Die Handwerker im Märchen repräsentieren die Alltags- und Arbeitswelt und stellen damit einen Bezug zur realen Lebenssi...
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Die Handwerker im Märchen repräsentieren die Alltags- und Arbeitswelt und stellen damit einen Bezug zur realen Lebenssituation her. Für diesen Band hat der Herausgeber in fünf Kapiteln Märchen zu den Berufen Schuster, Schneider, Müller und Schmied sowie zu den sogenannten verachteten Berufen zusammengestellt. Aus dem Nachwort wird deutlich, woher die heute noch in unserer Alltagssprache vorhandenen Sprichwörter, in denen das Handwerk Erwähnung findet, kommen.
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Über dieses Buch Das Märchen ist die einzige Literaturgattung, die alle Schichten des Volkes erfaßt. Weitergetragen und erzählt wurden sie vor allem von denen, die reisten und wanderten. Es waren dies Troubadoure, Gaukler, Kaufleute, Soldaten und Handwerksburschen. Die Handwerker im Märchen repräsentieren die Alltags- und Arbeitswelt, die bislang wenig Beachtung in der Literatur der Märchen fand. Gerade die Handwerkermärchen aber sind es, die den Bezug zur realen Lebenssituation herstellen. Für diesen Band hat der Herausgeber in fünf Kapiteln Märchen zu den Berufen Schuster, Schneider, Müller und Schmied sowie zu den sogenannten verfemten und verachteten Berufen zusammengestellt. Im Nachwort erfahren wir, was es mit den Zünften auf sich hatte, woher die heute noch in unserer Alltags- und Umgangssprache vorhandenen Sprichwörter und Redewendungen, in denen das Handwerk Erwähnung findet, kommen. Der Herausgeber Frieder Stöckle (Dipl.-Päd.), 1939 in Schorndorf geboren, studierte nach einer Tischlerlehre Bildhauerei und Kunstgeschichte; anschließend Studienreisen, überwiegend nach Italien. Ab 1970 Studium für das Lehramt an Realschulen in Deutsch und Geschichte sowie erziehungswissenschaftliche Studien. Seit mehr als 20 Jahren Kinder- und Jugendbuchautor. Frieder Stöckle lebt mit seiner Familie in Schorndorf.
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Märchen von Handwerkern
Herausgegeben von Frieder Stöckle
Fischer Taschenbuch Verlag
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Märchen der Welt Lektorat: Monika A Weißenberger
Originalausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, März 1993 © 1986 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Thomas & Thomas Design, Heidenheim Satz: Fotosatz Otto Gutfreund GmbH, Darmstadt Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-11379-2
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Der Schneider Das Schneiderhandwerk war eines der am meisten verbreiteten Handwerke im Mittelalter. Gleichzeitig war es ein Handwerk mit geringen Einkünften. Oft lebten sie und ihre Familien in bitterster Armut. Der Schneider im Märchen geht wegen dieser Armut sogar so weit, daß er sich auf einen Pakt mit dem Teufel einläßt. Aber dank seines wachen Verstandes kann er seine Seele vor der Hölle retten.
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Der Schneider und die Sintflut Als vor langer Zeit die große Flut über die Welt hereinbrach und alles, was auf Erden lebte, jämmerlich hätte umkommen müssen, nahm sich Gott aus Mitleid seiner Geschöpfe an und bedachte, wie er wenigstens ein kleines Häuflein vor dem Tode des Ertrinkens retten könnte. Er ließ einen kunstreichen Zimmermann zu sich rufen und sprach: »Baue ein großes Schiff, teile es klug in viele Stockwerke und Räume und bringe darin von allen Tieren der Erde, der Luft und des Wassers je ein Paar unter. Auch einem jungen und fleißigen Bauernpaar gib Herberge in der Arche, und nimm auch dazu von jedem Handwerk einen Meister und eine rechtschaffene Meisterin. Nur keinen Schneider! Hörst du? Ja keinen Schneider! Diese Besserwisser und Siebenmalklugen, die den ganzen Tag auf ihrem Tisch hocken, meckern und tüfteln und spintisieren und selbst mir, dem Herrgott, ins Handwerk pfuschen, die will ich allesamt im Meer ersaufen lassen! Hast du mich verstanden?« »Glaub’s wohl, Herr!« antwortete der Zimmermann und ging alsbald an die Arbeit. Nach kurzer Zeit war die Arche fertig. Pferd und Kuh, Ziege und Schwein, Katze und Hund, Hase, Fuchs und Reh, Vögel und Schmetterlinge, Bienen, Hummeln, Mücken und Käfer, Frösche, Kröten und Fische waren in den großen Kasten eingezogen. Auch Bauer, Wagner, Schreiner, Maurer, Schlosser und Schmied, Müller, Bäcker und Schuhmacher waren samt Weib und Handwerkszeug in den vielen Kammern und Stuben untergekommen. Ohne daß es aber der Zimmermann merkte, hatte sich in dem Gewusel und Gedränge auch ein fadendünner Schneider eingeschlichen und unterm Bett der Frau Zimmermeisterin versteckt. Da saß er nun Tag und Nacht hungrig und durstig in 8
der dunklen Ecke und durfte kaum schnaufen und sich regen, wenn er nicht entdeckt und ohne Erbarmen ins tiefe Wasser geworfen werden wollte. Darüber wurde er immer ärgerlicher, sann auf Rache und heckte in sieben Tagen einen böswilligen Streich aus: Er fing Flöhe, Wanzen, Bienen, Hummeln und Wespen, zwickte einen Haufen Stecknadeln ab und setzte sie ihnen als spitze Stacheln ins Hinterteil ein. Voller Schadenfreude ließ er sie hüpfen und davonfliegen, kicherte tückisch vor sich hin und sagte: »So, nun könnt ihr ans Werk gehen! Jetzt wird’s bald was zu jucken und zu zucken geben in dieser langweiligen Kiste!« Und wahrhaftig, über eine kleine Weile ging es an allen Ecken und Enden des Schiffes zu, als ob der leibhaftige Teufel losgelassen wäre. Der erste Floh stach die Frau des Zimmermanns so gewaltig in den Schenkel, daß sie ein Wehgeschrei ausstieß, als ob sie am Messer steckte. Der zweite zwickte den Meister selbst in die Wade, und die Wespen und Bienen quälten die Tiere, daß sie wie toll umherrannten und sich nicht zu helfen wußten. In der Nacht aber ließen die Wanzen keinen Menschen zur Ruhe kommen. »Wer hat diesen Viechern die Nadeln eingesetzt?« riefen Müllerin und Bäckersfrau. »Das kann niemand anders gewesen sein als ein Schneider!« meinte der Schuhmacher. »Ist ja gar keiner da!« brummte der Zimmermann. »Einen Schneider durfte ich ja auf des Herrgotts ausdrücklichen Befehl gar nicht hereinlassen!« »Eben drum! Dann hat sich halt einer eingeschlichen, durchs Schlüsselloch wahrscheinlich!« sagte lachend der Bauer. Also durchsuchten sie miteinander das ganze Schiff und fanden den Schneider endlich unterm Bett der Frau Zimmermeisterin, wo er sich in der dunkelsten Ecke hinter einem Spinngewebe verborgen hatte.
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»Hinaus mit ihm! Hinaus mit ihm!« riefen alle, die schon von den Flöhen und Wanzen gezwickt oder von den Wespen und Bienen gestochen worden waren. Und dann warfen sie den Sünder Hals über Kopf ins Wasser. O weh, wie der arme Schneider schrie und zappelte und schnappte! Er hätte elendiglich ersaufen müssen, wenn nicht zu seinem Glück eine langbeinige Wasserspinne gerade in der Nähe gewesen wäre. »Du kommst wie gerufen!« sagte das Schneiderlein, schwang sich flink auf ihren Rücken und ritt nun auf ihr so lange auf dem Meer herum, bis die große Flut sich verlaufen hatte und die Erde wieder trocken geworden war. Wäre der arme Schneider damals nicht gerettet worden, so müßten wir noch heutigen Tags ohne Kleider umhergehen. [Märchen aus Schwaben]
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Ein spanischer Chasseur Auf der Welt muß gestorben sein, sonst hätten ja die Jungen keinen Platz mehr. Was Wunder, wenn dann auch einmal ein Schneiderlein stirbt. Nun denn, der Schneider stirbt, und seine leichte Seele fährt geradewegs – wie eine Nadel am Faden – hinauf dem Himmel entgegen. Er findet auch die Tür und klopft manierlich an. Und wie er ein wenig geklopft hat, geht das Lädelein auf, und Sankt Peter fragt zum Himmel heraus, wer draußen sei. Der Nadelheld läßt sich herzu und sagt: »He, ein Schneiderlein, mit Verlaub, möchte auch gern in den Himmel, Herr Peter.« »Ein Schneiderlein? Ein Plätzchenfink? Derlei können wir im Himmel nicht brauchen!« So putzt ihn unser Peter ab und tut das Lädelein wieder zu. Wie nun der Schneider vor dem Himmel so trauert und grochzt, sieht er eine alte Frau, die man im Himmelreich auch nicht hat brauchen können. Da haben die beiden einander getröstet, so gut es ging, und sich ihr Leid geklagt, wie sie jetzt vor dem Himmel draußen im Ledersack sein mußten. Derweilen kommt ein mächtiger Husar angesprengt und ruft, er möchte in den Himmel. Den läßt Sankt Peter nicht lange warten, weil er ihm stracks zugerufen hat, er sei ein spanischer Chasseur. Das schrieb sich der Schneider hinter die Ohren, eilt schnell zum Mütterchen und flüstert und flattiert mit ihr und sagt: »Wie wär’s, Frau Bas’, wenn wir zwei uns auch solcherweise in den Himmel hineinschmuggeln würden? Es wäre, denk ich, nichts Gefehltes. Hör nun, Mütterchen, ich will dir einen vernünftigen Vorschlag machen: Ich bin der spanische Chasseur und du trägst mich durch die Himmelstür – für’s
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andere laß dann nur den Vogt geifern oder mich sorgen. Was gilt’s, wir kommen alle beide in den Himmel.« Gesagt, getan. Mein Nadelreiter sprengt auf dem Mütterlein vor Sankt Peters Pforte. »Wer da?« ruft der drinnen mit dem Schlüssel. »Ein spanischer Chasseur!« brüllt das Schneiderlein aus Leibeskräften. Das Tor geht auf, und mein spanischer Reiter reitet gravitätisch hinein zu den anderen Leuten im Himmel. So hat’s der Schneider gemacht. Und drin haben’s darob gelacht. Und hab ich’s recht vernommen, so sind’s nicht wieder herausgekommen. [Märchen aus der Schweiz]
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Der Schneider als Held Es war einmal ein Schneiderlein, das nähte um Lohn bei einer Bauersfrau. Als es nun recht fleißig war, da kam eine Fliege nach der anderen herbeigeflogen und plagte es. Dann aber ließen sie sich nieder auf den Milchtropfen, die das Schneiderlein beim Frühstück verschüttet hatte, so daß sich allmählich ein ganzer Schwarm dort zusammenfand. Als dieser Schwarm eben im besten Zuge war und trank, da nahm das Schneiderlein eine Fliegenpatsche und tat einen kräftigen Streich auf die ungebetenen Milchtrinker, so daß nur wenige entkamen. Da staunte das Schneiderlein über seine große Kraft und Gewandtheit und begann, die schwarzen Leichen zu zählen, und er zählte von eins bis dreißig. Da wurde es ihm ganz wunderbar zumute. »Frau«, sagte es, »ich kann nicht länger Schneider bleiben!« »Ei, warum denn nicht?« fragte die Wirtin. »Zählt doch nur! Dreißig auf einen Schlag! Nein, ich bin zu anderen Dingen berufen!« rief das Schneiderlein, ließ Nadel, Schere und Fingerhut und all sein Geschirr liegen und schrieb auf ein Blatt Papier mit großen Buchstaben: »Ich hab ohne Zorn dreißig totgeschlagen auf einen Schlag!« Dies Blättchen steckte es dann wie ein Schild an seinen Hut und wanderte hinaus in die Welt. Als das Schneiderlein nun so mitten auf der Straße dahinzog, kam ihm ein schöner Wagen entgegen, darin saß ein vornehmer Herr. Da schritt es grad auf den Wagen los und wich weder zur Rechten noch zur Linken, so daß der Kutscher zuletzt anhalten mußte. Nachdem er aber gelesen, was an dem Hute des Schneiderleins stand, berichtete er es schnell dem Grafen, der in dem Wagen war, und dieser sagte: »Guter Freund, ist das auch wahr, was da an eurem Hute steht?«
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»Ei«, sagte das Schneiderlein, »es muß ja wohl wahr sein, wie könnt’ es sonst da geschrieben stehen?« Sprach der Graf weiter: »Wollt ihr in meine Dienste treten und das Land von den drei Riesen befreien, die auf dem Berge hausen, so will ich euch meine Tochter zur Gemahlin geben.« Ja, dazu war das Schneiderlein sogleich mit Vergnügen bereit und zog auf den Berg, um die Riesen aufzusuchen. Unterwegs traf er drei große Männer, die sagten: »Was willst du hier, du Erdenwürmlein?« Da erzählte ihnen das Schneiderlein ganz aufrichtig: »Ein Graf hat mir seine Tochter versprochen, wenn ich die drei Riesen auf diesem Berg totschlüge, und deshalb bin ich hergekommen.« Da sahen die drei Männer einander an und lachten, denn das Schneiderlein hatte gar nicht gemerkt, daß die drei Männer eben diese drei Riesen waren. Als die drei Riesen nun aber die Worte am Hut des Schneiderleins lasen, stutzten sie und fragten, ob das wahr sei. »Ei, freilich«, antwortete es, »wie könnt’ es sonst da geschrieben stehen?« Darauf wünschten die Riesen, daß es doch eine Probe seiner Stärke ablegen möge. »Gut«, sagte das Schneiderlein, »wir wollen sehen, wer der Stärkere von uns ist. Und das wollen wir daran erkennen, daß er Wasser aus einem Stein drücken kann.« Da nahmen die Riesen harte Steine in die Hand und zermalmten sie zu Staub, aber Wasser wollte nicht herauskommen. Das Schneiderlein jedoch hatte zwei flache Steine gesucht und einen alten Käse, den es in der Tasche hatte, dazwischen gelegt. Und als es nun anfing zu drücken, da flossen wirklich schmutzige Wassertropfen aus den Steinen, daß die Riesen sich schier verwundern mußten und es nicht begreifen konnten.
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Als sie darauf wieder eine Weile miteinander gegangen waren, fragten die Riesen das Schneiderlein, ob es auch werfen könne. »Das will ich meinen!« sagte das Schneiderlein, und da es gerade auf der Erde ein Lerchennest sah, in dem das Weibchen auf den Eiern brütete, so bückte es sich, fing flink die Lerche und rief: »Achtung, aufgepaßt!« und warf den Vogel in die Luft. Der aber freute sich nicht wenig, daß er so schnell wieder loskam und stieg in die Luft immer höher und war bald gar nicht mehr zu sehen. Da guckten die Riesen und guckten sich beinah die Augen aus, aber der Stein kam nicht wieder herunter, und sie glaubten fest, daß er bis in den Himmel geflogen sei. Das hätten die Riesen dem kleinen Männlein gar nicht zugetraut und kriegten ordentlich Respekt vor ihm. Und weil sie wußten, was er im Sinne führte, so luden sie es ein, bei ihnen zu übernachten und nahmen es mit in ihr Schloß. Hier merkte das Schneiderlein endlich aus allem, was es dort sah, daß die drei großen Männer die Riesen sein mußten, und es war ihm gar nicht wohl bei der Sache, weil es seine Absicht schon verraten hatte. Als es in seine Schlafkammer kam, untersuchte es deshalb genau sein Bett und fand einen Leichnam unter demselben. Da grauste es ihm zwar ein wenig, aber es zog doch den toten Mann hervor und legte diesen ins Bett, und es selbst kroch unter das Bett. Und das war sein Glück. Denn die Riesen sagten, als sie allein waren: »Das Würmlein könnte uns doch noch was zu schaffen machen. Wir wollen ihm deshalb lieber gleich heute nacht sein Lebenslicht ausblasen.« Und als es eben zwölf Uhr war, trat einer von den Riesen mit einer großen Eisenstange herein und tat ein paar mächtige Schläge auf den Leichnam im Bette, daß alles bebte, und sagte, als er fortging: »Der wird genug haben!«
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Das Schneiderlein aber kroch darauf unter dem Bett hervor, legte die Leiche hinunter und sich selbst in das Bett und schlief ruhig bis in den Morgen. Wie verwunderten sich aber die Riesen, als das Schneiderlein wohlgemut aus der Kammer trat. »Wie hast du geschlafen?« fragte sie. »O, recht gut«, sagte das Schneiderlein, »nur haben mich eure Flöhe ein wenig gestochen.« Da wußten sie gar nicht, was sie sagen sollten und luden es ein, es möchte doch noch länger bei ihnen bleiben. Ja, das wollte es wohl und blieb da. In der folgenden Nacht, als es zu Bette ging, machte es das Schneiderlein nun wieder ebenso wie in der ersten, es legte die Leiche ins Bett und sich selbst unter das Bett. Als es nun Mitternacht war, kamen zwei Riesen miteinander und hieben beide so schrecklich auf die Leiche los, daß es dem Schneider fast Angst wurde. Als sie aber fort waren, legte er die Leiche an ihren Platz, und er selbst schlief dann in dem Bett bis zum Morgen. Da staunten die Riesen noch weit mehr, als das Schneiderlein abermals lebendig hervortrat, und sie fragten es sogleich, wie es geschlafen habe. »Recht gut«, sagte es, »aber ich glaube, es haben mich Wanzen gebissen.« In der dritten Nacht, so dachte das Schneiderlein, werden wahrscheinlich alle drei miteinander über mich herfallen, und dann will ich mich wehren. Das Schneiderlein versah sich deshalb in der dritten Nacht mit einem Beil und legte sich weder in, noch unter das Bett, sondern stellte sich hinter die Tür in die Ecke. Und richtig, als es zwölf schlug, machten alle drei Riesen mit eisernen Stangen sich auf, um das Schneiderlein totzuschlagen. Aber das stand hinter der Tür und paßte wohl auf, und als der erste Riese hereintrat, bekam er mit dem Beile einen scharfen Hieb in den Rücken, daß er tot 16
umfiel. Ebenso erging es dem zweiten. Als das der dritte sah, fürchtete er sich vor dem Schneiderlein und floh und lief bis zur Treppe. Aber das Schneiderlein hüpfte schnell hinter ihm her und gab ihm einen Schuck [Stoß], daß er die Treppe hinabstürzte und den Hals brach. So waren alle drei Riesen tot, und nun begab sich das Schneiderlein zu dem Grafen und bat um die Tochter, die er ihm versprochen hatte. Die Tochter aber mochte das kleine Männlein nicht, und einige erzählen, das Schneiderlein habe erst noch allerlei tapfere Taten ausführen müssen, ehe der Graf ihm seine Tochter und seine Herrschaft übergeben habe. Soviel aber ist gewiß, daß die schöne junge Gräfin am Ende doch die Gemahlin des tapferen Schneiderleins geworden ist. [Märchen aus Schwaben]
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Das Schneiderlein und die drei Hunde Ein armes Schneiderlein hatte zu Hause nichts zu verlieren und ging auf Reisen. Es war schon lange marschiert, da kam es eines Tages in einen großen, dunklen Tannenwald, und es pfiff und sang und war von Herzen vergnügt. Als es eine kurze Strecke im Walde gegangen war, kam ein großer Hund dahergelaufen, der bot dem Schneider die Zeit und fragte, ob er ihn mitnehmen wolle. »Ich will dich schon mitnehmen, wenn du hinter mir herlaufen und mir untertänig sein willst.« »Das will ich«, sprach der Hund und lief hinter ihm drein. Als das Schneiderlein ein Stück Wegs weitergegangen war, kam ein zweiter Hund gelaufen, bot ihm die Zeit und fragte, ob es ihn mitnehmen wolle. »Eigentlich habe ich mit einem Hunde schon zuviel«, sprach das Ritterlein von der Elle, »wenn du mir aber untertänig und gehorsam sein willst, so magst du hinter mir herlaufen, dem anderen zur Gesellschaft.« »Das will ich«, sagte der Hund. So ging’s weiter, und als die drei Reisenden wieder ein Stück Wegs hinter sich hatten, kam ein dritter Hund, der fragte auch, ob das Schneiderlein ihn mitnehmen wolle. Da stutzte es aber, denn es wußte schon nicht, woher er das Futter für die zwei anderen Hunde nehmen sollte. Doch dachte es zuletzt: Aller guten Dinge sind drei, und sagte zu dem Hunde: »Wenn du mir treu und untertänig sein willst, magst du in Gottes Namen hinter mir herlaufen, wie die beiden anderen.« Gegen Abend kamen sie aus dem Walde und sahen ein Dorf vor sich, und das erste Haus war ein Wirtshaus.
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Sprach das Schneiderlein: »Hunger haben wir alle vier, aber wie ein Sechskreuzerstück aussieht, habe ich seit langem vergessen.« »Nichts weiter als das?« sagte der erste Hund. »Geh du nur hinein und bestelle für vier Mann Essen und Trinken und kümmere dich nicht um das Bezahlen, dafür laß uns sorgen.« Dem Schneiderlein wuchs der Mut, als er das hörte. Er schwang seine Elle dreimal über dem Kopf, ging in das Wirtshaus, schlug mit der Faust auf den Tisch und bestellte vier Gedecke und Essen, soviel das Haus vermöchte, Gesottenes und Gebratenes nebst Wein und Bier. Dann warf er sein Felleisen und seinen Hut auf die Bank, die Elle in die Ecke und sich selbst in einen bequemen Lehnstuhl. Als nun das Essen aufgetragen war, ging die Tür auf, und die drei Hunde stürzten herein, sprangen jeder auf einen Stuhl und fingen an zu essen und zu trinken wie die Menschen, so daß die Wirtin über solchen Verstand die Hände über dem Kopfe zusammenschlug. Nach dem Essen sprach der eine Hund: »Nimm den Weg zwischen die Beine, laß aber alles hier liegen, es kommt dir nichts fort!« Da ging das Schneiderlein mir nichts, dir nichts weg, und die Wirtin ließ ihn gehen, weil er sein Felleisen, seinen Hut und seine Elle zurückließ. Er wird gleich wiederkommen, dachte sie, und will sich nur im Orte umsehen. Sobald die Wirtin aber den Rücken gewandt hatte, packte jeder der drei Hunde eines der drei Stücke, dann sprangen alle zur Türe hinaus und brachten alles wieder zu ihrem Herrn. Da hatte denn die Wirtin das Nachsehen. Guten Mutes zog das Schneiderlein weiter. Einer der Hunde lief voraus und zeigte den Weg. Bald kamen sie wieder in den Wald, und nachdem sie darin schon so manchen Schritt und
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Tritt getan hatten, fanden sie auf einem freien Waldplatz ein großes Schloß. Da blieb der erste Hund stehen. »Hast du Mut?« fragte er das Schneiderlein. »Mehr als Geld«, war die Antwort. »Dann binde uns an ein Seil, führe uns in das Schloß und verkaufe uns an die Riesen, die da wohnen. Traue ihnen aber nicht, denn sie sind tückisch und arglistig! Damit du vor ihnen sicher bist, wollen wir dir jeder etwas schenken, das wende wohl und klug an, und dein Glück ist gemacht.« Dann gab er ihm ein Salbentöpfchen. Wenn man aber mit dieser Salbe einen Stuhl bestrich, dann blieb jeder daran hängen, der sich draufsetzte. Der zweite gab ihm ein Stöcklein. Wem man damit aufs Haupt schlug, der tat keinen Pieps mehr. Der dritte gab ihm ein Hörnlein und sprach: »Wenn du in Not kommen solltest, blase nur darauf, und so werden wir dir helfen.« »Ich muß erst versuchen, ob ich auch blasen kann«, sagte das Schneiderlein, »wenn man so harte Arbeit tut wie ich, dann wird einem der Atem kurz«, setzte das Hörnlein an den Mund und blies hinein. Ach, was das für einen Klang hatte! Es war aber nicht des Schneiderleins Atem, der ihm den Klang gab, denn der war so dünn wie eine Nähnadel. Das Schneiderlein steckte nun getrost die drei Geschenke ein und ging mit ihnen in das Schloß. Da kam es oben an der großen Treppe in einen weiten und hohen Saal, wo die Riesen an einer langen Tafel saßen und aus Bechern tranken, von denen jeder wohl ein Viertelohm faßte. Das Schneiderlein zog höflich seinen Hut und fragte, ob die Herren Riesen nicht drei schöne Hunde kaufen wollten. Sie beschauten die Hunde rechts und links und sprachen: »Wir behalten sie und wollen sie gleich in den Stall sperren. Warte du derweil, bis wir wiederkommen. Dann bekommst du dein Geld.«
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Dabei lachten sie einander boshaft zu und warfen Blicke auf das Schneiderlein, die ihm nichts Gutes versprachen. Pfeift der Wind aus dem Loche? dachte der Ritter von der Elle, dann will ich euch schon den Spaß verderben. Er kletterte an den Stühlen hinauf und schmierte sie mit seiner Salbe ein, oben und unten, vorn und hinten. Das war sein Glück, denn draußen hielten die Riesen Rat, wie sie das Schneiderlein mit Ehren totmachen und fressen könnten. Wenn es auch ein magerer Bissen sei, so war ihnen doch Menschenfleisch etwas Neues, und sie wollten vorlieb nehmen, bis sie etwas Besseres bekämen. Als sie wieder hereinkamen, sagten sie zu dem Schneiderlein, es habe sie im Handel betrogen, die Hunde seien nicht soviel wert, und darum müsse es nun gefressen werden. Da sprach das Schneiderlein: »Ich will gern sterben, wenn ich es verdient habe, aber nicht ohne Urteil und Recht. Haltet zuvor ordentlich Gericht über mich, dann will ich mich verteidigen.« Die Riesen lachten, rückten die Stühle in einen Halbkreis und sprachen: »Nun fang an, du Erdenwurm!« »Setzt euch alle zuvor, wie es einem ordentlichen Gerichte gebührt!« Als sie dies getan hatten, nahm das Schneiderlein einen Schemel, setzte sich vor sie hin, stopfte sich eine Pfeife und blies die dicken Wolken nur so aus. »Wird’s bald?« fragten die Riesen. »Ei, ich bin schon fertig. Nun mögt ihr euch verteidigen, denn ich verurteile euch alle zum Tode.« Die Riesen lachten anfangs. Als ihnen aber die Sache zu lange dauerte, wollten sie aufstehen und das Schneiderlein fassen. Aber sie klebten alle fest, und keiner konnte ein Glied rühren.
