Willibald A. Günthner (Hrsg.) Neue Wege in der Automobillogistik
Willibald A. Günthner (Hrsg.)
Neue Wege in der Automobillogistik Die Vision der Supra-Adaptivität
mit 144 Abbildungen und 14 Tabellen
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Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirtsch.-Ing. Willibald A. Günthner Ordinarius Technische Universität München Lehrstuhl für Fördertechnik Materialfluss Logistik Boltzmannstraße 15 85748 Garching
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ISBN 978-3-540-72404-9 Springer Berlin Heidelberg New York Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2007 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Sollte in diesem Werk direkt oder indirekt auf Gesetze, Vorschriften oder Richtlinien (z. B. DIN, VDI, VDE) Bezug genommen oder aus ihnen zitiert worden sein, so kann der Verlag keine Gewähr für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität übernehmen. Es empfiehlt sich, gegebenenfalls für die eigenen Arbeiten die vollständigen Vorschriften oder Richtlinien in der jeweils gültigen Fassung hinzuzuziehen. Satz: Digitale Druckvorlage des Herausgebers Herstellung: LE-TEX, Jelonek, Schmidt & Vöckler GbR, Leipzig Umschlaggestaltung: WMXDesign, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier 68/3180 YL – 5 4 3 2 1 0
Vorwort
In einer Zeit, in der die kontinuierliche Veränderung zu einer Konstanten geworden ist, kann auch Erfolg nur durch fortwährende Veränderung und Anpassung erreicht werden. Dies gilt insbesondere für die Automobilbranche, die sich im weltweiten Markt täglich neuen Herausforderungen stellen muss. Vor diesem Hintergrund Lösungen für die Logistik in automobilen Netzwerken zu erarbeiten, war das anspruchsvolle Bestreben des Forschungsverbundes „Supra-adaptive Logistiksysteme“ (ForLog). Gemeinsam mit einer Vielzahl von Unternehmen der Automobilwirtschaft erarbeiteten Forschungsinstitute der Universitäten Regensburg (Prof. Hammerl, Prof. Otto, Prof. Zimmer), Erlangen-Nürnberg (Prof. Klaus, Prof. Voigt) und der Technischen Universität München (Prof. Günthner, Prof. Klinker, Prof. Wildemann) in den zurückliegenden drei Jahren Konzepte und Lösungen, die im hoch-volatilen Umfeld die notwendige Adaptivität des gesamten Wertschöpfungsnetzwerks ermöglichen sollen. Wir blicken heute zurück auf drei Jahre, die geprägt waren von intensiven Forschungstätigkeiten, gemeinsamen Diskussionen und konstruktivem Wissensaustausch. Das Ende unserer dreijährigen Forschungsaktivitäten möchte ich daher gerne zum Anlass nehmen, um meinen herzlichen Dank an die Bayerische Forschungsstiftung zu richten, deren Fachverstand und großzügige Förderung diesen Verbund überhaupt erst ermöglicht und uns damit den notwendigen Freiraum für unsere Aktivitäten gewährt haben. Mein Dank gilt ebenso unseren Industriepartnern für ihre aktive Unterstützung und ihr stetiges Engagement. Nur durch ihre Mitarbeit wird ein Forschungsverbund für mich zum gelungenen Modell einer Zusammenarbeit von Hochschule und Industrie und damit zum Wohle von Wissenschaft und Wirtschaft. In meiner Rolle als Sprecher des Verbundes ist es mir zudem eine große Freude, mich bei meinen sieben Kolleginnen und Kollegen sowie allen beteiligten Mitarbeitern der sieben Lehrstühle in München, Regensburg und
VI
Vorwort
Nürnberg zu bedanken, die uns trotz aller Hindernisse Tag für Tag wieder die großen Vorzüge interdisziplinärer Zusammenarbeit gezeigt haben. Nicht zuletzt gilt mein ganz persönlicher Dank meiner Mitarbeiterin Frau Dipl.-Ing. Julia Boppert, die durch ihr großes Engagement als Geschäftsführerin des Forschungsverbundes seinen Erfolg erst möglich machte und mich in meiner Rolle als Sprecher des Verbundes immer bestmöglich unterstützte.
München, 2007
Willibald A. Günthner
Inhaltsverzeichnis
1
Herausforderungen der Automobilwirtschaft ............................... 1
1.1
Die automobile Welt im Umbruch ..................................................... 3 H. E. Mößmer, M. Schedlbauer, W. A. Günthner
1.2
Logistik im Zeichen zunehmender Entropie..................................... 17 T. Rinza, J. Boppert
1.3
ForLog – Ein Modellprojekt bayerischer Logistikforschung ........... 29 W. A. Günthner, J. Boppert
2
Supra-Adaptivität der Supply Chain Architekturen .................. 37
2.1
Flexibilität und Adaptivität – Verständnis und Ausprägung ............ 39 2.1.1 Die Evolution des Flexibilitätsbegriffs hin zur Vision der Supra-Adaptivität................................................................... 41 K.-I. Voigt, S. Schorr 2.1.2 Das Flexibilitätsverständnis in der Automobilwirtschaft – aufgezeigt am Beispiel eines Zulieferunternehmens ............. 53 H. Monsees, M. Saatmann, S. Schorr
2.2
Flexibilität – Welchen Nutzen hat der Kunde?................................. 61 2.2.1 Revenue Management in der Automobilindustrie – Ein Ansatz zur gezielten Steuerung von Flexibilitätsbedarfen von Endkunden ....................................................... 63 K.-I. Voigt, M. Saatmann, S. Schorr 2.2.2 Logistics Conjoint Measurement – Ansatz zur Bewertung des logistischen Kundennutzens ............................................ 87 P. Wahl, B. Boeck 2.2.3 Die adaptive, kundenorientierte Value Chain ...................... 103 H. Wildemann
VIII
Inhaltsverzeichnis
2.2.4 Quantifizierung der Flexibilität im Rahmen wert schöpfungspartnerschaftlicher Zusammenarbeit ................. 123 K.-I. Voigt, H. Wildemann 2.3
Supply Chain Architekturen – Eine Kurzbetrachtung .................... 137 2.3.1 Supra-adaptive Architekturen in der Automobilindustrie – eine Blaupause ..................................................................... 139 M. Saatmann 2.3.2 Anwendungsarchitekturen in supra-adaptiven Logistiknetzwerken.............................................................. 149 F. Müller, A. Otto
2.4
Adaptivitätstransformation im Netzwerk ....................................... 167 2.4.1 Die Quantifizierung des logistischen Nutzens – Kostenausgleich und Nutzenverteilung in Supply Chains schaffen Transparenz und Vertrauen zwischen den Akteuren ........... 169 H. Wildemann 2.4.2 Die Stellhebel des operativen Flexibilitätsmanagements in der Automobilindustrie.................................................... 175 S. Schorr 2.4.3 Adaptierbarkeit von Anwendungsarchitekturen .................. 187 F. Müller, A. Otto
3
Aufgabenverteilung im Wertschöpfungsnetzwerk .................... 201
3.1
Logistikaufgaben, Knotenprofile und Transfermöglichkeiten ....... 203 3.1.1 Supra-Adaptivität in der „Automotive“ Supply Chain: Die Rolle von Logistikdienstleister-Einbindungen und Dienstleister-Strukturen ....................................................... 205 P. Klaus 3.1.2 Supra-Adaptivität durch Outsourcing – Dienstleistertypen und Kompetenzprofile ......................................................... 219 H. Voss 3.1.3 In- und Outbound-Logistik eines 1st Tier Zulieferers – Logistikdienstleistereinsatz im automobilen Netzwerk ....... 231 T. Przypadlo
Inhaltsverzeichnis
3.2
IX
Aufgabentransfer – Möglichkeiten und Grenzen ........................... 245 3.2.1 Supra-adaptive Netzgestaltung durch Multi-UserCenter (MUC) – Erfolgsversprechen und Potenzial ............ 247 A. Roth 3.2.2 Ausschreibungen von Logistikdienstleistungen: Gegenüberstellung von Industrie- und Logistikdienstleister-Sicht ................................................... 259 P. Precht 3.2.3 Ramp-Up von Kontraktlogistikdienstleistungen.................. 271 C. Reuter 3.2.4 Flexibilisierung von Mitarbeitern – Individuelle und organisationale Faktoren........................... 283 A. Endörfer, M. Sauerland, D. Walch 3.2.5 Flexibler Kundenservice durch anpassungsfähige Software ............................................................................... 295 M. Oberhofer, F. Müller, M. Hooites Meursing 3.2.6 Nutzenverteilungsmodell NutzLog im Praxiseinsatz........... 305 H. Wildemann, B. Boeck, P. Wahl
4
Planung – adaptiv und nachhaltig .............................................. 315
4.1
Analyse und Methodik adaptiver Logistikplanung......................... 317 4.1.1 Einflussfaktoren auf die Logistikplanung im automobilen Netzwerk.............................................................................. 319 M. Schedlbauer, M. Scheuchl 4.1.2 Flexibilität durch Standardisierung – Adaptive Logistikplanung.................................................... 333 J. Boppert, M. Schedlbauer, W. A. Günthner
4.2
Adaptivität der Planung –
Methoden und Werkzeuge................. 343
4.2.1 Zukunftsorientierte Logistik durch adaptive Planung.......... 345 J. Boppert, M. Schedlbauer, W. A. Günthner 4.2.2 Adaptive Logistikplanung durch digitale Werkzeuge ......... 359 M. Schedlbauer, J. Wulz, W. A. Günthner 4.2.3 Virtual Reality als adaptives Planungswerkzeug ................. 373 R. Breining, J. Wulz
X
4.3
Inhaltsverzeichnis
Informationskonservierung, -transfer und -bereitstellung .............. 385 4.3.1 Steigerung der Informationsqualität durch effizientes Datenmanagement ............................................................... 387 D. Motus, J. Boppert 4.3.2 Adaptives Wissensmanagement – Abschöpfung und gezielte Nutzung von Mitarbeiter Know-How .................... 399 J. Boppert, D. Walch 4.3.3 Akzeptanz von Werkzeugen in Planung und Schulung ....... 413 M. Sauerland, D. Walch, M. Hammerl 4.3.4 Innovative Mitarbeiterqualifizierung im logistischen Umfeld ................................................................................. 425 D. Walch, U. Katzky
5
Veränderungen des Auftrags- und Produktionsmix – die flexible Reaktion im Netzwerk .............................................. 435
5.1
Ursachen und Symptome................................................................ 437 5.1.1 Anforderungen supra-adaptiver Logistiksysteme: Fehlerkultur – Fehlerprävention – Fehlermanagement........ 439 S. Weisweiler, B. Schwerdtfeger, M. Hammerl 5.1.2 Anpassungsstrategien in der Automobilindustrie ................ 449 M. Hooites Meursing
5.2
Maßnahmen und Reaktionen .......................................................... 459 5.2.1 Mittelfristige Kapazitätsplanung eines Zulieferers in der Automobilindustrie – Anforderungen an ein Anwendungssystem ............................................................. 461 M. Petri, M. Hooites Meursing 5.2.2 Eine Anwendungsarchitektur für die mittelfristige Kapazitätsplanung in der Automobilindustrie ..................... 475 M. Hooites Meursing, F. Müller 5.2.3 Neue Techniken zur Informationsbereitstellung in der Kommissionierung............................................................... 487 B. Schwerdtfeger, R. Reif, T. Frimor, G. Klinker 5.2.4 Einsatz von Augmented Reality zur aktiven Fehlervermeidung ................................................................ 501 B. Schwerdtfeger, T. Alt, G. Klinker
Inhaltsverzeichnis
XI
5.2.5 Die Einführung logistischer Konzepte in Theorie und Praxis – Fallbeispiel Kapazitätsmanagement....................... 509 A. Lochmahr, H. Wildemann Sachverzeichnis ...................................................................................... 525 Autorenverzeichnis ................................................................................ 529
1
Herausforderungen der Automobilwirtschaft
1.1 Die automobile Welt im Umbruch
H. E. Mößmer, M. Schedlbauer, W. A. Günthner
Die Komplexität nimmt zu Die deutsche Automobilindustrie konnte im Jahr 2005 mit beeindruckenden Zahlen aufwarten: knapp 770.000 Beschäftigte (davon 329.000 in der Automobil-Zuliefererindustrie) fertigten 5,35 Mio. Fahrzeuge in den inländischen Produktionsstandorten [VDA06, S.37]; weltweit trugen sogar 13,5 Mio. Fahrzeuge das Emblem eines deutschen Herstellers. Die damit verbundenen Export- und Absatzrekorde sind jedoch kein Grund, sich selbstzufrieden zurückzulehnen. Der durch die fortschreitende Globalisierung angeheizte Wandel in der Automobilindustrie stellt die deutschen Produzenten vor enorme Herausforderungen, denen es heute und in Zukunft erfolgreich zu begegnen gilt, um die erreichte Spitzenposition zu bewahren und weiter auszubauen.
