufhallenleiterin war eine der bekanntesten Personen in Zabiegowo und Umgebung. Dafür gab es mehrere Gründe. Vor allem suchte jeder Einwohner von Zabiegowo mindestens einmal in der Woche dieses Ge113
schäft auf. Zum anderen wurde die Leiterin überall gelobt, denn ihr Geschäft war wirklich gut versorgt, und das Verkaufspersonal immer freundlich, selbst wenn es zwischen Kunden und Verkäuferinnen zu Meinungsverschiedenheiten kam. Der dritte Grund schließlich für Danuta Byszewskas Popularität in Zabiegowo war ihr Äußeres. Diese Endvierzigerin konnte sich offensichtlich nicht mit der Tatsache abfinden, daß sie Jahr für Jahr älter wurde und nicht jünger. Frau Danuta war jedoch der Meinung, daß die Zeit für sie stehengeblieben sei, als sie achtzehn Lenze zählte. Und so paßte sie ihr Verhalten und die Art sich zu kleiden trotz ihrer Fülle und ihrer Jahre ständig diesem Lebensalter an. Sicherlich wußte sie, daß man über sie redete, doch sie machte sich nichts daraus und änderte auch nicht ihr Verhalten. Das ihr unterstellte Verkaufspersonal dirigierte sie mit eiserner Hand und kümmerte sich um das Geschäft, als wäre sie nicht die Verkaufsstellenleiterin, sondern die Besitzerin. Die Einheimischen belächelten sie ein wenig, aber sie achteten sie auch; sie kannten schließlich ihre Frau Danuta. Aber auch sie kannte alle und hatte immer ein offenes Ohr für all den Klatsch, den man ihr aus der ganzen Stadt zutrug. Deshalb mußte Oberleutnant Śliwińska, die bemüht war, ständig neue Informationsquellen anzuzapfen, auf eine so stadtbekannte Person einfach aufmerksam werden. Barbara hatte diese Kaufhalle schon mehrmals aufgesucht, doch nun, da man die Bande der Eisenbahndiebe ausgehoben hatte, erregte diese Frau Oberleutnant überall in der Stadt Aufsehen, so daß es nicht sonderlich schwierig für sie war, mit Danuta Byszewska Bekanntschaft zu schließen. Im Gegenteil, die Verkaufsstellenleiterin war es, die den ersten Schritt dazu tat, um die populäre Milizionärin kennenzulernen. Als Barbara mit dem Korb in der Hand zwischen den Rega114
len umherstreifte, trat Danuta Byszewska an sie heran und flüsterte ihr zu: „Wir haben heute am Wurststand taufrischen Schinken. Erstklassige Ware. Wirklich zu empfehlen.“ Natürlich nutzte Barbara eine solche Gelegenheit. Sie kaufte den Schinken und bedankte sich bei der Verkaufsstellenleiterin herzlich für das Entgegenkommen. „Aber, Frau Oberleutnant, keine Ursache. Wir müssen doch unserer tapferen Miliz helfen. Besonders einer so verdienstvollen Vertreterin dieser Miliz. Das muß doch aufregend sein, so gegen die Verbrecher zu kämpfen. Ich würde ja vor Angst sterben. Bestimmt haben Sie schon allerhand Abenteuer erlebt. Was ist dagegen unser langweiliges Leben in einer Kaufhalle.“ „Nun, ich fürchte, Frau …“ „Ich heiße Danuta mit Vornamen.“ „Ich fürchte, Frau Danuta, daß Sie ein wenig enttäuscht wären. Im großen und ganzen besteht unsere Arbeit aus kollektivem Handeln ohne aufsehenerregende Begebenheiten. Heutzutage werden die Ermittlungen durch wissenschaftliche Errungenschaften auf dem Gebiete der Kriminalistik unterstützt. Die geniale Intuition eines Sherlock Holmes oder der authentischen amerikanischen Detektive, der Brüder Pinkerton, spielt nicht mehr diese Rolle. Natürlich habe auch ich schon während meiner Dienstzeit einiges Interessantes erlebt.“ „Das muß großartig sein. Ich würde ja zu gern darüber etwas erfahren.“ „Nichts ist einfacher als das. Wir brauchen ja nur mal Kaffee trinken zu gehen.“ „Da wäre ich Ihnen wirklich dankbar, Frau Oberleutnant.“ „Ich heiße Barbara.“ „Sie glauben ja nicht, wie dankbar ich Ihnen bin, Frau Barbara. Ich wäre keine Frau, wenn ich nicht neugierig wäre. Aber wann?“ 115
„An irgendeinem Nachmittag, wenn Sie etwas freie Zeit haben.“ „Ich hätte morgen Zeit.“ „Na, ausgezeichnet. Um wieviel Uhr?“ „Wie es Ihnen paßt, Frau Barbara.“ „Mir ist es gleich. Mein Dienst ist um vier Uhr nachmittags beendet.“ „Dann vielleicht um fünf Uhr?“ „Einverstanden. Um fünf. Und wo? Im ‚Sternchen‘?“ „Das wäre vielleicht nicht so günstig. Man kennt Sie hier, also wird man uns angaffen, und das stört bloß. Da fehlt einfach die richtige Stimmung für eine gemütliche Unterhaltung.“ Die Vorbehalte der Verkaufsstellenleiterin waren nicht von der Hand zu weisen. „Ich richte mich ganz nach Ihnen.“ „Dann vielleicht bei uns? Ich wohne nicht weit von hier. Nur ein paar Häuser weiter. Ebenfalls in der Świérczewskistraße. Bitte, Frau Barbara. Mein Mann würde sich auch sehr freuen. Er spricht mit solcher Bewunderung von Ihnen. Und der Kaffee wird bestimmt nicht schlechter sein als im ‚Sternchen‘.“ „Daran zweifle ich nicht“, meinte Barbara lachend. „Also dann, Frau Danuta, morgen um fünf. Ich werde pünktlich sein.“ Natürlich entpuppte sich der „Kaffee“ als ein „Beinahe-Bankett“. Frau Danutas Ehegatte, ein kleines, von seiner besseren Hälfte völlig eingeschüchtertes Männlein, sagte kaum ein Wort. Wann sollte er auch? Frau Byszewska, die doch so neugierig auf Milizabenteuer gewesen war, ließ ihren Gast anderthalb Stunden lang nicht zu Wort kommen. Sie hingegen hatte inzwischen Barbara ihr ganzes Leben und eine Menge Tratsch erzählt, den es in der Stadt gab. Endlich konnte Herr Byszewski einwerfen: „Frau Barbara hatte uns doch versprochen, einige ihrer Abenteuer zu erzählen.“ 116
„Na eben“, griff die Leiterin des „Supersam“ die Worte ihres Mannes auf, „wir warten und warten, und unsere Frau Barbara schweigt. Ist das schön? Da haben Sie uns solchen Appetit auf Ihre Geschichten gemacht, und nun kommt nichts.“ Barbara ging taktvoll darüber hinweg, daß die Gastgeberin bisher noch keinen hatte zu Wort kommen lassen, und berichtete, auf die Bitte des Hausherrn eingehend, von zwei oder drei Fällen, an denen sie in Częstochowa mitgearbeitet hatte. „Und dieser Vampir aus Katowice?“ erkundigte sich Frau Danuta. Nun mußte Frau Oberleutnant erzählen, wie sie und ein Dutzend anderer hübscher Mädchen, die man aus der ganzen Wojewodschaft zusammengeholt hatte, nachts in den Vororten der Stadt umhergestreift waren, in denen der gefährliche Triebverbrecher umging. Unter der Baskenmütze oder dem Hütchen trugen sie stählernen Kopfschutz, denn der Verbrecher griff seine Opfer meist mit einem Schlag auf den Hinterkopf an. „Seid ihr lange so umherspaziert?“ „Diese Aktion wurde mehrere Wochen lang durchgeführt. Allerdings ohne Resultat. Der Mörder wurde auf ganz andere Art gefaßt. Im Verlauf langer, mühseliger Ermittlungen wurde ein Kreis von Personen ausgemacht, unter denen sich der ‚Vampir‘ befinden mußte. Er wurde festgenommen, als er auf der Suche nach einem neuen Opfer durch die Straßen strich. Die Mordwerkzeuge fand man bei ihm.“ „Werdet ihr unseren Vampir auf die gleiche Weise fassen? Ich kann mich ja schon sicher fühlen, bloß gut, daß ich meinen Czesław geheiratet habe und jetzt den Namen Byszewska trage. Aber die Leute, deren Namen mit ‚E‘ oder ‚F‘ anfangen, die sterben fast vor Angst. Borzęcka und Byszewska stehen in der Meldekartei dicht beieinander. Wir haben sogar in derselben Straße ge117
wohnt. Aber er hat sie ausgewählt. Sicher, weil das einfacher für ihn war, das ist ein kleines Haus mit Garten, während wir in einem neuen Genossenschaftsblock mit dreißig Familien wohnen.“ „Haben Sie diese Frau Borzęcka gut gekannt?“ „Gut? Nun ja, ich habe sie jedenfalls gekannt, die alte Wucherin.“ Wucherin! Dieses eine Wort genügte Barbara. Jetzt begriff sie. Während des Aktenstudiums hatte sie sich gewundert, wie das möglich war. Da baute sich ein junger Ingenieur, Maria Borzęckas Sohn, kaum daß er das Studium beendet hatte, ein schönes Einfamilienhaus im Werte von mindestens siebenhunderttausend Złoty. Gewiß, die Erkundigungen hatten ergeben, daß weder Mieczysław Borzęcki noch seine Frau sich zu fein dafür gewesen waren, eine Kelle oder Schaufel in die Hand zu nehmen, und selber viele Stunden auf dem Bau zugebracht hatten. Trotzdem … Ein neuer Wartburg stand ebenfalls in der Garage. Zwar sind die Löhne und Gehälter im Bergbau höher als in anderen Industriezweigen, aber doch nicht so hoch, daß sich Leute, die erst vor wenigen Jahren von der Akademie für Berg- und Hüttenwesen gekommen sind, so einrichten könnten. Dabei hatte doch Mieczysław nicht die Tochter eines jener Gemüse- und Blumenzüchter geheiratet, welche die Großstädte beliefern und in Geld schwimmen, und er hatte sich seine Frau auch nicht in den Kreisen der „Privatinitiative“ gesucht. Er hatte einfach ein hübsches, nettes Mädchen gefunden, eine Angestellte, die auf demselben Schacht arbeitete, die Tochter eines gewöhnlichen Bergmanns. Auch die jungen Doktorsleute, die sich in der Wojewodschaft Szczecin angesiedelt hatten, galten in ihrer Stadt als wohlhabende Leute. Sie hatten sich zwar kein Haus gekauft, denn ein Arzt erhält in der Provinz ohnehin eine hübsche Wohnung, doch sie hatten sich ihr Zu118
hause mit allem Komfort eingerichtet. Einen Polski Fiat hatten sie ebenfalls gleich bar bezahlt. In dem Bericht der Milizmitarbeiter, die Erkundigungen eingezogen hatten, konnte man lesen, daß die Kinder der Maria Borzęcka gar nicht damit hinter dem Berg hielten, daß ihre Mutter ihnen bei ihrem Start ins Leben sehr geholfen hatte. Damals war diese Einzelheit dem Offizier, der die Ermittlungen leitete, entgangen, doch jetzt mußte man der Sache nachgehen. „Diese ‚Tante‘ Borzęcka war wohl sehr rührig, sie wußte sich gut zu helfen“, meinte Barbara lächelnd. „Sie handelte illegal mit Schnaps und machte ebenso illegal der Kreissparkasse Konkurrenz. Dabei muß sie ganz gut verdient haben.“ „O ja!“ stimmte ihr Herr Byszewski zu. „Ein richtiger Blutegel war sie“, fügte seine Frau hinzu. „Ich selbst …“ „Solche Wucherer“, Barbara tat, als hätte sie nicht bemerkt, daß Frau Danuta mitten im Satz plötzlich verstummt war, „verstehen es, die schwierige Lage eines Menschen auszunutzen. Scheinbar helfen sie ihm, aber sie lassen sich auch gut bezahlen. Zuweilen nehmen sie bis zu fünf Prozent monatlich.“ „Fünf Prozent? Sie hat zehn Prozent und mehr genommen. Soviel es ging.“ „Dabei hat sie selbst nichts riskiert. Als Sicherheit ließ sie sich Gold geben.“ Barbara klopfte einfach auf den Busch, in der Annahme, daß sie sich nicht allzusehr irrte. Die Wucherer sichern sich immer auf diese Weise. „Sogar goldene Ringe ließ sie sich geben“, ergänzte Danuta. „Sie sitzen in Ihrer Kaufhalle und wissen einfach alles. Ich bewundere Sie.“ „Die Menschen sind schwatzhaft. Ich höre nur zu. Man braucht sie nicht einmal auszufragen.“ 119
„Und was die Borzęcka betrifft, so war das ‚Tantchen‘ ja stadtbekannt“, kommentierte ihr Mann. „Sie sind so nett, daß ich Ihnen schon die ganze Wahrheit erzählen will. Aber, liebste Frau Oberleutnant, das muß unter uns bleiben. Ich möchte nicht, daß die Angelegenheit noch einmal breitgewalzt wird. Das bringt uns nichts als Schande ein.“ „Das ist doch selbstverständlich. Schließlich sitzen wir hier gemütlich bei einer ausgezeichneten Tasse Kaffee zusammen und plaudern ein bißchen. Ich bin ja nicht dienstlich gekommen“, erwiderte Barbara freundlich lächelnd. „Na eben“, bestätigte Byszewski. „Wissen Sie“, die Verkaufsstellenleiterin senkte die Stimme zu einem konspirativen Flüstern, „vor zwei Jahren hatte ich in meiner Verkaufsstelle ein Manko.“ „War es hoch?“ „Mehr als vierzigtausend. Stellen Sie sich das vor! Dreiundvierzigtausend über die zulässige Grenze hinaus.“ „Das ist ja schrecklich!“ meinte Barbara mitfühlend. „Ich hatte zwei so junge Dinger eingestellt. Scheinbar anständige Mädchen. Schließlich kannte ich die Eltern. Ich wußte aber nicht, daß die Mädels sich mit diesen Strolchen aus Adamiaks Bande angefreundet hatten. Ehe ich dahinterkam, daß da etwas nicht stimmt, und sie hinauswarf, war es schon zu spät. Sie selbst und ihre Kerle hatten mir Wein und Schnaps für eine so horrende Summe hinausgetragen.“ „Und dazu natürlich die entsprechenden Zutaten“, fügte Byszewski hinzu. „Ich habe immer wieder gewarnt. ‚Danuta, paß auf ‘, habe ich gesagt. Aber haben Sie schon mal erlebt, daß der Ehemann recht gehabt hätte?“ „Ich kannte doch die Eltern. Das waren so anständige Menschen. Eher hätte ich sonst etwas erwartet als das.“ „Heute kann man keinem Menschen mehr trauen.“ 120
„Wie recht Sie haben, Frau Barbara!“ „Haben diese Mädchen lange bei Ihnen gearbeitet?“ „Gut sieben Monate. Und ich blindes Huhn habe nichts bemerkt. Sie oder ihre Kavaliere haben Tag für Tag mehrere Flaschen Wein oder Schnaps rausgeschleppt. Erst als ich sie abends ein paarmal leicht angegangen in der Gesellschaft von Adamiak, Paluch und ihrer Kumpane gesehen habe, ist mir ein Seifensieder aufgegangen. Am nächsten Tag, als sie nach Hause gehen wollten, sage ich: ‚Mädels, macht die Taschen auf.‘ Natürlich gab es erst beleidigte Mienen und dann Tränen. ‚Wie können Sie uns so beschuldigen?‘ hieß es. Aber ich blieb hart: ‚Packt alles auf den Tisch oder ich rufe die Miliz.‘ Die eine hatte zwei Flaschen Markenschnaps, die andere eine Flasche Egri Bikaver und ein halbes Kilo Schinken.“ „Ganz annehmbare Getränke, und die Zukost war auch nicht schlecht. Haben Sie die Angelegenheit der Miliz übergeben?“ „Nein. Später habe ich das oft genug bedauert. Aber damals habe ich mich einfach geschämt, daß ich so dumm gewesen war. Und auch die Eltern taten mir leid. Ich dachte ja, es handelt sich um vereinzelte Übergriffe. Dabei hatten die mich so hintergangen.“ „Als man meiner Frau das Ergebnis der Inventur mitteilte, dachte ich, sie bekommt einen Herzanfall.“ „Viel hat nicht gefehlt. Mich hat das sehr mitgenommen, und ich bin ja schon als Kind immer kränklich gewesen …“ Die könnte auf ihren Schultern einen Zentner Mehl drei Kilometer weit schleppen, dachte Barbara, und laut sagte sie: „Ein Glück, daß es ein gutes Ende genommen hat.“ „Da haben Sie recht, liebste Frau Barbara. Vierzigtausend Manko! Das hätte ebensogut beim Staatsanwalt und vor Gericht enden können. Bloß gut, daß man 121
mich in der Direktion, kennt und achtet. Sechzehn Jahre arbeite ich jetzt in Zabiegowo. Zuerst habe ich das Geschäft am Markt geleitet, denn den ‚Supersam‘ gab es noch nicht. Seit fünf Jahren bin ich nun hier in der Świérczewskistraße. Und nie hatte ich ein Manko! Nicht einen Groschen. Deshalb hat auch damals, als dieses Unglück geschah, der Direktor zu mir gesagt: ‚Frau Byszewska, wir glauben Ihnen, daß die beiden Mädels Sie hintergangen haben. Aber einfach als Verlust können wir diese Summe nicht abschreiben. Zahlen Sie das Geld schnell zurück.‘ Schnell zurückzahlen, das sagt sich so leicht dahin, aber woher eine solche Summe nehmen?“ „Hat die Borzęcka es Ihnen gegeben?“ „Ich mußte zu dieser Wucherin gehen. Stellen Sie sich vor, zehn Prozent monatlich hat sie von mir verlangt, dabei verging doch kein Tag, an dem sie nicht in mein Geschäft gekommen wäre. Sei es nun wegen Schnaps oder etwas anderem. Sie erzählte immer das Märchen von dem Bekannten in Gliwice, der das Geld verleiht und soviel Prozent verlangt. Sie spielt nur aus Gutmütigkeit die Vermittlerin zwischen ihm und ihren Freunden. Die Leute taten so, als glaubten sie ihr, denn was blieb ihnen anderes übrig?“ „Ein Ertrinkender greift selbst nach einem Rasiermesser.“ „Ich mußte auch nach solch einem Rasiermesser greifen. Sie ließ sich Wechsel über achtundvierzigtausend Złoty geben. Die Zinsen gleich für zwei Monate im voraus, denn nur für diesen Zeitraum wollte sie das Geld verleihen. Gleichzeitig ließ sie sich Gold als Sicherheit geben. Dabei hat sie mich gewarnt, daß das Gold verfällt und die Wechsel an den Gerichtsvollzieher gehen, wenn ich nicht rechtzeitig zahle.“ „Gut, daß Sie etwas Schmuck hatten, um ihn als Sicherheit geben zu können.“ 122
„Eben nicht, meine Teuerste. Unsere Eheringe und ein paar andere Ringe, einen davon hatte ich von meinem Mann noch vor der Hochzeit bekommen, waren ihr zuwenig. Ich habe alle Verwandten und Freunde abgeklappert, gebettelt habe ich, daß sie mir ihren Schmuck für die zwei Monate borgen.“ „Und die Eltern der beiden Mädchen?“ „Die Menschen sind ja so gemein. Sie waren noch beleidigt, daß ich ihren armen, unschuldigen Kindern etwas anhänge. Sie wollten überhaupt nicht mit mir reden. Da erst begriff ich, wie dumm ich gewesen war. Ich hätte sofort zur Miliz gehen und eine Inventur verlangen sollen. So mußte ich selbst für die Diebinnen bezahlen.“ „So ist es immer. Wenn man kleine Schwindeleien deckt, entstehen daraus später große Verbrechen.“ „Gute Menschen haben mir schließlich geholfen. Dieser gab mir seinen Trauring, jene eine Brosche mit einem Stein, und schließlich habe ich das Geld von der Borzęcka bekommen. Innerhalb von zwei Monaten habe ich alles bis auf den letzten Groschen zurückgezahlt. Die ganzen achtundvierzigtausend Złoty. Ich muß zugeben, daß sich auch die Konsumgenossenschaft sehr anständig gezeigt hat. Als ich das Manko beglichen hatte, gaben sie mir ein hohes Darlehen. Die Kasse der gegenseitigen Hilfe hat ebenfalls etwas zugelegt. Aber auch der Betrieb meines Mannes hat uns geholfen. Sonst wären wir da nicht herausgekommen.“ „Hat die Borzęcka die Wechsel und das Gold herausgegeben?“ „Sie mußte. Aber an ihrer Miene konnte ich sehen, daß sie sehr unzufrieden war. Sie hatte damit gerechnet, daß sie entweder bei einer Verlängerung des Darlehens noch mehr aus mir herausholt oder gar den Schmuck einstreicht. Das war ein hartes Weib. Ohne Mitleid. Habgierig auf jeden Groschen. Als wäre ihr das noch zuwenig, was sie am Schnaps verdiente. Und eine 123
Rente hatte sie ja auch noch. Eine Eisenbahnerrente, also gar nicht so wenig.“ „Wahrscheinlich hat sie ein verzweifelter Schuldner mit der Axt erschlagen.“ „So wie ihr Leben war, so war auch ihr Tod. Sie hat wie ein Blutegel gelebt und ist wie ein Schwein im Schlachthaus umgekommen, das man auch zuerst mit dem stumpfen Ende der Axt betäubt, bevor man es absticht. Ich weiß, das ist nicht christlich, aber ich bedaure sie überhaupt nicht.“ „Was hat sie mit all dem Geld gemacht?“ „Sie hat alles in ihre Kinder gesteckt. Wie oft hat sie gesagt: ‚Ich mußte mich in meiner Jugend so abplagen, meine Kinder sollen all das haben, was mir gefehlt hat.‘ “ „Und die Kinder haben sich dann wahrscheinlich ihrer Mutter geschämt.“ „Wenn Sie wüßten, wie recht Sie haben. Als sie erst mal aus dem Hause waren und ihre Schulen besuchten, wollten sie nicht einmal in den Ferien heimkommen. Später haben sie sich dann überhaupt nicht mehr blicken lassen. Bei dem Begräbnis waren sie nur darauf bedacht, so schnell wie möglich das ganze Zeremoniell hinter sich zu bringen. Der Sohn hat sich nicht einmal die fertige Grabplatte angesehen, obwohl er mit seinem Wagen nicht länger als eine Stunde bis Zabiegowo fährt.“ Es war spät geworden, und obwohl die Eheleute ihr zuredeten, noch zu bleiben, hielt Barbara es für richtig, das gastliche Haus zu verlassen. Die Informationen, die sie von der allwissenden Leiterin des „Supersam“ erhalten hatte, lenkten die Ermittlungen in eine neue Richtung. Barbara wollte in Ruhe diese Informationen durchdenken, bevor sie sie am nächsten Tag bei der morgendlichen Beratung vortrug. Doch je länger sie überlegte – sie bekannte das offen vor sich selbst –, desto weiter glaubte sie sich von der 124
Lösung des Rätsels um die geheimnisvollen Morde entfernt. Es waren Menschen umgekommen, die mehr, wie Delkot und Adamiak, oder minder, wie die Borzęcka, mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. So manch ein Einwohner von Zabiegowo mochte ihnen den Tod gewünscht haben. Doch „fromme Wünsche“ und der Griff zur Axt oder zur Pistole, das war zweierlei. Aus der Tätigkeit der Wucherin oder des Eisenbahndiebes ließen sich keinerlei Schlußfolgerungen auf die Person des Täters ziehen. Hinter Adamiaks Tod mochte ein Racheakt stehen. Doch die Durchtriebenheit des Verbrechers und die Kaltblütigkeit, mit der er der Reihe nach seine Opfer mordete, widersprachen der These, daß dieser Mensch jemand sein konnte, der sich für die Vergewaltigung seiner Freundin oder Tochter rächte. Der gleichen Meinung waren übrigens alle Offiziere. Mit großer Aufmerksamkeit hörten sie sich den Bericht ihrer Kollegin über die dunklen Seiten des Lebens der Maria Borzęcka an. Besonders unangenehm überrascht war Major Stanisław Zajączkowski. Er hatte geglaubt zu wissen, was auf seinem Territorium vor sich ging. Und da kam nun eine völlig fremde Person daher, welche die hiesigen Verhältnisse nicht kannte, und fand innerhalb weniger Wochen so viele örtliche Geheimnisse heraus … „Daß die Byszewska ein Manko hatte, war mir bekannt“, sagte er. „Die ganze Stadt sprach darüber. Die Leitung der Konsumgenossenschaft hat sogar meine Meinung eingeholt, ob man die Angelegenheit nicht dem Gericht übergeben sollte. Ich habe mit der Staatsanwaltschaft beraten, und wir sind zu dem Schluß gekommen, daß man dieser Frau eine Chance geben müßte. Wir waren ja überzeugt davon, daß nicht sie gestohlen hatte. Schade nur, daß die beiden Mädels damals ungeschoren davongekommen sind.“ „Meine Theorie von der geheimnisvollen ‚schwarzen 125
Hand‘ hat sich noch einmal bestätigt“, bemerkte Oberleutnant Andrzej Stefański. „Zuerst ist ein Mädchenschänder umgekommen, dann eine Wucherin und ein Dieb. Nun bin ich ja neugierig, was du bei Czerwonomiejski zutage förderst.“ „Das wird bedeutend schwieriger sein“, wandte Zygmunt Poleszczuk ein. „Der Mann war reich, und er wohnte noch nicht lange hier. Wir wissen, daß er hohe Einkünfte hatte. Das Geld hat er auf ehrlichem Wege erworben. Wir wissen auch, daß er sich auf keine krummen Geschäfte mit den Leitern der staatlichen Läden, die von ihm beliefert wurden, eingelassen hat.“ „Vielleicht gibt es im Leben dieses Menschen irgendwelche dunklen Geheimnisse aus der Zeit, da er noch in Frankreich gelebt hat?“ warf Leutnant Rzeszotko ein. „Dann hätten sie ihn dort umgebracht und nicht in Zabiegowo.“ „Der Mörder hätte ihm folgen können.“ „Der Mörder ist bestimmt ein Einwohner unserer Stadt. Jemand, der sich in den hiesigen Verhältnissen besser auskennt als wir“, stellte der Major fest. „Uns war das Doppelleben dieses Delkot oder der Borzęcka unbekannt. Adamiak hielten wir für einen gewöhnlichen Rowdy. Der Mörder hingegen wußte alles über sie.“ Doch Barbara blieb bei ihrer Theorie. „Drei Personen sind umgebracht worden, um die Ermittlungen auf eine falsche Spur zu lenken“, sagte sie. „Es fehlen mir die wirklich schwerwiegenden Gründe für den Mord an Delkot und der Borzęcka. Auch im Fall des Wincenty Adamiak leuchten sie mir nicht ein. Nun ist uns der letzte dieser vier geblieben. Władysław Czerwonomiejski. Irgend etwas sagt mir, daß im Leben und im Tod dieses Gärtners die Lösung unseres Rätsels steckt, zumindest die eine Hälfte.“ „Wieso das?“ fragte Rzeszotko verwundert. „Weil es nicht genügt, eine Antwort auf die Frage 126
‚Weshalb?‘ zu finden. Man muß auch noch wissen: Wer? “ „Müssen wir immer noch die Bürger auf ‚E‘ beschützen?“ fragte Hauptmann Poleszczuk. „Was hältst du davon, Barbara?“ „Im Augenblick scheint mir das sehr wichtig zu sein“, antwortete das Mädchen. Der Major nickte zufrieden. Zum erstenmal wohl waren diese beiden einer Meinung. „Weshalb gerade jetzt?“ Der Leutnant war dafür bekannt, daß er oft und viel fragte. Stefański hänselte ihn deswegen gern. „Deshalb“, erklärte der Major, „weil unser Verbrecher nur zu gut weiß, was in Zabiegowo vor sich geht. Er kennt die Erfolge unserer Kollegin. Er ist darüber informiert, daß sie die dunkelsten Seiten im Leben Adamiaks, der Borzęcka und Delkots kennengelernt hat. So wird er auch ohne große Mühe zu dem Schluß kommen, daß nun Czerwonomiejski an der Reihe ist. Der Täter, der vor vier Morden nicht zurückschreckte, ist kaltblütig und hat stählerne Nerven. Doch auch die können ihn mal im Stich lassen. Schließlich sieht er, daß die Gefahr, entlarvt zu werden, mit jedem Augenblick näherkommt. Er könnte also auf die Idee kommen, daß wieder ein Opfer fällig ist. Diesmal ein völlig unschuldiger Mensch, mit untadeliger Vergangenheit. Und sei es nur aus dem Grund, die Untersuchungsorgane vor eine neue Aufgabe zu stellen und selber Zeit zu gewinnen. Aber auch, um sowohl die Einwohner der Stadt als auch die Miliz in der Überzeugung zu bestärken, daß die Verbrechen das Werk eines Verrückten, eines Besessenen sind.“ Barbara betrachtete den Leiter mit Hochachtung. Bislang hatte sie den Major ein wenig unterschätzt. Nun mußte sie sich eingestehen, daß er ein intelligenter, erfahrener Offizier der Miliz war. Vor allem aber ein 127
Mensch, der sich nicht scheute, eigene Fehler einzugestehen und von irrtümlichen Auffassungen abzugehen. „Ich bin der gleichen Meinung wie der Genosse Major“, sagte sie. „Ich fürchte für diese Menschen.“ „Und ich fürchte auch um Sie. Der Verbrecher hat nämlich zwei Möglichkeiten. Er kann versuchen, einen ‚Abc-Mord‘ zu wiederholen, oder aber denjenigen zu beseitigen, der ihm auf den Fersen ist. Deshalb bitte ich Sie noch einmal, vorsichtig zu sein.“ „Ich hoffe, er ist so eingebildet, so überzeugt, ungestraft davonzukommen, daß er stillsitzen wird, bis Barbara ihn hochnimmt“, tröstete Hauptmann Poleszczuk seine Kollegen.
