Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Philosophisch-historische Klasse Jahrgang 1981 . Bericht 8
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MANFRED MAYRHOFER
N ach hundert Jahren Ferdinand de Saussures Frühwerk und seine Rezeption durch die heutige Indogermanistik Mit einem Beitrag von Ronald Zwanziger
Vorgetragen am 9. Mai 1981
HEIDELBERG 1981 CARL WINTER . UNIVERSITÄTSVERLAG
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek· Mayrhofer, Manfred: Nach hundert Jabren: Ferdinand de Saussures Frühwerk u. seine Rezeption durch d. heutige Indogermanistik; vorgetr. am 9. Mai 1981 I Manfred Mayrhofer. Mit e. Beitr. von Ronald Zwanziger.Heidelberg: Winter, 1981.
(Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse; Jg. 1981, Bericht 8) ISBN 3-533-03026-1 NE: Heidelberger Akademie der Wissenschaften I Philosophisch-historische Klasse: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Philosophisch-historische Klasse I Bericht
ISBN 3-533-03026-1 Alle Rechte vorbehalten. @ 1981. Carl Winter Univo"itätsverlag, gogr. 1822, GmbH., Hoidelberg
Photomechanische Wiedergabe nur mit ausdrücklicher Genehmigung dmch den Verlag Imprim~ CD Allemagne. Printed in Gennany Photosatz und Druck: Carl Winter Univcrsitätsverlag, Abteilung Druckerei, Heidelberg
INHALT
Ferdinand de Saussure (1-3) Das Phone'msystem der heutigen Indogermanistik (4-5)
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Die Rezeption von Saussures "Memoire": Die klassische Indogermanistik (6.1).
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Die "Häresie" (6.2)
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Der Triumph (6.3) .
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Mißbrauch und Abkehr (7) .
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Rückkehr und Weiterführung (7.1)
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Das Bleibende (8)
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Abkürzungen.
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Anhang: Joseph Wertheimer. Saussures einziger Amtsvorgänger. Von Ronald Zwanziger . . . . . . . . . . . .
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1. In\der Sprachwissenschaft, und wohl nicht nur in ihr, gibt es - in einer Epoche, die noch in unser Jahrhundert hereinreicht - kaum eine so faszinierende Lebens- und Arbeitsgeschichte wie die Ferdinand de Saussures. Durch eine knappe Werkbjographie soll dies belegt werden. Die Produktivität jenes ruhelosen Geistes beginnt sehr früh, mit einer Studie des Vierzehnjährigen, die freilich erst seit einiger Zeit besser bekannt' und vor kurzem voll veröffentlicht worden ist2 : es ist der im Druck 25 Seiten umfassende "Essai pour rt~duire les mots du Grec, du Latin & de l'Allemand a un petit nombre de racines", in dem er das Lexikon der drei ihm aus der Schule bekannten Fremdsprachen auf jeweils neun Urwörter zurückzuführen versucht; bei einer Struktur CVC gelten von den Konsonanten jeweils alle La.biale, alle Dentale und alle Palatale als gleichwertig, wodurch eine ausreichende Zahl von Kombinationsmöglichkeiten gegeben ist. Jener juvenile Versuch, gleichermaßen originell wie abstrus3 , darf dennoch auch in einer knappen Darstellung nicht übergangen werden, da zWeierlei an ihm schon den ganzen späteren Saussure enthält: einmal der Essai selbst, dessen Bestreben, ein ausuferndes Material auf wenige geordnete Grundeinheiten zurückzuführen, dem Denken Saussures gemäß ist, s~ sehr es hier noch aus Unreife und Unkenntnis grotesk übersteigert erscheint. Zum zweiten die Tatsache, daß der noch im Kindesalter stehende Verfasser sein Manuskript einem der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit, dem greisen Adolphe Pictet, zur Beurteilung zusendet, in einem Begleitbrief aber gieichzeitig schreibt: "Ich bin sicherlich recht verrückt, und wenn ich nur zwei Wörter Sanskrit kennte, würde ich mich selbst widerlegen"4. Auch das zeigt schon den ganzen Saussure: die Selbst.sicherheit des jungen Geistes-Aristokraten, - unter den vielen berühmten Trägem des Namens de Saussure soll nur der Urgroßvater, Horace Benedict, genannt werden, der durch barometrische Höhenmessung "VgI. die Mitteilung aus de Saussures Jugenderinnf?rungen durch R.G[odel], CFS 17 (1960) 17. S. noch R.Jakobson, CFS 26 (1969) Sf.; J.-D.Candaux, CFS 29 (197475) 7ff. 2 CFS 32 (1978) 73-76 (Einleitung von B. Davis), 77-101 (SaussuresText). 3 So das Urteil von R. Engler; s. Scheerer 10. Vgl. in de Saussures Jugenderinnerungen (CFS 17 [1960] 17): .Cet enfantillage ... " 4 Der Originaltext bei J.-D.Candaux, CFS 26 (1974-75) 10; dort S. 9 in Saussures :Handschrift. Die Übersetzung nach Scheerer 9.
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1787 den Montbl~nc als höchsten Berg Europas erwies - iIi dessen Elternhause neben Pictet noch viele Berühmtheiten verkehrten; und zugleich der Hang zur Selbstkritik, das wache Bewußtsein, ein ihm noch nicht' erreichbares Material würde ihn zur Selbstwiderlegung befähigen - der Anfang immer stärker werdender Ansprüche an die eigene Leistung, die schließlich zu dein viel berätselten " Verstummen" de Saussures führten, dem in den letzten Lebensjahren fast völligen Aufhören gedruckter Äußerungen, während gleichzeitig seine Notizen, Briefe, ,Gespräche und Vorlesungen eine postume Weltwirkung vorbereiteten, die uns noch beschäftigen wird, - Das Werk des Knaben nahm Adolphe Pictet gütig auf und riet ihm zugleich offenkundig von einer Publikation alJ5: auch das aus Güte, da er vef!I1eiden wollte, daß die zu erwartende glanzvolle Laufbahn des jungen Mannes durch die Existenz dieses bizarren Kindheitswerkes gefährdet werde. 1.1. Das nächste Zeugnis der Frühreife fällt in das folgende Jahr, und jetzt handelt es sich bereits um eine der sichersten Entdeckungen der Indogermanistik - nur, daß erst die Nachwelt erfuhr, daß dem Schüler des College de Geneve ein Fund gelungen war, den drei Jahre danach das spätere Schulhaupt der Junggrammatiker, Karl Brugmann, davon unabhängig machte und sogleich veröffentlichte, sodaß dieser Fund zu Recht mit seinem Namen verknüpft bleibt. Der fünfzehnjährige Saussure erkannte an einer Herodot-Form, durch Überlegungen interner Rekonstruktion, das heute unbestrittene Lautgesetz, daß griech. a auf das sonantische Allophon ([y], ['llD von INI zurückgehenkönne 6 • 5 Vgl. in de Saussures .Souvenirsd'enfance" (ed. RG[odel], CFS 17 [1960] 12ff.)S. 17:
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•... et il me distribuait ensuite de bonnes paroies qui furent efficaces pour me calmer definitivement sur tout systeme universei du langage". Am frühesten bekannt wurde dieser Fund offenbar bald nach F. de Saussures Tod in der Antrittsrede Charles Ballys vom 27. Oktober 1913 (aus derich nur nach Ch. Bally, ILa Langage et la Vie [Genf-Lilie 31952J 147 zitieren kann) und in A. Meillets.Notice", 1915 (FdS 70f. = Th.A.Sebeok [ed.], Portraits of Linguists Vol. 11 [Bloomington-London 1966] 92f.; s. dazu weiter unten). Vgl. Saussures Erinnerungstext (CFS 17, 1960) S. 18f.; ebenda in den Vorbemerkungen von R G[odel] (S. 13 Anm.4) eine Richtigstellung der Angabe A.Meillets (s.o.), der Fund sei dem Gymnasiasten gelungen: wegen seiner zu großen Jugend war er vielmehr, .par le commun decret des parents", für dieses Jahr noch in das vorbereitende College gegeben worden, .preparatoire au Gymnase public, et remarquablement inutile ... " (CFS 17,17). Erst ab 1873 konnte er das Gymnasium besuchen und sich dort im zweiten Jahr mit Hilfe von Bopps Grammatik in das Sanskrit einführen, wobei ihm natürlich die Nasalis sonans auch im Altindischen zu begegnen schien, wovon er sich aber durch eine Fehlinterpretation v()n altind. ~ bei Bopp wieder abbringen ließ (CFS 17;19; Scheerer 11). Wichtig zur methodischen Beurteilung von de Saussures Fund C. Watkins, CFS 32
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Wir. dürfen damit - da wir uns verbieten müssen, bei der Lebensgeschichte Saussures zu lange zu verweilen' - einen zeitlichen Sprung in das ausgehende Jahr 1876 tun, als der junge Westschweizer an der indogennanistisch führenden Universität Leipzig ankam 8 und seinen ersten Besuch bei einem deutschen Professor, dem genialen Heinrich Hübschmann, machte; Saussures Jugenderinnerungen schildern, wie Hübschmann ihm von der in diesem Jahr veröffentlichten Entdeckung der Nasalis sonans durch Karl Brugmann berichtete, die das indogermanistische Leipzig erregte - während Saussure angenommen hatte, dreieinhalb Jahre vorher beim Griechisch-Unterricht ein längst geläufiges Faktum gesehen zu haben9 • 1.2. In der Zeit seines Studiums in Deutschland, 1877, erscheinen seine ersten gedruckten Arbeiten im Pariser "Memoire de la societe de linguistique"lO; zur Zeit ihrer Einsendung war er noch nicht zwanzig Jahre altli. Mit der Datumsangabe ,,1879", de facto aber Ende 1878 und somit wenige Wochen nach seinem 21. Geburtstag, kam jenes revolutionierende Werk heraus, das im Zentrum dieses Vortrags stehen wird: "Memoire sur le systeme primitif des voyelles dans les langues indo-europeennes". In dem schönen Nachruf Wilhelm Streitbergs von
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(1978) 6lf. - Die klassische Arbeit von Brugman (wie sich Brugmann damals noch schrieb), ;,Nasalis sonans in der indogermanischen Grundsprache", erschien 1878 in Curtius-Brugmans .Studien zur griechischen und lateinischen Grammatik" Bd. 9, S.285ff. ' .Eine umfassende und auf allen bekannten Dokumenten beruhende Biographie Ferdinand de Saussures liegt nicht vor" (Scheerer 1). Das schöne Buch von Scheerer hat diese Lücke in beachtlicher Weise geschlossen, wenngleich über de Saussure noch ein umfänglicheres Buch zu schreiben bleibt, für das Scheerer nicht der nötige Raum zugebilligt war. Von 1875-76 hatte Saussure in seiner Heimatstadt studiert, vorwiegend Physik und Chemie, wie es der Familientradition entsprach; das Studium in Genf betrachtete er, nach dem Jahr im College, als Verlust eines weiteren Jahres (CFS 17,20). Vgl. auch u. 2.1.1. - Die Wahl von Leipzig als Studienort entsprach wiederum einem Wunsch der Eltern (CFS 17,20 Anm. 9). . CFS 17,2Ot. Die gedruckten Arbeiten fmden sich bei E. F. K. Koemer, Bibliographia Saussureana 1870-1970, Metuchen, NJ., 1972, S. 51ft. angeführt; diese Liste ist ihrer Fehlerhaftigkeit wegen durch eine neue Bibliographie von G. Redard ersetzt worden (CFS 29 [1974-75] 91ft.). Fast alles zu Lebzeiten Saussures im Druck Erschienene ist im .Recueil" wiederabgedruckt. Nach W.Streitberg, U 2 (1914[15]) 204 Anm. 2 (= Sebeok a. Anm. 6 a. O. II 102 Anm. 3) bezeichnete Saussure Streitberg gegenüber .ausdrücklich NovemberDezember 1876 als die Zeit der Niederschrift" des dritten seiner ersten gedruckten Aufsätze [= bei Redard a.a.O. S. 92 Nr. 3].
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1914, der mit dem Tode de Saussures im 56. Jahr das Lebenswerk für abgeschlossen ansehen mußte und von jenem postumen Weltruhm ohne Beispiel nichts ahnen konnte, den wir bald zu schildern haben werden, steht der Satz: "als der Verfasser des Memoire wird de Saussure im Gedächtnis der Nachwelt leben" 12 • Wir Heutigen wissen noch von einem anderen, intensiveren Nachleben im Gesamtbereich der Sprachwissenschaft und von der Auswirkung auf viele Nachbarwissenschaften. Aber heben wir Streitbergs Satz noch einmal an die Augen: er bedeutet, daß die Indogermanistik von heute auch dann ein neues Bild böte, wenn jener unvergleichliche Genfer Jüngling im 22. Lebensjahr gestorben wäre. 1.3. Das Studium beschließt er in Leipzig - summa cum laude - mit einer Dissertation, deren Themenwahl Beachtung verdient: nach dem streng systemhaften phonologisch-morphologischen "Memoire" dissertiert er über den Genetivus absolutus im Sanskrit; er erprobt also seine Kräfte auf einem ganz anderen Felde, in der damals wenig betriebenen Syntax und in früh gemeisterter Sanskrit-Philologie 13. Seine weitere Laufbahn ist steil: 1881, als 24jähriger, wird er auf Veranlassung des führenden Pariser Indogermanisten, Michel Breal, zum maitre de conferences an der Ecole Pratique des Hautes Etudes ernannt l4 . In dem Pariser Jahrzehnt wird er zum Lehrer einiger der bedeutendsten französischen Linguisten, prägt die "Pariser Schule" mit und veröffentlicht eine Anzahi sprachgeschichtlicher Aufsätze l5 . 1891, an der Schwelle eines noch ehrenvolleren Aufstiegs in Frankreich, holt ihn die Vaterstadt zurück: er übernimmt einen für ihn eingerichteten Lehrstuhl für Sanskrit und indogermanische Sprachen an der Universität Genf, zunächst als außerordentlicher, ab 1896 als ordentlicher Professorl6~ Es liegt außerhalb unseres Themas, seine pflichtgemäß abgehaltenen Lehiveranstaltungen zum Sanskrit und zu verschiedenen sprachge12
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Streitberg a.a.O. 204 (= 101). Gegen die Unterschätzung der Dissertation (z. B. Streitberg a.a.O. 210 [= 107]: .fleißige Kleinarbeit, einem wenig ergiebigen Thema gewidmet") s. besonders de Mauro 297f., der auf die erstmalige Anwendung des Begriffs .caractere distinctif" und auf die relativistische, mit Oppositionen arbeitende Methodik dieser Schrift hinweist. Vgl. auch Scheerer 22f. Streitberg a.a.O. 210 (= 107); de Mauro 301ff., mit weiterer Lit.; Scheerer 4. Dazu ausführlich de Mauro 302ff. - Eine interessante Vertiefung zu der Schüler-Liste bei de Mauro 302 bietet G.C.Lepschys Aufsatz über den.russo F.Braun" (= Fedor Aleksandrovic Braun), der als Deutscher und als ein eigenartiger Apostel N. J. Marrs 1942 in Leipzig gestorben ist (Friedrich Braun), SSL 9 (1969) 208ff. Vgl. de Mauro 31Off., Scheerer 4ff.
