Roy Palmer . Nachtgefecht
1. Bootsmann Sullivan war ein gewissenhafter Mann. Er nahm seine Aufgaben - und das waren zu...
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Roy Palmer . Nachtgefecht
1. Bootsmann Sullivan war ein gewissenhafter Mann. Er nahm seine Aufgaben - und das waren zur Zeit nicht wenige höllisch ernst. Es gab nichts, das ihn von der kompromißlosen Erfüllung seiner Pflicht abhalten konnte. Gut eine Stunde hatte er darauf verwendet, zunächst das Unterdeck und dann das Vorschiff der Kriegskaravelle ›War Song‹ zu inspizieren. Und er hatte einiges zu beanstanden gefunden! Einige Kojen in den Mannschaftsräumen waren nicht ordnungsgemäß gerichtet, die Logis bot ein Bild, das ihn schauderhaft fluchen ließ. In der Kombüse hatte er an den Wänden Fettflecke und auf den Vorratsschapps fingerdicken Staub entdeckt. Sullivan trat durch das Backbordschott des Vordecks auf die Kuhl. Er stemmte die Fäuste in die Seiten und ließ den Blick wandern. Er war ein stämmiger Mann mit breiten Schultern. Seine blauen Augen hatten Tiefe und Ausdruck und vermittelten etwas von der Härte und Unnachgiebigkeit, aber auch von der Vertrauenswürdigkeit seines Charakters. Seine rotblonden Haare wurden von dem handigen Nordwestwind zerzaust, der an diesem Nachmittag des 10. Februar 1580 über die Mill Bay vor Plymouth blies. »Harris! Jenkins!« rief Sullivan. »Sir?« »Ab ins Vorschiff mit euch zum Aufklaren! Was ist denn das nur für ein verdammter Saustall?« Harris und Jenkins, zwei Kerle, so groß wie Schränke, lösten sich vom Backbordschanzkleid und drehten sich zu ihm um.
Zuerst sahen sie ihn etwas verdattert an, aber dann setzten sie sich schleunigst in Bewegung. Sie flitzten an ihm vorbei. »Räumt die Mannschaftsräume auf und schrubbt die Kombüse, bis die Schwarte kracht!« rief Sullivan ihnen nach. »Ich will alles glänzen sehen. Ich dulde keine Schweinerei und keinen Schlendrian an Bord. So was wollen wir gar nicht erst einreißen lassen.« Er wandte sich wieder der Kuhl zu. Sie war nicht sehr groß. Gleich hinter dem Großmast begann das höhergelegene Quarterdeck und ganz achtern ragte das Achterdeck mit dem Besanmast auf. Bootsmann Sullivan erfaßte die Situation mit einem Blick. An der Backbordseite der Kuhl, wo auch das Beiboot in seinen Laschings ruhte, drängten sich sämtliche Männer der Deckswache und scherten sich einen Dreck um die Borddisziplin. Sullivan schritt zu ihnen. Er baute sich mit verschränkten Armen hinter ihnen auf, aber sie schienen ihn nicht zu bemerken. Wie gebannt blickten sie voraus, nach Nordwesten in die Mill Bay. Sullivan war ein aufrechter, im Grunde seines Herzens ausgesprochen gutmütiger Mensch. Aber, wie gesagt, er duldete keine Trödelei an Bord eines Schiffes, schon gar nicht auf einer Kriegskaravelle vom Format der ›War Song‹. Er sprach nicht besonders laut. Dennoch zuckten einige Männer jetzt zusammen. »Ihr Himmelhunde! Ja, seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Ihr glaubt wohl, weil der Kapitän nicht an Bord ist, könnt ihr wie die Mäuse auf dem Tisch tanzen, wie? Aber da habt ihr euch verrechnet.« »Aye, aye, Sir«, antworteten einige Männer. Dennoch hielten sie den Blick unverwandt auf die am nördlichen Ende der Mill Bay gelegenen Hafenanlagen und Piers gerichtet. Sullivan trat ganz dicht hinter sie. »Was, zum Teufel, gibt es da zu gaffen? Habt ihr Rindviecher etwa einen Weiberrock
entdeckt? Ich werde ...« Einer, der ein Spektiv vor dem Auge hielt, entgegnete: »Nein, Sir, keine Weiber. Wir beobachten nur, was sich da am Ende der langen Pier abspielt.« Sullivan spähte nun selbst Backbord voraus und sah die große Dreimast-Galeone, die am äußersten Ende der Pier vertäut war. Zwischen ihr und der ›War Song‹, die an der Pontoon Pier ganz am östlichen Eingang der Mill Bay lag, erstreckte sich etwa eine Viertelmeile Distanz, doch Sullivan sah ohne Schwierigkeiten die Menschenmenge, die sich dort drüben auf der Pier bewegte. Die Galeone hatte er bereits am Vormittag gesehen, als sie unter dem wolkenverhangenen Himmel in den Hafen von Plymouth eingelaufen war. »Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt«, sagte Sullivan. »Habt ihr Narren noch nie eine Galeone gesehen? Ich streiche euch den Landurlaub, wenn ihr weiter verrückt spielt.« Der Mann mit dem Spektiv, ein gewisser Feeney, erwiderte: »Sir, das ist keine gewöhnliche Galeone. Ich erkenne an der Bauart, daß es sich um ein spanisches Schiff handelt.« »Das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock.« Sullivan zeigte eine wegwerfende Geste. »Die Dons haben zwar die geklinkerte Bauweise von uns übernommen, aber zwischen ihren und unseren Schiffen gibt es doch erhebliche Unterschiede. Seht euch bloß mal die Heckgalerie mit den Verzierungen an!« »Ein schmuckes Schiff«, sagte Feeney. »Edel«, sagte ein anderer. Sullivan grinste. »Und die Besatzung besteht aus Engländern. Der Leibhaftige soll mich holen, wenn es nicht so ist. Unsere Leute haben die Galeone irgendwo vor der spanischen Küste, in der Biskaya, vor Frankreich oder sogar vor Irland aufgespürt, gekapert und als Prise mitgebracht. Ich habe heute früh, als sie vorüberzog, die Kampfspuren gesehen, die sie trägt. Da ist kräftig hingelangt worden, kann ich euch sagen.
Ich kann mir vorstellen, wie erbittert der Kampf um das Schiff verlief. Wer weiß, was es in seinen Frachträumen birgt.« »Coleman weiß es«, sagte Feeney. »Coleman war heute morgen an Land.« Coleman, ein vierschrötiger, etwas einfältiger Seemann und Soldat Ihrer königlichen Majestät Elizabeth I., nickte. »So ist es. Die Galeone hieß früher ›San Josefe‹, wurde aber in ›Isabella V.‹ umgetauft - und sie gehört keinem anderen als Philip Hasard Killigrew, dem Seewolf, wie die Leute ihn nennen.« Sullivan zog die Augenbrauen hoch. »Donnerwetter. Und das erfahre ich erst jetzt, Coleman?« »Sie - Sie haben mich ja nicht danach gefragt, Sir.« »Dummkopf. Feeney, gibt mir mal den Kieker.« Bootsmann Sullivan blickte angestrengt durch das Spektiv. Die Optik fing die Pier ein und brachte sie ihm nahe. Der Pöbel von Plymouth drängte sich dicht vor der Bordwand des großen Schiffes. Da wurden Fäuste gereckt, Rufe ausgestoßen. Die Masse wogte hin und her. Jemand wurde beinahe ins Wasser gedrückt. Sullivan wußte, was das zu bedeuten hatte. »Dieser Seewolf«, sagte er. »Er soll ein tollkühner Kerl sein, der weder Tod noch Teufel fürchtet. Ich habe schon die haarsträubendsten Geschichten über ihn vernommen. Wenn die alle wahr sind ...« Er ließ den Blick über die Decks der ›Isabella V.‹ wandern. Er sah einen breitschultrigen Mann mit dunkelblondem Haar, einen weißhaarigen Alten, der auf Krücken lief, einen rothaarigen Riesen und einen Koloß von Mann mit grauem Haupthaar und wirrem grauem Bartgestrüpp. Sie schritten ziemlich aufgeregt auf dem Achterdeck auf und ab. »Jemand hat mir mal erzählt, wie der Seewolf aussieht«, sagte Sullivan. »Er soll ein großer, ziemlich junger Mann mit schwarzen Haaren und blauen Augen sein. Ich kann ihn aber
auf der Galeone nicht erkennen.« Coleman meldete sich wieder zu Wort. »Er wurde noch am Vormittag von Bord gebracht. Er ist verletzt. Ziemlich schwer soll’s ihn erwischt haben, am Kopf, glaube ich. Die Leute von Plymouth munkeln, man habe ihn zu Sir Freemont transportiert.« »Sir Anthony Abraham Freemont? Kann schon sein«, sagte Sullivan. »Aber die Leute schwätzen viel, wenn der Tag lang ist. Eins steht jedoch fest. Da drüben braut sich was zusammen. Das Volk sieht mir verdammt gierig und angriffslustig aus, und die Männer an Bord der Galeone scheinen auch ziemlich gereizt zu sein.« »Der weißhaarige Alte«, sagte Feeney. »Ich muß mich schon schwer täuschen, wenn das nicht Donegal Daniel O’Flynn aus Falmouth ist. Ich habe Verwandte in Falmouth und bin oft dortgewesen. Der Seewolf selbst stammt ja auch aus Falmouth, wie alle Killigrews. Der grauhaarige Riese dort, das ist Shane, der Schmied von Arwenack, der Stammfeste der Killigrews. Big Old Shane wird er genannt. Mit dem Seewolf soll er sich immer gut verstanden haben, genau wie Lady Anne Killigrew. Aber Sir John Killigrew und seine anderen drei Söhne, die sind auf den Seewolf nicht gut zu sprechen. Ach, übrigens, wenn ich mich nicht irre, hat Sir John vor kurzem mit einem ganzen Trupp von Männern die ›Isabella‹ verlassen.« »Du weißt ja gut Bescheid«, entgegnete der Bootsmann. »Weiß der Henker, was sich so alles um diese Galeone rankt und welches Geheimnis sie birgt. Wenn ich mir die Leute auf der Pier so ansehe, muß schon allerlei hinter der ganzen Sache stecken.« Coleman sagte: »Der Seewolf soll in der Karibik einen gewaltigen Schatz erbeutet haben. Und der befindet sich im Bauch der ›Isabella‹, Gold, Silber, Perlen, Juwelen - sagen die Leute.« »Das würde einiges erklären«, sagte Sullivan. »He, seht mal,
was jetzt passiert!« Er verfolgte durch den Kieker, wie ein Keil von Männern von der Western Road aus bis auf die Pier vordrang und die Menge auseinandertrieb. Plötzlich fielen ein paar Schüsse. Jemand brach zusammen, jemand schrie. Sullivan stieß einen Fluch aus. »Jetzt wird’s spannend. Die Stadtgarde ist erschienen.« Feeney hatte ein anderes Spektiv zur Hand genommen und es ans Auge gehoben. »Sie baut sich direkt vor der ›Isabella‹ auf und drängt die Zivilisten ganz fort. Jetzt treten zwei Männer vor. Holla, der fette Kerl mit der Perücke dort, das ist ja Samuel Taylor Burton, der Friedensrichter von Plymouth. Und der Hagere mit dem Ziegenbart neben ihm kann nur Baldwin Keymis sein, der Friedensrichter von Falmouth - ein wahres Schlitzohr!« »Langsam«, sagte Sullivan. »Mehr Respekt vor der Obrigkeit, wenn ich bitten darf.« Sein Glaube an die Untadeligkeit aller Autoritätspersonen schien durch nichts zu erschüttern zu sein. Coleman sagte plötzlich: »Bootsmann Sullivan - Sir, drehen Sie sich mal um.« Sullivan tat dies zögernd, weil auch er durch das Geschehen bei der ›Isabella V.‹ gefesselt war. Als er jedoch den Kopf wandte und zur Steuerbordseite seines Schiffes blickte, fuhr er unwillkürlich zusammen. Gute zwei Dutzend Männer hatten sich dort auf der Pontoon Pier versammelt. An ihrer Spitze befand sich ein bulliger, grobschlächtig wirkender Mann mit roten Haaren, rötlich gefärbter Gesichtshaut und roter Knollennase. Seine hellblauen Augen glitzerten. Sein Mund war ein dünner Strich. »Himmel, Arsch«, sagte Bootsmann Sullivan. »Wer in aller Welt sind die Kerle? Was wollen sie, und wer ist der Stier, der sie anführt?« »Das«, raunte Feeney ihm zu, »ist kein anderer als Sir John Killigrew höchstpersönlich.« Sir John schritt über die Gangway auf die Kuhl der ›War
Song‹ hinunter, als gehöre das Schiff bereits ihm. Hinter ihm schlossen seine zweiundzwanzig Männer auf. Der hölzerne Laufsteg wippte unter ihren Schritten, ihre Stiefel polterten über das Deck. Sir John fixierte den Mann, den er an seiner äußeren Aufmachung als den Bootsmann der Dreimast-Karavelle erkannte. Im Augenblick war er der ranghöchste Mann, den er entdecken konnte - an ihn würde er sich also halten. Sir John spürte Triumphgefühl in sich aufsteigen. Er fühlte sich wieder in seinem Element. Schmähliche Niederlagen hatte er hinnehmen müssen, doch jetzt schien die Pechsträhne ein Ende zu haben. Nachdem ihn Ben Brighton, dieser Bastard von einem Bootsmann, endlich von Bord der ›Isabella V.‹ gelassen hatte, hatte er, John Killigrew, natürlich bereits einen Plan im Kopf gehabt. Hätte er etwa Baldwin Keymis, dem Friedensrichter von Falmouth, nacheilen sollen? Schön, Keymis hatte sich an Bord der ›Isabella‹ gewissermaßen mit ihm gegen den Seewolf und dessen Mannschaft verbündet. Keymis hatte ihm Treue und alles mögliche andere geschworen. Sonst hatte er aber nicht viel ausgerichtet, sondern eher nur Torheiten begangen. John Malcom Killigrew hatte sein Leben gelassen, als er zusammen mit seinem Vater dem schwerverletzten Seewolf den Rest hatte geben wollen. Oh, wie hatten sie sich verkalkuliert! Sie hatten geglaubt, nur Gwendolyn Bernice Killigrew, geborene O’Flynn, in der Kapitänskammer der ›Isabella‹ vorzufinden. Sir John, der die junge Frau als Schwiegertochter nicht wollte, hatte sie und den Bastard Hasard umbringen wollen. Aber da waren Big Old Shane und der Neger Batuti auf der Bildfläche erschienen. Und Shane hatte wahrgemacht, was er schon seinerzeit auf Arwenack geschworen hatte. Er hatte John Malcolm getötet. Keymis hatte dann während der Bestattung von John
Malcolm zur Meuterei aufrufen wollen. Doch die Mannschaft des Seewolfes hätte ihn deswegen beinahe gelyncht. Nur Ben Brighton war es zu verdanken, daß Keymis nicht an der nächsten Rahnock aufgeknüpft worden war. Bei allem Haß mußte Sir John doch zumindest dies Brighton zugestehen. Fazit: Die Crew der ›Isabella‹ stand hinter dem Seewolf, diesem Teufel, und es gab nichts, das sie beeinflussen konnte. Sir John hatte, solange er sich an Bord des Schiffes befand, jeden Gedanken aufstecken müssen, den Schatz in den Frachträumen an sich zu reißen. Doch sie befanden sich jetzt in Plymouth. Hier dominierte nicht mehr die unendliche Weite der See, dies war keine Umgebung wie die Karibik, in der der Seewolf und alle anderen Korsaren und Piraten nach eigenen Gesetzen lebten. Hier war Cornwall, der unumschränkte Machtbereich von Sir John Killigrew. Oh, er würde es ihnen schon zeigen, diesen tolldreisten Hunden! Aber Keymis - war er ihm schon von vornherein nicht gerade sympathisch, so hatte Sir John jetzt jede Partnerschaft mit diesem durchtriebenen Burschen abgelehnt. Wohlweislich, denn er hatte sich ja ausrechnen können, daß Baldwin Keymis nichts Eiligeres zu tun haben würde, als zu seinem Amtskollegen Burton zu rennen. Die Tatsachen gaben ihm nun recht. Sir John hatte auch beobachtet, was sich auf der Pier neben der ›Isabella‹ abspielte. Seit jeher waren die Killigrews mit der Burton-Sippe verfeindet. Die Fehde ließ keine Art von Übereinkommen zu, nicht einmal vorübergehende Bündnisse - eine Art Burgfrieden, wie er sich doch in diesem Fall bei einem gemeinsamen Ziel angeboten hätte. Schließlich wollten Keymis, Burton und er alle drei das gleiche: den Schatz der ›Isabella‹! Aber nein, es gab nur den einen Weg. Sir John mußte sich auf seine Eigeninitiative verlassen. Rasch hatte er gleich nach dem Verlassen der ›Isabella‹ seine zweiundzwanzig Männer
zusammengetrommelt. Auch sie waren von Ben Brighton fortgeschickt worden. Sie stellten den Rest jener Crew dar, mit der Sir John an Bord einer Galeone nach Spanien aufgebrochen war. Wieder einmal hatte er einen seiner Beutezüge geführt - und war gescheitert. Vor der Küste von Portugal hatten die Spanier ihn gestellt und in die Zange genommen. Mit drei Galeeren und zwei Karavellen waren sie ihm auf den Leib gerückt. Seine Galeone hatte bereits mehrere Lecks gehabt und jede Menge Wasser übergenommen, und zweifellos hätten die gottverfluchten Dons ihn und seine Crew endgültig zu den Fischen geschickt, wenn nicht plötzlich ein weiteres Schiff wie ein Gespenst aus dem Regendunst aufgetaucht wäre - die ›Isabella‹. In einem beispiellosen Gefecht hatte sie die Galeeren und Karavellen versenkt. Die letzte Karavelle war explodiert. Eine durch die Luft wirbelnde halbe Rah hatte den Seewolf am Kopf getroffen und bedenklich verletzt. Dann, nach dem Verklingen des Kanonendonners und Explosionslärms, hatte die ›Isabella‹ Sir John und seine Männer übernommen. Gewiß, der Seewolf hatte ihm das Leben gerettet. Doch das zählte bereits nicht mehr für Sir John. In seinen Augen war Hasard nur der Bastard, der ihm wie ein Dorn ins Auge stach. Und Shane hatte nun allem die Krone aufgesetzt, indem er John Malcolm umgebracht hatte. Sir Johns Haß kannte keine Grenzen mehr. Am Vormittag, beim Einlaufen der ›Isabella‹ in die Mill Bay, hatte er von seinem Kammerfenster aus die Kriegskaravelle an der Pontoon Pier gesichtet. Sofort hatte er sein Vorhaben entsprechend aufgebaut. Was nun Baldwin Keymis und Samuel Taylor Burton betraf, so hatte er sich wirklich nicht verrechnet. Und Ben Brighton, der sich nicht nur Bootsmann, sondern auch Erster Offizier des Seewolfes nannte? Was würde der tun? Sir John glaubte es zu wissen.
»Herhören«, sagte er. »Bootsmann, wie heißen Sie?« Sullivan zog den Kopf ein wenig ein und sah sehr verblüfft aus. Noch konnte er es nicht fassen, wahrhaftig Sir John Killigrew gegenüberzustehen, und glaubte an einen Scherz von Feeney. Noch verschloß sich sein Geist den Tatsachen und wollte den barschen Kommandoton dieses rotgesichtigen, rothaarigen Bullen nicht annehmen. Aber dann siegte doch die Disziplin in ihm. »Sullivan, Sir.« »Also schön, Sullivan. Ich bin John Killigrew, der GeneralKapitän von Cornwall. Ich verlange, den Kommandanten dieses Schiffes zu sprechen, und zwar ein bißchen dalli.« »Der - der Kapitän ist in Urlaub, Sir.« »So?« In Sir John drohte das Siegesgefühl überzuschäumen. Besser hätte er es nicht treffen können! Er hatte praktisch freie Hand. Diesen Hampelmann von einem Bootsmann stecke ich in die Tasche, dachte er. Hinter Sir John standen die zweiundzwanzig Männer seiner versenkten Galeone, vor ihm umringte die Crew der DreimastKaravelle ihren verdutzten Bootsmann. Sir John warf einen Blick zur ›Isabella‹ hinüber - noch lag sie an der Pier. »Ich erkläre die ›War Song‹ für beschlagnahmt«, sagte er scharf. Er stand mit leicht abgewinkelten Beinen, die Hände auf die Seiten gestützt, ganz Herr seiner Sache. »Sie wird für einen Geheimauftrag benötigt. Das bedeutet, daß ich ab sofort euer Kapitän bin, verstanden?« Sullivan ging in diesem Moment vor Ehrfurcht fast in die Knie. »Jawohl!« brüllte er und straffte sich. Sullivan hatte Sir John noch nie in seinem Leben gesehen, aber er hatte von dessen Taten als Freibeuter in der Irischen See und dem Nordatlantik vernommen. Sir John war ihm also kein Unbekannter. Er war ein Mann, der alles überrollte und keine Widerworte duldete. Sir John maß die Crew der Karavelle mit einem
geringschätzigen Blick. Ein Mann seines Titels zusammen mit gewöhnlichen Decksleuten und Seesoldaten auf der Kuhl - das ging nicht an. »Sullivan, folgen Sie mir aufs Achterdeck. Und ihr«, Sir John drehte sich zu seinen Begleitern um, »ordnet euch der Crew zu und paßt mir auf, daß es keinen Zank und keine Unbotmäßigkeiten gibt. Wer gegen die Borddisziplin verstößt, der lernt mich von meiner übelsten Seite kennen, verstanden?« »Aye, aye, Sir!« Sir John kletterte vor Sullivan auf das zum Heck hin spitz zulaufende, über der Galerie jedoch abgestumpfte Achterkastell. Er wandte sich um, verschränkte die Arme und ließ seinen Blick über die Takelage wandern. Frechheit siegt! Er hatte wieder ein Schiff. ›War Song‹, »Schlachtgesang« dieser Name erschien ihm beinahe wie ein Omen. Denn er hätte jetzt vor Freude schon ein wüstes Lied schmettern mögen. »Lateinersegel, Bootsmann Sullivan.« Er nickte zufrieden. »Das lob ich mir. Mit den langen Rahruten, die weit dichtgeholt werden können, ist das Schiff ein vortrefflicher Am-Wind-Segler und schlägt jede Galeone.« »So ist es, Sir.« »Wie ist es um die Armierung bestellt?« Sir John taxierte mit einem huschenden Blick, was da vor den geschlossenen Stückpforten mit Brooktauen festgezurrt war. »Zehn Stücke auf jeder Schiffsseite.« Er drehte sich um. Auf dem Schanzkleid des Achterdecks waren zwei in Gabellafetten drehbare Geschütze montiert, desgleichen auf der Back, wie er vorher schon gesehen hatte. »Vier Drehbassen - brauchbare Hinterlader. Ausgezeichnet, Sullivan, wirklich, ganz ausgezeichnet.« Während Bootsmann Sullivan noch vor Stolz errötete, konzentrierte Sir John Killigrew sich bereits wieder auf die ›Isabella‹. Plötzlich kniff er die Augen zusammen. Täuschte er sich oder bewegte sich das Schiff von der Pier fort?
Dann sah er es ganz deutlich. Die Entwicklung gab ihm recht. Ben Brighton ließ sich auf Verhandlungen mit Keymis und Burton nicht ein. Er ließ die Festmacher kappen und trieb von der Pier weg. Im Handumdrehen wurden die Segel gesetzt. Wirklich, das mußte auch Sir John anerkennend feststellen: Die Crew verstand ihr Handwerk. Und Burton und Keymis? Die wagten nicht, sich zu rühren. Sir John ließ sich von Sullivan einen Kieker reichen, blickte hindurch und konnte nun ganz genau verfolgen, was sich abspielte. Er lachte auf. Burton stand wie eine Salzsäule da, Keymis ballte die Hände und preßte die Lippen zusammen. Natürlich gaben sie keinen Schießbefehl - die Geschütze der ›Isabella‹ waren auf sie gerichtet. Wahrscheinlich hatte Ben Brighton sie schon lange vorher laden lassen. Jetzt brauchten die Friedensrichter nur eine unbedachte Bewegung zu tun, und sie würden als erste zusammengeschossen werden. Danach kam die Stadtgarde dran. Es blieb ruhig. Die ›Isabella V.‹ rauschte mit praller Bugsee aus der Mill Bay und nahm Kurs auf den Atlantik. Sir John sah Brighton, den alten O’Flynn, Ferris Tucker, den rothaarigen Riesen, und Shane auf dem Achterdeck stehen. Shane! Er unterdrückte einen Fluch. »Sullivan!« »Sir?« »Sofort die Leinen los, Segel setzen und die Verfolgung der Galeone aufnehmen.« »Ist das der Geheimauftrag, Sir?« Sir John lief eine Nuance dunkler an. Er ließ das Spektiv sinken und fuhr den Bootsmann an: »Was fragst du so blöd, du Hornochse? Soll ich dich auf der Gräting auspeitschen lassen, oder nimmst du jetzt die Beine in die Hand und bringst deine Männer auf Trab?« Sullivan hastete aufs Quarterdeck hinunter. Seine
Kommandos hallten über Deck. Die Gangway wurde eingeholt, die Festmachertrossen gelöst. Der Rudergänger eilte auf seinen Posten hinter dem Kolderstock. Männer enterten wie die Affen in den Wanten auf. Als die Vorsegel gesetzt waren, wurde das Vorschiff von der Pontoon Pier weggedrückt. Es lag kurz im Wind, die arideren Segel wurden gesetzt, die ›War Song‹ fiel ab und nahm vor dem Nordwestwind Fahrt auf. Sie segelte über Backbordbug und glitt in den Plymouth Sound hinaus. Sir John trat an die Balustrade, die das Achterdeck zum Quarterdeck hin abschloß. Daß Burton und Keymis sich hinter seinem Rücken im Hafen von Plymouth wie die Wahnsinnigen aufführten und ihre Wut nun an der Stadtgarde ausließen, interessierte ihn nicht im geringsten. Er hatte nur noch sein Ziel vor Augen: sich den Schatz der ›Isabella‹ zu holen. Die See war frei. Was sich dort abspielte, ging niemanden etwas an. Er brauchte keinem Menschen darüber Rechenschaft abzulegen. Auch der Königin nicht, für die ja, wenn man dem Bastard Hasard und dessen Kerlen Glauben schenken durfte, drei Viertel der Beute bestimmt waren. Doch diese Tatsache ließ John Killigrew völlig ungerührt. Noch etwas drängte ihn, die ›Isabella‹ einzuholen und ihre Besatzung das Fürchten zu lehren. Big Old Shane befand sich an Bord. Er hatte John Malcom ins Jenseits befördert, und Sir John war weit davon entfernt, Recht und Unrecht abzuwägen. Welche Bedeutung hatte es noch, daß er und John Malcolm den Seewolf hatten töten wollen, daß Shane im Affekt - oder wie immer man es nennen wollte - gehandelt hatte? Für ihn war Shane der Mörder seines Erstgeborenen. Allein das zählte. Es gab nur ein Mittel, die Schandtat zu sühnen und den Haß zu bezwingen, der in ihm gärte: Rache.
