Ron Goulart
Nemo
Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH
Science Fiction Action
Band 21 1...
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Ron Goulart
Nemo
Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH
Science Fiction Action
Band 21 122
© Copyright 1977 by Ron Goulart
All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1979
Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe
Bergisch Gladbach
Originaltitel: Nemo
Ins Deutsche übertragen von Klaus Dieter
Titelillustration: Agentur Schlück
Umschlaggestaltung: Bastei-Grafik (W)
Druck und Verarbeitung:
Mohndruck, Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh
Printed in Western Germany
ISBN 3-404-01436-7
Über Nacht bricht Ted Briars gesamtes Weltbild zusammen. Seine Frau betrügt ihn, auf seinem Arbeitsplatz fühlt er sich überwacht, sogar sein Hauscomputer spielt verrückt und belügt ihn. Bis einer der meistgesuchten Revolutionäre der Vereinigten Staaten bei ihm auftaucht. Er macht Ted Briar zum Anführer einer weltweiten Bewegung, die nur ein Ziel hat: den größten Verbrecher aller Zeiten zur Strecke zu bringen – den Präsidenten der Vereinigten Staaten!
I
Ted Briar schrie. Sein schmales Bett schaukelte ihn sanft und fragte: »Haben Sie schon wieder einen häßlichen Alptraum?« Alptraum konnte man das eigentlich nicht bezeichnen, nein. Mit so etwas ging man keinesfalls zu einem Psychiater oder hockte sich in eine der Therapieboxen auf Bahnhöfen oder in Flughäfen. Und doch, jedesmal, wenn Ted diesen Traum hatte, kämpfte er mit aller Macht, um sich daraus zu befreien. Ted setzte sich auf. Augen und Mund hatte er weit aufgerissen, und verwirrt schaute er sich in seinem stahlgrauen Schlafabteil um. Was steckte in diesem verdammten Traum, daß er zwei-, dreimal pro Woche derart gequält wurde? Eigentlich erlebte er im Schlaf eher eine Komödie als einen Horrorfilm. Ted wanderte immer durch eine Straße in einer unmöglich idyllischen Stadt längst vergangener Zeiten, einer Art Stadt, die es schon längst nicht mehr gab, als er gerade geboren wurde. Immer herrschte Sommer, und er war nur mit einem knöchellangen, altmodischen Nachthemd bekleidet. Niemand schien es zu bemerken oder sogar daran Anstoß zu nehmen. In der Hand trug er einen schweren Koffer. Verwirrend war nur, daß jemand mit Sicherheit sterben mußte, wenn er den Koffer dort ablieferte, wo er hingebracht werden sollte. Und deshalb schrie er auch immer verzweifelt auf, um sich aus dieser schrecklichen Situation zu befreien. Ted schüttelte den Kopf und murmelte etwas. »Stell dich nicht so an.« Dann schaute er auf die Uhr an der Wand.
Ein dünner Greifer tauchte unter dem Bett auf, saugte zwei Flüssigkeitstropfen aus einem kleinen Becken auf und tupfte Ted seine Kontaktlinsen auf die Augen. »Es ist sechs Uhr siebzehn morgens, wenn Sie versucht haben sollten, auf dem Chronometer etwas zu erkennen«, informierte ihn das schmale Bett mit sanfter Stimme. »Sechs Uhr siebzehn auf sechs Uhr achtzehn tendierend – das ist die genaue Zeit.« Ted zog die Zunge scharf über seine Zähne. »Ist Haley schon zu Hause?« Er stellte fest, daß er einen starken Drang hatte zu blinzeln. »Nein, ist sie nicht«, erwiderte der Sprechmechanismus des Computerbettes. »Möchten Sie eine Tasse Pseudokaffee mit Plastoflakes, oder darf ich Ihnen ein Glas Sojamilch anbieten?« Ted zwinkerte angestrengt und rieb sich die Augen. »Verdammt, was hast du mir statt des Schutzsprays gegen Luftverschmutzung auf die Augen gesprüht?« »Himmel, woher soll ich das wissen? Vielleicht war es mit Proteinen angereichertes Haarspray? Ich gebe mir wirklich alle Mühe, keine Fehler zu machen, aber ich müßte doch mal wieder neu justiert werden. Sie haben schon lange keinen Handwerker mehr im Haus gehabt, nicht wahr?« »Wir stehen auf der verdammten Warteliste. Vor dem 22. April 2021 kann niemand kommen. Und das dauert noch fast ein Jahr.« Ein zweiter Greifarm fuhr in die Höhe und reichte dem Mann eine Tasse mit dampfendem Inhalt. »Riechen Sie mal, ob das wirklich Pseudokaffee ist. Ich bitte Sie inständig darum.« Ted schnüffelte mißtrauisch. »Das ist alles andere, nur kein Kaffee.«
»Dann passen Sie mal auf, ich schlage vor, Sie legen sich noch einmal hin und schlafen eine Viertelstunde. In der Zwischenzeit versuche ich, mich wieder in Schuß zu bringen. Wie wäre das?« »Unsinn. Nein, ich schlafe nie besonders gut, wenn Haley oben im Dynamo Hill Kinderkrankenhaus Nachtdienst hat.« Als Ted die Beine über den Bettrand schwang, kamen seine Pelzpantoffeln herangeglitten und schmiegten sich um seine Füße. Er hatte diesen Traum sogar in den Nächten, in denen Haley zu Hause war. Was befand sich wohl in diesem verdammten Koffer, das einen Menschen töten könnte? »Vergiß es«, gab er sich selbst und laut den Befehl. »Das ist alles der reinste Blödsinn.« »Wie bitte?« »Nichts.« Ted schlenderte langsam durch das Schlafabteil und kletterte über eine Leiter hinauf in das Schlafzimmer. Er war groß, blond, und etwa dreißig Jahre alt. Er sah recht durchschnittlich aus, wenn in seinem Gesicht oft auch ein ganz eigener Ausdruck lag. Er schlurfte über den geheizten Boden hinüber zum Schlafabteil seiner Frau. Nein, sie war wirklich nicht da. Man könnte eine Bombe in einem Koffer transportieren. Nein, es war keine Bombe. Sicher war der Koffer schwer, doch eine Bombe befand sich bestimmt nicht darin. Ted schüttelte den Kopf und bemühte sich, die letzten Traumeindrücke aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. Dann schaute er auffordernd hinüber zu den mit Vorhängen verhüllten Fenstern. Sie glitten auf, und ländliche Musik aus den großen Deckenlautsprechern durchflutete den Raum. »Und wieder hat ein schöner Tag in Brimstone, Connecticut, begonnen«, verkündete der Hauscomputer. »Der heutige achte September 2020 verspricht wundervolles Herbstwetter.
Bestimmt fühlen Sie sich bei den zu erwartenden Temperaturen von…« »Wer zum Teufel ist der Bursche da draußen?« Genau vor dem Haus auf dem kleinen Rasenstück hockte ein übergewichtiger Mann. Auf dem Schoß hielt er eine automatische Filmscheibenkamera. Ted trat an das nach außen gewölbte Fenster und griff nach dem Mikrofon für die Außensprechanlage seines Hauses. »Verdammt, wer sind… Oh, Sie sind das, Mr. Swedenberg?« Der übergewichtige Mann in seinem zweiteiligen grünen Reiseanzug lächelte Ted traurig an. Die Zweiwegsprechanlage verlieh seiner Stimme einen leicht näselnden und quäkigen Unterton. »Auf dieser Reise halte ich mich nur noch acht weitere Stunden in den Vereinigten Staaten auf«, erklärte er. »Ich wollte mir alles noch einmal anschauen. Und wenn Sie nichts dagegen haben, mache ich jetzt noch eine Drei-D-Aufnahme, um meiner Frau, Mrs. Swedenberg, einen umfassenden Eindruck zu geben. Auch meine Kinder werden sicher Gefallen daran finden.« »Nein, ich habe nichts dagegen. Machen Sie nur«, meinte Ted großzügig. »Wie gehen die Fischmehlgeschäfte drüben in China-3?« »Ich kann mich nicht beklagen«, erwiderte Swedenberg, während er mit seiner Kamera hantierte. »Und Sie arbeiten immer noch beim Staatlichen Inkasso-Büro drüben in New Westport?« »Ja, ich bin immer noch beim SIB.« »Und wie geht es Ihrer hübschen jungen Frau?« »Blendend. Mrs. Swedenberg und die Kinder sind doch sicherlich ebenfalls wohlauf, nicht wahr? Lars kommt doch jetzt in die Schule, oder?«
»Sein Name lautet Nils, und zu Ihrer zweiten Frage – natürlich, er besucht jetzt die Schule«, erklärte Swedenberg. »Uns allen geht es den Umständen entsprechend gut. Glücklicherweise ist die Hungerrate in China-3 weitaus niedriger als in China-2. Daher kommen Mrs. Swedenberg und die Kinder nicht so häufig mit Toten oder Verhungernden in Berührung.« Er beobachtete, wie seine Kamera sich im Pseudogras einen Weg suchte, um von einem günstigen Winkel aus zu fotografieren. »Natürlich vermissen wir unser schmuckes kleines Häuschen in Brimstone immer noch sehr.« »Nun, Ihre Fischmehlfabrik wird Sie bestimmt eines Tages wieder nach Connecticut zurückversetzen. Dann werden Sie sich sicherlich eine ähnlich schone Bleibe kaufen können wie diese hier.« »Nein, wie diese ganz bestimmt nicht.« Swedenberg seufzte. »Niemals wird es ein zweites Limestone Hills Road, Nummer dreiundsechzig geben. Gerade deshalb bin ich Ihnen ja so dankbar, daß ich immer wieder einmal vorbeikommen darf, wenn ich mich in Amerika aufhalte.« »Ist schon gut. Aber trotzdem, Mr. Swedenberg, Haley und ich haben diesen Bau vor etwa drei Jahren von Ihnen gekauft, als ich im Inkasso-Büro anfing. Meines Erachtens hängen Sie viel zu sehr an diesem Heim und machen sich zu viele Gedanken.« Swedenberg schüttelte ablehnend den Kopf. »Ich hoffe nur, daß ich Ihren Freund nicht vertrieben habe. Als ich hier ankam, hatte er es plötzlich mit seinem Aufbruch ziemlich eilig, fürchte ich.« »Welcher Freund?« Ein Summer ertönte. »Und ich hoffe, ich habe seine Bilder nicht verdorben.« Wieder summte es. »Das Telefon!« erinnerte der Hauscomputer.
Verärgert starrte Ted den Lautsprecher an. »Bleiben Sie ruhig hier, Mr. Swedenberg. Fotografieren Sie weiter. Ich muß nur ans Telefon.« Er rannte an den Schlafabteilen vorbei zur Telefonbox des Schlafzimmers. Ein Schluchzen drang aus dem Lautsprecher, und Ted zerbiß einen Fluch. Der Mann mit dem rosigen Gesicht, der auf dem Bildschirm zu erkennen war, hatte sich als Uncle Sam verkleidet. Nur hing der graue Bart direkt unter seiner Nase und nicht am Kinn. Der Mann wischte sich gerade die Augen mit einem Taschentuch aus, das der Flagge der USA nachempfunden war. »Guten Morgen, Mr. Woodruff.« »Fällt es dir so schwer, Vater zu mir zu sagen oder Dad oder vielleicht sogar Pop? Würde dir davon etwa schlecht? Müßtest du kotzen?« »Höchstwahrscheinlich. Sie sind nicht mein Vater, Mr. Woodruff, Sie sind Haleys Vater. Überdies haben Sie Ihren Bart falsch befestigt.« »Du scheinst aber eine ganze Menge über die amerikanische Geschichte und den Bart von Uncle Sam zu wissen.« Haleys Vater rief von einer Straßenzelle aus an. Draußen im frühen Floridamorgen stand ein Lastwagen mit einem riesigen Dauerlutscher aus Plastik auf dem Dach geparkt. »Wo ist denn mein kleiner Liebling?« »Nicht hier.« »Hast du meine Tochter mit deiner verdammten Trägheit schon wieder aus dem Haus getrieben?« Woodruff nahm den rotweißblauen Zylinder vom Kopf. Im Innern befand sich ein Plastikcontainer mit Whisky. Der alte Mann nahm einen tiefen Schluck. »Prost«, machte Ted sich bemerkbar. »Wer würde nicht mit dem Saufen anfangen, wenn seine einzige Tochter mit einem Wahnsinnigen verheiratet ist und
sich nebenbei auch noch in ihrem miesen Job behaupten muß?« »Ich bin für Haleys Leben nicht verantwortlich. Sie haben ihr doch den Weg für ihr jetziges Dasein geebnet.« Der Container ließ sich nicht richtig schließen, und als Haleys Vater sich den Zylinder wieder auf den Kopf stülpte, sickerte ihm der Whisky in die Haare und über die Stirn. »Sie hatte so hervorragende Aussichten. Weißt du eigentlich noch, mit welchem Wert sie ihren 26-Q-Test abgeschlossen hat?« »Mit zweihundertvierzig, das haben Sie mir schon x-mal erzählt.« Ted beugte sich vor, verrenkte sich und konnte einen Blick auf seinen Vorgarten erhaschen. Swedenberg hielt sich noch immer dort auf. Offensichtlich weinte auch er. »Wo ist mein kleines Mädchen?« »Sie ist noch nicht hier! Sie hatte heute nacht Dienst im Kinderkrankenhaus – wie jede Woche.« »Wenn Haley mit dir glücklich wäre, dann würde sie nachts nie fortgehen. Sie würde bei dir bleiben.« »Vielleicht, Pop. Aber warum haben Sie sich eigentlich einen Bart ins Gesicht geklebt?« »Ich bin heute selbst mit einem der Lastwagen unterwegs. Auf diese Weise behalte ich alles im Griff.« Der alte Mann wies nach hinten auf den LKW. Eine Inschrift auf den Seitenflächen verriet seine Herkunft. Woodruffs Patriotisches Schnell-Müsli. »Tausende von Kindern im Süden warten allmorgendlich ungeduldig auf unsere Lastwagen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß du einen Menschen verstehen kannst, der in seiner Arbeit eine echte Berufung sieht. Bei dem miesen Job, den du hast, ist das ja auch kein Wunder.« »Verkleiden sich alle Ihre Fahrer als Uncle Sams?« »Einige sind mehr für Abraham Lincoln«, informierte Woodruff ihn. »Sag Haley bitte, sie möge doch ihren armen,
leidenden und einsamen Vater anrufen, sobald sie zu Hause auftaucht.« »Ich muß zurück. Draußen im Vorgarten wartet ein Typ auf mich, der…« »Wenn doch nur Haleys Mutter noch am Leben wäre. Und wenn mich mein kleiner Liebling nicht verlassen hätte. Wenn ich doch nur…« »Machen Sie’s gut. Gott schütze Amerika.« Ted schaltete den Schirm aus. »Und nimm mir ja keinen Anruf von diesem alten Narren mehr an!« »Das ist aber nicht die rechte Art, über den Vater Ihrer geliebten Frau zu reden«, tadelte der Hauscomputer. »Wenn ich nicht so ein gutes Herz hätte…« Ted schüttelte ratlos den Kopf. Dann kehrte er ans Fenster zurück. »Hallo, Mr. Swedenberg. Sie haben also einen Burschen in meinem Vorgarten gesehen, der das Haus fotografiert hat?« »Es muß nicht unbedingt eine Kamera gewesen sein. Mit Sicherheit war es irgendein Gerät, vielleicht sogar eine Kamera. War es vielleicht jemand, den Sie für einen bestimmten Job angeheuert haben?« »Ich habe noch nie jemanden für irgend etwas angeheuert. Wie sah der Kerl denn aus?« »Ich glaube, er war schwarz. Und dann erschien er mir für diesen wundervollen Morgen doch ziemlich eingepackt und vermummt.« Ted wandte sich an das Haus. »Und du hast nichts bemerkt?« »Nein, Sir«, erwiderte der Hauscomputer. »Außer Mr. Swedenberg haben wir niemanden gesehen. Und Mr. Swedenberg ist ja wohl über jeden Verdacht erhaben. Und wäre irgendeine Gefahr aufgetaucht, dann hätte die Alarmanlage bestimmt reagiert.« Ted runzelte nachdenklich die Stirn.
»Wahrscheinlich war es ein Handwerker. Diese Kerle haben ja jede Menge Elektronik an sich, damit sie keinen falschen Alarm auslösen.« Er drehte sich zum Fenster um. »Auf Wiedersehen, Mr. Swedenberg. Es war nett, daß Sie wieder einmal hereingeschaut haben.« Dann schaltete er das Mikrofon aus. Ted schlenderte die Rampe hinauf, die in den Wohnbereich des Hauses führte. Von dort würde er Haley sofort sehen, wenn sie von der Friedhofsschicht aus dem Kinderkrankenhaus nach Hause kam. Ein olivgrüner Sessel erwartete ihn an der Tür. Ted ließ sich hineinfallen, und der Sessel trug ihn hinüber zur Fernsehwand. Augenblicklich flackerte sie auf. Ein Gewirr von Leichen füllte den Bildschirm. Sie waren bis auf die Knochen abgemagert. »… und wieder hat sich eine kleine Nation, diesmal Angola, zu Tode gehungert. Gestern nacht sind offizielle Gesandte mit einem Flugzeug über die Hauptstadt hinweggeflogen und haben festgestellt, daß weniger als fünf Prozent der Gesamtbevölkerung noch am Leben sind.« Ein Kameraschwenk zeigte die verlassenen Straßen einer Stadt. Wohin man schaute, sah man nur Leichen. Ted wandte angewidert den Blick ab. »Ich möchte so etwas nicht sehen, vor allem nicht am frühen Morgen.« »Und wie fühlen Sie sich, wenn Sie Szenen wie diese sehen?« fragte eine tiefe, freundliche Stimme. »Vielleicht schuldig?« Sie gehörte Dr. Norvell Perola. Das war die Show, die Ted trotz allem sehen wollte. »Nun, Freunde, ich bin hier, um euch zu versichern, daß ihr euch überhaupt nicht schlecht zu fühlen braucht«, fuhr Perola fort. Er war ein Riese von Mann, und seine Glatze schimmerte
ein Scheinwerferlicht. Er grinste breit, und die Augen funkelten hinter den Gläsern einer altmodischen Brille aus Horn. Er hatte sich einen Tweedumhang über seinen einteiligen Lycraoverall geworfen. »Es ist nicht meine und auch nicht eure Schuld, daß ein Haufen Analphabeten nicht das eigene Land regieren kann. Niemand erwartet von euch, daß ihr die Verantwortung für alle Fehler und Katastrophen der dummen, dummen Welt auf eure Schultern ladet.« »Genau, das ist wahr«, meinte Ted halblaut und nickte zustimmend. Der Philosoph stand im strahlenden Sonnenschein auf einer gelbfarbenen Grasfläche. Im Hintergrund konnte man sanft gerundete Hügel erkennen, an deren Hängen kleine, schmucke Häuschen standen, die mit ihren Dächern muntere Farbkleckse auf die weiten Wiesenflächen tupften. »Hier in Utopia Ost konzentrieren wir uns ausschließlich auf uns selbst. Und genau das besagt auch meine neue Doktrin des gesunden Egoismus, Freunde, wir müssen erforschen, wer und was wir sind, müssen uns erkennen, akzeptieren… und sollten dann endlich unser Leben genießen!« Dr. Perola lachte herzlich und aufmunternd und atmete dann tief ein. »Ganz gleich, ob ihr hierher zu mir kommt und uns in unserer Mustersiedlung in der wundervollen Landschaft von Massachusetts besucht oder einfach jeden Morgen diese Sendung einschaltet, Freunde – allein der Gedanke an Utopia Ost wird euch helfen. Unser Gespräch wird sich heute morgen zum Beispiel…« Es summte. Der Sessel rollte automatisch mit Ted hinüber zu der Telefonbox. »Aber ich will nicht mehr mit diesem verrückten Uncle Sam reden!« Wieder summte es. Ted griff nach dem Hörer.
»Hallo?« Der tellergroße Schirm flackerte, dann stabilisierte sich darauf das Bild eines sommersprossigen Mannes, der etwa in Teds Alter war. Es war Wally Klennan, einer von Teds wenigen Freunden in Brimstone. »Ich werde unser gemeinsames Mittagessen heute wohl absagen müssen, Ted.« Wally arbeitete ebenfalls beim SIB, und die beiden Männer nahmen mindesten zweimal in der Woche ihr Mittagessen gemeinsam ein. »Was ist denn los?« wollte Ted wissen. »Ach, Connie hat sich wahrscheinlich wieder die Brasiliengrippe gefangen«, erklärte der Freund. »Zumindest sind wir überzeugt, daß es das ist. Unser Medo-Androide im Bezirk hat sie sich über Televisor angeschaut und meinte, daß alle Symptome auf diesen neuen Virus hinweisen. Deshalb muß ich wohl zu Hause bleiben, auf sie aufpassen und ihr regelmäßig die Spritzen geben.« »Kann das euer Medo-Robot nicht übernehmen?« »Der Blechkamerad ist schon wieder im Eimer«, stöhnte Wally. »Und eine Reparatur ist frühestens nächstes Jahr im April drin. Bestimmt sehen wir uns morgen.« »Okay. Dann grüß Connie von mir.« Ted schaltete das Telefon aus und ließ sich wieder vor die Fernsehwand rollen. Der Sessel war kaum zur Ruhe gekommen, als die Haustür zischend aufglitt. Haley kam herein. Sie war schlank, fast hager. Die siebenundzwanzigjährige Frau hatte eine fast knabenhafte Figur. Ihre dunklen Haare und ihr blasser Teint bildeten einen scharfen Kontrast. An diesem Morgen war ihre Frisur vollkommen zersaust, und unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ränder ab. »Du kommst aber spät«, meinte Ted und erhob sich.
»Hmm«, machte seine Frau nur. »Ist dir nicht nach Unterhaltung?« »Ach, Ted…« Ted ging ihr entgegen. »Ist etwas?« »Nein, wirklich nicht. Es ist nichts.« Haley schüttelte den Kopf. »War das Mr. Swedenberg draußen im Vorgarten?« »Ja.« Er strich ihr über die Wange. »Swedenberg meinte, er habe heute morgen jemand mit einer Kamera oder mit einem Abhörgerät vor unserem Haus gesehen. Das kommt mir ziemlich komisch vor.« Haley gab ein leises Summen von sich, sagte aber sonst kein Wort. »Ach ja, und dann hatte ich wieder diesen Traum, du weißt schon, den mit dem Koffer. Ich begreife nicht, warum…« »Du solltest wirklich mal mit Dr. Waggoner sprechen, Ted, oder mit sonst jemandem. Einen so langweiligen Traum sollte man wirklich nur höchstens einmal haben.« Sie atmete tief durch und rieb sich die Augen. »Ich gehe jetzt besser ins Bett. Wir sehen uns ja heute abend – wie immer.« »Haley, wärest du lieber eine Tänzerin geworden als…« »Wir können uns heute abend darüber unterhalten oder irgendwann mal.« Sie hauchte ihm einen Kuß auf das Kinn – ihre Lippen waren eiskalt – und schritt hinüber in den Schlafbereich. »Dein Vater hat nämlich angerufen, und er meint, du wärest bestimmt glücklicher, wenn du immer noch…« Sie seufzte auf. »Wahrscheinlich hat er wieder gesoffen. Er kommt immer wieder auf die Tanzerei zu sprechend, wenn er… Wir reden heute abend weiter.«
Sie verschwand in ihrem Schlafabteil. Ted ließ sich einfach nach hinten fallen, und der Sessel beeilte sich, ihn aufzufangen.
II
Ted schaltete die Morgennachrichten aus. Die Automatik seines Wagens schaltete sie wieder ein. »Der Bischof von Rio«, sagte die ziemlich unattraktive rothaarige Nachrichtensprecherin auf dem kleinen Bildschirm gerade, »wird immer noch in Brasilien vermißt.« Ted machte es sich in seinem Kontursitz bequem und trank schlürfend aus einer Tasse die vitaminangereicherte SynthoBouillon. Draußen schien die Sonne, und jenseits der beiden Fahrspuren des Stern 33 der New England Maut-Autobahn konnte er Bäume und Büsche erkennen. »Wie Sie sicher wissen«, fuhr die Sprecherin mit ihrem Bericht fort, »ist der Bischof in der letzten Woche mit dem Fallschirm über dem Dschungel im Mato Grosso abgesprungen. Er wollte die Regierungstruppen und ihre Offiziere der United States Military Force segnen, die in dieser von Aufständen erschütterten Gegend Brasiliens stationiert sind. Bisher hat man nur seine Mitra und Reste seines Fallschirms finden können. Hören Sie jetzt Ed Skeet via Satellit mit einem kurzen Bericht aus Rio.« Ted runzelte die Stirn. Warum wurde er durch diesen Bericht vom brasilianischen Krieg an seinen blödsinnigen Traum erinnert? »Hier spricht Ed Skeet. Ich stehe vor der Kirche Sao Norberto in Rio de Janeiro, wo gerade eine Bittmesse für den beliebten Bischof von Rio gelesen wird.« Skeet war ein kleiner, unscheinbarer Mann mit roten Haaren. »Auch Botschafter Plaut der Vereinigten Staaten wurde zu dieser Messe erwartet, doch auch er ist spurlos verschwunden. Man
befürchtet, daß er ebenfalls den pro-brasilianischen Guerillas zum Opfer gefallen ist, denen es gelungen ist, in den vergangenen Monaten in diesem Teil des Landes ein Schreckensregiment aufzubauen.« Ted schaltete auf einen anderen Kanal. »Und hier habe ich zur Abwechslung einmal eine gute Nachricht«, sagte der schwarze Nachrichtensprecher auf dem kleinen Schirm gerade. »Das Landwirtschaftsministerium meldet soeben, daß der Preis für Sojabohnen während der letzten dreißig Tage nur um 4,4 Prozent gestiegen ist. Diese neue Preissteigerung beweist, daß die Zeiten sich bessern und die Lebensqualität zunimmt, auch wenn die Steigerungsrate höher liegt als im vergangenen Monat, wo sie nur 2,7 Prozent betrug. Soviel von Bobby Bolden, dem Sprecher des Präsidenten, der diese Erklärung vorgestern abend im Weißen Haus auf Barbados verlesen hat. Sehen Sie jetzt Happy den Clown mit dem Wetterbericht von heute.« »Vierzig Tage Regen«, sagte Ted, als er die Nachrichten wieder abschaltete. »Laß sie aus«, befahl er der Wagenautomatik. »Für heute reicht mir das an Informationen.« Das kleine Visiphon meldete sich. Ted schaltete es ein, und seine Frau erschien auf dem Bildschirm. »Ist alles in Ordnung, Haley?« »Ja, mehr oder weniger. Ich bekam gerade einen Anruf von Captain Beck, und…« »Captain Beck?« »Du kennst ihn doch – Bill Beck.« »Jetzt hör mal zu, heute nacht war ich draußen und habe unser Pseudogras nachgemessen. In keiner Weise überschreitet seine Qualität die allgemeine Lebensqualitätsrate von Brimstone. Also wirklich… warum ist er jetzt Captain?« »Ich glaube, man hat aus dem Lebensqualitäts-Team eine Art Patrouille gemacht. Vorwiegend deshalb, damit Bill und seine
Leute diese hautengen, einteiligen blauen Uniformen tragen können mit den weißen Streifen an den Seiten.« »Hat er schon wieder eine neue Beschwerde?« fragte Ted. »Bill meint, der Zaun um unseren Ladeplatz hinge schief.« »Er ist nicht schief…« »Streite du dich mit ihm herum. Zumindest hat er von einigen Beschwerden gesprochen…« »Beschwerden? Unsinn. Niemand hat sich beschwert…« »Ist doch gut, Ted, ich habe schon einen Handwerker in Old Danbury benachrichtigt. Die sind darauf spezialisiert, schiefhängende Zäune wieder geradezurichten.« »Aber wenn nichts schief hängt, sehe ich nicht ein, warum ich wieder Geld ausgeben soll, um…« »Deswegen habe ich auch gar nicht angerufen«, unterbrach Haley ihn. »Das mit heute morgen tut mir leid. Ich wollte dich nicht so kurz abfertigen, als ich nach Hause kam. Und es tut mir auch leid, daß du immer noch diese Alpträume hast. Ich wünschte, ich wüßte, wie ich dir helfen kann.« »Damit muß ich ganz allein fertig werden«, sagte Ted. »Mach dir keine Sorgen. Wie war es denn heute nacht im Kinderkrankenhaus? Wie geht es dem kleinen Terry Malley?« »Wem?« »Dem kleinen Terry. Du hast mir doch erzählt, daß auch er Alpträume hat.« »Ach so, du meinst Little Terry.« Haley strich sich durch die Haare. »Er hat tief und fest geschlafen.« Nach einigen Sekunden des Schweigens meinte Ted: »Wir sollten mehr miteinander reden, Haley.« »Manchmal…« »Manchmal was?« »Ich wünschte, ich hätte vor unserer Hochzeit nicht die Fünf Jahres-Pille genommen. Wir haben immer noch anderthalb Jahre vor uns.« Sie wandte den Kopf. »Mr. Swedenberg
scheint schon wieder… Ted! Das ist gar nicht Mr. Swedenberg! Warte eine Sekunde!« »Was ist denn?« Ted starrte verwirrt auf den nun leeren Bildschirm. Deutlich konnte er über den Lautsprecher hören, wie seine Frau über die Außensprechanlage verschiedene Fragen stellte. Als Haley wieder zurückkehrte, berichtete sie: »Es war ein Schwarzer, Ted, eingemummt wie im tiefsten Winter.« »Das muß der Bursche sein, den Swedenberg vertrieben hat. Hast du ihn dir genau anschauen können?« »Nein. Ich kann nur sagen, daß er richtig winterlich eingepackt und vermummt war und daß es sich um einen Schwarzen handelte«, meinte sie und blickte über die Schulter. »Und er hatte irgendein tragbares Beobachtungsgerät bei sich. Als ich ihn fragte, was er in unserem Vorgarten zu suchen hätte, rannte er einfach davon.« »Sollte er sich noch einmal blicken lassen, dann benachrichtige sofort die Cops. Geh auf keinen Fall nach draußen und versuch nicht mit ihm ein Gespräch anzufangen. Rede nicht mit ihm, sondern ruf sofort die Polizei. Dann meldest du dich bei mir, und ich sehe zu, daß ich mich freimachen kann.« »Du brauchst wegen eines harmlosen Streuners nicht gerade deinen Job aufs Spiel zu setzen. Ich werde schon ganz gut allein fertig.« »Das ist kein Streuner. Ein Streuner hat kein Überwachungsgerät bei sich. Melde den Kerl der Polizei, wenn er wieder auftauchen sollte. Überdies kannst du auch mal nachschauen, warum der verdammte Hauscomputer nicht gewarnt hat.« »Ja, das tue ich. Aber jetzt reg dich nicht auf…« Ein lautes Hupen unterbrach sie.
»Verdammt«, meldete Ted sich wieder. »Ich bin schon fast an der Ausfahrt nach New Westport. Ich ruf dich aus dem Büro an.« »Mach’s gut, Liebling.« Die Magnetschiene gab ihn frei und leitete ihn auf die Manualfahrspur. Der Elektromotor des Wagens setzte sich in Gang, und Ted übernahm wieder die Kontrolle über die Maschine, während der automatische Highway den Wagen wieder völlig sich selbst überließ. Was war in dem Koffer, von dem er immer träumte? Eine Spionageausrüstung? Nein, sagte Ted sich, aber er war mit seiner Lösung nahe dran. Dann zwinkerte er verwirrt und fragte sich, warum er gerade daran gedacht hatte…
Das Staatliche Inkasso- und Schuldeneintreibe-Büro bestand aus fünfundsiebzig überkuppelten Räumen, die alle durch überdachte Lauframpen miteinander verbunden waren. Betrachtete man es aus der Ferne, so fühlte man sich an einen Haufen überdimensionaler Glocken erinnert. Teds Abteilung ragte hinaus über die trüben Fluten der Bucht und ruhte auf cremefarbenen Pfählen. Als Ted sein Büro betrat, flackerte bereits das junge, ungeduldige Gesicht von Jay Perlberg auf dem Sichtschirm in der Wand. »Na, hatten Sie ein angenehmes Frühstück?« wollte sein Abteilungschef wissen. »Sie sind wahrscheinlich bei einer zweiten Tasse Pseudokaffee hängengeblieben und hatten noch ein Schwätzchen mit Ihrer Frau, was?« Ted blickte einem Schwarm grauer Möwen nach, der seine Kreise draußen über der Bucht zog, und wagte es kaum, seinem Boß in die Augen zu sehen.
»Ich habe mich nur um acht Minuten verspätet.« Er ließ sich in den Sessel hinter seinem bumerangförmigen Schreibtisch fallen, dann schaltete er die Lesegeräte, die Identifikationssucher und den Kartenspeicher ein. »Einer der Gründe für mein Zuspätkommen ist ein Bursche, der…« »Wir«, unterbrach ihn der attraktive und gebräunte Perlberg, »regen uns nicht auf, wenn Sie sogar eine halbe Stunde zu spät erscheinen, Ted, solange Sie nur…« »Acht Minuten!« Winzige Gesichter glitten über die drei Schirme des Identitätssuchers. Gleichzeitig glühten rote Kreuze an bestimmten Punkten der Karten auf, die ebenfalls an einem Sichtschirm vorbeiwanderten. »Meine einzige Sorge sind Ihr Glück und Ihr Wohlbefinden«, versicherte Perlberg. »Sind Sie glücklich?« »Ja, wie eine Schwalbe im Sommer.« »Verstehen Sie sich mit Ihrer Frau?« »Alles läuft blendend. Ich kann nicht klagen.« Aus einem der Lautsprecher auf seinem Tisch drang die eintönige Stimme eines Sprechmechanismus. »… Robert Able wurde in den Anden in Südamerika lokalisiert. Sein noch unbezahlter Flugwagen wurde auf der anderen Straßenseite vor einem Paarungshaus gefunden…« »Okay, ich sehe ja Ihren guten Willen, die verlorene Zeit wiedergutzumachen«, sagte sein Boß. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Danach schaltete er ab. »Acht Minuten!« schleuderte Ted dem nun leeren Bildschirm anklagend entgegen. Ein weiteres Lesegerät schaltete sich ein. Es räusperte sich metallisch, dann begann es seine Meldung. »Wir haben unauffällig Leon Rovics lokalisiert, und zwar in der synthetischen Hühnerfarm in der Umgebung von Burlingame, Kalifornien. Sein noch unbezahlter Jet-Traktor
steht gegenüber vor der Versammlungshalle im Halteverbot…« Ted griff nach einem Magnetschreiber und machte eine Notiz auf einer bisher noch leeren Schreibfläche mit Landkarte. »Dieser Rovics ist gar nicht schlecht«, murmelte er vor sich hin. »Schon seit mindestens 2018 schafft er es immer wieder, uns durch die Lappen zu gehen. Mit all den Strafen und Verwarnungen auf dem Buckel ist der blöde Jet-Traktor sicher nicht mehr viel wert – höchstens dreieinhalbtausend Dollar.« Einer der Identifikationssucher piepte. Ein runder roter Kreis flackerte um eines der winzigen Gesichter auf. Das Band blieb stehen, und das Bild stabilisierte sich. Ted kniff die Augen zusammen und starrte das Gesicht an. Das Zeug, das sein Computerbett ihm in die Augen getupft hatte, ließ ihn seine Umgebung etwas verschwommen sehen. »He!« rief er aus. »Das ist doch Roosevelt Nixon Thomas, der Kerl mit den sechs unbezahlten Musikboxen! Wissen wir, wo er sich zur Zeit aufhält?« Auf einem der Kartenschirme leuchtete ein rotes Kreuz auf. »Unsere unauffällige Suche war erfolgreich. Der Mann, auf den die Beschreibung Roosevelt Nixon Thomas’ paßt, arbeitet als Wasserski-Lehrer in Mystic in Connecticut. Fünf der sechs unbezahlten Musikboxen sind in den Hallen einer geschlossenen Synthokrabbenfabrik gelagert. Sie befinden sich ganz in der Nähe…« »Fünf von sechs sind gar nicht so schlecht.« Ted tastete einen Marschbefehl auf seinem Auftragsterminal ein. Weitere Gesichter wanderten über den Schirm. Einer der anderen Schirme piepte wieder. Ein Gesicht stabilisierte sich. »Himmel«, schimpfte Ted. »Jetzt kommt mir ja nicht, daß auch der mit uns zu tun hat und in unserer Kartei ist!«
»Dies ist der allseits bekannte Reverend Jose S. Ortega, allgemein bekannt unter dem Namen Rev O«, erklärte das Lesegerät. »Schon lange suchen die Behörden nach ihm, vor allem die Gerichte haben sich an seine Fersen geheftet. Mit uns kam dieser berühmte Geistliche in Kontakt, weil er unter einem falschen Namen einen Stunner von Gunmartz bestellt hat und mit seiner Zahlung in Verzug geriet.« Rev O war etwa vierzig, hatte ein längliches Gesicht und ein dazu unproportional mächtiges Kinn. Trotzdem bot er einen angenehmen Anblick. Vor allem für einen Menschen, der im Grunde dem Tod geweiht war. Ted hatte schon oft Meldungen über Rev O in den Nachrichten gesehen. Normalerweise tauchte Reverend O immer auf, um irgendeine Aktion gegen die Regierung anzuführen oder irgendeinen Protest loszuwerden. Er verfügte offensichtlich über ein hohes Maß Sendungsbewußtsein, und war ganz bestimmt ein interessanter Mensch, wenn auch nicht so schillernd wie Dr. Norvell Perola. Ted begann eine Akte Rev O, indem er auf einen grünen Knopf auf seinem Tisch drückte. Ein Piepen ertönte. Etwas Sonderbares war auf dem Sichtschirm des Identifikators aufgetaucht. Es war keine Fotografie eines Gesichtes. Es war eher eine Zeichnung. Sie zeigte eine kleinen Jungen in einem langen Nachthemd. Ted runzelte die Stirn. »He, natürlich! So sieht mein Traum immer…« Dann verstummte er. Er brachte keinen Laut mehr hervor. Unverwandt starrte er den Schirm mit der Zeichnung an. Sein Bewußtsein sackte Stück für Stück weg, während er die Augen offen behielt.
