1
Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Mystery & Horror Spezial
Dunkelwelten 4
'Dunkelwelten' ist ...
25 downloads
443 Views
143KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1
Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Mystery & Horror Spezial
Dunkelwelten 4
'Dunkelwelten' ist eine kostenlose Mystery & Horror Anthologie von www.WARP-online.de, dem Fantastik Magazin. Alle Rechte der Geschichten und Bilder verbleiben bei den jeweiligen Autoren und Künstlern.
Dunkelwelten 4 Copyright 2003 WARP-online Herausgeber: www.WARP-online.de Satz und Layout: Bernd Timm Alle Texte und Bilder sind bereits jeweils einzeln bei www.WARP-online.de erschienen und zur Veröffentlichung durch WARP-online freigegeben. Die Magazin-Reihe ist eine Sammlung von Beiträgen, die zusätzlichen Kreis interessierter Leser anspricht und die Namen der Autoren und Künstler bekannter macht. Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Warenzeichenkennzeichnungen berührt die Rechtslage eingetragener Warenzeichnungen.
1000 Seiten Fantastik www.WARP-online.de bringt das ganze Spektrum der Fantastik: Bilder, Geschichten, Artikel, Projekte, Reportagen, Interviews, Wissenschaft, Comic, Kostüme, SF-Kabarett, Lyrik, Film-& TV-Projekte, Modelle und mehr!
2
Inhalt Cover von Mitchell Anderson Am Anfang war das...
4
von Eridan Andreas ist ein normaler Mann, nur: er hat niemals gesprochen. Er meint, seine Stimme ist nicht für normale Worte geschaffen. Wofür dann?
Ronchettis Klon
7
von Klaus Eylmann Rinderwahnsinn und genetische Experimente: Was geht vor in dem geheimnisvollen Institut?
Der Weg
17
von Ralf Nitsche Über das Beschreiten eines ungewöhnlichen Weges aus der Sicht desjenigen, der ihn fand
Die Truhe des Dämons
19
von Marcus Meier In der Schankwirtschaft steht ein düsterer Kasten. Was mag in ihm sein..?
12 Uhr
24
von Markus Böhme 12 Schläge einer Kirchturmuhr. Zeit genug für die Welt, zur Seite zu weichen. Zeit genug, einer anderen, einer grauenvollen Welt zu erliegen.
Nur ein Traum
28
von Marcus Meier Alleine in einer Großstadt. Ist dies ein Traum oder Realität? Hat mich der Wahnsinn erfasst oder sehe ich nur die Antwort nicht?
Irrtum
34
von Harry Fehlemann Ein Kommissar und das gefährliche Duo Wut und Hass! In diesen Stunden geht etwas schief...
Ein kalter Hauch im Nacken von Sebastian Gutsche Eine Frau wacht auf und weiß nicht, wo sie ist. Sie weiß nur, dass sie Angst hat...
3
40
Am Anfang war das... von Eridan
Andreas ist ein normaler Mann, nur: er hat niemals gesprochen. Er meint, seine Stimme ist nicht für normale Worte geschaffen. Wofür dann?
Andreas war äußerlich ein vollkommen normaler Mensch. Er war stets tadellos gekleidet, stets höflich und hilfsbereit und schenkte jedem, der ihm über den Weg lief, ein ehrliches, warmherziges Lächeln. Er war eine angenehme Gesellschaft, das konnte man durchaus sagen. Obwohl nicht überaus attraktiv, sorgte seine ruhige, freundliche Art auch dafür, daß sich manche Frauen durchaus zu ihm hingezogen fühlten. Allerdings gab es etwas, das ihn von anderen, "normalen", Menschen unterschied: er hatte noch nie in seinem ganzen Leben gesprochen. Nicht, weil er es nicht konnte, oder weil er vielleicht psychisch krank oder gestört war, sondern....weil er nie gemeint hatte, es tun zu müssen. Es war ihm niemals in den Sinn gekommen, zu sprechen. Seine Eltern, gute, ehrliche und ihn liebende Menschen, waren fast daran verzweifelt. Alles hatten sie versucht. Sie waren bei verschiedenen Ärzten gewesen, um seine Stimmbänder untersuchen zu lassen. Alle hatten ihm bescheinigt, sehr gut ausgebildete Stimmbänder zu haben, die perfekt funktionierten. Und...diese Stimmbänder waren niemals verkümmert, obwohl sie niemals benutzt worden waren. Auch hatten sie verschiedene Psychologen besucht, um festzustellen, ob Andreas vielleicht eine psychische Störung oder Anomalie aufwies, ob er z.B. autistisch veranlagt sei. Aber seine Psyche war vollkommen in Ordnung, das war die einhellige Meinung der Ärzte. Er sei ein sehr intelligenter, aufgeschlossener Junge, das hatten sie alle gesagt. Trotz aller Liebe zu ihm, schlich sich auch Scham über den "anderartigen" Sohn in die Herzen seiner Eltern. Sie behaupteten, wenn sie gefragt wurden, warum ihr Sohn denn nicht spräche, stets, er sei stumm. Und Andreas nahm es ihnen niemals übel. Er liebte und verehrte sie mit ganzem Herzen und bis auf dieses Eine widerfuhr ihm auch niemals wirkliches Unrecht von Seiten seiner Eltern. In der Schule war er gehänselt worden, obwohl - oder gerade weil - die anderen Kinder meinten, er könne nicht sprechen. Und Kinder sind in dieser Beziehung mitunter grausamer als Erwachsene. Aber Andreas ertrug ihren Spott stumm und mit stoischer Ruhe. Er fiel auch in der Schule auf durch eine Güte und Gerechtigkeitsliebe, die ihn durchaus von seinen Kameraden unterschied. Er war nie frech, nie unhöflich, aber er war stets bereit, zu protestieren, wenn einem Anderen Unrecht widerfuhr, auch wenn er von jenem bereits selbst Unrecht erfahren hatte. Wenn er etwas mitteilen wollte, so schrieb er es auf. Und schreiben, das konnte er. Die Geschwindigkeit, mit der sein Stift über das Papier huschte, war atemberaubend und seine Kameraden hatten kaum einen Vorsprung, wenn es darum ging, auf Fragen zu antworten. Er brachte die Schulzeit in einem Rutsch hinter sich und nur seine Faulheit verhinderte ein erstklassiges Zeugnis. In diesem Punkt war er wie andere Jungen auch. Schule war nun einmal nicht das Wichtigste für ihn. Und mit jedem Jahr, mit jedem Monat, im Grunde mit jedem Tag verstärkte sich in ihm das Gefühl, daß es für ihn etwas Normales sei, nicht zu sprechen. Irgendwie erschien es ihm...falsch. Nach seiner Studienzeit wurde er Rechtsanwalt. Dazu hatte er sich schon vor langer Zeit entschlossen, der Gerechtigkeit willen. Und obwohl er manche Fälle ablehnte - er vertrat zum Beispiel niemals Kinderschänder oder Drogendealer - so konnte er von dem, was er verdiente, gut leben. 4
Stets hatte er Stift und Papier bei sich, um eine Unterhaltung führen zu können. Und auch im Gerichtssaal schrieb er sein Plädoyer schon, während der Staatsanwalt noch redete. Seine Assistentin las es dann laut vor. Und er wußte, mit Worten umzugehen. Er unterstrich die Worte, die eine besondere Betonung verdienten und fügte auch sonst einige Anmerkungen ein, damit seine "Rede" nie ihre Wirkung verfehlte. Er war durchaus erfolgreich und selbst wenn er einmal verlor, so trug er es mit der gleichen Ruhe, die er schon immer gezeigt hatte. Und auch bei den Frauen hatte er, wie bereits gesagt, Erfolg. Allerdings hatte er bisher nie die Frau gefunden, mit der er leben wollte, obwohl es recht viele gab, die ihn sich als Lebenspartner durchaus vorstellen konnten. Und es gab einen kleinen "Schandfleck" in seiner Geschichte: Weil er wußte, daß sich damit einfacher leben ließ als mit der Wahrheit, hatte er die Lüge seiner Eltern, er sei stumm, übernommen. So hatte er gelebt, geliebt, gelitten, Erfolg gehabt und Niederlagen einstecken müssen...und alles, ohne ein Wort zu sprechen . Nun war er 35. Und er glaubte nicht, daß jemals der Tag kommen würde, an dem er sprechen müsse. Eines Abends nun ging Andreas nach einem harten, aber dennoch erfüllten Arbeitstag zum Parkplatz, um mit dem Auto nach Haus zu fahren. Es war bereits dunkel und recht kalt. Aber Andreas machte es nichts aus. Manchmal schien es, als könne ihm keine Naturgegebenheit etwas ausmachen. Er nahm alles hin, sei es Schneesturm, Regen, Sonnenschein und 25° im Schatten. Er ging also zu seinem Auto, das etwas abseits auf dem Parkplatz stand und griff in die Tasche, um seine Autoschlüssel herauszuholen. Da hörte er die Schreie. Zuerst glaubte Andreas noch, es habe sich um einen zufälligen lau gehört, oder vieleleicht um den Ruf eines Vogels. Aber dann kehrten die Schreie zurück. Es war eine Frau, die schrie. Es waren Schreie, wie ein Mensch sie in Todesangst ausstoßen würde. Und sie kamen aus dem nahegelegenen U-Bahn-Eingang. Andreas brauchte keinen weiteren Anstoß. Er rannte los, über die Straße, wobei einige Autofahrer scharf bremsen mußten, um ihn nicht anzufahren. Ihre empörten Rufe und Flüche verfolgten ihn, als er die Treppe hinunterstürzte. Und wieder ertönten die Schreie. Kaum jemand war so spät noch mit der U-Bahn unterwegs und die wenigen Menschen, die anwesend waren, verfuhren nach dem "Drei-Affen-Prinzip" und taten so, als seien sie taub. Die Schreie kamen aus den Toiletten und Andreas wandte sich dort hin. Mittlerweile waren die Schreie panischer geworden und voll von Schmerzen. Er mußte sich verdammt beeilen, wollte er ein Unglück verhindern! So heftig stieß er die Tür zur Damentoilette auf, daß er sie fast mit sich riß und beinahe stürzte. Vor ihm breitete sich ein Bild des Grauens aus. Zwei Männer und eine Frau befanden sich auf dem Boden. Die Frau war blutüberströmt und einer der Männer hielt ein blutverschmiertes Messer in der Hand, mit dem er sich gerade anschickte, die Bluse der Frau zu zerschneiden, während der Andere sich an der Hose der Frau zu schaffen machte. Der eine der beiden blickte hoch und sah Andreas, der vor Entsetzen über so viel Grausamkeit und Perversion wie gelähmt war, an. Sein Blick erinnerte Andreas mehr an ein Tier denn an einen Menschen. Langsam stand er auf und zog seinerseits ein Messer. Er hielt es Andreas an die Kehle und zischte: " Besetzt, mein Lieber! Mach, daß du verschwindest, bevor ich dich wie'n Schwein aufschlitze!" Doch der andere fluchte: " Zu spät, der Wichser hat schon zuviel gesehen! Mach ihn fertig." Dann wandte er sich wieder der Frau zu. Und Andreas verspürte nackte Angst. Nicht um sich selbst, sondern um diese unschuldige Frau, die er nicht in den Händen dieser zwei Tiere zurücklassen durfte. Auf keinen Fall. " Irgendwelche letzten Worte, bevor ich dir die Zunge rausschneide?" 5
Direkt nach diesen Worten versetzte der Mann Andreas einen so kräftigen Fautschlag in den Magen, daß Andreas zurücktaumelte. Kaum hatte Andreas sich halbwegs gefangen, da nickte er. Und das erste Mal erschien es ihm richtig, das zu tun, was er nie zuvor getan hatte: Er öffnete den Mund und begann zu sprechen. Doch was da aus seinem Munde kam, das waren keine Worte, die den Menschen bekannt waren, ja es waren nicht einmal Laute, die die Menschen kannten. Und während er sprach, da schien sich alles um ihn herum zu verändern, zu verzerren. Der Mann vor ihm riß die Augen auf und preßte die Hände auf die Ohren, als sei es unerträglich für ihn, was er da hörte. Die Fliesen an den Wänden begannen, eine nach der anderen abzufallen und zu zerplatzen. Die Lampen glühten kurz auf und zerbarsten dann. Das kleine Fenster explodierte förmlich, überschüttete die Frau und ihren Peiniger mit einem Regen von winzigen Splittern. Und auch der zweite Mann hatte mittlerweile die Hände auf die Ohren gepreßt. Beiden traten die Augen aus den Höhlen und sie schrien auf, als verspürten sie unerträglichen Schmerz. Die Frau hatte das Glück, ohnmächtig geworden zu sein. Die Männer hatten von ihr und Andreas abgelassen und im Augenblick mehr mit sich selbst zu tun. Sie lagen beide auf dem Boden und wanden sich in Krämpfen. Und noch immer sprach Andreas die unmenschlichen Laute aus. Und er ahnte in diesem Augenblick, daß jene Laute die waren, für die seine Stimm geschaffen war. Er sprach weiter und weiter, während um ihn herum die ganze Inneneinrichtung der Toilette auseinanderfiel und -platzte. Endlich aber hörte er auf. Er hatte alles "gesagt", was er sagen wollte. Er blickte auf die Männer herab. Sie lagen regungslos inmitten einer Staub-und Schuttschicht. Auch atmeten sie nicht mehr und dünne Blutfäden rannen ihnen aus Ohren und Nase. Die Frau war vorher ohnmächtig geworden, was ihr Glück gewesen war. Denn für einen normalen Menschen waren jene Worte, mit denen Gott die Erde geschaffen hatte, einfach zu viel...... Ende?
6
Ronchettis Klon von Klaus Eylmann
Rinderwahnsinn und genetische Experimente: Was geht vor in dem geheimnisvollen Institut?
Sie sassen sich gegenueber am Kuechentisch, sahen sich an und sahen sich doch nicht. Jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach. Ab und zu griff einer von ihnen in die Schale mit den Kuerbiskernen, nahm einen von ihnen in den Mund, spaltete die Schale mit den Zaehnen und lutschte den Kern heraus. Ein Wellensittich zeterte und durchbrach die Stille. “Carla, ich glaube die Voegel haben Hunger. Sie haben nichts mehr im Napf”. “Ich kuemmere mich gleich darum. Unglaublich, die fressen mehr als die Pferde.” Franco lachte und erhob sich. “Ich drehe eine Runde und gehe anschliessend in die Bar.” “In Ordnung,” Carla war ebenfalls aufgestanden und zog die Tuete mit dem Vogelfutter aus dem Schrank. “Du findest mich bei den Staellen.” Franco schwang sich aufs Fahrrad und lenkte es auf eine schmale, asphaltierte Strasse, die an den Nachbarhaeusern vorbeifuehrte. Je weiter Franco den Weg entlangfuhr, desto seltener wurden die Haeuser mit ihren Gemuese- und Weingaerten und ihren Geranien auf der Terasse, desto haeufiger blickte er auf die sattgruenen Blaetter der Zuckerrueben, auf hochgewachsenen Mais, der sich in seiner hellgelben Pracht der Sonne entgegenreckte, auf Sojabohnenstraeucher, auf Birnen- und Pfirsichbaeume, die spalierartig wie Soldaten in Schuetzenreihen auf dem Feld standen. Die Sonne stand schraeg am wolkenlosen Himmel und schien Franco ins Gesicht. Mit leicht zusammengekniffenen Augen radelte Franco den Weg entlang, verhalten trat er in die Pedalen. Eile hatte er nicht. Vor kurzem pensioniert, benutzte er seine Runden auf dem Fahrrad darueber nachzudenken, wie er in Zukunft sein Leben gestalten koennte. Franco Tardelli, einst Kriminalkommissar in Ferrara, haeufig auf Verbrecherjagd und jetzt ausser Diensten, auf dem Fahrrad unterwegs. Es war so unwirklich, an diesen Zustand hatte er sich noch nicht gewoehnt. Es gab Zeiten, in denen konnte er vor Nervositaet aus der Haut fahren. Dann war es besser, wenn er sich auf seinem Fahrrad auf und davonmachte und sich fuer eine Stunde nicht mehr zu Hause blicken liess. Clara, seine Frau, tat dann so, als merkte sie nichts davon und ging ihrer Beschaeftigung nach. Sie hatte drei Pferde zu versorgen. Zwei Pferde gehoerten ihr und eines ihrem Bruder, der mit seiner Familie ueber ihnen wohnte. Mit dem Ausmisten der Staelle und dem Fuettern der Pferde war sie ausgelastet. Das sollte auch so bleiben. Von Anfang an hatte sie keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Ver-sorgung der Pferde ihre Domaene war. Die asphaltierte Strasse muendete in einen Feldweg, Zur linken Hand gesellte sich ein schmaler Kanal, der ihn von nun an begleitete. Vor ihm zur Rechten lagen einige unbestellte Felder. Sie schienen mit weissen Punkten besetzt. Reiher, die dort bewegungslos gestanden hatten nach und nach aufflogen je naeher er ihnen kam. Hin und wieder radelte Franco an einer Weide vorbei, die mit ihrem dicken kurzen Stamm und seinen biegsamen Aesten wie ein Fremdling aus einer Zeit erschien, in der Natur und Landwirtschaft noch in harmonischem Einklang standen. Am Horizont lugten ein Wasserturm und eine Kirchturmspitze hervor. Sie gehoerte St. Anna, der Kirche von Buonacompra. Nicht weit davon entfernt gleisste die silbrigglaenzende Kuppel des Molekularbiologischen Instituts im Sonnenlicht. Es war der Stolz der Region, war es doch erst einige Monate her, als die Eroeffnungszeremonie stattgefunden hatte. Die Zeitungen hatten ausfuehrlich darueber berichtet. Es hatte Fotos gegeben mit dem Forschungsminister, dem Bischof, dem Buergermeister, den Assessoren der Region und der 7
Provinz sowie dem Direktor des Instituts. Nur, worueber in diesem Institut konkret geforscht werden sollte, darueber stand in den Zeitungen kein Wort. Franco drehte um und fuhr den Weg zurueck bis zur asphaltierten Strasse, bog nach links in die Via Chiesa, eine Dorfstrasse. Zur Rechten tauchte die Bar Sport auf. Dort hielt er an und stellte sein Fahrrad ab. “Ciao Jungs, wie gehts.” Franco gruesste die alten Maenner, die es sich draussen vor der Mauer auf Plastikstuehlen gemuetlich gemacht hatten und betrat das Lokal. “Kaffee?” fragte Rosanna. Franco nickte und blickte sich um. An den Tischen sassen einige Pensionaere und spielten Karten. Franco schauderte bei dem Gedanken, sich auf diese Art die Zeit vertreiben zu muessen. Er stuerzte den Kaffee hinunter, zahlte, griff sich die Zeitung Il Resto del Carlino von einem der Tische und setzte sich. Auch heute nahm ‘Mucca Pazza’, Bovine Spongiforme Enzephalopatie (BSE) breiten Raum in der Berichterstattung ein. Ein Artikel trug die Ueberschrift BSE Schnelltest unzureichend. Franco las weiter: Ein Test, der erst bei Rindern in einem Alter von mehr als 30 Monaten durchgefuehrt werden kann und dann nur bei Rindern, die getoetet worden sind, muss als voellig ungenuegend angesehen werden. Italienische Forscher am Molekularbiologischen Institut von Buonacompra arbeiten daran, dies zu aendern. Na denn, dachte Franco, verliess die Bar und radelte heim.