2.
Bill, der Pferdewagenbesitzer, stoppte am Ausgang der Western Road. Er stemmte die Füße gegen das Bodenbrett des Bocks, zerrte an den Zügeln und rief sein »Brrr«. Dann wandte er sich zu seinen fünf Fahrgästen um. Er grinste. Seine schadhaften Zähne wurden wieder sichtbar. »Also, ich habe euch zu Sir Freemont und wieder zurück transportiert. Wie ist es mit meiner Bezahlung?« Der Kutscher blickte nervös auf die dichte Menschenmenge, die sich am Anfang der langgestreckten Pier bewegte. Es schien in ihr zu brodeln. Einige Fuhrwerke hatten sich dicht hintereinandergeschoben und sorgten für einen Stau am Rand der Masse. Auf ihren Sitz- und Ladeflächen standen Männer und Frauen. Sie schüttelten die Fäuste und stießen Flüche aus. Der Blick zur ›Isabella‹ war versperrt, doch konnten der Kutscher und seine Begleiter wohl die drei Maststengen und die Segel erkennen. Der Kutscher drückte Bill rasch einen kirschkerngroßen Edelstein in die Hand. »Das ist als Bezahlung reichlich«, sagte der Kutscher, dann war er auf dem Straßenpflaster und hastete los. Stenmark, Matt Davies, Al Conroy und Gary Andrews verließen ebenfalls die Kutsche. Bill blickte auf den glitzernden Edelstein, kratzte sich am Hinterkopf und sperrte vor Überraschung den Mund auf. Dann ließ er den Juwel schnell in seiner Tasche verschwinden, schaute den Männern nach und murmelte: »Dankeschön.« Der Kutscher erreichte die Menschenmenge als erster. Er schob die Leiber mit den Händen auseinander und bahnte sich einen Weg. Er mußte Boxhiebe und Ellenbogenknüffe einstecken. Männer fluchten. Ein etwa zwölfjähriger Junge trat ihm auf den Fuß. Jemand stellte ihm schließlich ein Bein, und er kam mitten zwischen den aufgebrachten Menschen zu Fall. Sofort beugten sich zwei, drei Kerle über ihn, um ihn zu treten und zu schlagen.
»Unverschämtheit, sich einfach so durchzudrängeln!« »Was will dieser Hund?« »Gebt es ihm!« Die Männer staunten nicht schlecht, als sich ein blinkender Eisenhaken in ihr Blickfeld schob. Matt Davies wies seine Prothese vor. »Das Ding ist scharfgeschliffen, ihr Stinker, und ich kann damit Holz hacken, Spundlöcher verdübeln, mir in der Nase bohren oder euch die Schädel eindellen.« Stenmark, Al und Gary bauten sich neben ihm auf. Und plötzlich, als habe es sie nie gegeben, waren die Kerle verschwunden, die den Kutscher hatten traktieren wollen. Gary Andrews griff sich einen der in der Nähe Stehenden. Der Mann blutete aus einer Wunde am linken Unterarm. »Du tust mir weh!« stöhnte er. »Was ist hier los, was ist vorgefallen?« »Die Stadtgarde ist erschienen, wißt ihr das nicht? Friedensrichter Burton führt sie an. Das Schwein hat auf alle schießen lassen, die sich nicht gleich verdrückt haben«, stieß der Mann erbittert hervor. Gary ließ ihn frei, dann eilten sie weiter. Sie hatten sich durch die dicke Menschentraube gekämpft und dachten, ihr Schiff nun im Endspurt erreichen zu können - da blieben sie wie vom Schlag getroffen stehen. Die ›Isabella V.‹ hatte ihnen das Heck zugewandt. Sie konnten gerade noch verfolgen, wie sie unter Vollzeug aus der Mill Bay glitt und in den Plymouth Sound lief. Der Kutscher und seine Freunde sahen auch den tobenden Baldwin Keymis und den fetten Kerl neben ihm, der sich noch wilder gebärdete. »Hölle und Teufel«, sagte Al Conroy. »Der Fettsack da, das ist der Friedensrichter Burton. Wie er seinem Bruder ähnlich sieht, dieser Bastard! Ich kann mir vorstellen, was sich abgespielt hat. Ich brauche nur Keymis Visage zu sehen.« Matt Davies spuckte aus. »Verdammt, jetzt haben wir den Salat. Wir hätten Keymis in die See schmeißen sollen, bevor
wir hier einliefen.« »Kaufen wir ihn uns«, sagte Gary Andrews. Stenmark fügte hinzu: »Burton nehmen wir auch gleich mit in die Mangel.« »Seid ihr verrückt?« Der Kutscher blickte sie an. »Das wäre glatter Irrsinn. Die Stadtwache ist in der Übermacht. Ich sehe auch keinen Zweck darin, den beiden Schurken ausgerechnet jetzt einzuheizen. Dadurch machen wir alles nur noch schlimmer.« »Zur Seite«, sagte Gary Andrews. »Die Hunde rücken ab. Wenn wir schon nichts unternehmen, halten wir uns am besten ganz im Hintergrund.« Sie tauchten in der Menge unter und sahen Keymis, Burton und die Männer der Stadtgarde sehr nach an sich vorbeiziehen. »Dreckskerle«, flüsterte Al Conroy. »Die wollten sich den Schatz schnell und ohne viel Aufhebens unter den Nagel reißen. Aber sie haben sich geirrt. Niemals hätte Ben es zugelassen, daß jemand die Hand auf unsere Beute legt. Eher hätte er ganz Plymouth in Schutt und Asche geschossen.« Sie blickten der Garde nach. Und dann war es Gary Andrews, der am schnellsten schaltete. »Moment mal, die marschieren doch nicht ostwärts zur Guildhall - die wenden sich nach Norden.« »Burton und Keymis steigen in eine Kutsche«, sagte Stenmark. Er reckte den Hals, so hoch er konnte. »Und die Kutsche rollt jetzt den Soldaten der Garde voran.« Der Kutscher erbleichte. »Mir geht ein Licht auf, Freunde. Mein Gott.« Gary fluchte. »O Mann, diese Verbrecher wollen sich auf unseren Seewolf stürzen. Natürlich hat Keymis mitgekriegt, daß wir Hasard von Bord gebracht haben. Zu dem Zeitpunkt befand er sich ja noch auf der ›Isabella‹. Zwar steckte er im Vorschiff, aber wie üblich hatte er seine Augen und Ohren überall, die Ratte. Und natürlich kennt er Plymouth und weiß,
daß es hier nur den einen Arzt gibt, zu dem wir Hasard geschafft haben könnten - Sir Freemont.« »Sir Freemont muß gewarnt werden«, sagte der Kutscher. »Also«, drängte Gary »nichts wie hin. Auf was warten wir noch?« Al Conroy stieß plötzlich einen Ruf aus. Er wies mit der ausgestreckten Hand nach Süden. »He, seht doch mal quer über die Mill Bay!« Die anderen wandten sich um. Sie hielten mit angespanntenMienen Ausschau und erkannten nun auch über die etwa 400 Yards lange Bucht hinweg die Kriegskaravelle, die an der Pontoon Pier lag und soeben seeklar gemacht wurde. »Zum Henker!« Der Kutscher riß die Augen weit auf. »Die Gestalt auf dem Achterdeck der Karavelle, dieser Bulle von einem Kerl ...« »... ist kein anderer als Sir John Killigrew«, vervollständigte Al Conroy. »Verfluchter Mist. Hier gibt es aber auch Verdruß von allen Seiten. Der Teufel soll Plymouth holen! Mir schwant was ganz Böses, Freunde.« »Da gibt es nur eins«, sagte Stenmark. »Wir müssen uns sofort trennen. Jemand muß sofort Sir Freemont alarmieren, und jemand muß auch dem verdammten Sir John nach. Der will sich unsere ›Isabella‹ schnappen.« Matt Davies nickte erregt. »Klar, wir dürfen Ben und die anderen auf keinen Fall im Stich lassen.« Gary sagte: »Nur einer von uns braucht in die North Road zu laufen und Sir Freemont zu warnen. Kutscher, ich schlage vor, du erledigst das.« »Geht in Ordnung. Und ihr?« »Wir besorgen uns ein Schiff.« »Wie wollt ihr das denn schaffen?« »Laß das unsere Sorge sein«, erwiderte Gary grimmig. »Was Sir John kann, das bringen wir auch fertig. Los, Kutscher, steh hier nicht länger herum. Du hast keine Sekunde mehr zu
verlieren.« Der Kutscher griff in die Tasche und beförderte den prall gefüllten Lederbeutel zutage. Er reichte ihn Al Conroy. »Hier, nimm ihn in Verwahrung. Ich benötige an Land keine Perlen und Juwelen, aber ihr könntet sie gebrauchen. Wo treffen wir uns später?« »Bei Sir Freemont - falls überhaupt jemals«, entgegnete Gary. »Das walte Gott.« Der Kutscher hob noch einmal die Hand zum Gruß, dann drehte er sich um und war in der Menschenmenge verschwunden. Gary, Al, Matt und Stenmark versuchten noch, seine Gestalt zu erkennen, aber das war unmöglich. Die Menge bewegte sich jetzt auf die Western Road und die anderen Straßen und Gassen des Hafenviertels zu und war im Begriff, sich zu zerstreuen. Wie eine große Woge trieb sie fort und spülte den Kutscher mit weg. »Hoffentlich trifft er noch rechtzeitig bei Sir Freemont ein«, sagte Stenmark. »Der Kutscher ist kein Holzkopf«, sagte Matt. »Los, sehen wir uns nach einem Schiff um, sonst verlieren wir noch den Anschluß.« Al Conroy war es wieder, der die Hand nach Süden hob. »Da liegt noch was an der Pontoon Pier, eine Schaluppe.« Sie blickten sich an und grinsten plötzlich. * Der Kutscher geriet fast wieder mit den Bürgern von Plymouth in Konflikt. Am Beginn der Western Road prallte er gegen einen Mann. Mit einer Entschuldigung stahl er sich aus dessen Nähe fort, rannte weiter, stieß dann aber um ein Haar mit einer dicken Frau zusammen, die ein kleines Kind auf dem Arm trug. Die Frau fing an zu zetern. Jemand fluchte. Und von irgendwoher rief eine Männerstimme: »Da ist der
Kerl ja schon wieder!« Der Kutscher tauchte schleunigst im Dunkel einer Seitengasse unter. Er kannte Plymouth wie seine Wamstasche. Schließlich hatte er hier lange genug gelebt und gewirkt, und als ehemaliger Kutscher war ihm noch jede Abkürzung ein Begriff. Aber er mußte Burton, Keymis und die Stadtgarde überholen. Die Friedensrichter hatten eine Kutsche. Die Soldaten marschierten stramm, außerdem hatten sie bereits einen beachtlichen Vorsprung. Der Kutscher hätte jetzt einiges für ein Gefährt gegeben. Aber am Hafen war kein Wagen mehr aufzutreiben gewesen, nicht einmal ein schäbiger Lastkarren. Alle waren in die Stadt unterwegs, um die Schaulustigen zurück zu ihren Häusern zu bringen oder sich möglicherweise auch zu irgendwelchen Treffpunkten zu begeben, an denen die Ereignisse auf der Pier noch einmal von vorn bis hinten durchgekaut werden würden. Sicherlich würde auch Nathaniel Plymson, der Wirt der berüchtigten Kneipe »Bloody Mary«, Hochbetrieb haben. Der Kutscher verließ die Gasse und wollte eine schmale, kopfsteingepflasterte Straße überqueren. Dabei lief er in seiner Hast beinahe gegen ein Pferd. Das Pferd gehörte zu einem Zweiergespann. Beide Tiere erschraken, bäumten sich auf und wieherten. Der Kutscher begann, in allen Tonlagen zu fluchen. Aber dann hörte er seinen Namen rufen. »Kutscher, Kutscher!« Überrascht blieb er stehen. Er wandte den Kopf und erkannte das Fahrzeug hinter dem Gespann. Es war Bills Kutsche. Und Bill, dieser Teufelsbraten, lud soeben eine Fuhre Leute aus und rief ihnen zu: »Los, aussteigen, die Reise ist zu Ende. Ich habe was Wichtigeres zu tun, als euch Taugenichts kostenlos durch die Gegend zu befördern. Lauft ein bißchen, das ist gut für die Hühneraugen.« Er lachte. »He, Kutscher, zu mir auf den Bock! Ich sehe ja, daß du es eilig hast.«
Kurz darauf jagte die Kutsche dem Nordende der Stadt zu. Bill ließ die Peitsche knallen und trieb seine Pferde zum Höchsttempo an. Sie galoppierten. Es war eine wilde, waghalsige Fahrt, aber Bill hatte keine Bedenken, das Risiko eines Unfalls einzugehen. »Von dem Edelstein kann ich mir glatt eine neue Kutsche kaufen!« rief er. Der Kutscher hatte ihm hastig auseinander gesetzt, um was es ging. »Außerdem glaube ich, daß ihr prima Kerle seid, euer Seewolf und ihr. Der Bursche mit der Hakenhand hat mir zwar gedroht, aber ich schätze, er hat es nicht so gemeint.« »Du bist ein wahrer Freund, Bill«, antwortete der Kutscher. »Den Gefallen vergesse ich dir nicht.« Den beiden Pferden stand flockiger Schaum vor Mäulern und Nüstern, als sie vor Sir Freemonts Haus an der Ecke North Road und Stoke Hill angelangt waren. Ihre Leiber waren schweiß bedeckt. »Ruhig«, sagte Bill. »Ganz ruhig, ihr verflixten Klepper, das Rennen ist ja gelaufen. Kutscher, mach’s gut.« »Du haust am besten gleich wieder ab. Burton, Keymis und die Stadtgarde können jeden Augenblick eintreffen.« »Ha, wie wir die überholt haben, was?« »Ja. Danke.« »Hör doch endlich auf.« Der Kutscher sprang vom Bock und lief über die Straße in den Vorgarten des Freemontschen Hauses. Bill fuhr mit seiner Kutsche weg, das Rattern der Räder und Klappern der Hufe verlor sich. Der Kutscher wollte mit beiden Fäusten gegen die Tür des Hauses hämmern. Aber er besann sich. Damit würde er Gwen erschrecken. Sie hatte entsetzlich viel durchgemacht und war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Außerdem erwartete sie ein Kind. Hasard brauchte Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe, aber auch seine junge Ehefrau hatte Schonung bitter nötig.
Also betätigte der Kutscher den Türklopfer. Er zwang sich zur Ruhe. War da nicht schon das Trappeln von Schritten aus Richtung Stonehouse Mill Pond zu vernehmen, das Knirschen von Kutschenrädern? Wenn Burton und Keymis den Seewolf fanden und abholten, dann war alles aus. Die Tür wurde spaltbreit geöffnet. Ein keckes Gesicht schob sich ihm entgegen, ein blonder Junge mit Sommersprossen und Stupsnase. »Dan«, sagte der Kutscher. »Laß mich sofort ein, oder der Teufel soll dich holen.« Dan war überrascht, aber er reagierte sofort. »Was ist denn passiert?« fragte er, als der Kutscher an ihm vorüberschlüpfte. Inzwischen war auch Sir Anthony Abraham Freemont in den Flur getreten. Er war ein schlanker Mann mit hagerem, wissenden Gesicht, das von klugen, grauen Augen beherrscht und von grauen, vollen Haaren gekrönt wurde. Etwas von der Verstimmung über die Störung war noch in seiner Miene zu lesen, doch als er den Kutscher erkannte, glätteten sich seine Züge. Bevor er eine Frage stellen konnte, sagte der Kutscher mit gedämpfter Stimme: »Friedensrichter Burton und Friedensrichter Keymis aus Falmouth haben vergebens versucht, die ›Isabella‹ zu beschlagnahmen. Jetzt sind sie hierher unterwegs. Mit der Stadtgarde.« Sir Freemont legte die Stirn in Falten. »Aha«, sagte er, und dann: »Burton. Ein schöner Friedensrichter ist mir das. Ich kenn seine miesen Praktiken und weiß, daß er ständig in die eigene Tasche wirtschaftet. Der Mann ist der Inbegriff von Korruption und Vetternwirtschaft. Aber mit solchen Methoden hat er bei mir nichts zu melden.« Gwen trat aus dem Halbdunkel des Flurendes. »Es ist nett von dir, Kutscher, mich nicht erschrecken zu wollen. Aber ich habe trotzdem alles verstanden. Was tun wir jetzt?«
Sir Freemont wandte sich zu ihr um. »Nicht verzagen, mein Kind, solange ich den Seewolf unter meinen Fittichen habe, spielt sich hier gar nichts ab. Kutscher, Dan, helft ihr mir? Wir bugsieren unseren Patienten sehr, sehr vorsichtig in ein anderes Zimmer.« »Du wirst schon sehen«, sagte Dan zuversichtlich zum Kutscher. »Wir schlagen diesem fetten Schwein Burton ein Schnippchen.« »Er wird das Haus durchsuchen.« »Abwarten«, sagte Sir Freemont. Er stieg vor ihnen die Holztreppe ins Obergeschoß hinaus. »Weißt du, Kutscher, es gibt Dinge in diesem Gebäude, die selbst dir während deiner Dienstjahre bei mir nicht offenbar geworden sind.« »Ich - das verstehe ich nicht.« »Ich hoffe, ihr könnt schweigen.« »Aye, aye, Sir«, sagte Dan O’Flynn. Sie betraten das Krankenzimmer. Philip Hasard Killigrew lag noch so da, wie der Kutscher ihn zusammen mit Matt, Al, Gary und Stenmark verlassen hatte. Er befand sich in tiefer Bewußtlosigkeit. Sein Gesicht war aschfahl, nur die Narbe, die er in der Neuen Welt empfangen hatte, hob sich etwas ab. Sonst war von der Sonnenbräune seiner wettergegerbten Haut nichts mehr zu sehen. Das Fieber hatte ihn ausgelaugt. Die eiternde Kopfverletzung ließ ihn unsägliche Qualen leiden. Zweimal während der Fahrt von Portugal nach Plymouth war er zu sich gekommen, hatte phantasiert und um sich geschlagen. Er wandelte auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod und hatte es nur seiner ausgezeichneten körperlichen Verfassung und Stärke zu verdanken, daß er noch am Leben war. »Die Trage«, sagte Sir Freemont. Der Kutscher holte sie aus dem Nebengelaß, in dem sie sie vorher untergebracht hatten. Es war die Trage, die Ferris Tucker auf der ›Isabella V.‹ gezimmert hatte und mit der sie
den Seewolf transportiert hatten. Sie hoben Hasard mit vereinten Kräften vom Bett auf die Trage. Den Kutscher überfiel ein scheußliches Gefühl, als er seinen Kapitän anfaßte. Der Seewolf war schlaff und reglos. Nur die Körperwärme verriet, daß er überhaupt noch am Leben war. Sie brachten ihn in ein anderes Zimmer, dessen eine Wand durch einen riesigen Eichenholzschrank fast ganz ausgefüllt wurde. »Absetzen«, sagte Sir Freemont. »Wir richten es unserem Patienten in einem Nebenraum gemütlich ein. Dort ist es etwas enger, aber er ist dort absolut sicher.« »Nebenraum?« wiederholte der Kutscher verwundert. »Wo in aller Welt gibt es denn hier einen Nebenraum?« Sir Freemont lächelte und öffnete die Schranktür. Zum großen Erstaunen des Kutschers stieg er hinein und drückte mit den Fingern gegen die Rückwand. Es knarrte leise. Eine Geheimtür tat sich auf, der Zugang zum Nebenraum war frei. Der Kutscher strahlte. »Himmel, und in all den Jahren, die ich bei Ihnen war, habe ich davon nichts geahnt, Sir!« »Ich habe es niemandem verraten. Niemandem! Nur ich wußte von dem versteckten Zimmer.« »Richtig«, sagte Dan. »Wenn man ein Geheimnis hat, darf man es nicht mal seiner taubstummen Urgroßmutter anvertrauen.« »Sir«, versetzte der Kutscher bewegt. »Ich habe ja gewußt, daß Sie diesem Burton nicht klein beigeben.« »Dem? Niemals.« Gwen zuckte zusammen. Unten wurde gegen die Haustür geklopft, und zwar hart und verlangend. Sir Freemont lächelte immer noch. Jetzt bewies er, daß nicht nur der Arzt aus Berufung und Leidenschaft, sondern auch ein ganzer Mann in ihm steckte. »Männer, packt bitte an, und dann nichts wie hinein mit dem Seewolf in unser verborgenes Zimmer. Bleibt bei ihm, rührt euch nicht vom Fleck und redet
um Gottes willen nicht. Mrs. Killigrew, bitte seien Sie ganz unbesorgt.« Er legte Gwen väterlich die Hand auf die Schulter. »Wir meistern die Lage schon.« »Danke, Sir.« Sir Freemont ließ sie durch den Schrank in den Nebenraum. Er schloß die Geheimtür, trat aus dem Schrank und drückte auch dessen Tür zu. Dann begab er sich ohne Hast ins Erdgeschoß. Inzwischen wurde gegen die Haustür gewummert, daß die Tür aus ihrem Rahmen zu brechen drohte. Sir Freemont schloß auf und öffnete. Friedensrichter Burton stolperte ihm fast in die Arme. Gerade hatte er wieder gegen die Tür trommeln wollen und verlor jetzt beinahe das Gleichgewicht. Er war ein übergewichtiger Mensch mit immensem Bauch und Hängewangen, die im Gleichklang wackelten. Obwohl erst Anfang der Dreißig, sah er bereits verlebt aus, und die Perücke verjüngte ihn auch nicht gerade. Er schwitzte, sein kurzer Atem ging pfeifend. Mit flackerndem Blick richteten sich seine braunen Augen auf den Arzt. Sir Freemont zog die Augenbrauen hoch. »Nun, meine Herren? Was verschafft mir die Ehre? Richter Burton, ist das vielleicht eine Art, an die Haustür eines Arztes zu klopfen?« Burton wies mit einer ausladenden Geste auf die Männer, die sich hinter ihm drängten. Seine Arme waren kurz, seine Figur glich einem riesigen Kürbis. Er wirkte schon sehr grotesk, wie er da vor Sir Freemont herumfuchtelte. Der hagere Mann mit dem Ziegenbart und dem listigen Blick gleich hinter ihm, so vermutete der Arzt, konnte nur Baldwin Keymis sein. »Sir«, sagte Burton schnaufend. »Reden wir von Anfang an Klartext, und spielen wir mit offenen Karten.« »Sie benötigen meine Hilfe?« »Nein.« »Warum dann dieser Truppenaufmarsch?« »Sir! In Ihrem Haus hält sich ein Verbrecher versteckt.« »Ein Verbrecher? Das soll wohl ein Witz sein?«
Keymis trat vor. Er war genauso wütend wie Burton, nur äußerte sich dies auf weniger aberwitzige Art als bei dem Dicken. Keymis war rot im Gesicht. Er stand stocksteif, seine Stimme klang gepreßt. »Kein Schattenboxen, Sir. Leugnen Sie nicht, wir wissen ganz genau, daß Philip Hasard Killigrew zu Ihnen gebracht wurde. Wer anders als Sie sollte wohl seine schwere Schädelverletzung kurieren?« Sir Freemont blieb kalt. »Sie scherzen wirklich, Gentlemen. Ich wohne und arbeite seit langem in Plymouth, aber so etwas ist mir noch nicht passiert. Haben Sie nichts anderes zu tun, als unbescholtenen Bürgern zur Last zu fallen, Friedensrichter Burton?« Burton zitterte. »Das hat Folgen für Sie, Mann. Sie beherbergen einen Verbrecher. Einen Mörder. Sie gewähren hier widerrechtlich einem von der Obrigkeit verfolgten Schurken Asyl und streiten auch noch alles ab. Aber damit kommen Sie nicht durch. Bei mir nicht! Sie gefährden Ihre Karriere als Arzt, Sir!« »Wie, sagten Sie, heißt dieser Mann?« »Killigrew!« brüllte Burton. »Killigrew, der Name kommt mir bekannt vor«, erwiderte Sir Freemont. »Aber bitte nicht so schreien. Ich bin nicht schwerhörig. Des weiteren erteile ich Ihnen einen guten Rat, mein lieber Burton. Ändern Sie Ihren Lebenswandel. Essen Sie weniger fett, trinken Sie weniger, frönen Sie keinem Laster und fahren Sie nicht bei jeder Kleinigkeit gleich aus der Haut. Sie haben ärztliche Behandlung wirklich nötig.« »Der will uns auf den Arm nehmen«, sagte Keymis. Sir Freemont musterte ihn kalt. »Wer ist dieser Mann, Mister Burton?« »Baldwin Keymis, der Friedensrichter von Falmouth.« Sir Freemont sagte zu Keymis: »Was maßen Sie sich an,