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schichtlichen Bereichen zu schildem .. was an anderer Stelle schon geschehen ist 17 ; bedeutender ist uns, was er in seiner Genfer Zeit veröffentlichte - und was er nicht veröffentlichte, obwohl wir eindeutige Zeugnisse seiner vielfältigen intellektuellen Tätigkeit haben. Vorweg ist der Satz in Scheerers gutem Saussure-Buch von 1980 zu relativieren, "in dieser Zeit" [ließen] "seine Publikationen . . . an Zahl und Umfang ... deutlich nach"18. So fallen in die Genfer Jahre (1894, 1896) immerhin die von der gewohnten Ingeniosität des Indogermanisten de Saussure zeugenden Arbeiten zum litauischen Akzent l9 , die in jede Darstellung der Balto-Slavistik Eingang gefunden haben 2o . Richtig aber ist, daß uns die Frage faszinieren muß, wieso er, der bis in das Jahr seiner10dbringenden Erkrankung (1912) immer wieder kleinere Arbeiten indogermanistischen und onomastischen Inhalts zum Druck gab21 , gleichzeitig verschiedenartige andere Themen in Gesprächen, Briefen, Notizen behandelte, ohne daß er sich zu einer Drucklegung entschlossen hätte. Wir können diese Bereiche nur streifen mit einer, mit der wesentlichen Ausnahme. In einem Vorgang ohnegleichen hat die Pietät seiner Kollegen und Schüler aus dem, was sich nur seinem engsten Kreise eröffnet hatte, den weltberühmten linguistischen Theoretiker de Saussure bekannt werden lassen, dessen Ruhm jenes Jugendwerk weit überstrahlt, in dem Streitbergs Nachruf noch das eigentliche Vermächtnis de Saussures gesehen hatte. 2. In' den ersten Jahren der Genfer Professur beschäftigt sich de Saussure mit allgemeiner Sprachwissenschaft; wir haben datierbare Notizen aus den Jahren 1891, 1893-95, 1897; es findet sich eine Aussage Saussures, daß die Vorlesungen, die er nach 1906 zu halten hatte (u.2.1-3), von diesen Überlegungen der Jahre 1891-1897 zehrten; die letzten datierbaren Notizen zu diesem Thema, aus den Jahren 1908 Etwa bei Godel 16f., 24ff" de Mauro 31Off. (bes. 311f. Anm. 7), Scheerer 5. Ein ähnlich übersteigertes Urteil bei E. Benveniste, CFS 20 (1963) 12. 19 In Redards Liste (CFS 29, 1975) S. 94 die Nummern 28, 29, 30. 20 Vgl. etwa A. Vaillant, Grammaire comparee des langues slaves I (Lyon-Paris 1950) 246ff. ("La loi de Saussure"), 11 (1958) 322ff.; L.Sadnik, Slavische Akzentuation I: Die vorhistorische Zeit (Wiesbaden 1959) 20ff.; P. Arumaa, Urslavische Grammatik I (Heidelberg 1964) 189ff.; C.S.Stang, Vergleichende Grammatik der Baltischen Sprachen (Oslo-Bergen-Tromsö 1966) 128ff., 172ff.; W.R.SchmaIstieg, An-Old Prussian Grammar (Pennsylvania State University-London 1974) 312ff. Anm. 14; jeweils mit weiterer Lit. - Zu beachten auchJ. Kurytowicz, Indogennanische Grammatik ll: .Akzent-Ablaut (Heidelberg 1968) 112f. 21 Redard a.a.O. 94f. Nr. 31-41. - Eine lesenswerte Beurteilung von de Saussures etymologischer Aktivität bietet C. VaIlini, SSL 18 (1978) 75ff. 17-
18. Scheerer 5. -
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und 1910/11, hingen offenbar schon mit den Vorlesungen zusaßunen22 • Eigenartig ist, daß sogar eine gewisse Abneigung gegen die "linguistique generale" bei ihm nachzuweisen ist, so in einem Brief an Antoine Meillet vom 4. 1. 189423 : " ... ich bin angewidert von alledem und von der Schwierigkeit, die gemeinhin darin liegt, auch nur zehn Zeilen zu schreiben, die im Hinblick auf Sprachtatsachen allgemeine Zustimmung finden; [...] Das wird gegen meinen Willen in einem Buch enden, wo ich ohne Begeisterung erklären werde, warum es keinen einzigen in der Sprachwissenschaft gebräuchlichen Terminus gibt, dem ich irgendeinen Sinn ,zugestehe". Es ist also höchst unwahrscheinlich, daß de Saussure sein ganzes Leben "hartnäckig die leitenden Gesetze" der Sprachwissenschaft aufgesucht habe 24, zumal, nach einem schönen Wort E.Benvenistes, "le drame interne" Saussures darin lag, sich nicht einem einzigen Ziel widmen zu können25 . Was ihn spätestens seit 1903, vor allem aber zwischen 1906 und 1909 beschäftigte, waren Probleme der epischen und lyrischen Dichtung Europas26 ; Studien zu germanischen Sagenstoffen, die anderen Ortes schon gewürdigt worden sind, liegen in längeren Notizensammlungen aus den Jahren 1903 und 1910 vor27 ; Saussures Beginn der Beschäftigung mit dem saturnischen Vers läßt sich auf das Jahr 1906 festlegen 28 , und die wohl umstrittenste intellektuelle Leidenschaft Saussures, die Suche nach versteckten Anagrammen in Dichtungen, "in mehr als hundert Heften und Lagen loser Blätter überliefert"29, muß ihn nach dem Ausweis datierter Briefe zwischen 1906 und 1909 intensiv beschäftigt haben 30 . Beachten Sie bitte
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Godel 33;REngler, Kratylos 4 (1959) 119, 120.
23 Godel 31; Engler a.a.O. 119f.; Scheerer 7, dem ich die deutsche Übersetzung ent24
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nehme. So - mit dem richtigen Ausdruck des Zweifels - Hiersche 8. Dazu auch J. Kurylowicz, CFS 32 (1978) 7. Scheerer 152. Godel 14,28; weitere Lit. bei Scheerer 154. Scheerer 168f. So Scheerer 158. Scheerer 157ff., mit reicher Lit.; vgl. neuestens die von der übersetzerin Henriette Beese eingerichtete und mit zusätzlichen Noten versehene deutsche Fassung des Buches von Jean Starobinski ("Les mots sous les mots", 1971), "Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure", Frankfurt-Berlin-Wien 1980.Zu Saussures Anagramm-Studien gibt es, was das letztgenannte Büchlein nicht so klar erkennen läßt, auch sehr kritische Stimmen (Scheerer a.a.O.); aus neuerer Zeit ist diesen noch die von J. C. Rijlaarsdam, Platon über die Sprache (Ein Kommentar zum K.ratylos. Mit einem Anhang über die Quelle der Zeichentheorie Ferdinand de
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die Jahreszahlen für die nur in Auswahl gestreiften Bereiche, denen sich dieser ruhelose Intellekt hingab: 1906, 1909, 1910 ... Es sind die Jahre, in denen ein äußerer Umstand de Saussure zwang, sich im Unterricht mit einem Gegenstand zu befassen, der nach unserem Wissen ihn im ausgehenden 19. Jahrhundert interessiert hatte und der ihn angesichts dieses Übermaßes ganz anderer Interessen nicht erfüllt haben kann: die allgemeine Sprachwissenschaft. 2.1. Jener~ußere Umstand, den ich andeutete, kann nicht ohne eine gewisse Anteilnahme geschildert werden. 2.1.1. In \dem Gesetz für die 1876 feierlich eröffnete Universität Genf, welche die 1559 durch Calvin gegründete Academie ablöste, war die Disziplin "linguistique" vorgesehen, die in dem Lehrplan der alten Academie nicht bestanden hatte31 . Dieses Fach wurde einem Elsässer, Joseph Wertheimer, dem Oberrabbiner von Genf, anvertraut, der seit 1873 als charge de cours, von 1874 an als Professor der vergleichenden Sprachwissenschaft und Philologie wirkte32 • Vermutlich ein vielspra,chiger, orientalistisch gelehrter Mann, fehlte es ihm offenkundig an Originalität und Schöpferkraft, jedenfalls für das ihm anvertraute Gebiet; es scheint nur eine einzige linguistische Arbeit von ihm erhalten zu sein, eine Antrittsrede, welche die Gedanken einer Studie von Michel Breal referierte, von dem wir bereits gehört haben, daß er später de Saussures Pariser akademische Laufbahn eröffnen sollte33 . In seinem Anfängerstudium an der Genfer Universität hatte Saussure, "con sicuro giudizio"34, diesen Professor nicht gehört, sondern sein sprachvergleichendes Studium auf den Privatdozenten Louis Morel eingeschränkt, Saussures. Utrecht 1978) hinzuzurechnen (S. 309: • Wieviel kostbare Zeit hat er nicht . auf die Anagramme vergeudet!"). 31 M. Mourelle-Lema in R. Godel (ed.), A Genava School Reader in Linguistics (Bloomington-London 1969) 3f. ~ 32 G.Redard, BSL 71 (1976) 317f. Anffi. 2. Ober frühere philologisch-linguistische Lehrveranstaltungen an der alten .Academie" s. Godel 29 Anm. 23; Mourelle-Lema a.a.O. 19 Anm. 30. 33 Vgl. deMauro291; M.Leroy, Kratylos 14(1969[72]) 18. S. den Anhang unten S. 39ff., der von dem sowohl bibliothekarisch-bibliographisch wie linguistisch graduierten Herrn Dr. Ronald Zwanziger auf meine Bitte hin beigesteuert worden ist. Den in Anmerkung 1 dieses Anhanges (u.S. 39) ausgesprochenen Danksagungen möchte ich mich anschließen, insbesondere denen an Robert Godel und an Georges-Eddy Roulet. - Der gesamte Sitzungsbericht ist (neben Helfern, die ich an den entsprechenden Stellen nenne) Oswald Panagl und Mario Wandruszka für wichtige Hinweise verpflichtet. 34 de Mauro a.a.O.; vgl. Redard a.a.O.
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der den Unterricht Georg Curtius' in Leipzig wiedergeben konnte; den Saussure ein Jahr später dann selbst hören sollte35 . Mit Wertheimers Übertritt in den Ruhestand übernahm der Indogennanist der Genfer Universität, de Saussure, nun auch jene Einführungen in die allgemeine Linguistik, die Wertheimer bis 1906 gelesen hatte36 ; so sollte Joseph Wertheimer der direkte Vorgänger jenes de Saussure werden, der mit dem ihm jetzt auferlegten "Cours de linguistique generale" den Anstoß zu dem wohl einflußreichsten Buch der Sprachwissenschaft gegeben hat. 3. Die Geschichte des "Cours" ist oft beschrieben worden, und sie gehört nur insoferne in unsere Darstellung, als sie de Saussures schöpferisches Leben nach seinen erstaunlichen Anfängen in ein noch erstaunlicheres Ende und Nachleben ausklingen läßt. Dreimal, 1907, 1908/09 und 1910/11, hat Saussure diese Vorlesung gehalten, zu der ihn die Annahme der Nachfolge Wertheimers verpflichtete; über ein Thema, das ihn zu dieser Zeit schwerlich beschäftigte, wenn nicht gar mit Antipathie erfüllte37 , zu dem er aber auf ältere Überlegungen und Notizen zurückgreifen konnte. Die drei Fassungen des "Cours" wichen zudem, wie wir heute wissen, in der Abfolge der Themen38 , teilweise auch in den sich wandelnden Auffassungen voneinander ab. Der Wunsch, aus diesen "so inhaltsreichen Vorlesungen" möge ein "Buch hervor[gehen}"39, war darum umso dringlicher; er sollte wohl, so hoffte man, in einem Alterswerk de Saussures verwirklicht werden. Wir wissen, daß es anders kam: de Saussure wurde in einem unerwartet frühen Lebensalter dahingerafft; ein leicht zu überarbeitendes Vorlesungsmanuskript, das die Herausgeber zu finden hofften, war nicht vorhanden, und man erfuhr, daß er nur Notizzettel in den Hörsaal mitzubringen pflegte, die er alsbald wiedervernichtete. "Die Fächer seines Schreibtisches lieferten ... nur ziemlich alte Entwürfe", klagen die Herausgeber4°. Es blieb ihnen nichts übrig, als die Mitschriften der Schüler, aufeinander abgestimmt, in eine sinnvolle Reihung gebracht, druckreif stilisiert und oft auch durch eigene Sätze der Herausgeber ergänzt, die 35 36
de Mauro a.a.O., Redard a.a.O. de Mauro 319f., mit Lit.; vgl. bes. E.Favre, FdS 31: .enjanvier 1907, apres la retraite de M. Wertheimer, il occupa la chaire de linguistique generale et, dans ce cours tres important, il put, devant un nombreux auditoire, donner essor a son genie". 37 Engler IX. 38 S. die figuralen Darstellungen bei Engler, Kratylos 4 (1959) 123. 39 So nach dem Vorwort des .Cours" von Bally und Sechehaye, in der deutschen Übersetzung von H. Lommel (F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin-Leipzig 1931 [Berlin 21967]), S. VII. 40 So wiederum das Vorwort der deutschen Ausgabe in Lommels übersetzung, S. VIII.
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nirgends bei Saussure nachzuweisen sind, in ein Buch zu verwandeln. So sind Saussures Ideen "in doppelter, wenn nicht in dreifacher Brechung bekannt geworden .... (Nachschriften der Hörer, Kollation der Herausgeber, Übersetzung)", wie Rolf Hiersehe schreibtII. Mit mancher Persönlichkeit des Altertums mag sich ein ähnlich gebrochenes Weiterleben verbinden; "in der neueren Wissenschaftsgeschichte" aber "[sucht] ... ein solches Phänomen ... seinesgleichen"42.Auf diese Weise entstand de Saussures berühmtestes Buch, sicherlich zum größten Teil - aber sicherlich sehr oft auch nicht - sein eigenes Ideengut enthaltend, von ihm nicht geschrieben und wohl auch nicht geplant, nicht gewollt. Und zugleich ist dies das einflußreichste Buch der Linguistik geworden, einflußreich auch für Nachbarwissenschaften wie Ethnologie, Anthropologie, Literaturwissenschaft, Philosophie, Psychologie43 . Nur auf diese Weltwirkung des so rasch aus Mitschriften, Notizen, Gesprächen und fremden Ergänzungen erstellten Textes, der bereits 1916 erstmals erschien, kommt es uns hier an44 ; mittlerweile gibt es eine musterhafte Saussure-Philologie, die den einzelnen Quellen in vorbildlicher Form nachgegangen ist45 • Für uns endet mit dem Werk von 1916 und seiner Wirkung die eigentliche Geschichte de Saussures: mit einem Nachklang ohne Beispiel, zu einem geistigen Leben ohne Beispiel.