Abbildung 1: Sättigung und Wachstumspotenziale weltweiter Automobilmärkte [VDA06, S.87]
4
H. E. Mößmer, M. Schedlbauer, W. A. Günthner
Die Sättigung der reifen Märkte [RaAb04, S.26f.] Nordamerika, Westeuropa und Japan (siehe Abbildung 1) und das Heranwachsen leistungsfähiger Wettbewerber gerade aus dem asiatischen Raum, die in der Qualität den etablierten Herstellern mindestens gleichzusetzen sind und dabei höchst preisaggresiv auftreten, initiierte einen anhaltenden und zunehmend härteren Wettbewerb um die Gunst jedes einzelnen Kunden. Diese wiederum lassen sich im Zeitalter der Informationsgesellschaft nur noch schwer einschätzen und charakterisieren sich besonders durch die Individualität und Volatilität ihrer Wünsche sowie ein erhöhtes Kostenbewusstsein. Größere Wachstumschancen versprechen die aufstrebenden Märkte vornehmlich in Osteuropa und den BRIC-Staaten1, in denen sowohl neue Kundenschichten als auch kostengünstige Sourcing-Strukturen zu erschließen sind. Gleichzeitig wächst jedoch aber auch hier das Risiko weiterer Wettbewerber, die gerade im Zulieferer-Bereich entstehen werden. Diesen komplexen marktseitigen und somit externen Anforderungen begegnen viele Unternehmen mit Maßnahmen, die zu einem Anstieg der internen Komplexität führen [PiWa99, S.6]. Besonders augenscheinlich wird dies beim Thema Produktkomplexität, da die mit genannten Entwicklungen einhergehende Ausdifferenzierung der Nachfragestruktur zu immer mehr und auch komplexeren (Nischen-) Produkten führt. Die BMW Group beispielsweise bietet heute unter dem Dach ihrer drei Marken BMW, Mini und Rolls Royce ca. 350 Modellvarianten an, die mit bis zu 500 Sonderausstattungen konfigurierbar zu einer möglichen Zahl von 1031 Varianten pro Fahrzeugtyp führen. Diese Entwicklung ist jedoch nicht allein auf das Premium-Segment begrenzt, wie auch die Variantenzahlen bei Volumenmodellen demonstrieren: VW Golf – 1023, Opel Astra – 1017, Ford Focus – 1016 [Götz07, S.19].
Abbildung 2: Modellwachstum (schematisch) bei der BMW Group
1
BRIC-Staaten: Brasilien, Russland, Indien und China
1.1 Die automobile Welt im Umbruch
5
Gleichzeitig mit dem Variantenanstieg schreitet die Verkürzung der Produktlebenszyklen (derzeit: 5-6 Jahre [Ihme06, S.10]) in der Automobilbranche weiter fort, da die Hersteller versuchen, in immer kürzeren Abständen mit neuen Modellen, Derivaten und Ausstattungskomponenten den Kundentrends bestmöglich zu entsprechen. Um dies bewältigen zu können, übernehmen gerade 1st- und 2nd-Tier-Supplier als Entwicklungs- und Wertschöpfungspartner der OEM (Original Equipment Manufacturer) wachsende Umfänge. Die Eigenfertigungstiefe der Hersteller sinkt dabei weiter und ist derzeit bei vielen Automobilproduzenten bereits bei Werten unter 30% angelangt. Die verstärkte Einbindung von Partnern erhöht wiederum die Komplexität im Produktentstehungsprozess sowie in den Logistikprozessen während der Produktionsphase. Erfolgsfaktoren der Zukunft: Innovation und Kooperation Vor diesem Handlungsumfeld gilt für Unternehmen in Zukunft daher mehr denn je: Die Schnellen werden die Langsamen fressen. Innovations- und Wandlungsfähigkeit bringen Erfolg, nicht schiere Größe. Der Begriff der Wandlungsfähigkeit geht dabei weit über das Verständnis von Flexibilität hinaus. Flexibilität bezeichnet die Fähigkeit eines etablierten Systems, sich selbst innerhalb eines definierten Bereiches an Veränderungen anzupassen (siehe Kapitel 2.1). Wandlungsfähigkeit dagegen bedeutet, ein etabliertes System schnell und nachhaltig strukturell verändern zu können [Reit07, S.843]. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn in den Unternehmen die richtigen Randbedingungen und strategischen Zielsetzungen geschaffen werden. Innovationsorientierung als Schlüsselfaktor Innovationsorientierung bzw. -fokussierung zählt dabei als Schlüsselfaktor und verbindet als gemeinsame Basis erfolgreiche Unternehmen verschiedenster Branchen wie folgende Beispiele aufzeigen: Das Spektrum reicht vom Lifestyle- und Sportartikelhersteller Puma über den Kosmetikkonzern Wella bis zu DAX-Unternehmen wie SAP© oder BASF. Ganz zu schweigen von den zahlreichen „Hidden Champions“ des deutschen Mittelstandes, die nach wie vor in ihren Marktsegmenten weltweit führend sind. Die umgesetzten Innovationen zeichnen sich dabei dadurch aus, dass sie direkten und sichtbaren Nutzen generieren, egal ob als Kunde der Endverbraucher oder die Produktion fungiert. Innovationsorientierung als Erfolgsrezept ist kein neuer Trend, sondern existiert vielmehr schon seit Jahrhunderten. Unternehmen brauchen hierfür
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H. E. Mößmer, M. Schedlbauer, W. A. Günthner
Weitblick und Risikobereitschaft. Wird in der Automobilindustrie beschlossen, nach einer neuen Technologie zu forschen, kann es gut sein, dass diese beispielsweise erst in einer über-übernächsten FahrzeugGeneration Berücksichtigung findet. Diese Problematik wird durch das „Zyklusdilemma“ überdies verschärft.
Abbildung 3: Das „Zyklusdilemma“
Es sind zudem nicht nur innovative Produkte oder Technologien allein, die erfolgreich machen. Innovative Geschäftsmodelle oder Prozesse tragen ebenso wesentlich bei. Unternehmen wie Dell, Amazon oder eBay sind durch die entschlossene Umsetzung ihrer Geschäftsmodelle wie der individuellen Produktanfertigung nach Kundenwunsch, dem Direktversand oder dem virtuellen Auktionshaus zu erfolgreichen Trendsettern geworden. Globaler Innovationswettbewerb Innovationen – gleich auf welchem Gebiet – sind daher heute mehr denn je die treibende Kraft für wirtschaftliches Wachstum in hoch entwickelten Industrienationen – Qualitätsvorsprung und Produktivitätsfortschritt allein reichen nicht mehr aus. Wettbewerb mit Niedriglohnländern ist über die Lohnkosten prinzipiell nicht möglich und auch gar nicht erwünscht. Stattdessen gilt – speziell für deutsche Unternehmen –, dass Innovationsfähigkeit der wesentliche Faktor ist, mit dem eine erfolgreiche Abgrenzung von den internationalen Wettbewerbern erreicht werden kann. Aber auch die Innovationskraft ist heute nicht länger eine Domäne der „alten“ Industrienationen allein. Sie wird zunehmend zum entscheidenden globalen Wettbewerbsfaktor, denn viele Schwellenländer entdecken nach und nach das Potenzial, das in ihnen steckt. Insbesondere die asiatischen Staaten haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und zeigen sich heute geradezu begierig auf neue Technologien. Mehr noch: Einige der
1.1 Die automobile Welt im Umbruch
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früher noch belächelten „Nachbauer“ haben sich zu echten Innovationsführern gemausert bzw. durch ihre strikte KVP-Fokussierung Marktanteile erobert. Koreanische und taiwanesische Firmen sind inzwischen v. a. in Hightech-Feldern wie Speicherchips, Handys oder der Unterhaltungselektronik führend. Nicht zuletzt hat auch die koreanische Automobilindustrie seit den frühen 90er Jahren bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Potenzierung der Innovationskraft durch Kooperation Um diesen Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen, gilt es, die Innovationskraft gesamter Wertschöpfungsketten durch eine zunehmend engere Zusammenarbeit mit den Wertschöpfungs- und Logistikpartnern zu bündeln, somit zu potenzieren und dabei die Kosten möglichst gleichmäßig zu verteilen. Die Kooperation in Partnernetzwerken ist schon lange ein unverzichtbarer Erfolgsfaktor in der Automobilindustrie und gewinnt im weltweiten Wettbewerb weiter an Bedeutung. Heute vereinen externe Wertschöpfungspartner neben dem weitaus überwiegenden Anteil an der Fertigungstiefe auch bereits mehr als 50% an der Entwicklungstiefe auf sich. So entfielen bereits im Jahr 2005 ca. 50% aller Einkaufsumfänge der BMW Group in einer Höhe von rund 21 Mrd. Euro auf das Zulieferernetzwerk [Götz06] (siehe Abbildung 4). In Zukunft wird dessen Rolle noch weiter an Gewicht gewinnen. Dieser Trend birgt große Chancen für innovative kleine und mittelständische Firmen, die im harten globalen Verdrängungswettbewerb sonst geringe Überlebensmöglichkeiten besäßen. Chancen eröffnen sich im Übrigen auch für ehemals branchenfremde Unternehmen wie Elektronik- oder Softwarespezialisten, deren Expertise im modernen Automobilbau zunehmend gefragt ist. In eine Zusammenarbeit können alle Seiten ihre jeweiligen Stärken einbringen: Kleine und mittelständische Unternehmen ihre Reaktionsschnelligkeit und ihr SpezialKnow-How, große Konzerne dagegen ihre Finanzkraft, internationale Aufstellung und Absatzmacht. Es bestehen also jeweils klassische Win-WinSituationen, die es zu nutzen gilt. Nur mit Spitzentechnologien, die vermehrt in enger Kooperation zwischen Fahrzeugherstellern und Zulieferern bzw. zwischen den OEM selbst (Beispiel Hybridantrieb) geschaffen werden, kann daher die deutsche Automobilbranche neue Kunden und Marktanteile gewinnen und so wiederum neue und hochqualifizierte Arbeitsplätze schaffen. Innovationen und Kooperationen sind daher auch Garant für den Wohlstand unserer Gesellschaft. Die folgenden Abschnitte zeigen, welche Aufgaben und Herausforderungen aber auch Lösungsansätze sich in den Bereichen Produkt und Pro-
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duktentwicklung sowie Produktion und Logistik für die Automobilbranche in den nächsten Jahren abzeichnen.
