Morganas Wölfe
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 169 von Jason Dark, erschienen am 25.04.1995, Titelbild: Maren
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Morganas Wölfe
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 169 von Jason Dark, erschienen am 25.04.1995, Titelbild: Maren
Als Melanie Morton strippte, kamen die Wölfe. Zusammen mit ihrer Anführerin Morgana Lyton überfielen sie die Bar in Soho und brachten das Chaos. Auch Suko und ich erfuhren, wer in London eingefallen war. Für uns gab es keine ruhige Minute mehr. Wir wußten, wie gefährlich Morgana und ihre Meute waren. Und in der vom Nebel erfüllten Stadt an der Themse begann die gnadenlose Jagd...
Melanie war die heißeste Stripperin von Soho! Ein Geheimtip angeblich, aber trotzdem war die Bude gerammelt voll, wenn sie tanzte. Männer aller Altersstufen, Hautfarben und Berufe drängten sich vor der primitiven Bühne zusammen. Sie waren gierig nach Melanies Körper, den sie mit ihren Blicken verschlangen. Leider nur mit den Blicken, denn eine Nacht mit Melanie war für sie so weit entfernt wie der Mond. Melanie reizte sie, heizte sie an, wich manchmal den zupackenden Händen bewußt nicht aus und ließ es zu, daß die Finger ihre nackte Haut berührten. Hin und wieder ließ sie sich auch ein Kleidungsstück vom Körper zerren, was von einem besonders lauten Johlen und Schreien begleitet wurde, und die Kerle rissen sich um das Beutestück. Daß ihr niemand wirklich zu nahe kam, dafür sorgten einige breitschultrige Bodyguards, die im Hintergrund lauerten und alles mit Argusaugen unter Kontrolle hielten. In der Bude war es immer heiß. Ob im Winter oder im Sommer, die Luft kochte. Sie schmeckte nach Bier, Rauch und Whisky. Schwaden trieben wie Nebelwolken durch die Lichtkegel der beiden Scheinwerfer, die Melanie auf Schritt und Tritt folgten. Die Planken waren mit rotem Stoff bespannt, so daß das Hämmern der hohen Absätze etwas gedämpft klang. Die Musik spielte, und Melanie setzte zu einem Solo an. Sie schwang die Beine und hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Ihr Gesicht war dem Scheinwerfer zugewandt. Die Augen hielt sie halb geschlossen, so wurde sie nicht so stark geblendet. Der Mund mit den grellgeschminkten Lippen stand leicht offen. Es war der Schmollmund einer Blondine, wie sie die Monroe verkörpert hatte. In der Tat liebte Melanie ihr großes Vorbild schon abgöttisch. Und sie strippte nicht nur wegen des Geldes, sondern auch in der Hoffnung, entdeckt zu werden. Für den Film, zum Beispiel, nicht für die billigen Sex-Postillen, die ihren Körper schon oft genug abgebildet hatten. Melanie lächelte. Sie wußte, daß die Augen der Kerle auf sie gerichtet waren. Sie genoß diesen Augenblick auch, den sie immer mehr in die Länge zog. Nur die Beine bewegte sie. Die Netzstrümpfe hatte sie bereits ausgezogen und weggeschleudert. Noch umschloß ihren Körper ein knappes Ledertrikot, ähnlich gearbeitet wie ein Korsett, aber an der Rückseite nicht mit Haken, sondern mit einem Reißverschluß versehen. Ihre Hände, die flach in Höhe der Hüften den Körper berührt hatten, zuckten, bevor sie in die Höhe wanderten. An beiden Seiten zugleich, synchrone Bewegungen, genau einstudiert, und ihr Körper glich dem einer Schlange, so geschmeidig bewegte er sich. Das war der Augenblick, wo zahlreiche Gäste den Atem anhielten oder ihre Gläser leertranken, denn Melanies Strip steuerte auf den Höhepunkt zu.
Viele wußten es, denn sie gehörten zu den Stammgästen, die den Striptease-Schuppen immer wieder besuchten. Melanies Schritte waren wohlgesetzt, manchmal schon geziert, wenn sie das eine oder andere Bein vorstellte, mit den Zehen zuerst den Boden berührte, um sich dann auf den Absatz zu stellen. Dabei blieben ihre Hände nicht mehr ruhig. Sie hatte die Arme auf den Rücken gedreht, wo die Finger an der dünnen Lederhaut in die Höhe glitten und dabei den Reißverschluß ertasteten. Gleich würde sie ihn aufziehen. Und sie wußte genau, was sie tat, denn sie drehte den Gaffern ihren wohlgeformten Rücken zu, tanzte jetzt auf der Stelle, bewegte dabei ihr Hinterteil, das ebenfalls sehr knapp umschnürt wurde, und in mehreren Intervallen zog sie den Reißverschluß nach unten. Die Pausen wirkten, als hätte sie Angst davor, sich zu schnell zu entblößen. Sie hörte hinter sich das Pfeifen und Johlen der Zuschauer. Sie wußte, daß sie die Typen jetzt anmachte, aber sie ließ sich auch weiterhin Zeit, sie kostete alles aus. Dann, ein letzter Ruck, das Korsett klaffte auf. Das Schreien der Zuschauer steigerte sich. Dazwischen gellten die schrillen Pfiffe, und dann packte Melanie ihr Korsett, schleuderte es in die Dunkelheit jenseits der Scheinwerfer – und war noch nicht nackt, denn ein knappes Oberteil und der Hauch von einem Slip verbargen ihre letzten Geheimnisse. Melanie hatte sich umgedreht, und das Johlen der Zuschauer steigerte sich weiter. Jeder wußte, was nun folgte. »Weg mit dem Rest! Weg mit dem Rest!« riefen ein paar ganz Ungeduldige. Es war wie ein Startschuß. Jeder wollte sie nackt sehen, und Melanie tat, als hätten sie die Worte erschreckt, denn sie trippelte hastig ein paar Schritte zurück, begleitet vom hellen Kreis des Scheinwerfers. Auch diese Pose war einstudiert. Ungefähr eine Minute lang würde sie die Gaffer noch in Atem halten, dann fiel auch die letzte Hülle. Melanie beherrschte ihren Job. Es war immer das gleiche, nie neu. Aber immer wieder hoffte sie, daß sich jemand vom Film unter den Zuschauern befand, der sie die Leiter hinaufstieß. Sie hätte auch nie damit gerechnet, daß ihre Schau mal einen anderen Verlauf nehmen würde. Doch Melanie sollte sich irren. Sehr sogar. An diesem Abend sollte alles anders werden. Daran aber dachte sie nicht, als ihre Hände wieder über den Rücken wanderten und nach dem Verschluß des winzigen Oberteils tasteten… ***
In dem zu kleinen Raum roch es nach Parfüm und Schminke. Er lag im schrägen Winkel zur Bühne. Das Fenster in der Wand gestattete einen Blick in das Lokal und auf die Bühne. Ansonsten war der Raum spartanisch eingerichtet. An einer Wand hingen drei Schminkspiegel, davor stand ein Tapeziertisch mit einem Hocker. Die beiden Männer hockten in zerschlissenen Sesseln, hatten die Beine ausgestreckt, drehten Gläser zwischen ihren Händen, schauten durch das Fenster, aber der Blick ihrer Augen gab kund, daß sie Melanie überhaupt nicht zur Kenntnis nahmen und mehr ihren eigenen Gedanken nachhingen. Der Mann mit den dunklen Haaren und dem kleinen Zopf im Nacken hieß Don Amalfi. Er legte stets Wert auf elegante Kleidung, die hin und wieder schon einen Touch ins Geckenhafte bekam, wenn er es zu sehr übertrieb. An diesem Abend trug er eine grüne Jacke und eine schwarze Hose, wobei die giftgrüne Farbe der Jacke dem zweiten Mann schon auf die Augen schlug. Er hieß Phil Butcher, sah richtig kernig aus, wie jemand, der gerade seine Sommerfrische genossen hatte. Sein Gesicht war breit, das Haar lag platt auf dem Kopf. Eine breite Nase, breite Augen, ein breiter Mund mit blassen Lippen. Phil war Ire, während der Dunkelhaarige südeuropäisches Blut in seinen Adern wußte. Beide waren keine Freunde, aber Geschäftspartner, und sie schafften den Nachschub für die Strip-Lokale heran, kassierten dabei Provisionen und Handgelder und konnten davon recht gut leben. Don Amalfi bewegte seinen linken Arm, wo eine Goldkette das Gelenk umschloß. Einige Lichtfunken verirrten sich auf dem Metall und störten Butcher. »Kannst du das nicht lassen?« »Was?« »Deine Unruhe.« Amalfi lachte. »Bist du nervös?« »Ja.« »Warum?« Butcher starrte seinen Kumpan an. Wie immer hatte Don seine Augenbrauen gezupft und nachgeschminkt. Schwul war er nicht, aber sehr auf seinen Körper bezogen und affektiert. Zumindest einmal in der Woche besuchte er ein Kosmetik-Studio für Herren, wo er sich dann auf Vordermann bringen ließ. Sobald er einen Pickel in seinem Gesicht entdeckte, flippte er aus, was Phil überhaupt nicht begreifen konnte, denn ihn störten die zahlreichen Sommersprossen auf seiner Haut nicht. »He, ich warte.«
»Schon gut, Don.« Butcher veränderte seine Sitzhaltung, streckte den rechten Arm aus und deutete mit dem Zeigefinger durch die Scheibe. »Sie ist gut, nicht?« »Sogar super.« »Eben.« »Und was bedeutet das?« Butcher leerte sein Glas. »Ich glaube nicht, daß sie uns noch lange erhalten bleibt. Ich weiß auch, daß sie scharf darauf ist, aus diesem Job herauszukommen. Es ist verständlich. Sie hofft, daß irgendwelche Filmtypen sie mal sehen und engagieren.« Amalfi mußte lachen. »Na und? Was regst du dich auf? Wenn das mal so kommen sollte, kassieren wir mit. Schließlich haben wir mit Melanie einen Vertrag.« »Fürs Tanzen.« »Und auch sonst.« »Nein, haben wir nicht. Wenn tatsächlich so ein Filmtyp auftaucht, werden neue Verträge aufgesetzt. Die Bedingungen diktieren die, das weiß ich.« »Etwas fällt schon für uns ab.« »Ein Dankeschön.« Amalfi tippte gegen seine Stirn. »Und damit willst du dich zufriedengeben?« »Das müssen wir, mein Lieber. Oder sollen wir uns mit der Porno-Mafia anlegen?« Der Mann mit dem Zopf schwieg für eine Weile. »Wie kommst du denn darauf?« »Weil ich heute eine Anfrage hatte. Jemand ist tatsächlich auf unsere Melanie aufmerksam geworden.« »Ach. Und wer?« Phil winkte ab. »Spielt doch keine Rolle. Jedenfalls einer, der stärker ist als wir.« Don senkte den Kopf. Er ärgerte sich. Er konnte sich auch denken, wer dahintersteckte, doch er sprach den Namen nicht aus, sondern meinte nur: »Ist Porno denn noch ein Geschäft?« Butcher mußte schrill lachen. »Und wie, Don! Hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang wollen sie neuerdings Ware aus dem Ausland, und das hat die Porno-Mafia aus dem Osten spitzgekriegt. Über einen Strohmann sucht sie Kontakte.« Don Amalfi schwieg. Er trank. Seine Bewegungen waren ruckartig. Dann schaute er wieder durch die Scheibe auf die Tanzfläche, wo Melanie den Gästen einheizte. Diese Blondine war ein Traum von einer Frau und gleichzeitig auch eine gute Tänzerin. Klar, daß die Typen hinter ihr her waren und manche sie sogar vermarkten wollten. Zudem würde sich Melanie kaum weigern. Sie hatte schon immer davon gesprochen, nicht
mehr in diesen miesen Schuppen strippen zu wollen. Weg von den Brettern und den Hochglanzfotos und rauf auf die Leinwand. Gegen einen Porno hatte sie auch nichts einzuwenden, denn sie wußte von einigen Schauspielern, die ihre Karriere in den Hardcore-Streifen begonnen hatten und später mehr oder minder groß rausgekommen waren. Melanie hätte auch in einer der Nachtbars strippen können, aber da floß die Kohle nicht so. Die fetten Zeiten waren vorbei. Die Leute hatten nicht mehr so viel Geld übrig, um die eleganten und teuren Bars zu besuchen. Dementsprechend niedrig gestalteten sich die Honorare für Stripperinnen, und da war es schon besser, sich Ausweichmöglichkeiten zu suchen, eben für das gemeine Volk zu tanzen. Hier machte es die Masse, denn der Besitzer der Bude war zufrieden, wie er den beiden Agenten noch vor einer halben Stunde versichert hatte. »Warum sagst du nichts, Don?« Amalfi hob die Schultern. »Was soll ich denn sagen? Ich kenne die Probleme. Wir müssen uns eben etwas einfallen lassen.« »Gut gesagt.« Butcher nickte. »Das weiß ich auch. Aber was?« flüsterte er. »Was, verdammt?« »Ich habe nachgedacht«, murmelte Amalfi. Bevor Butcher lachen konnte, warf er ihm einen kalten Blick zu. »Ja, verdammt, ich habe nachgedacht, und ich denke, daß wir unsere Zelte hier in London abbrechen sollten. Einfach verschwinden, und die Mädchen nehmen wir mit. Es gibt andere Städte, wo wir anfangen können. Ich habe gehört, daß Liverpool noch ein weißer Fleck auf der Landkarte sein soll.« Butcher blieb fast der Mund offen. »Das… das… meinst du ehrlich?« Er wollte es kaum glauben. »Sonst hätte ich es nicht gesagt.« »Das klappt nie, Don. Die Mädchen werden nicht mitmachen. Nach Liverpool ausgerechnet, in die Scheiße rein, in die Arbeitslosigkeit, in die Trostlosigkeit. Die pfeifen uns was. Und zwingen können wir sie auch nicht, das weißt du.« Beinahe traurig schaute Amalfi Melanie zu. »Also abschreiben?« »Möglicherweise.« »Und dann?« »Suchen wir uns einen neuen Job.« Phil Butcher blieb bei seinem Vorschlag, änderte ihn allerdings leicht ab. »Wir können dann allein in eine andere Stadt gehen. Muß ja nicht Liverpool sein. Und dort bauen wir dann etwas Neues auf. Mädchen gibt es überall. Und mancher Lokalbesitzer wird froh sein, wenn wir ihn überreden, aus seinem Laden etwas zu machen. Davon bin ich überzeugt.« Die Worte waren bei Don Amalfi nicht gerade auf fruchtbaren Boden gefallen. Der Mann mit dem Zopf verzog das Gesicht, er fluchte wütend und stand auf.
Butcher ließ ihn nicht aus dem Blick. »Wo willst du hin?« fragte er, denn Don stand bereits an der Tür. »Ich muß mal frische Luft schnappen. Ich muß nachdenken. Hier fühle ich mich dabei nicht wohl.« »Und wenn du zurückkommst, hast du die Lösung, wie?« »So ähnlich.« Phil Butcher winkte nur ab. Er ließ seinen Partner laufen und versank selbst in dumpfes Grübeln. Es gefiel ihm nicht, es war alles Mist, es lief nicht gut, sie mußten etwas unternehmen, sonst waren sie bald aus dem Geschäft. Für sie beide hatte es keinen Sinn, sich mit den harten Gangs herumzuschlagen, da konnten sie nur verlieren. Bisher war es ihnen gelungen, zwischen den Fronten zu lavieren. Das hatte immer wunderbar geklappt, und so sollte es auch bleiben. Don hatte die Tür leise hinter sich geschlossen. Er und sein Kumpel kannten sich aus. So wußte auch Don, wie er auf den Hinterhof kam, dem er einen Besuch abstatten wollte, um seiner Wut freien Lauf zu lassen. Da konnte er gegen die Mülltonnen treten und mit den Fäusten gegen Mauern hämmern, niemanden würde das stören. Der Geruch aus dem Zimmer verlor sich im Gang. Die Hintertür war verriegelt. Amalfi zerrte den Pdegel zur Seite und trat nach draußen in die Kühle und den Dunst. Das schöne Wetter war vorbei, der Herbst hielt Einzug. Da fielen die Blätter, und dafür kam der Nebel, lautlos wie ein Dieb. Er brachte immer Kühle und Feuchtigkeit mit, was auch Amalfi spürte, denn er fror. Deshalb stellte er den Kragen seiner Jacke hoch, wanderte über den zerrissenen Belag des Hofs, ging vor und zurück, hielt den Kopf gesenkt, fluchte leise vor sich hin und trat tatsächlich gegen eine Mülltonne, um seinen Frust loszuwerden. Damit erreichte er nichts, der Frust blieb, nur die Zehen taten ihm weh. Es war ein großer Hof. Ein Wunder, daß er noch nicht für den Bau entdeckt worden war. Spekulanten schnappten sonst überall zu, aber hier hatten sie eine Lücke hinterlassen. In der Nähe führte eine Straße vorbei. Sie war eigentlich viel befahren, was in der Nacht abflaute. Der Verkehr wurde normalerweise als Echo in den Hof transportiert, doch in dieser Nacht, wo der Dunst erschienen war, blieben die Geräusche weich und leise. Man konnte sich einsam vorkommen… Verloren inmitten der Großstadt, umgeben von ungewöhnlichen Gerüchen, die sich zumeist aus Abgasen zusammensetzten und in den Hof hineintrieben. Keine Stimmen. Wenn, dann nur weit entfernt, und auch die Striptease-Bude schien jenseits der Wolken zu liegen. Einsamkeit, verloren, verlassen, eine triste Umgebung, passend zu ihrem Job.
Don Amalfi ärgerte sich. Er fluchte in sich hinein. Er dachte an die OstMafia, und er wünschte sich, einmal so zu sein wie der gute Arnold Schwarzenegger, wenn er unter seinen Gegner aufräumte. Das wäre toll gewesen, aber die Wirklichkeit war anders, die stand in keinem Drehbuch. Amalfi fluchte vor sich hin. Er wollte eine Zigarette rauchen und blieb neben den Mülltonnen stehen. Irgendwo in der Nähe fiepte und raschelte es. Don wußte nicht, ob es Ratten oder Mäuse waren, die sich bei den Tonnen aufhielten. Er rauchte. Die Flamme des Feuerzeugs und auch die Glut der Kippe wurden von den Nebelschleiern geschluckt. In den letzten Minuten schien er dichter geworden zu sein. Er hüllte London ein wie ein Netz. Das war wieder so typisch für diese Stadt. Da kam Amalfi stets der Gedanke, in die Heimat seiner Vorfahren zu ziehen, ins sonnige Italien. Die Zigarette schmeckte ihm nicht. Er rauchte sie trotzdem, obwohl auf seiner Zunge und in seiner Kehle ein trockener Geschmack zurückblieb. Mit einem Whisky hätte er ihn gern weggespült. Zu einem Ergebnis war er noch nicht gelangt. Es fiel ihm sowieso schwer, seine Gedanken zu sammeln. Bisher war die andere Seite noch nicht an sie herangetreten, aber es gab Anzeichen, daß sich die Gangster aus dem Osten breitmachten. Das würde auch den einheimischen Verbrechern nicht gefallen, und Amalfi befürchtete Bandenkriege, die London erschüttern konnten, denn die einheimischen Bosse würden sich auf keinen Fall kampflos aus dem Geschäft drängen lassen. Die Zigarette qualmte zwischen seinen Fingern. Er wollte auch nicht mehr an ihr ziehen, denn da war etwas. Amalfi erstarrte. Er hatte noch nichts Konkretes gesehen, was wegen des Nebels auch schwer war, nur spürte er die Veränderung in seiner Nähe. Jemand war auf den Hof geschlichen. Er dachte nicht an die Gegner aus dem Osten, die würden anders auftreten und mit Gewalt über alles hinwegwalzen. Nein, was sich hier ereignet hatte und er nicht sehen konnte, hatte sich irgendwie dem Nebel angepaßt und war ebenso schleichend gekommen. Er starrte nach vorn. Nichts war zu sehen. Der Hinterhof schwamm in der grauen Suppe. Amalfi konnte nicht mal die Mauer gegenüber erkennen, auch die hohen Bauten dahinter waren für ihn nur mehr verschwommene Schatten. Don zuckte zusammen, als die Glut an seiner Haut fraß. Er ließ die kurze Kippe fallen und trat sie aus. Aber er blieb auch stehen. Bis zum Hintereingang waren es nur wenige Schritte. Amalfi traute sich nicht, ihn zu benutzen, aus Angst, jemand könnte ihm eine Falle stellen.
Warten… Worauf? Er atmete flach, konzentrierte sich. Irgend etwas mußte doch zu hören sein, auch wenn er zunächst nichts sah. Oder hatte er sich alles nur eingebildet? Im Hinterhof lag der Nebel still wie ein See. Da war eine Bewegung! Don hielt den Atem an. Er spürte, wie eine zweite Haut über seinen Rücken rann, das Herz schlug schneller, denn diese Bewegung hatte er sich nicht eingebildet. Vor ihm schlich jemand über den Hof. Ein Schatten, kleiner als ein Mensch, dabei gebückt gehend, als würde der Schatten auf allen vieren laufen wie ein Hund. Hund? Der Gedanke irrlichterte durch seinen Kopf. Amalfi hatte ihn noch nicht beendet, als er zu Eis wurde. Genau vor ihm hatte sich der Schatten gedreht und starrte ihn an. Seltsam und ungewöhnlich klar, trotz des Nebels. Zwei >Lichter< im Nebel. Augen! Gelbe Augen! Die Augen eines Raubtiers! *** Don Amalfi wußte, daß er seine Chance verpaßt hatte. Wenn er jetzt einen Fluchtversuch unternahm, würde es zu spät sein, und deshalb blieb er stehen, auch wenn er es eigentlich nicht wollte und am liebsten verschwunden wäre. Vor ihm stand jemand. Er glotzte ihn an. Trotz des Nebels kamen ihm die verdammten Augen geschliffen scharf vor. Sie transportierten eine böse Botschaft, sie waren furchtbar, sie waren für ihn wie kalte Fenster zu einer Welt des Schreckens. Ein Tier? Ja, aber welches? Die Fragen schwirrten durch seinen Kopf. Sie verdeckten für einen Moment die Angst. Das… das… kann doch kein Hund sein, dachte er. Hunde sind anders, Schäferhunde oder… Die Überlegungen bekamen einen Bruch. Plötzlich dachte er ganz anders darüber. Natürlich, das konnte ein Hund sein. Es gab ja nicht nur die normalen. Schließlich war es bei einigen Typen in Mode gekommen, sich Kampfhunde zu halten. Der Gedanke daran wühlte sich tief in seinen Magen. Er kam sich vor, als wäre dort jemand dabei, ihn aufzurühren, denn gegen die auf den Mann dressierten Kampfhunde hatten waffenlose Menschen keine Chance. Nicht mit den Fäusten, da war der Zweibeiner immer unterlegen. Amalfi dachte daran, daß er eine Waffe bei sich trug. Ein
Stilett. Er konnte es hervorziehen, die Klinge herausschnellen lassen, aber was würde das bringen? Nichts. Der Kampfhund war bestimmt auf gewisse Situationen trainiert. Bei der geringsten falschen Bewegung würde er reagieren und ihn anspringen, um seine Kehle zu zerfetzen. Deshalb ließ er es bleiben. Der Hund wartete. Er bewegte sich nicht, aber hinter ihm sah Amalfi die Schatten. Sie schafften es tatsächlich, sich lautlos durch den Dunst zu bewegen, sie schwammen* dahin. Amalfi stockte der Atem. Er hatte die Schatten nicht gezählt. Er sah schwach die kalten Augen, wie ein mattes Funkeln im Nebel. Sie waren da, und sie hatten ihn eingekreist. Er zitterte plötzlich. Dann schielte er nach rechts, denn die Schatten waren dabei, sich der Hintertür zu nähern. Und was das bedeutete, wußte Amalfi genau. Sie würden in den Bau eindringen und dort ein Blutbad anrichten. Amalfi war kein frommer Mensch. Ein Egoist wie Phil Butcher. Ihnen ging es darum, immer ihren dicken Vorteil aus einem Geschäft zu ziehen, auch wenn sie sich dabei auf einem dünnen Draht bewegten, von dem sie manchmal kippten und jenseits der Gesetze arbeiteten. Aber er konnte nicht zulassen, daß die Kampfhunde den Bau stürmten. Es war ein Ding der Unmöglichkeit. Nie hätte er damit gerechnet, daß die Konkurrenz zu derartigen Mitteln greifen würde. Die Bestien waren schlimmer als Kugeln. Er wollte weg! Noch belauerte man ihn, aber die anderen Schatten näherten sich bereits der Tür. Amalfi sprang zur Seite. Er hoffte, schnell genug gewesen zu sein, und er hatte mit keiner Bewegung seine Aktion angezeigt. Trotzdem war er zu langsam! Der Hund oder wer immer es war, sprang aus dem Stand. Und er war so schnell, daß Don nicht ausweichen konnte. Der verdammte Körper wuchs riesig vor ihm hoch, auch der Griff nach dem Stilett gelang Don Amalfi nicht mehr. Pranken schlugen zu. Er spürte einen heißen Atem über sein Gesicht wehen. Amalfi sank in die Knie, sein Kopf fiel zurück, und er prallte gegen die Mauer. Vor ihm tanzten Sterne, oder waren es die gelben Augen der Bestie? Die Mülltonnen schepperten, als er gegen sie prallte, und dann sah er plötzlich etwas, das ihm wie ein Traum vorkam. Nur für die Dauer von höchstens zwei, drei Sekunden, aber dieses Bild prägte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis ein. Durch den Nebel bewegte sich eine Gestalt. Es war kein Vierbeiner, sondern jemand auf zwei Beinen, ein Mensch – eine Frau!
Eine schöne Frau mit langen Haaren und dunkel gekleidet. Ein bleiches Gesicht, kalte Augen, wie bei einem Raubtier, zu vergleichen mit denen der Wölfe. Die Frau schaute auf ihn nieder, dann nickte sie. Das Tier reagierte. Warum ist mein Hals plötzlich so naß? Warum die Schmerzen? Warum die dichte Dunkelheit, dicht wie nie… nie… nie… Amalfis Gedanken brachen ab. Er konnte weder denken noch reden, der Tod war schneller. Und die Wölfe hatten freie Bahn… *** Phil Butcher schaute auf die Flasche und dachte darüber nach, ob er noch einen Schluck nehmen sollte. Nein, er wollte es nicht. Er mußte nüchtern bleiben. Es hatte keinen Sinn, noch einen vierten Drink zu nehmen, das rückte die Probleme zwar in den Hintergrund, schaffte sie aber nicht aus der Welt. Es stand fest, daß Don und er sich in einer Klemme befanden, auch wenn die andere Seite sie noch nicht direkt angegangen hatte. Aber sie war vorhanden. Beide hatten das Feeling. Er schaute wieder durch das Fenster. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Melanie tanzte heute besonders lange. Sie machte es sehr spannend. Auch das gehörte zu ihrem Job. Sich profimäßig zu verhalten, wenn ein anderes Mädchen ausfiel. Fatima hatte sich krank gemeldet, die Zuschauer mußten auf ihren Schleiertanz verzichten, und Melanie war in die Bresche gesprungen. Butcher stöhnte leise auf. Es hörte sich an, als wollte er sich selbst bemitleiden. Die fetten und leichten Zeiten waren dahin. Jetzt hieß die Losung Kampf, das wußte er, und er fürchtete sich davor. Nein, ein wahrer Held war er nicht. Wenn die anderen kamen, würde er sich ihnen nicht in den Weg stellen, sondern verschwinden. Das war für die Gesundheit wesentlich besser. Oder waren sie schon da? Die Unruhe in ihm nahm zu. Er runzelte die Stirn und veränderte seine Sitzhaltung. Er zog die Beine an, setzte sich normal hin und schaute auf die Uhr. Das brachte auch nichts, weil er nicht wußte, wann sein Partner Don ihn verlassen hatte, denn er hatte zuvor nicht auf die Uhr geschaut. Ihm jedenfalls kam es sehr lang vor. Er stellte sich zwangsläufig die Frage, was ihn so lange draußen auf dem nebelverhangenen Hinterhof festhielt, denn der Dunst in der Stadt wurde immer dichter. Durch die veränderte Sitzhaltung hatte Phil auch einen anderen Blickwinkel bekommen. Er übersah nicht nur die Tanzfläche, jetzt konnte
er auch in das Lokal hineinschauen, von dem der meiste Teil in einem Halbdunkel lag. Die Tanzfläche war so dicht umlagert, als hätten sie noch nie im Leben eine nackte Frau gesehen. Viel war nicht zu erkennen. Butcher sah nur die ersten Reihen und dort zumeist auch die Gesichter. Wegen der Beleuchtung schienen sie ihm von den Körpern losgelöst zu sein, so hatte er den Eindruck, als würden sie in der Luft schweben. Es gab keinen Mann, der die Augen geschlossen hielt. Alle waren weit aufgerissen, um nur nichts zu verpassen. Sie gierten nach Melanie. Einige streckten ihre Hände über den Rand der Bühne hinweg, wie Teenies, wenn sie nach ihren Idolen fieberten. Butcher konnte es zwar nicht begreifen, aber es war sein Geschäft. Er und sein Partner kassierten mit, und es war immer besser, wenn die Bude gerammelt voll war. Melanie machte ihre Sache super. Sie trug kaum noch was am Leib. Ihr Körper war eine Wucht. Sogar das Herz des Zuschauers Phil Butcher schlug schneller. Er sah diese fünfundzwanzigjährige Frau nicht nur als sein Kapital an, für ihn war Melanie mehr. Er mochte sie, er wartete darauf, endlich mit ihr ins Bett steigen zu können. Er war heiß auf sie, und er glaubte auch, daß sie nicht nein sagen würde, obwohl er und Don sich abgesprochen hatten, die Mädchen nicht anzumachen. Bei Melanie war es etwas anderes. Sie hakte jetzt den Verschluß des Oberteils auf. Dabei drehte sie der Meute den Rücken zu. Genau diese Bewegung wurde von den Gaffern mit einem Johl- und Pfeifkonzert quittiert, das selbst in das kleine Büro wie ein gewaltiges Rauschen hineindrang, in dem Phil hockte. Sein Mund zog sich in die Breite. Verdammt, er wußte schließlich, wie Melanie nackt aussah, aber er hatte sie nie berührt, zumindest nicht richtig, und das Verlangen in ihm stieg rasend an. In der rechten Hand hielt sie ihr Oberteil. Mit einer gekonnten Bewegung ließ sie es um den Finger kreisen, tanzte dabei auf der Stelle weiter und trug nur mehr das kleine Dreieck am Körper, daß sie auch nicht abnehmen würde. »Na… na…?« Auch Phil fieberte der großen Sekunde entgegen, wenn Melanie sich drehte und ihre herrlichen Brüste präsentierte. Die waren echt, da hatte kein Silikon herhalten müssen, um sie ein paar Nummern größer zu machen. Melanie war ein Naturwunder. Das Oberteil flog weg. Melanie machte es spannend. Noch immer präsentierte sie den Zuschauern ihren Rücken, aber sie bewegte die Arme nach vorn und legte die Hände um ihre Brüste. Sie machte es spannend. Dann bog sie ihren Kopf zurück und drehte sich gleichzeitig um.
Darauf hatten die Gaffer gewartet. Ein Tornado aus Schreien, Johlen und Trampeln ließ die Bude erzittern. Die Hölle war los, und Melanie genoß es. Sie präsentierte sich den Männern, hielt die Hände noch vor ihren Brüsten. Arme zuckten über den Rand der Tanzfläche. Hände griffen ins Leere, denn Melanie tat ihnen nicht den Gefallen, nach vorn zu gehen. Sie blieb stehen. Sie lächelte. Sie streichelte ihre Brüste, spielte mit ihnen, machte die Männer noch verrückter. Und dann – urplötzlich nach all den Spielereien ließ sie die Hände sinken. Melanie war so gut wie nackt, und in dem Büro stieß Phil Butcher stöhnend die Luft aus. Das war spitze, das war perfekt und super, das war – ihm fehlten einfach die Worte. Jetzt war er froh, seinen Partner Amalfi nicht bei sich zu wissen. Der hätte ihn nicht zu beobachten brauchen, der… Etwas passierte! Im Hintergrund des Lokals entstand Bewegung. Erste Schreie gellten auf, sie hörten sich dünn an, aber sie waren zu hören gewesen. Und was danach folgte, erlebte Phil zwar mit, dennoch kam er sich vor wie der Gefangene eines mörderischen und blutigen Alptraums, der für ihn nicht normal ablief, sondern in einem zeitverzögerten Tempo. Phil Butcher erlebte den Überfall der Wölfe! *** Begonnen hatte es mit den ersten Schreien im Hintergrund, die zwar von Butcher gehört worden waren, aber nicht von den Gästen in den ersten Reihen. Sie konzentrierten sich nach wie vor auf Melanie. Einige trafen Anstalten, auf die Bühne zu klettern, denn sie hatten gesehen,’ daß sich die Tänzerin nicht mehr bewegte. Sie stand da wie erstarrt. Es gab einen Grund für diese veränderte Haltung. Melanies Platz war ein besonderer. Sie stand erhöht, sie konnte über die Köpfe der Gäste hinwegschauen in den hinteren Teil des Raumes, wo die ersten Schreie aufgegellt waren. Dort hatten die Gäste nicht so dicht gestanden wie vor der Bühne. Und sie hatten sich stark recken müssen, um überhaupt etwas erkennen zu können, und dort sah sie die Bewegungen, auch wenn das Licht der Scheinwerfer da nicht direkt hinstrahlte. Schatten tauchten auf, die aussahen wie Hunde! Als Melanie dieser Gedanke kam, wurde sie noch steifer. Sie fürchtete sich vor Hunden, besonders vor den großen, und diese da vorn waren groß.