4. Fragenwir, dem Wortlaut unseres Titels folgend, nach der Rezeption von de Saussures Frühwerk durch die heutige Indogermanistik, dann ist (laran zu erinnern, daß dieses Frühwerk vom "System der Vokale in den indogermanischen Sprachen" handelt; seine Rezeption kann also nur den phonologischen und morphonologischen Bezirk der Indogermanistik von heute betreffen. Unsere Darstellung verfährt am besten so, daß sie das phonologische System und die damit verbundenen mor41 ' Hiersche
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42 Hiersche a.a.O. 43 V gI. Scheerer 6Off., mit Lit. S. auch E. Seebold, Theorie, Methode und Didaktik der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft (Kolloquium der Indogermanischen Gesellschaft Köln 1971, Wiesbaden 1973) 23 Anm. 2, nach dem .die Wirkungsgeschichte des Werks ausschlaggebend [ist, nicht die Frage,] ob de Saussures persönliche Meinung gegebenenfalls von diesen Formulierungen abwich". 45 VgI. die bahnbrechende Untersuchung der handschriftlichen Quellen des .Cours" [hier: Godel] und die zur Stunde noch nicht vollständig erschienene kritische Ausgabe [hier: Engler]. Wichtig ist ferner der ankündigende Aufsatz von Engler, Kratylos 4 (1959) 119-132; vgI. jetzt Scheerer 71ff., mit reicher Lit. 44
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phologischen Auffassungen der heutigen Indogermanistikkn~pp schildert; erst im letzten Teil der Untersuchung soll die Frage gestellt werden, wieviel davon, auf zwei getrennten Traditionswegen, von Saussures Jugendschrift herkommt. 4.1. Erfreulicherweise bin ich sogleich zu einer Einschränkung dieser Sätze gezwungen. Phonemgesetzliche Überzeugungen "der" Indogermanistik von heute gibt es nicht; gäbe es sie, wäre unser Fach in der Tat so museumsreif, wie manche meinen. Ich muß, vielleicht etwas apodiktisch, das System vorführen, das ich für gesichert halte - ohne Ihnen freilich ein Privatsystem zuzumuten, das auf meine Person beschränkt wäre. Was ich darlege, stimmt mit den Auffassungen der meisten Indogermanisten überein, die sich mit phonemgeschichtlichen Fragen des Indogermanischen ernsthaft beschäftigen; es kann im Bereich der wohl wichtigsten indogermanischen Sprache, des Altgriechischen46 , mit den Büchern von Beekeg47 und Rjx48 weitgehend auf Handbuchdarstellungen rekurrieren. Unnötig ist hoffentlich, das Adjektiv "meist" zu rechtfertigen; man wird mir nicht zuschreiben, ich hielte die wissenschaftliche Wahrheit für eine Funktion der Abstimmungsmehrheit. 4.2. Die Schilderung des indogermanischen Phonemsystems, dem meine Überzeugung gilt, beginnt mit einer scheinbaren Absurdität. Während Saussures Buch von den Vokalen handelt, nenne ich vorweg jene Gruppe von Phonemen, die den Vokalen mit Sicherheit am fernsten stehen: die Okklusive. Im Fortschreiten der Darstellung wird freilich der Grund für diese Anordnung erkennbar werden. - Die Gruppe Ein schöner Satz aus Saussures "Memoire" soU im dieser Stelle in Erinnerung gerufen werden: "La langue des Hellenes est a cet egard presque l'unique lumiere qui nous guide" (S, 139). - Die unten 4.2.2.1, 4.3.1 Anm. 71 erwähnten Beispiele für die-vero schiedenartige Vertretung von *{lhl.3, *h 1•3{l im Griechischen haben diesen Satz inzwischen noch beträchtlich gestärkt. Ich finde mich leider in einem Gegensatz zu meinem Freund Wolfgang Meid, wenn dieser trotz solcher Resultate heute noch einen "Versuch ..., das Griechische zum Kronzeugen für die Laryngaltheorie hochzustilisieren" ablehnend erwähnt (in Neu-Meid [edd.], Hethitisch und IndQgeQl1anisch [Innsbruck 1979]175 Anm. 37). Daß Albert Cuny aus dem Resultat {l +," ~~" schon 1912, als man kaum ein paar Wörter Hethitisch verstand, den konsonantischen Charakter von,)' erschloß (unten 4.2.2.1 und 6.2.2.1), hätte Meid a.a.O. auch von der Feststellung abhalten sollen, der "Vergleich der außerhethitischen i[n]d[0 ]g[ermanischenJSprachen erlaub(eJnur, ein Lautsystem ii la Brugmann zu rekonstruieren". 47 R. S. P. Beekes, The Development of the Proto-Indo-European Laryngeals in Greek [= Janua Linguarum, Series Practica 42, Den Haag-Paris 1969]. - Vgl. ferner Beekes in Kratylos 15 (1970[72J) 46f. 48 H. Rix, Historische Grammatik des Griechischen. Laut-und Formenlehre (Darmstadt 1976), bes. 36ft., 68ft. 46
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von .okklusiven, die hier folgt, macht einen wohlbekannten Eindruck; sie scheint nichts weiter als die Wiedergabe des Systems des späten Brugmann, der klassischen Indogermanistik; die geläufigen Artikulationsreihen erscheinen in vier oppositionstragenden Artikulationsarten, den Tenues, den Tenues mit dem Merkmal Behauchung, den Medien und den behauchten Medien: Labiale Dentale Palatale Velare Labiovelare
b
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4.2.1. Was aber wie eine Beibehaltung des bewährten Alten aussieht, ist dennoch zum Teil eine Rückkehr zu ihm auf Grund tieferer überlegungen. Es wird im Verlauf dieser Darstellung offenbar werden, daß ich in den Resultaten eindeutiger diachroner Prozesse im Indogermanischen - etwa dem altind. Präsens ti-~rh-a-, dem Schwachstamm path-, auch dem Verbalmorphem altind. -tha = griech. -On - die altindische und griechische Tenuis aspirata als Folge des Zusammentritts der indogermanischen Tenuis mit dem Laryngal h 2 , also primär zweier Phoneme, ansehe. Dennoch scheint es echte, einphonemige Tenues aspiratae schon im Indogermanischen gegeben zu haben, wenn auch nicht reichlich besetzt: sie finden sich in den typischen Fällen,mit denen eine Leerstelle im System vermieden wird, nämlich in alten Lehnwörtern wie *konkho- 'Muschel' (ved. sarikhfl-, griech. K6yxO~), in Onomatopoetika, Expressiva u. dgl. Damit aber ist das System, in dem es neben behauchten Lenes auch behauchte Fortes gab, gesichert, wenn auch die schwache Besetzung der behauchten Fortes zu Umstrukturierungen Anlaß gab, die ihnen neues Beleggut zuführte (durch T + h 2 > 'fh im Altindischen, Dh > 'fh im Griechischen); dadurch ist den beachtlichen Einwänden von Jakobson, Gamkrelidze, Ivanov und anderen die Spitze genommen, die in dem T - D - Dh der Laryngalisten ein System ohne Parallele in allen bisher untersuchten Sprachen sahen und es allenfalls durch komplizierte Prä-Systeme ersetzen Wollten49 • 4.2.2. Durch externe Evidenz - das heißt, durch die einander stützenden Aussagen mehrerer verwandter Sprachen - werden m. E. für das Indogermanische sodann drei Phoneme aus dem Bereich der Hauch49
Zu lakobson s. Szemen!nyi 1967, 88; über Gamkrelidze[-Ivanov] vgl. zuletzt die Hinweise bei Mayrhofer, AÖA.w 117 (1980[81]) 361 Anm. 4, mit weiterer Ut. - Zu beachten Szemerenyi 1980, 135ft., mit Ut.; A. R Bomhard, Orbis 28 (1979) 66ft.
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und Reibelaute g~fordert, die heute gemeinhin als */hl/, */h 21und */h/ angesetzt werden50 • Über die wichtigen Aussagen aus dieser externen Evidenz wird gleich zu handeln sein. - Seit den Anfängen der Indogermanistik wird der Grundsprache ein Reibelaut, */s/, zugeschrieben. Obwohl mir die Aussagen der verglichenen Sprachen wesentlicher sind als Überlegungen typologischer und universalistischer Art, so ist mir gleichwohl willkomnieiJ., daß die neue Auffassung den Forderungen der allgemeinen Typologie besser entspricht als das System der klassischen Indogermanistik. Es war typologisch unglaubhaft, daß eine Sprache ein umfängliches Okklusiv-System (0. 4.2), aber nur den einzigen Reibelaut *Isl haben sollte; es widerspricht der Universalienlehre, daß eine Sprache mit mehreren behauchten Okklusivphonemen kein *Ihl aufzuweisen hätte51 • Daß im System der gemäßigten Laryngalisten neben */sl noch weitere Reibelaute vorkommen und daß einer der "Laryngale", wohl */h/, wahrscheinlich phonetisch ein eh] war, empfiehlt das heutige System somit auch der Sprach typologie. 4.2.2.1.' Anders als */sf52, haben */h l_31 mit den restlichen Konsonanten, */r/, */1/, */m/, */n/, noch eine Eigenschaft gemein: sie können in bestimmten Positionen - z. B. zwischen Okklusiven - auch sonorisiert werden, also ein silbentragendes Allophon bilden, das in der diachronischen Entwicklung sogar zum Vokal führen kann: daß [(,1] (= Ifll zwischen Okklusiven)im Griechischen zu lai wurde, erkannte der-fünfzehnjährige Schüler de Saussure und dreiJahre später der an der Schwelle seines Weltruhms stehende Brugmann (0.1.1). Dabei muß offen gelassen werden, ob [H] als Sonorisierung eines Reibelautes oder durch die Entwicklung eines Sproßvokals ([/I], [He]) den sonantischen Charakter von primär konsonantische,? /HI (= Cover-Symbol für jedes der 50
Zur externen Evidenz s. in neuerer Zeit meinen soeben zitierten Kurzartikel sowie MayrhoferFsNeumann, mit weiterer Lit. - Dort Anm. 19 auch Erwägungen zu' den möglichen phonetischen Werten dieser Phoneme, deren .algebraistische" Darstellung mir redlicher erscheint als ihre unbeweisbare jeweilige phonetische Notierung. [In der Meinung, daß man .algebraistisch" notieren, aber stets die phonetischen Möglichkeiten bedenken solle, treffe ich mich zu meiner Freude mit R. S. P. Beekes, Bibliotheca Orientalis 37 [1980]205b f.].
51.
Vgl. dazu Szemerenyi 1967, 89f., mit Besprechung der Literatur. Der Verfasser möchte sich an dieser Stelle vor dem Vorwurf schützen, die Sonorisierbarkeit von Isl, etwa in schweigengebietendem pst!, sei ihm unbekannt; er hält auch für das Indogermanische ein • 'p~d-" neben *pesd- als Wiedergabe des Blähungslautes für möglich. Mit einigem gutem Willen wird man diese Fälle aber einer anderen Ebene zuweisen als den tief im indogermanischen System steckenden Realisationen von Irl, Iml als lL'], [T] usw.
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drei Ih/) bewirkt hat53 • Wichtig ist, daß IRI primär zu den Konsonanten gehört: In *phier- 'Vater' wird zwar */h/ sonorisiert, es setzt sich in gr. 1ta1;EQ-, lat. pater-, altind. pitfir- als Vokal fort; im Dativ *ph 2trej 'dem Vater' aber ist */h 21 offenkundig ein Konsonant ohne silbenzeugende Wirkung, die Phonemkette in diesem Kasus ist einsilbig (> avest. IfSniil < jtJöröi ». Der primär konsonantische Charakter des */H/, hier am deutlichsten bei *Ih 2/, zeigt sich, wenn es hinter einen Okklusiv und vor einen Vokal zu stehen kommt: *plJt-h 2 -es 'des Weges' wird indoiranisch *pathds (altind. patluil;z, avest. pa8o)54; konsonantisches Ih/ vergleicht sich hier der natürlich konsonantischen Realisation von r oder n in theoretisch erstellten Phonemketten wie "tret" oder "tnet". Wo */HI sonantisiert erscheint, vergleichbar ,,~t", "tyt", ergibt sonantisiertes h j griech. E, h 2 griech. a, h 3 griech. o. Der Drei-Laryngalismus zeigt sich ferner darin, daß r,t,m,n vor IHI zu ~ etc. werden, was nur möglich war, wenn IHI ein Konsonant war, wie Albert Cuny schon 1912 deutlich ausgesprochen hatte55 ; Erkenntnisse aus neuerer Zeit - gleichzeitig und unabhängig von Beekes und Forssman gewonnen56 - zeigen aber zudem die dreifache Vertretung: ~H usw. wurde nicht einheitlich zu ,,~", sondern die drei Laryngale bewirkten drei verschiedene Resultate: r;h j > griech. QI'], ~h2 > griech. Qd, ~h3 > griech. QW, und mutatis mutandis lJh j > VI'J, etc. etc. Und schließlich hat */h 21 noch einen direkten konsonantischen Fortsetzer: im Hethitischen entspricht ihm ein durch <~>bezeichnetes Phonem: *pah 2-s- 'schützen' « älter *peh2-s-; vgl. lat. päsco, pästor, s. u. 4.3.1) erscheint in der keilschriftlichen Graphie des Hethitischen als <pa-a~-S'>57. 53
Zu der vielbehandelten Frage s. Szemerenyi 1980, 12lf. und Peters 3, jeweils mit Lit.
54 Der vollstufige Nominativ - den ich in indoiranischen Vokalwerten wiedergebe - er-
gab als ·panl-ah2-s hingegen ·pantOs, mit -1-, nicht -th-; jenes ist in avest.pa(lla erhalten: ein m. E. überwältigendes Zeugnis für die einerseits behauchende (I + h 2 > av. e), andererseits vokaldehnende Wirkung von /h2/ (a + h 2 > av. im selben Paradigma! - Die naheliegende Durchführung des in den schwachen Kasus entstandenen ·-th- zeigt hingegen ved.ptinthiiJ; ["ptintiis" in Grassmanns Veda-Wörterbuch Sp. 767 ist leider - wie die Durchprüfung der Stellen zeigt - nur ein Druckfehler]. 55 S. dazu Vallini, SSL 9 (1969) 38ff.; weiter über Cuny u. § 6.2.2[.1]. 56 R S.P.Beekes, a.Arun. 47 a.O., bes. 98ff., 203ff.; B.Forssman, Untersuchungen zur Sprache Pindars (Wiesbaden 1966) 145ff. 57 Vgl. z.B. pa-alj,-si 'bewahre mich', pa-alj,-sa-nu-Wl-an-zi 'sie schützen', etc.; F. Sommer - A. Falkenstein, Die hethitisch-akkadische Bilingue des tIattusili I (Labarna II), München 1938, 198f., 240bf.; J.Friedrich, Hethitisches Wörterbuch (Heidelberg 1952) 153ab, mitLit.; in neuerer Zeit F. Bader, BSL69 (1974) 9f., Studies ... Offered 10 L. R Palmer (lnnsbruck 1976) 15f.; Ch. De Lamberterie, Sprache 26 (1980) 134.
a)
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Mit diesen ersten Hinweisen auf den konsonantischen Charakter und auf die notwendig geforderte Dreizahl der .Laryngale" wollen wir es hier bewenden lassen; bei der Besprechung der verbleibenden, für unser Thema zentralen Phoneme, der Vokale, werden wir den .Laryngalen" nochmals begegnen.