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»Nun, wird’s bald?« fragte das Schneiderlein und lachte, nahm sein Stöckchen und schlug ihnen allen auf die Köpfe, einem nach dem andern, und sie fielen um und waren tot. »Jetzt will ich von der Arbeit ausruhen«, sagte das Schneiderlein zu sich selbst. Im gleichen Augenblick aber hörte es, wie einer mit schweren Tritten die Treppe heraufkam. Die Tür flog auf und herein trat ein Riese. Der war noch einmal so groß wie die andern. Es war aber der Riesenkönig, und er kam eben von der Jagd nach Hause. Als er nun sah, was hier vorgegangen war, fragte er das Schneiderlein, wer die Riesen erschlagen habe. »Das habe ich getan.« »Hast du das getan, dann bekommst du deine Strafe dafür. Zum Fressen bist du zu schlecht, aber als Spatzenscheuche kannst du allenfalls dienen. Darum will ich dich in den Garten hängen.« Damit hob er das Schneiderlein bei den Beinen hoch und trug es in den Garten, wo ein hoher Galgen stand. Er setzte es oben drauf und fing an, die Schlinge zu drehen. Da besann sich das Schneiderlein kurz, zog sein Hörnlein aus der Tasche und blies aus Leibeskräften hinein, daß es zehn Meilen in die Runde scholl. Mit einemmal standen die drei Hunde da und hatten ihre zerrissenen Ketten am Halse. »Schneiderlein, steig herab!« sprach der erste. »Ich darf nicht, der da will mich hängen.« Da fielen die drei Hunde über den Riesenkönig her und zerrissen ihn in tausend Stücke. Das Schneiderlein warf sich vor lauter Freude den Hunden an die Hälse und tanzte wie besessen auf einem Bein herum. Der erste von den Hunden aber sprach: »Jetzt ist das Schloß von den Riesen befreit und erlöst, und nun mußt du uns dreien noch die Köpfe abhauen.« »Das tue ich nie und nimmermehr«, antwortete das Schneiderlein. 22
»Dann zerreißen wir dich wie den Riesen.« »Ja, wenn ihr’s durchaus nicht anders wollt, dann tue ich euch den Gefallen.« Es holte ein Schwert, faßte es mit beiden Händen und schlug den Hunden die Köpfe ab, drehte sich aber schnell um, denn es konnte kein Blut sehen. Als jemand hinter ihm seinen Namen rief, fuhr das Schneiderlein erschrocken herum, und es stand ein König vor ihm mit zwei wunderschönen Prinzessinnen. Der sprach: »Du bist unser Erlöser, denn wir waren die drei Hunde und waren verwünscht. Zum Dank dafür gebe ich dir eine meiner Töchter zur Frau.« Da griff das Schneiderlein rasch nach der ältesten, und sie gingen nach dem Schlosse. Dort war aller Zauber verschwunden, und die Zimmer wimmelten von Hofherren und Dienern. Als sie aber durch die Fenster schauten, war der ganze Wald in eine prächtige Stadt verwandelt, die kleinen Bäume waren Häuser, die großen Kirchen und Kirchtürme. Aus den Vögeln aber waren lauter fleißige Menschen geworden, und überall war Jubel und Freude, wohin man nur sah. Am folgenden Tage aber wurde die Hochzeit gehalten, und wären du und ich dazugekommen, denk mal, was wäre das für eine Freude gewesen. [Märchen aus Hessen]
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Der Schuster Wie der Schneider, gehört auch der Schuster zum weniger geachteten Handwerk. Er sitzt in seiner Werkstatt auf dem Dreifuß, sein Arbeitsplatz wird durch die Schusterkugel nur spärlich beleuchtet. In den Schustermärchen dominieren Motive, die auf die soziale und gesellschaftliche Lage dieses Handwerks hinweisen.
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Meister Pfriem Meister Pfriem war ein kleiner, hagerer, aber lebhafter Mann, der keinen Augenblick Ruhe hatte. Sein Gesicht, aus dem die aufgestülpte Nase vorragte, war pockennarbig und leichenblaß, sein Haar grau und struppig, seine Augen klein, aber sie blitzten unaufhörlich rechts und links. Er bemerkte alles, wußte alles besser und hatte in allem recht. Ging er auf die Straße, so ruderte er heftig mit beiden Armen, und einmal schlug er einem Mädchen, das Wasser trug, den Eimer so hoch in die Luft, daß er selbst davon begossen wurde. »Schafskopf«, rief er ihr zu, indem er sich schüttelte, »konntest du nicht sehen, daß ich hinter dir herkam?« Seines Handwerks war er ein Schuster, und wenn er arbeitete, so fuhr er mit dem Draht so gewaltig aus, daß er jedem, der sich nicht weit genug in der Ferne hielt, die Faust in den Leib stieß. Kein Geselle blieb länger als einen Monat bei ihm, denn er hatte an der besten Arbeit immer etwas auszusetzen. Bald waren die Stiche nicht gleich, bald war ein Schuh länger, bald ein Absatz höher als der andere, bald war das Leder nicht hinlänglich geschlagen. »Warte«, sagte er zu dem Lehrjungen, »ich will dir schon zeigen, wie man die Haut weich schlägt«, holte den Riemen und gab ihm ein paar Hiebe über den Rücken. Faulenzer nannte er sie alle. Er selbst brachte aber doch nicht viel fertig, weil er keine Viertelstunde ruhig sitzen blieb. War seine Frau frühmorgens aufgestanden und hatte Feuer angezündet, so sprang er aus dem Bett und lief mit bloßen Füßen in die Küche. »Wollt ihr mir das Haus anzünden?« schrie er. »Das ist ja ein Feuer, daß man einen Ochsen dabei braten könnte! Oder kostet das Holz etwa kein Geld?«
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Standen die Mägde am Waschfaß und lachten und schwatzten, so schalt er sie aus: »Da stehen die Gänse und schnattern und vergessen über dem Geschwätz ihre Arbeit. Und wozu die frische Seife? Heillose Verschwendung und obendrein eine schändliche Faulheit! Sie wollen die Hände schonen und das Zeug nicht ordentlich reiben!« Er sprang fort, stieß aber einen Eimer voll Lauge um, so daß die ganze Küche überschwemmt war. Richtete man ein neues Haus auf, so lief er ans Fenster und sah zu. »Da vermauern sie wieder den roten Sandstein«, rief er, »der niemals austrocknet! In dem Haus bleibt kein Mensch gesund. Und seht einmal, wie schlecht die Gesellen die Steine aufsetzen. Der Mörtel taugt auch nichts, Kies muß hinein, nicht Sand. Ich erlebe noch, daß den Leuten das Haus über dem Kopf zusammenfällt.« Er setzte sich und tat ein paar Stiche, dann sprang er wieder auf, hakte sein Schurzfell los und rief: »Ich will nur hinaus und den Menschen ins Gewissen reden!« Er geriet aber an die Zimmerleute. »Was ist das?« rief er. »Ihr haut ja nicht nach der Schnur. Meint ihr, die Balken würden gerad stehen? Es weicht einmal alles aus den Fugen.« Er riß einem Zimmermann die Axt aus der Hand und wollte ihm zeigen, wie er hauen müßte. Als aber ein mit Lehm beladener Wagen herangefahren kam, warf er die Axt weg und sprang zu dem Bauer, der nebenher ging. »Ihr seid nicht recht bei Trost«, rief er, »wer spannt junge Pferde vor einen schwer beladenen Wagen? Die armen Tiere werden euch auf dem Platz umfallen.« Der Bauer gab keine Antwort, und Pfriem lief vor Ärger in seine Werkstätte zurück. Als er sich wieder zur Arbeit setzen wollte, reichte ihm der Lehrjunge einen Schuh. »Was ist das wieder?« schrie er ihn an. »Habe ich euch nicht gesagt, ihr solltet die Schuhe nicht so weit ausschneiden? Wer 27
wird einen solchen Schuh kaufen, an dem fast nichts ist als die Sohle? Ich verlange, daß meine Befehle unmangelhaft befolgt werden!« »Meister«, antwortete der Lehrjunge, »ihr mögt wohl recht haben, daß der Schuh nichts taugt, aber es ist derselbe, den ihr zugeschnitten und selbst in Arbeit genommen habt. Als ihr vorhin aufgesprungen seid, habt ihr ihn vom Tisch herabgeworfen, und ich habe ihn nur aufgehoben. Euch könnte es aber ein Engel vom Himmel nicht recht machen.« Meister Pfriem träumte in einer Nacht, er wäre gestorben und befände sich auf dem Weg nach dem Himmel. Als er anlangte, klopfte er heftig an die Pforte. »Es wundert mich«, sprach er, »daß sie keinen Ring am Tor haben, man klopft sich die Knöchel wund.« Der Apostel Petrus öffnete und wollte sehen, wer so ungestüm Einlaß begehrte. »Ach, ihr seid’s Meister Pfriem«, sagte er, »ich will euch wohl einlassen, aber ich warne euch, daß ihr von eurer Gewohnheit ablaßt und nichts tadelt, was ihr im Himmel seht – es könnte euch übel bekommen.« »Ihr hättet euch die Ermahnung sparen können«, erwiderte Pfriem, »ich weiß schon, was sich ziemt. Und hier ist, Gott sei Dank, alles vollkommen und nichts zu tadeln, wie auf Erden.« Er trat also ein und ging in den weiten Räumen des Himmels auf und ab. Er sah sich um, rechts und links, schüttelte aber zuweilen mit dem Kopf oder brummte etwas vor sich hin. Da erblickte er zwei Engel, die einen Balken wegtrugen. Es war der Balken, den einer im Auge gehabt hatte, während er nach dem Splitter in den Augen anderer suchte. Sie trugen aber den Balken nicht der Länge nach, sondern quer. »Hat man je einen solchen Unverstand gesehen?« dachte Meister Pfriem; doch schwieg er und gab sich zufrieden. »Es ist im Grunde einerlei, wie man den Balken trägt, geradeaus
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oder quer, wenn man nur damit durchkommt, und wahrhaftig ich sehe, sie stoßen nirgends an.« Bald danach erblickte er zwei Engel, welche Wasser aus einem Brunnen in ein Faß schöpften, zugleich bemerkte er, daß das Faß durchlöchert war und das Wasser von allen Seiten herauslief. Sie tränkten die Erde mit Regen. »Alle Hagel!« platzte er heraus, besann sich aber glücklicherweise und dachte: »Vielleicht ist’s bloßer Zeitvertreib. Macht’s einem Spaß, so kann man dergleichen unnütze Dinge tun, zumal hier im Himmel, wo man, wie ich schon bemerkt habe, doch nur faulenzt.« Er ging weiter und sah einen Wagen, der in einem tiefen Loch steckengeblieben war. »Kein Wunder«, sprach er zu dem Mann, der dabeistand, »wer wird so unvernünftig aufladen? Was habt ihr da?« »Fromme Wünsche«, antwortete der Mann, »ich konnte damit nicht auf den rechten Weg kommen, aber ich habe den Wagen noch glücklich heraufgeschoben, und hier werden sie mich nicht steckenlassen.« Wirklich kam ein Engel und spannte zwei Pferde vor. »Ganz gut«, meinte Pfriem, »aber zwei Pferde bringen den Wagen nicht heraus, viere müssen wenigstens davor.« Ein anderer Engel kam und führte noch zwei Pferde herbei, spannte sie aber nicht vorn, sondern hinten an. Das war dem Meister Pfriem zuviel. »Tolpatsch«, brach er los, »was machst du da? Hat man je, solange die Welt steht, auf diese Weise einen Wagen herausgezogen? Da meinen sie in ihrem dünkelhaften Übermut, alles besser zu wissen.« Er wollte weiterreden, aber einen von den Himmelsbewohnern hatte ihn am Kragen gepackt und schob ihn mit unwiderstehlicher Gewalt hinaus. Unter der Pforte drehte der Meister noch einmal den Kopf nach dem Wagen und sah, wie er von vier Flügelpferden in die Höhe gehoben wurde. 29
In diesem Augenblick erwachte Meister Pfriem. »Es geht freilich im Himmel etwas anders her als auf Erden«, sprach er zu sich selbst, »und da läßt sich manches entschuldigen, aber wer kann geduldig mit ansehen, daß man die Pferde zugleich hinten und vorn anspannt? Freilich, sie hatten Flügel, aber wer kann das wissen? Es ist übrigens eine gewaltige Dummheit, Pferden, die vier Beine zum Laufen haben, noch ein Paar Flügel anzuheften. Aber ich muß aufstehen, sonst machen sie mir im Haus lauter verkehrtes Zeug. Es ist nur ein Glück, daß ich nicht wirklich gestorben bin.« [Märchen der Brüder Grimm]
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Die beiden Wanderer Berg und Tal begegnen sich nicht, wohl aber die Menschenkinder, zumal gute und böse. So kamen auch einmal ein Schuster und ein Schneider auf Wanderschaft zusammen. Der Schneider war ein kleiner, hübscher Kerl und war immer lustig und guter Dinge. Er sah den Schuster von der anderen Seite herankommen, und da er an seinem Felleisen merkte, was er für ein Handwerk trieb, rief er ihm ein Spottliedchen zu: »Nähe mir die Naht, ziehe mir den Draht, streich ihn rechts und links mit Pech, schlag, schlag mir fest den Zweck.« Der Schuster aber konnte keinen Spaß vertragen, er verzog sein Gesicht, als wenn er Essig getrunken hätte, und machte Miene, das Schneiderlein am Kragen zu packen. Der kleine Kerl fing aber an zu lachen, reichte ihm seine Flasche und sprach: »Es ist nicht bös gemeint, trink einmal und schluck die Galle hinunter.« Der Schuster tat einen gewaltigen Schluck, und das Gewitter auf seinem Gesicht fing an sich zu verziehen. Er gab dem Schneider die Flasche zurück und sprach: »Ich habe ihr ordentlich zugesprochen, man sagt wohl vom vielen Trinken, aber nicht vom großen Durst. Wollen wir zusammen wandern?« »Mir ist’s recht«, antwortete der Schneider, »wenn du nur Lust hast, in eine große Stadt zu gehen, wo es nicht an Arbeit fehlt.« »Gerade dahin wollte ich auch«, antwortete der Schuster, »in einem kleinen Nest ist nichts zu verdienen, und auf dem Lande gehen die Leute barfuß.« 31
Sie wanderten also zusammen weiter und setzten immer einen Fuß vor den andern, wie die Wiesel im Schnee. Zeit genug hatten sie beide, aber wenig zu beißen und zu brechen. Wenn sie in eine Stadt kamen, so gingen sie umher und grüßten das Handwerk, und weil das Schneiderlein so frisch und munter aussah und so hübsche, rote Backen hatte, so gab ihm jeder gerne, und wenn das Glück gut war, so gab ihm die Meisterstochter unter der Haustüre auch noch einen Kuß auf den Weg. Wenn er mit dem Schuster wieder zusammentraf, so hatte er immer mehr in seinem Bündel. Der griesgrämige Schuster schnitt ein schiefes Gesicht und meinte: »Je größer der Schelm, je größer das Glück.« Aber der Schneider fing an zu lachen und zu singen und teilte alles, was er bekam, mit seinem Kameraden. Klingelten nur ein paar Groschen in seiner Tasche, so ließ er auftragen, schlug vor Freude auf den Tisch, daß die Gläser tanzten, und es hieß bei ihm: »Leicht verdient und leicht vertan.« Als sie eine Zeitlang gewandert waren, kamen sie an einen großen Wald, durch welchen der Weg nach der Königsstadt ging. Es führten aber zwei Fußsteige hindurch, davon war der eine sieben Tage lang, der andere nur zwei Tage, aber niemand von ihnen wußte, welches der kürzere Weg war. Die zwei Wanderer setzten sich unter einen Eichenbaum und ratschlagten, wie sie sich vorsehen und für wie viele Tage sie Brot mitnehmen wollten. Der Schuster sagte: »Man muß weiter denken, als man geht, ich will für sieben Tage Brot mitnehmen.« »Was«, sagte der Schneider, »für sieben Tage Brot auf dem Rücken schleppen wie ein Lasttier und sich nicht umschauen? Ich halte mich an Gott und kehre mich an nichts. Das Geld, das ich in der Tasche habe, das ist im Sommer so gut als im Winter, aber das Brot wird in der heißen Zeit trocken und obendrein schimmelig. Mein Rock geht auch nicht länger als
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bis zu den Knöcheln. Warum sollen wir den richtigen Weg nicht finden? Für zwei Tage Brot, und damit gut.« Es kaufte sich also jeder sein Brot, und dann gingen sie auf gut Glück in den Wald hinein. In dem Wald war es so still wie in einer Kirche. Kein Wind wehte, kein Bach rauschte, kein Vogel sang, und durch die dichtbelaubten Äste drang kein Sonnenstrahl. Der Schuster sprach kein Wort, ihn drückte das schwere Brot auf dem Rücken, daß ihm der Schweiß über sein verdrießliches und finsteres Gesicht herabfloß. Der Schneider aber war ganz munter, sprang daher, pfiff auf einem Blatt oder sang ein Liedchen und dachte: »Gott im Himmel muß sich freuen, daß ich so lustig bin.« Zwei Tage ging das so fort, aber als am dritten Tag der Wald kein Ende nehmen wollte, und der Schneider sein Brot aufgegessen hatte, fiel ihm das Herz doch eine Elle tiefer herab. Indes verlor er nicht den Mut, sondern verließ sich auf Gott und auf sein Glück. Den dritten Tag legte er sich abends hungrig unter einen Baum und stand am anderen Morgen hungrig wieder auf. So ging es auch den vierten Tag, und wenn der Schuster sich auf einen umgestürzten Baum setzte und seine Mahlzeit verzehrte, so blieb dem Schneider nichts als das Zusehen. Bat er um ein Stückchen Brot, so lachte der andere höhnisch und sagte: »Du bist immer so lustig gewesen, da kannst du auch einmal versuchen, wie es ist, wenn man unlustig ist. Die Vögel, die morgens zu früh singen, die stößt abends der Habicht.« Er war ohne Barmherzigkeit. Aber am fünften Morgen konnte der arme Schneider nicht mehr aufstehen und vor Mattigkeit kaum ein Wort herausbringen. Die Backen waren ihm weiß und die Augen rot. Da sagte der Schuster zu ihm: »Ich will dir heute ein Stück Brot geben, aber dafür will ich dir dein rechtes Auge ausstechen.« 33
Der unglückliche Schneider, der doch gerne sein Leben erhalten wollte, konnte sich nicht anders helfen: er weinte noch einmal mit beiden Augen und hielt sie dann hin, und der Schuster, der ein Herz von Stein hatte, stach ihm mit seinem scharfen Messer das rechte Auge aus. Dem Schneider kam in den Sinn, was ihm sonst seine Mutter gesagt hatte, wenn er in der Speisekammer genascht hatte: »Essen, soviel man mag, und leiden, was man muß.« Als er sein teuer bezahltes Brot verzehrt hatte, machte er sich wieder auf die Beine, vergaß sein Unglück und tröstete sich damit, daß er mit einem Auge noch immer genug sehen könnte. Aber am sechsten Tag meldete sich der Hunger aufs neue und zehrte ihm fast das Herz auf. Er fiel abends bei einem Baum nieder, und am siebten Morgen konnte er sich vor Mattigkeit nicht erheben, und der Tod saß ihm im Nacken. Da sagte der Schuster: »Ich will Barmherzigkeit ausüben und dir nochmals Brot geben; umsonst bekommst du es nicht, ich steche dir dafür das andere Auge noch aus.« Da erkannte der Schneider sein leichtsinniges Leben, bat den lieben Gott um Verzeihung und sprach: »Tue, was du mußt, ich will leiden, was ich muß; aber bedenke, daß unser Herrgott nicht jeden Augenblick richtet und daß eine andere Stunde kommt, wo die böse Tat vergolten wird, die du an mir verübst und die ich nicht an dir verdient habe. Ich habe in guten Tagen mit dir geteilt, was ich hatte. Mein Handwerk ist von der Art, daß Stich muß Stich vertreiben. Wenn ich keine Augen mehr habe und nicht mehr nähen kann, so muß ich betteln gehen. Laß mich nur, wenn ich blind bin, hier nicht allein liegen, sonst muß ich verschmachten.« Der Schuster aber, der Gott aus seinem Herzen vertrieben hatte, nahm das Messer und stach ihm noch das linke Auge aus. Dann gab er ihm ein Stück Brot zu essen, reichte ihm einen Stock und führte ihn hinter sich her.
