Märchen aus Israel Herausgegeben von Heda Jason Übersetzt von Schoschana Gassmann
EUGEN DIEDERICHS VERLAG
Die Deutsc...
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Märchen aus Israel Herausgegeben von Heda Jason Übersetzt von Schoschana Gassmann
EUGEN DIEDERICHS VERLAG
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Märchen aus Israel hrsg. von Heda Jason. Übers. von Schoschana Gassmann. München: Diederichs, 1993 (Die Märchen der Weltliteratur)
ISBN 3-424-00563-0 NE: Jason, Heda [Hrsg.] 5. überarbeitete Auflage 93 © Eugen Diederichs Verlag, München 1976 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Ute Dissmann, München Produktion: Tillmann Roeder, München Satz: Passavia, Passau Druck und Bindung: Wiener Verlag, Himberg Printed in Austria ISBN 3-424-00563-0
Mit seinen aus einem Zeitraum von 3000 Jahren gesammelten Märchen und Geschichten fällt dieser Band aus dem gewohnten Rahmen dieser Reihe. Zu biblischen Geschichten und orientalisch bunten Erzählungen gesellen sich die von den Einwanderern mitgebrachten, der neuen Umwelt angepaßten Märchen aus ihrer einstigen Heimat. Die Herausgeberin H. Jason unterstreicht im umfassenden Nachwort die Besonderheiten der Märchen in der jüdischen Volksliteratur und sie gibt Verständnis- und Einordnungshilfen, deren die lebendig erzählten Märchen eigentlich kaum bedürfen. Mit seinen aus einem Zeitraum von 3000 Jahren gesammelten Märchen und Geschichten fällt dieser Band aus dem gewohnten Rahmen dieser Reihe. Zu biblischen Geschichten und orientalisch bunten Erzählungen gesellen sich die von den Einwanderern mitgebrachten, der neuen Umwelt angepaßten Märchen aus ihrer einstigen Heimat.
1. Wie die Welt erschaffen wurde
I Einmal war der Löwe sehr böse auf die Haustiere und die wilden Tiere. Diese fragten: »Wer will gehen und ihn besänftigen?« Da sagte der Fuchs: »Kommt mit mir, ich kenne dreihundert Parabeln, ich will ihn versöhnen.« »Gehen wir!« Sie gingen ein Stückchen, da blieb der Fuchs stehen. »Was ist los?« Er sagte ihnen: »Ich habe einhundert Parabeln vergessen.« »Auch zweihundert werden genügen.« Sie gingen wieder ein Stück des Weges, da blieb der Fuchs abermals stehen. »Was ist nun los?« Er sagte ihnen: »Ich habe einhundert vergessen.« »Auch einhundert Parabeln werden genügen.« Als sie schon ganz nahe waren, sagte der Fuchs: »Ich habe alle vergessen; ein jeder soll den Löwen mit seiner eigenen Geschichte versöhnen.«
II Die Heilige Schrift sprach: »Ich war das Werkzeug Gottes.« Gewöhnlich, wenn ein König aus Fleisch und Blut einen Palast baut, so baut er ihn nicht nach eigener Einsicht, sondern nach der Einsicht eines Baumeisters, und auch dieser baut nicht nach eigenem Gutdünken, sondern er hat Pergamente und Tafeln, worauf die Einteilung der Zimmer und Gemächer verzeichnet
ist. Ebenso sah Gott in die Heilige Schrift ein und erschuf die Welt.
III In der Stunde, in der Gott sprach: »Es entstehe ein festes Gewölbe inmitten der Wasser« (1. Moses 1/6), da wurde der mittelste Tropfen starr, und es entstanden daraus die Himmel der unteren und die Himmel der oberen Welt. Das Erschaffene war am ersten Tag naß, am zweiten Tag zog es sich zusammen, und erst als Gott sprach: »Es entstehe ein Gewölbe!« erstarrte es zum Gewölbe.
IV Wenn nur die Sonnenkugel zum Leuchten erschaffen wurde, wozu diente dann der Mond? Gott sah voraus, daß die Völker der Welt die Sonne zu einem Gott machen würden und sprach: »Wenn schon die Völker der Welt die zwei Wesen, die sich widersprechen und bekämpfen, zu Gottheiten machen, um wieviel mehr würden sie dann ein Wesen zu einem Gott machen?«
V Gott machte die beiden Lichter groß. Da kam der Mond und fragte Ihn: »Herr der Welt, können denn zwei Könige sich einer Krone bedienen?« Sofort sagte der Heilige, gesegnet sei Er: »Geh und werde kleiner!« Der Mond sagte: »Ist es, weil ich eine gerechte Sache vor Dich gebracht habe, daß ich es bin, der
kleiner werden soll?« Gott sagte: »Geh und regiere bei Tag und bei Nacht!« Da sagte der Mond: »Herr der Welt, Licht zur Mittagszeit – was nützt es?« Er sagte: »Geh, Israel wird nach dir die Tage und Jahre zählen.« Danach sprach Er: »Weil der Mond sich erniedrigt hat, nur bei Nacht zu regieren, so beschließe ich, daß, wenn er aufgeht, die Sterne mit ihm aufgehen, und wenn er untergeht, dieselben mit ihm untergehen sollen.«
VI Einmal, als der Hohepriester Aharon, der Bruder unseres Lehrers Mosche, am Versöhnungstage einen Stier im Tempel opfern wollte, entsprang ihm der Stier und schwängerte eine Kuh mitten im Tempel! Die Kuh warf ein Kalb, gesund und stark wie keines seinesgleichen. Kaum verging ein Jahr, und das Kalb wurde zu einem Stier, großer als die ganze Welt. Da nahm Gott, gelobt sei Er, die Welt und legte sie auf das Horn des Stieres. Nun steht der Stier und hält allezeit die Welt auf seinem Horn, denn so hat es Er, gesegnet sei Er, gewollt. Aber es gibt Menschen, die viel sündigen und die Welt wird unendlich schwer; da wird der Stier sehr, sehr müde. Was soll er tun? Er wirft die Welt – so, mit einer Bewegung des Kopfes – von einem Horn aufs andere. Da kommt ein Erdbeben, eine große Erschütterung, viele schlechte Menschen kommen um und tragen ihre Sünden mit fort, und die Welt steht wieder fest. So wälzt der Stier von Zeit zu Zeit die Welt um, es gibt Erdbeben – nicht auf uns sei es gesagt! – und die Sünden werden abgewälzt. Jetzt wirst du fragen, warum gerade durch das Horn eines Stieres? Die Menschen sollen wissen, welche Gefahr ihnen
droht und wie sehr sie von der Gnade Gottes abhängig sind, damit sie Seine Vorschriften erfüllen und Seinen Namen, gelobt sei Er, heiligen, Tag für Tag.
VII Als das Eisen erschaffen ward, fingen die Bäume zu zittern an. Da sprach das Eisen zu ihnen: »Warum zittert ihr? Gebt kein Holz her für Äxte, so wird keiner von euch gefällt werden.«
VIII Wie Gott jeglichem Tier seine Nahrung zuwies, fragte Er die Katze: »Von welchem Menschen willst du deine Nahrung haben? Vom Krämer? Vom Bauern? Vom Hausierer?« Die Katze meinte: »Ich will mich damit zufrieden geben, meinen Anteil von der zerstreuten Hausfrau nehmen zu dürfen…«
IX In der Stunde, in der Gott den ersten Menschen erschaffen wollte, beriet er sich mit den Dienstengeln und sprach zu ihnen: »Lasset uns Menschen machen nach unserem Abbild, uns ähnlich.« »Wozu?« fragten die Engel. »Damit die Gerechten aus ihm erstehen.« Er offenbarte ihnen aber nicht, daß Frevler aus ihm erstehen werden. Denn hätte Er ihnen auch dieses offenbart, so würde das Maß der Gerechtigkeit die Erschaffung nicht zugelassen haben. Zu der Stunde sah Gott, daß Gerechte und Frevler aus dem Menschen
hervorgehen werden. Da sprach Er: »Erschaffe ich ihn, so gehen Frevler aus ihm hervor; erschaffe ich ihn nicht, wie sollen die Gerechten aus ihm entstehen?« Was tat Gott? Er entfernte den Wandel der Frevler aus seinem Angesicht und verband sich mit dem Maße der Barmherzigkeit. Die Liebe sprach, er soll erschaffen werden, denn er wird menschenfreundlich sein; die Wahrheit dagegen sprach, er solle nicht erschaffen werden, denn es wird Lug und Trug geben; die Gerechtigkeit sagte, er soll erschaffen werden, denn er wird Wohltätigkeit üben; der Friede sprach, er soll nicht erschaffen werden, denn es wird Streit und Zank geben. Was tat Gott? Er nahm die Wahrheit und warf sie zur Erde. Die Dienstengel sprachen zu Gott: »Herr der Welten! Warum verachtest du die Ordnung und die hochgeschätzte Wahrheit? Laß die Wahrheit von der Erde aufsteigen.« Während die Dienstengel so miteinander stritten, erschuf Gott den Menschen. Er sagte ihnen: »Was streitet ihr noch? Der Mensch ist schon erschaffen worden.« Als Gott den ersten Menschen schuf, war er ein bloßer Klumpen und er reichte von einem Ende der Welt bis zum anderen; er erfüllte die ganze Welt vom Morgen bis zum Abend, vom Norden bis zum Süden. In der Stunde, da Gott ihn schuf, hatte er zwei Gesichter, Mann und Weib. Gott durchsägte ihn zu zwei Hälften und bildete zwei Rücken aus ihm, einen für den Mann und einen für die Frau.
X Am Rüsttage des Schabbates, um sieben Uhr, trat der erste Mensch in den Garten Eden ein, und die Engel lobten ihn. In der Dämmerung am Ausgang des Schabbat-Tages wurde er aus dem Garten Eden vertrieben. Da kam der Schabbat und wurde
zu Adams Verteidiger und sprach zu Ihm: »Herr der Welten, in den sechs Tagen der Schöpfung ist kein Totschlag in der Welt vorgekommen und mit mir fängst du an? Ist dies meine Heiligkeit und mein Segen? Es wurde doch gesagt: ›Und Gott segnete den siebten Tag und heiligte ihn‹ (1. Moses 2/3)!« So rettete das Vorrecht des Schabbat den Adam vorm Urteil der Verbannung in die Hölle. Als Adam die Kraft des Schabbates sah, sagte er: »Nicht umsonst hat der Heilige, gelobt sei Er, den Schabbat gesegnet und geheiligt.« Und er fing an zu singen und zu loben zu Ehren des Schabbat-Tages.
XI In der Stunde, als Mosche die Lehre niederschrieb, zeichnete er das Schöpfungswerk eines jeden Tages auf; als er zu dem Satz kam: »Gott sprach: Lasset uns Menschen machen« (1. Moses 1/26), sagte Mosche: »Herr der Welten! Welchen Anlaß gibst Du da den Ketzern?« Gott entgegnete ihm: »So soll es geschrieben werden, und wer irren will, der irre.« Und Gott setzte fort: »Mosche! Werde ich nicht aus dem Menschen, den ich erschaffen habe, Große und Kleine erstehen lassen? Wenn nun der Große kommt, um Erlaubnis von dem Kleinen zu bekommen, wird er nicht sagen, wozu soll ich Erlaubnis von ihm holen, der kleiner ist als ich? – Da wird man ihm entgegnen: ›Lerne von deinem Schöpfer, welcher die Oberen und die Unteren schuf, und als er den Menschen erschaffen wollte, beriet er sich mit den Dienstengeln.‹« Ist der Mensch würdig, so spricht man zu ihm: »Du gingst den Dienstengeln in der Schöpfung voran.« Ist er nicht würdig,
so spricht man zu ihm: »Die Fliege, die Mücke und der Wurm gingen dir in der Schöpfung voran.«
2. Die Welt wird eingerichtet
I Als der Heilige, gelobt sei Er, die Welt erschuf, rief er alle Geschöpfe zusammen und legte fest, wie lange ihre Lebensdauer sein solle. Jedem gab er vierzig Jahre. Auch sagte er jedem, was er zu tun hatte. Als das Pferd an die Reihe kam, fragte es den Heiligen, gelobt sei Er: »Was wird meine Arbeit sein?« Der Heilige, gelobt sei Er, antwortete ihm: »Die Menschen werden auf deinem Rücken reiten.« Da meinte das Pferd: »Wenn ich dafür geschaffen bin, habe ich genug mit zwanzig Jahren.« Nach dem Pferd kam der Esel und fragte nach seiner Aufgabe. Als er hörte, daß er auf seinem Rücken Lasten schleppen soll, begnügte auch er sich mit zwanzig Jahren schwerer Arbeit. Nach ihnen kam der Vorbeter und fragte nach seinem Werk. Ihm sagte der Heilige, gelobt sei Er: »Du wirst eine leichte und saubere Arbeit haben: Gesänge vorzutragen.« Als der Vorbeter das hörte, bat er, man möge ihm doch noch Lebensjahre hinzufügen. Was tat der Heilige, gelobt sei Er? Er fügte ihm zwanzig Jahre vom Pferd und weitere zwanzig Jahre vom Esel zu. Seitdem singt der Vorbeter bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr mit der Stimme eines Vorbeters; wenn er sein vierzigstes Lebensjahr überschritten hat, wiehert er wie ein Pferd, und zum Schluß schreit er wie ein Esel.
II Als Er, geheiligt sei Sein Name, Seine Welt erschuf, begann er, Bündel auf die Erde zu werfen, Bündel für die Menschen. Doch siehe da, drei Bündel blieben abseits, und Er rührte nicht daran. Einer der Engel im Himmel kam herbei und fragte ihn: »Herr der Welt – dieses hier – für wen ist das?« Er antwortete: »Nicht für die Menschen. Sie würden nicht wissen, wie damit umzugehen. Diese habe ich für mich selbst behalten.« Da fragte ein zweiter Engel: »Was ist denn in diesen Bündeln drin?« Gott der Herr antwortete ihm: »Gerechtigkeit, Gewissen und Aufrichtigkeit. Diese habe ich für mich aufbewahrt. Die Menschen auf Erden würden damit nicht umgehen können.«
III Wie man ja weiß, hat der Heilige, gelobt sei Er, die Welt in sechs Tagen erschaffen; an jedem Tag arbeitete er schwer, schuf, was Er zu machen hatte, und erfüllte sein Tageswerk. Am siebenten Tag beendete er sein Werk; Er war sehr müde, ruhte aus und erholte sich. Am nächsten Tag, am Sonntag, sah Er sich ohne Beschäftigung. Er begann sich zu langweilen und wußte nicht, was anzufangen, denn er hatte ja schon alles erschaffen. Da versammelte der Heilige, gelobt sei Er, die Engel, die Seraphim und das ganze Gefolge der himmlischen Heerscharen. Er fragte sie: »Was soll man tun?« Sie saßen und berieten sich, und am Ende beschlossen sie, daß der Heilige, gelobt sei Er, Bündel zubereiten solle,
Tausende, ja Zehntausende von Bündeln, um sie an die Menschen zu verteilen. In die Bündel solle Er alle möglichen Dinge tun: Freuden, Reichtum, Söhne und Töchter – und auch, nun ja, Sorgen. Und seitdem bekommt der Mensch, wenn er geboren wird, sein Bündel mit, verschlossen und darin seinen Anteil, je nach seinem Glück.
IV Zur Zeit, als es nur den ersten Menschen auf der Welt gab, war der Satan noch nicht in seinem Herzen. Eines Tages kam der Satan zu ihm, in Menschengestalt, und seinen Sohn hatte er in ein Schaf verwandelt. Satan kam und sagte: »Bitte, sei so gut und paß mir auf mein Schaf auf. Ich werde in einem Jahr zurückkommen und es mitnehmen.« »Gut«, sagte Adam. Satan ging weg und kam nach einem Jahr nicht zurück. Adam wartete und wartete und, als Satan nicht kam, schlachtete er das Schaf. Er und Hawa, seine Frau, aßen es auf. Adam sagte: »Wenn jener Mann kommt, werden wir ihm sagen, daß das Schaf durchgegangen oder verreckt ist, und fertig!« Kaum hatten sie das Schaf aufgegessen, kam Satan: »Gib mir mein Schaf zurück«, sagte er. »Es ist durchgegangen, was sollte ich tun?« »Das ist nicht wahr, es ist nicht durchgegangen.« »Es ist doch durchgegangen!« »Und wenn ich es rufen werde, und es wird mir antworten, was dann?« »Das möchte ich sehen!« Satan rief: »Mein Sohn, wo bist du?«
»Hier, Papa«, antwortete der kleine Satan aus dem Bauch des Menschen, »soll ich herauskommen?« »Nein, nein, bleibe nur drinnen.« Der kleine Satan blieb im Herzen der Menschen, und seither gibt er ihm keine Ruhe. Nun muß der Mensch immer auch abwegige Gedanken hegen.
V Vor vielen, vielen Jahren dachten die Menschen immer nur noch an den Tod. Sie aßen nicht, sie tranken nicht, sie dachten nur an den Tod. Ihr werdet fragen, warum? Weil sie damals an gar nichts zu denken hatten, denn andere Gedanken waren noch gar nicht erschaffen worden. Was geschah? Je älter die Menschen wurden, desto mehr magerten sie ab, denn das ist die Art des Gedanken an den Tod: Er frißt das Fleisch des Menschen noch bei Lebzeiten. Wenn die Leute starben, waren sie nur noch Haut und Knochen, ganz ohne Fleisch. Die Würmer in der Erde hatten gar keinen Nutzen von ihnen. Da gingen die Würmer sich bei Gott beschweren: »Stimmt es etwa nicht? Als Du uns Würmer erschufst, ordnetest du an, wir sollten Fleisch fressen. Und jetzt, was sollen wir fressen, wo alle Menschen so schrecklich mager sterben, so daß die Haut die Knochen kaum zusammenhält und überhaupt gar kein Fleisch geblieben ist. Sollen wir vielleicht die Knochen fressen? Heh!« Da sprach Gott: »Gut, ihr habt recht! Ich werde mich mit den Engeln beraten.« Die Engel hörten sich das an, und auch sie sagten alle, daß die Würmer recht hätten, und daß sie erschaffen worden sind, um Fleisch zu fressen. Was tat Gott? Er brachte das Geld hinunter auf die Erde. Ein Mann kaufte für hundert und verkaufte für zweihundert. Die Sache gefiel dem Menschen; er vergnügte sich damit sehr und vergaß
den Tod, denn er dachte an das Geld. Was tat der Mann? Für hundert von den zweihundert, die er verdient hatte, kaufte er Ware für hundert, und für hundert kaufte er Essen. Jetzt hatte er schon an vieles zu denken: Wie aufs neue Geld zu verdienen und wie das Geld auszugeben. Und dabei wurde er immer dicker. Als die Menschen starben, waren sie sehr fett, und die Würmer hatten genug zu fressen.
3. Das Geschenk der Löwin
Vor sehr vielen Jahren, Hunderten oder gar Tausenden von Jahren, gab es in Afghanistan einen redlichen und guten König namens Anon Sherchan, der seine Untertanen gern hatte und immer bereit war, ihnen zu helfen. Auch seine Untertanen hatten ihn gern und waren immer bereit, seinem Willen zu folgen. Neben seinem Palast hatte der König einen langen Balken; ein Ende des Balkens begann am Zaun des Palastes und das andere Ende reichte bis in die Gemächer des Königs. Dort war eine Glocke angebracht. Wenn ein Bürger einen Wunsch hatte, kam er zum Zaun und zog am Balken. Die Glocke läutete im Zimmer des Königs. Der König lud den Mann ein, um zu hören, was ihn bedrückte und was seine Sorgen und Leiden waren. So pflegte es der König seit vielen Jahren zu halten. Eines Tages nun saß der König in seinem Zimmer und alle Wesire und Großen des Reiches waren um ihn versammelt, aßen und tranken, hörten Gesang zu und erfreuten sich des Tages, als der König seine Glocke läuten hörte. Er sah hinaus und erblickte eine Löwin, die mit dem Kopf am Balken rüttelte. Sofort begriff der König, daß die Löwin einen Kummer hatte und um Hilfe bat. Er rief seinen Diener und ordnete an, alle Handwerker in der Stadt zu rufen und sie mit ihrem Werkzeug vor die Löwin zu bringen. Der Schmied stellte sich mit Hammer und seiner Eisenzange ein, der Schuster folgte mit seiner Ahle und Pfriemen, der Schneider mit seiner Schere und Stoff, der Goldschmied mit seinen Goldund Silbergeräten und so weiter. Die Löwin aber guckte sie alle an; sie rührte sich nicht. Schließlich kam der Tischler mit
seiner Säge und seinem Hobel hinzu. Die Löwin beugte sich vor ihm, wedelte mit dem Schwanz und machte Bewegungen, als ob sie sagen wollte: Eben dich brauche ich. Der König befahl dem Tischler, mit der Löwin mitzugehen. Der Tischler war sehr erschrocken, aber wenn der König etwas anordnet, so muß es ausgeführt werden. So folgte er der Löwin. Sie bückte sich und deutete ihm an, er solle sich auf sie setzen. Sie ritten fort, bis sie zu der Höhle der Löwin kamen. Da deutete sie dem Tischler an, daß ihre Jungen in der Höhle seien, aber der große Baum am Eingang sie störe. Sie können nicht aus und eingehen. Der Tischler verstand, was gemeint war, und fällte den Baum. Die Löwenjungen freuten sich und sprangen um den Tischler herum, und die Löwin leckte dem Tischler zum Dank die Hände. Als der Tischler nach einer kurzen Weile nach Hause wollte, bückte sich die Löwin und deutete ihm an, daß er sich auf sie setzen solle. Sie ritten zurück zum Königspalast und die Löwin ging ihres Weges. Der Tischler berichtete, was er getan hatte. Der König freute sich sehr, beschenkte ihn und befreite ihn von den Steuern. Ein Jahr verging, und wieder saßen der König und die Großen des Reiches im Palast, aßen und tranken, lauschten dem Gesang und erzählten sich Geschichten und Märchen, als sie die Glocke läuten hörten. Sie sahen die Löwin, und diesmal grub sie mit ihrer Tatze ein wenig in der Erde, machte eine Grube, tat Körner hinein und schüttete die Grube zu. Dann rüttelte sie am Balken, brüllte freudig und ging ihres Weges. Der König schickte einen Diener, um zu sehen, was die Löwin dort in die Grube hineingelegt hatte. Er fand Samenkörner und brachte diese dem König. Da erinnerte sich der König, wie die Löwin vor einem Jahr Hilfe verlangt hatte, und meinte: »Sicher ist das ihr Dank.« Alle betrachteten die Körner, wußten aber nicht, was es für welche waren. Man säte die Samen aus. Nach einem Monat sah der Gärtner Blüten, und nach kurzer Zeit
fielen die Blüten ab und etwas fing zu wachsen an, das rund wie eine Nuß war. Diese wurde immer größer und nach drei Monaten war sie sehr groß und wog schon zehn Kilo. Der König und sein ganzes Gefolge kamen und wunderten sich über die Frucht: Ist sie gut zum Essen? Ist es eine Arznei, die Leben bringt, oder ein Gift, das zum Tode führt? Keiner traute sich davon zu kosten. Einer der Weisen sagte: »Bringt einen Esel, der soll als erster davon kosten.« Der Esel nun, wie es in der Natur der Esel ist, zertrat die Frucht auf der Erde, bevor er sie fraß. Doch was auf dem Boden zerdrückt wird, verliert den Saft. Also wußten sie wieder nicht, wie es mit der Frucht steht. Dann sagten sie: »Wir können nicht wissen, ob die Frucht gut ist. Bringt eine Ziege, die frißt langsam und beschnuppert ihren Fraß erst.« Man brachte eine Ziege und gab ihr von der Frucht. Die Ziege fraß das ganze Stück auf, und es geschah ihr nichts. Da sagten sie: »Das ist sicher eine gute Frucht.« Der König und das ganze Gefolge kosteten von der Frucht, fanden, daß sie sehr schmackhaft und süß und dem Gaumen angenehm war. Sie suchten einen Namen für die neue Frucht, und der König benannte sie »Karbeseh«, im Namen des Esels und der Ziege. Die Frucht aber war die Melone. Daher gibt es in Afghanistan viele schmackhafte und süße Melonen, an die hundert Arten, und von hier aus verbreitete sich die Melone auf der ganzen Welt.
4. Gott und die Götzen
I Seit wann hieß man die Götzen Gott? Von der Zeit Enoschs, dem Enkel Adams, an.
II Die Mutter Avrahams hieß Antilai, Tochter des Karnabo. Sein Vater war Terach, ein Wesir von Nimrod. Nimrod hatte einige Sterndeuter; die konnten in den Sternen sehen, was sich ereignen wird. Eines Tages sagten sie zu Nimrod: »Bald wird ein Kind geboren werden, das deinem Leben ein Ende machen wird.« – Man berief eine Versammlung, um zu beraten, was zu tun sei, um sich des Kindes zu entledigen. Sie errichteten ein großes Gebäude und beschlossen, daß jeder Knabe, der geboren wurde, gefangen und getötet werden sollte. Mädchen dürften am Leben bleiben. Nach einiger Zeit begrub man einige Säuglinge, die nach der Geburt getötet worden waren. Dann war auch die Frau des Terach so weit, daß sie in das Haus hätte ziehen müssen, in dem man die Frauen einige Monate hielt, bis sie gebären. Es geschah, daß sie schwanger war, und jedesmal sagte ihr Mann zu ihr: »Ich sehe, daß du schwanger bist.« Sie aber entgegnete ihm: »Nein, das ist nicht wahr. Ich bin krank und übergebe mich, weil ich mich nicht gut fühle.« Die Zeit kam heran – sie aß nicht und sie trank nicht, wie alle Schwangeren. Da sah er, daß sie wirklich schwanger war, und sagte zu ihr: »Schweig! Ich werde eine Hebamme
schicken, um dich untersuchen zu lassen.« Die Hebamme kam und untersuchte sie und fühlte, daß da im Leib ein Sohn war. Da kam ein Engel und brachte den Ungeborenen aus dem Leib in die Brust – und man konnte der Frau nichts mehr anmerken. Sie behauptete, daß sie solch eine Krankheit hatte. Sie kam in den siebenten Monat und der Leib wuchs. Wieder fragte ihr Mann sie: »Bist du schwanger?« Sie sagte: »Nein.« Da schickte man wiederum nach Leuten, um sie zu untersuchen, und wiederum kam ein Engel, das Ungeborene glitt hinauf in die Brust und man fand nichts. Der neunte Monat kam und die Frau spürte Wehen. Da sprach sie voll Klugheit zu ihrem Mann: »Du bist mein Gatte und du liebst mich. Ich bin krank und man sagt mir, Luftwechsel würde mir gut tun und in einer anderen Stadt werde ich gesund werden.« Dort in der Stadt hatte sie eine Schwester. Er fragte: »Warum hast du mir nie gesagt, daß du eine Schwester hast?« – »Früher erhielt ich Briefe, aber ich habe sie dir nicht gezeigt. Ich dachte, es wäre besser so. Auch Leute, die aus jener Stadt kommen, brachten mir Nachricht von ihr, und ich sagte mir: ›Warum soll ich dir das erzählen?‹ Jetzt aber möchte ich zu ihr gehen.« Schließlich bekam sie von ihrem Mann die Erlaubnis und ging fort. Sie ging in einen Wald in der Nähe der Stadt, aber weit weg von ihr, mitten in den Wald. Dort war sie einen Tag, und am zweiten Tag wurde ihr Sohn Avraham geboren. Nach der Geburt kam ein Engel, gab ihm einen Schlag auf die Finger und gab ihm Honig und Mandeln, und das Kind säugte an seinen Fingern anstelle der Muttermilch. Kleider hatte es nicht; der Engel schickte ein Schaf mit guter Wolle; darein hüllte sie es, und so war ihm warm. Die Mutter saß mit ihrem Säugling zehn Tage lang im Wald. Der Engel kam und brachte jeden Tag auch der Mutter zu essen. Zum Schluß kehrte sie nach Hause zurück; der Sohn
aber blieb im Wald. Ihr Mann fragte sie: »Wo warst du zehn Tage lang?« Sie antwortete: »Ich bin krank gewesen, aber nun fühle ich mich gut.« Avraham aber blieb allein, und die Engel sorgten für ihn. Als fast ein Jahr vergangen war, ging seine Mutter ihn besuchen. Ob er wohl tot war oder lebte? Da ging sie zu dem Platz, wo sie ihn gelassen hatte. Sie wußte, daß ihr Kind zwei lange Haarsträhnen hatte. Das war das Zeichen, daß es ihr Kind sein mußte. Sie weinte vor sich hin. Da kam ein großer Held und fragte sie: »Warum weinst du?« Er erkannte sie als seine Mutter, aber sie wüßte das nicht. Sie fuhr fort zu weinen, und dann erzählte sie diesem Helden: »Ja, ich weine« – und berichtete ihm über alles Vorgefallene. Er fragte sie: »Hast du ein Zeichen, an welchem du dein Kind erkennen kannst?« Sie sagte: »Ja, ich habe ein Zeichen. Mein Kind hat zwei Haarsträhnen.« Da öffnete er seinen Rock und zeigte sie ihr, und sie erkannte ihn. Sie sah, daß er erst ein Jahr alt war und schon groß wie ein Held, und er sprach zu ihr: »Geh zu Nimrod und sage ihm, daß dein Sohn ihn vernichten wird.« Nach einem Jahr kehrte sie zurück und sagte: »Ich bin nicht gegangen, denn mein Kind ist erst ein Jahr alt und ich fürchtete mich vor Nimrod, denn er würde dich töten.« Sie kam noch einmal und sie fand, daß ihr Sohn ein Pferd genommen hatte und darauf ritt; er trieb sich wie ein Herrscher im Walde herum, von Schlangen umgeben, und nichts konnte ihm Furcht einjagen.
III Als nun Avraham drei Jahre alt war, verließ er die Höhle und fragte sich, wer wohl den Himmel und die Erde erschaffen hatte, und auch ihn. Er betete den ganzen Tag lang zur Sonne,
aber am Abend ging die Sonne im Westen unter und der Mond schien vom Osten. Als er den Mond und die Sterne um den Mond sah, sagte er: »Das ist er, der den Himmel und die Erde und auch mich erschuf, und diese Sterne sind seine Diener und Sklaven.« Nun stand er die ganze Nacht und betete zum Mond. Wie es Morgen wurde, ging der Mond im Westen unter und die Sonne schien vom Osten. Er sagte: »Diese beiden haben keine Macht. Es muß einen Herrn über sie geben und diesen will ich anbeten.«
IV Avrahams Vater Terach war ein Götzendiener, der Götzen machte. Als er einmal ausging und den Avraham als Verkäufer an seiner Statt zurückließ, kam ein Mann und wollte sich ein Götzenbild kaufen. Avraham sprach zu ihm: »Mensch, wie alt bist du?« Er antwortete: »Zwischen fünfzig und sechzig Jahren.« »Wehe dem Mann«, rief Avraham aus, »der sechzig Jahre alt ist und ein Bild anbeten will, das nur einen Tag alt ist.« Der Käufer schämte sich und ging seines Weges. Ein andermal kam ein Weib, das in seiner Hand eine Schüssel mit feinem Mehl trug, und sagte zu Avraham: »Geh und bringe es den Götzen als Opfer dar.« Avraham nahm einen Stock, zerschlug fast alle Götzenbilder und legte dann den Stock in die Hand des größten Götzen. Als sein Vater zurückkam, fragte dieser: »Wer hat dies getan?« »Wie kann ich es dir ableugnen?« fragte Avraham und sagte: »Es kam ein Weib, brachte eine große Schüssel mit feinem Mehl und sagte zu mir: ›Bringe es den Götzen als Opfer dar.‹ Ich brachte es den Götzen, und da entstand ein Streit unter ihnen. Ein jeder sagte: ›Ich esse zuerst!‹ Endlich stand dieser
Große auf, nahm den Stock und zerschlug die anderen Götzen.« »Was spottest du meiner? Diese sind doch aus Holz und Stein!« »Laß deine Ohren hören, was dein Mund spricht!« antwortete Avraham. Da nahm Terach den Avraham und überlieferte ihn Nimrod. Dieser sprach zu Avraham: »Wir wollen das Feuer anbeten!« »Das kommt eher dem Wasser zu, welches das Feuer löscht.« »So wollen wir das Wasser anbeten.« »Nein, das kommt eher der Wolke zu, die das Wasser trägt.« »Gut, so beten wir die Wolke an.« »Nein, diese Ehre gebührt dem Wind, welcher die Wolken zerstreut.« »So wollen wir den Wind anbeten.« »Nein, das gebührt dem Geist.« »Recht! Wir wollen den Geist anbeten.« »Nein, das gebührt eher dem Menschensohne, welcher den Geist trägt.« »Wenn du mich nur mit Worten abfindest«, sagte endlich Nimrod, »so wisse, ich bete nur das Feuer an. Ich werde dich ins Feuer werfen, und es mag dich der Gott, den du anbetest, aus ihm retten.« Haran, Avrahams Bruder, stand dabei und war noch voller Zweifel. Er sagte sich: »Siegt Avraham, so spreche ich: ›Ich bin für Avraham‹; siegt Nimrod, so spreche ich: ›Ich bin für Nimrod‹.« – Als hierauf Avraham in den Glutofen geworfen wurde, aber lebend herauskam, fragte man Haran: »Wem schließt du dich an?« Er antwortete: »Dem Avraham.« Da nahm man ihn und warf ihn ins Feuer. Sein Inneres ging in Flammen auf und so starb er vor seinem Vater.
V In der Gegend der Stadt Urpha, an der türkisch-syrischen Grenze, bei der Stadt Haleb, befindet sich unter einem riesigen Felsen eine Höhle, die Höhle unseres Vaters Avraham. Aus der Tiefe der Höhle entspringen lautere Quellen, in denen es Fische in allen Regenbogenfarben gibt. In dieser Höhle war jener Schmelzofen, in dem der Bösewicht Nimrod unseren Vater Avraham verbrennen wollte, weil er der Götzen im Lande Schinar überdrüssig war. Aber der Heilige, gelobt sei Er, verwandelte die glühenden Kohlen in Fische, und dort vermehren sie sich bis zum heutigen Tag. In der Nacht, in der Avraham vor dem Schmelzofen errettet wurde, sah er am Himmel drei Sterne in einem sonderbaren Licht funkeln. Es fragte Avraham den Engel, der ihn geleitete: »Jene drei Sterne dort – wer und was sind sie?« Der Engel antwortete: »Das bist du, dein Sohn Yizhaq und Jaaqov, der ihm geboren werden wird.« Seitdem in jener fernen Zeit der Schmelzofen eingerissen wurde, wächst dort Grün, das sich von diesen Quellen ernährt. In der Decke der Höhle hängt ein Stein. Wenn jemand, der Glück hat, die Höhle betritt, so leuchtet der Stein ihm in vielen Farben entgegen. Wenn dagegen ein Pechvogel in die Höhle kommt, so bleibt der Stein stumpf und der Eingetretene bemerkt ihn überhaupt nicht.
5. Israel in Ägypten
I Als Suleika, Potiphars Frau, sah, daß sie Joseph nicht verführen konnte, wurde sie liebeskrank. Da kamen alle Frauen Ägyptens, sie zu besuchen, und fragten sie: »Warum bist du krank? Warum bist du so abgemagert, was fehlt dir denn? Du bist die Frau eines bedeutenden Mannes, der groß in den Augen des Königs ist; alles, wonach deine Seele verlangt, ist dir gegeben!« Suleika antwortete ihnen: »Heute will ich euch zeigen, was der Grund ist, der mich in diesen Zustand brachte, in dem ihr mich seht.« Sie befahl ihren Mägden, den Frauen Brot anzubieten. Diese brachten Brot, und Suleika bereitete ein Gelage für alle Frauen vor. Sie gab ihnen Apfelsinen und Messer zum Schälen der Apfelsinen. Dann ordnete sie an, Joseph prächtige Gewänder anzuziehen und ihn vor die Frauen zu bringen. Joseph kam, und die Frauen sahen ihn und verguckten sich in ihn. Alle Frauen schauten bloß Joseph an und paßten nicht auf, was sie mit den Messern taten, die sie in den Händen hielten. Sie schnitten sich die Finger, bis Blut floß. Sie aber spürten es nicht – sie schauten die ganze Zeit nur Joseph an. Suleika sah, was den Frauen geschah, und sagte zu ihnen: »Was ist mit euch geschehen? Ich gab euch zu essen, und ihr schneidet euch in die Finger?« Die Frauen schauten auf ihre Hände – sie waren blutig und sie befleckten mit ihnen ihre Gewänder. »Wegen des Sklaven in deinem Hause ist es, von dem wir die Augen nicht lassen konnten.« Suleika sagte: »Zu euch ist er nur für einen Moment gekommen, und schon geschah es euch, daß
ihr euch nicht zurückhalten konntet. Um wieviel mehr geschieht es mir, da er ständig in meinem Hause ist! Wie soll ich da nicht krank werden!«
II Huschim, Sohn des Dan, war auf beiden Ohren taub, aber er war ein starker Held. Er konnte mit mehreren Männern gleichzeitig kämpfen und sie umwerfen; er konnte Felsblöcke aufheben und auf seine Schulter legen, als ob es kleine Steine wären. Als die Söhne Jaaqovs zum ersten Mal nach Ägypten kamen, beschuldigte sie Joseph, der Herrscher über Ägypten war, daß sie Kundschafter seien. Er hielt an Schimon fest und verlangte von ihnen, ihren Bruder Benjamin zu bringen; dann würde er Schimon freigeben. Die Söhne Jaaqovs kehrten zu ihrem Vater ins Land Kanaan zurück und erzählten ihm, was ihnen zugestoßen war. Aber unser Erzvater schenkte ihnen keinen Glauben und sprach: »Joseph ist nicht mehr da, Schimon ist nicht mehr da, und ihr wollt auch noch Benjamin nehmen?« So standen die Söhne ihrem Vater gegenüber und rechteten. Sie wollten ihren Vater beeinflussen. Huschim sah von weitem seine Onkel von ihrer Reise zurückkehren und freute sich sehr. Er kam, um sie nach ihrer Rückkehr aus Ägypten zu begrüßen. Da sah er, daß sie stritten und schrien. Er faßte einige Worte auf: Joseph, Schimon, Ägypten und andere. Er begriff, daß die Ägypter seinen Onkeln Schwierigkeiten gemacht hatten. Ohne weitere Worte ging er, riß zwei große Felsblöcke heraus und warf sie in den Nil. Die Wasser des Nils stiegen und schwollen. Große Wogen überschwemmten die Städte am Ufer des Nils, Pithon und Raemses, und zerstörten sie.
In späteren Geschlechtern mußten die Nachkommen der Söhne Jaaqovs die Städte, die einer ihrer Vorfahren zerstört hatte, wieder aufbauen.
III Als Jaaqov aus Mesopotamien nach Kanaan zurückkehrte und seine Söhne und sein Vieh nach Kanaan brachte, verkaufte er all seine Habe und kaufte dafür Lote Gold. Dann sagte er zu Esaw: »Du hast Anteil an der zweifachen Höhle (1. Moses 23/17). Willst du diese Lote Gold oder willst du mit mir die Höhle teilen?« Esaw sagte: »Wozu brauche ich jene Höhle? Das Gold brauche ich!« So verkaufte Esaw seinen Anteil an der Familiengrabstätte.
IV Als unser Erzvater Jaaqov starb – er ruhe in Frieden – befahl er seinen Söhnen, ihn nicht in Ägypten zu begraben, sondern im Lande Kanaan, in der zweifachen Höhle zu Mamre. Wie man weiß, führten die Söhne Jaaqovs dieses Gebot ihres Vaters aus. Sie trugen seinen Sarg und viele der Großen Ägyptens schlossen sich dem Trauerzug an. Bald erreichte Esaw das Gerücht, daß man seinen Bruder Jaaqov in der zweifachen Höhle (1. Moses 23/17) begraben will. Er nahm große Heerscharen und ganze Truppen mit sich, um zu verhindern, daß die Söhne Jaaqovs ihren Vater begruben. Als die Begleiter des Trauerzuges zur Tenne Atad kamen, rasteten sie dort, denn der Weg war weit und ohne Ruhepause unmöglich. Und siehe da, Esaw und seine Mannschaften kamen zu demselben Platz. Die Söhne Jaaqovs und Esaws
begannen zu rechten und zu streiten. Esaw machte geltend, daß er der Erstgeborene sei und ihm das Erbrecht auf das Grab zufiele. Zumal Leah auch dort begraben war, kam ihm das einzige übriggebliebene Grab zu. Inzwischen sah Huschim eine Ansammlung am Grabe seines Großvaters. Er kam näher und sah dort einen rothaarigen Mann mit einem dichten Bart stehen, der sich mit seinen Onkeln stritt. Ohne ein Wort zu sagen, langte er ihm eine heftige Ohrfeige. Esaws Kopf fiel herunter, rollte zum Sarg Jaaqovs und heftete sich an Jaaqovs Ferse. Man wollte den Kopf wegnehmen; es gelang aber nicht. Und so hat Esaw erreicht, was er wollte: Sein Kopf ist in der Höhle unter dem Fuß unseres Erzvaters Jaaqov – möge er in Frieden ruhen – begraben.
V Zur Zeit, als unsere Vorväter in Ägypten waren, mußten sie Spreu oder Stroh in den Mörtel mischen, denn ohne diese Beimischung wären die Ziegel zerbröckelt. Als nun unsere Vorväter in großer Bedrängnis waren, weil sie weder Spreu noch Stroh auftreiben konnten, gebot Mosche – er ruhe in Frieden – den Ziegeln, daß sie nicht zu zerbröckeln hätten. Seither, wenn die Ziegelmacher Ziegel in der Form ohne die Mischung herstellen, zerbröckeln sie nicht. Dagegen ohne die Form zerfallen sie.
VI Zur Stunde, als der Heilige, gelobt sei Er, die Ägypter im Meere ertränken wollte, stand Usa, der Engel von Ägypten, vor
dem Heiligen, gelobt sei Er, und sagte: »Herr der Welt, Du bist genannt der Gerechte und der Redliche, und es gibt vor Dir kein Unrecht und keine Parteilichkeit und keine Bestechung; warum willst Du die Ägypter ertränken? Haben sie denn von den Söhnen Deiner Kinder welche ersäuft? Oder haben sie sie getötet? Wegen der Sklaverei, mit der sie sie versklavt haben, willst Du sie ertränken? Sie haben schon ihren Lohn genommen, Silber und Gold der Ägypter.« Zur selben Stunde sammelte der Heilige, gelobt sei Er, das himmlische Gefolge und sagte ihnen: »Richtet zwischen mir und dem Engel von Ägypten.« Als Michael sah, daß die Engel der Völker Ägypten verteidigten, deutete er Gabriel an, nach Ägypten zu fliegen. Der flog hin und nahm einen Ziegel mit seinem Mörtel und dem Kind, das die Ägypter darin eingemauert hatten. Er stand auf vor dem Heiligen, gelobt sei Er, und sagte: »Herr der Welt, das ist das Werk Deiner Söhne.« Als das Maß der Gerechtigkeit dies sah, sagte es: »Richte Deine Söhne in Ägypten, denn sie sind schuldig.« Sofort bedeckte das Meer die Ägypter. Die Dienstengel wollten einen Gesang anstimmen. Der Heilige, gelobt sei Er, sagte: »Was? Das Werk meiner Hände ertrinkt und ihr stimmt einen Gesang an!«
VII Eines Tages erfrechte sich der verfluchte Bösewicht Pharao gegen den Himmel. Er sprach: »Wer ist Gott, daß ich ihn fürchten sollte?« Er nahm einen Pfeil, spannte seinen Bogen und schoß den Pfeil gen Himmel. Der dumme Missetäter wollte mit seinem Pfeil Gott töten. Was tat der Ewige, gesegnet sei Er? Er schickte den Pfeil zur Erde zurück mit einem Tropfen Blut darauf. Darüber war Pharao, der Bösewicht,
höchst erfreut: »Ich habe den Ewigen getötet!« schrie er. Was tat der Ewige, gesegnet sei Er? Er befahl einer kleinen Mücke, in des verfluchten Missetäters Kopf hineinzuschlüpfen. Die Mücke kam, schlüpfte in den Kopf und summte dort, bis Pharao der Kopf anschwoll und er wie ein Irrer herumlief. Er wünschte sich den Tod herbei. Er sagte: »Oh, wer gibt mir einen Kopf aus Gold anstelle des Kopfes aus Fleisch und Blut, so daß mir die verdammte Mücke nicht schaden kann!« Da schickte der Ewige, gesegnet sei Er, den Satan zu Pharao. Der sagte zu ihm: »Hier, ich schlage dir den Kopf ab und gebe dir statt dessen einen Kopf aus Gold.« »Schlag zu!« sagte Pharao. Da hieb der Satan Pharao den Kopf ab und setzte einen Kopf aus Gold auf seine Schultern. Der Satan lachte und sprach: »Du Unseliger du, hast du denn vergessen, was man sagt: ›Kopf abgeschlagen – Wurzeln verdorrt!‹«
6. Von der Heiligen Schrift
I So wollte es der Heilige, gelobt sei Er: zuerst ging Er zu den Söhnen Esaws und sagte zu ihnen: »Wollt ihr die Heilige Schrift annehmen?« Sie fragten ihn: »Was steht in der Schrift geschrieben?« Er sagte: »Du sollst nicht töten!« (2. Moses 20/13). Sie sagten: »Die ganze Kraft dieser Menschen, die ihnen ihr Vater vererbt hat, ist doch nur im Schwert! Wie es geschrieben steht: ›Von deinem Schwert sollst du leben!‹ (1. Moses 27/40). Wir können die Heilige Schrift nicht annehmen.« Danach ging Er zu den Söhnen Ammons und Moavs und sagte ihnen: »Nehmt ihr die Heilige Schrift an?« Sie sagten vor Ihm: »Was steht in der Schrift geschrieben?« Er sagte ihnen: »Du sollst nicht ehebrechen!« (2. Moses 20/14). Da sagten sie Ihm: »Und diese Menschen selber kommen doch vom Ehebruch! Wie es geschrieben steht: ›So empfingen die beiden Töchter Lots von ihrem Vater!‹ (1. Moses 19/36). Wir können die Heilige Schrift nicht annehmen.« Danach ging Er zu den Söhnen Jischmaels und sagte ihnen: »Nehmt ihr die Heilige Schrift an?« Sie sagten: »Was steht in der Schrift geschrieben?« Er sagte: »Du sollst nicht stehlen!« (2. Moses 20/15). Sie sagten zu Ihm: »Und die ganze Kraft dieser Menschen besteht darin, daß sie vom Diebstahl und Raub leben, wie es geschrieben steht: ›Er wird ein wilder Mensch sein; seine Hand wider jedermann, und jedermanns Hand wider ihn.‹ (1. Moses 16/22). Wir können die Heilige Schrift nicht annehmen.«
Danach kam Er zu Israel. Diese sagten: »Wir nehmen an und fragen dann.«
II Zur Stunde, da Mosche in die Höhe stieg, sprachen die Dienstengel bei dem Heiligen, gelobt sei Er, vor: »Herr der Welt! Was soll ein Frauensohn unter uns?« Er erwiderte ihnen: »Er kam, die Gesetzeslehre in Empfang zu nehmen.« »Die köstliche und verborgene, die Du seit den sechs Schöpfungstagen neunhundertvierundsiebzig Zeitkreise vor der Weltschöpfung verborgen gehalten hast, willst Du einem Geschöpf aus Fleisch und Blut übergeben?« Darauf sprach der Heilige, gelobt sei Er, zu Mosche: »Gib ihnen Antwort!« Dieser sagte: »Herr der Welt! Ich fürchte, sie könnten mich mit dem Hauch ihres Mundes verbrennen.« Er antwortete: »Halte dich fest an dem Thron Meiner Herrlichkeit und gib ihnen Antwort.« Darauf sprach Mosche zu Ihm: »Herr der Welt! Was steht in der Lehre geschrieben, die Du mir gibst? ›Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Lande Ägypten, dem Hause der Knechtschaft, geführt hat.‹« (2. Moses 20/20). Dann fragte er jene: »Seid ihr etwa nach Ägypten gezogen? Wart ihr Pharao dienstbar? Was bedürft ihr der Lehre? Ferner heißt es in der Lehre: ›Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!‹ (2. Moses 20/3). Weilt ihr etwa unter den Unbeschnittenen, die Götzendienst treiben? Weiter steht in der Lehre geschrieben: ›Gedenke des Schabbattages, um ihn heilig zu halten!‹ (2. Moses 20/8). Arbeitet ihr etwa, daß ihr der Ruhe bedürfet? Weiter steht in der Lehre geschrieben: ›Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz aussprechen.‹ (2. Moses 20/7). Gibt es etwa Handel unter euch, daß ihr auf den Namen Gottes schwört? Weiter steht in der Lehre geschrieben: ›Ehre
deinen Vater und deine Mutter!‹ (2. Moses 20/12). Habt ihr etwa Vater und Mutter? Weiter steht in der Lehre geschrieben: ›Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen‹ (2. Moses 20/13-15). Gibt es etwa Neid oder bösen Trieb unter euch?« Da gaben die Dienstengel dem Heiligen, gelobt sei Er, zu, daß Er recht habe. Jeder wurde Mosches Freund und brachte ihm eine Gabe.
III Unser Lehrer Mosche stieg auf den Berg Sinai und brachte von dort die Zehn Gebote auf zwei Tafeln geschrieben. Als er aber sah, daß die Söhne Israels um das goldene Kalb tanzten, warf er die Tafeln hin und sie zerbrachen. Sie zerbrachen in einer Weise, daß alle Stücke der Tafeln, auf denen »Du sollst nicht« geschrieben stand, auf eine Seite fielen, und die Armen lasen sie auf. Sie sahen nur lauter: »Du sollst nicht…« Die anderen Stücke nahmen sich die Reichen und lasen: »Töte, ehebreche, stehle, zeuge falsch, gelüste…« und so weiter, und danach handeln sie bis zum heutigen Tage.
7. Das Land Israel
I Sechzig Myriaden Städte hatte der König Jannai auf dem Königsberg, und in jeder Stadt waren soviel Einwohner, wie es Auszügler aus Ägypten gab, außer in dreien, in denen es doppelt soviel Einwohner wie Auszügler aus Ägypten gab. Diese waren es: Bosheitsdorf, Kressendorf und Männerdorf. Bosheitsdorf hieß die Stadt, weil sie kein Haus an einen Gast hergaben; Kressendorf hieß die Stadt, weil die Einwohner vom Handel mit Kresse lebten; Männerdorf hieß die Stadt, weil ihre Weiber zuerst Knaben und danach Mädchen gebaren und danach aufhörten zu gebären. Einer sagte: »Ich sah diesen Ort; er faßt nicht einmal sechzig Myriaden Papyrosstengel!« Ein Häretiker sprach zu ihnen: »Lügt ihr also?« Jene erwiderten: »Es steht geschrieben: ›Ein Land wie eine Gazelle‹ (Daniel 11/16). Das heißt, wie die Haut einer Gazelle das Fleisch nicht mehr faßt (nachdem es einmal herausgenommen wurde) – so ist es auch mit dem Land Israel – ist es erst bewohnt, so wird es geräumig –, und ist es nicht bewohnt, so zieht es sich zusammen.«
II Wie das Fell der Gazelle ihr Fleisch nicht mehr faßt, ebenso faßt das Land Israel seine Früchte nicht. Wie die Gazelle das schnellste unter den Tieren ist, ebenso ist das Land Israel das
schnellste unter den Ländern, seine Früchte reifen zu lassen, und das nur, wenn Israel den Vorschriften der Lehre folgt. Wie die Gazelle schnell, doch ihr Fleisch nicht fett ist, so ist auch das Land Israel schnell mit dem Reifen seiner Früchte, doch sind diese nicht fett. Und wie sahen diese Früchte aus? Einst hinterließ einer seinem Sohn drei Senfstengel. Als einer von ihnen reifte, fand man darin neun Maß Senf, und das Holz von dem Senfstengel reichte, um eine Töpferhütte zu decken. Ein Vater hinterließ seinen Söhnen einen Kohlstrunk, auf dem sie auf- und niedersteigen konnten, wie auf einer Leiter.
III Seit dem Tage, da der Tempel zerstört wurde, kommt kein Regen aus der guten Schatzkammer hernieder. In der Zeit, in welcher Israel den Willen Gottes erfüllt und in seinem Land weilt, kommt der Regen aus der guten Schatzkammer; und in der Zeit, in der Israel nicht in seinem Land weilt, kommt der Regen nicht aus der guten Schatzkammer hernieder.
8. Des Königs David Leben und Tod
I Wie jedermann weiß, bekamen zur Zeit der Schöpfung, als die Menschen erschaffen wurden, sie auch die Dauer ihrer Lebenszeit auf Erden zugeteilt. Jedem Menschen wurde seine Lebenszeit in dieser Welt festgelegt. Dem König David – er ruhe in Frieden – aber wurde keine Lebensfrist zugeteilt. Das heißt, er hätte gleich bei der Geburt sterben müssen. Da kam der erste Mensch und sagte: »Ich habe tausend Jahre. Davon gebe ich David siebzig Jahre ab.« Als nun die Sterbestunde des ersten Menschen kam, erschien der Todesengel, seine Seele in Empfang zu nehmen. Da sagte der erste Mensch: »Meine Zeit ist noch nicht gekommen!« »Siebzig Jahre hast du doch dem König David abgegeben!« Der erste Mensch bereute sein Versprechen und sagte: »Nein, ich bin nicht bereit, ihm auch nur einen Tag zu schenken.« Da kamen die Seelen von unseren Erzvätern Avraham, Jaaqov und Joseph, dem Gerechten, und sagten: »Wir geben dem König David von unseren Jahren.« Und das taten sie auch. Wenn nun jemand behauptet, der erste Mensch hätte trotz alledem siebzig Jahre gespendet, so waren das siebzig Jahre Nacht. Es ist doch bekannt, daß der König David – er ruhe in Frieden – nachts nicht schlief, sondern musizierte und Lieder und Lobgesänge sang. Das sind die siebzig Jahre, die vom ersten Menschen kamen.
II David sprach zu dem Heiligen, gelobt sei Er: »Herr der Welt! Tue mir mein Ende kund. Sage mir, wann ich sterben werde.« Er erwiderte: »Es ist mein Beschluß, das Ende des Fleisches nicht kund zu tun.« »Welches ist das Maß meiner Tage?« »Es ist mein Beschluß, das Maß der Tage des Menschen nicht kund zu tun.« »Damit ich weiß, wann es mit mir aus ist?« Darauf erwiderte Er: »Am Schabbat wirst du sterben.« »Daß ich doch am Sonntag sterbe!« »Die Herrschaft deines Sohnes Schelomo ist bereits herangenaht, und ein Königtum verdrängt das andere auch nicht um ein Haar.« »So möchte ich am Vorabend des Schabbates sterben.« »Lieber ist mir ein Tag, da du sitzest und dich mit der Lehre befaßt, als tausend Brandopfer, die dereinst dein Sohn Schelomo mir auf dem Altar darbringen wird.« Da saß nun David alle Schabbate und studierte den ganzen Tag. An dem Tag, da seine Seele zur Ruhe einkehren sollte, trat der Todesengel vor ihn hin, er vermochte aber nichts gegen ihn, da sein Mund vom Studieren nicht abließ. »Was mache ich mit ihm?« sagte er. Dann ging er in den Garten, der hinter Davids Wohnung war, stieg auf die Bäume und schüttelte sie. David ging hinaus, zu sehen, was da geschah. Da brach die Treppe, auf der er stand, zusammen, und so starb David.
9. Wie König Schelomo den Tempel baute
I Dort, wo später unser heiliger Tempel zu Jerusalem gebaut wurde, war einmal ein Feld, das zwei Brüder geerbt hatten. Der eine hatte Frau und Kinder, der andere dagegen weder Frau noch Kinder. Sie wohnten zusammen in einem Haus, ruhig und zufrieden mit dem Stück Land, das sie von ihrem Vater geerbt hatten. Im Schweiße ihres Angesichts bearbeiteten sie das Feld. Einmal geschah es, daß sie die Weizenernte gesammelt hatten, die Ähren in Garben gelegt, gedroschen, und die Ernte in zwei Teile verteilt hatten. Diese Haufen standen nun im Feld, je einer für einen der Brüder. In der Nacht nun sagte der Bruder, der weder Frau noch Kinder hatte: »Ich lebe da ganz allein, niemand teilt mit mir mein Brot. Mit meinem Bruder ist das anders, der hat Frau und Kinder. Warum soll ich denselben Anteil wie er haben?« – Er stand auf und heimlich, wie ein Dieb, nahm er von seinem Haufen Garben und legte sie zu dem Haufen seines Bruders. Zur selben Zeit sagte der andere Bruder zu seiner Frau: »Es ist nicht richtig, daß wir das Korn in zwei gleiche Teile teilen. Mein Schicksal ist besser als seins, denn Gott hat mir Frau und Kinder gegeben, er aber ist einsam und hat keine andere Freude als das Getreide. Komm, Frau, laß uns heimlich von unserem Anteil dem seinen etwas zulegen.« So taten sie. Am Morgen nun waren die zwei sehr erstaunt, zu sehen, daß die Haufen genauso groß waren wie zuvor. Man sprach an jenem Tag kein Wort darüber. In der zweiten, dritten und vierten Nacht taten beide Brüder das selbe mit dem Weizen; am
Morgen jedoch fanden beide die Haufen wieder gleich groß. Da beschloß jeder für sich, der Sache auf den Grund zu gehen. Und als sie in der Nacht ins Feld gingen, da stießen die Brüder mit den Garben in der Hand aufeinander. So kam die Sache heraus. Die Brüder umarmten und küßten sich und dankten Gott dafür, daß Er jedem einen so großzügigen Bruder gegeben hatte. So wollte es Gott: An der Stelle, an der die beiden Brüder solch edle Tat vollbracht hatten – dort sollen ihn die Menschen segnen, und dieser Platz solle für das Gotteshaus auserwählt werden.
II König David war um den Bau des Tempels besorgt. Als Ruhe im Lande herrschte, machte er sich Gedanken und sagte: »Ich wohne in einem Zedernhaus, die Lade Gottes aber weilt unter einer Zeltdecke« (2. Samuel 7/2). Natan der Prophet antwortete ihm: »Hätte der Heilige, gelobt sei Er, diesen Gedanken nicht gehabt, so würdest du ihn auch nicht gedacht haben.« Sofort verkündete der Heilige, gelobt sei Er, durch Natan: »Du willst Mir ein Haus bauen? ›Du hast Blut in Menge vergossen und gewaltige Kriege geführt. Du darfst Meinem Namen kein Haus bauen!‹« (1. Chronik 22/8). Als David das hörte, erschrak er heftig und sagte: »Ich bin verstoßen, ich darf das Haus nicht bauen.« Der Heilige, gelobt sei Er, tröstete David mit dem Vers: »Sagte ich denn nicht: ›Nur das Blut sollt ihr nicht genießen, auf die Erde sollt ihr es ausgießen wie Wasser!‹« (5. Moses 12/16). Da bat David vor ihm: »Wenn dem so ist, warum soll ich den Tempel nicht bauen?« Der Heilige, gelobt sei Er, antwortete: »Baust du das
Haus, steht es bis zum Ende der Welt und wird nicht zerstört werden.« »Das ist doch gut!« »Vor mir ist es offenbar, daß in Zukunft Israel sündigen wird. Dann werde ich meinen Zorn am Tempel stillen und ihn zerstören, und Israel wird gerettet werden.« Und der Heilige, gelobt sei Er, fügte hinzu: »Obwohl du es nicht bauen wirst, wird man das Haus nach dir benennen, da du die Absicht hattest es zu bauen, wie es geschrieben steht: ›Lied zur Weihe des Tempels von David.‹« (Psalm 30/1). Nicht des Tempels von Schelomo, sondern ›von David‹.
III Schelomo sprach zu den Weisen: »Wie mache ich es, den Tempel zu bauen, ohne den Stein mit Eisen zu behauen?« Sie erwiderten ihm: »Es gibt den Schamir, den Mosche zu den Steinen des Schulterkleides verwendet hat.« »Wo ist der Schamir zu finden?« »Hole Dämonen und Dämoninnen und zwinge sie, vielleicht wissen sie es und offenbaren es dir.« Daraufhin holte er Dämone und Dämoninnen und zwang sie, bis sie ihm sagten: »Wir wissen es nicht, vielleicht weiß es Aschmodaj, der König der Dämonen.« Er fragte: »Wo befindet sich Aschmodaj?« »Er ist auf jenem Berg. Dort grub er einen Brunnen, den er mit Wasser gefüllt, mit einem Felsblock zugedeckt und mit seinem Siegelring versiegelt hat. Jeden Tag steigt er zum Himmel hinauf, wo er im himmlischen Lehrhaus weilt, sodann steigt er zur Erde herab, wo er im irdischen Lehrhaus weilt. Danach untersucht er seinen Siegel und öffnet den Brunnen. Nachdem er getrunken hat, deckt er ihn wieder zu, versiegelt ihn und entfernt sich.«
Schelomo sandte Benajahu, Sohn des Jehojada, und gab ihm eine Kette und einen Ring, auf denen der Gottesname eingraviert war, ein Bündel Wolle und einen Schlauch Wein. Damit ging Benajahu zu dem Brunnen Aschmodajs. Dort grub er eine Grube unter dem Brunnen, ließ das Wasser ablaufen und verstopfte die Öffnung mit Wolle. Er grub oberhalb des Brunnens und goß von dort den Wein in den Brunnen hinein, ohne Aschmodajs Siegel zu berühren. Dann kletterte er auf einen Baum und wartete. Bald kam Aschmodaj, untersuchte den Siegel und fand in dem Brunnen Wein. Da sagte er: »Es steht geschrieben: ›Ein Gauner ist der Wein, ein Lärmer ist der Rauschtrank, und keiner, der von ihm taumelt, ist ein Weiser‹ (Sprüche 20/1). Ich werde nicht trinken.« Als er aber sehr durstig wurde, konnte er sich nicht enthalten. Er trank, berauschte sich und legte sich schlafen. Benajahu kam vom Baum herab, legte Aschmodaj die Kette an und verschloß sie. Als Aschmodaj aufwachte und sich empörte, sagte ihm Benajahu: »Der Name des Herrn ist auf dir, der Name deines Herrn ist auf dir!« Sie traten den Weg nach Jeruscholajim an. Am Wege rieb sich Aschmodaj an jeder Palme, an die sie herankamen, und riß sie aus, stieß an jedes Haus und stürzte es ein. Als sie an die Hütte einer Witwe kamen, kam diese heraus und flehte ihn an. Da bog er seinen Körper zurück und brach sich einen Knochen. »Das ist, wie es geschrieben steht: ›Eine sanfte Zunge kann selbst Knochen brechen‹« (Sprüche 25/ 15), sagte er. Danach sah er einen Blinden, der vom Weg abirrte; da brachte er ihn auf den Weg. Hierauf sah er einen Betrunkenen, der vom Weg abirrte; da brachte er ihn auf den Weg. Als er ein Hochzeitsfest sah, an dem man sich belustigte, weinte er. Dann hörte er jemanden zu einem Schuster sagen: »Mache mir Schuhe auf sieben Jahre.« Da lachte Aschmodaj. Endlich
kamen sie an, jedoch wurde er drei Tage lang Schelomo nicht vorgeführt. Am ersten Tag fragte er, weshalb der König nicht nach ihm verlange, und man sagte ihm: »Der König ist vom Trinken müde.« Da nahm er einen Ziegelstein und legte ihn auf einen anderen. Als man dies Schelomo berichtete, sagte er: »Er sagt euch damit: gebt ihm mehr zu trinken.« Am folgenden Tag fragte er wiederum, weshalb der König nicht nach ihm verlange. Man erwiderte ihm: »Der König ist vom Essen müde.« Da nahm er den Ziegelstein vom anderen herunter und legte ihn auf die Erde. Als man dies Schelomo berichtete, sprach er: »Er sagte euch: entzieht ihm das Essen.« Nach dem Ablauf von drei Tagen führte man Aschmodaj vor den König. Aschmodaj nahm ein Rohr, maß vier Ellen ab, warf es weg und sprach zum König: »Merke, wenn du gestorben bist, hast du von dieser Welt nichts mehr als vier Ellen. Du hast nun die ganze Welt erobert, doch genügte es dir nicht, bis du auch mich bezwungen hast.« Schelomo erwiderte: »Ich verlange von dir nichts. Ich will den Tempel bauen und brauche den Schamir.« Jener sagte: »Mir ist er nicht gegeben, sondern dem Meereskönig. Dieser vertraut ihn keinem anderen als dem Auerhahn an, dessen Schwur er traut.« »Was macht der Auerhahn mit dem Schamir?« »Er bringt ihn auf einen unbewachsenen Felsen und legt ihn auf die Spitze, wodurch er den Felsen spaltet. Dann schüttet er Baumsamen hinein, und so wird der Felsen bewachsen.« Also gingen sie und suchten das Nest eines Auerhahnes, der Junge hatte, und bedeckten das Nest mit Glas. Als der Auerhahn kam und ins Nest gehen wollte, aber nicht konnte, holte er den Schamir und legte ihn auf das Glas. Die Leute schrien den Auerhahn an, der erschrak und ließ den Schamir fallen, und die Leute hoben ihn schnell auf. Der Auerhahn aber erdrosselte sich wegen seines Schwurs an Leviatan. Dann fragte Benajahu
den Aschmodaj: »Weshalb hast du den Blinden auf den Weg zurückgebracht?« »Über den Blinden rief man im Himmel aus: ›Dieser ist ein vollendeter, frommer Gerechter, und wer dem eine Gefälligkeit erweist, dem ist die zukünftige Welt beschieden‹.« »Weshalb hast du den Betrunkenen auf den Weg zurückgebracht?« »Über ihn rief man im Himmel aus: ›Dieser sei ein vollendeter Frevler; ich erwies ihm eine Gefälligkeit, damit ihm nichts für die zukünftige Welt bleibt‹.« »Weshalb hast du beim Hochzeitsfest geweint?« »Weil ich sah, daß der Bräutigam innerhalb von dreißig Tagen sterben wird, und die Frau wird dreizehn Jahre auf den minderjährigen Schwager warten müssen.« »Weshalb hast du gelacht, als du den Mann Schuhe für sieben Jahre bestellen hörtest?« »Ihm sind keine sieben Tage beschieden, und er bestellt sich Schuhe, die sieben Jahre halten sollen!«
IV Alle Steine des Tempels in Jeruscholajim stammen von den Bergen aus der Stadt und ihrer Umgebung. Nur ein einziger Stein wurde vom Ausland gebracht. Nicht von irgendeinem Platz hat man diesen Stein gebracht, nein, direkt vom heiligen Sinai-Berg hat man ihn gebracht und in die Westmauer des Tempels eingemauert. Deshalb wurde die Westmauer des Tempels nicht zerstört und steht bis heute. Das dank dem Stein von dem Heiligen Berg, auf dem die wahre Lehre verkündet wurde.
10. König Schelomo, der Weise unter den Menschen
I Dies ist die Geschichte von einem Mann, der mit einem Krug Milch durchs Feld ging. Er traf eine Schlange, die vor Durst schrie. Der Mann fragte sie: »Warum schreist du?« »Weil ich durstig bin. Und was trägst du?« »Milch.« »Gib mir die Milch zu trinken, und ich will dir einen großen Schatz zeigen, von dem du reich werden wirst.« Er gab ihr die Milch, und sie trank sie aus. Nachdem sie getrunken hatte, sagte er zu ihr: »Zeige mir nun den Schatz, von dem du mir erzählt hast!« »Komm mit mir.« Er ging der Schlange nach, bis sie zu einem großen Stein kamen. Sie sagte: »Unter diesem Stein ist der Schatz.« Der Mann hob den Stein auf, grub ein bißchen und fand den Schatz. Er hob ihn und brachte ihn in sein Haus. Was tat die Schlange? Sie sprang auf und wand sich um seinen Hals. Der Mann fragte: »Was ist denn das?« Sie sagte: »Ich will dich töten, weil du meinen Schatz genommen hast.« »Komm mit mir zum Gericht des Königs Schelomo!« Sie machten sich auf den Weg und kamen vor den König Schelomo, der Mann mit der Schlange um seinen Hals. Der Mann brachte seine Klage vor. »Was ist dein Begehren?« fragte Schelomo die Schlange. »Ich will den Mann töten. Steht es denn nicht geschrieben: ›Du wirst nach seiner Ferse schnappen?‹« (1. Moses 3/15). »Komm herab vom Hals des Mannes! Da ihr im Gericht seid, sollst du ihn nicht festhalten.« Die Schlange wand sich vom Hals des
Mannes herab. Schelomo sagte: »Bringe jetzt deine Sache vor.« »Ich will ihn töten, wie der Heilige, gelobt sei Er, gesagt hat: ›Du wirst nach seiner Ferse schnappen.‹« Schelomo wandte sich an den Mann: »Und dir hat der Heilige, gelobt sei Er, befohlen: ›Er wird dir den Kopf zertreten!‹« (1. Moses 3/15). Sofort sprang der Mann zu und zertrat ihr den Kopf.
II Wenn der König Schelomo ein Gleichnis verfaßte, mußte er die Einwilligung und die Unterschrift seiner Mutter haben, um es zu veröffentlichen. Eines Tages schrieb er das Gleichnis: »Unter tausend habe einen Mann ich gefunden, aber eine Frau unter all diesen fand ich nicht.« (Prediger 7/28). Seine Mutter widersetzte sich: »Dieses Gleichnis unterschreibe ich nicht! Wenn ich das täte, würde ich meine eigene Ehre verletzen!« Schelomo bestand nicht darauf und ging hinaus. Er grübelte nach, wie er die Bestätigung für das neue Gleichnis bekommen könnte. Da ging er hin und erfand die Uhr. Er versteckte sie und sagte zu seiner Mutter: »Ich reise für drei Monate ins Ausland.« Zwei oder drei Wochen später verkleidete er sich als Beduine, ging zum Palast und bat, den König Schelomo zu sprechen. Man sagte ihm: »Der König ist verreist.« »Und wer vertritt ihn?« »Seine Mutter.« »Führt mich zu ihr.« Man führte ihn zu ihr. »Was willst du vom König Schelomo?« fragte sie ihn. »Nur mit dem erhabenen König in Person will ich sprechen.« Da wurde Schelomos Mutter neugierig und sagte: »Was willst du denn von König Schelomo?«
»Hmm… das ist unsere Angelegenheit.« Sie drängte und drängte in ihn, bis er ihr die Uhr zeigte: »Das ist eine neue Erfindung. Diese Uhr zeigt an, wann die Sonne auf- und untergeht. Ich wollte sie nur dem König Schelomo selbst zeigen.« »Gib sie mir – ich gebe dir dafür, was immer du verlangst.« »Das ist ein sehr kostbarer Gegenstand, und kein Geld kann sein Gegenwert sein.« »Wie also läßt sich der Preis der Uhr benennen?« Er antwortete ihr: »Ich bin bereit, sie für denselben Preis zu verkaufen, den ich bezahlt habe.« Sie fragte: »Wieviel ist es?« »Ein Mann hat mit mir gelegen und Unzucht verübt und gab sie mir dafür. Nur für denselben Gegenwert bin ich bereit, sie herzugeben.« Schelomos Mutter zögerte nicht, dachte nicht zweimal nach, und war bereit, den geforderten Preis zu zahlen. Da warf Schelomo seine Verkleidung weg, zog das Gleichnis aus dem Busen hervor und sagte: »Siehe, ich bin dein Sohn! Unterschreibst du das Gleichnis?« Konnte sie denn da nein sagen? Sie unterschrieb, und so erschien dieses Gleichnis neben den anderen Gleichnissen Schelomos.