Nachdem er fast zehn Minuten so gesessen hatte, betrat jemand, den er sehr gut kannte, den Raum. Er kam aus einer Tür, die sich an einer Stelle befand, wo man normalerweise nie eine Tür vermutet hätte – nämlich mitten in der Wand. Die Person näherte sich dem Mann am Tisch. Ihre Stimme klang angenehm. »Kommen Sie mit, Nemo.« Ted erhob sich und trat durch die Tür in die Wand…
III
Freitagmorgen. Zwei Tage später. Ted hatte an diesem Morgen zwei Seiten Notizen zu Dr. Perolas Vorlesung machen können, ohne gestört zu werden. Draußen regnete es, und die Luft war kalt und feucht. Der elektrische Kamin in der Mitte des Zimmers schaltete sich ein, und winzige Schwarzlichtreflexe tanzten über die Bildwand. Doch sie störten die Sendung und Dr. Perolas Ausführungen über den Begriff Egoismus kaum. »Wir brauchen keinen Haufen Bücher, um richtig glücklich und zufrieden zu sein. Mal ernsthaft, Freunde, je weniger wir über die Vergangenheit wissen, desto mehr können wir über die Zukunft erfahren.« Der hünenhafte glatzköpfige Professor hockte vor einem offenen Fenster seines Arbeitszimmers in Utopia Ost. In Massachusetts schien es nicht zu regnen. Zu seinen Füßen lag ein offener Sack mit einem Haufen Bücher darin. Dr. Perola beugte sich vor und griff nach einem Buch. »Was haben wir als nächstes? Giambattista Vico. Blödsinn. Wer liest schon so was?« Er schleuderte das Buch aus dem Fenster. »Und was ist das? Benedetto Croce. Genauso blödsinnig. Weg damit!« Ein Knistern ertönte von draußen. Ted zuckte zusammen, richtete sich auf und fragte den Hauscomputer: »Was ist da los?« »Nichts Besonderes«, drang es aus dem Lautsprecher über seinem Kopf. »Die Polizei scheint jemand zu verhaften.« »In unserem Vorgarten?«
Ted sprang auf und rannte zur Tür. Doch sie öffnete sich nicht. »Sind Sie sicher, daß Sie sich einmischen wollen?« fragte der Computer. »Mach endlich die Tür auf, verdammt!« Auf dem nassen Kunstrasen vor dem Haus hüpfte ein Neger herum und warf die Arme in die Luft. »Nerds! Schweine! Widerliche Farbs!« brüllte er dabei. Zwei Männer in den blauen Dienstanzügen der Connecticut Police näherten sich ihm und kreisten ihn vorsichtig ein. Jeder von ihnen hielt eine gefährlich aussehende graue Waffe in der Faust. Jetzt erst entdeckte der Neger Ted und riß sich den Schal vom Mund. »Sie stecken also auch mit denen unter einer Decke? Sie helfen ihnen sogar…« Lichtwolken lösten sich explosionsartig aus den Läufen der Waffen, und wieder ertönte dieses geheimnisvolle Knistern. Der schwarze Mann erstarrte, seine Arme hatte er immer noch hochgereckt. Dann brach er zusammen. Seine Arme und Beine zuckten konvulsivisch, als er über den kurzgeschorenen Kunstrasen rollte. Ted schaute die Polizisten ratlos an. »Was zum Teufel habt ihr mit ihm gemacht?« »Guten Morgen, Mr. Briar«, grüßte ihn einer der Uniformierten. Es war ein untersetzter, grinsender Mann mit dunklen Sommersprossen im Gesicht und roten Haaren. »Das ist nur eine Routineangelegenheit der Polizei. Sie können ruhig wieder ins Haus gehen und sich weiter das Programm anschauen.« Ted löste sich von der Tür und schlenderte über den beheizten Pfad nach unten in den Vorgarten. »Ist er tot? Was sind das für Pistolen?«
Der rothaarige Mann grinste. »Ich bin Sergeant Nestley. Wird genauso ausgesprochen wie der Name dieser bekannten Schokoladenfirma. Nur buchstabiere ich mich N-e-s-t-1-e-y. Mein Kollege hier ist Officer Knudsen.« »Das ist ein neues Stunnermodell«, erklärte der hagere und hellblonde Knudsen. »Die Polizei von Brimstone führt in dieser Woche damit einen praktischen Gebrauchstest durch.« »Die Dinger scheinen ja viel stärker zu sein als die alten. Zumindest erscheint mir der Zustand des armen Teufels bedenklich.« Ted betrat die Rasenfläche und ging hinüber zu dem Neger. Bei seinem Sturz hatte er einen Gegenstand in der Größe eines Ziegelsteins verloren. Ted bückte sich danach und wollte ihn aufheben. »Nicht berühren!« warnte Nestley ihn. »Lars, hol mal den Medo-Andy her!« Während Knudsen zu dem Luftgleiter eilte, fragte Ted: »Was soll das alles, Sergeant? Sie müssen nämlich wissen, daß dieser Kerl schon einmal hier war. Vielleicht ist er nur ein harmloser Spanner…« »Ich glaube, die ganze Angelegenheit ist doch etwas komplizierter.« Der sommersprossige Nestley grinste. »Aber ich kann Ihnen versichern, Mr. Briar, wir bringen alles wieder in Ordnung.« »Müssen meine Frau und ich aussagen oder vielleicht sogar eine Anzeige einreichen?« »Oberhaupt nicht nötig, Mr. Briar. Gegen diesen Burschen liegt schon genug vor.« »Wer ist das überhaupt?« wollte Ted wissen und betrachtete interessiert den bewußtlosen Neger. »Was führte er im Schilde?«
»Gewisse Vorschriften verbieten es uns, Ihnen darauf eine Antwort zu geben.« Ein weißer emaillierter Androide sprang aus dem Gleiter, der einige Zentimeter über dem Erdboden schwebte. Knudsen führte ihn hinüber zu dem Neger. Der Androide bückte sich quietschend und untersuchte den Bewußtlosen. »Vielen Dank für Ihre Mithilfe«, meinte Sergeant Nestley, als er als letzter wieder in den Gleiter stieg. Der Androide hatte den Schwarzen in das Fahrzeug gehoben, und Knudsen hatte es sich bereits auf dem Nebensitz bequem gemacht. »Kann ich denn nachher die Polizeistation in Brimstone anrufen, um zu erfahren, was das alles soll? Ich begreife immer noch nicht so richtig…« »Ich glaube, es wäre sinnvoller, wenn Sie warten, bis wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen.« »Gut gut, aber ich möchte doch wissen, warum der Bursche sich ausgerechnet für uns interessiert hat«, erwiderte Ted. »Auch weiß ich nicht, was er meinte, als er mich anbrüllte.« Nestley klopfte Ted grinsend auf die Schulter. »Sie tun uns wirklich einen Gefallen, wenn Sie über diesen Vorfall schweigen, bis wir Ihnen offiziell gestatten, darüber zu reden. Mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Ansonsten wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.« Ted blieb vor der Haustür stehen, bis der Gleiter in den grauen Morgen verschwunden war. Dann ging er wieder hinein und ließ sich von der Garderobe trocknen. Geduldig fuhr der Warmluftschlauch an ihm auf und ab. Schließlich ging Ted wieder ins Wohnzimmer. »Wer war dieser Bursche?« murmelte er dabei vor sich hin. Dr. Perolas Sendung war mittlerweile zu Ende. Der Nachspann glitt an seinem Gesicht vorbei, das der Bildschirm als letzte Einstellung zeigte. Ein unsichtbarer Ansager zählte auf: »Der Connecticut-TV-Kabel-Service brachte ihnen Folge
24 der Vorlesungsreihe von Dr. Perola. Zuschauer, die aktiv an diesem Kursus teilnehmen, sollen folgende Bücher vernichten: Scienza nuova von Giambattista Vico…« Ted blickte stirnrunzelnd zur Haustür. Haley war noch immer nicht von ihrer Friedhofsschicht auf dem Dynamo Hill zurückgekehrt. Er wollte endlich mit ihr reden, wollte ihr von dem schwarzen Mann erzählen und den Ereignissen dieses Morgens. Die Tür glitt zischend auf, und Haley betrat das Haus. Die Ringe unter ihren Augen waren noch dunkler, und der kurze Rock ihres Lycra-Overalls war zerknittert. »Guten Morgen«, sagte sie müde und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Du kommst ja noch später als sonst«, stellte Ted fest. »Also heute morgen war hier der Teufel los…« »Oh, Ted.« Haley winkte sich einen Sessel heran, ließ sich hineinfallen und streckte sich aus. »Ich bin jetzt nicht in der Stimmung für eine längere Unterhaltung.« »Okay, dann hör mir wenigstens zu. Du kannst dich doch noch an diesen schwarzen Burschen erinnern, der vor kurzen noch um unser Haus herumschlich, nicht wahr? Vor ein paar Minuten waren zwei Cops hier und haben ihn mitgenommen. Bevor sie ihn festsetzten…« »Laß uns doch heute abend darüber reden, wenn du Feierabend hast.« Haley streifte ihre Schuhe von den Füßen. »Wir hatten heute nacht einige Notaufnahmen. Ich bin todmüde.« »Sie haben mit einem neuen Stunnermodell auf den armen Teufel geschossen. Es hat ihn völlig umgehauen.« Haley stemmte sich aus dem Sessel hoch und schlurfte hinüber ins Schlafzimmer. »Wir haben heute abend doch genug Zeit. Warte bis dann. Ich möchte es wirklich hören, Ted, aber bitte nicht jetzt.«
»Heute abend haben wir keine Zeit und keine Gelegenheit«, erinnerte Ted seine Frau. »Heute haben wir doch unsere wöchentliche RF-Sitzung. Die Jakesens erwarten uns.« »Na gut, dann rufe ich dich im Büro an.« Sie eilte die Rampe hinauf. »Laß dich vom Hauscomputer rechtzeitig fertigmachen. Jay mag es nicht, wenn du immer zu spät kommst.« »Wie bitte?« Seine Frau wandte sich ab. »Ich sagte nur, daß Mr. Perlberg nach dem, was ich von dir gehört habe, sicher nicht erfreut sein wird, wenn du wieder zu spät im Büro auftauchst. Bis heute abend dann…« Sie verschwand im Schlafzimmer. Ted stand da und starrte die Tür an, durch die sie den Wohnraum verlassen hatte. Nach einigen Sekunden zuckte er die Achseln und überließ sich der Obhut des Hauscomputers.
IV
»Es müssen mindestens fünfzig gewesen sein… aber was sage ich? Ich las nachher die Anzahl der gefundenen Kadaver. Genau sechsundfünfzig dieser kleinen Nerds lebten in diesem verfallenen Teil von Bridgeport. Und zwar alle Arten… Foxterrier, Collies, Foxhounds, Schnauzer, Beagles, Schäferhunde… Wir kamen ziemlich niedrig über der Straße herein, auf der sie sich herumtrieben. Ich steuere den Gleiter und Rick Marshall… Ihr alle kennt doch Marshall, nicht wahr? Er selbst ist ein Cyborg – er und seine Frau wohnen drüben in Redding. Rick hat eine tödliche Strahlendosis abbekommen, und man mußte einiges bei ihm austauschen. Nun gut, wir kommen also herein, etwa dreißig Meter hoch, und ich zeige Rick…« »Tote Hunde«, klagte Jessica Jakesen. »Ich höre immer nur von toten Hunden. Und wenn es keine toten Hunde sind, dann tote Katzen. Und in der letzten Woche waren es sogar einmal tote Affen.« »Ach ja, habe ich euch eigentlich davon schon erzählt?« fragte Bruce Jakesen die in seinem Wohnzimmer Versammelten. »Es waren etwa zwei Dutzend… Ach was sage ich. Nachher bekam ich das Zählergebnis. Es waren siebenundzwanzig. Nun gut, da lebten also siebenundzwanzig von diesen kleinen Farbs in einem Sektor, der früher einmal Bronx hieß. Habt ihr schon mal etwas von der Bronx gehört? Also, wir kommen niedrig herein…« »Ahem. Ahem.« Die Robot-Bar der Jakesens, ein zylindrischer, auf Hochglanz polierter Mechanismus, rollte in den Kreis der Leute. »Ich möchte noch eine zweite Runde
servieren, bevor Sie mit Ihrer heutigen Richtig-Falsch Mechano-Therapie beginnen.« »Ich bekomme noch einen Fast-Wodka«, sagte Haley. Douglas Fine zündete sich eine Sellerie-Zigarre an, hustete und bestellte: »Einen doppelten Pseudo-Bourbon mit Eis.« Seine Frau Dory rümpfte die Nase. »Ich möchte nichts mehr, danke.« Ted schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, für mich auch nichts mehr.« Der erste Drink hatte ihn fast umgehauen. Cuz McAlpin meinte: »Das gleiche noch mal, aber diesmal einen Doppelten.« Wally Klennan sagte: »Ich glaube, ich trinke noch ein Diätbier. Und du, Connie, nimmst besser nichts mehr, denn dich hat es jetzt schon fast erwischt.« »Ja«, pflichtete seine Frau ihm bei. »Ich verzichte gern.« Nachdem sie die Bestellung aufgenommen hatte, verbeugte die Robot-Bar sich und begann, die Drinks zu mixen. »Ihr Burschen von der Haustier-Vernichtung«, sagte Fine zu seinem Gastgeber, »solltet doch lieber Wiederbelebte einsetzen. Das ist viel ungefährlicher, als wenn ihr selbst…« »Zombies«, unterbrach Jakesen ihn, »können wohl kaum die Arbeit von Menschen übernehmen.« »Verdammt, nenn sie nicht immer Zombies, Bruce!« Fine erhob sich halb aus seinem Sessel. »Die meiste Zeit bei uns in der Reanimations-Forschung widmen wir der Öffentlichkeitsarbeit, um…« »Regt euch doch nicht auf«, versuchte McAlpin, den aufgebrachten Mann zu besänftigen. »Ihr braucht nur mal ein geruhsames Wochenende in einem der Torchy Badehäuser. Dann würdet ihr nicht dauernd PR-Arbeit für eure verfluchten Arbeitsstellen leisten. Immer wenn ihr nur den Mund aufmacht…«
»Machst du denn nicht das gleiche?« fragte Haley, während die Robot-Bar ihr den bestellten Drink reichte. Grinsend meinte Glad McAlpin: »Aber Cuz macht es immer so nett. Sieh doch nur dieses verschmitzte Lächeln. Das kann dir doch nichts ausmachen, oder?« »Genau«, pflichtete McAlpin seiner Frau bei. »Das Leben ist viel zu kurz, um es ernst zu nehmen. Eßt, trinkt, freut euch des Lebens, und geht einmal in der Woche in ein TorchyBadehaus.« »In einen Puff«, sagte Jakesen. »Das sind diese Schuppen von Torchy nämlich in Wirklichkeit.« McAlpin zuckte die Achseln und kicherte. »Mir ist es gleich, welche Bezeichnung ihr dafür habt, solange ihr nur hingeht. Puff, Freudenhaus, Badehaus. So denke ich nämlich über Public Relations. Wichtig ist doch nur, den Namen ins Bewußtsein der Leute zu bringen…« »Ihr alle scheint mit eurer Arbeit richtig zu leben«, stellte Ted fest. »Ihr identifiziert euch damit, nicht wahr?« »Tust du das denn nicht?« Jakesen erhob sich. »Ich für meinen Teil bin überzeugt, daß ich für die Gesellschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts wertvolle Arbeit leiste. So wie es im Moment mit den Lebensmittelvorräten aussieht, ist die Haltung von Haustieren einfach nicht mehr…« »Das ist doch alles Propaganda«, sagte Haley. »Du meinst ja gar nicht, was du sagst.« »Oh, das stimmt nicht«, mischte Jessica sich ein. »Er glaubt wirklich an das, was er sagt. Das weiß ich genau.« »Und selbst wenn«, beharrte Haley auf ihrer Meinung und verschränkte die Hände. »Für mich ist er nur…« »Es ist schon fast neun Uhr«, unterbrach Jakesen sie. »Wir müssen endlich mit unserer RF-Sitzung beginnen. Barney, würdest du jetzt bitte das Zimmer verlassen und die RFMaschine reinschicken?«
»Ja, Sir. Wird sofort erledigt.« Die Robot-Bar produzierte eine tiefe Verbeugung, ehe sie aus dem Zimmer rollte. Wally meinte: »Ich wußte gar nicht, daß du das Ungetüm Barney nennst. Ein lustiger Name für einen Roboter.« »Ja, das ist wirklich ein lustiger Name«, pflichtete ihm seine Frau bei. »Jetzt liefert ihm nur nicht das Stichwort«, warnte Jessica. »Wenn er mit diesem Thema anfängt, dauert es Stunden, bis man ihn bremsen kann.« »Als ich noch ein junger Mann war«, begann Jakesen, »wuchs ich im Washington-Oregon-Territorium auf. Damals hing ich immer…« »Spar dir das für die Sitzung auf«, riet Haley ihm. Ted beugte sich vor. »Laß ihn seine Geschichte doch erzählen, wenn er sie unbedingt loswerden will.« »Warum?« »Nun, er ist…« »Nein, nein«, meinte ihr Gastgeber. »Haley hat recht. Ich sollte mich nicht in den Vordergrund drängen.« Ein rechteckiger, mannsgroßer Mechanismus glitt auf sechs Rädern herein. Er war in Stahlblau gehalten, und ein Gewirr von Drähten und Leitungen hing von ihm herab. »Sind alle bereit für einen wunderschönen, erholsamen Abend?« fragte die RF-Maschine. Der Lautsprecher befand sich im Boden des Gerätes und ließ die Stimme leicht verhallt und gedämpft klingen. »Okay, dann wollen wir anfangen.« Eine Klappe an der Seite der Maschine öffnete sich, und Drähte rollten sich heraus. Jeder der zehn Leute im Wohnzimmer der Jakesens ergriff eine Leitung. An jedem Ende hing ein Armband aus Syntho-Haut.
Als alle die Armbänder angelegt hatten, ergriff Jakesen das Wort. »Dann los. Letzte Woche kamen wir überein, daß das Thema in dieser Woche noch einmal die Kindheit sein sollte.« »Mir hängt es bald schon zum Hals heraus, die Kindheitserlebnisse anderer Leute kennenzulernen«, bemerkte Fine unwillig. Die Maschine hupte. »Das stimmt nicht.« »Diesmal haben wir dich erwischt, Doug«, stellte McAlpin triumphierend fest. »Vielleicht hast du Lust, mit deinem Bericht anzufangen, Doug«, schlug Jakesen vor. »Nein, habe ich nicht.« Wieder ertönte ein Hupton. »Na gut, dann bin ich eben der erste.« Fine lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Wie ihr wißt, bin ich in Kanada aufgewachsen. An die ersten Jahre kann ich mich kaum noch erinnern…« Es hupte. »Na ja, einige Erlebnisse sind mir doch noch recht geläufig. Also…« Ted hörte nicht mehr weiter zu. Irgendwie fühlte er sich leicht benebelt. Nur ein Drink, sagte er sich. Vielleicht hätte ich nach den Anti-Streß-Kapseln, die ich mir von Haley geliehen habe, doch nichts trinken sollen. Ich fühle mich, als wäre ich besoffen. Vielleicht ist auch nur der verrückte Job daran schuld. Ist schon komisch, wie heiß und innig diese Typen ihre Arbeit lieben. Sie verteidigen sie sogar. Also dazu wäre ich nicht in der Lage. Na ja, das SIB ist schon okay, aber… aber was? Womit sollte ich sonst meinen Lebensunterhalt verdienen? Als ich damals nach dem College den Test bei der Arbeitsberatung machte, sagte man mir, daß ich gerade für diesen Job besonders geeignet sei.
Und die ganzen weiteren Tests und Prüfungen beim SIB haben das bestätigt. Und trotzdem bin ich irgendwie… »Du bist dran, Ted.« »Was?« »Wir machen diesmal die Runde im Uhrzeigersinn«, erklärte Jakesen ihm. »Ach ja.« Ted gähnte und rückte das Armband aus SynthoHaut zurecht. »Kindheit… die genaueste und lebendigste Erinnerung an meine Kindheit ist… eine friedliche Straße. Die Häuser sind… sie sind so ganz anders als die Häuser, in denen wir heutzutage leben. Die meisten von ihnen sind zwei Stockwerke hoch. Sie sind rechteckig gebaut. Sie verfügen über großzügige Gärten, und rechts und links neben den Fenstern hängen buntbemalte Läden. Es ist ein wundervoller Tag im Sommer, und ich schlendere durch diese friedliche malerische Straße. Menschen sitzen gemütlich in den Gärten vor den Häusern, und Hunde haben sich in den Schatten der Bäume zurückgezogen und halten dort ein Schläfchen. Nur eines ist komisch… ich trage ein altmodisches Nachthemd. Ja, es ist ein fußlanges, altmodisches Nachthemd…« Ein Hupton unterbrach ihn. »Ich wandere durch die Straße in diesem langen weißen Nachthemd, und den Leuten scheint es überhaupt nicht aufzufallen. Nein, sie nehmen keine Notiz…« Ein Hupton. »Du erzählst uns etwas Falsches, Ted«, erinnerte Jakesen ihn. »Zumindest stellt die Maschine das fest.« »Nein, das alles ist die Wahrheit.« Haley drückte seine Hand. »Ted, du solltest lieber…« »All das habe ich wirklich erlebt«, blieb Ted stur. »Ach ja – und ich trug diesen komischen Koffer. Ich sollte wohl für meine Eltern eine Besorgung machen, wenn sie mir auch nicht
verraten haben, was sich in dem Koffer befindet. Auch das ist recht sonderbar, weil sie mir sonst immer…« Erneut hupte es. »Halte dich lieber an die Regeln, Ted«, riet Glad McAlpin. »Sonst ist die ganze Therapie völlig sinnlos für dich. Wenn die Maschine dich bei einer Lüge erwischt…« »Ich sage die Wahrheit!« Jakesen schüttelte den Kopf. »Aber die Maschine…« »Dann irrt die Maschine sich eben!« Plötzlich schien der Apparat vom Boden hochzuspringen. Fast einen Meter hoch wurde der Kasten geschleudert, dann krachte er wieder zurück und kippte dröhnend auf die Seite. »He!« rief Wally aus. »He!« rief auch seine Frau. »Verdammt, mein Armband ist weg«, stellte Fine fest. Die Kabel und Leitungen, die die Anwesenden mit der Maschine verbanden, wurden durch das Umkippen des Gerätes gekappt. Während er sein Armband löste, ging Jakesen neben der umgekippten Maschine in die Knie und untersuchte sie. »So etwas hat sie bisher noch nie gemacht«, murmelte er entgeistert. »So ist sie noch nie gesprungen.« »Offensichtlich funktioniert sie nicht mehr richtig«, vermutete Fine. »Heutzutage ist überhaupt nichts mehr richtig in Ordnung.« »Ich kann mir das Ding ja mal anschauen«, bot McAlpin an. »Ich hab schon ganz andere Geräte repariert.« »Wer hat sie eigentlich so herumhüpfen lassen?« fragte Jakesen ratlos. Ich war es, meinte Ted. Aber niemand hörte ihn, denn er dachte es nur…
V
Es regnete wieder an diesem Tag. Laut prasselten die Tropfen auf das schmale Strandstück unter Teds Bürofenster. »… gefunden und identifiziert wurde Nils H. Welker, der in Texas-2 gesucht wird. Er ist seit etwa anderthalb Jahren mit den Zahlungen für sein Sonnenenergie-Dach im Verzug…« berichtete gerade die Computerstimme aus dem Lautsprecher auf Teds Arbeitstisch. Ted beobachtete drei Möwen, die am Strand hockten. Für das, was er am letzten Freitag bei den Jakesens gemacht hatte, hatte er immer noch keine hinreichende Erklärung gefunden. Vielleicht war es wirklich ein Defekt in der Maschine, sagte er sich. Gut, aber immerhin funktionierte das Ding fehlerfrei, nachdem man es wieder aufgestellt hatte. Nein, ich bin ziemlich sicher, daß ich diesen Sprung bewirkt habe, daß ich irgend etwas angestellt habe, das die Maschine durchdrehen ließ. Dabei habe ich sie noch nicht einmal berührt. Trotzdem ist es einfach unmöglich… Ein Piepton unterbrach seine Gedankenkette. »He, da ist ja dieser Bursche in seinem Nachthemd schon wieder!« Eine Zeichnung hatte sich auf einem der Bildschirme des Identifikators stabilisiert. Ted starrte das Bild an und sackte auf seinem Sessel zurück. Nach einigen Minuten öffnete sich wieder die Tür. Der attraktive Jay Perlberg tauchte in der Öffnung auf. Ted war so programmiert, daß er ihn in diesem Moment nicht erkannte. »Kommen Sie mit, Nemo«, sagte Perlberg und gab ihm ein Zeichen.
Ted erhob sich und schritt steifbeinig auf die Öffnung in der Wand zu. Dahinter erstreckte sich ein abwärts führender Gang. Ted trat über die Schwelle. »Heute bekommen Sie einen ganz einfachen Auftrag, Nemo«, informierte Perlberg ihn. Nickend folgte Ted dem Mann in die Tiefe.
Agent Joe Roscoe riß den Verpflegungsbeutel auf und schnüffelte an dem Sandwich. »Na ja«, meinte er naserümpfend. »Das Ding riecht wenigstens nach Corned beef. Vielleicht sind Sie noch zu jung, um sich an echtes Corned beef zu erinnern, aber ich kenne das Zeug noch. Ich war lange hinter diesen Schweinen in der Cafeteria der Totalen Sicherheits-Agentur her. Die sollten endlich eine andere Marke künstlichen Corned beefs auf den Markt bringen, und schließlich strichen sie die Segel. Mal sehen, wie das neue Zeug schmeckt. Möchten Sie etwas von meiner garantiert koscheren Dillsauce?« »Nein, danke«, erwiderte Ted. Als Agent Nemo war seine Stimme etwas tiefer und volltönender. »Schauen Sie doch mal nach unten, ja? Dort habe ich gelebt, als ich noch ein Kind war, ja, genau da, wo der Rauch aufsteigt.« Agent Roscoe war ein rundlicher Mann von etwa fünfundvierzig Jahren. Er hockte mit gespreizten Beinen auf seinem Sitz, damit er ungehindert durch das Beobachtungsfenster im Boden des automatischen Luftgleiters blicken konnte. »Jetzt ist das in New Jersey die größte Abfallhalde. Und das war mal meine Heimatstadt. Hier stand auch mal ein…« Er biß ein Stück von seinem Sandwich ab und runzelte die Stirn. »Naja, der Geschmack ist fast richtig, aber auch nur fast.«
Ted saß steif und aufrecht auf seinem Platz und hatte die Hände im Schoß gefaltet. Wenn er wieder an seinen Tisch in seinem Büro in New Westport zurückkehrte, würde er sich an diesen Ausflug nicht mehr erinnern können. Nach einigen prüfenden Bissen von seinem Sandwich sagte Roscoe: »Die ganze Sache heute morgen ist die reinste Verschwendung an Personal. Ein ganz primitiver Greif-Job, und die TSA setzt zwei ihrer besten Männer ein.« »Ist schon blöd«, stimmte Ted seinem Kollegen zu. »Und die Sache macht noch nicht einmal Spaß.« Agent Roscoe vertilgte den letzten Bissen seines Sandwiches. »Ich verlange ja gar nicht, daß wir bei jedem Einsatz irgendeinen Regierungsgegner erledigen sollen, aber wenigstens sollten wir doch mal etwas Wichtiges beschaffen können.« »Na ja, im Grunde ist es mir gleichgültig, was ich hole.« »Kann ich verstehen, immerhin sind Sie ja nicht so wie ich auf eine Karriere innerhalb der TSA angewiesen.« »Zielbereich ist erreicht«, meldete die Automatik ihres Luftgleiters. Roscoe spreizte wieder die Beine und schaute nach unten. »Ja, da unten liegt Princeton. Wir können anfangen. Zuerst einmal müssen wir nach Professor Ackroyds Laboratorium Ausschau halten.« Der Gleiter änderte seinen Kurs und begann einen engen Kreis am Morgenhimmel. »An diesen Teil werde ich mich nie gewöhnen«, gestand der Agent Roscoe und schüttelte den Kopf. »Das ist eine verrückte Sache, ganz gleich, wie oft…« »Jetzt halten Sie den Mund, bis wir das Notizbuch haben«, befahl Ted ihm. »Halten Sie lieber die Kiste bereit.« Er entspannte sich und schloß die Augen. »Dr. Ackroyd hält sich nicht in seinem Labor auf.«
»Natürlich nicht. Nach unseren Informationen nimmt er gerade in Pittsburgh an einem Kongreß teil, und deshalb…« »Das Notizbuch, hinter dem wir her sind, liegt im Wandsafe.« Ted konnte alles ganz genau sehen – die fensterlose Zelle, die das Arbeitszimmer des Professors darstellte, den orangefarbenen Arbeitstisch, den in die Wand eingelassenen Safe. »Okay, dann wollen wir uns mal um das Buch kümmern.« Einige Sekunden verstrichen, und plötzlich materialisierte das in rotes Vinyl gebundene Notizbuch auf Teds ausgestreckter Handfläche. »Ihr Teleks seid aber auch wirklich… Na ja, die Pflicht ruft.« Roscoe nahm Ted das Buch aus der Hand und schob es in die Kopierbox neben seinem Sitz. Ein Klingelzeichen ertönte, und eine genaue Kopie des Notizbuches rutschte aus einem Schlitz, während das echte Exemplar in einen Auffangkorb plumpste. Roscoe reichte Ted das Original. Ted legte das Buch auf die Knie, schloß wieder die Augen und konzentrierte sich. Das Buch schien sich in nichts aufzulösen. »So, jetzt liegt es wieder unversehrt im Safe.« »Dann nichts wie ab in die Heimat«, befahl Roscoe der automatischen Steuerung des Gleiters und packte die Notizbuchkopie in einen Plastiksack. »Gut gemacht, Agent Nemo.« »Danke für die Blumen«, erwiderte Ted grinsend und lehnte sich zurück.
Ein Schnarren ertönte von der Tür. »… die patriotischen Superkekse sollen für die Kinder eine Art Symbol sein, das…«
»Dad, ich glaube, da steht jemand vor der Tür. Ich melde mich wieder bei dir, und wir setzen die Unterhaltung fort.« »Wenn ich dann noch am Leben bin.« Woodruff, der diesmal einen zweiteiligen Busineßanzug trug und natürlich seinen Uncle-Sam-Hut, ließ sich mit dem Oberkörper auf seinen Schreibtisch sinken und begann zu schluchzen. Haley lächelte aufmunternd. »Natürlich bist du dann noch am Leben, Dad.« Wieder meldete sich der Türsummer. »Wenn du doch nur mit dem Tan…« »Mach’s gut, Dad.« Haley schaltete einfach das Visiphon aus. Draußen vor der Tür ertönte ein Schnarren, dann ein Klappern, und dann wurde es plötzlich still. »Sie werden sich wundern, wenn Sie ihn jetzt zu Gesicht bekommen«, bemerkte der Hauscomputer mit seiner blechernen Stimme. »Jetzt mach schon die Tür auf.« Auf dem beheizten Pfad hüpfte ein Mann mit schütteren Haaren auf einem Fuß herum. »Ich bin einfach losgezogen und habe mir ein neues Paar gekauft, Haley.« Er schraubte seinen zweiten mit Rädern versehenen Fuß ab und ersetzte ihn durch einen Gehfuß. Dann hielt er die beiden buntlackierten Geräte hoch und strahlte die junge Frau an. »Sie haben eine höhere Leistung, und sie sehen auch noch viel schöner aus.« Haley nickte widerwillig. »Meinen Sie nicht, Dr. Waggoner, daß Sie mich mit Ihren neuen Füßen nur wieder einem Test unterziehen wollen? Ich frage mich dabei, ob ich nicht noch viel natürlicher und spontaner reagieren sollte.«
Mit leichter Schlagseite nach rechts betrat ihr CyborgTherapeut den Wohnbereich. »Wir diskutierten im Geschäft über die kleinen silbernen Schwingen, die seitlich an den Füßen angebracht sind«, meinte er, als er die motorisierten Füße an der Garderobe abstellte. »Natürlich sind sie ein bißchen auffällig, wenn sie andererseits aber auch einen gewissen, gediegenen Geschmack verraten. Irgendwie beweisen sie ein Bewußtsein über die Werte des Lebens, zum Beispiel der alten Göttermythologie… Was, Haley, würden Sie denn zu mir sagen, wenn Sie nicht mehr ausgesprochen höflich wären?« Haley machte es sich in Teds Sessel bequem. »Nun, Sie sind ein hervorragender Therapeut, und ich glaube sogar, daß Sie mir sehr helfen, doch andererseits muß ich zugeben, daß Menschen mit einem ganzen Park verschiedener Füße mich irgendwie verwirren.« Dr. Waggoner schraubte seine linke Hand ab, ließ sie in die Tasche gleiten, und montierte dafür einen Recorder-Kasten an den Armstumpf. »Gut, und was sonst noch?« »Das ist für mich eine Frage der Identität«, fuhr die junge Frau fort. »Immer, wenn ich Menschen mit so vielen Ersatzteilen sehe, frage ich mich, wo die Persönlichkeit dieser Menschen sich befindet und inwieweit man sie als Individuen ansehen kann.« »Haben Sie heute schon mit Ihrem Vater gesprochen?« »Ja, er hat mich angerufen, um sich mit mir über Hotdogs, Kekse und wer weiß was noch zu unterhalten«, informierte Haley ihren Besucher. »Er droht mir immer noch, sich umzubringen, wenn ich mich nicht endlich dazu aufraffe, regelmäßig nach ihm zu schauen. Seine neuen patriotischen Superkekse scheinen sich in diesem Monat besonders schlecht zu verkaufen. Der Umsatz ist angeblich um 6,3 Prozent
gesackt, und so etwas verursacht bei ihm immer Depressionen.« Dr. Waggoner öffnete eine Klappe in seinen Oberschenkeln und zog teleskopartige Beine heraus. Dann hockte er sich damit neben Haley. »Diese Superkekse spielen doch immer die Nationalhymne, wenn man hineinbeißt, nicht wahr?« »Nein, nein. Sie verwechseln das mit dem Glory-Burger. Die patriotischen Superkekse sind rot-weiß-blau mit Sternen und Streifen wie die amerikanische Flagge.« »Wird er Selbstmord begehen?« »Nein, mit Sicherheit nicht. Da besteht keine Chance.« »Dann vergessen Sie es.« »Und doch könnte er… ich muß zugeben, er würde mir sehr fehlen.« »Und wie geht es Ted?« »Er hat immer noch diese Alpträume. Meinen Sie, das kommt daher, daß er einen Verdacht hat, wo ich mich nachts in Wirklichkeit aufhalte?« »Glauben Sie es?« Haley zuckte die Achseln. »Daher kommen seine Schwierigkeiten wohl nicht. Doch sollte… sollte ich ihm nicht helfen?« »Was macht Ted denn so?« »Sicher, ich weiß, er sollte sich selbst aus dem Schlamassel ziehen, aber…« Wieder zuckte sie die Achseln. »Wenn ich mir nicht um Ted und um meinen Vater dauernd Sorgen machen würde, dann…« Dr. Waggoner harrte geduldig aus, bis sie den Satz beendete. Ein Summen unterbrach die Unterhaltung jedoch. »Diesen Anruf sollten Sie annehmen«, riet der Hauscomputer. »Es ist Colonel Beck.« »Colonel?«
»Die Bosse vom Lebensstandard haben ihn befördert.« Haley versuchte, sich nicht ablenken zu lassen und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Therapeuten. Doch der Anrufer blieb hartnäckig. Erneut ertönte das Summen des Visiphons. Haley seufzte ergeben auf. »Ich glaube, ich muß doch rangehen.«
VI
Ein penetranter Geruch nach Schokoladenkuchen lag in der Luft. Der Duft drang aus den Geruchsdüsen an der Decke, wallte über die Köpfe der Menschen im Evriman Einkaufscenter hinweg, ergoß sich in die Plastikkorridore und hüllte alles ein. Der pensionierte Cyborg nicht weit vor Ted verkrampfte die Aluminiumhände in seiner Brust. »Oh, verdammt«, keuchte er. »Meine Allergie!« Dann sank er in die Knie. Ted eilte zu ihm hin. »Was ist los?« »Mein Atemsystem streikt«, ächzte der alte Mann. »Ich bin gegen Schokolade allergisch…« »Offensichtlich sind die Geruchsdüsen nicht ganz in Ordnung. Man sollte sie endlich einmal reparieren lassen…« »Oh!« Der alte Cyborg streckte auf dem Korridor zwischen den Abteilungen des Einkaufscenters alle viere von sich. »Mein… Atomiseur…mein Inhalator…« »Ich bleibe bei Ihnen und helfe Ihnen. Wo haben Sie das Ding? Ich hole es für Sie heraus.« Ted tastete den auf dem letzten Loch pfeifenden Cyborg ab. »Nein, nein… Idiot… in meinem Finger… eingebaut…« »Ach ja, sicher doch.« Ted griff nach der rechten Aluminiumhand des Mannes. »Und in welchem Finger?« »Der rote Fingernagel… drücken Sie drauf…« Auch an diesem Morgen hatte Teds Bett ihm die falsche Flüssigkeit in die Augen gesprüht, ehe es ihm die Kontaktlinsen eingesetzt hatte, deshalb sah er schon wieder
seine Umgebung nur verschwommen und undeutlich. Der Nagel des Mittelfingers erschien ihm daher mehr oder weniger rot. Ted verdrehte den Arm des Mannes so, daß der Mittelfinger genau auf seinen aufklaffenden Mund zielte. Dann drückte er auf den kleinen Knopf am Knöchel. »So, gleich geht es Ihnen besser!« Ein dünner Strahl einer schwarzen Flüssigkeit schoß dem alten Mann mitten ins Gesicht. »Idiot«, schimpfte er. »Das ist doch Maschinenöl!« »Okay, Verzeihung. War wohl der falsche Finger. Wie wäre es denn mit dem?« Er machte einen zweiten Versuch. Diesmal ergoß sich eine Wolke Enthaarungsschaum über das Gesicht des winselnden Cyborg. »Sie gottverdammter Idiot! Stützen Sie mich, dann bediene ich den richtigen Finger selbst.« Ted half dem alten Mann, sich aufzusetzen. »Sie hätten sie besser bezeichnen sollen. Diese beiden hier zum Beispiel, erscheinen mir rot, deshalb…« Der alte Cyborg entriß Ted seine Hand, streckte seine kleinen Finger aus und steckte ihn sich in den Mund. Dann drückte er auf den Knöchel. »Nun, ich hoffe, Sie fühlen sich gleich besser.« Ted ließ den alten Mann los, und er kippte gleich wieder um. Ted hatte es nun eilig, und er wühlte sich durch das Gedränge. »Guten Morgen, sehr geehrte Kundschaft«, erklang eine Stimme über den Köpfen der Einkäufer. »In unserer Filiale in New Westport bieten wir am heutigen Samstag als Sonderangebot Pseudo-Schokoladenkuchen an. Anderthalb Pfund für zwei Dollar. Sie finden diese Köstlichkeit in der Lebensmittelabteilung. Ja, und den wundervollen Duft dieser Delikatesse riechen Sie im Augenblick im ganzen Haus. Und vergessen Sie nicht – sollten Sie keinen Schokoladenkuchen
mögen, so haben wir Tausende anderer Waren, die Ihr Herz erfreuen. Wie unser Slogan auch besagt: Evriman hat Waren für jedermann!« »Oh«, keuchte der alte Cyborg hinter Ted. Ted eilte weiter. An den Wänden befanden sich Hunderte von Klarsichtboxen. Jede war mit Lebensmittelartikeln gefüllt und wartete auf den geeigneten Käufer. »Ich hätte diesen alten Bastard von Anfang an liegenlassen sollen«, sagte Ted sich und verlangsamte seinen Schritt. Der Schokoladengestank war hier nicht mehr so stark. »Was sollte ich eigentlich holen?« Er nahm die Memokugel aus der Tasche und schob sie sich ins Ohr. »Ich weiß«, hörte er die Stimme seiner Frau, »daß ich auch manchmal einkaufen sollte, Ted, aber wir haben im Krankenhaus wieder einmal Notdienst, und ich werde wohl das ganze Wochenende hierbleiben müssen. Vielleicht bist du so nett, und machst die Besorgungen… und bitte reg dich nicht auf, denn mir…« »Wie kann ich mich aufregen und mit dir rumstreiten? Du hast ja auf der Sprechscheibe keinen Platz mehr freigelassen!« »… hängen mir die spanischen Gerichte schon zum Halse heraus. Kauf also bitte keine Tamales, Tacos, Fritos oder…« »Das sind mexikanische Spezialitäten, wie die Amerikaner sie sich vorstellen. Spanische Gerichte wären…« Einige kunstvoll arrangierte Lebensmittel an der Wand erregten seine Aufmerksamkeit. Ted ließ die Memokugel wieder in seine Tasche gleiten und trat zur Wand. »Was ist das?« fragte er laut. Ein Lautsprecher erwachte zum Leben. »Nur diese Woche im Sonderangebot! Aromatische Gerichte nach afrikanischer Art. Es erwarten sie Köstlichkeiten aus der Küche Angolas, wo schwarze Kultur und die Geschichte Portugals ihre unübersehbaren Spuren…«
»Angola ist praktisch verhungert«, erklärte Ted der Wand. »Also begreife ich nicht, warum Essen nach diesen Rezepten…« »Schauen Sie sich nur die Estruma an«, sagte eine weibliche Stimme. Eine warme Hand legte sich auf die seine. »Ich weiß nicht, was das ist.« »Das grüne, suppenartige Zeug in der roten Schale.« Ted wagte einen Seitenblick. Neben ihm stand ein großes, schlankes Girl mit kastanienbraunen Haaren. Sie trug einen dieser verwirrenden Einteiler aus Plastik. Ted schluckte und fragte: »Was wollten sie genau…« »Tun Sie so, als redeten Sie mit mir über die Preise«, zischte das Mädchen ihm zu. »Dafür spiele ich Ihre typisch dumme und gierige Hausfrau, okay?« »Ich begreife immer noch nicht…« »Reverend Ortega will mit Ihnen reden.« »Wie bitte?« fragte Ted entgeistert. »Hören Sie, wenn es wegen dieses Stunners ist, für den er nicht bezahlt hat, so kann ich nichts für ihn tun. Er muß zusehen, daß er seine rückständigen Zahlungen leistet, sonst…« »Es geht um Sie. Er möchte sich mit Ihnen über Ihre besonderen Fähigkeiten unterhalten, Briar.« Ted zuckte herum. »Fähigkeiten?« Das Mädchen lächelte ihn an. »Ich glaube, ich weiß jetzt, was sie kosten«, sagte sie beiläufig. »Zeigen Sie auf eine der Boxen, Briar. Ja… so ist’s richtig. Reverend Ortega kann Ihnen verraten, warum Sie diese verrückten Träume haben.« Ted vergaß nicht, auf eine Lebensmittelpackung zu weisen. »Wie kann er denn wissen, daß ich…« »Heute nacht im Park. Dann können Sie ihn sprechen.« »In welchem Park?«
»Im Central Park, New York City. Genau um zehn Uhr heute abend.« »In New York City? Sie meinen Manhattan? Niemand geht dorthin. Die ganze Halbinsel ist ein einziger Slum. Dort wimmelt es von Dieben und…« »Achten Sie darauf, daß Sie Ihren Schatten loswerden, bevor Sie den Park betreten.« Sie entfernte sich und mischte sich unter die anderen Käufer. Woher wußte sie von seinen Träumen? Niemand außer Haley hatte eine Ahnung davon! »He, warten Sie!« Das braunhaarige Mädchen hatte sich schon fast dreißig Meter entfernt und drängte sich gerade durch eine Gruppe Teilzeit-Nonnen. Ted wich einer schwarzen Familie aus, jagte an einer Gruppe Pfadfinder vorbei, die sich gerade auf ihr nächstes Zeltlager vorbereitete und Vorräte einkaufte. Als er die Nonnen erreicht hatte, war von dem Mädchen nichts mehr zu sehen. Sie mußte in einen anderen Korridor eingebogen sein, doch Ted war nicht sicher in welchen. »Ich kann wieder atmen«, verkündete der alte Cyborg, als Ted an ihm vorbeischlurfte. »Prima, das freut mich für Sie.« »Aber Ihnen, Sie Flasche, habe ich das sicher nicht zu verdanken.« Ted rannte noch etwa eine Stunde durch das Einkaufscenter, doch von dem Mädchen fand er keine Spur…
»Niemand«, erklärte ihm der Hauscomputer. »Bist du ganz sicher?« Ted stand im Wohnbereich und schaute nach draußen, wo sich die Dämmerung auch in seinen Vorgarten senkte. »Das Mädchen hat mich vielleicht
angelogen… Aber sie wußte ganz genau über die Träume Bescheid.« »Hmmm… welches Mädchen das wohl sein mag?« murmelte der Hauscomputer nachdenklich und meinte den Satz mehr als Frage. »Ach nichts… das geht dich nichts an.« Aus zusammengekniffenen Augen studierte Ted den Rasen und die Büsche. »Du bist ganz sicher, daß dort draußen niemand herumschleicht?« »Keine Menschenseele, niemand.« »Dann sieh noch mal nach. Ich habe das Gefühl, als würde ich von jemand beobachtet. Bei Evriman habe ich niemanden entdeckt, trotzdem…« »Wir haben alles doppelt und dreifach überprüft. Sie glauben doch wohl nicht, daß Ihr eigenes Haus Sie anlügen würde? Damit würde es doch eines der grundlegenden Gesetze der Robottechnik verletzen.« »Du bist ja kein Roboter.« »Die Gesetze gelten aber auch für Häuser.« »Na gut, okay. Du hast also auch nicht den Burschen mit dem schwarzen Kasten gesehen.« Ted trat vom Fenster zurück und wanderte durch den Raum. Sein Sessel setzte sich in Bewegung und folgte ihm. »Verzieh dich«, befahl er. »Ich möchte jetzt her umlaufen.« Wenn Haley zu Hause wäre, dann könnte er vielleicht mit ihr darüber reden, könnte sie fragen, ob der Schwarze irgendeine Gefahr darstellen könnte, und er könnte sie auch fragen, ob er wirklich zu dem Treffen mit Reverend O gehen sollte. »Sie hört mir nie zu, auch wenn sie hier ist. Dauernd treibt sie sich oben im Krankenhaus herum und hilft den Lahmen und Kranken. Um mich schert sie sich einen Dreck! Ich könnte lahm sein. Taub, blind, todkrank… Teufel, ich rufe sie einfach im Dynamo Hill an. Diese Angelegenheit ist wichtig!«
»Ist das klug?« fragte das Haus. »Ja, das ist das Klügste, was ich tun kann.« Er schlenderte hinüber zum Visiphon. »Ihr Anruf könnte den ganzen Zeitplan im Krankenhaus durcheinanderbringen, könnte für den einen oder anderen Verletzten Lebensgefahr hervorrufen, wenn nicht sogar…« »Haley ist kein Arzt. Sie arbeitet dort nur als freiwillige Pflegerin.« Er tastete die Nummer ein. »Es liegt mir fern, mich in Ihre Angelegenheiten zu mischen, allerdings…« »Halt den Mund«, befahl Ted dem Haus und ballte die Hand zur Faust. Ein Quäken drang aus dem Lautsprecher, dann schwieg er, kein Wort ertönte. »Was ist denn passiert?« Ein grinsender Medi-Robot erschien auf dem Sichtschirm. »Dynamo Hill«, meldete er sich. »Ich möchte gerne Haley Briar sprechen. Sie ist…« »Mrs. Briar arbeitet nicht mehr hier, Sir.« »Das ist unmöglich. Gerade jetzt ist sie bei Ihnen. Sie hat heute außerplanmäßigen Notdienst…« »Mrs. Briar ist schon seit dem letzten Dezember nicht mehr bei uns, Sir.« »Könnten Sie mir jemanden geben, der mir das bestätigen kann…« »Das braucht nicht bestätigt zu werden«, erwiderte der grinsende Roboter. »Ich hänge direkt an unserem PersonalComputer. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« »Nein, nichts.« Ted schaltete das Visiphon aus. Das Haus verhielt sich schweigend.