Abbildung 4: BMW-Kooperationsmodell mit Lieferanten
Produktinnovationen und Fahrzeugentwicklung Um sich auf Produktseite von den Wettbewerbern entscheidend zu differenzieren und Wettbewerbsvorteile zu generieren, sind neben Design und Qualität gerade innovative und für den Kunden erlebbare Funktionen entscheidend, die es fortlaufend zu entwickeln gilt, denn auch Innovationen sind einem Lebenszyklus unterworfen (siehe Abbildung 5). Lieferanten spielen dabei im Innovationsprozess eine wichtige Rolle. Allerdings verhelfen deren Technologien nur für kurze Zeit zu einem Innovationsvorsprung, da die Entwicklungen zeitversetzt auch anderen Herstellern zur Verfügung stehen, so dass bald die Konvergenzphase eintritt. Begeisterungsfaktoren werden so schnell zu allgemein gewünschten Leistungsanforderungen und verlieren dadurch ihre Exklusivität.
Abbildung 5: Wettbewerbsvorteil im „Innovationslebenszyklus“
1.1 Die automobile Welt im Umbruch
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Über 90 Prozent der gegenwärtigen Innovationen im Automobilbereich werden von Elektrik und Elektronik getrieben [VDA05, S.182]. Der Anteil dieser Komponenten am Fahrzeugwert wird sich laut Prognosen von derzeit ca. 20% auf über 30% im Jahr 2015 ausweiten (siehe Abbildung 6).
Abbildung 6: Entwicklung des Marktes für Automobilelektrik und -elektronik [Merc06]
In den heutigen Fahrzeuggenerationen werden auf Basis dieser Technologien Funktionen realisiert, die noch vor einigen Jahren undenkbar gewesen wären. Neuartige Fahrwerksregelsysteme, X-by-wire, Infotainment- und Komfortsysteme, Fahrerassistenzsysteme, Bedieneinheiten und Motorsteuergeräte sind nur einige Beispiele. Bedingt durch die steigende Anzahl an Steuergeräten (bis zu 70 in Fahrzeugen der Oberklasse) und Funktionen in einem Fahrzeug ist die Komplexität der Vernetzung stark angestiegen. So fungieren jetzt bereits Automobile als Sensoren im Verkehrsgeschehen und übertragen Daten in Verkehrsleitzentralen. Künftig soll beispielsweise eine intelligente FahrzeugFahrzeug-Kommunikation über drahtlose Verbindungen helfen, Staus zu umfahren und vor lokalen Gefahrenstellen zu warnen (siehe Abbildung 7). Doch nicht nur Produktinnovation, auch die Beherrschung der höchst komplexen Fahrzeugentwicklung selbst avanciert zu einem bedeutenden Erfolgs- und Kompetenzfaktor deutscher Unternehmen [Kret05, S.84]. Dabei spielt die Tatsache, wie schnell ein Fahrzeug entwickelt wird, eine entscheidende Rolle, um vor den Wettbewerbern auf dem Markt zu sein. Statt nacheinander sind von den OEM möglichst viele Aufgaben simultan in einem ständig anwachsenden Netzwerk aus Entwicklungspartnern zu erfüllen.
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Abbildung 7: BMW – Connected Drive: Lückenlose Erfassung der Verkehrslage mit ad-hoc-Kommunikationsnetzen [BMW07]
Die eigentliche Kunst im Entwicklungsprozess liegt daher in der parallelen Entwicklung von neuen Fahrzeuggenerationen (Modellen und Derivaten) mit immer mehr Funktionen und Ausstattungsmöglichkeiten in immer kürzerer Zeit und der damit verbundenen, frühzeitigen Koordination aller Beteiligten. Die hohe Komplexität im Produktentstehungsprozess spiegelt sich in der Vielzahl von parallelen und seriellen Teilprozessen wieder. Die Beherrschung dieser komplexen und vernetzten Prozesse befähigt die Unternehmen und ihr Netzwerk, sich im weltweiten Markt besser zu positionieren, da die Reaktion auf Kundenwünsche sehr viel schneller und effektiver erfolgen kann. Aufgrund der weiter anwachsenden Komplexität in diesem Umfeld sind auch in Zukunft verstärkt Anstrengungen zu unternehmen, um innovative Prozesse und Werkzeuge (z. B. Digitale Fabrik) (weiter) zu entwickeln, die helfen, die gesteckten Ziele wirtschaftlich zu erreichen. In diesem Zusammenhang gilt es insbesondere Standardisierungsbestrebungen hinsichtlich der IT- und Kommunikationsschnittstellen weiter voranzutreiben. Innovationskraft in Produktion und Logistik Neben Innovationen in Fahrzeugen und Vorprodukten sind ebenso Innovationen in Prozessen, in denen diese Produkte entstehen, essentiell. Die Aufgabe der Produktion ist dabei, durch innovative Fertigungsabläufe den Entwicklern neue Freiheiten zu gewähren und gleichzeitig die Serientaug-
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11
lichkeit des Gesamtfahrzeuges unter höchsten Qualitätsansprüchen sicherzustellen. Produktionsinnovationen verstehen sich als Enabler zur Umsetzung von Alleinstellungsmerkmalen in den Produkten. Zudem spielen innovative Produktionskonzepte eine wichtige Rolle als Flexibilitätsfaktor, der dazu beiträgt, die Auslastung der Werke trotz Nachfrageschwankungen zu erhöhen. Die Fertigung von mehreren Fahrzeugmodellen mit sehr verschiedenen Montageinhalten auf einer Montagelinie kann als Beispiel für intelligent umgesetzte Flexibilitätskonzepte genannt werden. Im Werk Regensburg der BMW Group entstehen beispielsweise der 1er, die Limousine-, Coupé- und Cabrioversion der 3er-Baureihe sowie das M3-Derivat in einem Einliniensystem (siehe Abbildung 8). Dies ermöglicht eine optimale Anpassbarkeit des Produktionsprogramms an die Anforderungen des Marktes und sichert dadurch eine höhere Profitabilität [Götz07]. Überkapazitäten an einem Fertigungsstandort lassen sich weitgehend vermeiden. In Kombination mit der Produktion eines Modells an verschiedenen Standorten gewinnt der gesamte Werkeverbund an Flexibilität und „Atmungsfähigkeit“, da sich Produktionsumfänge aufwandsarm, u.a. dank der vertraglich vereinbarten Flexibilität der Zulieferer, auf die einzelnen Standorte verteilen lassen. Auch Volumenhersteller wie Opel verfolgen diese Konzepte, um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produktionsstandorte in Hochlohnregionen wie Westeuropa zu sichern. Der Umbau einer starren in eine flexible Fertigung benötigt aber sehr viel Zeit und Know-How. Nach Expertenmeinung dauert es ca. acht bis zehn Jahre, die notwendigen Prozesse zu entwickeln und zu implementieren [Götz07].
Abbildung 8: Flexible Einlinienfertigung verschiedener Fahrzeugmodelle im Werk Regensburg der BMW Group [BMW07]
Neben flexiblen Strukturen und Prozessen in der Produktion gewährleisten zusätzlich innovative Arbeitszeitmodelle mit Mitarbeiter-Zeitkonten Freiräume für eine nachfrageoptimale Fahrzeugproduktion. Die Schwankungs-
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breiten können sich dabei wie im BMW Werk Leipzig zwischen 60 und 140 Stunden pro Woche bewegen, ohne tarifliche Auswirkungen zu zeigen. Ziel derartiger Konzepte ist es, sich von der reinen Zeitorientierung hin zur Ergebnisorientierung zu wandeln. Zur Gewährleistung flexibler und wandlungsfähiger Produktionsprozesse in einem weltweiten Produktions- und Zulieferernetzwerk sind ausgefeilte Logistiksysteme und -prozesse sowohl innerhalb als auch zwischen den Unternehmensgrenzen unabdingbar. Es gilt, die Montage zeitgerecht mit weltweit beschafften Teilen zu versorgen, um Bandstillstände zu vermeiden und die vorgegebenen Montagesequenzen einzuhalten. Um Bauteile und vormontierte Module zur rechten Zeit (just-in-time) und in der exakt benötigten Reihenfolge (just-in-sequence) ans Band zu bringen, wurden Lieferanten in der Vergangenheit bevorzugt direkt auf dem Werksgelände oder in der „näheren“ Umgebung (bis maximal 500 km) angesiedelt [Moli05, S.84]. Innovative Konzepte, in vielen Fällen basierend auf den „Lean“-Prinzipien Toyotas, sorgen dabei für eine schlanke Bereitstellung, Belieferung und geringe Bestände entlang der Supply Chain. Das von vielen OEM angestrebte Ziel des weltweiten Sourcing von Bauteilen stellt diese Strukturen in Zukunft zumindest teilweise in Frage. Dementsprechend gilt es, komplett neue Logistikprozesse zu entwickeln, die den Randbedingungen eines globalen Beschaffungsmarktes Rechnung tragen bzw. die Versorgung der Auslandsstandorte sicherstellen. Dies kann nur in Zusammenarbeit mit erfahrenen Logistikpartnern gelingen, die helfen, den jeweiligen Prozessketten das passende logistische Design aufzuprägen. Erst leistungsfähige Logistik ermöglicht einen globalen Produktionsverbund bei hoher Qualität, Transparenz und niedrigen Kosten [VDA06, S.166] und sichert damit die Wettbewerbsfähigkeit des Wertschöpfungsnetzwerks. Logistikgerechte Produktionsstrukturen am Beispiel des BMW Werks Leipzig Den gewachsenen Stellenwert der Logistik als Flexibilitäts-Enabler und Standortfaktor innerhalb der Automobilbranche zeigt am eindrucksvollsten das Beispiel BMW Leipzig. Das 2005 in Betrieb gegangene Werk wurde auf höchste Wandlungsfähigkeit hin ausgelegt. Zunächst war es für den OEM jedoch aus betriebswirtschaftlicher Sicht nicht einfach, sich für den Produktionsstandort Leipzig zu entscheiden: Hauptargument gegen die Ansiedlung waren die gegenüber vielen anderen Ländern beträchtlichen Lohnkostennachteile: Weniger als 200 Kilometer
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Luftlinie von Leipzig Richtung Südosten beträgt das Lohnniveau nur noch etwa 20 Prozent des dortigen. Ebenso lagen im französischen Arras, einem weiteren möglichen Standort, die Lohnkosten bei nur etwas mehr als der Hälfte der Lohnkosten in Sachsen. Die Herausforderung lautete daher für die Investition in den Standort Deutschland: Wie kann man hohe Löhne und kurze Arbeitszeiten durch individuellen Einsatz und Engagement so ausgleichen, dass unter dem Strich mehr herauskommt als bei anderen?