Mächtige Bestien, deren Erscheinen für eine Panik sorgte. Melanie sah, daß Menschen angegriffen wurden. Die Körper der Tiere wuchteten hoch, sie bissen, schlugen mit ihren Pranken. Erste Schreie gellten auf. Sehr laut, spitz und schrill. Und plötzlich schrie auch Melanie! Es hörte sich an, als wäre eine Sirene angestellt worden, deren Klang aber überkippte. Das Gesicht zeigte die nackte Panik, und die Zuschauer vor der Bühne ahnten allmählich, daß etwas nicht stimmte. Die ersten drehten sich um. Sie bekamen Stöße, weil andere nachdrängten, und plötzlich steckten die Zuschauer fest. Einige dachten sicherlich an Flucht, nur war es ihnen im Moment unmöglich, dies auch in die Tat umzusetzen. Die Bestien jagten auf die Bühne zu. Wer sich ihnen in den Weg stellte, wurde brutal zur Seite geräumt. Die aufgerissenen Mäuler schnappten zu. Zähne verhakten sich in Fleisch und Kleidung. Das Grauen war nicht mehr zu stoppen, und die Panik überschwemmte die Gäste wie eine gewaltige Woge. Ein nie erlebtes Chaos entstand. Und Melanie schaute zu. Sie konnte sich nicht vom Heck bewegen. Auf einmal fühlte sie sich tatsächlich nackt, was ihr normalerweise nichts ausmachte. Ihre Augen glichen starren Kugeln. Sie sah und sah doch nicht. Aber sie konnte dem Grauen nicht entwischen und bekam mit, daß Blut spritzte, denn die Bestien bissen sich durch. Waren es Hunde oder Wölfe? Damit kam Melanie nicht zurecht, auch nicht der Beobachter hinter der Scheibe. Phil Butcher war bleich wie ein Gespenst geworden. Er selbst bekam nicht mit, wie er reagierte. Sein Mund stand offen, die Haut war glitschig und naß vom kalten Schweiß. Er spürte einen irrsinnigen Druck in seinem Kopf, als würde das Gehirn gleich explodieren. Die kalte Angst hatte seinen Mund verzerrt. Speichel floß aus einem Mundwinkel und tropfte vom Kinn. Die Bestien wühlten sich durch. Sie wollten auf die Bühne. Ihre eiskalten, gelblich schimmernden Augen tanzten durch die Rauschschwaden. Und wenn sich jemand in den Weg stellte, bissen sie sich einfach den Weg frei. »Melanie«, hörte Butcher sich flüstern. »Verdammt, sie wollen zu Melanie…« Er wollte aufstehen, zu ihr hinrennen und ihr helfen, aber er schaffte es nicht. Statt dessen schrie er sie an, obwohl sie nichts hören konnte. »Verdammt noch mal, komm doch! Komm her! Flieh von der Bühne! Beeil dich!« Melanie blieb stehen, als hätte sie auf die Wölfe gewartet. Sie war zwar noch immer dieselbe, aber trotzdem eine andere. Wie ein bleiches
Denkmal stand sie auf der Bühne, inmitten des Chaos, und sie kümmerte sich nicht um die Bodyguards, die an ihr vorbeihuschten und das Weite suchten. Für einen Moment erschien auch der Besitzer des Lokals, Carl Wiskowsky, in Butchers Blickfeld. Er trug einen hellen Anzug, dessen Jacke bereits in Fetzen an seinem Körper herabhing, weil die Wölfe ihn angefallen hatten. Aber er wollte nicht aufgeben. Es war sein Lebenswerk, das dort angegriffen wurde, und so bahnte er sich mit rudernden Armbewegungen einen Weg, was genau das Falsche war. Plötzlich waren zwei Wölfe in seiner Nähe. Er sah sie zu spät. Sie sprangen ihn an. Butcher stöhnte auf, als er sah, wie der Mann unter den beiden Körpern begraben wurde. Er zuckte noch, auch die Bestien bewegten sich, und als sie die Köpfe hoben, da sah Phil die blutigen Schnauzen. Er bemerkte nicht, daß er sich bekreuzigte. Dieser Horror wollte kein Ende nehmen, und die ersten Tiere befanden sich bereits in der Nähe der Bühne. Noch zwei Sprünge, dann hatten sie das Podest erreicht, auf dem die Stripperin stand. »Hau ab! Hau doch ab!« Phils Stimme überschlug sich, aber Melanie hörte ihn nicht. Oder sie reagierte nur nicht. Dann huschten die Bestien auf die Bühne. Ihre kalten Augen waren auf die nackte Frau gerichtet, eine Beute, die sich nicht wehren konnte, und auch Phil Butcher konnte nicht mehr länger hinschauen. Deshalb schlug er die Hände vor sein Gesicht und schloß zusätzlich noch die Augen. Für ihn war Melanie verloren. Draußen vor der Tür hörte er ebenfalls die Schreie und das Gepolter der flüchtenden Personen. Es war auch seine Chance, in den Hinterhof zu rennen, dort über eine Mauer zu klettern und sich irgendwo zu verstecken. Er tat es nicht. Er dachte an Melanie, und er wußte plötzlich, daß er die Frau liebte und über ihren Tod erschüttert sein würde. Die Hände hielt er noch immer vor sein Gesicht, aber er bewegte plötzlich seine Finger, so daß kleine Zwischenräume entstanden. Durch die Lücken schaute er nach vorn gegen die Scheibe und auch wieder in das Lokal hinein. Die zweite Hälfte, wo die Zuschauer gestanden hatten, interessierte ihn nicht. Auch nicht, daß zahlreiche Männer am Boden lagen, etwas anderes war viel wichtiger. Er blickte auf die Bühne, und er sah Melanie. In diesem Augenblick kam sie ihm wie eine Göttin vor, denn sie war unverletzt. Kein Blutstreifen
zeichnete ein Muster auf ihren Körper. Die makellose Haut glänzte wie Marmor. Doch das war nicht alles. Sie war nicht mehr allein. Er war so aufgeregt, daß er die Wölfe nicht zählen konnte, die in ihrer Nähe standen. Es waren sicherlich ein halbes Dutzend, und keines der Tiere bewegte sich oder traf nur im Ansatz Anstalten, Melanie anzuspringen. Sie standen um sie herum wie vierbeinige Leibwächter, als wären sie erschienen, um auf sie achtzugeben. Eine ungewöhnliche Ruhe war eingetreten. Viele Gäste hatten es geschafft, das Lokal zu verlassen. Sicherlich würde die Polizei gleich eintreffen. Das war nur ein Nebengedanke, der Phil durch den Kopf huschte. Er sah auch nicht mehr zu den Verletzten oder Toten, ihn interessierte eine andere Person, die erschienen war. Eine Frau! Nicht so blond wie Melanie und auch nicht nackt. Sie war in dunkles Leder oder Stoff gekleidet, das ihren Körper umschloß. Und sie bewegte sich mit der Sicherheit einer Siegerin auf die Bühne zu, wobei sie noch von einem besonders großen Wolf begleitet wurde, dessen Maul offenstand, damit die Zähne sichtbar waren. Eine prächtige, eine schöne Frau, mit rötlichblonden Haaren, die lang wuchsen und trotzdem wirr ihren Kopf einrahmten. Als sie in das Licht der Scheinwerfer geriet, da erhaschte Phil Butcher einen Blick auf ihre Augen, und er sah dort für einen Moment das grünliche Funkeln, als bestünden die Pupillen aus scharf geschliffenen Diamanten. Wer war diese Frau? Jedenfalls schienen ihr die Wölfe zu gehorchen, sie war so etwas wie ihre Herrin. Es gab an der rechten Bühnenseite eine Treppe, über die die Rotblonde hochstieg. Sie geriet voll in das Licht der Scheinwerfer, und sofort regten sich die Wölfe auf der Bühne. Sie huschten auf ihre Herrin zu und genossen es, von ihr gestreichelt zu werden. Die Frau wühlte ihre Hände in das Fell, bückte sich dabei und hatte nichts dagegen, von den Wölfen abgeleckt zu werden. Melanie stand auf der Stelle und schaute zu. Sie zitterte, das sah auch Phil Butcher, und dieses Zittern machte ihm klar, daß wieder Leben in sie zurückgekehrt war. Die fremde Frau richtete sich wieder auf. Dabei glitten die Fellhaare ein letztes Mal durch ihre Finger, dann kam sie auf die Nackte zu. Melanie tat nichts, als erwartete die Fremde, und sie hatte auch nichts dagegen, als sie von ihr in den Arm genommen wurde. Wie zahme Hunde umstanden die Wölfe das Pärchen und schauten zu. Auch Phil Butcher konnte sich wieder bewegen. Er war aus seinem Alptraum in die Realität zurückgekehrt, aber er faßte auch weiterhin nicht, was sich da abspielte.
Er sah Melanie lächeln, dann nicken… War sie einverstanden? Dann hörte er das dünne Heulen der Polizeisirenen. Phil wartete darauf, daß die Uniformierten das Lokal stürmten, und er war sicher, daß sich die Frau mit ihren Wölfen nicht widerstandslos festnehmen lassen würde. Es würde zu einem weiteren Blutbad kommen, auch unter den Bestien, denn die Polizisten würden von ihren Waffen Gebrauch machen. Der Stuhl, auf dem Butcher saß, war für ihn zu einer heißen Herdplatte geworden. Er konnte nicht mehr länger sitzen bleiben, er mußte weg, es war alles anders gekommen, und Melanie… Sie lächelte. Sie freute sich… Warum? Die Frage schrillte durch seinen Kopf, während er auf die Tür zurannte, sie wuchtig aufriß und Reißaus nahm. Phil Butcher gelangte in den Hinterhof, stolperte dort über etwas Weiches und fiel hin. Er wollte sich abstützten und faßte mit seiner gespreizten Hand in ein weiches Gesicht. Sofort wußte er, wer da lag. Sein Partner Don Amalfi! Da drehte auch Phil Butcher durch. Er schrie seine Angst und seine Wut hinaus. So fanden ihn die Polizisten… *** Eine halbe Stunde später! Phil Butcher saß auf der Bühne wie auf dem Präsentierteller. Es waren Stühle geholt worden für andere Zeugen, aber davon gab es kaum welche, die im Moment greifbar waren. Von außen her drang noch immer der Widerschein der Drehleuchten auf den Polizeiwagen durch die Fenster, und der geisterhafte Schein huschte durch das Lokal, wobei er eine unheimliche Stimmung erzeugte. Die Scheinwerfer strahlten nicht mehr so stark. Ihre Leistung war heruntergedreht worden. Noch immer zogen Rauchschwaden durch den Saal. Phil lächelte, obwohl er es nicht wollte. Es mochte an dem Beruhigungsmittel liegen, das man ihm verabreicht hatte. Er war dann gebeten worden, sich als Zeuge zur Verfügung zu stellen, denn er hatte stotternd und keuchend erklärt, daß er den Vorfall von Beginn an mitbekommen hatte. Die Männer mit den Bißwunden waren in ein Krankenhaus geschafft worden, man hatte wohl auch schon die Toten abtransportiert. Der Besitzer des Etablissements lag jedenfalls nicht mehr an der Bühnenseite.
Auch Don war tot. Phil dachte daran, und es machte ihm nicht einmal viel aus. Das mochte an den Tabletten liegen, aber sie waren nicht in der Lage, seinen Schweiß zurückzuhalten. Diesmal roch es nicht nur nach Schweiß, Alkohol und Rauch, sondern auch nach Blut. Oder bildete er sich das ein? Butcher wußte es nicht. Er war nur froh, mit dem Leben davongekommen zu sein, und er war auch wieder in der Lage, sich zu bewegen und den Kopf so zu drehen, damit er die Bühne überblickte. Die meisten dort hingestellten Stühle waren leer. Bis auf einen. Dort hockte ein Uniformierter und ließ Phil nicht aus den Augen. Als sich ihre Blicke kreuzten, hob der Konstabier nur kurz die dichten Brauen an. Phil winkte ab und schaute wieder weg. Er war auch in der Lage, endlich nachdenken zu können, und ihm fiel ein, daß weder von den Wölfen noch von der rotblonden Frau etwas zu sehen war. Ihnen war die Flucht gelungen, sie waren in der nebligen Nacht untergetaucht und hatten sicherlich schon für die entsprechenden Verstecke gesorgt, so daß auch eine Hundertschaft an Polizisten sie so leicht nicht fanden. Wölfe in London! Dazu angeführt von einer Frau! Das wollte Phil nicht in den Kopf. Es war auch kein Film gedreht worden, denn die Verletzen und die beiden Toten waren echt gewesen. Nach einer Erklärung zu forschen, gestaltete sich sinnlos. Butcher sah ein, daß er mit diesen Dingen nicht zurechtkam, das überstrahlte sein Begriffsvermögen. So etwas gab es nur in einem Horrorroman, und er ging davon aus, daß eine derartige Geschichte Wirklichkeit geworden war. Wölfe in London? Wenn ja, und wenn es nicht nur ein nie mehr wiederkehrender Spuk gewesen sei, dann kam ihm das wie der Anfang vom Ende vor. Der Beginn der Apokalypse, daß die Tiere den Menschen zeigen wollten, wohin der Weg führte. Er schwitzte nicht nur, plötzlich fror er auch. So stark, daß seine Zähne aufeinanderklapperten, und er verspürte einen gewaltigen Durst. Seine Kehle war rauh geworden. Wenn sie kamen und ihn verhörten, würde er Mühe haben, überhaupt normal sprechen zu können. Zunächst kamen sie noch nicht. Dafür aber erschien Melanie auf der Bühne, begleitet von einem Konstabier, der ihr einen Stuhl anbot. Melanie schaute sich um, sah Phils Winken, kam zu ihm und schob den Stuhl, den sie an der Lehne gepackt hielt, bis in seine Nähe, wo sie sich niederließ. »Endlich!« flüsterte Phil und faßte nach ihrer Hand. »Endlich bist du da. Und du bist… unverletzt.« Melanie lächelte. Phil sah es genau, und er versuchte, das Lächeln zu deuten. Es wirkte weder erleichtert noch verloren, auf ihn machte es
einen hintergründigen und zugleich wissenden Eindruck, als hätte sie etwas Bestimmtes erfahren bei dieser Begegnung mit der schönen Fremden. Nur traute er sich nicht, mit ihr darüber zu reden. Melanie hatte sich angezogen. Sie trug jetzt ihre enge schwarze Stretchhose und darüber einen grauen, weit fallenden Pullover, der ihr bis zu den Hüften reichte. Ihre Füße steckten in Schuhen mit Blockabsätzen. Das Gesicht sah aus, als hätte sie inzwischen ein leichtes Makeup aufgelegt. »War es schlimm, Melanie?« Sie hob nur die Schultern. Phil Butcher ließ ihre Hand nicht los. Er streichelte sie, als wollte er Melanie beruhigen. Dabei war er es, den dieser Kontakt mit der Tänzerin beruhigte. Melanie hatte den Schock noch nicht überwunden. »Weißt du, wo sie sind?« »Nein, ich glaube nicht.« »Und die Frau?« »Was ist mit ihr?« »Sie war doch bei dir – oder?« Melanie senkte den Blick. »Ja, das stimmt. Sie… sie hat mich begrüßt. Aber mehr auch nicht.« Die letzten Worte hatten sich angehört, als wollte sie über dieses Thema nicht mehr reden. Phil, der ebenfalls nachdachte, konnte sich vorstellen, daß Melanie und die Fremde innerhalb dieser kurzen Zeit zu Verbündeten geworden waren, aber er traute sich nicht, nachzuhaken. Bei diesem Thema würde sich zwischen ihnen beiden eine Mauer aufbauen, davon war er überzeugt. Allerdings würde sie sich öffnen müssen, denn die Polizei nahm keine Rücksicht. Zwischen ihr und Melanie existierte auch kein persönliches Verhältnis wie bei Phil, und er sprach sie noch einmal an. »Weißt du, daß ich eine wahnsinnige Angst um dich ausgestanden habe? Ich… ich… saß in der Garderobe und konnte alles beobachten.« »Das war nicht nötig.« »Aber es hat Tote gegeben, Melanie. Auch Don ist tot. Er lag im Hinterhof. Ich bin über seine Leiche gestolpert.« Sie hob die Schultern. Phil war über ihre Reaktion mehr als befremdet. Damit kam er nicht zurecht und fragte: »Tut es dir denn nicht etwas leid?« Er drückte ihre Hand fester, und sie entzog sie ihm. »Wenigstens ein wenig…?« »Es war wohl seine Schuld – oder?« Butcher war geschockt. »Bitte?« fragte er. »Seine Schuld? Das… das meinst du doch nicht im Ernst?« »Warum nicht?« »Keiner ist hier schuldig gestorben oder verletzt worden. Das war ein Überfall von Bestien, die von einer Frau angeführt wurden. So etwas ist nicht normal. Wenn ich es in einem Film gesehen hätte, okay, aber doch
nicht mitten in London und als Realität. So etwas muß man sich mal vor Augen halten.« »Es ist aber passiert, Phil.« »Ja, ich weiß, und wir beide leben. Ich möchte auch, daß es so bleibt.« Er suchte nach Worten, denn er wollte ihr klarmachen, wie sehr er sie mochte. »Weißt du, Melanie, du bist für mich nicht einfach nur eine Ware, eine Mitarbeiterin, bei der ich kassiere. Ich habe sehr lange nachgedacht, über uns, meine ich, und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß ich für dich mehr empfinde als nur Freundschaft.« Er lachte selbst, als er sagte: »Du kannst mich jetzt auslachen, aber so denke ich über dich. Ich will nicht, daß dir etwas passiert, und ich würde mich freuen, wenn wir beide… na ja, du weißt schon, wenn wir…« Ihm fehlten jetzt einfach die Worte. »Du meinst, wir sollten ein Paar werden, wie man so schön sagt.« »Ja, das denke ich!« Melanie schaute ihn nachdenklich an. Der Mund zeigte den Ansatz eines Lächelns, das kein Anlaß zur Hoffnung gab. »Du und ich, Phil? Nein, das schlag dir mal aus dem Kopf. Nicht wir beide.« So leicht gab Butcher nicht auf. »Okay, ich akzeptiere es. Aber du kannst es dir überlegen. Ich verspreche dir auch, daß du nie mehr zu strippen brauchst.« »Das hätte ich sowieso nicht getan!« kam es kalt zurück. »Okay, wie du meinst.« Beide hörten die schweren Tritte, die über die Bühne stampften. Sie schauten hoch, hörten die barsche Stimme eines Mannes, dann tauchte der Sprecher selbst auf. Er war schon älter, trug einen grauen Anzug mit einer Weste darunter, ein weißes Hemd, und auf seinem Kopf saß ein Hut, den er in den Nacken geschoben hatte. Sein Gesicht bestand aus zahlreichen Falten, mal tiefer, mal weniger tief. Er machte den Eindruck eines Mannes, der mit sich und der Welt unzufrieden war. Allerdings blitzten die Augen hellwach. Diesem Mann konnte man so leicht nichts vormachen. Mit dem Fuß schob er einen Stuhl heran und setzte sich beiden Zeugen gegenüber. »Mein Name ist Tanner, Chief Inspector Tanner, und ich leite hier den Einsatz. Entschuldigen Sie, daß ich Sie so lange warten ließ, aber es gab noch andere Dinge zu regeln. Ich möchte Sie fragen, ob Sie in der Lage sind, mir zu antworten.« Melanie nickte. Phil gab eine Antwort. »Ja, fragen Sie, es ist ja wichtig.« »Da haben Sie recht. Dürfte ich jetzt Ihre Namen wissen?« Diesmal regte sich Phil als erster. Melanie sagte ihren ebenfalls. Und sie fügte noch den Hausnamen Morton hinzu. »Das ist Ihr echter Name?«
»Ja, warum nicht?« »Da Sie hier als – ahm – Künstlerin auftreten, vermutete ich, daß Sie sich auch einen Künstlernamen zugelegt haben. Wenn ich dann noch die Adressen haben dürfte.« Der Chief Inspector blätterte in einem kleinen Buch, bis er eine freie Seite gefunden hatte. Er schrieb sich die Anschriften auf, bedankte sich und fügte hinzu, daß er eben noch zum alten Schlag gehörte und sich deshalb gern Notizen machte. Er beschwerte sich dann über die Nachtschicht und auch darüber, daß man auf sein Alter keine Rücksicht nahm. Butcher glaubte ihm nicht. Dieser Chief Inspector war ein alter Hase, der verstand sein Geschäft, und Phil glaubte sich zu erinnern, den Namen auch schon gehört zu haben, und zwar in einem Zusammenhang, wo mit größter Ehrfurcht über ihn gesprochen worden war. Tanner war in der Unterwelt als Topmann bekannt, und Butcher nahm sich vor, auf der Hut zu sein. Bevor ihm jedoch Fragen gestellt werden konnten, wandte er sich an den Polizisten. »Sagen Sie, Sir, wie viele Tote hat es eigentlich gegeben?« »Zum Glück nur zwei, aber das sind genau zwei zuviel.« »Stimmt«, murmelte Butcher. »Einer davon war mein Partner. Und wie hoch ist die Zahl der Verletzten?« »Da kommen wir schon auf ein Dutzend.« »Mein Gott…« »Ihr Partner ist tot, sagten Sie eben. Was haben Sie mit diesem Etablissement zu tun?« »Im Prinzip nichts, es gehört mir nicht, ich bin auch nicht daran beteiligt, aber…« »Sie waren aber hier.« »Ja, das stimmt.« »Den Grund hätte ich gern gewußt.« Phil Butcher hatte vorgehabt, sich zu öffnen. Er wollte diesem Mann alles berichten und kein Blatt vor den Mund nehmen. Es brachte nichts, wenn er sich in irgendwelchen Ausflüchten verlor, denn auch Phil hatte ein besonderes Interesse daran, daß der Fall aufgeklärt wurde. So redete er, und der Chief Inspector hörte zu, wobei er sich auf einem Block hin und wieder Notizen machte. Melanie schwieg die ganze Zeit über. Nur als sie erwähnt wurde, schaute Tanner zu ihr hin, als wollte er ihre Reaktion testen. Er sprach sie aber nicht an und wartete ab, bis Phil seinen Bericht beendet hatte. Danach holte Tanner tief Luft, seufzte, als würde er vor gewaltigen Problemen stehen. »Sie sagen nichts, Sir?« Tanner rückte an seinem Hut, nahm ihn aber nicht ab. »Es ist wirklich schwer, dies alles zu glauben.« »Aber ich habe nicht gelogen, auch nichts hinzugefügt.«
»Das weiß ich, Mr. Butcher. Nur sind die Rätsel nicht kleiner, dafür größer geworden, und ich hoffe, daß uns die Lady hier dabei helfen kann, etwas Licht in das Dunkel zu bringen.« Melanie hatte zugehört und den Chief Inspector genau verstanden. »Ich, Sir? Ich weiß aber…« Er unterbrach sie. »Oh, ich kann mir vorstellen, daß Sie schon etwas wissen. Diese seltsame Frau ist mit ihren Wölfen hier zu Ihnen auf die Bühne gekommen. Finden Sie das nicht seltsam nach allem, was zuvor geschehen ist?« »Ich weiß nicht…« Ein ärgerlicher Zug entstand um Tanners Mund. »Doch, Sie müssen etwas wissen.« »Was denn?« »Die fremde Person hat sie umarmt. Sie schienen mir sehr vertraut zu sein. Hat sie Ihnen denn ihren Namen nicht gesagt? Wer so vertraut miteinander umgeht, der kann sich doch im Prinzip nicht fremd sein. Oder sehe ich das falsch?« Melanie nickte. »Ja, das sehen Sie falsch. Ich… ich… habe die Frau zuvor nicht gesehen.« »Und trotzdem wurden Sie von ihr umarmt? Finden Sie das nicht auch ungewöhnlich?« »Das war doch ihre Sache.« »Aber sie hat mit dir gesprochen, Melanie!« mischte sich Phil Butcher ein. »Du warst doch nicht dabei!« »Ich habe zugesehen.« »Schön«, sagte Tanner und schaute Melanie Morton an. »Hat die Fremde nun mit Ihnen gesprochen oder nicht?« Die Stripperin überlegte. »Was heißt gesprochen«, antwortete sie. »Ich… ich hörte ihren Namen.« Tanner gestattete sich ein Lächeln. »Das ist immerhin etwas. Wie hieß die Lady denn?« »Morgana…« »Aha. Und weiter?« »Mehr nicht. Sie hat mir nur ihren Vornamen genannt, das ist alles gewesen.« Tanner wandte sich an Phil Butcher. »Kennen Sie den Namen? Haben Sie ihn schon einmal gehört?« »Bestimmt nicht.« »Er ist zumindest ungewöhnlich.« »Das stimmt, Sir, und ich hätte ihn auch behalten, wenn ich ihn je gehört hätte. Außerdem sah die Frau so aus, daß man sie nicht vergißt. Sie hatte, bei allen Einschränkungen über die Taten ihrer Bestien, Rasse und Klasse.«
»Das ist immerhin etwas«, gab Tanner zu, bevor er sich wieder an Melanie wandte. »Und Sie haben nicht gesehen, wohin die Frau mit ihren Wölfen verschwand?« Die Stripperin fuhr sich mit beiden Händen durch das hellblond gefärbte Haar. »Nein, das weiß ich nicht. Ich freue mich nur, daß ich am Leben bin. Sie verließen plötzlich die Bühne und haben wohl den Hinterausgang genommen.« »Dann hätten Sie sie ja sehen müssen, Mr. Butcher«, sagte Tanner. Sein Blick richtete sich forschend auf das Gesicht des Angesprochenen. »Nein, habe ich nicht. Es war zu dunkel und auch zu neblig. Außerdem bin ich über meinen toten Partner gestolpert. Ich lag am Boden, ich kam nicht mehr weiter, ich… ich…« »Schon gut, wir werden später noch darüber reden.« »War es das?« fragte Melanie. »Fürs erste schon.« »Dann können wir gehen?« »Ich habe nichts dagegen«, erwiderte Tanner lächelnd. »Wir werden natürlich noch auf Sie zukommen. Es ist allerdings auch möglich, daß Sie Kontakt mit Freunden und Kollegen von mir bekommen werden, denn ich habe den Eindruck, daß sich der Fall in eine Richtung entwickelt, für die ich nicht mehr zuständig bin.« »Wie meinen Sie das denn?« »Spielt keine Rolle, Melanie. Da fällt mir noch eine Frage ein. Sind diese Wölfe Ihrer Meinung nach normale Wölfe gewesen? Etwas unglücküch ausgedrückt, ich weiß«, sagte Tanner, als er den schiefen Blick der Stripperin sah. »Aber ich habe nicht ohne Grund gefragt.« Melanie wunderte sich weiter. »Gibt es denn auch unnormale Wölfe?« flüsterte sie. »Ja und nein…« »Wie soll ich das sehen?« »Ganz einfach, Miß Morton. Vielleicht ist Ihnen der Begriff Werwolf bekannt.« Melanie riß den Mund auf, schloß ihn aber nicht. Und Phil Butcher saß plötzlich starr auf dem Fleck. »Nie gehört?« »Werwolf, meinen Sie?« hauchte die Stripperin. »Ja.« »Ich kenne ihn.« »Wunderbar, dann…« »Aber aus dem Kino, vom Fernsehen oder von irgendwelchen Gruselgeschichten.« »Das ist doch schon was.« »Die gibt es doch nicht in Wirklichkeit!« fügte sie hinzu. Phil und sie sahen das Zögern des Polizisten. Tanner strich über seinen Hut, eine Geste, die bei ihm vorkam, wenn er überlegte, wie er gewisse
Tatsachen an den Mann oder die Frau bringen sollte. »Nun ja«, erwiderte er gedehnt. »Es gibt im Leben manchmal Überraschungen. So habe ich nicht grundlos danach gefragt. Ich habe schon von sehr schlimmen Mutationen erfahren.« Phil Butcher staunte. »Von Werwölfen etwa?« »Wie ich schon sagte, es gibt gewisse Mutationen. Aber lassen wir das vorläufig. Wichtig ist, daß Sie beide noch leben. Ich werde auch dem Arzt Bescheid geben, daß er sich um Sie kümmert.« Tanner erhob sich seufzend. Er hatte seiner Stimme ein derartiges Gewicht verliehen, daß erst kein Widerspruch aufkam. Sie schauten ihm nach, als er ging. Ein älterer gebeugter Mann, aber beide waren davon überzeugt, daß dieser Chief Inspector genau wußte, was zu tun war und wo es langging. Phil wollte wieder nach Melanies Hand fassen. Diesmal entzog sie sich ihm. »Was ist denn?« Sie lächelte nur und sprach flüsternd in den leeren Raum hinein. »Werwölfe… Werwölfe also… ist ja interessant, wirklich…« Butcher sagte nichts. Aber die Worte waren ihm schon unangenehm aufgestoßen. Er mußte zugeben, daß ihn Melanies Reaktion doch sehr befremdete… *** Wir erfuhren aus der Zeitung von den grauenhaften und unglaublichen Vorgängen der vergangenen Nacht. Suko, der etwas früher auf den Beinen war als ich, rief mich an, kaum hatte er die Überschriften gelesen. Er war schon am Kiosk gewesen und hatte sich mit Lesestoff eingedeckt. Danach war das Frühstück zweitrangig geworden, und Shao, die sich Mühe gegeben hatte, beschwerte sich auch nicht, denn sie vertiefte sich ebenfalls in die Artikel. Mochten sie von den Überschriften und Texten her noch so reißerisch aufgemacht sein, eines jedoch hatten sie gemeinsam. WÖLFE IN LONDON! Diese Headline stimmte. Natürlich gab es Vermutungen. Von einem Ausbruch im Zoo wurde ebenso geschrieben wie von freilaufenden Hunden, die eben mit Wölfen verwechselt worden waren. Das hatten die Zeugen eben nicht auseinanderhalten können. Tatsache aber blieb, daß es zwei Tote gegeben hatte und auch einige Verletzte zurückgeblieben waren und im Krankenhaus lagen. »Und?« fragte mich Suko. Ich schaute ihn über den Rand der Zeitung hinweg an. »Was willst du denn hören?« »Daß es ein Fall nur uns wird.« »Wölfe?«
Er grinste leicht >wölfisch<. »Von dort ist der Weg nicht weit bis zu Werwölfen.« Ich schaute wieder auf die schwarzen Druckzeilen, las aber nicht, sondern sagte: »Wir haben ja unsere Erfahrungen mit Werwölfen. Deutet denn das Verhalten dieser Wölfe darauf hin, daß es sich bei diesem Fall um eben diese Mutationen handelt?« Suko schwieg. Dafür meldete sich Shao. »Haben denn Werwölfe ein genaues Verhaltensmuster, John?« »Sie greifen Menschen an, und es ist möglich, daß sich ein Mensch nach einem Biß durch einen Werwolf ebenfalls in diese Bestie verwandelt. Das denke ich schon.« »Dann liefen also die Menschen, die im Krankenhaus liegen, Gefahr, zu Werwölfen zu werden – oder?« Ich verzog die Mundwinkel. »Eine gute Frage«, dehnte ich. »Ausschließen will ich es nicht.« »Wenn das eingetreten wäre«, sagte Suko, »hätte man uns in der Nacht nicht ruhig schlafen lassen.« »Stimmt auch wieder.« Ich klopfte auf die Zeitung, bevor ich aufstand. »Jedenfalls habe ich schon jetzt das Gefühl, daß uns dieser Fall hier, ob Werwölfe oder nicht, auch nicht schlafen lassen wird. Da kann es durchaus Arger geben.« Ich war schon an der Tür. »Noch eine Minute, ich hole nur meine Jacke, dann dampfen wir ab.« »Mit dem Wagen?« fragte Suko und deutete gegen das Fenster. Dahinter drückte Morgennebel gegen die Scheibe. Es würde ein Tag werden, wie ihn sich manche Londontouristen wünschten. Neblig, schmuddelig, das tat dem Image gut, aber nicht den Bewohnern und vor allen Dingen nicht dem Verkehr. »Nein, mit der U-Bahn.« »Meine ich auch.« Es war feucht und kühl geworden in der Stadt. Die brutal heißen Tage des vergangenen Sommers waren nur mehr Erinnerung, und wegen der anderen Witterung entschloß ich mich auch für die dickere Lederjacke mit dem karierten Stoffutter. Ich hatte sie mir vor einigen Tagen gekauft und gleich zwei Hosen dazu. Eine Jeans und eine Cordhose. Als ich meine Wohnung verließ, wartete Suko schon. Ich deutete auf seine linke Wange. »Ist da was?« »Ha, ein roter Mund.« Er verdrehte die Augen. »Wann endlich schafft Shao es, sich einen kußechten Lippenstift zu kaufen?« »Du kannst ihr ja einen schenken. Denk an Weihnachten.« »Ha, ha.« Der Lift brachte uns nach unten. Die Zeitungen hatten wir mitgenommen. In der U-Bahn wollten wir die Berichte genauer nachlesen. Allerdings hätten wir die Gazetten gar nicht mitzunehmen brauchen, denn als wir im