III Diese Geschichte ereignete sich zur Zeit, da Schelomo König über Israel war. Eines Tages kam Aschmodaj, der König der Dämonen, zu Schelomo und sagte zu ihm: »Bist du es, von dem es geschrieben steht: ›Und er war weiser denn alle Menschen.‹« (1. Könige 5/11). Schelomo antwortete: »So hat es der Heilige, gelobt sei Er, versprochen.« Aschmodaj sagte ihm: »Wenn du willst, zeige ich dir eine Sache, die du noch nie gesehen hast.«
»Zeige!« Sofort streckte Aschmodaj seine Hand aus in das Land Tevel und brachte von dort einen Mann mit zwei Köpfen und vier Augen. Schelomo war bestürzt und in Schrecken versetzt, und sagte: »Bring ihn in mein Gemach.« Er rief Benajahu, Sohn des Jehojada, und fragte ihn: »Würdest du sagen, daß es unter der Erde Menschen gibt?« »Bei deinem Leben, mein Herr und König, ich weiß es nicht. Aber ich hörte von Ahitofel, dem Ratgeber deines Vaters, daß es unter der Erde Menschen gibt.« Schelomo sagte: »Wenn ich dir einen von ihnen zeigte, was würdest du sagen?« »Wie kannst du ihn aus den Tiefen der Erde bringen, die fünfhundert Jahre Weges dick sind und zwischen unserer Erde und jener Erde sind es auch fünfhundert Jahre Weges?« Da befahl Schelomo den Fremden zu ihm zu bringen. Wie er ihn sah, fiel Benajahu auf sein Angesicht und sagte: »Gelobt seist Du unser Herr, Herr der Welt, der uns hat am Leben erhalten, daß wir erreicht haben und erlebt diese Zeit.« (Sachs 341). Schelomo fragte den Fremden: »Wessen Sohn bist du?« Er sagte: »Ich bin ein Menschensohn, von den Nachkommen Kains.« Er fragte ihn: »Wo wohnt ihr?« »Im Lande Tevel.« »Habt ihr da auch Sonne und Mond?« »Ja. Wir säen und ernten auch und halten Schafe und Rinder.« »Von wo scheint euch die Sonne?« »Die Sonne geht auf vom Westen und geht unter im Osten.« »Betet ihr auch?« »Ja.« »Und was ist euer Gebet?« »Wie zahlreich sind doch Deine Werke, Herr! Sie alle schufest Du in Weisheit.« (Psalm 104/24). »Wenn du willst, wollen wir dich an deinen Ort zurückbringen.«
»Tut mir den Gefallen und bringt mich zu meinem Ort zurück.« Sofort rief Schelomo den Aschmodaj und sagte ihm: »Geh und bring den Mann zurück an seinen Wohnort.« »Es steht nicht in meiner Macht, ihn zurückzubringen.« Als der Fremde sah, wie die Sache steht, nahm er eine Frau und zeugte mit ihr sieben Söhne, sechs sahen aus wie die Mutter und einer wie der Vater, da er zwei Köpfe hatte. Und der Mann pflügte und erntete und wurde einer von den Reichen dieser Welt. Als er starb, hinterließ er seinen Söhnen eine Erbschaft. Die sechs Söhne sagten: »Unser sind es sieben, die die Erbschaft unseres Vaters teilen.« Und der eine, der zwei Köpfe hatte, sagte: »Unser sind es acht, und ich will zwei Teile von der Erbschaft nehmen.« Alle gingen zu Schelomo und sagten zu ihm: »Unser Herr und König! Unser sind es sieben, und unser Bruder, der zwei Köpfe hat, sagt, daß wir acht seien, und will die Erbschaft unseres Vaters in acht Teile aufteilen. Er will zwei davon haben.« Schelomo hörte sich die Sache an und wußte nicht, was er tun solle. Sofort berief er den Gerichtshof ein und fragte: »Was sagt ihr dazu?« Sie sagten: »Sagen wir, es ist einer, was wird geschehen, wenn es doch zwei sind?« Schelomo sagte ihnen: »Ich will morgen mein Urteil fällen.« In der Nacht ging er zu dem Tempel, betete zu dem Heiligen und sagte: »Herr der Welt! Als Du Dich mir zeigtest in Gibeon und mir sagtest: ›Wünsche, was ich dir geben soll‹ (1. Könige 3/5), bat ich nicht um Silber und nicht um Gold, sondern um Weisheit, die Menschen in Gerechtigkeit zu richten.« Der Heilige, gelobt sei Er, antwortete ihm: »Ich will dir am Morgen die Erkenntnis geben.« Als es Morgen wurde, berief Schelomo den Gerichtshof ein und sagte ihnen: »Bringt mir den Mann mit den zwei Köpfen!« Sofort brachte man ihn vor den König, der ihnen sagte: »Seht zu: weiß der eine Kopf, was ich dem anderen Kopf antue, so sind sie eine Person; und wenn nicht,
so sind sie zwei Personen.« Schelomo befahl heißes Wasser, alten Wein und feine Kleider zu bringen. Man schüttete das heiße Wasser und den alten Wein auf einen der Köpfe, da riefen beide Köpfe: »Mein Herr und König! Wir sterben, wir sterben!« »Wir sterben, sagt ihr? So seid ihr eine Person und nicht zweie.« Als die Israeliten des Königs Rechtsspruch hörten, waren sie bestürzt, fürchteten sich und zitterten. Daher steht es geschrieben: »Und er war weiser als alle übrigen Menschen.« (1. Könige 5/11).
IV Zur Zeit als der Heilige, gelobt sei Er, das Königtum Schelomo, dem Sohn Davids, gab und ihn über alle Arten der Tiere und Wesen in der Welt, über Menschen und Vögel und über alles, was er erschaffen hatte, setzte, gab Er ihm auch einen großen Mantel aus grüner Seide, mit gutem Gold durchwirkt, und darauf alle möglichen Bilder. Der Mantel war sechzig Meilen lang und sechzig Meilen breit. Schelomo hatte auch vier Große in seinem Reich: Ein Großer von den Menschenkindern, der zweite von den Dämonen, der dritte von den Tieren und der vierte von den Vögeln. Schelomo ging nicht anders aus, als vom Winde getragen. Er aß am Morgen in Damaskus, und am Abend in Medien – ein Ort im Westen, der andere im Osten. Eines Tages nun wurde Schelomo sehr stolz und sagte: »Es gibt keinen in der Welt, der mir gleicht. Mir gab der Heilige, gelobt sei Er, Weisheit, Verständnis, Wissen und Bildung, und hat mich über alle, die Er erschaffen hat, gesetzt.« Zur selbigen Stunde schaukelte ihn der Wind und vierzigtausend seiner
Mannen fielen vom Mantel herunter. Als Schelomo das sah, schrie er den Wind an: »Wind, Wind, komm zurück!« Der Wind aber antwortete: »Kehre zurück zu deinem Gott, und sei nicht stolz, und ich werde zu dir zurückkommen!« Zur selben Stunde schämte sich Schelomo seiner selbst vor dem Wind. Ein anderes Mal schwebte Schelomo an einem Bach vorbei, und dort gab es Ameisen. Er hörte, wie eine schwarze Ameise zu den anderen sagte: »Geht in eure Häuser, damit die Soldaten des Königs Schelomo euch nicht töten.« Als Schelomo das hörte, wurde er sehr böse und sagte zum Wind: »Bringe mich zur Erde hinunter!« Der Wind brachte ihn hinunter, und Schelomo schickte nach den Ameisen: »Welche von euch sagte: ›Geht in eure Häuser, denn die Heerscharen Schelomos werden euch töten‹?« Dieselbe Ameise sagte: »Ich habe es gesagt.« »Warum hast du so gesprochen?« »Ich war besorgt, daß die Ameisen kommen werden, um deine Heerscharen zu sehen, und darüber werden sie aufhören, den Heiligen, gelobt sei Er, zu preisen. Dann wird Er zornig werden und uns vernichten.« »Warum warst du es unter allen Ameisen, die sprach?« »Ich bin ihre Königin.« »Ich will dir eine Frage stellen.« »Es gehört sich nicht, daß der Fragende oben sein soll und der Antwortende unten.« Da setzte er sie auf den Fuß seines Thrones. Sie sagte wieder: »Es gehört sich nicht, daß der Fragende auf einem Stuhl sitzt und der Antwortende auf dem Boden steht. Hebe mich auf deine Hand auf, und ich will dir Antwort geben.« Er nahm sie auf seine Hand. Jetzt war sie in der Höhe seines Gesichtes und sagte: »Stelle deine Frage!« Er fragte: »Gibt es in der Welt einen, der größer ist als ich?« »Jawohl.«
»Wer ist das?« »Ich.« »Wieso bist du größer als ich?« »Wäre ich nicht größer als du, hätte dich der Heilige, gelobt sei Er, zu mir geschickt, damit du mich auf deiner Hand tragen sollst?« Als Schelomo die Worte der Ameise hörte, erzürnte er sehr und warf die Ameise auf den Boden: »Du, Ameise, weißt du denn nicht, wer ich bin? Ich, Schelomo, der Sohn des David, Friede sei mit ihm!« »Merke es dir: sei nicht so stolz, denn du bist vom stinkenden Tropfen gekommen!« Zur selben Stunde fiel Schelomo auf sein Angesicht und schämte sich seiner selbst vor der Ameise.
11. Wie der Tempel Schelomos zerstört wurde
I Ehe die Feinde herankamen, rief Jirmijahu den Israeliten zu: »Tut Buße, auf daß ihr nicht in die Verdammung gehen müßt!« Sie erwiderten ihm: »Wenn die Feinde kommen sollten, was können sie uns tun?« Einer sagte: »Ich umgebe die Stadt mit einer Wassermauer.« Ein anderer sprach: »Ich ziehe eine Feuermauer um sie.« Ein dritter sprach: »Ich versehe sie mit einer eisernen Mauer.« Da sprach Gott zu ihnen: »Ihr wollt euch Meiner Mächte bedienen?« Der Heilige, gelobt sei Er, änderte die Aufgaben der Engel. Den, der über das Wasser zu gebieten hatte, setzte Er über das Feuer, und den, der über das Feuer zu gebieten hatte, setzte Er über das Eisen. Wie jene nun die Engel bei ihren Namen riefen, gaben sie ihnen keine Antwort. Als dann wegen der vielen Sünden die Feinde ins Land kamen, riefen jene einen gewissen Engel an: »Komm und tue mir das und jenes!« Der Engel aber antwortete: »Es steht nicht in meiner Macht, denn ich bin in ein anderes Amt versetzt worden.«
II Als der Tempel zum ersten Mal zerstört wurde, versammelten sich Scharen von priesterlichen Jünglingen und stiegen auf das Dach des Tempels, nahmen die Schlüssel mit und sprachen: »Herr der Welt, da es uns nicht beschieden ist, treue Schatzmeister zu sein, so mögen die Schlüssel dir anvertraut
werden!« Dann warfen sie die Schlüssel nach oben, und eine Art Hand erschien und fing sie auf. Darauf sprangen sie hinunter und stürzten sich ins Feuer.
III Es gibt einen Hügel in Jeruscholajim, und in der Mitte des Hügels ist eine Höhle. Man sagt, die zweite Öffnung der Höhle ist in Babylonien, das heißt, ihr anderes Ende ist in Babylonien, genau an dem Platz, wo der Prophet Jeheskel begraben liegt. Der Ausgang ist nicht in der Stadt Babel, sondern in Tschipul. Tschipul liegt 20 km südlich des zerstörten Babels. Das ist das Babel des Turmes, von damals, der gebaut, zerstört und umgeworfen wurde. Ihr wißt, das ist der Ort, an dem die Engländer Ausgrabungen machen, den sie umzäunt haben; sie suchen und finden das alte Babel, das aus der Bibel. Sie finden – alles ist dort genau so, wie es in der Bibel beschrieben ist. Und wißt ihr, wie weit das von hier ist? Nun, 1400 km! Aber das ist nur, wenn man den Straßen folgt. Durch die Höhle ist es ganz nah. Man geht in die Höhle hinein – und eins, zwei, drei ist man in Tschipul, in Babylonien. Das ist eine geheime Höhle, und zur Zeit Zidkijahus sind unsere Soldaten hier hineingegangen, dort herausgekommen – und wieder zurück hierhergekommen. Die letzten Kämpfer des Königs Zidkijahu, die geblieben waren, um Jeruscholajim zu verteidigen, flohen durch diese Höhle nach Babel. Die Priester des Tempels wollten auch fliehen und nahmen Goldgefäße aus dem Heiligtum mit sich. Aber da kamen die Feinde und versiegelten die Höhle, damit die Priester dort sterben sollten. So gehört es sich: Es ist verboten, Gegenstände aus dem Tempel ins Ausland zu bringen. Alles, aber auch alle Gefäße, sind dort. Nichts ist verlorengegangen, und alles ist bis
zum heutigen Tag erhalten geblieben. Die Höhle hat viele Tore. Die meisten hat der Feind zugemauert. Heute ist die Höhle nur ungefähr 800 Meter tief, das ist alles. Aber jene Helden, die bis zum letzten Augenblick in Jeruscholajim kämpften, sind doch gerettet worden. Sie fanden einen Weg unter den Trümmerhaufen und sind heil in Babel angekommen.
IV Weil Nebukadnezar Jeruscholajim zerstört hatte, wanderte seine Seele sieben Mal von einem Tier ins andere, bis er sich zuletzt in ein Tier verwandelte, das siebenmal die Farbe wechselt (das Chamäleon).
12. Für wen scheint die Sonne und fällt der Regen?
I Alexander sprach zu den Weisen: »Ich möchte nach Afrika gehen.« Sie erwiderten ihm: »Du kannst nicht hinkommen, denn es ist durch finstere Berge abgeschnitten.« Er entgegnete: »Es geht nicht anders, als daß ich hingehe, und deshalb frage ich euch, was zu tun ist.« Da sagten sie ihm: »Laß libysche Esel holen, die auch im Finstern den Weg finden, und auch Knäule von Stricken. Diese binde hier fest und wickle sie ab, während du den Weg gehst, bis du den Bestimmungsort erreicht hast.« Nachdem er das getan hatte und ausgezogen war, erreichte er eine Gegend, die nur von Weibern bewohnt war. Als er mit ihnen Krieg führen wollte, sagten sie ihm: »Tötest du uns, so wird man sagen, dieser König habe nur Weiber getötet. Und töten wir dich, so wird man sagen, du seist ein König, den die Weiber getötet haben.« Dann sagte er ihnen: »Holt mir Brot.« Sie brachten ihm goldene Brote auf einem goldenen Tisch. Er fragte sie: »Essen denn Menschen Brot aus Gold?« Sie erwiderten ihm: »Bist du denn hergekommen, um gewöhnliches Brot zu essen? Wolltest du Brot essen, hättest du daheim bleiben können.« Als er fortzog, schrieb er auf das Tor der Stadt: »Ich, Alexander von Mazedonien, war ein Tor, bis ich zu dem Weiberstaat in Afrika kam und Belehrung von Weibern annahm.«
II Einer stand da und hielt ein Brot in der Hand. Da gesellte sich ein zweiter zu ihm, und auch dieser hatte ein Brot in der Hand. Der erste Mann betrachtete das Brot des zweiten. Da sagte der Zweite: »Warum schaust du so zu mir hin? Du selbst hast doch auch ein Brot?«
III Alexander von Mazedonien kam einmal zu dem König Kazja, hinter den Bergen der Finsternis, und schickte zu ihm, er möchte zu ihm kommen: »Ich bin gekommen«, sagte Alexander, »um eure Rechtsprechung kennen zu lernen.« Eines Tages wohnte er einer Sitzung bei. Zwei Männer kamen, von denen einer gegen den anderen Klage führte. Einer sagte: »Ich habe von diesem Mann ein Feld gekauft und fand einen Schatz darin. Dieser ist nicht mein, denn ich habe nur das Feld gekauft, nicht aber, was darin verborgen ist.« Der Andere dagegen erwiderte: »Mit dem Feld zugleich habe ich alles, was es enthält, verkauft.« Da fragte der Richter den einen: »Hast du einen Sohn?« »Ja.« Und den andern fragte er: »Hast du eine Tochter?« »Ja.« – »Wohlan, so soll dieser Sohn die Tochter jenes Mannes heiraten, und der Schatz soll den Zweien gehören!« Der König sah, daß Alexander über das Urteil betroffen war. »Habe ich nicht recht entschieden?« – »Oh, gewiß!« erwiderte Alexander. »Wenn der Fall bei euch vorgekommen wäre, wie würdet ihr entschieden haben?« »Wir würden beide hinrichten lassen und den Schatz für den König beanspruchen.«
»Scheint bei euch auch die Sonne?« »Ja.« »Regnet es bei euch auch?« »Ja.« »Gibt es bei euch auch Kleinvieh?« »Ja.« »Verwünscht sei der Mann!« sprach der König. »So scheint die Sonne über euch nicht euretwegen und es regnet nicht euretwegen, sondern nur wegen des Kleinviehs!«
13. Israel und Antiochus
I Mirjam, die Tochter des Bäckers Baithus, war mit ihren sieben Söhnen gefangengenommen worden und Antiochus, der Kaiser, hatte sie in sieben Zellen eingesperrt. Als er den ältesten Sohn vor sich führen ließ, sagte er zu ihm: »Bücke dich vor dem Götzenbild!« »Bewahre!« antwortete der Sohn. »Ich bücke mich nicht vor dem Götzenbild.« »Warum nicht?« »Weil in unserem Gesetz geschrieben steht: ›Ich bin der Herr, dein Gott‹ (2. Moses 20/2).« Er wurde sofort abgeführt und hingerichtet. Danach wurde der zweite vorgeführt, und der Kaiser sprach zu ihm: »Bücke dich vor dem Götzenbild!« »Bewahre!« antwortete der zweite, »mein Bruder hat sich nicht gebückt, so bücke ich mich auch nicht.« »Warum nicht?« »Weil im Gesetz geschrieben steht: ›Du sollst keine anderen Götter neben mir haben‹ (2. Moses 20/3).« Sofort wurde er auf des Kaisers Befehl hingerichtet. Man brachte den dritten und der Kaiser sprach zu ihm: »Bücke dich vor dem Götzenbild!« »Bewahre! Ich bücke mich nicht!« »Warum nicht?« »Weil es im Gesetz heißt: ›Denn du sollst keinen fremden Gott anbeten‹ (2. Moses 34/14).« Er wurde ebenfalls hingerichtet.
Nun wurde der vierte vorgeführt, und dieser zitierte den Vers: »Wer anderen Göttern opfert außer dem Herrn allein, der sei im Bann.« (2. Moses 22/19). Auch er wurde hingerichtet. Man brachte den fünften herein, und der berief sich auf den Vers: »Höre, Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr allein.« (5. Moses 6/4). Auf kaiserlichen Befehl wurde auch dieser hingerichtet. Als der sechste die Götzen nicht anbeten wollte und sich auf den Vers berief: »Denn der Herr, dein Gott, ist ein eifersüchtiger Gott in deiner Mitte; sonst würde der Zorn des Herrn, deines Gottes, über dir entbrennen.« (5. Moses 6/15), wurde er ebenfalls dem Henker übergeben. Dann kam die Reihe an den jüngsten Sohn. »Mein Sohn«, redete ihn der Kaiser an, »bücke dich vor dem Götzenbild!« »Bewahre!« entgegnete dieser. »Warum nicht?« »So heißt es in unserem Gesetz: ›So erkenne denn heute und beherzige, daß nur der Herr Gott ist im Himmel droben und unten auf Erden, sonst aber niemand‹ (5. Moses 4/39).« »Deine Brüder«, sagte der Kaiser, »waren schon satt an Tagen und satt des Lebens und hatten Gutes gesehen; du aber bist jung und noch nicht satt an Tagen und satt des Lebens, und hast noch nichts Gutes in der Welt gesehen. Wirf dich nieder vor dem Götzenbild, und ich tue dir wohl! Siehe, deine Brüder liegen erschlagen vor dir, ich will meinen Ring vor das Bild zur Erde werfen, hebe ihn auf, damit alle meinen, du hast mir Folge geleistet.« »Wehe dir, Kaiser!« sprach der Jüngling. »Du fürchtest dich vor Menschen deinesgleichen, und ich soll mich nicht fürchten vor dem König aller Könige, dem allerheiligsten, dem ewigen Gott?« Hierauf verurteilte der Kaiser auch diesen zum Tode. »Bei dem Leben meines Hauptes beschwöre ich dich, Kaiser!« rief die Mutter, »laß mich erst noch meinen Sohn umarmen und
küssen.« Man gab ihn ihr. Sie reichte ihm ihre Brüste und säugte ihn und sprach zum Kaiser: »Beim Leben deines Hauptes bitte ich dich, bringe mich erst um und dann töte ihn.« »Ich folge dir nicht«, entgegnete der Kaiser, »denn in eurem Gesetz heißt es: ›Ein Rind oder Schaf dürft ihr nicht am gleichen Tag zusammen mit seinem Jungen schlachten‹ (3. Moses 22/28).« »Du Wahnwitziger der Welt! Hast du denn schon alle Vorschriften gehalten, so daß du nur noch diese zu erfüllen hast?« Er gab sofort den Befehl, den Jüngling zu töten. Seine Mutter aber fiel auf ihn, herzte und küßte ihn und sprach: »Geh, mein Sohn, zu Avraham, deinem Vater, und sage ihm, so sprach meine Mutter: ›Überhebe dich nicht zu sprechen, ich habe einen Altar gebaut und meinen Sohn Jizhaq darauf dargebracht. Unsere Mutter hat sieben Altäre gebaut und sieben Söhne an einem Tage darauf dargebracht. Bei dir ist es bei einer Versuchung geblieben, bei mir ist es zur Tat geworden.‹« Als sie noch ihren Sohn küßte und umhalste, erging der Befehl, ihn auf der Mutter hinzurichten. Nach einigen Tagen fiel jene Frau in Wahnsinn, sie stürzte sich vom Dach und starb.
II Die Mutter und ihre sieben Söhne liegen unter einer der engen Gassen in der Altstadt von Jeruscholajim begraben. Und jeder, der durch diese Gasse geht, ermüdet sehr schnell.
III Als die seleukischen Griechen sahen, daß Israel ihre Verfolgungen nichts ausmachen, riefen sie eine schwere und bittere Verordnung aus: Keine Braut soll ihr Brautgemach betreten, bevor sie die Brautnacht mit dem griechischen Ortsvorsteher verbrachte. Als die Israeliten das hörten, verzagten sie und hörten auf, Bräute heimzuführen. Die Töchter Israels blieben Jungfrauen und alterten unverheiratet. Die Griechen verfolgten die Jungfrauen Israels in dieser Weise drei Jahre und acht Monate lang, bis sich der Fall mit der Tochter Matitjahus, des Hohenpriesters, zutrug. Die Tochter des Matitjahu heiratete einen Sohn der Hasmonäer, Eleasar mit Namen. Als der Tag der Hochzeit kam, setzte man sie in eine Sänfte, und wie die Zeit des Mahles kam, sammelten sich alle Großen Israels zur Ehre Matitjahus und der Hasmonäer, da es in jenem Geschlecht keine Größeren gab als diese. Und als sie sich zum Mahle niedersetzten, stieg die Tochter Matitjahus aus der Sänfte, klatschte in die Hände, zerriß ihre Kleider und stand vor ganz Israel, vor ihrem Vater, ihren Brüdern und ihrem Schwiegervater nackend. Wie ihre Brüder das sahen, schämten sie sich und sprangen auf, um sie zu töten. Da sagte sie zu ihnen: »Hört, meine Brüder und Onkel! Ihr eifert, weil ich vor Gerechten nackend stehe, ohne Fehl und Sünde. Und ihr eifert nicht, wenn ihr mich einem Unbeschnittenen überliefert, damit er mich mißhandelt! Lernt von Schimon und Levi, Brüdern der Dina, die nur zwei waren und für ihre Schwester eiferten und die Bewohner einer Stadt wie Schehem töteten. Sie vertrauten auf Gott, der sie nicht verließ und ihnen half. Und ihr seid fünf Brüder, Jehuda, Johanan, Jonatan, Schimon und Eleasar, und mehr als zweihundert Priesterjünger! Vertraut auf Gott, und Er wird euch helfen!« Und sie brach in Tränen aus und sagte: »Herr der
Welt! Wenn Du kein Erbarmen mit uns hast, tue es um Deines großen Namens willen und räche uns!« Da ereiferten sich ihre Brüder und sagten: »Laßt uns beraten, was wir tun sollen.« Sie berieten und sagten: »Laßt uns unsere Schwester nehmen, sie zum großen König führen und ihm sagen: ›Unsere Schwester ist die Tochter des Hohenpriesters. Es gibt keinen größeren als unseren Vater in ganz Israel.‹ Darum soll unsere Schwester nicht mit dem Ortskommandanten schlafen, sondern nur mit dem König, der bedeutend ist, wie wir es sind. So werden wir an ihn herankommen, ihn töten, und danach fangen wir mit seinen Großen und Sklaven an. Gott wird mit uns sein.« Der Heilige, gelobt sei Er, half ihnen und errettete Israel. Eine Himmelsstimme vom Heiligtum verkündete: »Israel hat gesiegt!«
IV Danach kamen die Brüder der Hasmonäer in den Tempel, und erbauten die Tore wieder auf und errichteten die Wände, und putzten und reinigten die Hallen von den Toten und von der Unreinlichkeit. Sie suchten Öl, reines Olivenöl, den Leuchter anzuzünden. Sie fanden bloß ein kleines Töpfchen, das mit dem Ring des Hohenpriesters versiegelt war, und so wußten sie, daß dieses Öl auch wirklich rein war. Im Töpfchen war Öl, das nur für einen Tag reichte. Aber Gott im Himmel segnete das Töpfchen Öl, und jeden Tag, nachdem sie den Leuchter geputzt hatten, fanden sie es wieder voll. So konnten sie acht Tage lang den Leuchter brennen. Zur Erinnerung an dieses Wunder, und an die Rettung Israels, nahmen die Juden es auf sich und auf ihre Nachkommen, jedes Jahr die acht Tage der Einweihung des Tempels zu feiern.
14. Die Taten Hillels, des Alten
I Der Arme, der Reiche und der Wüstling kommen vors himmlische Gericht. Wenn man den Armen fragt, weshalb er sich nicht mit der Lehre befaßt habe, und er erwidert, er sei arm und durch Sorgen, wie er seine Familie erhalten soll, in Anspruch genommen gewesen, so entgegnet man ihm: »Warst du etwa ärmer als Hillel?« Man erzählt von Hillel, dem Alten, daß er täglich durch Arbeit einen Groschen verdiente. Von dem gab er die Hälfte dem Torhüter des Lehrhauses, und die andere Hälfte verwendete er für den Unterhalt seiner Familie. Eines Tages fand er keinen Verdienst, und der Torhüter des Lehrhauses ließ ihn nicht hinein. Da kletterte Hillel hinauf und setzte sich auf das Dachfenster, um die Worte des lebendigen Gottes aus dem Mund von Schemaja und Avtalion zu hören. Man erzählt, es sei gerade der Freitag des Monats Tevet an der Jahreswende gewesen, und der Schnee fiel vom Himmel und bedeckte ihn. Als die Morgenröte anbrach, sagte Schemaja zu Avtalion: »Bruder Avtalion, an jedem andern Tag ist das Zimmer hell und heute ist es dunkel. Ist der Tag denn so sehr wolkig?« Sie schauten hinauf und bemerkten die Gestalt eines Menschen im Fenster. Sie stiegen hinauf und fanden Hillel drei Ellen hoch mit Schnee bedeckt. Sie holten ihn herunter, wuschen und salbten ihn, und setzten ihn ans Feuer. Sie sagten: »Er verdient es, daß man seinetwegen den Schabbat entweihe.« Wenn man den Reichen fragt, weshalb er sich nicht mit der Lehre befaßt habe, und er erwidert, er sei reich gewesen und daher durch
seine Geschäfte in Anspruch genommen, so entgegnet man ihm: »Warst du etwa reicher als Rabbi Eleasar?« Man erzählt von Rabbi Eleasar, Sohn des Harsom, daß ihm sein Vater tausend Städte auf dem Festland und dementsprechend tausend Schiffe auf dem Meer hinterließ. Jeden Tag nahm er einen Sack mit Mehl auf die Schulter und wanderte von Stadt zu Stadt und von Provinz zu Provinz, um die Lehre zu studieren. Eines Tages trafen ihn seine Knechte und zwangen ihn zur Fronarbeit. Er sagte ihnen: »Ich bitte euch, laßt mich, ich will gehen, um die Lehre zu studieren.« Diese erwiderten ihm: »Beim Leben des Rabbi Eleasar, Sohn des Harsom, wir lassen dich nicht.« Sie sahen ihn nämlich nie im Leben, da er tags und nachts saß und sich mit der Lehre befaßte. Wenn man den Wüstling fragt, weshalb er sich nicht mit der Lehre befaßt habe, und er erwidert: »Ich war schön, und darum hat mich der böse Trieb abgelenkt«, antwortet man ihm: »Warst du etwa schöner als der fromme Joseph?« Man erzählt vom frommen Joseph, daß die Frau Potiphars tagtäglich ihn durch Worte zu verführen suchte. Gewänder, die sie seinetwegen morgens anzog, legte sie abends nicht an; Gewänder, die sie seinetwegen abends anzog, legte sie morgens nicht an. Sie sprach zu ihm: »Sei mir zu Willen!« Er aber erwiderte ihr: »Nein!« Sie sprach zu ihm: »Ich sperre dich ins Gefängnis!« Er erwiderte: »Der Herr befreit die Gefangenen.« (Psalm 146/7). »Ich werde dich beugen!« »Der Herr richtet die Gebeugten auf.« (Psalm 146/8). »Ich blende deine Augen!« »Der Herr öffnet die Augen der Blinden.« (Psalm 146/8). Dann gab sie ihm tausend Silbertalente, damit er ihr zu Willen sei, mit ihr zu schlafen, mit ihr zusammen zu sein – er aber wollte ihr nicht gehorchen. Er wollte mit ihr auf dieser Welt
nicht schlafen, um nicht mit ihr auf jener Welt zusammen zu sein. Hillel beschuldigt also die Armen, Rabbi Eleasar die Reichen und Joseph die Wüstlinge.
II Es ereignete sich, daß ein Fremdling vor Schamaj trat und zu ihm sprach: »Nimm mich in das Judentum auf mit der Bedingung, daß du mich die ganze Lehre lehrst, während ich auf einem Fuß stehe.« Schamaj stieß ihn mit der Elle des Baumeisters, die er in der Hand hatte, weg. Darauf ging der Fremdling zu Hillel. Dieser nahm ihn auf und sagte zu ihm: »Was dir nicht lieb ist, das man dir tut, das tue auch deinem Nächsten nicht an; das ist die ganze Lehre. Alles andere ist nur Erläuterung; geh und lerne sie!«
15. Der große Aufstand
I Als König Schelomo die Tochter des Pharao heiratete, brachte sie ihm tausend Arten von Musikinstrumenten mit und sagte zu ihm: »So macht man es für diesen Götzen und so macht man es für jenen Götzen.« Er aber wehrte es ihr nicht. Da stieg Gavriel herab und steckte ein Rohr ins Meer. Dieses brachte eine Sandbank hervor, auf der die große Stadt Rom erbaut wurde. An dem Tag, da Jarav’am die beiden goldenen Kälber einführte, das eine in Bet-El und das andere in Dan, wurde eine Hütte erbaut – das ist das griechische Italien.
II Wegen eines Hahnes und einer Henne wurde der Königsberg zerstört. Es war Brauch, beim Hinausfahren eines Brautpaars einen Hahn und eine Henne vor ihnen herzutragen. Dieses bedeutete: Seid fruchtbar und vermehret euch wie die Hühner. Eines Tages zog an ihnen eine Schar Römer vorüber und nahm ihnen die Hühner weg. Die Juden fielen über sie her und schlugen sie. Diese liefen zum Kaiser und berichteten ihm, daß die Juden sich gegen ihn empört haben. Darauf zog der Kaiser gegen die Juden.
III Nero wurde gegen die Juden gesandt. Als dieser angekommen war, schoß er einen Pfeil gegen Osten, und er fiel auf Jeruscholajim; einen gegen Westen und er fiel auf Jeruscholajim; nach allen vier Himmelsrichtungen schoß er, und der Pfeil fiel auf Jeruscholajim. Dann fragte er ein Kind: »Welchen Vers hast du heute in der Schule gelernt?« Es erwiderte: »Ich lege meine Rache an Edom in die Hand meines Volkes Israel.« (Ezechiel 25/14). Nero sagte sich: »Der Heilige, gelobt sei Er, will Sein Haus zerstören und Seine Hände an mir abwischen.« Da entfloh er und ließ sich bekehren. Hierauf entsandten sie gegen die Juden den Kaiser Vespasian, und dieser belagerte Jeruscholajim drei Jahre lang. In der Stadt aber waren drei reiche Leute. Einer von ihnen erbot sich, die Stadt mit Weizen und Gerste zu versorgen; einer erbot sich, sie mit Wein und Öl zu versorgen; und einer erbot sich, sie mit Holz zu versorgen. Sie hatten so viel, um sie einundzwanzig Jahre lang zu versorgen. Unter ihnen waren auch Kämpfer, und als die Schriftgelehrten rieten, zu den Römern hinauszugehen und Frieden zu schließen, ließen die Kämpfer es nicht zu. Sie sagten: »Wir wollen hinausgehen und Krieg mit ihnen führen.« Die Schriftgelehrten erwiderten: »Es wird euch nicht gelingen.« Da machten sich die Krieger auf und verbrannten die Speicher von Weizen und Gerste, so daß eine Hungersnot entstand. Martha, Tochter des Boethos, die reichste in Jeruscholajim, sandte ihren Diener und sprach zu ihm: »Geh, hole mir feines Mehl.« Während er ging, wurde es ausverkauft. Er kam zurück und sagte: »Feines Mehl ist nicht mehr da; weißes ist noch da.« »Geh und hole mir dieses.« Während er ging, wurde es ausverkauft. Er kam zurück und sagte ihr: »Roggenmehl ist nicht mehr da, Gerstenmehl ist noch da.«
»Geh und hol mir dieses.« Während er ging, wurde dieses ausverkauft. Sie hatte gerade ihre Schuhe angezogen, dennoch sagte sie: »Ich will gehen und sehen, ob ich was zum Essen finden kann.« Da setzte sich ein Stück Kot an ihren Fuß und sie starb.
IV Während Vespasian Jeruscholajim belagerte, kam zu ihm ein Abgesandter aus Rom und sprach: »Auf, der Kaiser ist gestorben, und die Vornehmen Roms stimmten ab, dich zum Kaiser zu wählen.« Vespasian hatte gerade einen Schuh angezogen und wollte auch den anderen anziehen, aber der Fuß ging nicht hinein. Dann wollte er den ersten Schuh abziehen, aber dieser ging nicht vom Fuß herunter. Jemand sagte zu ihm: »Sei unbesorgt. Du hast eine gute Nachricht erhalten, und es steht geschrieben: ›Gute Kunde labt den Leib‹ (Sprüche 15/30).« »Was soll ich machen?« »Laß einen Menschen, den du nicht leiden kannst, an dir vorbeigehen, denn es steht geschrieben: ›Den Leib dörrt aus ein kummervoll Gemüt‹ (Sprüche 17/22).« Vespasian tat wie geheißen, und der Fuß ging in den Schuh hinein. Hierauf ging Vespasian fort und schickte den ruchlosen Titus. Der ruchlose Titus war es, der gegen den Höchsten schmähte und lästerte. Was tat er? Er nahm eine Hure bei der Hand, ging mit ihr in das Allerheiligste, breitete eine Bibelrolle aus und beging auf dieser eine Sünde. Danach nahm er ein Schwert und durchstach den Vorhang vom Allerheiligsten. Da geschah ein Wunder, und Blut drang hervor, so daß er glaubte, er hätte sich getötet. Was tat er weiter? Er nahm den Vorhang, machte daraus eine Art Sack, holte alle Geräte des Tempels, legte sie hinein und
brachte sie auf das Schiff, um damit in seiner Stadt zu triumphieren. Als dann eine Meereswoge sich erhob, um ihn zu versenken, sagte er: »Es scheint wohl, daß die Kraft ihres Gottes nur auf das Wasser beschränkt ist. Als Pharao kam, versenkte er ihn ins Wasser; als Sisra kam, versenkte er ihn ins Wasser, und auch gegen mich tritt er auf, um mich im Wasser zu versenken. Wenn er ein Held ist, so mag er aufs Festland kommen und mit mir Krieg führen.« Da ertönte eine Stimme und sprach zu ihm: »Du Ruchloser, Sohn eines Ruchlosen, Enkelsohn des ruchlosen Esaw! Ich habe ein winziges Geschöpf auf meiner Welt, Mücke ist sein Name… Steige aufs Festland, und sie wird mit dir einen Kampf aufnehmen.« Als er auf dem Festland angelangt war, kam eine Mücke, drang ihm in die Nase und bohrte ihm sieben Jahre lang im Gehirn. Eines Tages ging er an der Tür einer Schmiede vorbei, und als die Mücke den Schlag des Hammers hörte, blieb sie ruhig. Er sagte: »Jetzt habe ich ein Mittel.« Darauf ließ er jeden Tag einen Schmied kommen und vor ihm hämmern. Einem Fremdling gab er vier Groschen; einem Juden aber sagte er: »Es genüge dir, daß du die Rache an deinem Feind siehst.« So ging es dreißig Tage lang, doch von da an gewöhnte sich die Mücke an das Klopfen und fing wieder an zu bohren. Als Titus starb, öffnete man sein Gehirn und fand die Mücke darin, so groß wie eine Schwalbe, zwei Gewichte schwer. Es ist überliefert, daß ihr Schnabel aus Kupfer und ihre Krallen aus Eisen waren. Als Titus starb, verfügte er, daß man ihn verbrenne und die Asche auf die sieben Meere streue, damit der Gott der Juden ihn nicht finde und zur Rechenschaft ziehe.
V Vor zweitausend Jahren drangen die Römer in den heiligen Tempel in Jeruscholajim ein und versuchten, ihn zu zerstören. Die erste Mauer rissen sie bis auf den Boden nieder. Von der zweiten Mauer zertrümmerten sie mehr als die Hälfte, die dritte Mauer zerstörten sie bis zur halben Höhe. Als sie sich an die vierte Mauer heranmachten, versammelten sich die wenigen Juden, die nach dem großen Gemetzel noch übrig waren und beteten: »Elijahu der Prophet, du Retter Israels! König Schelomo, du weisester aller Menschen, der diesen Tempel aufgebaut hat nach Gottes Gebot, damit er ihm ein Wohnsitz sei! Warum laßt ihr zu, daß Titus, der Missetäter, Sein Haus zerstört! Helft, oh helft!« Die römischen Heerscharen setzten ihren Weg fort, und die Juden stehen zu beiden Seiten des Weges, um zu sehen, was nun geschehen wird. Als die Soldaten das Allerheiligste betraten, um es zu zerstören, verschwand der ganze Platz und versank in der Erde, und den Soldaten gelang es nicht, ihn zu zerstören. Seither steht nur die Westmauer, und durch Gottes Willen steht sie bis heute, damit künftige Geschlechter wissen sollen, welches Wunder vor zweitausend Jahren geschah.
16. Rabbi Aqiva und Rachel
I Rabbi Aqiva war Hirt des Ben-Kalba-Savua, und als dessen Tochter Rachel sah, wie keusch und redlich Rabbi Aqiva war, sprach sie zu ihm: »Willst du ins Lehrhaus gehen, wenn ich dich heirate?« Er erwiderte ihr: »Jawohl!« Da ließ sie sich ihm heimlich antrauen. Als ihr Vater davon erfuhr, jagte er sie aus seinem Hause und gelobte, ihr an seinem Vermögen keinen Anteil zukommen zu lassen.
II Sie ging mit Rabbi Aqiva fort. Sie schliefen im Winter im Stroh und er las sich das Stroh aus den Haaren. Einst sprach er zu ihr: »Wenn ich es nur könnte, würde ich dir ein goldenes Jeruscholajim schenken.« Einmal erschien Elijahu wie ein gewöhnlicher Mensch in der Tür und sagte: »Gebt mir ein wenig Stroh, denn meine Frau hat ein Kind geboren und ich habe nichts, worauf sie zu legen.« Da sagte Rabbi Aqiva zu seiner Frau: »Siehe, da gibt es einen Mann, der nicht einmal Stroh hat!«
III Was war der Anfang Rabbi Aqivas? Man sagte, daß er schon vierzig Jahre alt war und noch nichts gelernt hatte. Einmal stand er am Rande eines Brunnens und fragte: »Wer hat diesen Stein ausgemeißelt?« Man sagte ihm: »Ist es nicht das Wasser, das Tag für Tag auf den Stein rinnt?« Sofort wendete er das Beispiel auf sich an: Wenn das schwache Wasser den festen Stein gemeißelt hat, so werden die Worte der Lehre, die hart wie Eisen sind, mein Herz, das nur aus Fleisch und Blut besteht, meißeln. Er ging – und widmete sich dem Studium der Lehre.
IV Er ging fort und weilte zwölf Jahre im Lehrhaus, und als er zurückkam, brachte er zwölftausend Schüler mit. Da hörte er, wie ein Greis zu seiner Frau sagte: »Wie lange noch willst du lebendige Witwenschaft führen?« Sie aber erwiderte ihm: »Wenn er auf mich hören würde, könnte er da noch zwölf Jahre bleiben.« Hierauf sprach er: »Es geschieht also mit ihrer Einwilligung.« Da kehrte er zurück und verweilte wiederum zwölf Jahre im Lehrhaus.
V Rabbi Aqiva kehrte zurück und brachte vierundzwanzigtausend Schüler mit. Als seine Frau dies erfuhr und ihm entgegenging, sprachen die Nachbarinnen: »Borge doch Gewänder und ziehe dich an!« Diese aber erwiderte ihnen: »Der Gerechte weiß, was not tut seinem Vieh.« (Sprüche 12/10). Als sie zu ihm trat, fiel
sie aufs Angesicht und küßte seine Füße. Da stießen seine Schüler sie fort – er aber sprach zu ihnen: »Laßt von ihr, was meines und eures – ihres ist es.«
VI Als Rachels Vater hörte, daß ein bedeutender Mann in die Stadt gekommen war, sprach er: »Ich will zu ihm gehen, vielleicht löst er mein Gelübde auf.« Ben-Kalba-Savua kam zu ihm, und Rabbi Aqiva fragte ihn: »Würdest du gelobt haben, wenn der Mann deiner Tochter ein bedeutender Mann wäre?« Dieser erwiderte: »Nicht einmal, wenn er auch nur einen Abschnitt oder ein Gesetz gelernt hätte.« Da sagte Rabbi Aqiva: »Ich bin es.« Ben-Kalba-Savua fiel auf sein Angesicht, küßte ihm die Füße und gab ihm die Hälfte seines Vermögens.
VII Einmal ging Rabbi Aqiva des Weges, bis er in eine Stadt kam. Er bat um Herberge, und man schlug sie ihm ab. Da sprach er: »Alles, was der Barmherzige tut, tut er zum Guten.« Er ging und übernachtete auf dem Feld. Er hatte einen Hahn bei sich, einen Esel und eine Kerze. Der Wind kam und löschte die Kerze aus; eine Katze kam und fraß den Hahn; ein Löwe kam und fraß den Esel. Darauf sprach Rabbi Aqiva wieder: »Alles, was der Barmherzige tut, tut Er zum Guten.« Es geschah, daß in derselben Nacht ein Heer einbrach und die Leute der Stadt gefangennahm. Da sprach er zu ihnen: »Habe ich euch nicht gesagt, daß alles, was der Heilige, gelobt sei Er, tut, zum Guten ist?«
VIII Einst entblößte jemand einer Frau das Haupt auf der Straße. Sie kam vor Rabbi Aqiva, und dieser verurteilte den Täter zu vierhundert Groschen. Der Mann bat: »Rabbi, gewähre mir eine Frist.« Dann beobachtete der Beschuldigte diese Frau von der Tür des Hofes aus und zerbrach dort einen Krug mit Öl. Die Frau entblößte ihr Haupt, nahm das Öl mit der Hand auf und bestrich sich das Haar. Der Mann ließ dies durch Zeugen feststellen, trat vor Rabbi Aqiva und sagte: »An diese soll ich vierhundert Groschen zahlen?« Er erwiderte ihm: »Deine Worte sind belanglos. Wenn jemand sich selbst eine Verletzung beibringt, so ist er, obgleich er dies nicht darf, frei. Wenn aber andere ihm eine Verletzung beibringen, so sind diese schuldig. Wenn jemand seine eigenen Setzlinge abhaut, so ist er, obgleich er es nicht darf, frei. Wenn aber andere dies tun, so sind sie schuldig.«
IX Rabban Gamliel, Rabbi Elieser, Sohn des Asarja, Rabbi Jehoschua und Rabbi Aqiva gingen nach Rom und hörten das dortige Lustgetümmel schon in Puzzooli, hundertzwanzig Meilen vor Rom. Sie fingen zu weinen an, Rabbi Aqiva aber lachte. »Wir weinen«, sagten sie zu ihm, »und du lachst?« »Warum weint ihr?« »Sollen wir denn nicht weinen, wenn diese Völker, welche Götzen anbeten, sich der Ruhe und Behaglichkeit erfreuen, und das Haus, der Fußschemel unseres Gottes, ein Raub der
Flammen, der Aufenthaltsort wilder Tiere geworden ist. Sollten wir da nicht weinen?« »Eben darum lache ich«, sagte Rabbi Aqiva, »denn wenn es denen, welche Gott erzürnen, schon so ergeht, wie erst wird es denen, die seinen Willen tun, ergehen?« Ein andermal gingen sie hinauf nach Jeruscholajim. Da sie nach Zophim kamen, zerrissen sie ihre Kleider; am Tempelberg angekommen, sahen sie einen Fuchs aus dem Allerheiligsten laufen. Sie fingen zu weinen an. Rabbi Aqiva aber lachte. »Du setzt uns immer in Verwunderung«, sagten sie zu ihm, »wir weinen und du lachst?« »Warum weint ihr?« »Sollen wir nicht weinen, wenn aus einer Stätte, von der geschrieben steht: ›Ein Nichtlevit aber, der herantritt, muß sterben‹ (4. Moses 1/51), ein Fuchs kommt, und so der Vers an ihm bestätigt ist: ›Um den Zionsberg, der verwüstet ist, auf dem Schakale sich tummeln‹ (Klagelied 5/18).« »Eben darum lache ich«, sprach er zu ihnen, »denn siehe, es steht doch geschrieben: ›Auch bestelle mir zwei zuverlässige Zeugen, Urija, den Priester, und Seharja, den Sohn des Jeverejahu‹ (Isaias 8/2).« »Wie kann das sein, Urija lebte doch zur Zeit des ersten Tempels und Seharja zur Zeit des zweiten Tempels?« »Urija hat gesagt: ›Also spricht der Herr der Heere: Als Acker wird der Zion gepflügt, zum Trümmerhaufen wird Jeruscholajim, zur Waldeshöhe der Tempelberg!‹ (Jeremias 26/ 18)«, und Seharja hat gesagt: »So spricht der Herr der Heerscharen: › Wieder sitzen Greise und Greisinnen auf den Plätzen Jeruscholajims, alle mit dem Stab in der Hand wegen des hohen Alters. Die Plätze der Stadt sind wieder voll von Knaben und Mädchen, die auf ihren Plätzen spielen‹ (Sacharja 8/4-5).« Rabbi Aqiva sprach: »Diese zwei Zeugen habe ich.
Wenn die Worte Urijas sich bestätigen, so werden auch die des Seharja eintreffen.« »Du hast uns mit diesen Worten getröstet, Aqiva.«
X Einst hatte die ruchlose römische Regierung einen Befehl erlassen, demzufolge die Israeliten sich mit der Lehre nicht befassen sollen. Pappos, Sohn des Juda, traf Rabbi Aqiva, wie er öffentlich Versammlungen abhielt und sich mit der Lehre befaßte. Er sagte zu ihm: »Aqiva, fürchtest du dich denn nicht vor der ruchlosen Regierung?« Dieser erwiderte: »Ich will dir ein Gleichnis erzählen: Womit ist diese Sache zu vergleichen? Mit einem Fuchs, der an einem Fluß einherging und sah, wie Fische sich von Ort zu Ort versammelten. Er sprach zu ihnen: ›Wovor flüchtet ihr?‹ – ›Vor den Netzen, welche die Menschen nach uns auswerfen.‹ Da sagte der Fuchs zu den Fischen: ›So möge es euch besser gefallen, daß ihr aufs Land kommt, und wir, ich und ihr, beisammen wohnen, wie einst meine Vorfahren mit euren Vorfahren beisammen gewohnt haben.‹ Die Fische antworteten: ›Du bist der, den man für den Klügsten unter den Tieren hält! Du bist nicht klug, sondern dumm; wenn wir uns schon an der Stätte unseres Lebens fürchten, um wieviel mehr an der Stätte des Todes?‹ So auch wir; wenn es schon jetzt so ist, wo wir sitzen und uns mit der Lehre befassen, von der es heißt: ›Denn das ist dein Leben und die lange Dauer deiner Tage‹ (5. Moses 30/20), um wieviel mehr erst, wenn wir sie vernachlässigen!« Man erzählt: Es vergingen nur wenige Tage, und man nahm Rabbi Aqiva fest und sperrte ihn ins Gefängnis. Ebenso nahm man Pappos, Sohn des Juda, fest und sperrte ihn mit jenem ein.
Da sagte er zu ihm: »Pappos, was brachte dich hierher?« Dieser erwiderte: »Heil dir, Rabbi Aqiva, daß du wegen Worten der Lehre festgenommen wurdest; wehe dem Pappos, der wegen eitler Dinge festgenommen wurde.«
XI Die Stunde, in der man Rabbi Aqiva zur Hinrichtung führte, war gerade die Zeit des Gebetes. Man riß an seinem Fleisch mit eisernen Kämmen, er aber nahm das Joch der himmlischen Herrschaft auf sich. Seine Schüler sprachen zu ihm: »Unser Rabbi, wie weit willst du die Folter auf dich nehmen?« Er erwiderte: »Mein ganzes Leben grämte ich mich über das Gebot: ›Mit deiner ganzen Seele‹ [der Vers existiert nicht]; sogar wenn Er deine Seele nimmt. Ich dachte: ›Wann bietet sich mir die Gelegenheit, dieses Gebot zu erfüllen?‹ Und jetzt, wo sie sich mir darbietet, soll ich es nicht erfüllen?« Darauf ertönte eine Stimme vom Himmel: »Heil dir, Rabbi Aqiva, du bist für das Leben der zukünftigen Welt bestimmt.«
XII Als Rabbi Aqiva eingesperrt war, war auch sein Schüler und Jünger Rabbi Jehoschua Ha-Garsi bei ihm. Am Rüsttage des Versöhnungstages verabschiedete sich Rabbi Jehoschua von Rabbi Aqiva und ging nach Hause. Elijahu, Friede sei mit ihm, kam und stellte sich am Tor seines Hauses auf: »Friede sei mit dir, Rabbi«, sagte er. »Friede sei mit dir, mein Lehrer und Herr«, antwortete Rabbi Jehoschua. »Brauchst du etwas?«
»Wer bist du?« »Ich bin ein Priester und ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß Rabbi Aqiva im Gefängnis gestorben ist.« Sofort gingen die beiden zum Gefängnis und fanden die Tore offen, den Hüter schlafend und alle Gefangenen ruhend. Sie legten Rabbi Aqiva auf eine Bahre und gingen hinaus. Elijahu griff sofort nach der Bahre; als Rabbi Jehoschua das sah, sagte er: »Rabbi, gestern sagtest du doch, daß du ein Priester bist, und ein Priester soll sich nicht unrein machen durch die Berührung mit einem Toten!« »Es soll dir genügen, Rabbi Jehoschua, zu wissen, daß in den Gelehrten und in den Jüngern der Gelehrten keine Unreinheit ist.« Sie trugen ihn die ganze Nacht, bis sie zu Antipatros von Kozrin kamen. Als sie dort ankamen, stiegen sie drei Abhänge hinauf und stiegen drei Abhänge hinunter, und eine Höhle öffnete sich vor ihnen. Dort sahen sie einen Stuhl, eine Bank, einen Tisch und eine Lampe, legten Rabbi Aqiva auf eine Bahre und verließen die Höhle. Als sie draußen waren, schloß sich die Höhle, und die Kerze brannte in der Lampe. Als Elijahu das sah, sprach er: »Glücklich sind die Gerechten, glücklich sind die, die der Lehre folgen und glücklich sind die Gottesfürchtigen, denn für diese ist ein Platz im Paradies, das kommen wird, vorbereitet und aufgehoben. Glücklich bist du, Rabbi Aqiva, daß du einen Ort in der Stunde deines Todes fandest.«
17. Der Fall der Stadt Beitar
I Zum Lobe sei Rabbi Jehuda, Sohn des Baba, erwähnt, denn ohne ihn würden die Gesetze von den Bußgeldern in Israel vergessen sein. Einst verhängte nämlich die ruchlose Regierung Roms Religionsverfolgungen über Israel. Jeder, der die Berechtigung zum Lehramt verleiht, soll hingerichtet werden; jeder, der zum Lehramt berechtigt wird, soll hingerichtet werden; jede Stadt, in der zum Lehramt berechtigt wird, soll zerstört werden und die Schabbatgrenze, in welcher zum Lehramt berechtigt wird, soll abgeschafft werden. Was aber tat Rabbi Jehuda, Sohn des Baba? Er ging hin und ließ sich zwischen zwei großen Bergen, zwischen zwei großen Städten, zwischen zwei Schabbatgrenzen, zwischen Uscha und Schefaram nieder. Dort berechtigte er fünf Älteste zum Lehramt. Als Feinde sie bemerkten, sprach er zu den Fünfen: »Meine Söhne, lauft weg!« Diese jedoch entgegneten: »Und was wird mit dir sein?« – »Ich bleibe hier liegen, wie ein unnützer Stein.« Man erzählt sich: Die Römer seien nicht eher gewichen, als bis sie dem Jehuda, Sohn des Baba, dreihundert Lanzenstiche versetzt und ihn wie zu einem Sieb gemacht hatten.
II Die Tochter des Königs wurde ermordet aufgefunden, und man behauptete, die Juden hätten sie ermordet. Die Feinde Israels legten dem Volke schwere Plagen auf. Da erhoben sich die Brüder Pappos und Julianos und erlösten Israel. Sie sagten: »Wir waren es, die die Tochter des Königs ermordeten.« So tötete der König nur diese beiden.
III Man erzählt: Als Trajan den Julianos und dessen Bruder Pappos in Laudicea töten wollte, sagte er zu ihnen: »Wenn ihr dem Volk angehört, dem Hananja, Mischael und Asarja angehörten, so möge euer Gott kommen und euch aus meiner Hand retten, wie er Hananja, Mischael und Asarja aus der Hand Nebukadnezars rettete.« Diese erwiderten ihm: »Hananja, Mischael und Asarja waren vollkommene Fromme, sie waren eines Wunders würdig. Auch Nebukadnezar war ein guter König und verdiente es, daß durch ihn ein Wunder geschehe. Du aber bist eines Wunders unwürdig. Und wenn wir uns vor Gott zum Tod verschuldet haben, und du uns nicht tötest, so hat Er in seiner Welt genug Henker, viele Bären und Löwen, die uns überfallen und töten können. Der Heilige, gelobt sei Er, hat uns nur deshalb deiner Hand ausgeliefert, um unser Blut von dir fordern zu können.« So ließ er sie sofort töten. Man erzählt, daß, als sie kaum tot waren, zwei Gesandte aus Rom kamen und ihr Gehirn mit Stöcken zerschlugen.
IV Als Rabbi Aqiva den Bar Koseba zu sehen bekam, sprach er: »Dieser ist der König Messias!« »Aqiva, du Gottesgelehrter!« sagte Rabbi Johanan zu ihm, »dir wird noch Gras auf deinen Backen wachsen, und der Messias wird noch nicht gekommen sein!«
V Wegen einer Wagendeichsel ist Beitar gefallen. Es war Brauch, bei der Geburt eines Knaben eine Zeder und bei der Geburt eines Mädchens eine Akazie zu pflanzen. Wenn ein Paar heiratete, fällte man die Bäume und verwendete sie zum Trauungsbaldachin. Eines Tages fuhr die Tochter des Kaisers vorüber, und die Deichsel ihres Wagens brach. Als ihre Diener eine solche Zeder fällten und als Deichsel verwendeten, fielen die Juden über sie her und schlugen sie. Hierauf gingen die Diener zum Kaiser und sagten ihm: »Die Juden haben sich gegen dich empört.« Da zog der Kaiser gegen die Juden.
VI Drei und ein halbes Jahr belagerte Kaiser Hadrian die Stadt Beitar. Rabbi Eleasar von Modiin saß in der Stadt, in einen Sack gehüllt, fastete alle Tage und betete: »Herr der Welt! Verurteile uns heute nicht, und laß die Stadt nicht fallen.« Endlich entschloss sich Hadrian, den Rückzug anzutreten. Da kam ein Kutäer und sagte ihm: »Mein Herr! Solange diese Henne sich in der Asche wälzt, kannst du die Stadt nicht
bezwingen. Aber warte nur, ich werde es zustande bringen, daß du die Stadt an dem und dem Tage erobern kannst.« Gleich ging er zum Stadttor und fand Rabbi Eleasar stehend beten. Da tat der Kutäer, als flüsterte er dem Eleasar von Modiin etwas ins Ohr. Man ging und meldete Ben-Koseba: »Dein geachteter Rabbi Eleasar will zwischen der Stadt und Hadrian Frieden schließen.« Ben-Koseba schickte nach dem Kutäer und fragte ihn: »Was hast du ihm gesagt?« »Wenn ich es dir sage, bringt der Kaiser mich um, und wenn ich es dir nicht sage, bringst du den Rabbi Eleasar um. Darum ist es besser, daß ich mich selber töte, als daß die Geheimnisse des Kaisers bekannt werden.« Ben-Koseba nahm an, daß ein Friedensschluß gemeint sein müsse. Als Rabbi Eleasar sein Gebet beendet hatte, ließ Ben-Koseba ihn kommen und fragte ihn: »Was hat dir dieser Kutäer gesagt?« »Ich weiß nicht, was er mir ins Ohr geflüstert hat, ich habe nichts davon gehört, denn ich war mitten im Gebet.« Darüber geriet Ben-Koseba in Zorn, gab ihm einen Tritt, so daß er dadurch auf der Stelle getötet wurde. Und so haben es die Sünden verschuldet, daß Beitar erobert, Ben-Koseba erschlagen und sein Kopf zu Hadrian gebracht wurde. Dieser fragte: »Wer hat ihn ums Leben gebracht?« Da sagte einer: »Ich habe ihn erschlagen.« »Geh und hole mir ihn.« Er ging und fand eine Schlange um Ben-Kosebas Hals gewunden. Der Kaiser sprach: »Wenn nicht ein Gott diesen Mann getötet hätte, wer hätte ihm sonst beikommen können?«
18. Nahum »Isch Gam-su«
I Man erzählt von Nahum »Isch Gam-su« (Mann Auch-dies), daß ihm beide Augen erblindet, beide Hände und beide Füße abgehauen, und sein ganzer Körper voll von Geschwüren war. Er lag in einem baufälligen Haus, und die Füße des Bettes standen im Wasserbecken, damit keine Milben auf ihn kommen. Einst wollten seine Schüler sein Bett und nachher die Hausgeräte hinaustragen. Er sagte zu ihnen: »Kinder, holt vorher die Geräte heraus und nachher mein Bett. Seid dessen sicher, daß, solange ich mich im Haus befinde, es nicht einstürzen wird.« Da holten sie die Geräte heraus und nachher sein Bett, worauf das Haus sofort einstürzte. Seine Schüler wunderten sich und fragten ihn: »Unser Rabbi, weshalb bist du in diese Lage geraten, wo du doch so ein vollkommener Frommer bist?« »Kinder, ich selbst habe mir dies heraufbeschworen. Einst befand ich mich auf der Reise zu meinem Schwiegervater und hatte mit mir drei geladene Esel, einen mit Speisen, einen mit Getränken und einen mit verschiedenen Köstlichkeiten. Da kam ein Armer und stellte sich mir in den Weg, indem er mir sagte: ›Rabbi, ernähre mich!‹ Darauf sagte ich zu ihm: ›Warte, bis ich etwas vom Esel ablade.‹ Ich war mit dem Abladen vom Esel nicht fertig, als er seine Seele aushauchte. Da fiel ich auf sein Gesicht und sprach: ›Meine Augen, die sich deiner Augen nicht erbarmt haben, mögen blind werden; meine Hände, die sich deiner Hände nicht erbarmt haben, mögen abgehauen werden; meine Füße, die sich deiner Füße nicht erbarmt haben,
mögen abgehauen werden!‹ Dies alles beruhigte mich nicht, als bis ich noch ausrief: ›Mein ganzer Körper möge voller Geschwüre werden!‹« Seine Schüler sprachen zu ihm: »Wehe uns, daß wir dich in solchem Zustand sehen!« Dieser aber erwiderte: »Wehe wäre mir, wenn ihr mich nicht in solchem Zustand gesehen haben würdet.«
II Weshalb nannte man Nahum »Isch Gam-su« (Mann Auchdies)? Weil er über alles, was ihm passierte, zu sagen pflegte: »Auch dies sei zum Guten.« Einst wollten die Israeliten dem Kaiser von Rom ein Geschenk überreichen. Nachdem sie überlegten, wer es hinbringen soll, beschlossen sie, es durch Nahum Isch Gam-su zu senden, weil ihm oft Wundertaten geschahen. Sie sandten durch ihn eine Kiste voller Edelsteine und Perlen. Als er auf der Reise in einer Herberge übernachtete, stahlen die Wirtsleute den Inhalt der Kiste und füllten sie mit Erde. Als er am folgenden Tag dies bemerkte, sagte er: »Auch dies sei zum Guten.« Beim Kaiser angekommen, machte dieser die Kiste auf und sah den Inhalt. Sofort wollte er Nahum und sein Gefolge töten: »Diese Juden verspotten mich!« Da kam Elijahu, der ihnen wie einer der ihrigen vorkam, und sagte: »Vielleicht ist dies von der Erde ihres Vater Avraham, die zu Schwertern wird, wenn man sie gegen seine Feinde wirft, und das Stroh wird zu Pfeilen?« Sie stellten einen Versuch an, bei einer Provinz, die sie nicht erobern konnten, und in der Tat eroberten sie diese mit jener Erde. Da führte man ihn in die Schatzkammer, füllte seine
Kiste mit Edelsteinen und Perlen und entließ ihn mit vielen Ehren. Auf der Rückreise übernachtete er wieder in derselben Herberge. Man fragte ihm: »Was brachtest du denn hin, daß man dir soviel Ehre erwiesen hat?« Er sagte: »Was ich von hier mitnahm.« Da rissen die Leute ihr Haus ein und brachten die Erde zum Kaiser, und sagten: »Die Erde, die man dir brachte, ist von der unsrigen.« Man untersuchte diese Erde, und sie bewährte sich nicht. Da wurden die Wirtsleute hingerichtet.
19. Die Tränen
Rabbi Rihumi, der bei Raba in Mahoza verkehrte, pflegte an jedem Rüsttag des Versöhnungstages nach Hause in seine Stadt zu gehen. Einmal aber vertiefte er sich in die Lehre. Seine Frau wartete auf ihn und hoffte: Gleich wird er kommen! Gleich wird er kommen! – Aber er kam nicht. Da befiel sie eine Schwäche und Tränen flossen ihr aus den Augen. Er saß gerade in einem Söller; in derselben Minute brach dieser unter ihm zusammen und er starb.
20. Das Regengebet
I Dies wurde von Rabbi Elieser erzählt: Da es einmal lange Zeit nicht geregnet hatte, verordnete er nacheinander dreizehn öffentliche Fasttage, und noch immer war kein Regen gefallen. Zuletzt fingen die Leute an, das Bethaus zu verlassen. Da sprach der Rabbi zu ihnen: »Habt ihr euch denn schon Gräber gegraben?« Das ganze Volk brach in Tränen aus, und sofort fiel Regen.
II Einst bedurfte man des Regens. Da schickten die Rabbis einige von ihnen zu Abba-Hilqija, auf daß er um Regen flehe. Sie gingen zu ihm nach Hause, trafen ihn aber nicht an. Dann gingen sie aufs Feld und trafen ihn dort grabend. Sie grüßten ihn, aber er wandte sein Gesicht ihnen nicht zu. Als er abends Holz trug, legte er Holz und Schaufel auf eine Schulter und das Gewand auf die andere. Auf dem ganzen Weg zog er die Schuhe nicht an, als er aber zu einem Gewässer kam, zog er sie an; als er durch Dornen und Disteln ging, hob er seine Kleider hoch. Als er in der Stadt anlangte, kam ihm seine Frau geputzt entgegen. Als sie an ihr Haus kamen, trat die Frau zuerst ein, dann er und zuletzt die Rabbis. Darauf setzte er sich und speiste, lud aber die Rabbis nicht ein, mit ihm zu speisen. Als er an die Kinder die Speisen verteilte, gab er dem älteren eine Portion und dem jüngeren zwei.
Dann sagte er zu seiner Frau: »Ich weiß, daß die Rabbis wegen des Regens gekommen sind. Wir wollen auf das Dach steigen und um Erbarmen flehen. Vielleicht ist der Heilige, gelobt sei Er, gnädig, und wenn Regen fällt, wollen wir uns dies nicht zugute schreiben.« Sie stiegen auf das Dach, er stellte sich in den einen Winkel zum Gebet und die Frau in einen anderen. Darauf kamen Wolken, zuerst von der Richtung, in der die Frau stand. Als er herunterkam, fragte er sie: »Wozu sind die Rabbis hergekommen?« Sie erwiderten: »Wir wurden zu ihm, dem Rabbi, geschickt, auf daß er um Regen flehe.« Dieser erwiderte: »Gelobt sei der Ewige, daß ihr Abba Hilqija nicht mehr braucht.« Darauf sagten sie zu ihm: »Wir wissen es, daß der Regen aufgrund des Gebets des Rabbi gefallen ist. Erkläre uns aber dein Verhalten: Weshalb wandte uns der Rabbi das Gesicht nicht zu, als wir ihm begrüßten?« – »Ich bin Tagelöhner und durfte die Arbeit nicht unterbrechen.« »Weshalb trug der Rabbi das Holz auf der einen Schulter und das Gewand auf der anderen?« »Das war ein geborgtes Gewand, welches mir nur zum Anziehen geborgt wurde, nicht aber zu etwas anderem.« »Weshalb zog der Rabbi auf dem ganzen Weg die Schuhe nicht an, wohl aber als er zum Gewässer kam?« »Was sich auf dem Weg befindet, sehe ich, was sich im Wasser befindet, sehe ich nicht.« »Weshalb hob der Rabbi die Kleider hoch, als er an Dornen und Disteln herankam?« »Der Körper heilt, die Kleider heilen nicht.« »Weshalb kam dem Rabbi seine Frau geputzt entgegen, als er in die Stadt hineinkam?« »Damit ich mein Auge nicht auf eine andere Frau richte.« »Weshalb trat die Frau zuerst in das Haus ein, dann erst der Rabbi und zuletzt wir?«
»Weil ich euch nicht kannte.« »Weshalb lud uns der Rabbi nicht ein, an seinem Mahle teilzunehmen?« »Weil die Mahlzeit nicht gereicht haben würde, und ich wollte umsonst keinen Dank haben.« »Weshalb gab der Rabbi dem älteren Knaben eine Portion und dem jüngeren zwei?« »Der eine weilt zuhause, der andere im Lehrhaus.« »Weshalb stiegen die Wolken zuerst von der Richtung auf, in welcher deine Frau stand, und erst nachher auch von der Seite des Rabbi?« »Weil die Frau stets zuhause ist und den Armen fertiges Brot gibt, was sie gleich essen können, während ich Geld gebe, was sie nicht unmittelbar in Essen umwandeln können.«
21. Der Weg in die Diaspora
I Als Sanherib das Königtum Israel vernichtete und das Königtum Jehuda überfiel, führte er die Juden in die Gefangenschaft. Nicht nur Juden versetzte er von einem Land ins andere, sondern mischte alle Völker durcheinander. Er war es auch, der die Juden nach Europa schickte, und auch nach Jemen. Seit damals gibt es Juden im Jemen und nicht seit der Zeit des Königs Schelomo, wie diejenigen sagen, die es nicht genau wissen. Das war zur Zeit des Königs Hiskijahu und des Propheten Jeschajahu.
II Als Esra die weit verstreuten Juden aufforderte, ins Heilige Land zurückzukehren und den Tempel wiederaufzubauen, wollten die Juden aus Jemen nicht zurückkehren. Sie wußten, daß der zweite Tempel auch zerstört werden wird, und warum sollten sie sich da die Mühe machen und kommen? Da wäre es schon besser, wenn sie abwarteten, bis die vollkommene Erlösung kommt, und »Gott euch auf Adlersflügeln tragen« (2. Moses 19/4), und uns zu Ihm bringen wird, wie der Heilige, gelobt sei Er, uns in der Bibel versprochen hat durch Mosche, den Getreuen seines Hauses.
III Als die Juden aus Persien ins Land Israel zurückkamen, wurde der zweite Tempel gebaut. Wiederum, nach der Zerstörung des zweiten Tempels, gingen mindestens sechs Familien in die Hauptstadt Susa zurück: Jeder Vater hatte zwölf bis dreizehn Söhne. Diese vermehrten sich und zogen in alle Städte Persiens.
IV Die Stadt Gilead liegt nicht weit von Teheran. Heutzutage nennt man sie Giliard, und wenn man einen Juden mit dem Namen Giliardi antrifft, so stammt seine Familie aus dieser Stadt, auch wenn er das selbst nicht mehr weiß. Die Juden kamen in diese Stadt zur Zeit der assyrischen Verbannung. Die Assyrer dachten, daß das ein ganz entlegener und schlechter Ort wäre, aber sie irrten: Das ist ein Ort reich an Wasser und allen guten Dingen. Als Esra die Juden aufrief, ins Heilige Lande zurückzukehren, weigerten sich die Juden der Stadt Giliard in Persien. Sie fühlten sich in ihrer Stadt wohl. Da verfluchte sie Esra, daß sie nicht einmal mehr die zehn Männer, die zum öffentlichen Gottesdienst nötig sind, zusammenbringen werden können, und sie wiederum verfluchten ihn, auf daß er sein Ziel nicht erreichen möge. Beide Flüche gingen in Erfüllung.
V Früher gab es keine Juden in Buchara. Einmal brach dort, unter den Uzbeken, eine Seuche aus. Was man auch tat – nichts half.
Am Ende sagte jemand: »Bringt zehn jüdische Männer her. Diese sollen beten, und die Seuche wird aufhören.« Da gingen die Uzbeken nach Persien, um Juden zu suchen. Sie fanden zehn Männer und baten die Leute, sich in ihrem Land niederzulassen. Sie erwiesen ihnen große Ehre und gaben ihnen von allem Guten. Die Juden, die mit ihnen gingen, bauten Häuser und siedelten sich an. Und da seither die zehn Juden das öffentliche Gebet regelmäßig verrichteten, hat die Seuche aufgehört.
22. Der dumme Neid
Da war einmal ein König, der einen Wesir hatte. Dieser hatte die Pilgerfahrt nach Mekka gemacht. Eines Tages sagte der Wesir zum König: »Mein Herr und König, weißt du eigentlich, daß die Juden einmal einen Staat gehabt haben, in dem ein König regierte, und sie waren stolz darauf, Söhne edler Leute zu sein, Söhne Avrahams, den Gott gerne hatte. Aber heute haben sie gar nichts. Warum sind sie noch immer stolz?« »Warum eigentlich?« sagte der König. »Das möchte ich sehr gerne wissen.« Er rief den Oberrabbi der Juden zu sich und fragte ihn: »Ist es wahr, daß die Juden einst einen großen Staat hatten?« »Es ist wahr, mein Herr und König.« »Und warum habt ihr jetzt gar nichts mehr?« »Wegen des dummen Neides, mein Herr und König.« Der König war mit dieser Antwort nicht zufrieden und warf den Rabbi ins Gefängnis. Am selben Abend ging der König spazieren und baden am Meeresstrand. Während er im Meere schwamm, kam eine große Welle und trug ihn weit weg, bis sie ihn an einer unbekannten Küste herauswarf. Der König stieg aus dem Wasser, nackt wie er geboren wurde, und schämte sich sehr, so ohne Kleider herumzugehen. Es war kalt und es fror ihn sehr. So schlief er ein, da er sehr müde war. Es geschah, daß ein armer Jude gerade mit seinem Esel vorbeiging, und als er den nackten Mann dort sah, der fast am Sterben war, hatte er Mitleid mit ihm. Er nahm den nackten Mann mit sich nach Hause, wusch ihn und zog ihn an und legte ihn schlafen.
