Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Schmieder, Meike Nachtfrost
Kriminalroman
Der Roman s...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Schmieder, Meike Nachtfrost
Kriminalroman
Der Roman spielt 1970/71 in einer großen Stadt der DDR. Ein Verbrechen, verübt an einem Regisseur, zwingt die Kriminalisten, sich mit einem bislang ungewohnten Milieu auseinanderzusetzen: der Theaterwelt. Wie immer sind sie auf freiwillige Mitarbeit und auf das Vertrauen der Zeugen angewiesen, um die Lösung zu finden. Aber unerklärlicherweise bleibt hier beides aus. Die Ermittlung des Kriminalgeschehens deckt in einer spannenden Handlung Konflikte und Probleme auf, die nicht bestanden wurden und zwangsläufig für eine der beteiligten Personen zur Katastrophe führen mußten.
Meike Schmieder
Nachtfrost
Verlag Das Neue Berlin
Für W. Charlotson
Dienstag abend Mit naßkalten Tagen, frostigen Nächten, mit leichtem, aber anhaltendem Wind und dünnem, schrägem Schneefall trieb das Jahr 1971 unaufhaltsam seiner Vergangenheit entgegen. Am siebenten Dezember, kurz nach zwanzig Uhr, hörte Oberleutnant Karl Bortfeld, daß seiner Dienststelle ein Überfall gemeldet wurde. „Tiefe Platzwunde am Kopf, wahrscheinlich verursacht durch stumpfen Gegenstand. Geschädigter bewußtlos ins Bezirkskrankenhaus eingeliefert; Lebensgefahr!“ So, im Telegrammstil, ging die erste Meldung weiter: „Vierundfünfzig Jahre alt, Oberspielleiter, Arbeitsstätte Bühnen der Stadt – Schauspielhaus. Er wurde im Grabenweg gefunden. Hier noch einmal der Name, ich buchstabiere, Dietrich Riedel.“ Bortfeld drehte den Kopf, heftig, ruckartig. Dann tat er gelassen. Wenig später, nachdem er von seinem Vorgesetzten ausführlich informiert worden war und beauftragt auch, diesen Fall zu übernehmen, ordnete er notwendige Sofortmaßnahmen an. Gab dem jungen, stabil gebauten Kriminalmeister Hermens die Anweisung, zunächst mit einer Mannschaft den Grabenweg abzusuchen nach eventueller Tatwaffe – stumpfer Gegenstand –, befahl ihm, auch die 7
angrenzenden Gärten „durchzukämmen“; erteilte dafür besondere Ratschläge – redete in sachlichem Ton. Er kannte den Grabenweg, der tagsüber als Abkürzung zwischen zwei Geschäftsstraßen viel genutzt wurde, bei Dunkelheit aber einsam war mit seinen zwei alten Gaslaternen, die gegen keine Finsternis ankamen. Die Großstädter nannten den Weg nur „der Graben“; das hatte sich eingebürgert. „Nehmt sehr viel Licht“, sagte Bortfeld zum Kriminalmeister. „Und was die eventuelle Tatwaffe angeht, bringt, was ihr für möglich erachtet. Die Wunde ist gut drei Zentimeter lang.“ Bortfelds Stimme war kratzig. Er mußte husten, versuchte es zu unterdrücken; sein langes, kantiges Gesicht wurde rot dabei. Im Dienstzimmer wieder allein, bestellte er seinen Fahrer. Wollte unverzüglich selbst zum Krankenhaus. Denn er kannte Dietrich Riedel. Nicht, daß er ihm besonders zugetan war, doch er schätzte ihn – als schnellen Denker, als temperamentvollen Rhetoriker. Hin und wieder, gestand er sich jetzt ein, habe ich ihn bewundert (oder beneidet – das kann man nicht immer auseinanderhalten), wenn er eine Diskussion mit besonderem Geschick, mit besonderer Verve leitete, im Foyer des Schauspielhauses oder im Klub des Kulturbundes. Wie oft bin ich dabeigewesen? Drei-, vier- oder fünfmal? Unwichtig. Dafür Freizeit haben – du lieber Himmel; bei aller Liebe! Und wann habe ich mich unversöhnt von Riedel getrennt? Knapp zwei Wochen muß das her sein. Jawohl, knapp zwei Wochen. Mutter hat immer gesagt, das darf man nie! Auch wenn ihr euch eben geprügelt habt – der Gutenachtkuß muß sein. Vielleicht erlebt man den nächsten Morgen nicht. Mutter ist zwanzig Jahre tot – und für den „Gutenachtkuß“ war mir keine Zeit geblieben. 8
Aber ich hatte Riedel widersprechen müssen. Seine These war zu anfechtbar. Bloß – mein Gegenargument war so miserabel gewesen, wie … Er zerbrach den Gedanken, zerwühlte sich das schiefergraue Haar. Dachte: Der Dienst rief. Keine Zeit zur Erläuterung des Gegenarguments oder zur Klarstellung. Ich hatte noch mal mit Ihnen reden wollen, Herr Riedel, wegen dieser Sache. Es war keine Gelegenheit da. Bloß, solche Gelegenheit wie diese hatte ich mir weiß Gott nicht gewünscht! Bortfeld nahm seinen Mantel, setzte die Pelzmütze aufs zerwühlte Haar. Draußen brubbelte sich schon der Motor warm. Der große, hagere Oberleutnant stieg gewandt in den Wagen; er sprach während der Fahrt zum Krankenhaus kein Wort. Der Mann am Steuer neben ihm versuchte keine Unterhaltung. Bortfeld stand im Krankenzimmer nahe der Tür, forschte in Doktor Geißlers Miene – sie ließ das Allerschlimmste befürchten. Der Arzt bat, der Oberleutnant möge das Zimmer verlassen; gesehen habe er den Patienten ja nun, was sein inständiger Wunsch gewesen sei. Bortfeld bezog die Aufforderung nicht auf sich, obwohl nur er gemeint sein konnte. Er kam nicht zurecht mit der Gewißheit: Das ist Dietrich Riedel. Der Temperamentvolle. Der Redegewandte. Der Weltmännische. Wie absurd, ihn reglos wiederzusehen. Den Kopf verbunden, das Gesicht etwas gelblicher als das Bettzeug, den Mund geöffnet. „Nichte Langweiligeres gibt es für den Menschen als ein Leben ohne Gefahren“, hatte der Mann Dietrich Riedel gesagt, vor knapp zwei Wochen, „denn seit dem Entstehen ihrer Existenz mußte die Menschheit, um zu überleben, Gefahren bestehen. Daher ist der Menschheit die Konfrontation mit der Gefahr seit Jahrmillionen eingeboren. Man braucht sie wie die Nahrung für den Tag.“ 9
Man braucht sie. Beim Anblick des bewußtlosen Riedel, der jetzt so merkwürdig starr, erschreckend totenähnlich im weißen Bett lag, kamen die Worte in Bortfelds Gedächtnis zurück, wie zum Ablesen eingestanzt. Als sei er in. Neugier verfallen, als habe er dergleichen noch nie gesehen, beobachtete er die Krankenschwester, die dem Arzt assistierte, die Arme des Bewußtlosen in die erforderliche Haltung legte, seine Brust frei machte, den Kopf abstützte – alles mit geübter Behutsamkeit, kaum sichtbarer Berührung. Jeder ihrer Handgriffe meinte: Lebensgefahr. Und im selben Moment ratterten, entsetzlich laut, Bortfelds Erinnerungen um Jahrzehnte zurück. Der hochgewachsene Mann war wieder der Schuljunge, der gelernt hatte: Fliegen und Wanzen gehören auch zum Ganzen; der behutsam vom Fliegenfänger (ein spiraliges, bernsteinfarbenes, klebriges Band unter der Stubenlampe) in Todesangst surrende Fliegen abnahm; der schreien wollte, aber nicht schreien konnte, als er dann sah, was nun sacht sich drehend und beinlos auf seiner Handfläche lag. Daß der Vater ihm ins Gesicht schlug, war weniger schlimm, auch daß die Mutter das surrende Band ins Herdfeuer warf – alles viel weniger schlimm als seine, des Jungen, „Tat“. Doch daß dieses Ereignis den ersten Keim für den späteren Berufswunsch in den Jungen legte, davon war er noch heute überzeugt. Auch jetzt. Daß man es mit dem „Fliegen und Wanzen gehören auch zum Ganzen“ nicht so wörtlich nehmen durfte, wußte er erst ein gutes Jahrzehnt später. Und ein weiteres Jahrzehnt danach grübelte er über das Nicht- oder Doch-Wörtlichnehmen. Und wörtlich sagte der Arzt: „Bitte, Herr Oberleutnant, warten Sie auf dem Korridor. Ich bin hier gleich fertig. Ich komme sofort, wirklich, gleich.“ Jetzt hatte Bortfeld nichts überhört. Die Hand schon auf der Klinke, drehte er den Kopf zurück. „Wann ist dieses ‚Gleich‘?“ 10
„In zirka fünf Minuten.“ Es wurden zwanzig. Dann, in seinem Stationszimmer, sagte der Arzt zu Bortfeld: „Enttäuschend für Sie: Ich habe leider noch keine exakte Diagnose. Zweifelsohne ist die Wunde geschlagen worden. Ein einziger kräftiger Schlag muß es gewesen sein. Freilich, bei der Verfassung des Patienten, da ist auch ein Kreislaufkollaps nicht auszuschließen. Doch eine Wunde von dieser Art könnte selbst dann nicht entstehen, wenn man beim Umfallen auf einen harten Gegenstand schlägt.“ Bortfeld stand hager und groß neben dem Arzt. Sah auf dessen akkuraten Scheitel, schwieg. Zwei gestreckte Finger schwebten mit der Zigarette ins Arztgesicht. Bortfeld konnte auf ihn hinabsehen. „Über die vermutlichen Folgen des Schlages kann ich Ihnen noch keine Auskunft geben“, sagte Doktor Geißler. „Bevor ich mich definitiv äußere, müssen wir den Patienten noch gründlicher untersuchen. Die Untersuchung wird schwierig, und sie wird lange dauern, ist anzunehmen. Und wir müssen den Patienten beobachten.“ „Sind innere Kopfverletzungen zu …“ „Ja – durchaus. Damit muß man rechnen.“ Bortfeld stand unbeweglich. Fragte: „Wenn es nun doch ein irgendwie gearteter Unfall war? Wissen Sie, wir müssen natürlich die Familie benachrichtigen, und da …“ „Ja. Unfall, ja“, sagte der Arzt, dem es anscheinend schwerfiel, den Gesprächspartner ausreden zu lassen. „Unfall, das ist ein weitgespannter Begriff – und man lügt nicht direkt. Sie wissen, wie ich das meine. Wenn statt Ihrer die Frau meines Patienten neben mir stünde, würde ich ihr wohl Hoffnung machen.“ Dem Arzt, der sich ein paar Schritte entfernte, sah Bortfeld mit seinen grauen Augen nach, aufmerksam und etwas mißtrauisch auch. Dann sagte er schnell: „Sie haben recht, Doktor, denn schlechte Nachrichten kom11
men selten zu spät, gute aber nur zu oft.“ Der Arzt nickte. Er sagte: „Wenn ich schon wüßte, wo das Koma, diese totale Bewußtlosigkeit, herrührt, wären wir vielleicht einen großen Schritt weiter.“ Bortfeld sah zur Uhr. Sie tickte aufdringlich. Er knöpfte den Mantel zu. „Ich danke Ihnen, Doktor. Doch sicherlich sind Sie in Eile, und ich darf auch keine Zeit verlieren. Noch eine letzte Frage. Sie sagten, der Frau Ihres Patienten würden Sie Hoffnung machen. Mir …“ „Ihnen sage ich die Wahrheit. Und die Wahrheit ist: akute Lebensgefahr.“ Die Falten um Bortfelds Mund waren mit einemmal tiefer, dunkler. Leutnant Klut hatte Bortfelds Order erhalten. Mit den Ermittlungsergebnissen anderer noch nicht geklärter Fälle beschäftigte er sich, bis Bortfeld zurückkam. Wenige Minuten nach Bortfeld traf Kriminalmeister Hermens ein. Die von ihm geleitete Suchaktion war beendet. Er bezeichnete sie als ergebnislos. Am Ereignisort hatte sich nicht ein Stein, nicht ein frostharter Ast finden lassen; nur den Gärten in ihrem Winterschlaf hatten die Polizisten einige Sonderbarkeiten entnommen; eine mögliche Tatwaffe war nicht dabei. Bortfeld informierte Klut und Hermens über Dietrich Riedels Verletzung, über dessen Zustand, über seinen eigenen Eindruck, über Doktor Geißlers Meinung. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. „Also werden wir unserem schneeweißen Dienstag noch ein Stück blutrote Dienstnacht anhängen“, sagte er. Holte sein Notizbuch aus der Jackentasche hervor, fragte: „Na, war das Poesie oder nicht?“ Schlug das Notizbuch auf. Hermens, bequem in einem Sessel, fast liegend, dachte: Wenn unser Chef sarkastisch wird, wird’s schlimm. „Also notiert“, sagte Bortfeld. „Dietrich Riedel, dreißigsten November siebzehn in Leipzig-Heiterblick. Vierundfünfzig geworden vor einer Woche. Jetzige Wohnung am Ort, Gemserstraße achtundzwanzig; Kinder: 12
Sonja und Thomas Riedel, geboren am Ort, sechsten Juli vierundfünfzig, also siebzehn, und …“ „Verzeihung, beide?“ unterbrach ihn Klut. „Ja, Zwillinge. Und Cornelia, geboren am Ort, dritten September Sechsundsechzig, fünf Jahre alt. So, jetzt wissen wir drei gleich viel und gleich wenig. Los geht’s! Hermens, du fährst zuerst zum ABV Martin Thiessen.“ Bortfeld stand auf, ging zu der Karte, die, riesig wirkend, die ganze Schmalwand des Raumes einnahm, schlug mit dem Handrücken gegen die Karte. „Thiessen ist für diesen Stadtbezirk zuständig.“ Auf der Karte war jede Straße, jeder Park, jeder Teich, jeder Trampelpfad eingezeichnet, und auch alle Wege, die kurz nach Sonnenuntergang so dunkel waren wie der Grabenweg. „Frage vor allem nach Rowdys“, sagte Bortfeld, „ob heute abend besondere Beobachtungen gemacht wurden, Rowdys aus seinem Bezirk oder ihm unbekannte und so weiter. Du weißt ja Bescheid.“ Hermens rappelte sich aus dem bequemen Sessel, sagte: „Bin schon weg.“ Suchte aus der Kartei Thiessens Adresse. „Und du, Klut“, sagte Bortfeld, nahm einen Ermittlungsbericht, tat, als lese er interessiert, die Stirn in Falten geschoben, sprach dann aber wieder Hermens an: „Du mußt dich auch um die Kneipen Gegend Grabenweg kümmern, der Riedel hatte eine Kleinigkeit intus, zwei – drei Glas Bier etwa.“ „Klar“, sagte Hermens. Als Hermens aus dem Dienstzimmer war, sagte Bortfeld: „Ich werde hernach zu dem ABV fahren, in dessen Bereich die Gemserstraße liegt. Wer weiß – vielleicht … Verdammt noch mal, immer …“ Er sprach den Satz nicht zu Ende. Klut stand auf, nahm seinen Mantel vom Haken, sagte: „Natürlich, immer muß Genosse Leutnant die Familie benachrichtigen.“ 13
Bortfeld fragte: „Die Adresse hast du notiert?“ Es war eine rhetorische Frage. Klut lächelte. Bortfeld hatte einmal behauptet, Klut sei das Taktgefühl des Teams. Seitdem wußte Leutnant Klut, daß Aufträge von unangenehmer Art bis in alle Zeiten ihm reserviert sein würden. Gemeinsam mit seinem Chef verließ er das Dienstgebäude. Die grelle Hofbeleuchtung spiegelte sich in der dünnen Eiskruste, die über dem Asphalt lag, und blendete wie kalte Sonnen, so daß es den Männern die Augen zukniff. „Sollte bei der Polizei nicht zufällig einer die Gesetze kennen? Noch nie was von Streupflicht gehört? Verdammt noch mal!“ rief Bortfeld in das menschenleere Hofgeviert, lauter, als es seinem entzündeten Hals zuträglich sein konnte. „Es regnet Eis. Chef“, sagte Klut, „der Hof war gestreut.“ Bortfeld antwortete nicht. Sie trennten sich, jeder ging auf einen Dienstwagen zu. Nach ein paar Schritten blieb Bortfeld stehen, sagte: „Wir kriegen Nachtfrost – fürchte ich.“ Er dachte an den Mann Dietrich Riedel, der wie tot in dem großen Krankenhausbett gelegen hatte, ohne tot zu sein. Klut lauschte Bortfelds merkwürdiger Betonung nach. Hatte sie noch im Ohr, als er schon hinter dem Steuer saß und sah, wie Bortfeld zum Fahrer sprach, mit einer weit ausholenden Armgeste auf den vereisten Hof deutete. Ihm, Klut, hatte Bortfeld keinen Rat für die Benachrichtigung der Familie gegeben, keinen besonderen Hinweis. Ihm war mulmig zumute; da verlor sich der Stolz irgendwo. Im Haus Gemserstraße 28 klingelte Klut zweimal an Riedels Wohnungstür. Nervenschonendes Ging-Gong. Danach blieb eine Zeitlang alles still. Dann hörte Klut Schritte; trappelnde, feste Schritte. So läuft ein Kind ohne Schuhe, dachte er. Zugleich eine Kinderstimme, 14
quiekend hoch: „Pappi! Komm ja schon! Mutti ist …“ Ruckweise, Zentimeter um Zentimeter, ging vor Klut die Tür auf. Riedels fünfjährige Tochter Cornelia stand auf Zehenspitzen, hatte den kleinen Körper, den rechten Arm ganz hochgereckt, um die Klinke fassen zu können. Lugte durch den Türspalt, ließ die Klinke los, schob mit angewinkeltem Ellenbogen die Tür zurück, trat auf die Türschwelle. Kaum eine Sekunde lang war in ihrem Gesicht noch die Freude, die zu dem quiekenden Jauchzer gestimmt hatte. Indem Cornelias Blick am Mantel des Fremden hochlief, ging alles Strahlende verloren. Klut versuchte sich so klein zu machen, wie sie war. Hockte sich vor sie, fragte: „Du bist Cornelia, nicht wahr?“ Strich behutsam über ihr Haar; es war lockig und weich, hatte die Farbe hellen Kupfers. Sie wehrte seine Hand nicht ab, bog sogar den Kopf etwas vor. Dann trat sie einen Schritt zurück, als könne sie so das Gesicht des hockenden Mannes genauer betrachten. Sie zog sich eine Haarsträhne quer durch den Mund, drehte den Kopf über die Schulter, sah den Fremden lächelnd aus den Augenwinkeln an; Schelmerei der kleinen Eva. Ihre Enttäuschung schien verflogen. „Und du bist noch auf? So spät noch auf?“ fragte Klut. Mit der Haarsträhne im Mund antwortete sie: „Hab’ ja schon geschlafen. Da, wo die Tür auf ist.“ Sie zeigte hinter sich, den Korridor entlang, ohne sich dabei umzudrehen. „Ach so“, sagte Klut, „na dann ist ja alles in Ordnung. Und deine Mutti? Schläft sie auch schon?“ „Nein. Mutti muß doch noch waschen!“ Und sie nickte dabei. Es klang drollig-bedeutsam, nachgeplappert. Dann waren Frauenstimmen im Haus, dann Schritte, eilig die Treppe hinauf. Cornelia jauchzte, trappelte barfuß, freudig-aufgeregt. „Da ist ja Mutti, hörst du nicht?“ Eine junge Frau kam heraufgerannt. Cornelias Mutter. Kein Zweifel. Hat dem Mädchen die schwarzen Augen und hellkupfernes Haar vererbt. Bortfeld sprach von 15
siebzehnjährigen Zwillingen. Sie konnte nicht älter als Mitte Zwanzig sein. Sie war erschrocken stehengeblieben. Stand – irgendwie sprungbereit, als würde sie ohne Zögern Alarm schlagen. Fragte aber nur – vor Schreck ganz leise: „Was wollen Sie bei meinem Kind?“ Klut hatte sich schon aufgerichtet, ging die wenigen Schritte, die vier Stufen, blieb vor ihr stehen. „Sie sind Dietrich Riedels Frau?“ „Ja. Inge Riedel. Was wollen Sie bei meinem Kind?“ „Bitte, erschrecken Sie nicht.“ Er flüsterte. „Kriminalpolizei. Leutnant Klut.“ Er wies sich aus. Wie abwesend sah sie die Hand an, die im nächsten Moment leer, ohne Ausweis, aus der Manteltasche wieder hervorkam. Die Stimme gehorchte ihr nicht, klang wie zersplitterndes Glas, das langsam zertreten wird. „Ist was mit meinen Großen?“ Ihr Gesichtsausdruck zeigte her, was alles sie sich ausmalte, in dieser Sekunde, bei dieser Frage, die ganz Angst war. „Nein, es geht um Ihren Mann“, sagte Klut in verhaltenem Ton. „Aber auch seinetwegen …“ Er stockte. Er hatte zuvor noch nicht erlebt, daß Erschrecken so plötzlich von einem Gesicht, von einer Haltung abfallen kann; eindeutig, unverkennbar. Inge Riedels Schultern hatten entspannt nachgegeben, ihre Hand, mit einemmal wieder locker, war vom Geländer abgerutscht, sie atmete tief durch, ließ den Kopf vorfallen, griff sich ins Haar, sagte: „Mein Gott – bin ich erschrocken gewesen!“ Sie sah zu Klut hoch. Ein Moment verging, dann fragte sie: „Ja – und was ist mit … Entschuldigen Sie, ich muß mich erst wieder fangen.“ Klut bat, sie möge, bevor sie weitersprechen, die Kleine wieder ins Bett bringen. Inge Riedel griff mechanisch nach der Hand ihrer Tochter, sagte, sie möchte den Ausweis noch einmal sehen, sie habe überhaupt nichts gelesen. Nachdem sie gründlich gelesen hatte, sagte sie: 16
„Danke, Herr Leutnant. Ja, und was ist … Ach so, ich soll die Kleine erst …“ Sie nahm das Mädchen auf den Arm, ging voran, bat Klut, er möge eintreten, sie käme gleich zurück. Mit der freien Hand öffnete sie eine Zimmertür, schaltete Licht ein. „Warten Sie bitte solange hier, in meinem Zimmer; ich weiß nicht, aber vielleicht finden Sie irgendwo einen Platz.“ Während sie sprach, streckte Cornelia die Arme nach Klut aus, zog sie, als er ihre Hände drücken wollte, schnell zurück, lachte und rief unbefangen, mit heller Stimme: „Gute Nacht, träum süß!“ „Das werde ich bestimmt“, sagte Klut – und erkannte seinen eigenen Tonfall nicht wieder. Für Minuten war er allein im Zimmer, ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Zunächst dachte er unwillkürlich: Zauberladen. Dann betrachtete er Einzelheiten. Die hellen Möbel auf kirschrotem Teppich, Stofftiere, einige seltsam geformte Vasen, große Korbkrüge, kleine Behälter aus Bast; linker Hand Bücherregale bis zur Decke, hier und da zwischen den Büchern exotische Masken und Holzplastiken. Zierliche Tischlampen, ein paar Stehlampen, alle brannten, das Zimmer war voller Licht. Eine schwarzbezogene Couch, gelbe Kissen. Fotos, Kassetten, Filme, auch auf den Sesseln. Auf einem, durcheinandergeworfen, Kleidungsstücke – vielleicht zum Waschen aussortiert. Über Vasen, Krügen und Lampen hingen Ketten. Ketten aus Leder, aus Holzperlen, aus Metall, aus blinkenden Glasperlen. Die rechte Wand war von vier überdimensionalen Porträtfotos verdeckt; ungerahmt alle. Erst bei längerem Hinschauen wurden die Gesichtszüge deutlich. Klut fand, sie paßten nicht zu der Zauberladen-Atmosphäre, viel eher zu seinem mulmigen Gefühl, das er wieder empfand, als er vom Korridor her Inge Riedels flinke, fast lautlose Schritte hörte. Sie kam herein, er betrachtete die Fotos. 17
Sie fragte: „Zu abstrakt?“ „Für meinen Geschmack nicht“, antwortete er. Sie fragte: „Sind Sie Nichtraucher?“ „Leider nicht.“ Sie öffnete ein fremdartig geschnitztes Holzkästchen, es war mit Zigaretten gefüllt. „Bitte.“ Sie nahm eine kleine Silberfigur vom Tisch, eine winzige Nachbildung des Kopfes der altägyptischen Königin Nofretete; sie hatte unter ausgebreiteten Fotos gelegen. Inge Riedel schnippte am hinteren Rand der Krone, sie sprang zurück, aus dem flachen Silberkopf schlug eine Flamme. Sie zündeten ihre Zigaretten an. „Eine gelungene Arbeit“, sagte Klut, indem er auf das Nofretete-Feuerzeug wies. Inge Riedel antwortete obenhin: „Kairo.“ Sie hielt das Feuerzeug in der Hand, als sie zwei Sessel abräumte, unbekümmert alles, was drauflag, mit Schwung auf den Teppich warf. „So, jetzt können wir uns setzen.“ Sie versanken in runde, weißlederne Sessel. Inge Riedels gebräunte Haut wirkte darin noch dunkler. Auch ihr Kleid war weiß, sehr kurz, ärmellos, wie im Sommer. Sie schlug die braunen Beine übereinander; rauchte. „Sie sind wirklich die Mutter der siebzehnjährigen Zwillinge?“ fragte Klut – noch immer verwundert. „Bin ich. Als ich sie bekam, war ich achtzehn. Aber ich habe Sie doch richtig verstanden, es hat nichts mit den beiden zu tun, daß Sie hier sind?“ Da war wieder Furcht in ihrem Gesicht. „Ja. Sie haben durchaus richtig verstanden“, sagte Klut und wiederholte – mit Absicht sich selbst wortgetreu: „Es geht um Ihren Mann.“ „Was ist mit Riedel?“ fragte sie, drückte sich fester ins Rückenpolster. „Ihr Mann mußte heute abend ins Krankenhaus gebracht werden.“ „Der Kreislauf, nicht wahr?“ fragte sie, im Ton so, als frage sie beim Bäcker: ‚Brot ist noch da, nicht wahr?‘ 18
„Nein, natürlich nicht der Kreislauf. Dann wären Sie ja nicht durch uns benachrichtigt worden.“ Sie sah ihn abwartend an. Er sagte: „Wir sind am Beginn der Ermittlungen. Vielleicht war es nur ein Unfall, vielleicht aber …“ Sie unterbrach ihn, laut, mit verzerrter Stimme: „Nicht – nicht von Unfall sprechen! Nicht im Zusammenhang mit Riedel!“ Ihre Stirn war voller Falten, von der Nasenwurzel sprangen sie fächerförmig bis zum Haaransatz. Die Handballen hatte sie gegen die Ohren gepreßt. Das Feuerzeug war in ihren Schoß gefallen, funkelte silbern auf dem weißen Rock. Klut schwieg. Sie nahm die Hände von den Ohren, führte langsam die Zigarette zum Mund; dabei zitterten ihre Finger. Klut beobachtete, wie ihr Körper allmählich wieder weicher wurde, ihr Gesicht sich entspannte. Aber jetzt sah sie (und danach eine Zeitlang noch) fünfunddreißigjährig aus. „Wahrscheinlicher ist aber“, sagte Klut geradeheraus, „und jetzt erschrecken Sie bitte nicht, daß Ihr Mann überfallen wurde.“ Sie sah Klut an. Beide saßen sich gegenüber, stumm und wie zwei Bildnisse, die zufällig einander gegenüber aufgestellt worden waren, die zufällig einander in die Augen blickten. Ganz still war es zwischen ihnen. Dann endlich sagte Inge Riedel: „Sie haben bemerkt, ich bin nicht erschrocken.“ „Also keine Besorgnis, keine Aufregung, kein Mitleid mit Ihrem Mann“, sagte Klut; konstatierend, nicht fragend. Sie antwortete: „Oh, doch, er tut mir leid. Riedel tut mir sehr leid.“ Ihre Betonung gab der Antwort Eindeutigkeit; eine nichtgestellte Frage war beantwortet. Klut sagte: „Also ist Ihre Ehe kaputt.“ „Darüber habe ich Sie nicht im unklaren gelassen, nicht wahr?“ 19
„Nein, das haben Sie nicht. Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Aufrichtigkeit.“ Er nahm die Zigarette, die sie ihm anbot, hatte, wie sie, die erste nur zur Hälfte aufgeraucht. Sie nahm auch für sich eine neue Zigarette, hielt sie mit den Lippen fest, wehrte Klut mit lockerer Handgeste ab, als er zum Nofretete-Feuerzeug greifen wollte, schnippte wieder die Krone herunter, reichte Klut die Flamme hin. Nach dem ersten Zug sagte Klut: „Aber Sie wohnen mit Ihrem Mann hier?“ Sie nickte. „Und Sie haben gemeinsam mit Dietrich Riedel drei Kinder – das stimmt, ja?“ „Ja, das stimmt. Und?“ „Sind die Kinder zu Hause? Die großen meine ich.“ „Nein, aber sicherlich werden sie bald kommen.“ „Wissen Sie, wo sie jetzt sind?“ fragte Klut freundlich. „Nein, das weiß ich nicht. Man kann sich auf sie verlassen. Ich nehme an, daß sie heute abend zum Training sind. Beide gehen auf die Kinder- und Jugendsportschule. Manchmal müssen sie abends trainieren.“ Klut fragte: „Was glauben Sie, wie die Kinder die Nachricht vom Überfall auf ihren Vater aufnehmen werden? Immerhin – er wurde so schwer verletzt, daß er sich in Lebensgefahr befindet.“ Sie antwortete nicht. Bewegte sich nicht. Klut fragte: „Halten die Großen nicht zu ihrem Vater, halten sie nur zu Ihnen?“ „Wie kommen Sie darauf?“ fragte sie leise. „Die Vermutung ist doch nicht abwegig, nach dem, was Sie mir über Ihre Ehe gesagt haben.“ Inge Riedel antwortete: „Wir wohnen noch immer alle in ein und derselben Wohnung … weil die Großen es so wollten. Riedel hatte die Idee, die Kinder entscheiden zu lassen. Eine vernünftige Idee, finde ich – nach allem, was die Großen miterlebt hatten. Sie wünschten, daß wir zusammen bleiben, bis sie selbständig sind. Wir haben uns ihrem Wunsch gefügt.“ 20
„Aber Sie und Ihr Mann leben in ein und derselben Wohnung wie zwei Fremde – oder doch nicht?“ „Fremder als zwei Fremde.“ Da Klut schwieg, ergänzte sie: „Nur Fragen, die unsere Kinder betreffen, beraten wir gemeinsam – wenn es sich nicht umgehen läßt.“ „So weit können sich zwei Menschen voneinander entfernen, die einmal …“ Er stockte. Dann sagte sie: „Die einmal aus Liebe geheiratet haben.“ Sie hatte die Zigarette in den Ascher gelegt, sah Klut ruhig an. „Jahrelang hatte ich mir eingebildet, die wundervollste Ehe der Welt zu führen. Bis ich eines Tages wußte, daß mich Riedel schon lange nach Strich und Faden belog. Damals bin ich aus den Wolken gefallen. Und so nach und nach habe ich dann meine dämlichen Illusionen begraben. Und immer wieder einen Fetzen Fell versoffen. Bis ich ganz leergesoffen, leergegraben war – und beinah arbeitsunfähig. Keine Aufnahme mehr aus freier Hand. Vor allem, was beängstigender war, keinen Blick mehr fürs Motiv. Dann ein Ereignis, das den – wohl noch fehlenden – Rest gab. Da habe ich zum Glück den letztmöglichen Zeitpunkt für den Absprung erwischt. Zugleich war das dann aber auch das endgültige Aus. Ein Schlußstrich, untilgbar für alle Zeit.“ „Wann war das?“ fragte Klut. Sie überlegte. „Vor einem Jahr etwa – nein, vor ein und einem viertel Jahr.“ „Sie sind Fotografin?“ „Fotoreporterin. Für die Illustrierte ‚Das Leben‘. Im Ausland.“ „Also oft im Ausland für Ihren Beruf.“ „]a, sehr oft.“ „Dann sind die Kinder mit ihrem Vater allein, nicht wahr?“ „Nein, dann sind sie zumeist bei meiner Mutter. Wohnt hier in der Nähe.“ 21
„Warum – Frau Riedel – sind Sie bei dem Wort Unfall so maßlos erschrocken?“ „Ich bin nicht erschrocken. Ich kann nur das Wort nicht mehr hören, nicht im Zusammenhang mit Riedel, das sagte ich Ihnen.“ „Das müssen Sie mir bitte erläutern.“ „Nein, das werde ich nicht tun.“ Klut, hartnäckig, fragte: „Hatte Ihr Mann einen Unfall, an den Sie nicht erinnert werden möchten?“ Sie sah ihn an. Ganz kurz zuckte es spöttisch um ihren Mund. „Ja, so kann man das vielleicht definieren“, sagte sie. Klut, skeptisch vor zu offener Offenheit, über die dann doch wieder Geheimnisvolles sich legt, fragte: „Frau Riedel, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir die Gegebenheiten Ihrer Familie so ziemlich unumwunden dargelegt haben – aber … aber aus welchem Grund sprachen Sie darüber?“ Eine Weile zögerte sie mit der Antwort, dann redete sie fließend. „Ich weiß nicht, vielleicht lese und sehe ich zuwenig Krimis. Doch – schließlich habe ich einen Kriminalisten hier. Und ich denke mir, wenn sich die Kriminalpolizei in eine Sache einschaltet, wird es ihr nicht lange verborgen bleiben, wie die Familienverhältnisse sind bei den Leuten, mit denen sie es zu tun hat. Darum nehme ich an, daß man bei einer Sachlage wie der unseren leicht in Verdacht geraten könnte, an der Tat beteiligt gewesen zu sein. Aber Riedel ist mir gleichgültiger als der Handschuh da auf Ihrem Knie. Das hatte ich Ihnen sagen und begründen wollen. Mehr nicht.“ „Und die Kinder? Wie werden sie die Nachricht aufnehmen? Ist ihnen ihr Vater auch gleichgültiger als mein Handschuh?“ „Die Frage habe ich Ihnen vorhin schon beantwortet.“ „Ich muß es exakter wissen. Wie ist das Verhältnis der beiden Großen zu Ihnen einerseits, zu Ihrem Mann andererseits?“ 22
„Es ist sehr schwer, darauf exakt zu antworten. Meinen Mann verehren sie. Sie haben viel von ihm gelernt. Zum Beispiel, sie sind nicht so wortkarg wie die meisten jungen Menschen. Sie sind so diskutierfreudig wie er. Dann der Sport. Er, Riedel, hat sie dafür begeistert. Aber mich? Ja, ich glaube, mich lieben sie. Keine Einbildung. Es gibt Beweise dafür.“ Unvermittelt stand sie auf, ging ein paar Schritte, fragte: „Trinken Sie einen rumänischen Kognak?“ Klut sah ihren schmalen Rücken an, sagte: „Leider muß ich danken, ich bin im Dienst.“ Und er sagte gleich noch: „Zu schade, daß Ihre Zwillinge nicht hier sind – mit ihnen hätte ich mich gern unterhalten.“ „Sie werden bald kommen. Wenn Sie soviel Zeit haben …“ „Wann haben Sie die Zwillinge heute zuletzt gesehen, Frau Riedel?“ Sie wandte sich ihm wieder zu, kam mit einem Glas Kognak zum Tisch zurück, antwortete: „Heute morgen, bevor ich zur Arbeit gegangen bin. Momentan helfe ich bei Horst Ramter aus, ehemaliger Studienkollege. Der hat jetzt vor dem Fest viel zu tun. Fotoatelier. Und ich kann bis zum Jahresbeginn im Lande bleiben, bin fertig mit meinen Aufträgen.“ „Schön für Sie“, sagte Klut und fragte: „Sicher hat auch Ihr Mann ein eigenes Zimmer?“ „Selbstverständlich.“ „Darf ich es sehen?“ „Nein, das kann Ihnen nur Riedel selbst erlauben“, sagte sie schnell. „Außerdem nehme ich an, daß er zugeschlossen hat.“ „Ist das Fotoatelier Ramter auch hier in der Nähe?“ fragte Klut ruhig, als hätte er Inge Riedels Antwort überhört. „Nein, das ist ganz im Norden. In der Tiefenstraße. Ich weiß nicht die Hausnummer. Ich weiß eben, wo es ist.“ 23
Wieder schnitt Klut ein anderes Thema an. „Für uns wäre sehr wichtig, zu erfahren, ob Ihr Mann viel Geld bei sich hatte, denn es könnte sich womöglich um einen Raubüberfall handeln.“ Ihre Augen waren trocken. Sie kippte den Kognak hinunter, sagte: „Was verlangen Sie von mir! Ich habe Ihnen erzählt, wie das, was man Ehe nennt, bei uns aussieht. Ich könnte nur vermuten.“ „Wie war das früher“, fragte Klut, „hatte Ihr Mann zumeist viel Geld bei sich?“ „Nein. Nie. Er hat sogar kleine Beträge beim Einkauf mit Scheck bezahlt. Ich fand das lustig. Das war eine seiner Eigenarten, die ich mochte – weil er den Ärger nicht scheute, den das manchmal gab, weil er sich durchsetzte, auf seinem Recht bestand.“ „Kennen Sie Menschen, Frau Riedel, die Ihren Mann hassen, ihm feindlich gesinnt sind?“ Sie sah ihn mit ihren ungewöhnlich großen dunklen Augen an, böse und erschrocken. „Ich bitte Sie jetzt, mich nicht mit weiteren Fragen zu drangsalieren. Ich bin heute besonders nervös. Ich habe noch wichtige Ferngespräche zu führen. Das klappt mal wieder nicht. Mitunter liegt das Weltniveau in Windeln. Für mich und die Kinder hängt von einem der Ferngespräche viel für die Zukunft ab. Haben Sie bitte Verständnis.“ In diesem Moment läutete die Türglocke ihre behutsamen Ging-Gong-Töne, die für Inge Riedel, so kam es Klut vor, erlösend waren. Ihr „Pardon“ war kaum noch zu hören, sie rannte aus dem Zimmer. Leutnant Klut sah ihr nach – zum Bersten voll von Argwohn, den er sich noch nicht erklären konnte. Warum bin ich mißtrauisch? Hat sie sich widersprochen? Und wie! – Oder? An der Flurtür war erregtes, atemknappes Geflüster. „Schnell, Inge, flitze, Warschau ist dran“, verstand Leutnant Klut. Inge Riedel, die leicht 24
und fast lautlos gehen konnte, rannte die Treppe hinunter, als rase ihre ganze Existenz nur noch einem Telefon, einem Gespräch aus Warschau entgegen – oder, dachte Klut, als fliehe sie vor meinen Fragen! Er hob das Nofretete-Feuerzeug auf, das ihr aus der Hand gefallen war. Betrachtete es genau. Die untere Kante der kleinen Silberfigur wird knapp vier Zentimeter lang sein, dachte er. Sie glänzte matt auf seiner Handfläche. Eine Vermutung überkam ihn, die er in der nächsten Sekunde als idiotisch verwarf. Er legte das Feuerzeug auf den Tisch, er konnte den Blick nicht wegkriegen von der unteren, etwa vier Zentimeter langen Kante. Und das Gespräch aus Warschau? Bestimmt das sehnlich erwartete, das zukunftsträchtige. Oder? Er wird es erfahren. Geduld ist eine Tugend, zu der man sich mit Geduld erziehen muß; eine Bortfeldsche These. Klut zwang sich, von dem Feuerzeug wegzusehen, ließ seinen Blick wieder über das Gewirr von Ketten, Stofftieren, Bastschachteln, großen Krügen, exotischen Masken wandern. Dachte: Also kein Zauberladen! Mitbringsel aus anderen Ländern; reales Nebenprodukt eines Berufes. Zauberkraft gibt es nicht, Inge Riedel, auch die Masken, so schön oder so gräßlich sie sind, werden nicht schützen vor meiner Frage, und die Ging-Gong-Erlösung ist nicht von Dauer. Ich werde die Frage wiederholen, anders formuliert. Wir haben keine Indizien. Wir brauchen Motive. Wir brauchen das Motiv. Er wollte die Neuformulierung seiner Gedanken festlegen. Wollte in seine ungeordneten Grübeleien Ordnung bringen. Aber im Haus waren wieder Schritte, laute Schritte treppaufwärts. Kichern, Prusten, Lachen. Dann, draußen noch: „Was ist denn hier los? Unsere Tür steht ja sperrangelweit auf!“ Sie kamen ins Zimmer, staunten ihn an, die Zwillinge Sonja und Thomas Riedel. Sie waren gleich groß, beider 25
Wangen waren kräftig gerötet vom kalten Wind. Beide trugen pelzgefütterte Anoraks, apfelgrün. Braune Kordhosen, braune Wildlederstiefel. Pagenfrisuren, dunkelblondes Haar. Sie ähnelten einander wie ein Ei dem anderen. Bortfeldthese: Es ist immer atemverschlagend, einem geflügelten Wort in persona zu begegnen. Es war atemverschlagend! Zum Glück für Klut unterschieden sich ihre Stimmen voneinander. „Wir haben noch Besuch?“ fragte das Mädchen. „Siehste doch“, sagte der Junge. Sonja lächelte unbefangen, ähnelte, wenn sie lächelte, ein wenig auch ihrer kleinen Schwester. Fragte: „Sind Sie ein neuer Kollege von Mutti?“ „Nein, das bin ich nicht“, sagte Klut. „Also von Vater“, konstatierte Thomas. Es klang sehr sicher, sehr bestimmt. „Auch das nicht“, sagte Klut, „ich bin Kriminalist.“ „Waaas?“ machte Thomas. Das A im Wort schien kein Ende zu nehmen. Er schlug sich die Hand gegen die Stirn, bog den Kopf zurück. Sonja fragte ungläubig: „Bei uns Kriminalpolizei?“ „Ist denn was los?“ fragte Thomas. „Ihr Vater mußte heute abend ins Krankenhaus gebracht werden.“ „Wieder der Kreislauf?“ fragte Sonja. Sie runzelte die Stirn ebenso eigenartig wie ihre Mutter. „Aber dafür interessiert sich doch nicht die Kriminalpolizei“, kam es sofort von Thomas. Klut sah aufmerksam von einem zum anderen, zögerte mit der Antwort. Sonja zog den Reißverschluß ihres Anoraks auf. Auch Thomas. Selbst ihre Bewegungen hatten Ähnlichkeit. Thomas nahm Sonja den Anorak ab, trug ihn mit seinem hinaus zur Flurgarderobe. Auf dem Flur kramte er in seinen Hosentaschen herum. Sonja fragte: „Haben Sie schon mit Mutti gesprochen?“ 26
„Ja, das habe ich, denn – heute abend war es nicht der Kreislauf.“ „Und wo ist unsere Mutter jetzt?“ fragte Thomas vom Flur her. „Es hat sich so angehört, als würde sie ans Telefon gerufen.“ „Also bei Frau Gallant“, sagte Thomas. Sonja, die Stirn wieder so eigenartig gekraust, besorgt oder mißtrauisch, fragte: „Was soll denn sonst mit Vati sein, wenn nicht …“ „Bedauerlicherweise war es heute … wir wissen noch nichts Genaues … womöglich war es ein Unfall.“ Sonjas Blick fiel von Kluts Gesicht ab, bis auf seine Füße. Thomas auf dem Flur rührte sich nicht mehr. Klut sagte: „Aber leider ist es auch möglich, sogar wahrscheinlich, daß Ihr Vater heute abend überfallen wurde.“ Sonjas Hand schnellte zum Mund hoch. „Heute abend?“ fragte sie erschrocken und erschreckend laut. Thomas lehnte sich gegen die Türfüllung. „Das kann ja nicht sein. Brauchst dich überhaupt nicht aufzuregen, Sonni. Wer sollte Vater denn überfallen. Der legt doch mit seinem Judo eine ganze Meute aufs Pflaster.“ Er sah seine Schwester an. Sie war blaß geworden. „Mensch, Sonni, wenn ich dir’s sage!“ Dann musterte er wieder Klut, spannte sich, drehte sich blitzschnell um, war schon aus der Wohnung, polterte die Treppe hinunter. „Wo will er hin?“ fragte Klut überrumpelt. „Zu Mutti – natürlich“, antwortete Sonja. Ihre Hand sank vom Mund, zeitlupenlangsam. Das Mädchen sah vor sich hin, auf einen Punkt; fragte stockend: „Wo ist mein … wo ist mein Vater überfallen worden?“ „Grabenweg. Da oder in der Nähe“, sagte Klut. Er war verwirrt über das Versagen seines Reaktionsvermögens in diesem Bruchteil einer Sekunde. Unbewußt wohl 27
schüttelte Sonja den Kopf. Klut sah es, faßte sich, sagte: „Ich hoffe aber, Ihr Vater wird bald wieder zu Hause sein.“ „Darum geht’s nicht“, sagte Sonja tonlos, abwesend. „Sondern?“ Sie ruckte den Kopf hoch. „Wie bitte?“ „Um was es sonst geht, wenn nicht darum, daß Ihr Vater bald wieder zu Haus sein kann.“ „Doch, doch, es geht darum“, sagte sie und nickte – wie Marionetten nicken, mit steifem Hals. „Sicherlich kennen Sie viele Leute, mit denen Ihr Vater zu tun hat, privat oder beruflich“, sagte Klut. Sie rührte sich nicht, sah ihn nicht an, antwortete nach kurzem Zögern: „Einige kenne ich.“ „Und wissen Sie jemanden, der Ihrem Vater nicht so besonders gut oder sogar feindlich gesinnt ist?“ Sie zog die Lippen nach innen, ihre Lider bewegten sich flatternd wie Flügel eines verängstigten Vogels. Sie drehte das Gesicht weg. In dem Augenblick bemerkte Klut Tränen an ihren Wimpern. „Fräulein Riedel“, sagte er, behutsamer als eben noch, „wahrscheinlich würden Sie uns, aber auch Ihrem Vater sehr helfen, wenn Sie mir den Namen nennen, den Sie – gerade jetzt – denken.“ Mit weggedrehtem Kopf sagte sie: „Ich denke keinen Namen!“ Sie fügte schnell an: „Ich bin müde, ich möchte schlafen gehen. Warten Sie doch bitte hier, bis Mutti zurückkommt; es wird ja nicht ewig dauern.“ „Sie sind müde, Sie hatten heute abend Training, ja?“ „Ja, zwei Doppelstunden.“ „Trotzdem muß ich Sie bitten, mit mir gemeinsam zu warten, bis Ihre Mutter und Ihr Bruder zurückkommen“, sagte Klut freundlich. Seine Verwirrung war ihm nicht mehr anzumerken. Unvermittelt fragte Sonja: „Darf ich Vati besuchen?“ „Sicherlich. Man muß den Arzt um Erlaubnis bitten.“ 28
„Gut. Dann möchte ich meinen Vater jetzt besuchen.“ Klut hatte aufgehorcht. Sagte dann aber, wie nebenher: „Heute wird das nicht mehr möglich sein, aber morgen …“ In ihrem Gesicht zuckte es. Sie war offenbar bemüht, nicht wieder zu weinen. Als Klut weiterfragen wollte, läutete es im Zimmer irgendwo und seltsam dumpf. Sonja ging zum Bücherregal, nahm eine große Stoffpuppe heraus, unter deren gepolstertem Rock ein Telefon stand. Jetzt, einen Herzschlag lang, wurde Kluts Blick starr. Seine Gedanken waren in Aufruhr: ein verstecktes Telefon im Zimmer, aber Frau Riedel telefoniert mit Warschau irgendwo im Haus; ein Sohn, der überrumpelnd schnell zu seiner Mutter läuft, nachdem er erfuhr, was sich ereignet hatte; eine Tochter, die allein sein möchte, die vorgibt, müde zu sein, die dann aber doch noch heute den Vater im Krankenhaus besuchen will … Sie, immerhin die einzige, die bestürzt auf die Nachricht reagierte, wenn auch in einer noch ganz undurchsichtigen Weise, sie hatte den Hörer abgenommen; nicht hastig. „Sonja“, sagte sie nur. Dann: „Ja, Sonja Riedel.“ Dann, ohne Klut anzusehen, reichte sie ihm den Hörer. „Für Sie.“ Ihre Stimme hatte leicht vibriert, Klut ließ das Mädchen nicht aus den Augen. Sie ging zu dem Sessel, in dem vorhin ihre Mutter gesessen hatte. Auf den oberen Rundungen der Armlehnen war das weiße Leder etwas grau. Sonja legte ihre Arme darüber, versuchte in ruhiger, guter Haltung zu sitzen, sah sich im Zimmer um, als gehe es sie nichts an, was der Mann von der Kriminalpolizei sagen werde am Telefon – doch jetzt hatten auch ihre Lippen kaum noch Farbe. Klut registrierte im stillen alles, während er Bortfelds kratzige Stimme hörte. Bortfeld fragte, ob er sprechen könne. „Nicht besonders günstig“, sagte Klut. 29
„Hast du die gesamte Familie angetroffen?“ fragte Bortfeld leiser. „Hab’ ich.“ „Waren die Zwillinge schon zu Hause, als du kamst?“ „Nein.“ „Hast du Fragen gestellt?“ „Ja, einige.“ „Wie wurde die Nachricht aufgenommen?“ „Nachher, bitte.“ „Ah so! Ja, ist gut. Hör zu, Klut: keine weiteren Fragen! Vor allem keine an Sonja Riedel. Und komme auf schnellstem Weg zurück.“ „Bedeutendes?“ fragte Klut. „Vielleicht. Ein erster Ansatzpunkt womöglich.“ „Hier auch – womöglich. Gut, ich komme.“ „Noch was: Wenn du dich jetzt verabschiedest, sei … na ja, sei eben ganz Klut.“ Klut lachte kurz auf. „Will’s versuchen. Ende.“ Er legte den Hörer auf die Gabel, stülpte den gepolsterten Rock der Puppe übers Telefon, ging einen Schritt auf Sonja zu. Sie stand sofort auf, sah Klut an, war weiß wie die Wand. Klut sagte ihr, daß er sogleich zur Dienststelle zurück müsse, daß sie sich keine zu großen Sorgen machen solle, auch ihrer Mutter und ihrem Bruder möge sie das bitte ausrichten. Er hätte beide gern noch einmal gesprochen, es habe sich aber nun anders ergeben; sicher werde man noch voneinander hören. Er sprach freundlich. Seiner Stimme war eine feine Härte der Konsonanten eigen, das machte sie angenehm, wohltuend sogar; und er wußte es. Er war ganz Klut. Sonja nickte zu allem, was er sagte, begleitete ihn zur Tür, gut erzogen. Sie sagte nicht auf Wiedersehen, aber sie versuchte zu lächeln. Klut war im Treppenhaus schon auf der untersten Stufe, als oben eine Tür ins Schloß fiel, dann hörte er Schritte 30
treppaufwärts, unverkennbar die huschenden der Inge Riedel und die schwereren, etwas polternden des Thomas. Das klang nach Verschwörung, nach Überlistung. Aber zehnjährige Berufserfahrung hatten Leutnant Klut gelehrt, vorschnellen Rückschlüssen zu mißtrauen. Fakten zählen, anderes nicht. Was er an diesem Abend bei Riedels hatte sammeln können, waren Eindrücke. Sie haben ihr Eigengewicht; das fühlte er.