Abbildung 9: Logistisch optimale Werksgestaltung: Fingerstruktur der Montage im BMW Werk Leipzig [BMW07]
Eine Antwort darauf ist: (Supra-)Adaptivität – mit diesem Begriff bezeichnet der Forschungsverbund ForLog die Fähigkeit, sich innerhalb des Unternehmens und darüber hinweg im Netzwerk schnell und flexibel auch strukturell anpassen zu können. Schneller zu lernen und sich den geänderten Bedingungen anzupassen, ist der Wettbewerbsvorteil schlechthin und wird es auch in Zukunft bleiben. Zur Erreichung dieser geforderten Wandlungsfähigkeit wurde das variantenneutrale Hauptband weiterentwickelt und umgesetzt. Die Montageanlagen sind in einem bisher einzigartigen Grundriss (siehe Abbildung 9) angeordnet, dem eine Fingerstruktur zugrunde liegt. Am Hauptband stehen investitionsintensive Anlagen an nicht zu verändernden Fixpunkten. Von diesen zweigt die Montagelinie in einzelne Finger ab. Verlangt das zu fertigende Produkt oder die steigende Kundennachfrage, dass zusätzliche Arbeitsschritte eingefügt oder die Kapazität erhöht werden müssen, kann aufwandsarm ein Finger entlang seiner Achse verlängert werden, ohne kostenintensiv die Fixpunkte zu verändern. Die Wertschöpfungspartner wurden in die neben der Montage angeordneten Versorgungszentren integriert und beliefern diese mittels eines hochflexiblen fahrerlosen Transportsystems. Für alle weiteren Umfän-
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ge, die per LKW ins Werk gelangen, bieten die an den Seiten der Finger angeordneten Docktore ideale Schnittstellen zur Direktbelieferung entsprechend des Warehouse on Wheels (WoW) - Konzeptes. So kann höchste logistische Versorgungsqualität bei niedrigen Beständen als Grundlage einer effizienten und flexiblen Produktion realisiert werden. Innovationsstandort Deutschland Für Innovationsführer sind Agilität und Wandlungsfähigkeit von größerer Bedeutung als schiere Größe und Marktmacht oder in punkto Standortwahl die reine Lohnkostenbetrachtung, wie das Beispiel Leipzig zeigt. Entscheidungsfreudigkeit und Umsetzungsgeschwindigkeit stellen weitaus wichtigere Vorteile dar. Was natürlich für die klassische betriebswirtschaftliche Ebene zutrifft, gilt auch für eine ganze Volkswirtschaft und die dazu gehörende Gesellschaft. Eine Volkswirtschaft muss – ähnlich wie ein Unternehmen – auf allen Ebenen und in allen Bereichen innovativ und kooperativ sein: wirtschaftlich, technologisch genauso wie sozial und gesellschaftlich. Nur so lässt sich nachhaltig das notwendige Wirtschaftswachstum für mehr Wohlstand und mehr Arbeitsplätze generieren. Wirtschaftswachstum steht und fällt mit der Fähigkeit, neue Märkte zu erschließen – mit neuen Produkten, Technologien, Produktionsverfahren sowie leistungsfähiger Logistik. Erst das bringt Vorsprung und Wertschöpfungsgewinn, der unseren hohen Lebensstandard absichert.
Zusammenfassung Die Randbedingungen für die Automobilbranche sind fordernd wie nie zuvor. Globalisierung, gesättigte Märkte, volatile Kundennachfrage, verkürzte Produktlebenszyklen und steigende Modell- und Variantenzahlen schaffen neben weiteren Faktoren ein hochkomplexes Handlungsumfeld. Hier kann nur überleben, wer nachhaltig Erfolg zu schaffen weiß. Dies lässt sich durch drei Faktoren bewerkstelligen: Ganzheitliche Innovationsfähigkeit und faire Kooperation zwischen Fahrzeugherstellern, Zulieferern und Logistikdienstleistern, um weiteren Nutzen innerhalb von Netzwerken zu generieren, sowie Supra-Adaptivität, die Fähigkeit, sich durch vorausschauende und nachhaltige Planung mit hoher Geschwindigkeit netzwerkweit an neue Herausforderungen anzupassen. So sichern Innovationen, Kooperationen und Agilität langfristig Arbeitsplätze, auch und gerade am Wirtschaftsstandort Deutschland.
1.1 Die automobile Welt im Umbruch
15
Literatur [BMW07] [Götz06] [Götz07] [Ihme06] [Kret05] [Merc06] [Moli05] [RaAb04] [Reit07]
[PiWa99] [VDA06] [VDA07]
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1.2 Logistik im Zeichen zunehmender Entropie
T. Rinza, J. Boppert
Entropiesteigerung durch weltweiten Wandel „Nichts ist beständig als die Unbeständigkeit [Kant98]“ – ein Leitsatz, wie er treffender für die Automobilbranche nicht formuliert werden könnte. Denn der Wandel, den die Fahrzeugindustrie speziell in Europa seit 1970 vollzogen hat, ist beeindruckend. Bemerkenswert dabei ist die Unterschiedlichkeit der Auslöser, die sich jeweils zu Meilensteinen für die Branche herauskristallisiert haben: Nach Jahren kontinuierlichen Wachstums erfolgte ein erster Einbruch der bis zu diesem Zeitpunkt stets steigenden Absatzzahlen aufgrund der Ölkrise Mitte der 70er Jahre. Die schwindenden Absatzvolumina und die plötzliche Nachfrage nach verbrauchsarmen Fahrzeugen forderten einen schnellen Produktwechsel von den Automobilherstellern. Kaum hatte die Industrie auf die neuen Erfordernisse reagiert und sich entsprechend erholt, stieg in den Folgejahren das Lohnniveau drastisch an – und löste so eine erste Welle von notwendigen Maßnahmen zur Senkung der Produktionskosten aus (vgl. [Tayl77]). Insbesondere durch Modularisierungsansätze und Automatisierung [PiWa99] von sich kontinuierlich wiederholenden Prozessabfolgen konnten die teuren manuellen Arbeitsinhalte in vielen Bereichen reduziert werden. Diese Schritte waren notwendig, um sich Ende der 80er Jahre gegen einen neuen Einflussfaktor zur Wehr zu setzen: dem stark ansteigenden Zustrom von Fahrzeugen aus Fernost. Die Hersteller in Japan und kurz darauf auch aus Korea waren in der Lage, aufgrund von ausgefeilten Produktionssystemen (vgl. [Ohno88]) und geringerer Lohnkosten hochqualitative Fahrzeuge zu niedrigen Preisen auf den europäischen Märkten anzubieten. Zu diesem Zeitpunkt Anfang der 90er Jahre bildeten sich zwei wesentliche Produktfokussierungsstrategien heraus: die Konzentration auf Premium- bzw. auf Volumensegmente. Entsprechend der Produktpositionierung
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wurden die entsprechenden Fertigungsstrategien entwickelt. Während die Hersteller, die der Premiumstrategie folgten, danach strebten, über eine „Build-to-order“ Produktion kundenindividuell gefertigte Fahrzeuge hochpreisig und damit Margen-interessant anzubieten, wurde durch die Volumen-OEM im Rahmen der „Build-to-stock“ Philosophie versucht, die Fahrzeugtyp- und Ausstattungsbedarfe der „breiten Masse“ bestmöglich zu prognostizieren und über Skaleneffekte im Einkauf und der Produktion kostengünstige Modelle zu fertigen. Beiden Strategien gemein ist die zunehmende Verlagerung von Entwicklungs- und Arbeitsinhalten, die nicht zum jeweiligen Kerngeschäft zählen, an die Zulieferer sowie geeignete Produktions- und Logistikdienstleister (vgl. [KlKi06; Voss06]). Aufgrund dieser Anforderungen waren auch die Automobilzulieferer gezwungen, sich an die neue Situation bestmöglich anzupassen. Die Entstehung von so genannten Mega-Lieferanten [Rinz03, S.6] und die Ende der 90er Jahre einsetzende Konzentrationswelle in der Zulieferindustrie sind Reaktionen auf die geänderten Rahmenbedingungen. Mehr oder minder erwartungsgemäß stellten sich auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts neue Herausforderungen ein, wobei gerade mit Blick auf die vergangenen fünf Jahre der Eindruck gewonnen werden kann, dass immer schnellere Wandel vollzogen werden müssen und immer zahlreichere Einflussfaktoren auf die Fahrzeugindustrie einwirken, so dass sich eine geeignete Strategiefindung im Sinne einer „Vorbereitung auf konkrete Anforderungen der kommenden Jahre“ immer komplexer gestaltet. Kurz: die Entropie, salopp definiert als ein Maß für die Unordnung des Systems „Automobilindustrie“, nimmt kontinuierlich zu. Fokussiert man die Betrachtung auf die Entwicklungen in Europa, so wird deutlich, dass seit Beginn der Dekade nur ein geringes Wachstum der Fahrzeugverkäufe realisiert werden konnte. Die west-europäischen Märkte mit geringem Bevölkerungswachstum und wenigen Impulsen hinsichtlich der Gesamtstückzahlen gelten als gereift und gesättigt. Zudem nimmt das Durchschnittsalter der Kunden aufgrund der demographischen Entwicklung in den meisten der EU-Staaten kontinuierlich zu. Eine Ersatzbeschaffung für ein neues Automobil findet in den meisten Haushalten bei einem erreichten Fahrzeugalter von sechs bis neun Jahren statt. Auch in den neuen EU-Märkten in Osteuropa hat noch kein signifikanter Verkaufsboom eingesetzt – die Bevölkerungszahlen sind verhältnismäßig gering und das Lohnniveau bzw. die damit verbundene Kaufkraft gilt trotz Steigerungen in der jüngsten Vergangenheit weiterhin als niedrig, entsprechend bedeutend gestaltet sich der Gebrauchtwagenhandel. Fahrzeugflotten mit einem Durchschnittsalter von 10 bis 15 Jahren sind ein typischer Kennwert für die meisten der Länder Osteuropas.