Als der König erwachte, sah er sich in einem fremden und armen Hause. Er fragte den Juden: »Wo bin ich?« »Du bist Gast in meinem Hause. Ich brachte dich hierher, als ich dich am Meeresstrande fand, nackt und erfroren.« Der König blieb einige Tage bei dem Juden, bis er sich wieder gesund fühlte, und dann bat er: »Du hast mir so viel Gutes getan, tue mir bitte noch eine Gefälligkeit. Kennst du die Stadt So-und-So?« »Ja.« »So bringe mich, bitte, dorthin.« Aber der König sagte ihm kein Wort, wer er sei und daß jene Stadt in seinem Land war. »Gut, gehen wir.« Beide setzten sich auf den Esel und ritten zu der Stadt des Königs. Inzwischen suchte man den König, und die Leute der Stadt zweifelten schon, ob sie ihn wiederfinden würden. Sie dachten, daß er verschwunden und gestorben sei. Die ganze Stadt trauerte um den König. Als die beiden zum Stadttor kamen, sagte der Jude: »Ich habe Angst, weiterzugehen. Die Araber werden mich mit Steinen bewerfen. Also, bitte, geh alleine weiter.« Der König redete ihm zu: »Hab keine Angst! Ich will dich beschützen.« Sie gingen etwas weiter, und wieder bat der Jude zurückkehren zu dürfen: »Geh nur alleine weiter, bitte.« »Nein, nein, komm mit mir.« Als sie schon ganz nahe am Königsschloß waren, weigerte sich der Jude weiterzugehen: »Willst du, daß man mich umbringt?« »Wenn du bei mir bist, wird dir niemand was zuleide tun. Komm!« Da kamen sie schon zum Tor des Palastes, und der Jude fing an zu schreien: »Wohin führst du mich? Der König wird mich köpfen!« Aber der König lachte nur. Zu dieser Stunde kamen aus dem Hof Leute heraus, die den König erkannten: »Da ist ja unser König, gelobt sei Gott!« riefen sie freudig. So groß war die Freude, wie man sie gar nicht beschreiben kann. Der Jude sah, daß seinem Armen solche
Ehre erwiesen wird, und fing zu schreien an: »Was ist das? Wer bist du? Sag mir die Wahrheit!« Aber der König lachte bloß. Er ging in den Palast und wollte den Juden auch hineinführen. »Nein, ich gehe nicht hinein. Weder ich noch mein Esel!« weigerte sich der Jude. Da ordnete der König an, daß man den Juden hineinführen, ihn waschen und salben und ihm Königskleider anziehen solle. Und alle seine Wesire und Großen wundern sich: Wozu solche Ehre einem Juden? Der König versprach, die Sache bald zu klären. Man brachte den Juden, schön angezogen in Königskleidern, vor den König und die Wesire. Der König bat den Juden vor allen Leuten des Hofes: »Bleibe hier bei mir. Ich will dir geben ›bis zur Hälfte des Königsreiches‹ (Buch Ester 5/6), da du mein Leben gerettet hast.« Aber der Jude antwortete sofort: »Nein, nein, mein Herr und König! Ich will von dir etwas anderes. Dort, am Markt, wo mein Gemüseladen steht, ist auch ein anderer jüdischer Gemüsehändler. Dieser Jude verursachte mir großen Schaden. Gib mir bitte einen Zettel für den Dorfältesten in meinem Dorf, damit jener andere kein Gemüse verkaufen darf.« Der König wunderte sich: »Ist dieser da verrückt? Ich gebe ihm die Hälfte des Königsreiches und er spricht von einem Gemüseladen am Markt?« Aber der Jude bestand auf seinem Wunsch: »Ich will nur den Zettel gegen jenen Juden, meinen Konkurrenten!« Da erinnerte sich der König an den Rabbi, den er ins Gefängnis warf, und sagte sich: »Jetzt habe ich gelernt, was dummer Neid ist. Kein Zweifel besteht mehr, daß der Rabbi recht hatte.« Er ordnete an, den Rabbi aus dem Gefängnis zu entlassen, schenkte ihm viel Geld und bat um Verzeihung, daß er ihn hatte einsperren lassen: »Jetzt verstehe ich. Wäre es nicht wegen des dummen Neides gewesen, würde euer altes Königtum bis zum heutigen Tage bestehen.«
23. Nicht schläft und nicht schlummert der Hüter Israels
Als unser Lehrer Mosche zu dem Vers: »Nein, nicht schläft und nicht schlummert der Hüter Israels« (Psalm 121/4), kam, fragte er den Heiligen, gelobt sei Er: »Herr der Welt, sag mir bitte, warum Du nicht schläfst?« Der Heilige, gelobt sei Er, antwortete ihm: »Was hältst du da in deiner Hand, Mosche?« – »Einen Topf mit Suppe, den ich von Zipporah, meiner Frau, mitbringe«, antwortete Mosche. In diesem Augenblick senkte der Heilige, gelobt sei Er, auf Mosche einen Schlummer; der Topf fiel aus Mosches Hand und die Suppe ergoß sich auf den Boden. Als Mosche erwachte, fragte ihn der Heilige, gelobt sei Er: »Was ist geschehen, Mosche?« »Ach, ich bin doch nur einen Augenblick eingeschlafen – und da ist die Suppe vergossen.« Da sprach der Heilige, gelobt sei Er, zu ihm: »Und wie willst du, Mosche, von mir erwarten, daß ich schlafe – wie soll dann die Welt regiert werden?« Mosche bekannte: »Du hast recht, Herr der Welt, und Dein Tun ist gerecht.«
24. Gottes Geschenk
Vor hunderten von Jahren lebte einmal ein grausamer König, der das jüdische Volk zu peinigen pflegte und immer nach Gründen suchte, um die Juden quälen zu können. Eines Tages ließ der König den obersten Rabbi der Juden kommen. Als dieser kam, sagte er zu ihm: »Ich wünsche, daß ihr mir den Weg ins Paradies zeigt. Ich lasse dir vierzig Tage zum Nachdenken und Vorbereiten. Danach werde ich mit meinem Heer mit dir zusammen ins Paradies ziehen. Wenn nicht, werde ich alle Juden hinrichten.« Ganz erschrocken kehrte der Rabbi heim. Seine Frau fragte ihn: »Was ist dir denn zugestoßen?« Er erzählte ihr: »So-undso sagte mir der König, und die schwere Sorge liegt auf mir.« Seine Frau sagte: »Beruhige dich, ich habe eine Idee.« Sie schlug ihm vor, er und alle anderen Rabbis sollen eine Verlosung machen. Wer das Los zieht, der soll den König mit seinem Heer ins Paradies führen. Der Rabbi befolgte den Ratschlag. Am nächsten Morgen ging er in das Bethaus und erzählte den anderen Rabbis, was der König gefordert hatte. Sie warfen das Los – und es fiel auf einen anderen Rabbi. Einige Tage vor Ablauf der vierzig Tage teilte der Rabbi dem König mit, daß er zur Reise bereit sei, und der König mit seinem Heer möge sich fertigmachen. Der König bereitete also sein Heer vor, ließ jenen Rabbi holen, und man machte sich auf den Weg. Der lange Weg nahm dreihundertfünfundfünfzig Tagesmärsche in Anspruch, bis sie zum Paradies kamen. Da sah der Rabbi »die flammende Schwertklinge« (1. Moses 3/24) und sprach zum König: »Hier ist das Paradies, und das hier ist der Eingang. Ich kehre um.« Der Rabbi kehrte heim.
Der König befahl, je zehn Mann zusammen, einzutreten. Aber jedesmal, wenn ein Mann eintreten wollte, zerteilte ihn das Schwert und warf den Körper hinaus. Doch der König fuhr fort, seine Soldaten hineinzuschicken. Die Soldaten fragten: »Ist es denn nicht schon genug, daß so viele Männer umgekommen sind?« Der König sagte: »Das Schwert wird zerbrechen, und wir, die übriggeblieben sind, werden hineingehen.« Und jedesmal, wenn wieder eine Gruppe getötet wurde, sagte er: »Das tut nichts. Das Schwert wird zerbrechen, und wir werden das Paradies erobern.« Und so ging es weiter, bis alle seine Soldaten, zehntausend Mann, tot waren, und nur noch er selbst und seine Leibwache übrig blieben. Da brach der König in Tränen aus und bat Gott um ein Geschenk für alles, was er verloren hatte. Nach einiger Zeit hörte er ein Geräusch und sah, daß ein Gegenstand herausgeworfen worden war. Er hob ihn auf und begriff, daß dies das Geschenk Gottes sei. Dann kehrten er und seine Leibwächter um. Zuhause angekommen, wog er das Geschenk. Er legte es auf die größte Waage, aber die reichte nicht aus; das Geschenk war zu schwer. Der König wußte nicht, was damit anzufangen. Wiederum schickte er nach dem Rabbi und sagte: »Ihr müßt das Rätsel lösen; wenn nicht, wird sich mein Zorn über euch ergießen.« Er schickte also zu den Rabbis. Einer von ihnen kam und sagte: »Was ist nun wieder geschehen?« Da erzählte er ihm von dem Geschenk, das sich nicht wiegen läßt, und wenn es ihnen nicht gelingt, es zu wiegen, so wird er sie vernichten. Da erbaten sie für sich zumindest drei Tage Bedenkzeit. Nach Ablauf von drei Tagen kam einer der Rabbis und sagte zum König: »Bring das Geschenk und wiege es.« Der König brachte es und wog es, mit Gold, Silber, Kupfer – aber es war schwerer als alles andere. Da sagte der Rabbi zu allen Leuten: »Schaut gut zu.« Er nahm ein wenig Sand aus seiner Tasche,
streute ihn auf den einen Teil der Waage und legte das Geschenk auf den anderen Teil der Waage. Und siehe da, der Sand war schwerer als das Geschenk. Da wunderten sich aber die Leute, wie doch ein wenig Sand mehr wiegen kann als all die Dinge, die sie zum Wiegen benutzt hatten, und fragten den Rabbi: »Was ist das?« Er antwortete: »Das ist ein Menschenschädel. Der enthält Augen – und Menschenaugen haben nie genug an dem, was sie sehen. Wieviel sie auch sehen, sie wollen immer noch mehr. Zweitens hat ein Schädel Ohren, Menschenohren; wieviel sie auch hören, sie wollen immer noch mehr. Drittens hat ein Schädel eine Zunge. Soviel eine Menschenzunge auch redet, sie hat nie genug am Reden. Erst im Augenblick des Todes haben sie von allem genug, und die Erde befriedigt alles, denn ›Staub bist du, und zum Staube sollst du heimkehren‹ (1. Moses 3/19).« Der König hörte den Worten des Rabbi zu und verstand, daß sie richtig waren. Da verkündete der König, daß zu seinen Lebzeiten die Juden in Ruhe und Frieden leben sollen.
25. Von dem Ungläubigen, der in den Brunnen fuhr
Zwei gingen spazieren. Einer ist rechtschaffen, fromm und glaubt an Gott, der andere dagegen ein Ungläubiger. So gingen sie und unterhielten sich. Der Fromme fragte: »Glaubst du, daß Gott die ganze Welt durch das Ohr eines Kamels durchziehen kann?« »Was? Bist zu verrückt? Wie ist das möglich? Sicher ist es unmöglich!« So unterhielten sie sich, bis sie zur Moschee kamen. Dort gab es ein Bassin, in welchem sich die Gläubigen die Füße waschen. Sie gingen sich waschen und jener, der Ungläubige, fiel hinein und ertrank. Das heißt, er ist nicht ertrunken, sondern Gott hat ihn zu einem Ort gebracht, der ein Jahr Weges von der Moschee entfernt war. Dort fand er sich in einem Brunnen. Zu diesem Brunnen kam gerade ein Mann, dessen Frau gestorben war. Er blieb mit Kindern zurück und der Arme mußte selbst die Kinder versorgen, und auch das Wasser selber vom Brunnen holen. Dieser Mann fischte den Ungläubigen aus dem Brunnen, und jener war schon zu einem Weibe geworden. Der Mann fühlte, wie sein Eimer schwer wurde und zog ihn heraus. Und siehe da! Eine nackte Frau war im Eimer! Der Mann erschrak: »Bist du von den Dämonen oder von den Menschenkindern?« »Ich bin von den Menschenkindern. Gib mir etwas, um mich zu bedecken.« »Bitte sehr«, – er gab ihr seinen Mantel und brachte sie nach Hause. Er sprach: »Siehe, meine Frau starb, und Gott hat mir eine andere geschickt, gelobt sei Sein Name.« Sie heirateten, und lebten so sieben Jahre lang. Die Frau gebar zwei Kinder, Sohn und Tochter. Nach sieben Jahren ging sie einmal zum
Brunnen, um Wasser zu schöpfen und fiel hinein. Sie fiel hinein – und kam heraus in dem Bassin bei der Moschee – schon wieder als Mann. Er stieg aus dem Bassin heraus, und jener, der Fromme, hatte seine Füße noch nicht fertig gewaschen, denn er wartete auf den Ungläubigen. »Wo warst du?« fragte er. »Aj!Aj!Aj! Wenn du nur wüßtest! Ich wurde eine Frau, sieben Jahre war ich die Frau von einem Mann. Und zwei Kinder habe ich geboren.« »Was für einen Quatsch redest du da? Bist du verrückt geworden? Ich warte hier eine Stunde auf dich und du redest von sieben Jahren?« »Glaubst du mir nicht? Komm, gehen wir zu jener Stadt, ein Jahr Weges von hier, und du wirst mein Haus und meine Kinder sehen und mir glauben.« Gut, sie gingen und nach einem Jahr kamen sie an. Der Ungläubige führte ihn zu seinem Hause und zeigte ihm die Kinder. Der Fromme ging in das Haus und fragte den Mann: »Schalom. Wie lebst du?« – »Ich habe kein Glück. Meine erste Frau ist gestorben, da habe ich eine andere aus dem Brunnen gezogen. Sieben Jahre vergingen, da ist sie in den Brunnen gefallen. Von dem Brunnen gekommen – in den Brunnen gegangen. Gesegnet sei Gott! Was soll ich tun? Ich habe kein Glück!« »Wirklich, du bist im Recht«, sagte der Fromme zum Ungläubigen. »Und jetzt glaube ich«, sagte der Ungläubige, »daß Gott nicht nur die ganze Welt durch das Ohr eines Kamels ziehen kann, sondern durch das Ohr einer Nadel kann er es auch!«
26. Die Dattelkerne
Der König Harun-al-Raschid bereitete ein großes Fest vor und lud dazu viele Gäste und Große des Reiches ein. Darunter war auch Abu-Nuwas, der kluge Spaßmacher und Hofsänger. Nach dem Essen setzte man den Gästen einen Teller voll der besten Datteln vor, und jeder bekam ein kleines leeres Schüsselchen, um die Kerne dort hineinzulegen. Harun-alRaschid flüsterte seinem Wesir ins Ohr: »Geh, leg meine und deine Kerne in das Schüsselchen des Abu-Nuwas, so daß er es nicht merkt.« Der Wesir folgte dem Wunsch seines Herrn, und als das Essen zu Ende war, bemerkte er so von ungefähr: »Aber, Abu-Nuwas, das ist doch nicht schön, in Gesellschaft so gefräßig zu sein! Schau nur dein Schüsselchen an, wie voll es ist!« »Du hast recht, erlauchter Wesir«, antwortete Abu-Nuwas, »doch ist es noch weniger schön, wenn man so gierig ist, die Datteln samt der Kerne zu verschlingen…« »Gut hast du gesprochen, Abu-Nuwas«, mischte sich Harunal-Raschid ein, »und dafür bekommst du einen Preis!«
27. Wie die Tochter des Rabbi Jehuda Halevi heiratete
Dies ist eine Geschichte über das, was mit unserem Lehrer Jehuda Halevi geschah. Dieser war ein sehr beliebter Mann, und sehr reich war er auch. Er hatte eine einzige Tochter, die sehr schön war; sie hieß Dalia. Die Frau des Jehuda Halevi setzte ihm jeden Tag zu, er solle doch die Tochter verheiraten, damit sie ihre Freude teilen können. Er pflegte zu antworten: »Ich werde nur einen guten und weisen Mann für sie wählen.« Seine Frau konnte diese Reden nicht länger mitanhören. Eines Tages wurde Jehuda Halevi so böse, daß er ausrief: »Ich schwöre bei meiner rechten Hand, daß ich den erstbesten Mann, dem ich begegne, sei er nun gelehrt oder ganz unwissend, arm oder reich, für sie nehme.« Am nächsten Morgen saßen sie zu Hause; da kam der Rabbi Esra, seligen Angedenkens, zu ihnen hinein; er war in alte Lumpen gekleidet, und sie erkannten ihn nicht. Da erinnerte sich die Frau an den Schwur, den ihr Mann geleistet hatte, und fragte ihn gleich beim Eintreten nach seinem Namen, und welcher Gemeinde er angehöre. Er gab einen erfundenen Namen an und fügte hinzu, daß er weder lesen noch schreiben könne und sehr arm sei. Als Jehuda Halevi ihn sah, verheiratete er ihn unverzüglich mit seiner Tochter Dalia. Am Schabbat, noch bevor man in das Bethaus ging, bat sie den Rabbi Jehuda Halevi, ihn nicht mitzunehmen. Er aber erwiderte, er werde ihm das Lesen und Schreiben beibringen. Sie gingen ins Bethaus, und er begann, den Mann lesen zu lehren. Der stellte sich völlig unwissend, und der Rabbi unterrichtete ihn ganz langsam im Lesen. Da begann Rabbi Esra also lesen zu lernen;
Rabbi Jehuda Halevi dachte, daß dieser Mann wenig Verstand hätte. Eines Abends nun lasen sie einen Vers, in welchem sie ein schwieriges Wort fanden. Rabbi Jehuda versuchte mit allen Mitteln eine Erklärung für dieses Wort zu finden – und so wurde es später als gewöhnlich für seinem Aufenthalt im Bethaus. Als seine Frau merkte, daß er nicht heimkam, ging sie zu ihm ins Bethaus und fragte: »Warum bleibst du so lange weg? Ich weiß ja, daß du dich vergißt und nicht nach Hause kommst, wenn du einem schweren Ausdruck begegnest!« Als er darüber zu Hause nachdachte und sich erinnerte, mußte er lachen. Da fragte seine Frau: »Warum lachst du denn?« Aber er wollte nicht antworten. Nach dem Essen, als ihr Mann schlafen gegangen war, machte sie sich auf und ging zum Bethaus. Dort sah sie den Rabbi Esra, wie er das ganz schwere Wort erklärt und erläutert, und wunderte sich über ihn. Dann ging sie nach Hause. Als am nächsten Tag Jehuda Halevi in das Bethaus kam, sah er, daß das schwere Wort erläutert und erklärt war; da stand seine Bedeutung niedergeschrieben. Er begriff sogleich, daß es Rabbi Esra gewesen war, der das Wort verbessert und erklärt hatte, und freute sich über die Maßen. Er umarmte und küßte ihn und sagte: »Ich weiß, du bist Rabbi Esra. Du hast mich nicht beschämt, als ich dich für ungebildet hielt. Jetzt aber soll die ganze Stadt wissen, daß du Rabbi Esra bist.« Er beschenkte ihn reichlich, und man veranstaltete ein großes Fest. Einige Tage später ging Rabbi Jehuda Halevi nach Jerusalem; er wurde damals fünfzig Jahre alt. Die Leute empfingen ihn mit allen Ehren und gaben ihm einen Ehrensitz. Er aber ging barfuß und küßte den Boden des Heiligen Landes. Ein Araber sah ihn und beneidete ihn wegen der großen Ehre, die man ihm erteilte, und wegen des schönen Empfanges, den man ihm bereitete. Er beschloß, den Rabbi umzubringen. Er trampelte ihn mit einem starken Pferd nieder. Als Rabbi Esra die Kunde
vom Tod seines Schwiegervaters zu Ohren kam, eilte er nach Jerusalem. Dort begrub er ihn, und die ganze jüdische Gemeinde trauerte mit Rabbi Esra. Rabbi Esra war über diese merkwürdige Todesart ganz erschüttert; man begrub Rabbi Jehuda Halevi mit allen Ehren.
28. Die von einem Adler Aufgezogene
Es war einmal eine Frau, die keine Kinder hatte. Eines Tages, als sie gerade für ihren Mann das Essen kochte, hörte sie jemanden auf der Straße ausrufen: »Äpfel für Schwangerschaft, Äpfel für Schwangerschaft!« Sie sagte sich: »Ich werde zwei Äpfel kaufen. Vielleicht schenkt mir der Heilige, gelobt sei Sein Name, Kinder.« Sie kaufte Äpfel und legte sie auf den Tisch; dann ging sie wieder an ihre Arbeit im Haus. Mittags kam ihr Mann, aß sein Mittagsmahl und auch die zwei Äpfel, die seine Frau gekauft hatte. Nach ein paar Tagen suchte sie die Äpfel, fand sie aber nicht und fragte ihren Mann: »Wo sind die Äpfel?« Er antwortete: »Ich habe sie gegessen.« »Ah, du wirst schwanger werden!« Neun Monate später bereitete sie zwei Säuglingskittel vor, eins rosa und eins blau, und fragte den Mann: »Wo willst du das Kind kriegen? Hier im Hause? Das geht nicht. Die Nachbarn werden es erfahren und werden sagen: ›Ein Mann hat ein Kind geboren.‹ Das geht nicht. Nimm die Säuglingssachen und geh. Wenn du einen Knaben gebierst, zieh ihn blau an, wenn ein Mädchen – rosa. Dann nimm das Kind und wirf es weg! Gott wird sich um das Kind kümmern.« Er gebar eine Tochter. Er zog sie rosa an, ließ sie unter einem Baum liegen und kehrte nach Hause zurück. Ein Adler und sein Weibchen kamen, sahen die Tochter, zerrten an ihrer Kleidung und trugen sie mit sich auf einen Baum. Sie brachten ihr Essen und pflegten sie so lange, bis sie aufwuchs und ein liebliches Mädchen wurde. Eines Tages kam ein Königssohn vorbei und wollte sein Pferd von dem Gewässer, das am Baum war, tränken. Das Pferd sah das Spiegelbild des Mädchens im Wasser und scheute zurück. Der
Königssohn blickte hinauf und siehe da! Ein Mädchen saß auf dem Baum. Er sagte zu ihr: »Steig herunter!« »Nein, ich habe Angst, der Adler und sein Weibchen werden mich töten.« Sie stieg also nicht hinab. Der junge Mann kehrte heim zu seiner Mutter und sagte: »Nimm das gute Bett weg und stelle das schlechte Bett hin. Für deinen Sohn gibt es keine Heilung.« Seine Mutter erwiderte: »Du hast doch Basen und Muhmen!« »Die will ich nicht. Ich habe ein Mädchen auf einem Baum gesehen« – und er erzählte der Mutter von der Begegnung – »und wenn du mir die nicht bringst, werde ich mein ganzes Leben lang nicht heiraten.« »Gut«, sagte die Mutter, »geh und kaufe ein Schaf. Ich will dort unter den Baum gehen; du mußt mir ein Auto bringen, mich dahin zu fahren.« Er sagte: »In Ordnung.« Er kaufte alles, was die Mutter benötigte, und lud ihre Tanten und Kusinen ein; dann ging sie unter dem Baum spazieren. Sie blickte auf und sah das Mädchen. Groß war die Freude, denn sie war sehr schön. Die Mutter war eine kluge Frau. Sie brachte das Schaf, griff zum Messer und wollte es schlachten, an den Beinen beginnend. Da sagte das Mädchen zu ihr: »Warum machst du das so? So schlachtet man doch Schafe nicht!« Die Mutter fragte: »Wie soll man es denn schlachten? Komm herunter und zeig es mir!« »Nein, ich habe Angst, daß der Adler und sein Weibchen mich töten werden.« Zu guter Letzt aber stieg sie rasch vom Baum herunter, schlachtete das Schaf und kletterte auf ihren Platz zurück. Die Mutter brachte Gefäße; eins aber stellte sie nicht richtig, sondern verkehrt herum aufs Feuer. – Damals kochte man noch auf offenem Feuer. – Das Mädchen sagte: »So stellt man doch nicht Gefäße aufs Feuer!« Die Mutter sagte: »Dann komm herunter und stell mir das richtig hin.« Der Sohn stand da und hielt sein Pferd bereit. Als sie herabstieg,
um den Topf richtig hinzustellen, faßte er sie und entführte sie nach Hause. Zu seiner Mutter sagte er: »Du siehst, für mich gibt es nichts Kostbareres als dieses Mädchen.« Sie gingen auf den Markt, kauften ihr viele Gewänder, bereiteten eine schöne Hochzeit vor – und so heirateten die Tochter und der Königssohn. Könige gehen immer auf Pilgerfahrt. Eines Tages sagte der Königssohn zu seiner Mutter: »Ich will auf Pilgerfahrt gehen. Denke daran, daß mir nichts kostbarer ist als meine Frau. So ist es also. Diese Frau mußt du mir wohl hüten!« Sie sagte: »Ja, in Ordnung.« Er reiste ab und ließ die Frau zurück, und den ganzen Tag lang blieb sie immer zu Hause. Vor seiner Abreise hatte er ihr einen wundertätigen Ring gegeben. Die Frau vertrug sich aber nicht mit ihrer Schwiegermutter. Daher sagte sie zu ihrem Zauberring: »Ich will eine Wohnung mit vielen Dienern, und darin soll ein Weinstock wachsen, dessen Frucht zu ungewöhnlicher Zeit reift.« Der Ring zauberte den Weinstock und die Wohnung herbei, und sie wohnte darin. Die Mutter des Königssohnes brachte drei Schafe, schlachtete sie und begrub sie in ihrem Garten. Dann zog sie die Kleider ihrer Schwiegertochter an und, wie der Königssohn heimkehrte, sagte sie zu ihm: »Setz dich, ich bin deine Frau.« »Wo sind die Kinder, meine liebe Frau?« »Es gibt keine, Gott hab sie selig! Sie sind alle gestorben.« »Und meine Mutter?« »Auch sie ist gestorben.« »Aber wie sind sie gestorben?« »Sie sind einfach gestorben. Gott hat es so gewollt.« Dann wohnte sie mit ihm und wurde schwanger von ihm und wollte von den Trauben haben, die es bei der Nachbarin gab, die doch die Frau des Sohnes war. Sie sagte zum Königssohn: »Schau, was für Trauben, wie reif und schön sie sind! Ich will welche haben!« Er sagte ihr: »Gut, ich werde den Sklaven schicken,
der wird dir welche bringen.« Er schickte den ersten Sklaven. Der sagte zur Nachbarin: »Meine Dame, meine Herrin wünscht sich solche Trauben, wie du sie hast.« Da sagte diese: »Deine Herrin hat mir meinen Mann genommen und sie ist von ihm schwanger geworden. Ihr Sohn ist zur Pilgerfahrt gegangen, und sie hat ihm gesagt, daß seine Frau und die Kinder gestorben sind. Aber was sie da im Garten begraben hat, waren Schafe. Die da bei ihm ist, ist seine Mutter. Ich bin seine Frau und das sind seine Kinder.« Dann schnitt sie ihm die Zunge ab, so daß er stumm wurde. Er kehrte zu seinem Herrn zurück und dieser fragte ihn: »Was hast du getan? Wo sind die Trauben? Wo ist deine Zunge?« Aber er konnte nicht sprechen. Da schickte er den zweiten Sklaven hin, welchem sie das gleiche antat wie dem ersten. Er schickte einen nach dem andern, alle Sklaven, und allen tat sie das gleiche an. Da beschloß er, selbst hinzugehen und sagte: »Nur ich kann die Trauben holen, die sie zu haben wünscht.« Er ging, um die Trauben für sie zu holen; die Nachbarin erzählte ihm das Vorgefallene wie den Sklaven. Er hörte sich das an, ging leise in den Garten, öffnete die Gräber und fand, daß sie die Wahrheit gesprochen hatte: In den Gräbern lagen Schafe. Da rief er aus: »Wer den König ehrt, bringe ihm Feuer, Öl und Zündhölzer und verbrenne meine Mutter. Ich bin ihr Sohn – und sie hat mich mit ihr schlafen lassen!« Und so verbrannte er seine Mutter.
29. Der arme Bruder
Es waren einmal zwei Brüder. Der eine von ihnen war reich und der andere arm. Der Reiche wollte, daß auch sein Bruder ein bequemes und gutes Leben führen könne. Von Zeit zu Zeit schenkte er ihm eine ordentliche Summe Geld, damit es ihm besser gehen sollte. Aber die Lage des armen Bruders wurde nicht besser, noch dazu lehnte er es ab, von seinem Bruder Geschenke anzunehmen. Eines Tages beschloß der reiche Bruder, eine so große Summe seinem Bruder zu schenken, auf daß sie für immer ausreiche. Was tat er? Er stellte einen mit Goldstücken gefüllten Sack vor das Haus seines Bruders, wo der vorbeikommen mußte. Er selbst blieb an seinem Fenster, um zu sehen, wie sein Bruder das Gold finden werde. Aber als der Bruder dort vorbeiging, sagte er sich in seinem Herzen: ›Wie macht es ein Blinder?‹ – und wie ein Blinder ging der Bruder mit geschlossenen Augen auf der Straße, wie einer, der im Dunkeln tastet. So ging er an dem Sack, ohne ihn zu sehen, vorbei. Da beschloß der Bruder, ihm einen Laib Brot zu geben, in dem Goldmünzen eingebacken waren. Er lud den Bruder zu sich ins Haus und legte ihm das Brot in die Hand. Was tat der Arme? Er verkaufte den Laib Brot und dachte, daß er dadurch verdiente. Jede Woche gab der Reiche seinem Bruder ein Brot, und der verkaufte es für einen Groschen. Da sah der Reiche, daß alle seine Listen nicht glückten. So beschloß er, seinen Bruder dahin zu bringen, von ihm ganz offen einen Sack Geld anzunehmen. Und wirklich, es gelang ihm, den Bruder zu überreden, dieses Geld zu nehmen, um damit einen Laden zu eröffnen.
Und als der Arme dann das Haus des reichen Bruders verließ, glitt er auf der Treppe aus, fiel hin und brach sich das Genick. Das Blut, das aus dem Kopf des Toten strömte, schrieb auf den Boden: »Ich habe ihn arm geschaffen – du hast ihn reich gemacht; ich habe ihn zu einem Toten gemacht – nun mache du aus ihm einen Lebenden!«
30. Rabbi Jehuda, der Fromme, von Regensburg
I Rabbi Schmuel, der Fromme, ging einmal mit zwei Leuten übers Feld. Plötzlich sah er, daß der Himmel offen steht, und er sagte zu seinen Gefährten: »Ich sehe, daß sich die Himmel geöffnet haben. Jeder kann eine Bitte an den Heiligen, gelobt sei Er, richten und sie wird ihm gewährt werden.« Einer der Männer bat um schöne Kinder, der andere bat um Reichtum. Und Rabbi Schmuel bat um Kinder, denn er hatte bisher keine. Allen Dreien wurden die Bitten gewährt. Wie der Fromme nach Hause kam, wurde seine Frau schwanger, und gebar den Rabbi Avraham. Danach gebar sie den Rabbi Jehuda, den Frommen, von Regensburg. Gott laß uns von seinem Vorrecht genießen.
II Dies ist die Geschichte von einem getauften Juden. Der war ein großer Bösewicht. Durch seine Bosheit brachte er viele Juden ums Leben. So trieb er es viele Jahre lang. Einmal kam der Getaufte zu Rabbi Jehuda, dem Frommen, und bat ihn, Buße aufzuerlegen für all die Sünden, die er begangen hat. Er erzählte von den großen Sünden, die er in seinem Leben beging, seit er sich hat taufen lassen. Als der Fromme von den Sünden des Getauften hörte, wollte er ihm keine Buße auferlegen. Er sagte: »Deine Sünden sind viel zu groß!«
Während des Gesprächs hielt der Fromme einen trockenen Stock in der Hand und schnitzte daran. Er zeigte auf diesen Stock und sagte: »So wenig wie dieser Stock grüne Blätter treiben wird, so wenig kann dir vergeben werden. Was für Buße soll ich dir denn auferlegen?« Also ging der Getaufte wieder weg von dem Frommen und sagte sich: »Will er mir keine Buße auferlegen, so will ich es noch ärger treiben als bisher.« Nicht lange, nachdem der Getaufte von dem Frommen gegangen war, bemerkte der Fromme, daß sein Stock grünte, und Blätter zu sprießen begannen. Er verwunderte sich gar sehr und erinnerte sich, was er dem Getauften gesagt hatte. Sicherlich kann dem Getauften doch noch vergeben werden, denn auch der Stock ist wieder grün geworden! Sofort schickte der Fromme nach dem Getauften und sagte zu ihm: »Ich wollte dir keine Buße auferlegen und sagte dir, daß du genau so wenig Vergebung erlangen kannst, wie dieser Stock grün werden und Blätter treiben kann. Nun ist der Stock wieder grün geworden und hat Blätter getrieben. Da für dich solch ein Wunder vollbracht wurde, hast du sicher einmal ein gutes Werk vollbracht. Darum kannst du, trotz all deiner bösen Taten, noch Vergebung erlangen. Wenn du mir von deiner guten Tat erzählst, will ich dir Buße auferlegen. Erfüllst du die Buße, wirst du Vergebung erlangen.« Da erzählte der Getaufte: »Ich muß meine Sünden bekennen. Lieber Rabbi, seit ich mich habe taufen lassen, habe ich keinem Juden Gutes getan. Es geschah einmal, als ich in eine Stadt kam, in der viele Juden wohnten, daß die Bürger der Stadt den Juden gar feind waren und sie sie gerne los geworden wären. Sie wußten nicht, wie sie sich ihrer entledigen sollten. Da erfanden sie eine Lüge, eine Verleumdung, und warfen einem Juden die Leiche eines Bankerts ins Haus. Sie sagten, die Juden hätten den Bankert getötet. Die Bürger der Stadt trieben alle Juden zusammen,
jung und alt, und die Feinde Israels wollten die Juden überfallen und sie alle töten. Da gab es aber einen Bürger aus dem Stadtrat, der sich der Juden annahm und zum Stadtvolk, welches sich versammelt hatte, sagte: Eilt euch nicht, damit ihr nicht unschuldig Blut vergießt! Wir wollen der Sache auf den Grund gehen und sehen, ob die Juden wirklich unser Blut haben müssen. Und wie wollen wir das herausfinden? Das will ich euch sagen. Es befindet sich gerade hier ein getaufter Jude, den wir fragen wollen. Der wird es sicherlich wissen. Sagt er: ›Ja, die Juden müssen unser Blut haben‹, – so haben sie sicher den Bankert getötet. Sagt der Getaufte: ›Nein, die Juden tun das nicht‹ – so haben sie es gewiß auch nicht getan. Weshalb sollen wir unschuldig Blut vergießen? Wir täten nicht recht, wenn wir soviel unschuldig Blut vergießen würden. Habt ihr aber recht, so soll es euch nicht verwehrt sein, die Juden um das Leben zu bringen.« Also schickten die Bürger nach mir und beschworen mich gar hart, ich solle ihnen die Wahrheit in der Sache sagen: müssen die Juden von ihrem Blut haben oder nicht, denn solches ist mit dem Bankert geschehen? Ich antwortete ihnen unter Schwur, daß das eine Lüge sei, und gab ihnen viele Gründe, warum das eine Lüge sein muß. Ich sagte ihnen: »Seht doch, die Juden müssen all ihr Fleisch salzen und wässern, damit sie das Blut von dem Fleisch abwaschen, denn so steht es in ihrer Lehre geschrieben. Sie dürfen überhaupt kein Blut genießen, und müssen ihre Tiere so schlachten, daß das Blut abrinnt. Wie sollen sie dann das Blut des Bankerts gebrauchen?« Als die Bürger das hörten, sprachen sie: »Steht die Sache so, dann soll auch den Juden kein Leid geschehen.« So gaben sie ihre böse Absicht auf, und keinem Juden ist etwas widerfahren. Hätte ich aber »ja« gesagt, so hätte man, Gott behüte, die Juden alle umgebracht. Das ist die beste Tat, die ich mein Lebtag vollbracht habe.« Da sprach
der Fromme: »Nun, das war ganz großartig!« und legte ihm eine Buße auf. Der Mann hielt sich seither gut und wurde wieder ein frommer Jude.
III Zu Zeiten Rabbi Jehudas, dem Frommen, geschah es, daß zu Regensburg ein Torhüter war, der ein gar großer Bösewicht war. Wenn ein Jude starb, mußte man die Leiche durch das Tor hinaustragen, wo jener Bösewicht Torhüter war. Wenn man den Toten hinaustrug, begann jener aus lauter Bosheit die Glocken zu läuten. Da nun der Fromme krank war und sterben wollte, schickte er nach der ganzen Gemeinde und sprach also: »Liebe Freunde, da bin ich nun in Gottes Gewalt und werde sterben. Ich will euch ein Zeichen geben, woran ihr erkennen sollt, daß ich ins Paradies einging. Und was soll das Zeichen sein? Wenn man mich zum Tor hinaustragen wird, welches der Bösewicht hütet, wird er wieder die Glocken läuten wollen, wie es seine Gewohnheit ist. Dann wird das Tor umfallen, so daß man mich durch dieses Tor nicht hinaustragen können wird. Wenn das geschieht, so sollt ihr wissen, daß ich in das Paradies komme.« Als der Fromme starb, und man ihn zu jenem Tor hinaustragen wollte, wurde es der Bösewicht gewahr und fing die Glocken zu läuten an. Da fiel der Turm um und erschlug den Torhüter. Man konnte den Frommen durch jenen Ausgang nicht hinaustragen. Ob das nun wahr ist? Geht nach Regensburg – dort werdet ihr es sehen und hören. Warum und wieso? Jenen Turm kann man nicht mehr aufbauen. Man hat oft versucht, ihn wiederaufzubauen, und so oft man ihn aufgebaut hat, so oft fiel er wieder ein und bleibt nicht mehr stehen.
31. Der Granatapfel
In einer Stadt gab es einen sehr frommen Mann, der eine Frau und einen Sohn hatte. Dieser bat seinen Sohn: »Wenn ich sterben werde, sollst du jeden Morgen zum Fluß gehen und einen großen Laib Brot in den Fluß werfen. Als zweites, mein Sohn, sollst du nie etwas nehmen und essen, das nicht dir gehört, weil das Raub ist.« Nach dem Tode seines Vaters tat der Sohn, wie der Vater ihn geheißen. Jeden Morgen ging er zum Fluß und warf einen Laib Brot hinein. Die Fische sammelten sich um das Brot und fraßen es auf. Wie er so eines Morgens am Fluß stand und das Brot hineinwarf, setzte er sich hin, um auszuruhen. Plötzlich sah er, wie der Fluß einen Granatapfel mit sich trägt. Er fischte den Granatapfel heraus, öffnete ihn und entnahm ihm einen Kern. Da erinnerte er sich, was ihm sein Vater vermacht hatte: Iß nicht, was nicht dir gehört, und es tat ihm sehr leid, daß er den Granatapfel genommen hatte. Vielleicht gehört dieser Apfel einem Arbeiter, einem Armen, der ihn verloren hat und jetzt hungrig ist? Er beschloß, flußaufwärts zu gehen, bis er den Inhaber des Granatapfels gefunden haben wird. Er machte sich auf den Weg, und ging und ging. So ging er drei Tage und drei Nächte lang, bis er endlich zur Quelle des Flusses kam. Die Quelle war in einem Obstgarten. Er ging zum Tor des Obstgartens, klopfte an, und ein alter Mann mit einem langen, schönen Bart kam ihm entgegen. »Was ist dein Begehren, mein Sohn?« fragte der alte Mann. »Ich fand einen Granatapfel, den der Fluß aus deinem Garten brachte, und ich aß davon. Mein Vater vermachte mir, ich soll nicht essen, was nicht mir gehört, weil das Raub ist. Ich aber vergaß die Lehre, öffnete den
Granatapfel und aß davon. Ich will von dir Vergebung bitten und dir den Preis des Apfels zahlen. Sage mir, bitte, was ich zu zahlen habe.« Der Alte hörte sich das an und sagte: »Ich will von dir kein Gold und kein Silber für den Apfel, da er der schönste und teuerste in meinem Garten war. Wenn du wirklich willst, daß ich dir vergebe, mußt du meine Tochter heiraten. Aber du sollst wissen, daß meine Tochter ein Krüppel ist: sie hat keine Hände, keine Füße, hat keine Form und sieht wie ein Ball aus.« »Gut, ich will aber vorher zu meiner Mutter gehen und sie um Rat bitten, was ich tun soll.« Der junge Mann kehrte zu seiner Mutter zurück und erzählte ihr die ganze Sache. Die Mutter antwortete: »Du mußt die Tochter des Gärtners heiraten. Nimm sie, wie sie ist, so hat dein Vater es vermacht, bevor er gestorben ist.« Er kehrte zu dem Gärtner zurück und sagte: »Mein Herr, ich bin bereit, deine Tochter zu nehmen, wie sie ist.« Der Gärtner bereitete alles für die Hochzeit vor und sagte dem Burschen: »Du wirst die Braut erst nach der Hochzeit zu sehen bekommen.« Man feierte groß die Hochzeit, und die Braut saß da zugedeckt. Nach dem Fest setzte der Vater die Braut auf ein Kamel, gab ihr die Mitgift, wie es üblich ist, und sagte dem Burschen: »Hier ist deine Frau. Nimm sie in dein Haus.« Sie kamen zum Haus des jungen Mannes, brachten die Braut in ihr Zimmer, und der junge Mann hatte Angst, sie aufzudecken. Sie war die ganze Zeit mit einem Schleier bedeckt. Endlich sagte er zu sich: »Jetzt ist es schon geschehen, komme was wolle, das ist nun mein Schicksal! Ich muß sie eben nehmen.« Er ging auf sie zu, nahm den Schleier herunter – und siehe da! – da sieht er plötzlich ein wunderschönes Mädchen, so schön, daß ihre Schönheit das Zimmer erhellte, so schön wie der Vollmond! Er freute sich sehr! Und auch seine Mutter! Solch eine Schönheit!
Nach einiger Zeit kam ihr Vater, das junge Paar zu besuchen. »Warum sagtest du mir, daß deine Tochter ein Krüppel ist?« fragte der junge Mann. »Ich suchte lange Zeit einen guten Mann für meine Tochter, der fromm und anständig sein sollte. Wie du zu mir kamst, sah ich, daß du solch ein Mann bist, und da wollte ich dich auf die Probe stellen, ob es auch stimmt.«
32. Der Fall mit dem Krug
Da waren zwei Freunde: Mahmud und Abd-Allah. Abd-Allah hatte einen Krug voll mit Gold. Eines Tages sagte Abd-Allah zu Mahmud: »Ich reise fort, bitte, hüte du mir meinen Krug während meiner Abwesenheit.« Er sagte ihm aber nicht, was der Krug enthielt. Abd-Allah blieb ein ganzes Jahr in der Fremde. Als er zurückkam, ging er zu seinem Freunde Mahmud und sagte ihm: »Gib mir bitte meinen Krug zurück.« Mahmud gab Abd-Allah den Krug. Aber der Krug war mit Öl gefüllt, und keinerlei Gold war darin. Da gingen die beiden zu Gericht. Sie gingen vom Sultan zum Weisen, vom Richter zum Stadtältesten. Der eine behauptete: »Der Krug und das Öl darin gehören dir.« Der andere behauptete: »Zwar gehört mir der Krug, aber nicht das Öl. Und im Krug fehlen die Goldmünzen, die darin waren.« So rechteten sie bis zum Schabbat. Am Schabbat ging das Kind Mosche, Sohn des Maimon, mit den Kindern spielen, und sie spielten das ›Gericht über den Krug‹. Mosche war Richter und ordnete an: »Bringt den Krug.« Die Kinder gingen und brachten einen alten Krug, und Mosche füllte ihn mit Öl. Abd-Allah stand in der Nähe, beobachtete das Spiel und hörte den Worten des kleinen Richters zu. Mosche, Sohn des Maimon, befahl wiederum: »Geht und bringt mir einen neuen Krug.« Die Kinder brachten einen neuen Krug. Mosche füllte den neuen Krug mit Öl und sagte: »Wenn der Krug, von dem wir sprechen, ein ganzes Jahr mit Öl gefüllt war, so muß sein Gewicht größer sein, als das des neuen Kruges, den man eben erst mit Öl gefüllt hat.«
Die Kinder nahmen die beiden Krüge, den alten und den neuen, und wogen sie – und siehe da, sie waren gleich schwer. Da sagte Mosche zu dem Kind, bei dem der alte Krug war: »Du lügst! Wenn der alte Krug ein ganzes Jahr voll Öl gestanden hätte, würde er jetzt schwerer sein!« Alle sprangen auf und schlugen auf das Kind ein. Das schrie: »Schlagt mich nicht! Ja, ich habe gelogen. Ich werde euch gleich den Krug mit dem Gold geben, nur schlagt mich nicht!« Abd-Allah, der alles gehört hatte, ging zum Sultan und sagte: »Ich bitte dich, gib mir Mosche, Sohn des Maimon, zum Richter.« Der König fragte: »Wer ist denn dieser Mosche, Sohn des Maimon?« »Er ist ein kleines Kind aus einer jüdischen Familie.« Man ging hin und brachte ihn vor den Sultan. Der sagte zu dem Kind: »Heute wirst du Richter sein.« Man rief die zwei Streitenden und beide stellten sich vor das Kind. Da sagte Mosche: »Bringt mir einen neuen Krug und den Krug, um den der Streit geht.« Gesagt – getan. Man brachte die zwei Krüge, wog sie und fand, daß ihr Gewicht das gleiche war. Das Kind erklärte: »Wenn das Öl ein ganzes Jahr im Krug gestanden hätte, würde gewiß der alte Krug mehr wiegen.« Da prügelte man den Mahmud, bis er seine Schuld gestand. Nicht nur das: Er ging und brachte das Gold zurück. Seither bestand Feindschaft zwischen Mahmud und Mosche, Sohn des Maimon, der zum Ratgeber des Königs ernannt wurde und in seinem Palast wohnte. Dieser Machmud hatte eine sehr schöne Tochter, die man zum Palast des Königs brachte. Es verging einige Zeit, und das Mädchen wurde schwanger. Als sie im achten Monat ihrer Schwangerschaft war, ging Mahmud zum Sultan und sagte: »Mosche, Sohn des Maimon, hat es dazu gebracht, daß meine Tochter schwanger ist.« Da gab der König seinem Ratgeber
drei Tage Zeit und warnte ihn: »In drei Tagen lasse ich dich hinrichten, wenn du mir diese Angelegenheit nicht erklärst.« Mosche stieg auf den Gipfel des Berges. Dort sah er einen Mann, der ihn begrüßte, ihm ein Stück Holz gab und sagte: »Nimm dieses Stück Holz zu der Feier, die beim Sultan stattfinden wird, und ersuche ihn, Mahmuds Tochter zu dieser Feier zu bringen!« Mosche nahm das Holzstück, und während der Feier beim Sultan bat man Mahmuds Tochter hereinzukommen. Mosche legte das Stück Holz auf ihren Leib, und da hörte man die Stimme des ungeborenen Kindes aus dem Leib seiner Mutter: »Tut mir nicht weh!« Mosche fragte: »Sag mir, wer ist dein Vater?« Hier wiederholte die Stimme mehrere Male den Namen eines Dieners des Königs. Der Sultan und alle Anwesenden hörten das und hoben sofort das Todesurteil über Mosche auf. Und Mahmud wurde bestraft.
33. König Schelomos Badehaus
In der Hauptstadt Istanbul, zur Zeit des Sultans Abd’1-Asis, lebte ein Jude namens David Abu-Darham. Dieser Mann, ein Geldwechsler, hatte einen guten Ruf, und weil er viele Geldangelegenheiten mit der Staatskasse hatte, stellte ihn manchmal der König selbst Fragen über die Goldschmiedekunst und Metalle. Immer beriet er den König, wie er seine Geschäfte am besten führen könne. Der König, der die Ehrlichkeit und Weisheit des Juden David erkannte, ernannte ihn zum Minister. Unter den Ministern, die dem König dienten, war auch ein Armenier namens Pedro Mukiloff. Dieser Minister war ein guter Malermeister und sehr reich. Außerdem war am Hofe des Königs noch ein moslemischer Minister namens Mahmud, Sohn des Ali, der war weise, gerecht und wohltätig. In jenen Tagen kam nach Istanbul ein weiser und reicher Jude – das war Rabbi Mosche, Sohn des Maimon, bekannt unter dem Namen Rambam. Dieser mietete zufällig ein Haus in der Nähe Davids’ am Meeresufer. Die beiden wurden wahre Freunde, besonders arbeiteten sie gut im Handel zusammen. Jeden Freitag verbrachte der König Abd’1-Asis, wenn er aus dem Bethaus kam mit einem der beiden Minister, mal mit David und mal mit Pedro. Der armenische Minister wurde eifersüchtig auf die jüdischen Minister, da ihnen der König Ehre und Gunst erwies. Als nun Davids Vater starb, dachte sich der armenische Fürst einen hinterlistigen Plan aus, um dem Ansehen der jüdischen Minister in den Augen des Sultans zu schaden. An einem Freitag, als sich der König mit Pedro unterhielt, sagte der armenische Minister so beiläufig: »Wie angenehm
und schön wäre es doch, wenn man hier, in der wundervollen Hauptstadt Istanbul, ein prächtiges Badehaus bauen würde, ähnlich jenem, das König Schelomo im Königspalast zu Jeruscholajim besessen hatte. Wer jenes Badehaus betrat und darin badete, wurde von jeder Krankheit des Körpers geheilt und verließ es gesund und stark.« Als der König diese Worte des armenischen Ministers hörte, sagte er: »Ja, wenn wir nur auch mit einem solchen Badehause gesegnet wären! Aber wer könnte es bauen?« Da riet Pedro: » Ein Mensch könnte das machen – der Minister David AbuDarham. Sein Vater war ein meisterhafter Baumeister und zweifellos hat David das Handwerk von ihm gelernt. Besser als jeder andere würde David dieses prächtige Badehaus bauen können; es wird uns in der ganzen Welt berühmt machen!« Dem König gefiel der Rat und er lud David zu sich ein und sagte ihm: »Du weißt und hast davon gehört, daß König Schelomo in Jeruscholajim, diesem Juwel von einer Hauptstadt, ein einzigartiges Badehaus hatte. Wer immer es betrat und dort badete, wurde sofort von allen seinen Krankheiten geheilt. Ich befehle dir, hier, in Istanbul, ein ebensolches Badehaus zu bauen. Du bist doch der Sohn des Avraham, des berühmten Baumeisters. Dein Vater verstand wie kein anderer die Geheimnisse der Baukunst, und ganz gewiß hat er diese kostbare Weisheit an dich vererbt. Also geh und führe meinen Befehl aus. Wenn du ab heute in einem Jahre dieses Badehaus nicht errichtet hast, lasse ich dich vor den Augen des ganzen Volkes aufhängen.« David hörte dieses schlimme und bittere Urteil, verneigte sich vor dem König und ging hinaus. Er war ratlos. Wie sollte er das Gebot des Königs ausführen? Und woher sollte er das Geheimnis von Schelomos Badehaus wissen? Traurig, mit verhülltem Kopf, kehrte David heim. Als seine Mutter ihn so niedergeschlagen sah, fragte sie: »Warum bist du so verwirrt
und erschrocken, mein Sohn? Dein Gesicht ist geradezu furchterregend!« Der Sohn erklärte ihr: »Ein Unheil ist geschehen. Der König hat mir befohlen, innerhalb eines Jahres ein Badehaus zu errichten, in welchem jeder, der es betritt, von seinem Leiden geheilt wird.« Die Mutter hörte den Worten ihres Sohnes zu und sagte: »Ich habe einmal gehört, wie dein gottseliger Vater mit seinen Freunden, den Bauleuten, sprach und ihnen erzählte, er habe das Material entdeckt, mit dem man ein Badehaus wie das des Königs Schelomo bauen könne. Dein gottseliger Vater sprach sogar über die Ausmaße – Länge, Breite und Höhe – dieses Badehauses. Geh also hinauf in sein Arbeitszimmer und suche dort ruhig und gemächlich die Pläne.« Und wirklich – David hatte Glück: nachdem er einige Tage lang sich abgemüht und gesucht hatte, fand er das erwünschte Material und die Pläne des Badehauses. Voll Freude ging er zu seiner Mutter, umarmte und küßte sie und sagte: »Dein ganzes Leben lang sollst du so glücklich und zufrieden sein, wie du mich heute gemacht hast, Mutter!« Am nächsten Tag begab sich David zum Palast des Königs, verneigte sich bis zum Boden und sprach: »Mein Herr und König, ich bin gekommen, um voll Stolz zu erklären, daß ich, dein Diener, bereit bin, alles auszuführen, was du mir befohlen hast. Es bleibt nur noch einen Platz zu finden, der dem Bau eines Badehauses würdig ist. Außerdem muß man alle Baumeister des Landes zusammenrufen, um über das Material zu beraten, von dem einzig und allein das Badehaus gebaut werden kann.« Der König berief die Baumeister und ordnete an, sich mit David zu beraten und ihm bei der Errichtung des unübertrefflichen Badehauses zu helfen. Noch ehe ein Jahr um war, war das Badehaus fertig. David verneigte sich vor dem König und sagte: »Herr und König,
Krone unseres Hauptes, ich, dein Diener, lade dich und alle Minister, die dir dienen, ein, mir die Ehre zu erweisen und zu kommen, um mit eigenen Augen das herrliche Gebäude anzuschauen, das ich das Vorrecht hatte zu erbauen.« Als das königliche Gefolge das wunderbare Badehaus sah, lobten sie ihn überschwenglich und sagten: »Gelobt und gesegnet sei der Mann, der diesen prächtigen, geradezu übernatürlichen Bau errichtet hat.« Der König wandte sich an Pedro und sprach: »Du bist doch ein erstklassiger Malermeister und verstehst mit den allerbesten Farben zu malen. Also wirst du dieses prächtige Badehaus mit Farbe schmücken.« Da kniete Pedro nieder und sagte: »Ich bin dein Diener, bereit, jeden Befehl, den du erteilst, auszuführen.« Pedro strich die Wände des Badehauses mit den allerbesten Farben an, aber als er am nächsten Tag zurückkam, sah er, daß die Farbe verdorben und abgefallen war. All seine Mühe, alle seine Versuche waren vergeblich. Die Farbe blätterte immer wieder ab. Als seine Frau die schlimme Lage ihres Mannes sah, sagte sie: »Wenn du dich aus dieser Not retten willst, mußt du zu David Abu-Darham gehen, ihm zu Füßen fallen und ihn bitten, dich in seiner Weisheit vor dem Tode zu retten. Denn David ist ein so kluger und weiser Mensch, daß er wissen wird, auf welche Weise es möglich ist, die Wände, die er baute, anzustreichen.« Der Minister wollte erst nicht zu dem Juden gehen, denn er sagte sich in seinem Herzen: »Wie kann ich zu einem Mann gehen und ihn um eine Gefälligkeit bitten, nachdem ich ihm doch eine Falle stellen und seinen Tod herbeiführen wollte?« Aber seine kluge Frau sagte zu ihm: »Diese Juden sind von Natur großmütig und bereit zu vergeben; sie verzeihen das Schlechte, das andere ihnen antun wollten, sie sind barmherzig und lassen Gnade walten.«
Die Worte der Frau gingen Pedro ans Herz und überzeugten ihn. Denn er sah ein, daß ihm kein Ausweg blieb und er dem Rat seiner Frau folgen müsse. Was tat er also? Er machte sich auf und ging zu David, dem Minister, warf sich vor ihm zu Boden, und unter Tränen, die über seine Wangen strömten, bat er um Vergebung und Nachsehen für seine schwere Sünde, für die es keine Verzeihung und Versöhnung gäbe! Er war es, der den König aufhetzte, ein Badehaus zu bauen, wie es der König Schelomo gebaut hatte, um Verhängnis und Verderben über den Juden zu bringen. »Und du, mein Herr«, beendete Pedro seine Worte, »als edler, großmütiger und barmherziger Mensch, verzeihe mir mein Vergehen, und in deinem großen Erbarmen rate mir, wie ich mich retten kann.« David AbuDarham, der von Natur aus ein barmherziger und mitleidsvoller Mensch war, antwortete Pedro: »Obwohl du ein Bösewicht und Übeltäter bist und es keine Vergebung für deine Frevel gibt, du mein Verderben tückisch geplant hast, obgleich ich immer Gutes von dir gehalten hatte, will ich dir trotzdem eine große Gunst erweisen, damit dir dein Leben erhalten bleibt. Geh zu den Silber- und Goldschmieden in unserer Stadt und bestelle bei ihnen silberne Teppiche, die mit Gold gewirkt sind und zwar nach den Maßen der Wände im Badehaus. Diese Teppiche befestige mit silbernen oder goldenen Nägeln an den Mauern. Nur dann werden sie für immer den Wänden anhaften.« Pedro handelte nach Davids Rat und mit Gottes Hilfe gelang ihm das Werk. Als Zeitpunkt der Vollendung gekommen war, lud er den König und alle Großen des Reiches ein, um ihnen die kostbare Malerarbeit zu zeigen. Und wirklich, alle Wände waren außerordentlich hergerichtet, und die Teppiche erfreuten das Herz. Alle sagten zu Pedro: »Sei gesegnet, du gebildeter und
kluger Mensch, da es dir gelungen ist, dieses wundervolle Werk zu vollbringen.« Da fragte der König David Abu-Darham: »Sag mir, wieviel Geld hast du ausgegeben, um das Badehaus zu bauen?« David kniete nieder und antwortete: »Wenn mir unser Herr, du Schmuck unseres Hauptes, den Lohn zahlen will für das, was mir gebührt, so habe ich nur einen Wunsch: Da zu unserem großen Bedauern vor einigen Tagen der Minister Mahmud, Sohn des Ali, gestorben ist, – er ruhe in Frieden – so erbitte ich mir, daß mein Freund, der weise Mosche, Sohn des Maimon, an seiner Stelle ernannt werden soll. Denn dieser Mann ist gut, ehrlich und voll Weisheit, und seine Ernennung für das hohe Amt wäre mein großer Lohn.« Der König stimmte zu und sagte: »Laßt den Mann hierherkommen. In Anwesenheit aller Minister werde ich ihm den Ehrentitel ›Minister‹ verleihen.« Eines Tages, als alle Minister im Königspalast versammelt waren, befand sich unter ihnen auch Mosche, Sohn des Maimon. Plötzlich erhob sich der König und verkündete: »Hohe Minister, hiermit erhebe ich Mosche, Sohn des Maimon, zum Rang eines Ministers. Der Minister Mosche, Sohn des Maimon, sei gesegnet. Möge er in seinen Taten höher und höher steigen, zum Guten unseres Landes. Amen.« »Amen!« antworteten alle Anwesenden. Danach fragte der König Abd’1-Asis den Minister Pedro: »Wieviel Geld hast du ausgegeben, um das Badehaus zu bemalen? Sag es mir, ich werde dir die ganze Summe zurückerstatten und ich selbst werde noch fünfhundert Pfund von meinem eigenen Vermögen dazulegen, als Geschenk für deine Weisheit und Klugheit.« Pedro entgegnete: »Mein König, Schmuck meines Hauptes, diese schwere Arbeit hat mich zweitausend Pfund gekostet.« – »Geh zum Schatzmeister«, befahl der König, »und er wird dir zweitausendfünfhundert Pfund auszahlen.« Und in seinem Herzen dachte der König: ›Was gibt es da zwischen David
Abu-Darham und Pedro Mukiloff?‹ Von jenem Tage ab besuchte Pedro Mukiloff den David beinahe täglich, mit dem Gedanken, zunächst von ihm ärgerliche Reden und Beschwerden zu hören, dann zum König zu gehen, ihn anzuschwärzen und ihn vor dem König zu demütigen. Eines Tages, als Pedro gerade dem David einen Besuch abstattete, kam ein Schuhmacher dorthin und nahm Maß von Davids Füßen. Nachdem dieser sich verneigt hatte und gegangen war, ging Pedro ihm nach, bis er seinen Laden betrat. Pedro trat nach ihm ein und sagte: »Mein Freund, wenn du reich werden willst, so höre mich an. Leg ein paar bedruckte Papiere, die ich dir bringen werde, in die Schuhe des Herrn David Abu-Darham unter das Sohlenleder, und ich will dich mit zweitausend Pfund entlohnen. Dann kannst du deinen Laden, so wie er ist, verkaufen, auch allen Besitz im Hause, und morgen mittag kannst du ein Schiff besteigen, das nach Amerika fährt.« Da freute sich der Schuster und sagte: »Wahrhaftig, in Amerika habe ich einen Bruder, der ist ein sehr reicher Mann, und zu dem kann ich fahren. Heute Abend werde ich meinen Laden nicht verlassen, bis ich die Schuhe fertiggemacht habe!« »Schön«, sagte Pedro, »morgen früh bekommst du die zweitausend Pfund in barem Geld.« Da ließ Pedro Papiere voll schwerer Flüche auf die moslemische Religion, auf den Propheten Mohammed und den König Abd’1-Asis drucken, und brachte sie und die zweitausend Pfund in den Laden des Schusters. Der legte sie unter das Leder der Schuhsohlen. Dann ging Pedro hinter dem Schuhmacher her und sah mit eigenen Augen, wie er die Schuhe in Davids Haus brachte. Am folgenden Freitag war Pedro an der Reihe, sich mit dem König zu unterhalten, und er verriet ihm im geheimen: »Es sind mir üble Dinge über David Abu-Darham zu Ohren gekommen. Ich habe gehört, daß er gemeine Flüche auf
unseren König, unser gekröntes Haupt, beschrieben und in seine Schuhe gelegt hat. Zwar kann ich es nicht glauben, daß er imstande ist, so eine böse Tat zu vollbringen.« Der König sagte kein Wort, sondern hörte nur der Rede zu. Aber am folgenden Freitag, als David hereinkam und sich vor ihm verneigte, rief er einen seiner Soldaten und befahl ihm: »Zieh dem David Abu-Darham die Schuhe aus und untersuche die Sohlen!« Und, o Schreck! In der Gegenwart des Königs fand der Soldat Papiere unter der Sohle, und darauf waren Schmähungen gegen den Islam, den Propheten Mohammed und den König gedruckt. Sofort rief der König Polizisten herbei und befahl ihnen, voll von grimmigem Zorn, David zu verhaften, ihn auf dem Weg windelweich zu schlagen und ihn gefesselt ins tiefe Meer zu werfen. So trieben die Polizisten den jüdischen Minister und hieben auf ihn ein, und viele Menschen liefen hinterher, um zuzuschauen, wie man einen jüdischen Minister in die Meerestiefe wirft. Zufällig stand gerade zu dieser Stunde Mosche, Sohn des Maimon, am Tor seines Hauses, das sich am Meeresufer befand. Und was sieht er? Die Polizisten führen einen Mann, der an Händen und Füßen gefesselt ist. Mosche trat zu den Polizisten und fragte: »Was ist dieses ganze Schrecknis? Warum laufen euch Hunderte von Menschen nach?« »Unser Herr Minister«, sagten die Soldaten, »der Minister David Abu-Darham hat Flüche und Schmähungen auf unseren Herrn und König, seinen Glauben und seinen Propheten geschrieben und diese Papiere in seine Schuhe, unter das Sohlenleder, gelegt. So ist der Minister auf dem Namen unseres Königs herumgetreten. Nur gut, daß jemand davon wußte und den König gewarnt hat. Und wahrhaftig, als man die Schuhe des Ministers untersuchte, fand man darin die Papiere. Der Sultan hat uns befohlen, den Minister zu fesseln, zu prügeln und ihn ins tiefe Meer zu werfen, wo er ertrinken und
eines ungewöhnlichen Todes sterben soll. Verflucht und verdammt sei dieser verräterische Minister!« Mosche, Sohn des Maimon, sprach voller Zorn: »Überlaßt mir diesen üblen Verräter! Dann brachte er ihn in sein Haus, schlachtete ein Kalb, zerschnitt es in Stücke, tat sie in einen Sack, blutig von innen und von außen, ging hinaus und sagte zu den Soldaten: »So soll man verfahren mit einem Mann, der an seinem König Verrat übt! Verflucht und verstoßen soll er sein! Ich habe den Verräter mit eigener Hand umgebracht.« Die Polizisten nahmen den Sack und warfen ihn ins Meer. Und Mosche ging zum König, verneigte sich vor ihm und sagte tränenden Auges: »Unser Herr und König, die Krone unseres Hauptes, was soll ich sagen zu diesem Schmeichler und Betrüger David AbuDarham, der den Gerechten und Unschuldigen gespielt hat, aber bei dem Herz und Mund nicht übereinstimmten? Gelobt sei Gott, daß er ihn aus der Welt vertilgt hat.« Der König antwortete: »Ja, soll er verflucht sein und sein Andenken ausgelöscht!« David Abu-Darham, der im Hause Mosches versteckt war, gab keinen Laut von sich, damit man draußen seine Stimme nicht hört. Jeden Freitag pflegte er ans Ufer zu gehen, denn Mosches Haus stand am Meeresufer, um dort Fische zu angeln. Diese Fische reinigte er mit eigener Hand und bereitete sie für das heilige Schabbatmahl vor. Eines Tages wandelten der König und Mosche am Meeresstrand entlang, als plötzlich dem König der Ring vom Finger und ins Wasser fiel. Die beiden begannen zu suchen, doch vergebens, – es war unmöglich, den Ring zu finden. Da sprach der König zu Mosche: »Du sollst wissen: diesen Ring habe ich von meinen Vorvätern, den Königen ererbt, und er hat eine wundersame Kraft. Solange er auf dem Finger des Königs sitzt, wird kein Feind und Widersacher in unserem Lande herrschen. Aber wehe mir und dem Land, wenn dieser Ring
nicht an meinem Finger ist! All meine Größe und mein Ruhm, ja der ganze Frieden des Landes, hängen von diesem Ring ab. Wir müssen ihn also unbedingt finden. Da ich diesen Ring beim Spaziergang mit dir verloren habe, lasse ich dir einen Monat Zeit, ihn zu finden. Wenn du ihn aber nicht finden solltest, so wirst du dasselbe Ende nehmen wie David AbuDarham!« Mosche wunderte sich über das schwere Urteil des Königs, aber nahm es auf sich und sprach: »Ich bin dein Diener, ich werde nicht ruhen und nicht schlafen, werde den Ring bei Tag und bei Nacht suchen – Gott wird mir helfen, ihn zu finden.« Nach Ablauf des Monats, als Mosche schon ganz verzweifelt war über die zu erfüllende grausame Aufgabe, fand sich bei David ein ungewöhnlich großer Fisch ein. Als er den Fisch öffnete, um ihn für den Schabbat zuzubereiten, fand er in dessen Magen den Ring des Königs. Vor lauter Freude fing David an zu singen, bis Mosche und seine Frau sagten: »David ist verrückt geworden.« Sofort stieg Mosche in Davids Versteck hinunter und begann ihn anzuschreien: »Was läßt du deine Stimme hören, bist du verrückt geworden? Willst du über dich und uns Unheil bringen?« Da nahm David den Ring des Königs heraus und zeigte ihn dem Mosche – und auch der verlor fast den Verstand. David erzählte, wie der Ring sich gefunden hatte, und Mosche riet ihm: »In drei Tagen muß ich dem König den verlorenen Ring überbringen, und das werde ich auch tun. Aber zuvor werde ich dem König erzählen, wie mir im Traum offenbar wurde, daß am nächsten Montag um zehn Uhr früh, der Ring aus der Meerestiefe gebracht werden wird. – Und den Ring wirst du überbringen.« Mosche berichtete dem König von seinem Traum und dieser berief alle Fürsten zum Meeresufer, damit sie mit eigenen Augen das Wunder sähen, an welches man unmöglich glauben
könne. Am Montag also, noch vor zehn Uhr, sehen sie eine Gestalt in den Meereswogen schwimmen. Sie kommt dem Ufer näher, und plötzlich sehen alle, daß die Gestalt niemand anders als David Abu-Darham ist. Der Mann stieg ans Ufer, näherte sich dem König, verneigte sich vor ihm bis zur Erde und sprach: »Unser Gebieter, Herr, Licht unserer Augen. Ich, dein Knecht, will dir, du König, Krone unseres Hauptes, alles erzählen, was von dem Augenblick an, wo man mich ins Meer warf, über mich gekommen ist: Plötzlich war ich von großen Fischen umgeben, die mich nahmen und vor ihren König, den Leviathan, brachten – und ich bin die ganze Zeit ganz aufgeregt von dem, was meine Augen schauen. Als ich mich dann vor dem Leviathan verneigte, fragte er mich: ›Bist du der Mann, der das berühmte Badehaus, das nach dem Muster des Badehauses von König Schelomo in Jeruscholajim gebaut wurde, errichtet hat?‹ Mit angemessenem Respekt antwortete ich: ›Ja, ich, dein Diener David Abu-Darham, habe es im Namen Gottes errichtet.‹ Der König der Fische sagte: ›Jedes Ding, das du haben möchtest, klein oder groß, verlange von meinen Dienern; sie werden es dir beschaffen und es dir zur Verfügung stellen. Baue auch hier solch ein prächtiges Haus.‹ Nun, in kurzer Zeit gelang uns die Arbeit, Gott sei Dank, und das Gebäude war fertig, in aller Vollkommenheit. Da sagte der König der Fische zu mir: ›Ich bin mit deiner schönen und vollkommenen Arbeit zufrieden. Jetzt brauchen wir einen Malermeister wie Pedro Mukiloff, der Minister des Königs Abd’1-Asis. Kehre also zu deinem Sultan zurück und ersuche ihn, Pedro zu mir zu schicken. Zum Zeichen der Freundschaft schicke ich dem verehrten Sultan diesen goldenen Ring.‹« Wie er seine Rede beendet hatte, zog David Abu-Darham das deutliche Zeichen des Leviathans hervor – den wundertätigen Ring des Königs, der ihm einen Monat zuvor verlorengegangen war.
Als der Sultan die Worte Davids hörte und das deutliche Zeichen, welches ihm der König der Fische gesandt hatte, sah, wandte er sich an Pedro Mukiloff und sagte zu ihm: »Geh im Namen Gottes, und sei so erfolgreich unter Wasser, wie du es auf dem Festland warst.« Und er ließ Soldaten und Schutzleute kommen und befahl ihnen, den Minister Pedro zu fesseln und ihn ins Meer zu werfen, an einer Stelle weit weg und tief. Und dort warteten schon die großen Fische auf den Malermeister, um ihn zu nehmen und ihn vor ihren König, den Leviathan, zu bringen.