Dienstag abend gegen dreiundzwanzig Uhr Im Wagen, den Kriminalmeister Hermens selbst steuerte, neben ihm, saß der Intendant. Sie fuhren zum Opernhaus. Der Intendant war klein und dick. Er redete ununterbrochen, obwohl man nach jedem Satz glauben konnte, für den nächsten wäre ihm der Atem ausgegangen. Doch der nächste Satz kam. Tiefes Atemholen mit leisem Pfeifton, von neuem dicht heranrücken an den Zuhörer, ihm das Gesicht zugewandt, ihm, der sich auf die vereisten Straßen konzentrieren mußte, direkt aufs Profil gesprochen: „Ich bin sprachlos, Kriminalmeister, ich kann es einfach nicht glauben, es muß eine Verwechslung vorliegen. Wir werden es sehen, wir werden es erleben, aber sehr gut, und dafür bin ich Ihnen einfach dankbar, sehr gut, daß Sie mich noch heute abend unterrichtet haben – auch wenn sich alles“ (damit ließ er sich wieder auf seinen Sitz zurückrollen) „als Irrtum herausstellt, wovon ich, wie gesagt, überzeugt bin.“ Tiefer Atemzug mit leisem Pfeifton, wieder dicht an Hermens herangerückt, ihm aufs Profil gesprochen: „Dietrich Riedel, Sie haben es ja selbst im Probenbuch gesehen, er muß, muß einfach im Opernhaus sein, wissen Sie, es ist ja so, wir bringen im Opernhaus pro Spielzeit neben den obligatorischen Opern zwei Operetten, 31
alles geht da mit geradezu ungestümem Elan zu Werke, neben dem Ernst meine ich natürlich, den gerade das Leichte verlangt, aber man ist doch der sonst überwiegenden schweren Operndramatik enthoben, sozusagen, meine Opernleute haben dabei einfach jede Menge Ulkerei und so weiter, Sie können sich solche Arbeit …“ „Aber Riedel ist Oberspielleiter des Schauspiels, soviel wir wissen“, unterbrach ihn Hermens. „Jajaja, haben Sie das denn überhört? Unser Riedel leitet die Dialogregie bei der Operetten-Inszenierung ‚Die ungarische Hochzeit‘, wissen Sie, das macht sich immer gut, wenn da ein versierter Mann vom Sprechtheater die Sache in die Hand nimmt, womit ich nichts gegen meine Opernregisseure gesagt haben will, nein, das nicht, aber …“ „Und wie war das, ab wann sollte Riedel heute abend die Probe leiten?“ fragte Hermens. „Die Dialogprobe, nur die Dialogprobe, damit wir uns da nicht falsch verstehen …“ „Ab wann bitte!“ „Ja, das ist es eben, darum kann das nicht so sein, wie Sie annehmen; ab neunzehn Uhr ist die Probe heute abend, bis einundzwanzig Uhr und danach eine Stunde Pause, dann mit Einverständnis des beteiligten Personals weiter bis zirka dreiundzwanzig Uhr; manchmal wird das noch länger, wissen Sie, wenn man gerade so mittendrin ist, dann …“ „Hoffentlich treffen wir noch jemanden an“, sagte Hermens. „Hoffentlich, hoffentlich, ja.“ Den Hut in der Hand, ruderte der Intendant voran, im Opernhaus die Treppe hinauf, die zur Probebühne führte. Der Intendant versuchte sie in einem Zug zu bewältigen, doch er mußte mehrmals stehenbleiben, wischte sich das hochrote Gesicht dann trocken, keuchte: „Die verrückte Treppe, wie ich die hasse! Wenn es 32
nach mir ginge, würde das ganze Ding umgebaut werden. Flachbau, alles Flachbau. Na, gehen wir weiter.“ „Ja, bitte, es eilt!“ Sie hatten die Probebühne erreicht. Der Intendant stieß die Tür auf, ruderte voran mit kurzen Armen, den Hut in der Rechten, atemlos. Blieb jäh stehen, hatte die Situation überblickt, sagte verdattert: „Ihr probt ja in der Tat das Maria-Theresia-Bild!“ Hastete weiter, zielstrebig auf den Regietisch zu, wedelte mit beiden Armen, den Hut in der Rechten, rief: „Aufhören! Aufhören“ Auf der Bühne war es ohnehin bei seinem Eintritt still geworden. Die Souffleuse sprang verschreckt von ihrem Stuhl am Regietisch, bot dem Intendanten mit fahriger Handbewegung ihren Platz an. Die Brille war ihr von der Nase gerutscht. Der Korrepetitor drehte sich um, drückte ungewollt mit dem Ellenbogen ein paar Tasten nieder, vergaß den Fuß vom Pedal des Klaviers zu nehmen; die Dissonanz dröhnte laut und lang anhaltend durch den Raum. Der Intendant ließ sich auf den Stuhl der Souffleuse fallen, wischte sich mit dem Mantelärmel im verschwitzten Gesicht herum. „Sie sind allein?“ fragte er Peter Kaufmann, den jungen Opernregisseur. „Ist Dietrich Riedel schon weg?“ Regisseur Peter Kaufmann rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augenwinkel. Mit einemmal schien ihm bewußt zu sein, wie überarbeitet er war. „Dietrich Riedel ist nicht zur Probe gekommen“, sagte er ruhig. „Überhaupt nicht heute abend hier gewesen?“ fragte der Intendant. Regisseur Peter Kaufmann schüttelte den Kopf. Der Intendant schlug die kurzfingrigen Hände zusammen, rieb die Handballen gegeneinander, sagte: „Mein Gott, mein Gott, dann kann es in der Tat wahr sein.“ „Es ist wahr“, sagte Hermens, „Irrtum ist ausgeschlossen, ich habe das nun schon x-mal wiederholt. Mein Vorgesetzter hat den Spielleiter Riedel …“ 33
„Oberspielleiter“, verbesserte ihn der Intendant. „Hat den Oberspielleiter Riedel im Krankenhaus gesehen, mein Vorgesetzter kennt ihn.“ „Das ist logisch“, sagte der Intendant, „Riedel ist ein berühmter Mann, schließlich und endlich.“ Regisseur Peter Kaufmann sah interessiert den großen, stabil gebauten Mann an, der mit dem Intendanten gekommen war. Fragte: „Und was ist mit dem Kollegen Riedel?“ „Er ist heute abend überfallen worden und liegt schwerverletzt im Krankenhaus.“ Hermens hatte geantwortet, laut und bestimmt. Alle hatten es gehört, auch alle, die auf der Probebühne standen, im dürftig angedeuteten Bühnenbild. Sofort sahen alle zu Anne Wegener hin, die allein in der Bühnenmitte stand. Ebenso schnell – und etwas betreten – ließen die Blicke von ihr wieder ab, hakten sich ins breite, rote Intendantengesicht. „Ja, so ist es“, sagte der Intendant. „So ist es denn also die Wahrheit. Man hat unseren Kollegen Riedel überfallen und zusammengeschlagen, so daß er jetzt lebensgefährlich verletzt im Krankenhaus liegt. Sie sehen ja, wir haben die Kriminalpolizei im Haus, das ist Kriminalmeister Hermens.“ Ungenau streckte er den Arm gegen Hermens aus. Dann schlug er die Hände auf die Knie, rieb sie nervös, hatte die Füße um die Stuhlbeine verhakt. Sagte: „Ich kann es nicht fassen, daß es ausgerechnet ihn getroffen haben soll, ausgerechnet den Tüchtigsten vom Schauspiel, einen Mann, der uns total unersetzbar …“ Regisseur Peter Kaufmann fiel ihm ins Wort: „Heute abend habe ich mit Riedel am Bühneneingang gesprochen.“ Hermens merkte, daß Regisseur Kaufmann dem Intendanten bewußt ins Wort gefallen war. Es hatte auf der Probebühne Getuschel und Gemurmel eingesetzt, als der Intendant vom „Tüchtigsten im Schauspiel“ redete. 34
Hermens fragte den Regisseur, ob er sich erinnern könne, zu welcher Zeit er mit Riedel gesprochen habe. „Ja, das kann ich. Kurz vor Beginn unserer Probe, also kurz vor neunzehn Uhr. Riedel hat mir gesagt, er fühle sich schlecht und werde an der Abendprobe nicht teilnehmen, falls ihm nicht besser wird.“ „Kam Ihr Kollege Riedel aus dem Theater, hatte er hier zu tun gehabt?“ fragte Hermens. „Ja. Für die Vorstellung, die gerade lief, hatte er die Abendregie.“ „Was ist Abendregie?“ fragte Hermens. „Das ist so: Bei jeder Vorstellung muß ein Regisseur im Haus sein; von der ersten bis zur letzten. Den jeweiligen Regisseur nennt man Abendregisseur, er hat die Abendregie.“ „Wann war die Vorstellung, bei der Herr Riedel Abendregie hatte, zu Ende?“ „Kurz nach neunzehn Uhr.“ „Also war sie noch nicht zu Ende, als Sie Ihren Kollegen Riedel am Bühneneingang trafen?“ „Nein, noch nicht ganz.“ „Aber Sie hören doch, dem Kollegen war schlecht geworden“, mischte sich der Intendant ein. „Sicherlich hatte er’s wieder mit dem Kreislauf.“ Hermens ließ sich nicht aus seinem Konzept bringen. Er fragte Regisseur Peter Kaufmann: „Sie sagten, er hatte nach Hause fahren wollen. War er mit eigenem Wagen hier?“ Der Intendant holte tief Luft, wollte anscheinend für Kaufmann antworten. Peter Kaufmann sagte aber schon: „Nein, Riedels haben keinen Wagen.“ „Also wollte er vermutlich mit der Straßenbahn fahren“, sagte Hermens. „Ist anzunehmen. Bequemer geht’s auch kaum. Von hier bis zu ihm nach Haus’ … ich weiß es nicht genau, aber höchstens drei oder vier Stationen. Schnurgerade Strecke. Aber …“ Peter Kaufmann stockte. 35
„Bitte, reden Sie“, forderte Hermens. „Nein – ich möchte vorsichtig sein, man kann das nie so genau beurteilen.“ „Was hatten Sie sagen wollen“, beharrte Hermens. „Nun – ich persönlich hatte nicht den Eindruck, daß Kollege Riedel krank war. Wir sprachen noch ein paar Worte, und da schien sein Leiden vergessen, er machte mir dann einen recht aufgekratzten …“ „Aber bitte! Kollege Kaufmann!“ fuhr der Intendant ihn an. „Was ist?“ fragte Kaufmann. „Ich habe betont, es war mein persönlicher Eindruck, und der ist so gewesen.“ „Also ich verstehe nichts mehr“, sagte der Intendant. „Das kommt mir doch alles sehr spanisch vor.“ Er rieb sich erregter die gespreizten Knie, verhakte die Füße fester. Die Souffleuse stand noch immer verschreckt in einiger Entfernung von ihrem besetzten Platz. Das Ensemble beobachtete von der Bühne aus; niemand rührte sich. Hermens verspürte eine eigenartige Spannung um sich her, in die hinein sagte der Intendant: „Daß ausgerechnet unser Kollege Riedel eine Probe versäumen sollte, wenn er – wie Sie meinen – aufgekratzt ist, das ist unvorstellbar. Der Mann zerreißt sich doch fürs Theater, das weiß jeder. Ich muß schon sagen, Kaufmann, Ihre Einstellung zu einem allgemein hochgeschätzten Kollegen bringt mich doch einigermaßen in Erstaunen, gelinde ausgedrückt.“ Er sah Hermens an, als erwarte er von ihm Bestätigung. Da Hermens schwieg, den Blick mit Schweigen beantwortete, sagte der Intendant noch einmal: „Ich sehe ja, ihr probt das Maria-Theresia-Bild, da ist ja unsere Kaiserin.“ Er wies auf Anne Wegener. „Hätten Sie nicht umdisponieren können, wenn Kollege Riedel heute nicht disponiert war?“ Kaufmann schob die rechte Braue hoch. „Das kommt mir doch alles sehr spanisch vor!“ wiederholte der Intendant. 36
Regisseur Peter Kaufmann streckte sich rücklings über die Stuhllehne, bog den Kopf zurück, sagte: „Ach, wissen Sie, so spanisch ist das gar nicht. Mir kommt das leider ziemlich hiesig vor. Und was heißt indisponiert, und wie oft soll ich umdisponieren? Wenn ich auf des Kollegen Riedels Dialogregie warten sollte, dann käme unsere Premiere vielleicht nächstes Jahr um diese Zeit ’raus.“ „Kollege Kaufmann“, fuhr der Intendant ihn an, konnte sich kaum noch beherrschen, „haben Sie nicht gehört, was passiert ist?“ „Doch, ich habe gehört“, sagte der Regisseur. Er stand auf, ging ein paar Schritte, als hätte er zu lange gesessen, als wolle er nur die Beine ein wenig in Bewegung bringen. Doch dann, beim scheinbar gemächlichen Aufundabgehen, sagte er: „Da Sie von mir verlangen, ich hätte umdisponieren sollen, da wir also schon dabei sind, will ich mal etwas ganz klar aussprechen. Ich war natürlich damit einverstanden, daß Kollege Riedel die Dialogregie bekam. Was hätte ich auch dagegen tun können … und es war mir bei unserer viel zu kurzen Probenzeit wirklich recht, weil ich hoffte, mich dadurch intensiver auf ’s Musikalische konzentrieren zu können. Doch leider habe ich bis heute von der Dialogregie des Kollegen Riedel so gut wie nichts bemerkt.“ „Kollege Kaufmann! Ich muß Sie doch sehr bitten!“ versuchte der Intendant ihn zum Schweigen zu bringen. „Ich bin noch nicht fertig“, sagte Kaufmann. „Nein!“ sagte der Intendant entschieden. „Was Sie jetzt hier anfangen wollen, das wird nicht in aller Öffentlichkeit diskutiert. Nicht in meinem Haus. Und nicht in der Lage, in der wir uns befinden. In solchem Moment denkt doch jeder nur an den Kollegen Riedel, wie es ihm geht, ob wir ihn je wiedersehen werden und so fort.“ Regisseur Kaufmann war vor dem Intendanten stehengeblieben. „Wer ist alle Öffentlichkeit, Herr Inten37
dant? Unser Ensemble? Oder der Genosse von der Kriminalpolizei?“ „Das ist mir Wurst, was Sie für alle Öffentlichkeit halten“, entgegnete, nun schon äußerst unwirsch, der Intendant. „Jedenfalls das, auf was sie anspielen wollen … ich hab’s doch schon ’rausgehört, das sind betriebsinterne Angelegenheiten und werden, wenn es nötig ist, betriebsintern ausdiskutiert.“ Er schnellte vom Stuhl der Souffleuse hoch. „Kommen Sie jetzt mit, Kaufmann. Herr Kriminalmeister Hermens hat noch einige Fragen an uns, betreffend den Kollegen Riedel. Und die werden jetzt wohl wichtiger sein als Ihre Probenschwierigkeiten. Also bitte, kommen Sie!“ „Ja, ich komme“, sagte Kaufmann, „aber erst nachdem ich ausgesprochen habe, was ausgesprochen werden muß. Sicherlich ist es der ungeeignetste Augenblick, den man sich dafür vorstellen kann, aber …“ Der Intendant trat an Kaufmann heran, sagte, dicht unter dessen Gesicht, laut wie zu einem Schwerhörigen: „Der Kollege Riedel ist in Lebensgefahr, und Sie wollen über Probenschwierigkeiten lamentieren? Haben Sie keine Spur von Gefühl, von Takt?“ „Doch – jaja, alles vorhanden“, sagte scheinbar obenhin der Regisseur, „aber, wollte ich sagen, auch wenn das der ungeeignetste Augenblick ist – was ich empfinde wie Sie –, so muß ich Sie trotzdem noch um ein paar Minuten Gehör bitten und den Genossen von der Kriminalpolizei um ein wenig Geduld, denn, Herr Intendant, wann haben wir schon mal die Ehre Ihres Besuches hier oben auf der Probebühne. Mir geht es darum, daß von bisher zehn Dialogproben – auf dem Probenplan deutlich als Proben des Kollegen Riedel angegeben – nur zwei wirklich von ihm geleitet wurden. Acht Proben wären ausgefallen, wenn ich sie nicht übernommen hätte. Für jede der acht Proben hatte Kollege Riedel eine Entschuldigung. Ist alles im Probenbuch nachzulesen. Ha38
ben Sie sich das Probenbuch während der letzten Wochen wirklich nie angesehen? Oder werden Sie beim Namen Riedel blind? Oder sollen wir annehmen, daß Sie mit solcher, vom Kollegen Riedel praktizierten Einstellung zur Arbeit einverstanden sind? Oder …“ „Unerhört“, keuchte der Intendant. „Unerhört, was Sie sich rausnehmen!“ „Ja“, sagte Kaufmann, „weil ich gerade von einem Oberspielleiter erwarte, daß er seine Arbeit in vorbildlicher Weise leistet. Daß Sie, Herr Intendant, mit dem Kollegen Riedel ein Sonderhonorar für diese Dialogregie …“ „Jetzt ist Schluß!“ brüllte der Intendant; er war bis zum Erzittern empört, seine Stimme kickste. „Jetzt ist endgültig Schluß! Das ist doch ein unmögliches Verhalten! Da sträubt sich einem doch jedes Haar! Unser Kollege stirbt vielleicht jetzt, und Sie haben die Stirn, von Geld zu reden?“ „Ja“, sagte Kaufmann sehr ernst, „die habe ich. Denn mir geht es ums Prinzip, und dafür ist die Stirn unentbehrlich. Es geht um die Tatsache, daß Sie mit einem Kollegen ein Sonderhonorar in unzulässiger Höhe vereinbarten und dann noch nicht einmal zu bemerken scheinen, daß der Kollege die übernommene Aufgabe nicht erfüllt, sondern sich immer neue …“ „Sie haben hier nicht zu entscheiden, wieviel Honorar …“, unterbrach der Intendant ihn energisch und lautstark, aber Kaufmann konnte ihm noch lauter ins Wort fallen. „Nein. Nicht einmal mitzuentscheiden“, sagte er, „aber einen Kopf habe ich, der mitunter zum Denken benutzt wird, und einen Mund, der sprechen kann – auch über unhaltbare Zustände, die bei uns immer tiefer einzureißen scheinen. Dem Ensemble hätte ich davon auch hinter Ihrem Rücken erzählen können, wie das ja zumeist gehandhabt wird. Aber genau das wollte ich nicht. Darum habe ich die Gelegenheit ge39
nutzt, Sie hier oben auf der Probebühne endlich einmal allein mit dem Ensemble zu haben; auch wenn das allen, allen, angesichts der Hiobsbotschaft, die Sie brachten, ungeheuerlich vorkommen sollte.“ „Ungeheuerlich“, wiederholte der Intendant so entsetzt, daß ihm kein eigenes Wort dazu mehr einfiel. Einen Moment lang war es hauchstill. Dann sagte der Intendant wieder: „Un-ge-heu-er-lich, was Sie sich rausnehmen, Kollege Kaufmann. Und das in Anwesenheit eines fremden Menschen. Ja, wissen Sie denn nicht, daß solche Angelegenheiten nur vorstandsintern behandelt werden dürfen?“ Hermens, der fremde Mensch, sah gespannt und mit kaum verhohlener Sympathie dem Regisseur ins Gesicht, wartete wie alle auf dessen Antwort. Kaufmann sagte: „Ja, ich weiß, daß solche Angelegenheiten nur vorstandsintern behandelt werden – bei uns. Doch ich bin nicht der Meinung, daß es so seine Richtigkeit hat.“ Zum Ensemble hin, heiser und krampfhaft bemüht, ein Lächeln ins Gesicht zu kriegen, sagte der Intendant: „Die Probe ist beendet, meine Damen und Herren. Für das Verhalten des Kollegen Kaufmann bitte ich Sie um Entschuldigung.“ Das Ensemble stand auf dem Podest der Probebühne wie angeleimt; keiner rührte sich, keiner sprach. Gegen Kaufmanns Gesicht zischte der Intendant leise (aber nicht leise genug für Hermens’ Ohren): „Man sollte Sie fristlos entlassen für diese Unverschämtheit, für Ihre Kaltschnäuzigkeit!“ Kaufmann nickte, sagte ernst: „Ja. Vielleicht sollte man das tun.“ Fassungslos starrte der Intendant ihn an. Plötzlich wurde er wieder lauter, und in beinah geschäftlichem Ton sagte er: „Wir verzichten auf Ihre Mitarbeit, Herr Kaufmann. Wir werden die Probleme, die durch das tragische Schicksal unseres Kollegen Riedel jetzt auf uns 40
zukommen, ohne Sie lösen; ich nehme an, daß sich der Herr Kriminalmeister ebenfalls ein Urteil über Sie gebildet hat und auf Ihre Mitarbeit bei seiner Tätigkeit verzichten wird. Ich könnte es ihm keinesfalls verdenken.“ Hermens sagte: „Im Gegenteil, ich habe einige wichtige Fragen an den Genossen Kaufmann.“ „Also wir müssen abbrechen“, sagte Kaufmann zum Ensemble. „Morgen vormittag, wie’s am Probenplan steht.“ Er klemmte seine Sachen unter den Arm, folgte dem Intendanten, der kurzarmig zur Tür ruderte, den Hut in der Rechten. Hermens hielt sich neben dem Regisseur. Das Ensemble verließ nur zögernd die Probebühne. In den Gesichtern war Ratlosigkeit. Manche schienen Kaufmanns Courage zu bewundern, einigen war Mißbilligung anzusehen. Was aber Riedel nun wirklich passiert war, wußte keiner. Sie rätselten, und sie sprachen nicht – noch nicht – von dem zu hohen Honorar, das Kaufmann so außerordentlich empört hatte. Alle Anstrengungen des Tages schienen vergessen. Man einigte sich, noch beieinander zu bleiben, ins Theatercafe zu gehen, das erst um ein Uhr morgens schloß. Sie verabschiedeten sich von Anne Wegener, die auf der Probebühne blieb; einige nickten ihr zu, zaghaft, andere gaben ihr die Hand. Man wußte, sie wurde von dem jungen Schauspieler Jens Michaelis abgeholt, immer wenn die Proben so spät zu Ende waren. Sie war die einzige vom Schauspielensemble, die in einer Sprechrolle – Kaiserin Maria Theresia – im Opernhaus zu tun hatte, seit Beginn der Proben zur „Ungarischen Hochzeit“. Seitdem nahm Jens Michaelis in seinem Trabant auch das Ehepaar Thea und Ernst Röhland mit; sie wohnten neben der Wegener in der Dimitroffstraße. Aber als Jens heute kam, waren Röhlands schon unterwegs zum Theatercafe, brannte nur noch eine Lampe im großen Raum. Anne Wegener 41
saß allein, fast im Dunkeln, auf dem Podest der Probebühne; die Beine angezogen, den Kopf auf den Knien. Es war so still, daß Jens’ Schritte laut hallten, als wären die Sohlen seiner Schuhe aus Eisen.
Nacht zum Mittwoch Die erste Morgenstunde des achten Dezember war vorüber. Im Licht der Straßenlaternen erkannten Röhlands schon von weitem Jens Michaelis’ Wagen vor dem Haus Dimitroffstraße 12; als sie näher kamen, stiegen Michaelis und die Wegener aus. Jens ging voran, klimperte mit dem Schlüsselbund, hantierte am Schloß, drückte die schwere Haustür mit Schulter und Rücken auf. Mehr konnten Röhlands nicht sehen. Sekunden danach lief er zurück zu seinem Wagen, fuhr an, fuhr sehr schnell weg; Schnee spritzte knisternd hoch, von der aufgerissenen Eiskruste des Fahrdammes flogen glasperlengroße Eisstücke durch die Luft; einige knallten wie Kugeln gegen den hohlen Baum, hinter dem Röhlands stehengeblieben waren. Sie duckten sich unwillkürlich bei dem Geprassel. Der Trabant war schon außer Sicht, als Thea Röhland sich wieder aufrichtete und ihrem Mann zuflüsterte: „Meine Güte, müssen die sich viel zu erzählen gehabt haben!“ „Weiß der Himmel!“ bestätigte Ernst Röhland. Sie gingen ein paar Schritte weiter, waren unschlüssig. Die Wohnung der Wegener war wie ihre eigene; alle Fenster lagen zur Straße. Röhlands blieben wieder stehen. Sie wußten nicht, auf was sie warteten, ob sie noch etwas erhofften oder befürchteten, aber sie standen, bis ihnen zu kalt wurde. Hinter keinem Fenster war Licht aufgeflammt. Nachdem Thea Röhland ihre Wohnungstür von 42
innen abgeschlossen hatte (zweimal herumgeschlossen), fragte sie: „Du, wenn da nun die Polizei was von uns wissen will – ob man so was angeben muß?“ „Was denn angeben?“ fragte ihr Mann zurück, als wüßte er nicht, was sie meine, als erahne er nicht den Verlauf ihrer Gedankenkette. „Blödsinn“, sagte er nach einer Weile und gähnte dabei, „warum soll die Polizei ausgerechnet uns danach fragen? Ist sicher alles halb so schlimm. Der Alte war einfach durchgedreht, weil ihn die Kripo nachts aufgescheucht hat. Ich denke mir, wenn Kaufmann die Sache mit Riedel richtig geglaubt hätte, da hätte der nie im Leben von der Honorargeschichte angefangen.“ „Doch, hätte er!“ widersprach Thea Röhland mit Entschiedenheit. „Kaufmann ist viel zu erbost über alles. Und der weiß mehr als wir, da kannst du Gift drauf nehmen. Außerdem, was hat denn Kaufmann zu verlieren? Der wird doch hier gebraucht wie’s liebe Brot.“ Darauf sagte er: „Ich habe Hunger!“ Sie sah ihn verständnislos an. Schließlich bereitete sie ein Abendessen. Er half ihr. Goß Wasser in den Kaffee, der am Morgen übriggeblieben war, ließ ihn auf dem Gasherd heiß werden. Sie saßen am Küchentisch, kauten vor sich hin, beide mit den Gedanken bei Riedel, Kaufmann, Jens Michaelis, auch bei Anne Wegener; von ihr aus liefen Röhlands Gedanken monateweit zurück. Er nahm die Zeitung, vielleicht um abzulenken, gab seiner Frau eine Hälfte ab. Der Tag war mit Probenarbeit gespickt gewesen, für die Zeitung hatten sie keine Zeit gehabt. Sie schwiegen und blätterten herum. Legten die Zeitung zur Seite, räumten den Tisch ab, gingen zu Bett, grübelten, bis endlich der Schlaf kam. Länger als Röhlands hatte Anne Wegeners Tochter Sabine das Auto vor dem Haus beobachtet. 43
Als der Trabant vor dem Haus gebremst hatte, hatte sie gleich, mit einem Sprung aus dem Bett, am Fenster gestanden; die Lippen zusammengepreßt, glücklich, Jens noch einmal zu sehen an diesem Tag, nachdem sie stundenlang auf das sachte Bremsgeräusch gewartet hatte. Sie wollte sich hinter dem Store versteckt halten, die Übergardine nur einen Spalt weit offen, das würde genügen, um Jens zu sehen. Aber er war nicht ausgestiegen. Auch ihre Mutter nicht. Minutenlang hatte der Motor getuckert, war schließlich abgestellt worden. Sabine wurde mit der Zeit ganz starr. Sie stand umleuchtet vom diffusen Licht, das von der Straße her durch die gelbe Übergardine in ihr Zimmer kam. Das Zimmer war kalt. Sie fror im dicken Schlafanzug, aber sie ging nicht die paar Schritte, sich den Morgenmantel zu holen, entfernte sich keine Sekunde und keinen Zentimeter weit vom Fenster. Eine Stunde lang stand sie hinter dem schmal gehaltenen Spalt der Übergardine. Dann endlich stiegen da unten beide aus. Sabine hatte Gewißheit, daß Röhlands nicht mit im Wagen gewesen waren, wie sonst – seit Wochen. Daß Jens mit ihr allein gesessen hatte. Als er ausstieg und mit dem klimpernden Schlüsselbund voranlief, biß sich Sabine auf ihre Fingerknöchel. Sie sah noch, wie Jens in ungestümer Fahrt wegfuhr, wie Schnee und Eis hochspritzte und im Straßenlicht glitzerte. Unter der Bettdecke bibberte sie vor Kälte und lauschte. Sie zieht sich im Dunkeln aus, um mich nicht zu wecken, dachte Sabine; lächelte unter der Bettdecke spöttisch, mit geschlossenen Lippen. Sie konnte nicht begreifen, warum Jens mit ihr so lange im Wagen geblieben war. Das hatte er noch nie gemacht. Plötzlich fielen ihr Komplimente ein, die immer ihr gegolten hatten. Sie kamen ungerufen in Sabines Gedächtnis. Als Kind war sie stolz gewesen, wenn ihre Mutter als schön, 44
als klug bezeichnet wurde, wenn es hieß, sie sei „eine hinreißende Frau, eine hinreißende Schauspielerin“. Die Komplimente kamen noch immer. Aber mit Sabines Stolz war es vorbei. Sie wußte nicht warum. Sie war jetzt bald sechzehn. Sie hatte Jens. Ihr Gehör für den Tonfall solcher Worte war genau geworden. Dann erinnerte sie sich, wie ihre Mutter mitunter von Jens sprach, wie sie ihn hochlobte. Natürlich, dachte Sabine, bloß wenn’s um Berufliches geht, lobt sie ihn himmelhoch. Sie ist eben in allem geschickt! Man kann auch sagen: raffiniert. Sabines Augen brannten, aber sie bibberte noch immer vor Kälte. Sie grübelte und konnte nicht einschlafen, weil ihre Füße nicht wieder warm wurden und – weil ein fremder, scharfer Schmerz in ihr war. Sie weckte ihre Mutter gegen drei Uhr morgens. Anne Wegener wurde wach, als ihre Tochter die Tür öffnete (seit dem Tod ihres Mannes war ihr Schlaf leicht zu zerstören), aber sie stellte sich schlafend. Sabine rüttelte sie unsanft an der Schulter. Anne Wegener setzte sich im Bett auf. „Was ist los, Sabine?“ „Das will ich dich gerade fragen, genau das.“ „Wieso – was soll sein?“ Sabine antwortete nicht. Eine Zeitlang schwiegen sie sich an. „Bitte, Sabine, nimm Rücksicht, ich brauche wirklich das bißchen Schlaf“, sagte Anne Wegener endlich. Sie ließ sich ins Kissen zurückfallen. „So? Wundert mich aber gewaltig, daß du dein bißchen Schlaf dann so vergeudest.“ „Was soll das?“ fragte Anne Wegener und sah ihre Tochter an, als begreife sie wirklich nicht. Sabine fragte böse: „Warum hast du mit Jens so lange im Wagen gesessen?“ „Sag mal, bist du verrückt geworden, Sabine?“ „Nicht, daß ich wüßte. Ich nicht. Also sag mir bitte, warum ihr so lange da unten gesessen habt.“ „Weil wir was besprechen mußten.“ 45
„Nachts zwischen zwölf und eins. Komisch, nicht?“ Anne Wegener überlegte, dann, eigenartig betont, sagte sie: „Ja, Sabine – sehr komisch.“ Ihre Tochter hätte nicht aufgehört zu fragen, aber sie war auf sonderbare Weise berührt, war unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten und schwieg. Ihr kam es vor, als wiederhole ihre Mutter immer wieder: Ja, Sabine – sehr komisch. Doch dann sagte ihre Mutter wie zu sich selbst: „Da hat man sich eingebildet, eine beinah erwachsene Tochter zu haben, die sogar schon ans Heiraten denkt – und dann steht mitten in der Nacht die beinah erwachsene Tochter an meinem Bett und versucht mich zu tyrannisieren wie ein schlechterzogenes Kind.“ Das Kind fragte: „Du sagst mir also nicht, was ihr zu besprechen hattet?“ „Nein – jetzt bestimmt nicht. Sei vernünftig, geh wieder ins Bett. Du brauchst deinen Schlaf ebenso wie ich.“ Sie schloß die Augen. Sagte noch: „Du hast mir doch selbst erklärt, daß Schule auch Arbeit ist; oft sogar Schwerarbeit wie bei uns.“ Sabine schwieg. Sah ihre Mutter an; die hohen Wangenknochen, die kurzen, dichten Wimpern, die ohne Tusche kohleschwarz waren. Sie erinnerte sich, daß ihr Vater das Haar ihrer Mutter „Rabengefieder“ genannt hatte. Und Jens – der hatte von ihren Augen gesagt: „… die sind aus dem unnachahmlichen, wirklichen Blau des Benito gemacht.“ Solche Dußligkeiten sagt er manchmal – weil er sie nämlich auch schön findet. Dabei sind ihre Lippen zu voll, richtig dicke Lippen, unregelmäßig, kraus, häßlich. Wenn sie die Mundwinkel so runterzieht, sieht sie richtig neandertalerisch aus. Sie ist kein bißchen schön. Sabine stand noch eine Zeitlang, redete sich noch vieles ein, hörte, sobald sie es hören wollte, ihre Mutter wieder mit seltsamer Betonung sagen: Ja, Sabine – sehr komisch. 46
Ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen, bewegte sich nicht, atmete ruhig. Sabine ging aus dem Zimmer, knallte die Tür zu. Sie fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Auch Anne Wegener nicht. Sie nahm eine Schlaftablette und wurde hellwach. Als Jens Michaelis in seinem Auto durch die Dimitroffstraße raste, verbrachten etwa zur gleichen Zeit Bortfeld, Hermens und Klut in dieser Nacht die letzten Minuten im Dienstzimmer. Sie hatten alles getan, was einige Stunden nach dem Überfall getan werden konnte. Ermittelt war von Hermens, daß ein junger Mann am Dienstag gegen zwanzig Uhr in die Kneipe „Zum Triesel“ gekommen war, laut krakeelt hatte, er würde seinen Schwiegervater eines Tages noch wirklich umbringen, aber tüchtig gegeben habe er es ihm als Warnung schon heute. Den Wirt Hans Burksch, der sich die Lärmerei verbat, schlug er mit einem Kinnhaken nieder. Oskar Thermühlen, so heißt der junge Mann, betrat die Kneipe im Zustand der Volltrunkenheit. Als Hermens mit dem zur Hilfe gerufenen ABV Thiessen, den er erst hatte finden müssen, in die Kneipe kam, war alles vorüber. Gäste, die dem Wirt hatten helfen wollen, waren sich in die Haare geraten. Allgemeine Schlägerei war entstanden. Hermens und Thiessen sahen noch die Spuren. Die Gäste hatten sich inzwischen verzogen. Oskar Thermühlen saß in der hintersten Ecke der Kneipe, den Kopf seitlich gedreht auf den Armen, und schnarchte, daß die Gläser klirrten. Frau Burksch, die Wirtin, weiß, daß Oskar Thermühlen (Fotolaborant bei Horst Ramter) Sonja Riedels Freund ist, seit etwa einem Jahr. Der „Triesel“ ist der geheimgehaltene Treffpunkt der beiden. (Geheimgehalten vor wem? Vor den Eltern?) Sonjas Zwillingsbruder kennt Frau Burksch nicht. Wegen dieser Ermittlung war Klut aus Riedels Wohnung zurückgerufen worden. 47
Ermittelt war durch Hermens, daß Dietrich Riedel am Dienstagabend, gegen neunzehn Uhr zwanzig ungefähr, in der Nähe des Grabenweges in der Gaststätte „Windmühle“ zwei Glas Bier getrunken hatte; das dritte von ihm bestellte hatte er nicht mehr angerührt. Er war überraschend gegangen. „Einsilbig, wie sonst nie, war er gewesen“ (man kannte ihn dort), „fast möchte man sagen, er hat verstört gewirkt.“ Gaststättenleiter und Ober werden das zu Protokoll geben. Ermittelt war, daß Dietrich Riedel momentan seinen Arbeitsverpflichtungen nicht nachkam, sich dennoch mit dem Intendanten im besten Einvernehmen befand. Auch Kluts plastische Schilderung von der Begegnung mit Frau Inge Riedel wurde als erstes Ermittlungsergebnis aufgefaßt. Die Nachricht vom Überfall auf ihren Mann ohne Erregung (oder fast ohne) aufgenommen. Ebenso Sohn Thomas Riedel. Dazu sagte Klut noch einmal: „Ich glaube, das ist eine total zerschlissene Ehe, da läßt sich nichts mehr reparieren.“ Er saß und grübelte, steckte am Rest der einen Zigarette die nächste an, dachte an das Nofretete-Feuerzeug, hatte keine Streichhölzer mehr. Sah Sonja Riedel vor sich. Konnte sie in seiner Phantasie nicht mit einem Haudegen, einem Saufbold, zusammenkriegen. Allerdings soll Frau Burksch gesagt haben, so blau war der noch nie, der hat sich kaum noch auf den Beinen halten können, wie er reingekommen ist. Und trotzdem der wuchtige Kinnhaken, überlegte Klut. Und Sonja? In ihr war Panik gewesen – die sie diszipliniert verhehlte; aber daß ihre Lippen blaß wurden, konnte sie nicht verhindern. Klut hatte exakt berichtet. Durch Bortfeld war ermittelt, daß sich in dem Stadtbezirk, der ihnen für den Überfall auf Riedel interessant ist, am Dienstagabend keine Rowdys bemerkbar gemacht haben. Bortfeld hatte mit Hermens und Klut diese ersten Ergebnisse stichwortartig zusammengefaßt, sie schriftlich fixiert. 48
Hermens stand auf, schlug sich die rechte Faust in die linke Handfläche, lief durchs Zimmer, sagte: „Zum Jungehundekriegen, wir rätseln uns das Hirnschmalz zu Pappe und wissen nicht, wie es Riedel geht. Ich rufe noch mal an, auch wenn Doktor Geißler das nicht wünscht.“ Er ließ sich verbinden, weder Klut noch Bortfeld hatten widersprochen. Ein Arzt, nicht Doktor Geißler, gab bereitwillig Auskunft. Zustand des Patienten Riedel unverändert. Koma hält also an. Lebensgefahr nicht gebannt. Möglichkeit einer Gehirnembolie gegeben, wie immer bei subduralem Hämatom. Hermens fragte zurück, sich zu vergewissern: „Das ist ein Bluterguß im Unterhautzellgewebe?“ „Sehr richtig, in diesem Fall ein Bluterguß unterhalb der harten Hirnhaut.“ Forsch hatte sich Hermens für die Auskunft bedankt und war ganz unforsch zu seinem Platz zurückgegangen, setzte sich auf die Sessellehne. Aufbruchbereit. Bortfeld sah sich noch einmal den Einsatzplan für Mittwoch an, für den Tag, der schon begonnen hatte. „Ja, so werden wir vorgehen, falls nicht was Unverhofftes dazwischenkommt – wie meistens.“ Dann redeten sie nicht mehr viel, sie wünschten einander festen Schlaf. Ein langer Diensttag war vorbei. Bortfeld schlief, wie ihm gewünscht war, fest, aber wie fast alle nervigen Menschen seines Schlages schlief er zuwenig. Gegen fünf Uhr war er wieder munter. Er lag und lauschte. In seinem geordneten Haus war es bedrückend still. Die Stille hat mich geweckt, dachte er. Und dieses Pechschwarz, dieses Nachtdunkel in den Fenstern, die zum Garten, nicht zur Straße ’raus liegen – zum Garten mit seinen hohen Rotbuchen. Bortfeld horchte in die Stille hinein, er hörte seinen eigenen Herzschlag.
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Mittwoch morgen Die Stille der Nacht ist partiell, die Dunkelheit trügerisch. Die Großstadt kommt nicht zur Ruhe. Der Hauptbahnhof kennt keine Lautlosigkeit. Züge erreichen ihr Ziel oder fahren weiter oder fahren ab, in alle Himmelsrichtungen. Signale zerkreischen die Luft; in ihr hängt reglos der Widerschein des Schnees, und Leuchtreklamen zucken zerfasernd bis zu den Wolken hoch. Thomas Riedel nahm das alles wahr – wie auf einem Nebengleis seiner Gedanken. Er verließ den Bahnsteig 6, das Bahnhofsgebäude, ging zu seinem Fahrrad, war zufrieden, daß nun doch alles noch ganz dufte geklappt hatte. Den Koffer seiner Mutter hatte er in den Zug getragen und bestens verstaut. Angenehm warmes Abteil. Fensterplatz. Der Zug war ohne Verspätung angekommen und abgefahren. Er, Thomas, hatte in der Kälte gestanden und gewinkt, solange noch ein Zipfel, dann nur noch ein Schimmer des blauen Tuches zu sehen war, mit dem seine Mutter aus dem Abteilfenster zu ihm hin zurückwinkte. Jetzt war Thomas schon an der Straßenbiegung, von der aus von weitem noch einmal die Perlschnur der erleuchteten Abteilfenster zu sehen war. Thomas fuhr langsam, den Kopf in diese Richtung gedreht. Noch war nichts in Sicht. Er trat wieder kräftiger auf die Pedale, wollte schnell nach Haus. Als er abstieg, befand er sich vor dem Bezirkskrankenhaus. Mit allen Gedanken (das hätte er beschworen) nur bei seinem künftigen, bedeutenden Besitz, dem Motorrad, mit dem er bald durch die Straßen kurven würde, mit seinen Gedanken auch bei Hannelore – seinem Sozius dann und nebenbei Studentin –, so war er zum Bezirkskrankenhaus gefahren. Er hätte nicht sagen können, warum. 50
Die Arme auf dem Lenker verschränkt, sah er zu den Fenstern hoch, hinter denen schon Licht brannte. Dachte: Müßte mich mal erkundigen – wäre vielleicht ganz gut. Aber morgens um fünf, da kommt man bestimmt noch nicht rein. Die blöde Tür ist garantiert noch zu. Indem er es dachte, wurde die Tür geöffnet. Eine Frau, der Silhouette nach eine alte, kam unsicher, stolpernd durch die offene Tür, schluchzte ein Wort, immer wieder ein und dasselbe Wort; für Thomas unverständlich. Dann weinte sie laut, die Kuppel der Hände auf dem Gesicht. Aus der Tür fiel ein Lichtstreifen – war ihr Weg. Die Tür schloß sich langsam. Ihr Weg war nicht mehr da. Die Frau sackte zusammen. Thomas lehnte sein Fahrrad gegen die Hecke, ging zögernd zu der Frau. „Was ist, Oma?“ Sie hörte ihn nicht, sah ihn nicht, schluchzte wieder das unverständliche Wort. Sorbin, dachte Thomas. Er blickte sich nach seinem Rad um. Schnee war auf den Sattel gerieselt. Sorbin, dachte Thomas wieder. Sie versteht mich vielleicht gar nicht. Laut sagte er: „Oma, Sie können doch nicht auf der Straße sitzen bleiben. Die Straße ist patschnaß. Sie müssen nach Hause gehen, Oma. Können Sie mich nicht verstehen? Ich meine die Sprache? Sie müssen nach Hause gehen.“ Er wunderte sich, daß er so viel hatte sagen können. Plötzlich war der Weg aus Licht wieder da. Ein weißbekittelter Mann kam. Er fragte, ob Thomas zu der Frau gehöre. Thomas schüttelte den Kopf. „Kannste mir mal helfen, sie wieder reinzubringen?“ fragte der Mann. „Sie wollte unbedingt ’raus, aber das schafft sie alleine nicht bis nach Hause.“ Thomas winkelte seine Arme unter die Arme der Frau, er trug sie fast, ihre Füße glitten über das nasse Pflaster. Der Weißbekittelte ging nebenher, hielt ihre Hand. „Sie hat die ganze Nacht bei ihrem Mann geses51
sen“, erklärte er, „der Stationsarzt hat’s erlaubt. War nichts mehr zu machen. Vor ’ner halben Stunde isser gestorben, ihr Mann.“ Wo er sein Herz wußte, verspürte Thomas einen kurzen Riß, und dümmlich, als sei ihm Sterben kein Begriff, fragte er: „Gestorben ist ihr Mann?“ Dann sagte er nichts mehr. Die alte Frau kam ihm unglaublich leicht vor. Im Licht der Vorhalle sah er, wie dürr sie war. Der Mann im weißen Kittel sagte: „Wir müssen sie mit ’nem Krankenwagen nach Hause bringen, nachher denn. Alleine schafft sie das nicht nach Hause.“ Thomas setzte sie in einen Lehnstuhl. Sie weinte und schluchzte das unverständliche Wort. Er ging unschlüssig, wie er draußen auf sie zugegangen war, von ihr weg. Er fragte den Mann, ob hier schon eine Auskunft zu kriegen sei, so frühmorgens. „Auskunft? Haste deswegen draußen gestanden?“ Thomas antwortete nicht. „Worüber denn Auskunft, übern Patienten?“ „Jaaa – worüber sonst, Mann!“ Thomas sah verstohlen zu der Frau hin, fand ihr Weinen unerträglich, hörte es wohl lauter, als es war. Der weiße Mann sagte beleidigt: „Versuch’s, bitte schön, von mir … Da vorne, bei de Anmeldung, da mußte fragen.“ Das Fenster war winzig, das weißgestrichene Schild darüber war breit, und riesig sahen die mit schwarzem Lack gemalten Buchstaben ANMELDUNG aus. In der Anmeldung, am Schreibtisch, arbeitete eine Krankenschwester, den weißhaarigen Kopf über Karteikarten. Ihr Gesicht war grobgeschnitten. Thomas sah ihr zu und dachte: Warum müssen so alte Leute nachts arbeiten … Die dürre Alte im Lehnstuhl weinte noch immer. Oder nicht? Vielleicht hatten sich ihr Schluchzen und Jammern in seine Ohren eingenistet? 52
Die Schwester mit dem alten, groben Gesicht blickte nicht auf. Thomas war überzeugt, daß sie ihn längst bemerkt habe. Eine Weile stand er noch, sah ihr zu, wartete. Dann sagte er tonlos gegen die Scheibe. „Was soll’s auch …“ Er fuhr nach Hause, so schnell er konnte.