11. KAPITEL Wo sind die Fingerabdrücke? Oberleutnant Barbara Śliwińska war sich völlig im klaren darüber, daß es wesentlich schwieriger sein würde, das Leben Władysław Czerwonomiejskis zu erforschen, als das der übrigen Opfer des „Abc-Mörders“. Der Gärtner, der ein reicher Mann gewesen war, hatte kein geselliges Leben geführt, keine Lokale besucht und in den hiesigen Geschäften auch nicht selbst eingekauft. Sein Haus stand am äußersten Rande der Stadt, und die meisten Einwohner von Zabiegowo hatten seinen eleganten „Simca“ besser gekannt als dessen Besitzer. Es war also gar nicht daran zu denken, daß sie jemanden finden würde, der Auskunft über den Gärtner geben konnte. Deshalb ging Oberleutnant Śliwińska erneut daran, die Akte dieses Falls und den beigefügten Umschlag mit den Aufnahmen und Expertisen zu studieren. Doch erst beim dritten, sehr aufmerksamen Lesen der dicken Akte bemerkte Barbara einen wesentlichen Man128
gel. Unter den Anlagen fehlte das Blatt mit den Fingerabdrücken. Schließlich ist es die Regel, daß bei plötzlich eingetretenem Tod, sei er nun auf einen Unfall oder ein Verbrechen zurückzuführen, die Untersuchungsgruppe, der immer ein Fachmann für Daktyloskopie angehört, an Ort und Stelle Aufnahmen macht und die Fingerabdrücke des Toten abnimmt. Barbara suchte den Obersergeanten Lemski auf, denn er war dafür zuständig. „In der Akte fehlen die Fingerabdrücke Czerwonomiejskis“, sagte sie, „weshalb haben Sie sie nicht beigefügt?“ Der Obersergeant wurde rot. „Wozu brauchen Sie diese Fingerabdrücke? Er hat doch auf sich selbst nicht geschossen. Es ist bekannt, daß ihn der ‚Abc-Mörder‘ umgebracht hat. Und der hat keinerlei Fingerabdrücke hinterlassen. Ich habe mehrere Stunden dort gearbeitet und nichts gefunden.“ „Mir geht es nicht um den Mörder, sondern um das Opfer. Um Czerwonomiejski.“ „Von dem habe ich keine Fingerabdrücke gemacht.“ „Wie ist das möglich?“ fragte Barbara verwundert. „Nun ja, es hat dort einen Haufen Arbeit gegeben. Das Gewächshaus ist so groß wie eine Kirche. Mit zwei Eingängen. Überall mußte gesucht werden, ob sich nicht ein Fingerabdruck findet. Es gab ja auch mehr als genug, aber sie stammten alle entweder vom Sohn oder vom Alten und seinen Gehilfen.“ „Wenn Sie die Fingerabdrücke der anderen mit denen Czerwonomiejskis verglichen haben, dann müssen Sie sie doch dem Toten abgenommen haben.“ „Eben nicht. Ich habe sie nur den übrigen abgenommen. Der Alte hatte so eine charakteristische Schleife, daß man sie sofort überall erkennen konnte. Und als ich mit der Arbeit fertig war, hatten die Angehörigen den Leichnam schon ins Haus genommen, weil der Herr 129
Staatsanwalt es erlaubt hat. So hab ich es dann völlig vergessen. Später habe ich alles Material vernichtet, weil es nicht mehr gebraucht wurde.“ Es war nichts zu machen. Barbara mußte mit ihren Sorgen zum Major gehen. „Brauchen Sie diese Fingerabdrücke wirklich so dringend?“ fragte Zajączkowski verwundert. „Czerwonomiejskis Lebenslauf, der sich in der Akte befindet, enthält ernste Lücken.“ „So, meinen Sie?“ Dem Major gefielen Barbaras Worte gar nicht. Immerhin hatte er diesen Fall selbst in die Hand genommen. Barbara bemerkte, daß sie wieder das Ehrgefühl des Leiters verletzt hatte, und lenkte ein. „Sie haben natürlich die Ermittlungen unter einem anderen Blickwinkel geführt. Damals wurde das Leben des ermordeten Gärtners nur ganz allgemein untersucht, mehr zur Information. Jetzt müssen wir annehmen, daß auch er irgendein Verbrechen auf dem Gewissen hatte, folglich gehen wir anders an den Fall heran. Und was die Lücken betrifft, so sehe ich folgende: Wir stützen uns auf die Aussage von Janina Czerwonomiejska, der Frau des Gärtners, daß das Ehepaar im Jahre neunzehnhundertfünfunddreißig aus der Gegend von Cieszyn nach Frankreich ausgewandert ist. Das konnte jedoch nicht überprüft werden. Alle Unterlagen dieses Dorfes sind im Krieg verlorengegangen. Mit dieser kurzen Erklärung, die uns das Kreisamt in Cieszyn geschickt hat, haben wir uns begnügt. Wir haben nicht die Bestätigung dieser Aussage durch Zeugen gesucht, die ja wohl noch in jener Gegend leben. Vielleicht hat Czerwonomiejski gar nicht so geheißen?“ „Glauben Sie?“ Zajączkowski mußte im stillen zugeben, daß Barbaras Vorwurf berechtigt war. Er hatte wirklich nicht darauf geachtet, daß dieses Detail überprüft wurde. 130
„Ich glaube gar nichts. Ich weiß es einfach nicht. Ich muß es aber wissen. Die zweite Lücke ist da schon ernster. Aus Czerwonomiejskis Lebenslauf – immer noch in der Version seiner Frau – wissen wir, daß man den Gärtner zur Naziwehrmacht eingezogen und an die Ostfront geschickt hat. Aber wir wissen nicht, wie sich der Gefreite Czerwonomiejski dort verhalten hat. War er vielleicht Angehöriger der SS oder ein anderer Kriegsverbrecher? Auch ob er nach der Kapitulation von Stalingrad in Kriegsgefangenschaft gewesen ist, wissen wir nicht hundertprozentig. Vielleicht hat sich unser Held in einer ganz anderen Gegend aufgehalten und ganz andere Funktionen ausgeübt? Ich beschuldige die Frau nicht, daß sie absichtlich falsche Aussagen gemacht hat. Sie braucht das ja gar nicht zu wissen.“ „Ja“, stimmte ihr der Major zu, „das muß geklärt werden.“ „Darüber hinaus haben wir eine weitere Lücke, und die ist wohl die ernsteste. Dieselbe Frau Czerwonomiejska hat ausgesagt, daß ihr Mann erst neunzehnhundertachtundvierzig aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Frankreich zurückgekehrt ist. War er wirklich so lange dort? Die sowjetischen Behörden wußten sehr genau, daß die Oberschlesier, Elsässer, Tiroler und die Bewohner anderer Gebiete, die man mit Gewalt in das Reich eingegliedert hat, ohne ihr Einverständnis eingezogen und zu Deutschen erklärt wurden. Diese Kriegsgefangenen wurden zuerst entlassen. Sogar vor Beendigung der Kriegshandlungen, wenn sie den Wunsch äußerten, in ihre nationalen Formationen einzutreten, die an der Seite der Roten Armee gegen Hitler kämpften. Tausende von Oberschlesiern sind auf diese Weise in die Erste Armee des Polnischen Heeres eingetreten. Und diejenigen, die nicht darauf brannten, weiterhin Krieg zu führen, kehrten neunzehnhundertfünfundvierzig, nach der Kapitulation Deutschlands, heim. Wie kommt es also, 131
daß Czerwonomiejski erst drei Jahre später ins Elsaß zurückgekehrt ist?“ „Ja, das ist etwas merkwürdig.“ „Merkwürdig ist auch, daß der arme, so lange in der Gefangenschaft darbende Soldat fast unmittelbar nach der Heimkehr zu seiner Frau, der es ja wohl mit den drei Kindern während des Krieges und kurz danach nicht allzu rosig ging, seine Wohnung im Elsaß auflöst. Wie wir wissen, war er dort als Lohnarbeiter bei einem Gärtner beschäftigt gewesen. Woher hatte er sofort die finanziellen Mittel, um einen großen Landwirtschaftsbetrieb in der Nähe von Lyon in Pacht zu nehmen und kurz darauf zu kaufen? Um einen solchen Betrieb auf die Beine zu stellen, braucht man eine Menge Geld, ganz abgesehen davon, daß der Pächter gewöhnlich den Zins ein Jahr im voraus bezahlt.“ „Frau Barbara, ich gebe zu“, Zajączkowski ging zum erstenmal von der offiziellen Anrede ab, „daß ich die Angelegenheit vermasselt habe. Es ist meine Schuld.“ „Aber, lieber Major, von Vermasseln kann keine Rede sein, wir müssen lediglich noch gewisse Einzelheiten überprüfen, die am Anfang nicht so wichtig erschienen.“ Barbara tat der Vorgesetzte wirklich leid. Er blickte sehr verlegen drein. „Auf den weiteren Verlauf der Ereignisse hatte diese Unterlassung nicht den geringsten Einfluß.“ „Meinen Sie wirklich?“ frage Zajączkowski ohne rechte Überzeugung. „Natürlich. Und diese Lücken werden wir jetzt füllen.“ „Dazu brauchen Sie die Fingerabdrücke?“ „So ist es. Wir schicken sie zur Zentrale. Vielleicht sind sie dort registriert? Wenn es notwendig sein sollte, wenden wir uns an die sowjetischen Behörden mit der Frage, ob in den Listen der bei Stalingrad in Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten der Name Władysław Czerwonomiejski figuriert und wann dieser Mann entlassen 132
wurde. Sollte auch das nicht genügen, so bitten wir Frankreich um Angaben über den Rücksiedler.“ „Mit Frankreich“, meinte der Major skeptisch, „wird es am schwierigsten sein und am längsten dauern. Wir werden das Außenministerium um Hilfe bitten müssen. Bis wir da eine Antwort erhalten, wird einige Zeit vergehen.“ „Wenn es sein muß, werden wir eben warten. Schlimm ist nur, daß wir die Fingerabdrücke nicht haben.“ „Ich werde mir diesen Lemski schon vorknöpfen. Ein so erfahrener Techniker und macht so grundlegende Fehler.“ „Genosse Major“, Barbara wagte es, den Obersergeanten vor dem übrigens gerechten Zorn des Vorgesetzten in Schutz zu nehmen, „schon in der Heiligen Schrift heißt es: ‚Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein‘.“ Zajączkowski lachte. „Ich habe heute meinen schwarzen Tag. Aber den Tadel habe ich verdient. Und wie ich ihn verdient habe!“ „Kein Tadel kann etwas an der Tatsache ändern, daß wir die Fingerabdrücke nicht haben.“ „Aber wir werden sie bekommen.“ „Ich fürchte, es ist bereits zu spät. Selbst wenn wir von der Staatsanwaltschaft die Erlaubnis zur Exhumierung Czerwonomiejskis bekommen sollten, kann die Verwesung des Leichnams schon weit fortgeschritten sein, und die Papillarlinien sind vielleicht nicht mehr zu unterscheiden. Seit dem Tod dieses Mannes sind anderthalb Monate vergangen.“ „Zum Glück nur anderthalb Monate. Ich dachte nicht an seine Exhumierung. Wir schicken Lemski in das Haus der Czerwonomiejskis. Dort soll er versuchen, Fingerabdrücke zu finden. Vielleicht sind sie auf einigen Gegenständen, vor allem auf seinen persönlichen Dingen, noch nicht verwischt worden.“ 133
„Aber wie soll man sie von den Fingerabdrücken dritter Personen, die sich nach dem Tod des Gärtners dort aufgehalten haben, unterscheiden?“ „Ein gewisses Risiko wird immer dabeisein. Aber Lemski sollte sich immerhin daran erinnern, wie Czerwonomiejskis Finger ausgesehen haben. Außerdem besteht die Chance, daß auf ganz persönlichen Gegenständen, wie Pinsel, Rasierapparat oder Gärtnermesser ausschließlich die Fingerabdrücke des Toten zurückgeblieben sind.“ „Lemski hat von einer Doppelschleife gesprochen“, erinnerte sich Barbara. „Dann ist ja alles in Ordnung“, meinte der Major erfreut. „Eine Doppelschleife ist ein sehr selten auftretendes System von Papillarlinien. Es kommt höchstens einmal unter einigen hunderttausend, wenn nicht gar Millionen Fingern vor. Der Obersergeant wird ein solches System mühelos identifizieren können und keinen Fehler machen. Es ist fast ausgeschlossen, daß sich in diesem Haus ein ähnlicher Fingerabdruck finden ließe, der nicht vom Gärtner stammt. Trotzdem werde ich Lemski ein paar Worte sagen. Damit sich solche Nachlässigkeiten in Zukunft nicht wiederholen.“ Diesmal bewährte sich der Obersergeant. Drei Tage hindurch arbeitete er im Hause der Czerwonomiejskis. Er hatte keine leichte Aufgabe, denn in der ganzen Wohnung hatte man gründlich saubergemacht, und in den Gewächshäusern arbeiteten Leute, die die alten Abdrücke bestimmt fortgewischt hatten. Selbst der Pinsel und der Rasierapparat, auf die Zajączkowski so gehofft hatte, waren abgewaschen und weggestellt worden. Trotzdem gelang es Lemski, an einigen Stellen auf die Fingerabdrücke mit der Doppelschleife zu. stoßen. Leider waren sie schon ziemlich verwischt. Doch er suchte voller Eifer weiter, um andere zu finden, die sich in einem besseren Zustand befanden. 134
Endlich war dem Spezialisten für Daktyloskopie das Glück hold. In der Ecke eines Schrankes fand er ein Futteral mit einer Jagdflinte. Czerwonomiejski war ein begeisterter Jäger gewesen und hatte auch dem örtlichen Jagdkollektiv angehört. Dieses Gewehr hatte seit dem Tode des Gärtners noch kein Mensch berührt. Auf dem Kolben der herrlichen Waffe und auf den Austauschläufen waren einige deutliche und volle Fingerabdrücke erhalten geblieben. Es war zwar kein kompletter Fingersatz, man durfte jedoch annehmen, daß die Abdrücke sowohl von der rechten als auch von der linken Hand stammten. Das mußte für eine eventuelle Identifizierung genügen. Stolz wie ein Pfau meldete der Obersergeant die Erfüllung der Aufgabe und legte Oberleutnant Śliwińska die Ausbeute auf den Tisch. Barbara ließ sofort Aufnahmen von den Fingerabdrücken machen, und noch am selben Tag ging aus Zabiegowo ein Brief in die Hauptstadt ab. Das Kreisamt bat das Präsidium der Bürgermiliz in Warschau, zu überprüfen, ob die beigefügten Fingerabdrücke in der Zentralkartei enthalten seien, sowie sich an die sowjetischen Behörden zu wenden und sie um die Beantwortung folgender Fragen zu bitten: Befand sich im Verzeichnis der deutschen Kriegsgefangenen der Name Władysław Czerwonomiejski? Wenn ja, wann wurde dieser Kriegsgefangene entlassen, und ist die beigefügte Fotografie mit den Fingerabdrücken wirklich mit den Unterlagen des ehemaligen Teilnehmers an den Kämpfen bei Stalingrad identisch? Das Kreisamt der Bürgermiliz in Zabiegowo bat seine vorgesetzte Behörde auch darum, auf dem Amtsweg in Frankreich Erkundigungen über den Rücksiedler einzuholen, der im Jahre 1968 seinen Gärtnereibetrieb bei Lyon aufgelöst hatte und nach Polen zurückgekehrt war. 135
Jetzt konnte Barbara Śliwińska nur noch die Ergebnisse ihrer Bemühungen abwarten. Unterdessen herrschte in Zabiegowo völlige Ruhe. Das Leben in der kleinen Stadt verlief in den gewohnten Bahnen. Der „Abc-Mörder“ gab kein Lebenszeichen von sich. Die Einwohner, deren Namen mit dem Buchstaben „E“ begannen, hatten sich ein wenig beruhigt, was nicht zuletzt auf die Bemühungen der Miliz zurückzuführen war. Sie hatte diese Bürger unter ihren besonderen Schutz gestellt. Der Zahnarzt Emilianowicz, der nach dem Mord an Delkot aus Zabiegowo geflüchtet war, hatte sich entschlossen, zurückzukehren und seine florierende Privatpraxis wiederzueröffnen. Nur Major Stanisław Zajączkowski äußerte noch immer Bedenken. Bei jeder Beratung warnte er seine Untergebenen vor zuviel Sorglosigkeit, rief sie zu operativem Handeln auf und mahnte zur Vorsicht. Er erklärte sich auch nicht damit einverstanden, die Schutzmaßnahmen aufzuheben, was Hauptmann Poleszczuk immer wieder verlangte, da ihm die Leute für andere Einsätze fehlten. „Paßt bloß auf“, wiederholte der erfahrene Offizier bei jeder Gelegenheit, „der Fall ist noch nicht abgeschlossen, der Mörder sitzt noch nicht hinter Schloß und Riegel, wir müssen Tag und Nacht auf der Hut sein.“
12. KAPITEL Das stomatologische Abenteuer Kazimierz Emilianowicz wurde zu Recht als der beste Zahnarzt der Stadt angesehen. Wie es hieß, kamen sogar Leute aus Katowice hierher, um sich von ihm behandeln zu lassen. Mit wachsender Patientenzahl stiegen auch die Ein136
künfte des Zahnarztes. Vor ein paar Jahren hatte er an einer der größeren Straßen der Stadt ein Grundstück gekauft und sich eine elegante, bequeme Villa bauen lassen, die ganz auf seine Bedürfnisse abgestimmt war. Im Erdgeschoß befand sich das Wartezimmer mit einem gesonderten Eingang und daneben ein großes Behandlungszimmer, das mit den neuesten Errungenschaften der Technik ausgestattet war. Die äußere Wand dieses Zimmers bestand aus einem großen Fenster. Neben diesem Fenster stand der Operationsstuhl, so daß Emilianowicz bei der Arbeit bestes Licht hatte. Vor kurzem hatte er, ohne Zeit und Mühe zu scheuen, noch promoviert, und nun hing neben der Eingangstür zur Villa zum größeren Ruhm ihres Besitzers eine schwarze Marmortafel mit Goldschrift: Dr. Kazimierz Emilianowicz Zahnarzt Nun wußte auch der letzte Patient, daß er den Zahnarzt mit „Herr Doktor“ anzureden hatte. Übrigens wuchs die Zahl seiner Patienten ständig, und man mußte schon gute Beziehungen haben oder sich Wochen vorher anmelden, wenn man in das verglaste Behandlungszimmer des Doktors gelangen wollte. Eines Tages, als das Wartezimmer wieder einmal von Patienten überquoll, während auf dem Stuhl im Behandlungszimmer die Frau eines angesehenen Bürgers dieser Stadt saß, knallte plötzlich ein Pistolenschuß, und gleich darauf klirrte eine Scheibe. Doktor Emilianowicz bewies hervorragende Reaktionsfähigkeit. Noch ehe die Glassplitter den Boden erreicht hatten, lag der Zahnarzt schon flach hinter dem massiven Operationsstuhl. Ein zweiter Schuß krachte; und die nächste Scheibe splitterte. Der Kriminalist, der im Nebenzimmer über Emilia137
nowicz’ Sicherheit wachte, stürmte mit der Waffe in der Hand auf die Straße hinaus. Er gewahrte niemanden. Die Straße war wie leergefegt. Offenbar waren die Schüsse vom gegenüberliegenden Grundstück aus abgegeben worden. Es war noch unbebaut und von einem hohen Zaun aus Maschendraht umgeben. Im Hintergrund standen ein paar hohe Bäume und irgendwelches Gebüsch. In dieser Situation blieb dem Kriminalisten nichts anderes übrig, als das Kreisamt der Miliz zu alarmieren. Es befand sich in der nächsten Querstraße, gleich hinter der Ecke. So kam es, daß fünf Minuten später Major Zajączkowski mit einer Untersuchungsgruppe am Tatort erschien. Im Hause des Doktors war alles in heller Aufregung. Der Zahnarzt selbst lag noch immer hinter dem Operationsstuhl. Die Miliz hatte Mühe, ihn davon zu überzeugen, daß die Gefahr vorüber sei und er aufstehen könne. Bei einer genauen Untersuchung des Tatorts wurden zwei Patronenhülsen gefunden. Aus dem Fundort konnte geschlossen werden, daß der Schütze hinter einem Baum, genau gegenüber dem venezianischen Fenster, gestanden hatte, hinter dem der Zahnarzt gearbeitet hatte. Zum Glück für den Doktor hatte der Schütze kläglich gefehlt. Beide Einschüsse lagen viel zu hoch, mindestens anderthalb Meter über der Stelle, an der sich der Doktor über seine Patientin gebeugt hatte. Lediglich die Scheiben waren bei der Schießerei in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Anschlag war sorgfältig vorbereitet worden. Der Täter hatte den Maschendraht auf der Rückseite des Grundstücks zerschnitten und mit einem Stock hochgestellt, um bei dem geplanten Rückzug ungehindert hindurchschlüpfen zu können. Die Rückseite des Grundstücks schloß sich an eine ebenfalls unbebaute Parzelle ohne Umzäunung an, die gleich an zwei sich kreuzende 138
Straßen grenzte. Die Parzelle wurde von mehreren Trampelpfaden durchquert. Das Grundstück, von dem aus die Schüsse auf Emilianowicz’ Villa abgegeben wurden, war mit hohem Gras bewachsen, so daß sich der Rückweg des Täters bis zu dem Loch im Zaun mühelos feststellen ließ. Das nützte jedoch wenig, da sich keine Gipsabdrücke der Füße herstellen ließen. Man konnte nur vermuten, daß es sich um eine Person mit relativ kleinem Fuß, also wahrscheinlich auch von kleinerem Wuchs handelte. Die beiden Patronenhülsen waren mit der Hülse identisch, die man im Gewächshaus neben dem Leichnam Czerwonomiejskis gefunden hatte. Und auch anhand der beiden Geschosse, die – etwas plattgedrückt – in der Wand unterhalb der Decke des Behandlungszimmers steckten, ließ sich beweisen, daß sie aus derselben Pistole abgeschossen worden waren, mit der man den Gärtner und den Eisenbahner Adam Delkot ermordet hatte. So war also der „Abc-Mörder“ wieder in Erscheinung getreten, diesmal, zum Glück, ohne tragische Folgen. Die Miliz verhörte die Patienten Doktor Emilianowicz’. Die hatten im Warteraum gesessen und aus Langeweile in den alten, wohl noch vorjährigen Illustrierten geblättert. Nebenbei bemerkt, wäre es interessant zu erfahren, wo die Zahnärzte sich mit alten Zeitschriften versorgen. Keiner hatte etwas gesehen oder gehört. Nicht einmal die Schüsse und das Klirren der Scheiben hatten sie wahrgenommen, so sehr waren sie mit ihren Zahnproblemen beschäftigt gewesen. Auch die Bewohner der umliegenden Häuser wurden befragt. Sowohl in der Straße, in der die Villa des Zahnarztes stand, als auch in den beiden anderen, die an das unbebaute und nicht umzäunte Grundstück grenzten. Niemand hatte etwas Verdächtiges bemerkt. Niemand hatte einen flüchtenden Mann gesehen. Mit einem 139
Wort, der Verbrecher schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Noch am Abend desselben Tages konnte man an der Eingangstür von Doktor Emilianowicz’ Villa einen weißen Bogen Papier mit der Aufschrift vorfinden: „Wegen einer dringenden Reise bleibt meine zahnärztliche Praxis bis auf weiteres geschlossen. Alle Patienten werden gebeten, sich zwecks weiterer Behandlung an den Zahnarzt, Herrn Paweł Żarnocki, zu wenden.“ Wie man daraus sieht, war Doktor Emilianowicz um die Gesundheit seiner Patienten sehr besorgt. Der Buchstabe „Ż“ bot die Möglichkeit einer langen Behandlung. Zur Beratung im Kreisamt erschien Major Zajączkowski mit der Miene eines Triumphators. „Ich habe gewarnt“, sagte er, „daß wir auf der Hut sein müssen, und ich hatte recht. Schade nur, daß ich auf dem unbebauten Grundstück keinen Hinterhalt eingerichtet habe. Gedacht habe ich daran, aber der hohe Maschendraht hat mich davon abgehalten. Hätte der Verbrecher versucht, von der Straße aus in das Haus des Doktors einzudringen, so wäre unser Mitarbeiter hinter der hohen Umzäunung eingeschlossen gewesen und hätte ihm nicht zu Hilfe eilen können.“ „Man hätte einen in die Wohnung setzen und einen zweiten im Garten postieren können.“ Leutnant Rzeszotko war voll guter Einfälle, sie hatten nur den Nachteil, daß sie meist zu spät kamen. „Leider“, warf der Hauptmann ein, „haben wir nicht genügend Leute, um jedem der Herrschaften auf ‚E‘ doppelten Schutz zu bieten. Wir sind mit unseren Reserven sowieso am Ende.“ „Eigentlich bin ich sogar froh“, fuhr der Major fort, „daß der Bandit den Zahnarzt angegriffen hat. Ich hatte befürchtet, er könnte woanders zuschlagen.“ „Wo?“ „Ich hatte mit einem Anschlag auf unsere Kollegin ge140
rechnet. Gewarnt habe ich sie oft genug. Wahrscheinlich erfolglos. Ich könnte wetten, daß sich in ihrer Handtasche auch jetzt noch keine Waffe befindet.“ „Wie ist es, Barbara, soll ich mit dem Major wetten?“ fragte Oberleutnant Andrzej Stefański. „Lieber nicht. Du weißt, daß ich dir keine Niederlage wünsche.“ „Wer führt die weiteren Ermittlungen wegen des versuchten Mordes an dem Zahnarzt? Die Genossin Śliwińska?“ fragte Hauptmann Poleszczuk ganz offiziell. „Ich bin ja neugierig“, meinte Stefański, „was unser Zahnklempner auf dem Gewissen hat. Weshalb sonst hätte der Verbrecher ihn auf die Abschußliste gesetzt? Die Genossin Śliwińska sollte vielleicht auch dieses Problem klären. Wahrscheinlich zieht der Herr Doktor seinen Patienten das Fell über die Ohren, gibt in seinen Steuererklärungen niedrigere Einkünfte an, und unserem ‚Abc-Mörder‘ wird er ein paar gesunde Zähne gezogen haben.“ „Ich glaube nicht, daß solche Ermittlungen notwendig sind“, erwiderte Barbara ruhig. „Ich ebenfalls nicht“, stimmte ihr Zajączkowski zu. „Und was den versuchten Mord an Emilianowicz betrifft“, ergänzte Barbara, „so brauchen wir uns damit nicht weiter zu beschäftigen und unnötig Zeit zu verlieren.“ „Ist das wirklich deine Meinung, Barbara?“ fragte Hauptmann Poleszczuk. „Bitte, erklär uns das.“ Barbara warf einen Blick auf den Leiter. „Vielleicht möchte der Genosse Major?“ fragte sie. „Nein. Sprechen Sie ruhig. Es interessiert mich, ob sich unsere Beobachtungen decken.“ „Meiner Meinung nach weist das Verhalten des Verbrechers im Fall Emilianowicz zwei oder drei charakteristische Merkmale auf. Erstens: Alle bisherigen Verbrechen hat er in einem Abstand von zwei bis drei Wo141