34. Was macht Gott den ganzen Tag?
Es war einmal ein armer Mann, ein Bettler, der kam zu unserem Lehrer Mosche und sprach: »Unser Lehrer und Prophet Mosche! Warum hat es der Himmel über mich verhängt, daß ich mich den ganzen Tag herumtreiben und betteln muß, und mich und meine Familie nur mühselig ernähren kann, während andere Leute angenehm leben, nicht in Not sind und sich anständig ihren Unterhalt verdienen? Bitte, willst du für mich zu Gott beten, damit er auch mir einen ordentlichen Erwerb gibt, so daß ich mit meiner Familie anständig leben kann?« Unser Lehrer Mosche befolgte die Bitte und betete zu Gott: »Bitte, gib auch diesem Armen einen guten Verdienst wie allen Juden. Warum ist dieser Jude dazu verurteilt, sein Brot für sich und seine Familie so schwer zu erwerben?« Als er sein Gebet beendet hatte, hörte er eine Stimme vom Himmel rufen: »Mosche, misch dich nicht in Angelegenheiten, die dir fern sind! Laß diesen Armen; er soll weiter so leben, und das wird zu seinem Besten sein!« Aber Mosche war nicht überzeugt und flehte zu Gott, Er möge ihn doch erhören und es ihm zuliebe tun. Auf soviel Bitten und Flehen hin erhörte Gott Mosches Gebet. Innerhalb weniger Tage wurde der Arme reich, er fand einen großen Schatz und wurde ein sehr wohlhabender Mann. Aber damit begnügte er sich nicht. Wiederum wandte er sich an Mosche: »Geh, bitte, zu Gott und sage ihm, er soll mich zu einem großen Minister in der Regierung machen.« So betete Mosche wiederum und bat Gott, den Armen zu einem großen Minister in der Regierung zu machen, wie dessen Ehrgeiz es anstrebte. Wahrhaftig, Gott erhörte Mosches Bitte, und kurze
Zeit danach erwählte ihn der König und machte ihn zu einem großen Minister in seinem Reich. Nach einem Jahr aber wandte sich der Arme wieder an Mosche und sagte zu ihm: »Mosche, du Prophet, ich habe dieses Amtes schon ein ganzes Jahr gewaltet. Jetzt verlangt es mich danach, König zu werden. Vielleicht erbittest du von Gott, mich zum König dieses Landes zu machen?« Und nachdem Mosche gebetet und gefleht hatte, Gott möge aus diesem Armen den König des Landes machen, erhörte Gott Mosches Bitte: Der Mann wurde wirklich König über das Reich, nachdem das Volk den vorigen König verstoßen und den früherer! Bettler einstimmig zum König erwählt hatte. Obwohl er nun König war, war er nicht glücklich und zufrieden und nach wenigen Monaten wandte er sich wieder an Mosche und sagte: »Mein Prophet Mosche, du hast mir soviel Gunst erwiesen, daß ich sie nie vergessen werde. Jetzt komme ich zu dir mit einer einzigen Bitte, und ich hoffe, auch diese wirst du erfüllen: Ich möchte mit eigenen Augen sehen, was dein Gott im Himmel den ganzen Tag lang macht. Das ist alles, was ich will.« Als Mosche diese Bitte hörte, lief er hinaus und betete zu Gott: »Du weißt, oh Herr, dieser Mann, der durch Dein Tun König geworden ist, er wünscht sich jetzt, mit eigenen Augen zu sehen, was der Schöpfer der Welt den ganzen Tag lang tut.« Bevor er noch ein weiteres Wort sagen konnte, hörte er eine Stimme rufen: »Mosche, deinetwillen habe ich deine Bitten erfüllt; habe ich dich denn nicht von vornherein davor gewarnt, dich in meine Angelegenheiten zu mischen? Ich habe mein Volk geschaffen, und ich werde jeden entsprechend seinem Verstande ernähren. Ich teile jedem zu, was ihm gebührt, aber ich wollte, daß du selbst den Übermut der Menschen mit ansiehst, damit du nicht noch einmal für jemand anderen etwas von mir erbittest. Geh also jetzt zu ihm und sage ihm, morgen
früh kann er mit eigenen Augen sehen, was ich den ganzen Tag tue.« Mosche ging zu dem Mann und verkündete ihm, am nächsten Morgen würde er mit eigenen Augen sehen können, was der Schöpfer der Welt den ganzen Tag lang tut. Als der König diese Worte von Mosche hörte, freute er sich über alle Maßen. Der König schlief in dieser Nacht tief und fest. Als er am frühen Morgen die Augen aufschlug, fand er sich in den Kleidern der Armut, auf einer Matratze auf dem Boden liegend, in der Ecke der armseligen Hütte, in der er früher gewohnt hatte. Und in der anderen Ecke der Hütte lag seine Frau mit den Kindern, alle in Lumpen gehüllt. »Was ist mit mir geschehen?« schrie der Arme, »ist das ein Traum? – Nein, keinesfalls! Gestern war ich König und schlief mit meiner Frau und meinen Kindern in einem Palast. Was soll das? Wer hat mich hierher gebracht?« Er lief hinaus, suchte und suchte und fand schließlich Mosche. Er warf sich zu dessen Füßen und sagte: »Unser Lehrer und Prophet Mosche, was hat Gott mir angetan? Mach mich wieder zu dem, was ich war! Warum hat Er das getan?« »Keineswegs«, sagte Mosche, »unser Gott hat dich nicht so verwandelt. Du selbst hast Ihn gebeten, dich mit eigenen Augen sehen zu lassen, was er den ganzen Tag lang macht. Er hat deine Bitte erfüllt und hat dir sein Werk gezeigt. Den ganzen Tag lang läßt er die einen Menschen zum Reichtum aufsteigen, und die anderen läßt er auf die niedrigste Stufe sinken. – Das ist seine Arbeit den ganzen Tag lang.«
35. Die Glücksfurchen
Da war ein Ehepaar, ein reicher Mann und seine Frau, die hatten keine Kinder. Mit einem Mal aber wurden sie von Tag zu Tag ärmer. Sie verbrauchten alles, was sie im Hause hatten, bis nichts mehr zum Essen da war. Eines Tages kam einer der Bezirksstatthalter, der den Mann noch von früher kannte, zu ihm zu Gast. Als er auf der Straße, wo der Mann wohnte, vorbeikam, ging der ehemals reiche Mann ratlos umher. Der Statthalter traf ihn, erkannte ihn aber nicht und fragte ihn, wo der Mann So-und-So wohne. »Geehrter Herr Statthalter, ich selbst bin der Mann.« »Antworte mir auf meine Frage, bevor du verprügelt wirst!« »Glaub mir, Herr, ich selbst bin dieser Mann.« Der Statthalter erschrak, wußte aber nicht, was er darüber denken sollte, und sagte: »Wenn es so ist, laß uns hineingehen.« Sie traten ein, setzten sich nieder und sprachen von vergangenen Tagen. Da der Statthalter niemanden im Hause sah, weder Mann noch Frau, fragte er: »Bist du allein zu Hause?« Der Mann sagte: »Meine Frau fühlt sich nicht gut.« »Laß sie aufstehen«, befahl der Statthalter, »vielleicht finden wir für sie Heilmittel.« Der Mann sah, daß seine Ausrede nicht gelungen war, und gestand die Wahrheit: »Sie hat keine Kleider anzuziehen.« Das erschreckte den Statthalter noch mehr. Er zog sein eigenes Gewand aus, gab es dem Mann und befahl: »Gib ihr das hier anzuziehen.« Dann gab er dem Mann ein paar teure Münzen und sagte: »Kaufe dafür Lebensmittel für die Abendzeit, leihe Dir eine Wasserpfeife – die Frau soll kochen, und wir gehen inzwischen beten.«
Der Mann ging weg, kaufte Lebensmittel, lieh sich eine Wasserpfeife, und dann richtete die Frau ein gutes und schmackhaftes Gericht an. Als die Männer vom Gebet zurückkamen, und alles vorbereitet war, aßen sie, denn alle waren hungrig. Danach rauchten sie die Wasserpfeife und plauderten bis zu später Stunde. Unter anderem setzte der Statthalter dem Ehepaar auseinander, sie täten gut daran, den Wohnort zu wechseln. Vielleicht wechselt auch ihr Pech in Glück! Dann holte er noch ein paar Münzen aus der Tasche, verabschiedete sich, und sie trennten sich. Das Ehepaar befolgte den Rat. Sie verkauften ihr Haus, griffen zum Wanderstab und wanderten so ein, zwei Monate, bis sie ihre Füße zu einem fernen Dorf führten. Der Dorfälteste sah sie, rief sie zu sich, gab ihnen zu trinken und zu essen, und dann wollten sie ihren Weg fortsetzen. Aber der Dorfälteste ließ das nicht zu und fragte sie nach ihrer Vergangenheit aus; sie erklärten ihm die Sachlage. Als erfahrener Mann hielt er sie zurück, gab ihnen einen Wohnplatz in seiner Nähe, und bei ihm bekamen sie Essen und Trinken. Einige Monate verstrichen, da zog der Dorfälteste mit seinen Knechten zur Saat aus. Er nahm den Mann mit und sagte zu ihm: »Wähle dir eine Furche hier, und eine zweite Furche auf einem anderen Feld und säe dort aus.« Gesagt – getan. Nach einem Monat ging der Dorfälteste nachsehen, wie die Saat aufgegangen war. Alles war gut aufgesprossen, aber zu seinem Erstaunen war die Saat des Mannes noch nicht aufgegangen. Er zeigte dem Mann die Furche und sagte: »Dein Glück schlummert noch; nur nicht verzweifeln!« Dasselbe wiederholte sich in der folgenden Jahreszeit und auch im Jahr danach. Aber wie der Dorfälteste den Mann zum vierten Mal mitnahm und der aussäte, entsproßte die Saat nach einigen Tagen ganz wunderbar, wuchs und brachte eine Ernte, wie man es sich gar nicht vorstellen konnte. Als der Dorfälteste das sah, sagte er zum Mann: »Du
siehst, dein Glück ist erwacht. Du wirst wieder wie in früheren Zeiten leben können. Aber bevor du uns verläßt, wollen wir eine Abschiedsfeier veranstalten.« Das führten sie auch aus. Da sie nun bis zu später Stunde plauderten, merkten sie gar nicht, daß die Frau des Mannes eingenickt war. Da sagte der Dorfälteste zu ihr: »Geh, schlaf dort im Zimmer. Später wird dein Mann dich wecken, und ihr werdet zusammen schlafen gehen.« Die Frau ging weg, und sie fuhren mit ihrer Unterhaltung noch fort. Der Dorfälteste hatte einen Sohn, einen Jäger, der pflegte von morgens früh bis spät in der Nacht unterwegs zu sein. Wenn er zurückkam, hatte ihm seine Mutter immer ein besonderes Gefäß mit frischer Milch vorbereitet, welches in einer Ecke des Zimmers hing. Das pflegte er auszutrinken und, müde wie er war, ging er dann immer gleich schlafen. Aber er hatte eine seltsame Gewohnheit: er konnte nicht schlafen ohne seine Hände um seine Mutter zu legen. In jener Nacht nun, als er nach Hause kam, tat er wie immer: Er legte seine Hände auf die Frau, die dort fest schlief, und in dem Glauben, daß sie seine Mutter wäre, schlief er ein. Als der Dorfälteste und der Mann nun ihre Unterhaltung beendet hatten und schlafen gehen wollten, sagte der Dorfälteste: »Geh, sieh nach deiner Frau! Wecke sie auf und geht schlafen.« Der Mann ging ins andere Zimmer, aber da war es ganz dunkel in den Ecken. Endlich fand er seine Frau, aber da bemerkte er, daß jemand neben ihr schlief, mit seinen Händen auf ihr. Ohne zu überlegen zückte er sein Schwert und bohrte es dem Mann in den Rücken, bis er seine Seele ausatmete. Der Jüngling hatte keine Zeit auch nur einen Schrei auszustoßen, er war auf der Stelle tot. Inzwischen erwachte die Frau; sie hatte etwas Nasses gefühlt, das sich auf sie ergoß. Als sie das entsetzliche Bild sah, weinte sie und rief aus: »Du hast den einzigen Sohn dieser alten Leute
auf unsere alten Tage umgebracht. Wehe uns und ihnen – so hast du ihnen Dank abgestattet! Oh weh!« Da kam auch schon der Dorfälteste mit einer Kerze, denn sein Herz war voller Unruhe. Als er die vollbrachte Tat sah, seinen einzigen Sohn getötet, den Mann und dessen Frau in Ohnmacht, nahm er sich ihrer an, bis sie zu sich kamen, und tröstete sie. Danach befahl er dem Mann: »Lade sofort die Leiche auf ein Pferd, bringe sie auf einen Hügel in der nördlichen Richtung und komme danach sofort zurück.« Zeitig am nächsten Morgen schickte der Dorfälteste an alle Verwalter der umgebenden Bezirke Befehle, seinen Sohn zu suchen und zu sehen, ob er noch lebe. Wenn nicht, müsse der Statthalter, in dessen Gebiet er tot aufgefunden würde, für ihn Sühnegeld zahlen. Die Verwalter begriffen den Kummer des Vaters und ein jeder schickte gleich einige Leute aus, um ihr Gebiet abzusuchen. Zum Erstaunen derer, die im Norden suchten, fanden sie den Sohn, und er war ermordet. Der Verwalter, in dessen Bezirk der Tote aufgefunden wurde, bezahlte dem Dorfältesten zwanzigtausend Münzen. Danach begrub man den Toten und verabschiedete sich in aller Freundschaft. Anstatt das Sühnegeld zu behalten, gab der Dorfälteste es dem Mann und schickte ihn in Frieden seines Weges. Der Mann sah die Gelassenheit des Dorfältesten; er nahm das Geld an und verabschiedete sich voll Dankbarkeit. Das Glück des Mannes blühte. Kaum langte er in einer Stadt an, und siehe – man ruft dort aus: »Wer will das beste Haus in der Stadt kaufen?« Der Mann ging und kaufte das Haus. Sie wohnten darin in Ruhe, und ihr Reichtum wuchs ständig. Und was sie schon gar nicht mehr erhofft hatten, seine Frau wurde schwanger und gebar einen Sohn. Einige Leute in der Stadt, in der der Mann jetzt wohnte, waren Händler und kamen mit ihren Karawanen auch zu jenem Dorfältesten, bei dem der Mann gewohnt hatte. Jedesmal fragte
der Dorfälteste diese Händler, ob sie etwas von dem Mann gehört hätten. Diese antworteten: »Richtig, vor ungefähr zwei Jahren ist ein Mann mit diesem Namen in unsere Stadt gekommen. Sie sind zwar alte Leute, aber doch ist ihnen ein Sohn geboren worden.« Da wunderte sich der Dorfälteste sehr, bat aber, man möge wieder bei ihm vorbeikommen, er will ihnen einen Brief an den Mann mitgeben. »Gut, wir wollen kommen«, sagten die Händler. Der Dorfälteste bereitete einen Brief vor, und als die Kaufleute vorbeikamen, bat er, nicht zu vergessen, den Brief dem Mann zu übergeben. Die Kaufleute gaben dem Mann den Brief; der steckte ihn in den Gürtel und vergaß ihn. Erst als er schlafen gehen wollte, machte er den Gürtel ab, und der Brief fiel heraus. Da erinnerte er sich, von wem er war. Eilig öffnete er den Brief, las ihn und er schlug sich vor den Kopf, so daß seine Frau ihn fragte: »Was ist geschehen?« »Höre, der Dorfälteste So-und-So bittet, wir sollen ihm unseren erstgeborenen Sohn schicken. Er ist krank und der Arzt hätte gesagt, er könne nur gesund werden, wenn er das Herz eines Erstgeborenen essen wird.« »Das ist alles?« fragte die Frau. »Was? Unseren einzigen Sohn sollten wir ihm geben? Das kann nicht sein!« Aber die Frau urteilte: »Selbst wenn er uns alle drei abschlachten würde, wäre das noch nicht ein Drittel des Dankes wert, den wir ihm schulden.« Am nächsten Tag kleidete sie ihren Sohn an, und sie und der Vater herzten und küßten ihn. Dann übergaben sie ihn den Händlern, welche ihn dem Dorfältesten überbringen sollten. Diese brachten ihn zum Dorfältesten, und er zog ihn wie seinen eigenen Sohn groß.
Nach weiteren zwei Jahren gebar die Frau des Mannes einen zweiten Sohn. Auch davon hörte der Dorfälteste durch die Händler. Wieder schickte er durch sie einen Brief an den Mann. Der Mann vergaß wieder den Brief und erinnerte sich an ihn erst, als er schlafen ging. Er sah, daß ein Brief herunterfiel, öffnete ihn, fing an zu lesen und schlug sich vor den Kopf. Die Frau verstand schon und sagte: »Auch den Zweiten werden wir hergeben.« Und so geschah es. Der Dorfälteste zog beide Söhne groß. Danach gebar die Frau eine Tochter. Drei, vier Jahre verstrichen. Da sagte der Mann: »Komm, wir schicken dem Dorfältesten einen Brief mit den Kaufleuten und bitten ihn sich zu bemühen, herzukommen und uns zu besuchen, bevor einer von uns stirbt.« Als der Brief zum Dorfältesten gelangte, las er ihn, und am nächsten Tag machte er sich mit seiner Frau und den beiden Söhnen auf den Weg zum Mann. Als nun der Mann den Dorfältesten mit seiner Frau sah, samt den beiden Söhnen, die er nicht mehr zu sehen gehofft hatte, waren er und seine Frau sehr aufgeregt und weinten vor Freude. Dann sagte der Dorfälteste: »Ich hatte einen Sohn eingebüßt, welcher ohne Absicht bei Nacht getötet wurde. Ihr aber habt bei Tag zwei Söhne hergegeben. Also ist Euer Vergelt größer als meiner.« Der Dorfälteste und seine Frau blieben eine Woche da, und danach kehrten sie zurück und man schied in Freundschaft voneinander.
36. Die Nebenfrau
Es war einmal ein Mann, der eine Frau hatte. Er liebte sie sehr, aber sie hatten keine Kinder. Nach einigen Jahren sagte die Frau: »Meinetwegen bist du unglücklich. Ich bin unfruchtbar. Nimm dir eine andere Frau, damit sie dir Kinder schenkt.« »Nein, nein, liebe Frau. Ich liebe dich. Wozu brauche ich noch eine Frau? Mein Schicksal will es so, ich muß kinderlos sterben.« Die Frau aber setzte ihm weiter zu, bis er wütend wurde und sagte: »Kein weiteres Wort!« Da schwieg sie. Nach einiger Zeit begann sie wieder zu reden: »Heirate schon, heirate.« »Wozu willst du das? Du wirst dich nur mit jener streiten und eifersüchtig sein.« – »Nein, nein, ich werde nicht eifersüchtig sein, ich will nur, daß du Kinder haben sollst.« Aber der Mann wollte nichts davon hören. Es verging wieder einige Zeit. Sie setzte ihrem Mann solange zu, bis er dachte: ›Vielleicht will sie es wirklich.‹ Daher sagte er: »Gut! Suche dir ein Mädchen aus, so wie du es gerne hast, und ich werde alles so machen, wie du es willst. Ich werde bei ihr nur einmal in der Woche sein, bei dir aber sechsmal.« »Nein, nein! Bei ihr wirst du sechsmal sein und bei mir nur einmal. Sie soll dir doch Kinder gebären – und ich, was hast du schon an mir?« »Gut.« Die Frau ging aus, suchte ein junges, gesundes Mädchen, damit sie ihm Kinder gebäre. Sie selbst bereitete mit eigenen Händen alles zur Hochzeit vor, bis zum letzten Knopf – das Zimmer, die Möbel, die Kleider, die Gerichte – alles, alles. Sie
bemühte sich sehr und dachte – hier ist das Glück für meinen Mann. Ihr Mann bereitete eine Holzpuppe vor, legte sie einen Tag vor der Hochzeit in das neue Zimmer und schloß es ab. Man feierte Hochzeit. Dann kam die Nacht. Der Mann ging mit seiner Braut ins Zimmer – und er hatte noch nicht die Tür zugemacht, da schreit schon die Frau: »Mein Mann, mein Mann!« – »Was ist denn los, meine liebe Frau?« »Das ist nicht schön von dir. Du hast vergessen, mir ›gute Nacht‹ zu sagen.« »Richtig, recht hast du, meine Liebe! Ich bin wirklich im Unrecht.« Eine halbe Stunde verging. »Mein Mann, mein Mann!« »Was denn nun, meine liebe Frau?« »Ich möchte dich so gern küssen. Komm her!« Da ging der Mann hinaus und küßte sie. Nochmals verging eine halbe Stunde. »Mein Mann, mein Mann!« »Was ist denn?« »Deine Braut hat mir nicht die Hand geküßt, das ist nicht schön von ihr.« »Richtig. Aber sie ist doch schon nackt. Es ist doch eine Schande, so herauszukommen. Ich werde ihre Hand herausstrecken und sie wird deine Hand nehmen und sie küssen.« Da streckte der Mann die Hand der Puppe hinaus. Die Frau nahm die Hand und schnitt sie ab: »Damit du weißt, daß man meinen Mann nicht küssen darf! Ich habe dich hergebracht, damit du ihm Kinder gebierst und nicht, damit du ihn küßt!« Da lachte der Mann, öffnete die Tür – und da sitzt die Braut ganz angezogen auf einem Stuhl. Die Hand der Puppe liegt in der Hand der Frau: »Nun, Frau, was habe ich dir gesagt?« »Ja, ich habe nicht gedacht, daß ich gleich am ersten Abend so leiden werde!«
»Jetzt werden wir die Braut wieder zurückschicken und auf das Brautgeld und die Möbel verzichten. Ich habe sie nicht angerührt. Was soll mir ihre Jungfernschaft? Wir werden eben kinderlos bleiben. Das ist eben unser Schicksal.«
37. Die schöne Braut
Da war einmal ein Schuster, der war sehr reich, denn er nähte teure Schuhe. Seine Frau war sehr schön, aber Kinder hatten sie keine. Die Zeit verging, und vor lauter Nichtstun, denn er hatte keine Kinder, die ihn beschäftigen würden – fing der Schuster an, jeder hübschen Frau nachzustellen. Seine Frau bemerkte dieses Treiben und sah, daß er nicht mehr der gute, gottesfürchtige Mensch von früher war. Sie beschloß, ihn in Versuchung zu führen und ihn eines Besseren zu belehren. Was tat die Frau? Eines Tages machte sie sich auf, putzte und schmückte sich, zog feiertäglich schwarze, raschelnde Gewänder an, nahm einen schwarzen Schleier vors Gesicht, um wie ein junges Mädchen, wie eine Sechzehnjährige, auszusehen und wie ein verwöhntes Kind. Sie machte sich auf den Weg und kam zum Laden ihres Mannes. So das junge Mädchen spielend, bat sie den Mann, ihr schöne Schuhe zu verkaufen. Der erkannte seine Frau nicht. Diese redete geziert und ganz kindlich mit ihm, saß da und suchte aus und wählte, und zum Schluß bat sie: »Zieh mir, bitte, die Schuhe an. Es fällt mir schwer, mich zu bücken.« Dabei entblößte sie ihre schönen, weißen Beine. Der Schuster verliebte sich sofort in sie und sagte: »Wie schön bist du! Wie herrlich und wie jung! Erlaube mir, daß ich mich in dich verliebe, laß mich dich lieben!« Die verkleidete Frau aber rief aus: »Nein, nein, das darfst du nicht, ich bin doch eine unberührte Jungfrau, das ist verboten!« Ganz verliebt wählte der Schuster das schönste Paar Schuhe aus und verkaufte es ihr ganz billig. Sie nahm die Schuhe, kam nach Hause, versteckte sie und zog sich um. Da
war sie wieder die Frau des Schusters, wie gewöhnlich. Am Abend kam ihr Mann von der Arbeit heim; er war traurig, sah nicht aus wie sonst und klagte, er fühle sich nicht wohl. Seine Frau fragte: »Was ist mit dir? Sag es mir! Erzähl mir!« Er antwortete: »Was soll ich dir erzählen, Frau?« – und seufzte schwer auf. Aber sie fragte und drang in ihn. Er seufzte tief und sagte: »Ich muß an einen bestimmten Ort reisen.« Sie antwortete: »Wenn du es wünschst, so fahre doch!« Am nächsten Tag ging der traurige und verliebte Schuster zur Arbeit. Seine Frau aber verkleidete sich, putzte sich heraus und eilte wieder zum Laden ihres Mannes – um Hausschuhe zu kaufen. Und der Schuster – sein Herz wollte schier zerspringen, so verdreht war er vor Liebe –, und schon will er sie heiraten. Aber sie erwiderte: »Du kannst mich nicht heiraten! Ich bin die Tochter des Scheichs vom Ort So-undSo.« Der Schuster ließ sich nicht abweisen, er bat ein zweites und ein drittes Mal, bis ihm die Frau eine Adresse von einem entfernten Dorf gab, als wären da ihre Eltern. Dann nahm sie die Pantoffeln, ging nach Hause und versteckte sie. Am Abend kam der Schuster nach Hause, tiefbetrübt, ganz krank, voll Schmerz und Unbehagen, ungeduldig und unruhig, und seine Frau fragte ihn: »Was hast du nur, mein lieber Mann? Sag mir – immer bist du so stark und selbstsicher – was ist dir geschehen? Erzähl’s mir doch!« Der Schuster antwortete voll Ungeduld: »Ich muß an einen bestimmten Ort reisen.« Sie half ihm dabei, sein Bündel zu packen, reichte ihm seine kostbarsten Gewänder und ließ ihn dorthin fahren, wohin er wünschte. Der Schuster reiste zum Wohnort des besagten Scheichs und gelangte zu einem großen Palast, der höher und schöner als alle Häuser im Dorf war, ganz wie ein Königspalast, mit Wächtern rundherum. »Kann ich, bitte, den Scheich sehen?« bat der
Schuster. Er trat ein und sah einen Mann wie ein König. Er fragte den Schuster: »Warum bist du gekommen?« Der Schuster antwortete: »Oh, Scheich, ich habe mich in deine Tochter verliebt; es verlangt mich nach ihr, und ich will sie zur Frau nehmen.« Der Scheich antwortete: »Meine Tochter kannst du nicht zur Frau nehmen. Sie ist voller Läuse, und ihr ganzer Körper ist mit Krätze bedeckt; sie spricht nicht wie Menschen sprechen; dein ganzes Leben lang wirst du es bereuen – es wäre ein Jammer um dich!« Aber der Schuster war hartnäckig: »Ich bin mit allem einverstanden, denn ich will sie heiraten.« Da ließ der Scheich den Schuster vor vielen Zeugen einen Vertrag unterschreiben, in dem er darauf besteht und bereit ist, die Tochter des Scheichs, die voll Läuse und Krätze ist, zu heiraten. Der Scheich veranstaltete ein freudiges Festmahl zur Hochzeit mit vielen geladenen Gästen. Nach der Feierlichkeit durfte der Schuster seine neue Braut sehen; er, der Verliebte, näherte sich ihr, deckte sie auf und sprach zu ihr zärtlich: »Erinnerst du dich, wie du bei mir Schuhe gekauft hast? Wie ich dir liebende Worte zusprach? Erinnerst du dich, wie du mir deine schönen Beine entblößt hast?« – »Gr-r-r«, antwortete die Tochter des Scheichs mit der Stimme eines Tieres. Wieder und wieder versuchte der Schuster, ihre Erinnerung aufzufrischen: »Ich liebe dich doch, laß mich dich umarmen!« und berührte sie. Da bissen ihn Läuse! Alles, was er hörte, waren tierische Laute. Oh, weh! Der Schuster schämte sich sehr; er wurde traurig und bedrückt, und schwere Reue überfiel ihn, da er solches Unheil über sich selbst gebracht hatte. Wie kann er sich vor dieser Braut retten? Traurig ging er im Palast des Scheichs umher, rührte kein Essen und Trinken an und seine liebe Braut schon gar nicht… wie kommt er bloß von hier los? Eines Tages sagte er zum Scheich: »Ich muß für einen Monat wegfahren, ich fühle mich nicht wohl.« – »Gut«, antwortete der Scheich, »unter der Bedingung, daß du dich schriftlich und vor vielen
Zeugen verpflichtest, nach einem Monat zu deiner Frau zurückzukehren.« Im Moment, wo er die Erlaubnis hatte, riß der Schuster aus, er ließ sogar seine kostbaren Kleider liegen und kehrte schnurstracks zu seiner ersten Frau zurück. Da kam er an, ganz beschämt. Seine Frau empfing ihn erstaunt und sagte: »Warum bist du denn zurückgekommen? Was ist geschehen? Was ist los?« Der Schuster erniedrigte sich voll Reue vor ihr: »Du bist meine teure und schöne Frau, nur dich verehre und schätze ich und dich liebe ich.« Seine Frau fragte ihn weiter aus: »Sag mir, was ist mit dir?« Da erzählte er ihr von der großen Liebe, die in ihm für die Tochter des Scheichs entbrannt war, so daß es ihn gelüstete, sie zur Frau zu nehmen. Da lüpfte seine Frau den Saum ihres Kleides und sagte: »Das hier sind die Füße, in die du dich verliebt hast.« Der Schuster erzählte weiter: »Ich habe ihr zwei Paar Schuhe verkauft, ein Paar Schuhe und ein Paar Pantoffeln.« Da zeigte sie ihm die beiden Paare und fragte: »Erkennst du sie?« Das kränkte den Schuster noch mehr; er wußte nicht, wie er sich vor seiner Frau rechtfertigen konnte. Er warf sich vor ihr zu Boden, küßte ihr die Füße und flehte sie weinend an, sie solle ihm doch einen Rat geben, wie er von der Tochter des Scheichs freikommen kann. »Gut, geh in die Stadt, ruf dort allerhand Gesindel zusammen, Leute, die grob und dreist sind, zerlumpte und schmutzige, arme Leute, dreißig an der Zahl; nimm einen Sack mit kleinen Münzen mit, verteile sie an die Leute und bitte sie, vor dem Palast des Scheichs einen Auflauf zu veranstalten. Dort sollen sie schreien, sie sind Verwandte des Schwiegersohnes; sie wollten sich betrinken, in den Palast kommen und feiern und auch in das Gemach der Tochter hineingehen, um sie zu der Hochzeit mit ihrem Verwandten zu beglückwünschen.«
Der Schuster ging hin, holte dreißig arme Leute, bezahlte sie, und diese zogen vor das Haus des Scheichs, schlugen die Trommel, tanzten, sangen und schrien, sie wären Verwandte des neuen Schwiegersohnes. Zu Ehren des Schwiegersohnes wollen sie essen und trinken. Da schämte sich der Scheich: ›Was? Ich habe meine Tochter einem dieser zerlumpten Hohlköpfe gegeben?‹ Voll Zorn schrie er: »Macht, daß ihr fortkommt! Der Schuster soll sich scheren! Es paßt sich nicht, daß ich, der Scheich, meine Tochter solchem Gesindel gebe, wo ich selbst doch ein hochangesehener Mann bin.« So wurde der Schuster frei und seither hörte er auf, jeder schönen Frau nachzulaufen, und blieb seiner treuen Frau in großer Liebe zugetan bis ans Ende seiner Tage.
38. Dad und Dada
Es war einmal eine Familie, die wohnte in der Straße der Irren – Vater und Mutter, Dad und Dada – die hatten sieben Töchter. Nach der Weizenernte mußten sie den Weizen spülen – im Jemen spülen alle den Weizen vor dem Mahlen, damit sich die Körner von der Spreu trennen. Dad und Dada nahmen den Weizen und weichten ihn in einer tiefen Grube voll Wasser ein. Er bat seine älteste Tochter, in die Grube hinabzusteigen und das Getreide herauszufischen. Sie stolperte, glitt aus, ertrank in der Grube und war tot. Der unglückliche Dad schickte seine zweite Tochter, das Getreide aus der Grube zu holen, aber sie sank ein, ertrank und starb wie ihre Schwester. Der unglückliche Dad war dabei, vor Hunger zu sterben, denn er hatte keinen Weizen zu mahlen und Brot zu backen. Was tat er also? Er schickte seine dritte Tochter in die Grube hinab, das Getreide zum Mahlen aufzusammeln, denn man hatte nichts mehr zu essen. Die dritte Tochter stieg hinunter, auch sie glitt aus, fiel in die Grube, ertrank und starb. So schickte der Vater seine vierte, fünfte und sechste Tochter, aber alle ertranken und starben. Nun blieb dem Dad noch eine Tochter, die siebente, die jüngste von allen, und sein Herz ließ es nicht zu, sie in die Grube zu schicken. Nur diese siebente Tochter war noch im Elternhaus übrig – und die Eltern, der Vater Dad und die Mutter Dada, hüteten sie wie ihren Augapfel. Als die Zeit herannahte, kamen Heiratsvermittler in ihr Elternhaus. Man schlug ihr vor, einen angenehmen und guten Burschen zu heiraten, der fleißig war. Sein Haus war in einem Dorf, weit vom Wohnsitz ihrer Eltern entfernt. Die Eltern freuten sich sehr über eine solche Ehe und schickten sie voll Freude und
Begeisterung ins Haus ihres Mannes, wie es in der Bibel geschrieben steht: Die Tochter verlasse das Haus ihres Vaters und ihrer Mutter und folge dem Mann. Dad und Dada waren jetzt allein und unglücklich in ihrem Haus, und die Tage wurden ihnen sehr lang. Nach einiger Zeit beschlossen sie, ihre Tochter, dort in dem fernen Dorf, zu besuchen. Sie bereiteten viele Geschenke für ihre liebe Tochter vor, eine große Büchse voll Butter und auch Gewänder für sie und den Schwiegersohn. Sie beschlossen, diese Geschenke bei ihrer Ankunft im Haus der Tochter zu verteilen. So zogen nun Dad und Dada aus. Unterwegs sahen sie einen trockenen Baum, an dem gab es weder Blatt noch Blüte. Vor dem blieb die Frau stehen und sagte ihrem Mann: »Oh, Dad, mein Mann, sieh doch, wie unglückselig der Baum ist und wie mitleiderregend!« Der Mann antwortete: »Ja, tatsächlich, der Baum ist unglücklich und erbarmungswürdig!« Beide begannen zu weinen; da sagte Dad: »Der Baum ist so unglücklich, laß uns ein gutes Werk tun und ihn anziehen. So tun wir ein gutes Werk. In der Bibel steht geschrieben: Du sollst den Nackten kleiden!« Sie packten also das Bündel mit den Geschenken aus, bekleideten den Baum mit den neuen Kleidern, die sie für Tochter und Schwiegersohn gekauft hatten, und setzten ihren Weg fort, voll Freude, daß es ihnen gegeben war, einen heiligen Dienst zu tun: Den Nackten sollst du kleiden. Während sie noch so gingen, kamen sie zu einem Stück trockener Erde. Da blieb die Frau stehen und sagte zu ihrem Mann: »Sieh doch, oh Dad, wie dieses Stück Erde Mitleid erregt! Es ist ganz vertrocknet und gesprungen – Gott behüte uns davor!« Dad sagte: »Komm, Dada, laß uns die durstende Erde bewässern!« Dad und Dada nahmen also das Gefäß mit der flüssigen Butter, das Dada bis dahin den ganzen Weg auf dem Kopf
getragen hatte, öffneten es und tränkten damit die trockene Erde, denn deren Anblick hatte Dad und Dada so gerührt. Mit Freude erfüllten sie das Gebot: Wenn du einen Durstenden siehst, sollst du ihn tränken und ihn retten vor dem Tod am Durst. Danach gingen sie ganz glücklich weiter. Am Abend gelangten sie zum Haus der Tochter – der einzigen Tochter von den sieben, die ihnen geboren waren und die noch am Leben war. »Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!« (Hiob 1/21). Die Tochter freute sich sehr mit Vater und Mutter. Sie bereitete ihnen eine sättigende Mahlzeit mit wohlschmeckender Suppe, frischem Fleisch, Halva und frischem Brot dazu. Danach zeigte sie ihnen die Wirtschaft und erzählte, daß sie mit ihrem Mann glücklich und zufrieden ist, daß ihm alles gelänge und Gott ihn in allen seinen Taten begleite. Die Eltern freuten sich sehr, daß ihre einzige Tochter so glücklich war. Nur die Mutter machte sich Sorgen, daß ihre Tochter mit Arbeit überladen sei, da sie für den Sohn, den sie inzwischen geboren hatte, die Kuh, die Ziege und ihr Stück Land zu sorgen hatte. Am nächsten Tag sagte die Mutter: »Du hast soviel Arbeit, meine Tochter, mach du deine Arbeit, ich werde mich um das Kind kümmern.« Der Tochter war das recht und sie eilte, die Kuh zu melken. Die Mutter, Dada, gab dem Kind Grießbrei zu essen, mit Butter und Brot, wechselte ihm die Windeln und band es ganz fest, so daß es sich nicht rühren konnte. Da fing der Säugling zu schreien an und wollte gar nicht aufhören. Dada sah sich das Kind genauer an und bemerkte, daß sich die Haut auf seinem Kopf schälte. Sie dachte, das Kind hätte den Kopf voll Läuse. Was tat sie? Sie riß so ein Haar voll Hautschuppen aus, und stach den Kopf des Säuglings an dieser Stelle mit einer Nadel. Das Kind brüllte, sie aber sprach ihm sanft zu: »Oh weh, mein
Junge, dein Kopf ist voll Läuse; aber ich werde dich davon befreien, sei still!« So sorgte sie also für den Sohn ihrer Tochter eine ganze Zeit, bis seine Seele ihn verließ und seine Stimme verstummte. Da legte Dada ihn ins Bett und deckte ihn zu, damit ihm warm sei, denn sie dachte, nach ihrer vorzüglichen Behandlung sei er eingeschlafen. Danach wollte sie ihrer einzigen Tochter helfen, denn sie sah, daß sie den ganzen Tag ohne Pause arbeitete. Was tat sie also? Sie lief in den Kuhstall und schnitt mit dem Messer der Kuh den Euter ab; dasselbe tat sie mit der Ziege. Die Kuh- und Ziegeneuter hing sie in der Küche auf, damit ihre Tochter sie bei der Hand habe und sie nicht draußen zuviel herumlaufen müsse. Am Abend, als die Tochter alle Arbeit erledigt hatte, kam sie nach Hause und ihre Mutter erzählte ihr freudestrahlend: »Ich habe den Kopf des Säuglings von Läusen gereinigt und jetzt schläft er fest. Ich habe auch die Euter der Kuh und der Ziege in die Küche gebracht, damit du nicht herumrennen mußt.« Da fragte die Tochter: »Wie hast du denn die Euter in die Küche gebracht?« Die Mutter sagte: »Ich habe sie abgeschnitten. Jetzt kannst du in die Küche gehen und melken!« Nun sah die Tochter die Euter in der Küche hängen. »Oh weh! Oh weh!«, erhob sie ein großes, bitteres Geschrei über das Unglück, das ihre Mutter über sie brachte. Dann lief sie zu ihrem Kind – da hatte sie was zu sehen! So endete der Besuch von Dad und Dada bei ihrer Tochter.
39. Hast du niemandem Böses angetan wird auch dir nichts Böses zustoßen
In Susa, der Königsstadt, lebte einst ein ehrlicher und ordentlicher Mann. Einmal ging er auf der Straße und hörte zwei Leute miteinander reden. Der eine sagte: »Warum bist du heute so schlecht aufgelegt? Hast du niemandem Böses angetan, wird auch dir nichts Böses zustoßen.« Der Ehrliche dachte: ›Dieser Mann hat ein schönes Wort gesprochen. Das ist sicher richtig. Wenn der Mensch den geraden Weg geht, wie soll ihn etwas Böses treffen?‹ So ging der Ehrliche weiter und siehe, da sitzt eine Gruppe von Leuten, und einer erzählt etwas. In der Mitte der Rede sagt er: »Hast du niemandem Böses angetan, wird auch dir nichts Böses zustoßen.« Da sagte sich der Mann: »Wie kann das sein, daß ich an einem Tage zweimal dieses Sprichwort höre? Es ist ein Zeichen vom Himmel, daß bald etwas passieren wird.« Und er wanderte weiter durch die Straßen der Stadt. Und siehe da, er kam kurz vor Sonnenuntergang in eine abgelegene, menschenleere Straße und sah einen Menschen am Boden liegen. Er sagte: »Ich will mal sehen, was dieser hier macht. Es ist noch zu früh, um schlafen zu gehen.« Er näherte sich dem Liegenden, und da sah er, daß er tot war. Er stellte sich neben den Toten hin und dachte: ›Will sehen, was weiter geschehen wird.‹ Wie er so dasteht, kommen Schutzleute und fragen ihn: »Hast du diesen Menschen getötet?« »Ja, ich war es.« Sie nahmen ihn zur Polizei. Der Offizier fragte ihn aus: »Hast du den da getötet?«
»Ja.« Sofort gab der Offizier den Befehl, ihn einzusperren. Am nächsten Tag brachte man ihn vor den Richter, und auch hier gestand er, der Mörder zu sein. Der Richter wunderte sich über diesen Häftling, wie er so ohne weiteres zugibt, daß er einen Menschen getötet hat, und sich gar nicht aufregt oder Ausflüchte sucht. So etwas war ihm noch nicht vorgekommen. Jedenfalls fällte er das Urteil, daß dieser Mann der Mörder ist, und man ihn aufhängen soll. Nun war es in diesem Staat üblich, daß ein verurteilter Mörder dreihundert Golddenare Lösegeld der Staatskasse zahlen kann, damit er befreit wird. Hat er nicht so viel Geld, so hat er das Recht, sich dieses Geld im Laufe von drei Tagen zu erbetteln. Er kann drei Tage lang in den Straßen der Stadt herumgehen und das Mitleid der Leute erregen; zwei Schutzleute begleiten ihn, und er trägt ein Schild, auf dem geschrieben steht, daß er zum Tode verurteilt ist. Gelingt es ihm, die Summe zu erbetteln, so wird er freigesprochen. Wenn nicht – so hängt man ihn im Stadtpark auf. Der Ehrliche sagte dem Richter: »Ich habe kein Lösegeld.« Der Richter schickte ihn, sich das Geld zu erbetteln. Sie gingen in die Stadt, und die Leute liefen zusammen. Einige hatten Mitleid mit ihm und spendeten soviel sie konnten; andere lachten ihn aus; wieder andere verfluchten ihn. Am Abend kehrten sie ins Gefängnis zurück, öffneten die Kasse und fanden hundert und zwanzig Golddenare darin. Die Schutzleute freuten sich: »Es wird ihm gelingen, freizukommen.« Der Gefangene aber kümmerte sich nicht um das Geld, als ginge ihn das alles nichts an. Am nächsten Tag strolchten sie wieder durch die Straßen und sammelten viel Geld, aber schon weniger als am vorigen Tag. Es fehlten noch fünfundachtzig Denare. Am dritten Tag gingen sie in der Stadt herum, aber heute hatten sie Mühe, es war schon Mittag, und sie hatten noch nicht einmal zwanzig Denare
gesammelt. Die Schutzleute sagten ihm: »Bitte doch die Leute, flehe sie an, damit sie dir Geld spenden, sonst hast du keine Hoffnung auf Befreiung.« Er aber antwortete ihnen gar nichts, als ginge ihn die ganze Sache nichts an. Er ging, als hätte man ihn gemietet, um die Kasse zu tragen. Sogar die Schutzleute wunderten sich über ihn. Sie wanderten bis zum Abend in der Stadt herum und kehrten ins Gefängnis zurück. Man zählte das Geld und fand, daß da im ganzen nur zweihundertfünfunddreißig Denare da waren. So kann der Mann nicht frei werden. Den nächsten Tag verkündete man in der Stadt, daß ein Mann gehängt werden soll; die Regierung hatte alles unternommen, damit der Mann das Lösegeld zahlen kann, wie es das Gesetz verlangt, aber das Geld reichte nicht aus. Daher hat man beschlossen, den Mann am nächsten Mittag im Stadtpark zu hängen, und jeder, der es sehen will, kann kommen. Und der Ehrliche reagierte überhaupt nicht auf diese Verlautbarung. Die Mittagsstunde kam, man zog ihm die roten Kleider des zum Tode Verurteilten an, führte ihn zum Galgen, wo alles schon bereit war. Es blieben noch zehn Minuten zum Hängen. Der Henker band ihm Hände und Füße, legte den Strick um seinen Hals – alles war bereit. Da, plötzlich, kam ein Mann im Galopp angeritten und rief: »He, du Henker, warte: Laßt diesen Mann frei. Ich war es, der jenen ermordet hat, und nicht dieser da!« »Wie ist das möglich? Dieser hat doch seine Schuld eingestanden!« »Das ist nicht wahr!« Inzwischen war der Richter angekommen, um Zeuge zu sein, und fand die Leute in Aufruhr. Er unterbrach die Zeremonie des Hängens und rief die zwei zu sich. Sie kehrten in den Gerichtssaal zurück, und man fragte den Mann, der dazugekommen war: »Wieso sagst du,
daß du jenen ermordet hast, wenn dieser Gefangene gestanden hat, daß er den Mord begangen hat?« »Das ist nicht wahr. Ich habe jenen ermordet, aber ich sehe, daß noch ein Mann meinetwegen getötet werden soll. Ich will nicht, daß noch ein Mord auf mir lastet, einer ist genug, und auch der war nicht meine Schuld. Dieser zweite aber wird ganz durch meine Schuld verursacht werden. Darum bin ich hergekommen: Macht mit mir, was ihr für richtig haltet.« Man fragte den Gefangenen, was er dazu zu sagen hat. Er antwortete: »Ich will euch die Wahrheit sagen. Ich wollte sehen, ob das Sprichwort ›Hast du niemandem Böses angetan, wird auch dir nichts Böses zustoßen‹, das ich von mehreren Leuten gehört habe, auch wahr ist. Und wirklich, ich sehe, es ist wahr!« Der Richter und die Schutzleute lachten: »Wie verläßt du dich auf solche Wunder? Es fehlte doch kaum eine Minute, und du wärst schon in der nächsten Welt!« Er antwortete ihnen: »Ihr habt doch gesehen, daß Gott in seiner Gnade mir nichts Böses geschehen ließ, da ich niemandem Böses getan habe!« Sofort befahl der Richter den Mann zu befreien. Man gab ihm seine Kleider und auch das Geld, das er gesammelt hatte. Man bat den Mörder, ihm noch etwas für die Tage dazu zu geben, die er sich in dem Gefängnis gequält hatte. Dieser gab ihm sofort eine große Summe. Nachdem er seine Tat bereut hatte, befreite man auch den eigentlichen Mörder.
40. Die Ziegen, die den Weg kannten
Ein Gerechter, ein armer Mann, lebte mit seiner Frau in einem Wald nahe der Stadt Schebreschin in Polen. Jeden Samstag kam er in die Stadt, betete im Bethaus und lernte in der Heiligen Schrift. Was aber tat er an den anderen Tagen der Woche? Niemand weiß es. Nur das eine ist bekannt: Er besaß zwei magere Ziegen. Diese Ziegen gaben nur wenig Milch. Jeden Morgen schickte die Frau des Gerechten die Ziegen aufs Feld, und am Abend band sie sie fest. Der Gerechte und seine Frau verkauften Ziegenmilch, Butter und Käse. Aber das Einkommen war dürftig. Eines Tages ging die Frau, um die Ziegen zu melken – aber die Ziegen waren nicht da. Der Gerechte und seine Frau suchten die Ziegen im Wald, fanden sie aber nicht. Da erinnerte sich die Frau, daß sie am Morgen vergessen hatte, sie anzubinden. Sie weinte und jammerte, aber ihr Mann unterbrach sie und sagte: »Das kam vom Himmel.« Da blickte die Frau ihrem Mann in die Augen und verstand, daß hier ein Geheimnis steckte. Sie dachte daran, daß es ihr Mann war, der die Ziegen hatte kaufen und großziehen wollen. Und auch damals hatte er gesagt: »Der Himmel hat das anbefohlen.« Am Abend kamen die Ziegen nach Hause zurück. An jenem Abend gaben sie viel Milch, mehr als an anderen Tagen. Die Frau sah ein, daß die Ziegen Segen brachten und band sie auch am folgenden Tag nicht an. Wieder waren die Ziegen während des Tages nicht zu finden, doch kamen sie am Abend voll Milch heim. Die Milch verkauften sie in der Stadt, und es stellte sich heraus, daß das keine gewöhnliche Milch war. Sie brachte
vielen Kranken Heilung. Selbst Kranke, die an sehr schweren Krankheiten litten, wurden gesund, nachdem sie von dieser Milch getrunken hatten. Bald gab es in der Stadt Schebreschin keine Kranken mehr. So vergingen sechs Tage. Am siebenten Tag beschloß der Gerechte, hinter den Ziegen herzugehen. Die Ziegen gingen in den Wald und der Mann ihnen nach. Im Wald war ein Holzstoß, Stamm auf Stamm. Die Ziegen schlüpften unter den Holzstoß – und der Gerechte hinterdrein. Unter dem Holz sah er eine Öffnung im Boden. Dort gingen die Ziegen hinein und der Mann immer hinterher. Der Gerechte fand sich in einer Höhle, und von weitem erblickte er einen Lichtpunkt. Die Ziegen hielten auf das Licht zu – der Mann folgt ihnen nach. Auf dem Weg sprangen vor dem Gerechten schwarze Dämone mit roten Feuerzungen hin und her. Sie schrien, daß es bis zum Himmel hallte. Von allen Seiten fielen Steine; hinter ihm erklang das Fallen von Münzen und neben ihm erschienen nackte Frauen. Aber der Gerechte ging immer nur vorwärts, er schaute weder nach rechts noch nach links. Immer sicherer wurde er in seinem Glauben an Gott; und die dunklen Mächte, die ihn aufhalten wollten, verließen ihn, eine nach der anderen. So gelangte der Gerechte bis zum Licht, zur Öffnung der Höhle. Als er hinaustrat, sah er blauen Himmel und einen Knaben, der auf einer Flöte vor seinen Ziegen spielte. Als der Knabe den Gerechten sah, kam er auf ihn zu und fragte ihn auf hebräisch: »Bist du neu in dieser Gegend?« Der Gerechte erschrak, denn er begriff, daß seine Füße auf dem Boden des Heiligen Landes Israel standen. Der Knabe fuhr fort: »Auch ich bin ein Neuling hier in der Umgebung von Zefat. Bisher bin ich mit meinen Ziegen in den Bergen von Jehuda und Jeruscholajim herumgestreift.«
Sofort fiel der Gerechte zu Boden, küßte die Erde und die Steine und dankte Gott. Er setzte sich nieder und schrieb einen langen Brief an die Juden in Schebreschin, und an alle Juden in der Diaspora. Er rief sie auf, den Ziegen zu folgen, und ins Land Israel zu kommen. Er fügte noch hinzu, daß sie sich nicht vor dem, was sie in der Höhle sehen werden, zu fürchten brauchen; das ist nur Trug und Augenschein – nichts Wirkliches. Diesen Brief legte er in ein großes Feigenblatt und band ihn an den Hals der einen Ziege. Auf den Umschlag schrieb er, man solle den Brief dem Rabbi der Stadt Schebreschin übergeben. Am Abend kehrten die Ziegen heim, voll mit Milch. Die Frau des Gerechten sah, daß ihr Mann nicht da war und erschrak sehr. Sie sorgte sich so sehr um ihn, daß sie das Feigenblatt am Hals der Ziege übersah. Sie wartete einen Tag, einen zweiten Tag, einen dritten Tag – aber ihr Mann kam nicht heim. Da war sie sicher, daß Räuber ihn im Walde ermordet hatten. Warum sollte sie denn nun allein im Wald wohnen bleiben? Es wäre besser, in die Stadt zu ziehen und zwischen all den Juden zu leben. Gesagt – getan. Und wozu braucht sie dann Ziegen in der Stadt? Es wäre besser, sie zu schlachten und das Fleisch zu verkaufen. Und so handelte sie. Erst nachdem er die Ziegen geschlachtet hatte, bemerkte der Schlächter den Brief im Feigenblatt. Man rief sofort den Rabbi herbei. Als der Rabbi den Brief gelesen hatte, begann er zu weinen: »Was soll man jetzt tun? Man kann die Ziegen nicht wieder ins Leben zurückrufen. Nur sie wußten den Weg ins Heilige Land!« Da beschloß der Rabbi, die Juden von Schebreschin sollen drei Tage lang nicht essen und trinken und die ganze Zeit beten. Sicherlich hatten sie wegen ihrer Sünden den Brief nicht rechtzeitig gefunden und konnten deshalb nicht ins Gelobte Land gelangen. Jetzt mußten sie noch weiterhin im Exil bleiben.
Der Rabbi von Schebreschin bewahrte den Brief lange Jahre im Bethaus auf – bis zu dem großen Brand. Bei diesem Brand fiel auch der Brief den Flammen zum Opfer.
41. Die Löcher in der Wand
In einer großen Familie gab es einen Sohn, der sich viel an seinen Eltern und Lehrern versündigte. Eines Tages sagte sein Vater zu ihm: »Mein Sohn, hör mir zu und denke daran: Für jede Missetat, die du vollbringst, werde ich einen Nagel in die Wand schlagen, damit du siehst, wie viele schlechte Taten du verübst.« Nach einiger Zeit, als der Sohn gewahr wurde, wie viele Nägel in die Wand geschlagen waren, wurde er sehr traurig und versprach seinen Eltern, seinen bösen Weg in Reue zu verlassen. »Das ist gut, mein Sohn«, sagte sein Vater, »von nun an werde ich für jede gute Tat einen Nagel aus der Wand ziehen.« Eines Tages sagte der Sohn voll Freude zu seinem Vater: »Schau her, Vater, der letzte Nagel ist nun aus der Wand gezogen!« Da sagte ihm der Vater: »Ja, mein Sohn, die Nägel sind draußen, aber die Löcher sind in der Wand geblieben.«
42. Der Kenner der Tiere, Edelsteine und Charaktere
Da war ein Armer, der hatte zehn Söhne. Einer von ihnen war klug und verstand sich auf Tiere, Edelsteine und Menschen, aber er hatte kein Glück. Er hatte keine Arbeit. Sein Vater ging zum König und sagte: »So und so steht es. Ich habe einen Sohn, der versteht sich auf Tiere, Edelsteine und Menschen.« »Gut«, sagte der König, »bring ihn her.« Der Bursche kam; da wies der König seinen Koch an: »Gib ihm jeden Tag ein halbes Brot.« Gut. Ein Tag, zwei Tage, eine Woche, ein Monat – da merkt der Bursche: Was soll das? Ist das ein Broterwerb? Einmal brachte man dem König als Geschenk ein Pferd, aber so ein schönes, wie es es in der ganzen Welt nicht wieder gab. Mit solch einem Hals, solchen Beinen, nein, so eins gab es nicht noch einmal! Da freute sich der König sehr; plötzlich fiel es ihm ein: »Ach, da hab ich doch einen, der sich auf Tiere versteht. Nun los, ruft ihn her.« Man rief ihn, und er kam und sagte: »Mein Herr und König, auf diesem Pferd reite nicht, es wird dich töten.« »Wie kann ich wissen, daß das wahr ist?« »Nimm einen Häftling, der sterben muß, du wirst es schon sehen.« Man brachte einen Häftling, zu welchem der König sagte: »Besteig dieses Pferd und flieh. Hier hast du deine Freiheit.« Der Häftling wunderte sich sehr über das, was da gesagt wurde, aber – Freiheit ist Freiheit! Er bestieg also das Pferd und galoppierte los. Er jagte und jagte, und der König schaute zu, bis er ihn nicht mehr sehen konnte und zum Fernglas griff. Da
fragte der König den Jungen: »Was soll das? Du hast doch gesagt, das Pferd wird mich töten!« »Warte, bald.« Und da warf auch schon das Pferd den Häftling ab und trampelte auch noch auf ihm herum, bis er mausetot war. Der König sagte zum Koch: »Gib ihm von nun an jeden Tag noch ein halbes Brot dazu.« Einige Zeit verging, als man dem König einen Diamanten brachte, den man verkaufen wollte. Der Preis war: das Gegengewicht in Gold. Aber ein Diamant so… groß, so was sieht man nicht wieder. Der König wollte ihn sehr gern kaufen. Man brachte eine Waage, legte Gold darauf, aber soviel man auch darauf tat, es war nicht genug. Was ist das? Da gedachte der König des Burschen und sagte: »Holt ihn.« Man brachte ihn. Der König fragte ihn: »Du verstehst das?« »Ja.« »Was ist der Diamant wert?« Der Bursche nahm das Gold herunter und legte etwas Asche auf die Waage, um den Diamanten zu wiegen. Sogleich senkte sich die Waagschale mit der Asche und die mit dem Diamanten hob sich. »Was soll das bedeuten?« »Das ist gar kein Diamant. Das ist das Auge einer Kuh.« Da jagte der König die Verkäufer weg. Zum Koch aber sagte er: »Gib ihm jeden Tag noch ein halbes Brot mehr.« Der Bursche ging wieder an seinen Platz zurück. Nach einiger Zeit dachte der König: ›Zwei Dinge habe ich ihn gefragt. Das Dritte bleibt noch übrig.‹ Man rief ihn und er wurde gebracht. Der König sagte: »Sag mir, du verstehst dich auch auf Menschen?« »Ja.« »Sag, wie kannst du das verstehen? Wer bin ich?« »Du? Du bist ein Hurensohn!« »Was?« »Ja, ein Hurensohn.«
Als es Nacht wurde, ging der König zu seiner Mutter und klopfte an: »Wer ist da?« – »Ich, dein Sohn.« Sie öffnete, er trat ein, zückte sein Schwert – gerade über ihrem Leib: »Sag mir, wer bin ich?« – »Du? Was ist los? Du bist der König, Sohn eines Königs.« »Wenn du mir nicht die Wahrheit sagst, bringe ich dich um!« und er rückte ihr mit dem Schwert noch mehr zuleibe. »Du? Du weißt, dein Vater, der König, hat nichts getaugt. Da hatten wir aber einen Bäcker, schön und stark, von dem bist du gezeugt. Was willst du?« Er verließ sie. Am nächsten Morgen rief er jenen Burschen: »Wer hat dir gesagt, ich wäre ein Hurensohn? Redet man so auf der Straße?« »Nein, Gott behüte.« »Also, woher weißt du es?« »Woher? Ich habe dir das Leben gerettet, dir einen Haufen Geld gespart – und du gibst mir zum Lohn ein halbes Brot? Nur ein Hurensohn tut so was.« Er gab ihm einen Sack voll Gold und ließ seine ganze Familie kommen – nur, damit man niemandem das Geheimnis verrate.
43. Der große Held
Ein junger Bursche pflegte in den Straßen der Stadt, vor allem neben dem Bethaus, zu betteln. Diese Betätigung hatte er von seinen Eltern übernommen. Eines Tages sammelte er viele Münzen, auf denen das Abbild des Königs geprägt war. Was tat er? Er ging auf den Markt, kaufte ein Schwert und band es sich um. Da er aber ein großer Angsthase war und sich nicht mit dem Schwert mit seinen Freunden messen wollte, schlug er damit Fliegen tot. Jeden Tag zählte er die Zahl der Opfer, die er erschlagen hatte. Als es deren tausend waren, schrieb er mit großen Buchstaben auf das Schwert: »Tausend hat es erschlagen, tausend gefangengenommen und tausend befreit – mit Gottes Hilfe…« Als er diese prahlerischen Worte geschrieben hatte, hielt er sich für einen Helden und fand, hier sei nicht der Platz, seine großen Kräfte zu beweisen. Er beschloß, seine Heimatstadt zu verlassen und von Land zu Land zu ziehen, bis er seinen Weg im Leben gefunden haben wird. Er nahm also sein Schwert, seinen Schafspelz, der ihm als Kissen diente, und seine Decke, sich im Schlaf zuzudecken. Bei Sonnenaufgang zog er los. Einige Tage lang wanderte er durch die Wüste, bis er eines Abends am Tor einer Stadt anlangte. Er legte sich auf seinen Schafspelz und das Schwert legte er sich zu Füßen. Ein Soldat, der an seinem Schlafplatz vorbeikam, las, was auf dem Schwert geschrieben stand; die Inschrift machte auf ihn einen großen Eindruck. In dieser Stadt herrschte ein Sultan, der in ständigem Streit mit dem Sultan der Nachbarschaft lebte. Jedes Jahr führten die beiden miteinander Krieg. Als nun der Soldat
las, was auf dem Schwert geschrieben stand, schwang er sich auf sein Pferd, ritt zum Palast des Sultans und erzählte seinem Befehlshaber von dem wunderbaren Helden, der da im Schatten der Stadtmauer den Schlaf der Gerechten schlief. Der Sultan schickte eine Truppe Soldaten aus, die den Helden aufweckten und in den Palast brachten. Der Sultan fragte ihn: »Bist du so mutig, daß es dir gelungen ist, tausend zu erschlagen, wie auf deinem Schwert geschrieben steht?« »Ja, tatsächlich, so ist es mir gelungen. Ich habe tausend erschlagen, mehr als das gefangengenommen und noch mehr befreit. Jetzt aber bin ich abgemagert und kraftlos geworden, denn auf meinen Wanderungen habe ich kein Fleisch gegessen und mich nur von Gemüsen und Früchten ernährt«, sagte der Bursche. »Ich will dich kräftig pflegen, dir ein hohes Gehalt zahlen und dich zum Befehlshaber meines Heeres ernennen, wenn du meine Truppen im Kampf gegen den Feind anführen willst«, versprach der Sultan. »Gut«, sagte der Bursche. Nach einigen Tagen ließ ihn der Sultan rufen und sagte: »Ich will dir meine einzige Tochter zur Frau geben, damit du mir die Treue hältst, wenn du gegen den Sultan des Nachbarlandes in den Krieg ziehst.« Der Bursche nahm die Tochter des Sultans zur Frau, ließ sich Essen und Trinken munden, führte ein gutes Leben, und es mangelte ihm an nichts. Eines Tages traf ihn plötzlich, wie ein Schlag aufs bloße Haupt, der Aufruf zum Krieg. Der Fliegenkämpfer fürchtete sich sehr, denn nun mußte er wirklichen Kämpfern gegenübertreten. Was tat er? Mitten in der Nacht stand er auf, gürtete sein Schwert um, zog seinen Schafspelz an, öffnete die Tür zum Garten und machte sich aus dem Staube. Seine Frau bemerkte, daß ihr Mann das Zimmer verlassen hatte, und lief
hinterher. Noch bevor er sich vom Palast des Sultans entfernt hatte, holte sie ihn schon ein. »Mein Freund, mein Geliebter«, flehte sie ihn an. »Lauf nicht weg! Ich werde dir beibringen, was du tun mußt, um einen Sieg zu erringen. Ich werde meinen Vater bitten, dir zu erlauben, sein edles Pferd zu reiten. Das bezwingt mehr Soldaten als jeder Kriegsheld.« »Ich werde dieses Pferd nur dann reiten, wenn du mir vorher einen Schafskopf in Hilbasuppe kochst!« sagte der Bursche, der diese Speise sehr gern mochte. »Alles was du verlangst, mein Teurer!« Dann band er sich am Sattel des Streitrosses fest, nahm das Schwert in die eine Hand, den Kopf des Schafes in die andere. Als das Pferd auf das feindliche Lager losstürmte und er sicher war, fest angebunden zu sein, begann er den Kopf des Schafes zu essen. Plötzlich glitt ihm das Fleisch aus der Hand, und er rief den Soldaten, die zu beiden Seiten seines Pferdes rannten, zu: »Bringt mir den Kopf! Bringt mir den Kopf!« Die Soldaten dachten, daß der Held von ihnen fordert, ihm den Kopf des Befehlshabers der feindlichen Armee zu bringen; sie machten einen gewaltigen Vorstoß, fielen über ihn her und schnitten ihm den Kopf ab. Als die Soldaten des feindlichen Heeres sahen, daß ihr Befehlshaber gefallen war, flohen sie in Verwirrung vom Schlachtfeld. Der Bursche aber, der zum ersten Mal im Leben Blut von Gefallenen sah, erschrak sehr. Er faßte das Pferd beim Zügel, riß es herum in der Richtung des Sultanpalastes, eilte zum Haus des Königs – und das ganze siegreiche Heer hinter ihm drein. Seine Frau und ihr Vater waren über seinen glänzenden Sieg beglückt. Man richtete ein Festmahl für das Volk her, den Helden setzte man auf einen hohen Sitz und in der ganzen Stadt herrschte eitel Freude. Nachdem der Sultan jenseits der Grenze sich unterworfen hatte, gab es Ruhe zwischen den beiden Ländern.
Eines Tages aber brach ein Aufstand aus; der jüngere Bruder des Sultans empörte sich, und der Sultan sandte seinen Schwiegersohn aus, das Heer der Aufständischen niederzuwerfen. Der Held, den die Furcht nie verließ, wollte sich der auferlegten Aufgabe entziehen. Aber wieder war es seine Frau, die ihm aus der Not half. Sie riet ihrem Mann, auf das Streitroß zu steigen, das im Galoppieren Feinde niedertrampelt. Der Mann band sich am Sattel fest, und als das Pferd auf das feindliche Lager losstürmte, rannte es gegen einen hohen Baum. Von dem heftigen Anprall wurde der ganze Baum ausgerissen, fiel ihm in die Hände, und er hielt ihn fest, schleifte ihn hinter dem Pferd her, und die Opfer fielen wie die Ähren unter der Sense. Auch diesmal kehrte er siegesgekrönt in den Palast zurück. Das aufständische Heer war vernichtet, der aufständische Bruder floh und versuchte nicht noch einmal, sich gegen den gesetzlichen Herrscher zu erheben. Sehr lange dauerte aber die Ruhe nicht für den Schwiegersohn des Königs. Ein fürchterlicher Löwe brach aus dem Wald aus und zerfleischte Bewohner aus Stadt und Land. Wohin er auch nur kam, tötete und tötete er, und kam schließlich bis zur Hauptstadt. Da baten der Sultan und die Hofbeamten den Schwiegersohn, er möge sie doch bitte vor dem Löwen retten, der da so viele Menschen gefährdet. Diesmal sah er, daß es schlecht um ihn stand. Was tat er also? Mitten in der Nacht machte er sich von dannen, weg von seiner Frau, nur mit dem Schwert und dem Schafspelz, den beiden Dingen, von denen er sich nie trennte. Er war noch nicht weit außerhalb der Stadt, als er sah, daß der Löwe ihm nachstellte. Schnell kletterte er auf einen hohen Baum neben ihm, stieg in den Wipfel und setzte sich auf einen Ast. Der Löwe, der nicht auf den Baum klettern konnte, drehte sich stundenlang um ihn herum, während er von Ast zu Ast sprang. Dem Löwen wurde
es schwindlig, und er legte sich unter dem Baum nieder. Plötzlich aber brach der Ast, auf dem der Held saß, und er fiel dem Löwen auf den Rücken. Seine Hände krallten sich so in die Mähne des Löwen, daß er sie nicht mehr herausziehen konnte. Der Löwe rannte ganz wild in Richtung der Stadt, mit der Last des Menschen auf sich, und so fingen ihn des Königs Leibwächter ein. Was tat nun unser Held, als er sah, daß er aus der Not gerettet war? Er sprang auf die Füße, schlug mit dem Schwert dem Löwen auf den Kopf und tötete ihn. Er kam gar nicht dazu, sich bei seiner Frau, seinen Söhnen und den Hofbeamten, die ihn für seinen Heldenmut bewunderten, zu erholen. Es stellte sich heraus, daß in der Sultansstadt sieben diebische Brüder ihr Unwesen treiben. Sie stahlen, was sie nur finden konnten, Silber, Gold, Schmuckgegenstände. Sie leerten jeden schönen Laden und jede bessere Wohnung, und sogar an des Königs Besitz und an der Staatskasse vergriffen sie sich. Der Bursche wußte schon, daß man ihm die Aufgabe geben würde, die Diebe zu fangen. Er entwich auch diesmal aus dem Königspalast, ausgestattet mit seinem Schwert und dem Schafspelz. Da geht er ziellos herum, wohin ihn seine Augen führen und seine Füße tragen. Die Nacht brach ein und große Angst kam über ihn. Als er an einer Wegkreuzung eine Ruine sah, ging er hinein und setzte sich in einen der Räume, zitternd vor Furcht und Kälte. Durch eine Luke sah er den Himmel und er wartete darauf, den großen Wagen zu sehen, denn er wußte, daß, wenn diese sieben Sterne aufsteigen, der Tag anbrechen wird und er in den Palast zurückkehren kann. Und gerade in dieser Ruine versteckten sich auch die Diebe! Der erste Stern erschien schon. »Gott, hilf mir!« rief er, als der erste Stern erschien. In demselben Augenblick verließ der erste Dieb, der älteste
Bruder, die Ruine. Als er die Worte hörte, dachte er, daß der Schwiegersohn des Königs, dieser Kriegsheld, sie verfolge; da zog er es vor, sich ihm auszuliefern. Inzwischen sah der Bursche den zweiten Stern und rief: »Da kommt der zweite, rette mich, mein Gott.« Auch der zweite Dieb kam aus dem Versteck und unterwarf sich ihm. Und so kamen nacheinander alle sieben Brüder heraus und unterwarfen sich dem Burschen. Der band sie alle mit seinem Gurt, und sie gingen hinter ihm her zum Palast. Der Sultan ließ sie im Gefängnis bei Brot und Wasser ausharren, bis das Versteck mit dem gestohlenen Gut gefunden war. Da sah der Sultan, daß sein Schwiegersohn ein richtiger Held war, dem alle seine Taten gelangen. Eines Tages versammelte er alle Minister und verkündete, daß er seinen Schwiegersohn zu seinem Thronerben mache. Als der Sultan starb, bestieg der Bursche den Thron, und er herrschte gerecht, weise und klug.
44. Wem gilt der Gruß?
Ein jüdischer Bursche ging einmal in der Umgebung der Stadt spazieren. Da kamen drei Scheichs des Weges daher, alle wohlgestaltet und mit Bärten versehen. Er überlegte: ›Soll ich sie grüßen?‹ Und beschloß, es zu tun. Was kommt es mir darauf an? Als er nahe an ihnen vorbeikam, sagte er also »Schalom«, und ging weiter. Als er etwa zwanzig Schritt entfernt war, hörte er, daß sie miteinander stritten und ihm nachriefen: »Warte! Warte! Wen von uns hast du eigentlich gegrüßt?« Der junge Mann ärgerte sich und dachte: ›Was verdrehen die mir den Kopf?‹ Er antwortete: »Den dümmsten von euch hab ich gegrüßt.« Das war alles, was er sagte, und danach wollte er sich davonmachen. Aber wiederum, kaum zwanzig Schritte entfernt, riefen diese ihm nach: »Bleib stehen!« Sie liefen ihm nach und fingen an zu streiten, wer von ihnen der Dümmere sei. Einer sagte: »Ich bin ein Idiot«, der andere sagte auch: »Ich bin ein Idiot« – und so stritten sie sich, bis sie sich fast in den Haaren hatten. Da sagte ihnen der junge Mann: »Gut. Erzählt mir etwas von euren Erlebnissen, und dann werde ich wissen, woran ich bin und wem ich ›Schalom‹ gesagt habe.« Der erste Scheich begann zu erzählen: »Ich war ein Prediger in meinem Dorf. Jede Woche pflegte ich in der Moschee vor den Gläubigen zu predigen. An einem Winterabend saß ich zu Hause bei Kerzenlicht und grübelte nach, worüber ich morgen predigen soll. Da kam mir der Gedanke, über die Wichtigkeit des langen Bartes zu reden, den der gläubige Muselmann wachsen lassen muß. Da ich nun dabei war zu empfehlen, man
solle den Bart handbreit wachsen lassen, nahm ich meinen eigenen Bart in die Hand; der war viel länger als meine Handbreite, und da dachte ich: ›Wie soll ich das anstellen, daß mein Bart mustergültig ist?‹ Ich kam zum Entschluß, daß mein Bart als Muster dienen soll. Eine Schere hatte ich nicht. Was tat ich also? Ich überlegte nicht lange, näherte mich der Kerze, damit die Flamme die überschüssigen Haare abbrenne. Das Feuer ergriff den Bart, verbrannte ihn ganz und gar und versengte mir noch dazu das Gesicht. Vor Scham bin ich weggelaufen und hierher gekommen. Bin ich nicht der Dümmste?« Der zweite Scheich erzählte: »Ich lehrte in einer Kinderschule und habe Kindern das Schreiben beigebracht. An einem Sommertag saß ich vor der Moschee, neben dem Brunnen, in dem die Betenden Hände und Füße eintauchen. Vor mir saßen Schüler. Da fiel mein Blick auf den Brunnen und, oh Schreck – da war ein Scheich drin! Der will, dachte ich, mit mir wetteifern und mir meinen Platz wegnehmen. Ich schrie ihn an: ›Mach, daß du rauskommst!‹ Aber er kam nicht heraus. Da sagte ich zu den Schülern: ›Seht euch diesen verfluchten Scheich an! Der will mein Amt erben. Ich will in den Brunnen steigen und ihn fassen. Da habt ihr Stöcke, prügelt ihn, wenn er herauskommt. Wenn er weglaufen will, laßt ihn nicht fort! Sagt er euch, er sei euer Lehrer, glaubt ihm nicht.‹ So stieg ich in den Brunnen, fand ihn aber nicht. Als ich heraussteigen wollte, begannen die Schüler mich zu prügeln. Ich rief: ›Ich bin doch euer Lehrer, schlagt mich nicht!‹ Aber die schlugen immer weiter und hauten immer fester zu. Verprügelt, blutüberströmt und naß entlief ich hierher. Bin ich nicht der Dümmste?« Der dritte Scheich begann zu erzählen: »Ich war ein hochangesehener Scheich. Alle Leute liebten mich, denn ich konnte auch Kranke heilen. Wie? Alle Leute brachten die Kranken zu mir, und ich flüsterte und betete über ihren Köpfen.
Und tatsächlich, die meisten wurden gesund. Einmal erkrankte die Frau eines Würdenträgers. Man rief mich, ich solle sie heilen, und ich kam und flüsterte wie gewöhnlich über ihrem Kopf. Als ich sah, daß die Frau sehr schön war und mich sehr anzog, sagte ich: ›Man muß sie in die Moschee bringen. Dort werde ich über ihrem Kopf beten und flüstern, damit sie gesund wird.‹ Am nächsten Tag brachte man sie in die Moschee. Ich sagte ihrem Mann, er solle draußen warten; ich begann in der Moschee über ihr zu flüstern, aber ich konnte meine Lust nicht beherrschen. Als dem Mann die Geduld riß – denn er stand draußen und wartete –, öffnete er die Tür, kam hereingestürzt und fand mich – na, ja – nicht gerade in der angenehmsten Lage. Was tat er? Er schrie und prügelte mich, und alle Anwesenden halfen ihm. So entkam ich mit Mühe und Not… und habe meinen Verdienst verloren. Bin ich nicht der Dümmste?« So beendete der dritte Scheich seine Geschichte, und der Bursche entschied: »Der Gruß gebührt dir, du bist wirklich der König der Dummköpfe!«
45. Warum ist der Tischler froh?
Es gingen einmal ein König und sein Ratgeber auf die Jagd. Unterwegs kamen sie am Markt vorbei und beobachteten die Leute. Ein Tischler sitzt gemächlich da, mit übergeschlagenen Beinen, und kratzt sich mit einer ganz scharfen Axt den Kopf. Dabei arbeitet er die ganze Zeit. Der König und sein Ratgeber schauen dem Tischler zu und sehen, wie sich der Mann das Haar kratzt, ohne daß die scharfe Axt die Haut verletzt. Der König meinte: »Der Tischler dort ist ein ausgezeichneter Meister; sieh mal, wie er sich nicht den Fuß verletzt.« Aber der Ratgeber behauptete: »Nein, das ist kein erstklassiger Handwerker. Er verletzt sich nicht den Fuß, weil er immer vergnügt und froh ist und sich wohl fühlt. Fühlte er sich schlecht und wäre er traurig, dann würde er sich gewiß verletzen.« Der König stimmte den Worten seines Ratgebers nicht zu. Abends kamen sie beide von der Jagd zurück, aber sie konnten sich den Tischler nicht aus dem Kopf schlagen. Am nächsten Tag ging der Ratgeber auf den Markt, und da sitzt der Tischler und kratzt sich mit seiner scharfen Axt den Kopf. Er fragte die Leute: »Wo wohnt dieser Tischler?« Die Leute gaben ihm seine Adresse. Der Ratgeber zahlte einer alten Frau etwas dafür, daß sie ins Haus des Tischlers geht und seine Frau gegen ihn aufhetzt. Die Alte kam zum Haus des fröhlichen Tischlers und klopfte an die Tür. Eine Stimme fragte von innen: »Wer ist dort?« Die Frau des Tischlers kam zur Alten hinaus. Die Alte bemerkte, daß das Haus schön, sauber und ordentlich, die Frau des Tischlers schön war und wohlriechende Speisen zubereitete.