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Europas Fahrzeughersteller müssen heute und auch zukünftig auf die beschriebenen Entwicklungen reagieren. Um Wachstum zu realisieren und den Absatz zu steigern, streben sie einen gegenseitigen Verdrängungswettbewerb an, um ihre Marktanteile zu steigern. Zugleich besteht durch den harten Wettbewerb die dringende Notwendigkeit, die eigenen Kosten so gering wie möglich zu halten bzw. kontinuierlich zu reduzieren und die bestehenden Werkskapazitäten noch besser auszulasten.
Aktuelle Trends und Strategien Hierbei verfolgen die Automobilhersteller parallel diverse Konzeptansätze, die in der Regel jedoch alle eine wesentliche Fähigkeit erfordern: die Realisierung einer flexibel funktionierenden Logistik. Erweiterung der Modellpaletten Um für möglichst viele Käufersegmente und -schichten als Marke attraktiv zu sein und so den Absatz zu steigern, haben sich nahezu alle Automobilhersteller entschlossen, ihre Modellpaletten bedeutend auszubauen. Durch die Besetzung jeder nur erdenklichen Marktnische soll erreicht werden, sehr kundengruppenspezifische Produkte anbieten zu können: Einsteigermodelle für Fahranfänger, Lifestyle-Fahrzeuge für mobile Singles, variable Vans mit großem Laderaum für Familien und nutzwertorientierte Paare, Sportwagen als typische Zweitwagen für Besserverdienende, klassische Limousinen und Coupés für komfortorientierte Senioren etc. etc. Die Folge der großen Auswahl bei relativ stabilem Gesamtmarktabsatzvolumen ist eine sinkende Stückzahl je Fahrzeugmodell – um diese wirtschaftlich produzieren zu können, werden sie üblicherweise zusammen mit anderen Modellen über eine Produktionslinie gefertigt. Dies hat jedoch die Konsequenz, dass die Logistik aufgrund unterschiedlicher Teilecharakteristik bzw. -dimensionen und vielfältigen Lieferantenbeziehungen je Modell sich auf komplexe Anforderungen hinsichtlich der Materialsteuerung durch das Werk, des Behälter-Handlings, der Bestandsführung, des Transports etc. einzurichten hat. Die Effekte, die sich für die notwendige Ersatzteilbevorratung ergeben, haben – trotz verfolgter Plattform-, Modulbildungs- und Gleichteilestrategien – teilweise dramatische Konsequenzen für die Logistik: explodierende Sachnummernzahlen, hohe Bestandskosten und extreme Lieferserviceerwartungen sind nur einige der zu erwartenden, anspruchsvollen Aufgabenstellungen.
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Sinkende Produktlebenszyklen Zeitgleich mit der Ausweitung der Modellvielfalt besteht für die Hersteller die Notwendigkeit, die Produktlebenszyklen signifikant zu verkürzen. Um den Wettbewerbern jeweils voraus zu sein, ist eine häufigere Überarbeitung und Modellpflege sowie ein schnell vollzogener Modellwechsel notwendig. Waren in den 70er Jahren noch Produktlebenszyklen von 10 bis 12 Jahren die Regel, hat inzwischen eine Halbierung stattgefunden.
Abbildung 1: Verkürzung der Produktlebenszyklen am Beispiel Mercedes Benz [Petr04]
Zukünftige Produktwechsel werden alle vier bis fünf Jahre erwartet [HAWK03]. Auch hier ergeben sich für die Logistik weit reichende Konsequenzen: neben dem anspruchsvollen Management der Modellanläufe und -ausläufe ist eine umfassende Standardisierung von Logistikprozessen zu erreichen, um eine schnelle Anpassung an die jeweils neu zu gestaltenden Supply Chains und Materialflussbeziehungen zu gewährleisten. An dieser Stelle sei die Ersatzteillogistik gesondert erwähnt, da sie durch die häufigeren Modellwechsel ebenfalls drastische Veränderungen bewältigen muss. Steigende Ausstattungsinhalte Fahrsicherheitstechnik, Komfortoptionen, Umwelttechnologien, Fahrdynamikpakete, Infotainment-Accessoires oder reine Ausstattungen zur Veränderung der Fahrzeugoptik – die Möglichkeiten, Fahrzeuge zukünftig auszustatten oder durch den Kunden individueller gestalten zu lassen, sind schon heute vielfältig und werden zukünftig noch weiter ausgestaltet. Mit
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den Innovationen werden die entsprechenden je Farbe, Material, Technik und Markt spezifischen Varianten zunehmen. Trotz gegenläufiger Bemühungen seitens der Entwicklung, die Fahrzeuggewichte zu reduzieren und viele Ausstattungsoptionen nur über Elektronik bzw. Software abzubilden, werden sich die meisten der zusätzlichen Fahrzeuginhalte auch in Zukunft in tatsächlichen Sachnummern niederschlagen. Für die Logistik bedeutet dies, dass, wenn die Varianten nicht bereits in der Produktentwicklung vermieden werden können, diese im Verlauf des Produktlebens wenn möglich weiter reduziert werden sollten, in jedem Fall aber „beherrscht“ werden müssen. Die Variantenbeherrschung mit beispielsweise kundenauftragsbezogener Sequenzanlieferung, Carset-Bildung und Einzelteilkommissionierung etc. stellt vor dem Hintergrund der kontinuierlichen Kostenreduzierung eine der anspruchsvollsten Steuerungs- und Handling-aufgaben der Zukunft dar. Konzentration auf Kernkompetenzen Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit zur Komplexitätsreduzierung reagiert die Automobilindustrie insbesondere mit einer Konzentration auf das so genannte „Core Business“. Je nach Fahrzeughersteller wird dieses Kerngeschäft mehr oder weniger weit gefasst. Gemeinhin schließt es jedoch die konzeptionelle Entwicklung, üblicherweise die Produktion (eine Ausnahme stellt die temporäre Verlagerung zur Realisierung von Kapazitätsspitzen sowie die Herstellung von Nischenmodellen dar), den Vertrieb und Service eines Fahrzeugs oder ausgesuchter Komponenten mit ein. Im Allgemeinen ist der Trend jedoch eindeutig: die Bereitschaft, den Begriff „Kernkompetenz“ noch enger zu definieren, ist offensichtlich, so dass verstärkt personalintensive Arbeitsinhalte der Bereiche Entwicklung, Planung und Vormontagen der Produktion sowie weite Teile der Logistik an externe Zulieferer oder Dienstleister verlagert werden. Die zunehmende Reduzierung der Fertigungstiefe und die Verlagerung der beschriebenen Aktivitäten hat entsprechende Auswirkungen auf die Logistik: die ausgegliederten Einheiten sind physisch und informatorisch an die Montagelinien anzubinden und mit der Produktion zu synchronisieren. Da die Form der Ausgliederung von integrierten Vormontagelinien und Industrieparks auf dem Werksgelände bis zur Beschaffung aus sogenannten „Low Cost Countries“ reicht, ergeben sich sowohl komplexe Aufgabenstellungen in der Intralogistik wie auch hinsichtlich anspruchsvoller Transportkonzepte.
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Umfassendes Global Sourcing Neben der Verlagerung von Aufgabeninhalten verfolgen zahlreiche Automobilhersteller weiterhin konsequent die Strategie, die Beschaffung von Materialien und Teilen weltweit zu gestalten. Auf diese Weise soll primär von Vorteilen geringer Personalkosten in Niedriglohnländern profitiert werden. Weitere Effekte ergeben sich durch eine ausgeweitete Wettbewerbssituation zwischen den Zulieferern, die auf diese Weise gefordert sind, sich kontinuierlich dem internationalen Preisniveau zu stellen. Zur Erzielung niedrigerer Einkaufspreise wird in Kauf genommen, erhöhte Logistikkosten aufgrund der weltweiten Beschaffung tragen zu müssen: diese ergeben sich aus den verlängerten Transportstrecken, den notwendigen höheren Sicherheitsbeständen, einer komplexeren Kommunikationsinfrastruktur und nicht zuletzt den kostenintensiven Notfallstrategien für den Fall, dass die Lieferfähigkeit der global angesiedelten Zulieferer beeinträchtigt sein sollte. Erschließung neuer Märkte Neben dem Einkauf in globalen Märkten gilt es für die Automobilproduzenten natürlich auch, weltweit neue Absatzgebiete zu erschließen. Insbesondere die so genannten BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China weisen aufgrund der Bevölkerungszahlen und des wirtschaftlichen Aufschwungs gegenüber dem Rest der Welt extreme Wachstumsraten bei den Automobilverkäufen auf. Sowohl die hohen Grundkosten als auch die gerade in diesen Ländern extremen Luxuseinfuhr- bzw. Protektionszölle verteuern die Preise für importierte Fahrzeuge drastisch, so dass sie für breite Bevölkerungsschichten unerschwinglich werden. Entsprechend gezielt forcieren die BRIC-Staaten den Aufbau lokaler Automobilwerke: die Automobilbranche gilt als Schlüsselindustrie, um zahlreiche Arbeitsplätze zu schaffen, Exportmöglichkeiten aufzubauen und nicht zuletzt einen erheblichen Know-How- und Technologietransfer zu gewährleisten. Um an dem Wachstum der Boom-Regionen zu partizipieren, bauen alle wesentlichen Fahrzeughersteller Werke vor Ort auf – je nach staatlicher Vorschrift mit oder ohne nationalen Joint Venture Partner. Üblicherweise beginnt der Markteintritt mit dem Aufbau einer CKD-Fertigung, die eine ausgefeilte Anlieferlogistik aus den Heimatmärkten in Verbindung mit fokussierter lokaler Beschaffungslogistik bedingt. Abhängig vom realisierten Wachstumsszenario gestaltet sich die Produktion zunehmend autarker, bis das Werk schließlich als vollwertiges Produktionswerk quasi unabhängig von Lieferungen aus den Heimatmärkten ist.