chen verübt. Der Bandit hatte es eilig, die Leute umzubringen, weil er so schnell wie möglich denjenigen beseitigen wollte, an dem ihm am meisten lag. Diesmal jedoch hat der Täter fast sechs Wochen stillgesessen. Weshalb?“ „Er wußte, daß die in Frage kommenden Einwohner der Stadt unter unserem Schutz stehen. Er fürchtete also das Risiko“, erklärte der Leutnant. „Diese Überlegungen wären richtig, wenn wir die Schutzmaßnahmen aufgehoben hätten. Nun weiß aber jeder in der Stadt, daß es nicht so ist. Trotzdem ist der Verbrecher erst jetzt wieder aktiv geworden. Er hätte ebensogut vor vierzehn Tagen auf den Zahnarzt schießen können. Der Doktor ist ja schon eine ganze Weile wieder in Zabiegowo.“ „Die Vorbereitungen auf das neue Verbrechen haben auch ihre Zeit gedauert.“ „Aber nicht so lange. Dieser Mensch kennt das Terrain, auf dem er tätig ist, bestimmt genau.“ „Folglich?“ „Folglich kommen wir zu meinen nächsten Zweifeln, der Wahl des neuen Opfers. Als wir dahintergekommen waren, daß der ‚Abc-Mörder‘ nicht blindlings schießt, sondern sich immer Personen aussucht, die etwas auf dem Kerbholz haben, habe ich mich natürlich für die Einwohner von Zabiegowo interessiert, deren Namen mit ‚E‘ beginnen. Also auch für Doktor Emilianowicz. Da ich hier schon einige Bekannte habe, darunter auch Leute, die es gut mit mir meinen, denke ich, daß meine Informationen sich mit der Wirklichkeit decken. Ich habe also festgestellt, daß alle diese ‚Herrschaften E‘ außerhalb jeden Verdachts stehen, es konnte nicht ermittelt werden, daß sie jemals mit dem Gesetz in Konflikt gekommen wären. Zum Glück handelte es sich nur um sieben Personen, und die Überprüfung war nicht sonderlich schwierig. Daraus folgt ein einfacher Schluß: 142
Wenn der Verbrecher bei seiner bisherigen Methode bleiben wollte, dürfte auf keine dieser Personen ein Anschlag erfolgen. Und doch ist ein solcher Anschlag erfolgt.“ „Unser Verbrecher ist ja auch ein armer Kerl. Was sollte er tun? Schließlich konnte er diesen Buchstaben des Alphabets nicht auslassen. Das wäre nicht seine Art gewesen, er hätte das Gesicht verloren. Dann ist es schon besser, den unschuldigen Emilianowicz zu beseitigen“, scherzte Stefański. „Die größten Zweifel weckt die seltsame Unbeholfenheit des Verbrechers. Wir wissen, daß er ein rücksichtsloser Mensch ist, der seine Verbrechen kaltblütig plant. Aber auch mit einer bestimmten Dosis persönlichen Muts. Mit einemmal aber stellt er sich hinter einen Baum und schießt dem Doktor ins Fenster aus einer Entfernung von fünfundsechzig Metern, wie unsere Techniker festgestellt haben. Ihm hätte es aber ähnlich gesehen, wenn er ins Haus gegangen wäre und Emilianowicz in dessen Behandlungszimmer erschossen hätte.“ „Im Haus befand sich unser Mitarbeiter.“ „Dann hätte er zuerst unseren Mitarbeiter ausgeschaltet und dann den Zahnarzt beseitigt. Er aber hat einfach ins Blaue geschossen.“ „Nicht ins Blaue, sondern dem Zahnarzt ins Fenster“, korrigierte Stefański sie. „Allerdings treffen in Wildwestfilmen und Kriminalromanen die Verbrecher auf eine solche Entfernung hin ihre Opfer immer mitten ins Herz.“ „Ich bin bereit – und wenn es sein muß, sofort –, mich in dieses Fenster zu stellen und euch allen der Reihe nach zu erlauben, auf mich zu schießen.“ „Mit einem solchen Versuch werde ich mich nie einverstanden erklären“, sagte der Major lachend. „Und wenn doch einer trifft? Ich habe ohnehin zuwenig Leute und kann es nicht riskieren, zwei weitere zu verlie143
ren. Einen an den Friedhof und den anderen ans Gefängnis.“ „Der Täter hat gar nicht versucht zu treffen.“ „Woher diese Gewißheit?“ platzte Leutnant Rzeszotko heraus. „Jeder, der mit einer Pistole umzugehen versteht, weiß, daß sie immer nach oben zieht. In der Praxis sieht das so aus, daß man auf diese Entfernung mindestens einen Meter tiefer halten muß, wenn man eine minimale Chance haben will, ins Ziel zu treffen. Diesmal hat der Täter einfach ins Fenster geballert, um Krach zu machen und ein paar Scheiben zu zerschlagen.“ „Aber warum?“ fragte diesmal der Hauptmann. „Um uns zu beschäftigen. Und um die Ermittlungen von dem vorgesehenen Weg abzubringen. Der Verbrecher weiß, wie unsere Arbeit verläuft. Offenbar ist er zu dem Schluß gekommen, daß wir auf der richtigen Fährte sind und ihm gefährlich werden könnten. Deshalb hat er sich entschlossen, eine kleine Vorstellung zu inszenieren, damit wir Informationen über den Zahnarzt einholen und den Schutz anderer eventueller Opfer des Vampirs verstärken. Gleichzeitig soll das neue Verbrechen oder der Versuch eines solchen in uns wieder die Überzeugung wecken, daß wir es mit einem Besessenen zu tun haben. ‚Der Vampir hat sich wieder gemeldet‘, so redet heute die ganze Stadt. Dieser Suggestion dürfen wir nicht erliegen. Denn genau darum geht es dem Mörder, der sich durch unser Vorgehen immer stärker bedroht fühlt.“ Die Versammelten sahen den Major an. Er war ja der heißeste Verfechter der Theorie von einem „Besessenen“ gewesen. Der Major verstand diese Blicke. Er räusperte sich, schluckte ein paarmal, denn es ist nie leicht, sich zu einem Fehler zu bekennen, und sagte: „Ich bin mit Oberleutnant Śliwińska völlig einer Meinung. Ihr Gedankengang ist richtig. Und ich akzeptiere auch die Art und Weise, wie sie die Ermittlungen führt.“ 144
„Ich schlage vor“, rief Leutnant Rzeszotko, „daß wir so tun, als wären wir auf seinen Versuch hereingefallen und mit aller Energie die Ermittlungen im Fall Emilianowicz führen. Laßt uns weiter Zeugen suchen und verhören. Wir könnten sogar demonstrativ ein Verzeichnis der ‚Herrschaften F‘ zusammenstellen, damit der Verbrecher denkt, daß ihm seine List gelungen ist und er uns auf eine falsche Spur gelockt hat.“ „Das ist ein ausgezeichneter Vorschlag“, stimmte Zajączkowski zu und versetzte damit seine Untergebenen in höchstes Erstaunen, denn so schnell hatte er noch nie die Ideen anderer akzeptiert. „Aber bitte ohne diese Liste ‚F‘ “, verwahrte sich Hauptmann Poleszczuk. „Laßt uns nicht die Panik in der Stadt noch vergrößern. Wir haben ohnehin alle Hände voll zu tun.“ „Also, Genosse Leutnant“, entschied der Leiter, „ab morgen betreiben Sie energisch die Ermittlungen im Fall Emilianowicz.“ „Und Barbara?“ fragte Stefański. „Oberleutnant Śliwińska fahrt für ein paar Tage dienstlich nach Wrocław.“ „Ich?“ fragte Barbara überrascht. „Ja, Sie, Genossin Oberleutnant. Ich habe vorhin eine Antwort aus Warschau erhalten. Man hat die Fingerabdrücke mit der Doppelschleife gefunden.“
13. KAPITEL Der Fingerabdruck mit der Doppelschleife Das war schon so lange her. Nur die ältesten Einwohner von Wrocław, die ersten Ansiedler in dieser damals halb ausgestorbenen und niedergebrannten Stadt erinnerten sich an diese makabre Geschichte. Ein Verbrechen, das 145
nie ganz aufgeklärt werden konnte und dessen Haupturheber der Strafe entging In einem vornehmen Villenviertel von Wrocław, in Zacisze, wo vor dem Kriege die reichen Kaufleute wohnten, stand eine stattliche Villa. Eigentum des Arztes Henryk Rotwald und seiner Frau Emma. Rotwald war ein Herzspezialist von Weltruf. Man zog ihn zu Konsilien bei den gekrönten Häuptern und Präsidenten ganz Europas, aber auch bei den Multimillionären jenseits des Atlantiks hinzu. Hitler soll ebenfalls seinen Rat eingeholt haben. Es gab Gerüchte über die jüdische Herkunft des Doktors. Doch nie, weder vor dem Krieg noch während des Krieges machte irgend jemand dem Arzt Schwierigkeiten. Im Gegenteil, vor der Villa hielten die Limousinen der Nazigrößen. Gleichzeitig war ein anderes Gerücht im Umlauf, das Gerücht von dem ungeheuren Reichtum des Kardiologen. Während des Krieges blieb die Rotwaldsche Villa verschont, nur ein paar Scheiben waren herausgeflogen. Nach der Befreiung von Wrocław hatte Rotwald nicht mit den anderen Deutschen die Stadt verlassen. Seine Frau stammte aus Oberschlesien und sprach etwas Polnisch. Man gestattete ihnen, zu bleiben und sich um die polnische Staatsangehörigkeit zu bemühen. Rotwald nahm wieder seine Tätigkeit auf. Man ernannte ihn zum Oberarzt im städtischen Krankenhaus, aber er empfing seine Patienten auch zu Hause. Die Eheleute Rotwald befanden sich schon im vorgeschrittenen Alter. Er näherte sich der Siebzig, während sie fünf Jahre jünger war. Eine Hausgehilfin beschäftigten sie nicht. Damals war dies in Wrocław noch schwieriger als heute. Nur ein Student der Hochschule für Körperkultur, Zbigniew Kwarcer, der in einem Dachstübchen der Nachbarvilla wohnte, heizte täglich den Ofen der Zentralheizung, schaffte Asche und Müll hin146
aus und machte manchmal auf Bitten von Frau Emma Rotwald größere Besorgungen in der Stadt. Beide Seiten waren zufrieden. Die Eigentümer der Villa hatten einen ehrlichen, gewissenhaften Gehilfen, und der Student konnte dank der empfangenen Entlohnung ruhig studieren und sich ab und zu eine Flasche Wein leisten, dessen Liebhaber und Kenner er war. An einem Februarmorgen erschien Zbigniew Kwarcer wie gewöhnlich um sieben Uhr vor der Rotwaldschen Villa. Er wunderte sich, daß draußen die Lampen brannten, sowohl vor dem Haupteingang als auch vor dem Nebeneingang, der zum Souterrain führte, wo sich der Zentralheizungskessel und das Kokslager befanden. Doch beide Türen waren verschlossen. Vergebens drückte der Student mehrmals auf den Klingelknopf. Drinnen rührte sich nichts. Als Kwarcer durch das Fenster blickte, sah er, daß in den Räumen ebenfalls die Lampen brannten. Nun fiel ihm auch ein, daß er in der Nacht Schreie gehört hatte. Er hatte nicht weiter darauf geachtet, doch jetzt lief er rasch, voll der schlimmsten Ahnungen, zur Miliz. Damals, im Jahre 1946, gab es noch keine Inspektionen der Bürgermiliz in den einzelnen Stadtteilen, sondern nur die Reviere. Im Revier hörte sich der diensthabende Offizier, ein junger Oberleutnant, aufmerksam an, was der Student zu berichten hatte. „Ich werde die Sache überprüfen, Kwarcer“, sagte er, „aber wenn Sie mich hinters Licht führen wollen, werden Sie das bitter bereuen.“ Für alle Fälle ließ er den ahnungslosen, von dieser Wendung der Dinge völlig überraschten Studenten im Arrestlokal festsetzen, während er zwei Beamte zum Hause der Rotwalds schickte. Die Milizionäre versuchten ebenfalls vergebens, in die Villa zu gelangen. Einer von ihnen kehrte zum Revier zurück, der andere bezog Posten vor dem Haus. 147
Das Verhalten des jungen Offiziers ist nicht weiter verwunderlich. Ein Jahr zuvor hatte er noch um die Pommernstellung gekämpft und dann an der Eroberung Berlins teilgenommen. Er hatte zwei Tapferkeitskreuze erhalten und … eine schwere Beinverletzung. Zur Miliz war er direkt von der Armee gekommen. Damals war das Leben in dem zerstörten Wrocław kein Zuckerlecken gewesen, und deshalb hatte die Überlegung des Oberleutnants – besser einen Unschuldigen für alle Fälle einsperren als einen Verbrecher entkommen lassen – ihre Berechtigung. Jetzt geriet der diensthabende Offizier wirklich in Unruhe. Die Rotwalds waren allgemein bekannt, und die Gerüchte über ihren sagenhaften Reichtum wollten nicht verstummen. Der Oberleutnant hielt es also für richtig, das städtische Präsidium der Bürgermiliz zu verständigen. Dort arbeiteten bereits Fachleute. Die nahmen die Meldung nicht auf die leichte Schulter und schickten eine Untersuchungsgruppe nach Zacisze. Die Kriminaltechniker nahmen das ganze Anwesen unter die Lupe, vor allem aber die Türschlösser, und sie kamen zu dem Schluß, daß sie weder mit einem Dietrich noch mit Gewalt geöffnet werden konnten. Die Fenster im Erdgeschoß waren vergittert, aber die in der ersten Etage besaßen eine solche Sicherung nicht. So borgte man sich von den Nachbarn eine Leiter, und nachdem einer der Kriminalisten eine Scheibe herausgeschnitten hatte, stieg er zum Fenster ein und öffnete von innen die Tür zum Souterrain. So gelangte die Miliz in die Villa. Die ganze Wohnung war durchwühlt. Aus den Schränken hatte man die Kleidungsstücke gerissen, die große wissenschaftliche Bibliothek des Arztes lag auf dem Fußboden seines Arbeitszimmers. Henryk und Emma Rotwald fand man im Schlafzimmer auf ihren Betten. Sie waren gefesselt. Beide waren durch Messerstiche ermor148
det worden. Das Messer, ein Stilett, steckte noch in der Brust der Frau. Vor dem Tode hatte man die alten Leute gefoltert. Sie waren geschlagen und mit einem glühenden Feuerhaken gequält worden. In der Diele lagen zwei Metallschatullen mit herausgebrochenen Schlössern. Auch die Panzerkasse, die im Arbeitszimmer des Arztes in die Wand gemauert war, stand offen. Der Schlüssel steckte noch im Schloß. Aus der Tatsache, daß auf dem Fußboden Anzüge und die prächtigen Pelze der Arztfrau herumlagen und die Bilder bekannter Meister an den Wänden hängengeblieben waren, konnte man schließen, daß die Banditen lediglich nach Geld und Gold gesucht hatten. Die Kriminaltechnik stand in jenen Jahren noch auf einem relativ niedrigen Niveau. Die Miliz verfügte weder über so präzise Apparate wie heute noch über hochrangige Spezialisten. Trotzdem leistete die Untersuchungsgruppe gute Arbeit. Sie machte viele Aufnahmen und sammelte unzählige Fingerabdrücke. Es wiederholten sich immer wieder die des Doktors und seiner Frau sowie die von drei Personen, wahrscheinlich der Täter. Auf dem Feuerhaken, der zum Foltern gedient hatte, und auf dem Stilett fand man den sehr charakteristischen Fingerabdruck mit einer Doppelschleife. Der Arzt stellte fest, daß der Tod der Eheleute zwischen Mitternacht und zwei Uhr nachts eingetreten war. Nachbarn und zufällige Passanten, die man mit Mühe ausfindig machte, erinnerten sich, gegen zehn Uhr abends vor dem Haus der Rotwalds ein Auto gesehen zu haben. Wer jedoch mit diesem Auto gekommen war und wann er sich wieder entfernt hatte, ließ sich nicht feststellen. Beim Verlassen der Villa hatten die Banditen die Türen mit den Schlüsseln des Doktors abgeschlossen und diese mitgenommen, um der Miliz den Zutritt zu erschweren und somit Zeit zu gewinnen. 149
Die Miliz knöpfte sich Zbigniew Kwarcer vor. Der Student sagte aus, daß er wie gewöhnlich gegen sieben Uhr abends bei den Rotwalds geklingelt hatte. Geöffnet hatte ihm Frau Rotwald, aber der Doktor war ebenfalls zu Hause. Kwarcer entfernte die Schlacke unter dem Zentralheizungskessel, brachte die Asche hinaus und karrte einen ansehnlichen Vorrat Koks heran, um für ein paar Tage Ruhe zu haben. Dann wartete er, bis der Koks gut brannte, und schüttete soviel auf, daß es bis zum Morgen reichte. Das Haus verließ er durch den Nebeneingang und hörte auch, daß Frau Rotwald von innen abschloß. Für den Rest des Abends und die ganze Nacht besaß Zbigniew Kwarcer ein unumstößliches Alibi. Er hatte diese Zeit in Gesellschaft einer hübschen jungen Kollegin von seiner Hochschule verbracht. Wie die jungen Leute übereinstimmend aussagten, hatten sie die ganze Zeit gelernt und sich auf die bevorstehenden Prüfungen vorbereitet. Und damit ihnen das Lernen leichter fiel, hatten sie zwei Flaschen Wein geleert. Diese Flaschen fand die Miliz übrigens im Zimmer des Studenten. Der Besitzer der Villa bestätigte, daß das junge Mädchen am Abend gekommen war, noch vor Kwarcer, und auf ihn gewartet hatte. Verlassen hatte sie die Villa gegen sieben Uhr morgens zusammen mit ihrem Kollegen. Die Studentin hatte ebenfalls in der Nacht Schreie gehört. Doch mit ihren Büchern beschäftigt, hatte sie nicht weiter darauf geachtet. Sie hatte geglaubt, ein Betrunkener mache solchen Lärm. Nach Überprüfung dieser Aussagen entschuldigte sich die Miliz bei Zbigniew Kwarcer und entließ ihn aus dem Arrest. Die Miliz stand vor einer äußerst schwierigen Aufgabe. Sie hatte zwar die Fingerabdrücke, doch wo sollte man die Banditen suchen? Hunderttausende zogen damals durch die polnischen Westgebiete. Die einen such150
ten für sich einen festen Wohnort und Arbeit, andere, vorwiegend Umsiedler aus dem Osten, schauten sich nach einer passenden, ehemals deutschen Bauernwirtschaft um. Und schließlich gab es welche, und zwar nicht wenige, die von dem Gerücht angelockt wurden, hier könne man schnell reich werden, nicht zuletzt durch die unberechtigte Aneignung fremden Eigentums. Diese Leute, die nirgends gemeldet waren und ständig ihren Aufenthaltsort wechselten, bereiteten der Miliz die größten Sorgen. Wie sollte man in dieser umherquirlenden Masse drei Banditen finden? Die Lösung des Falls erwies sich jedoch als ganz einfach. Schon am nächsten Tag traf beim Präsidium der Miliz ein anonymes Schreiben ein. Der unbekannte Informant beschrieb in allen Einzelheiten den Überfall auf die Rotwaldsche Villa. Er nannte nicht nur die Namen zweier Banditen, sondern teilte auch mit, wo sie wohnten und arbeiteten. Das Auto, das die Verbrecher benutzt hätten, gehöre einem Bauunternehmen. Einer der Männer sei der Fahrer dieses Wagens, der andere arbeite in demselben Betrieb als Meister. In dem anonymen Schreiben war auch angegeben, welchen Schmuck man bei jedem der beiden Verbrecher zu suchen habe und wieviel Bargeld, das aus der Rotwaldschen Villa stammte, sie besitzen müßten. Auf Grund dieser Informationen verhaftete die Miliz noch am selben Tag Włodzimierz Kowalewski und Józef Bunerło. Ersterer war Kraftfahrer, der andere Meister auf dem Bau. Bei den völlig überraschten Banditen fand man eine größere Geldsumme und wertvollen Schmuck. Alles das, was der anonyme Schreiber nannte. Den Banditen blieb nichts anderes übrig, als sich zu dem Verbrechen zu bekennen. Sie erklärten, daß sie vor einigen Wochen auf dem Schwarzmarkt, dem heutigen Nankerplatz, zufällig einen gewissen Stanisław Topolewski kennengelernt und sich mit ihm angefreundet 151
hatten. Topolewski hatte ihnen von dem ungeheuren Reichtum der Rotwalds erzählt und wie leicht es sei, den alten Leuten ihre Schätze abzunehmen. Für dieses Geld würde man irgendwo in Westeuropa oder in den Vereinigten Staaten ein sorgloses Leben führen können. Er hatte so lange auf sie eingeredet, bis sie einwilligten. Sie behaupteten jedoch, daß von Folterungen und dem Mord an dem Arzt und seiner Frau nicht die Rede gewesen sei. Sie sollten nur bedroht werden. Den ganzen Überfall hatte angeblich Topolewski geleitet. Er hatte auch am Abend den Arzt angerufen und ihn um Hilfe für seine Frau gebeten, die einen Herzanfall erlitten habe. Er versprach, den Arzt mit seinem Wagen abzuholen. Als der nichtsahnende Rotwald die Tür öffnete, drangen die drei Banditen in das Haus ein. Sie fesselten die Eheleute, legten sie in ihrem Schlafzimmer auf die Betten und begannen mit der Suche nach den Schätzen. Im Panzerschrank, den die Banditen mit einem Schlüssel öffneten, den sie in Rotwalds Tasche fanden, lagen nur wissenschaftliche Arbeiten und eine kleinere Geldsumme, mit der die Einbrecher sich nicht begnügten. Sie schlugen und folterten die Rotwalds, bis diese schließlich ihr Geheimnis verrieten. Auf dem Dachboden war in den Schornstein ein raffiniert angelegtes Versteck eingebaut, in dem eine der Schatullen lag. Sie enthielt Schmuck, Goldbarren sowie Goldmünzen und eine ansehnliche Summe in fremder Valuta. Auf die andere Schatulle stießen die Banditen selbst im Bücherregal. Dort befanden sich, wie sie rasch nachzählten, mehr als zwei Millionen Złoty. Schon vorher hatten die drei vereinbart, sich eine Woche nach dem Überfall in Jelenia Góra zu treffen, illegal in die Tschechoslowakei zu gehen, und von dort aus nach Wien, dann weiter nach dem Westen, bis 152
Frankreich. Erst hier sollte die Beute geschätzt und in drei gleiche Teile aufgeteilt werden. Da das plötzliche Verschwinden zweier Mitarbeiter des Bauunternehmens die Aufmerksamkeit der Miliz hätte erregen können, sollten sie noch die nächsten sechs Tage arbeiten und dann um einen mehrtägigen Urlaub bitten, angeblich, um ihre Familien in Zentralpolen zu besuchen. Bevor sie die geplünderte Wohnung verließen, gab Topolewski jedem seiner Kumpane eine Million Złoty und etwas Schmuck, damit sie, wie er sagte, „ihre Familien versorgen konnten, ehe es gelang, sie nach dem Westen zu holen“. Dieses Geld und den Schmuck fand die Miliz bei den Festgenommenen. Als sie die Rotwaldsche Villa schon verlassen wollten, entschied der Anführer der Bande: „Wir werden doch nicht die alten Knacker am Leben lassen. Womöglich erkennen sie später einen von euch. Wer erledigt sie?“ Keiner der beiden übrigen Banditen wagte dies. Da lachte Topolewski verächtlich auf, nahm das im Arbeitszimmer des Doktors hängende Stilett, sicherlich ein Erinnerungsstück, von der Wand und tötete mit zwei Hieben das Ehepaar. Als der Staatsanwalt, der Kowalewski und Bunerło verhörte, den beiden das an die Miliz gerichtete anonyme Schreiben zeigte, stellten sie übereinstimmend fest, daß nur ein Mensch dies geschrieben haben konnte: Stanisław Topolewski. Nur er kannte die in diesem Brief genannten Einzelheiten. Für den Staatsanwalt und die Miliz, die die Ermittlungen führte, stand dies ebenfalls fest. Der Anführer der Bande hatte seine Komplizen verraten und war mit der wertvolleren Beute, die er nun mit niemandem mehr zu teilen brauchte, geflohen. Der Beschreibung nach, die Kowalewski gegeben hatte, war nur ein Bruchteil der Beute in die Hände der beiden Banditen gelangt. Den Rest hatte ihr Anführer „in 153
Verwahrung“ genommen. Allein die herrlichen, erbsengroßen Brillanten waren zehnmal mehr wert als jene zwei Millionen damals vor der Währungsreform und die Handvoll nicht allzu wertvoller Ringe und Armbänder, die Topolewski großzügig seinen Komplizen überlassen hatte. Natürlich hatte in Jelenia Góra kein Mensch etwas von Stanisław Topolewski gehört oder ihn gar gesehen. Hieß er überhaupt so? Unter diesem Namen kannte man ihn auf dem Schwarzmarkt, so hatte er sich auch seinen künftigen Komplizen vorgestellt. Keiner der beiden wußte jedoch, wo dieser Mensch wohnte. Es stellte sich heraus, daß er nirgends gemeldet war. Da die Suche nach Topolewski ohne Ergebnis blieb, wurde sein Fall ausgeklammert, während die übrigen beiden Banditen sich vor dem Wojewodschaftsgericht in Wrocław verantworten mußten. Nach dreitägiger Verhandlung, die in der Stadt großes Interesse weckte, verurteilte das Gericht Włodzimierz Kowalewski und Jósef Bunerło zum Tode. Die Banditen wurden von vier Rechtsanwälten verteidigt. Natürlich mußten sie vom Gericht bestellt werden, weil kein Verteidiger einen so schmutzigen Fall übernehmen wollte. Gegen dieses Urteil erhob die Verteidigung beim Obersten Gericht in Warschau Einspruch. Das Oberste Gericht teilte die Ansicht der Verteidigung, daß den Mord der dritte der Verbrecher ausgeführt hatte, der bis dahin nicht festgenommene Stanisław Topolewski. Auf dem Stilett hatte man ja einen Fingerabdruck mit der Doppelschleife gefunden. Weder Kowalewski noch Bunerło hatten solche Papillarlinien. Auch das Folterwerkzeug, der Feuerhaken, wies diesen Fingerabdruck auf. Und da im Zweifelsfall immer zugunsten des Angeklagten entschieden werden muß, befreite das Gericht die beiden von dem Vorwurf einer 154