Mister Keymis? Bisher hat sich noch niemand erdreistet, mich der Lüge zu bezichtigen. Hüten Sie Ihre Zunge, oder ich zeige Sie wegen Verleumdung an.« »Antworten Sie jetzt«, sagte Burton mühsam beherrscht. »Wo ist Killigrew - der Seewolf?« »Killigrew, Killigrew - hier ist kein Killigrew.« »Sie streiten das also ab?« »Richtig, nur streite ich nichts ab, sondern stelle richtig.« »Ich bestehe darauf, das Haus zu durchsuchen!« schrie Burton. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können.« »Wache!« kreischte Burton. »Den Bau bis in den letzten Winkel durchstöbern. Ihr kriegt Extradienst aufgebrummt, wenn ihr diesmal nicht pariert. Findet den Seewolf und schleppt ihn aus seinem Versteck. Ich will ihn zu meinen Füßen sehen, diesen Hund!« Die Soldaten traten mit finsteren Mienen vor und drangen an Sir Freemont vorbei ins Haus ein. Für die nächsten Minuten waren beide Stockwerke von dem Gepolter ihrer Stiefel erfüllt. Burton und Keymis nahmen sich das Behandlungszimmer des Arztes vor. Sir Freemont verharrte unterdessen in eisigem Schweigen bei ihnen. Der Sergeant, der die Garde anführte, kehrte zur Berichterstattung zu Burton zurück. »Nichts entdeckt, Sir. Und wenn Sie uns hundertmal zu Extradienst verdonnern, es wohnt außer Sir Freemont kein Mensch im Haus.« »Spuren?« »Keine, Sir.« Samuel Taylor Burton gab einen eigenartigen, keuchenden Laut von sich. Sir Freemont betrachtete ihn ungeniert von oben bis unten. Das steigerte Burtons Wut noch. Er japste, dann fuhr er seinen Amtskollegen und Komplicen mit schriller Stimme an: »Und das mir, Baldwin! Du elender Stümper, wie konntest du so etwas behaupten, wenn du deiner
Sache nicht hundertprozentig sicher warst? Ein schöner Reinfall ist das hier. Ich könnte dich erwürgen, zum Teufel noch mal.« Keymis schaute den Sergeant an. »Haben Sie auch gewissenhaft genug gesucht, Mann?« »Jawohl, Sir. Wir haben alles auf den Kopf gestellt. Aber Sie können sich ja selbst davon überzeugen.« Keymis winkte ab. »Nein. Ich glaube Ihnen natürlich.« »Das nächste Mal treffe ich meine Entscheidungen allein!« schrie Samuel Taylor Burton. Keymis Blick richtete sich auf Sir Freemont. »Und doch - ich weiß es genau. Killigrew ist hierhergebracht worden. Vielleicht haben Sie ihn inzwischen wieder wegschaffen lassen. Möglicherweise haben Sie sich auch einen anderen Trick einfallen lassen. Sergeant, gibt es keine Keller- oder Bodenräume?« »Ja, aber die haben wir auch von vorn bis hinten gefilzt.« »Und doch bin ich sicher«, sagte Keymis beharrlich. »Sicher, sicher«, äffte Burton ihn nach. »Hat sich der Seewolf etwa in Luft aufgelöst?« Seine Stimme klang im höchsten Diskant und kippte über. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick einen Anfall erleiden. »Sollen wir ein Gespenst suchen?« »Meine Herren«, sagte Sir Freemont jetzt. Er sprach nicht besonders laut, aber sein Tonfall war scharf und ätzend. »Ich habe Sie schon darauf hingewiesen, aber jetzt wiederhole ich es. Ich lege Beschwerde ein. Bei Hof. Ich protestiere gegen diese Form von Belästigung und fordere Sie auf, unverzüglich mein Haus zu verlassen. Es gibt keine Handhabe gegen mich. Ich habe nichts verbrochen. Aber Ihr Auftreten ist ungesetzlich, zumal Sie ohne Durchsuchungsbefehl bei mir eingedrungen sind, Friedensrichter Burton. Sie werden Gelegenheit haben, sich deswegen vor höchster Instanz zu rechtfertigen.« »Ich ...«
»Hinaus bitte.« Sir Freemont wies unmißverständlich zur Tür. »Wir sprechen uns noch.« Keymis, puterrot im Gesicht, drehte sich auf dem Stiefelabsatz um und marschierte nach draußen. Burton folgte dichtauf. Der Sergeant und die Soldaten der Stadtgarde rückten in ihrem Kielwasser ab, und der ganze Trupp durchquerte mit gesenkten Häuptern den Vorgarten. Sir Freemont schloß die Tür. Er hörte noch, wie Burton und Keymis draußen wieder zu streiten begannen. Er lachte verhalten. Ziemlich vergnügt kehrte er ins Obergeschoß zurück. Die Soldaten hatten sich wie die Barbaren benommen und sämtliche Zimmer in Unordnung gebracht. Betten waren umgekippt, Schränke durchwühlt worden, der Inhalt lag auf dem Fußboden verstreut. Eine fußgroße Statuette aus echtem Carrara-Marmor lag zerschmettert neben ihrem Sockel. Sir Freemont blieb einen Moment stehen und schaute auf die traurigen Überreste. Die Statuette hatte den griechischen Gott der Heilkunde, Äskulap, dargestellt. Ein Patient, der Italien bereist hatte, hatte sie ihm vor Jahren mitgebracht. Sir Freemont seufzte, zuckte mit den Schultern und ging weiter. In dem Raum mit dem riesigen Eichenholzschrank blickte er zunächst aus dem Fenster und vergewisserte sich, ob Burton, Keymis und die Soldaten auch wirklich abgezogen waren. Dann öffnete er den Schrank und klopfte gegen die Geheimtür. Sie wurde von innen aufgedrückt. Gwen, Dan und der Kutscher traten ihm strahlend entgegen. »Ich bin ja so froh, daß unser Versteck nicht entdeckt worden ist«, sagte der Arzt. »Ja«, erwiderte der Kutscher. »Und Burton und Keymis werden sich vor Wut gegenseitig die Haare ausreißen.« »Ins Gesicht springen werden sie sich«, sagte Gwen. »Diese schlechten Menschen. Diese durchtriebenen Schurken! Oh, wie habe ich mich gefürchtet, als die Soldaten erschienen und hier
im Zimmer vor dem Schrank auf- und abschritten.« Dan nickte. »Ja, wir haben wirklich Glück gehabt. Der Kelch ist sozusagen an uns vorübergegangen. Sir Freemont, wir müssen Ihnen ein ganz großes Kompliment aussprechen.« »Mir?« »Ja. Wie wacker Sie sich geschlagen haben. Unser Seewolf hätte das kaum besser vermocht. Wir haben Ihre Worte genau verstanden. .Mein lieber Burton, ändern Sie Ihren Lebenswandel. Essen Sie weniger fett, trinken Sie weniger, frönen Sie keinem Laster, und fahren Sie nicht bei jeder Kleinigkeit gleich aus der Haut. Sie haben ärztliche Behandlung wirklich nötig.« Dan lachte und hieb sich mit der Hand auf den Oberschenkel. »Also wirklich, das war herrlich! Wie schade, daß ich Burtons dummes Gesicht nicht sehen konnte!« Sir Freemont legte den Zeigefinger an die Lippen. Er trat durch den Schrank in den Nebenraum und blickte auf den Seewolf. Der lag nach wie vor in tiefer Besinnungslosigkeit. Sir Freemont kontrollierte den Kopfverband und schaute nach den Wunden. »Heute abend pinsele ich noch einmal Wundbalsam auf und wechsle den Verband«, sagte er. »Wenn der Seewolf in totaler Ruhe gelassen wird, hat er eine gute Überlebenschance.« Er richtete sich auf, blickte Dan und dessen Schwester und dann den Kutscher an. »Und das eine schwöre ich euch: Ich garantiere für seine Sicherheit. Nur über meine Leiche kommt man an ihn heran.« Gwen schaute zu ihm auf. Ein zaghaftes Lächeln erschien auf ihren Zügen. Sie hatte unsagbares Vertrauen zu diesem untadeligen, geradlinigen Mann gefaßt. Sir Freemont taugte nicht nur als Arzt, sondern auch als Mensch sehr, sehr viel. Er stand auf Seiten des Rechtes und der Humanität und haßte Kerle wie Burton und Keymis wie die Pest. Gwen hatte ihm bereits einiges über die Vergangenheit und den legendären
Kaperzug sowie die Abenteuer des Seewolfes erzählt. Aber Sir Anthony Abraham Freemont hatte auch ohne diese Schilderungen von Anfang an gewußt, was für ein Mann sein Patient war. Seine unfehlbare Menschenkenntnis sagte ihm, daß beispielswiese ein Mann wie der Kutscher sich niemals für einen hirnlosen Rohling geschlagen hätte. Nein, dieser Philip Hasard Killigrew war alles andere als das. Er war ein Mensch, den zu retten eine Ehre war. Und Sir Freemont war froh, daß solche Männer für England kämpften.
3. Gary Andrews, Al Conroy, Matt Davies und Stenmark hatten sich auf die Pontoon Pier begeben, sich an die von Al gesichtete Schaluppe herangepirscht und sie dann genau beäugt. Auf der Schaluppe lümmelte sich ein Kerl an der Reling. Er hatte einen etwas wäßrigen Blick, trug eine speckige Mütze, hatte einen tagealten Bart und kaute unausgesetzt auf etwas Undefinierbarem herum. Ein Blick zur südlichen Kimm jenseits der Mill Bay und des Plymouth Sound: Die Karavelle, mit der Sir John Killigrew abgesegelt war, war noch nicht ganz verschwunden. »Jetzt oder nie«, sagte Gary. »Rücken wir dem Burschen da auf den Leib.« »Soll ich ihn ins Land der Träume schicken?« fragte Matt. Stenmark sagte: »Bist du wahnsinnig?« »Wir müssen es diplomatisch anfangen«, meinte AI. Gary trat als erster zu dem Mann mit der speckigen Mütze. Der blickte zu ihm auf, kräuselte ein wenig die Lippen und spuckte gelangweilt aus. Es ließ sich weder feststellen, was er da ausgespuckt hatte, noch, auf was er weiterhin herumkaute. »Also schön«, sagte er. »Was wollt ihr?« »Wir?« erwiderte Gary. »Woher weißt du, daß wir was
wollen?« »Ihr glotzt wie die Hornochsen.« »Eine schöne Schaluppe ist das«, sagte Gary. »Ein Scheißkahn. Der Teufel soll ihn holen.« Al Conroy grinste. Sein Blick wanderte an einem der beiden Masten hoch, wieder daran herab und blieb auf dem unfreundlichen Mann haften. »Hör mal, was hältst du davon, wenn wir den Scheißkahn kaufen? Ich glaube, du wärest froh, was?« Jetzt riß der Bursche auf der Schaluppe seine rötlich verwässerten Augen auf und setzte sogar für einen Augenblick mit dem Kauen aus. »Du willst mich wohl verschaukeln, wie? Aber da bist du an den Falschen geraten.« AI schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Es ist mein voller Ernst.« »Ihr seid besoffen.« »Stocknüchtern«, versicherte Stenmark. Der Blick des Burschen wurde argwöhnisch. »So wie ihr ausseht, habt ihr keinen müden Penny mehr als ich in der Tasche. Was meine Finanzen betrifft, so reichen sie gerade aus, um heute abend in die »Bloody Mary« zu gehen und mir noch einen hinter die Binde zu kippen.« Al grinste breit. Er zückte den Lederbeutel, den der Kutscher ihm ausgehändigt hatte. Ben Brighton hatte ihn, bevor sie die ›Isabella‹ verlassen hatten, eigenhändig im Frachtraum gefüllt. Den Blick des Mannes auf der Schaluppe saugte sich daran fest. Al hielt den Beutel mit spitzen Fingern und ließ ihn ein wenig hin und her pendeln. »Hier ist was drin, das läßt dir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Damit könntest zu glatt die »Bloody Mary« erwerben, den Widerling Plymson auf die Straße setzen, dir herrliche Perücken kaufen sowie jede Menge Weiber und Wein und noch einiges mehr leisten.« »Du spinnst«, sagte der Bursche.
Al versenkte zwei Finger in dem mit Perlen und Diamanten gefüllten Beutel. Er brachte einen funkelnden Diamanten zum Vorschein, beugte sich ganz weit vor und drehte das glitzernde Ding vor den gierigen Augen des Mannes. »Na, wie findest du diesen Klunker?« Vor Schreck spuckte der Bursche wieder aus. Es war ein ansehnlicher Klumpen, der da im Hafenwasser landete. Matt sah ihm nach, wie er in der Tiefe versank. Er kratzte sich mit dem Eisenhaken und fragte sich, was zum Teufel das wohl für ein Zeug gewesen sein mochte. Der Kerl von der Schaluppe war mit einem Mal gar nicht mehr träge und unfreundlich. Er kicherte und grapschte nach dem Edelstein, doch Al zog ihn blitzschnell wieder zurück. »Nicht so hastig, Partner. Wie steht es mit unserem Geschäft?« »Halt die Luft an«, sagte der Bursche. »Verrate mir erst mal, woher der Klunker stammt. Ist er geklaut? Damit könnte ich in Teufels Küche geraten.« »Er kommt direkt aus der Neuen Welt«, sagte Gary geduldig. Matt warf einen besorgten Blick zur Kimm. »Verdammt, beeilt euch, sonst sind wir wieder die Dummen und schaffen es nicht mehr.« Der stoppelbärtige Kerl auf der Schaluppe drehte sich auch nach Süden. Plötzlich grinste er schief. »Ach, so ist das. Ihr wollt der Karavelle ›War Song‹ nach, was? Und die Karavelle ist hinter der Dreimast-Galeone her, die ein- und wieder ausgelaufen ist. Mir dämmert’s.« »Ach wirklich?« Matt konnte so freundlich dreinblicken wie ein hungriger Hai. Stenmark hielt ihn aber am Arm zurück, bevor er dem Schaluppenmann die Sachlage auf drastische Weise auseinandersetzen konnte. »Ihr vier«, sagte der Kerl, »ihr gehört zu der Crew der Galeone, nicht wahr? Mann, über den Kahn und seinen Kapitän werden ja die tollsten Geschichten erzählt. Stimmt es, daß der
Kapitän der Seewolf ist? Stimmt es, daß ihr zuerst mit Drake gefahren seid und euch dann mit ihm verkracht habt?« »Das geht dich wohl nichts an«, erwiderte Al. Es klang fast sanft. »Also, wie ist es jetzt, verkaufst du uns die Schaluppe?« »Die Schaluppe gehört dem Hafenkapitän«, sagte der Kerl. »Was, und das fällt dir erst jetzt ein?« sagte Stenmark. Der Stoppelbärtige begehrte auf: »Seh ich vielleicht aus wie ein stolzer Schiffseigner? O Mann, ein bißchen Scharfsinn darf man euch Kaperfahrern wohl auch zutrauen.« Er kratzte sich am Kinn. Es klang, als marschiere eine Kolonie Kombüsenschaben über ein Blatt Pergament. »Tja, wenn ich mir das alles so überlege - also, ich würde wohl vergessen, daß dieser Scheißkahn dem Hafenkapitän gehört, wenn ihr bereit wäret, noch was draufzulegen.« »Aha«, sagte Gary. »Daher weht also der Wind.« Er sah zu den Aufbauten der Schaluppe. »Aber du bist sicher auch nicht allein an Bord.« Der Kerl lachte auf. »Falls wir handelseinig werden, überrede ich meine drei Hands hier an Bord ganz schnell, daß wir in den Diensten des Hafenkapitäns nicht fett werden. Und die drei anderen Besatzungsmitglieder halten sich gerade an Land auf. Mag der Himmel wissen, wo sie stecken Kurzum, die werden überhaupt nicht gefragt.« Gary wechselte einen Blick mit Al. Hasards Stückmeister und Waffenexperte griff noch einmal in den Lederbeutel und opferte eine Perle, so groß wie eine Eichel. Diamant und Perle wechselten den Besitzer, dann eilte der Stoppelbärtige zur Kajüte und wahrschaute seine drei Hands. Die drei erschienen auf Deck. Sie sahen auch nicht gepflegter aus als der Stoppelbärtige, und wo bei letzterem Gerissenheit und Schläue ihren Platz hatten, mußte bei ihnen Stroh stecken. Sie sahen ihn blöde an, stellten einige dumme Fragen und nickten schließlich. Die Perle, die er ihnen fröhlich grinsend unter die Nasen hielt, räumte ihre letzten Zweifel aus. Den
Diamanten enthielt er ihnen wohlweislich vor. Gary, Al, Matt und Stenmark hüteten sich, davon etwas verlauten zu lassen. Es war seine Sache, wie er sich mit seinen Kameraden zusammenraufte. Die vier gingen von Bord. Gary rief dem Stoppelbärtigen noch nach: »Grüßt Nathaniel Plymson von uns. Zieht ihm die Schlitzohren lang und rückt ihm seine verdammte Perücke zurecht!« »Sollen wir auch einen auf euer Wohl trinken ?« fragte der Bursche. »Ja!« »Diese Hurensöhne«, sagte Matt Davies, während er sich an Bord der Schaluppe begab. »Der Teufel soll sie holen und in heißen Fett schmoren lassen. Die wissen ja nicht, wie sehr wir nach einem vernünftigen Umtrunk lechzen.« Er drehte sich zu Al Conroy um. »Aber, das muß euch der Neid lassen, ihr habt die Sache mit der Schaluppe gut geschaukelt.« * Die Karavelle war jetzt hinter der Kimm verschwunden. Doch das Gefühl, wieder Planken unter den Füßen zu haben, vermittelte ihnen wenigstens ein bißchen Zuversicht. Rasch inspizierten sie die Schaluppe. Im Bug und achtern hatte sie je eine Drehbasse. Außerdem gab es Handwaffen, Munition, Lebensmittel und Trinkwasser an Bord. »Donnerwetter«, sagte Stenmark. »Da mangelt es uns wirklich an nichts. Ich hätte diesen vier Burschen gar nicht zugetraut, daß sie das Schiff derart auf Vordermann halten.« »Vergiß nicht den Hafenkapitän«, entgegnete Gary. »He, Al und Matt, werft ihr die Leinen los?« »Geht in Ordnung!« rief Al Conroy. Hier zeigte sich wieder einmal, was die Männer des Seewolfes wert waren.
Es gab keine Verständigungsschwierigkeiten oder andere Streitigkeiten, jeder wußte sofort, wo sein Platz war. Wenige Handgriffe, und die Schaluppe löste sich von der Pontoon Pier. Mit raumen Wind aus Nordwesten verließen sie den Hafen. Sie war schlank und rank, die Schaluppe des Hafenkapitäns von Plymouth, aber mit ihren zwei Masten durchaus seetüchtig. Außerdem befand sie sich in einem ausgezeichneten Zustand. »Ein Schiffchen zum Verlieben«, meinte Stenmark. »Und zum Kämpfen«, sagte Al Conroy. »Die beiden Drehbassen sind gut in Schuß. Ich wette mein letztes Hemd, daß die Besatzung an sich selbst nie soviel herumgewienert hat wie an den beiden Stücken.« »Großartig«, sagte Gary Andrews. »Jetzt brauchen wir nur noch kräftig aufzuholen. Wir halten stur nach Süden, denn ich schätze, eine Weile wird Sir John noch diesen Kurs beibehalten. Es kommt ganz darauf an, wohin sich die ›Isabella‹ wendet.« »Fein wäre es, wenn man Bens Gedanken lesen könnte«, sagte Matt Davies. »Himmel, wenn wir nur eine Minute eher am Hafen gewesen wären, wäre die ›Isabella‹ nicht ohne uns ausgelaufen.« Gary hielt das Steuerruder. Sie segelten an der äußersten Hafenmole vorbei und glitten in den Plymouth Sound. Der Himmel wölbte sich dunkelgrau über dem Atlantik, es ging auf Spätnachmittag zu. Es war ein ereignisreicher 10. Februar 1580 gewesen. Und Gary Andrews hatte das untrügliche Gefühl, daß die Geschehnisse noch nicht ihren Abschluß gefunden hatten. »Ich glaube, es ist gar nicht so schlecht, wenn wir Sir John folgen«, sagte er zu Matt. »Vielleicht kriegen wir ihn ja zwischen der ›Isabella‹ und unsrer Schaluppe in eine Art Zange.« Matt grinste. »Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Drücken wir die Daumen, daß es uns gelingt.« Er hielt seine Hakenprothese hoch, und seine Freunde lachten.
Nachdem sie den Plymouth Sound verlassen hatten und in den Atlantik vorgedrungen waren, färbte sich der Himmel über ihnen dunkel. Im Westen tunkte eine glühendrote Sonne in die See, verschwand und ließ für eine Weile noch graurotes Licht zurück. Zu diesem Zeitpunkt stieß Al, der als Ausguck fungierte, einen Ruf aus. »He, Männer! Ich sehe die Karavelle!« »Hol’s der Teufel!« sagte Matt Davies. »Sie hat angeluvt und geht auf westlichen Kurs!« »Na bitte, dann tun wir das gleiche«, sagte Gary lachend. »Wir segeln noch näher an sie heran. Wir halten Fühlung. Die Nacht bietet uns Schutz - wie ein Verbündeter.« »Ja«, meinte Stenmark. »Wenn wir es geschickt genug anstellen, bemerkt uns Sir John überhaupt nicht.« Matt Davies nickte. »Er darf uns nicht sichten. Von jetzt an kleben wir an ihm wie die Zecke am Hintern einer Kuh. Erinnert ihr euch an den Konvoi von sechsunddreißig Galeonen aus Cartagena, den wir als ›Geleitschutz‹ begleiteten? Ho, ich habe jetzt noch vor Augen, wie sich nachts die hundsgemeinen Piraten mit ihren verteufelten Schaluppen anpirschten. Was mich betrifft, ich habe von diesen Bastarden gelernt. Wir werden es wie sie machen.« »Worauf du Gift nehmen kannst«, sagte Gary Andrews. »Nein, danke. Aber ein bißchen Proviant würde ich mir jetzt doch ganz gern zwischen die Kiemen schieben«, sagte Matt. »Vor allen Dingen flüssigen. Ich hab vielleicht einen Kohldampf.« Keiner hatte etwas einzuwenden. Matt stieg in die Kajüte und kehrte wenig später mit Brot, Käse, Schinken und einem Krug voll Bier zurück. Der Hafenkapitän hatte nicht schlecht für sich gesorgt. Sie wußten das zu würdigen. Geradezu andächtig nahmen sie ihr Mahl zu sich. Gleichzeitig paßten sie natürlich wie die Luchse auf und hüteten sich, die Dreimast-Karavelle aus den Augen zu verlieren.