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Ausbau von Kooperationsnetzwerken Nicht nur für den Aufbau von gemeinsamen Werken in neuen Märkten, wie im Falle der zuvor beschriebenen Joint Venture-Beteiligungen, werden Kooperationen eingegangen. Zunehmend häufiger suchen Automobilhersteller die Zusammenarbeit untereinander oder mit ausgesuchten Produktionsdienstleistern und Lieferanten. Die Kooperationen sind in der Regel auf ausgesuchte Projektumfänge, wie beispielsweise die Produktion eines gemeinsamen Fahrzeugmodells, die Fertigung einer neuen Motorengeneration oder auch auf eine Entwicklungspartnerschaft zur Erschließung von kostenintensiven Innovationen sowohl hinsichtlich der Inhalte als auch zeitlich begrenzt [Wild01]. Zielsetzungen sind üblicherweise die Reduzierung der Kosten durch Aufteilung der Entwicklungsaufwände und Erschließung von Skaleneffekten bei gemeinsamer Teile- und Infrastrukturnutzung in der Produktion. Logistisch ergeben sich hieraus teilweise spezielle Anforderungen, um die gemeinsame Entwicklung von Teilen über verschiedene Standorte zu ermöglichen. Im Rahmen von Produktionsverbünden können komplexere Lieferbeziehungen auftreten, wenn die vertikale Wertschöpfung über mehrere Werke verteilt ist und von Stufe zu Stufe Teilevolumina ansteigen. In der Zusammenarbeit mit Zulieferern ist überwiegend eine reibungslose Informationslogistik gefordert: insbesondere bei Zusammenschlüssen im Rahmen von Supply Chain Collaboration Ansätzen ist möglichst eine Online-Verfügbarkeit von Abruf-, Bestands-, Transport- und Produktionskapazitätsdaten gefordert. Wertschöpfungsorientierung und Prozessstandardisierung Neben den beschriebenen Strategien wird eine Daueraktivität durch alle Automobilhersteller kontinuierlich und auf allen Ebenen verfolgt: zur Reduzierung der laufenden Kosten stehen alle Geschäftsprozesse permanent auf dem Prüfstand. Vereinheitlicht hat sich hier inzwischen die durch das Toyota Produktionssystem bereits in den 80er Jahren propagierte Erkenntnis, dass bei der Optimierung eines laufenden Prozesses erreicht werden muss, die Prozessschritte, die keine Wertschöpfung für das Endprodukt beinhalten, zu minimieren oder sogar zu eliminieren. Toyota gelang es als einem der ersten Unternehmen, dies durch die konsequente Orientierung an der Philosophie des „One-piece-flow“ sehr umfassend umzusetzen [Take99]. Das Produktionssystem mit seinen streng standardisierten Methoden für Produktion und Logistik unterstützt die Produktionsphilosophie des „Build-to-stock“ vollständig.
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Die von Toyota entwickelten Prinzipien eignen sich in vielerlei Hinsicht als Vorbild; dennoch stellt sich die berechtigte Frage, ob es sich hierbei auch um den maßgebenden Weg für die deutschen Hersteller handelt: im Rahmen von „Build-to-order“ Konzepten ist das Toyota Produktionssystem teilweise zu ergänzen, um insbesondere den Anforderungen an Flexibilität der Produktion im Sinne von Anpassungsfähigkeit an die Unterschiedlichkeit der herzustellenden Produkte zu gewährleisten. Gerade hier sind sowohl heute als auch in Zukunft die Logistikprozesse gefordert, die nun nach dem Grundprinzip der Wertschöpfungsorientierung [RoSo04] zu standardisieren und zu optimieren sind. In diesem Zusammenhang hat sich, in Anlehnung an die Lean Production Bewegung in den 90er Jahren, inzwischen der Begriff Lean Logistics etabliert.
Konsequenzen für die Logistik Anhand der beschriebenen, durch die Automobilhersteller verfolgten Strategien und Konzeptansätze wird deutlich: die Aufgabenstellungen der Logistik werden zunehmend umfassender und anspruchsvoller. Dies ist nicht nur auf einzelne Themenfelder oder eingegrenzte Betrachtungsbereiche beschränkt. Vielmehr wird es notwendig, Beschaffungs-, Produktions- und Distributions- und Reverslogistik gesamthaft zu berücksichtigen. Dazu lassen sich die wesentlichen Anforderungen zusammenfassend und übergreifend beschreiben. Erweiterung der logistischen Aufgaben Die Inhalte der unter den Begriffen „Logistik“ und „Supply Chain Management“ subsummierten Aktivitäten nehmen weiter zu. Während früher überwiegend physische Aktivitäten wie Lagerbewirtschaftung, Verpackung und Transport der Logistik zugerechnet wurden, werden zukünftig hierunter zusätzliche administrative Bereiche verstanden, wie die Bedarfsvorschau, Programmplanung, Umweltoptimierung, Risikomanagement etc. Von der reinen Güterversorgung wandelt sich die Logistik immer mehr zum kundenorientierten Komplettlieferanten der Fertigung mit der Zielsetzung, die Einzelteile und Module inklusive aller benötigten Informationen „schlüsselfertig“ und bedarfsorientiert an die Produktion zu übergeben. Zusätzlich wird das Bewusstsein für die Bedeutung der Logistik bereits in früheren Phasen der Produktentstehung geschärft, wodurch sich zusätzliche Aufgabenstellungen für die Logistik ergeben. Unter dem Schlagwort „Design for Logistics“ lassen sich Initiativen zusammenfassen, bei denen
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die frühe Beeinflussung der Konzeptentwicklung eines neuen Fahrzeugmodells im Sinne des Erreichens einer „Logistikgerechten Gestaltung“ erreicht werden soll. Herausforderung Schnittstellenmanagement Aufgrund der zunehmenden Verantwortung ergeben sich automatisch auch zusätzliche Schnittstellen, für die ein ausgefeiltes Management vorgesehen werden muss. Logistiker und Supply Chain Manager werden aufgrund der strikten Prozessorientierung zu Integratoren zwischen den Bereichen – sie führen Entwicklungs- und Planungsstände zusammen und übernehmen das verantwortliche Gesamtprojekt- oder auch Programmmanagement im Rahmen komplexer Aufgabenstellungen. Kontinuierliche Schnittstellen ergeben sich zu allen Bereichen vom Strategischen Einkauf und der Lieferantenauswahl, zum Materialeinkauf, der Behälterplanung, der Qualitätssicherung, Montageprozessplanung und Instandhaltung bis hin zu den Vertriebsbereichen und dem Marketing. Die zusätzliche Anforderung liegt dabei im Management aller an den Produkten und Prozessen beteiligten Akteure der Wertschöpfungskette, die sich je nach Ausprägung auf zehn oder mehr Stufen erstrecken kann und Unternehmen unterschiedlichster Prägung vereinen muss. Steigender Zeitdruck Hinsichtlich der zu berücksichtigenden Zeithaushalte kann davon ausgegangen werden, dass auch hier die Anforderungen an die Logistik weiter steigen. Neben der weiter zu synchronisierenden Versorgung von Produktionslinien – idealerweise über verschiedene Lieferantenstufen hinweg – wird von allen Automobilherstellern das Ziel verfolgt, die Lieferzeiten von insbesondere individualisiert hergestellten Fahrzeugen deutlich zu reduzieren. Ziel ist die Erreichung des „10-Tage Autos“ [o.V.01, S.42f.; Bret02], bei dem der gesamte Auftragsdurchlauf von der Bestellung bis zur Auslieferung an Kunden im selben Land, in dem das Produktionswerk steht, innerhalb von 10 Tagen erfolgen soll. Dies bringt erwartungsgemäß weitreichende Konsequenzen für die Zeitgestaltung der Logistiksysteme in Beschaffung, Produktionsversorgung und Distribution mit sich. Da die oftmals weit verteilten Standorte der Fertigungspartner in vielen Fällen unveränderlich sind, bleiben auch die dadurch entstehenden Transportwege als konstante Größe bestehen. Dementsprechend gilt es für die Logistik, eine Verkürzung der Prozesszeiten durch eine Optimierung der Steue-
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rungszeiten bzw. durch die Auswahl alternativer Verkehrskonzepte zu erreichen. Logistische Prozessqualität Rechtzeitig, vollständig und fehlerfrei – das sind die bisherigen und auch die zukünftigen Anforderungen an Logistikprozesse. Vor dem Hintergrund der vorab dargestellten Komplexitätssteigerungen wird der Sicherstellung der logistischen Prozessqualität eine besondere Bedeutung zukommen. Gerade bei zunehmender Synchronisierung zwischen den verschiedenen Anlieferstufen haben bereits kleine Fehler möglicherweise große Konsequenzen auf den Herstellungsprozess eines Fahrzeugmodells. Die Qualitätssicherung in der Logistik, die bisher in überwiegendem Maße durch personalintensive Prüfprozesse gewährleistet wurde, ist zukünftig weiter zu automatisieren und durch adäquate IT-Systeme zu unterstützen. Aber auch die Qualität des Personals wird zu einem kritischen Erfolgsfaktor – der Umgang mit komplexer Technik, die schnelle Analyse von Daten und verantwortungsvoll zu treffende Entscheidungen machen es erforderlich, dass Logistikmitarbeiter der Zukunft über ein entsprechend hohes Ausbildungsniveau und geeignete Qualifikationen verfügen und durch ganzheitliches Prozessdenken auch oftmals latente Fehler frühzeitig erkennen und kommunizieren können. Logistikkosten auf dem Prüfstand Der Kostendruck auf die Logistik steigt kontinuierlich – gerade personalintensive Handlingprozesse, wie Umpacken, Lagerbetrieb oder Warenkonsolidierung in Hochlohnländern, stehen unter ständiger kritischer Beobachtung. Ergänzend zu der strengen Wertstromorientierung, die bei der Prozessgestaltung sicherstellt, dass nur noch zwingend notwendige Arbeitsabläufe realisiert werden, ist in regelmäßigen Abständen zu prüfen, ob durch kontinuierliche Verbesserung, Reengineering oder Innovationen vollständige Aktivitäten entfallen, integriert oder automatisiert werden können. Zusätzlich gilt es, durch intelligente Planung auf Basis von leistungsfähigen ITSystemen die Kostentreiber Bestände und Transporte über ganze Supply Chains hinweg zu optimieren [Rinz06].
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Flexibilität als oberste Direktive Eine der wesentlichsten Anforderungen an die Logistik wird jedoch die Gewährleistung von Flexibilität sein: die Anpassungsfähigkeit von Automobilwerken an schwankende Nachfragen, schnelle Modellwechsel oder sich kurzfristig ergebende Markttrends wären ohne flexible Logistiksysteme undenkbar. Die Zielsetzung, „atmende Fabriken“ zu realisieren, wird primär der Logistik in das Lastenheft geschrieben. Dabei kann die geforderte Flexibilität weit gefasst sein und sich auf Flächennutzung, Prozessanpassungsfähigkeit, IT-Schnittstellenwechsel, vor allen Dingen jedoch auf Arbeitszeitmodelle beziehen. Kurzfristig angesetzte Sonderschichten sind ebenso zu bewältigen wie reduzierte Aktivitäten über einen längeren Zeitraum. Grundsätzlich ist jedoch stets die jeweils geforderte höchste Produktivität sicherzustellen, Anlauf- und Auslaufkurven müssen fast digitale Verläufe einnehmen, um die kostenintensiveren Standorte in Westeuropa zu sichern. Eine wesentliche Grundvoraussetzung für hohe Flexibilität ist die Definition von verfügbaren Prozessstandards, die – je nach Aufgabenstellung – kurzfristig umgesetzt werden können. In diesem Bereich scheint eine Orientierung an den japanischen Herstellern durchaus angebracht: hier stehen die Prozesse jederzeit im Vordergrund, während hingegen sich das Produkt daran messen lassen muss und im Bedarfsfall in seinen Ausprägungen einzuschränken ist (logistikgerechte Produktgestaltung oder vielfach auch „logistikverträgliche“ Variantenzahlen). Dementsprechend gilt es, sämtliche Logistikprozesse sorgfältig zu beplanen bzw. zeitnah an geänderte Randbedingungen anzupassen. Das Ziel muss hierbei eine adaptive Planung sein, die gegenüber dem gegenwärtigen Status in kürzerer Zeit qualitativ hochwertige Ergebnisse liefert [GüBo07, S.1274].
