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Martin Neuffer
Nein zum Leben Ein Essay Fischer Taschenbuch Verlag
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Martin Neuffer
Nein zum Leben Ein Essay Fischer Taschenbuch Verlag
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Warum lebt der Mensch? Weil seine Eltern ihn gezeugt haben, seine ihn geboren hat. Das kann doch nicht alles sein. Das ist jedenfalls alles, was wir wissen. Wozu lebt der Mensch? Zum Sterben. Das kann doch nicht alles sein. Das ist jedenfalls alles, was sicher ist. 3
Über das Buch Der Autor stellt das positive gesellschaftliche Werturteil über die menschliche Existenz in Frage. Weder aus religiöser Offenbarung noch aus philosophischer Einsicht läßt sich seiner Ansicht nach ein Gewolltsein des Lebens ableiten, das die Zustimmung des Menschen zu seinem eigenen Dasein zwingend erfordert. Dagegen führt der Autor eine erhebliche Anzahl von Gründen an, die ein entgegengesetztes Urteil tragen können‐: daß es nämlich besser wäre, es gebe die Menschen nicht. Zu dieser auch der abendländischen Geistesgeschichte nicht fremden Minder‐ heitenposition bekennt sich der Verfasser in einer eigenen Lebensbilanz. Aus der generellen Unzumutbarkeit des Menschseins folgert er, daß die Weitergabe des Lebens an neue Generationen nicht verantwortbar sei. Wenn dies seit jeher gültig war, um wie viel relevanter wird, so der Autor, eine solche Absage in der gegenwärtigen Epoche, die gezeichnet ist von globalen Katastrophen, die von der Menschheit eingeleitet werden. Die individuellen Selbstbestimmungsrechte des sein Leben verwerfenden Individuums stehen im Mittelpunkt des Buches. Sie sind ein engagierter Protest gegen die vielfältigen repressiven gesellschaftlichen Praktiken anmaßender Bevormundung, mit denen Lebensunwilligen die Realisierung ihrer Entscheidung erschwert oder unmöglich gemacht wird. Das Grundrecht darauf, nicht leben zu müssen, wenn man nicht leben will, müsse erst noch durchgesetzt werden. Der Autor Martin Neuffer, Jurist, Jg. 1924, war von 1963 bis 1974 Oberstadtdirektor von Hannover und von 1974 bis 1980 Intendant des NDR. Er ist Autor des Buches >Die Erde wächst nicht mit< (München 1982). 4
1. Nein zum Leben ‐ ein zulässiges Urteil Vom Menschen wird erwartet, daß er zu seinem Leben ja sagt. Seine Familie, seine Freunde erwarten es, seine Lehrer, sein Pfarrer, seine Kollegen wie seine Vorgesetzten. Er erwartet es selbst. Sicher, er ist vorher nicht gefragt worden, ob er dieses Leben, oder auch ein anderes, überhaupt haben will. Umso dringender erscheint es offenbar, daß er sich wenigstens nachträglich dazu bekennt. Sein Ja trägt ihm reichen Lohn durch die Vergewisserungen, die es mit sich bringt. Auch wenn dem Menschen noch soviel Schwieriges, Beunruhigendes, ja Schreckliches zugemutet wird ‐ wenn es mit dem Leben insgesamt seine Richtigkeit hat, so mögen auch dessen unleugbaren Grausamkeiten und Leiden schließlich noch einen Sinn ergeben. Vor allem aber zählt, wie glücklich die Lebenszustimmung den Menschen ins Einvernehmen mit seinen Mitmenschen setzt. Das verschafft ihm Anerkennung und Zustimmung, Bestätigung. Eingebunden in die kollektive Solidarität der zum Leben Ja‐ Sagenden, kann er sich geborgen fühlen. Gewiß, offene Fragen und Zweifel bleiben und melden sich immer wieder. So ganz und gar wird davon keiner verschont. Aber das vergeht ‐ wenn auch nicht bei allen, so doch bei den meisten. Denn zum Leben einfach nein zu sagen, das bringt den Menschen nun doch in eine schlechte Lage. Er ist da mit solcher Meinung ziemlich allein, ein Unangepaßter, ein vielleicht nicht ganz Gesunder, einer, der nicht dazugehört, einer, »der's nicht packt«. Kein Zweifel, das Ja zum Leben ist richtig und gut, ein Nein zum Leben ist falsch und verwerflich. In dieser vereinfachten Formel läßt sich das Grundbewußtsein der Menschen ‐ jeden‐ 5
falls des abendländisch‐christlichen Kulturkreises ‐ wohl erfas‐ sen. Die Lebenszustimmung ist gesellschaftlich nicht nur ak‐ zeptiert, sondern obligatorisch. Die Lebensverneinung markiert in unserer Gesellschaft eine fast extreme Außenseiterposition. Das gilt gleichermaßen für die mehreren Bedeutungen, die der Begriff Leben für unsere Fragestellung annehmen kann: ‐ die Schöpfung insgesamt, also die Welt als Ganzes in ihrer vorgefundenen Ordnung und Gesetzlichkeit; ‐ die Menschheit als höchstentwickelte Art alles Lebendigen auf der Erde; ‐ und vor allem natürlich das individuelle Leben des einzelnen Menschen in seiner Einzigartigkeit. Ja zum Leben bedeutet also je nach dem Zusammenhang: ‐ es ist besser, daß es die Welt gibt, als daß es sie nicht gäbe; ‐ es ist besser, daß es die Menschheit gibt, als daß es sie nicht gäbe; ‐ es ist in Bezug auf jeden einzelnen Menschen besser, daß es ihn gibt, als daß es ihn nicht gäbe. Daß das Ja zum Leben so unbestritten dominiert, wie wir es tagtäglich überall und unter den mißlichsten Umständen fest‐ stellen können, beruht nun allerdings nicht nur auf gesellschaft‐ licher Konditionierung, sondern hat seine eigenen Gründe. Deren stärkster, fast unwiderstehlicher ist die Tatsache des Existierens als solche. Das Ja zum Leben ist immer und in erster Linie ein Ja zu sich selbst. Was lebt, will leben ‐ weil es sonst nicht wäre. Das ist das Grundgesetz des kreatürlichen Daseins. Der Lebenstrieb be‐ herrscht den Menschen wie jeden anderen Organismus ‐ so sehr er in diesem Fall durch das einzigartige reflexive Bewußtsein auch modifiziert werden mag. Ja zum Leben ist die spontane Zustimmung des Existierenden zu seiner Existenz, der or‐ ganischen Kreatur Mensch zu ihrem organischen Funktionie‐ 6
ren, des Schreitenden zu seiner Bewegung, des Empfindenden zu seinem Fühlen, des Denkenden zu seiner Erkenntnis. Ja zum Leben bedeutet Lebenwollen, weil es besser ist zu sein, als nicht zu sein. Diese Einheit von Sein und Leben ist so elementar, daß jedes Nein zum Leben als Nein zu sich selbst erfahren und damit fast unmöglich wird. Wir lassen dabei auch nicht jene Fälle außer Betracht, in denen der Lebenswille durch ein Versagen der Kräfte erlischt. Die sich dabei vollziehende Abnahme von Leben kann zu einer Minderung der Lebensbejahung führen, die in der Umkehrung nur bestätigt, daß die Tatsache des ‐ vollen ‐ Lebens der stärkste Grund für seine Bejahung ist. Leben aus der Fülle der Kraft heraus gebiert die Erfahrungen, die uns die eigene Existenz als so überaus kostbar erscheinen lassen: empfangene und gewährte Liebe und Freundschaft, Sexualität, Geborgenheit und Solidarität in der Gemeinschaft, Überwältigung durch Natur und Kunst, Stolz auf eigene Gestaltungskraft, Leistung und Anerkennung, Befriedigung über gewonnene Erkenntnis, über ausgeübte Gerechtigkeit, Genuß und Rausch, Erfüllung im Glauben. Kein Einzelleben ‐ und sei es noch so reich ‐ umschließt alle solchen möglichen Glückserfahrungen. Aber auch im »ärmsten« Lebenslauf fehlen sie nicht gänzlich. Wer an ihnen Teil hat, und sei es nur in bescheidenem Maße, für den gibt es schon einen Grund für ein Ja zum Leben. Ob er ausreicht, ist eine andere Frage. Schließlich sei in diesem Zusammenhang auch die Neugierde nicht vergessen. Zu sein kann nicht nur schöner sein als nicht zu sein. Auf jeden Fall ist es interessanter. Die Neugierde der Menschen ist weniger eine Eigenschaft als eine Besessenheit. Was sie über diese Welt, ihre Entstehung und Entwicklung, ihre Gesetzmäßigkeiten und ihre Möglichkeiten bisher heraus‐ gefunden haben, ist sicher so fragmentarisch wie es »humanoid präformiert« ist ‐ aber es ist stupende. Man weiß nicht, ob man mehr über die anscheinend abenteuerliche Unsinnigkeit der
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Weltveranstaltung oder über die sinnverwirrend‐elaborierte Vielfältigkeit und Komplexität ihrer Erscheinungsgebilde stau‐ nen soll. Die Wissensbrocken, die wir uns mit Talent und List angeeignet haben, machen kräftig Hunger auf mehr. Vor allem, wo es mit der einzigen uns bisher bekannten Intelligenz‐Form unseres Kosmos, den Menschen, im Zuge der fortschreitenden Evolution noch hinaus soll, wüßten wir schon gern. In der Summe und in ihrer Qualität sind die Gründe für ein Ja zum Leben so immens stark, daß sie als schier unerschütterlich erscheinen. Für viele Menschen bedeutet dieses ihr Ja zudem noch viel mehr als solches elementar empfundene Grundeinverständnis. Sie sehen im Leben ein »Geschenk« des Schöpfers. Sie empfinden seine Annahme als eine Verpflichtung, da es dem direkten Willen Gottes entsprungen sei. Das Christen‐ tum vertritt diese Position mit Entschiedenheit. Aber auch nicht religiös gebundene Menschen neigen zu einer ähnlichen Empfindung: Da wir uns ja nicht selbst zum Leben entschieden haben, sondern es uns »gegeben« wurde, fühlen sie sich an die einem solchen elementaren Vorgang offenbar zugrundeliegende Ordnung gebunden. In Albert Schweitzers »Ehrfurcht vor dem Leben« als ethischem Zentralbegriff hat sich das Ja zum Leben noch über das religiöse Gebot hinaus gleichsam verselbständigt und leuchtet seither Gläubigen und Ungläubigen gleichermaßen. Ein grundsätzliches Nein zum Leben erscheint in der Tat vielen Menschen ‐ soweit sie sich diese Frage überhaupt je stellen ‐ nicht nur als falsch, sondern als entweder unzulässig oder un‐ möglich. Die Kirchen lehren: Wo Gott Leben geschenkt hat, darf sein Geschöpf es nicht verwerfen. Wo Gott Leben will ‐und Gott will das Leben jedes Menschen ‐, darf es nicht zurückgewiesen werden. Ohne den religiösen Bezug läßt sich argumentieren: Als Teil des Seienden ist dem Menschen die Entscheidung für ein Nichtsein verwehrt. Wenn dies so oder so zuträfe, so wären wir schon am Ende aller Erwägungen über ein Ja oder Nein zum Leben angelangt.
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Tatsächlich kann davon keine Rede sein. Sogar das viel stärkere religiöse Argument ist alles andere als schlüssig. Selbst im Rahmen konventioneller Gottesvorstellungen ließe sich denken, daß der Schöpferwille Gottes die Wahlfreiheit seiner Geschöpfe einschließt, zum Leben ja oder nein zu sagen, und ihnen die Ablehnung, sei es der Schöpfung insgesamt, sei es der ihnen darin zugewiesenen Rolle, als mögliche legitime Position einräumt. Denn immerhin ist der Mensch nicht nur mit Leben ausgestattet, sondern auch mit einer Reflexionsfähigkeit, die ihn ‐ im Rahmen seiner kategorialen Reichweite ‐ zu einem kritischen Urteil über das Leben befähigt. Der Mensch ist auch imstande, aus einem negativen Urteil über sein Leben die Konsequenz zu ziehen und sich zu töten oder sich der Weitergabe von Leben an Nachkommen zu enthalten. Ist es dann von vornherein ausge‐ macht, daß das von Gott geschenkte Leben für ihn einen höhe‐ ren Rang einnimmt als die ihm in gleicher Weise zugekommene Freiheit, selbst darüber zu entscheiden, ob und wie er dieses Leben führt? Könnte nicht auch ein allmächtiger und allgütiger Gott in seinen Schöpfungsplan die Möglichkeit aufgenommen haben, daß der nach seinem Bilde geschaffene, mit eigener Seele, eigener Urteilskraft, eigener Verantwortung und eigener Handlungsmöglichkeit versehene Mensch diese Schöpfung oder seine eigene Rolle in dieser Schöpfung ablehnt? Das täte der Majestät Gottes keinen Abbruch, machte aber Ernst mit der dem Menschen verliehenen Entscheidungsautonomie. An der sind die Kirchen herkömmlicherweise freilich sehr viel weniger interessiert als am Glaubensgehorsam. Alle ihre Bekundungen laufen denn auch auf die rituelle Wiederholung der offiziellen Lehrmeinung hinaus. Die 1989 erschienene Er‐ klärung aller christlichen Kirchen in der Bundesrepublik »Gott ist ein Freund des Lebens« liest sich noch einmal als ein einziges Plädoyer für die Absolutheit des Lebensgebots. Gott ist Leben. Gott ist Schöpfer des Lebens. Gott ist Schützer des Lebens. 9
Allerdings wird, in dem Abschnitt über die »Mächte der Lebenszerstörung«, die Frage einer persönlichen Autonomie des Menschen einmal angesprochen. Anlaß ist der biblische Sündenfall. Dort sei der Mensch der Versuchung erlegen, sein zu wollen wie Gott und selbst zu bestimmen, was ihm und seiner Mitwelt förderlich ist. »Statt sich an Gott zu orientieren, der ihm sein Leben und eine Leben gewährleistende Welt gab, orientierte sich der Mensch an sich selbst und seinen eigensinnigen Vorstellungen, Bestimmungen, Interessen.« Nur, woher kommen sie denn, die »eigensinnigen Vorstellungen« der Menschen? Irgendwo in Gottes Schöpfung müssen doch auch sie ihre Wurzel haben. Nun ist es nicht so, daß das Ja zum Leben, speziell dem der Menschen, allein von den Kirchen mit einiger Rigorosität ver‐ treten wird. Bei einem der angesehensten deutschen Philo‐ sophen unserer Zeit, Hans Jonas, liest es sich kaum anders. In seinem Werk »Das Prinzip Verantwortung« erklärt er unter dem hübschen Zwischentitel »Pflicht zum Dasein und Sosein einer Nachkommenschaft überhaupt«, daß wir eine Verpflichtung zum Dasein künftiger Menschen haben. Diese schließe die Pflicht zur Fortpflanzung ein. (Großzügig wird angemerkt, daß letztere »nicht notwendig« jedem einzelnen obliege.) Daß eine Menschheit sei, erklärt er zum Imperativ (Das Prinzip Verant‐ wortung, S. 86). Wer nun nach der Begründung für ein solches Gebot sucht, wird freilich kaum weniger dogmatisch abgefertigt, als das bei den Offenbarungsreligionen der Fall ist. Wir seien ‐ so heißt es ‐ mit diesem ersten Imperativ, daß eine Menschheit sei, »nicht den künftigen Menschen verantwortlich, sondern der Idee des Menschen, die eine solche ist, daß sie die Anwesenheit ihrer Verkörperungen in der Welt fordert. Es ist, mit anderen Worten, eine ontologische Idee... die sagt, daß eine solche Anwesenheit sein soll« (a. a. O., S. 91). Eine solche ontotheologische Feststellung kann man nicht mehr rational nachvollziehen, sondern nur glaubend annehmen ‐ oder eben auch nicht. Daß etwas, das da ist, jedenfalls aus der Sicht 10
seines Urhebers auch dasein soll, wird man zwar getrost unterstellen dürfen. Doch sind die Ziele oder Versuche, die der Schöpfer offenbar durch die Evolution dieses Kosmos verfolgt, keineswegs eo ipso identisch mit den Interessen der Geschöpfe, die dabei entstehen. Diese brauchen sich das vom Schöpfer statuierte Seinsollen keineswegs zu eigen zu machen und als für sich verbindlich anzuerkennen ‐ so wenig wie das Lamm schon deshalb mit seiner Existenz einverstanden zu sein braucht, weil die stringenten Verwertungsmotive des Hirten sein Dasein gewollt haben. Dem Skeptiker fällt die Toleranz für ein Nein zum Leben naturgemäß leichter als dem Gläubigen. Die »Göttlichkeit« der Schöpfung im Sinne eines transzendenten Hervorbringungsaktes wird von ihm auch gar nicht bestritten. In der Tat drängt uns alles zu der Annahme, daß die Weltveranstaltung, deren Teil wir sind, einem Urheberwillen und einer Gestaltungskraft entsprungen ist, die unser Begreifen weit übersteigen. Man kann das Gott nennen. Allerdings ist dieser Begriff im Verlauf der Menschheitsgeschichte und ihrer zahllosen religiösen Ausfor‐ mungen so vielfältig konkret und personifiziert besetzt worden, daß sich seine Verwendung nicht empfiehlt. Es scheint sinnvoller zu sein, für den Urheber des Kosmos das neutralere, wenn auch immer noch sehr personal eingefärbte Wort Schöpfer zu verwenden. Von ihm wissen wir nichts, außer was wir an seinen Schöp‐ fungswirkungen zu erfassen in der Lage sind. Das ist jedenfalls die Position des Agnostikers, der von keiner geoffenbarten Wahrheit so beeindruckt ist, daß er sie sich glaubend zu eigen machen könnte. Er findet sich resignierend und bedauernd damit ab, daß die Evolution bei allen Wundern ihrer Hervorbrin‐ gung keinen Informationstransfer vom Schöpfer zum Menschen ermöglicht hat, der über Rückschlüsse aus den uns einsichtigen Daseinsmodalitäten hinausginge. Die wichtigste, für unser ursachenorientiertes Denken eigentlich zwingende Folgerung ist eben nur die auf die Existenz einer transzendenten Ursache des
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kosmologischen Geschehens, die wir nicht näher erfassen können. Keinesfalls stellen die eng gezogenen Erkenntnisgrenzen allerdings die autonome Beurteilungs‐ und Wertungslegitima‐ tion des Menschen in Frage. Zwar ist ihm nur allzu bewußt, wie begrenzt und bedingt sein Wissen ist und wie relativ und histo‐ risch sein Wertsystem. Seine Folgerungen stimmen immer nur unter Prämissen, die er nicht ändern kann. Aber mit dieser Handhabung seines zugegebenermaßen höchst unzulänglichen geistigen Instrumentariums darf er sich in voller Übereinstim‐ mung mit der Schöpfungsintention fühlen ‐ wenn es die denn gibt. Wozu sonst sollte die Evolution solchen Aufwand mit der Entwicklung seines Urteilsvermögens getrieben haben als dazu, daß der Mensch es auch ohne Vorgabe irgendwelcher Grenzen oder Konditionen nutzt. Hier ist eine Zwischenbemerkung notwendig. In jeder Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Evolution stößt man immer wieder auf Sachverhalte, die sich am besten darstellen lassen, wenn man die Evolution als eine handelnde, Ursachen setzende Größe darstellt (»Die Evolution will...«, »Die Evolution bedient sich...«, »Die Evolution zielt darauf...« etc.). Das ist strenggenommen natürlich falsch. Die Evolution ist ein Prozeß, dessen Ursache und Antriebe wir nicht und dessen Mechanismen wir nur zum Teil kennen. Wenn man sich dessen bewußt ist, erleichtert die personifizierende Darstellungsform aber die Verständigung, ohne Verwirrung anzurichten. Auch die naturwissenschaftlichen Populärdarstellungen bedienen sich immer wieder dieser erlaubten Abkürzung. Wir kehren zu der Feststellung zurück, daß die Frage nach dem Ja oder Nein zum Leben sowohl unter religiösen wie unter agnostischen Prämissen zulässig ist. Der Weg zur Beantwortung ist schwierig. Schwierig ist es schon, zur Fragestellung vorzudringen. Natürlich stellt jeder sich irgendwann einmal Lebensfragen: nach Gott, nach dem Sinn des Lebens, nach der eigenen Aufgabe in der Welt, nach Selbstverwirklichung und erreichbarem Glück 12
und ertragbarem Leid. Aber die Kernfrage nach der Zustimmung zum Leben als solchem stellt sich seltener. Hätte man seiner eigenen Existenz unter den jetzt bekannten Bedingungen dieser Welt und der persönlichen Lebensumstände zugestimmt, wenn man vorher danach gefragt worden wäre? Oder hätte man dann nicht doch lieber darauf verzichtet, ins Leben gesetzt zu werden? Wer fragt schon so ‐ und wozu auch? Auf das »Wozu« kommen wir später noch. Bleiben wir zunächst bei der Frage nach dem »Ob«. Hätte man zugestimmt? Schwierig ist es zunächst schon, zur Unbefangenheit der Antwortsuche zu finden. Denn im Urteil der Gesellschaft sind ja nicht beide Antworten, das Ja und das Nein, gleichwertig. Nur ersteres wird von der großen Mehrheit unserer Zeitgenossen gebilligt. Mit einer Nein‐Antwort zieht man die Gefahr heftiger gesellschaftlicher Mißbilligung, wo nicht Ächtung, auf sich, begibt sich in eine exzentrische Außenseiterposition, die nicht gerade den erfreulichsten Aufenthalt verheißt. Ob der einzelne sich das klarmacht oder nicht, jeder derartige Zustimmungs‐ oder Ablehnungsdruck beeinflußt den Prozeß der eigenen Antwortfindung und drängt in Richtung einer mehrheitskonformen Meinungsbildung. Ein weiteres kommt hinzu. Menschen verstehen ihr eigenes Leben als eine Gestaltungsaufgabe, die ihnen mehr oder weniger gut gelingen, aber auch mißlingen kann. Da liegt es für den Fragenden selbst ebenso wie für den Außenstehenden nahe, hinter einem negativen Lebensurteil auch Versagen im persönlichen Lebensschicksal zu vermuten. Wer zum Leben nein sagt, der hat doch wohl versäumt, etwas daraus zu machen. Umgekehrt läßt ein kräftiges Ja zum Leben darauf schließen, daß da einer seine Lebensmöglichkeiten besonders erfolgreich ausgeschöpft habe. Wer gibt sich da schon gern eine Blöße, setzt sich auch nur dem Verdacht eines Versagens aus? Emotional schiebt und zieht also vieles in Richtung auf eine lebensbejahende Antwort, deren stärkste und tiefste Wurzel natürlich in der bloßen Tatsache des nackten Existierens liegt. 13
Die lebendige Kreatur will leben. Das ist ihr Grundgesetz. Sie will unter fast jeder denkbaren Bedingung und Belastung leben. Es erfordert eine fast übermenschliche Anstrengung, das eigene Existieren wegzudenken, es auch nur hypothetisch zu verleugnen und dann kühl abwägend nach seiner Wünschbarkeit zu fragen. Aber trotz solchen vielfältigen Schiebens und Ziehens zur positiven Lebensantwort hin ist die negative so selten auch wie‐ der nicht, wie es den Anschein haben könnte. Sie hat von frühen Zeiten her ihre eigene Tradition. Herodot berichtet im 5.Jahrhundert v.Chr. über die Sitte der Thraker, die Neugeborenen mit Wehklagen zu begrüßen und ihnen alle in ihrem Leben nun bevorstehenden Leiden auf‐ zuzählen. Auch wenn wir nicht sicher sein können, daß es diesen Brauch wirklich gab, so zeugt doch seine Überlieferung zu‐ mindest davon, wie vertraut ein solcher Gedanke den Menschen seit Jahrtausenden ist. Er mündet in neuerer Zeit etwa ein in die nüchterne Formulierung Schopenhauers: »Als Zweck unseres Daseins ist nichts anderes anzugeben als die Erkenntnis, daß wir besser nicht da wären. Dies aber ist die wichtigste aller Wahrheiten, die daher ausgesprochen werden muß; so sehr sie auch mit der heutigen europäischen Denkweise im Kontrast steht. « Es ist auch nicht so, daß das Ja und das Nein zum Leben durch einen unüberbrückbaren Graben voneinander getrennt wären. Wir finden im Gegenteil häufiger, daß der einzelne Mensch je nach seinen Lebensumständen nacheinander die eine und dann die andere Position für richtig halten mag. Selbst ein so stand‐ hafter Ja‐Bekenner wie Hiob hatte seine schwache Stunde: »Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt! Jener Tag soll finster sein, und Gott droben frage nicht nach ihm! ...die Nacht hoffe aufs Licht, doch es komme nicht, und sie sehe nicht die Wimpern der Morgenröte, weil sie nicht verschlossen hat den Leib meiner Mutter... Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt? Warum bin ich nicht umgekommen, als ich aus dem 14
Mutterleib kam? Warum hat man mich auf den Schoß ge‐ nommen? Warum bin ich an den Brüsten gesäugt? « Wechsel in der subjektiven Einschätzung der Weltveranstaltung sind also natürlich, und jedes Ja ist so legitim wie jedes Nein. Dabei wird man einem flüchtigen, stimmungsgetragenen Tages‐ Ja oder Tages‐Nein freilich weniger Gewicht beimessen als den verfestigten, schon bilanzierenden Grundeinstellungen, die sich im Verlauf des Menschenlebens stärker durchsetzen. Um Missverständnissen vorzubeugen, sollte es vielleicht noch einmal mit besonderem Nachdruck gesagt werden: Auch ein Nein zum Leben bedeutet nicht, daß in fremdes Leben in irgendeiner Weise eingegriffen oder darüber nach Belieben verfügt werden dürfte. An der Abgrenzung der individuellen Rechtssphären, an dem unabdingbaren subjektiven Anspruch auf Leben und körperliche Unversehrtheit eines jeden ändert sich gar nichts, wenn man die Nichtexistenz von Menschen ihrem Dasein vorziehen möchte. Es gibt sie nun einmal. Und die von ihnen entwickelten Ideale der Gleichheit, Freiheit und Solidarität stellen das höchstrangige Orientierungssystem für ihr Zusammenleben dar, das wir uns denken können. Darin nimmt der Existenzanspruch jedes Individuums seinen unverändert dominierenden Platz ein. Im Folgenden wird nun zunächst der Versuch unternommen, die Aspekte der Welt, die für ein Ja oder Nein von besonderem Gewicht sein könnten, vor Augen zu führen. Dabei spielt na‐ türlich auch die aktuelle Situation auf der Erde mit ihren vielfach krisenhaften Einzelentwicklungen eine Rolle. Aber keineswegs geringere Bedeutung kommt den strukturellen Bedingungen menschlichen Lebens in diesem naturgesetzlich so verfaßt vorgefundenen Kosmos in dieser Phase der Evolution zu. Anders: auch wenn es keine Atomsprengköpfe, keine Be‐ völkerungsexplosion, keine Klimakatastrophe, keine Umwelt‐ verseuchung gäbe, bliebe die Frage nach dem Ja oder Nein zum Leben natürlich im Kern unverändert bestehen. Die Existenz‐ krise der hypertroph anschwellenden Menschheit mag dem Nein aber zusätzliches Gewicht verschaffen. 15
Überlegungen über die möglichen Folgen eines Nein zum Leben schließen sich an. Sie münden in die insistierende Forderung, daß die Entscheidungsautonomie der Einzelperson auch dann uneingeschränkt respektiert werden sollte, wenn sie das Leben verwirft. Insoweit bedarf vor allem die gesellschaftliche Handhabung der Todesprobleme in wichtigen Punkten einer durchgreifenden Revision. Diesem Thema sind die letzten Ab‐ schnitte dieser Schrift gewidmet. 2. Gründe für ein Nein Evolutionäre Rahmenbedingungen und soziales Versagen Die Antwort auf die Frage, ob die menschliche Existenz der Nichtexistenz von Menschen vorzuziehen sei, kann immer nur subjektiv gefunden und begründet werden. Hier kommen Wer‐ tungen ins Spiel, die sich der rationalen Nachprüfung entziehen. Allerdings gibt es einige thematische Felder, die für die Entscheidung als besonders bedeutsam erscheinen. Es handelt sich einmal um bestimmte biologische Bedingungen unserer Existenz, die wir als gegeben hinnehmen müssen. Es handelt sich zum anderen um gravierende Mängel in unserem Sozial verhalten, auf das wir Einfluß nehmen können. Der folgende Überblick über die wichtigsten Einwände gegen die menschliche Existenz und die Widersprüche, denen sie unter‐ worfen ist, grenzt die Themen ein, die anschließend in eigenen Abschnitten ausführlicher erörtert werden. 1. Die Todesbestimmtheit Als Individuum ist der Mensch nicht nur sterblich, wie er selbst es oft verharmlosend ausdrückt. Er ist vielmehr zum Sterben bestimmt, lebt vom Augenblick der Geburt an dem unvermeid‐ baren Verfall und Tod entgegen. Die ihm zugemessene Le‐ bensspanne ist im Vergleich zu den seinem Denken und Emp‐ finden zugänglichen Zeiträumen überaus bescheiden.