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Als die Sonne unterging, kamen sie aus dem Wald, und vor dem Wald auf dem Feld stand ein Galgen. Dahin leitete der Schuster den blinden Schneider, ließ ihn dann liegen und ging seiner Wege. Vor Müdigkeit, Schmerz und Hunger schlief der Unglückliche ein und schlief die ganze Nacht. Als der Tag dämmerte, erwachte er, wußte aber nicht, wo er lag. An dem Galgen hingen zwei arme Sünder, und auf dem Kopfe eines jeden saß eine Krähe. Da fing der eine an zu sprechen: »Bruder, wachst du?« »Ja, ich wache«, antwortete der zweite. »So will ich dir etwas sagen«, fing der erste wieder an. »Der Tau, der heute nacht über uns vom Galgen herabgefallen ist, der gibt jedem, der sich damit wäscht, die Augen wieder. Wenn das die Blinden wüßten, wie mancher könnte sein Gesicht wiederhaben, der nicht glaubt, daß das möglich sei.« Als der Schneider das hörte, nahm er sein Taschentuch, drückte es auf das Gras, und als es mit dem Tau befeuchtet war, wusch er seine Augenhöhlen damit. Alsbald ging in Erfüllung, was der Gehenkte gesagt hatte, und ein paar frische und gesunde Augen füllten die Höhlen. Es dauerte nicht lange, so sah der Schneider die Sonne hinter den Bergen aufsteigen: vor ihm in der Ebene lag die große Königstadt mit ihren prächtigen Toren und hundert Türmen, und die goldenen Knöpfe und Kreuze, die auf den Spitzen standen, fingen an zu glühen. Er konnte jedes Blatt an den Bäumen unterscheiden, erblickte die Vögel, die vorbeiflogen, und die Mücken, die in der Luft tanzten. Er holte eine Nähnadel aus der Tasche, und als er den Zwirn einfädeln konnte, so gut als er es je gekonnt hatte, so sprang sein Herz vor Freude. Er warf sich auf seine Knie, dankte Gott für die erwiesene Gnade und sprach seinen Morgensegen: er vergaß auch nicht, für die armen Sünder zu bitten, die da hingen, wie der Schwengel in der Glocke, und die der Wind aneinander schlug. Dann nahm er ein Bündel auf den
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Rücken, vergaß bald das ausgestandene Herzeleid und ging unter Singen und Pfeifen weiter. Das erste, was ihm begegnete, war ein braunes Füllen, das frei im Feld herumsprang. Er packte es bei der Mähne, wollte sich aufschwingen und in die Stadt reiten. Das Füllen aber bat um seine Freiheit: »Ich bin noch zu jung«, sprach es. »Auch ein leichter Schneider wie du bricht mir den Rücken entzwei, laß mich laufen, bis ich stark geworden bin. Es kommt vielleicht eine Zeit, wo ich dir’s lohnen kann.« »Lauf hin«, sagte der Schneider, »ich sehe, du bist auch so ein Springinsfeld.« Er gab ihm noch einen Hieb mit der Gerte über den Rücken, daß es vor Freude mit den Hinterbeinen ausschlug, über Hecken und Gräben setzte und in das Feld hineinjagte. Aber der Schneider hatte seit gestern nichts gegessen. »Die Sonne«, sprach er, »füllt mir zwar die Augen, aber das Brot nicht den Mund. Das erste, was mir begegnet und halbwegs genießbar ist, das muß herhalten.« Indem schritt ein Storch ganz ernsthaft über die Wiese daher. »Halt, halt«, rief der Schneider und packte ihn am Bein. »Ich weiß nicht, ob du zu genießen bist, aber mein Hunger erlaubt mir keine lange Wahl, ich muß dir den Kopf abschneiden und dich braten.« »Tu das nicht«, antwortete der Storch, »ich bin ein heiliger Vogel, dem niemand ein Leid zufügt, und der den Menschen großen Nutzen bringt. Läßt du mir mein Leben, so kann ich dir’s ein andermal vergelten.« »So zieh ab, Vetter Langbein«, sagte der Schneider. Der Storch erhob sich, ließ die langen Beine hängen und flog gemächlich fort. »Was soll daraus werden?« sagte der Schneider zu sich selbst, »mein Hunger wird immer größer und mein Magen
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immer leerer. Was mir jetzt in den Weg kommt, das ist verloren.« Indem sah er auf einem Teich ein paar junge Enten daherschwimmen. »Ihr kommt ja wie gerufen«, sagte er, packte eine davon und wollte ihr den Hals umdrehen. Da fing eine alte Ente, die in dem Schilf steckte, laut an zu kreischen, schwamm mit aufgesperrtem Schnabel herbei und bat ihn flehentlich, sich ihrer sieben Kinder zu erbarmen. »Denkst du nicht«, sagte sie, »wie deine Mutter jammern würde, wenn dich einer wegholen und dir den Garaus machen wollte?« »Sei nur still«, sagte der gutmütige Schneider, »du sollst deine Kinder behalten«, und setzte die Gefangene wieder ins Wasser. Als er sich umkehrte, stand er vor einem alten Baum, der halb hohl war, und sah die wilden Bienen aus und ein fliegen. »Da finde ich gleich den Lohn für meine gute Tat«, sagte der Schneider, »der Honig wird mich laben.« Aber der Weisel kam heraus, drohte und sprach: »Wenn du mein Volk anrührst und mein Nest zerstörst, so sollen dir unsere Stacheln wie zehntausend glühende Nadeln in die Haut fahren. Läßt du uns aber in Ruhe und gehst deiner Wege, so wollen wir dir ein andermal dafür einen Dienst leisten.« Das Schneiderlein sah, daß auch hier nichts anzufangen war. »Drei Schüsseln leer«, sagte er, »und auf der vierten nichts, das ist eine schlechte Mahlzeit.« Er schleppte sich also mit seinem ausgehungerten Magen in die Stadt, und da es eben zu Mittag läutete, so war für ihn im Gasthaus schon gekocht, und er konnte sich gleich zu Tisch setzen. Als er satt war, sagte er: »Nun will ich auch arbeiten.« Er ging in der Stadt umher, suchte einen Meister und fand auch bald ein gutes Unterkommen. Da er aber sein Handwerk von Grund auf gelernt hatte, so dauerte es nicht lange, er wurde 37
berühmt, und jeder wollte seinen neuen Rock von dem kleinen Schneider gemacht haben. Alle Tage nahm sein Ansehen zu. »Ich kann in meiner Kunst nicht weiterkommen«, sprach er, »und doch geht’s jeden Tag besser.« Endlich bestellte ihn der König zu seinem Hofschneider. Aber wie’s in der Welt geht. An demselben Tag war sein ehemaliger Kamerad, der Schuster, auch Hofschuster geworden. Als dieser den Schneider erblickte und sah, daß er wieder zwei gesunde Augen hatte, so peinigte ihn das Gewissen. »Ehe er Rache an mir nimmt«, dachte er bei sich selbst, »muß ich ihm eine Grube graben.« Wer aber andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Abends, als er Feierabend gemacht hatte und es dämmrig geworden war, schlich er sich zu dem König und sagte: »König, der Schneider ist ein übermütiger Mensch und hat sich vermessen, er wollte die goldene Krone wieder herbeischaffen, die vor alten Zeiten verlorengegangen ist.« »Das sollte mir lieb sein«, sprach der König, ließ den Schneider am anderen Morgen vor sich kommen und befahl ihm, die Krone wieder herbeizuschaffen oder für immer die Stadt zu verlassen. »Oho«, dachte der Schneider, »ein Schelm gibt mehr, als er hat. Wenn der murrköpfige König von mir verlangt, was kein Mensch leisten kann, so will ich nicht warten bis morgen, sondern gleich heute wieder zur Stadt hinauswandern.« Er schnürte also sein Bündel. Als er aber aus dem Tor heraus war, so tat es ihm doch leid, daß er sein Glück aufgeben und die Stadt, in der es ihm so wohl gegangen war, mit dem Rücken ansehen sollte. Er kam zu dem Teich, wo er mit den Enten Bekanntschaft gemacht hatte, da saß gerade die Alte, der er ihre Jungen gelassen hatte, am Ufer und putzte sich mit dem Schnabel. Sie erkannte ihn gleich und fragte, warum er den Kopf so hängenlasse. 38
»Du wirst dich nicht wundern, wenn du hörst, was mir begegnet ist«, antwortete der Schneider und erzählte ihr sein Schicksal. »Wenn’s weiter nichts ist«, sagte die Ente, »da können wir Rat schaffen. Die Krone ist ins Wasser gefallen und liegt unten auf dem Grund, wie bald haben wir sie heraufgeholt. Breite nur derweilen dein Taschentuch am Ufer aus.« Sie tauchte mit ihren sieben Jungen unter, und nach fünf Minuten war sie wieder oben und saß mitten in der Krone, die auf ihren Fittichen ruhte, und ihre Jungen schwammen rund herum, hatten ihre Schnäbel untergelegt und halfen tragen. Sie schwammen ans Land und legten die Krone auf das Tuch. Du glaubst nicht, wie prächtig die Krone war, wenn die Sonne darauf schien, so glänzte sie wie hunderttausend Karfunkelsteine. Der Schneider band sein Tuch mit den vier Zipfeln zusammen und trug sie zum König, der in großer Freude war und dem Schneider eine goldene Kette um den Hals hing. Als der Schuster sah, daß der eine Streich mißlungen war, so besann er sich auf einen zweiten, trat vor den König und sprach: »König, der Schneider ist wieder so übermütig geworden, er vermißt sich, das ganze königliche Schloß mit allem, was darin ist, lose und fest, innen und außen, in Wachs abzubilden.« Der König ließ den Schneider kommen und befahl ihm, das ganze königliche Schloß, mit allem, was darin wäre, lose und fest, innen und außen, in Wachs abzubilden, und wenn er es nicht zustande brächte oder es fehlte nur ein Nagel an der Wand, so sollte er zeitlebens unter der Erde gefangensitzen. Der Schneider dachte: »Es kommt immer ärger, das hält kein Mensch aus«, warf sein Bündel auf den Rücken und wanderte fort. Als er an den hohlen Baum kam, setzte er sich nieder und ließ den Kopf hängen. Die Bienen kamen herausgeflogen, und
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der Weisel fragte ihn, ob er einen steifen Hals hätte, weil er den Kopf so schief hielt. »Ach nein«, antwortete der Schneider, »mich drückt etwas anderes«, und erzählte, was der König von ihm gefordert hatte. Die Bienen fingen an untereinander zu summen und zu brummen, und der Weisel sprach: »Geh nur wieder nach Haus, komm aber morgen um diese Zeit wieder und bring ein großes Tuch mit, so wird alles gutgehen.« Da kehrte er wieder um, die Bienen aber flogen nach dem königlichen Schloß, geradezu in die offenen Fenster hinein, krochen in allen Ecken herum und besahen alles aufs genaueste. Dann flogen sie zurück und bildeten das Schloß in Wachs nach mit einer solchen Geschwindigkeit, daß man meinte, es wüchse einem vor den Augen. Schon am Abend war alles fertig, und als der Schneider am folgenden Morgen kam, so stand das ganze prächtige Gebäude da, und es fehlte kein Nagel an der Wand und kein Ziegel auf dem Dach. Dabei war es zart und schneeweiß und roch süß wie Honig. Der Schneider packte es vorsichtig in sein Tuch und brachte es dem König, der aber konnte sich nicht genug verwundern, stellte es in seinem größten Saal auf und schenkte dem Schneider dafür ein großes, steinernes Haus. Der Schuster aber ließ nicht nach, ging zum drittenmal zu dem König und sprach: »König, dem Schneider ist zu Ohren gekommen, daß auf dem Schloßhof kein Wasser springen will, da hat er sich vermessen, es solle mitten im Hof mannshoch aufsteigen und hell sein wie Kristall.« Da ließ der König den Schneider herbeiholen und sagte: »Wenn nicht morgen ein Strahl von Wasser in meinem Hof springt, wie du versprochen hast, so soll dich der Scharfrichter auf demselben Hof um einen Kopf kürzer machen.« Der arme Schneider besann sich nicht lange und eilte zum Tore hinaus, und weil es ihm diesmal ans Leben gehen sollte, so rollten ihm die Tränen über die Backen herab. 40
Indem er so voll Trauer dahinging, kam das Füllen herangesprungen, dem er einmal die Freiheit geschenkt hatte, und aus dem ein hübscher Brauner geworden war. »Jetzt kommt die Stunde«, sprach er zu ihm, »wo ich dir deine Guttat vergelten kann. Ich weiß schon, was dir fehlt, aber es soll dir bald geholfen werden, sitz nur auf, mein Rücken kann deiner zwei tragen.« Dem Schneider kam das Herz wieder, er sprang in einem Satz auf, und das Pferd rannte in vollem Lauf zur Stadt hinein und geradezu auf den Schloßhof. Da jagte es dreimal rundherum, schnell wie der Blitz, und beim drittenmal stürzte es nieder. In dem Augenblick aber krachte es furchtbar: Ein Stück Erde sprang in der Mitte des Hofes wie eine Kugel in die Luft und über das Schloß hinaus, und gleich hinterher erhob sich ein Strahl von Wasser so hoch wie ein Mann und Pferd, und das Wasser war so rein wie Kristall, und die Sonnenstrahlen fingen an darauf zu tanzen. Als der König das sah, stand er vor Verwunderung auf, ging und umarmte das Schneiderlein im Angesicht aller Menschen. Aber das Glück dauerte nicht lange. Der König hatte Töchter genug, eine immer schöner als die andere, aber keinen Sohn. Da begab sich der boshafte Schuster zum viertenmal zu dem König und sprach: »König, der Schneider läßt nicht ab von seinem Übermut. Jetzt hat er sich vermessen, wenn er wolle, so könne er dem Herrn König einen Sohn durch die Lüfte herbeitragen lassen.« Der König ließ den Schneider rufen und sprach: »Wenn du mir binnen neun Tagen einen Sohn bringen läßt, so sollst du meine älteste Tochter zur Frau haben.« »Der Lohn ist freilich groß«, dachte das Schneiderlein, »da täte man wohl ein übriges, aber die Kirschen hängen mir zu hoch: wenn ich danach steige, so bricht unter mir der Ast, und ich falle herab.«
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Er ging nach Hause und setzte sich auf seinen Arbeitstisch und bedachte sich, was zu tun wäre. »Es geht nicht«, rief er endlich aus, »ich will fort, hier kann ich doch nicht in Ruhe leben.« Er schnürte sein Bündel und eilte zum Tor hinaus. Als er auf die Wiese kam, erblickte er seinen alten Freund, den Storch, der da, wie ein Weltweiser, auf und ab ging, zuweilen still stand, einen Frosch in nähere Betrachtung nahm und ihn endlich verschluckte. Der Storch kam heran und begrüßte ihn. »Ich sehe«, hob er an, »du hast deinen Ranzen auf dem Rücken, warum willst du die Stadt verlassen?« Der Schneider erzählte ihm, was der König von ihm verlangt hatte und er nicht erfüllen konnte, und jammerte über sein Mißgeschick. »Laß dir darüber keine grauen Haare wachsen«, sagte der Storch. »Ich will dir aus der Not helfen. Schon lange bringe ich die Wickelkinder in die Stadt, da kann ich auch einmal einen kleinen Prinzen aus dem Brunnen holen. Geh heim und verhalte dich ruhig. Heute über neun Tage begib dich in das königliche Schloß, da will ich kommen.« Das Schneiderlein ging nach Haus und war zu rechter Zeit in dem Schloß. Nicht lange, so kam der Storch herangeflogen und klopfte ans Fenster. Der Schneider öffnete ihm, und Vetter Langbein stieg vorsichtig herein und ging mit gravitätischen Schritten über den glatten Marmorboden. Er hatte aber ein Kind im Schnabel, das schön wie ein Engel war und seine Händchen nach der Königin ausstreckte. Er legte es ihr auf den Schoß, und sie herzte und küßte es und war vor Freude außer sich. Der Storch nahm, bevor er wieder wegflog, seine Reisetasche von der Schulter herab und überreichte sie der Königin. Es steckten Tüten darin mit bunten Zuckererbsen, sie wurden unter die kleinen Prinzessinnen verteilt. Die älteste aber erhielt nichts, sondern bekam den lustigen Schneider zum Mann. 42
»Es ist mir gerade so«, sprach der Schneider, »als wenn ich das große Los gewonnen hätte. Meine Mutter hatte doch recht, die sagte immer, wer auf Gott vertraut und nur Glück hat, dem kann’s nicht fehlen.« Der Schuster mußte die Schuhe machen, in welchen das Schneiderlein auf dem Hochzeitsfest tanzte, hernach ward ihm befohlen, die Stadt auf immer zu verlassen. Der Weg nach dem Wald führte ihn zu dem Galgen. Von Zorn, Wut und Hitze des Tages ermüdet, warf er sich nieder. Als er die Augen zumachte und schlafen wollte, stürzten die beiden Krähen von den Köpfen der Gehenkten mit lautem Geschrei herab und hackten ihm die Augen aus. Unsinnig rannte er in den Wald und muß darin verschmachtet sein, denn es hat ihn niemand wiedergesehen oder etwas von ihm gehört. [Märchen der Brüder Grimm]
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Vom glücklichen Schuster Es war einmal ein Schuster, der saß auf seinem Dreifuß und zog lustig seinen Pechdraht und pfiff und sang dazu. Da kam der Herr Jesus an seinem Hause vorbei und sah den fröhlichen Mann, setzte sich zu ihm hin und sprach: »Gott grüß euch, Schustermeister!« »Schönen Dank, Herr Wandersmann!« sprach der Schuster, denn er kannte den Herrn Jesus nicht. »Ihr scheint mir ein recht glücklicher Mann zu sein«, fuhr Jesus fort, und der Schuster entgegnete: »Ei, was soll mir auch fehlen? Gestern habe ich ein Paar Stiefel verkauft und von dem Gelde neues Leder und frisches Brot mitgebracht. Und morgen sind die Stiefel wieder fertig, und da hab’ ich wieder Verdienst. Ist das kein glückliches Leben?« »Doch«, antwortete Jesus, »aber hört einmal, ich muß heute noch fort von hier und hätte doch gern etwas, das von eurer Hand gemacht ist. Wollt ihr mir den einen fertigen Schuh verkaufen, ich will euch soviel dafür geben, daß ihr Leder für zweieinhalb Paar kaufen könnt – seid ihr das zufrieden?« »Ja, warum nicht?« sprach der Schuster. »Ich bin euch viel Dank schuldig. Aber was wollt ihr mit dem einen Schuh? Es ist ein gar wunderlicher Einfall von euch.« »Darum kümmert euch nicht«, entgegnete Jesus und nahm den Schuh und gab dem Schuster das Geld und ging seiner Wege weiter. Drei Wochen später kam der Herr Jesus wieder vorbei um zu sehen, was der Schuster mache. Aber in dem Schusterhäuschen war es so still, so still wie in einem Mäuseloch. Das wunderte den Herrn Jesus sehr, und er trat hinein und fragte den Schuster, warum er nicht mehr sänge. »Ei«, sprach der Schuster, »ich habe das Geld da liegen, was mir übrigblieb und was ich durch dich gewann, und sehe nun, 44
daß meine Kinder keine Schuhe und Strümpfe haben, und ich möchte sie ihnen doch so gerne kaufen. Aber ich habe nicht genug – und das Geld liegt so da, wie leicht könnte es mir gestohlen werden!« »Wenn das deine ganze Sorge ist«, sprach Jesus, »dann will ich dir schon helfen«, und gab dem Schuster Geld, um Schuhe und Strümpfe für die Kinder zu kaufen. Er wünschte ihm einen guten Tag und ging seiner Wege weiter. Nach drei Wochen kam der Herr abermals in die Nähe des Schusterhäuschens und freute sich schon, den Schuster wieder recht lustig singen zu hören. Aber darin irrte er sich, denn es war noch stiller in dem Häuslein als zuvor. Erstaunt trat Jesus hinein zu dem Manne und fragte, was denn nun noch fehle, er sänge ja gar nicht mehr. »Ja, das dank dir der Gottseibeiuns«, fuhr der Schuster auf. »Dein dummes Geld hättest du nur behalten sollen, das hat mir nur Mäusenester in den Kopf gesetzt!« Damit griff er unter das Kopfkissen seines Bettes und nahm das Geld und warf es dem Herrn Jesus vor die Füße. Jesus wurde darüber böse und ging weg. Am anderen Morgen dachte der Herr, er müsse doch einmal zusehen, ob der Schuster nun glücklicher wäre, und stieg aus dem Himmel nieder – er war gewiß noch sechsmal so hoch wie der höchste Kirchturm der Erde. Da hörte er den Schuster schon singen und jauchzen: »Juchhei, Juchhei, Juchheißa!« Da dachte der Herr: »Ach, was wär’ es für ein gutes Leben auf der Welt, wenn alle Menschen so genügsam wären wie der Schustermeister!« [Märchen aus Hessen]
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Vom armen Schuster Dieser Schuster war sehr arm. Er war Vater von acht Kindern und die Frau war ihm gestorben. Er hatte sehr schlechte Tage und wenig Verdienst, und die armen Würmchen wollten doch ihr Brot haben und schrien oft, wie die Raben, vor Hunger. So ging es lange Zeit, und der Schuster versetzte seinen letzten Leisten, um den Hunger der Kinder zu stillen. Allein, als der nächste Tag anbrach, stellte sich auch der Hunger wieder ein und die Kinder weinten. Da wußte sich der Schuster gar nicht zu helfen. Endlich fiel ihm ein Ausweg ein. Er ging zu seinem Nachbar, der sehr, sehr reich, aber auch sehr geizig war, und bat ihn, er möchte ihm doch einige Kreuzer leihen, damit er seinen Kindern Brot kaufen könnte, denn sonst müßten sie Hungers sterben. Der geizige Mann schnauzte aber den Armen an und schrie: »Wenn deine Kinder verhungern, was geht das mich an? Ich gebe dir keinen gespaltenen Heller, geschweige einen ganzen. Ich bin nicht der Narr, der das Geld hinauswirft, ohne Hoffnung, es je wiederzubekommen.« Der arme Schuster sah nun, daß sein Bitten umsonst war, und er ging ohne Geld und ohne Trost vom reichen Nachbarn weg zu seinen hungernden Kindern. Diese meinten, der Vater würde mit Brot kommen, und warteten mit größter Sehnsucht auf ihn. Der Vater kam nun, und als er die armen, hungernden Kindlein sah, ging es ihm ans Herz, und er fing auch an zu weinen. Die Kindlein, als sie das sahen, weinten noch mehr und wurden immer trostloser und trauriger. So ging es zwei Tage, daß sie einander ansahen und weinten, und der Hunger wurde immer größer und größer. Da dachte sich der Schuster: »Ich will es noch einmal probieren und zum Nachbar gehen und ihn um etwas bitten. Vielleicht erbarmen Gott und meine Tränen sein hartes Herz.« 46
Der Schuster begab sich nun zum Nachbarn und weinte und bat ihn auf den Knien recht inständig um etwas. »Ja«, erwiderte der geizige Nachbar, »einen Strick will ich dir geben, damit du deinem elenden Leben ein Ende machen kannst.« Und er gab ihm einen Strick. Der arme Schuster nahm den Strick und dachte an seine bereits verhungerten Kinder und an die noch lebenden, zu denen er aber ohne Brot nimmer zurückkehren mochte, und er beschloß, wenn der himmlische Vater keine Hilfe senden würde, sich aufzuhängen. Er ging nun in den Wald hinaus und ging recht tief in denselben hinein, damit kein Mensch ihn sehen sollte. Und wie er im dichten Wald so dastand und sich aus Hunger aufhängen wollte, wurde es ihm so schwer ums Herz, daß er von der Welt scheiden sollte, und er dachte: »Bevor ich sterbe, will ich die schöne Welt doch noch anschauen.« Er suchte nun einen recht hohen Baum und stieg bis zum Wipfel hinauf. Und wie er droben war, sah er recht weit herum, und es kam ihm noch schwerer vor, sich aufzuhängen. Wie er nun so herumschaute, da erblickte er tiefer in dem Walde ein großes, großes Haus, das war so schön, wie er nie eines gesehen hatte. Er kletterte nun eilig, wie ein Eichkätzchen, vom Baume herunter, ließ den Strick liegen wo er lag, und eilte dem schönen, großen Hause zu, um dort Hilfe und Trost zu suchen, denn zum Hängen, meinte er in seinem Sinne, ist es noch Zeit. Als er zum Hause kam, fand er es offen. Er ging hinein und kam in einen weiten, lichten Saal, in dem viele, viele Tafeln standen, und alle waren gedeckt mit den herrlichsten Speisen – aber keine Seele war im ganzen Hause zu finden. Da war ein Glühen und Duften, daß der arme Schuster glaubte, er sei bei einer himmlischen Hochzeit. Als sich lange Zeit niemand sehen ließ, setzte sich der hungrige Schuster endlich an eine Tafel hin, kostete von jeder Speise und trank von jedem Wem. Er war schon fast satt, da 47
hörte er plötzlich Stimmen und es war, als ob Leute kommen würden. Der arme Schuster fürchtete sich und versteckte sich eilig in dem Ofenloch. Als er dort horchte und zitterte, kamen zwölf Herren und setzten sich zu Tische. Als sie sahen, daß alles angenascht war, murmelten sie: »Wer hat von meiner Suppe gegessen?« »Wer hat von meinem Fleische gekostet?« »Wer hat von meinem Brote geschnitten?« »Wer hat von meinem Weine getrunken?« »Wer hat mit meinem Löffelein geschöpft?« »Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?« So murmelten und murrten sie, bis der erste, der gekommen war, fragte, was es Neues gäbe. Da sagte der zweite, er wisse nichts, und so ging es der Reihe nach, alle bis auf den letzten wußten nichts. Als die Reihe zum letzten gekommen war, erzählte er, in der Königstadt liege die Königstochter schwer krank und leide am rechten Fuß fürchterliche Schmerzen. Kein Doktor könne ihr helfen, und die schöne Prinzessin sei ohne Rettung verloren, wenn ihr nicht bald geholfen würde. »Und es kann ihr niemand helfen? Und können wir ihr nicht helfen?« fragten alle auf einmal. Da antwortete der letzte: »Ich wüßte schon ein Mittel. Es darf nur jemand zum weißen Felsen hingehen. Um Mitternacht bewegt sich dort der große Stein, und ein gräßlicher Wurm kommt zum Vorschein. Diesen muß man erschlagen, ihm das Fett nehmen, damit den rechten Fuß der Königstochter einschmieren, und sie wird in acht Tagen gesund sein.« Als die zwölf Herren dieses gehört und gegessen hatten, standen sie von ihren Sitzen auf und gingen wieder weg. Der arme Schuster war darüber froh, schlüpfte aus dem finsteren Ofenloch hervor, stillte vollends seinen Hunger und 48
ging dann fort, denn er wollte die schöne Königstochter heilen und sich auf diese Weise Geld verschaffen. Kaum war er einige Schritte gegangen, da kam er zu einer schönen Straße, und diese führte schnurgerade zur Königstadt und zur prächtigen Königsburg. Er ging gerade auf die Burg zu und zum König und sagte zu diesem, er wolle seine Tochter heilen, wenn er ihm sechs starke Männer mitgeben würde. Die Prinzessin hatte gerade so große Schmerzen, daß sie laut aufschrie. Da war der König gleich bereit und ließ sechs baumstarke Männer holen, und die übergab er dem armen Schuster. Der Schuster ging nun wieder in den Wald hinaus und zum weißen Felsen hin und wartete dort mit seinen sechs Gesellen bis Mitternacht. Als es Mitternacht war, bewegte sich wirklich der Stein, und ein fürchterlich großer Wurm kam hervor. Da stürzte sich der Schuster mit den sechs starken Männern auf das Untier, und alle sieben schlugen so lange mit Keulen und Äxten darauf, bis es mausetot war. Der Schuster nahm nun das Fett aus dem Leib des Wurmes, ging zum König zurück und beschmierte den rechten Fuß der Prinzessin. Dieser ging es besser und besser, und nach acht Tagen war sie wieder frisch und gesund und sah aus weiß und rot wie ein Apfel. Der alte König war ganz erfreut, umarmte den armen Schuster und führte ihn in die Schatzkammer. Der Schuster war über die Pracht und Herrlichkeit der Schätze ganz außer sich. Und als er so staunte und schaute, sagte der König: »Nimm soviel Gold, wie du willst!« Der Schuster ließ sich das nicht zweimal sagen und steckte sich alle Taschen voll Gold, so daß er nicht mehr tragen konnte, und dankte dem König dafür. Der König war aber damit noch nicht zufrieden, denn ihm hatte der Schuster zu wenig genommen. Er gab ihm noch einen so großen Sack voll Gold, daß der Schuster einen Esel leihen mußte, um das viele Geld nach Hause zu bringen.
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Als der Schuster mit dem Schatze nach Hause kam, fand er die Kinder noch am Leben, denn sie hatten indessen etwas zu essen bekommen. Die waren so froh, ihren Vater wieder zu haben und lebten mit ihm, der nun ein steinreicher Mann war, vergnügt und glücklich viele Jahre hindurch, und von einer Not war keine Rede mehr. Als der geizige Nachbar sah, wie der arme Schuster mit seinen noch lebenden Kindern schön aß und trank und glücklich lebte, da wunderte es ihn, wie es zugegangen sei. Er ging deshalb zum Schuster hin und fragte ihn, wie es denn gekommen wäre, daß er nun so gut fortkomme. Der Schuster machte keinen Hehl und erzählte dem Geizigen auch richtig, wie es ihm ergangen sei. Da dachte sich der Geizige: »Ich muß es auch so machen«, ging in den Wald hinaus, stieg auf den Baum, sah in die Weite, sah das große, schöne Haus und stieg wieder herunter. Er eilte nun der Gegend zu, wo das Haus stehen mußte, ging in dasselbe hinein, fand die Tische gedeckt, aß von den Speisen und versteckte sich endlich, als er jemand kommen hörte, im Ofenloch. Die zwölf Herren kamen, setzten sich zu Tisch, und es ging wie beim ersten Male zu, und der letzte erzählte wieder folgende Geschichte: »Es war einmal ein armer Mann hier, den die bitterste Not hierhergetrieben hatte und den wir glücklich gemacht haben. Heute aber steckt ein reicher, reicher Mann im Ofenloch, den nur der Geiz und die Habsucht hergeführt haben, und auf diesen dürfen wir alle losschlagen.« Auf diese Rede fuhren alle zwölf sogleich von ihren Sitzen auf, stürzten auf das Ofenloch zu und stachen immerzu in dasselbe hinein, bis der Geizige ganz erstochen und mausetot war. [Märchen aus Tirol]
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Von dem listigen Schuster Es war einmal ein Schuster, der war sehr arm und konnte keine Arbeit finden, so daß er mit seiner Frau fast Hungers starb. Da sprach er eines Tages: »Liebe Frau, ich finde hier keine Arbeit, ich will mich auf den Weg machen und in die Ebene von Mascalucia gehen. Vielleicht finde ich dort mein Glück.« Also machte er sich auf und wanderte nach Mascalucia. Kaum hatte er angefangen zu rufen: »Wer wünscht einen Schuster«, so öffnete sich auch schon ein Fenster, und eine Frau rief ihn, er solle ihr ein Paar Schuhe flicken. Als er fertig war, fragte sie: »Wieviel bin ich euch schuldig?« »Einen Tari.« »Hier habt ihr achtzehn Grani, und der Herr begleite euch.« Der Schuster fing wieder an zu rufen, und bald öffnete sich wieder ein Fenster, und er bekam neue Arbeit. »Wieviel sind wir euch schuldig?« »Drei Carlini.« »Hier sind fünfundzwanzig Grani, und der Herr begleite euch.« »Nun«, dachte Meister Giuseppe, »hier geht es ja ganz ordentlich. Nun will ich aber noch nicht zu meiner Frau zurückkehren, sondern erst ein hübsches Sümmchen verdienen und dann zu Esel heimreiten.« Also blieb er viele Tage da, hatte immer Arbeit vollauf und hatte endlich vier Unzen verdient. Da ging er auf den Jahrmarkt, kaufte sich um zwei Unzen einen guten Esel und machte sich auf, nach Catania zurück. Als er nun durch den Wald kam, sah er von weitem vier Räuber auf sich zukommen. »Ach, nun bin ich verloren«, dachte er, »die werden mir gewiß alles nehmen, was ich mir mit so vieler Mühe verdient habe.« 51
Er war aber schlau und verlor den Mut nicht. Er nahm die fünf Taler, die ihm geblieben waren, und steckte sie dem Esel unter den Schwanz. Die Räuber fielen ihn an und forderten ihm sein Geld ab. »Ach, liebe Freunde«, rief er, »ich bin ein armer Schuster und habe kein Geld. Ich besitze nichts als diesen Esel.« In dem Augenblick hob der Esel den Schwanz auf, und die fünf Taler fielen auf den Boden. »Was ist denn das?« fragten die Räuber. »Ja, meine Freunde«, antwortete der Schuster, »dieser Esel ist eben ein Goldesel, und bringt mir viel Geld ein.« »Verkaufe ihn uns«, baten die Räuber, »wir wollen dir geben, soviel du willst.« Der Schuster weigerte sich anfangs, dann tat er eben, als ob er sich bereden ließe, und verkaufte ihnen den Esel für fünfzig Unzen. »Hört aber, was ich euch sage«, rief er ihnen noch zu, »jeder von euch muß ihn der Reihe nach einen Tag und eine Nacht haben, sonst zankt ihr euch um das Gold, das er euch gibt.« Die Räuber trieben ihren Esel vergnügt in den Wald hinein, und Meister Giuseppe wanderte lachend nach Haus und freute sich über das gute Geschäft, das er gemacht hatte. Er kaufte ein gutes Mittagsmahl ein, schmauste vergnügt mit seiner Frau und kaufte sich gleich den nächsten Tag einen hübschen Weinberg. Unterdessen waren die Räuber mit dem Esel in ihren Wohnort gekommen, und der Räuberhauptmann sprach: »Mir gebührt das Recht, den Esel die erste Nacht hindurch zu behalten.« Seine Gefährten waren es zufrieden, und so nahm der Hauptmann den Esel nach Haus, rief seine Frau herbei und befahl ihr, im Stall ein Bettuch auszubreiten, damit der Esel die Nacht darauf zubringen könnte.