“Wer fehlt denn noch?” Dr. Ronchetti war sichtlich nervoes. Wiederholt sah er auf seine Uhr und wieder in die Runde. “Guazzalocca,” rief einer. “Immer der Gleiche,” Ronchetti trommelte mit seinen Fingern auf den Konferenztisch, “lassen Sie ihn ausrufen. Ich frage mich, ob der seine e-mail nicht liest. Wir fangen jetzt an. Francesco, legen Sie los.” Einer der Teilnehmer, ein blasser, schmaler und ernstdreinblickender Mann, erhob sich und eilte zum Overheadprojektor. Er legte eine Folie auf, ein Schema wurde auf die Leinwand projiziert. “Projekt Nr. 2, unser BSE Schnelltest zeigt noch keinen Erfolg. Es ist uns bisher noch nicht gelungen, das PrP, also das Prionenprotein, in seiner pathogenen Form in einem Schnellverfahren zu isolieren. Wir wissen, dass es in gesunden Kuehen, aber auch in gesunden Menschen in seiner normalen Form vorkommt und in vom Rinderwahnsinn befallenen in seiner krankmachenden. Hier faltet sich das Protein anders. Wir haben noch keinen Weg gefunden, das PrP von lebenden Tieren zu isolieren. Wir werden nunmehr darangehen, infiziertes Gewebe auf Antikoerper zu untersuchen.” “Was ist mit Projekt Nr. 1?” Ronchettis Gesicht glich einer Maske. “Wo ist Guazzalocca?” Ein kleiner, rundlicher Mann eilte nach vorn und stellte sich vor dem Projektor auf. Nervoes wischte er sich den Schweiss von der Stirn, obwohl die Klimaanlage voll aufgedreht war. “Aeh, um, Projekt Nr. 1 laeuft nach Plan.” Guazzalocca holte Luft. “Wir haben den Blastozysten Stammzellen entnommen und lassen diese im Gehirngewebe unter Zufuehrung von Telomerase zu Gehirnzellen differenzieren. Darueberhinaus haben wir, wie Sie uns aufgetragen, dem Blastozyten….” “Genug!” Ronchetti schnitt ihm das Wort ab. “Gute Arbeit, Guazzalocca. Wir reden spaeter noch darueber. Meine Herren,” wandte sich Ronchetti an die Versammlung. “Projekt Nr. 2 ist ein Desaster. Nichts laeuft dort. Ueberhaupt nichts. Die Leute wollen Ergebnisse sehen. Es sind nun schon zehn Jahre, dass der sogenannte Schnelltest nur mit toten Rindern durchgefuehrt werden kann. Wir sind dazu aufgerufen, einen Schnelltest zu entwickeln, der seinen Namen verdient. Denken Sie an die Marktchancen, meine Herren. Sobald der Test entwickelt und marktreif ist, geben wir Aktien aus, an denen Sie beiteiligt werden. Und Balboni,” Ronchetti fixierte einen 8
farblos wirkenden Mann in einem grauen Anzug. Sie werden verstehen, dass meine Mitarbeiter kuenftig keine Zeit mehr haben werden, Vortraege vor Schulklassen zu halten. Bei Universitaetsstudenten sieht es natuerlich anders aus. Also ran an die Arbeit. Und vielen Dank.” Ronchetti erhob sich, verliess den Saal und ging in sein Buero zurueck. Verdammt, dachte er, das haette ins Auge gehen koennen. Wenn Guazzalocca den Kollegen erzaehlt haette, dass er in den Blastozysten das Wachstumsenzym Telomerase injiziert hatte, und dies nach aussen gedrungen waere, dann koennte er, Institutsdirektor Ronchetti, den Hof fegen. Ich werde Guazzalocca noch mal zur Brust nehmen. Blastozysten sind menschliche Embryos, nicht aelter als 14 Tage. Sobald ihnen Stammzellen entnommen wurden, waren sie nicht mehr lebensfaehig. Doch dieser Embryo war Ronchetti Nr. 2, aus einer seiner Koerperzellen sowie einer vom Erbmaterial befreiten Eizelle entstanden. Und Ronchetti wollte seinen Klon nicht sterben lassen. Die Zugabe von Telomerase sollte dies verhindern. Ronchetti oeffnete die Tuer zum Vorzimmer. “Teresa, lassen Sie den Guazzalocca kommen.”
“Also, die Baeckersfrau ist wirklich reizend,” meinte Carla. “Der Baecker hat gut daran getan, sie zu heiraten. Man kann sich so nett mit ihr unterhalten. Als ich ihr sagte, ich schlafe gern lange, weil mir tagsueber mein Rheuma so zu schaffen macht, erzaehlte sie mir, dass sie das gut verstuende. Nun weiss ich nicht, ob sie sich auf das schlafen bezog, die Arme muss doch so frueh hoch, oder auf das Rheuma.” “Keine Ahnung,” brummte Franco und blaettere lustlos in der Stop. “Was ist das bloss fuer ein Schrott. Contessa hier, Contessa da, Stephanie, Carolina. Du solltest Dir mal ne vernuenftige Zeitschrift kaufen, aus der man was lernen kann. Ich zum Beispiel werde mir den Scientific American aus Amerika kommen lassen.” “Was ist das?” “Eine amerikanische Zeitschrift, die berichtet, was die Wissenschaftler so machen. Ausserdem moebel ich mein Englisch damit auf.” “Wenn ich die drei Staelle ausgemistet habe, brauche ich Entspannung,” erwiderte Carla. “Und dann schlage ich Dich immer noch spielend im Schach.” “Das musste ja kommen,” Franco stand auf und sah aus dem Fenster. Die Sonne ging ueber den Staellen hinter dem Hofplatz unter. Ihre roetlichen Strahlen umspielten die Ahornbaeume, die den Platz umsaeumten, liessen diese reliefartig hervortreten. Ploetzlich drang Musik durch die Zimmerdecke zu ihnen herunter, begleitet von einem schabenden Geraeusch, das sich staendig wiederholte. “Dein Bruder,” meinte Franco resigniert. “Dein Bruder, am Heimtrainer. Der kennt nur Freddy Mercury. Den spielt er nun schon fast zehn Jahre. Jetzt ist ‘We are the Champions’ dran und dann kommt ‘Radio Gaga’. Kann er sich nicht mal ne andere Kasette kaufen? Carla zuckte hilflos die Achseln. “Ich weiss nicht,” meinte sie. “Seitdem er seinen Autounfall hatte, ist er ein Robot, ist er ein Klon”. “Und noch etwas anderes.” Franco wies auf den Kuehlschrank. “Der Test, um BSE-kranke Rinder herauszufinden, ist nichts wert. Die Zeitung schreibt, dass der nur bei bereits 30 Monate alten Tieren wirkt, die bereits geschlachtet worden sind. Jetzt haben sie den ersten BSE Fall in Italien entdeckt, in der Naehe von Brescia. War ja auch nur eine Frage der Zeit. Erinnerst Du Dich noch an die Plakate im Supermarkt, auf denen stand: Unser italienisches Fleisch ist sicher?
9
Bei uns in Buonacompra, im Institut, arbeiten sie an einem neuen Test fuer lebende Tiere. Das schreibt die Zeitung. Also kauf noch kein Rindfleisch. Lass uns erst einmal abwarten, was dabei herumkommt.”
Die Sommerferien waren zu Ende, der volle Arbeitsrhythmus setzte wieder ein. Die Labors im Molekularbiologischen Institut waren erneut voll bemannt. Ronchetti und Guazzalocca hielten sich im Trakt der Versuchslabors Projekt Nr. 1 auf. Nur wenige Personen hatten Zugang. “Wir haetten ihn zerstoeren muessen, Dr. Ronchetti.” Guazzalocca wandte sich von dem Guckloch ab, dass in der Tuer eingelassen war. Ronchetti stellte sich davor und blickte hindurch. “Ich muss zugeben, er sieht mir nicht sehr aehnlich,” meinte er trocken. “Es ist doch ein er, oder?” “Er ist maennlich, wir sollten ihm einen Namen geben. Was halten Sie von Al?” “Soll mir recht sein. Ich frage mich, wie wuerde Al ausgesehen haben,” Ronchetti blickte nachdenklich auf Guazzalocca, “wenn wir den Blastozysten in eine Gebaermutter implantiert haetten? Mit was fuer einer Geschwindigkeit er durch den Raum rennt, einfach phantastisch. Was frisst er jetzt?” “Fleisch, nur Fleisch. Sehen Sie sich sein Gebiss an. Er ist ein Carnivore.” “Auch das hat er nicht von mir. Ich bin Vegetarier.” Ronchetti riss die schwere Stahltuer auf, die nach aussen fuehrte. “Ich habe genug gesehen. Anscheinend hat die Zellentnahme den genetischen Bauplan vollstaendig durcheinandergewirbelt. Wie lange wird er sein Wachstum fortsetzen?” Mit lautem Knall fiel hinter ihnen die Tuer ins Schloss. “Die Telomerase hat ihren Zweck erfuellt. Jetzt haben sich die Zellen differenziert und uebernehmen als Koerperzellen ihre normale Funktion. Ich denke jedoch, Al wird nicht lange weiter wachsen. Zum Glueck,” Guazzalocca fasste sich an seine Krawatte. “Ich habe ein ungutes Gefuehl. Was machen wir jetzt mit ihm?” Ronchetti ging zum Kaffeeautomaten, der im Gang aufgestellt war und drueckte auf die Knoepfe Kaffee, Milch und Suessstoff. Es klackte. Ein Pappbecher fiel herunter. “Fuettern Sie Hal mit BSE-infiziertem Fleisch. Wir sollten ihn als Versuchsobjekt fuer den neuen BSE-Schnelltest benutzen.” Laut gurgelnd spritzte die Duese Kaffee, Milch und Suessstoff in den Becher. Ronchetti zog ihn aus der Klappe und ging zu seinem Buero. “Und Klappe halten, Guazzalocca.”
Im Winter war es der Kamin, im Sommer die ueberdachte schattenspendende Veranda. Dazu der Tisch, ein schwerer eichener, 1,5 Meter breit und drei Meter lang, die ebenso langen Holzbaenke, auf denen sich Clara und Franco gegenueber sassen. Dieser Tisch, der schon seit mehr als zehn Jahren sengende Hitze und die Feuchtigkeit der Winternebel hat ueber sich ergehen lassen muessen, zeigte sein Alter nicht. Fausto, Claras Bruder pflegte im Herbst seine Jagdkumpane an diesen Tisch zu laden, um mit ihnen bei Tortellini, Cotecchino, Salame, Fasan und Hasen, Valpolicella, Lambrusco, Kaffee, Kaese und Grappa die Jagdsaison einzulaeuten und ausklingen zu lassen. Das Leben hatte seine angenehmen Seiten. Franco nippte am Valpolicella. Doch jetzt dachte er verdammt, und stierte auf das Schachbrett. Carla hat schon wieder die Ueberhand, und
10
jetzt nimmt sie mir auch noch den Turm weg. In der Tat. Es dauerte nicht mehr lange, und sein Koenig war mattgesetzt. “Wir sollten jetzt aufhoeren.” Franco versuchte seine Stimme ruhig zu halten, obwohl er das Brett am liebsten in die Ecke gefeuert haette. “Ich fahre zur Bar.” Carla packte die Figuren ein und sah wie Franco durch die Ausfahrt radelte. Sie dachte an Fritz, einen ihrer Kater. Fritz hatte ein entzuendetes Ohr. Es wurde Zeit, dass er seine Tropfen bekam. Carla machte sich auf den Weg. In der Bar Sport war es, als sei die Zeit stehengeblieben. Wann immer Franco dort aufkreuzte, es waren stets die gleichen Alten, die dort Karten spielten. Bei Rosanna holte sich Franco seinen Kaffee ab und griff nach der Zeitung. Sexscandal im Molekularinstitut. Was fuer eine griffige Schlagzeile. Franco blaetterte den Lokalteil auf. Hier wars. Als sich im Laufe des gestrigen Vormittages die Lehrerin Carmela N. in den Empfang des Molekularbiologischen Instituts begab, um dort ihre vor dem Gebaeude angetretene Schulklasse anzumelden, bemerkte sie wie der Angestellte im Empfang sich pornographische Bilder auf dem Bildschirm des Empfangscomputers betrachtete. Empoert beschwerte sich Carmela N. sogleich beim Leiter der Verwaltung, Enrico Balboni, der den Angestellten, Enzo K. zur Rede stellte. Jener bestritt die Vorwuerfe, die im Browser gespeicherten Internetadressen ueberfuehrten ihn jedoch. Enzo K. wurde fristlos entlassen. Franco blaetterte weiter. Noch war nichts darueber zu lesen, dass sie dort einen neuen Schnelltest entwickelt haetten. Das geht eben nicht so schnell, dachte Franco, stand auf und sah sich um. Die Alten waren in ihr Kartenspiel vertieft. Fabrizio, der Totengraeber sass auf einem Hocker und fuetterte den Spielautomaten. Franco gruesste Rosanna, schob die bunten Kordeln zur Seite, die am Eingang herunterhingen und fuhr wieder nach Hause. Auf der Terasse war Leben. Dort hatten sich Fritz, Giorgino, Morettina und Lilli, hatten sich alle vier Katzen um Carla geschart, die den Rest des Futters mit einem Loeffel aus der Dose kratzte und das Fressnapf fuellte. Fritz und Giorgino, waren Kater, graue Hauskatzen. Es war nichts Auffaelliges an ihnen. Sie sahen sich aehnlich, doch unterschiedlicher konnten ihre Charaktere nicht sein. Fritz war der Aeltere. Er war soveraen. Auch wenn er nach manchem Kampf schwer gezeichnet heimgekommen war, von seiner erhabenen Haltung hatte er nichts eingebuesst. Giorgino, Claras Liebling, war ein Fifone, ein Angsthase. Wenn Franco in seiner ganzen unitalienischen Laenge von 1.90 Metern in dessen Naehe auftauchte, riss er aus und es bedurfte Claras Ueberredungskunst, ihn wieder aus seinem Versteck hervorzulocken. Morettina, war die Huebscheste mit ihrem braunen Fell und sie wusste es auch. Sie wahrte auf Abstand, suchte sich, wo immer es ging, ein einsames Plaetzchen, um fuer sich zu sein. Lili hingegen war rundlich, wie Graziella von nebenan, deren Soehne jeden Sylvester mit ihrem Geknalle die Pferde scheu machten.Gutmuetig und anschmiegsam war die Lili. Jedoch war sie auch die beharrlichste und erfolgreichste Maeusejaegerin, die Franco und Carla je zu Gesicht bekommen hatten. Alle hatten sie zu dieser Zeit jedoch nur eins im Kopf, den Tag mit vollem Magen ausklingen zu lassen. Das Telefon laeutete. Als Franco den Hoerer abnahm vernahm er Zafirellis Stimme. “Franco, wie gehts unserem Pensionaer?” “Es dauert, ich habe mich immer noch nicht daran gewoehnt.” “Ich hab was fuer Dich, Tardelli, einen Vierstundenjob im Empfang des Bioinstituts in Buonacompra. Was sagst Du dazu?” “Ich weiss nicht recht”, erwiderte Franco. “Was soll ich da?”