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Die lebenslange Aufbauleistung des Menschen an sich selbst, sein Erwerb an Wissen, an Fähigkeiten, an Erfahrung, an Einfühlungsvermögen, an Differenzierungsvermögen, an Verständnis, an Weisheit bricht als lebendige Qualität im Au‐ genblick des Todes in nichts zusammen (soweit Teile davon nicht schon in der vorausgegangenen Abbauphase verlorenge‐ gangen sind). Nur Fragmente dieser Erwerbungen lassen sich umwegig‐mittelbar an die nachwachsenden Generationen, an die eigenen Kinder und Enkel weitergeben. Jeder neugeborene Mensch muß wieder am Punkt Null für sich neu beginnen. 2. Glücks‐ und Leidensbestimmtheit Jedes menschliche Leben umschließt ‐ in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Maße ‐ Glücks‐ und Leidens‐ erfahrungen. Glücklich erfüllte Lebensläufe vollziehen sich parallel zu desolaten, unendlich qualvollen. Ihre Komponenten sind weder im individuellen noch im kollektiven Schicksal gegeneinander aufrechenbar. Die Lage des Leidenden wird nicht dadurch erleichtert, daß er andere glücklich weiß. Dagegen kann die Freude des Glücklichen über sein günstiges Schicksal durch das Wissen um die gleichzeitige Qual anderer tief überschattet werden. Menschen haben zwar Schutzmechanismen entwickelt, durch die sie sich dem Mitempfinden, der Qual anderer in erstaunlichem Maße entziehen können. Aber sie leiden noch unter ihrer eigenen Mitleidsverweigerung. Das Leiden, fremdes wie vor allem eigenes, holt sie schließlich immer wieder ein. 3. Der biologische Überlebenskampf Die Existenz des biologischen Organismus Mensch beruht voll‐ ständig auf dem Verzehr von Pflanzen und Tieren, also von anderen lebenden Organismen. Jede Behauptung und Weiter‐ entwicklung eines Lebewesens auf der Erde setzt Vernichtung und Verdrängung konkurrierender Lebensformen voraus. Bio‐ 17
logisch befindet sich der Mensch wie alle seine Erd‐Mitbewohner im lebenslangen Vernichtungskampf des Fressens oder Gefressen werdens. Die Entscheidung der Evolution, alle höheren organischen Systeme durch Verbrauch niederer oder gleichrangiger Systeme aufzubauen, steht in grundlegendem Widerspruch zum präsumtiven ideellen Evolutionsziel der kreatürlichen Solidarität. 4. Individuelle und kollektive Isolation Mensch zu sein heißt, mit anderen Menschen zu leben, denen man notwendig zugehört und von denen man gleichzeitig un‐ überbrückbar getrennt bleibt. Den Beziehungen Liebe, Fürsorge, Solidarität, Freundschaft stehen Irritation, Haß, Grausamkeit, Gleichgültigkeit, oft sogar im raschen Wechsel zu gleichen Individuen, gegenüber. Auch da, wo sich eine Verbindung als verläßlich erweist, kann sie letztes Alleinsein im Leid und angesichts des Todes nicht durchbrechen. Ebenso kann die Menschheit als Ganze aus physikalischen Gründen nicht damit rechnen, in einen fruchtbaren Austausch mit anderen intelligenten Lebensformen im Kosmos zu treten. 5. Perspektivlosigkeit der Evolution Der Blick hinaus in die Welten des Kosmos und auf seine weitere Entwicklung ist, was die Sinnhaftigkeit menschlichen Existierens angeht, wenig ermutigend. Entgegen allen Raumfahrt‐ träumereien bleiben wir grundsätzlich auf die Erde angewiesen und beschränkt. Auch hier werden die chemischen und klima‐ tischen Bedingungen für menschliches und organisches Leben überhaupt zwar noch beträchtliche, aber doch begrenzte Zeit bestehen. Als Lebensform ist die Menschheit nur eine Episode. Schließlich ist sogar der Kosmos als Ganzer dem Entropietod bestimmt. Die Zukunft dieses unseres Weltalls, von dem wir erstaunlich viel wissen, ist die ereignisloseste, gestaltloseste,
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trostloseste Ödnis, die wir uns nur vorzustellen vermögen, eine in jeder Beziehung »unmenschliche« Welt. 6. Das ethische Versagen der Menschen Von den gravierenden Mängeln in unserem Sozialverhalten ist an erster Stelle die Unfähigkeit zur Beachtung der gesellschaftlich anerkannten moralischen Normen zu nennen. Für als richtig und gut zu bewertendes Verhalten hat die Menschheit inzwischen ein hohes Maß an Übereinstimmung erzielt. Das universelle Liebesgebot und die Respektierung der Menschenrechte sind ‐ bei aller historisch bedingten Differenzierung ‐ als oberste Werte, der »kategorische Imperativ« ist als Verhaltensmaxime anerkannt. Tatsächlich verstoßen die Individuen ebenso wie die Kollektive ständig in der brutalsten Weise gegen die Gebote der Ethik, zu denen sie sich bekennen. Ausbeutung und Unterdrückung sind, wenn auch in unterschiedlicher Form und Intensität, kennzeichnend für alle sozialen Systeme. Es ist den Menschen bisher nicht gelungen, Gewaltanwendung zu verhindern und nach innen und außen stabile Friedensord‐ nungen zu etablieren. Dafür haben sie Massentötungsmittel aufgehäuft, deren Einsatz einer Apokalypse gleichkäme. 7. Das politische Versagen der Menschen Als Kollektiv gehören die Menschen zu den erfolglosesten Er‐ folgreichen, die sich vorstellen lassen. Sie haben Erkenntnisse gesammelt, die fast grenzenlos weit über den Rahmen ihrer eigenen Existenz hinausreichen. Sie haben sich Kräfte nutzbar gemacht, Vorrichtungen erfunden, die ihre animalisch‐natür‐ lichen Möglichkeiten unvorstellbar gesteigert haben. Gleichzeitig haben sie durch die Maßlosigkeit ihres Herrschafts‐ und Ausbeutungsstrebens globale Krisen heraufbeschworen, die sie in Gefahr bringen. Ein hypertrophes Bevölkerungswachstum und gravierende klimatische Veränderungen stellen die Weiterexistenz der Menschheit in Frage. 19
Soziale Stabilität ist weder für die verelendeten Völker des zerfallenden Sowjetimperiums noch für die der bitterarmen dritten Welt zu erwarten. Ein Ende der ethnisch und religiös bedingten gewaltsamen Auseinandersetzungen in allen Teilen der Erde steht nicht in Aussicht. Es spricht wenig dafür, daß die für ein Überleben der Menschheit notwendigen radikalen Verhaltensänderungen sich durchsetzen werden. Insbesondere ist ein Ende des alle Probleme verschärfenden Bevölkerungswachstums nicht in Sicht. Auch bei optimistischer Einschätzung der weiteren Entwicklung wird man katastrophenartige Teilzusammenbrüche der menschlichen Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten für wahrscheinlich halten müssen. Befassen wir uns zunächst etwas näher mit diesen für das Menschenschicksal kritischen Feldern. 3. Die Todesbestimmtheit Jedes Menschenleben endet mit dem Tod ‐ eine so banale wie überwältigende Einsicht. Der Mensch als lebendes System wird vernichtet, die Person ausgelöscht. Das Ich, das jeder ist, solange er lebt, der Zentralbezug des Universums, ohne den alles seinen Zusammenhang verliert, wird um seine Existenz gebracht. Das Grundgesetz der organischen Kreatur, zu leben, wird aufgehoben. Der Mensch kennt die unvermeidlich bevor‐ stehende Annullierung seines Daseins und setzt sich mit ihr auseinander. Die Kenntnis des Todesschicksals ist eine Last. Ob man sie auf sich nehmen will oder nicht, steht nicht zur Debatte. Es handelt sich um Zwangswissen. Irgendwann im Reifeprozeß des jungen Menschen kommt der Augenblick, in dem er erkennt, daß nicht nur andere Menschen sterben, sondern daß er auch selbst sterben wird. Die Einsicht wird gnädig dadurch gemildert, daß dieser Zeitpunkt schier unendlich weit in der Zukunft zu liegen scheint. Das mindert seine Relevanz. Man kann so unerfreuliches Wissen erst einmal wegschieben. Das Wegschieben, Nicht‐ 20
daran‐Denken, Abdrängen des eigentlich gewußten Todesschicksals wird dann zur lebenslänglichen Taktik auch des Erwachsenen. Seine Lebensgegenwart und Lebenszukunft erfordern so viel Aufmerksamkeit, Mühe, Kraft, daß kein Raum für die Beschäftigung mit der Nichtle‐benszukunft danach bleibt. Aber auch ohne das Ausgefülltsein und die Beschlagnahme durch die Lebensgegenwart ist die Fähigkeit des Menschen, Unerquickliches nicht zur Kenntnis zu nehmen, gar zu leugnen, vorzüglich ausgebildet. Der Tod anderer ist freilich ein Thema. Katastrophen, Morde, Bürgerkriege sind bevorzugte Unterhaltungskost in allen Medien. Todesanzeigen werden vermutlich ebenso gern ge‐ lesen wie Heiratsannoncen und erregen oft unfreiwillige Hei‐ terkeit. Überhaupt können wir mit dem Tod der anderen gut leben. Die Verdienste prominenter Verstorbener werden in Nachrufen so freundlich wie sachlich dargestellt. Von Erschüt‐ terung über den ungeheuerlichen Vorgang, daß da ein leben‐ diger Mensch ausgelöscht worden ist, wird in unseren Reaktio‐ nen kaum je etwas spürbar. Von Interesse ist noch die Todes‐ ursache. Durch welche Ängste, durch welche Schmerzen, durch welche Trostlosigkeiten einer gehen mußte, ehe er als verstorben gemeldet werden konnte, davon erfahren wir ‐ notgedrungen ‐ so gut wie nichts. Sogar zum eigenen Tod eine solche konversationsfreundliche Distanz herzustellen gelingt uns in der Regel, wenn er denn zum Thema wird. Die Tatsache, daß das Leben »open end« verläuft, daß zwischen dem Jetzt und dem Ende noch eine unbekannt lange, allen Hoffnungen Raum gebende Spanne liegt, erlaubt uns solche Gelassenheit. Wir nehmen das noch nicht wirklich ernst. Eine AIDS‐ oder Krebs‐Diagnose ändert alles freilich schlagartig. Aber auch sonst gelingt das Wegschieben nicht immer voll‐ ständig. Das Todeswissen ist zu machtvoll, als daß man sich seiner Vergegenwärtigung dauernd entziehen könnte. Es kann das Sterben besonders nahestehender Menschen sein, welches das eigene Schicksal jäh ins Bewußtsein rückt. Mit dem Prozeß des Alterns, mit Krankheiten, mit der Minderung beruflicher 21
Aktivitäten und sozialer Pflichten mehren sich die Anlässe, an den eigenen Tod zu denken, sich seiner Unausweichlichkeit und mörderischen Endgültigkeit bewußt zu werden. Ja mehr, der natürliche Alterstod erscheint als ein Ereignis, das sich in einer ganzen Folge von Abbau‐Schritten vollzieht, die der Mensch noch bei mehr oder weniger vollem Bewußtsein durchlebt und durchleidet. Bei aller Verschiedenheit der in‐ dividuellen Krankheits‐ und Altersschicksale stellen sie alle einen Reduktionsprozeß dar, in dessen Verlauf bisherige Fähigkeiten und glückliche Befindlichkeiten abhanden kommen und durch eine Vielzahl von Leiden und Lebensdefiziten ersetzt werden. Während die Erwartungs‐ und Erfüllungslinien des jungen und des erwachsenen Menschen nach oben gerichtet waren, sieht der sich seines Alters Bewußtwerdende den kontinuierlichen Abstieg vor sich. Seine körperlichen Kräfte lassen nach, seine Reaktionen werden langsamer, seine Erinnerungen lückenhafter, Konzentration und geistige Arbeit fallen ihm schwerer, das sexuelle Empfinden schwindet, die sinnlichen Wahrnehmungen werden notleidend, die körperliche Schönheit verfällt dramatisch. Krankheiten und Gebrechen häufen sich und werden in ihrem Verlauf belastender, gefährlicher. Schlimme Ängste treten hinzu: Angst vor dem Verlust der Selbstkontrolle durch den Abbau der Gehirnfunktionen, Angst vor dem Verlust der Lebensautonomie durch Pflegebedürftigkeit, Angst vor Armut und würdelosem Ausgeliefertsein, vor dem Verbrennen bei Feuer und vor dem Sturz vom Klosett. Nirgendwo sind die Bedrängnisse des Alters wohl ähnlich eindrucksvoll‐authentisch erfaßt und dargestellt worden wie von Simone de Beauvoir in ihrem voluminösen Werk »Das Alter«. Was sie hier in einzigartiger Fülle an Forschungsresultaten sowie vor allem an Selbstzeugnissen in Briefen und Tagebüchern, an literarischen Belegen zusammengetragen hat, fügt sich zu einem so dichten wie bedrückenden Panorama des letzten Lebensabschnitts zusammen. Aber wir wissen es auch so, wenn
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wir den Mut haben, uns umzuschauen: Es ist das sprichwörtlich »bittere Ende«, mit dem wir unser Leben beschließen. Natürlich ist dies nicht die einzige Form, in der das Todes‐ schicksal erfahren wird. Man trifft immer wieder Menschen, die über eine elementare Lebenskraft und Zuversicht verfügen, die sich in heiterer Gelassenheit und oft voller Tätigkeit bis an ihr Ende tragen.; In anderen ist der Wunsch nach Ruhe so stark geworden, daß sie den Tod gern und friedlich erwarten. Dieser letzte Lebensabschnitt vor dem Sterben muß nicht elend oder schrecklich sein. Für allzu viele freilich ‐ so fürchte ich ‐ ist er ziemlich trostlos. Der Blick in die alten Gesichter erschreckt. .. In einer grundlegend anderen Situation befindet sich allerdings, wer im Tod kein absolutes Ende, sondern nur den Durchgang in eine andere Form des Weiterlebens sieht. Daß der physische Tod nicht das Ende der persönlichen Existenz bedeutet, ist vielfältiger, uralter Menschenglaube. Über Jahrtausende der Vorgeschichte hinweg kennen wir die Grabbeigaben, die Reiseproviant und Ausrüstung für das Leben im Jenseits sein sollten. Und sicher weit länger, als es schriftliche Überlieferungen gibt, wird über das ewige Leben nach dem Tode spekuliert. Die großen monotheistischen Religionen, die den abendlän‐ dischen Kulturraum geprägt haben, Judentum, Christentum, Islam, lehren die Unsterblichkeit der Seele ‐ bis hin zur freilich auch theologisch umstrittenen Verheißung der leiblichen Wie‐ derauferstehung am Ende der Zeit. Für den Gläubigen wird dem Tod somit viel von seinem Schrecken genommen. Die Perspektive eines nicht nur ewigen, sondern auch glückseligen Lebens im Jenseits gibt dem physi‐ schen Tod den Charakter einer Art Transformationsstation, deren Passage zwar vielleicht mißlich, aber keineswegs endgültig vernichtend ist. Am eindrucksvollsten wird das bei den islamischen »Märtyrern« sichtbar, denen ein ganz direkter Übergang von diesem ins nächste Leben verheißen wird: Soldaten, die im als »heilig« erklärten Krieg den Tod finden, gehen sofort ins Paradies ein und 23
werden all seiner unermeßlichen Freuden teilhaftig. Mit dieser Versicherung haben die iranischen Geistlichen im Krieg mit Irak die jungen Revolutionsgardisten über die gegnerischen Minenfelder gejagt. Und die Iraker haben zur Verherrlichung ihrer Opfer einen gloriosen Blutbrunnen errichtet, der vom Ruhm und von der Seligkeit der Märtyrer künden soll. Man wüßte gern, wie tief und dauerhaft solche Erlösungszu‐ versicht verankert ist und ob es nicht mancher doch vorgezogen hätte, noch unerlöst zu bleiben und ein normales, mühseliges Erdenleben zu führen. Die klagenden Mütter der jungen Ge‐ fallenen auf beiden Seiten schrien ihren Schmerz hinaus und schienen durch keine paradiesische Transformation getröstet zu sein. Wie dem auch sei, der feste Glaube an die Unsterblichkeit der Seele ist im Islam offenbar tief verankert. Dagegen haben im christlichen Kulturkreis immer mehr Menschen Schwierigkeiten mit solchen Vorstellungen. Die Abwendung von den Kirchen und ihren Lehren hat ein Ausmaß erreicht, das auf eine weitverbreitete Glaubenslosigkeit schließen läßt. Auch wo die formale Kirchenzugehörigkeit erhalten bleibt und die religiösen Riten von Taufe, Trauung und Beisetzung beachtet werden, bedeutet dies noch keineswegs ein volles »Leben im Glauben«. Nach einer 1989 in der Bundesrepublik veranstalteten Umfrage glaubten 84 Prozent der Katholiken und 72 Prozent der Protestanten wenigstens noch an Gott. Die Anteile derer, die an Auferstehung und ewiges Leben glauben, wird man deutlich geringer veranschlagen müssen. Die Ursachen für diese Entwicklung sind oft kulturkritisch analysiert worden. Sicher spielt die dominante Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Weltbilds dabei eine zentrale Rolle. Dieses steht mit der Annahme einer göttlichen Schöpfungskraft und der Unsterblichkeit der Seele zwar nicht im Widerspruch. Aber es lassen sich ihm eben leider auch nicht die geringsten Anhaltspunkte für ein solches Fortleben der menschlichen Seele nach dem Tod entnehmen. Eher erscheint im Gegenteil das
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menschliche Individuum als eine Art Wegwerfartikel der Evolution ‐ worauf gleich zurückzukommen sein wird. Jedenfalls wird man davon ausgehen müssen, daß die christ‐ lichen Kirchen ihre traditionelle Rolle als sinnstiftende und trostspendende Gemeinschaften nur noch für immer weniger Anhänger wahrnehmen. Die Suche nach Sinn und Trost in die‐ sem kurzen Erdenleben wendet sich zunehmend in andere Richtungen. Fernöstliche Lehren, allerlei Sekten, fundamen‐ talistische Evangelisten besetzen einen Teil des entstandenen Vakuums. In den Jenseitslehren des Buddhismus und Hinduismus stoßen wir dabei auf eine von der abendländischen durchaus ver‐ schiedene Todesproblematik. Auf ihre Darstellung und Inter‐ pretation sollte sich nur einlassen, wer sich dem Thema umfas‐ sender und intensiver zugewandt hat, als das bei mir der Fall ist. Auch für den Fernstehenden ist es jedoch eindrucksvoll, wie konsequent das diesseitige Leben als Leiden verstanden und in seinem Eigenwert verworfen wird. Die »Erlösung« im Nichtsein des Nirwana erscheint zugleich als unbedingte Absage an jede Lebensverherrlichung, wie sie für die christlichen Lehren charakteristisch ist. Der immer skeptische Abendländer nimmt sich freilich heraus, noch ein wenig zu spekulieren. Könnte der mühsam‐leidvollen Kette von Wiedergeburten nicht auch ein wenig Beruhigung darüber entnommen werden, daß der endgültige Abschied von dieser so unzulänglichen Welt noch um einige Inkarnationen hinausgeschoben wird? Wir müssen die Todesproblematik unter einem weiteren Aspekt betrachten. Es geht um die Frage, was menschliches Leben im Funktionszusammenhang der Evolution bedeutet. Die Evolution bedient sich zur Aufrechterhaltung organischen Lebens auf der Erde weithin des Generationen‐Prinzips. Organismen bilden sich aus Einzelzellen heraus, durchlaufen einen Wachstums‐ und Alterungsprozeß, pflanzen sich durch Keimzellen fort und sterben ab. Jedes individuelle Leben ist eingespannt in den unumkehrbar fließenden Strom der Zeit und endet mit dem Tod. 25
Das Verfahren ist ziemlich aufwendig, weil ständig neue Organismen aufgebaut werden müssen. Es besitzt entwicklungsmäßig jedoch deutliche Vorzüge. Die rasche Aufeinanderfolge immer neuer Generationen von Lebewesen ermöglicht in Verbindung mit der zweige‐ schlechtlichen Fortpflanzung einen breiten Strom neuer Gen‐ Kombinationen mit hoher Innovationsträchtigkeit. Zugleich führt die im allgemeinen enorme »Überproduktion« von Ei‐und Samenzellen zu einem scharfen Ausleseprozeß unter großen Massen von Fortpflanzungsmaterial. Beide Mechanismen kommen einer variationsintensiven Evolution, die weithin nach dem Trial‐and‐error‐Piinzip funktioniert, in hohem Maße zugute. Ein weiterer evolutionstechnischer Vorteil wird darin gesehen, daß das Verfahren die Verhaltensflexibilität der Spezies erhöht, insbesondere im Intelligenzbereich. Menschen im Erwachsenenalter verlieren an geistiger Beweglichkeit. Es fällt ihnen schwer, von einmal erworbenen Auffassungen abzulassen, auch wenn sie überholt sind, und sich ganz neuen Einsichten zu öffnen. Es ist demgegenüber einfacher, die gealterten, unflexiblen Individuen durch eine neue Generation unbelasteter jüngerer Menschen zu ersetzen. Die Anpassung an den jeweiligen Stand von Wissen und Können und seine Fortentwicklung vollziehen sich so rascher und reibungsloser. Jedenfalls sind die Menschen aus solchen Ausleseprozessen hervorgegangen und unterliegen den gleichen Entwicklungsre‐ geln wie andere Organismen. Generation auf Generation wird buchstäblich ab ovo neu aufgezogen, erhält Gelegenheit (und starke Anreize) zur Fortpflanzung und wird nach Überschreitung des Leistungshöhepunkts wieder fortgeräumt. Der Einzelorganismus hat in diesem Prozeß seine Materialmassen‐Funktion, erscheint aber selbst nicht als Ziel, sondern nur als Mittel zum Erreichen des schließlichen Züchtungserfolgs. So drängt sich die Frage auf, ob Menschen im Rahmen der Schöpfung nicht auch eine Art Zwischenmaterial ohne darüber hinausgehenden Eigenwert darstellen. Es gibt schließlich keinen 26
Anhaltspunkt dafür, daß der Mensch eine Lebensform bildet, die ihre höchstmögliche Entwicklungsstufe bereits erreicht hat. Die Evolution mag sich noch sehr viel ehrgeizigere Ziele als die Ausbildung des homo sapiens sapiens gesetzt haben. Dann kann man sich auch der Frage nicht mehr entziehen, ob der Schöpfer als Urheber der Weltveranstaltung dem Schicksal jedes einzelnen menschlichen Individuums wirklich mehr Interesse und Aufmerksamkeit zuwendet, als im Rahmen des züchterischen Funktionszusammenhanges erforderlich ist. Die Biologie versucht sogar, daraus eine Art naturwissen‐ schaftlich begründeter Akzeptanz‐Grundlage für das Sterben zu gewinnen: Es diene dazu, neuem Leben Platz zu schaffen. Der Tod sei notwendig, weil ihm die unverzichtbare Funktion zukomme, dafür Sorge zu tragen, daß der Gleichgewichtszustand des Lebens auf der Erde dem eines echten Fließgleichgewichts, eines stetigen Wechsels von Werden und Vergehen entspricht. »Es ist die Aufgabe, zu gewährleisten, daß ausreichender Raum bei der stetigen Wiedergeburt des Lebens zur Verfügung steht« (Erben, Leben heißt Sterben, S.25). Auch von philosophischer Seite wird uns die Sache schmackhaft gemacht. Ich zitiere noch einmal aus Jonas, Das Prinzip Verantwortung (S. 49f.): »Aber vielleicht ist eben dies die Weisheit in der harschen Fü‐ gung unserer Sterblichkeit: daß sie uns das ewig erneute Ver‐ sprechen bietet, das in der Anfänglichkeit, der Unmittelbarkeit und dem Eifer der Jugend liegt, zusammen mit der stetigen Zufuhr von Andersheit als solcher... Auch muß die Rolle des memento mori im Leben des einzelnen bedacht werden und was seine Abschwächung zu unbestimmter Ferne ihr antun würde. Vielleicht ist eine unabdingbare Grenze der von uns zu erwartenden Zeit für jeden von uns notwendig als Antrieb, unsere Tage zu zählen und sie zählen zu machen. « Gegen all das läßt sich schwer etwas sagen ‐ außer daß dieser Aspekt dem seinem Sterben entgegenlebenden einzelnen wenig Trost bringt. Daß ein »ewiges Leben« beträchtliche neue
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Probleme aufwürfe, ist nicht zu verkennen, auch wenn es reli‐ giöser Verheißung entspräche. Daß man Platz machen muß für die Jungen, folgt zwar aus dem Generationsprinzip des Lebens auf der Erde. Es dient, wie wir gesehen haben, dem evolutionä‐ ren Mechanismus in hervorragender Weise. Unsere Fragestel‐ lung zielt aber nicht darauf ab, ob das uns auferlegte Lebenssy‐ stem funktioniert, sondern ob es zu Bedingungen funktioniert, mit denen wir uns einverstanden erklären können. Noch einmal Erben: »Im andauernden Wechsel des Werdens und Vergehens stellen das Sterben und das Aussterben die Voraussetzung für die Perpetuierung jenes großartigen Phänomens dar, welches wir das Leben nennen. « Man kann das auch anders sehen: Angesichts eines Individuen verbrauchenden, nicht erhaltenden Systems könnte man statt von großartig, eher von mörderisch sprechen. Auf jeden Fall bleibt das von der Evolution gewählte Verfahren aus der Sicht des bewußt lebenden Individuums höchst un‐ befriedigend. Für die eigene Entwicklung seiner Fähigkeiten, die Aneignung des sozial verfügbaren Wissens, die Umsetzung seiner Erfahrungen, die Ausschöpfung seines kreativen Poten‐ tials, sein Liebesleben, das Eindringen in künstlerische und metaphysische Erlebnisfelder steht ihm eine vergleichsweise kurze Lebensspanne zur Verfügung. Diese ist in erster Linie mit Anstrengungen zum Lebensunterhalt ausgefüllt. Die Aufzucht der nächsten Generation, ihr Anlernen, die Weitergabe des Wissens an sie erfordern einen weiteren großen Aufwand. Dabei ist gerade letztere mit enormen Übertragungsverlusten verbunden. Jeder junge Mensch muß in seiner Entwicklung eben doch wieder ganz von vorn anfangen. Andererseits gehen auch höchstentwickelte Fähigkeiten, geht die gesamte lebenslängliche Aufbauleistung des Individuums an sich selbst mit dem physischen Tod zugrunde. Aus der Sicht der Evolution mag das Stakkato des Generationenprinzips vorteilhaft sein. Für den Einzelmenschen erscheint es als schlechthin unzumutbar. 28
Vor allem stellt die grandiose Lebensverschwendung der Natur das in unserer Sittlichkeit tief verankerte Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben oder gar der Heiligkeit des Lebens von Grund auf in Frage. Eine Schöpfung, die ihren »Betrieb« und ihre evolutionäre Weiterentwicklung ausschließlich über den Weg einer permanenten Massenvernichtung aller ihrer lebenden Geschöpfe betreibt, läßt nicht gerade darauf schließen, daß sie dem einzelnen Lebewesen ‐ und sei es Vernunft‐ und empfindungsbegabt ‐ irgendeinen Eigenwert zuerkennt. Wenn Rückschlüsse vom Verhalten eines Systems auf die Intentionen seines Urhebers, in welchem Maße auch immer, überhaupt Aufschluß geben können, so läßt sich für unseren Kosmos daraus nur die Hypothese gewinnen, daß sein Schöpfer dem indivi‐ duellen Leben keinen besonderen Rang, sondern im Gegenteil völlige Gleichgültigkeit hat zuteil werden lassen. So fragt sich, was außerhalb des religiösen Verheißungsbe‐ standes denn zugunsten einer Akzeptanz des Todesschicksals ins Feld geführt werden kann. Am ehesten überzeugt da wohl der Wunsch des altgewordenen Menschen, nach einem vollen und kräftezehrenden Leben zur Ruhe zu kommen und von den Pflichten und Unzulänglichkeiten der eigenen Existenz endgültig erlöst zu werden. Der Wunsch, ganz frei zu sein von einem Leben, das so vieles gebracht hat, friedlich hinüberzugleiten ins Nicht‐mehr‐da‐Sein, mag so an Gewicht gewinnen. Das ist ja im Grunde nicht so verschieden vom Nirwana‐Ziel, der Sehnsucht nach Erlösung vom Leben und seinen, wo nicht Leiden, so doch Lasten. Heinrich Albertz (Am Ende des Weges, S. 70) erinnert an die lutherdeutsch‐biblische Wendung »alt und lebenssatt« beim Tode Abrahams, Isaaks und Davids. Glücklich, wem solche Verzichtsbereitschaft aus reicher Lebenserfüllung zuwächst. Die Regel ist das allerdings kaum. Von den ganz anderen Fällen abgesehen, in denen Hinfälligkeit und Leiden Anlaß geben, den Tod als letzten Ausweg herbeizusehnen, wird er eher als feindliche und bedrohliche Macht erlebt, nicht als erlösende
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Wohltat. In der aktuellen Sterbephase mag sich das ändern, aber davor liegt eine lange Periode wachsender Ängste und Be‐ drückungen. Auch Albertz fügt seiner Lobpreisung der satietas vitae keine Betrachtungen über das Sein nach dem Tode an, sondern eine Schilderung seines pflichtenfreien, komfortablen, in engen menschlichen Beziehungen eingebetteten glücklichen Alterslebens. Er weiß, wie anders das auch sein kann, und er notiert (a.a.O., S. 71): »Gestern ist ein alter Mann gestorben, dessen Frau seit Monaten im Krankenhaus liegt. Er hat sie täglich besucht. >Ich kann nicht mehr, ich halte es nicht mehr aus, sie leiden zu sehen. < Lebenssatt? Wer sagt der Frau, daß sie nun unbesucht bleibt? « Das glücklich ausgelebte Leben ist ein Geschenk ‐ nicht frei von eigenem Verdienst ‐, das nur wenigen zuteil wird. Als Basis für die Zustimmung aller Menschen zum Todesschicksal reicht das nicht aus. 4. Die Glücks‐ und die Leidensbestimmtheit Der Tod als Ende des Lebens ist unausweichlich. Der Weg dahin führt ebenso unausweichlich durch eine wechselvolle Szenerie von Glücks‐ und Leiderfahrungen. Für jeden von uns ist der Verlauf dieses Weges ein eigener, unterschieden von jedem anderen. Sehr begünstigte Wegführungen verknüpfen sich mit solchen, die nur schwer und leidvoll zurückzulegen sind. Ganz frei von Leid oder Glück ist keine. Glücklich zu sein ist elementares Menschenschicksal. Einfach nur lebendig zu sein, sich der Fülle seiner Möglichkeiten bewußt zu werden, kann jeden von uns bis an die Grenze der Überwältigung mit Glück erfüllen. Dies ist eines der großen Menschheitsthemen. Generation auf Generation hat neue Lobpreisungen des Schöpfers erfunden, mit denen die Mensch‐ heit ihm den Dank für ihr Dasein abzustatten suchte. Über dieses schiere Daseins‐ und Lebensglück hinaus gibt es eine weite Landschaft vielfältigster speziellerer Glückserfahrungen, für die wir einige wichtige Stichworte schon genannt haben: 30
persönliche Liebe, Sexualität, Freundschaft, Geborgenheit und Solidarität in der Gemeinschaft, die Offenbarungen des Schönen in Natur und Kunst, Stolz auf eigene Gestaltungskraft, Leistung und Anerkennung, Befriedigung über gewonnene Erkenntnis, über ausgeübte Gerechtigkeit, Genuß und Rausch, Erfüllung und Hingabe im Glauben. Es soll hier nicht versucht werden, die weite Landschaft der disparatesten großen und kleinen Glücksanlässe und ‐Erfahrungen auszumalen. Es könnte ohnehin nicht gelingen. Für die Entscheidung zwischen einem Ja und einem Nein zum Leben sind Art und Maß des dem Menschen zugemessenen Leids sicher wesentliche Kriterien. Die Liste ihrer Plagen ist lang. Krankheiten, Hunger und Not suchen sie immer wie‐ der heim. Verfolgungen, Unterdrückungen, Folter, jede Art Grausamkeit fügen sie einander zu. Streit, Unfrieden, Ängste brechen immer neu auf, Einsamkeit, Eifersucht, Demütigungen quälen sie die Tage und Nächte hindurch. Die großen Leidensstationen in der Menschheitsgeschichte tragen ihre eigenen Namen: Golgatha, Inquisition, Pogrom, Gulag, Holocaust ‐ und ungezählte mehr. Hier soll jetzt kein Leidenspanorama ausgebreitet werden. Jeder braucht bloß um sich zu schauen, die Zeitung aufzuschlagen, den Fernseher anzustellen, sich seine eigenen Erinnerungen und Erwartungen zu vergegenwärtigen, um mit dem Leiden der Menschen in seiner Überfülle konfrontiert zu sein. Es läßt sich sehr wohl argumentieren, daß die auf menschlichem Leben liegende Zwangshypothek an Leiden, jedenfalls in ihrer Verbindung mit der Todesbestimmtheit, ein überwältigendes Indiz gegen die Wünschbarkeit menschlichen Lebens sei. Aber Leiden ist keine unbeeinflußbare Größe. Gegen manche seiner Ursachen kann man etwas unternehmen. Ein erheblicher Anteil aller menschlichen Aktivitäten ist auf die Vermeidung, Minderung und Behebung von Leiden gerichtet. Dabei sind in manchen Bereichen die erstaunlichsten Erfolge erzielt worden: bei der Vorsorge gegen Hunger und Kälte, bei der Heilung von Krankheiten und der Befreiung von körperlichen Schmerzen. 31
Zwar haben auch die erfolgreichsten Gesellschaften es bisher nicht vermocht, diese Fortschritte allen ihren Mitgliedern zugute kommen zu lassen. Bei jedem Kälteeinbruch erfrieren Dutzende von Obdachlosen auf den Straßen auch der reichsten Industrieländer. Unter der Sonne Afrikas verhungern ganze Völkerschaften. Aber das muß nicht immer so bleiben. Sozialsysteme von durchgängiger und hoher Effizienz und Gerechtigkeit liegen nicht grundsätzlich außerhalb menschlicher Realisierungsmöglichkeiten. Das gleiche gilt für ein konsequent am Liebesprinzip orientiertes mit menschliches Verhalten der Individuen untereinan‐ der. Man mag eine solche positive Fortentwicklung unserer menschlichen Verhältnisse mit guten Gründen für unwahr‐ scheinlich halten, ausgeschlossen ist sie nicht. Es läßt sich im Ganzen durchaus ein langsamer Prozeß der Versittlichung erkennen. Er verläuft zwar weder gradlinig noch wirkt er schon universal. Aber auch in seiner derzeit noch fragmentarischen Verlaufsform ist er von eindrucksvoller Kraft und gibt Anlaß zu höchst positiven Spekulationen über das ethische Evolutions‐ potential der menschlichen Gesellschaft. Dies wird weiter unten noch näher ausgeführt. Hier genügt der Hinweis darauf, daß ein Wegfall der »unnötigen«, zwischenmenschlich bedingten Leidzufügungen zu einer enormen Verminderung der Gesamtleidenslast führen müßte. Freilich liegt eine solche vollständige Beseitigung aller zwischen‐ menschlichen Leidensverursachungen außerhalb des Vorstell‐ baren, solange der Mensch seiner derzeitigen widersprüchlichen emotionalen Struktur so unkontrollierbar ausgeliefert bleibt, wie es zurzeit noch der Fall ist. Leidvoll erlebte persönliche Spannungen und Konflikte würden sich auch bei einer hohen Vervollkommnung der effektiven sozialen Verhaltensordnungen nicht vermeiden lassen. Außerdem sind wir von einem solcherart moralisch erhobenen Stand des allgemeinen Umgangs miteinander auch bei optimistischer Betrachtungsweise sicher noch generationenweit entfernt.