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Sie wunderte sich über den närrischen Einfall ihres Mannes, er aber sprach: »Was geht dich das an? Tu, was ich dir sage, und morgen früh werden wir hier Schätze finden.« Am frühen Morgen schon eilte der Räuberhauptmann in den Stall, was er aber fand, waren keine Schätze, und er merkte, daß Meister Giuseppe sie alle angeführt hatte. »Nun gut«, dachte er, »der Schuster hat mich angeführt, die anderen sollen aber dieselbe Erfahrung machen wie ich.« Als nun sein erster Gefährte kam und ihn fragte, ob er viele harte Taler erhalten habe, antwortete er: »O, Vetter, wenn ihr wüßtet, was für Schätze ich gefunden habe! Aber ich will sie euch vorerst nicht zeigen. Erst, wenn jeder seinen Teil vorzeigen kann.« Der Räuber nahm den Esel mit, aber es ging ihm nicht besser als dem Hauptmann, und um es kurz zu sagen, jeder der vier Räuber machte die gleiche Erfahrung. Als nun die vierte Nacht verflossen war, und die Räuber zusammenkamen, beschlossen sie, den Schuster, der sie gefoppt hatte, in seinem Hause anzufallen und zu erwürgen. Da machten sie sich auf den Weg und kamen bald an das Haus des armen Meisters Giuseppe. Der aber sah sie schon von weitem kommen und dachte sich gleich etwas Neues aus. Er rief seine Frau, nahm einen Darm, füllte ihn mit Blut, und den band er ihr um den Hals. Dann sprach er: »Wenn die Räuber kommen, so werde ich ihnen sagen, ich wolle ihnen das Geld für den Esel wiedergeben. Ich werde dich dann rufen, du sollst es schnell holen. Zögere ein wenig, mir zu gehorchen, und wenn ich dann mit meinem Messer in den Darm hineinsteche, so falle wie tot auf den Boden. Wenn du mich aber Gitarre spielen hörst, so erhebe dich und fange an zu tanzen.« Nicht lange, so kamen die Räuber herein und überhäuften den Schuster mit Vorwürfen, weil er sie angeführt habe.
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»Habt ihr kein Geld bekommen?« fragte er ganz erstaunt. »Das arme Tier hat wahrscheinlich durch den Wechsel der Wohnung seine Tugend verloren. Seid aber nur ruhig, darum wollen wir uns nicht zanken. Ich will euch sogleich die fünfzig Unzen wiedergeben. Agatha, lauf schnell in die Kammer, und bringe diesen Herren die fünfzig Unzen.« »Gleich«, antwortete sie, »ich muß nur eben noch die Fische fertigbacken, ich kann jetzt nicht gehen.« »Willst du nicht augenblicklich gehen, wenn ich es dir sage?« rief der Schuster und stellte sich, als ob er im höchsten Zorn wäre. »Hier hast du was!« Damit zog er sein Messer und stach sie in den Hals, daß sie wie tot hinfiel, und das Blut aus dem Darm herausströmte. »Ach, Meister Giuseppe, was habt ihr gemacht!« riefen die Räuber; »die Arme hat euch ja nichts getan.« »O, das hat gar nichts zu sagen«, erwiderte der Schuster, holte seine Gitarre hervor und fing an zu spielen. Sogleich richtete seine Frau sich auf und fing an zu tanzen. Die Räuber standen mit offenem Munde da und sagten endlich: »Meister Giuseppe, behaltet nur die fünfzig Unzen und saget uns, wieviel ihr noch für die Gitarre wollt, denn die müßt ihr uns verkaufen.« »Ach nein, meine Herren, das kann ich nicht«, sagte der Schuster, »bei jedem Streit, den wir miteinander haben, ermorde ich meine Frau und kühle so meinen Zorn. Ich habe jetzt diese Gewohnheit angenommen, und wenn ich es wieder einmal tue und habe die Gitarre nicht mehr, so kann ich sie ja nicht mehr erwecken.« Die Räuber aber baten ihn so lange, bis er endlich die Gitarre für vierzig Unzen verkaufte. Die Räuber gingen mit ihrer Gitarre vergnügt nach Hause, und der Hauptmann sprach: »Mir gebührt es, die Gitarre die erste Nacht zu versuchen.« Als er nun nach Hause kam rief er seine Frau und fragte: »Was gibt es heute abend zu essen?« 54
»Pasta«, sprach sie. »Warum hast du keine Fische gebacken?« schrie er und stach sie in den Hals, daß sie tot hinfiel. Dann nahm er die Gitarre zur Hand, aber er mochte spielen, soviel er wollte, die Tote erwachte nicht wieder. »O, der nichtswürdige Schuster! Dieser verwünschte Schurke! Hat er mich zum zweitenmal angeführt! Dafür will ich ihn erwürgen!« Aber all sein Geschrei half ihm nichts, die Frau war und blieb tot. Am nächsten Morgen kam einer der Räuber, um sich die Gitarre zu holen und fragte: »Nun, Vetter, wie ist es euch ergangen?« »O, herrlich, ich hatte meine Frau umgebracht, kaum aber fing ich an zu spielen, so erwachte sie und stand wieder auf.« »Sprecht ihr im Ernst? Diesen Abend will ich es auch versuchen.« Um es kurz zu sagen, die vier Räuber töteten alle vier ihre Frauen, und als sie am fünften Morgen zusammenkamen und sich gegenseitig ihre Geschichten erzählten, schworen sie, den schlauen Schuster zu ermorden. Also machten sie sich auf und kamen in sein Haus. Meister Giuseppe aber sah sie von weitem kommen und sprach zu seiner Frau: »Höre, Agathe, wenn die Räuber kommen und nach mir fragen, so sage ihnen, ich wäre in den Weinberg gegangen. Dann befiel dem Hund, mich zu rufen und jage ihn zum Haus hinaus.« Dann ging Meister Giuseppe durch eine Hintertür ins Freie und versteckte sich in der Nähe. Nicht lange, so kamen die Räuber und fragten nach ihm. »Ach, meine Herren, er ist soeben in den Weinberg gegangen«, antwortete die Frau, »ich will ihn aber sogleich rufen lassen. Geh schnell in den Weinberg und rufe deinen Herrn und sage ihm, es wären vier Herren da, die ihn sprechen 55
wollten.« Damit machte sie dem Hund die Türe auf und jagte ihn hinaus. »Ihr werdet doch nicht den Hund zu eurem Manne schicken?« fragten die Räuber. »Ja, freilich, er versteht alles und wird meinem Mann alles wiedersagen, was ich ihm aufgetragen habe.« Nach einer Weile kam richtig der Schuster herein und sagte: »Willkommen, meine Herren, der Hund hat mir gesagt, ihr wolltet mich sprechen.« »Jawohl«, antwortete der Räuberhauptmann, »wir sind gekommen, euch wegen der Gitarre zur Rede zu stellen. Denn ihr seid schuld, daß wir alle vier unsere Frauen umgebracht haben, und keinem ist es gelungen, die seinige zu erwecken.« »Ihr habt es wohl nicht richtig angefangen«, meinte der Schuster. »Nun, es soll alles vergessen sein«, sagte der Räuber, »ihr müßt uns aber euren Hund verkaufen.« »Ach nein, das kann ich nicht. Denkt nur, wieviel er mir wert ist.« Die Räuber aber baten so lange, bis ihnen Meister Giuseppe den Hund für vierzig Unzen verkaufte. Die Räuber nahmen ihn mit, und der Räuberhauptmann meinte, ihm komme das Recht zu, den Hund zuerst zu benutzen. Er nahm ihn also mit nach Hause und sprach zu seiner Tochter: »Ich gehe ins Wirtshaus. Wenn jemand kommt und mit mir sprechen will, so binde den Hund los und schicke ihn, mich zu rufen.« Als nun wirklich jemand kam, der mit ihm sprechen wollte, band die Tochter den Hund los und sprach: »Geh hin ins Wirtshaus und rufe den Vater.« Der Hund aber lief statt dessen zum Schuster zurück.
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Als nun später der Räuber heimkam und den Hund nicht mehr fand, dachte er: »Er ist gewiß zu seinem früheren Herrn zurückgekehrt.« Er machte sich also in der Nacht noch auf und kam zum Schuster. »Meister Giuseppe, ist der Hund hier?« »Ach, ja, das arme Tier ist mir so anhänglich. Es ist nur, bis er die Gewohnheit annimmt.« Also nahm der Räuber den Hund wieder mit und gab ihn am nächsten Morgen dem zweiten Räuber, sagte ihm aber, es sei wirklich so, wie der Schuster gesagt habe. Kurz, jeder Räuber wollte von dem Hund einen Auftrag ausrichten lassen, und jedesmal lief der Hund zum Schuster zurück, und die Räuber mußten erst noch gehen und ihn wiederholen. Als sie nun am fünften Morgen zusammenkamen wurde es ihnen klar, daß Meister Giuseppe sie nur zum besten habe, und sie beschlossen, ihn zu erwürgen und nichts mehr von ihm anzunehmen. Also kamen sie zu ihm, machten ihm heftige Vorwürfe, und steckten ihn endlich in einen Sack, um ihn ins Meer zu werfen. Meister Giuseppe ließ alles ruhig mit sich geschehen. Als sie nun an einer Kirche vorbeikamen, in der eben die Messe gelesen wurde, beschlossen die Räuber, erst noch eine Messe zu hören, denn sie waren fromme Leute. Da ließen sie den Sack draußen stehen und gingen in die Kirche. In der Nähe aber hütete ein Bursche eine große Herde Schweine, der pfiff ein lustiges Lied. Als Meister Giuseppe das hörte, fing er laut an zu schreien: »Ich will aber nicht! Ich will aber nicht!« »Was willst du nicht?« fragte der Bursche. »Ach«, antwortete der Schuster, »da soll ich durchaus die Königstochter heiraten und will nicht.« »Ach«, seufzte der andere, »wenn ich sie nur heiraten dürfte!« »O, es ist nichts leichter als das«, antwortete der Schuster, »stecke dich nur in diesen Sack und laß mich heraus.« 57
Da band der Schweinehirt den Sack auf und ließ den Schuster hinaus. Dann kroch er selbst hinein, und der Schuster trieb vergnügt die Schweine fort. Als die Räuber aus der Kirche kamen, nahmen sie den Sack auf den Rücken und warfen ihn ins Meer, wo es recht tief war. Auf dem Rückwege aber kam ihnen Meister Giuseppe mit seiner Herde entgegen, und da sie ihn mit offenem Munde anstarrten, rief er: »Ach, wenn ihr wüßtet, wie viele Schweine im Meer sind! Je tiefer man kommt, desto mehr findet man. Da habe ich mir diese Herde geholt und bin wieder heraufgekommen.« »Sind denn noch mehr da?« »O, mehr als ihr holen könnt!« rief der schlaue Schuster. »Führe uns hin«, baten sie. Da führte er die Räuber an den Strand und sprach: »Ihr müßt euch aber jeder einen Stein um den Hals binden, sonst kommt ihr nicht tief genug. Denn die Schweine, die zuoberst waren, habe ich schon alle gefangen.« Da banden sich die Räuber jeder einen Stein um den Hals und sprangen ins Meer hinein, sanken sogleich unter und ertranken. Meister Giuseppe aber trieb seine Schweine vergnügt nach Hause und hatte für sein Lebtag genug. Das Märchen aus der Muschel tönt, Das Märchen aus dem Becken fließt! Wie schön ist doch die Dame, Die mich’s erzählen hieß. [Märchen aus Sizilien]
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Der Schmied Der Schmied nimmt im Handwerk eine Sonderstellung ein. Er ist als Spezialist für die Herstellung bäuerlicher und handwerklicher Arbeitsgeräte unentbehrlich. Da er mit hartem Material umgeht, muß er über große körperliche Kräfte verfügen. Im Volksglauben steht er zwischen Gut und Böse, verkehrt mit Geistern und Dämonen und ist selbst mit übersinnlichen Fähigkeiten ausgestattet.
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Der Schmied und der Teufel Einst hatte ein Schmied ein Bündnis mit dem Teufel gemacht, er sollte ihm zehn Jahre dienen und dann seine Seele haben. Da wurde er nun bald ein reicher Mann, und es trug sich eines Tages zu, daß Petrus zu ihm kam. Dem war das eine Hufeisen seines Pferdes losgegangen, das sollte ihm der Schmied wieder anschlagen. Als er nun damit fertig war, sagte Petrus: »Nun bitte dir auch eine Gnade dafür aus, aber vergiß das Beste nicht!« Er meinte nämlich, der Schmied solle sich die Seligkeit erbitten. Aber der bat weiter nichts, als daß, wenn er von etwas wünsche, es möge festsitzen, das sogleich geschähe, bis er es wieder freiließe. Das gewährte ihm denn auch Petrus und ging davon. Als nun die zehn Jahre des Bündnisses mit dem Teufel um waren, schickte dieser einen seiner Teufel ab, er solle den Schmied holen. Der Schmied war auch, als der ankam, gleich bereit, mitzugehen, sagte aber zu ihm: »Es ist eine weite Reise, die du gemacht hast, ruhe dich doch erst ein wenig aus und pflücke dir da ein paar Birnen von dem schönen Birnbaum, der draußen im Garten steht.« Das tat der Teufel, stieg auf den Baum, und wie er nun oben war, rief der Schmied »hack!« und augenblicklich saß er fest. Und wie sehr er sich auch abmühte, um wieder loszukommen, er konnte weder Hand noch Fuß rühren. Nun machte der Schmied eine große Eisenstange glühend, mit der lief er in den Garten und bohrte dem Teufel damit in den Hintern, daß er ach und weh schrie. Als er ihn aber genug gequält hatte, ließ er ihn wieder frei, und der Teufel lief, als hätte er das Feuer noch im Hintern, spornstreichs davon. Wie er nun zur Hölle kam, wurde er gefragt, wo er den Schmied habe, er aber sagte, er könne ihn nicht bringen, es 61
möge nur ein anderer hingehen und ihn holen. Da lachten ihn die anderen höhnisch aus, und ein zweiter sagte, das sei ja wohl ein leichtes und ging auch gleich fort. Aber dem ging’s wie dem ersten. Der Schmied schickte ihn auf den Apfelbaum, machte seine Eisenstange heiß und setzte ihm damit wacker zu, so daß auch er, als er ihn losließ, eiligst davon und zur Hölle lief. Da machte sich denn der Alte selber auf und fluchte über die dummen Teufel, die nicht einmal den einen Schmied holen könnten. Als er nun zum Schmied kam, war er gewaltig ungebärdig, schnaubte ihn an, warum er nicht komme. Aber der sagte ganz gelassen: »Nun ich will ja kommen, hab’s ja noch gar nicht verweigert.« Darauf holte er sein Ränzlein hervor und legte einiges Gepäck zurecht. Wie das der Teufel sah, wurde er schon etwas freundlicher. Das nahm der Schmied wahr und sagte zu ihm: »Du bist nun doch der Böse selber, aber ich glaube, daß du nicht einmal da hineinkriechen kannst!« Der Alte entgegnete höhnisch: »Das soll mir ein leichtes sein!« kroch hinein und hatte wirklich Platz in dem Ränzlein. Aber kaum war er drin, da rief der Schmied »hack!« und nun saß der Teufel fest. Jetzt ließ der Schmied alle seine Gesellen mit ihren Schmiedehämmern herbeikommen. Er selbst nahm den größten. Der Teufel wurde auf den Amboß gelegt und nun wacker drauflosgeschmiedet. Da schrie er gar erbärmlich und lärmte und tobte, aber sie ließen nicht eher nach, als bis sie ihn windelweich geschlagen hatten. Nun nahm der Schmied sein Ränzlein auf den Nacken und ging mit ihm davon. Unterwegs kam ein Reisewagen an, und da bat der Schmied den Fuhrmann, daß er ihn doch möge aufsitzen lassen, er sei gar zu müde. Der gewährte es auch, und nun setzte er sich mit seinem Gefährten im Ränzlein auf den Wagen. Über eine Weile fingen aber die Pferde an sehr langsam zu gehen und standen endlich 62
ganz still, sie konnten auch durch keine Peitsche weitergebracht werden. Da merkte der Schmied, daß sich der Teufel im Ränzlein so schwer machte. Und nun prügelten sie wieder tapfer drauflos, bis er wieder leicht wurde. Da ließ ihn denn der Schmied endlich los. Der Teufel aber ging eilig davon. Als nun der Schmied noch lange gelebt hatte, starb er endlich und ging zum Himmel, wo Petrus die Tür öffnete, sie ihm aber sogleich wieder vor der Nase zuwarf, als er sah, wer draußen sei. Darauf ging der Schmied zur Hölle. Als ihn dort aber der Torwärter erblickte, war’s gerade jener erste, den er mit der Eisenstange gebrannt hatte. Der erhob sogleich ein gewaltiges Geschrei, daß alle Teufel zusammenliefen und ihm das Höllentor sperrten. Da ging der Schmied dann wieder zum Himmel und wollte es mit Bitten beim Petrus versuchen, ob er nicht doch hineinkäme. Allein der blieb unbeweglich, so daß der Schmied endlich nur bat, er möge ihm doch nur vergönnen, sein Ränzlein wieder herauszuholen, das er schon hineingeworfen hatte. Das wollte ihm denn Petrus nicht verweigern, er trat ein – und wenn sie ihn nicht hinausgeworfen haben, so sitzt er noch im Himmel. [Märchen aus der Mark Brandenburg]
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Der eiserne Hans Es waren einmal Eheleute, die hatten keine Kinder, und der Mann klagte das seiner Frau und sprach, warum sie ihm keine Kinder gebäre. »Lieber Mann, du bist ein Schmied«, sagte die Frau, »du kannst dir ja ein Kind schmieden, wenn du gerne eines haben willst!« Das ließ sich der Mann nicht zweimal sagen. Er nahm zehn Zentner Eisen und schmiedete sich aus sieben Zentnern einen Sohn, aus drei Zentnern machte er eine Geißel, die gab er ihm in die Hand. Und siehe, der Knabe war frisch und gesund und ging munter einher. Da freute sich sein Vater, und auch seine Mutter ließ sich den festen Kerl gefallen, und sie nannten ihn Eisenhans. Aber bald, als er wuchs und wuchs, wurde er ihnen lästig und zuviel, denn er aß ihnen alles fort und wurde doch nie satt. Seine Mutter mußte immer in einem großen Kessel kochen. Als er nun zu einem Jüngling herangewachsen war, konnten sie es nicht mehr aushalten, und sie sprachen untereinander: »Wenn der noch acht Tage bei uns bleibt, so frißt er uns ganz auf mit Haus und Hof.« Darum sagten sie ihm, er sei jetzt groß und stark genug, er solle dienen gehen. Eisenhans war froh, daß er die Welt sehen sollte, nahm seine Geißel und ging. Da kam er abends in ein Dorf und ging gerade vor das Pfarrhaus, nahm seine Geißel und peitschte so stark, daß alle Katzen zusammenliefen. Er peitschte noch einmal und noch einmal so sehr, daß die Knechte und Dienstmägde herauskamen und der Pfarrer ans Fenster lief, um zu sehen, was es gäbe. Da fragte er, ob man ihn nicht als Knecht aufnehmen wolle. Weil er so derb aussah, dachte der Pfarrer: »Der ist wohl zu brauchen. Du hast zwar
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schon zwölf Kinder, aber wo zwölf essen, kann auch der dreizehnte mitessen.« »Komm herein!« rief er laut. »Ich nehme dich an!« Die Knechte, die im Felde den Tag über schwer gearbeitet hatten und sehr hungrig waren, traten eben zur Schüssel, und der neue Knecht wurde auch an den Tisch gesetzt. Er aß aber mehr, als alle zwölf zusammen, und die Schüssel war gleich leer, und jene blieben hungrig. »Wenn er auch so arbeitet, wie er ißt, so ist es recht«, dachte der Pfarrer. Am anderen Tag standen die zwölf Knechte wie gewöhnlich früh auf und gingen ins Heu. Der Eisenhans aber schlief bis Mittag, und als man den Mägden das Essen auf den Tisch setzte, stand er auf und aß mit, und nach kurzem war die Schüssel geleert. Den Knechten hatte man das Essen eben hinausgeschickt, da machte er sich auf und ging auch ins Feld und aß auch denen alles weg. Dann legte er sich nieder und schlief. Die Knechte aber verdroß das, und sie sprachen untereinander: »Der ißt uns alles fort und tut gar nichts, kommt, wir wecken ihn auf, er soll auch arbeiten.« Da packten sie ihn und fuhren ihm mit Reisern übers Gesicht. Er wehrte anfangs mit der Hand ab und glaubte, es seien Ochsenfliegen, die ihn bissen. Endlich, als es zu arg wurde, erwachte er. Da sprang er auf und packte alle zwölf, jeden an einem Fuß, und sprach.: »Jetzt will ich gleich arbeiten!« Da kehrte er mit ihnen, indem sie mit den Händen auf dem Boden herumkrabbelten, das Heu von der ganzen Wiese zusammen. Als er fertig war, ließ er sie los, und sogleich eilten sie mit blutigen Händen und viele von ihnen hinkend nach Hause und klagten ihrem Herrn. Der Pfarrer schlug die Hände zusammen, als er hörte, was der Eisenhans getan, aber er getraute sich nicht, den Knecht zur Rede zu stellen. 65
Am anderen Tag fuhren die zwölf ganz früh in den Wald nach Holz. Der Eisenhans schlief abermals bis gegen Mittag. Als er aufstand, aß er wieder zuerst den Mägden alles weg. Dann spannte er die vier Ochsen an und fuhr auch in den Wald. Es war aber an einer Stelle eine so große Kotlache, daß der Wagen samt den Ochsen steckenblieb. Doch Eisenhans bedachte sich nicht lange, er packte den Wagen samt den Ochsen und hob sie hinaus. Als er nun in den Wald hineinfuhr, kam auf einmal ein fürchterlicher Wolf und schrie: »Jetzt fresse ich dir einen Ochsen!« »Meinetwegen, aber dann mußt du ziehen, das sage ich dir!« sprach Eisenhans. Kaum hatte der Wolf den Ochsen niedergerissen, so packte ihn Eisenhans am Genick und spannte ihn ein. Nach kurzer Zeit kam ein dreibeiniger Hase und rief ebenfalls: »Ich fresse dir einen Ochsen!« »Gut, dann mußt du ziehen!« Und als der Hase den Ochsen niedergerissen hatte, packte ihn Eisenhans und spannte ihn neben den Wolf. Nicht lange, so kam der Teufel und sprach: »Jetzt zerbreche ich dir die Achse!« »Es ist mir recht«, sagte Eisenhans, »aber dann mache ich dich zur Achse!« Der Teufel dachte, das sei ja nur so geredet. Kaum hatte er jedoch die Achse zerbrochen, so packte ihn Eisenhans am Kragen und machte ihn zur Achse. Seine zwölf Mitknechte hatten ihre Wagen schon alle beladen und fuhren heim. Da rief er ihnen zu: »Ich werde doch eher nach Hause kommen als ihr und hundertmal mehr Holz führen, als ihr alle zusammen.« Sie aber lachten und fuhren weiter. Er band nun den halben Wald auf den Wagen hinter die beiden Ochsen, hinter den Wolf und den Hasen und dem Teufel aufs Genick und kehrte heimwärts. Als er aus dem Wald fuhr, so sah er die zwölf 66
Wagen, wie er sich’s gedacht hatte, noch im Kote stecken. Er nahm jetzt sein Holz samt dem Gespann auf seinen Nacken und trug es über die schlechte Stelle hinüber. Dann hob er auch die anderen Wagen hinaus, sie mußten aber hinter ihm fahren. Als er ins Dorf kam, knallte er mit seiner eisernen Peitsche und rief: »Der Wolf, der Has, samt Teufel in der Achs!« Da kamen alle Leute herbei und sahen den sonderbaren Aufzug, den Wolf und den Hasen vorn, dann die beiden Ochsen, dann den Teufel als Achse und auf dem Wagen den halben Wald, wie er nachgeschleppt wurde. Als der Pfarrer ihn kommen sah, wurde er doch auch ängstlich und dachte: »Der ist dir gefährlich, du mußt ihm auf eine Art Christtag machen.« Der Eisenhans löste sein Gespann ab, band den Wolf und den Hasen neben die Ochsen an die Krippe, und sie mußten auch Heu fressen. Den Teufel band er los, versetzte ihm noch eins mit seiner Geißel und ließ ihn dann laufen. Der rannte hinkend und heulend in einem fort bis in die Hölle. Am anderen Tag ließ der Pfarrer den Eisenhans zu sich kommen und sagte, die Teufel hätten ihm eine Tochter geraubt. Wenn er sie ihm heimbrächte, so wollte er ihm einen Sack voll Geld geben, wie er ihn nur tragen könnte. Der Pfarrer aber wollte nur auf eine gute Art den Knecht loswerden, bei sich dachte er: »Der kommt dir nicht wieder.« Eisenhans war froh, denn er hatte viel von der Hölle gehört und wollte sich einmal die Gelegenheit besehen. Er nahm seine Geißel und machte sich auf den Weg. Als er vor das Höllentor kam, knallte er einmal mit seiner Geißel und rief: »Macht mir auf!« Da entsetzten sich die Teufel, liefen zusammen und fragten einander, wer das wohl 67
wäre? Da sah der Hinkende durch die Türritze und erblickte den Fremden. »Wehe uns, es ist der Eisenhans!« Und er lief in den dunkelsten Winkel der Hölle, und die anderen liefen ihm nach. Dem Eisenhans wurde endlich die Zeit draußen zu lang, er stieß das Höllentor ein, und das krachte fürchterlich im Fall. In der ganzen Hölle war aber niemand zu sehen, außer den Verdammten, die an Pflöcken angebunden lagen. Eisenhans machte sie alle frei. »Wenn ich doch nur die Tochter des Pfarrers fände!« seufzte er. »Die ist in jenem dunklen Winkel!« riefen einige Verdammte und liefen dann fröhlich zum offenen Höllentor hinaus. Eisenhans fand sie, machte sie frei und führte sie hinaus. Dann hob er das Höllentor wieder auf und verriegelte und verrammelte es von außen, daß kein Teufel herauskommen könne. Darauf nahm er die Pfarrerstochter auf seine Schultern und zog heimwärts. Der Pfarrer lag gerade im Fenster, als er ankam, und er entsetzte sich nicht wenig, als er auf einmal den Eisenhans erblickte. Der aber sprach: »Das ist eure Tochter«, nahm sie von seiner Schulter und setzte sie durchs Fenster ins Zimmer. »Nun gib mir das versprochene Geld, aber einen Sack, so voll, wie ich ihn nur tragen kann, sonst geht es euch schlecht!« Eisenhans nahm hundert Ellen Leinwand und rief sieben Schneider herbei, die mußten ihm gleich einen Sack machen. Den trug er dann zum Pfarrer und sprach: »Den füllt mir!« Der Pfarrer ließ all sein Korn hineinschütten und machte ihn voll, oben aber legte er all sein Geld. Eisenhans merkte das nicht, war zufrieden, nahm den Sack auf seine Schulter, und ging nach Hause. »Da bring ich euch etwas zum Geschenk!« sagte er zu seinem Vater und zu seiner Mutter. »Ihr sollt mich nicht
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umsonst gefüttert haben!« Damit warf er den Sack zu Boden, nahm seine Geißel und ging wieder in die Welt. Die Alten aber hatten mit dem Korn und dem Geld ihr Lebtag genug. [Märchen aus Siebenbürgen]
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Die drei Schmiede Es waren einmal drei Schmiede. Der eine war ein junger Mann von 25 Jahren, immer froh und munter, keck und dreist. Der zweite war in mittleren Jahren, ein kräftiger Kerl, brav und fleißig. Er verstand sein Handwerk wie kein zweiter, und alle waren mit seiner Arbeit zufrieden. Der dritte schließlich war schon alt an Jahren, niemand kannte genau sein Alter. Er hatte einen langen weißen Bart und schneeweiße Haare, die ihm über den Rücken hingen. Eines Tages gingen alle drei die große Landstraße entlang. Sie schritten wacker aus. Der Alte stützte sich ein wenig auf seinen Stock und hielt doch gut mit den anderen mit. Der Weg war beschwerlich, und das Wetter war ihnen ganz und gar nicht wohl gesonnen. Es war Winter, der Schnee hatte alles zugedeckt, und man sank bis zu den Knien darin ein. Zu allem Überdruß peitschte ihnen der Nordwind ins Gesicht. Es war bitterkalt. Wenn es einem aber gutgeht, wenn man alles hat, was nötig ist, dann braucht man Schnee und Kälte nicht zu fürchten. Man braucht dann auch nicht, so wie die Reichen, einen hirschledernen Mantel. Ja, wenn man hat, was nötig ist. Aber wenn man nichts von alledem hat, wenn es einem an allem mangelt? Die drei Schmiede hatten schon lange keine Arbeit mehr bekommen, seit sie zusammen auf der Wanderschaft waren. In solchen Zeiten wie jetzt blieben die Leute lieber in ihren warmen Häusern und setzten keinen Fuß vor die Tür. So gab es also auch keine Pferde zu beschlagen, keine Zäune auszubessern, keine Eisenbeschläge zu klopfen, und die Dorfschmiede brauchten keine Gehilfen. Und die Beutel, die im Sommer noch prall und voll waren, waren recht schmal geworden. Diejenigen der drei Gefährten aber waren jetzt platt wie Pfannkuchen. Sie wußten nicht, was sie am andern Tag essen 70