Sie verstand, daß der Tischler seine Frau liebte und sie ihn gleichfalls. Sie fragte: »Wo ist dein Mann?« »Er ist jetzt auf dem Markt. Am Abend bringt er seinen Tagesverdienst, und dann sind wir beide froh und glücklich.« »Und wann kommt er nach Hause?« »Am Abend.« »Du sollst nur wissen« – flüsterte die Alte – »dein Mann geht nach…; aber wirklich, ich sollte dir nichts sagen. Da ist nicht alles in Ordnung.« Die Frau des Tischlers sprang auf: »Was? Wie? Wohin geht er? Wo geht mein Mann hin?« Die Alte tat, als ob sie ein großes Geheimnis verriete, und stocherte und stotterte: »Ich habe ihn ein oder zweimal in ein bestimmtes Haus gehen sehen, aber wahrhaftig, ich sage gar nichts weiter, ich will dir nicht mehr sagen. Warum soll ich euch das Leben vergällen?« »Ah, jetzt verstehe ich, warum er immer glücklich und singend nach Hause kommt. Er soll nur heut abend kommen; einen schönen Empfang wird er kriegen!« rief die Frau des Tischlers. Die Alte verlangte, daß die Frau nicht verraten solle, wer ihr das Geheimnis entdeckt habe, und sie schwor es. Am Abend klopft der Tischler an der Tür seines Hauses – keine Antwort! Er klopft zum zweiten und dritten Mal – keine Antwort! ›Was ist mit meiner Frau geschehen?‹ denkt er sich. Immer läuft sie mir entgegen, wenn sie mich klopfen hört, und öffnet die Tür. Beide sind wir froh, singen und essen unsere Mahlzeit und freuen uns. Und jetzt? Was ist hier vorgefallen? Wieder und wieder klopft er an die Tür, bis er aus lauter Sorge um seine Frau die Tür mit der Axt einschlägt und hineinläuft. Was sieht er da? Seine Frau liegt in Kleidern auf dem Bett und weint und schluchzt. Er erschrak: »Du! Frau! Was ist mit dir geschehen? Warum weinst du?« Die Frau springt vom Bett und schreit: »Du wagst noch zu fragen, warum ich weine? Du gehst
zu einer anderen Frau, und nachher kommst du von dort, um hier bei mir zu essen und zu trinken und dich über mich lustig zu machen? Geh weg von hier! Mach, daß du rauskommst, auf der Stelle!« »Frau, was ist dir denn widerfahren?« fragte der entsetzte Mann. Die Frau schreit weiter: »Denkst du, ich weiß nicht, daß du eine andere Frau hast, und daß du jeden Tag zu ihr gehst? Raus aus meinem Haus!« Der Tischler verließ das Haus, und die ganze Nacht wanderte er in den Straßen herum, weinend und trauernd. Am nächsten Tag kam er wie immer auf den Markt und wieder versucht er, sich mit der scharfen Axt zu kratzen. Der König und sein Ratgeber sahen ihn, wie er dasitzt und weint, und von seinem Fuß triefte nur so das Blut. Der Tischler merkte es gar nicht, daß er sich verletzt hat. Da sagte der Ratgeber zum König: »Da siehst du nun, mein Herr und König, ich habe dir gesagt, daß dieser Tischler kein großer Meister ist. Wenn er sich gut fühlt, wenn er vergnügt und froh ist, dann arbeitet er so, daß ihn die Axt nicht verletzt. Wenn er aber traurig und voll Schmerz ist, so gelingt ihm das nicht.« »Woher weißt du das?« Der Ratgeber erzählte, wie er die Alte gemietet hatte, und warum der Tischler weinte. Da befahl der König: »Schicke sofort die Alte ins Haus des Tischlers, um dort den Frieden wiederherzustellen!« Die Alte ging ins Haus des Tischlers zurück, erzählte, was zu erzählen war, und stiftete wieder Frieden zwischen dem Tischler und seiner Frau. Jetzt sitzt der Tischler wiederum auf dem Markt, kratzt sich mit seiner scharfen Axt den Kopf und tut sich nicht weh. Sein Mund ist voller Lieder und Lobgesang und sein Herz ist froh und wohlgemut.
46. Die Not der Menschen
Es geschah in einem Jahre, in dem der Regen vergebens auf sich warten ließ. Die Juden in Jemen beteten das Regengebet, sie fasteten, baten um Vergebung ihrer Sünden, aber vergeblich: kein Regen fiel. Die Not war groß, die Lebensmittel wurden teuer und teurer. Eines Tages, als alle im Bethaus versammelt waren und beteten, kam ein alter Jude und fragte nach dem Rabbi der Stadt. Er sagte dem Rabbi: »Wenn jener Jude, der So-und-So, das Regengebet spricht, wird Regen fallen.« Der Rabbi wunderte sich sehr, denn jener Jude war ein ganz einfacher Mann, kaum des Lesens kundig, ein Mann aus dem einfachen Volke. Aber – was kann schon sein, was kann das schaden? Also bat der Rabbi diesen Mann, er möge bitte das Regengebet sagen. Kaum hatte dieser Jude die Worte: »Der wehen läßt den Wind« ausgesprochen, so erzitterten die Säulen der Welt und ein Sturm brach los. Sowie er nur sprach: »Der herabkommen läßt den Regen«, ergoß sich segensreicher Regen. Oben im Himmel erhob sich ein großer Sturm, ein Aufruhr: Wer hat nur den Menschen das Geheimnis verraten, daß man gerade diesen Juden zum Beten veranlassen mußte, damit es gleich Regen gäbe? Man fragte, man forschte nach, und es stellte sich heraus, daß der Prophet Elijahu, er selbst und kein anderer, dieses Geheimnis dem Rabbi anvertraut hatte. Man forderte Elijahu vor das himmlische Gericht und fragte ihn, warum er dieses große Geheimnis verraten habe. Der Prophet verteidigte sich und sagte: »Ich konnte die Not der Menschen nicht mit ansehen, darum habe ich das Geheimnis preisgegeben.« Er wurde zum Feuerschlagen verurteilt.
47. Die Bohnenschalen
Da war einmal ein Armer, der war des Lebens überdrüssig. Er sagte: »Ich geh und stürze mich von der Mauer. Ich will sterben! Ich hab genug!« Das war in der Altstadt von Jeruscholajim. Von dem letzten Geld, das ihm übrig geblieben war, kaufte er ein paar Bohnen. Er stieg auf die Mauer und setzte sich hin, um die Bohnen zu essen. Er sagte sich: »Erst esse ich die Bohnen und dann stürze ich mich von der Mauer.« Er aß, bis er fast fertig war. Er schaute hin, und in seiner Hand waren nur noch ganz wenige. »Ah, gleich werde ich mich hinabstürzen!« sagte er. Dabei sieht er sich um. Inzwischen hörte er zu essen auf. Plötzlich hörte er von unten eine Stimme: »Du, ich warte! Wirf mir die Schalen herunter!« Das war ein Unglücklicher, der hatte nichts zu essen – er wartete nur auf die Schalen der Bohnen. Da sagte sich der Mann: »Wenn es jemanden gibt, der noch nicht einmal Bohnenschalen zu essen hat, dann stürze ich mich nicht hinunter!« Er stand auf und ging nach Hause.
48. Was ist Angst?
Vor vielen Jahren war da ein junger Fischer. Wenn er hungrig war, nahm er einen lebenden Fisch und briet ihn in der Pfanne. Und der arme Fisch sprang in der Pfanne nur so herum! Die Frau des Fischers erschrak jedesmal vor den springenden Fischen und wurde schier krank vor Angst. Einmal kommt der Bursche von der Arbeit heim – was sieht er da? Seine Frau liegt im Bett. »Was hast du?« fragt er besorgt. »Ich bin krank. Aus Angst vor deinen Fischen!« »Was ist das, ›Angst‹?« fragt der Bursche. Er weiß nicht, was Angst ist, und darum hat er die Worte seiner Frau nicht recht verstanden. »Ich will in die Welt ziehen, um zu lernen, was das ist, Angst zu haben. Wie das ist, wenn man Angst hat und wie man sich fürchtet.« Er zog aus. In einer Stadt angekommen, fragte er: »Bitte, könnt ihr mir sagen, was Angst ist?« »Das weißt du nicht?« lachten die Leute, »in unserer Stadt gibt es einen Friedhof. Geh, übernachte dort, verbringe dort eine einzige Nacht, dann wirst du schon wissen, was Angst ist!« Der Bursche machte sich auf und ging zum Friedhof. Er fand dort einen guten Platz zwischen zwei Gräbern, zündete sich ein Feuer an und bereitete sich sein Nachtmahl. Als er aber das gebratene Ei essen wollte, erschien eine Hand ohne Körper und entriß ihm das Ei. Der Bursche ärgerte sich sehr, aber was konnte er tun? Er briet sich ein anderes Ei. Wieder erschien dieselbe Hand und husch – das Ei war weg. »Was? Ich brate und jemand anderes ißt?« ärgerte sich der Bursche. Als er das dritte Ei gerade essen wollte und die Hand wieder erschien,
band er die Hand fest und steckte sie in seinen Sack. »Werden ja sehen, was passieren wird«, sagte er in seinem Herzen. Dann aß er in Ruhe sein Ei, wickelte sich in die Decke und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen wachte er auf, und die Hand war verschwunden. »Sehr gut«, sagte sich der Bursche und ging in der Stadt spazieren. Alle Menschen wundern sich: Was wird sein Ende sein? Bis jetzt ist keiner lebend aus dem Friedhof zurückgekehrt, und dieser da kommt und fragt, wo denn die Angst ist, die wir ihm versprochen haben! Der Bursche kam zu einer anderen Stadt. Er fragte: »Gute Leute, sagt mir bitte, was Angst ist?« »Weißt du denn nicht, was Angst ist? Geh und übernachte eine Nacht in unserem Badehaus. Dort wirst du schon lernen, was Angst ist!« »Gut.« Der Bursche ging ins Badehaus, nahm Seife und Handtuch mit und fing an sich zu waschen. Gerade hat er sich naßgemacht, da kamen Dämone und fingen ihn zu prügeln an. Er schlug zurück, schrie sie an: »Was ist das? Anstatt mich einzuseifen, prügelt ihr mich?« Aber am Ende waren die Dämone stärker – es waren viele und er nur einer. Sie schlugen ihn so lange, bis sie ihn bis zum Hals in den Boden einschlugen. Der Bursche rief und schrie, war wütend, konnte aber nicht hinaus. »Gut«, sagte er, »wir werden sehen, was das Ende sein wird.« So blieb er bis zum Morgen. In der Frühe verschwanden die Dämone, und er ging heil und gesund in die Stadt zurück. Weit und breit im ganzen Land hörte man von dem Burschen, der nicht weiß, was Angst ist. Die Zeitungen schrieben über ihn. Auch der König hörte von dem Helden, der lernen will, was Angst ist. Er lud ihn ein: »Komm zu mir, ich gebe ein Fest, und auch du sollst dazu geladen sein.« Was tat der König? Er
lud alle Offiziere und auch alle seine Minister ein und stellte vor jeden einen zugedeckten Teller. Wenn eine Glocke läutet, sollen alle die Deckel aufheben und zu essen anfangen. Man saß und paßte auf, wann die Glocke zu erklingen begann. Pst – gleich! Und plötzlich: »Din, din!« – die Glocke erscholl. Alle hoben ihre Deckel auf, und – husch! – flog aus dem Teller des Burschen eine Taube auf – und weg war sie! »Jetzt hatte ich aber Angst!« rief der erschrockene Bursche.
49. Das zweite Auge
Einer, der war sehr arm, da war er des Lebens überdrüssig. Was tat er? Kein Brot im Haus, die Kinder sind hungrig. Er ging hinaus, dachte, ich will zu den Dämonen gehen. Er ging weg, bis er zu einem Felsen kam. Dort fing er an, die Dämonen bei ihrem Namen zu rufen. Einer kam, fragte ihn: »Was willst du?« »Ich bin des Lebens satt, habe kein Brot im Haus, die Kinder sterben vor Hunger. Was soll ich machen?« »Verkaufe mir einen deiner Söhne, und ich gebe dir sein Gewicht in Gold.« »Gut.« Jener gab ihm das Gold: »Morgen schicke mir das Kind zu diesem Felsen. Wenn du es nicht schickst, kommen wir und holen es uns.« »Gut.« Der Mann kehrte zu seinem Haus zurück. Am nächsten Tag sagte er zu seinem Sohn: »Geh dorthin, zu jenem Felsen, dort wird ein Mann kommen und dir etwas geben. Komm nach Hause in einer oder zwei Stunden.« »Gut.« Das Kind rief seine Spielkameraden: »Kommt, gehen wir zu jenem Felsen spielen.« Die Kinder gingen zu dem Felsen, und der Dämon ist schon dort und wartet. Er öffnete den Felsen ein bißchen und guckte heraus. Das Kind sah etwas Schwarzes in dem Felsen und fragte: »Wer wird in das Schwarze dort zielen?« Und schon schoß es selbst seinen Pfeil ab – geradeaus ins Auge des Dämonen! Autsch! Der Dämon lief weg, und kam nicht mehr, um das Kind zu holen. Es wurde Abend, das Kind sieht – niemand kommt, um ihm etwas zu geben, so kehrt es heim. »Was ist das? Warum bist du nach Hause gekommen?« fragte der Vater erschrocken. Was wird
ihnen jetzt der Dämon antun? »Niemand ist gekommen, und es ist dunkel geworden«, sagte das Kind, »so bin ich nach Hause gekommen.« Am nächsten Morgen ging der Vater zu jenem Felsen und rief den Dämon: »Warum hast du meinen Sohn nicht genommen?« »Nein, nein, ich brauche ihn nicht, weg mit ihm!« rief der erschrockene Dämon, »er wird mir nur noch das zweite Auge ausschlagen!«
50. Der goldene Pantoffel
In einem fernen Land lebte einmal im Palast des Königs ein jüdischer Arzt. Der König mochte ihn sehr, denn er pflegte ihn gewissenhaft und treu. Der Arzt war noch nicht verheiratet. Eines Tages sagte ihm der König: »Such dir eine Frau«, und gab ihm Ferien, damit er ausginge, sein Glück zu suchen. Der Arzt tat, wie ihm geheißen. In einer fremden Stadt angekommen, ging er ins Bethaus und sagte dem Synagogendiener: »Bitte, rufe mir alle Mädchen der Umgebung, ob reich, ob arm. Ich will allen eine bestimmte Frage stellen. Diejenige, die sie beantworten kann, will ich heiraten.« Nach einer Weile kamen viele Mädchen zu diesem Arzt, aber keine war imstande, seine Frage zu beantworten. Im Hause einer reichen Familie lebte eine arme Magd, die wollte auch ihr Glück versuchen. Sie bat ihre Herrin, sich von einer Nachbarin ein Kleid leihen zu dürfen, in dem sie sich vor dem Arzt sehen lassen kann. Die Frau lachte nur und verspottete die Magd und wollte ihr kein anständiges Kleid geben lassen. Als aber die Magd sie so eindringlich bat, warf sie ihr zu guter Letzt ein altes Kleid einer ihrer Töchter hin. Das zog die Magd an und begab sich zum Arzt. Wie jedes Mal, fragte der Arzt auch sie nach der Bedeutung der Worte ›Ja‹ und ›Nein‹, und das Mädchen antwortete: »›Ja‹ ist, daß ich weiß, ich bin geboren worden. ›Nein‹ ist, daß ich nicht weiß, wann ich sterben werde.« Diese Antwort gefiel dem Arzt so gut, daß er das Mädchen heiratete. Er brachte sie in den Palast, umgab sie mit Dienerinnen und gab ihr einen Ring mit einem großen Stein und sagte dazu: »Wenn der Stein
in dem Ring leuchtet, heißt das, ich habe keine Schwierigkeiten beim König. Wenn aber der Stein dunkel wird, sollst du wissen, daß mein Leben in Gefahr ist. Ich werde dich aber nur zweimal im Monat besuchen.« Im Palast des Königs lebte ein Minister, der haßte den Arzt und war eifersüchtig auf ihn, weil der König ihn so gerne hatte. Der wollte sich am Arzt rächen und sagte dem König, der Arzt habe eine Frau genommen, die er im Palast eingesperrt hat, und er ließe niemanden sie sehen. Er aber werde es fertigbringen, sie zu Gesicht zu bekommen. Da gingen der Arzt und der Minister eine Wette ein, und der König sprach: »Wenn der Minister die Frau sieht, muß der Arzt sterben. Wenn aber nicht, muß der Minister sterben.« Der König ließ dem Minister einen Monat Zeit, seinen Plan auszuführen. Während dieser Zeit hatte der Arzt sich im Palast aufzuhalten. Die Bemühungen des Ministers waren umsonst. Eines Tages nun traf er auf der Straße eine alte Hexe. Zu der sagte er: »Du bekommst von mir viel Geld, wenn du in den Palast gehst und dir dort die Frau des Arztes anschaust, ihren Körperbau, irgendwelche körperlichen Merkmale, und auch ihr Bad.« Die Alte nahm Glasgefäße und ging zum Palast. Da es ein regnerischer Tag und alles naß war, ließ sich die Alte mit Absicht hinfallen, gerade vor dem Eingang zum Palast, und all ihre Gläser zerbrachen. Da begann sie zu weinen, die Dienerinnen hörten sie und kamen heraus, um zu sehen, was geschehen war. Als die Alte sie erblickte, sagte sie: »Bitte, laßt mich doch ins Haus hinein, es ist dunkel und ich bin ganz naß!« Zuerst wollten die Dienerinnen sie nicht hineinlassen, dann aber hatten sie Mitleid und brachten sie hinein. Die Frau des Arztes, die sehr gutmütig war, zeigte ihr den Palast und auch das Bad, in dem sie zu baden pflegte. Bei dieser Gelegenheit sah die Hexe, daß die Frau auf dem Körper ein schwarzes Mal hatte. Am nächsten Morgen, als die
Dienerinnen aufstanden, war die Alte verschwunden. Plötzlich bemerkte die Frau, daß der Stein im Ring dunkel geworden war. Sie erschrak und beeilte sich, auszugehen, um zu sehen, was in der Stadt vorgeht. Sie fragte irgend jemanden, und der sagte ihr: »Der Arzt ist zum Tode verurteilt worden wegen einer Wette, die er verloren hat – nämlich, daß es dem Minister geglückt ist, die Frau des Arztes zu sehen.« Sie kehrte in den Palast zurück, nahm viel Geld und ging zu einem Goldschmied. Bei dem bestellte sie sich einen einzelnen Pantoffel aus Gold, mit Diamanten geschmückt. Am nächsten Tag befahl sie allen ihren Dienerinnen, Männertracht anzulegen und edle Pferde zu besteigen – sie ritt in der Mitte – und so galoppierten sie zu dem Platz, wo der Arzt hingerichtet werden sollte. Der König wunderte sich, als er sie ankommen sah, und fragte: »Was ist denn da los?« Die Frau des Arztes näherte sich, verneigte sich und sagte: »Ich bin die Frau des Arztes. Ja, es ist wahr, daß der Minister bei mir war, aber er hat mir meinen zweiten goldenen Pantoffel gestohlen«, und sie zeigte dem König den Pantoffel. Der König war ganz betroffen und fragte den Minister: »Ist es wahr, daß du den Pantoffel gestohlen hast?« Der Minister erschrak gewaltig und in seiner Verwirrung gestand er dem König, daß nicht er selbst die Frau gesehen hatte, sondern daß er eine alte Hexe in den Palast geschickt hatte, und diese es ihm erzählt hatte. Und so wurde statt des Arztes der Minister hingerichtet.
51. Von noch einem, der die Erlösung bringen wollte…
David Kahar war ein Kriegsheld. Er stammte von der Familie des Königs David ab. Als er die Not Israels sah, sprach er zu sich: »Nur ich mit meiner Kraft, meinem Heldenmut und meiner Abstammung kann Israel Erlösung bringen und Jeruscholajim erobern.« Dort in der Stadt lebte ein Sterndeuter. David Kahar ging zu diesem Weisen und erzählte ihm von seinem Plan. Der Weise beobachtete die Sterne und sprach: »Ich werde dich an einen geheimen Platz bringen, dort sind der König Schelomo und der König David. Wenn diese dir ihre goldenen Zepter entgegenstrecken und du mit deinen Händen diese Zepter berührst, so ist das ein Zeichen, daß du Jeruscholajim erobern wirst. So habe ich es in den Sternen gelesen.« Der Mann zog aus auf dem Weg, den der Weise ihm genannt hatte, und fand richtig David und Schelomo. Die reichten ihm ihre Zepter, gerade so, wie der Weise es ihm gesagt hatte. Da streckte Kahar seine Hände aus und berührte die Zepter. In diesem Augenblick überkam ihn großer Heldenmut. Er versammelte um sich viele Kriegshelden zum Kampf, und es gelang ihm, alle Völker zu schlagen, bis er vor die Tore von Jeruscholajim kam. Kaum war er vor der Stadt, da kam ihm eine fremde Frau entgegen, die außergewöhnlich schön war. Als David Kahar sie sah, wurde er ganz berauscht von ihrer Schönheit. Er sandte Soldaten aus, die sie zu ihm brachten. Sofort verließ ihn seine Heiligkeit und er wurde unrein. Da er nun entweiht war, erlitt er an den Toren von Jeruscholajim eine Niederlage.
Trauernd und weinend ging David Kahar von dannen und kam zu dem weisen Mann in seiner Stadt. Der sprach zu ihm: »Noch ist die Stunde der völligen Erlösung nicht gekommen, daher bist du gescheitert. Man darf nicht versuchen, die Erlösung zu beschleunigen.«
52. Das Opfer
Die Juden von Jesd glauben, daß sie die Errettung der Stadt von den Feinden des Königs dem Rabbi Or Schraga zu verdanken haben. Einer der Landesteile Persiens erhob sich gegen den König. Die Aufständischen belagerten Jesd zwei Jahre lang, und die Stadt stand in Gefahr, in ihre Hände zu fallen. In seiner großen Bedrängnis wandte sich der Schah an den Rabbi Or Schraga und beschwor ihn, für die Stadt zu beten, um das Unheil abzuwenden. Rabbi Or Schraga bat den Schah, sich bis zum nächsten Morgen zu gedulden: »Dann werde ich dir Antwort geben.« Or Schraga versammelte die Gemeindeältesten im Bethaus, und die ganze Nacht lang vertiefte man sich in das Studium der Heiligen Schrift. Als es Mitternacht wurde, wandte sich der Rabbi an die Gemeindeältesten und sprach: »Wißt ihr denn noch nicht, daß die Aufständischen jeden von uns töten werden, wenn die Stadt in ihre Hände fällt? Wir dürfen nicht tatenlos dasitzen und auf unsere Vernichtung warten! Wer von euch ist bereit, sein Leben zu opfern, um das Volk Gottes zu retten?« Ein hochbetagter Greis trat an ihn heran und sagte: »Mein Herr und Lehrer, meine Tage sind gezählt. Ich bin bereit, die wenigen Tage, die mir noch verbleiben, für das Volk zu opfern.« Der Rabbi Or Schraga dankte ihm im Namen der ganzen Gemeinde und sagte zu ihm: »Geh und tauche siebenmal in frischem Wasser unter. So geläutert sollst du siebenmal den Namen des Engels, der die Siege in der Hand hat und den ich dir nennen werde, auf Pergament schreiben. Aber du sollst wissen, drei Stunden nachdem du, in Reinheit,
den Namen des Engels niedergeschrieben haben wirst, wird deine Seele entweichen und vor den Heiligen Thron steigen.« Der Alte übernahm das hohe Amt, schrieb in Reinheit siebenmal den Namen des Engels nieder und überreichte das Pergament dem Rabbi. Der Rabbi band das Pergament an den rechten Flügel einer weißen Taube und vom Minarett der Moschee ließ er sie nach Osten hin, wo die Rebellen lagerten, fliegen. Kaum war die Taube über die Köpfe der Aufständischen geflogen, so brachen züngelnde Flammen los, die viele von ihnen vernichteten. Eine große Verwirrung brach aus, und die Rebellen liefen fort, wohin sie nur konnten, nach allen Richtungen. Die Stadt Jesd aber war wieder frei.
53. Wohin schaut Gott?
Es war einmal ein jüdischer Wesir am Hofe des Königs. Es gab auch einen christlichen Wesir. Der König mochte den Juden sehr, und er wollte, daß er ein wichtiger Wesir werden sollte. Der Christ war eifersüchtig und sagte zu dem König: »Warum willst du ihn zu Ehren erheben?« Er sagte ihm: »Er ist sehr klug.« Der Wesir sagte: »Stelle ihm drei Fragen, und wenn er dir auf alle antworten kann, ist er wirklich sehr klug, und man kann ihn zu den wichtigen Wesiren zählen. Wenn nicht, dann wisse, daß er nicht klug ist und töte ihn.« Der König war einverstanden und sandte jemanden, den Juden zu rufen. Er sagte zu ihm: »Ich will dich zu einem wichtigen Wesir erheben, unter der Bedingung, daß du mir auf drei Fragen antworten kannst. Wenn du nicht antworten kannst, lasse ich dich köpfen.« Der Wesir erwiderte: »Gut, welches sind die Fragen?« Da sprach der König: »Was ist vor Gott? Wo ist das Gesicht Gottes? Und wer ist reicher als ich?« Der Jude wurde sehr traurig und fragte: »Wann muß ich dir Antwort geben?« »In drei Tagen«, sagte der König. Der jüdische Wesir ging sehr traurig nach Hause und der Christ sehr fröhlich, denn er dachte, daß der Wesir nie auf diese Fragen wird antworten können. Der jüdische Wesir hatte eine einzige Tochter, die sehr klug war und die ihren Vater sehr liebte. Als sie sah, daß er traurig war, fragte sie ihn: »Vater, warum bist du so traurig?« Er sagte zu ihr: »Es ist nichts, meine Tochter, ich bin nicht traurig.«
»Nein, Vater, ich sehe, daß du nicht wie immer bist. Was ist mit dir?« Nachdem sie ihn immer wieder fragte, sagte er ihr: »Was soll ich dir erzählen, meine Tochter? Der König will, daß ich ihm in drei Tagen auf drei Fragen antworte, und wenn ich ihm nicht antworte, wird er mich töten.« Sie sprach zu ihm: »Welches sind die Fragen?« Er antwortete ihr: »Was ist vor Gott? Wo ist das Gesicht Gottes? Und wer ist reicher als der König?« Sie sagte zu ihm: »Ist das alles? Deswegen bist du so traurig? Es ist nicht so arg. Geh ins Kaffeehaus, dort wirst du viele Bauern finden. Frage einen von ihnen, und er wird dem König die Antwort geben.« Er sagte zu ihr: »Gut.« Er ging dorthin und sah viele Leute rauchen und trinken, und viele von ihnen waren Händler. Da sah ein großer und dicker Mann, daß er etwas suchte, und fragte ihn: »Was suchst du?« Er sagte ihm: »Was soll ich dir erzählen? Der König will, daß ich ihm auf drei Fragen antworte. Meine Tochter riet mir, hierherzukommen, und einer von euch würde mir antworten.« Da zählte der Wesir die Fragen auf. Der große Mann sagte: »Ich werde nach drei Tagen mit dir zum König kommen und werde dem König die Antworten geben.« Sie wurden einig. Nach drei Tagen gingen der Wesir und der arme Mann (er trug zerrissene Kleider und war barfuß) zum Schloß des Königs. Der Mann nahm einen Sack Nüsse, eine Kerze, Streichhölzer und Kreide mit. Der König sprach zum Wesir: »Friede sei mit dir, Wesir, kannst du auf meine Fragen antworten?« Er erwiderte: »Ich werde dir nicht antworten, aber dieser Mann hier wird dir antworten.« »Wer? Dieser einfache Mann da?« sagte der König. »Ja«, sagte er ihm. »Gut. Ich stelle dir die erste Frage. Was gab es vor Gott?« sagte der König.
Der Mann sprach zum König: »Ich werde dir auf deine Fragen antworten, unter der Bedingung, daß du mir dein Tuch des Vertrauens gibst (als Zeichen, daß er nicht bestraft wird, was immer er auch tun wird).« Der König sagte ihm: »Das Tuch des Vertrauens sei in deinen Händen.« Der Mann gab dem König den Sack mit den Nüssen und sagte zu ihm: »Schütte die Nüsse auf den Tisch und zähle sie.« Der König begann zu zählen: »Eins, zwei, drei…« Er sagte zu ihm: »Zähle.« – Er zählte noch einmal: »Eins, zwei, drei.« Er sagte ihm: »Siehe, du zähltest die Nüsse. Eins, zwei, drei… aber beginne jetzt vor eins zu zählen.« Er antwortete ihm: »Das ist unmöglich.« Da sagte der Mann: »Warum?« Und der König antwortete: »Denn vor eins ist nichts.« »Er ist eins, und vor Ihm war kein anderer«, sagte der Mann, »so ist es genau, nichts ist vor Gott.« Der König sagte: »Du hast sehr schön geantwortet. Jetzt antworte mir auf die zweite Frage: Wohin schaut Gott?« Der Dicke zündete die Kerze an, stellte sie auf den Tisch und sagte zum König: »Zeige mir, wohin die Kerze leuchtet.« Der König drehte die Kerze nach allen Seiten, drehte sie hin und her, und dann sagte er: »Die Kerze hat keine Richtung. Sie leuchtet nach allen Seiten.« »Genauso ist es mit Gott. Er hat kein Angesicht, er leuchtet ringsherum.« »Gut«, sagte der König, »sage mir jetzt, wer ist reicher als ich?« »Ich.« »Du? Du bist reicher als ich? Wie kann das sein? Ich bin reich und habe Geld und Paläste. Du hast gar nichts, nicht einmal ordentliche Kleider und Schuhe hast du!« Der Mann sagte: »Mein Herr und König, lege dich nieder auf den Fußboden.« Der König schaute ihn verwundert an, aber der
Mann sagte: »Ja, ja, leg dich hin«, und zeigte ihm das Tuch des Vertrauens. So legte sich der König eben auf den Fußboden. Der Mann nahm die Kreide und zeichnete einen Strich um des Königs Körper. Dann sagte er ihm: »Steh auf.« Der König stand auf. »Hast du gesehen, was ich gemachte habe?« »Ja.« »Dann mach du mit mir jetzt dasselbe.« Der Mann legte sich auf den Fußboden. Er war sehr groß. Der König zog einen Strich um seinen Körper, und der Mann stand auf. »Siehst du«, sagte er, »ich bin reicher als du.« »Wieso?« »Der Reichtum ist nicht in dieser Welt. Er ist in der nächsten Welt. Wenn du stirbst, wirst du kein Gold und kein Silber mit dir mitnehmen, nur das Stück Boden, in dem man dich begraben wird, wird dein ganzer Reichtum sein. Dein Grab wird weniger Platz erfordern als mein Grab, also bin ich reicher als du.« Der König freute sich sehr. Er erhob den jüdischen Wesir zu hohen Ehren, den christlichen Wesir aber ließ er töten, denn er beneidete den Juden und wollte ihn töten.
54. Wie rupft man eine Ente?
Des Nachts pflegte sich Schah Abbas zu verkleiden und in der Stadt und den Vororten herumzustreifen, um das Leben der Einwohner kennenzulernen. Einmal begleitete ihn dabei einer seiner Wesire. Sie gingen in der Richtung zu einem entfernten Vorort. Unterwegs war nirgends ein Funken Licht. So gingen sie weiter und weiter, durch die Stadttore hinaus, und gingen und gingen bis zum Sonnenaufgang. Dann kamen sie auf die Felder. Weiter gingen sie, immer weiter. Endlich trafen sie einen alten Bauern, einen uralten Mann, der auf dem Felde arbeitete. Der König begrüßte ihn: »Schalom.« »Friede und Segen sei dir«, erwiderte der Alte. Der König fragte ihn: »Warum hast du dich nicht schneller bewegt?« »Ich bewegte mich, aber ohne Nutzen.« »Wie hältst du es mit dem Entfernten?« »Was fern war ist schon nah.« »Wie steht es mit den zweiunddreißig?« »Nichts mehr davon da.« »Und wie geht es mit den Zweien?« »Aus den Zweien sind schon Drei geworden.« »Ich habe eine Ente. Kannst du die rupfen?« »Oh, ja, darin bin ich ein großer Meister!« Die beiden beendeten ihr Gespräch. Der Wesir kümmerte sich nicht darum. Dann verabschiedete sich der König und der Wesir vom Bauern und gingen nach Hause. Ein paar Tage nach ihrer Heimkehr fragte der König den Wesir: »Erinnerst du dich an unser Gespräch mit dem Alten?« Der Wesir antwortete: »Ich habe nicht zugehört.« Der König sagte: »Ich will Antworten haben auf alle Fragen, die ich dem
Alten gestellt habe, sonst kostet es dich den Kopf!« Der Wesir wußte nicht, was zu tun; traurig und besorgt ging er nach Hause. Zwei Tage verstrichen, und er wußte weder Fragen noch Antworten. Am dritten Tag beschloß er, den Alten aufzusuchen. Er ging zu ihm und fragte ihn über das Gespräch, das der König mit ihm geführt hatte, aus. Der Alte sagte: »Das wird dich teuer zu stehen kommen. Jede Antwort kostet dich hundert Pfund.« »Gut«, sagte der Wesir – er hatte ja keine Wahl. Der Alte sagte: »Die erste Frage: Wenn ich geheiratet habe, dann habe ich doch auch Söhne und Töchter. Wo sind die? Ich habe geantwortet: Ich bin verheiratet und habe nur Töchter. Diese sind verheiratet und aus dem Hause gegangen. Zweite Frage: Wie steht es mit meiner Sehkraft? Bis man nicht nahe zu mir herankommt, kann ich niemanden erkennen. Dritte Frage: Wie steht es um meine Zähne? Mir ist kein einziger Zahn mehr im Munde geblieben. Vierte Frage: Wie steht es mit den Beinen? Ohne Stock kann ich nicht gehen. Und die letzte Frage: Die Ente. Das bist du. Durch dich habe ich eine große Summe Geld verdient.« Der Wesir bezahlte ihm das Geld, und der Alte dankte Gott und dem König, der ihm die fette Ente zum Rupfen geschickt hatte.
55. Die vierzig Brüder
Vor vielen Jahren lebte in Persien Avraham, Sohn des AlAdschimi, der hatte vierzig Söhne. Als sie heranwuchsen, nahm er für sie einen Privatlehrer, und die Kinder lernten mit Lust und wurden gebildet. Als sie nun ins Mannesalter kamen, bat er seinen ältesten Sohn zu heiraten. Aber der Sohn wollte nicht heiraten; alle anderen Söhne wollten auch nicht heiraten, bis sein vierzigster Sohn an die Reihe kam. Als der Vater ihn bat zu heiraten, erwiderte er: »Ich bin doch dein jüngster Sohn. Warum soll ich vor allen meinen Brüdern eine Frau nehmen?« Der Vater antwortete: »Dich, mein Sohn, dich habe ich auserwählt.« Da sagte der jüngste der Söhne: »Sicherlich gibt es irgendwo in der Welt einen Mann, der vierzig Töchter hat. Laß uns den suchen, und wenn wir ihn finden, werden wir alle gleichzeitig heiraten.« Der Vater war einverstanden. Der jüngste Sohn wollte auch vierzig Pferde haben, vierzig Rucksäcke, vierzig Anzüge und viel Geld. Der Vater bereitete alles vor. Bevor nun die Söhne auszogen, rief er den jüngsten zu sich und sagte: »Wenn ihr drei Tage lang gereist sein werdet, werdet ihr zu einem Palast kommen; dort wird es Essen und Trinken für euch und Futter für die Pferde geben. Eßt dort, aber bleibt nicht über Nacht. Nach weiteren drei Tagen werdet ihr wieder zu einem Palast kommen. Eßt und trinkt, aber übernachtet dort nicht! Nach weiteren drei Tagen werdet ihr wieder an einen Palast kommen. Eßt dort, aber nächtigt nicht!« Gut. Als sie zum ersten Palast kamen, aßen die Brüder dort, und die Pferde wurden gefüttert; nach der Mahlzeit wollten
aber die Brüder nicht den Ort verlassen, obwohl der jüngere Bruder sie dringend bat, weiterzugehen. Sie waren um keinen Preis dazu zu bringen, denn sie waren sehr müde. Inzwischen brach die Dunkelheit ein, und die Brüder legten sich dort schlafen. Was tat der jüngste Bruder? Er schnitt sich und streute Salz auf seine Wunde, damit er nicht einschläft und die ganze Nacht auf seine Brüder aufpassen kann. Die Nacht verstrich und nichts geschah. Am nächsten Tag verließen die Brüder den Palast und gingen ihres Weges, bis sie zum zweiten Palast kamen. Sie aßen und tranken wie im ersten Palast. Die Bitten des jüngsten Bruder halfen nichts, und alle blieben über Nacht. Der jüngere Bruder bewachte sie bis zum Morgen. Am nächsten Tag zogen sie weiter und gelangten zum dritten Palast. Wieder weigerten sich die Brüder, ihn vor der Nacht zu verlassen. Wieder schnitt sich der jüngste Bruder, um seine Brüder beschützen zu können. Die ganze Nacht durch spazierte er im Palast herum. Dann sah er einen großen Marmorblock, in dem sich eine Tür befand. Er setzte sich daneben und zog sein Schwert. Da, plötzlich um Mitternacht, bewegte sich der Stein. Eine Tür ging auf, und am Eingang sah er eine Alte, die sagte: »Kommt her, meine Söhne. Da ist eine gute Mahlzeit für euch! Vielleicht werdet ihr alle satt.« Von innen kam eine Frage: »Was für eine Mahlzeit?« Die Alte antwortete: »Vierzig junge Männer und vierzig Pferde. Schnell das Messer her, ich will sie gleich alle schlachten!« Die Alte rührte sich weg von der Tür, da schlug der junge Mann sie tot und schleppte ihre Leiche nach draußen. Ein paar Augenblicke später kam einer der Söhne der Alten heraus, und auch den erschlug er; so tötete der jüngste Sohn sechs Söhne der Alten; die ganze Zeit saß er am selben Platz und lauerte, bis die Dämmerung anbrach. Gegen Morgen ging er durch die Öffnung im Marmorblock hinein; da fand er ein schönes
Mädchen. Er sagte zu ihr: »Du bist mein Glück!« Sie sagte: »Gott gebe, daß du mich retten kannst und ich dein Glück werde.« Der Bursche fragte sie: »Warum hast du mir so geantwortet?« Sie sagte: »Hier wohnt noch ein siebenter Bruder, der ist ein Jäger und ein Held. Der hat mich mit Gewalt entführt und gegen meinen Willen in diese Höhle gebracht. Jetzt warte ich darauf, daß ein Mann mich aus seinen Händen rettet.« Der Bursche gab ihr sein Tuch und seinen Ring und sagte: »Auf Wiedersehen! Ich hoffe, daß ich dich retten kann.« Dann verließ er die Höhle und ging zu seinen Brüdern zurück. Früh am nächsten Morgen gingen die Brüder weiter. Sechs Monate später hörten sie von einem König, der vierzig Töchter hatte. Die Brüder machten sich auf den Weg, um um die Töchter zu werben. In der Stadt angekommen, stiegen sie in einem Gasthof ab. Dort erfuhr der jüngste Bruder, daß man in der Stadt drei Haufen auftürmte, die man aus den Schädeln von Bewerbern baute, die erfolglos um die Töchter des Königs gefreit hatten. »Was ist denn mit den Töchtern des Königs los?« »Der König hält seine Töchter in einem großen Palast, der zwei Tore hat. Das Tor zum Tod und das Tor zum Leben. Durch das Tor des Todes gehen die Helden, die um eine der Töchter freien wollen. Der König gibt dem Bewerber Schlüssel, mit denen er acht Räume öffnen muß, bevor er zu den Töchtern gelangt. Im ersten Raum befinden sich Pferde, im zweiten ist ein Wolf, im dritten sind giftige Ameisen, im vierten lauert ein Tiger, im fünften ist eine Giftschlange, im sechsten ein wilder Hund, im siebenten ein wilder Löwe und im achten Raum sind die Töchter. Um zu ihnen zu gelangen, muß der Freier durch die sieben anderen Räume durchgehen.« Der jüngste Sohn ging rings um die Mauern des Palastes herum, um zu prüfen, warum die Bewerber scheiterten. Vierzig
Tage später stellte er sich beim König vor und freite um die Töchter. Der hatte Mitleid mit ihm und sagte: »Laß doch davon ab! Schade um dein Leben!« Der jüngste Sohn ließ sich einen Anzug aus Stahl anfertigen; von Kopf bis Fuß war er in Stahl gekleidet. Selbst die Schuhsohlen waren gepanzert. Dann bestellte er ein Messer, das Eisen zerschneiden kann und nicht bricht. Außerdem kaufte er eine große Ladung gemahlenen Weizens, ein Schaf und Klee. Dann ging er zum König: »Ich bin bereit, durch die Räume zu gehen.« Inzwischen hatten sich viele Leute versammelt, um zu sehen, was geschehen wird; unter ihnen waren auch seine neununddreißig Brüder. Der Jüngste ging also ins erste Zimmer, da wieherte ein Pferd. Dem warf er Klee vor. Als es beim Fressen war, erstach er es mit seinem Schwert. Im zweiten Zimmer warf er dem Wolf ein Stück Fleisch vor; als der zu fressen begann, erstach er auch ihn. Im dritten Raum schüttete er den Ameisen den gemahlenen Weizen hin; mit seinen genagelten Stiefeln zertrat er die Ameisen. Im vierten Zimmer warf er dem Tiger Fleisch vor und tötete ihn dann. Im fünften Zimmer stürzte sich die Schlange auf ihn, aber es gelang ihm, auch diese zu töten. Im sechsten Raum warf er dem Hund ein Stück Fleisch vor und erschlug ihn, als er beim Fressen war. Im siebenten Zimmer, das er jetzt öffnete, brüllte der Löwe. Dem warf er den Rest des Fleisches vor und erschlug ihn. Im achten Raum endlich waren die Töchter. Jedem Mädchen gab er ein Tuch und einen Ring. Jede von ihnen dachte: ›Möge doch dieser Bursche mein Glück werden!‹ Er sagte: »Wir sind vierzig Brüder, und ihr seid vierzig Schwestern. So soll die Älteste von euch den ältesten Bruder heiraten, und die Jüngste den jüngsten.« Der junge Mann ging daraufhin zum König, und die Volksmenge jubelte ihm zu. Der König hieß ihn, sich an seiner Seite niederzusetzen. Er tat ihm große Ehre an und sagte: »Nimm alle meine Töchter!«
Der Jüngling bat den König, er solle jeder Tochter eine Magd mitgeben, wie es bei Königen so Brauch ist, und Geschmeide, Gewänder und Karossen. Die Minister meinten: »Der junge Mann hat recht; so ist es bei Königstöchtern üblich!« Der König war einverstanden und bereitete alles nach besten Kräften vor. Die Töchter verließen nun den Palast ihres Vaters; ein jeder Bruder nahm eine von ihnen zur Frau. Dem Jüngsten fiel die jüngste Tochter zu, aber jede Nacht legte er sein Schwert zwischen seine Frau und sich. Sie fragte ihn: »Warum tust du das?« Er antwortete: »Ich habe eine schwere Aufgabe vor mir. Ich muß zuerst siegen, und erst danach kann ich dich wirklich zur Frau nehmen.« »Gut«, sagte die Frau. Die vierzig Brüder – und mit ihnen vierzig Frauen, vierzig Mägde, vierzig Karossen und vierzig Pferde – kamen zu dem Palast, in welchem der jüngste Bruder die Alte und ihre sechs Söhne getötet hatte. Wiederum wollten die Brüder den Palast nicht verlassen und sagten: »So etwas haben wir noch nie gesehen! Wir bekommen hier Essen, Trinken, Übernachtung für uns und die Pferde ganz umsonst, und es geht uns hier gut. Außer uns ist kein Mensch da. Warum willst du nicht hierbleiben?« Wieder schnitt sich der Jüngste in die Hand und streute Salz auf die Wunde, um nicht einzuschlafen und alle Anwesenden behüten zu können. Danach ging er zum Stein, aus dem die Alte herausgekommen war. Um Mitternacht kam dort ein Mann heraus, der hatte lange, krumme Zähne und Schielaugen. Der Jüngling zog sein Schwert und hieb auf den Riesen ein, aber dem geschah durchaus nichts. Er spottete: »Versuch nur deine Kräfte und schlag weiter auf mich ein! Hier stehe ich vor dir! Meine Brüder und meine Mutter hast du ermordet. Jetzt fordere ich ihr Blut von dir!« Der Bursche erschrak sehr. Der
Mann ergriff ihn mitsamt seinem Schwert, schleppte ihn aus dem Palast und warf ihn zweihundert Ellen hoch. Aber noch bevor er auf die Erde zurückfiel, fing er ihn wieder mit seinen Händen auf. Da flehte der Jüngling: »Erbarme dich meiner!« Der Riese sagte: »Wie soll ich Mitleid mit dir haben, wo du mir doch Mutter und Brüder getötet hast?« »Ich gebe dir alles, was du nur willst!« »Ich will deine junge Frau haben!« »Ich werde tun, was du verlangst.« Am nächsten Tag, frühmorgens, erwachten die Brüder und ihre Frauen. Der Jüngste und seine Frau aber waren nicht da. Jener Mann hatte sie in die Höhle hineingebracht und zu seinen Sklaven gemacht. Der Jüngste befahl seiner Frau: »Sieh zu, daß der Mann dich nicht anrührt. Erfinde alle möglichen Ausreden!« So verlief eine Woche. Die junge Frau wurde gut Freund mit dem Riesen, aber versprach, ihn nur dann zu sich zu lassen, wenn er ihr sagt, worin seine große Kraft liege und wo seine Seele ist. Da verriet der Schielende ihr sein Geheimnis: »Morgen früh werden zwei Mädchen mit einem Diener zum Brunnen kommen. Dort wirst du eine hinkende Gazelle sehen. In ihrem Hinkebein steckt meine Seele.« Die junge Frau erzählte das ihrem Mann. Zu dritt lauerten sie nun am Brunnen der Gazelle auf. Als sie die Gazelle erblickten, sprang der Jüngling auf und fing sie ein. Er schnitt ihr das Bein auf – da saß darin ein grünlicher Vogel. Als er ihn in die Hand nahm, kam der Schieläugige angelaufen und rief: »Laß den Vogel los!« Der Jüngling aber ließ den Vogel nicht los, er erwürgte ihn. Im selben Augenblick fiel der Schieläugige tot um. Der Jüngling nahm die beiden Mädchen und kehrte mit ihnen in den Palast zurück. Am nächsten Tag nahm er die Edelsteine, die es im Palast gab, und die beiden Mädchen und ging zu seinem Elternhaus. Als er ankam, fand
er, daß sein Vater vor lauter Tränen erblindet war; er hatte so über seinen verlorenen jüngsten Sohn geweint. Als der Sohn zu seinem Vater sprach, erkannte der ihn nicht wieder. Der Sohn sagte: »Vater, ich bin doch dein jüngster Sohn! Ich habe getan, was du verlangt hast. Jetzt bin ich wieder nach Hause gekommen, nachdem ich viele Hindernisse überwunden habe.« Der Vater sagte: »Komm her, laß dich küssen, denn nur dann werde ich wissen, ob du wirklich mein Sohn bist.« Der Sohn trat zum Vater, und dessen Augen öffneten sich wieder, nachdem er ihn geküßt hatte. Er stellte seinem Vater die beiden Mädchen vor; eine heiratete er selbst, die andere gab er seinem Vater.
56. Die große Schafherde
Da war einmal ein Mann, der war arbeitslos, und er konnte keinen Broterwerb finden. In der Nacht vor dem Einschlafen dachte er darüber nach, was er wohl tun könnte, um Geld zu verdienen. Er grübelte und grübelte. Dann beschloß er, am nächsten Tag auf den Markt zu gehen, wo man Besen bindet; da könnte er einen Groschen verdienen. Dafür könnte er ein paar Eier kaufen, welche er den Nachbarinnen geben würde, damit deren Hennen sie für ihn ausbrüten; dann würde er Küken haben. Die Küken würden zu Hennen heranwachsen. Diese würden Eier legen, diese ausbrüten und dann würde er viele Hennen haben. Diese könnte er verkaufen und von dem Erlös ein Schaf kaufen. Das würde Lämmer werfen, die würden wachsen, ihrerseits Lämmer werfen – bis er eine Schafherde zusammen hätte. So könnte er ein sehr reicher Mann werden. Aber Schafe hält man außerhalb der Stadt. Da müßte man sie in die Stadt bringen und dafür verlangt man Zoll. Er beschloß also: Nein, Zoll würde er nicht zahlen. Er ging mit sich selber zu Rate und mitten in der Nacht stieg er aus dem Bett, lief zum Zollbeamten und sagte ihm, er hätte eine Schafherde, die wolle er in die Stadt bringen, aber keinen Zoll zahlen. Da sagte der Beamte: »Unmöglich. Wenn du Schafe hast, mußt du Zoll zahlen.« Sie stritten sich, bis es zu einer Schlägerei kam. Der Zollbeamte fragte: »Wo sind denn deine Schafe? Wie viele sind es?« Da wurde der arbeitslose »Reiche« plötzlich nüchtern: »Ich… ich hab nur gedacht, wie das wäre, wenn ich welche hätte.«
57. Die zwei Teiche
Es war einmal ein gerechter und gutherziger König. Er hatte eine einzige Tochter, die sehr schön war, und er liebte sie sehr. Er hatte auch einen alten Diener, der schwarz war, ein Neger, aber er war dem König sehr treu, und auch den hatte der König sehr gern. Eines Nachts träumte der König, seine Tochter hätte diesen schwarzen Diener geheiratet. Er wachte auf, doch danach träumte er wieder dasselbe; noch einmal schlief er ein – und zum dritten Mal hatte er den gleichen Traum. Da erschrak der König sehr. Obwohl er den Diener gern mochte, konnte er es sich nicht vorstellen, daß er sein Schwiegersohn sein sollte. Seine Tochter war um viele Jahre jünger als der Neger und schön, während der Diener häßlich und auch um vieles älter war. Von diesem Traum wachte der König traurig auf. Er ging in seinen Palast und setzte sich auf den Thron. Der oberste Wesir sah, daß der König traurig war, und fragte ihn: »Warum ist der König so besorgt?« Der König erzählte ihm von seinem Traum. »Träume sind Schäume. Ich werde den Traum hinfällig machen. Überlaß mir den Diener.« Der König sagte: »Ich habe diesen Diener lieb, und ich fürchte, du wirst ihm was zuleide tun, wenn ich ihn dir ausliefere.« »Verlaß dich auf mich. Ich werde ihm nichts antun, aber ich werde etwas tun, um diesen Traum hinfällig zu machen. Ich werde ihn für einige Jahre weit wegschicken und inzwischen wird deine Tochter einen anderen heiraten.« »Gut.« Der König übergab den alten Diener dem Wesir. Der sagte dem Alten: »Du mußt zu den Bergen der Finsternis gehen und
dort fragen, ob es möglich ist, das Schicksal zu ändern oder ihm zu entgehen. Komm nur zurück, wenn du eine Lösung der Frage gefunden hast.« Der Wesir gab dem Alten ein starkes Pferd, einen Sack voll Gold, feste neue Gewänder, viel Wegzehrung und schickte ihn aus. Der Alte verließ die Stadt und zog in unbekannte Richtung. Einige Tage durchreiste er die Wüste, dann kam er zu einem Baum voll großer Zweige und in dessen Schatten setzte er sich müde und erschöpft nieder. Plötzlich hörte er eine Stimme – er hatte sich gerade erst hingesetzt: »He, du Menschensohn, woher kommst du, wohin gehst du?« Der Alte erschrak sehr. Er stand auf und sah sich um, aber er erblickte keinen Menschen. Er setzte sich nieder – da hörte er schon wieder die Stimme: »Du Menschensohn, woher kommst du und wohin gehst du?« Er schaute sich um; der Baum selbst redete ihn an: »Ja, ich bin es, der zu dir spricht. Wo gehst du hin?« Der Alte erzählte, daß der Wesir ihn in die Berge der Finsternis geschickt hat, um dort herauszufinden, ob man das Schicksal ändern oder ihm entgehen könne. Da sagte der Baum: »Wenn du hinkommst, frag doch auch nach mir und meinem Schicksal. Ich wurde am Schöpfungstag der Welt erschaffen. Du siehst, was für große, starke Äste ich habe – aber Früchte trage ich nicht, und bis zum heutigen Tage hat niemand von mir Nutzen gehabt.« Der Alte versprach dem Baum, seine Bitte zu erfüllen, ruhte noch ein wenig aus und zog weiter. Wie er so weitertrottete, kam er an zwei Teiche mit trübem, sehr stinkenden Wasser, das man nicht anrühren konnte – und er war doch so durstig und wollte sich auch waschen. Aber als er die Farbe des Wassers sah und den Gestank wahrnahm, wich er zurück. Da hörte er eine Stimme, die aus den Teichen kam: »Du da, wohin gehst
du?« Der Alte antwortete: »Herauszufinden, ob man dem Schicksal entgehen kann.« Die Teiche baten: »Vielleicht fragst du auch nach uns? Seit wir geschaffen wurden, hat sich noch keiner an uns freuen können, denn jeder, der uns sieht oder riecht, weicht zurück.« »Gut«, sagte der Alte, »wenn es mir gelingt, an mein Ziel zu kommen, werde ich auch danach fragen.« Der Alte ging weiter und kam zu einem hohen Berg. Von weitem sah er einen alten Mann mit einem weißen Bart, der ihm bis zu den Lenden reichte. »Schalom«, sagte der Diener zum Alten. »Friede und Segen sei mit dir«, erwiderte der Alte den Gruß. Der Diener fragte ihn: »Vielleicht weißt du, ob es möglich ist, dem Schicksal zu entrinnen? Oder das Schicksal zu ändern?« »Jedem Menschen ist auf der Stirn geschrieben, was mit ihm geschehen wird«, antwortete der Alte, »und das kann niemand ändern.« Danach fragte der Diener nach den stinkenden Teichen. Der Alte sagte: »Diese Teiche haben eine besondere Eigenschaft. Der erste verwandelt die schwarze Hautfarbe dessen, der darin badet, in weiße. Wenn dagegen ein Weißer in dem Teich badet, so wird er schwarz. Wenn ein Alter im zweiten Teich badet, so wird er jung, und ein Junger wird in einen Alten verwandelt.« Der Diener fragte auch für den Baum mit den vielen Ästen, der keine Früchte trägt. Der Alte sagte: »Die Blätter dieses Baumes können alle Krankheiten heilen. Unwichtig, an welcher Krankheit jemand leidet; wenn man einige Blätter kocht und das Gebräu dem Kranken zu trinken gibt, wird er gesund.« »Danke schön«, sagte der Diener und machte sich auf den Heimweg. Er kam zu den Teichen und erzählte ihnen, was er von dem Alten gehört hatte. Der erste Teich sprach: »Willst du uns einen Gefallen tun? Sei du der Erste, der einen Gewinn von
uns hat.« Der Alte stieg in den ersten Teich und wusch sich und richtig – er war ganz weiß geworden! Danach stieg er in den zweiten Teich, wusch sich, und siehe da – er war ganz jung geworden! Dann verließ er die Teiche, zog sich an und ging weiter. Er gelangte zu dem Baum und erzählte ihm, was er von dem Alten gehört hatte. Da sagte der Baum: »Wenn das so ist, nimm von meinen Blättern, das wird dir helfen. Etwas anderes kann ich dir für deine Mühe nicht geben.« Der Diener füllte den Sack mit Blättern, zog weiter und kam zum Stadttor. Da hörte er den Herold verkünden: »Der König ist schwer erkrankt. Wenn ihn jemand heilen kann, so wird der König ihn reich entlohnen!« Als der Diener das hörte, ging er in die Stadt, mietete ein Zimmer gegenüber dem Palast und schrieb auf die Tür: »Neuer Arzt heilt alle Krankheiten.« Die Tochter des Königs stand am Fenster und sah, daß da an dem Haus etwas geschrieben steht. Sie stieg herunter, um es zu lesen. Da sah sie, daß ein neuer Arzt in die Stadt gezogen war. »Bitte, komm und heile meinen Vater«, bat ihn die Königstochter. Der Diener ging mit ihr. Er untersuchte den König und sah, daß er schwer, aber doch nicht tödlich erkrankt war. Er sagte zur Königstochter: »Laß mich mit dem König allein und geh hinaus. Mach auch die Tür nicht auf, bis ich darum bitte.« Dann sagte er: »Koch mir diese Blätter ab.« Die Königstochter nahm die Blätter, kochte sie ab und gab den Aufguß dem Arzt. Als er dem König den Aufguß zu trinken gab, öffnete der König ein wenig die Augen, schloß sie aber wieder. Der Arzt gab ihm noch etwas zu trinken; danach fühlte sich der König schon besser und konnte sich aufsetzen. Der Arzt befahl ihm, sich niederzulegen und etwas zu ruhen. Er gab ihm noch ein Glas voll – da war der König schon ganz gesund.
Der Arzt rief die Königstochter herein: »Komm, dein Vater ist schon gesund!« Diese trat ein und konnte gar nicht glauben, daß ihr Vater gesund war. Man rief den Wesir: »Komm, der König ist schon gesund!« Der kam gelaufen und wunderte sich: wie kann das sein? Alle dankten dem Arzt. Aber man ließ den König noch ein paar Tage lang nicht aufstehen. Er soll liegen, bis er wieder ganz stark wird. Nach einigen Tagen gingen sie alle, der König, der Arzt, der Wesir und die Königstochter spazieren. Das Volk jubelte ihnen zu. Nun fragte der Wesir den König, wie er den Arzt entlohnen will. Der König sagte: »Ich weiß im Augenblick wirklich nicht, was zu sagen.« »Es wäre doch sehr schade, wenn dieser Arzt wieder die Stadt verlassen würde. Ich schlage vor«, sagte der Wesir, »du gibst ihm deine Tochter zur Frau und er wird dein Schwiegersohn.« »Kein schlechter Vorschlag«, antwortete der König, »ich würde dasselbe denken. Aber fragen wir meine Tochter, ob sie einverstanden ist.« Sie riefen die Königstochter und fragten sie: »Möchtest du den Arzt heiraten?« Sie sagte: »Für den Mann, der meinen Vater gerettet hat, gebe ich mein Leben her.« Danach sagten sie dem Arzt: »Dafür, daß du dem König das Leben gerettet hast, wollen wir dir danken und dir die Königstochter zur Frau geben.« »Gut, ich habe nichts dagegen.« Man bereitete ein großes Fest vor, lud die Großen und Vornehmen der Stadt ein, holte eine Musikkapelle und feierte die Hochzeit. Die ganze Stadt freute sich darüber, daß erstens der König gesund war und zweitens über die Hochzeit seiner Tochter. Sieben Tage und sieben Nächte lang feierte man, und alle Bürger der Stadt feierten mit; man aß und trank und war froh. Nach einiger Zeit sagte der Arzt einmal zu seiner Frau: »Frag doch den Wesir, was bedeutet: Kann man dem Schicksal entgehen?« Die Königstochter ging zum Wesir und fragte ihn
nach dem Sinn dieser Worte. Der hörte sie und erinnerte sich, daß er diese Frage vor langer Zeit dem Negerdiener aufgegeben hatte. Er wunderte sich sehr, woher sie das wußte, denn der alte Diener war verschwunden; er war weggezogen und nicht zurückgekehrt. Der Wesir kam zum Arzt und fragte ihn: »Was bedeutet deine Frage?« Der Arzt antwortete: »Erinnerst du dich, daß du vor langer Zeit den schwarzen Diener ausgeschickt hattest, um dir eine Antwort zu bringen? Ich selbst bin dieser Diener.« »Wie ist das möglich? Der Diener war schwarz und alt!« Da erzählte der Arzt ihm von allen seinen Erlebnissen und wie er in den Teichen verwandelt wurde. Der Wesir fragte: »Wo sind diese Wasser?« und der Arzt erklärte ihm, wie man dorthin kommt. Der Wesir beneidete den Arzt sehr, daß er jung und schön geworden war. Er machte sich auf und ging hin, sprang in den ersten Teich und kam heraus, oh weh, schwarz wie ein Neger! Er lief zum zweiten Teich – und oh weh! – er stieg heraus als alter Mann, der kaum seine Füße schleppen kann (denn wer nach demjenigen, der vorher gebadet hatte und jung geworden war, hineinstieg, der wurde alt – wer alt war, der wurde jung). Als nun der Wesir nach Hause zurückkam, wollten ihn seine Diener nicht einlassen, denn er war schwarz wie ein Neger, und als er sagte: »Ich bin der Wesir!« – lachten sie ihn aus und trieben ihn weg. Der Arzt suchte den Wesir und fand ihn nicht, auch der König fragte nach ihm; keiner wußte, wohin er verschwunden war. Sehr beschämt kam dann der Wesir zum Arzt und erzählte ihm, was ihm passiert war: »Oh, rette mich!« bat er. Der Arzt sagte ihm: »Geh nochmals zu den Wassern baden, dann wirst du wieder sein wie zuvor.« Der Wesir ging und tauchte ein zweites Mal ein, und richtig – er wurde wieder wie früher, weiß und jung. Seither war der
Wesir auf keinen Menschen mehr neidisch. Der Arzt und seine Frau führten ein glückliches Leben. Auch der König freute sich sehr, als er sah, daß sein geliebter Diener nun sein Schwiegersohn war und daß sein Traum eine Lösung gefunden hatte. Mögen alle unsere Wünsche so in Erfüllung gehen, wie deren Wünsche sich erfüllt haben.
58. Die Geschichte vom Hahn
Es war einmal ein König, der hatte sein Reich in Bezirke eingeteilt. In jedem Bezirk setzte er einen Obersten ein, der für die inneren Angelegenheiten seines Bezirkes die Verantwortung trug. Von Zeit zu Zeit schickte er einen Gesandten zu dem Obersten, und der mußte ihm zu Ehren ein Festmahl veranstalten. Zu dieser Gelegenheit pflegte man einen Hahn zu schlachten. Einmal, zur Zeit eines solchen Besuches, spürte ein Hahn, daß er für die Mahlzeit vorgesehen war. Was tat er also? Er trennte sich von seinen Hennen und sagte zu ihnen: »Ich komme zurück, sobald der Gesandte wieder weg ist.« Der Hahn verließ den Hof und traf unterwegs den Esel des Obersten. Den fragte er: »Wohin des Weges?« »Den ganzen Tag lang habe ich schwer gearbeitet«, erzählte ihm der Esel, »und jetzt gehe ich nach Hause, um mich auszuruhen.« »Es lohnt sich für dich nicht, nach Hause zu gehen!« warnte ihn der Hahn, »dort befindet sich jetzt ein hoher, wichtiger Gast. Man wird dich seinetwegen schwer arbeiten lassen – und essen wirst du nicht können.« »Oh, was soll ich tun?« fragte der Esel. »Komm mit mir mit!« schlug ihm der Hahn vor. Da gingen die beiden zusammen weiter. Unterwegs begegneten sie dem Hund des Obersten. Wieder fragte der Hahn: »Wohin des Weges?« »Ich habe einen Hasen gejagt, aber ihn nicht fangen können«, berichtete der Hund, »jetzt gehe ich nach Hause.« Der Hahn erzählte dem Hund von der Ankunft des Gesandten und fügte hinzu: »Hunde sind dazu vorgesehen, den Hirsch zu fangen.
Wenn einer das nicht kann, wird er selbst zur Abendmahlzeit vorgesetzt. Wenn du schon keinen Hasen fangen konntest, wie wirst du es fertigbringen, einen Hirsch zu jagen?« »Was soll ich denn tun?« fragte der Hund. »Komm mit uns«, schlugen der Esel und der Hahn vor. So gingen sie zu dritt weiter. Gegen Abend kamen sie in einen Wald. Der Hahn kletterte zum Schlafen auf einen Baum, und der Hund und der Esel schliefen darunter. Früh am Morgen krähte der Hahn wie üblich sein Kikeriki, und am anderen Ende des Waldes hörte der Fuchs diesen Schrei. Er wunderte sich sehr, im Wald einen Hahnenschrei zu hören und kam, um zu sehen, was das zu bedeuten hatte. Da sah er auch den Esel. Schon dachte er an eine fette Mahlzeit – aber in diesem Augenblick bemerkte ihn der Hund und bellte, bis der Fuchs Reißaus nahm. Da lief der Fuchs und rief alle Tiere des Waldes zu einer Versammlung zusammen. Man soll gemeinsam entscheiden, was man mit den ungerufenen und unerwünschten Gästen tun soll. Die Tiere beschlossen: »Wir schicken das Wildschwein; das versteht so schön zu reden – es soll sie nach ihren Wünschen fragen.« Das Wildschwein kam, und die drei empfingen es sehr freundlich: »Wir haben eine sehr traurige Geschichte zu erzählen – aber nur dem König der Tiere, dem hochverehrten Löwen selbst, wollen wir sie erzählen.« Das Wildschwein sagte zum Hahn: »Wenn das so ist, so komm mit mir mit!« Der Hahn bedankte sich für die Einladung: »Jetzt bin ich sehr müde, aber in einigen Tagen werde ich kommen.« Sie verabredeten Zeit und Ort für das Treffen und zur gegebenen Zeit traf man sich. Das Wildschwein schlug dem Hahn vor, auf seinem Rücken zu reiten, und der war einverstanden und hüpfte hinauf, sprang aber gleich wieder auf die Erde. Da fragte das Wildschwein: »Warum bist du denn heruntergesprungen?«
»Deine Haare stechen wie Dornen, ich kann nicht darauf reiten.« »Leg ein wenig Stroh auf meinen Rücken, dann wird es dir bequemer sein.« Der Hahn legte Stroh auf des Wildschweins Rücken und zündete es an. Dem Schwein erklärte er: »Vom Himmel ist Feuer gefallen, um dich zu verbrennen.« Das Schwein lief, so schnell es konnte, bis es zur Versammlung der Tiere kam, und dort löschte man das Feuer. Es erzählte den Tieren, was der Hahn getan hatte, und man beschloß, den großen Fürsten, einen der Löwen, zu den Gästen zu senden. Der Hahn wußte, daß nun ein sehr starkes Tier sie aufsuchen wird, deshalb riet er dem Hund und dem Esel, neben dem Fluß in Stellung zu gehen. Er erteilte jedem von ihnen besondere Befehle. Da kam auch schon der Fürst, der Löwe, und stand am Fluß. Plötzlich schlug der Esel aus und stürzte ihn ins Wasser. Der Hund fraß das Fleisch des ertrunkenen Löwen, aber dessen Kopf und Beine ließ er unversehrt. Eines Tages sehen die drei, daß sich ihnen ein großer Löwe nähert. Das war der König höchstpersönlich. Dem bereiteten sie einen schönen Empfang vor. Als er sich niedersetzen wollte, sagte der Hahn: »Setz dich nicht auf die Erde, mein Herr!« und er rief den Hund: »Bring dem König ein Tierfell!« Der Hund brachte die Haut des fürstlichen Löwen, mit Kopf und Beinen. Der König der Tiere erkannte sie und erschrak. Inzwischen schrie der Hahn den Hund an: »Warum bringst du so ein Fell? Bring ein gutes Fell, das genügend getrocknet ist!« Da lief der Hund, riß den Kopf und die Beine von dem Fell ab, und brachte dieselbe Haut nochmals. Der Löwe erschrak noch mehr, denn er dachte, die Gäste hätten viele Löwenfelle. Er entschuldigte sich und verließ sie – als müsse er ein Bedürfnis verrichten, aber statt dessen machte er sich auf und davon.
Der Hahn und seine Freunde waren sehr zufrieden. Aber der Hahn war klug und wußte, daß bald mehr Tiere aus dem Wald kommen und alle ihre Kniffe ihnen nichts nützen werden. Unterdessen hatte der Gesandte das Haus des Obersten verlassen, und die drei konnten in Ruhe nach Hause zurückkehren. Der Oberst und seine Familie aber freuten sich sehr, als die drei Rumtreiber zurück waren.