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Andere Leidensformen werden sich auch bei günstig vorge‐ stellten Geschichtsabläufen nie aufheben lassen. Die Grenzen von Verfall und Hilflosigkeit mögen durch eine Vervollkomm‐ nung der medizinischen Möglichkeiten noch ein Stück weiter hinausgeschoben werden. Vielleicht brauchen wir eines Tages nicht mehr an AIDS oder Krebs zugrunde zu gehen. Vielleicht gelingt es sogar, die Alzheimersche Krankheit zu besiegen. Aber insgesamt bleiben die erzielbaren Gewinne marginal. Das Leiden und das Sterben werden wir nie aus dieser Welt bringen. Und die günstig vorgestellten Geschichtsabläufe, die uns auf dem Weg zu einer spürbaren Minderung der Leidenslast immerhin ein gutes Stück voranbringen können, sind in absehbarer Zeit leider nicht gerade die wahrscheinlichsten. Auf eine Form des Leidens ist besonders einzugehen, da sie sich den Strategien der Minderung überaus hartnäckig widersetzt: das Mitleiden. Menschen leiden bekanntlich nicht nur unter eigenen Nöten, Ängsten, Schmerzen, sondern sind auch fähig, die Nöte, Ängste, Schmerzen anderer mitzuempfinden und darunter selbst heftig zu leiden. Wir schätzen diese Fähigkeit als eine der positivsten menschlichen Eigenschaften überhaupt. Sie erscheint als unmittelbarer Ausfluß zwischenmenschlicher Liebe und Solidarität. Mitleid kann konkrete Hilfsbemühungen gegenüber dem Leidenden in Bewegung setzen und als tröstliche, stützende Erfahrung der Zuwendung die Leidenslast des anderen mindern. Allerdings ist die Mitleidfähigkeit des einzelnen beschränkt. Wir können uns nicht allen Leiden aller öffnen. Nur ein »gesunder Egoismus«, mit dem wir uns gegen die Leidwahrnehmung rundum abschirmen, setzt uns überhaupt instand, sowohl eigenes Glück zu erleben und zu genießen, als auch im Einzelfall Mitleid zu empfinden. Dazu wird diese Abschirmung immer wieder punktuell durchbrochen, sowohl von innen durch bewußte eigene Akte der Anteilnahme als auch von außen durch auf uns zukommende, starke Eindrücke. Aber im Großen und Ganzen trennt sie uns recht wirksam von den Leidensozeanen der anderen und übernimmt damit eine 33
Schutzfunktion gegen Mitleidsüberforderungen, denen wir üblicherweise nicht gewachsen sind. Das Erkennen und Anerkennen solcher systembedingter Mitleidsgrenzen ist nicht zu verwechseln mit der Alltags‐ schlamperei allgemeiner Mitleidsverweigerung aus dominantem Egoismus, Bequemlichkeit, Stumpfheit, Dummheit oder sogar Grausamkeit. Das ist verbreitet genug und steckt ‐ die seltenen echten Heiligen ausgenommen ‐ ansatzweise in jedem von uns. Aber auch wo der dem Liebesgebot nachlebende, mindestens nachstrebende Mensch solchen mißbilligten Regungen Zügel anlegt und sich um Mitleidsöffnung bemüht, stößt er rasch auf die dem Individuum dabei gezogenen Grenzen. Diese sind immerhin weit genug, um Raum für vielerlei kari‐ tative Aktivitäten und die Ausbildung von gesellschaftlichen Systemen und Institutionen zur Hilfe in den Notlagen des Lebens zu bieten. So ließ sich auch das im Mitleid steckende ei‐ gene Leid des Helfenden nicht nur in Grenzen halten, sondern sogar noch in Freude und Befriedigung wenden. Die »guten Taten« wurden als angemessene und in der Regel ausreichende Antwort auf die vorgefundene Leidensstruktur des menschlichen Lebenssystems empfunden. Ob sie das in der Vergangenheit immer und überall waren, wird man mit Fug bezweifeln dürfen.» Sicher ist, daß wir Heutigen dank der elektronischen Medien eine Bewußtseinsausweitung hinsichtlich des menschlichen Leidens erfahren haben, die eine neue Qualität besitzt. Die aufdringliche visuelle Präsentation von Katastrophen, Brutalitäten und Elend jeglicher Art überfordert das normale Mitleidspotential der »Zuschauer« bei weitem. Er reagiert in der Regel mit verstärkter Ablehnung der Sachverhalte als ihn angehende, seine Reaktion herausfordernde Ereignisse. Er erklärt die Abhilfe zur Angelegenheit der öffentlichen Organisationen und konsumiert privat das fremde Leid als Zeitvertreib. Das ist natürlich kein Ausweg, der auf die Dauer befriedigen kann. Das Leiden der anderen ist im Grunde immer auch eigenes Leiden. Es läßt sich nicht in Portionen aufteilen, die einen »angehen« und mitleiden lassen und damit 34
auch in die Verantwortung möglichen Helfens einbeziehen, und anderen Portionen, die einen nichts angehen und daher gleichgültig lassen können. Gefordert ist immer das ganz und gar unmögliche »alles«. Das bedeutet, daß jeder zwangsläufig unermeßlich weit hinter dem gebotenen Maß an Mitleiden und Helfen zurückbleibt. Der Mensch sitzt wieder einmal in der Falle und fühlt sich seines stumpfen Gleichmuts wegen elend. Ein anderer Aspekt der Leidensbestimmtheit des Menschen ist die ihm zwangsläufig zufallende Funktion des Leidenzufügens. Wir sind nicht nur Opfer des Leidensprozesses, sondern auch seine Subjekte. Mag das Gebären für eine Frau bei richtiger Vorbereitung heute auch schmerzlos sein, von da an ist das Kind, soviel Freude es seinen Eltern auch bereiten mag, auch eine Quelle von Leiden. Die Ambivalenz des Eltern‐Kind‐Verhältnisses bleibt mindestens über die Erziehungsperiode hinweg erhalten. Und der junge Mensch, erst recht der Erwachsene, kann gar nicht »durchs Leben gehen«, ohne anderen in irgendeiner Form Leid zuzufügen: Eltern, Lehrern, Freunden, Partnern, Konkurrenten, Fremden, Liebenden. Wir machen Versprechungen, die wir nicht halten, vielleicht nicht halten können, wir verletzen, manchmal gewollt, oft ungewollt, aber als Vorgang unvermeidlich. Dieses gegenseitige Zufügen von Leid ist durch die Mensch‐ heitsgeschichte hindurch beklagt worden. Man hat es zur Sünde abgestempelt oder als schicksalhafte Tragik erfaßt. Beide Aspekte haben ‐ je nach der subjektiven Vermeidbarkeit des Geschehens ‐ ihre Berechtigung. Es bleibt allemal die schwer erträgliche Einsicht, daß Menschen nach den Konstruktionsregeln dieser Evolution nicht nur Leidende, sondern zwangsläufig auch Leidzufügende sind. Dies ist eine weitere schwere Hypothek, die als Preis menschlichen Existierens zu tragen ist. Wie gehen die Menschen nun um mit ihrem unabwendbaren Leid, wie reagieren sie über das rein kreatürliche Erdulden hinaus? Im wesentlichen haben sie zwei Strategien verfolgt. Sie haben versucht, dem Leiden einen Sinn zu geben, und sie haben seine zeitliche Begrenztheit stipuliert. Im religiösen 35
Kontext ist Leiden vor allem interpretiert worden als Buße für falsches (sündiges) Verhalten und als Prüfung der Standhaftigkeit des Glaubens. In weltlicher Sicht wird es weithin als charakterbildend verstanden. Die näherliegende Interpretation, daß es sich um einen Systemfehler der Schöpfung handeln könnte, kommt praktisch nicht vor. Was die Zeitgrenze angeht, so bietet sich einmal der physische Tod als völlige Auflösung des Leidenssubjekts als natürliches Ende der Leiden an Dagegen lassen die religiösen Inter‐ pretationen die Leidensphase in der Regel über den Tod hinaus andauern ‐ sei es im Fegefeuer oder gar in ewiger Verdammnis, sei es in einem langen Zyklus leidvollen Wiedergeborenwerdens. Erst mit dem Eintritt ins Paradies oder dem Eingehen ins Nirwana endet alles Leid. Nur in sehr speziellen Fällen der Heiligkeit soll sich an das irdische Leben gleich eine leidensfreie jenseitige Existenzform anschließen. Für den Agnostiker ist dies alles so möglich, so wahrscheinlich wie unwahrscheinlich. Rational auseinandersetzen kann er sich nur mit dem Lob des Leidens als lebensbereicherndem und persönlichkeitsformendem Erfahrungsbereich. Sicher ist, daß Leidensphasen Menschen zu besserer Erkenntnis ihrer selbst und ihrer Lebensumstände verhelfen können. Unwesentliches wird als solches deutlicher, die Empfindsamkeit für die Belange anderer steigert sich, notwendige Lebenskorrekturen werden vollzogen. Das alles kann so sein. Ein weiteres kommt hinzu. Leiden auszuhalten, es zu ertragen, ohne unterzugehen, wird als Leistung empfunden. Überstandenes Leid kann fast gleichbedeutend sein mit Erfolg. Tatsächlich provoziert das Leiden oft eine Konzentration der Kräfte, eine Steigerung der Fähigkeiten, die dem Nichtleidenden versagt bleiben. Der Mensch spürt, daß er mit seinem Leiden den Preis für etwas bezahlt, das für seine Entwicklung wichtig ist. Insofern kommt der oben notierten charakterbildenden Qualität des Leidens sogar ein gewisser Wahrheitsgehalt zu. 36
Allerdings, mißhandelte Kinder werden kaum in den Genuß solcher läuternder Erfahrungen kommen. Und auch für Er‐ wachsene ist das eher eine Ausnahmereaktion ‐ oder wohltätig tröstende Rationalisierung. Normalerweise ist Leiden einfach gräßlich, und seine Folgen sind alles andere als heilsam. Auf die Dauer zerstören sie den Menschen Schritt für Schritt mit erbarmungsloser Konsequenz bis in den Kern seiner Existenz. Daß die dem Leiden abzugewinnenden positiven Folgen in einem rechtfertigenden Verhältnis zu seinem immanenten Elend stehen, ist eine schlichte Verdrehung der Lebenswirklichkeit. Das Übermaß menschlichen Leidens ist der vielleicht durchschlagendste Einwand dagegen, die Schöpfung, wo nicht für gelungen, so doch auch nur für erträglich zu befinden. Umso mehr Scharfsinn wird darauf verwandt, dem Leiden eine unwiderleglich höhere Bedeutung anzudichten, die es kritischer Wertung entziehen soll. Aber wenn das Leiden sich denn schon nicht aus sich selbst heraus rechtfertigt ‐ wird es dann nicht durch das Lebensglück aufgewogen? Bedingen sich Freude und Leid nicht gegenseitig? Tatsächlich gibt es hier einen Zusammenhang. Aber er ist nicht so umfassend, wie gern angenommen wird. Entscheidend ist: Es bedarf keiner Leidenserfahrung, um glücklich sein zu können. Es gibt Menschenschicksale, die glückspilzartig gedeihen. Alle potentiellen Leidensklippen werden umschifft. Vollgepackt mit Lebensfreude und Zufriedenheit, gelangt der Glückliche irgendwann an ein freundlich gestaltetes Ende ‐während andere Lebensläufe von Schmerz zu Schmerz, von Elend zu Elend steuern und für Glückserfahrungen nur minimale Gelegenheit bieten. Beides sind extrem einseitige und entsprechend seltene Verlaufsformen des Lebensschicksals. Sie verdeutlichen aber, daß man sehr glücklich sein kann, ohne je sehr gelitten zu haben, und daß auch intensive Leiden keineswegs von sich aus Glückserlebnisse hervorbringen oder durch solche kompensiert werden. Trotzdem bestehen gewisse Zusammenhänge. Wer heftig leidet, empfindet das schlichte Ende des Leids, die Rückkehr zur Null‐ 37
Normalität, als intensives Glücksereignis (jedenfalls für eine Weile). Wer sich an vergangene Leiden erinnert, ist in der Lage, gegenwärtiges Glück intensiver zu erfahren Umgekehrt kann gegenwärtiges Glück überschattet werden von der Erwartung seines Endes. Diese Wechselwirkung kann im konkreten Fall sehr stark sein. Für unser Thema kommt es jedoch allein darauf an, ob Leidenserlebnisse ganz allgemein die Voraussetzungen für Glückserfahrungen sind. Dies ist eindeutig zu verneinen. Damit entfällt eine weitere denkbare »Rechtfertigung« des Leidens als solches. Es bleibt für jeden einzelnen die Bilanzierung von Leid und Beglückung als voneinander prinzipiell unabhängigen, einander durchdringenden Seinsformen. Dabei mag man zu dem Ergebnis kommen, daß das Leben sich »lohnt«, trotz allen eigenen und fremden Leids ‐ aber natürlich auch zum Gegenteil: daß es zu teuer erkauft ist. Solche Bilanzierung ist im Übrigen keine Rechenoperation. Wir können unsere Glücks‐ und Leidenserfahrungen nicht wiegen und gegeneinander aufrechnen. Wir können nur wägen, was uns so und so auf dem Herzen liegt. Dabei stellt sich dann wohl auch heraus, daß Glück und Leid keine voll kompensato‐ rischen Begriffe sind. Dem Leidenden in seiner Not verschafft es wenig Trost und Erleichterung, daß neben ihm andere heftig glücklich sind. Eher drückt ihn das noch stärker nieder, erbittert ihn vielleicht. Dem Glücklichen dagegen mag das Wissen um das Elend des Nächsten, um die Not so vieler anderer, den Genuß seiner bevorzugten Lage wohl überschatten. Er schleppt die Last der anderen mit, ohne daß er vermöchte, sie an seinem Glück teilhaben zu lassen. Es sieht ganz so aus, als gäbe es eine immanente Überlegenheit der Leidens‐ über die Glückserfahrungen, so wie sie auch im Todesziel des Lebens vorgezeichnet ist. In unseren heftig glücklichen Lebensstunden mögen wir uns das nicht eingestehen, in den bedenkenden wird es bitter klar. 38
5. Die Tötungsstruktur der organischen Systeme Ehrfurchtsvoll in der Tat, wie der große Albert Schweitzer es uns ans Herz legt, bisweilen auch etwas fassungslos, stehen wir vor den »Wundern der Natur«. Die nicht enden wollende Vielfalt der organischen Lebensformen, welche die Evolution hervorgebracht hat, ist schier unfaßbar. Die Raffinesse der Mechanismen, die Ausgeklügeltheit der Systeme, die zu Herzen gehende Schönheit von Pflanzen und Tieren übersteigen unser Begreifen bei weitem. Der Reichtum der Schöpfung scheint unergründlich zu sein. Staunenswert ist auch die Fülle von Informationen, mit denen die Paläontologen und Biologen die Entwicklung der Arten inzwischen nachzeichnen können. Aber wir wissen auch: Alle diese Wunderformen des Lebens stehen in einem unerbittlichen Konkurrenzkampf miteinander. Sie sind programmiert, einander zu verdrängen und einander zu fressen. Das Strukturprinzip der Evolution, aus dem Vollen zu wirtschaften, wirft massenhaft immer neue Formen von Organismen in massenhaft aufeinanderfolgenden Generationen mit jeweils massenhaften Beständen an Nachwuchskeimen in die Kampfarena der Natur. Die mögen dann sehen, ob und wie sie durchkommen. Evolutionswirtschaftlich gesehen, ist das offenbar ein höchst erfolgreiches Verfahren. Aus menschlicher Sicht sind zwei Einwände geltend zu machen. Zum einen kann uns der Gedanke nicht behagen, selbst nur Evolutions‐ und Freßmaterial ohne Eigenbedeutung dar‐ zustellen, Wegwerf‐Lebewesen wie alle anderen. Davon war oben schon die Rede. Zum anderen will es uns nicht einleuchten, daß der überreichen Wunderwelt des organischen Lebens kein anderes Schicksal beschieden sein soll, als Einzelglieder im Evolutionsprozeß einerseits und Zwischenglieder in der Nahrungsmittelkette andererseits zu sein. Wir können es nicht in eins sehen, die Elaborate Schönheit der Libelle als Proteinlie‐ ferant des lustigen Ochsenfrosches, der seinerseits dem elegan‐ ten Storch ein angenehmes Fressen bedeutet. Dieses unablässige
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Fressen und Gefressenwerden im Tierreich fordert als System unseren Widerspruch heraus. Nun beteiligen wir uns natürlich selbst in der bedenkenlosesten Weise an diesem Verfahren. Das intelligente Raubtier Mensch hat sich früh als höchst erfolgreicher Jäger und später auch Landwirt etabliert. Inzwischen halten wir uns die Tiere, die wir verzehren wollen, in kleinen und großen Herden, in Ställen, auf Wiesen, in Unterwasserkäfigen. Wir züchten sie, ziehen sie groß, pflegen sie, schlachten, verpacken und tiefgefrieren sie, bis sie schließlich als Lebensmittel verbraucht werden. Doch irgendwo im Lauf der Jahrtausende hat uns die Evolution einen Streich gespielt. Wir Menschen haben den Tieren und Pflanzen gegenüber Gefühle entwickelt: Bewunderung ihrer Kraft und Schönheit, Zuneigung, Liebe, Fürsorge. Der heilige Franz hat ihnen gepredigt. Viele Haustiere sind individuelle Lebenspartner von Menschen geworden, denen sie näherstehen als es andere Menschen tun. Damit ist wieder einmal ein Zwiespalt in unser Leben gekommen, der uns zu schaffen macht. Auf der einen Seite sind wir auf Pflanzen und Tiere als Nahrung angewiesen und können uns daher bei ihrem Verzehr ganz im Einklang mit den Regeln der Natur fühlen. Auf der anderen Seite spüren wir eine kreatürliche Solidarität, die uns das Einverleiben eines Hasen als Verstoß empfinden läßt. Ist Christus so oft als »guter Hirte« dargestellt worden, weil er das Lamm vor Schaden bewahrte oder weil er seinen Jüngern den Osterbraten rettete? Naturvölker haben den Ritus entwickelt, das erlegte Tier um Verzeihung für das nun einmal notwendige Verzehrtwerden zu bitten. Eine weitergehende Folgerung ziehen Vegetarier, die auf den Genuß von Fleisch ganz verzichten. Zwar besteht auch die pflanzliche Nahrung aus getöteten Organismen. Wir emp‐ finden ihnen gegenüber die »Bruderschaft« jedoch deutlich als eine entferntere ‐ auch wenn wir dem dürstenden Strauch, der die Blätter hängen läßt, dem im Abgasdunst verkümmernden Baum helfen, so gut wir es können.