4.3. Im Bereich des Vokalismus erweist sich als unbedingt nötig, die Phoneme nicht rein im lautlichen Bereich, sondern auch morphologisch und morphonologisch zu betrachten; die Rolle der Vokale in der Wurzelstruktur, ihre Aufteilung auf gewisse morphologische Kategorien, die Hierarchie von Vokalwechsel und Vokalschwund innerhalb einer morphonologischen Erscheinung wie dem Ablaut sind zu beachten. Tut man das wirklich, dann kann die von ernsthaften Linguisten mit viel Fleiß behauptete58 und, häufiger noch, von Antilaryngalisten als Karikatur verwendete These nicht gehalten werden, das Indogermanische habe nur ein einziges Vokalphonem, kurzes */e/, besessen; alles übrige, was uns aus - ebenso archaischen wie vokalreichen - Sprachen wie Latein oder Griechisch entgegenklingt, sei die Folge von Laryngalund Akzentwirkungen. Das ist Ausfluß einer atomistisch-lautlichen Betrachtungsweise. Eine morphonologische Sicht, wie sie der blutjuhge de Saussure inmitten einer von der "Lautlehre" beherrschten Umwelt geboten hat, kennt natürlich viele Vokale, stellt sie aber in eine morphologische Hierarchie59 ; in den primären Kategorien wie etwa dem thematischen Präsens ist -e- der Normalvokal, aber in sekundären Kategorien entsprechen ebenfalls Vokale wie das -0- der Abtönungsfälle oder, bei primärem -e- in Diphthongwurzeln mit -ei- oder -e~-, als deren Schwundstufen in Derivaten die - natürlich vokalischen - -i- und -U-. 58
59
Eine gründliche und kritische Schild~rung dieser Bemühungen bei Szemen!nyi 1967, 73ft., mit Lit. - .Für eine frühe Zeit des Indogermanischen setzt die L a ry n ga I t he 0rie z. T. als Grundstufenvokal nur e an; a und 0 seien durch vorausgehende, verschieden gefärbte konsonantische ,,·veranlaßte Umfärbungen", liest man noch 1977 in einem vorzüglichen Handbuch ([F.Sommer-] R.Pfister, Handbuch der lateinischen Laut- und Formenlehre, Heidelberg 41977,39). Gewiß ohne Absicht zur Irreführung wird hier etwas referiert, was weder Saussure noch .die" Laryngaltheorie behauptet haben. V gl. G. Redard, CFS 32 (1978) 31 über L. Havets Urteil [1879] ("Havet a donc aussitöt compris que le systeme ... etait bien plus morphologique que phonetique"); s. die frühe Rezension von N. KruSevskij (= M. Kruszewski), Russkij filolögieeskij Vestnik 4 (1880) 40 gegen die indische Steigerungstheorie und für Saussures Hierarchie ("Fiziologieeski nikto eSi:e udovletvoritel' no ne vyjasnil processa izmenija i v ai, u v au ... " [= jetzt auch italienisch im Anhang von Vincenzi 446]); vgl. J.Kurylowicz, CFS 32 (1978) 7f. (zu Saussures neuem Prinzip der Hierarchie; der "heros" seines Buches ist a1 [= e]).
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Morphologisch ausgedrückt: tego ist primär gegenüber toga, tegula; AEL1tW steht hierarchisch an einer anderen Stelle als AotJtOC; und AtJtELV; aber alle. Vokale aus diesen zwei herausgegriffenen Beispielen - es waren dies lei, 101, le:/, lil - setzt ein heutiger Indogennanist, der drei Laryngale für unabdingbar hält, in sein urindogennanisches System, zusammen mit weiteren Vokalen, die exakt jene sind, die noch das altlateinische Phonemsystem kennt. Eine morphologische Hierarchie - wonach beispielsweise das Präsens binden als primär empfunden wird gegenüber dem Präteritum ich band oder der Nominalbildung das Bandhat nichts mit der Existenz verschiedener Vokale zu tun: 101 war im Indogennanischen gewiß ein eigenes Phonem, selbst wenn es nur in morphologischen Abtönungskategorien existiert haben sollte: ein Minimalpaar wie griech. yEvOC; : yovoC; ist bereits ins Indogennanische zurücktransponierbar, und hier erweist die Opposition lei: 101 ein eigenes Phonem 101. Aber primäres lai hat es ebenso, auch in Wurzeln des Typs [-JCaC[-J, mit Sicherheit gegeben; Wurzeln wie *sa1f:S- 'trocken', *,*at- 'verwunden', *kas- 'grau', *ftans- 'Gans' etc. gibt es, ohne daß in ihnen eine laryngalistische Umfärbung des gemeinhin "hierarchischen" lei zu lai aufzeigbar wäre. Sie sind freilich von wesentlich geringerer Frequenz als die -e- Wurzeln des Typus tego, fero, [ego, AELnW; ein Sprachsystem hat eben keine ausnahmslosen Typen, sondern nur Regeln von vorwiegender Häufigkeit. "Das seltne vom durchgreifenden zu unterscheiden, ist doch immer etwas" , lautet ein kluger Satz des heute wieder zu Recht hochgeschätzten6O Lehrers und Gegners der deutschen Junggrammatiker, Georg CurtiUS61 • Neben lei, 10/, lai haben aber auch lil und lul, die zudem nicht nur in schwundstufigen Kategorien diphthongischer Wurzeln erscheinen, als Vokale zu gelten. Sie sind vokalische. Phoneme, die sich vor NI als Allophone [0, [~J realisieren können, und diesen Allophonen verleiht die maßgebende Darstellung von Chomsky und Halle62 :die Merkmale [- syllabic, - consonantal]; i/i, u/'1 sind hie60 61
62
Vgl. die Beurteilung durch H.H.Christmann, Sprachwissenschaft des 19.Jahrhunderts (Wege der Forschung CDLXXN, Darmstadt 1977) 84. G.Curtius, Zur Kritik der neuesten Sprachforschung (Leipzig 1885 [Nachdruck in: The Lautgesetz-Controversy, ed. T.H. Wilbur, Amsterdam 1977]) 7. -Auch in der Hinnahme primärer [-]CaC[-]-Wurzeln trifft man sich mit Saussure: allerdings weniger mit seinem ersten gedruckten Buch (doch vgl. immerhin die Beispiele in Memoire 55f.), als mit seinem letzten gedruckten Artikel (s. RecueiI595ff.), wo er solche Typen bestimmten semantischen Kategorien zuweist. N. Chomsky - M. Halle, The Sound Pattern of English (New York etc. 1968) 354. Zu beachten sind die Worte in Saussures Memoire 8 (.suivant que l'e persiste ou
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mit etwas anderes als Iml oder Irl, deren Realisation zu Allophonen [lll], [~] eine andere Reihung der phonologisch-phonetischen Prozesse zeigt; [+ syllabic, + consonantal] ist die Qualifikation von ['ll], U-] etc. bei Chomsky-Halle63 • Daneben gab es, unter Auslassung der laryngalbedingten Fälle, mit Sicherheit diese Vokale auch mit dem relevanten Merkmal Länge: le:/, 10:/, auf jeden Fall in den nach morphologischen Mustern gebildeten, laryngalfreien Dehnstu(en6" dazu la:/65. Ein dem Dreilaryngalismus verschriebener Indogermanist weist dem Indogermanischen also das gleichsam "lateinische" Vokalsystem lil lul lei 101 lai samt seinen Längen zu, ehe er von den Laryngalwirkungen im Vokalismus überhaupt zu sprechen begonnen hat; als bedauerliche Zeitverschwendung und als ärgerliche Kompromittierung weist er Systeme von sich, die nur lei und einen Berg von Konsonanten kennen, darunter auch die fallweise zu [11 Cu] sonantisierten Konsonanten Iyl Iwl, woraus erst der Zauberstab eines mißbrauchten Laryngalismus sekundäre Vokale in den Einzelsprachen entstehen ließ - wobei zur Bekräftigung dieser Systeme die gesamte Erde nach exotischen Sprachen von Kleingruppen durchforstet wurde, die den ersehnten Ana10gieschluß ermöglichen sollten66 • disparait, leurfonction varie: ... i et u passent de I'etat symphthongue aI'etat autophthongue" [s. u. Anm. 63]), sowie die gegenüber einigen vorher angedeuteten Linguistenurteilen beschämend vernünftige Mahnung des Nicht-Linguisten T. M. Scheerer (.Man vergiBt ... , daß mit der Annahme von e das zwangsläufig auftretende 0 ••• sowie die vokalischen Qualitäten von i und u ... nicht ausgeschlossen werden [Scheerer 20]); Scheerer hat sich ausdrücklich dem besonnenen Urteil von M. Leroy, Linguistique contemporaine, Hommage aEric Buyssens (Brüssel 1970) 132 angeschlossen. 63 Chomsky - Halle a.a.O. - Daß i, u, {!, l'f jeweils als .coefficient sonantique" gleichgewertei scheinen, zeigt den Saussure des Memoire wohl der Phonetik seiner Zeit verhaftet; vgl. zudem die Hinweise bei Vallini, SSL 9 (1969) 12 auf Saussures mangelndes Interesse für die phonetischen Bestimmungen seiner Ansätze, aber andererseits die oben Anm. 62 schon zum Teil zitierte Stelle in Memoire 8 (wo dem Übergang von i, u in den .etat autophthongue" gegenübergestellt wird: .r, I, m, n, de consonnes deviennent sonantes"). S. ferner Gmür 67 Anm. 81. 64 Zur Entstehung der Dehnstufe s. noch besonders J. Kurylowicz, Indogermanische Grammatik II (Heidelberg 1968) 298ff. sowie in Th.A.Sebeok (ed.), Trends in Linguistics 11 (Den Haag-Paris 1973) 90. 65 Ein Beispiel für */ a: / in einem sicher alten urindogermanischen Wort liegt in *miiler'Mutter' vor, wenn man sich zu keiner Herleitung aus einer VerbaIwurzel *meh 2- entschließen kann, sondern von einem primären Lallwort *mä ausgeht (s. zuletzt M. Mayrhofer, AÖAW 117,1980[81],360 Anm. 3), wie Szemerenyi 1967, 92 Anm. 85 richtig betont. 66 Vgl. die ausführliche Darlegung bei Szemerenyi 1967, 71ff.; s. auch M. Back, KZ 93 (1979) 185, 193.
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4.3.1. Gibt es also überhaupt Laryngalwirkungen im Vokalismus? Daß die "Laryngale" - Konsonanten, die sie mit Sicherheit waren - im Konsonantismus beachtlich bewirkt haben, konnten wir bereits zeigen (0.4.2.2.1). Ihre vokalischen Wirkungen gehen von einem wiederum morphologischen Argument des jungen Saussure aus, das zu seiner Zeit als ein induktiver Versuch aus einer Art von interner Eviden.z6 7 heraus noch nicht verifizierbar war, dessen Vorschläge inzwischen aber durch externe Evidenz - durch die einander bestätigenden Aussagen mehrerer Sprachen - verifiziert worden sind. Sau~sures Gedankengang war (wobei wir die Symbolik von 1878 stillschweigend modernisieren und einen einzigen, begründbaren Fehler de Saussures68 berichtigen): Ge67 In meiner Auseinandersetzung mit N.Boretzky (MayrhoferFsNeumann) versuche
ich zu zeigen, daß die Anfänge der .Laryngaltheorie" zwar in einer Art von interner Evidenz lagen, die freilich von einer rekonstruierten Sprache ausging, was man sehr verschieden bewerten kann; wesentlich ist, daß die sicheren Laryngalwirkungen der heutigen Lehre auf externer Evidenz beruhen (z. B. *Ihzl > heth. <1.1>, gr. annen. a-, gennan. (/)-: *hzster- 'Stern' > heth.
[< *hzstir + Os, N. Oettinger, KZ 94, 1980,51 Arnn. 25J, gr. a-O"t1]Q, armen. a-stel, nhd. Stern; wie wäre man jeweils aus einer der genannten vier Sprachen, bei intern-isolierter Betrachtung, auf diese Besonderheit gekommen?). - Man kann sich vorstellen, daß schon ein Inder des Altertums die Genialität besessen hätte, aus seinem Sanskrit heraus, .intern", nach der Analogie bhar- : bhr-ta- = man- : ma-ta- ein ma- = "mn-" zu finden; einen vergleichbaren internen Schluß zog aber bekanntlich erst der fünfzehnjährige de Saussure (0. § 1.1). Daß Saussure, wie man aus Memoire 248 ablesen könnte, den internen Schluß gezogen habe .ai. bhar-: bhr- = pavi-: pU-, also steht pu- für *p(a)vi-", ist mir unvorstellbar; er mußte das .externe" Wissen haben, daß -i- in pavi- nicht dem lat.~ griech. -i- entsprach, sondern ein .anderes" -i- war (= lat.-griech. ·a-; sein "A"). Erst extern erschlossenes Indogennanisch (in der Symbolik von 1878) ergab die Möglichkeit des Schlusses .bha1r : bhr- = pa1uA : puA-; uA wird zu u kontrahiert, daher pu-tao"; vgl. auch Gmür 43. Wegen dieseS immer noch als .interne Rekonstruktion" empfundenen Verfahrens hat denn auch kein .comparatiste au monde (sauf H. Möller)" es anfangs akzeptieren können, wie C. Watkins, CFS 32 (1978) 64 richtig schreibt. 68 Es handelt sich darum, daß Saussure sowohl (in heutiger Terminologie) idg. *e wie *ä auf die nämliche Verbindung von *e mit seinem "A" (= *h z ) zurückführt; warum ihm die naheliegende Konstruktion eines .E" (= *h 1) nicht gelang, läßt sich aus seiner Konzeption verstehen (vgl. C. Vallini, SSL 9 [1~69J 39 Arnn. 40, Gmür 30; s. auch J. Kurylowicz, CFS 32 [1978J 12); gleichwohl gehört dies zu den .points faibles" seiner Theorie (Szemerenyi 1973,4; s. bereits Streitberg, IJ 2 [1914(15)J 209 = Th.A. Sebeok [ed.J, Portraits of Linguists Vol. II [Bloomington-London 1966J 106). Die Korrektur erfolgte bald nach dem Erscheinen des Memoire durch H. Möller, Englische Studien 3 (1980 [so U. Anm. 83]) 151 Anm. 1 (.er hätte [neben "A,O" = hz,h 3 ] ... für wurzeln der stufe ... germ. di . .. noch ein dritt& [wurzelhaftes element] aufstellen sollen ... ") sowie in A.Ficks Besprechung, GGA Stück 14 (7. Apri11880) 437f.
a-,
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genüber einem Wurzeltyp wie dem von lat. teg-, !er-, pet-, griech.l'tE't-, AEIJt-, eproy- fallen Wurzeln wie *stä- (griech. t-O'tä-!u), *dhe- (griech. 'tL-9t]-!U), *dö- (griech. ÖL-Öro-!U) aus dem typoellen Muster; Saussures - wie ich wiederhole: hier in heutiger Symbolik wiedergegebene - Auffassung solcher Wurzeln als *steh 2-, *dheh 1-, *dehr entsprechen dem Typus (C)CeC(C) der genannten Normalwurzeln; ihre in den schwundstufigen Kategorien (wie gr. l't't-, AL.1t-, -ah 2- ), noch als Konsonant erhalten (s. o. 4.2.2.1 über heth. palj-s- lat. päscö); daß heth. -alJ- auf *-eh 2- und nicht etwa auf primäres *-ah- zuriickgeht, läßt sich zeigen, wenn mit Heiner Eichner69 zu "*mii-" (iat. mii-türus) < *mah- <*mehz- die dehnstufige Kategorie (mit morphologischer Länge ezu *-e-, die der Umfarbung widerstand) in *meh2-!i~ 'rechte Zeit' als heth. Imehurl fortlebt. Heute, da die verschiedenen Wirkungen von h 1 (das in sonorisierter Realisation eine Richtung zu e hatte und griech. E ergab), h z (> griech. a, heth. lJ, indoiran. -h- nach T) und h3 (> griech. 0) aus diversen einander erhellenden Aussagen_mehrerer genetisch verwandter Sprachen bekannt sind, läßt sich der strukturelle G,edanke Saussures von einer einheitlichen Wurzelgestalt in eine schlichte lautliche Formel ummünzen: e + h 2, das einen Zug zum a hatte (h 2 > griech. a), wurde, über -ah- (heth. *h 2ant- > heth. lJant- 'Vorderseite', lat. ant-e 'vor' usw.), dehnten aber einen nachfol-
69
MSS 31 (1972) 53ff.; dazu MayrhoferFsNeumann,§ 2 Anm. 9, § 2.1.1,mit Anm. 18.