59. Der Paradiesapfel
Da war ein König. Der war schon siebzig Jahre alt und noch immer hatte er keine Kinder. Seine Frau war unfruchtbar. Der König war, wie soll ich sagen, schlecht aufgelegt und mißmutig. Immer war er besorgt darüber, daß er schon so alt ist und noch keine Kinder hat, keinen Sohn und keine Tochter. So war es ihm sehr langweilig. Dann plötzlich schickte ihm Gott Elijahu, den Propheten, der wie ein Armer aussah. Elijahu kam zum Hause des Königs und sah dort zwei Wächter. Er bat sie: »Ich möchte des Königs Antlitz sehen.« Die Wächter antworteten ihm: »Wir haben nicht die Erlaubnis, dich hineinzulassen. Was du willst, sag es uns. Vielleicht können wir es dem König für dich mitteilen.« »Ich muß ihn sehen, ihn selbst.« »Mein Lieber, du bist ein Mann, der wie ein Derwisch aussieht, was willst du vom König? Er ist immer schlecht aufgelegt und er hat keine Lust, mit Leuten zu reden. Was willst du? Willst du Geld? Ich gebe es dir. Bist du hungrig? Ich werde dir zu essen geben. Willst du Gold? Ich werde dir Gold geben. Sag nur, was du willst – wir sind bereit, es dir zu geben.« »Mit Gottes Hilfe, es fehlt mir an gar nichts. Ich will nur den König sehen von Angesicht zu Angesicht.« Der Wächter ging zum König ins Zimmer und verneigte sich: »Mein Herr und König, ein Derwisch ist da gekommen und alles, was er will, ist nur, dich von Angesicht zu Angesicht zu sehen.« Der König antwortete: »Geh, gib ihm alles, was er will, ich will niemanden sehen.« Der Wächter kam zurück und sagte dem Derwisch: »Der König sagte, er ist bereit, dir alles zu geben,
was du willst, aber es lohnt sich nicht, daß du zu ihm hineingehst.« Aber der Derwisch bestand auf seinem: »Geh, sag bitte dem Herrn König, daß ich kein Gold und nichts, was es auf der Welt gibt, will. Und wenn er etwas braucht, so will ich es ihm geben, aber ich will ihn von Angesicht zu Angesicht sehen.« Der Wächter ging wieder hinein und überbrachte die Worte des Derwischs dem König. »Na gut«, sagte der König, »bring ihn herein.« Dann kam der Wächter zum Derwisch und sagte: »Bitte schön.« Der Derwisch trat ins Haus und sah den König. Er verbeugte sich siebenmal vor ihm und setzte sich hin. Der König gab ihm nämlich einen Stuhl. Der Derwisch saß neben dem König, und die Sklaven brachten Kaffee und tischten Speisen auf, man rauchte die Wasserpfeife, dann wusch man sich die Hände und unterhielt sich. Sie sprachen über die Angelegenheiten dieser Welt. Plötzlich, inmitten des Gesprächs, seufzte der König tief auf, wie es ein unglücklicher Mensch tut. Der Derwisch fragte ihn: »Mein Herr König, was hast du, daß du so schwer in meiner Gegenwart aufseufzt?« Der König antwortete: »Was soll ich dir sagen? Ich seufze vor dir, nein, nicht vor dir, sondern vor Gott. Nichts fehlt mir in dieser Welt, nur Kinder fehlen mir. Den ganzen Tag sind die Gedanken in meinem Herzen, daß ich schon so alt bin, und nach einem Weilchen wird es mit mir in dieser Welt aus sein und ich werde kein Kind haben, das meinen Platz einnehmen wird und auch mein Name wird in dieser Welt vergessen werden.« »Sei nicht so traurig! Es gibt einen Gott, und der wird dir und uns helfen.« Dann nahm der Derwisch zwei Äpfel aus seiner Tasche und sagte zum König: »Mein Herr und König! Ich gebe dir dieses Geschenk, und Gott wird dir helfen!« Der König nahm die zwei Äpfel und legte sie auf den Tisch vor sich hin. Der Derwisch sagte zu ihm: »Heute nacht, bevor du schlafen
gehst, schäle diese Äpfel. Einen davon zerschneide in zwei Teile; einen Teil iß du und den anderen gib deiner Frau zu essen. Den zweiten zerteile auch und gib die eine Hälfte deinem Sklaven und die andere Hälfte deiner Sklavin zu essen. Die Schalen gibst du deinem Hengst und deiner Stute zu fressen. Danach könnt ihr schlafen gehen.« »Vielen Dank«, sagte der König. Der Derwisch stand auf, verneigte sich siebenmal vor dem König und ging seines Weges. Der Derwisch ging, und in derselben Nacht tat der König, wie ihn der Derwisch geheißen hatte. Den nächsten Tag wachten der König und seine Frau auf, und siehe da, sie waren schon so jung wie Kinder von dreißig Jahren! Alle drei Paare, der König und Königin, der Sklave und die Sklavin, der Hengst und die Stute. Ein Jahr ungefähr war vergangen, als die Königin schwanger wurde. Auch die Sklavin und die Stute waren schwanger. Nach einem Jahr gebar sie einen Sohn. Eine Amme betreute das Kind und es wuchs auf. Nächstes Jahr gebar sie wieder einen Sohn. Auch den zog eine Amme groß. Das dritte Jahr gebar sie wieder einen Sohn. Die Kinder wuchsen auf, gingen in die Schule, spielten, wie Kinder es tun, und da waren sie schon groß. Sie waren schon Burschen, einer achtzehn Jahre alt, der nächste siebzehn Jahre und der Jüngste sechzehn Jahre. Da wurde plötzlich der König krank, seine Augen taten ihm weh. Ein Tag, zwei Tage – die Krankheit hörte nicht auf. Er versuchte allerhand Heilmittel, aber es wurde immer ärger. Die Augen wurden von Tag zu Tag schlechter. Es blieb kein Arzt in der ganzen Welt, den man nicht gerufen hatte, um ihn zu heilen. Dann schlossen sich seine Augen ganz und er wurde blind. Der Arme saß so blind ein, zwei Jahre. Plötzlich kam jener Derwisch und verlangte wieder von dem Wächter: »Ich möchte den König sehen.« Der
Wächter wollte ihn nicht hineinlassen. Er sagte zum König: »Mein Herr König, ein Derwisch ist gekommen und will mit dir sprechen.« »Mein Sohn, gib dem Derwisch alles, was er nur will. Ich bin ein Blinder, was will er von mir?« Der Wächter ging hinaus und sagte zum Derwisch: »Herr Derwisch, was willst du? Gold, Silber oder Kleidung? Der König ist blind und sitzt zu Hause.« Der Derwisch antwortete: »Mit Gottes Hilfe, ich will gar nichts, nur den König sehen.« Der Wächter ging zum König und sagte zu ihm, daß der Derwisch nichts haben will und nur den König sehen will. Da erlaubte ihm der König hereinzukommen. Der Derwisch kam herein und sah, daß der König blind war. Er verneigte sich siebenmal vor ihm und sagte: »Es tut mir leid, dich in diesem Zustand zu sehen.« »Es soll dir keinen Kummer machen. Ich selbst habe zu Gott gelobt, und genauso ist es gekommen. Das ist mein Gelübde.« Man brachte dem Derwisch Kaffee und Speisen und die Wasserpfeife. Als er fertig gegessen hatte, sagte er zum König: »Mein Herr König! Ich kann deine Augen heilen, wenn du eine Medizin verschaffen kannst, die dazu gebraucht wird.« »Bitte sag mir, was für eine Medizin es sein soll, vielleicht kann ich sie verschaffen.« »Geh morgen in das Volkshaus und rufe alle Leute der Stadt zusammen. Nimm ein Glas Wein und steige auf den Stuhl mit dem Glas in der rechten Hand. Rufe aus: ›Wer den König lieb hat, soll kommen, das Glas aus meiner Hand nehmen und es austrinken. Ich habe einen Wunsch, er soll ihn erfüllen. Wieviel Gold und Silber er haben will, ich will es ihm geben.‹« Der König tat so, aber niemand wollte das Glas Wein austrinken. Alle hatten Angst. Und seine drei Söhne stehen neben ihm. Der älteste Sohn sieht, daß niemand dem Vater helfen will – alle Leute haben Angst. Das tat dem Ältesten sehr
leid und er sagte: »Vater, sei nicht böse, ich will das Glas aus deiner Hand nehmen, und was immer du wünschst, ich will es dir bringen.« »Mein Sohn, siehst du alle diese Leute? Ein jeder ist ein Held, und jeder dieser Helden ist siebzigmal stärker als du und sie haben Angst, das Glas aus meiner Hand zu nehmen! Ich will nicht, daß du es tust.« »Ich schwöre, ich will alles für dich tun!« sagte der Sohn und bat den Vater, ihm doch zu erlauben, das Glas zu nehmen. Der Vater ließ es nicht zu, bis der Sohn schwor: »Entweder gibst du mir das Glas oder ich bringe mich um!« So zwang er die Eltern, daß sie ihn gehen ließen. Er nahm das Glas und trank es leer: »Was ist deine Bitte, Vater? Was möchtest du?« »Mein Sohn! Du sollst ins Paradies gehen und mir einen Apfel mit seinen Blättern bringen.« »Gut«, sagte der Sohn. Der König stieg vom Stuhl herunter, die Leute verstreuten sich und kehrten zurück in ihre Häuser. Der Sohn bereitete sich für die Reise vor. Er bereitete sein Pferd vor und auch Proviant für den Weg. Am nächsten Morgen ordnete der König an, daß siebzig Soldaten mit Waffen und Gesang seinen Sohn bis zum Stadtrand begleiten sollen. Dann sollen die Soldaten umkehren und den Sohn seinen Weg ziehen lassen. So ging und ging er bis zur Mittagsstunde. Als er zu einem Baum kam, stand da ein Derwisch. »Schalom, mein Herr Derwisch!« sagte der Sohn. »Schalom!« antwortete der Derwisch: »Sag, mein Herr, wohin des Weges?« »Ich gehe ins Paradies, um für meinen Vater einen Apfel mit seinen Blättern zu bringen.« »Sehr gut, mein Sohn«, sagte der Derwisch, »Gott sei mit dir, doch höre auf meine Worte.« »Bitte sehr, Herr Derwisch.«
»Bei Sonnenuntergang wirst du ins Paradies kommen. Wenn du ankommst, beeile dich, den Apfel für deinen Vater zu pflücken. Es soll dir nicht leid tun, sofort den Apfel zu pflücken. Du mußt dort übernachten, und am nächsten Morgen mußt du zurückkommen.« So sagte er ihm: »Und du sollst dich nicht aufhalten. Du steigst von deinem Pferd sofort ab und pflückst den Apfel, verbirgst ihn in deiner Tasche, dann erst legst du dich schlafen. Nur vergiß nicht: zuerst mußt du den Apfel pflücken.« »Vielen Dank, ich will alles so machen, wie du mir es sagst.« Am selben Abend, als die Sonne unterging, erreichte er das Paradies. Er sah einen Garten – alle möglichen Vögel sangen dort – und was für Düfte! Da tat es ihm leid und er sagte in seinem Herzen: »Was hat jener Mann gesagt? Da gibt es doch Millionen von Äpfeln! Auf jedem Baum gibt es so viele! Was wird schon geschehen von jetzt bis zum Morgen? Wie sollte ich denn morgen keine Äpfel finden?« Er setzte sich hin, band sein Pferd an einen Baum und ruhte sich aus. Eine Stunde, zwei Stunden, bis er einschlief. Um Mitternacht kam ein Löwe, der sieben Köpfe hatte, fraß sämtliche Äpfel auf und ließ die Bäume ganz kahl zurück. Am Morgen wachte der Bursche auf und da sah er sich in einer Wüste. Wo sind alle Bäume hin? Was war da gestern und was sieht man heute? Er fing zu weinen an. Wie geschah es, daß er schlief und nichts hörte? Er lief hin und her in dieser Wüste. Er hofft, daß man ihn hinauswerfen wird. Dann machte er sich traurig auf den Heimweg und kam zu jenem Baum, an welchem er dem Derwisch begegnet war. Der Derwisch war auch dort und begrüßte ihn: »Gott soll dir zu Hilfe sein! Was hast du getan? Hast du den Apfel gebracht?« Der Älteste fing zu weinen an: »Wahrlich, ich folgte nicht deinem Rat. Es tut mir sehr leid. Jetzt muß ich mit leeren
Händen heimkehren. Vielleicht kannst du mir helfen, damit ich wieder zurück kann?« »Nein, ich kann dir nicht mehr helfen. Kehre in Frieden nach Hause zurück.« Dann verschwand der Derwisch und der Junge ging heim. Er kam nach Hause und weinte vor seinem Vater. Er erzählte, was ihm zugestoßen war. Der Vater sagte: »Siehst du, mein Sohn, wären jene Helden gegangen, hätte ich dich nicht zu senden brauchen.« Am nächsten Tag berief der König wieder das ganze Volk in das Volkshaus und nahm das Glas mit Wein in seine Hand. Er sagte zum Volk: »Wer gehen wird, wird von mir viel Gold und Silber bekommen. Er soll nur gehen und bringen, was ich brauche.« Niemand wollte gehen. Dann kam der zweite Sohn des Königs und sagte: »Ich will gehen.« Er ging, und es geschah mit ihm genau dasselbe, was mit dem ältesten Sohn geschehen war. Zum dritten Mal rief der König das Volk zusammen. Er bestieg den Stuhl mit dem Glas in der Hand und fragte, wer für ihn gehen will – aber niemand meldete sich. Da ergriff sein jüngstes Kind das Glas, entriß es dem Vater und rief: »Entweder ich bringe dir den Apfel oder ich sterbe!« So schwor er vor seinem Vater: »Wenn ich ihn dir nicht bringe, so wird ihn niemand bringen!« Und damit trank er den Wein aus und begab sich auf den Weg zum Paradies. In der Mitte des Weges traf er den Derwisch. Dieser erklärte ihm, was er zu tun hatte. »Danke schön«, sagte der Jüngste und ging weiter. Als die Sonne am Untergehen war, kam er im Paradies an. Das Paradies war sehr schön, und der Knabe hatte große Freude daran. Es duftete so schön und die Vögel sangen. So etwas hatte er noch nicht erlebt! Er setzte sich unter einen Baum, ruhte aus, aß etwas und trank und dann fühlte er, daß er sehr schläfrig wurde. Er war sehr müde. Er zog sein Taschenmesser
aus dem Ranzen und schnitt sich damit in die Hand, schüttete Salz auf die Wunde, so daß es ihn brannte und er nicht einschlafen konnte. Er schlief auch nicht, der Finger brannte. Da, um Mitternacht, kommt so ein Löwe mit sieben Köpfen und fängt an, die Äpfel zu fressen. Der Knabe sprang auf, zog das Schwert und gab ihm einen Schlag genau auf den Kopf. Er schnitt ihm sechs Köpfe ab, doch ein Kopf blieb ihm, und er rannte davon. Der Knabe läuft ihm nach, läuft und läuft, bis er plötzlich sieht, wie der Löwe in eine Grube springt. Der Knabe kam näher und sah, daß es eine große Grube war, ein Brunnen, sehr tief, und der Löwe muß da hineingefallen sein. Neben dem Brunnen war ein großer Stein, vielleicht eine halbe Tonne schwer. In der Mitte hatte der Stein ein Loch. Der Knabe kam, steckte einen Finger in das Loch des Steins, sprach den Namen Gottes aus, hob den Stein auf und deckte mit ihm den Brunnen zu. Das alles geschah um Mitternacht. Er ging wieder in den Garten zurück und ruhte sich bis zum Morgen aus. Dann stand er auf, pflückte zwei Säcke voll Äpfel und anderen Früchten, die auf den Bäumen wuchsen, band den Sack auf seine Stute und kehrte um – heimwärts. Mittags traf er den Derwisch. Der Derwisch fragte ihn: »Schalom, mein Lieber. Hast du den Apfel gebracht?« »Ja. Mit Gottes Hilfe habe ich nicht mehr und nicht weniger gebracht. Und wenn man mir einen Rat gibt, so folge ich ihm. Du hast mir ein Wort gesagt und ich bin dir gefolgt. Und jetzt, da hast auch du von den Äpfeln.« Er gab ihm einige Äpfel aus dem Sack. »Schalom!« – »Schalom!« So verabschiedeten sie sich voneinander und jeder zog seines Weges. Der Knabe kam nach Hause mit Gesang und Freude. Er gab dem Vater die Äpfel und sagte: »Ich brachte dir die Äpfel, bitte schön.« Der Vater nahm sie, schälte einen ab und aß ihn auf, die anderen zerrieb er zu Brei, den er auf seine Augen tat. Nach drei Tagen waren seine Augen gesund, und er konnte wieder sehen. Er
dankte Gott dafür von ganzem Herzen. Nach einigen Tagen ging der Knabe zu seinen Brüdern; er sagte zu ihnen: »Hört zu: Mir hat Gott geholfen und ich habe die Äpfel unserem Vater gebracht. Gott sei Dank, der Vater ist jetzt gesund und er kann wieder arbeiten. Ich will, daß wir zusammen zu einem merkwürdigen Ort gehen.« »Wohin willst du uns denn führen? Was hast du schon wieder?« fragten die Brüder. »Ja, ich will euch dahin führen, wo ihr sehen sollt, wer euch alle diese Schwierigkeiten gemacht hatte, so daß ihr umsonst ausgezogen wart. Und ich will gehen und mich an ihm rächen.« Die Brüder baten ihn: »Laß es doch sein, es lohnt sich nicht. Danke, wozu sollen wir schon wieder ausziehen?« Sie wollten nicht gehen. Die Eltern hörten von dem Plan und baten sie, nicht zu gehen. Aber der Jüngste bestand darauf: »Entweder kommt ihr mit mir oder ich bringe mich um!« So zwang er sie, mit ihm zu gehen. Jeder nahm Stricke, ein Schwert, Silber, Gold und alles, was sie wollten, mit sich und am nächsten Tag brachen sie auf. Sie gingen lange und noch am selben Tag kamen sie zu jenem Brunnen. Der war mit dem Stein zugedeckt, den der Jüngste darauf gelegt hatte. Der Knabe sagte zu seinem ältesten Bruder: »Steig von deinem Pferd.« Er stieg von seinem Pferd, und auch der Jüngste stieg von seinem Pferd. Er sagte: »Heb den Stein auf, und wir werden zusehen!« Der Älteste steckte seinen Finger in das Loch in der Mitte des Steins, aber wieviel er sich auch anstrengte, er konnte den Stein nicht vom Platz rücken. Er sagte: »Was willst du von mir? Ich kann ihn nicht aufheben.« Da sagte der Jüngste zu seinem zweiten Bruder: »Komm, heb den Stein auf!« Dem Zweiten gelang es, den Stein ein wenig zu rücken, aber auch er konnte ihn nicht aufheben. Er hat ihn nur ein wenig verschieben können. Da sagte der Jüngste zu ihnen: »Schaut, wie ich den Stein hebe!« Sie sahen, wie er sich gegen
den Boden stemmte, feststand, seinen Finger in das Loch im Stein steckte, den Stein hob und ihn um seinen Finger drehte. »Schaut, wie ich es anstelle!« und er warf den Stein zur Seite des Brunnens. Der Jüngste sagte zum Ältesten: »Ich will dich anbinden und in den Brunnen hinunterlassen. Schau dir an, was es dort im Brunnen gibt.« Der Älteste fing zu weinen an: »Warum willst du mich in den Brunnen hinunterlassen?« Er hatte Angst, in den Brunnen zu gehen. Er bat um Gnade. Der Jüngste sagte ihm: »Bitte nicht um Gnade, wir müssen dorthin!« Er band ihm den Strick um und ließ ihn hinunter. Er war kaum zwanzig Meter tief, da fing er zu schreien und zu weinen an, – noch ein bißchen und er wird sterben. »Ich sterbe, ich sterbe!« Er war noch nicht einmal ein Viertel des Brunnens hinunter. Sie zogen ihn heraus – da sahen sie, was für ein Mensch er war. Ein Angsthase! Dann kam der zweite, man band ihn und ließ ihn hinunter. Er war kaum bis zur Hälfte des Brunnens gekommen, da fing er zu schreien an vor lauter Angst. »Ich sterbe, ich sterbe!« Sie zogen ihn heraus. Dann kam die Reihe an den Jüngsten. Er sagte: »Hört zu! Wieviel ich auch weinen und schreien werde, zieht mich nicht hoch. Laßt mich hinunter, bis ihr fühlt, daß der Strick leicht geworden ist. Dann wartet neben dem Brunnen, bis ich den Strick schüttele. Wenn ich dieses Zeichen gebe, zieht hoch.« Diese fingen ihn zu bitten an: »Du bist unser Bruder! Du bist unser Held! Warum willst du von uns gehen?« Sie baten, er möge doch nicht gehen, aber er wollte nicht auf sie hören. Dann banden sie ihn und ließen ihn hinunter. Plötzlich fühlten sie, daß der Strick leicht wurde. Er war tief in dem Brunnen. Er sieht: dort ist eine Höhle. Er ging hinein, da sah er ein Zimmer. Er klopfte an die Tür. Niemand antwortete. Er öffnete die Tür und steckte den Kopf hinein. Was sah er dort? Was für ein schönes Mädchen saß dort! Und auf ihren Knien hielt sie den Kopf des Löwen,
welcher schlief. Das Mädchen sagte zu ihm: »Oh weh, um dich, du Menschensohn, ist es geschehen! Bald wird der Löwe aufwachen und aus dir Schnupftabak machen, den er in seine Nase steckt!« »Willst du, daß ich dich aus seinen Händen errette? Dann sag mir, wo seine große Kraft steckt, und ich will dich befreien«, antwortete der Jüngling. »Schau, dort ist ein Glas Wasser, darin besteht seine Kraft«, sagte das Mädchen. »Gut«, sagte er, »wenn er aufwacht, will ich mit ihm kämpfen. Wenn du siehst, daß ich am Umfallen bin, brich das Glas, und er wird niederfallen. Und dann kann ich ihn töten.« »Gut«, sagte das Mädchen. Er wartete, bis der Löwe aufwachte. Als der Löwe aufstand, roch er Menschengeruch. Er fragte das Mädchen: »Von wo kommt hierher Menschengeruch? Ich rieche Menschen hier!« »Ich weiß nicht, woher der Geruch kommt. Ich bin ein Mensch und du bist ein Löwe. Geh und such!« Er öffnete die Tür und sah den Menschen. Er sagte zu ihm: »Menschensohn! Was willst du hier? Hat dich Gott gesandt?« »Du bist ein Löwe und ich ein Menschensohn. Ich weiß nicht, wer mich geschickt hat. Komm, wir wollen kämpfen. Falle ich um, tue mit mir, was du willst.« Sie fingen den Kampf an. Sie kämpften hier und dort, und der Mensch hat keine Kräfte mehr und ist dabei hinzufallen. Da sprang das Mädchen auf und zerbrach das Glas. Sofort fiel der Löwe hin, der Jüngste stand auf und erschlug den Löwen. Bevor er starb, bat der Löwe: »Ich bitte dich, gib mir noch einen Hieb.« Das sagte er, weil er noch leben wollte. Der Jüngste sagte: »In unserer Natur ist es, nur einmal zuzuschlagen.« So starb der Löwe. Der Jüngling öffnete die Tür, ging zum Mädchen hinein. Er bat sie: »Sag mir, was gibt es noch hier im Brunnen?«
»Hier gibt es noch zwei Löwen, und da habe ich einen goldenen Teppich. Wenn die ganze Stadt auf dem Teppich sitzt, bleibt noch der halbe Teppich frei. Hier habe ich auch ein rotes Pferd, mit rotem Zaum und rotem Sattel.« Er nahm die Schlüssel von dem Zimmer und brachte das Mädchen zur Öffnung des Brunnens. Sie sagte zu ihm: »Was willst du? Soll ich als erste hinaufgehen, oder willst du als erster hinaufgehen?« Sie bat ihn, er solle zuerst hinaufgehen. Aber er schwor: »Das ist nicht gut, daß ich als erster hinaufgehe. Du sollst die erste sein. Du bist für meinen ältesten Bruder bestimmt.« »Wenn du es so willst, dann habe ich dir etwas zu berichten. Hörst du auf meinen Rat, so wirst du siegen. Wenn nicht, wirst du verlieren.« »Bitte schön, sag es mir.« »Ich habe geträumt, daß, wenn du meine zwei Schwestern herbringst und sie vor dir hinaufgehen läßt, du dein Leben verspielen wirst.« »Was werde ich verlieren?« »Ich habe dir schon gesagt. Meine jüngste Schwester wird es dir erklären. Ich kann dir nicht mehr sagen.« Dann schüttelte der Jüngste den Strick, band sie fest und jene zogen sie hinauf. Als die Brüder sie herausgezogen hatten, sahen sie, was für eine Schönheit sie war! Sie sagte: »Schalom.« »Schalom.« »Wer ist der Ältere von euch?« »Ich bin es«, sagte der Älteste. »Ich bin für dich«, sagte das Mädchen. Der Jüngling unten im Brunnen klopfte am zweiten Zimmer. Das Mädchen, das dort drin war, fragte: »Wer ist da?« »Ich bin es«, sagte der Junge. Das Mädchen öffnete die Tür und sah ihn. Er sah, daß diese noch schöner als das erste Mädchen war. Sie fragte ihn: »Mein Herr, bist du ein Menschensohn? Was suchst du hier?«
»Ich bin ein Menschensohn. Ich bin gekommen.« »Oh, weh dir! Wenn der Löwe hier aufwacht, wird er dich als sein Schnupftuch benutzen und nicht einmal ausspucken.« »Wenn du willst, daß ich dich von hier errette, sag mir, worin die Kraft des Löwen besteht. Dann kann ich dich befreien.« »Seine Kraft ist in dieser Taube hier, die du siehst.« Sie zeigte ihm die Taube und sagte: »In dieser Taube ist seine Kraft.« »Gut, sehr gut. Ich habe deine Schwester befreit und ich werde auch dich befreien. Er wird aufwachen, und ich will mit ihm kämpfen. Wenn du siehst, daß ich am Fallen bin, schneide der Taube den Kopf ab.« Da wachte der Löwe auf und sagte zum Mädchen: »Uh, ich rieche hier Menschensöhne in diesem Zimmer. Ich rieche Menschenfleisch.« »Ich bin ein Menschensohn und du bist ein Löwe. Ich habe eine Bitte an dich. Ich möchte mit dir kämpfen. Entweder werde ich dich töten oder du wirst mich töten.« »Gut!« sagte er: »Ich bin einverstanden.« Sie fingen zu kämpfen an. Es ging hin und her, bis der Mensch, der schwach war, keine Kraft mehr hatte und am Umfallen war. Sofort sprang das Mädchen auf und riß der Taube den Kopf ab. Der Löwe fiel um. Der Mensch hieb auf ihn mit dem Schwert ein und gab ihm einen Schlag. Der Löwe bat dreimal, er solle ihm doch noch einen Hieb versetzen. Doch der Jüngste antwortete: »Es ist in unserer Natur, nur einmal zuzuschlagen.« So starb der Löwe. Der Jüngste ging zum Mädchen. Sie zeigte ihm, was sie besaß: Eine Schüssel mit Trauben, alles aus Gold, und ein gelbes Pferd, mit gelbem Zaum und Sattel – alles gelb. Sie schloß das Zimmer ab und gab ihm den Schlüssel. Er führte sie zu der Öffnung des Brunnens, rüttelte den Strick, und jene zogen sie heraus. Oben angekommen, sagte sie zu dem zweiten Bruder: »Ich bin für dich.«
Der Jüngste ging zu dem dritten Zimmer. Er klopfte an und öffnete die Tür. Er steckte den Kopf hinein und da sah er ein Mädchen – na, so schön! Die schönste von allen! Das Mädchen sagte zu ihm: »Menschensohn, was machst du da? Steht dieser Löwe auf, so wird er aus dir eine Scheibe Brot machen und dich auffressen!« »Ich habe deine zwei älteren Schwestern schon befreit. Sagst du mir, wo die Kraft des Löwen steckt, will ich auch dich befreien«, sagte er. »Deine Schwestern gaben mir die Kraft der Löwen, und ich konnte sie erretten.« »Dieser hier hat seine Kraft im Besen«, sagte sie. »Gut, in Ordnung«, sagte er, »wenn er aufwacht, und ich mit ihm kämpfe, schau zu: Wenn ich am Umfallen bin, zerbrich den Besen – und fertig.« Nach einer kurzen Zeit wachte der Löwe auf und roch Menschen. Auch er fragte das Mädchen: »Ich werde verrückt von diesem Menschengeruch!« »Geh, such selbst!« sagte sie ihm. Er ging aus dem Zimmer, da fand er sich plötzlich einem Menschen gegenüber. Er fragte ihn: »He, du Menschensohn, was suchst du denn hier?« »Ich bin ein armer Mensch. Was willst du von mir? Wenn du willst, können wir kämpfen. Entweder töte ich dich oder du tötest mich.« So fingen sie zu kämpfen an. Das Mädchen sah, daß der Mensch am Umfallen ist, und sie nahm schnell den Besen und brach ihn entzwei. Da fiel der Löwe hin. Der Jüngling gab dem Löwen einen Schlag, so daß er ganz umfiel. Der Löwe bat: »Gib mir noch einen Hieb.« »In unserer Natur ist es, nur einmal zuzuschlagen.« Dann starb der Löwe. Er kam zum Mädchen. Das Mädchen zeigte ihm, was sie besaß: Sie hatte einen Teller und darauf einen Hahn und eine
Henne mit ihren vierzig Küken – und alles aus purem Gold. Dann zeigte sie ihm ein weißes Pferd mit weißem Zaum und weißem Sattel – alles in weiß. Er schloß das Zimmer ab und nahm den Schlüssel. Dann brachte er sie zur Öffnung des Brunnens. Er nahm den Strick und wollte sie anbinden. Aber sie wollte nicht. »Was ist mit dir? Warum willst du nicht?« »Geh du zuerst hinauf«, bat sie, »hör zu! Es ist nicht gut, daß ich als erste hinaufgehe. Deine Brüder werden sehen, daß ich schöner als meine Schwestern bin, dann werden sie den Strick durchschneiden, um dich zu vernichten.« »Wie kann das sein? Meine Brüder werden mich vernichten wollen?« »Sie müssen dich vernichten. Wenn du mir nicht glaubst, komm, geh hinauf und lausche, was sie besprechen.« Er aber bestand darauf: »Du sollst als erste hinaufgehen. Was immer geschehen wird, du mußt die erste sein.« »Wenn du nicht auf mich hören willst, gut. Ich werde als erste hinaufgehen. Aber wenn deine Brüder zufällig doch den Strick abschneiden werden, wirst du hinunterfallen. Siehst du diesen Brunnen? Du wirst noch tiefer fallen, sieben Stock tiefer hinunter. Wenn du dort hineinfällst, wirst du zwei Schafe sehen, eins weiß und eins schwarz. Ziele gut, daß du auf das weiße Schaf fällst. Das wird dich sofort nach oben bringen. Wenn du aber verfehlst und auf das schwarze fällst, dann wirst du noch sieben Stock tiefer fallen.« »Wie es Gott für mich bestimmt hat – wir werden sehen.« Sie küßten sich, und er band ihr den Strick um, rüttelte an ihm, und jene zogen sie hinauf. Die Brüder zogen sie hinauf. Als sie sie sahen, waren sie verblüfft. Einer sagte zum anderen: »Dieser Kerl, von wo holt er sie nur?« Dann sagten sie sich, wenn er hinaufgezogen werden will, wollen wir den Strick durchschneiden, damit er umkommt und wir ihn los sind. So wurde es beschlossen. Sie
ließen den Strick für ihn hinunter, er band sich fest, machte ein Zeichen mit dem Strick, und die Brüder fingen an ihn hochzuziehen. Als er in der Mitte des Brunnenschachtes war, schnitten sie den Strick durch und er fiel hinunter. Er fiel sieben Stock in die Tiefe. Er hatte noch nicht den Boden erreicht, da sah er zwei Schafe, eins dem anderen nachlaufen. Er versuchte zu zielen, um auf das weiße Schaf zu fallen, aber seine Kraft verließ ihn, und er fiel auf das schwarze Schaf. So fiel er noch sieben Stock tiefer. Er befand sich in einer schwarzen Welt. Wohin sollte er nun gehen? In welche Richtung? Der Ärmste! So drehte er sich herum, hierhin und dorthin, bis er einen Luftzug verspürte und dann entdeckte er auch ein bißchen Licht. Er richtete sich nach diesem Licht und ging vorwärts. So ging er, bis er zu einer armseligen Stadt kam. Er ging in die Stadt hinein und sah einen Hirten die Herde hüten. Er kaufte von ihm ein Schaf und schlachtete es an einer Stelle fern von Menschen. Er zog dem Schaf das Fell ab und zog es über seine Kleider. Nun sah er wie ein schmutziger Bursche mit einer Glatze aus. Er ging in der Stadt herum, hierhin und dorthin, bis er eine alte Frau fand, der er Geld gab, und die ihn in ihrem Haus schlafen ließ. Am nächsten Morgen wachte er dort auf. Er stand auf und ging auf den Markt. Da sah er plötzlich einen Auflauf wegen eines Festes. Alles lief zusammen, wie bei einer Hochzeit. Die ganze Stadt war da. Jeder, der von dem Fest hörte, verließ sein Haus und kam. Der Festzug zog an ihm vorbei, und er schloß sich ihm an. Er schloß sich als letzter an mit einem alten Mann, und sie gingen zusammen. Dann fragte er den Alten: »Sag mir, was hat es mit diesem Fest eigentlich auf sich?« »Weißt du denn nichts?« erwiderte der Alte. »Bist du nicht aus dieser Stadt?«
»Nein, ich bin hier fremd. Ich kam erst heute an. Was bedeutet diese Festlichkeit? Was sind das für Speisen? Was hat es mit diesen vielen Tellern und Schüsseln auf sich?« Er sah zwanzig, dreißig große Teller mit Speisen. Dann sah er ein schönes Mädchen, geschmückt wie zu ihrer Hochzeit. Der Alte antwortete ihm: »Jeden Freitag bereitet der König ein schönes Mädchen vor, und mit großem Prunk bringt man sie zur Wasserquelle der Stadt. Dort sitzt ein Löwe. Er frißt zuerst alle diese Speisen auf, alles, alles, und dann macht man ein Fest. Dann öffnet der Löwe die Wasserquelle und die Wasserhähne für eine Stunde. Danach nimmt der Löwe das Mädchen.« Der Bursche ging mit dem Festzug und sah, daß alles stimmte, was der Alte erzählt hatte. Dann versteckte er sich hinter einem großen Stein. Er wartete, bis alle Leute in die Stadt zurückgegangen waren und niemand da blieb. Nach zwei Stunden ging der Jüngling zu dem Löwen, gab ihm einen Schlag mit dem Schwert und tötete ihn, bevor er noch das Mädchen berühren konnte. Im selben Augenblick tauchte das Mädchen die Hand in das Blut des Löwen und bezeichnete damit den Burschen – sie schmierte das Blut mit ihren fünf Fingern auf dessen Rücken, doch er merkte es nicht. Sofort war das Wasser frei und floß in die Stadt, vermischt mit dem Blut des Löwen. Der Jüngste nahm das Mädchen und brachte es in die Stadt zurück. Das Mädchen bat ihn: »Ich bin dir sehr dankbar dafür, daß du mich gerettet hast. Komm jetzt in das Haus meines Vaters und sei unser Gast.« Er aber wollte es nicht. Sie kamen zu ihrem Haus, und sie sagte zu ihm: »Siehe, das ist unser Haus.« Sie ging hinein und er ging von dannen. Der Vater sah überrascht, daß seine Tochter zurückgekommen war. »Was hast du getan? Warum bist du weggelaufen? Sag die Wahrheit!« Und schon wollten sie sie prügeln. Sie sagte zu ihnen: »Habt keine Angst, Gott hat uns errettet vor dem
Löwen. Bald werdet ihr alles sehen, und ich bin nicht entflohen.« Ihre Eltern glaubten ihr nicht. Da führte sie sie hinaus und zeigte ihnen, daß im Flußbett schon Wasser fließt, das mit Blut vermischt ist. Und sie erzählte, wie sich alles zugetragen hatte. Man bat sie: »Zeige uns den Burschen, der dies alles vollbracht hat – wir wollen ihn sehen.« »Ich kenne ihn. Er hat auf seinem Rücken mein Zeichen – meine fünf Finger in Blut.« Dann ging der Vater des Mädchens zum König der Stadt und sagte zu ihm: »Mein Herr König! Du und deine Stadt seien gesegnet, und wir siegten einen großen Sieg in dieser deiner Stadt.« Und der König fragte: »Was für ein Sieg?« »Steh auf und sieh, die ganze Stadt ist voll Wasser.« Der König stand von seinem Thron auf, kam hinaus und sah, daß schon das ganze Flußbett und alle Bäche voll Wasser waren. Das Wasser floß überall, und die ganze Stadt war froh. Ein jeder fragte: »Wie kommt es, daß dieser Schuft, der Löwe, so viel Wasser der Stadt gibt? Es ist schon ein Tag, zwei Tage her, und das Wasser fließt noch immer?« Der König sah, wie sich alle freuten, und er bat den Vater des Mädchens: »Schicke bitte deine Tochter aus, jenen Burschen zu suchen und ihn herzubringen.« Man ging aus, den Jüngling zu suchen. Man suchte und suchte, aber man fand ihn nicht. Dann berief der König seine Minister zu einer Sitzung, und sie beschlossen, die ganze Stadt zusammenzurufen. Man soll sich auf einem großen Feld versammeln, dann wird man jenes Mädchen rufen und sie wird ihren Retter unter diesen Menschen suchen. So wird sie ihn finden. Man schickte einen Herold aus, um zu verkünden: Morgen soll jeder, der älter als vier Jahre und jünger als hundertundachtzig Jahre ist, auf jenes Feld kommen. Niemand darf zu Hause bleiben. So ging also der Herold durch die
Straßen und rief aus: »Wen die Schutzleute zu Hause finden, der wird bestraft! Alle müssen kommen! Wer nicht kommt, den wird der König hinrichten lassen!« Am nächsten Tag, um zehn Uhr, waren alle auf dem Felde. Nicht einmal ein Hahn ist zu Hause geblieben. Alle gingen sie auf jenes Feld. Das Mädchen fing zu suchen an. Sie suchte einen ab – nein, es ist nicht dieser; nein, es ist nicht jener. Bis der Tag zur Neige ging, und noch immer hatte sie den Burschen nicht gefunden. Und er ist nicht aus dem Hause gegangen, dieser Bursche! Er schlief einfach. Am Abend kehrte die Alte zurück nach Hause und sieht ihn, nicht einmal aufgestanden war er. Sie fragte ihn: »Warum bist du nicht aus dem Haus gegangen? Du hast aber Glück gehabt, daß dich die Schutzleute nicht zu Hause gefunden haben! Sie hätten dich umgebracht. Und mich auch!« »Es ist nur schade, daß sie mich nicht gefangen und umgebracht haben! Ich habe dieses Leben satt!« In diesem Moment hörten sie wieder den Herold des Königs auf der Straße ausrufen: »Morgen sollen wieder alle Leute kommen! Morgen wird man in den Häusern nach dem Burschen suchen!« Am nächsten Tag kam man und suchte im Haus eines jeden und nicht auf dem Feld. So kam auch das Haus jener Alten an die Reihe. Dort sah das Mädchen ihn schlafen. Sie fragte: »Wer ist das?« »Ich weiß es nicht«, sagte die Alte, »zwei Tage schon mietet er den Raum bei mir und schläft hier.« Das Mädchen hob die Decke auf – und siehe da! Da ist doch das Zeichen ihrer fünf blutigen Finger auf seinem Rücken! Sie sagte: »Das ist er!« Man meldete es sofort in der Stadt und schickte alle Leute nach Hause. Das Mädchen wartete, bis er aufwachte. Nach einer Stunde oder so, wachte er auf – da faßte ihn der Schutzmann und sagte: »Der König sucht dich, komm mit mir mit.«
»Bitte sehr!« sagte er und ging mit dem Schutzmann zum König. Der König fragte das Mädchen: »Ist das der Bursche?« »Das ist er!« sagte das Mädchen. »Ich habe dir gesagt, daß ich ihn am Rücken gezeichnet habe.« Der König begrüßte den Jüngling und fragte: »Woher bist du?« »Ich bin hier fremd«, sagte er und log ein bißchen. Der König sagte zu ihm: »Ich bin dir sehr dankbar, und ich will dir die Gefälligkeit vergelten. Sag mir, was du haben möchtest, und ich will es dir zur Verfügung stellen. Willst du Geld, einen Laden oder etwas anderes? Sofort sollst du es haben.« »Mein Herr und König! Ich danke dir. Ich will gar nichts, nur daß du lange leben sollst.« »Was willst du?« fragte ihn der König wieder. »Ich will nur, daß du gesund sein und leben sollst«, antwortete der Bursche. »Wenn ich dich zweimal gefragt habe – so entspricht es unserem Brauch. Wenn ich dich aber dreimal frage und du nichts verlangst, dann ist es dein eigener Schaden.« »Mein Herr König! Jetzt habe ich keinen Wunsch. Kannst du einige Tage lang warten? Einen oder zwei Tage, vielleicht sogar einen Monat – dann werde ich es dir sagen.« »Gut«, der König dankte ihm und sagte: »Solltest du etwas brauchen, dann komm nur zu mir.« Der Jüngling ging weg. Wie er nach Hause zu der Alten ging, sah er einen alten Olivenbaum stehen. Es war ihm sehr heiß, und neben dem Baum gab es einen Fluß. Er setzte sich unter den Baum, aß und ruhte sich aus. Der Arme schlief ein. Er schlief erst fünf Minuten oder eine halbe Stunde, als Lärm von Vögeln ihn weckte. Da sah er eine große Schlange, die sich auf den Baum schlängelte. Er tötete sofort die Schlange und schnitt sie in Stücke. Die Stücke legte er zu den Jungen des Vogels. Die Jungen waren die Kinder eines Adlerweibchens. Die freuten sich so über das Fleisch, daß sie sofort anfingen es zu fressen. Sie fraßen alles auf und ließen nur ein Stück übrig.
Nach einer halben Stunde kam die Mutter der Jungen, das Adlerweibchen, zurück. Sie sah, daß ihre Kinder heil und lebendig sind. Sie war nämlich sehr beunruhigt; noch nie war es ihr passiert, daß sie bei der Rückkehr zum Nest alle ihre Kinder lebend vorfand. Das Adlerweibchen flog sofort vom Baum, um den Burschen zu töten. Die Jungen ließen es aber nicht zu, daß sie ihn tötete. Sie sagte zu ihnen: »Dieser Bursche ist es, der immer kommt und euch töten will. Jetzt will ich ihn töten.« »Er ist es, der uns gerettet hat!« riefen die Kinder. »Schau, hier ist ja ein Zeichen – wir ließen dir ein Stück vom Schlangenfleisch übrig. Das ist das Zeichen, daß er uns gerettet hat.« Die Adlermutter sah das Stück Fleisch, und gleich wollte sie dem Burschen einen Gefallen tun. Sie fächelte mit ihren Flügeln und machte ihm Schatten, weil es so heiß war. Der Jüngste war wieder eingeschlafen, nun wachte er auf – es war ihm kalt von dem Fächeln. Er machte die Augen auf, und da steht dieses Adlerweibchen vor ihm. Da erschrak er sehr. »Fürchte dich nicht«, sagte das Adlerweibchen, »was willst du von mir? Ich werde es dir geben.« »Ich will gar nichts«, sagte der Bursche, »ich will nur, daß du gesund bist.« Ein zweites Mal fragte ihn das Adlerweibchen, und wieder wollte er nichts. Zum dritten Mal sagte das Adlerweibchen: »Wenn du mir das dritte Mal nicht sagst, was du willst, so wirst du verlieren.« Er sah es ein – warum sollte er verlieren? Da sagte er zu ihr: »Ich möchte es dir sagen, aber ich meine, daß es für dich schwer zu erfüllen sein wird.« »Sag es nur!« »Ich möchte, daß du mich zum obersten Stock der Welt bringst.« »Das ist sehr schwer«, sagte das Adlerweibchen zu ihm, »aber ich muß dich hinaufbringen. Ja, ich kann dich
hinaufbringen, aber unter der Bedingung, daß du mir verschaffst, was ich brauche. Wenn du es nicht kannst, dann wird es sehr schwer sein.« »Sag mir, bitte, was du brauchst.« »Was ich brauche, das ist viel Kraft. Ich muß dich tragen. Ich will von dir vierzig Schläuche Wein und vierzig fette Schafsschenkel. Auf dem Wege zum obersten Stock der Welt gibt es vierzig Stationen. Auf jeder Station wirst du mir einen Schlauch Wein und einen Schenkel in den Schnabel werfen, und so wollen wir hinauffliegen. Ich will es dir auf dem Wege noch erklären.« »Gib mir drei Tage Zeit, und ich will dir die Antwort geben«, sagte der Bursche. Am nächsten Tage ging er zum König. Er bat ihn: »Meine Bitte ist: laß mich vierzig Schläuche Wein und vierzig Schafsschenkel haben.« »Gut«, sagte der König, »komm morgen und du wirst alles bekommen.« Er kehrte zum Adlerweibchen zurück und sagte ihm: »Morgen wird alles da sein.« Am nächsten Tag nahm er alles vom König in Empfang und brachte es zu dem Adlerweibchen. Das Adlerweibchen sagte: »Lade die Nahrung auf einen meiner Flügel und du setzt dich auf den anderen Flügel.« Dann flog die Adlermutter auf. Sie flog mit ihm und auf jeder Station sagte sie: »Gib mir zu essen!« Und er legt ihr einen Schlauch Wein und einen Schenkel in den Schnabel. So ging es neununddreißig Stationen lang. Noch eine einzige Station blieb, bis sie oben sein werden. Sie sagte zu ihm: »Gib mir zu essen.« Er legte ihr den Weinschlauch in den Schnabel, aber wie er den Schenkel hineinlegen wollte, fiel dieser aus dem Schnabel. Als er es bemerkte, schnitt er von seinem Hintern ein Stück heraus und legte es ihr in den Schnabel. Sie merkte, daß das nicht ein
Schafsschenkel war und fraß ihn nicht auf. Sie hielt es in ihrem Schnabel. So kamen sie oben in der Stadt an, und sie ließ ihn herunter. Sie ließ ihn herunter. Sie sagten »Schalom« zueinander und sie sagte: »Geh!« »Geh du erst weg«, sagte er. Er fing zu gehen an, aber sein Körper tat ihm weh – er ging und hinkte sehr, der Arme. Er war schon dreißig oder vierzig Schritte von ihr entfernt, als sie auf ihn zukam und sagte: »Warum hast du nicht gehinkt, als du auf meinen Rücken stiegst? Warum hinkst du jetzt?« »Hör zu! Ich saß so lange auf deinem Rücken und kann darum jetzt nicht richtig gehen«, sagte er. »Wenn du mir die Wahrheit sagst, dann wird alles gut sein. Wenn aber nicht, so werde ich dir böse sein.« Da hatte er Angst, daß sie ihm Böses, wie seine Brüder, zufügen könnte. Er sagte zu ihr: »So und so war es, und auf der letzten Station fiel der Schenkel aus deinem Schnabel. Da schnitt ich von meinem Körper ein Stück ab und gab es dir.« Sie nahm das Stück aus ihrem Schnabel und sagte: »Dachtest du, ich hätte es nicht gemerkt?« Sie nahm das Stück aus ihrem Schnabel und legte es an seine Stelle zurück, leckte daran, und es wirkte wie Medizin, und die Wunde wurde ganz heil. Dann sagte das Adlerweibchen: »Ich sah noch nie einen Menschen, wie du einer bist. Darum will ich dir noch einen Gefallen tun.« Sie pflückte drei von ihren Federn, eine aus dem Schwanz und eine aus jedem Flügel und gab sie ihm: »Bewahre diese Federn gut auf. Wenn du willst, werde ich zu dir kommen. Zünde nur eine der Federn an, und ich werde sofort bei dir sein, wo immer du auch bist.« »Vielen Dank«,sagte er. Sie sagten sich »Schalom«, und jeder ging seines Weges. Sie flog zu ihrem Heimatort, und er ging in die Stadt. Er ging in die Stadt hinein und sah, daß alle Leute, vom Kleinkind bis zum Hundertjährigen, ein Stück schwarzen
Stoffes auf ihren Kleidern tragen. Er suchte einen oder zwei auf und fragte: »Was ist das, dieses Stück schwarzen Stoffes?« Einer antwortete ihm: »Was für ein Mensch bist du? Lebst du denn nicht hier? Weißt du denn nicht, was geschehen ist?« – »Nein«, antwortete er. »Der jüngste Sohn des Königs ist weggegangen und nicht zurückgekommen. Wir trauern jetzt um ihn.« »Der Ärmste! Gesegnet sei sein Angedenken!« Dann ging er in die Stadt hinein. Er ging von einem Laden zum anderen und fragte: »Braucht ihr einen Arbeiter? Ich will bei dir arbeiten.« Aber niemand wollte ihn. Bis er zu einem Goldschmied kam. Der hatte keine Kinder, er hatte niemanden. Er sagte ihm: »Ich will bei dir arbeiten. Gib mir bloß einen Platz zum Schlafen. Ich will kein Geld, bloß einen Platz zum Schlafen und etwas Essen.« Der Goldschmied war einverstanden, und so blieb er dort. Er arbeitete für ihn wie ein Sklave. Es vergingen ein Monat, zwei Monate, und noch immer arbeitete er für den Goldschmied. Plötzlich sah er, daß sein Vater mit seinen Brüdern in den Laden kamen. Er hörte, daß sie jene Mädchen heiraten wollen. Eines Tages kam sein Vater mit dem ältesten Mädchen wieder in den Laden. Sie riefen den Goldschmied und sprachen mit ihm. Sie sagten: »Du bist der beste Goldschmied in der Stadt. Kannst du für uns einen goldenen Teppich machen? Solch einen, auf dem die ganze Stadt Platz nehmen kann und noch die Hälfte des Teppichs frei bleibt? Wir geben dir soviel Geld, wie du nur verlangst. Es tut uns nicht leid um Silber, es tut uns nicht leid um Gold, nur mach uns die Sache so, wie wir sie wünschen.« »Von so etwas habe ich noch nicht gehört!« sagte der Goldschmied, »und ich habe so etwas auch nicht gemacht. Wie soll ich das machen? Ich kann es nicht.« Da kam der Bursche
und störte sie. Er sagte: »Warum sagst du, daß wir es nicht machen können? Wir können es.« »Was redest du da? Du bist erst zwei Monate hier! Der König wird uns umbringen, wenn wir es nicht machen werden.« Der König sieht, wie der Junge da stört – er sagt »ja« – und der Goldschmied sagt »nein«. Dem König wurde die Sache zu bunt und er wollte schon gehen. Der Bursche faßte den König an: »Mein Herr und König! Laßt mir sieben Säcke Gold bringen. Wenn ich in sieben Tagen den Teppich nicht fertig habe, richte mich hin und nimm dein Gold zurück. Wenn ich es aber schaffe, dann kommen mir von dir noch drei Säcke Gold als Arbeitslohn zu. Zusammen sind es zehn Säcke Gold.« »Ja, gut.« Das Mädchen erklärte ihm, wie der Teppich sein soll, zeichnete ihn auf Papier auf und bestimmte die Farben. Der König wurde mit ihm handelseinig. Dann kam der Goldschmied und sagte: »Ich werde dich aus meinem Laden hinauswerfen, wenn du da Verträge mit Königen machst. Willst du uns beide ums Leben bringen?« Die Nachbarn sammelten sich um die zwei und sagten: »Was willst du? Er war einverstanden, er wird die Schuld tragen.« »Sieben Tage lang werde ich nicht in den Laden kommen«, sagte der Goldschmied. »Ich will zu Hause am Fenster sitzen und nicht im Laden!« Der König schickte zuerst die sieben Säcke Gold. Der Bursche machte den Laden zu und nahm den Hammer in die Hand. Er hämmerte den ganzen Tag, damit jener hören soll, wie er mit großem Lärm arbeitet. Nachdem sechs Tage vorüber waren, verbrannte um Mitternacht eine der Federn, und plötzlich, mitten in der Nacht, war das Adlerweibchen da, bei ihm im Laden. Er sagte zu ihm: »Ich bitte dich, siehst du diesen Schlüssel? Fliege jetzt gleich zu jenem Zimmer, dort ist ein rotes Pferd und ein Goldteppich. Bringe mir das sofort hierher.«
Es nahm den Schlüssel und flog fort; es öffnete jene Tür und fand alles. Bis es alles brachte, war der Morgen angebrochen. Er nahm das Pferd und führte es an irgendeinen Platz. Dann öffnete er die Tür des Ladens und wartete darauf, daß der König den Teppich holen kommt. Zuerst kam der Goldschmied in den Laden. Er sah aus, der Ärmste, wie ein Trauerkloß. Er sagte zu ihm: »Was hast du getan, mein Sohn? Was hast du getan? Glaubst du denn, daß du schon ein Meister bist?« Dieser aber zeigte ihm nur den Teppich. Der Goldschmied starb fast auf der Stelle vor Schreck. Wie hat er das gemacht? Er selbst bringt in einer Woche kaum einen Ring zustande, und dieser hier macht einen ganzen Teppich? Jetzt freute er sich und hatte keine Angst mehr. Der König und das Mädchen kamen an, sahen, daß der Laden offen war. »Bist du fertig?« fragten sie. Er breitete den Teppich vor ihnen aus, und sie sahen ihn. Das Mädchen sagte: »Das ist er.« »Bringt drei Sack Gold.« Der König ging und kam zu Pferd mit den drei Säcken Gold. Er nahm den Teppich, und sie gingen weg. Nach zwei Tagen fing das Hochzeitsfest an. Während des Festes waren alle froh, alle ritten zu Pferde und vergnügten sich. Die ganze Stadt freute sich – der Sohn des Königs heiratet! Dann stahl sich jener Bursche aus dem Laden, nahm die Schafshaut von seinem Kopf herunter, und schon sah er wie ein großer Herr aus. Kein zweiter gleicht ihm in der ganzen Welt. Er holte das rote Pferd hervor und ritt zwischen den Leuten. Er ritt zwischen ihnen, nahm sein Schwert heraus und schlug nach allen Seiten aus – wer getroffen wurde, starb, und wen es nicht traf, der blieb am Leben. Die Leute fielen um, wie von der Pest getroffen, und ein Geschrei erhob sich. Man lief zum König und sagte ihm: »Einer ist gekommen und tötet die Menschen!« Alle brachen auf, um ihn zu suchen. Er aber kehrte in die Stadt und zu
seinem Laden zurück. Die Hochzeit war vorüber. Ein Monat verging, ein zweiter Monat verging, da wollte man den zweiten Sohn des Königs verheiraten. Da sagte das zweite Mädchen: »Meine Schwester bat um einen goldenen Teppich. Ich werde heiraten, wenn ihr mir eine goldene Schüssel mit goldenen Trauben bringt. Wenn ihr mir das bringen könnt, werde ich heiraten. Bringt ihr mir das nicht – dann heirate ich nicht.« »Gut!« sagte man ihr. »Komm, gehen wir zum Markt. Wer es machen kann, bei dem bestellen wir es, und wenn nicht, suchen wir weiter.« Der König und jenes Mädchen gingen und suchten, wer das wohl machen kann und wer es nicht machen kann. Da kamen sie wieder zu jenem Laden. Sie kamen zum Inhaber und fragten: »Mein Herr, du konntest den Teppich herstellen, kannst du auch eine goldene Schüssel mit Trauben darauf machen?« »Nein«, sagte er, »ich kann das nicht machen. Wenn dieser Bursche es machen will – soll er es machen. Ich kann es nicht.« »Ja«, sagte der Bursche, »ich will es machen.« Sie machten einen Vertrag. Sie brachten zehn Säcke Gold. Diesmal zehn Säcke, um das Ding zu machen, und fünf Säcke für ihn, seinen Arbeitslohn. Der König kehrte um und schickte zehn Säcke Gold für die Schüssel und die Trauben. In der siebenten Nacht verbrannte der Bursche noch eine Feder, und das Adlerweibchen kam. Er gab ihm den Schlüssel und schickte es fort. Es brachte ihm das gelbe Pferd und die Schüssel mit den Trauben. Er versteckte das Pferd neben dem anderen Pferd. Am Morgen kam der Inhaber in den Laden und sah schon die Schüssel mit den Trauben. Der Bursche sagte zu ihm: »Siehst du, wie geschickt ich bin?« »Es gibt nicht deinesgleichen in der ganzen Welt!« sagte der Goldschmied.
Später kam der König. Das Mädchen sah sofort an jener Schüssel mit den Trauben, daß das ihre Schüssel war. Sie nahmen die Schüssel und gingen. Man bereitete die Hochzeit vor, und die Freude war groß. Wieder kam der Bursche, er ritt auf einem gelben Pferd und trieb es genauso wie das erste Mal. Dann ging er zurück in die Stadt, und dort gab es keinen Unglücklicheren als ihn. Jetzt wollte man die jüngste Schwester verheiraten mit dem Sohn des Ministerpräsidenten. Sie kamen und sagten ihr: »Es gibt in der Welt keinen besseren als den Sohn des Ministerpräsidenten, und du mußt ihn heiraten.« Das Mädchen sagte: »Ihr wollt mich zwingen, diesen Mann zu heiraten. Wenn ihr mir einen goldenen Teller mit einer Henne und Küken darauf bringt – vierzig Küken –, dann wird es gut sein. Dann heirate ich. Wenn nicht – dann nicht.« Dann fragte der König den Ministerpräsidenten: »Bist du einverstanden oder nicht?« Während sie darüber sprachen, redeten auch die drei Schwestern miteinander: »Das ist sicherlich jener Bursche«, und sie beschlossen folgendes: Erhält man von ihm genau die Küken, den Hahn und die Henne, wie sie diese dort unten gehabt hatte, dann ist es dieser Bursche! Und sie wird ihn heiraten. Wenn nicht, so heiratet sie den Sohn des Ministerpräsidenten. So redeten der König und der Ministerpräsident und so redeten die Mädchen. Sie gingen wieder zum selben Goldschmied und sagten zu ihm: »Wir baten um einen Teppich – du hast ihn gemacht. Wir baten um Trauben – du hast sie gemacht. Wenn du uns das noch machst, dann wird es gut sein – willst du den Teller mit den Küken machen?« »Bringt mir fünfzehn Säcke Gold und für mich noch sieben Säcke. Seid ihr einverstanden – so sollt ihr ihn haben«, sagte der Bursche.
»Gut«, sagten sie. Sie schickten ihm die Säcke mit dem Gold. Fünfzehn Säcke. Nach sieben Tagen verbrannte er die dritte Feder, und das Adlerweibchen brachte ihm alle gewünschten Dinge. Jetzt war es ein weißes Pferd mit weißem Zaum und mit weißem Sattel. Der König kam, der Ministerpräsident kam und die Mädchen kamen. Sie sahen: Es war derselbe Teller, genau derselbe mit der Henne und den Küken. Sie nahmen alles und gingen nach Hause. Plötzlich bestand das jüngste Mädchen darauf, den Sohn des Ministerpräsidenten nicht zu heiraten. Man meldete dem Ministerpräsidenten: »Das Mädchen will deinen Sohn nicht heiraten.« Der Ministerpräsident ging sofort zum König: »Herr König, ich bekam die Nachricht, daß das Mädchen meinen Sohn nicht heiraten will. Was ist geschehen?« »Ich weiß es nicht«, sagte der König, »bevor ich bei ihr war und mit ihr gesprochen habe.« Nach seiner Arbeit kehrte der König nach Hause zurück und rief das Mädchen und seine Frau zu sich: »Kommt, erzählt mir, was es damit auf sich hat, daß sie nicht heiraten will.« Dann fing das Mädchen dem König zu erzählen an. Sie sagte zu ihm: »Mein Herr König! Wenn du einverstanden bist, will ich nicht heiraten, es sei denn den Jüngling, der diese Sachen gemacht hat, um die wir, meine älteren Schwestern und ich, baten.« »Wie kann das sein, dieser Arbeiter soll dich, die du fast Königstochter bist, heiraten?« »Mein Herr König, ich will dir schwören bei allem, was dir heilig ist. Dieser Jüngling, der beim Goldschmied arbeitet, ist dein Sohn. Das ist dein jüngster Sohn. Und wenn du es nicht glaubst, laß uns jetzt nach ihm schicken und ihn erschrecken. Kann er hier in unserem Haus noch einmal solch einen Teppich, solche Trauben und solche Küken machen, dann ist er es nicht. Kann er es aber nicht, so ist er dein Sohn. Alle diese Sachen gehörten uns, und er hat sie nicht hergestellt; sie
stammen aus unserem Brunnen. Und wenn du es nicht glaubst, schick nach ihm, und wir werden das Geheimnis entdecken.« Der König meldete es sofort der Polizei, und diese ging hin und brachte den Jüngling in das Haus des Königs. Der König sagte zu ihm: »Höre, hast du von mir sieben Säcke Gold genommen und diesen Teppich gemacht?« »Richtig.« »Jetzt will ich, daß du mir noch solch einen Teppich machst, und anstelle von sieben Säcken Gold wirst du vierzehn Säcke Gold bekommen. Und wenn du ihn fertig hast, will ich dir noch sieben Säcke für dich geben. Und wenn du es nicht machst, will ich dich umbringen.« Der Jüngling suchte Ausflüchte. »Damals, als ich den Teppich machte, hatte ich Verstand. Jetzt habe ich keinen Verstand. Ich bin verwirrt. Ich kann es nicht machen.« »Wenn du verwirrt bist, so hilft es dir nur, mir jetzt die Wahrheit zu sagen«, erwiderte der König: »Sprich die Wahrheit! Sagst du die Wahrheit, gut. Und wenn nicht, bringe ich dich auf der Stelle um!« »Mein Herr König«, sagte der Bursche, »warum fragst du nicht deine älteren Söhne, was mit ihnen ist, was ihre Angelegenheiten sind, was sie taten? Frag nur deine großen Söhne! Sprich mit ihnen, ehe du mich tötest!« »Mein Sohn«, sagte der Vater, »sag mir, was geschehen ist. Ich weiß nichts davon.« Während sie so sprachen, sah das jüngste Mädchen, daß dies wirklich jener Bursche war, und sie sagte zu ihm: »Erzähle doch dein Geheimnis.« Wie ihn das Mädchen so bat, erweichte sein Herz und er verriet sein Geheimnis. Er sagte: »Ja, ich bin es, dein Sohn«, und erzählte alles, was sich mit ihm zugetragen hatte, von dem Tage an, wo die Brüder ihm den Strick durchschnitten, bis zum heutigen Tag. Er nahm das Schafsfell von seinem Kopf herunter, und nun sah er genauso aus wie als
Königssohn. In der ganzen Stadt verbreitete sich die Kunde, und die Leute warfen das Stück schwarzen Trauerstoffes weg und freuten sich für ihren König, daß nun sein Sohn heil nach Hause gekommen war. Nach ein, zwei Tagen gab er alles Gold dem Vater zurück und gab ein bißchen von dem Gold dem Silber- und Goldschmied zum Geschenk, weil er ihn einige Monate lang in seinem Haus beherbergt hatte. Danach feierten sie Hochzeit, und nach der Hochzeit gab der König seinem jüngsten Sohn das Königreich und enterbte die älteren Söhne.
60. Die Gewalt des Allmächtigen
Eines Tages sagte die Mutter zu Djuha: »Mein Sohn, es ist schon lange her, seit du nicht arbeitest. Vielleicht eröffnest du eine Bäckerei und fängst zu arbeiten an? Das ist eine leichte Arbeit, und du wirst Erfolg haben.« Djuha befolgte den Rat seiner Mutter und eröffnete eine Bäckerei. Der erste Kunde brachte ihm ein gefülltes Huhn und bat, es zu backen. Einige Zeit danach kam der Richter der Stadt an Djuhas Bäckerei vorbei und fragte ihn: »Was riecht da so fein in deiner Bäckerei? Was ist das für ein Geruch?« – »Das ist der Geruch eines Huhnes, das man mir zum Backen gab«, antwortete Djuha. »Nimm das Huhn heraus, und wir wollen es aufessen, Djuha«, sagte der Richter. »Das kann ich nicht machen, was soll ich denn dem Besitzer des Huhns sagen?« »Sag ihm, es war die Gewalt des Allmächtigen: Das Huhn ließ seine Knochen zurück und ging durch.« »Wie ist das möglich? Er wird mir das doch nicht glauben!« »Das soll nicht deine Sorge sein«, antwortete der Richter, »ich will das in Ordnung bringen, wenn er zu mir kommt, um zwischen euch zu richten.« Djuha freute sich, daß das Problem gelöst war, nahm das Huhn aus dem Backofen, und die zwei taten sich gut daran. Die Knochen ließen sie dem Besitzer übrig. Nach zwei Stunden kam der Besitzer des Huhns und verlangte sein Huhn von Djuha. Djuha antwortete ihm: »Bei der Gewalt des Allmächtigen: das Huhn verließ seine Knochen und ging durch.«
»Was!? Her mit dem Huhn! Du Lügner!« Aber Djuha hatte das Huhn eben nicht mehr, da half gar nichts. Als der Besitzer sein Huhn nicht bekam, prügelte er Djuha durch, und lief ihm bis zum Bethaus nach. Djuha lief zum Bethaus, kletterte aufs Fenster und sprang herunter in die andere Gasse. Da fiel er zufällig auf einen Mann und tötete ihn. Dann lief er weiter. Die Brüder des Getöteten liefen Djuha nach. Wie sie so liefen, stießen sie an einen anderen Mann an und rissen ihm ein Auge aus. Der Erblindete lief den Brüdern nach, und alle zusammen liefen zum Richter. Wie sie so liefen, sah der auf einem Auge Erblindete einen Esel, und wollte ihn fassen, um auf ihm zu reiten. Wie er ihn packen wollte, faßte er ihn am Schwanz an, doch der Esel lief fort und der Schwanz riß ab. Da lief der Eseltreiber hinter dem Erblindeten her, und alle zusammen liefen zum Richter. Der Richter rief zuerst den Besitzer des Huhnes auf und fragte ihn: »Was ist deine Klage?« Der Mann erzählte die Geschichte von dem Huhn, das seine Knochen verließ. »Ja«, meinte der Richter, »Gott ist allmächtig und tut Wunder. Du hast mich umsonst bemüht; darum sollst du entweder sechs Tage eingesperrt sein oder sechs Pfund Strafe zahlen!« Der Mann zog vor, Strafe zu zahlen und trollte sich. Als nächster kam der Mann, dessen Bruder getötet wurde, dran und legte seine Klage vor. »Um das Blut des Getöteten zu rächen«, urteilte der Richter, »sollst du jetzt auf jenes Fenster klettern und herunterspringen, während der Bäcker unten vorbeigeht. Triffst du ihn und tötest ihn, hast du deine Rache.« »Aber, Herr Richter…« »Was, aber? Du willst nicht? Dann für sechs Tage ins Gefängnis oder sechs Pfund Strafe zahlen!« Was konnte der Mann tun? Er zahlte und machte, daß er fort kam. Dann kam
der Mann, dem ein Auge ausgeschlagen wurde, an die Reihe: »Du«, sagte der Richter, »sollst dem Mann nachlaufen und ihm ein Auge ausschlagen. Gelingt es dir nicht, so kann er dir dein zweites Auge ausschlagen.« »Aber…« »Was? Du willst nicht? Dann wirst du sofort für sechs Tage eingesperrt oder du mußt sechs Pfund Strafe zahlen!« Der Richter zum Eseltreiber: »Was ist deine Klage?« »Ich? Meine Klage? Ich habe keine Klage. Mein Esel hat seinen Schwanz da gelassen und ist durchgegangen.«
61. Die Geschenke des Raben-Pascha
Eine alte Mutter hatte einen glatzköpfigen Sohn, einen Karaketschel. Jeden Morgen brachte die Mutter ihren Sohn in die Schule, er aber nahm Reißaus, sowie sie nur weg war. Manchmal stritt er sich noch mit den Kindern, war frech zum Lehrer, und erst dann ging er heim. So trieb er es Tag für Tag. Eines Tages, wie er so durch die Straßen ging und es ihm langweilig war, beschloß er, Vögel zu fangen. Er setzte Fallen aus und fing viele Vögel. An einem Tag brachte er seiner Mutter dreißig Vögel nach Hause. Und dreißig Vögel wiegen schon ein gutes Stück Fleisch auf. Als seine Mutter die Vögel sah, freute sie sich so, daß sie sogar vergaß, den Sohn zu beschimpfen, weil er ja von der Schule weggelaufen war. So machte er es von nun ab jeden Tag, und seine Mutter war es zufrieden. Eines Tages fing der Karaketschel einen Raben. Der Rabe sprach zu ihm: »Befreie mich, und ich mache dich reich.« »Wie kannst du mich reich machen, wo du doch nur ein kleiner armer Rabe bist?« »Befreie mich und stelle mich auf die Probe. Sowieso hast du nichts von meinem mageren Fleisch.« Damit hat er recht, sagte sich Karaketschel. Aber bevor er den Raben los ließ, fragte er ihn: »Gut, ich werde dich frei lassen. Aber wer bürgt mir dafür, daß du dein Versprechen halten wirst? Wo kann ich dich wiederfinden?« »Siehst du dort gegenüber den Berg? Komm dorthin und frag nach dem Raben-Pascha. Man wird dich schon zu mir führen.« »Gut«, sagte der Karaketschel, ließ den Raben frei, und dieser flog in die Lüfte.
An diesem Tag schimpfte die Mutter Karaketschel aus, da er nicht zur Schule gegangen war, und Vögel hatte er auch keine gebracht. Karaketschel erzählte ihr die Geschichte von dem Raben. »Gut«, sagte die Mutter, »morgen gehst du zum Hause des Raben.« Am nächsten Morgen stand Karaketschel auf und bereitete sich darauf vor, zum Raben zu gehen. Er sagte zu seiner Mutter: »Gib mir zwei Groschen, damit ich zum Hause des Raben gehen kann und, wenn etwas schiefgeht, wieder heimkommen kann.« »Geh«, schimpfte seine Mutter, »wovon soll ich zwei Groschen übrig haben, wo wir doch kaum etwas zu essen haben?« »So borge mir die zwei Groschen. Komme ich vom Raben zurück mit leeren Händen, so will ich arbeiten gehen und die zwei Groschen verdienen. Dann kriegst du deine zwei Groschen zurück.« Sie gab ihm das Geld, und er machte sich auf den Weg. Beim Berg angekommen, traf er einen Hirten: »Schalom.« »Schalom«, antwortete der Hirt. »Wo ist das Haus des Raben-Pascha, bitte?« »Geh über den Berg, dann kommst du zu einer Ebene, und dort wohnt der Raben-Pascha. Sei bloß vorsichtig«, warnte der Hirt, »der Raben-Pascha hat zwei Hunde, die niemanden in die Nähe lassen. Sogar die Vögel haben Angst vor diesem Platz.« »Verkaufe mir bitte ein Schaf aus deiner Herde.« Karaketschel kaufte das Schaf für einen Groschen, schnitt es durch, nahm in jede Hand eine Hälfte des Schafes und wanderte weiter zum Hause des Raben-Pascha. Als er schon ganz nahe in der Ebene war, liefen ihm zwei riesige Hunde entgegen und fingen zu bellen an. Er warf jedem eine Hälfte des Schafes hin, und die Hunde beschäftigten sich mit dem Fressen. Karaketschel ging zum Haus: »Ist das hier
das Haus des Raben-Pascha?« Die Frau des Raben-Pascha kam heraus: »Ja, das ist das Haus. Bitte, komm herein.« Sie brachte den Gast ins Haus und setzte ihn auf einen Sack. Dann schickte sie nach dem Raben. Der Rabe kam und erkannte seinen Gast, Er rief die Frau: »Wie kannst du den Gast auf einen Sack setzen? Bring Polster und Decken, bereite gutes Essen vor, um diesen Gast mit allen Ehren zu empfangen.« Sie aßen und tranken, und in der Nacht bat der Rabe den Karaketschel: »Bleib doch bei uns über Nacht!« Karaketschel blieb da, aber konnte die ganze Nacht über kein Auge schließen. Warum hat der Rabe nichts von seinem Versprechen gesagt? Er wollte ihn doch reich machen! Am nächsten Morgen gab der Raben-Pascha dem Karaketschel einen Esel und wollte ihn nach Hause schicken. »So machst du mich reich?« fragte Karaketschel. »Was soll ich mit diesem Esel anfangen?« »Dummkopf, das ist doch kein gewöhnlicher Esel! Er wird dir Geld geben, soviel du nur willst.« Karaketschel glaubte es nicht: »Wie soll ein Esel mir Geld geben können?« »Wieviel Geld willst du haben?« »Einen halben Groschen.« Der Rabe sagte zum Esel: »Gib ihm einen halben Groschen!« Und der Esel schiß sofort einen halben Groschen aus. »Ich will zwei Groschen!« sagte Karaketschel. Sofort schiß der Esel zwei Groschen aus. »Ich will fünf Groschen haben!« Und schon waren die fünf Groschen da. Jetzt glaubte Karaketschel dem Raben, setzte sich auf den Esel und ritt fort. Er kam bei seiner Mutter an, und als sie ihn sah, erhob sie ein Gezeter: »Das ist das Geschenk, das ist der Reichtum? Was sollen wir mit dem Esel anfangen?« »Sei still!« – Karaketschel brachte den Esel ins Zimmer: »Bring eine Decke für den Esel!«
»Was? Bist du verrückt geworden?« »Mutter, schrei nicht. Dieser Esel wird uns reich machen. Wieviel Geld willst du haben?« »Zwanzig Pfund! Wir müssen was zum Essen kaufen.« »Esel, gib zwanzig Pfund her!« Und der Esel schiß genau zwanzig Pfund aus, nicht mehr und nicht weniger. Dann verlangte die Mutter fünfzig Pfund, um Kleidung zu kaufen, und schon waren diese fünfzig Pfund da. Mutter und Sohn freuten sich sehr, wurden reich, bauten sich ein neues Haus, und die ganze Stadt wunderte sich, von wo denn dieser neue Reichtum kommen mag. Eines Tages sagte die Mutter zum Sohn: »Nimm den Esel und das Korn, geh zur Mühle und mahle Mehl.« Der Sohn lud dem Esel das Korn auf, setzte sich auf ihn und ritt zur Mühle. Man mahlte ihm das Korn. »Wieviel habe ich zu zahlen?« fragte Karaketschel. »Ein halbes Pfund.« Da sagte Karaketschel vor den Augen des Müllers zum Esel: »Esel, gib ein halbes Pfund!« Und der Esel schiß sofort das halbe Pfund hin. Karaketschel zahlte dem Müller, der mit offenem Mund dastand und vergaß, ihn wieder zuzumachen. Während Karaketschel sich auf dem Heimweg befand, beriet sich der Müller mit seiner Sippe, wie man an den wunderbaren Esel herankommen könnte. Man beschloß, einen ähnlichen Esel zu kaufen. Als Karaketschel das nächste Mal zur Mühle kam, band er seinen Esel draußen an und stand in der Mühle, um sein Korn zu bewachen. Inzwischen vertauschte man seinen Esel mit einem anderen. Als das Korn gemahlen war, fragte Karaketschel: »Wieviel kostet es?« »Ein halbes Pfund«, sagte der Müller. Aber als Karaketschel den Esel um das Geld anging, geschah nichts. Karaketschel fing zu schreien an, er schimpfte und fluchte – aber es half
nichts. Er fiel über den Müller her: »Du hast den Esel vertauscht! Gib mir meinen Esel zurück!« »Bist du verrückt geworden? Wo hast du einen Esel gesehen, der Geld scheißt? Ha, ha, ha!« Traurig kehrte Karaketschel nach Hause zurück und erzählte seiner Mutter, was ihm in der Mühle passiert ist. »Du Dummkopf, sicher hast du vor den Augen des Müllers Geld von dem Esel verlangt. Und der Müller hat den Esel vertauscht. Wir können uns nicht einmal bei den Behörden beklagen – wer wird uns denn glauben, daß ein Esel Geld scheißt? So mußt du wieder zum Raben-Pascha gehen, vielleicht wird der dir helfen.« Am nächsten Morgen stand Karaketschel auf und ging zum Hause des Raben-Pascha. Als er den Hirten traf, sagte er ihm: »Schalom«, und kaufte von ihm ein Schaf für einen Groschen, schnitt es in die Hälfte und warf die Teile den Hunden zu. Als er zum Raben kam, fragte der ihn: »Was, man hat dir den Esel gestohlen?« »Wie weißt du es schon?« »Sicher hast du vor Leuten um Geld gebeten, was? Und diese haben es gesehen und den Esel gestohlen. Nun, gut.« Der Rabe bewirtete ihn wieder aufs beste und bat ihn, über Nacht zu bleiben. Karaketschel legte sich hin, konnte aber kein Auge schließen. Die ganze Zeit dachte er nach, warum der Rabe nichts von Hilfe gesagt hat, die er ihm geben will. Wie wird er ihn jetzt reich machen? Am nächsten Morgen gab der Raben-Pascha dem Karaketschel einen Kürbis und wollte ihn nach Hause schicken. »Wie wird mich dieser Kürbis reich machen?« fragte Karaketschel. »Ist dies der Reichtum, den du mir gibst?« »Das ist ein besonderer Kürbis. Er kann den Körper des Menschen anschwellen lassen.« »Was? Das verstehe ich nicht!«
»Willst du es auf deinem Körper spüren?« »Ja.« Gut. Der Rabe schlug dreimal auf den Kürbis und sagte: »Schlag zu, Kürbis, schlag zu!« Im selben Moment flogen Tausende von Bienen aus dem Kürbis, fielen über Karaketschel her und fingen an ihn zu stechen. »Hilfe, Hilfe!« rief der entsetzte Karaketschel, »genug, ich glaube es, ich glaube es! Rette mich!« Der Rabe schlug auf den Kürbis und sagte: »Genug, Kürbis, genug!« Im selben Moment kehrten die Bienen in den Kürbis zurück. Karaketschel nahm den Kürbis und kehrte heim. Zu Hause angekommen, erzählte er seiner Mutter, was für Wunder der Kürbis machen kann. Die Mutter glaubte ihm nicht. »Willst du es ausprobieren?« fragte Karaketschel. »Ja! Ich will es sehen!« Karaketschel tat wie der Raben-Pascha: Er schlug auf den Kürbis ein, und Tausende von Bienen fielen über die Mutter her, bis sie schrie und jammerte, er solle doch die Bienen wieder wegwünschen. Er schlug auf den Kürbis ein und die Bienen verschwanden. Karaketschel ging zu dem Müller und sagte ihm: »Gib mir meinen Esel zurück, oder wehe dir! Ich warne dich dreimal, und wenn du mir beim dritten Mal den Esel nicht zurückgibst, wird dein Ende bitter sein.« Der Müller nahm keine Notiz von Karaketschel, und Karaketschel ließ die Bienen auf ihn los. Die Bienen fielen über den Müller her, stachen ihn und bissen ihn. »Erbarmen, Erbarmen!« rief der Müller, »gleich bekommst du deinen Esel zurück! Errette mich bloß vor den Bienen!« Karaketschel schlug auf den Kürbis, und die Bienen kehrten in den Kürbis zurück. Der Müller brachte den Esel herbei. Karaketschel sagte dem Esel: »Gib mir ein halbes Pfund!« Und der Esel schiß prompt das halbe Pfund hin. Jetzt glaubte
Karaketschel, daß es wirklich sein Esel ist, nahm ihn und kehrte mit Freuden und guten Mutes nach Hause zurück. Zu jener Zeit überfiel ein feindliches Heer das Land, in dem Karaketschel lebte; schon waren die feindlichen Soldaten mit ihren Pferden, Pfeilen und Säbeln nahe der Grenze. Karaketschel, der davon hörte, ging zum König und sagte ihm: »Laß mich allein die feindlichen Armeen treffen, ich will sie in die Flucht treiben. Du hast es nicht nötig, Soldaten und Waffen auszuschicken.« Der König wunderte sich sehr, wie das wohl zugehen soll. Karaketschel sagte: »Vertreibe ich die feindliche Armee nicht, wie ich es versprochen habe, so laß mir den Kopf abschlagen.« Der König war einverstanden und erlaubte ihm, gegen den Feind anzutreten. Er selbst stieg auf den Turm und beobachtete durch das Fernglas das Schlachtfeld. Karaketschel ritt auf seinem Esel, nahm den Kürbis und stellte sich vor die feindliche Armee. Dass sprach er zu ihnen: »Zieht euch zurück von unserer Stadt, wenn nicht, wird euch ein bitteres Ende treffen.« Diese antworteten ihm: »Mach, daß du fortkommst, du glatzköpfiger Dummkopf.« Er drohte ihnen zum zweiten und zum dritten Mal. Als sie nicht folgten, schlug er auf den Kürbis, die Bienen kamen heraus, fielen über die Soldaten und Pferde her, stachen und bissen sie. Oh weh, die Pferde sprangen hoch und warfen ihre Reiter ab, und die Gesichter und Hände der Soldaten schwollen an. Da drehten sie sich um und liefen fort, so schnell sie nur konnten. Und der König beobachtete alles durchs Fernglas. Die Soldaten, die davonliefen, kamen zu ihrem Komandanten, und dieser fragte: »Warum seid ihr durchgegangen?« Die Soldaten erzählten, wie es ihnen mit den Bienen und dem Glatzkopf erging. Seither haben sie das Land, in dem Karaketschel wohnte, in Ruhe gelassen.