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Wesentlich an diesen Überlegungen ist die Einsicht, daß die Evolution uns einen weiteren Lebenswiderspruch aufgezwungen hat: den zwischen dem unerbittlichen Gesetz des Fressens und unserer Solidarität mit allen anderen Organismen, welche die Evolution offenbar auch ansteuert. Natürlich ist hier, wie in anderen Zusammenhängen auch, die größte Vorsicht geboten, wenn von einer Zielgerichtetheit der Evolution die Rede ist: Von ihren Absichten wissen wir gar nichts. Aber es ist legitim, vergangene Entwicklungsstränge der Evolution aufzudecken und spekulativ in die Zukunft hinein zu verlängern. Dabei stößt man auf diese Herausbildung menschlicher Zuwendung und Zuneigung zu aller Kreatur. Es wird ein Prozeß der emotionalen Annäherung erkennbar, der auf die Natur als Ganzes gerichtet ist, ein Sichdurchsetzen des Liebesgebots über die Grenzen der eigenen Art hinaus, für die meisten von uns vor den Kakerlaken einstweilen noch haltmachend. Der Blick in die Zukunft zeigt uns, daß alles irdische Leben der gleichen Todesbestimmtheit unterliegt. Tröstlich ist das nicht. 6. Individuelle und kollektive Isolation Von einem weiteren Grundwiderspruch unserer Existenz muß die Rede sein: dem zwischen der unaufhebbaren Isolation des Individuums und seinem grenzenlosen Bedürfnis, diese Isolation zu sprengen. Die sowohl körperliche wie geistig‐seelische Abgeschlossenheit des einzelnen gegen alle anderen seiner Art steht in einem fundamentalen Gegensatz zu dem elementaren Drang, die Grenzen des Ich zu überschreiten und in enger Wechselbeziehung zu anderen sich auszutauschen oder gar mit ihnen eins zu werden. Der Mensch, unentrinnbar eingeschlossen in der Vereinzelung seines Organismus, kann sich darin doch nicht erfüllen. Der Wunsch und das Bemühen, die Grenzen des Selbst zu überschreiten, nehmen auf verschiedenen Ebenen unter‐ schiedliche Formen an. Im Alltagsleben, auf der Lebensober‐ 41
fläche sozusagen, geht es um die kommunikative soziale Ein‐ bindung des einzelnen, vom Morgengruß des Nachbarn bis hin zu den durchaus anspruchsvollen Formen des gesellschaftlichen und intellektuellen Umgangs. Das ist wichtig, aber der Mensch will mehr. Er will reden, will sich mitteilen, von anderen gekannt sein, verstanden werden, möglichst auch geschätzt oder gar geliebt werden. Je kompletter, adäquater, vielseitiger das Funktionsnetz der kontinuierlichen gegenseitigen Kommunikation geknüpft ist, in dem er sein Leben verbringt, als umso befriedigender wird er es empfinden. Dieses Sich‐austauschen‐Wollen, das freilich vor allem ein Sich‐ mitteilen‐Wollen ist, entspringt einem elementaren Bedürfnis nach Bindung und Verbindung über das als unzulänglich erlebte einzelne Ich hinaus. Die unerwarteten kurzen Augenblicke des Wir gehören vielleicht zu den glücklichsten: die Nacht, in der die Mauer fiel. Das ist die große Ausnahme. Der Aggregatzustand des Lebens, die Normalität unserer Tage ist die Eingeschlossenheit in den fest abgegrenzten Organismus der Einzelkreatur. Als Sozialwesen steht der Mensch mit seinen Kommunika‐ tionsbedürfnissen zudem in zunehmendem Widerspruch zur oft geschilderten Anonymisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen in der technischen Massengesellschaft. Ihr kom‐ men die traditionellen Bindungsstrukturen mit ihren starken kulturellen Komponenten immer mehr abhanden. An ihre Stelle treten administrative und kulturelle Regelsysteme, die nur noch geringe Reste von zwischenmenschlicher Bindungs‐ kraft enthalten. Nicht jeder ist im gleichen Maße fähig, selbst Ausgleiche zu schaffen, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen und Verbindungen aufrechtzuerhalten, wenn das System nicht durch Tradition und vorgegebene Umstände von außen getragen wird. Immer häufiger führt die Anonymisierung unseres Lebens dazu, daß die vorgegebenen Außenbeziehungen ausbleiben. Aber auch wo sie gelungen sind, finden sie nach und nach ihr schicksalhaftes Ende, ohne daß sie in aller Regel durch neu 42
angebahnte ersetzt werden können. Alte Menschen vereinsamen oft irreversibel. So gewinnen die medial vermittelten Kontakte eine Bedeutung, die durch Rundfunk und Fernsehen in außerordentlicher Weise gesteigert worden ist. Die Flut der Zeitungen, der bunten Hefte, der Programme schafft täglich neu die überwältigende Illusion, mit allem und jedem in Verbindung zu stehen und alles zu erfahren. Das hilft sicher vielen, die sonst »niemanden« hätten. Auf die Dauer läßt sich der anonyme Ersatzcharakter der medialen Kontakt‐»Partner« allerdings kaum ignorieren: Sie reden zwar zum Leser/Hörer/Zuschauer, aber sie hören ihm nicht zu, von ein paar Leserbriefen und Telefonanrufen in die Sendung hinein mal abgesehen. Wenn es aber stimmt, daß man eine Kommunikationsbeziehung vor allem braucht, damit einer zuhört, und weniger, damit er einem etwas erzählt, dann werden die funktionalen Grenzen des me‐ dialen Austauschbetriebs hier deutlich. Die historische Entwicklung zur Vereinzelung hin hat ande‐ rerseits durchaus ihre positiven Seiten. Sie bedeutet auch, daß enge historische Zwangssysteme wie Leibeigenschaft, Kirchenherrschaft, Zunftwesen überwunden sind. Die Einzelperson kann einen wesentlich größeren Freiheitsraum für sich beanspruchen und ausfüllen als in den vorrevolutionären Gesellschaften. Nur eben nimmt das Zurückgeworfensein auf sich selbst oft so extreme Formen an, daß manchem seine gewonnene Freiheit als zu teuer erkauft erscheint. Die Not der Einsamkeit inmitten von vielen ist ihrer Natur nach stumm Sie nistet sich ein bei den Armen eher als bei den Reichen und bei den Alten eher als bei den Jungen. Und wenn einer am meisten des anderen bedarf, in Zeiten von Krankheit, Leiden und Sterben, findet er sich nur allzu oft alleingelassen. Das volle Ausmaß der menschlichen Isolation wird freilich durch das Leiden unter der sozialen Einsamkeit noch nicht erfaßt. Kontakt‐Isolation ist schließlich ihrer Art nach grundsätzlich behebbar, auch wenn das praktisch oft mißlingt. Nicht behebbar ist das existentielle Alleinsein des einzelnen ‐ ganz unabhängig 43
von der Zahl und der Intensität seiner persönlichen Beziehungen zu anderen Menschen. Auch enge und vertraute Lebensgemeinschaften, leidenschaftliche Beziehungen, glückliche Verwandtschafts‐ und Freundschaftsverbindungen, kongeniale Schaffenspartnerschaften können die elementare Trennung der Individuen voneinander nicht aufheben. Der andere bleibt immer ein anderer, auch wenn er seinem Nächsten noch so nah ist. Der eine erleidet sein Leben so wie der andere seines, je ein ganz und gar eigenes. Es ist nicht austauschbar. Helfen kann man einander: Einer trage des anderen Last. Aber jeder bleibt der andere. Dies wird am schmerzlichsten deutlich in der Stunde des Todes, des Abschieds voneinander. Der eine geht, der andere bleibt zurück. Die Wege, die getrennt begonnen haben und ir‐ gendwo ineinander verflochten wurden, trennen sich für immer. Der Verlust mag dem Überlebenden als unermeßlich erscheinen. Meist heilt auch seine schwere Wunde im Fluß der verströmenden Zeit. Aber der Prozeß ist schrecklich. Die Trostsprüche der Priester klingen wie Hohn. Es bleibt dabei: Aus der Einzelheit, die wir sind, führt kein Weg hinaus. Die Sache hat ja auch ihre eigene Logik: In dieser Abgetrenntheit von allen anderen liegt schließlich unsere personale Autonomie begründet, die uns auch sehr wichtig ist. So suchen wir nach Ersatzlösungen und finden, daß man die Isolation ein Stück weit überlisten kann. Wir kommunizieren, wir wenden uns an alle, wir teilen uns mit. Auch wer keinen Zuhörer hat, kann einen Text verfassen und darauf hoffen oder bauen, daß sich ein Leser findet oder sogar viele sich finden. Er kann ein Bild malen oder einen Film drehen und darin seine Mitteilung unterbringen. Die gesamte unübersehbare Kunstproduktion ist auch Form gewordener Äußerungswille ungezählter Individuen. Dieser Weg hat den dreifachen Vorteil, die unmittelbare Präsenz des Rezipienten beim Mitteilenden überflüssig zu machen, statt dessen sogar eine Rezeption durch fast beliebig viele zu ermöglichen und dies auch
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noch über den Todeszeitpunkt des Autors hinaus bis zu den letzten Tagen der Menschheit. So kommt es zu einer der aberwitzigsten Sackgassen der Evolution. Tag für Tag und Nacht für Nacht entstehen auf unserer kleinen Erdkugel Tausende und Abertausende, bald schon Millionen und Abermillionen Niederschriften, Ton‐ bandaufzeichnungen, Bilder, Videoclips und andere Äuße‐ rungszeugnisse von Menschen, die ihre Entstehung alle dem Drang nach Mitteilung, nach Sprengung der persönlichen Isolation verdanken. Das Mißverhältnis zwischen der ungeheuren Akkumulation von individueller Mitteilung und dem allenfalls verfügbaren Potential an Kenntnisnahme steigert sich von Tag zu Tag. Der Wunsch, Kenntnis von sich zu geben, wenigstens den Schatten einer Erinnerung an das eigene Leben zu erhalten, stößt unvermeidlich ins Leere. Längst ist der Zeitpunkt überschritten, an dem eine universelle Kommunikation der Menschen auch nur in der Beschränkung auf ihre publizierten Texte als vorstellbar erschien. Wenn in einem relativ kleinen Land wie dem unseren in jedem Jahr 70000 Bücher neu erscheinen und mehr als eine halbe Million lieferbar sind, dann liegt auf der Hand, daß gegenüber solchen Produktionsquantitäten die allgemeine Rezeptionsfähigkeit hoffnungslos zurückbleibt. Das Mißverhältnis steigert sich vielfach, wenn man alle die jenigen Texte einbezieht, die nie auch nur bis zum Verlagslekto‐ rat, geschweige denn zur Druckerei finden. Niemand weiß, wie viele Seiten höchstpersönlicher Tagebucheintragungen tagaus, tagein niedergeschrieben werden ‐ und wie viele davon außer vom Verfasser selbst nie von einem Menschen gelesen werden. Natürlich kann die Führung eines Tagebuchs allein zur Stützung der eigenen Erinnerung sinnvoll sein. Ich zweifle aber daran, daß dies für viele Verfasser ihr eigentliches Ziel ist. Die meisten haben doch wohl einen Leser, sei er Zeitgenosse oder Nachgeborener, im Sinn, der ihnen als verständnisvolles, interessiertes, beeindrucktes Gegenüber vor dem inneren Auge 45
steht. Das unbekannte Schicksal ihrer Texte läßt immer noch die Hoffnung zu, daß sie irgendwo ankommen könnten und Zeugnis gäben. Die ganze unmittelbar oder mittelbar autobiographische Schriftstellerei vollzieht sich nach den gleichen Mechanismen. Das Menschenkollektiv bemüht sich denn auch redlich, die Vergeblichkeit solcher einseitiger Kommunikation zu verdrän‐ gen. Das Gedruckte wird in Bibliotheken, das Ungedruckte in Archiven gesammelt und registriert. Die Nachlässe akkumulieren sich. Und wenn es der Menschheit wirklich gelingen sollte, den weiteren Gang ihrer Geschichte katastrophenfrei zu gestalten, dann werden diese Grabbauten für Menschenmitteilungen ins Gigantische wachsen. Der persönlichen Isolation des Individuums inmitten seiner Mitmenschen entspricht die Isolation der Menschheit im Weltall. Wir wissen bisher noch nicht einmal, ob es intelligente Lebensformen außerhalb unseres Planeten gibt. Die statistische Wahrscheinlichkeit, daß sich in diesem Kosmos unter ähnlichen Ausgangsbedingungen außerirdische Zivilisationen entwickelt haben, ist ziemlich groß. Die Anzahl der Sterne beläuft sich allein in unserer Milchstraße auf 100 Milliarden. Diese Galaxie ist nur eine von zehn Milliarden Spiralnebeln, die das Weltall umfaßt. So halten viele Wissenschaftler die Entstehung organischen und intelligenten Lebens auf Planeten dieser fernen Sonnen analog zur Entwicklung auf der Erde für wahrscheinlich. Aber wie viele solcher Zivilisationen sich auch entwickelt haben mögen, so ungünstig erscheinen die Aussichten, mit ihnen in Verbindung zu treten. Angesichts der ungeheuren Ausdehnung des Weltalls scheidet eine physische Kontaktaufnahme aus. Die Vorstellung, man könne in ein Raumschiff steigen und den nächsten bewohnten Planeten besuchen, ist außerhalb von Science‐Fiction‐Romanen ohne jede Grundlage. Der der Sonne am engsten benachbarte Stern, Alpha Centauri, ist 4,3 Lichtjahre oder rund 40 Billionen km von uns entfernt. Legt man die Reisegeschwindigkeit von l, 5km/sec zugrunde, mit der die Apollo‐Astronauten in drei Tagen von der Erde zum Mond ge‐ flogen sind, so dauerte der Flug nach Alpha Centauri 800000 46
Jahre. Selbst wenn man die Geschwindigkeit von Raumschiffen vervielfachen könnte, sind für Menschen in Betracht kommende Reisezeiten weit außerhalb aller vorstellbaren Erreichbarkeit. Nun wäre es ja auch schon etwas, wenn man mit anderen Zivilisationen wenigstens auf Distanz Informationen austauschen könnte. Der Transport von Funksignalen vollzieht sich mit Lichtgeschwindigkeit und bietet auch über große Entfernungen keine prinzipiellen technischen Schwierigkeiten. Nur steht der Zeitfaktor auch hier jeder kontinuierlichen Kommu‐ nikation entgegen. Eine Botschaft mit Rückantwort nach Alpha Centauri brauchte 8,6 Jahre. Die Chance, gerade dort schon einen Ansprechpartner zu finden, ist freilich äußerst gering. Möglicherweise ist die uns nächst benachbarter intelligenter Zivilisation einige hundert oder tausend Lichtjahre entfernt an‐ gesiedelt. Die Distanzen, die überbrückt werden müßten, sind schlechthin außerhalb unseres Zugriffs. Der Durchmesser der Milchstraße, also unserer Heimatgalaxie, beträgt mindestens 100000 Lichtjahre, der Abstand zur nächsten, dem Andromeda Nebel, 2,3 Millionen Lichtjahre. Da redet sich's schwer miteinander. Trotzdem haben Radio‐Astronomen es immer wieder unter‐ nommen, als künstlich‐intelligent erkennbare Informationen über uns ins Weltall zu senden. Und sie haben systematisch versucht, solche Signale aus dem Weltraum zu empfangen. Bisher ist erwartungsgemäß von keinem Erfolg zu berichten. Selbst wenn es je zu einem Kontakt kommen sollte, so könnte er sich nur im quasi engsten Weltraumnahbereich vollziehen. Einer kosmosumspannenden Kommunikation steht die unüberschreitbare Grenze der Lichtgeschwindigkeit entgegen. Daß die Abstände zwischen den Sternen durch das ständige Weiterauseinanderfliegen des Kosmos nicht gerade kürzer werden, spielt da schon praktisch keine Rolle mehr. Die Isolation der menschlichen Zivilisation im All ist unauf‐ hebbar. Von anderen intelligenten Lebewesen haben wir weder Gutes noch Böses zu erwarten.
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Es bleibt in diesem Zusammenhang schließlich noch die viel‐ leicht wichtigste Frage anzusprechen, die der Kommunikation mit dem Schöpfer, mit Gott, mit dem Überirdischen, Jenseitigen ‐ wie immer man es ansprechen will. Wir wünschen uns sehr, mit der göttlichen Instanz in Verbindung zu stehen. Wir fragen nicht nur nach der Ursache und dem Verursacher der Welt und spekulieren darüber, sondern suchen dringlich den Zugang zu ihm. Als letzten Endes doch ziemlich geschundene und zum Tode bestimmte Kreaturen, die wir sind, sehnen wir uns nach Tröstung und Geborgenheit. Wo wären sie eher zu erhoffen als bei dem, der uns geschaffen hat. Nun gibt es aus den Jahrtausenden überlieferter Mensch‐ heitsgeschichte ebenso wie aus der Gegenwart Zeugnisse der Begegnung mit Gott in großer Fülle und Verschiedenheit. Alle Religionen sind mehr oder weniger auf geoffenbarte göttliche Bekundungen gegründet. In direkter Erscheinung der Gottheit oder durch Engel, Boten, Geister, Priester, Propheten, Heilige vermittelt, ist eine unübersehbare Informationsfülle über alles Jenseitige auf uns gekommen. Was davon der einzelne für geof‐ fenbarte Wahrheit und was er für ein Produkt menschlicher Imagination und Erfindung hält, muß jeder für sich als Glau‐ bensfrage entscheiden. Dies kann nicht Gegenstand einer rationalen Auseinandersetzung sein. Dazu fehlen uns alle Kriterien. Das gilt ebenso für die offeneren Formen des Dialogs mit dem Göttlichen: das Gebet mit seiner tröstenden Wirkung, die Meditation mit ihren Entrückungen und Verzückungen. Hier kann nichts gelten als ein äußerstes Maß an Toleranz und Respektierung jeder Überzeugung und Übung. Darauf hat allerdings auch der Anspruch, der keine persönliche Beziehung zur Gottheit erfahren hat und den vermittelten Offenbarungen skeptisch gegenübersteht. So ist auch die Posi‐ tion des Agnostikers zu respektieren, die sich etwa so um schreiben läßt: Wer oder was auch immer Urheber der Welt‐ veranstaltung sein mag, ist uns bisher unbekannt geblieben; eine Kommunikation hat bisher nicht stattgefunden. 48
Da verschlägt dann auch der Einwand nicht, daß der Schöpfer sich in seinen Werken offenbare und daß diese wunderbar seien. Denn gewiß ist es zulässig, von der Wirkung auf den Urheber zu schließen und auch über seine Absichten zu spekulieren. Für den Agnostiker ist dies sogar der einzig begehbare Pfad im schwierigen Grenzland. Nur ist die Weltveranstaltung zu widersprüchlich, als daß sie eine für uns entzifferbare Botschaft vermittelt. Tod steht gegen Leben, Leiden gegen Freude, Ekel gegen Schönheit, Hoffnungslosigkeit gegen Zuversicht, Schmerz gegen Ekstase, Verkrüppelung gegen Voll‐ endung, Haß gegen Liebe, Quälen gegen Helfen, Rohheit gegen Zärtlichkeit, Entropie gegen Evolution, Chaos gegen Ordnung. Und so immer weiter. Wer den vermuteten Urheber, Schöpfer, Gott anhand seiner Hervorbringungen zu befragen sucht, der steht vor einer Wand mit flirrenden Bildern, die sich zu keinem uns verständlichen Zusammenhang fügen. Vielleicht werden höherentwickelte Nachfahren unseres Geschlechts zu kohärenten Deutungen vorstoßen. Für den Agnostiker von heute gehört auch die Sprachlosigkeit des Urhebers zum Menschenschicksal. Und es ist zu respektieren, wenn auch dieses »Schweigen Gottes« ein‐ bezogen wird in das schließliche Abwägen über das Ja oder Nein zum Leben. 49
7. Perspektivlosigkeit der Evolution Ganz gleich, ob man im religiösen Kontext geoffenbarte Infor‐ mationen über den Kosmos für möglich hält oder nicht ‐ auf jeden Fall sind diejenigen Erkenntnisse von höchstem Interesse für uns, die als Ergebnis naturwissenschaftlicher Forschung heute vorliegen. Dank einer ebenso intensiven wie brillanten Arbeit der verschiedenen mit dem Thema befaßten Disziplinen wissen wir heute erstaunlich viel über die Entstehungsgeschichte des Kosmos, insbesondere über das Sonnensystem mit seinem Planeten Erde, über die Evolution des Lebens auf der Erde und über das künftige Schicksal dieser unserer Welt. Für den, der in solchen Erkenntnissen möglicherweise eine Antwort auf seine Fragen nach dem Sinn des Lebens erwartet, ist da allerdings wenig Positives zu holen. Da hat es vor 15 bis 20, vielleicht auch 30 Milliarden Jahren offenbar aus dem Nichts heraus eine gewaltige Explosion gege‐ ben, die wir den Urknall nennen. Über verschiedene Zwischenstadien der Materie entwickelte sich daraus der heutige Kosmos. Er besteht, soweit seine Materie sichtbar ist, vor allem aus einigen hundert Milliarden Galaxien mit je bis zu einigen 100 Milliarden Sternen, die sich in Konsequenz des Explosionsschubs weiterhin gleichmäßig nach allen Richtungen voneinander entfernen. Die Erde ist als Planet der Sonne vor rund 4,5 Milliarden Jahren entstanden. Auf ihr hat sich seit rund vier Milliarden Jahren organisches Leben entwickelt. Vor etwa drei Milliarden Jahren begann bei unseren Urahnen die Ausbildung des menschlichen Gehirns. Sie ist möglicherweise noch nicht abgeschlossen. Die Evolution von Pflanzen und Tieren können wir über weite Strecken detailliert nachzeichnen. Auf die Frage nach den Entstehungsgründen des Lebens und den formgebenden Kräften und Wirkungsweisen gibt es bisher nur ungesicherte, hypothetische Antworten. Die Sonne, von der wir alle Energie beziehen, verbrennt in ihrem Inneren ständig Wasserstoff zu Helium und wird das in relativ 50
stabilem Zustand noch etwa weitere fünf Milliarden Jahre lang tun. Dann verwandelt sie sich in einen roten Riesenstern. Die Temperatur auf der Erde steigt von da an ständig an, bis der Planet schmilzt und verdampft und verschwindet. Eine Fluchtmöglichkeit für Menschen ist nicht erkennbar. Über das endgültige Schicksal des Kosmos besteht noch keine völlige Einigkeit. Sicher scheint, daß die meisten Sterne der Milchstraße erst einige Milliarden Jahre nach der Sonne ausbrennen werden. Möglicherweise entstehen sogar noch neue Sterne. Das mag zur Ausbildung beliebig vieler intelligenter Zivilisationen führen, so wie sie auch derzeit existieren mögen. Aber nach und nach hört das auf. In einigen 100 Milliarden Jahren ist es dunkel im Universum. Das Entropiegesetz bringt alle energetischen Prozesse zur Ruhe. Nun ist allerdings noch umstritten, ob die Expansion des Weltalls sich tatsächlich für alle Zeit fortsetzt. Wenn die Mate‐ riemasse so groß ist, daß die Gravitation die Fluchtenergie übersteigt, dann wird die Fluchtbewegung durch die Schwerkraft gebremst und schließlich zum Stillstand gebracht. Anschließend macht die gesamte Materie kehrt, bewegt sich wieder von allen Seiten auf ihren Ausgangspunkt zu. Dort endet die Sache mit einem großen Knall ‐ um möglicherweise erneut zu explodieren. Dies, mit Verlaub, ist für den menschlichen Blick in beiden Varianten ein zwar gigantisches und damit eindrucksvolles, aber keineswegs ein befriedigendes Szenario. Immer unterstellt, daß unsere Astronomen richtig gemessen und gerechnet haben, drängt sich hier wirklich die Frage auf, ob die ganze Veranstaltung mit der nötigen Kompetenz ins Werk gesetzt worden ist. Man fühlt sich an eine Überlegung von Lichtenberg erinnert: »Warum sollte es nicht Stufen von Geistern bis zu Gott hinauf geben, und unsere Welt das Werk von einem sein können, der die Sache noch nicht richtig verstand, ein Versuch? « Nun kann man natürlich einwenden, daß die Milliarden sonnenkatastrophenfreien Jahre, die offenbar vor uns liegen, ja ein ganz respektabler Zeitraum sind, der erst einmal ver‐ und 51
überlebt sein will. Man kann sich tatsächlich auch schwer vor‐ stellen, daß die Menschheit einen derartig kosmisch langen Zeitraum überhaupt überleben kann. Die biologische Bandbreite der äußeren Lebensbedingungen, unter denen menschliches Leben stattfinden kann, ist überaus schmal. Möglicherweise sind wir selbst schon gerade dabei, das prekäre Gleichgewicht eines uns zuträglichen Klimas zu zerstören. Aber auch wenn sich dies noch abwenden läßt ‐ die Evolution ist eine heftige Bewegerin. Das Risiko, daß sie uns längst an irgendeiner Stelle über den Tellerrand gekippt hat, ehe unser Planet dereinst verglüht, erscheint doch als recht naheliegend. Eine praktische Bedeutung kommt der kosmischen Perspektive also kaum zu, doch ihre psychologische ist virulent. Was haben wir Menschen in diesem Spektakel überhaupt verloren? Man kann von weiteren wissenschaftlichen Forschungsergeb‐ nissen sicher noch Korrekturen dieses grob skizzierten Ablaufs erwarten. Aber daß der Kosmos für uns wohnlicher wird, gehört sicher nicht zu den zu erhoffenden Erkenntnissen. Im naturwissenschaftlichen Weltbild kommt der Menschheit nur eine sehr periphere und kurzfristige Gastrolle zu, die auch als Episode nicht viel Sinn erkennen läßt. Das ist ein gewissermaßen so trostloses Ergebnis, daß wir uns nur schwer damit abfinden können. Auch unter den Naturwis‐ senschaftlern, die es uns zusammengetragen haben, finden sich immer wieder solche, die nach Ansätzen oder Hypothesen suchen, mit deren Hilfe die starren naturgesetzlichen Grenzen überwunden werden können. Bisher vergebens. 52
8. Das ethische Versagen der Menschen Die von der Evolution vorgegebenen Rahmenbedingungen menschlichen Existierens, die in den vorausgegangenen Abschnitten behandelt wurden, sind unserer verändernden Einflußnahme weitgehend entzogen. Anderes gilt für das menschliche Sozialverhalten, wo unser Gestaltungsspielraum offensichtlich größer ist. Da Menschen, in ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe, selbst Produkte des Evolutionsprozesses sind, stellen ihr soziales Verhalten und Gestalten allerdings auch evolutionär bedingte Aktionen dar. Das Neue besteht darin, daß wir in den sozialen Handlungsbereich jene eigene Erkennt‐ nis‐ und Willensautonomie einbringen, die zwar sicher auch ein Evolutionsprodukt ist, aber doch einen an das Auftreten des Menschen geknüpften eigenen Gestaltungsfaktor darstellt. Die handelnden Menschen sind sich der Verantwortlichkeit für ihr Verhalten auch als Sozialwesen widerspruchslos bewußt. Ob das allerdings ausreicht, um ihren eigenen Sollvorstellungen und den offenbaren Überlebensnotwendigkeiten entsprechende stabile soziale Systeme aufzubauen und zu betreiben, das muß nach allen bisherigen Erfahrungen in Frage gestellt werden. Es spricht vieles dafür, daß der Mensch in seiner bisherigen Entwicklung noch nicht den Zustand erreicht hat ‐ vielleicht ja auch nie erreichen wird ‐, der ihn als intelligentes soziales Lebewesen in den Stand setzt, den praktischen Anforderungen eines geordneten Zusammenlebens unter immer schwieriger werdenden Lebensbedingungen gerecht zu werden. Es wird in diesem Abschnitt zunächst auf das ethische Versagen der Menschheit einzugehen sein, die Diskrepanz zwischen seinem Sollen und seinem Tun in den Kategorien von Gut und Böse. Daran schließt sich im Folgenden ein leider umfangreicherer Überblick über ihr politisches Versagen an. Solche Charakterisierungen sind nicht als ausschließliche gemeint. Die als ethisches Versagen deklarierten Ausbeutungssysteme zum Beispiel werden in aller Regel auch politisch falsch sein. Umgekehrt setzt sich mehr und mehr die 53
Auffassung durch, daß ursprünglich nur als ethisch neutrale oder lässige Mängel charakterisierte Umweltbeschädigungen, die wir unter dem Stichwort politisches Versagen aufführen, auch als moralisch verwerflich anzusehen sind. Je mehr wir über vermeidbares Fehlverhalten und seine Folgen wissen, umso unmoralischer wird es. Die beiden Kategorien des sozialen Versagens überschneiden sich also und dienen mehr einer schwerpunktartigen Orientierung als einer zwingenden Klassifizierung. Was unser moralisches Wertsystem angeht, so kann zunächst die eigentlich erstaunliche Tatsache registriert werden, daß über die ethischen Grundpostulate an die sozialen Systeme und an das Verhalten der Individuen inzwischen über alle Kulturkreise hinweg ein fast weltweites Einvernehmen herrscht. Das ist eine starke Formulierung, die durch mancherlei abwei‐ chende Positionen modifiziert wird, als Gesamtzustandsbeschreibung aber gilt. Das Wertsystem ist in den Grundforderungen der Französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« zwar nicht entstanden, aber voll umschrieben. Gleichheit bezieht sich auf Freiheit; die Freiheitssphäre jedes einzelnen findet ihre Grenze an der gleichen ‐ und gleich begrenzten ‐ Freiheitssphäre eines jeden anderen. Gleichheit bedeutet also natürlich nicht, daß alle Menschen ihren Eigenschaften oder Fähigkeiten oder Lebensumständen nach gleich seien oder gleich werden sollten, sondern daß alle Menschen von gleichem Wert sind und die gleichen Rechte auf ihr eigenes Leben und einen angemessenen Anteil an den Gütern dieser Welt haben wie alle anderen auch. So heißt es schon in der Bibel: »Alles nun, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch (Matth. 7,12). Die Umkehrung: »Was euch die Leute nicht tun sollen, das tut ihnen auch nicht« ist in dieser goldenen Regel begrifflich enthal‐ ten. Bei Kant lautet der »kategorische Imperativ«, in dem er das Prinzip der Sittlichkeit verkörpert sieht: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. « 54
Von da führt die direkte Linie der konkretisierenden Ausformung zu den Menschen‐ und Bürgerrechtskatalogen der amerikanischen und Französischen Revolution. Sie mündet in der UNO‐Charter von 1945, die inzwischen so gut wie alle Staaten unseres Globus unterzeichnet und als für sich verbindlich anerkannt haben. In seiner inhaltlichen Ausgestaltung ist dieses Prinzip der »gleichen Freiheit für alle« in vielfältiger Weise konkretisiert und fortentwickelt worden. Es schließt insbesondere die gleiche persönliche Teilhabe an der kollektiven Macht des Staates auf dem Weg über den demokratischen Prozeß ein. Die politischen Aktions‐ und Wahlrechte erweisen sich als kongeniale Ergänzung der liberalen Zonen garantierter Staatsfreiheit. Auch die Individualautonomie wird erweitert und in ihren Voraussetzungen abgesichert. Wo es zunächst nur um die Verhinderung von Zwang ging, geht es nunmehr auch um die garantierte Versorgung mit den nur von der Gemeinschaft erbringbaren Lebens‐ und Entwicklungsvoraussetzungen: Brot und Unterkunft, Ausbildung, Arbeitsplatz. Die liberalen und demokratischen Grundrechte werden in mehr oder weniger detailliertem Umfang durch soziale ergänzt und gestützt. An die Stelle der »Brüderlichkeit« aus der Revolutionsformel würden wir heute am ehesten den Begriff Solidarität setzen. Noch einfacher könnte man Nächstenliebe sagen. Sie kann, im Gegensatz zur gleichen Freiheit, nicht verordnet, nicht eingeklagt, nicht durchgesetzt werden. Sie ist die schiere »Menschlichkeit«, die wir freiwillig hinzutun müssen, wenn wir unser sittliches System auf der Höhe seiner Möglichkeiten verwirklichen wollen. Es ist verblüffend, wie rasch und universell sich diese Wert‐ gesamtheit der humanistischen Sittlichkeit in der von so vielen Kulturen unterschiedlich geprägten Menschheit durchgesetzt hat. Vorgedacht vermutlich seit Jahrtausenden, zur Reflexion gebracht in der griechisch‐römischen Antike, mit Glaubensin‐ brunst durchdrungen im Christentum, kritisch gesteigert und 55
geläutert durch die Aufklärung, zur politischen Bewegkraft geworden in der amerikanischen und Französischen Revolution, aufs äußerste herausgefordert und in Frage gestellt vom faschi‐ stischen Wahn, als politisches Sittengesetz des Planeten Erde von allen ihren Völkern anerkannt und förmlich unterzeichnet ‐ welch unwahrscheinlicher Triumph in Konkurrenz zu unge‐ zählten rivalisierenden Lehren und Bewegungen in der geistigen Geschichte der Menschheit. Diese ideologische Durchsetzung und Anerkennung der hu‐ manistischen Sittlichkeit als verbindliches moralisches Paradigma in ihrer Universalität gegenüber fast allen kulturellen Alternativen ist eine Erscheinung der Nachkriegszeit. Dabei handelt es sich um einen spontanen Globalisierungsprozeß, zu dem zielorientiertes politisches Handeln nur einen nachrangigen Beitrag geleistet hat. Im Zeitalter der weltweiten elektronischen Informationsverbreitung setzte die egalitäre, freiheitliche Wertordnung sich in offener ideologischer Konkurrenz Mal um Mal durch. Menschenrechtsforderungen und demokratischer Elan haben eine Diktatur nach der anderen gebrochen: Spanien, Portugal, Griechenland, Chile, Südafrika, die Sowjetunion und ihre ehemaligen Vasallen. Selbst in ihren starken, autonomen Kulturen so völlig anders vorstrukturierte Gesellschaften wie China, Japan, die Völker Afrikas sind auf dem gleichen Weg. Die vorerst letzte prinzipielle Gegenposition im westlichen Kulturkreis vertraten die faschistischen Ideologien. Die von ih‐ nen proklamierte unterschiedliche Wertung von Menschen verschiedener Rassen oder Herkunft, von Herrschafts‐ und Sklavenvölkern, von Eliten und Unterschichten ist mit dem Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen schlechthin unver‐ einbar. Faschistisches Ideengut befindet sich nach dem Zusam‐ menbruch der totalitären Regime in der Mitte dieses Jahrhun‐ derts weltweit rasch auf dem Rückzug. Auch ein fast ideologiefreies, in seiner Machtpolitik aber faschistoides Regime wie das des Saddam Hussein fand sich in einer weltweiten moralischen Isolation. Gewiß wäre es naiv, 56
jede Form von Faschismus für endgültig überwunden zu erklären. Doch sieht es ganz so aus, als ob er sich in einem freien Wettbewerb der Ideen und Werte auf die Dauer nicht behaupten könnte. So bleibt vor allem der in den letzten Jahren deutlich erstarkte islamische Fundamentalismus als mindestens teilweise alternatives Wertsystem neben dem der humanistischen Sittlichkeit in Betracht zu ziehen. Sein proklamiertes Ziel einer mit Gewalt durchzusetzenden Unterwerfung der Welt der Ungläubigen im »Heiligen Krieg« und der Missionierung der gesamten Menschheit weist durchaus totalitäre Züge auf; zur praktischen Radikalität führt das allerdings offenbar vor allem da, wo wirtschaftliche Not oder nationale Demütigung nach einem Ausweg suchen lassen. Wo eine glückliche und kluge Politik solchen Antrieben die Grundlage schmälerte, darf man erhoffen, daß die Radikalisierung in Grenzen gehalten werden kann. Im Zuge einer friedlichen und geordneten Gesellschaftsentwicklung könnten tolerantere Strömungen die Oberhand gewinnen, wie dies bei den nichtmilitanten Gruppierungen des Islam in der Vergangenheit bereits geschehen ist. Allerdings ist es wohl nur realistisch, für die islamischen Staaten eher mit sozialer Instabilität, Arbeitslosigkeit, Hunger, Übervölkerung und politischer Radikalisierung zu rechnen. Das gibt dem Fundamentalismus vielleicht eine Behaup‐ tungschance, die er unter nicht krisenhaften Bedingungen kaum hätte. Ähnliches gilt möglicherweise für den fundamen‐ talistischen Hinduismus. Solche Überlegungen und Spekula‐ tionen beeinträchtigen jedoch kaum unsere allgemeine Hypothese, daß die normative Durchsetzung der humanistischen Sittlichkeit als dominierender Evolutionstrend anzusehen ist. Wir wagen auf der Grundlage des Gesamtbefunds jedenfalls die These, daß die sich herausbildende globale Menschheitskultur ‐ wenn sie denn die sie akut bedrohenden Katastrophen noch abwenden kann ‐ sich an der humanistischen Sittlichkeit
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orientieren und ihr die Maßstäbe, wo nicht schon des Handelns, so doch wenigstens ihres Wertens, entnehmen wird. Dies ist ein beeindruckender Befund. Wie kommt es dazu? Gibt es ein von unserer anthropologischen Kulturausbildung unabhängiges Sittengesetz, das wir nun Stück für Stück freile‐ gen? Erstreckt sich die fortbildende Struktur des Evolutions‐ prozesses nicht nur auf biologische, sondern auch auf psychische Bildungen? Gibt es so etwas wie ein morphogenetisches Feld des Moralischen? Es ist eine Hypothese, mit der man jedenfalls erst einmal weitersehen kann. Mehr läßt sich dazu nicht sagen. Wir können schließlich nur vom tangiblen Befund auf die Intention des Verursachers rückschließen. Danach erscheint die Annahme als plausibel, daß die normative Durchsetzung der humanistischen Sittlichkeit in unseren sozialen Ordnungssystemen als ein dominanter Evolutionstrend anzusehen ist. So etwas schreibt sich nicht leicht dahin, nicht einmal 50 Jahre, nachdem die Feuer von Auschwitz gelöscht worden sind. Wie will man von einem moralischen Fortschritt sprechen, wenn der historische Extrempunkt von Unmenschlichkeit uns so nahe liegt? Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, daß Menschen ihre schlimmsten Möglichkeiten in schreckliche Wirklichkeit umsetzen müssen, um sie für alle Zukunft, wo nicht auszuschlie‐ ßen, so doch zu ächten und kaum wiederholbar zu machen. Die Scheiterhaufen der Inquisition mußten erst einmal brennen, ehe die Liebesreligion Christentum das Schwert aus der Hand legte. Der Erste Weltkrieg mußte seine Hekatomben an Opfer vier Jahre lang im Schlamm der Schützengräben zerfetzen, um Nationalkriege als verbrecherische Absurdität zu entlarven. Der ganz andere, der Zweite Weltkrieg ist da kein Gegenargument. Hier wurde der gewaltigste Raubzug der Geschichte geplant, der eigentlich gar kein Krieg werden sollte. Auch das wird so keiner ein zweites Mal versuchen ‐ was noch nicht das Ende aller Raubzüge bedeutet.