Die Dunkelheit nahm zu. Der graurote Schimmer im Westen löste sich in den Schatten der Nacht auf, und ein gigantischer schwarzer Mantel schien sich über die See zu legen. Somit entzog sich nun auch die Karavelle ihren Blicken. Sir John Killigrew ließ selbstverständlich keine Laternen setzen. Er wollte sich ja nicht vor der ›Isabella V.‹ verraten. Die Nacht hatte ihn geschluckt. Einer Landratte wäre es schier unmöglich erschienen, sich weiter hinter ihm herzuschleichen. Aber die vier Männer waren Meister ihrer Zunft. Sie waren bei dem Seewolf in die Lehre gegangen. Ein Wolf verfolgt seine Beute über Hunderte von Meilen, ohne sie jemals zu sehen - er wittert sie. Sie hielten den westlichen Kurs und wußten, daß die ›War Song‹ Backbord voraus segelte und die Richtung nicht änderte. Sie hatten das im Gespür. Orientierung? O ja, sie hatten auch das von Hasard abgeschaut. Küstennahe Lotsenkunst und ozeanische Navigation waren zwei unterschiedliche Dinge. Es gab Hilfsmittel, mit denen man draußen, fern jeglichen Fleckchens Erde, die Himmelskörper beobachten konnte: Astrolab, Quadrant und Jakobsstab. Aber was tat man, wenn so wie jetzt, weder die Sterne noch der Mond zu sehen waren? Dichtes Gewölk bedeckte nach wie vor den Himmel. Da hielt man eben die Nase in den Wind und segelte »nach Gefühl und mit Gott«. Auch das war eine Kunst. Und sie beherrschten sie vollkommen. Eine Verfolgung wie diese war ja nichts im Gegensatz zu dem, was sie drüben in der Neuen Welt erlebt hatten. Sie hatten zum Beispiel die Magellanstraße passiert und die Hölle von ihrer schlimmsten Seite kennengelernt. Es war so eine Art Wunder, daß sie sämtliche Stürme und Verwirrungen leidlich überstanden und sich überhaupt wieder zurechtgefunden hatten. Dort unten, zwischen Patagonien und Feuerland, hatte die Welt kopfgestanden. Nur Francis Drakes
›Golden Hind‹ hatte das Desaster überdauert. Die anderen Schiffe des Verbandes waren verschwunden gewesen. Der Seewolf und Drake waren weiter nach Norden gesegelt, dem sagenumwobenen Goldland entgegen. Ihre Crew hatte bewiesen, daß sie die zäheste und härteste der Besatzungen der fünf Schiffe war, die im Dezember 1577 aus Plymouth zur großen Fahrt ausgelaufen waren. Wer also solches durchgemacht hatte, wer, wie Profos Carberry immer sagte, dem Teufel ein Ohr abgesegelt hatte, für den war eine Fahrt wie diese der reinste Ausflug. Sie ließen sich nicht abhängen. Wie der von Matt Davies zitierte Blutsauger blieben sie dicht hinter der Karavelle. Einmal, als die Wolkendecke etwas aufriß und fahles Mondlicht bis auf die Wasseroberfläche drang, sahen sie die Umrisse der Karavelle vor sich. Da lachten sie leise und stießen sich mit den Ellbogen an. Zum erstenmal, seit sie Plymouth erreicht hatten, wich die Beklemmung von ihnen. Sie waren wieder in ihrem Element. Vergessen waren mit einem Schlag die Widrigkeiten, die sich ihnen gestellt hatten. Auf See gab es keine Ränkeschmiede und miesen Tricks, hier gab es nur einen Weg, Auseinandersetzungen auszutragen: den offenen Kampf. Hier mußte sich jeder jedem stellen, ob er wollte oder nicht. Hier gab es nur ganze Kerle und keine verachtungswürdigen Feiglinge, die sich, wie Keymis oder Burton, hinter juristischen Spitzfindigkeiten verschanzten. Nach unglaublichen Entbehrungen und Kämpfen hatten sie ihre ›Isabella‹ sicher nach England gesteuert. Und erst hier hatte sich eine Situation gezeigt, wie sie vertrackter nicht sein konnte. Endlich war die ungeheure Beute daheim - aber längst nicht in Sicherheit. Hier standen sie plötzlich vor einem Gegner, der heimtückischer als jeder Heckenschütze auftrat. Daß Dreiviertel ihres Schatzes der Königin zustand, interessierte Burton, Keymis und Sir John einen Dreck. Sie
wollten ihre eigene Suppe kochen. Daß Sir John und Baldwin Keymis von der Seewolf-Crew gerettet worden und an Bord der ›Isabella‹ immer wieder verschont worden waren, stand nicht mehr zur Debatte. Oh, was für Narren waren sie doch gewesen, diese beiden Kerle laufenzulassen! Aber andererseits, was hätten sie sonst tun sollen? Sie kaltblütig über die Klinge springen lassen? Nein. Sie waren Freibeuter, aber keine vorsätzlichen Mörder. Und bei alledem war der Mann, der Beute und Mannschaft sicher durch alle Fährnisse gebracht hatte, auch noch außer Gefecht. Die Crew bangte um den Seewolf. Zorn, Erbitterung und Hoffnungslosigkeit hatten sich auf der ›Isabella‹ ausgebreitet. Gier, Gewalt und Intrige bestimmten das Handeln des Gegners. Deshalb fühlten sich Gary, Al, Matt und Stenmark wesentlich wohler. Auf See wußten sie jeden Nackenhieb zu nehmen. Sie würden es schon schaffen, Sir John an seinem Vorhaben zu hindern - daß er über die ›Isabella‹ herfiel und sie womöglich erbeutete.
4. Ben Brighton wich nicht vom Achterdeck der ›Isabella‹. Mal blickte er nach achtern, mal trat er an die Holzgalerie zum Quarterdeck und gab Pete Ballie eine leichte Kurskorrektur an. Sie segelten nach Westen, an der Küste Cornwalls entlang, mit leichtem Drall nach Südwesten. Es war kein leichter Törn, denn bei dem aus Nordwest einfallenden Wind galt es, möglichst wenig Luv zu verschenken. Aber in Luv war die Küste, und an die durften sie wiederum nicht zu dicht heran. Backstagswind war das Ideale für die Galeone, aber den konnte keiner herbeizaubern. Die See war jedoch ruhig. Die ›Isabella‹ brauchte nicht gegen
Brecher zu kämpfen wie vor der Küste Spaniens oder in der Biskaya. Sie kam trotz allem gut voran. Ben hatte vor, sich eventuell um Landsend herum zu verholen - an den berüchtigten Scilly-Inseln vorbei bis an die Nordwestküste Cornwalls. »Ich kenne die Ecke ganz genau«, hatte der alte O’Flynn gesagt. »Wir können die ›Isabella‹ da in einer abgelegenen Bucht verstecken, und zwar so lange, bis wir sichere Nachrichten über Hasards Gesundheitszustand haben.« Big Old Shane hatte hinzugefügt: »Die Nordwestküste ist zwischen Port Isaac Bay und der Bude Bay, ja, sogar bis hinauf nach Hartland Point so gut wie unbesiedelt. Von dort aus sind es über Land bis nach Plymouth etwa dreißig Meilen.« »Die kann man zu Fuß bewältigen«, hatte Ben erwidert. »Aber wir könnten uns auch Pferde kaufen. An Zahlungsmitteln mangelt es uns ja nicht.« Zur Zeit waren sie wohl die reichsten Männer von England. Sie hatten genug Gold, Silber, Perlen und Juwelen, um ein Königreich zu kaufen. Aber dieser Umstand stimmte sie nicht gerade froh. Gerade waren sie drohendem Unheil entwichen. Burton und Keymis hatten klein beigeben müssen. Aber jetzt zog eine neue Gefahr auf. Natürlich war weder Ben noch den anderen Männern an Bord der ›Isabella‹ die dreimastige Karavelle entgangen, die ihnen beharrlich folgte. Jetzt war es Nacht, aber Ben war fest überzeugt, daß sie immer noch hinter ihnen segelte. Bens Blick glitt über Deck. Kein Mann nutzte die Gelegenheit zu einer Mütze voll Schlaf. Alle waren beschäftigt. Die letzten Handgriffe an den Kanonen wurden getätigt. Ben hielt das Schiff gefechtsbereit - für alle Fälle. Ferris Tucker hatte vorn bei den Drehbassen der Back Aufstellung genommen. Shane und der alte O’Flynn kehrten soeben von einem Inspektionsgang durch die Frachträume und
die Pulverkammer zurück. Sie wechselten ein paar Worte mit dem bulligen Edwin Carberry, dann stiegen sie von der Kuhl aufs Achterdeck und gesellten sich zu Ben Brighton. »Ich wette, die Karavelle ist uns immer noch auf den Fersen«, sagte der alte O’Flynn. »Ich will nicht mehr Shane heißen, wenn sich nicht Sir John auf dem Schiff befindet«, meinte Shane. »Er ist mit den Burtons verfeindet, deswegen hat er sich von den Friedensrichtern und der Stadtgarde ferngehalten. Aber das mindert seinen Rachedurst und die Gier auf unseren Schatz keineswegs. Wie, ich ihn kenne, hat er sich dreist die Karavelle unter den Nagel gerissen.« »Sie heißt ›War Song‹, wenn mich nicht alles täuscht.« Der alte O’Flynn stapfte mit seinem Holzbein auf. »Heut früh, als wir in Plymouth einliefen, habe ich den Namenszug am Bug gelesen. Das ist eine Kriegskaravelle, Freunde, genau das Richtige für Sir John. Ich kann mir schon vorstellen, wie er sie mit seinem Haufen Männer besetzt hat. Er ist der GeneralKapitän von Cornwall. Er kann sich aufspielen, wie er will. Die meisten Leute kuschen vor ihm.« Ben lächelte ihm zu. »Ja. Aber an uns hat er sich schon ein paar Zähne ausgebissen. Und er verliert sämtliche Beißer, wenn er sich einbildet, uns jetzt schnappen zu können.« »Soll er doch angreifen«, sagte O’Flynn grimmig. »Diesmal halte ich mich nicht zurück. Diesmal schnalle ich mir die Prothese ab und knalle sie ihm auf den Schädel.« Shanes Lachen klang dunkel und grollend. »Willst du die Karavelle entern?« »Glaubst du, ich gehöre schon zum alten Eisen?« »Um Himmels willen.« Shane hob abwehrend die Hände. Sie waren groß wie Ankerklüsen. Er konnte damit einem Gegner mühelos die Knochen brechen. »Ich bin doch nicht lebensmüde. Mit dir lege ich mich nicht an.« »Willst du mich verschaukeln?«
»Nein. Es ist mein Ernst.« »Dein Glück.« Ben lauschte ihrem vergnüglichen Dialog, blickte dabei aber zur Kuhl. Carberry stand breitbeinig und mit verschränkten Armen da und glich die Schiffsbewegungen mit den Beinen aus. Wer von der Mannschaft nicht an Schoten und Brassen beschäftigt war, kauerte hinter den Geschützen. Es war ein kleiner Haufen geworden - eine kleine, aber fest zusammengeschmiedete Crew, die ihre Beute bis zum letzten verteidigen würde. Eine kleine Crew, ein großes Schiff! Da waren zur Zeit von der alten Stammbesatzung nur übriggeblieben: Ferris Tucker, Smoky, Blacky, Batuti, der riesige Gambia-Neger, und Pete Ballie, der Rudergänger. Weiter befanden sich an Bord Karl von Hutten, den sie mit der ›Isabella III.‹ sozusagen übernommen hatten, als sie diese gekapert hatten, sowie die ehemaligen Karibik-Piraten, die es unter dem Kommando von Einohr Mac Dundee damals nicht mehr ausgehalten hatten. Patrick O’Driscoll und Gordon Watts lebten nicht mehr. Was ihnen zugestoßen war, hatten sie sich selbst zuzuschreiben. Es war, als sondere die einmalige Art von Kameradschaft, die die Seewolf-Crew verband, solche Typen aus. Jeff Bowie, Sam Roskill, Bob Grey, Buck Buchanan, Luke Morgan und Will Thorne indes hatten Hasard die Treue gehalten. Als sie Drake zum vorletztenmal bei der Kaperung der ›Nuestra Senora de la Concepcion‹, des Feuerspeiers, gesehen hatten, hatte Hasard ihm diese und die anderen ehemaligen Piraten vorgestellt. Jean Ribault, der Franzose, gehörte ebenso zu diesem Haufen wie die beiden Dänen Nils Larsen und Sven Nyberg und die Holländer Jan Ranse und Piet Straaten. Das waren insgesamt einundzwanzig Mann, Ben, Ed Carberry, Shane und O’Flynn mitgerechnet. Hinzu kam noch ein Besatzungsmitglied besonderer Art: der Schimpansenjunge Arwenack. Zur Zeit hielt er sich in seinem
geliebten Großmars auf, wo er sonst immer dem jungen Dan O’Flynn Gesellschaft leistete. Jean Ribault hatte Dans Platz eingenommen. Er besaß ähnlich scharfe Augen wie Dan und war deswegen als Ausguck vorzüglich geeignet - auch bei Nacht. Arwenack hatte den Wechsel ohne großes Gezeter akzeptiert. Er hatte auch keinen Grund zum Meckern, denn Jean fütterte ihn mit Rosinen, die er in einem der Vorratsschapps der Kombüse aufgestöbert hatte. Jean blickte fast unaufhörlich nach achtern. Sein Instinkt sagte ihm, daß sich bald etwas tun würde. Es war noch nicht lange dunkel, aber wenn die Karavelle feindliche Absichten hatte, dann würde sie nicht mehr lange zögern. Jean stellte sich die ganze Zeit über vor, wie er sich wohl verhalten würde, wenn er eine Galeone angreifen wollte. »Die Karavelle ist ein wendiges und schnelles Schiff, mon ami«, sagte er zu Arwenack. »Sie wird keine Schwierigkeiten haben, uns zu überholen. Hast du die schönen Lateinersegel gesehen, die sie trägt?« Arwenack schluckte ein paar Rosinen unzerkaut herunter und grunzte. Jean lächelte. »Bist ein kluges Bürschchen. Was tun wir, wenn die Karavelle uns die Krallen zeigt?« Arwenack duckte sich, legte die Hände über den Kopf und schaute Jean zwischen den Fingern hindurch an. »Nein, kleine Brötchen backen wir nicht«, sagte Jean erbost. Arwenack straffte sich. Er zog die Hände schnell vom Kopf, fletschte die Zähne, knurrte und zerrte etwas hinter sich hervor. Es war eine halbe Kokosnußschale. Jean lachte auf. »Jetzt verstehen wir uns, mon ami. Natürlich werden wir ihnen Zunder geben. Aber wenn du deine berühmten Wurfgeschosse schleuderst, paß bloß auf, daß keiner von uns so ein Ding auf den Schädel kriegt.« Der Schimpanse nickte eifrig. In diesem Moment sah es wirklich so aus, als verstünde er die menschliche Sprache.
Jean sah plötzlich achtern etwas wie ein riesiges Schemenwesen aus der Nacht wachsen. Sofort war er alarmiert. Er richtete sich hinter der Segeltuchverkleidung des Hauptmarses auf, beugte sich vor, spähte angestrengt und erkannte die schwachen Konturen der Karavelle. Sie war ein steil aufragender, bedrohlicher Schatten, der ihnen nun bedenklich nahe kam. »Deck!« rief Jean. »Die Karavelle rückt von achtern auf und luvt an!« »Schockschwerenot«, sagte unten auf dem Achterdeck Big Old Shane. »Die Hunde wollen sich also zwischen uns und das Land schieben?« »Sehr richtig«, entgegnete Ben. »Und somit ist klar, was sie vorhat. Wir haben ablandigen Wind. Der Gegner will die Luvposition übernehmen und einen Vorteil herausschinden. Da er schneller als wir ist, gehört nicht viel dazu, es zu schaffen.« »Hölle und Teufel!« Der alte O’Flynn bewegte wieder sein Holzbein, daß es auf die Planken krachte. »Das dürfen wir nicht zulassen.« »Wir können es nicht ändern«, sagte Ben. »Profos!« »Sir?« »Schiff klar zum Gefecht!« »Klar zum Gefecht, Sir!« Jean Ribault stellte mit grimmiger Genugtuung fest, daß die Wolkendecke sich öffnete. Nur für eine Weile zeigte sich der blasse Erdtrabant, aber diese Weile genügte dem Franzosen vollauf. Er hob den Kieker ans Auge und fixierte aufmerksam die Karavelle. Sie war nah genug heran, um Einzelheiten erkennen zu lassen. »Verdammt«, murmelte er. »Die Armierung des Burschen ist nicht von schlechten Eltern.« Er zählte die Stückpforten auf der Backbordseite. Es waren zehn. »Zwanzig Kanonen!« rief er auf Deck. »Und sie sind ausgefahren. Auf der Back und auf dem Achterkastell hat er
auch noch ein paar Drehbassen.« Er richtete das Spektiv auf das Achterdeck der Kriegskaravelle. Er wollte die Drehbassen auch noch zählen, aber dann entdeckte er etwas weitaus Interessanteres. Eine bullige Gestalt zeigte sich in der Optik. Sie bewegte einen Arm und schien irgend jemandem einen Befehl zu erteilen. »Hol’s der Teufel«, sagte Jean, dann brüllte er: »Zur Hölle, die Karavelle wird von Sir John Killigrew kommandiert!« »Damit ist alles klar«, sagte unten Edwin Carberry. »Himmel, Arsch, auf was warten wir noch? Verbraten wir diesem Rübenschwein ein Ding, das er so schnell nicht wieder vergißt. Munition haben wir genug, um ein wirkungsvolles Feuerwerk zu veranstalten. Wäre doch gelacht, wenn wir den Affenarsch Sir John nicht zum Teufel jagen könnten, was, wie?« Jean beobachtete durch den Kieker. Als er sah, daß drüben auf der Karavelle die Lunten aufflammten, sträubten sich ihm die Nackenhaare. »He, Ben, Ferris, Ed - der Hurensohn feuert!« Seine Stimme dröhnte über Deck, und Ben Brighton reagierte sofort. »Pete, abfallen und auf Südkurs gehen!« »Aye, aye, auf Südkurs gehen.« Pete Ballie setzte den Kolderstock in Bewegung und legte Ruder. Die ›Isabella V.‹ drehte nach Backbord, schwang ihren Bug südwärts und ging platt vor den handigen Nordwest. Sie drehte ihr verziertes Heck dem Gegner zu. Genau im richtigen Augenblick! Mündungsblitze zuckten in der Backbordwand der Karavelle auf. Das zehnfache Donnern der Kanonen klang wie ein einziger, gewaltiger Schlag. Pulverqualm und Feuerrauch stiegen auf, und die tödlichen Kugelladungen heulten zur ›Isabella‹ herüber. Ferris Tucker hatte seinen Posten auf der Back verlassen. Wie ein Irrer stürmte er über die Kuhl, raste zum Quarterdeck und dann zum Achterdeck hinauf. Er stoppte hinter einer der sechs
Drehbassen, duckte sich und lugte scharf übers Schanzkleid hinweg zum Gegner hinüber. Ben, Shane und O’Flynn hatten ebenfalls die Köpfe eingezogen. »Verpassen wir ihm eins!« brüllte Shane. »Laßt mich das machen!« rief Ferris zurück. Er zündete die Lunte seiner Drehbasse, zielte kaltblütig und stellte die Basse in ihrer Lafette fest. Der Funke fraß sich bis aufs Zündkraut durch, dann gab es ein ohrenbetäubendes Krachen, und die Basse zuckte unter dem Rückstoß. Ferris hörte Jean Ribault im Großmars lachen. Er sah die Wasserfontänen wie Türme hinter der ›Isabella‹ aufsteigen und grölte nun ebenfalls wie verrückt. »He, Sir John hat sich verrechnet!« schrie Ferris. »Seine ganze Backbordbreitseite ist wirkungslos ins Wasser gezischt!« Ben schlug Shane auf die Schulter, daß es krachte. Der alte O’Flynn kicherte vor Vergnügen, und die Crew johlte. Dann steigerte sich ihre Begeisterung noch, denn Ferris Drehbassenladung hatte ihr Ziel erreicht. Er hatte auf den achteren Mast der Karavelle gezielt und getroffen. Der Jubel der ›Isabella‹-Crew kannte keine Grenzen mehr, als die Gaffel am Besanmast der Karavelle zersplitterte. * Bootsmann Sullivan sprang zur Seite. Er schaute hoch und schrie auf, als er das Rauschen über sich hörte und feststellte, daß die Männer der Galeone mit ihrem einzigen Schuß die Fallen der Gaffelrute am Besanmast zerschossen hatten. Die schwere Spiere taumelte. Die Rahnock verfing sich für einen Moment in den Webeleinen der Wanten, dann riß sie sich los, und die mächtige Gaffelrute krachte mit einem ohrenbetäubendem Donnern aufs Deck. Sir John Killigrew brüllte die wüstesten Flüche. Er tanzte vor Wut, aber das nutzte ihm auch nichts. Sir John vollführte im letzten Augenblick einen Hechtsprung.
Er landete bäuchlings auf den Stufen des Backbord Niederganges und schlitterte aufs Quarterdeck. Bootsmann Sullivan hatte sich ebenfalls nach vorn geworfen. Er jumpte einen Sekundenbruchteil, bevor das Rundholz auf Deck prallte, über die Five-Rail weg. Sein kühner Satz beförderte ihn aufs Quarterdeck. Er setzte haarscharf vor der an der Gräting befindlichen Nagelbank auf. Fast hätte er sich an den Belegnägeln den Kopf gestoßen. Aber das wäre ihm immer noch lieber gewesen als das Schicksal, das ihn auf dem Achterdeck getroffen hätte, wenn er dort geblieben wäre. Sullivan blickte zurück. Er wurde Zeuge, wie es Harris und Jenkins erwischte - die beiden Besatzungsmitglieder, die am Nachmittag auf seinen Befehl hin das Vorschiff aufgeklart hatten. Das Splittern des Holzes mischte sich mit ihren Schreien. Sie hatten an den beiden Drehbassen des Achterdecks gestanden, jetzt wurden sie von dem schweren Rundholz regelrecht erschlagen. Das Lateinersegel deckte sie zu und färbte sich von ihrem Blut. Die Gaffelrute hatte auch die Five-Rail in ihrer Mitte zerschlagen. Ihr Holz war zersplittert und hatte einen dritten Mann aufgespießt. Es war ein gräulicher Anblick. Sullivan war ein alter Haudegen, ein erfahrener Soldat zur See, doch etwas Derartiges hatte selbst er selten miterlebt. Er stöhnte auf. Der Schwerverletzte brüllte, daß es den Männern in,den Ohren gellte. Sir John hatte sich aufgerappelt und schrie einen Geschützführer der Backbordseite an. Zwei, drei Männer, darunter auch Feeney, hasteten an Sullivan vorbei. Sullivan löste sich jetzt auch aus seiner Erstarrung und schloß sich ihnen an, um den Unglücklichen aus seiner furchtbaren Lage zu befreien. Sie zerrten ihn von dem zersplitterten Ende der Gaffelrute, doch dann sank er in ihren Armen zusammen. Sullivan stellte seinen Tod fest. Der Mann hatte sehr viel Blut verloren. Sein Unterleib sah grauenvoll aus. Sie betteten ihn auf dem Lateinersegel und richteten sich erschüttert auf.
Bootsmann Sullivan suchte nach Harris und Jenkins, und als er sie fand, wünschte er sich, diesen Tag niemals erlebt zu haben und ihn für alle Zeiten aus seinem Gedächtnis streichen zu können. Doch die Erinnerung würde bleiben. Sie würde sich in seinem Geist festbrennen und ihm schlaflose Nächte bereiten, sie wurde ihn für den weiteren Verlauf seines Lebens zeichnen. »He!« Sir John war den Backbordniedergang wieder halb hoch geklettert und blickte auf das verwüstete Achterdeck. »Was steht ihr da herum, ihr Hornochsen? Los, schmeißt die Toten in die See. Oder bildet ihr euch ein, sie würden auferstehen? Bootsmann Sullivan, haben Sie was auf den Kopf gekriegt oder ist Ihnen sonst was passiert?« »Nein, Sir.« »Dann über Bord mit den Leichen und an die Arbeit. Wir müssen dem Gegner nach und ihn stellen. So eine Schlappe darf uns nicht wieder unterlaufen. Sonst lasse ich Sie und diese Bande von Narren unter Arrest stellen, wenn wir wieder in Plymouth sind.« »Sir - die Toten haben ein Recht darauf, mit seemännischen Ehren bestattet zu werden.« Sullivan hätte sich, kaum daß er es ausgesprochen hatte, am liebsten auf die Zunge gebissen. Aber er konnte es nicht mehr rückgängig machen. Sir John brüllte: »Sullivan, Sie erdreisten sich, mir zu widersprechen?« »Nein, Sir.« »Ich stelle Sie vor ein Bordgericht, wenn Sie nicht augenblicklich parieren. Ich lasse Sie hinrichten, Mann. Kommen Sie her.« In Sullivan hatte sich mit einem Schlag etwas geändert. Sein Weltbild war verrückt. Auch Autoritätspersonen konnten Fehler begehen und sogar Niederträchtigkeit beweisen. War er ein hirnverbrannter Idiot? Warum war ihm das noch nicht früher aufgefallen? Wie denn - ein Sir John Killigrew, General
-Kapitän von Cornwall, verlangte von ihm, er solle drei Männer seiner Crew einfach außenbords werfen, weil es sie im Kampf erwischt hatte? Wo blieb da die Hochachtung vor dem Mut, den sie bewiesen hatten, vor der Tatsache, daß sie bis zuletzt unerschütterlich ihren Mann gestenden hatten? Und, nicht zuletzt: Er, Sullivan, war jahrelang mit Harris, Jenkins und dem dritten Toten gefahren und fühlte sich mit ihnen verbunden. Einem heruntergekommenen Piratenführer konnte man derartige Methoden zubilligen, nicht aber einem GeneralKapitän Ihrer Majestät, Königin Elizabeth I. von England. Sullivan ging zu Sir John. »Sie«, sagte Sir John mühsam beherrscht. »Ihnen haben wir diese riesengroße Schweinerei zu verdanken, verdammt noch mal.« »Wie bitte, Sir?« ,Ja!« schrie Sir John. »Hätten Sie diesen Sauhaufen von Mannschaft besser gedrillt und auf Disziplin gehalten und diesen Kerlen vor allen Dingen beigebracht, wie man mit Geschützen umgeht, hätten wir keine solche Schlappe erlitten. Die Breitseite hätte die ›Isabella‹ auf jeden Fall noch ins Heck treffen müssen. Die Hunde haben uns einen Treffer verpaßt. Wie stellen Sie sich dazu, Bootsmann Sullivan?« Sullivan spürte, wie etwas in ihm aufstieg und sich gärend in ihm ausbreitete. Das war ein verflixt merkwürdiges Gefühl. Zunächst wurde er sich noch nicht richtig bewußt, was es war, aber später begriff er, daß es Haß war. »Sir«, sagte er. »Sie haben das Kommando an Bord, und Sie haben den Feuerbefahl erteilt.« Was war nur in ihn gefahren? Niemals, niemals hätte er seinem Kapitän, der zur Zeit Urlaub hatte, auch nur ansatzweise eine derartige Antwort gegeben. Sir John traf Anstalten, ihn zu packen, doch er hielt sich im letzten Augenblick zurück. »So, also immer noch Widerworte, Sullivan. Nun, darüber unterhalten wir uns bei nächster Gelegenheit noch ausführlich.«
»Sir, ich sage nur, wie es ist.« »Ja«, erwiderte Sir John gedehnt. »Schon gut, Mann. Sorgen Sie jetzt endlich dafür, daß Ordnung in dieses Durcheinander kommt. Die Männer sollen die Schoten und Brassen des Segels kappen und den ganzen Salat über Bord schmeißen, verstanden?« »Aye, aye, Sir.« Sir John legte den Kopf in den Nacken. »Ausguck!« »Sir?« »Kannst du die Galeone noch sehen, du Bastard?« »Ja, Sir. Sie halst und geht auf Steuerbordburg.« Sir John ballte die Hände. »Ben Brighton, dieser Satan. Er will mit raumem Wind nach Osten abhauen, aber das schafft er nicht. Ich werde ihn vorher schnappen, ich habe das schnellere Schiff.« Er begann wieder zu brüllen. »Los, ihr Hurensöhne, wir fallen ab und jagen dem Gegner nach! Wollt ihr euch wohl beeilen? Muß ich euch Beine machen? Ich merke mir jeden, der hier nicht pariert, und wenn dieses Gefecht vorüber ist, dann gnade euch Gott. Die Faulen und Drückeberger, die Weichen und die Memmen, ich lasse sie der Reihe nach auspeitschen und kielholen.« Er ahnte nicht, daß im Dunkel der Nacht ein weiterer Gegner lauerte.