Ableitung von zukünftigen Anforderungen Wie eingangs erläutert, ist der Wandel in der Automobilindustrie allgegenwärtig – und insbesondere die Logistik unterstützt die notwendige Wandlungsfähigkeit der Automobilhersteller, um sich in dem sich ständig verändernden Wettbewerbsumfeld zu behaupten. Wann immer die Marktsituation neue Modelle, Lieferanten, Absatzmärkte oder Kooperationspartner erforderlich macht, muss die Logistik die entsprechenden Netzwerke aufbauen und die physischen und informatorischen Prozesse etablieren. Logistik wird somit zu einem wichtigen, wenn nicht sogar entscheidenden „Strategy-Enabler“, dem wesentlichen Umsetzungswerkzeug für die jeweiligen Geschäftsstrategien. Dabei wird aber deutlich, dass auch die Logistik ihrerseits extrem wandlungsfähig hinsichtlich der Herausforderungen der
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Zukunft sein muss. Sorgfältig ausgeplante und kontinuierlich optimierte Prozess- und IT-Standards stellen einen zentralen Erfolgsfaktor dar. Ergänzend hierzu ist aber auch ein umfassendes Innovationsmanagement aufzubauen, um die geforderte höchste Anpassungsfähigkeit der Logistik im Netzwerk – beschrieben unter der Zielsetzung Supra-Adaptivität – zu gewährleisten und immer wieder aufs Neue zu beweisen.
Literatur [Bret02] [GüBo07]
[HAWK03] [Kant98] [KiKl06] [Ohno88] [o.V.01] [Petr04] [PiWa99] [Rinz03] [Rinz06] [RoSo04] [Take99] [Tayl77] [Voss06] [Wild01]
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1.3 ForLog – Ein Modellprojekt bayerischer Logistikforschung Aktivitäten und Handlungsfelder des Verbundes
W. A. Günthner, J. Boppert Gemeinsam mit Vertretern einer repräsentativen Auswahl deutscher Unternehmen aus der Automobilindustrie und weiteren Investitionsgüterbranchen wurde vor nunmehr drei Jahren von sieben Professoren der Universitäten Regensburg, Nürnberg und München in zahlreichen Arbeitssitzungen der Forschungs- und Handlungsbedarf auf dem Gebiet der industriellen Logistik zusammengestellt. Dabei ergaben sich eine Vielzahl von Themenfeldern, die bisher noch wenig beachtet und untersucht wurden, aber für die Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftsfähigkeit dieser Unternehmen einen erfolgskritischen Faktor darstellen. Gemeinsame Zielsetzung der geplanten Forschungsumfänge war die nachhaltige Schaffung supra-adaptiver Logistiksysteme. Unter Supra-Adaptivität wird die Fähigkeit eines Systems verstanden, sich mit minimalem Aufwand und zudem unternehmensübergreifend an dynamische Veränderungen anzupassen. Erreicht werden kann dies durch eine gezielte Kombination von Wandlungsfähigkeit, Vernetzungsfähigkeit und Mobilität im physischen wie vor allem auch im informatorischen und strukturellen Sinne.
Ausgangssituation und Problemstellung: Logistik als Zukunftsbranche Die Entwicklung und Verfügbarkeit zukunftssicherer Logistiksysteme wird immer mehr zu einem entscheidenden Wettbewerbs- und Erfolgsfaktor für Unternehmen und Regionen in der sich weiter „globalisierenden“ Wirtschaft. Logistik wird – mit derzeit 2,5 Mio. Transport- und Logistikarbeitsplätzen in Deutschland [KiKl04] – vermehrt als entscheidender
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Wirtschaftssektor erkannt, der maßgeblich zur Beschäftigungssicherung und Standortattraktivität logistisch führender Regionen beiträgt.
Abbildung 1: Zunehmende Bedeutung der Logistikbranche (in Anlehnung an [KlKi06])
Dabei ist der Stand wissenschaftlicher Forschung und praktischer Nutzung im Bereich der modernen Logistik bis heute weit weniger entwickelt als in vielen anderen Hochtechnologiefeldern. Dies gilt im Übrigen nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere europäische Länder sowie für Nordamerika. Der Grund hierfür liegt in der fehlenden Tradition systematischer Forschung und Entwicklung, wie auch in mangelnder Forschungsförderung in diesem disziplinenübergreifenden, sich erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten formierenden Wissenschaftsfeld. Damit ergibt sich die Chance für Deutschland, mit aktiver Förderung der Logistik als einem noch wenig beachteten und ausgeschöpften Feld der Hochtechnologie seine Position als führende Region in einem (bisher noch) wenig umkämpften Feld weiter auszubauen, dabei aktiv zur Schaffung regional gebundener, nicht ohne weiteres „exportierbarer“ Arbeitsplätze beizutragen und die Wettbewerbsfähigkeit seiner anderen, weltweit agierenden High-Tech-Kompetenzfelder durch exzellente Logistik zu stärken.
1.3 ForLog – Ein Modellprojekt bayerischer Logistikforschung
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Supra-adaptive Logistik als Erfolgskonzept für die Automobilindustrie Ein ganz besonderes Problem, das sich heute Herstellern (Original Equipment Manufacturer – OEM), Zulieferern und vor allem auch Dienstleistern stellt, ist die extrem zunehmende Volatilität und Entwicklungsgeschwindigkeit ihrer Märkte und Produkte. Erfolge und „Flops“ von neuen Produkten lassen sich mit immer geringerer Zuverlässigkeit prognostizieren, wie aktuell im Bereich Automotive die Beispiele des Mini oder des C1 der BMW Group zeigen. In Folge müssen Kapazitäten mit höchster Flexibilität angepasst werden. Darüber hinaus besteht der Zwang der Märkte zur Ausweitung der Produktpaletten, insbesondere erkennbar an der wachsenden Zahl von Varianten und Derivaten, und der extrem kurzfristigen Anpassung der Produktionssysteme, der einzusetzenden Materialien und Fertigungstechnologien (vgl. Kapitel 1.1). Dementsprechend ergeben sich auf kurz-, mittel- oder auch langfristiger Ebene ständig neue Anforderungen an die Adaptivität der Wertschöpfungsprozesse. Die dabei entstehenden Anpassungsbedarfe können gemäß ihrer temporären Wiederholfrequenz in die Bereiche strategisch, taktisch und operativ eingeteilt werden. Die strategische Anpassung ist mehrjährig ausgerichtet und auf eine Verbesserung der Lern- und Atmungsfähigkeit von Wertschöpfungsnetzstrukturen durch Veränderungen der Standorte, Netzwerkbeziehungen etc. bezogen. Die taktische Anpassung umfasst einen mehrmonatlichen bis dreijährigen Zeitraum und bezieht sich auf aggregierte Auftragsflüsse sowie Kapazitäten und Produktspektren. Die operative Anpassung ist meist auf einzelne Aufträge des Daily Business bezogen und erfolgt in sehr kurzen Abständen (täglich, wöchentlich, mehrwöchentlich) vor allem in Bezug auf Produktionszahlen und den Fertigungsmix. Die daraus entstehenden Anforderungen an die Supra-Adaptivität von sich immer enger integrierenden Wertschöpfungsnetzwerken und Supply Chains können nach heutigem Erkenntnisstand nicht allein von OEM gelöst werden. Sie erfordern enge Kooperation mit den vorgeschalteten Zulieferern und Dienstleistern. Ein Beleg hierfür ist die Tatsache, dass die im weltweiten Wettbewerb erfolgreichsten Unternehmen in vielen Branchen gerade diejenigen sind, denen es gelungen ist, einen hohen Grad an „vertikaler Integration“ bei höchster Adaptivität an volatile Markt- und Technologieanforderungen zu verbinden. Praktisch bedeutet dies, dass alle Partner in derartigen Versorgungsketten weitreichende Optimierungen zur Steigerung ihrer Adaptivität anstre-
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ben und zu diesem Zweck die Entwicklung kongenialer, integrierter Logistiksysteme in die Praxis umsetzen müssen. So lösen sich Hersteller vermehrt von gewachsenen, starren Strukturen, die lange Zeit- und Kapazitätsbindungen erfordern. Logistikdienstleister, Systemmodulzulieferer und Vorlieferanten mehrerer Stufen übernehmen im Zuge dieser Entwicklungen zunehmend auch neue, vorher noch als unternehmensfremd geltende Aufgaben in der Wertschöpfungskette. Die disziplinen- und institutionenübergreifende systematische Erforschung und Erprobung supra-adaptiver Logistiksysteme stellt eine neue Herausforderung und Profilierungschance für anwendungsnahe wissenschaftliche Arbeit dar, der ForLog durch die unterschiedlichen Arbeitsfelder der einzelnen Institute und mit der Unterstützung der 31 am Verbund beteiligten Unternehmen in interdisziplinäre Vernetzung begegnet. Als Ergebnis des Forschungsverbundes stehen Konzepte, Methoden und Bausteine zur Verfügung, die im hochvolatilen Umfeld der Automobilindustrie Adaptivität bei überbetrieblichen Anpassungen, wie auch innerbetrieblichen Umstrukturierungen durch die integrative Kombination der Schwerpunkte Flexibilität, Motivation und Ressourcen ermöglichen.
Struktur des Forschungsverbundes ForLog Die Zielsetzung von ForLog - die Schaffung nachhaltig supra-adaptiver Logistiksysteme - fokussiert insbesondere die Defizite und Problemstellungen derzeitiger Wertschöpfungsketten. Die Strukturierung der geplanten Forschungsthemen und Handlungsfelder orientiert sich dabei in starkem Maße an den Hauptbetrachtungsfeldern von Supra-Adaptivität, die sich widerspiegeln in • der Schaffung von Grundlagen für die prinzipielle Netzwerkgestaltung sowie Konzepten zur gezielten Erreichung von Adaptivität, • Wertschöpfungsnetzwerk-übergreifenden Aspekten der effizienten Auftragsabwicklung, Informationsversorgung und Motivation der Netzwerkpartner, • der gezielten Untersuchung und Integration der an der Wertschöpfung beteiligten Akteure mit besonderem Schwerpunkt auf Dienstleistern als einer bisher nur wenig betrachteten Gruppe und unter Berücksichtigung der unternehmensinternen Strukturen und Restriktionen, sowie • der gezielten Betrachtung der Human Resources in supra-adaptiven Wertschöpfungsnetzwerken als Grundlage von Wissensmobilität und Mitarbeiterflexibilität.