Mittwoch morgen im Dienstgebäude Die allgemeine Besprechung war vorbei, Oberleutnant Bortfeld hatte wie üblich der gesamten Abteilung auch vom Überfall auf Dietrich Riedel im Grabenweg Bericht erstattet, hatte Namen und Personenbeschreibungen angegeben, die beachtenswert sein könnten; sekundär war jeder beteiligt an jeder Ermittlung, und oft war aus dem Sekundären schon Primäres geworden, bei solchem Zusammenwirken des ganzen Kollektivs. Jetzt zog sich Bortfeld mit Klut und Hermens in sein Dienstzimmer zurück, besprach mit ihnen nochmals die wesentlichsten Aspekte der vor ihnen liegenden Aufgaben. Hermens hatte erneut Verbindung mit dem Theater aufzunehmen, hatte zu sorgen, daß noch heute die Befragung aller Schauspieler stattfinden könne – denn alle außer Anne Wegener waren am Tatabend arbeitsfrei gewesen –, sollte auch ein Gespräch zwischen ihm, Bortfeld, und dem Intendanten vereinbaren. Klut mußte wieder Verbindung aufnehmen mit den Riedels, sollte auch Ramters Fotoatelier aufsuchen, und Bortfeld hatte sich das erste Gespräch mit Sonja Riedels Freund, dem „Haudegen“ Oskar Thermühlen, vorbehalten. In ihre kurze exakte Beratung hinein rasselte das Telefon. Das Krankenhaus meldete, Dietrich Riedel habe 53
zeitweise das Bewußtsein wiedererlangt, dennoch bestehe weiterhin Lebensgefahr, eine Besuchserlaubnis müsse vorerst noch verweigert werden, würde sich auch als sinnlos erweisen, könnte sogar das Schlimmste auslösen. „Ja“, sagte Bortfeld zu Klut und Hermens, „so was hilft uns immer mächtig, mächtig.“ Seine Augen glänzten fiebrig. Seine Stimme kratzte noch heiserer als gestern. Klut sagte ihm, daß er Halsschmerzen bekomme, wenn er ihn höre. Bortfeld sagte: „Das gibt sich, kannst aber vorsichtshalber meinen Schal haben.“ Hermens packte seine Sachen zusammen, fragte: „Und wirklich gestern abend totale Funkstille bei unsern lieben Rowdys? Keine Meldungen über Nacht eingegangen?“ Klut sagte: „In den Bezirken, die uns für Riedel interessieren, war es still.“ Bortfeld trieb zur Eile an: „Auf geht’s, Leute, wir haben keine Zeit zu verschenken. Übrigens, wenn’s was Neues gibt, ihr wißt, ich bin drüben in der Drei, bei Oskar. Wie alt ist der Bursche?“ „Zwanzig“, sagte Hermens. „Ah so. Na, wunderbar.“ Sonja Riedels Freund stand am Fenster, sah zum Hof hinunter, der zum Dienstgebäude der Kriminalpolizei gehörte. Fand den Hof so trostlos, die Umgebung so scheußlich, wie ihm an diesem Morgen alles vorkam. In seinem Kopf bohrte es verkatert. Man hatte ihm zwei Tabletten gegeben, aber auch die waren Mist, waren machtlos gegen seinen Brummschädel. Als er das Türschloß schnappen hörte, drehte er sich langsam um, weil sein Kopf heute keine schnelle Bewegung vertrug. Bortfeld musterte Thermühlen mit genauem Blick: Das dünne Bartgekräusel am Kinn, das ist ein Witz. Aber das Gesicht – so was nennt man wohl „edle Züge“. Und 54
die Augen! Du lieber Himmel, wie sollen die jungen Dinger da widerstehen. Blondhaar bis auf die Schultern. Die Ärmelnähte der Kutte hängen fast bis zur Armbeuge, so schmal ist unser Haudegen also. Oskar Thermühlen kam Bortfeld langsam entgegen, die Daumen in den Hosentaschen, lässig. Bortfeld wies ihm einen Platz an. Sie saßen sich gegenüber in Sesseln. Bortfeld bot Zigaretten an. „Falls Sie rauchen möchten, bitte.“ Thermühlen hob leicht die Hand. „Danke, ich habe gestern zuviel geraucht. Meine Zunge ist wie ein alter Filzlatsch.“ Er lächelte; es war ein ungewöhnliches Lächeln, die Lippen blieben fast geschlossen. „Ja“, sagte Bortfeld und zerdehnte das Wort, als müsse er erst noch überlegen. „Zuviel geraucht“, sagte er dann, „und auch viel zuviel getrunken – oder?“ „Genau. Kommt eben mal vor.“ „Ja, das kennt man. Aber inzwischen haben Sie ja gut und fest geschlafen, junger Mann, und sind wieder nüchtern.“ Thermühlen sah auf seine Schuhe, die voller eingetrocknetem Schneematsch waren, und schwieg. „Mich interessiert, was Ihnen nun trotz der hohen Promille noch in Erinnerung geblieben ist“, sagte Bortfeld. Wieder lächelte Thermühlen, bevor er antwortete, sein sonderbares Lächeln. Er schien es so sparsam zu verwenden, als gäbe es nicht genug davon. „Ich weiß überhaupt nichts mehr. Mir fehlt der ganze Film.“ Bortfeld stützte das Kinn in die Hand, sah Sonja Riedels Freund aufmerksam an, fragte: „Auch, daß Sie im ‚Triesel‘ waren, wissen Sie natürlich nicht mehr – oder?“ Thermühlen sagte kleinlaut: „Doch. Das heißt, ich glaube – ja, ich bin in den ‚Triesel‘ gegangen, glaube ich. Aber da war ich nicht mehr nüchtern. Ich weiß nicht, was da passiert ist.“ 55
„Ah so, ja, das macht sich immer gut. Bloß – leider kommen wir damit nicht weiter. Wo hatten Sie denn vorher getrunken?“ „Bei mir.“ „Ach ja?“ Thermühlen sah an Bortfeld vorbei. Bortfeld fragte: „Und wer hat Ihnen dabei Gesellschaft geleistet? Oder waren Sie allein?“ „Natürlich war ich allein.“ „Auch das macht sich immer gut“, sagte Bortfeld, „aber auch das bringt uns keinen Schritt voran. Erinnern Sie sich wenigstens, wann Sie zu Hause, allein, ohne Gesellschaft, zu trinken anfingen?“ „Ich führe ja nun kein Stundenbuch“, antwortete Thermühlen leise, „nachmittags habe ich angefangen. Kleine Flasche Klaren.“ „Das war alles?“ „Nein, ich muß die große auch noch angefangen haben.“ „Ah so. Ja, und dann sind Sie zum ‚Triesel‘ gegangen. Durch den Grabenweg?“ „Durch den Grabenweg? Wieso Grabenweg?“ „Ja, durch den Grabenweg, Herr Thermühlen!“ „Ach so, jetzt weiß ich erst, was Sie meinen. Durch irgendsolchen Weg da. Ja, das war abends. War schon stockdunkel. Kann so gegen sieben oder gegen acht gewesen sein.“ „Sie sind also durch den Grabenweg gegangen, als Sie zum ‚Triesel‘ wollten. Das stimmt, ja?“ „Ja – möglich …“ „Na bitte, der ganze Film scheint also doch nicht zu fehlen. Und wenn man sich so erinnert, dann weiß man doch bestimmt auch, daß man im Graben jemandem begegnete, der einem nicht gerade unbekannt ist – oder?“ Thermühlen sah Bortfeld mundoffen an. Selbst Bortfeld, mit langer Berufserfahrung, hätte nicht mit Sicher56
heit sagen können, ob das Verblüfftsein gespielt war oder nicht. Er fragte: „Sind Sie Herrn Dietrich Riedel da im Grabenweg begegnet?“ Thermühlen war verdattert. „Ich will Ihnen helfen“, sagte Bortfeld. „Nehmen wir Ihre Äußerungen, die Sie gestern abend laut und zornig von sich gaben – wie das so ist, wenn man sich stark alkoholisiert hat –, wörtlich, dann gab es gestern zwischen Ihnen und Herrn Riedel eine, na, sagen wir, ziemlich harte Auseinandersetzung.“ Thermühlen sagte kein Wort. „Und als ernst zu nehmenden Menschen frage ich Sie nur, ob sich diese Auseinandersetzung im Graben direkt oder in der Nähe eines Restaurants ereignet hat.“ Thermühlen war anzusehen, daß er sich den brummenden Kopf zerquälte. Eine Weile sah ihm Bortfeld dabei zu, dann sagte er: „Es wäre doch ganz hübsch, wenn Sie mal antworten würden. Ich halte nicht viel von Monologen.“ „Was soll sich denn ereignet haben?“ fragte Thermühlen unsicher. „Nun, zum Beispiel, daß gestern abend, genau zu der Zeit, in der Sie durch den Grabenweg gegangen sind, ein Jemand Herrn Riedel niederschlug.“ Nach einer Denkpause – und für Bortfelds Gespür die Stirn zu kraus, den Kopf zu weit, zu schräg vorgeschoben – fragte Thermühlen: „Und Sie glauben, daß ich Ihr Jemand gewesen bin?“ „Ach, wissen Sie, glauben“, sagte Bortfeld mit leisem Seufzer, sagte es, um Zeit zu gewinnen und Zeit zu lassen, „wenn ich glauben würde, wäre ich vielleicht Priester geworden.“ Ganz plötzlich kam es ihm vor, als wähne sich Thermühlen jetzt obenauf – oder bemühe sich, so zu scheinen. Bortfelds Blick ließ nicht locker. Thermühlen sagte: „Priester oder Kriminaler – kein großer Unterschied.“ Er rekelte sich ein wenig im Sessel, 57
lächelte sein sparsames Lächeln, sah Bortfeld nicht an. Bortfeld hielt ihm noch einmal die Zigarettenschachtel hin. Thermühlen griff zu. „Kein großer Unterschied?“ tat Bortfeld interessiert. „Das müssen Sie mir unbedingt erklären, denn das ist mir wirklich neu.“ „Beide sollen sich mit dem Seelenheil der Menschheit befassen“, sagte Thermühlen mit verkniffenem Gähnen, so, als langweile ihn das Thema, „der eine vor, der andere nach dem Sündenfall.“ „Soweit kann ich folgen – aber das Vor oder das Nach trennt sie doch voneinander. Oder?“ „Zugegeben.“ Thermühlen nickte, lächelte sonderbares Lächeln, sagte: „Was sie dann aber wieder verbindet, ist die Tatsache, daß sie es beide nicht tun, daß sich beide eben nicht mit dem Seelenheil der Menschheit befassen.“ „Peng!“ sagte Bortfeld. „Man lernt wirklich nie aus.“ „Hochwürden sagen es.“ Thermühlen zerdrückte seine Zigarette im Aschenbecher, verzog angewidert den Mund. „Und Sie wohnen in der Külzstraße?“ fragte Bortfeld. „Nein, da wohnen meine lieben Eltern.“ „Und Sie nicht?“ „Aber Hochwürden! Ein ausgewachsener, ernst zu nehmender Mensch wohnt heutzutage doch nicht mehr bei seinen Eltern.“ „Sie haben eine eigene Wohnung?“ „Genau.“ „Demnach stimmt Ihre Adresse nicht mit der überein, die in Ihrem Personalausweis steht?“ Bortfeld hatte nicht erwartet, daß der Schlaks vor dieser – verhältnismäßig – harmlosen Frage erschrecken würde. Aber Thermühlen hatte sich unwillkürlich stramm aufrecht gesetzt – es fehlte nur, daß er mit den Hacken knallte; sein mädchenhaftes Gesicht wurde rot bis zum 58
Haaransatz. Hastig sagte er: „Ich hab’s vergessen, ehrlich, total vergessen. Muß ich natürlich ändern lassen.“ Bortfeld registrierte alles, staunte nach innen, bemühte sich, Thermühlens plötzliche Erregung zu ergründen. „Seit wann haben Sie die eigene Wohnung?“ Thermühlen überlegte angestrengt. „Weiß nicht genau. Ein paar Wochen erst, bestimmt. Ist auch keine richtige Wohnung, so etwa mit Küche, Bad und solchem Spießbürgerzubehör. Ist ein ausgebauter Boden. Selber gemacht alles.“ „Und wo?“ „Gemser-, Ecke Rügener Straße fünf.“ „Na ja, das mit der Eintragung in den Personalausweis, das geht schon in Ordnung, das holen Sie dann möglichst bald nach, und dann hat sich die Sache“, sagte Bortfeld. Thermühlen nickte, saß noch stramm. „Und zu welcher Zeit und an welchem Ort fand nun die Auseinandersetzung mit Ihrem Schwiegervater statt?“ fragte Bortfeld. „Herr Riedel ist doch Ihr Schwiegervater – zumindest in spe. Oder?“ „Leider“, antwortete Thermühlen, entspannte sich etwas. „Aber Sonja und ich heiraten. Klarer Fall. Und wenn sich Vater Riedel kopfstellt und mit den Beinen flattert.“ Das wird er so bald nicht können, dachte Bortfeld. Fragte: „Wieso – ist Herr Riedel gegen die Heirat?“ „Und ob!“ Bortfeld sah ihm fest ins Gesicht. „Ich hatte aber noch was gefragt.“ Nach einer Pause, wieder zurückgelehnt und locker in der Haltung, sagte Oskar Thermühlen: „Ach so, das mit der Auseinandersetzung, ja? Das war halb so schlimm, wenn ich’s mir heute überlege, ehrlich Hochwürden.“ „Lassen Sie den Stuß mit Hochwürden, verdammt noch mal!“ fuhr Bortfeld ihn an, lauter, ungehaltener, als ihm selbst recht war. „Und ob halb oder ganz 59
schlimm, darüber ist man im Krankenhaus anderer Meinung als Sie. Aber darüber sprechen wir im Moment noch nicht. Ich will jetzt genau wissen, wo die Auseinandersetzung stattfand. Antworten Sie ohne Schnörkel. Ich hab’ noch mehr zu tun, als mit Ihnen zu reden. Also bitte – wann, wo?“ „Wenn Riedel im Graben oder wer weiß wo zusammengeschlagen worden ist, können Sie mir das nicht aufhalsen. Mir müssen Sie das erst mal beweisen, und …“ Er unterbrach sich, sah zur Seite. „Wann – wo?“ fragte Bortfeld weiter. „Mittags haben wir diskutiert. Mittags, zu Hause bei Riedels.“ „Diskussion hört sich hübsch an“, sagte Bortfeld. „Und warum kam es überhaupt zur Dis-kus-sion?“ „Weil ich Herrn Riedel“ – hämisch betonte er die Silben – „informiert habe, daß ich sein Sonni-Kind demnächst heirate.“ „Ah so. Große Liebe?“ fragte Bortfeld. Thermühlen, wieder mit seinem sparsamen Lächeln, antwortete: „Hätte nie gedacht, daß die Kripo solche Fragen stellt. Aber meinetwegen – ja, auch große Liebe. Klingt aber ziemlich antiquiert, nicht?“ „Auch, sagen Sie – und außerdem noch was?“ „Ein Kind. Wir kriegen ein Kind. Das heißt, Sonja kriegt’s, ich hab’s gemacht.“ „Wann wird das Kind erwartet?“ „Erwartet ist gut, unheimlich gut. In sieben Monaten wird’s erwartet, nach unserer Berechnung.“ Plötzlich war Bortfeld von neuen Erwägungen umstürmt. „Kommen wir wieder zur Sache“, sagte er schnell, befehlend. Seine Stimme wurde immer kratziger, die Arme schienen ihm bleischwer zu sein, die Innenflächen seiner Hände waren heiß und feucht. Wann hatte er schon mal feuchte Hände gehabt … Er sagte: „Sie haben im ‚Triesel‘, hörbar für alle Anwesenden, sich 60
damit dicke getan, daß Sie Ihren Schwiegervater noch mal wirklich umbringen werden, daß Sie es ihm aber heute – also gestern – schon tüchtig gegeben haben. Demnach war gestern nur ein halbes Umbringen. Sie sagten ja vorhin, das sei bloß halb so schlimm gewesen. Stimmt exakt, nicht wahr?“ Thermühlen fragte lakonisch: „Was soll man darauf antworten?“ Er sah Bortfeld ins Gesicht. Er hat wirklich unbeschreibbar schöne Augen, dachte Bortfeld wieder; die hellgraue Iris, schwarz umrandet, und Wimpern, seidig, gebogen, dunkel, lang. Bortfeld spürte, daß er sich ablenken ließ, daß er sich zusammenreißen müsse, wenn er den Arbeitstag durchhalten wollte. Auch Thermühlens schwer zu ergründendes unterschiedliches Verhalten hatte ihn, gestand er sich ein, aus dem Konzept gebracht. Dann kam Klut. Blieb an der Tür stehen. Bortfeld ging zu ihm, ließ sich über Neuigkeiten im Fall Riedel informieren. Setzte sich wieder Thermühlen gegenüber. Es war, als wäre ein Stromstoß durch Bortfeld gefahren, der allen Kräften Auftrieb gegeben hatte. „Was man darauf antworten soll?“ fragte er zurück – Drohendes im Ton, „Vielleicht das: Ihr Schwiegervater hat sich nicht vor lauter Freude zerfetzt, als Sie ihm sagten, daß er in wenigen Monaten Großvater sein werde. Oder haben Sie ihm das nicht gesagt?“ „Wir haben davon gesprochen, er wußte es schon.“ „Also hat er Ihnen, das entnehme ich Ihren eigenen Äußerungen von vorhin, erklärt, daß Sie seine Tochter trotzdem nicht heiraten dürfen, solange er noch ein Wort mitzureden hat bei der Sache. Und dann haben Sie in Ihrer Wut, im Gekränktsein des Abgewiesenen, der sich diskriminiert fühlt, oder wie auch immer Ihr Zorn motiviert gewesen sein mag … jedenfalls haben Sie dann dem Vater Ihrer Sonja im Grabenweg aufgelauert – es war schon 61
stockdunkel, wie Sie sagten, und wahrscheinlich aus Rache haben Sie ihm dann eins über den Schädel gegeben.“ Jetzt flegelte sich Thermühlen erst so richtig ins Sesselpolster. Sah Bortfeld in die Augen, sagte: „Finde ich unheimlich gut, Tatsache, unheimlich gut, wenn einem die Kripo alles vorsagt, was sie gerne hören möchte. Das ist dufte. Aber nicht bei mir, Hochwür… oh, Pardon – ich will Sie nicht verletzen, Sie haben eben so ein weises Gesicht und so weise Gedankenschübe, so was echt Alttestamentarisches. Wissen Sie, wenn mir nicht klar wäre, daß hier protokolliert wird – geheim, versteht sich, über Tonband oder so –, wenn mir das nicht klar wäre, würde ich Ihnen auf die mir vorgesagte Aussage, die mächtig nach Geständnis schmeckt, eine lupenreine Antwort geben, ehrlich.“ Bortfeld sah ihn schweigend an, prüfend. Dachte verbissen nach, was er falsch gemacht habe, warum sich der Bengel mit einemmal Schnoddrigkeit und Frechheiten erlaubt. Fragte unvermittelt: „War mittags bei Riedels auch Frau Riedel zugegen?“ „Inge? Nein, ich war mit Vater Riedel allein.“ „Haben Sie danach mit Sonja Riedel gesprochen?“ „Nein.“ „Mit Thomas?“ „Man darf Sonja mit solcher Fahne nicht kommen, sonst hätte ich sie zum Training gebracht, da in ihre Kinder- und Jugendsportschule, aber so …“ „Sonja trainiert noch?“ „Ja. Paar Wochen bestimmt noch; reduziertes Training.“ „Und wenn das Kind da ist, wird weiter trainiert?“ „Kommt auf die Form an. Kind ist kein Hinderungsgrund. Wäre doch zu blöde, wenn Sonja nicht wieder in Form käme, sie ist nämlich eine Hoffnung, sogar für den Leistungssport.“ „Und Thomas? Auch eine Hoffnung?“ 62
„Ja, wenn er nicht was von seinem Alten geerbt hat. Thomas hatte schon mal, aber bloß vorübergehend, Schwierigkeiten mit dem Kreislauf. Und manchmal hat er sowieso die Nase voll.“ „Haben Sie gestern mit Thomas gesprochen?“ fragte Bortfeld. Thermühlen zögerte. „Mit Thomas? – Glaube nicht. Kann mich nicht erinnern.“ „Sprechen Sie mit Thomas vorwiegend über Sport oder …“ „Momentan bestimmt nicht“, fiel ihm Thermühlen ins Wort. „Momentan ist Vater Riedel bei uns Thema eins.“ „Auch mit Frau Riedel?“ „Auch mit ihr.“ „Und warum?“ „Sie werden’s nicht glauben. Vater Riedel ist so stur, so verkalkt, der verlangt von Sonni, daß sie sich das Kind abnehmen läßt.“ „Was meint Frau Riedel dazu?“ „Daß das überhaupt nicht in Frage kommt.“ „Wenn nun ein anderer der künftige Vater wäre, nehmen Sie an …“ Jetzt lachte Thermühlen, ließ weiße, ebenmäßige Zähne sehen, sagte lachend: „Müßte man die Probe aufs Exempel machen.“ Bortfeld fragte ungehalten: „Sind Sie wirklich zu Späßen aufgelegt, Thermühlen?“ Er antwortete nicht. „Haben die Zwillinge auch eine so miserable Meinung über ihren Vater wie Sie?“ Thermühlen überlegte eine Weile, dann, anscheinend widerstrebend, sagte er: „Die haben mit ihrem Vater schon ganz andere Erfahrungen gemacht; schwerwiegendere, soviel ich davon weiß.“ „Welcherart Erfahrungen sind das?“ wollte Bortfeld wissen. 63
„Nein“, sagte Thermühlen schnell, schüttelte entschlossen den Kopf, „darüber werden Sie von mir kein Wort hören. Das holen Sie sich man woandersher. Da gibt es Menschen, die Ihnen ziemlich traurige Lieder singen können. Ich verweigere da sozusagen die Aussage. Aber …“ Er sprach nicht weiter, sah zu Boden, spürte Bortfelds Blick. „Was aber?“ fragte Bortfeld. „Auf meinen Rat werden Sie wenig Wert legen. Was nützt Ihnen der Rat eines halben Mörders …“ „Sprechen Sie nur“, sagte Bortfeld. „Sie müßten sich mal bei den Leuten vom Theater umsehen“, antwortete Thermühlen, „das sind die Leute, die Tag für Tag mit Seiner Exzellenz zu tun haben.“ „Ein guter Rat. Seien Sie versichert, wir lassen keinen aus. Auch Sie nicht – Oskar Thermühlen.“ Bortfeld dachte: Recht plumpe Art, von sich selbst abzulenken. Zu plump, mein Junge, für deine Intelligenz. Eine lange Pause war entstanden. Plötzlich fragte Bortfeld wieder: „Also wann sind Sie gestern abend durch den Graben gegangen?“ „Vermute gegen zwanzig Uhr mitteleuropäischer Zeit.“ Warum bleibt der Schlaks so arrogant, fragte sich Bortfeld; so war er doch anfangs nicht. „Und Herrn Riedel sind Sie nicht begegnet, oder doch?“ Thermühlen sah Bortfeld mit langem Blick an, bewegte sacht und verneinend den Kopf. „Und Sie sahen auch keinen, der da im Graben am Boden lag wie tot?“ „Ich war besoffen“, antwortete Thermühlen. „Habe ich schon mal gesagt.“ Bortfeld lächelte kalt. „Sie werden so manches noch so manches Mal sagen müssen, Oskar Thermühlen! Was wollten Sie eigentlich im Süden der Stadt? – Ihre Eltern besuchen?“ „Wenn ich das heute noch wüßte.“ „Sie haben Abitur?“ fragte Bortfeld. 64
Thermühlen lächelte sein besonderes Lächeln, nickte mit sachter Kopfbewegung, sagte: „Leider ohne Kriminalistik als Prüfungsfach.“ „Man kann nicht alles haben“, sagte Bortfeld ironisch. „Aber ich brauche nun erst mal das Webpelzfutter Ihrer Kutte.“ Jetzt saß Thermühlen wieder mundoffen. Mit Mühe fragte er nur noch: „Soll ich erfrieren?“ „Keine Sorge, bei uns ist bestens geheizt“, antwortete Bortfeld. Er stand auf, streckte den Arm aus. „Geben Sie die ganze Kutte her, wenn das Futter nicht leicht rauszukriegen ist.“ Thermühlen warf die Kutte auf den Tisch. „Brav!“ sagte Bortfeld; es war Ärger und Spott in dem einen Wort; auch in seinem Blick aus fiebrig-heißen Augen. Ohne Kutte sieht der Bengel hilflos aus, beinah nackt wirkt er, stellte Bortfeld bei sich fest. Sachlich sagte er: „So, und jetzt wird mein Kollege, Leutnant Klut, Sie befragen. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm!“ Nach einigen Schritten blieb Bortfeld plötzlich stehen. Thermühlen, dicht hinter ihm, fuhr zusammen, sah sich unausweichbar den grauen Augen des Oberleutnants gegenüber. Der sagte betont langsam: „Denn protokolliert wurde hier nicht. Es sei denn – tja, mein alttestamentarischer Kopf ist reichlich lang, hat einiges Fassungsvermögen. Aber das mit dem Protokoll, das kommt erst jetzt, Oskar Thermühlen.“ Er warf sich die Kutte über die Schulter, hatte das Webpelzfutter sorgsam nach innen gelegt. In gespielter Lässigkeit, die Daumen wieder in den Hosentaschen, folgte ihm Thermühlen über den Korridor.
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Mittwoch, früher Vormittag Hermens war soeben zur Dienststelle zurückgekommen. Wollte den Mantel ausziehen. „Stopp“, rief ihm Bortfeld zu, „wir müssen zum Krankenhaus. Kannst mir unterwegs berichten. Klut hat mir vorhin wichtige Neuigkeiten angebracht. Erstens, bei Riedels ist das Nest leer. Die Zwillinge in der Schule; verständlich. Die Kleine aber bei ihrer Großmutter. Von der hat Klut erfahren, daß Frau Inge heute morgen nach Polen abgereist ist. Gestern hat sie zu Klut gesagt, daß sie nicht mehr ins Ausland brauche in diesem Jahr.“ „Es ist zum Jungehundekriegen“, sagte Hermens. „Mir scheint, die zauberhafte – so hat Klut doch gesagt, nicht? – die zauberhafte Frau Riedel hat uns allzu genau über den Zustand ihrer Ehe informiert. Glauben Sie nicht auch, Chef?“ Bortfeld ging darauf nicht ein. Doch die Frage krallte sich in ihm fest. „Zweitens“, sagte er, „die mikroskopische Untersuchung von Dietrich Riedels Fingernägeln hat ein paar Fusselspuren von Webpelz zutage gefördert.“ Hermens sagte: „Na, endlich ein Indiz, vor dem man auf Knien liegt.“ „Und drittens“, sagte Bortfeld, „Riedel ist bei vollem Bewußtsein. Wir sollen ihn sehen.“ „Ich auch?“ fragte Hermens verblüfft. „Das weiß ich nicht. Aber ich will dich dabei haben.“ Hermens saß am Lenkrad. Auf den glitschigen Straßen war es schwierig, den Dienstwagen zu steuern. Der Himmel sah rundum grau aus und sprühte Eissplitter auf den Schneematsch. „Sauwetter!“ fluchte Hermens, blickte ins Eisgeniesel, hatte mit dem einen Wort die gesamte meteorologische Lage umrissen. Bortfeld fröstelte im warmen Wagen. 66
Als sie die Flußbrücke erreichten, nahmen Nebelschwaden die Sicht. Analogie zum Fall Riedel, dachte Bortfeld. Das Gespräch mit Thermühlen saß ihm im Kopf wie ein harter Klumpen Schnee. Er ließ sich von Hermens berichten, nachdem sie die Flußbrücke hinter sich hatten. „Für zwölf habe ich das Gespräch mit dem Intendanten vereinbart“, begann Hermens. „Ab dreizehn Uhr Befragung der Schauspieler; der Intendant hat versprochen, die Leute für dreizehn Uhr zusammenzutrommeln. Gestern waren tatsächlich alle arbeitsfrei außer Anne Wegener. Heute hat mir der Intendant einen Schauspieler genannt, den er gestern abend, als der Opernregisseur Kaufmann dabei war, nicht erwähnte. Er ist der Jüngste des Ensembles, sagt Herr Intendant, und der Aufsässigste. Und – er ist heute bei der Befragung nicht dabei, denn er ist in der Nacht mit eigenem Wagen nach Dresden gefahren.“ „Warum das?“ „Den Grund der Dresdenreise kann Herr Intendant angeblich nur ‚ahnen‘. Er ahnt, daß sich dieser Jens Michaelis in Dresden um ein Engagement kümmert.“ „Will also weg von hier. Und welchen Grund gibt der Intendant dafür an?“ „Konnt’ ich nicht rauskriegen“, sagte Hermens. „Überhaupt, der Mann schmeißt nur mit Pauschalbegriffen um sich. Dem werden Sie erst auf die Sprünge helfen müssen, Chef.“ „Ich werde mich bemühen“, sagte Bortfeld. Er fragte: „Noch was?“ „Ja, noch was. Dieser Jens Michaelis soll mit Anne Wegener ‚irgendwelche Beziehungen‘ haben. Auch so eine feine Auskunft.“ „Aber nicht unwichtig“, sagte Bortfeld. „Demnach hat der aufsässige Jens Michaelis akkurat mit der Schauspielerin engeren Kontakt, die als einzige ein handfestes 67
Alibi für die Tatzeit vorweisen kann.“ Er dachte: wenn die ermittelte Tatzeit stimmt. Sie wird stimmen, redete er sich selbst gut zu. Ihm reichten die bisherigen Unstimmigkeiten, und er wußte, daß er Fieber hatte, und er war unterwegs zu Dietrich Riedel. „Hast du den Intendanten wegen der Honorargeschichte noch mal angesprochen?“ „Ja, habe ich getan. Er behauptet wieder, daß alles ganz legal vor sich gehe an seinem Theater, daß er sich strengstens an das Lohn- und Gehaltsabkommen halte. Wir können ihm das Gegenteil nicht beweisen, aber vielleicht sollte sich unsere Nachbarabteilung mal darum kümmern. Alles, was Regisseur Kaufmann gestern dazu gesagt hat, ist nach Meinung des Intendanten pietätlos angesichts der gegenwärtigen Situation und entspringe einem galligen Neid auf Riedels große Inszenierungserfolge. Klingt nicht sehr gut, nicht wahr, Chef?“ „Nein, das klingt nicht sehr gut. Kommt dir der Mann, der Intendant, intelligent vor?“ Hermens schlug leicht mit der Rechten aufs Lenkrad, wog den Kopf hin und her, sagte schließlich: „Schwer zu sagen. Ich werde es so formulieren: Ich halte ihn nicht für unintelligent. Ich glaube, er ist total durchgedreht. Die Sache mit Riedel muß ihm hart an die Nieren gehen.“ Bortfeld sah wortlos geradeaus, aufs glitschige Pflaster. Im Krankenhaus wurden sie – zu beider Verblüffung – zur Intensivstation der Neurologischen Abteilung geführt. Der Arzt erklärte, daß man den Patienten, vor einer Stunde etwa, dorthin verlegt habe, die Wunde sei wohl doch nicht ganz so tief, wie zuerst angenommen wurde, eine neue Röntgenaufnahme habe ein neues Resultat ergeben – alles Weitere werde ihnen Frau Doktor Kündler sagen. 68
Bortfeld bemerkte, daß Doktor Geißler heute einsilbiger war als gestern abend. Die Ärztin kam ihnen schon entgegen. Doktor Geißler raunte Bortfeld zu: „Sie ist mit einem deutschen Kollegen verheiratet. Es war ihr Wunsch, daß Sie herkommen, Herr Oberleutnant.“ Die Ärztin sagte: „Ich heiße Dunja Kündler. Darf ich Sie bitten in das Stationszimmer.“ Sie bot Platz an, setzte sich an ihren weißen Schreibtisch. Ihr Gesicht mit den schräggeschnittenen schwarzen Augen war breit und flach, war lieblich, auch wenn sie nicht lächelte. Auffallend kleine Nase, kaum sichtbare Lippen, wunderbare Zähne. Das braungefärbte Haar, am Mittelscheitel grau nachgewachsen, trug sie, straff zum Nacken hin gekämmt, geflochten und geknotet. Sie war nicht schlank, aber ihre Bewegungen hatten Grazie. Auf ihrem Schreibtisch lag eine Akte, die sie aufschlug, doch sofort wieder schloß. Dann sagte Frau Doktor Kündler: „Ich will Ihnen danken, weil Sie gekommen sind. Es ist so, ich unterschätze Ihre Arbeit nicht. Ich habe aber Furcht, Sie könnten das mit meinem Patienten zu leichtnehmen, wenn Sie nicht unterrichtet sind über unsere Diagnose.“ Bortfeld sagte: „Wir nehmen das weiß Gott nicht leicht, Frau Doktor. Doch bislang hatten wir keine Gesprächserlaubnis.“ „Die kann ich auch nicht geben. Nein. So traurig das ist. Wir werden dann darüber reden. Es ist eine ganz neue Situation. Sie werden nun Patient Riedel sehen. Mit mir ihn beobachten. Er wird es nicht bemerken.“ Bortfeld konnte seine Erregung nicht mehr verbergen, seine Stimme war heiser wie zuvor nicht. „Herr Riedel ist jetzt außer Lebensgefahr, ja?“ fragte er. „Das weiß man noch nicht. Das glaubt bei uns keiner wirklich. Kommen Sie bitte erst in das Beobachtungszimmer. Wenn Sie mir bitte nachfolgen würden. Es ist nur ein kurzer Weg.“ 69
Der Beobachtungsraum war schummrig, fast dunkel, hatte nur ein Fenster. „Sie können hier nicht wo anstoßen“, sagte die Ärztin, „das Zimmer ist leer.“ Nach einigen tastenden Schritten erkannten Bortfeld und Hermens, daß dieses eine Fenster in Wahrheit das Beobachtungsfeld war. Die Ärztin trat an das Beobachtungsfeld, Hermens stellte sich an ihre rechte, Bortfeld an ihre linke Seite. Das ganze Nebenzimmer war zu überschauen durch Spiegelungen, auch die Wandteile und Zimmerecken neben dem Beobachtungsfeld. Die Blicke richteten sich sogleich auf Riedel. Er saß mit gekrümmtem Rücken im Bett, die Arme gestreckt auf der Bettdecke, wie steif geworden. Er hatte die Augen geöffnet, starrte seine Hände an. Kaum ein Lidschlag. Keine Bewegung. So saß er lange, als würde er sich nie mehr rühren. Urplötzlich riß er die Hände an den Stirnverband und zerrte daran herum. Der Verband war zusätzlich durch Leukoplaststreifen befestigt. „Das tut mein Patient immer, immer wieder“, sagte die Ärztin. Sie sprach nicht leise. Hatte darauf hingewiesen, daß Riedel sie weder sehen noch hören könne. Riedel zerrte wild am Verband. „Verursacht ihm das keine Schmerzen?“ fragte Hermens verwundert. „Ich glaube, er hat kein Schmerz. Sehen Sie jetzt, er greift dahin, wo die Wunde ist. Aber kein Ausdruck von Schmerz im Gesicht … Man weiß nicht …“, sagte die Ärztin. Dann, ebenso abrupt, wie er mit dem Zerren begonnen hatte, ließ Riedel vom Verband wieder ab, streckte die Arme wieder steif von sich, die Hände auf der Bettdecke. Hermens sagte nach einer Weile: „Sieht enorm gut aus, der Mann, aber entsetzlich blaß.“ Die Ärztin antwortete, sie glaube, daß er nicht nur gut aussehe, sondern auch ein guter Mensch sei. „Man muß 70
im Gesicht lesen“, sagte sie. „Nicht immer schönes Gesicht auch schöne Seele – wie Sie es nennen, schöner Charakter. Man muß auch viel Physiognom sein in unserem Beruf. Sie wissen, ja?“ Hermens nickte unbestimmt. „Bei diesem Mann – ich glaube, wir können gewiß sein.“ In Bortfelds fiebriges Frösteln mischte sich Wärmendes, über das er sich keine Rechenschaft gab. Vielleicht war es Dankbarkeit gegenüber der Ärztin, die nicht in die Kerbe einschlug, nicht wie andere versuchte, den Mann Riedel mieszumachen. Er dachte nicht darüber nach, er beobachtete gespannt und betroffen. Hermens sagte: „Heute nacht haben wir vom Arzt die Auskunft bekommen, daß Gefahr einer Gehirnembolie besteht.“ „Ja, das ist wahr“, sagte die Ärztin. „Ist diese Gefahr jetzt vorüber?“ fragte Hermens. „Nein. Wissen Sie, Embolie ist so sehr tückisch. Aber es hat heute morgen einen neuen Gesichtspunkt gegeben. Bitte, wir können jetzt wieder gehen. Ich muß Ihnen etwas zeigen, was für Sie auch wichtig ist, denke ich.“ Im selben Moment riß Dietrich Riedel die Rechte hoch und rieb seine Lippen mit solcher Heftigkeit, als störten sie ihn, als wollte er sie wegreiben. Sie wurden blutrot. Er riß den Mund weit auf, stieß mehrmals den Kopf vor. „Schreit er?“ fragte Hermens. „Hören Sie etwas?“ fragte die Ärztin zurück. „Wir würden ihn hier hören. Nein, er schreit nicht. Er versucht zu sprechen. Er kann aber nicht mehr sprechen.“ Hermens Gesicht ruckte herum zur Ärztin. In seinem Blick war Erschrecken. Der große, hagere Bortfeld hatte reglos und etwas gebeugt dagestanden. Nun, nach diesen Worten der Ärz71
tin, ließ er den Kopf sinken, sah nicht mehr durchs Beobachtungsfeld, sagte leise, kratzig, langsam: „Das kann nicht sein. Das ist unglaubhaft. Der Mann kann reden. Das ist ein Redekünstler par excellence.“ „Sagen Sie, ‚er war‘ – das kann ich Ihnen glauben“, entgegnete die Ärztin. Bortfeld schwieg. Frau Doktor Kündler ging voran. Bortfeld, die Hände tief in den Manteltaschen, leicht vorgebeugt wie immer, lief staksig hinterher. Hermens hielt sich an seiner Seite. Im Stationszimmer wieder angelangt, ließ sich Bortfeld auf einen Stuhl fallen, wie erschöpft nach schwerer Arbeit. In seinem Kopf wühlten Gedanken, die er nicht erfassen konnte. Die Ärztin saß hinter ihrem weißen Schreibtisch, schlug erneut die Akte auf; sah nicht hinein, sah in Bortfelds Gesicht, lange. Bemerkte die unnatürlich glänzenden Augen. Für Hermens war die Stille beklemmend. Das ganze Haus schien ihm dick ausgestopft mit weißer Stille. Er lockerte den Schal. „Frau Doktor, was ist dem Riedel, medizinisch gesehen nach Ihren neuen Diagnosen, denn nun wirklich passiert?“ fragte Bortfeld. Tat, als spüre er das Fieber nicht, sprach sachlich. „Ich habe Ihnen gesagt, er kann nicht mehr sprechen. Das wurde uns deutlich, als Herr Riedel das Koma überwunden hatte. Darum vermuten Kollegen, es liegt gravierende Auswirkung von einem Schock vor. Die Wunde ist nicht ganz so tief, wie es zuerst ausgesehen hat. Das mit der Gehirnembolie ist eine andere Sache. Wo eine Wunde ist, ist auch immer eine Emboliegefahr. Die Beschaffenheit des Blutes ist dafür wichtig. Das Blut meines Patienten Riedel scheint nicht sehr geneigt zur Gerinnselbildung. Von einer Operation wurde Abstand genommen. Man operiert hier nicht, wenn es sich nicht zeigt, daß nur die Operation vielleicht das Leben retten 72
kann. So hat jetzt die Diagnose auf Schock Vorrang. Darum ist der Patient auf unsere Intensivstation gekommen. Natürlich bin ich auch in ganz engem Kontakt mit der Chirurgischen. Und Herr Riedel ist unausgesetzt unter direkter Beobachtung.“ „Also ist er wirklich noch nicht außer Lebensgefahr?“ fragte Hermens. „Nein!“ Die Ärztin blätterte in der offenliegenden Akte. „Und was ist das … Sie sprachen von etwas, was für uns wichtig sei“, sagte Bonfeld. „Ja, hier bitte.“ Die Ärztin gab Bortfeld einen Zettel aus ihrer Akte. Er fühlte, daß es zwei waren; der obere, beschriebene, war zerrissen gewesen und auf einen anderen aufgeklebt worden. Aus der Schrift, kraklig, kaum lesbar, entzifferte Bortfeld: „Überfallen mit Messer in meinem Kopf. Messerstich. Ich zeige an, daß es kein …“ „Sie sehen, der Patient hat den Zettel zerrissen“, sagte die Ärztin. „Ich konnte so schnell nicht zugreifen, wie er ihn zerrissen hat. Doch dann habe ich die Stücke eingesammelt, indessen Schwester Angelika mit ihm zu sprechen versuchte, damit er abgelenkt war. Ich habe die Stücke zusammengesetzt und da aufgeklebt. Und jetzt sehen Sie bitte einen anderen Zettel. Der Patient hat ihn etwas danach geschrieben.“ Auch die Schrift auf dem zweiten Zettel war nur mit Mühe zu lesen, aber die Buchstaben waren größer, kräftiger. Mehrmals, wie einen ganz unverständlichen Satz, las Bortfeld die vier Worte: „Keine Anzeige, keine Polizei.“ Er reichte die Zettel zu Hermens hinüber, sah reglos die Ärztin an. Hermens fragte dann, ob sich schon jemand aus der Familie des Patienten nach ihm erkundigt habe. „Ja, auch das wollte ich sagen, wenn wir gemeinsam den Patienten gesehen hatten. Seine Tochter hat uns antelefoniert. Natürlich mußte ich ein Gespräch mit ih73
rem Vater verweigern. Außerdem hat eine Frau nach Herrn Riedel gefragt am Telefon. Ich habe wissen wollen, ob sie die Frau von dem Patienten ist oder verwandt mit ihm. Sie sagte nein. Darum mußte ich für sie die Auskunft verweigern.“ „Hat sie ihren Namen genannt?“ fragte Bortfeld schnell. „Nein. Ich habe sie gebeten, mir ihren Namen zu sagen, da hat sie eingehängt.“ „Hatte diese Frau eine geschulte Stimme, konnten Sie das feststellen, oder ist es Ihnen sogar aufgefallen?“ fragte Bortfeld. „Geschult? Nein, ich will nicht sagen, geschult. Mit dem Telefon, das ist so eine Sache – wie auch mit Mikrofon. Man kann nicht mit Gewißheit sagen. Vielleicht geschult, ja – vielleicht.“ „Frau Doktor, wie groß ist für Herrn Riedel die Chance, über seine Stimme wieder verfügen zu können?“ fragte Bortfeld. Sie hob die Arme ein wenig an, ließ sie zurückfallen, sagte: „Leider können wir noch gar nicht sagen, ob jemals. Wir müssen erst alles tun, daß er am Leben bleibt. Da liegt die größte Gefahr für ihn. Manchmal haben wir Fälle, wo jeder neue Tag eine neue Diagnose für uns bringt. Der Laie denkt da so oft, wir sind – wie sagt man hier? – Stümper.“ Sie sah von einem zum anderen, beide schwiegen. Sie sprach weiter: „Es kann bei Herrn Riedel noch immer sein, daß doch die Wunde ausschlaggebend ist, daß vielleicht bei dem Schlag genau sein Sprachzentrum getroffen wurde. Wenn das sich herausstellt, dann muß doch operiert werden. Aber kommen wir noch einmal zurück zu diese Zettel, bitte, denn …“ „Ja, unbedingt“, sagte Bortfeld, „diese beiden Zettel haben für uns so viel Verwirrendes … Aus welchem Grund mag er den ersten nicht zu Ende geschrieben haben?“ 74
„Das mit ‚Messerstich – Messer in meinem Kopf ‘, so schreibt er es, das ist nicht wahr“, sagte die Ärztin, „Stichwunde sieht ganz, ganz anders aus. Aber vielleicht ist Herr Riedel mit einem Messer bedroht worden. Darum der gravierende Schock. Das Messer wird seine letzte Erinnerung sein. Er ist dann bewußtlos geworden. Vielleicht …“ „Vielleicht wurde mit dem Messergriff zugeschlagen“, sagte Bortfeld hastig, kratzig. „Dann müßte sich der Täter dabei selbst verletzt haben – wahrscheinlich.“ „Aber was soll es auf sich haben mit diesem ‚Ich zeige an, daß es kein …‘ “, sagte Hermens. Bortfeld fiel ihm ins Wort: „Frau Doktor, ich wünschte, daß alle, die von einem Verbrechen wissen, mitdenken wie Sie. Wir danken Ihnen.“ Sie stand auf, legte die Akte in die Schreibtischlade, schloß die Lade zu, sagte in fast geschäftlichem Ton: „Die Tochter von Herrn Riedel, sie heißt Sonja, habe ich auf heute nachmittag zu mir bestellt. Sie wird kommen, denke ich. Ihren Vater darf sie nicht sehen in seinem Zustand. Aber ich will mit ihr reden. Man kann zu schwer die Mentalität des Menschen erkunden, wenn er seine Stimme nicht verwenden kann. Wir müssen viel über Herrn Riedels Mentalität wissen – wegen schockanfällig oder nicht, sensibel also oder seelisch ein Herkules – und die Möglichkeiten, die dazwischenliegen. Kinder wissen oft mehr über Eltern als umgekehrt. Das klingt nicht so glaubbar? Ist aber erwiesen und ist leicht zu verstehen, Kinder beobachten genauer. Schon der angeborene Nachahmungstrieb bewirkt das. Ich werde mir Zeit nehmen für Sonja Riedel, werde versuchen, eindringend mit ihr zu sprechen.“ „Das möchte ich mithören“, sagte Hermens spontan. Bortfeld nickte. Eine Weile schwieg die Ärztin, war nachdenklich, sagte schließlich: „Mithören? Ich weiß nicht. Aber ich will versuchen. Ich spreche mit Profes75
sor. Wenn ja, ich telefoniere Sie an.“ Sie ging zum Waschbecken, drehte den Kopf über die Schulter, lächelte ein wenig, sagte: „Bitte, verzeihen Sie, aber ich muß weiterarbeiten.“ Sie wusch sich mit viel Seife die Hände. Bortfeld trat neben sie. „Und nochmals, wir danken Ihnen sehr!“ Sie sagte: „Ich weiß, man kann lieber eine Bitte verweigern als einen Dank, aber …“ Sie sah auf den Seifenschaum, lächelte, sagte dann: „Aber das ist nur das allein Wahre, das Mitdenken; mehr ist das nicht. Darum kein Danken – bitte.“ Unwillkürlich mußte auch Bortfeld lächeln. Er fragte noch, ob Riedel jetzt allein in seinem Zimmer sei. „Nein, keine Minute. In diesem Zustand …“ Bortfeld druckste herum. Endlich sagte er: „Ich hielte es für gut, wenn ich zu ihm gehen dürfte. Er kennt mich. Ich hielte es für gut, wenn er wüßte, daß ich mich um die Angelegenheit kümmere.“ Sie drehte sich so heftig um, daß Seifenschaum von ihren Händen ins Zimmer spritzte. „Njet, Towaristsch, njet, njet!“ Ihre Stimme klang höher als zuvor. In ihren Augen war Schreck, Angst und zugleich auch Entschiedenheit. Dann, etwas ruhiger, sagte sie: „Nein, Genosse Oberleutnant, das wäre gar nicht gut für den Patienten. Wir müssen seinen Wunsch respektieren, weil sein Zustand … nervlich und … ja, wir müssen ihn respektieren.“ „Ah so. Gut“, sagte Bortfeld, „aber das noch zu Ihrer Information: Die Sonja Riedel soll nach Auskunft ihres Freundes im zweiten Monat schwanger sein.“ Im Spiegel sah sie Bortfelds Gesicht. Sie nickte dem Spiegelgesicht zu, sagte: „Das ist sehr gut, daß Sie davon noch gesprochen haben. Es ist wichtig, daß ich davon weiß.“ Sie drehte den Hahn voll auf und ließ sich kaltes Wasser über die Hände stürzen. 76
„Auf schnellstem Weg zurück zur Dienststelle“, sagte Bortfeld zu Hermens. „Klut hat keine Order, Thermühlen laufenzulassen, und ich will mir den Bengel noch einmal und noch genauer ansehen. Wenn nötig, auch seinen ausgebauten Boden ohne Spießbürgerzubehör. Vor allem will ich das Protokoll lesen. Ich bin schon fast überzeugt, daß sich der arrogante Schlaks widersprochen hat gegenüber den unprotokollierten Angaben bei mir.“ Hermens hörte zu. Schwieg. War mit eigenen Erwägungen beschäftigt, während er mit seinem Chef zum Dienstwagen ging. Kleine wattige Flocken träumten wieder vom Himmel, wie gestern abend, nachdem Riedel niedergeschlagen worden war; nur sachter und für Minuten von keinem Wind abgedrängt. Eine Flocke blieb an Hermens’ hellen Wimpern hängen; viele legten sich, behutsame weiße Tupfer, auf sein helles Haar. Da hielten sie sich nicht so lange wie auf Bortfelds Pelzmütze – doch im Wagen zerweinten sich alle zu gewöhnlichem Naß, die eben noch winzige Kristallwunder gewesen waren. Hermens wendete den Wagen. Der schnellste Weg zur Dienststelle führte nicht durch die Innenstadt mit ihrem vormittäglichen Verkehrsgewühl, mit ihren vielen Ampeln, mit den immer glitschiger werdenden Straßen. Hermens fuhr da hinaus, wo die Häuser allmählich niedriger, die Gärten geräumiger, die Gegend immer dörfischer wurde in die Abgesangsgegend, die jede alte Großstadt um sich hat –, bis nur noch Felder, Wald und Ausfahrtsstraßen da sind. Der Umweg war zeitsparend. Auch draußen in der Abgesangsgegend sahen sie Menschen mit kleinen und großen Paketen beladen, manche mit einem zusammengeschnürten Tannenbaum unterm Arm; Bortfeld drehte sich hin und wieder nach jemandem um. Die Bilder brachten ihm keine vorweihnachtliche Stimmung ein. Er 77
sah und sah nicht. In Gedanken war Dietrich Riedel vor seinen Augen. Wie zu sich selbst, sagte er: „Nicht zu fassen, daß Riedel verstummt sein soll. Einfach nicht zu fassen.“ Hermens, nachdem er lange geschwiegen hatte, ergänzte: „Wenn man sich überlegt, was das für einen Menschen heißt, bei dem mit der Stimme, der Sprache sein Beruf steht oder fällt. Womöglich ist das nicht anders, als wenn ein Pianist aufwacht und keine Hände mehr hat.“ Bortfeld nahm seine Pelzmütze ab, schrubbte sich den Kopf. „Aber Thermühlen“, begann Hermens wieder, stockte mehrmals, konzentrierte sich auf Schlaglöcher, fuhr Slalom, „ich weiß nicht – ich erleichtere mir meine Situation doch nicht, wenn ich den Vater meiner Freundin niederschlage, weil der mich als Schwiegersohn nicht will.“ „Das ist es“, sagte Bortfeld kratzig. „Wir wissen es nicht. Aber wir brauchen Beweise, brauchen wie immer Fakten, alles andere zählt nicht. Und wenn du sternhagelvoll bist, überlegst du dir dann noch, ob du mit einer Handlung deine Situation erleichterst oder nicht?“ Hermens zuckte die Schultern, sagte: „Wahrscheinlich nicht.“ „Außerdem“, sagte Bortfeld, „wir dürfen Riedels Familie nicht aus den Augen verlieren; die Frau, die Zwillinge.“ Nun war ausgesprochen, was ihn und Hermens still machte. Kluts plastischer Bericht über die Benachrichtigung der Familie Riedel drängte sich wieder ins Gedächtnis, drängte sich vor, nahm die Gedanken zur Kombinationsarbeit in Anspruch. Erst als der Wagen schon in der Straße war, die zur Dienststelle führte, als er dann hielt vor dem roten Auge der Verkehrsampel, sagte Bortfeld: „Aber daß Riedel noch in Lebensgefahr sein soll, will nicht in meinen Schädel. Zugegeben, er 78