11
“Balboni, der Verwaltungsleiter hat uns angerufen und um Unterstuetzung gebeten. Seiner Meinung ist etwas faul dort. Er hat noch nicht herausbekommen, was es ist. Deshalb koennen wir als Polizei dort nicht offiziell taetig werden. Wir haben daher an Dich gedacht.” Interessant. “O.K. Ich bin dabei. Wann soll es losgehen?” “Morgen frueh. Melde Dich bei Balboni, er wird Dich einweisen. Gruess Carla von mir.” Zafirelli hatte aufgelegt. Franco liess sich aufs Sofa fallen und schaltete den Fernseher ein. Nachrichten. Emma Bonino von der Partito Radicale plaedierte dort in ihrer Hagerkeit, mit ihren asketischen Gesichtszuegen, fuer die Freigabe von Rauschgift. Franco blickte zu Carla, die in der Kueche mit den Toepfen klapperte. Nichts asketisches an ihr. Carlas gedrungene und rundliche Fuelle passte besser zu ihm und zu dieser Umgebung, in der Pasta Asciutta, harte Arbeit und Mutterwitz Attribute waren, die das Leben abrundeten. Als Franco von Emma Bonino traeumte und vor Schreck aufwachte, wusste er, dass es besser war aufzustehen. Es wurde schon hell, Carla schlief noch. Einige Zeit spaeter war er auf dem Fahrrad und radelte zum Baecker, die Broetchen zu besorgen. Danach auf einen Sprung in die Bar Sport fuer den Cappucino. Wieder zu Hause, holte er ein paar Radieschen aus dem Garten, schnitt sie in Scheiben und legte sie auf sein Broetchen, Francos Gemuesekur. Frisch gestaerkt, schwang er sich wieder auf das Fahrrad, um nach Buonacompra zu fahren. Er konnte seinen Fiat Punto in der Garage lassen. Keine Wolke truebte den blauen Himmel. Es war nicht mit Regen zu rechnen. Franco nahm die neu asphaltierte Strasse, die von Cesol, ihrem Dorf, nach Buona Compra fuehrte. Nur wenig Autos fuhren dort und Franco, sein Fahrrad und die Natur waren allein. Es war ein wunderschoener Morgen. Franco dachte an den gestrigen Abend, als er Carla die letzte Ausgabe des Scientific American gezeigt hatte, die mit dem Universum auf dem Titelbild. Carla hatte natuerlich sofort ihre eigene Theorie parat, mehr noch, sie wusste wie das Universum funktionierte. “Siehst Du,” hatte sie gesagt und auf die Abbildung gezeigt, die einem liegenden Ei glich. “Das Universum ist flach und breitet sich nach allen Seiten aus. Die Verursacher dieser Expansion sind die ganzen Sonnen mit ihrer Power.” Franco hatte eine Zeit warten muessen, bevor er zu Wort kam und versuchte, ihr Weltbild zurechtzuruecken. “Die Professoren denken da anders, Carla.” Franco zeigte auf ein anderes Bild. “Gewoehnliche sichtbare Materie wie die Sterne, die du erwaehnt hast, macht nur etwa 0.5 % des Universums aus. Die anderen Kategorien sind Strahlung mit 0.005 %, gewoehnliche unsichtbare Materie 3.5 %, exotische dunkle Materie 26 % und dunkle Energie 70 %. Und diese dunkle Energie wird als Treibkraft angesehen, welche die Expansion des Universums verursacht.” Danach war Ruhe an der Front. Zum Glueck. Franco haette auch nicht mehr erklaeren koennen, dazu haette er den Artikel ein zweites Mal lesen muessen. Er konnte sich noch an Quintessenz und Vakuumenergie erinnern, die als dunkle Energie in Frage kamen. Was sollte er dazu sagen, wenn selbst die Professoren nicht einer Meinung waren? Die Maisfelder haeuften sich zur Rechten und zur Linken, hin und wieder unterbrach ein Fischteich die gelbe Pracht. Dort wurden Karpfen und Zwergwelse gezuechtet. Franco naeherte sich der Strasse, an der das Institut stand. Laerm drang herueber. Die Landstrasse, die von Casumaro ueber Buonacompra nach Pilastrello fuehrte, war stark befahren. Auf der gegenueberliegenden Seite herrschte geschaeftiges Treiben. Hausfrauen kauften auf dem Wochenmarkt ein und tauschten Neuigkeiten aus. Als Franco sich im Empfang des Instituts meldete, liess ihn die Empfangsdame Platz nehmen und griff zum Telefon. Bald darauf erschien ein farblos wirkender Mann in einem grauen Anzug und bat ihn in sein Buero. 12
“Zafirelli rief mich heute morgen an und hat Sie angekuendigt. Ich bin Balboni, der Verwaltungschef. Die Leute hier nennen mich Monti hinter meinem Ruecken.” Balboni lachte, “Sie kennen den EU-Kommissar. Die Region hatte mich abgestellt, um zu verhindern, dass die Kosten aus dem Ruder laufen.” Balboni klaerte Franco ueber die beiden laufenden Projekte auf. “Was mich stutzig macht ist, dass ich nicht mehr zu den Konferenzen eingeladen werde. Das ist neu und die Begruendungen sind fadenscheinig. Ich moechte daher, dass Sie etwas mehr ueber die beiden Projekte herausbekommen Wenn es Ihnen recht ist, Tardelli, dann arbeiten Sie jeden Morgen vier Stunden im Empfang. Den Nachmittag wird meine Sekretaerin, Sie haben sie gerade kennengelernt, den Job uebernehmen. Sie kann ihre Briefe ebensogut dort schreiben und von dort auch ihre Telefonate erledigen. Und noch etwas. Jede Woche kommen ein paar Schulklassen zu uns. Wir koennen sie nicht in die Labors lassen, zeigen ihnen jedoch einen Zeichentrickfilm ueber die Genetik und halten einen kleinen Vortrag. Wir meinen, Sie sollten das machen, da unsere Wissenschaftler zur Zeit zu viel um die Ohren haben. Lassen Sie sich von meiner Sekretaerin den Terminkalender und das Schulungsmaterial geben, den Vortragsraum zeigen und lassen Sie sich einweisen, wie man den Filmprojektor bedient. Viel Spass also und halten Sie die Augen offen.” Nach einigen Wochen hatte Franco sich voll integriert. Er hielt Vortraege wie ein Profi, machte Termine fest, kannte inzwischen jeden Mitarbeiter mit Namen, jedoch was die beiden Projekte betraf, war er nicht viel schlauer geworden. Es war nur seltsam, das jeden Morgen ein Fleischer vorfuhr, einen geschlossenen Kuebel aus seinem Laster frachtete und durch den Empfang in die Labors karrte. Fuer den BSE-Schnelltest, wurde erzaehlt. Aber Fleisch jeden Tag? Doch nun war es passiert. Aber was? Franco war im Begriff sich einen Kaffee in Balbonis Vorzimmer abzuholen und mit Mirna, dessen netter Sekretaerin zu plauschen. In diesem Moment sah er, wie der Schlachter vorfuhr, aus dem Wagen stieg, die Eingangstuer zum Empfang oeffnete und feststellte. Gleichzeitig vernahm er ein Rummsen und Poltern in den Labors. Als der Schlachter den Kuebel durch den Empfang karrte und die Labortuer oeffnete, flitzte ein Hund mit heller Haut oder hellem Fell aus der Tueroeffnung, jagte durch den Empfang auf die offene Eingangstuer nach draussen und verschwand . Doch es war kein Hund. Der Kopf bestand nur aus Zaehnen. Was war es dann? Guazzalocca erschien im Empfang. Rot im Gesicht und ausser Atem. Er rannte nach draussen und bog um die Ecke. Nach einer Weile kehrte er zurueck, immer noch keuchend. “Was war das?” fragte Franco. “Nichts weiter,” meinte Guazzalocca und verschwand wieder in den Labors. Der Schlachter war kreidebleich im Gesicht, als er seine leere Sackkarre wieder zu seinem Wagen zog. “Haben Sie das gesehen, Mirna?” Franco fuellte seinen Becher mit Kaffee. “Nein, was ist denn?” “Ich weiss nicht. Irgendetwas flitzte aus den Labors und entkam durch die Eingangstuer.” “Vielleicht ein wahnsinniger Wissenschaftler.” Irma lachte laut. Die Zeit verging. Franco ging weiter seiner Taetigkeit nach. Inzwischen war die Jagdsaison angebrochen, es waren bereits einige Tage verstrichen seit dem Gelage mit Faustos Jagdkumpanen. Der Tisch hatte sich unter den Tortellini, dem Hasenbraten, den Wuersten, dem Wein, dem Kaese, dem Grappa und dem Kaffee gebogen. Doch nun war Fausto mit seinen Freunden und den Hunden unterwegs, um Fasanen aufzuspueren. Ihre Hunde, Italienische Braccos, zerrten 13
an den Leinen. Noch einige hundert Meter zu Fuss, dann waren die Maisfelder erreicht und die Maenner liessen die Hunde laufen. Wie der Blitz verschwanden sie im Maisfeld. Die Maenner hielten ihre Gewehre schussbereit. Jeden Moment konnten aufgespuerte Fasane aus dem Mais emporflattern. Ploetzlich ertoente ein erbaermliches und herzzerreissendes Gejaule. Dann war wieder Stille. Die Maenner riefen nach ihren Hunden, “Billy, Tom, Luna, Full, Bobby.” Nichts ruehrte sich. Die Maenner stuerzten in das Maisfeld, dorthin, wo sie die Hunde zum letzten Mal vernommen hatten. Fuesse trappten, Pflanzen knickten. Ein grauenhaftes Bild bot sich ihnen dar. Tot und zerfetzt lagen die Hunde am Boden. Das Rot ihres Blutes faerbte die trockene, helle Erde und die umliegenden Pflanzen. Einem der Maenner wurde uebel. Er wandte sich ab, ging noch ein paar Schritte, dann brach er zusammen und fiel auf die Erde. Die anderen bemuehten sich um ihn. Oeffneten sein Hemd und faechelten ihm frische Luft zu, bis er wieder zu sich kam. Danach trugen sie ihn an die Strasse, weiter zu den Wagen und fuhren mit ihm ins naechste Krankenhaus. Am naechsten Morgen, bevor Franco zur Arbeit radelte, machte er einen Abstecher in die Bar Sport, orderte einen Kaffee und griff nach dem Resto del Carlino. Er schlug den Lokalteil auf. Schon wieder Buona Compra. Unerklaerliche Vorkommnisse im Maisfeld. 5 Hunde zerfetzt. Carabinieri haben die Ungluecksstaette in Augenschein genommen, mit Blut kontaminierte Erd- und Pflanzenproben eingesammelt, um diese ueberpruefen zu lassen. Inzwischen liegen die Hunde im Gerichtsmedizinischen Institut. Auf die gleiche Weise wurde ein Pensionaer aus dem Dorf Cesol zugerichtet. Autofahrer fanden ein umgestuerztes Fahrrad sowie einen Hut auf der Strasse neben dem Maisfeld, in dem am Vormittag die 5 Hunde massakriert wurden. Sie alarmierten sofort die Polizei, die nach einer laengeren Suche den Toten am Ende des Maisfeldes fand. Sein Leichnam wurde ebenfalls in das Gerichtsmedizinische Institut ueberfuehrt. Franco wurde flau im Magen. Ihm draengte sich der Vorfall ins Bewusstsein, dieses spukartige Geschehen, als dieses tierische Etwas aus dem Labor geschossen kam und durch den Eingang entwich, nachdem der Schlachter beide Tueren geoeffnet hatte. Im Institut angekommen, griff er nach dem Telefon und waehlte Zafirellis Nummer. “Zafirelli, Tardelli hier. Ich glaube der Fall in Buonacompra hat etwas mit dem Institut zu tun.” Franco schilderte Zafirelli die Begebenheit und empfahl ihn, da er der einzige Zeuge war, den Schlachter zu vernehmen. “Wird gemacht, erwiderte Zafirelli. Wir benoetigen jedoch den Namen des Metzgers oder der Firma, fuer die er taetig ist. Uebrigens, wir haben am Ort, wo die Hunde ums Leben gekommen sind, Blutspuren gefunden, die von einem Menschen stammen. Sie stammen nicht von dem Alten, der umgebracht wurde.” Franco dachte nach. “Zafirelli, ihr solltet schnell handeln. Rueckt im Institut an und nehmt von jedem Mitarbeiter eine Blutprobe. Auch von mir, damit ich nicht auffalle.” Franco lachte. “Auch wenn ich nicht glaube, dass es einer von ihnen war. Es schuechtert sie ein. Vielleicht plaudert einer von ihnen.” “In Ordnung, Tardelli. Wir kommen noch am Vormittag vorbei.” Nach einigen Stunden rueckte die Polizei an. Sie kam mit mehreren Wagen. Die Beamten sprangen heraus und besetzten saemtliche Ausgaenge. Zafirelli ging mit dem Polizeiarzt und einigen Polizisten in die Empfangshalle. Dort erwartete sie Balboni und bat sie in sein Buero. Zafirelli zeigte ihm den richterlichen Durchsuchungsbefehl und bat ihn, saemtliche Mitarbeiter in sein Buero zu bestellen. Balboni rief Ronchetti an waehrend Zafirelli einige der Polizeibeamten anwies, mit der Durchsuchung zu beginnen. “Meine Herren,” wandte sich Zafirelli an die hereingekommenen Personen. “Wir haben Grund zu der Annahme, dass der Mordfall sowie die Toetungen der Jagdhunde in dem Maisfeld in diesem Institut ihren Ursprung haben. Deshalb werden wir jetzt das Gebaeude 14
durchsuchen. Wir moechten Sie ebenfalls bitten, sich fuer eine Blutabnahme zur Verfuegung zur stellen. Damit koennen Sie den Verdacht ausraeumen, dass Sie etwas mit diesen Geschehnissen zu tun haben. Stellen Sie sich bitte in einer Reihe auf und nennen Sie unserem Polizeiarzt ihren Namen.” Die Blutabnahme ging zuegig voran. Die Durchsuchung brachte jedoch nichts zutage. Die Polizisten rueckten wieder ab. Am naechsten Tag tauchte Zafirelli wieder auf und verhaftete Ronchetti. Franco war verbluefft wie alle anderen auch. Zafirelli hatte eindeutige Beweise. Die DNA der Blutspur in dem Maisfeld deckte sich mit der DNA Ronchettis. Wie das? War Ronchetti nicht den ganzen Tag im Institut gewesen? War jedoch die DNA eines jeden Menschen nicht einmalig? Franco war verwirrt. Und das war er immer noch, als er zu Hause eintraf. Die leichte Abendbrise auf dem Weg nach Hause hatte nicht geholfen. “Heute kein Schach,” meinte er zu Clara. “Diesmal wuerde ich ganz sicher verlieren.” Clara lachte, sagte jedoch nichts dazu. Waehrend sie die Schweinekoteletts brutzelte, drang ploetzlich Musik durch die Zimmerdecke, begleitet von einem sich staendig wiederholenden schabenden Geraeusch. “Schon wieder Freddy Mercury,” stoehnte Franco. “Gleich kommt Radio Gaga”. “Ich sagte ja,” Clara schob die geschnittenen Zwiebeln in die Pfanne, “mein Bruder ist ein Robot, ein Klon.” Franco stutzte. “Sag das nochmal.” “Ja, er ist ein Robot, ein Klon.” “Danke,” Franco kuesste Clara auf die Wange. “Ich glaube, wir haben einen Fall geloest.” Franco ging zum Telefon und versuchte Zafirelli zu erreichen. Der war jedoch nicht mehr in seinem Buero. Als Franco am naechsten Morgen Zafirelli vom Institut aus anrief, konnte er ihn nicht von seiner Klontheorie ueberzeugen. “Tardelli, nun hoeren Sie auf. Im Institut arbeiten sie an einem BSE-Schnelltest und nicht an Klonierungen. Den Metzger haben wir nicht gefunden und Sie haben etwas durch den Empfang flitzen sehen. Das ist ein bischen duenn. Der Ronchetti bleibt im Knast.” Franco nahm es hin, telefonierte in den Schulen herum und fragte, ob diese interessiert seien, ihre Klassen zu einem lehrreichen Vortrag in das Molekularbiologische Institut zu senden. Nach den letzten Ereignissen war die Resonanz verhalten und Franco hatte genuegend Zeit, seine Klontheorie zu ueberdenken. Nachdenklich blickte er auf die andere Strassenseite. Der Wochenmarkt mit seinen Staenden, seinen Tischen und Baldachinen lenkte ihn fuer einen Moment ab. Auf der rechten Seite waren die Fischverkaeufer, auf der linken die Gemuesehaendler. Hinter diesen die Fleischer und danach die Textilstaende, die den groessten Teil des Marktes ausmachten. Nun Klone stammten aus der Zelle des Originals, hatten also die gleiche DNA. Richtig? Richtig. Ronchetti war waehrend der Tatzeit im Institut. Richtig? Vermutlich richtig. Er hatte das Institut natuerlich ueber einen anderen Ausgang verlassen koennen. Franco war im Begriff sich in Balbonis Vorzimmer einen Kaffee zu holen, als sein Telefon laeutete. Es war Zafirelli. “Tardelli, Sie haben recht. Soeben haben sie einen Angler tot aufgefunden, am Fischteich in der Naehe des ominoesen Maisfeldes. Ich stelle einen Suchtrupp zusammen.” Zwei Stunden spaeter knatterte ein Hubschrauber der Polizei ueber dem Maisfeld. Die Pflanzen bogen sich unter dem Luftdruck des Propellers. Manschaftswagen der Carabinieri spien Beamte mit Hunden aus, die sogleich in den Maisfeldern verschwanden. Die Hunde bellten und zogen alle in eine Richtung. Die Beamten hielten sie an der Leine. Keiner von 15
ihnen wollte, dass sie das gleiche Schicksal erlitten wie die armen Tiere, jene Jagdhunde vor einigen Tagen. Die Hunde liefen zum Rand des Feldes, das dort an der Strasse endete. Die Polizisten blickten ueber die Strasse. Dort war Wochenmarkt. Ploetzlich vernahmen sie ein wildes Gekreische und Gebruell. Die Polizisten hetzten mit ihren Hunden ueber die Strasse, sahen wie Frauen in Ohnmacht fielen und zu Boden sanken, wie andere Leute beherzt die Frauen aus der Gefahrenzone schleppten, vor einem Ding zurueckwichen, das schleppenden Ganges an den Gemuesestaenden entlang wankte, Richtung Fleisch und Wurstwaren. Es hatte die Groesse einer Dogge, torkelte auf vier Menschenbeinen auf die zurueckweichenden Marktbesucher und Marktverkaeufer zu, ein menschlicher Freak, dessen Rumpf in einen Kopf ueberging, aus dem grosse Kinderaugen und ein piranhaartiges Gebiss einen schauerlichen Kontrast bildeten. Das Wesen hielt inne, zitterte ploetzlich am ganzen Koerper. Rinderwahnsinn. Es schrie und bruellte seine ganze Verzweiflung und Furcht in die Welt. Leute blieben stehen und drehten sich um. Einige von Ihnen ergriff das Mitleid. Zoegernd naeherten sie sich. Dann brach es zusammen, fiel in die aufgehaeuften roten Tomaten eines Gemuesestands. Bellend standen die Hunde um es herum. Nur langsam wurde der Menge klar, dass es tot war. Der Spuk war vorueber. Francos Stimmung war gedrueckt. Ihn konnte auch nicht darueber hinwegtroesten, dass seine Theorie durch das entsetzliche Spektakel bestaetigt wurde, das er durch das Fenster beobachtet hatte. Er hatte sich so an seinen Vierstundenjob gewoehnt, doch schon er sah im Geiste, wie er auf dem Fahrrad wieder seine Runden drehte. ENDE
16
Der Weg von Ralf Nitsche
Über das Beschreiten eines ungewöhnlichen Weges aus der Sicht desjenigen, der ihn fand
Mein Name ist Thomas Riley. Das ist nicht mein richtiger Name. Der tut hier auch nichts zur Sache. Ich möchte Ihnen nur eine kleine Geschichte erzählen. Die Geschichte von dem Weg. Zu meiner Zeit nämlich hatte ein Mann den Weg gefunden, und ich - ich habe ihn benutzt. Es geschah während einer Besichtigung des Instituts, und auf tausendfach verschlungenen Wegen hatte ich mehr oder weniger zufällig herausgefunden, was sich in Raum 10.323 befand. Nämlich der Weg. Ich brach ein und benutzte ihn. Folgen konnte mir keiner, denn den Gang konnte man zu der Zeit nicht festhalten und verfolgen. So ging ich ihn, und ich benutzte ihn so lange, bis ich erschöpft darauf zusammenbrach. Den Beschluß, diesen Weg zu gehen, faßte ich aus einem einzigen Grund: ich war einsam, und dieser Einsamkeit wollte ich um jeden Preis entfliehen. Ich hatte viele Freunde, ja, und ich war nicht alleine, aber ich war einsam. Der Weg hatte unendlich viele Abzweigungen. Verwirrenderweise bildete jede Abzweigung wieder einen Weg, der für sich wieder unendlich viele Abzweigungen besaß. Wegweiser gab es keine, denn wer hätte sie auch aufstellen sollen, und warum? Denn diesen Weg gab es eigentlich nicht, und doch existierte er und war allgegenwärtig. Das genügte. Wer wußte, wie man ihn erreichte, hatte schon einiges geschafft. Wer wußte, wie man sich seiner bediente, konnte glücklich sein. Wer wußte, wohin all diese Wege führten, der ... den konnte es nicht geben. Um auf den Weg zu kommen, muß man durch eine Tür treten. Für diese Tür muß man den Schlüssel haben, denn sonst ... Man kann den Weg nicht suchen, verstehen sie? Man kann ihn nur durch Zufall finden, selbst dann, wenn man vermutet, daß es ihn gibt. Der Schlüssel in meinem Fall ist ein kleines Kästchen, das es im Institut gab. Das Kabel hängt wie abgerissen daran herum, und dennoch funktioniert es. Irgendwann auf meinen Reisen hatte ich jemanden getroffen. Sein eigenartiges Aussehen fiel mir anfangs gar nicht auf, und dieser Jemand erklärte mir, daß mein Kästchen seine Funktion mitgenommen haben muß und sich hier selbst trug. Er hingegen hatte den Weg auf rein geistiger Ebene gefunden und schließlich betreten können. Seit Ewigkeiten läuft er hier herum, und langsam wird er müde. Er ginge nach Hause, sagte er mir und bog irgendwann irgendwo ab. Er rollte gemütlich auf seinen grünen Tentakeln davon, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. SeinWeg war ein anderer als der meine. Ich wanderte durch die Unendlichkeiten und fand eine Abzweigung, die mir interessant erschien. Ich ging diesen Weg eine Weile, und dann öffnete ich eine Tür und verließ ihn. Die Welt hinter dieser Tür wartete auf mich, und ich betrat sie, um sie zu erkunden. Vielleicht fand ich hier eine Möglichkeit, aus der Einsamkeit zu entfliehen. Ich blieb einige Zeit in dieser Welt. Aber auch sie war nichts für mich. Ich sagte mir: wenn ich schon die Möglichkeit hatte, mir das zu suchen, was ich wollte, dann würde es keinerlei Kompromiß geben. Und so öffnete ich die Tür und betrat wieder den Weg. 17
Seit Ewigkeiten nun suche ich eine Welt, die mir zusagen könnte. Aber mittlerweile sehe ich ein, daß es mir womöglich nie gelingen wird, DIE Tür zu finden, hinter der sich MEINE Welt verbirgt. Ich habe viel gesehen. Mehr als jeder andere Mensch. So werde ich weiter die Wege beschreiten, und ich bin sicher: die Welt, aus der ich kam, werde ich niemals wiedersehen. Sie war kalt und unfreundlich, und ich habe eine Ewigkeit Zeit und Raum vor mir. Vielleicht finde ich einmal eine Alternativwelt zu der meinen, aber ich bin nicht sicher, ob ich dann dort bleibe. Wissen Sie, daß Beschreiten des Weges, oder der Wege, ganz wie sie wollen, macht süchtig. Die meisten jedenfalls. Ab und zu treffe ich alte Freunde, wie das grüne Tentakelwesen. Dann bleiben wir eine Weile einfach stehen und erzählen uns gegenseitig die interessantesten Dinge. Obwohl es sich die meisten nicht eingestehen wollen: wir haben eigentlich fast alle eine Bleibe gefunden - den Weg. Und wir sind die Bewohner des Weges. Und werden es wohl bleiben. Der Weg ist ewig. In jedem Universum gibt es einen Anfang und ein Ende. Und es gibt unendlich viele endliche Universen. Und die besuchen wir. Irgendwann, nach Äonen, haben wir uns getrennt, um neue Abzweigungen des Weges zu beschreiten. Aber irgendwann sehen wir uns alle wieder, um von der Vergänglichkeit allen Seins außerhalb des Weges zu erzählen. Dann werden wir hier an irgendeiner Abzweigung stehen und plaudern. Denn hier ist unser Zuhause. Hier auf dem Weg. Und wir sind wie er. Ewig.