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genden Vokal natürlich nichfo. Daraus, daß es indogermanische Wörter 'mit H-Anlaut gab, - auch vor bestimmten Konsonanten, womit zum Teildas Phänomen der griechiSchen und armenischen Vokalprothesen erklärt wird71 - geht natürlich nicht hervor, daß vor jenem Anlautvokal, der in Wörtern indogermanischer Sprachen erscheint, jedesmal ein H- gestanden haben müsse; das anzunehmen wäre ein logischer Fehler, wäre ein umgekehrter Schluß72. Zu *h 2eg- ist das Verhalten von R. Gusmani interessant, dessen Aufsatz "lttito, teoria laringalistica e ricostruzione" (in: E.Neu - W.Meid [edd.], Hethitisch und Indogermanisch [Innsbruck 1979] 63ff.) nicht zu den durchdachtesten Arbeiten dieses verdienten Gelehrten gehört. A.a.O. 66 Anm. 10 polemisiert er gegen Beekes' Forderung:,a2eg- [so die Symbolik Beekes'] anzuset2en und nennt S. 68 diese Wurzelform (gegenüber traditionellem *ag-) "inutilmente tautologica"; seine Redlichkeit veranlaßt ihn jedoch in einer Fußnote, die offenbar erst in die Korrekturen eingefügt werden konnte, zuzugeben, daß ill2Wischen ein Beweis für den h 2-AnIaut von "agere" erbracht worden sei: durch Klaus Strunks Nachweis, daß ved. ein thematisChes Präsens des Reduplikationstyps tf.r!ha-,pi-bd-a- sei und nur unter dem Ansatz *hzi-hzg-emit ved. aj- verbunden werden könne (Vorträge des XIX. Deutschen Orientalistentags [ = Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Supplement 111,2, Wiesbaden 1977] 971ft.). Neben der Reduplikationssilbe kann auch z.B. ein vorangesetztes Privativpräfix einen Laryngal selbst dort erweisen, wo apriori weder heth. /h-/ noch eine Änderung der Qualität des Wurzelvokals zu erwarten waren, wie in *h,es- "esse": vgl. ved. ii.at 'nicht-seiend' (*l.'-h,s[e]nt-), "an zwei Stellen ... sogar, wo das Versmass die Kürze begünstigt" (H. Grassmann, Wörterbuch zum Rig-Veda [Leipzig 1873]153). - Im "Memoire" fehlt A,Q vor Vokalen; damit ist dort die letzte Konsequenz ausgeblieben, die sich aus dem Charakter der "Koeffizienten" ergeben hätte (vgl. die Li!. bei A. R. Keiler, A Phonological Study of the Indo-European Laryngeals [Den Haag - Paris 1970]15 Anm. 25; J. Kurylowicz, CFS 32 [1978]25; GmÜr34). 71 Vgl. oben die Fortsetzer von *h 2ster- 'Stern' (Anm. 67); s. *h 2ner- 'Mann' in griech. ltvijQ, armen. ayr, phryg. avOQ, indoiran. *Hnar- (= ved. n/zr-, aber in Komposita ved. *su-Hn/zr-a-, altavest. *kamna-Hnar- > sün/zra-, kamnänar- etc.; vgl. Fachlit. und weitere Beispiele bei M. Mayrhofer, Zum Namengut des Avesta [Wien 1977] 34). Zum Phänomen der Vokalprothese s. zuletzt (mit der neueren Lit.) MayrhoferFsNeumann, bes. § 3f. ~ Ein anderer wichtiger Beweis für /Hd im Anlaut wird durch die "Lex Rix" erbracht (H.Rix, MSS 27 [1969] 79ft.; Historische Grammatik des Griechischen [.] Laut- und Formenlehre [Darmstadt 1976]"68f. § 3.5.1), für die es im "Memoire" allenfalls eine unklare Vorahnung gibt (u. Anm. 103). 72 Vgl. idg. Ansät2e wie *a/l- 'anziehen', *ai- 'warm sein, warm werden' mit heth. Fortsetzern ohne ~- (H. Eichner, Sprache 24 [1978]151 Anm. 28). Daß der frühe Kurylowiez für Fälle, in denen einem idg. *a-Anlaut im Hethitischen /a-/ und nicht fha-/ entsprach, einen .vierten Laryngal einführte, halte ich privatim für einen Sündenfall des genialsten Vertreters der klassischenLaryngallehre; der Weg zu dem abstoßenden Polylaryngalismus, den ich unten § 7 \andeute, ist damit vielleicht gewiesen worden. (Konzilianter Eichner a.a.O.; s. Peters 110). 70
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5. Ich glaube, die allerwichtigsten Resultate der Laryngaltheorie angedeutet zu haben. Die Anführung von weiterem erlaubt die Zeit nicht; das letzte Viertel dieser Darstellung muß einer Schilderung der Verbindungswege von Saussures Friihwerk zu den heutigen Auffassungen hin vorbehalten bleiben73 •
I
,
De ce livre, infiniment fecond en consequences d'abord inaper~ues, date une ere nouvelle dans la linguistique indo-europeenne. E. Muret, FdS 42
6.1. Vorweg kann nicht nachdriicklich genug gesagt werden, daß in die traditionelle, nicht-laryngalistische Indogermanistik, die ihren gewaltigsten Kompilator in Karl Brugmann und ihren geschicktesten Darsteller und Didaktiker in dem verewigten Mitglied dieser Akademie, Hans Krahe, gehabt hat und die noch vor wenigen Jahrzehnten in den deutschsprachigen Ländern als die einzige ernstzunehmende Form dieses Faches galt, bereits Wesentliches aus Saussure eingeflossen ist; ähnliches - die Aufnahme von Wesentlichem aus de Saussures System, die Weglassung von ebenso Wesentlichem - gilt auch für die maßgebliche Darstellung der französischen Indogermanistik seit Jahrhundertbeginn durch Antoine Meillet, dessen Buch sogar de Saussure als dem Schöpfer des "Memoire" gewidmet ist14 • Die Bücher, die vor allem zum klassi~chen Bild von Vokalismus und Ablaut beigetragen haben, Hei!lrich Hübschmanns "Indogermanisches Vocalsystem" von 1885 und Herman Hirts "Indogermanischer Ablaut" (1900), sind nicht nur voll der Bewunderung für de Saussures Leistung75 , sie übernehmen auch '73 S. auch meine Apologie in AÖAW 117 (1980[81]) 363 (.Das waren wenige Andeu-
tungen eines Lehrgebäudes, zu dessen voller Darlegung es ... einer mehrstündigen Semestervoriesung bedürfte ... "). 74 Vgl. u. 8.1. 75 H.Hübschmann, Das indogermanische Vocalsystem (Strassburg 1885) 2: .das System de Saussure's ist so scharfsinnig erdacht, so fest begründet und so sorgfältig aufgebaut worden, dass keine der gegen dasselbe bisher gerichteten einzelnen Bemerkungen es zu erschüttern vermocht hat ... ". Wichtig sind einige SteDen, in denen Hübschmann nahe daran ist, den .ganzen" Saussure zu akzeptieren; vgl. S. 67 Anm. 1 (.Es wäre ... auch jetzt noch möglich, dass die drei schweren Reihen sich auf die e-Reihe reduciren lassen, so wie de Saus sure es annahm"), S. 187 (Erwägung,
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wichtige Erkenntnisse von ihm: die sich vor Saussure schon anbahneni:le 76 . überwindung des scharfsinnigen "Steigerungssystems" der Inder durch eine linguistisch besser zu rechtfertigende Hierarchie, in der die lautlichen Mittelwerte als primär, die Schwächungs- und Nullwerte als ebenso sekundär wie die Längungen angesehen werden; und andererseits, diesmal als Rechtfertigung einer bewunderungswürdigen Gliederung der altindischen Grammatiker, den Nachweis schwerer und leichter Basen77 • Was sie dem "Memoire" nicht entnehmen wollten - Hübschmann war immerhin nahe daran -, war die Vereinheitlichung unter Bezug auf Fick [offenbar BB 9, 1885, 316f.], statt "ä" [ = ~] drei Schwundstufenwerte als Vorstufen von gr. a, E, 0 = aind. i anzunehmen, ä, ii, Ö, was demA, E, Qvon Saussure plus Möller/Fick, dem h 2, hh h 3 der Heutigen entspräche). Von einem vollen Anschluß an den Memoire ist Hübschmann, wohl der tiefste und klarste Kopf der damaligen deutschen Indogermanistik, durch den eindeutigen Fehler de Saussures abgehalten worden, der in lat. ago U$W. ein Aoristpräsens ·Ag- (= ,h~-") sah (vgl. dazu Hübschmanns richtige Kritik, a.a.O. 2f. [und IF Anz. 11, 1900, 27f.]; s. Szemerenyi 1973, 5). - H. Hirt, Der indogermanische Ablaut, vornehmlich in seinem Verhältnis zur Betonung (Strassburg 1900) -, ein Buch, das Saussure kritisch beurteilt hat (vgJ. CFS 21 [1964]98) - z. B. S. IV (" ... nicht unterlassen, die Bedeutung von de Saussures genialem Memoire hervorzuheben ... "), 43 ("Auf dem Boden de Saussures stehen heute wohl die meisten Forscher"). Zu deutschen Urteilen über Saussures Memoire s. ferner G.Redard, CFS 32 (1978) 32ff. [Die Beurteilung des "Memoire" durch den ebenso überragenden wie vorsichtigen deutschschweizerischen Indogermanisten Jacob Wackernagel aus dem Jahr 1916 ist erst durch den Wiederabdruck in dessen "Kleinen Schriften" III (ed. B. Forssman, Göttingen 1979) 1501 allgemein zugänglich geworden: "Aber jetzt hat sich, was an den neuen Theoremen das Wichtigste war, ... völlig durchgesetzt. Und die Bewunderung für den Glanz der Leistung war gleich zu Anfang allgemein ... "]. 76 Sehr interessant sind etwa die mit "februar 1878", also vor dem Erscheinen des "Memoire", datierten Überlegungen von H. Möller, KZ 24 (1879) 518; grundlegend A. Fick, BB 4 (1878) 169. 77 Vgl. dazu besonders das Urteil von Hirt, a.a.O. 42 (,Es wird de Saussures unvergängliches Verdienst bleiben, in seinem Memoire zuerst auf die Bedeutung der zweisilbigen Basen hingewiesen ... zu haben"). Eindrucksvoll sind auch die Zusammenstellung von Saussures "dissyllabic roots" mit altindischem Material bei C. D. Buck, American Journal ofPhilology 17 (1896) 273[f.] und Arun. 1, und die Worte in Streitbergs Nachruf, U 2 (1914[15]) 209 [= Sebeok a. Anm. 68 a.O. 106f.]. - Über das großartige Resultat des Saussureschen Nachweises idg. SeI-Basen, die Erklärung des Verhaltens der Nasalpräsentien (aind. yu-li-"": yuk-t/i- = Sr-T)-Uo : sru-ta- = pu-n-i" : piita-, d.i. ·pu-n-Ho: ·puH-w-) bringe ich die jüngste Literatur in meinem Referat "Laryngalreflexe im Indo-Iranischen", das in einem Spezialheft der Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung erscheinen wird (s. AÖAW 117 [1980(81)]357 Anm. 1). Der dortigen Liste ist inzwischen noch anzufügen: K. Strunk, Incontri Linguistici 5 (1979[80]) 85ff.; F. Bader, BSL 74 (1979[80]) 192. [So unten Arun. 104.]