unmittelbaren Beteiligung am Mord. Wegen Beihilfe zum Mord an Henryk und Emma Rotwald und wegen des bewaffneten Überfalls wurden die jungen Leute nun zu lebenslanger Haft verurteilt. Stanisław Topolewski war nicht aufzufinden. Die Fingerabdrücke mit der Doppelschleife befanden sich zwar in der Kartei des Hauptpräsidiums der Bürgermiliz in Warschau, doch man war ihnen später nie wieder, begegnet. Nach fünf Jahren stellten die Behörden in Wrocław die Ermittlungen gegen den flüchtigen Banditen ein. Die Akte wanderte ins Archiv. Dort lag sie ruhig bis zu dem Tag, da aus Zabiegowo Frau Oberleutnant Barbara Śliwińska eintraf und darum bat, sie einsehen zu dürfen. Barbara hatte Aufnahmen der Papillarlinien des Władysław Czerwonomiejski mitgebracht. Als sie sie nun dem Fachmann für Daktyloskopie vorlegte, warf dieser nur einen kurzen Blick darauf. „Es besteht kein Zweifel, daß diese Hand das Messer gehalten hat, mit dem Henryk Rotwald und dessen Frau ermordet wurden. Da brauche ich nicht erst eine genaue Expertise anzufertigen. Eine solche Doppelschleife habe ich nur während der Ausbildung gesehen, in der Praxis bin ich solchen Papillarlinien nie begegnet. Das ist eine ungeheure Seltenheit. Aber wenn es euch nicht gelingt, diesem Burschen noch etwas anderes nachzuweisen, wird er euch frech ins Gesicht lachen. Ihr könnt ihm nichts mehr anhaben. Neunzehnhundertsechzig waren die zwanzig Jahre um, und damit ist die Sache verjährt. Ihr braucht ihn gar nicht zu suchen.“ „Wir suchen nicht ihn, sondern jenen anderen, der ihn umgebracht hat.“ „Ich verstehe“, sagte der Kriminaltechniker, „der ‚Abc-Mörder‘? Ist das sein Werk? Daß ich auch nicht gleich darauf gekommen bin! Schließlich sind Sie ja aus Zabiegowo.“ 155
„Ich habe noch eine Bitte an Sie, Genosse Hauptmann.“ „Für eine so nette Kollegin …“ „In der Akte, die ich durchgesehen habe, befindet sich ein Blatt mit den Fingerabdrücken von Kowalewski und Bunerło. Könnten Sie mir in Ihrem Labor Abzüge machen lassen? Die sind mir vielleicht noch von Nutzen. Ich möchte jedoch betonen, daß ich dafür nichts Schriftliches von meinem Kreisamt in der Hand habe.“ Der Hauptmann winkte ab. „Wird gemacht. Sparen wir uns die Formalitäten. Ich weiß ja, daß Sie diese Aufnahmen nicht zu Ihrem Privatvergnügen machen.“ „Aber es ist dringend! Ich möchte endlich nach Zabiegowo zurückkehren. Schließlich bin ich schon den fünften Tag in Wrocław.“ „Bei uns wird alles ‚zu gestern‘ gemacht. In zwei Stunden sind die Aufnahmen fertig.“
14. KAPITEL Dreiundzwanzig Jahre der Buße Entgegen Barbaras Befürchtungen wurde sie diesmal sehr freundlich in Zabiegowo begrüßt. Als sie das Zimmer des Leiters betrat, erhob sich Major Stanisław Zajączkowski sogar und kam ihr entgegen. Sein sonst so ernstes Gesicht wurde von einem Lächeln erhellt. Er reichte Barbara die Hand und hielt ihre Rechte einen Augenblick lang fest, als schwankte er, ob er sie küssen sollte … Doch dann kam er offenbar zu dem Schluß, daß dies einem Leiter nicht zustehe. „Ich freue mich sehr, daß Sie wieder da sind.“ „Ooh …?“ Barbara stellte bei sich fest, daß sein Gesicht sehr gewann, wenn er lächelte. 156
„Nun, ich bin halt neugierig, was Sie dort herausgefunden haben.“ „Und ich dachte …“ In Barbaras Stimme schwang leise Enttäuschung mit, „ich dachte, daß mich hier ein Tadel erwartet, weil ich so lange in Wrocław war. Aber ich bringe tatsächlich eine Menge interessanter Neuigkeiten mit. Am besten, ich berichte darüber in Anwesenheit des ganzen Kaders, sonst müßte ich alles viermal wiederholen.“ „Helenka!“ rief der Major mit donnernder Stimme durch die Tür, die wie gewöhnlich nur angelehnt war. „Poleszczuk, Stefański und Rzeszotko zu mir. Sofort!“ „Und was hört man hier, in Zabiegowo?“ „Rzeszotko reißt sich fast ein Bein aus. Die Hälfte aller Einwohner hat er schon verhört. Er hat zwei nächtliche Razzien durchgeführt und einigen Lokalen sowie dem Bahnhof überraschende Besuche abgestattet. Außerdem hat er die Nachricht verbreitet, daß Sie eine Woche Urlaub machen, um irgendwelche Privatangelegenheiten zu regeln.“ Barbara lachte. „Die Idee mit dem Urlaub ist gar nicht so schlecht. Ich habe also noch zwei Tage frei, denn in Wrocław war ich ja nur fünf Tage.“ „Davon kann keine Rede sein. In der Stadt geht es hoch her. Die Leute sind der Meinung, daß die Miliz endlich etwas unternimmt. Die Aktionen des Leutnants werden sehr gelobt.“ „Und was haben sie eingebracht?“ „Ein volles Arrestlokal. Meist Trunkenbolde, die nicht nach Hause finden konnten. Dafür werden sie vor die Schiedskommission finden. Auch ein paar so merkwürdiger Vögel, von denen man nicht weiß, woher sie kommen, wohin sie gehen und wovon sie leben. Die haben wir hier unten festgehalten, und Rzeszotko hat darauf gesehen, daß sie so schnell wie möglich diese unwirtli157
che Stadt verlassen. Außerdem drei Jugendliche, die in einen Kiosk in der Gliwickastraße eingebrochen sind. Man hat sie auf frischer Tat ertappt. Der Staatsanwalt kümmert sich bereits um sie. Sie haben auch andere Einbrüche zugegeben.“ Die übrigen Offiziere, die das Zimmer ihres Vorgesetzten betraten, begrüßten Barbara ebenso herzlich. Es war offensichtlich, daß man sie in diesen Kreis aufgenommen hatte. Stefański küßte Barbara sogar auf beide Wangen, was dem gestrengen Leiter überhaupt nicht gefiel. Barbara trug einen zusammenfassenden Bericht über den Mord an den Rotwalds vor, den sie schon in Wrocław vorbereitet hatte. Man hörte ihr mit der größten Aufmerksamkeit zu. „Gratuliere, Barbara“, sagte Hauptmann Zygmunt Poleszczuk, „jetzt habe ich auch keine Zweifel mehr, daß deine Theorie richtig war. Dem ‚Abc-Mörder‘ ging es von Anfang an darum, Stanisław Topolewski alias Władysław Czerwonomiejski zu beseitigen. Die anderen hat er umgebracht, um uns hinters Licht zu führen. Und er hätte es sicherlich auch geschafft, wäre nicht unser Genie aus Częstochowa gewesen.“ Alle lachten, und Barbara errötete sogar ein wenig über das Lob. Stefański meinte, daß man einen solchen Erfolg unbedingt begießen müßte. Natürlich auf Kosten des „Genies“. Wenn es nicht gleich ginge, dann eben am Abend. „Herrschaften“, der Major mußte die Anwesenden zur Ordnung rufen, „wir haben uns zu einer Beratung zusammengefunden.“ „Was gibt es da viel zu beraten? Der Fall ist doch klar“, erklärte Stefański. „Der ‚Abc-Mörder‘ ist einer der beiden Banditen: Kowalewski oder Bunerło. Man muß sie finden und hinter Schloß und Riegel bringen.“ „Alle beide?“ fragte der Hauptmann ironisch. 158
„Einer genügt, denjenigen, dem der Mord an Czerwonomiejski nachgewiesen wird.“ „Eine Kleinigkeit. Und wie willst du das machen?“ „Einer von ihnen muß in Zabiegowo wohnen.“ „Nicht unbedingt. Ebensogut kann er in Paprotnia wohnen. Oder gar in Katowice. Außerdem stellt die Tatsache, daß er in Zabiegowo wohnt, noch keinen Beweis für dieses Verbrechen dar. Hier braucht man Fakten.“ „Barbara hat doch die Fingerabdrücke dieser Leute mitgebracht.“ „Aber diese Fingerabdrücke gibt es nicht in den Akten über die vier Morde!“ Der Streit wurde immer hitziger geführt. „Herrschaften, so beruhigt euch doch“, der Major mußte abermals eingreifen, „in dieser Angelegenheit gibt es noch mehr unklare Punkte. Vor allen Dingen müssen wir herausfinden, ob Stanisław Topolewski, anders gesagt, unser allgemein geschätzter Gärtner Czerwonomiejski, nicht noch weitere Verbrechen auf dem Gewissen hat. Aus der Zeit des Krieges, zum Beispiel. Oder ob er Komplizen hat. Mir geht es jetzt nicht um das Wrocławer Verbrechen, das ist verjährt, sondern um eventuelle spätere.“ „Ein raffinierter Bursche war er trotzdem“, brummte Stefański. „Wie er sich seiner Komplizen entledigt hat, um dann den Rahm abzuschöpfen … Aber in einem Punkt hat er sich verrechnet. Er dachte, die beiden kommen an den Galgen, und dann ist er die letzten Zeugen seines Verbrechens los. Hätte er gewußt, daß das Urteil geändert wurde, dann wäre er wohl nicht nach Polen zurückgekehrt. Warum hat er das überhaupt getan?“ „Das ist ganz einfach“, erklärte Zygmunt Poleszczuk, der einige Jahre im Ausland gearbeitet hatte. „In Frankreich war dieser Mensch ein Nichts. Ein gewöhnlicher Bauer aus der Gegend von Lyon. Dort imponierte sein 159
Geld niemandem, denn selbst in dem Ort, in dem er sich angesiedelt hatte, gab es bestimmt reichere Leute. Außerdem war er Ausländer. Ein Hergelaufener, der französisches Brot aß. Unabhängig von Staatsbürgerschaft, Fleiß oder Geld wäre er bis an sein Lebensende ein Fremder geblieben. Ein etwas besserer Gastarbeiter, der zwar toleriert wurde, in seinen Kreisen jedoch von oben herab behandelt wurde. Er hatte keinerlei gesellschaftliche Beziehungen und keine Kontakte außer den amtlichen.“ „Und die Kinder?“ „Die Kinder sind etwas anderes. Die sind schon in Frankreich geboren, leben in einer großen Stadt, wo die sozialen Verhältnisse liberaler sind als auf dem konservativen Land. Die Kinder finden durch ihre Ehen Zutritt zur dortigen Gesellschaft, sie werden als ihresgleichen betrachtet. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Hier wurde Czerwonomiejski von Anfang an, von dem Augenblick, da sein prächtiger ‚Simca‘ in den Straßen von Zabiegowo auftauchte, für eine beneidenswerte Person gehalten. Den Leuten imponierte sein Reichtum, sein Auslandsaufenthalt. Außerdem stammte er aus dieser Region. Man brauchte nur zu beobachten, wie dieser Mensch auf der Straße gegrüßt wurde, wie die Leute zu ihm kamen, um sich Rat zu holen. Das hätte er in Lyon auch in hundert Jahren nicht erreicht, auch nicht in seinem Heimatdorf.“ „Ja“, bestätigte der Major, „Zygmunt hat recht. Außerdem hat sich dieser Mensch, unabhängig von den Verbrechen, die er verübt hat, vielleicht einfach nach seiner Heimat gesehnt.“ „Vielleicht hat er nur deshalb gemordet, um später als reicher Mann hierher zurückkehren zu können?“ fügte Leutnant Edmund Rzeszotko hinzu. „Sparen wir uns jetzt alle theoretischen Erwägungen“, der Major war der Meinung, daß die Beratung sich allzu160
sehr in die Länge zog, „wir müssen überprüfen, wie der richtige Name des Gärtners lautet: Topolewski oder Czerwonomiejski. Wie ist er nach dem Kriege nach Polen gekommen? Hat er hier nicht noch andere Verbrechen verübt? Hat er in Frankreich nur den Namen Czerwonomiejski verwendet? Vielleicht hat er dort ebenfalls ein Doppelleben geführt? Was hat er nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion gemacht? Wie ihr seht, gibt es noch viel zu tun. Dabei sind das doch nur die einleitenden Maßnahmen.“ „Und die beiden?“ „Eben, die beiden Banditen. Es muß festgestellt werden, was mit ihnen geschehen ist, nachdem das Urteil rechtskräftig wurde. Man kann wohl voraussagen, daß sie sich, sofern sie noch am Leben sind, in Freiheit befinden. Eine der Amnestien hatte alle lebenslangen Strafen in fünfzehn Jahre Gefängnis umgewandelt. Folglich müßten sie spätestens neunzehnhundertundsechzig die Mauern der Strafanstalt verlassen haben. Was haben sie danach gemacht? Wie lauten ihre derzeitigen Anschriften?“ „Eine Menge Arbeit. Barbara ist nicht zu beneiden“, bemerkte Stefański. „Die Arbeit reicht für jeden von euch“, tröstete ihn der Major, „auch für Sie. Erst wenn wir alles überprüft haben, können wir mit den eigentlichen Ermittlungen beginnen und feststellen, welcher von ihnen der Mörder ist. Natürlich brauchen wir stichhaltige Beweise. Im Augenblick haben wir nicht einen einzigen.“ Noch am selben Tag ging ein neues Schreiben nach Warschau ab, in dem um Informationen über die Strafgefangenen Kowalewski und Bunerło gebeten wurde. Zabiegowo wollte wissen, in welchen Strafanstalten sie eingesessen hatten, wie ihr Verhalten gewesen war, wann sie entlassen wurden und wo sie sich zur Zeit aufhielten. 161
Unterdessen trafen einige Tage später Informationen über den Soldaten des 3. Regiments der Panzerdivision „Breslau“ ein, den Kriegsgefangenen aus den Kämpfen um Stalingrad, Waldemar Czerwonomiejski. Dieser Kriegsgefangene hatte im Jahre 1944 einen Antrag auf Entlassung aus dem Lager gestellt und um die Erlaubnis gebeten, in die Reihen der Polnischen Armee eintreten zu dürfen. Seinen Antrag begründete er damit, daß er Pole sei, der auf dem Territorium des polnischen Staates geboren und zwangsweise zur Wehrmacht eingezogen wurde, entgegen den Vorschriften des internationalen Rechts. Dieses Schreiben hatte einen langen amtlichen Weg durchlaufen. Jede der darin enthaltenen Informationen mußte überprüft werden, was unter den Bedingungen des Krieges durchaus nicht einfach war. Schließlich wurde im März 1945 der Bitte stattgegeben, und Władysław, nicht mehr Waldemar, Czerwonomiejski durfte das Lager verlassen und nach Polen ausreisen. Hier verloren sich die Spuren. In Polen war Władysław Czerwonomiejski in jener Zeit nicht gemeldet gewesen. Frankreich bestätigte, daß Władysław Czerwonomiejski, aus England kommend, 1948 ins Elsaß zu seiner Frau und den zwei Kindern zurückgekehrt war. Wie aus den Papieren dieses Mannes hervorging, hatte er sich ein Jahr lang in Westdeutschland, in der amerikanischen Besatzungszone, und dann zwei Jahre in Schweden aufgehalten. Die französischen Behörden bestätigten auch, daß Czerwonomiejski anschließend in die Gegend von Lyon übersiedelte, wo er eine eigene Wirtschaft betrieb. Vorbestraft war er nicht. Vor seiner Ausreise nach Polen hatte er alle Steuerschulden beglichen. „Nun ja“, meinte Zajączkowski, „aus der Gefangenschaft ist er ziemlich spät entlassen worden. Vielleicht ist es ihm nicht mehr gelungen, bis Kriegsende in die Polnische Armee einzutreten. Oder aber er hat es gar nicht erst versucht, weil er schon damals verbrecheri162
sche Absichten hegte. Deshalb die Änderung des Namens und Vornamens.“ „Mir fällt da eine gewisse Übereinstimmung von Fakten auf“, fügte Oberleutnant Śliwińska hinzu. „Der Dienst bei der Panzerdivision ‚Breslau‘ würde darauf hindeuten, daß Czerwonomiejski in dieser Stadt seine militärische Ausbildung erhalten hat. Das Verbrechen wurde ebenfalls in Wrocław verübt. Ich nehme an, daß Czerwonomiejski schon damals vom Reichtum der Rotwalds gehört hatte, ja vielleicht sogar mit ihnen zusammengetroffen war und sich seit dieser Zeit mit der Absicht, ein solches Verbrechen zu begehen, getragen hat.“ „Das würde auch die Änderung des Namens auf Stanisław Topolewski erklären. Weshalb sonst sollte er das getan haben? In Polen drohte ihm keinerlei Gefahr, es gab auch keine Hindernisse, sofort nach Frankreich zurückzukehren. Hunderte und Tausende von Polen aus Frankreich und Belgien, die man zum Dienst bei der Wehrmacht gezwungen hatte, kehrten nach ihrer Entlassung aus sowjetischen Kriegsgefangenenlagern zu ihren Familien zurück. Ebenso wie Häftlinge der Hitlerschen Konzentrationslager. Man machte ihnen keinerlei Schwierigkeiten. Bei der französischen Botschaft in Warschau gab es sogar eine besondere Mission, die diese Menschen betreute. Auch die polnischen Behörden halfen ihnen, so gut sie konnten. Da war es nicht nötig, drei Jahre lang durch Westdeutschland, Schweden und England zu wandern.“ „Für den Mörder der Rotwalds war das der sicherste Weg“, erklärte Hauptmann Poleszczuk, „denn seinen Komplizen hatte er ja gesagt, daß sie gemeinsam durch die Tschechoslowakei fliehen würden. Folglich hat er eine ganz andere Marschroute gewählt. Vermutlich hat er irgendwo in der Gegend von Szczecin die Grenze zur Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands überschritten. So wurde damals das Territorium der heutigen 163
Deutschen Demokratischen Republik genannt. Nachdem er Berlin erreicht hat, ist er in den Westteil der Stadt gefahren und von dort ohne größere Schwierigkeiten, denn er hatte ja genügend Geld, zu den Amerikanern nach Westdeutschland gelangt.“ „Und weshalb ist er nicht direkt zu seiner Familie ins Elsaß zurückgekehrt?“ „Vielleicht hatte er anfangs gar nicht die Absicht, dorthin zurückzukehren. Oder er hielt es für besser, ein paar Jahre woanders zu warten, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Schließlich wußte er nicht, daß man Stanisław Topolewski nicht als Władysław Czerwonomiejski entlarvt hatte. Er mußte befürchten, daß die in Polen geführten Ermittlungen seinen wirklichen Namen und seinen Wohnort in Frankreich zutage förderten. Als Doppelmörder so bekannter Leute konnte er von Frankreich unseren Behörden ausgeliefert oder auch vor ein französisches Gericht gestellt werden. Der Unterschied wäre schließlich nicht groß gewesen. Hier der Galgen, dort die Guillotine. Es ist also nicht verwunderlich, daß der Mann, der sein Verbrechen und alles, was darauf folgte, so hervorragend geplant hatte, sich in dem Chaos, das damals in Deutschland herrschte, sicherer fühlte.“ „Wozu ist er dann auch noch nach Schweden und England gegangen?“ Leutnant Rzeszotko war im Fragen unermüdlich. „Ausbildung unterstützt die Intelligenz, aber sie ersetzt sie nicht“, brummte Stefański. Die Anwesenden prusteten los, und Edmund Rzeszotko errötete wie ein Fräulein bis an die Haarwurzeln. „Man hat Ihnen doch wohl beigebracht, Genosse Leutnant“, der Major sagte das in scharfem Ton, „daß ein häufiger Wohnortwechsel eine bevorzugte Methode sich verbergender Verbrecher ist. Und Oberleutnant Stefański bitte ich, ähnliche Bemerkungen zu unterlassen.“ „Das Positive an der Sache ist“, griff Oberleutnant 164
Śliwińska wieder in das Gespräch ein, „daß die Antworten, die wir auf unsere Fragen erhalten haben, den Fall Czerwonomiejski restlos klären. Wir brauchen uns damit nicht mehr zu beschäftigen. Außer diesem einen Verbrechen hatte er, wie aus seinem weiteren Lebenslauf hervorgeht, keine anderen Verbrechen mehr auf dem Gewissen.“ „Eins genügt ja auch, wenn es nur entsprechend ist.“ Der unverbesserliche Stefański konnte seine Zunge nicht im Zaume halten. „Es hat ihm bis an sein Lebensende gereicht. Und ein prunkvolles Grabmal ist dabei auch noch herausgesprungen.“ „Jetzt müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die beiden ehemaligen Häftlinge konzentrieren. Einer von ihnen ist bestimmt unser ‚Abc-Mörder‘. Der Genosse Major hat jedoch richtig gesagt, daß wir gegen den Täter keinerlei Beweise in der Hand haben. Es wird Schwierigkeiten geben, die Person des Verbrechers zu identifizieren.“ „Es wird derjenige sein, der in Zabiegowo wohnt.“ „Das ist nicht so sicher. So können zum Beispiel beide hier wohnen oder keiner von beiden. Oder es wohnt einer hier, und der Mörder ist der andere. Und schließlich arbeiten die beiden vielleicht zusammen. Letztere Möglichkeit bezweifle ich allerdings“, meinte Barbara einschränkend. „Das sind nur theoretische Erwägungen. Wir werden ja sehen, was uns die Zukunft bringt. Morgen, spätestens übermorgen müßte die Antwort aus Warschau eintreffen.“ Warschau beseitigte alle Zweifel. Es stellte sich heraus, daß Kowalewski im August 1960 aus der Strafanstalt Rawicz entlassen worden war. Den Rest der Strafe erließ man ihm wegen guter Führung. Kowalewski arbeitete zunächst als Busfahrer beim städtischen Kraftverkehr in Poznań; diese Arbeitsstelle hatte ihm die Miliz vermittelt. Nach einigen Jahren wechselte Kowa165
lewski die Arbeit. Er ging zum PKS, dem staatlichen Kraftverkehr. Hier zeichnete er sich durch Fleiß und Gewissenhaftigkeit aus, so daß man ihn nach einiger Zeit auf den Auslandsrouten einsetzte. In der Hauptsache nach Frankreich und Italien. Nach acht Jahren bat Kowalewski um seine Entlassung. Er begründete seinen Entschluß mit der Erschöpfung durch die langen Fahrten, was seinem Gesundheitszustand nicht zuträglich war, außerdem hatte er ein Mädchen aus Nysa geheiratet und wünschte sich eine Beschäftigung, die keine so lange Trennung von der Familie mit sich brachte. Gegenwärtig wohnte der ehemalige Häftling in Nysa, dort arbeitete er auch beim Großhandel der Konsumgenossenschaft als Kraftfahrer. Auf seiner Arbeitsstelle hatte er einen sehr guten Ruf. Anders war es dem zweiten Häftling ergangen. Das Tor zur Freiheit Öffnete sich ihm in Wronki genau fünfzehn Jahre nach dem Tag, an dem er an der Ermordung von Henryk und Emma Rotwald teilgenommen hatte. Der ehemalige Häftling ging nach Warschau und nahm dort eine Arbeit bei der Wohnungsbaugenossenschaft Warschau-Nord auf. Doch irgend jemand, vielleicht der ehemalige Häftling selbst, ließ wohl mal eine Bemerkung über seine Vergangenheit fallen. Bunerło hatte deswegen große Unannehmlichkeiten. Er konnte sich keine Autorität mehr bei den ihm unterstellten Mitarbeitern verschaffen. Jedenfalls verließ der „Bandit“, wie er allgemein genannt wurde, nach anderthalb Jahren diese Firma. Er siedelte nach Łódź über, hielt es aber auch dort nicht lange aus. Dann konnte man ihm in Szczecin begegnen, wo er als Bauführer beschäftigt war. Hier arbeitete er etwa drei Jahre. Die nächsten Jahre blieben im Verborgenen. Es ließ sich nicht feststellen, wo er sich aufgehalten und was er gemacht hatte. In dem Haus, wo er ständig gemeldet war, bei entfernten Verwandten in Warschau, wohnte er jedenfalls nicht. 166
Dort tauchte er erst wieder im Jahre 1968 auf. Auch jetzt arbeitete er auf dem Bau. Doch nach kurzer Zeit kam es zu Auseinandersetzungen. Der Schimpfname „Bandit“ kehrte wieder. Auch diese Arbeitsstelle mußte er aufgeben. Und dann versagten wohl dem ehemaligen Häftling die Nerven. An einem Augustmorgen fand eine Streife der Wassermiliz am Flußufer einen herrenlosen Anzug und einen Brief. In dem Brief teilte Bunerło mit, daß er aus dem Leben geht. Er schloß mit den Worten: „Der Staat hat mir verziehen, die Menschen nicht. Ich habe nicht mehr die Kraft, dagegen anzukämpfen.“ Zu dem Zeitpunkt, da Bunerło das Verbrechen beging, war er einunddreißig Jahre alt gewesen. Als er 1969 freiwillig aus dem Leben schied, wurde er gerade vierundfünfzig. Dreiundzwanzig Jahre lang sühnte er seine Schuld. „Der Fall ist klar.“ Hauptmann Poleszczuk las als erster das Schreiben aus Warschau. „Nysa ist kaum dreißig Kilometer von Zabiegowo entfernt. Unsere Läden werden vom Großhandel dieser Stadt beliefert. Kowalewski kommt mit seinem Lieferwagen mindestens einmal in der Woche hierher. Es genügt ja, daß er auf der Straße den Mann wiedererkannte, der ihn vor Jahren zu dem Verbrechen überredet und dann für vierzehn Jahre hinter Schloß und Riegel gebracht hatte. Sich dann zu rächen, war nicht schwierig.“ „Wenn er nur Czerwonomiejski umgebracht hätte, wäre der Verdacht sofort auf ihn gefallen. Dann hätte jeder von uns und nicht nur unser ‚Genie aus Częstochowa‘ “, hier lächelte Stefański, „die Vergangenheit des Rücksiedlers aus Frankreich untersucht. Deshalb hat uns dieser listige Kraftfahrer vier Vorstellungen inszeniert und sich den Namen ‚Abc-Mörder‘ erworben. Bei Gelegenheit hat er beschlossen, einige Halunken zu bestrafen, und sich unter diesem Gesichtspunkt die Opfer ausgesucht, wobei er sorgsam auf das Alphabet achtete.“ „So hätte es sein können“, stellte Major Stanisław 167
Zajączkowski fest, „aber das alles müssen wir Włodzimierz Kowalewski beweisen. Zu diesem Zweck wird Oberleutnant Śliwińska morgen nach Nysa fahren“, entschied der Major.