»Wenn sie nachts nicht hier war«, dachte Ted laut. »Wo war sie dann… Himmel, bin ich denn wirklich so blöd? Oh, Junge!« Er nahm seine Wanderung durch den Raum wieder auf. »Haley geht mit einem anderen ins Bett… mein eigenes Haus legt mich aufs Kreuz… ja, das mache ich, ich werde Reverend O aufsuchen.« Er wanderte einen weiteren Kreis. »Doch erst muß ich meinen Schatten loswerden.«
VII
Auf der anderen Seite der Garage? Ja, dort hatten sie sich versteckt. Ted drückte sich in den Schatten, lehnte sich gegen die Wand und lauschte. Die Abenddämmerung wich der Nacht, und über der Straße erhoben sich die schwebenden Lichtkugeln aus den Bäumen. Ted konnte nicht erkennen, wer genau es war, die Garage stand dazwischen. Er war noch nicht einmal sicher, ob er sie hören konnte, wenn sie ihre Position wechselten. Trotzdem spürte er, daß sie da waren. Wer waren sie überhaupt? Die Cops hatten den letzten geschnappt, und es war unwahrscheinlich, daß diese beiden ihnen entgangen waren. Das Mädchen bei Evriman hatte ihn gewarnt, daß man ihn beobachtete. Das hieß, daß dieses Pärchen nicht für Reverend O arbeitete. Für welche Seite waren sie dann tätig? Vielleicht hatte Haley sie angeheuert, als eine Art Privatdetektive. Burschen, die sich überzeugen sollten, daß er immer noch nichts ahnte, daß er keine Idee hatte, daß Haley sich woanders aufhielt als auf dem Dynamo Hill, wo er sie allabendlich wähnte. Nein, das war unwahrscheinlich. Eigentlich war er derjenige, der sie überwachen lassen sollte. »Mit wem, zum Teufel, steigt sie ins Bett?« War es vielleicht jemand aus der RF-Gruppe? Nein, unwahrscheinlich. Sie hielt die Leute für… »Vergiß es«, murmelte er. »Du mußt bis zehn Uhr in Manhattan sein.« Es gab immer noch Züge, die nach New York fuhren und Fracht und Lebensmittel transportierten. Er wußte nicht, nach
welchem Fahrplan sie verkehrten. Er würde bis nach South Norwalk fliegen müssen. Dort hielten die Züge immer, bevor sie nach Manhattan hineinfuhren. Ted ballte die Hände zu Fäusten. Wie sollte er diese beiden Spürhunde loswerden? Wenn er seinen Landwagen nahm, dann würden sie ihm sicherlich folgen. Bestimmt hatten sie jede Menge Elektronik bei sich, mit der sie ihn sofort aufspüren konnten. Er konnte noch nicht einmal zu Fuß… »Ich habe ihn zuerst entdeckt.« »Mist, ich nehme ihm die Kleider ab.« Der Rauch drang Ted in die Nase und reizte ihn zum Husten. Das Feuer wurde von abgestorbenen Ästen, Abfall und alten Büchern genährt. Ein Tier, abgehäutet und ohne Kopf, drehte sich an einem Spieß über den Flammen. Ted fühlte sich an einen Hund erinnert. Er stand an einem Hang nicht weit von dem Feuer. Ein Gewirr umgestürzter Bäume schirmte das Feuer ab, und sechs hagere Jungen hatten sich daran versammelt. »Ich nehm ihm auch das Geld ab«, erklärte der älteste, ein einäugiger Neger von etwa elf Jahren. »Wir verkaufen ihn«, schlug einer der anderen Jungen vor. Er trug eine zerknitterte Plastikjacke, sonst nichts. »Wir verscheuern seinen Körper an die Medo-Bank.« »Unsinn, das machen wir nicht«, widersprach der älteste. »Nachdem wir ihm die Kleider und das Geld abgenommen haben, verkaufen wir ihn besser…« »Das ist doch ganz bestimmt nicht«, ließ Ted sich vernehmen, »Connecticut, oder?« »Verscheuert den Kopf an die Medos. Er ist gut in Form«, schlug ein einarmiger Chinesenjunge vor. Er war nicht älter als sieben und trug eine Turnhose. »Laßt mich mal mit dem Messer ran. Ich schneide das Ding ab.«
Ted hatte das Gefühl, als würde er aus einem tiefen Schlaf erwachen. Er kam sich vor wie ein Schlafwandler, den seine nächtliche Wanderung hierhergeführt hatte und der gerade erwacht war. »He!« Plötzlich begriff er, wo er sich aufhalten mußte. »He! Das ist ja Manhattan!« »Ich schneide ihm den Schwanz und die Eier ab«, entschied der schwarze Junge sich. »Die tue ich dann als Talisman in ein Glas.« Aber das war wohl kaum möglich. Man konnte nicht innerhalb von Sekunden von Connecticut nach New York gelangen, nur weil man gerade daran dachte. Doch genau das hatte er getan. Und da es tatsächlich passiert war, mußte das bedeuten… ja was eigentlich? Daß er sich ganz einfach teleportiert hatte? So von einem Ort zum andern? Aber hatte wirklich er das getan? War es nicht vielleicht doch jemand anderer gewesen? Und wie hatte man es überhaupt gemacht? So etwas wie Teleportation war noch nicht einmal… »Ich steche zuerst!« Die Jungen erhoben sich, entfernten sich von ihrem über dem Feuer brutzelnden Hund, kamen auf Ted zu und zogen Messer aus den Lumpen, die sie am Leib trugen. »Ja, das muß wirklich der Central Park sein«, stellte Ted fest. »Okay, ich verstehe. Wo finde ich jetzt Reverend Ortega?« »Scheiße!« Die Jungen blieben stehen, sie ließen die Fäuste mit den Messern sinken. »Nach wem haben Sie gefragt?« erkundigte sich der einäugige Negerjunge. »Nach Reverend Ortega. Rev O. Er wollte mich sprechen. Heute nacht, hier im Central Park. Reverend Ortega.« »LP«, befahl der älteste. »Bring ihn rüber zum Versteck.« »Nicht aufschlitzen?« »Nein! Bring ihn hin!«
LP hieß der einarmige Chinesenboy. Er gab Ted mit seiner verbliebenen Hand ein Zeichen und tauchte in die Dunkelheit jenseits des Campfeuers. »Scheiße«, fluchte LP, als Ted ihn einholte. »Stimmt etwas nicht?« »Die fressen den ganzen Spaniel auf, bevor ich wieder zurück bin.« »Lebt ihr eigentlich ausschließlich von Hundefleisch?« »Himmel, nein! Das ist der erste Hund in diesem Monat«, erwiderte der Junge. »Irgendwer macht Jagd auf sie. Man findet auch keine Eichhörnchen mehr. Als wir herkamen, gab es noch eine ganze Menge davon.« »Wie lange lebt ihr schon im Park?« LP zuckte die Achseln. »Ich bin hier geboren. Man hat mich einfach ausgesetzt.« Hinter dem nächsten Hügel befand sich ein sonderbares Gebäude, das aus Trümmern anderer Gebäude zusammengesetzt war. Es war ein Durcheinander von Ziegeln, Holzlatten, Kunstholz, Plastik und verrosteten Eisenträgern. »Ist das euer Versteck?« wollte Ted wissen. LP war nicht mehr bei ihm. Er rannte bereits wieder zurück, wobei er ein lautes Geheul ausstieß und wild mit seinem einzelnen Arm in der Luft herumruderte…
Der erste Raum wurde von Wänden aus Kunstholz und Rattenfellen begrenzt. Er hatte eine niedrige Decke und war nicht genau rechteckig. Erleuchtet wurde er von einer Lichtbogenlampe, die auf dem Boden stand. Ted mußte den Kopf einziehen und schaute sich prüfend um. Er entdeckte einen mit einem Sack verhangenen Durchgang. »Ich bin Ted Briar«, stellte er sich dem leeren Raum vor.
Nach einigen schweigsamen Sekunden entschloß er sich, durch die Tür den nächsten Raum zu betreten. Zwei Hängelampen spendeten hier Licht, und die Wände bestanden aus Kartonstücken und Kleiderfetzen. Die Einrichtung wurde von einem schiefen Stahlrohrsessel, einem Faß und einem Altar, der aus Ölfässern zusammengesetzt war, gebildet. Ansonsten hielt sich auch in diesem Raum niemand auf. Ted wanderte ziellos durch die Höhle und ließ sich dann seufzend in den Sessel sinken. Er atmete tief durch, als hätte er einen mühseligen Aufstieg hinter sich. Alles schien vor seinen Augen außer Kontrolle zu geraten. Haley ging… sie traf sich mit einem anderen Kerl… verbrachte ganze Nächte, ja sogar Wochenenden mit ihm. Leute beobachteten ihn… sonderbare Burschen, Neger, Polizisten mit seltsamen Waffen, hübsche Mädchen… Himmel, alles schien auseinanderzufallen. Vielleicht hatte das Durcheinander auch schon vor längerer Zeit angefangen… und jetzt erst bemerkte er es. Aber wie war er hierher in den Central Park gekommen? Normale Menschen verfügten doch wohl kaum über solche Fähigkeiten, oder etwa doch? Nun, vielleicht half ihm sein Besuch bei Reverend Ortega weiter. Rev O war eindeutig gegen die Regierung, doch man sagte ihm auch nach, daß er den Menschen half. Natürlich, warum auch nicht. Priester halfen den Menschen immer, wenn sie… »Das ist mein Sessel, Arschloch!« Ein hochaufgeschossener hagerer Mann in einem zweiteiligen schwarzen Arbeitsanzug kam herein. In seiner knotigen rechten Hand baumelte ein antiquierter Aktenkoffer. Er kaute auf einer Art Zigarre herum und stieß blaue Rauchwolken aus. »Reverend Ortega?«
»Es wäre gut, wenn ich es wirklich bin, Teddy, sonst hingen wir ganz schön in der Klemme.« »Ich… können Sie mir helfen? Ein Mädchen, das ich im…« »Sie können mir helfen, Teddy. Das ist im Moment für mich das wichtigste«, sagte Reverend Ortega. »Jetzt heben Sie endlich Ihren Hintern aus meinem Sessel. Wenn Sie unbedingt sitzen müssen, dann hocken Sie sich in Gottes Namen auf das Faß.« Ted erhob sich langsam und betrachtete den abtrünnigen Geistlichen. »Ich habe von Ihnen reichlich sonderbare Dinge gehört«, meinte er zögernd, »und ich glaube, ich habe keine Lust…« »Dann wollen wir uns zuerst einmal über die Morde unterhalten…« »Welche Morde?« Ted hockte sich auf das Faß. »Sie beschuldigen doch dauernd die Regierung, unten in Brasilien für Attentate zu sorgen, und…« »Ich rede von den Morden, die Sie begangen haben, Teddy.« Ted starrte ihn an. »Was, ich?« Reverend Ortega lachte heiser und hämisch. »Das ist aber keine besonders gute Verteidigung, oder?« Er öffnete den Aktenkoffer und holte einen Stapel Notizen und Listen heraus. »Dann wollen wir mal bei Joao Rebolar anfangen. Sie kennen ihn doch, Teddy, oder?« »Nein, ich habe noch nie von ihm gehört. Niemand nennt mich übrigens Teddy, doch…« »Wie steht es denn mit Joseph Sapperstein?« »Diesen Namen habe ich schon einmal gehört«, gab Ted zu. »Ja, er war doch Anwalt in Old Hartford und war auf besonders schwierige Fälle spezialisiert. Er hat doch vor einem
Jahr oder so Selbstmord begangen. Sicher erinnere ich mich. Es war eindeutig Selbstmord.« »Unsinn!« widersprach der Priester. »Sie haben ihn umgebracht, Teddy!« Ted sprang auf und machte einen Schritt nach vorn. »Ich habe noch nie jemanden umgebracht«, beteuerte er Ortega, wobei seine Stimme immer leiser wurde. »Ich dachte, Sie hätten mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Diesen Unsinn brauche ich mir nicht anzuhören. Und gerade was das Umbringen von Menschen angeht – ich erinnere nur an die Aufstände, die Sie angezettelt haben…« »Setzen Sie sich, Teddy.« Nur widerstrebend ließ Ted sich wieder auf das Faß fallen. »Ich nahm an, Sie wüßten etwas über meine Träume. Deshalb bin ich doch…« »Haben Sie schon mal etwas von der Totalen Sicherheitsagentur gehört?« »Nein. Was ist das?« »Die Regierung hat die TSA gegründet, um… stimmt etwas nicht, Teddy?« »TSA! Diese Abkürzung kommt mir bekannt vor… aber ich kann nicht sagen woher und warum.« »Die TSA wurde vor etwa sieben Jahren ins Leben gerufen«, fuhr der Geistliche fort. »Die Agentur hat verschiedene Aufgaben und Funktionen. Eine davon ist, ein Auge auf die Leute zu haben, die der Verwaltung gefährlich werden könnten, die also wahrscheinlich die Regierung stürzen wollen.« Er lachte hämisch. »Und zu dieser Gruppe gehören heutzutage eine Menge Menschen. Diese äußerst fähige Agentur hat auch schon Unfälle arrangiert, hier und in Übersee, in die potentielle Gegner verwickelt waren.« »Unfälle?«
»Zum Beispiel in der Art, wie es bei Joe Sapperstein der Fall war.« »Der Bursche beging eindeutig Selbstmord. Er sprang vom Evriman Turm in Old Hartford. Jetzt erinnere ich mich auch genauer an die ganze Affäre. Es war niemand in der Nähe, als er sprang.« »Sie hielten sich auf dem Stockwerk darunter auf, Teddy.« »Nein, das kann nicht sein. Wir kaufen immer bei Evriman in New Westport ein. In Old Hartford war ich noch nie…« »Quatsch. Sie waren dort an dem Tag, an dem Sapperstein starb… Sie sorgten dafür, daß er sprang.« »Und wie soll ich das gemacht haben?« wollte Ted wissen. »Ich bin kein Hypnotiseur oder sonst…« »Sie brachten ihn genauso dazu, wie Sie die RF-Maschine haben herumhüpfen lassen.« Ted befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze. »Sicher, ich glaube schon, daß ich das bewirkt habe. Aber ich würde doch nie…« »Die TSA ist geradezu scharf auf Burschen wie Sie, Teddy. Seit ihrer Gründung ist sie auf der Suche nach Leuten mit besonderen Fähigkeiten, um sie zu Super-Agenten zu machen«, erklärte Reverend Ortega und blies den Rauch durch die Nase aus. »Haben Sie echten Tabak?« »Ja, was sonst. Ich bekomme ihn immer von Freunden in Lateinamerika.« »Das Zeug wird Sie umbringen.« »Und wenn schon. Dafür weichen Sie der Wahrheit aus, Teddy.« »Ich wünschte, Sie würden mich nicht… Sehen Sie, ich verfüge über keine besonderen Fähigkeiten. Und selbst wenn, glauben Sie denn im Ernst, ich würde meine Zeit mit…« Ted
sprang auf und begann durch den Raum zu wandern. »Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich hierher gekommen bin?« »Erzählen Sie’s.« »Das ist doch verrückt. Aber ich glaube… nun, ich stand vor meinem Haus… Sie wissen ja – in Brimstone, Connecticut. Ein paar Typen drückten sich da herum und beobachteten den Schuppen. Sie haben die doch wohl nicht geschickt, oder?« »Nein, aber reden Sie weiter.« »Ich wurde wütend. Die Kerle belauerten mich, und ich wollte um jeden Preis zu Ihnen kommen, doch ich sah keine Möglichkeit, diese Ratten abzuschütteln. Und dann ganz plötzlich, innerhalb von Sekundenbruchteilen, fand ich mich hier im Central Park wieder.« »Teleportation. Diesen Begriff kennen Sie doch, Teddy, nicht wahr?« meinte der Priester und blies den Rauch gegen die Decke. »Und das ist nur eine ihrer vielseitigen telekinetischen Fähigkeiten. Sie können Kraft Ihrer Gedanken Gegenstände bewegen, Menschen und sogar sich selbst.« »Das ist völlig ausgeschlossen. Wenn ich wirklich dazu in der Lage wäre, wäre ich mir dessen auch bewußt, und…« »Sie Idiot! Man will ja gar nicht, daß Sie das wissen. Als die Leute von TSA herausfanden, daß Sie über telekinetische Fähigkeiten verfügen, stellte man gleichzeitig fest, daß Sie auch tiefe moralische Grundsätze haben.« »Na ja, ich würde mich wohl kaum als Moralapostel bezeichnen…« »Ihre Moral wendet sich ja auch vorwiegend gegen einen Mord. Und die TSA behandelt Leute wie Sie mehr als vorsichtig. Man versetzt Sie in eine Art Trance, ehe man Sie mit einem Auftrag ins Feld schickt. Sie sind sich nicht nur nicht bewußt, daß Sie Agent sind, sondern man…«
»Nein, auch wenn man mein Bewußtsein abschirmt, bin ich zu einem Mord nicht fähig. Ich könnte keine Leute durch die Luft fliegen lassen und auch keine Möbel herumschieben.« »Machen Sie mir und sich selbst doch nichts vor, Teddy«, meinte der Geistliche. »Es ist doch offensichtlich, daß die TSA, kaum, daß man Ihre Talente entdeckt hatte, sich darum bemühte, eben diese Fähigkeiten weiter auszubilden. Man übte mit Ihnen, bis Sie Ihre latenten Fähigkeiten voll einsetzen konnten. Und man sorgte dafür, daß Sie nicht wußten, was mit Ihnen los ist.« Ted schüttelte den Kopf. »Ich begreife nicht… He, die Träume.« Er stoppte abrupt seine Wanderung. »Die Träume! Jetzt weiß ich auch, was sie zu bedeuten haben. Ich habe versucht, mir selbst etwas vorzumachen!« »Reden Sie jetzt nicht Unsinn? Denken Sie nach.« »Sicher, und daß ich diesen Koffer herumschleppe, steht als Symbol für die telekinetischen Kräfte.« »Richtig, und die ganze Sache ist noch nicht einmal besonders wirkungsvoll«, sagte Ortega. »Fast scheint es, als würde ihr Geist wieder die Kontrolle über Ihren Körper übernehmen. So etwas geschieht manchmal.« »Dieses Mädchen, das mich bei Evriman angesprochen hat… Sie kannte meine Träume. Und Sie scheinen auch zu wissen, was während unserer letzten RF-Sitzung geschah.« »Auch ich habe meine Agenten. Ich will endlich die Hartwell-Regierung stürzen, und damit ist es mir verdammt ernst. Für mich ist der Priesterstand mehr als nur…« »Was hat es denn mit meinen Träumen auf sich? Sie scheinen doch…« »Sie haben davon während der RF-Sitzung berichtet. Und sie haben es dargestellt, als wäre Ihnen das alles in Wirklichkeit
zugestoßen, dabei handelte es sich ganz offensichtlich nur um einen Traum. Und zwar einen nicht allzu alten.« »Dann haben Sie auch einen Agenten in unserer Gruppe?« Ortega trommelte auf seinem Aktenkoffer mit den Fingern einen Wirbel. »Wollen Sie auch weiterhin als Attentäter für die TSA arbeiten?« . Ted faltete die Hände und beobachtete unsicher, wie der Geistliche einen Stapel Papiere aus dem Aktenkoffer zog. »Wie viele…« »Ach, Sie meinen, wie viele Menschen Sie umgebracht haben? Bis jetzt an die fünfzehn.« »Fünfzehn? Himmel…« Seine Knie wurden weich. »Also, Teddy, wollen Sie damit aufhören?« Ted hatte Mühe, sich zu sammeln und einen zusammenhängenden Satz herauszubringen. »Wie… wie… konnte ich fünfzehn Menschen töten und noch nicht einmal eine Ahnung davon haben?« Ted tastete hinter sich, fand das Faß nicht mehr und ließ sich einfach auf den Boden sinken. »Wie kann ich jemals…« »Sie meinen Sühne tun?« »Ja, so etwas Ähnliches.« »Sie könnten mich unterstützen, mir helfen.« »Und wie, wenn ich fragen darf?« »Wir werden die TSA auflösen, praktisch von innen aufknacken und sie zerstören. Wir werden die Regierung – Präsident Hartwell und seine Bande – zum Teufel jagen.« »Aber Sie verfügen doch bereits über alle nötigen Informationen«, wandte Ted ein. »Sie brauchen mich doch gar nicht, um…«
»Ich brauche jemanden, der Mitglied der TSA ist. Ich möchte noch viel mehr über diesen Verein erfahren. Daher werden Sie für sie weiterarbeiten, allerdings…« »Ich nahm an, Sie wollten mir dabei helfen, mit dieser unseligen Arbeit aufzuhören.« »Was die Morde angeht – sicherlich. Aber Sie sollen noch für eine Weile bei der TSA bleiben. Ich brauche Namen der Mitglieder, weitere Einzelheiten.« »Wenn ich weiter als Agent eingesetzt werde, dann würde ich doch auch wieder morden müssen, oder nicht? Wie kann ich mich davor schützen…« »Gehen Sie zu Goodanyetz.« »Was?« »Er ist Professor, und man hat ihm den Lehrstuhl abgesägt. Goodanyetz wird Ihnen beibringen, wie Sie beim nächsten Mal bei vollem Bewußtsein bleiben, wenn man Sie wieder holt.« »Okay, und wo finde ich ihn?« »Er besteht darauf, in der Bronx zu leben. Ich gebe Ihnen jemand mit, der Sie hinbringt.« Ted hatte noch einen Einwand. »Wenn die TSA… nun, wenn sie tut, was immer sie mit mir anstellen, dann müssen sie dabei doch auch meine Fähigkeiten aktivieren.« »So stellen wir uns den Prozeß in etwa vor – ja.« »Wenn Goodanyetz mich also behandelt hat, dann bin ich im Vollbesitz meiner kinetischen Kräfte und habe volle Kontrolle über sie, nicht wahr?« Reverend Ortega schaute seinen Besucher ernst an. Dann nickte er. »Das ist eines der Probleme, mit dem Sie fertig werden müssen.« »Probleme?« fragte Ted verwirrt. VIII
»Seht ihr denn das Kreuz nicht, ihr Idioten?« Der niedrig fliegende Gleiter wurde durch den Treffer eines Frequenz-Blasters von unten erschüttert. »Wer war das?« fragte Ted seinen Führer und Piloten mit dem Namen Casper. »Das Kreuz, ihr gottverdammten Schwachköpfe!« Der kleinwüchsige, schwarzhäutige junge Mann brüllte in sein Steuerknüppelmikrofon. »Hinten am Schwanzende der Maschine – das ist doch nicht zu übersehen! Das Ding gehört zu Reverend Os Gleiterflotte!« Das Feuer wurde eingestellt. »Penner, Idioten«, fluchte der Neger. »Die Block 26 Angels sind sowieso der letzte verkommene Haufen.« »Ist das eine Straßen-Gang?« »Jaja!« Casper schaltete wieder das Mikrofon ein. »Ihr hirnlosen Flaschen! Habt ihr denn keine Ehrfurcht vor dem Kreuz und vor der Kirche?« Der Gleiter beschrieb einen Bogen und sackte tiefer. Dabei überflog er brandgeschwärzte Ruinen und Trümmer. »Es ist schade, daß Sie es so eilig haben«, sagte Casper. »Ich würde Ihnen gerne meine Sammlung zeigen.« »Was für eine Sammlung?« »Tiere«, erwiderte der Neger und lenkte den Gleiter hinab in eine trümmerübersäte Straße. »Ich habe die größte Sammlung in New York.« »Sie meinen ausgestopfte Tiere oder…« »Nein – lebende.« Der Gleiter setzte auf und kam ruckend und hüpfend zum Stehen. »Achtundsechzig Stück habe ich in unserem Lager. Wir – mein Bruder und meine drei Schwestern – haben ein ganzes Appartementhaus drüben in Block 31 übernommen. Wir haben vierzehn Kaninchen… An die ist wirklich schwer heranzukommen. Sechs Hunde mußten wir für das letzte geben – sechs Hunde für nur ein Kaninchen. Wir
haben auch fünfundzwanzig Hunde, unter anderen sogar eine Dänische Dogge. Haben Sie schon mal eine Dänische Dogge gesehen?« »Ja – in Bildern.« »Eines ist ärgerlich«, meinte Capser und schnallte sich los, »daß man jetzt Jagd auf Haustiere macht. Die Schweine würden wer weiß was darum geben, wenn sie unsere Bude fänden. Das gilt auch für die Block 28 Angels.« Kopfschüttelnd kletterte Ted aus dem Gleiter. »Ich nahm an, Sie nennen sie Block 26 Angels.« »Das ist eine andere Bande«, erklärte Casper. »Hier in der Gegend haben wir es mit den Block 25 Angels zu tun, dann mit den Block 27 Angels und drüben mit den Block 28 Angels und so weiter. Die Burschen sind nicht sonderlich einfallsreich mit ihren Namen.« Auf der rechten Seite in der Nähe ihres Landeplatzes erkannte Ted ein zweistöckiges Gebäude. Es war mit weißer Farbe gestrichen, und gelbes Licht leuchtete hinter den mit Vorhängen verschlossenen Fenstern. »Lebt Goodanyetz in diesem Bau?« »Ja, er und seine Mutter hausen dort. Sie hält ihn die ganze Zeit in Atem. Er hat den Schuppen selbst gestrichen, nachdem er ihn völlig renoviert hat. Die Block 27 Angels haben ihm dabei geholfen, bis sie sich mit seiner Mutter einige derbe Späße erlaubten und sie die Treppe hinuntergewor…« »Hände hoch!« Die Holztür schwang einige Zentimeter auf. Eine gebückte alte Frau stand da und richtete zwei Stunner auf die Neuankömmlinge. »Ich bin es, Mrs. Goodanyetz – Casper!« rief ihr der junge Mann von der untersten Treppenstufe zu. »Mein Begleiter ist der Typ, den Reverend O über Funk angemeldet hat!« »Wie heißen Sie?« wollte die Frau von Ted wissen.
»Ted Briar.« »Das ist nicht der Name, den Reverend O uns gemeldet hat. Sein Bursche hieß Red Dwyer.« »Das stimmt nicht, Mom.« Ein rundlicher, blasser Mann von etwa vierzig Jahren tauchte neben der Frau auf. Er trocknete soeben seine Hände unter einem Warmluftschlauch. »Wissen Sie, Mutter hört in der letzten Zeit immer…« »Bist du mit der Küche fertig?« »Ja«, sagte Goodanyetz. »Ich habe nur noch nicht den Defroster weggeräumt.« »Dann beende erst deine Arbeit. Nachher können wir uns immer noch unterhalten.« »Hier geht es nicht um Unterhaltung, sondern um Politik, Mutter. Und jetzt verschwinde endlich und misch dich nicht in Reverend Os Angelegenheiten…« »Ich glaube, es ist nicht sonderlich ratsam«, mischte Casper sich ein, »auf der Straße so herumzubrüllen.« »Na gut, dann kommt rein«, schlug Mrs. Goodanyetz vor. »Ich frage mich nur, warum man Ihnen den Spitznamen, Red gegeben hat.« »Wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem man einen Fettsack Slim nennt«, vermutete Ted. »Ich dachte, du wolltest noch die Heizkörper im Wohnzimmer abstauben.« »Gib mir doch ein bißchen Zeit, Mutter. Du sagtest doch…« »Lassen wir das. Rede du nur mit deinen Freunden. Ich werde deine Arbeit schon selbst machen.« Als die drei Männer in dem runden Wohnraum Platz genommen hatten, meinte Goodanyetz entschuldigend: »Mutter ist wirklich ein netter Mensch. Sie ist nur manchmal…« »Wie wäre es mit einer Tasse Pseudokaffe?« Die alte Frau erschien in der Tür.
»Nein, danke, Mrs. Goodanyetz«, erwiderte Casper. »Und wie ist es mit Ihnen, Red?« »Wenn es Ihnen nicht zuviel Arbeit macht.« »Überhaupt nicht.« Und zu ihrem Sohn meinte sie. »Los geh schon und mach uns eine Kanne.« »Mom, ich muß mit den beiden über wichtige Dinge reden. Ich kann jetzt nicht…« »Wir wollen uns nicht streiten. Ich gehe schon.« Sie verzog sich murrend in die Küche. »Wir müssen ihn noch vor Sonnenaufgang wieder nach Connecticut zurückbringen«, erinnerte Casper. »Sie müssen also schnell arbeiten, Goodanyetz.« Der rundliche Mann betrachtete Ted eingehend. »Ich brauche allenfalls zwei Stunden. Wenn ich erst einmal angefangen habe, dann stört Mutter uns für gewöhnlich nicht«, beruhigte er seine Besucher. »Wie lange verfügen Sie schon über Ihre ParaKräfte?« »Ich weiß noch nicht einmal genau, ob ich überhaupt zu so etwas fähig bin.« »Rev O hat mir berichtet, sie hätten sich einfach hierher teleportiert. Also müssen Sie sie zumindest zum Teil unter bewußter Kontrolle haben.« »So kann man es wohl kaum ausdrücken. Ich habe mich nur aufgeregt, weil ein paar Burschen mein Haus beobachteten und weil meine Frau… aber das ist wohl nicht so wichtig. Ich habe mich eben aufgeregt, und plötzlich stand ich im Central Park.« »Okay, damit können wir wenigstens etwas anfangen. Ich habe mir die Akte angeschaut, die Rev O über Sie angefertigt hat. Mir scheint es fast…« »Oh! Mein Herz! Mein Gott, diese Schmerzen!« schrie Mrs. Goodanyetz aus der Küche. Ted sprang auf.
»Ignorieren Sie sie«, riet Casper ihm und blieb unbeteiligt sitzen. »Sie versucht nur, auf sich aufmerksam zu machen«, erklärte Goodanyetz. Ein dumpfer Laut erklang aus der Küche. »Sie ist hingefallen«, sagte Ted. »Sie wird auch wieder aufstehen«, versicherte ihm der Sohn der alten Frau. »Wo war ich stehengeblieben… ach so, es scheint, als würden Sie nach und nach die Kontrolle über Ihre Fähigkeiten gewinnen.« »Oh, mein Gott, welches Elend, hier auf dem ungeputzten Boden meiner Küche sterben zu müssen.« Ted schaute zur Tür. »Ich nehme an, daß sich die Träume, die ich seit ein paar Monaten habe, genau damit beschäftigen«, meinte er. »Der Reverend deutete mir an, daß die Leute von der TSA einen Weg gefunden haben, meine latenten Fähigkeiten zu aktivieren. Andererseits wollen Sie aber nicht, daß ich das bewußt miterlebe.« »Genau«, stimmte Goodanyetz ihm zu. »Wir werden nun folgendes tun – ich werde jetzt mit einigen Tricks, die ich noch während meiner Lehrtätigkeit in Yale-2 entwickelt habe, ihr Bewußtsein so verändern, daß Sie geistig nicht mehr wegtreten können, wenn man Sie aktiviert. Sie werden alles mitbekommen, was Sie als TSA-Agent erleben, und werden sich auch nachher daran erinnern können. Doch ihre Auftraggeber werden nichts davon bemerken.« »Trotzdem werde ich meine Fähigkeiten einsetzen können, werde sie bewußt steuern können?« »Ich wüßte nicht, was dagegen sprechen sollte. Die TSA wird Sie aktivieren wie immer. Nur verlieren Sie diesmal nicht die Kontrolle über sich.« Goodanyetz erhob sich langsam. »Mutter
war noch nie so lange still. Vielleicht hatte sie wirklich einen Herzanfall. Ich gehe wohl besser mal nachschauen.«
»Was meinen Sie? Schaffen Sie es?« »Ich strenge mich an, aber nichts geschieht.« Ted und Casper saßen wieder im Gleiter und schwebten durch die Morgendämmerung in Richtung Brimstone. »Wenn Sie sich nämlich von hier aus nach Hause teleportieren könnten, dann wäre auch ich eher daheim. Ich muß nämlich in einer halben Stunde die Wache übernehmen.« »Wache?« »Über unsere Tiersammlung.« »Ach ja, sicher, das hätte ich fast vergessen.« Ted verschränkte die Hände. »Nein, es hat keinen Sinn, ich schaffe es nicht. Vergessen Sie nicht, daß Goodanyetz mir nur beigebracht hat, nicht das Bewußtsein zu verlieren. Noch habe ich keine Kontrolle über…« »Ist schon gut, strengen Sie sich nicht an. Es macht mir wirklich nichts aus, Sie nach Hause zu bringen. Ich mache mir nur Sorgen wegen der Tiere. Habe ich Ihnen eigentlich schon erzählt, daß wir auch acht Eichhörnchen haben? Das sind unheimlich niedliche Tierchen, diese Eichhörnchen. Ich habe drüben in Manhattan in der 42. Straße in einer Ruine ein Buch gefunden. Dort heißt es, daß Eichhörnchen sich nicht als Haustiere eignen. Aber das stimmt überhaupt nicht. Sie sollten mal sehen, wie die mir aus der Hand fressen!« »Wenn ich das nächstemal in der Bronx bin, komme ich Sie besuchen.« »Nein, Ted, das tun Sie ganz sicher nicht. Sie sind schon ein prima Bursche, aber mit Haustieren haben Sie nichts im Sinn. Sie haben überhaupt kein Gefühl dafür.« Nach einigen Sekunden wechselte Ted das Thema.
»Ich hoffe doch, daß Mrs. Goodanyetz keinen Herzanfall hatte, nicht wahr?« »Den kann sie gar nicht haben. So ein Unsinn… Vor sechs Jahren hat man ihr eines dieser verschleißfreien Plastikherzen aus Noryl und PVC eingesetzt«, erklärte Casper. »He, ich glaube, wir sind gleich am Ziel. Am besten setze ich Sie einige Häuser vorher ab, damit niemand Sie beobachten kann.« »Wenn die Leute, die mein Haus überwachen, nicht vom Reverend geschickt sind, dann müssen sie notgedrungen von der TSA kommen«, meinte Ted nachdenklich. »Ich frage mich nur, warum die hinter mir her sind.« »Die haben doch immer was zu beschnüffeln.« »Aber warum mich auf einmal?« »Sie wissen ja gar nicht, ob die jetzt erst hier herumschleichen. Vielleicht ist man schon seit Jahren hinter Ihnen her, und Sie haben es erst jetzt bemerkt«, gab Casper zu bedenken und bereitete sich auf die Ladung vor. »Aber machen Sie sich keine Sorgen… Reverend O wird auch das herausbekommen.« Fünf Minuten später huschte Ted wie ein Dieb durch die dämmrigen Straßen von Brimstone. Dabei murmelte er vor sich hin. »Betritt auf keinen Fall den Rasen der Melmoths, die haben da eine Alarmanlage eingebaut… Halte dich vom Landeplatz der Jakesens fern, denn die beiden Robothunde warten nur auf einen Idioten wie dich… Paß bei Doug Fine auf, daß – He, verdammt, was steht da in unserem Garten?« Ted blieb stehen, ging hinter einem künstlichen Baum in Deckung und beobachtete sein Heim. »Nein, das sind nicht die Cops, aber den Gleiter kenne ich.« Er huschte weiter zum nächsten Baum.