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der Wurzeln des Typs von griech. 6TJ, mä, öoo mit dem Normaltypus qJEQ durch die Annahme verschiedenartiger Wurzelschlüsse, die an das -e- der Vollstufe traten; sie - die deutschen Forscher ebenso wie Meillets "Introduction", bis in ihre letzte Auflage 78 - transponierten die oben an griechischen Beispielen aufgezeigten Langvokalwurzeln in die Grundsprache zurück (*dhe, *stä, *dö) und setzten als deren Schwundstufe, an Stelle der schon durch Saussure im übergangsbereich von Vokalismus und Konsonantismus angese~ten79, mehrfachen 80
A.eLlt,
"coefficients sonantiques", einen einzigen Schwachvokal an, für den sich bald das Symbol *a und der Name Schwa, der hebräischen Grammatik entnommen, durchsetzten81 . 78 Vgl. A. Meillet, Introduction a I'etude comparative des langues Indo-Europeennes (Paris 81937) 100ff.; auch in der Schilderung von Saussures System, S. 473f., hält sich Meillet im Rahmen der klassischen Lehre. - Dazu die richtige Feststellung von E. Benveniste, CFS 20 (1963) 10 ( •... meme en 1903 [dem Jahr von Meillets 1. Auflage) ... on ne pnuvait encore savoir tout ce que contenait d'intuitions divinatrices le Memoire de 1878 ... "). 79 Saussure stellt seineA, Q in eine Gruppe mit i, U, m, n, r, I (s. auch o. Anm. 63), die in der heutigen Phonologie nicht vereinigt würden. Eigenartig ist auch sein späterer Fund (1891) der richtigen Deutungen von aind. -th- inpr/hu-, tirtha- aus (in heutiger Notation) *p!th2-u-, *(s)ti-sth2-e-, freilich mit der Erklärung als Folge der Elision von ~ (er benützt nun selbst dieses Symbol, S. u. Anm. 81) vor Vokal mit dem Resultat der Behauchung (.*pIJ'Us"; Recueil 603). Der Aufmerksamkeit J. Kurylowicz' ist nicht entgangen, daß die Bemerkung "grathita, mathiul ... I'aspiree th y rendait peut-etre I'i necessaire d'ailleurs" bereits in Memoire 244 steht (CFS 32 [1978)23; seine Seitenangabe .p. 228" bezieht sich auf den Abdruck im .Recueil"). - Ich hätte Schwierigkeiten mit so eindeutigen Urteilen wie denen von Godel (23 Anm. 1 .Saussure avait soup~nne des 1891 le caractere consonantique du ........), andererseits .von Szemerenyi (1973,6: .Saussure ne cessa jamais de les [= .coefficients") considerer comme vocaliques"; wichtig auch a.a.O.' 8f. und Linguistics 199 [1978)112 Anm. 3, mit Lit.). Beachtenswert H.Pedersen, 11 12 (1928) 332 Anm. 1. 80 Zu SaussuresA, Q kam bei A.Fick, GGA Stück 14 (7. April 1880) 437f. noch ausdrücklich E hinzu; der Sache nach fordert es auch Möller, Englische Studien 2 (1880 [u. Anm. 83)) 151 Anm. 1; vgl. o. Anm. 68. 81 Hübschmann war mit seiner - J. v. Fierlinger folgenden - Benennung dieses Schwundstufenvokals durch ä nicht durchgedrungen. Schon einJahrnach Hübschmanns.Vocalsystem" (1885) wird a durch Brugmann in der 1. Auflage seines .Grundrisses" (I [1886)32, 101) ohne' nähere Erklärung kodifiziert. Der Ausdruck .Schwa" scheint letztlich auf A. Fick zurückzugehen, der freilich zwischen .Schwa" als .Reduktionsstufe" (die kÜrzlich treffend als .ein Allophon des (/) der Schwundstufe" benannt wurde: J. Gippert, Acta Orientalia 40 [1979)273) und der echten Schwundstufe von Langvokalen noch nicht deutlich unterscheiden konnte: vgl. BB 3 (1879) 157 (.durch Wirkung des Accents können ... e, 0 zu e, 0, biossen Vocalanstössen herabgedTÜckt werden" - das ist die .Reduktionsstufe"), aber ebenda S. 158 (ai. tisthat: tisthita als
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6,.2. Von Saussure geht aber noch eine andere Traditionslinie aus, die auf den seltsamsten Wegen in die Indogennanistik der Gegenwart weitergewirkt hat - weIche sich daneben in so vielem der klassischen Lehre verpflichtet weiß, die ja gleichfalls nicht ohne Saussure denkbar ist. Jene zweite Traditionslinie ist so verschlungen und überraschungsreich wie nahezu alles, was mit dem Wirken dieses einzigartigen Manneszusammenhängt. 6.2.1. Diese zweite, radikalere Wirkungsgeschichte des Memoire ist aus mehreren Darstellungen, unter denen ein brillanter Aufsatz Oswald Szemerenyis von 1973 hervorragtB2,.so gut bekannt, daß ich miCh auf die Schilderung der Grundzüge beschränken kann. Saussures Ansatz der wurzelhaften "e, ii, ij" als "Diphthonge" aus e + A,Q wurde von Hennann Möller zuerst - wie in Anm. 68 und 80 genauer ausgeführt worden ist - um den noch fehlenden "Koeffizienten" ("E") ergänzt. Wichtig ist, daß Möller in der Anmerkung von 1879, die sich auf das "soeben" erschienene Buch Saussures bezieht83 , bereits annimmt, daß diese "wurzelhaften elemente ... als consonantische ... aufzufassen" seien. Wahrscheinlich "gutturale von der art der semitischen"
a:
Gegenstück von .europäisch( ] a ... ", dazu S. 159 die pitllr- und die duhitllr-Gleichung - das ist klassisches .p"); eine ähnliche Verwirrung über das Vokabuinimum (.Schwä") als Schwächung von Kurzvokal wie von Langvokal findet sich auch in seiner GGA-Rezension des Memoire (0. Anm. 80) Sp. 420 (s. auch 430).-Anders als die selbstverständliche Verwendung in Brugmanns magnum opus annehmen läßt, haben auch, die Junggrammatiker noch in den Jahren nach Fick um eine einheitliche Benennung'gerungen: In MU 4 (1881) 413 Anm. 1 hatte Brugmann noch .den idg. vorfahr des in aind, sed-i-ma ... der personalendung vorausgehenden kurzen vocals" mit·~ bezeichnet, während in den selben MU, S. XIII, H. Osthoff schon vom .irrationalen vocal indo-iran. i, europäisch meist ii (Ficksches .schwa") ..." gesprochen hatte. Vgl. auch das Osthoff-Zitat bei Hübschmann a.a.O. 191 und die Verwendung des Nainens .svä-vocal" (aber nicht des Zeichensl~) für das .~ im späteren Sinne in der (vorsaussurischen) Äußerung H. Möllers in KZ 24 (1879) 518 Anm. 2. Über die~ Auffassungen s. ferner die reiche Lit. in AiGr I 17f., GrGr I 34Of. - Diese Anmerkung, die der in den Wissenschaftsgeschichten anscheinend fehlenden Geschichte nachzugehen versuchte, ist einem Briefwechsel des Namens und Konzepts "idg. mit Oswald Szemerenyi dankbar verpflichtet. 82 Vgi. Szemerenyi 1973, 5ff.; s. auch die ersten Seiten von Edgar Polomes Bericht.The Laryngeal Theory so far" in W. Winter (ed.), Evidence for Laryngeals (Den Haag etc. 1965) 9ff. (mit einer wichtigen Bibliographie, S. 44ff.), sowie F: O. Lindernan, :Einführung in die Laryngaltheorie (Berlin 1970) 18ff. 83 Möller, EngJische Studien 3, 151 Anm. Der Band trägt das Datum .1880"; Möller selbst benennt das Datum dieser Äußerung später als .1879" (Semitisch und Indogermanisch, 1. Teil [Kopenhagen 1906] IV; s. Szemerenyi 1973,24).
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nennt Möller die "Koeffizienten" kurz danach84 ; daß dies für ihn' keine bloßen phonetischen Parallelen waren, ist bekannt, da Möller seit vorsaussurischer Zeit um den Nachweis einer indogermanisch-semitischen Urverwandtschaft bemüht wars. Die - wie wir glauben - richtige Auffassung der unseres Erachtens bei Saussure in einer phonetischen Zwitterhaftigkeit verbliebenen "Koeffizienten" als Konsonanten, die in Möllers späteren Arbeiten ausdrücklich mit den semitischen Laryngalen verglichen werden86 , hat diese Fortführung von Saussures Gedanken gleichzeitig mit der Hypothek des hoffnungslosen Versuches belastet, eine Urverwandtschaft zeitlich so weit auseinanderliegender Sprachfamilien zu beweisen. Daß die Laryngaltheorie "eine Urverwandtschaft des Indogermanischen mit dem Semitischen voraussetze", war seitdem die beliebte Ausflucht jener - nach einem Aphorismus Nietzsches87 "Langsamen der Erkenntnis", die "meinen, die Langsamkeit gehöre zur Erkenntnis". 6.2.2. War Möller durch seinen Hyperkomparativismus und andere Eigenwilligkeiten ein nicht unumstrittener Gelehrter gewesen 88 , so ist die nächste wichtige Erscheinung in der Geschichte der "Laryngaltheorie" - nachdem vereinzelte Äußerungen des weltberühmten Indogermanisten Holger Pedersen von Szemen!nyi mit Recht als episod~sch betrachtet werden89 - wiederum ein outsider'l°: der Franzose Albert Cuny, der, nach anfänglicher Ablehnung MÖllers91 , 1912 in einem "glänzend geschriebenen Aufsatz"92 nicht nur den konsonantischen Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur 7 (1880) 492f. Anm. 2, wo er auf Englische Studien 3 rückverweist. 8S~_Nachweise bei Szemerenyi 1973,7 und Anm. 29. Besonders zu beachten ist Möllers Auseinandersetzungmit Osthoffin .Se'llitisch und Indogermanisch" (1. Teil 1906) IVf. 86 Szemerenyi 1973, 7; s. zuletzt Möllers Buch .Die semitisch-vorindogennanischen laryngalen Konsonanten", Kopenhagen 1917. - Ober Möllers vorübergehende Berührung mit dem Hethitischen und seine folgenlose Vorwegnahme von Kurylowicz' Fund (u. 6.3) s. jetzt die hochinteressanten Ausführungen von Eichner 1980, 127 mit Anm.27ff. 87 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 231 (= Kritische Gesamtausgabeedd. G.Colli-M.Montinari, 5. Abt., II. Bd. [Beriin-New York 1973]190). 88 Vgl. die leisen Töne der Kritik, die selbst durch das nil nisi bene des Nachrufes eines Wohlgesinnten (H. Pedersen, U 12 [1928] 330ff.) vernehmbar sind. 89 Szemen!nyi 1973, Ilf. 90 So Szemerenyi 1967, 69. 91 Vgl. Szemerenyi 1973, 12f. 92 So F. O. Lindeman, Einführung in die Laryngaltheorie (Beriin 1970) 23. Es handelt sich um Cunys Studie .Notes de phonetique historique: Indo-Europeen et Semitique", Revue de Phonetique 2 (1912) lOlff. 84
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Charakter der drei "Laryngale" m.E. schlüssig beweist, sondern bei dem nahezu alle Thesen schon zu finden sind, die in der gegenwärtigen Laryngaltheorie aufrecht erhalten werden93 • 6.2.2.1. Wer Cunys neun Thesen wiederliest94, findet sich überwältigt von der Modernitat und Überzeugungskfaft dieses verschollenen Aufsatzes. Gleichwohl: während Saussure in dem relativ Wenigen, das er nach "Memoire" und Dissertation noch zum Druck gab, nur noch selten auf die im "Memoire" behandelten Frag~n einging und gleichzeitig ein nicht kleiner Teil der Erkenntnisse des gefeierten Mannes in die klassische Lehre von Hübschmann, Brugmann, Meillet überfloß, wuchs der wohl wichtigere Teil seiner Ideenwelt im Denken wenig bekannter Außenseiter weiter, deren Arbeiten großenteils noch zu Saussures Lebzeiten erschienen. Ein halbes Jahrhundert hindurch blieb die Fortführung der wichtigsten Keime von Saussures divinatorischem System einer kleinen Gruppe von Häretikern vorbehalten95 • 6.3. Der Wandel kam nahezu über Nacht96 : 1927 entdeckte Jerzy Kurylowicz in der damals seit einem Jahrzehnt erschlossenen hethitischen Sprache ein durch <1J> geschriebenes Phonem, das in sicheren Etymologien an der Stelle jenes theoretischen Ansatzes stand, den wir heute als /h 21. bezeichnen und der, grob gesprochen, dem -a-färbenden Koeffizienten Saussures und dem zweiten der drei Laryngale Cunys entsprach. Dazu lieferte Kurylowicz in mehreren Arbeiten der Zwanziger- und Dreißigerjahre eine überwältigende Fülle von Einzellösungen mit Hilfe der neuen Theorie97 • Zwar nicht so originell wie das polnische Genie, fügte Frankreichs führender Indogermanist Emile Benveniste 1935 die Gedanken seiner Vorgänger in ein Buch voll Eleganz und clarte zusammen, das sogleich weltweites Interesse fand98 • Nichts 93· VgI.
Szemerenyi 1973, 14: .Ie cadre general ... de la theorie laryngale est pour une grande part la creation de Cuny". 94 Cunya.a.O. 101-125; gut resumiert bei Szemerenyi 1973, 13f. - Die Thesen 9 und 10 von Szemerenyis Referat lassen sich wohl zusammenfassen; die empirische Grundlage von 10 scheint mir nicht leicht nachweisbar. 95 VgI. Szemerenyi 1967,69 ( •... for nearly 50 years regarded as pure heresy ..."). 96 Szemerenyi a.a.O. 97 VgI. Szemerenyi 1973, 15ff.; sehr nützlich ist dort S. 15 Anm. 40 die von Kurylowicz bestätigte Abfolge seiner Arbeiten von 1927-1930. 98 Zu Benvenistes Origines vgI. Szemerenyis wichtige Analyse (1973; 20ff.). - interessant ist auch die Frage des Zusammenhangs von Benvenistes Wurzellehre mit Saussure, die G. Jucquois in der m. W. jüngsten seiner Arbeiten zur idg. Wurzelstruktur wieder aufwirft (Unguistic and Literary Studies in Honor of A. A. HilI III [Den Haag ete. 1978], bes. S. 104).