15. KAPITEL Tod in Nysa „Wie haben Sie das erfahren?“ Mit diesen Worten begrüßte Oberst Edward Piotrowski, der Leiter des Kreisamtes der Bürgermiliz in Nysa, Oberleutnant Barbara Śliwińska, als sie sich am nächsten Morgen beim Chef der Nysaer Miliz meldete. „Was soll ich erfahren haben?“ Barbara war überrascht über diese merkwürdige Begrüßung im Nachbarkreis. „Was denn?“ Nun begriff der Oberst nicht. „Sie wissen gar nicht, daß der ‚Abc-Mörder‘ jetzt bei uns weitermacht?“ „Nicht möglich!“ „Doch. Heute am frühen Morgen, hat man im Zentrum der Stadt, auf dem Markt, im Bogengang des Kämmereigebäudes, einen jungen Mann ermordet aufgefunden. Aus den Papieren, die er bei sich hatte, geht hervor, daß er Paweł Erlich heißt. Das wäre also der nächste Buchstabe des Alphabets. Ich warte gerade auf die telefonische Verbindung mit Zabiegowo. Als Sie zur Tür hereinkamen, dachte ich, Sie wissen schon Bescheid.“ „Nein. Ich komme in einer ganz anderen Angelegenheit.“ „Ein seltsamer Zufall. Aber es ist gut, daß Sie da sind.“ Barbara war erstaunt und sogar ein wenig bestürzt. Dieser neue Mord paßte überhaupt nicht zu ihrer Theorie. Sollte der Mörder so sehr die Nerven verloren 168
haben, daß er einen neuen, von seinem Standpunkt aus völlig überflüssigen Mord gewagt hatte? Und das in Nysa, in der Stadt, in der er wohnte? „Haben Sie schon irgendwelche Einzelheiten, Genosse Oberst?“ „Vorläufig nicht. Die Kriminaltechniker und der Arzt arbeiten noch am Tatort. Eigentlich müßten sie bald hier sein. Wenn Sie wollen, können Sie sich ihnen anschließen. Das ist gleich hier um die Ecke, auf dem Marktplatz. Sobald Sie den Marktplatz betreten, sehen Sie schon ein dreistöckiges Gebäude mit einem hohen Dach. Das ist das Kämmereigebäude, neben der Kathedrale das wertvollste Baudenkmal unserer Stadt. Zum Glück ist es vom Krieg verschont geblieben, obwohl der ganze Markt mit dem berühmten Rathaus und dem Ratsturm, der eine Zeitlang der höchste in Europa war, den Flammen zum Opfer fiel.“ Es war offensichtlich, daß der Oberst in seine Stadt verliebt war und ihre Geschichte genau kannte. „Im Bogengang dieses Gebäudes fand eine Streife den toten Paweł Erlich.“ „Wenn Sie erlauben, warte ich hier. Dort störe ich ja nur.“ „Sicherlich ist es so am besten. Was gibt es Neues in Zabiegowo?“ „Unsere wichtigste Aufgabe ist, den Schuldigen an den vier Morden zu finden“, erwiderte Barbara. „Ich denke, daß wir in unseren Ermittlungen ein gutes Stück vorangekommen sind und uns jetzt auf der richtigen Spur befinden.“ „Von Kollegen habe ich gehört, daß bei der letzten Arbeitsbesprechung in Katowice Zajączkowski die Entlarvung des ‚Abc-Mörders‘ nur noch eine Frage der Zeit nannte, weil die Ermittlungen sich endlich auf dem richtigen Wege befinden. Der Major konnte Sie nicht genug loben und hat auch betont, daß diese Erfolge vor allem auf Ihr Konto gehen. Daraufhin soll der Leiter 169
der Wojewodschaftsbehörde einen Brief aus seinem Schreibtisch hervorgeholt und vorgelesen haben, den der gute Stach Zajączkowski gleich nach Ihrer Ankunft in Zabiegowo an ihn gerichtet hat. Die Anwesenden haben sich köstlich amüsiert, und die Kunde davon ist bis Opole und Nysa gedrungen. Allerdings sollte das unter uns bleiben.“ „Das ist doch selbstverständlich, Genosse Oberst. Und was diesen Brief betrifft, so kann ich mir schon denken, was darin steht. Bestimmt irgend etwas von einem Weib, das man ihm auf den Hals geschickt hat …“ „Das hat Stach wörtlich geschrieben. Aber der Leiter der Wojewodschaftsbehörde kennt ja Zajączkowski lange genug und hat darauf nicht reagiert. Trotzdem weiß ich noch immer nicht, welchem Umstand wir Ihren Besuch zu verdanken haben.“ „Uns geht es um diskrete Erkundigungen über einen bestimmten Einwohner von Nysa. Um einen gewissen Włodzimierz Kowalewski.“ „Kowalewski … Kowalewski …“, überlegte der Oberst. „Handelt es sich nicht um einen Kraftfahrer, der wegen der Teilnahme an einem Überfall lebenslänglich bekommen hat?“ „Genau der ist es.“ „Jetzt weiß ich wieder Bescheid. Man hat ihm das ‚lebenslänglich‘ in fünfzehn Jahre umgewandelt. Nach seiner Haftzeit hat er in Poznań gearbeitet und ist dann zu uns gekommen. Hier hat er geheiratet. Er hat zwei Kinder. Wir hatten eine vertrauliche Mitteilung über ihn. Eine Zeitlang haben wir ihn im Auge behalten. Sie wissen ja, die Katze läßt manchmal das Mausen nicht. In diesem Fall war es jedoch nicht so. Er ist ein ruhiger Mensch und ein gewissenhafter Arbeiter. Einige Male hat er sogar eine besondere Auszeichnung bekommen, weil sein Wagen am besten gepflegt war und die meisten Kilometer ohne Generalreparatur gelaufen ist. Seit eini170
gen Jahren beschäftigen wir uns nun nicht mehr mit ihm. Sie glauben, daß er das ist?“ „Alles deutet darauf hin.“ „Dazu nun noch der Mord vor dem Kämmereigebäude. Ihr in Zabiegowo habt die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt, der Boden dort wurde ihm zu heiß unter den Füßen, also hat er seine Tätigkeit nach Nysa verlegt. Wenn so ein Verrückter erst einmal anfängt zu morden, dann kann er nicht mehr aufhören.“ Barbara schwieg. Sie wollte nicht erst weitschweifig erklären, daß dieser Mord überhaupt nicht zu dem „AbcMörder“ paßte. Vielleicht war der Mann auch wirklich verrückt geworden? Verwunderlich wäre es nicht. Jeder Verbrecher, vor allem ein Mörder, ist bis zu einem bestimmten Grade ein Psychopath. Und erst recht jemand, der so viele Menschen auf dem Gewissen hat. Unterdessen hatte die Untersuchungsgruppe ihre Arbeit am Tatort beendet und war zum Kreisamt zurückgekehrt. Der Tote war, wie schon vorher festgestellt, der vierundzwanzigjährige Paweł Erlich. Er hatte in Brzeg gewohnt und in einem metallurgischen Betrieb in Nysa gearbeitet. Er war durch einen Stich mit einem spitzen Gegenstand in die linke Brustseite, in Höhe des Herzens, ermordet worden. Der Tod war sofort eingetreten. Vorher hatte es zwischen Erlich und seinem Widersacher oder Widersachern einen blutigen Kampf gegeben. Erlich hatte ebenfalls ein Messer in der Hand gehalten. Dieses Messer lag neben dem Toten. Auf dem Griff befanden sich seine Fingerabdrücke. Von dem Blut auf dem Bürgersteig entnahm man Proben. Davon erhoffte man sich Auskunft darüber, ob der andere Beteiligte an der Auseinandersetzung ebenfalls Verletzungen davongetragen hatte. „Die Obduktion wird bestimmt ergeben, daß der Ermordete unter erheblichem Alkoholeinfluß stand“, fügte der Milizarzt hinzu. „Da bin ich mir ganz sicher.“ 171
„Das Verbrechen“, berichtete der Untersuchungsleiter weiter, „weist keinerlei Anzeichen eines Raubmordes auf, denn bei dem Toten haben wir eine Brieftasche mit mehr als achthundert Złoty gefunden. Ein hellerer Fleck am linken Handgelenk deutet jedoch darauf hin, daß der Ermordete eine Armbanduhr getragen hat, die bei ihm nicht gefunden wurde.“ „Einer fährt sofort zum Betrieb und stellt fest, mit wem Erlich befreundet und mit wem er eventuell verfeindet war. Erkundigt euch, wer heute nicht zur Arbeit erschienen ist, und überprüft, ob einer dieser Leute verletzt ist. Fragt auch in den Krankenhäusern und in der Unfallbereitschaft nach, ob sie jemanden mit einer Stichwunde behandelt haben. Dazu müssen auch die umliegenden Krankenhäuser befragt werden. Ferner ist Brzeg von dem Mord zu benachrichtigen mit der Bitte, gründliche Erkundigungen einzuziehen. Erlichs Freunde, sein Mädchen und so weiter. Auch die Arbeiterwohnheime müssen aufgesucht werden. Vielleicht liegt dort jemand mit Stichverletzungen.“ „Jawohl, Genosse Oberst. Wird alles erledigt.“ „Noch etwas.“ Piotrowski wandte sich an Oberleutnant Śliwińska. „Wie heißt euer Schützling?“ „Włodzimierz Kowalewski. Wohnhaft in Nysa, Ząbkowicka achtzehn. Beschäftigt ist er im Auslieferungslager der Konsumgenossenschaft.“ „Überprüft, ob der Bursche die Nacht in seinem Bett verbracht hat und ob er heute auf Arbeit ist. Aber ich bitte mir größte Diskretion aus. Kowalewski darf auf keinen Fall merken, daß wir uns für ihn interessieren. Bei Gelegenheit könnt ihr feststellen, ob dieser Kowalewski, er ist Kraftfahrer, häufig nach Zabiegowo fährt und welche Geschäfte er beliefert.“ „Es wäre gut“, warf Oberleutnant Śliwińska ein, „wenn Kowalewskis Fahrtenbuch durchgesehen werden könnte. Vor allem liegt mir an folgenden Daten: der 172
vierundzwanzigste Juni, der siebzehnte Juli sowie der zweite und der fünfzehnte August. Alle aus diesem Jahr. Wohin ist er in diesen Tagen gefahren? Und ist er dabei durch Zabiegowo gekommen?“ Der Oberleutnant, dem diese Aufgabe übertragen wurde, notierte sich die von Barbara genannten Daten, und der Oberst fügte hinzu: „Damit keiner Verdacht schöpft, führen Sie am besten eine Kontrolle aller Fahrtenbücher der in diesem Betrieb beschäftigten Fahrer für den Zeitraum vom fünfzehnten Juni bis zum ersten September durch. Sollte man Sie nach dem Grund fragen, so sagen Sie, daß Sie Untersuchungen wegen der Leerfahrten auf dem Rückweg zum Fuhrpark durchführen.“ „Hat das etwas mit Erlich zu tun?“ fragte der Oberleutnant. „Ich weiß es nicht“, erwiderte Barbara. „Jedenfalls“, erklärte der Oberst, „ist die Angelegenheit Kowalewski dringend. Die Genossin ist eigens deswegen aus Zabiegowo hergekommen.“ „Ich verstehe“, sagte der Oberleutnant, der nun den Zusammenhang mit dem „Abc-Mörder“ begriff, „unser Erlich beginnt mit ‚E‘.“ „Richtig. Und das müssen wir bei den Ermittlungen berücksichtigen.“ Erst jetzt meldete die Sekretärin, daß die Verbindung mit Zabiegowo hergestellt sei. „Sprechen Sie“, schlug der Oberst vor. Barbara gab Zajączkowski einen kurzen Bericht über die Ereignisse in Nysa, worauf der Major entschied, daß sie für ein paar Tage dort bleiben und eventuell bei den Ermittlungen helfen solle. Natürlich nur dann, wenn Oberst Piotrowski damit einverstanden sei. Die Ermittlungen im Mordfall Paweł Erlich nahmen ihren normalen Verlauf, wurden jedoch schnell und energisch geführt. Noch am selben Tag wurden die Ar173
beiter aus Erlichs Abteilung vernommen und Erkundigungen über ihn eingeholt. Der junge Mann stand in keinem besonders guten Ruf. Auf seiner Arbeitsstelle hatte er oft gefehlt, und der Arzt kannte ihn als Bummelanten, der immer wieder versuchte, sich krank schreiben zu lassen, meistens, wenn er nach durchzechter Nacht einen Kater hatte. Zuvor hatte Erlich in einem Arbeiterwohnheim gelebt. Doch dort warf man ihn hinaus, weil er oft betrunken nach Hause kam und dann Schlägereien anzettelte. So nahm er wieder die lange Anfahrt aus seinem heimatlichen Brzeg nach Nysa in Kauf, obwohl er dort eine Arbeit mit der gleichen Entlohnung bekommen hätte. Bei der Miliz in Brzeg war er nicht notiert, und auch der Abschnittsbevollmächtigte wußte nichts über ihn zu sagen, obwohl er „seine“ Saufbrüder sehr genau kannte. Wie das häufig der Fall ist, war der gute Mann an dem Ort, wo ihn alle kannten, ruhig und sittsam. Dafür tobte er sich dann in Nysa aus. Die Nachfragen in den Krankenhäusern und bei der Schnellen Medizinischen Hilfe brachten keinerlei Ergebnis, aber die Untersuchungen ergaben, daß der Ermordete die Blutgruppe Null hatte, während die Blutflecke auf dem Bürgersteig von verschiedenen Blutgruppen stammten. In der Hauptsache war es die Gruppe „0“, doch einige Proben ergaben einen Wert, der mit „A Rh+“ bezeichnet wurde. Die Personalakte des Berufskraftfahrers Włodzimierz Kowalewski enthielt auch die Blutgruppe, und zwar „A Rh+“. Sollte das nur ein Zufall sein? Allerdings war der Fahrer der Konsumgenossenschaft pünktlich um sechs Uhr morgens zur Arbeit erschienen und hatte eine weite Fahrt, bis nach Szczecin, angetreten. Im Augenblick konnte man ihn also nicht vernehmen. Es ließ sich auch nicht feststellen, wie er den Abend verbracht hatte, an dem Erlich ermordet worden war. Die Nachbarn hatten den heimkehrenden Fahrer nicht gesehen, und die Fa174
milie wollte man nicht befragen, um den Verdächtigen nicht vorzeitig zu alarmieren. Erlichs Arbeitskollegen zeigten anfangs wenig Lust zu einer längeren Unterhaltung. Angeblich wußten sie nichts und hatten nichts gehört. Mit wem Erlich befreundet war? Dafür hatten sie sich nicht interessiert. Ob er ein Mädchen in Nysa hatte? Möglich, sie hatten ihn nicht danach gefragt. Sie zogen es offenbar vor, mit der Miliz nichts zu tun zu haben, um später nicht vor Gericht erscheinen zu müssen. Erst als Oberst Piotrowski Oberleutnant Słupski anwies, besonders Verstockte zur Auffrischung ihres Gedächtnisses in Untersuchungshaft zu nehmen, sahen die Leute, daß dies kein Spaß war, und begannen zu reden. So erfuhr die Miliz die Namen mehrerer junger Burschen in Erlichs Alter, mit denen er befreundet gewesen war. Doch nur einige von ihnen waren in demselben Betrieb beschäftigt. Jan Bobas zum Beispiel arbeitete in einer privaten Kfz-Werkstatt, Jarosław Nowak in einem Baubetrieb und Maciek Jurkiewicz sowie Witold Kamiński in den Eisenbahnwerkstätten. Als die Miliz in den Gaststätten der Stadt nach Erlich fragte, sagten die Kellner und Kellnerinnen übereinstimmend aus, daß sie einen solchen Gast nicht kannten. Eine erneute Befragung, diesmal nicht nach Erlich, sondern nach seinen Freunden, war ein wenig erfolgreicher. Eine Serviererin erinnerte sich, daß an einem ihrer Tische drei junge Leute zügig getrunken hatten. Einer von ihnen hieß Maciek mit Vornamen und arbeitete in den Eisenbahnwerkstätten. Das war die richtige Spur. Als man diesen Maciek im Kreisamt befragte, stritt er lange alles ab. Erst als er der Serviererin gegenübergestellt wurde, die ihre Aussage wiederholte, gab er zu, in diesem Lokal gewesen zu sein. Er behauptete jedoch, mit zwei zufälligen Bekann175
ten getrunken zu haben. Einen Paweł Erlich kenne er vielleicht sogar, man kenne ja so viele Leute vom Sehen, ohne zu wissen, wie sie hießen. Als man den jungen Mann schließlich auf die Folgen einer falschen Aussage hinwies und ihm eine Erklärung vorlegte, auf der er mit seiner Unterschrift bestätigen sollte, daß er Paweł Erlich nicht kenne, begriff er und erzählte nun die Wahrheit. An jenem so tragisch zu Ende gegangenen Abend war er Paweł Erlich auf der Straße begegnet, die zum Bahnhof führte. Beide hatten gerade ihren Wochenlohn bekommen. Folglich beschlossen sie, „einen zu heben“. Auf dem Weg zur Kneipe trafen sie Jan Dobas. Die Beziehungen zwischen Dobas und Erlich waren ziemlich gespannt. Dobas hatte eine Freundin, mit der nun auch Erlich anzubändeln versuchte. Trotzdem suchten die drei jungen Männer gemeinsam eine Kneipe auf, wo sie, wie gesagt, scharf zur Sache gingen. Wie Jurkiewicz behauptete, vertrugen sich die Zerstrittenen wieder, und Paweł versprach, das Mädchen fortan in Ruhe zu lassen. Sie gingen oder torkelten vielmehr aus dem Lokal, kurz bevor es geschlossen wurde, daß heißt kurz vor Mitternacht. Erlich hatte keinen Zug nach Brzeg mehr und beschloß, in einem Arbeiterwohnheim zu übernachten. Er rechnete damit, daß der Pförtner sich seiner erinnern würde und ein Bekannter ihm vielleicht ein Eckchen seines Bettes abtrat. Er, Jurkiewicz, wohnte am anderen Ende der Stadt, so daß sie sich gleich vor der Kneipe getrennt hatten. Auf die Frage, ob er mit einer freiwilligen Untersuchung seiner Blutgruppe einverstanden sei, gab er sofort seine Einwilligung. Auch gegen eine Untersuchung durch den Milizarzt hatte er nichts einzuwenden. Das Ergebnis war negativ. Jurkiewicz war völlig gesund, an seinem Körper waren nicht die geringsten Verletzungen 176
oder auch nur Kratzer festzustellen. Er hatte die gleiche Blutgruppe wie Erlich, also Null, und zwar mit einem positiven Rh-Wert. Nur durch eine sehr detaillierte Untersuchung hätten die Unterschiede zu Erlichs Blut nachgewiesen werden können. Doch das war nicht erforderlich. Über Jan Dobas sagte Jurkiewicz aus, daß er schon früher das Lokal verlassen und nicht einmal seinen Anteil bezahlt habe. Diesen Punkt konnte die Serviererin nicht bestätigen, aber sie bestritt nicht, daß es so gewesen sein konnte. Das Lokal sollte bald geschlossen werden, und sie achtete mehr darauf, daß sich nicht jemand aus dem Staube machte, ohne zu bezahlen, als auf einzelne Gäste. Erinnern konnte sie sich jedoch daran, daß Jurkiewicz die Rechnung bezahlt und der andere junge Mann am Tisch ihm irgendwelche Scheine zugeschoben hatte. Man schickte nach Jan Dobas. Zu Hause traf ihn die Miliz nicht an. Bei einer Besichtigung der Wohnung fand man weder an der Bettwäsche noch an irgendwelcher Kleidung Blutflecke. Es konnte auch nicht festgestellt werden, daß die Bettwäsche oder Kleidungsstücke gewaschen oder gereinigt worden wären. Dobas’ Mutter erklärte, ihr Sohn sei in Urlaub gefahren. Als Abreisetag gab sie den Morgen des Tages an, an dem Erlich umgebracht worden war. Seine Adresse kannte sie nicht. Der Besitzer der privaten Autowerkstatt bestätigte diese Aussage. Der Oktober versprach sehr ruhig zu werden, so daß er die Gelegenheit genutzt und zweien seiner Mitarbeiter Urlaub gegeben habe. Einer von ihnen war Jan Dobas. Zum letztenmal habe er ihn am Morgen des ersten Oktober gesehen, als er gekommen war, um sich den fälligen Lohn abzuholen. An diesem Tag war auch Erlich ums Leben gekommen. Nach Meinung der Miliz sagte der Werkstattbesitzer die Wahrheit. Er hätte es nicht gewagt, falsche Aussagen 177
zu machen. Das hätte – außer der im Gesetzbuch vorgesehenen Strafe – auch zum Entzug der Konzession führen können. Der Werkstattbesitzer war sich bestimmt im klaren darüber, daß die Miliz ihn im Zusammenhang mit dem Zwischenfall vor dem Kämmereigebäude nach Jan Dobas befragte. Davon sprach ja die ganze Stadt. Unterdessen war Włodzimierz Kowalewski aus Szczecin zurückgekehrt. Er hatte sich mit verbundenem Arm beim Arzt vorgestellt und war für fünf Tage krank geschrieben worden. Die Miliz befragte sofort den Arzt. Der Arzt sagte aus, Kowalewski habe eine lange Schnittwunde am linken Unterarm gehabt. Das sei nicht weiter gefährlich, doch man könne mit einer solchen Verletzung nicht einen schweren Laster mit zwei Anhängern fahren, Kowalewski hatte ihm erklärt, er habe sich noch in Szczecin bei einer kleineren Reparatur am Wagen verletzt. Dort habe er auch erste Hilfe erhalten. „Könnte diese Verletzung auch von einem Messer herrühren?“ erkundigte sich der Beamte, der das Gespräch mit dem Arzt führte. Der Arzt lächelte. „Alle Wunden, die mit einem scharfen Gegenstand zugefügt werden, ähneln einander. Kowalewski hat mir erzählt, daß er sich die Hand verletzt hat, weil er ausgerutscht ist und dabei einen spitzen Gegenstand gestreift hat. Ebensogut kann er ein Messer gestreift haben, das jemand gehalten hat.“ Der Oberleutnant, der die Ermittlungen leitete, wollte den Fahrer zum Kreisamt bestellen und ihn nach der Vernehmung bis zur endgültigen Klärung der Angelegenheit eventuell festnehmen. Doch Oberleutnant Śliwińska konnte ihren Kollegen davon abbringen; sie überzeugte ihn davon, daß der Verdacht, der auf Włodzimierz Kowalewski lastete, schwerwiegender war und eine vorzeitige Verhaftung die weiteren Ermittlungen gefährden konnte. Barbara war der Meinung, daß vor 178
allen Dingen die Fahndung nach Jan Dobas fortgesetzt werden müßte, und erst, wenn sich herausstellte, daß er mit dem Mord an Erlich nichts zu tun hatte, sollte man sich den ehemaligen Häftling vornehmen. Die Suche nach Jan Dobas blieb vorläufig ergebnislos. Einen Ferienscheck hatte er nicht erhalten, aber auch bei seinen Verwandten auf dem Lande fand man ihn nicht. Ebensowenig hielt er sich in der Wohnung eines seiner Freunde versteckt. Nun zog man Erkundigungen nach dem Mädchen ein, das Anlaß zu dem Streit zwischen ihm und Erlich gegeben hatte. Elżbieta Węgiełek arbeitete im hiesigen Krankenhaus als Krankenschwester. In jener Nacht hatte sie Dienst gehabt. Eine diskrete Observation des Zimmers, das sie bewohnte, ergab ebenfalls nicht, daß sich dort jemand außer der Inhaberin aufhalten könnte. Trotzdem wurde weiterhin jeder Schritt der Krankenschwester überwacht. An ihrem nächsten freien Tag verließ Elżbieta Węgiełek das Krankenhaus mit einem ansehnlichen Päckchen unter dem Arm und begab sich zum Bahnhof. Unterwegs schaute sie sich mehrmals um, als wollte sie sich davon überzeugen, ob ihr jemand folgte. Auf dem Bahnhof kaufte sie eine Fahrkarte nach Głuchołazy. Im nächsten Waggon fuhren zwei Kriminalisten mit. Nach ihrer Ankunft am Bestimmungsort verhielt sich die Węgiełek noch merkwürdiger. Zunächst ging sie in den Wartesaal und saß dort fast zwei Stunden. Offenbar kam sie jedoch zu dem Schluß, daß sie völlig sicher sei, denn sie verließ endlich den Bahnhof und ging zu Fuß zu dem fünf Kilometer von Głuchołazy entfernten Dorf Smolarnia. Die Kriminalisten gerieten nun in eine schwierige Lage. Einerseits durften sie die Krankenschwester nicht aus den Augen verlieren, und andererseits müßten sie darauf achten, daß sie die ei179
gene Anwesenheit nicht verrieten. Es ist nicht einfach, jemanden auf einer leeren Landstraße zu beobachten. Elżbieta Węgiełek ging nicht bis zum Dorf selbst. Sie verließ die Landstraße, zu deren beiden Seiten Smolarnia lag, und folgte einem Weg, der hinter den Häusern entlangführte. Dort hielt sie wieder längere Zeit Ausschau, ob sich jemand für sie interessierte. Sie bemerkte jedoch nicht die Kriminalisten, die ziemlich weit entfernt von ihr hinter einem wilden Rosengebüsch lagen. Beruhigt setzte sie ihren Weg fort. An den Zäunen entlang lief sie zu einem großen, erst kürzlich renovierten Haus und verschwand darin. Die Kriminalisten berieten eine Weile, wie sie sich verhalten sollten. Sie kamen zu dem Schluß, daß es keinen Zweck hatte, noch länger zu warten. Die Krankenschwester verhielt sich so, als hätte sie etwas auf dem Gewissen oder als besuchte sie jemanden, der sich versteckte. Dieser Jemand konnte nur Jan Dobas sein. Als die Kriminalisten Leon Samsels Haus betraten, trafen sie in einem der Zimmer Elżbieta Węgiełek dabei an, wie sie einem jungen Mann, der im Bett lag, fachgerecht die Verbände wechselte. Als sie die Eintretenden erblickte, brach sie in Tränen aus. Sie begriff sofort, daß das Spiel aus war und daß sie es gewesen war, die die Beamten zu dem Versteck geführt hatte. Noch am selben Tag wurde Jan Dobas verhaftet und in das Krankenhaus von Nysa eingeliefert. Die Verletzungen erwiesen sich als ziemlich schwer, trotzdem erklärte sich der Arzt nach den notwendigen Eingriffen damit einverstanden, daß der Patient von der Miliz verhört wurde. Dobas gab die Schlägerei mit Paweł Erlich zu. Er bestritt jedoch, seinen Kumpel mit Absicht getötet zu haben. Den Ablauf der Ereignisse stellte er folgendermaßen dar: „Als ich die Gaststätte verließ, war es kurz nach zehn. Maciek Jurkiewicz und Paweł Erlich blieben 180
noch an dem Tisch sitzen. Ich bin früher gegangen, weil ich noch Elka, das ist Elżbieta Węgiełek, treffen wollte. Ich hatte zwei Wochen Urlaub, den ich bei der Familie meiner Mutter auf dem Lande verbringen wollte. Deshalb ging ich noch bei meinem Mädchen vorbei, um mich zu verabschieden. Zu Hause traf ich sie nicht an. Sie wohnt am Markt, fast gegenüber dem Kämmereigebäude. Ich beschloß, auf sie zu warten, und setzte mich auf die Treppe. Dort schlief ich ein. Laute Schritte machten mich wach. Es war Paweł Erlich, der da die Treppe heraufkam. Bestimmt wollte er auch zu Elka. Ich machte ihm Vorwürfe, daß er meinem Mädchen wieder hinterherstieg. In der Gaststätte hatten wir doch darauf getrunken, daß wir uns vertragen, und Erlich hatte geschworen, sie von nun an in Ruhe zu lassen. Während unseres Streits öffnete einer der Hausbewohner die Tür und drohte, die Miliz zu rufen, wenn wir nicht gleich verschwinden. Wir gingen hinunter auf die Straße und stritten dort weiter, bis wir vor das Kämmereigebäude kamen. Hier begannen wir uns zu prügeln. Ich war stärker und warf Paweł zu Boden. Erlich sprang auf und ging mit dem Messer auf mich los. Er traf mich mehrere Male. Da habe ich, um mich zu verteidigen, auch das Messer gezogen. Ich wollte ihn nicht töten. Ich habe nur einmal zugestoßen. Paweł stürzte zu Boden und gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Erschrocken lief ich davon. Nun habe ich gesehen, daß ich ziemlich verletzt bin und stark blute. Deshalb bin ich zum Krankenhaus gerannt. Ich habe Elka herausgerufen und ihr alles erzählt. Sie hat mir die Wunden verbunden und mir einen Brief an ihren Verwandten, Leon Samsel, mitgegeben, damit er mich für ein paar Tage aufnimmt. Als ich bei Herrn Samsel ankam, fühlte ich mich so schlecht, daß ich mich hinlegen mußte. Leon hat seine Verwandte benachrichtigt und ihr mitgeteilt, wie es um mich steht. Daraufhin 181
ist sie gekommen, um mich wieder zu verbinden. Samsel wußte nicht, daß ich Erlich getötet hatte. Ich habe ihm erzählt, daß mich ein paar Jungs bei einer Hochzeit so zugerichtet haben.“ Elżbieta Węgiełek und Leon Samsel bestätigten diese Aussage. Natürlich versuchte jeder von ihnen, seinen Anteil an der Sache möglichst herunterzuspielen. Elżbieta behauptete, daß sie zunächst nicht wußte, daß Paweł Erlich tot war. Janek hatte ihr erzählt, daß er von Unbekannten überfallen worden war, die mit dem Messer auf ihn losgegangen sind. Er hatte sich ebenfalls mit dem Messer verteidigt, deshalb wollte er nicht, daß die Miliz von der Schlägerei erfährt. Erst am nächsten Morgen hatte die Krankenschwester von Pawełs Tod erfahren. Sie war jedoch der Meinung, daß sie ihrem Verlobten helfen müßte. Leon Samsel sagte aus, daß seiner Meinung nach Schlägereien auf Hochzeiten eine normale Sache sind, und die Miliz nichts damit zu schaffen hat, wenn sich die jungen Burschen mal ein bißchen pieken. Hauptsache, es bleibt im Rahmen. Dobas hat er einfach aus Gutmütigkeit versteckt. Wozu sollte die Miliz ihn erst vors Gericht schleppen? Er behauptete auch entschieden, daß er vom Tode Paweł Erlichs, den er übrigens gar nicht kannte, nichts gehört hatte. Hätte er gewußt, daß sein Gast nicht bei einer Hochzeit verletzt worden ist, sondern bei einer Schlägerei in der Stadt, und daß er seinen Gegner getötet hat, dann hätte er als erster Meldung erstattet. „Für uns ist die Angelegenheit geklärt“, stellte Oberst Piotrowski fest, nachdem er sich den Bericht seiner Mitarbeiter angehört hatte. „Nun sollen sich der Herr Staatsanwalt und die Herren Richter mit dem Messerstecher beschäftigen. Das Gericht wird entscheiden, ob Jan Dobas sich nur verteidigte, oder ob er die Schlägerei hervorgerufen hat und als erster mit dem Messer in der 182
Hand auf seinen Rivalen losgegangen ist. Wer weiß, wie es wirklich gewesen ist.“ „Ich glaube schon, daß Dobas die Wahrheit sagt und Paweł Erlich ihn angegriffen hat“, meinte Oberleutnant Krupniok. „Dafür sprechen die Tatsachen. Dobas hat gleich vier Schnittwunden. Erlich hat nur einen Stich abbekommen.“ „Dafür mitten ins Herz. Wir haben unsere Pflicht getan und den Täter gefunden“, schloß der Oberst die Besprechung. „Übergeben Sie morgen früh die Akte der Staatsanwaltschaft. Und Sie, Genossin, sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?“ „Ich freue mich aufrichtig“, erwiderte Oberleutnant Śliwińska, „daß dieser Fall nichts mit unserem ‚AbcMörder‘ zu tun hat. Dieses Verbrechen hat so gar nicht zu den übrigen gepaßt, und es hätte mir auch die Beweisführung erschwert, daß der Täter die übrigen Morde begangen hat.“ „Also doch Kowalewski?“ fragte der Oberst interessiert. „Wahrscheinlich. Alles deutet darauf hin.“ „Und wie steht’s? Hat man Ihnen das erforderliche Material zusammengetragen?“ „Ich wollte mich gerade für die erwiesene Hilfe bedanken, Genosse Oberst. Es wurde festgestellt, daß am vierundzwanzigsten Juni und am zweiten August Włodzimierz Kowalewski Zabiegowo beliefert hat. Im Juni ist er erst spät in der Nacht von seiner Fahrt zurückgekommen. Er hat berichtet, daß er eine Panne hatte und mehrere Stunden auf der Chaussee den Wagen reparieren mußte. So steht es im Fahrtenbuch. Am zweiten August hingegen ist er schon am frühen Nachmittag nach Nysa zurückgekehrt. Und ausgerechnet am Abend des vierundzwanzigsten Juni wurde Adamiak umgebracht, während am Morgen des zweiten August Czerwonomiejski ermordet wurde.“ „Und die übrigen Verbrechen?“ 183
„Maria Borzęcka ist am siebzehnten Juli ums Leben gekommen. Adam Delkot wurde in der Nacht vom fünfzehnten zum sechzehnten August ermordet. An beiden Tagen hatte Kowalewski frei. Abgesehen davon sind beide Verbrechen nachts verübt worden. Von Nysa bis Zabiegowo ist es nicht allzu weit, so daß dies kein Hindernis für den Verbrecher gewesen wäre.“ „Das ist ja eine ganze Menge an merkwürdigen Zufällen“, meinte der Oberst. „Sollen wir ihn nun verhaften? Ich nehme an, daß die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung geben würde. Wir könnten euch dann den Verdächtigen nach Zabiegowo überstellen.“ „Darüber möchte ich lieber nicht selber entscheiden. Ich fürchte, daß wir ausschließlich über Indizien verfügen. In einer Angelegenheit wie dieser müssen wir unwiderlegbare Beweise haben. Einen Indizienprozeß können wir vor Gericht nicht riskieren.“ „Immerhin handelt es sich um ernst zu nehmende Indizien. Womit können wir Ihnen noch helfen?“ „Vorläufig bedanke ich mich für alles. Aber in Zukunft werden wir Ihre Hilfe bestimmt noch brauchen. Schon bei der Durchsuchung von Kowalewskis Wohnung. Vielleicht wenden wir uns auch an Sie wegen der Observation des Verdächtigen.“ „Ich sehe, daß Sie es nicht eilig haben, Kowalewski festzunehmen?“ Aus Piotrowskis Stimme war eine gewisse Verwunderung herauszuhören. „Er wird uns nicht davonlaufen. Ich glaube auch nicht“, fuhr Barbara fort, „daß er versucht, weitere Verbrechen zu begehen. Wir sind eigentlich nicht durch das mühselige Sammeln von belastendem Material auf ihn gekommen, sondern durch logisches Denken. Kein Wunder also, daß wir jetzt keinen Fehler machen möchten. Es gibt noch eine ganze Reihe von Fragen zu lösen, ehe wir sicher sein können, daß wir uns auf dem richtigen Weg befinden.“ 184
„Sie haben recht, da ich jedoch unseren Stach Zajączkowski kenne, kann ich mich nicht genug darüber wundern, daß er diese Art, die Ermittlungen zu führen, akzeptiert hat. Bisher hat er nicht gerade als Muster für Beherrschung und Geduld gegolten. Es muß doch einen Grund dafür geben, daß er sich in letzter Zeit so geändert hat.“ Bei diesen Worten sah Oberst Piotrowski Barbara so merkwürdig an, daß sie unter diesem Blick errötete.