sah aus wie ein aufrecht gesetzter Leichnam – aber die Kraft, mit der er sich den Mund gerieben hat! Schock, ja, das will mir einleuchten. Aber vor wem kann ein im Judo versierter Mann so erschrecken, daß er, statt zur Selbstverteidigung zu greifen, einen Schock erleidet.“ Der Wagen glitt über die Kreuzung. Hundert Meter weiter bog Hermens zum Dienstgebäude ein. Bevor sie ausstiegen, sagte Bortfeld: „Wenn ich das schon wüßte, würde ich für heute Feierabend machen.“ Hermens nahm den Zündschlüssel an sich, sah seinen Chef verstohlen an; Bortfelds Stirn, Nasenflügel, Oberlippe, Kinnbeuge glänzten feucht vom Fieberschweiß. „Klut, bleib hier“, rief Bortfeld und winkte, noch ehe Hermens seinen Genossen bemerkt hatte, der soeben das Dienstgebäude verlassen wollte. Klut kam zum Wagen. „Schade, ich hatte gehofft, es zu schaffen, bis Sie wieder hier sind, Chef.“ „Was zu schaffen?“ fragte Bortfeld. „Einen sehr schönen Widerspruch zu klären, in den sich Oskar Thermühlen verwickelt hat.“ „Großartig“, kratzte Bortfeld. „Also doch! Kommt, gehen wir ’rein. Mir ist kalt wie bei vierzig Grad minus.“ Hermens fragte: „Wetten, daß unsere Betriebsschwester ein Fieberthermometer auf der Station hat?“ „Da gehört’s auch hin“, sagte Bortfeld. Im Dienstzimmer ging Klut gleich zum Stadtplan, der die Schmalwand einnahm. „Nur hier kann ich den Widerspruch verdeutlichen“, sagte Klut. Bortfeld stellte sich neben ihn, fröstelte in der Wärme des überheizten Raumes, spürte Eisiges seinen Rücken hinaufprickeln, sagte heiser: „Bitte, her mit dem schönen Widerspruch.“ „Wir hatten gestern abend schon das spitze Dreieck bestaunt, das uns Riedels Wege anzeigt“, begann Klut. „Eine ganz ähnliche Sache ist es mit Oskar Thermühlens 79
Wegen. Hier oben im Norden, Tiefenstraße, seine Arbeitsstelle bei Ramter. Nach der Mittagspause ist er hierher zurückgekommen, schon leicht angesäuselt. Er behauptet, in der Mittagspause habe er die Auseinandersetzung mit Riedel gehabt, danach bei sich in der Rügener zwei oder drei Klare getrunken, dann zur Tiefenstraße und da im Fotoatelier heimlich weitergetankt, bis sein Chef es bemerkt hat. Ramter bestätigt mir das, sagt, er habe Thermühlen nach Hause schicken müssen, der habe nur noch Ausschuß fabriziert, sei für die jetzt üblichen Überstunden nicht zu gebrauchen gewesen. Thermühlen ist dann, so sagt er, von Ramter aus wieder zu sich nach Hause …“ „Und hat weitergesoffen“, ergänzte Bortfeld. „Ja – soweit stimmt alles überein“, sagte Klut, „aber nun kommen zwei Versionen. Zuerst hat Thermühlen behauptet, er sei abends schon zu besoffen gewesen, um Sonja Riedel zum Training zu bringen, wollte aber auch nicht länger allein sein und ist darum geradewegs in den ‚Triesel‘ gegangen. Also von hier rechts bis südlich des Stadtzentrums.“ Kluts Hand zeigte den Weg nach. „Ich habe ihn gefragt, ob jemand bezeugen könne, wann er diesen Weg gegangen ist. Thermühlen wird bei der Frage stumm. Die Wirtin vom ‚Triesel‘ sagt, er sei gegen zwanzig Uhr fünfzehn etwa ins Lokal gekommen. Thermühlen meint, das könne stimmen, und er behauptet, alle Wege zu Fuß gegangen zu sein – von der Tiefenstraße zur Rügener, von der Rügener zum ‚Triesel‘, alles zu Fuß, keine Straßenbahn bestiegen, keinen Bus. Und hier unten“, Kluts Hand fuhr eine gerade senkrechte Linie abwärts, „hier ist der Graben, hier wurde Riedel gefunden. Ich sage zu ihm, dann waren Sie doch gar nicht in der Nähe des Grabenwegs. Plötzlich sagte er, doch, ich war. Erst war ich in der Külzstraße bei meinen Eltern, wollte sie über meine Diskussion mit Riedel informieren.“ 80
„Gut“, sagte Bortfeld, „das solltest du ’rauskriegen, wie der Bengel überhaupt in die Nähe des Tatortes, zumindest des Fundortes, gekommen ist, und – interessant – das hat unserem schönen Oskar also einen schönen Widerspruch entlockt.“ „Aber warum?“ fragte Hermens, der großäugig, aufmerksam dasaß wie in einer Vorlesung. „Eben, warum?“ wiederholte Klut, steckte sich eine Zigarette an, sprach weiter: „Thermühlen nimmt an, daß er seinen Eltern einen Zettel in den Briefkasten gesteckt habe, denn er hat sie nicht angetroffen. Wie er sagt, wörtlich, sicher mal wieder in Sachen Ideologie unterwegs, wie fast jeden Abend.“ „Und diesen Zettel könnten wir finden“, schlußfolgerte Bortfeld, „seine Eltern könnten bestätigen, einen Zettel aus dem Briefkasten geholt zu haben – Oskar hat momentan keine Möglichkeit, sie daran zu hindern.“ Und Bortfeld fragte Klut: „Kann er sich erinnern, was er auf den Zettel geschrieben hat?“ „Er sagt, wenn er noch fähig war dazu, dann hat er wie immer, wenn er die Eltern nicht antrifft, bestimmt geschrieben: ‚Mit sozialistischem Gruß! Euer O.‘ Genau weiß er das nicht, genau weiß er nur, daß er einen Zettel in den Kasten geworfen hat.“ Hermens richtete sich auf, sagte: „Das ist doch kein Beweis dafür, daß er abends da war, den Zettel könnte er doch auch schon am Mittag eingeworfen haben, ohne daß die Eltern ihn entdeckten.“ „Ja, per Straßenbahn wäre das wohl zu schaffen gewesen, mittags, nach seiner Diskussion mit Riedel“, sagte Bortfeld, „wo liegt also der Grund, daß er diesen Widerspruch auf sich nimmt, uns beinah mutwillig das Beweisstück für seine Anwesenheit in der Nähe des Tatortes aufzudrängen versucht. Will er einen anderen aus Verdachtsgefahr bringen?“ Klut sagte: „Das ist die eine Seite, das wäre die eine 81
Möglichkeit, aber der Widerspruch geht noch tiefer. Ist er zu Fuß vom Ramter bis zur Rügener Straße gelaufen, braucht er etwa eine dreiviertel Stunde. Ging er zu Fuß von der Rügener bis in die Külzstraße, braucht er mehr als eine Stunde; geht er dann wieder durch den Graben zum ‚Triesel‘ – das habe ich von einem Genossen überprüfen lassen –, braucht er bei normaler Verfassung nochmals fünfunddreißig Minuten. Alles zusammen also mindestens zweieinhalb Stunden Fußmarsch – das hieße zwar, ohne Halt in der Rügener und ohne Halt in der Külzstraße bei den Eltern … Und selbst dann hätte er es nicht schaffen können, denn er hat, wie mir Ramter und drei seiner Angestellten versichern, Punkt achtzehn Uhr erst das Fotoatelier verlassen. Dazu kommt, daß Oskar betrunken war. Er gibt zu, sein Gang müsse, schon als er seine Bude verließ, abends, ziemlich onduliert gewesen sein. Mit onduliertem Gang würde er aber allein von der Külzstraße bis zum ‚Triesel‘ etwa eine Stunde brauchen. Die Wirtin vom ‚Triesel‘ hat zu Protokoll gegeben, daß sich Thermühlen kaum noch auf den Beinen halten konnte, als er ins Lokal kam.“ „Und trotzdem der Kinnhaken, der den Wirt zu Boden brachte“, sagte Hermens. „Ein Tausendsassa, ein Münchhausen auf fliegender Kugel oder so …“ „Ein Schwindler auf jeden Fall“, sagte Bortfeld, „aber warum schwindelt er? Die Frage bleibt, bis wir vielleicht über seine Schwindeleien auf den Täter stoßen, der nicht zwingend anders als – Oskar Thermühlen heißen muß.“ Bortfeld wandte sich ab, wischte sich mit dem Handrücken die Stirn, beachtete Kluts Verwunderung nicht, sagte dann, ohne Klut anzusehen: „Aber deine Idee ist gut. Sieh zu, daß du die Eltern befragen kannst – vielleicht waren sie sogar zu Hause?“ Hermens und Klut wechselten verständnislose Blicke, schwiegen beide. Bortfeld sagte: „Jetzt ist es zu spät geworden; wenn wir pünktlich im Theater sein wollen, müssen wir jetzt los. 82
Das Protokoll werde ich nachher lesen. Gab es irgend etwas, Klut, das uns für die Befragung der Schauspieler und für die Unterredung mit dem Intendanten wichtig sein könnte?“ „Nein, Chef, über Riedels Verhältnis zu seinen Kollegen im Theater ist von Thermühlen kein Wort rauszukriegen. Aber ich bin überzeugt, daß er vieles weiß.“ Darauf sagte Bortfeld nichts. Er schlug den Mantelkragen hoch, zog Handschuhe an, zog sie wieder aus, suchte in seiner Schreibtischlade ein paar Sachen, die er in die Jackentaschen verstaute, richtete sich auf, das Gesicht leicht gerötet, sah mit unnatürlich glänzenden Augen zu Klut und Hermens hin, hörte, daß Hermens über Einzelheiten des Krankenhausbesuches den Genossen informierte, sagte nach einer Weile, betont eilig: „Wir müssen los, Hermens! Klut, prüfe du das ruhig nach, die Sache mit den Eltern, mit dem Zettel. Thermühlen bleibt noch hier. Wir werden ihn heute nochmals hören müssen. Und wenn sich inzwischen was Dringliches ergibt, Klut, du erreichst uns über Sprechfunk. Ich postiere unseren Toni zwölf vors Theater mit dem Genossen Kräutner.“ „In Ordnung“, sagte Klut. Nichts ist in Ordnung, dachte Bortfeld, nichts – verdammt noch mal. Sie verließen gemeinsam das Dienstzimmer. Er schloß ab. Dann ging er ihnen voran, zog den Kopf zwischen die Schultern, schob die Hände tief in die Manteltaschen, stakste. Er hatte Fieber. Er wußte es. Aber den Fall Riedel würde er wegen einer lächerlichen Erkältung nicht abgeben. Den nicht. Draußen im Hofgeviert roch es nach Schnee und Benzin. Dann, von irgendwoher, wehte mit einemmal Duft von Kiefern und frischgebackenem Brot dazwischen. Bortfeld legte den Kopf in den Nacken, schloß die Augen, schnupperte. Hermens sah ihn an, dachte: Ja, so was richtig Fried83
liches, das wäre ihm jetzt zu wünschen; keine anstrengende Konzentration, nichts Kriminelles, gar nichts davon, bloß Ruhe. Er dachte: Wenn ich sein Vorgesetzter wäre …! Er mußte unwillkürlich lachen bei diesem verdrehten Gedanken. Klopfte sich pappigen Schnee von den Schuhen, ehe er in den Wagen stieg. Auch im Wagen sagte Bortfeld kein Wort. Einige Fragen, die ihm Hermens noch im Zusammenhang mit Kluts Entdeckung stellte, beantwortete er mit Nicken oder Kopfschütteln. Vor dem Theater verständigte er sich mit seinem Genossen Kräutner, der im Toni 12 blieb, gab kurze, genaue Anweisungen. Dann ging er mit Hermens durch den Bühneneingang ins Schauspielhaus. Der Pförtner, ein kleiner, hinkender Mann, der um die Siebzig – vielleicht noch älter – zu schätzen war, kam aus seiner gläsernen Kabine und wies den beiden den Weg. „Nu sehen Se, da, wo die Tür bißchen offen is, da is dis Konzimmer, da sind se alle versammelt.“ Bortfeld und Hermens sahen einander an. Alle? Jetzt schon? dachten beide. Sie sahen auf die Uhr. Sie waren auf die Minute pünktlich für das Gespräch mit dem Intendanten. Die Befragung der Schauspieler sollte erst in einer Stunde, um dreizehn Uhr, beginnen. „Soll ich Sie melden, Herr Genosse?“ fragte der Pförtner. „Nein, danke“, sagte Bortfeld freundlich, „wir werden nicht stören, wir warten hier. Vielen Dank.“ Der Pförtner sah ehrfurchtsvoll und, wie es Hermens schien, etwas ängstlich zu Bortfeld hoch. „Sie rufen mich doch, wenn ich Sie melden soll, nich wahr?“ „Selbstverständlich, schon gut“, sagte Bortfeld. Hermens lauschte einen Moment. „Chef, das ist der Intendant, der da im Konzimmer spricht.“ 84
Beide gingen ein paar Schritte. Blieben an der spaltweit offenen Tür stehen. Der kleine, hinkende Alte drehte sich noch einmal um. Er hinkte sehr. Indem er weiterging, kam sein Klumpfuß zum Vorschein. „Rufen Sie mich, wenn ich Se melden soll, Herr Genosse, ich kriege sonst mächtchen Ärger.“ Bortfeld deutete mit einer beruhigenden Handbewegung an, daß er sich nicht aufzuregen brauche. Es wurde still. Nur die Stimme des Intendanten war zu hören, es klang, als rede er im leeren Raum, und es klang nervös, wie er mehrmals ansetzte: „Sie alle wissen ja bereits – so etwas geht wie ein Lauffeuer –, Sie wissen bereits, sage ich darum, welch tragisches Ereignis uns heute und hier zusammenführt. Ich hätte Sie, wenn es nach mir gegangen wäre, nicht um Ihre Mittagspause gebracht, aber die Kriminalpolizei bestand auf diesen Zeitpunkt. Man muß das verstehen, die Leute können sich die Zeiten auch nicht aussuchen. Nun ist es so, daß ich noch vor Ihnen mit den Kollegen von der Kriminalpolizei sprechen werde, und ich werde darum bitten, daß man die Unterredung mit Ihnen so kurz wie möglich hält. Für diese Unterredung – ja, für diese Unterredung habe ich nun eine ganz innige Bitte an Sie alle, die um Aussagen gebeten werden. Bei allem, was Sie sagen wollen, bedenken Sie bitte, daß unser Kollege Dietrich Riedel, um den es heute geht, hinterhältig überfallen wurde und nun, so schwer es mir fällt, das auszusprechen, nun mit lebensgefährlicher Verletzung im Bezirkskrankenhaus liegt. Sie wissen, was ich damit sagen will, nicht wahr?“ Schweigen. Dann eine junge Männerstimme: „Nein, aber vielleicht sagen Sie es uns konkret, wir sind keine Kinder …“ „Eben“, unterbrach ihn der Intendant rasch und laut. „Ich spreche zu erwachsenen Menschen, zu intelligenten Menschen. Darum auch meine Bitte. Sehen Sie, es hat, ich weiß das wohl, ab und an mal mit dem Kollegen Rie85
del Unstimmigkeiten zwischen einigen von Ihnen und ihm gegeben. Aber, Sie wissen auch …“, er unterbrach sich, suchte nach dem passenden Wort, „Sie wissen auch, wie leicht das eigene Nest beschmutzt ist …“ „Und wie schwer man’s wieder sauber kriegt“, kam ihm die junge Männerstimme dazwischen. Noch nervöser, noch verwirrter sprach der Intendant weiter: „Ich meine nun, wenn man nun aus einem Anlaß wie dem heutigen ausgerechnet diese ab und an aufgetretenen Unstimmigkeiten hochspielen wollte, aufbauscht oder sogar übertreibt, dann wäre das sehr bitter für den Ruf unseres Hauses.“ Stille. Nach einer Weile wieder der Intendant: „Haben wir uns verstanden, verehrte Kolleginnen und Kollegen?“ Darauf der junge Mann: „Nicht ganz, Intendant. Noch weiß keiner von uns, wonach wir gefragt werden. Aber das wissen wir hier alle, Ihr Ausdruck ‚Unstimmigkeiten‘ verniedlicht die tatsächliche Situation ungemein. Wir wissen vor allem, wie viele Kollegen der tatsächlichen Situation wegen in vergangenen Jahren unser Theater verlassen haben, daß auch jetzt wieder Kollegen gehen – und was außerdem noch passiert ist, das ist noch sehr frisch in unserem Gedächtnis, das hat, glaube ich, keiner vergessen. Ich kann im Moment nur für mich sprechen, aber ich sage Ihnen schon jetzt, daß ich ehrlich antworten werde, daß ich weder etwas aufbauschen noch etwas verharmlosen will.“ „Ja, das kann ich mir denken“, sagte der Intendant aufgebracht, „daß Sie der letzte sind, der sich das Grausame vor Augen hält, was unserem Kollegen Riedel widerfahren ist. Ihnen ist doch alles gleichgültig geworden, was unser Haus angeht. Aber wenn Sie, vielleicht sogar vor der Polizei, behaupten wollen, auch das kommt auf das Konto des Kollegen Riedel, daß Sie das Engagement wechseln, dann werden sich, davon bin ich überzeugt, 86
Herr Waganzki, genügend andere finden, Sie Lügen zu strafen.“ „Darauf bin ich aber gespannt!“ sagte Waganzki. Leises Gelächter. Keine laute Stimme mehr, Raunen von vielen Stimmen. Darüberhin noch einmal der Intendant: „Ich verlasse mich auf Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Vor allem auf unsere Getreuen, ich meine, die unserem Haus auch ferner die Treue halten, auch weil sie die hohen Leistungen des Kollegen Riedel richtig einzuschätzen wissen. Ich danke Ihnen. Und warten Sie bitte hier.“ Deutlich war zu hören, daß ein Stuhl über Dielen geschoben wurde, dann näherten sich der Tür des Konzimmers kurze, stampfende Schritte. Hermens sagte: „Der Intendant kommt.“ Bortfeld blieb stehen. Der Intendant stieß die Tür auf, wäre mit seinem vorgeschobenen Kopf gegen Bortfelds Brust gestoßen, wäre Bortfeld nicht ausgewichen. Der Intendant stand sprachlos, sah von Bortfeld zu Hermens; sein festes, volles Gesicht begann zu glühen. „Sie kenne ich bereits. Sehr angenehm“, sagte er dann zu Hermens und reichte ihm die Hand. Hermens stellte vor: „Oberleutnant Bortfeld. Der Genosse Oberleutnant leitet die Ermittlungen.“ Der Intendant hatte sich frappierend schnell wieder in der Gewalt, lächelte, sagte: „Sehr angenehm, Genosse Oberleutnant. Froh. Froh ist mein Name. Wenn Sie mir bitte folgen wollen“, er wies in die Richtung, „wenn ich vorausgehen darf.“ Der Alte war aus seiner Pförtnerloge herausgehinkt, hielt sich an der Seitenwand fest, schien noch kleiner geworden zu sein, vor Angst eingeschrumpft. Der Intendantenblick, der ihn traf, schnell und strafend, rechtfertigte wohl seine Haltung. Doch der Intendant hatte ihm schon den Rücken gekehrt, lief Hermens und Bortfeld durch ein Labyrinth von Gängen voraus. Verhielt plötz87
lich den Schritt, faßte sich an die Stirn, schob die Brauen gegeneinander, als wäre Wichtiges zu überlegen, sagte schließlich nur: „Besser, wir gehen nicht ins Intendantenzimmer. Wir werden da zu oft abgelenkt durch Telefonate und den üblichen Kleinkram. Kommen Sie, wir werden uns im Kabinett niederlassen.“ Sie mußten ein Stück zurückgehen, der Intendant schloß eine dunkle Tür auf. Dann standen sie in einem schmalen, langgestreckten Raum, der von Biedermeiermöbeln zugewachsen war. Der kleine, dicke Intendant mußte sich winden, um bis zum Fenster vorzudringen. Er schob die Übergardinen auseinander. Es wurde kaum heller. Fahles Tageslicht zerstreute sich über Nippes, über zwei Petroleumlampen, über die dunklen Möbel, über Fotografien, die, Rahmen neben Rahmen hängend, die düstere Tapete verdeckten. Es waren runde, quadratische, überwiegend ovale Rahmen. Auf niedrigen Schränkchen, unter Nippes und Lampen, lagen gehäkelte kleine Decken. Alles wirkte im zerfasernden Licht dumpf, abgestorben. Sofa und Sessel waren mit dunkelgrünem Plüsch bezogen, die Übergardinen waren aus dunkelgrünem Plüsch. „So, hier fühlt man sich wohl“, sagte der Intendant. Bortfeld dachte, hier ersticke ich, aber sei’s drum. Der Intendant sah Hermens an. „Bringen Sie mir jetzt bessere Botschaft? Ich erhoffe nichts sehnlicher, glauben Sie mir, nichts sehnlicher.“ Hermens sagte: „Herr Riedel ist wieder bei Bewußtsein.“ „Wirklich? – Ach, ist das eine Freude. Mein Gott!“ Der Intendant strahlte. Dann, so freudig erregt, deutete er auf die grün beplüschten Sessel: „Aber bitte, wollen wir uns doch hier niederlassen. Nein, ist das eine Botschaft! Trinken wir darauf einen guten Tropfen?“ Bortfeld und Hermens verneinten. Sie nahmen die Plätze ein, die ihnen zugewiesen waren, versanken in den tiefen Sesseln; Bortfeld und Hermens von gleicher 88
Körpergröße, streckten die Beine etwas aus, um die Knie nicht unterm Kinn zu haben. Der Intendant auf dem Sofa verhakte die Füße umeinander, so hingen sie einige Zentimeter über dem Fußboden, auf dem ein dunkelgrüner Teppich lag. Den Ernst der beiden schien der Intendant in all seiner Seligkeit nicht zu bemerken. Munter redete er drauflos: „Denn wissen Sie, der Kollege Riedel wäre mir durch und durch unersetzbar gewesen. Wissen Sie, der Mann ist einfach ein Alleskönner. Und ein Arbeitstier ist er, das gibt’s gar nicht noch mal. Er ist ein Realist und auch ein Idealist, wirklich, das ist er. Er ist eben das, was man heutzutage eine starke Persönlichkeit nennt, wenn ich mich mal so ausdrücken darf.“ „Und er ist bei seinen Kollegen beliebt!“ sagte Bortfeld, so als ergänze er den Überschwang des Intendanten. „Aber ja, aber ja, er ist der Tüchtigste, das ist er.“ „Und er ist bei seinen Kollegen beliebt“, wiederholte Bortfeld. „Aber ja!“ Hermens wußte, was in seinem Chef vorging. Er zog den Blick von ihm weg, sah sich die vielen Fotografien an. Bortfeld sagte: „Herr Intendant, Sie haben heute morgen zu meinem Genossen von einem jungen Schauspieler gesprochen, der aufsässig sei. Meinen Sie, daß der Spielleiter Riedel auch bei diesem jungen Aufsässigen beliebt ist?“ „Ach ja, wissen Sie, dieser Michaelis, den hatte ich erwähnt, das ist nun wirklich ein richtiger Querkopf, wenn ich mich mal so ausdrücken darf.“ „Sie dürfen“, sagte Bortfeld, „aber das war nicht meine Frage.“ „Ja, wissen Sie, aus diesem Grunde haben wir dem Michaelis ja schon anheimgestellt, sich um ein neues Engagement zu kümmern, wie ich Ihrem Genossen Hermes heute morgen schon mitteilte.“ 89
„Aus diesem Grunde“, warf Hermens scheinbar gleichmütig ein, „ist Michaelis gestern nach Dresden gefahren.“ „Sehr richtig, Kriminalmeister Hermes.“ Bortfeld sagte: „Mein Genosse heißt Hermens, für den Götterboten hat er ein ‚n‘ zuviel – doch das nebenbei. Sie äußerten, Michaelis hätten Sie es – anheimgestellt … Ist das die feinfrisierte Art, die gütige Umschreibung des Wortes Kündigung?“ Der Intendant wand sich im Oberkörper, rieb die Knie. „Nein, ach nein, so möchte ich das nicht sagen. Allein – der Vertrag wird eben nicht verlängert. Und … zu Ihnen kann man ja offen und ehrlich reden, man möchte jungen Menschen, die erst am Anfang stehen, doch nicht gleich die Kaderakte verunzieren. Sehen Sie, steht da nun drin, Herr Sowieso wurde aus dem und dem Grunde – denn begründen müssen wir das ja alles –, also Herrn Sowieso wurde aus dem und dem Grunde der Vertrag nicht verlängert, dann sieht das häßlich aus, nicht wahr? Es macht sich besser, wenn es heißt, Herr Sowieso hat aus eigenem Wunsch sein Engagement beendet.“ „Ah so“, sagte Bortfeld nur. Fragte dann: „Und mit Querköpfen, wie Herr Michaelis, verfährt man in dieser Weise. Man schiebt den Querkopf einem anderen Kollektiv zu?“ „Manchmal bleibt nichts anderes übrig, das können Sie glauben.“ „Aber Oberspielleiter Riedel hätte einen anderen Weg gefunden, er wollte sicher nicht, daß man mit Herrn Michaelis so verfährt“, sagte Bortfeld – und es hörte sich erstaunlich überzeugt an. „Doch, doch, er wollte es. Und ich kann ihm das wirklich nicht verdenken. Wissen Sie, ein einziger Querkopf von dieser Sorte kann ja die ganze Ensemblearbeit zerstören.“ 90
Ohne Hermens anzusehen, sagte Bortfeld: „Ich kenne Querköpfe, die äußerst nützlich sind. Aber Nützlichkeit gab es in diesem Fall nicht, nein?“ „Ach, wissen Sie, beim Theater ist das alles so ein Problem. Das ist so … man kann fast sagen, Krach muß sein. Das weiß ich aus meiner langjährigen Theaterpraxis, ich bin fast fünfzig Jahre dabei. Sehen Sie, wir haben es nun mal mit Individualisten zu tun. Da passen selten zwei Meinungen zusammen. Da haut man mal aufeinander mit seinen Ansichten. Denn, wissen Sie, Ansichten über künstlerische Leistungen sind und bleiben subjektiv. Da kann uns auch kein Computer helfen, wenn ich mich mal so ausdrücken darf. Aber am Ende hat man sich doch immer zusammengerauft. Bei den Inszenierungen meines Oberspielleiters war das immer so, und es war immer im künstlerischen Sinne ertragreich. Und dann sind auch alle Unstimmigkeiten vergessen, man freut sich über das Gute, was dann doch zustande kam. Künstler sind da eben wie die Kinder. Wissen Sie, ich sage immer, Krach gehört zum Theater. Krach ist fürs Theater wie das Salz für die Suppe, und der Applaus ist der Zucker. Wichtig ist beides.“ „Sehr schön gesagt. Aber das war nicht meine Frage“, entgegnete Bortfeld. „Trotzdem. Bleiben wir beim Bild. Gab Herr Michaelis besonders viel Salz in die Suppe?“ „Ja, ja, so könnte man es ausdrücken.“ „Michaelis interessiert mich“, sagte Bortfeld. „Wie ist das, kommt der junge Mann mit keinem aus? Auch mit keinem anderen Regisseur?“ Der Intendant rieb emsiger die Knie, verhakte die Füße anders. Saß weißhemdig-feingestreift da und glühte. „Beantworten Sie unsere Fragen, Herr Intendant“, sagte Bortfeld, „wir müssen zusammenarbeiten wie zuverlässige Partner.“ „Aber natürlich“, sagte beflissen der Intendant, beugte sich bißchen vor gegen Bortfeld. 91
Der spürte Hermens’ blitziges Hochblicken mehr, als daß er es sah. Wußte, was in diesem findigen Kopf jetzt gedacht wurde, fragte aber, als vertraute er wirklich noch, den Intendanten: „War das Verhältnis zwischen Riedel und Michaelis ganz besonders gespannt? Man könnte sich denken, wenn Michaelis gewußt hat, daß Riedel die Nichtverlängerung des Vertrages erwirkte … da wäre vielleicht ein Tatmotiv in Sicht, zumindest doch …“ Er sprach nicht weiter. Wollte, daß der Intendant selbst schlußfolgerte. Der ließ von seinen Knien ab, strich wortlos, fahrig über die dunkelgrüne Plüschdecke. „Gestern abend wurde Herr Riedel niedergeschlagen“, half ihm Bortfeld scheinbar geduldig, „bei unseren bisherigen Ermittlungen haben sich Verdachtsmomente auf einen eventuellen Täter angesammelt. Aber das sind ja alles erst Hypothesen. Doch je mehr Hypothesen wir aufstellen, und je mehr wir davon wieder verwerfen können, um so näher sind wir dem Ziel.“ Diesen Satz, das war ihm anzusehen, wiederholte sich der Intendant in Gedanken ganz gründlich. Dann, offensichtlich bedrückt, sagte er: „Ich weiß schon, was Sie meinen, aber ich halte es für unmöglich, daß sich einer aus meinem Ensemble so vergessen haben sollte. Für unmöglich halte ich das, ja.“ „Auch Querkopf Michaelis nicht?“ fragte Hermens. Der Intendant sagte: „Denken kann ich mir’s nicht.“ Bortfeld sagte: „Zurück zu meiner Frage. Kam Michaelis auch mit anderen Regisseuren nicht aus?“ „Ich glaube, mit Gastregisseuren ist er besser ausgekommen. Jedenfalls hat sich keiner bei mir beschwert.“ „Aber der Oberspielleiter hat sich über ihn beschwert, ja?“ „Ach ja, er hatte nur zu oft Grund dazu.“ „Und wie war es mit anderen hier fest engagierten Regisseuren?“ 92
„Fest engagiert haben wir momentan nur Oberspielleiter Riedel. Das ist, ich weiß, ein unhaltbarer Zustand. Aber Regisseure, gute, sind eben Mangelware. Einen guten Gastregisseur bekommt man dann schon ab und an etwas leichter.“ „Etwas leichter und sehr viel teurer, wenn ich richtig informiert bin – oder?“ fragte Bortfeld. Der Intendant nickte gequält. „Das war auch nicht immer so, das bleibt selbstverständlich auch nicht so“, sagte er. Hermens fragte schnell: „Seit wann ist das so?“ „Seit ungefähr einem Jahr, glaube ich.“ „Und wie war es vorher?“ „Ach, wissen Sie, Regisseure waren schon immer knapp, viel zu knapp für unser großes Schauspielhaus, in der Oper geht’s uns besser.“ „Das war nicht die Frage“, bohrte Bortfeld wieder nach. „Wie es vorher im Schauspiel war, hatte Genosse Hermens gefragt.“ „Ja, wissen Sie, da hatte ein Schauspieler versucht, sich zum Regisseur zu qualifizieren. Von ihm stammt bei uns noch das Wort: Qualität fängt mit Qual an … Und wir haben ihn auch in seinen Bemühungen nach besten Kräften unterstützt.“ „Mit Erfolg unterstützt?“ fragte Bortfeld, geduldig bemüht, das Gespräch zielsicher zu steuern. „Ja, ich muß zugeben, er hatte einige ansehnliche Erfolge. Aber wissen Sie, seine Arbeitsmethode stand der des Oberspielleiters geradezu diametral entgegen. Das konnte auf die Dauer auch nicht gut gehen.“ „Hatten Sie ihm dann auch nahegelegt, anheimgestellt …“ Der Intendant nickte. Sein Gesicht zerknitterte, wurde um den Mund herum ganz eng, als kaue er Zitrone. „Jaja, gewiß, das hatten wir“, sagte er. „Mein Oberspielleiter war auch der Meinung, solch junger Mensch müs93
se sich erst mal an kleineren Theatern das nötige Rüstzeug erwerben. Man hat ja nicht gedacht …“ Er sprach nicht weiter. Hermens und Bortfeld sahen ihn gespannt an. Hermens fragte: „Hat der junge Mensch dann, nachdem Sie es ihm nahegelegt, anheimgestellt hatten, von sich aus gekündigt?“ „Nein, nein“, sagte der Intendant, „er hat es drauf ankommen lassen; vielleicht hat er nicht gedacht, daß wir Ernst machen; ich weiß auch nicht, wie ich das erklären soll.“ Hermens fragte: „Wie alt ist der junge Mann?“ „Achtunddreißig war er, wenn ich nicht irre.“ „Und wo ist er jetzt engagiert?“ fragte Bortfeld. Der Intendant ließ von seinen Knien ab, strich wieder fahrig mit beiden etwas groß geratenen Kinderhänden über die grünplüschige Tischdecke. Hielt die Lider halb geschlossen. „Wo?“ fragte Hermens. „Ach, meine Herren, das ist eine furchtbare Frage.“ „Warum ist die Frage furchtbar?“ „Weil … ja – er hatte einen Unfall, das ist es.“ „Tödlich?“ fragte Hermens. Der Intendant nickte mit der Miene des Vielgequälten. „Ja, er ist in ein Auto gelaufen. Fahrlässig, wie junge Menschen heutzutage sind. Das ist es. Ich bedaure es zutiefst, das können Sie mir glauben.“ „Den Unfall?“ fragte Bortfeld – und dachte an Kluts Bericht. „Natürlich, natürlich“, sagte der Intendant; Zitrone im Mund. „Wie hieß der Mann?“ fragte Hermens. „Wegener, Robert Wegener hieß er“, antwortete der Intendant. „Ein Verwandter der Schauspielerin Anne Wegener?“, fragte Bortfeld. „Ja, er war ihr Mann, ja.“ Bortfeld, beherrscht, mit Anstrengung, sagte: „Und sie 94
ist hiergeblieben. Ich habe sie kürzlich als Lady Milford gesehen.“ „Ja, Kabale und Liebe“, sagte der Intendant, lebte auf für einen Moment, „unser diesjähriger Beitrag zum klassischen Erbe. Auch eine hervorragende Inszenierung meines Oberspielleiters.“ „Sie ist trotzdem geblieben, Intendant?“ fragte ohne Erbarmen Oberleutnant Bortfeld. Ihm war, als sei das Licht noch fader geworden, die polierten Möbel härter im Glanz, die Luft muffiger. „Ja, sie ist bei uns, natürlich“, sagte der Intendant, „mit ihr haben wir den zeitlängsten Vertrag geschlossen, den jemals eine Frau bei uns bekommen hat. Sie ist, wenn ich das so ausdrücken darf, unser bestes Pferd im Stall. Außerdem arbeitet sie ganz hervorragend, ganz besonders übereinstimmend mit meinem Oberspielleiter zusammen. Sie spielt bei ihm, wie man so sagt, alles, was gut und teuer ist.“ Einen Pulsschlag lang nahm es Hermens und Bortfeld die Sprache. Bortfeld brannten die Augen fiebrig. Aus dem Meter zwischen seinem Gesicht und dem bordeauxfarbenen Schlips des Intendanten wurden Meilen. Wie ist der Mann in diese Position geraten, fragte sich Bortfeld. Unmöglich, daß er ohne Intelligenz, ohne Charakter vor allem, auf diesen Posten kam. Er hat Angst. Sie macht ihn zum Trottel. Wovor hat er Angst, wovor, verdammt noch mal. Bortfeld drehte das Gesicht weg, sah die Fotografien an. Hörte den Intendanten mit larmoyantem Ton sagen: „Ach ja, Genosse Oberleutnant, das waren Künstler!“ Hörte Hermens fragen: „Lebt keiner mehr von ihnen?“ Hörte den Intendanten antworten: „Ach nein, die hier hängen, die sind längst alle tot.“ Hörte Hermens fragen: „Wie ‚zeitlang‘ ist der Vertrag, den Sie mit Frau Wegener abgeschlossen haben?“ „Der läuft noch sechs Jahre. Einmalig ist das.“ 95
„Und der Vertrag ihres Mannes Robert Wegener lief wann aus?“ „Der wäre in diesem Jahr ausgelaufen. Sagte ich das nicht schon? Ja, im Juli, das heißt nach dem Urlaubsmonat Juli, also August. Aber die Entscheidung muß ja schon im Herbst zuvor gefällt werden, das war vor eineinviertel Jahr, das sagte ich schon.“ „Und wann hatte Wegener den Unfall?“ „Am – warten Sie, ja, das war am dreißigsten September vorigen Jahres. Dreißigsten Neunten siebzig. Das Datum werde ich mein Leben lang nicht vergessen.“ „Und wann hatten Sie ihm die Entlassung geschickt? Ich möchte dieses Datum auch wissen.“ Der Intendant rieb nicht die Knie, saß still, wie eingeklemmt, runzelte die Stirn, als überlegte er angestrengt. „Wissen Sie es nicht mehr?“ bohrte Hermens. „Doch, jaja. Ich glaube, das war am dreißigsten September, vormittags. Wir hatten einen Boten geschickt. Das wirkt immer vertraulicher, freundschaftlicher möchte ich mal sagen. Außerdem mußte Robert Wegener uns das Schreiben, ich meine den Empfang des Schreibens, quittieren.“ Bortfelds Blick fiel abwärts, wie etwas sehr Schweres, blieb auf dem Teppich vor seinen Füßen, als würde er sich von da nie mehr abheben. Dann, langsam, drehte Bortfeld den Kopf zur Seite. Er sah nicht auf. Tief innen spürte er Kälte. Hermens, ohne den Intendanten anzusehen, fragte: „Ist der Querkopf Michaelis auch mit dem Wegener nicht ausgekommen?“ „Ach, doch, das will ich nicht verschweigen“, sagte beflissen der Intendant, „mit dem kam er ganz gut zurecht, soviel ich gehört habe. Wissen Sie, es ist ja so, Michaelis ist elternlos. Ein Heimkind. Das entschuldigt in meinen Augen vieles. Aber natürlich nicht alles. Sie werden das verstehen. Bei den Wegeners hatte er so was wie ein Zuhause gefunden, wie man so sagt.“ 96
„Kommt daher die nicht genau zu analysierende Beziehung zwischen Michaelis und Frau Wegener, von der Sie heute morgen gesprochen haben?“ fragte Hermens. Der Intendant nickte eifrig: „Ja, ich nehme das an. Was wirklich dahintersteckt … wissen Sie, geredet wird ja so viel.“ „Womit Sie recht haben! Und wie lange ist Michaelis am Theater?“ „Hier bei uns, das ist sein erstes Engagement, nachdem er die Theaterhochschule absolviert hatte.“ Auch die Stimme des Intendanten klang Bortfeld jetzt meilenweit weg. Aber sehr nah und eisig hörte er Hermens fragen: „Waren Sie zur Beerdigung des Robert Wegener?“ „Es gab eine Urnenbeisetzung.“ „Waren Sie dabei?“ „Nein, eine ältere Kollegin, sie ist befreundet mit Wegeners, hatte uns abgeraten.“ „Wem – uns?“ „Herrn Riedel und mir.“ „Wie heißt die Kollegin?“ „Christina Reusch.“ „Werden wir sie im Konzimmer antreffen?“ „Ja, ich denke, ja. Benachrichtigt wurden alle, so wie Sie es angeordnet haben. Aber was hat denn diese Urnenbeisetzung … ich meine, schließlich wurde doch mein Oberspielleiter überfallen.“ „Ja – er auch“, sagte Hermens. „Und wissen Sie über sein Familienleben Bescheid?“ „Aber ja. Das ist ein ganz ausgezeichnetes, in der Tat.“ Plötzlich hangelte sich Bortfeld aus dem Sessel, richtete sich groß auf, sagte: „In der Tat! Und wir wollen die Schauspieler nicht unnötig warten lassen.“ Der Intendant hüpfte vom Sofa, lächelte säuerlich, sagte: „Ja, das ist wahr, die Leute sind ja alle sehr beschäftigt; ich hoffe nur, daß sie Ihre Fragen zufrieden97
stellend beantworten, daß meine Anwesenheit keinen irritiert.“ Bortfelds Blick fraß ihn weg. „Darauf wollen wir’s gar nicht erst ankommen lassen“, sagte Bortfeld hart, „Sie werden weder bei der Befragung dabeisein, noch dürfen Sie mit denen sprechen, die in einem anderen Raum warten, während wir Einzelbefragungen durchführen.“ Und dabei hätten wir dich so dringend als Partner gebraucht, dachte Bortfeld, nahm den Blick vom Intendanten, der verloren und entwaffnet dastand, klein und dick, bemüht, weiterzulächeln, zwischen Sofa und einer gläsernen Vitrine, den Kopf gesenkt, sein Gesicht begann wieder zu glühen. „Ich verstehe das gar nicht“, sagte er, „wenn es Herrn Riedel wieder besser geht, warum muß das alles noch sein?“ Hermens sagte: „Er ist bei Bewußtsein. Aber er ist noch immer in Lebensgefahr. Außerdem kann er nicht mehr sprechen.“ „Er kann nicht mehr …“ Auch dem Intendanten versagte die Stimme. Fassungslos, hilfesuchend, mit Kinderaugen, die feucht wurden, sah er von einem zum anderen. Dann gaben seine Knie nach. Dann fiel er in den Sessel, dessen Sitz noch warm war von Bortfelds Fiebertemperatur. „Bleiben Sie ruhig hier“, sagte Bortfeld, „wir finden allein zum Konzimmer zurück.“ Er stakste voraus, die Hände tief in den Taschen, fröstelnd. Stirb mir nicht weg, Riedel! Stirb nicht! dachte er verbissen, als könnte es wirken. Das Stimmengewirr brach ab, als Bortfeld und Hermens das Konzimmer betraten. Die Luft war dick und blau vom Zigaretten- und Zigarrenqualm. Nach ein paar Atemzügen bekam Bortfeld einen Hustenanfall. Zwei Schauspielerinnen rissen die Fenster auf. Naßkalte Luft 98
strömte ein, brodelte langsam den Qualm weg. Nachdem Bortfeld den Hustenanfall überwunden hatte, guckte er sich im Raum um und guckte sich die Leute an. Das Konzimmer – wie er vermutete, eine Abkürzung der Bezeichnung Konversationszimmer – war im bäuerlichen Stil eingerichtet. Massive, hellgescheuerte Tische und Stühle, braun und weiß karierte Sitzkissen, vom gleichen Stoff die Gardinen an kleinen Fenstern. Weißgetünchte Wände. Bilder mit bäuerlichen Motiven, sogleich als gute Farbdrucke alter Meister zu erkennen. Über jedem Tisch eine Lampe aus derbem Korbgeflecht. Licht war eingeschaltet. Anheimelnde Helligkeit, die den Augen nicht weh tat und das Himmelsgrau vergessen ließ. „Hier gefällt’s mir“, sagte Bortfeld und dachte: nachdem wir in einer Gruft gesessen haben! Er besprach sich mit Hermens, überließ es ihm, das Organisatorische zu erledigen. Hermens bat jenen Waganzki zu sich. „Gibt es einen nahe gelegenen Raum, wo sich Einzelgespräche führen lassen? Wir möchten Ihre Kollegen, die derweil warten müssen, nicht von hier verjagen.“ „Gleich nebenan ist ein kleines Zimmer. Ist eingerichtet wie dieses hier, aber nur drei Tische.“ „Das genügt. Danke.“ Waganzki fragte: „Wir sitzen seit einer Stunde hier, mußte das sein?“ Bortfeld sagte ihm: „Auch das wird geklärt, mein Wort drauf!“ „Und wie lange werden wir jetzt noch warten müssen?“ „Gleich geht’s los. Lassen Sie mir drei Minuten, bitte.“ Hermens gab Waganzki Zeichen durch einen Blick, von Bortfeld nicht bemerkt. Dann, im Zimmer nebenan, setzte sich Hermens an den mittleren der drei Tische. Bortfeld setzte sich dazu, stützte die Ellenbogen auf, schob das Gesicht zwischen die Fäuste. „Das war eine Gruft, Hermens – das war eine Gruft!“ 99
Hermens sah ihn an, sah, wie das eben trockengewischte Gesicht schon wieder naß zu glänzen begann. Sagte: „Chef, bitte, überlassen Sie mir die Befragung. Kräutner soll Sie nach Hause fahren, ich gebe der Dienststelle Bescheid. Packen Sie sich ins Bett, morgen sind Sie bestimmt wieder voll da.“ Bortfeld sagte: „Was ist mit dem Intendanten los! Also Riedels Familienleben ist ausgezeichnet – in der Tat! Jetzt wissen wir es ganz genau!“ „Wen soll ich zuerst ’reinrufen, Chef?“ fragte Hermens. „Alles, was ihn für seinen Intendantenposten prädestiniert haben muß, ist ihm hops gegangen vor Angst. Warum? Wovor hat der Mann Angst? Wäre ihm eine direkte Schuld an Wegeners Tod nachzuweisen gewesen, säße er nicht mehr auf seinem Thron.“ Hermens sagte: „Sie waren damals, als das passiert ist, in Urlaub. Ich kann mich jetzt erinnern. Die Sache war bei uns gelandet, der Unfall. Jede Menge Zeugen. Der Fahrer des Lastwagens hatte einwandfrei keine Schuld.“ „Weißt du, Hermens, als ich Kind war, hab’ ich mal versucht, Fliegen abzunehmen vom Fliegenfänger. Ganz vorsichtig bin ich zu Werke gegangen, aber ich habe bloß den Körper und einen Flügel losgerissen. Die Fliegenbeine saßen schon zu fest am Leim …“ „Sie hören mir nicht zu, Chef. Oder soll das ein Gleichnis sein?“ Bortfeld ließ sein Gesicht aus den Fäusten, stemmte die Hände gegen die Tischkante, drückte den Rücken gegen die Lehne des Bauernstuhls, sagte mit Vehemenz: „Tja – da bin ich überfragt, Genosse Kriminalmeister!“ Er strich sich mit der Handfläche über die Stirn. „Ruf zuerst die Reusch.“ Sie kam herein. Bortfeld forderte sie auf, sich ihm gegenüber zu setzen. Er fragte: „Sind Sie erstaunt, daß wir uns zuerst mit Ihnen unterhalten wollen?“ 100
„Nein, warum soll’s mich erstaunen, mit irgendwem müssen S’ ja anfangen, denk’ ich.“ Es wurde Bortfeld nicht bewußt, daß er schmunzelte. Ihre melodische Stimme tat ihm wohl, ihre unverstellte Mundart. „Sie sind Süddeutsche?“ „Ja. München.“ „Seit wann leben Sie bei uns?“ „Seit hundert Joahr bestimmt.“ „Und noch bestimmter?“ „Seit neunzehnfünfzick.“ „Hat es Ihnen drüben nicht mehr gefallen?“ „Nein, es hat mir drüben nicht mehr gefallen.“ Das war klar und im klaren Deutsch geantwortet – nur ein wenig Sprachmelodie war geblieben. So hatte Bortfeld sie in Erinnerung von ihren Rollen her. Er sagte: „Es hat aber einen bestimmten Grund, daß wir uns zuerst mit Ihnen unterhalten wollen.“ Sie sperrte die Augen auf. Lebhafte, braune Augen; das Braun mit Goldpünktchen gesprenkelt. „Sie waren also sehr jung, als Sie zu uns kamen“, sagte Bortfeld. „Gehn S’ “, sagte sie, „so froagt man de Leit aus.“ Sie lächelte. „Nein, ich war schon vierzick damals.“ „Kompliment!“ „Dank’ schön.“ „Frau Reusch, wir hörten vom Intendanten, daß Sie mit Anne Wegener befreundet sind. Das stimmt, ja?“ „Ja, das stimmt akkurat. Wir zwei haben uns gleich gemocht, vom ersten Tag an.“ „Sie waren schon hier, als Frau Wegener in dieses Engagement kam?“ „Ja, ich bin ein uraltes Inventar; bin bald zehn Joahr hier dabei.“ „Und wann kam Frau Wegener?“ „Anne? – Augenblick. Ja, die Anne ist Sechsundsechzig hergekommen.“ 101
„Und Herr Wegener?“ „Der Robert, der war damals zuerst noch im Opernchor. Ich glaub’ ein Joahr lang noch, danach dann ist er zu uns ins Schauspiel gewechselt. Aber sagen Sie, bittschön, wenn ich auch was da fragen dürfte …“ Sie sah Bortfeld nicht an. Er sagte: „Natürlich, wenn es Ihnen wichtig erscheint. Doch zuerst noch eine Frage von mir. Waren Wegeners damals schon verheiratet?“ „Freilich. Die Sabin’ war ja schon an die zehn Joahr.“ „War Herr Wegener Ihrer Meinung nach ein guter Schauspieler?“ Sie überlegte. Dann: „Ich kann’s nicht sagen. Er hatte nicht so die Gelegenheit zu zeigen, was drinnen steckt. Aber daß er den Nerv hat, wissen S’, was das wichtigste ist, den Nerv fürs Genaue, Stimmige im Künstlerischen, das mußte ein jeder spüren.“ „Haben Sie dann später auch unter seiner Regie gearbeitet?“ Sie nickte. „Waren Sie mit seiner Regiearbeit einverstanden, mit seiner Arbeitsmethode?“ „Vom Anfang bis zum Ende.“ Stille. Bortfeld dachte: und Kälte! Nicht nur in mir. Wir sind in einen Zirrostratus geraten. Er war drauf und dran, Hermens zu fragen, ob er wisse, was ein Zirrostratus ist. Hermens wird verneinen, und ich werde sagen, muß man auch nicht wissen, in deinem Alter, in diesem Zusammenhang. Er fragte Christina Reusch: „Kennen Sie einen jungen Mann, der Oskar Thermühlen heißt?“ „Thermühlen – Thermühlen … den Namen hab’ ich schon gehört, des möcht’ ich beschwör’n. Aber wo?“ „Hat ihn vielleicht Herr Riedel mal erwähnt?“ „Ich glaub’ nicht. Ich weiß es nicht.“ „Oder Frau Wegener?“ „Nein, sie sicher nicht.“ 102
„Was hatten Sie fragen wollen, Frau Reusch?“ „Mich hat’s gewundert, daß Sie alles um Wegeners wissen wollen – wo doch der Riedel, nicht wahr?“ Bortfeld nickte ein wenig, sah ihr in die lebhaften Augen. Sie sagte, etwas zögernd: „Sind Sie auch schon draufgekommen, daß da …“ Sie sprach nicht weiter. „Wo draufgekommen?“ „Daß was Kausales bestehen muß, mein’ ich, zwischen dem Unglück vom Robert und der Sach’ von jetzt.“ „Ja, Frau Reusch, da habe ich eine Bitte. Waren Sie an dem Tag, dem Unglückstag, bei Wegeners?“ Sie antwortete ganz ruhig, ganz überzeugt. „Das Kausale, was ich gemeint hab’ … auf die Anne brauchen S’ nicht zu beziehen. Nein, die Anne hat nie Rachegedanken gehabt. Dafür leg ich meine beiden Händ’ ins Feuer. Das können S’ mir alten Frau glauben.“ „Das glauben wir Ihnen gern, Frau Reusch“, sagte Bortfeld, „aber ich hatte Sie bitten wollen, uns zu schildern, wie Frau Wegener die Nachricht vom Tod ihres Mannes aufgenommen hat, wie das überhaupt alles vor sich ging. Ist es Ihnen möglich?“ „Möglich ist mir’s schon … aber gern tu’ ich’s nicht, das werden S’ verstehn.“ Bortfeld nahm den Blick nicht aus ihrem Gesicht. Hermens schrieb einige Notizen. Nach einer Weile sagte Christina Reusch: „Ich weiß nicht, wie anfangen …“ „Erzählen Sie, was Ihnen am stärksten in Erinnerung ist.“ „Es hatte da schon lange vorher so viele Aufregungen gegeben“, begann die Reusch, wohl bereit, dem Mann mit den fiebrig glänzenden Augen zu helfen, und doch widerstrebend. „Da müßt’ man ein Buch drüber schreiben, falls einer’s drucken tät. Nein, man kann’s nicht wiedergeben, so in Kürze. Doch die allerböseste Erinnerung ist der Unglückstag selbst … Der Bote mit der Entlassungsurkund’ war dagewesen. Ich war auch da. Ich 103