Büro eintrafen, da hatte Glenda die Blätter bereits auf unserem Schreibtisch ausgebreitet und erklärte uns mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen, daß dies sicherlich ein Fall für uns werden würde. Ich schaute sie an. »Woher weißt du das denn?« »Intuition«, erwiderte sie. »Tatsächlich?« ließ sich Suko vernehmen, der bereits auf seinem Platz saß. Glenda drehte sich um. Sie stemmte ihre Fäuste in die Seiten. »Traust du mir das nicht zu?« »Im Prinzip schon. Aber es könnte ja sein, daß sich schon jemand gemeldet hat.« Sie lächelte und gab klein bei. »Nun ja, euch hat dieser Jemand nicht erreicht, da seid ihr schon unterwegs gewesen.« »Also doch. Wer war es?« »Chief Inspector Tanner.« »Oh«, sagte Suko nur und schaute mich wissend an. Bestimmt dachten wir beide das gleiche. Wenn Tanner sich schon von allein an uns wandte, dann steckte sicherlich mehr dahinter, als es in den Zeitungen zu lesen war. Plötzlich erschien uns die Theorie über Werwölfe gar nicht mal so abwegig, und wir sprachen auch darüber. »Dann müßten wir uns wirklich die Verletzten ansehen, ob sie möglicherweise in den Zustand der Mutation hineingeglitten sind«, sagte Suko. »Ja, das denke ich auch.« »Hoffentlich ist es nicht geschehen«, murmelte er. »Ein Krankenhaus, in dem Werwölfe umhergeistern, das wäre schlimm.« »Mal den Teufel nicht an die Wand.« Glenda Perkins hatte von unserer Stimmung etwas mitbekommen, das Büro verlassen und kehrte mit dem Kaffee zurück. Sie war schon herbstlich gekleidet. Zu der hellgrauen, weit bis über die Hüften reichende Strickjacke trug sie einen gelben Rollkragenpullover und eine schwarze Hose. Im Haar steckten ebenfalls gelbe Spangen. Suko trank an diesem Morgen ebenfalls Kaffee, und unsere Sorgenfalten glätteten sich auch nach den ersten Schlucken nicht. Ich wollte wissen, ob Tanner gesagt hatte, wann er eintreffen würde, aber Glenda schüttelte den Kopf. »Das wundert mich. Er müßte eigentlich schon hier sitzen und mit der Faust auf den Tisch schlagen. Wo bleibt er also?« »Frag mich was Leichteres.« Sie deutete auf die Zeitungen. »Ich habe die Berichte natürlich auch gelesen. Glaubt ihr denn daran, daß sich hier in London Werwölfe herumtreiben?« »Hoffentlich nicht«, erwiderte ich. »Das wäre furchtbar.« Glenda schaute aus dem Fenster. »Das noch bei diesem Wetter. Ich habe gehört, daß
sich der Nebel verdichten soll. In seinem Schutz könnten sie durch die Gassen streifen und immer Deckung finden.« Wir mußten ihr recht geben. Der Nebel bot wirklich gute Verstecke an. Sie brauchten sich nicht einmal großartig zu verkriechen, denn wenn er richtig dicht wurde, dann umfaßte er alles. Ich trank die Tasse halbleer, und mein Blick wich dabei kaum von den reißerischen Überschriften. Diese Wölfe hatten ein Striplokal überfallen, von denen es in London zahlreiche gab. Es hatte zwei Tote gegeben, aber was genau in dem Lokal vorgefallen war, darüber hatte keine Zeitung geschrieben. Wenigstens keine Details. Man erging sich in Spekulationen, an denen wir uns nicht beteiligen wollten. Wichtig war die Aussage unseres Freundes Tanner. Er hatte die Polizeiaktion geleitet, er würde mehr wissen. Wir sprachen schon davon, ihn selbst in seiner Dienststelle anzurufen oder es bei ihm zu Hause zu versuchen, da er ja Nachtschicht gehabt hatte, dazu kam es nicht mehr, denn das Telefon auf unserem Schreibtisch meldete sich. »Das ist er«, sagte Suko. »Wer?« fragte ich, als ich abhob. »Sir James.« Er war es tatsächlich, bat uns in sein Büro und berichtete, daß Tanner dort ebenfalls auf uns wartete. »Wunderbar, Sir, wir haben immer an ihn gedacht.« »Dann kommen Sie.« Der Chief Inspector trug seinen Hut wie immer. Er legte ihn auch in diesem Raum nicht ab, und ich fragte mich, ob er ihn wohl auch aufbehalten würde, wenn er mal der Queen gegenüberstand. Unter der Krempe blickten wir in ein zerknittertes Gesicht, in dem die Anstrengungen und Strapazen der vergangenen Nacht deutlich zu lesen waren. Wir hatten das Büro kaum betreten, als er schon anfing, sich zu beschweren und erklärte, daß er in der Nacht eigentlich unseren Job gemacht hatte. »Wieso?« fragte Suko. Er hatte sich, ebenso wie ich, einen Besucherstuhl herangezogen. »Das ist ein Fall für euch.« »Kannst du uns denn Details erzählen?« »Ja, einige.« »Und?« »Wie und?« Er schaute mich an. »Hast du schon einen Weg zur Lösung gefunden?« Sein Blick war vernichtend und sagte alles. Deshalb blieb uns nichts anderes übrig, als ihm zuzuhören. Er hatte sich Stichworte gemacht, und so einen präzisen Bericht hatten wir in der letzten Zeit nicht gehört. Da kam eben der alte Profi durch. Es fielen des öfteren zwei Namen. Einmal erwähnte er eine gewisse
Melanie Morton, dann sprach er von einem Phil Butcher, die Zeugen geworden waren. Sie hatten alles genau beobachten können, sie waren hautnah dabeigewesen, und Tanner kam dann des öfteren auf diese Stripperin zu sprechen, die er in Verdacht hatte. »Warum?« fragte ich. Der Chief Inspector schabte über den vorderen Rand seines Huts. »Tja, warum, John? Ich möchte nicht von einem Gefühl sprechen, aber ich habe mir im Laufe der Jahre doch etwas Menschenkenntnis angeeignet und mußte beim Verhör feststellen, daß beide Personen doch verschieden reagierten, obwohl sie hätten entsetzt sein müssen.« »Butcher war es demnach«, sagte Suko. »Richtig. Er war so entsetzt, daß er diesen Zustand sicherlich nicht hätte schauspielern können. Nicht so die Stripperin Melanie Morton. Sie kam mir nicht eiskalt vor, aber etwas gleichgültig.« »Du sprachst davon, daß die Fremde Melanie umarmt hat.« Tanner nickte Suko zu. »Das hat mich stutzig werden lassen. Ich erkundigte mich, und nach einer Weile gab diese Melanie zu, daß ihr ein Name gesagt worden war.« Tanner schaute uns an. »Morgana!« Danach schauten wir. Das Erkennen zuckte über unser Gesicht. Suko nickte, ich holte durch die Nase Luft und schnaubte dabei. »Das ist es also«, murmelte ich. Tanner hatte aufgepaßt. »Moment mal. Sag nur, daß du diese Person kennst.« »Wir beide kennen sie.« »Und?« Ich zog den rechten Mundwinkel schief. »Sie heißt Morgana Layton und nennt sich Königin der Wölfe.« Diesmal atmete Tanner tief durch, bevor er fragte: »Königin der Wölfe oder Königin der Werwölfe?« Ich hob die Schultern. »Das ist die Frage. Vielleicht sogar beides. Jedenfalls habe ich vor Jahren einen Fehler gemacht, als ich die Weroder Menschwölfin Morgana Layton laufenließ. Das war ein Fall in Germany, im Schwarzwald. Ich brachte es damals nicht übers Herz, sie zu erledigen. Später habe ich es bereut, denn Morgana nutzte ihre Kraft und ihre Magie voll aus, um sich unter den Schutzmantel eines sehr Mächtigen zu begeben.« »Wer ist das denn?« Da wir Tanner voll vertrauen konnten, hielt ich mit einer Antwort nicht hinter dem Berg. »Fenris, der Götterwolf.« Unser Kollege schluckte. »Moment mal, ist das der aus der Sage?« »Richtig.« »Und er existiert?«
»Auch das«, erklärte ich nickend. »Bei einem Fall sah ich ihn als einen gewaltigen Schatten, der sich am Himmel und am Mond abzeichnete. Wenn beide mitmischen, wird es eng.« Da stimmte mir auch Suko zu, selbst Sir James, der sich bisher herausgehalten hatte, nickte. Er sprach mit ruhiger Stimme. »Es stellt sich nun die Frage, was der eine oder die eine, eben von Fenris geschickt, in London wollen.« Keiner wußte eine Antwort. Wir konnten nur raten. Suko meinte: »Da sollten wir uns doch an die Stripperin halten. Sie ist schließlich von der Fremden wie eine Freundin begrüßt worden.« Sir James nickte. »Das wäre eine Spur.« Er wandte sich an Tanner. »Hatten Sie denn bei Ihrem Verhör das Gefühl, daß die beiden sich kennen? Oder war Miß Morton zu überrascht?« »Keines von beiden. Sie hat es hingenommen. Von einer großen Überraschung habe ich nichts bemerkt. Sie schien sich mit den Tatsachen abgefunden zu haben.« »Was hätte sie auch anderes tun sollen?« murmelte der Superintendent. »Ich sehe allerdings nicht so schwarz. Wir haben zwar kein Motiv, aber eine Spur.« Er schaute Suko an, dann mich. »Ich denke, Sie beide wissen, wen Sie jetzt interviewen.« »Ja, Melanie Morton«, sagte Suko. »Aber ich denke, und da spreche ich für John mit, daß es da noch ein Problem gibt.« »Welches?« »Die Wölfe sind in dieses Lokal eingefallen und haben sich tatsächlich wie Bestien benommen. Sie haben Tote und Verletzte hinterlassen. Wenn wir einmal davon ausgehen, daß es keine normalen Wölfe sind, sondern Werwölfe, dann könnten diese Bisse den magischen Keim bei den Opfern hinterlassen haben, und das wäre fatal.« Sir James wußte, wovon Suko redete. »Sie rechnen mit einer Verwandlung in eben die Bestien?« »So ist es.« Als Sir James zum Telefonhörer griff, hatte Tanner mitgedacht. Er teilte dem Superintendent mit, in welch einem Krankenhaus die Verletzten lagen. Sir James gab Glenda den Namen durch, die wenig später die Verbindung herstellte. Sir James ließ sich direkt mit einem der Professoren verbinden, biß dort aber auf Granit, weil am Telefon keine Auskünfte gegeben wurden. »Dann rufen Sie bitte zurück.« Das tat der Professor auch, und er war plötzlich kooperativ. Da Sir James die Lautsprecher eingeschaltet hatte, konnten auch wir zuhören und erfuhren, daß es den Patienten den Umständen entsprechend ging. Das war natürlich viel zuwenig, Sir James bohrte nach. Zumindest erhielten wir die Antwort, daß niemand in Lebensgefahr schwebte. »Ansonsten zeigen die Patienten keinerlei Veränderungen?«
»Wie meinen Sie das, Sir James?« »Auf der Haut, im Gesicht…« »Nein, nicht die Spur.« »Gut, ich danke Ihnen.« »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« »Im Augenblick nicht. Es könnte aber sein, daß einer von meinen Mitarbeitern Ihr Krankenhaus besucht, um die Patienten unter Kontrolle zu halten. Und da hätte ich schon eine große Bitte an Sie.« »Ich höre.« »Wäre es möglich, Professor, daß Sie die Patienten in einem großen Raum zusammenlegen?« Diese Frage bewies uns, wie scharf und auch logisch Sir James mitgedacht hatte. Schweigen. Dann ein leises Lachen oder Röcheln. So genau war das nicht zu verstehen. »Sind Sie noch dran, Professor?« »Ja, das schon, aber warum verlangen Sie das, Sir?« »Ich habe meine Gründe.« »Uber die Sie nicht reden können – oder?« »So ist es.« Der Arzt stöhnte auf. »Mein Gott, Sie bringen mich in Schwierigkeiten. Es wäre natürlich möglich, aber ich weiß nicht, ob ich als Arzt dies verantworten kann.« »Versuchen Sie es bitte. Tun Sie es nicht, könnten die Folgen schlimmer sein.« »Hm. Und Sie wollen mir auch keine Andeutung geben?« »Darf ich nicht.« Wieder stöhnte der Professor auf. »Gut, ich werde sehen, was sich machen läßt.« »Ich danke Ihnen jetzt schon.« Als Sir James auflegte, da huschte ein Lächeln über seine Lippen. Suko und ich klatschten leise Beifall, denn das hätten wir nicht so leicht geschafft. Auch Tanner griente, dann gähnte er und stand auf. »Ihr müßt mich entschuldigen, aber eine Nachtschicht schlaucht einen alten Mann wie mich. Wir hören sicherlich voneinander.« »Klar«, sagte ich. Suko meinte: »Grüßen Sie bitte Ihre Frau, Mr. Chief Inspector?« Tanner warf dem Chinesen einen bitterbösen Blick zu. »Wenn ich bei meiner Frau eure Namen erwähne, habe ich Theater zu Hause. Deshalb lasse ich es lieber.« Er verabschiedete sich und ging. Sir James schaute stirnrunzelnd gegen die geschlossene Tür. »Was hat seine Frau denn gegen Sie beide?« »Immer wenn wir in einem Fall mitmischen, wird es für Tanner sehr, sehr spät.« »Ah, so ist das also.«
Ich nickte. »Okay, wir haben zwei Spuren. Einen Mann namens Phil Butcher und eine Stripperin namens Melanie Morton. Ich denke, wir sollten uns um die beiden kümmern.« »Drei Spuren, John. Vergessen Sie die Verletzten nicht. Man sollte sie bewachen.« »Später. Wenn der Keim tatsächlich gelegt ist, dann wird er erst bei Anbruch der Dunkelheit aufbrechen.« »Wie Sie meinen.« Er lächelte knapp. »Dann machen Sie sich mal auf die Suche nach einer gewissen Morgana Layton…« *** Phil Butcher hatte geschlafen und war darüber selbst erstaunt gewesen. Es hatte an der Wirkung der Tabletten gelegen, die allerdings nicht lange anhielt. Als sie nachließ, da stellte Butcher fest, daß er sich in einer verdammt miesen Lage befand, denn die Erinnerungen an die Ereignisse der vergangenen Nacht stürzten über ihm zusammen wie ein mächtiges Bauwerk. Es war schlimm für ihn gewesen, und er bekam es ebenso schlimm zurück, denn er fing an zu zittern, war wieder in Schweiß gebadet und dachte natürlich an seinen Partner Don Amalfi, der nicht mehr lebte und jetzt im Leichenschauhaus lag. Butcher wußte nicht genau, wie er ums Leben gekommen war, jedenfalls durch einer Biß. Oder waren es mehrere gewesen? Er wollte nicht darüber nachdenken. Auf seinem Bett liegend starrte er gegen die schräge Schlafzimmerdecke. Seine Mansardenwohnung war nicht groß, gehörte zu einem Altbau, aber er hatte sich die Wohnung wunderbar renovieren lassen. Hell gestrichen, mit neuen Möbeln, auch die elektronischen Unterhaltungsgeräte waren alle neu. Durch Fernsteuerungen ließen sich die Geräte bedienen. Phil wunderte sich darüber. Er konnte sich nicht erinnern, den Apparat ein- oder ausgeschaltet zu haben. Das Durcheinander war zu groß geworden. Er setzte sich im Bett hin und schlug die Hände vor sein Gesicht. Das verdammte Zittern mußte endlich aufhören. Es brachte nichts, wenn er durchdrehte. Was geschehen war, das war nun einmal passiert und ließ sich nicht rückgängig machen. Den Kühlschrank hätte er sich gern neben das Bett gebeamt. Da dies nicht möglich war, mußte er aufstehen, um einen Schluck Wasser zu trinken. Er wollte sich den Geschmack von alter Asche aus dem Mund spülen. Mühsam quälte er sich hoch. Phil war nur mit einer Unterhose bekleidet, seine nackten Füße tappten über den Teppich. Durch die offene Tür ging er in den geräumigen Wohnraum mit den großen schrägen Fenstern, und erst hier riskierte er einen Blick nach draußen. Wirklich nach draußen?
Er schüttelte den Kopf. Was er da sah, war nichts. Nur die bleichgraue Nebelbrühe, die alles umschlossen hielt. Kein Windstoß fuhr hinein, um sie zu zerreißen. Das richtige Wetter für seine Stimmung, für einen Mann, der sich fühlte, als hätte man ihn als Abfall in einen Mülleimer gestopft. Er liebte seine Wohnung. An diesem Morgen kam sie ihm anders vor. Fremd und kalt, obwohl die Heizung Wärme ausstrahlte. In der kleinen Küche öffnete er die Kühlschranktür. Es war »in«, Mineralwasser zu trinken, und auch in seinem Kühlschrank standen immer drei Flaschen parat. Es zischte, als er den Verschluß öffnete. Während er die Flasche ansetzte, mußte er feststellen, wie sehr er zitterte. Das Zeug gluckerte in seine Kehle, es war zum Glück nicht so kohlesäurehaltig, und so konnte er große Schlucke nehmen. Danach ging es ihm etwas besser. Er stellte die Hasche ab, warf auch einen Blick aus dem Küchenfenster und drehte sich rasch um, da die Häuser gegenüber nur mehr konturenhaft zu sehen waren. Keine klaren Umrisse, nichts mehr. Er lebte auf einer Insel, die von einer dichten Brühe umgeben war. Phil Butcher schlurfte ins Bad. Er brauchte jetzt eine Dusche, um die Müdigkeit aus seinen Knochen zu vertreiben. Sein Kopf war noch dumpf, als hätte jemand Watte hineingesteckt. Schmerzen ärgerten ihn auch, und als er die Dusche anstellte, da kickte er den Hebel um, so daß die Strahlen jetzt von vier Seiten auf seinen Körper zuschössen und ihn durchmassierten. Er ließ sich Zeit. Er wand sich unter der Dusche. Er stöhnte, er ächzte, hustete, seifte sich ein und hoffte, daß ihm das heiße Wasser die Lethargie aus den Knochen trieb. Die Erinnerungen konnte es ihm leider nicht nehmen. Sie waren wie Strahlen, die immer öfter und auch immer dichter gegen ihn brandeten. Wölfe! Wölfe in London, in einem Lokal, das von ihnen überfallen worden war. Angeführt von einer schönen Frau mit rotblonden Haaren. Eine Herrin über die Tiere, die von ihr freie Bahn bekommen hatten, um das Grauen zu verbreiten. Er kam damit nicht zurecht. Auch nicht, als er die Dusche verlassen hatte und sich abtrocknete, wobei er gegen den großen, mittlerweile beschlagenen Spiegel schaute und sich selbst nur als schwachen Schattenriß wahrnahm. Aber so war es. Das war dieses Sinnbild. Der Schattenriß hinter dem Nebel. Die Figur in einer anderen Welt, die eigentlich normal war, aber trotzdem von anderen Kräften überdeckt wurde.
So wie er sich nur nebelhaft sah, fühlte er sich auch. Umgeben von Feinden, von verzerrten Grenzen, die normale Dimensionen aufgeweicht hatten. Selbst das Summen des Haartrockners beruhigte ihn nicht. Es kam ihm wie eine ferne Botschaft vor, und auch der Gedanke an die Polizei kehrte zurück. Er sah sich wieder zusammen mit Melanie – mein Gott, Melanie! Wie es ihr wohl jetzt ging – auf der Bühne sitzen und in das Gesicht dieses Chief Inspector schauen. Ein gefährlicher Mann, so alt und auch harmlos aussehend. Aber ein Fachmann durch und durch. Jemand, der genau wußte, wo es langging. Es war das erste Verhör gewesen, und Phil wußte, daß sie ihn noch stärker in die Mangel nehmen würden, wenn die ersten Untersuchungen abgeschlossen waren. Er hatte schon einige Male mit der Polizei zu tun gehabt, war aber nie direkt mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Er gehörte zu den Zeugen, die befragt worden waren. Sein Name war registriert, und bei seiner Berufsbezeichnung hatten die Beamten geschmunzelt. Agent für Tänzerinnen. Das war in ihren Augen keine Arbeit. Das schwamm zwischen Halb- und Unterwelt. Er stand vor seinem Kleiderschrank und suchte heraus, was er anziehen wollte. Er entschied sich für eine schwarze Hose, einen ebenfalls schwarzen Pullover, ließ die schwarze Jacke aber hängen, denn zu dunkel gekleidet roch nach Trauer. Deshalb streifte er ein rehbraunes Jackett über, zog es dann wieder aus, weil ihm etwas eingefallen war. Mit dem Jackett über dem Arm ging er zurück in den Wohnraum, wo er sich in den grauen Schalensessel setzte, das Telefon in der Hand. Er zog langsam die Antenne aus und begann zu überlegen. Der Name Melanie wollte ihm nicht aus dem Kopf. Sie war das Bindeglied, daran glaubte Phil fest. Er hatte keine Beweise gegen sie, sondern verließ sich einzig und allein auf sein Gefühl. Wie ging es ihr? War sie nach dieser schrecklichen Nacht schon auf den Beinen? Lohnte es überhaupt, sie anzurufen? Würde sie ihn abweisen oder freundlich zu ihm sein? Butcher hatte seine Zweifel. Er starrte die Tastatur an, dachte nach. Die Stirn war in Falten gezogen, sein Mund bewegte sich, als wäre er dabei, auf Weingummis zu kauen, Kälte und Wärme zugleich strömten durch seinen Körper, und die Erinnerung zeigte ihm noch einmal die Szene auf dem Podium, wie sich beide Frauen, die sich doch fremd waren, umarmten. Melanie hatte sich nicht gewehrt. Sie hatte alles mit sich geschehen lassen, und wenn er sich recht entsann, dann hatte sie nicht einmal Furcht vor den Bestien gezeigt. Hatte sie Bescheid gewußt?
Nein, so weit wollte er nicht gehen. Auf keinen Fall, das konnte er ihr nicht antun. Außerdem liebte er sie. Bei diesem Gedanken verzog er schmerzlich seine Lippen, in seiner Kehle stieg es heiß auf, und er überwand sich endlich, Melanies Nummer zu wählen. Das Freizeichen tutete durch. Angespannt saß Phil im Sessel. Auf seiner Stirn bildeten sich wieder erste Schweißperlen. Er bewegte sich nicht, der Blick war ins Leere gerichtet, doch die Gedanken drehten sich einzig und allein um die Blonde. Es tutete lange, sehr lange, und Phils Geduld näherte sich bereits der Grenze, als abgehoben wurde. Er hörte ihre Stimme, die immer so leicht verrucht klang. »Melanie – endlich!« »Du bist es!« Das klang nicht gut. Nicht überrascht, eher ärgerlich. Phil hatte es sehr wohl registriert, schob es jedoch zur Seite und ließ ein leises Lachen hören. »Ich hoffe, du hast die letzte Nacht einigermaßen gut verbracht, nach allem, was passiert ist.« »Doch, ich habe geschlafen.« »ja, ich auch. Lag wohl an den Medikamenten.« »Die ich nicht genommen habe.« »Du bist eben nervenstärker.« »Kann sein.« Sie räusperte sich. »Eine andere Frage, Phil. Warum hast du angerufen?« Butcher war überrascht. Er schüttelte den Kopf, weil er es nicht glauben wollte. »Hör mal, Melanie, das fragst du noch? Nach dieser Nacht mußte ich mit dir reden. Ich… ich… fühle mich irgendwie für dich verantwortlich, und ich habe dir auch zu verstehen gegeben, was in meinem Innern vorgeht, was ich für dich empfinde. Du bist mir nicht gleichgültig, Melanie. Ich will dich aus dieser Soße herausholen, kannst du das nicht verstehen?« Pause. Auch sie meldete sich nicht. Bis sie schließlich sagte: »Und weiter?« Das überraschte Phil. »Nun ja, ich hatte mir eben gedacht, daß wir beide uns zusammentun.« »Ach ja…« »Wir sollten verschwinden, Melanie. Wegfahren, in eine andere Stadt, in ein anderes Land. Paris oder Hamburg, nur nicht in London bleiben, verstehst du?« »Nein.« »Die letzte Nacht«, begann er nach einem tiefen Atemzug, wurde aber rasch unterbrochen. »Die letzte Nacht war anders, das gebe ich zu, Phil, aber ich sehe nicht ein, daß ich ihretwegen London verlassen soll. Hier gefällt es mir nämlich recht gut.«
»Ach – und du hast keine Angst?« Phil konnte seine Überraschung kaum verbergen. »Weshalb denn?« »Die Wölfe und…« Sie lachte ihn aus. Ja, er hörte es genau durch. Melanie lachte ihn kurzerhand aus. »Ich weiß nicht, was du hast. Haben sie dir denn etwas getan? Haben Sie mir etwas getan…?« »Nein.« »Da siehst du es.« »Aber das muß nicht so bleiben«, protestierte er. »Wie meinst du das denn?« »Sie können wieder hier erscheinen und uns überfallen. Vielleicht war das nur ein Vorspiel. Stell dir mal vor, Melanie. Wölfe in London, das ist furchtbar.« »Oder interessant.« Phil Butcher begriff die Welt nicht mehr. So etwas konnte sie doch nicht im Ernst gemeint haben. Diese Wölfe waren Bestien, die sich auf Menschen stürzten und sie töteten oder verletzten. Das hatte er schließlich selbst erlebt. Wie konnte Melanie dann von interessanten Tieren oder Wesen sprechen? Das wollte ihm nicht in den Kopf. Und wieder strömte Kälte in seinen Körper. Sie begann an den Fußspitzen und wanderte höher, als wollte sie ihn vereisen. »War’s das, Phil?« Trotz stieg in ihm hoch, und er ballte die freie Hand zur Faust. »Nein, das war es nicht. Das war es überhaupt nicht, verdammt noch mal. So einfach lasse ich mich nicht abschieben. Ich gebe nicht auf, ich werde die Wölfe und die vergangene Nacht nicht vergessen, und du solltest es auch nicht tun.« »Habe ich das denn getan? Hast du etwas gehört? Habe ich es dir gesagt, Phil?« »Nein, aber…« »Kein Aber, Phil. Ich lege die Regeln fest. Ich werde nicht mehr tanzen, das zum ersten…« »Augenblick«, sagte er hastig. »Das brauchst du auch nicht. Kein Strip mehr. Die Zeiten sind nun wirklich vorbei. Wir fahren weg und fangen gemeinsam ein neues Leben an.« Es war ihm ernst, aber er hörte ihr Lachen, das grell in seinen Ohren klang. Es erreichte ihn wie ein geistiger Faustschlag mitten in die Seele hinein. Er fühlte sich degradiert, ausgenutzt, mißbraucht, und dann war die Stimme der Frau nicht mehr zu hören, nur noch das Freizeichen tutete nahezu schmerzhaft in sein Ohr. Auch Butcher legte auf. Sein Gesicht war starr. Erst als der Hörer an seinem Platz lag, änderte sich dies, und die Starre wich einer finsteren Entschlossenheit.
So schnell würde er nicht aufgeben und Melanie ihrem Schicksal überlassen. Nein, er würde es bei diesem Telefongespräch nicht belassen. Er würde die Dinge selbst in die Hand nehmen und zu ihr fahren. Der Entschluß stand fest, daran gab es nichts zu rütteln. Ruckartig stand er auf. Seinen Wagen konnte er bei diesem Wetter vergessen. Es gab zum Glück die U-Bahn, der war es egal, ob die Stadt im Nebel schwamm oder nicht. Sie fuhr immer. Im Hur neben dem Spiegel, der die Form einer übergroßen Scherbe besaß, hing der helle Mantel am Haken. Hastig streifte ihn Phil über und verließ seine Wohnung. Erst im folgenden Jahr sollte das Haus einen Aufzug bekommen. Noch mußte er die vier Etagen über die Treppe nach unten laufen, um das Haus zu verlassen. Er trat hinein in den Nebel, und augenblicklich überkam ihn die Furcht. Diese feuchten >Tücher<, die sich um seinen gesamten Körper gedreht hatten, waren einfach nicht zu vertreiben. Wenn er ging, huschten sie weg, um sich sofort hinter ihm zu schließen. Das Haus stand in einem kleinen Neubaugebiet. Man hatte Grünflächen angelegt und schmale Wege zu einer Tiefgarage. Nichts war zu sehen. Menschen wirkten wie Schatten, die Sträucher erinnerten an wattige Wände, und der weghastende Mann fühlte sich alles andere als wohl. Das lag nicht am Wetter. Er wurde einfach das Gefühl nicht los, unter Kontrolle zu stehen. Irgend jemand oder irgend etwas beobachtete ihn aus dem Nebel hervor. Es hielt seinen Blick konstant auf ihn gerichtet, und dieses Etwas brauchte nicht unbedingt ein Mensch zu sein. Die kalte Hand fuhr wieder über seinen Rücken hinweg, als er daran dachte. Wölfe? Er schluckte und lief schnell, stoppte abrupt, als das Tier seitlich an ihm vorbeihuschte. Für einen Moment hatte er die gelben Augen gesehen, nahm eine abwehrende Haltung ein und war froh, als er das normale Bellen hörte. Das war kein Wolf gewesen, er hatte sich vor einem Hund erschreckt. Phil legte den Kopf zurück und lachte. Die Befreiung löste den Druck von seiner Seele. Es war auch unmöglich, daß Wölfe durch London irrten. Die Phantasie hatte ihm einen Streich gespielt. Er lief weiter. Die Richtung stand fest. Von vorn wehte ihm das Brausen entgegen. Es war der Verkehrslärm, den er sonst viel lauter hörte. Nun war er abgeschwächt und erinnerte ihn an eine ferne Musik. Auch wenn es neblig war, er wollte Menschen sehen, und Phil freute sich sogar darauf, sich zwischen die Passagiere in einen voll besetzten Wagen der U-Bahn zu quetschen. Nur dort fühlte er sich sicher.
Als er die schmale Treppe zur Station hinablief, war er fast wieder normal. Der Nebel kroch nicht in den Schacht hinein. Hier war alles hell, es brannten Lichter. Hier hörte er die Stimmen der Menschen und das Heranfauchen der einfahrenden Züge. Es waren keine Wölfe zu sehen. Er hätte tief durchatmen können. Er tat es nicht. Die Angst war geblieben, und Phil fragte sich schon jetzt, ob er nicht einen Fehler beging, wenn er Melanie besuchte… *** Es wäre Wahnsinn gewesen, bei einem derartigen Wetter mit dem Auto zu fahren, deshalb hatten wir uns für die >Tube< entschlossen, um die kurze Strecke nach Mayfair zu fahren, wo ein Mann namens Phil Butcher wohnte. Wir hatten bewußt nicht angerufen, sondern wollten ihn überraschen. Bei einem Anruf hätte er sich zu stark auf unseren Besuch einstellen können. Wir hofften nur, daß wir ihn auch antrafen. Bei diesen Wetterverhältnissen hörte die Rushhour praktisch nie auf. Da waren die Wagen der U-Bahnen stets voll, weil viele vom Wagen auf die Bahnen umstiegen. Ich hatte das Pech, von einer unwahrscheinlich dicken Frau gegen ein Fenster gepreßt zu werden, und ich hoffte nur, daß die Scheibe hielt. Wenn ich an der Schulter der Frau vorbeischaute, sah ich in Sukos grinsendes Gesicht. Mein Freund hatte meine Zwangslage mitbekommen und amüsierte sich darüber. Ich hatte Glück, denn die Frau stieg noch vor uns aus. Sie räumte sich den Weg frei, trug dabei noch zwei Taschen, die ihre Arme lang machten, und selbst zwei hochgewachsene Punks räumte sie mit ihren Massen aus dem Weg. Die beiden Typen waren sprachlos. Ich konnte endlich wieder frei durchatmen, zumindest in der Station. Später umgab uns der Londoner Nebel wie ein Ring, die typische Waschküche, durch die sich noch immer Autofahrer quälten. Die Hupen der Wagen hörten sich ungewöhnlich dumpf an. Zwar kannten wir uns in Mayfair aus, aber der Nebel hatte alles verändert. Straßenschilder verschwammen, Gebäude tauchten weg, so daß auch wir Mühe hatten, unser Ziel zu finden, das etwas versetzt von der Straße lag, praktisch in einer Einbuchtung, wo mehrere Häuser standen, mit Grünflächen dazwischen. Im Sommer sah es sicherlich gut aus, eine grüne Insel mitten in der Steinwüste, doch jetzt machte der Nebel alles gleich.