»Verdammt, das ist ja Jay Perlbergs Maschine! Sicher, da stehen ja auch seine Initialen JP! Was hat mein Boß in unserem Garten zu suchen – zum Teufel! Er ist es! Er ist der Kerl, mit dem Haley ins Bett steigt!«
IX
Triefnaß kam Haley barfuß an die Eßbar. »Das Ding funktioniert noch immer nicht«, beklagte sie sich. Ted kratzte gerade die schwarze Kruste von einem Speckstreifen. »Was ist es denn diesmal?« »Nun, was meinst du denn? Diese verdammte Waschzelle.« Sie streckte einen nassen Arm aus. »Zum Beispiel arbeiten die Trockendüsen nicht.« »Laß bitte kein Wasser in die Neomarmelade tropfen, ja?« Er schob das Glas beiseite. »Und hier – riech mal.« Ted schnüffelte an dem Handgelenk, das Haley ihm vor die Nase hielt. »Kunstdünger, oder?« »Ja, das glaube ich auch. Das ist keine Reinigungslotion. Das Mistding hat mich von Kopf bis Fuß damit eingesprüht.« Haley ließ sich auf den Frühstücksstuhl gegenüber Ted fallen. Es platschte. »Wenn unser Haus nicht richtig funktioniert, komme ich ganz durcheinander. Ich habe dann das Gefühl, als wäre ich nicht mehr ich selbst.« »Soweit kann es doch gar nicht kommen«, erwiderte er und nahm einen Bissen von seiner halbverbrannten Speckscheibe. »Was soll das heißen?« »Nichts. Es fiel mir nur so ein.« »Dir scheint es ja völlig gleichgültig zu sein, daß unser Haus praktisch vor unseren Augen auseinanderfällt und verrückt spielt.« Haley zerrte einen Papierfetzen aus dem Serviettenspender und begann sich damit abzutupfen. »Schon
seit mindestens einer Woche, genau seit Sonntag, stimmt hier nichts mehr.« »Nein – seit Samstag«, verbesserte Ted sie und biß wieder von seinem Frühstücksspeck ab. »Am Montag waren die Handwerker hier. Ich mußte sogar einen Notdienstzuschlag herausrücken, und die sagten mir, sie hätten alles wieder auf Vordermann gebracht.« »Ach, die könnten dir doch alles erzählen, und du würdest ihnen sogar noch glauben«, meinte Haley abfällig. »Offensichtlich ist das Haus immer noch nicht intakt. Ich wurde mit Kunstdünger eingedeckt, und dein Toast ist verkohlt, also…« »Es ist Frühstücksspeck.« »Siehst du? Ich wollte Toast zum Frühstück.« Haley verschränkte die Arme und zitterte. Dann begann sie zu weinen. »Die ganze Welt scheint um mich herum zusammenzubrechen.« Ted betrachtete sie ungerührt. »Ich rufe die Handwerker noch einmal her. In der Zwischenzeit kannst du doch oben im Krankenhaus duschen und frühstücken, oder nicht?« »Was soll das heißen?« »Ich bin sicher, daß die Waschzellen im Dynamo Hill einwandfrei funktionieren.« »Da hast du recht. Dynamo Hill arbeitet einwandfrei.« Immer noch tropfnaß stand Haley auf. »Habe ich dir eigentlich schon erzählt, daß wir am Wochenende schon wieder einen Notdienst einlegen müssen?« »Ach wirklich?« Der Speckstreifen zerbröselte zwischen Teds Fingern. »Dann bist du ja überhaupt nicht zu Hause.« Seine Frau ging durch den Raum hinüber zum Ausgang. »Nein, ich werde wohl von heute Nachmittag bis irgendwann am Montagmorgen dortbleiben.«
»Wenn du wieder herkommst, ist das Haus sicherlich in Ordnung.« »Ich wünschte, Captain Beck, oder Colonel oder was immer er auch ist, würde einmal zu uns kommen. Ich könnte ihm eine ganze Menge über das Leben hier erzählen«, sagte Haley und entfernte sich einen weiteren Schritt von Ted. »Weißt du… Ted?« »Ja, bitte?« »Ach nichts.« Sie verließ die Frühstücksbar. »Fast eine Woche«, murmelte Ted. Noch hatte er Haley gegenüber nichts erwähnt. Weder über seinen Besuch bei Reverend Ortega noch über seine neuen Fähigkeiten. Noch hatte man seine Dienste als Agent der TSA nicht wieder in Anspruch genommen. Ted hatte auch nichts davon verlauten lassen, daß ihm bekannt war, daß Haley nicht mehr oben in Dynamo Hill arbeitete und daß er über sie und Jay Perlberg Bescheid wußte. Und jetzt wollte sie sogar ein ganzes Wochenende von zu Hause fernbleiben… »Es wird Zeit, ins Inkassobüro zu fahren«, meldete sich das Haus. Die Stimme klang dünn und blechern. Ted war sich ziemlich sicher, daß er auch an diesem Abend kraft seiner Para-Kräfte das Haus völlig durcheinandergebracht hatte, bevor er seinen Besuch bei Reverend Ortega machte. »Hör mal, es tut mir leid, daß ich meine Fähigkeiten eingesetzt habe, um dich… ach, vergiß es.« »Das habe ich nicht ganz verstanden. Mein Höraggregat ist seit kurzem nicht mehr…« »Es ist nichts, laß nur.« Ted durfte nicht vergessen, daß er auch seinem Haus nicht mehr trauen konnte.
»Kommen Sie mit, Nemo.« Die Wand hatte sich geöffnet, und Jay Perlberg hatte das Zimmer betreten. Ted saß in seinem Sessel und starrte die Zeichnung des Jungen im Nachthemd an. Jetzt kam der schwierigste Teil des ganzen Unternehmens. Er mußte Jay Perlberg davon überzeugen, bewußtseinsmäßig voll weggetreten zu sein. Was Goodanyetz mit ihm angestellt hatte, funktionierte wirklich. Die Zeichnung des Jungen hatte ihn völlig unbeteiligt gelassen, und er war hellwach. Ted blieb bei Bewußtsein und bekam alles mit. Er mußte so tun, als befände er sich in Trance. »Nemo, kommen Sie mit«, wiederholte der attraktive Perlberg. Er schlug Ted leicht auf die Schulter. Ted erhob sich, vermied es nach Möglichkeit, Perlberg in die Augen zu schauen, und trottete auf die Wandöffnung zu. Wie kann man nur mit einem Widerling wie Perlberg ins Bett gehen, fragte Ted sich. Na ja, schlecht sieht er nicht aus, aber er kann doch… Moment, besser, ich konzentriere mich darauf, was jetzt vorgeht, damit ich Reverend Ortega einen genauen Bericht abstatten kann. Neben Perlberg schritt Ted den Gang hinunter, der in die Räume der TSA führte. Die Wände des Ganges waren in einem trüben Grau gehalten, es roch nach Maschinenöl, Chemikalien und… Schokolade. Nein, das mußte Perlberg sein, der nach Schokolade roch. Benutzte er vielleicht eine neuartige Bodylotion? Vielleicht hatten die Leute bei Evriman auch wieder… »Ich bin sicher, Ihrer charmanten Frau geht es gut, Nemo, alter Freund.« Ted vermutete, daß Perlberg von ihm keine Antwort erwartete. In dieser frühen Phase seines Nemo-Daseins erwartete man von ihm, daß er allen Befehlen ohne eine Reaktion Folge leistete.
»Haleys Brust bereitet mir Sorge – ich glaube, es war die linke«, fuhr Perlberg fort, als sie den weiteren Gängen in die Tiefe folgten. »Ich habe beim letztenmal so fest zugebissen, daß ich sie wahrscheinlich verletzt habe. Aber sie hat sie mir ja geradezu in den Mund gestopft, und da mußte ich eben gehorchen.« Ted ballte die Fäuste. Er hatte Mühe, den Ausdruck seines Gesichtes unter Kontrolle zu halten. »Mittlerweile hat sie Ihnen sicherlich eine neue Entschuldigung aufgetischt«, sagte Perlberg. »Es ist interessant; wie blind ein Mensch trotz seiner speziellen Fähigkeiten sein kann. Jeder normale Mann hätte längst herausbekommen, wo seine Frau sich herumtreibt.« Ted stand kurz vor der Explosion. Die grauen Wände schienen ihn zu erdrücken. Anscheinend macht er das immer, wenn er mit dir hier entlangwandert, sagte Ted sich. Bleib ruhig, laß dir nichts anmerken, vergreif dich nicht an diesem miesen Schwein. »So, wie sie mich beim erstenmal gestreichelt hat, als wir allein waren, war es ein eindeutiger Beweis, daß ich der beste Mann bin, den sie je zu Gesicht bekommen hat.« Perlberg grinste. »Ich freue mich schon auf unser verlängertes Wochenende in High World in Florida. Haley ist einfach Klasse. Sie ist für jeden perversen Trick zu haben. Man glaubt gar nicht, wie eine Frau sich gehenlassen kann, wenn man ihr die Möglichkeit und das Gefühl gibt, etwas Verruchtes zu tun.« Die Farbe der Gangwände veränderte sich. Sie wechselte über zu einem blassen Grün. »So wie ich Haley kenne, möchte sie das ganze Wochenende am liebsten im Bett verbringen«, meinte Perlberg verträumt. »Aber ich fahre nicht nur wegen der Bumserei nach High World. Haley und ich werden dort noch eine ganze Menge
mehr unternehmen. Nicht, daß sie nicht im Bett verdammt gut ist…« Sie erreichten das Ende des Ganges. Hier ging es nicht mehr weiter, zumindest kam es Ted so vor. Sein Boß legte die Fingerspitzen einer Hand in Augenhöhe an die Stelle der Wand. Lautlos rollte ein Wandstück beiseite und gab den Blick auf einen riesigen Raum frei, der von grellen Lampen erleuchtet wurde. Große Tische standen herum, ID-Geräte, Bildschirme und andere Geräte, die Ted sofort mit medizinischen Techniken in Verbindung brachte. Elf Menschen hielten sich in dem Raum auf. Sie saßen alle und schauten Ted interessiert entgegen. Es waren vier Frauen und sieben Männer. Sie alle trugen die gleichen einteiligen Laboranzüge. »Kommen Sie rein, Nemo«, forderte ihn ein Mann mit Vollmondgesicht auf. »Diesmal haben wir einen interessanten Job für Sie.«
X
Er hätte nicht herumspielen sollen. Ted empfand ein betäubendes Gefühl des Triumphes, daß er seine außergewöhnlichen Fähigkeiten ganz unter Kontrolle hatte und sie bewußt steuern konnte. Der rundgesichtigte Techniker mit den Haaren aus Nylon hatte auf eine stählerne Kugel gezeigt, die auf dem Acrylglastisch lag. »Und jetzt das hier, Nemo«, hatte er ihn aufgefordert. Ted hatte sich auf die Kugel konzentriert und hatte sie bis zur Decke schweben lassen. Dann hatte er das gleiche auch mit den anderen Testkugeln gemacht. Der Wissenschaftler mit der Perücke schüttelte ratlos den Kopf. »Was soll das denn, Nemo?« Ted fügte die Perücke des Mannes den herumfliegenden Kugeln hinzu, ehe er sie wieder auf dem Tisch landen ließ. Die jüngste der Technikerinnen, die als Dr. Hatcher angeredet wurde, schlich sich von hinten an Teds Teststuhl heran. Stirnrunzelnd begann sie die Drähte und Leitungen, die man an Teds verschiedenen Körperteilen befestigt hatte, zu überprüfen. »Eigentlich sollte er keinen Spieltrieb entwickeln«, murmelte sie und zog probeweise an den Kabeln, die an seinen Fußknöcheln befestigt waren. Dr. Dix, der große Mann mit dem traurigen Gesicht, der hier anscheinend der Boß war, betrachtete Ted nachdenklich. »Fühlen Sie sich zu irgendwelchen Späßen aufgelegt, Nemo?« »Nein, Sir, nicht sonderlich.« Jetzt untersuchte auch Dr. Dix Teds Stuhl.
»Haben Sie einen besonderen Grund, warum Sie Dr. Emersons Toupet haben herumfliegen lassen?« »Das ist überhaupt kein Toupet«, widersprach Dr. Emerson entschieden, der das Ding wieder auf den Kopf gesetzt hatte. »Immerhin habe ich immer noch eine Menge eigene Haare.« »Nun, Nemo, was meinten Sie?« »Ich kann das nicht erklären«, erwiderte Ted. Er hätte sich diesen Spaß wirklich nicht erlauben dürfen. Niemand hier rechnete im entferntesten damit, daß Agent Nemo sich als Spaßvogel aufführte. »Vielleicht«, meinte Dr. Dix, »hegen Sie gegen Dr. Emerson eine gewisse Antipathie?« »Vielleicht.« Dr. Hatcher hatte die Überprüfung der Kabel beendet und trat von dem Stuhl zurück. »Es fehlt nichts«, verkündete sie. »Sollen wir nicht weitermachen?« Dr. Dix fixierte Ted und schüttelte zweifelnd den Kopf. »So albern haben Sie sich bisher noch nie aufgeführt, Nemo.« »Es ist doch nichts passiert«, mischte sich eine der Technikerinnen, eine Dr. Babbs, ein. »Wir sollten uns nicht unnötig den Kopf zerbrechen. Viel eher sollten wir das Würstchen losschnallen und ihm endlich seinen Auftrag geben. Was macht das schon aus, wenn er albern und zu Streichen aufgelegt ist.« »Es geht nicht an«, widersprach Dr. Hatcher, »daß unsere Agenten durch die Gegend laufen und anderen Leuten die Perücke vom Kopf holen.« »Das ist keine Perücke«, ließ Dr. Emerson sich beleidigt vernehmen. »Lediglich ein Haarteil…« »Wir machen jetzt weiter mit unseren Vorbereitungen«, beschloß Dr. Dix und trat von dem Stuhl zurück. »Doch ich mache mir trotzdem meine Gedanken, warum Agent Nemo auf
einmal durchzudrehen scheint. Andererseits brauchen wir uns dadurch nicht aufhalten zu lassen.« Dr. Babbs nickte. »Außerdem ist er der einzige, den wir im Moment zur Verfügung haben und der in der Lage ist, einen derartigen Auftrag auszuführen.« Ted mußte sich zwingen, auf seinem Platz ruhig sitzen zu bleiben und nicht aufzuspringen. Sie hatten also vor, ihn wieder loszuschicken und jemand umbringen zu lassen. Damit hätte er schon… Aber Moment, sagte er sich selbst, Dr. Goodanyetz hat mir versichert, niemand könne mich zwingen, gegen meinen Willen einen Mord zu begehen. Er meinte, ich brauche nicht mehr jeden Befehl auszuführen, den die TSA mir gibt… Er befand sich jetzt schon fast zwei Stunden in dem Labor. Man hatte mit ihm einige elektronische Tests durchgeführt, deren Sinn er nicht auch nur annähernd verstand. Doch im Moment hatte er sich vollständig unter Kontrolle und konnte seine unheimlichen Fähigkeiten gezielt einsetzen. Ich brauche nur so lange das Spiel mitzuspielen, sagte er sich, wie ich es für richtig halte und bis die hier mit mir fertig sind. Wenn man mich mit einem Auftrag losschickt, dann höre ich auf, wenn ich einen Mord begehen soll. Dann melde ich mich bei Reverend O und erstatte ihm Bericht. Ja, und dann… was mache ich eigentlich dann? Sollte die TSA jemals bemerken, daß Ted nicht mehr das willenlose Werkzeug war, mit dem man machen konnte, was man wollte, dann… er konnte sich nicht vorstellen, was man dann mit ihm anstellen würde. Mit Sicherheit verliere ich meinen Job, sagte er sich. Und dann? Wird man versuchen, mich wieder umzudrehen? Aber ich sollte mir nicht den Kopf zerbrechen. Ich werde mich bei Ortega melden, und er wird schon wissen, wie es weitergeht.
Dr. Emerson sagte gerade etwas. »Wie wäre es mit dem Schränkchen, Nemo?« Neben dem Wissenschaftler mit der Perücke machte Ted ein graues Gebilde aus. Ted konzentrierte sich. Das Schränkchen stieg einige Zentimeter in die Höhe. »Sehr gut, Nemo«, lobte Dr. Emerson und strich sich über die Kunsthaare. »Bringe es hinüber zur Wand und stelle es vor Dr. Texton ab.« Dr. Texton? Drei Techniker standen vor der Wand – zwei Männer und eine Frau. Als Nemo hätte Ted sie genau gekannt. Doch als Ted… Vorsicht, sagte er sich. Jetzt kommt es darauf an. Irgendwo in meinem Gehirn gibt es einen Hinweis, wer Dr. Texton ist. Ganz ruhig. Erst mal das Schränkchen hinüberschweben lassen, und jetzt… »Sehr gut!« rief Dr. Emerson. »Sehr gut!« Dr. Texton war die Frau, mittelgroß, untersetzt mit einem recht unfraulichen Körper. Dafür konnte man ihr Gesicht durchaus als attraktiv bezeichnen. »Jetzt ist er bereit für den Informationsraum«, bestimmte Dr. Babbs. »Du kannst den Heini losschnallen, Lissa.« Dr. Hatcher machte sich an die Arbeit und löste die Drähte und Kabel. Dr. Dix ging auf und ab und massierte sein Kinn. »Diese Spielereien gefallen mir gar nicht – überhaupt nicht.« »Verschwinden Sie in einen stillen Winkel und grübeln Sie dort«, riet Dr. Babbs ihm. »Bis Mittag soll unser Kleiner wissen, was er zu tun hat, und mit Agent Roscoe auf dem Weg nach Deathless in Florida sein.« Deathless, Florida? Das war doch eine Art Rentnerstadt. Ted hatte von diesem Ort schon einmal gehört. Er war knapp hundert Meilen von High World entfernt.
»Ich kann gar nicht hinschauen.« Dr. Hatcher schlug die Hände vor die Augen und wandte sich von der Projektionswand im Informationsraum ab. Sie saß direkt neben Ted, nahe genug, daß ihre Haare fast sein Gesicht berührten. Es duftete nach Frühlingsblumen und Tannennadeln. Ted hatte plötzlich das Gefühl, er solle vielleicht seinen Arm um die junge Frau legen und sie trösten. Doch er verdrängte diesen Wunsch und konzentrierte sich weiter auf den Film auf der Projektionswand. »Das sind doch nur ein paar wertlose Knacker«, meinte Dr. Babbs. »Wir werden alle einmal alt, Lissa, und irgendwann müssen wir sterben.« »Ja – und das soll also das Ende sein. Diese… hmm… Kreaturen.« »Meine eigene Großmutter mütterlicherseits lebt in Deathless«, berichtete Dr. Emerson. »Sie ist genauso frisch und munter wie zu Lebzeiten.« »Hmm, hmm.« Dr. Hatcher ließ ihren Kopf auf Teds Schulter sinken. Auf der Projektionswand konnte man eine Straße zur Mittagszeit erkennen. Sie schwang sich malerisch um eine himmelblaue Lagune. Die Straße selbst bestand aus ebenso blauem Noryl. Alte Menschen wandelten über die Gehsteige. Die meisten trugen kurze Hosen oder lose Umhänge. Nur einer von ihnen war tiefbraun von der Sonne. Die anderen waren fahlweiß bis bläulich. Keiner redete ein Wort. Die einzigen Geräusche, die aus den Lautsprechern über der Wand drangen, waren das schrille Gekreische der Möwen und das Schlurfen der Füße. »Und Sie sind sicher, daß Ihre Großmutter wirklich wohlauf ist?« fragte Dr. Dix seinen Kollegen Dr. Emerson.
»Sie ist vollkommen fit und verfügt über alle Organe und Fähigkeiten«, versicherte der Techniker. »Und das, obwohl sie schon seit 2011 tot ist.« »Sie kommen mir alle vor… wie Fische«, stellte Dix fest. »Diese Homann-Methode hat immer noch einige Nachteile und Schönheitsfehler. Die Frau dort, zum Beispiel. Sehen Sie doch mal… Sie scheint ihren Mund nicht ganz schließen’ zu können, und dann hängt ihr linker Arm ziemlich nutzlos herab.« »Zombies… Sie sind nichts anderes als Zombies.« Dr. Hatcher schmiegte sich an Ted und legte ihren Kopf auf seine Brust. »Sie brauchen keine Angst zu haben.« Er legte einen Arm um ihre Schultern. »Na gut, mag sein, daß die Homann-Methode, einige reiche Geldsäcke noch ein bißchen herumrennen zu lassen, nachdem sie den Löffel abgegeben haben, nicht ganz hundertprozentig ist«, meinte Dr. Babbs, »so gibt es noch wichtigere Dinge, mit denen die TSA sich zu beschäftigen hat, zum Beispiel das Seuchen-Detektions-System. Wenn irgendein Heini von der anderen Seite unten in Brasilien das in die Finger bekommt… Nemo!« »Ja, Ma’am?« »Schauen Sie sich den folgenden Teil des Films ganz besonders aufmerksam an. Dort… das ist Homanns Haus im Herzen von Deathless. Er hat es selbst entworfen. Mir kommt es eher vor wie eine geplatzte Wassermelone, aber es heißt, das wäre jetzt modern und besonders revolutionär. Achten Sie auf den Balkon.« Die Halbkugel wurde von einem Wandelgang umgeben. Eine Tür glitt auf, und ein braungebrannter Mann trat hinaus ins Sonnenlicht. Er beugte sich über das Geländer und spuckte in einen Teich hundert Meter unter ihm.
»Das ist der alte Sack höchstpersönlich«, sagte Dr. Babbs. »Sie brauchen nur dafür zu sorgen, daß er vom Balkon fällt. Das schaffen Sie doch wie nichts, oder?« »Natürlich«, versicherte Ted.
XI
Agent Roscoe biß ein zweites Mal in sein KunstfleischSandwich. »Dann hat es also geklappt, Ted?« »Ja, sicher, die – he, stop…« Roscoe kicherte. »Sie müssen etwas vorsichtiger sein«, riet er. »Irgendwann versucht die TSA genauso, Sie aufs Kreuz zu legen.« Der Gleiter schwebte über künstlich angelegte Sümpfe und Kanäle hinweg. »Was meinen Sie? Sie gehören doch zur TSA, oder nicht?« »Natürlich, ich bin Agent der TSA. Doch mein Herz gehört Reverend O!« »Sie stehen auf seiner Seite?« »So überzeugt und unauffällig, daß die TSA nichts davon bemerkt.« »Er erzählte mir… Reverend Ortega meinte, er brauche einen Mann in der Organisation. Wenn er Sie schon hat, dann…« »Nein, ich laufe ja nur am Rande mit. Ich gehöre nicht zu den Top-Leuten. Sie zum Beispiel, Sie hören viel mehr als C-2 Agenten wie ich, zumal Sie ja immer in Trance zu arbeiten scheinen.« »Rev O hat mir aber nicht die ganze Wahrheit gesagt, als er…« »Nein, er lügt niemals. Ein Priester kann überhaupt nicht lügen, doch er kann die Wahrheit so hindrehen, wie er es für richtig hält.«
»Und was hat er mir bei dem, was er mir erzählte, vorenthalten? Was will er wirklich von mir? Was soll ich für ihn tun?« »Rev O wünscht, daß Sie die Homann-Mission weiterverfolgen. Anschließend…« »Ich werde den alten Mann nicht umbringen. Ortega hat mir versprochen…« »Das stimmt schon, Sie brauchen Homann nicht abzuknipsen. Aber Sie müssen so tun, als hätten Sie sich alle Mühe gegeben. Sie werden für den alten Knacker einen Unfall vorbereiten, so wie die TSA es von Ihnen erwartet, nur retten Sie ihn in letzter Sekunde.« »Die TSA nimmt mir das nicht ab. Die glauben doch, daß ich nie Fehler mache.« »Die meisten Agenten bauen irgendwann einmal Mist, sogar den Teleks kann das passieren.« »Na gut, also angenommen, ich vermassele das Attentat – was geschieht als nächstes?« »Sie machen ganz einfach weiter, Ted. Sie arbeiten auch in Zukunft für die TSA und halten Augen und Ohren offen. Reverend O stellt sich sogar vor, daß Sie eines Tages einmal einige Akten kopieren könnten, wenn Sie Ihre Fähigkeiten voll und ganz beherrschen. Auf diese Weise haben wir zum Beispiel das Ackroyd-Material bekommen.« »Ackroyd?« »Ach ja, damals waren Sie noch Nemo, als wir das Ding drehten.« »Ortega will also, daß ich mein Leben wie bisher weiterführe, daß ich auch weiter in meinem miesen Büro hocke und die Zeit totschlage?« »Irgendwann wird auch die TSA einmal Verdacht schöpfen. Solange können Sie sich an den Attentaten vorbeidrücken.
Doch bevor man auf Sie aufmerksam wird, sollten Sie uns eine ganze Menge an Informationen besorgen können.« »Und ich nahm an, der Reverend hätte mit mir noch ganz andere Dinge vor. Ich war der Meinung, ich würde ihm helfen, und er besorgt mir dafür eine neue Identität und hilft mir, ein neues Leben aufzubauen.« »Ihr Leben interessiert ihn eigentlich kaum, Ted. Viel mehr ist er am Schicksal unseres Landes interessiert, an dem Verlust an Freiheit, den man der korrupten Hartwell-Regierung verdanken kann. Ihre Aufgabe ist es, uns von Hartwell und seinen Kumpanen zu befreien, indem Sie die Praktiken der TSA ans Licht zerren und die öffentliche Meinung gegen sie…« »Wenn die TSA jetzt feststellen sollte, daß ich nicht mehr der gute alte Nemo bin… wird Ortega mir dann helfen?« »Na klar doch. Er wird tun, was in seinen Kräften steht. Er wird Sie verstecken, bis die Regierung gestürzt ist. Danach wird sowieso alles anders aussehen…« »Mich wird er verstecken. Und was wird aus meiner Frau?« »Ach, Sie wollen mit ihr zusammenbleiben? Und wir nahmen schon an, daß Sie bei all dem, was sie Ihnen angetan hat…« »Darüber wissen Sie auch Bescheid?« »McBernie, der Schwarze, der Sie beobachtet und gefilmt hat, bis die Bullen ihn schnappten, hat uns eine ganze Menge melden können, was sich in Ihrem Haus abgespielt hat… Haley war doch ihr Name, nicht wahr? Nun, Haley und Jay Perlberg hatten keine Hemmungen, ihrem Vergnügen nachzugehen, während Sie als Nemo im Einsatz waren.« »In meinem Haus? Die beiden?« »In Ihrem Haus, in Ihrem Auto, einmal sogar im Garten hinter dem Haus.« Ted faltete die Hände um die Knie, lehnte sich zurück und blickte hinauf in den blauen Himmel.
»Und Ortega erwartet im Ernst von mir, daß ich dieses Leben weiterführe, daß ich weiter arbeiten gehe und mit meiner Frau zusammenbleibe? Alles genauso wie früher, obwohl ich jetzt meine Fähigkeiten kenne und sie voll beherrsche?« »So sieht Ihre Rolle in diesem Spiel aus, Ted.« Roscoe schaute zwischen seinen Beinen hindurch nach unten. »Da liegen die Ruinen von Disney World. Damit wären wir schon fast über Deathless. Bei diesem Auftrag erwartet die TSA, daß wir landen und uns als Verwandte ausgeben. Wir bekommen auch Besucherpässe…« »Ich habe keine Lust, in den Plänen eines anderen eine mir aufgezwungene Rolle zu spielen. Das habe ich wohl jetzt nicht mehr nötig.« »Gut gut, aber Sie müssen auf das hören, was Reve…« Ein leiser Knall ertönte, und Agent Roscoe verschwand von seinem Sitz. »Ich hoffe, ich habe keinen Fehler gemacht«, murmelte Ted. »Wenn alles klappt, dann sollte Agent Roscoe jetzt irgendwo in den Überresten von Disney World landen.« Er griff nach dem Steuermikrofon auf dem Armaturenbrett. »Neuer Kurs!« »Jawohl, Sir, Boß«, erwiderte die blecherne Stimme der Automatik. »Setz mich in den Außenbezirken von High World ab«, befahl Ted entschlossen.
»… das ist genau der Unsinn, von dem Hartwell will, daß man ihn glaubt. Sie wissen verdammt genau, daß…« »Ruhig, Rev O, ganz ruhig«, sagte der Mann im weißen Dreiteiler und brachte sein Doppelkinn in Wallungen. »Ich möchte das gerne in den Familien-Nachrichten bringen.« Der Priester blies seine Backen auf.
»So ist das richtig. Wir müssen die Wahrheit endlich an den Tag bringen, daß auch die Arschlöcher in Ihrem Sender…« »Ich habe damit nichts zu tun«, protestierte der NachrichtenRedakteur. »Das sind nur unsere Zensoren bei der ColumbiaNational. Die sind der Meinung, müssen Sie wissen, daß ein Geistlicher keine Kraftausdrücke in den Mund nehmen darf.« »Wenn die meisten meiner Schäfchen im Dreck leben, kann man nicht erwarten, daß ich rede wie der Präsident im Weißen Haus, Leo.« Leo O’Hearn gab seiner Robot-Kamera ein Zeichen. »Hör mal auf mitzudrehen, ja? Ich will nicht, daß die Typen von CN davon etwas mitbekommen.« Die Kamera, die über seinem Kopf schwebte, surrte unbeirrt weiter. »Scheiße, die geben mir auch immer den größten Mist aus dem Materiallager mit.« Er hämmerte mit der Faust auf die Kamera. »Hör endlich auf!« »Haben Ihre Bosse vielleicht Angst«, fragte Ortega, »daß ich deren Müll auch noch in die Luft jage?« »Sie nicht – aber die Geheimdienste, die hinter Ihnen her sind.« O’Hearn schüttelte den Kopf. »Da, das Ding scheint sich endlich ausgeschaltet zu haben. Als ich damals mein Interview mit den Chicago-Friedens-Bombern hatte, wurden zwei meiner Kameras in einen Haufen Schrott verwandelt.« »Zwei der CFBs aber auch.« »Ich weiß, ich weiß, Rev O. Es ist schon eine verrückte Zeit, in der wir leben.« »Nein, diese Zeit ist nicht schlimmer als andere. Zufälligerweise wird unser Land von einer Bande Arschlöcher geführt. Aber wenn wir uns ranhalten, dann können wir sie zum Teufel jagen. Wenigstens dazu ist man in diesem Land noch in der Lage!«
Die beiden Männer saßen allein in einem Büro im elften Stock des Empire State Building, dem obersten Stockwerk einer Ruine, die einmal das Wahrzeichen einer Stadt gewesen war. »Jaja, nun gut. Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht ein paar brauchbare Minuten zusammenkriegen, Reverend O.« O’Hearns Stimme klang flehend. »Ich brauche Ihnen ja wohl nicht zu versichern, daß ich persönlich ganz auf Ihrer Seite stehe, und…« »Dann geben Sie mir doch eine halbe Stunde«, unterbrach Ortega ihn. »Lassen Sie mich weiterreden, den Leuten alles erzählen, was wir im Zusammenhang mit Präsident Hartwell an Material gesammelt haben und…« »Aber Sie haben nicht genug an Fakten, Rev O. Ja, könnten Sie amtliche Dokumente beibringen, konkrete Vorwürfe mit den entsprechenden Beweisen, dann könnte ich den Jungs bei CN die halbe Stunde anbieten, und sie würden mir den Streifen aus den Händen reißen. So, wie es im Moment allerdings aussieht…« Er zuckte die Achseln und versetzte der Kamera mit dem Ellbogen einen aufmunternden Stoß. »Dann mal ran. Lauf los, alter Kasten. Eine der schillerndsten Gestalten der heutigen Zeit ist sicherlich der Untergrundpriester, der seinen immer zahlreicheren Anhängern unter dem Namen Reverend O bekannt ist. Mit dem heutigen Tage ist Reverend Ortega schon über fünf Jahre in der politischen Szene aktiv. Es war Reverend Ortega, der sich der Hirnwellentests in Little Rock annahm, die Fakten zusammensuchte und die ganze Affäre publik machte… Es war Rev O, der mit seinen Anhängern dafür sorgte, daß Senator McDermott bei seinem Bemühen, wiedergewählt zu werden, eine Niederlage hinnehmen mußte. Es war Reverend O, der einer halben Million Kindern unterhalb des zulässigen Armutslevels in der Tristate-Region zu Lebensmitteln verhalf, als der Etat des Nationalen
Ernährungsministeriums noch vom damaligen Staatssekretär für Ernährungsfragen Cundall verwaltet wurde. Nun, die Verdienste dieses Mannes, dessen Aktionen nicht umstritten sind, aufzuzählen, würde in diesem Moment wirklich zu weit führen. Zu Ihnen spricht Leo O’Hearn. Ich befinde mich irgendwo in der Tristate-Region und stelle Ihnen gleich Reverend O vor, eine der widersprüchlichsten und faszinierendsten Persönlichkeiten der Gegenwart… doch zuvor noch einige Tips für den Einkauf.« Er entspannte sich und grinste den Priester an. »Dieser Vorspann lief viel besser als der erste, glaube ich. Wenn wir wieder auf Sendung sind, reden wir am besten über…« »Bullen!« brüllte eine Stimme aus dem Korridor. »Wie bitte?« O’Hearn schaute sich verwirrt in dem Büro um. »Ich fürchte, unser Interview müssen wir wohl verschieben, Leo.« Ortega griff in seinen Umhang und fischte seinen Stunner heraus. »Kommt etwa die Polizei bis hierher?« »Irgendwelche Bullen, Gesetzeshüter, sonstwas. Ich melde mich bei Ihnen.« Ortega rannte zum Fenster. »Wahrscheinlich habe ich dann sogar die Fakten, auf die Sie so scharf sind.« Er schwang sich über die Brüstung und sprang nach unten. »Was ist denn los?« O’Hearn gab der Robotkamera einen wütenden Stoß und ging zum Fenster. »Hast du alles mitbekommen? Selbstmord eines umstrittenen Geistlichen, weil die Polizei auftaucht… Ach so, da draußen hat ein Gleiter auf den Kerl gewartet. Tja, da hinten verschwinden sie, und weg sind sie.« Die Bürotür wurde aufgebrochen, und drei Männer in Zivil drängten sich herein. Sie hielten ihre Blaster im Anschlag und boten einen martialischen Anblick. »Schießt ja nicht auf meine Kamera!« flehte O’Hearn sie an.
XII
Auf dem Weg zum schwebenden Rundbett stolperte Jay Perlberg. Sein hübsches Kinn krachte auf den Boden der Sexsuite, desgleichen die braungebrannten Knie und die Ellbogen. »Verdammte Scheiße!« fluchte er unterdrückt. Er stemmte sich hoch, kam auf die Füße, machte drei weitere Schritte, stolperte erneut und fiel hin. »Verfluchter Mist. Gerade hatte ich noch einen hoch – jetzt ist er wieder weg!« »Schau dich doch mal um. Vielleicht hast du ihn hier irgendwo verloren. Paß auf, daß du nicht drauftrittst!« Haley hockte auf dem runden Schwebebett, hatte die Knie angezogen und umarmte sie zärtlich. Sie trug die nostalgische Reizwäsche-Garnitur in der Mode der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, auf die Jay immer so scharf war. Perlberg kam wieder hoch. »Ich mag solche Witze im Bett nicht sonderlich, Haley. Noch nicht einmal in der nächsten Nähe eines Bettes«, klagte er und massierte seine Ellbogen. »Diese blöden Bemerkungen kannst du dir für dein hohlköpfiges Ehegespenst aufsparen.« »Da kannst du sicher sein.« Haley schaute Perlberg nicht direkt an, sondern betrachtete sein Ebenbild in einem der Segmente in der rosafarbenen Spiegeldecke. Der attraktive nackte Mann entfernte sich von dem Bett. Vor einem der ovalen Fenster blieb er stehen. Vielfarbige Lichter blitzten auf und durchsetzten die Finsternis draußen mit einem hektischen, immerwährenden Feuerwerk. Ihre Sexsuite befand sich in Nightown, einem Sektor von High World, wo ewige Finsternis herrschte. »Wir haben ja gar nicht den höchsten Genuß«, jammerte er und verschränkte die Hände hinter
seinem braungebrannten Gesäß. »Seit unserer Ankunft hier haben wir nur eine Nummer gemacht. Du willst dir noch nicht einmal durch den Zimmerservice irgendeinen Sex-Fetisch bringen lassen.« Er wandte sich um und schaute sie stirnrunzelnd an. »Willst du es nicht mal mit dem HirnStimulator versuchen?« Haley schlang die Arme noch fester um ihre Knie und legte ihr Kinn auf die glatte Haut. »Nein, aber laß dich von mir nur nicht stören, Jay.« »Allein macht es nicht soviel Spaß.« Er war mittlerweile zu den beiden Stühlen hinübergegangen, die unter den Kopfhauben des elektrischen Hirn-Stimulators an der Wand schwebten. »Du bist in einer ziemlich ungewöhnlichen Stimmung.« »Nachts werde ich immer etwas melancholisch.« »Was willst du denn? Du konntest es dir doch aussuchen! Ebensogut hätten wir uns eine Suite in Daytown nehmen können. Und das können wir sogar jetzt noch. Zwar kämen wir für die heutigen Hahnenkämpfe schon zu spät, aber die letzte Auspeitschung des Tages sollten wir auf jeden Fall…« »Nightown, Daytown«, murmelte Haley gelangweilt und spielte mit dem Spitzengeflecht ihrer Reizwäsche. »Im Grunde ist es mir egal, wo wir sind. Letztendlich hängt alles nur an mir. Ich bin im Moment in einer recht miesen Phase. Aber das geht sicher bald vorbei.« »Spiel nicht so mit deiner Wäsche herum«, warnte Perlberg. »Davon steigt er gleich wieder in die Höhe!« »Und ich dachte, genau das wolltest du! Schließlich hast du gerade noch danach suchen wollen!« »Erst einmal hocke ich mich unter den Hirn-Stimulator.« Perlberg schlenderte zu dem Apparat an der Wand hinüber und wollte sich in einen der Schwebestühle sinken lassen.
Der Stuhl jedoch glitt ein Yard nach rechts. Mit einem dumpfen Laut nahm Perlbergs Hintern mit dem Boden einen innigen Kontakt auf. »Jay! Was ist los mit dir?« »Der verdammte Stuhl hat nicht stillgehalten und ist zur Seite gehüpft! Verflucht noch mal! Ich glaube, ich hab mir einen Satz Zähne ausgebissen!« Leicht schwankend kam er wieder hoch. Er umklammerte die Lehne des Schwebestuhls, hielt ihn krampfhaft fest und setzte sich vorsichtig nieder. Dann griff er nach oben und zog den Stimulatorhelm herab. Der Helm ließ sich sehr leicht bewegen, mehr noch, er schien dem Mann geradezu entgegenzukommen. Ziemlich abrupt sackte er dann nach unten, stülpte sich dem Mann auf dem Stuhl über den Kopf und rutschte tiefer, bis er von den Ohren aufgehalten wurde. Unter dem Helm drang schließlich ein lautes Summen und Knistern hervor. »Aua! Au! O weh!« schrie Perlberg. Seine Beine zuckten, wurden steif und spreizten sich grotesk. »Aua! Au! Au!« Das Summen und Knistern wurde immer lauter, und nun erklang auch noch ein durchdringendes Wummern und Dröhnen. Bläuliche Rauchwolken kräuselten unter dem chromblitzenden Helm hervor, der auf Perlbergs braungebrannten Ohren hin und her wackelte. »Aua! Auweh!« Verzweifelt zerrte und ruckte er an dem Helm und bemühte sich, ihn sich vom Kopf zu reißen. Haley sprang vom Bett und kam herübergerannt. »Jay, wirst du elektrisiert? Stehst du unter Strom? Wird dein armes Gehirn zu stark erregt?« »Weg damit! Reiß ihn runter!« Haley faßte nach dem Helm und zog ihn sanft nach oben. Ohne Schwierigkeiten gab er Perlbergs Kopf frei. »Da, jetzt bist du ihn los«, meinte Haley.
Perlberg massierte seinen Kopf und fragte: »Stinkt es vielleicht nach angesengten Haaren?« »Nein. Und ich sehe auch auf deinem armen Schädel keinen einzigen Brandfleck.« »Himmel, war das vielleicht wild.« Er ließ sich schwer in den Sessel fallen. »Normalerweise erzeugt das Ding angenehme Empfindungen und hocherotische Vorstellungen. Aber diesmal, o Himmel… das war… einfach schrecklich…« »Vielleicht hat die Verwaltung von High World die Stimulatorspannung erhöht oder sonstwas verändert«, vermutete Haley. »Schrecklich, überwältigend«, wiederholte Perlberg. »Ich stand auf einer Bergspitze, und die ganze Welt lag zu meinen Füßen, und ich konnte alles frei und ungehindert überblicken. Eine Gestalt mit lederartiger Haut reichte mir… Riecht es hier vielleicht nach Schwefel?« »Nein, eher nach heißer Schokolade.« »Das ist meine neue Haarpomade.« Perlberg seufzte und erhob sich. »Das war wirklich… atemberaubend.« Er schob einen Finger hinter das Gummiband von Haleys altmodischem Schlüpfer und ließ es gegen die Haut schnellen. »Schwarze Spitze macht mich wirklich scharf… Geh, setz dich wieder aufs Bett, ja?« Haley gehorchte. »Diesmal machen wir noch mal die Wilder-Mann-Nummer, okay? Ich renne wie besessen auf das Bett zu, brülle und kreische wie ein Wahnsinniger und springe einfach auf dich drauf. Und dann reiße ich dir das schwarze Spitzenzeug fetzenweise vom Leib.« »Von mir aus.« Perlberg entfernte sich von dem Bett und blieb in einer Ecke des Raumes stehen. »Also los.« Er rieb sich die Hände, leckte sich über die Lippen und startete wie ein
Hochleistungssprinter. Wenige Meter vor dem Bett grölte er auf wie ein angestochener Affe und sprang auf das Mädchen zu. Gleichzeitig schwebte das Bett etwa einen Meter weiter. Rumms! Kinn, Ellbogen, Knie sowie die links liegenden Rippen krachten auf den harten Fußboden. Mit einem pfeifenden Laut wurde die Luft aus Perlbergs Lungen herausgepreßt und entwich aus dem halbgeöffneten Mund. Haley lugte über die Bettkante. »Jay, hast du dir schon wieder weh getan?« »Ja, verdammt noch mal! Ja, Haley, ich hab mir tatsächlich weh getan.« Er richtete sich auf den Knien auf und massierte die schmerzenden Stellen seines Körpers. »Was meinst du, warum ist das Bett so komisch ausgewichen?« »Keine Ahnung. Woher, verdammt noch mal, soll ich das wissen?« »Vielleicht hast du es mit deinem wilden Gebrüll ganz einfach erschreckt?« »Ein Bett kann man nicht erschrecken.« Perlberg hatte Mühe aufzustehen und sich geradezuhalten. »Wir haben diese Wilder-Mann-Nummer doch schon oft durchgezogen, und niemals hat es Schwierigkeiten gegeben.« »Stimmt schon. Es hat immer geklappt.« »Ich werde mich bei der Hotelleitung beschweren. Wir lassen uns eine andere Sexsuite geben und ziehen um.« »Hast du vergessen, daß diese Bude hier die letzte ist, die noch frei war?« »Dann soll man schnellstens einen Reparaturtrupp herschicken.« Perlberg schaute sich in dem Zimmer um. »Ich sehe das Pixphon nirgendwo.« »Das hat doch gleich hiergestan… oh, es ist nicht mehr da.«
Haley blickte hoch, zuckte zusammen und wies mit dem Finger an die Spiegeldecke. »Sieh mal, da oben schwebt es!« »Das ist aber höchst sonderbar, um nicht zu sagen erschreckend«, meinte Perlberg verdutzt. »Ich fange an mich zu fragen, ob…« Plötzlich war Haley verschwunden. Ein dumpfer Knall und sie hockte nicht mehr auf dem Bett. »Haley?« Perlberg wirbelte herum, suchte den Raum ab und sah nur sein Ebenbild in den Spiegelflächen. Genau gegenüber erschienen plötzlich gekritzelte Worte auf der Spiegelwand. Der elektrische Schreibstift, den er kurz nach dem Betreten der Sexsuite aus der Hosentasche verloren hatte, tanzte geisterhaft über die Wand. Die Worte waren in Druckschrift. Die Hand des unsichtbaren Schreibers schien zu zittern. »Laß sie in Ruhe«, warnte die Inschrift, »oder es geht dir dreckig!« »Nemo«, murmelte Perlberg fassungslos.