war so oft bei den Wegeners. Die Anne hat zuerst die Entlassungsurkunde gelesen. Der Robert hat bloß unterzeichnet. Hat wohl nicht sehen wollen, was da hingeschrieben war. Die Anne hat gesagt, also hat die Bestie doch zugebissen, also doch! Und ich hab’ gesagt, daß wir da keine Ruh’ geben, daß wir da mal sehen wollen, was Konfliktkommission oder Arbeitsgericht zu bestellen haben. Aber das hat die Anne alles abgewehrt. Sie hat gemeint, nein, Christina, nichts werden wir sehen, gar nichts. Kennst du Robert so wenig?“ „War Herr Wegener dabei?“ fragte Bortfeld. „Nein, im Zimmer war er nicht.“ „Gut. Erzählen Sie bitte weiter.“ „Anne hat gesagt, da kennst du Robert nicht. Dem ist es nicht möglich zu arbeiten, wo man ihn nicht haben will. Es hat keinen Sinn, die Instanzen anzurufen, die du erwähnt hast. In unserem Theater würde Robert doch keine Aufgaben mehr bekommen. Das weiß ich. Er würde ins Gefrierfach abgeschoben werden. Wie soll einer wie Robert das durchhalten? So etwa hat sie gesagt, dem Sinn nach.“ Bortfeld, nach einer Pause, fragte: „Wen hat sie mit der Bestie gemeint?“ „Ich weiß es nicht, und ich hab’ sie nie danach gefragt. Ich glaub’ nur, gar keinen Bestimmten – eher die Zustand.“ „Würden Sie bitte weitererzählen“, sagte Bortfeld. „Dann dacht’ ich mir, es wird besser sein, ich lasse die beiden allein. Außer der Anne kann dem Robert in solchem Moment doch kein Mensch eine Hilfe sein. Die Sabin’ war noch in der Schule, es war ja Vormittag. Eh’ der Bote gekommen war, hatte die Anne gerade heizen wollen. Hatte schon die Ofentüren auf. Es war kalt in der Wohnung. Mich hat’s so gefroren. Ich hab’ noch gesagt zu Anne, sie sollten um des Himmels willen nicht den Kopf verlieren. Es ist keine Katastrophe, das alles. Und 104
auch wenn’s eine wär’ – nach meiner Erfahrung hat jede Katastrophe schon einen Glückskeim in sich. Die Anne hat mir darauf nicht geantwortet. Hat’s wohl nicht geglaubt. Hat nicht bedacht, daß ich über sechzig bin, daß nicht nur die Joahre, sondern auch die Erkenntnisse ins Menschenleben sich eingraben …“ Sie drehte den Kopf langsam, hierhin, dorthin, als suche sie einen, der sagen würde: Ich sehe, Sie können nicht drüber sprechen, Sie versuchen abzulenken, Sie können gehen, ich will Sie nicht quälen. Aber wie sie selbst schwieg, schwieg alles. „Da bin ich dann gegangen. Hab’ bei mir daheim g’sessen, hab’ immer gedacht, es müßt’ doch eine Lösung geben. Man müßt’ was tun, was die Anne und der Robert nicht wissen, eh’s ihnen zum Guten gerät – ich glaub’ noch heut, daß es hätt’ möglich sein müssen … Eine Stunde war ich wohl daheim und konnt’s doch nicht aushalten. Mich hat’s wieder hingetrieben.“ „Zu Wegeners“, sagte Hermens, verhalten im Ton. Sie nickte. „Die Tür war nicht zugesperrt. Da hat’s mich gleich irgendwie gewürgt im Hals. Es hatte das nie gegeben, daß die Tür nicht zugesperrt war.“ Bortfeld ließ ihr Zeit, ließ ihr die Pausen, suchte und fand kein Fältchen im Gesicht der Frau; nur um die Augen herum etwas, das für spätere Jahre Falten ahnen ließ; noch war es fein wie Spinngewebe. Aber in den Augen stieg das Wasser; gleich würde es das glatte Gesicht überschwemmen. „Ich hab’ dann an die offene Tür geklopft. Nichts. Kein Laut“, sagte sie mit sich höher drängender Stimme. „Ich bin dann in dem Zimmer gestanden, das sie seit der Jugendweih’ für die Sabin’ eingerichtet haben, obwohl doch nur zwei Zimmer sind. Es war so sehr kalt. Zum Erfrieren war’s. Ich bin ins andere Zimmer gegangen. Da ist die Anne gesessen, im Mantel ist sie dagesessen. Hat auf den Tisch geblickt, hat mich bemerkt, aber nicht 105
weggeschaut vom Tisch. Sie war weiß wie der Schnee. Ich hab’ eine ganze Weil gebraucht, bis ich fragen konnt’. Ich hab’ gefragt: ‚Was ist denn Anne? Du hast doch ein Feuer machen wollen. Es ist ja eiskalt wie im Winter.‘ Sie hat auf den Tisch geschaut und kein Wort gesprochen und sich nicht geregt. Heute glaub’ ich, da hab’ ich schon alles gewußt. Sie ist so unheimlich dagesessen, daß mir die Beine nicht gehen wollten. Keinen Schritt konnt’ ich tun. Ich hab’ dann aber gefragt: ‚Wo ist denn der Robert?‘ Sie hat nicht geantwortet. Wie aus Eis ist sie dagesessen. ‚Wo ist denn der Robert, Anne?‘ hab’ ich wieder gefragt. Da hat sie endlich gesprochen, hat sich nicht geregt dabei, hat kaum die Lippen bewegt, war wie aus Eis ganz und gar. Sie hat gesagt: ‚Robert ist tot.‘ Sie hat immer auf den Tisch geschaut. ‚Was hast denn du gedacht?‘ hat sie gesagt. Da bin ich hin zu ihr, hab’ sie gerüttelt, hab’ geschrien, sie soll nicht so einen Blödsinn reden. Aber, ja – ich hab’ schon gewußt, daß es kein Blödsinn ist, bloß glauben konnt’ ich’s nicht. Ich wollte Näheres wissen. Sie hat mir keine Antwort mehr gegeben. Sie hat ja gesessen wie selber tot – den Blick nicht vom Tisch und weiß wie der Schnee, und noch einmal hat sie gesagt: ‚Was hast denn du gedacht.‘ “ Christina Reuschs Kopf fiel nach vorn, sie nestelte an ihrer Rocktasche, suchte ein Tuch. „Bittschön, ich kann nicht mehr, lassen S’ mich aus.“ Bortfeld schluckte, starrte irgendwohin auf einen Fleck. „Verzeihen Sie, Frau Reusch“, sagte er. „Wir danken Ihnen. Ich nehme an, daß Sie uns sehr geholfen haben.“ „Und ich darf gehen, jetzt?“ Ein Schluchzen machte ihre Worte fast zunichte. „Selbstverständlich“, sagte Bortfeld. Sie stand auf. Auch Hermens. Er legte, einem Impuls folgend, seinen Arm um ihre Schulter. Er begleitete sie zur Tür – so. Hortfeld sagte: „Ruf den Waganzki ’rein.“ 106
Die Kälte des Fiebers auf der Haut; das „Eiskalt wie im Winter“ spürte er in sich, wie Christina Reusch es gespürt haben mußte – voriges Jahr im September. In Gedanken wiederholte er ihre Worte: „Die Anne hat nie Rachegedanken gehabt, dafür leg’ ich meine beiden Händ’ ins Feuer.“ Hermens kam, kam so eilig, daß er ins Stolpern geriet, zwischen Tür und weißgescheuertem Tisch. „Waganzki ist weg!“ „Waganzki ist weg?“ fragte Bortfeld, als hätte er sich verhört. „Und wohin?“ „Das weiß keiner. Im Konzimmer hat man mir gesagt, die Intendanzsekretärin habe ihn ’rausgerufen.“ „Her mit dem Intendanten!“ befahl Bortfeld. Hermens, schon in der geöffneten Tür, hielt mitten im weit ausholenden Schritt inne, riß den Oberkörper herum, das Gesicht Bortfeld zugewandt: „Kräutner kommt.“ „Warte.“ Dann: „Nein, lauf der Reusch nach, hole sie zurück.“ Kräutner kam flott herein. „Was gibt’s, Genosse Kräutner?“ fragte Bortfeld, saß stockgerade, hatte sich hastig mit feuchten Handflächen übers feuchte Gesicht gewischt. „Meldung über Sprechfunk, Genosse Oberleutnant. Fräulein Sonja Riedel ist bereits im Krankenhaus. Eine Ärztin hat Leutnant Klut informiert, telefonisch. Fräulein Riedel ist vor der verabredeten Zeit gekommen. Außerdem ist sie in Begleitung ihres Bruders Thomas Riedel.“ „Und weiter?“ „Genosse Leutnant Klut hat von der Ärztin Erlaubnis, ein Gespräch mithören zu können. Sie will Fräulein Riedel und den jungen Mann warten lassen, bis Genosse Leutnant Klut eintrifft, wenn es nicht zu lange dauert. Genosse Leutnant Klut ist unterwegs zum Krankenhaus.“ 107
Bortfeld sagte: „Danke, Genosse Kräutner. Bleiben Sie am Sprechfunk. Schalten Sie sich in Leutnant Kluts Wagen, sagen Sie ihm, nach Möglichkeit alles mitschreiben.“ Der uniformierte Polizist knallte die Hacken, daß es ein mehrfaches Echo in Bortfelds Ohren gab. Er dachte: Meine Güte – ist mir nach Bett! Liegen. Den Kopf in der Horizontalen, da klärt sich einem vieles. Hermens kam zurück mit Christina Reusch. Sie war noch nicht aus dem Haus gewesen. Sie blieb stehen, nur einen Schritt weit von der Tür entfernt. „Eine einzige Frage noch, Frau Reusch“, sagte Bortfeld. „Sie sind gut befreundet mit Frau Wegener – noch immer, nicht wahr?“ „Aber ja.“ „Ein junger Kollege von Ihnen ist, so sagte uns der Intendant, bei den Wegeners wie zu Haus. Ist das auch jetzt noch so, nachdem Herr Wegener …“ „Freilich. Was hätt’ sich da ändern sollen“, sagte Christina Reusch. „Gewiß, eine Änderung gibt’s schon, wenn man’s so nennen will. Die Sabin’ hat sich nach dem Tod des Vaters eng angeschlossen an den Jens. Die zwei werden heiraten. Die Anne will’s versuchen durchzusetzen, daß sie nicht warten müssen, bis die Sabin’ achtzehn ist. Es war nämlich gut gewesen, daß da eine Liebe kam. Gut für die Kleine. Das war die Änderung.“ „Wie alt ist das Mädchen?“ fragte Bortfeld. „Sechzehn wird’s in ein paar Tagen. Aber wenn man sie ansieht, man glaubt’s nicht. Ein zierliches Dingel, so feingliedrig und klein und immer verzottelt.“ „Und glauben Sie, daß sie durch die Liebe zum Jens Michaelis den Tod ihres Vaters leichter verkraften konnte? Ich frage, weil Sie sagten, es sei für sie gut gewesen …“ Die Reusch schüttelte den Kopf. Zögerte die Antwort hinaus, sagte stockend: „Was fragen Sie da. Wer hat das 108
schon verkraften können. Bei den Wegeners keiner. Auch der Jens nicht. Ich auch nicht. Nein, wirklich nicht. Und die Anne …“ Bortfeld fragte: „Man hat uns gesagt, Herr Wegener sei fahrlässig ins Auto gelaufen. Sie haben ihn gut gekannt, Frau Reusch – war Fahrlässigkeit seine Art?“ Sie hätte nicht zu antworten brauchen. Ihr Blick verlor sich. Den Kopf seitlich geneigt, war der Ausdruck ihres Gesichts so, als holten sich die Gedanken Robert Wegener ins Leben zurück. Den Mann, der seine Tochter die Regeln des Straßenverkehrs lehrte, noch bevor das Kind die dazu gehörenden Bezeichnungen richtig aussprechen konnte – der einen Zug wegfahren ließ, wenn er ihn nur durch Aufspringen erreicht hätte; der dann mehrmaliges Umsteigen hinnahm, um doch noch zur Zeit am Ziel zu sein; der ein gepelltes Ei drehte und wendete, ehe er es aß, weil er wußte, daß auch der kleinste Eischalensplitter im ungünstigen Fall Schaden in seinem Körper anrichten, im ungünstigsten sogar zum Tode führen könnte … Sie hätte das alles nicht zu sagen brauchen, so beredt war ihr Gesicht. Aber sie sagte das alles. Und sie gab den Wegener, den ihre Gedanken zurückgeholt hatten, als säße er mit im Raum, nicht sogleich wieder frei. „Ja, ich geb’s zu, auch der Robert hatte seine Fehler. Aber eines war der Robert ganz gewiß nicht, solang er noch seine Sinne beieinander hatte: fahrlässig, nein, das war er nie und in keiner Sache. Wer kann so etwas sagen vom Robert. Besonnen war er wie selten einer; immer ums Rechte bemüht. Darum grad’ … darum konnt’ er’s wohl nicht ausdenken, was ihm geschehen sollt’ – da war dann die Besonnenheit zum Teufel. Anders ist’s nicht zu erklären.“ Bortfeld nickte. Sie fragte, ob sie nun gehen dürfe. Bortfeld grübelte. Hermens dankte ihr für die Auskunft; sie tätschelte an seiner Schulter herum; ihr Atem raste, ihr Herz wohl auch; ein einziges Beben war die Frau, 109
vom Kopf bis zu den Füßen. Hermens sagte was von „beruhigen“. Wieder mit ihm allein, sagte Bortfeld, Hermens müsse ins Krankenhaus fahren. „Weißt du, der Thomas Riedel ist mitgekommen. Notiert alles, auch wenn es zunächst unwichtig erscheint.“ „Und was wird hier? Sollen die Leute umsonst gewartet haben?“ „Nein. Ich mache hier allein weiter. Werde jetzt mehrere zugleich befragen. Dann komm’ ich schon durch. Stelle mir doch mal sechs Stühle her. So. Und dann rufe mir sechs Leute ’rein – und du saust los.“ „Ich hatte den Intendanten rufen sollen.“ „Danke, nein, ich will ihn nicht sehen. Der Ausreißer – wie heißt er? Waganzki? Ja, der entgeht uns schon nicht. Keine Sorge.“ „Im Augenblick machen Sie mir die größten Sorgen, Chef“, sagte Hermens. „Ja, das noch“, sagte Bortfeld. „Stell die Stühle zurück, ich gehe ins Konzimmer, und wenn ihr mich heute auf der Dienststelle nicht mehr antrefft, bin ich ins Bett gestiegen. Dann geht’s morgen früh weiter. Bis dahin soll Klut übernehmen. Richte ihm das aus.“
Mittwoch, früher Nachmittag Mit dem Wiedererkennen kam neues Bestürztsein. Dietrich Riedel kauerte in seinem Bett, den Rücken gekrümmt, die Arme von sich gestreckt, steif. Den Blick auf seine Hände – so, als hätte er sich seit Stunden nicht gerührt, die Haltung um keinen Millimeter verändert. Seinen Sohn Thomas, der im Schlenderschritt das Bett umkreiste, schien er nicht wahrzunehmen. 110
Hermens riß sich den Schal vom Hals. Ein Mann, vielleicht nicht älter als er, stand neben ihm, war ihm vorgestellt worden mit Namen und Titel; Hermens hatte sich den Namen nicht gemerkt, nur den Titel: Professor. Ihm war keine Zeit geblieben zu erfragen, wie es Thomas gelungen sei, das Besuchsverbot zu brechen. Frau Doktor Kündler hatte Hermens fast wortlos zum Beobachtungsraum begleitet, eilig, zur Eile antreibend, als wäre jede Sekunde eine Kostbarkeit, die nicht verlorengehen dürfe. Doch die Kostbarkeit schien aus Schweigen gemacht. Thomas Riedels Schritte waren zu hören, in gleichmäßigen Abständen, wenn die Ledersohle über den Bodenbelag abrollte. Der Professor hatte die Arme verschränkt, die Hände in die Achselhöhlen geklemmt, beobachtete nur Riedel, nicht den Sohn, beobachtete wie ein Mensch, dem das Ungewöhnliche Gewohnheit war. „Kann Herr Riedel noch immer nicht sprechen?“ fragte Hermens leise. „Nein“, sagte der Professor laut. Nach einer Weile Hermens: „Aber er wird wieder – es ist heilbar, nicht wahr?“ Der Professor zuckte leicht die Schulter. „Circulus vitiosus ist zu vermuten.“ Hermens nickte, fragte nicht, prägte sich die Bezeichnung ein, sah auf seine Armbanduhr. Eine ganze Minute lang nur das Quieken der Sohlen. Hermens fragte: „Hat Riedels Sohn schon gesprochen?“ „Ja. Er hat seinen Vater gefragt, ob er den erkannt habe, der ihn niedergeschlagen hat.“ „Und wie hat sein Vater reagiert?“ „Gar nicht. Er sitzt und stiert seine Hände an.“ Hermens dachte an Klut, der das Gespräch zwischen Frau Doktor Kündler und Sonja mithörte. Er dachte auch an die Webpelzfusseln, die unter Riedels Fingernägeln gefunden worden waren, dachte daran, weil Riedel 111
nur auf die Hände starrte, als wären sie voller Geheimnisse, die er enträtseln müsse. Endlich die Stimme des Sohnes; fest, rauh: „Du hast Block und Stift da liegen. Ich habe dich was gefragt. Schreibe mir die Antwort auf, bitte.“ Thomas war nicht stehengeblieben, umkreiste im ruhigen Gleichmaß das Bett seines Vaters, wie Trabanten ihren Planeten umkreisen – auch so, als würde er es von nun an ewig tun. Hatte die Hände dicht beieinander, die Daumen im Bund der Kordhose. Minuten tropften unendlich langsam aus der Zeit. „Geduld“, sagte der Professor. Da wurde es Hermens bewußt, daß er unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Er fragte, warum das Bett nicht an der Wand stehe, wenigstens mit einer Seite. „Das muß Riedel doch verrückt machen, wenn der Junge dauernd um ihn ’rumläuft.“ „Der Patient hat es selbst in die Zimmermitte gezogen, noch eh’ sein Sohn kam“, sagte der Professor. „Er versucht überhaupt, sein Zimmer umzubauen.“ „Hat er denn genug Kraft?“ fragte Hermens. „Uns ist gesagt worden, er befände sich noch in Lebensgefahr.“ Der Professor nickte. Hermens wußte nicht, was es zu bedeuten hatte. Fragte nicht. Hörte im schummrigen Beobachtungsraum das leise Schleifgeräusch eines Tonbandes. Sah nicht, wo es stand. Er dachte, das wird ein enormes Ergebnis – das Quietschen der Schuhe auf gebohnertem Fußboden. Aber noch in diesen Gedanken hinein begann Thomas wieder zu sprechen. Er war am Kopfende des Bettes stehengeblieben, einen Ellenbogen aufgestützt, eine Hand noch am Hosenbund. Er sah zum Fenster, zu dem Stück weißgrauen Himmel hin, das hinter den Scheiben hing. „Im vierten oder fünften Schuljahr, ich weiß nicht mehr genau“, sagte Thomas, „hat man uns das dämlichste aller Themen als Hausaufsatz gegeben: ‚Wer ist mein Vorbild?‘ Kannst du dich noch daran erinnern?“ 112
Stille. Riedel bewegte sich nicht. „Sonni und ich haben geschrieben, unser Vater ist unser Vorbild. Erinnerst du dich nicht mehr? Weil er so fleißig ist, haben wir geschrieben, und so – ehrlich. Weil wir durch seine Leistungen ein schönes Leben haben …“ Thomas krauste die Stirn; die Falten sprangen von der Nasenwurzel rundum zum Haaransatz. „Und weil unser Vater mithilft, den Sozialismus zu verwirklichen – oder so, und weil er mit uns darüber diskutiert, weil er die Gesetze des Sozialismus kennt und uns beibringt. Und zum Schluß noch mal, weil er so vorbildlich fleißig ist und gut zu uns allen.“ Wieder nur Stille, nur Riedels Reglosigkeit. „Ja, da waren wir zehn oder elf“, sagte Thomas nach langer Pause. „Wenn ich jetzt daran denke, Vati … Eckensteher Nante ist unser Ideal, hätten wir schreiben sollen. Das ist unser Mann! Weil er faul war wie kaum ein anderer, weil er die Gesetze nicht kannte. Heute würde ich noch dazuschreiben, weil er – soweit mir bekannt ist – keine Weibergeschichten hatte. Nicht mal eine Familie.“ Im Beobachtungsraum standen Hermens und der Professor wie zwei Statuen. „Ist doch noch nicht so lange her, Vati, daß ich dich daran erinnert habe“, sagte Thomas. Er begann wieder seinen Kreisgang ums Bett, ohne einen Blick auf seinen Vater; schlenderte lässig, die Daumen im Hosenbund, den Kopf etwas geneigt. Er wirkte älter, als er war, reifer. Am Fußende des Bettes blieb er stehen, sah, wie Riedel selbst, auf die Hände seines Vaters, sagte – weicher im Ton, eindringlicher: „Mach doch nicht alles noch schlimmer, Vati. Ich finde, es reicht für einen. Die Sache ist nämlich so, du kannst den nicht bemerkt haben, der dich zusammengeschlagen hat, sonst hättest du dich mit deinem Judo verteidigt. Du hast den nicht gesehen, weil’s im Graben abends finster ist wie im Bären113
arsch. Tu mir den Gefallen, Vati, nimm die blöde Anzeige zurück. Sag der Polizei, wenn sie es unbedingt wissen will, dein Sohn war es, und du willst nicht, daß die Sache verfolgt wird. Sage, wir hatten uns gestritten, er hatte dich nicht so schlimm treffen wollen, er bereut, sage von mir aus, was dir einfällt, aber nimm die saublöde Anzeige zurück.“ Riedel drehte langsam den Oberkörper über die rechte Schulter, tastete nach dem Block, der auf seinem Kopfkissen lag. Thomas griff schnell zu, gab ihm Block und Stift. Riedel hielt den Stift ungeschickt. Er schrieb groß, krakelnd, mit Anstrengung offensichtlich, nur das Wort „Geh“. „Ich gehe, Vati, sofort gehe ich, wenn du mir versprochen hast, daß du die Anzeige zurücknimmst.“ Riedel öffnete die Hand, der Bleistift rollte über die Bettdecke. Schnell und geschmeidig, wie mit einem Katzensprung, war Thomas am Bett, den Bleistift aufzufangen. Riedel sah nicht hin. Er klopfte auf den Block, auf das Wort. Thomas setzte sich auf die Bettkante. „Vati, hör mir bitte zu. Die Kripo war bei uns, wollte dein Zimmer sehen, hat Mutti tausend Fragen gestellt, hat von Ermittlungen geredet – also ist doch klar, daß du Anzeige erstattet hast, oder nicht?“ Riedel saß reglos. „Keine Antwort ist oft die genaueste“, sagte Thomas. Er faßte das Kinn seines Vaters, zog es zu sich herum, damit Riedel ihn ansehe. Energisch ruckte Riedel den Kopf aus Thomas’ Hand, sah zur anderen Seite. „Vati, Bitte“, begann Thomas wieder, und jetzt klang es, als wären die Rollen vertauscht, als sei Thomas der Ältere, Verständigere. „Die Polizei hält Oskar fest … Da lachst du?“ Vom Beobachtungsraum aus war Riedels Gesicht nicht zu sehen; vielleicht lächelte er wirklich – bewegungslos. Thomas sagte: „Eines Tages kannst du wieder spre114
chen. Dann wird Sonni dich zur Rede stellen, wenn du zuläßt, daß Oskar in den Knast muß, daß sie in ein paar Monaten mit dem Gör allein sitzt. Ob du dann auch noch lachst? Das wüßte ich zu gern – jetzt gleich.“ Er wartete einen Moment, dann: „Hätte ich mir denken können, daß du darauf keine Antwort weißt. Schicksal, Vati, daß du jetzt hier sein mußt, daß Sonni ihr Kind austragen wird. Aber laß nur, das Schicksal meint’s im Grunde mal wieder gut mit dir. Oskar ist nämlich Klasse. Ich möchte wissen, warum du ihm dein ‚Hast nichts, bist nichts, wirst nichts‘ an den Kopf geschmissen hast. Oskar ist immatrikuliert fürs Grafikstudium. So was wird er natürlich nicht sagen, dir nicht. Ist auch ganz unwichtig. Wenn Oskar Scheiße karren würde, wäre er genauso Klasse, als Mensch. Warum lehnst du einen ab, Vati, den du gar nicht richtig kennst? Das möchte ich mal wissen. Muß Sonni deiner Meinung nach auf den Prinzen warten? Prinzen sind nicht mehr. Also was willst du!“ Sein Vater zeigte mit dem Finger auf das Wort „Geh“. Thomas stand auf. Begann von neuem seine Kreise zu ziehen. Im Beobachtungsraum rührte sich nichts; nur das Tonband lief mit leisem Schleifgeräusch, das die Quieklaute der Schritte aufnahm; ihr Gleichmaß war entnervend. Ihr Gleichmaß blieb auch, als Thomas wieder zu sprechen anfing. „Ich muß dich an noch was erinnern, Vati. Wie hieß doch gleich der Schauspieldirektor? Scheffen oder Schäffler oder wie? Ist ja auch unwichtig. Aber daß du damals ein kleiner Regieassistent warst – der Ausdruck stammt von dir –, das scheint mir unheimlich wichtig. Und von dem Scheffen oder Steffen, oder wie er hieß, hast du damals gesagt, ‚wie kann sich ein Mensch bloß so viele Feinde anschaffen. Wenn der so weitermacht, ist nicht mehr von vielen Feinden zu reden, dann muß man 115
schon sagen, der Mann hat den Volkszorn gegen sich erregt.‘ Volkszorn. Das hat mir damals imponiert; der Ausdruck. Ich war sieben oder acht. Den Ausdruck Volkszorn habe ich so dufte gefunden, daß ich ihn bei jeder Gelegenheit selbst benutzt habe. Vielleicht habe ich die Geschichte bloß darum nicht vergessen.“ Stille – durch das Quietschen der Schritte war sie laut, durch das Gleichmaß der Schritte beklemmend. Thomas blieb stehen, wieder am Fußende des Bettes, sah auf den verkrümmt Sitzenden. „Vati, ehrlich, hast du es nicht inzwischen zum Volkszorn gebracht?“ Riedels Arme waren steif, seine Rechte lag auf dem Block, ein Finger zeigte reglos auf das Wort „Geh“! „Ich bin nicht schlecht informiert, Vati. Bestimmt besser, als du denkst. Ich weiß, warum beinah die Hälfte des Ensembles dir schöntut. Weil du das Sagen hast, aus keinem anderen Grund. Bilde dir da nichts Falsches ein. Jeder hätte es sein können da gestern im Graben. Außerdem, wenn du dich da im Süden ’rumtreibst, bist du bei dem Tierchen. Kannst du wirklich von der nicht lassen? Mann, du gehst auf die Sechzig, überleg doch mal. Und der Mann von dem Tierchen? Denkst du, der merkt nichts? Unterschätze den stillen Scholz nicht, wenn ich dir raten darf. Aber das schärfste: Mußtest du zulassen, daß Michaelis geht?“ Stille im weißen Zimmer; hinter den Fensterscheiben der perlgraue Himmel, hin und wieder, verirrt, verloren, seitwärts getrieben vom Wind, ein paar Flocken. Im schummrigen Beobachtungsraum fragte Hermens den Professor, ob er nicht eingreifen müsse. Seine Frage drehte sich ins Tonband ein, auch die Antwort: „Durchaus nicht.“ Auch die Stille danach. Und wieder Thomas’ Stimme: „Vati, die Kripo hält Oskar fest. Ich weiß nicht, ob bloß zum Verhör oder … Bitte, wenn du willst, flehe ich dich an, nimm die blöde Anzeige zurück. Sieh mal, ich weiß, wenn du da im Sü116
den bist, schläfst du bei deinem Tierchen – übrigens hochungenau ausgedrückt. Und da ist mir alles wieder angekommen – war ja nicht so knapp, was wir mit euch durchhaben, und daß wir gehofft hatten, es würde mit euch doch alles wieder gut, trotz allem und so, das weißt du auch, sonst hätten wir nicht gewünscht, daß wir vier zusammenbleiben … und jetzt das – da bin ich eben durchgedreht, wie ich dich im Graben gesehen habe, und da ist’s passiert. Erzähle das der Polizei, Vati.“ Jetzt, mit dem Gestammel, wirkte Thomas kindlich; da war keine Einheit mehr zum sportlich trainierten, vorzeitig erwachsen scheinenden Jungen. Als hätte er das selbst so empfunden, richtete er sich sehr gerade auf, legte den Kopf bißchen in den Nacken, sah lächelnd, unter halbgeschlossenen Lidern hervor, auf seinen Vater, sagte: „Übrigens, ich war’s wirklich! Und jetzt schreibe ich dir zwei Worte auf deinen Block.“ Er schrieb in Druckbuchstaben, groß, deutlich, links auf den Bogen JA, rechts NEIN. Er hielt seinem Vater den Block vors Gesicht, legte ihn dann auf die Bettdecke, sagte: „Und nun zeig mir, ob du die Anzeige zurücknehmen wirst, zeige auf das JA.“ Riedel nahm den Block und den Stift – und was nun geschah, brachte endlich Bewegung in den beobachtenden Professor. Riedel krakelte – an das Wort „Geh“ anschließend: „mein Junge“. Doch das „n“, der letzte Buchstabe von „mein“, rutschte ihm weg als abwärts laufender Strich, auch das „J“ von „Junge“ gelang nicht, auch das „e“ glitt aus, lang, wellig, wie ein hingeworfener Faden. Thomas griff die Rechte seines Vaters, führte den Zeigefinger auf das von ihm geschriebene JA. Riedel ließ seine Hand dort! Thomas atmete tief durch, legte seine Hand behutsam auf Riedels Kopfverband, sagte nach einer Weile: „Vati, Vati, du hast uns so vieles beigebracht, immer sollten wir intelligenter sein als andere, 117
bloß wie man mit einem Vater wie dir leben soll, das hast du uns nicht eingetrichtert. Aber jetzt bin ich ziemlich sicher, das holst du nach – wenn du bloß erst wieder sprechen kannst. Die Ärztin sagt, bald.“ Thomas verabschiedete sich, sagte, daß er morgen wiederkommen werde, bestellte Grüße von Sonja und Cornelia. Ging aus dem Zimmer. Sein Vater blieb sitzen, gekrümmt, die Arme steif ausgestreckt. Er sah nicht zur Tür, die sich hinter Thomas schloß. Kurze Zeit danach schob er sich aus dem Bett, torkelte auf das Waschbecken zu, ließ ein Glas voll Wasser laufen, trank es leer, gierig, wie Verdurstende trinken. Er sah sein Spiegelbild an, betastete den Kopfverband, riß den Mund auf, stieß den Kopf vor, mit aufgerissenem Mund. Dann war eine Schwester bei ihm; Hermens hatte sie nicht kommen sehen. Der Professor fragte ihn, ob er den Jungen mitnehmen werde. „Nein“, sagte Hermens. Der Professor stellte das Tonbandgerät ab, nahm die Spule heraus, sagte: „Na, das war ein Fang für Sie, nicht wahr? Alles, was Sie brauchen – nehme ich an –, haben Sie auf dieser Spule wie in einer Sammellinse.“ „Wir können sie uns überspielen …“, sagte Hermens. „Natürlich.“ „Und von welchem Nutzen ist das Aufgenommene für Sie, Professor?“ „Das gilt, analysiert zu werden. Es ging um seine Reaktionen in prekärer Situation.“ Hermens, schon etwas enttäuscht, etwas mißtrauisch, fragte: „War die Unterhaltung vorher abgesprochen mit dem Jungen? Sollte sie so verlaufen?“ „Natürlich nicht“, sagte der Professor. „Der junge Mann kam zu mir, er hatte sich nicht abweisen lassen, er bestand darauf, seinen Vater zu sprechen, da es sich um ein Geständnis handle. Das war uns recht, wir erhofften 118
endlich Reaktionen vom Patienten, erhofften das auch für Sie.“ Hermens blickte noch durchs Beobachtungsfeld. Die Schwester brachte Riedel mit sanfter Gewalt wieder in sein Bett. Sie setzte sich zu ihm, strich über seine Lippen, nickte, lächelte Zuversicht. „Herr Professor, Sie sagten, für den Patienten sei Circulus …“ „Ja, Circulus vitiosus“, bestätigte der Professor. „Aber erst mal das für Sie: Die Wunde ist nicht lebensbedrohend, wie wir nach den ersten Röntgenbildern annehmen mußten, und der Bluterguß hat erfreulich gut auf die Injektion angesprochen. Lebensgefahr besteht aber leider noch durch den instabilen Kreislauf einerseits und durch den erlittenen Schock heillosen Ausmaßes andererseits. Der Kreislauf ist kaum zu stabilisieren. Daraus ergeben sich für den Patienten Todesängste. Die wiederum erschweren nicht nur die Behebung des Schocks, sondern machen sie momentan unmöglich. Also besteht folgendes Krankheitsbild: Der nicht funktionierende Kreislauf beeinflußt den Schock und der Schock den instabilen Kreislauf in sich steigerndem Maße negativ.“ „Verstehe“, sagte Hermens, dachte flüchtig an Bortfeld, weil ihm sein Hals so ausgedörrt vorkam, als hätte er eine Steppenwanderung hinter sich. „Und würden Sie das bitte zu Protokoll geben?“ fragte er. „Es wäre gut, wenn wir das zum Tonband hätten.“ Der Professor sagte: „Natürlich. Und das Tonband ist auch für Sie gedacht; ich hatte ja nicht gewußt, daß Sie zu zweit kommen würden.“ Er lächelte etwas ironisch, während er am Gerät hantierte, und sagte: „Außerdem – warum sollten nur wir Ärzte uns durchs verwirrende Labyrinth der Erkenntnisse durchschlagen müssen.“ Hermens antwortete trocken: „Eben!“ Ihm war es zum Ersticken in diesem Raum. Er dankte dem Professor – und sah sich schon mit Klut im angenehmgewohnten Dienstzimmer. 119
An diesem Mittwoch zwischen Nachmittag und Abend Die Ärztin hatte geschickt gefragt, aber Sonja Riedel war verschlossen gewesen, sobald sie über ihren Vater Auskunft geben sollte. Aufregendes – so fand Hermens zunächst – war nicht unter den Notizen, die Klut aufgeschrieben hatte. Erstaunlich kamen aber beiden einige Formulierungen des Mädchens vor, die so genau zu Thomas’ Äußerungen stimmten, daß sie auch von ihm hätten sein können. Zum Beispiel dieser Ausspruch: „Wir haben gehofft, daß noch alles gut wird, wenn wir zusammenbleiben. Aber seitdem unsere Eltern nicht mehr miteinander sprechen, leben wir furchtbar; ehrlich, wie zwischen zwei Fronten.“ Und danach: „Aber meine Mutter sorgt schon dafür, daß jetzt alles besser für uns wird. So ist es ja auch nicht auszuhalten.“ Hermens fragte: „Wußte sie, daß ihr Vater nicht mehr sprechen kann?“ „Nein, das hat ihr die Ärztin nicht gesagt.“ Hermens sagte: „Ich fürchte, Thomas wird es ihr nicht verschweigen.“ „Vielleicht doch“, sagte Klut. „Jedenfalls bin ich gespannt, ob wir ’rauskriegen, was hinter ihrem ‚Meine Mutter sorgt schon dafür ‘ stecken mag.“ „Tja, Frau Inge Riedels überraschende Polenreise zum Beispiel – vielleicht.“ Vom Labor kam die Analyse: Die unter Riedels Fingernägeln gefundenen Webpelzfusseln sind nicht mit dem Webpelzfutter aus Thermühlens Kutte identisch. Klut, noch im Ohr, was er mehrmals vom Tonband über Oskar Thermühlen gehört hatte, entließ Thermühlen mit der Auflage, sofort, also ohne Umweg, ins Fotoatelier Horst Ramter zu fahren, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Das hieß nicht, daß Oskar Thermühlen frei vom Verdacht war – aber glauben sollte der es so. 120
Eine Stunde später erkundigte sich Klut telefonisch, ob Thermühlen eingetroffen sei. „Ja“, bestätigte Ramter. „Und auch die RiedelZwillinge sind hier, lungern hier ’rum, wollen mit Oskar sprechen. Das ist natürlich ganz unmöglich. Die Arbeit wächst mir über den Kopf, ich kann keine Hand entbehren, schlimm genug, daß Thermühlen … daß er so lange bei Ihnen sein mußte.“ Im Hörer knackte es laut. Da war am anderen Ende der Leitung wütend aufgelegt worden. Bortfeld meldete sich von zu Haus über sein Diensttelefon. Teilte mit, er sei für heute außer Betrieb gesetzt, Anordnung des Betriebsarztes. Fragte nach neuen Ergebnissen. Ließ sich das Tonband abspielen. War einverstanden mit Kluts Beschluß, Thermühlen zur Arbeit zu schicken. Berichtete mit geringem Wortaufwand über die Unterhaltung mit den Schauspielern. Sagte: „Seltsamkeiten gibt es da – doch davon morgen. Ich bin morgen früh wieder zur Stelle. Ermittelt noch heute, was es mit dem ‚Tierchen‘ auf sich hat, das Thomas erwähnte – da ist doch auch ein Name gefallen.“ „Ja, Scholz“, sagte Klut. „Also bitte – muß sich rauskriegen lassen. Aber Achtung! Wenn ich richtig gehört habe, ist die Frau verheiratet. Noch was, mit dem Ausreißer Waganzki will ich morgen selber sprechen. Habe bei der Unterredung mit den Schauspielern einiges über ihn erfahren.“ „Geht in Ordnung, Chef“, sagte Klut. Er bezweifelte, daß Bortfeld morgen wieder im Dienst sein könne, aber er sagte es nicht. Nachdem er Bortfelds Husten abgewartet hatte, sagte er, daß sie noch heute die Zwillinge wegen der Polenreise ihrer Mutter befragen wollen. Bortfeld meinte, daß er sich davon nicht viel erhoffe, wichtiger erscheine ihm die Sache mit dem ‚Tierchen‘ – zunächst. „Aber das Kommando hast du bis morgen früh. Ent121
scheide selbst“, sagte Bortfeld – kratzig, verärgert, fiebrig. Sie besprachen weitere Details, bis Bortfelds Stimme zu schwach, zu angestrengt sich anhörte. Klut fragte nur noch, was der Arzt zu Bortfelds Erkältung meine. „Na ja, eben Fieber, hohes Fieber, und das sei gut“, sagte Bortfeld, „weil hohes Fieber eine Krankheit bekämpfe, Automatik der Natur sozusagen. Und dann hat er mir was gegen hohes Fieber hiergelassen. Wundermenschen, diese Ärzte. Ich habe sie schrecklich gern. Bis morgen also.“ Klut wollte schon den Hörer auflegen, da war noch einmal Bortfelds Stimme: „Sag mal, wird’s bei euch auch schon dunkel?“ „Selbstverständlich, Chef.“ „Dann setzt euch schnellstens in Trab!“ Klick. Die angestrengte, kaum wiederzuerkennende Stimme war weg. Klut beriet sich mit Hermens über das weitere Vorgehen, sie bezogen Bortfelds Ratschläge mit ein. Doch dann geschah etwas, was ihren gründlich durchdachten Plan weit in den Hintergrund rammte, noch bevor sie sich für den Fall Riedel erneut „in Trab“ setzen, noch bevor sie in der Kantine das Schnitzel essen konnten, das sie sich telefonisch bestellt hatten. Ein schwerer Verkehrsunfall war gemeldet worden; gefährlich verletzt eine Frau, ein Kind. Weitere Verletzte. Hauptmann Zahner, mit Verkehrsunfällen in diesen Tagen überhäuft, seine Mannschaft überfordert, brauchte jeden verfügbaren Genossen. Ein kurzes Gespräch mit Leutnant Klut. Schnelles, genaues Abwägen. Der Leutnant entschied. Zahner hatte von eventueller Fahrerflucht gesprochen. Wenige Minuten später rasten auch Klut und Hermens zur Unglücksstelle, hinaus zum Süden der Großstadt. Zwischen den letzten Häusern und Gehöften – der Abgesangsgegend – und der Autobahn, auf der Ausfahrtstraße, hatte sich das Unglück ereignet. In rasender Fahrt, mit vielfachem Geheul der Sirenen, 122
hektischem Zucken der blauen Lichter, wild flatternden Rotkreuzfahnen, näherten sich Krankenwagen und Polizeiautos dem Unglücksort. Als Klut und Hermens kamen, war Verkehrsunfallbereitschaft schon bei der Arbeit; sorgte, daß kein Stau entstehe, daß Neugierige ihrer Neugier nicht verfielen. Papiere wurden geprüft, Bremsspuren vermessen, Ärztekittel wehten weiß durchs frühe Abenddunkel. Sachter Schneefall aufs Menschengewimmel. Scheinbar sinnloses Durcheinander – wenn nicht die Beteiligten wüßten, wie sinnvoll jeder Handgriff, jede Anordnung war. Die Frau, das Kind wurden weggefahren, die Leichtverletzten auch; Ärzte stiegen in die Krankenwagen, und wieder, noch lange hörbar, das Heulen der Sirenen. Zurück blieben drei Männer, die keine Verletzungen oder nur Hautabschürfungen hatten. Da wollte Wundergläubigkeit aufkommen angesichts der beiden zerknautschten Karosserien. Am Unglücksort blieben neben Klut und Hermens auch einige Verkehrspolizisten und zwei Mitarbeiter aus Hauptmann Zahners Mannschaft, die per Sprechfunk von einem anderen Unfall, der für sie als vorerst abgeschlossen galt, zu diesem gerufen waren. Über Sprechfunk auch die Meldung an alle, ein heller Wartburg rase über die Schnellstraße Richtung Norden. Befehle, Anweisungen, Angaben. An der Unfallstelle Gewirr vieler Stimmen. Eine wand und kringelte sich mit hohem Ton über alle anderen hin. Sie wäre für eine hysterische Frauenstimme gehalten worden, wäre sie nicht ohne Zweifel einem mittelgroßen, etwa vierzigjährigen Mann zuzuordnen gewesen, der wie ein Geistesgestörter gestikulierte, nach einem Mädchen rief, der fluchte: „Holt das Mädchen, ihr müden Säcke! Das Mädchen hat alles gesehen. Ich schlage euch die Ohren vom Stamm, wenn ihr nicht das Mädchen holt. Da drüben hat sie gestanden, holt das Mädchen, ihr Sä123
cke, ihr Säcke!“ Seine Beschimpfungen wurden in dieser Situation nicht ernst genommen, aber Hauptmann Zahners Selbstbeherrschung und Umsichtigkeit waren vonnöten, um aus ihnen Wesentliches herauszufinden. Mit dem Mann war kein ruhiges Wort zu sprechen; er hatte momentan die Gewalt über seine Sinne verloren. Als Zahner Konkretes wissen wollte über ein Mädchen, das zur Stelle geholt werden sollte, ging der Mann auf und ab vor seinem demolierten Wagen, sagte, sich unaufhörlich wiederholend: „Dreifachkarambolage – Dreifachkarambolage – Dreifach …“ Plötzlich heulte er los. Unterdessen war ein Polizist mit seinem Krad zur linken Seite der Ausfahrtstraße gefahren; fuhr langsam, hatte einen Scheinwerfer zum angrenzenden Laubwald gedreht. Der Polizist gab Signal. Hauptmann Zahner fuhr ihm nach mit Klut. Ein Kind lief Richtung Autobahn, zwischen Ausfahrtstraßenrand und Laubwald. Es lief und sprang flink, geschickt wie ein Eichhörnchen, schien Augen zu haben, die sich in der Dunkelheit zurechtfanden. Es lief geradewegs in den Wald hinein, als es merkte, daß zwei Männer ihm nachrannten. Die Jagd war kurz. Leutnant Klut hielt das Kind am Arm fest. Es zerrte störrisch. Es stand mit gebeugtem Kopf, das Haar war schwer nach vorn gefallen, als sollte ein undurchsichtiger Vorhang über das Mädchengesicht geworfen werden. „Wie heißt du?“ fragte Leutnant Klut. Das Mädchen drehte den Kopf, betastete seine Schultern, fragte mit fliegendem Atem: „Wo ist meine Tasche! Meine Tasche!“ Hauptmann Zahner fragte: „Hast du den Unfall beobachtet?“ Klut sagte: „Du mußt ihn gesehen haben, du warst in unmittelbarer Nähe.“ Das Mädchen wiederholte: „Wo ist meine Tasche?“ Sie fand sich – eine braune, wildlederne Umhängeta124
sche. Hauptmann Zahner sagte: „Du hast sie verloren, als du ausrücken wolltest. Warum bist du weggerannt?“ Das Mädchen sagte: „Ich werde sechzehn.“ Klut sagte: „Also ‚Sie‘ sagen, Genosse Hauptmann.“ Hauptmann Zahner fragte wieder: „Antworte jetzt, ob du den Unfall beobachtet hast.“ Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar glitt wie etwas Behäbiges, Träges über Schultern und Rücken. „Bring sie“, befahl Hauptmann Zahner. Er überließ Klut den Wagen, fuhr auf dem Krad mit dem Polizisten zur Unglücksstelle zurück. Klut zog das Mädchen mit sich. Es mußte in den Dienstwagen steigen. Klut sagte: „Deinen Ausweis, bitte.“ Sie war ruhiger geworden. Ganz ohne den Stolz junger Personalausweis-Besitzer (den Klut kannte) holte sie ihren Ausweis aus der Umhängetasche und legte ihn in Kluts ausgestreckte Hand. Dann wischte sie mit dem Ärmel des hellen Wollmantels nasse Erde und einige haftende Reste nasser, welker Blätter von ihrer Tasche. Sie zog dabei ihre Handschuhe nicht aus; weiße Fausthandschuhe mit eingestricktem Norwegermuster in dunklem Braun. Der Mann, der in ihrem Ausweis las, schien sie nicht zu interessieren. Sie achtete auf jeden vorbeifahrenden Wagen. „Du bist Sabine Wegener“, sagte der Mann neben ihr. Sie antwortete nicht. Ihr ganzes Interesse galt den stadteinwärtsfahrenden Autos. Klut fragte: „Wie heißen deine Eltern?“ „Meine Mutter heißt Anne Wegener“, sagte das Mädchen und fragte schnell: „Ist die Frau tot?“ „Nein.“ „Sie hat unheimlich geschrien.“ „Sie ist schwer verletzt“, sagte Klut. „Gut, daß sie nicht tot ist“, sagte Sabine Wegener. Ihre Stimme war hart. 125
An der Unfallstelle bot sich Klut noch das gleiche Bild. Er konnte kaum glauben, daß wirklich Minuten vergangen sein sollten, seitdem er von hier weggefahren war, mit Hauptmann Zahner. Bei dem Mann, der das Wort Dreifachkarambolage noch immer wiederholte, war jetzt ein Arzt oder ein Pfleger. Klut stieg aus, befahl Sabine, im Wagen zu bleiben, verständigte sich mit dem Hauptmann. Der setzte sich auf Kluts Platz, schlug die Wagentür zu. „Fräulein Wegener“, begann er – und spürte, wie schwer es ihm wurde, zu dem Mädchen, das er bestenfalls für eine Dreizehnjährige gehalten hatte, Sie zu sagen. Ihre weißen Stiefel, ihr heller Mantel waren voller schwärzlicher Streifen und Schrammen, ihr volles Haar war verzottelt, als würde es nie gekämmt; sie wirkte wie ein Kind nach abenteuerlichem Spiel. Aber wenn sie, von den vorbeifahrenden Autos weg, dem Hauptmann ins Gesicht sah, den Kopf ein wenig hob, dann war das die Bewegung, die Art einer Erwachsenen. Ihre Augenlider sahen verschwollen aus, als hätte sie geweint. Gerötet waren sie nicht. Ihre Augen waren nicht besonders groß, aber auffallend klar war ihr Blick, wenn sie den Hauptmann offen ansah. „Fräulein Wegener“, begann er noch einmal, „vermutlich sind Sie die einzige Zeugin des Unfalls. Was haben Sie gesehen, schildern Sie bitte genau.“ „Nichts. Ich habe bloß auf die Autos aufgepaßt, die ankamen, nicht auf die, die schon bei mir vorbei waren.“ „Aber Sie müssen doch gehört haben, was da passiert ist, Sie standen doch nahe genug.“ „Es hat gekracht und gesplittert und geschrien.“ „Und es waren drei Autos, nicht wahr?“ Sie nickte. „Der eine ist weitergefahren.“ „Kennen Sie Automarken, können Sie den Wagen beschreiben?“ „Das war ein neuer Wartburg.“ 126
„Farbe?“ „Nicht ganz weiß, ungefähr wie mein Mantel.“ „Ich muß Sie bitten, mit uns zu kommen. Wir müssen Ihre Aussage protokollieren.“ „Ich kann jetzt nicht mitkommen“, sagte sie mit harter Stimme, indem sie das Gesicht wieder zur anderen Seite wandte, dorthin, wo die Autos vorbeifuhren. „Ich muß hier warten.“ „Auf wen warten Sie, Fräulein Wegener?“ „Auf … auf einen Bekannten von mir.“ „Glauben Sie, daß er Sie sehen wird?“ „Ja. Ich bin doch hell angezogen.“ „Welch einen Wagen fährt Ihr Bekannter?“ „Einen blauen Trabant.“ Hauptmann Zahner sah zur Unfallstelle, vergewisserte sich, daß alles Notwendige getan wurde, sah im Rückspiegel seines Dienstwagens den Abschleppdienst anrücken, sah Männer aussteigen, sah, daß ein Polizist sie in die Fahrzeuge zurückdirigierte – es sei noch nicht soweit. Sagte: „Nein, Fräulein Wegener, es ist für Sie nicht ganz ungefährlich, hier draußen allein zu stehen und zu warten. Auch aus diesem Grund bitte ich Sie mitzukommen, nicht nur, weil ich mir genauere Angaben von Ihnen erhoffe, als Sie hier draußen machen – wo jedes Auto Sie ablenkt. Weiß Ihre Mutter übrigens, daß Sie hier draußen sind?“ Sie warf den Kopf herum, sah ihn an. Allmählich kam ein Lächeln in ihr Gesicht; ein unkindliches, bitteres Lächeln. Zahner fragte nicht weiter. Auf der Dienststelle sagte Sabine alles, was sie über den Unfall sagen konnte. Es war nicht mehr, als sie schon gesagt hatte. Hauptmann Zahner nahm ihr das Versprechen ab, nicht wieder dorthinaus zu gehen, wo sich die Füchse gute Nacht sagen, wo kein Hahn nach ihr krähen könnte, wenn ihr was passierte. 127
Sie gab das Versprechen. „Aber bevor Sie gehen, Fräulein Wegener, hat mein Genosse Leutnant Klut noch eine Frage. Kommen Sie bitte mit.“ Sie wurde von Klut gefragt, wer der Bekannte sei, den sie erwarte. „Jens Michaelis.“ Von wo er käme. „Aus Dresden.“ Ob sie ihn mit Bestimmtheit heute abend zurückerwarte. „Mit Bestimmtheit nicht, ich hoffe nur …“ Ob sie wisse, wo ihr Bekannter gestern abend etwa zwischen achtzehn und zwanzig Uhr gewesen sei. „Wir waren beide im Theater. Nachmittagsvorstellung. Danach hat mich Jens zur Straßenbahn gebracht, und er ist zu sich nach Hause gegangen, weil er noch mal die Szenen durchnehmen wollte, die er heute in Dresden vorgesprochen hat.“ „Danke, Fräulein Sabine Wegener, das wär’s.“ Klut hatte es mit besonderer Liebenswürdigkeit gesagt. In gleicher Art fragte er sie noch, ob sie mit der Straßenbahn nach Hause fahren werde. „Nein, ich laufe“, sagte Sabine. „Das ist ein sehr weiter Weg von hier bis zur Dimitroffstraße“, sagte Klut. „Macht nichts. Ich laufe gern weite Wege.“ „Wartet zu Hause nicht Ihre Mutter?“ Sie schüttelte den Kopf – so wenig nur, daß ihr volles, blondes Haar sich auf den Schultern nicht mitbewegte. Sie sah Klut ernst an. Da fragte er: „Der Unfall in Ihrer unmittelbaren Nähe, das hat Sie sehr aufgeregt, nicht wahr?“ Sie schwieg. Er sagte: „Aber Sie haben sich nichts anmerken lassen. Sie sind tapfer.“ Sie sah fest in Kluts Augen, blieb ernst wie zuvor, sagte: „Erbteil. Meine Mutter ist Schauspielerin.“ „Und wo ist Ihre Mutter jetzt?“ fragte Klut. „Zur Probe im Opernhaus.“ 128
Klut begleitete sie hinaus. Auch er nahm ihr das Versprechen ab, daß sie sich nicht wieder nach dort draußen in die Waldgegend begebe. Sie versprach es auch ihm.