5. »Auf was wartest du? Verpaß ihm das Ding«, zischte Matt Davies. Al Conroy schüttelte den Kopf und raunte: »Noch nicht.« Er hockte im Bug der Schaluppe hinter der vorderen Drehbasse. Die Kriegskaravelle ›War Song‹ war keine Geistererscheinung mehr, die sie nach Gefühl durch die Nacht verfolgten. Das Schattenspiel war vorüber. Sie hatten sie groß
und deutlich vor sich und rückten lautlos und unaufhaltsam auf sie zu. Sie hob und senkte sich auf den seichten Wogen des Atlantiks, und immer, wenn die Schaluppe mit dem Bug hochstieß, geriet die Bordwand der Karavalle genau vor die Mündung der vorderen Drehbasse. Al Conroy hatte sie mit Akribie geladen und justiert. So eine Drehbasse war im gewissen Sinne Gold wert, denn sie hatte gegenüber den schweren Geschützen, die man auf großen Schiffen führte, unschätzbare Vorteile. Die Falkons und Minions, die Demi-Culverinen und Culverinen, sie alle waren relativ schwerfällig, umständlich zu handhaben und schossen nur in der einen festgelegten Richtung. Eine Drehbasse hingegen war kein Vorder-, sondern ein Hinterlader. Es bedurfte bei weitem keines so großen Zeitaufwandes, Pulver ins Bodenstück zu füllen und die Kugel samt Wergpfropfen in ihre Lage zu bringen, wie bei einer größeren Kanone. Außerdem ließ die Basse sich in ihrer Lafette, die auf dem Schanzkleid befestigt war, beliebig nach links und nach rechts drehen. Auch in der Höhe war sie verstellbar. Gary, Al, Matt und Stenmark hatten das Aufschließen der Karavelle an die ›Isabella V.‹ rechtzeitig bemerkt. Natürlich hatten sie ebenfalls angeluvt und sich ihrerseits zwischen die Karavelle und das Land geschoben. Die wahre Luvposition hatten also sie, aber das wußten weder Sir John noch Ben Brighton und die anderen an Bord zur ›Isabella‹. Der erste Schußwechsel hatte stattgefunden. Al und seine Kameraden hatten zu ihrer Genugtuung festgestellt, was für einen Treffer die ›War Song‹ erhalten hatte. Immer dichter schob sich die Schaluppe an die Karavelle heran. Jetzt genügte es, daß ein Mann von der ›War Song‹ rein zufällig den Kopf wandte. Er mußte sie entdecken. Al hielt die Luft an. Matt beobachtete mit offenem Mund, kauerte hinter dem Schanzkleid und hielt eine schußfertige Muskete.
Stenmarks Gesicht war von der gleichen inneren Anspannung gezeichnet wie die Mienen der Kameraden. Gary hielt es kaum noch achtern am Steuerruder aus. Aber sie alle zwangen sich, wirklich den allerletzten, günstigsten Moment abzupassen. Und er kam. Während die Schaluppe an die Karavelle heranlief, verfolgte Al, wie der Gegner abfiel. Sie hatten auch gesehen, wie die ›Isabella‹ Sir John und seiner Mannschaft den Allerwertesten gezeigt hatte - der Rest ließ sich mühelos zusammenreimen. Sir John nahm die Hetzjagd auf. Gut, dachte AI, sehr, sehr gut. Die ›War Song‹ zog ihr Vorschiff vom Nordwestwind weg. Al sah die Heckgalerie, sie schob sich immer mehr in sein Blickfeld. Schlichte, solide englische Schiffszimmermannsarbeit, nicht so viele Schnörkel wie bei den spanischen Schiffen. Die Hennegatsöffnung war ein schwarzer Fleck im Schiffsleib. Unter ihr verlief in vertikaler Richtung das Steuerruder. Al konnte es nicht genau erkennen, doch er nahm die Hennegatsöffnung als Zielpunkt. Al wußte, daß dies seine einmalige Chance war. Ein zweites Mal bot sie sich bestimmt nicht. Es kam auf ihn an, auf seine Fähigkeit als Geschützführer. Jenseits des Atlantiks, an der Westküste der Neuen Welt, hatte er der ›Nuestra Senora de la Concepcion‹ den Bugspriet abgeschossen, nachdem Hasard mit ein paar Männern aufgeentert war und den spanischen Kapitän überwältigt hatte. Oh, er hatte noch andere Kunststücke fertiggebracht, nicht nur, was das fachgerechte Zielen, sondern auch, was das richtige Abmessen der Ladung und andere Kleinigkeiten betraf. Auf dieser Erfahrung basierte jetzt sein Unternehmen. Er setzte die Lunte in Brand. Knisternd fraß sich der Funke durch die Zündschnur. Al wartete nur noch ab, bis sich der Bug der Schaluppe in einem
kleinen Wellental nach unten neigte - da senkte er die Lunte auf die Basse. Der Funke eilte durch den Zündkanal, erreichte das Zündkraut, und in diesem Augenblick hob die Schaluppe wieder ihren Bug an. Al zog den Kopf ein. Alle vier Männer hielten den Atem an. Das Krachen der Drehbasse wurde von einem Ruck begleitet, der durch die Schaluppe lief. Rötlich-gelbes Feuer stob aus dem Geschützlauf und preßte die Ladung vor sich her. Beißender Rauch breitete sich über dem schmalen Deck der Schaluppe aus. Matt Davies kriegte eine Ladung davon in die Lungen, weil er den Mund immer noch geöffnet hielt. Die Eisenkugel raste in das Heck der ›War Song‹. Sie hörten Holz splittern und Männer schreien, dann sahen sie, wie das Ruderblatt wegknickte. Matt hustete und lachte. Al Conroy hatte das Ruder der Karavelle zerschmettert, wie es keiner besser vermocht hätte! Trümmer landeten klatschend im Wasser. Jemand schrie Zeter und Mordio, es war Sir John Killigrew. »Arwenack!« rief Al Conroy. »Ar-we-nack!« brüllten seine drei Kameraden im Chor. Die Schaluppe nahm sich im Verhältnis zu der Karavelle winzig aus. Und ihre Armierung war geradezu lächerlich. Aber sie hatten dem Gegner einen Nadelstich verpaßt, und zwar einen ganz empfindlichen. Wie sollte die ›War Song‹ ohne Ruder manövrieren? Gary Andrews drehte ab. Abstand legte sich zwischen die Karavelle und die Schaluppe. Ehe drüben auf dem Achterdeck überhaupt eins der Geschütze besetzt und auf sie gerichtet war, befanden sie sich außer Schußweite. Deutlich sahen sie aber unter einem fahlen Streifen Mondlicht die Männer der Karavelle, wie sie die Fäuste gegen sie schüttelten. »Ar-we-nack!« riefen AI, Gary, Matt und Stenmark noch einmal.
»Feuer!« brüllte Sir John. »So schießt doch, ihr verdammten Hunde! Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?« Coleman, der vierschrötige Seemann, hatte die Lunte einer Drehbasse gezündet. Er senkte sie auf das Bodenstück, dann belferte das Geschütz los und spie seine Ladung in die Nacht. Im aufzuckenden Mündungsblitz sahen Sir John, Sullivan, Coleman, Feeney und einige andere für einen Augenblick die zweimastige Schaluppe. Danach verfolgten sie nur noch, wie das Geschoß wirkungslos ins Meer klatschte und eine gischtende Fontäne hochriß. »Feuer!« schrie Sir John. »Es hat keinen Zweck mehr«, sagte Bootsmann Sullivan. »Die sind bereits zu weit weg. Wenn mich nicht alles täuscht, segeln sie die Schaluppe, die in Plymouth an der Pontoon Pier vertäut lag. Sie gehört dem Hafenkapitän.« »Aber der Hafenkapitän ist nicht an Bord«, sagte Feeney. »Bestimmt nicht«, meinte Sullivan. »Der würde doch nicht auf uns schießen. Ich glaube eher, daß die Kerle dort zur Crew des Seewolfes gehören.« »Die können verteufelt gut zielen«, sagte Coleman. Sir John war plötzlich bei ihm und packte ihn an den Aufschlägen. »Oh, wie schlau ihr doch seid. Ihr seid der Inbegriff von Intelligenz und Einsatzbereitschaft. Warum hast du sie nicht getroffen, du Hund? Bist du besoffen? Seid ihr alle total beschränkt, daß ihr euch so fertigmachen laßt?« »Ich kann nichts dafür«, stammelte Coleman. Sir John hieb ihm die Faust unters Kinn. Coleman gab noch einen erstickten Laut von sich, dann kippte er hintenüber und blieb rücklings neben dem toten Harris liegen. Feeney hatte seine Hand bereits um die Pistole geschlossen, die in seinem Gurt steckte. Er wollte auf Sir John los, doch Sullivan hielt ihn zurück, ehe Sir John etwas bemerkte. Die Mienen der Männer waren finster. Keiner konnte diesen
selbsternannten Kapitän leiden. Es roch nach Unrat und Meuterei, alle Zeichen standen auf Sturm. Aber noch hielt Sullivan und die Crew die tief in ihnen sitzende Disziplin zurück. Man hatte sie ihnen ja heftig genug eingetrimmt. Sie war ein Teil ihrer selbst, von dem sie sich so schnell nicht zu lösen vermochten. Sir John stieg, so schnell er konnte, über die Trümmer der Gaffelrute und wandte sich dem Quarterdeck zu. Er stolperte fast über das zerfetzte, blutverschmierte Segeltuch. »Klart hier endlich auf!« brüllte er. »Wird’s bald? Weg mit diesem Dreck, weg mit den Leichen!« Er benutzte den Backbordniedergang und lief zum Rudergänger. »Die Toten bleiben an Bord«, sagte Bootsmann Sullivan zu Feeney und den anderen. Sein Gesicht war plötzlich wie aus Stein gehauen. »Sie sollen beigesetzt werden, wie es ihnen gebührt. Ich bin bereit, notfalls mit meinem Leben dafür einzustehen.« Er schritt an die Five-Rail und wurde Zeuge, wie Sir John den Rudergänger zusammenstauchte. »Was, das Ruder gehorcht nicht mehr? Verdammt noch mal, es kann doch nicht total in die Brüche gegangen sein. Unmöglich! Du bist ein Versager, Mann!« Der Rudergänger, ein sonst sehr besonnener Mann, versetzte dem Kolderstock einen Stoß. Das Ding pendelte hin und her. »Bitte sehr, Sir. Wie Sie sehen, spielt sich da nichts mehr ab..Oder wollen Sie sich selbst überzeugen?« Sir John packte ihn an der Kleidung, wie er sich Coleman gegriffen hatte. »Totschlagen sollte man dich. Ihr seid verlauste Hurensöhne, du und deine Kumpane. Als Fischfutter wäret ihr gerade gut genug.« »Sir«, sagte Sullivan. »Wollen Sie diesen Mann auch niederschlagen?« Sir John riß dem Rudergänger die Pistole aus dem Gürtel,
dann stieß er ihn von sich. Der Mann stolperte und fiel hin. Sir John spannte den Hahn der Waffe. Es war eine Steinschloßpistole, fix und fertig geladen, gut geölt und griffig, bereit zum Töten. Der Hahn knackte. Sir John legte auf Bootsmann Sullivan an. Nur, wer ihn ganz genau beobachtete, konnte sehen, daß seine Hand etwas zitterte. »Sullivan! Noch so eine Bemerkung, und ich schieße Sie nieder.« Sullivan war bleich geworden. »Jawohl, Sir.« »Haben wir ein Notruder an Bord? Antworten Sie!« »Nein, Sir.« »Wie lange dauert es, bis ein neues gezimmert ist?« »Ich - mindestens eine Stunde, Sir.« »Schon eine halbe Stunde wäre zu lange.« Killigrew senkte die Pistole. Sein Blick richtete sich auf die See, dorthin, wo die Schaluppe in der Nacht verschwunden war. Arwenack. Er hatte den Namen deutlich ausrufen hören. Arwenack war die Stammfeste der Killigrews über dem Hafen von Falmouth, aber Arwenack war auch der Schlachtruf des Seewolfes und seiner Getreuen geworden. Arwenack! Es klang wie triefender Hohn in Sir Johns Ohren. Vor Schimpf und Schande wäre er am liebsten vergangen. Die Karavelle trieb steuerlos im Atlantik, war weitgehend manövrierunfähig - und dem Gegner ausgeliefert. * »Arwenack?« Ben Brighton glaubte, etwas spiele ihm einen Streich. Aber nein, er hatte es doch laut und deutlich vernommen. »Ferris, Shane, Old O’Flynn - habt ihr das auch gehört?« »Ja«, gab Ferris grinsend zurück. »Da hat jemand Sir Johns Karavelle eine Kugel in den Hintern gesetzt und unseren Kampfruf gebrüllt.«
»Das kann doch nicht wahr sein!« »Ist es aber«, erwiderte der alte O’Flynn. Er grinste so amüsiert wie sein etwas vorlauter Sproß Dan. »Vielleicht bin ich, was die Ohren betrifft, nicht mehr ganz so hellhörig wie ihr jungen Schnösel. Aber ich hab’s auch gehört. Und der Teufel soll mich auf der Stelle hier vom Achterdeck reißen, wenn es etwa Sir John war, der das gerufen hat.« »Anluven!« rief Ben. »Wir gehen durch den Wind und segeln wieder nach Westen. Wollen doch mal sehen, wer uns da so unverhofft zu Hilfe gekommen ist.« »Das fragst du dich noch?« sagte Ferris erstaunt. Ben grinste nun auch. »Anluven!« brüllte Carberry auf der Kuhl. »Bewegt euch, ihr müden Kakerlaken!« »Wir haben einen Verbündeten, den uns der Himmel schickt«, sagte Shane. »Wer hätte das gedacht?« »Ich«, erwiderte der alte O’Flynn. »Nachdem wir aus dem Hafen von Plymouth abgehauen sind, ohne weiter auf den Kutscher und die anderen zu warten, lag es doch auf der Hand, daß sie uns folgen würden, oder?« »Na ja«, entgegnete Ferris. »Immerhin mußten sie sich wohl erst mal ein Schiff suchen, oder? Und danach konnten sie uns hundertmal aus den Augen verlieren, oder?« »Ich glaube, ihr unterschätzt manchmal eure eigenen Kameraden«, sagte der Alte. »He!« rief Jean Ribault jetzt aus dem Großmars. »Der Karavelle hat es glatt das Ruder weggehauen, wenn mich nicht alles täuscht. Jedenfalls benimmt sie sich wie eine flügellahme Ente. Sie schafft es einfach nicht, abzufallen und sich uns auf die Fersen zu heften. »Hurra!« schrie der alte O’Flynn. Seine weißen Haare flatterten im Nachtwind. Sir Johns Aufenthalt auf der ›Isabella‹ hatte seiner Laune einen erheblichen Dämpfer aufgesetzt, aber jetzt fühlte er sich wieder ganz er selbst. Er war schwer
gehandikapt, hatte eine hölzerne Beinprothese und mußte auf zwei Krücken laufen - aber für einen O’Flynn waren solche Dinge Nebensächlichkeiten. Die O’Flynns waren Dickschädel und Querköpfe, aber auch unerschütterliche Draufgänger. »Jetzt hauen wir dem alten Killigrew die Hucke voll!« schrie er. »John, wir kommen. Halt dich an der Reling fest, damit du nicht ins Wasser fällst!« »Schaluppe Steuerbord voraus«, meldete Jean. Die Männer der ›Isabella‹ stürzten ans Steuerbordschanzkleid. Sie hielten angestrengt Ausschau. Und dann schälten sich die Umrisse der zweimastigen Schaluppe aus der Nacht. Jean Ribault brüllte: »He, ho, diese Satansbraten, diese verteufelten Kanalratten! Das sind Gary, Al, Matt und Stenmark!« Die Crew der Galeone brach in Begeisterungsrufe aus. Mützen wurden hochgeworfen, Pfiffe ausgestoßen. Buck Buchanan feuerte sogar seine Pistole in die Luft ab. Die Schaluppe lief ihnen entgegen. Ben Brighton beugte sich weit über, legte die Hände wie einen Schalltrichter an den Mund und rief: »Wahrschau, Männer. Wo steckt der Kutscher?« Gary antwortete: »Er ist zu Gwen und Dan zurück, die im Haus von Sir Freemont bei Hasard Wache halten. Burton und Keymis haben die Stadtgarde dorthin geführt, nachdem ihr sie am Hafen habt abblitzen lassen.« »Verdammt und zugenäht!« rief Ferris Tucker. »Keine Angst«, schrie Al Conroy zurück. »Der Kutscher hat Sir Freemont bestimmt rechtzeitig gewarnt. Und Sir Freemont steht auf unserer Seite. Der versteckt Hasard garantiert so gut, daß Burton und Keymis ihn nicht entdecken.« »Na, hoffen wir’s!« rief Ben Brighton. »Wie geht es dem Seewolf?« Sekundenlang breitete sich Schweigen von Bord zu Bord aus. Nur das Knarren der Blöcke und Rahen in der Takelage der
›Isabella‹ und der Schaluppe und das Plätschern des Seewassers an den Bordwänden waren zu vernehmen. Endlich erwiderte Gary: »Er lebt noch. Und Sir Freemont gibt ihm eine Chance.« »Eine wie große Chance?« wollte Ben wissen. »Er meint, Hasard habe es seiner unverwüstlichen Natur zu verdanken, daß er noch nicht ins Gras gebissen hätte. Wenn ich richtig verstanden habe, kann das Fieber ihn so leicht nicht umhauen. Bleibt noch der Schädelbruch. Der ist nicht von schlechten Eltern.« »Aber Sir Freemont versteht was von seinem Fach!« rief Matt Davies. »Er flickt Hasard zurecht und päppelt ihn wieder hoch. Ganz bestimmt. Wenn ich euch das sage, könnt ihr’s glauben.« Einige Männer grinsten. Aber alle atmeten erleichtert auf. Die Sorge um ihren Kapitän blieb zwar, doch die Gewißheit, Philip Hasard Killigrew in fachkundigen Händen zu wissen, bedeutete ihnen schon sehr viel. »Was tun wir jetzt mit Sir John und seiner verdammten Karavelle?« erkundigte sich Stenmark. »Ihr wollt ihn doch wohl nicht abhauen lassen, was?« »Nein.« Bens Züge verhärteten sich. »Er hat eine gründliche Lektion verdient. Um die Männer, die er befehligt, tut es mir in gewisser Weise leid. Sie sind in die Sache gegen ihren Willen hineingerissen worden. Was hätten sie anders tun sollen, als Sir John zu gehorchen?« »Schön und gut«, meinte der alte O’Flynn. »Das heißt aber noch lange nicht, den Halunken John deswegen zu schonen.« »Keineswegs. Wir geben der Karavelle Zunder. Aber ganz versenken werden wir sie nicht.« Ben wandte sich der Kuhl zu. »Ed, hast du das verstanden?« »Aye, aye, Sir.« »Kurs auf die Karavelle also!« rief Ben. Gary, Al, Matt und Stenmark winkten ihnen zu. Dann drehte sie Schaluppe, ging an den Wind und lief wieder auf die ›War
Song‹ zu. Gary steuerte das Schiff so, daß es in die alte Luvposition zwischen Karavelle und Küste zurückkehrte. »He, Al!« rief Blacky ihnen noch nach. Al Conroy wandte sich um. »Ein feiner Schuß ist das gewesen!« rief Blacky. »Du hast ihn doch abgegeben, oder?« »Ja.« »Zielwasser getrunken?« »Ja!« schrie Al Conroy. »Englisches Bier.« Die Konturen der Schaluppe wurden fast völlig von der Nacht geschluckt. Ben manövrierte die ›Isabella‹ auf die ›War Song‹ zu, und zwar in die Leeposition. An Bord der Karavelle herrschte nach wie vor heilloser Zustand. Natürlich trachteten die Männer danach, auch ohne das Ruder auf neuen Kurs zu gelangen. Aber das war ein recht schwieriges Unterfangen. Noch segelte die Karavelle vor dem Wind, und nur ganz allmählich nahm sie den Bug ein wenig in östliche Richtung. Doch ohne Ruder ließ sich die Halse unmöglich fahren. So wendig die Karavelle gewesen war, so plump wirkte sie jetzt. Die ›Isabella V.‹ hingegen war eine Festung zur See. Mit vollen Segeln rauschte sie auf die Dreimast-Karavelle zu. Ben Brighton ließ Pete jedoch rechtzeitig wieder abfallen und präsentierte dem Gegner die Steuerbordbreitseite der Galeone. Die Männer kauerten auf den Gefechtsstationen. Ben Brighton erteilte Carberry durch eine Gebärde den Befehl, und Carberry brüllte: »Feuer!« Zwölf Culverinen, also 17-Pfünder, führte die Galeone auf jeder Seite der Kuhl. Hinzu kamen vier Drehbassen auf der Back und sechs auf dem Achterkastell. Die zwölf Geschütze der Steuerbordseite donnerten jetzt los, ruckten zurück und wurden im Rückstoß von ihren Tauen aufgehalten. Feuerblitze stachen in die Nacht, heulend flogen die Eisen- und Bleikugeln zur ›War Song‹ hinüber. Eine Kettenkugel erwischte die Fock und riß sie in Stücke. Das Schanzkleid der Karavelle
zersplitterte an mehreren Stellen. Dann belferten auch die beiden Drehbassen der Schaluppe los, und die Mündungsblitze verrieten, wie nah Gary und seine drei Kameraden sich wieder an die Karavelle herangewagt hatten. Natürlich feuerten die Männer der ›War Song‹ erbost zurück. Doch die ›Isabella‹ überholte sie, drehte hoch und segelte dann frech und gottesfürchtig vor ihrem Bug vorbei. Die neuerliche Backbordbreitseite der ›War Song‹ verpuffte ohne Treffer in der Nacht. Auch ihre Drehbassen wurden jetzt eingesetzt, doch wieder zog sie den kürzeren. Ferris, Ben, Shane, Blacky und Bob Grey bedienten fünf Bassen der ›Isabella‹ und beschädigten der ›War Song‹ die Galion und den Bugspriet. Die Geschosse des Gegners pfiffen heran, und die Männer legten sich platt auf die Planken. Eine Kugel trieb das Steuerbordschanzkleid der ›Isabella‹ auf, die anderen jagten über die Decks weg. Ben Brighton richtete sich auf. Der Schaden am Schanzkleid war unerheblich. »Jemand verletzt?« rief er. »Keiner!« rief Carberry aus der Kuhl zurück. »Hol’s der Teufel!« »Anluven, Pete«, befahl Ben. »Wir wenden und fahren dann noch einen Angriff.« »Aye, aye, Sir.« »Jean, kannst du noch erkennen, wo die Schaluppe steckt?« »Ja. Sie drückt sich am Heck der Karavelle vorbei und verholt sich zum Nachladen nach Nordwesten.« »Ist sie getroffen?« »Glaube ich nicht.« Ben säuberte seine Drehbasse, füllte neues Pulver ein und brachte die nächste Kugel mitsamt dem Kabelgarn in ihre Lage. »Na, hoffentlich behältst du recht«, murmelte er. »Wir bringen Sir John das Fürchten bei, aber es würde mir leid tun,