>Unser< Haus fanden wir nach einigem Suchen, und auf dem matten Klingelbrett in der Türnische entdeckten wir den Namen Phil Butcher ganz oben. Suko schellte. Ich hatte mich neben ihn gestellt, ihm aber den Rücken zugedreht und schaute zurück in den Nebel, wo die Lichtkegel der Autos durch die Straßenschluchten stachen. Es war gespenstisch. Hinter mir murmelte Suko eine Verwünschung und klingelte erneut. Ich achtete nicht auf ihn, weil mir etwas aufgefallen war. Vor mir stand jemand, und zwar so weit entfernt, daß es mir unmöglich war, ihn zu identifizieren. Ich ahnte jedoch, daß es kein Mensch war, der sich dort aufhielt. Dazu war der Umriß zu klein und ging zu sehr in die Breite. Ein Tier. Ein Wolf? Der Gedanke tauchte automatisch in mir auf. Er flirrte durch meinen Kopf und machte mich nicht eben optimistischer. Es konnte mir nicht gefallen, von einem Hund oder Wolf beobachtet zu werden, gerade in dieser Lage. Oder beruhte alles auf einen Irrtum? Spielte mir die Phantasie einen Streich? Suko murmelte nicht mehr. Er ärgerte sich jetzt und fluchte leise vor sich hin. »Was ist denn?« fragte ich ihn, ohne mich umzudrehen. »Er ist nicht da. Wir hätten doch anrufen sollen.« Ich hob die Schultern. »He, einen Kommentar gibst du nicht?« »Was willst du denn hören, Suko? Daß wir uns geirrt haben. Weiß ich selbst, aber im Moment habe ich andere Probleme.« »Welche?« »Wir werden beobachtet!« Das überraschte meinen Freund. Er erwartete eine Erklärung und erhielt sie auch, wobei wir den Platz vor der Tür nicht verließen. Auch Suko sah den Schatten, der von Nebelschleiern umflort wurde. »Das ist ein Wolf.« Ich nickte. »Okay, John. Was tun wir? Packen wir ihn uns, wenn es tatsächlich ein Wolf ist?« »Wäre nicht schlecht«, murmelte ich. »Wir könnten ihn auch durcheinanderbringen. Du gehst nach rechts, ich nach links. Mal sehen, für wen er sich entscheidet.« »Bestimmt für dich!« »Warum?« »Feeling.« »Danke«, sagte ich und verließ die Umgebung der Haustür. Ich wußte nicht, ob wir uns richtig verhielten. Vielleicht hätten wir noch der Wohnung auf etwas unkonventionelle Art und Weise einen Besuch
abstatten sollen, denn irgendwo mußten wir auch damit rechnen, daß diesem Phil Butcher etwas passiert war. Warum sonst hätte der Wolf hier lauern sollen? Oder wartete er auf ihn? Wir trennten uns vor der Tür. Meine Jacke stand offen. Ich konnte sehr schnell meine Beretta ziehen, wenn es sein mußte, aber es gab zunächst keinen Grund. Der Schatten bewegte sich nicht. Erst als ich drei Schritte gegangen war, da drehte er den Kopf zur Seite und trottete davon. Er sah aus wie ein braver Hund, der seine Pflicht getan hatte. Ich wollte es genauer wissen, ging deshalb schneller, aber der angebliche Wolf war schnell verschwunden und hinter die Büsche einfach abgetaucht. Davor trafen Suko und ich wieder zusammen. »Nichts«, sagte mein Freund, »du hast dich geirrt.« »Bist du sicher?« »Fast.« »Ich nicht.« »Dann nenn mir den Grund.« Diesmal war ich es, der die Schultern hob. »Ich kann mir auch vorstellen, daß dieser Wolf geschickt wurde, um das Haus zu kontrollieren und auch die Menschen, die es besuchen. Oder liege ich da falsch?« »Keine Ahnung.« Suko hatte sich angehört, als wollte er den Fall auf sich beruhen lassen, das entsprach überhaupt nicht meiner Richtung. Zwar war das Tier verschwunden, aber es war sicherlich nicht weg, und mit wenigen Schritten hatte ich die Buschwand umrundet. Urplötzlich stand es vor mir! Wäre kein Nebel gewesen, hätte ich es früher sehen müssen, so aber wäre ich beinahe gegen das Tier gerannt, das ich wegen der kurzen Distanz deutlicher sah. Es hob seinen Kopf an. Ich schaute gegen eine spitze Schnauze, sah das graue Fell und sah zugleich die gelben Augen, die Ähnlichkeit mit denen einer Katze aufwiesen. Das war keine Katze, das war weder ein Tiger noch ein Panther. Aber auch kein Hund. Vor mir stand ein Wolf! Vielleicht hatte ich es ein wenig zu spät begriffen. Ich hörte das Knurren, und plötzlich klaffte das Maul auf. Dann sprang er! ***
Mit einem glatten Zug und einem sicheren Griff reißt der Held oft genug seine Waffe aus dem Futteral und schießt dem Wolf genau zwischen die Augen. So zeigte es der Film, so war es immer und immer wieder zu sehen gewesen, aber nicht in meinem Fall. Ich war ein Mensch und handelte nicht nach einem Drehbuch. Ich zog deshalb nicht meine Beretta, weil mich der Schreck für einen Moment lähmte und ich nur die Arme als Deckung vor das Gesicht reißen konnte. Nun wuchtete ich mich zur Seite, um den verdammten Zähnen der Bestie zu entgehen. Ich prallte nicht auf das Pflaster, sondern segelte in das blattlose Gestrüpp hinein, das unter meinem Gewicht sofort nachgab. Der Wolf hatte mich während seines Sprungs nur gestreift. Ich hörte seinen Aufprall, er war auf allen vier Pfoten gelandet, sein Knurren klang böse, und er fuhr auf der Stelle herum. Ich war, nicht untätig geblieben, hatte mich zur Seite gewälzt und wollte wieder aufstehen. Diese verdammten Gestrüpparme stachen jedoch wie kleine Messer, und ich kam nicht richtig hoch. Die Bestie schlich heran. Das Maul stand offen. Sie hechelte, die Zunge tanzte im Maul, die Augen waren böse, mordlüsterne Lichter. Er scharrte mit den Vorderpfoten, voll fixiert auf mich, um sich genau im richtigen Moment abzustoßen. Hinter ihm erschien eine Gestalt. Ein Mensch. Hochgewachsen, der zudem einen Arm in die Höhe gerissen hatte. Auch ich hatte es mittlerweile trotz der Behinderung durch die Stacheln geschafft, meine Beretta zu ziehen, aber zum Schuß kam ich nicht. Der Schatten hinter dem Wolf veränderte sich und sank zusammen, als er mit der Peitsche zuschlug. Suko hatte eingegriffen. Die drei Riemen der Dämonenpeitsche erwischten den Rücken des Wolfs, und das Tier blieb in der Bewegung stehen. Es riß seinen Kopf hoch, aus dem offenen Maul fegte ein schreckliches Heulen, dann sackte es auf den Vorderläufen zusammen, und das Unterteil der Schnauze klatschte dicht vor mir auf den Boden. Zugleich begann sein Rücken zu dampfen. Plötzlich platzte er auch auf, und ein Feuerstrahl schoß in die Höhe. Der gesamte Körper wurde von einem Schüttelfrost erfaßt. In unserer näheren Umgebung wurde es heller, der Nebel bekam eine andere Farbe, und wir schauten zu, wie das Tier verbrannte. Das Feuer strömte durch seinen Körper. Es glühte ihn von innen aus. Wir sahen wie durch ein dünnes Fenster das Knochengerüst des Tieres und auch die anderen Organe als dunkle Flecken, bevor die Kraft des magischen Feuers den Wolf völlig zerstörte. Er fiel uns als aschiger Rest vor die Füße. Was einmal sein Fell gewesen war, bestand nur mehr aus dunkler, beinahe schon pechschwarzer
Asche. Über den Restkörper hinweg schauten wir uns an. Suko hob die Schultern. »Das ist es dann wohl gewesen«, sagte er und bewegte seine Peitsche locker über den Boden. »Wir haben es mit einem – ja, John, mit was haben wir es zu tun? Mit einem Werwolf?« Ich holte Luft und atmete wieder aus. »Keine Ahnung.« Suko wollte es aber wissen. »War das ein echter Werwolf?« »Es war Morganas Wolf«, gab ich zu. Mit diesem Kompromiß konnten wir leben. »Ja, das stimmt wohl«, sagte Suko. »Morganas Wolf. Und es war erst der erste.« Ich klaubte abgerissene Dornen aus dem Leder meiner Jacke, die ihre Feuertaufe überstanden hatte, schaute zum Haus hin, das kaum zu sehen war, und sprach leise zu mir selbst. »Was hat das Tier hier gewollt? Wollte es zu Butcher, war es schon bei ihm? Oder hat es einfach nur auf ihn gelauert?« »Gelauert«, sagte Suko. »Wie kommst du darauf?« »Wenn es Butcher angegriffen hätte, warum hätte es dann in der Nähe seines Hauses bleiben sollen? Dann hätte unser >Freund< verschwinden und seiner Herrin Meldung machen können. Das ist zumindest meine Meinung. Wie du denkst, weiß ich nicht.« »Ahnlich.« »Ausgezeichnet, John. Dann können wir ja jetzt darangehen, Teil zwei unseres Plans in die Tat umzusetzen. Der Besuch bei einer gewissen Melanie Morton.« Ich schwieg. Und mein Schweigen gefiel Suko nicht. »Hast du was dagegen?« wollte er wissen. »Nicht direkt.« »Dann erkläre mir den indirekten Grund.« »Das ist ganz einfach«, sagte ich und deutete auf die Asche. »Denk mal daran, daß er ein Werwolf oder was immer gewesen ist. Und dann vergegenwärtige dir das, was uns Freund Tanner gesagt hat. Es sind in der vergangenen Nacht zahlreiche Menschen von diesen Wölfen gebissen worden. Sie liegen jetzt in einem Krankenhaus. Ich befürchte, daß sie unter diesen Bissen noch stärker leiden werden, als sie es sich in ihren kühnsten Träumen vorstellen können.« »Du glaubst an die Verwandlung?« »So ist es.« Ich tippte Suko auf die Schulter. »Und zwar nicht sofort, sondern später, wenn die Dunkelheit in den Nebel eintaucht. Dann könnten aus diesen Menschen Wesen werden, die man als Werwölfe bezeichnen kann. Deshalb ist es besser, wenn einer von uns, ich dachte da an dich, im Krankenhaus wartet und die Verletzten unter Kontrolle hält.«
»Der Vorschlag ist nicht schlecht«, gab Suko zu. Dann preßte er die Lippen zusammen. »Kannst du mir auch sagen, wie ich reagieren soll, mein Lieber?« »Das weißt du selbst.« »Wie viele Menschen sind es denn, die von den Bestien angefallen wurden. Acht oder zehn?« »So ungefähr.« »Und ich soll sie…?« Er sprach nicht mehr weiter und wischte über seine Stirn. »Das ist verdammt viel verlangt.« »Aber die einzige Chance, falls es überhaupt soweit kommt und sich alle verwandeln.« Suko dachte einen Moment nach. Dann nickte er. »Gut, ich mache es, John, aber was wirst du in der Zwischenzeit unternehmen? Bis zum Anbruch der Dunkelheit ist Zeit genug, da vergehen Stunden und…« »In denen ich dieser Melanie Morton einen Besuch abstatte.« »Wobei du hoffst, auf deine alte Freundin Morgana Layton zu treffen, sage ich mal.« »Auch das.« »Ist nicht ungefährlich.« »Wenn ich über die Straße gehe, ist es auch gefährlich. Da muß nicht alles zutreffen, weder bei dir noch bei mir. Aber wir sollten uns später, wenn es tatsächlich so gekommen ist, keine Vorwürfe machen. Es sind Wölfe in London, und es sind keine normalen Tiere, die ihre Wälder im Norden verlassen haben. Sie sind nicht grundlos in London eingesickert, und sie sind so von sich überzeugt, daß sie sich auch in der Öffentlichkeit zeigten und diese Bar überfielen.« »Nur so aus Spaß?« »Glaube ich nicht. Es ging ihnen um etwas anders, um eine bestimmte Person.« »Melanie Morton, ich weiß.« Suko verzog das Gesicht. »So richtig gefällt mir dein Vorschlag nicht.« »Okay, es ist ein Risiko, aber was sollen wir machen? Jedenfalls kriegst du von mir Bescheid. Sieh zu, daß du ein Telefon bekommst, und gib die Nummer Glenda durch.« »Ja, das mache ich.« Ich schlug ihm auf die Schulter. »Dann ist ja alles klar.« Wir mußten in verschiedene Richtungen fahren. Melanie Morton wohnte ungefähr dort, wo der Westway A40 endete und in die Marylebone Road überging. Ich mußte nur ein paar Straßen in die nördliche Richtung, konnte ebenfalls mit der U-Bahn fahren und an der Station Marylebone aussteigen. Beide wußten wir, daß unsere Aktivitäten auf tönernen Füßen standen. Es waren nun mal zwei Spuren, denen wir nachgehen mußten. Wenn wir zusammenblieben, fehlte der eine möglicherweise an einem anderen Ort.
Einen letzten Blick warf ich auf die Reste der Bestie. Ein normaler Werwolf war das nicht. Der entwickelte sich, wenn er von einer magischen Gegenkraft erwischt wurde, wieder zurück. Es war Morganas Wolf, sicherlich nicht weniger gefährlich als der uns bekannte Werwolf… *** Als Phil Butcher an der U-Bahn-Station Marylebone ausstieg, da zitterte er. Es war die innere Kälte, die ihn frieren ließ. Er kam sich vor wie jemand, der wissentlich einen Fehler begangen hatte, noch Zeit hatte, diesen Fehler zu korrigieren, es aber deshalb nicht tat, weil er unter gewissen Zwängen stand und zu leiden hatte. Dieser Zwang hatte einen Namen – Melanie Morton! Sie hätte ihm eigentlich egal sein müssen, war es aber nicht, weil er diese Frau liebte. Butcher konnte sich das selbst nicht erklären. Er hätte nie gedacht, daß es einmal dazu kommen würde, aber er konnte daran nichts ändern, die Liebe war über ihn gekommen wie eine gewaltige Woge, und er hätte alles für diese Frau hergegeben. Zunächst konnte er ihr nicht viel bieten. Er konnte nur versuchen, sie aus dieser verdammten Klemme hervorzuholen. Sie doch noch zu überreden, mit ihm zu gehen und nicht in dieser verfluchten Stadt zu bleiben, in der sich mordgierige Wölfe aufhielten und ihr möglicherweise einen Besuch abstatteten. Er hatte den schützenden Schacht der U-Bahn verlassen und stellte mit Erleichterung fest, daß der Nebel in diesem Teil der Stadt nicht mehr so dicht lag. Zwar befand sich ein Kanal in der Nähe, und dort waren die Wände auch kompakter und grauer, aber der größte Nebelproduzent, die Themse, lag doch weiter südlich und ein Stück entfernt. Er mußte in die schmale Shroton Street, denn dort hatte Melanie eine kleine Wohnung angemietet. Sie stellte keinen Vergleich zu seiner dar, auch die Gegend war völlig anders, denn hier lebten Menschen mit weniger Geld, aber Melanie war mit ihren beiden Zimmern und dem winzigen Bad stets zufrieden gewesen. Da Phil sie schon einige Male besucht hatte, kannte er den Weg von der Station aus. Die Shroton Street war klein, sie gehörte nicht zu den bevorzugten Einkaufsstraßen der Touristen, sie war in gewisser Weise London pur, und die hier lebenden und arbeitenden Menschen schlugen sich recht und schlecht durchs Leben. Butcher rauchte. Er ging langsam, schaute sich allerdings immer wieder um, als wären Verfolger auf seinen Fersen. So wie er aussah, mit
seinem langen Mantel und dem hochgestellten Kragen, wirkte er wie die Karikatur eines Spions, der sich nicht verdächtig machen wollte, es aber aufgrund seiner Kleidung trotzdem tat. Geschäfts- und Wohnhäuser bildeten eine Einheit. Auf der anderen Seite sah er eine Lücke, die durch einen Bauzaun geschlossen war. Eine Pizzeria, ein kleiner Schuhmacher, ein Trödelladen, ein Metzger, der Wild und Lamm im Angebot hatte, ein Imbiß, wo die Leute Fish & Chips aßen, zwei Ärzte, eine Wahrsagerin, deren schwarzes Schild direkt unter denen der Ärzte hing, und daneben das Haus, in dem Melanie wohnte. Phil blieb davor stehen, drehte sich wieder um und konnte keinen Verfolger entdecken. Fröhlicher stimmte ihn das nicht. Die Furcht vor der Zukunft war nach wie vor eine Belastung. Als er an der Fassade in die Höhe schaute, stellte er fest, daß sie noch grauer und schmutziger war als bei seinem letzten Besuch. Auch die Fensterscheiben wirkten so, als wären sie noch nie geputzt worden. Ein rücksichtsloser Radfahrer hätte Phil beinahe umgefahren, als er einen Schritt zurückging. Der Typ raste auf dem Gehsteig dahin, als müßte er für ein Rennen trainieren. Phil schickte dem Kerl einen Fluch hinterher und ging dann auf die Haustür zu. Phil wußte, daß die Rückseite des Hauses an die Rückseite eines kleinen Firmengeländes grenzte. Die Firma mit dem Namen WATSON’S INDUSTRIEANSTRICH hatte dort ihren Sitz. Es waren flache Bauten, auf deren Dächer Melanie von der Küche aus schaute. Die Tür war nicht verschlossen. Die muffige Enge des Hausflurs nahm ihn auf. Phil sah vor sich die Treppe mit den Holzstufen, auf denen der grüne Lack längst abgeblättert war. Auch das Geländer sah nicht eben vertrauenerweckend aus. Seine Handfläche schleifte darüber hinweg, und er mußte hoch in die zweite Etage. Niemand kam ihm entgegen. Durch schmale Fenster an den Zwischenabsätzen sickerte nur wenig Licht, als würde es sich schämen, in den Hausflur einzudringen. Die Wände waren bekritzelt. Sprüche und Telefonnummern wechselten sich ab. Hier hatten zumeist junge Leute ihren Frust in Worten dokumentiert, und die zumeist rauhe Sprache gab ihren Lebensstil wider. In der zweiten Etage war es still. Eine Etage tiefer hatte er noch die wütende Stimme einer Frau gehört, die ihre Kinder ausschimpfte, aber auch das Organ war verstummt. Butcher holte tief Luft. Er nahm auch die rechte Hand aus der Manteltasche, visierte den Klingelknopf an und ignorierte die zweite Tür auf dieser Etage, die der anderen gegenüberlag.
Sein Finger zitterte, als er ihn ausstreckte. Er mußte zugeben, daß er sich noch längst nicht beruhigt hatte. Über seinen Nacken schien kaltes Wasser zu fließen. Egal, es mußte sein. Phil schellte! In der kurzen Zeit fuhr ihm noch einiges durch den Kopf. Er starrte zwar auf das Pappschild mit dem Namen der Stripperin, aber seine Gedanken und Ahnungen beschäftigten sich mit der Zukunft und auch mit der Vergangenheit zugleich. In seinem Kopf herrschte ein Chaos. Er schwitzte und schrak zusammen, obwohl er damit gerechnet hatte, daß ihm geöffnet wurde. Auf der Schwelle stand Melanie, und Phil schaute sie an, aber sie kam ihm irgendwie verschwommen vor, wie von Nebelschleiern verhüllt. Erst allmählich klärte sich sein Blick, und er hörte auch ihre Stimme. »Du bist es…« Phil nickte nur. Der Hals saß ihm zu. Er bewegte seinen Mund. Plötzlich wußte er nicht, was er noch sagen sollte, schaffte ein Lächeln, räusperte sich dann und sagte mit leiser Stimme. »Ich hatte es dir doch gesagt, daß ich kommen würde.« »Ja, natürlich.« Sie lächelte ebenfalls. »Dann komm rein, bitte.« »Danke.« Mein Gott, dachte er, was habe ich früher für eine Sicherheit gehabt, wenn ich mit den Mädchen sprach. Die war jetzt verschwunden. Er kam sich ängstlich und zugleich verlegen vor, weil er sich einfach überfordert fühlte. Melanie war bereits in den kleinen Flur gegangen, und Butcher schaute ihr nach, während er sich auf der Fußmatte die Schuhsohlen abtrat. Melanie sah heiß aus. Sie trug sehr enge Kleidung, dazu noch in pechschwarz. Die Stretchhose saß ebenso perfekt wie der schwarze Pullover mit dem gewagten Ausschnitt, der die Ansätze ihrer Brüste freiließ. Sie ist ein Prachtweib, dachte er und betrat die Wohnung. Warum ist mir das so spät aufgefallen? »Du kannst deinen Mantel hier aufhängen.« Melanie deutete auf eine schmale Holzlatte mit vier Haken. Zwei Schrauben hielten sie an der Wand fest. »Gut, mache ich.« Er legte ab, während Melanie schon im Wohnraum verschwunden war. Er diente zugleich als Schlafzimmer. Phil wünschte sich, mit Melanie auf der roten Schlafcouch zu liegen und alles andere um sich herum zu vergessen. Sie hatte das Zimmer so hell wie möglich gestaltet. Dafür sorgten vor allen Dingen die Rauhfasertapeten, die nur an einer Zimmerseite ein riesiges Bild zeigte. Melanie in Action, beim Strip, aber noch nicht nackt. Phil starrte das Bild an. Er konnte sich von dem Anblick nicht lösen, obwohl er es kannte.
»Willst du dich nicht setzen?« Ihre Stimme ließ den Mann herumfahren. »Ja, danke, natürlich.« Er drückte sich in einen hellen Sessel, der mit einem dünnen Leinenstoff bezogen war. Vor dem Sessel stand ein Glastisch, auf der anderen Seite die rote Couch, und die Regale an den Wänden enthielten ein paar Fotoalben, aber nur wenige Bücher. Dafür um so mehr Flaschen, wobei der Whisky überwog. Melanie hatte die Beine angezogen und die Hände auf ihre Knie gelegt. »Möchtest du etwas trinken?« fragte sie. »Nein, das ist mir noch zu früh.« »Mir auch.« Sie schwieg und wollte ihn kommen lassen. Phil strich über sein blondes Haar. »Ich möchte dich noch einmal fragen, Melanie, wie es dir geht.« Ihre blauen Augen blitzten. Das etwas puppenhafte Gesicht verzog sie zu einem Lächeln. »Gut, wie du siehst, sehr gut sogar.« »Mir nicht.« »Warum nicht?« Er schaute schräg zu ihr hin. »Hast du denn die letzte Nacht schon vergessen?« »Nein, habe ich nicht.« »Und dann bist du so locker?« »Ja.« »Das begreife ich nicht. Es hat Tote gegeben, auch Verletzte, da sind Wölfe in das Lokal eingefallen.« Er tippte gegen seine Stirn. »Etwas, das ich nicht begreifen kann und viele andere Menschen sicherlich auch. Ich komme damit einfach nicht zurecht. Das kann ich nicht so schnell abschütteln, wenn du verstehst.« »Jeder ist eben anders.« »Und du bist es?« »Siehst du das nicht?« Phil schaute auf seine Hände, deren Spitzen sich berührten. »Ja, schon«, gab er nach einer Weile zu, »aber ich kann es nicht fassen. Es ist für mich unbegreiflich. Ich bin«, er hob die Schultern, »nun ja, ziemlich geschockt.« »Wegen mir?« »Sicher.« »Das brauchst du aber nicht, Phii. Die letzte Nacht hat einiges in meinem Leben verändert. Es hat da einen Einschnitt gegeben, wenn du verstehst. Ich werde nicht mehr strippen, ich werde ab sofort ein völlig anderes Leben führen…« »Richtig, richtig!« unterbrach er sie hastig. »Das hatte ich dir ja vorgeschlagen.« »Aber nicht mit dir, Phil!« Die Antwort hatte ihn geschockt. Er spürte den Stich tief in seinem Magen. Dann rang er nach Worten und kam sich vor wie ein kleines
Kind, das bettelt. »Wirklich nicht? War mein Vorschlag denn so schlecht?« »Ich bitte dich, Phil. Was hast du dir überhaupt davon versprochen? Warum hast du mir gesagt, daß wir beide die Stadt und das Land verlassen sollen?« Butcher war verwundert. »Das müßte dir doch längst klar sein. Weil ich dich liebe.« »Ach ja.« »Es ist mein Ernst.« Das Gesicht der blonden Stripperin zeigte ein amüsiertes Lächeln. »Liebe, hast du gesagt. Ein schönes Wort für den, der es akzeptieren kann. Aber zu einer Liebe gehören in der Regel zwei. Du magst mich vielleicht lieben, aber umgekehrt ist das nicht der Fall, denn du bedeutest mir gar nichts.« Auch diese Antwort hatte wieder gesessen. Butcher fragte sich, wie viele Tiefschläge er noch einstecken mußte. Obwohl die Antworten deutlich genug gewesen waren, wollt er sie so nicht akzeptieren und versuchte es erneut. »Himmel, wir waren doch einige Zeit zusammen, fast zwei Jahre, und da muß sich doch etwas zwischen uns aufgebaut haben, denke ich.« »Du denkst falsch«, erklärte sie ihm kalt. »Wir sind in dem Sinne, wie du es meinst, nie ein Paar gewesen. Wir waren zwar liiert, das gebe ich zu, aber nur geschäftlich. Du hast deine Prozente von den Besitzern der miesen Lokale für mich kassiert. Du bist es gewesen, der von mir gelebt hat, zusammen mit deinem Partner Amalfi. Ich weiß nicht, wieviel ihr bekommen habt, und es ist mir jetzt auch egal, aber von Liebe kann man da wirklich nicht sprechen.« »Das ist schade.« Sie hob die Schultern. Es war eine verächtliche Geste. »Dabei habe ich es nur gut gemeint.« »Finde dich damit ab, daß bei mir nichts mehr läuft. Wir arbeiten nicht mehr zusammen. Ich bin entschlossen, einen anderen Weg zu gehen.« Phil nickte mit traurigem Gesicht, als hätte er die Aussage akzeptiert. »Darf ich trotzdem fragen, für welchen Weg du dich entschieden hast? Möglicherweise kann ich dir einen Rat geben.« Sie blieb eiskalt. »Nein, das darfst du nicht. Im übrigen bin ich auf deine Ratschläge auch nicht angewiesen, mein Lieber.« Butcher gab nicht auf. »Hängt es mit dieser Frau zusammen, die dich auf der Bühne umarmt hat?« »Möglich«, gab Melanie zu. »Wer ist es denn?« »Ich hatte dir den Namen gesagt. Sie heißt Morgana, und sie ist faszinierend. Mir kam es so vor, als hätten wir uns gesucht und gefunden. Bei ihr fühle ich mich gut aufgehoben, im Gegensatz zu dir,
wo du und Don mich doch nur ausgenutzt habt. Ihr habt eben nur die geschäftliche Seite gesehen und die menschliche dabei vergessen. Wir Stripperinnen sind keine Puppen, die sich hin- und herschieben lassen, auch wenn unser Beruf nicht eben sehr angesehen ist. Wir sind normale Menschen mit Gefühlen, und es widert uns an, von den gierigen Blicken der Kerle verfolgt zu werden.« Sie ballte die Hand zur Faust. »Das ist vorbei für mich. Ich habe dich aus Höflichkeit noch einmal reingelassen, jetzt aber bitte ich dich sehr freundlich, meine Wohnung zu verlassen. Du hast hier nichts mehr zu suchen.« »So einfach mache ich es dir nicht.« »Ach ja.« Butcher unternahm einen letzten, schon verzweifelten Versuch, und er streckte Melanie beide Arme mit den ausgebreiteten Händen entgegen, als wollte er um ihre Berührung betteln. »Ich meine es doch nur gut, verdammt noch mal. Du bedeutest mir viel. Ich will mit dir zusammenbleiben, wir können gemeinsam ein neues Geschäft aufbauen. Ideen habe ich genug. Uns würde es wirklich gutgehen.« Der Mund der Blonde verzog sich. »Du widerst mich an, Phil. Du bist der perfekte Schwächling, wie du hier sitzt. Du müßtest dich mal im Spiegel sehen, dann würdest du wahrscheinlich vor dir ausspucken. So und nicht anders kommst du mir vor.« Butcher stieg das Blut in den Kopf. Er hatte bereits die ganze Zeit über die abweisende Kälte der Stripperin gespürt und hatte versucht, sie zu ignorieren, doch mit ihren letzten, beleidigenden Worten hatte sie eine Grenze bei ihm überschritten. Er stand auf! »Ach«, sagte sie, »was darf ich denn jetzt erwarten?« »Das wirst du gleich sehen!« erwiderte er keuchend. »Wenn du mich nicht willst, dann will ich nicht, daß dich ein anderer in die Hände bekommt, wer immer das auch sein mag.« Melanie blieb gelassen. »Willst du mir drohen?« »Nein, ich werde handeln!« Die Blondine blieb sitzen. Sie gab sich gelassen, und das drückte auch ihre Haltung aus. Sie hatte das rechte Bein auf die Sitzlehne gelegt. Ihre Arme hingen locker und entspannt an den beiden Seiten des Möbels herab. »Du willst also handeln, Phil. Willst du mich mit Gewalt überzeugen?« Er war stehengeblieben und starrte auf sie nieder. Der Ausdruck in seinen Augen hatte sich verändert. Er war nicht mehr in der Lage, normal zu schauen. Die Röte in seinem Gesicht hatte sich verdichtet, und dazwischen tanzten weiße Flecken. Der Mund stand halb offen. Auf den Lippen schimmerte Speichel. »Ich warne dich, Phil.« Er schüttelte den Kopf.
»Ich warne dich wirklich. Du spielst mit deinem Leben. Noch hast du die Chance, meine Wohnung zu verlassen. Bist du in fünf Sekunden nicht an der Tür, ist es vorbei. Das wollte ich dir aus alter Freundschaft noch mitteilen.« »Ich habe es gehört.« »Dann geh jetzt!« »Nein, ich bleibe!« Melanie hatte die Antwort sehr genau verstanden. Sie tat allerdings nichts, was auf eine gewaltsame Lösung hingewiesen hätte. Nur ihr Mund bewegte sich, und sie spitzte die Lippen, um dann einen schrillen Pfiff auszustoßen. Auch Phil hatte ihn gehört. Er schnitt in seine Ohren und hatte Ähnlichkeit mit dem Pfiff eines Schiedsrichters. Aber hier spielte niemand Fußball. Der Pfiff war auch nebenan in der Küche gehört worden. Die Tür zu diesem Raum war nicht ganz geschlossen. Es fiel Butcher erst auf, als jemand von der anderen Seite dagegendrückte, so daß die Tür nach innen aufschwang. Sie blieb offen. Ein breiter Spalt sorgte für den Blick in die Küche, wo alte Möbel vom Trödel standen. Dafür allerdings hatte Phil Butcher keinen Blick. Er spürte sein Herz wie verrückt schlagen. Seine Augen wollten aus den Höhlen treten, denn er konnte kaum glauben, was er sah. Durch den breiten Türspalt schoben sich zwei Wesen. Keine Menschen, sondern Wölfe mit kalten und gierig funkelnden Augen. »Ich hatte dich gewarnt«, sagte Melanie nur… *** Butcher gab keine Antwort. Man hätte ihn anschreien können, es wäre ihm trotzdem nicht gelungen, auch nur ein Wort hervorzubringen. Er fühlte sich in diesen Augenblicken nicht mehr als Mensch, sondern mehr als ein vereistes Denkmal. In seinem Kopf herrschte eine gewaltige Leere, so daß es ihm nicht gelang, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Das Erscheinen der beiden Wölfe hatte alles verändert, und er wurde wieder an die schrecklichen Vorgänge der vergangenen Nacht erinnert. Für einen Moment tauchten die Bilder auf, wie die Wölfe in das Lokal gestürmt waren und sich über die Menschen geworfen hatten. Er sah das Blut spritzen, er hörte die Schreie, und es war die Stimme der Blondine, die ihn aus seinen Vorstellungen riß. »Das ist dein Pech, Phil.« Scharf saugte er die Luft ein. Die Wölfe hatten den Wohn- und Schlafraum in Besitz genommen und waren auch nicht mehr
zusammengeblieben, sondern hatten sich geteilt. Sie kreisten jetzt ihr Opfer ein, so daß Butcher nicht mehr fliehen konnte. Melanie saß locker im Sessel. Sie schaute zu ihm hoch, den Mund zu einem spöttischen Lächeln verzogen. »Es sind meine Leibwächter, Phil. Kannst du dir bessere Bodyguards vorstellen?« Er gab keine Antwort. Einen kleinen Schritt ging er zurück, blieb aber stehen, als er das scharfe Fauchen hörte. Ein kalter Schauer rann über seinen Rücken. Die Augen bewegten sich, und er suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Es gab keinen. Er war den Wölfen ausgeliefert. Dabei war die Tür nicht mal weit entfernt. Wenn er jetzt startete und zwischen den beiden hindurchlief, dann konnte es ihm gelingen, die Tür zum kleinen Flur zu erreichen. Als hätten die Bestien seine Gedanken geahnt, so schickten sie ihm plötzlich ein gefährliches Knurren entgegen, und das wiederum sorgte bei ihm für ein heftiges Zusammenzucken. »Keine Chance, Phil…« Er schaute auf Melanie. Sie breitete die Arme aus, gab sich überlegen, und sie hatte den Mann gleichzeitig abgelenkt. Als er schräg hinter sich das Schaben der Pranken hörte, war es zu spät. Zwar reagierte er noch und warf sich zur Seite, wobei er gleichzeitig die Arme in die Höhe riß, aber der Körper des Wolfs wuchtete gegen ihn und schleuderte ihn dem Boden entgegen, auf dem er nicht landete, denn der Tisch stand im Weg. Er krachte auf die Glasplatte, die diesem Druck nicht standhielt. Ein wahrer Glassplitterregen hüllte ihn ein und verursachte zahlreiche Schnittwunden auf der Haut. Auch im Gesicht. Darauf achtete er nicht. Viel wichtiger war die Bestie. Sie hockte bereits auf seinem Körper und drückte ihre Pranken tief in die Haut. Luft bekam er nicht. Statt dessen wischte der faulige und heiße Atem aus dem Wolfsmaul über sein Gesicht. Melanie lachte. Und die Bestie biß zu. Der Schmerz machte ihn rasend, er ließ seinen Kopf bald zerplatzen. Plötzlich war auch die zweite Bestie da, die er wie eine Brücke über sich sah. Und sie biß ebenfalls zu. Diesmal spürte er keinen Schmerz, der Biß war endgültig gewesen und hatte ihn getötet. Zumindest hatte er das Gefühl, denn eine tiefe Dunkelheit raste auf ihn zu und löschte alles aus.