Nacht zum Donnerstag Vierundzwanzig Stunden nachdem Jens Michaelis in seinem blauen Trabant durch die Dimitroffstraße davongerast war, in der Nacht zum Donnerstag, kann Bortfeld das wärmende Bett, diesen Schwitzkasten, nicht länger ertragen – so mächtig auch sein Verlangen gewesen war, sich auszustrecken, auszuruhen. Abzuschalten. Während er sich anzieht, kommt ihm Riedel wieder vor Augen; verkrümmt im Krankenbett. Und jetzt wüßte Bortfeld schrecklich gern (wie er schrecklich gern sagt), was Klut und Hermens noch erreicht haben. Aber er wird keinen anrufen. Sie brauchen ihre Nachtruhe. Schlaf lädt die Batterien auf. Bortfelds Rechte will schon in den Jackenärmel, da hält er mitten in der Bewegung inne, ist sich seiner Sache nicht mehr sicher – der Sache Nachtmarsch; die Möbel seines großräumigen Zimmers wandern sonderbar, der Fußboden ist aus Watte. Aber die Hand durchfährt den Tunnel, kommt heiß und etwas kraftlos unten am Jackenärmel wieder zum Vorschein. Von neuem ist Bortfeld überzeugt, daß frische Nachtluft die beste Medizin für ihn sei, besser als Pillenkram. Die Gedanken sind intakt, trotz Fieber – denkt er. So wie er in schlimmen, privaten Situationen (daran hatte es ihm nie gemangelt) hatte trinken können, ohne betrunken zu werden, so kann heute das Fieber seinem Denkvermögen nichts anhaben, weil es sich viel zu fest um den Mann Riedel gespannt hat. Bortfeld wickelt einen dicken Wollschal um den Hals, 129
zieht den Wintermantel an, die gefütterten Handschuhe und Stiefel. Er geht ins Erdgeschoß seines Hauses, vergißt das Licht auszuschalten, hält sich am Treppengeländer fest; das zieht sich krumm, gespenstert. Einen halbstündigen Marsch hat er sich vorgenommen, aber er hat nicht auf die Uhr gesehen, als er das Haus verließ. Er vergißt auch, das Gartentor abzuschließen. Die Nachtluft ist sauber, als gäbe es keine Industrie in der Gegend und keine Autos. Von den Bäumen fällt platschend getauter Schnee. Drei Grad über Null. Kein Nachtfrost. Doch das Gesicht wird etwas kühler. Welch Genuß! Irgendwann kommen ihm streunende Paare entgegen. Sie beachten ihn nicht. Sie gehen umschlungen, Schläfen oder Münder dicht bei dicht. Er denkt: Es müßte viel mehr Liebe geben. Nun menschenleere Straße, Kein Licht hinter Fenstern. Es tut gut, wach vorbeizugehen an Häusern, die schlafende Menschen bergen. Nicht alle werden schlafen. Gut. Es müßte viel mehr Liebe geben. Bortfeld stakst wie immer; die Hände in den Manteltaschen. Wer ihn so sieht, kann nicht ahnen, über welch artistische Körperbeherrschung der Fünfzigjährige verfügt. Doch daran denkt er nicht. Er denkt: Routine hin, Routine her – so viel Hornhaut wächst uns auch durch fünfundzwanzig Dienstjahre nicht ums maßgebliche Organ, daß dieser Motor nicht mal heftiger pumpt und tuckert, wenn der Verstand sich aufbäumt. Sein Verstand hatte sich aufgebäumt, gestern. Beim Gespräch mit dem Intendanten (wie ist der Mann in diese Position gekommen? Das muß ich irgendwann ergründen) und während der Befragung der Schauspieler, von denen mir der vielleicht wichtigste ausgerissen war – und danach! Danach war er zu Anne Wegener gegangen; zu der einzigen Schauspielerin mit dem wasserdichten Alibi. Andere hatten gemeint zu wissen, warum Riedel seine derzeitige Arbeit, Dialogregie für die Inszenierung „Ungarische 130
Hochzeit“, vernachlässigt – was total gegen seine Art sei. Aber herumgedruckst haben sie alle, verdammt noch mal, keine brauchbare Antwort war rauszukriegen. Zwischen ihm, Bortfeld, und den Befragten war eine Mauer aus Angst, zumindest aus Vorsicht (oder Feigheit?) aufgebaut gewesen. „Warum das? Wo sind wir denn?“ hatte Bortfeld gefragt. Antwort: verlegenes Schweigen, betretenes Lächeln, das sofort verlöschte, wenn sein Blick draufstieß. Eine junge Schauspielerin hatte gesagt: „Fragen Sie Anne Wegener.“ Bortfeld hatte gefragt: „Warum sie – warum fehlt Ihnen der Mut, falls Mut wirklich dazu gehören sollte?“ Antwort: „Wenn Sie wüßten, was einem beim Theater alles fehlen muß.“ Frage: „Muß? Immer fehlen muß?“ Antwort: „Ja, leider, fast immer.“ Fast zählt nicht, hatte Bortfeld gedacht. „Dabei reden wir gar nicht erst vom Geld“, hatte einer gesagt. Ein anderer: „Erlassen Sie uns bitte die Auskunft, wer einmal in den Fettnapf trat … Fragen Sie Anne Wegener. Sie hat hier nichts zu befürchten, sie nicht!“ Und Bortfeld darauf: „Weiß jemand von Ihnen, wann Frau Wegener heute probenfrei ist?“ Da, ganz aus dem Hintergrund des Konzimmers, Christina Reusch, die zurückgekommen war, unaufgefordert: „Von vierzehn bis siebzehn Uhr hat sie frei, aber ob sie dann zu Hause ist … Einkäufe, Besorgungen; bald ist Weihnacht.“ Er hatte wiederholt: „Ja, bald ist Weihnacht.“ Bortfeld ist schon weit von seinem Haus entfernt. Stille Straßen. Kein Mensch ist ihm jetzt begegnet. Sein Marschieren wird langsamer. Er schwitzt. Bleibt stehen. Sieht sich um. Da drüben steht der lang sich streckende Bau; von Parkanlagen umsäumt, von hohen Hecken abgegrenzt – das Bezirkskrankenhaus. Einige Fenster sind hell. Bortfeld zählt. Sechs. Liegt hinter einem der hellen Fenster Dietrich Riedel? Der Schwerbetroffene? Den ich 131
geschätzt habe, trotz mancher dubioser Äußerungen; den mir alle miesmachen wollen; den ich mir nicht miesmachen lassen will? Nicht will … Aber auf der Hecke liegt schon fast kein Schnee mehr. Kein Glitzern in Weiß. Bortfeld geht weiter, eine Straße hinauf, die wegläuft vom Bezirkskrankenhaus. Ihm ist schon wieder sehr nach Bett. Fieber. Auch das will er nicht wahrhaben. Vielleicht bin ich ein alter, trotziger Esel, denkt er, möglich. Alles ist möglich. Aber leichtgläubig bin ich nicht. Zu viele blamable Erfahrungen gemacht mit Leichtgläubigkeit. Aus damit. Er orientiert sich wieder. Wenn er diese Straße noch weiter hinaufstiefelt, kreuzt er die Dimitroffstraße. Auch dahin will er nicht. Er will wieder nach Hause, könnte nicht sagen, wie lange er schon unterwegs ist. Die Armbanduhr liegt auf dem Nachttisch. Warum schlägt keine Kirchturmuhr? Eine Querstraße vor der Dimitroffstraße biegt er ab. Aber es hat keinen Sinn. Je weiter er sich von der Dimitroffstraße entfernt, in der Anne Wegener wohnt, um so näher kommt Anne Wegener auf ihn zu, stellt sich ihm; in seiner Erinnerung. Vielleicht sind es nur die gleichmäßig fallenden, platschenden Tropfen – sie hört er überall … wie Fragen und Antworten. Bortfeld verhält den Schritt, dreht sich um, lauscht. Platschende Tropfen. Er geht weiter – hat die Frau in Schwarz vor Augen, Anne Wegener. Hat die Kälte um sich. Spürt sie in sich. Fröstelt. Gegen fünfzehn Uhr war er vor dem Haus gewesen. Treppen gestiegen. Anne Wegener hatte ihm geöffnet, war bereit gewesen, Fragen zu beantworten. Er war ihr über den kleinen, quadratischen Korridor gefolgt durch ein Zimmer in ein zweites. Sie war allein. Kälte in der Wohnung. Offene Ofentüren. Kohlen begannen erst an den Rändern zu glühen. Unter ihnen liegendes Holz fla132
ckerte gelb und blau, kienig knisternd. Anne Wegener sagte zu Bortfeld, sie müsse noch Kohlen nachlegen. Und: „Bitte, setzen Sie sich schon, am besten da, in den Sessel – da ist es noch am wärmsten.“ Sie entschuldigte sich wegen der Kälte. „Ich hatte wirklich noch keine Zeit zum Heizen. Probe bis vierzehn Uhr. Und Einkäufe und Abwasch und und und.“ Sie legte Kohlen nach, hatte den Widerschein des Geflackers im Gesicht. Dann kam sie zu Bortfeld, setzte sich ihm gegenüber auf die Seitenlehne der Couch, die Hände auf den Knien, die Handflächen nach oben gedreht. Ihre Finger waren schwarz wie die lange Hose, wie der dicke Pullover, wie ihr dichtes Haar. Bortfeld sagte, daß er sie von der Bühne her schon kenne. „Relativ oft habe ich Sie gesehen und … ja, und bewundert.“ Sie beugte und hob den Kopf, sah Bortfeld an. Er sagte: „Wir haben heute mit Ihrem Intendanten gesprochen. Sie wissen von dem Überfall auf den Oberspielleiter Dietrich Riedel, nicht wahr?“ „Ja.“ „Über Sie haben wir nur kurz gesprochen, denn wie gesagt, es geht um das Ver… um den Überfall auf Herrn Riedel. Aber bei diesem kurzen Gespräch äußerte der Intendant, Sie seien, so wörtlich, im Schauspielensemble das beste Pferd im Stall. Eine scheußliche Formulierung, finde ich.“ Sie fuhr sich mit den Handrücken über die Stirn, versuchte eine Haarsträhne zurückzustreichen, sagte: „Aber wegen der scheußlichen Formulierung sind Sie nicht hier, glaube ich.“ Sie stand auf, ehe er antwortete. „Entschuldigen Sie bitte, ich habe so schmutzige Hände. Bin gleich wieder da.“ Bortfeld bleibt stehen, unwillkürlich. Lehnt sich gegen den gemauerten Pfeiler eines Gartenzaunes. Weiß genau, daß er nicht auf ihre Hände geblickt hatte, sondern 133
in ihre Augen. Es gelingt ihm sofort, diese Augen in Gedanken wiederzusehen, und er wird sie, sooft er nur will, in Gedanken wiedersehen können. Sie sind nicht vergeßbar. Er stemmt sich ab vom Zaunpfeiler, muß nach Hause. Ihm wird bewußt, daß er längst nicht mehr marschiert. Jetzt wird mir das Bett wirklich guttun, sagt er sich. Jeder Schritt wird schwer – mit schweren Beinen. Er legt den Kopf in den Nacken, sieht, daß der Himmel ohne Sterne ist. Anne Wegener war wieder ins Zimmer gekommen, mit gewaschenen Händen. Sie hatte die Haare hochgesteckt und die Lippen blaßrot nachgezogen. Sie setzte sich auf die Couch. Die Tür, die sie hinter sich geschlossen hatte, war wieder aufgesprungen. Ein Wasserhahn tropfte in gleichbleibenden Abständen. Bortfeld bemühte sich, das Tropfen zu überhören. Wußte, daß es unmöglich sei, daß man Menschen mit gleichmäßig fallenden Tropfen in den Wahnsinn treiben kann. Er sagte: „Sie wundern sich, daß ich zu Ihnen komme, obwohl Sie mit dem Überfall überhaupt nichts zu tun haben können.“ Sie gab keine Antwort. Er sagte: „Wir mußten heute Ihre Kolleginnen und Kollegen befragen, da gestern abend, außer Ihnen, alle arbeitsfrei waren. Ich muß gestehen, diese Befragung war eine schwere Aufgabe. Denn – bitte, widersprechen Sie mir, wenn ich etwas sage, was Ihrer Meinung nach nicht stimmt – es war eine schwere Aufgabe, denn kaum einer, so erschien es mir, rückte mit seiner wirklichen Ansicht heraus.“ Sie fragte: „Wollten Sie denn Ansichten hören?“ „Ja, Ansichten über die Arbeitsweise des Oberspielleiters Riedel, über sich aus ihr ergebende Sympathien für ihn oder eventuell – Antipathien gegen ihn. Etwas über sein Verhältnis zu den Kollegen zu wissen, möglichst viel und Genaues, das ist enorm wichtig für uns.“ 134
„Und das Genaue hat man Ihnen verschwiegen“, sagte sie, „darüber müssen Sie sich nicht wundern.“ „Sicher haben Sie recht“, sagte Bortfeld, „ehrlicherweise muß ich zugeben, daß ich bis heute manches nicht gewußt hatte über die Situation der Theaterleute. Man ist eben im Sinne des Wortes immer nur Zuschauer. Man identifiziert noch immer zu leicht den Menschen mit der Rolle, die er spielt, und schaut der Rolle zu, kennt oder erkennt aber den Menschen nicht.“ Sie sagte: „Das muß doch so sein, anderenfalls brauchten wir keine Stücke, keine Rollen, keine Schauspieler, keine Theater.“ „Auch das stimmt“, sagte Bortfeld, „aber mich hat schon immer der Mensch interessiert, den ich in dieser oder jener Rolle sah. Aus diesem – auch aus diesem Grund habe ich, wenn es die Zeit erlaubte, einige Male an Diskussionen mit Theaterkünstlern teilgenommen.“ „Und dann haben Sie den ‚Menschen‘ erkannt?“ fragte sie. Bortfeld tat, als überhöre er ihre Frage. Sprach gleich weiter. „Einige Male wurden solche Diskussionen von Herrn Riedel geleitet – bravourös geleitet, wie mir schien. Allerdings bei der letzten hatte er Thesen aufgestellt, die erschreckend waren. Leider habe ich für meine Gegenargumente dann nicht die richtige Wahl getroffen.“ Anne Wegener fragte nicht, um was es sich gehandelt habe. Sie schwieg. In dem Ofen rutschten sich die Kohlen zurecht. Das Aufleuchten der Glut huschte sekundenschnell über den Fußboden. Er war staubig. Bortfeld dachte: Kunststück, bei der Überlast ihrer beruflichen Arbeit! Oder ist es das – fragt sie sich: Für wen, seitdem ihr Mann tot ist? Und Sabine, die bald heiraten will? Schule, Leistungen, Anforderungen. Bortfeld sagte: „Ich bedaure sehr, daß ich bei keiner dieser Diskussionen Ihrem Mann begegnet bin.“ 135
„Das war nicht möglich“, sagte Anne Wegener, „mein Mann hatte zwar drei Inszenierungen, aber öffentlich darüber zu diskutieren, das hat er sich nicht zugetraut.“ „Hätte er es Ihrer Meinung nach auch nicht gekonnt?“ „Nein, noch nicht – und bestimmt nie so bravourös wie Herr Riedel.“ „Ist ihm daraus ein Vorwurf gemacht worden?“ Sie überlegte. Sagte: „Ja. Etwa so: Für ein großes Haus wie unser Theater muß ein Regisseur auch zur Öffentlichkeitsarbeit fähig sein; das werde sich Robert Wegener an kleineren Theatern leichter aneignen können.“ „Haben Sie dieser Behauptung geglaubt?“ „Mich hatte sie vor allem empört. Ich meine, daß ein guter Handwerker nicht notwendig auch ein guter Agitator seiner Leistungen sein muß. Aber … ist das wirklich für Sie von Interesse? Hilft Ihnen die Beantwortung solcher Fragen weiter?“ Bortfeld sagte: „Wahrscheinlich – ja, sehr wahrscheinlich. Sie hatten also Verständnis für die Weigerung Ihres Mannes?“ „Ja, weil ich die Ursache seiner Komplexe kenne. Er hatte eine sehr schwere Kindheit und Jugend. Da haben sich in ihm Hemmungen verfestigt, die vielleicht nie und durch nichts abzubauen waren. Vielleicht. Um vom Gegenteil zu überzeugen, blieb ihm keine Zeit.“ Das war verwirrend streng und unsentimental gesagt. Bortfeld fragte scheinbar unberührt: „Und Herr Riedel? Wissen Sie über seine Herkunft – Kindheit, Jugend – Bescheid?“ Sie nickte. „Er macht kein Hehl daraus, daß er mit dem ‚goldenen Löffel im Mund geboren‘ wurde und daß seine ,Kinderstube mit Enzyklopädien tapeziert ‘ war.“ „Hat er es selbst so gesagt?“ fragte Bortfeld. „Es sind seine Worte.“ Eine Weile schwiegen sie. Anne Wegener sagte dann: „Beinah naturgemäß ist ihm dann 136
alles in den Schoß gefallen, was sich andere schwer erarbeiten müssen. Er hat schnell schnelle Erfolge gehabt, beruflich und privat. Aber wäre es nicht hirnverbrannt, nun wiederum daraus ihm einen Vorwurf zu machen? Schweres – ist auch ihm nicht erspart geblieben.“ Bortfeld sah sie fragend an. Sie gab seinem Blick Antwort. „Gold nutzt sich ab, und Tapeten vergilben. Dietrich Riedels Fähigkeiten haben – ich versuche, objektiv zu sein – in den letzten paar Jahren tatsächlich nachgelassen. Es klingt schizophren, wenn man sagt, er hat sich das nicht eingestanden und hat zugleich darunter gelitten. Aber ich bin überzeugt, daß es so war. Um so mehr er im Kern seines Berufes versagte, je mehr Glanz gab er der Schale. Selbsterhaltungstrieb. Jeder hat ihn.“ Nachdem sie das ruhig und ernst gesagt hatte, war die Stille körperlich spürbar. Bortfeld hörte wieder das gleichmäßige Tropfen des Wasserhahnes; platschende, schmatzende Laute. Man darf nicht hinhören, dachte Bortfeld. Er fragte: „Kennen Sie Frau Riedel?“ „Ja, ich habe sie auf einer Premierenfeier kennengelernt. Und später – sie ist nach dem Tod meines Mannes hergekommen, ich glaube, zwei Wochen nach dem Unfall. Genau weiß ich nicht mehr, wann.“ Wieder Schweigen und wieder das Getropfe des Wasserhahnes. Bortfeld fragte vorsichtig: „War es ein Unfall?“ Anne Wegeners dicht umwimperte Lider senkten sich. Sekunden vergingen. Dann nickte sie. Bortfeld sagte: „Bei der Befragung Ihrer Kollegen hatte ich nicht den Eindruck, daß alle Ihrer Meinung sind, aber wie schon gesagt, Konkretes war von keinem zu erfahren.“ Sie blieb still. Bortfeld sagte: „Aber was mir zu denken gibt – fast alle sind im Zusammenhang mit meinen Fragen nach Riedel auf Ihren Mann zu sprechen gekommen; nicht eindeutig, nichts Bekennendes – nur etwa so, wenn Robert Wegener noch bei uns wäre, womöglich wäre Riedel 137
nichts passiert … Nicht wörtlich so, wie ich es jetzt sage, aber dieser Grundtenor war in einigen Antworten verhüllt, ängstlich, nur mit erwähnt und schnell drüberweggegangen.“ Anne Wegeners Blick kam in Bortfelds Gesicht; still, rätselhaft. Dem nicht auszuweichen kostete Mühe. Bortfeld sagte rasch: „Aber alle haben mir bestätigt, daß Ihr Mann außerordentlich gewissenhaft gewesen ist – so auch im Straßenverkehr –, daß ihm also – normalerweise – der Unfall nicht hätte passieren können.“ In ihrem Gesicht veränderte sich nichts; maskenhafte Unveränderbarkeit. Stille, die zu vibrieren schien nach jedem platschenden, schmatzend niederfallenden Tropfen. Dann stand Anne Wegener auf, ging durch beide Zimmer, öffnete wieder die schmale Tür, verschwand einen Moment, kam zurück. Der Wasserhahn tropfte nicht mehr. Sie blieb in der Zimmermitte stehen, schob den Rollkragen ihres Pullovers bis zum Kinn hoch, ließ die Finger im Wulst des Kragens hin- und hergleiten, wirkte weit entrückt. Selten war sich Bortfeld irgendwo, irgendwann so deplaciert vorgekommen wie in diesen Minuten im einzigen Sessel eines karg eingerichteten Zimmers, beim Anblick dieser Frau. Er hatte sich den Schweiß von Stirn und Wangen gewischt, hatte sich inständig suggeriert, daß er bleiben, daß er durchhalten müsse (habe ja im voraus gewußt, daß es keine Kleinigkeit sein würde!), hatte endlich gefragt: „Stimmt es, Frau Wegener, war Ihr Mann so besonders aufmerksam im Straßenverkehr?“ Ohne ihn anzusehen, ohne die Finger aus dem Kragen zu nehmen, hatte sie genickt. Bortfeld lehnt sich wieder an. Befindet sich in einer Straße, die ihrer Bäume noch nicht beraubt ist. Legt den 138
Kopf in den Nacken. Wenn der Wind die Zweige anrührt, fallen Tropfen; einige ihm mitten ins Gesicht. Er wischt sie nicht weg. Unter halbgeschlossenen Lidern sieht er auf einen Rummelplatz; in den mündet die Straße ein. Sparsame Nachtbeleuchtung. Ein paar Ketten bunter Glühbirnen, wie Girlanden. Leere Kinderkarussells. Dicht nebeneinander, starr, irgendwie fest verankert, vier Gondeln einer Schiffsschaukel. Verkaufsbuden, die Markisen heruntergelassen, verschnürt. Wenn er den Rummelplatz überquert, kürzt er seinen Heimweg um ein gutes Stück ab. Doch erst einmal ausruhen. Er sagt sich, ich bin zu weit gegangen. Er steht angelehnt, vor sich den Rummelplatz in Nachtbeleuchtung, grübelt, wie das Gespräch weiterlief, grübelt, bis es ihm wieder einfällt. Er hatte gesagt: „Frau Wegener, ich weiß, daß es Ihnen nicht leicht ist, über die Ereignisse des Vorjahres zu sprechen. Ich muß Sie dennoch darum bitten.“ Ihre Finger strichen durch den Rollkragen. Bortfeld betrachtete sie – die hohen Wangenknochen, den vollen blaßrot geschminkten Mund, die schwarzgekleidete, schmale Figur. Er sagte endlich: „Es ist aber leider so, daß Oberspielleiter Riedel schwer, vielleicht sogar lebensgefährlich verletzt im Krankenhaus liegt, nach dem Überfall, und daß wir den Täter, das ist zu befürchten, eventuell nur durch die Ermittlung seines Motivs überführen können.“ Ihr Schweigen wurde unerträglich. Bortfeld war aufgestanden. „Nun wurde uns gesagt“, begann er von neuem, „Ihr Arbeitsverhältnis sei ganz besonders gut – das mit Herrn Riedel. Ist das so?“ „Besonders gut?“ fragte sie zurück. „Wer kann das gesagt haben? Ich bin hier engagiert, ich arbeite. Ich muß mit Riedel arbeiten. Natürlich, auch mit ihm. Daß ich 139
dabei keine Aggressionen provoziere, wird wohl jedem verständlich sein.“ „Verzeihen Sie es mir, Frau Wegener – so gern ich möchte, ich darf auf Gefühle keine Rücksicht nehmen, ich muß jetzt grob fragen, denn …“ „Fragen Sie grob“, warf sie ein. „Ihre Kollegen – wenn auch verschlüsselt ausgedrückt – schieben den Tod Ihres Mannes, zumindest indirekt, Herrn Riedel in die Schuhe.“ „Nicht nur ihm“, sagte sie – wie für sich allein bestimmt. Bortfeld sagte: „Aber Sie sind hiergeblieben. Sie sind trotz allem hiergeblieben.“ Sie ging ein paar Schritte. Die Arme vor der Brust übereinandergehalten, war es, als zöge sie sich enger zusammen; die Hände krallten sich so fest um ihre Armkugeln, daß die Fingerknöchel weiß wurden. „Ich wollte nicht bleiben“, sagte Anne Wegener. „Nein, das wollte ich nicht. Ich hätte die ganze zermürbende Misere, die ein Engagementswechsel mit sich bringt, lieber hingenommen, als hierzubleiben. Aber man hat mich nicht aus meinem Vertrag entlassen.“ „Warum nicht?“ fragte Bortfeld ganz kratzig, ganz heiser. „Weil ich keinen gleichwertigen Ersatz für mich bringen konnte.“ „Sie haben es versucht?“ „Was fragen Sie! Natürlich. Drei Kolleginnen sind zum Vorsprechen angereist. Der Bühnennachweis hatte mir geholfen, sie zu finden. Aber keine reichte aus, um mich zu ersetzen – angeblich.“ Wie lange hatte es gedauert, bis Bortfeld diese Antwort in sich verstauen konnte! In Gedanken sah er Riedel im Krankenbett sitzen, mit gekrümmtem Rücken. Und den Intendanten – die Füße verhakt, die Knie gespreizt, das Gesicht ein Glühen. 140
Wie lange hatte er gebraucht, bis seine Frage kam: „Hassen Sie Riedel?“ Keine Antwort. Er setzte sich wieder. Auch Anne Wegener nahm ihren Platz auf der Couch ein. Bortfeld fragte: „Wissen Ihre Kollegen, daß man Sie nicht aus dem Vertrag entließ?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Daß es alle wissen, glaube ich nicht. Ich habe darüber nicht gesprochen. Aber Christina Reusch weiß es. Und Jens Michaelis auch.“ Jens Michaelis! Da hatte sie den Namen genannt. „Jens Michaelis wird, das hat mir Frau Reusch erzählt, früher oder später zu Ihrer Familie gehören“, sagte Bortfeld. „Ja“, sagte sie nach einer Weile, „wenn die beiden es sich nicht noch anders überlegen, wenn ihnen nichts dazwischenkommt …“ „Und Jens Michaelis muß sich ein neues Engagement suchen?“ fragte Bortfeld. Sie drehte den Kopf ganz über die Schulter, sagte mit weggedrehtem Kopf: „Ja, das muß Jens.“ Bortfeld fragte, wo ihre Tochter jetzt sei, ob noch in der Schule. Anne Wegener sah Bortfeld wieder an. „Nein, Sabine ist spazierengegangen.“ „Hat sie Ihnen gesagt, wohin?“ „Nein. Sie spricht mal wieder nicht mit mir.“ Bortfeld lächelte. „Mutter und Tochter haben sich gezankt“, sagte er. Sie blieb ernst, sagte: „Ja, sie ist mir böse, weil ich heute nacht ziemlich lange mit Jens im Wagen saß. Sie wollte wissen warum, und ich habe ihr das nicht gesagt.“ „Erzählen Sie es mir?“ „Wir hatten eine Menge zu besprechen, bevor Jens nach Dresden gefahren ist. Sie sollte nicht dabeisein.“ 141
„Haben Sie mit ihm von dem Überfall auf Riedel gesprochen?“ „Natürlich. Aber nicht lange. Es gab Wichtigeres.“ „Was ist das Wichtigere?“ Sie holte tief Luft, und beim Ausatmen war ein Seufzer. „Ich möchte nicht, daß er und Sabine getrennt werden. Sie verwindet den Tod ihres Vaters nicht. Aber Jens ist ihre erste Liebe … Und für mich ist das die einzige Möglichkeit, Sabine zu helfen, doch irgendwie mit der Sache fertig zu werden – indem ich ihr diese Liebe lasse. Auch Sabine versteht nicht, daß ich hiergeblieben bin. Ich habe ihr nicht gesagt, daß man mich nicht aus dem Vertrag läßt, damit ihre Verzweiflung nicht zusätzlich aufgestachelt wird. Ich habe hundert Ausreden, Argumente erfunden für mein Hierbleiben.“ „Aber sie weiß, daß auch ihr Jens nun – ich möchte es ganz genau sagen – gefeuert wird.“ „Nein, das weiß sie noch nicht. Sie glaubt, daß er – wenigstens er – nicht mehr hierbleiben will, aus eigenem Entschluß, daß er sich darum in Dresden bewirbt und daß er vorfühlt, ob auch ich da engagiert werden könnte, damit wir von hier wegziehen und doch zusammenbleiben können.“ „Aber so verhält es sich nicht“, sagte Bortfeld. „Doch, es ist so. Was wir heute nacht da unten in seinem Trabant besprochen haben, das war … wir haben nach Möglichkeiten gesucht für mich, den Widerstand der Theaterleitung zu brechen, also – eben doch die Aufhebung des Vertrages durchzuboxen.“ „Sehen Sie Möglichkeiten?“ „Ich bin mir nicht sicher. Aber – Jens hat sich gestern intensiv mit Waganzki darüber unterhalten. Waganzki ist unser Vertrauensmann der Sparte Schauspiel.“ „Ah so“, sagte Bortfeld nur. Er sagte nicht, daß ihm der Vertrauensmann ausgerissen war. Bortfeld fragte, 142
wo Michaelis vor diesem Gespräch im Trabant gewesen sei, ob sie das wisse. „Es läuft noch immer eine der drei Inszenierungen, die mein Mann gemacht hat, die letzte. Weder Jens noch Sabine hatten sie bisher ansehen können. Sie hatten es nicht über sich gebracht. Gestern, vielleicht weil Sabine nun soviel Hoffnung auf Dresden hat, sind sie in die Vorstellung gegangen. Danach hat Jens Sabine in die Straßenbahn gesetzt und ist nach Hause gegangen. Er meinte, noch mal die Szenen durchnehmen zu müssen, die er in Dresden vorspricht – jetzt sicherlich schon vorgesprochen hat.“ „So hat er es Ihnen gestern nacht gesagt.“ „Ja.“ „Eigentlich erübrigt es sich, Frau Wegener, Sie zu fragen, ob Michaelis Oberspielleiter Riedel haßt. Trotzdem muß ich Sie danach fragen.“ Sie antwortete – und daß sie viel Beherrschung dazu brauchte, wurde offensichtlich – mit einer kaum beschreibbaren, ernsthaften Strenge im Ton: „Ja, die Frage erübrigt sich wirklich.“ Jens Michaelis! dachte Bortfeld, und er dachte: Nein, nicht mehr von ihm sprechen – jetzt nicht mehr. Er sagte: „Erzählen Sie mir bitte, wie die Laufbahn Ihres Mannes am hiesigen Theater zustande kam.“ „Das ist schnell erzählt“, sagte Anne Wegener. „Mein Mann war Chorsänger im Opernhaus. Er nahm nebenher Schauspielunterricht, bestand die Prüfung, wurde an unser Schauspielhaus engagiert, bekam aber nur wenige und nur bedeutungslose Rollen zu spielen. Hatte also viel Freizeit. Mir hat man eine Riesenrolle nach der anderen gegeben. Bei der Erarbeitung der vielen Rollen hat mir mein Mann geholfen. Dabei habe ich seine Regiebegabung entdeckt. Beim Intendanten habe ich mich dafür eingesetzt, daß man ihm mal eine Regieaufgabe überläßt. Das wurde akzeptiert. Zuerst eine Märchen-Inszenierung. 143
Die wird ja leider bei uns nie gern übernommen, da war man wohl ganz froh, ihm die zuschieben zu können. Das Ensemble war begeistert, obwohl – oder weil er es sich und allen unerhört schwer machte. Begeistert war auch das Publikum und die Presse. Zweite Inszenierung ein Goldoni für den Abendspielplan …“ „Den habe ich gesehen, der war tatsächlich gut“, warf Bortfeld ein. „Eine Kollegin sagte damals während der Proben“, setzte Anne Wegener ihren Bericht fort, „ ‚endlich bin ich mal wieder echt interessiert, wenn ein Regisseur seine Anweisungen gibt und erläutert‘.“ „Demnach war sie vorher an Regieanweisungen nicht mehr interessiert gewesen?“ unterbrach Bortfeld wieder. „Wir hatten nur Riedel“, antwortete Anne Wegener, „und er hat es sich in den letzten Jahren abgewöhnt, seine Anordnungen zu erläutern. Er bestimmt, und wer seiner Meinung widerspricht, hat bei ihm verspielt. Aber die Äußerung der Kollegin, die hat Riedel damals mitgehört. Ich bin überzeugt, in dem Moment entstand in Riedel der Vorsatz: Wegener muß weg. Denn nun meldete er Bedenken an – einem so unerfahrenen Spielleiter wichtige Regieaufgaben anzuvertrauen. Das könne ein- oder zweimal gut gehen aber der große Einbruch würde bestimmt nicht ausbleiben und dann hätten wir den Kladderadatsch, dann sei vielleicht nichts mehr zu retten … Riedel ist dann krank geworden.“ „Richtig krank“, unterbrach Bortfeld wieder, „oder krank aus beruflicher Eifersucht?“ „Das weiß ich nicht. Jedenfalls bekam mein Mann dadurch noch eine Inszenierung … eben die, die Jens und Sabine sich gestern angesehen haben. In die Endproben mischte sich Riedel ein, er war wieder gesund. Das Ensemble war aufgebracht darüber, es hat ungewöhnlich mutig protestiert. Vergeblich, leider. Mein Mann wurde zum Kadergespräch bestellt, man riet ihm, 144
er solle sich überlegen, ob es für ihn nicht besser wäre, sich an einem kleineren Theater das Rüstzeug für den Regisseur anzueignen.“ Bortfeld fragte: „Trotz der Erfolge?“ „Ja – trotz der Erfolge. Aber wir haben nicht geglaubt, daß sein Vertrag nicht verlängert wird. Auch ich hatte manchen unterschätzt; bis die Kündigung kam.“ „Theaterleuten kann also ohne weiteres gekündigt, das heißt der Vertrag nicht verlängert werden?“ „Ja.“ Anne Wegener stand auf, schraubte die Öfen zu, sagte: „Und das Weitere wissen Sie.“ Bortfeld beobachtete ihre Bewegungen, ihren Gang; schmale, biegsame Figur. Wie hat sie das alles durchgestanden? – Auf der Bühne wirkt sie viel größer. Er fragte: „Frau Wegener, Sie sagten, Frau Riedel sei bei Ihnen gewesen, damals. Warum war sie zu Ihnen gekommen?“ Sie antwortete: „Ich sollte wissen, daß sie sich vom Verhalten ihres Mannes distanziere. Daß sie seit langem versucht hatte, ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen, meinen Mann als Wettbewerbspartner anzuerkennen, damit seine, Riedels, Leistungen sich wieder steigern würden. Aber er habe für alles nur Spott gehabt, bis das Malheur passiert sei. Von da ab habe er sich in sich verkrochen. Es sei ihr ein zwingendes Bedürfnis gewesen, mit mir darüber zu sprechen. Ich habe ihr nicht zu antworten gewußt.“ Bortfeld fragte: „Und wenn es sich doch so verhält, wie sie es darstellte?“ Anne Wegener entgegnete ihm: „Ich glaube, sie hätte ihren Mann gerade dann nicht allein lassen dürfen, in dieser Misere.“ Bortfeld fragte, ob sie Verständnis für Riedel habe. Sie schwieg lange. Sie sagte dann: „Ich hatte noch nicht das Unglück, daß mir plötzlich eine berufliche Rivalin zur Seite ge145
stellt wurde. Also kann ich auch nicht sagen, wie ich mich in einem solchen Fall verhalten würde – wenn ich eine Machtstellung hätte, die mir Möglichkeiten gibt, die Rivalin loszuwerden. Man kennt sich selbst sehr gut – aber immer nur bis zur Stunde. Ich maße mir nicht an, die Wegener von morgen schon heute zu kennen. Nur das weiß ich genau, auch berufliche Eifersucht ist schwer zu bändigen.“ Bortfeld erhob sich, sagte: „Ich bin Ihnen sehr dankbar, Frau Wegener. Leicht war es nicht, was ich Ihnen abforderte, aber ich denke – Sie haben uns sehr geholfen.“ Bortfeld überquert den Rummelplatz, vorbei an Karussells, Verkaufsbuden. Vorbei an vier starr hängenden, irgendwie verankerten Schiffsschaukeln. Geht durch nächtliche Ruhe. Aber da ist Gekicher, leises Stöhnen, auch Stimmen. Verlassener Rummelplatz? denkt er. Nein, nein – bevölkert von Liebespaaren, die kein besseres Versteck für ihre Liebe finden. Nah seinem Haus bleibt er noch einmal stehen im verhaßten grellen Licht. Licht zum Blindwerden! denkt er. Und er sagt vor sich hin: „Aber wir haben noch viel mehr besprochen. Du meine Güte, ich habe nicht alles behalten, verdammt noch mal! Lauter Gewirbel im Schädel, verdammt noch mal.“ Eine Kirchturmuhr schlägt. Also doch! Er zählt. Drei Schläge. Er schaut zurück. Da hinten der Rummelplatz – fern wie die eigene Kindheit. Er geht weiter, staunt das unverschlossene Gartentor an. Geht, merkt, wie ungenau die Füße über den Boden tasten. Die Treppe. Die Zimmer. Auf dem Tisch am Bett die vergessene Armbanduhr. Daneben ein Glas Milch, Honig darin. Kalt Und widerlich süß. Er trinkt es in einem Zug. Verdammt, hatte ich Durst! Fieberthermometer? Ja, im Medizinschrank. Nein, bin viel zu müde. Drei Stunden 146
Schlaf; drei Stunden noch. Unwichtig. Was hatten wir bloß noch besprochen? Frau Wegener, kennen Sie zufällig einen jungen Mann namens Oskar Thermühlen? Nein. Schade. Von Ihnen hätte ich gern was über ihn gewußt. Kennen Sie Riedels Zwillinge? Ja, gut, daß sie den Sport haben, sie sind trotz der zerkrachten Ehe großartige junge Menschen. Trotz der zerkrachten Ehe. Haben Sie schon gehört, Frau Wegener, daß Riedel nicht mehr sprechen kann? Nie mehr? Man hat nicht viel Hoffnung. Totenblässe im faszinierenden Gesicht. Totenblässe, ja. Wo sind die verdammten Tabletten? Was für ein Mensch ist der Jens? Ruhig? Frühzeitig Mann? Lernen Sie ihn kennen, das wird das beste sein. Es heißt, er sei ein Querkopf. Bei uns nicht, mit einem Querkopf käme Sabine bestimmt nicht aus. Sie ist sanft und empfindsam. Kälte. Die Öfen heizen noch immer nicht. Das dauert bei Kachelöfen. Ja, das dauert. Hauptsache, er bleibt am Leben, der Oberspielleiter. Seine Frau ist fast zwanzig Jahre jünger als er. Mein Mann war vierzehn oder fünfzehn Jahre jünger als er – das macht viel aus. Hauptsache, er bleibt am Leben. Immer die Hauptsache. Ja. Und Sie, Frau Wegener? Sie hassen Riedel natürlich auch. Natürlich! Hatten Sie erwartet, daß ich ihn liebe? Frau Reusch hat mir gesagt, Sie hätten nie Rachegedanken! Ja, Christina – Gedanken lesen kann sie auch. Hauptsache, er bleibt am Leben. Hauptsache, er lebt … Dann kam Helligkeit. Kam mit dem Traum. Traum von einer Wiese, frisch und dunkelgrün. Endlose Weite aus dunkelgrüner. Wiese. In ihrer Mitte ein junger Mann, schlank, hochgewachsen – im Kostüm des Laertes –, springt kleine Schritte, vor, zurück, vor, Ausfallschritte. Keine Sonne ist da. Doch sein Florett blitzt, wie aus Sonne geschmiedet. Florett in der Rechten, Stilett in der Linken. Sonnenblitze vom Metall. Und nur er. Nur Laertes; kein Gegner. 147
Die Helligkeit des Traumes versank. Mit ihr alles – allmählich. Versank in herrliche Düsternis, in wohliges Nichts. Schlaf. Plötzlich war das ganze Haus ein einziges Geklingel. Das Zimmer klingelte, die Mauern, die Wände, der Löffel im leeren Glas. Das Geklingel schoß durch Bortfelds hageren Körper, vibrierte in seinem Kopf. Da war er hellwach. Schlug die Bettdecke zurück. War angezogen; nur die Stiefel lagen umgekippt vor dem Tisch. Einen Moment lang verstand er nichts. Dann, mit seltsam ruhiger Hand, nahm er den Hörer ab. Fragte: „Wecker vom Dienst?“ „Nein, hier Hermens. Wie geht es Ihnen, Chef?“ „Bestens! Wie spät ist es?“ „Acht Uhr zehn.“ „Na, großartig! Schick bitte den Wagen. Ende.“
Donnerstag Während der Fahrt zur Dienststelle war Bortfeld so gesprächig wie sonst nur, wenn eine Ermittlung erfolgreich abgeschlossen und in ihm kein unliebsamer Gedanke über seinen Beruf hängengeblieben war. Gedanken, gegen die er seit über zwei Jahrzehnten mitunter ankämpfen mußte. Bortfeld glaubte, es gehe ihm wirklich besser als gestern, dachte, der Pillenkram muß wohl doch ganz nützlich gewesen sein. Dann, als vor ihnen auf einem Zebrastreifen ein Soldat ins Gleiten, Rutschen, Schlittern geriet, fiel dem Oberleutnant eine lustige Begebenheit aus „seiner“ Soldatenzeit ein. Er erzählte sie, und sein Fahrer lachte, daß ihm die Mundwinkel zu den Ohren sprangen. 148
„Sonderbar“, sagte Bortfeld, nachdem die Geschichte zu Ende war, „daß sich in so viel Kriegselend und Grausamkeit unverfroren saukomische Situationen einschmuggeln können.“ Der Fahrer stimmte ihm zu. Er mußte noch immer nachlachen. „Sie sind wirklich die gute Laune in persona“, sagte Bortfeld zu ihm und dachte, aber wie sehr ich dein feines Gespür für Spannungen schätze, wie du dann den Mund hältst, wenn das Wort nicht an dich gerichtet ist, wie du dein Pausbackengesicht dann in Schach hast, um mich bei geistiger Knochenarbeit nicht zu stören … das muß ich dir gelegentlich auch mal sagen. „Wann dreschen wir mal wieder einen Zünftigen, Genosse Oberleutnant?“ fragte der Fahrer. Bortfeld sagte: „Demnächst. Bestimmt.“ „Und dann erzählen Sie noch mehr solche Schnurren, ja? Jetzt muß ich höllisch aufpassen – bei der Straßenglätte. Ein Mist ist das. Wir hatten ganz schön Frost vorige Nacht.“ „Ah so?“ Der Fahrer nickte. Er bog ins Hofgeviert ein. Hermens und Klut erwarteten Bortfeld schon ungeduldig, denn im Nebenzimmer saß ‚das Tierchen‘, wie Thomas Endrykje Scholz, die Geliebte seines Vaters, genannt hatte. „Geht’s Ihnen heute wirklich wieder besser?“ fragte Klut, verkniff ungläubig die Augen. „Blendend geht’s“, sagte Bortfeld und dachte, so kolossal habe ich lange nicht gelogen. Die lustige Unterhaltung mit seinem Fahrer hatte ihn angestrengt, jetzt merkte er es. „Ist Frau Scholz von selbst hergekommen?“ fragte er. „Nein“, antwortete Klut, „wir haben sie aus dem Theater geholt. Ging alles ganz unauffällig. Sie war noch allein in der Maskenbildnerei, wollte gerade mit ihrer 149
Arbeit anfangen. Ich hatte mir erst ihre Adresse telefonisch geben lassen, und da höre ich, daß auch sie in der Külzstraße wohnt, wie Thermühlen – das heißt wie dessen Eltern.“ Bortfeld sagte: „Das ist ihr gutes Recht.“ Er fuhr sich durchs Haar, sagte: „Und bevor ich mir erzählen lasse, was ihr gestern noch zustande gebracht habt, muß ich das Tonband noch mal hören.“ Hermens drückte die Taste. Da war seine eigene Stimme, die Frage, ob Thomas schon gesprochen habe, da war die Antwort des Professors und das Quietschen der Sohlen, dann endlich Thomas mit der Geschichte vom Vorbild. Bortfeld hörte wortlos zu, machte sich Notizen. Als das Band abgespielt war, standen auf Bortfelds Notizblock die Worte: Weibergeschichten – Judo – finsterer Graben – Oskar, Grafikstudium – Volkszorn – Macht – jeder hätte es sein können – Tierchen, der Mann vom – Prinzen sind nicht mehr – Oskar bis auf die Knochen beleidigt – da ist mir alles wieder angekommen – durchgedreht – übrigens, ich war’s wirklich – Michaelis. Bortfeld las, dann warf er den Block auf seinen Schreibtisch, sagte nur: „Kindskopf!“ Hermens, während Bortfelds Wort noch im Zimmer herumzusegeln schien, sagte: „Der Professor meinte, wir hätten nun alles, was wir brauchten, wie in einer Sammellinse.“ Bortfeld überlegte, antwortete: „Da ist vielleicht was dran.“ „Ich meine, soviel steht wenigstens bis jetzt fest“, sagte Klut, „Rache ist irgendwie im Spiel. Und Riedel weiß das. Anderenfalls würde er sich nicht so eindeutig gegen eine Anzeige …“ Ihm kam das Wort „ausgesprochen“ nicht über die Lippen. Er sagte: „… verwahrt haben.“ „Thomas Riedel muß her, Thermühlen muß her, und Jens Michaelis muß her“, sagte Bortfeld, „und zwar 150
schnellstens, allerschnellstens.“ Er sah von einem zum anderen. „Ihr seid noch hier?“ „Stopp, stopp, Chef, wir sind auch nur Menschen“, erwiderte Klut. „Das ‚nur‘ will ich überhört haben, Verehrtester“, sagte Bortfeld. Und fragte gleich noch: „Ist die Sache mit Thermühlens Eltern geklärt, Zettel im Briefkasten et cetera. Wie geht’s Riedel heute, habt ihr euch erkundigt? Ist seine Frau wieder im Lande? Was ist mit Thermühlens Kuttenwebpelz los? Wie war das Gespräch zwischen der Ärztin und Sonja – wo sind die Notizen? Ja, und das noch, fragt im Theater an, ob Waganzki heute vormittag Probe hat, wenn ja, von wann bis wann.“ Klut fragte: „Wie hätten wir es denn nun gern der Reihe nach?“ Bortfeld griente, frohlockte insgeheim, daß sich seinem Gedächtnis alles Notwendige, Wichtige wieder zur Verfügung stellte. „Übrigens haben wir gestern abend die kleine Wegener aufgegriffen“, sagte Klut. „Wieso aufgegriffen?“ fragte Bortfeld. Klut berichtete. „Das Mädchen hat also nach eigener Angabe auf ihren Freund Jens Michaelis gewartet“, sagte Bortfeld. „Warum? Ungeduld, das Ergebnis aus Dresden so früh wie möglich zu erfahren. Sehnsucht nach dem Jungen? Ist alles drin. Aber wenn sie nun doch mehr weiß, als ihre Mutter ahnt, und ihren Freund abpassen wollte, um ihn warnen zu können?“ „Nein“, widersprach Klut, „den Eindruck hatte ich überhaupt nicht. Nur – was mich stutzig gemacht hat, das war, mit welcher Bitterkeit mir das Mädchen geantwortet hat, ‚meine Mutter ist Schauspielerin‘.“ Bortfeld sagte: „Jaja, sie ist mit ihrer Mutter böse – augenblicklich. So was geht vorbei. Die Kleine ist in einem schwierigen Alter. Ich glaube, leicht hat es Anne Wegener zur Zeit nicht mit ihr. Doch für uns ist Michae151
lis wichtig. Ich fürchte, er vor allem. Wir sind uns einig darüber, daß Rache im Spiel ist, und er hatte doppelt und dreifach Grund. Später also. Hermens, gabel mir Michaelis auf, bringe ihn her. Klut, wir brauchen auch Thomas Riedel sofort. Telefoniere mit dem Schuldirektor, er soll keine große Kiste draus machen und so weiter. Übrigens auch Thermühlen noch mal herholen. Wenn das geregelt ist, komm ’rüber, ich werde inzwischen mit dem ‚Tierchen‘ reden.“ „Tierchen ist gut“, sagte Klut, „eine Heroine ist sie und irrsinnig schön.“ „Fabelhaft, daß du mich darauf vorbereitest, bei meiner Liebe zur Schönheit … und wo wir es zur Zeit überhaupt nur mit Schönheiten zu tun haben.“ Hermens fragte: „Und wenn Michaelis noch gar nicht aus Dresden zurück ist?“ „Wenn er schon gestern abend zurückerwartet wurde, wird er wohl inzwischen eingetrudelt sein“, sagte Bortfeld. „Gib das Kennzeichen seines Wagens mit entsprechendem Auftrag an sämtliche Einsatzwagen. Wahrscheinlich ersparen wir uns unnötige Arbeit, wenn wir Michaelis haben.“ „Und den Mann von der Scholz?“ fragte Klut. Bortfeld sagte: „Ja – schicke mir die Genossin Reif zum Protokollieren ’rüber. Was die Scholz aussagt, muß zu Protokoll.“ An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Wo sind die Notizen vom Gespräch Doktor Kündler – Sonja Riedel?“ Klut gab sie ihm. Bortfeld sagte: „Sperrt mir die drei Jungs ja auseinander, wenn ihr sie habt. Alles Weitere nach dem Gespräch mit Frau Scholz.“ Frau Scholz stand auf, als Bortfeld eintrat. Sie war fast so groß wie er. Sie war nicht schlank, war vollbusig, gut proportioniert. Ihr Gesicht, besonders der Schnitt ihrer Augen, ließ an Großkatzen denken. Ihr Haar, aus der 152
Stirn zurückgekämmt, auf dem Hinterkopf verschlungen, hing, zu einer nicht sehr vollen Strähne gebündelt, weit hinunter auf ihren Rücken, war silbrigblond. Die Genossin Reif kam mit Stenoblock und Schreibstift. Bortfeld fragte Frau Scholz, ob sie wisse, warum sie hergeholt wurde. „Nein.“ Ob sie mit Herrn Riedel befreundet sei. „Ja.“ Von welcher Art die Freundschaft sei, intim oder …? „Ja, intim.“ Bortfeld sah Endrykje Scholz abwartend an. Sie begann widerwillig: „Weil Sie mich nach meiner Freundschaft mit Dietrich Riedel fragen, da weiß ich dann schon, warum ich hergeholt worden bin – gestern habe ich gehört, daß Dietrich überfallen … also darum, ja?“ „War er Dienstag abend bei Ihnen?“ „Ja, er war bei mir. Aber ich habe ihn gleich wieder weggeschickt, weil … mein Mann hat seit Montag eine andere Schicht. Dietrich hat das nicht gewußt. Ich war im Theater gewesen und hatte ihm das sagen wollen, weil … es ist nämlich so, bis jetzt hat er dienstags immer kommen können. Da im Theater habe ich ihn aber nicht getroffen, und ich bin wieder nach Hause gefahren.“ „Mit der Straßenbahn?“ „Ja, natürlich.“ „Moment. War jemand in der Straßenbahn, den Sie kennen, der Sie gesehen haben könnte?“ „Nein, das heißt, ja doch. Die Kleine von Wegeners, die hab’ ich mal gesehen, die hat mit einem anderen Mädchen gesprochen. Aber lange konnte ich sie nicht sehen, die Bahn war mächtig voll, und die Wegeners wohnen ja auch nicht so weit draußen wie ich.“ „Sind Sie sicher, daß die kleine Wegener Sie gesehen hat?“ „Nein, das weiß ich nicht.“ „Ah so. Na gut. Und wann waren Sie wieder zu Hause?“ 153