wenn Gary, Al, Matt und Stenmark dabei das Nachsehen hätten.« Wenig später rollte der Geschützdonner von neuem über die See. Der Wind trug ihn weit aufs Meer hinaus. Die gleißenden Mündungsblitze der Kanonen waren Fanale in der Nacht. Schwaden von Pulverqualm dehnten sich zwischen den Schiffen aus. Trotz aller Bemühungen gelang es den Männern der ›War Song‹ nicht, dem Gegner Paroli zu bieten. Sie vergeudeten nur ihre Munition. Die Crew der ›Isabella‹ jedoch und die vier Männer von der Schaluppe erzielten Treffer um Treffer. Das achtere Segel und die Fock der Karavelle waren zerstört, das Großsegel war nur noch ein durchlöcherter Fetzen. In den Bordwänden klafften Lecks. Die Schreie von Verwundeten wehten zur ›Isabella‹ und zur Schaluppe. »Genug«, sagte Ben Brighton schließlich. Er drehte sich zur Kuhl. »Ed, das Feuer einstellen.« »Aye, aye.« »Jean, wo ist die Schaluppe?« »Sie läuft direkt auf uns zu!« »Ferris«, sagte Ben. »Wir müssen Gary und den anderen ein Zeichen geben, daß sie ebenfalls das Feuer einstellen.« »Batuti könnte einen Brandpfeil in die Luft schicken.« »Gut. Batuti!« »Hier, Sir.« Der Gambia-Neger meldete sich mit dröhnender Stimme aus dem Vormars. Ben teilte ihm mit, was er zu tun hatte, und einen Augenblick später stieg eine lodernde Fackel in die Nacht auf. Sie schien sich in den schwarzen Himmel fressen zu wollen, bis nur noch ein winziger Punkt von ihr übrigblieb. Aber dann hatte sie den Höhepunkt ihrer Bahn erreicht, knickte ab und sackte nach unten fort. Der Pfeil tauchte in die See. »Wahrschau!« rief Gary Andrews von der zweimastigen Schaluppe. »Was ist los, Männer?« »Feuer einstellen«, antwortete Blacky von der Back der
›Isabella‹. »In Ordnung!« »Schön und gut«, sagte der alte O’Flynn, der neben Ben, Shane und Ferris auf dem Achterdeck stand. »Aber was machen wir jetzt mit der Karavelle?« Big Old Shane lächelte grimmig. »Wenn keiner was dagegen hat, leiste ich jetzt meinen Teil und erkläre den Besatzungsmitgliedern der ›War Song‹ ein paar Kleinigkeiten. Es war klug, Ben, das Schiff nicht mit Mann und Maus zu den Fischen zu schicken. Also los, gehen wir dichter heran.« Er blickte die anderen der Reihe nach an. »Ihr braucht mich nicht so verdattert anzustarren. Es ist mein voller Ernst.«
6. Es geschah. Selbst auf die Gefahr hin, daß sich die KaravelleMannschaft unter Sir John zu einer letzten, verzweifelten Gegenwehr aufraffte, glitt die ›Isabella‹ auf Rufweite an den Gegner heran. Big Old Shane stand mit verschränkten Armen am Steuerbordschanzkleid des Achterdecks. Der Wind zerzauste seine grauen Haare, fuhr in sein graues Bartgestrüpp und strich über sein runenzerfurchtes Gesicht. Seine Augen glitzerten. Er hatte in diesem Moment etwas mit einem jener furchteinflößenden Rachegötter gemein, wie sie in den alten Mythen vorkamen. Seine grollende Stimme tönte von Schiff zu Schiff. »Herhören, ihr Männer! Hier spricht Shane, der Schmied und Waffenmeister von Arwenack, einstmals ergebener Vasall seines Herrn Sir John Killigrew. Einige von euch kennen mich vielleicht.« »Ja!« rief jemand zurück. Shane kniff die Augen zusammen,
um ihn zu erkennen. Er sah den Mann auf dem Quarterdeck der Karavelle stehen, doch er wußte dessen Namen nicht. Später sollte sich herausstellen, daß es Feeney war. »Was willst du, Shane?« schrie Feeney. »Wollt ihr uns jetzt den Rest geben? Ihr habt schon genug angerichtet. Aber glaubt nur nicht, daß wir uns widerstandslos abschlachten lassen.« »Unsinn«, erwiderte Shane unbeirrt. »Wir sind keine Schweinehunde wie bestimmte Leute, die an ihrer Gier nach Gold noch ersticken werden. Aber hör genau zu, Mann, und sag auch deinen Kameraden, sie sollen die Ohren spitzen! Wir hier an Bord achten sehr wohl die Tatsache, daß die ›War Song‹ ein Kriegsfahrzeug Ihrer Majestät, der Königin von England, ist. Deswegen haben wir sie auch nicht versenkt - und wenn der verdammte Sir John sie sich tausendmal unter den Nagel gerissen hat.« »Verräter!« Das war Sir John. Voll Haß schüttelte er die Fäuste gegen Shane - aber den Dialog zwischen Shane und Feeney konnte er nicht unterbrechen. »Shane!« schrie Feeney. »Was, zum Teufel, wollt ihr?« »Wir kämpfen gegen Sir John, aber nicht gegen die Königin.« »Einige von uns haben das Leben gelassen«, erwiderte Feeney bitter. »Drei, als die Gaffelrute in die Brüche ging und das achtere Segel herunterkam, zwei bei euren beiden Breitseiten.« Shane rief: »Das habt ihr Sir John zu verdanken, nicht uns. Gehören denn alle fünf Toten zu der Stammcrew der Karavelle?« »Die beiden letzten nicht. Es sind Sir Johns Männer.« »Wißt ihr überhaupt, was Sir John will?« Shanes Stimme klang ruhig, er sprach ohne Hast. »Ich wette, er hat euch irgend etwas vorgeschwindelt. Ihm geht es nicht darum, uns unseren Beuteschatz abzujagen und für die Königin sicherzustellen. Nein, er will den Schatz für sich. Er hat schon ein paarmal versucht, ihn mit allen erdenklichen Tricks zu ergaunern - der
feine Herr! Ein untadeliger General-Kapitän, nicht wahr? Es würde ihm gleichgültig sein, euch alle zu verheizen, wenn er nur die Beute in die Finger kriegt. Und um die Belange der Königin schert er sich einen Dreck.« * Shanes Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Auf der Karavelle war Bootsmann Sullivan neben Feeney getreten. Zunächst hatte er die Unterhaltung von Bord zu Bord unterbinden wollen, doch jetzt stand er sprachlos und zutiefst betroffen. Feeney wollte antworten, doch Sullivan griff nach seinem Arm. »Shane!« rief Sullivan nun selbst. »Hier spricht der Bootsmann der ›War Song‹. Würdest du beschwören, was du da eben behauptet hast?« »Bei allem, was mir heilig ist«, gab Shane zurück. Sullivan wandte sich ab, ging vom Steuerbordschanzkleid der ›War Song‹ über die Kuhl und dann zum Quarterdeck hinauf. Seine Crew stand hinter ihm wie ein einziger Mann, das spürte er. Und auch von den zwanzig Männern Sir Johns, die den Kampf überlebt hatten, befand sich so mancher auf seiner Seite. Wer zu Sir John hielt, der muckte jetzt jedoch nicht auf, weil er wußte, daß es so gut wie Selbstmord gewesen wäre. Sullivan trat Sir John gegenüber. Seine blauen Augen fixierten den Mann in stummer Verachtung. »Sullivan«, sagte Sir John. »Sie werden doch wohl nicht glauben, was dieser Hurensohn da erzählt! Er hat meinen Sohn umgebracht. Das hat er Ihnen verschwiegen, nicht wahr? Er dreht die Dinge eben so, wie sie ihm gerade in den Kram passen.« Sullivan war unbeeindruckt. »Sir, Sie haben dieses Schiff für Ihre privaten Zwecke mißbraucht. Ein Geheimauftrag, so sagten Sie doch, oder? Nun, man hat ja schon von Ihren
Beutezügen gehört, aber daß Sie ein solcher Schurke sind, hätte ich niemals gedacht.« »Unterstehen Sie sich ...« »Schluß!« brüllte Sullivan. »Aus und vorbei. Denken Sie an Harris und Jenkins und den dritten Mann und auch an die beiden armen Teufel aus Ihrer Crew, die wegen Ihrer Gier sterben mußten. Ins Meer wollten Sie sie werfen - wie Abfall. Ein wirklich sauberer General-Kapitän sind Sie, das muß ich schon sagen.« Sir John schrie einen Fluch und riß die Pistole aus dem Gurt, die er dem Rudergänger abgenommen hatte. Da platzte Sullivan der Kragen. Er tat, was er noch nie getan hatte. Mit einem Satz war er bei Sir John und hieb mit der Faust auf die Pistole. Sir John gelang es nicht mehr, den Hahn zu spannen. Die Waffe polterte auf Deck. Sullivan steckte einen Fausthieb Sir Johns ein. Dann ließ er selbst seine Fäuste sprechen. Er traf Sir John vor die Brust, daß dieser zurücktaumelte. Sullivan setzte ihm nach, schlug noch einmal zu und dann noch einmal und erwischte ihn beim letzten Hieb am Kinn. Sir John sank auf die Planken. Sullivan drehte sich um. Feeney, Coleman und fast alle anderen, darunter auch einige Killigrew-Männer, standen hinter ihm. In ihren Mienen stand Entschlossenheit zu lesen. »Danke«, sagte Bootsmann Sullivan. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht war gerötet und von Rußspuren verschmutzt, wie sie das Schwarzpulver der Geschütze bei jedem Seegefecht hinterließ. Sullivan betrachtete die Männer, die ihm und nicht Sir John vertrauten. Und plötzlich brachte er ein flüchtiges Grinsen zustande. »Ich danke euch für eure Hilfe, aber ich brauche sie nicht. Ich habe den Kerl bewußtlos geschlagen. Vorläufig steht er nicht wieder auf.« »Aufhängen sollte man ihn«, sagte Feeney erbost. »An der
Gaffelrute des Großsegels. Los, auf was warten wir noch?« Sullivan schüttelte den Kopf. »Soweit gehen wir nicht. Wir müssen beweisen, daß wir im Gegensatz zu ihm keine Schurken sind. Will dir das in den Kopf, Feeney?« »Ja.« »Ab sofort übernehme ich wieder das Kommando der ›War Song‹. Hebt Killigrew auf und tragt ihn ins Vorschiff. Sperrt ihn in die Vorpiek. Zwei Mann bleiben vor dem Schott der Vorpiek als Wache zurück - du, Coleman, und ein anderer, den du dir aussuchen kannst.« »Aye, aye, Sir.« sagte Coleman. »Ihr haftet dafür, daß der Mann nicht entkommt. Aber daß ihr es ja nicht wagt, Hand an ihn zu legen, solange es sich irgend vermeiden läßt. Habe ich mich klar ausgedrückt, Coleman?« »Jawohl, Sir.« Feeney hatte sich umgedreht und rief plötzlich: »Holla, die Galeone segelt heran! Sie will längsseits gehen. Himmel, dürfen wir das zulassen?« Sullivan hob die rechte Hand. »Laßt sie. Shane und seine Freunde haben jetzt keine feindlichen Absichten mehr. Sie haben ja bestimmt verfolgt, welche Wende die Dinge hier genommen haben. Ich mag ein großer Narr sein, aber ich habe das untrügliche Gefühl, daß dieser Shane ein aufrichtiger Kerl ist und es gut mit uns meint.« Feeney hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Tja, was so in Falmouth über Shane erzählt wird, hört sich allerdings gut an. Die Leute sagen, er sei ein eisenharter Mann, aber einer von der anständigen Sorte.« »Coleman«, sagte Sullivan. »Schaff Sir John weg. Na los, steh nicht ‘rum und glotz Löcher in die Luft.« Coleman winkte einem seiner Kameraden zu, und sie hoben den ohnmächtigen Sir John auf. Sie legten sich seine Arme um die Schultern und hielten sie fest, einer an jeder Seite, dann transportierten sie ihn ab. Seine Stiefel schleiften mit
schurrendem Geräusch nach. Ab ging es über die Kuhl zur Back der Karavelle, und Sir Johns Gestalt verschwand hinter dem Steuerbordschott. »Feeney, du und ein paar andere, ihr legt die Gangway klar«, sagte Sullivan. »Wenn die ›Isabella‹ anlegt, verbinden wir Schiff mit Schiff, so daß jeder mühelos herübermarschieren kann.« Er wandte sich den Männern von Sir Johns Crew zu. »Herhören! Falls jemand mit meinen Entscheidungen nicht einverstanden ist, soll er gleich Bescheid sagen. Er wird dann zu Sir John in die Piek gesperrt. Wer hinterher noch Stunk macht, hat mit der Neunschwänzigen zu rechnen. Also?« Die Männer erhoben keinen Einwand. Einige blickten betreten zu Boden, einige taten durch Murmeln ihre Zustimmung kund. Keiner protestierte. Sie waren, das hatte sich ja auch schon gezeigt, als sie auf der ›Isabella‹ nach England zurückgekehrt waren, nicht zu Helden geworden. Schon gar nicht, um sich für Sir John zu opfern! Seine Lebensweisheit hatte auch auf sie abgefärbt: Jeder war sich selbst der Nächste. * Fender, aus Tauwerk geflochtene Kissen, hielten die ›Isabella V.‹ von der ›War Song‹ ab und verhinderten, daß Bordwand an Bordwand stieß. Die Gangway wurde als Brücke zwischen den Schiffen ausgelegt, wie Sullivan es angeordnet hatte. Ben Brighton betrat sie als erster und wechselte zur ›War Song‹ über. Er trat zu Sullivan, nannte seinen Namen und streckte die Hand zum Gruß aus. »Ich heiße Sullivan«, sagte der rotblonde Mann. Er griff nach der dargebotenen Hand. »Wir sind also gewissermaßen Kollegen. Tut mir leid, daß wir uns raufen mußten. Es wäre auch ohne dem abgegangen, aber an den Tatsachen läßt sich ja nun nichts mehr ändern.«
Ben nickte. »Es wurde Zeit, Sir John eine Lektion zu erteilen. Das brauchte das alte Schlitzohr dringend. Ich möchte dir jetzt unsere Hilfe anbieten.« »Die nehme ich gern an.« »Wir haben einen hervorragenden Schiffszimmermann. Er heißt Ferris Tucker. Und unser Segelmacher Will Thorne wird euch auch bereitwillig helfen. Mit vereinten Kräften können wir die Karavelle so weit herrichten, daß ihr sicher zurück nach Plymouth gelangt.« »Das ist viel wert. Wir haben nämlich außer den Toten auch ein paar Verwundete, die an Land versorgt werden müssen.« »Unser Feldscher ist zur Zeit leider nicht bei uns, sonst hätte er die ersten Verbände anlegen können«, entgegnete Ben. »Aber das Notdürftige können wohl auch wir für die Verletzten tun.« Er drehte sich um. »Ferris, he, Ferris!« Der rothaarige Riese erschien am Schanzkleid der ›Isabella‹ und kletterte auf die Gangway. Er führte Werkzeug bei sich. »Ich komme ja schon. Wie ich die Dinge einschätze, haben wir bis Mitternacht zu tun.« Das stimmte. Ferris war für die nächsten Stunden nicht zu sprechen. Er suchte nach geeignetem Material, dann begann er, ein Notruder für die Karavelle zu basteln, eines, das solide genug war, um das Schiff zumindest zurück nach Plymouth zu steuern. Ferris war bekanntlich Spezialist für schwierige und ausgefallene Aufgaben. Einmal hatte er zwei riesige Flöße ganz nach eigenen Plänen konstruiert, und sie hatten darauf ihre Schatzbeute vom Stillen Ozean zur Karibik befördert, weil es einfach keinen anderen Weg gegeben hatte. Das war in Kolumbien gewesen. Sie hatten den Rio Atrato bis zum Golf von Darien befahren. Jeff Bowie hatte seine linke Hand durch Piranhas verloren, und später hatten er, Ferris, und Will Thorne ihm eine großartige Hakenprothese gebastelt, die fast noch besser als die von Matt Davies war. Als Ferris das Notruder fertiggestellt hatte, fierte er es mit
Hilfe von Taljen am Heck der Karavelle ab, ließ sich dann selbst in einer Tauschlinge hinunter und paßte das Ding in die Hennegatsöffnung ein. Er schraubte es fest, kehrte an Bord zurück und verband das Notruder im Inneren des Achterkastells mit dem Steuermechanismus des Kolderstocks. Danach begann er, die vielen Lecks der ›War Song‹ auszubessern. Will Thorne hatte unterdessen alle Hände voll damit zu tun, die Lateinersegel auszubessern. Alle Männer, sowohl die Stammcrew der ›War Song‹ als auch Sir Johns Mannschaft und die Crew der ›Isabella‹, packten nach Kräften mit zu. Die Toten wurden in Segeltuchbahnen genäht. Sullivan wollte sie aber unbedingt mit nach Plymouth nehmen, bevor er wieder auslief und sie auf See bestattete. Er wollte, daß man zur Kenntnis nahm, was sich abgespielt hatte und wer dafür verantwortlich war: Sir John, der die Männer der ›War Song‹ verantwortungslos in diese Auseinandersetzung geführt hatte. Es war tatsächlich Mitternacht geworden. »So«, sagte Ferris zu Sullivan. »Ihr könnt euch zurück nach Plymouth schleichen. Morgen liegt ihr wieder an der Pontoon Pier.« Sullivan erwiderte: »Ja, und ich werde mir noch schwer überlegen, ob ich Sir John so einfach laufenlasse. So oder so wird er sich für die Geschehnisse zu verantworten haben.« »Das ist mal sicher«, sagte Big Old Shane. »Aber hütet euch vor diesem Schlitzohr. Ihr habt ja jetzt gemerkt, was für ein rabenschwarzes Aas er ist.« »Er sagte, du hättest seinen Sohn auf dem Gewissen.« »John Malcolm?« Shane nickte. »Ja, ich leugne es nicht. Schon damals, als Hasard nach Arwenack zurückkehrte und sie ihn in den Kerker sperrten, schwor ich, John Malcolm eines Tages den Hals umzudrehen. Er schlug diese Warnung in den Wind. Er wollte zusammen mit seinem Alten den Seewolf töten - einen Wehrlosen. Da fuhr ich aus der Haut. Ich weiß,
daß meine Tat noch einiges nach sich zieht, aber ich bin bereit, alle Folgen zu tragen. Alle.« »Auch ein Todesurteil?« fragte Feeney. »Auch das.« »Du bist ein ganzer Kerl«, sagte Feeney. »Man trifft viele Spitzbuben und Halunken, selten aber einen aufrechten Mann.« Big Old Shane lächelte nur grimmig. Was hätte er auch darauf erwidern sollen? Ein Mann stand für seine Taten ein, oder er taugte nichts. »Wohin segelt ihr?« wollte Sullivan wissen. »Wir runden Cornwall und suchen uns zwischen Port Isaac und Hartland Point einen Schlupfwinkel, in dem wir uns verbergen können«, antwortete Ben Brighton. »Könnt ihr nicht mit uns nach Plymouth zurückkehren?« Sullivan blickte ihn an. »Wir würden euch helfen, daß ihr nicht belästigt werdet. Zusammen sind wir stärker.« Ben lächelte. »Ich danke dir für das Angebot. Aber es gibt Dinge, denen wir ziemlich machtlos gegenüberstehen. Nimm das Intrigenspiel eines Burton, eines Keymis oder eines Sir John Killigrew - was willst du dagegen ausrichten? Einmal haben wir uns unter Androhung des offenen Kampfes vor den Friedensrichtern und der Stadtgarde zurückziehen können. Ob das ein zweites Mal klappen würde, weiß ich nicht.« »Unsere Wege trennen sich also?« »Ja, Sullivan.« »Vielleicht sehen wir uns einmal wieder.« »Vielleicht.« Ben drückte ihm die Hand. »Alles Gute, Sullivan.« Dann kehrte er über die Gangway auf sein Schiff zurück. Ferris Tucker, Will Thorne und all die anderen von der Seewolf-Crew gingen ebenfalls. Feeney blickte ihnen nach, »Ehrlich gesagt: Jetzt, nachdem ich sie kennengelernt habe, tut es mir leid, daß sie abrücken. Das ist wirklich ein außergewöhnlicher Haufen. Weißt du, was mir klargeworden ist, Sullivan? Nur eine solche Crew konnte
um die halbe Welt reisen, einen sagenhaften Schatz erbeuten und auch heil damit nach England zurückkehren. Schade, daß ihr ein so mieser Empfang bereitet wurde. Wirklich schade. Sie haben’s nicht verdient.«
7. Sullivan ließ drüben auf der ›War Song‹ die Gangway einholen. Die Festmacher zwischen den beiden Schiffen wurden losgeworfen, dann löste sich die Karavelle von der ›Isabella‹ und setzte die Segel. Bei immer noch aus Nordwesten einfallendem Wind segelte sie nach Ostnordost davon. Die Schaluppe war längsseits der Backbordseite der ›Isabella‹ gegangen. Gary Andrews, Al Conroy, Matt Davies und Stenmark waren aufgeentert und hatten mittlerweile auch ausführlich erzählt, was sich seit ihrem Fortgang von der ›Isabella‹ im Hafen von Plymouth zugetragen hatte. »Gut«, sagte Ben Brighton jetzt. »Wir können die Schaluppe nicht an Bord nehmen, dazu ist sie zu groß. Ich will sie aber auch nicht aufgeben.« »Sie könnte uns noch von Nutzen sein«, sagte Gary. »Eben. Natürlich könnt ihr während der ganzen Fahrt nicht nur zu viert an Bord der Schaluppe bleiben. Wir bemannen sie stärker.« »Aber es mangelt dir auf der ›Isabella‹ doch schon an Leuten«, wandte Matt Davies ein. »Sie ist so und so zahlenmäßig unterbesetzt. Was ändert es schon, wenn ich ein paar Mann mehr oder weniger habe? Ed!« Carberry, der auf der Kuhl und dem Quarterdeck das große Aufklaren nach dem Kampf leitete, wandte den Kopf. »Ed, du übernimmst ab sofort die Führung der Schaluppe. Suche dir noch drei Männer aus, die du außer Al, Gary, Matt
und Stenmark mit hinüberwechseln läßt.« »Aye, aye. Jeff Bowie und die beiden Holländer«, entschied der Profos schnell. Wenig später enterten sie auf die Schaluppe ab. Dann trennten sich beide Schiffe voneinander, und sowohl die Schaluppe als auch die Galeone setzten ihre Segel, gingen auf Westkurs und liefen über Backbordbug ihrem unbestimmten Ziel entgegen. Die Stunden verstrichen rasch. Am Morgen wechselte der Wind auf West, und die beiden Schiffe mußten kreuzen. Es war eine beschwerliche Art zu segeln: zwei Schritt vor, einen zurück. In der folgenden Nacht aber sprang der Wind glücklicherweise wieder um und wehte aus nördlichen Richtungen. Am nächsten Tag fiel er immer noch aus Norden ein. Die ›Isabella V.‹ und die zweimastige Schaluppe hatten bis zum Abend wieder ein ansehnliches Stück Strecke zurückgelegt. Sie standen südlich von Falmouth vor Lizard Head, dem südlichsten Zipfel Englands. * In der Nacht enterte Jean Ribault wieder in den Hauptmars auf. Er hatte sich einen kleinen Beutel voll Rosinen in die Tasche gesteckt. Arwenack mußte es geahnt oder gerochen haben - jedenfalls hockte auch er bald wieder bei dem Franzosen im Großmars. Er saß ganz ruhig, nahm nicht den Blick von Jean und bohrte sich angelegentlich in der Nase. »Mon ami«, sagte Jean seufzend. »Du hast die Erziehung nicht gerade mit Löffeln zu dir genommen. Oder anders gesagt, du hast ein saumäßiges Benehmen.« Arwenack ließ ein beunruhigtes Grunzen vernehmen. Jean hob mahnend den Zeigefinger. »Siehst du, ich bin ein adliger Hugenotte, falls dir das noch niemand verraten hat.