18
Die Truhe des Dämons von Marcus Meier
In der Schankwirtschaft steht ein düsterer Kasten. Was mag in ihm sein..?
Die Truhe beherrschte den größten Teil des Schankraumes. Nicht etwa durch ihre Größe, sondern durch die bedrohliche, ja schon fast diabolische Ausstrahlung, die von ihr ausging. Die Schnitzereien im Holz, die Intarsienarbeiten im Deckel und vor allen Dingen die schmiedeeisernen Fratzen auf den Beschlägen ließen das Behältnis groß und bösartig erscheinen. Trotzdem das Wirtshaus gut besucht war und die Lichtkegel von unzähligen Kerze bis in die hinterste Ecke des Raumes drangen, blieb um die dämonische Kiste ein Kreis, frei von Menschen und scheinbar auch frei von Licht. Dennoch tat dies der Stimmung im Raum keinen Abbruch. Im Gegenteil, die Gäste schien die unheimliche Aura dieses Behältnisses auf eine gewisse Art anzuziehen. Immer wieder wurde sie mit Blicken bedacht und einige Mutige machten sogar Scherze über die hässlichen Fratzen, welche die Beschläge schmückten. Laute, derbe Scherze unterlegt mit dem Klirren von Geschirr, lautes Lachen und allgemein geführte Gespräche verwandelten die Gastschenke in ein wahres akustisches Inferno. Und über all diesem schwebte die dämonische Aura der Truhe und tauchte den Raum in ein Licht aus Düsternis. Nur einer der vielen Gäste an diesem Abend lies sich nicht von der Aura der Truhe beeindrucken. Jerrit saß ruhig und zurückgezogen im hinteren Teil des Schankraumes und beobachtete die Angestellten, die wie ein Rudel Hirtenhunde durch die Menschenmassen eilten, um die Zecher im Zaum zu halten, bemüht jeden ihrer Wünsche zu erfüllen und jeden zufrieden zustellen. Es war ein gemischtes Publikum im Teufelskeller. Sowohl das gemeine Volk, als auch einige wohlhabende Händler und sogar eine Gruppe fahrende Ritter erfüllten die Luft der Herberge mit ihren Stimmen und der Wärme ihrer Körper. Die Luft war zum Schneiden. Der Geruch nach Leder, nassem Tuch, gegerbten Fellen und ungewaschenen Leiber brannte Jerrit in der Nase und er bemühte sich flach durch den Mund zu atmen. Der Gast, mit dem Jerrit seinen kleine Tisch teilen musste, war, den Götter sei es gedankt, vor einiger Zeit mit dem Kopf auf die Tischplatte gesunken und gab nun nur noch von Zeit zu Zeit einige grunzende Laute von sich. Jerrit überlegte einen Wimpernschlag lang, ob seine Ohnmacht wohl von der stickigen Luft herrührte, aber er hatte gesehen, wies sein Tischnachbar innerhalb kürzester Zeit mehrere Humpen Bier in sich hineingeschüttet hatte. Selbst ein Oger hätte danach Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht gehabt. Außerdem hätte er das trunkene Gerede dieses elenden Versagers nicht einen Augenblick länger ertragen können ohne ihm die Kehle durchzuschneiden. Und das wäre wohl selbst in diesem Tollhaus von einer Taverne bemerkt worden. Jerrit zog seine schwarzen Hut etwas tiefer in die Stirn und wandte seinen Blick nun dem zu, was ihn in diese niveaulose Taverne gebracht hatte. Er hatte schon vor einigen Tagen die Truhe in aller Ruhe untersucht und festgestellt, dass ihre Verschläge zwar kunstvoll gearbeitet waren, die Intarsien aufwendig und edel erschienen, doch das Schloss ein Hohn für jeden normalen Dietrich war. Und genau dies war es, das ihm solche Sorgen machte. Wenn Emeral wollte, dass er ihm den Inhalt der Truhe brächte, warum engagierte er dann gerade ihn? Jerrits Dienste waren nicht gerade preiswert zu nennen und dies schien eine Arbeit zu sein, die selbst der Trunkenbold neben ihm verrichten konnte. Die Taverne schloss um Mitternacht und danach war es ein Leichtes durch den Hof und die Hintertür in den Schankraum einzudringen und den Behälter zu öffnen. Doch gerade diese Tatsache hatte ihn davon abgehalten seinen Auftrag sofort auszuführen. Etwas stimmt mit dem Inhalt dieser Truhe 19
nicht. Und Jerrit war lange genug im Geschäft um zu wissen, das die einfachsten Sachen im Leben immer die waren, die am meisten Ärger bereiteten. Aus diesem Grund hatte er sich auch intensiv auf den Strassen der Stadt umgehört. Doch nichts, was er erfahren hatte, gab ihn einen Hinweis auf eine eventuelle Gefahr. Die ´Dämonentruhe´, wie sie die Leute auf der Strasse nannten, war, wenn man den Gerüchte Glauben schenkte, von Anbeginn der Zeit an diesem Ort gewesen. Der Legende nach sollte einst Angrael, der Gott des Winters, einen Dämon dort eingesperrt haben. Dieser sei vom Himmel herabgestiegen, um die Menschheit mit Hinterlist gegen einander aufzuhetzen. Durch eine Trick, die Leute waren sich in dieser Sache nicht ganz einig, wie es genau geschah, sperrte Angrael den Dämon in die Truhe und vergrub diese tief in der Erde. Für Jerrit war die Geschichte der Truhe mindestens genauso absurd, wie ihre Entdeckung viele Jahrtausende später durch den jetzigen Wirt Windraas. Angeblich hatte er seine Keller ausgeschachtet um mehr Lagerraum für seinen Wein zu haben und dort die Truhe gefunden, bedeckt nur durch einige Schichten Erden. Natürlich tat Windraas alles um diese Entdeckung so mysteriös wie möglich zu gestalten. Mit der Entdeckung der diabolischen Kiste soll sofort jeder Tropfen Wein in seine Fässern umgeschlagen sein und Windraas schwor, dass er sich die Finger am Holz verbrannt hatte, als er sie bergen wollte. Jerrit konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Eine nette Geschichte, die den Umsatz im Teufelskeller um das zigfache gesteigert hatte. Es war nicht so, dass Jerrit nicht an Götter glaubte oder an Dämonen, die auf Erden wandelten, aber dies war zu absurd. Selbst wenn dieser Dämon tatsächlich von Andrael eingesperrt worden wäre, dann gewisslich nicht in so eine schlecht gesicherte Truhe, die nur darauf wartet von einen dickbäuchigen Wirt ausgebuddelt zu werden. Das war einfach lächerlich. Und dennoch hatte etwas Jerrit davon abgehalten, letzte Nacht die Truhe in aller Ruhe zu öffnen und den Inhalt Emeral zu bringen. Und genau das war es, was Jerrit ärgerte. Mann konnte diesen verdammten Kasten eines nämlich nicht absprechen. Seine Ausstrahlung drang durch den gesamten Raum. Etwas kaltes schien von ihr auszugehen, das sich Jerrit nicht erklären konnte. Zumal er letzte Nacht schon davor gestanden hatte und außer dem obligatorischen Kribbeln seiner Nerven nichts davon gespürt hatte. Jerrit zuckte mit den Achseln und trank sein restliche Bier aus. Was auch immer in dieser Truhe war, er würde den Inhalt heute Nacht zu Emeral bringen, egal um was es sich handelte. Dafür wurde er schließlich bezahlt.
-2Jerrit war vor drei Tagen nach Berrenburg gekommen und hatte es sofort bereut. Die Grenzstadt lag an der äußersten Grenze Ost Venevers und die wenigen Karawanen, die auf ihrer Reise nach Osten hier durchkamen hatte nie mehr geladen als billigen Schmuck und minderwertige Waffen, die sie den Barbarenstämmen gegen feinste Felle und edelste Pelze aufschwatzen konnten. Die Bewohner Berrenburgs erweckten in Jerrit den Eindruck von Gestrandeten, die auf ihrer Flucht vor ihrem Schicksal irgendwann hier gelandet waren. Im Grunde war es genau die richtige Umgebung für ihn, denn auch hinter ihm lag etwas, dass er gerne für immer vergessen hätte. Aber er würde nicht lange in dieser Provinzstadt bleiben. Nur etwas Geld und ein paar Ausbesserungen in seiner Ausrüstung und schon würde er diese elende Fleck verlassen und nach Norden weiterziehen. Doch genau da lag das Problem. Seine Geldmittel waren äußerst knapp bemessen und für eine Dieb seines Schlages war schwer eine annehmbare Aufgabe zu finden. So schlug er sich nun schon drei elendige Tage mit kleinen Trickbetrügereien und Taschenspielertricks durch. Etwas, das Jerrit zuletzt getan hatte als er zehn Jahre war und in den Strasse Alabronns lebte. Sein Glück jedoch schien sich zu wenden als er Emeral traf. Der alte Mann, seines Zeichens Gelehrter und, wie er selber von sich behauptete, Philosoph, sprach ihn auf der Strasse an, 20
gerade als Jerrit einer besonders dickleibigen und unaufmerksamen Bürgerin die Geldbörse aus der Manteltasche entwendete. "Ihr seid sehr geschickt mit euren Fingern, junger Mann. Ich frage mich, ob sich die Stadtwache nicht für eurem Treiben interessiert?" Jerrit wirbelte herum. In einer Handbewegung schleuderte er die Geldbörse zur Seite und zog seinen Dolch. Gleichzeitig drückte er den alten Mann mit der freien Hand gegen die nächste Häusermauer und drängte ihn in eine der kleine Gasse, die Berrenburg wie ein Labyrinth durchzogen. "Ihr seid sehr unvorsichtig, Alter. Nicht nur, dass ihr Fremde von der Seite ansprecht, sondern ihr stört mich auch bei meiner Arbeit. Die Stadtwache wird sich bestimmt auch fragen, warum so ein alter Mann wie ihr, hier tot in der Gasse liegt, mit einem Loch im Bauch." Während am Eingang zur Gasse die Leute achtlos weitergingen, schien der alte Man jedoch keine Angst zu haben. Es roch nach Unrat und Schimmel doch Furcht suchte man im Gesicht des Mannes vergeblich. "Ihr seid sehr flink. Ich beobachte euch schon eine ganze Weile und ich glaube ich habe eine sinnvollere Aufgabe für euch als unachtsamen Bürger, das Geld aus der Tasche zu ziehen." Die grauen Augen des Mannes blitzen und sein, von Falten zerfurchtes Gesicht zeigte ein freundliches Lächeln. "Ich habe einen Vorschlag für euch, bei dem genug Geld für euch herausspringt um aus dieser Stadt zu verschwinden. Und zwar auf eine sehr komfortable Art und Weise." Es war etwas an diesen Worten die Jerrit aufhorchen ließen. Angebote dieser Art hatte er in seiner Karriere schon etliche erhalten, meist mit einem sehr unglücklichen Ende und ohne den versprochenen Gewinn. Aber es war die Ausstrahlung des Alten und seine wachen, grauen Augen, die Jerrits Dolch herabsinken ließen. Der alte Mann stellte sich als Emeral zu Berrenburg vor und lud Jerrit ein, mit ihm in sein Haus zu kommen um die ganze Angelegenheit in Ruhe und ungestört besprechen zu könne. Natürlich war es töricht und dumm, aber die Ruhe die von Emeral ausging veranlasste Jerrit mit ihm zu gehen. Emerals Haus schmiegte sich eng an die Stadtmauer und die kleinen Räume waren von oben bis unten mit Büchern, Schriftrollen und Folianten vollgestopft. Kaum ein Regal, das nicht überquoll von Schriftstücken und sogar der Boden war übersät mit einzelnen Pergamenten. Eine kleine Stimme in Jerrits Unterbewusstsein schrie förmlich, dass es Wahnsinn war, diesem Fremden einfach so zu vertrauen, doch die beruhigenden Worte Emerals und seine freundlichen grauen Augen ließen jeden Zweifel und sämtliche Vorsicht im Keim ersticken. Nachdem Emeral unter einem Wust von Blättern und Büchern einen Schemel zum Vorschein gebrachte hatte, forderte er Jerrit auf Platz zu nehmen und begann seine Vorschlag auszubreiten. Dabei ging er in dem kleine Raum auf und ab und strich mit seine, von Alterflecken gezeichneten Händen immer wieder seine grünen Wams glatt. Emeral kam gleich zum Punkt seiner Geschichte, eine Eigenschaft die Jerrit schon immer zu schätzen gewusst hatte. "Diese Truhe, deren Inhalt ihr mir bringen sollt, befindet sich im sogenannten Teufelskeller. Eine minderwertige Spelunken, in der Nähe der Südtore. Für jemanden wie euch sollte es ein leichtes sein, mir ihren Inhalt zu bringen. Und wen ihr dieses tut, dann erwartet euch die fürstliche Belohnung von dreißig Silbertalern. Eine nette Summe für eine kleine Arbeit. Kommt mit eurer Beute einfach wieder zu mir und ich werde euch entlohnen." Alles in Jerrit schrie danach diese Aufgabe nicht zu übernehmen, das Wort Hinterhalt brannte in seinem Gehirn hell wie ein Scheiterhaufen. Emeral hatte weder einen Grund genannt, warum ihn der Inhalt der Truhe interessierte noch was er darin zu finden hoffte. Doch das Einzige, was über seine Lippen kam war ein leises ´In Ordnung ´ und so stand er nun mitten in der Nacht auf dem düsteren Hinterhof des Teufelskeller und haderte mit seinem Schicksal.
21
Natürlich hätte er jetzt einfach gehen können. Die Stadt verlassen war für ihn selbst in der Nacht, wenn die Tore geschlossen waren, ein Leichtes. Aber etwas hielt ihn davon ab. Jerrit war sich nicht ganz sicher aber scheinbar handelte es sich bei dem Gefühl, das sich in seiner Magengegend ausbreitete um ein schlechtes Gewissen. Ein schlechtes Gewissen, Emeral zu enttäuschen und sein Vertrauen zu missbrauchen. Jerrit war sich der Absurdität dieses Gefühles und seine Einstellung gegenüber dem alten Mann voll bewusst. Und dennoch öffnete er mit einigen geschickten Handgriffen die Hintertür der Taverne und drang in das dunkle und verlassene Gebäude ein. Ein schlechtes Gewissen, dachte er. Nachher entwickele ich gar noch so etwas wie Moral. Es wird Zeit, das diesen verruchten Ort verlasse und die ganze Sache hinter mich bringe.