„Gegen sieben, so ungefähr. Ich habe ja noch ein ganzes Stück zu laufen von der Haltestelle aus bis zu mir.“ „Durch welche Straßen müssen Sie gehen?“ „Bloß durch den Graben.“ „Ja. Bloß durch den Graben … Und wann ist Herr Riedel gekommen?“ „Bald danach. Vielleicht so kurz nach sieben. Ich habe ihn gleich wieder weggeschickt.“ „Weil Sie fürchteten, daß Ihr Mann dazukommen würde?“ „Ja, darum. Und …“ „Was – und?“ „Ich habe mit ihm Schluß gemacht.“ Bortfeld sah sie mit unerbittlichem Blick an. Sie zuckte die Schultern. „Vielleicht muß ich noch mehr sagen.“ „Sicher. Zum Beispiel, warum Sie mit Herrn Riedel Schluß gemacht haben.“ Sie sah sich im Zimmer um, hilfesuchend, so als müßte jemand dasein oder kommen, sie von dem Graukopf zu erlösen. Doch der Graukopf wiederholte seine Frage. „Es ist nämlich so“, stockerte sich Endrykje Scholz zögernd weiter, „wie ich meinen Mann … wie wir geheiratet haben, da war ich noch Frisöse. Später bin ich ans Theater gegangen. Dietrich Riedel – ich habe ihn schon richtig gern gehabt. Er kann so schön erzählen. Mit ihm ist es nicht langweilig. Mein Mann ist nicht so gesund. Er ist immer ganz hinüber, wenn er von der Arbeit kommt. Sie müßten mal arbeiten, wie Eisenbahner arbeiten müssen, dann würden Sie das bestimmt verstehen.“ Sie sprach nicht weiter. Bortfeld fragte: „Durch Herrn Riedel hat Ihre Ehe einen Knacks gekriegt, oder wie war das?“ „Nein – so ist das nicht. Ich habe meinen Mann unheimlich gern, aber …“ Wieder mußte Bortfeld ihre Bereitschaft zur Aussage herausfordern: „Was – aber?“ 154
„Jetzt ist mein Mann wieder aufgelebt, so wie er früher war.“ „Darum haben Sie mit Herrn Riedel Schluß gemacht – oder aus welchem Grund?“ Sie gab keine Antwort. Bortfeld versuchte einen Umweg. „Ihr Vorname klingt uns etwas fremdartig, auch Frauen von Ihrer Statur sind bei uns selten. Sind Sie hier geboren?“ „Ja, meine Eltern waren damals Zwangsarbeiter in Deutschland, sie waren Flamen.“ „Waren?“ fragte Bortfeld. „Sie sind, bald nachdem ich geboren bin, neunzehnhundertfünfundvierzig, umgekommen. Die alte Frau, bei der sie gewohnt haben, hat mich behalten, weil keine Verwandten von mir ausfindig zu machen sind.“ „Frau Scholz, auch so kommen wir nicht weiter, und meine Zeit ist knapp. Was war Dienstag?“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Wenn hier alles aufgenommen wird in ein Protokoll, dann will ich darüber nicht sprechen. Und ich bin auch gar nicht verpflichtet dazu.“ „Was glauben Sie denn, warum wir Sie befragen? Könnte es nicht sein, daß Ihrem Mann was zu Ohren gekommen ist von Ihrem Verhältnis mit Dietrich Riedel und daß er, eifersüchtig geworden, sich nun mal vergessen hat? Denn zeitlich könnte er durchaus Herrn Riedel begegnet sein, nachdem Sie ihn weggeschickt hatten.“ Sie antwortete nicht. Bortfeld sagte: „Erzählen Sie mir, warum Sie mit Riedel Schluß gemacht haben, dann werden wir womöglich Ihren Mann nicht befragen müssen.“ Über ihr Gesicht rollten Tränen. Bortfeld dachte – mit ihm selbst unbekannter Grimmigkeit: Großer Himmel, hab’ ich das alles satt. Ich hab’s so schrecklich satt. Ich will nicht mehr! Nicht mehr in fremden Ehen und Familien wühlen, Menschen mit Fragen, die ihnen idio155
tisch vorkommen müssen, quälen; ich hab’ es satt. Und nur scheinbar ruhig, wiederholte er seine Frage. Endrykje Scholz sagte: „Ich habe außer meinem Mann keinen mehr. Ich wollte ein Kind haben. Und mein Mann ist auch ein Kindernarr. Er ist richtig schwermütig geworden, weil keine Kinder kamen, und jetzt …“ Fruchtbar, der Fall Riedel, dachte Bortfeld, wartete, daß sie ihm sage, was er vermutete, fragte, da er umsonst wartete: „Und jetzt kriegen Sie ein Kind. Und Ihr Mann glaubt, es sei von ihm. Und Riedel brauchen Sie nun nicht mehr, so ist es – oder?“ „Ich will unsere Ehe nicht kaputt machen. Mein Mann darf nichts wissen.“ Endrykje Scholz schniefte und schluchzte, wischte Tränen ab, verschmierte Wimperntusche. Bortfeld sagte: „Sie können gar nicht ahnen, wieviel Verständnis ich für Sie habe. Aber es bleibt die Möglichkeit, daß Ihr Mann Herrn Riedel …“ „Nein, dann wäre mein Mann ganz anders gewesen, als er nach Hause gekommen ist.“ „Wie war er denn?“ „Fröhlich, wie er jetzt immer ist, seitdem er das mit dem Kind weiß.“ „Sie haben mir vor Minuten gesagt, Ihr Mann sei immer ganz hinüber, wenn er von der Arbeit kommt.“ Sie nickte, unsicher. Sah auf seinen Mund. Bortfeld fragte: „Ist also nach einem schweren Arbeitstag sehr müde, nicht wahr?“ Mit belegter Stimme, halb Frage, halb Antwort, sagte sie: „Ja, das habe ich doch schon erklärt, oder nicht …“ „Und am Dienstagabend war er fröhlich! – Das haben Sie mir auch schon erklärt“, sagte Bortfeld. Stille, blickloses, verirrtes Suchen. Da hinein Bortfelds nächste Frage: „Aber am Dienstagabend war Ihr Mann nicht hinüber, war nicht müde, war eben nur richtig fröhlich. Das stimmt, ja?“ 156
Endrykje Scholz rührte sich nicht, sagte nichts; sah vor sich hin. „Ob das stimmt, will ich wissen.“ Sie nickte. „Erzählen Sie mir, wie der Dienstagabend verlaufen ist, nachdem Sie Herrn Riedel weggeschickt hatten und Ihr Mann nach Hause gekommen war. Aber lügen Sie nicht, alles läßt sich überprüfen“, sagte Bortfeld. Eine Zeitlang überlegte sie, dann die Antwort: „Ich hatte das Radio an, weil im Fernsehen irgend solch Mist war. Wie mein Mann gekommen ist, da wurde grade ein Lied gespielt, und mein Mann, der hat die Melodie mitgepfiffen. Auch wie er sich gewaschen und umgezogen hat … Ich habe den Abendbrottisch gedeckt – na ja, und dann haben wir gegessen.“ Da sie nicht weitersprach, fragte Bortfeld: „War der Abend damit vorbei?“ Sie schien angestrengt nachzudenken. „Nein, wir haben nach dem Abendbrot Karten gespielt.“ „Welches Spiel?“ fragte Bortfeld. „Romme.“ „Und wie lange?“ „Ziemlich lange.“ „Bis zum Schlafengehen?“ Sie nickte wieder nur, hielt inne, sagte: „Nein, wir sind danach noch ein Stück spazierengegangen, das heißt …“ „Was – das heißt?“ „Ich bin nicht mitgegangen, aber mein Mann wollte noch mal Luft schnappen, ist so’n bißchen vors Haus gegangen. Er ist bald wiedergekommen.“ „Und dann?“ „Sind wir schlafen gegangen. Mein Mann war müde.“ „Aber bis dahin war er es nicht, da war er, wie Sie sagten, fröhlich“, wiederholte Bortfeld. 157
Sie antwortete unsicher: „Darf man das denn nicht?“ „Doch, das darf man, das sollte man sogar möglichst oft sein. Auch ein Abendspaziergang ist gut. Geht Ihr Mann eigentlich jeden Abend oder zumindest öfter abends noch ein Stück spazieren?“ „Eigentlich nicht“, sagte sie, „aber neulich abends wollte er eben noch mal ’raus. Ist denn das schlimm?“ „Nein. Ist nicht schlimm. Und hat er Ihnen gesagt, wohin er gegangen ist?“ „Das hat er nicht, aber … das ist nämlich so, ich habe ihn ja auch nicht danach gefragt.“ „Ah so – ja. Kommen wir zurück zu Herrn Riedel. Sie haben mit ihm Schluß gemacht, weil Sie nun haben, beziehungsweise kriegen, was sie wollten. War da von Ihrer Seite aus nie Zuneigung im Spiel?“ Es dauerte lange, bis sie antwortete. „So richtig nicht. Aber ein Kind wollte ich gern von ihm. Geb’ ich ja ehrlich zu. Bloß – er hatte nie gewollt, so’n außereheliches. Ich habe ihm immer versprochen, daß keiner wissen würde, daß es von ihm ist.“ „Wußte er, daß Ihr Mann – so denke ich mir das nach Ihren bisherigen Aussagen –, daß Sie mit Ihrem Mann keine Kinder haben würden?“ „Ja.“ „Und war Ihrer Ansicht nach bei Herrn Riedel Liebe im Spiel?“ „Ich weiß nicht. Gesagt hat er manchmal, daß er sich sein Leben ohne mich nicht mehr denken kann, aber so was sagen Männer doch schnell, wenn sie was wollen – nicht?“ Bortfeld stand auf, ging ein paar Schritte, verspürte wieder die Kälte in sich, das Frösteln, ging wieder zu seinem Platz, sah seinem Gegenüber ins „irrsinnig schöne“ Gesicht, sah auch, wie prall die Arme der „Heroine“ sich unter dem Mantelstoff abzeichneten, sagte endlich: „Fassen wir zusammen, Frau Scholz. Ihr Mann ist zwar 158
immer gut gelaunt, seitdem er weiß, daß Sie ein Kind bekommen, aber müde, ganz hinüber ist er nach jedem Arbeitstag trotzdem. Doch am Dienstagabend war er nicht müde. Er konnte noch Karten spielen, konnte noch Spazierengehen. Daß er abends noch spazierengeht, ist, wie Sie sagten, ‚eigentlich nicht‘ seine Gewohnheit. Dienstag tat er es. Sie haben ihn nicht gefragt, wo er war. – Folgendes kann ich Ihnen versprechen, Frau Scholz, ermitteln müssen wir in dieser Sache, und nach allem, was wir bisher wissen, können wir Ihren Mann nicht aussparen, doch werden wir im Interesse Ihrer Ehe mit äußerster Diskretion vorgehen. Ja – im Interesse Ihrer Ehe! Zu klären bleibt, ob es ein Widerspruch ist, daß Sie mir einmal sagen, sie hätten Riedel richtig gern gehabt, und kurz danach erklären, Zuneigung wäre von Ihrer Seite aus nicht im Spiel gewesen. Wie spät war es eigentlich, als Ihr Mann vom Spaziergang zurückkam?“ Sie sah überrascht auf. „Das weiß ich nicht mehr. Vielleicht elf oder so.“ Bortfelds Blick wurde dunkler. „Im Interesse Ihrer Ehe, sagte ich, und ich werde dabei bleiben“, begann Bortfeld von neuem. „Aber haben Sie sich mal überlegt, wieviel Schaden womöglich in Herrn Riedels Ehe angerichtet wurde?“ Endrykje Scholz schwieg, senkte die Lider. Bortfeld fragte: „Seit wann sind Sie mit Herrn Riedel intim?“ „Fast drei Jahre.“ Bortfeld fragte: „Und seit wann sind Sie schwanger?“ „Im vierten Monat bin ich.“ „Und am Dienstagabend haben Sie mit ihm Schluß gemacht. Sie haben ihn weggeschickt; er sollte Sie nie wieder besuchen?“ „Ja“ Nach einer Pause sagte Bortfeld – und es kam etwas 159
Schmetterndes in seine Stimme: „Ich verstehe sehr gut, daß Sie ein Kind haben möchten; Sie haben keine Angehörigen mehr, und überhaupt, welche normale Frau wünscht sich nicht ein Kind. Ich verstehe auch, daß Sie gerade jetzt Ihre Ehe nicht gefährden wollen. Aber ist Ihnen, als Sie beschlossen, mit Herrn Riedel Schluß zu machen, ein einziges Mal der Gedanke gekommen, daß es Herrn Riedel verdammt hart treffen könnte, wenn er … nachdem das geklappt hat, was Sie sich seit drei Jahren wünschten, er aber nie wollte … wenn er nun plötzlich abgeschoben wird? Und das, nachdem seine Ehe zum Teufel gegangen ist, vielleicht unter anderem auch durch das jahrelange Verhältnis mit Ihnen?“ Unter seinen Fragen, unter dem Schmettern in seiner Stimme hatte sich Endrykjes Kopf allmählich gebeugt. Dann klang ihr das Schmettern weit weg. „Antworten Sie mir gefälligst!“ „Ich sage es ihm seit Wochen, ich …“ Sie stand unvermutet auf, wankte kaum merklich, nestelte am Blusenkragen, atmete mit geöffnetem Mund, flach, japsend. Ihr Gesicht wurde kalkig, ihr Blick schien sich nach innen zu kehren. Plötzlich sackte sie in die Knie. Ihre Hände rutschten über den Fußboden, ihr Kopf sank kraftlos auf die Arme. „Den Arzt, Genossin Reif!“ rief Bortfeld. Die Reif stand wie gelähmt. Bortfeld schmetterte, krächzte: „Den Arzt, verdammt noch mal! Schnell! Sind Sie taub?“ Abgewandt, nur den Kopf seitlich gedreht, sah er auf die ohnmächtige Endrykje Scholz, dachte: Heroine. Is wohl nicht. Noch bevor der Arzt da war, kam Klut von draußen, noch Schneeflocken auf den Schultern. Die sah Bortfeld an. Nicht das Gesicht des Genossen. Und als Wohltat empfand er die klare Winterluft, die dessen Kleidung anhaftete und sich rasch ins Zimmer verströmte. 160
„Was ist passiert, Genosse Oberleutnant?“ fragte Klut. „Sie ist im vierten Monat schwanger“, sagte Bortfeld erzwungen gleichmütig. Der Arzt kam. Die Krankenschwester auch. „Moment“, sagte Bortfeld. „Ich halte das zwar für echten Pelz, aber ich will trotzdem ein paar Fusseln davon ins Labor geben.“ Aus dem Pelzkragen der Endrykje Scholz zupfte er heraus, was er zu brauchen meinte. Er machte es geschickt. Es fiel nicht auf. Zwei Kolleginnen, vier Kollegen von ihm waren mit einemmal im Zimmer, neben Klut. Jemandem gab Bortfeld die Fusseln. „Ich muß die vergleichende Analyse, die zu den Riedelschen und die zu den Thermühlenschen, sofort haben. Richten Sie das aus.“ Der Arzt sah auf seine Armbanduhr. Die andere Hand hatte er an Endrykjes Puls. „Geht sicherlich schnell vorüber“, sagte der Arzt, „aber wir werden sie mit ’raufnehmen.“ Endrykje Scholz merkte nicht, daß sie von einem Arzt und einer Krankenschwester hinausgetragen wurde. Ihr Kopf lag im hellen Pelzkragen ihres Wintermantels wie in einem Heiligenschein. Als Klut und Bortfeld wieder allein waren, fragte Klut, ob die Scholz so ohne weiteres umgefallen sei. „Nein, nein“, sagte Bortfeld, „mit weiterem – durchaus mit!“ Sein Blick war dunkelgrau, die Falten von den Nasenflügeln bis zum Mund waren sehr tief geworden. Klut fragte nicht mehr. Er wußte (was auch Hermens am Dienstagabend gedacht hatte), wenn der Chef sarkastisch wurde, sah es schlimm aus. Bortfeld bestellte sich per Telefon einen Tee: „… schwarz und brühheiß, bitte.“ Nachdem der Tee vor ihm stand, ließ er sich von Klut berichten. Zuerst wollte er wissen, was mit Waganzki sei, wann er den sprechen könne. 161
„Der hat bis zwölf Probe – und wieder ab sechzehn Uhr; bis wann, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Laut Probenplan bis zwanzig Uhr; dehnt sich aber vielleicht aus.“ „Arbeitet er in einer Riedel-Inszenierung?“ fragte Bortfeld. „Ja. Der Intendant hat die Regie aushilfsweise übernommen.“ Bortfeld zog die Stirn kraus. „Hast du Thermühlens Eltern gesprochen?“ „Auch das. Die Sache mit dem Zettel stimmt. Wann er in der Külzstraße gewesen ist, wissen sie nicht, sie waren – tatsächlich, wie Oskar gesagt hatte – ab neunzehn Uhr dreißig ‚in Sachen Ideologie‘ unterwegs. Bevor sie weggingen, war kein Zettel im Kasten. Das wissen sie genau. Sie sehen nach, sooft sie an dem Briefkasten vorbeigehen. Verständlich bei Leuten, die sich gesellschaftlich derart engagieren – da kann jederzeit eine wichtige Nachricht gebracht worden sein. Also bleibt es rätselhaft, wie er es geschafft hat, nach neunzehn Uhr dreißig in der Külzstraße zu sein und gegen zwanzig Uhr schon im ‚Triesel‘, um sich zu schlagen. Es bleibt rätselhaft, falls er wirklich durch den Graben gegangen ist.“ Bortfeld sagte: „Wenn du die Widersprüche in Endrykje Scholz’ Aussage liest – die Reif hat protokolliert –, dann kommen dir Oskars Widersprüche fast lächerlich vor.“ Klut fragte: „Chef, wenn man die Scholz so ansieht – haben Sie mal erwogen, daß sie selbst es gewesen sein könnte?“ „Das habe ich. Allein, mir fehlt der Glaube …“, sagte Bortfeld. Trank seinen Tee, fragte: „Übrigens, wo ist Hermens?“ „Zur Kinder- und Jugendsportschule. Der Direktor war telefonisch nicht zu überzeugen, daß Thomas unbedingt aus dem Unterricht geholt werden müsse.“ 162
Bortfeld sagte: „Ja, und so was freut uns immer schrecklich.“ Er fragte nach Thermühlen und nach Michaelis. „Thermühlen habe ich hier, der wartet in der Neunzehn. Michaelis ist noch nicht zurück oder schon wieder verschwunden.“ „Ausgerechnet er“, sagte Bortfeld. „Ich weiß, Chef, Ihr stärkster Verdacht liegt auf Michaelis. Ich habe mir schon zusammengereimt, warum. Genaue Fakten werden Sie mir sicher noch sagen. Aber – ganz ehrlich, mir würde das Mädchen, die kleine Sabine, leid tun, wäre er es gewesen.“ Bortfeld sah ihn schweigend an. Klut sagte: „Sie ist noch ein richtiges Kind. Sie geht mir bloß bis hier.“ Er zeigte, wie weit nur. „Man kann sich kaum vorstellen, daß überhaupt schon ein junger Mann …“ Bortfeld lachte. Sagte: „Du machst mir Spaß. Hast doch selbst mit zwanzig geheiratet.“ Klut entgegnete: „Ja, aber meine Frau ist drei Jahre älter als ich. Dagegen die Kleine …“ Eine Weile schwieg Bortfeld, dann, nachdenklich, sagte er: „Weißt du, das Alter ist vielleicht in den meisten Fällen ziemlich unwichtig. Aber wie ihre Mutter mir gesagt hat, Michaelis ist Sabines erste Liebe. Ein abgedroschener Begriff, zugegeben. Trotzdem. Ich glaube, nie wieder empfindet der Mensch so intensiv, so aufzehrend und so beflügelnd auch, wie bei der ersten Liebe. Man vergißt das. Spätere Erlebnisse überdecken das, es wird verdrängt, aber …“ Er sprach nicht weiter, und dann sagte Klut: „Aber es ist so, ich gebe Ihnen recht, wenn ich nachdenke. Leider haben wir keine Zeit, uns jetzt darüber zu unterhalten. Außerdem kämen wir beide in den Geruch der Gefühlsduselei. Täter haben uns nicht leid zu tun! Also fangen wir Michaelis ein.“ 163
„Ja, ihn.“ Hermens kam. Sagte: „Thomas und Sonja Riedel sind da. Sie warten in der Fünfzehn.“ „Sonja auch?“ fragte Klut. „Sie war nicht abzuweisen, zwei Unzertrennliche“, sagte Hermens. „Unzertrennbare“, verbesserte Klut. Bortfeld horchte auf, sah Klut an, sagte: „Das ist es! Sie sind unsere Chiffre. Alles, was wir bisher ’rauskriegen konnten, soweit es Riedel mittelbar oder unmittelbar angeht, ist irgendwie unzertrennbar …“ Der Arzt informierte telefonisch: „Frau Scholz ist wieder bei Besinnung und vernehmungsfähig.“ Bortfeld gab Order, sie ins Theater an ihre Arbeit zu schicken. Genosse Rinke solle sie bis dahin (oder bis wohin sonst) beobachten. Dann – seinen Unzertrennbarkeits-Überlegungen durchaus nicht entrissen – trieb er wieder zur Eile an. Er riet Hermens, welche Vorsichtsmaßnahmen er anwenden solle, wenn er jetzt wegen Rudi Scholz ermittle. In der Zentrale ließ Bortfeld nochmals fragen, ob der blaue Trabant gesichtet sei. (Die Antwort war: Nein.) „Klut, du sprichst jetzt mit den Zwillingen. Was dabei vordringlich ist, das weißt du ja.“ Klut nickte so unstolz wie möglich. Thermühlen habe zu warten. Und er selbst, Bortfeld, werde sich zu Waganzki fahren lassen – die Adresse habe er. Klut und Hermens sahen ihn skeptisch an; auch verwirrt. Bortfeld lächelte, dachte: Ich weiß, was in euren Köpfen vorgeht. Da ist was von ungesunder Hektik im Urteil: in eurem Urteil über mich, zur Zeit. Und tatsächlich … ich hatte geglaubt, wenn die Riedelsache abgeschlossen ist, wird’s schnell vorbei sein mit meiner Ungesundheit; lasse mich, wenn’s sein muß, vielleicht zwei oder drei Tage pflegen und schön verwöhnen von Ellen (die nun schon seit zehn Jahren ganz ohne Standesamt 164
und Schleier zur Stelle ist, sobald sie sich für „unmöglich ersetzbar“ hält – was dann auch immer stimmt). Und dann, nach ein paar Tagen Dienstausfall, haben wir die lumpige Erkältung überstanden. So hatte ich mir das gedacht. Aber jetzt ahne ich schon, von dieser Ungesundheit werde ich eine lange Genesungsdauer brauchen. Diese Ungesundheit ist keine lumpige Erkältung – Herr Riedel! In seine Gedanken hinein sagte Klut: „Chef, das geht nicht so. Waganzki hat bis zwölf Uhr Probe.“ „Und jetzt ist es wie spät?“ „Uhrenvergleich. Zehn Uhr vier.“ „Auch gut. Ist mir Zeit geschenkt, deine Gesprächsnotizen zu lesen, Klut. Und wie ist das überhaupt, Hermens, was hat denn der Professor über Riedels Aussichten gesagt?“ Hermens sprach mit medizinisch-fachmännischer Selbstverständlichkeit vom Circulus vitiosus. Erklärte. Sprach auch von der Kopfwunde, die weniger gefährdend sei, als zuerst angenommen wurde, sagte: „Das steht alles im Protokoll.“ „Also noch immer Lebensgefahr“, sagte Bortfeld. Und dachte: verdammte Scheiße! Er riet Hermens, das Protokoll der Scholz-Aussage durchzulesen, die Reif solle es ihm geben. Er wandte sich an Klut: „Stelle mir die Anlage ein da drüben. Ich werde Gesprächsnotizen und Professor-Protokoll lesen und nebenher deine Unterhaltung mit den Zwillingen verfolgen.“ Als er allein war, stemmte er sich mit beiden Händen von der Kante seines Schreibtisches ab, drückte sich ins Rückenpolster seines bequemen Stuhls, schloß erschöpft die Augen. Plötzlich fiel ihm sein Traum ein. Deutlich sah er wieder den blanken, in der Sonne blitzenden Stahl auf erlabend frischgrüner Wiese. Er hielt nichts von Träumen oder gar Traumdeuterei, aber er wußte in diesem Moment, daß er Jens Michaelis 165
als Laertes gesehen hatte auf der Bühne des Schauspielhauses. Nie vorher und nie nachher, soweit er sich entsinnen konnte. Bei dem Laertes seines Traumes war kein Hamlet, kein Gegner gewesen. Auch daran erinnerte er sich. Ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Das Labor meldete ihm, daß es sich bei dem Kragen des Wintermantels der Scholz um echten Pelz handle. Der Webpelz aus Thermühlens Kutte sei verschmiert, um nicht zu sagen verdreckt, auf jeden Fall abgenutzt, abgetragen. Die Webpelzfusseln, die unter Riedels Fingernägeln waren, stammen von sauberem Material. Die schriftlich fixierte Analyse sei fertig. „Besten Dank“, sagte Bortfeld. Lehnte sich wieder zurück. Dachte, hat uns Klut nicht berichtet, daß auch die Riedel-Zwillinge pelz- oder webpelzgefütterte Sachen trugen, am Dienstagabend? Doch dann hörte er schon aus der Fünfzehn, daß Klut die Zwillinge begrüßte, hörte Kluts angenehme, vertraute und Thomas’ rauhe Stimme. Und in Gedanken hörte Bortfeld nun sich selbst schon mit kratziger Stimme sprechen; ihm klang sie etwa so, wie das Schurren eines harten Straßenbesens auf Zementboden klingt. „Herr Waganzki“, hörte er sich fragen – indem er sich vornahm, das zu fragen –, „können Sie mir bitte ein genaues, unverfälschtes Charakterbild Ihres Kollegen Jens Michaelis geben? Ich brauche Ihre Hilfe.“ Er wollte das Gespräch aus der Fünfzehn verfolgen, aber seine Konzentrationsfähigkeit war wohl doch in Mitleidenschaft gezogen. Er dachte: Stimme … Sie ist unser variabelstes Instrument. „Wenn er durchkommt“, hat mir die Ärztin gestern am Telefon, nach meinem Gespräch mit der Wegener, gesagt, „wird er vielleicht mit Hilfe gründlicher zielgerichteter Therapie eines Tages wieder Laute von sich geben können, aber – wer weiß das? Genosse Oberleutnant, wir stehen vor einem Berg aus Rätseln.“ – „Wir 166
auch, Frau Doktor“, hatte ich ihr geantwortet. Meine Hand war nicht so ruhig, wie sie hätte sein müssen, als ich den Hörer auflegte, das weiß ich noch. Die Signallampe der Sprechanlage leuchtete auf. Bortfeld drückte die Taste. Genosse Rinke meldete: „Frau Scholz ist nicht ins Theater gegangen, sondern zum Bezirkskrankenhaus.“ Bortfeld gab Klut Bescheid, Thermühlen müsse bleiben, er bestellte seinen Wagen, ließ sich zum Krankenhaus fahren. Klut setzte das Gespräch mit den Zwillingen fort, fragte: „Wie ist der Name dieser Frau – oder dieses Fräuleins?“ „Wissen wir nicht.“ Beide logen es zugleich. Hastig, überhastet. Klut dachte, wollen sie sich gegenseitig vor einem Fehler beschützen? Sich oder den Mann der Scholz? „Wenn Ihr Vater am Leben bleibt, was wir hoffen“, sagte Klut, „dann …“ „Klar, bleibt er am Leben“, fiel Thomas ihm ins Wort. Drehte den Kopf fast nach hinten, preßte die Augen zu, einen Pulsschlag lang. Hatte wieder den kurzen Riß in der linken Brustseite. Sah die dürre Alte wieder vor sich. Hörte ihr Schluchzen. Hörte seine Schwester sagen: „Er hat schon öfter so einen Kreislaufkollaps überstanden, da hätte er schon manchmal ins Krankenhaus gemußt. Bloß jetzt ist das alles schlimmer.“ Thomas, indem er seine Schwester wieder ansah, sagte: „Die Ärztin hat mir zugesichert, daß er auch wieder sprechen können wird.“ Klut sagte: „Darauf bauen wir auch. Doch bis dahin kann viel Zeit vergehen. Sie sollten sich mit dem Gedanken vertraut machen. Und Ihr Vater wird dann Hilfe brauchen. Auch Ihre Hilfe. Darum ist mir – wenn ich Sie so anhöre – nicht bange. Aber er wird auch die Hilfe seiner …“ 167
Impulsiv sagte Sonja: „Auch Mutti wird ihn nicht im Stich lassen. Bestimmt jetzt nicht mehr.“ Eine Weile saßen die drei still. Sonja dann, nickte wieder mit steifem Nacken, sagte: „Vielleicht mußte das erst kommen.“ Thomas sah irgendwohin. Klut dachte an Inge Riedels „Er ist mir gleichgültiger als Ihr Handschuh“ und an ihr „Ein Schlußstrich – untilgbar“. Das Gespräch mit Thermühlen ging ihm bruchstückhaft durch den Kopf. Er sagte: „Von Ihrer Großmutter wissen wir, daß Ihre Mutter nach Warschau gereist ist … nur wenige Stunden nach dem Überfall. Mußte diese Reise Ihrer Meinung nach sein?“ „Die mußte sein“, sagte Thomas, „da geht’s um einen neuen Vertragsabschluß. War nicht aufzuschieben. Außerdem …“ „Außerdem?“ fragte Klut. Die Zwillinge schwiegen. Nach einer Weile, widerwillig, sagte Thomas: „Ach, das ist Scheiße, über so was alles reden zu müssen. Hat denn mein Vater die blöde Anzeige nicht zurückgenommen?“ „Was ist außerdem?“ fragte Klut und sagte: „Es bleibt unter uns, was Sie mich wissen lassen. Sie können Ihrem Vater nur helfen, wenn Sie aufrichtig sind.“ „Okay. Außerdem ist es so, daß Mutti nicht auf Vati zugehen würde, ganz egal, was passiert ist. Er muß schon selber kommen. Aber ich denke nicht daran, Ihnen den ganzen Roman zu erzählen. Hat denn unser Vater die Anzeige wirklich nicht zurückgenommen?“ „Ich werde Ihre Fragen noch beantworten“, sagte Klut, „doch zunächst frage ich. Haben Sie, Thomas, am Dienstagabend mit Oskar Thermühlen gesprochen?“ Da wollte Sonjas Hand wieder zum Mund hoch. Sie hielt mitten in der Bewegung inne. Sah Klut an. „Hab’ ich“, sagte Thomas. „Wissen Sie noch, wann das war?“ „Weiß ich. Ich war auf seiner Bude gewesen, gegen 168
sieben ungefähr. Er hatte sich total besoffen. Hat unheimlich Terror gemacht, weil mein Vater ihm mittags irgendwelche dämlichen Worte an den Kopf geknallt hatte und weil … na klar, Oskar ist nicht auf den Mund gefallen, der hat unserm Vater ganz schön was hingefetzt. Das war um die Einwilligung zur Heirat gegangen und um das Kind, das Sonni wegbringen lassen sollte, denn das ist drin in Vaters Schädel, daß Sonni Sportkarriere macht und sonst nichts. Ruhm ist für Vater alles. Na ja, und wie ich zu Oskar gekommen bin, da wollte er unbedingt zu seinen Eltern. Die wohnen im Süden. Man konnte ihn aber in dem Zustand nicht allein durch die Gegend schießen lassen. Bis zum Graben ’raus sind wir gefahren, Straßenbahn, die Zehn. Oskars Eltern waren nicht zu Hause, Oskar hat ihnen eine Botschaft in den Briefkasten gesteckt. Hat gemeint, es ist eine Botschaft.“ „Was Geschriebenes?“ „Ja. So’n rausgerissenen Zettel aus seinem Notizbuch hat er beschmiert. Richtig schreiben konnte er nicht mehr.“ „Haben Sie gelesen, was er schrieb?“ „Ja, was von sozialistischem Gruß oder so.“ „Und dann?“ Wieder stieß Thomas verächtlich Luft durch die Nase. „Ja – dann wollte er erst recht noch weitersaufen. Er wollte in den ‚Triesel‘. Das ist so’ne hübsche Kneipe. Sonni kennt die. Weil er nicht abzubringen war, habe ich ihn da auch noch hingebracht, aber danach mußte ich zum Training. Gestern hat er mir bei Ramter erzählt, daß er im ‚Triesel‘ dann wohl auch noch ziemlich viel Terror gemacht hat. Sie wissen das doch alles, Sie haben ihn doch vernommen. Er hat uns bestimmt nicht angeschwindelt.“ „Sind Sie mit Oskar durch den Grabenweg zum ‚Triesel‘ gegangen?“ „Um Gottes willen. Den kürzesten Weg, wenn ich einen bei mir habe, der so besoffen ist.“ 169
„Und welches war der kürzeste?“ „Natürlich der Beatenweg.“ Einen Augenblick überlegte Klut, dann behauptete er: „Das sagen Sie jetzt, weil Sie wissen, daß Ihr Vater nicht im Beatenweg überfallen wurde.“ „Nee, das sage ich, weil es so war. Oder würden Sie mit einem Besoffenen die Strecke Külzstraße –Trohngasse in zwanzig Minuten schaffen, wenn Sie durch den Grabenweg gehen? Das müßten Sie mir mal vormachen.“ „Richtig“, sagte Klut, „aber wer beweist mir, daß Sie nur zwanzig Minuten brauchten, um von der Külzstraße in die Trohngasse zu kommen?“ „Kann ich nicht beweisen, klar. Kann Ihnen bloß sagen, daß wir nach halb acht in der Külzstraße waren und daß Oskar schon kurz nach acht in den ‚Triesel‘ gewankt ist. Ich bin seinetwegen zu spät zum Training gekommen.“ „Hat jemand Sie und Oskar gesehen in der Külzstraße?“ „Glaube ich nicht. – Warum fragen Sie uns eigentlich, wenn Sie uns doch nicht glauben, wenn Sie erst …“ „Ach, Junge, wenn wir alles glauben wollten.“ „Wir haben Ihnen nichts Unwahres gesagt.“ Klut sah von ihm zu Sonja und wieder zu Thomas. Sagte lächelnd: „Doch, Thomas. Zumindest eine Antwort war falsch. War gelogen. Ich bin überzeugt, daß Sie beide den Namen der Frau kennen, mit der Ihr Vater ein Verhältnis hatte.“ Beide schwiegen. Ganz weit in sich – oder ganz weit von sich weg – erschrak Klut für den Bruchteil einer Sekunde: Eben habe ich von Riedel im Imperfekt gesprochen. Zeitform des Vergangenen. Die beiden haben es nicht bemerkt. „Jetzt beantworte ich Ihre Frage“, sagte er schnell. „Ihr Vater hat die Anzeige nicht zurückgenommen.“ Beider Blicke zuckten ineinander. Dann enttäuscht, auch un170
gläubig, sahen sie Klut an. Er sagte: „Ihr Vater hatte gar keine Anzeige erstattet.“ „Und warum dann das alles?“ fragte Sonja leise. „Weil an Ihrem Vater ein Verbrechen verübt wurde. Und das müssen wir aufklären. Auch ohne seine Anzeige.“ Thomas schwieg verbissen. Dachte an seinen Besuch im Krankenhaus. Sagte plötzlich, das Gesicht heftig gegen Klut gerichtet: „Und ob Sie das glauben oder nicht, unser Vater hat die Sache mit Wegener bis heute nicht verdaut. Er hat nämlich jede Menge Gewissen, unser Alter, auch wenn man Ihnen andere Sachen über ihn erzählt.“ „Wissen Sie, was wir überhaupt nicht verstehen?“ sagte Sonja gegen Ende der Unterhaltung. „Daß man alle Schuld an Wegeners Tod unserem Vater in die Schuhe schiebt. Stimmt schon, daß er Wegener nicht neben sich haben wollte, aber die endgültige Entscheidung hat doch immer der Intendant.“ Nach kurzem Überlegen sagte Klut: „Das mit dem Intendanten ist wohl überhaupt so eine Sache für sich …“ „Weiß der Geier!“ bekräftigte Thomas. Nach dem Gespräch mit den beiden jungen Menschen hoffte Klut, der Täter sei nicht in dem Kreis zu suchen, den sie bis jetzt durchstöbert hatten. Daß zur gleichen Zeit Bortfeld wieder im Stationszimmer der Ärztin saß, ihr Gesicht erforschte, daß Frau Doktor Kündlers Miene Bortfeld beunruhigte, daß sie endlich sagte: „Genosse Oberleutnant, wir haben einen Experten hier. Er hat Patient Riedel ganz gründlich untersucht, man will an seiner Diagnose zweifeln, aber sie wird stimmen“, das alles wußte Klut nicht. Die Ärztin sagte zu Bortfeld: „Sie haben gestern die Zettel gelesen.“ Bortfeld fragte: „Hat er weiter nichts aufgeschrieben in der dazwischenliegenden Zeit?“ 171
„Nein, eben nicht. Das ist es. Wir alle haben gedacht bei den ersten Zetteln, der Patient will die Sätze nicht ausschreiben. Wir fürchten jetzt, er wird bald gar nicht mehr schreiben können. Sie wissen von der Unterredung mit seinem Sohn Thomas?“ Bortfeld nickte. „Dabei hat es sich schon gezeigt, daß er bald auch nicht mehr schreiben kann“, sagte die Ärztin. „Jetzt, er beginnt, es werden ein oder zwei Buchstaben – und vorbei. Er will. Aber ihm gelingt das nicht. Ebenso wie mit der Sprache. Es ist wie bei sehr alten Leuten der Schlaganfall, auch von Symptomen her gesehen, ist es so. Darum sowenig Hoffnung auf Heilung. Auch wenn der Patient noch lange leben sollte.“ „Ist das anzunehmen?“ fragte Bortfeld. „Wir versuchen immer wieder, den Kreislauf stabil zu bekommen. Aber ich kann Ihnen nichts sagen. Auf Ihre Frage nicht antworten.“ Irgendwo im Haus war Wimmern. Bortfeld sah zum Fenster. Spärlich-kleine Flocken. Draußen lief Endrykje Scholz. Sie hatte Riedel nicht sehen dürfen. Von seinem Wagen aus gab Bortfeld wieder Order, Jens Michaelis zu suchen. Ließ sich kurz über das Gespräch mit den Zwillingen unterrichten. Befahl, daß Thermühlen weiter zu warten habe. Fragte, ob Hermens zurück sei. Erhielt verneinende Antwort. Ließ sich zu Waganzki fahren; wortlos. Der Vertrauensmann Waganzki bewohnte ein enges Zimmer, ausstaffiert mit wenigen Möbeln. Selbstgetünchte Wände. Daran zwei Farbdrucke, ein ToulouseLautrec, ein van Gogh. Waganzki war erst vor Minuten nach Haus gekommen. Hatte sich mit einem Buch auf die Couch gelegt. Kein Textbuch. Dostojewskis „Memoiren aus einem Totenhaus“ las er. „Ich war schon eingeschlafen“, sagte Waganzki. „Habe höchstens vier Zeilen gelesen, dann war ich weg.“ 172
„Bei der aufregenden Lektüre?“ fragte Bortfeld. „Ja. Wenn man so fix und alle ist wie ich …“ „Ihr Lieblingsschriftsteller?“ „Unter anderen auch er, ja.“ „Interessiert mich“, sagte Bortfeld. „Und wer noch?“ „Ischokas Meras. Die Carson McCullers. Thomas Mann. Strittmatter. Aitmatow. Noch viele – wenn ich alle aufzählen sollte … Das ist der Vorteil des Lesers, er kann sich seine Lieblingsschriftsteller aussuchen, der Schriftsteller seine Lieblingsleser nicht.“ Bortfeld hatte Waganzkis Gesicht studiert, während der sprach. Kantiges, auf bestechende Weise unregelmäßig geschnittenes Gesicht. Das Kinn im dicken rötlichblond melierten Vollbart eingepackt. Volles Haupthaar, eher rostrot als blond; schwer zu definieren. Dieser Kopf auf festem Hals und breiten Schultern. Diese Lieblingsschriftsteller. Die Rollen, in denen ich dich gesehen habe. Warum bist du ausgerückt? dachte er. Warum, nachdem du ehrlich hattest aussagen wollen, kein Aufbauschen, kein Verheimlichen? Er fragte: „Sie waren auch am Dienstagabend hier in Ihrem Zimmer, Herr Waganzki?“ „Ja. Ich hatte frei. Dienstagabend, da hab’ ich den Dostojewski angefangen.“ „Ah so.“ Pause. Verwunderung über einen zuvor nicht vorhandenen Verdacht. Dann die Frage: „Kann sich jemand dafür verbürgen, daß Sie am Dienstag während des ganzen Abends hier waren?“ Waganzki sagte: „Nein. Nicht mal die Hauptmieterin der Wohnung. Sie ist seit zwei Wochen nach drüben verreist. Ich bin ganz ohne Alibi, wenn Sie das meinen.“ Bortfeld sagte: „Wir haben erfahren, daß Sie der Vertrauensmann des Schauspielensembles sind.“ „Trotzdem – kein Alibi, Genosse Oberleutnant.“ Bortfeld sagte: „Es ist erschwerend für uns, daß die meisten Ihrer Kollegen kein Alibi haben.“ 173
„Und es ist logisch“, sagte Waganzki. „Jeder freut sich über einen freien Abend. Proben sind anstrengend. Mitunter Strapaze. Auch Vorstellungen sind’s. Das weiß man sicher nicht, wenn man nicht drinsteckt.“ „Ich habe großen Respekt vor Ihrer Arbeit. Vor jeder.“ Waganzki sah ihn an, wartete. „Aber Sie haben recht“, sagte Bortfeld, „wenn man nicht drinsteckt … Erzählen Sie mir was vom Anstrengenden.“ „Sind Sie deswegen hergekommen?“ „Nein. Trotzdem, bitte, erzählen Sie.“ „Dann nehmen Sie allein das Physische“, sagte Waganzki. „Wenn Sie zum Beispiel irgendwo anstehen müssen, Post, ein überfüllter Laden, was Sie wollen – wenn Sie eine halbe Stunde anstehen müssen, verfluchen Sie das Leben. Unsere Proben dürfen gesetzlich insgesamt pro Tag sieben Stunden dauern. Mit Zustimmung der Kollegen werden’s in Ausnahmefällen mehr. Da gibt es dann manchen Tag, an dem eine Szene geprobt wird, in der man selbst kaum Text hat. Man hat nur auf der Bühne zu stehen und auf den Text des Partners zu reagieren. Das ist schlimmer als sieben Stunden anstehen.“ Er lächelte. „Ich bin eben von solcher Probe gekommen. Darum ist mir gerade das eingefallen.“ „Und nach solch einem Tag ist man glücklich, wenn man sich abends ausstrecken kann“, sagte Bortfeld. „Exakt, so ist es. Ich stelle dann nicht mal die Glotze an. Höchstens eine wissenschaftliche Sendung. Die lenkt ab. Aber bei Filmen oder Fernsehspielen wird’s im gewissen Sinne doch wieder Arbeit. Man guckt, wie die Kollegen von der Mattscheibe ihre Rollen versauen oder meistern. Rums, schon ist man wieder ganz Konzentration.“ Bortfeld war mit sich zufrieden, das Gespräch relativ unverfänglich begonnen zu haben. Er fragte: „Nun sagten Sie, daß Sie am Dienstagabend den Dostojewski angefangen haben. Ist das Entspannung?“ 174
„Auf jeden Fall ist es damit ganz anders. Selbst wenn man sich in die Gestalten versetzt, ich meine, wie man sie spielen würde, hätte man mal das Glück, dann ist das so was wie in den Wolken schweben oder so. Ich kann es nicht besser beschreiben. Geht es Ihnen nicht ähnlich, wenn Sie einen Kriminalroman lesen?“ „Da haben Sie recht. Den Erfolg erlebt man mit. Von dem ganzen Sorgen- und Problemkram will man nichts kennen. Aber wir sind in der Wirklichkeit. Wir haben Probleme. Gleich ein Problem. Gestern, mittags, hörten wir zufällig durch die offengelassene Tür des Konzimmers, daß Sie dem Intendanten mit Vehemenz widersprochen haben, als er bat, von kleinlichen Streitereien mit Riedel nicht zu reden. Später wollten wir uns mit Ihnen unterhalten, und ausgerechnet Sie waren aus dem Haus. Warum? Was hat Sie bewogen, gegen unsere Anordnung das Haus zu verlassen?“ „Muß ich darauf antworten?“ fragte Waganzki, und die Brauen zogen sich über Augen und Nasenwurzel zu einem derben Strich zusammen. „Aber ja. Ich bin Ihnen sozusagen nachgelaufen, nicht zuletzt, um das zu erfahren.“ Waganzki sagte: „Man ist nicht gern Held des Tages und gleich danach Feigling. Aber diesen Eindruck müssen Sie von mir haben. Folgendes war: Der Intendant erzählte mir, daß Riedel nie mehr werde sprechen können. Das hat mich umgehauen.“ Er sah eine Weile das Plakatbild von Toulouse-Lautrec an. Sprach weiter: „Was würden Sie anfangen, wenn sie als Kriminalist plötzlich erblindeten?“ Bortfeld reagierte nicht. Waganzki sagte: „Ihr Beruf, in den Sie alle Fähigkeiten und Kräfte, einfach alles, alles investiert haben, wäre verloren, Sie mit. Riedel, mag er sein, wie er will, hat für seinen Beruf gearbeitet, wie sich’s kaum beschreiben läßt. Und jetzt keine Stimme mehr – mein 175
Gott, man kann das nicht zu Ende denken. Es hat mich eben derart umgehauen, daß ich nicht mehr gewußt habe, was ich Ihnen hätte antworten sollen. Ich konnte nicht im Haus bleiben. Kreiden Sie mir’s an, wie Sie wollen.“ Stille in dem hellen Zimmer zwischen Lautrec und van Gogh. Dann Bortfeld sehr leise, nachdenklich langsam: „Seltsam, Herr Waganzki … ich hatte angenommen, Intellektuelle sind Menschen, die das Leben ganz erfassen wollen. Nie hätte ich gedacht, daß sie vor dem Leben davonlaufen.“ Waganzki stand auf, ging die vier Schritte, wandte sich Bortfeld zu, blickte auf dessen Rücken. Fragte: „Darf man das so auslegen, Genosse Oberleutnant?“ Bortfeld antwortete nicht. Fragte: „Hatten Sie in Ihrer Funktion als Vertrauensmann mehr als andere mit dem Oberspielleiter Riedel zu tun?“ „Natürlich, schon dadurch, daß ich mich seit zwei Spielzeiten für die Kollegen einzusetzen hatte. Dadurch kam es zwischen mir und ihm auch öfter zu Auseinandersetzungen. Denn – leider hat er nicht viel übrig für die Probleme anderer; besonders dann nicht, wenn es private Sorgen sind, echte Notfälle zum Beispiel.“ „Gab es solche Notfälle häufig?“ „Wo gibt es die nicht. Das Ideal wird angesteuert, aber wir sind noch entfernt; wem sage ich das …“ „Und mußten Sie mit solchen Notfällen zu Riedel öfter als zu anderen Spielleitern?“ „Natürlich. Das ergibt sich. Ein Oberspielleiter muß jederzeit präsent sein. Geht man mit einem Problem erst zu einem anderen, wird man, wenn’s schwer zu lösen ist, an den Oberspielleiter verwiesen. Er ist gewissermaßen der Oberhirte jeder Inszenierung.“ „Hat auch Wegener, wenn Sie zu ihm kamen, die jeweilige Sache an Riedel weitergereicht?“ „Wegener – müssen wir über ihn sprechen?“ 176
„Zunächst bitte nur meine Frage beantworten“, sagte Bortfeld kühl. „Nein, Wegener hat sich, wenn’s irgend ging, um jeden gekümmert, bei der Arbeit, auch bei Privatem, wenn es von ihm gefordert wurde. Schon das hat ihn für uns unersetzbar gemacht.“ „Also halten auch Sie nichts von dem Wort, jeder sei ersetzbar. Gut. War Wegener in der Arbeit für Sie vorbildlich?“ Waganzki ging die möglichen vier Schritte. Dachte nach. Gewissenhaft. Sagte: „Ich will Ihnen ein einziges Beispiel geben. Ich hatte in einer Rolle einen Satz, der platzte von heroischen Worten. Damit kam ich nicht zurecht. Nach einiger Diskussion sagte Wegener: ‚Bernd, hör mal auf die Klangähnlichkeit der Worte Hitlerjunge und Hirtenjunge.‘ Ich war verblüfft. Wegener sagte: ‚Du kannst beide Worte ganz sachlich sprechen, die Assoziationen, die den Zuhörer beim jeweiligen Wort überfallen, sprengen die Begriffe auseinander. Nicht anders, als sagst du jetzt …‘ Ich hatte kapiert. Unheldischer als ich ‚Held‘ und ähnliches sagte, geht’s nicht. Kurz, ich hatte noch keinen Regisseur, der mit einfachen Mitteln für uns den Kern freilegte, um was es auch immer gegangen sein mag. Das war Robert Wegener.“ Nach einer Weile sagte Bortfeld: „Ich hatte Sie bitten wollen, mir ein unverfälschtes Charakterbild von Wegener zu geben. Sie haben mir geholfen. Außerdem weiß ich jetzt, warum Sie das Physische, nicht das Psychische Ihrer Arbeit erwähnt haben. Weil man’s nicht erklären kann, nicht wahr?“ Waganzki antwortete: „Ja, weil es nicht meßbar ist, sich nicht nachrechnen läßt – wie sieben Stunden anstehen.“ Eigenartig berührt, und als hätte er es mit einemmal sehr eilig, sagte Bortfeld: „Aber wir müssen jetzt von Riedel sprechen. Ich weiß, Sie kennen andere Spielleiter 177
als Wegener und Riedel. Was unterscheidet Riedel so besonders von anderen. Geben Sie mir Auskunft. Wir sind Genossen. Ich brauche Ihre Hilfe.“ Wieder das gewissenhafte Nachdenken des jungen Mannes. Dann die Antwort: „Da gab es in unserem Beruf noch immer die verfluchte Existenzunsicherheit, von der kein Angestellter, kein Produktionsarbeiter mehr alpträumt. Noch haben wir befristete Verträge. Riedel, der hier mit einem sogenannten Einzelvertrag sozusagen auf Lebenszeit sicher sein darf, hat sich nicht darum gekümmert, was auf uns zukommt, wenn wir nach ein oder zwei Jahren weiterziehen müssen, ungewiß, wohin, mitunter ungewiß, ob überhaupt ein neuer Arbeitsplatz frei ist. Solange man noch mit dem Koffer umzieht, mag man alles hinnehmen. Aber wenn man sich die Wohnung eingerichtet hat, wenn Kinder da sind, die vielleicht schon zur Schule gehen, dann kann das zur Tragödie werden. Fast nie stand eine Wohnung da für uns, wenn wir ins nächste Engagement kamen. Nun also passiert das einer Familie. Sie kriegte im neuen Arbeitsort ein möbliertes Zimmer. Entweder lebten die Familien getrennt, bis nach ein oder zwei Jahren – wenn’s gut ging! – eine Wohnung gefunden war. Wenn nicht, ist die Ehe vielleicht unterdessen in die Brüche gegangen. Die andere Möglichkeit, die Familie trennte sich nicht, man hauste auf engem Raum zusammen. Die Kinder hatten nicht nur die Belastung des Schulwechsels, sie mußte auch die Hausaufgaben in diesem Mauseloch machen. Zugleich hatte Vater am Text einer Rolle zu arbeiten, Mutter ihre Gesangsstimme zu trainieren. Wirtin oder Wirt wollten aber ihre Ruhe haben, Nachbarn auch. Und wer mir da sagt, man müsse das alles mit Humor ertragen, dem könnte ich eine in die Fresse hauen. Natürlich, es gibt auch in anderen Berufen Versetzungen, Arbeitsortwechsel, und auch da ist nicht immer alles gleich ideal, aber es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich aus ei178