sollten. Der Älteste, der die Kasse verwaltete, hatte nur noch sechzehn Sous gefunden. Dieses Geld reichte gerade noch für ein Stück Brot. Was sollte dann aus ihnen werden? »Wenn dem so ist«, sprach da der Älteste, »werden wir uns wohl trennen müssen. Drei auf einmal werden nirgendwo benötigt. Einer allein kann vielleicht noch Arbeit finden. Die Zeiten sind jetzt schlecht.« Die beiden anderen schwiegen. In Gedanken versunken zogen die drei weiter ihres Weges. Es schmerzte einen jeden von ihnen, die anderen verlassen zu müssen. Schon so lange waren sie miteinander gewandert, und sie waren die allerbesten Freunde. Aber doch hatte der Älteste ihnen gut geraten, sie mußten auf ihn hören, wenn sie nicht Hungers sterben wollten. Endlich ergriff der Mittlere das Wort und sprach, daß er den Vorschlag des Alten annehme. Das Geld müsse nur noch brüderlich geteilt werden, und dann könne sich jeder in eine andere Richtung wenden. »Alles recht und gut«, antwortete der Jüngste, »aber es sind sechzehn Sous unter dreien aufzuteilen. Ein Sou bleibt übrig. Wer soll ihn erhalten?« Da war guter Rat teuer. Der Jüngste wollte ihn großmütig dem Ältesten überlassen. Dieser aber wehrte heftig ab. Sie berieten hin und her. Keiner wollte den Sou an sich nehmen. Endlich hatte der Jüngste einen Einfall: »Wenn wir den Sou schon nicht teilen können, so muß ihn sich einer von uns verdienen.« »Du sprichst recht«, sprach der Älteste, »aber wie sollen wir das anstellen? Mit unserer Hände Arbeit gelingt es uns nicht. Wir haben doch gesehen, daß unser Handwerk jetzt nicht viel taugt.« Sie überlegten lange, während sie zusammen weiterzogen. Endlich sprach der Mittlere: »Wir sind arme Habenichtse und werden niemals reich sein, aber was würden wir nicht alles tun, wären wir nur reich? Ich schlage nun vor, daß jeder einen 71
Wunsch nennt. Und demjenigen von uns, der den größten, den wunderbarsten und einzigartigsten Wunsch hat, dem soll der Sou gehören.« »So sei es«, sprachen die beiden andern. Auf dem mühsamen Marsch wollten ihnen aber die Einfalle nicht so schnell kommen, so sehr sie auch nachdachten. Als die Straße eine Biegung machte, sahen die drei Schmiede plötzlich einen vierspännigen Wagen, der mit schweren Säcken beladen war. Der Kutscher sagte ihnen, es seien Säcke voller Weizen. Da kam dem Jüngsten ein Einfall und er sprach: »Hört meinen Wunsch. Ich will, daß all die Weizenkörner in den Säcken sich in Louisdors verwandeln und den Keller meines Schlosses füllen.« Die beiden anderen waren stumm vor Staunen. Sie glaubten sich von vornherein geschlagen, denn der Wunsch des Jüngsten war so gewaltig. Nun begann der Zweite sich den Kopf zu zerbrechen, aber ihm wollte und wollte nichts in den Sinn kommen, was den Wunsch des Jüngsten übertreffen konnte. Als er schon aufgeben wollte, fiel sein Blick auf einen Tümpel. Da lächelte er und sprach: »Seht ihr dieses Wasser? Ich wünsche mir, daß es sich in Tinte verwandeln möge und daß diese Tinte für mich 1000-Francs-Scheine schreibt, bis sie verbraucht ist.« Beifällig schwiegen die anderen. Der Jüngste sah sich übertroffen. Seine in Louisdors verwandelten Weizenkörner waren nichts gegen diese wundersame Tinte, die 1000-FrancsScheine hervorbringen konnte. Nun war die Reihe am Ältesten. Dieser überlegte nicht lange und sprach: »Hört meinen Wunsch, liebe Freunde. Ich wünsche mir, daß alles Eisen, das ich jemals bearbeitet habe, seit ich den Hammer schwinge, dazu verwendet wird, Äxte herzustellen. Diese Äxte sollen Bäume fällen und das Holz dieser Bäume 72
soll für viele viele Kistchen und Schächtelchen dienen, die alle mit Nadeln gefüllt werden sollen. Mit diesen Nadeln aber sollen Säcke genäht werden. Diese Säcke wiederum sollen so lange mit Louisdors gefüllt werden, bis sie zerreißen.« Nach ergriffenem Schweigen sprachen die beiden andern: »Du hast gewonnen. Der Sou ist dein.« Als sie eben das Geldstück dem Ältesten übergeben wollten, begegnete ihnen eine alte freundliche Frau. Sie war eine gute Fee. »Ich habe eurem Gespräch gelauscht«, sprach sie, »und ihr gefallt mir wohl. Eure Wünsche nach Reichtümern nanntet ihr nur der Wette wegen. Sie sollen sich aber noch zu dieser Stunde erfüllen, denn ihr dachtet nicht an Eigennutz. Keiner wollte den Sou für sich haben. Lebt wohl.« Mit diesen Worten war sie verschwunden. Und siehe, alle drei Wünsche wurden wahr. Da waren die drei unermeßlich reich. Sie teilten sich alles brüderlich und lebten im Schloß des Jüngsten zusammen und waren alle Sorgen für immer los. [Märchen aus Südfrankreich]
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Der Müller Da der Müller sein Handwerk weit draußen vor den Toren der Stadt ausübte, waren die Mühlen stets ein beliebter Gegenstand der Volksphantasie. So galt die Mühle als Schauplatz von Mord- und Raubgeschichten, als Aufenthaltsort von Geistern und Dämonen. Man glaubte an Zauberei, wenn es aufgrund von Mehlstaubexplosionen in den Mühlen häufig brannte.
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Müllers Töchterlein Des Müllers Töchterlein war ein keckes Mädchen und hätte es wohl auch mit Männern aufgenommen. Einmal mußte es, während die anderen Bewohner in der entlegenen Kirche waren, im einsamen Häuschen zurückbleiben, um es zu hüten. Das Mädchen sperrte sich brav ein, und weil ihm das Alleinsein so langweilig vorkam, wartete es mit Sehnsucht auf die Ankunft der übrigen, die doch nicht lange mehr ausbleiben konnten. Als sie so durchs Fenster sah und auf die Kirchgänger harrte, sah sie von weitem drei wilde Männer daherkommen, die gar verdächtig aussahen. Die Männer gingen gerade auf das Müllerhaus zu, als ob es sich so gehörte, besichtigten alles und jedes und klopften endlich an die Haustüre. Der Maria, so hieß das Mädchen, gefiel der ganze Handel nicht, und sie hätte sich beinahe gegruselt, doch bald hatte sie sich gefaßt, hielt sich mausstille und öffnete nicht. Da fiel ihr ein, daß auch aus dem Keller eine Hintertüre auf die Straße führte, und daß in derselben ein großes Lugloch sei. Gleich vermutete sie, die drei wilden Männer könnten dort hereinkommen, holte sich ein Beil und ging in den Keller hinunter. Sie war noch nicht lange auf der Lauer, als einer von den dreien das Schieberl beiseite schob und durch die Öffnung hereinzukriechen versuchte. Maria, die stramm hinter der Türe sich verbarg, war nicht faul und hieb mit einem Streich dem Einbrecher den Kopf ab, daß er weit von dannen kugelte, packte dann gleich den Rumpf und zog ihn zu sich herein. Als der erste so durch die Luke hinein verschwunden war, glaubten die beiden andern, es sei dem ersten gelungen, in den Keller zu steigen, und der zweite machte sich an die Reihe. Er steckte seinen Kopf durchs Loch hinein, und die kecke Maria stand hinter der Türe bereit und machte es ihm wie dem ersten.
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Der dritte wollte auch hinein, allein Maria war dieses Mal zu voreilig, denn kaum hatte sein Kopf zum Loche hineingeguckt, als sie mit dem Beile losschlug und ihm nur eine kleine Wunde beibrachte. Er zog rasch den Kopf zurück und wußte nun, wie es seinen zwei Kameraden ergangen war. Ohne zu säumen eilte er mit blutigem Kopfe zu seinen Kameraden, den Räubern, in den Wald zurück und ließ sich dort die Wunden heilen. Maria war nach diesem Besuche nicht mehr lange allein, denn bald war der Gottesdienst vorbei, und die Kirchgänger kamen nach Hause. Mit pochendem Herzen und doch mit Freude eilte sie ihnen entgegen und erzählte ihren Leuten, was sich zugetragen hatte. Alle wunderten sich über die Geistesgegenwart des Mädchens und konnten seine Tat nicht genug loben. Die zwei erschlagenen Räuber wurden dann dem Gerichte ausgeliefert und unter dem Galgen begraben. Die Felder waren seit dieser Begebenheit zweimal fahl und wieder grün geworden, als eines Morgens ein schmucker Müllergeselle in die Mühle kam und sich dort um einen Dienst erkundigte. Dem Meister gefiel der wache Bursche, und er nahm ihn als Gesellen an. Der neue Müller arbeitete sehr fleißig und hatte sich bald das Zutrauen und die Liebe aller Bewohner der Mühle erworben. Man hatte vor ihm kein Hehl, und alle Geheimnisse und Geschichten der Mühle, somit auch die Tat der Tochter, wurden ihm, wenn nicht heute, so doch morgen mitgeteilt. Maria selbst erzählte ihm von jenem Besuche öfters mit der größten Freude und nur, wenn sie vom Dritten zu sprechen kam, unterdrückte sie eine gewisse Furcht und Angst nie ganz: »Den, der mir so durchkam, fürchte ich noch immer«, gestand sie öfters. Der Geselle lächelte dann und schob dann auch zuweilen das rote Häubchen, das nie von seinem Kopfe kam, etwas in die Runde. Oft erzählte er auch, was er für ein reicher Müllersohn sei und wie viele Gründe sein Vater besitze. Maria glaubte alles und gewann nach und nach den Gesellen so lieb, 77
daß er ihr über alles ging, und er behauptete auch, daß er die Maria recht liebhabe. Es dauerte nicht mehr lange, und er hielt bei dem Müller um die Hand der Tochter an, die ihm der Meister nicht versagte. Einige Tage vor der Trauung wollte er seine Braut auf den Bschau führen, und ihre Eltern hatten nichts dagegen einzuwenden. Der Geselle führte die liebe Maria nun eines Tages weiter, und sie war voll Freude, daß sie ihre künftige Heimat bald sehen sollte. Der Weg führte sie durch einen Wald. Wilde Rosenhecken, riesige Farnblätter und altersgraue Tannen standen nur in dieser Wildnis, sonst sah man nichts, und keines Menschen Tritt schlug an das Ohr der Wanderer. Wie sie so einsam, allen Menschen ferne, durchs Dickicht wanderten, stand der Geselle plötzlich stille, maß das Mädchen mit wildem Blick, zog das rote Häubchen ab und fragte: »Kennst du dieses Zeichen?« Dabei deutete er auf die Schramme, die ganz jener glich, die sie dem wilden Manne beigebracht hatte. »Jesus Maria!« entfuhr der Kehle der armen, bleichen Dirne, die vor Schrecken fast zusammensank. »Zwei meiner Kameraden hast du getötet, und gegen mich hattest du schon das Beil erhoben, dafür soll dir der Tod nicht ausbleiben«, fuhr ihr Begleiter weiter. Maria flehte und weinte, allein es half alles nicht, und er schleppte und zerrte sie weiter, wie ein Tier, das man zur Schlachtbank führt. Sie waren nicht mehr lange gegangen, als der Räuber bei einem Hause haltmachte. Als sie nun dort standen, stürzten viele, wilde Kerle aus der Tür, hießen ihn willkommen und fragten, ob die es sei. Er nickte, und alle frohlockten und führten das Paar in die Stube, in der ein großer, großer Ofen stand. Der Häuserin wurde nun befohlen, recht stark einzuheizen, denn man wolle einen guten Braten bereiten. 78
Die Wirtschafterin feuerte nun ein, und dann brachte sie den polternden Räubern Wein und Gesottenes und Gebratenes, an dem sich die bärtigen Waldmenschen gütlich taten. Maria aber hängten sie am heißen Ofen an und lachten, wenn sie sich vor Hitze wie ein Wurm krümmte. Schon glaubte sie, vor Hitze vergehen zu müssen, als ein Bote mit der Nachricht kam, daß im Walde Kaufleute sich verirrt hätten. Wie auf einen Zauberschlag standen nun alle auf, stürzten die Gläser aus und eilten aus der Stube. Die alte Häuserin und die geängstigte Maria waren nun allein zu Hause. Da bat des Müllers Töchterlein die Alte, sie solle ihr doch zur Flucht behilflich sein, sie würde ihr dafür ewig dankbar sein, und Tränen, so hell und klar wie der Morgentau, purzelten über die roten, feinen Wangen des Mädchens so zahlreich, daß eine die andere schlug. Die Alte erbarmte sich endlich des jungen Blutes, band Maria los und eilte mit ihr fort, denn, wäre sie allein zurückgeblieben, so wäre es um sie geschehen gewesen. Die Häuserin und des Müllers Töchterlein gingen nun stille durch den Wald, um dem Tode zu entrinnen und das Freie zu suchen. Sie hatten aber kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sie die Räuber von Ferne daherkommen und lärmen hörten. Was war nun zu tun, wenn sie nicht beide den Räubern in die Hände fallen wollten? Maria war gleich entschlossen, sie sah in der Nähe einen großen, hohen Baum, und den kletterte sie, so behende wie ein Eichkätzchen, hinauf. Die Alte war auch nicht faul und folgte dem Mädchen, und so schwebten beide auf den schwankenden Ästen droben, die sich unter ihnen auf und nieder bogen. Indessen waren die zweiundzwanzig Räuber bis zu dem Baume gekommen, ließen sich am Fuße desselben nieder und hielten Rast. Zur Kurzweil verabredeten sie, wie sie des Müllers Tochter im Ofen braten würden.
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Die beiden auf dem Baume droben hörten jedes Wort und gerieten in eine solch große Furcht, daß der Angstschweiß vom Baume niedertropfte. Als die Räuber dies Tropfenfallen hörten, fürchteten sie einen nahen Regen, griffen hastig nach ihren Waffen und eilten spornstreichs nach Hause. Kaum hatten die Flüchtigen dieses gesehen, als sie eiligst herunterstiegen und, ohne sich jemals umzusehen, durch den Wald eilten, bis sie die Lichtung erreicht hatten. Auch dort rasteten sie noch nicht, sondern eilten dem nächstgelegenen Dorfe zu, in dem Bekannte der Maria wohnten. Zu diesen nahmen sie ihre Zuflucht und erzählten ihnen alles. Die Sache wurde nun im Dorfe gleich laut, die Bewohner desselben scharten sich zusammen und eilten bewaffnet dem Waldhause zu. Sie fanden die Räuber alle beisammen und brachten sie bis auf den letzten um. Maria aber kam mit ihrer Begleiterin noch am selben Tage zu ihren Eltern zurück, und die alte Häuserin lebte bei ihnen, bis sie starb. [Märchen aus Tirol]
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Die schwarze Katze Es war einmal ein Müller, der hatte das sonderbare Schicksal, daß, sooft er einen Gesellen annahm, diesem in der ersten Nacht der Hals umgedreht wurde. Er wußte gar nicht, was das zu bedeuten habe, und weil er ein braver Mann war, beschloß er, gar keinen Gesellen mehr zu halten, und versah die Mühle eine lange Zeit selber. Eines Abends klopfte es draußen, und als der Müller öffnete, siehe, da war es ein wandernder Müllergeselle, welcher Arbeit suchte. Jener hörte sein Anliegen an, schüttelte mit dem Kopfe und sagte: »Weiß Gott, ich hätte gern einen Gehülfen wieder, denn die Treppen werden immer steiler; ich kann dich aber nicht ins Verderben führen! Denn höre nur, noch jedesmal, wenn ich einen Gesellen genommen habe, ist ihm in der ersten Nacht der Hals umgedreht.« Da sprach der Wanderbursch: »Ei, da müßte ich doch dabei sein! Ich will’s immerhin darauf wagen!« Der Müller mochte ihm vorstellen was er wollte; der Geselle bestand darauf, und so führte jener ihn in die Mahlstube und von hier in die Mühle und zeigte ihm alle Hausgelegenheit und die Einrichtung seiner Mühle. Als er ihm alles übergeben hatte und nun zu Bette wollte, bat der Fremde noch um ein Beil, um einen Topf voll Mehl aus der großen Kiste und um ein wenig Feuer, und der Müller holte ihm alles herbei, denn er war ein guter Mann; hierauf legte er sich ins Bett, und der Geselle besorgte die Mühle. Als alles im Hause zu schlafen schien, ging er in die Küche, und machte aus dem Mehl einen Brei, kochte diesen und wartete, bis es zwölf schlug. Die Stunde kam, und eine gefährliche, schwarze Katze sprang herein und sah grimmig auf den Gesellen; dieser blieb ganz ruhig, und als das Untier 81
sich zu einem Sprung anschickte, spritzte er von dem Brei über sie, und heulend lief sie davon. Gleich darauf erschien eine zweite schwarze Katze, dieser folgte eine dritte und so fort, bis es elfe waren, und alle verjagte er mit dem kochenden Brei. Nun aber griff er flink zu seinem Beil; denn, so sparsam er auch damit umgegangen war, mit dem Brei war’s zu Ende, und wo es von derlei Katzen elf gibt, da fehlt auch die zwölfte nicht. Und sie ist schon da, die zwölfte, und waren die anderen schon greulich, diese ist’s erst recht: wütend springt sie auf den Gesellen los; der aber haut ihr die ausgestreckte Pfote ab. Da eben schlägt es eins; die Katze ist verschwunden, und zurück bleibt die abgehauene Pfote, und die ist plötzlich eine Menschenhand. Am anderen Morgen trat der Müller besorgt in die Mühle, und als er den Gesellen munter und guter Dinge sah, da freute er sich herzlich. Dieser erzählte ihm sein Abenteuer, und als er ihm auch die Hand zeigte, erschrak der Müller; denn die kam ihm nur allzu bekannt vor. »Liegst du deshalb noch im Bette und weinst?« dachte der Müller und meinte seine Frau; er richtete sie mit Gewalt auf, und ach, sie hatte nur eine Hand. Die Geschichte ward bald bekannt, die Obrigkeit untersuchte es, und die Frau mußte bekennen, daß sie eine böse Hexe sei, die anderen elf Katzen aber alte Frauen aus dem Dorfe und ihre Gehülfinnen seien; hierauf wurde die Müllerin verbrannt, und die übrigen wurden enthauptet. Das war dem armen Müller allzuviel: er vermachte dem Gesellen seine Mühle, denn Kinder hatte er nicht; alsdann legte er sich hin und starb. [Märchen aus Hannover]
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Der Räuber und die Haustiere Da war einmal ein Müllersknecht, der hatte seinem Herrn schon viele Jahre lang treu und fleißig gedient, und war alt geworden in der Mühle, also daß die schwere Arbeit, die er hier zu verrichten hatte, endlich über seine Kräfte ging. Da sprach er eines Morgens zu seinem Herrn: »Ich kann dir nicht länger dienen, ich bin zu schwach. Entlaß mich deshalb und gib mir meinen Lohn!« Der Müller sagte: »Jetzt ist nicht die Wanderzeit der Knechte. Übrigens kannst du gehen, wenn du willst, aber Lohn bekommst du nicht.« Da wollte der alte Knecht lieber auf seinen Lohn verzichten, als sich noch länger in der Mühle so abzuquälen, und verabschiedete sich von seinem Herrn. Ehe er aber das Haus verließ, ging er noch zu den Tieren, die er bis dahin gefüttert und gepflegt hatte, um ihnen Lebwohl zu sagen. Als er nun zuerst von dem Pferde Abschied nahm, sprach es zu ihm: »Wo willst du denn hin?« »Ich muß fort«, sagte er, »ich kann’s hier nicht länger aushalten.« Und wie er dann weiterging, folgte das Pferd ihm nach. Darauf begab er sich zu dem Ochsen, streichelte ihn noch einmal und sprach: »Jetzt behüt’ dich Gott, Alter!« »Wo willst du denn hin?« sprach der Ochs. »Ach, ich muß fort, ich kann’s hier nicht länger aushalten«, sagte der Müllersknecht und ging traurig fort, um noch von dem Hunde Abschied zu nehmen. Der Ochs aber zog hinter ihm her wie das Pferd. Und ebenso machten es die übrigen Haustiere, denen er Adieu sagte, nämlich der Hund, die Katze und die Gans.
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Als er nun draußen im Freien war und sah, daß die treuen Tiere ihm nachzogen, redete er ihnen freundlich zu, daß sie doch wieder umkehren und daheim bleiben möchten. »Ich habe jetzt selbst nichts mehr«, sprach er, »und kann nicht mehr für euch sorgen.« Aber die Tiere erklärten ihm, daß sie ihn nicht verlassen würden, und zogen vergnügt hinter ihm drein. Da kamen sie nach etlichen Tagen in einen großen Wald. Das Pferd und der Ochs fanden hier gutes Gras. Auch die Gans und der Hahn ließen sich’s schmecken. Die anderen Tiere aber, die Katze und der Hund, die mußten Hunger leiden, wie der alte Müllersknecht, aber knurrten und murrten nicht darüber. Endlich, als sie ganz tief in den Wald hineingekommen waren, sahen sie auf einmal ein schönes großes Haus vor sich stehen. Das war aber fest zugeschlossen; nur ein Stall stand offen und war leer. Und von hier aus konnte man durch die Scheuer in das Haus kommen. Weil nun niemand in dem Haus zu sehen war, so beschloß der Knecht, mit seinen Tieren dazubleiben, und wies einem jeden seinen Platz an. Das Pferd stellte er vorn in den Stall. Den Ochs führte er auf die andere Seite. Der Hahn bekam seinen Platz auf dem Dache, der Hund auf dem Miste, die Katze auf dem Feuerherde, die Gans hinter dem Ofen. Dann reichte er jedem sein Futter, das er in dem Hause reichlich vorfand, und er selbst aß und trank, was er mochte, und legte sich dann schlafen in ein gutes Bett, das in der Kammer fertig dastand. Als es nun schon Nacht war, kam der Räuber, dem dies Waldhaus gehörte, zurück. Wie der aber in den Hof trat, sprang sogleich der Hund wie wütend auf ihn los und bellte ihn an. Dann schrie der Hahn vom Dache herunter: »Kikeriki! Kikeriki!« daß es dem Räuber angst und bange wurde, denn er hatte in seinem Leben noch keine Haustiere gesehen, die mit den Menschen zusammenleben, sondern kannte bloß die wilden Tiere des Waldes. Deshalb nahm er Reißaus und sprang 84
eilig in den Stall. Aber da schlug das Pferd hinten aus und traf ihn in die Seite, daß er um und um taumelte und sich nur mit Mühe in die hintere Seite des Stalles flüchten konnte. Kaum aber war er hier angekommen, so drehte sich auch schon der Ochse um und wollte ihn auf seine Hörner nehmen. Da bekam er einen neuen Schrecken und lief, was er konnte, durch die Scheuer hindurch und dann in die Küche, um ein Licht anzuzünden und zu sehen, was da los sei. Wie er nun auf dem Herde herumtastete und die Katze anrührte, fuhr die auf ihn los und kratzte ihn dermaßen mit ihren Krallen, daß er Hals über Kopf davonsprang und sich eben in der Stube hinter den Ofen verstecken wollte. Da wachte aber die Gans auf und zeterte und schlug mit den Flügeln, daß es dem Räuber höllenangst wurde und er sich in die Kammer flüchtete. Da schnarchte nun der Müllersknecht in dem Bette so kräftig wie ein schnurrendes Spinnrad, daß der Räuber meinte, die ganze Kammer sei mit Leuten angefüllt. Da überfiel ihn ein arges’ Grauen und Grausen, und er lief schnell zum Haus hinaus und rannte in den Wald hinein, und stand nicht eher still, als bis er seine Raubgesellen gefunden hatte. Da fing er nun an zu erzählen: »Ich weiß nicht, was in unserem Haus vorgegangen ist, es wohnt ein ganz fremdes Volk darin. Als ich in den Hof trat, sprang mir ein großer wilder Mann entgegen und schalt und brüllte so grimmig, daß ich dachte, er würde mich umbringen. Ein anderer reizte ihn noch auf und rief vom Dache herunter: ›Gib ’m au für mi! Gib ’m au für mi!‹ Da mir’s der erste schon arg genug machte, so wollte ich nicht warten, bis noch mehr über mich herfielen und flüchtete mich in den Stall. Aber da hat ein Schuhknecht mir einen Leisten an die Seite geworfen, daß ich’s noch spüre. Und als ich dann hinten in den Stall kam, stand da ein Gabelmacher und wollte mich mit seiner Gabel aufspießen. Und als ich in die Küche kam, saß da ein Hechelmacher und schlug mir seine Hechel in die Hand. Und als ich in die Stube sprang und mich 85
hinter dem Ofen verstecken wollte, da schlug mich ein Schaufelmacher mit seiner Schaufel. Als ich aber endlich in die Kammer lief, da schnarchten darin noch so viele andere, daß ich nur froh sein mußte, als ich lebendig wieder draußen war.« Als die Räuber dies hörten, entsetzten sich alle so sehr, daß keiner Lust hatte, in das Haus zu gehen. Nein, sie meinten, die ganze Umgebung sei durch dies fremde Volk unsicher geworden und zogen noch in selbiger Nacht fort, weit weg in ein anderes Land, und sind nie wiedergekommen. Da lebte nun der Müllersknecht mit seinen treuen Tieren in Ruhe und Frieden in dem Hause der Räuber und brauchte sich nicht mehr zu plagen in seinen alten Tagen, denn der schöne Garten neben dem Hause trug ihm jährlich mehr Obst, Gemüse und allerlei Nahrung, als er und seine Tiere verzehren konnten. [Märchen aus der Schweiz]
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Der Müller Hillenbrand Ein Müller, namens Hillenbrand, war eifersüchtig auf seine Frau und glaubte, daß sie allzu freundlich gegen den Herrn Pfarrer sei. Um seiner Sache gewiß zu werden, unternahm der Müller eine Reise nach Seebronn, traf unterwegs einen Mann mit einer Krätze (Korb) auf dem Rücken und bat ihn, daß er ihn in die Krätze nehmen und unbemerkt in die Mühle tragen und dort mit ihm übernachten möge. Der Mann war dazu bereit, brachte ihn wohlverborgen zurück in die Mühle und hing seine Krätze an die Wand. Da kam alsbald auch der Pfarrer und setzte sich mit der Frau zu Tisch. Beide aßen und tranken und wurden so lustig miteinander, daß sie zuletzt ein Lied anstimmten. Da sang zuerst der Pfarrer: Wenn wir gegessen und getrunken hab’n, Dann liegen wir auf Stroh. Viderallala, Viderallala! Darauf sang die Frau: Mein Mann, der ist nach Seebronn aus, Ist zehn Stunden weit von hier. Viderallala, Viderallala! Dann fiel der Krätzemann ein und sang nach derselben Weise weiter: Dort steckt ein Nagel in der Wand. Dort hängt mein lieber Hillenbrand. Viderallala, Viderallala!