Als der König sah, wie Karaketschel die Feinde besiegte, nahm er ihn an seinen Hof und gab ihm zum Zeichen der Dankbarkeit seine Tochter zur Frau. Nach einiger Zeit, als der König starb, bestieg Karaketschel den Thron und lebte in Glück und Reichtum.
62. Wenn man seines Vaters Beruf ergreift
Da waren zwei Brüder, die von Beruf Diebe waren. Beide waren verheiratet. Einer von ihnen hatte einen Sohn; dieser Bruder starb. Die Witwe wollte, daß ihr Sohn ein anständiger Mensch werden soll. Sie beschloß, die Stadt zu verlassen und ihrem Sohn zuliebe an einem anderen Ort ein neues Leben zu beginnen. Als sie die Stadt verließ, gab der andere Bruder das Stehlen auf und ging in eine Weberei arbeiten. Die Witwe erzog ihren Sohn. Als er zwölf Jahre alt war, schickte sie ihn, einen Beruf zu erlernen. Sie gab ihn einem Barbier in die Lehre. Der Knabe bemühte sich zu lernen; aber wenn der Barbier nicht hinschaute, nahm er ein Rasiermesser oder sonst ein Gerät und ging es verkaufen. Das tat er mehrere Male, bis sein Meister dahinterkam und ihn nach Hause schickte mit den Worten: »In meinem Beruf wirst du keinen Erfolg haben; das war nicht der Beruf deines Vaters und Großvaters.« Da schickte ihn die Mutter zu einem Schmied in die Lehre. Auch dort versuchte er, Werkzeug zu stehlen, bis der Meister ihn hinauswarf mit den Worten: »In diesem Beruf wirst du keinen Erfolg haben; das war nicht der Beruf deines Vaters und Großvaters.« Der Knabe bedauerte das sehr und wollte wissen, was denn der Beruf seines Vaters und Großvaters gewesen war. Er wandte sich an seine Mutter und bat sie: »Sage mir, was war der Beruf meines Vaters?« »Dein Vater war ein Dieb.« »Mit wem ist er stehlen gegangen?« fragte der Junge. »Mit seinem Bruder, deinem Onkel. Von Zeit zu Zeit stahlen sie eine Kuh oder ein Schaf. Die schlachteten sie und verkauften das
Fleisch, und davon haben wir gelebt.« Der Junge fragte: »Wie kann ich den Onkel finden?« Seine Mutter sagte es ihm, und er begab sich auf den Weg zu seinem Onkel. Er gelangte in die Stadt seines Onkels und fragte dort nach ihm, bis er ihn fand. Der Onkel freute sich mit ihm und bewirtete ihn drei Tage lang. Am vierten Tag fragte er ihn: »Was hast du vor?« Der Bursche schlug dem Onkel vor, zum Diebesberuf zurückzukehren; er würde den Platz seines Vaters einnehmen. »Aber du verstehst doch nicht, wie man stiehlt?« »Stelle mich doch auf die Probe, dann werden wir sehen, was ich tauge!« »Gut! Am Stadtrand ist ein Baum, auf dem lebt ein Vogel. Das geringste Geräusch weckt ihn aus dem Schlaf. Am Abend sitzt er auf den Eiern. Ich will auf den Baum klettern und die Eier unter ihm wegstehlen. Du mußt sie wieder unter den Vogel zurücklegen.« In der Nacht gingen sie zu jenem Baum. Der Onkel kletterte hinauf und zog ganz vorsichtig die Eier hervor. Als er herunterstieg, stieg der Junge auf der anderen Seite nach oben, stahl die Eier dem Onkel aus der Tasche und stieg vor ihm nach unten. Als der Onkel unten anlangte, steckte er die Hände in die Taschen, um die Eier herauszuholen und sie dem Jungen zu übergeben – aber die Eier waren nicht da! Er wunderte sich sehr, denn er selbst hatte doch die Eier von ihrem Platz geholt! Der Junge schlug ihm vor: »Klettere wieder hinauf!« Inzwischen stieg er noch vor dem Onkel nach oben und legte die Eier zurück. Nachdem der Onkel die Eier wieder herausgeholt hatte, stahl der Junge sie ihm zum zweiten Mal. Wiederum kletterte der Junge hinauf und legte die Eier zurück. Der Onkel wollte die Eier dem Jungen übergeben – und nochmals fand er sie nicht. Jetzt schlug der Junge vor: »Ich
will versuchen, die Eier zu holen, und du legst sie zurück.« Dem Onkel war es recht. Der Junge stieg auf den Baum, nahm die Eier, stieg herunter und überreichte sie dem Onkel. Der stieg hinauf, um sie zurückzulegen. Inzwischen war aber der Junge schon auf der anderen Seite hinaufgestiegen und stahl die Eier dem Onkel aus der Tasche – und kletterte herunter. Der Onkel gelangte zum Nest, suchte in seinen Taschen, – wo sind bloß die Eier? Er kam herunter und sagte zu dem Jungen: »Das verstehe ich aber nicht!« Da erzählte ihm der Junge, wie es ihm dreimal gelungen war, ihm die Eier aus der Tasche zu stehlen. Der Onkel gab zu: »Du hast die Prüfung bestanden und kannst mein Partner werden.« Sie kamen nach Hause und begannen, Pläne zu schmieden. Der Onkel meinte, sie sollen damit beginnen, Kühe und Geflügel zu stehlen. Der Junge sagte: »Nein, das hat keinen Sinn – wir wollen aus der Kasse des Königs stehlen!« Der Onkel war dagegen, aber der Junge sagte, wenn er nicht mit ihm gehen will, kann er ja zu Hause bleiben. Die Frau des Onkels sagte: »Arbeite doch mit dem Sohn deines Bruders zusammen!« Und der Mann hörte auf den Rat seiner Frau. Im Laufe des Tages trieben sie sich in der Umgebung des Palastes herum und prüften alle Eingänge, die Zahl der Wächter und der Türen, bis sie eine unbewachte Mauer fanden. Sie holten eine Säure und Werkzeuge und bereiteten sich für die Nacht vor. Als es dunkel wurde, gingen sie zu jenem Platz, gossen die Säure auf die Mauer, kratzten, gossen wieder Säure, kratzten und schabten, bis ein Spalt entstand und sie hineinschlüpfen konnten. Der Junge sagte zu seinem Onkel: »Wer hineingeht, bekommt zwei Drittel von dem, was er bringt, und gibt dem anderen ein Drittel.« Der Onkel wollte nicht in den Palast einbrechen; so tat es der Sohn, füllte seine Taschen und den mitgebrachten Sack,
und sie liefen weg. Zu Hause teilten sie: Ein Teil dem Onkel, zwei Teile dem Jungen. Der sagte: »Ich gehe, um meiner Mutter das Geld zu bringen, und komme noch in dieser Nacht zurück.« Als der Sohn gegangen war, schimpfte die Frau des Onkels: »Warum soll so ein junger Kerl zwei Teile bekommen und du, der alte, erfahrene Dieb, nur ein Drittel?« Ihr Mann erklärte: »So haben wir vereinbart.« »Dann gehe ich zum König und will ihm die ganze Geschichte erzählen.« Gegen Morgen kam der Junge zurück und sah, daß sein Onkel betrübt war. »Was ist denn los?« fragte er. Der Onkel erzählte, was seine Frau gesagt hatte. Der Junge ging zur Frau und sagte: »Warum bist du böse? Heute werden wir wieder stehlen gehen. Diesmal wird dein Mann einbrechen; wenn wir dann teilen, werden wir beide gleich viel haben.« Das leuchtete ihr ein, und sie schwieg. Inzwischen hatten die Wächter des Königs den Diebstahl bemerkt. Der König fragte: »Was sollen wir tun?« Seine Ratgeber antworteten: »Es ist ganz klar, daß die Diebe wiederkommen werden, um noch mehr zu stehlen. Wir werden den Spalt in der Mauer nicht zumachen. Sie werden denken, wir hätten nichts bemerkt. Aber unter den Spalt stellen wir ein Faß mit siedendem Pech; auf diese Weise werden wir den Dieb fangen.« Das taten sie dann. In der Nacht kamen der Onkel und der Bursche. Der Onkel schlüpfte durch, kletterte hinein und fiel geradewegs in das Pechfaß. Der Junge wartete draußen eine Zeitlang. Er merkte, daß der Onkel nicht zurückkam und beschloß, hineinzugehen. Aber er war vorsichtiger. Langsam machte er sich heran; da bemerkte er heiße Dämpfe aufsteigen. Er tastete mit der Hand und fand, daß da ein Faß mit heißem Teer stand. Er stieg auf den Rand, ging rundherum, betrat den Palast und füllte seine Taschen und den Sack mit Gold. Beim Herausgehen bemerkte er, daß da im Faß eine Gestalt stand,
und sah, daß das sein Onkel war. Er schnitt ihm den Kopf ab und steckte ihn ein. Dann ging er zu seiner Tante und zeigte ihr, was aus ihrem Verlangen geworden war. Er hieß sie, den Kopf ihres Mannes neben dem Haus zu begraben. Das Geld gab er ihr, warnte sie aber: »Verrätst du mich, hau ich dir den Kopf ab.« Sie versprach zu schweigen. Am nächsten Tag sahen die Wächter, daß man aus der Kasse zum zweiten Mal gestohlen hatte. Im Pechfaß war zwar ein Mann gefangen, aber man konnte nicht wissen, wer das war, denn sein Kopf fehlte. Da empfahlen die Ratgeber: »Man soll den Leichnam aufhängen. Wer vorbeikommt und bei dessen Anblick zu weinen beginnt, ist gewiß ein Verwandter oder Partner.« Mitten in der Stadt also stellte man den Leichnam zur Schau und verkleidete Wächter, die heimlich die Leute, die vorbeigingen, beobachteten. Der Bursche, der sich in der Stadt herumtrieb, sah die Leiche und durchschaute das Königs Absicht. Da eilte er zu seiner Tante und sagte ihr: »Wenn du deinen Mann beweinen willst, so kaufe einen Krug mit Öl. Wenn du zum Henkersplatz kommst, laß den Krug fallen, als ob du gestolpert wärest, und beginne zu weinen.« Die Tante stellte es so an. Während sie neben der Leiche weinte, kam der Bursche und hielt seinen Hut den Umstehenden entgegen und bat sie um Almosen für die Frau. Auch die Wächter gaben ihr Münzen und sagten: »Das ist ein guter Mann!« Als sie nach Hause kamen, sagte er der Tante: »Ich will dir die Leiche deines Mannes holen, dann kannst du sie begraben.« In der Nacht brachte er vierzig Schafe, vierzig Siebe und vierzig Kerzen. Die Kerzen zündete er den Schafen auf dem Kopf an. Er band sie fest und darauf legte er die Siebe. Im Dunkeln sahen sie aus wie niedrige Gestalten, die brannten und sich fortbewegten. Er brachte sie in
die Stadtmitte; die Wächter sahen sie, dachten, oh weh, das sind Dämone! Und sie flohen in alle Himmelsrichtungen. Der Sohn nahm die Leiche auf den Rücken und brachte sie seiner Tante. Die Schafe band er los und ließ sie laufen. Am nächsten Tag erzählten die Wächter: »Geister und Dämone sind gekommen und haben sich die Leiche, die ihnen zukommt, geholt.« Der König fragte wiederum: »Was sollen wir tun?« Man riet ihm: »Behänge deinen schönen Vogel Strauß mit teurem Schmuck und übergib ihn einem Wächter, der ihn an einer langen Schnur halten soll. Wer den Vogel Strauß nehmen will und ihn stiehlt, der ist der Dieb.« Gesagt – getan. Der Sohn nahm Pflanzen, die die Strauße gern haben, und lockte den Strauß auf einen geheimen Pfad. Dort schnitt er die Schnur durch, tat den Vogel unter seinen Rock und brachte ihn seiner Tante. Sie schlachteten den Vogel, aßen das Fleisch und hoben das Fett auf, denn das ist ein gutes Heilmittel. Der Wächter, dem der Strauß anvertraut war, zog an der Schnur; die zog er ein, aber kein Vogel war mehr angebunden. Der König ließ ihm den Kopf abhauen – und wiederum fragte er: »Was sollen wir tun?« Da sagten ihm seine Minister und seine Ratgeber: »Schicken wir vierzig alte Weiber aus; die sollen sich in der Stadt herumtreiben und um Straußenfett bitten. Dort, wo es welches gibt, lebt die Familie des Diebes. Denn niemand hat Straußenfett.« Vierzig Weiber schlurften durch die Stadt, und wirklich, eine von ihnen kam in das Haus der Tante und des Burschen. Sie bat und flehte: »Mein Sohn ist schwer krank, und der Arzt hat verordnet, er müsse Straußenfett nehmen. Bei einer guten Frau wie du wird doch ein bißchen Fett nichts ausmachen.« Die Tante, die eine wohltätige Frau war, füllte ihr ein Glas mit dem Fett. Die Alte dankte ihr und ging. Unterwegs traf sie den Neffen. Der verstand gleich, was vorgefallen war. Er fragte sie
aus, und sie erzählte ihm von seiner wohltätigen Tante. Da sagte er: »Meine Tante hat dir sehr wenig gegeben. Komm herein, ich gebe dir mehr.« Sie wollte nicht kommen und sagte: »Nein, danke, das ist genug!« Aber er gab nicht nach. Als sie jedoch hereinkam, schnitt er ihr den Kopf ab. Sie begruben die Alte im Keller, und er warnte seine Tante, kein Fett mehr abzugeben. Am Abend zählte man die alten Weiber – da fehlte eine. Wieder erhob sich die Frage: »Was sollen wir jetzt tun?« Diesmal riet man, auf einer gewissen Strecke der Landstraße Goldmünzen zu verstreuen, die aus der Staatskasse genommen waren. Wächter sollten alle Vorübergehenden beobachten. Wer eine Münze aufhebt oder auch nur ansieht, auf den fällt der Verdacht. Der junge Dieb beschloß, sich welche davon zu stehlen. Er mietete eine Karawane von Kamelen. Ihre Hufe bestrich er mit Seife; auf ihren Rücken lud er Körbe und füllte sie zur Rechten mit Salz, zur Linken aber mit Grieß. Die Karawane ging zwischen den Wächtern durch. Die auf der rechten Seite befühlten, was in den Körben war, und fanden Salz, die auf der linken sahen, daß es Grieß war. Unterwegs aber hafteten den Kamelen die Goldmünzen an den seifenbestrichenen Hufen. Als sie außerhalb der Stadt angekommen waren, reinigte er die Hufe und sammelte die Münzen ein. Unter Aufsicht des Königs zählten die Wächter am Abend die Münzen – und da sahen sie, es fehlten viele. Der König fragte, wer ist vorbeigekommen? Einige sagten, eine Karawane, die mit Salz beladen war, andere sagten, sie hätte Grieß getragen. Der König war wütend, weil sie sich nicht einigen konnten, und er beschloß, sie alle zur Strafe hängen zu lassen. Wiederum fragte er seine Ratgeber: »Was sollen wir tun?« Diesmal antworteten sie: »Wir wissen keinen Rat mehr. Versprich dem Dieb, er wird nicht bestraft werden und es wird ihm kein Leids geschehen, wenn er sich
selbst ausliefert. Auch die Königstochter soll er zur Frau bekommen und das halbe Königreich dazu.« Der König begriff, daß er gut daran täte, mit einem so klugen und geschickten Menschen in Frieden zu leben und nicht ihm erfolglos nachzustellen. So also geschah es: Die Herolde verkündeten in der Stadt: »Der König verzeiht dem Dieb und will ihm auch seine Tochter und das halbe Königreich geben.« Jetzt ging der junge Mann zum König und erzählte, daß er der gesuchte Dieb ist. Als Beweis zeigte er ihm das gestohlene Geld, den Leichnam seines Onkels und den der Alten, die er getötet hatte, als sie Straußenfett holen wollte. Der König erfüllte sein Versprechen, und es wurde eine prächtige Hochzeit gefeiert. Nach etwa einem Monat erhielt der König einen Brief vom König eines Nachbarlandes. Der war voller Beleidigungen: »Du warst nicht imstande, einen einzelnen Dieb zu fangen, und hast ihm deine Tochter und das halbe Königreich geben müssen! In meiner Stadt gibt es einundvierzig Diebe, und die können gar nichts vollbringen!« Der König war sehr böse und zeigte den Brief seiner Tochter. Die war ganz traurig. Als ihr Mann, der Dieb, mittags heimkam, sah er, daß sie unglücklich war. Er fragte sie: »Was ist dir?« Sie sagte: »Es ist nichts Besonderes.« »Wenn du es mir nicht erzählst, haue ich dir augenblicklich den Kopf ab.« Da gab sie ihm den Brief. Er las ihn und lachte. »Was gibt es da zu lachen?« – »Das ist eine Kleinigkeit; gehen wir gleich zum König.« Also gingen sie zum König und der Dieb sagte: »Mach dir keine Sorgen wegen dieser Angelegenheit. Diesem frechen König werde ich es schon heimzahlen. Ich will ihn persönlich stehlen und hierherbringen. Wie ein Hund wird er kläffen, wie ein Esel wiehern und wie ein Hahn krähen. Laß mir einen Monat Zeit; wenn ich dann mit leeren Händen heimkehre, soll mir meine Frau verboten sein.«
Der König und seine Frau gaben ihm ihren Segen auf den Weg, und er zog los. Nach einiger Zeit kam er zur Stadt des zweiten Königs. Er sah sich in der Stadt um, da erblickte er eine Gruppe von Leuten bei einem Fleischer, die kauften einundvierzig Portionen Fleisch, zahlten ihm mit einer Goldmünze, aber gleich darauf stahlen sie sie wieder und gingen weiter zum Bäcker. Dort kauften sie einundvierzig Brote, zahlten mit derselben Goldmünze und stahlen sie prompt zurück. Er verstand, daß jene die einundvierzig Diebe der Stadt waren. Er ging ihnen nach bis zu ihrem Haus. Als sie sich zum Essen niedersetzten, nahm er eine Portion weg. Der letzte Dieb kam, und da stellte es sich heraus, daß eine Portion fehlte. Sie zählten sich ab und sie waren einundvierzig. Sie fragten: »Wer ist da dazugekommen?« Da kam er ihnen entgegen und erzählte: »Ich bin auch ein Dieb, und ich will mich mit euch zusammentun. Morgen will ich mit euch einkaufen gehen, da könnt ihr prüfen, ob ich mit euch mithalten kann.« Was nun den letzten anbetraf, der ohne Essen geblieben war – jeder solle ihm ein bißchen von seiner Portion abgeben. Am nächsten Tag zog nun unser Dieb mit einigen anderen los und die Münze war in seiner Hand. Sie kauften zweiundvierzig Brote, zahlten und er stahl die Münze. Sie kauften auch zweiundvierzig Portionen Fleisch, zahlten – und er stahl die Münze. Er sagte den anderen, sie sollten mit dem Gekauften nach Hause gehen, er würde nachkommen. Unterwegs sah er einen Milchmann. Dem wollte er ein Glas Milch abkaufen und fragte: »Was kostet das?« »Eine Goldmünze«, sagte der Milchmann, »du siehst, ich bin alt und sehr langsam. Ich bitte dich, geh für mich in den nächsten Laden, kaufe ein Knäuel Garn für meine Frau, bevor ich es vergesse; inzwischen werde ich dir die Milch einschenken.«
Der Dieb ging, kaufte das Garn und kam zurück. Als er die Milch nehmen wollte, sagte der Alte: »Zuerst gib mir die Münze.« Er tat es. Da begann der Alte ganz langsam die Fäden um die Münze zu wickeln. Der Dieb hörte zu trinken auf und fragte: »Warum tust du das?« Der Alte erzählte ihm: »Diese Münze gehört den einundvierzig Dieben, und davon leben sie. Niemand hat sie noch in der Hand behalten können, darum will ich sie gut aufheben.« Der Dieb trank nicht bis zu Ende; die Milch blieb ihm im Halse stecken. Er ging und entfernte sich, aber so, daß er den Alten die ganze Zeit im Auge behalten konnte. Als der Alte alle seine Milch verkauft hatte, ging er nach Hause. Seine Frau bereitete Abendbrot vor, und er setzte sich neben sie; der Dieb aber versteckte sich hinter der Tür. Als das Essen fertig war, setzten sie sich zur Abendmahlzeit und schließlich und endlich gingen sie schlafen. Vor dem Einschlafen erzählte der Alte seiner Frau (während der Dieb unter ihrem Bett lag), daß er heute die Goldmünze der Diebe zu fassen bekommen hätte. Die Alte bat: »Zeig mir doch diese besondere Münze.« Der Alte sagte: »Gleich wirst du sie sehen.« Er nahm das Knäuel und begann es abzuwickeln, um die Münze freizulegen. Inzwischen wurde die Frau müde und schlief ein und schnarchte. Während der Alte mit dem Knäuel beschäftigt war, kam der Dieb unter dem Bett hervor und legte sich zwischen die beiden ins Bett. Als der Mann mit dem Aufwickeln fertig war, rief er seine Frau. Statt dessen murmelte der Dieb eine Antwort und bat, die Münze zu sehen. Der Alte gab sie dem Dieb. Der stieg aus dem Bett und lief hinaus. Der Alte wollte die Münze zurückhaben und rief seine Frau an, aber die antwortete nicht; sie schlief. Er weckte sie und fragte: »Wo ist die Münze?« Sie behauptete: »Du hast mir nichts gegeben.« – »Das war der Dieb!« Er lief ihm nach; da er aber die Stadt
kannte, langte er noch vor dem Dieb bei dessen Haus an und wartete neben der Tür. Als der Dieb kam, sagte ihm der Alte: »Heute bist du dran, Wasser zu holen, weil du so spät kommst! Gib mir die Münze und geh Wasser holen.« Der Dieb gab dem Alten die Münze und ging Wasser holen. Nach ein paar Schritten aber überlegte er: ›Vielleicht ist das gar nicht einer von der Gruppe?‹ Er ging ins Haus und fragte, wer von ihnen die Münze von ihm bekommen hatte? Sie antworteten: »Wir warten hier und sind gar nicht hinausgegangen.« Nun jagte er in Windeseile davon und kam noch vor dem Alten an dessen Haus an; die Frau stand am Eingang. Er hieb ihr den Kopf ab, hüllte sich in ihre Kleider und stellte sich hinter die Tür. Der Alte kam nach Hause; da stand in der Tür der Dieb in den Kleidern seiner Frau und verlangte die Münze. Der Alte übergab sie dem Dieb und ging ins Haus; aber der Dieb lief weg. Im Haus fand der Alte seine Frau – um einen Kopf kürzer. Da hatte er weder Kraft noch Mut, weiter um die Münze zu kämpfen, die ihm nun für immer entgangen war. Er beweinte seine Frau, die auch nicht mehr zurückkommen konnte. Der Dieb ging nun zu der Bande, gab die Münze zurück, und sie nahmen ihn in ihre Gruppe auf. Sie gaben ihm ein Zimmer neben dem des Königs, und nur eine Wand trennte die beiden. Am zwanzigsten Tage begann er, Säure auf die Wand zu gießen und sie abzuschaben, bis nur noch eine dünne Schicht Mörtel auf der Seite des Königs übrigblieb. Um Mitternacht klopfte er an die dünne Wand zwischen ihm und dem König. Der rief: »Wer ist da?« Der Dieb antwortete: »Ich bin es, der Todesengel, und ich bin gekommen, dich zu holen. Aber da du ein wahrer Gerechter bist, haben wir beschlossen, dich lebend ins Paradies zu bringen. Vorher aber mußt du noch einiges tun. Zunächst: Morgen gib ein Festmahl für die Armen und verteile
an sie reiche Almosen. In der Nacht werde ich erscheinen und dir sagen, was du weiter zu tun hast.« Der König tat, was ihm befohlen wurde. Am nächsten Tag, um Mitternacht, klopfte der Dieb an die Wand, und der König hörte seine Stimme sprechen: »Du hast gut ausgeführt, was dir befohlen war. Jetzt kannst du ins Paradies kommen. Tu das Folgende: Bereite eine Holzkiste vor, um dich hineinzulegen. Befiehl, daß um vier Uhr nachmittags kein Mensch draußen zu sein hat. Stell die Kiste draußen im Hof auf und leg dich hinein.« Um vier Uhr nachmittags war niemand auf der Straße. Da kam der Dieb mit vier Lastträgern, und die trugen die Kiste auf ein Schiff. Von dort aus schickte der Dieb einen Boten zum König, seinem Schwiegervater, der solle alle Minister und Würdenträger für einen bestimmten festgesetzten Tag bestellen. Dann wird er mit dem Versprochenen kommen. Am festgesetzten Tage kamen alle Geladenen, saßen wie im Theater, schwiegen und warteten auf den Beginn der Vorstellung. Da trat der Schwiegersohn des Königs mit einer großen Kiste in den Saal. Er klopfte an die Kiste; da hörte man von innen eine Stimme: »Was ist geschehen?« Der Dieb antwortete: »Herr und König, alles ist in Ordnung. Um herauszukommen ins Paradies, mußt du ein paar Dinge tun, damit du völlig rein bist!« Der König antwortete: »Ich bin mit allem, was du sagst, einverstanden. Sage mir, was ich zu tun habe; ich werde es ausführen.« Der Dieb sagte: »Du mußt bellen wie ein Hund.« Da ließ der König sich hören: »Hau, hau, hau!« »Du mußt schreien wie ein Esel!« Da erschallte es: »I-a-, i-a, i-a!«
»Krähe wie ein Hahn!« Der König widersetzte sich nicht und krähte: »Kikeriki, kikeriki« mit trillernder Stimme. »Jetzt öffne ich die Kiste, und du wirst dich in allen Düften und Gewürzen des Paradieses befinden.« Als sich die Kiste öffnete – was sah der Nachbarkönig? Den König und seine Minister, die seiner spotteten. Da bat er um Vergebung für den Brief und lobte den Dieb und sprach: »Es gibt nicht deinesgleichen – es gab nicht und wird auch nie geben. Ich gebe dir auch meine Tochter zur Frau und mein halbes Königreich dazu.«
63. Die Fischerstochter
Es war einmal ein Fischer, ein Witwer, der eine sehr schöne Tochter hatte. Diese machte die Hausarbeit mit großem Fleiß. Jeden Tag zog der Fischer zum Meeresstrand, wo er mit seinem Netz viele Fische fing und sie dann auf dem Markt verkaufte. Wenn er nach Hause kam, brachte er alle notwendigen Lebensmittel heim. In seiner Nähe wohnte eine arme Witwe, die dem Mädchen zuredete: »Wie lange willst du noch die Last des Haushalts tragen? Schlag doch deinem Vater vor, zu heiraten; die Frau wird dir bei deiner Arbeit helfen. Und wenn du mich vorschlägst, so werde ich dir eine gute Mutter sein; ich werde alle Arbeit im Haus tun und für dich sorgen. Du wirst mir wie eine eigene Tochter sein.« Am Abend beklagte sich die Tochter bei ihrem Vater: »Die Arbeit im Hause fällt mir so schwer. Du solltest die gute Witwe, unsere Nachbarin, heiraten, und sie wird mir bei aller Arbeit helfen.« Der Fischer wollte nichts vom Heiraten hören, um seiner Tochter nicht das Leben zu erschweren. Diese dagegen bestand darauf, setzte dem Vater zu, er solle doch heiraten, und der Fischer mußte am Ende die Witwe nehmen. In den ersten Tagen nach ihrem Einzug in des Fischers Haus behandelte sie die Tochter höflich; aber allmählich begann die Frau böse zu werden und bürdete der Tochter sämtliche Hausarbeit auf. Weil sie dies nicht mehr ertragen konnte, beschwerte sich die Tochter bei ihrem Vater, und von da an nahm er sie mit an den Strand, wenn er fischen ging. Am Abend kehrten sie dann zusammen zurück; so hielten sie es tagein, tagaus.
Eines Tages geschah es, daß die Frau des Königs, die schwanger war, am Meeresstrand spazieren ging. Ein Zauberer sah sie und verliebte sich in sie; er verwandelte ihr ungeborenes Kind in eine Schlange. Die Königin merkte nichts davon, was ihr der Zauberer angetan hatte, und ging wieder nach Hause. Inzwischen hatte der Fischer sein Netz ausgebreitet, aber es war so schwer, daß er es nicht herausziehen konnte. Was tat er? Er überließ seiner Tochter die Taue des Netzes und eilte davon, um Lastträger zu finden, damit sie mit vereinten Kräften dieses Netz aus den Tiefen des Meeres herausziehen können. Wie sie so dastand, hörte die Tochter plötzlich eine Stimme aus dem Wasser ertönen: »Laß ab von mir! Ich will es dir reichlich vergüten, und das Netz werde ich mit den besten Fischen anfüllen.« Die Stimme redete so lange auf sie ein, bis die Fischerstochter die Taue des Netzes losließ. Gleich entstieg dem Wasser die Königstochter Par’on, gab der Tochter ein paar ihrer Haare und sprach zu ihr: »Für die gute Tat, die du mir erwiesen hast, nimm hier einige von meinen Haaren. Wenn du Hilfe brauchst, verbrenne ein Haar; gleich werde ich zu dir kommen und tun, um was du mich bittest.« Damit beendete sie ihre Rede, füllte noch das Netz mit Fischen und verschwand. Unterdessen kam der Fischer zurück, und mit Hilfe der Träger zog er das Netz aus dem Wasser. Die vielen Fische verkaufte er mit großem Gewinn auf dem Markt und kehrte froh mit seiner Tochter nach Hause zurück. Die Stiefmutter aber haßte die Tochter des Fischers, die jeden Tag mit ihrem Vater das Haus verließ und ihr bei der Hausarbeit überhaupt nicht half. Als die Königin am Ende ihrer Schwangerschaft war und die Geburt bevorstand, holte man eilig die Hebamme. Aber kaum war diese an die Königin herangetreten, um ihres Amtes zu
walten, da sank sie zu Boden und starb. Jede Hebamme, die sich der Königin näherte, traf dasselbe Schicksal. Der König verkündete: »Ein Vermögen der Hebamme, der es gelingt, meine Frau zu entbinden!« Die Stiefmutter sagte sich: »Ich will die Tochter des Fischers als Hebamme für die Königin hinschicken. Da wird ihr Leben ein Ende nehmen und ich werde sie für immer los sein.« Sie erzählte einem Boten des Königs, daß die Tochter des Fischers eine sehr geübte Hebamme sei, und sofort holte man sie zum königlichen Hof. Was tat diese? Sie wechselte die Kleider und verbrannte eines der Haare, die sie aufbewahrt hatte. Und wirklich, die Königstochter Par’on erschien, um ihr zu helfen und sagte: »Keine Angst! Verlange vom König hundert Maß Honig in einem großen Topf. Dann bring die Königin in ein Zimmer hinter geschlossener Tür. Den Topf mit dem Honig setz auf einen brennenden Herd und warte, bis er gut kocht. Durch den Duft des Honigs wird die Königin gebären, ein Kind in einer Schlangenhaut, aber fürchte dich nicht davor. Hüte dich aber, vom König irgendwelche Entlohnung anzunehmen!« Die Fischerstochter tat alles, wie sie die Königstochter Par’on angewiesen hatte. Die Königin gebar ein Kind in einer Schlangenhaut und begann es zu säugen. Die Fischerstochter schlug jegliche Bezahlung vom König aus und kehrte nach Hause zurück. Das Kind wuchs heran. Als es fünf Jahre alt war, nahm der König einen Lehrer, um ihm Wissen und Benehmen beizubringen. Kaum aber näherte der Lehrer sich dem Kind, so fiel er der Länge nach hin und war tot. Jeder Lehrer, der sich dem Kind näherte, wurde vom gleichen Schicksal ereilt. Da verkündete der König: »Ein Vermögen demjenigen, der meinen Sohn in Weisheit und Wissenschaft unterrichtet!« Die Stiefmutter erzählte dem Gesandten des Königs, daß die Fischerstochter eine ausgezeichnete Lehrerin sei, und alsbald
holte man sie ins Haus des Königs. Was tat sie? Sie wechselte ihre Kleider und verbrannte eines der Haare der Königstochter Par’on. Sie erschien gleich und sagte: »Nur keine Angst! Bitte den König, dir zwei Zimmer zu geben, eins neben dem andern. In dem einen, dem inneren, laß Bücher in siebzig Sprachen zusammentragen. Im zweiten laß Obst, teure seltene Früchte, hinstellen. Wenn der Königssohn das Zimmer betritt, frag ihn, was er zuerst tun will, essen oder lernen? Wenn er zuerst essen will, gib ihm von den Früchten in dem einen Zimmer, und dann führe ihn in das Zimmer mit den Büchern. Den Inhalt eines jeden Buches, das du ihm vorlegen wirst, wird er mit Leichtigkeit erlernen. Innerhalb kurzer Zeit wird er alle Sprachen können. Aber denk daran: Nimm keinerlei Geschenk vom König an!« Die Fischerstochter tat alles genau so, wie es ihr die Königstochter Par’on gesagt hatte, und der Königssohn lernte wirklich siebzig Sprachen. Die Fischerstochter aber weigerte sich, jeglichen Lohn vom König anzunehmen und kehrte heim. Das Königskind wuchs heran und entwickelte sich zu einem gescheiten und weisen Mann, und durch sein freundliches Wesen fand er Wohlgefallen bei Gott und Menschen. Als es an der Zeit war, suchte man ihm eine Frau unter den Vornehmen des Landes. Aber sowie sich ihm ein Mädchen näherte, fiel es tot um. Der König und seine Frau waren unglücklich über das Schicksal ihres Sohnes und verkündeten: »Ein Preis der Frau, der es gelingt, ein Lebensbündnis mit unserem Sohn einzugehen!« Die Stiefmutter verkündete den Gesandten des Königs: »Nur die Fischerstochter ist imstande, eine Frau für den Königssohn zu finden.« Sogleich holte man sie. Was tat sie? Sie wechselte ihre Kleider und verbrannte eines der Haare, die sie aufbewahrt hatte. Die Königstochter Par’on erschien und sagte: »Obgleich
es schwer ist, tu, was ich dir sage, und deine Aufgabe wird dir gelingen. Ersuche den König, dir drei Zimmer zur Verfügung zu stellen, eins neben dem anderen. Im ersten Zimmer zünde einen Haufen Holz an, im zweiten bereite ein Bad mit lauwarmen Wasser vor, und im dritten beziehe ein Bett, und darauf eine Matratze, die aus Straußenfedern hergestellt ist. Du selbst zieh sieben Kleider an, eins übers andere, und begib dich mit dem Königssohn in das geheizte Zimmer. Der König und seine Leute dürfen sich aber dem Zimmer nicht nähern, selbst nicht, wenn sie Schreie des Königssohnes aus dem Zimmer hören. Auch du beachte seine Schreie nicht. Nach den ersten Schreien wird er die erste der sieben Schlangenhäute, in denen er steckt, abwerfen. Dann wirf auch du das erste deiner Kleider ab. Wenn er seine siebente Haut abgestreift hat, wirf ihm dein siebentes Gewand über und verbrenne gleich die Kleider samt den Häuten. Von dort aus geht in das zweite Zimmer und wascht euch in dem lauwarmen Wasser. Trocknet euch ab und zieht Nachtgewänder an. Dann liegt zusammen auf dem Bett mit der Matratze aus Straußenfedern im dritten Zimmer.« Die Fischerstochter tat, was ihr die Königstochter Par’on gesagt hat. Der Königssohn warf alle sieben Schlangenhäute ab, unter schrecklichen Schreien. Aber niemand wagte es, sich dem Zimmer zu nähern, denn so hatte es der König befohlen. Die Fischerstochter verbrannte die Kleider und die Schlangenhäute; dann wusch sich das Paar in dem lauwarmen Wasser, und sie lagen zusammen auf dem Bett. Am nächsten Tag öffnete der König leise die Tür und spähte hinein – und siehe da, sein Sohn lag neben der Fischerstochter auf dem Federbett, sein Antlitz strahlte so schön wie der Vollmond. Auch die Fischerstochter war schön und anmutig. Als der König das liebliche Paar sah, ging er hinaus, um sie nicht zu stören, und schloß die Tür hinter sich zu. Gegen Mittag erwachten der Königssohn und die Fischerstochter. Die
Kammerdiener zogen die Beiden bald an und geleiteten sie zu dem König und der Königin. Diese waren sehr glücklich. Der Königssohn bat um das Einverständnis seiner Eltern, die Fischerstochter zur Frau zu nehmen. Sie aber sagte: »Ich bin nicht würdig, eines Königssohnes Frau zu sein. Ich bin doch nur eine einfache Fischerstochter!« Der König ernannte den Fischer zum Wesir; dann nahm der Sohn die Tochter des neuernannten Wesirs zur Frau. Mit königlichem Gepränge wurde die Hochzeit gefeiert, und der Königssohn liebte seine schöne Frau sehr. Das junge Paar lebte in Ruhe und Frieden, bis der Königssohn eines Tages den Wunsch hatte, die weite Welt zu bereisen, um Länder und Völker kennenzulernen. Er bat seinen Vater: »Laß mich, bitte, auf Reisen gehen.« Nach langem Zureden gab der König seine Zustimmung. Der Sohn zog aus, von einigen treuen Männer des Hofes begleitet; und vor seiner Abreise bat er den König: »Gib gut acht auf meine Frau und sorge dich um sie, bis ich wieder zurückkomme.« Von unterwegs schickte er viele Liebesbriefe an seine Frau und gemahnte seinen Vater, sie aufs beste zu pflegen und keine Sorge in ihrem Herzen aufkommen zu lassen. Die Stiefmutter aber, die jetzt Wesirsfrau war, sah voll Angst und Eifersucht den Aufstieg der Fischerstochter, und von Tag zu Tag wuchs ihr Neid. Eines Tages, als ein Brief des Königssohnes dem Wesir in die Hand fiel, bat die Frau ihre Freunde, die Schreiber, hinzuzufügen, daß der Königssohn verlange, seine Frau umzubringen. Die Schreiber erfüllten die Bitte der Stiefmutter, und so gelangte der Brief an seine Bestimmung. Der Inhalt des Briefes brachte den König in arge Bedrängnis; er konnte es nicht über sich bringen, Hand an seine Schwiegertochter zu legen. Die sagte zu ihm: »Mein Herr und König, laß mich in den Wald gehen. Wenn ich meinem Mann
Unrecht getan habe, werden mich wilde Tiere zerreißen, und ich werde nicht zurückkommen.« Die Frau des Königssohnes verließ den Palast. Einsam und verlassen durchlief sie die Wälder, bis sie zu einer Höhle in der Nähe eines Flusses kam, und dort verbrachte sie die Nacht. Am nächsten Morgen ging sie weiter durch den dichten Wald. Da sah sie, mitten im Wald, ein einzelnes Haus. Sie klopfte an die Tür. Eine alte, verrunzelte Frau kam heraus, die schimpfte: »Wie wagst du es, du Menschenkind, hierherzukommen? Scher dich weg von hier und geh!« Die Frau des Königssohnes bat sie so eindringlich, bis sie das Herz der Alten erweichte und diese sie in das Haus hineinließ. Zu ihrem großen Erstaunen sah sie dort einen schönen jungen Mann auf dem Boden liegen und die Alte fächelte mit einem Fächer das feine Gesicht, das dem eines Toten glich. Die Frau des Königssohnes fragte: »Wer ist das?« Die Alte erzählte ihre Geschichte: »Ein Dämon hat sich in meinen Sohn verliebt und hat ihn mit seinen Zauberkünsten in einen todesähnlichen Schlaf versenkt. Jeden Freitag Abend kommt der Dämon, weckt meinen Sohn aus dem tiefen Schlaf, und belustigt sich mit ihm bis zum Morgengrauen des nächsten Tages. Aber wenn der Tag beginnt, wirft er ihn wieder in diesen todesähnlichen Schlaf und geht von dannen.« Die Frau des Königssohnes verbrannte eins der Haare der Königstochter Par’on. Sogleich erschien sie und sagte zu ihr: »Nimm zehn Maß Honig und koche ihn in einem großen Topf, bis er siedet. Wenn der Dämon kommt, schließ hinter ihm die Tür. Laß kein Wasser im Haus. Der Dämon wird von dem Honig essen, wenn er aber dann kein Wasser findet, um seinen Durst zu löschen, wird er von den Brandwunden, die der Honig verursacht hat, sterben. So wird der Sohn der Alten aus seinen Klauen gerettet werden.« Nachdem der Dämon den Sohn der Alten geweckt hatte, befolgte die Frau des Königssohnes den Rat der Königstochter
Par’on. Der Dämon starb an den Brandwunden, sie warfen ihn ins Feuer – nur dünne Asche blieb von ihm übrig. Der Sohn der Alten heiratete das schöne Mädchen, das ihm das Leben gerettet hatte. Sie gebar ihm einen Sohn und eine Tochter. Nach einer Reise von zwei Jahren kehrte der Königssohn in sein Land zurück. Als er seine Frau nicht vorfand, verfiel er in tiefe Trauer. Der König zeigte ihm den Brief, und jetzt wurde es klar, daß eine fremde Hand hinzugefügt hatte, was zum Verderben seiner Frau führen sollte. Sofort machte sich der Königssohn auf die Suche nach seiner Frau. Er ging durch den Wald, bis er zu der Höhle kam. Dort verbrachte er die Nacht. Am nächsten Tag entdeckte er auf der anderen Seite des Flusses das einsame Haus. Er ging hin, klopfte an die Tür – und da stand seine Frau vor ihm, so wie sie immer war. Die Frau herzte und küßte ihren Mann, den Königssohn, und erzählte ihm alles, was mit ihr geschehen war. Der Sohn der Alten erschrak zutiefst, als er seine Frau in den Armen eines Fremden fand. Wütend schrie er den Königssohn an: »Was machst du da? Das ist doch meine Frau! Wir haben auch Kinder!« »Bevor du sie noch gekannt hast, war sie meine Frau, obwohl wir noch keine Kinder hatten.« Beide Seiten brachten ihre Forderung vor die Richter, und die entschieden: »Die Frau ist die Frau des Königssohnes. Dir«, sagten sie zum Sohn der Alten, »hat Gott durch sie das Leben gerettet und einen Sohn und eine Tochter geschenkt. Mit diesen drei Geschenken sollst du dich begnügen!« Der Königssohn und seine Frau kamen frohgemut und glücklich nach Hause, und alle freuten sich über ihre Heimkehr. Der Königssohn beschloß, denjenigen herauszufinden, der sich unterstanden hatte, diese feindseligen Worte gegen seine Frau seinem Brief hinzuzufügen. Er befahl, alle Schreiber in der Stadt vor ihn zu bringen. Die Prüfung und Nachforschung
führten zu dem Schreiber, der die Worte geschrieben hatte, und dieser verriet die Wahrheit: »Die Frau des Wesirs hat mir mit dem Tode gedroht, wenn ich nicht hinzuschreibe, was sie verlangte. In meiner Todesangst schrieb ich, was man mir befahl.« Die Frau des Wesirs mußte jetzt vor den König treten. Da sie aber wußte, daß ihre Taten ans Licht gekommen waren und sie keinen Weg der Rettung hatte, stieg sie auf das Dach des Palastes und stürzte sich hinab. Der alte König ernannte seinen Sohn an seiner Statt, und der wurde in königlicher Zeremonie gekrönt. Der Wesir, der Vater der Königin, heiratete eine andere Frau, die gut und klug war. Und so waren alle glücklich und zufrieden.
64. Das Vögelchen und die zerrissene Trommel
In unserem Dorf gab es einmal ein kleines, niedliches Vögelchen. Das hatten wir sehr gern, und sogar die Kinder im Dorf liebten es und achteten darauf, keine Steine auf das Vögelchen zu werfen, damit es nicht, Gott behüte, stürbe. Eines Tages geschah es, daß das Vögelchen auf einem Strohballen, der zu unserem Haus gehörte, stand, und sich einen Dorn ins Bein jagte. Es schrie und weinte noch und noch vor Schmerzen. Es flog zu einer Greisin, die sich ihre alten Knochen in der Sonne wärmte, und bat: »Großmütterchen, zieh mir doch den Dorn raus!« Aber die Großmutter sagte: »Ich habe keine Zeit; ich muß meiner Enkelin ein Kleid nähen.« Das Vöglein flog weiter und kam zu einer anderen Alten und bat sie, den Dorn herauszuziehen – aber wieder bekam es eine enttäuschende Antwort. Das Vögelchen flog und hüpfte zu einer anderen Frau, und diese war beim Brotbacken. Es bat sie: »Zieh mir bitte den Dorn aus dem Bein.« »Ich habe keine Zeit, ich muß Brot backen.« Nach langem Bitten zog die Frau doch den Dorn heraus und warf ihn in den Ofen. Da begann das Vögelchen zu weinen: »Warum hast du meinen Dorn verbrannt? Ich will meinen Dorn haben!« Es jammerte und weinte und sagte dann: »Gib mir zwei Brote oder den Dorn!« Die Frau war gezwungen, dem Vogel zwei Brote zu geben. Das Vöglein nahm sie mit und flog weg. Dann flog es zu einem Hirten, der gerade am Essen war, und sagte: »Nimm die zwei Brote; du hast Sauermilch; laß mir etwas übrig – ich gehe, komme aber gleich wieder.« Der Hirt war einverstanden, aber bis der Vogel zurück war, hatte er alles
Brot mitsamt der sauren Milch verzehrt. Der Vogel sagte: »Warum hast du mir kein Stück Brot übrig gelassen?« Er begann zu weinen und sagte: »Entweder gibst du mir dafür ein Schaf – oder mein Brot!« So mußte der Hirt dem Vogel ein Schaf geben. Der Vogel nahm das Schaf und kam ins Dorf; dort fand eine Hochzeit statt; statt Schafe schlachtete man da Hunde zum Mittagsmahl. Der Vogel sagte: »Nehmt mein Schaf und schlachtet es; aber bis ich vom Beten zurückkomme, laßt etwas für mich übrig.« »Gut«, sagten die Leute, nahmen das Schaf, schlachteten es und aßen alles auf. Als der Vogel zurückkam und kein Fleisch mehr vorfand, begann er zu weinen: »Gebt mir mein Schaf – oder die Braut!« Der Vogel nahm die Braut und ging weg. Er ging und ging, bis er zu einem Trommler kam. Der Vogel sagte: »Gib mir die Trommel, ich gebe dir die Braut.« »Einverstanden«, sagte der Trommler, gab ihm die Trommel, und der Vogel gab ihm die Braut. Der Vogel nahm die Trommel. Aber nach einiger Zeit wurde er müde und setzte sich auf einen Stein. Die Trommel legte er auf die Erde und einen Stein darauf, damit sie nicht im Winde wegfliege. Plötzlich aber zersprang die Trommel. Da fragte der Vogel die Trommel: »Warum bist du zersprungen?« Die Trommel antwortete: »Ein Stein hat mich gesprengt.« Da fragte der Vogel den Stein: »Warum hast du die Trommel gesprengt?« »Weil Gras unter mir wächst.« »Und du, Gras, warum hast du den Stein gehoben?« »Weil ein Schaf mich frißt.« »Du Schaf, warum hast du das Gras gefressen?« »Der Löwe frißt mich.« »Löwe, warum frißt du das Schaf?« »Weil der Hund mich anbellt.«
»Hund, warum bellst du ihn an?« »Mein Herr gibt mir nicht zu fressen.« »Herr, warum hältst du einen Hund und gibst ihm nicht zu fressen?« »Weil die Katze das Brot frißt.« »Katze, warum frißt du dem Hund das Brot weg?« Da antwortete die Katze: »Ich will essen, Ich will fressen, Glänzend sind meine Augen, Fett sind meine Füße.«
65. Wie kommt man geraden Wegs ins Paradies?
Da war einmal ein Heiliger (so ein Scheich, der Wunder vollbringt), und bei ihm lebte ein Derwisch. Die zogen von Ort zu Ort und begnügten sich mit dem, was die Gläubigen ihnen gaben. Da kamen sie zu einem Dorf, wo alles billig war: das Maß Zucker – einen Groschen, das Maß Brot – einen Groschen und das Maß Sauermilch – auch einen Groschen. Der Derwisch sagte zu dem Heiligen: »Hier ist alles billig, bleiben wir doch hier.« Der Heilige aber sagte: »An einem Ort, wo alles billig ist, ist es nicht gut, sich niederzulassen.« Aber jener sagte: »Hier ist es mir bequem und ich will bleiben.« Am Eingang zur Stadt floß ein Fluß mit Süßwasser vorbei; er erwählte diesen Platz für sich. Der Heilige sagte: »Wenn das so ist, gebe ich dir hier ein Amulett.« Er schrieb ein paar Zeilen darauf und sagte: »Wenn du in Not bist und mich brauchst, verbrenne das; dann werde ich zu dir kommen.« Der Derwisch blieb an diesem Ort. Jeden Tag ging er ein paar Stunden arbeiten und verdiente drei Groschen, dafür kaufte er Brot, Zucker und Sauermilch. Er aß, trank Wasser vom Fluß und schlief unter dem Baum am Fluß. So tat er tagein, tagaus. Einige Zeit ging dahin, und vor lauter Nichtstun und Ruhe wurde der Derwisch dick und fett. Eines Tages geschah es, daß ein Dieb in der Staatskasse einbrach und stahl; seine Spuren waren verschwunden. Ein andermal brach der Dieb in einem Haus ein. Aber die Mauer brach unter ihm zusammen, und der Dieb fiel und kam um. Man meldete der Polizei, daß der ungebetene Gast etwas aus dem Haus entwenden wollte und er, da die Mauer baufällig war, gefallen und dadurch erschlagen worden war. Da lud man den Hausherrn vor, sich zu
rechtfertigen. Warum ist dein Haus nicht fest? Der Unglückliche war sicherlich hungrig gewesen, wollte etwas für sich und die Seinen nehmen – und nun ist er gestürzt und gestorben. Den Hausherrn müsse man aufhängen. Der Hausherr führte an: »Ich bin nicht schuld; ich habe den Bau einem Baumeister übertragen, der hat nicht gut gebaut, darum ist das Haus eingestürzt.« Man holte den Baumeister und befragte ihn: »Warum hast du nicht fest gebaut?« »Ich bin nicht schuld«, sagte dieser, »als ich am Bauen war, hat sich gegenüber ein Mädchen gerade vor dem Fenster herausgeputzt. Das hat mich abgelenkt, darum habe ich nicht gut gebaut.« Man schickte nach dem Mädchen – die wollte man nun hängen. Diese aber sagte: »Jeden Tag mache ich mich für meinen Freund schön; aber der hatte sich verspätet – also trifft mich keine Schuld.« Man schickte, um den Jüngling zu bringen. Der wußte nichts zu erwidern; man schleppte ihn also auf den vorgesehenen Platz, um ihn aufzuknüpfen. Unterwegs kam man am Fluß vorbei, dort, wo der Derwisch lag. Der Jüngling führte nun an: »Ich bin doch noch so jung und habe noch nichts vom Leben gehabt, und außerdem wartet ein Mädchen darauf, daß ich sie heirate. Und da liegt nun dieser Mensch herum, der zu nichts nütze ist.« Da ließ man den Jüngling frei und ergriff den Derwisch. Man schleifte ihn zum Galgen. Bevor man ihn aber hängte, fragte man ihn: »Was ist dein letzter Wunsch?« Er sagte: »Ich will beten und die Wasserpfeife rauchen.« Man brachte ihm eine; er ging zur Seite, betete und zündete sie an und ebenfalls das Amulett, das der Heilige ihm gegeben hatte. Im selben Augenblick erschien auch schon der Heilige, sah, daß der Galgen bereitstand und man seinen Schüler, den Derwisch, hängen will. Da lief er in Richtung des Galgens, schob das ganze Volk beiseite und rief: »Ich will aufgehängt werden! Wer jetzt gehängt wird, kommt
schnurstracks ins Paradies.« Der Henker hörte das und sagte: »Warum soll ein anderer ins Paradies kommen? Ich selbst will das Recht darauf erwerben!« Das hörte der Kommandant der Wache, drängte alle beiseite und sagte: »Nur ich habe das Recht, ins Paradies zu kommen!« So drängte sich jeder vor, bis ein großer Tumult entstand. Der König saß in seinem Palast, mit einem Fernglas in der Hand, und schaute auf den Galgenplatz hinüber. Da sah er den Derwisch, den Heiligen und den Henker miteinander streiten und den ganzen Auflauf ringsherum. Er schickte aus, um erkunden zu lassen, was das zu bedeuten habe. Man berichtete ihm: »Wer jetzt gehängt wird, kommt direkt ins Paradies.« Da rief der König: »Warum soll jemand anderer ins Paradies kommen und nicht ich?« So kam auch der König in eigener Person auf den Galgenplatz. Und unter großen Ehrenbezeugungen hängte man ihn auf, anstelle des Bauherrn, der nicht gut gebaut hatte, und um des Diebes wegen, der gefallen war und dessen Tod verursacht wurde. Den König schickte man schnurstracks ins Paradies, aber bisher ist er dort nicht angelangt. Wahrscheinlich hat ihn jemand aufgehalten und ist an seiner Stelle dort hingegangen.
66. Wie es geschah, daß der Emir ein Dieb wurde
Zur Zeit des Emir Batur Han lebte einmal in Buchara eine jüdische Witwe, die sehr reich war. Eines Nachts kamen vierzig Räuber, um sie zu ermorden und ihr Geld zu rauben. Um Mitternacht drangen sie in ihr Haus ein, und niemand bemerkte sie. Die Frau, die sehr schön und klug war, wachte auf und erschrak sehr, als sie sah, daß man sie überfallen wollte. Sie sagte zu den Räubern: »Ich bin sehr einsam, habe weder Söhne noch Töchter. Nehmt all mein Geld und meine Schätze, aber bringt mich nicht um, erbarmt euch meiner!« Der Häuptling der Räuberbande sagte: »Ja, das bricht mir das Herz. Nehmen wir den Besitz – wir werden dich nicht anrühren.« Die Frau lud sie ein: »Setzt euch, ich bereite euch ein Mahl vor, eßt euch satt, bevor ihr geht.« Die Frau brachte ein Reisgericht für alle, und als sie beim Essen saßen, nahm sie ein Tamburin und begann vor ihnen zu tanzen, so daß ihnen schwindlig wurde und sie »genug« riefen. Die Räuber nahmen den gesamten Besitz der Witwe und liefen davon. Am Morgen ging die Witwe zum Gemeindeobersten und erzählte ihm, was passiert war. Der kam zu ihr ins Haus und fand es tatsächlich völlig ausgeräumt. Er eilte zum Emir Batur Han und erzählte ihm von dem Raub. »Gut«, sagte der Emir, »ich will mit meinem Hofstaat ins Haus der Witwe kommen.« Der Gemeindeoberste ging zur Witwe und riet ihr: »Wenn der Emir dich fragt, wen du in Verdacht hast, der Anführer der Diebe zu sein, sag zu ihm, du verdächtigst ihn selbst.« »Der Emir wird mich doch umbringen!«
»Fürchte dich nicht und tu, wie ich dir gesagt habe. Ich werde hinter dir stehen und es wird dir nichts geschehen.« Der Emir kam ins Haus der jüdischen Witwe mit seinem ganzen Gefolge. Der Gemeindeoberste verneigte sich vor ihm und deutete auf die Witwe. Der Emir rief ihr zu: »Komm her!« und als er sah, daß sie zitterte, sagte er zu ihr: »Fürchte dich nicht, Frau. Sag mir, auf wen fällt dein Verdacht?« »Wenn du nicht Rache übst und mir versprichst, mich nicht umzubringen, werde ich die Wahrheit sagen.« »Ich verspreche es dir!« »Mein Herr, du selbst, der Emir, ist es, den ich in Verdacht habe.« Alle Minister erschraken, der Emir aber dachte einen Augenblick nach und sagte: »Ja, du hast recht. Ich bin der Dieb, wenn unter meiner Herrschaft dir dein ganzer Besitz geraubt worden ist! Ich rühre mich nicht von hier weg. Bringt mir sofort den Stadtwächter!« Die Eilboten jagten los, alarmierten und brachten den Stadtwächter, und der Emir fragte ihn: »Im Laufe des Tages wache ich über die Stadt, warum bewachst du sie nicht während der Nacht? Warum erfüllst du nicht dein Amt? Ich lasse dir drei Tage Zeit; bis dahin hast du die Diebe zu finden, sonst wirst du an den Galgen gehängt, und deine Frau wird in meinen Palast geholt!« Dann erhob sich der Emir, ging hinaus und sagte zur Witwe: »Hab keine Angst. Der Stadtwächter wird die Diebe finden. Wenn nicht, ersetze ich dir aus meinem Schatz den Wert des gestohlenen Vermögens.« Der Stadtwächter und seine Schutzleute suchten drei Tage lang und fanden die vierzig Diebe in dem kleinen Dorf Rischduan. Sie wurden vor den Emir gebracht, und der ließ die Witwe kommen. »Sind das die Leute?«
»Das sind sie.« Der Emir fragte die Diebe: »Wieviel Jahre betreibt ihr schon das Diebeshandwerk?« »Dreißig Jahre.« Da wunderte sich der Emir und fragte: »Und wo sind all die Schätze, die ihr bis zum heutigen Tag geraubt habt?« Die Diebe eröffneten ihm, wo das Versteck war, und der Emir befahl, vierhundert Arbeiter auszuschicken, um die Schätze in den Palast zu schaffen. Die Leute luden all die gestohlenen Güter auf und brachten sie in den Palast. Der Emir verkündete: »Jeder, dem ein Gegenstand gestohlen wurde, komme und nehme ihn, wenn er ihn auf dem Haufen Raubguts in meinem Palast findet. Aber«, so warnte der Emir, »wehe dem, der etwas nimmt, das nicht ihm gehört!« Alle Bewohner der Stadt kamen und ein jeder nahm, was man ihm gestohlen hatte. Dann befahl der Emir, die Bewohner sollten auf den Marktplatz kommen, um zuzusehen, wie man die vierzig Diebe enthauptete. Da fragte die Mutter des Emir ihren Sohn: »Mein Sohn, warum läßt du so viele Leute hinrichten?« »Wenn sie vor mich treten, sehe ich sie in meiner Vorstellungskraft bereits als kopflos. So lasse ich ihnen den Kopf abhauen.« Dann ließ der Emir allen Bürgern bekanntmachen und ließ es oftmals wiederholen: »Wehe jedem Dieb, das Todesurteil ist ihm gewiß!«
67. Die andere Schläfenlocke
Im Jahre 1920 bin ich vom Przemysl nach Bortsche auf einem Wagen gefahren. Mitten auf dem Weg standen »Hallertschikes« (Soldaten vom Regiment des Generals Haller) und haben die Juden, die diesen Weg befahren haben, aufgehalten, sie auf grausame Weise mit Messern geritzt und ihnen Schläfenlocken und Bärte gewalttätig abgeschnitten, so daß das Blut herablief. Da fahre ich so auf einem Wagen mit Mendel Pelz – einem einfachen Juden, der außer Beten, ohne den Sinn der Gebete zu erfassen, nichts konnte, aber einen guten Humor besaß und Freundlichkeit für jedermann, ob groß oder klein, und außerdem die Ruhe weg hatte. Die Hallertschikes zerrten die Juden vom Wagen und fingen an, Bärte und Schläfenlocken abzuschneiden. Sie kamen zu Mendel Pelz, schnitten ihm die eine Schläfenlocke ab, und als sie gerade die zweite Schläfenlocke abschneiden wollen, sagte er lächelnd zu ihnen: »Eine Schläfenlocke habt ihr mir abgeschnitten – laßt die andere übrig für eure Genossen, die sonst doch nichts zu tun haben werden.« Die Raufbolde brachen in ein wildes Gelächter aus und ließen ihn laufen. Und noch lange danach ging Mendel Pelz im Städtchen mit einer Schläfenlocke herum, bis ihm die zweite wieder gewachsen war.
68. Die zukünftige Welt
I In der Woche, in welcher der Sohn Davids, der Messias, kommen wird, wird sich ereignen, daß im ersten Jahr der Woche der Vers in Erfüllung gehen wird: »Ich war es auch, der euch den Regen versagte, und zwar drei Monate vor der Ernte. Ich ließ regnen auf die eine Stadt, und auf die andere ließ ich nicht regnen. Das eine Feld bekam Regen, das andere Feld, auf das ich nicht regnen ließ, verdorrte.« (Arnos 4/7). Im zweiten Jahr der Woche werden Pfeile des Hungers abgesandt werden. Im dritten Jahr der Woche wird großer Hunger herrschen; Männer, Frauen und Kinder, Fromme und diejenigen, die die Gebote erfüllen, werden sterben, und die Lehre wird bei denen, die sie studieren, in Vergessenheit geraten. Im vierten Jahr der Woche aber wird Fülle herrschen. Im fünften Jahr wird Überfluß kommen. Man wird essen und trinken und lustig sein, und die Lehre wird denen, die sie studieren, zurückkehren. Im sechsten Jahr »stößt man in das große Horn«. (Isaias 27/13). Im siebenten Jahr der Woche werden Kriege ausbrechen. Am Ausgang des siebenten Jahres wird der Sohn Davids kommen.
II Die zukünftige Welt ist nicht wie diese Welt. In dieser Welt gibt es Krieg und Bedrängnis, den bösen Trieb, den Satan und den Todesengel; alle diese haben die Erlaubnis, über die Welt zu herrschen. In der zukünftigen Welt wird es keine
Bedrängnis und keinen Haß, keinen Satan und keinen Todesengel, kein Seufzen, keine Versklavung und keinen bösen Trieb geben. Danach wird der Heilige, gelobt sei Er, das zerstreute Israel einsammeln, von hier und dort. Und Israel wird dort sitzen und vom Fleisch des Leviathan essen. Nach zweitausend Jahren wird der Heilige, gesegnet sei Er, in dem Tal Jehoschafat zu Gericht sitzen.
III Rabbi Johanan lehrte und predigte in dem Bethaus zu Zippori: Wenn die Zeit der Erlösung kommt, wird der Heilige, gebenedeit sei Er, den Osteingang des Tempels und seine zwei Tore aus einer Perle meißeln. Ein Frommer ging am Meeresstrand von Haifa spazieren und sagte sich: »Kann es sein, daß der Heilige, gelobt sei Er, den Eingang und die zwei Tore an der Ostwand des Tempels aus einer Perle machen wird?« Sofort hörte man eine himmlische Stimme, die sagte: »Wäre es nicht, daß er ein vollkommener Frommer ist, hätte ihn schon das Maß der Gerechtigkeit getroffen! Die ganze Welt wurde in sechs Tagen geschaffen, wie es geschrieben steht: ›Gott vollendete am siebenten Tage sein Werk‹ (1. Moses 2/2), und den Osteingang des Tempels, den Eingang und seine zwei Tore, kann man nicht aus einer Perle machen?« Sofort bat der Fromme um Gnade für sich und sagte: »Herr der Welt! Obwohl ich es in meinem Herzen dachte, laut mit meinen Lippen habe ich es nicht ausgesprochen.« Da geschah ihm ein Wunder: das Meer öffnete sich, und er sah die Dienstengel das Tor meißeln, behauen und schnitzen. Er fragte: »Was ist das?«
»Das ist der Osteingang des Tempels«, sagten sie, »er und seine zwei Tore, aus einer Perle gemeißelt.«
IV Zur Zeit der Erlösung wird der Heilige, gelobt sei Er, in Jeruscholajim tausend Gärten, tausend Türme, tausend Burgen und tausend Zugänge anlegen, und jeder einzelne wird so groß wie Zippori zu Friedenszeiten sein. Einer sagte: »Ich sah Zippori zu Friedenszeiten, und es hatte hundertundachtzigtausend Marktplätze der Topfspeisenhändler.«
V Man sagt: Nicht wie diese Welt ist die zukünftige Welt. In dieser Welt muß man sich quälen, den Wein lesen und treten. In der zukünftigen Welt aber wird man eine einzige Traube auf einen Wagen oder einen Kahn laden, sie in einen Winkel des Hauses legen und daraus wie aus einem großen Faß den Wein schöpfen. Das Holz der Kerne wird man unter dem Kochtopf verbrennen. Du hast keine einzige Traube, die nicht dreißig Maß Wein faßt. Dereinst wird ein Weizenkorn beiden Nieren eines großen Ochsen gleichen. Es wird gleich einer Dattelpalme hoch wie der Berg wachsen. Du glaubst vielleicht, es wird schwer sein, es zu mähen? Der Heilige, gelobt sei Er, wird aus seiner Schatzkammer einen Wind entfesseln, der sein Feinmehl lösen wird. Jedermann wird dann aufs Feld gehen und volle Schüsseln zu seiner Verpflegung und zur Verpflegung seiner Hausleute heimbringen.
69. Natan-el, der Messias der Falascha
Bei den Falascha gibt es eine Überlieferung, daß ihr Messias kommen wird, wenn Gott es geben wird, darum wird er Natanel, Gottesgabe, heißen. Dieser wird die Falascha aus der bitteren Verbannung sammeln und sie nach Jeruscholajim, der Heiligen Stadt, zurückbringen. Zur Zeit, als in Abessinien der König Theodorus herrschte, wurden grausame Gesetze gegen die Falascha verhängt. Die Missionare, die aus Europa kamen, hetzten die christlichen Abessinier auf, die Juden zu einem Glaubenswettstreit aufzufordern. Darin siegten die Falascha; sie waren die Letzten, um die Fragen zu stellen, und die Abessinier konnten ihre Fragen nicht beantworten. Da erzürnten die Missionare; sie richteten die Priester der Falascha hin und verlangten von allen Falascha, das Christentum anzunehmen. Viele von den Falascha sagten damals: »Neue Verfolgungen kommen über uns. Der Name des Kaisers ist Theodorus, das heißt: Gottesgabe. Das ist ein Zeichen, daß Gott dem Messias gestattet hat zu kommen.« Die Hoffnung auf Erlösung und auf das Erscheinen des Messias erfüllte die Herzen. Sechshunderttausend Falascha versammelten sich und beschlossen, das Land der Verfolgungen zu verlassen und nach Jeruscholajim zu ziehen. Einer der Priester, der am Leben geblieben war, erzählte, er habe im Traum die Stimme Gottes gehört, die zu ihm sprach: »Du bist der Messias.« All die Versammelten glaubten an ihn und seine Sendung. Es half nichts, daß die Gemeindeältesten warnten und sagten: »Die Zeit ist noch nicht gekommen. Wir müssen hier bleiben, bis der wahre Messias kommt, und nicht das Ende vorzeitig herbeirufen.« Die Leute versammelten sich
mit Frauen und Kindern um den Messias und brachen in nördlicher Richtung auf. Unterwegs litten sie große Not. Viele von ihnen starben an Hunger und Durst, viele starben durch wilde Tiere und Pfeile von wilden Stämmen. Nur wenige, alles Männer, die die Beschwernisse der Wanderung überstanden hatten, gelangten bis nach Ägypten. Dort aber hielt man sie für christliche Kundschafter und verlangte von ihnen, zum Islam überzutreten – sonst würden sie zum Tode verurteilt werden. Die Falascha, mit dem Messias an ihrer Spitze, traten zum Islam über. Da sie nun ledig waren, heirateten sie ortsansässige Frauen und blieben in Ägypten. Nur drei von dem ganzen großen Volk, das nach Jeruscholajim ausgezogen war, kamen glücklich wieder nach Abessinien zurück und erzählten dort von den Nöten und Leiden des Weges und von dem bitteren Ende. Da erkannten alle, daß die Gemeindeältesten recht gehabt hatten: Der Messias war ein falscher Messias gewesen und auch der angebliche Traum, in dem ihm Gott erschienen war – war nichts als Lug und Trug gewesen. Und bis zum heutigen Tag erwarten sie in Abessinien den wahren Messias.
70. Das Grab des Heiligen
Ich war noch ein kleines Kind, als man mir davon zum ersten Mal erzählte. Aber ich habe das Tal mit eigenen Augen gesehen, das Tal mit den kostbaren Steinen, behauene Steine in allen Farben, die auf dem ganzen Gelände verstreut waren. Das Tal ist ungefähr anderthalb Stunden zu Fuß von der Stadt Testur entfernt, ungefähr so weit wie von Malha nach dem Markt in Mahane Jehuda. Wenn du in Jeruscholajim lebst, kennst du dich sicher aus. Seit ich ein Kind war, ging ich nicht mehr dorthin; denn wir in Tunis waren gebildete Leute wie die Franzosen, gingen ins Kino, saßen im Kaffeehaus und machten gute Geschäfte mit den Franzosen. Und wer glaubte schon damals den Alten, daß eine große Not über die Juden in Testur kommen wird und daß der Rabbi Faradji Schawat nach seinem Tode wieder in Testur auferstehen wird, aus keinem anderen Grund, als um die Juden zu retten? Man nannte den Rabbi Faradji Schawat den »Demütigen«. Er war von Geburt an blind und wußte die ganze Bibel, den Talmud, die Gebete und alles andere auswendig. Man sagt, Prophet Elijahu erscheint ihm jede Nacht im Traum und lehrt ihn. Was ein Mensch lehrt, vergißt man wieder, was aber der Prophet Elijahu gelehrt hat, vergißt man nie und nimmermehr! Juden und Muselmänner verehrten den Rabbi Faradji aufs höchste. Jedes Land wollte, daß er bei ihnen leben solle. Er aber wohnte in Marokko und lebte aufs dürftigste. Sein Geld pflegte er an Arme zu verteilen. In allem seinem Tun war er ein Heiliger und Gerechter.
Israel hat viele Nöte, aber wenige Gerechte. Aus allen Staaten und Ländern kamen Gesandte zu ihm und sagten: »Du Weiser, komm zu uns! Auch wir wollen von deiner Gunst mitgenießen. Möge dich Gott noch lange am Leben erhalten, aber wahrlich, du bist schon alt – wie solltest du sterben und unser Land so einfach im Stich lassen? Bleib bei uns zumindest einen Tag. Wir werden uns sehr mit dir freuen. Mit Gottes Hilfe werden wir dir große Ehre erweisen. Danach kannst du fortreisen.« Da sprach der Rabbi: »Nein, ich werde nicht gehen! Und nun genug – zieht in Frieden eures Weges! Und stört mich nicht beim Lernen der heiligen Lehre!« Nicht etwa, daß er kein Mitleid mit Israel hatte. Im Gegenteil, mit ganzem Herzen nahm er an Israel Anteil und weinte bitterlich. Aber er war bescheiden und wollte den Ehrenerweisungen entgehen. Wie sollte er von Gemeinde zu Gemeinde gehen, überall Ehrungen entgegennehmen und dann, Gott behüte, der Versuchung und Sünde verfallen? Er war sehr, sehr bescheiden und ging nicht. Der Tag kam heran, an dem der weise Rabbi Faradji Schawat sein Ende kommen sah, und er rief seine Familie zusammen. Er sah die Gemeindeältesten weinen und sprach: »Kommt her zu mir.« Sie traten heran. Da sprach er: »Ich habe nichts hinterlassen. Nur ein altes Maultier habe ich, das findet den Weg zu den Bedürftigen, auf dem pflegte ich zu reiten, den Trauernden Trost zuzusprechen und Almosen zu verteilen. Nach meinem Tode wascht und reinigt meinen Leichnam und bindet ihn auf das Maultier. Wohin es euch führen wird, dort sollt ihr mir die letzte Gunst erweisen. Nur noch das Eine – Ehren sollt ihr mir nicht erweisen. Ehre und Größe sind nur für Ihn bestimmt«, dabei wies er auf den Himmel, »denn Staub bist du, und zum Staube sollst du heimkehren.« (1. Moses 3/19). So sagte er und starb.