XIII
Betont lässig betrat Ted die Lobby des Daytown Howard Johnson Hotels und schlenderte durch die Halle. Er hatte die Hände in den Taschen seines neuen einteiligen Freizeitanzugs aus Lycra vergraben. Er preßte die Zunge gegen seine Schneidezähne und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Die drei Aluminiumroboter hinter dem schwebenden Rezeptionsschalter ließen ihre kugelrunden Köpfe rotieren, um den Neuankömmling zu inspizieren. »Ich möchte eine Suite mieten«, äußerte Ted seinen Wunsch. »Wie ich vermute, haben Sie schon Ihre Zimmer reservieren lassen«, erwiderten die drei Roboter gleichzeitig wie aus einem Mund. »Mein Name ist Philip van Horn«, erklärte Ted und fischte eine Multikarte aus der Tasche seines Overalls. »Ich bin sicher, daß meine Reservierung bei euch gespeichert ist.« Einer der drei Roboter wandte seinen Kugelkopf zu dem Terminal des Hotelcomputers um, der neben ihm stand. »Ach ja, da haben wir es schon. Philip van Horn aus Cheektowaga, New York.« »Genau. Das bin ich.« »Wünschen Sie eine normale oder eine Sexsuite?« wollte das Robotertrio wissen. »Ein Mann von Ihrem Kaliber und Ihrer beherrschenden Vitalität müßte doch eigentlich…« »Ich habe über eine ganze Menge nachzudenken.« »Ich verstehe. Natürlich.« Ein anderer der drei Roboter reichte Ted einen Handschuh aus Pseudogummi. Auf der Handfläche waren einige Zahlen eingestanzt. »Ihr Schlüssel, Sir«, informierten die drei ihn. »Ihr
Zimmer befindet sich im achtzehnten Stock. Übrigens haben wir dort oben auch unseren Masochisten-Flur. Oder wäre Ihnen der Sadisten-Flur lieber?« »Das ist mir im Grunde egal. Ich bin nur hereingekommen, um in Ruhe nachzudenken.« »Wenn Sie damit fertig sind, dann benachrichtigen Sie ruhig unseren Zimmer-Service. Wir bieten lebendige Nutten an, Androidennutten, Robotnutten… von unseren dreiundfünfzig verschiedenen Geschmacksrichtungen Eiscreme gar nicht zu reden.« »Ich bin überwältigt.« Ted streifte sich den Handschuh über und ging zu einem der Aufwärts-Liftschächte hinüber. In der nächsten Umgebung der Ausstiegszone im achtzehnten Stockwerk ging es ziemlich laut zu. Die lustvollen Schmerzensschreie waren unüberhörbar. Doch im Seitentrakt des Hotels, in dem Teds Zimmer lag, herrschte eine himmlische Ruhe. Ted schob die Fingerspitzen seiner behandschuhten Hand in die fünf Löcher des Schlosses in seiner Zimmertür. »Willkommen in Ihrer Suite, Sir«, begrüßte ihn der Raum. »Unser heutiges Sonderangebot umfaßt Animal-Fellatio und Eiscreme mit Syntho-Grapefruitsplittern.« »Halt den Rand«, befahl Ted dem Lautsprecher, der von der Decke herabbaumelte. »Ich will nur meine Ruhe haben, weil ich einige Probleme lösen muß.« »Verzeihung. Nichts für ungut.« Der Lautsprecher schaltete sich ab. Vom Balkon seiner Suite aus hatte Ted einen ungehinderten Blick auf einen der weitläufigen Strände von Daytown. Das ewige künstliche Sonnenlicht ließ die Lagune tiefblau erstrahlen. Ausgelassen tollten die nackten Badegäste im Wasser herum.
Ted hockte sich auf den mit Kunststofffliesen ausgelegten Boden seiner Suite und stützte den Kopf in die Hände. »Was nun?« fragte er sich. Er hatte Perlberg offensichtlich einen heillosen Schrecken eingejagt und Haley nach Brimstone teleportiert. Dann hatte er seine Telek-Fähigkeiten eingesetzt, um dem echten Philip van Horn die Multikarte aus der Tasche zu fischen, und schließlich hatte er in Gedanken ein wenig an dem Hotelcomputer herumgespielt und sich auf diese Weise eine todsichere Zimmerreservierung besorgt. »Ich gehe ganz bestimmt nicht mehr zurück nach Hause!« Nicht zurück nach Brimstone, nicht zurück in das InkassoBüro oder zur totalen Sicherheits-Agentur im Keller darunter. Und ebensowenig zog es ihn zurück zu Reverend Ortega. »Jedermann erwartet von mir, daß ich meine Fähigkeiten für Zwecke einsetze, die man mir als lebenswichtig anpreist, und daß ich nur das tue, was andere mir vorschreiben. Nun, darauf pfeife ich in Zukunft. Jetzt werde ich erst einmal ganz allein für mich sorgen!« Den Anzug, den er trug, hatte er sich bereits mit Hilfe seiner Fähigkeiten beschafft. Er hatte ihn in der Auslage eines Geschäftes in Nightown entdeckt, und zwar ganz in der Nähe des Hotels, in dem Jay Perlberg und Haley sich eingemietet hatten. Als Ted sich in sicherer Entfernung von dem Geschäft befand, hatte er den Anzug einfach aus dem Schaufenster gezaubert und ihn um seinen Körper materialisieren lassen. »Und ich kann mir auf diesem Wege noch ganz andere Sachen beschaffen!« Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ließ seine Gedanken auf die Reise gehen. »Zum Beispiel könnte ich Geld…«
Einen Stapel Papier, über fünftausend Dollar in großen Scheinen, materialisierte auf dem Boden neben seinem ausgestreckten rechten Bein. »… Kleider…« Drei weitere einteilige Freizeitanzüge erschienen aus dem Nichts. Einer von ihnen verfügte sogar über einen beleuchteten Hosenlatz. Lachend klatschte Ted in die Hände. »Ich kann alles haben, was ich will!« rief er begeistert. »Und ich kann tun, wozu ich gerade Lust habe!« Er konnte Haley herholen, brauchte sie nur zu teleportieren, und konnte ihr dann sagen… konnte ihr beteuern, daß er sie von ganzem Herzen liebte und daß sie die Finger von Perlberg lassen solle. »Aber das mache ich jetzt nicht«, beschloß Ted. »Noch nicht.«
»Wie wär’s mit einem Nacktringkampf?« lockte das unbekleidete Mädchen im Ladeneingang. »Zum Zuschauen oder Mitmachen?« fragte Ted. »Ganz wie Sie wollen.« Sie strich sich mit der Hand über den flachen Bauch. Ihre Brustwarzen begannen rot und grün zu blinken. »Hundert Dollar für das erstere, fünfhundert fürs Mitmachen.« Ted stellte fest, daß er im gleichen Takt mit den flackernden Brustwarzen zwinkerte. »Ich wollte mich eigentlich nur einmal umschauen«, meinte er ausweichend. »Vielleicht komme ich nachher darauf zurück.« »Kommen Sie doch am besten morgen her. Dann haben wir nämlich Totalausverkauf.« Ted, der in seinem neuen Freizeitoverall ein prachtvolles Bild abgab, schlenderte durch die betriebsamen Straßen Daytowns,
wo es niemals dunkel wurde. Seine Hand streichelte in der Tasche die Rolle Banknoten, und er pfiff vergnügt vor sich hin, als er sich vom Strom der Passanten treiben ließ. »MS kann auch Ihnen das Leben verlängern«, informierte ihn ein japanisch aussehender Androide, als er an dem MSEtablissement mit der Reihe Pseudokirschbäume vor dem Eingang vorüberschlenderte. Ted schaute auf den Androiden hinab, der neben dem Eingang auf den Fersen hockte. »Ich glaube, ich habe keine Ahnung, was MS überhaupt ist.« »Meditation und Sex«, erwiderte der orientalische Androide. »Das ist gut für Geist und Körper. Es befreit von allen Zivilisationsgiften der heutigen Zeit und schafft Raum für echte Lebensinhalte!« »Vielleicht komme ich später darauf zurück. Im Augenblick…« Ted verstummte und straffte sich. Soeben war eine riesige Bierflasche vorbeigeschwebt. Freiheits-Bier stand auf der lastwagengroßen Flasche. Und um einen Lastwagen handelte es sich auch, begriff Ted. Auf dem Boden der Lastwagenflasche stand: Woodruffs patriotische Lebensmittel! Und hinter dem Lenkrad saß ein Uncle Sam, dessen grauer Bart irgendwo in Höhe des linken Ohres klebte. Es war Pop Woodruff. Ted hatte Haleys Vater sofort erkannt. »Es ist besser, MS zu machen, es voll auszukosten, als zum Beispiel an Rache zu denken, an Haß und so weiter«, riet der mechanische Japaner. Ted achtete nicht mehr auf ihn, sondern schaute angestrengt dem langsam fahrenden Lastwagen nach. An der nächsten Ecke bog er ab und entschwand seinen Blicken. Als Ted ihn einholte, parkte er direkt neben der Fahnenstange auf dem großen Vorplatz vor dem gepflegten Gelände der Casanova Middle School.
»…Woodruffs patriotischer Freßwagen ist soeben eingetroffen und erwartet eure Wünsche – Junge und Mädchen, und auch die der Lehrer!« verkündete der Vater seiner Frau über die Lautsprecheranlage des Lastwagens. »Wie können wir uns am wirkungsvollsten gegen die Feinde unseres Landes wehren? Nun, indem wir Leib und Seele stärken. Jedesmal, wenn ihr eine Flasche des herrlich kalten und schäumenden Freiheits-Bieres leert, nehmt ihr gleichzeitig den so lebenswichtigen Vitamin-B-Komplex auf. Wenn ich zu einem saftigen Sternenbanner-Würstchen greife, werdet ihr davon nicht nur satt, sondern ihr erhaltet auch ein Drei-D-Foto eines berühmten Amerikaners aus…« Die ersten Kinder tauchten auf. Die Türen eines Gebäudes mit der Bezeichnung Opium-Höhle wurde aufgestoßen, und elf und zwölf Jahre alte Jungen und Mädchen stürmten ausgelassen nach draußen in das künstliche Sonnenlicht. Wenig später erschienen auch Erwachsene. Sie kamen aus einem Schuppen, an dem ein Schild verkündete: LehrkörperBordell. »… die Spezialität von heute ist rot-weiß-blauer Schinken auf amerikanischem Roggenbrot, zu hundert Prozent hergestellt aus reinen, nahrhaften und künstlichen Zutaten, die garantiert kein Schweinefleisch oder Mehl oder sonstige allergiefördernde Ingredienzien enthalten.« Die Kinder aus der Mittelschule bildeten vor einem Fenster, das sich in der Seitenwand des flaschenförmigen Lastwagens geöffnet hatte, eine lange Schlange. Ted hockte auf der anderen Straßenseite neben einem AbfallRoboter. Er legte die Hände flach auf die Oberschenkel und schloß die Augen. Winkend und johlend kletterte Woodruff aus dem Führerhaus und drängte sich durch die Kinderschar nach hinten zum Einstieg in den Verkaufsraum des Lastwagens. Fast
gleichzeitig löste sich der graue Bart von seinem linken Ohr und begann, den Kopf des Mannes zu umkreisen, riß Woodruff den Sternenbanner-Hut vom Kopf und rannte damit hinter dem Bart her, als wolle er ihn einfangen wie einen Schmetterling. Der Bart stieg noch höher in die Luft und blieb schließlich auf dem Hals der riesigen Rasche liegen. »Komm sofort zurück, du verrückter Filzpantoffel!« brüllte Haleys Vater heiser. »Was du da machst, ist ja schon fast ein Sakrileg. Das ist genauso, als würdest du die amerikanische Fahne anspucken!« Er unternahm einige erfolglose Versuche, auf die glatte Flasche hinaufzuklettern. Währenddessen lösten sich bei neun Dutzend Flaschen Freiheits-Bier, die im Wagen gestapelt waren, die Verschlüsse gleichzeitig, und schäumend sprudelte das Bier heraus und suchte sich seinen Weg nach draußen. Die Kinder wichen furchtsam von dem Verkaufsschalter zurück, aus dem das Bier herauszischte. Der Bart stieg wieder in die Luft und flatterte wie ein Vogel. Er schwebte zum Fahnenmast der Schule hinüber und kam auf dessen Spitze zur Ruhe wie ein Adler auf seinem Horst. Woodruff reckte die Faust hoch und drohte ihm zornig. »Wie zum Teufel soll ich dich von dort runterholen?« Ein tiefer Seufzer löste sich von den Lippen der Kinder und Lehrer, als Haleys Vater den Boden unter den Füßen verlor und sich in die Luft erhob. Gravitätisch segelte er hinauf zur Spitze des Fahnenmastes. Als die Kraft, die ihn trug, nachließ, gelang es ihm gerade noch im letzten Moment, nach der Fahnenstange zu greifen und sich festzuhalten. Pfeifend setzte Ted seinen Spaziergang fort.
Eine strahlende Sonne stand am klaren und tiefblauen Morgenhimmel. Die Sonne war echt, und es herrschte ein
richtiger natürlicher Morgen. Ted befahl seinem neuen LuxusLuftgleiter, auf dem Landeplatz auf dem Dach des Badehauses aufzusetzen. Er befand sich zur Zeit über Orlando-2 in Florida. Schon am frühen Morgen war er aus dem Daytown Howard Johnson Hotel ausgezogen. Die Worte: Schon wieder ein Torchy-Badehaus, das Ihnen zu Diensten ist! waren in riesigen Blockbuchstaben auf die Landefläche des Hochhauses gemalt worden. Der kahle Androide, der auf dem Platz die Aufsicht führte, trug die gleiche Inschrift auf seinem glatten Schädel. »Ich bleibe am besten in Bewegung«, sagte Ted sich, während der Gleiter sich in einen der Halteschlitze auf dem Dach senkte. »Mittlerweile muß Perlberg sich darüber klargeworden sein, daß nur du ihm in Nightown aufgelauert haben kannst. Du hättest lieber nicht… ist auch egal. Ich wollte nur an dieses miese Schwein herankommen und ihm einen Denkzettel verpassen. Ja, mit Sicherheit hat er längst die TSA alarmiert und ihnen einen Tip gegeben, daß Agent Nemo in Florida sein Unwesen treibt. Was werden die Kerle von der Totalen Sicherheit jetzt wohl unternehmen? Ganz bestimmt nach mir suchen!« »Ist Ihnen klar, daß dies hier kein richtiges Badehaus ist?« fragte der haarlose Roboter, während er Ted die Tür aufhielt. »Ich weiß Bescheid.« »Verzeihen Sie, daß ich so aufdringlich bin, aber Sie wirken nicht wie jemand, der so etwas nötig hat… was ich sagen will ist, daß Sie mir als Mann von gutem Ruf erscheinen«, meinte der Androide. »Ein Bursche, und damit will ich Sie in keiner Weise beleidigen, von hohem moralischem Wert.« »Nun, ich bin auf Urlaub«, verriet Ted. »Ich möchte meinen Spaß haben. Ich habe von diesen Torchy-Läden schon eine Menge gehört, und ich möchte einen solchen Schuppen mal ausprobieren. Sieh doch nur, was ich am Leibe trage.«
»Einen Freizeitanzug, der eine Nummer zu groß ist, und?« »Ich mußte meine Garderobe ziemlich eilig zusammenstellen«, erklärte Ted. »Aber dieser Dreß sollte dir eigentlich Beweis genug sein, daß ich hier bin, um mich zu unterhalten.« Das war auch mehr oder weniger Teds aufrichtige Absicht. Sein Nachbar McAlpin hatte diese Torchy-Badehäuser oft genug in den höchsten Tönen gelobt. Und nun – unter anderem auch, um Haley zu beweisen, daß er sich nicht nur Zuhause amüsieren konnte – wollte er einen dieser Läden selbst aufsuchen. »Die meisten unserer Klienten auf der Suche nach Lust und Vergnügen haben aber nicht einen derart niedergeschlagenen Gesichtsausdruck, wenn Sie mir eine Bemerkung gestatten.« »Mit Niedergeschlagenheit habe ich ganz sicher nichts im Sinn. Im Gegenteil, ich will hier die beste und raffinierteste Bedienung.« Ted schlenderte hinüber zu einem AbwärtsSchacht. »In Stockwerk 6 wird man sich bestens um Sie kümmern, Mr…« »Edmund Bierhorst junior.« Ted trat in den Schacht. Am Ausstieg drängten sich zahlreiche Mädchen. Allein wegen des dichten und farbigen Dampfs konnte Ted nicht feststellen, wie viele Mädchen dort überhaupt herumstanden und welche von ihnen echt und welche Androiden waren. »Willkommen an Bord. Willkommen im wundervollen Torchy Badehaus. Kommen Sie doch mit und setzen Sie sich«, lud ihn eine heisere Stimme ein. Ted konnte nicht erkennen, wer zu ihm sprach. Außerdem konnte er in dem wirbelnden Farbnebel auch keine freie Sitzgelegenheit ausmachen. »Red weiter. Ich versuch dich zu finden.« »Der Dampfbad-Pavillon ist heute nicht gerade der ideale Ort. Aber es ist sicher nichts Ernstes.«
»Gestatten Sie mir, Sie zu führen, Sir.« Ein hochgewachsenes rothaariges Mädchen ergriff Teds Hand. Ein Sessel materialisierte aus dem Nebel, ein kleines Tischchen folgte ihm. An dem Tisch hockte eine fette Frau in einem durchsichtigen Bademantel. »Willkommen an Bord, Mr. Bierhorst«, sagte sie erneut mit ihrer heiseren Stimme. Die Rothaarige ließ Ted an dem Tisch Platz nehmen und verschwand wieder im Farbnebel. »Du hast eine interessante Stimme«, sagte Ted zu der fetten Frau. »Da ist nur dieser verdammte Dampf schuld. Immer wieder dringt er in meine Sprechmechanik ein.« »Oh, dann bist du ein Andy?« »Nein, ein Cyborg.« Sie schlug mit der flachen Linken auf ihren fetten rechten Oberarm und ließ eine kleine Klappe aufschwingen. Aus dem winzigen Fach nahm sie einen Stapel rosafarbener Karteikarten heraus. »Erst einmal, Mr. Bierhorst, müssen Sie eine Erklärung unterschreiben.« »Erklärung?« »Sie sind wohl zum ersten Mal in einem Badehaus, nicht wahr?« »Nun, in Wirklichkeit könnte man sagen…« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Wir brauchen diese Erklärung nur für die Jungs von der Gesundheitsbehörde für den Fall, daß Sie hier bei uns über den Jordan gehen.« »Meinen Sie damit, daß ich hier sterben könnte?« »Nein, nein. Das passiert heutzutage nicht mehr so oft. Doch wir wollen nur auf Nummer Sicher gehen.« Ted führte den Vordruck dicht vor seine Augen, damit der feuchte Nebel ihn nicht unleserlich machte. »… verzichte auf jegliche Schadenersatzansprüche an die Torchy-Badehaus (R)
Corporation, sollte mein Tod eintreten bedingt durch Unfall, Ekstase, Überreizung…« »Gehen bei euch eigentlich viele in Ekstase hops?« »Im letzten Monat hatten wir einen alten Herrn aus Madeira, dem das alles nicht so richtig bekam. Plötzlich nibbelte er ab. In Ihrem Alter, junger Mann, würde ich mir keine Sorgen machen.« Ted unterschrieb den Vordruck mit seinem derzeitigen Alias. »Mrs. Bierhorst – das ist meine Mutter daheim in Bridgeport – überlasse ich meine Sprechuhr, und mein…« »Zeigen Sie ein lachendes Gesicht, alter Freund. Nach der Wahrscheinlichkeit wird Ihnen hier kein Haar gekrümmt, und Sie überstehen alles völlig unversehrt«, sagte der Cyborg mit der heiseren Stimme. Sie reichte mit einer Hand unter die Tischplatte, schlug auf ihr Knie und holte einen Stapel Prospekte aus einem Fach, das sich nach dem Schlag geöffnet hatte. »Wenn Sie mir Ihre Multikarte reichten, dann könnte ich schon eintragen und verbuchen, was Sie hier ganz speziell wollen.« Ted fing an, die Broschüre durchzublättern. »Hier – Nummer Vierzehn«, fragte er. »Ganzmassage. Was ist das genau?« »Eine Massage.« »Okay. Aber was sonst noch?« »Wir reiben Ihren Körper mit Neobutter ein. Und dann kommen zwei Norweger-Cyborgs rein, denen man spezielle Massagehände eingebaut hat. Die werden Sie ein bißchen durch die Gegend kneten und falten.« »Ich weiß, aber… ist diese Bezeichnung Ganzmassage nicht nur eine Tarnung für…« »Blättern Sie weiter zu Seite vierzehn.« Ted folgte der Aufforderung. »Aha, da hätten wir es doch. Geschlechtsakt und Stellungen. Verstehst du, ich hätte nie
gedacht, daß es einmal so förmlich zugehen würde, und ich hatte schon damit gerechnet, daß hier nicht das Kind beim Namen genannt wird…« »In einigen Staaten müssen wir uns wohl etwas zurückhalten. Hier in Florida können wir sagen, was Sache ist. Wenn Sie überhaupt wissen, was ich damit meine. Nehmen wir einmal an, da gäbe es…« »Ich glaube, ich versuche es einmal mit Nummer zweiundvierzig.« Die Frau zwinkerte. »Ist das alles?« »Ja, für den Anfang.« Sie riß ihm die Multikarte aus der Hand. »Wie Sie meinen, Mr. Bierhorst«, meinte sie. »Sie sind sich absolut sicher, daß sie nur Nummer zweiundvierzig wollen? Und mit nur einem Mädchen?« »Eines wird reichen«, bestätigte Ted. »Zumindest für den Anfang.« »Haben Sie bestimmte Vorstellungen, wie Ihr Mädchen aussehen dürfte? Haarfarbe, Figur, Religion…« »Das ist mir wirklich ganz egal. Es soll nur ein Mädchen aus Fleisch und Blut sein, denn mit Androiden kann ich so gut wie nichts anfangen.« Die fette Frau schnippte mit den Fingern. »Wir haben gerade heute ein kleines Girl dazubekommen, die jetzt erst mit diesem Job anfängt. Sie ist ein bißchen – nun, wie soll ich es ausdrücken – sie ist eben noch unerfahren. Jedoch hat sie die richtige Einstellung, sie ist lebhaft und zu allen Schandtaten bereit. Hätten Sie etwas dagegen…« »Das klingt ja sehr verlockend.« Sie legte ihm den Schlüsselhandschuh hin. »Zimmer 6-Y.« Das rothaarige Mädchen tauchte wieder auf, um ihn zu seinem Zimmer zu bringen. »Und ich hatte Sie echt für einen experimentierfreudigen Liebhaber angesehen«, meinte sie.
»Ich hätte darauf wetten können, daß Sie wenigstens eine Siebenunddreißig und anschließend vielleicht sogar noch eine Einundachtzig aussuchen.« Ted blätterte den Katalog durch. »Eine Siebenunddreißig? Wirklich? Können Sie sich vorstellen, daß ich aussehe wie…« »Hier wäre 6-Y. Viel Glück.« In diesem runden und in gedeckten Blautönen gereiften Raum gab es keine dichten Dampfwolken. Er konnte das Mädchen auf dem Bett recht deutlich erkennen. Sie war schlank, blond und nicht älter als zwanzig Jahre. Darüber hinaus war sie nackt, und im Moment preßte sie verzweifelt ihre Fäuste gegen die Schläfen und schluchzte. Ted trat an das Bett. »Stimmt etwas nicht?« Ohne aufzuschauen meinte das Mädchen: »Ich werde nie genug Geld verdienen, vor allen: nicht rechtzeitig.« »Rechtzeitig wofür?« »Um die Jungs vom Inkasso-Büro davon abzuhalten, mir meinen Landwagen wegzupfänden«, meinte sie.
XIV
»Das muß er ganz einfach sein!« Der Mann mit den buschigen Augenbrauen ließ seine Faust mit einem Stapel Notizblätter auf die Arbeitsplatte seines Tisches aus Neoholz donnern. Der Tisch brach in der Mitte durch. »Ich bitte Sie nur sehr ungern um Mäßigung«, meinte Dr. Dix, »aber Sie dürfen nicht vergessen, Karew, daß Ihre neuen Hände aus Metall sind. Sie sollten sich in Zukunft wirklich mehr unter Kontrolle haben.« J. Edward Karew, Distrikt-Direktor der Totalen SicherheitsAgentur, war ein großgewachsener Mann von einundfünfzig Jahren. Murrend bemühte er sich jetzt, die beiden Tischhälften wieder zusammenzufügen oder wenigstens so zusammenzupressen, daß man den Riß in der Mitte nicht sehen konnte. Er hatte damit wenig Erfolg und ließ seine Stimme durch das Büro dröhnen. »Wie ich schon sagte, bin ich davon überzeugt, daß unser verschwundener Agent Nemo hinter diesen Ungereimtheiten steckt. Was meinen Sie denn, Sie hübscher Bengel?« Jay Perlberg hockte verkrampft auf der Kante seines schwebenden Neoprene-Sessels. Gedankenverloren hatte er die Heftmaschine beobachtet, wie sie über die Arbeitsfläche des Tisches geglitten war. »Wahrscheinlich geht das meist auf seine Rechnung.« »Wahrscheinlich?« bellte Karew. Er riß seine Hand hoch und holte damit aus. Dabei prallte sie gegen die Wand hinter seinem Sessel und hinterließ eine tiefe Delle in der metallisch schimmernden Oberfläche. Das ganze unterirdische Büro war aus diesem Material erbaut. »Sie sollen doch angeblich unser
Experte sein, soweit es Nemo und seine Aktivitäten betrifft. Gerade Sie sollten ihn doch kennen wie niemand sonst, müßten über seine geheimsten Gedanken informiert sein, müßten wissen, was er in Zukunft plant und auf welchen verschlungenen Wegen sich sein Leben bewegt. Ganz allein deshalb treiben Sie sich ja auch mit seiner Frau herum, nicht wahr?« »Grundsätzlich haben Sie ja recht, doch ich mag Haley aufrichtig und betrachte das nicht nur als Dienst.« »Philip van Horn«, las der Direktor vom obersten Blatt des Zettelhaufens in seiner Hand vor. »Philip van Horn meldete der Polizei in Iveyville, Florida, daß seine Multikarte mit einem sonderbaren, unerklärlichen Implosionsknall plötzlich aus seiner Brieftasche verschwand. Ich bin sicher, da war wieder unser lieber Junge am Werk.« »Ja, so etwas ist typisch für ihn.« »Außerdem wissen wir nun, daß ein falscher Philip van Horn mindestens eine Nacht im Howard Johnson im DaytownSektor von High World verbracht hat«, fuhr Karew fort. »Zum Dinner bestellte er Falschente mit künstlicher Grillkruste, eine große Portion heimischen Apfelplast mit Thermosahne, dazu Synthokaffee…« »Ersparen Sie uns doch das Menü«, unterbrach Dr. Dix ihn ungeduldig. »Ich erspare Ihnen auch nicht die winzigste Kleinigkeit.« Die Notizzettel zerfielen zu wertlosen Fetzen, als sich seine Metallhand verkrampfte. »Wenn die TSA auch nichts Besonderes darstellt, eines ist sie gewiß, ein Sinnbild für Gründlichkeit. Auf diese Weise haben wir uns auch in all den zurückliegenden Jahren ganz oben an der Spitze halten können.« »Bis heute«, wandte Dr. Dix ein.
»… mit gefärbtem Gasrahm. Klingt das nach einer Zusammenstellung, die dieser verdammte Briar zum Dinner bevorzugen würde?« Perlberg zuckte die Achseln. »Es ist schwierig, so etwas…« »Haben Sie denn mit seiner spindeldürren Frau niemals über seine Eßgewohnheiten geredet?« »Nein! Wir…« »Lassen wir es dabei.« Karew las den nächsten Notizzettel. »Ein Freizeitoverall Größe achtunddreißig verschwand nach Aussage von drei nostalgischen Automatenaufstellern mit einem dumpfen Knall direkt aus einer Auslage mit Angeboten ihrer Automatenstraße! Hat dieser verdammte Idiot etwa ein besonderes Fable für Freizeitanzüge?« »Könnte sein«, erwiderte Perlberg nachdenklich. »Wahrscheinlich versucht er, sich für einige Zeit völlig untypisch zu verhalten. Irgendwie, und fragen Sie mich nicht wann oder wo, muß er herausgefunden haben, daß er über ganz außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt. Und jetzt benimmt er sich wie ein Schuljunge, der endlich der muffigen Enge seines Klassenzimmers entfliehen konnte und die Luft der Freiheit atmet. Es gab da früher einmal einen Song, der sich damit beschäftigte. School’s Out hieß der Schlager. Muß ein großer Hit gewesen sein…« »Gerüchte und unwesentliche Informationen wie zum Beispiel seine Dinner-Zusammenstellung!« meinte Dr. Dix. »Das alles bringt uns nicht viel weiter. Wir sollten nicht darüber nachdenken, wo Agent Nemo sich überall herumgetrieben hat, sondern wir müßten herausbekommen, welchen Schritt er als nächsten plant.« Karew ballte erneut die Faust und schüttelte sie in drohender Gebärde. Dabei klapperte das Stahlgelenk. »Und genau das werden wir jetzt tun, Doktor«, schwor er. »Wir werden einen Plan entwickeln, ein Verhaltensmuster, das uns verrät, wo Ted
Briar sich demnächst zeigen wird. Ich brauche euch wohl nicht zu sagen – aber vielleicht muß ich das doch, wenn ich bedenke, wie idiotisch ihr euch bisher verhalten habt – wie wertvoll er für uns ist. Unter den Tausenden von Leuten, die wir Jahr für Jahr testen, finden wir so gut wie nie jemanden, der über halbwegs ausgeprägte Psi-Kräfte verfügt.« »Stimmt schon…« setzte Dr. Dix zu einer Entgegnung an. »So gut wie keinen«, wiederholte Karew. »Und von denen, die wir in eine teure Ausbildung stecken, erweist sich aber auch kein einziger auch nur halb so wertvoll wie unser Ted Briar. Die TSA sucht Leute wie ihn wie die berühmte Nadel im Heuhaufen.« Er schlug mit der Faust in die andere Hand. Ein Dröhnen schwang durch den Raum. »Gerade mit Ted Briar haben wir einen unbezahlbaren Fang gemacht. Noch nie hatten wir jemand wie ihn zur Verfügung, vor allem wenn es darum geht, Regierungsgegner aus Fenster zu stoßen oder über Balkonbrüstungen zu heben. Die Tatsache, daß er Skrupel kennt und seine blödsinnigen moralischen Ansichten fanatisch verteidigt, kann man ja zum Glück vergessen, da wir ihn beeinflussen können, so daß er alles vergißt, was er als Agent an Befehlen ausführt.« »Ich frage mich nur«, warf Perlberg ein, »ob wir unseren Ted jemals wieder in einen dienstbeflissenen Agenten verwandeln können. Dieses Gefühl der Freiheit und das Bewußtsein, Kräfte sein eigen zu nennen, die ihresgleichen suchen…« »Wir können ihn jederzeit neu konditionieren«, meinte Karew abfällig. »Einmal ein Schwein, immer ein Schwein.« Sein Gesicht schien sich zu entspannen, als er Dr. Dix anstarrte. »Es wäre uns schon viel geholfen, wenn wir wüßten, wie es überhaupt dazu kam, daß er sich von unserer Kontrolle befreien konnte.« »So einen Fall hatten wir bisher noch nie«, sagte Dr. Dix und schlenderte zu dem lädierten Schreibtisch hinüber. »Allerdings
bewies er bei unserer letzten Konditionierung ein überraschendes Maß an Infantilismus und Verspieltheit…« »Seine Verspieltheit ist nicht unser Problem«, meinte der TSA-Direktor. »Wir sollten lieber überlegen, wie wir Ted Briar wieder zurückholen können, ehe er mit jemandem redet, zum Beispiel mit jemandem wie Reverend Ortega. Wir wissen ja bereits, daß der Reverend Briars Haus über einen längeren Zeitraum hinweg hat beobachten lassen. Eine Einrichtung wie die unsrige wird der Nation nicht mehr effizient helfen können, wenn wir an die Öffentlichkeit gezerrt werden. Wenn wir nicht mehr geheim vorgehen können, dann fällt das wesentliche Element der Überraschung aus. Also muß Nemo auf jeden Fall möglichst schnell aus dem Verkehr gezogen werden.« »Es wird nicht leicht sein, ihn einzufangen«, gab Perlberg zu bedenken. »Was er mit mir gemacht hat, kann er ebensogut auch mit jedem anderen machen, den wir auf ihn ansetzen.« »Wenn wir uns auf den Einsatz von Gewalt verlassen, sicher«, stimmte Karew zu. »Mir kommt es so vor, als wolle Nemo erst einmal genießen, was ihm bisher versagt blieb. Er wird seinen Spaß haben wollen. Und wir müßten irgendwann in der Lage sein, vorauszusagen, an welchem Ort er in nächster Zukunft seinem Vergnügen nachgehen wird. Schließlich erhalten wir ja genügend Informationen von seinem Auftreten.« »Das ist durchaus möglich«, pflichtete Dr. Dix ihm bei. »Irgendwann wird diese Flasche auch seine Frau wiedersehen wollen. Sollte er uns also immer wieder durch die Lappen gehen, so haben wir noch eine sichere Chance, ihn bei seiner Frau zu erwischen.« »Mit ihr will er nichts mehr zu schaffen haben«, berichtete Perlberg. »Ich habe heute morgen noch mit Haley gesprochen, und sie ist fest davon überzeugt, daß…«
»Ist doch klar, daß sie diese Meinung vertritt. Schließlich hat er sie ja erwischt, wie sie mit Ihnen durch die Betten hopste, Sie schmucke Sau. Ich sehe das alles in einem anderen Licht.« »Angenommen, er hat keine Lust mehr, sich herumzutreiben und nur sein Vergnügen zu suchen«, ließ Dr. Dix sich vernehmen, »dann dürfen wir nicht vergessen, daß Agent Nemo in der Lage ist, Leute an jeden Punkt der Erde zu befördern, ohne sie entführen und anfassen zu müssen. Schließlich hat er auch seine Frau auf diese Art und Weise wieder ins traute Heim gebracht. Was sollte ihn davon abhalten, auch…« »Haben Sie nur Vertrauen zu meinen Methoden«, unterbrach Karew ihn. »Wir benutzen seine Frau, um ihm eine Falle zu stellen.«
Die sechs Votivkerzen – die eine, die in einer Plastiktasse stand, knisterte leise – erleuchteten ein kleines Teilstück des finsteren Tunnels. Jenseits des Lichtkreises war es düster, kalt und feucht. Die fünfzig Leute, die sich auf dem rohen Zementboden drängten – einige standen, andere hatten sich hingehockt oder saßen sogar auf dem kalten Boden – schauten zu Reverend Ortega auf. Der Untergrund-Priester stand unter einem altertümlichen Warnschild mit der Aufschrift: Achtung! »Was der heilige Paul uns mit seinem Gleichnis sagen will, ist…« »Vorsicht! Die Strolche kommen!« Ehe Caspers lauter Warnschrei in den Gängen des Kanalsystems verhallt war, hatte Reverend Ortega schon einen Stunner unter seiner schwarzen Soutane hervorgezaubert. »Okay, meine Schäflein, am besten macht ihr euch dünne«, riet er seinen Zuhörern. »Von wo kommen die denn, Casper?«
Der schwarzhäutige junge Mann hielt einen Sprechsender ans Ohr und lauschte. »Aus den Randbezirken.« »Dann bringt euch in Richtung Innenstadt in Sicherheit!« Die Menge löste sich auf. Einige der Gläubigen verschwanden in der Finsternis, andere sprangen von der Zementplattform hinunter auf die Gleise der stillgelegten Untergrundbahn. Nachdem er die Kerzen gelöscht und sie in seinen Rucksack gepackt hatte, gesellte Reverend Ortega sich zu Casper. »Mit wie vielen herumstrolchenden US-Polizisten müssen wir rechnen?« »Linda meinte, es wären sechs.« »Wissen die etwa, daß ich hier unten bin?« »Daß gerade Sie es sind, werden sie wohl kaum ahnen. Wahrscheinlich hat man ihnen nur einen anonymen Tip zukommen lassen, daß hier unter der Grand Central Station ein ungesetzliches Treffen stattfindet.« Er schob den Sprechsender in die Tasche und holte dafür ebenfalls einen Stunner hervor. »Sechs bewaffnete Strolche. Wir ziehen uns zurück.« Ortega griff nach Caspers Arm und führte den jungen Mann durch die undurchdringliche Finsternis hinüber zu einer Stahltür. »Wir bringen uns durch den Schacht für die Reparaturtrupps in Sicherheit.« »Wir könnten aber auch hierbleiben und zwei oder drei von ihnen ins Land der Träume schicken.« »Nein!« Reverend Ortega zerrte den jungen Mann in die enge Nische hinter der Tür. Während sie die wackligen Stufen hinaufkletterten, meinte Casper zu Ortega: »In der letzten Zeit hatten wir wenig Glück bei unseren Unternehmungen, Reverend. Die Strolche haben zwei unserer Versammlungen erst vor kurzem aufgelöst, genaugenommen in der vergangenen Woche… und Ted hat uns offensichtlich im Stich gelassen.«
»Irgendwann wird er wieder auftauchen und auf unserer Seite kämpfen.« »Ich glaube kaum, daß er – he, sehen Sie doch – eine Ratte! Ich hab’ sie mit der Hand berührt. Haben wir noch Zeit genug, daß ich sie einfangen kann…« »Nein. Klettere weiter«, befahl Reverend Ortega. »Es sieht zwar ganz danach aus, als würden die Strolche uns nicht folgen wollen, doch man sollte sich darauf nicht verlassen. Wahrscheinlich sind sie gerade hinter den bedauernswerten Mitgliedern meiner Stadtgemeinde her.« »Die Jungs vom Haustiertod haben ein neues Rattengas im Einsatz, und es wird immer schwieriger, irgendwo noch lebende Ratten aufzutreiben«, sagte Casper. »Und Sie glauben wirklich, Ted macht nicht nur Unsinn und treibt sich in der Gegend herum, um mit seinen Telek-Kräften seinen Spaß zu haben?« »Natürlich wird er sein neues Leben auskosten«, gab Ortega zu. »Doch irgendwann wird er wieder zu uns stoßen und uns in unserem Kampf beistehen.« »Wirklich.« »Ja, Casper. Hab nur Vertrauen.« »Ich glaube an eine ganze Menge Menschen und Ideen, aber Ted ist nicht dabei.« »Wir werden sehen«, erklärte der Reverend milde.
