Geister-
Krimi � Nr. 45 � 45
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Geister-
Krimi � Nr. 45 � 45
Alexander Ghost �
Nacktes Grauen �
2 �
Mark Dunlap erwachte durch das laute Geräusch von Hammerschlägen. Er erhob sich und stieg auf den primitiven Tisch, der unter dem einzigen Fenster des Gelasses stand, in dem er seit neun Tagen gefangen war. Das Fenster eigentlich nur eine Luke lag dicht unter der Decke des Raumes. Mark Dunlap mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um in den Burghof blicken zu können. Was er sah, ließ ihn erschauern. Zwei Männer, der eine ein Hüne von Gestalt und der andere mittelgroß, sehr schlank, fast schmächtig, waren dabei, aus Fertigteilen ein hölzernes Podest zusammenzufügen. Eine Art Bühne. Etwa zwei Yards im Geviert und ungefähr sieben Fuß hoch. In der Mitte der Plattform gab es eine Falltür. Und in der Mitte der Falltür war mit weißer Farbe ein X aufgemalt. Mark Dunlap kannte die beiden Männer, und er kannte den unauffälligen schwarzen Lieferwagen, von dem sie die Fertigteile abgeladen hatten. Der schmächtige Mann war James Peabody, im Hauptberuf Gastwirt in einem Dorf in der Grafschaft Lancashire, im Nebenberuf Henker. Und der vierschrötige Hüne hieß Dave Blocker und war einer der beiden Assistenten des Henkers. Der unauffällige Lieferwagen war das Dienstfahrzeug des Henkers. Mit dem Wagen wurde der zerlegbare Galgen transportiert. Wenn das Podest mit der Falltür zusammengefügt war, würden die beiden Männer den eigentlichen Galgen darüber errichten. Der Delinquent mußte dann auf das weiße X treten. Wenn er das nicht freiwillig tat, sorgen die beiden bärenstarken Gehilfen des Henkers dafür. Der Henker legte dem Delinquenten dann die Schlinge um den Hals und verließ das Podest. Auf einen Wink des Zuchthausdirektors, der die Hinrichtung leitete, zog der Henker dann einen Handgriff. Der Delinquent stürzte durch 3 �
die Falltür und war nicht mehr zu sehen. Wenn es gut ging, brach dem Delinquenten das Genick, sobald sich der Strick straffte. Und er war sofort tot. Wenn es nicht gut ging, überlebte er den Fall und wurde dann langsam und qualvoll erdrosselt. Viele Minuten lang hörte man ihn dann stöhnen und ächzen. Erst nach zehn Minuten so stand es in den Vorschriften begab sich ein Arzt durch eine schmale Tür in das Innere des Podestes, um den Tod des Gehenkten festzustellen, der dann von den Gehilfen des Henkers vom Strick genommen und in den Sarg gelegt wurde, der erst jetzt herbeigebracht wurde. Damit war die Arbeit des Henkers und seiner Gehilfen beendet. Der Galgen wurde für Mark Dunlap errichtet. Dunlap verlor die Nerven. »Nein!« schrie er, »nein!« Die beiden Männer im Hof arbeiteten ruhig weiter. Mark Dunlap sank in sich zusammen. Er hockte auf der Tischplatte, das Gesicht in den Händen vergraben, und wimmerte. Das alles mußte ein böser Traum sein, ein Alptraum. Denn die Todesstrafe war in Großbritannien schon seit Jahren abgeschafft. Der Henker es gab nur einen in Großbritannien, der sein grausiges Handwerk sozusagen ambulant ausübte – war seit Jahr und Tag nur noch Gastwirt, und sein Dienstfahrzeug stand seither in einer Garage in der Nähe von Old Bailey, dem Schwurgericht von London. Einer der beiden Gehilfen des Henkers, ein Mann namens Langmann, war vor einiger Zeit einem Herzinfarkt erlegen, der andere, Dave Blocker, war nach Kanada gegangen zu seinem Bruder, der dort Farmer war. Alles das wußte Mark Dunlap von Berufs wegen. Er war Krimihaireporter der »Morning News«, eines Boulevardblattes mit Millionenauflage. Hingegen wußte er nicht, wo er war. In einem Verlies in 4 �
irgendeiner Burgruine. Es gab viele Burgruinen in Großbritannien. Angefangen hatte es am Freitag vor einer Woche. Mark Dunlap hatte den Abend in seinem Club im Londoner Stadtteil Mayfair verbracht. Als er in seinen Wagen steigen wollte, trat ein korrekt gekleideter Gentleman an ihn heran und ersuchte ihn höflich, ihn zu begleiten. Da der Gentleman einen sechsschüssigen Browning, in der rechten Hand hielt, gab Mark Dunlap dem Ersuchen statt. Er wurde in einen Rolls-Royce genötigt, der von einem Mulatten in Chauffeurslivree gefahren wurde. Mark Dunlap saß kaum im Fond, als ihn Müdigkeit überkam, gegen die er nicht anzukämpfen vermochte. Irgendwer mußte ein Schlafmittel in den Whisky geschüttet haben, den er im Club getrunken hatte. Mark Dunlap schlief ein und erwachte auf einem Feldbett in einem kreisrunden Gelass. Der Mulatte hatte ihn wachgerüttelt. Der Farbige beantwortete keine Frage, zeigte stumm auf ein Tablett mit einem opulenten Frühstück und auf einen so genannten Leibstuhl, unter dessen Sitzfläche ein mit Wasser gefüllter Kübel hing. Zur Verrichtung der Notdurft. Etwa eine Stunde später wurde Mark Dunlap von dem Mulatten und dem Gentleman abgeholt und durch halbverfallene Gänge und Korridore in einen großen Raum geführt, der wie ein Gerichtssaal eingerichtet war. Unter einem Bild der Königin der Platz des Richters auf einem Podium, rechts davon der Zeugenstand. Wieder rechts davon, im rechten Winkel zum Zeugenstand, zwei Bänke zu je sechs Sitzplätzen für die Geschworenen. Auf beiden Bänken standen nebeneinander je sechs Gemälde, Porträts längst verstorbener Ahnen und Urahnen des Richters, wie sich 5 �
herausstellen sollte. Vor dem Podium des Richters zwei Tische mit Bänken, rechts der Tisch des Staatsanwaltes, links der des Verteidigers und des Angeklagten. Der Verteidiger und der Staatsanwalt sprachen miteinander, als Mark Dunlap den »Gerichtssaal« betrat. Beide waren mittelgroß, von mittlerer Statur. Und beide trugen Kapuzen mit Löchern für die Augen. Der eine Kapuzenträger –, der die Rolle des Verteidigers spielte, wie sich zeigen sollte legte Dunlap kurz eine Hand auf die Schulter. »Wundern Sie sich über nichts«, wisperte er, »Ich werde für Sie tun, was ich kann. Viel dürfte das im Augenblick nicht sein. Die Geschworenen werden Sie höchstwahrscheinlich für schuldig befinden, und der Lordrichter wird vermutlich auf Tod durch den Strang erkennen. Daran kann ich wahrscheinlich nichts ändern. Aber ich werde verhindern, daß Sie tatsächlich gehenkt werden. Darauf dürfen Sie bauen.« »Aber…« »Wundern Sie sich über nichts.« Was dann kam, war eine gespenstische Farce. Der Lordrichter betrat den Saal durch eine schmale Tür hinter dem Richterpodium, Sir Norman Griffith, seit sieben oder acht Jahren im Ruhestand, während seiner Amtszeit »Der Bluthund« genannt. Kein anderer Richter in Großbritannien hatte mehr Mörder und Totschläger an den Galgen gebracht als er. Griffith forderte den Staatsanwalt auf, die Anklage zu verlesen. Und wenn Mark Dunlap nicht ganz sicher gewußt hätte, daß Terence Stamp, ehemaliger Generalstaatsanwalt von Groß-London, tot war, hätte er darauf geschworen, daß sich Terence Stamp unter der Kapuze verbarg. Es war unverkennbar die Stimme Stamps. 6 �
Die Anklage lautete auf Mord ersten Grades, begangen von Mark Dunlap an Sheila Griffith. Die Frage des Lordrichters, ob der Angeklagte sich schuldig oder nichtschuldig bekenne, beantwortete Dunlap mit »nichtschuldig«. Zeugen gab es nicht. Mark Dunlap selber wurde vom Staatsanwalt in den Zeugenstand gerufen, und er sagte der Wahrheit gemäß aus, daß Sheila Griffith seines Wissens Selbstmord begangen habe mit einer Überdosis an Schlaftabletten. Er gab zu, der Vater des Kindes zu sein, das Sheila Griffith, eine Enkelin des Lordrichters, zur Welt gebracht hätte, wenn sie am Leben geblieben wäre, aber er bestritt, die leichten Schlaftabletten gegen ein schweres Medikament vertauscht zu haben. Er blieb auch im Kreuzverhör unbeirrt bei der Wahrheit. Der Lordrichter schloß die Beweisaufnahme, und der Staatsanwalt plädierte den »Geschworenen« gegenüber auf Mord ersten Grades. Der Angeklagte habe Miss Sheila Griffith geschwängert, und wenn die Ehefrau des Angeklagten das erfahren hätte, wäre sie gewiß nicht bereit gewesen, die Ehe mit ihm weiterzuführen. Der Angeklagte wäre dann auf das Einkommen aus seiner Tätigkeit als Journalist angewiesen gewesen, das viel zu gering war, den Lebensstandard aufrecht zu erhalten, den er nun einmal gewohnt sei. Der Verteidiger bestritt das alles nicht, berief sich aber auf den Rechtsgrundsatz ›in dubio pro reo‹ im Zweifelsfall für den Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft sei den Beweis dafür, daß der Angeklagte die harmlosen Tabletten gegen ein schweres Medikament ausgetauscht habe, schuldig geblieben. Darauf forderte der Lordrichter die »Geschworenen« auf, sich zur Beratung zurückzuziehen. Die zwölf Porträts auf den Geschworenenbänken schienen sich in Luft aufzulösen. Mark Dunlap wurde von dem Mulatten und dem Gentleman in seine ›Zelle‹ geführt und nach etwa einer Stunde in den 7 �
»Gerichtssaal« zurückgebracht. »Die Geschworenen« waren wieder da. Nämlich die Porträts. Der Lordrichter fragte mit Blick auf die Porträts: »Haben die Geschworenen ihren Spruch gefällt?« Und eine Stimme antwortete: »Ja, Euer Ehren.« »Und ist dieser Spruch einstimmig?« »Ja, Euer Ehren.« »Wie lautet der Spruch?« »Schuldig, Euer Ehren.« Darauf verkündete der Lordrichter das Urteil. Nach der Formel, die vorgeschrieben war, als es noch die Todesstrafe gab: »Mark Dunlap! Man wird Sie von hier aus in Ihre Zelle zurückbringen. Von dort aus werden Sie zum Richtplatz geführt, wo man Sie am Hals aufhängen wird, bis der Tod eingetreten ist.« Das war am vorvergangenen Sonnabend gewesen. Nach dem Gesetz mußten zwischen dem Urteilsspruch und der Hinrichtung zwei Sonntage liegen. Dieser Tag war ein Montag dem Gesetz war genüge getan. Im Hof der Burgruine wurde der Galgen errichtet, und Mark Dunlap würde zum Richtplatz gebracht werden, sobald der Galgen stand. Mark Dunlap machte sich nichts vor. Es gab keine Hoffnung mehr. Überhaupt keine. Das Hämmern hörte auf. Ein oder zwei Minuten später hörte Mark Schritte über die Wendeltreppe heraufkommen. Aber es wurde kein Schlüssel in das Türschloss gesteckt. Die Tür schwang knarrend nach innen, obwohl sie verschlossen war. Mark Dunlap saß noch immer auf dem Tisch. Er wartete auf den Henker und seinen Gehilfen. Doch niemand betrat das Verlies. Dann war eine Stimme da, die Stimme von Mark Dunlaps Verteidiger. »Ich habe Ihnen versprochen, zu verhindern, daß Sie gehängt werden. Verlassen Sie Ihre Zelle! Der Weg in die Frei8 �
heit liegt offen vor Ihnen.« Mark Dunlap ging sehr langsam zur Tür, stieg sehr langsam die Wendeltreppe hinunter. Das Verlies lag im obersten Stock des Burgfrieds, eines runden Turms, in dem übereinander – insgesamt vier Zimmer untergebracht waren. Im untersten Zimmer lag, flach auf dem Bauch, der Mulatte enthauptet. Der Kopf lag unmittelbar vor dem Halsrumpf. Die Tür, die in den Burghof führte, stand offen. Und vor der Tür lag der Kopf des Gentleman, der dazu gehörige Körper drei oder vier Schritt davon entfernt. Der Henker und sein Gehilfe lagen nebeneinander auf der Plattform des Galgens, die Köpfe vor der Plattform im Sand. Mark Dunlap verlor endgültig die Nerven. Er schrie auf und rannte davon, irgendwohin. Als er die Burgruine etwa zweihundert Yards hinter sich gelassen hatte, begann er zu lachen. Ein hysterisches Gelächter. Er lachte noch, als er zu einem Bahnhof gefunden und eine Fahrkarte nach London gelöst hatte. Er lachte im Zug, und er lachte noch immer, als der Schaffner ihn auf der nächsten größeren Station zur Bahnhofsmission brachte. Er lachte, während ein Arzt sich mit ihm beschäftigte. Und er lachte drei Tage und zwei Nächte lang, bis er endlich physisch erschöpft einschlief. Das war in einem Einzelzimmer einer so genannten Gummizelle der Nervenklinik von Welshpool in der Grafschaft Montgomery in Wales. * Dave Mitchell gähnte ausgiebig, kippte den letzten Schluck Kaffee in sich hinein, zog das Manuskript aus der Schreibmaschine � 9 �
und winkte Jeff Miller herbei. Jeff war der Bürobote der Redaktion des »Daily Dispatch«. »In die Setzerei!« knurrte Mitchell und drückte Jeff das Skript in die Hand. »Und zwar dalli, dalli.« »Okay!« Jeff trabte ab. »Das war's mal wieder«, verkündete Mitchell. »Tschüschen, Valinda! Bis Morgen.« Valinda Morris, die Sobsister (Schluchzschwester) des »Daily Dispatch«, mit der Dave das Büro teilte, nickte nur zerfahren. Sie war für Trost und Rat in allen Lebenslagen zuständig, die Leser konnten sich bei ihr ausweinen. Dave stülpte den Hut auf, den er, wie immer, auf der Schreibtischlampe geparkt hatte, erhob sich und marschierte zur Tür. Da schrillte das Telefon. »Ich bin nicht mehr hier«, behauptete Dave. Valinda hob ab und wiederholte zerfahren: »Ich bin nicht mehr hier.« Ständig mit dem Kummer irgendwelcher Leute befasst, war sie von sagenhafter Zerstreutheit. Dave grinste und schloß die gläserne Tür von außen, aber er kam nicht weit. Valinda rief hinter ihm her: »Dave! Es ist Sir Douglas, er möchte Sie sehen. Sofort.« Dave Mitchell war seit 36 Stunden auf den Beinen und entsprechend bettschwer. Aber er wurde umgehend munterer. Sir Douglas Widmark war der Verleger und Herausgeber des »Daily Dispatch« und eines halben Dutzend anderer Blätter. Der Oberhäuptling über den Häuptlingen, den Chefredakteuren. Und wenn der Oberhäuptling Dave »sehen« wollte, dann mußte ein ganz dicker Hund los sein. Dave Mitchell machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zum Fahrstuhl. Maud Mathews, die Hüterin des Vorzimmers des Oberhäupt10 �
lings, sagte, Sir Douglas erwarte Dave Mitchell. Und sie rümpfte pikiert die Nase, als Dave an ihr vorüber chaiste. Denn er hatte eine Menge Kaffee intus, den er mit Rum ›verdünnte‹ und schob folglich eine Alkoholfahne vor sich her. Betrunken war Dave deshalb nicht. Er hatte, wie die Sobsister behauptete, eine Leber wie ein Pferd. Sein Quantum sah anders aus. Der Oberhäuptling war allein. »Setzen Sie sich, Dave. Einen Kaffee mit Rum?« Der Oberhäuptling kannte Dave Mitchells Gewohnheiten. Und er wußte, was er an Dave Mitchell hatte. »Im Augenblick nicht. Wo brennt's denn, Sir Douglas?« »Tja – das ist eine eigenartige, eine merkwürdige Geschichte. Sie kennen Mr. Dunlap?« »Mark Dunlap von den ›Morning News‹? Selbstverständlich.« Die ›Morning News‹ und der ›Daily Dispatch‹ waren sozusagen Geschwister. Beide Zeitungen gehörten dem Oberhäuptling. Und Dave Mitchell war beim ›Dispatch‹ das, was Mark Dunlap bei der ›News‹ war: Kriminalreporter. Der Oberhäuptling fuhr fort: »Sie wissen, daß Dunlap vor einer Woche verschwunden ist?« »Ja«, sagte Dave Mitchell, dessen Job es war, alles zu wissen. Zumindest fast alles, was in sein Fach fiel. Er hängte sich eine Zigarette in den Mundwinkel. »Der arme Kerl ist übergeschnappt, soviel ich gehört habe. Er soll in einer Klapsmühle gelandet sein. Irgendwo in Wales.« »Stimmt«, sagte der Oberhäuptling. »Aber sehen Sie sich das einmal an. Ich habe es gerade bekommen. Per Eilpost.« Damit schob der Oberhäuptling Dave mehrere Blätter Klopapier zu, die eng geschrieben waren. »Lesen Sie!« forderte Sir Douglas. Und Dave las: 11 �
An Sir Douglas Widmark, Fleet Street, London. Dear Sir, ich hoffe, daß dieser »Brief« Sie erreichen wird. Jedenfalls hat ein Wärter mir versprochen, den Brief Ihnen zu schicken. Bitte glauben Sie mir, ich bin nicht verrückt geworden, obwohl ich das zeitweilig selber glaubte. Denn das, was ich erlebt habe, kann ich eigentlich gar nicht erlebt haben. Und doch ist es geschehen… Es folgte, im sachlichen Stil eine Reportage, eine minutiöse Schilderung der Erlebnisse. Dann hieß es: Ich beschwöre Sie, holen Sie mich hier heraus, Sir! Ich werde tatsächlich verrückt, wenn ich noch lange hier bleiben muß. Mark Dunlap Der Oberhäuptling hatte geschwiegen, während Dave las. Jetzt fragte er: »Was halten Sie davon?« Dave zuckte die Schultern. »Es klingt tatsächlich ziemlich verrückt. Und ziemlich übertrieben. Andererseits ist die Diktion des Briefes klar und durchaus vernünftig.« »Sie wissen noch nicht alles, Dave. Dieser Brief wurde gestern nachmittag zur Post gegeben. Laut Stempel in Welshpool, Grafschaft Montgomery. Ich bekam den Brief vor knapp zehn Minuten. Ich habe sofort die Nervenheilanstalt Welshpool angerufen, aber dort ist Dunlap nicht mehr.« Dave hob die Brauen. »Sondern wo?« »Eben das ist die Frage. Der Chefarzt sagte mir, Dunlap sei verschwunden. Aus einer ausbruchsicheren Einzelzelle in der geschlossenen Abteilung der Anstalt, irgendwann im Laufe der Nacht. Eine Erklärung dafür, wie das möglich war oder ist, hat der Chefarzt nicht. Und nun kommt mein Auftrag für Sie, Dave. 12 �
Finden Sie Mark Dunlap, wo immer er sein mag, und graben Sie aus, was hinter dem Ganzen steckt! Sie haben Urlaub, wie lange es auch dauern mag. Und Sie haben Spesen in jeder Höhe frei. Was ich von Ihnen möchte, ist eine Sensationsreportage exklusiv für die Blätter meines Verlages. Also lassen Sie Scotland Yard aus dem Spiel die Polizei überhaupt. Offiziell wissen Sie und ich gar nichts, haben wir den Brief, dieses Klopapier, niemals gesehen. Wenn wir ihn gesehen haben, ist es nämlich unsere Pflicht, ihn der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis zu geben. Denn hier werden mehrere Personen beschuldigt, Kapitalverbrechen begangen zu haben. Ich bin verstanden worden, Dave?« »Selbstverständlich.« »Okay. Dann lesen Sie den Brief noch zwei- oder dreimal, prägen Sie sich ihn ein. Dann werden wir ihn verbrennen.« Dave Mitchell sah dem Oberhäuptling in die Augen. »Nein«, sagte er dann leise, aber entschieden. »Was heißt nein?« »Wir werden den Brief nicht verbrennen, Sir Douglas. Sondern so herum: Sie haben ihn bekommen, ihm aber keine Bedeutung beigemessen, weil Mark Dunlap den Verstand verloren hat. Laut dem Ärzteteam einer staatlichen Nervenheilanstalt, deren Diagnose nicht angezweifelt werden kann. Niemand ist verpflichtet, Anzeige gegen wen auch immer zu erstatten auf Grund von Beschuldigungen eines Verrückten!« »Das«, sagte der Oberhäuptling, »ist auch wieder wahr.« »Eben. Und darum werden wir den Brief nicht vernichten. Weil er gegebenenfalls als Beweisstück gebraucht wird, gegen Sir Norman Griffith, Lordrichter a. D.« Der Oberhäuptling setzte zu einer Erwiderung an, blieb dann aber doch stumm, kaute Luft. »Sie wissen offenbar mehr als ich?« fragte er schließlich. »Man kann es so ausdrücken. Zumindest habe ich einiges läu13 �
ten hören.« »Und zwar was?« »Dies und das«, sagte Dave Mitchell vage. »Jedenfalls reicht es aus, mir ganz bestimmte Gedanken zu machen.« »In welcher Richtung?« »Umgekehrt, Sir Douglas, nicht Richtung hin, sondern Hinrichtung.« »Wie verstehe ich das?« »Am besten gar nicht. Denn ich bin fast sicher, daß Mark Dunlap tot ist, und daß er gefunden werden wird, ohne daß ich oder sonst jemand nach ihm sucht. Um genau zu sein: Daß seine Leiche gefunden werden wird. Und daß es so aussehen wird, als habe er Selbstmord begangen. In Wahrheit dürfte er hingerichtet worden sein. Aber das vergessen Sie besser, Sir Douglas. Ich meine, daß ich es gesagt habe, vergessen Sie besser. In unser beider Interesse.« Der Oberhäuptling kapierte. »Ich habe es schon vergessen, Nosy!« »Das ist gut, Nosy«, gab Dave ›Nosy‹ Mitchell zurück. Wann ihm der Spitzname Nosy von nose (Nase) abgeleitet angehängt worden war, wußte er selber nicht mehr genau. Es hatte sich eben so ergeben. Aus zwei Gründen. Zum einen hatte Dave im übertragenen Sinn ›Nase‹. Und zum anderen war sein Riechorgan rein physisch überentwickelt, ein Zinken (wie ein Geierschnabel. Auch der Oberhäuptling hatte früher den Beinamen ›Nosy‹ gehabt. Vor zig Jahren, als er noch Kriminalreporter der ›Morning News‹ gewesen war, und bevor er Maureen Dewey geheiratet hatte, die Tochter des Begründers des Verlages, der sich inzwischen zu einem Großverlag entwickelt hatte. Die beiden ›Nosys‹ grinsten einander an. Sie hatten sich verstanden. Dave verstaute die ›Briefbogen‹ im Geheimfach seiner Briefta14 �
sche und machte sich auf den Weg. * Dave ›Nosy‹ Mitchell gönnte sich zunächst einmal vier Stunden Schlaf, duschte dann kalt, verputzte ein halbes Dutzend Eier direkt aus der Pfanne und fühlte sich hinterher topfit. Dann breitete er eine Straßenkarte von Wales auf dem Schreibtisch seines Junggesellenapartments aus und fand bestätigt, was er schon wußte. Nirgendwo auf den britischen Inseln gibt es mehr Burg und Abteiruinen als im Bergland von Wales. Welche Ruine die richtige war, würde sich nur an Ort und Stelle ermitteln lassen. Dave Mitchell überlegte. Er würde einen Fotoreporter mitnehmen müssen, um die Story zu illustrieren. Der Mann mußte sein Handwerk verstehen, im übrigen aber nicht der allerintelligenteste sein. Oder stur. Stur genug, keine Fragen zu stellen. Denn diese Geschichte war ein verdammt heißes Eisen, was auch immer an ihr dran sein mochte. Während Dave noch grübelte, schrillte das Telefon. »Mitchell«, meldete sich Nosy. »Ich bin's, Barbara Fulton. Es ist mal wieder kurz vor Ultimo. Haben Sie per Zufall einen Tip für mich, Dave?« Barbara wohnte zwei Stockwerke über Dave und arbeitete als freiberufliche Pressefotografin, ohne dabei bisher auf den ersehnten grünen Zweig gekommen zu sein. Was vor allem daran lag, daß sie selber noch ziemlich grün war. Knapp zwanzig oder so. Blitzhübsch, aber ohne Ellenbogen. Süß, aber ein bißchen naiv. Nicht hartgesotten, nicht ausgepufft genug für den harten Job, auf den sie sich versteift hatte. Dave Mitchell bemutterte sie ein bißchen, wenn sie in Geldnot war. Und das war sie meistens. Vor allem um Ultimo herum. 15 �
»Jaaah«, dehnte Dave, »mag schon sein, daß ich Ihnen mal wieder unter die Arme greifen… Könnten Sie sofort für ein paar Tage verreisen?« »Nur, wenn das jemand bezahlt«, sagte sie. »Okay, Barb. Kommen Sie herunter.« Keine halbe Minute darauf klopfte sie an die Tür. Und sie sah ausgesprochen niedlich aus mit den marineblauen Hosen und dem weißen Pulli dazu. Für Daves Geschmack ein bißchen zu niedlich. Aber was hieß hier Geschmack. Sie würde tun, was er ihr sagte und keinerlei Fragen stellen, wenn er ihr sagte, sie solle nicht fragen. Das allein zählte. Sie himmelte ›Nosy‹ an. Und er wußte es. In seinen Augen war sie noch ein halbes Kind. Nicht das Format, das er brauchte, wenn ihm »danach« war. Dave drückte ihr zunächst einmal zwanzig Pfund in die Hand und fragte sie, wie lange sie brauche, Koffer zu packen, um für einige Tage, vielleicht auch länger… »Zehn Minuten«, beteuerte sie, »höchstens!« Der Frauenkenner Dave Mitchell war überzeugt, daß aus den zehn Minuten mindestens dreißig werden würden. Aber sie war schon nach acht Minuten wieder da. Mit einem Koffer, einer Reisetasche und der kompletten Foto-Ausrüstung. »Wohin soll ich fahren, Dave? Und womit? Per Bahn oder…?« »In meinem Schlitten«, erwiderte Nosy, »und zwar gemeinsam mit mir.« Ihre himmelblauen Kinderaugen wurden womöglich noch himmelblauer. »Es ist«, sagte Dave Mitchell, der inzwischen nachgedacht hatte, »allerdings ein kleiner Haken dabei. Aus Gründen, auf die ich nicht eingehen mag und darf, müßten wir ein verliebtes Pärchen mimen, Touristen oder Urlauber. Er und Sie, die nur füreinander Augen haben. Meinen Sie, daß Sie diese Rolle glaub16 �
würdig spielen könnten?« Sie wurde rot bis unter die Haarwurzeln, einschließlich der Ohrläppchen. »Ich denke schon«, wisperte sie. * Was Dave »Nosy« Mitchell seinen ›Schlitten‹ nannte, war ein Porsche Targa mit einer Spitze von zig und noch ein paar mehr. Der flache Superrenner rollte am späten Nachmittag auf dem Parkplatz der Nervenheilanstalt Welshpool aus. Dave Mitchell stieg allein aus. Die Anstalt lag abseits der Ortschaft in einem parkähnlichen Gelände, das von einer hohen Mauer umgeben war. Das schwere schmiedeeiserne Tor war verschlossen. Aber neben dem Tor gab es eine Tür, die offen stand. Hinter der Tür, linkerhand, stand ein Portierhäuschen. Der Portier, ein Kahlkopf mit Schnauzbart, hielt gerade Teestunde. Er musterte Dave aus stechenden Augen über die Teetasse hinweg. »Sie wünschen, Sir?« fragte er dann ungnädig. Dave stellte sich unwissend. Er sagte, er sei ein Freund Mark Dunlaps, der vor einer Woche hier eingeliefert worden sei. Und er wolle seinen Freund besuchen. Der Glatzkopf zeigte mit dem Daumen auf ein Schild, auf dem zu lesen stand, daß nur sonntags und mittwochs Besuchszeit sei. »Ausnahmen können nicht gestattet werden!« knurrte er dabei. Doch dann stutzte er. »Wie, sagten Sie, heißt Ihr Freund?« »Dunlap. Mark Dunlap.« Der Glatzkopf wurde etwas umgänglicher. »Da kommen Sie ohnehin zu spät, Sir. Mr. Dunlap ist heute morgen entlassen worden.« 17 �
»Entlassen?« echote Dave. »Ja.« »Wenn das so ist, dann möchte ich gern den Chefarzt sprechen.« Der Glatzkopf wurde wieder unzugänglich. »Ausgeschlossen, Dr. Thomas hat wichtigeres zu tun, als…« In diesem Augenblick bellte eine Autohupe auf. Eine schwere Bentley-Limousine näherte sich dem Tor von der Innenseite her. Der Glatzkopf verließ das Portierhäuschen, hinkte zum Tor. Sein rechtes Bein war steif. Der Portier schloß das Tor auf, öffnete beide Flügel. Dave »Nosy« Mitchell erlebte eine Überraschung. Er kannte den Mann am Lenkrad des Bentley. Dr. Alfred Thomas, ungefähr fünfzig, Psychiater, hatte früher eine Praxis in London gehabt. In derselben Straße, in der Dave wohnte. Damals war Dr. Thomas Junggeselle gewesen, Nosy und er hatten sich gelegentlich in der Snack-Bar an der Straßenecke getroffen und auch hin und wieder miteinander gesprochen. Thomas sah Dave Mitchell, erkannte ihn wieder. Das ging daraus hervor, daß er Dave zunickte. Dr. Thomas fuhr den Bentley durch das Tor, stoppte dann, drehte die Scheibe herunter. Dave marschierte hin. »Hallo, Doktor! Ich sage es doch immer, die Welt ist ein Dorf.« Der Arzt war schon immer ein nervöser Typ gewesen, und inzwischen war er noch nervöser geworden. Die Augenlider flatterten fast pausenlos hinter den Brillengläsern, die Stirnhaut war ständig in Bewegung. »Hallo, Mr. Mitchell. Ich nehme an, Sie wollen Ihren Kollegen, Mr. Dunlap, abholen. Da kommen Sie zu spät. Wir haben ihn heute morgen entlassen.« Dave sah auf, daß der Chefarzt zu dem glatzköpfigen Portier hinüberschielte. Fast so, als ob der Chef den Portier fürchte. 18 �
Dieser Eindruck täuschte offenbar nicht, denn Dr. Thomas wisperte: »Rufen Sie mich in einer halben Stunde an. Welshpool 3414. Okay?« »Okay!« »Gut. Bis dann also!« Auch das war nur gewispert. Laut sagte Dr. Thomas: »Es tut mir leid, daß Sie Ihren Freund verpasst haben. Good bye!« »Good bye, Doktor!« Der Chefarzt fuhr weiter. Dave schlenderte gemächlich zu seinem Flitzer. Als er hinter dem Lenkrad saß, sah er, daß der Portier sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Er stand unter dem Torbogen, und das Tor war noch offen. Der Kahlkopf starrte herüber, schien Dave die ganze Zeit über mit seinen stechenden Augen beobachtet zu haben. Dave schaltete die Zündung ein. Und es geschah nichts. Dave probierte es noch einmal, noch drei-, fünf-, zehnmal. Nichts. Der Glatzkopf stand steif wie ein Pfahl, unverwandt herüberstarrend. Endlich wendete er sich ab. Und im selben Moment sprang der Motor an. Dave war sicher gewesen, daß er den Bentley noch hätte einholen können, bevor der schwere Wagen die Ortschaft erreichte. Nun war es zu spät dazu. Dave fuhr eine Zeitlang kreuz und quer durch die Straßen, ohne den Bentley zu sehen. Er ließ keine halbe Stunde verstreichen, sondern hielt vor einer Telefonzelle an und wählte sofort die Nummer 3414. Der Weckruf ging hinaus. Aber niemand hob den Hörer ab. Dave blätterte im Telefonbuch, es gab keinen Teilnehmer namens Dr. Alfred Thomas in Welshpool. Dave wählte noch einmal 3414. Und diesmal wurde abgeho19 �
ben. »Ja?« fragte eine weibliche Stimme. »Ist Dr. Thomas bei Ihnen?« »Wer spricht dort?« »Mein Name ist Mitchell.« »Einen Augenblick bitte.« Mindestens drei Minuten verstrichen, bis Dr. Thomas sich meldete. Mit leiser, aber hektischer Stimme. »Ich hatte Sie doch gebeten, mich erst in einer halben Stunde anzurufen.« »Time ist Money, Doktor! Ich suche Mark Dunlap, und…« Der Arzt ließ Dave nicht ausreden. »Ich bin mir darüber klar, daß Sir Douglas Widmark Sie geschickt hat. Ich kann nur wiederholen, was ich Sir Douglas am Telefon sagte, Dunlap war verschwunden, als er – Sir Douglas mich anrief. Aber heute morgen war Dunlap wieder in dem Einzelzimmer, in der geschlossenen Abteilung der Anstalt, und er behauptete, das Zimmer nie verlassen zu haben. Ich habe ihn dann entlassen, heute morgen gegen zehn. Nicht freiwillig, sondern… Aber das kann ich Ihnen am Telefon schlecht erklären. Wo sind Sie jetzt?« »In einer Telefonzelle auf dem Marktplatz von Welshpool. Und wo sind Sie jetzt?« »Das sage ich Ihnen später oder auch nicht. Das hängt davon ab, ob…« »Ob was?« »Später! Fahren Sie jetzt weiter in Richtung Nordwesten, die Fernverkehrsstraße A 490 entlang. Bis dorthin, wo die B 4393 nach Südosten abzweigt. Folgen Sie der B 4393, bis Sie auf das Gasthaus ›Harper's INN‹ stoßen. Übernachten Sie dort und warten alles weitere ab! Sie haben alles verstanden?« »Das schon. Aber…« »Ende.« Die Verbindung war unterbrochen. Nosy wählte umgehend noch einmal die Nummer 3414. Aber der Weckruf tutete zigmal. 20 �
Niemand meldete sich mehr. Dave Nosy Mitchell scheuerte seinen Nacken und dachte eine halbe Minute lang nach. Dann grinste er schmal, fütterte den Telefonautomaten mit Münzen und wählte durch: den Anschluss des Oberhäuptlings Sir Douglas Widmark. Maud Mathews meldete sich und reichte Dave an den Oberhäuptling weiter. »Gut, daß Sie anrufen, Dave«, sagte der Boss der Bosse. »Kommando zurück alles auf Null. Mark Dunlap hat sich bei mir telefonisch gemeldet. Er ist nicht entflohen, sondern ganz normal entlassen worden, gegen zehn Uhr heute morgen. Ich habe dann versucht, Sie per Telefon zu erreichen, aber Ihr Hausmeister sagte mir, daß Sie schon abgeschwirrt seien. Es hat sich erledigt, Dave. Dunlap weiß jetzt, daß er nur Halluzinationen gehabt hat. Er hat mich gebeten, ihn für ein paar Wochen zu beurlauben. Damit er sich in irgendeinem Sanatorium auskurieren kann. Ich habe dem zugestimmt. Blinder Alarm, Nosy. Viel Lärm um nichts.« Dave »Nosy« Mitchell brauchte nicht nachzudenken. Das hatte er schon vorher getan. Und zwar gründlich. Er sagte schleppend: »Eine Frage, Boss. Nur eine einzige. Wer erpresst Sie womit?« Dem Oberhäuptling verschlug es offenbar die Sprache. Jedenfalls antwortete er nach einer langen Pause. »Sie sind ja verrückt!« »Ich nicht«, sagte Nosy Mitchell trocken. »Aber vielleicht etliche andere Leute. Wer erpresst Sie, Boss? Oder anders gefragt, wen wollen Sie schonen?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Kommen Sie nach London zurück, wenn Sie Ihren Job behalten wollen.« »Aha!« sagte Mitchell nur. »Was heißt ›aha‹?« »Daß Sie jetzt mich erpressen wollen. Fehlanzeige, Sir! Nicht 21 �
mit mir! Sie können mich rausschmeißen, das ist aber auch alles. Die Konkurrenz wenn ich das in aller Bescheidenheit feststellen darf versucht seit Jahren, mich abzuwerben. Machen Sie, was Sie wollen. Ich bleibe am Ball. Haben Sie mir noch etwas zu sagen, bevor ich aufhänge?« Dave hörte, daß der Oberhäuptling zweimal tief durchatmete. »Sie haben recht, Nosy. Ich bin tatsächlich aufgefordert worden, Sie zurückzupfeifen.« »Und zwar von wem? Spucken Sie es schon aus, Boss!« »Ich habe mein Wort verpfändet, zu schweigen. Nur soviel, Dave, es geht um die Staatsräson. Die Interessen Großbritanniens stehen auf dem Spiel.« »Inwiefern?« »Ich habe schon mehr gesagt, als ich eigentlich durfte. Kommen Sie nach London zurück, Dave, und vergessen Sie die ganze Sache.« Dave Nosy Mitchell scheuerte wieder seinen Nacken. Das tat er stets, wenn sein Hirn quasi auf Hochtouren lief. »Ich denke gar nicht daran«, sagte er langsam, aber entschieden. »Und wie ich Sie kenne, Boss, schmeckt es Ihnen auch nicht, daß wir wie sagten Sie doch die ganze Sache vergessen sollen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Schmeißen Sie mich raus. Feuern Sie mich. Fristlos. Ich mache dann auf eigene Faust weiter, und Sie waschen Ihre Hände in der berühmten Unschuld. Okay?« Der Oberhäuptling schwieg. »Verstehe«, sagte Dave Nosy Mitchell und kicherte. »Sie brauchen einen Grund, mich fristlos zu entlassen. Geben Sie mir mal Maud.« Das tat der Oberhäuptling. Dave knurrte: »Richten Sie Widmark aus, daß ich ihn für einen miesen Leuteschinder halte und für einen aufgeblasenen Nichtskönner. Sagen Sie ihm das. Wörtlich.« 22 �
»Soll ich wirklich?« »Ja!« bellte Dave Mitchell. Sekunden später bellte der Oberhäuptling zurück: »Sie sind entlassen!« »Tausend Dank!« sagte Dave Nosy Mitchell, hängte auf und scheuerte seinen Nacken. »Staatsräson!« murmelte er. »Denkste!« Denn Dave Nosy Mitchell, dessen Beruf es war, alles zu wissen, was in sein Fach fiel, war davon überzeugt, daß es der Justizminister gewesen war, der den Oberhäuptling vergattert hatte. Denn der amtierende Justizminister hieß Archibald Hulme und war ein Neffe des früheren Lordrichters Sir Norman Griffith mit dem Beinamen »Der Bluthund«. Dave Mitchell, mit dem Beinamen Nosy, witterte Zusammenhänge. * Mark Dunlap hatte zwei volle Tage gebraucht, einzusehen, daß er die verrückte Geschichte nicht erlebt haben durfte, wenn er als geheilt entlassen werden wollte. Zwei volle Tage, nachdem er in der Gummizelle aufgewacht war. Nach einem Schlaf, von dem er nicht wußte, wie lange er gedauert hatte. Das letzte, woran Dunlap sich erinnern konnte, war, daß er die Burgruine verlassen hatte. Er war weggerannt. Durch ein halbverfallenes Tor über eine Brücke. Und dann setzte seine Erinnerung erst wieder in der Gummizelle ein. Daß es Gummizellen gab das hatte er läuten hören. Wie ein solcher Raum tatsächlich aussah, das erfuhr er erst jetzt. Ein Zim23 �
merchen von etwa anderthalb mal drei Yard im Geviert, dessen Wände dick mit Schaumstoff verkleidet waren. Keine Chance, sich den Schädel einzurennen. Auch die Tür war innen mit Schaumstoff bezogen. Ein Fenster hatte die Zelle nicht. Es gab weder ein Bett noch sonst ein Möbelstück. Mark Dunlap lag auf dem Fußboden, der aus federndem Schaumstoff bestand. Er war kaum erwacht, als die Tür von außen geöffnet wurde. Der Grund lag auf der Hand. Durch ein Guckloch in der Tür hatte ein Wärter in regelmäßigen Abständen hereingeschaut. Mark Dunlap hatte seine Erlebnisse dreimal geschildert. Zunächst dem Wärter, dann einem Arzt, dann dem Chefarzt. Geglaubt hatte ihm keiner der drei. Er hatte die Konsequenzen gezogen und widerrufen. Er habe eingesehen, daß er nur Halluzinationen gehabt habe. Was Wunder, sei er doch von Berufs wegen drei Tage lang nicht ins Bett gekommen. Seine überreizten Nerven müßten ihm einen Streich gespielt haben. Das schien dem Chefarzt einzuleuchten. Dennoch müsse er, Mark Dunlap, noch ein oder zwei Tage zur Beobachtung bleiben. Immerhin bekam Dunlap seine Kleidung zurück. Anfangs hatte man ihm Anstaltskleidung verpasst. Und er würde aus der Gummizelle in ein Zimmer verlegt, in dem es wenigstens ein Bett gab. Mark Dunlap war Kriminalreporter und für Wechselfälle, die sich aus seinem Job gelegentlich ergaben, vorbereitet. Unter anderem insofern, als im Futter seines Sakkos zwei FünfzigPfund-Noten eingenäht waren. Für eine davon fand sich einer der Wärter, ein gewisser Bradley, bereit, den Bericht, den Dunlap auf Klopapier geschrieben hatte, per Eilpost an Sir Douglas Widmark auf den Weg zu bringen. 24 �
In der Nacht darauf ereignete sich wiederum Unheimliches. Dunlap konnte nicht einschlafen, und er erschrak bis ins Mark, als draußen auf dem Gang ein Schrei ausgestoßen wurde. Ein gellender Schrei. Das Ungewöhnliche war, daß Mark Dunlap diesen Schrei überhaupt hören konnte. Er wußte inzwischen, daß alle Zimmer und alle Zellen im beschlossenen Haus schalldicht waren. Kein Laut drang von drinnen nach draußen, keiner von draußen nach drinnen. Mark Dunlap blieb liegen. Kalter Schweiß sickerte aus seinen Poren, als er jemanden wimmern hörte, dann keuchen, zum Schluß röcheln. Ganz deutlich, als ob es überhaupt keine Tür zwischen der Zelle und dem Flur gäbe, geschweige denn eine schalldichte Tür. Dann klirrte draußen Metall, und Schritte kamen den Flur entlang. Unrhythmische Schritte, je ein hartes und ein schleifendes Geräusch. So geht ein Mensch, mit einem steifen Bein, das er hinter dem gesunden herzieht. Mark Dunlap wußte, daß er alles das eigentlich nicht hören konnte und dennoch hörte er es. Einbildung? Halluzinationen? War er tatsächlich verrückt geworden, nicht mehr Herr seiner Sinne? Mark Dunlap richtete den Oberkörper mit den Ellenbogen auf. Seine Augen wurden übergroß, als er hörte, daß ein Schlüssel ins Schloß der Zellentür gesenkt und dann gedreht wurde. Die Tür schwang lautlos auf, und da sah Mark Dunlap das Monster, das Ungeheuer. Es hatte Menschengestalt, aber der Schädel war blau. Aus dem halbgeöffneten grinsenden Mund ragten Vampirzähne hervor, riesig und gelb, die Spitzen hellrot gefärbt von frischem Blut. Aus beiden Mundwinkeln liefen Blutrinnsale über das Kinn, und der knallgelbe Umhang, in den das Monster gehüllt war, hatte über der Brust Blutflecken. 25 �
Das Ungeheuer tat nichts. Es stand einfach da. Mit lodernden, fast glühenden Augen. Mark Dunlap war wie versteinert. Unfähig, ein Glied zu rühren, außerstande, irgend etwas zu denken. Das Grauen lähmte seinen Körper, lähmte auch seinen Verstand. Er wollte schreien. Aber seine Stimmbänder gaben nichts her. Die Augen des Unheimlichen hörten auf zu lodern. Der Umhang teilte sich vorn, eine blauschimmernde Hand kam zum Vorschein. Das Monster trat zwei Schritte zurück und zog den rechten Fuß dabei schleifend über die Fliesen. Die Hand winkte: Komm! «Mark Dunlap konnte sich wieder bewegen. Er sah jetzt nur noch die Augen des Monsters. Sie waren grau wie Gusseisen. Starke Augen, die Mark Dunlap beherrschten. Das Grauen wich von ihm. Er erhob sich, stand auf den Füßen. Die blauschimmernde Hand winkte wieder: Komm! Und Mark Dunlap ging vorwärts, setzte Fuß vor Fuß. Ging an dem Monster vorüber, bog in den Korridor ein. In Richtung auf die Gittertür zu. Mechanisch. Wie unter einem hypnotischen Zwang. Das Monster schlurfte hinter Mark Dunlap her, er spürte den Atem des Ungeheuers im Nacken. Die Gittertür, stets abgeschlossen, stand jetzt halb offen. Zwischen der Gittertür und der Haustür gab es eine Art Vestibül. Dort standen ein Tisch und ein Stuhl, sonst nichts. Auf dem Stuhl saß der Wärter, die Beine weit unter den Tisch geschoben. Die Arme hingen hinter der Stuhllehne herunter, der Kopf lag schräg auf einer Schulter, so daß Mark Dunlap die eine Seite des Halses sehen konnte und sehr deutlich die beiden Wundlöcher. Sie lagen nicht nebeneinander, sondern übereinander. So wie die Halsschlagader verlief. Der Wärter Mark Dunlap kannte den Namen dieses Mannes 26 �
nicht – war schneeweiß im Gesicht. Das Licht der Deckenlampe fing sich in den weit offen stehenden starren Augen. Das alles sah Mark Dunlap, aber es berührte ihn nicht. Er stand noch immer wie unter einer Art suggestivem Zwang. Er durchquerte das Vestibül. Die Haustür stand einen Spalt offen. Mark Dunlap stieß die Tür auf und knickte unwillkürlich in der Hüfte ein, denn Regen prasselte ihm entgegen, von einem orkanartigen Sturm ins Gesicht gepeitscht. Hinter Mark Dunlap schlug die Tür zu. Er hörte, daß der Schlüssel gedreht wurde. Dann stand er im niederprasselnden Regen und fand nur allmählich zu sich selber zurück. Er war frei. Das war aber auch alles. Er hatte nichts als das Anstaltsnachthemd am Leib. Nicht einmal Hausschuhe. War er wirklich frei? Nein. Während der letzten Tage hatte er sich über Tag jeweils einige Stunden im Freien aufhalten dürfen. Im Hof, der das Geschlossene Haus umgab. Dieser aber war von einem sehr hohen Zaun aus ungemein stabilem Maschendraht umgeben, der oben nach innen eingeknickt war. Und dort oben lief Stacheldraht rund um den Hof. Ohne eine Drahtschere war da kaum zu entkommen – endgültig zu entkommen. Mark Dunlap versuchte, den Zaun zu überklettern. Das gelang ihm nicht. Als er es zum dritten Mal versuchen wollte, hörte er ein Geräusch hinter sich. Er fuhr erschrocken herum, begriff aber nichts mehr. Er verlor das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, lag er wieder in seiner Zelle. Sein Nachthemd war trocken und sauber. Sein Kehlkopf schmerzte ein wenig. Sonst fühlte er sich körperlich wohl. Mark Dunlap begann, zu ahnen, welches Spiel mit ihm getrie27 �
ben wurde. Ein zweites Mal würde er nicht behaupten, erlebt zu haben, was er erlebt hatte. Ein zweites Mal nicht. Er tat so, als habe er bis eben geschlafen, als der Wärter die Zelle aufschloss, um ihn zu wecken und ihn zunächst zum WC und in den Duschraum zu führen. Daß das eben der Wärter war, dem das Monster das Blut ausgesaugt hatte das wunderte Mark Dunlap nun schon nicht mehr. Es war mehr ein Zufall, daß Mark als er nackt unter der Dusche stand den winzigen roten Punkt in der Armbeuge seines linken Arms entdeckte. Und er nickte dazu. Völlig klar: Am Drahtzaun war er bewusstlos geschlagen worden. Wahrscheinlich mit einem Handkantenschlag gegen den Kehlkopf. Aber das reichte nicht, ihn für längere Zeit auszuschalten. Man hatte ihm eine Injektion verpasst. Unmittelbar nach dem Frühstück kam der Chefarzt in Mark Dunlaps Zelle und sagte ihm, daß er entlassen werden würde. Die Diagnose: Er, Mark Dunlap, sei offenbar mit einem Trauma belastet gewesen, einem verdrängten Schuldkomplex gegenüber dem früheren Lordrichter Sir Norman Griffith, am Freitod von dessen Enkelin Mark Dunlap sich ihm, selbst unbewußt schuldig gefühlt habe. Da Dunlap sich das mittlerweile bewußt gemacht habe, werde er sehr wahrscheinlich nie wieder »Gespenster« sehen, nie wieder ein »Geistergesicht«. Mark Dunlap sagte zu allem ja. Und gegen zehn war er wirklich frei. Er ging zu Fuß nach Welshpool, fragte sich zur Post durch, rief von dort aus Sir Douglas Widmark an und nahm den nächsten Zug nach London. Er dachte gar nicht daran, in ein Sanatorium zu gehen. Er würde seinen Wagen holen, sich ausreichend mit Bargeld eindecken und dann auf eigene Faust die Burgruine suchen und finden. 28 �
Am Ende würde er mit dem Mann abrechnen, der ihn, Mark Dunlap, für den Rest seines Lebens als unheilbar geisteskrank in einer Heilanstalt verschwinden lassen wollte. Sir Norman Griffith. Mark Dunlap hatte keinen Denkfehler begangen. So wenig wie Dave ›Nosy‹ Mitchell. Wenn beide sich dennoch im Endeffekt in manchen Punkten irrten, so deswegen, weil weder der eine noch der andere in Rechnung stellte, daß es übersinnliche Erscheinungen tatsächlich gibt. Als Dave Nosy Mitchell die Telefonzelle verließ, saß Mark Dunlap am Lenkrad seines Wagens, den er in Richtung Wales steuerte. Seit etwa dreißig Minuten. Mark Dunlap hatte zu diesem Zeitpunkt noch knapp sechs Stunden zu leben. * Dave Nosy Mitchell verließ also die Telefonzelle, und so ganz unneugierig war Barbara denn doch nicht. »Mit wem haben Sie denn solange gesprochen, Dave?« »War es lange?« wich er aus. »Ziemlich«, meinte sie. Er zuckte nur die Schultern, faltete sich selber in der Mitte zusammen, um in den flachen Flitzer steigen zu können. Als er den Motor anlassen wollte, tat sich wieder gar nichts. Dave Nosy Mitchell war schnell von Begriff. Wenn zweimal dasselbe passierte, was eigentlich ausgeschlossen war, dann war die Ursache wahrscheinlich beide Male dieselbe. Und daß der Motor nicht ansprang, war nun einmal eigentlich ausgeschlossen, denn die Batterie war so gut wie neu, und auch sonst war der Motor bestens intakt. 29 �
Dave Mitchell tat einen Rundblick. Und er biss sich auf die Lippen, als er den Mann mit dem Schnauzbart sah, der auf der anderen Seite des Marktplatzes vor der Apotheke stand, die Hände auf dem Lenker eines Fahrrads mit zwei verschiedenen Pedalen. Auf der einen Seite ein normales Pedal, auf der anderen eines, das sich kaum mitbewegte, wenn der Zahnkranz sich drehte. Ein Spezialrad für Invalide mit einem steifen Bein. Der Schnauzbärtige, der Portier der Heilanstalt, starrte unverwandt herüber. So wie er vorhin herübergestarrt hatte. Dave Nosy Mitchell brauchte nicht einmal seinen Nacken zu scheuern, um zu der Erkenntnis zu kommen, daß dieser Mann telekinetische Fähigkeiten haben mußte. Was ist Telekinese? Was versteht man darunter? Dave Mitchell hatte allerlei darüber gelesen. Angeblich gab es Menschen, die durch Gedankenkonzentration oder auf welche Weise auch sonst Gegenstände bewegen oder verhindern konnten, daß sich Gegenstände bewegten, die sich eigentlich bewegen mußten. In diesem Fall hätte die Batterie den Anlasser in Drehung versetzen müssen. Und darauf mußte der Motor anspringen. Wenn beides nicht geschah, blieb Telekinese als einzig mögliche Erklärung. So logisch, wie es eigentlich unlogisch war. Dave Mitchell stieg aus. Um dem Invaliden auf den Pelz zu rücken. Dave drückte den Wagenschlag zu und ließ den Schnauzbärtigen dabei aus den Augen. Eine Sekunde lang. Allenfalls zwei Sekunden. Als Dave Mitchell wieder zur Apotheke hinüberblickte, war der Invalide verschwunden. Mitsamt seinem Fahrrad. Einfach verschwunden. Nicht mehr da. »Ausgeschlossen«, murmelte Nosy verblüfft. 30 �
»Was ist ausgeschlossen?« fragte Barbara. »Er muß sich in Luft aufgelöst haben. Und das gibt es nicht. Das denn doch nicht.« »Welcher ›er‹?« »Der Portier. Der Invalide. Eben noch stand er mit seinem Fahrrad vor der Apotheke.« »Vor welcher Apotheke? Ich sehe nur eine. Die dort drüben.« »Genau die meine ich, Barb.« Barbara Fulton schüttelte mit kurzen Bewegungen heftig den Kopf. »Wollen Sie mich verkohlen?« »Wieso?« »Dort war niemand. Ich habe die ganze Zeit über die Apotheke beobachtet, weil die Lichtreklame im Schaufenster mich interessierte.« Tatsächlich blinkte in dem Schaufenster eine Leuchtschrift. Dave Mitchell schluckte trocken. »Und Sie haben niemanden gesehen? Nicht schnauzbärtigen Invaliden?« »Nein«, sagte Barbara absolut überzeugend. Dave Nosy Mitchell stand vor der Frage, ob er etwas gesehen hatte, das in Wahrheit nicht da war, oder ob Barb ihn verschaukelte. Das eine war so unwahrscheinlich wie das andere. Denn das eine besagte nicht mehr und nicht weniger, als daß er, Dave Mitchell, ein Gespenst gesehen hatte. Oder wie immer man es bezeichnen wollte. Und das andere lief darauf hinaus, daß die kleine, niedliche noch allenfalls halbgare Barbara Fulton bewußt log. Dann aber war sie keineswegs allenfalls halbgar, sondern eine perfekte Schauspielerin. Und dann war sie mit im Komplott, war sie passives oder aktives Mitglied einer Gang, deren Macht und Einfluß so weit reichte, daß der Justizminister sich 31 �
einschaltete. Einer Gang, die ein Spiel spielte, dessen Sinn und Ziel Dave Nosy Mitchell vorerst noch nicht sah. Es sei denn, so herum: Mark Dunlap sollte fertiggemacht werden, ohne ihn physisch zu töten. In einer Irrenanstalt wäre er so gut wie tot. Und er, Dave Mitchell, sollte auch in einer Klapsmühle landen. Sozusagen in Verfolg dessen. Um zu verhindern, daß er, Dave Mitchell, für voll genommen wurde, wenn er Beweise dafür zusammengetragen hatte, daß der »sehr ehrenwerte« (the right honorable) Sir Norman Griffith Mark Dunlap dazu getrieben hatte, sich entweder selber umzubringen oder aber verrückt zu werden. Mit zwei Fragen konfrontiert, die beide gegen alle Logik verstießen, entschied Dave Nosy Mitchell für die noch wahrscheinlichere Lösung. Nämlich die, daß Barbara Fulton gelogen hatte. Sie mußte den schnauzbärtigen Invaliden gesehen haben. Wenn sie es anders behauptete, dann log sie eben. Telekinese mochte es geben. Gab es sogar sicher. Wie der Invalide soeben bewiesen hatte. Aber daß Dave Mitchell einen Marin nebst seinem Fahrrad sah, der in Wahrheit gar nicht da war, das konnte Dave Mitchell nicht glauben. Noch nicht. Dave fixierte Barbara von der Seite. Sie sah so arg- und harmlos aus wie eh und je. »Dort ist er!« wisperte sie plötzlich. Und zeigte mit dem Kinn in Richtung auf die Apotheke. Daves Augen schwenkten herum. Der Schnauzbärtige kam aus der Apotheke, ging mit schnellen Schritten, ohne zu hinken, an dem Schaufenster vorüber, verschwand in dem Durchgang zwischen der Apotheke und dem Nachbarhaus, tauchte nach wenigen Sekunden wieder auf, das Rad führend. Er schwang sich in den Sattel, bog in die nächste Seitenstraße ein. 32 �
Dave versuchte, den Motor zu starten. Und der Motor sprang sofort an. Dave mußte den Markt halb umrunden. Als er die Seitenstraße erreichte, war der Mann auf dem Rad schon ein ganzes Stück Weg. Dave trat einmal kurz das Gaspedal durch. Dann war er neben dem Radfahrer. Das war nicht der Portier der Heilanstalt. Es war nur ein Mann, der dem Portier sehr ähnlich sah per Distanz verblüffend ähnlich. Aber er war mindestens zehn Jahre jünger. Dave hatte die Scheibe heruntergedreht, er fuhr neben dem Mann her. Der wurde aufmerksam, hielt an, stellte ein Bein auf die Erde. »Wollen Sie etwas von mir?« Dave hatte gestoppt. Er stieg aus. »Kann ich etwas für Sie tun, Sir?« fragte der Schnauzbart höflich, fast unterwürfig. Dave fragte, wie er zur Fernverkehrsstraße A 490 käme. »Da sind Sie richtig, Sir. Immer geradeaus. Dann stoßen Sie drauf!« Der Mann hielt die Lider gesenkt. Jetzt hob er sie kurz. Eisengraue Augen kalt und hart. Der Mann lächelte flüchtig. »Sie schauen mich an, Sir, als ob Sie überlegten, woher Sie mich kennen. Vermutlich verwechseln Sie mich mit meinem Bruder, zumal ich mir dessen Fahrrad ausgeliehen habe, weil mein eigenes defekt ist.« »Ah ja«, machte Dave. »Wie ist Ihr Name?« Der Tonfall des Mannes blieb überhöflich, demütig-unterwürfig. »Paul Westhouse, Sir. Ich bin der eine der beiden Portiers der Heilanstalt, mein Bruder Albert ist der andere. Wir wechseln einander ab.« Ohne die Stimme zu heben, im gleichen unterwürfigen Tonfall fuhr er fort: »Wenn Sie einen Rat annehmen wollen, Sir, Sie sollten nicht weiter nach Nordwesten fahren, nicht 33 �
nach etwas suchen, das Sie nicht finden können.« Ein zweiter, ganz kurzer Blick aus den kalten Augen ließ Dave nahezu frösteln. »Fahren Sie nach Hause, Mitchell!« Die bisher so demütige Stimme war plötzlich scharf und hart. »Halten Sie sich raus! Sie werden sich verdammt die Finger verbrennen, und nicht nur die Finger, wenn Sie weiter schnüffeln.« Der Mann fuhr weiter, blickte dabei über die Schulter zurück. Dave war überzeugt, daß der Motor wieder nicht anspringen würde. Und so war es denn auch. Dave Mitchell scheuerte seinen Nacken. »Entschuldigen Sie, Barb«, murmelte er nach ein paar Sekunden. »Was soll ich entschuldigen?« »Daß ich Sie so oder so – in einem falschen Verdacht hatte.« Er feixte kurz. »Ich bin sehr froh darüber.« Dann scheuerte er weiter seinen Nacken. »Okay, Mr. Paul Westhouse«, knurrte er. »Sie sollen Ihren Willen haben. Auf zu ›Harper's Inn‹!« Denn Dave Nosy Mitchell war wirklich schnell von Begriff. Folglich war ihm klar, daß die Warnung als Köder dienen sollte. Ein Nosy Mitchell würde sich nicht abschrecken lassen. Das war jedem klar, der Dave Mitchells Ruf als Newshunter kannte. Die sicherste Methode, ihn auf eine Fährte zu setzen, war, ihn vor den Folgen zu warnen. Dave machte keinen Versuch mehr, mit Paul Westhouse zu sprechen. Der Motor sprang an, sobald Westhouse geradeaus blickte. Dave überholte Westhouse. Und er sah im Rückspiegel, daß Westhouse den Kopf gesenkt hielt. *
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›Harper's Inn‹ lag etwa auf halbem Weg zwischen den Ortschaften Llanfyllin und Llanwddyn: ein jahrhundertaltes Gebäude aus Feldsteinen, düster, mit winzigen Fenstern. Alles andere eher als einladend. Dennoch lehnten viele Fahrräder beiderseits des Haupteingangs am Mauerwerk. Etliche Mopeds und Motorräder waren vor dem Haus aufgebockt. Die Sonne hing groß und blutrot über den Höhenzügen im Westen, als Dave den Porsche ausrollen ließ. Das Gasthaus lag an einer Kreuzung. Ein vierarmiger Wegweiser verkündete, daß die Straße nach Llanfyllin und Llanwddyn führte. Der eine Seitenweg zur Burg Llanhodyn, der andere zu einem Steinbruch. Die niedrige, nur mäßig geräumige Gaststube war überfüllt. Insofern, als Männer in Overalls in mehreren Reihen hintereinander am Schanktisch standen. An den Tischen saß niemand. Wie das in britischen Pubs üblich ist. Die Luft war zum Schneiden dick. Als Dave und Barbara eintraten, verstummten die Männer für ein paar Sekunden. Dann setzte das Stimmengewirr wieder ein. Die Männer sprachen keltisch, die eigentliche Muttersprache der Waliser, die nur noch in ländlichen Bezirken gesprochen wird. Dave führte Barbara zu einem Ecktisch, schob einen Stuhl für sie zurecht. Er selber setzte sich so, daß er den ganzen Raum überblicken konnte. Er nahm Barbaras vergleichsweise winzigen Hände zwischen seine riesigen Pranken und raunte dabei: »Jetzt geht's los, Barb! Wir sind ein Liebespaar, klar?« Sie nickte. Und eine Blutwelle überzog ihr Gesicht mit einem sanften Rose. »Reden Sie!« forderte Dave leise. »Ganz egal, was. Schauen Sie mir tief in die Augen, und reden Sie irgend etwas. Ich muß 35 �
zuhören, was die Männer sagen.« »Verstehen Sie es denn?« fragte Barbara. »Ja. Meine Mutter war Waliserin.« Es dauerte eine ganze Weile, bis der Wirt, ein feister Mittvierziger, nach seinem Namen – Harper ein Engländer, kein Waliser, Zeit fand, sich um die neuen Gäste zu kümmern. Inzwischen hatte Dave den Gesprächen entnommen, daß die Männer in den Overalls die Arbeiter des Steinbruchs waren, die heute, am Freitag, Zahltag hatten, und die noch zwei oder drei Bier tranken, bevor sie nach Hause fuhren. Endlich also kam der Wirt herüber. Er war extrem fettleibig, die Augen zwischen Fettpolstern kaum zu sehen. Und er war so kurzatmig, daß er nach jedem dritten oder vierten Wort hörbar Luft holen mußte. Das hörte sich wie »öööh« an. Er schätzte das Pärchen zumindest nach der Nationalität richtig ein sprach also englisch »Guten Abend, die Herrschaften öööh. Was darf's öööh sein?« Dave bestellte zwei Bier. Und ob er und seine Verlobte hier übernachten könnten. In zwei Einzelzimmern. »Ich weiß nicht. Für öööh Übernachtungen ist meine Frau. – öööh zuständig.« Die Frau des Wirtes mindestens einen Kopf größer als er, hager, mit einem überlangen Pferdegesicht –, bediente hinter dem Schanktisch die Bierhähne. Der Wirt rief ihr auf keltisch zu, das Pärchen wolle über Nacht bleiben. Ob er ihnen die beiden Einzelzimmer geben solle. Offenbar gab es nur zwei Einzelzimmer. Die Frau rief zurück, er solle sie fragen, wie lange sie zu bleiben gedächten. Für eine Nacht solle er ihnen die Zimmer vermieten. Aber nur für eine Nacht. Dave Nosy Mitchell beantwortete die Frage des Wirtes, daß er und seine Verlobte nächsten Tag weiterfahren würden. 36 �
Wenn das öööh – so sei, dann stünden ihnen öööh die Zimmer zur Verfügung, denn sie seien – öööh ab Morgen vorbestellt. Nicht mehr viele Waliser sprechen keltisch. Aber es gibt kaum Waliser, die nicht auch englisch sprechen. Mehr oder weniger perfekt. Alle hatten den Dialog verfolgt und offenbar verstanden. Niemand sprach mehr. »Laß es besser, Harper«, sagte ein Mann, um die fünfzig herum, keltisch, der als einziger keinen Overall trug. Er war – wie Dave bald begriff der Meister oder Ingenieur. Auf jeden Fall der Boss der Arbeiter. »Lass es lieber, Paul!« Die Wirtin antwortete. Nicht ihr Mann. »Nein!« sagte sie giftig, »wenn ich ein bißchen Geld verdienen kann, dann nehme ich das mit. Ob Ihnen das nun paßt oder nicht. Der blaue Vampir kommt wenn überhaupt erst in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag.« Der blaue Vampir damit war offenbar ein Stichwort gefallen. Es entbrannte eine lebhafte Diskussion, und Dave Mitchell brachte das Kunststück fertig, sich sehr angeregt mit seiner ›Braut‹ zu unterhalten und dennoch kein Wort von dem zu verlieren, was gesprochen wurde. Und das war sehr, aber schon sehr interessant. Der ›Blaue Vampir‹ war nach langen Jahren seit ein paar Wochen wieder gesehen worden. In der Burgruine und in ›Harper's Inn‹. Immer nur in den Nächten vom Sonnabend zum Sonntag, wie es der Überlieferung entsprach. Seit Menschengedenken hatte der Vampir sich ausschließlich in Nächten von Sonnabend auf Sonntag gezeigt. Daß es den ›Blauen Vampir‹ tatsächlich gab, daran zweifelte niemand. Nur über den Anlass seiner Auftritte während der letzten Wochen wurde gestritten. Nach der Überlieferung zeigte der Vampir sich nur dann, 37 �
wenn es galt, ein Verbrechen zu rächen. Darüber waren die Arbeiter und die Wirtsleute sich einig. Aber die einen meinten, der Blaue Vampir wolle den ehemaligen Lordrichter Sir Norman Griffith töten, der die Burg vor einigen Monaten von einem tödlich verunglückten entfernten Verwandten geerbt hatte. Denn der frühere Lordrichter habe zumindest einen Unschuldigen zum Tod durch den Strang verurteilt, einen Mann namens Ysthwyth aus Gumnok in Wales. Dahingegen meinten die anderen, der Blaue Vampir habe es auf Captain Hook abgesehen. Wer dieser Hook war und welches Verbrechens er sich schuldig gemacht hatte, ging aus der Diskussion nicht hervor. Dave Mitchell erfuhr nur, daß der Captain erwartet wurde. Draußen verröchelte der Motor eines Lkws. Das sah Dave nicht, er hörte es nur am Klang. Gleich darauf traten zwei Männer ein. Der eine ein herkulisch gebauter Mulatte in Cordhosen und Rollkragenpullover, eine Lederjacke lose über das massive Schultergebäude gehängt. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er konnte dreißig sein oder auch vierzig. Der andere ein sehr distinguiert wirkender Gentleman um die vierzig herum, gekleidet wie ein konservativer Businessman der City of London mit dunklem Anzug, weißem Oberhemd, Seidenkrawatte, dazu einem Bowler und einen sorgfältig eingerollten Schirm über den angewinkelten rechten Unterarm gehängt. Der Mulatte sagte gar nichts. Er entblößte nur ein sehr starkes Gebiss, während er sich breitbeinig wie ein Seemann zum Schanktisch wiegte. Der Gentleman hängte den Bowler und den Schirm auf einen Garderobenhaken und schritt dann mit durchgedrücktem Kreuz sehr gemessen zur Theke. »Guten Abend, Ma'am! Guten Abend, Mr. Harper! Guten Abend, Mr. Banwy!« Der letzte Gruß, jeder mit einer abgezirkelten Verbeugung vorgebracht, galt dem Meister oder Ingenieur. 38 �
»Guten Abend, Gentlemen.« Das galt den Arbeitern, die sehr prompt reagierten, indem ihnen plötzlich einfiel, daß sie daheim erwartet wurden. Da sie jedes Bier gleich bezahlt hatten, wie das in Großbritannien üblich ist, konnten sie umgehend abziehen. Und das taten sie auch. Der Mulatte und der Gentleman waren Engländer, unverkennbar. Dave Nosy Mitchell legte Wert darauf, zu erfahren, was die beiden mit den Wirtsleuten sprechen würden, wenn niemand zuhörte. Er raunte Barbara zu, sie möge sich in die Damentoilette begeben, während er die Herrentoilette aufsuchte. Barbara fragte nichts. Sie tat, was er ihr zu tun hieß. Dave blieb unmittelbar hinter der Tür stehen, preßte sein Ohr gegen die Türfüllung. Es klappte nicht, denn einer der Arbeiter benutzte das Waschbecken. Dave überbrückte die Wartezeit, indem er sich vor dem Spiegel kämmte. Das war nicht sehr glaubwürdig, denn der Spiegel war alt- und halb blind, und die nackte 15-Watt-Glühbirne gab nur trübes Licht her, so daß Dave sich selber in dem Spiegel kaum sah. Der Arbeiter schwankte und brabbelte dabei auf englisch vor sich hin. Danach kam er torkelnd auf Dave zu, klopfte ihm auf die Schultern, lallte etwas von gottverdammten Walisern und: »Wir Engländer müssen zusammenhalten.« Dabei umarmte er Dave zwei- oder dreimal. Dann stieß er die Tür zur Gaststube auf, und als helleres Licht auf das Gesicht unter der Schirmmütze fiel, kam der Betrunkene Dave irgendwie bekannt vor. Inzwischen waren der Gentleman und der Mulatte schon wieder im Aufbruch begriffen. Sie verließen die Gaststube unmittelbar nach dem Betrunkenen. 39 �
Der Gentleman kehrte schon nach wenigen Sekunden zurück, er hielt eine Brieftasche in der rechten Hand. Dave Mitchells Brieftasche. Der Gentleman sagte, er habe die Brieftasche vor der Haustür gefunden. Einer der Steinbrucharbeiter müsse sie verloren haben. »Sie gehört mir«, sagte Dave laut. Der Gentleman stutzte, klappte die Brieftasche auf, und Dave wußte daß der Gentleman zuerst den Presseausweis sehen würde. »Stimmt. Mr. Mitchell«, sagte der Gentleman gemessen, reichte Dave die Brieftasche und verließ mit abgezirkelten Bewegungen endgültig die Gaststätte. Der LKW fuhr weiter. Dem Geräusch nach zu urteilen in Richtung auf Llanfyllin zu. Dave Nosy Mitchell schloß die Augen und versuchte, sich das schmale Gesicht des Betrunkenen zu vergegenwärtigen. Woher kannte er diesen Mann, wann und wo war er ihm schon früher begegnet? »Ich weiß es«, murmelte Dave schließlich. Die Sache mit der Brieftasche hatte ihn auf die richtige Idee gebracht. Er mußte sich das Gesicht ein paar Jahre jünger vorstellen, und sich das Clark-Gable-Bärtchen dazudenken, das der Mann früher getragen hatte. Und statt der Arbeitskluft Overall und Schirmmütze – einen eleganten Anzug. Percival Houten, genannt »Perci the finger«. Zu seiner Zeit ein überaus erfolgreicher ›Zieher‹ also ein Taschendieb. Barbaras Stimme schreckte Nosy Mitchell auf. »Was haben Sie, Dave? Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.« So ähnlich fühlte Dave Nosy Mitchell sich tatsächlich. Denn Percival Houten mit dem Beinamen ›Perci the finger‹ war vor 40 �
rund drei Jahren gestorben, und Dave Mitchell hatte der Beerdigung beigewohnt und darüber im ›Daily Dispatch‹ geschrieben. Denn ›Percy the finger‹ war kein Irgendwer gewesen, sondern ein Meister seines Fachs. So ziemlich alles, was in der Unterwelt von Großlondon Rang und Namen hatte oder sich einbildete, Rang und Namen zu haben, hatte Percival Houten die letzte Ehre erwiesen, dazu etliche Kriminalbeamte. Dave Nosy Mitchell schüttelte hart den Schädel. Dann begann er, seinen Nacken zu scheuern. Nachdem er das lange genug getan hätte, befasste er sich mit seiner Brieftasche. Und er nickte in sich hinein, als er feststellte, daß das Geheimfach leer war. Das Klopapier, auf das Mark Dunlap den Report über die Erlebnisse in der Burgruine geschrieben hatte, war verschwunden. Dave steckte die Brieftasche ein. Draußen rollte wieder ein Wagen aus, diesmal unverkennbar ein Pkw. Wagenschläge wurden zugeworfen. Dann fuhr der Lkw ab. Gleich darauf ging die Tür und Dr. Alfred Thomas trat ein, der Chefarzt der Heilanstalt von Welshpool, begleitet von einer hochgewachsenen, überaus attraktiven Lady, die jedes Kind in Großbritannien kannte, Margret Hopkins, »Märchentante« bei der BBC. Seit Jahr und Tag flimmerte sie jeden Sonnabend über die Bildschirme. Kinderfunk. Von zwei Uhr bis zwei Uhr dreißig nachmittags. »Guten Abend, Madam!« schnaufte der feiste Wirt, Respekt in der Stimme. Seine Frau war mittlerweile in die Küche gegangen, dann sagte der Wirt: »Guten Abend, Captain Hook.« *
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In diesem Augenblick gewährte das Schicksal Mark Dunlap eine letzte Chance, am Leben zu bleiben. Aber Dunlap sah diese Chance nicht, erkannte sie nicht, deutete alles falsch. Mark Dunlap hatte wie auch Dave Mitchell die Landkarte von Wales studiert. Danach kamen nur drei oder vier Burgruinen in Betracht, darunter die Burg Llanhodyn. Dorthin wollte Mark Dunlap zunächst. Als er Welshpool durchquert hatte, mußte er tanken, und während er an der Tankstelle hielt, sah er den Chefarzt Dr. Thomas am Volant eines schweren Bentley vorüberfahren. In Richtung auf Llanfyllin und damit auf die Burgruine Llanhodyn zu. Die Frau, die neben dem Chefarzt saß, erkannte Mark Dunlap nicht. Dazu war der Wagen zu schnell vorüber. Dunlap fuhr hinterher. Es wurde nun rasch dunkel, er sah nur noch die Rücklichter des Bentley. Kurz hinter Llanfyllin bog der schwere Wagen in die B 4393 ein. Mark Dunlap blieb dran. Nach ein paar Meilen stoppte der Bentley vor einem einsam gelegenen Haus an einer Kreuzung. Mark Dunlap stieg auf die Bremse und schaltete die Scheinwerfer aus. Er beobachtete, was vor dem Haus vor sich ging, soweit er das bei dem spärlichen Licht, das aus den Fenstern fiel, zu erkennen vermochte. Drei Männer kletterten in das Führerhaus eines Lkws, der vor dem Haus stand. Gleichzeitig stiegen der Chefarzt und dessen Begleiterin aus. Mark Dunlap hatte den Eindruck, daß der Arzt ein paar Worte mit den Männern in dem Führerhaus des Lkws wechselte, bevor er mit der Frau das Haus betrat. Der Lkw wurde gestartet, kam Mark Dunlap entgegen. Mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern. Mark Dunlap schaltete das Standlicht ein, und die Scheinwerfer des LKWs wurden abgeblendet. Als der LKW fast heran war, schaltete Mark Dunlap alle Lampen ein, die sein Wagen hatte 42 �
darunter einen überstarken Halogenscheinwerfer. Das Führerhaus des LKWs wurde fast taghell erleuchtet. Dunlap erkannte den Mulatten und den Gentleman wieder. Den dritten Mann jedoch, der zwischen dem Mulatten und dem Gentleman saß, kannte Dunlap nicht. Der LKW – ein offener Zweieinhalbtonner – ratterte vorüber. Mark Dunlap fuhr langsam weiter und sah, daß der flache Wagen, den er von weitem gesehen hatte, der Porsche Dave Mitchells vom »Daily Dispatch« war. Hätte Mark Dunlap nun angehalten, um sich mit Dave Nosy Mitchell zusammenzusetzen, wäre er mit Sicherheit heil aus der Affäre herausgekommen. Aber Mark Dunlap hielt eben nicht an, denn er hatte die absurde Idee, Dave Nosy Mitchell könne an der Treibjagd gegen ihn beteiligt sein. Der Grund dafür, daß Dunlap auf diese absurde Idee verfiel, war. Der Chefredakteur der ›Morning News‹ würde in einigen Monaten in Pension gehen, und als dessen Nachfolger waren sowohl Dave Mitchell als auch Mark Dunlap im Gespräch. Und Mark Dunlap hatte mehr Dienstjahre hinter sich, wahrscheinlich würde der Oberhäuptling sich für ihn entscheiden. Grund genug für Mitchell, den Konkurrenten aus dem Weg zu räumen? Selbstverständlich nicht nüchtern betrachtet. Das paßte nicht zu Dave Mitchell. Aber Mark Dunlap war nun schon so mißtrauisch, daß er alles für möglich hielt. Es kam ihm sehr eigenartig vor, daß Mitchell sich in diesem einsamen Gasthaus mit dem Mulatten und dem Gentleman getroffen hatte und jetzt mit dem Chefarzt zusammentraf. So vergab Mark Dunlap seine Chance, am Leben zu bleiben. Er fuhr an dem Gasthaus vorüber, stellte seinen Wagen ein paar hundert Yards weiter am Straßenrand ab und schlich sich zu Fuß 43 �
zum Gasthof zurück. * Dave Nosy Mitchell war nicht sonderlich überrascht, als der Chefarzt eintrat. Und Dave spielte mit, als Dr. Thomas so tat, als begegneten sie einander zufällig hier. »Hallo, Mr. Mitchell! Wie kommen Sie denn in diese Gegend?« »Hallo, Captain! Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen.« Die Männer tauschten einen Händedruck, Dave stellte Barbara als seine Verlobte vor, und der »Captain« sagte sehr laut: »Wer meine Begleiterin ist, erübrigt sich sicher zu sagen. Was Sie nicht wissen dürften, sie ist meine Frau.« Das Paar mußte angemeldet gewesen sein, denn der feiste Wirt überreichte dem »Captain« einen Zimmerschlüssel. Der Arzt gab den Schlüssel an seine Begleiterin weiter. Sie werde sich erst einmal frisch machen und käme später herunter, ließ sie die Herren wissen. Dr. Thomas blickte so auffällig auf Barbara, daß Dave Mitchell begreifen mußte, der Arzt wünsche ihn unter vier Augen zu sprechen. Also, fragte Dave Barbara suggestiv, ob sie sich nicht auch frisch machen wolle. Sie verstand und bejahte. Der Wirt wollte Barbara ihr Zimmer zeigen, aber die »Märchentante« meinte, das werde sie übernehmen. Dann saßen die beiden Männer allein an dem Ecktisch. Der Arzt bestellte ein Bier. Erst, als der Wirt das Bier gebracht hatte und wieder hinter der Theke stand, begann Dr. Thomas zu sprechen, nun so leise, daß der Wirt nichts verstehen konnte. »Zunächst zu Ihrer Information, Mr. Mitchell: Margret ist nicht meine Frau zumindest sind wir nicht miteinander verheiratet. 44 �
Sie ist auf dem Papier – noch immer die Ehefrau eines bekannten Politikers, von dem sie seit Jahren getrennt lebt. Ich selber bin Junggeselle. Warum Margret sich nicht scheiden lassen kann, gehört nicht hierher und ist Privatangelegenheit. Wie immer, wir verbringen hin und Wieder ein Wochenende miteinander in diesem Gasthof, und ich nenne mich hier Captain Hook.« Jetzt lächelte der Arzt flüchtig. »Ich bin überzeugt, daß die Wirtsleute wissen, wer ich in Wirklichkeit bin. Aber sie sind diskret, und das ist das Entscheidende.« Dave nickte. »Verstehe. Aber eine Zwischenfrage: Wo wohnt Mrs. Hopkins?« »Eigentlich in London. Doch sie hat eine Zweitwohnung in Welshpool.« »Und Sie sind Mrs. Hopkins' Psychiater, nehme ich an?« »So ist es. Jedenfalls nach außen hin für die Leute in Welshpool. Tatsächlich braucht sie keinen Psychiater.« »Und wo wohnen Sie selber, Doktor?« »Ich habe eine Dienstwohnung in der Anstalt.« »Das dachte, ich mir, weil Sie privat nicht im Telefonbuch stehen. Warum haben Sie mich hierher bestellt, Doktor?« »Weil, ich – das ist eine lange Geschichte.« »Machen wir's kurz, Sir! Sie werden erpresst zumindest unter Druck gesetzt. Stimmt's?« Der Arzt knetete seine Finger, seine Lider flatterten noch nervöser als vorher. »Man könnte es so bezeichnen«, murmelte er. »Wenngleich…« Der Rest war unverständlich. Aber Dave Mitchell begriff, daß Dr. Thomas vor irgendwem oder irgend etwas Angst hatte. »Was war mit Mark Dunlap los, Doktor? Bitte unumwunden! Hat er erlebt, was er erlebt zu haben behauptet, oder sind das nur Hirngespinste?« 45 �
Dr. Thomas zog den Kopf zwischen die Schultern, bevor er raunte: »Eine Gegenfrage: Glauben Sie an Geister oder Gespenster?« »Nein«, sagte Dave Mitchell entschieden. »Sie?« Kleine Schweißtropfen bildeten sich auf der Stirn des Arztes. Seine Hände zitterten. Er schob die Finger ineinander, aber die Hände zitterten trotzdem weiter. »Bis vor kurzer Zeit hätte ich nein gesagt. Aber seit ich den ›Blauen Vampir‹ gesehen habe…« »Den ›Blauen Vampir‹? Wann und wo sahen Sie ihn?« Der Arzt nahm sich zusammen, versuchte zu lächeln. Es wurde nur ein verzerrtes Grinsen. »Ich möchte darüber nichts sagen. Nicht jetzt.« Dies mit einem kurzen Blick auf den Wirt, der scheinbar gelangweilt in einer Zeitung blätterte. »Nun gut«, sagte Dave leise. »Dann beantworten Sie jetzt bitte meine Frage: War oder ist Dunlap grob gesagt übergeschnappt? Ja oder nein?« Der Arzt wurde etwas ruhiger, seine Hände zitterten nicht mehr. »Nein, wenn Sie mich fragen. So irreal die Erlebnisse, die er gehabt haben will, sich auch anhören mögen, er hat es erlebt. Genauso, wie er es geschildert hat. Wenn ich etwas von Psychiatrie verstehe, dann ja.« Dave Mitchell scheuerte seinen Nacken. »Okay, Doktor. Ich habe es zur Kenntnis genommen. Etwas anderes: Ich vermute, daß der bekannte Politiker, den Sie erwähnten, also Margret Hopkins Immer-noch-Ehemann, der Justizminister Archibald Hulme ist.« Der Arzt schluckte ein paar Mal. »Das ist richtig«, räumte er dann ein, »aber mehr darf ich Ihnen wirklich nicht sagen.« 46 �
»Im Interesse der Staatsräson?« Der Arzt nickte nur. »Aha. Weitere Frage: Wie gut kennen Sie Sir Norman Griffith, den früheren Lordrichter?« Der Arzt schluckte wieder, gab keine Antwort. »Nun?« drängte Dave. »Persönlich kenne ich ihn gar nicht.« »Aber Sie wissen, daß der Justizminister ein Neffe des früheren Lordrichters ist?« »Ja. Das weiß ich.« »Damit kommen wir der Sache schon näher. Nun die wichtigste Frage, Dr. Thomas: Welchen dunklen Punkt gibt es in Ihrer Vergangenheit? Konkreter gefragt: Welches Verbrechen haben Sie begangen, das bis heute unentdeckt geblieben ist?« Der Arzt hob nur die Brauen. »Sonst noch was?« fragte er ironisch. Seine Lider flatterten nicht mehr, er hielt Daves forschendem Blick stand. »Doktor«, sagte Dave Mitchell eindringlich, »ich bin weder Richter noch Staatsanwalt, es ist mir gleichgültig, ob Sie sich früher einmal strafbar gemacht haben oder nicht. Ich will herausfinden, was mit Mark Dunlap geschehen ist und was dahintersteckt, und…« »Dann fragen Sie doch Dunlap selber!« platzte der Arzt heraus. »Das werde ich. Sofern ich ihn finde.« »Er ist ganz in der Nähe«, behauptete Dr. Thomas. »Ich sah ihn an einer Tankstelle kurz hinter Welshpool. Er ist dann hinter mir hergefahren. Die ganze Zeit, bis zu diesem Haus. Wahrscheinlich steht er jetzt hinter dem Fenster und belauscht uns.« In diesem Augenblick faltete der Wirt die Zeitung zusammen, und verschwand in der Küche. Dave stemmte sich auf die Füße, ging zur Tür, riß sie auf. Draußen war Wind und Nieselregen. Sonst nichts. 47 �
Aber ein penetranter Geruch stieg Dave in die Nase, den er nicht zu deuten wußte, widerlich süßlich. Wie Leichengeruch. Nur sehr viel intensiver. »Ist Dunlap nicht da?« fragte der Arzt. Er war Dave gefolgt. Dave Mitchell schüttelte nur den Kopf. »Was stinkt denn hier so?« murmelte er. Der Arzt hielt sich die Nase zu. »Der Wind hat gedreht«, näselte er. »Bei Ostwind ist es hier kaum auszuhalten. Das kommt von der Abdeckerei, die etwa eine halbe Meile weiter ostwärts liegt. Sie wissen, was eine Abdeckerei ist?« »Ja.« Auch Dave hielt sich nun die Nase zu. »Dort werden Tierleichen verarbeitet. Zu Dünger, Knochenleim und was weiß ich noch.« »So ungefähr.« Es hörte zu regnen auf, und der Mond fand durch ein Wolkenloch. Im milchigen Licht sah Dave den Wagen, der etwa zweihundert Yards weiter nach Osten zu stand, nur als dunkle Silhouette. Dave setzte sich in Trab. Als er den Wagen erreicht hatte, erkannte er Dunlaps Roadster. Von Mark Dunlap selber war nichts zu sehen. »Mark!« rief Dave. »Mark!« schrie er schließlich. Der Wind fiepte. Sonst Stille. Dave zog eine Stablampe hervor und leuchtete in das Innere des Wagens. Der Zündschlüssel steckte. »Mark! Wo sind Sie?« schrie Dave. Der Mond verschwand wieder hinter Wolken. Dann hörte Dave Mitchell Schritte. Unrhythmische Schritte. Weiter vorn auf der Straße. Zu sehen war nichts, dazu war es jetzt zu dunkel. Dave leuchtete die Straße entlang. Dann sah er ihn, den Blauen Vampir. 48 �
Größer als irgendein lebender Mensch, viel größer. Das Gesicht mit den riesigen Vampirzähnen nicht bläulich, sondern tiefblau und die Spitzen der gelblichen Zähne rötlich gefärbt wie von frischem Blut. Das Ungeheuer tat noch zwei oder drei schleifende Schritte, blieb dann stehen, nur drei oder vier Yards von Dave Mitchell entfernt. Dave Nosy Mitchell hatte sonst Nerven wie Stahltrossen, aber die ließen ihn jetzt im Stich. Er empfand nichts mehr, nur Grauen. Der Umhang, den das Ungeheuer über die Schultern trug, teilte sich vorn und übergroße blaue Hände wurden sichtbar, die Handflächen mit Blut beschmiert. Diese blutigen Hände streckte der Vampir nach Dave Mitchell aus, setzte gleichzeitig den linken Fuß vor, zog den rechten nach. Tat das noch einmal und noch einmal. Dave Mitchell spürte den Atem des Monsters im Gesicht. Er wollte nach rückwärts ausweichen, aber seine Glieder gehorchten ihm nicht. »Was ist denn?« fragte der Arzt mit gelassener Stimme hinter Dave. Und Dr. Thomas legte Dave eine Hand auf die Schulter. Da löste sich die Starre. Dave Mitchell öffnete die verkrampfte rechte Hand, die Stablampe fiel zu Boden, rollte einmal im Kreis herum, und der Lichtkegel wanderte mit. Als die Lampe ausgerollt war, zeigte der Lichtkegel wieder nach vorn. Das Ungeheuer, der Vampir, war nicht mehr da. Eben jetzt brach das Mondlicht durch ein anderes Wolkenloch. Nichts mehr. Dabei gab es weder Baum noch Strauch noch sonst etwas, das dem Vampir hätte als Versteck dienen können. »Was ist denn?« wiederholte Dr. Thomas. Er hob die Lampe auf, leuchtete Dave damit ins Gesicht. 49 �
Dave schloß geblendet die Augen. Dann vermochte er wieder zu denken. »Haben Sie ihn nicht gesehen, Doktor?« »Wen soll ich gesehen haben?« Dave Mitchell öffnete die Augen. Der Arzt hatte die Lampe ausgeschaltet. »Nichts«, murmelte Dave, »schon gut.« Fast im selben Moment fiel ihm auf, daß es nicht mehr nach Leichen, nach Tierkadavern stank. Der Wind war eingeschlafen. Dave Mitchell nahm sich zusammen. Er scheuerte seinen Nacken, während er langsam zum Gasthof zurückging. Der Arzt hielt sich neben Dave, in dessen Schädel ein Gedankenkarussel kreiste. »Sagen Sie, Doktor, kennen Sie den oder die Inhaber der Abdeckerei?« »Nur vom Sehen und dem Namen nach. Ein gewisser Jackson ist der Chef und ein Mann namens Deacon, ein Mulatte, dessen rechte Hand, wenn ich so sagen darf. Die beiden fuhren gerade mit ihrem LKW weg, als ich vorhin ankam. Warum interessiert Sie das?« Dave Nosy Mitchell antwortete nicht. Er hatte eine grausige Vision. Mark Dunlap wollte in der Burgruine viele Leichen gesehen haben, und das Problem aller Mörder ist, wohin mit der Leiche. Dave sah den Mulatten vor sich, der zerstückelte Tierkadaver in einen großen Bottich warf, um sie zu Knochenleim, Kunstdünger oder Knochenmehl zu verarbeiten. Daß darunter auch Menschenleichen waren, würde hinterher niemand mehr feststellen können. Wo war Mark Dunlap? Wahrscheinlich tot. Seit ein paar Minuten, längstens einer Vier50 �
telstunde. »Ich muß zu dieser Abdeckerei«, murmelte Dave Mitchell. »Sofort.« »Wie bitte?« fragte der Arzt. »Was sagten Sie?« Sie waren inzwischen wieder bei dem Gasthof angelangt. »Ich…«, begann Dave, und er verstummte, denn er hörte Mark Dunlaps Stimme. Aus ziemlich großer Entfernung. »Hey, Dave! Können Sie mich verstehen?« »Ja, Mark. Wo stecken Sie?« Nosy schrie so laut er nur konnte. »Bei meinem Wagen. Wo Sie eben waren.« »Gut. Ich komme zu Ihnen.« »Nein, lassen Sie das, Dave! Halten Sie sich raus. Dies ist meine Story, wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will. Halten Sie sich raus. Klar?« Der Wagenschlag klappte, dann sprang der Motor des Roadsters an. Zu sehen war nichts, weil der Mond wieder hinter Wolken war. Die Rücklichter des Roadsters glommen auf, und die Scheinwerfer griffen nach vorn. Der Roadster fuhr los, war nur noch für Sekunden zu sehen, tauchte in eine Talmulde ein. Dave sprintete zu seinem Flitzer. Aber der Motor sprang mal wieder nicht an. Irgendwo in der Dunkelheit mußte einer der Gebrüder Westhouse stehen. Eine andere Erklärung war jedenfalls schwerlich denkbar. Dave Mitchell zerbiss einen Fluch und gab auf. Er würde sich vorerst an Dr. Alfred Thomas halten, der ganz gewiß eine Schlüsselfigur war. So oder so. * Sie saßen wieder an dem Ecktisch, und der Wirt stand wieder � 51 �
hinter der Theke. Er hatte frisches Bier gebracht und schien sich ausschließlich für die Zeitung zu interessieren. Dave Mitchell war inzwischen nicht mehr sicher, ob er tatsächlich Mark Dunlaps Stimme gehört hatte. Dem Klang nach gab es keinen Zweifel daran. Aber Dunlap redete seinen Kollegen und Konkurrenten niemals mit ›Dave‹ an, er nannte ihn entweder Mitchell oder Nosy. Und dann: Mark Dunlap hatte auf dem Klopapier berichtet, daß der Staatsanwalt des Geistergerichts mit der Stimme eines Toten gesprochen hatte des weiland Generalstaatsanwalts Terence Stamp. Wenn ein Mann die Stimme eines anderen Mannes täuschend echt nachahmen kann, dann ist er sehr wahrscheinlich imstande, auch die Stimmen mehrerer anderer Männer zu imitieren. Viele Schauspieler können das. Und jeder professionelle Stimmenimitator beim Variete oder Kabarett. »Nun mal die Karten auf den Tisch, Doktor!« forderte Dave. »Warum haben Sie mich ausgerechnet in ›Harper's Inn‹ bestellt.« Der Arzt grinste verkniffen. Eigenartigerweise schien er jetzt keine Furcht mehr zu empfinden. »Es hat sich eben so ergeben.« »Warum?« »Vor allem deshalb, weil ich nicht auf das Wochenende mit Margret verzichten wollte. Wir waren nun einmal für die kommenden beiden Nächte hier angemeldet.« »Trotz des ›Blauen Vampirs‹?« »Was hat der mit Margret und mir zu tun?« Nosy hatte es satt. »Geben Sie es auf, mich für dumm verkaufen zu wollen, Doktor! Ein Schäferstündchen können Sie in jedem Gasthof verbringen, dazu brauchen Sie nicht ausgerechnet dieses düster-armselige Gemäuer, in dem es noch dazu bei Ostwind infernalisch stinkt. Und überdies spukt.« 52 �
»Sie vergessen, daß Margret überall in Großbritannien erkannt wird. Wir sind auf die Diskretion der Wirtsleute angewiesen.« »Und Sie halten ausgerechnet die Harpers für diskret?« »Sie sind es. Wenn auch nicht ganz freiwillig.« »Aha. Jetzt kommen wir der Sache näher. Inwiefern nicht ganz freiwillig?« »Insofern, als…« Jetzt hatte der Arzt es offenbar satt, war er es leid. »Hören Sie, Mitchell, Sie sind wirklich weder ein Richter noch ein Staatsanwalt, wie Sie sehr richtig sagten. Sie haben keinerlei, Recht, mir inquisitorische Fragen zu stellen.« »Tue ich das?« »Wie wollen Sie es sonst nennen. Aber gut, ich will Ihnen entgegenkommen, soweit ich soweit mir das, nach Lage der Dinge möglich ist. Es gibt keinen so genannten dunklen Punkt in meiner Vergangenheit, ich habe kein Verbrechen begangen. Dennoch bin ich nicht ganz Herr meiner Entschlüsse, aber das hängt nur mittelbar damit zusammen, daß Margret und ich uns verstecken, unsere Liebe geheim halten müssen, so gut es irgend geht.« »Und womit unmittelbar?« wollte Dave wissen. Die Lider des Arztes flatterten nervöser denn je. »Kein Kommentar!« sagte er frostig. »Warum nennen Sie sich hier ›Captain Hook‹?« Dr. Thomas zuckte die Schultern. »Aus keinem besonderen Grund. Irgendeinen Namen mußte ich angeben, als Margret und ich zum ersten Mal hier waren. Und dieser fiel mir eben ein.« »Na gut Hook oder Brown, oder Miller oder wie immer. Aber warum mußten Sie sich einen militärischen Dienstgrad verleihen?« »Ich bin Captain. Oder doch jedenfalls Stabsarzt im Rang eines Captains. Stabsarzt der Reserve.« 53 �
Dave war mißtrauisch. Da es in Großbritannien keine Wehrpflicht gibt, konnte Thomas nur Militärarzt gewesen sein, bevor er in London seine Praxis eröffnet hatte als damals noch recht junger Mann. Und da alle Berufssoldaten sich auf viele Jahre verpflichten müssen, konnte das eigentlich nicht stimmen. Es sei denn, Dr. Thomas hatte aus irgendwelchen Gründen den Dienst vorzeitig quittieren müssen. Müssen! Denn die Armee entlässt niemanden vor Ablauf der Dienstzeit. Sie schmeißt nur Leute heraus, die untragbar geworden sind. »Und warum wurden Sie geschasst?« fragte Nosy daher. »Eben das wurde ich nicht«, behauptete der Arzt. »Sondern?« »Ich kam um meine vorzeitige Entlassung ein, und dem Antrag wurde stattgegeben.« »Aus welchem Grund?« »Aus Gesundheitsgründen.« »Sie machen aber einen sehr gesunden Eindruck von Ihrer Nervosität abgesehen.« »Es war kein physisches Leiden.« »Verstehe«, sagte Dave Nosy Mitchell. Denn das war nicht schwer zu verstehen. »Bei welchem Regiment oder welcher Einheit haben Sie gedient?« »Beim Sanitätskorps des 5. Regiments der Royal Hussars.« Dave Nosy Mitchell scheuerte seinen Nacken. Dann feuerte er einen Schuß ins Blaue ab. »Und bei diesem Regiment stand auch Albert Westhouse?« Der Schuß traf ins Schwarze. »Woher wissen Sie das?« Dave feixte. Er hatte es nicht gewußt, sich nur zusammengereimt. Ein Mann mit einer Beinprothese war wahrscheinlich Kriegsteilnehmer. In diesem Augenblick schrillte das Telefon. Der Apparat hing 54 �
über der Theke an der Wand. Der Wirt nahm den Hörer ans Ohr. »Harper's Inn. – Ja? Ich weiß nicht öööh ich müßte fragen.« Der Wirt bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und schnaufte halblaut: »Es ist für – öööh – Sie, Captain. Ein Mann namens Westhouse öööh fragt, ob Sie hier sind. Ich habe öööh geantwortet, ich wüsste es nicht. Was soll öööh – ich tun?« Der Arzt überlegte nur eine Sekunde lang. »Sagen Sie, ich sei soeben eingetroffen.« Das tat der Wirt. Dr. Thomas ging hinter die Theke, nahm den Hörer, meldete sich nur mit: »Ja.« Sein Gesicht blieb, unbewegt, während er zuhörte. Nur die Lider flatterten. »Ich komme!« sagte er nach etwa einer halben Minute. Er kam zum Ecktisch zurück und erklärte mit gedämpfter Stimme, er müsse in die Anstalt. Sofort. Dann lief er die Treppe hinauf. Nach knapp fünf Minuten kam er zusammen mit Margret Hopkins zurück. Im Vorübergehen legte er eine Banknote auf die Theke. Dave folgte dem Paar nach draußen. Es regnete wieder. »Was ist passiert, Doktor?« »Nichts, das Sie etwas anginge. Ich werde in der Anstalt gebraucht.« »Und Albert Westhouse weiß, daß Sie hier als ›Captain Hook‹…« »Ja. Ich muß jederzeit erreichbar sein, und bei dem ehemaligen Staff-Sergeant Westhouse ist Margrets und mein Geheimnis sehr gut aufgehoben. Entschuldigen Sie mich jetzt, Mitchell. Ich bin sehr in Eile.« Der Geruch der Auspuffgase hing noch ein paar Sekunden in der Luft. Dann verschwanden die Rücklichter des Wagens hinter Regenschnüren. Dave wollte in die Gaststube zurück. Doch da stutzte er. Stand 55 �
dort nicht ein Mensch. Drüben neben dem Wegweiser. »Hey – Sie da!« rief Dave. Die Gestalt neben dem Wegweiser rührte sich nicht. Dave zückte die Stablampe. Aber die Lampe funktionierte nicht. Dave Mitchell schüttelte sie, klopfte dagegen. Nichts. Dave hatte einen Atemzug lang auf die Lampe gestarrt. Als er wieder zu dem Wegweiser hinüberblickte, sah er, daß er sich nicht geirrt hatte. Der Mann, der sich gegen den Pfahl des Wegweisers gepresst hatte, rannte querfeldein davon. Dave sprintete los. Der Mond hatte wieder ein Wolkenloch gefunden, so daß Nosy den Fliehenden nun deutlicher sah. Er trug einen Regenmantel aus Gummi oder irgendeinem glänzenden Material. Und er könnt verdammt schnell laufen. Dave Nosy Mitchell war früher Leistungssportler gewesen, ein As auf der Aschenbahn. Bis zu vierzig Zigaretten per Tag und viel Rum im Kaffee zehrten zwar an seiner Kondition, aber dessen ungeachtet war er noch immer schneller als untrainierte Normalbürger. Der Mann im Regenmantel hielt nicht nur den Abstand, er vergrößerte ihn. Als der Mond wieder hinter Wolken verschwand, sah Dave den Regenmantel nicht mehr. Er rannte trotzdem weiter. In derselben Richtung. Dann hörte er jemanden lachen. Rechts von ihm. Dave blieb stehen, stützte die Hände in die Taille und keuchte. Ein Motorrad wurde gestartet. Sofort auf Vollgas gebracht. Dave zerrte die Stablampe hervor, und jetzt funktionierte sie. Der Lichtfinger erfasste ein schweres Motorrad, das förmlich vorwärts katapultiert wurde. Dave hatte den Eindruck, daß niemand auf der Maschine saß. Er rannte weiter zu der Stelle, wo die Maschine gestartet worden war. Dort lief eine Straße entlang. Wenn Nosy sich nicht 56 �
irrte, müßte es die sein, die von Harper's Inn zu der Abdeckerei führte. Die Straße war gepflastert, aber es gab Erdstreifen zwischen dem Straßenpflaster und der Grasnarbe. Das Motorrad war auf dem Erdstreifen aufgebockt gewesen. Im Lichtkegel der Stablampe sah Dave die Reifenabdrücke und die beiden Löcher, die der Ständer in dem vom Regen feuchten Erdreich hinterlassen hatte. Und er sah noch etwas, die Abdrücke ungewöhnlich großer und nackter Füße. Der Mann im Regenmantel hatte keine Schuhe getragen. Dave fand die Stiefel, wie Motorradfahrer sie tragen. Sie lagen dicht neben dem Erdstreifen im Gras. Dave Nosy Mitchell scheuerte mal wieder seinen Nacken. Er reimte sich einiges zusammen und war überzeugt, richtig kombiniert zu haben. Der Motorradfahrer war Paul Westhouse, der jüngere der beiden Brüder. Er war hinter Dr. Thomas hergefahren und hatte die Maschine ein ganzes Stück von Harper's Inn entfernt aufgebockt. Dann war er auf Strümpfen um nicht gehört zu werden zu dem Gasthaus gepirscht, um falls das sein mußte mittels Telekinese zu verhindern, daß Daves Porsche ansprang. Wie er dann auch verhindert hatte, daß die Stablampe funktionierte. Daß Dave den Eindruck gehabt hatte, das Motorrad führe ohne Fahrer davon, war sicher eine optische Täuschung in der Dunkelheit. Der Mann hatte sich tief über den Lenker gebeugt. Dave hob die Stiefel auf, klemmte sie sich unter den Arm. Er ging die Straße in Richtung auf Harper's Inn zu entlang. Eine Minute, zwei Minuten drei Minuten. Dann begriff Dave Nosy Mitchell, daß er die Orientierung verloren hatte und in die falsche Richtung marschierte. Er machte kehrt. Der Regen war in einen Dauerregen überge57 �
gangen, der Himmel völlig bedeckt. Wolkenlöcher gab es nicht mehr. Dave Mitchell sah den Klumpen erst, als er auf wenige Schritte heran war, ein schwärzliches Etwas, ungefähr so groß wie ein Fußball. Dave schaltete die Stablampe ein. Der ›Fußball‹ war ein Kopf. Mark Dunlaps Kopf. Irgendwo im Wiesental lachte irgendwer. Laut und schrill. Dann wurde Dave Mitchell übel. Seine Beine trugen seinen Körper nicht mehr, ihm wurde schwarz vor Augen. Er hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. * Als Dave Mitchell Wieder zu sich kam, nutzte es ihm gar nichts, daß er seinen Nacken scheuerte. Man kann nicht begreifen, was unbegreiflich ist. Ihm war noch immer speiübel. Er lag flach auf dem Rücken im Gras neben der Straße, und als er den Oberkörper aufgerichtet hatte, sah er einen Lichtschein. Die Lampe über der Haustür von ‹Harper's Inn‹. Warum hätte er dieses Licht vorhin nicht gesehen? Nur, weil es geregnet, weil der Regen die Lampe verhängt hatte? Der Kopf – Mark Douglas Kopf war verschwunden. Und auch die Motorradstiefel waren verschwunden. Dave preßte die Hände gegen die Schläfen. In seinem Schädel dröhnte es, als ob Hummeln da drinnen hin- und her flogen. Als er endlich auf den Füßen stand und auf das Licht zuging, nein, schwankte, tat ihm jeder Schritt weh. Im Gehirn. Dave Nosy Mitchell weigerte sich noch immer, an Geister oder Gespenster zu glauben. Er wußte, daß es Drogen gibt, die Halluzinationen bewirken, und die einzig logische Erklärung schien 58 �
ihm zu sein, daß Dr. Thomas ihm eine solche Droge in das Bier getan hatte. Er beschloß, Barbara nichts zu sagen. Um sie nicht zu beunruhigen. Der feiste Wirt war noch immer in der Küche oder wo immer. Jedenfalls nicht in der Gaststube. Barbara saß am Ecktisch. »Wo waren Sie?« wollte sie wissen. »Sie haben ja keinen trockenen Faden mehr am Leib.« Dave antwortete nicht. Er murmelte nur, er wolle sich umkleiden. Sie, Barbara, möge ihm sein Zimmer zeigen. Sie stiegen die Treppe hinauf. Droben gab es beiderseits eines schmalen Korridors insgesamt acht Zimmer, nur vier davon Fremdenzimmer. Daves Zimmer lag dem Barbaras gegenüber. Barbara hatte Daves Reisetasche ausgepackt, der zweite Anzug, den er mitgebracht hatte, hing im Kleiderschrank. Als Dave den Anzug gewechselt hatte, klopfte er an die Tür von Barbaras Zimmer. »Kommen Sie herein, Dave. Die Tür ist nicht abgeschlossen.« Barbara stand mit dem Rücken zum Zimmer am Fenster. Sie bemühte sich, das Fenster zu öffnen, das offenbar klemmte. Dave war mit fünf langen Schritten neben ihr, wendete Gewalt an, alle Kraft, die er hatte. Aber das Fenster rührte sich nicht. Da die Deckenlampen brannten, konnte man nicht nach draußen sehen. Die Fensterscheibe wirkte wie ein Spiegel. »Draußen hat jemand gelacht«, hauchte Barbara, »laut und schrill.« Dave war schon an der Tür und knipste die Deckenlampe aus. Dann eilte er zum Fenster zurück. Regen prasselte gegen die Scheibe und machte sie nach wie vor undurchsichtig. Zu hören war nichts, außer dem Trommeln des 59 �
Regens gegen die Scheibe. Dave hatte die Tür offengelassen. Er versuchte noch einmal und immer noch einmal, das Fenster zu öffnen. »Geben Sie sich – öööh keine Mühe«, schnaufte der Wirt, der plötzlich an der offenen Tür stand. »Alle Fenster in diesem Haus sind öööh – zugenagelt. Wegen der öööh Abdeckerei. Wenn der öööh Gestank einmal im Haus ist, bleibt er öööh tagelang drin.« Dave Nosy Mitchell murmelte: »Aha!« Und er fragte: »Wenn alle Fenster zugenagelt sind wie belüften Sie die Räume, Mr. Harper?« »Durch Exhaustoren, die es öööh in jedem Zimmer gibt und die öööh nur dann eingeschaltet werden, wenn nicht öööh Ostwind ist.« Und dann kam es: »Wenn ich öööh Ihnen ein Rat geben – öööh – darf, Nosy, dann ist es öööh – dieser. Lassen Sie die öööh Finger davon, Sir. Sie sind doch öööh Dave ›Nosy‹ Mitchell – öööh vom – öööh – ›Daily Dispatch‹. Oder?« Dave blieb stumm. Das war Harper offenbar Antwort genug. »Lasen Sie die Finger – öööh davon«, wiederholte er. »Warum sollte ich?« »Weil – weil…« Harper schüttelte den Kopf. Die Fettwülste wabbelten. »Selbst wenn ich öööh es Ihnen öööh sagte, Sie würden es mir öööh nicht glauben.« »Das käme auf den Versuch an.« »Nun gut. Weil öööh weil der Blaue Vampir nichts von öööh Ihnen will. Weder von Ihnen noch öööh von Miss Fulton. So wenig wie er öööh etwas von Ihrem Kollegen öööh Mark Dunlap gewollt hat. Aber wer – öööh sich dem Vampir entgegenstellt, der wird – öööh von ihm kaltgestellt, kaltgemacht oder – öööh – selber in einen Vampir verwandelt. Wollen Sie öööh das?« 60 �
»Nicht unbedingt«, sagte Dave Nosy Mitchell. »Aber reden Sie weiter!« »Das ist öööh alles, was ich Ihnen öööh – sagen will und kann.« »Nicht so ganz, schätze ich. Sie wissen, wer ›Captain Hook‹ in Wahrheit ist?« Harper bedachte sich drei schnaufende Atemzüge lang. Erst dann nickte er. »Und warum will der Blaue Vampir Captain Hook alias Dr. Alfred Thomas ans Leder?« »Weil öööh – weil der ›Blaue Vampir‹ der Geist des öööh dritten Grafen von Llanhodyn ist – 1456 bis 1483 der es zuließ, daß seine Geliebte bei lebendigem Leib eingemauert öööh wurde.« »Wie das?« fragte Dave Nosy Mitchell. »Das war die damals – öööh – übliche Strafe für öööh Ehebrecherinnen: bei lebendigem Leib öööh eingemauert öööh zu werden. Nicht für Ehebrecher, die – öööh – blieben straffrei. Nur Frauen wurden – öööh – eingemauert, niemals – öööh Männer. Die Ehefrau des – öööh – Grafen ertappte den Grafen mit einer öööh – ihrer Zofen in flagranti, und der Graf – öööh behauptete – öööh selbstverständlich öööh –, er sei öööh von der Zofe verführt worden öööh –. Die Gräfin bestand – öööh – darauf, öööh – daß öööh die Zofe öööh eingemauert wurde, und die Zofe fügte öööh sich darein, nachdem der Graf öööh ihr versprochen hatte, er würde – öööh dafür sorgen, daß sie öööh befreit werden würde, noch bevor – öööh – sie erstickte. Ein Versprechen, das öööh er nicht hielt. Denn für ihn war die öööh Zofe nur ein Betthäschen eine öööh von öööh vielen. Zur Strafe öööh dafür öööh ist er dann ein öööh Vampir geworden, der öööh nicht nur blaues Blut hat, wie man öööh vom Adel behauptet, sondern öööh blau aussieht öööh.« »Woher wissen Sie das alles?« forschte Dave. � Harper zuckte die Schultern. Sein Schmerbauch wogte dabei. � 61 �
»Das weiß öööh jeder in dieser öööh Gegend. Es wird öööh von Generation zu Generation – öööh weitererzählt, überliefert – öööh –.« »Ah ja. Und was hat der Blaue Vampir gegen Captain Hook alias Dr. Thomas?« »Er hat – öööh etwas gegen alle öööh Ehebrecher. Nur gegen die öööh – Männer, nicht gegen die öööh Frauen.« »Wie das?« »Die Überlieferung öööh sagt es so. Weil er die Zofe – öööh praktisch ermorden – öööh – ließ, findet er keine – öööh Ruhe öööh – im Grab. Er ist öööh dazu verdammt, als öööh Vampir – öööh zu erschienen, zu geistern. Und er öööh bestraft alle öööh Männer, die öööh Ehebruch begehen.« »Da hat er alle Hände voll zu tun«, sagte Dave sarkastisch. »Früher vielleicht. Jetzt öööh nicht mehr.« »Nanu. Sind Die Ehemänner in dieser Gegend so brav?« »Nein. Nicht braver als öööh anderswo, denke ich. Aber öööh der Blaue Vampir tritt – öööh nur in der Burg Llanhodyn und öööh hier in diesem öööh Haus in Erscheinung.« »Oder in der Umgebung der Burg und dieses Hauses?« »Nein. Das öööh ist meines Wissens öööh – nie vorgekommen.« Dave wußte es anders. Aber er schwieg. »Es verhält sich öööh so, Sir, daß…« Der feiste Mann erklärte schnaufend, daß der Vampir nur Ehebrecher heimsuche, die entweder in der Burg oder in seinem, Harpers, Haus den Ehebruch vollzogen. Weil das Schloß seit über zweihundert Jahren unbewohnt und inzwischen halb verfallen sei, habe der Vampir dort nichts mehr zu tun gehabt. Das heutige Gasthaus sei bei Lebzeiten des dritten Grafen von Llanhodyn ein Vorwerk gewesen, auf dem Schafzucht betrieben wurde. Die Zofe sei die Tochter des Schäfers gewesen, und Graf Ian Llanhodyn habe es in diesem 62 �
Haus mit der Zofe getrieben, während er angeblich auf einem Jagdausflug war. In diesem Haus habe die mißtrauisch gewordene Gräfin die beiden dann überrascht. Seit die Burg unbewohnt sei, werde der Graf als Vampir also nur noch in diesem Haus – der Stätte seiner Sünde tätig. Dave nickte verstehend. »Oft?« fragte er trocken. »Nein. Jeder in der Umgebung weiß davon und hütet sich daher, es in diesem Haus zu treiben.« »Und was tut der Vampir, wenn er auf welche Weise bestraft er die Ehebrecher?« »Zunächst gar nicht. öööh Er zeigt sich ihnen nur und – öööh – warnt sie. Erst wenn sie öööh dann trotzdem noch dann – öööh tötet er sie.« »Auf welche Weise?« »Wie Vampire töten. Er öööh saugt Ihnen das Blut öööh aus.« »Wann ist das zuletzt geschehen?« »Ich öööh weiß es nicht. Nicht öööh – genau. Vor ungefähr – öööh fünfzig Jahren.« »Haben Sie den Vampir gesehen?« »Nnnein.« Das klang nicht sehr glaubwürdig. »Aber Sie kennen Leute, die ihn gesehen haben?« »Ja.« »Dr. Thomas zum Beispiel.« Der Wirt nickte. »Wie sieht der Vampir aus?« »Wie der – öööh – lebende Graf Ian, der ein öööh Riese an Gestalt war. Viel größer als öööh – irgendein Mann seit öööh Menschengedenken. Sein öööh rechtes Bein war steif. Die öööh – Folge eines Unfalls. Der öööh Vampir zieht auch das öööh rechte Bein nach.« »Und er sucht nur Ehebrecher heim?« »Nein. Er soll auch öööh Verbrecher öööh töten, deren – öööh – Tat unentdeckt geblieben 63 �
öööh ist, oder doch öööh ungesühnt. Aber nur – öööh Verbrecher, die öööh auf der Burg Llanhodyn leben, wie die öööh Überlieferung sagt.« »Aber dort lebt seit über zweihundert Jahren niemand mehr.« »Lebte öööh – niemand mehr.« »Jetzt ist das Schloß wieder bewohnt?« »Nicht direkt. Aber öööh Handwerker sind öööh dabei, einige öööh Räume zu öööh restaurieren, wieder öööh – bewohnbar zu öööh – machen.« »Aha. Eine ganz andere Frage: Seit wann sind Sie hier Wirt, Mr. Harper?« »Seit ungefähr – öööh zwei Jahren. Früher hatte ich öööh eine Wirtschaft in öööh London, die öööh abgerissen wurde, weil ein Neubau errichtet werden öööh sollte. Ich bin kein öööh reicher Mann und mein öööh Makler tat dieses Haus auf. Es war öööh sehr billig zu haben.« »Und Sie stört es nicht, daß der Vampir…« »O doch. Aber er hatte sich – öööh doch viele Jahre nicht mehr gezeigt, aber ich – öööh kaufte.« »Ah ja.« Dave Nosy Mitchell scheuerte seinen Nacken. Er war mehr denn je der Überzeugung, daß alles mit rechten Dingen zuging. Denn er sah einen roten Faden. »Kennt man den Namen der Zofe von damals?« fragte er. »Ja«, schnaufte der Wirt. »Sie hieß – öööh Sheila Griffith.« »Also genauso wie die Enkelin des pensionierten Lordrichters Griffith, die vor einiger Zeit Selbstmord begangen hat. »Davon weiß ich nichts, Sir.« Das glaubte Dave Mitchell nicht. Im übrigen war der Wirt – so behauptete er jedenfalls ins obere Stockwerk gekommen, um zu Tisch zu bitten. Das Abendessen sei serviert. 64 �
*
Dave aß trotz allem mit gutem Appetit. Barbara nahm kaum etwas zu sich. Aber sie hielt sich tapfer. Furcht schien sie nicht zu empfinden. Aber sie hatte ja das Unheimliche, Gespenstische, Grausige nicht erlebt. Der Wirt watschelte in die Küche und blieb dort. Barbara war zumindest nervös. Sie lächelte Dave an, aber das war kein frohes Lächeln. »Ich habe zwar versprochen, keine Fragen zu stellen, aber…« »Schon gut, Barb. Ich sehe ein, daß ich Sie nicht länger unwissend lassen darf, dazu ist unser Unternehmen mittlerweile zu riskant, zu gefährlich geworden. Also, das Ziel der Unternehmung ist, Mark Dunlap zu finden, der, fürchte ich, inzwischen nicht mehr lebt.« Dave sagte nicht alles, nur fast alles. Er ließ aus, was gar zu grausig war. Zum Schluß faßte er zusammen: »Noch weigere ich mich, an Geister zu glauben. Noch halte ich es für wahrscheinlicher, daß das alles irgendwie in Szene gesetzt wird. Auf welche Weise, weiß ich nicht, da mögen Telekinese, Hypnose und Drogen im Spiel sein, und das ganze scheint mir wird aufgeführt von einer – sagen wir – Organisation, in deren Mittelpunkt der frühere Lordrichter Griffith steht. Wenn das so ist, dann gehören Dr. Thomas, die Gebrüder Westhouse, Harper und dessen Frau und die Leute von der Abdeckerei dazu. Dann gibt es weder den Vampir noch all die anderen Erscheinungen, und dann besteht die Organisation schon seit Jahren. Dann sind etliche Leute nur scheinbar beerdigt worden, nachdem sie nur scheinbar gestorben waren. Der Arzt, der die Totenscheine ausgestellt und unter65 �
schrieben hat, könnte Dr. Thomas gewesen sein. Wie immer, Barb, ob wir es nun mit lebenden Menschen oder tatsächlich mit den Geistern Verstorbener zu tun haben, Sie und ich leben gefährlich, solange wir unsere Nasen hineinstecken, zumal uns das harmlose Touristen-Liebespaar niemand mehr abkauft. Ich denke, ich sollte Sie zum nächsten Bahnhof fahren und Ihnen einen Schlafwagenplatz nach London spendieren.« Barbs veilchenblaue Kinderaugen waren groß und gläubig auf Dave gerichtet, als sie den Kopf schüttelte. »Ich bleibe bei Ihnen, Dave. Mitgehangen mitgefangen.« »Sie wissen nicht, worauf Sie sich einlassen, Barb.« »Ich denke, doch«, sagte sie fest. »Mehr als das Leben, kann es nicht kosten. Und was ist denn das schon für ein Leben, das ich führe. Ständig in Geldnot. Immer auf die große Chance hoffend, mir endlich einen Namen zu machen, die niemals kommt. Wenn wir heil aus dieser Sache herauskommen, Dave, dann ist es die Sensationsreportage des Jahres, vielleicht des Jahrzehnts, und ich habe die Fotos dazu gemacht Dann bin ich endlich jemand in der Branche, Dave. Dann habe ich es geschafft. Es ist doch so, oder?« Dave Nosy Mitchell nickte. »Schicken Sie mich nicht fort, Dave. Bitte nicht. Ich war schon sehr fleißig.« »Wie verstehe ich das?« Barbara Fulton griff sich in den Ausschnitt, zog eine Minikamera hervor, schob sie zurück »Ich habe alle drauf. Der Film ist extrem lichtempfindlich, und ich habe Dr. Thomas und die Gebrüder Westhouse, den Wirt und die Wirtin, die Steinbrucharbeiter und überhaupt alle und alles geschossen, ohne daß es jemand bemerkt hat.« Dave scheuerte seinen Nacken nur kurz. »Okay«, murmelte er dann, »Sie bleiben! Wenigstens bis auf 66 �
weiteres. Allerdings, Sie werden nicht in Ihrem, sondern in meinem Zimmer schlafen. In dem Bett in meinem Zimmer.« »Und Sie?« »Ich schlafe in demselben Zimmer. Auf dem Sofa. Um zur: Hand zu sein, wenn: etwas passieren sollte.« »In Ordnung«, sagte Barbara schlicht, ohne sich zu zieren. Der Wirt kam aus der Küche und räusperte sich. Ob die Herrschaften noch irgend etwas zu bestellen wünschten. »Nein, danke.« Dave und Barbara stiegen die Treppe empor. Drunten schloß Harper die Haustür ab. Gäste erwartete er so spät am Abend wohl nicht mehr. Ein Bad gab es nicht in dem alten Gemäuer. Allerdings Waschbecken mit fließendem kalten und warmen Wasser. Für warmes Wasser sorgte ein Elektrospeicher. Dave wusch sich in Barbaras Zimmer. Und umgekehrt. Als er dann bei ihr anklopfte, lag sie schon im Bett, züchtig bis zum Hals zugedeckt. Dave hatte das Bettzeug aus Barbaras Zimmer mitgebracht und packte sich auf das Sofa, ein Möbel aus der viktorianischen Zeit, sehr gut zum Sitzen, aber nicht zum Liegen geeignet. Schon gar nicht für einen Mann von Dave Nosy Mitchells Körperlänge. »Gute Nacht, Barb«, sagte er betont sachlich. »Gute Nacht, Dave«, wisperte sie. Dann knipste sie mit dem Zeigefinger die Nachttischlampe aus. Sie hörten beide, daß der Wirt und die Wirtin sich drunten lautstark stritten. Zu verstehen war nichts. Dazu waren die Mauern in dem alten Haus zu dick, zu massiv. In der Ferne heulte ein Hund und drei oder vier andere Hunde fielen ein. 67 �
Vor dem Fenster war es heller geworden. Der Wind hatte die Wolken vertrieben, und die Hunde bellten den fast vollen Mond an. Die Wirtsleute kamen die Treppe herauf, immer noch streitend. Aber nun leiser als vorher. Zwei Türen klappten zu. Dann war Stille. Offenbar schliefen die Eheleute getrennt. Die Hunde verstummten nach einiger Zeit. Barbara war eingeschlafen. Jedenfalls atmete sie, wie Schlafende atmen. Der Wind, der dünn klagend fiepte, schlief auch ein. Erwachte dann jäh wieder, fiepte, pfiff, heulte um das Haus. Rüttelte an dem zugenagelten Fenster. Das Fenster sprang auf. Der Wind, inzwischen zum Sturm angewachsen, brach wie mit Brachialgewalt in das Zimmer, rüttelte an der Tür, die Dave Nosy Mitchell von innen verriegelt hatte. Auch die Tür sprang auf. Von irgendwoher kam Gegenzug. Die Tür fiel zu. Das Fenster blieb offen. Irgend etwas fiel hörbar von der Fensterbank auf den Fußboden. Dave Mitchell hatte seine Stablampe neben dem Sofa auf den Tisch gelegt. Und die funktionierte dieses Mal. Auf dem altersdunklen hölzernen Fußboden unter dem Fenster sah er Mark Dunlaps Kopf. Blut sickerte unter der Schnittfläche heraus, ein dünnes Rinnsal lief zur Wand wie eine dünne blutrote Schlange, die entgegen den Gesetzen der Schwerkraft nach oben kroch. Dave Mitchell empfand nacktes Grauen. Sonst nichts. Er ächzte. Er keuchte. 68 �
Er schrie schließlich. Stieß einen gellenden Schrei aus. Davon erwachte Barbara. »Was ist denn?« lallte sie schlaftrunken. Und in diesem Augenblick war alles vorüber. Das Fenster war zugeschlagen, der Sturm hatte sich gelegt. Und Mark Dunlaps Kopf war schnell wie eine mit großer Kraft geworfene Kegelkugel zur Wand gerollt, an der Wand empor, über den Fenstersims hinweg nach draußen. Um den Bruchteil einer Sekunde bevor das Fenster zugeschlagen war. Nur das Blutrinnsal die dünne rote Schlange war noch da. * »Was ist denn?« wiederholte Barbara nun wacher als vorher, aber noch nicht hellwach. Dave Mitchell antwortete nicht. Er vermochte noch nicht zu antworten. Als er das vermochte, seine aufgewühlten Nerven wenigstens wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, murmelte er: »Es ist nichts, Barb, ich hatte einen Alptraum, ich nehme an, ich habe einen Schrei ausgestoßen.« Barbara knipste die Nachttischlampe an, und Dave fiel erst jetzt auf, daß die Stablampe kein Licht mehr ausstrahlte. Die dünne rote Schlange war noch da. Dave stand auf, ging zum Fenster. Das war zugenagelt. Er sah die Nagelköpfe unter der Farbschicht. Der Fensterrahmen war weiß gestrichen, die Fensterbank aber karminrot. Kamin- oder blutrot. Frisches Blut ist karminfarben. Etwa in der Mitte der Fensterbank hatte der Maler die Farbe zu dick aufgetragen, so daß sie in einem dünnen Rinnsal bis zum 69 �
Fußboden gelaufen war. Hatte Dave Mitchell vielleicht wirklich nur einen Alptraum gehabt?« Ausgeschlossen. Eigentlich ja. So plastisch träumte man nicht, hatte jedenfalls Dave Nosy Mitchell niemals vorher geträumt. Und doch! Gab es denn eine andere Erklärung? Dave Mitchell legte die Spitze seines rechten Zeigefingers auf das Rinnsal aus glänzender, aber eingetrockneter Ölfarbe. Er spürte Feuchtigkeit. Er zwang sich dazu, an dem Feuchten zu lecken. Er mußte sich dazu zwingen, es kostete ihn Überwindung. Er schmeckte nicht Ölfarbe, sondern Blut. Barbara, inzwischen ganz wach geworden, wollte wissen, was Dave Mitchell am Fenster mache. Er schüttelte nur den Kopf. Dave würde nicht auf seinem Ruhelager schlafen können. Davon war er durchdrungen. Er wunderte sich daher sehr, als er aus einem tiefen und erholsamen Schlaf erwachte, weil ihm die Morgensonne direkt ins Gesicht schien. Da fiel ein Schuß. Dave sprang auf, lief zum Fenster. Es war niemand zu sehen. Barbara war erwacht. »Was war das?« fragte sie. Wieder fiel ein Schuß, gleich darauf noch einer. Dem Klang nach zu urteilen Gewehrschüsse. »Irgendein Jäger vermutlich«, murmelte Dave. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor acht. »Ich werde mich drüben in Ihrem Zimmer waschen und rasieren«, sagte er. *
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Es stellte sich heraus, daß es Harper gewesen war, der die Schüsse abgefeuert hatte. Zumindest behauptete er, auf Wildkaninchen geschossen zu haben, die den kleinen Gemüsegarten hinter dem Haus verwüsteten. Getroffen habe er nichts. Harper bereitete das Frühstück für Dave und Barbara. Die Wirtin ließ sich nicht sehen. Diesmal aßen beide mit gutem Appetit. Dann bezahlte Dave die Rechnung, Harper trug schnaufend das Gepäck seiner Gäste zu dem Porsche, wünschte gute Fahrt. »Wird schon werden!« sagte Dave salopp. Er sah im Rückspiegel, daß Harper vor der Haustür stehen blieb, bis der Flitzer in die erste Bodensenke tauchte. Dave fuhr ostwärts. Auf die Abdeckerei zu. Der Himmel hatte sich wieder bezogen, und da der Wind steif aus Westen blies, rochen Dave und Barbara die Abdeckerei erst, als sie sie sahen. Von dem Kamm des nächsten Höhenzuges aus. Die Straße ging nun ziemlich steil talwärts, und in der Talsohle lag rechts der Straße ein kleines Wohnhaus, von dem aus ein Seitenweg zu der eigentlichen Abdeckerei führte, einem kubischen Gebäude aus Ziegelsteinen mit einem Fabrikschornstein und je einem Schuppen rechts und links als Anbau. Die Fenster des Porsche waren geschlossen. Dennoch kroch süßlicher Gestank herein. Dave ließ den Flitzer vor dem Wohnhaus ausrollen. Als er den Wagenschlag öffnete, benahm ihm der Gestank fast den Atem. »Bleiben Sie im Wagen, Barb!« befahl Dave. »Ich bin bald zurück.« Sie hielt sich die Nase zu. »Was haben Sie vor?« »Nichts Besonderes«, wich er aus, »mir nur diesen Laden mal ansehen. Ein Hund begann zu bellen. Drüben bei dem Fabrikgebäude. 71 �
Andere Hunde fielen ein. Das Gekläff mußte den oder die Bewohner des Wohnhauses alarmieren, aber es rührte sich nichts. Das Grundstück war mit einem etwa sieben Fuß hohen Zaun aus Maschendraht umsäumt. Das Tor war verschlossen, aber nicht abgeschlossen. Dave öffnete es ein Stück, schlüpfte hindurch, ging zu dem Wohnhaus. Auf einem Messingschild neben der Haustür stand: Clyntave & Vrybin Inhaber: R. Jackson Abdeckerei und Tierkörperverwertung. Dave pflanzte – den Daumen auf den Klingelknopf. Im Grunde überflüssigerweise. Das Hundegekläff war weiß Gott laut genug. Dave läutete vergebens. Er hatte es auch kaum anders erwartet. Es war Sonnabend, also kein Arbeitstag. Wenn das Geschäft einigermaßen florierte, hatte R. Jackson sicher eine Zweitwohnung, um an arbeitsfreien Tagen dem infernalischen Gestank zu entfliehen. Dave ging den Seitenweg entlang auf die eigentliche Abdeckerei zu. Das waren etwa zweihundert Yards. Dave Mitchell stieß zunächst auf eine Art Hundegefängnis, einem sehr großen Zwinger aus Maschendraht, der in Zellen unterteilt war. In jeder Zelle waren mehrere Hunde aller möglichen und unmöglichen Rassen. Merkwürdigerweise beruhigten sie sich, als Dave auf sie einredete. »Guten Morgen, Sir!« sagte ein Kind hinter Dave Mitchell. Jedenfalls hörte es sich fast so an wie die Stimme eines Kindes. Fast. Nicht ganz. Dave drehte sich um. Ein Liliputaner, kaum größer als zweieinhalb Fuß, stand ein paar Schritte hinter Dave. Das zierliche Männlein steckte in einem Overall, der wie ein Spielanzug für 72 �
Kinder wirkte und vielleicht auch einer war. In den winzigen Händen hielt er eine Spritze aus Metall, von der Art, wie sie Gärtner benutzen, um stark verdünnte Pflanzenschutzmittel zu zerstäuben. Eine nicht ungefährliche Waffe, falls das Gift hochkonzentriert oder gar unverdünnt war. »Guten Morgen, Sir«, erwiderte Dave Nosy Mitchell. Dann grinste er breit. »Ich bitte um Entschuldigung dafür, daß ich… Ich habe nie zuvor eine Abdeckerei gesehen, und ich war schon als Kind außerordentlich wissbegierig. Und heute… »… und heute sind Sie es von Berufs wegen, Mr. Mitchell«, fistelte der kleine Mann mit dem dünnen Stimmchen, das fast wie die eines Kindes klang nur ein bißchen verzerrt, sozusagen blechern. Dave war nicht erstaunt, und der kleine Mann beantwortete die unausgesprochene Frage von sich aus: »Man hat mir Ihren Besuch sozusagen angekündigt, Sir.« »Per Telefon vermutlich?« »Ganz recht.« »Und zwar wer?« »Mr. Harper.« Der kleine Mann Dave schätzte ihn auf Mitte Vierzig – sprach nun sehr leise: »Ich kann mir meinen Job nicht aussuchen, Sir. Ich muß annehmen, was mir geboten wird. Aber ich habe nichts damit zu schaffen.« Dave fragte nicht, womit der kleine Mann nichts zu schaffen haben wollte. Er sagte vielmehr: »Das habe ich auch nicht angenommen.« Dave zeigte mit dem Kinn zum Wohnhaus hinüber. »Sie wohnen dort?« »Nein. Ich wohne im Dorf Llanhodyn. Hier bin ich nur über die Wochenenden. Ich versorge die Hunde und kümmere mich um den Blumengarten, den ich selber angelegt habe. Ich liebe Blumen sehr, Sir.« »Die Hunde werden getötet, nehme ich an?« 73 �
»Nicht unbedingt. Sie werden entweder von Leuten hierher gebracht, die sie anders nicht loswerden können, oder amtlicherseits angeliefert, wenn ich so sagen darf. Findlinge, die weggelaufen oder ausgesetzt worden sind. Sie bleiben dann ein paar Wochen hier jeder kann sich kostenlos einen Hund aussuchen. Nur die, die niemand haben will, werden getötet.« »Wie?« »Durch Giftgas.« Dave blickte auf die Spritze. Aber er wußte Bescheid. »Ich könnte das nicht«, fistelte der kleine Mann. Aber seine Augen funkelten dabei. Dave hatte den Eindruck, daß der Zwerg im Begriff gewesen war, die Hunde ' zu vergiften. Und daß ihm das Freude machte. Eine Art von Sadismus. Aber Dave Nosy Mitchell sagte: »Das glaube ich Ihnen gern, Mister…« »Long, Sir. Mein Name ist Long. Ich arbeite nicht mehr gern hier, seit Mr. Jackson den Betrieb übernommen hat.« »Und warum nicht?« »Das hat viele Gründe. Möchten Sie, daß ich Ihnen den Betrieb zeige?« »Aber ja. Gern.« Der kleine Mann blickte zu dem Porsche hinüber. »Und die junge Dame möchte den Betrieb vielleicht auch sehen?« »Nein. Ich denke nicht.« »Nun, es wäre ohnehin nicht gegangen. Ich habe keine Schlüssel.« »Ah ja«, machte Dave trocken. Und er scheuerte seinen Nacken. Dieser Giftzwerg wörtlich zu nehmen hatte ganz gewiß die Schlüssel. Sonst hätte er das Angebot gar nicht gemacht. Denkbar, daß er den Auftrag hatte, Dave Mitchell und Barbara 74 �
Fulton vom Leben zum Tode zu befördern. Mittels der Spritze. Beide. Nur einen zu töten, verbot sich. Der andere würde die Polizei alarmieren. Nicht sicher, daß es so war, aber doch denkbar. Zumal das Problem, wohin mit den Leichen, hier keines gewesen wäre. »Wenn Sie mir den Betrieb schon nicht zeigen können, würden Sie mir, da ich nun einmal wissbegierig bin, erklären, wie das hier vor sich geht?« »Warum nicht. Es werden vor allem Kadaver von Haustieren verwertet, Rinder, Pferde, Hunde und so weiter. Auch größere Wildtiere, aber das kommt seltener vor. Die Tierkadaver werden angeliefert oder was die Norm ist – abgeholt und dann abgeludert, wie der Fachausdruck lautet. Die Felle oder Häute werden an Zurichtereien oder Gerbereien verkauft, die Knochen zu Knochenmehl verarbeitet oder an eine. Leimsiederei verkauft. Das Fleisch geht zum Teil an Tiergärten, der Rest kommt in Ludergruben oder wird verbrannt, die Asche wird zu Dünger verarbeitet.« »Und wie viele Leute sind hier beschäftigt?« »Ständig nur drei, Mr. Jackson selber, der den Papierkrieg erledigt, und John Deacon, ein Mulatte. Und ein gewisser Fowler, der im Dorf wohnt.« »Während Jackson und Deacon hier wohnen in dem Wohnhaus?« »So ist es. Außerdem hat Mr. Jackson eine Wohnung in Welshpool.« »Ah ja.« Dave war – wie zufällig – zu dem großen Ziegelgebäude geschlendert. Er blickte durch eines der Fenster nach drinnen, sah einen großen Raum mit gekachelten Wänden und Fliesenfußboden, der an ein Schlachthaus erinnerte. Mit Zinkblech beschlagene Tische. Bottiche und Kessel, Maschinen und Appa75 �
rate deren Funktion Dave unklar blieb, sowie drei Türen zur anderen Räumen. »Ich denke, es ist besser, Sie gehen jetzt«, fistelte der kleine Mann. Trotz der Fistelstimme klang das sehr bestimmt. Und er rückte auch wie zufällig die Spritze etwas höher. Die Düse zeigte – welch ein Zufall genau auf Daves Gesicht. »Warum sollte ich?« fragte Dave Nosy Mitchell arglos. Die Arglosigkeit in Person. »Weil weil ich…« »Schon gut, Mr. Long. Ich verkrümele mich schon.« Inzwischen war dem kleinen Mann eine einleuchtende Erklärung dafür eingefallen, wie er den wissbegierigen Besucher loswerden konnte. »Es ist nur, weil Mr. Jackson jeden Augenblick eintreffen kann. Es wäre ihm nicht recht, wenn ich…« »Schon gut, Mr. Long. Ich verstehe schon. Good bye.« »Good bye, Sir.« Dave marschierte zu seinem Flitzer zurück. Unterwegs fiel ihm auf, daß es nicht mehr zu stinken schien. Die Erklärung war einfach, man gewöhnte sich daran. Wer hier arbeitete oder gar wohnte, der roch es nicht mehr. Für den war der Gestank sozusagen normaler Ozon. Auch Barbara hatte sich mittlerweile an den Gestank gewöhnt, jedenfalls hielt sie sich nicht mehr die Nase zu. »Nun?« fragte sie, nachdem Dave sich hinter das Lenkrad geklemmt hatte. »Sehr interessant«, murmelte Dave. »In vielerlei Hinsicht.« Er fuhr den Flitzer weiter nach Osten zu, über die nächste Anhöhe hinweg. Dann von der Straße herunter, quer durch das Ödland, das nur als Schafweide genutzt werden konnte. Tatsächlich waren Schafherden zu sehen. Insgesamt vier. Die Schäfer kümmerten sich nicht um das Auto. 76 �
Dave stellte den Flitzer in einer kleinen Bodensenke ab. »Kommen Sie, Barb! Wir spielen Picknick! Nehmen Sie eine Kamera und ein Fernobjektiv mit.« Sie lagerten sich auf einer Anhöhe, von der aus sie die Abdeckerei sehen konnten. Ungefähr eine Stunde lang. Mr. Jackson erschien nicht. Damit hatte Dave auch nicht gerechnet. Er hatte ein Fernglas mitgebracht. Aus der Reisetasche, in der er sein »Handwerkszeug« verwahrte, wie er es nannte. Der Liliputaner tat nichts, vergiftete schon gar nicht die Hunde. Er saß auf einer Bank in dem Blumengarten hinter dem Hauptgebäude mit dem Fabrikschornstein und las in einem Buch. Barbara machte mehrere Aufnahmen mit dem Teleobjektiv. »Ich werde mir die Abdeckerei heute Nacht einmal ansehen«, meinte Dave. * Die Landkarte half dabei. Noch ungefähr eine Meile weiter nach Osten zu zweigte eine unbefestigte Straße – also eine Art Feldweg nach Nordwesten ab. In Richtung auf Dorf und Burg Llanhodyn. Knapp fünf Minuten dauerte die Fahrt bis zum Dorf, das nur aus einer Handvoll Häusern rund um eine kleine Kirche bestand. Offenbar ehemalige Insthäuser der Herrschaft Llanhodyns. Eine weitere halbe Meile hinter dem Dorf stieß der Feldweg auf die gepflasterte Straße, die von »Harper’s Inn« zur Burg Llanhodyn führte, die in ihren ältesten Teilen über ein Jahrtausend alt war. Die Burg lag inmitten eines tischebenen Talkessels, den ein 77 �
Flüsschen durchquerte, das den ehedem sehr breiten und tiefen Burggraben mit Wasser speiste. Inzwischen war der Burggraben allerdings versandet und verlandet. Nur hier und da stand noch Wasser. Die Zugbrücke war noch original erhalten, aber sie funktionierte mit Sicherheit nicht mehr. Die Zugketten waren fast durchgerostet. Das Fallgitter ragte noch aus dem Torbogen heraus, funktionierte aber wohl auch nicht mehr. Das Tor aus massivem Eichenholz war noch da. Die Flügel standen weit offen. Dave Mitchell fuhr den Porsche über die Brücke und durch den Torbogen, dann quer durch einen Vorhof, der von verfallenen, unbewohnbaren Gebäuden eingerahmt war. Durch einen zweiten Torbogen glitt der Flitzer in den Innenhof, der von zwei Türmen flankiert wurde, der eine davon halb verfallen. Zwischen den Türmen erstreckte sich ein noch recht gut erhaltener Mitteltrakt. Alle Mauern waren mit Efeu überwuchert. In dem Innenhof lagen Ziegelsteine, lag Sand, lag Kies. Lagen Kalk- und Zementsäcke, standen eine Mörtel-Mischmaschine und ein fahrbares Förderband. Und stand ein Motorrad. Ein italienisches Fabrikat, eine Moto Guzzi mit einem so genannten V-Motor – also V-förmig angeordneten Zylindern. Wo war der Fahrer? Dave tippte zweimal auf die Hupe. Aber es zeigte sich niemand. Dave Mitchell stieg aus, ging zu der Maschine, legte die rechte Hand gegen den Motor. Die Zylinder waren kalt. Der Hof war gepflastert, es gab daher keine Fußabdrücke. Dennoch sah Dave, daß der Motorradfahrer in den Turm gegangen sein mußte. Denn kleine Erdklümpchen, die von den Schuhen 78 �
oder Stiefeln des Mannes gefallen sein mußten, lagen in regelmäßigen Abständen wie Stückchen einer Schnitzeljagd auf dem Pflaster und führten zu dem noch vollständig erhaltenen Turm, jenem Turm, in dem Mark Dunlap gefangen gehalten worden sein mußte. Dave winkte Barbara zu sich. Sie brachte eine ihrer Kameras mit. »Wir werden beobachtet«, wisperte sie. »Von wo aus?« fragte Dave. »Ich weiß es nicht. Aber ich spüre es.« Zum ersten Mal, seit sie beieinander waren, zeigte Barbara Furcht. Sie legte die rechte Hand in Daves Armbeuge, und er spürte, daß ihre Finger zitterten. »Mir ist unheimlich, Dave! Ich fühle, daß Augen auf uns gerichtet sind. Bösartige Augen.« Das Turmtor schwang knarrend auf. Der Mann, der in der Torhöhle auftauchte, sah zumindest bemerkenswert aus. Ein Geistlicher offenkundig, schwarzer Anzug, schwarze Weste, vorn hochgeschlossen, mit einem weißen Bündchen um den Hals. Die gelben Stulpenhandschuhe, der gelbe Sturzhelm und die Motorradbrille passten so gar nicht dazu, zumal der Mann älter war, als Motorradfahrer in der Regel sind, nämlich um die sechzig herum. Er mußte die Hupe überhört haben. Jedenfalls blieb er offenbar erstaunt stehen, nickte dann Dave und Barbara aber zu, ging zu seiner Maschine und bockte sie ab. »Einen Augenblick, Herr Pfarrer«, hielt Dave ihn auf. Ausdrucksstarke Augen unter buschigen Brauen richteten sich auf Dave. »Ja, bitte?« »Darf ich fragen, was Sie hierher führt, Hochwürden?« »Ich bin kein Pfarrer, sondern Pater. Warum interessieren Sie 79 �
sich für den Grund meines Hierseins, Mister…« »Mitchell.« Dave beschloß, mit offenen Karten zu spielen. Er zückte seinen Presseausweis. »David Mitchell vom ›Daily Dispatch‹.« Der Pater nickte. »Verstehe. Sie sind vermutlich wegen des so genannten Blauen Vampirs hier. Um herauszufinden, welche Bewandtnis es damit hat. Nun, eben das versuche auch ich herauszufinden. Im Auftrag meines Ordens. Ich bin Pater Dr. Josef Seppich. Vielleicht sagt Ihnen dieser Name etwas.« »Durchaus, Pater,« Josef Seppich hatte sich auch in nichtkirchlichen Kreisen einen Namen gemacht. Als Autor mehrerer Bücher, in denen er sich aus der Sicht eines Theologen mit Okkultismus, Spiritismus und ähnlichen Formen des Aberglaubens auseinandersetzte. Jetzt fiel Dave auch ein, daß Dr. Josef Seppich erst spät zur Theologie gefunden hatte. Vordem war er ein ziemlich erfolgreicher Motorrad-Rennfahrer gewesen. Während der Pater erklärte, ihm sei zu Ohren gekommen, daß auf der Burg Llanhodyn ein Vampir umgehen solle, und er hier sei, um das als Aberglauben zu entlarven, zu diesem Beruf habe ihn sein Orden beurlaubt, er habe sich in einem Gasthof in Llanfyllin eingemietet, fixierte Dave die Stiefel des Gottesmannes, die unter den schwarzen Hosenbeinen hervorblickten. Stiefel dieser Art, in Farbe und Form, und auch die Größe schien übereinzustimmen, hatte Dave in der vergangenen Nacht in der Hand gehabt. Der Pater verabschiedete sich mit einem warmen: »Gott befohlen!« schwang sich in den Sattel, startete den Motor und fuhr davon. Dabei verschaltete er sich. Das Getriebe jaulte auf. Sehr unwahrscheinlich, daß das einem ehemaligen Rennfahrer passierte. Ebenso unwahrscheinlich war es, daß ein Pater mit ungeputzten Stiefeln losfuhr, an denen Erdklumpen klebten. 80 �
Dave Nosy Mitchell scheuerte mal wieder seinen Nacken. »Pater Dr. Josef Seppich«, murmelte er. »Irgend etwas habe ich unlängst über ihn gehört oder gelesen. Was war das nur?« Er kam nicht drauf. »Ich glaube nicht, daß dieser Mann ein Geistlicher ist«, dachte Barbara laut. »Geistliche tragen keine Pistolen.« »Trug er denn ein Schießeisen?« »Ja.« Barbara hatte näher am Motorrad gestanden als Dave. »Als er sich auf das Motorrad schwang«, erklärte sie, »und sich dabei nach vorn beugte, schlug sein Sakko vorn oben auseinander, und ich konnte sehen, daß er ein Schulterhalfter trug. Wie Gangster im Film.« »Er ist tot«, murmelte Dave. »Wer ist tot?« »Der echte Pater Dr. Josef Seppich. Er ist tot oder zumindest verschollen. Vor ein paar Monaten hat das Nachrichtenbüro Reuter eine entsprechende Meldung oder Nachricht verbreitet.« »Ich habe ihn fotografiert«, sagte Barbara. »Sie sind ein Schatz.« * Dave hatte Dunlaps Bericht den Bericht auf dem Klopapier gut im Kopf. Barbara und er fanden alle Räume, die Mark Dunlap erwähnt und beschrieben hatte. Die Zelle das Verlies im Turm, und den Gerichtssaal. Allerdings waren keine Möbel mehr da, weder im Turmzimmer noch im Saal. Vom Gerichtssaal führte eine Tür in ein kleines Zimmer, das renoviert und vollständig möbliert war. Mit modernen Möbeln. 81 �
Sozusagen frisch aus dem Laden. Eine Seitentür führte in ein weiteres Zimmer, das ebenfalls komplett neu möbliert war. Dieser Raum war als Schlafzimmer eingerichtet. Mit nur einem Bett. Bewohnt wurden die beiden Räume aber noch nicht, denn alle Schränke, alle Schubladen waren leer. Aber auf dem Nachttisch neben dem Bett stand ein funkelnagelneuer Telefonapparat. Dave nahm den Hörer ans Ohr und wunderte sich. Es war schon Saft in der Leitung. Dave ging zu dem frisch verglasten Fenster. Er sah die Dächer des Dorfes Llanhodyn etwa eine Meile entfernt. Und eine Reihe neu errichteter Leitungsmasten. Man mußte sehr gute Beziehungen zur Post haben, um durchzusetzen, daß eine so aufwendige Leitung gelegt wurde, bevor man überhaupt einzog. Der neue Besitzer der Burg, Lordrichter im Ruhestand Sir Norman Griffith, hatte sie wohl. Dave grübelte eine Weile. Diesmal ohne seinen Nacken zu scheuern. Dann zuckte er die Schultern. »Was soll's?« murmelte er. »Die Kosten für ein Ferngespräch tun Griffith nicht weh.« Er wählte eine Londoner Nummer. Zuerst die Vorwahl, dann den Anschluss. Der Weckruf ging dreimal hinaus. Dann flötete eine melodische weibliche Stimme: »Hallo?« »Mitchell. Geben Sie mir George, Sarah.« »Worum handelt es sich, Sir?« »Nachdem ich mit George gesprochen habe, werde ich ihn fragen, ob er es für richtig hält, daß Sie erfahren, worum es geht. Und er dürfte es nicht für richtig halten. Also verbinden Sie mich schon mit George, Mädchen.« 82 �
»Augenblick, Sir!« kam es pikiert. Der Mann, den Dave Mitchell zu sprechen wünschte, war der Verleger und Chefredakteur einer merkwürdigen Zeitschrift. Sie hieß schlicht »Information«, erschien zweimal wöchentlich mit einer Auflage von nur ein paar hundert Exemplaren und war nirgends zu kaufen. Man bezog sie im Abonnement. Oder gar nicht. Die einzelnen Nummern umfassten nur wenige Seiten, kosteten aber drei Pfund Sterling. Sie waren es wert. Für die Abonnenten. Das waren vorzugsweise Topmanager der Unterwelt und erfolgreiche Einzelgänger unter den Berufsverbrechern. Aber auch der Chef von CID der Detektivgruppe von New Scotland Yard gehörte zu den Abonnenten. Und die meisten Chefs der Grafschaftspolizei, die nicht umhin konnten, die Cleverness des Herausgebers und Chefredakteurs zu bewundern. Die Zeitschrift informierte die Abonnenten über vieles, was für sie wissenswert war. Nicht nur darüber, was in der Unterwelt vorging, sondern auch und vor allem über Vorgänge in Scotland Yard und den Präsidien der einzelnen Grafschaften. Das war nur möglich, weil der Verleger und Herausgeber überall Agenten und Spitzel hatte. Sogar im Yard. Beizukommen war George Hastings nicht. Das Gesetz bot keine Handhabe gegen ihn und seine Zeitschrift. Kein Verleger, Herausgeber, Chefredakteur oder Redakteur war verpflichtet, seine Informanten namhaft zu machen. Man hätte die Verfassung ändern müssen, um George Hastings das Handwerk zu legen. Das wollte kaum jemand ernsthaft. Wie immer, George Hastings war der bestinformierteste Mann nach beiden Seiten hin, Unterwelt und Polizei. Und er konnte schneller als sonst irgendwer die Informationen beschaffen, die Dave Nosy Mitchell jetzt brauchte. 83 �
»Wo brennt's, Nosy?« fragte George Hastings. Dave sagte knapp: »Ich möchte einiges wissen. Es ist ziemlich kompliziert. Nehmen Sie den Anruf auf Band, George.« »Band läuft«, kam es lakonisch. »Also erstens: Warum und von wem ist mein Kollege Mark Dunlap am späten Abend des 4. Juni, nachdem er seinen Klub verlassen hatte, gekidnappt worden? Zweitens: Stimmen die Gerüchte, nach denen Dunlap die zumindest moralische Schuld am Selbstmord der Sheila Griffith hat, der Enkelin des früheren Lordrichters Sir Norman Griffith. Drittens: Wo und wie hat Griffith die Zeit nach seiner Pensionierung verbracht. Weiter möchte ich wissen: Wo war der frühere Henker James Peabody um den 12. Juni herum? Wo waren um diese Zeit dessen Gehilfen Blocker und Langman? Letzterer soll vor einiger Zeit einem Herzinfarkt erlegen, ersterer angeblich nach Kanada ausgewandert sein. Ich habe Grund zu der Annahme, daß beides nicht wahr ist. Weiter habe ich gestern mit eigenen Augen Percival Houten, genannt Perci the finger, gesehen, dessen Beerdigung ich selber beigewohnt habe. Er lebt also noch und ich möchte, daß Sie herausfinden, wer damals wirklich beerdigt worden ist. Zusätzlich benötige ich alle Informationen, deren Sie habhaft werden können, über einen gewissen R. Jackson und dessen rechte Hand, einen Mulatten namens John Deacon, die eine Abdeckerei nahe Llanfyllin, Grafschaft Montgomery in Wales betreiben. Wo war das Dienstfahrzeug des Henkers am 12. Juni. Ich weiß, wo es steht, seit die Todesstrafe abgeschafft worden ist. Von Ihnen möchte ich wissen, ob es auch in der fraglichen Zeit dort gestanden hat. Wann und wo genau ist Pater Josef Seppich gestorben, der bekannte Publizist unter den Theologen. Gibt es dunkle Punkte im Vorleben des Dr. Alfred Thomas, Chefarzt der Nervenheilanstalt Welshpool, Grafschaft Montgomery in Wales, früher praktizierender Psychiater in London Eastend, noch früher Stabsarzt im Rang eines Captains beim 84 �
5. Regiment der Königshusaren. Gibt es dunkle Punkte in der Vergangenheit des Albert Westhouse, ehedem Staff-Sergeant im selben Regiment, heute Pförtner in der Nervenheilanstalt von Welshpool, älterer Bruder von Paul Westhouse, ebenfalls Pförtner der Anstalt. Gibt es dunkle Punkte in dessen Leben. Endlich: Gibt es dunkle Punkte im Leben von Mr. und Mrs. Harper, Wirtsleute von Harper's Inn, nahe Dorf und Schloß Llanhodyn, Grafschaft Montgomery.« Dave Mitchell hatte die Liste seiner Wünsche erschöpft, wartete auf eine Erwiderung, eine Stellungnahme, einen Kommentar. Nichts dergleichen. George Hastings blieb stumm. »Ich bin mir bewußt«, fügte Dave hinzu, daß das alles sehr viel Geld kostet. Es wird bezahlt werden, wie teuer es auch sein mag. Wieviel also?« »Tja…«, meinte der Mann am anderen Ende der Leitung vage. »Wieviel, George?« »Keinen Penny!« »Wie das?« »Oder sagen wir einen Shilling. Und zwar einen Shilling mehr, als Sie oder Ihr Boss, Sir Douglas Widmark aufbringen können. Ganz egal, wieviel das sein mag. Ich möchte am Leben bleiben, Nosy, mich nicht als Leiche wieder finden, sofern das möglich wäre. Ich passe, Dave. Ohne mich.« »Fünftausend Pfund!« klotzte Dave Mitchell, der das selbstverständlich nicht aus eigener Tasche bezahlen wollte. Der andere Nosy, der Oberhäuptling, sollte und würde es ausspucken. »Nicht fünfzigtausend«, knurrte Hastings. »Und warum nicht? Sie sind doch sonst nicht ängstlich.« »Weil«, sagte George Hastings schleppend, »weil ich es mit jedem lebenden Menschen aufnehme, aber nicht mit Geistern, Gespenstern, Monstern oder wie immer Sie es nennen wollen.« »Glauben Sie etwa an derlei?« »Ja«, kam es trocken, »eben, weil ich weiß, was ich weiß.« 85 �
»Und was wissen Sie?« »Eine Menge. Wo sind Sie im Augenblick?« »Auf Schloß Llanhodyn.« »Das dachte ich mir beinahe. Gehen Sie in den Turm. Sie werden dort eine Falltür finden, wenn Sie sorgfältig genug danach suchen. Sie führt in das Mausoleum der Grafen von Llanhodyn. Bleiben Sie bis Mitternacht dort, wenn Sie den Mut dazu haben. Sie werden dann erleben, daß der seit vierzehnhundertsoundsoviel tote Graf Ian Llanhodyn aus seinem Sarkophag steigt. Erleben werden Sie das. Ob auch überleben, ist eine andere Frage. Ich sehe schwarz für Sie, wenn Sie sich je als Ehebrecher betätigt haben sollten. Und wie ich Sie kenne, ist das sehr wahrscheinlich. – Ende.« »Aber so hören Sie doch…« »Ich habe gehört. Und ich spiele nicht mit. Ende.« Die Verbindung war unterbrochen. George Hastings hatte aufgehängt. Um es kurz zu machen, in dem Turmzimmer zu ebener Erde fand Dave keine Falltür, so sehr er auch danach suchte. * Die nächste größere Ortschaft war Llanfyllin. Dort gab es einige Hotels und Gasthöfe mit Fremdenzimmer. In keinem davon hatte sich ein Mann eingemietet, der ein schweres Motorrad fuhr und wie ein Geistlicher gekleidet war. Nachdem das feststand, nahm Dave zwei Einzelzimmer im ersten Stock eines der Hotels. Darum in gerade diesem Hotel, weil es entlang der Rückfront dieses Hauses einen Anbau gab, in dem Garagen untergebracht waren. Von den Zimmern im ersten Stockwerk aus konnte man auf 86 �
das Dach des Anbaus steigen, das Haus auf diese Weise heimlich verlassen, ebenso heimlich in die Zimmer zurückkehren. Barbara und Dave saßen im Restaurant des Hotels beim Lunch, als Dave an das Telefon gebeten wurde. Was eigentlich unmöglich war. Denn nicht einmal er selber hatte bis vor einer halben Stunde gewußt, daß er in diesem Haus Logis nehmen würde. »In der Telefonzelle, Sir!« sagte der Kellner. Die Zelle befand sich in der Hotelhalle. »Mitchell«, meldete Dave sich. »Ich bin es, George Hastings.« »Das dachte ich mir. Wer sonst sollte so sagenhafte Verbindungen haben? Haben Sie es sich anders überlegt, steigen Sie ein?« »Ich denke gar nicht daran, für kein Geld der Welt. Nur folgendes, Dave: Ich habe mich für den ganzen Komplex schon interessiert, bevor Sie mich anriefen. Schon lange vorher. Es hat einige Zeit beansprucht, bis meine Leute Informationen zusammengetragen hatten. Das eine oder das andere davon will ich an Sie weitergeben. Kostenlos. Ganz einfach, weil ich was für Sie übrig habe, der Teufel mag wissen, warum. Ich würde ungern als trauernder Hinterbliebener an Ihrem Grab stehen, sofern es eines gäbe. Was ich bezweifle. Der Gedanke, daß Knochenmehl, das ich als Dünger auf die Blumen in meinen Vorgarten streue, zu einem ungewissen Prozentsatz aus Ihren Knochen bestehen könnte, ist mir sehr, aber schon sehr zuwider.« »Das würde auf Gegenseitigkeit beruhen. Also, was wollten Sie mir sagen?« »Das war eigentlich schon alles. Wenn Sie verstehen, was ich damit gesagt haben will.« »Ich denke schon. Sie glauben also, die Leichen Ermordeter, die in dieser Sache gewissermaßen anfallen, in der Abdeckerei sozusagen verwertet werden?« »Nein.« 87 �
»Wieso nein!« »Insofern, als ich das nicht glaube, sondern weiß. Nehmen Sie sich vor einem Liliputaner und dessen Giftspritze in acht!« »Mach ich. Und sonst? Was wissen Sie sonst noch?« »Mehr, als mir lieb ist. Ich bin ab sofort nicht mehr zu erreichen, Dave. Ich gehe in Urlaub, für mindestens vier Wochen. Und mein Rat ist, tun Sie desgleichen.« »George«, drängte Nosy Mitchell beschwörend, »lassen Sie mich doch nicht im Stich!« Hastings zögerte, zauderte lange. »Also gut«, kam es schließlich aus der Membrane, »Sie werden am Montag einen Brief bekommen. Postlagernd Llanfyllin. Unternehmen Sie bis dahin nichts, das ist ein verdammt guter Rat. Im übrigen bin ich tatsächlich für Sie nicht mehr zu erreichen. Ich verreise wirklich für einige Wochen. Ende.« Dave Mitchell hängte den Hörer auf, ging in den Speisesaal zurück und musterte die Gäste. Einer davon konnte ein Agent, ein Verbindungsmann George Hastings sein. Oder irgendwer vom Hotelpersonal. Oder irgendein Bürger von Llanfyllin. Oder aber der angebliche Pater Dr. Josef Seppich. * Dave Nosy Mitchell befolgte fürs erste George Hastings ›verdammt guten Rat‹ – er unternahm zunächst nichts. Jedenfalls nichts, das nicht auch irgendwelche Touristen getan hätten. Barbara und er machten einen Spaziergang durch die malerische kleine Stadt. Und dann mit dem Porsche einen Ausflug in die Umgebung. Über einsame Feldwege. Nachdem Dave sicher war, daß sie nicht beschattet wurden, 88 �
niemand ihnen folgte, fragte er: »Können Sie eigentlich Autofahren, Barb?« »Ja. Nicht sehr gut, mangels Übung. Aber einen Führerschein habe ich.« »Na fein.« Über die A 495 und die A 483 erreichten sie die Stadt Owestry etwa dreißig Meilen nordöstlich von Llanfyllin. Dort suchten und fanden sie eine Autovermietung, und Dave charterte einen unauffälligen dunklen Morris MK II, den Barbara hinter dem Porsche hersteuerte. In gemäßigtem Tempo. Dave sah im Rückspiegel, daß sie so anfängerhaft nun auch wieder nicht fuhr. Sie näherten sich Llanfyllin wieder auf Feldwegen und stellten den Morris bei einem Campingplatz am Yrnvyn See ab, an dessen Südostzipfel Llanfyllin liegt. Sie kauften einem Angler einen Lachs ab und fuhren mit dem Flitzer zum Hotel zurück, kamen rechtzeitig zum Dinner an, ließen den Küchenchef bitten, den »selbstgeangelten« Fisch zuzubereiten. Kein ungewöhnliches Anliegen. So verfuhren viele Touristen. Nach dem Dinner saßen sie noch eine Weile in der Halle und verfolgten die Übertragung eines Fußballspiels auf dem Bildschirm. Gegen zehn zogen sie sich auf ihre Zimmer zurück. Eine halbe Stunde später löschte Dave das Licht, stieg durch das Fenster auf das Vordach, jumpte von dem Dach auf den Hof, schwang sich über die Hofmauer, erreichte über stille Seitenstraßen das Seeufer, verharrte dort zehn Minuten. Rannte dann ein Stück, blieb mit einem Ruck stehen. Hinter ihm waren keine Schritte zu hören. Niemand hatte sich an seine Fersen geheftet. Dave erreichte den Campingplatz, auf dem es schon still geworden war. 89 �
Barbara lehnte an dem Morris. In einem dunklen Hosenanzug. Dave Nosy Mitchell pfiff sie an: »Zum Teufel, ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich diese Exkursion allein unternehmen werde.« »Und wer«, fragte sie sanftmütig, »soll Fotos machen, falls das erforderlich werden sollte?« Dave seufzte. »Auf welche Weise haben Sie das Hotel verlassen?« »Auf dieselbe, wie Sie es vorhatten.« »Sind Sie sicher, daß niemand Sie beobachtet hat, Ihnen niemand bis hierher gefolgt ist?« »Ganz sicher. Ich weiß, wie man so etwas feststellt.« »Von wem wissen Sie das?« »Von Ihnen, Dave. Sie haben mir mehr als einmal erzählt, welche Tricks und Kniffe Sie anwenden, um…« »Also gut. Steigen Sie schon ein!« Der Himmel war bedeckt, tiefe Dunkelheit lag über dem Land. Ganz Llanfyllin schien schon zu schlafen, als Dave den Morris quer durch die Stadt steuerte. Hinter dem Städtchen blieb Dave auf der Landstraße bis zur Abzweigung zu dem Kreuzweg bei »Harper's Inn«. Es war zwanzig Minuten vor Mitternacht, als sie an dem Gasthof vorüberfuhren. Nur ein Fenster im Dachgeschoß war noch erleuchtet. Und Dr. Thomas' Bentley stand vor dem Haus. Bevor sie die nächste Anhöhe erreichten, schaltete Dave die Scheinwerfer aus, fuhr nun wegen der schlechten Sicht sehr langsam weiter. Immer aufdringlicher werdender Gestank kündete die Nähe der Abdeckerei an. Dave fuhr von der Straße herunter, stellte den Motor ab, ließ den Morris in einer Bodensenke ausrollen. Barbara öffnete die Tasche, die sie mitgebracht hatte, holte eine Kamera mit aufgesetztem Blitzlichtgerät heraus. Dave vergewis90 �
serte sich noch einmal, daß seine Pistole in seiner Gesäßtasche steckte. Er besaß einen Waffenschein dafür. Benötigt. hatte er den kleinen Browning schon öfter. Freilich nur, um irgendwelche Leute in Schach zu halten, bis die von ihm alarmierte Polizei kam. »Also los!« sagte er. Und er schlug, nachdem er ausgestiegen war, den Wagenschlag sehr laut zu. Darob erschrak Barbara. »Psssst!« zischte sie. »Denken Sie doch an die Hunde!« »Genau das tue ich«, sagte Dave nicht sonderlich leise. »Merken Sie was, Barb?« »Was sollte ich merken?« »Daß die Hunde still bleiben. Wie ich es vermutete.« »Warum bleiben sie still?« »Weil sie tot sind. Von dem Giftzwerg vergiftet. Sie mußten sterben, weil heute die Nacht vom Sonnabend auf Sonntag ist, und der Blaue Vampir geistern wird.« »Was denn hier, in der Abdeckerei?« »Das Monster wohnt hier, wenn ich mich nicht sehr irre«, murmelte Dave. »Zumindest der Mann, der von Zeit zu Zeit als das Monster auftritt, dürfte hier wohnen.« »Der Mulatte?« »Ja, er ist fast zwei Meter groß, schätze ich. Mit entsprechend dicken Sohlen unter den Schuhen über zwei Meter. Blaue Farbe, künstliche Vampirzähne, und den Rest besorgt die Phantasie derer, die das Monster heimsucht.« »Was unternehmen wir jetzt?« fragte Barbara flüsternd. Ihre Stimme bebte nicht. »Vorerst gar nichts. Außer warten.« Eine ferne Turmuhr wahrscheinlich die der Kirche des Dorfes Llanhodyn schlug Mitternacht. Es ereignete sich nichts. Dave ließ noch etwa zehn Minuten verstreichen. 91 �
»Auf geht's!« kommandierte er dann. Sie gingen zur Straße zurück, dann; die Straße entlang. Als das Wohnhaus sich als dunkler Block aus der Dunkelheit schälte, hakte Barbara sich bei Dave ein. Er legte seine Linke auf ihre rechte Hand. Das Tor im Zaun war jetzt abgeschlossen. »Trauen Sie es sich zu, darüberzuklettern, Barbara?« »Aber ja.« Er brauchte ihr nicht einmal dabei behilflich zu sein. Als sie auf der anderen Seite des Tores standen, ließ Dave die Stablampe aufblitzen. Der Hof war nicht gepflastert, und in dem vom Regen noch immer feuchten Erdreich waren keine frischen Radspuren zu sehen. Jackson und der Mulatte also offenbar noch nicht heimgekehrt. Sie gingen an dem Wohnhaus vorüber und kamen »zu den Hundezwingern. Dave leuchtete hinein. Die Hunde waren nicht tot sie schliefen. Einige schnarchten. Die Spritze hatte offenkundig kein tödliches Gift enthalten, nur ein Narkotikum. Aber vielleicht war auch dem Futter ein Narkotikum beigemischt worden. Im übrigen schien es so, als ob die mit so viel Vorsicht und Umsicht vorbereitete Exkursion ohne nennenswerte Resultate bleiben sollte, denn alle Türen der eigentlichen Abdeckerei und der beiden Anbauten waren mit einbruchsicheren Zylinderschlössern versehen. Auch die Türen der Garagen. Durch ein Fenster einzudringen, war ebenfalls unmöglich. Dave sah im scharfen Licht der Stablampe, was er am Vormittag übersehen hatte. Feine silberfarbene Drähtchen liefen an der Innenseite der Scheiben entlang. Eine Alarmanlage. Eine Sirene würde losjaulen, wenn eines der Drähtchen berührt werden sollte. Aber was hieß schon Sirene, wenn niemand in der Nähe war? Dave winkelte schon den rechten Arm an, um eine Fenster92 �
scheibe mit dem Ellenbogen zu zertrümmern, als Barbara den angewinkelten Arm festhielt. »Hören Sie den Motor, Dave?« Da hörte er es auch, das leise, noch sehr ferne Brummen, das der Motor eines Autos erzeugt, wenn es bergauf fährt. Bald darauf wurde in einen höheren Gang umgeschaltet, das Motorengeräusch war nicht mehr zu hören. Erst nach einiger Zeit wieder. Dann wurde das Geräusch zunehmend lauter. Zu sehen war nichts. Das Fahrzeug, das sich aus Richtung »Harper's Inn« näherte, fuhr ohne Licht. Das Motorengeräusch veränderte sich wieder, der Motor tuckerte im Leerlauf. Drüben bei dem Wohnhaus. Dave nahm Barbara bei der Hand, zog sie mit sich um den Hundezwinger herum. Hinter dem Zwinger stand Unkraut kniehoch. »Hinlegen!« raunte Dave. Das Unkraut bestand aus Beifuss und Brennnesseln. Dave spürte die Bisse der Nesseln auf dem Gesicht und den Händen. Auch Barbara mußte sie spüren, aber sie gab keinen Laut von sich. Glück im Pech, eben jetzt riß die Wolkendecke genau vor dem Mond auf, und sie konnten das Fahrzeug nun sehen, welches, immer noch ohne Licht, durch das Tor fuhr, das ein Mann geöffnet hatte. Das Auto – ein geschlossener Lieferwagen fuhr ohne Aufenthalt weiter, hielt vor einer der Garagentüren an. Ein Mann in einem dunklen Mantel stieg aus, schloß das Garagentor auf, schaltete in der Garage Licht ein. Der Mann in dem Mantel war der Gentleman R. Jackson. Der Wagen rollte in die Garage hinein. Dave kannte das Fahrzeug. Es war der Dienstwagen des letzten Henkers von Großbritannien, James Peabody, Gastwirt in einem Dorf der Grafschaft 93 �
Lancashire. Der Fahrer stieg aus. Und Dave kannte auch ihn, Percival Houten, genannt Perci the finger. Beide Jackson und Perci öffneten die Türen an der Rückseite des Wagens, warteten, bis der dritte Mann heran war, der herkulisch gebaute Mulatte. Zu dritt hoben sie ein schweres Motorrad von der Ladefläche. Nicht die Moto-Guzzi des angeblichen Paters, diese Maschine hatte keinen V-Motor. Der Mulatte bockte das Motorrad vor der Garage auf, während Jackson eine Art Wandschränkchen aufschloss, das aussah wie ein Kasten mit elektrischen Sicherungen. Perci ging in die Garage, kletterte in das Führerhaus. Jackson griff in das Schränkchen hinein, trat sofort ein paar Schritte zurück und beiseite, stand vor der Garage, als deren Boden sich abwärts zu bewegen begann. Ein Fahrstuhl zu offenbar ausgedehnten Kellerräumen. Denn nach etwa einer halben Minute kam der Fußboden wieder nach oben. Nun stand nur noch Perci darauf, der sich umgehend, ohne daß die Männer auch nur ein Wort gewechselt hatten, auf das Motorrad schwang und davonfuhr. Erst hinter dem Tor schaltete er den Scheinwerfer ein und fuhr nach Osten weiter. Entgegengesetzt von ›Harper's Inn‹. Jackson und Deacon, der Mulatte, hatten hinter Perci dreingeschaut. Nun schlug der Riese die Hände zusammen und rieb sie sich heftig. Wie sich jemand die Hände reibt, dem ein Coup geglückt ist. Da geschah es. Licht flammte auf. Licht von drei Peitschenmasten, die den Hof der Abdeckerei fast taghell ausleuchteten. Und eine Tür klappte. Drüben beim Wohnhaus. Dann näherten sich unrythmische Schritte. Gleich darauf war er auch zu sehen, als er aus der Dunkelheit in den Lichtkreis 94 �
gehinkt kam, der Blaue Vampir. Obwohl er das rechte Bein nachzog, kam er ziemlich rasch vorwärts. Ohne daß der Eindruck von Hast entstand, eher im Gegenteil. Die massige Gestalt, viel größer, viel massiver als selbst der Mulatte, schien sich mit der majestätischen Gelassenheit eines schweren Panzers zu bewegen, unaufhaltsam, unerbittlich. Diesmal behielt Dave Mitchell die Nerven, er beobachtete genau. Nein, dies war kein lebender Mensch. Wenn es einen Menschen dieser ungeheuren, buchstäblich monströsen Größe und Masse gab, würde die Öffentlichkeit das wissen, denn dieser Über-Riese wäre eine Weltsensation. Dave hörte Barbara ächzen: Sie lag flach auf den Erdboden gepresst, auch das Gesicht. Trotz der Brennnesseln. Dave behielt den Kopf im Nacken, beobachtete weiter. Der Vampir, das Ungeheuer und Monster, blieb etwa fünf Yards vor Jackson und dem Mulatten stehen. Jackson schlug die Hände vor das Gesicht, der Mulatte stand da wie zu Stein erstarrt. Das Monster öffnete den Mund. Speichel tropfte von den Vampirzähnen. »Dies ist«, hob das Monster an, und seine Stimme hallte wie im Innern eines Gewölbes, »dies ist meine zweite und letzte Warnung, Jackson und Deacon. Wenn ich euch noch einmal heimsuchen muß, wird das euer Tod sein.« Das Monster machte kehrt, hinkte, nun langsamer als vordem, zu dem Wohnhaus zurück. Jackson taumelte, brach in die Knie. Der Mulatte hatte offenbar bessere Nerven. Er schrie mit kreischender, sich überschlagender Stimme: »Dir werde ich es geben!« Und er zerrte einen Trommelrevolver aus der Innentasche seiner Lederjacke. 95 �
Sechs Schüsse zerrissen die Stille. Dave sah sechs Mündungsblitze, und der Vampir zuckte sechsmal zusammen. Als ob ihn jedes Geschoß träfe. Aber er hinkte weiter. Unbeirrt, unbeirrbar. Hinkte aus dem Licht heraus in das Dunkel hinein. Der Himmel war wieder verhängt. Dave hörte, daß die Haustür des Wohnhauses geöffnet und geschlossen wurde. Sekunden später erloschen die Leuchtröhren an den Peitschenmasten. Eine oder zwei Minuten darauf schlug die ferne Turmuhr erst viermal und dann einmal. Ein Uhr nachts. Die Gespensterstunde war vorüber. Deacon zog Jackson am Mantelkragen auf die Füße. Dann redeten die beiden erregt miteinander. Zu leise, als daß Dave es hätte verstehen können. Nach einiger Zeit schloß Jackson die mittlere der insgesamt drei Garagen auf. Darin stand der LKW, rollte los. Ohne Licht. Vorn wurde das Tor geschlossen, das Perci the finger offengelassen hatte, und der LKW fuhr weiter. Auf ›Harper's Inn‹ zu. »Es ist alles vorüber, Barb«, sagte Dave, und er erhob sich. Aber Barbara rührte sich nicht. Dave ging in die Hocke, rüttelte sie an der Schulter. Sie schien ohnmächtig zu sein. Dave drehte Barbaras Körper auf den Rücken, senkte den Kopf um ihren Herzschlag abzuhorchen. Da stieg ihm ein scharf-säuerlicher Geruch in die Nase, der den süßlichen Kadavergestank, den Dave ohnehin kaum noch wahrnahm, da er sich mittlerweile daran gewöhnt hatte, überdeckte. Fast im selben Augenblick wurde ihm übel. Er kapierte beinahe sofort. Schnell von Begriff, wie er nun ein96 �
mal war. Er hielt den Atem an, fühlte sich gleich wieder besser. Er hob Barbara empor, trug sie auf den Armen davon. Ihre Atemzüge wurden hörbar, aber erst, als er schon fast den Morris erreicht hatte, nachdem er Barbara mit einiger Mühe über das wieder abgeschlossene Tor in dem Drahtzaun hinweggehievt hatte, schlug sie die Augen auf. »Wo bin ich?« lallte sie mit schwerer Zunge. »In Sicherheit«, sagte Dave Mitchell. * »Ich muß das Bewußtsein verloren haben«, sagte Barbara. »Und mir ist, als ob ich mich übergeben müßte.« »Sie haben sich übergeben, Barb. Bevor Sie in den Wagen stiegen. Und das war gut so.« »Was ist mit mir geschehen?« Sie waren schon wieder kurz vor Llanfyllin. Dave hatte die Scheinwerfer diesmal gleich eingeschaltet. In ›Harper's Inn‹ waren alle Fenster dunkel gewesen, als er vorübergefahren war. »Sie hatten Pech, Barb. Der Liliputaner muß die Hunde tatsächlich mit kaum oder gar nicht verdünntem Pflanzengift angesprüht haben, und ausgerechnet dort, wo Sie in Deckung gingen, sind die Brennnesseln und der Beifuss besprüht worden. Durch den Maschendraht hindurch. Die Dämpfe haben Sie betäubt.« Es stellte sich heraus, daß Barbara gar nichts beobachtet hatte, bewusstlos geworden war, kaum daß sie sich neben Dave niedergeworfen hatte. Dave Mitchell war darüber im Grunde erleichtert. Er würde sie bis zum Montag früh pflegen, bis dahin nichts mehr unternehmen. Und am Montag würde er sie nach London schicken. Ob es ihr nun gefiel oder nicht. 97 �
Im übrigen war ihm nun endlich klar, daß der Vampir tatsächlich existierte. Vorhin zumindest hatte Dave Mitchell, den echten, den »richtigen« Blauen Vampir gesehen. In der Nacht davor war ihm wahrscheinlich etwas vorgespielt worden, hatte der Mulatte den Vampir gemimt. In Einverständnis mit Dr. Thomas, der das Monster angeblich nicht gesehen und gehört hatte. Vorhin hingegen… Dave Nosy Mitchell fragte sich, ob es nicht an der Zeit war, seinen Freund Archie Howland anzustoßen, Chefinspektor im Morddezernat des CID von Scotland Yard. Aber was hatte Dave schon in der Hand? Genau genommen, fast nichts an handfesten Beweisen gegen ja, gegen wen eigentlich? Vermutungen, Kombinationen. Und im übrigen Gespenstergeschichten, die Howland ihm nicht abnehmen würde. Es stand nicht einmal fest, daß Mark Dunlap ermordet worden war. Dave Nosy Mitchell beschloß, auf jeden Fall den Brief abzuwarten, den George Hastings für Montag angekündigt hatte. Dave fuhr den Morris auf den Parkplatz des Hotels. Der Nachtportier ließ die Herrschaften ein, fragte nichts. Warum hätte er auch sollen? Die Herrschaften mochten das Hotel durch den Haupteingang verlassen haben, bevor er seinen Dienst angetreten hatte. Daves und Barbaras Zimmer lagen nebeneinander. Dave schärfte Barbara ein, sich einzuschließen und niemanden einzulassen, wer immer es sei. Wenn sonst etwas Ungewöhnliches geschähe, solle sie gegen die Wand klopfen. Er käme sofort. In seinem Zimmer breitete Dave die Straßenkarte von Wales auf dem Tisch aus, pflanzte sich eine Zigarette zwischen die Lip98 �
pen und scheuerte seinen Nacken. Er tat etwas, das er noch gestern für unsinnig, töricht, ja, lächerlich gehalten hätte. Er ging davon aus, daß das Monster tatsächlich ein Vampir war. Der Geist des Grafen Ian Llanhodyn, der gleichwohl noch körperlich existierte, unsterblich, unverwundbar durch Geschosse. Was sind eigentlich Vampire? Was wußte Dave darüber? Es sind Verstorbene, die zwischen Mitternacht und ein Uhr aus ihren Särgen, aus ihren Gräbern steigen. Nur in der Geisterstunde. Wenn sie bis ein Uhr nicht wieder in dem Sarg sind, zerfällt ihr Körper zu Staub. Wenn das zutraf, dann konnte sich der echte Blaue Vampir weder in ›Harper's Inn‹ noch in der Abdeckerei zeigen. Eigentlich nicht. Einfach, weil die Entfernungen zu groß waren. Der Sarg wahrscheinlich ein Sarkophag – des Grafen sollte sich in dem Mausoleum unter dem Turm der Burg Llanhodyn befinden. Binnen einer Stunde aber konnte der Vampir kaum von der Burg nach ›Harper's Inn‹ und zurückkommen. Und das Wohnhaus der Abdeckerei hatte er erst wenige Minuten vor eins wieder betreten. Wenige Minuten vor Ablauf seiner Zeit. Was folgte daraus? Dave starrte auf die Straßenkarte. In der Luftlinie waren die Distanzen zwischen der Burg und ›Harper's Inn‹ und zwischen der Burg und der Abdeckerei sehr viel kürzer, als es die gewundenen Straßen und Wege vermuten ließen, Nur je ungefähr eine halbe Meile. Und auch zwischen dem Gasthof und der Abdeckerei lag in der Luftlinie nur ungefähr eine halbe Meile. Und Dave erinnerte sich jetzt, daß das Wohnhaus der Abdeckerei dem Anschein nach zwar kaum älter als zwanzig, höchstens dreißig Jahre war, daß aber der Sockel des Backsteingebäudes aus Feldsteinen bestand. Das Haus mochte auf den Grundmauern eines sehr viel älteren, wahrscheinlich Jahrhunderte 99 �
alten Gebäudes errichtet worden sein. Ursprünglich vielleicht ein anderes Vorwerk, was auch für den heutigen Gasthof zutraf. Wie, wenn es unterirdische Gänge zwischen der Burg und den Vorwerken gab? Durchaus denkbar. Von vielen Burgen aus hatten unterirdische Gänge weit ins Land hinausgeführt. Damit die Verteidiger bei Belagerungen in den Rücken der Belagerer kommen konnten. Wenn es diese Gänge gab, dann konnte der Vampir binnen der Geisterstunde… »Nein!« sagte Dave Mitchell laut. »Nein«, murmelte er, »auch das reicht als Erklärung nicht aus.« Er kam nicht an der Tatsache vorbei, daß der Vampir erst ein oder zwei Minuten vor Ablauf der Geisterstunde in dem Wohnhaus verschwunden war. Dave Nosy Mitchell hörte auf, seinen Nacken zu scheuern. »Ich weiß es«, murmelte er. Der Sarg des Grafen Ian Llanhodyn konnte nicht in einem Gewölbe unter dem Turm der Burg Llanhodyn stehen. Er stand im Keller des Wohnhauses der Abdeckerei. Dieser Keller mochte das Mausoleum derer von Llanhodyn sein oder gewesen sein. Oder? Dave Mitchell fand noch eine andere mögliche Erklärung. Der Sarg oder Sarkophag des dritten Grafen von Llanhodyn wurde von Menschen jeweils dorthin gebracht, wo der Vampir nach dem Willen dieser Menschen tätig werden, seine grausigen Auftritte haben sollte. Lebende Menschen brachten den Sarg oder Sarkophag jeweils an den gewünschten Ort. Dave Nosy Mitchell nickte in sich hinein. Er fand, er sei ein ganzes Stück weitergekommen. *
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Der Rest der Nacht verlief ohne Zwischenfälle. Dave ließ Barbara ausschlafen, klopfte erst viertel vor zehn bei ihr an. »Ich bin es. Bitte, lassen Sie mich ein!« Sie öffnete sofort, war voll angekleidet, wirkte sehr ausgeschlafen, aber etwas verstört. »Was ist passiert, Barb?« »Ich habe die Minikamera verloren«, klagte sie. »Das ist mir eben erst auf gefallen. Als ich mich heute Nacht auskleidete, war ich wohl noch zu benommen, da habe ich es nicht bemerkt.« Barbara trug entgegen der Mode stets einen BH. Obwohl sie das bei ihrem kleinen, aber wohlgeformt-straffen Busen nicht nötig gehabt hätte. Der BH war mehr das Futteral für die Minikamera, eigentlich sogar ausschließlich. »Ich muß sie verloren haben, als ich mich zu Boden warf« Dave nickte. »Wir holen die Kamera nachher.« Damit stieß er seinen Beschluss um, bis Montag früh nichts mehr zu unternehmen. Aber außergewöhnliche Ereignisse haben schon immer außergewöhnliche Maßnahmen erfordert. Dave fiel ein, daß der von George Hastings für Montag angekündigte Brief vielleicht schon heute angekommen sein konnte. Die Postämter hatten auch Sonntags von neun bis zehn Uhr geöffnet. Und das Postamt lag dem Hotel schräg gegenüber. »Bis nachher, Barb«, sagte Dave. »Ich bin in ein paar Minuten zurück.« Und er sputete sich. Er kam gerade noch zurecht. Der Postmann wollte soeben abschließen. Und der Brief an Mr. David Mitchell, Llanfyllin, postlagernd war wirklich schon da. Ein neutraler Briefumschlag. Massenfabrikat. Kein Absender. Auch der Briefbogen war ein Massenfabrikat. 101 �
Keine Anrede, keine Unterschrift. Wirklich nur Informationen in Maschinenschrift. Keine Namen. Nur jeweils Initialen. Dave setzte in Gedanken die Namen hin, während er las. D. (Dunlap) von J. (Jackson) und J. D. (John Deacon) entführt. Deren Auftraggeber: Gr. (Sir Norman Griffith). Gr. (Griffith) früher Patient von A Th. (Dr. Thomas) in dessen Praxis in L. (London), später, nach Gr.'s (Griffith') Pensionierung G. zeitweilig in Nervenheilanstalt W. (Welshpool) eingewiesen, wo Th. inzwischen Chefarzt. Gr. nach sechs Monaten als geheilt entlassen. Tatsächlich Gr. nicht geheilt, leidet an Verfolgungswahn, lebt seither in L. (London) in seinem Haus. J. P. (der frühere Henker James Peabody) hat in fraglicher Zeit sein Gasthaus nicht verlassen, der eine seiner Gehilfen war in fraglicher Zeit in Kanada, der andere ist am 2. Januar dieses Jahres im ST. John Hospital, London, verstorben. Zweifel daran unmöglich. P. H. (Percival Houten) ebenfalls verstorben, auch keine Zweifel möglich. R. J. (Jackson), früher Schauspieler und Regisseur Direktor einer Wanderbühne ohne festen Wohnsitz. Ziemlich bekannte Truppe. Ging dennoch in Konkurs. Danach J. in Nervenheilanstalt W. (Welshpool) eingewiesen. Schizophrenie. Lernte dort Gr. (Griffith) kennen. Ungefähr gleichzeitig mit Gr. entlassen. J. D. (John Deacon) war früher Inspizient der Wanderbühne. J. (Jackson) hat Abdeckerei von Großonkel geerbt. Der Dienstwagen J. P.'s (James Peabodys) stand in fraglicher Zeit in L. (London). Kein Zweifel möglich. A. Th. (Dr. Alfred Thomas) ohne Vorstrafen oder »dunklen Punkten wurde aus Militärdienst entlassen wegen Nervenleidens auf eigenen Wunsch. A. W. (Albert Westhouse) wurde wegen Mordes zweiten Grades vor Gericht gestellt, aber freigesprochen auf Grund des psychiatrischen Gutachtens von A Th. (Dr. Alfred Thomas). Eine Eifersuchtstragödie unter zwei dama102 �
ligen Unteroffizieren. Sie schossen aufeinander. Seither hinkt A. W. Sein Nebenbuhler starb. Über P. H. (Paul Harper) und R. H. (Harpers Frau, ihren Vornamen kannte Dave Mitchell nicht) früher erfolglose Schauspieler, die später ein Künstlerlokal pachteten, später kauften. Dort wurden sie reich, zumindest vermögend. Hätten, nachdem Künstler lokal abgebrochen wurde, sehr gutes Hotel kaufen können. J. S. (Pater Dr. Josef Seppich) seit etwa sechs Monaten verschollen bei Missionsreise auf Borneo. G. H. (hier mußte Dave eine Weile überlegen, bis er begriff, daß G. H. für George Hastings stand) ist quasi routinemäßig hineingezogen worden. Er hat seine Agenten und V-Leute angewiesen sich zurückzuziehen, keine weiteren Informationen mehr zu sammeln. Ob das G. H. noch hilft, ist sehr zweifelhaft, denn man kann sich nicht gegen Geister zur Wehr setzen. Sie haben zwei Minuten Zeit, sich diese Informationen einzuprägen. Zwei Minuten. Dave Mitchell las noch einmal von vorn, diesmal schneller. Er schaffte das. Als er zum dritten Mal zu lesen begann, bleichte die Schrift aus. Bald hielt er nur noch ein weißes Blatt Papier in der Hand. Daran war nichts Okkultes. Der Briefbogen war chemisch so präpariert, daß die Schrift unter Lichteinfluss binnen zwei Minuten verblich. Dave Mitchell schob den nun weißen Bogen dennoch in das Geheimfach seiner Brieftasche. Er stieg aus, passierte auf dem Weg zum Haupteingang des Hotels den Morris MK II. Barbara hatte die Kamera mit dem aufgesetzten Blitzlichtgerät, die sie während des Ausflugs in die Abdeckerei an einem Lederriemen vor der Brust getragen hatte, in dem Morris abgenommen und auf den Rücksitz gelegt. Und dort war die Kamera lie103 �
gen geblieben, als Dave die noch ziemlich benommene Barbara in das Hotel geführt hatte. Jetzt war die Kamera verschwunden. Obwohl Dave den Wagen abgeschlossen hatte. Er rüttelte an den Türgriffen. Sie ließen sich nicht bewegen. Und die Fenster waren verschlossen. * Dave und Barbara saßen am Frühstückstisch, als das geschah, was Dave Nosy Mitchell für den Augenblick maßlos verblüffte aber nur für einen Augenblick. Er kam ziemlich bald zu der Ein sicht, daß es eigentlich nur logisch, nur folgerichtig war. Was geschah, war dies: Ein korrekt gekleideter älterer Herr, den man allenfalls für einen Mittfünfziger hielt, schlank, betont aufrecht, das graue, aber noch volle Haar wie mit einem Lineal gescheitelt und ›bis unter die Haut‹ rasiert, lebhafte graue Augen unter buschigen Brauen, kantiges, wie abgesägtes Kinn, schmaler, fast lippenloser Mund stand plötzlich vor der gläsernen Tür, die das Frühstückszimmer mit der Hotelhalle verband. Er sah Dave Mitchell sofort, denn Dave saß der Tür frontal gegenüber. Und der alte Herr nickte Dave schon von der Tür aus zu. Dave nickte zurück. Der alte Herr entließ mit einer knappen Handbewegung den Mann in Chauffeurslivree, der einen halben Schritt hinter ihm stand. Er betrat das Frühstückszimmer allein, strebte zielbewusst den Zweipersonen-Tisch an, blieb ruckhaft stehen, deutete eine Verbeugung an. »Guten Morgen, Mr. Mitchell. Guten Morgen, Miss Fulton.« Barbara errötete leicht, als der alte Herr die Hand, die sie ihm zum Gruß überließ, an die Lippen zog, ohne das seine Lippen 104 �
ihren Handrücken berührten. Ein formvollendeter Handkuss, wie er auf dem Kontinent, zum Beispiel in Deutschland, Frankreich, vor allem aber in Österreich üblich war. Kaum aber auf den britischen Inseln. Dave war sitzen geblieben. »Guten Morgen, Sire Norman«, sagte er kühl. Sir Norman Griffith, tatsächlich weit über siebzig, winkte einem Kellner, der dienstbeflissen einen Stuhl an den Tisch stellte. Der ehemalige Lordrichter mit dem Beinamen »der Bluthund« bestellte ein Mineralwasser, sonst nichts. Er wartete, bis der Kellner das Getränk serviert hatte, nippte an dem Glas und eröffnete die Feindseligkeiten mit sorgsam abgewogener Liebenswürdigkeit. »Mir ist zu Ohren gekommen, daß Sie, Mr. Mitchell, mich mit gewissen Ereignissen in Beziehung bringen, die wie die Dinge nun einmal liegen – tatsächlich geeignet erscheinen, Gedankengänge in dieser Richtung hin zu entwickeln. Sagten Sie etwas?« »Nein, Sir Norman. Ich sagte nichts.« »Aber Sie wollten etwas sagen?« »Nein. Nicht, daß ich wüsste.« »Nun, hier bin ich. Mein Neffe, der Kriegsminister, und mein alter Freund, Sir Douglas Widmark, Verleger und Herausgeber des ›Daily Dispatch‹, sagten mir unabhängig voneinander, daß Sie – wie soll ich mich ausdrücken.« »Wie wäre es direkt ohne Umschweife ohne juristische Spitzfindigkeiten und Verklausulierungen? Um den Anfang damit zu machen: Warum haben Sie Mark Dunlap umbringen lassen?« Das Gesicht, des früheren Lordrichters blieb unbewegt. Kein Muskel zuckte. »Weil er das verdient hätte. Nach dem guten alten Gesetz, das zu meiner Zeit galt. Bevor die Humanitätsduselei ausbrach mit 105 �
dem Gefasel von ›für die Tat nicht verantwortlich sein‹ aus dubiosen Gründen Wie Gefühlsstau, unkontrollierte Kurzschlussreaktion, und was die Psychiater sonst noch alles…« Der frühere Lordrichter brach ab, er lächelte freudlos. »Darum hätte ich Mark Dunlap umbringen lassen, wenn ich das getan hätte. Tatsächlich ist kein wahres Wort an diesen Gerüchten.« »Gibt es denn derlei Gerüchte?« stellte Dave sich ahnungslos. Griffith blickte um sich. Die grauen Augen unter den struppigen Brauen blieben sekundenlang an jedem einzelnen Hotelgast im Frühstückszimmer hängen, ob nun Mann, Frau oder Kind. Auch der Kellner und die beiden Serviermädchen wurden kurz, aber eindringlich gemustert. Mißtrauisch bis ängstlich. Laut den Informationen George Hastings litt der frühere Blutrichter noch immer unter Verfolgungswahn. »Gibt es denn derlei Gerüchte?« wiederholte Dave. Der frühere Lordrichter erhob sich abrupt. Er verbeugte sich leicht vor Barbara, nickte Dave dann knapp und reserviert zu. Er murmelte Unverständliches und entfernte sich. Als er die gläserne Tür passiert hatte, blickte er noch einmal zurück. Er war bleich geworden. Dave musterte seinerseits alle Personen im Frühstückszimmer. Niemand schien sich besonders für Griffith zu interessieren. »Was wollte er eigentlich?« fragte Barbara. »Uns warnen, vermute ich. Mich mit Drohungen einschüchtern, nehme ich an. Aber irgend etwas hat ihm die Sprache verschlagen.« * Davon überzeugt, daß das Versteckspielen sinnlos geworden � war, stieg Dave quasi auf offener Bühne in seinen Flitzer. Bar106 �
bara fuhr den Morris hinterher bis Owestry. Dort lieferten sie den Leihwagen ab, fuhren in dem Porsche sofort zurück, durch Llanfyllin hindurch. Sie erreichten »Harper's Inn« um die Mittagszeit. Der Bentley des Dr. Thomas war verschwunden. An der Mauer lehnten zehn oder zwölf Fahrräder, und deren Eigentümer, Steinbrucharbeiter, heute im Sonntagsanzug, standen an der Theke und kümmerten sich kaum um das Pärchen, daß sie ja schon von vorgestern abend kannten. Hinter der Theke stand eine ältere Frau mit mächtiger Oberweite. Dave hatte Barbara wieder zu dem Ecktisch geführt. Er bestellte zwei Bier und einen Lunch für zwei Personen, aber die ältere Frau erklärte mürrisch, sie habe keine Zeit, Mahlzeiten herzurichten. »Sie können Sandwichs haben, wenn Sie wollen.« »Also bitte. Besser als gar nichts. Wo sind denn die Wirtsleute heute?« »Ausgeflogen. Wie jeden Sonntag.« Sie hatte englisch gesprochen. Mit den Arbeitern sprach sie keltisch. Dave entnahm den Gesprächen, daß die Frau im Dorf Llanhodyn wohnte und nur sonntags in »Harper's Inn« arbeitete. Im übrigen wurde nur Belangloses geredet. Dave und Barbara aßen je zwei Sandwiches. Dann fuhren sie weiter. Die Abdeckerei lag wie ausgestorben da. Die Hunde begannen erst zu bellen, als Dave über das Tor kletterte. Sie bellten die ganze Zeit, aber niemand zeigte sich. Dave fand die Stelle wieder, wo Barbara hinter dem Zwinger im Unkraut gelegen hatte. Die Minikamera lag tatsächlich dort. Dave Mitchell versuchte, in das Wohnhaus einzudringen. Das erwies sich als unmöglich. Die Haustür war mit zwei Zylinder107 �
schlössern gesichert, und alle Fenster waren verschlossen. Dave hätte eine Scheibe eindrücken müssen. Das verbot sich jedoch. Jackson durfte nicht merken, daß sein Haus durchsucht worden war. Das Fundament, die Grundmauern des Wohnhauses waren offenbar sehr alt, wahrscheinlich Jahrhunderte alt. Dave jumpte wieder über das Tor, und sie fuhren weiter. Denselben Weg wie vorgestern. Das Dorf Llanhodyn schien Mittagsruhe zu halten. Nicht einmal Kinder waren auf der Straße. Fünf Minuten später ließ Dave den Flitzer auf dem Innenhof der Burg aus rollen. Dort schien sich nichts verändert zu haben. George Hastings hatte behauptet, dass von dem Turmzimmer zu ebener Erde eine Tür in unterirdische Räume führe, aber Dave hatte vergebens nach dieser Tür gesucht. Warum vergebens, das war ihm inzwischen eingefallen. Es gab zwei Türme, hatte ursprünglich zwei Türme gegeben. Nur einer davon stand noch, von dem anderen war nur noch ein Stumpf vorhanden. Die Steine des Mauerwerkes lagen als Geröll um diesen Stumpf herum. Dave hatte angenommen, daß der noch erhaltene Turm gemeint sein müsse, und das mochte falsch gewesen sein. Die Tür des verfallenen Turmes war nur noch im oberen Drittel frei. Dave erklomm das Geröll, kroch durch die noch verbliebene Türöffnung und gelangte in ein muffiges Verlies. Er sah die Falltür beinahe sofort. Sie war nicht vollständig von Geröll bedeckt. Dave begann die Steine beiseite zu räumen. Dabei stellte er fest, daß die Steine in jüngster Zeit häufig bewegt worden sein mußten, denn sie waren nicht mit Moos und feuchtem Schmutz überzogen wie das übrige Geröll. Die Falltür, die Dave freilegte, war ungewöhnlich groß, gut zwei Yards im Geviert. Es gab einen Handgriff aus Bronze. Dave 108 �
zog daran, und die Tür aus altersschwarzem Hartholz kam ihm geräuschlos entgegen. Die Angeln mußten unlängst geölt worden sein. Eine ziemlich breite Treppe aus Steinquadern führte abwärts. Dave ließ seine Stablampe aufblitzen und erkannte sofort, daß drunten das Mausoleum der Grafen von Llanhodyn war. Auf in zwei Reihen angeordneten Podesten standen mit Zinn überzogene Särge. Einige Podeste waren noch frei. Dave stieg nach unten. Die Luft war erstaunlich gut. Es mußte einen Lüftungsschacht geben. Plötzlich war Barbara neben Dave. Er hatte sie nicht kommen hören, weil sie, um besser klettern zu können, ihre hochhackigen Schuhe ausgezogen hatte. Irgend etwas – Instinkt, Gespür für Gefahr warnte Dave. Er ergriff Barbaras Hand. »Raus hier! Schnell!« Aber es war schon zu spät. Die Falltür flog zu, und Steine wurden darauf geworfen. Jedenfalls hörte es sich so an. Viele Steine. Sehr schnell hintereinander. Mehrere Personen mußten droben sein, die so etwas wie Akkordarbeit leisteten. Nach etwa drei Minuten war Stille. Aussichtslos, die Falltür nun noch von unten zu öffnen. Sie versuchten es dennoch. Die Tür gab um keinen Millimeter nach. »Was jetzt?« wisperte Barbara. »Wir werden schon irgendwie herauskommen«, sagte Dave Nosy Mitchell scheinbar gelassen. Tatsächlich sah er kaum noch eine Chance. Wenn nicht ein Wunder geschah, würden Barbara und er das Schicksal der Geliebten des dritten Grafen von Llanhodyn teilen. Sie waren so gut wie eingemauert Zum Glück waren die Batterien der Stablampe so gut wie neu. Für ein paar Stunden wenigstens würden sie Licht haben. Sie stiegen wieder nach unten. Dave leuchtete der Reihe nach 109 �
die Sockel an, in die die Namen der Toten eingemeißelt waren. Dazu Geburtstag und Datum des Todes. Insgesamt gab es achtzehn Zinnsärge und zehn noch unbeschriftete Sockel ohne einen Sarg obendrauf. Ein beschrifteter Sockel war leer. Laut Inschrift gehörte der Sarg des Ian, dritter Graf von Llanhodyn, 15. 2. 1456 – 11. 9. 1483 auf diesen Sockel. Ein kalter Luftzug ließ Dave frösteln und Barbara erschauern. Und dann war Mark Dunlaps Stimme da. Nicht hallend, wie es in dem Gewölbe zu erwarten gewesen wäre, sondern leise, dünn, gepresst, atemlos. So als ob es Dunlap unsägliche Mühe mache, überhaupt Laute zu formen, aus den Lauten Wörter zu bilden. Die Stimme stöhnte, schnaufte, röchelte nur schwer verständlich: »Die Wandleuchter, Mitchell. Einer der Wandleuchter ist…« Der Rest war vollends unverständlich. »Was war das?« hauchte Barbara. »Wer hat da…« »Es ist alles in Ordnung«, sagte Dave Nosy Mitchell so ruhig, wie er es vermochte. Und seine Stimme hallte, obwohl er nur leise gesprochen hatte. Er leuchtete die Wände ab. Da gab es insgesamt sechs bronzene Wandleuchter, die in einem Ring endeten, in dem früher offenbar Fackeln gesteckt hatten. Dave ging, den linken Arm immer um Barbaras Schulter gelegt, von einem Leuchter zum anderen, zog kräftig daran. Der dritte Leuchter war der richtige, eine Tür schwang auf. Eine Tür aus Hartholz, das auf beiden Seiten mit Steinplatten verkleidet war. Ein Gang tat sich auf. Tunnelförmig, also oben gewölbt. So breit, daß sie nebeneinander gehen konnten, aber so niedrig, daß selbst Barbara nur gebückt gehen konnte. Nach wenigen Yards führten Stufen abwärts, und ein paar 110 �
Yards weiter andere Stufen wieder ein Stück aufwärts. Hier unterquerte der Gang den Burggraben. Wieder ein Stück weiter teilte sich der Gang in einem Winkel von fast neunzig Grad. Dave stellte sich die Landkarte vor. Die Abzweigung nach links führte auf ›Harper's Inn‹ zu, wenn Dave es sich richtig vorstellte, die Abzweigung nach rechts, dagegen zu der Abdeckerei. Dave wendete sich zunächst nach links. Aber hier kamen sie nicht weit. Der Gang war zusammengebrochen, Steine und Erdreich bildeten einen Pfropfen. »Was soll ich tun, Mark?« fragte Dave laut. Keuchende, mühsame Atemzüge. Dann röchelnd, kaum verständlich: »Der andere Gang!« Barbara hielt sich unglaublich tapfer. Sie sagte nichts, fragte nichts. Der andere Gang war nirgends eingefallen. Alle ungefähr fünfzig Schritt waren Röhren aus Bronze in die Decke eingelassen, die den Gang ursprünglich mit Frischluft versorgt hatten. Jetzt war jede zweite oder dritte Röhre verstopft, nur durch einige war noch der Himmel zu sehen. Vier bis fünf Fuß Erdreich lagen über dem Gang, nach der Länge der Röhren zu urteilen. Nach etwa einer halben Meile endete der Gang vor einer Tür, die innen einen Handgriff hatte. Die Tür ließ sich mühelos öffnen. Sie kamen in einen kubischen Raum, der etwa der Größe des Wohnhauses der Abdeckerei entsprach. Mitten in dem Raum stand ein Handwagen. Und auf diesem Handwagen der Sarg des dritten Grafen von Llanhodyn. Dave zweifelte nicht daran, daß es sich um dessen Sarg handelte. Dave leuchtete den Raum ab. Er sah eine Falltür an der Decke. 111 �
Aber es führte keine Treppe nach oben. Der Wagen mit dem Sarg stand genau unter der Falltür. Dave stieg auf den Sarg, konnte dann nur noch gebückt stehen. Er drückte gegen die Falltür. Die Tür rührte sich nicht. »Was soll ich tun, Mark?« Wieder Keuchen und Röcheln. »Nichts nur warten.« Dave sprang von dem Sarg auf den Fußboden. Dann versuchte er, den Sarg zu öffnen. Das gelang mühelos, der Sargdeckel bewegte sich um Scharniere. Dann sah Dave das Unfassbare, Unglaubliche. Der Sarg war größer, viel länger als handelsübliche Särge. Und dennoch füllte der Tote, der Blaue Vampir, den Sarg in der gesamten Länge aus. Ian Graf Llanhodyn war an die neun Fuß groß gewesen – an die zweieinhalb Meter. Das knollige, höckerig verquollene Gesicht war tiefblau, wie auch die Hände, die um den Knauf eines riesigen Schwertes, eines so genannten Beidhänders, gefaltet waren. An der Klinge des Schwertes klebte Blut nicht frisch, aber noch nicht allzu alt. Die Augen des Vampirs standen weit offen und der Mund um einen Spalt. Die Vampirzähne reichten bis fast zur Kinnspitze. Dave Mitchell legte den Handrücken gegen die Wangen des Monsters. Dann griff er mit den Fingerspitzen zu. Dies war keine Wachsfigur, keine überdimensionale Puppe, keine Statue aus Holz oder Stein öder was immer. Dies war ein Mensch, ein Toter. Nein, ein Scheintoter. Dave fühlte Fleisch. Nicht das kalte Fleisch eines Leichnams, sondern lebenswarmes Fleisch. Dennoch atmete das Monster nicht. Dave sah Kugellöcher in dem Umhang. Insgesamt sechs. Zwei davon über der Herzgegend. Nur die Löcher. Kein Blut. Hinter Dave atmete Barbara schwer. Dave ließ den Sargdeckel zufallen. 112 �
»Es ist nur eine Wachspuppe«, log er. Glaubte sie ihm? Vielleicht. Als er ihr ins Gesicht leuchtete, sah er, daß sie zu lächeln versuchte. Weiß bis in die Lippen. Dann wieder die mühsame, die gequälte Stimme Mark Dunlaps: »Der Fußboden. Der Fußboden in der Ecke.« Barbara stieß einen Seufzer aus, Sie brach in die Knie, kippte langsam zur Seite. Sie war ohnmächtig geworden. Das beste, was ihr in diesem Augenblick widerfahren konnte. Dave leuchtete die Ecken des Gemachs ab. Und schon die erste Ecke war die richtige. Da gab es eine Falltür, die nicht getarnt war. Ein Ring aus Bronze diente als Handgriff. Dave hob diese Falltür an. Drunten rauschte Wasser. Ein unterirdischer Bach, der in den Vyrnvy-Fluß oder direkt in den Vyrnvy-See münden mochte. Vermutlich wurden die Abwässer der Abdeckerei in den unterirdischen Bach geleitet. Dave leuchtete nach unten. Der Bach hatte hier ein künstliches Bett, aus Feldsteinen gemauert. Rechts und links davon gab es ein künstliches Ufer. Dave Mitchell verstand. Hier mochte ein letzter geheimer Zufluchtsort der Verteidiger der Burg gewesen sein. Mit Lebensmitteln konnten sie sich auf Wochen und Monate bevorraten, aber hier gab es auch Trinkwasser. Eben in diesem Augenblick, während Dave Nosy Mitchell nach unten leuchtete, trieb, kollerte, rollte Mark Dunlaps Kopf den Bachlauf entlang. Dave ließ die Luke zurückfallen. Er setzte sich neben Barbara auf den Fußboden, bettete ihren Oberkörper auf seinen Schoß, schaltete die Lampe aus, um die Batterien zu schonen. Sie kam wieder zu sich, Flüsterte irgend etwas. Da tat sich die Tür auf, durch die sie den Raum betreten hatten. 113 �
Irgend etwas wurde durch den Türspalt geworfen. Das hörte Dave nur er sah es nicht. Er hörte, wie irgend etwas auf den Fußboden fiel. Gleich darauf mußte er husten. Und auch Barbara hustete. Dave schaltete die Lampe ein, sah eine Art Patrone, der mit leisem Zischen weißlicher Rauch entquoll. Ein Giftgas. Dann geschah das Wunderbare das Wunder. Aus dem Nichts entstand etwas Graues, das sich binnen Sekunden zu zwei Gasmasken materialisierte. Dave setzte die eine sich selber auf, streifte die andere Barbara über den Kopf. »Danke, Mark!« sagte er so laut er konnte. Aber Mark Dunlaps Stimme meldete sich nicht mehr, sollte sich nie wieder melden. * Auch die Tür, durch die sie gekommen waren, ließ sich nun nicht mehr öffnen. Dave hielt die zitternde Barbara in den Armen lange sehr lange. Erst als nach zwei Stunden das Gas durch die Falltür nach unten abgezogen war, die Dave wieder geöffnet hatte, erst dann entmaterialisierten sich die Gasmasken, sie wurden zunehmend leichter, lösten sich am Ende in Luft auf. Nun hatte Dave keinen Grund mehr, Barbara etwas vorzumachen. Er erzählte, erklärte ihr alles. »Um unser Leben zu fürchten brauchen wir wohl nicht, Barb! Geister helfen uns sind auf unserer Seite.« Sie nickte. »Was tun wir jetzt?« fragte sie, wie schon vordem. »Warten. Wie Mark Dunlaps Stimme es uns geraten hat. Und uns tot stellen, wenn Menschen erscheinen. Für den äußersten 114 �
Notfall habe ich immer noch meine Pistole.« Es geschah nichts. Bis zehn Minuten vor Mitternacht nichts. Dann wurde die Falltür an der Decke geöffnet. Dave und Barbara spielten Tote. Dave lag auf dem Bauch an einer der Wände, die entsicherte Pistole in der Hand, und die Hand unter dem Oberkörper verborgen. Von oben fiel Licht herab. Und eine Leitertreppe wurde durch die Luke nach unten geschoben. Dann stieg der Mulatte nach unten. In seiner rechten Hand trug er einen angespitzten Holzpflock, etwa zwei Fuß lang, zwei Zoll dick. Nach der Überlieferung das wußte Dave Nosy Mitchell – kann man Vampire nur endgültig töten, indem man sie »pfählt«, ihnen einen angespitzten Holzpfahl in das Herz rammt. Eben das hatte der Mulatte vor. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Er warf nur einen kurzen Blick auf die vermeintlich Toten, öffnete dann den Sargdeckel. Dave warnte den Mulatten nicht. Dazu war keine Zeit mehr. Dave Mitchell drückte ab, als Deacon den Arm mit dem Pfahl erhob. Über die kurze Distanz traf Dave genau. So wie er es vorgehabt hatte. Der Pflock wurde Beacon förmlich aus der Hand geschleudert. »Feierabend«, sagte Dave Nosy Mitchell. »Nehmen Sie die Hände hoch!« Dave hob die Stimme. »Und Sie, Jackson, bleiben, wo Sie sind. Sonst puste ich Ihrem Partner das Leben aus.« Die Falltür wurde trotzdem zugeworfen. Aber der Mulatte hob die Hände. Er blinzelte geblendet in den Scheinwerfer der Stablampe. »Und jetzt?« fragte er. »Jetzt warten wir«, sagte Dave Nosy Mitchell. 115 �
Seine Armbanduhr zeigte sieben Minuten vor Mitternacht. Er hielt das Handgelenk mit der Uhr so, daß er das Zifferblatt sehen konnte. Noch sechs Minuten, fünf, vier, drei, eine. Noch fünfzig Sekunden, vier, drei, zwei – eine. Da hob ein hörbarer Atemzug die mächtige Brust des Monsters. Die riesigen blauen Hände warfen das Schwert aus dem Sarg, krallten sich dann um die Seitenwände des Sarges. »Nein!« kreischte Deacon. »Nein!« wimmerte er. Aber das Monster richtete den Oberkörper auf, stieg dann aus dem Sarg. Der Mulatte wich zurück. Schritt für Schritt. Bis er gegen die Wand stieß. Er preßte die Hände flach gegen die Wand, sackte zusammen, wehrte sich nicht, als das Monster sich über ihn beugte. Dave Mitchell schaltete die Lampe aus, um Barbara den Anblick zu ersparen. Er hörte, daß der Vampir trank. Das Blut aus der Halsschlagader des Mulatten. Ein grausiges Geräusch. Als es vorüber war, stieg der Vampir, das steife rechte Bein nachziehend, die Treppe hinauf und verriegelte die Falltür hinter sich. Dave und Barbara waren wieder gefangen. Ein Weinkrampf schüttelte Barbaras Körper. Dave schaltete die Lampe nicht mehr ein, konnte dennoch die Zeit von dem Leuchtzifferblatt ablesen. Zehn vor eins, acht vor eins fünf, vier, drei, zwei Minuten vor eins. Eine Minute vor eins. Dreißig, zwanzig Sekunden vor eins. Da rumpelte es droben. Die Falltür wurde aufgezogen. Licht fiel von oben herunter, und die Beine des Vampirs erschienen auf der Treppenleiter. 116 �
Das Monster erreichte noch den Fuß der Treppe. Dave Mitchells Präzisionsuhr zeigte ein Uhr. Aus. Der Vampir hatte es nicht mehr geschafft. Am Fuß der Leitertreppe lag ein Hügel aus bläulichem Staub. * Dave und Barbara stiegen über die Leitertreppe nach oben. Sie gelangten in die Küche des Wohnhauses. Dort lag Jackson lang ausgestreckt auf dem Fußboden. Mit weit aufgerissenen, gebrochenen Augen. Der Vampir hatte seine Drohung wahr gemacht, Jackson getötet. Die Tür zu einem Nebenzimmer stand offen. Dieses Zimmer war das Wohnzimmer, von dem aus die Haustür ins Freie führte. Und auch die Haustür stand weit offen. Draußen waren, im Lichtkegel der Stablampe, deutlich die Fußabdrücke des Vampirs zu sehen. Sie führten zu den Zwingern, an den Zwingern vorbei bis zu der mittleren der drei Garagen, deren Tor offen stand. Dave trat zu dem Wandschränkchen, fand darin einen Schalter. Er legte den Schalter um, und der Fußboden der Garage senkte sich. Als der Fahrstuhl unten war, sahen Dave und Barbara zunächst den Lieferwagen, der mitten in dem ausgedehnten Keller stand. Im Hintergrund durchquerte der unterirdische Bach das Gewölbe. Und neben dem gemauerten Bett des Baches lag Mark Dunlaps Leiche. Ohne Kopf. Mark Dunlap war durch Enthauptung zu Tode gebracht worden. Vielleicht mit dem Schwert des 117 �
dritten Grafen von Llanhodyn. »Sehen Sie nicht hin, Barb!« sagte Dave leise. Aber sie sah hin, starrte hin. Wendete sich nach einer Weile zitternd ab. Dave sah sich den Wagen genauer an. Das war nicht das ehemalige Dienstfahrzeug des Henkers. Es war ein Wagen des gleichen Fabrikats und Typs, aber nur verhältnismäßig wenig benutzt worden. Laut Tacho war dieses Fahrzeug insgesamt nur knapp fünfhundert Meilen gefahren worden. Es gab auch in dem Keller ein Wandschränkchen mit einem Schalter. Der Fahrstuhl brachte Dave und Barbara wieder nach oben. Die Fußspuren des Vampirs gab es in beiden Richtungen. Vom Wohnhaus zu der Garage und wieder zurück. Für diesen Weg konnte er nur ein paar Minuten gebraucht haben. Wo war er während der übrigen Zeit gewesen. Und was hatte er überhaupt in dem Keller gewollt? Beides blieb unerfindlich. Dave und Barbara gingen zu dem Wohnhaus zurück. Die Hunde waren wach, aber sie bellten nicht. Wahrscheinlich weil der Mann und das Mädchen nun schon alte Bekannte waren. Ein Platzregen setzte ein, wuchs sich zu einem Wolkenbruch aus, der alle Fuß- und sonstigen Spuren binnen Minuten verwischen mußte. Dave tat, was allein ihm zu tun übrig blieb. Er betrat noch einmal das Wohnhaus, ging zum Telefon und wählte die Nummer 999. »Notruf«, meldete sich eine Männerstimme. Dave Mitchell sagte langsam und deutlich: »In der Abdeckerei bei Llanhodyn liegen Tote.« Und er hängte auf, bevor der Mann vom Notruf eine Frage stellen konnte. 118 �
Das Tor im Zaun war unverschlossen. Der Regen hörte so plötzlich auf, wie er eingesetzt hatte. Bald darauf schien der Mond wieder. Dave und Barbara gingen quer durch das Ödland auf das Dorf und damit auf die Burg zu, einem Trampelpfad bis zum Dorf folgend, dann die Straße entlang. Der Porsche war noch da. Es war kurz nach zwei, als sie das Hotel betraten. Der Nachtportier wunderte sich wiederum nicht. Es gab nun einmal Nachtschwärmer unter den Gästen. Unterwegs hatte Dave Barbara gesagt, sie möge alles ihm überlassen. Die Grafschaftspolizei werde den Fall sicherlich an Scotland Yard abgeben und irgendwann, ziemlich bald, werde Chefinspektor Howland aufkreuzen und wissen wollen, welche Rolle er, Dave Mitchell, in dieser Sache gespielt habe. »Weiß der Teufel, was ich ihm erzählen soll. Die Wahrheit wird er auf keinen Fall glauben.« * Eigenartig genug, es tat sich zunächst gar nichts, außer daß die Lokalzeitung, die mit Verspätung, also erst am Montag Mittag herauskam, auf der ersten Seite eine ziemlich umfangreiche Nachricht brachte. Dave las, während er und Barbara beim Lunch saßen. Es waren vier Tote gefunden worden. Außer Jackson und Deacon noch die enthauptete Leiche Mark Dunlaps, dessen Kopf in einem unterirdischen Bach gefunden worden war. Und in diesem Bach auch die Leiche eines Mannes namens Fowler, der eigentlich Houston hieß, Zwillingsbruder eines verstorbenen Berufsverbrechers. Sonst enthielt der Artikel nichts, was Dave nicht wußte oder besser wußte. Zum Schluß hieß es noch, daß die Grafschaftspolizei Scotland 119 �
Yard hinzugezogen hatte. Aber es tat sich weiterhin nichts. Bis zum nächsten Morgen nicht. Da endlich kreuzte der Chefinspektor, Daves alter Freund Archie Howland, in dem Hotel auf. »Du wirst mir kein Wort von dieser Geschichte glauben, Archie.« »Versuch's, alter Junge!« Der Chefinspektor hörte mit unbewegtem Gesicht zu. Hinterher nickte er nur. »Ich fürchte, wir alle müssen umdenken, alter Junge. Es gibt offenbar wirklich mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt, wie schon Shakespeare wußte. Deine Geschichte überrascht mich nicht so sehr, wie du glaubst. Übrigens, George Hastings ist tot. Es sieht wie Selbstmord aus, aber es dürfte Mord sein.« »Wie starb er?« »Eine Überdosis Schlaftabletten. Im Schlafwagen nach Paris. Bleibst du fürs erste in diesem Hotel?« »Ja.« »In Ordnung. Wir hören voneinander. – Hast du die Absicht, deine Erlebnisse im ›Dispatch‹ zu veröffentlichen?« Dave schüttelte langsam den Kopf. »Ich lege keinen Wert darauf, für übergeschnappt gehalten zu werden.« »Ich auch nicht«, murmelte der Chefinspektor. »Daher werde ich deine Kollegen nur unvollständig informieren.« * Ganz wurde der Fall niemals aufgeklärt. Ratlose Gerichtsmediziner einigten sich schließlich darauf, daß Jackson, Deacon und � Fowler auf eine sehr ungewöhnliche Weise getötet worden seien, � 120 �
durch Absaugen von Blut aus den Halsschlagadern. Der frühere Lordrichter Griffith beging einwandfrei Selbstmord, bevor er verhört wurde. Was niemanden wunderte, denn daß er periodisch an Verfolgungswahn litt, war weithin bekannt. Der Chefarzt Dr. Thomas und die Gebrüder Westhouse entzogen sich der Festnahme durch Flucht. Die Fahndung blieb ohne Erfolg. Die ›Märchentante‹ der BBC, Margret Hopkins, ging freiwillig in eine Nervenheilanstalt, wo ihr von den Ärzten bescheinigt wurde, daß sie schizophren sei. Der Justizminister trat zurück. Und bestritt, von dem Verhältnis seiner Frau zu Dr. Thomas gewußt zu haben. Dem Liliputaner konnte nichts nachgewiesen werden, auch den Harpers nicht. Nachdem alles das geklärt war, reimte Dave Nosy Mitchell sich alles wie folgt zusammen. Die Schlüsselfigur war der Psychiater Dr. Alfred Thomas, der mediale Fähigkeiten hatte und folglich wußte, daß es Geister, Gespenster, Vampire tatsächlich gibt. Er zog im Lauf der Jahre Menschen an sich, die das auch wußten. Dazu gehörten Sir Norman Griffith, die Brüder Westhouse, die telekinetisch begabt waren, das Ehepaar Harper und Jackson und Deacon, der sich ebenfalls auf Telekinese spezialisiert hatte. Als Griffith' Enkelin sich vergiftete, gab Griffith die Schuld daran Mark Dunlap, und beschloß, Dunlap psychisch zu vernichten, wenn schon nicht physisch. Zu diesem Zweck gaukelte er Dunlap mit Hilfe ehemaliger Schauspieler aus der JacksonTruppe ein Geistergericht vor, an dem alles Bluff, alles Theater war. Der Henker und dessen Gehilfen wurden von Schauspielern dargestellt, und auch alle anderen Mitwirkenden. Die Körper und Köpfe der ›Enthaupteten‹ waren aus Wachs gewesen. Daß ein echter Geist nämlich der ›Blaue Vampir‹ eingreifen 121 �
würde, damit hatte Griffith nicht gerechnet. Als das dann geschah, nutzten Griffith und dessen Komplicen das aus, indem sie den ›Blauen Vampir‹ in dessen Sarg zum ›Einsatzort‹ fuhren. Irgendwie begriff, verstand, erfasste der Vampir, daß er gelenkt, gesteuert, missbraucht wurde. Von da an wendete er sich gegen Seine Auftraggeber oder wie immer man das bezeichnen wollte. Und auf mysteriöse Art und Weise wurde Mark Dunlap unmittelbar, nachdem er enthauptet worden war, mit der Fähigkeit ausgestattet, zu spuken, Dave zu warnen, zu beschützen. Wer der erste Motorradfahrer gewesen war, konnte Dave nur vermuten, nämlich der Mulatte. Der angebliche Pater Dr. Seppich war zweifellos ein Mitarbeiter George Hastings gewesen. Festzustehen schien, daß Jackson, Deacon und Fowler auf der Burg im Hinterhalt gelegen hatten, als Dave und Barbara den Zugang zu dem Mausoleum gefunden hatten. Diese drei Männer hatten Dave und Barbara endgültig ausschalten wollen. So oder so ungefähr mußte es gewesen sein. Übrigens war keines der Fotos, die Barbara geschossen hatte, gelungen. Die Filme waren derart überbelichtet, daß keine Abzüge gemacht werden konnten. Und das war gewiß nicht Barbaras Schuld. Wie immer, Dave Nosy Mitchell erschien erst nach vier Wochen wieder in der Redaktion des ›Daily Dispatch‹. Er pflanzte sich hinter die Schreibmaschine, als ob nichts geschehen sei. Vier Wochen und zwei Tage, nachdem er ausgezogen war, das Gruseln zu lernen. Was er damals noch nicht geahnt hatte. Die Sobsister Valinda Morris wunderte sich nicht darüber, daß »der verlorene Sohn« heimkehrte. Denn daß der Oberhäuptling sein bestes Pferd im Stall tatsächlich gefeuert haben sollte, hatte 122 �
sie nie wirklich geglaubt. »Ich habe ein Problem«, sagte Dave Nosy Mitchell zu der Sobsister. »Eigentlich sogar zwei Probleme, aber nur eines davon fällt in Ihre Kompetenz.« Das zweite Problem – nämlich die Frage, wieso der Oberhäuptling sich hatte einreden lassen, es ginge um die Staatsräson –, war Dave nicht so wichtig. Vor Ministern stehen nun einmal sonst ganz gescheite Leute stramm. Aber mit dem ersten Problem kam Dave nun einmal nicht klar. »Was«, sagte er, »würden Sie aus dem reichen Schatz Ihrer einschlägigen Erfahrungen einem Mann raten, der zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau derart liebt, daß er sie gern heiraten würde, wenn diese Frau nicht noch ein halbes Kind wäre. Sozusagen grasgrün. Die Unschuld in Person, wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will.« Die Sobsister Valinda Morris bedachte sich nur eine Sekunde lang. Dann sagte sie: »Ich würde dem Mann empfehlen, zumindest den Versuch zu machen, endlich erwachsen zu werden. Denn zum Erwachsensein gehört unter anderem, daß man sich jüngeren Menschen gegenüber nicht überlegen fühlt, nur weil man ein paar Jahre oder auch viele Jahre älter ist.« »Das«, meinte Dave Nosy Mitchell verblüfft, »ist ein Gedanke, auf den ich noch gar nicht gekommen bin.« »Eben!« sagte die Sobsister aus voller Brust. Was nur bildlich zu verstehen ist, denn einen nennenswerten Busen hatte sie nicht. Körperlich gesehen. »Sie glauben also…«, fragte Dave. »Ich glaube gar nichts. Außer, daß ich meine, Sie verdienen eine Barbara Fulton überhaupt nicht. Aber das ist Barbaras Problem, nicht meines.« Barbara war da ganz anderer Ansicht. Abermals vier Wochen später erschien die Heiratsanzeige in 123 �
nahezu allen Blättern Großbritanniens. Und etliche dieser Anzeigen hatte Dave Mitchell sogar bezahlen müssen. ENDE
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