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Die Atombombe mußte wohl erst einmal die Bewohner zweier Städte verdampfen lassen, ehe sie zur endgültigen Abschreckung tauglich werden konnte. Und so mußte zwar gewiß nicht der Holocaust ausbrechen, um die Verwerflichkeit des Völkermords zu demonstrieren. Aber was sich als das schier absolute Verbrechen im kollektiven Bewußtsein der Menschheit festgesetzt hat, läßt sich nicht einfach wiederholen. Auch Panzer über demonstrierende Studenten rollen zu lassen wird nach dem Tian'anmen‐Massaker schwieriger werden. Die 89er Revolution in Osteuropa wäre ohne die Pekinger Bilder womöglich im Feuer der Sicherheitskräfte zusammengebrochen. Was an diesen Beispielen sichtbar wird, ist ein schrecklicher Mechanismus moralischen Fortschritts durch die Realerprobung des Bösen. Aber es bleibt dabei, daß das Ergebnis ganz naiv‐ zuversichtlich »Fortschritt« genannt werden darf, Fortschritt nicht ohne Einbrüche, Komplikationen und Rückfälle, sich auch keineswegs zeitgleich auf der Erde vollziehend, aber doch als eindrucksvolle Gesamtveränderung. Allerdings, auch wenn solche Beobachtungen und Schluß‐ folgerungen zutreffen, so kann daraus noch nicht verläßlich auf einen künftig gleichartigen Verlauf geschlossen werden. Eher steht zu befürchten, daß die sozialen und biologischen Voraussetzungen, welche die Grundlage des derzeitigen Versittlichungsprozesses bilden, durch die globale politische Fehlentwicklung der Menschheit zerstört werden. So kann sein Fortschreiten, unter tunlicher Vermeidung schlimmer Zwischenerfahrungen, nur erhofft und als Aufgabe begriffen werden. Zwischen normativer Anerkennung und praktischer Befolgung der Normen besteht nun allerdings im Leben der Gemeinschaft ein nicht weniger ausgeprägter Unterschied als im Leben des Individuums. Wir wissen, was wir wollen, wir wollen es auch ‐ oder auch nicht. Wir handeln, jedenfalls oft, anders. Eine vollständige Beachtung aller Normen ist nach der Lebens‐ erfahrung weder Individuen noch Kollektiven möglich. 59
Menschen treten einzeln wie gemeinsam als sowohl gut wie böse auf. Und doch hat sich nicht nur in der moralischen Bewertung, sondern auch im praktischen Verhalten der Mächte und der Mächtigen etwas geändert. Gewiß ist immer irgendwo schreckliches Morden und Brennen im Gang, werden Kriege und Bürgerkriege grausam ausgetragen, aber es sind heute eher die kleineren Länder und Völkerschaften, die sich so auf traditio‐ nelle Weise ‐ wenn auch mit höchst gesteigerter Effizienz ‐ hinschlachten. Anders als durch die ganze Geschichte hindurch und bis noch vor wenigen Jahrzehnten ist es z.B. nicht mehr vorstellbar, daß Deutschland und Frankreich einen Krieg gegeneinander führen. Der lange als Drohung über uns hängende Vernichtungskrieg zwischen Ost und West ist durch den Zerfall des Sowjetimperiums hinfällig geworden. Auch Japan und die USA werden nicht mehr militärisch gegeneinander kämpfen, wie immer ihre wirtschaftlichen Interessenkonflikte sich verschärfen mögen. Natürlich sind wir immer noch nicht sicher davor, daß irgendwo Sicherheitssysteme versagen und die nukleare Katastrophe über uns hereinbricht. Die Destabilisierung des Sowjetimperiums bringt da ihre eigenen neuen Risiken mit sich. Aber insgesamt stehen wir doch vor einer im Lauf weniger Jahrzehnte dramatisch zum Besseren veränderten Welt. Vielleicht ist es der Beginn einer Epoche, in der das Kriegsführen nach und nach aus der Übung kommt. Sogar bei der inneren Gewaltanwendung von Regierungen und Machtträgern zur Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse sind deutliche Verbesserungen zu konstatieren. Die Zahl der autoritären Regime nimmt ab, und der Umfang der staatlichen Repressionsaktivitäten wird geringer. Sicher wird amnesty international noch lange nicht überflüssig werden ‐ seine bisherigen weltweiten Aktivitäten waren eben doch nicht vergebens. Wo erst einmal ethische Normen gesetzt und formal anerkannt sind, auf die man sich berufen kann, wie etwa die UNO‐Deklaration oder die KSZE‐Akte, da entwickeln sie eine oft 60
unscheinbare, aber zähe Wirksamkeit, die immer wieder zur realen Durchsetzung drängt. Auch hier gilt freilich der Vorbehalt, daß solche praktischen Versittlichungsprozesse der Herrschaftsausübung auf die Dauer nur in stabilen sozialen Ordnungssystemen eine Chance haben. In dem Maße, in dem solche Ordnungen durch katastrophenartige Ereignisse (Wirtschaftszusammenbrüche, Hungerepidemien, globale Massenwanderungen, Umwelt‐ und Klimakatastrophen) überlastet werden, droht der Zusammen‐ bruch aller erzielten Fortschritte. Neben dem staatlich organisierten oder wenigstens sanktionierten Gewaltmißbrauch sind es die kriminellen Gewalttaten, von denen eine ständige Bedrohung des moralisch organisierten gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgeht. Einzelkriminalität (Mord, Raub, Vergewaltigung), das Treiben von Verbrecherorganisationen wie Mafia und Drogenkartellen und ebenso die Akte des separistischen und des internationalen Terrorismus sind bisher nirgendwo dauerhaft besiegt worden, sondern scheinen im Gegenteil unaufhaltsam zuzunehmen. Besonders in den Siedlungsballungen der Megapolen, in denen sich immer größere Teile der Erdbevölkerung zusammendrängen, wächst die Unsicherheit. Es steigt nicht nur das Risiko, Opfer zu werden. Es steigt vor allem die Angst davor, Opfer zu werden. Angst aber zersetzt das Leben. Die innere Gewaltprognose kann kaum optimistisch ausfallen. In anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen werden Widersprüche zwischen den Anforderungen der humanistischen Sittlichkeit und dem praktischen Verhalten sogar durch unsere etablierten Ordnungssysteme gedeckt. Extreme Formen von Ausbeutung, Erniedrigung und Hilfsverweigerung gegenüber einzelnen und Gruppen in unserer Mitte bleiben folgenlos, weil sie »legal« sind. Noch die fortgeschrittensten und wohlhabendsten der westlichen Industriegesellschaften dulden depravierende Armut und unsinnigen Reichtum gleichermaßen nebeneinander, ohne das zutiefst Amoralische der Situation zuzugeben.
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Das Marktwirtschaftssystem, das solches und manch anderen, minderen Unfug hervorgebracht hat, steht nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus wieder hoch in der allgemeinen Wertschätzung. Tatsächlich ist es offenbar das einzige, das flexibel und vital genug ist, um der komplexen Versorgungsaufgabe von heute fünf und demnächst 15 Milliarden Menschen in einer hochtechnisierten Zivilisation annähernd gewachsen zu sein. Man muß sich nur darüber im klaren sein, daß es sich um ein zwar effizientes, aber deswegen noch lange kein besonders moralisches System handelt. Es kann sich den Prinzipien humanistischer Sittlichkeit in gewissem Maße nur durch die Etablierung vieler an sich systemfremder Korrektur‐ und Ausgleichmechanismen annähern. Deren Funktionieren freilich ist wiederum in hohem Maße von einer stabilen ökonomischen und sozialen Gesamtentwicklung abhängig, wie wir sie kaum dauerhaft erwarten können. Vor allem versagen sie völlig, wo es um eine angemessene Verteilung der materiellen Güter im internationalen Maßstab geht. Das Leiden und Sterben in der Dritten und Vierten Welt wird auch durch soziale Komponenten im Marktsystem nicht gemindert. Hier hülfe nur die Berufung auf das Solidaritätsgebot. Von dem halten die wirtschaftlich Mächtigen in der Praxis jedoch wenig. Nimmt man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte insgesamt in den Blick, so ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Einerseits haben die Regeln der humanistischen Sittlichkeit sich in eindrucksvoller Weise weltweit ‐ wenn auch oft nur verbal als dominantes ethisches System durchgesetzt und Auswirkungen gezeitigt. Der KSZE‐Prozeß ist dafür das prominenteste Beispiel. Das läßt die Hoffnung darauf zu, daß die Menschheit auch zu einer moralischen Verbesserung ihrer Verhaltenspraxis in der Lage ist. Es gibt vielfältige konkrete Anhaltspunkte dafür, daß der Trend der realen Entwicklung im staatlichen und internationalen Rahmen so orientiert ist. Andererseits ist jede dauerhafte, praktizierte Versittlichung vom Bestehen stabiler, kontinuierlich reformierbarer 62
Ordnungssysteme abhängig. Die derzeit bestehenden geraten aber zunehmend in Bedrängnis. Unter dem Druck organisierter Kriminalität, politischer und religiöser Radikalisierung, bei Zerfall autoritärer Machtstrukturen in bisher totalitären Staaten, angesichts von Versorgungskatastrophen, einem gigantischen Bevölkerungswachstum und einsetzender globaler Massenwanderungen erweisen sich die gewachsenen Sozialsysteme als zunehmend gefährdet und ineffizient. Die Entwicklung ist offensichtlich auf Destabilisierung und einen fortschreitenden Abbau der inneren Sicherheit gerichtet. Das aber läßt eine Umsetzung der gerade weltweit durchgesetzten Prinzipien der humanistischen Sittlichkeit in die gelebte Alltagswirklichkeit der staatlichen und überstaatlichen Organisationen und im binnenstaatlichen gesellschaftlichen Zusammenleben kaum erwarten. Gleichwohl, die Entwicklungen, von denen hier die Rede ist, sind so komplex und eigendynamisch, daß jede Voraussage mit höchster Unsicherheit behaftet ist. Die mindestens formale Einigung der staatlich organisierten Menschheit auf die Prinzipien der humanistischen Sittlichkeit stellt in sich schon einen so einzigartig bedeutenden Vorgang dar, daß davon möglicherweise noch stärkere Wirkungen ausgehen, als sie uns der Blick auf die so schwierige nähere Zukunft heute verheißt. Es bleibt zu fragen, ob ein vergleichbarer Versittlichungsprozeß, wie wir ihn für die gesellschaftlichen Organisationsbereiche glauben ausmachen zu können, auch mit korrespondierenden Veränderungen der Individuen einhergeht. Wird also nicht nur die Menschheit besser, sondern werden es auch die Menschen selbst? Jemanden, der darauf eine positive Antwort zu geben bereit ist, wird man schwerlich finden. Und doch ist der Gedanke nicht abwegig. Denn wenn es beobachtbare Verbesserungen bei der sittlichen Orientierung der Systeme gibt, so ist der Rückschluß auf entsprechende Veränderungen bei den systemgestaltenden Individuen zwar nicht zwingend, aber doch mindestens
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erwägenswert. Warum sollten nicht auch Generationen einzelner aus den Irrungen ihrer Vorgänger lernen? Doch messen oder wissen läßt sich da nichts. Allenfalls hilft vielleicht der Blick ins eigene Leben ein winziges Stück weiter. Jeder von uns hat sich irgendwann so verhalten, daß er hinter seinen eigenen moralischen Maßstäben zurückblieb. Und wohl jedem ist es auch schon so ergangen, daß er etwas ohne Bewußtsein eines Unrechts tat und erst hinterher merkte, daß es Unrecht war. Aus solchen Erfahrungen kann man Lehren ziehen und sein künftiges Verhalten ändern. Ein gutes Leben mag so verlaufen, daß der Mensch im Prozeß der Reifung und des Alterns auch ein besserer wird. Wir wollen da nichts ausschließen, aber wir müssen doch wohl auch eingestehen: Würde uns morgen ein neues Leben geschenkt, in das wir alle Erfahrungen und Gewis‐ sensschärfungen des bisherigen einbringen könnten, so würde auch dieses neue Leben kein schuldloses sein ‐ so wenig wie jedes spätere. In der christlichen Lehre hat diese Erfahrung ihren Ausdruck im Begriff der Erbsünde gefunden. Das ist eine gute Bezeichnung, weil sie die Unvermeidlichkeit des Schuldigwerdens im Leben deutlich macht. Wir stoßen hier auf eine weitere der kritischen Diskrepanzen der aus dem Evolutionsprozeß hervorgegangenen Welt: den unvereinbaren Widerspruch zwischen der Soll Evolution der Moral und der Kann‐Evolution des Individuums. Man darf das Ausmaß der darin angelegten Spannung nicht unterschätzen. Es geht ja nicht nur um das Einsacken einer ge‐ fundenen Geldbörse oder Fahrerflucht nach einem Unfall. Es geht auch kaum um Mord und Totschlag, die ja gewiß nicht jeder begeht. Es geht um die ungezählten und alltäglichen Akte von Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit, von unterlassener Hilfe, von verletzter Solidarität. Nicht die Kriminalität ist das eigentliche Thema der Erbsünde, sondern der permanente Verstoß gegen das Liebesgebot. Und auch hier kommt es weniger auf die korrigierbaren als auf die unvermeidbaren Verstöße an. Es ist unmoralisch, daß ich 64
mein Haus nicht mit Obdachlosen teile, mein Geld nicht mit den Armen, meine Zeit nicht mit den Gesprächsbedürftigen, meine Kraft nicht mit den Schwächeren, meinen Mut nicht mit Hoffnungslosen. Ich könnte das natürlich nicht ‐ oder jedenfalls nur ganz unzulänglich ‐, ohne mich selbst aufzugeben. Aber es bleibt Schuld, weil ich immer hinter dem Maß nicht nur des Unmöglichen, sondern auch des Möglichen zurückbleibe. Für die wenigen anscheinenden Ausnahmen unter den Menschen hilft man sich mit der Kategorie der Heiligen. Aber damit rückt man sie auch schon aus dem normalen menschlichen Verhaltensbereich hinaus. Von den Heiligen also einmal abgesehen ‐ keiner ist so »gut«, wie er sein sollte. Jeder muß wohl oder übel mit seiner Eigennützigkeit und Fehlsamkeit leben ‐ und andere dabei enttäuschen, verletzen, entmutigen. Es ist schließlich kein Wun‐ der, daß die Dichtungen der Menschen seit Jahrtausenden das Thema ihres Schuldigwerdens in immer neuen Varianten abge‐ handelt haben ‐ immer neu und immer das gleiche. Trotzdem: In der Überschrift zu diesem Abschnitt ist vom ethischen »Versagen« der Menschen die Rede. Und davon gibt es in der Tat mehr als genug. Aber die Veränderungsrichtung, die wir glauben ausgemacht zu haben, weist ins Positive, hin zu einer Versittlichung sowohl der Maßstäbe wie des praktischen Verhaltens, auch des persönlichen Verhaltens des Individuums. Da ist noch Raum, in dem wir etwas bewirken können. In der Annahme der persönlichen moralischen Herausforderung ließe sich ein Ja zum Leben vielleicht noch am ehesten begründen. 65
9. Das politische Versagen der Menschen Die erfolglosesten Erfolgreichen haben wir oben die Menschen genannt. Zwar fehlt uns die Vergleichsmöglichkeit mit mut‐ maßlich vorhandenen anderen intelligenten Lebewesen und ih‐ ren Kulturen in unserem Kosmos. Die Formulierung zielt also mehr auf die Verdeutlichung der enormen Spannung zwischen menschlicher Leistung auf der einen und Fehlentwicklung auf der anderen Seite. Auch als singuläre Erscheinung ist der Weg von den ersten Einzellern vor vier Milliarden Jahren über die frühen Homini‐ den vor vier Millionen Jahren zum Homo sapiens sapiens vor 40000 Jahren von atemberaubender Dramatik. Das gilt nicht weniger, wenn wir uns den Weg des Menschen in diesen vierzigtausend Jahren vergegenwärtigen. Er hat Sprache, Religionen, Dichtung und Philosophie ausgebildet. Er hat Dörfer und Städte, Paläste und Kathedralen gebaut. Er hat für Nahrung gesorgt, Fertigkeiten und Künste aller Art entwickelt. Er hat Kunst und Wissenschaft zu immer neuen Höhen getrieben und eine Technik erfunden, die seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten um fast beliebige Potenzen steigert. Die Menschen haben den Kosmos in seiner Entstehung und in seinen Ausmaßen untersucht und berechnet. Sie verfügen über ziemlich sichere Kenntnisse über Räume, die sie nie betreten werden, über Zeiträume von Jahrmilliarden, in denen es sie noch nicht gab und künftig nicht geben wird. Sie kennen die chemischen Prozesse im Sonneninneren und berechnen die Dauer des für uns lebenspendenden Verbrennungsvorgangs. Sie bauen Raumsonden und Teilchenbeschleuniger, weit über die Grenzen ihrer möglichen biologischen Präsenz hinaus forschend. Ihre Computer vollführen Millionen von Rechenoperationen in Bruchteilen von Sekunden, ihre Informationschips speichern Wissen, für dessen Aneignung ein Menschenleben nicht ausreicht, auf Quadratzentimetern. Sie sind schon eine unglaubliche Art. 66
Gleichzeitig zeigen sie sich von ihren eigenen Fähigkeiten und Hervorbringungen in verhängnisvoller Weise überfordert. Nicht nur daß sie beide immer wieder in der gräßlichsten Weise mißbrauchen, um sich gegenseitig Leid zuzufügen oder einander zu übervorteilen ‐, auch in bester Absicht unternommenes Menschenwerk führt immer wieder zu schrecklichem Mißlingen. Einer der Gründe dafür liegt offensichtlich in einem falschen Selbstverständnis, einer Überschätzung der eigenen Aufgaben und Möglichkeiten in dieser Welt. Man muß dies vor dem Hintergrund ihrer außerordentlichen Erfolge in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Lebensformen und mit anderen Widrigkeiten ihrer äußeren Lebensbedingungen sehen. Was lag da näher, als sich als »Krone der Schöpfung«, als Herren der Erde zu fühlen. Dies gilt wohl nicht für alle Kulturen. Indianer und die Ureinwohner Australiens sahen ihre Rolle in der Welt als eine bescheidenere was sie dann auch in ganz anderem Sinn wurde. Aber die in der Gegenwart absolut dominante technische Zivilisation beruht gänzlich auf jener Vorstellung einer absoluten Suprematie und Verfügungsgewalt des Menschen über alle vorgefundene Welt. Die christliche Lehre, sozusagen die »Hausreligion« der europäischen Industrienationen, fördert solches Selbstver‐ ständnis nach Kräften. »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde« ‐ ein höherer Anspruch der Kreatur ist schlechterdings nicht denkbar. Und die Positionsverleihung in Gottes Bund mit Noah läßt auch an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »Furcht und Schrecken vor euch sei über allen Tieren auf Erden und über allen Vögeln unter dem Himmel, über allem, was auf dem Erdboden wimmelt, und über allen Fischen im Meer; in eure Hände seien sie gegeben. Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut habe ich's euch alles gegeben. « Die Erde und alles, was sie trägt, steht dem Menschen zur Verfügung. Das konnte nicht gut gehen.
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Der für die Entwicklung der Moderne so wichtige Calvinismus ging noch weiter und setzte den wirtschaftlichen Erfolg als Indikator jenseitiger Erlösungsbestimmtheit ein. Auch die weitgehend nachchristliche Epoche, in der wir leben, ist von diesem Selbstverständnis noch ganz und gar geprägt. Bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts hinein war die maximale Ausbeutung aller Naturschätze ebenso selbstverständliche Handlungsmaxime wie die sorglose Nutzung der Naturumwelt zur kostenlosen Deponierung aller Abfälle einer steil ansteigenden industriellen Produktion. Deren Wachstum galt als natürliches Oberziel allen Wirtschaftens. Die Forderung, daß alle, auch die sich emanzipierenden sozialen Unterschichten, an den materiellen Gütern teilhaben sollten, entsprach inzwischen der allgemeinen Überzeugung und wurde zum treibenden politischen Prinzip. Auch die privilegierten Gruppen und Schichten stimmten ihm zu, jedenfalls in Maßen. Sie konnten es um so eher, als sie nichts aufzugeben gedachten. Im Gegenteil, das Wirtschaftswachstum sollte den Armen zu bescheidenem Wohlstand und den Reichen zu noch größerem Reichtum verhelfen. Der Erfolg der darauf gerichteten Bemühungen war durchschlagend, wenn auch in recht unterschiedlicher und nicht immer erhoffter Weise. Die westlichen Industrienationen und Japan erlebten eine enorme Steigerung des Lebensstandards. Dem Ziel einer sozialen Egalisierung näherte man sich dabei allerdings nur punktuell, etwa in Skandinavien, oder nur vorübergehend wie in England oder auch gar nicht, wie in den USA. Die Länder des »Ostblocks« litten unter der doppelten Last hoher Rüstungsaufwendungen und planwirtschaftlicher Ineffizienz. Da die notwendigen Erneuerungsinvestitionen nicht mehr zu finanzieren waren, setzte ein schleichender Verfalls‐ prozeß ein. Der schließlich eingeleitete Systemwechsel, meist halbherzig in Gang gesetzt, hat bisher keine durchgreifende Wende zum Besseren bewirkt.