J. Edward Karew hämmerte mit der Faust gegen die Syntho Kaffee-Maschine. »Ich wollte die Brühe ohne Gasrahm, du verdammter Mistkasten!« Es gurgelte erstickt in den Eingeweiden des Apparates. Die mannshohe Maschine kippte als Reaktion auf den heftigen Schlag von Karews Stahlfaust nach vorne. Neokakao sickerte seitlich heraus, Dampf entwich durch die
Sicherheitsventile, und Syntho-Sacharin rieselte aus einem der nunmehr verbogenen Schläuche. Mit einem beleidigten Knurren kehrte der Direktor der Maschine den Rücken. Eine Wandklappe gleich neben der asthmatisch keuchenden Kaffeemaschine glitt beiseite. »Oh, Verzeihung, störe ich?« Karew musterte den schlaksigen jungen Mann, der sich in den Raum schob. »Zehn Minuten Verspätung, Moriarty«, grollte er drohend. »Ich wollte mich gerade dazu entschließen, Ihnen keine weitere Chance mehr zu geben.« Moriarty, dessen neunzehnter Geburtstag gerade zwei Monate hinter ihm lag, sprang unbeholfen nach vorn, so daß sein weiter Mantel von dem zugleitenden Wandstück nicht eingeklemmt wurde. Sein linker Fuß tauchte in eine Pfütze Syntho-Kaffee und glitt aus. Daher konnte der junge Mann nurmehr recht unelegant auf seinen Chef Karew zuschliddern. »Ich wurde aufgehalten, Sir«, erklärte der Besucher. »Die Umstände, wissen Sie. Zum Beispiel mußte ich erst meine Eltern austricksen, nachdem ich Ihre Aufforderung bekam, Sie aufzusuchen. Sie wissen ja, daß es nicht gerade günstig wäre, wenn sie unseren Gegnern die Information zukommen ließen, daß ich mich mit Ihnen…« »Welche Gegner, Sie Flasche?« »Mein Vater und meine Mutter arbeiten doch für die andere Seite, mit der wir in einem immerwährenden Kampf…« »Ihre verfluchten Eltern arbeiten für niemanden als Agenten. Wie oft habe ich Ihnen das schon gesagt, Moriarty. Ihr Problem ist, daß Sie vollkommen paranoide sind, und das…« »Mir wäre es lieber, Sir, wenn Sie nicht dauernd Worte wie verflucht benutzen würden, wenn Sie von meinen Eltern reden. Auch wenn sie uns verraten und Agenten einer der schrecklichsten Mächte dieser an sich so perfekten Welt sind…«
»Ihre Eltern sind keine Geheimagenten, Moriarty, merken Sie sich das endlich! Sie haben einen Knall, das ist es ganz allein!« Der schlaksige junge Mann massierte grinsend seinen Brustkorb. »Irgendwie begreife ich nicht, warum Sie, Sir, Mom und Pops zu decken versuchen, außer natürlich, sie sind, was ich auch schon mal vermutet habe, Doppelagenten. Wahrscheinlich arbeiten sie gleichzeitig für die vernichtende Kraft und für uns…« »Das tun sie aber nicht! Sie sind keine Doppelagenten für nichts und niemanden! Und jetzt setzen Sie sich endlich auf den Stuhl dort drüben und hören Sie mir zu, Moriarty.« »Ja, Sir. Dafür brauchen Sie mich aber nicht – oh, Verzeihung.« Diesmal hatte er voll in eine Kakaopfütze getreten und segelte unaufhaltsam auf die Wand zu, wo er unsanft gestoppt wurde. Als der junge Mann sich endlich niedergelassen hatte, richtete Karew seinen stählernen Mittelfinger auf ihn. »Die TSA befindet sich zur Zeit im Alarmzustand«, erklärte er. »Daher muß ich verschiedene Maßnahmen gleichzeitig einleiten. Daher gebe ich auch den nicht ganz hundertprozentig erfolgreichen Agenten wie zum Beispiel Ihnen die einmalige Chance, sich zu bewähren.« »He! Das finde ich aber super, Sir!« rief Moriarty begeistert. »Ich verfüge über eine ganz schöne Portion telekinetischer Fähigkeiten, und auch wenn meine Eltern sich darüber lustig machen und es mir immer wieder verbieten, übe ich jeden Tag, um besser zu werden. Sehen Sie, erst vor einigen Minuten…« »Das Problem, dem wir uns gegenüberstehen, ist ein Agent mit Fähigkeiten wie den Ihren, Moriarty. Er dürfte sogar ebenso bescheuert sein wie Sie«, sagte Karew. »Er hat sich entschlossen, uns zu verlassen und sich selbständig zu machen.« »Das ist wirklich schlimm, Sir.«
»Sollten all unsere anderen Maßnahmen fehlschlagen, dann bestünde nur noch die Möglichkeit, daß ihn jemand einfängt, der ebenso begabt ist wie der Flüchtling.« »Ich bin da genau der richtige Mann, Sir. Und sobald ich ihn gefunden habe, schieße ich ihnen den Typ genau vor die Füße, Sir.« Karew verschränkte die Hände auf dem Rücken, was wiederum ein metallisches Geräusch hervorrief. »Ich bin zuversichtlich, daß wir Nemo schon sehr bald wieder bei uns in sicherem Gewahrsam haben. Darüber hinaus sähe ich es jedoch gern, wenn auch Sie als eine Art letzter Rückversicherung an der Lösung dieses Problems mitarbeiten würden.« »Sein Name lautet Nemo?« »Das ist sein Deckname. Die Info-Maschine wird Ihnen alles liefern, was Sie wissen müssen.« »Welche Info-Maschine meinen Sie wohl, Sir?« Moriartys Blicke folgten dem ausgestreckten Finger Karews. »Sprechen Sie etwa von dem Haufen Schrott dort drüben in der Ecke?« »Ach ja, ich hab’ ganz vergessen, daß ich mit diesem Mistding eine kleine Meinungsverschiedenheit hatte, während ich auf Sie wartete«, erinnerte Karew sich. »Wir bekommen gleich eine neue. Weiter im Text – Sie werden mit einer Agentin zusammenarbeiten, die über ähnliche außersinnliche Fähigkeiten verfügt wie Sie. Sie müßte eigentlich schon längst…« »Ich arbeite lieber allein, Sir. Bei allen Unternehmungen, die ich für TSA bisher durchgezogen habe, war ich stets…« »Deshalb haben Sie auch fast alles vermasselt, Moriarty. Zum Beispiel die Sache mit Professor Allen, als Sie…« »Das war nicht meine Schuld, Sir«, verteidigte Moriarty sich. »Woher sollte ich denn wissen, daß in Yonkers…«
»Vergessen Sie’s, Moriarty. Bei dieser Mission werden Sie mit Mrs. Seuss zusammenarbeiten«, erklärte der DistriktDirektor der TSA seinem jungen Mitarbeiter. »Sie ist das, was man eine Seherin nennen würde. Sie kann bestimmte Ereignisse voraussagen. Ich hoffe, daß sie uns prophezeien kann, wo Nemo sich demnächst aufhalten wird. Vielleicht hat sie eine Vision. Natürlich verlassen wir uns nicht nur auf sie, zumal uns ja die TSA mit ihrem gesamten technischen Apparat zur Verfügung steht und… Ja, was haben Sie?« »Ist Mrs. Seuss etwa eine untersetzte, eher maskulin wirkende Frau Mitte Fünfzig, Sir?« »Könnte sein. Warum?« Moriarty leckte sich die Lippen und senkte den Blick. »Nun, ich sah sie, wie sie in der Nähe unseres geheimen Eingangs herumlungerte. Sie erschien mir ziemlich verdächtig und erinnerte mich an die Mutter eines Freundes. Daher… ich habe sie einfach wegteleportiert.« Karews Finger quietschten gequält auf, als der Direktor sie verschränkte und zusammenpreßte. »Sie haben meine Seherin teleportiert?« »Ich fürchte, Sir. Ich hatte Angst, daß sie unter Umständen mitbekommt, wie ich…« »Wohin?« »Nun, von unserem geheimen Eingang…« »Wohin haben sie die Alte befördert, Sie verdammter Idiot?« Moriarty verfolgte fasziniert, wie sich die Pfütze SynthoKaffee weiter ausbreitete. »Irgendwohin nach Long Island, glaube ich.« »Glauben Sie?« »Nein, nein. Ich bin mir ganz sicher.« Der junge Mann räusperte sich, wobei sein Adamsapfel auf und nieder hüpfte. »Sir, wünschen Sie, daß ich sie wieder herhole?« »Das wäre überaus nett von Ihnen.«
Moriarty schloß die Augen, ballte die Hände zu Fäusten und ruckte auf seinem Stuhl hin und her. Dabei grunzte er vor Anstrengung. »Ist sie da?« »Bisher sehe ich nichts.« Moriarty ruckte immer schneller, und sein Grunzen verstärkte sich. »Da ist sie.« Er öffnete die Augen. Eine unscheinbare Frau mit kurzen grauen Haaren stand dicht neben Karew. »Ich hatte so eine Ahnung, daß etwas Derartiges geschehen würde«, murmelte sie. »Ella Seuss, sagte ich zu mir, du wirst einen großen, jungen Mann treffen und dann eine weite Reise über das große Wasser machen. Und es ist tatsächlich eingetroffen!« »Ich möchte, daß Sie für mich jemand suchen, Mrs. Seuss.« »Das wird nicht allzu schwierig sein.«
XV
Das Mädchen atmete pfeifend aus und ließ das Kleiderbündel fallen, mit dem sie krampfhaft ihre Brust verhüllt hatte. »Wie haben Sie das… wie sind wir überhaupt… was, ich meine, das ist doch…« Sie bückte sich, um ihre Kleider wieder aufzuheben. »Oh, jetzt hab’ ich mir mit der Mayopaste die Sachen verschmiert. Mir gefällt es überhaupt nicht, wenn die Sandwiches über die ganze Wohnung verteilt sind, aber… wie haben Sie uns von Torchy eigentlich so schnell hierherbringen können?« Ted ließ ihren Arm los. »Das ist… ein Trick, den ich beherrsche.« »Ein teuflischer Trick.« Sie zog sich an. »Ich vermute, wenn Sie nicht daran Anstoß nahmen, als ich Sie im Badehaus völlig nackt empfing, werden Sie auch nichts dagegen haben, mir beim Anziehen zuzuschauen. Oder möchten Sie das Panorama der Bucht genießen? Einer der Vorteile hier im Bayou Village besteht darin, daß jedes der kleinen Häuschen seine eigene Bucht hat. Vom Balkon aus kann ich manchmal sogar den Flamingo sehen, aber… « »Wo haben Sie Ihren Landwagen stehen?« »Das hätte ich fast vergessen. Deswegen sind wir ja hier.« Sie streifte sich einen Plastikschlüpfer über die Hüften. »Der Wagen steht unten in der Freigarage. Die sechs Häuschen dieser Baugruppe teilen sich die Freigarage ebenso wie die kleine Bucht.« »Sie erzählten mir, man habe an ihrem Wagen eine Vorrichtung angebracht, damit Sie ihn nicht fahren können? Eine Zündsperre?« Ted stieg über einen Stapel Filmplatten
hinweg, wich einem halb eingewickelten Laib Soyabrot aus und erreichte das Fenster. »Wenn Sie nicht innerhalb von achtundvierzig Stunden mit ihren Ratenzahlungen nachkommen, wird man die Sperre so lange an ihrem Wagen belassen, bis jemand kommt und den Wagen wieder mitnimmt. Welcher ist es denn? Der grüne?« »Ja, woher wissen Sie das?« »Er ist dreckiger und noch zerbeulter als die anderen.« Das Mädchen rieb mit dem Finger über einen frischen Fleck auf ihrem Einteiler. »In Haushaltsangelegenheiten bin ich etwas nachlässig. Vorsicht, fallen Sie nicht in den Grill.« »Grill? Wo?« »Unter der synthetischen Volkskunstdecke«, erwiderte sie. »Hab’ ich mich Ihnen eigentlich schon vorgestellt? Mein Name ist Lang Strayton.« Ted konzentrierte sich auf den Wagen. »Da haben wir den kleinen Sünder«, meinte er, als ein kleines, rechteckiges Kästchen in seiner Hand erschien. »Jetzt können Sie wieder mit dem Ding fahren. Außerdem habe ich auch den InkassoComputer so verstellt, daß Sie für einige Zeit Ruhe haben. Im Moment würde man bei einer Überprüfung zu dem Ergebnis kommen, daß Sie bezahlt haben.« »Wirklich?« fragte Lang verblüfft. »Und das haben Sie alles geschafft, während Sie auf die Bucht hinausstarrten? Ist das etwa die Zündsperre dort in Ihrer Hand?« »Hmmm. Die scheinen noch immer das 72-Dollar-Modell zu benutzen.« Er warf das Kästchen in den Müllschlucker in der Zimmerecke. Lang schüttelte den Kopf. »Das kommt mir alles höchst sonderbar vor, Mr. Bierhorst.« Sie wischte einen Plastikhut von einem Stuhl und ließ sich darauf fallen. »Ich heiße gar nicht Bierhorst.«
»Oh? Diesen Namen nannte man mir aber im Badehaus. Man informierte mich, daß ein Mr. Bierhorst auf dem Weg zu mir wäre. Sie kamen herein, und als Sie von meinen Schwierigkeiten mit dem Landwagen und den Raten erfuhren, boten Sie mir an, mir zu helfen. Daraufhin lud ich Sie… Teleportation!« Sie schnippte mit den Fingern. »Das war es doch, nicht wahr? Teleportation. Genau das haben Sie getan, vielmehr haben wir getan. Vom Bordell bis hierher brauchten wir noch nicht einmal eine ganze Sekunde.« »Tja, stimmt genau.« »Ich habe davon schon mal gehört. Es heißt, daß es Leute gibt, die zu so etwas fähig sind, doch ich nahm an, die könnten nur kleine Gegenstände bewegen. Blumenvasen und Billardkugeln und anderes Zeug.« »Die kann ich natürlich auch umherschieben.« »Aber das hier war noch viel besser.« Die Augen des Mädchens glänzten. »Was treiben Sie eigentlich…? Wandern Sie etwa durch die Gegend auf der Suche nach hilflosen Mädchen wie mir, die mit Ihren Ratenzahlungen nicht nachkommen, denen man die Wagen abnehmen will, denen der Hauswirt droht, sie hinauszuschmeißen und denen sie dann helfen, um ein wenig Spaß zu haben und mit ihnen all die Dinge zu tun, die Leib und Seele zusammenhalten? Oder was sonst?« Ted nahm eine Synthofederboa und einige Lebensmittelbeutel von einem durchsichtigen Plastikschwebesessel herunter. Dann ließ er sich nieder und machte es sich bequem. »Ich hab mal für das Inkasso-Büro gearbeitet. Als Sie mir verrieten, daß Sie mit dem Laden Probleme haben, dachte ich mir, es wäre sicher lustig, die ein wenig auszutricksen.«
»Ist das etwa die Voraussetzung für eine Anstellung bei Inkasso? Ich meine telekinetische Kräfte? Das wußte ich nicht.« »Davon hatte ich lange Zeit auch keine Ahnung«, erzählte Ted ihr. »Ich heiße übrigens in Wirklichkeit Ted Briar. Ich bin wohl noch nicht dazu gekommen, mich vorzustellen.« »Die Menschen, mit denen ich zu tun habe, kommen recht selten dazu, mir Sachen zu erzählen, von denen ich wissen sollte, ich rede nämlich sehr viel, müssen Sie wissen«, gestand Lang. »Sollte ich wirklich noch länger bei Torchy arbeiten, dann ist meine Geschwätzigkeit wohl auf die Dauer ein Handikap. Mein erster Kunde, der einzige vor Ihnen, fand diese Eigenschaft jedoch recht nett. Ihm gefiel es, wie er mir versicherte. Wahrscheinlich bekommt seine Frau bei den wohl recht seltenen sexuellen Programmen den Mund nicht auf. Sie zieht es vor, sich starr und steif hinzulegen, sich nicht zu rühren und keinen Laut von sich zu geben. Sogar die Augen hat sie fest geschlossen. Und das ist weiß Gott nicht gerade schön, in diesem Zustand mit jemandem zu schlafen, auch wenn man dafür bezahlt wird. Warum waren Sie eigentlich im Torchy-Badehaus?« »Ich hatte schon eine Menge Gutes darüber gehört und wollte es einmal ausprobieren.« »Da haben Sie aber keinen besonders guten Eindruck bekommen. Überdies war der Dampf mal wieder so dicht, daß man von den herrlichen Wandverzierungen so gut wie nichts erkennen konnte. Nicht einmal ich habe mir einen genauen Eindruck verschaffen können. Doch man sagte mir, es wäre sehr schön dort und wie geschaffen, um auf andere Gedanken zu kommen. Und was jetzt?« »Ich weiß es nicht.« »Ich wollte sagen, nachdem Sie mich herteleportiert haben und sogar die Sache mit meinem Wagen regelten«, kicherte
Lang, »fühle ich mich irgendwie zu Dank verpflichtet. Bevor ich also wieder ins Badehaus zurückkehre, könnten wir doch…« »Dann wollen Sie also wieder dorthin zurück?« »Wie soll ich sonst die Miete bezahlen sowie einige andere Rechnungen? Und um ganz ehrlich zu sein, einige von Ihren Inkasso-Freunden sind noch auf weitere Gegenstände meines kärglichen Besitzes scharf.« »Ich kann Ihnen etwas Geld leihen«, bot Ted an. »Außer natürlich, es ist Ihnen eine Bedürfnis, Ihre Arbeit wiederaufzunehmen.« »Nein, ganz sicher nicht«, erwiderte das Mädchen. »Vor etwa sechs Monaten kam ich von Florida-5 hierher, um eine unglückliche Affäre zu vergessen. Für mich gab es nur wenige Möglichkeiten – entweder Florida oder eine gemeinsame Wohnung mit einigen Freunden oben in Black Boston. Ich entschied mich für Florida, weil ich annahm, hier hätte man für eine Karikaturistin mehr Verwendung als anderswo. Wollen Sie sich nicht einige meiner Arbeiten anschauen? Meine Werke liegen… ich glaube dort drüben unter dem Schwebesofa. Sie müssen es anheben, weil das Gerät, das es schweben läßt, defekt ist. Sicherlich haben Sie es längst bemerkt, waren aber zu höflich, um es mir gegenüber zu erwähnen. Außerdem steht es dort drüben auf dem Podest.« »Ich schaue mir das Ding an«, meinte Ted. »Hören Sie, ich kann Ihnen genug Geld leihen, damit Sie all ihre Rechnungen bezahlen können. Danach können Sie tun und lassen, was sie wollen.« »Warum gerade ich?« »Sie sind der erste Mensch in Not, den ich kennengelernt habe… seit ich meinen letzten Job an den Nagel hängte.« Lang betrachtete ihn schweigend.
»Was Sie gemacht haben und warum Sie kündigten, können Sie mir wohl nicht verraten, was?« sagte sie leise. »Mit Ihren Fähigkeiten müssen Sie mehr als nur ein mieser InkassoKnecht gewesen sein. Was haben Sie gemacht?« »Ich war Mörder«, gestand er. »Damals allerdings hatte ich davon keine Ahnung, doch das war mein Job, wenn man es genau betrachtet.« »Erzählen Sie!« Er ließ sich nicht lange bitten… Die Dämmerung brach herein, das Wasser der Bucht nahm eine tiefblaue Färbung an, das dekorative Moos in den Bäumen bildete schwarze Schatten, der Flamingo war zurückgekehrt. »Vielleicht«, meinte Lang, als sie erkannte, daß Ted nichts mehr zu sagen hatte, »sollten Sie ganz einfach von hier fortgehen, Sie und Ihre Frau, meine ich.« »Niemals.« Ted schüttelte den Kopf. »Nein, Sie kann bleiben, wo sie sich gerade herumtreibt, und von mir aus weiter mit Perlberg herumscharwenzeln.« »Sie sind ihr ja nur böse, weil Sie sich so töricht verhalten haben«, stellte das Mädchen einfach fest. Das Zwielicht umschmeichelte sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie von Ihrem eigentlichen Job überhaupt einen leisen Schimmer hat. Was diese Affäre mit Ihrem attraktiven Boß angeht, so hat sie sich ja recht wenig Mühe gegeben, daraus ein Geheimnis zu machen.« »Ich bin schließlich kein Detektiv. Ich habe nicht vor, hinter ihr herzuschleichen. Haley durfte einfach nicht…« »Der Mensch ist zu allem fähig. Es kommt nur darauf an, was man daraus macht und wie man die Leute behandelt.« »Über eines bin ich mir klar. Ich werde auf keinen Fall zu Haley zurückkehren. Außerdem habe ich keine Lust, für Reverend Ortega den Meisterspion zu spielen.«
»Dafür habe ich Verständnis. Sie sind wütend darüber, daß die Totale Sicherheits-Agentur Sie ausgenutzt hat, Sie hintergangen hat, und plötzlich taucht Reverend Ortega auf und verlangt von Ihnen, Ihre Arbeit fortzusetzen, nur daß er Ihnen jetzt vorschreibt, was Sie machen sollen. Gerade deshalb rate ich Ihnen doch…« »Seien Sie mal einen Moment still.« Ted stand lautlos von seinem Sessel auf und huschte zum Fenster. Er hatte es fast erreicht, als er über ein Sitzkissen stolperte und hinstürzte. Dabei schlug er mit dem Kopf heftig gegen das Fenster. Wenige Sekunden später ertönte unten aus der Bucht ein lautes Platschen. »Was war das?« flüsterte Lang. Auf allen vieren schob Ted sich weiter vor und blickte nach draußen. »Auf dem Balkon muß irgendein Bursche gehockt haben. Als ich auf ihn zustürmte, muß er es mit der Angst bekommen haben und ist einfach über das Geländer gesprungen.« »Soll das heißen, daß man uns nachspioniert? Und belauscht? Vielleicht ein Voyeur?« »Wohl eher ein Agent von der TSA.« Ted duckte sich noch tiefer und starrte in die Nacht hinaus. »Ja, jetzt sehe ich es. Zwei andere Typen ziehen ihn gerade aus dem Wasser. Warum nehmt ihr Penner eigentlich nicht alle ein Vollbad?« Die beiden trockenen Agenten wurden plötzlich hochgeschleudert, legten perfekte Salti hin und landeten mitten in der künstlichen Bucht. »Prima«, lobte Ted. »Und jetzt leistet du ihnen Gesellschaft!« Der Mann, der zuerst im Wasser gelandet war, zog sich gerade mit letzter Kraft ans Ufer. Auch er wurde hochgerissen und folgte seinen Kumpanen. »Und jetzt sollte ich die drei eigentlich ersäufen wie junge Katzen!«
»Ted, tu’s nicht.« Lang kniete neben ihm. »Keine Sorgen, hab keine Angst. Ich werde niemanden mehr töten. Ich möchte nur am liebsten…« Die Wohnzimmertür ging in Flammen auf. Ein ganz neuer Agent stand im Rahmen. In der Faust hielt er einen Blaster. »Du darfst unsere Jungen nicht so einfach ins Wasser…« Die Hand mit der Waffe wurde plötzlich nach hinten gebogen. Er schrie vor Schmerzen auf. Dabei hüpfte er gleichzeitig hoch und krachte mit dem Kopf gegen die Decke. Und immer wieder sauste er hoch, wo er unsanft gebremst wurde. Als er schließlich auf den Boden stürzte, blieb er besinnungslos liegen. »Die TSA hat mich irgendwie verfolgt. Die Kerle sind mir auf den Fersen.« Ted streckte dem Mädchen die Hand entgegen. »Möchtest du nicht deine Freunde in Black Boston besuchen?« »Du meinst, jetzt im Augenblick?« »Ja sicher. Jetzt gleich.« »Das wäre schön.« Vertrauensvoll ergriff sie die dargebotene Hand.
»… hing oben an dem verdammten Fahnenmast und flatterte im Wind wie unser alter Nationallappen. Und zwar stundenlang! Stundenlang, sage ich dir.« »Das hätte dir doch eigentlich Spaß machen müssen, Dad. Das war doch etwas für dein patriotisches Herz«, erwiderte Haley. »Für mindestens eine Stunde rührte niemand auch nur einen Finger, um mir zu helfen und mich nach unten zu holen. Erst die Pfadfinder aus Daytown, so wie die aussahen eine ziemlich
harte und versoffene Truppe, schafften es, mich auf halbmast zu ziehen«, berichtete der alte Mann und schluchzte erstickt auf. »Eine weitere Stunde verstrich, ehe…« »Das tut mir aufrichtig leid, Dad.« Woodruff nickte. »Ich flatterte im Wind, Haley, und dabei hatte ich kurz den Eindruck, als sähe ich jemanden, den ich sehr gut kenne. Er hockte auf der anderen Straßenseite und beobachtete mich die ganze Zeit. Was meinst du, auf wen ich tippe?« »Benedict Arnold?« »Oh, Haley, seitdem du nicht mehr bei mir lebst, bist du zu einer unerträglichen Zynikerin geworden«, meinte ihr Vater traurig. »Nein. Ich bin ganz sicher, daß Ted dort drüben stand und sich an meiner schrecklichen Lage weidete und dabei herumhüpfte wie ein Affe vor der Fütterung.« »Ted?« Haley streckte die Hand aus und streichelte die Sichtscheibe des Pixphons. »Bist du wirklich ganz sicher?« »Hat er dich verlassen? Ist er etwa eigens hergekommen, um mir Schwierigkeiten zu bereiten?« »Wann hast du ihn gesehen?« »Als ich oben an dem verdammten Fahnenmast hing, Haley!« »War das heute?« »Du hast mir mal jedes Wort von den Lippen gelesen, hast auf mich gehört, hocktest auf meinem Knie und hast mich angestrahlt wie das siebte Weltwunder, Haley, doch jetzt kümmerst du dich einen Dreck um meine Probleme…« »Wann?« »Heute morgen«, antwortete der alte Mann. »Was hat Ted eigentlich im Sinn? Hat er bei seinem miesen Job endlich in den Sack gehauen? Oder ist er mit irgendeiner Nutte auf und davon?« »Nein, Dad, im Grunde ist es genau umgekehrt.« »Das begreife ich nicht ganz. Was…«
»Ich verstehe das ebensowenig. Ich… nun, ich nehme an, ich liebe Ted von ganzem Herzen und ich habe noch nicht einmal Zeit gefunden, ihm zu helfen, ihm beizustehen, und genau das ärgert mich und macht mich unglücklich…« »Haley, du hast doch wohl nichts getan, dessen dein Vater sich schämen müßte?« Sie betrachtete ihren Vater auf dem Bildschirm. »Nein, Dad. Nein, ich bin noch immer deine süße, unschuldige Haley, und das werde ich auch stets bleiben, und alles ist wirklich in Ordnung«, versicherte sie ihm. »Es tut mir leid, daß man dich an den Fahnenmast gehängt hat. Und ich bin froh, daß du heil wieder runtergekommen bist.« »Wenn ich doch nur…« »Mach’s gut, Dad.« Sie beendete das Gespräch, blieb aber in der Zelle sitzen und starrte lange den dunklen Sichtschirm an…
XVI
»Hast du dich schon daran gewöhnt?« »Ehrlich gesagt, noch nicht so richtig.« Lang preßte die Lippen zusammen und atmete tief durch die Nase ein. »Auf jeden Fall sind wir jetzt in Black Boston. Und zwar ist das hier der Soul Food District«, erklärte sie. »Meine Freunde leben irgendwo dort drüben am Charles River.« Sie ließ Teds Hand los und wies in die betreffende Richtung. Ted hatte sich und das Mädchen auf einer Grasfläche abgesetzt, die von niedrigen, verwinkelten Cafes und Restaurants umgeben wurde. Dutzende von diesen Läden gab es hier, und sie drängten sich zusammen wie eine verschreckte Schafherde. »Ich begleite dich zu deinen Freunden«, bot Ted an. »Schön. Aber laß uns bitte zu Fuß gehen. Dieses dauernde Teleportieren bereitet mir immer noch ein tiefes Unbehagen, von den psychologischen und philosophischen Problemen ganz zu schweigen, die sich daraus für mich ergeben.« Erneut atmete sie tief ein. »In diesem Teil der Stadt werden Untersuchungen zu Fragen der Negerernährung unternommen. Gefördert werden diese Forschungen von dem Büro für Farbige der Ford-Stiftung.« Sie schlenderten nun an den winzigen Speiselokalen vorbei. Echt texanischer Barbecue! Garantiert 100 % künstliche Proteinrippchen! Frisco-Schnitzel! Nostalgische SklavenSuppe! »Man hat Boston in verschiedene Bezirke unterteilt, in denen man bestimmte Aspekte und Teilbereich der Negerkultur untersucht. Außerdem beschäftigt man sich mit der Geschichte
der Schwarzen«, erzählte Lang, während sie über eine Neoholzbrücke spazierten und diesen Bezirk der Stadt verließen. »Ja, davon habe ich schon gehört.« Das blonde Mädchen griff wieder nach seiner Hand. »Ich finde es ganz einfach überwältigend, daß du mir so selbstlos hilfst«, sagte sie. »Meinst du nicht, daß die Kerle von der Totalen Sicherheit mich jetzt auf die Schwarze Liste setzen?« »Die sind doch ganz allein hinter mir her. Dich werden sie schon in Ruhe lassen, wenn ich mich erst einmal wieder aus dem Staub gemacht habe und nicht mehr mit dir zusammen bin.« Lang nickte, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Ich freue mich richtig darauf, Blind Lemon und Cripple Clarence einmal wiederzusehen.« »Sind deine Freunde etwas körperbehindert?« »Überhaupt nicht. Sie haben nur andere Namen angenommen, um ihre Studien besser betreiben können. Außerdem passen die neuen Namen besser zu dem Gebiet, auf dem sie arbeiten.« Vor einem Gebäude auf der anderen Straßenseite hatte sich eine lange Schlange gebildet. Immer neue Neger stellten sich an. Erleben Sie mit, wie Joe Louis seinen Titel gegen Jack Johnson verteidigt! verkündete eine zuckende Neonschrift an der Hauswand. »Und was erforschen sie?« »So eine altmodische Musik, die man heute kaum noch hört. Ich glaube, man nannte es Blues«, erklärte Lang. »Deshalb leben Blind Lemon und Cripple Clarence auch hier unten in Bluesville. Weißt du, ich glaube, du wirst sie ebenso gern haben wie ich. Und gefallen werden dir auch Bessie und Ma und Trixie und Ida und…«
»Schon möglich«, meinte Ted, »aber ich glaube, ich habe noch etwas anderes vor. Hier sind wir ja ganz in der Nähe von Lowell, Massachusetts, daher werde ich wohl einen Abstecher nach Utopia Ost machen.« Lang rümpfte die Nase. »Dort wird es dir sicherlich nicht gefallen. Selbst dagewesen bin ich ja noch nicht, doch soviel ich gehört habe, soll es dort ziemlich ruhig und langweilig zugehen.« »Wunderbar! Ich brauche nämlich ein wenig Ruhe, einen Ort, an dem mich nichts ablenkt und ich Gelegenheit habe, über einige Probleme nachzudenken…« »Ich nahm an, dein bisheriges Leben in New Westport und Umgebung war langweilig und ruhig genug, so daß du jetzt einmal auf andere Gedanken kommen… « »Nein, ich bitte dich – von Ruhe und Langeweile kann überhaupt keine Rede seine… nun…« »Ja?« »Ich nehme an, besonders aufregend war es wirklich nicht«, gab er nach kurzem Zögern zu. Mittlerweile hatten sie die Außenbezirke von Nightown erreicht. »Hab ich dir eigentlich schon von Mr. Swedenberg erzählt?« »Nein, ist er einer deiner vielen Kollegen?« »Er ist der Knabe, dem unser Haus in Brimstone gehörte, ehe er von seiner Firma nach China-3 versetzt wurde. Jedesmal wenn er in Neu-England zu tun hat, kommt er vorbei. Er will sich nur das Haus und die Gegend anschauen. Ich hatte immer angenommen, Swedenberg wäre irgendwie verrückt, nicht ganz richtig im Kopf, weil er die Erinnerungen seiner Jugend wieder aufleben lassen will. Mittlerweile stehe ich vor einem ganz anderen Rätsel. Natürlich wollte ich das mir gegenüber niemals zugeben, doch ich frage mich, wie überhaupt jemand in unserem Haus jemals glücklich sein konnte. Ich für meinen Teil hab mich darin eigentlich nie sonderlich wohl gefühlt.«
»Du machst ja Fortschritte«, stellte Lang lächelnd fest. »Es wäre eine Schande, wenn du deine wertvolle Zeit in Utopia Ost verschwendest…« »Ich hab mir schon vor langer Zeit geschworen, mir dieses Kaff einmal anzuschauen, und heute ist es soweit. Ich setze mein Vorhaben in die Tat um. Basta!« Laute Gitarrenmusik erfüllte die Luft. Es war eine klagende, traurige Melodie. An der Strandpromenade am Fluß drängten sich ebenfalls eine Vielzahl Cafes und Schnellrestaurants. »Blind Lemon hat seine Bude dort über dem Schuppen. Big Mama’s heißt der Laden. Um diese Zeit wird er wahrscheinlich wieder auf dem Fluß herumrudern…« Rrrruummmmsss! Der Explosionsknall rollte über den Ruß. Ein großes Gleitboot dicht besetzt mit Touristen, legte sich in der Flußmitte auf die Seite. Dicke schwarze Rauchwolken quollen aus einem Riß in der Mitte des Rumpfes. »Sieh doch, da hinten treibt Lemons Kanu!« schrie Lang verzweifelt. »Die Explosion muß ihn…« »Er hält sich daran fest«, unterbrach Ted sie und zeigte auf die Flußmitte. Er kaute auf seiner Unterlippe und konzentrierte sich voll und ganz auf das Geschehen im Fluß. Das leckgeschlagene Kanu erhob sich plötzlich in die Luft. Ein großer, schlanker Neger klammerte sich daran fest. Boot und Mann segelten durch die Luft auf Ted und seine Begleiterin zu. Die Menschen auf der Straße stießen Rufe der Verwunderung und des Entsetzens aus. Ted rannte ein Stück. Seine Stirn war schweißfeucht, und er ballte die Fäuste in den Hosentaschen. Das Ausflugsboot sank plötzlich nicht mehr weiter, sondern blieb still im Wasser liegen. Nacheinander, zum Teil paarweise, stiegen die Insassen in die Luft und wurden auf
festem Grund am Ufer wieder abgesetzt. Für einige Minuten wagte niemand, sich zu rühren. Dann, zaghaft und darauf bedacht, Ted nicht zu nahe zu kommen, schlichen die Passanten hinüber zu den geretteten Schiffbrüchigen. Ted schob die Hände noch tiefer in die Taschen und kehrte zu Lang zurück. »Das ist aber ein tolles Ding«, meinte der triefnasse Blind Lemon. »Lang hat mir schon von Ihnen erzählt, Ted. Ich glaube, wir können einen Burschen wie Sie sehr gut brauchen…« »Die Leute finden immer wieder etwas, wofür sie mich einsetzen können«, unterbrach Ted ihn. »Im Moment nehme ich jedoch keine Angebote mehr an.« »Und du willst dich wirklich in dieses Kaff Utopia Ost verziehen?« fragte Lang. »Das werde ich tun. Und ich verschwinde jetzt im Augenblick.« Er streckte dem Mädchen eine Hand entgegen. Lang jedoch ignorierte die Hand und fiel dem Mann um den Hals. »Okay, wie du willst. Ich hoffe, du bringst alles wieder in die Reihe. Und wenn es dir besser geht, dann besuch mich mal. Bestimmt werde ich die nächste Zeit hier in Black Boston bleiben. Und wenn nicht, dann kann Lemon dir sagen, wo ich zu finden bin.« Ted löste sich aus der Umarmung des Mädchens und trat einige Schritte beiseite. »Okay, dann mach’s gut.« Mit einem dumpfen Implosionsknall verschwand er. »Mann, war das ein Abgang«, staunte Blind Lemon.
XVII
»Ich bin ganz sicher«, sagte Haley bestimmt. »Ich will ihn nicht sehen.« »Damit bringen Sie mich in eine prekäre Lage«, erwiderte das Haus. »Immerhin habe ich den Auftrag, ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit einzulassen…« »Wie bitte?« Haley stieß die Tasse zurück, und ein Schwall Synthokaffee ergoß sich über ihre Hand. »Was willst du damit andeuten? Daß Jay Perlberg jederzeit Zugang zu meinem Haus hat?« »Autsch!« krächzte die Stimme des Hauscomputers. »Seitdem der Herr an mir herumgefummelt hat, neige ich dazu, einfach so herauszuplatzen…« »Was hat Ted damit zu tun, daß unser Haus mehr und mehr verrückt spielt?« Das Haus schwieg. »Nun red schon«, warnte Haley. »Entweder du sagst jetzt, was du weißt, oder ich lasse einen Reparaturtrupp kommen oder melde dich bei Colonel Beck oder tue sonst etwas Schreckliches, vielleicht werde ich auch…« »Ich glaube, ich sollte Mr. Perlberg hereinkommen lassen, ehe er sich draußen eine Erkältung holt. Wahrscheinlich kann er Ihnen alles erklä…« »Na gut, okay, laß ihn rein.« Haley marschierte hinüber in den Wohnbereich und setzte die Kaffeetasse hart auf ein Wandtischchen. Als die Haustür aufschwang, um den attraktiven Jay Perlberg einzulassen, wandte sie sich um und funkelte ihren Besucher an. »Los, rede! Ich warte!«
»Guten Abend, Haleyliebling.« Perlberg kam zögernd herein. »Ich habe das Gefühl, du gehst mir aus dem Weg, seit man dich aus High World wegteleportiert hat. Ich muß schon sagen, daß… « »Wie kommt es, daß unser Haus Befehl hat, dir jederzeit Zugang zu verschaffen?« Perlberg runzelte seine hübsche Stirn. »Verzeihung, Haley, ich verstehe nicht.« »Ich rede von meinem Haus. Es hat mir gerade gestanden, daß es den Auftrag hat, das Sicherheitssystem auszuschalten, sobald du auftauchst und reinwillst.« »Dieser verdammte Computer quatscht einfach zuviel, seit Ted…« »Auch darüber weißt du Bescheid?« Perlberg machte’ zwei weitere vorsichtige Schritte auf das Mädchen zu. »Ich glaube, ich habe dir bereits erzählt«, meinte er, »daß dein Mann über ganz besondere Fähigkeiten verfügt, Haleydarling. Wir haben ohne den geringsten Zweifel feststellen können, daß Ted sich zur gleichen Zeit in High World aufgehalten hat, als wir beide unser aufregendes Wochenende…« »Daß Ted gewisse telekinetische Kräfte aktivieren kann, hast du bereits angedeutet.« »Nun, das entspricht ja wohl auch den Tatsachen! Wie anders hätte er mich auf so entwürdigende Weise herumzuschubsen können? Und wie hätte er dich sonst wieder hierherbringen können, wenn er kein Telepath wäre?« »Aber du willst mir einfach nicht verraten, warum er plötzlich diese unheimlichen Fähigkeiten entwickelte. Und ich darf auch nicht wissen, warum er so reagierte, als er erfuhr, welche große Schuld ich auf mich lade, indem ich mit dir…« »Haley, ich bitte dich. Unsere Beziehung war doch in keiner Weise schlecht oder von Schuld beladen. Überhaupt nicht…«
»Du weißt verdammt viel mehr über Ted, als ich überhaupt ahnen kann«, klagte Haley. »Wahrscheinlich weißt du sogar, wo Ted sich im Moment aufhält und warum er nicht nach Hause kommt.« Perlberg schüttelte Kopf. »Und du weißt wirklich nicht, wo er sich im Moment herumtreibt?« »Ich nehme an, er hat mich ganz einfach verlassen, und deshalb kann ich ihm noch nicht einmal einen Vorwurf machen. Mehr weiß ich nicht.« »Haley, ich bitte dich inständig, nicht so abfällig über unsere wundervolle Beziehung zu reden. Aus deinem Mund klingt es ja so, als hätten wir ausschließlich der Sünde gefrönt. Immerhin befinden wir uns im einundzwanzigsten Jahrhundert, und die Ehe ist eine mehr oder weniger überholte Institution, allenfalls ein geschäftlicher Vertrag…« »Da geht noch etwas anderes, Schlimmeres, vor. Das Inkasso-Büro würde doch kaum… « Sie zuckte die Achseln. »Ihr habt eure Finger in einer Sache drin – ich meine dich und Ted –, die mit Inkasso und Ratenschulden verdammt wenig gemein hat, Jay!« Perlberg versuchte ein säuerliches Lächeln. »Haleydarling, ich versichere dir, daß…« »Weißt du, wo er ist?« »Wenn sie das wüßten, hätten sie mich wohl kaum hergeschickt.« »Sie? Wen meinst du mit sie?« Perlberg schüttelte den Kopf und blies die Luft pfeifend aus. »Ich habe die inständige Hoffnung im Herzen getragen, Haley, daß ich durch die Umstände nicht gezwungen würde, das zu tun, was ich jetzt tun muß.« Aus der Innentasche seines dreiteiligen Gesellschaftsanzuges holte er einen Mini-Stunner. Die Waffe gab einen hohen Summton von sich. Haley starrte und fiel dann mit einem dumpfen Laut auf den Teppich.
»Danach wird sie mich wohl keines Blickes mehr würdigen«, sagte Perlberg zu den Männern, die hinter ihm ins Haus eindrangen. Einer von ihnen war Karew. »Wir sorgen schon dafür, daß sie sich daran nicht und niemals erinnern wird, Sie schlanker Jüngling.« »Auf meine eigenen Freunde zu schießen«, murmelte Perlberg, während er den Stunner wieder in der Innentasche verstaute, »ist nicht gerade das, was ich mir als Lebensinhalt gewünscht habe.« »Das hier ist kein Ringelreihen.« Karew wies auf das bewußtlose Girl und gab seinen Begleitern ein Zeichen. »Hebt sie hoch und legt sie auf das Schwebesofa. Können Sie hier arbeiten, Doc?« Dr. Dix nickte. »Ja, natürlich. Diese Operationen sind doch ein Kinderspiel.« Perlberg ging zur Tür. »Den Rest würde ich mir doch lieber ersparen. Ich kann einfach nicht hinschauen.« »Sie bleiben!« befahl Karew kalt.