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Da regte sich’s auf einmal in der Krätze, und der Müller sang selbst zum Schluß: Jetzt kann ich aber nimmer schweigen, Jetzt muß ich aus meiner Krätze steigen! Viderallala, Viderallala! Und dann kam er heraus und nahm einen Stock und jagte den Pfarrer zur Mühle hinaus. [Märchen aus Schwaben]
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Die verwunschene Mühle Es lebte einmal ein Mann, dem seine Frau gestorben war. Er hatte eine Tochter, die hieß Florine. Als das Mädchen fünfzehn Jahre alt geworden war, verheiratete er sich wieder mit einer Witwe. Diese hatte eine Tochter im gleichen Alter wie Florine, die aber war ebenso häßlich wie Florine schön und lieblich anzusehen war. Die Stiefmutter konnte Florines Schönheit nicht ertragen. Sie ließ sie den ganzen Tag hart arbeiten und gab ihr fast nichts zu essen. Schmuck und schöne Kleider, die der Vater aus der Stadt mitbrachte, gab sie nur ihrer Tochter Truitonne. Diese besaß alles, was das Herz begehrte, und wenn ihr etwas nicht gefiel, so gab sie es Florine. Florine aber gehorchte ihr schweigend. Eines Tages war die Stiefmutter der Meinung, daß Florine nicht genug arbeitete. Da schickte sie sie jede Nacht zum Kornmahlen in die alte Mühle, die verwunschen war. Florine nahm ihren kleinen Hund und ihre kleine Katze mit sich. Ihre Stiefmutter hatte ihr zwei Stücke Brot mitgegeben, ein vertrocknetes und ein frischgebackenes. Sie hob stets das vertrocknete Brot für sich auf und gab den Tieren das frischgebackene. Eines Nachts, als es gerade Mitternacht geschlagen hatte, hörte sie jemand an die Tür der alten Mühle klopfen. »Wer ist draußen?« fragte sie. »Ich bin’s«, antwortete eine gewaltig dröhnende Stimme. Es war ein Gespenst. »Was soll ich tun, kleiner Hund, kleine Katze?« fragte Florine. »Sag dem Gespenst da draußen, daß es dir ein prächtiges Kleid und einen kostbaren Hut bringen soll«, antworteten die Tiere. 89
Sie verlangte das Kleid und den Hut, wie es ihr der kleine Hund und die kleine Katze geraten hatten. Einige Zeit später hörte sie wieder, wie jemand an die Tür klopfte, und die gleiche Stimme donnerte: »Mach mir auf, ich bringe dir dein Kleid und deinen Hut.« »Was soll ich tun, kleiner Hund, kleine Katze?« »Sag ihm«, antworteten die Tiere, »daß es dir Pferde, eine Kutsche, Diener und Lakaien, wie sie einer Prinzessin würdig sind, bringen soll.« Sie verlangte all dieses. Kurz darauf vernahm sie wieder die Stimme, die rief: »Mach mir auf, ich habe alles mitgebracht, wie du es befohlen hast.« Da fragte Florine erneut ihre Tiere um Rat, und diese sprachen: »Sag ihm, es soll dir Wasser in einem Korb bringen und nicht damit aufhören, bis daß die Hähne krähen.« Sie verlangte dies, und siehe, das Gespenst kehrte nicht wieder in jener Nacht. Als die Stiefmutter am anderen Morgen Florine so prächtig geschmückt und gekleidet in all ihrem Reichtum von der Mühle zurückkommen sah, da beschloß sie, ihre eigene Tochter in der folgenden Nacht dorthin zu schicken. Truitonne machte sich auf den Weg. Sie gab aber dem kleinen Hund und der kleinen Katze das vertrocknete Brot, und das frischgebackene aß sie selbst. Um Mitternacht klopfte der Tote an die Tür. Da fragte sie zitternd die Tiere, was zu tun sei. Diese aber antworteten ihr: »Das mußt du selbst wissen, du hast das frischgebackene Brot verzehrt.« In diesem Augenblick kam das Gespenst zur Türe herein. Truitonne hatte so große Angst, daß sie dachte, sie könnte es gütig stimmen, wenn sie es mit »mein Onkel« ansprach. Und sie sagte: »Oh, mein Onkel, was habt ihr für große Hände?« »Damit ich dich besser greifen kann, mein Kind.« 90
»Oh, mein Onkel, was habt ihr für große Augen?« »Damit ich dich besser sehen kann, mein Kind.« »Oh, mein Onkel, was habt ihr für eine große Nase?« »Damit ich dich besser riechen kann, mein Kind.« »Oh, mein Onkel, was habt ihr für große Zähne?« »Damit ich dich besser fressen kann, mein Kind.« Und mit diesen Worten stürzte es sich auf Truitonne und verschlang sie. Florine aber lebte reich und glücklich und heiratete später einen Königssohn. [Märchen aus den Hochpyrenäen]
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Verfemte und verachtete Berufe Zahlreiche Berufe galten als unehrliche, das heißt, sie wurden zur Zunftbildung nicht zugelassen. Zu diesen verfemten und verachteten Handwerken gehörten u. a. der Besenbinder, Schäfer (Hirte), Köhler, Leineweber. Die Gründe dafür, daß sie gemieden wurden, haben ihre Wurzeln in vorchristlicher Zeit. Sosehr man sie nach außen hin verachtete, so sehr wurden sie insgeheim bewundert: galten sie doch als zauberkräftig und wundertätig.
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Der Köhler Es war einmal ein Köhler, der hatte einen Sohn, der war auch Köhler. Als der Vater starb, verheiratete sich der Sohn, aber er wollte sich nichts vornehmen. Den Kohlenmeiler richtig zu versorgen, dazu war er zu schwach, krank und elend, und schließlich wollte ihn niemand mehr zum Kohlenbrennen haben. Aber nun hatte er doch wieder einmal einen Meiler voller Kohlen gebrannt, und so fuhr er in die Stadt mit einigen Fuder Kohlen. Dort verkaufte er sie, dann ging er durch die Straßen und sah sich um. Auf dem Heimweg kam er in eine Gesellschaft von Nachbarsleuten. Er feierte und trank und schwatzte über alles, was er in der Stadt gesehen hatte. Der Köhler erzählte, daß es dort viele Pastoren gäbe, und alle Leute gingen zu ihnen hin und begrüßten sie und nähmen ihre Mützen vor ihnen ab. »Ich wünschte, ich wäre auch so ein Pfarrer«, sprach er, »dann würden mich vielleicht auch alle grüßen. Jetzt sehen die meisten mich gar nicht an.« »Ja, bist du schon nichts anderes, so bist du doch schwarz genug zum Pastoren«, sagten die Nachbarn zum Kohlenbrenner. »Aber wenn wir schon mal draußen und auf dem Wege sind, so können wir auch zur Auktion vom alten Pfarrer fahren und uns ein Bier gönnen. Du kannst dort Predigerrock und Kragen kaufen«, sagten sie. Ja, so machten sie es. Und als er heimkam, hatte er nicht einen Schilling mehr. »Nun, hast du wohl Lebensmittel und Schillinge genug?« fragte seine Frau. »Nun soll das ein Leben werden, Frau«, sprach der Köhler, »denn jetzt bin ich Pfarrer geworden, hier siehst du beides, Mantel und Kragen.« 94
»Das soll ich dir glauben? Starkes Bier macht große Worte«, sagte die Frau. »Du bist immer gleich entzückt, was es auch für ein Ende nimmt, du!« »Du darfst weder jammern noch schimpfen über den Meiler, bevor die Kohlen abgekühlt sind«, meinte der Köhler. Es kam ein Tag, da reisten viele Leute in Pfarrerkleidung beim Köhler vorüber. Die waren unterwegs zum Königshof, so daß er merken konnte, da war etwas los. Ja, der Köhler wollte dabeisein, und er zog deshalb seine Pfarrerkleidung an. Die Frau meinte, es sei genauso klug, zu Hause zu bleiben, denn käme er wirklich dazu, einem reichen Manne das Pferd zu halten, so würde der Tabaksschilling, den er dafür bekäme, doch nur durch die Gurgel rinnen. »Alle sprechen vom Trinken und niemand vom Durst, Frau«, sagte der Mann, »je mehr man trinkt, desto mehr dürstet man.« Und so zog er zum Königshof. Nun wurden alle Fremden zum König hereingebeten, und der Köhler folgte ihnen. Da sagte der König, daß er seinen kostbaren Ring verloren hätte, und er glaube fest, daß er gestohlen sei. Deshalb habe er alle Gottesgelehrten des Landes zusammengerufen, ob nicht einer dabeisei, der wisse, wer der Dieb wäre. Und er versprach, den zu belohnen, der es sagen könne. War er Kandidat, so solle er ein Pfarramt bekommen, war er Pfarrer, so solle er Probst werden, und war er Probst, so solle er Bischof werden, und war er Bischof, so solle er der nächste am Königsthron werden. Dann ging der König von einem zum andern und fragte sie alle. Und als er zum Köhler kam, fragte der König: »Und wer bist du?« »Ich bin der weise Priester und der wahre Prophet«, entgegnete der Köhler. »So kannst du mir auch sagen, wer meinen Ring genommen hat«, sprach der König.
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»Ja, das geht rein über Hoffnung und Verstand, daß sich das, was im Finstern geschehen ist, im Hellen sehen lassen kann«, erwiderte der Köhler, »doch es kommt nicht alle Tage vor, daß der Lachs auf einem Föhrenwipfel laicht. Nun hab’ ich schon für mich und die Meinen sieben Jahre lang gelesen und habe noch kein Amt bekommen. Wenn ich den Dieb herausfinden soll, dann muß ich gute Zeit und viel Papier haben, denn ich muß rechnen und an viele Länder schreiben.« Ja, er solle gut Zeit haben und Papier, soviel er wolle, wenn er nur den Dieb herbeischaffen könne. Nun kam er hinauf ins Königsschloß in eine Kammer ganz für sich allein, und es dauerte nicht lange, bis sie dort merkten, daß er etwas mehr können müsse, als nur das Vaterunser, denn er schrieb auf so viel Papier, daß es in dicken Haufen und Bergen herumlag, und da war auch nicht einer, der ein Wort von alledem verstand, was er schrieb, denn es sah nur aus wie Haken und Krähenfüße. Doch die Zeit ging dahin, und er bekam keine Spur von einem Dieb heraus. Da wurde der König dessen überdrüssig und er sagte, wenn er den Dieb nicht in drei Tagen herschaffen könne, so müsse er sein Leben verlieren. »Wer soll raten, darf nicht zu früh taten; man soll die Kohlen nicht auseinanderscharren, ehe der Meiler ausgelöscht ist«, sagte der Köhler. Der König aber blieb bei seinem Wort, und der Köhler merkte, daß sein Leben nicht mehr viel wert war. Nun waren da drei von des Königs Dienern, die ihm aufwarteten, jeder an seinem Tag. Und diese drei zusammen hatten den Ring gestohlen. Als der eine Diener hereinkam und den Tisch nach der Abendmahlzeit abräumte und wieder hinausging, stieß der Köhler einen tiefen Seufzer aus, sah ihm nach und sagte: »Das war der erste!«
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Er meinte den ersten der drei Tage, die er noch zu leben hatte. »Dieser Pfaff kann mehr als Brot essen«, sagte er zu seinen Kameraden draußen, »denn er sprach zu mir, das war der erste!« Der andere, der ihm am nächsten Tag aufwartete, sollte sich gut merken, was er sagte. Und richtig, als er nach dem Abendessen abdeckte, glotzte der Köhler ihn starr an, seufzte schmerzlich und sagte: »Das war der andere!« Nun sollte der dritte Diener aufmerken, wie er sich am dritten Tage benehmen würde. Da ging es nicht schlimmer und nicht besser, denn als der dritte Diener die Tür ergriff und hinausgehen wollte mit Tassen und Schüsseln, da faltete der Köhler die Hände und sprach: »Das war der dritte!« Und dann seufzte er, als ob ihm das Herz brechen würde. Der Diener kam heraus, so eilig, daß er kaum noch Atem hatte, und sagte, das sei eine klare Sache, daß der Pfarrer alles wisse. Nun gingen sie alle drei hinein, machten einen Kniefall vor dem Köhler und baten und flehten, er solle es nicht sagen, daß sie den Ring genommen hatten. Sie würden ihm jeder gerne hundert Taler geben, wenn er sie nicht ins Unglück stürzen würde. Der Köhler versprach hoch und heilig, wenn er Geld und Ring und eine große Schüssel Grütze bekommen würde, solle niemand unglücklich werden. Er knetete den Ring gut in die Grütze und ließ diese dem größten Eber des Königs zum Fressen geben. Man solle aber darauf achten, daß er es nicht wieder von sich gäbe. Am nächsten Morgen kam der König und verlangte vom Köhler, ihm den Dieb zu nennen. »Ja, nun hab’ ich gerechnet und nach vielen Ländern geschrieben«, sagte der Köhler, »aber es ist kein Mensch, der den Ring gestohlen hat.« »Aber, wer ist es denn sonst?« fragte der König.
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»Ei, es ist der große Eber des Königs«, antwortete der Köhler. Das Tier wurde gefangen und geschlachtet. Im Magen fand man den Ring des Königs, wie es der Köhler gesagt hat. Dieser bekam nun das Pfarramt. Und der König war so froh, daß er ihm Pferd und Hof und hundert Taler noch obendrein schenkte. Der Köhler zögerte nicht, dorthin zu ziehen, und am ersten Sonntag, nachdem er in sein Amt gekommen war, sollte er zur Kirche, und die Urkunde seiner Amtseinsetzung vorlesen. Aber bevor er reiste, wollte er noch frühstücken. Nun legte er den Amtsbrief solange auf das Fladenbrot. Dann griff er aber daneben und tauchte den Brief in die Brühe, und als er merkte, es war zäh zum Kauen, gab er dem Hund den ganzen Brocken, und der verschlang ihn sofort. Nun wußte er nicht, was er machen sollte, aber in die Kirche mußte er, denn die Gemeinde wartete. Als er hinkam, bestieg er sogleich die Kanzel, dort warf er sich in die Brust, daß alle dachten, das ist gewiß ein glänzender Prediger, aber als es dann weiterging, da war es doch nicht mehr so glänzend. »Die Worte, die ihr an diesem Tag hören solltet, meine lieben Pfarrkinder, sind in die Hunde gefahren. Aber kommt am nächsten Sonntag wieder, so sollt ihr von mir etwas anderes zu hören bekommen. Und damit ist die Predigt aus.« Das schien der Gemeinde ein wunderlicher Pfarrer zu sein, denn eine solche Predigt hatten sie noch nie gehört. Und dann meinten sie, er kann wohl besser werden, und wird er es nicht, so wollten sie schon mit ihm fertig werden. Am nächsten Sonntag sollte wieder Gottesdienst sein, da war die Kirche so voll von Menschen, die alle dem neuen Pfarrer lauschen wollten, so daß der Raum die Menge fast nicht mehr fassen konnte. Ja, er kam herein und bestieg sogleich die Kanzel. Da stand er eine Weile und sagte kein Wort. Aber dann taute er mit
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einem Male auf und rief: »Hör zu, du alte Bücke-Berit, warum sitzt du so weit hinten in der Kirche?« »Ach, ich habe so zerrissene Schuh, Vater«, sagte sie. »So nimm du dir eine alte Schweinshaut und mach dir neue Schuh, so kannst du ebensogut vorn in der Kirche sitzen wie andere ehrliche Weiber. Übrigens müßt ihr bedenken, was für einen Weg ihr geht. Wenn ihr zur Kirche geht, so sehe ich einige von Norden kommen, andere von Süden und dasselbe ist es, wenn ihr von der Kirche wieder heimgeht. Aber ihr haltet auch mal an, und da fragt es sich, was aus euch wird. Ja, wer weiß, was aus uns allen zusammen noch werden wird. Da soll ich kundtun, daß der alten Frau Pfarrer eine schwarze Mähre weggekommen ist. Sie hat Barte an den Hufen und eine lange Mähne und mehr dergleichen, was ich hierorts nicht nennen will. O, ich habe ein Loch in meiner alten Hosentasche, das weiß ich, aber ihr nicht. Aber ob jemand einen Lappen hat, der auf dieses Loch passen könnte, das wißt weder ihr noch ich.« Mit dieser Predigt begnügten sich einige aus der Gemeinde. Sie glaubten nicht anders, als daß aus ihm noch ein guter Prediger würde mit der Zeit, sagten sie. Aber den meisten schien es doch allzu toll, und als der Probst Gottesdienst hielt, beklagten sie sich über den Pfarrer und sagten, daß sie früher noch nie eine solche Predigt gehört hätten. Und einer erinnerte sich an die letzte Predigt und erzählte sie dem Probst. »Das war eine sehr gute Predigt«, sagte der Probst, »denn er hat vermutlich in Gleichnissen gesprochen. Wie man das Licht suchen und die Dunkelheit und ihre Taten scheuen solle... von denen, die auf dem breiten Weg gingen und auf dem schmalen Weg. Und hauptsächlich die Bekanntmachung von der Pfarrers-Stute sei ein herrliches Gleichnis, wie es uns allen gehen wird zum Schluß. Die Tasche mit dem Loch dann solle seine Armut bedeuten, und der Lappen sei das Opfer und die milden Gaben, die er von der Gemeinde erwarte«, sagte der Probst. 99
»Ja, so verstehen wir es auch, er meinte den Pfarrsäckel«, gaben sie zu. Zum Schluß sagte der Probst, er glaube, die Gemeinde habe einen guten und verständigen Pfarrer, daß sie nicht über ihn Klage zu führen brauchte. Und das Ende davon war, daß sie keinen anderen bekamen. Aber da sie glaubten, das würde eher schlimmer als besser, klagten sie beim Bischof. Ja, nach längerer Zeit kam er auch, um Bischofsgottesdienst zu halten. Am Tage vorher war der Köhler in der Kirche, ohne daß es jemand wußte, und er sägte die Kanzel an, so daß sie nur noch festhielt, wenn jemand ganz vorsichtig hinaufging. Als die Gemeinde versammelt war, und als er vor dem Bischof predigen sollte, schlich er sich auf die Kanzel und begann loszulegen, wie er es immer tat. Aber als es eine Weile gedauert hatte, ging es härter zu. Er schlug mit den Armen aus und rief laut: »Ist hier jemand, der etwas Böses oder eine Missetat auf sich geladen hat, da ist es das Beste, er verläßt diesen Ort, denn heute wird ein Fall geschehen, wie kein ähnlicher geschehen ist seit der Erschaffung der Welt.« Und damit schlug er auf die Kanzel, daß es nur so donnerte, und die Kanzel samt dem Pfarrer in die ganze Sippschaft von der Kirchenwand niederbrach mit einem solchen Getöse, daß die Gemeinde aus der Kirche sprang, als ob der jüngst Tag angebrochen sei. Da sagte der Bischof zu der Gemeinde, daß er sich wundere, daß Leute Klage führen könnten über einen Pfarrer, welcher solche Rednergabe besitze und so viel Weisheit, daß er kommende Dinge voraussagen könne. Er glaube, er müsse mindestens Probst werden, sagte er. Und es dauerte gar nicht lange, so wurde er es. So gab es kein Mittel, sie mußten ihn weiter ertragen. Nun war es so, daß der König und die Königin in diesem Lande keine Kinder hatten. Aber als der König zu hören 100
bekam, daß vielleicht doch eines ankommen könne, war er neugierig darauf zu wissen, ob es ein Erbe von Land und Reich oder ob es nur eine Prinzessin würde. Da versammelte er alle Gelehrten des Landes im Schloß, die sagen sollten, was das Kind werden würde. Weil es aber keiner von ihnen sagen konnte, erinnerten sich der Bischof und der König an den Köhler, und es dauerte nicht lange, so hatten sie ihn in ihrer Mitte und fragten ihn aus. Nein, er wisse es auch nicht, sagte er, denn es sei nicht so leicht, zu erraten, was niemand wissen könne. »Ja, ja«, sagte der König, »mir ist es ebenso lieb, entweder du weißt es oder du weißt es nicht. Aber du bist doch der weise Pfarrer und wahre Prophet, welcher kommende Dinge voraussieht, und wenn du es nicht sagen willst, wirst du Mantel und Kragen verlieren«, sagte der König. »Doch es ist einerlei, ich will dich erst prüfen«, sagte er und nahm den größten Silberkrug, den er besaß, und ging zum Strand hinunter. »Kannst du mir sagen, was in dem Krug ist«, sagte der König, als er wieder heraufkam, »so kannst du mir das andere auch sagen«, sprach er und hielt den Krugdeckel fest zu. Der Köhler rang die Hände und war außer sich. »Ach, du unglücklichste Krabbe auf dieser Erde, was hast du nun von all deiner Mühe und Plackerei«, sagte er. »Ja, siehst du, als ob du es nicht wüßtest!« sagte der König, denn er hatte eine große Krabbe im Silberkrug. So mußte also der Köhler hinein in den großen Saal zur Königin. »Man soll kein Geschrei um ein ungeborenes Kind machen und sich nicht um den Namen streiten, bevor es geboren ist«, sagte der Köhler, »aber so etwas habe ich weder gehört noch gesehen bisher: wenn die Königin auf mich zukommt, so glaube ich, es wird ein Prinz; und wenn sie von mir geht, sieht es aus, als ob es eine Prinzessin würde.«
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Es wurden Zwillinge. Ein Knabe und ein Mädchen, so daß es der Köhler auch diesmal getroffen hatte. Und weil er das sagen konnte, was niemand wissen konnte, bekam er Geld fuderweise, und er wurde der Höchste neben dem König. [Märchen aus Norwegen]
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Die zwei Hafner Zwei Hafner waren zusammen auf der Wanderschaft. Da traf es sich einmal, daß sie bei Einbruch der Nacht noch im Walde waren und daran denken mußten, hier zu übernachten. Es ging aber die Rede von diesem Walde, daß darin Hexen hausten und auf einem hohlen Baume ihre nächtlichen Zusammenkünfte hielten. An diesen hohlen Baum kamen die zwei Hafner, und der eine von ihnen sagte, darin wolle er über Nacht bleiben. »Sei doch klug«, sagte der andere, »weißt du denn nicht, daß die Hexen hier zusammenkommen und schon manchen, der sie hier in dem hohlen Baume belauschen wollte, herausgezogen und jämmerlich zerrissen haben.« »Das weiß ich wohl«, sagte der erste, »aber das schreckt unsereinen nicht ab. Ich übernachte in dem hohlen Baum.« Der andere redete ihm noch eine Weile zu, als aber alles nichts half, mußte er sich entschließen, allein weiterzugehen und sagte seinem Kameraden Lebewohl. Dieser blieb bei dem Baume, suchte sich nassen Lehm und bildete daraus einen Mann. Als er damit fertig war, trug er ihn zu dem Baum. Dann kroch er in die Höhlung hinein, stellte den Mann aus Lehm vor sich hin, er selbst aber hockte dahinter und wartete auf die Hexen. Um Mitternacht hüb ein heftiges Geräusch an und fuhr durch die Bäume hin und her. Das kam von den Hexen, welche auf ihren Besen in der Luft umherritten und sich endlich auf dem hohlen Baume niederließen. Hier machten sie eine Musik, die dem Hafner durch Mark und Bein ging, und als die Musik fertig war, fingen sie an, einander allerlei abenteuerliche Geschichten zu erzählen. Als sie eine Weile geplaudert hatten, sagte eine: »Ich weiß etwas.« 103
Sprach die zweite: »Ich versteh’ etwas.« Sprach die dritte: »Ich spür’ etwas.« »Was weißt du denn?« fragten sie die erste. »Ich weiß, daß in diesem Augenblicke die Königstochter von einer Schlange gebissen worden ist, und daß es nur ein Mittel gibt, welches sie heilen kann.« »Was verstehst du?« fragten sie die zweite. »Das Mittel, das sie heilen kann verstehe ich. Wenn man ihr Pferdemist auf die Wunde legt, so wird sie genesen.« »Und was spürst du?« fragten sie die dritte. »Ich spüre, in unserem Baume steckt ein Mensch.« Darauf fuhren alle drei vom Baume herab, schossen in die Höhlung hinein und holten den Mann aus Lehm heraus. Im Nu hatten sie ihn in tausend Stücke zerrissen, und mit wüstem Jubelgeschrei fuhren sie durch die Lüfte davon. Der Hafner war froh, weil das Spektakel vorbei war und kroch aus dem Baume hervor. Er ging seines Weges weiter, bis er in die Königsstadt kam. Hier ließ er sich beim König melden und trug ihm seine ärztliche Hilfe an. Der König war froh über den Antrag des Fremden, und er versprach, ihm die Prinzessin zur Frau zu geben, wenn sie durch ihn vom Biß der Schlange geheilt würde. Der Hafner nahm Pferdemist, legte ihn auf die Wunde, und in wenigen Tagen war die Königstochter frisch und gesund. Dann wurde die Hochzeit mit großer Pracht gefeiert, und nach dem Tode des Königs bekam der Hafner auch Krone und Zepter und Macht über alle Lande, die der alte König regiert hatte. Tag um Tag verging, und es trug sich zu, daß der andere Hafner zum König kam, um von ihm etwas zu erbetteln. Aber kaum hatten sich die zwei Kameraden gesehen, so erkannte einer den andern. Der Arme war sehr neugierig zu wissen, wie sein Reisegefährte zu solchem Reichtum und zu solchen Ehren gelangt sei. Der König verheimlichte ihm nichts, sondern 104
erzählte ihm treu und offen, was sich bei dem hohlen Baume begeben, und wie er des Königs Tochter zur Frau bekommen habe. Der arme Teufel machte sich auf, ging zu dem hohlen Baume und machte es geradeso, wie es sein Kamerad angestellt hatte. Er stellte einen Mann aus Lehm vor sich und wartete auf die Hexen. Diese aber hatten die Sache durchschaut, und als sie zum Baume fuhren und merkten, daß jemand darin war, so ließen sie den Mann aus Lehm stehen, über den Hafner aber fielen sie her und zerrissen ihn in tausend Stücke. [Märchen aus Tirol]
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Die goldene Flöte Es war einmal ein junger Holzhauer, der hieß Zacharias. Dieser ging eines Tages in den Wald an sein Geschäft. Als er nun einen dicken Baum anhieb, hörte er eine feine, klagende Stimme, die recht bittend klang. Er hörte auf zu hauen und fragte: »Wo bist du denn?« Die Stimme antwortete: »Hier im Baum bin ich. Haue nur da oben, wo der weiße Strich am Baum ist, ein Loch hinein.« Er tat es, und nach einigen Hieben hatte er eine Öffnung im Baume. Jetzt sah er, daß es ein hohler Baum war, und bald darauf guckte ein wunderhübsches Mädchengesicht aus dem Loche und lachte ihn recht freundlich an. Er fragte: »Wo bist du denn da hineingekommen?« Da erzählte ihm das Mädchen, es sei von einem Riesen hierher gebracht, und müsse so lange dableiben, bis der Baum umgehauen würde. Der Holzhauer machte nun die Öffnung so groß, daß das Mädchen herauskommen konnte. Als es nun vor ihm stand, hatte es ein kleines Fläschchen in der Hand und fragte, ob er nicht zu dem Riesen gehen und ihm die Flöte holen wolle, die er ihm gestohlen hätte und ohne die es nicht von der Stelle hier gehen und sein Schloß beziehen könne. Der Riese aber wohne in einer großen Höhle hinter jenem großen Berge und habe die Flöte beständig bei sich, auch wenn er schlafe. Augenblicklich war der Holzhauer dazu bereit und machte sich mit seiner Axt auf den Weg zu dem Riesen. Es dauerte nicht lange, so kam er zu einem großen Berg, in dem der Riese hauste. Auch fand er bald die Höhle, vor welcher der Riese, in ein Bärenfell gekleidet, saß. Mit Angst im Herzen ging der Holzhauer auf den Riesen zu und grüßte ihn freundlich. Doch dieser fuhr ärgerlich auf ihn zu und fragte ihn, was so ein Zwerg wie er hier wolle. Der aber sagte, er habe sich hier im 106
Walde verirrt und bitte ihn, ob er wohl nicht diese Nacht bei ihm bleiben dürfe. Darauf wurde der Riese wieder ruhiger und sagte, er könne dableiben, müsse aber das Holz kleinmachen, das vor der Höhle läge. Das tat der junge Mensch denn auch. Darauf wies ihm der Riese einen Winkel in der Höhle an, wo er schlafen sollte. Der Holzhauer legte sich nun hin und tat, als wäre er fest eingeschlafen. Er schlief aber nicht. Als nun der Riese eingeschlafen war, stand der Holzhauer leise auf, nahm seine Axt, schlich sich zu dem Ungeheuer hin und gab ihm einen solchen Schlag auf den Kopf, daß er das Aufstehen vergaß. Dann hackte er ihm den Kopf ab und nahm ihm die Flöte weg, die er auf der Brust unter dem Bärenfell stecken hatte. Danach machte er sich mit seiner Beute wieder auf den Weg zu dem Baum, wo das Mädchen noch immer stand und das Fläschchen in der Hand hielt. Als es ihn sah, freute es sich, und er mußte ihm erzählen, wie er die Flöte gekriegt hätte. Da er auch sagte, er habe den Riesen erst totgeschlagen und so die Flöte von seiner Brust genommen, war die Freude des Mädchens unbeschreiblich. Es setzte das Fläschchen auf die Erde, nahm die Flöte und spielte ein wundersames Lied darauf. Mit dem Ende des letzten Tones tat das Fläschchen einen Knall, so laut, daß der Holzhauer bewußtlos zur Erde stürzte. Beim Erwachen lag Zacharias in einem schönen Garten, und das schöne Mädchen stand vor ihm und trocknete ihm den Schweiß ab, ließ ihn an dem Fläschchen riechen, und dadurch wurde er wieder so gesund, wie er vorher gewesen war. Dann faßte sie ihn an der Hand und sprach mit lieblicher Stimme: »Du hast mich erlöst, und du sollst von jetzt an mein Gemahl und Herr dieser Güter sein.« Daraufhin führte sie ihn in das Schloß, und es wurde Hochzeit gefeiert. So war aus dem armen Holzhauer ein großer und reicher Mann geworden. Und er lebte glücklich mit seiner schönen Frau bis an sein Lebensende. [Märchen aus dem Harz] 107
Das blutrote Seidenschaf Ein armer Knabe, dem Vater und Mutter gestorben waren, verdingte sich einem Manne, welcher fünf Schafe hatte. Dieser gab ihm für jedes Stück einen Gulden Hüterlohn und hieß ihn, im Walde eine Weide aufzusuchen. Wenn er dann im Herbst zurückkomme, würde er ihm für jedes Stück, welches er über die fünf heimbringen würde, wieder einen Gulden geben. Darauf trieb der junge Hirte sein kleines Häuflein fort und kam nach ein paar Tagen in einen großen Wald, worin sich viel und sehr gute Weide befand. Er baute sich dort ein kleines Hüttlein, worin er mit seinen Schafen Platz hatte, und flocht darum, wie es die Hirten unseres Volkes zu tun pflegen, einen Zaun von Reisig und Ruten. Dies war zum Schutz gegen Wölfe oder sonstige wilde Tiere, deren es im Wald von Struppwerk genug gab. Eines Abends, er hatte eben die Türe seiner Einfriedung geschlossen, rief es draußen, und zwei fremde Männer baten um Einlaß. Der Knabe machte sogleich auf, und es trat der Herr Christus mit dem heiligen Apostel Petrus ein, welche aber der Knabe nicht erkannte. Die Männer grüßten den Jungen, und nachdem er ihnen freundlichen Dank dafür nicht schuldig geblieben war, so baten sie um Essen und ein Nachtlager, da sie sehr müde und hungrig waren. Der Schafjunge hatte aber nichts zu essen, denn er selbst hatte bis jetzt von Beeren und Waldfrüchten gelebt, die er während des Schafhütens im Walde gefunden. Nun war er der Fremden wegen, die er, wie es das heilige Gastrecht verlangte, gerne gut bewirtet hätte, in großer Verlegenheit. Er wußte also nichts anderes zu tun, als gerade eines der Schafe zu schlachten und es für seine Gäste zuzubereiten. Diese waren aber auch so hungrig, daß sie nach und nach das ganze Schaf aufzehrten.