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Die Länder der dritten und vierten Welt waren ihrer Geschichte und sozialen Struktur nach für ein Hineinwachsen in die industrielle Gegenwart schlecht vorbereitet. So wurden sie allzu oft Opfer von allerlei Experimenten der Entwicklungshilfe und krasser wirtschaftlicher Ausbeutung durch die Indu‐ strienationen. Was sie an Reichtümern gewinnen konnten, konzentrierte sich in den Händen einer dünnen Oberschicht, die ihre Beute oft genug rasch außer Landes brachte. Im Einzelnen ist die Entwicklung ‐ auch innerhalb der nur grob skizzierten Gruppen ‐ natürlich unterschiedlich verlaufen. Doch zwei schlimme Folgenkomplexe, in denen das politische Versagen und die Unfähigkeit zu zukunftssicherndem Handeln besonders deutlich werden, sind ihnen allen gemeinsam: der extensive Ressourcenverbrauch und die Umweltschädigung. Die Endlichkeit der Rohstoffe, auf denen unsere ganze tech‐ nische Zivilisation aufbaut, ist zum ersten Mal durch den Bericht des Club of Rome über die »Grenzen des Wachstums« 1972 ins allgemeine Bewußtsein gehoben worden. So vielfach der Bericht in seinen Berechnungen durch spätere Arbeiten inzwischen überholt ist ‐ seine Grundaussage gilt uneingeschränkt: Dem wirtschaftlichen Wachstum sind unüberschreitbare Grenzen gesetzt, und diese Grenzen liegen nicht irgendwo in einer sagenhaft fernen Zukunft, sondern in Armeslänge vor uns. Die Rohstoffreserven, einschließlich der fossilen Brennstoffe, mögen größer sein als zunächst erwartet. Die Wirkung sparsamerer Produktionsmethoden, Substitution und Recycling mögen die Dauer ihrer Verfügbarkeit verlängern und sogar vorübergehend zu einem Überangebot führen. An der ständigen und unumkehrbaren Minderung der Gesamtreserven und den damit verbundenen Umstellungsnotwendigkeiten ändert das nichts. Was wir unter dem Begriff Umweltzerstörung zusammenfas sen, die Vergiftung von Erde, Wasser und Luft, die Verbauung der Erdoberfläche, die Gefährdung der Biosphäre als Folge einer ausbeuterischen Industrieproduktion und eines exzessiven Konsums, ist in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen 69
Überlebensproblem der Menschen ‐ und nebenbei auch vieler anderer Lebensformen auf diesem Planeten ‐ geworden. Hier soll jetzt nicht ein weiteres Mal das ganze ökologische Miß‐ brauchs‐ und Bedrohungspanorama nachgezeichnet werden. Das geschieht mittlerweile oft genug und von kompetenterer Seite. Einsicht verbreitet sich. Freilich sind die praktischen Auswirkungen solchen Darlegens und Warnens einstweilen noch marginal. Zwar hat die Politik sich des Themas inzwischen lauthals angenommen. Und gewiß haben Filter und Katalysatoren, biologische Klärwerke, striktere Deponieregeln und wasserrechtliche Auflagen inzwischen ein paar der skandalösesten Verschmutzungspraktiken zurückgedrängt. Aber es wird doch in erster Linie an den Symptomen kuriert. Der Verbrauch der letzten landschaftlichen Reserven schreitet ebenso fort wie das Aussterben der Tier‐ und Pflanzenarten. Der Verbleib der ständig wachsenden Gifthalden ist ebenso wenig geklärt wie jener der verstrahlten Abfälle und Rückstände aus der Atomindustrie. Es gibt bis heute auf der ganzen Erde keine einzige Endlagerstätte für atomare Abfälle. Nicht einmal für unsere vergleichsweise harmlosen Hausmüllberge findet sich noch Raum. Die Klimaveränderungen, die wir vermutlich in Gang gesetzt haben und im wahrsten Sinn des Wortes ständig kräftig weiter anheizen, sind in ihren Folgen noch gar nicht abzuschätzen. Allerdings, so gewaltig die Schäden offenbar schon sind, die wir unserem Biotop Erde bislang zugefügt haben, so sind doch nur wenige Wissenschaftler bereit, sie schon für irreparabel tödlich zu halten, etwa Dennis Meadows, wenn er formuliert: Es hat keinen Sinn mehr, mit einem Selbstmörder zu argumentieren, wenn er bereits aus dem Fenster gesprungen ist. Vorläufig dominiert noch die Annahme, daß längst nicht alle Korrekturmöglichkeiten der Industrieproduktion ausgeschöpft sind. Entsprechendes gilt für unser zurzeit noch unsinnig aufwendiges Verbrauchsverhalten. Wir hoffen, daß sich doch Lebensformen und Produktionsmethoden entwickeln, welche die 70
Erdatmosphäre nicht zerstören, in denen eine gewisse Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren überleben kann, die auf Gifte verzichten und die Abfälle schadlos verwerten. Eine solche Umstellung würde, verglichen mit den heutigen Hochverbrauchsgebieten in den Industrieländern, sicher einschneidende Verzichte des Lebensstandards konventioneller Prägung erfordern. Aber der für ein gutes Leben nach vorindustriellen Maßstäben erforderliche Komfort sollte sich bei intelligentem Verhalten eigentlich erwirtschaften lassen. Der als Menschheitsaufgabe erkannte Umbau der Weltzivi‐ lisation zu einem lebensfähigen ökologischen System könnte freilich an zwei Umständen scheitern: der mangelnden politischen Gestaltungskraft und dem schon zu weit fortgeschrittenen Wachstum der Weltbevölkerung. Je demokratischer eine Gesellschaft verfaßt ist, umso abhängiger ist ihre politische Führungsschicht von der permanenten Zustimmung der Regierten. Und wie dicht das Knollengeflecht von zähen Gruppen‐ und Individualinteressen, von gut‐ und böswilliger Uneinsichtigkeit und blinder Angst vor Änderungen jeder Art ist, das sich jedem Versuch eines ökologisch radikalen gesellschaftlichen Umbaus entgegenstellt, davon liefern uns die Zeitungen und der Bildschirm jeden Tag neue Beispiele. Die einen müssen mit 12‐Zylinder‐Wagen 250 km/h schnell über die Autobahnen rasen. Die anderen schlachten die letzten Singvögel und Wale ab. Alle kippen ihren Dreck ins Meer. Alle planen und bauen neue Kraftwerke und Flughäfen und Chemiefabriken. Wenn irgendwo, dann ist für den Schutz der Umwelt der Ruf nach starker politischer Führung gerechtfertigt. Aber unsere Regierungen sind in der Regel schwach, sowohl was die Entschiedenheit des Handelns als auch schlicht Einsicht und Phantasie angeht; sie sind in ihren Reaktionen einfach kurzzeitorientiert, leider meist ziemlich dumm und zu bequem oder korrupt, um wirksam zu handeln. Hoffnung kann man vielleicht noch eher auf die technokratisch orientierten internationalen Organisationen setzen, die den Erdball 71
allmählich mit einem dichter werdenden Netz von Verhandlungs‐ und Regulierungskanälen überziehen. Hoffnung kann man vor allem auf Initiativen von unten setzen. Die akute Angst der Menschen davor, daß sie ihren eigenen, kleinen und einzigen Lebensort im Weltall unbewohnbar machen könnten, diese Angst wächst. Internationale Bürgerbewegungen wie Greenpeace und WWF sind aufklärerische Antriebskräfte geworden, die über die elektronischen Kommunikationswege überaus wirksam zur allgemeinen Bewusstseinsbildung beitragen. Auf keinem anderen Problemfeld der Menschheit sind so starke Gegenkräfte gegen Fehlentwicklungen so rasch und so universell aktiv geworden. Trotzdem bleiben große Zweifel, ob die nötige Umorientierung radikal und rasch genug gelingen kann. Begrenzte Katastrophen wie die von Tschernobyl können in plötzlichen Schüben Veränderungspotentiale freisetzen, mit denen sonst nicht zu rechnen wäre. Und so weit wir uns auch in die Sackgasse der technischen Schadproduktion hinein verrannt haben, so läßt sich auf die menschliche Findigkeit in Notlagen immer ein gewisses Maß an Hoffnung gründen. Was das Problem trotzdem als extrem kritisch erscheinen läßt, ist die Dimension des Bevölkerungswachstums. Dieser Prozeß ist in der bisherigen Weltdiskussion mit erstaunlicher Beiläufigkeit eher als Randthema abgehandelt worden. Als man in den 70er Jahren zu dem Ergebnis gekommen war, daß dank der grünen Revolution denkbarerweise auch genug Nahrungsmittel für acht oder zehn Milliarden Menschen auf der Erde erzeugt werden könnten, hielt man das Problem schon für fast gelöst. Was sich im Gefolge der Bevölkerungsexplosion an krisenhaften Entwicklungen in allen Lebensbereichen anbahnt, wird bis heute kaum zur Kenntnis genommen. Dabei haben wir es hier mit der vermutlich folgenschwersten Fehlentwicklung der Geschichte zu tun. Über Jahrtausende lebten Menschen als Gruppe unter vielen anderen Gruppen von Lebewesen, aufgrund ihrer Intelligenz zwar dominant, aber insgesamt doch verträglich. Für den Beginn 72
unserer Zeitrechung, auf dem Höhepunkt des Römischen Imperiums, wird die Erdbevölkerung auf 300 Millionen Menschen geschätzt. Die alten Hochkulturen der vorchristlichen Jahrtausende hatten sich auf der Grundlage noch weit geringerer Menschenzahlen entfaltet. Flurschaden gab es freilich auch damals bereits: Die Abholzung der Mittelmeerwälder, unter der wir heute noch leiden, ließ sich auch ohne Motorsägen schon höchst wirksam bewerkstelligen. Heute wird die Erde von 5,4 Milliarden Menschen bewohnt, die unter Einsatz aller inzwischen verfügbaren technischen Möglichkeiten versuchen, ihre vielfältigen und zum Teil höchst fragwürdigen Bedürfnisse zu befriedigen. Mehr als eine Milliarde von ihnen leben am Rande des Existenzminimums, das heißt, sie kämpfen um ihr nacktes Überleben. Der jährliche Gesamtzuwachs beträgt zurzeit knapp 100 Millionen Menschen und steigt aufgrund des großen Anteils der jungen Jahrgänge weiter an. Zur Jahrtausendwende werden wir, einen katastrophenfreien Verlauf der Geschichte unterstellt, mehr als sechs Milliarden sein, im Jahr 2025 (das ja durchaus in der Lebensspanne der meisten heute Lebenden liegt) 8,5 Milliarden. Wo das enden wird, kann niemand verläßlich prognostizieren. Die Weltbank wagt in ihren jährlichen Weltentwicklungsberichten immerhin eine anhaltsweise Schät‐ zung über den hypothetischen Umfang der stationären Bevöl‐ kerung, also die Zahl, bei der das Wachstum zum Stillstand kommt. 1980 addierten sich die Länderzahlen noch zu insgesamt knapp 9,8 Milliarden. Seitdem wurden sie Jahr für Jahr vorsichtig nach oben korrigiert und liegen 1990 in der Summe bei 12,3 Milliarden. Daß es überhaupt Hoffnung auf eine stationäre Zahl, also auf einen Wachstumsstillstand gibt, liegt daran, daß wenigstens die jährliche Zuwachsrate der Weltbevölkerung deutlich rückläufig ist. Sie liegt aber immer noch bei 1,7 Prozent. Das ist eine nur scheinbar geringe Größe. Umgesetzt in absolute Zuwachsraten, zeigt sie ihr erschreckendes Gewicht. »Alle zehn Jahre ein neues China«, formulierte ein um Veranschaulichung bemühter 73
Journalist. Der Schwerpunkt der Zuwächse liegt tatsächlich in Indien, China und den übrigen asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Ländern mit niedrigem Einkommen. Mehr als die Hälfte der Einwohner in den Ländern der Dritten Welt sind jünger als 20 Jahre und stehen erst am Beginn ihrer Fruchtbarkeitsperiode. Alle diese Menschen brauchen Nahrung und Behausung. Sie wollen produzieren und verbrauchen. Sie werden hineingeboren in eine Welt, deren mögliche Reichtümer sie sehen, ohne daß diese für sie selbst je erreichbar würden. Viele von ihnen werden hungern. Schon jetzt verhungern täglich 40000 Kinder auf der Erde. Und viele, sehr viele aus dem Heer der Elenden werden sich auf den Weg machen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben anderswo. Allein der Wachstumsdynamik wegen stehen wir vor globalen Völkerwanderungen von erschreckendem Ausmaß. Die Boatpeople in Vietnam, die Maghrebiner in Süditalien und Frankreich, die Tamilen in Deutschland, die Mexikaner in den USA sind Vorhuten der Millionenmassen, die verzweifelt zu uns aufbrechen werden. Sie mit akzeptablen Mitteln an unseren Grenzen aufzuhalten, wird kaum möglich sein. So ist es an sich schon eine richtige Politik, nicht auf Abschreckung zu setzen und die gesetzlichen Zugangsmöglichkeiten einzuschränken, sondern die Wanderungsursachen in den Heimatländern der Zuwanderer zu bekämpfen. Nur, wie will man denn für alle Notleidenden in den Ländern Afrikas und Asiens in ihrer Heimat Nahrung und Ob‐ dach, Arbeit und soziale Sicherheit, Ausbildung und Fürsorge organisieren, garantieren, finanzieren? Wir schaffen es bis heute ja nicht einmal, die UNO‐Norm von 0,7 Prozent des Sozialprodukts für Zwecke der Entwicklungshilfe zu transferie‐ ren. Wenn das Problem sich mit Geld wirklich lösen ließe, gäbe es ja auch noch eher Grund für eine gewisse Zuversicht. Die Handlungsspielräume sind insoweit sicher noch nicht ausgeschöpft. Aber was den rapide wachsenden Völkern der 74
Dritten Welt vor allem fehlt, läßt sich eben nicht einfach irgendwo kaufen: umfassende Ausbildungseinrichtungen, Produktionsstätten, stabile Familien, funktionierende soziale Dienste, effiziente und ehrliche Verwaltungen, kompetente Manager. Die Schaffung ausreichender Lebensbedingungen im eigenen Lande wäre sicher das Idealprogramm gegen die drohenden Völkerwanderungen. Aber die Chance, damit ausreichende praktische Erfolge zu erzielen, ist gewiß nicht hoch zu veranschlagen. Diese Situation könnte sich dramatisch weiter verschärfen, wenn die vorausgesagten Veränderungen des Weltklimas mit ihren Folgeerscheinungen eines Anstiegs der Meeresspiegel und der Nordverschiebung der Wüsten‐ und Fruchtbarkeitsgürtel wirklich einträten. Schließlich zeichnet sich die Gefahr eines weiteren Wanderungsstroms aus dem Osten ab. Sollte es wirklich dazu kommen, daß die zerrütteten Sozialordnungen in den Ländern des ehemaligen Sowjetimperiums zusammenbrechen, so stünden wir auch da vor schier unlösbaren Problemen. Es ist fraglich, ob das gewachsene Netz der Sozialsysteme in den Aufnahmeländern einer solchen Entwicklung angepaßt werden kann. Es ist ‐ um es überaus vorsichtig zu formulieren schwer vorstellbar, daß sich gewaltsame Konflikte und mindestens partielle Zusammenbrüche der staatlichen Ordungssysteme vermeiden lassen. Vor allem ist zu besorgen, daß unter dem aktuellen Druck akuter Not‐ und Krisensituationen die überlebenswichtige Umstellung auf ökologisch verträgliche Produktions‐ und Verkehrssysteme in den Hintergrund gedrängt wird. Kurzfristig bringen die traditionellen Ausbeutungsverfahren raschere Ergebnisse. Die Verlockung, nach jeder sich bietenden Hilfe zu greifen, auch wenn das heißt, den letzten Baum abzuhacken, kann übermächtig werden. Macht es unter diesen Umständen überhaupt noch Sinn, eine auf Geburtenbeschränkung gerichtete Bevölkerungspolitik zu verfolgen? Sind die Fristen, in denen sie wirksam werden könnte, 75
nicht viel zu lang? Die Frage ist müßig. Wir haben keine Alternative. Die zentrale Rolle, die der Bevölkerungsentwicklung für alle anderen kritischen Bereiche (Klima, Ökologie, Ernährung, soziale Stabilität, Frieden) spielt, ist mit Händen zu greifen. Alle Überlebensstrategien sind zum Scheitern verurteilt, wenn es nicht gelingt, die Bevölkerungszahl so bald wie möglich zu stabilisieren. So bald wie möglich ‐ das bedeutet längere Zeit, als wir sie vielleicht haben. Alle brauchbaren Strategien zur Begrenzung der Geburtenzahl setzen kontinuierliche, langfristige Bemühungen um Aufklärung, soziale Sicherung, Emanzipation der Frauen voraus. Sie sind abhängig vom ungehinderten Zugang und der ungehinderten Verwendung empfängnisverhütender Mittel sowie von der allgemeinen Möglichkeit des Schwanger‐ schaftsabbruchs im Frühstadium. Auch die Finanzierung muß langfristig gesichert sein. Die Aufmerksamkeit, welche die Staaten und die internationalen Organisationen diesem Schlüsselproblem schenken, steht in einem grotesken Mißverhältnis zu seiner Schicksalhaftigkeit. Die für Familienplanung bestimmten Anteile an der Entwicklungshilfe liegen in Größenordnungen von ganzen ein bis vier Prozent. Eine in sich schlüssige internationale Bevölkerungspolitik existiert nicht. In der deutschen politischen Diskussion spielt das Thema überhaupt keine Rolle ‐ außer in der ängstlichen Vorsorge gegen »Wirtschaftsflüchtlinge«. Unsere Politiker reden zwar dauernd von historischen Stunden, Tagen und Jahren. Aber die eigentlichen historischen Themen haben sie nie in den Blick bekommen. Blind gegen diese Realität ist im Übrigen auch die Katholische Kirche in ihrem Kreuzzug gegen Empfängnisverhütung und Abtreibung. Dazu wird weiter unten noch etwas zu sagen sein. Die Bilanz der erfolglosen Erfolgreichen sieht entmutigend aus. Die Perspektive auf eine heillos übervölkerte Welt mit ge‐ plünderten Rohstoffvorräten, abgeholzten Wäldern, aus‐ gelaugten Äckern und gewaltigen Abfallhalden ist bedrückend.
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Die Menschen haben sich und ihre Mitgeschöpfe in eine vielleicht schon ausweglose Lage gebracht. Die Evolution pflegt ein Überwachstum bestimmter Arten durch Populationszusammenbrüche zu kompensieren. Wir sind offenbar auf dem Wege, uns als ihr Werkzeug zu diesem Ende zu betätigen. Das soll kein Verdikt, nicht das letzte Wort in dieser Sache sein. Niemand vermag alle hier zusammenwirkenden Ursachen in ihren Verknüpfungen und Wechselwirkungen so zu überblicken, daß er ein bestimmtes Ergebnis als unausweichlich bezeichnen kann. Gewiß ist aber, daß wir ‐ durchaus vermeidbarerweise ‐ tief in eine extrem kritische Lage hineingeraten sind. Es wird jedenfalls radikaler Veränderungen unseres Verhaltens bedürfen, wenn die Menschheit zu einem Gleichgewichtszustand mit dauerhafter Existenzperspektive zurückfinden soll. 10. Der Menschheit ein Ende setzen Seine persönliche Entscheidung zwischen Ja und Nein zum Leben muß jeder für sich selbst treffen. Unser Überblick über die Widersprüche und Mängel des menschlichen Existenzschicksals möge nicht im Sinne einer Werbung für das Nein zum Leben verstanden werden. Wohl allerdings soll geworben werden für einen vorurteilsfreien Prozeß des individuellen Abwägens und für den gleichen Respekt, das heißt auch die gleiche gesellschaftliche Respektierung für jede der möglichen Entscheidungen. An meiner eigenen persönlichen Position soll kein Zweifel bleiben. Ich halte die Bedingungen menschlichen Lebens für schlechthin unzumutbar. Intelligente Lebewesen mit einem Todesurteil für eine befristete Zeit ins Leben zu rufen, sie schwersten Leiden auszusetzen, ihre Existenz vom Verzehr an‐ derer Organismen abhängig zu machen, sie isoliert und ohne Perspektive als Entwicklungsform auszuprobieren und ins Leere laufen zu lassen, ihnen eine Moral zu geben ohne jede Chance, schuldlos zu bleiben, ihr Scheitern und ihren Untergang auch als 77
Kollektiv fest zu programmieren ‐ das sind Konditionen, die auch durch eine gehörige Zugabe spontaner Lebensfreude nicht annehmbar werden. Dies fordert ein Nein zum Leben geradezu heraus. Hätten meine Eltern mich fragen können und gefragt ‐ ich hätte meiner Existenz nicht zugestimmt und billige sie auch heute nicht. Meine Eltern waren überaus liebe und liebenswerte, auch sehr rücksichtsvolle Menschen. Sie sind einfach nicht auf die Idee gekommen, daß ich vielleicht nicht leben wollen möchte. Ich war dann ja auch sehr glücklich bei ihnen. Aber im Rückblick auf fast sieben Lebensjahrzehnte komme ich nun zu dem Schluß, daß sie mich lieber nicht hätten zeugen oder wenn es denn schon geschehen war ‐ daß sie mich besser hätten abtreiben sollen. Dies geht auch nicht etwa darauf zurück, daß mir ein besonders schweres Lebensschicksal beschieden gewesen wäre ‐ ganz im Gegenteil. Mein Leben ist vergleichsweise überaus günstig und glücklich verlaufen. Nur auch in dieser privilegierten Verlaufsform empfinde ich es letzten Endes nicht als zustimmungsfähig. Sich dazu zu bekennen fällt nicht ganz leicht. Die Identifikation mit der Menschheitsveranstaltung und der Schönheit der Welt, also mit dem Leben, reicht tief in den Grund des Seins. Das Bekenntnis zum Nein hat eine als sakrilegisch empfundene Komponente. Das Paradigma von der Heiligkeit des Lebens verlangt sein Recht. Hier muß nun noch einmal aufgepaßt und Mißverständnissen vorgebeugt werden. Heiligkeit des Lebens im Sinne der Unantastbarkeit des Lebens anderer Menschen ist in der Tat ein unbedingtes Gebot. Seine Respektierung muß sogar von den Kirchen, die den Begriff gern strapazieren, konsequenter eingefordert werden, als es ihrer eigenen Auslegung entspricht, zum Beispiel in Sachen Todesstrafe und Krieg. Es gibt nur wenige und exzeptionelle Rechtfertigungsgründe für die Tötung eines anderen Menschen ‐ nicht einer transzendenten »Heiligkeit« des Lebens wegen, sondern einfach, weil jeder das gleiche Grundrecht zu existieren hat wie jeder andere. 78
Das ist es dann freilich auch. Die Schöpfung, die Evolution, die Natur ‐ das macht hier nun keinen Unterschied ‐ zeigt keinerlei besondere Wertschätzung für die von ihr hervorgebrachten Lebewesen. Sie produziert sie in allen Erscheinungsformen als massenhaften Wegwerfartikel, zwar immer an der Fortexistenz des Kollektivs interessiert, aber gegenüber dem Lebensschicksal des Einzelwesens völlig gleichgültig. Irgendwelche Anhaltspunkte für eine systemimmanente Wertigkeit des indi‐ viduellen Lebens lassen sich in der totalen Freßwelt auf Gegen‐ seitigkeit, der wir angehören, nicht entdecken. So bleibe ich denn bei einem Nein zum Leben, das zwar nicht viele, aber doch einige Mitmenschen teilen werden: Es wäre besser, es gäbe die Menschen nicht. Da es sie aber gibt und sie auch nicht um ihr Leben gebracht werden sollen, fragt sich, ob dieser Nein‐zum‐Leben‐Entscheidung mehr als nur intellektuelle Bedeutung zukommt. Eine praktische Konsequenz wäre die Folgeentscheidung gegen die eigene Fortpflanzung. Hier fließen die Überlegungen nun mit einer anderen Gedankenkette zusammen. Wenn ein Nein zum Leben möglich und zulässig ist ‐ was schon im ersten Abschnitt postuliert und in diesem für die eigene Person bestätigt wurde ‐, dann muß man bei jedem Menschen, der neu geboren wird, mit der Möglichkeit rechnen, daß er später zum gleichen Urteil gelangt: Es wäre ihm lieber, er wäre nicht gezeugt und geboren worden. Damit stellte sich ganz allgemein die Frage, ob Menschen überhaupt berechtigt sind, neue Menschen ins Leben zu bringen und damit zu lebenslänglichem Leben und anschließendem Tod zu verurteilen, ohne deren Einwilligung einholen zu können. Hier wird eingewandt werden: Aber es geht doch gar nicht anders. Verneint man das Recht auf »unangefragte« Fortpflanzung, so bedeutet dies bei konsequenter Befolgung einen völligen Verzicht auf Kinder. Die Menschheit stürbe in wenigen Jahrzehnten aus. Nun, wenn sie in wenigen Jahrzehnten ausgestorben sein sollte, so wird das, wie wir alle wissen, andere Gründe haben. 79
Die Gefahr eines menschlichen Fortpflanzungsboykotts aus ethischen Gründen ist praktisch natürlich null. Trotzdem möchte ich auf der Frage nach dem Fortpflanzungsrecht beharren ‐ auch wenn den meisten Lesern diese angesichts der Beschaffenheit der Natur als eine völlig törichte und überflüssige Frage erscheinen wird. Ist es »erlaubt«, Kinder zu zeugen und zu gebären? In allen menschlichen Kulturkreisen ist diese Frage nicht nur selbstverständlich bejaht worden. Viel mehr: Die mit ungeheurer Triebstärke ausgestattete Fortpflanzung wurde und wird weithin als Aufgabe, fast schon als Ziel menschlichen Lebens betrachtet. Der Gedanke des persönlichen »Weiterlebens in den Kindern« spielt dabei ebenso eine Rolle wie die Sorge um die dauerhafte Existenz des sozialen Verbandes und seine Stärke im Überlebenskampf. Kinder bedeuteten Sicherheit und Zukunft für Familie und Sippe ebenso wie für Stamm und Volk. Das kulturgeprägte Verhalten des Menschen bleibt in dieser Frage dem unreflektiert naturhaften der Säugetierherde überaus nahe. Religiöse Glaubenselemente und Verhaltensangebote wirkten bestätigend und verstärkend in die gleiche Richtung. »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde«, heißt es in der Bibel. So ist das ganze Fortpflanzungsproblem eingebettet in ein affirmatives System natürlicher Triebhaftigkeit, überkommener kultureller Verhaltensmodelle, religiöser Überzeugungen und sozialer und wirtschaftlicher Sicherungsbemühungen. In einem anderen Zusammenhang als dem ganz neuen der Katastrophenabwehr angesichts der Bevölkerungsexplosion ist das Recht auf (fast schon die Pflicht zu) Nachkommenschaft in der menschlichen Geschichte bisher nie in Frage gestellt worden. Vielleicht typisch für die Haltung, die auch unter der kleinen Minderheit derer vorherrscht, welche die Problematik des zu‐ stimmungslosen Ins‐Leben‐Setzens wenigstens erkennen, ist die nachfolgende Äußerung von Hans Jonas:
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»Was eigentlich berechtigt uns, einem Wesen, indem wir es in die Welt setzen, das Dasein zuzumuten ‐ einem Wesen das sich an der Wahl nicht hat beteiligen können? Es gibt im Zeugen und Hervorbringen eines Kindes eine Art Unschuld. Denn nicht nur schenken wir dem Kinde das Dasein, wir erlegen es ihm auch auf ‐ ungefragt. In der Voraussetzung, daß dieses sein eigenes Leben wollen wird, daß wir also ein Leben in die Welt setzen, das sich selber bejaht. Das ist in einem gewissen Sinn eine ungeheure Präsumtion. Jeder muß darauf gefaßt sein, auf diesen Schrei, der aus dem Munde des Propheten Jeremias gekommen ist: >Mutter, warum hast Du mich geboren? < Die Antwort darauf kann nur sein: Weil es die Ordnung der Dinge in der Natur so will, daß es nur unter dieser Bedingung Menschen geben kann: allein mit dem Wagnis, daß man sie eben zum Menschsein nicht nur befähigt, sondern auch verurteilt. « Jonas sieht die ganze Tragweite des Problems, ohne eine Kon‐ sequenz daraus zu ziehen. Daß es Menschen geben soll ‐ auch wenn es sie nur unter dem »Wagnis« der Lebensverurteilung geben kann ist für ihn unabdingbar. Er würde die Zustim‐ mungsfrage an die Ungezeugten sogar dann nicht stellen, wenn sie möglich wäre. Man lese den obigen Text einmal so, daß man im zweiten Satz das Wort Unschuld durch das gewiß nicht weniger naheliegende Urschuld ersetzt, und man streiche im folgenden die Worte »in einem gewissen Sinn« ‐ dann wird deutlich, auf wie dünnem Eis sich solches Argumentieren vollzieht. Die Alternative, dann eben künftig auf Menschen zu verzichten, wird nicht in Erwägung gezogen. Allerdings, was die »Ordnung der Dinge in der Natur« angeht, auf die Jonas sich beruft, so ermöglicht sie es jedermann mühelos, solcher Bedenken wegen auf Nachkommen ganz zu verzichten. Viele Menschen praktizieren einen derartigen Verzicht aus wesentlich trivialeren Gründen. Wäre es also auf der Grundlage der Menschenrechte nicht endlich an der Zeit zu proklamieren: Keiner darf zum Leben gezwungen werden. Wer das Recht hat, nicht getötet zu werden,
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darf nicht geboren werden, da er durch die Geburt zum Sterben bestimmt wird. Dies scheint mir eine Überlegung zu sein, die durch ihre Inpraktikabilität nicht einfach hinfällig wird. Auch hier gibt es nur die höchstpersönliche Antwort und Entscheidung jedes einzelnen. Für mich lautet sie eindeutig, daß ich mich heute nicht mehr für berechtigt hielte, ein Kind zu zeugen. Wer nun einmal zu dem Ergebnis gekommen ist, es wäre besser, daß es die Menschen nicht gäbe, als daß es sie gibt, insbesondere wer erkannt hat, daß er ‐ gefragt ‐ seine Zustimmung zur eigenen Existenz verweigert hätte, der kann dieser Forderung kaum ausweichen. Die Verantwortung dafür, neue »unschuldige« Menschenwesen ins Leben zu setzen, sie ihrerseits schuldig werden zu lassen, sie neben unsicheren Freuden vielen sicheren Leiden und dem Todesschicksal auszuliefern, ist zu gewaltig, als daß man sie wohlbedacht übernehmen könnte. Allerdings, was folgt daraus? Gilt der elementare Wunsch nach Elternschaft, also nach eigenen Kindern, nichts dagegen? Und was heißt »unerlaubt«? Zwangssterilisierung? Strafbarkeit von Geburten? Was den Kinderwunsch angeht ‐ er ist sicher einer der dominanten Triebe, der im Heranwachsen eines Kindes vom hilflosen Säugling über das niedliche Kleinkind zum verständigen, lebenseifrigen jungen Menschen viele Chancen der Elternbefriedigung bietet. Nicht selten geht das freilich auch gründlich schief. Auf lange Sicht gibt es die Möglichkeit lebenslänglicher vertrauter Freundschaft zwischen Eltern und Kindern ebenso wie das Risiko dauerhafter Entfremdung oder gar Feindschaft. Es ist also durchaus offen, ob der erfüllte Wunsch nach Kindern hält, was die Eltern sich von ihm versprechen. Vor allem: Ein Wunsch nach Kindern ist eine Sache, ein Recht auf Kinder eine andere. Letzteres wäre ja wohl nur als Bestandteil des Selbstentfaltungsanspruchs denkbar. Aber ist das nun zulässig: Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung durch Ins‐ Leben‐Setzen eines anderen Menschen, dem dies eigentlich 82
nicht zugemutet werden sollte? Offensichtlich nicht, wenn der Satz gilt, daß niemand ungefragt zum Leben gebracht werden darf. Die Befriedigung des elterlichen Aufzuchttriebes, eines das ganze tierische Leben beherrschenden Meisterinstruments der Evolution, ist da doch ein deutlich nachrangiges Anliegen. Kinder sind schließlich nicht dazu da, Bedürfnisse ihrer Eltern zu befriedigen. Und wie steht es mit gesellschaftlichen Maßnahmen zur Geburtenverhinderung? Wer Fortpflanzung für »unerlaubt« hält, müßte ja wohl für Gegenmaßnahmen plädieren. Wenn ich um des Kindesschicksals willen mich selbst als nicht dazu berechtigt befinde, Nachkommen zu haben, dann kann ich ein solches Recht ‐ wiederum um der Kinder willen ‐ anderen nicht zugestehen. Doch ein solcher Schluß ließe unberücksichtigt, daß die behauptete Unerlaubtheit der Fortpflanzung auf einem Werturteil, dem Nein zum Leben, beruht, das nicht Bestandteil der gesellschaftlich sanktionierten humanistischen Sittlichkeit ist. Die für die Gültigkeit aller ethischen Postulate unerläßliche kulturelle Akzeptanz der zugrunde liegenden Wertorientierun‐ gen ist in unserem Fall nicht gegeben. Es erscheint auch als höchst unwahrscheinlich, daß sich ein Prinzip moralische Geltung erwerben kann, das darauf abzielt, die Subjekte des moralischen Systems insgesamt abzuschaffen. Ein Nein zum Leben bleibt für den, der es ausspricht, selten ohne persönliche Folgen. Natürlich braucht er sich nicht gleich selbst zu töten und wird es in aller Regel auch nicht tun. Er unterliegt dem kreatürlichen Lebenstrieb nicht weniger als jeder andere. Aber er könnte sich vielleicht wirklich dazu entschließen, keine Kinder ins Leben zu setzen. Schon ein solcher Entschluß kann zu gesellschaftlichen Konflikten führen. Empfängnisverhütung und Abtreibung werden keineswegs allgemein toleriert. Das gleiche gilt für den Vollzug eines wohlüberlegten Entschlusses zur Selbsttötung. Hier werden moralische und