»Miss?« Lang Strayton blieb stehen und blickte über die Schulter. »Ja, was ist?« Ein kleiner dunkelhäutiger Mann in einem fleckenlosen, weißen zweiteiligen Arbeitsanzug stand auf der nächtlichen Straße nur wenige Schritte von ihr entfernt. Er war ihr offensichtlich auf ihrem Weg von Blind Lemons Behausung bis hinunter zum Sunflower Club gefolgt. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle«, meinte er grinsend. »Ich bin Philip Jose Shamba, rasender Reporter für die Timelife Nachrichtenscheiben.«
Das blonde Mädchen wandte sich ab und schickte sich an, ihren Weg fortzusetzen. »Ich habe nicht vor, Ihnen ein Abonnement abzukaufen.« Shamba kicherte. »Nein, nein, ich will Ihnen ja gar nichts verkaufen, Miss. Ich möchte Sie nur sehr gerne interviewen und Ihnen einige Fragen zu diesem atemberaubenden Ereignis heute auf dem Charles River stellen.« Er holte sie ein und ging neben ihr her. »Gerade hier in Black Boston ist eine Menge los, und erstaunliche Dinge sind doch hier an der Tagesordnung.« Auf der Straße befanden sich nur sehr wenige Menschen, und sie kannte keinen von ihnen. »Ich rede von dieser dramatischen Rettungsaktion der Touristen von dem Ausflugsboot.« »Ach das meinen Sie, Mr. Shamba. Davon habe ich so gut wie nichts mitbekommen.« »Mir brauchen Sie nichts vorzumachen. Lassen Sie sich durch das weltweite Ansehen des Timelife-Konzerns nicht einschüchtern«, beruhigte Shamba sie. »Ich habe bereits Informationen, daß Sie sich in Begleitung eines Burschen befanden, der diese wundersame Rettung veranlaßte.« »Und wenn schon. Ich will trotzdem nicht darüber reden.« »Was ist das denn für eine Haltung? Sechsundzwanzig Millionen Nachrichtenkunden sitzen daheim und warten sehnsüchtig darauf, über die herausragenden Ereignisse des Tages informiert zu werden, und Sie weigern sich einfach!« Shamba griff nach ihrem Arm. »Nein, Sie sollten doch lieber…« »Wir wüßten auch gern noch etwas anderes«, fuhr er fort, während er sie in eine finstere Toreinfahrt drängte, »ob ihr Begleiter nicht ein gewisser Ted Briar gewesen sein könnte.« »Sie kommen ja gar nicht von Time…«
Shambas Stunner summte kurz. Das Mädchen kippte nach hinten gegen das Tor. Der graue Landwagen, der den beiden ungleichen Passanten in sicherer Entfernung gefolgt war, rollte lautlos heran und blieb genau vor der Toreinfahrt stehen.
XVIII
Im strahlenden Sonnenlicht erstreckten sich gelb leuchtende Grasflächen in alle Himmelsrichtungen. Dahinter erhoben sich sanfte Hügel. Bauernhäuser mit buckligen Reisigdächern kauerten sich in die Schatten hochragender Bäume. Vögel hockten auf den kräftigen Ästen und sangen ihr wohltönendes Lied. Still und friedlich lag die Landschaft da, eine perfekte Idylle. »Ich habe ihre letzten Worte nicht verstanden«, sagte Ted zu seinem Begleiter. »Die Eintrittsgebühr für eine Besichtigungstour durch Utopia Ost beträgt 75 Dollar«, wiederholte der freundliche Alte, der Ted am Eingang erwartet hatte und ihn nun herumführte. »Wenn Sie auch noch einen Lunch einnehmen wollen, dann kostet Sie das 95 oder 105 Dollar.« »Kann man sich aussuchen, was man zum Lunch haben will?« »Die Führung durch die Siedlung mit einer Mahlzeit am See kostet 95 Dollar, der Lunch auf dem Gipfel ist etwas teurer. Aber 105 Dollar sind ja auch nicht die Welt.« »See oder Gipfel?« »Offensichtlich kennen Sie unsere Erholungszonen hier in Utopia Ost überhaupt nicht«, stellte der alte Mann fest. Er trug einen zweiteiligen Wanderanzug. »Wenn Sie den Ausblick auf eine idyllische Waldlandschaft genießen wollen, dann nehmen Sie am besten das See-Menü für 95 Dollar. Sollten Sie jedoch auf dem Gipfel eines hohen Berges sitzen wollen, dann müssen Sie schon 105 Dollar lockermachen. Da unsere Seen meistens
immer sehr schnell besetzt sind, sollten Sie sich bald entscheiden.« »Eigentlich bin ich überhaupt nicht hungrig. Ich glaube, ich verzichte auf die Mahlzeit und nehme nur an der Besichtigungstour teil.« »Wie Sie meinen.« Der alte Mann hielt fordernd die Hand auf. »Wir nehmen auch Banxchex und Multikarten.« Ted holte die Multikarte hervor, die er sich während seiner Reise nach Utopia Ost gerade erst besorgt hatte. Diesmal hatte er sie sich aus einer Filiale aufgebaut und hatte mit seinen Gedanken den Computer angewiesen, eine Karte auf den Namen Theo Bruin auszustellen. Dann hatte er auch die anderen Maschinen derart verstellt und manipuliert, daß niemand auf die Idee kommen konnte, daß es erst seit diesem Tag einen Theo Bruin gab. Auf diese Art und Weise hätte er schon früher operieren sollen, doch man mußte erst einmal Fehler machen, um aus ihnen zu lernen. Er würde so lange in Utopia Ost bleiben können, wie es ihm dort gefiel. Und daran zweifelte er nach seinem ersten Eindruck, den er von dieser Ansiedlung gewonnen hatte, kaum. Die TSA würde ihn hier niemals aufstöbern. »Bitte, hier ist meine Karte.« Der alte Mann ließ ihn unter einem blühenden Gebüsch stehen und eilte hinüber zu einem Baum, in dessen Stamm sich ein Schlitz befand. In diesen Schlitz schob der Alte die Karte und drückte auf einige Knöpfe, die sich perfekt getarnt in die Borke einfügten. Dann trat er zurück und wartete. Nach einigen Sekunden gab der ebenfalls perfekt getarnte Lautsprecher quäkende Laute von sich. Von seinem Warteplatz aus konnte Ted von der Unterhaltung kein Wort verstehen.
Der alte Mann schaute einige Male zu ihm herüber, dann kam er wieder zurück. »Nun, Sir, Ihnen wird eine ganz besondere Ehre zuteil, junger Freund«, verkündete er. »Ich wollte doch nur für 75 Dollar…« »Eigentlich hätte ich es ahnen müssen, aber zufälligerweise sind Sie heute schon unser hundertster Besucher«, fuhr der Torwächter von Utopia Ost fort. »Das heißt, Sie kommen in den Genuß der Spezialführung für Ehrengäste. Niemand anderer als Dr. Perola persönlich wird Ihre Führung übernehmen.« »Das ist wirklich eine große Ehre, obwohl…« »Sehen Sie doch, da hinten kommt er schon!« Ein hochgewachsener Mann mit leuchtendem, kahlem Schädel näherte sich in lockerem Laufschritt auf der Straße. Er trug den gleichen weichfließenden Anzug, den Ted schon von den täglichen Fernsehsendungen her kannte. »Hallo, Kumpel«, grüßte Dr. Perola, als er noch knapp fünfzig Meter entfernt war. »Schön, Sie zu sehen.« »Es ist mir eine Ehre…« »Nie die Hände schütteln«, warnte der athletische Philosoph, als er Ted erreicht hatte. »Nur ganz lässig grüßen. Etwa so. Sie sind Theo Bruin, nicht wahr?« »Man hat mich nach meinem Onkel benannt«, erwiderte Ted. Wenn er direkt vor einem stand, wirkte Perola noch größer als auf dem Bildschirm. »Ich interessiere mich sehr für Ihre Gemeinde, Doktor, ich habe nämlich vor, mich hier für einige Zeit niederzulassen.« »Prima Idee, Kumpel«, lobte Dr. Perola. »Ich klopfe niemals einen Freund auf den Rücken, aber ich kann Sie zu Ihrem Entschluß nur beglückwünschen.« Er gab dem alten Mann ein Zeichen, er solle verschwinden. »Gehen Sie wieder auf Ihren Posten, Fritch, und widmen Sie sich gefälligst Ihren Meditationsübungen.«
»Ja doch, ganz wie Sie meinen, Dr. Perola.« Dr. Perola wandte sich wieder an Ted. »Schön ruhig hier, was?« »Kann man wohl sagen. Und das ist ja auch einer der Gründe, warum ich…« »Die Erfindung des Lärms war nur ein weiterer großer Irrtum unserer Zivilisation. Hier entlang, Theo, folgen Sie mir. Wer braucht schon den Lärm, Kumpel? Niemand, und doch meinen viele, dieser Krach wäre nur ein notwendiges Beiprodukt des Fortschritts. Aber das stimmt überhaupt nicht.« Der riesenhafte Dr. Perola verließ mit Ted die Straße und bog in einen schmalen Pfad ein, der sich durch die gelben Wiesen wand. »Wie ich schon sagte«, meinte Ted, »ist diese himmlische Ruhe etwas, das ich…« »Sicherlich wollen Sie zuerst eine Kleinigkeit essen, nicht wahr?« »Eigentlich nicht, aber…« »Auch was unsere Ernährung und Eßgewohnheiten angeht, sind wir bisher immer schon auf dem falschen Weg gewesen, Kumpel. Leute verhungern, hier, dort, überall. Und das soll uns nur Schuldgefühle einimpfen. Setzt man sich an einen gedeckten Tisch und verzehrt ein Plastosteak mit Synthozwiebeln und reiner Kunstsauce, fühlt man sich bereits schuldig und schämt sich zutiefst. Was kümmern mich eigentlich die halbverhungerten Penner in irgendeiner Slumsiedlung, von denen ich keinen einzigen kenne? Was scheren mich die aufgetriebenen Wänste der Urwaldratten unten in Südamerika, die noch nicht einmal das Pulver wert sind, das man braucht, um sie in die Luft zu sprengen? Die sollen sich um ihre eigenen Probleme kümmern. Warum haben die sich denn nie um einen Weg bemüht, wie sie ihre hungrigen Bäuche füllen, so wie wir es tun? Sollen sie sich doch hinsetzen und sich den Kopf zerbrechen. Niemand hält
sie davon ab, eisgekühltes Synthobier zu erfinden, anstatt sich bei der allgemeinen Essensausgabe anzustellen und auf ihren leeren Kochgeschirren zu trommeln. Da fällt mir ein, daß wir ganz in der Nähe einen Eßplatz haben, wo es eisgekühltes Synthobier gibt. Kommen Sie, gleich hier ist es.« Sie hatten eine Hütte erreicht, deren Eingangstür halb offenstand. Dr. Perola trat sie mit dem Stiefel weit auf. »Ist mir recht, doch erst möchte ich mich umschauen und meine zukünftige Wohnzone in Augenschein…« »Dazu haben wir noch genug Zeit. Erst einmal holen wir uns einen Satz Freßbeutel, Theo.« Der Wohnraum der Hütte war ganz in Blau gehalten – blaue Wände, blaue Teppiche, blaue Möbel, blaue Beleuchtung. »Wir haben hier sogar die Farben genau abgestimmt. Das hilft, wenn man sich vollkommen entspannen will.« Auf einem blauen Tisch war für zwei Personen gedeckt. Eine blaue Tür schwang auf und gab den Weg für einen blauen Service-Roboter frei. »Zwei klirrend kalte Flaschen Synthobier«, verkündete er und wies mit seinem Kugelkopf auf das Tablett, das er vor sich hertrug. Der Roboter kam auf Ted zugerollt. »Ich bin ja gar nicht durstig.« »Nehmen Sie schon, Kumpel. Wir trinken auf Ihre Ankunft in Utopia Ost.« »Na gut.« Ted gestattete dem blauen Roboter, die Flasche zu öffnen und einzuschenken. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über Ihre Zukunft«, riet der lebensfrohe Philosoph. »Lassen wir den Worten die Taten folgen. Und ex!« Ted leerte sein Glas halb und setzte es wieder auf das Tablett. »Ich schaue mir regelmäßig Ihre Sendung an, Doc«, brachte er sein Anliegen vor. »Soweit ich mich erinnern kann, haben Sie jedoch noch nie über Ihre Preise gesprochen.«
»Wir haben da verschiedene Erholungsprogramme, Kumpel, eine ganze Menge sogar. Die Grundrate beträgt sechshundert Dollar pro Woche, darin sind aber keine Extras eingeschlossen. Sie bekommen dafür eine einfache Bodenmatte, Ersatzbrot, Neowasser, ein…« Ted bemerkte, daß der Raum die Farbe wechselte. Aus dem Blauton wurde nun ein Grünschimmer. Ein giftiges, böses Grün, das sogar ins Gelbe hineinspiegelte. Er zwinkerte, das Grün wurde dunkler. »Ich bin… ich…« »Fühlen Sie sich schlecht, Nemo?« »Sie… Sie sind…« »Genau, Kumpel, richtig geraten. Sie befinden sich genau über einer Einrichtung der TSA. Sobald du das widerliche Bier runtergekippt hast und es nicht mehr in deinem Mistkörper kreist, werde ich dich den Jungs dort unten auf den Tisch legen, so daß sie dich wieder zur Räson bringen. Du glaubst doch nicht etwa, daß du dir meine miese Show aus freiem Willen angeschaut hast? Man hat dich darauf getrimmt, als man…« »Nein, ich werde… ich werde ganz bestimmt nicht hierbleiben.« Der athletische Doktor näherte sich seinem schwankenden Gast. Er breitete die Arme aus, legte sie ihm um die Schultern und drückte ihn an sich. »Ich hab es gar nicht gern, fremde Leute anzufassen, aber bei dir mache ich eine Ausnahme. Du bist jetzt zu weit weggetreten, um von hier zu verschwinden, Kumpel.« Ted ballte die Hände zu Fäusten. »Ich bin…« Er konzentrierte sich, bemühte sich, sich in Sicherheit zu teleportieren. Die Minuten verstrichen, der Raum wurde schwarz, und er konnte sich von Dr. Perola nicht lösen. »Nein, verdammt, Sie werden mich nicht hierbehalten!«
Es gab einen dumpfen Knall, und der Philosoph mußte feststellen, daß er niemanden mehr umarmt hielt. »Autsch!« Hunderte von kleinen amerikanischen Fähnchen rutschten vom Werktisch und flatterten zu Boden wie ein Schwarm müder patriotischer Schmetterlinge. »Sind die Saboteure sogar schon in meinem Haus?« fragte der alte Woodruff, der auf einem Hocker saß und eine Flasche Brandy auf sein blauweißes Knie stützte. Moriarty, der schlaksige, neunzehnjährige TSA-Agent, hatte sich nur wenige Zentimeter neben dem Werktisch im Büro des alten Mannes materialisiert. Er schaffte es nicht mehr, sein Gleichgewicht zu behalten und war gegen den Tisch gekippt und hatte damit den Berg Packungsbeigaben für die neuen Frühstücksburger dazu veranlaßt, dem Gesetz der Erdschwerkraft zu folgen. »Entschuldigen Sie, Sir«, murmelte er. »Ich scheine schon wieder in…« »Kaum gibt man den Leuten patriotische Lebensmittel zu essen, schon sitzen einem die Saboteure und Störenfriede im Nacken«, schimpfte Haleys Vater, nachdem er einen tiefen Schluck aus der Flasche genommen hatte. »Übrigens trinke ich diesen Brandy ausschließlich aus medizinischen Gründen. Ich möchte damit einem Bronchienkatarrh vorbeugen. Ich hab nämlich erst vor kurzem an einem Fahnenmast gehangen.« »Mrs. Seuss war so fest davon überzeugt, daß er sich hier aufhält«, sagte Moriarty mehr zu sich selbst. »Geh hin, und du wirst Ted Briar finden.« Er bückte sich und begann die kleinen Fähnchen einzusammeln. »Dies beweist, daß man niemandem trauen kann, der aussieht wie Milton Watchers Mutter, besonders wenn…« »Haben Sie etwa gerade den Namen meines verdammten Schwiegersohnes im Munde geführt? Habe ich richtig gehört?« Moriarty richtete sich auf. »Sie kennen Ted Briar?«
»Und wie! Ich muß es zu meinem großen Bedauern zugeben«, erwiderte Woodruff nach einem weiteren Schluck aus der Flasche. »Er ist mit meiner einzigen Tochter verheiratet. Ein wundervolles, liebliches Mädchen, das die besten Aussichten hatte, die beste und eleganteste Volkstänzerin der Welt zu werden, bis dieser Haufen faulen Fleisches daherkam und sie an sich gefesselt hat und ihre Zukunft mit einer einzigen…« »War er vor kurzem hier?« »Was meinen Sie denn, wie ich auf diesen verdammten Fahnenmast gekommen bin? Ich hab ihn von oben gesehen, wie er zu mir heraufgrinste, und ich weiß ganz genau, daß er bei dieser leidigen Affäre seine schmutzigen Finger mit im Spiel hatte.« »Wann war das?« »Ich bin mir nicht ganz sicher. Der Schock, plötzlich an einem Fahnenmast zu hängen, hat mich ein wenig durcheinandergebracht.« »Sie können mir nicht verraten, wohin er danach gegangen ist, Sir?« »Wahrscheinlich irgendwohin, um wieder einem armen, unerfahrenen Ding das Herz zu brechen, vielleicht sogar das meiner teuren Tochter.« Woodruff erhob sich von seinem Hocker, zog sich die Hose in den Farben der amerikanischen Flagge hoch und näherte sich Moriarty. »Sie sehen aus wie ein hübscher, wenn auch reichlich unbeholfener junger Mann. Ich vermute, Sie gehorchen stets ihren Eltern und machen ihnen alle Ehre.« Der alte Mann strich sich durch den Bart, den er sich hinten links im Nacken befestigt hatte. »Sie suchen nach Ted, nicht wahr? Liegt vielleicht irgend etwas gegen ihn vor? Wird er vom Gesetz gesucht?«
»Darüber darf ich nicht sprechen, Sir.« Moriarty widmete seine ganze Aufmerksamkeit wieder dem Aufsammeln der Fähnchen. »Meine innigsten Wünsche für ein gutes Gelingen begleiten Sie auf Ihrem beschwerlichen Weg. Ich hoffe, daß Sie ihn bald finden und ihm das verpassen, was ihm gebührt.« »Ach, irgendwann werde ich ihn schon erwischen«, versprach Moriarty.
XIX
Außer einem waren sie alle ziemlich mager. Sie standen in den harten Schatten, die die Ruinen der Häuser im Licht der Nachmittagssonne auf die verlassene Straße warfen. Der wohlbeleibte junge Mann hingegen stand draußen im glühenden Sonnenschein, die Hände in den Hüften, stülpte die Lippen vor und pfiff leise vor sich hin. »Long Island«, sagte Casper zu Reverend Ortega. Der Priester fuhr fort, die Lebensmittelpakete zu verteilen, eines mit Proteinkonzentrat, das andere mit Neoweizenmehl. »Zumindest machte er auf mich diesen Eindruck.« »Gott segne Sie, Reverend«, sagte die Frau, die in der langen Schlage der Bedürftigen von Gramercy Park als nächste an die Reihe kam. »Und Gott segne Sie, Mrs. Trego.« »Was meinen sie, einer von den Suffolk Guerillas?« Casper wuchtete den nächsten Karton mit Lebensmitteln aus ihrem Lieferwagen. »Es ist auf jeden Fall nicht der Bursche, den sie normalerweise losschicken, aber wahrscheinlich hast du recht. Die wechseln ihre Kuriere ziemlich oft.« Der pfeifende junge Mann wischte sich die Hände an den Beinen seiner gelben Hose ab. Er zwinkerte ihnen zu und kam zu Casper und dem Reverend herüber. »Kannst du dich nicht wie alle anderen anstellen?« fragte ihn ein alter Mann wütend. »Vor mir brauchen Sie sich nicht zu fürchten, Sir. Ich bin nicht hergekommen, um Ihnen Ihr Essen streitig zu machen
oder für die Strolche zu spionieren. Ich habe etwas mit Reverend O zu bereden.« »Gleich sind wir hier fertig«, informierte Reverend Ortega den jungen Mann. »In ein paar Minuten ziehen wir weiter.« »Was wollen Sie eigentlich genau?« fragte Casper. »Ich komme von Long Island.« »Das ist ja wohl nicht zu übersehen.« »Sie beide wissen, wer mich geschickt hat«, sagte der fette Junge. »Ich habe wichtige Informationen für den Reverend.« »Wenn ich die Lebensmittel verteilt habe, werde ich Ihnen zuhören, junger Mann.« Dieser grinste. »Ich hocke mich drüben solange auf den Bordstein und warte. Ich bin nur gekommen, um mich vorzustellen und Sie zu beruhigen, daß von mir keine Gefahr droht.« »Was heißt beruhigen? Meinen Sie, wir hätten Angst?« fragte Casper überheblich. Die Dämmerung zog bereits herauf, als die letzten Pakete verteilt wurden. »Die Scheinaktion, die wir gestartet haben, scheint die Strolche wirklich abgelenkt zu haben. Das ist uns bestens gelungen«, mußte Casper sich selbst loben. »Bis jetzt ja.« Der Priester gab seinen Wächtern an den Straßenecken das vereinbarte Zeichen, und sie zogen sich zurück. Dann wandte er sich an den fetten Jungen aus Long Island. »Jetzt habe ich Zeit für Sie. Wer sind Sie?« »Mein Name ist Totter.« Er öffnete die Hand und wies die Murmel aus grünem Neoglas vor. »Das sollte Ihnen meine Vertrauenswürdigkeit bestätigen.« Der Priester fischte Totter die Murmel aus der Hand und drehte sie zwischen den Fingern. »Na gut. Spring in den Lieferwagen. Wir müssen weiter.« Er kletterte ebenfalls auf
die Ladefläche und suchte sich einen Sitzplatz zwischen den leeren Lebensmittelkartons . Totter folgte ihm. Casper knallte die Tür zu und rannte nach vorne, wo er sich hinter das Lenkrad schob. »Da ist irgend etwas Großes im Gange«, begann Totter mit seiner Meldung. Reverend Ortega nickte. »Dann erzähl mal.« Der fette Junge kreuzte die Beine und legte die Hände auf die Knie. »Wie Sie wissen, haben wir sehr gute Verbindungen nach Brasilien«, berichtete er, während der Lieferwagen anrollte. »Ich rede von Verbindungen mit den Guerillas dort unten. Einer von unseren Leuten war sogar erst vor kurzem bei den Leuten. Sie kennen ihn – Furtado.« »Furtado war in Brasilien?« »Ja, er ist irgendwie ins Land gekommen und konnte mit einigen Anführern der Pro-Brasilien-Bewegung reden, unter anderen auch mit Francisco Travessa«, erzählte der junge Mann grinsend. »Furtado ist auch heil wieder rausgekommen und kehrte nach Suffolk County zurück. Travessa vertraute ihm einen Bericht über die Aktivitäten unserer United States Truppen an… außerdem schlagende Beweise über die Benutzung von neuartigen Nervenstrahlern und Raketen, die Krankheitskeime freisetzen. Mit anderen Worten – wir haben eindeutige Beweise in den Händen, daß Präsident Hartwell aktiv daran beteiligt ist, wenn die brasilianische Regierung die Bestimmungen der Genfer Konvention verletzt. Furtado konnte sogar einen Film über den Einsatz dieser Waffen herausschmuggeln und eine Menge Fotos von den bedauernswerten Opfern.« Reverend Ortega zeigte reges Interesse. »Die würde ich mir sehr gerne einmal anschauen.« »Das haben wir uns schon gedacht. Deshalb hat Furtado mich geschickt, um mit Ihnen Kontakt aufzunehmen«, erklärte
Totter. »Er will sich morgen früh mit Ihnen treffen. Da die TSA wahrscheinlich einen Hinweis auf seine Reise nach Brasilien bekommen hat und man dort weiß, welches Material er hat besorgen können, wollte er nicht das Risiko eingehen und selbst nach Manhattan kommen.« »Um wieviel Uhr will er mich sehen?« »Könnten Sie es schaffen, so um sechs Uhr morgens in Shantytown zu sein?« »Kann ich«, erwiderte der Reverend. »Würde Furtado mir einiges von seinem Material gegebenenfalls überlassen?« »Genau das will er ja.« »Dann bin ich ganz sicher da.« Totter erhob sich und meinte: »Dann bis morgen um sechs. Können Sie mich jetzt hier irgendwo absetzen?« Ortega gab Casper ein Zeichen. »Halt mal an!« Als sie schließlich weiterfuhren und die Dämmerung immer dichter wurde, saß Ortega vorne im Führerhaus auf dem Beifahrersitz. Casper schüttelte skeptisch den Kopf. »Mir gefällt dieser Fettsack nicht sonderlich. Ich traue ihm nicht.« »Du brauchst ihn ja nicht gerade zu lieben«, sagte Reverend Ortega. »Mit den Beweisen, die Furtado hat organisieren können, und mit dem Material, das Ted Briar uns sicherlich heranschaffen wird, haben wir genug, um Präsident Hartwell und seiner Bande endgültig den Hahn zuzudrehen.« »Kann schon sein, aber…« Die Sprechanlage im Armaturenbrett summte. Ortega legte den Antworthebel um. »Ja bitte? Was ist?« »Neuigkeiten von unserem Mann in New Westport«, meldete eine Mädchenstimme. »Es betrifft Nemos Frau. Ich nahm an, Sie wollten sofort darüber informiert werden, falls Sie in dieser Angelegenheit etwas unternehmen wollen.« »In zehn Minuten sind wir in der Mission«, versprach Ortega.
XX
»… das Wort ist falsch… komme darauf, Will, mein Freund, obwohl es nicht das richtige Wort ist… Mal sehen… Lies noch mal vor, was du hast… Mein Deck, ein Gedicht von Will Gump… So weit, so gut, Will, mein Freund… Eine Brücke, sieh, sie führt ins Nichts… Bis dahin ist es perfekt… Genau richtig… Eine Brücke, sieh, sie führt ins Nichts… Ein Haufen Neoholz, geschaffen nur zum… Nein, ja und nein, dein künstlerischer Instinkt ist so sensibel wie immer, Will, mein Freund, und du erkennst ganz richtig, daß geschaffen nicht das richtige Wort ist, überhaupt nicht…« Öl. Durchdringend riechendes Öl, und es ist dickflüssig und klebrig. Der Gestank hüllt Ted ein. Das Zeug breitet sich vor Red aus, fließt. »… ein Haufen Neoholz, es gleitet vorbei… nein, das ist nicht der typische Stil von Will Gump…« Das Öl bedeckte den Boden, tränkte die Bretter, auf denen Ted lag. Es durchsetzte die Neowolldecke, war in die Ritzen und Streben gesickert. Der beißende Gestank war betäubend, erstickte ihn fast. Und dann die Finsternis. Es war stockdunkel an diesem leise schwankenden Ort. War die Nacht schon hereingebrochen? So früh? Es war doch noch früher Nachmittag gewesen, als Dr. Perola ihn hatte festhalten wollen. »… Mein Deck, ein Gedicht von Will Gump… Bis hier ist es einfach wunderbar… Es ist geradezu dafür bestimmt, wenn nicht in diesem, so doch spätestens im nächsten Jahrhundert ein Meilenstein zu werden, eines der schönsten Gedichte in meinem Hausboot-Zyklus…«
Ted stützte sich mit den Händen auf den ölverschmierten Boden. Er hob den Kopf von den Planken. Dort oben stand der Mond am Himmel, doch er tanzte auf und nieder. »Sieh nicht hin, sonst bist du gleich wieder weg.« Er schloß die Augen. »… eine Brücke, sieh, sie führt ins Nichts… Blendend, Will, mein Freund… ins Nichts… Ein überwältigendes Bild, ein Geniestreich, das Oberdeck meines geliebten Hausbootes mit einer Brücke zu vergleichen… Nicht schlimm, daß nur wenigen diese Parabel bewußt wird, daß sie sie begreifen… Das letzte Jahrhundert war ein finsteres, dieses jedoch… Warte, Will, mein Freund, hab Geduld… Das nächste Jahrhundert wird besser… es ist dazu bestimmt…« »He!« Ted hatte sich halb aufgerichtet und schaute sich um. »Kann mir jemand hier heraushelfen?« »Sicher, doch erst muß ich das richtige Wort finden.« Ted konnte ihn nun erkennen. Ein alter Mann. Er saß in einem leinenbespannten Deckstuhl. Er war vollkommen mit einem Wust weißer Haare bedeckt. Weiße Haare, die sich wie ein Wasserfall von seinem Schädel ergossen, die aus seinen Ohren wuchsen, sein Kinn umwucherten. Die gekrümmten Hände des alten Mannes hielten einen Sprechschreiber. Auch auf den Händen wuchsen Haare in kleinen Büscheln. Sie reichten hinauf bis zu den Ellbogen. Die Haut, die davon nicht bedeckt wurde, war vom Wetter gegerbt und erschien wie Leder. Über dem Ahnenschädel tanzte der Mond. »Ein Schiff«, begriff Ted. »Ich liege auf einem Schiff! He, ist das hier ein Schiff?« »… die Brücke, sieh, sie führt ins Nichts…« »Wie komme ich von Utopia Ost ausgerechnet auf dieses Boot?« Wieder stützte Ted sich auf die Planken und schaffte es, sich aufzurichten und hinzuknien. Eine weitere Anstrengung und er saß aufrecht, wenn auch leicht wackelig. »Immerhin hatte ich mich so weit unter Kontrolle, um mich
von Perola wegzuteleportieren. Ich kann mich jedoch nicht erinnern, wohin ich überhaupt wollte. Hallo, entschuldigen Sie, ist das Ihr Boot?« Der alte Mann warf ihm über das Deck einen bösen Blick zu. »Wie der ganze miese Rest haben Sie offensichtlich noch nicht von meinem Hausboot-Zyklus gehört, einer Gedichtsammlung. Und wer ich bin, ist Ihnen sicherlich ebenso unbekannt, nämlich der berühmte Dichter Will Gump.« »Nein, ich weiß nicht, wer Sie sind«, gab Ted zu. »Ich habe auch in letzter Zeit wenig Gelegenheit zum Lesen gehabt.« »So war es auch schon im zwanzigsten Jahrhundert«, seufzte der alte Dichter. »Und ebenso im neunzehnten, wenn man es recht bedenkt. Ignoriert ihn nur, den alten Will Gump. Hebt seine Nachahmer in den Himmel, vergeßt ihn, wenn ihr euch anschickt, Preise zu verleihen, Medaillen zu verteilen und die großen Geister zu ehren. Der Pulitzer-Preis für diese weibischen Typen, die Nobel-Urkunden an jene Analphabeten, und vergeßt mir auf jeden Fall Will Gump! Ich habe mir geschworen, den Nobelpreis zu bekommen, ehe das zwanzigste Jahrhundert vorüber ist… und jetzt stehen wir schon zwanzig Jahre im Einundzwanzigsten, und ich habe es immer noch nicht geschafft.« »Das hier ist doch der Long Island Sund, nicht wahr?« Ted war es mittlerweile gelungen, sich bis an die Reling zu schieben. »Offensichtlich haben Sie auch noch nie meine Sonettreihe gelesen, die ich über das Treibgut im Long Island Sund geschaffen habe, oder etwa doch?« »Nein, ich fürchte nein. Aber klar, das da drüben ist doch der New Westport Yacht Club. Ich erkenne ihn an den Lichtern.« »Will Gump lebt schon seit Jahrzehnten hier«, erzählte der bärtige alte Mann, »und sie haben bisher noch nicht eine
einzige Straße in Westport nach mir benannt, noch nicht einmal eine winzige Gasse.« »Als ich das Bewußtsein verlor, muß ich mich noch darauf konzentriert haben, nach Hause zurückzukehren, zu meiner Haley«, erinnerte Ted sich. »Als ich in Schwierigkeiten geriet, war sie mein erster Gedanke. Und das bedeutet ja wohl, daß ich…« »Dürfte ich Sie bitten, endlich mit den Selbstgesprächen aufzuhören und von Bord zu gehen? Schließlich arbeite ich an einem größeren lyrischen Werk.« »Verzeihung, ich halte Sie sicher von der Arbeit ab. Sie werden noch Ihren Drucktermin versäumen…« »Will Gump kennt keine Drucktermine. Ich schreibe für die Ewigkeit. In diesem Jahrhundert wird man meine Texte allerdings noch nicht verstehen, und ob im nächsten, ist auch fraglich.« Ted studierte das Gesicht des Poeten. »Sie erwähnten gerade das neunzehnte Jahrhundert. Sicherlich sind Sie…« »Will Gump wurde 1855 geboren«, unterbrach ihn der alte Dichter. »Seit diesem Datum warte ich darauf, daß man meine Arbeit entsprechend würdigt, daß man mir Anerkennung zuteil werden läßt.« »Wollen Sie damit sagen, daß sie bereits hundertfünfundsechzig Jahre alt sind?« »Ja – und daß die Hohlköpfe Ihrer schwachsinnigen Literaturkritik mich all die langen Jahre völlig ignoriert haben.« »Selbst heute leben die Menschen nicht so lange, Mr. Gump, zumindest nicht die Menschen aus Fleisch und Blut«, wandte Ted ein. »Wenn Sie wirklich das Geheimnis kennen, wie man die Lebensspanne verlängern kann, dann müssen Sie der Menschheit dieses Geheimnis…«
»Die Menschheit kann mir den Buckel runterrutschen. Ich kümmere mich ausschließlich darum, wie ich Will Gump möglichst lange am Leben erhalten kann. Und das ist schon schwierig genug. Kaum hat man Tennyson würdig unter die Erde gebracht, und schon schießt ein Vachel Lindsay aus dem Boden, und man kann nicht länger…« »Wenn Sie wirklich hundertfünfundsechzig Jahre alt sind und dafür Beweise erbringen können, gehen sie schon allein deshalb in die Geschichte ein. Sie brauchen keine Gedichte mehr zu schreiben, um die Menschen auf sich aufmerksam zu machen.« Will Gump lachte heiser auf. »Ich buhle nicht um die Verehrung der Proleten. Jedermann kann zu einer Berühmtheit werden, wenn er bereit ist, sich entsprechend zu erniedrigen und zu prostituieren. Will Gump wird auf Grund seiner Verdienste und Leistungen zu einer Jahrhundertpersönlichkeit – oder er bleibt für immer ein kleines Licht.« Ted hatte begonnen, auf dem Deck auf und ab zu wandern. »Wie lange ist es her, seit ich hier… gelandet bin?« »Was hat das mit Will Gumps Dichtungen zu tun?« wollte der alte Mann wissen. »Ich dachte gerade über den Titel meines neuesten Werkes nach, als ich Sie zum ersten Mal bemerkte. Ich habe mit dem Titel gerungen, habe um ihn gekämpft, und zwar von Mittag bis etwa zwei oder drei Uhr.« Ted schaute auf seine Uhr. »Und jetzt ist es fast zehn. Das Zeug, das Perola mir eingeflößt hat, war ziemlich stark.« »Dieses ganze, sinnlose Geschwätz bringt uns Ihrem Verschwinden nicht einen Deut näher.« »Das mache ich doch innerhalb von – he!« Ted sah plötzlich Lang Strayton vor seinem geistigen Auge. »Irgend etwas läuft ganz schrecklich schief… und wie. Ich muß zuerst nach Black Boston. Lang ist in Schwierigkeiten… Sie hat Ärger mit der TSA!«
»Lassen Sie sich von mir nur nicht aufhalten!« »Jaja, ehe ich zu Haley zurückkehre, muß ich mich erst mal um Lang kümmern«, sagte Ted. »Vielen Dank, Mr. Gump, daß ich auf Ihrem Boot ausschlafen durfte.« »Das war zumindest sinnvoller, als wertvolle Zeit zum Dichten zu vergeuden, indem ich sie über die Planken zerrte und über die Reling kippte, um mit Ihnen die Fische im Sund zu füttern.« »Trotzdem vielen Dank.« Der alte Mann nickte ihm noch einmal gnädig zu, dann verschwand Ted von den Decksplanken. Gump lehnte sich zurück. »Mein Deck, ein Gedicht von Will Gump«, murmelte er. »Some got six months, some got a solid year. Some got six months, some got a solid year. But me and my buddy doin’ lifetime here.« Philip Jose Shamba schüttelte sich in gespieltem Ekel. »Wie ich diese altmodische Niggermusik hasse«, schimpfte er. Seine weiße Jacke hing an einem Haken an der Wand, seine weiße Hose war mit roten Spritzern übersät. »Wir brauchen aber die Musik, um den Lärm zu übertönen«, wandte der breitschultrige Mann mit der niedrigen Stirn ein, der Lang auf dem Behandlungssessel festhielt. Das Mädchen war bewußtlos, der Kopf war ihr kraftlos nach links gesunken. Der verlassene Lagerschuppen lag am Rande des Bluesdistriktes von Black Boston. Die drei Lautsprecher an der Decke übertrugen ein Musikprogramm aus einem nahe gelegenen Club. »I wonder do my good gal know I’m here. I wonder do my good gal know I’m here. If she do, she sure don’t seem to care.«
»Dieser Endreim bei dem Song ist das letzte«, sagte der dunkelhäutige Shamba und näherte sich dem Mädchen auf dem Sessel. Er riß ihren Kopf an den Haaren hoch und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. »Was weißt du über Ted Briar? Uns ist bekannt, daß du in der letzten Zeit mit ihm zusammenwarst und mit ihm teleportiert bist. Wo hält er sich zur Zeit auf?« »Die ist doch noch völlig weg«, meinte der andere Mann. »Laß doch, Shamba, wir haben die Erlaubnis, bei der Kleinen Wahrheitsdrogen einzusetzen.« »Drogen«, sagte der schwarze Mann abfällig und ließ die Haare des Mädchens los. »Ich brauche mich nicht auf künstliche Produkte zu verlassen. Ich bringe immer noch jeden zum Reden, und zwar nur mit meinen Händen und meinem Geist!« »Aber so macht sie den Mund niemals auf. Die ganze Sache endet damit, daß wir wieder eine Leiche herumliegen haben wie damals in Providence. Und ich habe keine Lust, ein zweites Mal zu tricksen…« »Um eines habe ich dich ganz sicher nicht gebeten, Pritchard, und das sind deine weisen Ratschläge. Unsere unterschiedlichen Positionen innerhalb der TSA sollten dir beweisen, wer von uns beiden der Bessere, Wertvollere ist.« »Wenn du deinen Rang gegen mich ausspielst, so ist mir das völlig schnuppe, Shamba. Das kratzt mich wenig«, entgegnete Pritchard. »Ich glaube, du solltest sie nicht mehr schlagen. Wir benutzen wohl besser…« Er schaute sich verwirrt in der Lagerhalle um. »Was ist passiert?« »Nichts!« »Doch, ich… die Musik spielt nicht mehr!« »Wahrscheinlich machen diese schrecklichen Heulbojen endlich eine Pause.« Shamba legte seine Hände um Langs
Gesicht und begann zuzudrücken. »Stellen Sie sich nicht an, Miss Strayton. Verraten Sie mir endlich, wo Ted Briar ist!« »Genau hier!« »So ein Mist!« Pritchard wich von dem Sessel zurück. »Für dich habe ich keine Verwendung«, machte Ted ihm klar. Der athletische TSA-Agent verschwand mit einem leisen Knall aus der Lagerhalle. Shamba ließ das Mädchen endgültig los und wandte sich um. Dabei grinste er Ted an. »Das ist ja mehr, als ich zu hoffen gewagt habe.« Eine Hand glitt zu seinem Gürtel. Ted trat dicht an ihn heran und schlug ihm mit der Faust auf die Nase. »Ist es das? Freust du dich? Gut. Ich mag nur nicht, wenn man…« »Idiot!« Der schwarze Mann zog ein Knie an und traf Ted zwischen den Beinen. Dann benutzte er seinen linken Arm als Hebel und wirbelte ihn herum. Ted krachte auf den Holzboden. »Mag sein, daß du ein Agent bist, Briar, als Fighter bist du eine Flasche.« Grölend trat Shamba ihm vor den Brustkorb, als Ted versuchte, wieder hochzukommen. Er schaffte es auch halb, schwankte, stolperte und lehnte sich gegen die Wand. »Ich werde mit dir fertig, ohne auch nur einen Finger…« Shamba trat wieder zu. Diesmal fand sein Fuß eine andere empfindliche Stelle. Ted, der sich von der Wand gelöst hatte, wurde zurückgeworfen und sackte auf den Boden. Der kleine TSA-Agent stürzte sich wie ein Berserker auf ihn und rammte ihm beide Knie in den Rücken. »Du hast nicht die geringste Chance, mein Freund!«
Als er sich darum bemühte, den Nebel vor seinen Augen zu vertreiben, begriff Ted, daß sein ursprünglicher Plan, im klassischen Kampf gegen Shamba anzutreten, wohl zum Scheitern verurteilt war. »Na gut, dann eben anders«, murmelte er. Shamba krallte eine Hand in Teds Haarschopf und schickte sich an, mit dem Kopf seines Gegners einen getragenen Rhythmus auf die Holzplanken zu trommeln. »Ich muß dich irgendwohin… irgendwohin schicken.« Immer wieder sauste der Kopf nach unten und landete krachend auf dem Boden. »Irgendwohin!« Die brutale Behandlung brach abrupt ab. Ted versuchte sich zu rühren und stellte fest, daß niemand mehr auf ihm kniete. Unter Schmerzen richtete er sich auf. »Ich muß endlich damit… aufhören… auch noch beim Zweikampf… die Regeln der Fairneß zu beachten.« Schließlich stand er. Lang war während des heftigen Kampfes mit Shamba aus dem Sessel gekippt. Sie lag regungslos auf dem Boden und streckte alle viere von sich. Ted eilte zu ihr, schob ihr einen Arm unter die Schultern und versuchte, sie aufzurichten. »Lang, he, Lang! Hörst du mich?« »Nein«, murmelte sie mit kaum verständlicher Stimme. »Ich weiß nichts.« »Ich bin es – Ted. Es tut mir leid, daß…« »Oh, ich bin ja so froh, daß du hier bist, Ted. Ich dachte schon, wir würden uns nie wiedersehen. Die Leute versprechen immer wieder, daß man sich einmal trifft, doch niemals werden diese Versprechungen von irgendwem ernstgenommen.« Ted lächelte erleichtert. »Siehst du, du erholst dich schon.« »Weil ich wieder reden kann wie sonst? Ja, ich glaube wirklich, das ist ein gutes Zeichen.« Mit seiner Hilfe setzte sie
sich auf. »Hast du uns die beiden vom Hals geschafft? Die waren ganz scharf darauf, herauszubekommen, wo du dich aufhältst. Besonders der Kerl im weißen Anzug.« »Ja, ich habe sie aus dem Weg geräumt. Die werden uns nicht mehr stören – lange nicht mehr«, versicherte Ted dem Mädchen. »Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, daß sie auch dich schnappen. Ich glaube, die haben meine Spur mit Hilfe einer dieser verdammten Karten gefunden, die ich mir gemopst habe.« »Sie sind richtig heiß auf dich, Ted. Sieh doch mal, wie die mich behandelt haben… bei deiner Frau gehen Sie bestimmt nicht sanfter zu Werke…« »Dort werde ich als nächstes hinteleportieren. Ich hatte nur plötzlich die Gewißheit, daß du in Schwierigkeiten bist, Lang.« »Schwierigkeiten ist wohl noch eine recht harmlose Bezeichnung für das, was ich erlebt habe.« »Okay«, sagte Ted. »Bevor ich herkam, habe ich noch mit deinem Freund Lemon gesprochen. Er wird sich um dich kümmern und auf dich aufpassen. Es ist unwahrscheinlich, daß sich von der TSA noch einmal jemand herwagt, um dir lästige Fragen zu stellen.« »Ja, danke… und du teleportierst dich am besten zu deiner Frau«, riet das Mädchen ihm. »Doch vorher…« Sie legte ihm die Arme um den Hals, zog seinen Kopf zu sich herab und küßte ihren Retter voller Inbrunst.