Melanie aber hatte zugeschaut. Kalt waren ihre Augen. Sie sah den zerbrochenen Tisch, sah auch das Blut und ärgerte sich darüber, daß sie die Wohnung reinigen mußte. An Phil Butcher dachte sie nicht mehr. Er war für sie bereits Vergangenheit… *** Wohl fühlte ich mich nicht! Das lag nicht nur an dem Nebel, der zum Norden hin dünner geworden war, sondern an der allgemeinen Lage. Ich konnte mich schlecht damit abfinden, daß bei diesem Wetter hungrige Wölfe durch London streiften und auf der Suche nach Beute waren, wobei sie bestimmt immer satt wurden. Zum zweiten gefiel mir nicht, daß ich bisher noch nichts über das Motiv dieses Überfalls herausgefunden hatte. Es gab zwar eine Spur, die auf Morgana Layton hinwies und über sie möglicherweise auch auf Fenris, den Götterwolf, was sie jedoch in der Stadt wollten, war mir unbekannt. Aber getötet hatten sie, und sie waren dabei ohne Rücksicht auf Verluste vorgegangen. Auch Suko und mich hätte es erwischen sollen, und dieser Angriff wiederum warf bei mir eine neue Frage auf. Warum waren wir von dieser Bestie attackiert worden? Warum gerade wir? Im Laufe der Zeit hatten sicherlich genügend Menschen das Haus betreten oder betreten wollen, aber ausgerechnet uns hatte sich die Bestie ausgesucht. Das mußte einen Grund gehabt haben, über den ich während der Fahrt zur Station Marylebone nachgedacht hatte. Ich war auch für mich zu einer Lösung gelangt, die mich einigermaßen überzeugt hatte. Durch irgendeinen Umstand mußte die Bestie bemerkt haben, daß wir auf einer anderen Seite standen und zu ihren Feinden gehörten. Es gab dafür auch eine Erklärung. Wahrscheinlich hing die mit Morgana Layton zusammen. Wenn die Bestie ihr gedient hatte, dann war es möglich, daß sie es schaffte, ihre Feinde zu wittern, und ich stand nun mal dieser Morgana Layton feindlich gegenüber. Der Wolf war als Wächter eingesetzt worden und hatte im übertragenen Sinne durch Morganas Augen sehen können und die richtigen Schlüsse gezogen. Für diese Vermutungen und Theorien gab es keinerlei Beweise, ich gab mich zunächst damit zufrieden. Weiterhin glaubte ich daran, daß mir die Stripperin Melanie Morton mehr über den Fall erzählen konnte, falls es dazu kam. Vor der Station schaute ich mich um. Ich mußte in die Shroton Street, die nicht weit entfernt lag. Es gab leider zu viele kleine Straßen, und Nebelschwaden krochen an den Wänden entlang, so daß ich Mühe hatte, die Hausnummern oder Straßenschilder zu erkennen. Um mir eine
längere Suche zu ersparen, erkundigte ich mich bei einem Postboten, und er gab mir Auskunft. So dauerte es nur Minuten, bis ich die Shroton Street erreicht hatte, in der nun wirklich nichts Auffälliges festzustellen war. Diese Straße war Teil des Viertels mit zumeist älteren Bauten. Auf einer Seite waren Häuser abgerissen worden, und ein Bauzaun verdeckte die Lücke. Ich hielt mich auf dem rechten Gehsteig. Autos fuhren vorbei. Ihre Abgasfahnen flatterten aus den Auspufflöchern und wurden eins mit dem dünnen Dunst. Sie wehten aber auch dem Gehsteig entgegen. Ihr scharfer Geruch störte mich. An den Rändern parkten ebenfalls Fahrzeuge, und eine Hosteß achtete mit Argusaugen darauf, daß niemand zu Unrecht parkte, ansonsten bekam das Auto die gefürchtete Londoner Kralle zu spüren, wurde dann abgeschleppt, und das war dann teuer für den Besitzer. Aus einer Fish & Chips-Bude drang mir ein Geruch entgegen, der nicht eben für Appetit sorgte. Ich erreichte das Haus, das ich suchte, und stellte fest, daß kein Geschäft darin untergebracht war. Ein altes Bauwerk mit grauer Fassade, die an vielen Stellen unterbrochen war, so daß die abgenutzten Steine zum Vorschein kamen und ihr ein Aussehen gaben, als wäre sie mit Akne überdeckt. Schon beim ersten Hinschauen sah ich, daß die Haustür nicht geschlossen war. Zu klingeln hatte keinen Sinn, denn jemand mußte wohl Spaß an dem Klingelbrett gehabt haben. Er hatte es kurzerhand aus der Hauswand gerissen. Einige Drähte waren dabei durchtrennt worden. Das war nicht mein Problem, und mit dem rechten Ellbogen drückte ich die Tür nach innen. Eine triste Welt umgab mich. Düster war der Flur, beschmiert seine Wände. Ein kleiner Junge war dabei, mit seinem Auto immer wieder über die Wand zu fahren, was diese auch nicht mehr stören konnte. Als der Kleine mich sah, hörte er auf und schaute mich aus großen Augen an. Ich lächelte und strich über seine Schirmmütze mit der langen Kappe, die schräg auf seinem Kopf saß. Zumindest hatte ich auf dem schiefen Klingelbrett noch lesen können, in welche Etage ich mußte. Es war die zweite. Ich eilte ins Treppenhaus, verfolgt von den Blicken des Jungen, dessen Stimme mich auf der Mitte des Treppenabsatzes einholte. »Wo wollen Sie denn hin, Mister?« Ich drehte mich um. Der Kleine stand vor der untersten Stufe und schaute zu mir hoch. »Zu einer Bekannten.« »Melanie.«
»Bingo. Woher weißt du das? Hast du es geraten?« »Nein, aber sie bekommt öfter Besuch. Sieht auch toll aus, die Puppe, sagt mein Daddy. Meine Mum ist sauer auf sie, sie mag keine Blondinen, aber ich finde sie toll.« »Das glaube ich dir. Und du weißt genau, daß Melanie auch zu Hause ist?« Er nickte eifrig. »Und ob, Mister. Ich habe sie doch gehört.« »Was sagte sie denn?« »Nichts, aber in der Wohnung waren komische Geräusche. Wir wohnen direkt nebenan. Ist noch nicht lange her.« »Haben deine Eltern das auch gehört?« »Nein, die sind beide in der Kantine. Sie arbeiten da und kochen.« »Ah so. Jedenfalls danke ich dir für die Auskünfte.« Der Junge zeigte ein betrübtes Gesicht. »Umsonst ist der Tod, Mister«, erklärte er altklug. Ich seufzte, hatte ihn verstanden und holte einige Münzen aus der Hosentasche. Ich warf sie ihm zu, und der Junge fing sie geschickt auf. In dieser Gegend lernte man früh genug, sich durchzuschlagen, denn ohne Geld lief nichts. Ich tigerte weiter. Meine Hand rutschte über das Geländer. Niemand kam mir entgegen. In der zweiten Etage sah ich zuerst zwei Türen, die sich gegenüberlagen. Eine dritte Tür entdeckte ich ebenfalls. Sie zeichnete sich in der Ecke ab, in der Dachschräge. Zudem war sie schmaler als die anderen beiden. Mich machte stutzig, daß die Tür zu Melanie Mortons Wohnung offenstand. Als ich sie ganz aufstoßen wollte, da glaubte ich, hinter mir ein Geräusch zu hören, drehe mich um, sah aber nichts. Wahrscheinlich hatte ich mir das Geräusch nur eingebildet. Eine offene Tür macht mich immer mißtrauisch. Besonders in diesem Fall, denn ich hatte die Attacke des Wolfes nicht vergessen. Mit gezogener Beretta betrat ich die Wohnung und ging dabei auf Zehenspitzen. Hören und sehen sollte man mich so spät wie möglich. In einem kleinen Flur entdeckte ich einen hellen Männermantel an einem Garderobenbrett. Nicht weit von mir entfernt zeichnete sich eine Tür ab, die ebenfalls nicht verschlossen war und sich leicht nach innen drücken ließ. Ich stand in einem Apartment. Es war außer mir menschenleer. Ich ging noch einen Schritt weiter und blieb stehen, denn was ich sah, war ungewöhnlich. Ein zerbrochener Glastisch deutete darauf hin, daß ein Kampf stattgefunden haben mußte. Die Scherben lagen auf dem Boden und waren teilweise durch eine rote Flüssigkeit beschmiert worden, die ich mir erst gar nicht näher anzuschauen brauchte. Ich wußte, daß es keine Farbe, sondern Blut war.
Und dieses Blut befand sich nicht nur in der Nähe der Scherben, eine Spur zog sich auch vom zerbrochenen Tisch hin auf eine Tür zu. Ich machte um die Glassplitter und das Blut einen Bogen. Mein Herz klopfte schneller, denn ich erwartete, etwas hinter der Tür zu entdecken, das nicht gerade erfreulich war. Zunächst schaute ich in eine Küche. Alte Möbel, ein ebenfalls altes Radio, eine Spüle, die nach Sauberkeit lechzte, aber das Blut auf dem Boden, dessen Spur einen leichten Bogen nach links machte und abermals dort endete, wo sich wieder eine Tür befand. Sie mußte in einen kleinen Raum führen, denn ich dachte daran, daß ich in der schmalen Diele noch eine zusätzliche Ausbuchtung gesehen hatte, die den Raum noch weiter verengt hatte. Wenn Bäder nachträglich eingebaut werden, sieht das so aus. Deshalb rechnete ich auch damit, in ein Bad zu gelangen, als ich die Tür vorsichtig aufdrückte. Es war kein Bad, es war eine Hütte, aber es erfüllte in diesem Fall seinen Zweck. Für eine Wanne reichte der Platz nicht aus. Man hatte deshalb eine grüne Sitzbadewanne eingebaut. Toilette und Waschbecken standen dicht nebeneinander. Das alles wäre ja normal gewesen. Der Schock erwischtem ich, als ich in die Sitzwanne schaute. Dort saß der Tote! Er sah schrecklich aus. Als ich meinen ersten Schock überwunden hatte und die Wunde am Hals sah, da wußte ich auch, wie er ums Leben gekommen war. Diesen Mord hatte kein Mensch begangen, sondern ein wildes Tier, eine Bestie, eben ein Wolf. Der dritte Tote! Es mußte Phil Butcher sein, der seinem Partner Don Amalfi ins Reich der Ewigkeit gefolgt war. Es war schwer für mich, diese Tatsache zu fassen, aber mein Erschrecken mußte sich einfach in Grenzen halten, um dem logischen Denken Platz zu schaffen. Dieser Mann war, darauf wiesen die Spuren hin, hier in der Wohnung getötet worden. Er war auch noch nicht lange tot, und als Mörder kam ein Wolf in Betracht. Gesehen hatte ich ihn nicht. Es gab zwei Möglichkeiten. Er war entweder durch einen geheimen Schlupfweg verschwunden, oder er befand sich noch in der Nähe. Ich tendierte zur zweiten Alternative. Das Geräusch war ein leises Schleifen, vielleicht auch ein Quietschen, ich wußte es nicht. Aber es hatte mich gewarnt. Auf der Stelle drehte ich mich um. Ich konnte durch die offene Tür in die Küche schauen, erreichte sie mit einem langen und auch lautlosen
Schritt, war nach dem zweiten Schritt an der Küchentür und blieb dort abrupt stehen. Den Wohnraum hatte eine blonde Frau in schwarzer Kleidung betreten. Sie hielt mit der rechten Hand den Bügel eines mit Wasser gefüllten Putzeimers in der Hand, über dessen Rand ein breiter Wischlappen hing. Die Frau sah aus wie eine Putzfrau, nur war sie das nicht. Denn die Kleidung der Putzfrauen war normalerweise nicht mit Blutflecken übersät, und sie wurden auch nicht von zwei Wölfen eingerahmt wie diese Person hier, die ihre Wohnung betreten hatte… *** Sie stand starr wie eine Wand! Ich kannte diese Haltung, denn ich hatte sie schon oft genug selbst eingenommen. So stehen normalerweise Menschen, denen irgend etwas aufgefallen ist und die sehr vorsichtig geworden sind. Ich rührte mich nicht und hielt den Atem an. Den rechten Arm hatte ich erhoben, die Mündung der Beretta wies gegen die Decke. Ich würde Arm und Waffe sehr schnell senken und schießen können, wenn es darauf ankam. Weder die Frau tat etwas, noch die beiden Wölfe. Aber sie hatten mich, den Fremden, gewittert, denn ihr Fell sträubte sich, und aus ihren Kehlen drang ein leises, dennoch drohendes Knurren. Sie wußten also Bescheid. Und Melanie Morton? Die Stripperin bewegte sich ebenfalls und stellte behutsam den Eimer ab. Jetzt hatte sie beide Hände frei, und sie streichelte die Wölfe. Sie tat es mit einer Intensität, die mich verwunderte und auch erschreckte. Dieses Streicheln zeigte mir, wie vertraut sie mit den beiden Tieren war. Ich ging davon aus, daß sie dem Mord ebenfalls tatenlos zugesehen hatte. Das erschreckte mich. Schließlich war der Tote nicht irgendwer für sie, sondern ein Mensch, den sie persönlich gekannt und mit dem sie zusammengearbeitet hatte. Die Tänzerin tat, als wären sie und die beiden Wölfe allein in der Wohnung. Sie gab sich unbefangen. Nur war ich mir sicher, daß sie Bescheid wußte, und ich wollte nicht, daß mich die drei fanden. Ich wollte ihnen zuvorkommen. Ich atmete leise. In meinem Innern lag ein leichtes Vibrieren, als würden Schallwellen durch den Körper rollen. Die Waffe hielt ich noch in die Höhe, und dann hatte ich mit wenigen Schritten die Entfernung überbrückt, ich war raus aus der Deckung und stand plötzlich im Wohnschlafraum, die Wölfe und die Stripperin genau vor mir, die Waffe nach unten gerichtet, auf sie zielend.
Sie taten nichts. Sie zeigten sich nicht mal überrascht. Weder die Wölfe noch die Frau. Sie bleiben kalt, nahezu bewegungslos, und ich entdeckte auch keine Furcht bei ihnen. »Melanie Morton?« fragte ich, denn ich wollte sichergehen, es auch tatsächlich mit ihr zu tun zu haben. »Stimmt. Wer sind Sie?« »John Sinclair.« Die Stripperin überlegte einen Moment. Eine Falte erschien auf ihrer Stirn. »Ich kenne Sie nicht, aber ich weiß, daß Sie in meine Wohnung eingedrungen sind, ohne daß ich sie darum gebeten habe.« »Es stimmt. Die Tür stand offen.« »Gehen Sie immer in jede Wohnung, bei der die Tür offensteht, Mr. Sinclair?« »Nein, das nicht. Ich hatte vor, Sie zu besuchen, und ich habe mich gewundert, einen Toten in der Wohnung zu finden. Man erlebt manchmal schon Überraschungen. Wer ist der Mann?« »Sie kennen ihn nicht.« »Könnte es Phil Butcher sein?« Die Frage hatte Melanie nicht gefallen. Ich sah es am Zucken ihrer Mundwinkel. Dann schaute sie auf die Wölfe. Sie standen sprungbereit neben ihr, leicht zitternd, mit geöffneten Mäulern. Auch sie warteten darauf, mich zerreißen zu können. Etwas anderes gab es für sie nicht. Sie wollten meine Kehle zerfetzen, damit ich später so dalag wie der Tote in der Badewanne. »Es ist Phil.« »Gut. Warum mußte er sterben?« Melanie deutete auf ihre beiden Beschützer. »Er hat mich bedroht, da haben sie zugepackt. Sie sind meine Bodyguards, und auch Sie werden gegen die Tiere keine Chance haben. Ich weiß nicht, was Sie hier suchen, aber ich will Ihnen sagen, daß Sie keine Chance haben, Mr. Sinclair.« »Ich bin Polizist«, klärte ich sie auf. »Scotland Yard. Reicht Ihnen das?« »Ich ahnte es schon.« »Dann sind wir ja auf derselben Linie. Zudem hätte ich Ihnen gern einige Fragen gestellt. Unter anderem möchte ich wissen, wo ich Morgana Layton finden kann.« Die Stripperin starrte mich an. Sehr langsam wiederholte sie den Namen, als hätte sie ihn noch nie zuvor gehört. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich kenne sie nicht.« »Morgana beherrscht die Wölfe.« »Weiß ich nicht.« »Die Person hat Sie auf der Bühne umarmt, wie man mir berichtete. Also können Sie nicht behaupten, eine Morgana Layton nicht zu kennen. Sie haben Phil Butcher den Namen sogar zugeflüstert. Es hat keinen Sinn,
wenn Sie sich in ein Lügengespinst verstricken wollen. Ich würde es immer zerreißen können.« »Was zerreißen? Will ich denn lügen?« »Sie geben es zu?« Sehr offen schaute sie mich an. »Ja.« »Alles?« »Sicher. Ich gebe alles zu. Ich muß es zugeben, ich will es auch zugeben, und ich glaube nicht, daß Sie, Sinclair, etwas dagegen tun können. Der Schneeball rollt. Er wird zu einer Lawine werden, das weiß ich genau.« »Hat Ihnen das Morgana Layton gesagt?« Sie breitete die Arme aus. »Sehen Sie Morgana hier irgendwo? Stehen Sie ihr gegenüber? Können Sie mit ihr sprechen? Ich weiß nicht, was das alles soll, Sinclair. Sie sind tot, aber Sie wissen es noch nicht. Auch Butcher hat versucht, mich auf seine Fährte zu lenken. Es ist ihm nicht gelungen. Ich habe mich geändert. Ich werde nicht mehr in irgendwelchen miesen Schuppen strippen und mich von Typen begaffen lassen, die ich hasse. Diese Zeiten sind vorbei. Für mich hat in der vergangenen Nacht ein neues Leben begonnen. Auch Sie werden mich davon nicht abbringen können. Zudem ist es mir egal, ob ich das Blut von einer oder das von zwei Personen aufwischen muß. Ich kann noch einmal gehen und frisches Wasser holen.« Sie hatte die Morddrohung klar ausgesprochen. Wenn ich ehrlich war, so war sie nicht gelassen an mir abgeprallt, denn ich hatte aus ihrem Munde eine unverhohlene Morddrohung gehört. Auch die Beretta in meiner Hand störte weder sie noch ihre beiden Helfer. Die Wölfe ließen mich nicht aus den Augen. Sie sahen aus wie mit einer kalten dünnen Farbe bestrichen. Die Blicke waren scharf und sezierend, und es gab sicherlich nicht wenige Menschen, die unter ihnen vor Furcht vergangen wären. Anders ich. Diese kalten Augen kannte ich. Nicht zum erstenmal stand ich Wölfen oder Werwölfen gegenüber, und diesmal stellte ich mir die Frage, ob ich es tatsächlich mit Werwölfen zu tun hatte oder ob diese beiden Tiere nicht auf eine andere Art und Weise magisch verändert waren. Schließlich gehörten sie zu Morgana Lay ton, einer brandgefährlichen Feindin, die sich in den Schutzbereich des Götterwolfs Fenris begeben hatte. Und ihre Pläne kannte ich nicht. Ich hörte das leise Zischen. Melanie hatte es ausgestoßen, mich dabei gewarnt, denn ein derartig fremdes Geräusch konnte auch ein Befehl sein. Es war ein Befehl gewesen. Der erste Wolf wollte springen. Der zweite ebenfalls. Dann ging alles blitzschnell.
Ich feuerte noch im selben Augenblick, und das Schießen hatte man mir beigebracht. Die geweihte Silberkugel schlug in den Schädel des links von mir stehenden Tieres. Der Einschlag riß den Kopf für einen Moment in die Höhe, bevor er wieder zusammensank. Das bekam ich am Rande mit, denn ich hatte mich bereits auf den zweiten Wolf konzentriert, der es schlauer anstellte als sein Artgenosse. Er war zur Seite weggeglitten, hatte sich dabei sehr klein gemacht und huschte über den Boden hinweg. Melanie Morton war für mich uninteressant geworden, ich wollte den verdammten Wolf, der es auf eine Art und Weise versuchte, mit der ich nicht gerechnet hatte. Der Weg zur Tür war ihm versperrt, da hätte ihn meine Kugel sofort eingeholt, und deshalb versuchte er es auf seine spektakuläre Art und Weise. Mit einem gewaltigen Sprung jagte er auf eines der beiden kleinen Fenster zu. Er hatte vom Boden abgehoben, für mich war er in der Luft noch gewachsen, und ich fragte mich, ob sein breiter Körper nicht steckenblieb, wenn er in die Scheibe hineinrammte. Ich hatte mich gedreht, stützte meine rechte Hand mit der linken ab und feuerte zweimal. Das geweihte Silber erwischte ihn, bevor er die Scheibe erreichte. Dann zersplitterte sie, der Wolf schlug rasend schnell mit den Vorderläufen um sich, als wollte er in der Luft kratzen, aber er fand keinen Halt. Mit seinen Krallen schabte er noch über die Wand hinweg, das war aber auch alles. Sein Körper klatschte zu Boden, und mit ihm geschah das gleiche wie mit dem ersten Wolf. Von innen her glühte er auf. Ein kaltes Licht oder Feuer breitete sich aus, was ich so genau nicht wahrnahm, denn ich mußte mich um Melanie Morton kümmern. Sie hatte die Gunst der Sekunde nutzen und fliehen wollen. Sie war bereits im kleinen Flur, ich hörte sie dort schreien. So leicht war ich nicht zu stoppen, auch nicht durch die zugeworfene Tür. Ich jagte Melanie nach, zerrte die Tür auf und war verdammt schnell. Melanie ebenfalls. Sie war nicht nur Stripperin, sie konnte auch tanzen. Das setzte ein gewisses Training und ein hohes Maß an Beweglichkeit voraus, was ich auch präsentiert bekam. Sie hatte sich einen Vorsprung erkämpft und längst die Treppe erreicht. Sie hastete die Stufen hinab, einen Absatz Vorsprung, und so schnell, wie sie war, würde ich Mühe haben, sie einzuholen. Dann beging Melanie einen Fehler. Als sie sich auf dem Absatz nach rechts drehte, eine Hand dabei am Geländer, schaute sie hoch und zurück. Sie lief dabei weiter und achtete nicht darauf, wohin sie trat. Sie stolperte über ihre eigenen Füße, fluchte, rutschte aus, konnte sich aber fangen, so daß sie nicht kopfüber die nächsten Stufen hinabfiel.
Auf dem Absatz kämpfte sie um ihr Gleichgewicht, was natürlich seine Zeit brauchte und mir Gelegenheit gab, mit langen Sätzen auf sie zuzuspringen. Ich nahm die letzten drei Stufen mit einem Sprung. Für Melanie mußte es aussehen, als wäre etwas Schreckliches vor ihr erschienen, denn sie streckte mir abwehrend beide Hände entgegen und fauchte dabei, als wollte sie ihre Helfer imitieren. »Hau ab!« brüllte sie mir entgegen. Ich haute nicht ab. Bevor sich Melanie versah, hatte ich einen Arm gepackt, es war der rechte, und bog ihn herum. Sie machte die Bewegung in einer halben Drehung mit, weil sie nicht anders konnte. Sie schrie, als ich ihr den Arm auf den Rücken bog. Der gute alte Polizeigriff war noch immer am wirkungsvollsten. Ihm zu entkommen, war so gut wie unmöglich, und das wußte auch Melanie, denn sie gab ihren Widerstand endlich auf. »Ist es okay?« Gebückt stand sie vor mir und nickte. »Dann hoch.« Ich brauchte sie nicht einmal zu schubsen, ihre Beine bewegten sich automatisch. Sie stieg die Stufen hinauf. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, stellte mir allerdings vor, daß es wutverzerrt war, denn sie hatte verloren. Die ganze Aktion war nicht geräuschlos verlaufen, aber keiner der Hausbewohner kümmerte sich darum. Niemand verließ seine Wohnung, um nachzuschauen. Ich drückte Melanie in den engen Flur, trat mit der Hacke die Tür zu und ließ sie los. Sie taumelte ein Stück nach vorn, umklammerte mit der linken Hand ihren rechten Arm, stand noch immer gebückt, drehte den Kopf und starrte mich böse an. »Gehen Sie in das Zimmer.« Sie ging, ich folgte ihr, und wir sahen beide dasselbe Bild. Nur nahmen wir es unterschiedlich auf. Ich war erleichtert, Melanie aber zeigte sich geschockt. Ihre beiden Leibwächter konnte sie vergessen. Die Wölfe lagen an verschiedenen Stellen auf dem Boden, waren zwar noch als Gerippe vorhanden, aber innerlich waren sie durch dieses kalte Licht oder Feuer ausgeglüht worden. Durch das offene Fenster wehte ein kühler Wind, begleitet von dünnen Nebelschleiern. »Setzen Sie sich in den Sessel, und rühren Sie sich nicht!« herrschte ich Melanie an, die tat, wie ihr geheißen war. Wie ein Kind kauerte sie sich auf dem Möbelstück zusammen und machte sich klein. Ich kümmerte mich um die beiden Wölfe. Da sie innerlich verbrannt waren, hätte ich auch eine gewisse Wärme verspüren müssen, die aber war nicht vorhanden.
In einem kalten Feuer, ausgelöst durch die Kraft des Silbers, waren sie vergangen, und auch der Begriff Feuer stimmte nicht ganz. Mir kam es eher vor wie irgendein Licht, das alles in ihnen zerstört hatte. Eine Erklärung hatte ich dafür nicht. Ich trat mit dem rechten Fuß auf den Knochenpanzer des Wolfes und hörte zu, wie er knirschend zusammenbrach. Für einen Moment blieb auch noch das gelbrote Licht, dann verlor es seinen Glanz und wurde fahl. Auch das Gerüst des zweiten Wolfs brach zusammen. Ich hatte es nicht mal zu berühren brauchen. Die andre Kraft war eben stärker gewesen. Es tat mir gut, zu wissen, daß es die Bestien nicht mehr gab. Der abgestellte Eimer hatte den Kampf überstanden. Keiner von uns war gegen ihn gelaufen und hatte ihn umgeworfen. Ich drehte mich Melanie Morton zu. Sie hockte an ihrem Platz und hatte mich beobachtet. Die Angst war aus ihren Augen verschwunden. Sie hatte einem lauernden Ausdruck Platz geschaffen. Endlich hatte ich Zeit, sie genauer zu betrachten und mußte zugeben, daß sie eine hübsche Frau war. Die enge, schwarze Kleidung paßte zur Frisur, auch wenn das Gesicht den Zügen der Monroe glich. Ich holte mir einen Stuhl aus der Küche. Er hatte eine hohe Lehne, die bis zu den Schulterblättern reichte. Melanie Morton saß genau vor mir. Sie war nervös und gespannt zugleich. Die Hände hatte sie zu Fäusten geballt, die Lippen zuckten, doch sie sagte kein Wort. »Wollen Sie etwas trinken?« fragte ich. »Nein.« »Rauchen?« »Auch nicht.« »Gut.« »Nichts ist gut!« fuhr sie mich an. »Gar nichts.« Sie drohte mir mit einer Faust. »Wahrscheinlich bist du jetzt der Meinung, gewonnen zu haben, aber du irrst dich, Bulle, du irrst dich gewaltig. Das Spiel fängt erst an, das schwöre ich dir!« »Ja, damit rechne ich auch.« »So?« »Ich werde mich darauf einstellen. Ihre beiden Helfer haben Sie nicht beschützen können, und ich möchte Sie wirklich fragen, ob Sie das nicht nachdenklich gemacht hat. Sie haben auf die Wölfe gesetzt, sie haben zugesehen, wie sie einen Bekannten oder Freund von Ihnen umbrachten, und Sie fühlten sich auf der Siegerstraße. Nun aber müssen Sie erleben, daß die Bestien nicht allmächtig sind, daß es jemanden gibt, der stärker ist als sie. Außerdem begreife ich Ihre Handlungen nicht. Noch gestern waren Sie eine völlig normale Frau, die, das gebe ich zu, einem außergewöhnlichen Beruf nachgegangen ist. Heute aber haben Sie eiskalt reagiert wie eine Killerin, die ihre Tat
plante. Sie haben den Toten ins Bad geschafft und in die Sitzwanne gelegt. Um das durchzuziehen, da braucht es schon einiges. Wieso haben Sie sich dermaßen stark ändern können? Was ist mit Ihnen geschehen?« »Nichts«, erwiderte sie verstockt. »Das glaube ich Ihnen nicht, Melanie. In Ihrer Psyche muß es einen Bruch gegeben haben. Sie können mir nicht erzählen, daß Sie schon immer so waren.« Die Stripperin schwieg und biß sich auf die Unterlippe. Auf der Stirn schimmerte Schweiß. »Sie wollen mir nicht antworten.« »Nein!« »Schauen Sie sich die Reste Ihrer beiden Helfer an. So stark sind die Wölfe nicht. Was immer Ihnen Morgana Layton auch gesagt haben mag, Sie dürfen nicht alles glauben.« Nach diesen Worten richtete sie den Blick auf mich. »Verdammt, was weißt du denn schon?« »Zuwenig, das stimmt!« »Dann laß es auch!« fauchte sie. »Nein, ich lasse es nicht. Wir beide stehen erst am Beginn. Der Fall geht weiter, das kann ich Ihnen versprechen, und Sie werden dabei eine Hauptrolle spielen.« »Falls ich will.« Ich schüttelte den Kopf. »Es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben, und ich bringe Sie hinter Gitter.« Da lachte sie mich aus. Es war ein scharfes, böses klingendes Lachen. »Was habe ich denn getan, verdammt?« Melanie sah aus, als wollte sie aus dem Sessel springen, blieb aber sitzen. »Ich habe den Typ nicht gekillt.« »Aber Sie waren dabei und haben zugeschaut. Sie haben seinen Tod wahrscheinlich provoziert.« »Klar, ich war dabei. Aber daraus wirst du mir keinen Strick drehen können. Das zerpflückt dir jeder Anwalt. Und überhaupt, ihr Bullen seid doch um keinen Deut besser als wir. Tut doch nicht so. Ich kenne euch. Ich kenne genügend Gesichter, und ich weiß auch, daß sich viele von euch, wenn sie ihre Uniformen abgelegt haben, in die StripteaseSchuppen schleichen, um nacktes Fleisch zu sehen. Das habe ich alles mitbekommen, deshalb hör mir auf mit deiner Moral.« »Sie verwechseln Äpfel mit Birnen. Kein Kollege wird sich strafbar machen, wenn er einem Strip zuschaut, das sollten Sie wissen, Melanie. Bei Ihnen ist es etwas anderes. Sie haben selbst zugegeben, daß Sie den Mord wollten, und Sie hätten ihn verhindern können, daran glaube ich fest. Sie werden dafür bezahlen müssen.« »Meinst du das wirklich?«
»Es ist mein Ernst.« »Nur hast du den Joker in diesem Spiel völlig vergessen. Was ist mit Morgana? Glaubst du denn im Ernst, daß sie so etwas zulassen wird?« Sie reckte mir ihr Kinn entgegen. »He, glaubst du das im Ernst?« »Was soll sie tun?« »Sie wird dich töten!« »Morgana?« Ich lächelte etwas spöttisch, was Melanie nicht gefiel. »Wer sonst?« keifte sie mich an. »Glaubst du wirklich, daß du es schaffst, gegen sie anzukommen? Nein, das kannst du dir abschminken. Morgana ist besser als ich. Sie ist eine Kämpferin, sie wird von ihren Wölfen beschützt, sie ist in der Stadt, und sie hat ihren Samen bereits gesät. Du wirst nichts machen können. Du wirst vor Angst zittern, wenn du ihr gegenüberstehst.« »Das habe ich bisher auch nicht.« »Wie…?« »Ich habe bei unseren Begegnungen nicht gezittert. Im Prinzip verdankt sie meiner Menschlichkeit ihre Existenz. Vor einigen Jahren hätte ich sie töten können. Ich habe es nicht getan, den Preis dafür muß ich jetzt entrichten.« Eigentlich hatte Melanie Puppenaugen. Die aber zog sie jetzt zu Schlitzen zusammen. »Du sprichst von Morgana Layton, als würdest du sie kennen. Das ist nicht… das ist…« »Verlassen Sie sich darauf, daß ich sie kenne. Ich bin sicher, daß wir uns bald gegenüberstehen werden.« »Darauf freue ich mich auch.« Ich schaute Melanie an, was ihr überhaupt nicht gefiel. »Glotz nicht so blöd, verdammt«, schimpfte sie. »Was regen Sie sich auf? Ich frage mich nur, weshalb die Layton gerade zu Ihnen Kontakt aufgenommen hat. Was ist Besonderes an Ihnen, das sie hätte reizen können?« »Sie mag es nicht, wenn Frauen geknechtet werden. Und ich bin geknechtet worden. Ich tanzte vor diesen geilen Affen, aber abkassiert haben andere, und das war ihr wohl zuviel.« »Meinen Sie?« »Ja, denn sie hat mir gesagt, daß sich alles ändern würde.« »Es stimmt.« »Aber nicht so, wie du denkst.« Melanie bewegte ihren Kopf und schaute sich suchend in ihrer Wohnung um, als wäre sie dabei, nach einem Ausweg zu forschen. Nichts hatte sich verändert. Auch die Layton tauchte nicht auf. Sie ließ ihre Freundin im Stich, was Melanie zusehends irritierte. Ich hatte eines dieser tragbaren Telefone entdeckt und an mich genommen. »He, wen rufst du an?« »Meine Kollegen.«
»Und dann?« Mein rechter Zeigefinger schwebte über dem Zahlenviereck. »Es ist ganz einfach. Alles muß seinen Gang gehen. Man wird den Toten abholen und ihn untersuchen. Es ist ein Mord passiert, auch wenn die Killer Tiere waren, von denen nur noch Reste zurückgeblieben sind.« »Und das wird man dir glauben?« »Mir schon«, antwortete ich mit einer Stimme, die Melanie durcheinanderbrachte, denn sie fragte: »Verdammt noch mal, was ist denn so Besonderes an dir?« »Das haben Sie erlebt.« Die Stripperin überlegte und kaute dabei auf ihren Fingernägeln. So wirkte sie wie ein kleines Kind, das unartig gewesen war und jetzt verlegen auf seine Strafe wartete. Der Vergleich schmeckte mir nicht, leider gab es noch immer viele Eltern, die ihre Kinder schlugen. »Du meinst die Wölfe.« »Ja, sie verglühten, und ich glaube nicht, daß dies auch bei einer normalen Bleikugel geschehen wäre.« Melanie Morton nickte. »Das sicherlich nicht«, murmelte sie. »Dann ist deine Waffe mit besonderen Kugeln geladen.« »Ja, mit geweihten Silber kugeln.« Ich hatte sie bei dieser Antwort nicht aus den Augen gelassen. Melanie zeigte kaum eine von der Normalität abweichende Reaktion, statt dessen fragte sie: »Kann man damit auch Menschen töten?« »In der Tat. Warum?« Sie winkte ab. »Schon gut.« Die letzten Minuten mußten bei ihr einen Umdenkungsprozeß in Gang gesetzt haben, denn sie kam mir weniger aggressiv vor. Sicherlich hatte sie sich damit abgefunden, daß sie in der Klemme steckte, und da sich Morgana Layton noch nicht gezeigt hatte, blieb sie weiterhin allein und grübelnd hocken. Ich telefonierte. Suko war schon zum Krankenhaus gefahren, und so erwischte ich Glenda, die über meinen Anruf erleichtert war. Sie gab mir zuerst eine Telefonnummer durch, die ich nicht behalten konnte und mir mangels eines Zettels auf die linke Handfläche schrieb. So wußte ich, wie Suko zu erreichen war. »Und was ist bei dir passiert?« fragte Glenda. »Ich brauche die Mordkommission.« »Oh. Soll ich dich verbinden?« »Ja, mit Sir James.« Sehr bald meldete er sich und bekam zu hören, was mir widerfahren war. Während des Berichts ließ ich Melanie Morton nicht aus den Augen. Sie schaute mich kaum an, hielt den Kopf gesenkt und machte den Eindruck einer Person, der sämtliche Felle weggeschwommen waren.