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praktische Hürden ausgebaut, die jeder grundrechtlich garantierten Entscheidungsautonomie Hohn sprechen. Zu diesen mit der Grundentscheidung zum Leben eng verbundenen Fragen sollen in den folgenden Abschnitten einige Überlegungen und Forderungen vorgetragen werden. 11. Empfängnisverhütung und Abtreibung Sowohl bei der Empfängnisverhütung wie beim Schwangerschaftsabbruch handelt es sich um Schlüsselstrategien für gleich zwei Hauptziele im Sinne der hier vorgetragenen Thesen: das fundamentale Ziel, niemanden ohne seine Zustimmung ins Leben zu setzen, und das zeitbedingt‐aktuelle, die Wucht des exponentiellen Bevölkerungswachstums, wenn irgend möglich, etwas abzumildern. Die Zusammenhänge sind allgemein bekannt und als solche unbestritten. Ohne die kreuz zugartige Kampagne der Römisch‐katholischen Kirche würde man nicht viele Worte darüber verlieren, sondern alles daransetzen, die Geburtenzahlen durch den Einsatz jedes sich bietenden humanen Mittels zu verringern. Daß es zu sehr unterschiedlichen Meinungen über die Zulässigkeit der Abtreibung kommt, läßt sich allerdings auch von Nichtgläubigen mühelos nach vollziehen. Hier geht es ja in der Tat um die Beendigung menschlichen Lebens ‐ wenn auch nicht um die Beendigung des Lebens von Menschen. Dagegen fällt es schwer, das kirchliche Verbot, empfängnisverhütende Mittel anzuwenden, auch nur intellektuell zu verstehen. Das kann nicht daran liegen, daß Papst Johannes Paul II. sich nicht oft und eindringlich genug in dieser Sache geäußert hätte. Er hat das völlige Verbot aller empfängnisverhütenden Mittel zwar nicht erlassen. Dies stammt aus einer Enzyklika Pauls VI. Doch er hat es mit besonderem Nachdruck immer wieder als besonders wichtig hervorgehoben und wortreich erläutert. Nur, warum Empfängnisverhütung »als Akt immer innerlich unanständig (disonesto)« sein soll, das bedürfte doch einer plausiblen Begründung und nicht der Verweisung darauf, 84
daß Eheleute »jene Erleuchtung finden« können, »die ihnen erlaubt, mit göttlicher Gnade jene unvermeidlichen Schwierigkeiten zu über‐ winden, die sie in wenig günstigen sozialen Umständen und in einer von leichtfertigem Hedonismus geprägten Umwelt antreffen«. Nicht einmal die sogenannten natürlichen Methoden der Empfängnisvermeidung dürfe man »als >erlaubte< Variante einer Wahl gegen das Leben praktizieren; dies wäre im Grunde ähnlich der Empfängnisverhütung«. Die Kennzeichnung des Überbevölkerungselends mit seinen 40000 Tag für Tag verhungernden Kindern als »wenig günstige soziale Umstände« kann man nur als Ergebnis einer erschrek‐ kenden Wirklichkeitsverdrängung deuten. Das ist schlimm, aber davor sind auch höchste Priester nicht gefeit. Wirklich bestürzend ist es, daß die gesamte Kirchenhierarchie sich solchem ‐ mit Verlaub ‐ mörderischen Unsinn, wenn auch manchmal widerstrebend, fügt. Sie lädt damit schwere Schuld auf sich und verliert jede Glaubwürdigkeit, wenn sie an anderer Stelle auf die Heiligkeit des Lebens pocht. Nun könnte man diesem Kirchenkampf gegen Empfängnisverhütung mit einer gewissen Gelassenheit zusehen, wenn es sich nur um die Verhütungspraxis in den bevölkerungsstabilen Industrieländern handelte. Hier empfinden auch kirchentreue Katholiken in ihrer großen Mehrheit solche Lehre nicht mehr als verbindlich und ignorieren das Verbot weitgehend. In den geburtenstarken Entwicklungsländern sieht die Sache aber anders aus. Hier haben die Bemühungen um die Akzeptanz von Programmen zur Familienplanung ohnehin schon mit dem Widerstand traditionalistischer Vorstellungen und Praktiken zu kämpfen. Soziale Gründe für eine große Kinderzahl kommen hinzu. Wenn dann eine vielfach motivierte Ablehnung von allen Maßnahmen der Empfängnisverhütung von der einflußreichen katholischen Kirche mitgetragen wird, so müssen die Auswirkungen beträchtlich sein. Das gilt vor allem für eine Reihe afrikanischer Länder und Südafrika. Geradezu dramatisch waren 85
die Auswirkungen auf den katholischen Philippinen, wo die Familienplanung zeitweilig zum Erliegen gekommen ist. Ihren stärksten Erfolg hat die katholische Kirche allerdings in den USA erzielt, die in der Carter‐Ära erhebliche internationale Anstrengungen zur Familienplanung unternommen hatten. Die Reagan‐Administration hat hier 1984 auf der zweiten Weltbevölkerungskonferenz in Mexiko aus opportunistischer Rücksichtnahme auf den konservativen Flügel der Republikaner eine Kehrtwendung vollzogen. Alle finanziellen Zuwendungen an die Bevölkerungsorganisation der Vereinten Nationen und andere international tätige Institutionen der Familienplanung wurden gestrichen, soweit die Empfänger sich nicht zu einem völligen Verzicht auf die Unterstützung oder Duldung von Abtreibungen verpflichteten. Dazu waren diese weder in der Lage, noch bereit. So wurde den weltweiten Bemühungen um die Eindämmung der Bevölkerungsexplosion ein Schlag versetzt, der bis heute unverändert wirksam ist. Daß die Kirchenkampagne gegen Mittel zur Empfängnisverhütung sich auch auf die immer wichtiger werdende Eindämmung von AIDS negativ auswirkt, sei nur am Rande erwähnt. Doch es ist nicht zu erwarten, daß der polnische Papst noch zu irgendwelchen Einsichten zu gewinnen wäre. Nach Lage der Dinge müssen wir uns mit der Hoffnung begnügen, daß Paul Johannes II. einen Nachfolger bekommen möge, der die unselige Position seiner Kirche in der Frage der Empfängnisverhütung revidiert. Bei der Abtreibungsfrage wird man einen Sinneswandel dieser Art kaum erhoffen dürfen. Hier hat sich die Kirche ‐ übrigens auch mit größerer Resonanz unter den Gläubigen ‐ sehr festgelegt: Schon die Zygote, das gerade befruchtete Ei, sei individuelles menschliches Leben, das nach Gottes Wille unverfügbar sei. Zwar lassen sich auch in Rom beträchtliche Unterschiede zwischen einer Zelle und einem aus Zellen bestehenden Menschen nicht übersehen. Aber, so lautet die Begründung, der Übergang sei stufenlos und verbiete damit 86
differenzierende Einteilungen. In der Potentialität der Zelle zur Entwicklung des ausdifferenzierten Menschen sei ihre uneingeschränkte Schutz‐Würdigkeit begründet. Daher sei jede Abtreibung Mord. Dem folgt im Prinzip übrigens auch die gemeinsame Erklärung aller christlichen Kirchen von 1989. Diese Argumentation lebt mehr von ihrem Pathos als von der Kraft ihrer Logik. Denn es gibt natürlich zwischen der Empfängnis und der Geburt eine ganze Reihe von Entwick‐ lungsstadien, deren Kriterien sich hinreichend genau definieren und zuordnen lassen, um Rechtsfolgen daran zu knüpfen. Gewiß vollzieht sich die Entwicklung vom befruchteten Ei über die verschiedenen Phasen der Fötenbildung und der Kindheitsphasen kontinuierlich, sowohl innerhalb wie außerhalb des Mutterleibes. Man kann Tag und Stunde des Auftretens bestimmter Schlüsseleigenschaften nicht festlegen. Aber man kann für jede dieser Eigenschaften zwischen solchen Stadien unterscheiden, in denen sie mit Sicherheit noch nicht existieren, solchen, in denen sie sich entwickeln können, und solchen, in denen sie mit Sicherheit vorhanden sind. Man kann den Stimmbruch nicht datieren. Aber man weiß genau, bis wann er noch nicht stattgefunden hat und ab wann er eine unwiderrufliche Tatsache ist. Die Gradualität der Übergänge im organischen Leben schließt also die Aufeinanderfolge markant verschiedener Entwicklungsetappen keineswegs aus. Erst recht hebt sie die essentielle Verschiedenheit einer Urzelle oder einer frühen Zellkonfiguration von homo sapiens von einem voll ausgebildeten, empfindenden, denkenden, zentral gesteuert handelnden Menschen nicht auf. So ist die Behauptung der Kirchenerklärung, daß der Entwicklungsprozeß der Leibesfrucht »einen kontinuierlichen Vorgang darstellt und keine einsichtig zu machenden Einschnitte aufweist, an denen etwas Neues hinzukommt«, in ihrer zweiten Aussage schlicht falsch. Etwas »Neues«,
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das auch vom Laien als konstitutive menschliche Funktion angesehen wird, ist z. B. das Einsetzen der Hirntätigkeit beim werdenden Menschen. Nun hat Hans‐Martin Sass (Medizin und Ethik) vorgeschlagen, den Lebensschutz des Fötus mit dem frühestmöglichen Beginn des Hirnlebens einsetzen zu lassen. Dieses hängt von der Ausbildung der Synapsen ab, deren Entwicklung in der späteren Großhirnrinde frühestens am 57. Tag nach der Empfängnis beginnt. Die damit verbundene Vernetzung der Nervenzellen ist Voraussetzung für die neuronale Kommunikation und damit für die biologische Funktionsfähigkeit des Gehirns. Sass schlägt vor, mit dem Beginn der Synapsenbildung von »Hirnleben« zu sprechen und darin den Beginn des personalen Lebens zu sehen. Er zieht die Parallele zum »Hirntod«, der in der Medizin die Herz‐Kreislauf‐Definition für die menschliche Todesfeststellung abgelöst hat. Wenn die Gehirntätigkeit zum Stillstand gekommen ist, wird das personale Leben als erloschen angesehen. Nach diesem Vorschlag sollen also Beginn und Ende des rechtlich geschützten Lebens an das gleiche Kriterium geknüpft werden: an das Vorhandensein wenigstens minimaler Hirnfunktionen. Damit wäre Klarheit darüber geschaffen, daß der Fötus in der Frühphase seiner Entwicklung am allgemeinen grundrechtlichen Lebensschutz keinen Anteil hat. Praktisch wären damit die weitaus meisten Problem‐ und Konfliktfälle gelöst. Es bedürfte vor einer Schwangerschaftsunterbrechung innerhalb der 57‐ Tage‐Frist keiner besonderen Pflichtberatung oder Indika‐ tionsstellungen mit allen ihren Demütigungen und Unzumut‐ barkeiten für die schwangere Frau. Ihre Entscheidung über die Abtreibung ist in dieser Frühphase wirklich eine Entscheidung über den eigenen Körper, nämlich darüber, ob sie ihn für die Ausbildung eines bisher nur potentiell vorhandenen neuen Menschen zur Verfügung stellen will oder nicht. Eine Abwägung konkurrierender Lebensinteressen zwischen Mutter und ungeborenem Kind entfällt in diesem Stadium mangels eines ungeborenen Kindes. 88
Damit würde auch endgültig jener absurde Anspruch des befruchtenden Mannes auf Austragung »seines Kindes«, der schon ernsthaft geltend gemacht worden ist, hinfällig. Nach Ablauf der ‐ angenommenen 57‐tägigen ‐ Frühphase der Schwangerschaft, also mit dem möglichen Beginn des Hirnlebens, setzt auch eine gewisse Schutzbedürftigkeit des ungeborenen Lebens ein. Von da an wird die Interessenkonkurrenz zwischen dem Fötus mit seinem kreatürlichen Lebensimpuls und der schwangeren Frau, die das werdende Kind ‐ aus welchem Grunde auch immer ‐ nicht austragen will, relevant. Unstreitig dürfte es sein, daß eine Schwangerschaft, die mit einer Lebensgefahr für die Frau verbunden ist, jederzeit unterbrochen werden darf. Ob es neben dieser medizinischen Indikation auch andere Gründe geben soll, eine Schwangerschaft abzubrechen, und unter welchen Voraussetzungen das geschehen darf, gehört zu den am heftigsten umstrittenen Themen unserer Gesellschaft. Dabei sind auf allen Seiten Wertungen im Spiel, die sich einer argumentativen Zusammenführung in hohem Maße widersetzen. Der Forderung nach einem rigorosen, strafrechtlich geschützten Abtreibungsverbot stehen eine erbitterte Ablehnung aller staatlichen Einmischung in den privaten Intimbereich und eine verbreitete moralische Akzeptanz der Abtreibung gegenüber. Wer die religiöse Position von der Heiligkeit des Lebens vertritt, wird dem Lebensschutz für den Fötus grundsätzlich Vorrang vor den Interessen der Frau am Abbruch der Schwangerschaft zuerkennen. Nur setzt das ein behauptetes Wissen voraus, das keineswegs allen Zeitgenossen einleuchtet: daß Gott nämlich will, daß jeder Fötus ausgetragen wird, auch ohne Rücksicht auf vielleicht vitale entgegengesetzte Wünsche der schwangeren Frau, ohne Rücksicht auf vielleicht wohlbegründete Bedenken gegenüber dem voraussichtlichen Lebensschicksal des erwarteten Kindes. Warum aber sollte Gott, in dessen Schöpfungsplan die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs und der real auftretende, dringliche Wunsch nach einem solchen Schritt doch 89
ihren Platz gefunden haben, der Schwangeren das Ausführungsrecht von vornherein versagt haben? Gewiß, wir erkennen das Tötungsverbot des Dekalogs als Kernsatz der humanistischen Sittlichkeit an. Aber viele von uns, wahrscheinlich die meisten, tun dies nicht, weil sie darin ein von Gott erlassenes Gebot sehen, sondern weil dieses Prinzip die elementare Grundlage jedes menschlichen Umgangs miteinander ist. Ohne gegenseitigen Respekt vor dem Leben, der Würde, dem Verfügungsrecht aller anderen Menschen gibt es keine humane Umwelt, in der wir gedeihen können. Die in der Praxis allzu häufigen Verletzungen dieser Grundsätze widerlegen ihre Geltung nicht, sondern verdeutlichen sie nur. Es bedarf also keiner göttlichen Weisung, um das Tötungsverbot verbindlich zu machen. Es ist selbstverständlicher Teil unserer sozialen Sittlichkeit, Ausfluß unseres aller ureigenen Interesses. Die Frage nach dem Lebensinteresse mag uns auch beim Abtreibungskonflikt hilfreich sein. Was die Frau will, weiß sie: kein Kind. Das kann ein der Bequemlichkeit entsprungener Wunsch sein ‐ ebenso aber auch ein bitterer Verzicht oder die wohlbegründete Verfolgung anderer Lebenspläne. Wird sie gezwungen, die Leibesfrucht auszutragen, so wird sie damit in veränderte Lebensbedingungen von oft unabsehbarer Tragweite und in eine Verantwortung hineingestoßen, die sie nie gewollt hat oder jedenfalls inzwischen nicht mehr will, denen sie nicht gewachsen ist oder sich nicht gewachsen fühlt ‐ die sie jedenfalls auch um den Preis der mit jeder Abtreibung verbundenen emotionalen und sozialen Belastungen ablehnt. Für die Frau trägt die Entscheidung für oder gegen ein Kind lebensprägenden, existentiellen Charakter. Letzteres kann man ebenso für das Objekt der Entscheidung, den Fötus, sagen. Doch wird hier mit der identischen Formulierung etwas ganz anderes ausgesagt. Für den Fötus bedeutet die vorgeburtliche Tötung zwar das Abschneiden seiner Lebenschance. Es ist dies aber eine Perspektive, von der er nichts weiß und die ihm im Sinne menschlicher Schicksalhaftigkeit
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nichts bedeuten kann. Es fehlt ihm das Bewußtsein seiner selbst, es fehlen ihm Wünsche und Erwartungen, es fehlt ihm jede Lebensmotivation, ausgenommen das automatisch‐ natürliche Funktionieren seines Organismus. So stehen gegeneinander die realen Lebensgüter der Schwangeren, ihr gewußtes Schicksal, und die bewußtlose Potentialität des Fötus. Diesem den Vorrang einzuräumen wäre eine Entscheidung, die im Rahmen der üblichen Güterabwägung unseres Rechtssystems nicht begründbar ist. Nur wer aus religiöser Überzeugung die Höchstwertigkeit jeder Form von menschlichem Leben postuliert, kann gegen die Schwangere votieren. Auch wer sich persönlich zu dieser Wertung bekennt, sollte allerdings überlegen, ob er ihre Durchsetzung in der Gesellschaft durch staatliche Verbote und Strafandrohungen erzwingen will. Abgesehen davon, daß solche Versuche aller Erfahrung nach von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, sollten im weltlich organisierten Staat religiöse Überzeugungen nicht in hoheitliches Handeln überführt werden. Natürlich brauchen wir für unser komplexes Zusammenleben und seine Reglementierung einen Orientierungsrahmen ethischer Normen, in die auch subjektive Wertungen eingehen. Zum Gesetz sollten wir aber nur machen, worüber ein rational begründbarer Grundkonsens besteht. Das ist hier sicher nicht der Fall. Schließt man sich diesen Überlegungen an, so bedeutet das für unser Problem die völlige Freigabe der Abtreibung bis zum Zeitpunkt der Geburt. Während der gesamten Dauer der Schwangerschaft ist die Interessenkonkurrenz zwischen der Schwangeren und dem Fötus in ihren relevanten Elementen unverändert. Tatsächlich gilt das an sich sogar für einen beschränkten ersten Zeitraum nach der Geburt. Trotzdem muß man insoweit zu einem anderen Ergebnis kommen. Norbert Hoerster, der das Gesamtthema luzide behandelt (Abtreibung im säkularen Staat), hat überzeugend dargelegt, warum der strafrechtliche Lebensschutz mit dem Zeitpunkt der Geburt einsetzen sollte. 91
Eine letzte Überlegung ‐ oder Frage ‐ an die, deren Empfinden sich gegen die Freigabe der Abtreibung spontan und heftig sträubt: Wäre es denn wirklich der falsche Weg, wenn in einer heillos überbevölkerten Welt nur die Kinder geboren werden, deren Mütter sie wollen? Allerdings ist den Kritikern der Schwangerschaftsunterbrechung darin recht zu geben, daß der Eingriff in jedem Fall ein Übel für die Frau darstellt. Im harmlosesten Fall ist sie eine lästige Komplikation. Aber für eine Frau, die sich schon mit der Schwangerschaft und der Perspektive auf ein Kind identifiziert hat, möglicherweise längst vor der Befruchtung, kann sich der Abbruch doch als ein körperlicher und seelischer Eingriff darstellen, den sie nicht ohne Schmerzen überwindet. Hier, im psychologischen Bereich, im Erlebnisfeld der Schwangeren, gilt in der Tat, daß sie das werdende Leben vom Tag der Emp‐ fängnis an als etwas für sie höchst Relevantes zu erfahren ver‐ mag, das mit dem Beginn der Gehirntätigkeit des Fötus nicht das geringste zu tun hat. Die Vorstellung dieses »keimenden Lebens«, das Bewußtsein, daß hier ein Kind sich zu entwickeln angefangen hat, ihr Kind, ein mögliches Objekt von Liebe und Lebensbedeutung, das kann den dann doch gefaßten ‐ wie auch immer motivierten ‐ Entschluß zur Abtreibung zu einer tief negativen Erfahrung machen. Wenn man überhaupt Abtreibungsverbote in Erwägung zieht, so wären sie also nicht unter dem Aspekt des Schutzes von Menschenleben, sondern des Schutzes von schwangeren Frauen vor möglichen eigenen Verlust‐ oder Schulderfahrungen zu diskutieren. Daraus läßt sich nun freilich keine hinreichend starke Begründung für einen so schwerwiegenden Eingriff in die persönliche Rechtssphäre aller Frauen gewinnen, wie ihn ein Abtreibungsverbot darstellen würde. 92
12. Selbstmord Jedes Mal, wenn ein Mensch sich selbst tötet, geschieht etwas Schreckliches ‐ noch über die Schmerzlichkeit jedes anderen Sterbens hinaus. Schrecklich ist die Entscheidung des Ich gegen seine weitere Existenz, der Akt der Verwerfung des eigenen Lebens aus der Mitte des Selbst heraus. Von dort, wo man immer eine ungefragt‐totale Loyalität zu sich selbst wußte, im Innersten des Ich, kommt jetzt die vernichtende Tat. Das Ausgelöschtwerden von eigener Hand ist ein Stück Selbst‐Verrat ‐ denn auf sich selbst war »ein Leben lang« Verlaß gewesen. Es stimmt schon, wenn wir diesen Tötungsakt einen »Selbstmord« nennen. Die Kreatur in uns bäumt sich dagegen auf. Es ist wahrlich schrecklich, Hand an sich zu legen. Zugleich ist der Akt die äußerste Form der Selbstbehauptung, eine letzte Manifestation eigener, autonomer »Lebens«gestaltung. Wo die möglichen Bedingungen eines Weiterlebens, aus welchen Gründen auch immer, als unerträglich erscheinen, ist die Entscheidung für den selbst gegebenen Tod ein letzter Akt der Freiheit. Sein Leben wird der Mensch ohnehin verlieren. Die Wahl steht nicht zwischen Tod und Leben, sondern zwischen Tod und Tod bei unterschiedlichen Modalitäten. Es ist eben doch kein Selbstverrat des Täters; der Verrat kommt von außen. Dem Menschen wird im Gegenteil mit dem eigen gewählten Ende noch eine Kostprobe von Sieg zuteil. Der Freitod, so formuliert Jean Amery, ist ein Privileg des Humanen. Die psychologischen Hürden vor jedem Akt der Selbsttötung sind hoch. Der kreatürliche Lebenstrieb, tief eingepflanzt, muß schon ernsthaft getroffen sein, um den äußersten Schritt zu tun. Eine einfache Mißbilligung der Welt und ihrer Spielregeln mag aus guten Gründen zum Nein zum Leben führen, zur Einschätzung, daß es besser keine Menschen gäbe, zur Verweigerung der nachträglichen Einwilligung zur eigenen Zeugung und Geburt, zur Ablehnung sogar der eigenen 93
Fortpflanzung ‐ aber sie führt nicht schon gleich dazu, daß man sich selbst ums Leben bringt. Anlässe und Beweggründe für Selbsttötungen sind so unter‐ schiedlich, wie Menschen und Lebensumstände vielfältig sind. Ein ganzer Wissenschaftszweig, die Suizidologie, widmet sich der Beobachtung, Beschreibung, Analyse und Kategorisierung der Selbsttötung und der Behandlung potentieller oder ge‐ scheiterter Täter. Allen Fällen eignet als Gemeinsames die Tat selbst, der Absprung aus dem Leben. Ansonsten müssen die vielfältig verschiedenen Umstände des Geschehens auch zu Unterschieden bei der sozialen Einordnung und Reaktion auf verschieden gelagerte Fallgruppen führen. Die gesellschaftliche Handhabung des Selbsttötungsproblems ist in mehr als einer Hinsicht unzulänglich. Zunächst jedoch einige allgemeine Bemerkungen zur Einordnung des Selbstmords. Er ist erlaubt ‐ aber er wird unterschwellig noch weithin abgelehnt. Er gilt eher als die Handlung eines Kranken, Verwirrten denn als die eines verantwortungsvoll Handelnden. Man muß die Tat zu verhindern suchen, darf sie keinesfalls erleichtern oder fördern. So etwa könnte man den gegenwärtigen Zustand vielleicht kennzeichnen. Dabei läßt sich wohl eine Entwicklungstendenz erkennen, die von striktester Mißbilligung und Ächtung der Tat zu nach und nach verständnisvollerer Tolerierung führt. In der europäischen Geistesgeschichte hat die Ablehnung der Selbsttötung eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition. Die freundlichen Stoiker billigten sie zwar uneinge‐ schränkt. Aber schon die gestrengeren Platon und Aristoteles standen ihr kritisch gegenüber. Im frühen Christentum befand Augustinus, und setzte sich mit dieser Lehre durch, daß das Tötungsverbot des Dekalogs sich auch auf die Selbsttötung beziehe. Thomas von Aquin schließlich vollendete das Lehrge‐ bäude mit der These, das Leben sei ein Geschenk Gottes, über das der Mensch nicht verfügen dürfe. Das ist zwar nicht recht schlüssig. Denn mit Geschenken kann der Empfänger eigentlich machen, was er will, einschließlich der Rückgabe ‐ zumal wenn 94
er gar nicht gefragt worden ist, ob er beschenkt werden wollte. Aber an dieser Lehre hält die katholische Kirche bis heute im Grundsatz fest. Die Position des Protestantismus scheint etwas offener zu sein. In der gemeinsamen Erklärung von 1989 heißt es zunächst: »Im Glauben daran, daß Gott das Leben jedes Menschen will, ist jeder mit seinem Leben, wie immer es beschaffen ist, unentbehrlich. «Immerhin wird die Selbsttötung nicht mehr als Sünde gestempelt und verfolgt. Es heißt in der Erklärung dann weiter: Der Christ »kann diese Tat im letzten nicht verstehen und nicht billigen ‐ und kann dem, der so handelt, seinen Respekt doch nicht versagen«. Die bei uns über viele Jahrhunderte gewachsenen und gefestigten gesellschaftlichen Wertungen ändern sich aber eben doch nur allmählich. So ist das strafrechtliche Verbot der Selbsttötung zwar schon im vorigen Jahrhundert gefallen. Aber die gesetzliche Reglementierung einiger mit der Selbsttötung eng zusammenhängender Probleme ‐ Sterbehilfe, Interventionsverpflichtung u. a. ‐ ist noch geprägt von der historischen Mißbilligung der Selbsttötung. Hier sind Änderungen zu fordern, für die eine vorbehaltlose soziale Akzeptanz der Tat selbst erst einmal als Voraussetzung zu erreichen ist. Deren Schwierigkeiten werden schon beim sprachlichen Umgang mit dem Thema deutlich. Ich habe im bisherigen Text für die Bezeichnung der Tat in der Regel das etwas umständliche, aber relativ wertneutrale Wort Selbsttötung verwendet. Jean Amery hat sich in seinem streitbaren Diskurs »Hand an sich legen« von 1976 aus ähnlichen Gründen durchgehend für »Suizid« (Suizidant, Suizidär) entschieden. Aber dieses keimfreie Medizinerlatein schiebt sich allzu technisch verharmlosend vor die brutale Wirklichkeit. »Freitod« klingt mir etwas zu bekennerhaft‐programmatisch. »Selbstmord« ‐ das ist es! Darin finden wir die ganze Erbschaft von Sünde und Verworfenheit sowie von gesellschaftlicher Ächtung noch
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inbegriffen ‐ weshalb die Vorkämpfer für eine Respektierung der Selbsttötung den Begriff denn auch entschieden ablehnen. Damit haben sie umgangssprachlich sicher recht. Vom eigentlichen Sprachsinn freilich scheint mit die Schrecklichkeit und Gewaltsamkeit dessen, was da geschieht, durch den Begriff »Mord« schon angemessen gekennzeichnet zu sein. Wichtiger als die sprachliche Behandlung ist natürlich die vorbehaltlose, explizite Anerkennung des jedermann zuste‐ henden Rechts auf Selbsttötung. Die Kirchen mögen an ihrer Ablehnung festhalten und die Selbsttötung als unrechten, gegen den Willen Gottes gerichteten Akt bezeichnen. Niemand wird ihre Mitglieder daran hindern, die Selbsttötung für sich persönlich als verbotenen Weg zu betrachten. Aber anders als in der Abtreibungsfrage streben die Kirchen wenigstens nicht danach, daß wieder staatliche Verbote und Sanktionen gegen die Selbsttötung eingeführt werden. Neben den religiösen sind allerdings auch sittliche Einwendungen gegen die Selbsttötung vorgebracht worden, die ernst genommen werden müssen. Gibt es eine Pflicht zum Leben, die aus sozialen Bindungen abzuleiten ist? Wer auch immer seine Selbsttötung erwägt, ist ja keine von allen Mitmenschen isolierte Einzelperson, sondern steht in einem vielfachen Geflecht engerer oder lockerer Beziehungen zu anderen. Seine Tat wird die meisten davon nicht ernsthaft betreffen. Die meisten Menschen bedeuten einander nicht viel über die Gewohnheit hinaus. Sie nehmen das Verschwinden eines der ihren mit großer Gelassenheit hin. Aber da, wo eine Lebensgemeinsamkeit, eine bedeutungsvolle Liebes‐ oder Partnerschafts‐ oder Verwandtschaftsbeziehung besteht, kann auch für den anderen ungeheuer viel, bis hin zur eigenen Existenz, auf dem Spiel stehen. Im Übrigen sind auch banalere materielle Erwägungen anzustellen. Die Selbsttötung kann für andere einen tiefen Einschnitt in die äußeren Lebensbedingungen bedeuten, z.B. zum Verlust des Familieneinkommens führen und zahllose 96
andere Einzelprobleme aufwerfen. Solche Auswirkungen mögen in der Tat dazu führen, daß jemand sich so stark an Lebens‐ verpflichtungen gegenüber anderen gebunden sieht, daß er sich außerstande fühlt, von seinem Recht auf Selbsttötung Gebrauch zu machen. Aber weder berauben sie ihn seines Rechtes an sich, noch ist aus solchen Fällen gar eine allgemeine Lebenspflicht aus sozialer Verantwortung abzuleiten. Grausamkeiten an Menschen, die uns lieben oder brauchen, begehen wir auch als Lebende in reichem Maße, ohne daß dies unser Recht auf Leben beeinträchtigen könnte. Rücksichtnahmen, freiwillige Verzichte mögen auf der Grund‐ lage des Liebesgebots noch so dringlich sein, die Entscheidung über das eigene Leben bleibt im Kern immer offen und eines jeden von ihm selbst zu verantwortende eigene Sache. Juristisch gesehen, ist das Recht auf den eigen bestimmten Tod eine Ausprägung des Verfassungsrechts auf Achtung der Menschenwürde. Es gehört zum grundrechtlich geschützten Kernbereich der individuellen Entfaltungsfreiheit. Dies, sollte man meinen, sei selbstverständlich. Tatsächlich ist das Recht auf Selbsttötung in der Bundesrepublik juristisch nach wie vor umstritten. Es wird von der herrschenden Lehre verneint und in der medizinischen Praxis weithin mißachtet. Das Leben als Basis und Ausdruck menschlicher Existenz sei jeder Verfügung entzogen ‐ auch der des individuellen Rechts‐ trägers selbst. Zwar wird eine Pflicht zum Leben verneint, die Selbsttötung als vom Grundgesetz »erlaubt« eingestuft. Aber dem nur folgerichtigen Schritt vom gesellschaftlich Erlaubten zum individuellen Recht stehen offenbar noch zu starke christlich‐traditionalistische Tabuisierungen im Weg. So wird man um die ausdrückliche grundrechtliche Anerkennung des Sterberechts kämpfen müssen. Sie empfiehlt sich auch als orientierende Vorgabe für nötige gesetzliche Einzelregelungen der damit zusammenhängenden Einzelthemen. Um die ungehinderte Ausübung des Individualrechts auf Selbsttötung zu sichern, müssen einige im Streit befangene 97
Grenzprobleme neu geordnet werden. Es soll nun nicht versucht werden, dazu einen vollständigen rechtspolitischen Forderungskatalog vorzulegen. Es kann nur auf einige besonders wichtige Gesichtspunkte hingewiesen werden, die bei einer solchen Ausarbeitung berücksichtigt werden sollten. Die Grundorientierung muß immer an Hand zweier Leitpostulate erfolgen: ‐ möglichst jeden Selbstmord zu vermeiden, weil er immer etwas Schreckliches ist; ‐ diesen Erfolg aber nicht durch irgendwelche freiheitsbe‐ schränkenden Eingriffe in die Entscheidungsautonomie der zurechnungsfähigen Person zu erreichen. Diese beiden Forderungen können miteinander im Konflikt liegen. Dann muß es das zweite Postulat sein, das sich durch setzt. Es darf z. B. niemand eingesperrt werden, weil er sich töten will. Das muß grundsätzlich auch dann gelten, wenn die Lebenserfahrung dafür spricht, daß der Betroffene später über die Verhinderung seiner Absicht glücklich sein könnte. Daß ein zur Selbsttötung entschlossener Mensch, dem der Versuch mißlingt, sich später wieder seines Lebens freut, ist nie auszuschließen. Wenn diese Möglichkeit allein genügte, um einem zum Selbstmord Entschlossenen mit staatlichen Zwangsmitteln in den Arm zu fallen, so wäre das ein Freibrief für jede denkbare Intervention. Ausnahmen von dieser Regel sind eng zu begrenzen. Zwar wäre es nicht vertretbar, auch offensichtlich ihrer Natur nach vorübergehenden Selbstmordmotiven wie Liebeskummer oder Scham über Examensversagen den gleichen Realisierungsvorrang einzuräumen wie dem wohlbedachten Entschluß eines unheilbar Kranken. Man kann aber auch nicht alle potentiellen Affekt‐Selbstmörder vorsorglich einsperren. Daher reduziert sich dieses Problem praktisch darauf, in solchen Fällen eine kurzfristige Intervention ‐ von wem auch immer ‐ in den Selbsttötungsprozeß für zulässig zu erklären, wie sie generell als unzulässiger Eingriff in die persönliche Rechtsausübung ausgeschlossen sein müßte. 98