16. KAPITEL Wann laßt ihr mich endlich in Ruhe? Major Zajączkowski hatte sich jedoch nicht in dem Maße geändert, wie das seine Freunde in Nysa annahmen. Nachdem er sich den Bericht von Oberleutnant Barbara Śliwińska angehört hatte, traf er seine Entscheidung. „Gut, daß Sie mit der Festnahme Kowalewskis in Nysa nicht einverstanden waren. Wir machen das bei der nächsten Gelegenheit selbst.“ „Ich denke, wir sollten damit noch etwas warten“, widersprach Barbara. „Im Augenblick haben wir nicht einen einzigen unwiderlegbaren Beweis seiner Schuld.“ „Worauf wollen wir noch warten? Mehr erfahren wir nicht. Wir müssen überraschend vorgehen. Am besten, wir holen ihn hier vom Wagen herunter, und unterdessen, durchsucht die Miliz in Nysa offiziell Kowalewskis Wohnung. Er ist sicher, daß wir ihn nicht verdächtigen. Wenn wir ihn in die Mangel nehmen, wird er schon weich werden. Und außerdem finden wir bestimmt die Pistole. Das wird dieser unwiderlegbare Beweis sein.“ Barbara wollte einwenden, daß man einen so kleinen Gegenstand wie eine Pistole leicht verstecken kann. Und zwar so, daß kein Mensch imstande wäre, sie jemals zu 185
finden. Sie verzichtete jedoch auf den überflüssigen Wortwechsel. Den Major würde sie ohnehin nicht überzeugen. Wozu sich also mit dem Vorgesetzten anlegen? „Die Pistole finden wir bestimmt im Wagen“, hing der Major seinen Träumen nach. „So ein Bandit macht keinen Schritt ohne sein Schießeisen. Man muß es nur klug anfangen, damit er keinen Gebrauch mehr davon machen kann.“ Die Festnahme Kowalewskis wurde recht geschickt inszeniert. Als kurz nach dem Gespräch zwischen Zajączkowski und Barbara der Lkw der Konsumgenossenschaft Zabiegowo verließ, stieß er auf der Ausfallstraße auf eine Verkehrsstreife. „Ihre Papiere bitte“, verlangte Oberleutnant Andrzej Stefański. Kowalewski reichte ihm Fahrzeugpapiere, Führerschein, Personalausweis und Fahrtenbuch. „In Ordnung“, stellte der Offizier fest. „Steigen Sie bitte aus. Wir wollen Licht und Bremsen überprüfen.“ Der Fahrer rückte zur Seite, auf den Nebensitz. Seinen Platz nahm Stefański ein. Er hantierte mit den Schaltern. „Auch das ist in Ordnung“, sagte er. „Bei mir ist immer alles in Ordnung.“ Stefański ließ den Motor an und fuhr ein Stück vor. Dann trat er auf die Bremse. „Ein bißchen schwach“, tadelte er. „Aber, Herr Oberleutnant, der Wagen hat doch sofort gestanden!“ „Eben nicht. Wenn es mal bergab geht und Sie plötzlich bremsen müssen, sitzen Sie im nächsten Augenblick auf Ihrem Vordermann oder im Graben.“ „Die Bremsen sind in Ordnung“, verteidigte sich Kowalewski. „Am besten, wir fahren zum Kreisamt und überprüfen sie. Dort haben wir die entsprechenden Geräte. Das 186
dauert höchstens zehn Minuten. Ich bin der Meinung, daß Sie mit solchen Bremsen die Fahrt nicht fortsetzen können.“ „Schön, fahren wir zum Kreisamt.“ Kowalewski war sich seiner Sache sicher. „Sie können überprüfen, was Sie wollen.“ Sie fuhren vor das Kreisamt. „Kommen Sie mit herauf“, sagte Stefański, „ich muß einen Auftrag ausschreiben.“ Als Kowalewski das Zimmer betrat, in dem gewöhnlich die Sekretärin, Fräulein Helenka, residierte, durchsuchten zwei Milizionäre rasch und geschickt den erstaunten und völlig überraschten Fahrer. „Er hat keine Waffe bei sich“, stellte einer der Milizionäre fest. „Was soll das?“ rief Kowalewski entrüstet. „Gehen Sie weiter.“ Stefański wies auf das Zimmer des Majors. Dort warteten bereits Zajączkowski, Śliwińska und Fräulein Helenka mit ihrer Schreibmaschine. „Setzen Sie sich.“ Der Major wies auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. „Was ist los, Herr Major? Ihr seid über mich hergefallen, als wäre ich irgendein Bandit. Was soll das bedeuten?“ „Wir wollen uns mit Ihnen unterhalten. Bitte protokollieren Sie!“ Diese Wort waren an Helenka gerichtet. „Name, Vorname, Wohnort, Name des Vaters, Familienstand“, kamen die stereotypen Fragen. Kowalewski antwortete ruhig und sachlich. „Sind Sie vorbestraft?“ „Das wissen Sie doch, Herr Major. Wann laßt ihr mich endlich in Ruhe? Ich war damals jung und dumm. Habe mich von Älteren überreden lassen. Dafür habe ich meine Jahre abgesessen, aber ihr haltet mich immer noch für einen Verbrecher. Denken Sie, ich weiß nicht, 187
daß ihr in Poznań und später hier in der Nähe, in Nysa, hinter mir herspioniert und jeden meiner Schritte überwacht habt? Erst vor kurzem, als sich bei uns zwei Messerstecher geprügelt haben, ist die Miliz gleich zum Stützpunkt gekommen und hat herumgeschnüffelt, was Kowalewski an diesem Abend gemacht hat!“ „Beruhigen Sie sich und antworten Sie auf meine Fragen.“ „Ja, vorbestraft“, antwortete der Fahrer wütend. „Fünfzehn Jahre nach Artikel zweihundertfünfundzwanzig des Strafgesetzbuches. Des alten.“ „Sie kennen sich ja in den Rechtsvorschriften gut aus.“ „Wenn man dauernd mit euch zu tun hat“, revanchierte sich Kowalewski. „Was haben Sie am vierundzwanzigsten Juni dieses Jahres gemacht?“ „Keine Ahnung. Wahrscheinlich war ich irgendwo mit einer Lieferung unterwegs. Erkundigen Sie sich doch bei der Genossenschaft.“ „Das haben wir getan. Sie haben Mehl, Nudeln und Konserven nach Zabiegowo gebracht. Nach Nysa sind Sie erst am späten Abend zurückgekehrt.“ Der Fahrer überlegte eine Weile. „Das stimmt“, antwortete er, „ich habe vier Stunden lang den Wagen repariert. Kaum daß ich aus der Stadt raus war, ging es schon los. Ich habe mit Mühe und Not den nächsten Parkplatz erreicht.“ „Als der Wagen auf dem Parkplatz stand, waren Sie nicht in seiner Nähe.“ „Ich mußte nach Zabiegowo zurückkehren. Die Einspritzpumpe war im Eimer. Die läßt sich auf einem Parkplatz nicht reparieren. Eine Reservepumpe hatte ich nicht im Wagen. Und kaufen konnte ich in Zabiegowo auch keine. Sie mußte also repariert werden.“ „Wer hat sie Ihnen repariert?“ 188
„Mietkowski.“ „Der Werkstattbesitzer Mietkowski hat ausgesagt, daß Sie nicht dabei waren, als er sie reparierte.“ „Eine Einspritzpumpe wird eigentlich nicht repariert, sondern ausgewechselt. Mietkowski hat sie mir nur deshalb repariert, weil er mich kennt. Ich wußte, daß er mindestens drei Stunden daran herumfummeln wird, und bin ins Kino gegangen.“ „Was haben sie damals gespielt? Welchen Film haben Sie gesehen?“ „ ‚Das andere Gesicht des Taufpaten‘.“ „Sie sind erst in die Werkstatt zurückgekommen, als es schon dunkel wurde.“ „Der Film war nach neun zu Ende. Danach bin ich noch am Bahnhof vorbeigegangen und habe am Büfett etwas gegessen. Ist das etwa verboten?“ „Sind Sie im Kino jemandem begegnet? Oder später auf dem Bahnhof?“ „Ich kann mich nicht erinnern. Was fragen Sie mich denn so aus, Herr Major, als ob ich jemanden umgebracht hätte?“ „Es wäre nicht das erstemal gewesen.“ „Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich damals jung und dumm war. Dafür habe ich meine Strafe bekommen. Warum versuchen Sie, mir was anzuhängen?“ „Ich versuche nicht, Ihnen etwas anzuhängen, aber an demselben Tag, an dem Sie die Pumpe repariert und so plötzlich Ihre Vorliebe für das Kino entdeckt haben, um die gleiche Zeit wurde Wincenty Adamiak ermordet.“ Kowalewski lachte laut auf. „Ihr seid ja verrückt. Warum sollte ich diesen Strolch umbringen? Ich kannte ihn ja überhaupt nicht.“ „Trotzdem nennen Sie ihn einen Strolch. Merkwürdig.“ „Alle haben ihn so genannt. Sogar die Milizionäre, die ihn am Fluß gefunden haben.“ 189
„Auch das wissen Sie?“ „Wie sollte ich es nicht wissen? Die Zeitungen haben darüber geschrieben, und die ganze Stadt hat von nichts anderem geredet.“ „Hatten Sie mal eine Auseinandersetzung mit Adamiak?“ „Nein. Einmal wollte mir irgend so ein Spitzbube eine Flasche oder auch eine ganze Kiste Schnaps stehlen. Ich habe ihn dabei erwischt, wie er auf den Wagen geklettert ist. Da hab’ ich ihm eine ’runtergehauen, und er ist davongelaufen. Erst später hat mir jemand erzählt, daß es Adamiak war.“ „Kannten Sie Maria Borzęcka?“ „Nein.“ „Władysław Czerwonomiejski?“ „Auch nicht.“ „Adam Delkot?“ Kowalewski schüttelte lachend den Kopf. „Was soll der Unsinn? Glauben Sie etwa, daß ich dieser ‚Abc-Mörder‘ bin? Schlagen Sie sich das aus dem Kopf.“ „Und Sie, Kowalewski, sollten mit dem Lügen aufhören.“ „Ich lüge nicht.“ „Sie waren am zweiten August in Zabiegowo.“ „Schon möglich. Sie werden es besser wissen.“ „Ja, wir wissen es. Am Morgen haben Sie den Laden der Konsumgenossenschaft beliefert, und nach zwölf sind Sie nach Nysa zurückgefahren. So steht es in Ihrem Fahrtenbuch.“ „Durchaus möglich.“ „Und wie es der Zufall so will, wurde an diesem Tag Władysław Czerwonomiejski ermordet.“ „Ich habe schon einmal gesagt, daß ich ihn weder gekannt noch jemals gesehen habe.“ „Ach ja?“ „Ich kann es beschwören.“ 190
„Schwören Sie lieber nicht. Stanisław Topolewski kennen Sie auch nicht?“ Über das ausdrucksvolle Gesicht des Kraftfahrers huschte ein Schatten. „Diesen Lump habe ich gekannt. Sie wissen ja, daß er es war, der mich damals in Wrocław zu der Sache überredet hat. Und dann hat er mich bei der Miliz angezeigt. Aber das war vor achtundzwanzig Jahren.“ „Sie haben lange auf eine Gelegenheit zur Rache gewartet. Endlich war es soweit.“ „Ich verstehe nicht.“ „Hören Sie, Kowalewski, versuchen Sie nicht, uns für dumm zu verkaufen. Wir wissen es doch. Für Sie wird es am besten sein, wenn Sie alles zugeben. Das Gericht berücksichtigt das immer. Und hier gibt es mildernde Umstände. Ich sehe sie selbst. Dieser Mensch war schuld daran, daß Sie vierzehn Jahre im Gefängnis zugebracht haben. Und hinterher hatten Sie es auch nicht leicht. Und die anderen …“ Der Major hielt inne, um nicht zuviel zu sagen. „Sie tun mir wirklich leid. Versuchen Sie, Ihren Kopf zu retten.“ „Wovon reden Sie?“ „Sie wollen mir doch nicht ins Gesicht sagen, daß Sie es nicht wissen?“ „Was soll ich wissen? Herr Major, spielen Sie doch nicht Blindekuh mit mir!“ „Sie wußten nicht, daß Stanisław Topolewski Czerwonomiejski ist?“ Maßloses Erstaunen malte sich auf dem Gesicht des Vernommenen. Einen Augenblick später begriff er jedoch, in welche Situation er geraten war. Das sonnengebräunte Gesicht des Kraftfahrers überzog sich mit tödlicher Blässe. Auf die Stirn traten ihm Schweißtropfen. „Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, beim Leben meiner Kinder schwöre ich, daß ich es nicht wußte.“ 191
„In diesem Zimmer haben schon viele Menschen geschworen. Und gelogen.“ „Ich sage die Wahrheit. Ich habe ihn nicht umgebracht. Aber wenn ich gewußt hätte, daß er es ist, hätte ich für mich nicht bürgen können. Dieser Mensch hat den zehnfachen Tod verdient. Wie war es möglich, daß er hier so ruhig leben konnte, ohne daß die Miliz ihm etwas getan hat?“ „Nach zwanzig Jahren war die Sache verjährt, und erst dann ist er aus dem Ausland zurückgekehrt.“ „Ich habe ihn nicht umgebracht.“ Die Stimme des Riesen klang wieder normal. Dieser Mensch hatte eiserne Nerven, und wenn er sich verstellte, so war er ein genialer Schauspieler. Zajączkowski entnahm dem Schreibtisch eine Reihe von Fotografien, auf denen Szenen aus dem Gewächshaus dargestellt waren. Einige Aufnahmen zeigten die Gestalt des erschossenen Gärtners, und auf einer Großaufnahme war sein Kopf festgehalten. Kowalewski betrachtete die Fotografien ohne ein Anzeichen von Erregung. „Ja“, bestätigte er, „das ist er. Natürlich hat er sich in den achtundzwanzig Jahren verändert. Das Haar ist schütterer geworden und an den Schläfen ergraut. Früher hatte er ganz dunkles, krauses Haar. Auf dem Schwarzmarkt nannten sie ihn ‚Karakulschaf ‘. Auch die Augen liegen jetzt tiefer, und das Gesicht scheint länger zu sein. Und wie entsetzt er dreinschaut. Er wußte, daß er im nächsten Augenblick sterben muß. Ist ihm recht geschehen. Für die Rotwalds und uns beide. Er hat sich so verändert, daß ich ihn auf der Straße wahrscheinlich gar nicht erkannt hätte.“ Er schob die auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Fotografien ruhig zusammen und gab sie dem Major zurück. „Ist ihm recht geschehen, dem Halunken“, wiederholte er, „aber ich habe ihn nicht umgebracht.“ 192
„Haben Sie von Maria Borzęcka Geld geliehen?“ „Ich erkläre“, sagte Kowalewski deutlich, jede Silbe betonend, „daß ich eine Maria Borzęcka nicht kenne. Natürlich weiß ich, daß eine Frau dieses Namens in Zabiegowo ermordet wurde, aber ich habe mit diesem Verbrechen nichts zu tun.“ „Wo waren Sie am siebzehnten Juli?“ „Das weiß ich nicht mehr. Sehen Sie im Fahrtenbuch nach.“ „Im Fahrtenbuch ist keine Eintragung.“ „Jetzt erinnere ich mich. Ich hatte damals meinen freien Tag und bin nach Otmuchów angeln gefahren. Der Bootsverleiher dort kennt mich gut. Bei ihm habe ich den Angelkahn ausgeliehen.“ „Nachts haben Sie nicht geangelt.“ „Natürlich nicht.“ „Die Borzęcka ist nach zehn Uhr abends ermordet worden. Sie hatten Zeit genug, um auf dem Rückweg von Otmuchów einen Abstecher nach Zabiegowo zu machen und diese Frau zu töten.“ „Wozu? Ich bin doch nicht verrückt und morde mir völlig unbekannte Leute! Ich habe überhaupt niemanden ermordet. Auch damals in Wrocław nicht. Das wissen Sie sehr gut, Herr Major. Das Gericht hat uns von der Mordanklage freigesprochen. Wir wurden nur wegen Beihilfe verurteilt. Gemordet hat Topolewski.“ „Kennen Sie die Stadt Strasbourg?“ „Ja, sie liegt am Rhein. Über Strasbourg sind wir immer gefahren, wenn es nach Frankreich ging. Ich habe damals die Auslandsroute gefahren. Manchmal haben wir in dieser Stadt eine neue Ladung genommen.“ „Sind Sie auch nach Lyon gekommen?“ „Das liegt auf dem Weg nach Marseille. In Lyon haben wir manchmal Seidenstoffe geladen.“ „Wo sind Sie Czerwonomiejski zum erstenmal begegnet? In Strasbourg oder in Lyon? In welchem Jahr?“ 193
„Ich bin ihm überhaupt nicht begegnet. Nicht einmal hier, in Zabiegowo.“ Das Verhör zog sich in die Länge. Auf jede Frage antwortete Włodzimierz Kowalewski rasch, ohne zu überlegen, kurz und präzise. Er ließ sich in keine Falle locken und stritt entschieden jede Beteiligung an den Morden in Zabiegowo ab. Die Milizionäre hatten den Lkw genau durchsucht, aber nichts Verdächtiges gefunden. Und aus Nysa kam ein Anruf, daß eine mehrstündige Haussuchung in Kowalewkis Wohnung ergebnislos geblieben war. Die Pistole, mit der Major Zajączkowski so gerechnet hatte, wurde nicht gefunden. „Adam Delkot, woher kannten Sie den?“ „Ich kannte ihn überhaupt nicht.“ „Wollen Sie behaupten, daß Sie von ihm überhaupt nichts gehört haben?“ „Gehört habe ich von ihm. Er wurde auf den Gleisen erschossen.“ „Was haben Sie an jenem Tag und in jener Nacht gemacht?“ „In welcher?“ „Tun Sie nicht so ahnungslos. Am fünfzehnten August?“ „Da hatte ich Urlaub. Vom vierzehnten bis zum achtundzwanzigsten August war ich in Zakopane, in dem Ferienheim ‚Skalnica‘, Straße des Fünfzehnten Dezember. Ich glaube, ich habe noch den Ferienscheck …“ Kowalewski holte die Brieftasche hervor und fand auch wirklich die Einweisung. Lächelnd legte er sie vor Major Zajączkowski auf den Schreibtisch. „Das läßt sich sehr leicht überprüfen“, sagte er. „Ich habe fünfzig Zeugen. Angekommen bin ich in Zakopane am vierzehnten August, genau um die Mittagszeit, und gewohnt habe ich in einem Dreibettzimmer. Zu Hause habe ich noch die Namen und Adressen der beiden an194
deren Kollegen, weil wir uns gegenseitig geknipst haben und dann die Fotos austauschen wollten.“ „Wir werden das überprüfen“, sagte Zajączkowski und brach damit das Verhör ab. Kowalewski wurde hinuntergeführt. „Was halten Sie von dem Burschen?“ fragte der Major Oberleutnant Śliwińska. „Ein Fehlgriff“, erwiderte sie kurz. „Sie hatten recht. Ich war ein bißchen zu voreilig mit dieser Festnahme. Das hätte besser vorbereitet werden müssen. Nun hat er sich erst einmal herausgewunden. Aber wenn er ein paar Tage sitzt, wird er schon weich werden. Das mit Zakopane war natürlich ein kluger Schachzug. Aber helfen wird es ihm nicht viel. Delkot wurde nach ein Uhr nachts ermordet. Es genügte also, um neun Uhr das Ferienheim zu verlassen und unter dem Vorwand irgendeines Vergnügens nach Zabiegowo zu fahren. Für einen guten Fahrer ist das auf der leeren Chaussee eine Sache von zwei Stunden.“ „Mit Kowalewskis altem Trabant?“ „Die Trabis sind sehr gute Wägelchen. Sie machen ohne weiteres ihre hundert Kilometer und mehr. Um drei Uhr morgens konnte er schon wieder in seinem Ferienbett liegen. Dieser Kowalewski fühlt sich zu sicher.“ „Er darf sich sicher fühlen, weil er unschuldig ist. Da läßt sich nichts machen. Wir haben einen Fehlgriff getan und müssen nun weitersuchen.“ „Meinen Sie wirklich?“ „Ich bin fest davon überzeugt. Seit dem Augenblick, als ich diesen Mann sah.“ „Weshalb?“ „Sie haben sicherlich nicht an die ballistische Expertise gedacht, Genosse Major. Darin wird festgestellt, daß Czerwonomiejski von einer Person erschossen wurde, die wesentlich kleiner war als er. Darauf wies eindeutig die Richtung des Geschosses im Körper des Toten hin. 195
Laut Protokoll war der Täter hundertfünfundsechzig bis hundertsiebzig Zentimeter groß. Der Gärtner war ein hochgewachsener Mann, aber nicht im Vergleich zu Kowalewski. Der Fahrer ist mindestens einsneunzig groß. Auch im Fall Adam Delkot wurde festgestellt, wenn auch nicht mehr mit dieser Eindeutigkeit, daß der Schütze höchstens von mittelgroßer Gestalt war.“ „Immerhin hätte er aus der Hüfte schießen können.“ „Er hätte“, stimmte ihm Barbara zu, „aber er wird es kaum getan haben. Sowohl Czerwonomiejski als auch Adam Delkot sind von einer einzigen Kugel getötet worden. Der Täter hat sich auf keine Schießerei eingelassen. Er hat aus einer Entfernung von höchstens zweieinhalb Metern abgedrückt. Ein Schuß aus der Hüfte ist nie so sicher. Solche Kunststückchen beherrschen nur die Cowboys in den Wildwestfilmen.“ „Vielleicht haben Sie auch recht“, meinte der Major ziemlich niedergeschlagen. „Gegen Kowalewski verfügen wir im Augenblick über keinerlei Beweise. Die Hypothese von der nächtlichen Fahrt mit dem Trabant ist nicht auszuschließen und muß überprüft werden. Die Pistole wurde ebenfalls nicht gefunden. Wir können den Kraftfahrer achtundvierzig Stunden festhalten, aber ich sehe keine Argumente, mit denen wir den Staatsanwalt für eine weitere Haft gewinnen könnten. Und wenn sich Kowalewski über ein grundloses Festhalten in Polizeigewahrsam beschweren sollte, müßten wir das lang und breit erklären. Die Tatsache, daß dieser Mann vor achtundzwanzig Jahren zusammen mit Stanisław Topolewski alias Władysław Czerwonomiejski an einem Raubüberfall beteiligt war und keinen Grund hatte, zu dem früheren Anführer der Bande besondere Zuneigung zu empfinden, ist leider kein Argument für die Staatsanwaltschaft.“ „Sie meinen also …“ „Ich meine, daß wir Kowalewskis Alibi überprüfen 196
müssen, aber im Augenblick bleibt uns nichts anderes übrig, als ihn so schnell wie möglich freizulassen.“ „Tun Sie, was Sie für richtig halten. Schließlich führen Sie die Ermittlungen.“ Barbara konnte nur mit Mühe ein lautes Lachen unterdrücken. Als der Major listenreiche Pläne schmiedete, wie man Kowalewski am besten von seinem Lkw herunterholen konnte, war es ihm gar nicht in den Sinn gekommen, daß ja sie die Ermittlungen führte. Jetzt, wo das Fiasko offensichtlich war, trat Zajączkowski in den Hintergrund, da es sich ja um einen Fall der Oberleutnant Śliwińska handelte. Doch was sollte sie tun? Sie rief also laut: „Wąsikowski!“ Der Wachtmeister trat ins Zimmer. „Lassen Sie den Kraftfahrer frei“, wies sie ihn an. „Und sagen Sie ihm“, der Major versuchte, sein Gesicht zu wahren, „daß er mit keinem Sterbenswörtchen verraten darf, weshalb er hier verhört wurde, sonst braucht er sich in Zabiegowo nicht mehr blicken zu lassen. Meinetwegen soll er erzählen, daß wir ihm die Bremsen überprüft haben.“
17. KAPITEL Ein Leiter ohne Schuhe Nun waren für Oberleutnant Barbara Śliwińska schwere Tage gekommen. Sie glaubte eigentlich nicht mehr an ein positives Ergebnis der Ermittlungen gegen Włodzimierz Kowalewski. Und als aus Zakopane von der dortigen Miliz die Mitteilung kam, daß Kowalewski die Nacht vom fünfzehnten zum sechzehnten August im Restaurant „Hyrny“, beim Begrüßungsabend der Feriengäste aus dem Heim „Skalnica“, zugebracht und das Lokal nicht früher als um Mitternacht verlassen hatte – einen 197
solchen Riesenkerl merkt man sich leicht –, und zwar in Gesellschaft anderer Gäste, mußte Barbara zu dem Schluß kommen, daß ihre ganze bisherige Arbeit für die Katz gewesen war und ihre Theorie in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus. Sollte der Mörder wirklich ein Verrückter sein, der sich hier in Zabiegowo vier Personen mit dunkler Vergangenheit ausgesucht hatte, ohne auch nur in einem der Fälle einen subjektiven Grund für seine Tat zu haben? Diese Hypothese, der die Miliz in Zabiegowo anfänglich so anhing, hatte Oberleutnant Śliwińska eifrig bekämpft. Schließlich war es ihr auch gelungen, den Glauben an einen „Verrückten“ zu erschüttern, selbst bei Major Zajączkowski, doch jetzt war sie sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich recht gehabt hatte. Hartnäckig blätterte sie immer wieder in den dicken Aktenheftern in der Hoffnung, dort irgendein ihr noch unbekanntes Dokument zu finden, das diesen Fall in einem neuen Licht hätte erscheinen lassen. Doch ein solches Dokument gab es nicht. Auf den Hunderten von Seiten der verschiedenen Protokolle fand sie nichts, was die Ermittlungen auf die richtige Bahn gelenkt hätte. Verzweifelt trat Barbara ans Fenster und lehnte die heiße Stirn an die kühle Scheibe. Gedankenlos blickte sie auf die Straße hinab. Doch dort tat sich nichts Besonderes. Wie so oft im Oktober fiel ein kalter Nieselregen. Die Passanten eilten mit aufgespannten Regenschirmen den Bürgersteig entlang. Im Textilwarengeschäft war die Verkäuferin damit beschäftigt, eine Schaufensterpuppe mit schrägen Augen und einem traurigen Lächeln auf dem Guttaperchagesicht mit einem bunten Kleiderstoff zu drapieren. Im Nachbarhaus klopfte der alte Schuhmacher Józef Kunert emsig auf einem Damenschuh herum, während die Kundin gleich darauf wartete. Im Fleischerladen waren um diese Zeit – es ging bereits auf 198
vierzehn Uhr zu – die Haken schon fast leer. Lediglich ein paar Kringel der sogenannten Frühstückswurst, die sich in Oberschlesien keiner besonderen Beliebtheit erfreut, hingen noch dort. An Fleischwaren sah Barbara lediglich durchwachsenen Speck und Schweinerüssel. Die Grützwurst war längst verkauft worden. So konnte sich das Personal ganz der Unterhaltung widmen, ohne eine Störung durch die Kundschaft befürchten zu müssen. Dafür herrschte im Kurzwarenladen wie immer reges Leben. Die Damen kramten in Knopfschachteln, betrachteten farbiges Stickgarn, oder sie waren einfach nur vorbeigekommen, um rasch eine Rolle Zwirn oder ein paar Nadeln zu kaufen. Das große Obst- und Gemüsegeschäft auf der anderen Seite des Torwegs brauchte sich auch nicht über mangelnde Kundschaft zu beklagen. Gerade heute waren bulgarische Weintrauben und auch Bananen angeliefert worden. Doch Blumenkohl, Weißkohl oder saure Gurken fanden ebenso viele Käufer wie die ziemlich teuren Südfrüchte. Ein trauriger Herbsttag mit traurigen Regenschauern, die bei jedem Windstoß gegen das Fenster peitschten. Ganz wie in dem Gedicht von Leopold Staff … Barbara löste die Stirn von der kühlen Scheibe. Noch einmal blickte sie auf die gegenüberliegende Straßenseite. Und plötzlich begriff sie. Sie wich förmlich zwei Schritt zurück. Sie hatte den Eindruck, als wäre in ihrem Kopf, in den grauen Zellen, eine heftige Explosion erfolgt. Sie preßte die Hände an die Schläfen, als fürchtete sie, der Schädel könnte dem Ansturm der Gedanken nicht standhalten. Dann lächelte sie. Es war ein Lächeln des Mitleids mit sich selbst. Wie dumm war sie doch gewesen! Seit so vielen Tagen lag die Lösung des Falls offen vor ihr. Sie 199