Nach der Bartholomäusnacht verließ ich Frankreich und wurde Abenteurer. Deswegen habe ich aber nicht meine Herkunft abgelegt, und es liegt mir fern, sie zu leugnen.« Der Schimpansenjunge legte den Kopf schief. Er vergaß, in der Nase zu bohren. Er legte die Stirn in Falten und gab sich alle Mühe, etwas von Jeans Vortrag zu verstehen. »Brav«, sagte Jean. »Sehr brav. Es mangelt dir also nicht an Intelligenz, mon ami. Weißt du, in gewisser Weise bist du sogar weniger schwer von Begriff als der Kutscher. Wirklich. Ich bin ein Gourmet - ein Feinschmecker. Aber der Kutscher, allmächtiger Gott im Himmel, hat es bis heute nicht fertiggebracht, meinen Anforderungen gerecht zu werden. Wie findest du das?« Arwenack schnaufte. Wie gern hätte er die Menschen verstanden. Seine Menschen auf seinem Schiff. Er betrachtete die ›Isabella‹ als sein Eigentum, und wer sie kriegerisch betrat, der kriegte eine Kokosnußschale auf den Kopf gepfeffert - oder einen Belegnagel. Ansonsten, seine Menschen konnte er wirklich gut leiden, und sie leisteten ihm so nett Gesellschaft. Aber sie waren zu kompliziert. Sicher, irgendwie schienen sie verwandt mit ihm zu sein, aber die Laute, die sie von sich gaben, waren für einen Affen das allerschlimmste Kauderwelsch. »Ich danke dir, daß du mit dem Nasebohren aufgehört hast«, sagte Jean. »Dan wird es nicht glauben, daß wir uns so gut verstehen.« Arwenack grunzte besorgt. Jean lächelte und griff in die Tasche. Arwenack hatte keine Sprache, aber er wußte sich zu verständigen. Als Jean ihm jetzt Rosine um Rosine in die aufgehaltenen Affenhähde schüttete, nahm sein Gesicht einen zufriedenen Ausdruck an. »Du bist kein Gourmet«, sagte Jean. »Du hast es leicht.« Er stand auf und hielt Rundblick. Mit dem Spektiv ließ sich in der Nacht kaum etwas anfangen, es sei denn, der Mond
schickte sein Licht aus oder irgendwo gab es eine andere Helligkeitsquelle, die man anvisieren konnte. Wolken verdeckten den Mond, aber sie waren nicht mehr so dicht wie in der Nacht, als sie gegen die ›War Song‹ gekämpft hatten. Jean wußte, daß sie, wenn sie noch ein Stückchen weiter nach Süden gezogen waren, die blasse Scheibe des Mondes freigeben würden. Was brachte die Nacht? Würde sie so ruhig wie die vergangenen bleiben? Vor Überraschungen war man nie sicher. Ständig mußte man auf der Hut sein. Ein Ausguck war ein miserabler Ausguck, wenn er nicht wie ein Luchs aufpaßte. Wie oft hatte der Seewolf spanische Galeonen überfallen, deren Ausguck schlief. Die Folgen waren für die Spanier immer fatal gewesen. Und: Hatten Hasard und seine Männer nicht schließlich selbst böse Erfahrungen mit einem schlechten Ausguck gemacht? Patrick O’Driscoll hatte auf Cayman Grae Landwache geschoben, während sie mit der ›Isabella V.‹ vor dem Inselchen südlich von Kuba geankert hatten. Dann hatte sich Caligu, der Pirat, mit seiner Karavelle vorbeigeschlichen. O’Driscoll hatte auf seinem Posten gepennt, und Caligu war ungesehen vorbeigezogen. Hätte sie dann Valdez, der tapfere spanische Soldat, nicht in der Nacht gewarnt, wäre Caligu mit seinen Schurken über sie hergefallen und hätte sie niedergemetzelt. O’Driscoll war zu den Piraten übergelaufen und später im Kampf gefallen. Jean dachte an dies und anderes und hielt die Augen offen. Man mußte im Leben Lehrgeld bezahlen. Erfahrungen waren dazu da, daß man sie sinnreich anwendete. Arwenack zupfte ihn am Stiefel, weil er mehr Rosinen haben wollte, aber Jean Ribault stand plötzlich stocksteif. Da, im Süden, war da nicht etwas? Er glaubte einen Funken gesehen zu haben. Rasch hob er doch das Spektiv ans Auge. Durch die Optik erkannte er, daß es sich bei dem Funken um die Laterne
eines Schiffes handelte. Die Wolken gaben den Mond frei. Jean hatte mehr Licht und das Schiff segelte näher heran. Dann schluckte der Franzose ein paarmal heftig. Im Kieker gewahrte er ein zweites Licht, dann ein weiteres, und allmählich ließen sich die Konturen mehrerer Schiffe erkennen. »Deck!« rief er. »He, pennt ihr denn alle?« »Du träumst wohl«, gab Blacky von der Kuhl zurück. »Was ist los? Hast du Wanzen im Großmars?« »Schlamassel, Blacky. Von Süden ziehen Schiffe heran.« »Himmel - wie viele?« »Warte. Sie segeln in Kiellinie. Ich sehe zwei dicke Galeonen und zwei, nein, drei Karavellen.« »Engländer?« »Das weiß der Teufel.« Ben Brighton und Ferris Tucker waren auf den Beinen, ebenso Big Old Shane und der alte O’Flynn. Sie hatten mitgehört, was Jean und Blacky sich zugerufen hatten. Ben begab sich aufs Achterdeck, zog das Spektiv auseinander und blickte hindurch. Nur ganz schwach vermochte er an der südlichen Kimm zunächst einen grauschwarzen Schatten und dann ein Licht zu erkennen. »Die Schiffe kreuzen gegen den Nordwind«, sagte er. »Bald sind sie näher heran und entdecken uns, wie wir sie entdeckt haben. Ferris, lösche bitte die vordere Laterne, ich kümmre mich um das Hecklicht. Es ist in jedem Fall klüger, wenn wir unsichtbar werden.« »Aber wie kriegen wir ‘raus, ob das Freund oder Feind ist?« fragte der alte O’Flynn mit einem besorgten Blick nach Süden. »Wir Wahrschauen die Schaluppe und schicken sie vor«, sagte Ben Brighton. »Sie ist klein genug, um nicht gleich gesehen zu werden. Außerdem ist sie schnell und wendig und kann sich gleich wieder verholen, wenn sie die Herkunft der fremden Schiffe erforscht hat.«
Shane trat ans Steuerbordschanzkleid des Achterdecks. Er steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Drüben auf der zweimastigen Schaluppe regte sich etwas. Profos Carberry hob die Hand zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Die Schaluppe segelte in Luv der ›Isabella‹, und zwar rund eine Kabellänge von ihr entfernt. Carberry ließ jetzt abfallen und näherte sich der Galeone. »Ed«, rief Ben. »Jean hat fünf Schiffe gesichtet, die von Süden heransegeln. Ihr habt mit der Schaluppe die besseren Möglichkeiten, euch anzupirschen und wieder zu verdrücken. Seht nach, um was für Landsleute es sich da handelt.« »Wird erledigt«, gab Carberry zurück. * »He«, sagte Ed Carberry. »Seid ihr wach, ihr alten Rübenschweine?« »Hellwach«, erwiderte Gary Andrews., Matt Davies erschien in der Luke des Kajütenniederganges und sagte: »Was ist denn los?« »Nimm dir die Petersilie aus den Ohren«, schnappte Carberry. »Kannst du mich hören?« »Nicht, wenn du so flüsterst«, sagte Matt grinsend. »Wir gehen platt wie eine Flunder vor den Wind«, brüllte der Profos, daß es bis zur ›Isabella‹ hinüber zu vernehmen war. »Und daß ihr gesengten Säue mir bloß keinen Lärm macht. Wir spüren nämlich einen Schiffsverband auf, falls ihr das noch nicht kapiert habt.« »Hier lärmt bloß einer«, nörgelte Matt Davies, aber er hütete sich, zu laut zu sprechen. Solange Carberry schrie, war er gesund, aber er konnte auch verdammt grantig werden, wenn ihm jemand Kontra gab. Die kleine Schaluppen-Crew ließ die ›Isabella‹ an sich
vorüberrauschen, dann fiel sie ab und klüste vor dem frisch bis handig blasenden Nordwind nach Süden. Natürlich brannte kein Licht an Bord, und bald wurde auch kein Ruf mehr ausgestoßen, denn sie waren dem Verband binnen kurzem so nahe, daß sie sich leicht hätten verraten können. Sogar Carberry schaffte es, sein Organ zu dämpfen. »Zwei dicke Galeonen und drei Karavellen«, raunte er Al Conroy und Gary Andrews zu. »Der Henker mag wissen, wer sie sind und was sie wollen, doch eins steht fest: Sir John ist es nicht. Schließlich kann der nicht zaubern - nach Plymouth zurückkehren, in aller Eile einen kleinen Konvoi zusammenstellen und uns dann nachjagen.« »Unmöglich«, pflichtete Gary ihm bei. »Aber auch Burton konnte es nicht schaffen, uns zu folgen und den Weg abzuschneiden. Nein, das Zusammentreffen hier erfolgt ganz zufällig.« »Na schön«, flüsterte Matt. »Aber wer sind die Burschen?« Carberry hantierte mit dem Kieker, aber durch die Optik ließ sich wenig erkennen. Die beiden breiten, behäbigen Galeonen führten den Verband an. Sie wirkten klotzig und fast ein bißchen unheimlich. Carberry sah auch die drei Karavellen in ihrem Kielwasser, denn gerade segelte der Verband einen Kreuzschlag nach Nordwesten, über Backbordbug also. Eine halbe Meile, so schätzte der Profos, trennte sie noch von den Schiffen. »Matt, du Schlaumeier«, brummte Carberry. »Woran erkennt man ein spanisches Schiff?« »Du meinst ...« »Gar nichts meine ich. Antworte auf meine Frage.« »Also, es gibt da Unterschiede in der Bauweise.« »Bei Nacht sind alle Katzen grau.« »Und die Dons, diese eingebildeten Kastanienfresser, führen an jedem Schiff ein Holzkreuz, das unter der Galion baumelt weil sie doch so gläubig sind.«
Carberry fluchte. »Glaubst du, man kann bei Nacht Holzkreuze baumeln sehen? Dann hättest du ja gleich vorschlagen können, nach den Flaggen der Kähne zu äugen, du Aal.« »Darf ich mal?« fragte Gary. Carberry händigte ihm bereitwillig den Kieker aus. Gary beobachtete eine Weile. Seine sieben Kameraden schwiegen und blickten Steuerbord voraus zu dem schemenhaft dahinziehenden Verband. Gary peilte eine Positionslaterne auf der Führergaleone an, und dann, ganz unversehens, entdeckte er gleich neben dem Licht etwas matt Blinkendes. »Da haben wir’s«, stieß er hervor. »Ein spanischer Helm. Da, noch einer! Jetzt haben sich die Philipps verraten. Auf den Galeonen fahren spanische Soldaten, verdammt noch mal.« »Hab ich’s doch gewußt«, sagte Matt Davies - und handelte sich einen Seitenblick von Carberry ein. Der Profos schnitt eine Grimasse, als wolle er den guten Matt mit Haut und Haaren fressen. »Was haben die vor, diese miesen Hunde?« fragte Piet Straaten. Carberry schnaufte erbost. »Könnte sein, daß sie nach Irland segeln. Wäre ja nicht das erste Mal. Oder sie planen ein Landeunternehmen, womöglich wieder auf Falmouth. Wir werden ja sehen, wohin sie sich wenden, diese miesen Kakerlaken, Rübenschweine und Kanalratten.« Die Männer blickten sich an. Was der Profos da ausgesprochen hatte, war wirklich keine reine Utopie. Im November 1578 hatten die Spanier Falmouth überfallen und den halben Hafen zerstört. Sie hatten Gefangene abgeführt, und Sir John hatte seelenruhig dabei zugesehen. Er hatte sich damals auf Arwenack eingeigelt und nicht im entferntesten daran gedacht, für die anderen einen Finger zu krümmen. So waren die Gefangenen zunächst nach Spanien und dann
über den Atlantik in die Neue Welt gebracht worden. Die Gruppe von Unglücklichen hatte aus dem alten O’Flynn, Shane, Baldwin Keymis sowie fünf Fischern, drei Handwerkern, Stallknecht Dick Stable und Stadtschreiber Robert Rowe bestanden. Und ein Mädchen war dabeigewesen: Gwendolyn Bernice O’Flynn, die heute Killigrew hieß und eine junge Frau geworden war. Dem alten O’Flynn war die Flucht mit einem Beiboot gelungen, bevor die Reise im Kerker von Santo Domingo, Hispaniola, endete. Von dort aus sollten die Gefangenen später zur Zwangsarbeit ins Inselinnere verfrachtet werden. O’Flynn aber war durch puren Zufall auf die ›Isabella‹ gestoßen, mehr tot als lebendig. Ferris Tucker hatte ihm neue Krücken gezimmert, der Kutscher hatte ihn wieder hochgepäppelt, und dann hatten sie alle Mann den Kerker von Santo Domingo gestürmt und die Landsleute befreit. Im Nachhinein bereute die Crew der ›Isabella‹ nur eins - daß sie Baldwin Keymis, dieses falsche Aas, nicht auf Hispaniola zurückgelassen hatten. Ein bißchen Zwangsarbeit hätte ihm gutgetan. Bahnte sich jetzt etwas Ähnliches an wie im November 1578? * Jan Ranse hatte den Kieker zur Hand genommen. Er kauerte im Bug der Schaluppe und hielt nach dem Verband Ausschau. »Zappenduster«, sagte er plötzlich. »Die Dons haben die Lichter gelöscht.« »Was soll das denn?« sagte Jeff Bowie. »Sie gehen über Stag und kreuzen nach Nordosten«, sagte der Holländer. »Wenn die nach Irland wollten, hätten sie längst ganz nach Westen geschwenkt«, erklärte Gary Andrews. »Somit wird wahrscheinlich, was Ed gemeint hat.« »Was tun wir?« fragte Al. »Kehren wir zur ›Isabella‹ zurück
und warnen Ben?« »Nein«, erwiderte Carberry. »Ben weiß schon selbst, was er zu tun hat. Er wird seinen Kurs weiter nach Osten verlegen und vor tintenschwarzer Nacht auf Parallelkurs mit dem Verband laufen, ohne daß die Philipps ihn entdecken. Wir bleiben so dicht wie möglich an den Spaniern und sehen, was sie unternehmen!« »Wie die Zecke am Hintern einer Kuh«, sagte Matt Davies. »Verflucht, du wiederholst dich«, sagte Stenmark. Die Fahrt verlief fortan schweigend, alles konzentrierte sich auf die Verfolgung des spanischen Schiffsverbandes. Und wie die Schaluppe von Sir John auf der ›War Song‹ nicht gesichtet worden war, so bemerkten jetzt auch die Dons nicht, daß ihnen jemand auf den Fersen saß. Etwa eine Stunde verging, dann sagte Carberry: »Also, Lizard Head liegt längst Backbord achteraus. He, Jan, du holländischer Dickschädel, kannst du schon Land sehen?« »Nein, Sir.« »Und doch«, sagte Carberry düster. »Die Gegend hier kommt mir so bekannt vor.« »Gegend?« wiederholte Jeff Bowie verwundert. »Wie kannst du von Gegend sprechen? Rundum ist nur verdammtes, schwarzes, salziges Seewasser, und man sieht kaum die Hand vor Augen, wenn der Mond weg ist.« »Du bist eben nicht in Cornwall zu Hause«, meinte Gary. »Na dann«, erwiderte Jeff ziemlich verdrossen. »Dann verrate mir doch mal, wo wir uns befinden.« »Ich will nicht mehr auf die ›Isabella‹ zurückkehren, wenn wir nicht bald in Falmouth sind«, sagte Gary Andrews. Etwas später meldete Jan Ranse: »Der Verband wird langsamer und zieht eine Schleife nach Nordwesten, Holla, jetzt geien die Dons die Segel auf, wenn mich nicht alles täuscht.« »Gary«, sagte Carberry. »Noch dichter ‘ran an die
Halunken.« »Land«, verkündete der Holländer wenige Augenblicke darauf. »Und ich sehe auch eine Burg.« Carberry nickte. Seine Miene war grimmig. »Na bitte, Jeff, du alter Stinkstiefel. Da haben wir’s. Die Burg heißt Pendennis Castle, und sie wurde von dem alten Hurenbock Heinrich VIII., Elizabeths Vater, errichtet, falls dich jemand fragt. Sie steht auf einer zipfeligen Spitze, die in die Falmouth Bay ragt. Dahinter verläuft in Ost-West-Richtung die schlauchartige Mündungsbucht des Fal.« »Somit liegt der Fall klar«, sagte Al Conroy. »Die Dons überfallen wieder Falmouth, und diesmal gelingt es ihnen vielleicht auch, die Feste Arwenack zu stürmen.« »Geschieht Sir John ganz recht«, meinte Matt Davies. »Stimmt«, sagte Carberry, »aber deswegen können wir noch lange nicht zulassen, daß die Spanier in aller Seelenruhe an Land gehen, Häuser niederbrennen, Menschen töten und plündern.« Der Mond zeigte sich in einem Wolkenloch. Gespannt blickten die Männer über das Backbordschanzkleid der Schaluppe und gewahrten, wie der Verband allmählich stoppte. Kurz darauf konnten sie nicht nur sehen, sondern auch hören, wie Bug-und Heckanker der Schiffe an ihren schweren Trossen ausrauschten und ins Wasser klatschten. Carberry, ließ sich den Kieker geben. So wurde er Zeuge, wie die Spanier Beiboote abfierten. Sie belegten Jakobsleitern an den Oberkanten der Schanzkleider, dann enterten reihenweise Soldaten ab und besetzten die Boote. Carberry sah noch etwas anderes und kriegte mit einem Mal beinahe Stielaugen. »Jetzt hört aber alles auf!« stöhnte er. »Die mannen Fässer in die Boote - Pulverfässer. Himmel, Arsch und Zwirn, die wollen Pendennis Castle in die Luft sprengen. Gary, dreh nach Steuerbord! Wir setzen Vollzeug und rauschen mit achterlichem Wind zur ›Isabella‹ zurück. Ich will doch hier
nicht hocken und Daumen drehen, während der Feind England besetzt.«
8. »Deck!« rief Jean Ribault aus dem Hauptmars der ›Isabella‹. »Die Schaluppe läuft von Backbord voraus auf uns zu.« Ben Brighton trat gespannt ans Schanzkleid des Achterdecks. Er sichtete die Schaluppe. Sie wirkte wie ein Schwan, der die Fluten teilt. Rechtzeitig vor der Galeone luvte sie an und ging dann fast ganz in den Wind, um Fahrt zu verlieren. Sie glitt auf Rufweite heran. Edwin Carberry stand am Schanzkleid bereit. »Hölle und Teufel!« rief er. »Die fünf Schiffe sind Spanier, und sie haben vor Pendennis Castle geankert, um es mit Pulver in die Luft zu jagen.« »Verdammt«, sagte Shane. »Die Dons werden immer rotznäsiger.« »Haben die denn keinen Respekt?« Der alte O’Flynn spuckte aus. »Teufel, das ist ja gerade so, als wären wir Leute von Cornwall eine Hammelherde, in die man nur einzufallen braucht und reißen kann, was man will.« »Nur der Oberhammel läßt sich nie erwischen«, sagte Shane düster. »Sir John?« O’Flynn lachte auf. »Ho, dem würde ich es natürlich gönnen, wenn die Spanier ein bißchen an seinem Besitz rupften.« Ben Brighton erwiderte: »Eines Tages werden die Spanier versuchen, England ganz zu besetzen und zu vereinnahmen, auf London zu marschieren und die Königin zu unterwerfen.« »Mann, mal bloß nicht den Teufel an die Wand«, sagte Ferris Tucker. »Sie brauchen dringend eine Lektion«, sagte Ben. »Wir greifen sie an!«
Die Männer auf der Kuhl stießen Beifallsrufe aus, und auch drüben auf der Schaluppe wurde gejohlt. Ben hatte seine Bedenken, was die Kampfbereitschaft und Manövrierfähigkeit der ›Isabella‹ betraf - immerhin war die Mannschaft nun noch weiter zusammengeschrumpft und stellte nur noch ein Häufchen dar: siebzehn Mann auf einer Galeone dieser Größe! Dennoch, es gab nichts, das ihn zurückhielt. »Wir kaufen uns die Spanier«, sagte er. »Unser Einsatz wird in jedem Fall etwas nutzen, ganz gleich, wie er verläuft. Wir warnen durch unser Feuer ja die Burgbesatzung von Pendennis Castle.« Shane rieb sich die riesigen Hände. »Ja, wir werden für Aufstand sorgen. Batuti, bist du bereit zum großen Wettschießen?« Und Batuti, der schwarze Herkules, gab von der Kuhl zurück: »Ja. O Mann, Batuti kaum erwarten kann, daß Dons die Jacke vollkriegen.« »Ferris«, sagte Ben. »Du nimmst Carberrys Platz ein. Aber die Männer wissen ja auch so, was sie an den Geschützen zu tun haben.« Ferris grinste. »Nun, ich werde ihnen was vorbrüllen, sonst fehlt ihnen die übliche Begleitmusik.« Er verließ mit Big Old Shane das Achterdeck, und auch O’Flynn schloß sich ihnen an. Ben blieb allein auf dem Achterdeck zurück. Er beugte sich über die Holzbalustrade, die den Querabschluß zum Quarterdeck bildete. »Pete, wir nehmen Kurs nach Westen auf die Falmouth Bay zu!« »Aye, aye, Kurs nach Westen«, wiederholte Pete Ballie. Wenig später segelten die beiden so unterschiedlichen Schiffe bei halbem Wind westwärts. Die Schaluppe hielt wieder die Luvposition. Die ›Isabella V.‹ pflügte die See und schob eine breite Bugwelle vor sich her. Während ein Drittel der Crew, also sechs Mann, mit den Segeln beschäftigt war, bewegte sich der Rest in aller Eile über Deck und suchte die
Gefechtsstationen auf. »Schiff klar zum Gefecht!« brüllte Ferris Tucker. »Wollt ihr wohl laufen, ihr Rübenschweine und Affenärsche? Braucht ihr vielleicht eine Sondereinladung? Los, los, der Kutscher ist nicht an Bord. Karl, du streust Sand aus und füllst die Holzkübel für die Wischer mit Seewasser. Löst doch die verdammten Brooktaue und zieht die verfluchten Stückpforten hoch.« Er wandte den Kopf. »He, Batuti, willst du wohl die Großschot dichter holen oder sollen wir deinetwegen langsamer laufen? Nils Larsen, ich zeige dir gleich, wie man fachgerecht ein Fall klariert, du eingepökelter Hering!« Smoky, der Decksälteste, grinste amüsiert. Sam Roskill war neben ihm und sagte: »He, findest du nicht, daß er ein bißchen übertreibt mit dem Gewetter?« »Er glaubt, wir sehnen uns nach Carberrys lieblicher Stimme«, sagte Smoky. Ben Brighton kontrollierte den Stand der Segel und gab Pete eine geringe Kurskorrektur an. Carberry und die anderen auf der Schaluppe kannten die Richtung,. die sie nehmen mußten, aber Ben benötigte keine Führung, er kannte sich auch so aus und wußte, wo ihre Position war und wo genau Pendennis Castle lag. Und gegenüber den Spaniern hatte er zwei Vorteile. Erstens ankerten sie und waren also manövrierunfähig. Die ›Isabella‹ und die Schaluppe hingegen konnten zwischen dem Verband hindurchsteuern, wie sie wollten. Zweitens würde der Angriff überraschend erfolgen, denn die Dons ahnten ja nichts von dem Feind im Dunkel. Beides waren unschätzbare Vorteile, die Ben ausnutzen mußte. Er wollte gleich zu Beginn die beiden dicken Galeonen angreifen und die Breitseiten der ›Isabella‹ einsetzen. Und die Drehbassen? Die Crew hatte vollauf mit den zwei Dutzend Culverinen zu tun. Es gab ja nicht einmal genügend Männer auf der Kuhl, auf jeden Kopf kamen zwei 17-Pfünder.
Niemand von ihnen konnte sich um die zehn drehbaren Geschütze auf der Back und dem Achterkastell kümmern. Ben Brighton begann, die Drehbassen eine nach der anderen zu laden. * Blacky schuftete wie ein Besessener. Er hatte die zwei Culverinen an der Backbordseite der Kuhl, für die er nun zuständig war, in Ladestellung gebracht. Ihre Rohre schoben sich durch die geöffneten Stückpforten und schauten drohend in die Nacht. Sie lehnten mit den Vorderkanten ihrer Eichenholzlafetten direkt an der Innenseite des Schanzkleides. Die Zugtaljen, die sie hinten festhielten, bis der Ladevorgang beendet war und verhinderten, daß sie nach vorn ausbrechen konnten, und die anderen Taljen, die sie am Zurückrollen hinderten, waren ordnungsgemäß angebracht. Jetzt lud Blacky. Es war eine vertrackte Arbeit. »Vier Hände müßte man haben!« rief er. »Oder die Ladekammer müßte sich in zwei Stücke teilen können, zum Teufel. Ist das eine Klotzerei!« »Mecker doch nicht«, gab Ferris zurück. Er hatte sich die beiden Geschütze links neben Blacky vorgenommen und arbeitete ebenfalls im Schweiße seines Angesichts. »Wenigstens kriegen wir keine Langeweile.« »Ja. Aber wir müßten dringend mal ein paar Kerlen an Land auflauern und sie für unser Schiff pressen. Wie hat es denn Drake gemacht, als es ihm seinerzeit an Besatzungsmitgliedern für seine ›Marygold‹ mangelte? Geschnappt hat er uns und nicht lange gefragt, ob wir einverstanden wären. Im Handumdrehen wurden wir auf die ›Marygold‹ geschleppt und ...« »Blacky«, fuhr Smoky dazwischen. »Hast du Strolch etwa meine Ladekelle geklaut?«
»Quatsch, ich brauche doch deine dämliche Scheißkelle nicht.« Smoky holte mit dem Borstenschwamm aus, der zum Reinigen der Geschützrohre diente. Er stand rechts von Blacky und bediente auch zwei 17-Pfünder. Als er den Schwamm niedersausen ließ, ging der Hieb ins Leere, denn Blacky hatte sich durch einen Sprung bereits zur Seite hin in Sicherheit gebracht. »Ihr Himmelhunde!« rief Ferris. »Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Was fällt euch ein? Wir spielen hier doch nicht im Sandkasten. Smoky, ich habe zwei Kellen.« Smoky holte sich die eine Kelle und murmelte dabei etwas, das wie »Hölle, Tod und Teufel« klang. Sie füllten Pulver in die Bodenstücke der Kanonen, legten die Kellen mit ihren zylindrisch geformten Kupferlöffeln weg und preßten mit den Ansetzern Wergpfropfen auf das Pulver. Die Pfropfen dienten zur Verdammung. Das Pulver entwickelte, je mehr es eingeengt wurde, bei der Explosion größere Kraft. Auf das Pulver kamen die Kugeln. Sie wurden mit weiteren Knäueln Kabelgarn in ihren Lagen festgehalten. Anschließend füllten die Männer die Zündlöcher mit Pulver und legten die Lunten bereit. »Fertig«, sagte Smoky. »Aber die Drehbassen auf der Back kümmert sich denn keiner um die?« Er schaute nach rechts zum Vorkastell hinauf. Dort stand kein Mann. Ferris schlug vor: »Blacky und ich könnten deine 17-Pfünder mit übernehmen, und du steigst unterdessen auf die Back.« »Ist gut.« »Vergiß die Kelle nicht!« rief Blacky - und entging gerade noch rechtzeitig einem neuen Schwammhieb. Smoky rückte ab, hetzte den Niedergang zur Back hinauf und nahm sich die vier Drehbassen vor. Blacky rückte nach rechts, so daß er die beiden Culverinen von Ferris und eine der von ihm selbst geladenen unter Kontrolle hatte. Ferris tat auch ein
paar Schritte nach rechts und wachte nun - außer über seine beiden vorherigen Kanonen - auch über eine von Blackys 17 Pfündern. Jean Ribault war auf Ben Brightons Befehl hin aus dem Hauptmars abgeentert. Shane besetzte den vorderen Ausguckposten und legte seinen Bogen und den Köcher mit Pfeilen bereit. Arwenack schnappte sich seine leeren Kokosnußschalen und turnte mit beispielslosem Geschick zum Fockmast hinüber. Shane blickte angestrengt voraus. Als sich eine dichte Wolkenbank nach Süden verzog und den Mond freisetzte, erkannte er dort, wo man bei Nacht sonst die Kimm nur vermuten konnte, einen horizontalen Strich, schwarz inmitten des bleiernen Blauschwarz der Nacht. »Land«, verkündete er den Männern. »Wir haben Pendennis Castle vor uns. Und, mich laust der Affe, da sind ja auch die beiden Galeonen und die drei Karavellen der Spanier!« Ben Brighton hatte seine Tätigkeit an den Drehbassen des Achterdecks vorläufig abgeschlossen. Er kehrte kurz an die Five-Rail zurück und rief: »Batuti! Sofort ab in den Hauptmars!« »Aye, aye, Sir.« Der Gambia-Neger setzte sich in Trab, sprang auf das Steuerbordschanzkleid der Kuhl, turnte über die Rüsten der Hauptwanten und enterte dann gewandt wie ein schwarzer Panther auf. Den großen Bogen hatte er sich über die Schulter geschoben. Der Köcher schlug gegen seinen Oberschenkel. »Ferris!« rief Ben. »Alles klar. Das Schiff ist feuerbereit.« »Und die Drehbassen auf der Back?« »Auch klar«, entgegnete Smoky. »Donegal!« »Was gibt’s, Sir?« rief der alte O’Flynn von unten. »Kommst du zurecht?« fragte Ben.