Die Leute der Stadt mühten sich redlich ab, seinen Leichnam zu reinigen. Sie erfüllten jegliches Gebot. Sie hüllten ihn in Leichentücher und Schaufäden und banden ihn auf dem Maultier fest. Das Tier spürte die Last und begann schnell zu traben. Die Gemeinde eilte hinter ihm her. Es vergingen ein Tag, eine Nacht und wieder ein Tag, das Maultier läuft und die Leute hinterdrein. Sie kamen bis an die Grenze. Dort ließen die Schutzleute des Sultans sie nicht durch. So ist dort das Gesetz. Die Begleiter erklärten den Schutzleuten so und so, das ist der letzte Wille des seligen Faradji gewesen. Als die Schutzleute den Namen Faradji hörten, erschraken sie sehr und gestatteten den Durchgang. So hochgeehrt war er sogar beim Volk unter den Muselmännern! Am dritten Tag, gegen Abend, kamen sie zu einem tiefen Wadi, einem trockenen Tal, in der Stadt Testur. Das Maultier stand still und begann, am tiefsten Platz des Wadis mit seinen Füßen zu scharren. Da verstanden die Begleiter, daß sie am rechten Fleck angekommen waren, und machten sich daran, ein Grab zu graben. Sie gruben – da kam ein arabischer Effendi mit seinen Dienern ihnen entgegen. Er sah die Gemeinde in ihren schäbigen Kleidern und ihre große Anstrengung, lachte sie aus und verfluchte sie. Noch war er beim Schmähen und Schimpfen, da begann ihm die Zunge zu brennen und anzuschwellen. Die Zunge schwoll immer mehr an, bis sie den ganzen Mund samt Speise- und Luftröhre ausfüllte, und er erstickte. Der Sultan von Testur hörte, daß der Effendi gestorben war. Er zog mit einem ganzen Heer in das Tal herab. Dort fand er die Juden dabei, in der Dunkelheit das Grab zu graben. Er fragte: »Was tut ihr hier bei Nacht in meiner Stadt? Vielleicht seid ihr Kundschafter?« »Nein«, antworteten die Juden, und erzählten ihm, daß das ein Grab für Rabbi Faradji Schawat, einen Heiligen der Juden, ist. Da erschrak der Sultan. Er befahl, die Diener des Effendis
zu geißeln, den Leichnam des Effendi den Hunden vorzuwerfen und gab den Auftrag, behauene, sehr kostbare Steine als Geschenk für eine Kuppel über dem Grab des Heiligen zu bringen. Auch die Juden von Testur kamen, brachten Gewürze und Wasser, zündeten Öl an und richteten eine Totenfeier ein. Als sie noch dabei waren, zu wehklagen und ihr Jammergeschrei das Dunkel zerriß, erzitterte plötzlich der Boden. Der Steinhaufen, der über dem Grab errichtet war, stürzte zusammen, und die kostbaren Steine des Sultans flogen in alle Richtungen. Die Grabstelle wurde eben und der Erde gleich. Als die Leute kamen und nachschauten, konnten sie kaum ihren Augen trauen! Es verschlug ihnen den Atem zu sehen, wie das Maultier auf dem Grab des Rabbi herumtrampelte und es dem Erdboden gleichmachte. Da verstanden sie, daß das der Wille des verstorbenen Rabbis war, ganz im Einklang mit seiner Demut. Die Begleiter weinten, weil sie den Fehler gemacht hatten, dem Weisen soviel Ehre zu erweisen. Sie hatten seinen letzten Willen nicht erfüllt. So erzählten uns die Alten. Wir glaubten diese Geschichte nicht. Später aber, als Hitler und Eichmann – verflucht sei ihr Name und ihr Andenken sei ausgemerzt – nach Testur kamen, da glaubten schon alle, daß diese Geschichte die reine Wahrheit sei. Ein großer Mann, ein Franzose, der von Vichy war – und die Leute aus Vichy waren Freunde Hitlers, des Verfluchten –, erzählte mir im geheimen folgendes: »In Hitlers Zimmer liegt ein großes Blatt Papier, und darauf ist das Todesurteil für alle nordafrikanischen Juden verzeichnet. Jedes Jahr, wenn der Tyrann darangeht, dieses Papier zu unterzeichnen, zerbricht ihm der Bleistift. Er bricht in großen Zorn aus, der Verdammte, verflucht seine Generäle, deren Glauben und deren Väter. Die laufen und bringen ihm noch und noch mehr Bleistifte. Aber kaum nimmt der Schuft
den Stift und berührt nur das Papier, beginnt er zu husten, und es würgt ihn, als ob er sich selbst an der Gurgel gepackt hätte, bis er von dem Papier abläßt. Das wiederholte sich jeden Tag«, erzählte der Franzose. Da sagte ich ihm, dem großen Franzosen, insgeheim: »Das ist die Hand unseres Heiligen.« Er fragte: »Was für ein Heiliger?« Ich antwortete ihm: »Der dort im Wadi, der Weise Faradji Schawat, der Demütige.« Da rief der große Franzose aus: »Aha!«
71. Der Verkünder aus Jemen
Menahem Schukr Khail, der Verkünder, wurde vor hundert Jahren in Jemen geboren. Er verkaufte Töpfe und damit ernährte er sich. Da geht Menahem Schukr so auf den Landstraßen Jemens, und seine Ware, die irdenen Töpfe, ist auf seinem Esel aufgeladen. Er geht hinter dem Esel her und treibt ihn. Zum Essen pflegte er Sauermilch, in die er sein Brot tunkte, zu schlürfen; andere Speise kam nicht in seinen Mund, denn er war arm und elend. Leute trafen ihn in der Stadt Lahedj, die früher Hamada hieß. In jener Stadt steht ein alter Palast der jemenitischen Imame, der ganz aus behauenen Steinen gebaut ist. Viele Monate blieb Schukr im Bethaus und verbarg sich aus Angst vor den Soldaten des türkischen Sultans. Die Einheimischen fragten ihn: »Du sprichst von der Erlösung. Wer sagte dir denn, daß wir erlöst werden sollen?« Er antwortete: »Ich bin kein Zunftprophet und kein Prophetenschüler, sondern ein einfacher Mann bin ich (Arnos 7/14). Ich war ein Eseltreiber und ging hinter dem Tier her, wohin es mich führte, mit der Last von Tontöpfen und Krügen auf seinem Rücken. Ich verkaufte sie, um mich notdürftig zu ernähren. Bis mich Elijahu, seligen Angedenkens, traf. Sein Bart wallte bis zu seinen Knien, und ein lederner Gurt war um seine Lenden geschnallt. Er sprach zu mir: ›Bist du Schukr Khail?‹ ›Ja‹, sagte ich, ›der bin ich.‹ ›Von jetzt an wirst du der Verkünder sein!‹ Ich wollte nicht auf ihn hören; da legte sich plötzlich der Esel nieder, wälzte sich von einer Seite zur anderen, und all meine Ware war verloren. Meine Krüge zerbrachen, und die Stütze meines Lebensunterhalts war dahin. Ich dachte mir: ›Wenn ich nicht
dem Propheten gehorche, wirds mit mir ein schlimmes Ende nehmen; wohin kann ich vor Gottes Befehl entfliehen?‹« Von da an zog Menahem Schukr Khail aus, dem Volk Botschaft und Trost von der kommenden Erlösung zu bringen. Er versammelte öffentlich Gemeinden, predigte in Bethäusern, bis er den Zorn des Königshauses über sich brachte. Eines Tages sahen ihn die Truppen des türkischen Sultans und verfolgten ihn, bis sie ihn einholten. Da sprach Schukr leise den unaussprechlichen Namen Gottes vor sich hin. Die Soldaten erfaßte ein Krampf; sie standen alle stocksteif und konnten sich nicht rühren, und so entkam er. Ein anderes Mal holte ihn ein berittener Offizier ein, zog sein Schwert und hieb dem Verkünder Schukr den Kopf ab. Als sie den Propheten der Juden tot daliegen sahen, freuten sich die Soldaten. Am nächsten Morgen jedoch erschien Schukr lebendig in der Stadt San’a, angetan mit seinem Hemd und um seine Lenden einen Ledergurt geschnallt. Da begriffen seine Feinde, die dem fremden Glauben angehörten, daß kein Schwert ihm etwas anhaben kann, und fürchteten sich vor ihm. Von Zeit zu Zeit erschien er in den Städten Haibar, Baharib und Mahsaha. In jeder dieser Städte hatte er Frau und Kinder. Fürsten und Große des Landes unterstützten ihn, denn es befiel sie die Furcht, daß seinetwillen ihre Stadt zerstört werden könnte, wenn sie ihm etwas antäten. Ein Jahr lang war Schukr für alle Menschen verschwunden. Als er wieder zurückkam, erfuhren seine Nächsten, was das zu bedeuten hatte. Er hatte seiner Frau gesagt, wohin er gehen wird, auf welchen Weg, und wann er heimkehren wird. Zu seiner Frau sprach er: »Meine Tochter! Ich gehe in die Stadt Harib im Osten Jemens. Dort tragen mir die muselmanischen Ältesten Haß nach. Wenn ich in ihre Stadt komme, werden sie mich ergreifen und umbringen wollen. Wenn das Gerücht bekannt wird, daß ich ihnen in die Hände gefallen sei und sie
das Todesurteil gegen mich vollstreckt hätten, schenk dem Gerücht keinen Glauben. Wenn die Zeit kommt, werde ich gesund wieder zu dir zurückkommen, und wir werden wie früher als Mann und Frau zusammenleben.« Dann verabschiedete sich Menahem Schukr Khail von seiner Frau und machte sich mit Gottes Hilfe auf den Weg. Als er von den Feinden gefangen wurde, verkleidete er sich in einen anderen Mann. Die Stadtobersten brachten einen anderen Mann um, einen, der in jeder Weise dem Menahem Schukr Khail ähnlich sah, und hieben ihm den Kopf ab. Vor lauter Freude spielten die Soldaten mit dem Schädel des Ermordeten wie mit einem Ball, denn sie dachten: ›Die Krone Israels, seine Hoffnung, ist ihnen genommen!‹ – Gott behüte! Nach einiger Zeit erschien der Prophet Schukr in der Stadt Asirak und ließ sich dort im Hause des Mori Said, eines der angesehenen Männer der Stadt, nieder. Von dort aus zog er in den Dörfern umher, um zu verkünden, daß die Erlösung bevorsteht. Ein Jahr lang wußte niemand seinen Aufenthaltsort; seine Wirtin hütete das Geheimnis. Eines Tages saßen die Gelehrten und Gemeindeältesten der Stadt, in der er wohnte, beisammen, heiligten den Schabbat, wie es Brauch ist, und verbrachten die Zeit mit Gesang und Lied. Plötzlich hörten die Leute jemanden aufs Dach springen. Sie traten zum Geländer und fragten, wer da auf dem Dach herumspaziert. Eine Stimme antwortete ihnen: »Ich bin es, Schukr Khail.« Da sahen sie, daß der Verkünder, Mori Schukr Khail, vor ihnen stand, heil an Leib und Seele. Sogleich holte man ihn herein, und die Anwesenden empfingen ihn aufs herzlichste. Alle freuten sich mit ihm, und man setzte die Mahlzeit fort; man sang Lobgesänge für den Heiligen, gelobt sei Er, der einen Juden aus der Hand von Bösewichten gerettet hat. Bevor sie nach Hause gingen, wendeten sie sich an den Verkünder: »Unser Lehrer! Du verkündest uns das Ende und
daß die Erlösung schon vor der Tür steht. Wann aber wird das Ende der bitteren Verbannung kommen? Wann endlich wird das Wunder erscheinen, die Zeit der Befreiung, die wahre Erlösung und der wahre Messias am Tor klopfen?« »Für euch wird die Erlösung nicht kommen«, antwortete er, »bis man in dieser Stadt, Tan’im, drei steinerne Gebäude an drei verschiedenen Stellen am Stadtrand baut. Das soll das Kennzeichen für euch sein: die Zeit der Erlösung ist gekommen.« So wahrsagte der Mann, und er wußte wohl, was er voraussagte. Die Juden Jemens verließen die Stadt und flogen »auf Adlersflügeln getragen« (2. Moses 19/4) ins Land Israels im selben Jahr, in dem die drei Gebäude gebaut wurden. Und es geschah genau, wie es Menahem Schukr Khail an jenem Schabbat voraussagte. Einmal geschah es, daß türkische Soldaten den Propheten Schukr ergriffen und ihn in ein Waffenarsenal ihrer Hauptstadt Istanbul- das ist Konstantinopel – einsperrten. Dort residierte der türkische Sultan. Man band ihn auf ein Kanonenrohr. Sie ließen in ihrer Sprache hunderttausend Flüche auf ihn los und marterten ihn. Vor dem Todesurteil des ismaelitischen Königshauses wurde der Mann jedoch gerettet. Gott, der Barmherzige, hat seine Seele davor beschützt, in die Hände von Fremden zu fallen. In seiner Familie wird erzählt, daß sich sein Körper in drei Teile aufteilte, von denen einer, der seine Gestalt trägt, das Heilige Land besuchte und seine Unterschrift auf einen der behauenen Steine der Klagemauer schrieb. Ich selbst habe den Sohn des Verkünders Schukr Khail gekannt; er hieß Schalom. Er ging in die Verbannung, in die Stadt Djehran. Diese Stadt ist drei Tagesmärsche von Aden, der Stadt am Roten Meer, entfernt. Schalom war ein sehr armer Mann; seine Familie darbte und hungerte. Der Vater, Menahem Schukr, der Prophet,
erschien dem Sohn Schalom in der Gestalt eines alten Mannes, der alle seine Nachkommen vor Not schützt. Bis zum letzten Tag lebte der Prophet Schukr Khail in der Höhle von Harsana-Karana im Jemen. Von dort aus ging er, zusammen mit den letzten Juden aus Jemen, ins Land Israels.
72. Die Ratschläge Rabbi Meirs, des Wundertäters
In Syrien war ein reicher alter Mann, der Söhne und Töchter, Enkelsöhne und Enkeltöchter und viele Urenkel und Urenkelinnen hatte. Eines Tages wandte sich dieser Mann an seine Nachkommen und sprach zu ihnen: »Kommt, wir wollen nach Zion in die heilige Stadt Jeruscholajim ziehen.« Die Söhne und Töchter des reichen Mannes blickten einander mit Staunen und Verwirrung an und fragten ihn: »Vater, wie sollen wir nach Zion ziehen? Überall, wo Juden leben, haben sie kein wirkliches Heim, wir aber haben hier, Gott sei Dank, von allem Guten. Was fehlt uns denn bisher? Du hast dein ganzes Leben lang gearbeitet, und jetzt willst du alles verlassen, was du hier besitzt? Du weißt doch, daß wir aus diesem Land unser Geld und Gut nicht mitnehmen können, denn überall lauern Diebe und Wegelagerer. Nein! Wir können dieses Land nicht verlassen, ohne dort, wo wir durchreisen, all unser Vermögen als Lösegeld hergeben zu müssen. Und was wird geschehen? Wenn wir schon glücklich in Zion anlangen werden, besitzen wir doch gar nichts! Sogar einen Staat haben wir nicht!« Aber der Vater blieb hartnäckig und behauptete: »Mir ist im Traum Rabbi Meir, der Wundertäter, erschienen und hat zu mir gesagt: Mach dich auf nach Zion, denn dort gehörst du hin.« Als die Angehörigen diese Worte des Greises – hundertsechs Jahre war er damals alt – hörten, machten sie sich mit Frauen und Kindern auf und bereiteten ihr Gepäck für die Reise vor. Alles, was sie von ihrem Besitz verstauen konnten, verpackten sie und begaben sich auf den Weg. Die Straßen, auf denen die Familie hinzog, waren voll von Räubern, und es blieb gar nichts übrig, als sich loszukaufen. Die Hauptsache, sie sollten gesund und heil anlangen. Nun, sie kamen nach Zion ohne
jeglichen Besitz; sogleich begaben sie sich an das Grab des Wundertäters, Rabbi Meir, in Tiberias. Alle suchten nach Platz, um in Tiberias nächtigen zu können, sei es in einem Haus oder in einem Gasthof. Aber das Familienoberhaupt sagte: »Mein Platz ist neben dem Grab, unter freiem Himmel, hier werde ich übernachten, was auch geschehe.« Das Bitten und Flehen der Familie, die ihren alten Vater nicht im Freien schlafen lassen wollte, half nichts. Er versteifte sich darauf und blieb über Nacht dort, neben dem Grabe. Im Traum erschien ihm Rabbi Meir, der Wundertäter, und sagte: »Du bist ein guter Mensch, und du hast ausgeführt, was ich dir befohlen habe. Jetzt sag mir, woran fehlt es dir, und ich werde dir helfen.« Der Greis antwortete ihm: »Rabbi Meir, du Wundertäter! All meinen Besitz habe ich unterwegs als Lösegeld hergeben müssen, und jetzt fehlt es mir an allem.« Da sagte der Wundertäter: »Kaufe dir Knoblauch und säe ihn aus; das wird dein Gelderwerb sein.« Wieder handelte der Alte nach dem Rat des Rabbi Meir, des Wundertäters. Er kaufte Knoblauch und säte ihn auf einem Stück Boden neben seinem Haus aus. Als der Knoblauch wuchs, lag auf ihm ein Segen; er nahm und nahm kein Ende; je mehr man von ihm erntete und ihn verkaufte, desto mehr wuchs und verbreitete er sich. Der Alte verkaufte Knoblauch und wurde immer reicher und reicher. Er war zufrieden und glücklich, tat viel Gutes und bewahrte seine Ersparnisse in seinem Krückstock auf. So wußte niemand, was mit seinem Besitz geschah und wo er verborgen war. Als er im Alter von hundertfünfunddreißig Jahren seine Seele Gott dem Schöpfer zurückgab, da spaltete sich der Krückstock, denn er konnte den Kummer über den Tod seines Herrn nicht ertragen. Und siehe, da entdeckten die Familienmitglieder den Schatz ihres Vaters, und ihre Freude darüber war groß.
73. Drei Haare aus dem Bart Elijahus, des Propheten
Einer war da, dem ging es schlecht. Es war gerade die große Krise, und es gab keine Arbeit. Da beschloß er, Jeruscholajim zu verlassen und nach Amerika auszuwandern. Er verkaufte alle seine Habseligkeiten, kaufte zwei Karten, für sich und seine Frau. Er ging auf der Straße, da traf er einen Alten mit einem langen weißen Bart, der ihm bis zum Bauch hinabhing. Der fragte ihn: »Wohin gehst du?« »Ich will nach Amerika fahren.« »Fahr nicht, mein Lieber, wozu hast du das nötig?« »Ich habe hier keinen Verdienst und nichts, wovon zu beißen. Was soll ich tun? Ich bin ein Beschneider und niemand kommt zu mir. Vielleicht wird es mir dort besser gehen?« »Fahr doch nicht. Schau, ich gebe dir drei Haare«, und er riß aus dem langen Bart drei Haare aus, wickelte sie in ein Stückchen Papier, »nimm sie. Verbrenn ein Haar und wünsche dir, was du willst. Es wird dir gegeben werden.« »Danke schön.« Der Mann nahm die Haare und ging nach Hause. Er erzählte seiner Frau: »So und so, und jetzt, was wünschen wir uns?« »Wir wollen uns Arbeit wünschen, viele Neugeborene, die man zum Beschneiden bringt.« Sie verbrannten ein Haar, und im Moment war das ganze Zimmer voll Väter mit weinenden Säuglingen auf den Armen. Der eine hat Zwillinge, der andere Drillinge, und noch und noch, es wollte kein Ende nehmen. Die Babys schrien und die Väter übertönten sie: »Ich bin der Erste! Ich bin der Erste! Ich! Ich! Ich!«
»Oh, weh! Was mach ich jetzt?« Die Frau riet: »Verbrenn schnell noch ein Haar, sollen alle Vorhäute verschwinden.« Er verbrannte ein Haar: »Alle Vorhäute fort!« Im Nu verschwanden alle. Nach einer Weile wollte er pissen gehen. Aber was ist das? Seine Vorhaut ist auch weg! Er rief: »Frau, Frau! Was sollen wir jetzt machen? Meins ist auch weg!« »Oh, weh! Schnell noch ein Haar!« Er verbrannte das letzte Haar – da war sein Glied wieder da.
74. Der große Sieg
Ein Mann aus Homs kam nach Hama und sah dort, wie sich der Mond in einer Wanne mit Wasser spiegelte. Da ärgerte er sich darüber, daß die Leute von Hama den Mond seiner Stadt gestohlen hatten. Er kam nach Homs zurück und erzählte den Leuten aus seiner Stadt vom Diebstahl des Mondes. Die gingen nach Hama, prüften nach und fanden tatsächlich den Mond in der Wanne. Sie ärgerten sich sehr und beschlossen, mit Gewalt den Mond nach Homs zurückzuholen. Gesagt – getan. Sie ernannten einen Befehlshaber und rüsteten sich zum Krieg. Der Befehlshaber jedoch beging einen Irrtum – er richtete den Lauf der Kanonen in entgegengesetzter Richtung; anstelle auf den Feind richtete er sie auf seine eigenen Soldaten. Als er den Befehl »Feuer!« gab, fielen seine eigenen Soldaten. Der Befehlshaber jedoch ließ sich nicht entmutigen. Er war seines Sieges gewiß. Wenn schon seine eigenen Soldaten getötet wurden, um wieviel klarer war es dann, daß die feindlichen Soldaten getötet wurden!
75. Wie Klein-Grille heiratete
Es war einmal eine Grille, die heranwuchs und heiratsfähig wurde; aber niemand hielt um ihre Hand an. Sie machte sich große Sorgen, weil sie nicht verheiratet war, im Hause ihrer Eltern lebte und ihnen zur Last fiel, Gnadenbrot aß. Eines Tages beschloß sie, selbst auf die Straße zu gehen und sich einen Mann zu suchen. In der Nacht färbte sie sich Hände und Füße mit Henna, machte sich die Augenwimpern zurecht, puderte sich das Gesicht, färbte sich die Lippen rot und schminkte sich die Augen. Dann zog sie ihre besten Kleider an und ging auf die Straße, sich einen Ehegenossen zu wählen. Sie ging und ging und kam schließlich in einen Spezereiladen. Da sah sie der Krämer und fragte: »Du, Fräulein Grille, mit gefärbten Händen und Füßen, wo willst du denn hin?« »Ich gehe mir einen Ehemann suchen, damit ich Weizenbrot essen kann, ohne anderen Rede und Antwort stehen zu müssen.« Der Krämer sagte: »Komm, heirate mich.« »Und wenn du dich ärgerst, was wirst du mir dann tun?« »Dann gebe ich dir mit den Gewichten eins auf den Kopf.« »Ich bin zart und fein und kann so etwas nicht vertragen. Ich heirate dich nicht«, sagte Fräulein Grille. Sie ging weiter und kam in einen Stoffladen. Der Kaufmann sah sie und fragte: »Schönes Fräulein Grille, mit gefärbten Händen und Füßen. Wo willst du denn hin?« »Ich gehe mir einen Ehemann suchen.« »Heirate mich!« »Und wenn du dich ärgerst, was wirst du mir dann tun?«
»Dann gebe ich dir mit dem Metermaß eins auf den Kopf.« »Dich heirate ich nicht!« Sie ging weiter und kam zum Fleischer. Der Fleischermeister sah sie und fragte: »Du hübsche Grille, wo gehst du denn hin?« »Ich bin auf der Suche nach einem Mann für mich.« »Heirate doch mich!« »Was wirst du mir tun, wenn du wütend bist?« »Da gebe ich dir mit der Axt eins auf den Kopf!« »Nein, ich heirate dich nicht.« Sie ging weiter, und ein Mäuserich erblickte sie. Der fragte: »Schönes Fräulein Grille, wohin des Weges?« »Ich suche einen Mann für mich.« »Heirate mich!« »Was tust du mit mir, wenn du wütend bist?« »Dann tauche ich meinen Schwanz in Schminke und streiche sie dir in die Augen.« Da sagte Fräulein Grille: »Du hast gut gesprochen! Aus der Tiefe deines Herzens hast du das gesagt.« Sie beschloß, ihn zu heiraten, und man legte einen Zeitpunkt für die Hochzeit fest. Am Hochzeitstage gesellten sich zum Umzug ein Rabe, eine Katze, ein Fuchs, ein Hund, ein Holzpflock, eine Leiter und ein Skorpion. Sie kamen nach Hause und Braut und Bräutigam gingen in ihr Zimmer, um zu schlafen. Die Begleiter suchten sich auch eine Unterkunft für die Nacht. Der Rabe flog auf den Baum, die Katze ging in die Küche, der Fuchs in den Hühnerstall, der Hund legte sich auf die Treppe, die Leiter stellte sich neben die Tür, der Skorpion kroch in eine Streichholzschachtel. Alle gingen schlafen. Da spürte die Braut ein Jucken am Körper. Sie stand auf, um Streichhölzer zu holen und Licht zu machen. Als sie die Schachtel öffnete, stach sie der Skorpion in die Hand. Sie stieg über die Schwelle der Tür, da jagte sie sich den Holzpflock in den Fuß. Als sie die Tür aufmachte, fiel ihr die Leiter auf den Kopf. Sie ging die Treppe hinab, da bellte der Hund und biß sie
ins Bein. Sie ging in den Hof, da sah sie, daß der Hühnerstall offenstand und der Fuchs die Hühner zerriß. Sie ging in die Küche, da kratzte sie die Katze. Sie wurde wütend, lief hinaus, hob den Kopf und rief nach oben: »Großer Gott, warum kommt mir das alles zu?« In demselben Augenblick verrichtete der Rabe sein »Geschäft«, welches ihr auf den Kopf fiel. Müde und erschöpft und traurig ging sie in ihr Haus schlafen.
76. Lieber Gott, schick mir etwas, worauf ich reiten kann
Einer ging da den Weg entlang und kam zu einem Berg. Der Berg war hoch und der Mann sehr müde oder krank – wie soll er nur auf den Berg klettern? Da betete er zu Gott: »Barmherziger Gott, Du siehst, wie meine Lage ist. Sei so gut und schick mir etwas, worauf ich reiten kann – einen Esel oder ein Pferd.« Noch stand der Mann und betete, als ein Schutzmann angeritten kam. Seine Stute blieb stehen und wollte nicht vom Fleck. Der Schutzmann sah den Mann und sagte ihm: »Auf, und trage du das Fohlen, das eben geboren wurde. Es kann noch nicht den Berg erklettern!« »Ach, bitte lassen sie mich laufen. Ich bin alt und krank, wie kann ich da das Fohlen tragen? Ich bat doch Gott, mir etwas zu geben, worauf ich reiten könnte…« »Schweig! Nimm das Fohlen und marsch!« Was sollte der Arme tun? So bürdete er sich das Fohlen auf und schleppte sich auf den Berg hinauf. »Danke schön«, sagte der Schutzmann und ging seines Weges. Der Mann stand da und wunderte sich: »Herr der Welt! Ich bat Dich um ein Pferd oder einen Esel, um darauf reiten zu können, und was schicktest Du mir? Etwas, das auf mir reitet. Na, schönen Dank.« Nach einiger Zeit traf der Mann eine Alte, die ging und weinte. »Was hast du?« fragte er sie.
»Oh, ach, weh ist mir! Meine Tochter kann nicht gebaren, sie kreißt schon den dritten Tag. Ich suche jemanden, der ihr ein Amulett schreiben wird, und für sie zu Gott betet.« »Ich bin auch ein Amulettenschreiber. Zahl mir meinen Lohn und ich will für sie beten.« Die Alte gab ihm fünf Goldmünzen. »Wie heißt deine Tochter?« »So-und-so.« Der Mann betete: »Herr der Welt! Ich bitte Dich, daß die Frau So-und-So, die im Kreißen liegt, sterben soll in dieser Stunde, sie und die Frucht ihres Leibes.« »Was? Du Verfluchter, Geld hast du genommen und für ihren Tod betest du!« »Keine Sorge, Alte! Geh nur nach Hause und du wirst sehen, daß deine Tochter entbunden hat und ihr Kind gesund ist.« Die Alte lief nach Hause, und siehe da! Ihre Tochter hatte schon ein gesundes Kind. Dankt Gott, dem Barmherzigen!
77. Ein Palast für Lügen
Es war einmal ein reicher Muselmann, der spürte, daß seine Tage gezählt waren. Er rief seine drei Söhne und teilte unter ihnen sein Vermögen in gleichen Teilen auf. Der Kaufmann starb. Die Brüder trennten sich und jeder ging seines Weges. Der erste Bruder kam in eine Stadt, in der es schöne Paläste gab. Auf einem von ihnen war ein Schild mit schönen leuchtenden Buchstaben angebracht: »Wer hereinkommt und Lügenmärchen zu erzählen weiß, die noch niemand erzählt hat, soll diesen Palast als Geschenk bekommen. Wenn er aber eine Geschichte erzählt, die schon ein anderer erzählt hat, wird er sein Geld verlieren.« Der erste Bruder überlegte nicht lange, ging in den Palast und teilte mit: »Ich bin gekommen, um Lügenmärchen zu erzählen.« Der Herr des Palastes war einverstanden. »Erzähle!« sagte er. Der Bruder erfand verschiedene und merkwürdige Lügen. Aber der Palastherr behauptete, die hätte er alle schon gehört. Er nahm dem Bruder all sein Geld ab und warf ihn hinaus. Der zweite Bruder kam in dieselbe Stadt und auch er wollte sehr gern den Palast gewinnen. Er ging hinein und erzählte eine Menge Lügen, aber zu seinem Bedauern brachte er auch nichts Neues. »Das habe ich alles schon gehört«, antwortete der Palastherr auf jede Geschichte. Auch er wurde, ohne einen Pfennig in der Tasche, hinausgeworfen. Der jüngste Bruder hörte, wie bitter das Schicksal es mit seinen Brüdern getrieben hatte, und beschloß, den Palast zu gewinnen. Wie stellte er das an? Er ging hinein und sagte: »Ich will eine Lüge erzählen.«
»Erzähle!« willigte der Besitzer des Palastes ein. Da begann der jüngste Bruder zu erzählen: »Als mein Großvater noch auf allen vieren kroch, war meine Mutter schwanger. Sie rannte auf den Treppen, stolperte, fiel hin und brach sich das Bein. Da kam ich aus ihrem Leib, lief und holte einen Arzt. Der Arzt kam und ordnete an, man soll der Kranken ein Ei bringen. Ich ging in den Laden, fand ihn aber voller Leute. Ich wollte nicht warten, ergriff schnell ein Ei und rannte nach Hause. Unterwegs fiel mir das Ei aus der Hand. Aus dem Ei kroch ein Hahn aus und begann zu laufen. Ich lief hinterher und wollte ihn fassen, aber meine Mühe war vergebens; der Hahn entfernte sich mehr und mehr von mir, bis er zum Meeresufer kam. Kaum hatte ich noch Atem, um dort hinzugelangen – sah mich der Hahn, und er lief ins Wasser. Es blieb mir nichts übrig, als meine Kleider abzuwerfen und auch ins Wasser zu steigen. Viele Leute gingen zu ihrem Vergnügen am Strand spazieren, und ich hatte Angst, sie werden mir die Kleider stehlen. Da schnitt ich mir den Kopf ab und ließ ihn da, um meine Kleider zu hüten – und den Kleidern befahl ich, meinen Kopf zu hüten. Nochmals ging ich ins Wasser und setzte meine Jagd auf den fliehenden Hahn fort. Plötzlich tauchte aus dem Wasser eine ganze Stadt auf, voll schöner Häuser und Gärten voller Blumen. In den Gärten standen Leute und pflückten Blumen. Zu denen ging ich, streckte ihnen die Hände entgegen und bat sie um Hilfe bei meiner Hahnenjagd. Was aber sah ich? Ich hatte gedacht, das waren Leute, die mir bei meinem Nachstellen helfen würden – aber das waren alles Kuchen. Ich aß davon eine Menge, suchte dann aber Menschen, die mir helfen könnten, dem Ausreißer, dem Hahn, nachzulaufen. Da fand ich einen schönen Palast, ging hinein und sah den König auf einem goldenen Thron sitzen; der lange Bart des Königs war aus Halva gemacht. Etwas von dem Bart legte ich frei und aß es. Was soll ich dir sagen? Mein Lebtag
habe ich noch keine bessere Halva gegessen. Noch bin ich dabei, mir den Bart des Königs schmecken zu lassen, da höre ich von allen Seiten Geschrei: ›Wer ist dieser Mensch, der da gewagt hat, in unsere Stadt einzudringen?‹ Man ergriff mich und fragte mich aus, was ich dort zu suchen hätte. Ich sagte: ›Ich bin hinter einem großen Hahn hergerannt, der mir weggelaufen ist – und dabei bin ich hierher gekommene Ich gab ihnen das Versprechen, ich werde den Hahn zu gleichen Teilen mit ihnen aufteilen, wenn sie die Güte hätten, mir zu helfen, ihn einzufangen, Einverstanden!‹ – riefen sie alle. Gleich ging nun die gemeinsame Jagd auf den Hahn los; so wurde er gefangen und mir übergeben. Ich nahm ihn und kehrte zum Strand zurück. Was aber sah ich dort? Mein Kopf, den ich dagelassen hatte, um auf meine Kleider aufzupassen, hatte sich in eine riesige Wassermelone verwandelt, die Kleider dagegen in große Körbe und der Hahn, den ich an beiden Beinen gebunden auf die Erde gelegt hatte, war in einen Esel verwandelt worden. Die Wassermelone legte ich in einen der Körbe und die lud ich auf den Esel, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Wie ich dorthin komme, umringten mich viele Käufer, die von mir verlangten: ›Messergeschnitten‹, das heißt, ich muß ihnen zuerst zeigen, ob die Melone gut ist. Ich nahm also ein Messer, um die Melone aufzuschneiden, aber das Messer fiel in die Melone. Ich sah hin und fand, daß die Öffnung in der Melone sehr tief war, und ich lief, eine Leiter zu holen. Diese Leiter – drei Meter war sie lang – steckte ich in die Melone, sie gelangte aber nicht bis unten. So mußte ich diese Leiter herausziehen, holte noch eine zweite und band die beiden Leitern aneinander, steckte sie in die Melone, aber auch das reichte nicht bis auf den Grund. Ich brachte eine dritte Leiter, band auch die an, und steckte nun die dreiteilige Leiter in die Melone. Wieder kam ich nicht bis unten hin und mußte noch eine Leiter bringen, zog die anderen heraus und band die
vierte daran. Ich steckte sie hinein, kam nicht bis zum Boden und mußte sie herausziehen…« »Genug, genug!« rief der Palastbesitzer, »ja, du kannst richtig lügen! Der Palast ist dein!«
NACHWORT
I Das jüdische Volksmärchen hat eine dreitausend Jahre lange Geschichte, im Verlauf derer es sich in die Gewänder mehrerer Sprachen hüllte. Die erste Dokumentation ist im biblischen Hebräisch verfaßt, einem westsemitischen, kanaanischem Dialekt. Diese Literatur wurde das ganze erste Jahrtausend v. Chr. hindurch niedergeschrieben: von Davids und Salomos Zeiten an, der Zerstörung des ersten Tempels, der babylonischen Gefangenschaft bis zum hasmonäischen Königreich (2.-1. Jahrh. v. Chr.). Dem Hebräischen folgt seit der altpersischen Periode (6.-3. Jahrh. v. Chr.) das Aramäische als Umgangssprache. Seit der römischen Eroberung Judäas (61. v. Chr.) diente neben dem Aramäischen auch das Griechische als Umgangssprache. In Mesopotamien gebrauchte man das Mittelpersische (2. Jahrh. v. Chr.-1. Jahrh. n. Chr.) als offizielle Sprache, das Aramäische jedoch als Umgangssprache. Da das Griechische und das Persische eine heidnische und fremde Weltanschauung – die der Eroberer – vertraten, fand nur das Aramäische Eingang ins jüdische Schrifttum und wurde zum tragenden Element der haggadischen Erzählliteratur. Diese Periode schuf die Talmude (Talmud = das Lernen; Jerusalemer Talmud abgeschlossen im 4. Jahrh. in Judäa; Babylonischer Talmud, abgeschlossen am Ende des 5. Jahrh. in Mesopotamien), die ein Kompendium von Gesetzen, Kommentaren, Exegese, haggadischen Erzählungen und Erzählbruchstücken enthalten, und die umfangreiche Midrasch-Literatur (Midrasch = Exegese), aus
Sammlungen von Predigten und Exegese bestehend, die haggadische Erzählungen als Exempla benutzen. Die Texte sind teils in Hebräisch, teils in Aramäisch gehalten. Mit der arabischen Eroberung der byzantinischen und persischen Länder (7. Jahrh. n. Chr.) fand sich die jüdische Bevölkerung zwischen dem christlichen und dem moslemischen Kulturgebiet geteilt. In dem moslemischen Gebiet, das mehr oder weniger den Bereich der klassischen hellenistischen Kultur erbte, verdrängt das Arabische im Laufe des folgenden Jahrtausends langsam das Aramäische, das sich in die Rückzugsgebiete der wilden Berge Kurdistans zurückzog. Dort lebt das Aramäische (Neusyrische) fort bis zum heutigen Tag in christlichen Kirchen, die es als Umgangssprache benutzen. Die jüdische Bevölkerung Kurdistans, die 1950-51 nach Israel eingewandert ist, sprach ebenfalls aramäisch. Das Aramäische wird in der jüngeren Midrasch-Literatur nicht mehr gebraucht. Die mittelalterlichen Kompendien und Erzählsammlungen sind fast gänzlich hebräisch verfaßt (so Hibbur jafe mehajjeschua (11. Jahrh.), Jalqut SchinVoni (13. Jahrh.), Ein Jaaqov (16. Jahrh.). Arabisch war neben dem Hebräischen die Sprache der philosophischen Literatur und der schönen Literatur in Vers und Prosa. Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts kam in den moslemischen Ländern das jüdische Volksbuch auf den Markt, in der Umgangssprache verfaßt und mit hebräischen Lettern geschrieben (in Nordafrika in lokalen arabischen Dialekten; in Persien in lokalen iranischen Dialekten; in dem balkanischen Gebiet in ladino = Judenspanisch.) Das moslemische Spanien hatte eine große jüdische Bevölkerung, die eine umfangreiche Vers-Literatur hervorbrachte, in Hebräisch und Arabisch. Mit der Reconquista (11.-15. Jahrh.) wurde das Spanische zur Umgangssprache der Juden. Die Flüchtlinge, die 1492 endgültig Spanien verlassen mußten, trugen diese Sprache, das
Ladino oder Judenspanische, als Umgangssprache mit sich in alle Länder um das Mittelmeer herum – Nordafrika, Italien, Balkan, Türkei, Syrien, wo sie bis zur Einwanderung nach Israel lebten. Ladino, die Umgangssprache, in der die mündliche Literatur lebte, war jedoch im allgemeinen keine Schriftsprache, bis sie im Volksbuch auftauchte. Die jüdische Bevölkerung Europas ging etwas andere Wege. Vom 12. Jahrhundert an langsam von England aus in Richtung nach Osten verdrängt, erreichte sie um das 15. Jahrhundert das slawische Gebiet Osteuropas. Als Umgangssprache trug sie mit sich das Jiddische, eine Abzweigung des Mittelhochdeutschen. Schon verhältnismäßig früh wurde Jiddisch zur Schriftsprache, die profaner Erzählliteratur diente. Einer der frühesten Texte ist das höfische Epos »Ducus Horant« in deutscher Sprache mit hebräischen Lettern geschrieben (Ms. datiert 1382). Das 16. Jahrhundert sieht die ersten gedruckten Erzählsammlungen, die zur Gattung der Volksbücher gehören und für das einfache Volk und die Frauen bestimmt waren, die keine hebräische, d. h. höhere Bildung besaßen. Das bekannteste Werk dieser Art ist das Ma’ase-Buch (ed. pr. 1602), das haggadisches Material neben den mittelalterlichen Legenden der »Frommen Deutschlands« (12. bis 13. Jahrh.; s. unsere Nr. 30) und Volksmärchen nacherzählt. Die Einwanderer brachten also nach Israel fünf Hauptumgangssprachen mit, in denen die mündliche Literatur tradiert wird: Jiddisch (Osteuropa), Ladino (Nordafrika, Italien, der Balkan, Türkei, Syrien), Arabisch (Nordafrika, Syrien, Irak, Jemen), iranische Sprachen (Persien, Buchara, Dagestan, Tat), und Aramäisch (Kurdistan). Einige kleinere Gruppen kommen hinzu, die sich als Umgangssprache des Italienischen, Mittelgriechischen (Europäische Türkei), georgischer Dialekte und des indischen Malajalam bedienen. Chinesische Juden, die die chinesische Schrift im Mittelalter verwendeten, sind verschwunden. In den Überseeländern
haben sich keine neuen Gruppen gebildet, die selbständige Volksliteratur tragen. Wohin auch immer zerstreut, alle Gruppen bedienten sich des Hebräischen als Schrift- und Kultsprache. Männer waren immer des Lesens, oft auch des Schreibens kundig, und verstanden das Hebräische wenigstens soweit es sich um das tägliche Gebet und die Bibeltexte handelte. Einige Sammlungen von Erzählungen auf Hebräisch, die haggadisches Material, Volksmärchen und Legenden enthalten, waren, und sind es bis heute, sehr populär in Ost und West (Jalqut Schim’oni, verf. im 13. Jahrh. Ein Jaaqov, 16. Jahrh. Jalqut Reuveni, ed. pr. 1660, Schivhei ha-Bescht, ed. pr. Polen 1815, Ose Pele, Italien ed. pr. 1870) werden bis heute allgemein gelesen. Diese Volksbuchliteratur in Hebräisch wird bis heute in der traditionellen sprachlichen und graphischen Form für den Leserkreis der religiösen chassidischen Gruppen und Einwanderer aus moslemischen Ländern produziert. Sie enthält haggadisches, mittelalterliches und modernes Material der mündlichen Literatur (s. Nr. 33). Die Erforschung jüdischer Volkserzählungen ist verhältnismäßig jung. Wie bei anderen europäischen Völkern erwachte das Interesse am Erzählen, dem Gesang und anderen Aspekten des Volkslebens als Teil der Nationalbewegung. Die Intellektuellen gehen »zum Volk«, um dessen Kulturschätze zu sammeln. Die ersten Sammlungen jüdischer Volksliteratur erscheinen am Ende des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig wenden sich die Forscher der hebräischen klassischen und mittelalterlichen Literatur zu, um die Erzählungen und epischen Bruchstücke, die darin eingebettet sind, aufzulesen und zu ordnen. L. Zunz beschreibt die bekannten Werke der Midraschliteratur (Die Gottesdienstlichen Vorträge der Juden, 1832); A. Jelinek (Bet ha-Midrasch, I.-VI. 1853-78), J. D.
Eisenstein (Ozar Midraschim, I. – II, 1915) und S. Buber publizieren unikale Handschriften von vergessenen Midraschim und Midraschvarianten. L. Ginzberg (The Legends of the Jews, 1909-1938) ordnet das klassische Erzählgut des Talmud, des Midrasch und mittelalterliche Neubildungen, insofern sie die Bibelgeschichte begleiten, und ordnet das Material als eine zusammenhängende Geschichte, die die biblische Historie wiedererzählt und sie mit Details erweitert, die im Laufe der Jahrtausende hinzugedichtet wurden. Das Werk enthält einen wissenschaftlichen Apparat, der Quellen und Varianten bringt. Ähnlich verfuhr M. J. bin Gorion in seinen Sagen der Juden (1913-17). M. Gaster veröffentlichte einige mittelalterliche Manuskripte (Exempla of the Rabbis, 1924), die Nacherzählungen des Erzählgutes aus dem Talmud und Midrasch enthalten, denen ausführliche Bibliographien der jüdischen und anderer Varianten und umfangreichen Indizes beigegeben sind. Das Erzählgut des Talmud und Midrasch – die Agada – ist in zwei Sprachen verfaßt: Hebräisch, das zur Zeit der Entstehung in Judäa nicht mehr gesprochen wurde (1.-9. Jahrh. n. Chr.) und Aramäisch, der Umgangssprache vom ca. 5. Jahrhundert vor Chr. bis ca. 8.-9. Jahrhundert n. Chr. Die Sprachen wechseln oft in derselben Erzählung ab, ja derselbe Satz kann aus Wörtern beider Sprachen gebaut sein. Der Dichter H. N. Bialik, der an der Belebung des Hebräischen als Umgangssprache mitwirkte, und J. H. Ravnitsky wählten die klassischen Texte aus, übersetzten sie ins Hebräische und ordneten sie in thematische Gruppen (Sefer haaggadah I.-III. 1908). Der mittelalterlichen Erzählung widmete sich M. J. bin Gorion. Seine monumentale Sammlung (Der Born Judas, 19161922) bringt die Erzähltypen des jüdischen Mittelalters von Ost
bis West mit ihren Varianten und Quellenangaben in deutscher Übersetzung. Die chassidische Bewegung, eine Abzweigung des mystischen Stroms im Judentum (sie fing um die Mitte des 18. Jahrh. an), brachte eine umfangreiche Legendenliteratur hervor. M. Bubers Chassidische Bücher (I – II, 1906-08) dichteten diese Literatur für den deutschen Leser um. M. BenJeheskel veröffentlichte die wichtigsten Texte mit Literaturangaben in Hebräisch (Sefer hamma’asijot I.-VI. 1925-29). Die mündliche Volksliteratur der Juden in Europa, deren Umgangssprache Jiddisch war, wird seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts gesammelt und veröffentlicht. Besondere Beachtung fand meistens das Volkslied. Zwischen den zwei Weltkriegen hat das Jiddische Wissenschaftliche Institut (YIVO) in Wilna umfangreiche Sammelarbeit durchgeführt, mit der Hilfe eines weitverzweigten Netzes von freiwilligen Sammlern. Einiges von diesem Material wurde veröffentlicht; vieles ging während des Krieges verloren; der restliche Teil ist jetzt in YIVO in New York aufbewahrt. Die mündliche Literatur der Juden, die in den moslemischen Ländern lebten, wurde erst entdeckt, nachdem diese nach Israel kamen. Seit 1957 sammelt das Israel Folklore Archiv (IFA) Erzählungen von allen ethnischen Gruppen in Israel, von Alteingesessenen und Neueinwanderern, von jüdischen, moslemischen und christlichen Gruppen. Das Sammeln wird nach YIVOs Vorbild von einem Netz freiwilliger Sammler betrieben; bisher wurden ca. 10 000 Texte aufgezeichnet. Das Archiv publiziert eine Serie Erzähltexte auf Hebräisch (36 Bändchen, 1962-1975); einen Band IFA-Texte hat D. Noy auf englisch veröffentlicht (Folktales of Israel, 1963). Der umfangreichste Band von Archivtexten, der bisher ins Deutsche übersetzt und publiziert wurde, ist der Band von Jefet
Schwilis Erzählungen (D. Noy, Herausgeber, 1963), eines aus Jemen nach Israel eingewanderten Juden, der über 200 Texte erzählt hat (Nummern 2IV, 21II, 22, 25, 76 in unserer Sammlung wurden von Jefet Schwili erzählt und hier neu übersetzt). Die jüdische Volkskunde wurde im allgemeinen wenig von der Forschung beachtet. Eine Ausnahme bildet die Aufschlüsselung des Erzählgutes, wofür einige Indizes, Register und Variantenverzeichnisse ausgearbeitet wurden. L. Ginzberg, M. Gaster und D. Noy bearbeiteten die klassische Literatur; M. J. bin Gorion die mittelalterliche Literatur, und H. Jason das moderne Erzählgut, in IFA aufgezeichnet.
II Die Einwanderer nach Israel zerfallen in zwei Gruppen: Einwanderer aus dem industrialisierten Europa und Einwanderer aus dem noch in mittelalterlichen Lebensformen steckenden moslemischen Ländern. Der Unterschied läßt sich am mitgebrachten Erzählgut leicht ablesen. Aus Europa brachte man die Legende, den Schwank und den Witz mit. Märchen und Novelle fehlen fast gänzlich. Das Liedgut trägt den Charakter des mitteleuropäischen Liederschatzes, das meistens auf das ältere Kunstlied zurückgeht. Aus den moslemischen Ländern hingegen brachte man ein vielseitiges Repertoire mit: Legenden (20 %), Zaubermärchen (12 %), Novellen (28,3 %) wechseln mit Schwank, Schildbürgergeschichten und Lügenmärchen ab. Das Liedgut trägt bäuerlichen Charakter; aus Kurdistan kamen sogar erzählende Lieder, die an Epik grenzen und Bibelgeschichten besingen (J. J. Rivlin, Schirat Jehude hattargum, 1949). Tiergeschichten, aitiologische und Riesensagen sind in beiden
Gruppen spärlich vertreten. Mythen gibt es überhaupt keine. Das Erzählgut, wie wir es heute im Umlauf finden, ist seit dem 10. Jahrhundert dokumentiert. Hibbur jaffe mehajjeschua des Rabbi Nissim, Sohn des Jaaqov aus Kairuan (Südtunis) bringt uns zum ersten Mal diese Gattungen der Volksliteratur und bricht damit die Exempla-Tradition des Erzählgutes der klassischen Haggadah des Talmud und des Midrasch, die bis dahin einzig dokumentiert ist. Nissim schrieb sein Werk, um seinen Schwiegervater nach dem Tode dessen Sohnes zu trösten. Er hat die Erzählungen aber nicht selber erfunden, sondern sie dem umlaufenden Volkserzählgut entnommen. Geschichten dieser Art finden wir in der Literatur der Nachbarländer Judäas viel früher dokumentiert: hierher gehören z. B. die assyrische Geschichte von Ahikar (8. Jahrh. v. Chr. AT 922 A), die ägyptische Geschichte vom Dieb des Pharao Rhampsinit (5. Jahrh. v. Chr.; AT 950) oder die griechische Geschichte von Amor und Psyche (2. Jahrh. n. Chr.; AT 425). Auch in der klassischen Haggadah-Literatur finden wir in einer Masse andersartigen Materials einzelne Stücke, die zu dieser Art Volksliteratur gehören (in unserer Sammlung die Nr. 6II, 7II, 8III, 9I, 12III, 17III, 19II). Das typische haggadische Material lebt in der Literatur das ganze Mittelalter hindurch weiter und ist in einigen Kompendien gesammelt, bearbeitet und neuerzählt. Wir haben da eine literarische Tradition, die klar von der folkloristischen Tradition in der Literatur, die R. Nissim anfing, unterschieden werden kann. Im hohen Mittelalter lehnt sich die ältere mystische, die kabbalistische Erzähltradition an die haggadische Tradition an; in der frühen Neuzeit lehnt sich die jüngere mystische, die chassidische Erzähltradition an die folkloristische Tradition an. Die gesamte Literatur, klassisch und mittelalterlich, ist im Grunde eine Predigt- und Erbauungsliteratur, die ihrem
Material, das sie anderwertigen Quellen entnimmt, den Wert einer Parabel gibt. Ob aus folkloristischen oder literarischen Quellen oder hier und da frisch erfunden, die Erzählungen werden von Predigern in Wort und Schrift als Exempla benutzt. Die jüdische Volksliteratur gehört zu den wenigen mündlichen Literaturen, die Jahrtausende hindurch dokumentiert sind. Die biblischen Bücher weisen einige ethnopoetische Gattungen auf: wir finden Reste von Mythen von der Erschaffung der Welt und den Anfängen des israelitischen Volkes in den Büchern Moses; Reste epischer Gesänge in der Geschichte von dem Einzug ins Land Kena’an (Kanaan), der Erzählungen von den Richtern, von Schemuel (Samuel), Schaul (Saul) und David. Vereinzelte Legenden, Novellen, Parabeln, lyrische Lieder, Sprichwörter und Rätsel sind in den historischen Büchern eingewoben. Zaubermärchen und Schwänke fehlen gänzlich. Mythen und Epen verschwinden in der nachbiblischen Volksliteratur. Die klassische Haggadah führt keine Mythen, sondern mythische Ursprungssagen, die an biblische Verse anknüpfen, um sie umzudichten und zu erweitern (z. B. Nr. iIII-V, IX, X in unserer Sammlung). Die Haggadah führt weiter die Legende und fügt die Sage zu (z. B. Nr. 4IV, 5II, 6I, II, 7III, 8II, 9II; Sage 9III); die Parabel ist besonders stark vertreten (s. Nr. 1II, VII, XI, 15II, III). Daneben stehen die Novelle und das Sprichwort (z. B. Nr. 4IV, 5I, III, 7I). Die Haggadah fügt die Tiergeschichte (Nr. 1I, 10I), das Kettenmärchen (Nr. 4III, IV) und das Lügenmärchen (Nr. 7II, 68IV, V) zu. Das bei weitem meiste haggadische Material hat jedoch keinen narrativen Charakter, und besteht mehr aus Bruchstücken als aus ganzen Erzählungen. Dies ist eine bedeutende Verschiebung in der Zusammensetzung des Repertoires, sofern man es auf Grund der vorhandenen Quellen beurteilen kann.
Der zweite große Bruch im Repertoire und dem Charakter der jüdischen Volksliteratur ist der Übergang von der klassischen Haggadah zur mittelalterlichen Literatur, die bis heute fortlebt: Legende und Novelle stehen von nun an im Vordergrund und das Zaubermärchen tritt auf.
Inwiefern hat die fast allgemeine Lesekunde und die hebräische Literatur, die in allen jüdischen Gemeinden, Ost und West, das ganze Mittelalter hindurch verbreitet war, Einfluß auf das Märchenerzählen im Volk gehabt? Die jüdische Volksliteratur zerfällt in zwei Teile: ein Teil, der meistens Legenden enthält, wurde immer wieder von der mittelalterlichen hebräischen Literatur genährt; haggadische Literatur scheint nur wenig Einfluß ausgeübt zu haben. Der andere Teil, der Märchen, Novellen, Schwänke, Lügenmärchen und das Liedgut umfaßt, ist gemeinsames Erbe und Produkt der jüdischen Bevölkerung und des nicht-jüdischen Nachbarvolkes und wird von beiden im gleichen Maße getragen. Die jüdische Bevölkerung Osteuropas bildete hier eine teilweise Ausnahme, da diese Bevölkerung meistens der Sprache ihrer slawischen Nachbarn nicht mächtig war. In der Zusammensetzung des Erzählrepertoires folgt trotzdem diese Volksliteratur im allgemeinen dem Muster der Volksliteratur des Nachbarvolkes mit dem Unterschied, daß in dem jüdischen Erzählgut die Legende weitgehend für die Sage steht. Hier bewährt sich die Regel, daß Sprachgrenzen keine Grenzen für die Verbreitung von Märchengut darstellen.
III Die Erzählungen behandeln Probleme der menschlichen Existenz; dies fällt besonders bei den jüdischen Legenden ins Auge, kann aber auch an anderen Gattungen abgelesen werden. In mythischen Erzählungen (Mythen und mythischen Sagen) wird im Kampf zwischen ordnungs- und menschenfreundlichen und ordnungsfeindlichen Kräften die Welt für den Menschen vorbereitet. Die kosmische Ordnung wird aufgebaut, und der Mensch erscheint auf der Bühne als Krone und Mittelpunkt dieser Ordnung (Nr. 1,7). Das Kettenmärchen stellt das Ordnungsprinzip als solches dar (Nr. 4III, IV, 64, 75). Im Märchen macht der Mensch seine ersten Schritte. Er ist noch schwach und die märchenhaften Kräfte und Wesen helfen ihm die Hindernisse am Wege zur »Prinzessin« zu überwinden. Aber der Mensch wächst: er überwindet das Märchenhafte in und um sich und dessen Repräsentanten, den dummen Riesen (die Märchenparodie: 43, 48, 61, 62). In der Legende steht der Mensch den religiösen, den heiligen und den satanischen Kräften gegenüber. Er ist nicht mehr hilflos und behauptet nun seinen Weg mit eigenen Kräften, sogar gegen die Allmacht des Heiligen. Die jüdische Legende behandelt einen weiten Kreis von Problemen der menschlichen Existenz: a) Die Spannung zwischen dem Menschen und dem Heiligen (Nr. 4IV, 5VII, 9II, III, 11III, 15I, 21III, 23, 24, 25, 34, 51; besonders interessant ist Nr. 16); das damit verbundene Problem der Sünde (Nr. 1II, 30II, 39), und das Problem des menschlichen Leidens und Todes (Nr. 7III, 81, II, 20I, II, 29, 30I, 35, 46, 57, 68, 73); b) die Probleme der sozialen Gegensätze (Nr. 9IV, 16XI, XII, 181,19, 70, 71); und c) das Problem der jüdischen Existenz (Nr. 4II, 5II, 6III, 9II, 11II, III, IV, 13I, IV, IIIII, 17I, II, III, 18II, 21, 22, 30II, III, 32, 33, 40, 51, 52, 53, 69-72). Von diesen drei Problemfeldern nimmt das letzte den wichtigsten
Platz ein: die Hälfte aller aus dem Volksmund verzeichneten Legenden behandeln dieses Problem. Da das jüdische Glaubenssystem keine selbständige negative Kraft kennt (den Satan), wird das Problem des Kampfes zwischen den positiven und den negativen religiösen Kräften in der jüdischen Legende nicht behandelt (siehe Nr. 2IV – das Böse ist mythisch als »Satan« aufgefaßt, jedoch Teil der einheitlichen Welt; weiteres s. in H. Jason, Studies in Jewish Ethnopoetry, 1975, S. 63-176). In der Sage ist der Mensch schon fast gleichgestellt der jenseitigen, der dämonischen Welt (s. Nr. 49). In der jüdischen und nah-östlichen Kultur stehen Mensch und Dämon nebeneinander vor der überwältigenden Allmacht des Himmlischen auf gleichem Fuß. Nachdem er sich den nicht-menschlichen Kräften als gewachsen gezeigt hat, steht nun der Mensch seinen Mitmenschen gegenüber. Er fängt seinen Weg als Kind an, das die wesentlichen Gesetze der Natur und des logischen Denkens erst lernen muß, wie es die Schildbürger tun (Nr. 38, 74). Das Kind wächst auf. Im Epos steht der Mensch seinen Mitmenschen auf der Ebene des physischen Kampfes gegenüber. Im lyrischen Lied erreicht er die emotionelle Reife. In der Novelle und der Parabel mißt er sich mit seinen Mitmenschen in Weisheit, Klugheit und moralischen Qualitäten und erlangt seine intellektuelle Reife (Nr. 1II, VII, XI, 2II, 4IV, 5I, III, 7I, 9I, 12, 13III, 14, 16, 26, 27, 32, 36, 37, 41, 42, 44, 45, 47, 54, 56, 58, 60, 65, 66, 67). Von hier aus kann der Mensch mit seiner Welt spielen: im Lügenmärchen wird die Ordnung dieser Welt in Frage gestellt, und der Intellekt überschlägt sich in sein Gegenteil, den Wahnsinn. Die Ordnung und die Gesetze der Natur und des logischen Denkens fallen zusammen (Nr. 77). Im Mythos werden aus dem Chaos die geordnete Natur und Gesellschaft geschaffen; auf seinem Wege durch das Märchen,
die Sage und die Novelle reift der Mensch zum Gipfel der intellektuellen Kraft heran, um in dem Lügenmärchen die Natur und den Intellekt wieder im Chaos aufzulösen. So schließt sich der Kreis. Das erzählte Geschehen im Märchen ist im Rahmen von Zeit und Raum gedacht: es geschah »irgendwann« und »irgendwo«. Der jüdische Erzähler, des Lesens kundig, der die Historie aus der Bibel und aus den mittelalterlichen Chroniken und Nacherzählungen von Josephus Flavius Historien gut kennt, hat damit ein bestimmtes historisches Schema, in das er sein Märchengut einbetten kann. Dieses Schema hat zwei universale, kosmische Anhaltspunkte: Es fängt mit der mythischen Erschaffung unserer Welt an, und endigt mit dem Kommen des Messias, der die Welt erlösen wird. Zwischen diesen zwei Punkten entwickelt sich die jüdische Geschichte, erst mythisch und danach historisch aufgefaßt: der Anfang des Volkes mit Abraham, dem Auszug aus Ägypten und der Offenbarung der Lehre an dem Berge Sinai; das Staatswesen, die Zerstörung des Tempels und der Auszug in die Verbannung; der nicht näher bestimmte Zeitraum der Zerstreuung; die Rückkehr in das Land Israels und die Erlösung; zeitlose Gegenwart. Der Anordnung der Erzählungen in unserem Band liegt das historische Schema zugrunde. Das Raumbild weist einen universaleren Charakter auf als das historische Schema, das naturgemäß an das historische Bewußtsein der erzählenden Gemeinschaft gebunden ist. Das Raumbild hat einen Mittelpunkt – den Standort des Erzählers und seiner Gemeinde: »Unser Dorf«. Um dieses Zentrum herum winden sich in konzentrischen Zonen immer weitere, weniger konkrete Felder: »Unser Bezirk«, »Unser Land«, »Diese Welt«, »Die nächste Welt«, und zwischen den zwei Welten das »Zwischengebiet«. Das Gebiet der mythischen Welt umfaßt alle anderen Zonen und unterscheidet sich von
ihnen auf der Zeitbasis: die mythische Welt existiert vor der historischen Welt und geht in ihr auf. Wir können jede Erzählung im historischen Schema und im Raumschema lokalisieren. Geschichten, die derselben Gattung sind, werden in bestimmten Gebieten der beiden Schemata häufiger vorkommen als in anderen Gebieten. So spielen das Zaubermärchen und auch der Schildbürgerschwank auf »Inseln« in dem unbestimmten Zwischengebiet: dort liegen das »Märchenland« und ebenso die Stadt Schiida. Die Sage hingegen spielt in dem greifbaren »unserem Dorf« und »unserem Bezirk«. Die jüdische Bevölkerung lebte das ganze Mittelalter hindurch in semi-autonomen Gemeinden. Diese Organisation hielt sich bis zum zweiten Weltkrieg in beiden Hauptsiedlungsgebieten der Juden, in Europa und in den moslemischen Ländern. Die Gemeinde bildet ein Universum für sich, und war legal an keine andere Gemeinde gebunden. So konnte auch die entlegenste Gemeinde ihre legalen und kultischen Probleme selber lösen und war lebensfähig. Gelegentliche Gemeindeverbände wurden immer von der Staatsgewalt für deren Bequemlichkeit der jüdischen Bevölkerung aufgedrängt. Diese Situation spiegelt sich in den Erzählungen wider, die ja durch das Mittelalter hindurch gelebt haben. Die Geschichte kennt nur eine Gemeinde, die Gemeinde, den Rabbi, die das Judentum als solches repräsentieren, und den König, der die herrschende nichtjüdische Staatsgewalt repräsentiert (z. B. Nr. 22, 24, 53). Wenn die Gemeinde Hilfe von sozialen und natürlichen Bedrückungen und Bedrängnissen sucht, wendet man sich nicht an die Nachbargemeinde (was man natürlich in der Wirklichkeit tat), sondern direkt an die oberste Instanz – an Gott oder an seine direkten oder indirekten Gesandten (Nr. 46).
Eine Nachbargemeinde existiert in der Geschichte nicht (z. B. Nr. 53). Einige historische und pseudohistorische Figuren wiederholen sich von einer Geschichte zur anderen. In der Volkslegende ist Elijahu (Elia) der Prophet die bedeutendste Figur (Nr. 16II, 18II, 46, 57, 71, 73; ausnahmsweise im Märchen (Nr. 59). Er ist in den Erzählungen aus dem Kontext der biblischen Geschichte ganz herausgenommen, und als ewig auf Erden wandelnder Helfer der Menschen gedacht. In einigen Legenden spielt Mosche (Moses) eine ähnliche Rolle (Nr. 1XI, 23, 34 in unserer Sammlung). Mosche repräsentiert den Menschen gegenüber der Heiligkeit. Andere Fabelfiguren der biblischen Geschichte spielen in den Volkserzählungen nur in dem Rahmen derjenigen Geschichten, in denen sie in der Bibel vorkommen (Nr. 4, 5). Von den historischen Figuren finden wir einige der berühmtesten Gelehrten und Dichter der Klassik und des Mittelalters in den Legenden und Novellen wieder: R. Aqiva (Nr. 16), Mosche, Sohn des Maimon (Nr. 32, 33), Jehuda, der Fromme (Nr. 30), Jehuda Halevi und Ibn Esra (Nr. 27), neben einer großen Zahl lokaler Rabbis aus den letzten Jahrhunderten (Nr. 70, 71). In der Haggadah ist der historische Rahmen der Lebensspanne und Wirkung der Figuren gewahrt (s. Nr. 8, 9, 11, 13-20), in der späteren Legende werden die Figuren stark typisiert, aus dem historischen Rahmen herausgenommen und zusammengewürfelt (s. besonders Nr. 33). Sie handeln nicht mehr der historischen Wirklichkeit nach, sondern den Bedürfnissen der Erzählungsstruktur entsprechend. So wird Mosche, Sohn des Maimon, der Aristoteliker, zum Wunderdoktor und Mirakelwirker (Nr. 32; als weiser Richter [Nr. 32] wechselt er mit David, Schelomo [Salomo] oder anonymem Richter in denselben Erzähltypen ab [AT 920 *E »Kindergericht«, AT 926 *E »Der kluge Rechtsspruch«]).
IV Unsere begrenzte Sammlung kann nur ein beiläufiges Bild der jüdischen Volksliteratur geben, in einem Versuch, den Reichtum und die Vielfalt dieser Literatur dem Leser darzubringen. Weitverbreitete Erzählungen, die die Eigentümlichkeit der jüdischen Volksliteratur übermitteln und in Europa weniger bekannt sind, wurden für diese Sammlung gewählt. Trotz der Teilung in drei Perioden, die biblische, die haggadische und die moderne, bildet die jüdische Volksliteratur ein Ganzes, das als geistiges Vermögen auch der Märchenerzähler aus dem einfachen Volk mit sich trägt und weiterbildet. So viele von den jüdischen Gemeinden wie möglich wurden in der Sammlung vorgestellt. Nicht von jeder Gemeinde waren Texte vorhanden; von einigen hingegen sind so viele da, daß die Wahl schwerfiel. Auch zwei von den jüdischen Sekten konnten vorgestellt werden: Die Samaritaner (Nr. 28, 36) und die abessinischen Falascha (Nr. 69). Verschiedene Stile kommen zu Worte: der knappe, mit Bibelversen durchwobene Stil der Haggadah, der Stil des Volksbuches (Nr. 30, 33, 39) und der flotte Gesprächsstil eines modernen Erzählers (z. B. Nr. 20IV, 49, 59, 60) stehen nebeneinander und wurden in der Übersetzung gewahrt, so weit wie möglich. Der Leser wird merken, daß es der Bibelzitate viele sind – im Text der Erzählungen sowie auch in den Anmerkungen. Die Zitate, Bibelstellen und die begleitende haggadische Literatur bilden den Hintergrund der Märchen und Legenden und sind dem Erzähler und seinem Publikum stets gegenwärtig. Der deutsche Leser wird sie leicht in jeder Bibel und Haggadahsammlung (z. B. bin Gorions »Sagen der Juden«) finden, um sich ein volleres Verständnis der Märchen zu erwerben. Heda Jason
Der Herausgeber der Reihe zu diesem Buch
DIE MÄRCHEN AUS ISRAEL von Frau Heda Jason stellen zweifellos einen Sonderfall innerhalb der »Märchen der Weltliteratur« dar. In keinem zweiten Band wird ein Zeitraum von mehr als 3000 Jahren umspannt oder über mehrere Kontinente hinweg das Erzählgut einer ethnischreligiösen Einheit vorgelegt. Die heterogenen Elemente so unterschiedlicher Zeiten und Kulturkreise spiegeln sich in diesen Volkserzählungen; neben bekannten Themen und Motiven, die wir fast in der ganzen Welt in Varianten finden können, steht doch eine erhebliche Zahl von Texten, die als spezifisch semitisch bezeichnet werden können. Selbst in unseren deutschen Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm stoßen wir kaum auf so viele Erzählungen, von denen man behaupten dürfte, sie seien ausgesprochen »deutsch« – wenn wir von Sprache und Stil absehen – wie wir in diesem Bande Märchen haben, die vom Weltbild, von der Mentalität und dem anklingenden Brauchtum her als typisch jüdisch zu definieren sind. Frau Jason hat zwar in ihrem Nachwort bereits die wichtigsten Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit dem israelischen Märchen vermittelt, sie hat klug in Geschichte und Situation, in Sprache und Problematik eingeführt, aber es darf vielleicht noch einiges nachgetragen werden, was dem Leser des Bandes ein Verständnis der Texte und ihre Einordnung in die Kenntnis der Weltliteratur erleichtert. Zur vielseitigen Funktion des Märchens im Bereich des Judentums ist nichts hinzuzufügen. Man darf lediglich unterstreichen, daß die Aufgabe, die das Erzählen in den
verschiedenen Bereichen bis tief ins Kultische hinein erfüllt hat, von einer erstaunlichen Konstante ist. In manchen Fällen finden sich Parallelen zum europäischen Märchen früherer Jahrhunderte, etwa bei den religiösen Stoffen, die in Form und Funktion an unsere Predigtmärlein erinnern. Bei uns ist dieser Typus freilich mit dem Barock erloschen, seine Blütezeit aber liegt noch weiter zurück. Was die Frage des Kontaktes der israelischen Volkserzählung mit der abendländischen betrifft, so sei daran erinnert, daß ein jüdischer Erzähler als Vermittler orientalischen Gutes an der Schwelle der mittelalterlichen Novellistik steht: Moise Sephardi, der als Petrus Alfonsi Weltruhm erlangt hat. Sein Erzählwerk ist in der damals noch internationalen Schriftsprache, dem Latein, verfaßt, und diese »Disciplina clericalis« wurde zur wichtigsten Schatztruhe für die europäischen Novellensammlungen des 13. bis 15. Jahrhunderts, die ihrerseits wieder so manches Motiv an die mündliche Erzählpraxis abgegeben haben. Die Spannweite des Werkes von Petrus Alfonsi reicht von Bibelzitaten und Weisheitsregeln über Tiermärchen und Lügengeschichten bis hin zu bekannten Schwänken. Und trotz der gelehrten Sprache hat der Autor, der mehrere orientalische Idiome beherrschte, einen so volksnahen Stil gefunden, daß er in unmittelbarer Nachbarschaft zum improvisierenden Märchenerzähler steht. Seit dem kurz nach 1100 geschriebenen Werk von Petrus Alfonsi sind die Kontakte zwischen jüdischen Erzählern und europäischem Märchen- und Novellengut nie abgerissen. Deutliche Spuren lassen sich vor allem im scharfen Witz französischer und italienischer Novellen der Renaissance nachweisen. Aber der Kontakt war nie einseitig; keltische, germanische und romanische – später auch slawische – Motive bereicherten ebenso den Bereich der israelischen Erzählpraxis. Aus dem spanisch-portugiesischen Stoff-Reservoir kam
manches, das im Mutterland fast vergessen ist, durch sephardische Sänger und Erzähler in Form von Romanzen und Märchen in fremde Länder. Von jüdischen Legenden drang auch so manches in den Kreis der orthodoxen Legende ein. Die Verehrung des Propheten Elias zum Beispiel war in den jiddischen und slawischen Volksgruppen gleich verbreitet, und Legenden um seine Gestalt verlaufen inhaltlich fast parallel. Auf diesem Gebiet konnten Geschichten hin- und herwechseln, so daß die archaische Form nicht immer leicht zu rekonstruieren ist. In Berücksichtigung dieser starken Verbindung haben wir auch seinerzeit in den Band »Legendenmärchen aus Europa« eine jiddische Legende aufgenommen. Der vorliegende Band vermittelt dem Leser nicht nur typisch Orientalisches, sondern er kann auch deshalb ein besonderes Interesse beanspruchen, weil er Vergangenes und Vergessenes aus dem europäischen Erzählgut enthält. Es werden Geschichten wieder lebendig, die bei uns einst sehr beliebt waren, aber längst aus der Erzählpraxis verschwunden sind. Zauberhaftes und Phantastisches steht neben Burleskem und Schwankhaftem, wobei der ganze Witz und Humor des jüdischen Geistes zum Ausdruck kommt. Und wir finden sogar, was sonst in der Oralliteratur selten ist: die Selbstironisierung. Solche Züge sprechen für eine Reife des Zivilisationskreises, aus dem die Erzähler stammen, in der die aufkommende Skepsis – aus bitteren Erfahrungen erwachsen – nicht mehr die ungebrochene optimistische Form des naiven Märchenerzählens zuläßt. So wirkt dieser Band fast wie ein Querschnitt durch unsere Gesamtreihe. Die Gegensätzlichkeiten, die sich sonst im Vergleich einzelner Bände beobachten lassen, sind hier in einem Ausschnitt geboten.
Und hinter dem Mosaik vielfarbiger Erzählungen wird die Geschichte und Problematik eines Volkes erahnbar. Felix Karlinger