genem Willen den Arbeitsort wechsle, ob ich die Notwendigkeit einsehe oder ob mein Vertrag nicht verlängert wurde, weil ich den Leuten, die darüber befinden, nicht in den Kram passe. In der vorigen Spielzeit wurde einem exzellenten Schauspieler – einem sechzigjährigen – der Vertrag nicht verlängert, weil man angeblich im Spielplan der nächsten Jahre für ihn keine Aufgaben hatte … Selbstverständlich habe ich mich deswegen mit Riedel und Froh in den Haaren gehabt. Bin mit dem Kollegen bis zum Arbeitsgericht gegangen. Und da: ‚Aber wenn im Spielplan keine Aufgaben für den Kollegen sind, dann ist er in einem anderen Engagement künstlerisch doch sicherlich viel besser dran …‘ und so weiter. Ja, sogar da hat man sich von Riedels Redekünsten einwickeln lassen. Und Herr Intendant konnte dem Riedel-Wunsch das Amen sprechen. Der Kollege hatte drei schulpflichtige Kinder, die älteste kurz vor dem Abitur. Fragen Sie mich nicht, was mit der Familie geschehen ist!“ „Nein, ich frage Sie nicht“, sagte Bortfeld. Er wußte es. Die Gründe hatte er nicht gekannt. Jetzt war ihm alles in den Nacken geprasselt. Waganzki hatte sich ereifert. Doch Bortfeld hatte zuhören gelernt. Mußte es können. Nur die vier Schritte hin und vier Schritte zurück stampften auf seinen Nerven. Waganzki begann von neuem: „Trotz allem passierte kurz danach die Sache mit Wegener. Daraufhin wollte ich sofort aus dem Vertrag. Aber mich haben sie nicht losgelassen. Mich brauchten sie als Mephisto, als Iswall, als Was-weiß-ich-noch, sie brauchten anscheinend überhaupt nur noch mich. So hat Riedel gearbeitet. Das zum Beispiel unterscheidet ihn von vielen anderen. Einer oder eine kriegt so viele große Rollen, daß sie es psychisch und physisch kaum durchhalten können, andere kriegen nur die Stichwortgeber zugeschoben. Wie oft habe ich darüber mit Riedel gestritten. Denn es ist doch klar, 179
wenn die einen nur alle großen, die anderen immer nur kleine oder mittlere Rollen kriegen, müssen die Fähigkeiten des einen wachsen, die des anderen verkümmern. Und für den einen kommen dauernd Erfolgserlebnisse, Selbstbewußtsein und so weiter dazu, aber für den anderen Minderwertigkeitskomplexe und Depressionen. Also glashart wie im Kapitalismus, die einen werden immer reicher, die anderen immer ärmer, auch wenn es mit Finanziellem nichts zu tun hat. Kein Wunder, daß die Kunsthochschulen – Gesang, Tanz, Schauspiel – Nachwuchssorgen haben. Aber für alles das hat sich Riedel nie interessiert. Kunst bildet, heißt’s so schön und richtig. Und Bildungsschulden von heute sind Planschulden von morgen. Auch so schön und richtig. Aber unwichtig für Riedel und Froh.“ Stille. Die vier Schritte. Draußen quietschten Straßenbahnen in den Kurven. Kinder lärmten irgendwo. In scheinbar mathematisch genau berechneten Zeitabständen durchbrachen über den Wolken Flugzeuge die Schallmauer. Es hörte sich an, als werde der Himmel gesprengt. Bortfeld sagte: „Das waren also die kleinen Streitereien, über die nicht gesprochen werden sollten.“ „Exakt. Und hätte mich das nicht umgeschmissen, was mir der Intendant gesagt hat …“ „Wird der Intendant bleiben?“ „Nein, er nicht und vieles nicht. Denn – wir hatten im Juni dieses Jahres einen Parteitag!“ Bortfeld ruckte das Gesicht zu Waganzki. „Und?“ „Was einen anderen Intendanten angeht – ich weiß nicht, haben Sie den Spielleiter der Oper, Kaufmann, kennengelernt?“ „Einer meiner Mitarbeiter kennt ihn.“ „Der wird ein Intendant sein, wie unser Theater ihn braucht. Und – warum ich den Parteitag erwähnt habe – uns bringt er, lassen Sie mich das große Wort nehmen, 180
eine Zeitenwende. Exakt die, die für Wegener und so manchen zu spät kommt, aber daß sie kommt, ist maßgebend!“ „Was wird anders werden für Sie?“ fragte Bortfeld. „Die Gagen werden generell erhöht. War seit langem fällig. Vor allem aber – es wird keine befristeten Verträge mehr geben. Sie können nicht ahnen, was das für uns bedeutet!“ „Und Jens Michaelis kann trotzdem noch entlassen werden?“ fragte Bortfeld. „Genosse Oberleutnant, was da zwischen Beschluß und Verwirklichung geschehen muß, das geht nicht so schnell. Aber es wird. Das allein zählt. Sicherheit haben – Mann!“ „Ich verstehe Sie“, sagte Bortfeld langsam. „Also sind wir auch auf diesem Gebiet einen großen Schritt vorangekommen. Aber erst noch mal zu Ihnen und Ihren Kollegen. Sie sind ganz voll Zorn auf Riedel. Sie haben kein Geheimnis daraus gemacht. Ihre Kollegen waren da zaghafter.“ „Kunststück. Sie haben Angst, bei Riedel nichts mehr zu tun zu kriegen, wenn er wieder gesund ist und erfährt, was man über ihn gesagt hat.“ „Na, mit irgendwem muß er ja arbeiten.“ „Eben! Und damit man unter irgendwem ist, hält man den Mund. Aber bitte verachten Sie die Kollegen deswegen nicht. Die Kollegen fürchten eben noch um ihr Engagement, und was ist schlimmer als Existenzangst?“ „Genosse Waganzki, ich klammere Ihren Zorn zunächst mal aus und frage Sie, wer unter Ihren Kollegen könnte einen, sagen wir, einleuchtenden Grund gehabt haben, sich an Riedel zu rächen?“ Waganzki sah zu Bortfeld hin, bis der den Kopf drehte und beider Augen sich begegneten. „Jens Michaelis, nicht wahr?“ fragte Bortfeld. Waganzki schwieg, Bortfeld sagte: „Keine Antwort ist Antwort.“ 181
Wieder die vier Schritte, wieder Straßenbahnquietschen, Kinderlärmen, Himmelssprengung. Bortfeld fragte: „Warum sind Sie mutiger als andere?“ Waganzki lachte hart. „Mutiger! Kunststück, ich gehe weg von hier. Außerdem, ich bin ganz gut ausgebildet worden, aber meinen Rand zu halten habe ich nicht gelernt, nicht zu Hause, nicht in der Schule, nicht beim Studium. Manches kann man manchem nicht beibringen.“ „Und Jens Michaelis? Kann er auch seinen Rand nicht halten?“ Nach einer Weile Waganzkis Antwort: „Jens ist ernst, ruhig. Aber bei Riedel war er nicht zu bremsen. Doch Riedel hatte es auf ihn auch besonders abgesehen. Entweder er hat bei jeder Gelegenheit versucht, ihn lächerlich zu machen – und das ist ja in unserem Beruf so leicht …“ „Und das hat sich Michaelis nicht gefallen lassen?“ „Nein. Das kann man sich auch nicht gefallen lassen. Oder er hat ihn wie Luft behandelt. Ob Jens ganz gut oder ganz schlecht gearbeitet hat, von Riedel kam keine Anerkennung, kein Tadel.“ Schweigen. „Haben Sie sich für Michaelis eingesetzt – gegen Riedel?“ „Selbstverständlich. Was für ein Vertrauensmann wäre ich denn, wenn ich nicht zu meinen engsten Kollegen stünde, sobald ihnen, wie hier, Gemeines geschieht.“ „Und Sie gehen aus eigenem Entschluß, obwohl Oberspielleiter Riedel Sie fortwährend für große Rollen einsetzt?“ „Ich gehe, bevor Riedel mich rausgrault. Auf die Dauer kann er Widerspruch nämlich nicht ertragen. Man muß ihn anbeten, auch wenn er den größten Bockmist verzapft.“ „Aber er kann doch nicht bloß Bockmist verzapft haben.“ 182
„Das habe ich nicht behauptet“, entgegnete Waganzki. „Im Gegenteil, Riedel hat tolle Inszenierungen hingelegt, früher.“ Waganzki nahm eine Pfeife aus dem Pfeifenständer, stopfte sie, zündete sie an. Der Tabak duftete. Bortfeld fragte: „Ist Ihrer Meinung nach Jens Michaelis ein guter Schauspieler?“ „Ja. Er ist ein guter Schauspieler, wenn ein guter Regisseur gut mit ihm arbeitet. Unter Wegeners Regie hat Jens zwei Rollen gespielt. Sie gehören zu dem Erfreulichsten, was ich jemals von einem Schauspieler sah. Das ist mit aller realistischer Unverschwärmtheit gesagt“, antwortete Waganzki. „Aber ich habe ihn als Laertes gesehen. Das war eine Riedel-Inszenierung. Ich fand ihn auch in dieser Rolle gut, wenn Sie mein Laienurteil gelten lassen“, sagte Bortfeld. „Da war er auch gut“, bestätigte Waganzki. „Aber die Rolle hat Wegener mit ihm erarbeitet.“ Bortfeld, als wolle er schnell wieder zum Thema kommen, fragte überrumpelnd: „Würden Sie sich selbst und Michaelis als Riedels Feinde ansehen?“ „Ja“, sagte Waganzki ohne Bedenken. Verblüffung. Schweigen. Dann Bortfelds Frage: „Wie ist Ihr Intendant zu seinem Posten gekommen, wissen Sie das?“ „Damals war eine ausgesprochene Flaute bezüglich Intendantenkader. Außerdem ist der Alte nicht unfähig.“ „Wir hatten einen anderen Eindruck von dem ‚Alten‘.“ „Kunststück. Er hat ein schlechtes Gewissen wegen Wegener und noch einigen, die unter seiner Oberherrschaft vor die Hunde gingen.“ Nach einer Weile, nachdenklich, sagte Bortfeld: „Ja, es gibt viele Arten, ein Gewissen zu zeigen. Das ist nicht neu. Und Jens Michaelis?“ 183
Waganzki sog an der Pfeife, zuckte die Schulter. Sagte: „Abwarten. Jens geht vielleicht sogar in ein besseres Engagement.“ Bortfeld fragte wie nebenher: „Wissen Sie, daß er auch heute noch nicht aufzutreiben ist – zwei Tage nach der Tat?“ Waganzki stopfte mit einem Pfeifenbesteck die Tabakglut fest. Sein enges hellgetünchtes Zimmer war blau vom Rauch und voll vom Duft guten Tabaks. Waganzki ließ sich Zeit. Sagte dann: „Genosse Oberleutnant, erstens hat Jens von Dienstag vierundzwanzig Uhr bis Donnerstag vierundzwanzig Uhr Urlaub.“ Bortfeld fragte: „Und zweitens?“ „Hm – und zweitens: Jens ist in Heimen aufgewachsen … Da wurde ihm mit Frühstück, Mittagessen und Abendbrot der kategorische Imperativ eingefiltert. ‚Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.‘ So. Jens hat das intus. Und dann erlebte er Riedel. Durch Riedels ‚allgemeine Gesetzgebung‘ kommt – zumindest indirekt – Wegener ums Leben, der für Jens weit mehr als nur Kollege war. Durch Riedel wird Jens selbst entlassen. Als Grund gibt Riedel an, Jens’ berufliche Leistungen reichen für ein Theater von dieser Größe nicht aus. Daß das meiner Überzeugung nach nicht stimmt, wissen Sie. Und ich stehe mit meiner Überzeugung weiß Gott nicht allein. Genosse Oberleutnant, was erwartet man von uns Jungen eigentlich, wenn man uns mit Vorbildern vollstopft, nachahmenswerten – und uns dann in die Hackmaschine solcher Wirklichkeit schmeißt?“ Bortfeld gab keine Antwort. „Der Schatten verhält sich zum Gegenstand – nicht umgekehrt“, sagte Waganzki. „Da haben Sie recht“, stimmte Bortfeld impulsiv zu. „An Wegener, an Jens, an anderen hat Riedel so viel Willkür ausgespielt … kann es Sie wundern, wenn auch 184
Jens mal Willkür probiert? Zum Beispiel Sie jetzt aufsitzen läßt?“ Bortfeld sagte: „Also Jens Michaelis.“ Waganzki gab keine Antwort. Bortfeld fragte: „Könnte Ihrer Meinung nach Anne Wegener irgendwie dahinterstecken?“ Tonlos sagte Waganzki: „Im Fall Riedel ist alles möglich. Aber Anne …“ Bortfeld fragte schnell: „Sind Sie über Riedels Familienleben informiert?“ „Nicht genau. Ich weiß nur, daß die Ehe hinüber ist, seit Wegeners Unglück.“ Bortfeld dachte an die Aussagen der Zwillinge. Und er dachte: Was wissen wir! Fragte: „Wie Sie es darstellen, ist nicht nur der Mann, der auf Riedel eingeschlagen hat, straffällig, nicht wahr?“ „Riedel hat mitunter kriminell gehandelt. Ja, das muß ich bestätigen.“ Bortfeld sagte: „Aber wie vieles verliert an Härte, wenn man den Dingen auf den Grund geht?“ Waganzki musterte Bortfeld vom Kopf bis zu den Füßen. Sagte nichts. Drehte sich weg von ihm. Klopfte im Ascher die Pfeife aus. Schüttelte den Kopf. Bortfeld sah das Profil des Vertrauensmannes. In diesen Sekunden – nur in diesen – kam unvermutet Sonne durchs Fenster, ließ Waganzkis Bart rostrot aufglühen. Danach schien der Schauspieler im Dunkeln zu stehen. Bortfeld sagte: „Sie müssen sich uns zur Verfügung halten, Genosse, es wird sich doch einrichten lassen – kein Gastspiel irgendwo?“ Waganzki: „Kein Gastspiel irgendwo.“ „Sollte Michaelis im Lauf des Tages zu Ihnen kommen, dann bitte ich Sie, mit ihm unsere Dienststelle aufzusuchen. Ich werde dasein.“ Waganzki antwortete: „Versprochen.“ Bortfeld fragte: „Und Sie gehen von hier weg nach Berlin?“ 185
„Ja“ „Wie erfreulich für Sie.“ „Das wird sich erst erweisen müssen“, sagte Bernd Waganzki. Für die Strecke von der Schule bis Nähe Dimitroffstraße nahm Sabine Wegener die Straßenbahn, bis nach Hause rannte sie. Gestern und heute morgen hatte sie mit ihrer Mutter kaum gesprochen. Kein Wort über Jens. Ob er aus Dresden zurück war, wußte sie nicht. Sie hoffte, daß er zu Haus auf sie warte. Die Treppe hinauf übersprang sie je eine Stufe. Sie klingelte. Ihre Schlüssel lagen in der Schultasche unter Heften und Büchern. Von der oberen Etage kam eine Frau. „Ihre Mutter ist heute früh mit dem jungen Mann weggefahren, kleines Fräulein“, sagte die Frau. „Guten Tag“, sagte Sabine nur. Kramte die Schlüssel aus der Tasche, das Gesicht heiß vom nun schon nicht mehr fremden Schmerz. Zimmer, Küche und Bad waren aufgeräumt, warm. Sabine lief in ihr Zimmer, warf sich auf die Couch, betrommelte verzweifelt mit den Fäusten ihr Kissen, keuchte: „Das gibt’s nicht! Das gibt’s nicht. Daß sie so gemein ist, das gibt’s nicht!“ Sabine drehte sich auf den Rücken, lag lange Zeit still, starrte die Decke an. Nur einmal in ihrem Leben war sie so unheimlich allein gewesen wie jetzt. Aus diesem Alleinsein kamen Erinnerungen. Damals lebte ihr Vater noch! Das Zeugnis der siebenten Klasse hatte sie zerrissen, in den Fluß geworfen. Hatte die Stadt verlassen, war langsam Richtung Laubwald geschlendert, den Weg, den sie oft mit ihrem Vater gewandert war. Dreizehn war sie damals gewesen, und der Klassenlehrer hatte gesagt, sie sollten sich nun ernsthafte Gedanken über einen Beruf machen. 186
Im Laubwald hatte sie sich auf einen Baumstumpf gesetzt, vor sich hin geschimpft: „Künftiger Beruf! Du mieser Typ von einem Lehrer! – Als wenn das nicht längst feststeht, daß ich Genetik studiere!“ Sie hatte die Fliegen beobachtet, die sich auf große Farnblätter niederließen, aber sofort wieder zum Abflug starteten. Landung aus Versehen. „Der Farn ist eine blütenlose Pflanze …“ Sie hatte versucht, einen Farn auszureißen. Der Farnstiel hinterließ an ihren Fingern eine Kerbe. Der Stiel war geknickt. „Wie fest das sitzt.“ Dann war Regen gefallen, große Tropfen auf große Blätter. Käfer sind unter die Blätter gekrochen, die wie gepreßte Tannen aussehen. Kleine Tiere wissen sich zu helfen, hatte sie gedacht. Und die großen? Schweine sind große, im Verhältnis zu den Käfern. Schweine! Sie sollten sich nicht verstecken, die kleinen Tiere, heute nicht. Sommerregen ist unheimlich gut. Meine Zeugnisfetzen schwimmen bestimmt schon in der Spree oder in der Neiße oder in der Oder – oder in der Odra, polnische Oder – oder oder oder. Unheimlich wichtig, wo, was, die Vier in Physik schwimmt überhaupt nicht mehr, die liegt längst im Schlamm, ganz unten, oder die kleinen Fische haben sie aufgefressen; die Vier in Chemie auch. Sie werden sich den Magen verderben, die Vieren werden ihnen schwer im Magen liegen – arme kleine Tiere. Die Eins in Bio schwimmt noch ganz oben, ist überhaupt nicht naß geworden. Komisch, was? Sie hatte Hunger bekommen, war weitergeschlendert, hatte Blaubeeren gefunden, noch nicht ganz reif, noch nicht süß. Sie hatte alle gegessen, die sie fand, bis sie Bauchschmerzen bekam. Wie deutlich das alles wieder da war! Weil ich jetzt auch Schmerzen habe? Keine Bauchschmerzen. Nein. Der dämliche Zeugnistag hatte überhaupt nicht verge187
hen wollen. Nach dem Regen war die Sonne wieder vorgekommen – und die Käfer auch. Heiße Sonne. Man hätte um die Käfer Angst haben können, daß sie verbrennen, aber ihre Flügel sind hart und isolieren. So kleine Tiere sind schlau geschützt … Ob man mich schon als vermißt gemeldet hat? Ja, Vati bestimmt. Auf einmal war seine Hand in meinem Haar. „Komm, Mädel“, hat er gesagt. Später hat er seine Hand um meinen Nacken gelegt. Wir waren schon wieder in der Stadt, der doofen, da hat er gesagt: „Du brauchst uns das Zeugnis nicht zu zeigen, wenn du nicht willst. Ich unterschreibe blind.“ „Kannst du nicht unterschreiben, auch nicht blind.“ „Doch, doch, in der Schule gibt’s ein Duplikat, da wird’s eben noch mal geschrieben, basta.“ Wir waren schon in unserer Straße, da hat er gefragt: „Hast du den Wisch wirklich vernichtet?“ Wie hat er das wissen können, wie hat er so was immer wissen können? „War ja gar kein Wisch, wird schon gestimmt haben, das mit den zwei Vieren.“ „Natürlich war es kein Wisch, natürlich hat’s gestimmt. Aber die Vier ist eine entwicklungsfähige Note, nicht wahr?“ Er hat gelacht. „Im nächsten Schuljahr entwickeln wir sie. Basta.“ „Hilfst du mir dabei?“ „Fragst du das wirklich?“ „Nein, ich weiß es.“ Er hat mir das Haar zerzaust. Die Couch knarrte, Sabine hatte sich mit heftiger Bewegung auf die Seite gedreht; in der Zimmerdecke steckten Erinnerungen, die weh taten. Sie ist mit Jens weggefahren. Ist das gemein! Sabine stand auf, suchte Zigaretten. „Grade! Weil ich nicht soll, basta!“ 188
Im Zimmer ihrer Mutter fand sie keine. Sie ging zurück. Sah einen Briefbogen, einen beschriebenen, auf ihrem Plattenspieler liegen. Das war Jens’ Handschrift! Kleine Sabine, sei vernünftig. Ich mußte mit Anne rausfahren. Weiß noch nicht, wohin wir fahren, aber ich muß aus der Stadt, ich muß vieles mit Anne besprechen. Verrenne Dich bitte nicht in irre Ideen. Begreife endlich, wie Deine Mutter wirklich ist. Was wir besprechen müssen, geht nur uns beide an, Dich und mich. Du wirst wieder sagen, das könnten wir auch hier tun. Nein, wir bereden uns nicht hier. Uns würde die Polizei ins wichtige Gespräch platzen. Die Kriminalpolizei sucht mich, darum fahre ich mit Anne weg. Heute abend, wenn alles, was Dich und mich betrifft, besprochen ist, kann die Kripo mich haben, vorher nicht. Heute abend erzähle ich Dir alles. Riedel liegt im Krankenhaus. Lebensgefahr. Sorge Dich nicht. Sei vernünftig. Wenn alles überstanden ist, gehen wir im Wald spazieren, ich lege meine Hand um Deinen Nacken. Dein Jens Eine Minute lang stand sie steif, den Briefbogen in der Rechten, die Lider heiß. Verrenne dich nicht in irre Ideen … wie deine Mutter wirklich ist … geht nur uns beide an, heute abend erzähle ich dir … Riedel liegt im Krankenhaus, Lebensgefahr, sorge dich nicht … die Kripo will mich haben … heute abend kann die Kripo mich haben … Die Kripo! Die Kripo! „Jens!“ Der Schrei war nur in Sabine gewesen. Implosion. Der Briefbogen fiel ihr im Korridor aus der Hand. Sie dachte nicht an die Schlüssel, die auf dem Tisch lagen neben der Schultasche. 189
Die Treppe hinunter. Die schwere Haustür aufgerissen, leicht, als sei die aus Pappe. Sabine rannte; ein Kind in kniehohen weißen Stiefeln, weißem Rock, kaffeebraunem Pullover rannte, stolperte, rannte weiter. Das mattblonde Haar, vom Wind durcheinandergeweht, umwirbelte den Kopf. Mitten auf der nächsten Straßenkreuzung stand ein Mann, winterfest uniformiert, die Arme seitlich ausgestreckt, drehte sich, winkelte den linken Arm an. Uniformierter Dirigent. Autos fuhren, bogen im Halbkreis um ihn herum. Menschenknäuel, wartende, den dirigierenden Uniformierten beobachtende Menschenknäuel. Sabine umlief sie, lief auf den Dirigenten zu. Irgendwo Gebrüll. Irgendwo Gekreische. Ein Auto drehte vor Sabine eine Pirouette; zugleich, scheinbar sinnlos, das Schrillen einer Trillerpfeife. Autos stockten, Menschen kamen. Sabine stand schon wieder. Das linke Bein tat weh. Das Gesicht des uniformierten Dirigenten war da. Sein Mund. Schimpfen. Mit einer Hand hielt der Uniformierte Sabine fest, mit einer gestikulierte er. Autos fuhren weiter; aus dem Gewühl wurde wieder Ordnung. „Bleib hier stehen“, sagte der Dirigent, nestelte an einer Tasche. Der Mann kam, der mit seinem Auto eine Pirouette gedreht hatte. „Göre! Verrückt geworden, was?“ Voller Rage seine Worte, auch sein Blick; auf und ab, auf und ab. Die verrückt gewordene Göre war von oben bis unten, bis ins Haar, bis ins Gesicht, von schwarzem Schneematsch verdreckt. Fragte: „Herr Polizist, wo ist die Kriminalpolizei, schnell, wo ist die …“ „Wie heißt du?“ „Sabine.“ „Und?“ „Äh – Wegener, Sabine Wegener. Wo ist die Kriminalpolizei? Schnell, schnell!“ Eine Stunde später hätte sie nicht mehr sagen können, was danach geschehen war. Sie wußte noch, daß eine 190
junge Frau an ihr herumgewischt hatte – Haare, Gesicht, Pullover, Rock, Stiefel, alles mit ein und demselben Lappen. Danach Haare, Gesicht, Pullover, Rock, Stiefel, mit ein und demselben Handtuch. Und daß sie in einem großen Haus mit endlosen Gängen und vielen Türen gewesen und daß sie mit einem Paternoster aufwärts gefahren war. Dann schrumpfte das große Haus zu einem kleinen Zimmer zusammen; warm und hell. Der Mann ihr gegenüber war lang, hager und sehr alt; er hatte tiefe Falten im Gesicht. Seine Stimme war rauh. Bortfeld hatte sich angehört, was das Kind ein Geständnis nannte, hatte die kleinen Hände betrachtet dabei und das Gesicht, das ihn an die Naumburger Uta erinnerte. „Warum lügst du?“ fragte er. Sie schwieg. Sah ihn nicht an. „Denkst du wirklich, daß ich dir das glaube?“ Sie zuckte die Schulter. Nach einer Weile sagte sie: „Jens war es nicht. Kann es überhaupt nicht gewesen sein. Er braucht vom Theater aus bloß über die Straße zu gehen, dann ist er zu Hause. Er hat mich noch zur Straßenbahn gebracht. Als die Bahn abfuhr, ist er nach Hause gegangen, weil er die Szenen noch mal durcharbeiten mußte, die er in Dresden vorsprechen wollte.“ „Ah so. Und was sagtest du, wann bist du aus der Straßenbahn wieder ausgestiegen?“ „Bei der nächsten Station.“ „War jemand in der Bahn, den du kennst?“ „Ja, eine Schulfreundin.“ „Hast du mit ihr gesprochen?“ „Nicht viel, weil … ich konnte eben nicht, basta.“ „Hat die Freundin gesehen, daß du an der nächsten Station wieder ausgestiegen bist?“ „Natürlich.“ „Wie heißt die Freundin?“ „Brigitte Martin.“ 191
„Außer ihr hast du keinen gesehen, der dir bekannt ist?“ „Nein. Die Bahn war gerammelt voll.“ „Kennst du eine Frau Scholz, die im Theater arbeitet.“ Sie überlegte, schüttelte den Kopf. „Bist du ausgestiegen, weil die Bahn so voll war?“ Eine Weile schwieg sie, dann, ohne Bortfeld anzusehen, sagte sie: „Ja, darum.“ Wieder eine Pause. Bortfeld sagte: „Sabine, ich denke, du bist ein nettes Mädchen. Und du hast ein liebes Gesicht. Und du hast dich sehr jung schon für einen Mann entschieden; bestimmt er sich auch für dich. Ich möchte für dich und ihn hoffen, daß alles gut geht, daß er es nicht gewesen ist, der den Spielleiter Riedel niederschlug – aber dir, mein Kind, dir glaube ich kein Wort.“ Für Bortfeld, der auf ihre Entgegnung wartete, verging die Zeit nicht. „Wann seid ihr aus dem Theater gekommen, Jens und du?“ Wieder zuckte sie die Schulter. „Weiß ich nicht, vielleicht so nach sechs.“ „Um achtzehn Uhr war die Vorstellung noch nicht zu Ende.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wir sind in der großen Pause gegangen!“ „Also hat euch das Stück nicht gefallen.“ Sie warf den Kopf herum, sah Bortfeld an. Klarer, unbeschreibbarer Blick; Haß und Trauer. Vor diesem Blick erschrak Bortfeld. Vor diesem Blick stellte Bortfeld seinen Unglauben in Frage. „Du hast viel geweint in letzter Zeit?“ fragte er. „Nein.“ Sie sah vor sich hin. Stille in ihrem Gesicht, in ihrer Haltung; ging von ihr aus, schien greifbar. „Wann hast du mit deinem Jens gesprochen, heute morgen?“ 192
„Überhaupt nicht.“ „Also gar nicht mehr, nachdem er dich vorgestern gegen achtzehn Uhr zur Straßenbahn gebracht hatte.“ „Nein, danach nicht.“ „Ah so. Dann mußt du mir aber erklären, woher du wissen willst, daß Jens in Verdacht steht, Dietrich Riedel vorgestern niedergeschlagen zu haben.“ Sie zögerte, überlegte, ob sie bei der Wahrheit bleiben dürfe oder ob sich durch die Wahrheit der Verdacht gegen Jens in dem Alten noch verstärken würde. Ihr fiel keine Antwort ein, die Jens davor hätte retten können. Sie sagte leise: „Er hat mir geschrieben.“ „Er hat dir einen Brief geschickt?“ „Nicht geschickt. Er hat ihn auf meinen Plattenspieler gelegt. Vielleicht hat sie das von ihm verlangt.“ „Wer ist sie?“ „Meine Mutter.“ „Du bist ihr böse?“ Sabine antwortete nicht, saß still da. Bortfeld fragte, ob Jens auch geschrieben habe, daß Herr Riedel mit lebensbedrohlicher Verletzung im Krankenhaus liege. Sie rührte sich nicht, sah vor sich hin. „Du mußt mir antworten, Sabine. Hat Jens dir das auch geschrieben?“ Sie nickte kaum merklich. „Aber nicht Jens hat den Riedel so schwer verletzt, sondern du – ja?“ Sabine nickte. „Das soll ich glauben?“ Sie zuckte die Schulter. „Wie groß bist du, Sabine?“ „Eins achtundfünfzig.“ „Weißt du auch, wie schwer oder, sagen wir, wie leicht du bist?“ „Ja, fünfundvierzig Kilo.“ 193
„Eben“, sagte Bortfeld, lächelte, „ein Hälmchen bist du. Und wie groß ist dein Jens?“ „Eins achtundsiebzig.“ Bortfeld streckte ihr seine Hand hin, die Innenfläche nach oben. „So, mein Kind, und jetzt schlägst du mir mal mit aller Kraft hier ’rauf. Mach eine Faust und hole weit aus, und dann hier auf meine Hand.“ Sie stand sofort auf, ballte die Faust und schlug zu. Dann setzte sie sich wieder, legte die Hände in den Schoß, die Rechte noch zur Faust geballt, die Linke fest darum geschlossen. Den Kopf drehte sie über die Schulter weg von Bortfeld. Er sagte: „Das hat dir weh getan, nicht wahr?“ „Überhaupt nicht.“ „Aber mir“, sagte Bortfeld. „Trotzdem, durch solchen Schlag wird keine Schädeldecke angeknackst, das kannst du mir nicht weismachen, mein Kind.“ Sie schwieg. Er sagte: „Echte Liebe fürchtet keine Probe – nicht wahr?“ Stille. „Weißt du, wer das gesagt hat?“ „Kalenderspruch“, sagte sie. „Auch möglich. Aber im Brief von deinem Jens war kein Kalenderspruch. Kannst du mir den mal zeigen?“ Sie sah Bortfeld an, öffnete die Hände, die Innenflächen nach oben, die Finger gespreizt. Er fragte, wo der Brief sei. „Zu Haus.“ „Na gut“, sagte Bortfeld, „dann werden wir beide jetzt zu dir nach Haus fahren.“ Plötzlich kam Leben in ihr stilles Gesicht, ihre Augen weiteten sich, sie sagte schnell: „Ich habe die Schlüssel vergessen.“ Wieder, eine Zeitlang, sah Bortfeld sie prüfend genau an, wieder erinnerte ihn das schmale Gesicht, die verschwollenen Lider an die Naumburger Uta. Sie könnte 194
Modell gestanden haben, dachte er und sagte laut: „Also hast du dich ausgesperrt, Sabine.“ „Macht nichts.“ „O doch! Aber vielleicht kriegen wir die Tür mit einem Dietrich auf. Ich brauche den Brief.“ „Geht nicht. Sicherheitsschloß.“ „Ja, dann allerdings – dann hast du dich wirklich ausgesperrt, Sabine.“ Der merkwürdige Unterton in seiner Stimme ließ sie hinhorchen. „Also mußt du bei uns bleiben, bis wir deine Mutter und Jens gefunden haben.“ Sie rührte sich nicht. Fragte: „Ist das nicht immer so, wenn man sich selbst stellt?“ Darauf antwortete Bortfeld nicht. Er fragte: „Weißt du auch, was es bedeutet, wenn wir dein Geständnis, wie du es genannt hast, nicht widerlegen können, daß du dann vors Jugendgericht mußt, vielleicht sogar in eine Jugendhaftanstalt kommst – und das alles für eine Tat, die du nicht begangen haben kannst? Du mußt mit einer Freiheitsstrafe rechnen.“ Sie fragte ruhig: „Wie schreiben Sie das? Freiheit und Strafe in einem Wort?“ Seine Warnung hatte sie offenbar nicht wirklich erreicht. „Also noch einmal“, sagte Bortfeld, ihre Angaben wiederholend, „du bist stundenlang in der Stadt umhergelaufen, nachdem du die Straßenbahn verlassen hattest. Bist dann gegen zwanzig Uhr durch den Grabenweg gegangen, der dunkel ist, weil er nur zwei alte Gaslaternen hat, von denen nur eine angezündet war – und da ist dir ein Mann entgegengekommen, den du nicht erkennen konntest. Der Mann ist auf dich zugegangen, hat dich irgendwie gepackt, und im selben Moment sahst du, daß es Herr Riedel war. Du hast dich gegen ihn wehren wollen, hast blindlings zugeschlagen und bist dann losgerannt. So war es, ja?“ 195
„Ja.“ „Du hast dich dann nicht mehr umgesehen.“ „Nein.“ „Und du hattest mit deiner bloßen Hand – mit dieser kleinen Hand – zugeschlagen.“ „Nein. Ich hatte meine Schlüssel in der Hand.“ „Wie viele Schlüssel?“ „Zwei. Den langen von der Haustür und den Wohnungsschlüssel.“ „Und Herr Riedel hat sich das so einfach gefallen lassen, hat keinen Ton gesagt?“ „Doch. Er hat aufgeschrien, weil … Er muß mich dann erkannt haben.“ „Was hat er geschrien?“ „Meinen Namen hat er geschrien.“ „Vor deinem Zuschlagen oder danach?“ „Das weiß ich nicht mehr.“ „Und warum bist du stundenlang durch die Stadt gelaufen? Du hättest doch, wenn dir die Straßenbahn zu voll war, auf dem kürzesten Weg …“ „Nein! Ich wollte nicht allein sein zu Hause.“ „Welches Stück hattet ihr gesehen, Jens und du?“ „Ein Lustspiel.“ „Eine Inszenierung von Dietrich Riedel?“ „Nein.“ „Von deinem Vater?“ Sie nickte. „Hattest du das Stück noch nicht gesehen?“ „Nein.“ Nach einer langen Gedankenpause sagte Bortfeld, daß er sie nicht gehen lassen dürfe, im Moment, daß er sie aber in ein anderes Zimmer bringen werde, da könne sie sich ausruhen. Und daß er sich auch um ein Essen für sie kümmere. Sie wandte ihm ihr stilles Gesicht zu. Ihr Ton war sanft: „Danke, ich bin nicht hungrig.“ „Du wirst schon essen, wenn ich dir was Gutes brin196
gen lasse. Essen muß der Mensch. Tu’s mir zu Gefallen – es passiert selten, daß wir so besorgt sind um einen …“ Er stockte, sagte dann breit: „Um einen Schwerverbrecher.“ Sie erschrak auch vor diesem Wort nicht. Ruhig, sanft sagte sie: „Danke, ich habe keinen Hunger.“ Bortfeld sah sie an. Er dachte wieder: Ich glaube dir kein Wort von deinem Geständnis. Er stellte sich mit dem Gesicht zum Fenster, bemüht, ruhig zu atmen, spürte in seinem Rücken die Sanftheit, die Stille, die von dem Mädchen ausging, dachte an den von Riedel geschriebenen unvollendeten Satz: „Ich zeige an, daß es kein …“ Hermens, Klut und er hatten sich die Schädel zerbrochen, wie dieser Satz hätte heißen sollen. Jetzt saß das Kind hinter ihm und behauptete, den Schlag gegen Riedel ausgeführt zu haben. Unglaubbar. Phantastisch. Und wenn der Satz doch lauten sollte: „Ich zeige an, daß es kein Verbrecher – oder daß es keine Verbrecherin … oder sogar, daß es kein Verbrechen war?“ Warum findet sich das Kind ohne Widerstand mit der Tatsache ab, daß es hierbleiben muß? Wäre es nicht zu verstehen, wenn sie versuchen würde, doch irgendwie ihren Jens zu erreichen, sich mit ihm zu besprechen, ihm zu sagen, daß sie die Tat auf sich genommen habe? Er drehte sich um, sah ihr ins Gesicht. Sie hielt seinem Blick stand. Über zwanzig Jahre Berufserfahrung hatten den Mann Karl Bortfeld gelehrt, daß sich vermeintlich Phantastisches im Verhältnis zur Realität des Lebens mitunter wie eine Hornisse zum Düsenklipper ausnimmt. Dennoch, er, Karl Bortfeld, konnte sich nicht abfinden – nicht mit den Aussagen des Kindes, das maßlos erregt gekommen war und jetzt, nach dem unglaubbaren Geständnis, so ruhig dasaß, als hätte es das Schlimmste schon hinter sich gebracht. 197
Bortfeld setzte sich wieder, sagte: „Steh mal auf, Sabine.“ Sie gehorchte. „So, jetzt bist du im Verhältnis zu mir, der ich sitze, so wie Herr Riedel zu dir, nicht wahr?“ Sie antwortete nicht, sah Bortfeld an. „Und jetzt packe mich mal, wie Herr Riedel dich gepackt hatte, nachdem er schräg über den Grabenweg auf dich zugegangen war.“ Sie legte die Hände sacht auf Bortfelds Armkugeln. „Nur so?“ fragte er. Sie nickte. „Und in dem Moment hast du ihn erkannt?“ „Ja.“ „Fiel dir irgendwas an ihm auf?“ „Er hat nach Bier gestunken.“ Das wird stimmen, dachte Bortfeld. Minuten zuvor hatte Riedel zwei Biere getrunken. Aber vielleicht steht auch davon was im Brief von Jens Michaelis. Bortfeld konnte ihr nicht glauben. Er fragte: „Und fester hat er nicht zugepackt?“ „Doch. Wie ich schon die Hände hoch hatte, da hat er hier mächtig ’reingegriffen.“ Sie zeigte auf ihre Schulterpartie zwischen Armkugel und Hals. Zögernd sagte Bortfeld: „Mach mal vor, wie du ausgeholt hast.“ Sie hob beide Hände. Die Linke um den Daumen der Rechten geschlossen, die Rechte offen, mit gestreckten Fingern. „Noch mal“, forderte Bortfeld. Sie wiederholte. „Demnach hattest du deine rechte Hand ausgestreckt gegen Herrn Riedel erhoben, dicht darüber die Linke als Faust?“ Sie nickte. „So genau kannst du dich daran erinnern?“ Er lächelte etwas spöttisch, zweiflerisch. Sie sagte nichts. 198
„Und wo hattest du in diesem Augenblick deine Schlüssel?“ „Hier in der rechten Hand. Den Schlüsselring über den Daumen. Aber vorher hatte ich die Hand zu, die Schlüssel in der Hand. So halte ich sie immer. Vati hat mir das geraten, wenn ich im Dunkeln allein gehe.“ „Hieltest du denn keine Tasche in der Hand? Du warst doch im Theater gewesen.“ „Nein“, sagte sie ungeduldig. Was wollte der Alte mit seinen vielen Fragen. „Ich hatte keine Tasche in der Hand, ich hatte meine braune Umhängetasche mit.“ „Über welche Schulter hing die Tasche?“ „Über der linken.“ „Ah so … und indem du zugeschlagen hast, hast du nicht daran gedacht, daß du die Schlüssel in der rechten Hand hattest?“ „Weiß ich nicht mehr.“ Bortfeld überlegte, fragte: „Du hast mir vorhin erzählt, daß du gleich nach dem Zuschlagen weggerannt bist. – Warum bist du gerannt?“ „Ich habe gedacht, der kommt mir nach.“ „Aber, daß du Herrn Riedel durch deinen Schlag, der ungemein kräftig gewesen sein muß, daß du Herrn Riedel mit den Schlüsseln, die du ja wie einen Totschläger in der Hand gehalten hast, falls ich dir glauben soll, daß du Herrn Riedel damit schwer verletzt haben könntest – der Gedanke ist dir nicht gekommen?“ „Überhaupt nicht.“ Eine Zeitlang schwiegen sie sich an. Plötzlich sagte Sabine: „Herr Riedel, Herr Riedel, hören Sie doch endlich damit auf!“ „Das würde ich, Sabine, aber du hast mir erzählt, daß du ihn niedergeschlagen hast. Also müssen wir ihn auch beim Namen nennen.“ „Jaja, es ist ja immer um ihn gegangen“, sagte sie. Ihr Sanftsein war weg. 199
„Also der Gedanke, daß du ihn mit deinem Schlag schwer verletzt haben könntest, ist dir nicht gekommen. Wann ist es dir denn bewußt geworden?“ „Heute, wie ich den Brief von Jens gelesen habe. Er hat geschrieben, daß der im Krankenhaus liegt, Todesgefahr oder so was ..“ „Erst da bist du auf die Idee gekommen, dein Schlag habe das alles verursacht? Das willst du mir weismachen?“ Ihr Blick ging in Bortfelds graue Augen. Sie sah ihn verwundert an. Dann sagte sie: „In Ihrem Alter kann man sich wohl gar nichts mehr vorstellen.“ Er lächelte. Ein eisiges Lächeln. Er spürte, wie klaftertief er versackte im Glauben an ihr Geständnis. Und zugleich gab es nichts, was er sich weniger wünschte – unabhängig im Moment von seiner Aversion gegen Selbstjustiz. Wieder war eine lange Pause entstanden, dann, langsam, nachdenklich, begann Bortfeld noch einmal: „Setzen wir doch mal voraus, du hättest bemerkt, daß der Mann, den du mit deiner schlüsselbewaffneten Hand geschlagen hattest, am Boden liegt, bewußtlos ist, und auch, daß er am Kopf blutet. Was hättest du dann getan?“ Sie zuckte die Schulter. Dann: „Weiß nicht. Wenn es irgendeiner gewesen wäre …“ Sie sprach nicht weiter. „Was, wenn es irgendeiner gewesen wäre? Was hättest du dann getan?“ Ihre Lider röteten sich. Sie ruckte den Kopf zur Seite, preßte die Augen zusammen. Plötzlich sagte sie unkindlich: „Einer, der nicht mit dem Tod meines Vaters …“ Stille. Dann: „Ich wäre auch gerannt, aber nicht nach Hause.“ „Sondern?“ „Zu Doktor Brunner.“ 200
„Wo wohnt der?“ „In unserer Straße.“ „Aber das ist doch weit weg vom Graben“, sagte Bortfeld. Sie schwieg. Drückte das Kinn gegen die hochgezogene Schulter. Bortfeld betrachtete ihr Profil. „Dir wäre also kein anderer Arzt eingefallen. Aber einen Arzt hättest du in jedem Fall geholt, nicht wahr?“ Sie schüttelte den Kopf. Sagte, kaum hörbar: „Für Riedel nicht.“ Sie hatte dabei den Kopf so tief, daß Bortfeld ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte. Nur noch das dichte Haar, bißchen Pullover, weißen Rock, Knie, Stiefel – alles noch immer schneematschverschmutzt. Eine Zeitlang, bevor er den Raum verließ, sah er auf sie nieder. Dachte: Na, sind wir uns doch wenigstens darin ähnlich. Gefühle, verdammt noch mal, haben auch wir unter Verschluß zu halten. Er öffnete die Tür. Zugluft streifte ihn. Die Tür knallte zu. Er blieb stehen, lauschte, hörte nichts. Stieß die Tür wieder auf. Sabine saß in unveränderter Haltung. Bortfeld fragte: „Was hattest du Dienstagabend an – einen Mantel?“ Sie hob das Gesicht. Sah mit klarem Blick in Bortfelds Augen. Sagte: „Meinen neuen.“ „Wollstoff?“ fragte Bortfeld – noch winzige Hoffnung im Ton. „Nein, Pelz, synthetischer.“ „Den brauche ich sofort?“ Sie öffnete wieder die Hände, die Innenflächen nach oben. „Ja, natürlich, du hast die Schlüssel nicht bei dir“, sagte Bortfeld sachlich. Seine Augen verengten sich. Das habe ich vorhin nicht gesehen? Sie hat mir doch 201
schon mal ihre Rechte offen hingestreckt. Vielleicht sollte ich es bemerken? Und da ist mir das nicht aufgefallen? Er nahm ihre Hand. Strich mit seinem Zeigefinger über eine erst verheilende Narbe auf ihrem Handballen. Sah das Foto von Riedels Kopfwunde vor sich. Er brauchte nicht mehr zu denken, zu hoffen. Konnte nichts mehr bezweifeln. Fragte trotzdem: „Was ist das?“ „Das ist davon. Weiter nichts.“ Sie pulte Reste vom Heftpflaster ab. „Ah so, weiter nichts.“ Bortfeld ging hinaus. Zugluft streifte über sein heißes Gesicht. Die Tür knallte zu. Selten waren Bortfeld und seine Mitarbeiter nach Abschluß einer Ermittlung noch so lange beieinandergeblieben wie an diesem Donnerstag. Als die benachrichtigte Anne Wegener mit Jens Michaelis dagewesen war, hatten sie gefürchtet, das Mädchen Sabine würde umkommen in Michaelis’ Armen. Ohne ein Wort hatten sich beide verständigt, verstanden; die jungen, die so sparsam mit dem Wort umgehen wie Thermühlen mit seinem Lächeln, als gäbe es nicht genug davon – hatte Bortfeld wieder gedacht. Hatte sich weggedreht. Klut und Hermens wollten zuerst nicht glauben, was er ihnen sagte. Dann sahen sie die Hand der Kleinen an. Bald danach kam die Analyse aus dem Labor: Identität der gefundenen Webpelzfusseln zum Material des Mantels ist erwiesen. „Da muß Riedel aber mächtig zugegriffen haben“, hatte Hermens gesagt. „In seinem mächtigen Schreck“, ergänzte Klut. Noch jetzt, in Bortfelds Dienstzimmer, am frühen Abend, gelang es beiden kaum, ihr Bestürztsein zu überspielen. Ihre Unterhaltung wirkte sonderbar. Bortfelds Blick wanderte grau und pflichtbesessen 202
von einem zum anderen. Sah, wie sich die Münder bewegten. „Mensch, wenn ich doch gleich die Frau da, die Böhme, hätte erreichen können“, sagte Hermens zu Klut. „Hier, lies das Protokoll, von ihr und von der Nachbarin unterschrieben. Ehrliche Frauen. Ganz aufgebracht, beide. Hatten gehört, daß Michaelis Dienstag abend Text durchnahm, von kurz nach achtzehn bis gegen dreiundzwanzig Uhr. Sie hatten den Fernseher leise gestellt, um ihn nicht zu stören.“ Klut grübelte, sagte dann: „Thomas hat mir erzählt, daß seine Mutter ihm ein Motorrad kauft. Er kann ihre Rückkehr kaum erwarten. Sie schließt in Warschau einen neuen Vertrag, wird jetzt mehr bei uns arbeiten, für eine polnische Zeitschrift. Wird dann mehr im Lande sein als bisher.“ „Wie war das mit dem Telefon?“ fragte Hermens. „Ganz einfach. Sie hatte oft Auslandsgespräche zu führen, die Rechnung kam meistens, wenn sie nicht hier war. Riedel hat sich geweigert zu zahlen. Sonja sagt, er hat nie gewollt, daß sie im Ausland arbeitet. Seit einiger Zeit telefoniert sie eben von Frau Gallant aus, und die Rechnung wird beglichen, wenn Inge Riedel zurückkommt. So einfach hat sich das geklärt, du meine Güte …“ Hermens fragte: „Hat Frau Doktor Kündler noch immer von Lebensgefahr gesprochen?“ Da Bortfeld nicht antwortete, sagte Klut: „Ihrer und des Experten Meinung nach besteht die nach wie vor. Aber dabei hat nicht die Kopfwunde, sondern der Schock primäre Bedeutung.“ Hermens sagte: „Ein Glück, daß ich Scholz nicht direkt befragt habe, sonst … na ja.“ Sie unterhielten sich leise. Ihnen war anzusehen, daß ihnen, die redeten, nicht anders zumute war als Bortfeld, der stumm hinter dem Schreibtisch saß, nur den Blick von einem zum anderen gehen ließ. Manchmal 203
nickte er, als höre er zu. Es wurde zwanzig Uhr. Bortfeld stand auf, schwerfällig. Räumte langsam Protokolle und Notizen und Tonbandkassetten zusammen. Gab alles Hermens zum Verschließen. Sagte: „Wir müssen ein Ende finden. Uns bleibt noch der ganze Schreibkram und …“ Er suchte nach einem Wort, sagte dann schnell: „Und der morgige Tag.“ Hermens hielt ihm den Mantel. Fragte, ob er den Fahrer rufen solle. „Danke, nein. Ich gehe zu Fuß. Es ist so milde geworden. Man könnte vergessen, daß Winter ist. Verrücktes Wetter. Und – ja, ich muß jetzt Luft haben. Übrigens, ich danke euch. Gute Arbeit wieder.“ Er brauchte eine Stunde für den Fußweg. Ging durch leere Straßen und durch belebte. Sah in Schaufenster. Das Glitzern hinter den Scheiben erinnerte ihn an Weihnachten. Er schritt kräftig aus, mit und gegen den Menschenstrom. Gelangte an den Rummelplatz, der in der vorigen Nacht vereist gewesen war – in Bortfelds Erinnerung. Jetzt, zu dieser Stunde, lag der Platz wie gebadet in buntem Licht und durchströmt von quäkender, dröhnender, klingender Musik. Das überschwemmte auch die Umgebung, die angrenzenden Straßen. Schlagergesang schepperte in Bortfelds Ohren, in seinen Kopf. Er ging durchs Gewühl lachender Menschen, junger Menschen. Um ihn schwebte Bratwurstduft und Festgefunkel. Die Karussells kreisten mit betäubenden Geschwindigkeiten. Jauchzen, Kreischen war, wenn die schwirrende Fahrt zu tollkühn wurde. Mit lauter, sich übertreffender Stimmkraft pries man Waren an. Stimmen, dachte Bortfeld. Stimmen! Er kam zu einer Schießbude. Zielte auf eine kitschig blaue Rose aus gewachstem Papier. Traf. Steckte die 204
Blume einem ganz jungen Mädchen zu, das, umarmt von einem jungen Mann, hinter ihm gewartet hatte. Sah dem Mädchen nicht ins Gesicht. Ging weiter. Vor den Schiffsschaukeln blieb er stehen. Hin- und herfliegende Gondeln, umflirrt von hellbuntem Licht. Stehend schaukelnde Paare, die sich beim Hinundherschaukeln mit ihren Leibern berührten. Ihnen sah er lange zu. Dachte: Aber sie kommen ja wieder und wieder, die vorfestlichen Zeiten. Das ist Gewißheit. Durch seine Straße ging er mit gesenktem Kopf – dem zu grellen Licht auszuweichen. Vom Platz her kam die Musik ihm nach. Und Beklommenheit blieb bei ihm. Er stieß die Gartentür auf, so heftig, daß sie in ihren eisernen Angeln quietschte, auf- und zurückschlug. Sie pendelte noch, als er sein eigenes, geordnetes Haus betrat. Den Garten ließ Bortfeld offen.
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2. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1978 (1975) Lizenz-Nr.: 409-160/146/78 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 266 1 DDR 2,– M