-3Mit geschickten Hände entzündete Jerrit eine kleine Lampe, die er vor ein paar Jahren für einen beachtlichen Betrag erstanden hatte und leuchte mit dem kleine abgedeckten Kerzenschein den Schankraum aus. Noch immer hing der Geruch von schalen Bier, Holzfeuer und Schweiß in der Schenke und Jerrit hätte am liebsten die Fenster aufgerissen um frische Luft in seine Lungen zu saugen. Doch die Fenster waren sowohl zum Hof als auch zur Strasse mit eichenen Läden verschlossen und ließen so keinen Schimmer seines Lichtes nach außen dringen. Ein Umstand, der ihm auf jeden Fall zu Nutze war. Vorsichtig und mit der Geschmeidigkeit einer Katze schlich Jerrit durch den Raum und leuchtete die Umgebung sorgfältig ab. Die Lampe sandte nur einen kleine Strahl über die Tisch und Bänke, doch Jerrit geübtes Auge erblickte jede Einzelheit, als sei es heller Tag. Schatten zuckten wie lebendige Wesen über die Wände während Jerrit sich langsam in die Mitte des Raumes vorarbeitete. Die Truhe stand noch genauso da, wie vor wenigen Stunden, nur schien mit dem Fortgang der Gäste auch ihre unheimliche Aura verloschen zu sein. Jerrit stellte die Lampe vorsichtig auf einen der Tische, so dass ihr Strahl direkt auf das Schloss der Truhe viel. Vorsichtig inspizierte er zum wiederholten Male das Schloss. Es war immer noch billig und leicht zu öffnen, aber Jerrit hatte es in seinem Beruf nicht so lange geschafft zu überleben, wenn er nicht immer und immer wieder alle Möglichleiten abgewägt hätte. Geschickt tastete er die Truhe ab und holte dann aus einer seiner vielen Manteltaschen eine hauchdünne Faden hervor. Spinnendraht. Dünn wie ein Haar aber reißfest wie ein lensmarker Hanfseil. Mit geschulten Fingern zog er den Spinnedraht zwischen Deckel und Gehäuse der Truhe und führte ihn langsam an der Kante entlang. Kein Wiederstand war zu spüren und beruhigt verstaute er den Draht wieder in seiner Tasche. Mit Fallen war die Truhe also nicht gesichert. Auch das Schloss hielt nach einer sorgfältigen Inspektion keine unliebsamen Überraschungen mehr im Petto. Also war es an der Zeit der Dämonentruhe ihr Geheimnis zu entreißen. Jerrit träufelte etwas windgahrter Seeteufel-Tran auf die Scharniere und in das Innere des Schlosses. Nur für den Fall, damit kein unliebsames Geräusch fremde Ohren aufmerksam machte. Dann suchte er den passenden Dietrich heraus und machte sich an die Arbeit. Doch gerade als er sein Werkzug in das Schloss einführen wollte hielt er inne. Hatten die dämonischen Fratzen, mit denen die Verschläge verziert waren nicht gerade noch in eine andere Richtung geblickt. Jerrit kniff kurz die Augen zusammen. Mach die nicht verrückt. Das Metall war kalt und völlig leblos. Wieder setze er den Dietrich an, doch diesmal zuckte er förmlich zurück. Diese Teufelsfratze dort, direkt über dem Schloss. Er könnte schwören, sie hatte noch vor wenigen Augenblicken den Mund weit aufgerissen. Jetzt grinste sie ihn maliziös an. Er wischte sich mit der Hand über die Augen. Mach dich nicht verrückt. Du bist ein Profi. Konzentrier dich. Der dritte Anlauf war nach wenigen Herzschlägen vom Erfolg gekrönt. Mit einem leisen Klicken öffnete sich das Schloss und Jerrit ließ es geschickt in seine Tasche gleiten. 22
Von wegen, Dämonen. Jerrit lächelte leicht. Dann wollen wir doch mal sehen, was sich hier denn so verbirgt. Langsam und vorsichtig hob er den Deckel an und leuchtete mit der Lampe in das Dunkle der Truhe. Doch gerade als der erste Lichtschein die Finsternis durchdringen wollte, fuhr ein eiskalter Windstoss aus dem Inneren der Truhe hervor, riss Jerrit den Deckel mit brutaler Gewalt aus der Hand und brachte die Kerze zum verlöschen. Absolute Dunkelheit umgab ihn auf einmal. Nur sein heftiger Atem war zu hören und nervös fuhr Jerrit sich zum wiederholten Male mit der Hand über das Gesicht. Mit einem Schlag war die Temperatur in dem Raum auf einen arktischen Tiefpunkt gefallen und Jerrit konnte förmlich spüren wie kleine Atemwolken seinem Mund entstiegen. Doch das alles nahm er nur nebenbei war. Etwas anderes war mit ihm im Raum. Eine Aura, ein Schatten, der eine Bösartigkeit ausstrahlte, die er nie zuvor gespürt hatte. Seine Hände waren wie gelähmt und seine Lippen begannen vor Kälte zu zittern. Kein Laut war zu hören, doch Jerrit wusste, dass er nicht alleine war. Etwas war da. Etwas unsägliches. Und dann geschah das Grauenhafte. Jemand schien direkt neben ihn zu stehen, denn er spürte einen heißen, feuchte Atem an seinem Hals. Mit letzter verzweifelter Anstrengung sprang Jerrit auf, zog seine Dolch und hieb wild in der Dunkelheit um sich. Doch er verfehlte sein Ziel, wenn es denn eines gab. Nur Schwärze umgab ihn und es kostete Jerrit seine gesamte Beherrschung um nicht laut aufzuschreien. Stille breitet sich in dem Schankraum aus. Bleierne, unnatürliche Stille. Er zwang sich ruhig zu atmen. "Wer ist da?" Seine Stimme klang brüchig vor Furcht, doch gleichzeitig gab sie ihm auch ein wenig seines Mutes zurück. "Zeige dich!" Und da ertönte ein leises Lachen. Es klang hinterhältig, nach Tod und Verdammnis. Ein Lachen, dass ihm das Mark in den Knochen gefrieren ließ. Mit aller Anstrengung wand er sich ab und flüchtete. Seine Beine waren weich und drohten beinahe unter dem Gewicht seines Körpers nachzugeben. Doch Jerrit nahm all seine Kraft zusammen und stürzte durch die Dunkelheit zurück durch die Hintertür, den Teufelskeller hinter sich lassend. Wie ein Besessener eilte er durch die nächtlichen Straßen Berrenburgs, ohne darauf zu achten, ob er die Stadtwache auf sich aufmerksam machte oder nicht. In seinem Kopf echote immer noch das abscheuliche Lachen und schickte Wellen der Angst sein Rückrad hinab. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er Emeral Haus erreichte und ohne anzuklopfen stolperte er durch die Tür und drang in das Gebäude ein. Der Raum, in dem er noch vor wenigen Tagen gesessen hatte, war schwer verwüstet. Regale waren umgestürzt und zerrissenen Folianten lagen wild verstreut auf dem Boden. Doch Jerrit hatte nur Augen für die Leiche, die in der Mitte des Raumes auf dem Boden lag. Emerals Gesicht war Schmerz verzerrt und seine gebrochenen Augen starrten starr zur Decke. Sein Hals war unnatürlich verdreht und seine Zunge ragte, wie eine tote Schlange, bläulich angeschwollen aus seinem aufgerissenen Mund. Und über all dem lag eine eisiger Hauch, dessen Frost Eisblumen an den Fensterscheiben aufblühen ließ. Jerrit verlies Berrenburg noch der selben Nacht nach Norden. Es würde noch viel Wochen dauern, bis er wieder ohne Träume und Furcht für ein paar Stunden Schlaf finden konnte.
23
12 Uhr von Markus Böhme
12 Schläge einer Kirchturmuhr. Zeit genug für die Welt, zur Seite zu weichen. Zeit genug, einer anderen, einer grauenvollen Welt zu erliegen.
11.59 Uhr. Immer noch wach. Und irgendwie spüre ich, wie die Furcht ihre kalten Finger nach meinem Hirn ausstreckt, es schmerzhaft in sich zusammenziehen lässt. Es ist keine wirkliche Angst, die in mir empor kriecht, aber das beklemmende Gefühl, etwas unbekanntem gegenüberzutreten. Etwas mächtigem. Da, sie schlägt schon 12. Der erste Schlag der Kirchturmuhr. Und mit ihm ein irgendwie bedrohliches, unheilschwangeres Geräusch. Es beginnt. Die Welt, so wie ich sie kannte, wie jeder sie kannte, wird sich verändern. Noch scheint alles wie früher, zu unmerklich sind die Veränderungen. Man kann sie noch nicht sehen, nicht fassen, aber sie sind da. Nur das Gefühl sagt einem, sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Hat sich irgend etwas verschoben? Ist das matte Dunkelblau des Himmels schwerer geworden; die Schatten tiefer? Ich kann es nicht genau sagen. Vielleicht mache ich mir auch nur was vor, meine, etwas zu merken, weil ich es erwarte. Die Zeit wird es zeigen. Der zweite Schlag der Kirchturmuhr. Ein erneuter kleiner Schritt zur Seite. Eine Verschiebung hin zum Wahnsinn. Ich glaube, Bewegungen sehen zu können, Bewegungen, die nicht da sein dürften. Und sobald ich sie fixieren will, sind sie fort, wie substanzlose Schatten, die das Licht meiner Augen fürchten. Wohl eher wie ein Flackern, das aber, trotz das mein Auge es nicht fassen kann, präsent ist. Mindestens so präsent wie ich es bin. Und gerechtfertigter in der Anwesenheit, das spüre ich und es lässt mir mich selbst wie einen Eindringling erscheinen. Schon wirkt alles unecht; die Häuser an der anderen Straßenseite scheinen fehl am Platze. Sie heben sich nicht mehr so stark von ihrer Umwelt ab, als wären sie in einen Nebelschleier eingehüllt. Oder aber ihre Umgebung versucht, sie zu verschlucken. Passt die Welt um sie herum nicht mehr zu ihnen? Oder sie nicht mehr in diese Welt? Der dritte Schlag der Kirchturmuhr. Hätte ich doch nie an den Mächten gerührt, die für das Menschengeschlecht verboten sind! Und das sind sie nicht umsonst. Jahrhunderte altes Wissen habe ich mir zu eigen gemacht, ihm mein Leben verschrieben, um bis in das Unbekannte vorzustoßen. Die Wissenschaft habe ich weit hinter mir gelassen und die Magie ausgeschöpft und ihre Grenzen überschritten, um mich über die verhasste Menschheit zu erheben. Doch die Kraft der Urgewalten ist tausendfach größer, als ich zu denken fähig bin. Milliardenfach stärker, als ich und alle Menschen zusammen beherrschen könnten. Und die Entscheidung ist absolut. Es liegt nicht mehr in meiner Hand. Ich habe diesen Weg vorherbestimmt und bezweifle nun, ob die Menschheit dieser Vehemenz überhaupt standhalten kann. 24
Selbst, wenn er überleben wird, wird er nicht den Stellenwert einer Schmeißfliege einnehmen, maximal als lästiges Ungeziefer geduldet werden? Auch ich werde an den Mächten, die ich beschworen habe, zerbrechen. Wie konnte ich jemals glauben, , die Kraft zu besitzen, mir diese Urgewalten Untertan machen zu können? Der vierte Schlag der Kirchturmuhr. Energie. Kann man Energie anfassen, ist sie materiell? Ich weiß jetzt, daß es so ist. Ich fühle, daß ich auf einer Schwelle stehe, da, wo keiner stehen sollte und keiner stehen kann. Wie lange kann ich noch hier sein? Werde ich das Ende, das eigentlich ein Neuanfang sein sollte, noch erleben oder werde ich da schon hinfort geweht sein wie ein welkes Blatt in einem Herbststurm? Ich glaube fast, daß es besser wäre, den zwölften Schlag nicht zu erleben, den Übergang in den Wahnsinn nicht mitgehen zu müssen. Und ich fürchte, genau das werde ich müssen. Vielleicht als Bestrafung für meine Gier. Vielleicht auch als zweifelhafte Belohnung, weil ich daß Tor geöffnet habe. Jetzt wird mir klar, daß alle wissenschaftliche Neugier bloß Vorwand war, die Betonung liegt auf Gier. Ich wollte Macht, und nun fehlt mir die Kontrolle. Wenn ich sie jemals hatte. Ich habe mich selbst zum Vasallen gemacht. Der fünfte Schlag der Kirchturmuhr. Noch nicht einmal die Hälfte der Entfaltung hat sich vollzogen, der Großteil der Welt da draußen ist noch irdisch. Doch ich erkenne nichts wieder. Mein Geist scheint stumpf zu werden. Der mir so vertraute Blick aus dem Fenster ist mir zur Pein geworden, zu bizarr ist mein Umfeld. Schon dieser Anblick müßte reichen, jeden Betrachter in den Wahnsinn zu treiben. So vieles, was das Hirn nicht fassen kann, was das Auge nicht richtig zu sehen vermag. Jeder Schatten scheint tief zu sein, endlos, ein Abgrund bis tief in die Vergangenheit. Jede Gerade scheint sich zu krümmen, wie es unmöglich ist; die 3 Dimensionen unserer Wahrnehmung sind nicht mehr relevant. Gibt es Winkel über 360°, ohne einen Kreis zu bilden? Der Anblick bohrt sich wie glühende Nadeln in mein Bewußtsein, so daß ich es nicht lang genug fixieren kann, um sein Geheimnis zu ergründen. Der sechste Schlag der Kirchturmuhr. Die Luft scheint zu leben, wie ein Organismus. Und ich bin der Parasit, der sich von ihr ernährt. Lange wird sie mich wohl nicht mehr dulden. Ich kann fühlen, wie neues Leben entsteht und wie altes Leben vergeht. Wieso vergehe ich nicht? Ich wünschte, ich würde es. Meine Orientierung ist völlig hinüber; obwohl ich mir sicher bin, mich nicht bewegt zu haben, kann ich es nicht beschwören. Alles um mich herum lebt, auch wenn kein Biologe dies je als Leben erkennen würde, so fremdartig ist es. Ich kann es fühlen, ich weiß, daß unser Leben nur eine einfache Ableitung dieser viel komplexeren Form ist. Jetzt beginne ich zu ahnen, was das Wort Leben bedeutet und wie zynisch unser Gebrauch dieses Wortes ist. Es hat nichts mit Organismen, atmen, wachsen zu tun, wirkliches Leben ist viel elementarer. Kraftvoller. Absoluter. Meine eigenen Möglichkeiten sind schon längst erschöpft, schon beim zweiten Schlag hätte ich vergehen müssen. Etwas hält mich am Leben. Ich soll sehen, was ich ausgelöst habe. Ich kann den Mantel des Schutzes spüren, der über mir ausgebreitet wurde. 25
In den bisher vergangenen 30 Sekunden hat sich mein Horizont derart erweitert, daß die geballten Erkenntnisse der gesamten Menschheitsgeschichte unbedeutend werden. Mein Kopf droht aus den Nähten zu platzen, soviel strömt auf mich ein und kann nie völlig verarbeitet werden. Der siebente Schlag der Kirchturmuhr. Es beginnt sich zu materialisieren. Ich meine das neue hohe Leben. Hätten wir von ihnen gewußt, wir hätten sie alle Götter genannt. Vorzeitliche Wesen, gewaltvoller, als es mir denkbar scheint. Damals verbannt von einer noch größeren Macht, einer dem Gott bedingungslos zu Füßen liegt. Und ich habe das Siegel gebrochen! Ich, der ich vor ihnen in der Unendlichkeit des Nichts versinke. Wie konnte ich jemals annehmen, Verehrung durch diese Wesen zu erfahren? Sie werden mich nicht einmal wahrnehmen, vielleicht nicht einmal wahrnehmen können. Ihre Welt gehorcht keinem unserer Gesetze, unsere obersten Gebote werden degradiert zu Nichtigkeiten. Zu recht. Ich dachte, ich könnte sie beherrschen, und kann ihre Möglichkeit nicht einmal ansatzweise verstehen. Der achte Schlag der Kirchturmuhr. Ich kann nur noch registrieren, jeder Versuch, zu verstehen, muß im Wahnsinn, wenn nicht gar im Tode, enden. Gestalten, für das menschliche Auge zu bizarr, um Formen anzunehmen, bevölkern [die Straße] draußen. Nicht mehr meine Straße, sie ist einer neuen Architektur gewichen. Geometrische Körper, fernab des menschlichen Verständnisses, bestimmen die Landschaft. Jedes Elementarteilchen unserer Welt wurde ausradiert und mußte anderem weichen; Materialien, die ich nicht beschreiben kann, mit einer Tiefe und Komplexität, die allem irdischen spottet. Eine Aura von Gewalttätigkeit umgibt jeden Zentimeter (wenn man noch von Zentimetern sprechen kann in einer Welt im Widerspruch zum Irdischen), denn für jedwede Schönheit fehlt die Ästhetik der klaren Körper. Eine Gewalttätigkeit, die erhabener scheint, als alles, was ich je mit Gewalt in Verbindung gebracht hatte. Ich fühle mich nichtig und, noch schlimmer, dumm und unwissend, ja, geradezu unvermögend. Ich, der ich in der Welt, der ich entstamme, Wissen besaß, welches mich an die Spitze der Macht hob. Ich, der ich von den wenigen Eingeweihten selbst als Gott verehrt wurde. Der neunte Schlag der Kirchturmuhr. Gewaltig. Alles in dieser Welt ist gewaltig. Ja, selbst der Mond scheint mächtiger, realer, lebendiger zu sein. Er scheint vernunftbegabt, im Gegensatz zu mir. Die Veränderungen dauern erst 45 Sekunden an, aber mir kommt es vor wie eine Lebensspanne. Bedeutet für diese Wesen ein Menschenleben nur einige Sekunden? In allem steckt ein Hauch von Ewigkeit. Zeiträume, die schon im Erahnen Furcht auslösen. Und diese Zeit verläuft definitiv nicht linear. Auch sie ist ihnen unterworfen. Der zehnte Schlag der Kirchturmuhr. Kirchenuhr? Welche Uhr, von welcher Kirche? Nichts irdisches ist noch existent. 26
Der Schlag, ich glaube fast, er existiert nur noch in meinem Geiste. Dieser Ton, mir seit Jahren vertraut, zerreißt mir fast die Schädeldecke, so falsch wirkt er. Die Geräusche, die jetzt die [Luft] erfüllen, sind anders. Kompakter und breiter, von engelsgleicher Klarheit und einer Melodik, die meine Sinne Salti schlagen läßt und trotzdem dumpf und dröhnend wie Kanonenschüsse. Der elfte Schlag der Kirchturmuhr. Jetzt ist sie vollständig da. Die andere Welt, von mir aus dem Verlies gelassen. Der Sprung über Dimensionen (und was auch immer noch) ist vollendet, die alte Welt ist ihr zum Opfer gefallen. Ich verspüre nicht einmal einen Anflug von Trauer. Sie hatte nichts, was auch nur einen Gedanken wert ist. Ich bin das letzte Relikt eines Hauches, der das Universum gestreift hat. Schon vergessen. Ich spüre die Last der übermäßigen geistigen Anstrengung auf mir. Sie ermüdet mich. Der zwölfte Schlag der Kirchturmuhr. ...