XXI
Er landete. Er drückte sich in den Schatten der Zierbäume in der Nähe seines Hauses. »Irgend etwas… irgend etwas stimmt hier nicht«, murmelte Ted, als er auf der nächtlichen Straße stand. Ohne sich zu rühren, beobachtete er sein Haus. Es war erleuchtet wie immer, er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. »Ja, genau das ist es. Es scheint niemand da zu sein, der hier herumspioniert.« Ted war sich dessen ganz sicher. Nirgendwo in der näheren und weiteren Umgebung seines Hauses lungerten TSA-Agenten herum. »Was hat das zu bedeuten?« Im Haus war jemand. Haley. Ted wußte das instinktiv. »Auch sie ist allein.« Niemand hielt draußen nach ihm Ausschau, niemand erwartete ihn drinnen. »Außer sie rechnen damit, daß Haley etwas von sich hören läßt, wenn ich wieder bei ihr auftauche. Nein. Haley würde so etwas niemals tun. Gut, sie schläft vielleicht mit diesem Mistkerl Perlberg, aber an die TSA würde sie mich nie verraten.« Überdies mußten die Leute von der TSA sich darüber klar sein, daß er Haley ganz einfach aus dem Haus teleportieren konnte, wenn ihm der Sinn danach stand. »Warum also sind sie so sorglos?« Irgendwo in seinem Schädel flackerte ein Hinweis auf, eine Idee, warum die TSA es sich leisten konnte, seine Frau unbeobachtet und in ihrem Haus allein zu lassen. »Irgend etwas Elektronisches… ja, genau das muß es sein!«
Ted brauchte mehr Zeit. Er wollte in Ruhe sein Haus beobachten, wollte nachdenken und diese Idee weiterverfolgen. Er war immer noch dabei, sich schrittweise an seine Fähigkeiten zu gewöhnen. Er ahnte irgendwie, daß einige der Hinweise, die er in der jüngeren Vergangenheit aufgespürt hatte, nur durch seine übersinnlichen Kräfte ans Tageslicht geholt worden waren. Wally, dachte er. Wally Klennan. Er ist einer von meinen wenigen Freunden, denen ich hundertprozentig vertrauen kann. Plötzlich stand Ted im unbeleuchteten Hinterzimmer von Klennans Haus. Durch das Fenster konnte er die Frontseite seines eigenen Hauses am besten beobachten. »Das sieht mir alles zu normal aus… zu still.« Ted huschte zum Korridor und lauschte. Das war Connies Stimme aus der Küche. Redete sie gerade mit Wally? Nein, sie beklagte sich beim Hauscomputer über irgend etwas. »… gläser sind voller Flecken.« »In dieser Gegend ist das Wasser so hart, Ma’am. Bisher haben wir noch nichts erfunden…« Wallys Hauscomputer hatte eine viel sympathischere Stimme, und er war auch viel höflicher. »Ted!« Wally war durch den Korridor herangekommen. »Ich habe keine Ahnung, ob du weißt, was hier vorgeht, Wally, aber…« »Los, geh da rein.« Sein Freund drängte ihn in das Hinterzimmer. »Laß mich erst mal die Fenster dichtmachten. So…« »Wally, ich…« »Einen Moment.« Aus der Tasche seines Hausanzuges brachte er eine kleine metallisch schimmernde Kugel zum Vorschein. Er hielt sich das Ding dicht vor die Augen, dann nickte er. »Keine Abhörgeräte in der Nähe. Wir können.«
»Warum sollte jemand dich abhören wollen? Etwa weil du mich kennst?« Wally schüttelte den Kopf und erwiderte: »Ich glaube, ich erzähle dir lieber, für wen ich in Wirklichkeit arbeite, Ted.« Ted mußte seine plötzlich spröde gewordenen Lippen anfeuchten. »Du bist doch nicht etwas bei der TSA be…« »Sehe ich etwa aus wie ein Agent von der Totalen Sicherheit?« »Ich weiß nicht. In letzter Zeit habe ich kaum noch Vertrauen… Ich weiß nicht mehr, wo ich bei meinen lieben Mitmenschen dran bin. Erst heute morgen habe ich erfahren, daß eines meiner große Idole, Dr. Perola, ebenfalls für die TSA arbeitet.« »Das hätte ich dir schon längst sagen können«, meinte Wally. »Ich stehe auf Reverend Ortegas Seite und kämpfe für ihn.« Ted nickte unwillkürlich. »Dann warst du es, der ihm von unseren verrückten Sitzungen berichtet hat, von meinem Traum und von der RF-Maschine, die ich habe herumspringen lassen.« »Ja, ich wußte schon vor Monaten vor deiner steilen Karriere als Nemo, doch…« »Davon hättest du mich informieren müssen.« »Ortega war damals der Meinung, du wärest für ihn noch nicht reif.« »Verdammt noch mal. Es werden immer mehr Menschen, die durch die Gegend rennen und über mein Leben entscheiden wollen.« Wally legte Ted eine Hand auf die Schulter. »Da gibt es noch etwas viel Wichtigeres, was ich dir erzählen muß«, gestand er. »Über die anderen Angelegenheiten können wir hoffentlich später noch ausführlich reden. Jetzt bist du doch erst einmal hier, weil du mit Haley Verbindung aufnehmen willst, nicht wahr?«
»Ich dachte mir, ich solle sie nicht hängenlassen und sie aufsuchen. Wahrscheinlich war das ein Fehler. Ebensogut könnte sie sich doch dazu entschlossen haben, weiter mit… Perlberg ist dir doch ein Begriff oder?« »Ja, der auch.« »Wenigstens das hättest du mir…« »Ted, hör zu, sie haben sich Haley geschnappt und mit ihr etwas angestellt.« »Was meinst du damit? Etwas angestellt?« Wally druckste herum. »Perlberg hat sich das wohl ausgedacht. Er kam her und hielt Haley den Stunner vor die Nase – ganz ruhig, hör mir erst einmal zu Ende zu. Dann tauchte das TSA-Team unter Führung von Dr. Dix auf. Alles habe ich nicht herausbringen können, aber soviel weiß ich: Es hat irgend etwas mit einer Implantation zu tun.« »Sie haben an Haley herumoperiert? Ist sie verletzt? Verunstaltet?« »Diese Art vom Implantation verläuft völlig schmerzlos. Meistens kann sich das arme Opfer nicht einmal daran erinnern, daß an ihm herummanipuliert wurde. Du solltest wissen… Nein, es geht nicht. Ich vergesse immer wieder, daß du die ganze Zeit ja nur deine Arbeit kanntest und nicht wußtest…« »Was haben sie ihr eingesetzt?« »Einen Alarmsender mit einem Peilton. Das ganze Wunderwerk ist nicht größer als ein Reiskorn. Wenn du bei Haley auftauchst, werden sie davon sofort Wind bekommen. Und sollte Haley das Haus verlassen, sei es zu Fuß oder per Teleportation, so werden sie deine Frau sofort finden, ganz gleich, wo sie sich aufhält.« »Das ist doch«, meinte Ted, »gar nicht so schlimm.« »Nun, und warum nicht…«
»Und bestimmt ist das noch nicht alles, was man mit ihr angestellt hat, nicht wahr? Deine Stimme klingt so sonderbar. Also was ist noch?« Wally schlenderte zum Fenster und starrte von innen die Läden an. »Darüber weiß ich nur sehr wenig«, sagte er zögernd. »Die Einzelheiten kenne ich nicht… nur soviel ist mir bekannt: Es geht um eine Miniaturbombe.« Ted trat auf ihn zu. »Wovon redest du da?« »Die TSA setzte diese Teufelsdinger vor einigen Jahren einmal ein. Eine Bombe, nicht größer als ein Fingernagel, und kinderleicht zu implantieren. Es gibt da einige verschiedene Bautypen, wie Reverend Ortega hat herausfinden können. Es gibt da einen Typ, der unserer normalen Zeitbombe gleicht. Sie hat eine Zeituhr und einen Zünder, und die Bombe geht an einem fest vorgewählten Tag in die Luft. Und dann gibt es da noch eine weitere Bauart. Eine Bombe, die von außen gezündet wird und sogar vom Träger selbst scharf gemacht wird.« Ted dachte kurz nach. »Da sie ausschließlich hinter mir her sind, trägt Haley sicherlich das Modell im Körper, das man von außen und willkürlich zur Explosion bringen kann.« »Du darfst aber nicht vergessen, daß die TSA dich lebend will. Ted, diese Bombe ist nur eine Art Rückversicherung, etwas, um mit dir handeln zu können«, meinte Wally eindringlich. »Als letzte Lösung legen sie mich einfach um.« »Natürlich. Solange du frei herumläufst, bist du für sie eine Gefahr.« »Okay, angenommen, ich setze meine Fähigkeiten ein und fange an, an meiner Frau herumzuoperieren und die Elektronik gleich wieder zu entfernen.« »Da man sicherlich davon ausgeht, daß du von dieser Implantation keine Ahnung hast, könnte es dir sogar gelingen«,
räumte Wally ein. »Doch es ist ebensogut möglich, daß durch das Entfernen der Bombe ein Alarmsignal ausgelöst wird… ebensogut könnte es auch dazu führen, daß die Bombe hochgeht. Ted, ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mehr über das Teufelsspielzeug herauszufinden, mit dem sie dich unter Druck setzen wollen.« »Dr. Dix muß es wissen. Du erwähntest ja gerade, daß er für alles verantwortlich ist, was man mit Haley angestellt hat.« »Sicher, natürlich. Zweifellos weiß er Bescheid. Aber für dich ist es äußerst gefährlich, wenn…« »Er wird mir verraten, was ich wissen will!« »Ted, du solltest ihn nicht aufsuchen!« »Keine Sorgen, Wally. Einen Ted Briar kann man vielleicht aufhalten, einen Nemo jedoch nicht!« Bevor Wally darauf etwas erwidern konnte, war Ted schon aus dem Zimmer verschwunden.
XXII
»Eigentlich habe ich noch nie darüber nachgedacht, daß ich mit jedem Tag älter werde.« Jay Perlberg studierte sein Spiegelbild auf dem chromblitzenden Gehäuse seines Überwachungsmonitors. »Und jetzt entdecke ich die ersten Falten. Ja, die Zeit hat auch bei mir ihre Spuren hinterlassen. Wir hätten Haley wirklich in Ruhe lassen sollen.« Dr. Dix diktierte in die Sprechöffnung seines Sprechschreibers, den er vor sich auf der Arbeitsfläche seines Schwebetisches aufgebaut hatte. »… Reverend Ortega alias Rev O wird morgen früh gegen sechs Uhr aus dem Verkehr gezogen. Der abtrünnige Geistliche ist voll in unsere Falle getappt und wird im Morgengrauen des morgigen Tages in Shantytown erscheinen. Er rechnet fest damit, daß man ihm ein Bündel Material, das gegen die Regierung gerichtet ist, aushändigen wird. Statt dessen wird er den bedauernswert ahnungslosen Totter antreffen, der sich für einen hoffnungsvollen TSA-Agenten hält und keine Ahnung hat, daß er in Wirklichkeit eine lebende Bombe ist. Ja, und wieder einmal…« »Diese implantierten Bomben sind Ihr Lieblingsspielzeug, nicht wahr?« sagte Perlberg und spannte mit einem Finger die gebräunte Haut unter dem linken Auge. »Niemand ist vor Ihnen sicher.« »Vielleicht haben auch Sie schon ein solches Schätzchen im Hintern.« Dix schaute von seinem Sprechschreiber hoch. Automatisch tastete Perlberg seinen verlängerten Rücken ab. »Ihr Sinn für Humor wird von Tag zu Tag bissiger.«
»Das kommt von meiner engen Zusammenarbeit mit Typen wie Chefagent Karew«, erwiderte der Doktor. »Keiner von Ihnen, und das muß ich zu meinem Leidwesen einmal feststellen, weiß die Bedeutung und Wirkung meiner Babybomben richtig zu würdigen. Gelänge es uns, jeden Regierungsfeind im Lande damit auszustatten, wären unsere Probleme von einem auf den anderen Tag wie weggewischt. Haltet den Mund, gehorcht den Gesetzen, sonst… Rrrruummmmssss! Das ist doch eine Sprache, die sogar ein Fanatiker versteht. Außerdem ist die Methode äußerst human. Nach den ersten, sicherlich nicht allzu zahlreichen Explosionen hätten wir nur noch linientreue Staatsbürger.« »Diese Vorstellung ist einfach widerlich«, meinte Perlberg. »Ihre Ideen sind sowieso schon pervers genug, aber dies…« »Präsident Hartwell ist da aber ganz anderer Meinung.« Dix lehnte sich zurück und entspannte sich. »Ich mache mir Sorgen wegen Ihnen Jay. In der letzten Zeit wirken Sie ziemlich unzufrieden, und immer wieder haben Sie an unserer Arbeit etwas auszusetzen.« »Verschonen Sie mich mit Ihren versteckten Drohungen, Dix. Ich stehe ebenso loyal zur TSA wie Sie.« Der attraktive Agent wandte sich wieder dem Monitor zu, über den er Haley überwachte. »Karew haben Sie überzeugen können, daß das, was sie mit Haley angestellt haben, die einzig richtige Methode ist. Das muß aber noch lange nicht heißen, daß auch ich damit einverstanden bin. Gut, Sie haben das Ohr des Präsidenten, obwohl ich sehr stark daran zweifle. Ich dagegen habe einige Angestellte vom Zentralen Verfassungsschutz auf meiner Seite. Und die Leute sind nicht so grausam und unmenschlich wie Sie…« »Jay!« Perlberg hatte plötzlich den Boden unter den Füßen verloren. Er schoß hoch zur Decke und krachte mit dem Schädel einige
Male gegen die Metallfläche. Er trudelte wieder ab, landete auf dem Boden, wo er regungslos und ohnmächtig liegenblieb. »Und jetzt können wir uns in Ruhe unterhalten, Dr. Dix.« Ted erschien neben dem hübschen Agentenwrack Jay Perlberg. »Aha, Nemo, Sie haben sich also doch entschlossen…« »Rühren Sie sich nicht, und halten Sie Ihre Finger bei sich«, warnte Ted, »sonst reiße ich Ihnen den Kopf ab und spiele damit ein wenig Football.« »Ich vermute sicher nicht zu Unrecht, daß Sie dazu fähig wären.« Ted nickte. »Ich hab schon einige Minuten draußen vor der Tür gestanden und habe zum Teil alles mitbekommen. Aber eben nur zum Teil. Was haben Sie mit Reverend Ortega vor?« »Überhaupt nichts, Nemo. Sie haben wahrscheinlich einiges nicht richtig verstanden… aaahhhh!« Dr. Dix kippte nach vorn, seine Hand zuckte zur Brust. »Ich habe Ihnen nur ein wenig das Herz gekitzelt, Dix. Erzählen Sie mir keine Märchen.« Dr. Dix sackte in sich zusammen und massierte seinen Brustkorb. Rote Flecken bluten in seinem fahlen Gesicht auf, und der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn. »Reverend Ortega soll morgen früh gegen sechs Uhr in Shantytown getötet werden. Der Ort liegt genau gegenüber auf der anderen Seite des Long Island Sund.« Er verstummte und bemühte sich, regelmäßig zu atmen. »Wir haben einem jungen Idioten namens Totter eine Bombe eingepflanzt. Sie ist darauf eingestellt, sofort hochzugehen, wenn Reverend Ortega weniger als einen halben Meter von unserem jungen Freund entfernt ist.« »Arbeitet die Höllenmaschine, die Sie meiner Frau verpaßt haben, genauso?« »Nemo, alter Junge… Nein, Mrs. Briars Bombe kann nur von hier aus aktiviert werden.« Er wies auf das Monitorgerät. »Sie
müssen verstehen, daß es in Ihrem Fall nicht darum geht, Sie möglichst elegant aus dem Verkehr zu ziehen, Nemo. Im Grunde ist die Bombe nur eine Rückversicherung, falls Sie…« »Ich will das Ding aus dem Körper meiner Frau heraushaben, und ebenso die Alarmschaltung…« »Sie wissen doch selbst, was man unter einer haarigen Operation versteht, Nemo. Dürfte ich vielleicht erfahren…« »Ich will, daß das Ding unschädlich gemacht wird!« Dix wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Von der chirurgischen Seite betrachtet, ist das eine ganz simple Angelegenheit. Dazu braucht man noch nicht einmal eine Stunde.« »Und was geschieht, wenn ich meine Telekräfte einsetze und die Operation selbst vornehme?« Nach einigen Sekunden nickte Dr. Dix. »Darauf bin ich noch gar nicht gekommen. Ja, ich glaube, das wäre durchaus möglich.« »Es gibt keine zusätzlichen Sicherungen? Heißt das, daß die Bombe nicht hochgehen wird, auch wenn ich Sie auf meine Weise entferne?« »Nein«, versicherte Dix ihm. »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« »Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.« »Was?« Indem er nach dem Arm des hageren Arztes griff, meinte Ted: »Sie begleiten mich, Doc.« »Aber das geht doch…« »Und wie das geht!«
»Ted!« »Und hier stelle ich dir Dr. Dix vor«, erklärte Ted eine knappe Sekunde, nachdem er sich in seinem Wohnzimmer materialisiert hatte. »Ich glaube, ich kenne ihn…« »Sicher nicht. Er hat dafür gesorgt, daß du dich an nichts erinnern kannst.« Haley erhob sich von dem Stuhl, auf dem sie bei der Ankunft ihres Mannes gesessen hatte. »Ted, ich bin ja so froh, daß du wieder aufgetaucht bist, aber ich verstehe nicht, was hier eigentlich vorgeht.« »Das wirst du gleich. Im Augenblick wird Dr. Dix uns Gesellschaft leisten, während ich etwas ganz Besonderes tue.« Dix’ Gesicht hatte mittlerweile die Farbe von frischem Neoquark angenommen. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn. »Sie machen einen großen Fehler, Nemo, und verschlimmern Ihre Situation von Minute zu Minute. Wenn man mich an meinen Arbeitsplatz vermissen sollte…« »Niemand wird Sie vorerst vermissen. Perlberg schläft noch immer den Schlaf des Verlierers, und Sie sind hier. Niemand wird auf den Alarm reagieren können. Und der läuft doch sicher schon, oder?« »Ja, Nemo, und in Chefagent Karews Büro steht ein zweiter Monitor.« »Wir haben einige Minuten zur Verfügung.« Haley griff zaghaft nach Teds Hand. »Was geht denn eigentlich vor, Ted? Was hat das alles zu bedeuten?« »Es geht praktisch um Leben und Tod«, erwiderte er. »Okay, Dix, denn werde ich mich mal an die Arbeit machen.« Dix schluckte krampfhaft. »Die chirurgische Methode wäre mir doch lieber, wenn…« »Dafür reicht unsere Zeit nicht.« »Warten Sie!«
»Was ist?« »Die Bombe geht los, sobald irgendeine Schaltung lahmgelegt oder entfernt wird. Erst muß die Sicherung eingeschaltet werden.« »Ach nein. Und wo ist der Schalter dafür?« »Sie müssen den grünen und den roten Schalter am Monitor in meinem Büro umlegen.« Ted schloß für einen Moment die Augen, dann öffnete er sie wieder. »Okay, das hätten wir. War das alles?« »Ja, ja. Jetzt kann nichts mehr passieren.« Ted betrachtete den blassen Arzt. Dann wandte er sich seiner Frau zu. Dabei ballte er beide Hände zu Fäusten. »Hier!« Er öffnete die linke Hand, auf deren Innenfläche zwei winzige, silbrig glänzende Objekte auftauchten. Dr. Dix nickte anerkennend. »Ein Punkt für Sie, Nemo.« Haley schüttelte ratlos den Kopf. »Ich kann nur hoffen, daß ich das alles eines Tages begreifen werde.« »Wirst du…« Eine neue Stimme drang aus dem Lautsprecher des Hauscomputers. »Briar, hier spricht Chefagent Karew. Wir wissen, daß Sie sich in Ihrem Haus aufhalten, und raten Ihnen, sich ohne Gegenwehr zu ergeben. Und wagen Sie ja nicht, einfach zu verschwinden.« »Ich würde an Ihrer Stelle die Segel streichen«, riet Dr. Dix. Ted lachte belustigt. »Und wie!«
XXIII
»Ich zähle zehn Mann«, sagte Ted. »Die haben unser Haus völlig umstellst.« »Woher weißt du das?« fragte Haley verblüfft. »Ich weiß es einfach.« Dr. Dix wischte sich wieder über die Stirn. »Am einfachsten wäre es«, riet er, »wenn Sie sich jetzt ergeben könnten, Nemo.« Ted nahm die Hand seiner Frau in die seine. »Noch bin ich nicht fertig mit dem, was ich mir vorgenommen habe«, informierte er den Arzt. »Wir machen die Fenster auf, Briar«, meldete sich Chefagent Karew. »Das sollte Ihnen begreiflich machen, daß wir nicht mehr lange fackeln.« Draußen vor dem Haus konnte man drei TSA-Agenten erkennen. Sie standen gebückt da und hielten ihre Blaster im Anschlag. »Sie werden immer auf der Flucht sein«, gab Dr. Dix zu bedenken. »Ihre Lage verschlimmert sich noch, Nemo. Die TSA kann einiges gegen Sie konstruieren, kann Beweise hervorzaubern, daß Sie sich eine ganze Latte Verbrechen haben zuschulden kommen lassen. Und damit liefern wir der Staatspolizei den Vorwand, Sie ohne Warnung niederzuschießen.« »Dann beeilen Sie sich aber«, riet Ted ihm. »Die TSA wird nämlich nicht mehr allzulange…« »Briar! Mr. und Mrs. Briar! Sie wissen doch genau, daß es eine Vorschrift gibt, die Partys in Vorgärten strikt untersagt. Und dies hier ist ein eindeutiger Verstoß gegen diese Regel!«
»Wer zum Teufel ist der Fatzke in seiner Phantasieuniform?« »Sie alle gehen jetzt sofort ins Haus. Die LebensqualitätsPatrouille kann einen solchen Verstoß nicht dulden. Mr. und Mrs. Briar, ich schäme mich für Sie! Haben Sie denn überhaupt kein Ehr…« »Los, zieht ihn die Büsche.« »Was hat das zu bedeuten? Was fällt Ihnen ein, einen General der Lebensqualitäts-Patrouille anzugreifen… uff!« Haley machte ein trauriges Gesicht. »Der arme Bill Beck. Er kam genau zur falschen Zeit, um unseren Lebensstandard hochzuhalten.« »Sollten Sie nicht rauskommen, Briar, dann kommen wir rein«, meldete Karew sich über den Lautsprecher. »Versuchen Sie ja nicht, sich und Ihre Frau aus dem Haus zu teleportieren. Das hätte ein schlimmes Unglück zur Folge?« »Er hat keine Ahnung, daß die Bomben längst draußen sind«, meinte Ted. »Wir zählen langsam von zehn bis eins, Briar. Wenn Sie bis dahin nicht… uff.« Etwas polterte auf das Dach. »Das ist Karew«, lieferte Ted eine knappe Erklärung. »Den Rest Ihrer Misttruppe, Dr. Dix, schmeißen wir am besten in den Sund. Erst mal die drei dort vorne.« Drei Männer wurden in die Luft gewirbelt und entfernten sich wie ein Schwarm aufgeregter Schmetterlinge. Dann verloren sie sich am dunklen Nachthimmel. »Und jetzt die anderen.« Dix wagte einen Einwand. »Sie werden das bitter bereuen…« Ein dumpfer Knall, und Dix war verschwunden. »Ted, das ist ja… ich hab keine Ahnung, was ich dazu sagen soll.« »Keine Sorgen, hab nur Vertrauen zu mir!«
Casper kauerte auf allen vieren in einem Winkel der verkommenen Kapelle. »Ich höre dich doch ganz genau, kleiner Freund«, sagte er gerade. »Warum kommst du nicht heraus? Bin mal gespannt, was du bist – Maus oder Ratte. Gebrauchen können wir beides.« »Wo ist Reverend Ortega?« Der junge Neger sprang auf wie von der Tarantel gestochen und wirbelte herum. Als er Ted und Haley entdeckte und ins Auge faßte, lag bereits ein Stunner in seiner Hand. »Sie wollen sich wohl einen Spaß machen, was? Tauchen hier einfach auf, während ich versuche, ein allerliebstes kleines Tierchen aus seinem Bau zu locken. Und dann wollen Sie mir wohl Angst ein…« »Ich muß sofort zu ihm«, drängte Ted. »Er hat doch morgen früh eine Verabredung nicht wahr? Um sechs draußen in Long Island, oder?« Der Neger verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Das ist doch völlig geheim!« »Sie irren sich, Casper. Die TSA ist bestens informiert«, erzählte Ted ihm. »Die haben ja alles eingefädelt.« »Dann ist es eine Falle, was? Ich wußte doch, daß dieser Fettsack eine taube Nuß ist!« Ziellos wanderte er durch die Sakristei der Central-Park-Kapelle. »Verdammt, und ich weiß selbst nicht einmal, wo der Reverend sich herumtreibt. Wir wollten diesen Laden gerade wieder zumachen und weiterziehen, wie wir es immer tun. Und ich hab keine Ahnung, wie ich ihn jetzt erreichen kann.« »Ihr könnt doch zu jeder Zeit untereinander Verbindung aufnehmen.« Casper zupfte an seinem Ohrläppchen. »Sie fangen jetzt erst an, Ted, das Spionagegeschäft zu verstehen«, sagte er. »Und das Geschäft eines Priesters ist weitaus komplizierter. Ich weiß nur, daß Reverend Ortega von Zeit zu Zeit die Einsamkeit
sucht, wahrscheinlich um zu beten und zu meditieren. Und genau das tut er wohl im Augenblick. Voraussichtlich wird er sich gleich von seinem Versteck aus zu dem Treffen begeben. Verstehen Sie, man hat ihm eine Menge Material über die Ereignisse in Brasilien versprochen. Er ist ganz scharf auf das Rendezvous.« »Okay, dann versuchen Sie ihn zu finden«, sagte Ted. »Ich rolle den Fall vom anderen Ende auf und halte mich an Totter und Shantytown. Eigentlich sollte es mir gelingen, ihn zu entschärfen.« »Entschärfen?« »Eine der revolutionärsten Entwicklungen der TSA sind Minibomben, die man in Körper einpflanzen kann.« Casper atmete zischend aus und starrte Haley an. »Jetzt erinnere ich mich«, rief er. »Wir bekamen eine Nachricht, daß die TSA etwas in dieser, Richtung mit Ihrer Frau gemacht hat. Dann kann sie ja jeden Moment…« »Nein, Casper, ich hab das schon geregelt.« Haley lehnte sich gegen die Neoholzwand. »Ted, war das, was du gerade in der Hand gehalten hast, etwa eine Bombe? Hatte ich diese Bombe in meinem Körper?« »Haley, jetzt ist ja alles vorbei. Kein Grund zur Unruhe.« »Niemals werde ich voll und ganz begreifen, was ich in der letzten Zeit erlebt habe«, gab sie sich geschlagen. »Ich weiß nur, daß du mich vor schrecklichem Unheil bewahrt hast. Nach allem, was ich… du brauchst doch wirklich nicht…« »Ja, hab’ ich aber!«
XXIV
»Nein, das habe ich von dir wirklich nicht gewußt«, gestand Haley. »Ich wußte noch nicht einmal, daß Jay als Agent für die Totale Sicherheits-Agentur arbeitet.« Sie hockte auf dem Boden, lehnte sich gegen einen Baumstamm und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Unter ihr erstreckten sich die Wohnbezirke von Shantytown und seinem steinigen Strand. »Mit Jay habe ich ja nur ein Verhältnis angefangen… nun, weil ich eben wütend war, glaube ich. Ich war wütend auf dich, auf Brimstone, auf das Inkasso-Büro, auf mich selbst. Einfach wütend.« Ted hatte sich dicht neben ihr niedergelassen. Aufmerksam beobachtete er die Ansammlung von Hütten und Baracken am Fuß des Hügels. Es waren etwa fünfzig Bruchbuden, die man aus den Überresten und dem Abfall der letzten fünfzig Jahre zusammengeschustert hatte. Man konnte jedes erdenkliche Baumaterial finden, Neoholz, Plastikstreifen, Kunstglas, Syntholeder, Plastbeton, alte Wandtafeln, Fenster von Luftgleitern. Nur zögernd machte die nächtliche Dunkelheit der Morgendämmerung Platz. »Ich hatte auch keine Ahnung, was eigentlich mit mir vorging«, meinte Ted. »Gut, ich hatte so eine vage Ahnung. Zum Beispiel die Träume, in denen ich als kleiner Junge nur mit einem Nachthemd bekleidet durch die Weltgeschichte laufe. Ich glaube, ich habe mir so die Warnungen selbst übermittelt.« »Und du hattest die ganze Zeit über diese… Fähigkeiten?« Haley wollte noch immer nicht so richtig daran glauben. »Wenn ich all das eher gewußt hätte, dann wäre unser Leben vielleicht ganz anders verlaufen…«
»Am Anfang steht die Dummheit, die Naivität. Jeder Mensch unterliegt diesem Gesetz. Es dauert eben seine Zeit, ehe man klug wird und aus seinen Fehlern lernt.« Haley schüttelte den Kopf. »Ich hatte immer angenommen, daß Jay mich wirklich mochte, daß er mich gern hatte. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, daß er sich nur auf Geheiß seiner Agentur an mich herangemacht hat.« »Wahrscheinlich.« »He!« rief sie. »Plötzlich wird es mir bewußt, daß hiermit unser Leben in Brimstone offensichtlich beendet ist«, meinte seine Frau. »Dein Job, unsere Freunde, das ganze Leben, das wir dort geführt hatten? Nicht daß es mir fehlen wird – aber was fangen wir jetzt an?« »Uns wird schon etwas einfallen.« »Dr. Dix hat dir doch gedroht«, erinnerte sie. »Stimmt das, daß du von jetzt an dauernd auf der Flucht bist? Daß man dich auf offener Straße abschießen kann?« »Nein. Denn wenn es mir gelingt, diese Verschwörung gegen Reverend Ortega aufzudecken und an die Öffentlichkeit zu bringen, dann verfüge ich über genügend Material, um der TSA ein für allemal die Luft abzudrehen. Und nicht nur diesen miesen Schnüfflern, sondern auch Präsident Hartwell und jedem sonst, der ihm nahesteht und ihn unterstützt.« »Meinst du, das klappt? Reicht es wirklich, wenn man die Öffentlichkeit auf diese Machenschaften aufmerksam macht?« »Ich glaube es, und Ortega ebenfalls.« Haley blickte durch die Baumimitationen nach unten auf Shantytown hinab. »Schon fast sechs Uhr. Da wir Totter nirgendwo sonst gefunden haben, müßte er doch jetzt schon am Treffpunkt sein, nicht wahr?« »Erst in letzter Zeit empfange ich auch Eindrücke von Ereignissen, die bevorstehen, oder ich rate zielsicher, wo sich
Leute, die ich suche, aufhalten.« Er schüttelte den Kopf. »Soweit es Totter betrifft, kann ich nicht… Moment! Ja, jetzt spüre ich es. Er ist unten angekommen. Totter… und zwei weitere Agenten. Sie scheinen zu warten.« »Die TSA macht also mit ihrem Plan weiter«, stellte seine Frau fest. »Man hat ihn nicht abgeblasen, nachdem du offen darüber geredet hast.« »Das wissen die doch überhaupt nicht. Nur Dix weiß Bescheid«, stellte Ted richtig. »Und den habe ich irgendwohin teleportiert, wo er uns nicht ins Gehege kommen kann. Wahrscheinlich hat er noch nicht einmal Gelegenheit gefunden, sich mit der TSA in Verbindung zu setzen.« »Und was ist mit Reverend Ortega? Vielleicht hat Casper ihn aufstöbern können und ihn gewarnt.« »Da sagt mein Gefühl mir aber etwas ganz anderes. Der Reverend wird… Da, Haley, er ist eingetroffen. Dort unten am Strand. Er nähert sich.« Auf dem grauen Sandstreifen schlenderte ein hagerer Mann in langer Soutane heran. Ted faltete die Hände. »Zuerst einmal werde ich die Bombe aus Totter herausholen.« Er schloß die Augen, und seine Hände verkrampften sich. »Die Sicherheitsschalter drüben in Westport habe ich umgelegt. Gut. Dann können wir das Baby also ganz einfach…« Rrrruummmsss! Ein dichter Regen aus Plastikfetzen, Glassplittern, Holzspänen und Betonbrocken ergoß sich über die Barackenstadt. Eine verbogene Kreissäge jagte heulend über eine Wiese und verbiß sich in einer Barackenwand. Rauch wälzte sich in dicken Schwaden über die Ruinen der nächststehenden Häuser hinweg. »Himmel! Diese Bombe war ja ganz anders konstruiert. So ein Pech… wahrscheinlich war noch eine zusätzliche
Sicherung eingebaut.« Ted schlug sich verzweifelt mit den Fäusten auf die Knie. »Verdammt, jetzt habe ich einen Menschen ermordet… schon wieder ein Mord… hört das denn nie…« »Ted! Ted!« Haley legte ihm einen Arm um die Schultern. »Woher hättest du das denn wissen sollen?« »Anstatt ihm meine Fähigkeiten zu beweisen und ihn in den brasilianischen Urwald zu schicken, hätte ich die Informationen aus ihm herausholen sollen! Drei Männer tot, einfach tot, aus, weg!« »Reverend Ortega hat es überstanden«, machte seine Frau ihn aufmerksam. »Sieh doch, er steht auf. Er wurde nur vom Explosionsdruck umgeworfen.« Ted sprang auf. »Ich laufe am besten runter und rede mit ihm.« »Guten Morgen, Ted«, grüßte der Priester, während er sich den Sand von der Soutane klopfte. »Das ist sicher Ihre Frau, nicht wahr?« »Ja, das ist Haley«, erwiderte Ted. »Was da gerade passiert ist, ist ganz allein meine Schuld. Ich war nicht vorsichtig genug…« »Er hat Ihnen das Leben gerettet«, unterbrach Haley ihren Mann. »Das hier war eine Falle der TSA.« Ortega ließ einen prüfenden Blick zwischen der Frau und dem Bombenkrater, in dem Totter sich aufgelöst hatte, hin und her wandern. »Ich bin doch nicht so gerissen und abgebrüht, wie ich immer geglaubt habe«, gestand er ein. »Ich war sicher, alles bedacht zu haben und auf Nummer Sicher gehen zu können.« »Sie hatten Totter eine Bombe eingepflanzt«, erklärte Ted. »Natürlich hatte der arme Kerl davon keine Ahnung. Er glaubte, er solle Sie nur in eine ganz normale Falle locken, so daß Sie einen dieser typischen TSA-Unfälle haben.«
»Das Ding ist zu früh losgegangen«, sagte Vater Ortega. »Viel zu früh.« »Ich wollte es auf telekinetischem Weg entfernen, doch man hatte noch eine zusätzliche Sicherung eingebaut. Und davon hatte ich keine Ahnung. Kaum hatte ich das Baby gefunden und es bewegt, da explodierte es.« »Wären Sie nicht dagewesen, dann wäre die Bombe so oder so hochgegangen«, meinte Vater Ortega. »Und ich mit ihr.« »Ja, ich weiß, aber…« »Ich hatte mich wirklich darauf verlassen, einen Bericht über die verbotenen Waffen, die unsere Truppen in Brasilien einsetzen, in die Finger zu bekommen«, sagte der Priester traurig. »Schade, daß diese Unterlagen nur als Köder für die Falle gedacht waren.« »Diesen Kram kann ich mit Leichtigkeit besorgen. In den TSA-Archiven liegt das Zeug haufenweise herum. Und zwar in New Westport, direkt vor meiner Tür.« »Sind Sie sicher?« »Ich habe dort während der letzten Nacht ein wenig herumgeschnüffelt.« Er streckte eine Hand aus und spreizte die Finger. »Hier, eine kleine Kostprobe für den Anfang.« Ein dicker Stapel bedrucktes Papier materialisierte in seiner Hand. Ortega entriß es ihm und las die Aufschrift auf dem Hefter. »Einsatz biologischer Kampfraketen im Mato Grosso. Das ist ja irre! Streng geheim! Lektüre nur nach vorheriger Genehmigung möglich!« »Und hier ist noch mehr davon.« Weiteres Geheimmaterial erschien in Teds Hand und bedeckte schon bald den Boden dort, wo sie standen. Der Priester grinste. »Das ist mehr als genug, Ted«, sagte er. Er hockte sich nieder und wühlte in den Dokumenten und Memoranden herum. »Roscoe hätte niemals die Möglichkeit gehabt, an so etwas heranzukommen. Aber mit dem, was ich
jetzt in Händen habe… ich werde sofort meine Leute benachrichtigen, und dann werden wir das über alle Rundfunksender jagen, und die TSA kann sich für alle Ewigkeiten einmachen.« Ted trat einen Schritt zurück. »Lassen Sie mich wissen, wenn ich Ihnen noch mehr besorgen soll.« »Und wo finde ich Sie?« Ted hatte wieder Haleys Hand ergriffen. »Irgendwo, aber ich bleibe mit ihnen in Verbindung. Ich weiß jetzt, wie ich meine Fähigkeiten einsetzen kann, um mich bei meinen Mitmenschen zu melden wann immer ich will. Zum Beispiel… doch davon können wir später noch reden.« Reverend Ortega nickte geistesabwesend und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Dokumenten zu. Ted und seine Frau spazierten am Wasser entlang. »Ich glaube, von hier aus können wir ihn nicht sehen.« »Wen sehen?« »Ach, einen unsterblichen Poeten, den ich vor kurzem kennengelernt habe.« Ted wies über das Wasser. »Sein Hausboot müßte auf der anderen Seite des Sund treiben.« »Du sagtest gerade, du würdest für eine Weile irgendwohin verschwinden. Soll ich dich begleiten?« »Aber klar.« »Lesen Sie das mal«, sagte der Geistliche aufgeregt, »hier, den zweiten Absatz…« Er schaute auf, drehte sich im Kreis. Der Strand war bis auf ihn leer.
»Entschuldigen Sie, daß ich auf Ihren Hund getreten bin«, sagte Moriarty. Der junge Mann war soeben im Wohnbereich von Mrs. Seuss’ Wohnung erschienen. »Jetzt habe ich den genauen Ort«, meinte sie. »Er ist mit hundertprozentiger Sicherheit…«
»Zu spät, Mrs. Seuss. Ich bin nur hier, um Ihnen mitzuteilen, falls Sie es nicht schon längst wissen, daß die Totale Sicherheits-Agentur in der Auflösung begriffen ist. Die Meldung kam heute nachmittag in den Nachrichten«, erklärte Moriarty und umrundete vorsichtig den dösenden Cyborgspaniel. »Ich dachte wirklich, ich würde Ted Briar finden und ihn herbringen. Leider waren ihre Hinweise entweder falsch, oder Sie dachten zu langsam…« »Jetzt sehe ich die beiden«, fuhr die Seherin fort. »Ja, und ich bin mir ganz sicher, wo sie sind. Ted Briar und seine Frau Haley halten sich im westlichen Teil unseres schönen Landes auf.« »Das interessiert uns nicht mehr. Ich bin doch nur hergekommen, um Ihnen…« »Es ist Kalifornien Süd. Ja, dort halten Sie sich auf.« »Ich mache mich lieber aus dem Staub, bevor meine Eltern sich noch Sorgen machen, daß ich noch nicht zu Hause bin.« »Ted und Haley wandern über einen goldenen Strand. Hand in Hand laufen sie durch die Brandung des Pazifik und tollen herum wie die Kinder, und jetzt wälzen sie sich im Sand, und Ted nimmt seine Frau in die Arme, und er…«