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Als sie damit fertig und satt waren, sprach Christus zu dem Knaben: »Mein Sohn, wo hast du das Schaf geschlachtet, hier oder draußen?« Da sagte jener: »Hier, im Hof!« worauf der Herr fortfuhr: »Gut, so nimm das Blut auf, wie du es draußen noch finden wirst, und sammle auch alle Knochen davon, welche wir übriggelassen und grabe alles zusammen in einer Ecke des Hofes ein!« Der Knabe tat so, wie ihm gesagt worden, und nachdem er damit fertig war, kam er wieder herein und wies seinen Gästen jedem eine Ecke in der kleinen Hütte an, wo er schon von dürrem Laub weiche Lagerstätten bereitet hatte. Weil aber die Schafe auch gewöhnt waren, hier zu schlafen, so legte er sich unter die Türe, damit für diese Nacht keines herein und die Fremden beunruhigen könnte. Auch seine Schafe mußten ihm helfen, das Gastrecht zu üben. Des Morgens stand er in aller Frühe auf, um nach seinen Schafen zu sehen, wie staunte er aber, als er statt vieren, die er heute noch haben sollte, den ganzen Hofraum voll mit den schönsten Schafen sah, so daß dieser sie kaum zu fassen vermochte. Er wußte nicht, was er denken sollte, und lief deshalb hinein zu seinen Gästen, welche unterdessen auch schon munter geworden waren, und erzählte ihnen, was draußen vorgegangen sei. Dazu beklagte er sich, daß er nun nicht wisse, was mit so vielen Schafen machen, die nicht seinem Herrn gehörten. Hierüber beruhigte ihn der Herr und hieß ihn nur die Schafe alle zu behalten, bis sein Herr komme, dem solle er sie dann alle übergeben, nur das eine rote solle er nie weggeben, sondern selber immer behalten, denn mit diesem werde er sein Glück machen. Auf diese Reden beruhigte sich der Knabe und begleitete die Fremden, welche sich indessen zum Weitergehen angeschickt hatten, noch ein Stück Wegs, damit sie sich nicht verirren sollten.
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Als er zu seinen Schafen zurückgekehrt war, fand er wirklich ein außerordentlich schönes und wunderbares darunter, welches der Fremde gemeint hatte, daß er es behalten solle. Es hatte keine Wolle wie andere Schafe, sondern diese war dicht und lang und von außerordentlicher Feinheit, so daß sie sich wie Seide anfühlte, dabei war sie von brennend blutroter Farbe, so daß man kaum darauf sehen konnte, ohne die Augen schnell abwenden zu müssen. Bald darauf kam einmal der Herr der Schafe, um nach seinen fünf Schafen, die er dem Jungen übergeben hatte, zu sehen. Wie er aber den ungeheuren Haufen sah, wußte er vor Verwunderung kaum Worte zu finden. Er fragte endlich und zählte, als ihm sein kleiner Schäfer sagte, daß alle sein seien. Mit dem Zählen brachte er es aber nur bis fünftausend, da wurde es ihm zuviel und er ließ es sein, soviel es sein mochten, dem Knaben aber bezahlte er fünftausend Gulden und entließ ihn, denn er konnte nun selber Bauer und Herr werden. Dieser nahm auch den Stab und sein kleines Bündel samt dem vielen Geld, verabschiedete sich von seinem Herrn und ging. Da sprang aber das blutrote Schaf mitten aus der Herde heraus und folgte ihm überallhin. So war er fortgewandert, bis es Abend geworden war, da kam er in ein Dorf und kehrte bei einem Popen ein. Dieser war zwar nicht zu Hause, sondern eben noch beim Fruchtmessen auf dem Tretplatz beschäftigt. Die Popin hieß ihn indessen sitzen, gab ihm zu essen, das rote Schaf aber bekam seinen Platz im Stall, wo ihm auch sein Futter vorgesetzt wurde. Als die jüngste Tochter des Popen das schöne rote Schaf gesehen hatte, gefiel ihr seine herrliche Wolle so gut, daß sie bei sich beschloß, wenn sein Herr schlafen würde, von seiner Wolle zu nehmen. Dies währte auch nicht lange, denn der arme Knabe war müde, so daß er bald in festem Schlaf auf der Streu lag, welche ihm im Hause bereitet worden war. Das Mädchen schlich sich in den Stall zu dem roten Schaf, faßte eine 110
Handvoll Wolle, um sie auszureißen, konnte aber mit aller Anstrengung auch nicht das geringste davon herausbringen. Als es nun sah, daß es sich umsonst bemühte, wollte es das Schaf loslassen, seine Hand blieb aber in dem roten Vlies wie eingewurzelt fest; alle Mühe, sich loszumachen, war vergebens, es mußte bei dem Schafe festgebannt stehenbleiben. Da geriet es in Angst und fing an zu schreien, so daß seine ältere Schwester herbeikam, um zu sehen, was es gäbe. Als ihr die jüngere ihre Not klagte, wollte sie ihr helfen, aber kaum hatte sie das Schaf angefaßt, um die Hände ihrer Schwester aus dem Vlies loszumachen, so konnte auch sie die Hände nicht mehr davon losbringen. Nun schrien alle beide, und die älteste Schwester eilte herbei, um die beiden Festgebannten zu befreien. Aber es gelang ihr ebensowenig. Ja, auch sie geriet so in die Wolle des Wunderschafs, daß sie ebenso fest darin hängenblieb. Der Lärm war natürlich immer größer geworden, und so eilte jetzt die Popin selber mit dem Besen herbei. Kaum sah sie die Lage ihrer Töchter, so führte sie mit ihrer Waffe einen Streich auf das Schaf, der fiel so weich in die Wolle des Tieres, als ob er nichts wäre. Aber sie blieb auch darin hängen wie die Hände ihrer Töchter, und sie konnte auch den Besen nicht mehr loslassen. Jetzt kam eben der Geistliche vom Tretplatz nach Hause. Da er das Geschrei im Stall hörte, ging er hinzu und sah das Wunder, begann zwar zu lachen, aber da kreischte die Frau und hieß ihn das verdammte Schaf, von dem sie nicht loskommen könnten, totschlagen. Der Pope wollte also in gerechtem Eifer mit der Fruchtschaufel, welche er bei sich hatte, einen wohlgezielten Streich auf das Schaf führen. Der Erfolg war aber kein anderer als der, den die Frau mit ihrem Besen errungen hatte, denn auch er blieb mit der Schaufel fest in der Wolle des Schafes hängen. Da jetzt der Pope mitschrie, war der Lärm, den alle machten, so groß, daß der Junge endlich erwachte. Er sprang ebenfalls herbei, ebenso hatte sich aber aus der Nachbarschaft eine große 111
Anzahl Zuschauer versammelt, die alle an diesem Spektakel ihre heimliche Freude hatten, denn jeder wußte über den Popen oder einen von seiner Familie etwas zu sagen. Der Knabe, der Herr des Schafes, wurde vor allem mit einem Schwall von Schimpfreden und Scheltworten empfangen, warum er mit seinem verdammten Schaf nicht beim Teufel und seiner Großmutter über Nacht geblieben sei und dergleichen. Nachher baten sie ihn freilich alle wieder, daß er sie losmachen solle. Dies war aber umsonst, denn der Knabe wußte das Geheimnis dazu ebensowenig, wie irgend jemand von den Anwesenden. Während also einerseits der Zorn und Unmut sich in Schimpfen und Fluchen Luft machte, so nahm andererseits auch die heimliche Freude der Zuschauer zu und wurde laut, so daß sich nach und nach das ganze Dorf versammelte. Endlich traten einige Leute zu dem Knaben und hießen ihn, mit seinem Wunderschafe und der daranhängenden Popenfamilie vor den Kaiser zu gehen und dieses Wunder dort zu zeigen. Sie versicherten ihm dabei, daß er gewiß sein Glück machen werde. Der Knabe, welcher kaum selbst recht wußte, was er tun sollte, befolgte den Rat, ging und rief das Schaf, welches ihm sogleich folgte, indem es die Popenfamilie alle mit sich zog. Diesem Zug folgte ein ganzer Troß neugieriger Zuschauer bis über die Markung des Dorfes hinaus, in dem er sich befunden hatte. Zu derselben Zeit regierte nun ein Kaiser im Lande, sein Name liegt mir fast auf der Zunge. Dieser hatte eine Tochter, welche schon seit Jahren in eine tiefe Schwermut verfallen war, so daß man allgemein befürchtete, sie müsse daran sterben. Der gute Kaiser, welcher an ihr, seiner einzigen Tochter, außerordentlich hing, fragte nun bei allen Ärzten und Philosophen des Landes herum, wie man dieser gefährlichen Schwermut seiner Tochter abhelfen könnte, allein keiner von ihnen wußte etwas anderes zu sagen, als daß sie geheilt sein 112
würde, wenn es einem gelänge, sie einmal zu einem herzlichen Lachen zu bringen. Der Kaiser ließ deshalb in seinem ganzen Lande bekanntmachen, daß derjenige, wer es auch sei, welchem es gelingen würde, seine Tochter, die schwermütige Prinzessin, zum Lachen zu bringen, dieselbe zur Frau und noch bei seinen Lebzeiten die Hälfte seines Reiches bekommen solle, nach seinem Tode würde derselbe auch Kaiser über die andere Hälfte werden. Dies war schon längere Zeit bekanntgemacht worden. Viele hatten auch um des schönen Lohnes willen ihr Heil versucht, aber vergebens, denn keinem war es gelungen, die Prinzessin auch nur zum Lächeln, geschweige denn zum Lachen zu bringen. So standen also die Dinge, als der Schäferknabe mit seinem merkwürdigen Zuge zum Hofe zog. Auf sein Verlangen wurde er bald vor den Kaiser gelassen, dem er sein hübsches Wunderstückchen zeigte, worüber der gute Kaiser in fast unaufhaltsames Gelächter geriet. Als er sich von diesem wieder einigermaßen erholt hatte, ließ er sogleich seine Tochter, die Prinzessin, rufen, denn er hoffte selbst, daß dieser Anblick gewiß für sie von der besten Wirkung sein würde. Diese kam, und als man ihr das seltsame Schauspiel, diese so spaßig an dem blutroten Schafe hängende Popenfamilie zeigte, so brach sie in der Tat in ein derart nicht enden wollendes Lachen aus, daß alle, die es sahen und hörten, glaubten, die Prinzessin sei nicht mehr die nämliche. Alles war aber auch nicht minder erfreut, denn man wußte jetzt, daß sie von ihrer Schwermut geheilt sei. Der Kaiser selbst, hocherfreut über die glückliche Genesung seiner Tochter, ging sogleich auf den Knaben zu, nahm ihn bei der Hand und rief ihn als seinen Schwiegersohn aus, indem er die Hand seiner Tochter in die seinige legte. Dann ließ er ihm auch als Mitregenten huldigen und setzte ihn noch bei seinen 113
Lebzeiten über die eine Hälfte seines Reiches. Die Hochzeitsfeierlichkeiten aber wurden so glänzend und prachtvoll ausgeführt, wie man es sonst nur bei einem ganzen Kaiser tun würde. Ob die Popenfamilie von dem Wunderschaf je wieder loskam, vermag ich nicht zu sagen, denn die Geschichte selbst verschwieg es, gewiß aber ist, daß es Gott mit ihr gemacht haben wird, wie sie es verdiente, denn er legt ja niemand mehr auf, als er zu tragen vermag. [Märchen aus der Walachei]
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Vom Vöglein, das goldene Eier legte Nicht weit von einer großen Stadt lebte ein Besenmacher, welcher mit Mühe und Not seine Frau und zwei Knaben zu ernähren vermochte. Diese gingen eines Tages in den Wald, um Nester zu suchen und fanden zu ihrem Erstaunen eines, in welchem ein Vöglein saß, das goldene Eier legte. Darüber freuten sich die Knaben gar sehr, nahmen Eier, Vogel und Nest und eilten nach Hause zu ihrem Vater, dem sie den gefundenen Schatz zeigten. Der gute Mann ging zum Goldschmied im Dorfe, welcher die Eier besah und ihm erklärte, daß er ihn und seine ganze Familie erhalten wolle, wenn der Besenmacher ihm das Vöglein abtrete. Dessen war jener wohl zufrieden, und sie zogen alle in das Haus des Goldschmieds, wo sie eine Zeitlang die besten Tage hatten. Das Vöglein aber legte täglich ein goldenes Ei. Einmal hörte der Goldschmied, wie das gute Tierchen sang: »Wer mein Hirn ißt, der wird König, und wer mein Herz verspeist, der erhält täglich hundert Dukaten.« Kaum hatte der gierige Schmied diese Worte gehört, als er auch schon das Vöglein tötete und zum Braten in die Pfanne legte. Während er aber auf einen Augenblick hinausgegangen war, kamen die zwei Knaben des Besenmachers in die Küche, rochen den Braten und verzehrten denselben zusammen, so daß der jüngere das Hirn, der ältere das Herz zu verzehren bekam. Als der Goldschmied wieder in die Küche trat und das Vöglein verschwunden war, geriet er in große Wut und jagte die ganze Familie fort, wodurch diese wieder in das größte Elend geriet. So mußten sich die Brüder entschließen, in die Fremde zu reisen, um die Eltern zu unterstützen. So kamen sie zu einem Scheidewege, mitten im Walde, bei welchem der Jüngere ostwärts, der Ältere südwärts zog. Der Jüngere kam nach langem Marsche in die Hauptstadt des Reiches, wo soeben der 115
König gestorben und von den Großen des Reiches die Vereinbarung getroffen worden war, daß derjenige König werden sollte, der hoch zu Roß zuerst in der Frühe des folgenden Morgens den heiligen Hügel vor der Stadt erreichte. Der junge Mann, welcher kräftig und schön aussah, erhielt ebenfalls ein Pferd und durfte sich am Wettrennen beteiligen. Das Glück war ihm hold, er sprengte wie ein alter Reiter den Hügel hinan, blieb Sieger und wurde noch desselbigen Tages zum König gekrönt und ausgerufen. Er ließ seine Eltern sogleich zu sich kommen, wurde ein großer Fürst und Held und regierte lange und glückliche Jahre. Der ältere Bruder aber hielt sich in der ersten Nacht in einem großen Gasthofe an der Heerstraße auf, und als er am anderen Morgen erwachte, fand er einen großen Geldbeutel vor sich liegen mit vollgültigen hundert Dukaten. Da sich nun das Wunder täglich wiederholte, heiratete er die wunderschöne und reiche Wirtstochter und zog mit ihr an den Hof seines Bruders, wo er zum Ritter des Reiches geschlagen wurde. [Märchen aus Graubünden]
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Nachwort Das Märchen schildert in der Symbolsprache den ganzen Weltablauf, aber auch das Schicksal und Leben des einzelnen Menschen. Es ist die einzige Literaturgattung, die alle Schichten des Volkes erfaßt. Weitergetragen und erzählt wurden die Märchen von all denen, die reisten und wanderten. Es waren dies Troubadoure, Minnesänger, Gaukler, Kaufleute, Soldaten und Handwerksburschen. Die Handwerker im Märchen repräsentieren die Alltags- und Arbeitswelt, die bislang wenig Beachtung in der Literatur über Märchen fand. Gerade die Handwerkermärchen aber sind es, die den Bezug zur realen Lebenssituation des Volkes herstellen. Handwerker im Märchen – zumal die Schuster und Schneider – standen für die unteren Volksschichten, die im wirklichen Leben Leid, Entbehrung und oft genug bittere Armut zu erdulden hatten. Im Märchen wird eine glückliche Gegenwelt zur unglücklichen Realität entworfen. Es gibt kein Handwerkermärchen, in dem ausführlich Werkstatt, Arbeitsgeräte und Herstellungsvorgang beschrieben wird. Man kann daraus schließen, daß die Menschen einst mit den verschiedenen Handwerken vertraut waren, so daß sich eine Beschreibung der jeweiligen Tätigkeit erübrigte. Es sind lediglich die Leitwerkzeuge, die im Märchen erwähnt werden: Amboß, Hammer und Esse beim Schmied, Nadel, Elle und Schere beim Schneider, Pechdraht, Pfriem und Dreifuß beim Schuster. Viele Handwerker verrichteten die Arbeit in aller Öffentlichkeit, am Straßenrand oder bei offener Werkstatt. Bis auf den heutigen Tag haben sich Reste handwerklicher Tradition erhalten. Deutlich zeigt sich dies in der Alltags- und Umgangssprache. So gibt es viele Sprichwörter und Redewendungen, in denen das Handwerk Erwähnung findet, z. 117
B. »Schuster, bleib bei deinen Leisten«, »jemandem ins Handwerk pfuschen«, »jemandem das Handwerk legen« oder »Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen«. Es existieren auch Bräuche, die auf eine lange Geschichte hinweisen. In manchen Städten werden noch alte Handwerkertänze zu bestimmten Festen aufgeführt. Sie gehörten früher zum städtischen Leben. Vom Mittelalter bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein war das Handwerk streng in Zünften organisiert. Die ersten Zünfte entstanden in Mainz (1099), Worms (1107), Würzburg (1128) und Köln (1149). Die Entstehung des städtischen Zunftwesens ist eng verbunden mit dem Aufkommen städtischer Siedlungsformen im Mittelalter. Während es im Dorf beispielsweise nur einen Schmied gab, der seiner Kundschaft sicher sein konnte, sahen sich die Schmiede in der Stadt mehreren Konkurrenten gegenüber. Die Zünfte waren daher notwendige Zusammenschlüsse von städtischen Handwerkern, die die gleichmäßige Verteilung von Aufträgen innerhalb des Gewerbes regelten. Nur so konnte die Existenz der Meisterfamilien gesichert werden. Außerdem sorgte die Zunft für die gleichbleibende Qualität der Produkte, schützte dadurch die Ehre des Handwerks und bewahrte den Käufer vor schlechter Ware. Die Löhne der Gesellen und die Arbeitszeit wurde ebenfalls von der Zunft festgesetzt. Außerdem entschied sie über die Höhe der Preise. Die Zunft sorgte auch dafür, daß die Anzahl ihrer Mitglieder ungefähr gleich blieb. Auf diese Weise wurde garantiert, daß jeder organisierte Handwerker seinen Lebensunterhalt sichern konnte. Wer in eine Zunft eintreten wollte, mußte bestimmte Voraussetzungen erfüllen. So mußte er von freiem Stande sein, d. h., kein Leibeigener durfte in eine Zunft eintreten. 118
Außerdem mußte der Bewerber einen guten Leumund haben und über geprüfte Fachkenntnisse und Fertigkeiten verfügen. In den meisten Fällen übernahmen die Söhne das Handwerk ihres Vaters. Juden als Nichtchristen waren von der Erlernung eines Handwerks ausgeschlossen; sie durften allenfalls Handel treiben und Geldgeschäfte tätigen, was wiederum den Christen untersagt war. Nur der Meister war ein vollwertiges Mitglied der Zunft. Lehrlinge und Gesellen lebten oft in niederer sozialer Stellung. Die wenigsten unter ihnen hatten jemals die Möglichkeit, zum Meister aufzusteigen, denn nicht die Leistung zählte, sondern die Herkunft und das Vermögen des einzelnen. Im allgemeinen konnten nur Söhne von Meistern wiederum Meister werden, während Söhne von Gesellen ihr Leben lang Gesellen bleiben mußten. Die Aufnahme in eine Zunft war mit einem bestimmten Ritual verbunden. Jede Zunft hatte darüber hinaus ihre eigenen Gebräuche und Statuten. So mußten Bewerber, die in eine Zunft aufgenommen werden wollten, Dokumente vorlegen, die ihre eheliche Geburt bescheinigte, und einen bestimmten Betrag hinterlegen. Außerdem mußten sie auswendig gelernte Sprüche hersagen, die zeigten, daß sie bereits eingeweiht waren in die Gepflogenheiten der Zunft. Allen Zünften gemeinsam war als Bestandteil der Ausbildung die dreijährige Wanderzeit der Gesellen, die Walz, vorgeschrieben. Wer die Meisterschaft anstrebte, mußte seine Wanderzeit nachweisen. Dabei ging es auch darum, die Konkurrenz so weit wie möglich zu reduzieren. Viele Walzbrüder, die sich woanders niederließen oder auf der Landstraße blieben (daher kommt übrigens die Redewendung »auf der Strecke bleiben«), schieden als mögliche Konkurrenten aus.