27
Nur ein Traum von Marcus Meier
Alleine in einer Großstadt. Ist dies ein Traum oder Realität? Hat mich der Wahnsinn erfasst oder sehe ich nur die Antwort nicht?
Als ich wieder zu mir kam, hatte ich Schwierigkeiten mich daran zu erinnern, was passiert war. Über mir zogen am blauen Himmel einige Wolken vorbei während ich unter mir harten Asphalt fühlte. Mühsam versuchte ich mich aufzurichten, um mich besser orientieren zu können. Mein Kopf dröhnte und ich hatte Probleme meinen Blick klar zu fokussieren. Ich lag mitten auf einer Straßenkreuzung. Die Sonne stand hoch am Himmel und hatte den Teer unter mir stark aufgeheizt. Mein Mund war trocken und meine Schulter taten weh, als wäre ich mit Wucht auf dem Boden aufgeschlagen. In meinem Schädel hörte ich förmlich das Blut pulsieren. Aber ich wusste, wo ich war. Ich kannte diese Kreuzung. Sie war nicht weit entfernt von meiner Wohnung und gehörte zu den großen Ausfallstrassen der Stadt. Und genau das war es, was mich verwirrte. Normalerweise sollte sich hier der Verkehr in einer schier endlos erscheinenden Kolonne über die Straßen wälzen, auf dem Bürgersteig hätten etliche Fußgänger dahineilen müssen und die Luft müsste, von den Abgasen zu schneiden sein. Doch soweit ich sehen konnte war alles wie leer gefegt. Keine Autos, keine Passanten, keine Fahrradfahrer. Nichts. Ich war ganz allein. Unmöglich. Ich fuhr mir mit der Hand durch meine Haare und ertastete eine mächtige Beule an meinem Hinterkopf. Woher hatte ich die? War ich niedergeschlagen worden? Nach dem Sonnenstand zu urteilen, war es etwa Nachmittag und der Feierabendverkehr hätte in vollem Gange seien müssen. Ich auf dieser Kreuzung? Ein Ohrenbetäubendes Hupkonzert sollte die Folge sein müssen. Endlich gelang es mir aufzustehen und ich blickte mich weiter um. Ich war absolut allein. Kein Geräusch drang an meine Ohren, nicht eine einzige Bewegung war auszumachen. War ich vielleicht taub? Nein, ich konnte hören, wie meine Füße über den Asphalt scharrten. War die Strasse gesperrt? Vielleicht eine Bombendrohung oder eine andere Katastrophe, welche die Menschen vertrieben hatte? Aber warum war ich dann hier? Allein. Alleine mitten auf einer Kreuzung! In einer Stadt mit über achthunderttausend Menschen? Ich blickte an mir herunter und sah das meine Jeans am Knie aufgerissen war. Doch verletzt schien ich nicht zu sein. Auch die Schmerzen in meiner Schulter klangen langsam ab. Nur das dumpfe Brummen und Pochen in meinem Schädel zeigte mir an, dass etwas mit mir geschehen seien musste. Aber was? Ich konnte mich nur noch daran erinnern, wie ich mein Büro verlassen hatte, um noch schnell ein paar Einkäufe zu erledigen. Ich hatte für den Abend einige Freunde eingeladen, um das Fußballspiel im Fernsehen anzusehen. Aber war ich wirklich noch in den Supermarkt gegangen? Verdammt, ich konnte mich einfach nicht erinnern. Und warum lag ich mitten auf der Strasse? Ich kniff die Augen zusammen und zählte langsam bis fünf. Doch als ich sie wieder aufriss hatte sich an meiner Situation nichts geändert. Warum auch. Erst mal musste ich raus aus der Sonne. Es war unerträglich heiß und Schweiß rann an meiner Stirn hinab. Ich verließ die Kreuzung, stellte mich in den Schatten der Häuser und dachte nach. Unbewusst holte ich eine Zigarette aus meiner Hosentasche und zündete sie an. Das Feuerzeug schlug erst nach mehreren Versuchen eine Flamme an, doch in meiner Verwirrung nahm ich dies kaum wahr. Als ich die Flamme jedoch an die Zigarette hielt und diese mit einem Knistern beinahe zur Hälfte abbrannte und einen beißenden Rauch von sich gab wurde ich darauf aufmerksam. Ich trat die Zigarette sofort aus und starrte verwundert auf die noch halb volle Schachtel. Der Tabak war krümelig geworden und völlig ausgetrocknet. Als hätte die Packung bereits mehrere Monate, vielleicht sogar Jahre offen herumgelegen. Es war mir 28
unbegreiflich. Ich hatte mir die Zigaretten erst am Morgen gekauft. Das wusste noch ich genau. Was war hier geschehen? Wo waren alle die Menschen? "Hallo?" Meine Stimme echote ungehört von den Häuserwänden zurück. "Hallo, ist hier wer?" Langsam legte sich die kalte Hand der Panik um mein Herz. "HALLO!" Ich schrie aus Leibes Kräften, doch eine Antwort erhielt ich nicht. Mit zitternden Hände warf ich die Zigaretten weg. Es musste hierfür doch eine Erklärung geben. Mit unsicheren Schritten ging ich los. Mein Ziel war nicht weit und dort würde der Spuk für mich ein Ende haben. Meine Wohnung lag nur wenige Minuten von der Kreuzung entfernt, doch auch auf dem Weg dorthin begegnete ich keiner Menschenseele. Mit zitternden Händen schloss ich die Tür auf und betrat den Hausflur. Muffige, abgestandene Luft schlug mir entgegen. Der Boden war mit einer Zentimeter dicken Staubschicht überzogen. Die Sache wurde immer mysteriöser. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich drückte auf den Knopf für den Aufzug, doch es tat sich nichts. Mit weichen Knien schleppte ich mich die Stufen, bis zum dritten Stockwerk, hinauf und öffnete meine Wohnungstür. Ein heißer, leicht fauliger Geruch legte sich wie eine schwerer Mantel über meine Lungen und nahm mir schier den Atem. Ich wankte durch den Flur in mein Wohnzimmer und blickte mich verstört um. Im nachhinein weiß ich nicht, was ich zu finden erhofft hatte, da ich ja alleine wohnte. Meine Freundin hatte mich vor mehr als drei Monaten verlassen. Und so stand ich ziemlich unbeholfen in meinem Wohnzimmer und schaute ratlos umher. Alle Grünpflanzen waren eingegangen. Nur noch ein paar braune, kümmerliche Büschel ragten aus den Töpfen. Auch hier war alles von einer Staubschicht bedeckt, die ich mir nicht erklären konnte. Der faulige Geruch kam aus meiner Küche. Als ich den Kühlschrank öffnete bot sich mir ein Anblick von verrotteten und verdorbenen Lebensmitteln. Der Strom schien ausgefallen zu sein. Und das schon vor langer Zeit. Unmöglich! In meinen Schädel hämmerten nun unsägliche Schmerzen, die mich taumeln ließen. Wie betäubt schleppte ich mich wieder in mein Wohnzimmer und ließ mich auf einen Sessel fallen. Ganz automatisch griff ich nach der Fernbedienung um den Fernseher einzuschalten. Eine lächerliche Geste, die meine Hilflosigkeit deutlich zeigte. Doch der Apparat rührte sich nicht. Ich versuchte es mit dem Lichtschalter, doch auf hier tat sich nichts. Wie ein Besessener hieb ich mit der Faust auf den Schalter, doch außer Schmerzen in meiner Faust erzielte ich kein Ergebnis. Kein Strom. Der Gedanke hallte in meinem Kopf wieder "Ganz ruhig, bleib ganz ruhig. Es gibt für alles eine logische Erklärung." Meine Stimme hörte sich jedoch in keiner Art und Weise ruhig an. Sie zitterte und überschlug sich mehrmals. Vor meinem Auge blitzen Sequenzen aus billigen Science Fiction Filmen auf, in denen die Protagonisten in Zeitschleifen oder andere Dimension gefangen waren. Ich wischte den Gedanken bei Seite. Das hier war real. Ich stand auf und riss die Fenster auf, um frische Luft in die Zimmer zu lassen. Dann sah ich mich um und mein Blick fiel auf das Telefon. Funktionierten diese Dinger nicht auch ohne Strom? Doch die Leitung war tot. Mein Handy! Natürlich, den Akku hatte ich am Morgen erst aufgeladen. Doch auch hier tat sich nichts. Wütend warf ich das Ding auf den Boden, wo es in mehrere Teile zerschellte. Es war mir egal. Ich wollte nur wissen, was passiert war. Es musste doch jemand da sein, der mir das hier alles erklären konnte. Ich wankte aus meiner Wohnung und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür meines Nachbarn. Ich konnte diesen Kerl eigentlich nie leiden, aber wenn er jetzt die Tür geöffnet hätte, wäre ich ihm mit Freuden in die Arme gefallen. Doch natürlich erhielt ich keine Antwort. Ich eilte von Stockwerk zu Stockwerk, doch nirgends schien jemand zu Hause zu sein. Zum Schluss war ich so verzweifelt, das ich mich mit meinem ganzen Gewicht gegen eine der Wohnungstüren warf. Solange, bis ich sie aus dem Rahmen gebrochen hatte. Von meiner Wucht mitgerissen stolperte ich in die fremde Wohnung. Doch wie ich es befürchtet hatte. Ich war alleine in dem Haus. Alles in dieser fremden Wohnung sah aus, als hätten die 29
Bewohner sie schon vor langer Zeit überstürzt verlassen. Staub, verdorrte Pflanzen und verdorbene Lebensmittel. Und immer noch kein Anzeichen von Leben. Das durfte nicht sein. Meine Lunge schnürte sich zu und mein Herz schlug mir bis zum Hals. "Das kann nicht sein, das kann nicht," stammelte ich. Unbeholfen trat ich wieder auf den Hausflur und versuchte mich zu fassen. Irgendjemand musste doch da sein. Wie ein Verrückter rannte ich wieder auf die Strasse. Die Schmerzen in meinem Kopf waren jetzt ein Zeichen für mich, dass dies kein Traum war. In Träumen fühlt man keine Schmerzen. Oder doch? Ich lief alle Nebenstrassen ab, schrie und rief laut um Hilfe. Doch keine Menschenseele war zu finden. Was war passiert? Ein Krieg? Eine Atomare Katastrophe? Eine Seuche? Doch wo waren dann die Leichen? Wo waren die Autos, die um diese Zeit die Strassen verstopften? Wo waren die hunderttausend Menschen die in dieser Stadt wohnten? Und warum konnte ich mich nicht daran erinnern, was mit mir passiert war. Die letzten Stunden waren aus meinem Gedächtnis weggewischt, als hätte ich im Koma gelegen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich die Strassen der Stadt geirrt bin an diesem Tag. Doch die Sonne begann schon unter zugehen, als ich endlich zu der Einsicht gelangte, das ich allein war. Völlig allein. Wurde ich verrückt? War dies doch alles nur ein Traum? Warum wachte ich nicht auf? Ich wollte einfach nur aufwachen. Erschöpft ließ ich mich auf den Gehweg fallen. Meine Knie zitterten wieder und Schweiß ran in Strömen mein Gesicht hinab. Der Boden schien sich unter mir zu drehen und wie Donner hallte ein Satz durch meinen Kopf. Du bist alleine. Verzweifelt legte ich meinen Kopf auf die Knie und weinte. Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe mich wieder in meine Wohnung zu schleppen. Aber als ich wieder klar denken konnte, saß ich in meinem Wohnzimmer auf den Boden und starrte auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers. Zum Glück ließen die Kopfschmerzen langsam nach. Auch meine Panik und Verzweifelung verklungen allmählich zu einem unguten Gefühl in der Magengegend. Egal was mit mir geschehen war, es musste dafür eine Erklärung geben und sich seinem Schicksal zu ergeben war bestimmt keine Lösung. Für mich auf jeden Fall nicht. Die Dunkelheit, die durch die Fenster hereingekrochen kam, machte mir klar, dass ich den ganzen Tag weder gegessen noch getrunken hatte. Zum Essen hatte ich zwar keine Kraft, geschweige denn Appetit, aber Flüssigkeit musste ich dringend zu mir nehmen. Ich wollte schließlich nicht verdursten. Mit Todesverachtung öffnete ich meine Kühlschrank und hielt die Luft an. Neben schleimigen, verrotteten Salat, lag noch eine Dose Cola im Gemüsefach. Mit spitzen Finger angelte ich danach und wischte sie an der Hose ab. Ich hatte schon vorher versucht Wasser aus der Leitung zu trinken, doch kein Tropfen war aus dem Hahn gekommen. Ich öffnete vorsichtige die Dose und das bekannte, zischende Geräusch drang an meine Ohren. Der Geruch der süßen Limonade stieg mir in die Nase, doch ein Durst Gefühl wollte dabei nicht aufkommen. Ich zwang mich die Dose an die Lippen zu setzen und nahm einen tiefen Schluck. Sofort spuckte ich die Cola unter Husten und Röcheln wieder aus. Wie Asche hatte sich ein fauliger Geschmack auf meine Zunge gelegt und ließ mich würgen. Ich weiß nicht warum, aber es schien mir, als hätte ich den Mund voll ranzigen Sand gehabt. Misstrauisch blickte ich in die Dose. Die Cola schien auf jeden Fall noch gut zu sein. Sie perlte und roch auch so, wie Cola riechen sollte. Aber warum war sie dann für mich so widerlich? Warum war ich immer noch nicht durstig? Nach einem ganzen Tag ohne Flüssigkeit? Warum hatte ich keinen Hunger? Ich kann nicht sagen, wie lange ich in der Küche stand, versunken in meine Gedanke, als mich ein Geräusch aufhorchen ließ. War das nicht ein lautes Rufen? Draußen auf der Strasse? Wie von der Tarantel gestochen sprintete ich zum Fenster und starrte auf die dunkle Strasse. 30
Die Straßenbeleuchtung war natürlich genauso von dem Stromausfall betroffen wie alle anderen elektrischen Geräte auch. Aber in den Schatten konnte ich eine Gestalt ausmachen, die zu meinem Fenster hoch starrte. "Hallo," schrie ich. "Ich bin hier". Wie ein Wahnsinniger fuchtelte ich mit den Hände in der Luft umher, um auf mich aufmerksam zu machen. "Brüll hier nicht so rum. Ich seh dich schon. Komm gefälligst runter ich kriege hier ja sonst noch Genickstarre." Eine Männerstimme. Die mir irgendwie bekannt vorkam. Doch all das waren nur Gedankenfetzen, die mir durch den Kopf fuhren, während ich aufgeregt die Treppen herunter eilte. Ich war nicht allein! Ich war nicht allein! Auf der Strasse konnte ich die Gestalt zuerst nicht sehen und ich zuckte zusammen, als sich aus der Dunkelheit, ganz nahe bei mir, ein Schatten aus der Finsternis schälte. "Du bist ja immer noch hier. Was willst du denn hier eigentlich noch?" "Wer bist du? Was ist hier passiert? Und wo sind die Anderen alle?" Ich wollte den Fremden am liebsten schütteln und festhalten. Nur nicht mehr alleine sein. Eine Antwort bekommen. "Du hast es immer noch nicht verstanden, oder?" "Was?" Die Stimme des Fremden. Wo hatte ich sie nur schon gehört? "Du kennst mich doch, Daniel. Stell dich nicht so dumm an. Komm, wir rauchen eine. Es hat zwar keinen Zweck mehr, dafür kann es auch nicht mehr schaden." Ich war völlig verwirrt. Wer war das. Woher kannte er meinen Namen? Während ich noch nach einer Antwort suchte, hörte ich wie der Fremde ein Streichholz anriss. Das jäh aufflackernde Licht blendete mich für eine Sekunde. Doch dann sah ich sein Gesicht. Er war ich. Das war ich, der da vor mir stand! Mir wurde schlecht. Meine Beine gaben unter mir nach und ich musste mich an der Häuserwand abstützen. "Hier," er ,war das wirklich ich?, reichte mir eine Zigarette. "Was bist du?" stammelte ich. "Ich bin du. Naja so ungefähr." Er lachte. "Nicht wirklich. Hast du dir denn noch gar nicht überlegt, was passiert ist?" "N.. Nein." Ich hatte das Gefühl total wahnsinnig zu werden. "Ich.. ich meine..." Meine Stimme versagte. "Du bist tot, Daniel!" Er grinste mich frech an "Noch nicht gemerkt, dass du nicht essen oder trinken musst? Das du nicht müde wirst? Ich dachte, ich sei ein bisschen mehr auf Draht." Er lachte wieder. "Un...unmöglich." Ich begann zu schwanken. "Na, dann nimm doch mal einen Zug." Er ,Ich?, deutete auf die Zigarette. "Du wirst nichts merken. Sehr frustrierend, wenn du mich fragst." Alles Wahnsinn. Ich war einfach verrückt. Total verrückt. Gefangen in einem verrückten Traum. Ich musste irgendwie wieder aufwachen. Wahrscheinlich zwar in einer Gummizelle, aber einfach aufwachen. Und am schnellsten ging es wohl, wenn ich einfach mitspielte. Dem Ablauf des Traumes folgen und hoffen, dass es irgendwann beendet war. Wie auch immer. Nur zu Ende. Meine Hand zitterte erbärmlich, als ich die Zigarette zum Mund führte. Ich inhalierte den Rauch, doch fühlte ich nichts. Kein Kratzen im Hals, keine befriedigende Beruhigung durch das Nikotin. Nichts. "Siehst du? Es passiert gar nichts. Langweilig, oder?" "Sag mir was hier los ist!" Ich flehte förmlich endlich eine Antwort zu erhalten. "Das hab ich doch schon gesagt. Du bist tot. Überfahren. Dort auf der Kreuzung. Aus. Vorbei." "Aber warum bin ich denn dann noch am Leben?" Mein Magen krampfte sich zusammen und ich hatte Schwierigkeiten weiterzusprechen. "Ich....ich bin doch hier. Ich existiere doch." 31