Das Hauptziel einer maximalen Senkung der Selbsttötungen kann nur über eine Politik und letzten Endes eine Kultur erreicht werden, durch die alle gesellschaftlich bedingten Tatmotivatio‐ nen so weitgehend ausgeräumt werden, wie es nur möglich ist. Wer in der Zuversicht lebt, daß es für seine Lebensprobleme in allen Wechselfällen des Lebens eine autonome Entscheidungs‐ basis und frei verfügbare Handlungsmöglichkeiten gibt, wer ohne die Sorge einer Einengung seiner praktischen Wahlmög‐ lichkeiten und Realisierungsspielräume kritischen Situationen entgegensehen kann, ist sicher weniger gefährdet, unnötige oder unnötig frühe Konsequenzen zu ziehen. Das gilt wohl in erster Linie für jene wichtige Gruppe von Selbsttötungs‐Fällen, die durch Angst vor qualvollen, würdelosen und lieblosen Umständen des Lebensrestes und des Sterbens motiviert und durch einen überlegten Selbsttötungsplan charakterisiert sind. Der Anteil dieser Gruppe an den 15000 Selbsttötungen im Jahr, die in Deutschland ausgewiesen werden, ist vermutlich beträchtlich. Die Zahl wird bei gleichbleibenden Perspektiven schon aufgrund der Altersstruktur weiter ansteigen. Die Dunkelziffer der nicht als Selbsttötungen erkannten oder gemeldeten Todesfälle kommt hinzu. Die Zahl der kranken oder älteren Menschen, die sich konkret mit diesem Thema auseinandersetzen, muß ein Vielfaches derer betragen, welche die Tat ausführen. Die Gründe für diese Entwicklung sind oft genannt worden. Die Angst, die hinter allen Freitodüberlegungen und den ausgeführten Selbsttötungen steht, hat konkrete Anlässe: Verlust der Selbständigkeit durch körperlichen und geistigen Verfall, Verlust der eigenen Wohnung, demütigende und trostlose Anstaltspflege, Vorenthalten schmerzfreier Behandlungsmethoden, Auslieferung an eine inhumane, sterbensverlängernde Apparate‐Medizin, Tod in der Intensivstation. Es gibt für den alternden Menschen, dessen Lebenszeit sich neigt, aber auch für den jüngeren, zum Tode hin kranken wahrlich genug reale Befürchtungen. Mit steigenden Bevölkerungsanteilen alter Menschen, 99
mit zunehmender Lebenserwartung und Morbidität und ‐ paradoxerweise ‐ mit zunehmenden therapeutischen Möglichkeiten werden die Gründe für solche Angst noch zunehmen. Um sie abzubauen, bedarf es weniger, aber, gemes‐ sen an den rückständigen deutschen Praktiken, radikaler Än‐ derungen. Die beiden wohl wichtigsten Forderungen zur Verhinderung von Selbsttötungen aus Angst vor der Sterbephase sind die Möglichkeit, zu Hause zu sterben, und die Sicherheit einer Schmerzfreiheit garantierenden Medikation. Als Beispiel für ersteres sei auf den Ausbau der privaten Hospiz‐Dienste hingewiesen, welche die Angehörigen pflegerisch entlasten und ergänzen und für eine Restgruppe von Fällen auch besondere Sterbeeinrichtungen unterhalten. In den angelsächsischen und skandinavischen Ländern ist diese Entwicklung offenbar schon sehr viel weiter fortgeschritten als bei uns. Die Verschreibung ausreichender Schmerzmittel hat zur Voraussetzung, daß endlich die deutsche Heldenarzt‐Mentalität überwunden wird, wonach der ordentliche Patient auch ordentlich leidet, damit er nicht noch in seinen letzten Lebenswochen morphiumsüchtig wird. Für den Fall des Klinikaufenthalts muß die Durchsetzung des Patientenwillens in viel nachdrücklicherer Weise garantiert werden, als das jetzt in der Regel der Fall ist. Das gilt z. B. auch für die Beachtung der sogenannten Patiententestamente mit Verfügungen gegen bestimmte Therapiemaßnahmen. Unbestritten ist es, daß der Kranke seine Zustimmung zu heilenden Eingriffen, etwa einer Operation, versagen kann, auch wenn er damit seinen eigenen Tod bewirkt. Ebenso eindeutig muss sichergestellt sein, daß er lebensverlängernde ‐ ebenso wie alle anderen ‐ Behandlungsmethoden ablehnen kann. Wenn er in der akuten Entscheidungssituation, etwa wegen Bewußtlosig‐ keit, an der Äußerung seines Willens gehindert ist, muß auf frühere, für solche Situationen überlegt abgegebene Willenser‐ klärungen zurückgegriffen werden. Hiergegen wird heute noch eingewandt, daß der Patient in der akuten Krankheitssituation 100
möglicherweise doch ganz anders entscheiden würde, als er das in früheren, gesunden Tagen geäußert hat. Dies ist ein schlimmer Fall jener paternalistischen Anmaßung, der man gerade im Zusammenhang mit den Todesproblemen immer wieder begegnet. Unfähig, nein schlicht unwillig, dem dokumentierten Willen des Patienten zu folgen, wenn er das Sterbenlassen zum Inhalt hat, wird dem nun Handlungsunfähigen schlicht eine Willensänderung untergeschoben bzw. eine hypothetisch denkbare Willensänderung ihrer Potentialität wegen als maßgeblich deklariert, weil sie dem etablierten Behandlungskanon besser entspricht. Was der Patient in seinen gesunden Tagen und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte wohlerwogen für seine letzte Lebensphase verfügt hat, gilt für nichts und wird beiseite geschoben. An seine Stelle tritt die so anmaßende wie willkürliche Fremdentscheidung des Arztes. Es erscheint als dringlich, daß der Gesetzgeber sich dieses und einiger anderer Streitthemen in Sterbefragen endlich einmal annimmt und einer liberalen und humanen Lösung zuführt. Die Unsicherheit darüber, was einen Patienten erwartet, der erst einmal »eingeliefert« worden ist, läßt manchen wahrscheinlich schon vorher den letzten Schritt tun, vielleicht ganz unnötig früh. Wo die Strategie der Vermeidung von Selbsttötungen an ihre Grenzen stößt, wo der Wille zum Sterben trotz allem die Ober‐ hand gewinnt, da ist er zu respektieren. Dazu genügt es nicht schon, auf den Einsatz von staatlichem Zwang zur Verhinderung von Selbstmorden zu verzichten. Es müssen auch die praktischen Voraussetzungen zur Tatausführung verfügbar sein. Das bedeutet vor allem, daß grundsätzlich jeder Erwachsene für den eigenen Bedarf Zugang zu rasch und schmerzfrei zum Tode führenden Mitteln erhält. Ich höre freilich schon den Chor unserer fürsorglichen Lebenswächter: wie leicht da etwas in falsche Hände geraten könnte, wie mancher so definitiv gar nicht gemeinte Selbsttötungsversuch plötzlich zum Ernstfall würde und dergleichen mehr. Angesichts der allemal zur Verfügung 101
stehenden qualvollen und besonders brutalen Formen der Selbsttötung, auf welche die Täter dann zurückgreifen müssen, Formen übrigens, die auch mit Gefährdungen anderer verbunden sind, erscheinen mir die Befürchtungen und Warnungen als wenig überzeugend. Wenn das Recht auf Selbsttötung Grundrechtscharakter hat, wie wir postulieren, dann muß nicht nur die Tötungsentscheidung respektiert, sondern auch die Tötungshandlung in angemessener Weise ausführbar gestaltet werden. Dazu gehört nicht zuletzt eine Revision der Vorschriften über die Strafbarkeit unterlassener Hilfeleistung. Die jetzige Rechtslage führt zu höchst unbefriedigenden Ergebnissen, weil sie praktisch die Respektierung eines gewollten fremden Sterbens unter Strafe stellt. Einerseits ist die Beihilfe zur Selbsttötung, etwa durch Medikamentenbeschaffung, straffrei. Andererseits erwächst dem anwesenden Helfer mit einsetzender Bewußtlosigkeit des Täters die Verpflichtung, die Ambulanz zu rufen. Das Problem stellt sich besonders akut da, wo in intakten Familien und Lebensgemeinschaften einer sich zum Sterben entschlossen hat und die anderen in schreckliche Widersprüche geraten. Und was den eigentlichen Zweck des Hilfeleistungsparagraphen in diesem Zusammenhang angeht: Es mag ja sein, daß der eine oder andere Selbstmörder, der auf diese Weise ins Leben zurückgerissen wurde, darüber später ganz zufrieden war. Allerdings mußten dafür andere, denen es mit ihrer Absicht dau‐ erhaft ernst war, doppelt und dreifach sterben, die Schrecklich‐ keit des Absprungs ein weiteres Mal bestehen. Das scheint mir schlimmer zu sein. Wer den entscheidenden Schritt getan hat, der sollte für unsere wohlmeinenden, aber selten wohltätigen Interventionen unerreichbar sein. Die oben schon angesprochenen Fälle von offensichtlich transitorischer Selbsttötungsmotivation seien wiederum ausgenommen. Hier könnte ‐ in engen Grenzen ‐ nicht nur das Interventionsverbot gelockert, sondern sogar eine Hilfeleistungs‐ pflicht statuiert werden. 102
Noch dringender erscheint das Handeln des Gesetzgebers bei einem der schwierigsten Themen unseres Problemkreises: dem selbstbestimmten Sterben der »Insassen«, der Kranken‐ hauspatienten und Heimbewohner. Offensichtlich handelt es sich hier um eine Gruppe von Menschen mit überdurchschnitt‐ licher Motivation für eine solche Entscheidung. Aber ausge‐ rechnet dieser Personenkreis findet sich in Institutionen einge‐ bunden, in denen die traditionelle Ächtung des Freitods ungemindert fortbesteht und in denen jede praktische Möglichkeit zu einem solchen Schritt rigide unterbunden wird. Diese Praxis bedeutet einen ebenso unmenschlichen wie durch nichts zu rechtfertigenden Entmündigungsakt ‐ als zusätzliche Strafe zum Verlust der äußerlichen Selbständigkeit. Hier finden tagtäglich Grundrechtsverletzungen in einem Umfang statt, der seinesgleichen sucht ‐ ohne daß dies von der Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen wird. Die Selbstverständlichkeit, mit der den Patienten in Kliniken und Heimen zur Selbsttötung geeignete Medikamente vorenthalten werden, stellt eine weitere unerträgliche Anmaßung paternalistischer Überwölbung dar, wie sie im medizinischen Bereich skandalöserweise gang und gäbe ist. Die Verweigerung, die den Patienten im Kern seines Selbstbestimmungsrechts verletzt, ist in ihrer Art nicht weniger verwerflich, als es das Vorenthalten therapeutischer Hilfe zur Gesundung wäre. Es kommt hinzu, daß die derzeit übliche Verweigerungspraxis geeignet ist, verstärkt »vorzeitige« Selbsttötungshandlungen zu motivieren. Wer vor der Frage steht, ob er sich stationär behandeln lassen soll, weiß heute, daß er sich damit seines Rechts auf den für sich selbst entschiedenen Tod praktisch be‐ gibt. Bei hinreichend unsicherer Verlaufsprognose und ent‐ sprechender psychischer Disposition liegt darin ein starker Anreiz, die noch vorhandene Handlungsfreiheit zu nützen und den Absprung vorher zu tun. Einer dringenden Revision bedarf schließlich auch die Vorschrift, die Tötung auf Verlangen unter Strafe stellt. In Fällen, in denen 103
die Selbsttötung an der physischen Handlungsunfähigkeit scheitert, muß eigenes Tun durch fremdes Handeln ersetzt werden können. Wo der ernsthafte Wille zur Selbsttötung außer Frage steht, müssen Angehörige und Pflegepersonal zu ersatzweisem Tun befugt sein. Oft sind dies ja die humanitär dringendsten und persönlich tragischsten Fälle, in denen der Entzug des Rechtes auf Selbsttötung schon in aktive Grausamkeit umschlagen kann. Für die Hilfe, die in solchen Fällen geleistet wird, muß in Deutschland mit einer Freiheitsstrafe gebüßt werden. Die Kriminalisierung der aktiven Sterbehilfe auf Verlangen gehört ebenfalls zu den dunklen Flecken unserer angeblich so freiheitlichen Rechtsordnung. Auch hier höre ich schon wieder die Stimmen der wohlmei‐ nenden Warner: Wer da nicht alles unter Ausnutzung der eigenen Hilflosigkeit in den Tod gedrängt oder unter der Tarnung erbetener Sterbehilfe schlicht umgebracht würde. Dies kann man nun nicht einfach abtun. Es ist wohl eine realistische Gefahr, daß alten Menschen, die ihren Verwandten, Pflegern oder in anderer Weise interessierten Personen zu lange leben, eine Art Verpflichtung zur Selbsttötung suggeriert wird. Das Selbstwertgefühl Älterer, Behinderter, chronisch Kranker ist häufig beeinträchtigt, ihr Lebenswille herabgesetzt. Da läßt sich schon vorstellen, wie ein Opfer nach und nach zur Selbstaufgabe gedrängt wird und es schließlich als eigene Pflicht empfindet, sich selbst zu töten oder die Tötung zu verlangen. Diese Besorgnis kommt sehr eindringlich in dem folgenden Zitat von Spaemann (FAZ v. 31.8.90) zum Ausdruck: »Im Übrigen gibt es ja auch in der Tat eine fließende Grenze von der Tötung um der Gesellschaft willen und der Tötung um des Wohlbefindens des Kranken willen. Wenn einmal die Tötung auf Verlangen freigegeben ist, dann ist es vorauszusehen, daß sie endlich den Wunsch äußern, getötet zu werden. Wenn ein chronisch leidender Mensch sieht, wie er seinen Mitmenschen zur Last fällt, und wenn er weiß, daß er sie von dieser Last befreien kann durch einen Tötungswunsch, und wenn er weiter weiß, daß jedermann es für akzeptabel hält, einen solchen 104
Wunsch zu äußern, dann wird in der Tat für ihn persönlich das Weiterleben unerträglich, und er wird schließlich wirklich den Wunsch äußern, um sich von einem unerträglichen Leiden zu befreien. Aber das Leiden ist dadurch verursacht, daß es nun als seine persönliche Schuld erscheint, wenn andere Lebenszeit, Kraft und Geld aufwenden müssen, um ihn zu pflegen. Schuldlos ist er nur, wenn die Äußerung eines solchen Wunsches oder gar seine Erfüllung völlig außer Diskussion steht. « Nur, ist es wirklich so, daß, bei einer konditionierten Freigabe der Tötung auf Verlangen »man von den alten und kranken Menschen erwarten wird, daß sie endlich den Wunsch äußern, getötet zu werden«? Ich bezweifle sehr, daß unsere zugege‐ benermaßen oft recht robusten Egoismen sich zu solchen radikal unsolidarischen Verhaltensformen normieren ließen. Schließlich wissen auch die angeblich so Drängenden, daß aus ihnen morgen Gedrängte werden würden. Und was das schlechte Gewissen der Kranken wegen der Inanspruchnahme von Geld, Kraft und Lebenszeit anderer angeht, so sind diese ja ihrerseits künftige Empfänger ähnlicher Dienste. So viel vom Generationenvertrag dürfte uns inzwischen allgemein bewußt geworden sein. Die hier denkbare Spannung wäre freilich dadurch zu mindern, daß der pflegebedürftige alte oder kranke Mensch über ausreichend eigene Mittel und Rechtsansprüche verfügte, daß er sich nicht als Almosenempfänger empfinden muß. In der materiellen Grundsicherung der menschlichen Existenz über alle Wechselfälle hinweg sind die nötigen Mindestausgleiche zwischen Arm und Reich in der Tat noch längst nicht vollzogen. Die geäußerten Sorgen sind also verständlich. Aber um ihnen entgegenzutreten, muß man nach anderen Methoden suchen, als es die sind, hilflosen Menschen wegen ihrer Hilflosigkeit das essentielle Selbstbestimmungsrecht über das eigene Leben zu entziehen. Weil es sein könnte, daß in diesem oder jenem Fall andere das Tötungsverlangen mißbräuchlich provoziert haben, wird für eine ganze Bevölkerungsgruppe das Recht zur Selbsttötung insgesamt schlicht kassiert. Ja, nach Spaemann soll 105
sogar der bloße Wunsch nach dem eigenen Tod »völlig außer Diskussion« stehen. Sogar das Denken und Wünschen werden verboten. Armes Grundgesetz. Dabei soll nicht bestritten werden, daß zur Erfüllung der hier vorgetragenen Forderungen auch eine Reihe psychologischer Schwierigkeiten überwunden werden muß. Viele Ärzte, Schwestern, Pfleger lehnen es ab, in irgendeiner denkbaren Form an einer Todesverursachung beteiligt zu sein. Sogar die passive Sterbehilfe, also ein Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen ohne Heilungschance ‐ ganz gleich, ob der Patient sie wünscht oder nicht ‐, ist nicht überall selbstverständlich. Eine rationale Begründung für eine solche Haltung gibt es nicht. Ein bedeutsamer Faktor ist vermutlich die auch in den medizinischen Berufsfeldern verbreitete Abneigung dagegen, sich den Todesproblemen zu stellen und sie sich zu Eigen zu machen. Auch scheut man in Deutschland verständlicherweise möglichst alle Berührungspunkte mit dem benachbarten The‐ menkreis Euthanasie. Die Mordpraxis des NS‐Staates wirft da noch ihre langen Schatten. Aber nichts dergleichen soll ja irgendjemandem zugemutet werden. Die Sicht der Dinge verändert sich auch, wenn man den Gedanken des Dienstes am Nächsten als eines zur Selbst‐ bestimmung Geborenen ‐ statt eines Pflegeobjekts ‐ in den Mittelpunkt rückt. Solches Dienen und Helfen kann sich dann nur im Respekt vor der Autonomie des Patienten vollziehen und darf dessen negative Lebensentscheidung nicht ausschließen ‐ auch wenn man sie selbst mißbilligen sollte. Allerdings sind die herkömmlichen Machtpositionen gerade zwischen Arzt und Patient so extrem ungleichgewichtig, daß viele Mediziner schon gar nicht mehr bemerken, ja wohl auch nie bemerkt haben, mit welch anmaßender Bevormundung sie im Leben anderer herumfuhrwerken. (Ihr anderen, die es zum großen Glück ja auch gibt, verzeiht mir ‐ aber Ihr seid so selten!) Im übrigen wird man mit einiger Sicherheit annehmen dürfen, daß bei klarer rechtlicher Regelung genügend viele Ärzte und Pfleger sich einem ernsthaften und nachvollziehbaren Wunsch 106
auf ersatzweise Tätigwerden für die physisch unmögliche Selbsttötung nicht entziehen würden. Für den Kreis derer, die jetzt schon aus Solidarität so handeln, seien es Ärzte, Pfleger oder vor allem Angehörige, entfiele die durch nichts zu rechtfertigende Kriminalisierung eines aus Mitmenschlichkeit erwachsenen, schwer zu vollbringenden Tuns. Den Angehörigen, den ganz Nahestehenden dessen, der sein Sterben will, wird freilich in fast jedem Fall schier Unerträgliches zugemutet. Die Rolle des Lebenspartners ist in diesem Falle auch dann schrecklich, wenn ihm nicht einmal aktive Hilfe, sondern nur ruhiges Geschehenlassen angesonnen wird. Wie soll da einer gefaßt zusehen, wenn der wichtigste, vertrauteste, vielleicht seit Jahrzehnten ins eigene Ich eingewachsene andere sich auf seinen verzweifelten Absprungspunkt hinbewegt. Und wie auf den Aufschlag warten. Allerdings, wäre der heimlich davongefahren und hätte die Sache im fremden Hotelzimmer diskret erledigt, so wäre es Verrat gewesen und auch ohne Trost. Wir haben diesen Abschnitt über den Selbstmord mit einem Satz begonnen, der hier im Blick auf die Zurückbleibenden noch einmal wiederholt werden soll: Jedes Mal, wenn ein Mensch sich selbst tötet, geschieht etwas Schreckliches ‐ noch über die Schmerzlichkeit jedes anderen Sterbens hinaus. 107
13. Sterbehilfe Der Begriff Euthanasie bedeutete einmal Hilfe zu einem guten Tod. Er ist schrecklich mißbraucht und in sein Gegenteil verkehrt worden durch die Maßnahmen der NS‐Regierung zur Tötung Geisteskranker und Mißgebildeter. Aus der Hilfe zum Guten wurde das Verhelfen zum schlimmen Tod. Seitdem denken wir zuerst an diese Mordaktion, wenn von Euthanasie die Rede ist. Es wird wahrscheinlich auch durch sorgfältigen Sprachumgang kaum möglich sein, dem Wort seine alte Bedeutung zurückzugewinnen. Wir kommen aber insofern nicht in Verlegenheit, als uns mit Sterbebegleitung und Sterbehilfe zwei gute Begriffe zur Verfügung stehen. Die Sterbebegleitung, die Anwesenheit und Zuwendung während der Sterbephase, ist eine Aufgabe von großer menschlicher Bedeutung. Für einen guten Tod kann sie den Ausschlag geben. Es wäre zu wünschen, daß diese Form der praktizierten Solidarität zur Selbstverständlichkeit wird. Die ethischen Probleme liegen bei der Sterbehilfe, die dem unheilbar Kranken zuteil wird. Es hat sich die Übung herausge‐ bildet, von passiver oder aktiver Sterbehilfe zu sprechen, je nachdem, ob es sich »nur« um die Einstellung einer lebensverlängernden Behandlung oder um einen lebensbeendenden Eingriff handelt. Die passive Sterbehilfe gilt medizinethisch weithin als akzeptabel. Aufgabe des Arztes, so lautet die Begründung, sei es, das Leben zu verlängern, aber nicht das Sterben hinzuziehen. Allerdings gehört das Sterben eben doch noch zum Leben, und eine Verkürzung des Sterbens ist ohne eine Verkürzung des Lebens nicht zu haben. Aber diese Lebensverkürzung wird deshalb nicht als problematisch angesehen, weil sie nicht aus einem tötenden Eingriff folgt, sondern sich als natürlicher Ablauf des Sterbeprozesses darstellt ‐ der eben eigentlich gar nicht verkürzt wird, sondern nur therapeutisch unbeeinflußt abläuft. Im Zusammenhang unseres Autonomie‐Plädoyers erscheint es nicht notwendig, auf die vielfältigen medizinethischen Probleme 108
umfassender einzugehen. Es soll aber zum wiederholten Male auf die moralische Verpflichtung des medizinischen Personals hingewiesen werden, sowohl den Willen des Patienten, der sich gegen lebensverlängernde Maßnahmen ausgesprochen hat, zu respektieren, als auch dem zur Selbsttötung entschlossenen Patienten die dazu erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Der Gesetzgeber sollte aus dieser moralischen Verpflichtung so bald wie möglich eine rechtliche machen. Aus dem Bereich der aktiven Sterbehilfe wurde der Fall der Tötung auf Verlangen schon im vorausgegangenen Abschnitt über die Selbsttötung angesprochen. Es mag begründete Bedenken gegen eine allgemeine Straffreiheit für Tötungshandlungen dieser Art geben. Aber mindestens da, wo dies der einzige Weg ist, auf dem ein körperlich hilfloser Kranker einen wohlerwogenen und voll verantwortlich gefaßten Entschluß zur Selbsttötung realisieren kann, muß er zulässig sein. Zwar kann niemand, sei es Arzt, Pfleger oder Angehöriger verpflichtet werden, einem solchen Wunsch zu entsprechen. Wenn die Bereitschaft dazu aber gegeben ist, dann geht das Selbsttötungsrecht des Patienten allgemeinen Bedenken vor. Wirklich problematisch und weithin unzulässig ist die aktive Sterbehilfe in allen Fällen, in denen sie unabhängig vom Willen des Patienten durchgeführt werden soll. Die Tötungsaktion der NS‐Regierung in den Jahren 1939 bis 1941, der mehr als 10000 mißgebildete Kinder und erwachsene Geisteskranke zum Opfer fielen, wurde eingangs schon erwähnt. Nun waren das allerdings in keinem Sinne Fälle, die unter Begriffe wie Euthanasie und Sterbehilfe zu fassen sind. Es handelte sich gar nicht um Sterbende, deren Sterben beschleunigt wurde, sondern um Kranke mit nicht terminierter Lebenserwartung. Der Vorgang kann nur schlicht als Massenmord aus volks‐ und rassehygienischen Gründen, begangen in wahnblinder Über‐ heblichkeit, gekennzeichnet werden. Die Täter rechtfertigten ihr Verhalten vor sich selbst damit, daß das Leben der Opfer »nicht lebenswert« sei.
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Ebenso wie Euthanasie ist der Begriff des nicht »lebenswerten Lebens« damit für uns in Deutschland in einen historischen Zusammenhang eingepaßt und verändert worden, der seiner weiteren Verwendung fast zwingend entgegensteht. Aber den Sachverhalt eines lebensunwerten Lebens gibt es natürlich trotzdem ‐ einfach als negatives Wertungsergebnis eines Menschen für seine eigenen Lebensumstände. Zu dem Ergebnis lebensunwert kann und darf der allein kommen, der dieses Leben lebt. Die Bedingungen mögen elend sein wie nur immer und den Betrachter aufrichtig selbstlos an »Erlösung« denken lassen ‐ der Kranke kann grundsätzlich nur selbst entscheiden. Tut er es, dann allerdings muß ihm ermöglicht werden, dieses Leben zu beenden. Doch gibt es natürlich Fälle, in denen der Träger eines behinderten Lebens die Wertentscheidung gar nicht selbst treffen kann. Neugeborene mit schwersten Mißbildungen und Schäden gehören dazu. Ihre kurze Überlebensspanne könnte durch operative Maßnahmen und künstliche Ernährung erweitert werden, ohne daß damit irgendeine Chance auf Lebensgewinn verbunden wäre. Eltern und Ärzte sind sich in diesen Fällen in der Regel darin einig, daß es das Beste ist, das Kind gleich sterben zu lassen. Der übliche Weg ist offenbar die Nichtbehandlung des Neuge‐ borenen als ‐ rechtlich zulässige ‐ passive Sterbehilfe. Solche Einordnung ist allerdings fragwürdig, wenn nicht nur die ope‐ rative Behandlung, sondern auch die Ernährung des Kindes unterbleibt. Man läßt es in vielen Fällen einfach verhungern und verdursten, »dehydrieren«. Das mit anzusehen muß ziemlich schrecklich sein. In der angelsächsischen Ethik‐Diskussion ist deshalb die Frage aufgeworfen worden, ob es in diesen Fällen nicht erlaubt oder sogar geboten sei, das Neugeborene direkt zu töten. Ein Kind austrocknen zu lassen wird manchem schon eher als aktive denn als passive Tötungshandlung erscheinen.
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Wenn das so ist, dann verlöre auch die Rechtfertigung dieser recht grausam anmutenden Methode, daß nämlich der Arzt nie die Grenze zur Tötungshandlung überschreiten dürfte, ihre Grundlage. Es sei noch einmal Hans Jonas zitiert, der seine Bedenken in der kürzlich aufgeflammten Debatte so formuliert hat. »Was da an Konsequenzen drinsteckt für die menschliche Einstellung zum Akt des Tötens als eines routinemäßig zu Gebote stehenden Weges, gewisse Notlagen zu beenden, was sich da auf tut für eine, um es mal ganz scharf zu sagen, progressive und kumulative Gewöhnung an den Gedanken und die Praxis des Tötens, das ist unabsehbar. Da steht so viel auf dem Spiel, daß das Leiden des Säuglings dagegen nicht aufkommt... Die Zumutung eines über eine Woche oder länger sich hinziehenden Todes ist immer noch besser, als mit der Praxis zu beginnen, neugeborene Kinder einfach umzubringen. « Ja gewiß, man kann es nachempfinden. Aber ist zwischen den beiden Wegen denn wirklich ein qualitativer Unterschied? Wir stehen sicher noch nicht am Ende der Debatte. Sie wird auch darüber geführt werden müssen, ob im Kontext einer Neuordnung und gesetzlichen Regelung der Sterbeprobleme nicht auch die aktive Sterbehilfe für genau umgrenzte Fallgruppen zugelassen werden sollte. Die derzeitige Handhabung vermag weder intellektuell noch unter humanitären Gesichtspunkten zu befriedigen. 111
14. Schlussbemerkung Es ist nicht das Ziel dieses Essays, für ein Nein zum Leben zu werben ‐ wohl allerdings für die selbstkritische Überprüfung eines unreflektierten Ja. Junge Menschen, die vor der Ent‐ scheidung stehen, ob sie Kinder ins Leben setzen wollen, sollten sich so genau wie möglich vergegenwärtigen, wie das Leben beschaffen ist, das sie ihren Kindern ungefragt auferlegen. Und sie sollten sich selbst fragen, ob sie ein solches »Lebensgeschenk« verantworten können und wollen. Im Übrigen mache ich keinen Hehl daraus, daß mir alle Menschen als höchst beneidenswert erscheinen, die mit der Weltveranstaltung und ihrem Schicksal darin einverstanden zu sein vermögen. Ich würde mir ihr Urteil gern zu eigen machen. Das kann ich nicht. So habe ich versucht, die Gründe für die eigene negative Bewertung der menschlichen Lebensbedin‐ gungen so darzustellen, daß die Ablehnung verständlich wird. Aus solchem Verständnis könnte die Respektierung dieser Minderheitenposition erwachsen, an der es jetzt noch durchweg fehlt. Zugleich ist allerdings auch das Grundrecht auf die Selbstgestaltung nicht nur des eigenen Lebens, sondern auch des eigenen Todes einzufordern, das jetzt noch vielfältig vor‐ enthalten und vereitelt wird. Die wohlbedachte Entscheidung eines Menschen, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, ist ohne Vorbehalt zu respektieren. Sie muß unter allen Lebensum‐ ständen in Würde und Humanität vollzogen werden können. Im Rahmen der Überlegungen zu diesem Themenkreis haben sich einige praktische Forderungen an den Gesetzgeber herausgebildet. Der besseren Übersicht wegen seien sie hier noch einmal knapp zusammengefaßt: 1. Das Recht auf Selbsttötung sollte ausdrücklich anerkannt werden, am besten durch eine Ergänzung von Art. 2 GG. Zur Realisierung dieses Rechts bedarf es einer Reihe von Ausgestaltungsnormen, z.B. über: 1.1 Lebensverkürzende Medikation zur Schmerzfreiheit;
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1.2 die Verbindlichkeit von Patiententestamenten für die Behandlung in Krankenhäusern und Pflegeheimen; 1.3 den freien Zugang zu tödlichen Medikamenten, auch in Krankenhäusern und Heimen; 1.4 die Zulässigkeit der Tötung auf Verlangen; 1.5 ein grundsätzliches Interventionsverbot nach Einleitung einer Selbsttötung. 2. Alle Verbote, Einschränkungen und Auflagen für Schwan‐ gerschaftsunterbrechungen sollten ersatzlos gestrichen werden. 3. Die Zulassung der aktiven Sterbehilfe für geeignete Fallgruppen sollte geprüft werden. Die gegensätzlichen Positionen zum menschlichen Leben sind Jahrtausende alt. Sie werden fortbestehen. Die darin liegende Spannung müssen wir aushalten und in wechselseitigem Respekt vor der Einstellung des jeweils anderen erträglich machen. In der Verlagswerbung für einen Frauenroman wurde die Autorin kürzlich mit folgendem Satz zitiert: Wenn auch nur ein einziges Kind, dem sein Leben verwehrt werden sollte, aufgrund dieses Romans sein Leben erhält, dann hat sich die Arbeit an diesem Buch gelohnt. Ich hatte mir während des Schreibens gelegentlich einen ähnlich klingenden Satz notiert: Wenn auch nur einem einzigen Kind durch dieses Buch erspart bleibt, ins Leben gesetzt zu werden, dann hat sich die Arbeit daran gelohnt. So ist das bei uns Menschen. Eine gemeinsame Aufgabe sollte die Bejaher wie die Verneiner des menschlichen Lebens allerdings zusammenführen: Das Bemühen, dem mörderischen Überwachstum der Menschheit Grenzen zu ziehen. Wenn das nicht in letzter Stunde gelingt, dann werden auch die Lebensperspektiven der am heftigsten gewünschten Kinder trostlos. Die Erde wächst nicht mit.
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