Ich legte mit der Gewißheit auf, das Richtige getan zu haben. Melanie und ich würden warten, bis die Kollegen eingetroffen waren und dann verschwinden. Ich hatte mir noch keinen bestimmten Plan zurechtgelegt, ich wollte abwarten, wie sich die Dinge entwickelten, denn ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß Morgana Layton und ihre Wölfe die Stripperin im Stich lassen würden. Irgend etwas mußte geschehen, das sagte mir mein Verstand. Melanie bewegte sich, streckte die Beine aus und stellte die Füße auf den Boden, dicht neben die größten Blutflecken. »Darf ich aufstehen?« »Bitte.« Auch ich erhob mich und legte das Handy zur Seite. Melanie stand vor mir und lächelte mich an. Ich kannte dieses kokette Lächeln der Frauen und wußte, daß sie es mit der ältesten Waffe der Welt versuchen würde, um mich umzustimmen. Mit ihrem Körper, mit ihrer Stimme und eben mit diesem verheißungsvollen Lächeln. »Hör mir zu, John«, sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen. »Ich weiß nicht, warum wir uns streiten. Du bist zwar ein Bulle, aber du gefällst mir, und so ohne bin ich auch nicht.« Sie zeichnete mit den Handflächen die Kurven ihres Körpers nach. Die enge Kleidung ließ sie beinahe nackt aussehen, und ich mußte zugeben, daß sie verdammt gut gewachsen war. »Was meinst du, John, was geile Männer alles geben würden, um mich anfassen zu dürfen. Auf die Bühne haben sie geglotzt, die blanke Geilheit in den Augen, und ich konnte mir vorstellen, was sie dachten. Bei dir ist das was anderes. Du darfst bei mir alles machen. Wir könnten zusammen ins Bett gehen, und ich weiß nicht, ob du schon alle Tricks kennst, die ich beherrsche.« »Okay.« »Du sagst ja?« »Nein.« »Dann findest du mich nicht gut?« »Doch, du bist eine Frau mit Rasse und Klasse. Es gibt da nur ein Problem: Wir stehen auf verschiedenen Seiten. Hätten wir uns unter anderen Umständen kennengelernt, hätte ich sicherlich nichts dagegen gehabt. So aber sind wir wie die beiden Königskinder, die eben nicht zusammenkommen.« »Schade.« »Ja.« Ich dachte, damit wäre das Thema erledigt. Für mich schon, aber nicht für Melanie, die es nicht nachvollziehen konnte, daß es einen Mann gab, der ihren Reizen widerstand, obwohl sie sich ihm anbot. Okay, ich war kein Heiliger, nur ein Mann, und Männer sind sicherlich oft schwächer als Frauen. In diesem Fall jedoch mußte ich aus Vernunftgründen nein sagen. Zudem wußte ich, daß sie es nicht ehrlich meinte, auch wenn sie plötzlich dicht vor mir stand, dann noch einen Schritt ging und mich dabei
umarmte. »Verdammt noch mal, Bulle, stell dich nicht so an. Wenn du willst, können wir es gleich hier treiben. Hier im Zimmer, auf der Stelle. Es ist was anderes und völlig neu auch für mich.« Ich protestierte mit den Händen, faßte sie in Höhe der Ellbogen an, um sie zurückzuschieben, was mir nur mühsam gelang. Als sich ihr Griff lockerte, da löste ich auch meinen, und das war genau der große Fehler, den ich beging. Ihre rechte Hand bewegte sich blitzartig meinem Gürtel entgegen. Meine Männlichkeit hatte sie dabei nicht im Sinn, sondern den Gegenstand, der auch im übertragenen Sinne oft als Symbol der männlichen Stärke bezeichnet wird. Die Beretta. Ihre Hand war schlangengleich und schneller als ich. Bevor ich noch zufassen konnte, war die Stripperin schon wieder zurückgezuckt und hatte die Waffe auf mich gerichtet. Sie trat zurück, brachte eine bestimmte Distanz zwischen uns und sagte: »So, Bulle, und jetzt wird nach meinen Regeln gespielt…« *** Wenn Männer Idioten sind, dann stand ich auf der Liste ganz oben. Ich hätte mich sonstwohin treten können, daß ich auf diese Person reingefallen war. Sie hatte mich regelrecht überlistet, mich erst in Sicherheit gewiegt und dann zugeschlagen. Nicht jeder Mensch kann mit einer Pistole umgehen. Melanie Morton konnte es, ich brauche nur in ihr Gesicht zu schauen, um dort zu erkennen, wie ernst es ihr damit war, auch abzudrücken, denn ihr Finger lag am Abzug der Waffe. »Okay«, sage ich, »und jetzt…?« »Bin ich am Drücker, Sinclair!« »Das ist leider nicht zu übersehen.« Ihre Augen funkelten. »Wie wunderbar du das eingesehen hast, Bulle.« Sie lachte mich kehlig an. »Herrlich, wie man die Kerle doch immer wieder einlullen kann. Du wirst jetzt genau das tun, was ich von dir verlange, verstanden?« »Was soll ich tun?« »Geh zum Regal!« »Gut.« »Und laß die Hände oben!« »Keine Sorge, ich kenne die Regeln.« Aus dem Unken Augenwinkel bekam ich mit, daß sich auch Melanie drehte, als ich vorging. Sie war sehr geschickt, denn die Mündung der Beretta zeigte dabei auf meinen Rücken. Ich ärgerte mich noch immer, so reingelegt worden zu sein. Wahrscheinlich hatte ich im Laufe der Zeit
vergessen, daß es auch normale Kriminalfälle gab, denn die Beschäftigung mit Geistern, Dämonen und deren Abkömmlingen hatte mich wohl irgendwie betriebsblind werden lassen und mir den Blick für die realen Dinge verschleiert. Ich blieb vor dem Regal stehen und konnte in die einzelnen Fächer hineinschauen, wo nur wenige Bücher standen. Einige waren Fachbücher, in denen über das Tanzen und Strippen geschrieben worden war. In den unteren Regalfächern hatten kleinere Blumenvasen ihre Plätze gefunden. Darüber standen einige Alkoholika, das alles sah ich nur am Rande. »Und jetzt dreh dich, Bulle!« »Wie?« »Bleib dabei vor dem Regal stehen.« Mir blieb nichts anderes übrig, als der Aufforderung nachzukommen. Während der bewußt langsamen Drehung – ich wollte Zeit schinden, schließlich waren die Kollegen unterwegs –, warf ich ihr einen Blick zu. Melanie Morton stand in einer guten Schußposition vor mir, den rechten Arm mit der Waffe ausgestreckt, das Gelenk mit der linken Hand unterstützend. Sie hatte meinen Blick bemerkt und lachte leise. »Keine Sorge, Bulle, auf eine derartige Distanz treffe ich immer. Mein Bruder war Jäger. Der hat mich als Teenager oft genug in den Wald mitgenommen und mir dort das Schießen beigebracht.« »Auch auf Menschen?« fragte ich. Sie gab mir keine Antwort und befahl mir statt dessen, mich flach vor das Regal auf den Boden zu legen. »Aber schnell, ich weiß selbst, daß deine Kollegen unterwegs sind.« Ich hob die Schultern und sank in den Knien ein. An dieser Stelle war der Teppich nicht blutbeschmiert. Es gefiel ihr noch nicht, wie ich lag, denn ich hatte mich auf meine angewinkelten Arme gestützt, und sie erklärte mir, daß ich die Arme ausbreiten und die Hände ausstrecken sollte. Ich kam ihrer Aufforderung nach und hörte, wie sie näher an mich herantrat. Sie ging leicht gebückt, beide Arme mit der Waffe nach vorn gestreckt, und die Mündung zielte auf meinen Kopf. »Gut so, Sinclair, das ist gut.« Ich drehte den Kopf etwas nach rechts und schielte zu ihr hoch. »Was ist jetzt, Melanie? Wollen Sie mir jetzt eine Kugel durch den Kopf jagen?« »Ich könnte es tun.« »Bitte!« »Und ich werde es auch tun!« Die Kälte in ihrer Stimme erschreckt mich. Frauen können stärker hassen als Männer, das wurde mir in diesem Augenblick klar, denn aus ihren Worten hatte der nackte Haß gesprochen. Morganas Einfluß war
bei ihr so groß, daß sie im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen ging und es ihr auch nichts ausmachen würde, einen Polizisten zu töten. »Wenn eine Kugel nicht reicht, werde ich zwei- oder dreimal schießen. Du selbst hast mir gesagt, daß deine Silbergeschosse auch Menschen töten. Ich danke dir für den Tip.« Darüber konnte ich nicht mal grinsen. Ich fühlte mich hilflos, so platt auf dem Boden liegend. Ich konnte mich nicht mit einem Satz in die Höhe wuchten und Deckung suchen, das alles war nicht möglich. Ich war und blieb Melanies Gefangene, auch wenn sie sich jetzt, noch immer gebückt, aus meiner unmittelbaren Nähe entfernte, dabei rückwärts gehen mußte, weil sie mich im Auge behalten mußte. Sie kannte ihre Wohnung, so wie ich die meine kannte. Aber es hatte sich etwas verändert. Der Glastisch war zerbrochen. Die Scherben lagen verteilt auf dem eingetrockneten Blut. Auf ihnen rutschte Melanie aus. Und in diesem Augenblick fing die Waffe in ihrer Hand an zu tanzen. Sie zeigte nicht mehr auf mich, folgte der heftigen Bewegung, wies plötzlich gegen die Decke, und ich erkannte sofort meine Chance. Mein rechter Arm zuckte hoch. Ich griff dorthin, wo die Flaschen im Regal standen, bekam eine zu fassen, holte noch im Liegen zum Wurf aus und schleuderte sie genau in dem Moment in Melanies Richtung, als sich die Mündung der Beretta wieder auf mich einzupendeln drohte. Die Flasche flog, der Schuß fiel. Ich zuckte zusammen, rechnete mit dem Einschlag der Kugel. Sie schlug auch ein. Allerdings zerhämmerte sie eine Flasche. Der Alkohol lief aus, bespritzte mich, und ich war blitzschnell nach vorn gerobbt, blieb allerdings unten, um kein Ziel zu bieten. Der Huch war Melanies Anfang der Flucht gewesen. Sie hatte sich gedreht und hetzte mit langen Schritten aus dem Raum. Das schaffte sie auch, ohne daß ich sie daran hätte hindern können. Diesmal war ihr Vbrsprung größer als bei der ersten Verfolgung. Auf der nächsten Treppe würde ich sie kaum stellen können. Zudem mußte ich damit rechnen, daß sie die Nerven behielt und mit der Waffe auf mich lauerte, wenn ich das Zimmer verließ. Aus diesem Grunde war ich vorsichtig, zerrte die geschlossene Tür auf und sprang sofort in den toten Winkel in Deckung. Es hätte nicht zu sein brauchen, denn keine Kugel jagte durch die Öffnung. Ich konnte in einen Flur sehen, der völlig normal aussah. Keine Melanie Morton hielt sich dort auf. Als ich die Wohnungstür aufzerren wollte, zerbiß ich nur mühsam den Fluch. Die Stripperin war raffinierte, als ich angenommen hatte. Trotz ihrer wilden Flucht hatte sie nicht vergessen, von außen abzuschließen. Der Schlüssel steckte entweder im Schloß, oder aber sie hatte ihn fortgeworfen.
Was mir blieb, war der eigene Frust über meine Vertrauensseligkeit. Ich ärgerte mich auch darüber, daß sie meine Waffe mitgenommen hatte. Was die Lage einigermaßen erträglich machte, war die Tatsache, daß ich noch lebte und mir als Lebender schwor, daß ich Melanie und auch Morgana auf den Fersen bleiben würde… *** Suko hatte sein Part des Jobs auf keinen Fall optimistisch gestimmt. Wie die meisten Menschen auf der Welt sah er Krankenhäuser lieber von außen als von innen. In diesem Fall jedoch war ein Besuch nicht zu vermeiden. Er parkte seinen BWM, mit dem er trotz des Nebels gefahren war, auf dem krankenhauseigenen Parkplatz, schaltete durch das verstärkte Drehen des Schlüssels die Alarmanlage mit ein und drehte sich seufzend um, weil er den Eingang zum Krankenhaus suchte. Es war nicht so einfach, denn der Nebel hing nicht nur wie ein graues Gespinst in den Bäumen der Grünfläche, die das Krankenhaus umgab, er umhüllte auch den mächtigen Bau wie ein dichter Kokon aus Watte. Das Gebäude sah aus, als hätte es jeglichen Kontakt mit dem Erdboden verloren und würde in der Luft schweben und zudem darauf warten, von einem heftigen Windstoß erfaßt zu werden, der es in eine andere Dimension trieb. Die klebrigen Blätter auf dem grauen Weg, den Suko einschlug, sahen aus wie braune Flecken. Der Herbst hatte die Bäume entlaubt. Jetzt ragte das Geäst wie in sich verdrehte, starre Totenarme in den Himmel. Die Bäume begleiteten ihn auf seinem Weg bis kurz vor dem Eingangsportal des Krankenhauses, wo eine halbrunde Hache aussah wie die graue Oberfläche eines Teichs. Eine Treppe führte zu den gläsernen Türen hoch. Rechts daneben stieg eine glatte, breite Bahn im selben Winkel an, wo Menschen auf Rollstühlen hochgeschoben werden konnten. Suko hatte sich nach dem Namen des Professors erkundigt, der versuchen wollte, die Verletzten in einem Raum zusammenzulegen. Der Mann hieß Ben Penrose und war Leiter der Station D. Er wußte, daß Suko ihn besuchen würde. So würde er lange Voranmeldungen umgehen können. Zusammen mit zwei älteren Frauen stieg er die Treppe hoch. Die beiden unterhielten sich über ihre Männer, die in der Klinik lagen. Ihre Stimmen klangen traurig, denn die Ärzte hatten den Kranken keine großen Chancen mehr gegeben. Auf diesem kurzen Stück erlebte Suko den Kreislauf des Lebens, der doch so simpel war. Die einen wurden geboren, andere starben. So war es immer gewesen, und so würde es auch immer bleiben, daran änderte sich nichts.
Die beiden Hälften der Glastür schwangen zur Seite. Mit einer Handbewegung deutete Suko den beiden Frauen an, ihnen den Vortritt zu lassen. Sie lächelten scheu, betraten die Halle und wandten sich sofort den beiden Aufzügen zu. Der Inspektor ging in die andere Richtung, wo in einem großen Glasbau die Anmeldung untergebracht war, Davor standen ein Mann und eine junge Frau mit einem Kind an der Hand. Das Mädchen nuckelte an einem Lutscher und streckte Suko, als es ihn sah, eine rot gefärbte Zunge entgegen. Er erwiderte diesen >Gruß<, indem er das Gesicht verzog. Dabei ging er an der schmaleren Seite der Anmeldung vorbei, allerdings nicht in den Gang hinein, sondern stieß die Tür zu einem Büro auf, in dem zwei Frauen an verschiedenen Schreibtischen saßen und über die Störung ungehalten waren. Sie blickten Suko nicht eben freundlich an. »Was können wir für Sie tun?« fragte die ältere der Frauen. Sie trug eine weinrote Bluse und einen schwarzen Rock dazu. Das Haar hatte sie strähnig gefärbt. »Sie können mich bei Professor Penrose anmelden.« »Ach.« »Ja, sagen Sie ihm, daß ein gewisser Inspektor Suko eingetroffen ist. Der Professor weiß dann schon Bescheid.« »Inspektor…?« dehnte die Person. »Genau.« Auch die zweite Frau wurde aufmerksam, nahm ihre Brille ab und reckte den Hals. »Scotland Yard.« »Oh.« Die Tante in der roten Bluse zuckte zusammen. Dann versuchte sie es mit einem Witz, während sie schon zum Telefon griff. »Wollen Sie unseren guten Professor verhaften?« »Später«, sagte Suko. Er schaute auf ein Kalenderblatt, das, der Jahreszeit entsprechend, einen blattlosen Baum zeigte. Unter ihm war eine kleine Gestalt dabei, das Laub mit beiden Händen in die Höhe zu schaufeln und es wie einen Regen auf sich niederfallen zu lassen. Ein Kind mit einer roten Pudelmütze. »Der Professor erwartet Sie auf der Station D«, wurde Suko informiert. »Dort erkundigen Sie sich bitte dann bei Schwester Lilian nach seinem Privatbüro.« »Danke für die Mühe.« »Für die Polizei tut man doch alles.« Suko war schon an der Tür. Er drehte sich noch einmal um und zwinkerte den beiden Damen zu. »Wirklich alles?« fragte er, lachte, weil beide einen roten Kopf bekamen, und zog sich dann aus dem Büro zurück. Diesmal war er es, der zu den Fahrstühlen ging, die beide sehr geräumig waren. Suko stieg ein und sah sich von Wänden umgeben, die zum Teil aus Holz und zum anderen Teil aus Metall bestanden.
Mit ihm zusammen fuhren ein Pfleger und ein Mann mit hellem Vollbart hoch. Der Mann sah in seinem gestreiften Bademantel aus wie ein Knastologe auf dem Witzblatt. Er starrte immer nach unten auf seinen eingegipsten rechten Fuß und stützte sich auf einem knotigen Stock ab. Er schlich in der zweiten Etage ebenso aus dem Lift wie der Pfleger, dessen Haar im Nacken einen wirren Pferdeschwanz bildete. Den Rest der Strecke legte Suko allein zurück. In der vierten Etage, der Station D, stieg er aus und sah den Buchstaben in einer grünen Farbe auf die helle Wand gemalt. Suko stand etwas verloren in einem T-förmigen Gang. Zwei Bänke rahmten einen Tisch ein, auf dem Zeitschriften lagen, und in einem Winkel zwischen Wand und Decke war ein Fernseher angebracht worden. Die Mattscheibe zeigte dasselbe Grau wie der vor den großen Glasbausteinen liegende Nebel. Ein Pfeil zeigte mit der Spitze nach rechts, und Suko nahm auch diesen Weg. Er gelangte in einen relativ breiten Flur. Rechts und links lagen die verschiedenen Zimmer, und aus einem trat eine Schwester, die stehenblieb, als sie Suko sah. Auch der Inspektor stoppte. »Schwester Lilian?« »Ja, und Sie müssen der Inspektor sein, der mir gemeldet wurde.« »So ist es.« »Ich werde Ihnen das Zimmer des Professors zeigen. Bitte, folgen Sie mir.« Suko ging gern hinter ihr her, denn Lilian war eine attraktive Person, und der Schwung ihrer Hüften, ob beabsichtigt oder nicht, konnte so manchem Kranken schneller auf die Beine helfen. Lilians Haar war hennarot gefärbt. Die wirren Locken wurden durch ein Band zusammengehalten. Professor Penroses Büro verteilte sich auf zwei Räume. Hinter einem Vorzimmer lag sein eigentliches Büro. Suko konnte durch die offene Tür hineinschauen. Er sah einen lindgrünen Teppichboden und das helle Holz eines Schreibtisches. Hinter ihm erhob sich der Arzt, bedankte sich bei Lilian, die Suko kurz anlächelte und danach verschwand. Ben Penrose stand hinter seinem Schreibtisch. Er trug einen weißen Kittel, den er nicht geschlossen hatte. Darunter ein blaues Hemd und helle Jeans, so machte er gar nicht den Eindruck eines Professors, wie man ihn aus zahlreichen Seifenopfern kannte, deren Handlungen in irgendwelchen Krankenhäusern angesiedelt waren. Auch die Frisur fiel etwas aus dem Rahmen. Sein dichtes Haar reichte bis in den Nacken. Dafür hatte er eine ausgeprägte Stirnglatze.
Sein Gesicht zeigte einen scharfen Schnitt, es lief zum Kinn hin spitz zu und ließ den Mund klein aussehen. Eine Schönheit war er nicht, dafür eine Kapazität. »Nehmen Sie doch Platz, Inspektor.« Penrose deutete auf einen Stuhl, den Suko zu sich heranzog. »Ja, danke.« Auch der Professor setzte sich. Suko hätte jetzt Zeit gehabt, sich wieder Bilder anzuschauen, die an den Wänden hingen, aber die Ruhe gab ihm der Professor nicht. Er begann die Unterhaltung eigentlich mit einem Kopfschütteln, was Suko nicht eben optimistisch stimmte. »Darf ich raten?« »Können Sie.« »Sie haben es nicht geschafft!« Der Arzt nickte. »Ja, ich habe es nicht geschafft, obwohl ich mich wirklich bemüht habe. Es ging nicht zu machen. Wir haben leider keinen so großen Raum, in dem wir alle Verletzten unterbringen können. Sie sind nach wie vor auf dieser Station verteilt.« »Wie viele sind es denn?« »Sechs.« »Mehr nicht?« »Nein, denn die anderen waren in dem Sinne nicht verletzt. Sie hatten einen Schock bekommen, ihre Kleidung war zerrissen, doch Wunden hatten sie keine. Man konnte bei ihnen mehr von Kratzern sprechen, die wir desinfizierten und mit Pflastern zuklebten.« »Hoffentlich reicht es.« »Moment, wie meinen Sie das?« Suko winkte ab. »Schon gut, Professor. Ich möchte Sie fragen, wie schwer diese sechs Patienten verletzt sind.« »Hm.« Penrose schaute auf einen Bleistift, der vor ihm lag. »Das ist schwer zu sagen.« »Besteht bei einem oder anderen Lebensgefahr?« Er hob beide Arme. »Nein, nein, Inspektor, auf keinen Fall. Wir haben alles unter Kontrolle, das werden Sie selbst sehen können.« Er beugte sich lächelnd vor. »Und einen Kompromiß haben wir auch schließen können.« »Inwiefern?« »Die sechs Patienten liegen zwar nicht in einem Raum, dafür in zwei Zimmern, die miteinander durch eine Tür verbunden sind.« »Das ist gut.« »Sagte ich doch.« Penrose lehnte sich zurück. Er war wieder entspannter geworden. »Es bleiben natürlich noch einige Rätsel bestehen, und dabei möchte ich Sie um Aufklärung bitten.« »Gern.«
»Zuerst eine schlichte Frage. Weshalb sind Sie hier? Was ist so ungewöhnlich an den Patienten, abgesehen eben von diesen Bissen? Daß Menschen von Tieren angefallen werden, kommt öfter vor. Nie habe ich ein derartiges Interesse der Polizei, sogar Scotland Yard, erlebt.« Suko wollte dem guten Mann nicht alles preisgeben, er mußte vorsichtig sein und seine Antwort behutsam formulieren. »Es ist möglich, daß es sich dabei um besondere Tiere handelt, die eben auch besondere Bißwunden hinterlassen haben.« Der Professor war enttäuscht. »Wenn Sie mich anschauen, Inspektor, sehen Sie vielleicht das Fragezeichen auf meiner Stirn. Ich kann Ihnen nicht so recht folgen.« »Es ist auch schwer für mich.« Penrose nahm den Bleistift. Er tippte mehrmals mit dem flachen Ende auf die Schreibtischplatte und lehnte sich dabei zur rechten Seite. »Ich habe schon verstanden. Sie wollen, dürfen oder können mir nicht alles sagen, Inspektor.« »So ähnlich.« »Aber Sie gestatten, daß ich mir Sorgen mache.« »Zweifelsohne. Ich bin auch nicht frei von Sorgen, und ich hoffe, daß alles gut verläuft.« »Könnte denn etwas schiefgehen?« »Damit müssen wir rechnen.« »Hm.« Penrose überlegte. »Denken Sie immer daran, daß auch noch andere Patienten auf meiner Station liegen. Ich möchten nicht, daß es für sie gefährlich wird.« »Das verstehe ich, Professor, aber bitte erwarten Sie von mir keine Garantie.« »Natürlich nicht, wer kann die schon geben? Aber…« Das Summen des Telefons unterbrach ihn. Mit einem Blick entschuldigte er sich bei Suko, hob ab und reichte den Hörer schon wenig später weiter. »Es ist für Sie, Inspektor. John Sinclair.« »Oh, wunderbar. Ja, John, was gibt’s?« »Alles im Eimer.« »Wie bitte?« Suko hörte zu und kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Er mußte auch ein Grinsen unterdrücken, denn trotz der ernsten Lage konnte er sich lebhaft vorstellen, wie diese Melanie Morton versucht hatte, seinen Freund zu verführen und wie John gerade noch aus dieser Klemme entwischt war. Aber entwischt war auch Melanie, und Suko wollte wissen, wo sie sich versteckt haben könnte. John wußte es auch nicht. »Hast du denn keine Vermutung?« »Das schon«, klang es an sein Ohr. »Ich denke, daß sie und Morgana sich finden werden.«
»Schön. Und wo könnte das sein?« Pause. »He, hast du keine Idee?« »Möglicherweise da, wo auch andere liegen. In einem Krankenhaus, zum Beispiel.« Suko schluckte. »Bei uns hier?« »Davon sollte man ausgehen.« Suko schaute für einen Moment gegen die Bürotür. »Nun ja, das wird nicht einfach sein, wenn beide tatsächlich hier erscheinen. Ich habe soeben mit dem Professor über gewisse Probleme gesprochen und ihm erklärt, daß wir nichts Genaues wissen, aber mit einer Gefahr rechnen müssen.« »Passiert ist noch nichts?« hörte der Inspektor die Frage seines Freundes. »Nein, bisher nicht.« »Gut, dann halte du die Stellung. Ich werde so schnell wie möglich bei dir sein.« »Geht in Ordnung.« Suko legte auf und schaute dabei nachdenklich ins Leere, was dem Professor natürlich nicht verborgen blieb. »Schlechte Nachrichten, Inspektor?« »Wie man’s nimmt. Sie betreffen eher meinen Kollegen als uns hier. Aber wir müssen schon mit Vorgängen rechnen, die Ihnen nicht normal vorkommen werden.« »Ihnen denn?« »Ja.« »Warum?« »Es ist mein Job.« »Und wie sieht der aus?« Suko winkte ab. »Lassen wir das lieber. Sie werden es möglicherweise erleben, aber wünschen Sie es nicht.« »Das hört sich nicht gut an. Denken Sie an die anderen Patienten auf der Station. Ich trage die Verantwortung und…« »Können Sie diese evakuieren?« Ben Penrose stöhnte auf. »Wissen Sie was? Ich habe damit gerechnet, daß Sie mit diesem Vorschlag herausrücken werden. Momentan haben wir im Krankenhaus eine relativ niedrige Belegungsquote. Es wäre möglich.« »Dann leiten Sie es bitte in die Wege.« »Sofort?« »Wäre am besten.« Professor Ben Penrose griff zum Telefon… Ohne Geld und ohne winterliche Kleidung durch London zu hetzen, das war nicht eben das Wahre. Und auch Melanie Morton wußte es. Sie mußte sich zumindest eine Jacke oder einen Mantel besorgen und auch etwas Geld, um weiterzukommen.
Der Nebel machte es ihr leicht, und die Geschäftsleute zum Teil auch einfach. Das Viertel, in dem sie lebte, hatte sie verlassen können. Sie trieb sich auf einer Geschäftsstraße herum, in der es mehrere Geschäfte gab, die Kleidung verkauften. Einige Besitzer hatten die mit Drehständern gefüllte Winterkleidung auch vor die Läden gestellt, um mit Sonderpreisen Kunden anzulocken. Eine Verkäuferin bewachte die Ständer zumeist, und die Frauen waren darüber nicht begeistert, in dieser nassen Kälte zu stehen. Melanie ging methodisch vor. Zum einen hatte sie versucht, sich vor den meisten Passanten zu verbergen, weil sie in ihrem dünnen Outfit schon auffiel, zum zweiten war sie an den ersten drei Läden vorbeigegangen, weil dort keine anderen Kunden das Personal ablenkten. Am vierten Geschäft hatte sie Glück. Es war nur ein Drehständer vor den Eingang gestellt worden, der aber wurde von drei Frauen im mittleren Alter belagert, die schon eingekauft hatten, wie die gefüllten Tüten bewiesen. Es waren ausländische Mitbürgerinnen. Sie trugen Wintermäntel und Kopftücher. Melanie schlich näher. Auf sie achtete niemand. Die Verkäuferin, ein noch junges Ding, das zu dünn angezogen war und deshalb fror, starrte mit leeren Blick auf die anderen Kundinnen und wartete sicherlich darauf, daß sie bald Feierabend hatte. Das Glück blieb Melanie weiterhin hold, denn eine der Frauen wandte sich direkt an die Verkäuferin und lenkte diese nicht nur ab, sie nahm ihr auch den Blick auf Melanie. Das nutzte sie aus. Blitzschnell hatte sie den Drehständer erreicht. Dort hingen billige Winterjacken, und sie achtete auch nicht besonders auf die richtige Größe. Ihre Hand schlängelte sich zwischen den beiden anderen Frauen hindurch, die Finger griffen in den Stoff, ein kurzer Ruck, die dunkelrote und innen gefütterte Jacke rutschte vom Bügel und in die auffangbereite linke Hand der Diebin. Bevor die Frauen und auch die Verkäuferin etwas bemerkt hatten, war Melanie schon verschwunden. Wie ein Gespenst war sie in den Nebel eingetaucht. Sie hörte noch die kreischende Stimme der Verkäuferin, die ihr Flüche hinterherschickte, das aber störte sie nicht. Mit hastigen Schritten überquerte sie die Straße und streifte die Jacke auf der anderen Seite über. Ein wenig weit war die Jacke schon, und sie reichte mit dem Saum bis an die Knie der Tänzerin heran. Melanie Morton war mit sich und ihrer Beute sehr zufrieden. Den ersten Schritt hatte sie getan, der zweite würde schwieriger sein, aber sie ging davon aus, daß sie ihn auch noch schaffte.
Der Nebel war ihr Verbündeter, und Melanie wußte genau, was sie zu tun hatte. Sie freute sich zudem darüber, in London zu sein, einer Stadt mit vielen großen Parks, aber auch kleineren Grünflächen, die immer wieder von Menschen besucht wurden. Melanie suchte sich einen Park aus, wo sie eine sichere Beute erwartete. Bei diesem Wetter waren nur wenige Menschen unterwegs, auch ein Vorteil für sie, wie dieser handliche Stein, den sie entdeckte, aufhob und in der rechten Hand behielt. Die Stripperin eilte quer über eine nicht sehr breite Rasenfläche, weil sie auf der anderen Seite, nahe einer verschwommen wirkenden Laterne, eine Gestalt ausgemacht hatte. Nahezu lautlos huschte Melanie über den Rasen. Sie hatte noch nicht erkennen können, ob die Gestalt eine Frau oder ein Mann war, das sah sie wenig später, als sie sich dicht hinter ihr befand. Melanie ging etwas schneller, dabei schaute sie sich einige Male um und mußte mit Freude erkennen, daß keine weiteren Spaziergänger in der Nähe waren. Die Frau vor ihr trug einen braunen Mantel mit einem Pelzkragen. Sie erschrak, als links neben ihr jemand auftauchte, doch das Erschrecken wich einem Lächeln, als sie eine Frau erkannte. Auch Melanie lächelte, wobei sie gleichzeitig gegen die Tasche schaute, deren Riemen die Frau um ihren Arm geschlungen hatte. »Mieses Wetter, wie?« Melanie nicke. »Das können Sie wohl sagen.« Dann hob sie den Arm und deutete nach rechts. »Was ist das denn?« »Wo?« Automatisch drehte sich die Frau um. Melanie schaute auf ihren Rücken. Dann schlug sie zu. Die Frau gab einen grunzenden Laut ab, als der Stein ihren Nacken traf. Auf der Stelle brach sie zusammen. Melanie schleuderte den Stein weg, an dem Haare, Haut und Blut klebten, riß die Tasche an sich und stellte fest, daß die Frau noch lebte. Sie war nur bewußtlos. »Sei froh«, sagte Melanie im Weglaufen, »ich hätte auch schießen können.« Sie kam sich toll vor, daß sie es nicht getan hatte, verließ auf dem schnellsten und kürzesten Weg den Park und blieb schließlich an der Rückseite einer Telefonzelle stehen, die noch von einem Baum beschützt wurde, aus dessen Astwerk die Blätter trudelten. Melanie untersuchte die Tasche. Sie interessierte sich nur für das Portemonnaie, fand die flache Börse sehr schnell, klappte sie auf, und ihre Augen glänzten, als sie die Scheine sah. Es waren mindestens hundert Pfund, ein Sümmchen, mit dem sie ohne weiteres ihren Plan fortführen konnte.
Dabei spielte ein Taxi eine zentrale Rolle. Die Wagen fuhren trotz des miesen Wetters, und Melanie hatte auch das Glück, sehr schnell eines zu finden. Sie gab das Ziel an, als sie in den Fond stieg. »Wird aber was dauern«, sagte der Fahrer. »Das ist mir egal. Hauptsache, ich komme überhaupt ans Ziel…« *** Suko hatte bei Schwester Lüian gewartet, was dieser nicht unangenehm gewesen war, denn eine Unterhaltung mit einem Polizisten von Scotland Yard bekam sie selten geboten, und deshalb genoß sie Sukos Gesellschaft auch und wollte es ihm so angenehm wie möglich machen. Sie hatte Suko einen Platz angeboten und stand selbst an dem Tisch mit der Kaffeemaschine. Lilian deutete auf den Topf. »Möchten Sie Tee oder.Kaffee, Inspektor?« Suko lächelte und schaute in ihr rundes Gesicht. Lilian stand auf Schmuck. An ihren Ohren hingen mehrere golden schimmernde Ringe ineinander, so daß sie nach unten hängende Spiralen bildeten, die beim Gehen auf und ab federten. »Ich plädiere für Tee, aber nur, wenn Sie den Inspektor weglassen und mich Suko nennen.« Sie strahlte. »Dann bin ich Lilian für Sie, und ohne das Wort Schwester.« »Mögen Sie es nicht?« Sie hängte jeweils zwei Teebeutel über die Ränder der Tassen und goß aus dem Topf mit dem Schnabelausguß abgekochtes Wasser hinein. »Nein, es klingt so nach Kloster.« »Das stimmt.« Lilian stellte beide Tassen auf den Tisch. Sie setzte sich auf den zweiten Stuhl, saß im rechten Winkel zu Suko und brachte sein Gesicht näher an das des Besuchers heran. Zwischen ihnen wölkte der Dampf hoch. Suko schaute in Lilians braungrüne Augen. Dort schimmerte die Neugierde, und er hatte sich auch nicht geirrt, denn sie fragte: »Sagen Sie mal, Suko, was ist hier eigentlich los?« Er tat unwissend. »Wie meinen Sie das denn?« Lilian schüttelte den Kopf. »Tun Sie doch nicht so unwissend. Es werden, seit Sie hier sind, die Kranken in andere Zimmer verlegt, als wäre eine Seuche ausgebrochen. Ich bin schon einige Jahre auf dieser Station, so etwas habe ich aber noch nicht erlebt. Da muß doch etwas dahinterstecken.« »Da haben Sie nicht einmal unrecht.« »Und was steckt dahinter?« fragte sie flüsternd.