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In den Märchen treten Handwerker sowohl als Gesellen als auch als Lehrlinge oder gar als Meister auf. Meist aber spielen Wandergesellen die Hauptrolle. Diese Walz- oder auch Fechtbrüder waren es, die Neuigkeiten von Ortschaft zu Ortschaft trugen, die viel zu erzählen wußten, die das Volk mit Witz und Schwänken, aber auch mit Märchen unterhielten. In Form von Märchen äußerten sie Kritik an bestehenden Verhältnissen und riefen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft wach. Oft wußten sie von den geheimen Dingen oder verfügten sogar über konspirative Informationen. Daher wachte die Obrigkeit mit scharfem Auge über die wandernden Handwerker. In der Zeit der aufkommenden Manufakturen und der beginnenden Industrialisierung (im 18. und 19. Jahrhundert) verloren die Wandergesellen ihre soziale Berechtigung. Es konnte gar nicht anders sein, als daß die fahrenden Gesellen angesichts der Lage auch zu Trägern umstürzlerischer Gedanken wurden. Um sich vor Zugriffen der Obrigkeit besser schützen zu können, hatten die fahrenden Gesellen eine eigene Sprache, eine Art Gaunersprache (Rotwelsch) entwickelt. In dieser Sprache verkehrten sie untereinander und wurden darin auch vom einfachen Volk verstanden. Sie haben Märchenstoffe aufgegriffen, weitertransportiert und variiert. Selbstverständlich wurden dabei auch ihre eigenen Erfahrungen mit hineingeflochten. In der Zeit, als die großen Märchensammlungen entstanden, als sich das volkskundliche Interesse auf diese mündlich überlieferte Erzähltradition richtete – also in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts –, war die Blütezeit des Handwerks vorbei. Mit der Gewerbefreiheit fielen auch die Zunftschranken. Ebenso, wie die Walz in einem romantisierten Licht gesehen wurde – zahlreiche Lieder zeugen davon –, wurde auch die handwerkliche Arbeitswelt in dieser Zeit oftmals idyllisiert. Trotzdem haben die Märchentexte ihren 120
Witz, ihre versteckte Kritik und ihre ursprüngliche Lebendigkeit nicht verloren. Man erkennt daran ihre tiefe Verwurzelung im Volk. Betrachtet man sich nun die Handwerkermärchen, so fällt auf, daß vier Berufe im Märchen überdurchschnittlich häufig eine Rolle spielen. Es sind dies Schneider, Schuster, Schmied und Müller. In dieser Sammlung werden deshalb diese vier Handwerke herausgegriffen. Darüber hinaus ist aber auch die Gruppe der sogenannten »unehrlichen Berufe« interessant, der ich ein eigenes Kapitel gewidmet habe. Im folgenden möchte ich näher auf die jeweiligen Handwerksberufe eingehen und ihre Stellung verdeutlichen. Der Schneider Obwohl die Schneider im Mittelalter zu den »ehrbaren« Handwerkern zählten und das Recht hatten, sich in einer Zunft zusammenzuschließen, also »zünftig« waren, wurden sie doch in der damaligen Gesellschaft gering geachtet. Innerhalb der Hierarchie der verschiedenen Zünfte lag die Schneiderzunft auf einem der untersten Ränge. Dies lag daran, daß zum Erlernen des Schneiderhandwerks keine besonderen Voraussetzungen erfüllt werden mußten, weder materieller noch fachlicher Art. Hinzu kommt, daß die Tätigkeit des Schneiders keine großen körperlichen Kräfte erforderte, so daß man die eher schwächlichen Söhne zu einem Schneider in die Lehre gab. Außerdem war zur Ausübung dieses Handwerks keine spezielle Werkstatt vonnöten. Der Schneider konnte sein Handwerk in der Wohnstube verrichten. Er saß dabei auf seiner »Bude«, einem größeren Tisch, und arbeitete mit seinen Händen. Dazu bedurfte es keiner besonderen Spezialwerkzeuge. Die Tätigkeit des Schneiders machte auf einen Außenstehenden den Eindruck, als sei sie äußerst einfach 121
und mit keinerlei Anstrengung verbunden. In Wirklichkeit aber erforderte der Umgang mit Nadel und Faden, die Bearbeitung des Stoffs, das genaue Maßnehmen durchaus Geschick und Fingerspitzengefühl. Nicht umsonst wird im Märchen die Klugheit und Listigkeit des »Schneiderleins« gepriesen. Man denke nur an Das tapfere Schneiderlein der Brüder Grimm. Nicht körperliche Kraft und Größe bringen einen Schneider ans Ziel, auch nicht äußerer Reichtum, sondern allein seine Phantasie und seine Schläue, sein Sinn für die wesentlichen Details und seine Fähigkeit, mit unerschütterlichem Optimismus dem Schicksal zu trotzen. Das Schneiderhandwerk war eines der am meisten verbreiteten Handwerke im Mittelalter. Gleichzeitig war es ein Handwerk mit geringen Einkünften. Oft lebten die Schneider und ihre Familien in bitterster Armut. Der Schneider im Märchen geht wegen dieser Armut sogar so weit, daß er sich auf einen Pakt mit dem Teufel einläßt. Aber dank seines wachen Verstandes kann er seine Seele vor der Hölle retten. Man spürt die Verbundenheit des Volkes mit dem armen Schneider, wenn man diese Märchen liest. Der Schneider war aus der Sicht der einfachen Menschen einer der ihren, denn er nähte die Kleider nicht für Fürsten und Könige, sondern für seinesgleichen. Oftmals besserte er auch die abgewetzten Kleidungsstücke aus und zog als »Flickschneider« umher. Dann war er häufig kaum besser gekleidet als seine Kunden. Das Märchen Der Schneider als Held ist eine der zahlreichen Varianten des Motivs vom tapferen Schneiderlein. Ein spanischer Chasseur ist ein Beispiel, wie der Schneider dank seiner Schläue in den Himmel gelangen kann. Der Schuster »Der Schuster ist ein armer Wicht muß essen trocken Brot 122
Die Sorgen stehn ihm im Gesicht er leidet große Not« Dieser Vers aus einem alten Volkslied bringt auf sehr drastische Weise die Lage der Schuster zum Ausdruck. Auch das Schusterhandwerk war »zünftig«. Aber es war ein »ArmeLeute-Handwerk« mit außerordentlich geringem Ansehen. Dadurch, daß der Schuster mit Leder umgeht, also mit Tierhaut, haftet seinem Handwerk etwas Anrüchiges an, denn die Nähe zum »unehrlichen« Abdecker und Gerber läßt sich nicht verleugnen. Der Schuster konnte sein Handwerk ebenso wie der Schneider mit verhältnismäßig wenig Aufwand betreiben. Er saß auf seinem Dreifuß in der Werkstatt. Die Schusterkugel beleuchtete seinen Arbeitsplatz nur spärlich. Den »Schusterdraht«, einen Pechfaden, stellte er selbst her. Wenn er als »Flickschuster« umherzog und seine Dienste anbot, so gehörte er zur untersten sozialen Schicht. Mit dem Schusterhandwerk ließ sich deshalb nicht viel verdienen, weil es ein »Massenhandwerk« war und es also ohnehin zu viele gab, die Schuhe anfertigen und reparieren konnten. Im Märchen wird der Schuster oft als verdrießliche und griesgrämige Person dargestellt, die sich und anderen das Leben schwerer macht, als es ohnehin schon ist. In dem Märchen Die beiden Wanderer der Brüder Grimm werden Schuster und Schneider miteinander verglichen. Sie haben völlig verschiedene Lebensauffassungen. Während der Schneider unbekümmert in den Tag hineinlebt, das Leben genießt, anderen hilft, ist der Schuster mißmutig, voller Pessimismus, hartherzig und böse. Die Verdrießlichkeit, die dem Schuster nachgesagt wird, hat vermutlich etwas mit seiner düsteren Werkstatt zu tun. Man denke nur an den Kinderreim: »Im Keller ist es duster, da sitzt der schwarze Schuster.« 123
Aber man findet in Schustermärchen nicht nur diesen finsteren, pessimistischen Typus, sondern auch den glücklichen Schuster, der mit dem, was er hat, zufrieden ist, und den Schuster, der durch List und Tücke Erfolg hat. Das Märchen Vom armen Schuster gibt vielleicht am deutlichsten das soziale Elend vieler Schusterfamilien wieder. Das Märchen geht glücklich aus. Dieses Glück am Ende war ein unerreichbarer Wunschtraum vieler. Der Schmied Im Handwerk und damit auch im Handwerkermärchen nimmt der Schmied eine Sonderstellung ein. Er ist Spezialist für die Herstellung notwendiger bäuerlicher und handwerklicher Arbeitsgeräte und damit unentbehrlich. Da er mit hartem Metall umgeht, muß er über große körperliche Kräfte verfügen. Seit jeher gilt der Schmied auch als geistig starke Persönlichkeit. Im Volksglauben steht er zwischen Gut und Böse, verkehrt mit Geistern und Dämonen und ist selbst mit übersinnlichen Fähigkeiten ausgestattet. Seine Handwerkskunst bringt dem Schmied hohes gesellschaftliches Ansehen. Schließlich ist er ja Meister der vier Elemente. Aus der Erde bezieht er sein Material, das Eisen, das er bearbeitet. Er gilt auch als einer, der mit der Unterwelt vertraut ist. Mit Hilfe des Elements Luft (aus dem Blasebalg) bringt der Schmied sein Material zur Glut. Danach wird es mit dem Element Wasser gehärtet. Mit Esse, Amboß und Hammer beherrscht der Schmied das gefürchtete Element Feuer. Über dieses »höllische« Element hat der Schmied Zugang zum Teufel und dieser zu ihm. Allerdings kann der Leibhaftige dem Schmied wenig anhaben, denn dieser ist ihm in jeder Beziehung überlegen. Der Schmied ist nahezu unbesiegbar. Auch die himmlischen Kräfte werden von ihm überlistet. In vielen alten Mythen ist der Schmied der Waffenkundige. Er ist es, der die 124
entscheidenden Schwerter und Streitäxte schmiedet, mit denen der Sieg erfochten wird. Der germanische Sagenheld Siegfried geht zu Regin, dem Schmied, der ihm das Schwert herstellt, mit dem er den Drachen töten kann. Am bekanntesten aber in der germanischen Sagenwelt ist die Gestalt Wielands des Schmieds, dessen Feind König Nidung ihm die Sehnen der Kniekehlen durchschneiden läßt, um ihn für immer zu seinem Diener und Gefangenen zu machen. Wieland nämlich kann nicht nur feuerscharfe Waffen, sondern auch kostbare Schmuckstücke und Geschmeide fertigen. Eines Tages jedoch gelingt es ihm, an Nidung grausam Rache zu nehmen und mit Hilfe eines Paars Flügel zu fliehen, das er sich heimlich geschmiedet hatte. In den nordischen Mythen ist immer wieder von verkrüppelten und zwergenhaften Schmieden die Rede. Möglicherweise verstümmelte man sie oftmals tatsächlich, um sie am Fortlaufen zu hindern. Auf diese Weise konnten ihre Kunst und ihr Wissen nicht in die Hände der Feinde geraten. Ursprünglich wohnte allen Waffen ein magischer Zauber bei. Daher war der Schmied auch ein dunkler Magier. Vermutlich hat ihn die Volksphantasie deshalb so gesehen, weil sich niemand die Umwandlungsprozesse vorstellen und erklären konnte, die sich unter der Macht des Feuers vollzogen, das der Schmied beherrschte. Auch in der griechischen Mythologie kommt dem Schmied eine zentrale Bedeutung zu. Der Schmied Hephaistos ist nach Homer Sohn des höchsten Götterpaares Zeus und Hera. Er hatte seine selbstgebaute Werkstatt auf den Vulkanen und fertigte dort die wunderbarsten Waffen und Geräte. Unter den olympischen Göttern ist er der Handwerker, bärtig und rußverschmiert, von kleiner Gestalt, mit ungeheuer muskulösen Armen und verkrüppelten Beinen. Er schmiedete u. a. das Zepter des Zeus, den Sonnenwagen des Helios und den Schild des Achilles. 125
Das Handwerk des Schmieds ist dasjenige, das kulturgeschichtlich am weitesten zurückreicht. Es existiert seit der Entdeckung des Metalls, also seit der Bronzezeit. Die Waffen aber galten als zauberkräftig, denn ihre Herstellung war für den Uneingeweihten derart geheimnisvoll, daß man den Schmied für einen Alchimisten hielt, d. h., man traute ihm zu, daß er in der Lage wäre, Gold herzustellen. Er war geachtet und gleichzeitig gefürchtet, man glaubte, er stehe in Verbindung mit den dunklen Mächten. Der Müller Im Mittelalter, und noch lange Zeit darüber hinaus, wurde den Müllern das Recht verwehrt, sich in Zünften zusammenzuschließen. Sie galten als »unehrliche« Leute und standen deshalb außerhalb der Gemeinschaft. Zahlreiche Dokumente sind darüber erhalten. So wurde beispielsweise im Herzogtum Braunschweig bis zum Jahre 1652 den Kindern von Müllern (und anderen Randgruppen) die Unehrlichkeit ins Taufregister eingetragen. Noch im Jahre 1886 wurde die Ehrlichkeit der Müller von der Hamburger Seilerzunft in Abrede gestellt. Welche Gründe aber waren maßgebend für die Tabuisierung des Müllerhandwerks? Zunächst einmal muß man sich die Lage der Mühlen vorstellen. Fast immer lagen sie weit außerhalb der Stadtmauern, ohne unmittelbare Nachbarschaft. Dort draußen in der Einsamkeit übte der Müller sein Handwerk aus. Diese Tatsache erregte die Phantasie des Volkes. Welche Dinge gingen wohl in der Mühle vor sich? War der Müller vielleicht gar ein Hexenmeister? So fragte man sich und glaubte an Zauberei, zumal es aufgrund von Mehlstaubexplosionen häufig in den Mühlen brannte. Da man für die Brände keinerlei Erklärung hatte, konnte man sich keine andere Ursache denken, 126
als daß der Müller mit dem Teufel im Bunde stehen müsse. Die Mühlen galten als nicht ganz geheuer. Es hieß, daß dort Gespenster hausten oder gar der Teufel selber sein Unwesen treibe. Mit den Mühlen verband man das Unheimliche, Bedrohliche. Im Märchen ist die Mühle häufig Schauplatz gespenstischunheimlicher Vorgänge, so in Die schwarze Katze und Die verwunschene Mühle. Die Mühlen waren aber auch der Ort der aus den Fugen geratenen Ordnung. Sie entzogen sich der öffentlichen Kontrolle und boten daher Unterschlupf für alle möglichen zwielichtigen Gestalten. Dem Müller wurde nachgesagt, er mache mit Verbrechern aller Art gemeinsame Sache. Außerdem wurde ihm Betrügerei vorgeworfen. Man glaubte, daß er dem Mehl Sand beimische. »Neben jeder Mühle steht ein Sandberg«, lautet ein altes deutsches Sprichwort. Wenn das Mehl tatsächlich oftmals sandig schmeckte, lag die Schuld aber nicht beim Müller, sondern an der Mahltechnik, also an der Qualität der Mühle. Schließlich waren Mühlen im Mittelalter nicht selten gleichzeitig Bordelle. Dies war ein offenes Geheimnis. In vielen erotischen Schwankerzählungen und Volksliedern steht die Mühle im Mittelpunkt des Geschehens. Der Begriff »mahlen« bürgerte sich als Umschreibung für Sexualität ein. Die Müllerin wird oft als Ehebrecherin dargestellt. Im Märchen vom Müller Hillenbrand wird dieser Zusammenhang von Ehebruch, Lied, Spiel und Erotik deutlich. Das Motiv der schönen, aber ungetreuen Müllerin spinnt sich in der romantischen Dichtung fort. Die Müllerin ist aber auch eine starke Frauengestalt, die ganze Räuberbanden überwältigt. So hat sie im Volk nicht nur Verachtung, sondern durchaus auch Respekt und Anerkennung gefunden.
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Verfemte und verachtete Berufe Eine Reihe von Personen hatte in der hierarchisch gegliederten und festgefügten Standes- und Lebensordnung des abendländischen Mittelalters keinen Platz. Zu den »Unehrlichen«, Verfemten und »Berüchtigten« zählten unter anderem die Leibeigenen und die unehelich Geborenen. Sie waren rechtlos und zu gerichtlichen und institutionellen Handlungen nicht zugelassen. So durfte ein Rechtloser nicht Richter, Geschworener, Eidhelfer oder Zeuge sein. Es war ihm weder erlaubt, ein öffentliches Amt zu bekleiden, noch durfte er Vormundschaft übernehmen. Der Verfemte wurde von den Handwerkszünften nicht aufgenommen. Unehrlich war zugleich auch unzünftig. Auch der »ehrliche« Zunfthandwerker konnte für »unehrlich« erklärt werden, wenn er sich gegen die strengen Tabus der Zunft vergangen hatte. Den Angehörigen verfemter und verachteter Berufe war es gewöhnlich verboten, Ehen mit »Ehrlichen« einzugehen. An der Spitze der Ausgestoßenen stand seit jeher der Scharfrichter mit seinen Schergen. Ihm folgten u. a. Totengräber, Abdecker, Schäfer (Hirten), Leineweber, Besenbinder, Scherenschleifer, Hafner, Köhler und Kesselflicker. Diese Handwerker, denen man im Mittelalter das Recht zur Zunftbildung und damit die bürgerliche Ehre und die Teilhabe an der Gemeinschaft absprach, waren weder Diebe noch Betrüger. Trotzdem waren sie verfemt, galten als anrüchig, wurden gemieden und ausgestoßen. Die Ursachen des Verrufs liegen nicht offen zutage, sondern sind eher im kollektiven Unterbewußtsein zu suchen. Sosehr sie nach außen hin verachtet wurden, wurden die Angehörigen dieser Berufe doch insgeheim bewundert. Man betrachtete sie mit einer Mischung aus Abscheu und Ehrfurcht. Diese Ambivalenz zeugte noch von alter heidnischer Tradition. Angehörige solcher Berufe 128
verfügen, dem Volksglauben zufolge, über magische und heilkünstlerische Fähigkeiten. So verstehen sich Schinder, Schäfer, Scharfrichter und Totengräber auf das »Besprechen« von Krankheiten, denn sie sind »Wissende« im Zusammenhang mit den Elementargeheimnissen von Leben und Tod. Oft galten sie als »geheime Hexer«, wie z. B. die Leineweber. Die alten Riten leben recht deutlich fort in Märchen und Brauchtum, die durch die Christianisierung verdrängt, dämonisiert und entstellt wurden. Die »Unehrlichen« waren umgeben von einer Sphäre des Grauenvollen und Unheimlichen. Sie lösten Ängste aus, deren eigentliche Gründe längst vergessen bzw. verdrängt waren. »Die Leineweber haben eine schöne Zunft am Galgen droben ham’s ihre Zusammenkunft« heißt es in einem der zahlreichen Spottlieder über die Weber. Schon in der christlichen Frühzeit stand das Gewerbe der Leineweber unter strengem Tabu. Sie hatten die für schimpflich gehaltenen Galgenbauten zu stellen. Der Weber hieß auch Galgenvogel, und der Webstuhl wurde »Galgen« genannt. Zum »Schichten«, zum Bestreichen der Kettfäden und der Kette, diente den Webern Weizenmehlkleister. Statt dessen, so hieß es, nehmen die Leineweber Hunds- oder Pferdefett. Dies aber konnte ihnen nur der Abdecker liefern, also einer, der mit Tierkadavern hantierte und deswegen zutiefst verachtet und mit einem Tabu belegt war. Weben ist eine uralte Handwerkstechnik. Die Arbeit am Webstuhl ist ein auf menschliche Maße reduziertes Abbild des »Wirkens« der großen Schicksalsmütter, die das Gewebe des organischen Lebens weben, deren Zauberfaden in den Mythen erscheint. Weberknoten sind mit Zauberkraft beladen: nach schwedischem Volksglauben verdichten sich hier alle übernatürlichen Eigenschaften. 129
Häufig waren Weberwerkstätten in die Erde eingelassen. Die Tätigkeit im unterirdischen Raum entsprach offenbar dem Wesen der mit dem Weben verbundenen Riten und Mythen. Diese Webkeller waren im 12. Jahrhundert Zufluchtsorte von verfolgten Ketzern. Arme Weber bildeten oftmals die Kerntruppe der »Ketzerei«. Auch Freizügigkeit auf erotischem und sexuellem Gebiet wurde mit der Weberei in Verbindung gebracht. Die sogenannte »Webervorstadt« in Heidenheim an der Brenz war z. B. für die Bürger derart anstößig, daß sie »der gottlose Flügel« genannt wurde. »Schäfer und Schinder – Geschwisterkinder Was der Schäfer net mag Nimmt der Schinder in d’Hand Ein Schäfers und ein Schinders Hund habent einen Schlund Ein Rettich und ein Rüeb Ein Müller und ein Dieb Ein Schäfer und ein Schinder Welches ist mehr oder minder?« Hier werden in Versform die verachteten Berufe vorgestellt und verspottet. Auch Schäfer und Hirten waren in den Augen des »ehrbaren« Handwerks zunftunfähig. Das Töten altersschwacher oder kranker Tiere, das der Schäfer selbst vornahm, war nach der Volksmeinung ein Eingriff in das »unreine« Gewerbe des Abdeckers. Teilweise war es auch die Pflicht der Schäfer, den Galgen zu errichten. Die Schäfer und Hirten waren aber auch die kundigen, weisen Männer. Ihre Kenntnisse auf medizinischem Gebiet sind vielleicht ein später Überrest des ursprünglich in Jäger- und später in Hirtenkulturen beheimateten Schamanentums. Abdecker, Schäfer und Hirte haben teil an der urzeitlichen Dämonie der Tiere. Tierwelt und Totenreich sind in vielen 130
alten Kulturen eng miteinander verknüpft. Orpheus, der Totenbeschwörer der griechischen Mythologie, ist Jäger, Hirte und Fischer. Um ihn scharen sich Wald- und Weidetiere. Die Literatur und Kunst der Anakreontik verklärt und idealisiert die Schäfer und Hirten. Im Schäfergedicht und -roman verkörperten sie die friedliche, goldene, gute alte Zeit. Die Wirklichkeit stand meist in krassem Gegensatz zu dieser dichterischen Überhöhung. In den Schäfer- und Hirtenmärchen aber hat sich der Aspekt des Verfemten und Verachteten deutlich sichtbar erhalten. Im Märchen Das blutrote Seidenschaf bleibt dem Helden, einem Waisenknaben, nichts anderes übrig, als sich als Schäfer zu verdingen. Die Märchentexte wurden nicht verändert. Nur an den Stellen, an denen es die Lesbarkeit erforderte, wurden einzelne Passagen verständlicher gemacht. Zum Schluß bleibt mir noch die angenehme Pflicht zu danken: Der Märchenerzählerin und -forscherin Sigrid Früh für die intensive Beratung bei der Auswahl der Märchen und Marlies Hörger, die für mich zwei Texte aus Frankreich mitgebracht und ins Deutsche übertragen hat. Frieder Stöckle
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Quellenhinweise Der Schneider Der Schneider und die Sintflut Ernst Meier, Deutsche Volksmärchen aus Schwaben, Stuttgart 1852 Ein spanischer Chasseur Otto Sutermeister, Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz, Aarau 1873 Der Schneider als Held Ernst Meier, Deutsche Volksmärchen aus Schwaben, Stuttgart 1852 Das Schneiderlein und die drei Hunde Johannes Wilhelm Wolf, Deutsche Hausmärchen, Göttingen 1857
Der Schuster Meister Pfriem Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Ausgabe letzter Hand, Göttingen 1857 Die beiden Wanderer Ebenda Vom armen Schuster Ignaz Zingerle, Kinder- und Hausmärchen Tirols, Innsbruck 1852 Von dem listigen Schuster Laura Gonzenbach, Sicilianische Märchen, Leipzig 1870 Vom glücklichen Schuster Johannes Wilhelm Wolf, Deutsche Märchen und Sagen, Leipzig 1845
Der Schmied Der Schmied und der Teufel Adalbert Kühn, Märkische Sagen und Märchen, Berlin 1843 Der eiserne Hans Joseph Haltrich, Eisenhans, aus Deutsche Volksmärchen Siebenbürgen, Berlin 1856 Die drei Schmiede
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aus
Aus Frankreich. Aus dem Französischen übersetzt von Marlies Hörger, die es von ihrer französischen Freundin erzählt bekam. Dieses Märchen ist bisher noch nicht auf Deutsch erschienen.
Der Müller Die schwarze Katze Carl und Theodor Colshorn, Märchen und Sagen aus Hannover, Hannover 1854 Die verwunschene Mühle aus ›Revue des traditions populaires‹ 1902, aufgezeichnet in Esconnetsde-Lannemezan (Hochpyrenäen). Aus dem Französischen übersetzt von Marlies Hörger Müllers Töchterlein Ignaz Zingerle, Kinder- und Hausmärchen Tirols, Innsbruck 1852 Der Räuber und die Haustiere Otto Sutermeister, Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz, Aarau 1873 Der Müller Hillenbrand Ernst Meier, Deutsche Volksmärchen aus Schwaben, Stuttgart 1852
Verfemte und verachtete Berufe Der Köhler P. Ch. Asbjörnsen og Jörgen Moe, Eventyrbok for hörn, Norske folkeeventyr, Kopenhagen 1898 Die zwei Hafner Ignaz Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854 Die goldene Flöte August Ey, Harzmärchenbuch. Oder Sagen und Märchen aus dem Oberharz, Stade und Göttingen 1862 Das blutrote Seidenschaf Arthur und Albert Schott, Walachische Märchen, Stuttgart 1845 Vom Vöglein, das goldene Eier legte Caspar Decurtius, Märchen aus dem Bündner Oberlande in Dietrich Jecklin, Volkstümliches aus Graubünden, Zürich 1874
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