"Nun, wie man es so sieht. Du bist nur noch eine Seele. Ohne Körper. Denn der Körper bin ich. Und glaub mir, ich fühle mich ziemlich unvollständig." "Was? Aber wieso...?" Mein Gegenüber seufzte. "Gut, also pass auf." Er zündete ein weiteres Streichholz an und leuchtete sich mit der Flamme ins Gesicht. Und jetzt erst sah ich ,dass sein Hinterkopf merkwürdig deformiert war und geronnenes Blut an seiner Schläfe klebte. Er führte die Flamme weiter seinen Körper hinab. Seine Beine waren unnatürlich verdreht und unter der Jeans konnte man sehen, dass er einen offenen Bruch hatte. "Tja, so 10 Tonnen können schon ne Menge Ärger machen." Vor meinen Augen drehte sich alles und ohne nachzudenken ließ ich mich auf den Boden fallen. "Ja, sieht nicht so toll aus. Weiß ich auch. Deshalb musst du ja jetzt auch mit mir kommen." "Wieso....wohin?" "Nach dem Unfall hast du mich verlassen. Das heißt deine Seele, also du, hast mich, deinen Körper, verlassen. Während ich brav meinen Weg gegangen bin, bist du hier geblieben. Und jetzt komm ich dich holen, denn nur zusammen können wir dorthin gehen, wo wir hingehören." "Aber ich habe doch Substanz. Ich kann meine Arme fühlen, meine Füße. Ich kann mich kneifen. Ich...." Ich wimmerte vor mich hin. Nein, nein, es durfte nicht so sein. "Klar kannst du das. Dein Verstand sagt es dir. Gaukelt es dir vor. Doch in Wirklichkeit habe nur ich einen Körper. Deinen. Oder meinen. Je nachdem" Er lachte wieder. "Aber wie kannst du dich dann bewegen ohne Geist, ohne Seele?" "Gute Frage. Ich weiß es auch nicht. Doch ich fühle mich leer. Und ich weiß, das du es bist, zu dem ich gehöre. Und außerdem kann ich ohne dich nicht weitergehen." "Weitergehen? Wohin?" "Komm," er ,ich, reichte mir die Hand "Ich zeige es dir." Langsam richtete ich mich auf, nahm seine Hand und zog mich hoch. Seine Haut war kalt und trocken. Schlurfend und torkelnd bewegte er sich auf seinen gebrochenen Beinen vorwärts und ich folgte ihm in die Dunkelheit. Denn dieser bizarre Traum musste ein Ende haben. Egal, welches. Nur ein Ende. Wir gingen nicht lange. Schon nach einigen Minuten hielt er, der behauptete mein Körper zu sein, vor einer Garageneinfahrt an. Sein Hals knackte widerwärtig, als er den Kopf drehte und mich aus leeren Augen anstarrte. "So, wir sind da." Seine Hand deutete auf das Garagentor, doch ich konnte nichts Besonderes daran erkennen. "Das ist ein Garagentor. Hier ist nichts weiter als ein Garagentor." Meine Stimme überschlug sich und ich brüllte meinen Gegenüber an:" Das ist verrückt! Das ist alles nur ein Traum. Du bist ein Traum. Du bist nicht wirklich. Alles hier ist nicht wirklich. Ich glaube dir nicht. Nein, das ist alles nur ein irrer Traum." Meine Augen füllten sich mit Tränen. Verzweifelt rang ich nach Luft. Doch der Körper, der behauptete mein eigener zu sein, zuckte nur mit den Achseln. "Ich glaube nicht, dass das hier ein Traum ist. Ich will einfach nur gehen. Weitergehen. Also entscheide dich." "Nein, niemals. Ich werde jemanden finden, der mir das alles hier erklären kann. Der mich aufweckt. Der mir sagt, wie ich aufwache." Meine Stimme war unterdessen zu einem hysterischen Keifen angestiegen. "Und du existierst gar nicht." Ich musste hier fort. Weg. Weg, um nachzudenken. Mich zu fassen. Fort von einer Leiche, die mir erzählt ich sei tot. Ich drehte mich auf dem Absatz um und lief so schnell ich konnte. Nur fort von diesem Alptraum. Der Leichnam folgte mir nicht. Nur seine Stimme klang durch die Nacht:" Du wirst 32
wiederkommen. Du musst. Bitte. Ich werde hier auf dich warten." Ich weiß nicht, wie lange ich nun schon hier sitze. Im Osten beginnt es allmählich zu dämmern und in meinem Kopf herrscht ein heilloses Durcheinander. Irgendwann habe ich einfach angehalten und mich auf den Bürgersteig gesetzt. Die letzten Sterne scheinen kalt und teilnahmslos auf mich herab und spenden mir keinen Trost. Was ist hier passiert? Hat dieses Ding, was auch immer es ist, recht? Bin ich tot? Oder ist es wirklich nur ein Traum, der mich festhält? Für einen Traum ist alles um mich herum zu real. Die Luft, die Gerüche, meine Verzweifelung. Ist es wirklich wahr? Ich will es einfach nicht glauben. "Denk nach Daniel, denk nach." Meine Stimme ist brüchig und zittert. "Wenn ich träume, dann wird dieses Alptraum auf jeden Fall beendet sein, wenn ich das mache, was ich ,ich?, sage. Und wenn es kein Traum ist? Auch dann wird alles vorbei sein. Dann bin ich tot. Und alles hat ein Ende. Wie ich es auch drehe. Ich muss zurück. Es muss beendet werden." Ich schaue an mir herab. Sehe meine Hände, meine zerrissene Jeans. Alles ist so real, so wirklich. Doch mein Entschluss steht fest. Ich werde zurück gehen. Dennoch warte ich, bis die ersten Sonnestrahlen den Asphalt aufwärmen, bevor ich mich auf den Rückweg mache. Mein Gang ist zögerlich und schwerfällig. Das wird mein letzter Weg sein. Nur wohin wird er führen? Meine Hals ist wie zugeschnürt. Aus der Ferne kann ich schon seine Gestalt sehen, die immer noch vor diesem Garagentor steht und wartet. "Da bist du ja endlich. Ich hatte schon gedacht ich müsste dich wieder suchen." Im Tageslicht sieht der Körper noch schlimmer aus, als in der Dunkelheit. Die Hände verfärben sich langsam bläulich und ein süßlicher Geruch geht von ihm aus. "Bist du sicher, dass dies der richtige Weg ist?" Ich blicke zu dem Garagentor. Nichts daran ist in irgendeiner Art und Weise besonders. "Spürst du es nicht? Merkst du nicht, wie es dich anzieht?" "Nein." Doch ich lüge, denn ich merke wie etwas Warmes, beinahe schon Heißes von ihm ausgeht. Aber ich habe Angst es zuzugeben. Gleichzeitig spüre ich ein Gefühl tief in mir. Ein Gefühl, dass mir sagt, ich sei zu Hause. Dort wo ich hingehöre. Oder bilde ich mir das nur ein? "Was wird sein, wenn wir dort hin gehen? Ist das die Hölle? Oder das Paradies? Was ist dort?" "Ich weiß es nicht. Doch ich glaube, die Hölle haben wir hier. Einsamkeit und Wahnsinn. Ist das nicht eine Hölle für dich? Für mich schon. Ich verrotte dazu auch noch langsam vor mich hin. Ist es nicht die Hölle auf ewig alleine zu sein? Nur mit sich selber zu reden und zuzusehen, wie man selbst vor den eigenen Augen verfault?" Ich schlucke und wage kaum die nächsten Worte auszusprechen:" Was soll ich tun?" "Nimm meine Hand. Wir gehen gemeinsam." Ich lächele mich an, doch die schweren Verletzungen, die mein Körper davongetragen hat, machen daraus eine schauerliche Grimasse. Ich greife nach seiner kalten, langsam verwesenden Hand. Und ehe ich etwas dagegen tun kann, macht er einen Schritt auf das Tor zu. "Jetzt wird alles enden." Und er hat recht. Plötzlich öffnet sich das Tor und gibt ein Licht von sich, das in seiner Schönheit und Reinheit mir fast den Atem nimmt. Es ist nur noch ein kleiner Schritt und eine Gewissheit jagt durch meinen Kopf. Das ist kein Traum.
33
Irrtum von Harry Fehlemann
Ein Kommissar und das gefährliche Duo Wut und Hass! In diesen Stunden geht etwas schief...
Tausend Sterne von oben, unten und von den Seiten. Sterne, vollgesogen mit kaltem Blut, dem Blut der Namenlosen, der Gesichtslosen. Und Stimmen! Unzählige Stimmen. Freundliche und drängende, atemlose und wütende, bellende und wispernde. Ein Gewirr von Gefühlen, Geräuschen, Farben und Bewegung. Das Schiff sinkt. Es schwankt mal nach vorne, mal nach hinten. Der Magen nimmt alles auf, oder versucht es. Trügerisch der Glaube, daß es funktioniert. Dann gibt er auf, doch wen stört das? Zumindest nicht die beiden Matrosen, die das Boot halten. Sein Rettungsboot...das sie über die Reling werfen wollen. Ein Gesicht erscheint. Er kennt es nicht, traut ihm nicht. Lautlos schreit er es an, mit geschlossenen Lippen. Tränen laufen ihm in die Ohren und das Blut der tausend Sterne. Dann verschwindet das Gesicht und der Himmel wird weiß. Ein Schmerz, in weiter Ferne, undefinierbar und ganz leise, wie die Schmerzen der Gesichtslosen. So könnte es zumindest sein und der Himmel wird schwarz. "Haltet ihn fest!" Der Arzt drückt die Arme des Verletzten auf den Boden. Die beiden kräftigen Pfleger heben die Bahre an und der Mediziner versucht, das Opfer anzuschnallen. Ein Pfleger verliert fast das Gleichgewicht, kann sich aber gerade noch fangen. Die Bahre schwankt verdächtig. Der Tumult legt sich langsam. Noch immer laufen aufgeregte Polizisten, Pfleger und Mediziner herum und müssen sich ihre an Panik grenzende Anspannung von der Seele reden. Ohne Hemmungen, ohne Rücksicht und vor allem ohne Scham. "Wo ist es passiert?" Der bleiche Streifenpolizist deutet in die Nische zwischen zwei großen Müllcontainern in einer kleinen Seitenstraße. Vorsichtig nähert sich der Kommissar der Stelle. Der Regen hat inzwischen seinen Mantel vollkommen durchgeweicht. Die Haare kleben in seiner Stirn und bilden kleine Wasserläufe, die den Regen in seine Augen leiten. Da liegt sie. Das rechte Bein unnatürlich verdreht und nach hinten geknickt. Der Rock und die Bluse zerrissen. Die langen Haare im Gesicht verdecken das einstige Leben, machen dieses Bündel zwischen Müll und Pfützen anonym. Dunkelheit, Regen und Schmutz haben die Farbe der Kleider und Haare zu einem einheitlichen schwarzbraun werden lassen. Gerade beugt sich der Kommissar hinab als ihm jemand auf die Schulter tippt. Erschrocken zuckt er zusammen und richtet sich ruckartig auf. Ein Stechen in der Leisten quittiert diese Bewegung. Hinter ihm steht der Gerichtsmediziner, ein junger Bursche mit ausdruckslosem Gesicht. Er betrachtet die Szene zumindest äußerlich völlig teilnahmslos. Eine typische Haltung in diesem Berufszweig. Der Kommissar geht zurück zu dem Verletzten auf der Bahre. Kein schöner Anblick. Auf der Brust des Angeschossenen hat sich inzwischen eine Lache aus Blut und Erbrochenem gebildet. Der Arzt beugt sich über den Verletzten und starrt in seine weit aufgerissenen Augen. Er hat den Eindruck, als wollten sie ihm etwas sagen. Eine Mischung aus Angst und Abscheu springt ihm entgegen, lautlos herausgeschrieen nur durch den kalten Blick des Irrsinns. Dann gibt der Mediziner den Pflegern ein Zeichen und sie schieben die Bahre in den bereitstehenden Krankenwagen. Kurz bevor das Fahrzeug sich in Bewegung setzt, sorgt der Krankenpfleger mit einer Spritze für die vorläufige Erlösung. Aus sicherer Entfernung beobachtet der Kommissar den Pathologen bis dieser seinen Assistenten einen kurzen Wink gibt. Er ist mit seiner Untersuchung fertig und sie machen sich daran, das Opfer in schwarzen Kunststoff zu hüllen. Der Streifenpolizist steht noch immer wie angewurzelt herum, ohne offensichtlich seine Fassung bisher wiedererlangt zu haben. 34
Noch unverschlossen, wird der schwarze Plastiksack am Kommissar vorbeigetragen. Ein Lichtschein undefinierbaren Ursprungs fällt in die Hülle und plötzlich bricht Nacht über den Ermittler herein. Sein Arm schnellt vor und krallt sich in den Schulter eines der Träger, worauf dieser zu Stein erstarrt. Für Sekunden bietet sich dem Betrachter ein skurriles Bild. Völliger Stillstand umgibt die gesamte Szene. Keine Bewegung und kein Laut stören den angehaltenen Film. Bis der Mann mit dem nassen Mantel vor dem Plastiksack auf die Knie sinkt. Im kurzen Aufblitzen des verirrten Laternenlichts blickt er in tote Augen, die seine Augen waren, starrt auf einen Mund, der sein Mund war. Schmerzhafte Erkenntnis und eine jeden sachlichen Gedanken ertränkende Flut bricht über ihn herein. Er schreit es heraus! Warum sie? Zwei Polizisten eilen herbei und heben den stammelnden nassen Mann aus der Pfütze, in die er inzwischen gekippt ist. Schluchzend, wimmernd und mit Gedanken fern von diesem Platz läßt der Kommissar sich in einen Wagen setzen. Er windet sich unter unzähligen Bilder, die auf ihn einprügeln. Schöne Bilder, fröhliche Bilder, lustige Bilder – alle dazu da, ihn zu erwürgen, zu zerschmettern, zu ertränken. Das Polizeifahrzeug setzt sich in Bewegung. Ein Kaleidoskop aus Farben und Licht ergießt sich durch seine Augenlider. Geblendet durch geschlossene Augen, gequält von einem unsichtbaren Folterknecht. Luft! Eingesperrt in seine Angst ringt er panisch nach Atem. Schwere Züge begleitet von Schmerz, schreiendem Schmerz, nicht mehr so leise, wie er ihn vor Zeitaltern kennenlernte. Diese laute, alles einnehmende Qual fleht um Erlösung. Das Verlangen, von ihm selbst schon unzählige Male gestillt, hüllt ihn ein. Während er noch versucht, die Leere in sich zu erkunden ertönt das Geläut der Heerscharen. Ein heller Klang bricht in Wellen über ihn herein, ungezähmt, zügellos und jeglichen Gedanken zerschmetternd. Das tosende Meer der Geräusche füllt ihn vollkommen aus, legt sich wie Balsam über die Schmerzen und vertreibt die Erinnerung an die Namenlosen. Ein trügerischer Effekt! Einer plötzlich zurückkehrenden Flut gleich schwappt unvermittelt alles wieder zurück, mit doppelter Kraft und noch drängender. Die Heerscharen versuchen, ihn zu den Gesichtslosen zu ziehen. Vielleicht sind sie die Gesichtslosen? Doch er kann keine Dankbarkeit, keine Gnade erkennen. Die sengenden Flammen der Qual kommen seinem bloßen Körper immer näher. Panik steigt in ihm auf: Was, wenn sie ihn jetzt hier zurücklassen, ohne eine Möglichkeit auf Befreiung und sei es durch das Ende? Die Panik galoppiert durch seine zerfetzte Brust, durch seinen Hals, bricht mit ungebändigter Wucht aus ihm heraus und mit ihm kommt das gleißende Licht. Es stürzt auf ihn ein, wie zuvor die Klänge der Heerscharen. Ein gottgleiches Gesicht, sich ständig verwandelnd, schimmert durch das Gleißen, verschwindet, nur um erneut in anderer Form wieder zu erscheinen. Er erkennt die Namenlosen seiner Vergangenheit, die jetzt nicht mehr gesichtslos sind. Der bekannte kleine Schmerz aus weiter Ferne löscht das helle Leuchten und führt ihn zurück ins Nichts. Die Schwester ist froh, die unangenehme Arbeit hinter sich zu haben. Es ist wahrlich kein Vergnügen, einen Verletzten zu waschen und anzuziehen, aber es gehört nun mal zu ihrem Job. Die Operation ging eigentlich ziemlich schnell. Der Verletzte liegt nun ganz ruhig da. Lediglich sein Atem geht unregelmäßig. Sie bleibt neben dem Krankenbett stehen und betrachtet das unrasierte Gesicht. Kräftige Wangenknochen, deren wichtigste Aufgabe das ständige Mahlen des Kiefers zu sein scheinen, bilden einen grobschlächtigen Kontrast zu der feinen schmalen Nase und den durch lange Wimpern fast weiblich wirkenden Augen. Sie bemerkt, wie die Augäpfel unter den Lidern hin und herrollen und kann förmlich die Unruhe, den Tumult im Innern dieses Menschen spüren. Ohne erkennbaren Grund beginnt er mit einem Mal stoßweise zu atmen und ein leises ersticktes Röcheln entringt seiner Kehle. Erschrocken macht die Schwester einen Schritt 35