Suko zog den Teebeutel am Band aus dem Wasser. Er legte ihn auf einen kleinen Teller, rührte den Tee mit einem Löffel um und runzelte die Stirn. »Sind Sie mir sehr böse, wenn ich Ihnen nichts sage, Lilian?« »Ja.« »Dann kann ich es auch nicht ändern.« Lilian lachte. Auch sie holte den Beutel hervor und legte ihn zur Seite. »War ja nur Spaß.« Sie trank, dann wurde sie ernst. »Kann es gefährlich werden?« »Das ist durchaus möglich.« Lilian räusperte sich. »Dann wäre es wohl besser, wenn das Personal ebenfalls die Station verläßt.« »Darauf wird es wohl hinauslaufen, denke ich.« »Wann?« »Nach den Patienten.« Die Schwester schaute ins Leere. »Es hängt doch mit den Verletzten zusammen«, murmelte sie. »Ich konnte sie mir ja anschauen; sie haben zum Teil schlimm ausgesehen, und der Professor meinte, daß sie von wilden Tieren angefallen wären. Stimmt das?« Suko nickte. Lilian sprach weiter und ihre Überlegungen aus. »Dann ist damit zu rechnen, daß diese wilden Tiere, ich denke an Hunde, noch einmal zurückkehren werden.« »Das will ich nicht hoffen.« Wieder weiteten sich ihre Augen, als sie Suko anschaute. »Warum evakuieren wir die Station dann?« Suko wurde einer Antwort enthoben, denn eine von Lilians Kolleginnen schaute herein. »Kommst du, Lilian?« Sie stand auf, trank noch einen Schluck Tee und verzog das Gesicht, weil er so heiß gewesen war. »Ich bin schon unterwegs.« Zu Suko sagte sie: »Jetzt heißt es Betten schieben.« »Soll ich helfen?« »Nein, nein, lassen Sie mal.« Abwinkend verschwand sie aus dem Raum und zog die Tür hinter sich zu. Suko blieb mit seinem Tee und den Gedanken allein zurück. Er beschäftigte sich mit den Wölfen, und er hoffte nicht, daß es ihnen gelang, in das Krankenhaus einzubrechen und es zu besetzen. Das wäre mehr als schlimm gewesen, denn sie würden keine Rücksicht kennen und sich wahrscheinlich auch über Patienten hermachen, die sie bisher verschont hatten. Immer vorausgesetzt, daß sie überhaupt erschienen und sie sowie ihre Herrin keine anderen Pläne verfolgten. Suko erinnerte sich auch an da Gespräch mit seinem Freund John. Sie mußten mit einer zweiten Feindin rechnen, eben mit der Stripperin Melanie Morton. Auch sie stand voll und ganz auf Morgana Laytons Seite und schreckte ebenfalls vor einem Mord nicht zurück.
Obwohl die Tür geschlossen war, hörte er vom Gang her Stimmen. Die Kranken sprachen mit den Schwestern. Sie wunderten sich darüber, daß sie verlegt wurden, aber sie würden keine Chance haben, die genauen Gründe zu erfahren. Der Inspektor trank seinen Tee in kleinen Schlucken. Immer wieder schaute er dabei auf die Uhr, um nachzurechnen, wann John wohl hier sein könnte. Doch er brauchte nur einen Blick auf das Fenster zu werfen, gegen dessen Scheibe sich die Nebelwand drückte. Das Wetter sagte ihm alles. Es würde dauern, bis John das Ziel erreichte, denn die UBahnen waren um diese Zeit überfüllt. Wichtig war nur, daß er kam und sie sich gemeinsam den dämonischen Feinden stellen konnten. Wölfe, die von innen her ausbrannten, das hatte er noch nicht erlebt. Da war Morgana Layton tatsächlich mit einer neuen Variante erschienen. Als Suko seinen Tee getrunken hatte, klopfte es an der Tür, und der Professor trat ein. Im schwachen Licht sah Suko das Lächeln auf seinen Lippen. »Ist alles okay?« »Ja«, erklärte der Arzt. »Wir haben die Patienten in eine andere Station schaffen können. Aber fragen Sie mich bitte nicht, was wir zu hören bekamen.« »Sie haben hoffentlich nichts erwähnt?« »Nein, nein, keine Sorge.« Penrose winkte ab. »Ich habe nicht einmal etwas angedeutet.« »Das ist gut.« Der Professor hatte sich nicht gesetzt und sagte: »Kommen Sie dann bitte mit?« Suko stand auf. »Darauf habe ich gewartet.« Penrose lächelte und ging vor. Obwohl Suko den Gang auf dieser Station nicht anders kennengelernt hatte, kam er ihm jetzt kalt und fremd vor, als wäre jegliches Leben aus ihm entflohen. *** Melanie Morton hatte den Fahrer mit einem guten Trinkgeld dazu gebracht, daß er sich überschwenglich bedankte, eine Seltenheit bei Londoner Taxifahrern. Sie war nicht vor dem Eingang des Krankenhauses ausgestiegen, sondern bereits auf der Zufahrt dorthin. Es war noch kein Abend. Es war auch nicht dunkel, und die Dämmerung würde auch noch etwa auf sich warten lassen. Trotzdem kam es Melanie vor, als hätte sich der Tag schon längst verabschiedet oder wäre erst gar nicht gekommen.
Die Welt um sie herum war fremd, geisterhaft, auch unheimlich und völlig anders als sonst, was ihr nichts ausmachte, denn der Nebel bot ihr einen phantastischen Schutz. Zudem ging sie auf Nummer Sicher und wollte einen kleinen Bogen schlagen und nicht auf direktem Weg das Krankenhaus betreten. Von der Anmeldung her sollte sie nicht unbedingt gesehen werden. Ihre Chancen standen günstig, denn um diese Zeit, wo viele Menschen schon Feierabend hatten, nahmen die Besuche zu. So würde es ihr gelingen, mit mehreren Personen zugleich das Gebäude zu betreten. Die Frau wartete am Rand der Treppe, nahe eines Buschgürtels. Sie hörte zuerst, dann sah sie mehrere Besucher, als sie die Stufen betraten, und sie wollte sich schon in Bewegung setzen, als sie sich plötzlich duckte, als hätte sie einen Schlag gegen den Rücken bekommen. Da war etwas! Eine Botschaft, die einzig und allein ihr galt, und Melanie ließ die Besucher laufen. Sehr langsam drehte sie sich um, hatte die Drehung kaum vollendet, als sie innerhalb des Nebels den großen, kalten, weißgelben Fleck sah, der aussah wie ein eisiger Wintermond, vor den sich dichte Wolken geschoben hatten. Melanie atmete tief aus. Sie brachte kein Wort über die Lippen, sie stand da, zitterte, aber dieses Vibrieren war ein Ausdruck der Freude. Jetzt wußte sie, daß sie nicht mehr allein war, denn Morgana hatte den Weg ebenfalls gefunden. Ihre Freundin Morgana. Zusammen mit den Wölfen. Konnte jetzt noch etwas schiefgehen? Nein, daran glaubte sie nicht. Und mit dieser Gewißheit im Herzen lief sie die Treppe zum Eingang der Klinik hoch… *** Der Professor öffnete die Tür des Krankenzimmers, trat dabei aber zurück und ließ Suko den Vortritt, der etwas zögerte und erst ging, als er den Druck der Hand in seinem Rücken spürte. »Gehen Sie schon, Inspektor. Es ist niemand da, der Ihnen an den Kragen will.« »Das hoffe ich auch.« Das Krankenzimmer war mittelgroß und eigentlich zu eng für drei Betten. Es war nur für zwei gedacht. Man hatte das dritte hineingeschoben und es zu den beiden anderen gestellt, und zwar so, daß sie nebeneinander standen. Getrennt waren sie durch Gänge, die etwas mehr als die Breite der Konsolen zeigten, die zu jedem Bett gehörten.
Es war nicht sehr hell im Zimmer. Suko wollte auch nicht unbedingt von einem Halbdunkel sprechen, aber durch die beiden hohen Fenster fiel kaum mehr Tageslicht. Der Nebel hatte alles verdrängt. Er klebte als flache Wolke hinter den Scheiben, und auf der Konsole neben dem ganz links stehenden Bett brannte eine Lampe. Ein Verletzter saß mehr, als daß er lag, hatte eine Brille tief auf die Nase geschoben und las Zeitung. Als die beiden Männer eintraten, ließ er die Zeitung sinken und bat sie, das Ungeheuer zu verscheuchen. »Welches Ungeheuer?« fragte der Professor. »Es hockt draußen vor dem Fenster.« »Sie meinen den Nebel?« »Richtig.« »Er wird schon verschwinden, keine Sorge.« »Wann? – Ich hasse ihn. Er macht mich trübsinnig, und er läßt mich immer an die Wölfe denken. Sie waren ebenso grau wie der Nebel.« Suko sah, daß der Mann an der Schulter verbunden war. Trotz mußte ihn der Biß erwischt haben. Die beiden anderen Verletzten hatten geschwiegen, beobachteten aber die Männer, wie sie auf die offene Verbindungstür zuschritten und durch sie das zweite Krankenzimmer betraten, das dem ersten aufs Haar glich. Auch dort standen die drei Betten in der gleichen Formation und waren von drei Männern belegt. Keiner von ihnen war mehr an einen Tropf angeschlossen. Schwere Verletzungen wiesen sie auch nicht auf, sie hätten eigentlich relativ munter sein müssen, was sie jedoch nicht waren, und Suko wunderte sich über ihre seltsame Apathie, sprach aber noch nicht darüber. Blicke verfolgten sie. Der Professor sprach die Patienten an, er hatte für jeden ein freundliches Wort, dann gingen er und Suko wieder zurück in den ersten Raum und blieben neben dem Waschbecken stehen. »Darf ich fragen, ob Sie zufrieden sind mit dem, was Sie hier gesehen haben, Inspektor?« »Zufrieden schon, aber nur bedingt.« »Oh, das wundert mich.« »Ich will Ihnen auch den Grund nennen, Professor. Mir geht es nicht um die äußeren Gegebenheiten, die sind schon okay. Sie haben getan, was Sie konnten, ich wundere mich nur über das Verhalten der sechs Männer. Das paßt eigentlich nicht zu der Schwere ihrer Verletzungen, wenn Sie verstehen.« »Noch nicht.« »Gut, dann komme ich direkt zum Ziel. Sie sind mir einfach zu apathisch. Sie hätten doch lockerer sein müssen, denn so schwer sind ihre Verletzungen auch nicht Oder?« »Nein und ja. Aber im Prinzip haben Sie recht. Wir haben die Bisse unter Kontrolle bekommen, und wir waren froh, es nicht mit zu tiefen
Fleischwunden zu tun gehabt zu haben. Es gibt allerdings etwas anderes, über das ich mich wundere. Die Männer haben alle keinen Besuch haben wollen. Die Gründe kenne ich nicht.« Er hob die Schultern. »Zwar habe ich nachgehakt, aber man hat sie mir nicht gesagt. Es stimmt schon, sie liegen da in einer ungewöhnlichen Ruhe und gleichzeitig stehen sie auch unter Spannung, als würden sie auf irgend etwas warten, mit dem ich aber nicht zurechtkomme.« »Sie haben darüber nachgedacht?« »Das schon.« Suko ließ seinen Blick über die drei Betten gleiten. »Es ist ja bei ihnen zu einem ungewöhnlichen und auch unerklärlichen Vorfall gekommen. Ihn logisch zu analysieren, hat keinen Sinn. Da haben Wölfe ein billiges Striplokal gestürmt, fielen über die Menschen her, haben zwei von ihnen getötet, andere verletzt. Ich gehe Ihrer Meinung nach sicherlich etwas zu weit, wenn ich behaupte, daß diese Wölfe bei den Patienten etwas hinterlassen haben.« »Ja, Inspektor, das müssen Sie mir genauer erklären.« »Es wird schwer sein, weil ich es nicht kenne.« »Einen Keim?« Die Frage bewies Suko, daß der Professor mitgedacht hatte. »Das ist es!« »Nein, oder ja.« Penrose schüttelte den Kopf. »Es ist nicht möglich, wir haben die Wunden sorgfältig behandelt und…« »Nicht diesen Keim, Professor. Ich denke da an einen magischen.« Penrose blieb fast der Mund offen. »Einen… einen… magischen«, wiederholte er stotternd. »Pardon, aber das müssen Sie mir erklären. So etwas begreife ich nicht. Da bin ich überfragt.« »Sie möchten eine Erklärung haben, das verstehe ich. Aber es ist schwer. Sehen Sie, Professor, mein Kollege John Sinclair und ich befassen uns mit Fällen, die den Rahmen des Möglichen und oft des Erklärbaren sprengen. Es liegt auf der Hand, daß wir dabei auf Dinge stoßen, die eben jenseits des Begreifbaren liegen. Nehmen wir die Wölfe an. Wieso erscheinen in London Wölfe? Das ist ein Unding, aber sie sind erschienen, sie wurden von zahlreichen Zeugen gesehen, und nicht nur das. Diese Tiere sind auch über Menschen hergefallen und haben welche von ihnen getötet und verletzt. Es sind Bestien, keine Wölfe aus den Zoos, auch keine aus irgendwelchen entfernt liegenden Bergen und Wäldern, jemand hat sie mitgebracht. Eine Person, die sie leitet und führt, eine sehr mächtige Person sogar.« »Die Sie kennen?« »So ist es. Sie heißt Morgana Layton, und sie befehligt die Bestien. Zuerst haben wir angenommen, daß es sich bei ihnen um Werwölfe handelt, doch es sind andere Wölfe, zwar auch mit der Magie ihrer
Herrin versehen, aber keine Werwölfe im eigentlichen Sinn.« Suko lächelte. »Was schauen Sie mich so erstaunt an, Professor?« Ben Penrose lachte. »Hören Sie, Inspektor, was Sie mir da gesagt haben, ist ein verdammt harter Stoff. Sie sprechen hier von irgendwelchen Fabeltieren, als wären Sie davon überzeugt, daß es diese tatsächlich gibt. Werwölfe und…« »Ich versichere Ihnen, daß sie existieren. Wir haben oft genug gegen sie gekämpft, aber diese Wölfe hier haben mit den Werwölfen nichts zu tun, das muß ich Ihnen auch sagen. Sie stehen eben unter dem anderen Einfluß. Daß sie keine normalen Wölfe sind, haben wir erlebt, als wir einen von ihnen vernichteten, denn er verglühte.« »Bitte?« »Ja, er verglühte.« »Aha.« »Sie glauben mir nicht.« Penrose zeigte ein Gesicht voller Falten. Er sah aus, als hätte er eine Gummihaut bekommen. »Ich möchte Ihnen ja gern glauben, aber mein Verstand wehrt sich einfach. Das packe ich einfach nicht, das ist mir zu hoch, und ich sehe auch keinen Sinn darin, Ihre Behauptungen in einen Vergleich zum Verhalten der Patienten zu stellen.« »Nun, da bin ich anderer Meinung.« »Die Sie sicherlich auch modifizieren können.« »Ich werde es versuchen.« Suko räusperte sich leicht, bevor er weitersprach. »Meiner Ansicht nach sind durch diese Bisse Keime gelegt worden. Die Wölfe haben die Patienten angesteckt. In ihnen pulsiert ein magisches Gift. Ich wünsche es mir nicht, aber ich kann mir vorstellen, daß sie irgendwann damit beginnen, sich zu verändern. Der Tag draußen wird verschwinden, es wird immer dunkler werden, und ich kann mir vorstellen, daß es ihre Zeit ist.« Der Arzt hatte sehr genau zugehört. »Die Zeit der Wölfe?« fragte er nach. »Ja.« »Deshalb also das Verlegen der anderen Patienten.« Suko nickte. Penrose fuhr fort. »Es würde bedeuten, daß Sie mit einem Eindringen der Wölfe in dieses Krankenhaus rechnen.« »Auch das.« Der Professor wußte nicht mehr, was er erwidern sollte. Er warf Suko einen schrägen Blick zu, hob die Schultern und schaute auf seine Uhr. »Nun ja, es wird dunkel sein. Und Sie meinen wirklich, daß sich die Wölfe in unser Krankenhaus einschleichen?« »Wir müssen zumindest mit dieser Möglichkeit rechnen. Es kann allerdings noch eine andere geben.« »Und welche?«
»Daß die Anführerin der Bestien selbst erscheint. Die Frau, die auf den Namen Morgana hört.« Der Professor hielt den Mund. Er wußte nicht mehr, was er sagen sollte, hob nur die Schultern und schaute ins Leere. Für ihn war zwar keine Welt zusammengebrochen, aber mit gewissen Dingen kam er nicht zurecht. Sie waren zu hoch für ihn. Er murmelte etwas vor sich hin, starrte dann zu Boden, schaute gegen die beiden Fenster und schrak plötzlich zusammen, als die dünne und brüchige Stimme eines Patienten die Stille unterbrach. »Das Licht… ich spüre das Licht. Es ist so kalt. Es ist das Mondfeuer, es ist das Licht…« Der Mann mit der Zeitung hatte gesprochen, und Sukos Muskeln spannten sich. Auch der Professor hatte die Worte gehört, er wollte auf das Bett zugehen, wurde aber von Suko zurückgehalten. »Lassen Sie mich bitte.« »Gut, wie Sie wollen.« Der Sprecher hatte sich aufgerichtet. Seine Hände fuhren unruhig über die vor ihm auf dem Laken liegende Zeitung hinweg. In der Stille klang das Knistern des Papiers überlaut. Seine Augen bewegten sich unruhig, und er verrenkte sich beinahe den Kopf, um einen Blick auf das Fenster werfen zu können, als würde hinter der Scheibe innerhalb des Nebels ein Licht erscheinen. Auch Suko schaute hin. Er sah nichts. Der Mann im Bett konnte auch nichts erkennen, nur spüren. Seine Worte waren nicht ungehört geblieben. Die anderen Patienten wurden ebenfalls von einer gewissen Unruhe erfaßt, und selbst aus dem Nebenzimmer hörten sie jetzt Stimmen. Dort unterhielt man sich nur flüsternd, so daß Suko nichts verstand. Er hatte sich schräg auf die Bettkante gesetzt und schaute den Sprecher an. »Wie heißen Sie?« »Bill Jackson.« Der Mann hatte dunkles Haar und eine sehr helle Haut. Sein Gesicht war schmal, die Lippen hatten eine ungewöhnlich rote Farbe. »Gut, ich bin Suko, und ich möchte, daß Sie mir vertrauen. Ist das okay?« »Warum?« »Ich habe vorhin etwas gehört. Sie haben von einem Licht gesprochen, Mr. Jackson.« »Habe ich das?« Er tat überrascht. »Ja, aber ich sehe kein Licht, und ich glaube, Sie ebenfalls nicht.« Jackson lächelte. Er blickte zum Fenster, und sein Lächeln vertiefte sich. »Doch… doch… Sie irren sich. Das Licht kommt. Es ist in der Nähe, ich spüre es deutlich. Es ist das kalte Mondlicht. Es wird eine Botschaft für uns bringen. Es hat mich schon erreicht, obwohl es noch nicht zu sehen ist.«
Das wunderte Suko. Allerdings waren die Worte so überzeugend gesprochen worden, daß er sich ebenfalls so hinsetzte, um das Fenster unter Kontrolle halten zu können. Dabei stellte er fest, daß sich die Haltung der anderen Patienten ebenfalls verändert hatte. Auch sie lagen nicht mehr starr in ihren Betten. Sie hatten sich aufgerichtet und ihre Gesichter ebenfalls den Fenstern zugedreht, als warteten sie darauf, daß sich der Nebel endlich lichtete und das zum Vorschein kam, wonach sie so lange schon gierten. Es war nichts zu sehen, sosehr sich Suko auch anstrengte. Der Professor hielt sich noch immer nahe des Waschbeckens auf, und sein Gesicht zeigte eine gewisse Ratlosigkeit. Suko wollte aufstehen, zum Fenster gehen und es öffnen. Da fielen ihm die hastigen Bewegungen Bill Jacksons auf. Er war an der linken Schulter verletzt worden, und dort saß auch sein Verband fest. Das blanke Metall der Klammern schimmerte – und war plötzlich verschwunden, denn Jackson hatte es geschafft, den Verband mit einem heftigen Ruck zu lösen. Er riß auch noch die Reste ab, die an der Haut festklebten, dann lag die Wunde frei, bevor ihn Suko noch davon hatte abhalten können. Er wollte etwas tun, er mußte etwas tun, aber in Wirklichkeit tat er nichts. Er starrte dorthin, wo die Wunde nach dem Lösen des Verbands hätte zu sehen sein müssen. Sie war es auch, oder nicht? Genau dort, wo die Zähne des Wolfs die Menschen erwischt hatten, waren Haut und Knochen verschwunden. Statt dessen füllte ein kaltes Licht die Schulter… *** Durch seine Erfahrungen war Suko so leicht nicht zu überraschen. Dieser Anblick aber ließ ihn starr werden. Er konnte zunächst weder denken noch reden und nur starren. Sein Blick sezierte die >Wunde<, die ja nicht mehr vorhanden war, ebensowenig wie ein bestimmter Teil einer Schulter. Wo vorher Fleisch, Knochen und Haut gewesen waren, entdeckte er nur das Licht, das alles andere, was natürlich war, gefressen oder aufgelöst haben mußte. Aber der Patient lebte weiter! Suko mußte aus seiner Starre heraus. Er winkte dem Professor zu, der sich bereits auf den Weg gemacht hatte. Auf seinen Leinenschuhen glitt er lautlos auf das Bett zu. »Schauen Sie sich das an, Professor!« Penrose blieb stumm. Aber sein Gesicht nahm zuerst einen ungläubigen und dann einen entsetzten Ausdruck an. Er sah zudem aus wie jemand, für den eine Welt zusammengebrochen war, schüttelte den Kopf und sagte: »Was ist das?«
»Magie, Professor, Magie!« Sukos Stimme hatte ernst geklungen. Penrose enthielt sich einer Antwort, denn er kümmerte sich um den Patienten. Jackson rührte sich nicht. Er war noch wie in seiner Haltung liegen geblieben und hatte den Kopf so gedreht, um zum Fenster schauen zu können, weil er noch immer das Licht erwartete. Es kam nicht, aber es war schon da. Es steckte in ihm, und auch die anderen fingen damit an, ihre Verbände abzureißen. An den Armen, an den Händen, wie Suko sehen konnte, den nichts mehr auf dem Bett gehalten hatte, der nun zu den anderen ging, dort nachschaute und ebenfalls die mit Licht gefüllten Stellen an den Körpern der Verletzten entdeckte. Im Nebenzimmer war das gleiche geschehen, und die Patienten hatten sich aufgerichtet, um gegen die Fenster schauen zu können, wo die Welt dunkler geworden war, sich aber noch immer kein fremder Schein zeigte. Auch in dem zweiten Krankenzimmer war keine Lampe eingeschaltet worden, die Patienten lagen im Halbdunkel, und es leuchteten nur die Stellen an ihren Körpern, die sie von ihren Verbänden befreit hatten. Es war auch für Suko schwer, dies alles zu begreifen. Die Männer sahen aus, als wären in ihren Körpern Lampen angezündet worden, die ihre Helligkeit auch nach außen strahlten, und er sah draußen noch immer keinen Schein, der sich durch den Nebel schob. Er kehrte wieder in das erste Krankenzimmer zurück, wo der Professor ratlos neben dem Bett stand und auf Jackson schaute. »Ich kann es nicht fassen, was hier vorgeht.« Sein Blick traf Suko. Er war fordernd und hoffnungsvoll. »Wir müssen doch etwas tun, Inspektor! Sagen Sie was. Sie sind der Fachmann!« »Nein, wir können nichts tun, außer einem.« »Und?« »Warten!« »Mist.« Penrose schüttelte den Kopf. »Worauf denn? Was ich hier sehe, ist eine medizinische Sensation. Das ist etwas, was ich nicht fassen kann. Es gibt dafür keine logische Erklärung. Da sind Teile eines menschlichen Körpers verschwunden. Sie haben mir berichtet, daß Sie mit derartigen Phänomenen des öfteren zu tun haben, Inspektor. Aus diesem Grunde könnte ich eine Erklärung von Ihnen verlangen.« »Ich bin noch ratlos.« »Und Sie meinen, das wird sich ändern, wenn wir tatsächlich das Licht sehen, von dem gesprochen wurde?« »Ich hoffe es.« Er senkte den Kopf. »Ich müßte eigentlich Kollegen holen, damit sie auch dieses Phänomen…« »Bitte lassen Sie es, Professor. Das werden wir beide allein durchstehen.« Penrose lachte auf. »Und was ist mit Ihrem Kollegen?«
»Ich hoffe, daß er kommt.« Der Blick des Arztes glitt wieder über seine Patienten hinweg. Er konnte nicht fassen, daß sie sich trotz der Veränderungen noch so wohl fühiten, daß sie nicht stöhnten, schrien, bluteten, denn ihnen fehlten tatsächlich Teile ihres Körpers. »Das Licht ist da!« Die Worte hatte der im mittleren Bett liegende Mann gesprochen. Er saß aufrecht in seinem Bett, die Augen leuchteten, sein Mund stand offen, aber er sprach nicht mehr. Nur das Fenster war für ihn interessant, wogegen sich der Nebel drückte, aber es war in der Tat heller geworden, als hätte jemand mit einer lichtstarken Lampe in ihn hineingeleuchtet. Suko schaute den Professor an. »Ich denke, daß es jetzt allmählich losgehen wird.« »Sie meinen, daß sich die Wölfe zeigen werden?« »Damit sollten wir rechnen.« »Aber wie? Doch nicht aus dem Licht…« Suko gab ihm keine Antwort. Er hatte sich in einen Gang zwischen zwei Betten hineindrückt, kam aber nicht bis direkt an das Fenster heran, weil ihn die Konsole störte. Um das Fenster zu öffnen, mußte er sich nach vorn beugen und zusätzlich den Arm ausstrecken. Das brauchte er nicht, denn er konnte erkennen, wie sich hinter der Scheibe das Licht veränderte. Beim ersten Hinschauen war es noch ein diffuser Ball gewesen, was sich nun verändert hatte, denn dieser Ball hatte sich zusammengezogen und schärfere Umrisse bekommen. Er war vergleichbar mit einem Mond, der am Himmel stand und von Wolkenfetzen umflort wurde, denn so klar war er noch nicht. Allerdings klar genug, um innerhalb des Kreises einen Schatten erkennen zu können. Es war bestimmt nicht der berühmte Mann im Mond, aber dieser Schatten mußte etwas zu bedeuten haben. Suko hielt den Atem an. Er konzentrierte sich nur auf dieses runde Gebilde und achtete kaum auf das Flüstern der Stimmen. Die Patienten waren erregt, sie standen wie unter Strom, denn sie wußten sehr genau, daß die Stunde der Entscheidung nahte. Der Professor war in den Nebenraum geeilt, um das Phänomen von dort beobachten zu können, und Suko staunte nicht schlecht, als er die geflüsterten Worte tatsächlich verstand. »Die Zeit ist da…« »Sie kommt zurück…« »Sie wird uns holen…« »Die Wölfin…« »Unsere Herrin…«
Ihm war kalt geworden. Er fühlte sich, als hätte ihn das eisige Licht ebenfalls durchdrungen. Es war wie kalter Grieß, der von ihm Besitz ergriff und auf ihn herabrieselte. Der Mond rückte heran. Zumindest sah es so aus. Es mochte auch daran liegen, daß sich der Schatten in ihm immer mehr festigte und Suko allmählich erkannte, daß es kein gewöhnlicher Schatten war, sondern sich innerhalb des Kreises eine menschliche Gestalt abmalte. Dunkler als der Hintergrund, aber nicht gleichbleibend, denn zum Kopf hin hellte sich die Gestalt auf. Es lag am Gesicht und den rötlichblonden Haaren, die das Gesicht wie eine Flut umwuchsen. Haare, die zu einer Frau paßten, deren Namen Suko nie vergessen würde. Morgana Lay ton war da! Und mit ihr kamen die Wölfe, denn hinter ihr und noch innerhalb des kalten Lichtkreises sah Suko die Bewegungen. Zuerst ebenfalls nur verwischte Schatten, dann aber, als sie sich nach vorn schoben, traten sie deutlicher hervor. Sie zeigten nur ihre Köpfe. Das reichte. Ihre Schnauzen waren weit aufgerissen, und das Schimmern der langen Reißzähne kam einer Morddrohung gleich… *** Die Beretta steckte in ihrer rechten Jackentasche, und Melanie Morton spürte das Gewicht der Waffe, das sie einigermaßen beruhigte. Sie war in das Krankenhaus eingedrungen, ohne daß es irgendwelche Schwierigkeiten gegeben hätte, und sie wußte auch, wohin sie gehen mußte, denn sie spürte genau, daß sie nicht im Stich gelassen worden war. Schon auf dem kurzen Weg vom Taxi zum Eingang hatte sie die Botschaft erreicht, auf die sich Melanie voll und ganz verlassen konnte. Ihre große und mächtige Freundin Morgana war unterwegs, um sie zu unterstützen. Sie wollte sich diejenigen holen, in deren Körper sie ihren Keim hineingepflanzt hatte, und für Melanie war es das Höchste überhaupt, dabeisein zu dürfen. Auch wenn sie äußerlich ruhig erschien, so spürte sie in ihrem Innern das Fieber der Spannung. Die Augen leuchteten, hatten aber noch keinen tierischen Glanz bekommen, sondern ihren menschlichen Ausdruck behalten. Sie mußte nach oben, das stand fest. Vor dem Fahrstuhl blieb sie stehen. Sie hatte schon den richtigen Knopf gedrückt, um die Kabine nach unten zu holen. Es dauerte etwas, weil einige Besucher wohl auf und ab fuhren, und das gefiel ihr gar nicht.
Hinter ihr drängten sich andere Menschen zusammen; sie wurden ebenfalls ungeduldig, und einige sprachen bereits davon, über die Treppen nach oben gehen zu wollen. Das konnten sie sich sparen, denn die Lichtanzeige leuchtete auf und gab bekannt, daß der Aufzug in Parterre gehalten hatte. Melanie stieg als erste ein, die rechte Hand in der Jackentasche vergraben, die Finger um den Griff der Pistole geklammert, als könnte er ihr einen Halt geben. Auch die anderen Besucher hatten die Kabine betreten. Ihre Kleidung roch feucht und muffig, als hätte der Nebel seine Schleier mit dem Stoff verwoben. Aus den Gesprächen hörte sie heraus, daß die vierte Etage für die Besucher gesperrt war, doch sie wußte, daß sie vorher nicht aussteigen würde, denn gerade im vierten Stockwerk befand sich ihr Ziel. Eine Etage darunter verließen auch die letzten Mitfahrer den Lift, denn keiner wollte höher. Melanie war froh, allein zu sein. Es dauerte nur kurze Zeit, als auch die Stripperin die Kabine verlassen konnte und hineintrat in eine ungewöhnliche Stille. Sie hielt sich nicht zum erstenmal in einem Krankenhaus auf, und sie wußte auch, daß es in einer Station nie laut war, aber diese Stille kam ihr doch unnatürlich und bedenklich vor. Sie war bedrückend, sie warnte auch vor dem, was sie eventuell erwartete. Nicht nur Morgana und ihre Botschaft, sondern auch andere Dinge, die ihr womöglich nicht gefallen konnten, da sie auch mit Feinden rechnen mußte. Sinclair schloß sie da mit ein. Ein Pfeil hatte ihr als Orientierungshilfe gedient, und am Beginn des Stationsganges blieb sie stehen. Irgendwo tutete ein Telefon. Niemand hob ab. Auch das wühlte ihr Mißtrauen weiter hoch. Kein Personal auf der Station? Da stimmte einiges nicht, und die Frau zog die rechte Hand jetzt aus ihrer Tasche hervor. Das matt schimmernde Metall der Beretta wurde von ihren Fingern umfaßt. Die puppenhaften Züge in ihrem Gesicht verhärteten sich, aber der Sinn für eine lauernde Gefahr ging ihr verloren, weil sie wieder die andere Botschaft spürte. Diesmal direkter und intensiver. Melanie ging davon aus, daß Morgana bereits in der Nähe wartete. Sie wußte zudem, wo sie zu finden war. Morgana würde sich um ihre >Schützlinge< kümmern, die von ihr bereits das Zeichen erhalten hatten. Davon ging Melanie aus, denn auf der Bühne während des Überfalls hatte sie es ihr zugeflüstert. Der große Plan stand. Ob er allerdings bis zum Ende durchgezogen werden konnte, war noch fraglich. Was sie tun konnte, damit alles gelang, würde sie auch tun.