Der Alte trat mit seinem Holzbein gegen das Schanzkleid, daß es krachte. »Hör mal, ich bin doch kein Tattergreis. Na schön, Karl hat mir beim Laden dieser verdammten, bockigen 17-Pfünder geholfen, aber zünden kann ich die Ladungen selbst. Was ist, geht es jetzt endlich rund?« »Ja«, sagte Ben. So rauschten die ›Isabella V.‹ und die Schaluppe aus dem dunklen Horizont unter allen Segeln und gefechtsbereit auf die ankernden Schiffe der Spanier zu. An den Galeonen und Karavellen herrschte nach wie vor geschäftiges Treiben: Boote wurden bemannt und beladen. Ben sah es mit bloßen Augen, als sie mit der ›Isabella‹ auf gut eine Kabellänge an den Feind heran waren. »Na wartet«, sagte er leise. Die beiden fetten spanischen Galeonen lagen mit den Hecks zum Land und zeigten der ›Isabella‹ also ihre Vorsteven. Ben kalkulierte eiskalt. Reichte der Abstand zwischen den Schiffen aus, um seine Galeone durchzulassen? Er genügte ... »Pete, zwei Strich Steuerbord.« »Zwei Strich Steuerbord, Sir.« »Donegal, auf keinen Fall zu früh schießen. Wartet den richtigen Zeitpunkt ab. Wir schlagen zu, wenn wir mitten zwischen ihnen sind. Gib das weiter!« Der alte O’Flynn raunte es Karl von Hutten zu, und von Hutten gab es an seinen Nebenmann weiter. Die Meldung lief bis nach vorn zu Smoky und wieder an der Backbordseite zurück. Kein Ruf wurde jetzt mehr ausgestoßen, kein Fluch, kein Pfiff wurde laut. In der Totenstille, die sich unter der Crew ausbreitete, nahmen sich die Schiffsgeräusche überlaut aus: da war das Rauschen der Bugsee und das Plätschern der Wellen an den Bordwänden der ›Isabella‹, da waren das Knarren der Blöcke und Rahen und das verhaltene Summen des Windes. Dann stieß die ›Isabella‹ mitten zwischen die beiden
spanischen Galeonen. Die Hölle brach los. Alarmrufe ertönten bei den Spaniern. Drüben trappelten Schritte über Deck, Ben und seine Männer konnten es ganz deutlich vernehmen. All das Geschrei und Gepolter nutzte den Dons aber nichts mehr. Sie reagierten zu spät und schafften es nicht mehr rechtzeitig auf die Gefechtsstationen zu gelangen und die Geschütze auszufahren. Die beiden spanischen Galeonen waren zwei gigantische Schattenrisse links und rechts der ›Isabella‹. Smoky stand ganz vorn auf der Back und fieberte, den Spaniern einen Treffer zu verpassen. Er kauerte sich hinter eine der Drehbassen, es war die vorderste der Backbordseite. Die Heckgalerie der in Backbord der ›Isabella‹ liegenden Galeone zog an ihm vorbei, dann das Achterdeck, das Quarterdeck, die Kuhl ... Da waren auch die Beiboote zu sehen, die unterhalb der baumelnden Jakobsleitern schwabberten und wie Kletten an der Bordwand klebten. Es waren viele Soldaten, die sich von den Duchten aufrichteten, schrien und mit den Fingern auf die ›Isabella‹ wiesen. Es waren viele Musketen, die da hochgehoben, angelegt und schußbereit gemacht wurden. Jetzt, dachte Smoky, warum nicht jetzt? Hinter dem Schanzkleid der spanischen Galeone hantierten Männer an den Kanonen. Stückpforten fielen. Smoky sah die Back des Schiffes ins Blickfeld rücken und biß die Zähne zusammen. Warten, schön und gut, aber jetzt überspannte Ben Brighton den Bogen. Da gellte Bens Stimme über Deck. »Feuer!« Blacky, Ferris Tucker und die anderen auf der Backbordseite senkten die glimmenden Luntenenden auf die Zündlöcher ihrer Kanonen. Die Glut fraß sich durchs Zündkraut, dann brüllten die Geschütze wie urweltliche Tiere und ruckten zurück. Brooktaue hielten ihren enormen Rückstoß auf. Ihre Mündungen waren Drachenmäuler, feuerspeiende
Schlünde, die den Gluthauch des Todes ausspuckten. Die ›Isabella‹ krängte ein wenig nach Steuerbord, richtete sich aber sofort wieder auf. Und dann schrie Ben Brighton wieder: »Feuer!« Die Steuerbordbreitseite krachte. Ein doppelter Donnerschlag war zu vernehmen, denn die Männer zündeten zunächst ihre ersten, dann die zweiten Geschütze. Durch den ohrenbetäubenden Lärm hindurch waren das schrille Lachen des alten O’Flynn und - von hoch oben aus dem Fockmars das Keckem und Kreischen von Arwenack zu vernehmen. Smoky sah Feuer und Rauch, und mittendrin wirbelten Menschen, Körperteile und Trümmer wie die Fliegen durch die Luft. Er feuerte die erste Drehbasse ab und traf das Vordeck der Backbord liegenden Galeone. Männer schrien hüben wie drüben, es war die Hölle, das Unheil nahm seinen rasenden Lauf und gewährte den Gegnern keine Sekunde zum Atemholen, zur Erholung von dem heillosen Schreck, zur Besinnung. Smoky lief zur nächsten Drehbasse und zündete auch diese. Er schoß der Galeone den Bugspriet weg und sah zu, wie das Ding mitsamt der Blinde vor der Galionsfigur nach unten absackte und in den Fluten verschwand. Er sprang nach Steuerbord, feuerte die dritte Drehbasse ab und erwischte auch noch die Back der anderen Galeone. Dann war die ›Isabella‹ an dem Feind vorbei und segelte auf die Küste zu - aber für die Spanier war es noch nicht ausgestanden. Big Old Shane und Batuti waren in Aktion getreten. Sie schossen ihre Brandpfeile in wahnwitzigem Tempo ab. Wieder lieferten sie eines der Wettschießen, die an Bord der ›Isabella‹ berühmt geworden waren, seit Shane zu der Crew gestoßen war. Schon Caligu, dem Karibik-Piraten, hatten die beiden ein derartiges Gefecht geliefert. Und Caligu hatte das kalte Grausen gepackt! Dann; querab von Cap da Roca in Portugal, als sie Sir John
aus der Klemme geholfen hatten, hatten sie die Bogensehnen auch wieder surren lassen. Sie ergänzten und vollendeten das Werk der Kanonen. Die beiden spanischen Galeonen waren lahmgeschlagen. Sie hatten hohe Menschenverluste zu verzeichnen, und nun gingen auch noch ihre aufgegeiten Segel in Flammen auf. Ben Brighton war der einzige Mann der ›Isabella‹, der im Kampf bisher nicht aktiv geworden war. Er setzte die sechs Drehbassen des Achterdecks nicht ein. Er wußte, daß er sie noch im weiteren Verlauf des Gefechts gut gebrauchen konnte. Die ›Isabella‹ fiel ab, ging mit südlichem Kurs vor den Wind und passierte das Heck der durch ihre Backbordbreitseite beschädigten Galeone. Sie hielt jetzt auf zwei der Karavellen zu. Die dritte befand sich weiter nördlich, zwischen Galeonen und Küste.
9. Al Conroy kauerte wieder im Bug der Schaluppe hinter der vorderen Drehbasse. Carberry hatte sich mit der Schaluppe wohlweislich etwas zurückgehalten, als sie auf den Feind gestoßen waren. Jetzt eröffnete die ›Isabella‹ das Feuer auf die beiden Galeonen. Ben Drighton steuerte mit großem Geschick und verwegen wie der Teufel zwischen ihnen hindurch. Es krachte, daß die Trommelfelle dröhnten, und die Fetzen flogen den Spaniern nur so um die Ohren. Die Segel der Spanier begannen zu brennen, weil Ben Brandpfeile hatte abfeuern lassen. Auf der dritten Karavelle, die nördlich versetzt mit dem Heck zum Land und dem Bug zur See ankerte, hastete sofort alles an die Steuerbordseite. Carberry, einem bewährten Rezept folgend, schlich sich von der Backbordseite an. Warum sollte hier nicht funktionieren, was auch schon die ›War Song‹ in
Teufels Küche gebracht hatte? Carberry hockte gleich hinter Al. »Noch nicht, Al«, zischte er. »Bin ich des Teufels?« Sie glitten auf die dunkle Bordwand der Karavelle zu. Sie waren keine zehn Yards mehr entfernt, da ereignete sich ein Zwischenfall. Ein Spanier, mochte der Himmel wissen, warum, steckte seine Nase über das Backbordschanzkleid. Er riß Mund und Augen auf, so weit er konnte, fuchtelte mit den Armen und begann zu schreien. »Schöne Scheiße!«, sagte Carberry. »Putz ihn weg, Al.« Al senkte die Lunte auf das Zündloch der Basse. Die Ladung fuhr donnernd aus dem Lauf, raste auf den Mann zu und riß ihn von den Beinen. Sie hieb eine klaffende Bresche in das Backbordschanzkleid der Karavelle, fegte dann über die Kuhl und nahm, wie an den Schreien der Besatzung zu hören war, noch den einen oder anderen mit. Im Nu herrschte fürchterlicher Zustand auf dem Schiff. »Gary!« rief Profos Carberry. Das genügte. Gary Andrews betätigte das Ruder der Schaluppe. Sie strichen hart in Lee der Karavelle in Richtung Land und sahen die Stückpforten der Karavelle drohend neben sich. Der Schweiß brach ihnen aus - aber spät, viel zu spät waren auch hier die Spanier an ihren Geschützen. Die Schaluppe glitt hinter dem Heck der Karavelle hervor, der Nordwind fuhr in ihre Segel und brachte sie zum Killen. Carberry fluchte, Gary bearbeitete das Ruder, wie die Wahnsinnigen zerrten die anderen sechs an Brassen und Schoten. Die Schaluppe ging auf halben Wind und segelte nach Westen. Dann war Al Conroy, der am besten von allen zielen konnte, am achteren Geschütz. Er zielte und preßte die Lippen zu einem Strich zusammen. Auf der Karavelle veranstalteten die Soldaten und Seeleute ein Heidenspektakel. Für die Kanonen
befand sich die Schaluppe im toten Winkel, aber es wurden Musketen abgefeuert. Al, Gary, Carberry und die anderen zogen die Köpfe ein. Plötzlich hagelte es gehacktes Blei, Eisen und kleine Kugeln. »Bastarde, Affenärsche, Söhne verlauster Hafenhuren!« brüllte der Profos. »Wartet, wenn wir euch erwischen!« Al blieb trotz allem eiskalt. Er nahm den Kopf wieder hoch, sobald es die Lage erlaubte - und zündete die Basse. Die Stichflamme leckte aus der Mündung und stieß die Ladung vor sich her. Sie fuhr ins Heck der Karavelle und erwischte das Ruder. Al lachte, als er es zersplittern sah. »Ab durch die Mitte und nachladen«, ordnete Carberry an. »Wir haben die Hunde nicht versenkt, aber wenigstens können sie nicht mehr manövrieren.« Sie folgten dem Verlauf der Küste und sahen die ›Isabella‹, die nun zum Angriff auf die beiden anderen Karavellen des Verbandes ansetzte. * Big Old Shane sichtete das Boot mit bloßen Augen. Es wurde von der einen Karavelle wie verrückt fortgepullt. Kein Zweifel, die Spanier dort versuchten, dem Inferno zu entgehen und das Land zu erreichen. Shane sagte: »Halt dich fest, Arwenack, jetzt gibt es wieder Zunder.« Er richtete sich hinter der Segeltuchverkleidung des Vormarses auf, legte den schon glimmenden Pfeil auf die linke geballte Hand, die den Bogen hielt. Den Schaft führte er auf die Sehne zu, dann klemmte er die Sehne und das Pfeilende zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Die Flamme an der Pfeilspitze loderte auf. Shane zielte mit grimmiger Miene. Er rechnete das Absinken
des Pfeiles in der Flugbahn mit, das bei einer derartigen Entfernung gegeben war. Er fluchte im stillen, dann ließ er den Pfeil von der Sehne schnellen. Die lodernde Flamme zuckte in die Luft empor und zeichnete eine Linie in die Nacht. Sie sackte ab, fiel dem Boot entgegen und beleuchtete für eine Sekunde die Gestalten der Männer auf den Duchten. Sie pullten immer noch wie die Irren, aber sie entgingen Big Old Shanes Pfeil dennoch nicht. Die Flamme stieß mitten in das Boot. Sie traf keinen Mann, aber die Besatzung brüllte dennoch los. Und das mit gutem Grund! Was Shane erhofft hatte, trat ein. Er hatte sich ausgerechnet, daß die Spanier wahrscheinlich in dem Boot Pulverfässer an Land beförderten. Er hatte sich nicht geirrt. Eine feurige Lohe stieg urplötzlich aus dem Boot himmelan. Der gewaltige Donnerschlag erfolgte gleichzeitig, dann hob es das Boot hoch, trieb es auseinander, wirbelte seine Trümmerstücke durch die Gegend. Shane sah auch, was mit der Bootsbesatzung geschah. Er verzog keine Miene. Warum hatte er kein Mitleid? Nun, er hatte die Spanier zur Genüge kennengelernt. Sie hatten ihn in der Gefangenschaft nicht gerade verwöhnt. Sie konnten unvorstellbar grausam sein. Aber es ging ihm nicht darum, Grausamkeit mit Grausamkeit zu vergelten, sondern nur um das eine: Sie mußten es lernen, diese hochnäsigen, überheblichen Dons, daß sie nicht die ganze Welt beherrschen konnten. Es gab Grenzen, die auch sie berücksichtigen mußten. Gut, der Stärkere hatte immer recht, aber irgendwo fand auch er seinen Meister. In diesem Sinne handelte auch Hasard. Die Spanier hatten beschlossen, daß die Neue Welt mit ihren Gold- und Silberschätzen ihnen gehörte, aber warum sollte man es ihnen so leicht machen? England war, im Vergleich mit Spanien gesehen, ein armseliger Tropf und Habenichts, da war es mehr als legal, wenn er dem großen Philipp II. von Spanien etwas von seinem immensen Reichtum abzwickte und ihm
beibrachte, daß auch Engländer etwas von der Seefahrt verstanden. Und ob die ›Isabella‹-Crew etwas davon verstand! Die Wiegen der meisten Männer hatten im Gleichklang mit den Wogen der See geschaukelt, die Seefahrt war ihnen von Kind auf gleichsam in den Schoß gelegt worden. Und es mangelte ihnen auch nicht an Kampfgeist und Erfahrung - nicht, seit sie unter dem Seewolf fuhren! Die Reste des explodierten Beibootes verteilten sich auf das Wasser. Die ›Isabella V.‹ segelte mitten über die Stelle hinweg, an der es von Shanes Brandpfeil getroffen worden war. Die Culverinen und Drehbassen waren in aller Eile nachgeladen worden, aber natürlich hatten die wenigen Männer es nicht schaffen können, alle Geschütze mit Pulver und Kugeln zu füllen. Sechs Kanonen standen an jeder Seite der Kuhl feuerbereit, zwei beziehungsweise immer noch sechs Drehbassen waren es auf Back und Achterdeck. Die ›Isabella‹ schob sich zwischen Land und einer der Karavellen. Ehe der Gegner richtig begriff, daß es ihm an den Kragen ging, erteilte Ben Brighton den Feuerbefehl. Röhrend entließen die 17-Pfünder der Backbordseite ihre Ladungen. Das Resultat war verheerend. Das Steuerbordschanzkleid der Karavelle wurde aufgerissen, einige Kugeln trafen auch tiefer in die Bordwand, ein paar Lecks entstanden unterhalb der Wasserlinie. »Volltreffer!« jubelte der alte O’Flynn. Shane grinste und ließ in rasender Folge die brennenden Pfeile von der Sehne surren. Batuti war auch wieder im Einsatz. Ein dichter Regen von Pfeilen ging auf die Karavelle nieder, und binnen weniger Sekunden stand ihre gesamte Takelage in hellen Flammen. Das Geschrei auf allen Schiffen wurde immer lauter. Das totale Chaos bahnte sich an. Die ›Isabella‹ entging dem gegnerischen Feuer. Sie stieß nach Südwesten, ließ die spanischen Schiffe und Pendennis Castle
achteraus liegen, fuhr dann eine Halse und steuerte über Steuerbordbug auf die dritte Karavelle zu, die in Lee der zweiten ankerte. Die Kugeln aus den Steuerbordgeschützen der zweiten spanischen Karavelle rasten heulend auf Land zu, richteten aber nichts an. Sie rissen nur ein paar Wasserfontänen hoch. Die zweimastige Schaluppe mit Carberry und seinen sieben Getreuen hatte nun ebenfalls die schwer angeschlagene Karavelle erreicht und gab ihr den Rest. Die ›Isabella‹ war die eherne, uneinnehmbare Festung, die sich breit und drohend zwischen den Gegnern bewegte und durch Überlegenheit in der Armierung glänzte. Die Schaluppe war ein flinker Schatten, der einfach nicht zu fassen war, ihre Stärke lag in der List und Manövrierkunst ihrer kleinen Crew. Die ›Isabella‹ rauschte hart am Wind an der dritten Karavelle vorbei und begrüßte sie mit ihrer halben Steuerbordbreitseite. Wieder flogen die Brandpfeile. Die Spanier eröffneten trotzdem das Feuer. Sie hatten am längsten Zeit gehabt, sich auf die Auseinandersetzung vorzubereiten. Die Schrecksekunden waren verflogen, jetzt antworten sie voll Erbitterung und Haß. Ben Brightons Männer lagen jählings flach auf den Bäuchen. Kugeln jaulten über sie weg. Ben Brighton kauerte auf dem Achterdeck, wartete seinen Augenblick ab und ließ dann seine Drehbassen sprechen. In einem Moment, in dem die Spanier nicht mehr damit rechneten, sandte er sechs gut gezielte Geschosse zu ihnen hinüber und richtete fast mehr damit an als die Kugeln der 17 Pfünder. Ben wandte sich von den leer geschossenen Bässen ab und lief nach vorn an die Five-Rail. Er sah jetzt, daß es die zuerst angegriffene Galeone schwer erwischt hatte. Ihr Bauch füllte sich gurgelnd mit Wasser. Sie ging auf Tiefe. Zwölf gestanzte Kugellöcher der ersten Backbordbreitseite prangten in ihrer Backbordwand. Ben hatte gesehen, daß keine Kugel ihr Ziel
verfehlt hatte. Die Galeone sank. Ihre Takelage brannte lichterloh, doch das bald über Deck sprudelnde Seewasser löschte den Brand von unten her. Die andere Galeone hing tief mit dem Heck im Wasser und legte sich langsam auf die Seite. Ben drehte den Kopf und stellte zu seiner Genugtuung fest, daß sich auf den beiden Karavellen der Brand ausbreitete. Wer auf den vier erledigten Schiffen noch überleben wollte, der sprang kopfüber ins Wasser, tauchte weg und schwamm auf das Land zu. Diese Männer ließen sowohl die Crew der ›Isabella‹ als auch die Besatzung der Schaluppe in Frieden. Die dritte Karavelle befand sich auch außer Gefecht. Ihr Kapitän hatte die Ankertrosse kappen lassen. Da aber das Ruder zerstört war, trieb das Schiff zunächst bedrohlich nahe an den Hecks der Galeonen vorbei und dann allmählich auf das Ufer zu. Sicherlich hatte der Kapitän gehofft, vom Nordwind auf die offene See gedrückt zu werden. Doch er hätte entsprechend manövrieren müssen. Da er es nicht mehr konnte, wurde seine Karavelle glatt auf eine nach Osten weisende Landzunge gesetzt. Und erst jetzt brüllten die Kanonen von Pendennis Castle auf. Ben Brighton und seine Männer sahen die Mündungsblitze zucken und hörten den Geschützdonner. Ein Kugelregen ging auf den kläglichen Rest von Soldaten nieder, die sich unter dem Kommando der spanischen Kapitäne an Land und in den letzten Beibooten versammelt hatten. »Sie kriegen ihr Fett, aber gründlich«, sagte der alte O’Flynn zufrieden. »Wir haben hier nichts mehr zu tun«, sagte Ben, »und können Pendennis Castle den Rücken kehren.« »Na dann«, sagte der Alte. »Arwenack!« »Arwenack!« riefen die Männer der ›Isabella‹, und die achtköpfige Crew der Schaluppe fiel mit ein. »Kehren wir jetzt auf die ›Isabella‹ zurück und lassen die
Schaluppe hier zurück?« erkundigte sich Matt Davies an Bord des Zweimasters. »Bist du krank?« wetterte Carberry. »Natürlich nehmen wir die Schaluppe mit. Erstens ist sie ein schmuckes Schiff, und zweitens habt ihr Kakerlaken sie doch bezahlt, was, wie?« Die ›Isabella V.‹ und die Schaluppe verschwanden wie Geisterschiffe in der Nacht. Hinter ihnen loderte als weithin sichtbares Fanal das Feuer der spanischen.Schiffe. Die Kanonen von Pendennis Castle donnerten unaufhörlich weiter. Sie rüttelten die letzten Bürger von Falmouth, die unerschütterlichen Tiefschläfer, wach, lockten sie aus ihren Häusern und läuteten den Tod der letzten kämpfenden Spanier ein. In Falmouth war alles auf den Beinen. Und einige von denen, die neugierig an die Küste geflohen waren, nahmen noch die Umrisse der fortsegelnden Retter in der Not wahr. Die Männer des Seewolfes hatten unter Einsatz ihres Lebens das Leben Hunderter von Menschen gerettet. Und sie hatten den Besitz ihres wüstesten Feindes verteidigt und beschützt, den Besitz von Sir John Killigrew. Sie wollten keinen Dank. Sie wollten die Unendlichkeit der See und die Sicherheit und Geborgenheit, die ihnen dieses großartige, unberechenbare und doch so geliebte Element bot.
ENDE
Drei irische Freibeuter von Fred McMason
Sir Freemont hat festgestellt, daß sein Haus von nicht sehr vertrauenswürdig aussehenden Kerlen beobachtet wird.
Er zweifelt nicht daran, daß sie dem Versteck des Seewolfs auf der Spur sind. Als Dan O’Flynn im Auftrag von Hasard die ›Isabella‹ aufsuchen soll, wird er prompt von einem gefährlichen Burschen verfolgt. Doch Dan greift zu einer List. Wenig später sieht er sich noch viel größeren Schwierigkeiten gegenüber. Unterdessen erleben die Männer der ›Isabella‹ eine Reihe von Abenteuern ganz eigener Art ...