hatte doch alle Beweise in den Akten. Und auch vor Augen. Doch sie hatte nichts begriffen. Natürlich mußte noch eine Reihe von Dingen überprüft, mußte jedes Für und Wider erwogen werden. Damit nicht ein ähnlicher Fehler begangen wurde wie bei der Festnahme von Włodzimierz Kowalewski. Ein zweites Mal durfte es eine solche Blamage nicht geben. Mit federnden Schritten trat Oberleutnant Śliwińska an den Schreibtisch. Die frühere Unlust war wie weggewischt. Energie und der Wille, so rasch wie möglich zu handeln, erfüllten sie. Gleichzeitig jedoch war Barbara fast glücklich, daß ihre Überlegungen richtig gewesen waren. Die Akte dieses Falls kannte sie auswendig. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Rasch öffnete sie die dicken grauen Hefter, blätterte kurz darin und entnahm ihnen die entsprechenden Unterlagen. Sie war überzeugt, daß sie sich nicht irrte, und die schwarzen Buchstaben auf dem weißen Papier bestärkten sie nur noch darin. Noch am selben Nachmittag betrat Barbara, ohne zu fragen, ob der Leiter beschäftigt sei, Zajączkowskis Arbeitszimmer. Der Major hob den Kopf. Er schrieb etwas und schien über den unerwarteten Besuch wenig erbaut. „Was ist passiert?“ „Ich weiß jetzt, wer der ‚Abc-Mörder‘ ist!“ „Wer ist es?“ „Ich könnte ihn noch heute festnehmen. Aber vorher möchte ich ein paar Kleinigkeiten überprüfen. Ich schicke gleich die erforderlichen Telegramme hinaus. Spätestens in drei Tagen ist der Fall endgültig abgeschlossen.“ „So wie damals mit Kowalewski.“ Der Major lächelte skeptisch. „Nicht ich habe die Anweisung erteilt, den Mann festzunehmen.“ 200
„Wir wollen nicht streiten.“ Der Leiter wußte nur zu gut, auf wessen Konto diese Unbesonnenheit ging. „Vielleicht könnten Sie mir etwas mehr über Ihre sensationelle Entdeckung sagen?“ „Sie ist wirklich sensationell.“ Barbara tat, als hörte sie die Ironie aus den Worten des Vorgesetzten nicht heraus. „Ich war sehr dumm, daß ich nicht früher darauf gekommen bin. Die Wahrheit lag auf meinem Schreibtisch wie auf dem Präsentierteller, und wir haben uns die unwahrscheinlichsten Hypothesen ausgedacht und den Täter irgendwo in Nysa gesucht.“ „Vielleicht sagen Sie mir trotzdem, wer es ist?“ „Nein“, widersprach Barbara, „wenn ich Ihnen jetzt seinen Namen nenne, lachen Sie mich bloß aus und glauben mir einfach nicht.“ „Ich dachte immer, der Leiter hat ein Recht darauf zu wissen, was seine Mitarbeiter tun“, bemerkte der Major in eisigem Ton. „Ich bitte Sie sehr“, Barbaras Stimme wurde plötzlich einschmeichelnd, „um drei, vielleicht auch nur um zwei Tage Geduld. Wenn ich mich jetzt irrte, würde ich mir diese Blamage nie verzeihen. Noch zwei Tage. Ja, Genosse Major?“ Barbara legte auf kindliche Art die Hände wie zum Gebet zusammen. Zajączkowski stellte bei sich fest, daß sie in diesem Augenblick verteufelt hübsch und appetitlich aussah. Sie entwaffnete ihn mit dieser Geste, und er mußte lachen. „Das ist der Weltuntergang. Was habe ich mir da mit Ihnen bloß eingehandelt! Na schön, diese zwei Tage will ich noch warten. Sie haben mich ganz aus der Fassung gebracht. Helenka, Kaffee!“ rief er donnernd durch die Tür, die Barbara, ohne auf die Gewohnheit des Leiters zu achten, fest hinter sich geschlossen hatte. „Ich mache Ihnen einen besonderen Kaffee, Genosse Major. Eine Freundin hat mir aus Budapest hervorra201
genden ungarischen Kaffee mitgebracht. Ich bin gleich wieder da.“ Barbara rannte aus dem Zimmer, und Zajączkowski wußte nicht, ob er sich ärgern oder ob er lachen sollte. Nach wenigen Minuten erschien sie mit einer Tasse des aromatischen Getränks und stellte sie vor ihn hin. Schon im Hinausgehen warf sie wie zufällig einen Blick unter den Schreibtisch. „Aber, Genosse Major!“ rief sie. „Was ist denn mit Ihren Schuhen?“ „Wieso?“ Der Offizier schaute auf seine Halbschuhe, bemerkte jedoch nichts Außergewöhnliches. „Ziehen Sie sie doch bitte für einen Augenblick aus.“ Zajączkowski folgte unwillkürlich dieser Aufforderung. Barbara entriß sie ihm fast. „Das gibt es doch nicht, daß ein so eleganter Mann mit so abgetretenen Absätzen herumläuft.“ „Ich wetze immer die Absätze ab. So lange ich lebe. Einen anderen Gang werde ich mir schon nicht mehr angewöhnen.“ „Wie kann man es nur so weit kommen lassen! Noch ein bißchen, und Sie könnten die Schuhe in die Mülltonne werfen.“ „Sie haben tatsächlich etwas gelitten“, murmelte der Major und streckte die Hand nach seinem Eigentum aus. „Ich werde sie zur Reparatur geben müssen.“ „Das haben wir gleich.“ Barbara wich vorsichtshalber zwei. Schritt zurück und sagte: „Helenka, sei doch so gut und spring mal zum Schuster ’rüber. Er soll alles liegenlassen und in Windeseile die Absätze ausbessern. Sag ihm, daß es die Schuhe unseres Leiters sind.“ Helenka war offenbar in Barbaras Pläne eingeweiht, denn sie hatte kurz nach ihr das Zimmer betreten. Jetzt griff sie nach den Schuhen wie der Teufel nach der Seele, und ehe Zajączkowski auch nur den Mund öffnen konnte, war sie schon aus dem Zimmer. 202
Es vergingen mindestens fünfzehn Sekunden, bevor der Major, dem es vor Erstaunen und Wut die Sprache verschlagen hatte, wieder zu sich fand. „Was soll das heißen?!“ brüllte er los. „Wieso denn“, erwiderte Barbara mit unschuldiger Miene, „nicht genug, daß ich mich um meinen Chef kümmere, werde ich auch noch von ihm angeschrien. In solchen Schuhen könnten Sie leicht hinfallen und sich ein Bein brechen. Ein Wunder, daß Sie überhaupt darin gehen konnten.“ „Was fange ich jetzt bloß an?“ Zajączkowski lief in Socken in seinem Arbeitszimmer umher. „Aber Genosse Major, das ist doch nicht weiter schlimm. In spätestens einer halben Stunde sind die Schuhe wieder hier, und zwar repariert.“ „In einer halben Stunde“, knurrte Zajączkowski, „und unterdessen amtiert der Leiter der Bürgermiliz barfuß. Es fehlt bloß noch, daß der Erste Sekretär oder der Ratsvorsitzende zu mir kommt und sieht, was hier für Verhältnisse herrschen. Oder einer von ihnen bittet mich in einer dringenden Angelegenheit zu sich. Ich sehe mich schon in Socken den langen Korridor im Rat des Kreises entlangmarschieren.“ Barbara prustete los. Ein solcher Anblick wäre wirklich nicht alltäglich. „Sie haben gut lachen“, grollte der Major noch immer, „mich so hereinzulegen. Der Teufel soll euch beide holen.“ „Liebster Genosse Major“, Barbara versuchte es noch einmal mit der unwiderstehlichen Waffe weiblicher Koketterie, „wie können Sie nur einem armen Mädchen böse sein, das Ihnen die Sterne vom Himmel herunterholen möchte? Setzen Sie doch ruhig Ihre Arbeit fort. Helenka und ich, wir werden unterdessen wie die Löwinnen Ihre Tür bewachen, damit niemand hier eindringt.“ 203
„Mir steht jetzt nicht der Sinn danach, Berichte zu schreiben.“ „Sie haben noch nicht einmal meinen Kaffee gekostet. Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben.“ Zajączkowski nahm endlich wieder seinen Platz am Schreibtisch ein. Er leerte die Tasse in einem Zug. „Der Kaffee ist ausgezeichnet“, stellte er fast gegen seinen Willen fest. „Soll ich Ihnen noch eine Tasse brühen?“ „Danke. Womöglich denken Sie sich wieder etwas aus.“ „Ich sehe schon, daß ich Sie heute nicht besänftigen kann. Dann will ich mal hinübergehen und selber dafür sorgen, daß der Schuster so schnell wie möglich diese unglückseligen Schuhe repariert.“ Barbara schloß die Tür hinter sich und lachte laut auf. Den schwierigsten Teil ihres Plans hatte sie geschafft. Aus dem Donnerwetter, das sie von dem hitzköpfigen Vorgesetzten bekommen hatte, machte sie sich gar nichts. Im Gegenteil, sie erweckte den Eindruck, als wäre sie sehr mit sich zufrieden. Furchtlos drang sie noch einmal in die Höhle des Löwen ein. „Ich laufe jetzt zum Schuster hinüber“, sagte sie, „und das hier habe ich Ihnen gebracht, damit Sie sich nicht langweilen.“ Sie legte dem Major einen dicken Ordner auf den Schreibtisch und rannte aus dem Zimmer. Verwundert betrachtete Zajączkowski die vor ihm liegenden Papiere. Die kannte er doch nur zu gut. Schließlich hatte er selber auf den Deckel geschrieben: „Untersuchungsakte im Mordfall Wincenty Adamiak!“ Was bedeutet das alles? fragte er sich. Was treibt dieses Mädel? Sie scheint jetzt wirklich durchzudrehen! Doch sein Zorn war schon verflogen. Neugierig wartete er darauf, wie die Dinge sich weiter entwickeln würden. Er schlug den grauen Aktendeckel auf. Ohne Grund wird sie mir das ja wohl nicht gebracht haben? überlegte er. 204
Obenauf die Mitteilung über ein Verbrechen, dann die Meldung des Führers des Funkstreifenwagens, der zu der Stelle dirigiert worden war, wo man den Leichnam gefunden hatte. Das Untersuchungsprotokoll von der Besichtigung des Tatorts. Eine Aufnahme des Milizfotografen. Der Befund der Leichensektion … Hier hielt der Major inne. Er las das Dokument von A bis Z und vertiefte sich noch einmal darin. Zweifellos war dem Arzt ein geringfügiger Fehler unterlaufen, daß er nicht gleich die richtige Diagnose gestellt hatte. Aber auch alle andern Mitarbeiter der Miliz, die dieses Blatt Papier in der Hand gehalten hatten, einschließlich seiner selbst, wo hatten sie alle ihre Augen gehabt, daß ihnen ein für die Ermittlungen so wichtiges Detail entgangen war? Zweifellos wollte Barbara ihren Vorgesetzten gerade auf dieses Dokument aufmerksam machen. Sie hatte dies taktvoll getan und ohne seine Eigenliebe zu verletzen. Ein anderer an ihrer Stelle hätte sich bestimmt mit seiner Entdeckung gebrüstet und vielleicht sogar überall herumerzählt – nicht nur im Kreisamt, sondern auch in der Bezirksbehörde – wie begriffsstutzig dieser Major sei. Zajączkowski dachte mit Sympathie an die junge Frau. Sie war klug, taktvoll und – das ließ sich nicht bestreiten – verteufelt hübsch. Doch auch uneigennützig schien sie zu sein. Viel uneigennütziger als die Frauen, mit denen der alte Junggeselle bisher zu tun gehabt hatte. Wie behutsam sie ihn auf den richtigen Weg geführt hatte. Eine andere hätte versucht, selbst alle Verdienste bei der Ermittlung des „Abc-Mörders“ einzuheimsen. Der Major nahm ein sauberes Blatt Papier und bedeckte es mit verschiedenen Schriftzeichen. Es stimmte. Der Täter war nicht so „genial“, wie man gemeinhin annahm. Der Trick mit dem Wechsel der Tötungsmethode hatte anfangs die Sache tatsächlich kompliziert. Doch das, was er vorher getan hatte, bevor er mit dem Morden 205
begann, zeugte nicht von ungewöhnlicher Intelligenz und von Einfallsreichtum. Die Mehrzahl aller Fälscher handelt genauso, und diese Methoden sind der Polizei der ganzen Welt seit Jahrhunderten bekannt. Der Major stand auf und ging in Socken zum Fenster. Er konnte Barbara sehen. Sie saß dem Schuster gegenüber und erzählte ihm etwas. Dabei gestikulierte sie mit den Händen. Wahrscheinlich erzählt sie ihm, dachte der Major, wie ihr Vorgesetzter ohne Schuhe herumläuft. Der Major sah, daß der Schuster den Schuh beiseite legte und nach einem Lappen langte, um ihn blankzupolieren, doch die junge Frau war schneller. Sie ergriff beide Schuhe und lief lachend aus der Werkstatt. Im selben Augenblick wurde an die Tür geklopft. Mit einem Satz war der Major an seinem Schreibtisch, setzte sich und verbarg die Füße unter dem Stuhl. „Bitte!“ Helenka schob den Kopf zur Tür herein. „Der Ratsvorsitzende hat angerufen.“ „Möchte er mich sprechen?“ „Nein. Er bittet Sie, gleich zum Rat des Kreises zu kommen. Dort beraten sie darüber, wie die Beschleunigung der Zuckerrübenernte und der Transport zur Zuckerfabrik gesichert werden können. Der Vorsitzende meint, daß die Hilfe der Miliz unbedingt erforderlich ist, und bittet Sie deshalb, so schnell wie möglich vorbeizukommen.“ „Du hättest ihm sagen sollen, daß ich komme, sobald ich ein Paar Schuhe habe.“ Helenka mußte wieder kichern. „Von den Schuhen habe ich nichts gesagt“, berichtete sie, „aber ich habe versprochen, Ihnen diese Bitte auszurichten, und daß Sie gleich losfahren würden.“ „In Socken?“ Zajączkowski packte schon wieder die Wut. Diese Śliwińska hatte ihn in eine unmögliche Lage gebracht! 206
Helenka lachte wie toll. Sie stellte sich ebenfalls vor, was für eine Sensation das wäre, wenn ihr Chef den Sitzungssaal ohne Schuhe, nur in den grauen Socken mit dem weißen Muster, dafür aber in voller Uniform betreten würde. „Soweit wird es schon nicht kommen“, sagte sie, als sie sich endlich wieder in der Gewalt hatte. „Barbara muß jeden Augenblick zurück sein.“ „Na eben. Weshalb ist sie noch nicht hier? Ich habe doch selbst vom Fenster aus gesehen, wie sie mit meinen Schuhen die Werkstatt verlassen hat.“ Wie auf Bestellung betrat Barbara das Arbeitszimmer. In der Hand hielt sie die Schuhe. „Na, da bist du ja endlich“, rief Helenka erfreut, „ich dachte schon, der Chef bringt mich um. Warum hat es so lange gedauert?“ „Ich mußte sie erst noch putzen“, erklärte Barbara. „Danke“, brummte Zajączkowski und schlüpfte zufrieden in seine ausgedienten Schuhe. „Und in Zukunft interessieren Sie sich bitte etwas weniger für meine Kleidung.“ „Nicht ein einziges gutes Wort habe ich für meine guten Absichten bekommen.“ Barbara tat so, als wäre sie den Tränen nahe. „In Zukunft sage ich kein Sterbenswörtchen mehr, selbst wenn Ihnen die bloßen Zehen aus den Schuhen herausschauen sollten.“ „Den Wagen!“ „Der wartet vor der Tür“, meldete die Sekretärin. „Der Fahrer weiß Bescheid, wohin er Sie bringen soll.“ Zajączkowski rannte aus dem Zimmer. Die beiden Mädchen lachten nun schon hemmungslos. Es war gelungen!
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18. KAPITEL Ich war ein ehrlicher Mensch „Wann nehmen Sie ihn fest?“ fragte Major Stanisław Zajączkowski seine Mitarbeiterin, Oberleutnant Barbara Śliwińska. „Heute. Etwa um die Mittagszeit.“ „Seien Sie vorsichtig. Er ist bewaffnet und hat nichts zu verlieren.“ „Wir werden schon mit ihm fertig“, erwiderte Barbara voller Optimismus. „Wissen Sie, daß sich hinter der Werkstatt ein zweiter Raum befindet, von dem aus eine Tür in den Hof führt? Hinter einem frei stehenden Quergebäude ist ein kleiner Garten, der durch einen niedrigen Zaun vom Nachbargrundstück getrennt wird. In dem Zaun ist ein Loch, durch das man bequem hindurchkriechen kann, und schon ist man auf der Konopnickastraße.“ Barbara betrachtete erstaunt ihren Chef. Sie glaubte allein das Geheimnis über den „Abc-Mörder“ zu kennen. Dabei wußte der Leiter des Amtes, wer dieser Mann war, und kannte auch das Terrain besser als sie. „Sie wissen also Bescheid, Genosse Major?“ Zajączkowski lächelte. „Die jungen Offiziere machen immer den gleichen grundsätzlichen Fehler: Sie meinen, ihre Vorgesetzten seien dümmer als sie selbst. Doch das gibt sich mit den Jahren. Und zwar in dem Maße, wie die Sternchen auf den Schulterstücken zunehmen. Auch Sie werden da herauswachsen.“ „Entschuldigen Sie“, sagte Barbara, „ich habe wirklich nie so gedacht. Allerdings glaubte ich, diesmal das Geheimnis allein zu kennen.“ „Ich gebe zu, daß ich bis zu dem Augenblick, da Sie mir die Akte mit dem Befund der Leichensektion Wincenty Adamiaks auf den Tisch legten, den Zusammen208
hang nicht geahnt hatte. Doch abgesehen davon, dieser Doktor Niwiński hat eine Abreibung verdient. Seine Pflicht wäre es gewesen, darauf hinzuweisen, daß aus dem Verlauf der Wunde, die vom linken Schulterblatt zum Herzen führte, deutlich hervorgeht, daß der Täter Linkshänder ist. Das entschuldigt natürlich in keiner Weise unsere Blindheit. Vor allem meine eigene.“ „Meine genauso. Ich habe so oft diese Unterlagen gelesen und nichts bemerkt.“ „Als Sie mich auf dieses Detail aufmerksam machten, war alles übrige ein Kinderspiel. Ich kenne mich zwar nicht so gut in allen Einzelheiten der Ermittlungen aus wie Sie, aber manchmal findet eben auch ein blindes Huhn ein Korn.“ „Seien Sie nicht zu bescheiden, Genosse Major. Ich bewundere Sie wirklich. Schließlich habe ich Ihnen nur die Akte auf den Tisch gelegt, ohne anzudeuten, daß ich das Protokoll der Leichensektion meinte. Diese Akte hat länger als zwei Monate auf meinem Tisch gelegen, und ich habe nichts gefunden. Bis mir plötzlich der Zusammenhang klar wurde, ohne daß ich noch einmal darin geblättert hätte.“ „Eben ein Geniestreich“, erwiderte der Leiter lächelnd. „Sie ziehen mich schon wieder mit diesem Genie auf!“ Barbara war über das geschickte Kompliment gar nicht böse. Im Gegenteil, sie freute sich, daß es ausgerechnet von Zajączkowski kam, dem Mann, der sie so widerwillig in Zabiegowo aufgenommen hatte. „Ich warne Sie noch einmal, seien Sie vorsichtig. Er hat eine Pistole, und daraus hat er schon zwei Menschen erschossen. Seine Linkshändigkeit hat ihn überhaupt nicht daran gehindert.“ „Er wird selber zu mir kommen.“ „Ich verstehe. Aber auch in diesem Haus sind bestimmte Sicherheitsmaßnahmen notwendig. Erlauben Sie, daß ich mich darum kümmere.“ 209
„Zu Befehl!“ Barbara nahm lächelnd vorschriftsmäßige Haltung an. An diesem Tag hielt der Major entgegen seiner Gewohnheit die Tür zwischen seinem Arbeitszimmer und dem Sekretariat weit geöffnet. Im Arbeitszimmer an der Wand, so daß sie aus dem Nachbarraum nicht gesehen werden konnten, saßen Sergeant Szczygielski und Wachtmeister Wąsikowski. Ein Viertel vor zwölf betrat Józef Kunert mit einem in Zeitungspapier gewickelten Bündel das Sekretariat. „Ich möchte zu Frau Oberleutnant.“ „Bitte. Diese Tür dort.“ Helenka wies auf Barbaras Zimmer. „Frau Oberleutnant Śliwińska wartet schon ungeduldig auf ihre Pumps.“ Der Schuster wandte sich in die angegebene Richtung, gefolgt vom Major und dessen beiden Mitarbeitern. Kunert öffnete die Tür. Barbara war allein im Zimmer. Sie saß an dem mit Papieren bedeckten Schreibtisch. „Guten Tag. Ich habe Ihnen Ihre Pumps gebracht.“ „Vielen Dank, Herr Bunerło. Bitte, setzen Sie sich doch.“ Die Schuhe entglitten den Händen des Schusters. Wie vom Blitz getroffen stand der grauhaarige Mann in der Mitte des Zimmers. Er bemerkte nicht einmal, daß hinter ihm Zajączkowski und zwei Milizionäre den Raum betreten hatten. Wąsikowski hielt für alle Fälle die Pistole in der Hand. „Sie wissen …“, stieß der Schuster hervor. „Ja, ich weiß.“ „Wie sind Sie denn dahintergekommen?“ Kunert hatte sich wieder in der Gewalt. Die beiden Milizionäre standen schon neben ihm. Mit geübten Griffen durchsuchten sie ihn. „Ich habe keine Waffe bei mir“, sagte Kunert mit einem gequälten Lächeln. 210
„Bitte, setzen Sie sich.“ Oberleutnant Śliwińska wies noch einmal auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. „Das Spiel ist aus, Herr Bunerło. Und Sie haben verloren.“ „Verloren habe ich vor achtundzwanzig Jahren. Jetzt ist mir schon alles gleich. Aber wie sind Sie dahintergekommen?“ „Einfach war es nicht. Es gibt jedoch kein vollkommenes Verbrechen. Anfangs standen Sie außerhalb jeden Verdachts. Wer würde auch einen ruhigen Schuhmacher verdächtigen? Einen älteren Mann, der den ganzen Tag am Fenster seiner Werkstatt sitzt und fleißig Schuhe repariert. Ich kam jedoch bald dahinter, daß diese Morde nicht das Werk eines Verrückten sind, sondern die geschickte Tarnung eines einzigen Verbrechers. Ich habe also die Vergangenheit der vier Ermordeten untersucht. Sie war nicht gerade vorbildlich. Aber einer dieser Lebensläufe unterschied sich doch erheblich von den übrigen. Ein Bandit, ein Doppelmörder, der seine Opfer schrecklich foltert, um ihnen das Geheimnis zu entreißen, wo sie ihr Gold versteckt haben. Und dann seine Komplizen denunziert, um mit der ganzen Beute allein entkommen zu können. Ein Vergleich der Fingerabdrücke aus der Akte jenes alten Falles mit denen des ermordeten Gärtners zeigte eindeutig, wen der ‚Abc-Mörder‘ vor allem beseitigen wollte. Er hatte diesen Wunsch nach Rache achtundzwanzig Jahre in seiner Brust getragen.“ „Der hat einen zehnmal schlimmeren Tod verdient.“ „Nicht wir sind die Richter, Herr Bunerło. Ich nicht, und Sie erst recht nicht“, sagte Oberleutnant Śliwińska streng. „Als ich Władysław Czerwonomiejski entlarvt und erfahren hatte, wer er wirklich gewesen ist, konnte ich mir auch die Frage beantworten, wem besonders daran gelegen war, diesen Menschen umzubringen. Eine Fahrt nach Wrocław und das Studium der Akten über den Mord an den Rotwalds brachten mir die Antwort. 211
Zwei Namen: Włodzimierz Kowalewski und Józef Bunerło. Natürlich konnte noch jemand aus der Familie in Frage kommen, doch vor allem galt es, diese beiden zu finden. Wir stellten fest, daß beide lange Jahre im Gefängnis zugebracht hatten. Der eine in Rawicz, der andere in Wronki. Beide waren aus den Strafanstalten entlassen worden. Eine Amnestie hatte ihnen die lebenslängliche Strafe in fünfzehn Jahre umgewandelt. Kowalewski saß ein Jahr weniger, weil man ihm einen Teil der Strafe wegen guter Führung erließ. Wir verfolgten das weitere Schicksal dieser Menschen. Bunerło versuchte, in seinen Beruf als Meister auf den Bau zurückzukehren. Doch er war ständig Unannehmlichkeiten ausgesetzt. Er wechselte häufig die Arbeit, bis er sich schließlich neunzehnhundertneunundsechzig das Leben nahm. Am Weichselufer fand man seine Kleidung, Papiere, Briefe an die Familie und an die Miliz, in denen der Selbstmörder die Motive seines Verzweiflungsschrittes erklärte.“ Der Mann auf dem Stuhl gegenüber dem Schreibtisch lächelte, sagte jedoch nichts. „So blieb uns nur Kowalewski. Den fanden wir ebenfalls, und zwar ganz in der Nähe, nämlich in Nysa. Auch er hatte seinen Beruf nicht gewechselt. Er war hinter das Lenkrad zurückgekehrt. Doch er hatte mehr Glück im Leben.“ „Er war jünger. Das bedeutet viel. Man hält alles leichter durch“, warf der Schuster ein. „Vielleicht“, stimmte ihm Oberleutnant Śliwińska zu. „Außerdem fand er ein Mädchen, das ihn trotz seiner Vergangenheit liebgewann und ihn heiratete. Sie haben zwei Kinder und eine hübsche Wohnung in der neuen Siedlung in Nysa. Kowalewski arbeitet als Kraftfahrer bei der Konsumgenossenschaft und beliefert mindestens ein- bis zweimal wöchentlich die Geschäfte in Zabiegowo.“ „Wirklich? Ich bin ihm nie begegnet.“ 212
„Weil Sie ihn nicht gesucht haben wie Władysław Czerwonomiejski. Gegen Kowalewski hatten Sie nichts. Im Gegenteil, während des Prozesses versuchten Sie, ihn in Schutz zu nehmen.“ „Er war jünger und noch dümmer als ich. Ich wollte, daß wenigstens er überlebt. Ich selbst hatte mich längst aufgegeben. Und als man mir im Gefängnis mitteilte, daß das Oberste Gericht uns beiden die Todesstrafe in lebenslängliche Haft verwandelt hat, war ich wirklich überrascht. Vorher war ich nur ungeduldig gewesen, daß das Urteil so lange nicht vollstreckt wurde. Das Warten erschien mir schlimmer als die Hinrichtung selbst.“ „Zunächst“, führte Oberleutnant Śliwińska weiter aus, „war Włodzimierz Kowalewski unser Hauptverdächtiger, er war ja auch der einzige, der noch am Leben war. Vor einem Irrtum und großen Unannehmlichkeiten bewahrte uns und auch ihn seine ungewöhnliche Körpergröße. Er ist gut einen Meter neunzig groß. Die ballistische Expertise hingegen besagte, daß auf Czerwonomiejski eine weit kleinere Person geschossen hatte, jemand, der höchstens einen Meter siebzig mitbrachte. Außerdem haben wir bei Kowalewski keine Pistole gefunden.“ „Bei mir werden Sie auch keine finden. Es sei denn, ich sage Ihnen selbst, wo sie ist.“ „Wir finden sie selbst. Der niedrige Tisch, an dem Sie die Schuhe reparieren, hat eine zu dicke Platte, als daß er nicht auch ein Versteck enthalten würde. Ich bin ja neugierig, was wir dort außer der Pistole noch finden.“ „Sie wissen aber auch alles“, bekannte Bunerło alias Kunert voller Bewunderung. „Nicht alles und nicht immer. Auch in Ihrem Fall habe ich Fehler gemacht, darunter einen ziemlich ernsten. Doch davon später. Tatsache ist, daß wir Kowalewski von der Liste der Verdächtigen streichen mußten. Sie reparieren unsere Schuhe. Und da ich Sie vom Fenster meines Fensters aus ständig sehe, habe ich auch be213