zurück und stößt dabei einen Blechnapf vom Schrank, der mit lautem, jegliche Stille zertrümmerndem Scheppern zu Boden stürzt. Der Lärm scheint den Patienten endgültig in Unruhe versetzt zu haben, denn sein Atmen wird nun zu einem deutlich vernehmbarem Pfeifen. Wie von Luzifers Dreizack aufgespießt reißt er plötzlich Augen und Mund auf und füllt den Raum mit einem ohrenbetäubenden Schrei. Die Krankenschwester fährt zusammen und ihr Herz scheint sich mit Gewalt einen Weg aus ihrer Brust bahnen zu wollen. Sie kennt die Geschichten, die sich um den Mann ranken und ihr wurde zuvor nahegelegt, sich ihm nur mit äußerster Vorsicht zu nähern. Ihr Blick fährt über die Gurte, die ihn an sein Lager fesseln. Alles scheint in Ordnung. So beugt sie sich zögernd über ihn und tupft mit einem Handtuch den Schweiß von seiner Stirn. Mit immer noch weit aufgerissenen Augen, ohne ein Blinzeln und mit Tränen, die langsam seine Schläfen entlangrinnen, beginnt er nun wieder ruhiger zu atmen. Sie wendet sich ab um, wie vom Doktor für solche Situationen angeordnet, eine Beruhigungsspritze zu füllen. Erneut beugt sie sich über ihn. Da sie keinerlei Veränderung seines Verhaltens feststellen kann, sorgt sie mit geübten Handgriffen dafür, daß er wieder in tiefen Schlaf fällt. Das Polizeifahrzeug stoppt vor dem Eingang der Notaufnahme und der junge Polizist öffnet die hintere Fahrzeugtür. Der Kommissar sitzt noch immer zusammengesunken auf dem Rücksitz und starrt ins Leere. Hin und wieder kann man eine Bewegung der Lippen feststellen, als flüstere er Worte in einer fremden Sprache. Lautlose Gespräche mit den Figuren seiner Tagträume, seiner Erinnerung, seiner Vergangenheit. Er läßt sich widerstandslos aus dem Fahrzeug in die Eingangshalle des Hospitals führen, wo er von einem dunkelhäutigen Assistenzarzt vorsichtig zu einer mit weißen Laken bezogenen Liege geleitet wird. Das Foyer ist um die Uhrzeit fast menschenleer. Der graue Linoleumfußboden quietscht unter den schlurfenden feuchten Schritten des Kommissars, der seine Umgebung nicht wahrzunehmen scheint. Auch als der Arzt mit seiner kleinen Taschenlampe die Pupillenreflexe untersucht, ist keine Regung erkennbar. Hinter dem traurigen Vorhang aus Gleichgültigkeit spult sich immer und immer wieder ein Leben ab. Solange er zurückdenken kann war es ein Leben zu zweit. Freuden, Glück aber auch geteiltes Leid hängen nun wie ein geplatzter Luftballon schlaff an einem letzten Faden. Zerstört von einem Dorn, der die Zerstörung zu seinem einzigen Daseinszweck erhoben hat. Doch wo bleibt die Trauer? Sie muß irgendwo sein, denn er kann sie hören, sie spüren. Doch etwas anderes greift mehr und mehr um sich, nimmt alles in Besitz. Jedes Gefühl, jeden Gedanken und jede Handlung. Wut und Haß bewegen sich Arm in Arm durch seine Träume. Ein tückisches Paar voller Unberechenbarkeit und Hinterlist. Er kennt die Gefahr, die von den beiden ausgeht, doch er läßt sie gewähren. Wie auf Kommando tauchen mit dem bedrohlichen Duo die Erinnerungen wieder auf, und sie mischen sich ein. Zeigen ihm, wie sehr er sie braucht, wie sehr er sie vermißt, setzen das Brecheisen geschickt an und stemmen die Kruste des Widerstandes langsam auf. Der Spalt nimmt immer mehr an Größe zu und auch die Erkenntnis. Kann er sich noch wehren? Er glaubt ja. Muß er sich überhaupt wehren? Wut und Haß sagen nein! Sie reden so lange auf ihn ein bis es auf die Frage "Darf er sich noch wehren?" nur noch eine Antwort gibt: Nein! Doch das Paar ist ebenso gefährlich, wie gerissen. Sie mahnen ihn zur Vorsicht und verhelfen ihm zu Geduld. Der Fahrer des Kommissars erklärt dem Doktor kurz die Situation und bleibt dann unsicher am Rande des Geschehens stehen, unschlüssig, ob er warten oder gehen soll. Als der Arzt ihn bemerkt, deutet dieser ihm an, daß er heute nicht mehr gebraucht würde, worauf er sich dankbar verabschiedet. Ein Film über die letzten Wochen zeigt dem Kommissar, wie das Leben sein kann. Nur die beiden Nebendarsteller Wut und Hass, jetzt allgegenwärtig, waren vorher nicht dabei. Sie 36
verhalten sich auch weitgehend ruhig, lassen aber meist im richtigen Moment ihren Einfluß spielen. Da war der aufreibende Job in der Stadt, der an seinen Nerven zerrte und sie traurig machte. Da war das Versetzungsgesuch in den Vorort, der ihr die Freudentränen ins Gesicht trieb und da war der Umzug in das kleine gemütlich Reihenhaus, der sie endgültig und untrennbar zusammengeschweißt hatte. Gemeinsam neu anfangen, mit einem neuen Leben, mit einer neuen Liebe, mit einem neuen Wir! Doch der Vorort hatte nicht die Chance gehabt, sich ihnen vorzustellen, sein Leben zu offenbaren, nur seinen Tod. Drei Morde in zwei Wochen waren zuviel, auch für den aus der Stadt. Und dann sie! Wut und Haß greifen noch einmal mit voller Wucht an, bohren in den blutigen Wunden und werfen ganze Ladungen Salz in die Krater. Trotzdem schaffen sie es erneut, den Vulkan noch zu bändigen. Der Arzt aus Nigeria diagnostiziert einen schweren Schock. Nach Verabreichung einer Beruhigungsspritze gibt er dem diensthabenden Pfleger entsprechende Anweisungen, worauf dieser den Kommissar vorsichtig aus der Notaufnahme in ein helles, aber kalt wirkendes Einbettzimmer führt. Mißmutig nimmt er zur Kenntnis, daß wohl eine der Schwestern vergessen hat, das Bett zu beziehen und so setzt er den Kommissar vorsichtig auf einen Stuhl und macht sich auf den Weg, die Bezüge zu holen. Wut und Haß tauchen wieder auf, suchen das Bilderbuch der Erinnerungen heraus und machen ihre quälende Vorführung. Neue Szenen erscheinen: Ihr Lachen , besonders, wenn sie albern war. Ihr Fluchen beim Autofahren und die Nächte in denen sie gemeinsam das Leben genossen. Wie im Theater geht der Vorhang der Teilnahmslosigkeit plötzlich hoch. Der Kommissar erhebt sich vom Stuhl und öffnet vorsichtig die Zimmertür. Der Gang ist leer. Ein Schild an der Wand weist den Weg zum Eingang. Der diensthabenden Nachtschwester ist er bisher noch nicht gemeldet worden, und so schöpft sie keinen Verdacht als er ihr unauffällig seine Marke zeigt und nach dem Patienten mit der Schußverletzung fragt. Zimmer 666 der Intensivstation ist nur den Gang entlang und dann durch die breite Schwingtür. Auch hier ist keine Menschenseele. Kein Zögern, keine Vorsicht läßt ihn jetzt noch anhalten. Das zerstörerische Paar leistet ganze Arbeit und leitet ihn durch das Dickicht der Widerstände und Skrupel. Sogar eine Zukunft taucht wieder auf, noch schemenhaft und undeutlich, aber erkennbar. Schwaden einer Stadt in den Bergen, eines Lebens in der Natur, eines Gesichts, das ihrem sehr ähnlich ist. Diese Ähnlichkeit ist es, die das Feuer in ihm noch mehr anfacht, ihn noch schneller gehen läßt. Das Gesicht wird deutlicher und jetzt sieht es ihr nicht nur ähnlich, sondern sie ist es. Zwei riesige Mühlsteine versuchen sich wieder um sein Herz zu legen, doch seine neuen Begleiter räumen sie aus dem Weg, halten sie auf. Vollkommene Dunkelheit herrscht in dem Zimmer der Intensivstation. Nur die Lichter der Lebenserhaltungssysteme werfen einen traurigen bunten Schein auf das weiße Laken unter dem sich die Konturen eines menschlichen Körpers abzeichnen. Mit geballter Faust führt der Kommissar einen Kampf gegen den Verlust der Selbstbeherrschung. Doch auch dieser innere Kampf kann gegen die Kräfte von Wut und Haß nichts ausrichten. Das gleichmäßige Geräusch des Oszillographen bohrt sich mahnend in sein Inneres. Es schreit: Ich lebe! Schadenfreude und Hohn springen über die Straßen seiner Erinnerung. Haß und Wut wachsen plötzlich zu Giganten an. Sie füllen alles aus, nehmen alles ein und bemächtigen sich seines gesamten Lebens. Sie führen das Bündel Kommissar mit leicht gehobenen Armen direkt neben das Krankenbett. Vorsichtig, fast zärtlich legen sich die Hände um den Hals des Verletzten. Das Kratzen der Bartstoppeln dringt als ärmlicher Versuch des Lebens die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, zu ihm durch, ohne jedoch Beachtung zu finden. Rechts der Riese Wut, links des Monster Haß kommt es zur Vereinigung von Kraft und Zerstörung gefolgt von - Einsamkeit. Alle sind sie weg! Seine neuen Weggefährten, ihr Gesicht, die Erinnerung und das Leben. 37
Das Boot schaukelt, getragen von leichten Wellen. Sanfte Klänge segeln vorbei, lassen keinen Zweifel daran, wo er sich befindet – in Sicherheit. Die Namenlosen aus seiner Vergangenheit sind weit weg. Nur eine nicht. Warum erinnert er sich gerade an die Letzte so genau? Sie interessiert ihn eigentlich ebenso wenig, wie die übrigen. Er fühlt sich wohl, entspannt Seele und Körper. Das Gesicht der Letzten tanzt plötzlich vor ihm herum. Wie eine lästige Fliege. Er versucht es zu verscheuchen. Doch anstatt von ihm abzulassen, wird sie immer aufdringlicher, schneidet ihm Grimassen und streckt ihm die Zunge heraus. Das ärgert ihn, macht ihn wütend. Aus dem Gesicht wird ein Körper. Ein Körper mit zerrissener Kleidung und seltsam nach hinten verdrehtem Bein. Die zerkratzten Hände greifen nach ihm, fahren langsam mit den Fingern an seiner Brust entlang bis zu der Stelle, die ihm seit einiger Zeit den Atem raubt. Genau, das ist es. Bei ihrer Erlösung ist es passiert. Sie ist es Schuld. Aber was will sie jetzt von ihm? Sie ist doch schon erlöst. Ihre Bewegung wird immer drängender und mit ihr verändert sich das Meer. Die Wogen werden unruhiger, Gicht schlägt ihm ins Gesicht. Die sanften Klänge verwandeln sich in das Brausen hunderter Stimmen, die ihn zu rufen scheinen. Und jetzt ruft auch die Letzte. Sie greift nach seiner Hand und hebt ihn mit Leichtigkeit in die Höhe. Zappelnd hängt er hoch in der Luft, schaut auf das rettende Boot hinab. Immer höher steigt sie mit ihm und plötzlich läßt sie los. Panik beginnt ihn zu würgen, doch er sieht, daß er genau auf das Schlauchboot zustürzt. So beruhigt er sich wieder etwas. Der Sturz scheint ewig zu dauern. Während er sich dem Oberfläche nähert, verwandelt sich der Boden des Bootes in ein unergründliches schwarzes Loch. Ihm ist als stürze er in den Schlund der Erde. Das Maul nimmt ihn auf und umgibt ihn mit einer wabernden, öligen Masse. Wild rudernd versucht er wieder an die Oberfläche zu gelangen. Die Schwärze dringt in ihn ein, in seinen Mund, in seine Nase, seine Lungen. Kommt jetzt die Erlösung? Doch wenn die Erlösung so erschreckend, so qualvoll ist, warum haben die Namenlosen es ihm dann nie gesagt? Er bekommt keine Antwort mehr auf seine Fragen, denn mit Stille und Schwärze wird er Teil des Universums. Mit vorgestrecktem Hinterteil stößt die Schwester die Tür zum Zimmer 666 der Intensivstation auf und zieht den Wagen mit den frischen Handtüchern hinter sich her. Es ist gleich Schichtwechsel, ausnahmsweise einmal früher, also beschließt sie, diese Arbeit noch zu beenden und sich dann umzuziehen. Zwei Frottees in der Hand dreht sie sich um. Der Anblick, der sich ihr bietet, läßt die Tücher aus ihren Fingern gleiten und ihre Kehle zuschnüren. Ein Mann mit wirrem Haar und ungepflegtem langem Trenchcoat stützt sich mit beiden Hände auf den Hals des Patienten im Krankenbett. Der gleichmäßige Dauerton des Lebenserhaltungssystems macht der Schwester klar, was sich hier gerade abgespielt hat. Der Schrecken lässt sie in ihrer Bewegung erstarren. Unfähig zu schreien oder auch nur einen Finger zu rühren starrt sie auf die groteske Szenerie. Doch auch der Mann im Mantel scheint sich in dieser Stellung vergessen zu haben. Keine Regung geht durch seinen Körper, keine Angst vor Entdeckung oder gar der Anschein eines Fluchtversuchs. Der Knoten in ihrer Kehle lockert sich etwas und die Schwester bringt es fertig, einen jämmerlich krächzenden Laut auszustoßen. In diesem Moment stürzt der Pfleger, der zuvor den Kommissar zurückgelassen hatte, in den Raum, erkennt ebenfalls die Situation und reißt Täter und Opfer auseinander. Mit gespannten Muskeln macht er sich zum Kampf bereit, doch der Ermittler schaut wieder teilnahmslos ins Leere um zeigt keinerlei Anzeichen der Gegenwehr. Schweigend stehen sie sich gegenüber. Der Mann, der einmal ein Kommissar gewesen war, eingerahmt von zwei Polizisten und mit Handschellen an den Armgelenken. Die Frau, die sich auf ein schönes ruhiges Leben im Vorort gefreut hat – mit ihm. Sie haben vieles gemeinsam nur kein gemeinsames Leben mehr. Beiden laufen Tränen über die Wangen. Seine 38
Worte von soeben klingen noch bitter in ihr wider: "Du bist tot!" Erstaunen, Traurigkeit und auch Entsetzen in seiner brüchigen Stimme lassen diese drei Worte gleichzeitig Feststellung, Frage und Antwort sein. Was meinte er damit? Später wird ihr ein anderer Kommissar mal erklären, daß man eine Tote gefunden hat, die ihr etwas ähnlich sah, doch verstehen wird sie es auch dann nicht. Der Mann in dem schlaffen Trenchcoat wird zum zweiten Mal in dieser Nacht in ein Polizeifahrzeug gesetzt. Die Frage, ob sie jemand nach Hause fahren solle, hört die Frau kaum. Und was heißt schon nach Hause. Mit durchgeweichtem Mantel geht sie langsam durch die feuchte Nacht der fremden Kleinstadt, die nie die Chance hatte, sich ihnen vorzustellen, ihr Leben zu offenbaren. Die Haare kleben der jungen Frau in der Stirn und bilden kleine Wasserläufe, die den Regen in ihre Augen leiten. Sie friert!
39
Ein kalter Hauch im Nacken von Sebastian Gutsche
Eine Frau wacht auf und weiß nicht, wo sie ist. Sie weiß nur, dass sie Angst hat...
Der Wald lag in dieses unwirklich Licht getaucht, still und verlassen. Sie dachte das sich hier kein Mensch hinverirren würde, sie wusste nicht wie recht sie hatte. Wie war sie herkommen? Diese Frage schoss ihr immer wieder durch den Kopf, sie konnte sich an nichts mehr erinnern, wer war sie? Woher kam sie? Alles Fragen die sie in diesem Moment beschäftigten, aber so sehr sie auch über eventuelle Antworten nachdachte, es wollten ihr keine einfallen, sie wusste nur das sie aus diesem verfluchten Wald herauskommen musste. Sie war hier auf diesem freien Platz aufgewacht, dieser hatte wohl in vergangenen Tagen öfters als Feuerstelle gedient, doch nun nicht mehr. Sie schaute sich um, sie sah nichts als Bäume, und dieses unwirkliche Licht um sie herum, was war der Ursprung? Sie konnte es sich nicht erklären. Es war Nacht, und doch war dieser Wald von einer Art Licht erhellt die es ihr erlaubte einige wenige Meter nach vorne zu blicken. Sie setzte sich in Bewegung, sie wusste nur das es ihr gelingen musste aus diesem Wald rauszukommen, er hatte etwas bedrohliches, etwas was sie sich nicht erklären konnte, es ging eine Gefahr von ihm aus, von welcher Art diese war, konnte sie jedoch nicht bestimmen. Sie schritt einen Pfad entlang der von der freien Stelle aus weiter in den Wald hineinführte, sie glaubte das dies der Ausweg sei, sie ging den Pfad weiter entlang und schaute sich ängstlich um, woher kam dieses Licht? Sie hörte kein einziges Geräusch aus dem Wald. Gab es denn hier nichts weiter aus Bäumen? Der Pfad wandte sich tief in den Wald hinein, und ohne es zu wissen lief sie auf ihr Schicksal immer näher zu. Der Pfad teilte sich nach einer Zeit, eine Zeit die ihr wie Stunden vorkamen in 2 Richtungen. Sie hatte die Wahl zwischen 2 Abzweigungen, sie wusste nicht welchen von beiden sie wählen sollte, da hörte sie hinter sich ein sehr lautes Knacken! "Was war das?" ging es ihr blitzartig durch den Kopf? Doch sie dachte nicht lange nach und rannte los, sie rannte einfach die rechte Abzweigung entlang, und hoffte eventuell irgendwo Schutz oder Hilfe zu finden. Sie rannte so schnell sie ihre Beine tragen konnten. Sie rannte bis sie in der Ferne eine Art Hütte entdeckte die von einer Art Aura umgeben war, sie wusste schlagartig das dies die Quelle des Lichtes war, das sie die ganze Zeit um sich wahrnahm, sie rannte zu dem Haus und hoffte das ihr vielleicht dort wer helfen könnte aus diesem verfluchten Wald heraus zu kommen. Sie rannte bis auf auf wenige Meter an das Haus heran, jetzt erst drehte sie sich hastig um, um zu schauen ob sie verfolgt werden würde. Doch hinter ihr war niemand. Sie erschrak und wurde kreidebleich. Sie drehte sich wieder zum Haus um und entdeckte ein Fenster, sie lief auf das Fenster zu und schaute hinein um sich zu vergewissern das von den Bewohnern des Hauses keine Gefahr ausging. Als sie durch das Fenster sah, erblickte sie Dinge die so unvorstellbar grausam waren das ihr der Atem stockte. In diesem Moment vernahm sie abermals ein Geräusch hinter sich, und spürte einen kalten Hauch im Nacken.
40