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schien natürlicher, als daß damals, vor rund fünfzig Jahren, dü; klassische Indogermanistik sich durch die Annahme der drei Laryngale und einer durchsichtigeren Wurzelstruktur in jener vergleichsweise bewahrenden Art verbessern würde, die ich im Mittelteil dieses Vortrages als die Auffassung der meisten Heutigen geschildert habe. - Aber wiederum, wie fast immer in rebus saussuricis, sollte es anders kommen. 7. Ich bin dankbar dafür, daß diese Darstellung ein Vortrag ist, der sich zeitlich der Toleranzgrenze zu nähern beginnt: erlaubt mir dies doch, auf die genauere Schilderung einer Entwicklung zu verzichten, die mir in ihrer Grundtendenz widerwärtig ist und bei deren ausführlicher Darlegung ich mühevoll nach den wenigen bleibenden Gedanken aus dieser Periode zu suchen verpflichtet wäre. Die mir durch die Zeitgrenze auferlegte Grob-Darstellung erlaubt folgende vereinfachte Sätze: Die geistvolle Schöpfung, die von Saussure initiiert und vornehmlich durch Cuny und Kurylowicz ausgebaut worden war, geriet in die Hände phantasievoller Perfektionisten, die scheinbare Widersprüche zwischen der vorhandenen Theorie und dem hethitischen Befund durch die Aufstellung immer weiterer Laryngale zu lösen versuchten - Widersprüche, die zumeist gar nicht bestehen" wenn ein den Forschern jener Zeit sowohl hethitologisch wie indogermanistisch über'legener heutiger Gelehrter wie Heiner Eichner ihnen seine Methodik und Gedankenschärfe zuwendet99 • Durch ein von einem bedeutenden Linguisten angewandtes, an sich ernsthaftes phonologisches Prinzip glaubte man ferner, ohne eine zweistellige Zahl von Laryngalen nicht auskommen zu können, Besonders unerfreulich aber war der "Zauberstab-LaryngaIismus" einiger Linguisten, die überall, wo eine einzelsprachliche Problematik nicht behoben war, diese durch Einsetzung \ irgendeines sechsten oder zehnten Laryngals behoben, wodurch gleichzeitig die Problematik verschwand und durch ihr Verschwinden der Laryngal, in einem vollendeten ZirkeIschluß, bewiesen war100 • Viele 99
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Vgl. die Zusammenfassung der wichtigsten Lautgesetze bei Eichner 1980, 128f. Anm. 41; dazu a.a.O. 129 Anm. 41: .Bei Annahme dieser einfachen Vertretungsregeln läßt sich das LaryngaIproblem mit den gewöhnlichen Rekonstruktionsmethoden mühelos bewältigen. Auch wenn man über Einzelheiten anders urteilen sollte, bestünde noch lange kein Anlaß für die Rede von einer 'Krise der mdogermanischen Rekonstruktion'" . VgI. die ausführlicheren und gegenüber Einzelforschem dadurch gerechteren Schilderungen von Polome, a. [Ann!. 82]-a.O. 18ff., 33ff.; Lindeman a. [Anm. 82] a.O. 47, 72f., 84ff.; Vincenzi liiff.; Szemerenyi 1980, 117ff. Beachtenswert ist auch die ältere kurze ZUsanJmenstellung von A. Scherer, in C. Mohrmann et alii (edd.), Trends in European and American Linguistics 1930-1960 (Utrecht-Antwerpen 1961)
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laryngalistfilche Arbeiten der Vierziger~ und Fünfzigerjahre boten der~ gestalt ein abstoßendes Bild, und es bedurfte nicht der etwas unfairen Listen, in denen Laryngalgegner sämtliche jemals von verschiedensten Persönlichkeiten behaupteten Laryngalwirkungen zusammenstellten, um die vor der unseren wirkende deutschsprachige Indogermanisten~ generation vorwiegend jenen neuen Strömungen abgeneigt zu machen. 7.1. Unsere \Lehrer, so darf ich für die Generationsgefährten deut~ scher Zunge erklären, waren noch vorwiegend im Banne einer Indo~ , germanistik, die vor den im frankophonen Bereich etwa 1935 erreich~ ten Auffassungen lag; die Wurzeln unserer eigenen Verbindung mit dem Inhalt unseres schöpferischen Lebens liegen noch im Antilaryn~ galismus. Das von mir vor 21 Jahren in einem scherzhaften Zusam~ menhang verwendete Wort von dem "Damaskus", das die meisten von uns erlebten - und das in einer durch Humorlosigkeit ausgezeichneten Fachwelt nicht als Scherzwort 10 1 empfunden wurde -, sollte vielleicht in der Tat ernster genommen werden. Es war keine leichte Sache, die jungen Menschen durch ihre Lektüre, ihr Nachdenken, ihren gegensei~ tigen Gedankenaustausch damals aufgezwungen wurde: der Abschied von den Lehrern, und gleichzeitig die Verwerfung dessen, was zur Zeit gerade "modem" war. Wir mußten einige Jahrzehnte zurück, zu den Jugendarbeiten von Kurylowicz und Benveniste. Heute, da wir selbst Schüler und Enkelschüler haben, sehen wir die Richtigkeit unseres damaligen Weges. Die Indogermanistik, so gerne als abgestorben er~ klärt, erlebt einen Aufschwung und eine Fülle der Arbeiten, um die sie viele Fächer beneiden könnten; wir können sie an eine junge Gene~ ration weitergeben, deren Brillanz ihresgleichen sucht 102 • 232f. - Obwohl ich mich bereits vor dem Vorwurf zu bewahren versucht habe, global der Jahre um 1940 als unbeachtbar abzutun, möchte ich eine der hiemit . alle Arbeiten . . eingeräumten Ausnahmen namentlich nennen: F.B.J.Kuipers Akademieschrift von 1942, .Notes on Vedic Noun-Inflexion", ist eine bei ihrem Erscheinen zu wenig beachtete, zweifellos in das heutige Lehrgebäude eingefügte Arbeit von großer Bedeutung für eine maßvolle Laryngaltheorie. 101 Vgl. Annali dell'Istituto Orientale di Napoli, sezione linguistica, 2 (1960) 124; der dortigen Arunerkung 5 wäre zu entnehmen gewesen, daß ich das pathetische Wort .conversion" meines Freundes ArmandMinard damit parodieren wollte. Das .Damaskus"-Wort ist seitdem vielfach - nicht nur im Druck - zitiert worden; teils, um das Pathos einer anderen Darstellung zu unterstreiChen, teils, um mich einer unpassenden Pathetik zu überführen. Beides hätte mich nicht überraschen sollen, da schon Lichtenberg bemerkt, .daß in Deutschland, wo Witz vielleicht seltener ist als unter irgendeiner schreibenden Nation, jedermann über zuviel Witz schreit ... ". 102 Kurz vor dem Abschluß dieser Darlegungen möchte ich mir eine Besinnung auf die
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8. Wie viel davon dem "Memoire" de Saussures verdankt wird; ist von FaIl zu FaIl schon erwähnt worden. Man kann zusammenfassen: so gut wie nichts aus ihm ist in der heutigen Indogermanistik verloren, einiges ist in dem bewegten Jahrhundert seither, in seinem Sinne, dazugekommen. Die Wurzelstruktur, mit überwiegendem -e- plus mindestens einem Konsonanten oder sonantisierbaren Element in den primären morphologischen Kategorien, geht auf ihn zurück, desgleichen die Hierarchie in den ablautenden Strukturen. Ob er seine "Koeffizienten" ausdrücklich als Zwischenwerte zwischen Vokalen und Konsonanten auffaßte oder nicht - es genügt, daß das schon bei ihm stehende Resultat der Verbindung von R + ,,A,Q" als "t,l''' etc. den konsonantischen Charakter seiner Koeffizienten dem Denken Cunys zwingend eingab und daß in seinen "tm" usw. der Keim für einen Beweis hier vorgetragene Einstellung im Vergleich mit anderen Auffassungen heutiger indogermanisten erlauben: ' 1. Ich kann die Gruppe der Poly- oder gar der Zauberstab-Laryngalisten heute kaum noch wahrnehmen; das mag an der Lese-Auswahl liegen, zu der die derzeitige Produktionsflut nötigt. 2. Die im Antilaryngalismus ihrer friihen Jahre Verharrenden verstehe ich, nach dem Schock, der sich durch die oben § 7 angedeuteten Exzesse in ihnen festgesetzt hat; ich vermag lediglich dann nicht zu schweigen, wenn ein lemfähiger junger Forscher sich auf Grund seiner Vertrautheit mit Balkanologie und allgemeiner Logik, aber ohne indogermanistische Grundkenntnisse zum Richter über eine ihm nur aus Zerrbildern bekannte Laryngaltheorie aufschwingt (dazu MayrhoferFsNeumann, bes. §§ 2-2.1.2). 3. Den Antilaryngalisten vemandt scheinen mir die "Ein-Laryngalisten aus Vorsicht" zu sein, für die L. Zgusta zuletzt ein kurioses Exempel geboten hat: zusammen mit einem Pluri-Laryngalisten, W.P.Lehmann, legt er seine Auffassung an einem "indogermanischen Text" dar, den er um 2500 v.Orr. datiert, als man mit nur noch einem Laryngal auskommen konnte (?); dem plurilaryngalistischen Kollegen wird ein früherer Zeitraum, "about 3200 B.C.", überlassen (Festschrift für Oswald Szemen,nyi [Amsterdam 1979]460). 4. Einen wirklich interessanten Gegner, der die Wurzeln seines Denkens deutlich aufgedeckt hat, sehe ich lediglich in Oswald Szemerenyi, dessen Phonemsystem dem oben 4.2-4.3.1 dargelegten gewiß gar nicht so unähnlich ist, der aber von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht. Während das hier""empfohlene System sich bewußt auf de Saussure und seine Fortsetzer wie Möller, Pedersen, Benveniste, vor allem aber Cuny und den frühen Kuryiowicz zurückführt, sind Szemerenyis geistige Quellen nicht in der friihen Laryngaltheorie zu suchen (die der hervorragende Wissenschaftshistoriker gleichwohl wie kaum ein anderer kennt), sondern vereinigen die klassische Indogermanistik mit der universalistisch-typologischen Notwendigkeit eines */hl (für eine Sprache, die mehrere *fTb/-Phoneme besitzt) und der Fortsetzung dieses *Ihl in den hethitischen - Belegen (vgl" bes. 1967,88, 89,92; ferner 1980 [,..,11970] 130l., 142; neuestens Kratylos 24 [1979 = 1980]44).
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des Dreilaryngalismus durch unsere Zeitgenossen Beekes und Forssman lag - oder vielmehr, ein genauer Leser seines Buches findet ihn vereinzelt schon bei Saussure lO3 • Die auf Laryngal endenden "schweren" Basen, ihre schlagende Anwendbarkeit auf die Analyse der Nasalpräsentien, die zu übersehen es einiger Genieblindheit bedurfte lO4 - alle diese kostbaren Bausteine des heutigen Lehrgebäudes stammen aus dem Jugendwerk von 1878. 8.1. Ich habe abschließend nur zu bitten, meiner Versicherung Glauben zu schenken, daß ich in mehreren Jahrzehnten der Arbeit mit diesem Lehrgebäude nur stimmige Lösungen und keine offenkundigen Unrichtigkeiten gefunden habe. Der heutige Laryngalismus ist in der Tat "un systeme ou tout se tient". - Jeder Linguist kennt diese Wendung; fast jeder glaubt zu wissen, wo sie steht: in Saussures postumem "Cours de linguistique generale". Dort aber ist sie, wie uns Szemerenyi soeben belehrt lOS, nicht zu finden. Ihr Standort ist unerwartet: seit 1903 103
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Ich kann die Notation in Memoire 272 *Yi,lE_'tÖ, (> -yvt)'to,), *vt'a_ro, (> 't!'Ö'tö,) und *gi,l0 (> yvoo) nicht anders verstehen als .Dehnung + Färbung", so wie diesspäter Beekes und Forssman für *C'Jhl- > yvt)- etc. annahmen. Es ist verständlich, daß F. Bechtel, Die Hauptprobleme der indogermanischen Lautlehre seit Schleicher (Göttingen 1892) 220 diesen Notationen noch ratlos gegenüberstehen mußte [der Sinn für die'Genialität des Memoire hat Bechtel nicht gefehlt, s. S. 193f.]. -AufS. 272 steht für das letzte Beispiel zwar nur *g'J 0 , doch wird dies in den Errata (S. 303) zu *gi,l0 verbessert. Im Wiederabdruck in Recueil findet man diese Errata-Seite leider nicht; er hat aber auch S. 255 *g'J 0 nicht verbessert (obwohl der Wiederabdruck unwesentliche Modernisierungen, wie die Verwandlung von Brugrrum in Brugmann, durchgeführt hat), und der Druckfehler findet sich bei Vincenzi 280 wieder. Aus diesem Grund wird in meiner Arbeit der Memoire selbst, nicht, wie bei allen anderen Arbeiten Saussures, der Recueil zitiert [u. S. 38]. - Ein weiterer interessanter Vorgriff auf einen Späteren scheint mir S. 278 Ambhi zu sein, wobei offenbar an Ähnliches gedacht wurde wie bei Hehnut Rix' '~2rr:b"'~ (MSS 27 [1970]90f.). Auch bei A. Cuny, Revue de Phoßt,tique 2, 112f. Anm. lIesen wir bereits 1912: •... Ie germanique est d'accord avec l'indo-iranien: il ... procede ... de *A'l!bhi- avecA consonne et par consequent 'l! voyelle ... ". So bleibt mir unbegreiflich, wie in den an sich verstiindnisvollen Seiten über de Saussures .Memoire" bei F. Specht, Lexis 1 (1948) 236ff. auf S. 238 im Abstand weniger Zeilen die Urteile .glänzende Entdeckungen, wie die übereinstimmende Bildungsweise der ... altindischen 5., 7. und 9. Verbalklassen" und .der Deutung der indogermanischen Längen ... aus e + A ... kann ich nicht zustinunen" aufeinander folgen können. Was bleibt von dem .Glanz" der Vergleichung ywüctha/yuktJi-: punltha/ pÜl/l-, wenn die letzteren nicht, in Saussurescher Notion, *pwtA-tha/*puA-tJi- sind? Wege zur Universalieuforschung, Sprachwissenschaftliche Beiträge zum 60. Geburtstag von Hansjakob Seiler (fübingen 1980) 160ff. - Offenbar ke~e Aufnahme in die Wissenschaftsgeschichte hat der Hinweis Mario Wandruszkas gefunden, der schon vor 12 Jahren die •... ou tout se tient"-Wendung als .Satz des großen französischen
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findet sie sich in jeder Auflage von Antoine Meillets "Introduction", und sie bezieht sich auf das Werk, dessen Schöpfer diese "Introduction" gewidmet ist: den Memoire des einundzwanzigjährigen de Saussure, auf den auch diese Vortragsstunde dankbar zuriickzublicken versuchte .
..-
Sprachforschers Antoine Meillet" bezeichnet hat (Sprachen vergleichbar und unvergleichlich, München 1969, 527). Wandruszka bezieht sich auf ein späteres MeilletZitat, von 1923 (dieses auch bei Szemerenyi a.a.O. 161), das noch ausführlicher ist: "... chaque langue est un systeme rigoureusement agence, Oll tout se tient, et c'est ... F. de Saussure qui a reconnu le systeme du vocalisme indo-europeen" (Nachdruck aus Scientia 1923 in Linguistique historique et linguistique generale II [paris 1936] 158). - Sollte ein Mißverstehen dieser nach dem Erscheinen des "Cours" veröffentlichten, Saussure nennenden, ihm aber keineswegs die "Oll tout se tient"-Wendung zuschreibenden Publikation Meillets (s.o. " ... et c'est ... F. de Saussure ... ") die Ursache des verbreiteten Irrtums sein, "Oll tout se tient" seien \\brte Saussures?
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ABKÜRZUNGEN
AiGr AÖAW BB BSL CFS Eichner 1980
Engler FdS
GGA Gmür
Godel GrGr Hiersche
IF [Anz.]
U KZ
Jakob Wackemage1 et alii, Altindische Grammatik. Göttingen Bd. I (1896)ff. Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse. Wien. [Bezzenbergers] Beiträge zur Kunde der indogermanischen Sprachen [herausgegeben von Adalbert B.]. Göttingen. Bulletin de la Societe de Linguistique de pims. Paris. Cahiers Ferdinand de Saussure. Genf. Heiner Eichner, Phonetik und Lautgesetze des Hethitischenein Weg zu ihrer Entschlüsselung. In: Lautgeschichte und Etymologie. Akten der VI. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft Wien, 24.-29. September 1978. Herausg. von Manfred Mayrhofer, Martin Peters, Oskar E. Pfeiffer. Wiesbaden 1980. S. 120-165. Rudolf Engler, Edition critique [von] F. de Saussure, Cours de linguistique generale. Wiesbaden Fasz. 1 (1967)ff. Ferdinand de Saussure (1857-1913). Genf 1915. [" ... petit recueil specialement destine a la familie et aux amis", 1915 von der Witwe, ein zweites Mal, 196~, zum 50. Todestag von den Söhnen Ferdinand de Saussures herausgegeben. Ich verdanke diesen Privatdruck der Güte von M. Claude de Saussure, Genf]. Göttingische Gelehrte Anzeigen. Göttingen. Remo Gmür, Das MEMOIRE von F. de Saussure. [Universität Bem, Institut für Sprachwissenschaft, Arbeitspapier 18, 1980]. Robert Godel, Les sources manuscrites du Cours de Linguistique Generale de F. de Saussure. 2e tirage. Genf 1969. Eduard Schwyzer, Griechische Grammatik. München Bd. I (1939)ff. Rolf Hiersehe, Ferdinand de Saussures langue-parole-Konzeption und sein Verhältnis zu Durkheim und von der Gabelentz. [Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft, Vor_ träge, 6]. Innsbruck 1972. Indogermanische Forschungen [Anzeiger]. Strassburg [zuletzt Berlin-New York]. Indogermanisches Jahrbuch. Strassburg [zuletzt Berlin]. [Kuhns] Zeitschrift für Vergleichende Sprachforschung [begründet von (Theodor Aufrecht und) Adalbert K.]. Berlin [zuletzt Göttingen].