merkt, daß Sie Linkshänder sind. Sie halten den Schuh immer in der rechten Hand und den Hammer in der linken. Entgangen ist mir jedoch, daß Wincenty Adamiak von einem Linkshänder umgebracht wurde. Diesen Fehler in den Ermittlungen habe ich erst vor drei Tagen entdeckt. Da wurde ich nämlich auf Ihre Person aufmerksam. Aus Wrocław hatte ich die Fingerabdrücke des Józef Bunerło mitgebracht; so konnte ich nun überprüfen, ob sie mit denen des Józef Kunert übereinstimmten. Sie haben die Schuhe des Majors repariert. Darauf haben Sie die Abdrücke Ihrer Papillarlinien zurückgelassen.“ „Ich verstehe“, sagte der Schuster, „deshalb durfte ich sie nicht mehr blankreiben. Sie haben sie mir aus der Hand gerissen mit der Begründung, daß der Major schon ungeduldig darauf wartet.“ „Natürlich. Sonst hätten Sie doch alle Spuren beseitigt. Ich habe die Schuhe zum Kreisamt hinübergebracht, und hier hat unser Kriminaltechniker sofort die Fingerabdrücke abgenommen. Wir haben sie mit denen aus Wrocław verglichen. Sie waren identisch. Doch auch das hat mir noch nicht genügt. Ich habe zwei Telegramme abgesandt. Nach Wronki und nach Warschau. Gestern sind die Antworten eingetroffen. In Wronki erinnert man sich noch an den Häftling Bunerło: Er hat viele Jahre hindurch in der dortigen Schuhmacherei gearbeitet und sich gute Fachkenntnisse erworben. Warschau hat geantwortet, daß der Leichnam des Selbstmörders nie gefunden wurde. In jenem August wurde unser Land von einer verheerenden Überschwemmung heimgesucht, die Weichsel war damals sehr tief und ihre Strömung reißend. Der Kreis der Ermittlungen hatte sich geschlossen, und Sie befanden sich in seinem Zentrum.“ Oberleutnant Śliwińska schien durch die langen Ausführungen etwas erschöpft. Jetzt nahm unerwartet der Major, das Wort. 214
„Sie haben einen weiteren Fehler gemacht, Bunerło.“ „Welchen?“ „Nach dem vorgetäuschten Selbstmord mußten Sie Ihre Papiere fälschen: den Personalausweis und eventuell auch die Geburtsurkunde. Sie haben getan, was die meisten Leute in solchen Fällen tun, Sie haben versucht, mit möglichst geringen Korrekturen des authentischen Textes eine möglichst große Veränderung zu erzielen. Den Vornamen haben Sie gelassen. Auch alle anderen Angaben, wie Geburtsdatum, Geburtsort, die Vornamen des Vaters und der Mutter sowie deren Mädchennamen. Dies alles zu verändern, wäre eine zu große Arbeit gewesen. Es hätte auch dem ersten besten Beamten einer Meldestelle auffallen können. Außerdem vergessen die Fälscher auch häufig diese Angaben. Lassen sie sie jedoch unverändert, dann passieren ihnen gewöhnlich keine größeren Irrtümer. Auch Sie haben sich darauf beschränkt, Ihren Familiennamen zu verändern.“ Der Schuster lächelte wieder. Dieser Mensch hatte sich wohl schon mit seinem Schicksal abgefunden, denn er erwiderte nichts auf Zajączkowskis Ausführungen. „Der Name Bunerło läßt sich relativ leicht verändern“, fuhr der Major fort. „Es genügt, die beiden Rundungen des ‚B‘ wegzukratzen, und schon haben wir ein großes ‚K‘. Mit dem sechsten Buchstaben, dem kleinen ‚ł‘ gab es keinerlei Schwierigkeiten. Sie brauchten nur den Querstrich dieses Buchstaben ein wenig zu verlängern, und schon konnte man es als ‚t‘ lesen. Mit dem ‚o‘ am Ende des Namens ließen sich keinerlei Manipulationen anstellen. Also blieb Ihnen nichts übrig, als es ganz zu beseitigen. Und so entstand unter der geschickten Hand des Baufachmanns, der ja auch zeichnen kann und weiß, wie man Fehler auf technischen Zeichnungen korrigiert, aus dem Namen BUNERŁO der Name KUNERT.“ Barbara Śliwińska sandte dem Major einen anerkennenden Blick. Darauf war sie nicht gekommen. Sie hatte 215
überhaupt nicht darüber nachgedacht, wie der Schuster zu neuen Papieren gekommen war. „In Ihren Ausweisen“, erläuterte Zajączkowski weiter, „gibt es eine ganze Menge Stempel. Sie haben häufig den Wohnort gewechselt, Herr Kunert. Das ist ebenfalls eine alte und bekannte Methode, Spuren zu verwischen. Ein Risiko geht man nur bei der ersten Ummeldung ein. Alle weiteren sind nur eine Bestätigung der vorherigen. Danach genügt es, bei der Miliz den Diebstahl der Brieftasche mit Geld und dem Personalausweis zu melden, um einen neuen zu bekommen, nun schon ohne die Spuren von Korrekturen und Nachbesserungen. War es so?“ Der Schuster nickte. „Der Fall ist geklärt“, ergänzte Oberleutnant Śliwińska. „Sie werden festgenommen und den Justizbehörden übergeben. Morgen werde ich Ihnen die Beweise Ihrer Verbrechen vorlegen und Sie offiziell verhören.“ „Ich möchte noch etwas klarstellen.“ „Dazu werden Sie während des offiziellen Verhörs Gelegenheit haben.“ Bunerło ließ sich durch die Ablehnung nicht abschrecken. „Die Frau Oberleutnant hat mir freundlicherweise erläuterte wie Sie mir auf die Spur gekommen sind. Jetzt möchte ich diese Informationen ergänzen, und zwar gleich, unter dem Eindruck des Geschehenen. Mir geht es nicht um das Protokoll. Ich möchte einfach, daß Sie wissen, wie es wirklich gewesen ist. Nur Sie und nicht der Herr Staatsanwalt oder die Richter. Diese Herren interessieren mich nicht.“ „Bitte sprechen Sie“, stimmte der Major zu. „Vor allem bin ich voller Anerkennung für Frau Oberleutnant Śliwińska. Sie hat es verstanden, die einzelnen Fakten aufzuspüren und so aneinanderzufügen, daß daraus ein Ganzes wurde. Ich gebe zu, daß ich nicht damit gerechnet hatte, jemals entlarvt zu werden. Meine 216
höchste Anerkennung …“ Bunerło sprach diese Worte, als wäre er nicht soeben unter dem Vorwurf, vier Morde begangen zu haben, festgenommen worden, sondern als triebe er Konversation mit Bekannten. „Es hat sich wirklich alles so abgespielt, wie Sie und der Herr Major es beschrieben haben.“ Barbara konnte trotz des Ernstes der Situation ein Lächeln nicht unterdrücken. Komplimente des Täters an die Adresse desjenigen, der die Ermittlungen geführt hat – das kam wohl höchst selten vor. „Ich möchte jedoch entschieden dagegen protestieren“, fuhr der Schuster fort, „daß man mich einen Verbrecher nennt. Ich habe keine Verbrechen begangen. Wen habe ich schon getötet? Einen der schlimmsten Halunken, der seiner gerechten Strafe entgangen ist und ungestört von den Früchten seines Verbrechens lebte. Diese Villa, die Gewächshäuser und den ganzen Rest hat Czerwonomiejski für das Geld und die Brillanten gekauft, die den Rotwalds gehörten. Ich habe doch neben ihm gestanden und weiß, daß er sie nur zum Vergnügen getötet hat. Es gab nicht den geringsten Grund, die alten Leute umzubringen. Sie kannten keinen von uns, und hätten uns auch nicht wiedererkannt, weil wir schwarze Strümpfe über die Gesichter gezogen hatten. Davon wußten Sie sicherlich nichts, Frau Oberleutnant, weil es nicht in die Akten gekommen war. Er hat sie kaltblütig nur deshalb erstochen, damit man uns nachher wegen Raubmords anklagen kann. Dieser Mensch ist also seelenruhig in Zabiegowo umhergelaufen, und alle haben vor ihm die Mütze gezogen. Ja, selbst wenn Sie von Anfang an gewußt hätten, wer er ist und was er getan hat, wäre ihm nichts geschehen.“ „Nach zwanzig Jahren war die Sache verjährt“, warf der Major ein. „Bei mir hat es keine Verjährung gegeben. Ich habe nicht nur im Gefängnis gelitten. Später, wo immer ich 217
eine Arbeit aufgenommen habe – und ich bin ein guter Fachmann und habe mir die größte Mühe gegeben –, ist mir das Wort ‚Bandit‘ gefolgt. Ich bin immer ein ehrlicher Mensch gewesen. Sogar während der Okkupation, als die Begriffe gut und böse ein bißchen durcheinandergerieten, habe ich nichts getan, dessen ich mich später schämen mußte. Nach Wrocław kam ich gleich in den ersten Tagen nach der Befreiung. Damals lagen dort Riesenvermögen buchstäblich auf der Straße. Es genügte, sich danach zu bücken. Ich habe nicht eine Stecknadel aufgenommen. In zerrissenen Schuhen bin ich umhergelaufen, obwohl ganze Lager offenstanden und von niemandem bewacht wurden. Damals begegnete ich Władysław Czerwonomiejski. Der verstand es zu reden. Das Blaue vom Himmel hat er uns versprochen. Was für ein interessantes Leben uns im Westen erwartet, mich und Kowalewski. Reisen in exotische Länder, wundervolle Frauen. Alles, was das Herz begehrt. Und wie leicht das alles zu haben ist. Ein einziger Überfall auf die Arzteheleute genügt. Dort im Safe liegen erbsengroße Brillanten. Sie sind der Schlüssel zu dieser zauberhaften Zukunft. Ich habe mich lange gesträubt, aber schließlich habe ich doch nachgegeben. Dafür mußte ich einen höheren Preis bezahlen, als wenn das Gericht sein ursprüngliches Urteil, die Todesstrafe, beibehalten hätte.“ Bunerło zündete sich, ohne um Erlaubnis zu fragen, eine Zigarette an und nahm nach einer kurzen Pause seine Erzählung wieder auf. „Die Briefe, die die Miliz am Weichselufer in Warschau fand, waren nicht als Täuschung gedacht. Ich hatte sie geschrieben, weil ich wirklich beschlossen hatte, mir das Leben zu nehmen. Länger wollte ich mich nicht mehr quälen. Soeben hatte man mich wieder gezwungen, die Arbeit aufzugeben. Ich hatte nicht mehr die Kraft, noch einmal von neuem anzufangen. Ich verabschiedete mich von der Welt und nahm mir vor, in der 218
Nacht an den Fluß zu gehen und Schluß zu machen. Als ich die Krakowskie Przedmieście entlangging, erblickte ich einen Mann, der gerade in ein prächtiges Auto einstieg. Ich erkannte ihn sofort. Weder die Jahre noch der elegante Anzug, noch der französische Wagen konnten ihn in meinen Augen verändern. Ich hätte ihn überall erkannt, sogar in der Hölle. Ich lief zu dem Wagen, doch der fuhr schon an. Das Kennzeichen hatte ich mir nicht gemerkt, weil ich die ganze Zeit auf den Fahrer gestarrt hatte. Ich wußte nur, daß es ein oberschlesisches Kennzeichen war.“ „ ‚SX‘?“ fragte Wachtmeister Wąsikowski, der in Zabiegowo auch bei der Verkehrsmiliz Dienst tat. „Ich hatte mir nur das ‚S‘ gemerkt. Den zweiten Buchstaben nahm ich nicht mehr wahr. Noch am selben Tag ging ich zu einem mir bekannten Rechtsanwalt. Der sagte mir, daß solche Fälle nach zwanzig Jahren verjähren und daß es keinen Zweck hat, damit zur Miliz zu gehen. Czerwonomiejski würde kein Haar auf seinem kahler gewordenen Schädel gekrümmt werden. In der Nacht ließ ich am Weichselufer einen alten Anzug und die Briefe zurück, während ich selbst nach Oberschlesien fuhr, um diesen Menschen zu suchen. Damals fälschte ich auch meine Papiere, genau in der Weise, wie der Herr Major das dargestellt hat. Doch in einem Punkt haben Sie sich geirrt. Ich habe die Wohnorte nicht so oft gewechselt, weil ich möglichst viele Stempel in meinem Personalausweis haben wollte. Ich bin einfach in der ganzen Wojewodschaft umhergefahren und habe diesen Halunken gesucht. Im Gefängnis habe ich die Schuhmacherei gelernt. Das schien mir die beste Beschäftigung zu sein, wenn ich etwas von den Leuten erfahren wollte. Schließlich kannte ich nicht den wirklichen Namen des Mörders der Rotwalds. Für mich war er noch immer Stanisław Topolewski. Ich ließ mich in irgendeiner Stadt nieder, reparierte Schuhe, knüpfte Bekanntschaften an, 219
vor allem mit der Miliz, und schaute mich aufmerksam überall in der ganzen Gegend um. So kam ich nach Zabiegowo und stieß hier auf den Gärtner.“ Bunerło wischte sich mit einem karierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. „Hier beobachtete ich fast zwei Jahre lang Czerwonomiejski. Er hatte sich kaum verändert. Gelitten hatten ja wir und nicht er. Für ihn waren die Rosen geblieben, für uns die Dornen. Ich lernte aber auch die Verhältnisse in dieser Stadt gut kennen. Jeder wechselt ja mit dem Schuster ein paar Worte, während er darauf wartet, daß der Absatz oder eine Sohle wieder in Ordnung gebracht wird. Damals beschloß ich, nicht nur den Mörder der Rotwalds zu beseitigen, sondern auch ein paar kleinere Kanaillen, die in Zabiegowo ihr Unwesen trieben, weil sie sich sicher waren, ungeschoren davonzukommen. Ein seltsamer Zufall wollte es, daß die Namen dieser Leute mit den Anfangsbuchstaben des Alphabets begannen. Ihr nennt mich den ‚Abc-Mörder‘. Dabei habe ich einen Rowdy und Mädchenschänder getötet, der früher oder später sowieso am Galgen oder im Zuchthaus geendet hätte. Ich habe die Stadt von der Angst befreit. Keine Frau hat sich doch mehr getraut, im Dunkeln durch den Park zu gehen. Ich selbst habe mal eine aus den Händen dieser Strolche befreit. Und die Borzęcka? Eine Wucherin und Erpresserin. Ja, eine Erpresserin. Das wissen Sie sicherlich gar nicht. Sie hat den Menschen Geld geliehen, zu einem Zinssatz von zehn Prozent monatlich, und wenn sie erfuhr, daß das Geld zur Abdeckung eines Mankos oder für dunkle Geschäfte gebraucht wurde, verstand sie es, auch später noch ihre Opfer auszunehmen. Sie hat sozusagen unter den Augen der Miliz gelebt und gehandelt, und trotzdem konntet ihr der Frau nichts anhaben. Ebensowenig wie Adam Delkot. Die haben doch Millionenwerte gestohlen und der Bahn Riesenverluste zugefügt. Das ging so drei Jah220
re lang. Ihre Bande haben sie noch vor meiner Ankunft in Zabiegowo gegründet. Und? Sie hätten weiter gestohlen, wäre ich nicht gewesen. Ich bin kein Mörder. Ich habe gute Arbeit geleistet. Ich habe die Stadt von einer Pest befreit. Natürlich gebe ich zu, so gehandelt zu haben, daß ihr mich nicht schnappt. Wenigstens so lange, bis ich nicht mit Czerwonomiejski abgerechnet hatte. Er war für mich der wichtigste. Aber er wußte auch, von wessen Hand er sterben würde. Als ich das Gewächshaus betrat, erkannte er mich nicht sofort. Ich erklärte ihm, wer ich war, und er begriff, was ihn erwartete. Er wollte mir alles geben, er hat mehr versprochen, als er halten konnte. Wenn ich es verlangt hätte, wäre er vor mir niedergekniet und hätte mir die Stiefel geküßt. Das war ein herrlicher Augenblick, als ich auf den Abzug drückte. Ich hatte jahrelang davon geträumt, seit dem Moment, als ich diesen Halunken in Warschau in den Wagen einsteigen sah. Jetzt ist mir alles gleich, ich habe das Meine getan. Der Gerechtigkeit ist Genüge geschehen.“ „Sie irren, Bunerło“, entgegnete Major Zajączkowski, „es hat Ihnen niemand die Vollmacht erteilt, Gerechtigkeit zu üben. Selbst im Falle von Czerwonomiejski war das nicht Gerechtigkeit, sondern Rache. Gerechtigkeit übt der Staat, und nur der Staat. Nicht die Menschen, nicht einmal die Richter, denn sie verkünden die Urteile im Namen der Volksrepublik Polen. Sie haben hier viel über das Unrecht gesprochen, das man Ihnen zugefügt hat. Über die fünfzehn Jahre Gefängnis, darüber, wie die Menschen Sie nach Verlassen der Strafanstalt verfolgt haben. Aber Sie haben nie darüber nachgedacht, daß Sie diese Gefängnisstrafe verdient haben. Czerwonomiejski hat euch zu dem Überfall überredet. Das ist wahr. Aber ihr wart doch keine Kinder. Ihr seid selbst, aus eigenem Willen dorthin gegangen. Um an das Gold und die Brillanten heranzukommen. An das sorgenfreie Leben im 221
Westen. Und am Ort des Überfalls habt ihr ruhig zugesehen, wie euer Anführer alte Menschen foltert und sie dann ermordet. Keiner von euch hat versucht, die Rotwalds zu verteidigen. Ihr habt beide die Strafe verdient, die das Gericht ausgesprochen hat.“ „Czerwonomiejski hat ebenfalls den Tod verdient.“ „Der Staat übt Gerechtigkeit, aber der Staat rächt sich nicht. Hätte man damals Czerwonomiejski gefaßt, so hätte er ebenso wie ihr die Todesstrafe erhalten. Vielleicht wäre dieses Urteil auch vollstreckt worden. Doch wenn der Staat eine Strafe ausspricht, läßt er dem Bürger die Chance, sich zu bessern und auf den ehrlichen Weg zurückzukehren. In Ausnahmefällen wird die Höchststrafe ausgesprochen, das Todesurteil. Eine Chance zur Besserung ist auch die Verjährung. Selbst wenn jemand einen Mord begangen hat und dann, ohne von der Justiz belangt worden zu sein, zwanzig Jahre lang ein ehrliches Leben führt, werden ihm die alten Sünden verziehen. Denn Gerechtigkeit ist auch die Fähigkeit, verzeihen zu können. Dadurch unterscheidet sie sich von der Rache. Sie haben davon gesprochen, daß Sie oft die Arbeit wechseln mußten, daß Ihnen überallhin der Schimpfname ‚Bandit‘ gefolgt ist. Das war sicherlich unerträglich. Aber haben Sie denn Hilfe und Unterstützung gesucht?“ „Wo sollte ich die suchen?“ „Bei der Betriebsgewerkschaftsleitung, bei der Partei oder bei uns, der Miliz. Man hätte Ihnen bestimmt die helfende Hand gereicht, wie man sie Tausenden reicht, die aus dem Gefängnis kommen und von nun an ein ehrliches Leben führen wollen. Selbst eine Namensänderung hätten Sie legal durchführen können und nicht mit Hilfe von Tusche und Rasierklinge. Aber Sie wollten diesen Weg nicht sehen.“ Der Schuster schwieg. „Sie berauschen sich daran und sind stolz darauf, 222
Adamiak, die Borzęcka und Delkot ermordet zu haben. Sie machen sich über die Miliz lustig, daß die Verbrecher direkt vor unserer Nase gesessen haben und wir nichts davon wußten. Auch das ist wahr. Aber weshalb wußten wir nichts? Weil Leute wie Sie geschwiegen und diese Diebe und Wucherer geduldet haben. Die Miliz ist nicht allwissend. Um handeln zu können, müssen wir wissen, daß ein Verbrechen begangen wurde. Von wem sollen wir zum Beispiel von einer Vergewaltigung erfahren, wenn die ganze Umgebung solidarisch schweigt? Die Borzęcka hat erpreßt? Möglich. Aber kein Mensch ist zu uns gekommen und hat auf die Tätigkeit des ‚Tantchens‘ hingewiesen. Schlimmer noch, wenn wir zu ihrem Haus gingen, um nach illegal verkauftem Alkohol zu suchen, versuchte man immer, sie zu warnen. Delkot und seine Bande. Ein Wort von Ihnen zu Oberleutnant Śliwińska hat genügt, um die ganze Bande innerhalb von zehn Tagen zu liquidieren. Aber Sie haben dieses Wort erst ausgesprochen, nachdem Sie Delkot erschossen hatten. Dabei hätten Sie das schon drei Jahre früher tun können und müssen. Auf achttausend Einwohner und mindestens zweitausend Zugereiste täglich haben wir hier knapp dreißig Milizionäre. Woher sollen wir alles wissen, wie sollen wir wirksam gegen die Verbrechen ankämpfen, wenn die Bevölkerung uns dabei nicht hilft?“ „Was hätte das genutzt, wenn ich gekommen wäre und erzählt hätte, daß Adamiak und seine Kumpane im Wald ein Mädchen aus dem Nachbardorf vergewaltigt haben? Ihr hättet ihm nichts tun können, weil das Mädel lieber schweigt, als daß es sich dem Gespött der ganzen Stadt aussetzt.“ „Sie sind es doch“, fiel ihm Oberleutnant Śliwińska ins Wort, „Sie und andere Einwohner von Zabiegowo, die ein solches Klima schaffen, daß die Geschädigte Angst hat, zu uns zu kommen. Statt die Täter zu verurteilen, macht ihr euch über die Opfer lustig.“ 223
„Außerdem, Herr Bunerło, haben Sie sich nur deshalb mit den Federn eines Kämpfers gegen das Verbrechen geschmückt, um einer gerechten Strafe für den Mord an Czerwonomiejski zu entgehen. Sie hatten geglaubt, wir würden uns von der alphabetischen Reihenfolge der Verbrechen beeinflussen lassen und nach einem Verrückten oder einem Vampir suchen, der grundlos mordet. Hätten Sie nicht Leute gefunden, die Dreck am Stecken hatten, dann hätten Sie unschuldige Menschen gemordet, so wie Sie das mit Doktor Emilianowicz tun wollten.“ „Nein!“ widersprach der Schuster energisch. „Wären diese Kanaillen nicht gewesen, so hätte ich nicht einen einzigen Unschuldigen getötet. Mir wäre dann bestimmt etwas anderes eingefallen, aber dem Gärtner hätte ich es heimgezahlt. Vom Zahnarzt habe ich nicht gesprochen, weil das nur ein Scherz war. Ich wollte Ihnen etwas zu tun geben. Sie wissen ja längst, daß ich nicht geschossen habe, um zu töten. Ich habe mich selbst gewundert, daß es mir gelungen ist, aus dieser Entfernung das große Fenster zu treffen. Was hingegen den Vorwurf betrifft, daß es meine Absicht war, die Miliz zu täuschen, so ist er zum Teil richtig. Ich habe wirklich versucht, Sie in die Irre zu führen, aber nicht deshalb, um einer Strafe zu entgehen. Die droht mir nicht, und die fürchte ich auch nicht, auch jetzt nicht, wo ich auf diesem Stuhl sitze.“ „Trotzdem sind Sie dieser von Ihnen so verhöhnten Gerechtigkeit nicht entgangen.“ „Ich werde ihr entgehen. Ganz bestimmt. Ich leide schon seit Jahren an Schmerzen in der Bauchgegend. Vor acht Monaten haben die Ärzte mich dazu überredet, mich operieren zu lassen. Die Operation ist angeblich gelungen, aber nach drei Monaten sind die Schmerzen wiedergekehrt. Da wurde mir klar, daß mir nicht mehr viel Zeit geblieben war, und ich fürchtete, daß es mir nicht mehr gelingen könnte, meine Rechnung zu beglei224
chen. Deshalb habe ich den Arzt gebeten, mir die ganze Wahrheit zu sagen.“
19. KAPITEL Abschied von Zabiegowo Der Koffer, schon am Morgen gepackt, wartete im Sekretariat. Am Abend zuvor hatten die Kollegen eine kleine Feier veranstaltet, die in der Wohnung von Oberleutnant Andrzej Stefański stattfand. Barbara Śliwińska war wirklich gerührt über die herzliche Atmosphäre dieser Begegnung und das Geschenk, das ihr von Menschen gemacht wurde, die sie vor zwei Monaten noch gar nicht gekannt hatte. Jetzt nahmen sie mit aufrichtigem Bedauern Abschied von ihr und redeten beständig auf sie ein, doch ganz in Zabiegowo zu bleiben. Der Leiter des Kreisamtes, Major Zajączkowski, der ebenfalls zu dem Abschiedsabend eingeladen worden war, hatte strikt abgelehnt. „Ich kann so’n Theater nicht leiden“, hatte er geantwortet und war demonstrativ gleich am Nachmittag in die Nachbarstadt gefahren. Auch … der Major? Jetzt ging Barbara von Zimmer zu Zimmer und verabschiedete sich von allen Mitarbeitern. Sie waren ihr von Anfang an herzlich und freundschaftlich begegnet. Barbara hatte schon vor ihrer Ankunft in Zabiegowo viel von Zajączkowski gehört, von seiner Kälte und Strenge, aber auch von seiner Launenhaftigkeit und seinem manchmal wunderlichen Benehmen. Deshalb hatte sie nicht gerade mit einem begeisterten Empfang von Seiten des Leiters gerechnet. Aber die Feindseligkeit, die der „Alte“ gar nicht zu verbergen trachtete, hatte sie doch verwundert. Später kamen die dienstlichen Beziehungen halbwegs ins Lot. Der Vorgesetzte besaß trotz 225
allem einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und betrachtete die aus Częstochowa entsandte Genossin Oberleutnant sehr bald mit Interesse und Anerkennung. Oberleutnant Śliwińska hatte anstrengende Tage hinter sich. In einer Stunde würde sie nicht mehr in Zabiegowo sein. Sie hatte sich von allen verabschiedet, außer vom Leiter. Mit gemischten Gefühlen betrat sie sein Arbeitszimmer. „Ja, bitte?“ Der Major saß am Schreibtisch und benahm sich so, als ahnte er nicht, weshalb die Genossin Oberleutnant in seinem Zimmer erschienen war. „Ich komme um mich abzumelden.“ „Setzen Sie sich.“ Der Major wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Sie verlassen uns also heute?“ sagte er, als Barbara ihm gegenüber Platz genommen hatte. „Jawohl, Genosse Major. In einer Stunde.“ „Na schön.“ Eine Weile herrschte peinliches Schweigen. Schließlich sagte Major Zajączkowski: „Ihre Delegierung habe ich unterschrieben. Sie liegt bei Helenka im Sekretariat.“ „Danke, ich habe sie bereits bekommen.“ „Ich werde einen Brief an die Wojewodschaftsbehörde in Częstochowa schreiben und mich bei Ihrem Oberst bedanken, daß er sich einverstanden erklärt hat, Sie nach Zabiegowo abzukommandieren. Sie haben uns hier sehr geholfen. An die Wojewodschaftsbehörde der Bürgermiliz in Katowice schicken wir ebenfalls einen Bericht. Ich nehme an, daß unser Schreiben bei Prämien und Auszeichnungen berücksichtigt wird, und auch auf die Reihenfolge der Beförderung Einfluß hat.“ „Danke, Genosse Major.“ „Das wäre dann wohl alles …“ „Jawohl, Genosse Major.“ Barbara stand auf. „Nun, dann wünsche ich Ihnen eine gute Fahrt und weitere Erfolge bei der Arbeit.“ Der Major erhob sich ebenfalls. 226
„Auf Wiedersehen, Genosse Major.“ „Auf Wiedersehen“, erwiderte Zajączkowski, ohne sich von seinem Platz zu rühren. Als sie schon die Hand auf die Klinke legte, vernahm sie ein leises: „Barbara …“ Sie drehte sich um. Der Major stand noch immer am Schreibtisch. Seinem Gesicht war anzusehen, welche Mühe es ihn kostete, die wenigen Worte zu sprechen. „Barbara …“, wiederholte er, „bleib bitte …“
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