An beiden Seiten des Flurs zeichneten sich die Türen ab. Die meisten waren geschlossen, nur zwei standen offen, daß sie auch hineinblicken konnten. Dahinter lagen keine Krankenzimmer. Es waren die Räume, in denen sich das Personal aufhielt. Eine Mischung aus Küche, Vorratsraum und Behandlungszimmer, wo zum Beispiel Tabletten ausgegeben wurden oder der Blutdruck gemessen wurde. Wohin? Weiter – weiter nach vorn, denn Melanie Morton spürte den heißen Drang in sich. Sie würde es schaffen, sie würde Hilfe bekommen, und sie würde zusammen mit Morgana dafür sorgen, daß ihre Idee überlebte. Schließlich war es soweit. Obwohl sie nicht durch die Tür schauen konnte, wußte sie genau, daß hinter dieser glatten Räche vor ihr das eigentliche Ziel lag. Ihre Nasenflügel weiteten sich, als sie die Luft tief einatmete. Ein kaltes Lächeln hatte sich um ihre Lippen gelegt. Hinter der Stirn spürte sie ein kurzes Brausen, in das sich zudem ein leichtes Hämmern mischte. Sie schaute auf die Klinke. Noch berührte sie den Griff nicht und legte statt dessen ihr Ohr gegen die Tür. In manchen Krankenhäusern gab es Doppeltüren, da lag dann zwischen den beiden Eingängen ein schmaler Flur, doch hier war es nicht so. Sie glaubte, daß man sich in dem Zimmer flüsternd unterhielt. Melanie richtete sich wieder auf. Sie nickte sich selbst zu, um sich zu bestätigen. Der Türgriff war leicht gebogen. Er lag kalt unter ihrer Handfläche. Im Krankenhaus waren die Eingänge zu den Zimmern immer in Ordnung. Sie brauchte nicht damit zu rechnen, daß die Tür quietschte oder knarrte, wenn sie geöffnet wurde. Vorsichtig und behutsam ging sie zu Werk. Ein schmaler Spalt reichte ihr, um in das Krankenzimmer peilen zu können. Zwei Fenster befanden sich an der gegenüberliegenden Seite. Davor standen die drei Betten, in denen die Patienten saßen und an verschiedenen Stellen ihrer Körper leuchteten. Es tat ihr gut, das zu sehen, aber sie gönnte diesem Bild nur einen schwachen Blick. Viel wichtiger war für sie das, was sich jenseits der beiden Fenster tat, wo der Nebel eigentlich wie eine dicke Schicht liegen mußte, auch dort noch vorhanden war, wobei sich in ihn ein strahlender Kreis geschoben hatte, in dessen Zentrum die Frau eine Gestalt sah, die von Wolfsgesichtern umringt wurde. Es war Morgana. Es war die Mondgöttin, die Herrin der Wölfe, und sie befand sich jetzt eingepackt in ihrer magischen Zone, wo sie praktisch für die übrige Welt unerreichbar war. Ein Gefühl des Glücks durchströmte die Tänzerin. Glück darüber, daß sie auf der Seite dieser Person stand und so etwas wie eine Vertraute von ihr war.
Toll! Das Gefühl beflügelte sie. Gleichzeitig aber stieg ein anderes in ihr hoch, und das paßte ihr überhaupt nicht, denn sie sah auch die beiden fremden Männer im Krankenzimmer. Sie gehörten bestimmt nicht zu den Patienten. Der eine stand auf der Schwelle zu einer offenen Verbindungstür zum Nebenraum. Er trug einen weißen Kittel und war wohl der Arzt. Der zweite drehte ihr den Rücken zu. Er hatte sich voll und ganz auf das Licht jenseits des Fensters konzentriert, als wäre er in der Lage, es zu zerstören. Nie und nimmer! Heftig drückte Melanie Morton die Tür auf. Mit einem langen Schritt hatte sie das Krankenzimmer betreten, und sie hörte den überraschten Schrei des Professors rechts von ihr. Melanie fuhr herum. Auch der Mann am Fenster bewegte sich, aber der Professor rannte schon auf sie zu. Beim Eintreten hatte sie die Arme hochgerissen. Mit beiden Händen umklammerte sie die Beretta. So machten es die Heldinnen in den Filmen auch. Sie erinnerte sich in diesem Augenblick an Thelma und Louise, fühlte sich stark, sah den Professor mit seinem flatternden Kittel wie ein Gespenst auf sich zulaufen und drückte ab… *** Ich hatte das Krankenhaus endlich erreicht und mir auf dem Weg dorthin fast die Seele aus dem Leib geflucht, denn mein Taxi war nur mehr durch die vernebelten Straßen gekrochen. Zumeist hatte ich die Flüche in mich hineingefressen, denn der Fahrer konnte nichts dazu. Er ärgerte sich ebenso über das Wetter wie ich, aber als Londoner nahm er den Herbst mit der ihm angeborenen Gelassenheit. Der Nebel gehörte nun mal zu dieser Stadt und hatte auch deren Image geprägt. Irgendwann erreichten wir unser Ziel dennoch. Als ich bezahlte, sah ich das schiefe Grinsen des Fahrers. »Der Nebel, Sir. Er ist im Herbst wie meine Schwiegermutter.« Ich zählte Geld. »Und wie ist Ihre Schwiegermutter?« »Wie eine Klette.« »Tja, da haben Sie Pech gehabt.« Er bedankte sich für das Trinkgeld und startete wieder. Ich eilte so rasch wie möglich auf den Eingang des Krankenhauses zu, der nur allmählich aus der feuchten Wand auftauchte. Beinahe wäre ich noch über die erste Stufe der Treppe gestolpert, sah sie glücklicherweise früh genug und eilte die restlichen hoch.
Vor mir schob sich die Glastür auseinander. Suko hatte mir am Telefon berichtet, in welcher Station er sich aufhielt. Ich mußte in die vierte Etage, Station oder Flur D. Auf den Aufzug wollte ich nicht warten, deshalb nahm ich das Treppenhaus und durchmaß es mit langen Sätzen. Zwei bis drei Stufen nahm ich auf einmal, so etwas stärkte auch die Kondition, und als ich an meinem Ziel ankam, da hörte ich nur meinen eigenen Atem. Heftig und schnaufend, ansonsten umgab mich eine ungewöhnliche Ruhe. Es war ja nicht so, als hätten wir schon einen Beweis für unsere Theorie bekommen. Morgana Layton mußte sich nicht in diesem Krankenhaus aufhalten. Sie und ihre Wölfe konnten hier sein, und es gab noch eine dritte Person, auf die ich zu achten hatte. Meine >Freundin< Melanie, die es geschafft hatte, mir die Beretta abzunehmen. Wenn sie mich sah, würde sie keinen Augenblick zögern, auf mich zu schießen, auch wenn sie wußte, daß ich waffenlos war. Ich fand auch den Flur, in dem die Krankenzimmer lagen. Einen vorsichtigen Blick warf ich hinein. Er lag vor mir wie ein langer Schlauch, flankiert von mehreren Türen, wobei nicht alle geschlossen waren. Die Stille der Etage setzte sich auch hier fort. Nicht ein fremdes Geräusch war zu hören. Ich vernahm nicht mal das Blubbern einer Kaffeemaschine. Um kein direktes Ziel zu bieten, nahm ich nicht die Mitte des Flurs, sondern hielt mich rechts. Ich wußte nicht, in welchem Zimmer die Verletzten lagen und hätte eigentlich alle verschlossenen Türen der Kontrolle wegen öffnen müssen. Das tat ich nicht, weil mir etwas aufgefallen war. Trotz der nicht eben bewundernswerten Beleuchtung des Flurs hatte ich am Ende des Ganges eine Bewegung gesehen. Dort war jemand. Leider konnte ich nicht erkennen, um wen es sich handelte. Es konnte ein Mann, aber ebensogut eine Frau sein. Diese Person blieb stehen und öffnete eine Tür. Und so wie die Gestalt das Zimmer betrat, gehörte sie bestimmt nicht zum Personal. Krankenschwestern waren da wesentlich resoluter. Als ich drei weitere Schritte zurückgelegt hatte, richtete sich die Gestalt auf. Ihr blondes Haar blitzte auf. Es gab nur eine Person, die darauf stolz sein konnte. Melanie Morton. Sie war schon hier, hatte es kurz vor mir geschafft, und plötzlich hörte ich die Schüsse aus meiner eigenen Waffe… ***
Melanie schoß, und sie freute sich dabei. Ein wahrer Sturm von Gefühlen hatte sie in einen regelrechten Rausch versetzt. Sie sah den auf sich zurennenden Professor und fragte sich, aus welchem Grunde er plötzlich taumelte und seine Arme so unkontrolliert bewegte. Zwei rote Flecken waren auf dem weißen Stoff seines Kittels zu sehen, beide Hände fanden ihre Ziele, als sie sich auf diese Flecken drückten, wobei es dem Mann nicht mehr gelang, sich auf den Beinen zu halten, denn in der gebückten Vorwärtsbewegung brach er zusammen. Er rutschte noch über den Boden, dann blieb er auf dem Bauch liegen, nicht einmal weit von der Schützin entfernt. Die wiederum lächelte. Sie fühlte sich gut, sie genoß den Augenblick des Sieges, wurde aber aus ihren Träumen hervorgerissen, als sie von den Betten her ein Geräusch hörte. Sie fuhr herum. Dabei riß sie die Waffe hoch und sah den zweiten Mann, der sich aus dem schmalen Gang gelöst hatte und dort stand, wo die Betten endeten. Suko hatte nichts für den Professor tun können. Es war einfach zu schnell gegangen, und daß diese Frau zweimal geschossen hatte, davon war er auch überrascht worden. Er mußte sie ausschalten! Sie war herumgefahren, und Suko hatte einen Blick auf ihre Waffe erhaschen können. Eine Beretta. Eine Pistole, wie er sie ebenfalls bei sich trug und sie auch gezogen hatte. Wer war schneller? Suko feuerte zuerst. Er mußte abdrücken, es ging um sein Leben, denn die blonde Stripperin hätte auch keine Rücksicht gekannt. Das Silbergeschoß erwischte ihren Körper. Auf einmal war die Kraft weg. Suko sah den erstaunten Ausdruck in ihren Augen, als könnte sie nicht fassen, verloren zu haben. Der Ausdruck aber wandelte sich. Er ging über in einen tiefen, nicht mehr kontrollierbaren Schmerz, und alles an ihrem Körper wurde Melanie zu schwer. Sie ließ zuerst die Waffe fallen, dann kippte sie selbst, ging aber noch mit dem rechten Bein einen Schritt zur Seite, so daß sie sich noch einmal fangen konnte, aber das Knie wollte ihr Gewicht nicht mehr halten. Sie fiel hin, als die Tür noch einmal wuchtig aufgestoßen wurde und jemand auf der Schwelle stand. Sukos Beretta ruckte herum – und sank nach unten, als er den Mann erkannte. Es war John Sinclair! ***
Ich hatte mit den hochkant gestellten Hacken meinen Lauf gestoppt, starrte Suko an, der auf mich den Eindruck eines Menschen machte, der voll unter Strom stand, und richtete meinen Kopf nach rechts. Eine Frau und ein Mann lagen auf dem Boden. Unter beiden Körpern breiteten sich dünne Blutlachen aus. Ob sie tot oder nur angeschossen waren, wußte ich nicht. Die Frau war Melanie Morton, den Mann kannte ich nicht. Da er jedoch einen weißen Kittel trug, mußte er einer der hier beschäftigten Ärzte sein. Beide brauchten Hilfe, das stand fest, aber wir konnten nicht weg, denn der Blick gegen das Fenster ließ mich erschauern. Trotzdem blieb ich nicht ruhig, ein innerer Befehl zwang mich dazu, mich nach der Beretta zu bücken und sie aufzuheben. »Lade sie nach«, sagte Suko. Einige Ersatzpatronen trug ich immer bei mir wie klingendes Kleingeld. Ich löste das Magazin aus dem Griff und drückte die Patronen in die Federung hinein. Dann lud ich die Waffe durch, immer die beiden Fenster im Auge behaltend, hinter denen der weiße, kalte Kreis wie ein Mond stand. Es waren nicht nur der kalte Kreis und das brutale Licht, die mich störten, es war der Inhalt, denn sehr deutlich zeichneten sich das Gesicht und ein Teil des Oberkörpers einer gewissen Morgana Layton ab. Sie war innerhalb des Schutzes erschienen, um ihre Opfer zu holen. Es hätte alles glatt laufen können, nur standen jetzt wir gegen sie, und sie kannte uns beide. Das Fenster war geschlossen. Ich spürte trotzdem die Kälte des Mondes, und ich sah auch die hellen Stellen an den Körpern der Verletzten. Selbst aus ihnen strahlte uns dieses Licht entgegen. »Was willst du tun?« fragte Suko. Ich hob die Schultern. »Ich werde versuchen, mit ihr zu reden. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Wir befinden uns hier in einem Krankenhaus und schaffen es nicht mal, einen Arzt für die beiden hier zu holen, weil Morgana sonst…« »Ich werde das erledigen.« »Okay, aber… nein, warte noch!« Ich hatte gespürt, daß sich Morgana bereitmachte, Kontakt mit mir aufzunehmen. Suko ging zwar nicht, er kümmerte sich jedoch auf eine andere Art und Weise um Melanie und den Arzt. Er bückte sich und untersuchte die beiden Gestalten. Ich wollte sie! Morgana zeichnete sich inmitten des hellen Lichts ab. Es war mir neu, daß sie sich von einem bleichen Mondschein umfloren ließ, und ich ging davon aus, daß sie ihn als eine Kraftquelle einsetzte, die ihr gegeben worden war.
Lange Zeit hatten wir nichts mehr von ihr gehört. Sie war für mich schon in Vergessenheit geraten, nun aber stand oder schwebte sie vor mir, und das kalte Licht hatte auch ihr Gesicht bestrahlt. Es wirkte wie ein abweisendes Bild. Sie wollte etwas von mir. Ich spürte ihre Kontaktsuche. Irgendwelche Kräfte oder Wellen strömten auf mich zu. Unter meiner Kleidung fing das Kreuz an zu vibrieren, und auch die Patienten in den Betten waren von einer gewissen Unruhe erfaßt worden. »Der Professor lebt noch!« Ich hörte Sukos Stimme wie aus weiter Ferne, deutete nur durch ein Nicken an, daß ich ihn verstanden hatte, und konzentrierte mich weiterhin auf das Geschehen außerhalb des Fensters. Ein grelles Loch im Nebel. Ein zweidimensionaler Kreis, in dem sich überdeutlich das Gesicht abzeichnete, aber auch die Köpfe der Wölfe dahinter, deren Mäuler weit offen standen. Obwohl ich nur sehr wenig von ihnen sah, kamen sie mir sprungbereit vor, wie Gestalten, die darauf lauerten, jeden Augenblick den Kreis verlassen zu können. Das taten sie noch nicht. Statt dessen bewegte sich Morgana. Sie beugte sich vor. Schaffte sie es tatsächlich, aus dem Mond hervorzukommen? Ich wußte es nicht, ich verließ mich auf die Strömungen, die mich erreichten, und sie fügten sich in meinem Kopf zu Worten zusammen, die von einer klaren und hellen Stimme gesprochen wurden, eben von Morgana Layton, wobei wir uns beide nicht fremd waren. »Ich mußte damit rechnen, daß du mir in die Quere kommst, Geisterjäger, aber ich habe nicht gedacht, daß es so schnell sein würde.« Das Lächeln konnte ich nicht unterdrücken. »Manchmal sind wir eben auf der Hut.« »Ich weiß.« »Und was wolltest du? Wieso bist du innerhalb dieses Mondes eingeschlossen?« »Es ist das kalte Licht der Macht. Ich habe es eingefangen, ich durfte es haben, denn es hat zahlreiche Dimensionen überwunden und all das transportiert, von dem ich nur begeistert sein kann.« »Was ist es für eine Botschaft?« »Fenris.« »Der Götterwolf hat dich geschickt!« »Ja, ich bin bei ihm, das weißt du. Er hat mich geholt. Er hat mir vieles beigebracht, und er hat mich auch gelehrt, geduldig zu sein und zu beobachten.« »Was und wen?« »Die Welt hier. Dein Reich, deine Dimension. Ich sah sie aus der Ferne, ich kriegte ihre Veränderungen mit, und ich will dir ehrlich gestehen, daß
es Fenris und mir nicht gefiel, was wir da sahen. Uns paßten die Veränderungen nicht.« »Was geschah denn so Weltbewegendes?« »Man vergaß uns.« Ich lachte scharf. »Das ist gut.« »Nein, es ist nicht gut. Fenris und ich wissen, daß auch wir eine Macht besitzen, und wir sind übereingekommen, diese Macht nicht nur den anderen zu überlassen.« »Wen meinst du damit? Mich?« »Du spielst dabei keine Rolle«, höhnte sie in meinen Gedanken. »Oder bist du ein Schwarzblüter?« In meinem Hirn >ratterte< es. Ich wußte auch nicht, ob sie normal sprach oder nur gedanklich mit mir in Kontakt stand. Da hatten sich eben einige Dinge verschoben, die aber nicht lebenswichtig waren. Nur gehöre ich zu den neugierigen Menschen und wollte erfahren, was nun tatsächlich hinter ihrem Erscheinen steckte. »Tut mir leid, Morgana, ich bin noch immer dumm.« »Das sehe ich dir an. Ich weiß, daß du mich damals hättest töten können, du hast es nicht getan, und du hast mir ein anderes Dasein ermöglicht. Aufgrund deiner damaligen Schwäche gebe ich dir die Chance, dich zurückzuziehen. Halte dich aus den Plänen heraus, die Fenris und ich uns vorgenommen haben. Es geht dich nichts an.« »Irrtum, Morgana, es geht mich etwas an. Solange Menschen sterben oder auch nur verletzt werden und auch in den Bereich deines Einflusses geraten, um Böses zu tun wie Melanie Morton, dann geht es mich verdammt viel an. Ich habe meinen Eid geleistet, und ich bin bereit, ihn einzuhalten. Das mag einigen töricht erscheinen, aber ich bin damit noch immer gut zurechtgekommen. Du kannst dir deine Verbündeten überall herholen, nur nicht in meinem Dunstkreis.« Morgana konnte mich nicht begreifen, das war mir klar. Sie dachte ganz anders, und so überraschte mich ihre Frage auch kaum. »Warum verzichtest du auf diesen Vorteil?« »Weil ich keinen sehe. Da kannst du reden, was du willst. Es sei denn, du wirst deutlicher.« »Gut, das werde ich. Ich habe schon von den Veränderungen gesprochen, die eingetreten sind, und ich werde auf keinen Fall abseits stehen. Ich lasse es einfach nicht zu, daß andere Kräfte darangehen und versuchen, Menschen unter ihre Knute zu bekommen. Es gibt jemanden, der immer mächtiger geworden ist, der sich eine Vampirwelt aufgebaut hat und aus ihr hervor seine Geschicke lenken will. Er ist selbst ein Blutsauger, und er hat sich über alles hinweggesetzt, aber das können Fenris und ich nicht zulassen. Wir müssen da gegensteuern.« Allmählich erhellte sich das Dunkel. Ich wußte plötzlich Bescheid, fragte aber trotzdem nach. »Du meinst Will Mallmann alias Dracula II?«
»So ist es.« »Was stört dich an ihm? Ihr seid beides dämonische Geschöpfe, ihr werdet euch schon nicht ins Gehege kommen, glaube ich. Laß ihn in seiner Welt und…« »Uns störte die Macht.« »Hat er die?« »Ja, und wir wollen diese Welt nicht allein seinen Blutsaugern lassen, denn er hat vergessen, daß es uns schon gab, bevor noch Menschen diesen Erdball bevölkerten. Die Wölfe waren, die Wölfe sind, und die Wölfe werden bleiben.« Das war deutlich genug gesprochen. Ich wußte jetzt, auf was Morgana und der sie beschützende Fenris hinauswollten. Sie hatten vor, sich etwas Ähnliches aufzubauen, wie es Mallmann mit seiner Vampirwelt geschaffen hatte, die sich in einer bösen Alptraum-Region befand. Das deutete auf eine Auseinandersetzung hin, die zwar noch in relativ weiter Ferne lag, die wir jedoch nicht aus den Augen lassen durften. Und vor allen Dingen wollte ich, daß die Erschaffung dieser Welt schon im Keim erstickt wurde. »Um die Pläne zu verwirklichen, hast du dir Helfer gesucht, denke ich. Zum einen die unzufriedene Melanie, die sich sofort auf deine Seite stellte, und zum anderen brauchst du Geschöpfe, die sich ebenfalls auf deine Seite stellen, wie die Männer, die du mit deinen verfluchten Bestien angefallen hast.« »Stimmt, Sinclair, denn in ihnen steckt bereits der Keim.« »Das Licht?« »Es ist ein Teil meiner kalten Mond weit. Durch sie und ihre Kräfte existiere ich. Und ich bin ferner in der Lage, sie weiterzugeben, an die normalen Menschen. Der Keim ist gelegt, sie werden mir gehorchen, das weiß ich, und ich bin gekommen, um sie mitzunehmen. Ich brauche sie zum Aufbau meiner neuen Welt, und ich weiß, daß sie sich dem nicht verschließen werden.« Das konnte ich mir vorstellen. Solange ich ihr gegenüberstand, würde ich versuchen, dies zu verhindern. Diese Menschen sollten nicht in die Klauen der dämonischen Macht hineingeraten und sie beim Aufbau ihres Pandämoniums unterstützen. »Nein, Morgana, nicht mit mir.« Sie lächelte mich an. Es war ein typisches, kaltes und böses Lächeln. Und gleichzeitig auch das Lächeln einer Person, die sich ihres Triumphes sicher war. »Du vergißt den Keim…« »Bestimmt nicht. Ich will nur nicht, daß du sie dir holst.« »Deshalb bin ich erschienen.« »Das weiß ich, aber versuche es.« »Hältst du dich für so stark, Sinclair?«
»Du kennst mich, und du kannst mich auch einschätzen. Ich halte mich nicht für stark, ich bin es. Deshalb schlage ich dir vor, dich wieder in deine Welt zurückzuziehen. Mit Dracula II werden auch wir fertig und…« Ihr Lachen dröhnte so scharf und laut durch meinen Kopf, daß ich lieber schwieg. Jedes weitere Wort wäre Verschwendung gewesen, aber Morgana wollte nicht aufgeben. »Mag sein, daß du versuchen willst, Mallmanns Vampirwelt zu vernichten, aber du wirst es nicht schaffen, so stark bist du nicht. Es braucht Wesen wie uns, die sich damit auseinandersetzen. Ich werde nicht aufgeben.« Da hatte sie nicht gelogen, ich kannte sie, und ich hörte plötzlich Sukos Stimme. »John, die Verletzten…« Bisher hatte ich mich nur auf Morgana und den sie umgebenden kalten Lichtkreis konzentriert. Es änderte sich, als ich in den Betten die Bewegungen wahrnahm. Nicht nur in diesem Zimmer, wo wir uns aufhielten, sondern auch aus dem Nebenraum erklangen Geräusche, die mich stutzig werden ließen. Dort standen die Patienten ebenfalls auf. Dort waren sie schon aufgestanden, denn zu dritt drängten sie sich auf der Schwelle der Zwischentür… *** Plötzlich steckten wir in der Klemme. Die sechs Männer mußten von Morgana auf telephatischem Weg den Befehl bekommen haben, sich ihr zu nähern, das zu tun, was sie wollte, und sechs Personen, die gegen uns standen, waren nicht eben wenig. Hinzu kam Morgana mit ihren verdammten Wölfen, die zwar noch in einer anderen Dimension schwebten, es aber ohne weiteres schaffen würden, sie zu verlassen, um in unsere Welt regelrecht hineinzuspringen. Ich warf einen Blick auf die Zwischentür. Sie standen dort wie normale Gestalten. Sie trugen die Krankenhauskleidung, lange Nachthemden, die an der Rückseite offen waren. An verschiedenen Stellen sah der Stoff aus, als hätte man mit ihm auch gleichzeitig ein Stück des Körpers aus den Leuten herausgeschnitten und die entstandene Leere dann mit einem Licht erfüllt, das ich auch vor dem Fenster sah. Sie konnten nicht anders, sie mußten dieser Person gehorchen, die wie ein Mensch aussah, aber wie ein Wolf dachte und handelte. Sie kamen näher. Der erste hatte bereits unser Krankenzimmer betreten, und ich war jetzt froh, in Suko die richtige Unterstützung zu haben. »Ich kümmere mich um sie«, sagte er, bevor ich ihn um dies bitten konnte. »Es wird euch nichts helfen.«
»Morgana, du irrst dich! Ich lasse sie nicht weg. Ich bin für sie verantwortlich…« Keiner hörte auf mich. Auch nicht die drei Männer in unserem Zimmer. Sie hatten gesehen, wie weit ihre Freunde schon vorgekommen waren, auch wenn Suko vor ihnen stand und die Arme ausgebreitet hatte, so machten sie doch weiter. Sie kletterten aus den Betten und tappten mit ihren nackten Füßen durch die schmalen Gänge. »Willst du sie wirklich aufhalten, Sinclair?« »Ja, das will ich!« Und ich wußte auch, wie ich es schaffen konnte. Die dämonische Kraft dieser neuen Werwolf-Dimension war mächtig und stark, ich aber trug eine Gegenwaffe bei mir – das Kreuz! Um Morgana kümmerte ich mich nicht, als ich das Kreuz hervorholte, viel wichtiger war der erste Verletzte, der auf mich zukam. Er war von einem Wolf in die Schulter gebissen worden. Die scharfen Zähne hatten dort Fleisch und Sehnen zerfetzt, eine Lücke hinterlassen, in die das kalte Licht eingetaucht war und sie wieder aufgefüllt hatte, allerdings ohne Fleisch, Haut und Knochen. Er ging auf mich zu, als wäre ich gar nicht vorhanden. So reagierte nur ein Mensch, der von sich und seiner Kraft voll und ganz überzeugt ist. Nicht den Ansatz eines Stopps bemerkte ich bei ihm. Auch Suko hatte seine Probleme, wie ich am Rande mitbekam, wollte mich aber nicht nach ihm umdrehen, sondern zuschauen, wie weit es dieser Mensch noch trieb. »Geh mir aus dem Weg!« Ich hatte ihn genau verstanden, tat aber das glatte Gegenteil und blieb stehen. Er ging noch einen Schritt. In diesem Augenblick holte ich meine rechte Hand hinter dem Rücken hervor. Mit den Fingern hatte ich das Kreuz umschlossen gehabt, öffnete nun die Faust, der Mann sah mein Kreuz, und seine Augen weiteten sich für einen Moment. Er selbst tat nichts. Dafür aber drückte ich das Kreuz in das fremde Licht an seiner Schulter… *** Ich konnte nur hoffen und beten, daß die Macht meines Kreuzes nicht so groß war, daß sie den Menschen zerstörte. Ich wollte nur, daß er befreit wurde, und nicht sein Mörder werden. Daß etwas geschehen mußte, wenn zwei so grundverschiedene Magien aufeinandertrafen, das war mir klar, und es passierte auch etwas. Der Mann blieb stehen, als wäre er von einem Blitz durchfahren worden. Irgendwo traf der Vergleich zu, denn das Licht aus seiner Schulter ballte
sich plötzlich zusammen, bis es zu einem Strahl wurde, und ich sah, wie es aus den Augen des Verletzten hinausfuhr, einen gedankenschnellen Bogen schlug und sich mit dem Licht vereinigte, das kreisrund hinter der Scheibe lauerte. Der Mensch vor mir war wieder normal. Es fehlte kein Stück aus seiner Schulter, aber er selbst wußte nicht so recht, was mit ihm passiert war und kam damit auch nicht zurecht. Mit einer rudernden Bewegung seiner Arme fiel er zur Seite und landete glücklicherweise auf dem Bett. Hinter mir hörte ich Suko, der die anderen drei nur durch Schläge aufhalten konnte. Ich warf einen raschen Blick gegen das Fenster. Im Kreis zeichnete sich Morganas Gesicht ab. Sie griff nicht direkt ein, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht hatte sich verändert. Es war zu einer wütenden Fratze geworden, und ich wünschte mir, daß sie bei ihrer starren Haltung blieb, da ich mich um den nächsten kümmern mußte. Er wäre mir beinahe entwischt. Ich riß ihn durch eine bogenförmige Armbewegung herum. Der Stoff seines Nachthemdes wurde auf eine Zerreißprobe gestellt, hielt aber, und einen Augenblick später fiel er mir so entgegen, daß ich keine Mühe hatte, die Stelle zu berühren, wo ein Stück aus seiner Hand fehlte. Auch bei ihm geschah das gleiche Phänomen. Das Licht sammelte sich und schoß wie ein fokussierter Strahl durch seine Augen ins Freie, um sich mit dem großen Kreis wieder zu vereinen. Der dritte Mann wollte weg. Er hatte sich schon verkrochen und hockte nahe des Waschbeckens auf dem Boden. Ich holte ihn mir. Er hatte eine Hüftverletzung, die mein Kreuz heilte. Dann drehte ich mich um und erhaschte in der Bewegung einen Blick auf Morgana. Sie war noch da, auch der Kreis war vorhanden, aber beide hatten sich abgeschwächt. Für mich war es das erste Zeichen für einen Rückzug. Also hatte Morgana, aus welchen Gründen auch immer, diesmal nicht direkt in die Auseinandersetzung eingegriffen. Noch waren drei übrig. Suko hatte sich mit ihnen beschäftigt, und er war nicht eben zart mit ihnen umgegangen. Sie lagen am Boden, waren aber nicht bewußtlos, sondern nur durch gezielte Treffer so weit außer Gefecht gesetzt worden, daß sie Suko nicht gefährlich werden konnten. »Du kannst dich um sie kümmern, John. Ich verschwinde jetzt und hole endlich Hilfe.«
Diesmal hatte ich nichts dagegen. Für mich war klar, daß wir den Kampf gewonnen hatten. So einfach? Tief in meinem Hirn blieben Zweifel zurück, an die ich jetzt nicht denken wollte. Einer der Verletzten hatte sich aufgerichtet. Die Wunde sah ich an seinem Rücken. Er zitterte, als ihn mein Kreuz berührte und ihn >heilte<. Bei den beiden letzten Männern hatte ich ebenfalls keine Schwierigkeiten, und hinter dem Fenster stand wie festgenagelt der Kreis mit dem bleichen Licht und den Gestalten in der Mitte. Was würde Morgana tun? Sie tat nichts. Sie griff nicht körperlich ein, aber sie war noch vorhanden, wenn auch schwächer, denn das sie umgebende Licht hatte sich verstärkt, wie ich meinte. »Du hast nicht gewonnen, Sinclair!« Ihre Stimme tobte in meinem Kopf. »Du hast nicht gewonnen, auch wenn es so aussieht. Ich habe es dir leicht gemacht. Vielleicht bin ich auch ein wenig sentimental gewesen, ich weiß es nicht. Aber der Sieg ist nicht deiner. Sei versichert, daß Fenris und ich unsere Pläne nicht aufgeben werden. Die Saat ist gelegt. Sie wird aufgehen, sehr bald schon…« Ich wollte sie fragen, was sie damit meinte, aber ihre Antwort bestand aus einem Verschwinden. Wallte der Nebel stärker? Löste sich der Kreis allmählich auf? Da kam wohl beides zusammen. So genau jedenfalls konnte ich es nicht unterscheiden, und es dauerte kaum zehn Sekunden, als vor den Fenstern die Dämmerung des Abends zusammenschmolz, durch die nasse Fahnen zogen und die Sicht wieder erschwerten. Der erste Nebel in diesem Herbst hatte London stark erwischt. Und alles verwischt. Wer würde uns glauben, was in diesem Zimmer geschehen war? Wohl niemand. Wenig später war auch ich nur Statist, denn da drangen die Helfer in das Krankenzimmer ein und kümmerten sich um den Professor. Sie untersuchten auch eine gewisse Melanie Morton. Für sie gab es keine Chance mehr. Melanie war tot. *** Einige Zeit später lernte ich auch Schwester Lilian kennen, mit der Suko schon Tee getrunken hatte. Wir hockten im Schwesternzimmer zusammen, auch Lilians Kolleginnen waren anwesend. Diesmal gab es Kaffee und die Fragen der Frauen.
Unsere Antworten fielen dürftig aus, was ihnen natürlich nicht paßte, aber sie teilten ihnen mit, daß sie sich um die sechs Patienten keine Sorgen zu machen brauchten, denn ihre ungewöhnlichen Verletzungen waren geheilt. Begreifen konnten sie es nicht. Wir wollten sie auch nicht einweihen. Für uns war auch wichtig, ob der Professor es schaffte, durchzukommen. Er lag bereits seit über einer Stunde auf dem Operationstisch. Für die Schwestern ein gutes Zeichen. Wäre bei ihm nichts mehr zu machen gewesen, dann hätten es die Kollegen bereits aufgegeben, ihn zu behandeln. So aber bestand Hoffnung. Die neue Nahrung erhielt, als ein Arzt erschien und uns erklärte, daß der Chef jetzt auf der Intensivstation läge und sein Zustand stabil wäre. Wir wollten das Krankenhaus verlassen. Was es noch zu regeln gab, hatte bis zum anderen Tag Zeit. Noch einmal besuchten wir die sechs Patienten. Wir sprachen mit ihnen über eventuelle Folgeschäden, aber keiner von ihnen spürte etwas. Auch dort, wo das Licht Wunden ausgefüllt hatte, war beim besten Willen nichts mehr zu erkennen. Wir wünschten ihnen Glück, verließen den Raum und waren beide trotzdem nicht happy. Erst als wir unten aus dem Fahrstuhl stiegen, stellte mir Suko eine Frage, die auch mir auf dem Herzen lag. »Was gefällt dir an der Sache nicht?« »Alles.« »Wieso?« Die Antwort bekam er draußen, als uns die kühle Luft ebenso umfing wie die Nebelschleier. »Mir gefällt ganz und gar nicht, daß der letzte Teil so wunderbar glatt ablief. Morgana schaute zu, verließ sich auf ihre Diener und zog sich dann zurück, als sie feststellte, daß sie sich auf der Verliererstraße befand. So handelte nicht mal ein Dämon der untersten Stufe, verdammt!« »Ja, da kannst du recht haben«, sagte Suko und nickte dem auf dem Boden liegenden Laub entgegen. Ich schaute in den Nebel, entdeckte ein Licht, aber es war kein Kreis, sondern der verschwommengelbe Fleck einer Laterne, der schräg und hoch über mir schwebte. »Es kommt noch etwas nach«, murmelte ich. »Das war erst der Anfang, es kommt noch etwas nach.« Meine Stimme verwandelte sich zu einem Murmeln. »Aber wann, zum Teufel, wann?« Suko hob die Schultern. »Das kann ich dir auch nicht sagen. Aber ich mache dir einen anderen Vorschlag. Laß uns etwas essen gehen.« Ich schaute ihn überrascht an. »Was höre ich da? Du lädst mich ein, Alter?« »Davon habe ich nichts gesagt.« »Dann soll ich bezahlen?«
»Auch nicht.« »Wer dann?« »Sir James. Ich habe vorhin noch mit ihm telefoniert. Er erwartet uns in einem schwimmenden Restaurant auf der Themse. Wahrscheinlich hat er im Nebel seinen Club nicht gefunden, und jetzt braucht er Gesellschaft.« Ich grinste und nickte zugleich. »Na wenn das so ist, worauf warten wir dann noch…?«
ENDE