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MayrhoferFsNeumann
Memoire MSS MU
Peters
Recueil Saussure, Memoire
Saussure, Recueil
Scheerer SSL Szemerenyi 1967 Szemerenyi 1973
Szemerenyi 1980 Vincenzi
MANFRED MA YRHOFER
Tullio De Mauro, Introduzione, traduzione e commento [von] Ferdinand de Saussure, Corso di Iinguistica generale. Bari 1968. Manfred Mayrhofer, Ober griechische Vokalprothese, Laryngaltheorie und externe Rekonstruktion. Noch nicht erschienener Beitrag zur Festschrift zum 60. Geburtstag von Günter Neumann, Innsbruck. s. Saussure, Memoire Münchener Studien zur Sprachwissenschaft. München. Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen. Von Hermann Osthoff und Karl Brugmann. Leipzig. Martin Peters, Untersuchungen zur Vertretung der indogermanischen Laryngale im Griechischen. [Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Bd. 377 = Veröffentlichungen der Kommission für Linguistik und Kommunikationsforschung Heft 8]. Wien 1980. s. Saussure, Recueil Ferdinand de Saussure, Memoire sur le systeme primitif des voyelles dans les langues indo-europeennes. Leipzig 1879 [erschienen 1878]. Nachdruck Hildesheim 1968. Recueil des publications scientifiques de Ferdinand de Saussure. Genf 1922, Reimpression 1970. [Alle Arbeiten Saussures werden nach dem "Recueil" zitiert, mit Ausnahme des "Memoire". Eine Begründung für diese Praxis wird o. 35 Anm. 103 gegeben]. Thomas M. Scheerer, Ferdinand de Saussure. Rezeption und Kritik. [Erträge der Forschung Bd. 133]. Darmstadt 1980. Studi e Saggi linguistici. Pisa. ' O[swald] Szemerenyi, The New Look of Indo-European. Reconstruction and Typology. Phonetica 17 (1967) 65-99. Oswald Szemerenyi, La theorie des laryngales de Saussure a Kurylowicz e~ a Benveniste. Essai de reevaluation. BSL 68 (1973) 1-25. Oswald Szemerenyi, Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft. 2., überarbeitete Auflage. Darmstadt 1980. Giuseppe Carlo Vincenzi, Edizione ltaliana (lntroduzione Traduzione Note) [von] Ferdinand de Sl!ussure, Saggio sul vocalismo indoeuropeo. Bologna 1978.
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ANHANG: Joseph Wertheimer. Saussures einziger Amtsvorgänger.
Von Ronald Zwanziger (Wien)
o. Begründung: Produktivität und eigenständiges Gedankengut auf dem Gebiet seines Faches sind die wichtigsten Gaben eines Professors. In der akademischen Welt hat es immer Professoren gegeben, denen dies versagt war. Die Tragik im Leben Joseph Wertheimers liegt für die Nachwelt darin, daß er der direkte Vorgänger jenes Ferdinand de Saussure werden sollte, dessen ihm durch Wertheimers Rücktritt auferlegter 'Cours de linguistique generale' Anlaß zu einem der bedeutendsten Bücher der Sprachwissenschaft geben sollte. Oder, anders gesehen: Hätte Wertheimer nicht nach 33 Jahren seines 'Cours de linguistique' seinen Rücktritt eingereicht, wäre die Welt wohl nie in die Lage ver~ setzt worden, durch die privaten Vorlesungsmitschriften einiger Genfer Studenten von den genialen Gedanken eines Gelehrten zu erfahren, die dieser selbst nie zu einem Buch zusammengefaßt hat. Diese schicksalhafte Konstellation allein ist Grund genug, den einzigen direkten Amtsvorgänger Saussures mit einer biobibliographischen Skizze vorübergehend aus dem Dunkel der Vergessenheit zu holeni. 1. Biographie: Joseph Wertheimer wurde am 22. Mai 1833 in Sultz (Oberrhein ) geboren. Sein Vater war "ministre-officiant"2 israelitischen Bekenntnisses. Der Sohn genoß die übliche Erziehung lokaler jüdischer Tradition. Als Student führte er ein mit zahlreichen Ortswechseln3 verbundenes Wanderleben, aus dem sich zwei Stationen besonders abheben: Straßburg und Metz. In Straßburg erwarb er nach "etudes c1asFür mündliche und schriftliche Auskünfte an mich oder an Prof. Mayrhofer danke ich Robert Godel (Genf [so u. Anm. 21-22]), Rupert Hink (Wien), Georges-Eddy Roulet und Micheline Tripet (beide Genf). 2 Universite de Geneve, Historique des Facultes, 1896-1914. Geneve 1914, 130. 3 Die Angaben divergieren in den verschiedenen Quellen; außer Straßburg und Metz werden noch folgende Aufenthaltsorte genannt: Sierentz (1.c. [Anm. 2] 131);Altona, Berlin (Journal de Geneve, 28. 4. 1908); Berlin, Paris (Große Jüdische NationalBiographie, hg. v. S. Wininger, Bd. VI, 266). 1
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siques"4 den Grad eines licencie en lettres (1851), in Metz promoVierte er 1857 zum docteur en theologie5 • Im darauffolgenden Jahr "il epousait cl Gray MlIe Schwob"6 und entschied sich gleichzeitig für das Angebot der Genfer Judengemeinde, das dortige Rabbinat zu übernehmen. 1859 traf er in Genf ein, wo er ein halbes Jahrhundert lang das Leben seiner Glaubensbrüder mitbestimmen. sollte. Die pastorale Karriere verlief glänzend: Wertheimer einte die vordem zerrissene liberale Gemeinde, er baute das religiöse Unterrichtswesen auf, tat sich als blendender Organisator hervor, war ein gesuchter Prediger, der auch von anderen Konfessionen geschätzt und gehört wurde. Zudem: entfaltete er eine reiche karitative Tatigkeit, die immer wieder besonders hervorgehoben wird7 • Als Elsässer mit französischer Staatsangehörigkeit bemühte er sich besonders um die 1871 in Genf internierten französischen Soldaten, wofür er zum Ritter der Ehrenlegion ernannt wurde. Diese Honorität, seine allgemein gerühmte Bildung, seine reiche Vortragstätigkeit und seine Kenntnis europäischer und orientalischer Sprachen eröffneten ihm letztlich auch die akademische Laufbahn, die er vor allem dieser lokalen Position zu verdanken hatte. Die Sprachwissenschaft befand sich zu jener Zeit in Genf in einem ersten Aufschwung: zwischen 1869 ~nd 1873 schon hatte ein Deutscher namens Krauss8 Einführungskurse in die Sprachwissenschaft abgehalten; als aber 1872 durch Gesetz eine "chaire de linguistique et philologie" an der Faculte des lettres et des sciences sociales neu geschaffen wurde9 , ernannte man Wertheimer zum charge de cours 10 • Mit der Umwandlung der alten Akademie in eine UI?-iversität wurde er als Professor an diese übernommenlI. Weitere Lebensstationen, die in den 4
Journal de Geneve, 28. 4. 1908.
5 Catalogue des ouvrages, articles et memoires publies par les Professeurs et Privat-
Docents de I'Universite de Geneve ... de 1896 a 1907, Geneve 1909, Bd. V, 119f. La Suisse, 29. 4.1908. 7 Journal de Geneve, 30. 4.1908, u.a. 8 Zur Person s. I.c. (Anm. 5), Geneve 1896, Bd. N, 208. 9 Vgl. L'enseignement superieur a Geneve depuis la fondation de I'Academie le 5 juin . 1559 jusqu'a I'inauguration de I'Universite le 26 octobre 1876. Facultes et chaires - professeurs et recteurs - etudiants. Vingt tableaux synoptiques par H.-Fred. Amiel et Aug. Bouvier. Geneve 1878, bes. 28 u. 35. 10' Reg.conseil1873, vol. 2 (26. 9.1873): "Wertheimer est charge de faire a I'Academie, dans la Faculte des lettres, section des lettres, un cours de Linguistique, comprenant 3 heures de le~ns par semaine, pendant I'annee academique 1873-1874. 11 recevra pour cet enseignement une somme de deux mille cinq cents francs (f. 2500).' 11. Reg.conseil1874, vol. 2 (24. 7. 1974): "1. M.J. Wertheimer est nomme professeur 6
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Nachrufen immer wieder auftauchen, sind die Feier der Glaubensgemeinde zur 40. Wiederkehr seines Rabbinats am 28. 5. 1899 sowie die Ehrung seitens der Universität zum 30. Jahr seines akademischen Amtes (1903)12. Mit dem 1. September 1906 erklärte er aus Gesundheits- und Altersgründen seinen Rücktritt vom Lehramte, um sich von diesem Zeitpunkt an nur noch seinen Glaubensbrüdern zu widmen. Am 18. 9. 1906 ernannte man ihn zum professeur honoraire 13 • Ferdinand de Saussure wurde mit Wirkung vom 8. 12. 1906 sein direkter Amtsnachfolger. Joseph Wertheimer starb am 27. 4.1908 im 75. Lebensjahr; er wurde am 29. 4.1908 um 11 Uhr 30 unter großer Anteilnahme der Bevölkerung am "cimetiere israelite de Carouge"14 begraben. 2. Bibliographie:' Die folgende Zusammenstellung der selbständig erschienenen Schriften Wertheimers zeigt, daß er im wesentlichen wohl auch kein wissenschaftlich orientierter jüdischer Theologe war: er scheint sich vor allem für die politisch-soziale Seite eines aufgeklärten Judentums interessiert und sich in seinen Publikationen dafür engagiert zu haben. Auffallend ist ferner die geringe thematische Variationsbreite und die Tendenz zur mehrfachen Verwertung seiner Veröffentlichungen 1S ; Les Juifs de l'Occident et Le Judaisme modeme. Geneve 1865. Juifs d'Orient et d'Occident. Geneve 1874. Le Talmud, premiere le~n, histoire de la formation. Geneve 1880. Les Juifs et le Judaisme dans la societe modeme. Paris 1883. Confession israelite et la question des Juifs. Beme 1907. de I'Universite dans la FacuIte des Lettres. 11 est charge de l'enseigllement de la Lin-
guistique dans la Section des Lettres et de la Philologie dans la Section des Sciences sociales. 2. M. Wertheimer donnera 4 heures de l~s par semaine. 3. Il recevra pour cet enseigllement une somme de f. 3000." 12 La Suisse, 29. 4. 1908, sowie l.c. (Anm. 2), BI. 13 l.c. (Anm. 5). 14 Le Genevois, 28. 4. 1908. Auch eine Delegation der Universität mit dem Doyen der Fakultät, Prof. Paul Duproix, an der Spitze von zahlreichen Universitätsprofessoren befand sich im Trauerzug, vgl. l.c. (Anm. 7). - Ein Bildnis Wertheimers findet sich in dem 'journal illustre' La patrie Suisse, 50. Jahrgang, Nr. 382, vom 13. Mai 1908. IS So erschien z. B. der erste Titel getrennt als The Jews of Western Europe" in der Westminster Review 1863 und .Modern Judaism" in der Edinburgh Review 1863.Außer der Anm. 5 zitierten Quelle waren mir nur die üblichen bibliothekarischen Hilfsmittel wie The National Union Catalog, vol. 656, 506c, Catalogue general, vol. 221,674, etc. zugänglich. Vgl. auch die angefiihrten Nachrufe aus Genfer Zeitungen sowie Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7, 1934,497. H
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Wertheimers linguistisches Schrifttum scheint überhaupt· nur: aus einer einzigen selbständigen Publikation zu bestehen l6 : La Iinguistique. Discours prononce le 30 Octobre 1877 a l'ouverture du cours de linguistique par M le professeur Wertheimer, grand rabbin de Geneve. Geneve 187717 • Diese Arbeit bezieht sich - nicht nur was den äußeren Anlaß der ouverture bzw. reouverture betrifft - auf eine elf (!) Jahre zuvor erschienene Vorlesung des Pariser Komparativisten Michel Breal: De la forme et de la fonction des mots. Le~n faite au college de France pour la reouverture du cours de grammaire comparee par Michel Breal. Paris 1866. Während die Schrift Breals eine in der Sprachwissenschaft der damaligen Zeit gründlich fundierte selbständige Äußerung eines Gelehrten ist, der als Begründer der Semantik gilt, Lehrer großer Linguisten wie Antoine Meillet war und den jungen Ferdinand de Saussure in richtiger Einschätzung seiner Gaben nach Paris geholt hat, ist W~rt heimers verspätete quasi-Rezension nichts anderes als eine mit offenen und versteckten Zitaten gespickte Paraphrasierung brealschen Gedankenguts. Immerhin scheint sie zu bestätig~n, was in einem Nachruf über seine Tätigkeit an der Genfer Universität geschrieben wird: "Tous ceux qui ont suivi ses cours en gardent le meilleur souvenir. M. Wertheimer etait, en effet, un causeur charmant qui savait entremeIer les sujets les plus arides de jugements litteraires les plus fins sur tel auteur francrais ou etranger"18. Dem ist nichts hinzuzufügen. 3. Joseph Wertheimer und Ferdinand de Saussure: Nach dem Vorangegangenen mutet'es wie eine Ironie an, wenn die Histoire de l'Universite de Geneve19 als späte Rekonziliation für die Diskrepanz gegenüber Saussures Schaffen schreibt: ;,Wertheimer fut le mahre de Ferdinand de Saussure. C'est assez dire que, s'il a peu publie, son professorat n'a pas ete sans fruit pour l'Universite de Geneve." Diese Ansicht ist
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Journal de Geneve, 28. 4. 1908, erwähnt zwar ~Ilombreux articles sur la philologie semitique et la Iinguistique dans differents joumaux et revues"; doch dürfte es sich hier um eine starke Übertreibung handeln. Der Nachrufl.c. (Anm. 16) nennt auch eine "Introduction al'etude de la linguistique" von 1874. Es dürfte dabei aber eine ungenaue Wiedergabe voh La Iinguistique (1877) vorliegen. l.c. (Anm. 16). L'Academie et I'Universite au XIXe s. 1814-1900, par Charles Borgeaud, Geneve 1934,469 Anm. 2. .
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mit Sicherheit falsch: Saussure hat als Student Wertheimer gemieden2o . Auch in der Zeit von 1891 bis 1906, in den fünfzehn Jahren ihrer Kollegenschaft an der Genfer Universität, hat der Indogermanist Saussure mit dem Fac~mächsten, dem "Linguisten" Wertheimer, offenbar kaum Kontakt gepflogen. Dessen Lieblingsthema schien "la symbolique universelle des sons"21 gewesen zu sein, welcher der strenge Systematiker Saussure mit Sicherheit nichts abgewonnen haben kann. Die einzige direkte Verbindung offizieller Natur, nämlich als Koexaminator, ist von Robert Godel über einen Gewährsmann bezeugt 22 : "Leopold Gautier m'a raconte qu'aux epreuves orales Saussure, coexaminateur, ecoutait sans broncher, impassible et impenetrable, les questions saugrenues de son collegue."
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Vgl. oben Mayrhofer 13 u. Arun. 34. Brief von Robert Godel an Prof. Mayrhofer vom 10.3. 1981. Für die Erlaubnis zur Publikation dieser BriefsteUen bin ich Herrn Professor Godel zu Dank verpflichtet.