1.3 ForLog – Ein Modellprojekt bayerischer Logistikforschung
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Erst die Kombination und Vernetzung dieser Arbeitsbereiche, die durch die Aufgabenschwerpunkte der sechs Teilprojekte repräsentiert werden, liefert nachhaltige Optimierungsansätze zur Gestaltung supra-adaptiver Wertschöpfungsnetzwerke.
Abbildung 2: Thematische Strukturierung des Forschungsverbundes ForLog
Im Folgenden sollen kurz die Aufgabenfelder und Schwerpunkte der einzelnen Teilprojekte dargestellt werden. FlexLog – Flexibilität und Adaptivität
Prof. Kai-Ingo Voigt, Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg Der Fokus des Teilprojektes FlexLog liegt darauf, den Flexibilitätsbegriff im automobilen Netzwerk eingehend zu erfassen, zu strukturieren und zu operationalisieren. Es handelt sich dabei nicht nur um eine theoretische
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Fundierung der Thematik, sondern auch um die Gestaltung eines systematischen Managementprozesses, der die eruierten Flexibilitätsanforderungen aller beteiligten Akteure berücksichtigt und sich zugleich unter KostenNutzen-Aspekten als effizient erweist. Besondere Aufmerksamkeit liegt in diesem Zusammenhang auf der Erforschung von Flexibilitätsbedarfen, um den optimalen Flexibilitätsgrad einer Supply Chain ermitteln zu können. SysLog – Informationssystem-Architekturen supra-adaptiver Logistiksysteme
Prof. Andreas Otto, Universität Regensburg SysLog widmet sich der problemorientierten Gestaltung der Informationssystem-Architekturen von Logistiksystemen in der Automobilwirtschaft als einem der wesentlichen Erfolgsfaktoren rascher Anpassung. Die Untersuchung aktueller und zukünftig zu erwartender Anpassungsstrategien und -situationen dient dabei als wesentlicher Input zur Klärung der Anforderungen. Eine entsprechende Überlagerung mit typisierten Informationssystem-Architekturen liefert als Ergebnis einen Kennzahlenkatalog, der die jeweilige Eignung einer Architekturform für ein Unternehmen messbar macht und so situative Handlungsempfehlungen für die Gestaltung dieser Architekturen bereitstellt. PlanLog – Modellierung und Planung adaptiver Fabrikstrukturen
Prof. Willibald A. Günthner, Technische Universität München Ergebnis von PlanLog ist die Realisierung eines adaptiven Planungskonzeptes für alle Beteiligten einer Supply Chain, um flexibel und aufwandsminimal auf die sich rasch ändernden internen und externen Anforderungen reagieren zu können. Dies beinhaltet die Umsetzung eines adaptiven Planungskonzeptes auf Basis eines Planungsbaukastens mit in standardisierter Form aufgebauten und inhaltlich entsprechend ihrer Aufgabe eindeutig abgegrenzten Bausteinen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Unterstützung durch geeignete Werkzeuge der Digitalen Fabrik – respektive Virtual und Augmented Reality – deren Einsatz eine deutlich schnellere und qualitativ hochwertigere Planungsdurchführung auf Basis verbesserter, intuitiver MenschMaschine-Kommunikation ermöglicht und damit die supra-adaptive Antwort auf die Herausforderung komplexer Planungsaufgaben bietet.
1.3 ForLog – Ein Modellprojekt bayerischer Logistikforschung
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TransLog – Logistikdienstleister-Organisation und Transportnetzwerkstrukturen
Prof. Peter Klaus, Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg Wesentlicher Inhalt von TransLog ist es, anhand verschiedener Detailfragestellungen herauszuarbeiten, wie ein Dienstleister optimal aufgestellt bzw. organisiert sein muss, um in einem Netzwerk Adaptivitäts- und Flexibilitätsbedarfe der Partner decken zu können. Dies setzt deren nahtlose Integration voraus, die selbst beim heute bereits weitreichenden Stand des Outsourcings logistischer Leistungen dennoch nicht ausreichend gewährleistet ist. Die Lösungen erstrecken sich daher von der OutsourcingEntscheidung über innovative Gestaltungsoptionen der Dienstleisterintegration im Netzwerk bis hin zu Vorgehensmodellen und Handlungsempfehlungen im Anlaufprozess. NutzLog – Vorteilsausgleich-Nutzenverteilung
Prof. Horst Wildemann, Technische Universität München NutzLog beschäftigt sich mit der Erstellung eines Supply Chainübergreifenden Nutzenverteilungsmodells, das den Vorteilsausgleich auf Basis der Nutzenverteilung ermöglicht und durch die geschaffene Transparenz über den logistischen Nutzen in Wertschöpfungsnetzwerken die Zusammenarbeit der Partner nachhaltig fördern kann. Es wird untersucht, wie logistischer Nutzen in Supply Chains mit standardisierten Kennzahlen quantifiziert und damit realitätsgetreu abgebildet werden kann. Die Überführung von nicht-messbaren in messbare Größen stellt hierbei eine wesentliche Herausforderung dar. MitLog – Mitarbeiterqualifizierung und -mobilität
Prof. Marianne Hammerl, Universität Regensburg Prof. Gudrun Klinker, Technische Universität München Prof. Alf Zimmer, Universität Regensburg MitLog fokussiert Integration und Qualifizierung des Faktors Mensch im Produktions- und Logistikprozess supra-adaptiver Wertschöpfungsnetze. Die Verfügbarkeit von Expertenwissen muss dazu in demselben Maße Flexibilität aufweisen wie die betrachteten Logistiksysteme. Dieses kann über die Mitarbeitermobilität einerseits sowie die Informationsmobilität andererseits bewerkstelligt werden. Die Ergebnisse erstrecken sich damit
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von der Erarbeitung innovativer Arbeitsorganisationsformen für einen flexiblen, werks- und unternehmensübergreifenden Mitarbeitereinsatz über die Anwendung moderner Virtual und Augmented Reality Technologien zur Qualifizierung der Mitarbeiter bis hin zum Einsatz innovativer Informations- und Kommunikationstechnologien zur bedarfsgerechten Wissensbereitstellung und Fehlerkommunikation über das gesamte Logistiknetzwerk.
Zum Inhalt dieses Buches So vielschichtig wie die Wissenschafts- und Industriepartner des Forschungsverbundes ForLog sind, stellen sich auch die Methoden, Konzepte und Werkzeuge dar, die als Ergebnisse der dreijährigen Zusammenarbeit zur Verfügung stehen. Für eine effiziente und nachhaltige Umsetzung zur Erreichung der Zielsetzung Supra-Adaptivität bedarf es jedoch einer umfassenden Betrachtung der zahlreichen Einzellösungen. Zur praxisnahen und anwendungsorientierten Vermittlung der Ergebnisse wird daher im Folgenden eine Strukturierung entsprechend der vorab beschriebenen Umsetzungshorizonte strategisch, taktisch und operativ gewählt. Diese greift verschiedenste Inhalte der unterschiedlichen Teilprojekte auf und kombiniert sie entsprechend ihrer Fokussierung und Anwendung.
Literatur [KlKi06]
Klaus, P.; Kille, C.: Die TOP100 der Logistik. Deutscher Verkehrs-Verlag, Hamburg, 2006.
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Supra-Adaptivität der Supply Chain Architekturen
2.1 Flexibilität und Adaptivität – Verständnis und Ausprägung
Wenn ein Seemann nicht weiß, welches Ufer er ansteuern muss, dann ist kein Wind der richtige. Lucius Aenaeus Seneca
2.1.1 Die Evolution des Flexibilitätsbegriffs hin zur Vision der Supra-Adaptivität
K.-I. Voigt, S. Schorr
Bedeutung des Faktors „Flexibilität“ Aufgrund der zunehmenden Komplexität und der sich immer schneller veränderten Umwelt müssen Unternehmen immer stärker darauf achten, dass sie diese Herausforderungen bewältigen können. Eine der Fähigkeiten, mit denen diese Herausforderungen bewältigt werden kann, wird als Flexibilität bezeichnet [Meff85, S.121ff.; Kalu93, S.1173; Behr85]. Flexibilität ist damit eine wichtige Unternehmenseigenschaft zur Sicherung des langfristigen Unternehmenserfolges [Anso65, S.162ff.] und somit einer der wichtigsten strategischen Erfolgsfaktoren [Meff85, S.121ff; EvSc80, S.229]. Die Frage nach der Bedeutsamkeit von Flexibilität im Vergleich zu anderen typischen Erfolgsfaktoren, wie Kosten, Qualität, Zeit, Erzeugnisvielfalt und Service, beantworten Kaluza und Blecker. Standen in den siebziger Jahren die Kosten im Fokus, wurden später die Faktoren „Qualität“ und „Zeit“ immer wichtiger. Ebenso wurden aufgrund der zunehmenden Individualisierung die Erzeugnisvielfalt sowie – durch den Drang nach Differenzierung – der Servicefaktor dominanter. Die Bedeutung der Flexibilität hingegen nahm immer dann besonders zu, wenn Diskontinuitäten, wie z. B. die erste Ölkrise in den siebziger Jahren, auftraten [Voig07]. Besonders hier mussten sich die Unternehmen schnell an die Veränderungen anpassen, damit sie nicht in eine existenzbedrohende Krise stürzten. Folglich wurde das Thema „Flexibilität“ immer dann wieder relevant, wenn solche Diskontinuitäten auftraten. Aktuell weisen zahlreiche theoretische und empirische Studien wiederum auf eine Bedeutungszunahme des Erfolgsfaktors Flexibilität hin [ZuDa00, S.5ff.; Burm02, S.284ff.; Strau05, S.18ff.; WeLu06, S.7]. Somit ist heutzutage Flexibilität wieder zu einem „omnipräsenten Schlagwort“ [Oels94, S.22] geworden, das in Wissenschaft und Praxis starke Beachtung findet. Fasst man diese Entwicklung
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K.-I. Voigt, S. Schorr
der strategischen Erfolgsfaktoren zusammen, kann man erkennen, dass Flexibilität heute relevanter denn je und zu den bedeutsamsten Faktoren Kosten und Qualität „aufgestiegen“ ist (vgl. Abbildung 1). Kosten
Service
Qualität
heute früher
Flexibilität
Erzeugnisvielfalt
Zeit
Abbildung 1: Strategische Erfolgsfaktoren [KaBl00, S.4]
Nachdem in der Betriebswirtschaftslehre Einigkeit über die hohe Bedeutung der Flexibilität herrscht, kann dies bei Betrachtung der Definition des Flexibilitätsbegriffs nicht festgestellt werden.
Unschärfe des Flexibilitätsbegriffs Obwohl das Themenfeld der Flexibilität seit Beginn der zwanziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts in der Betriebswirtschaftslehre bearbeitet wird, fehlen bisher eine einheitliche Terminologie sowie ein allgemeingültiger und anerkannter Flexibilitätsbegriff [ReBe83, S.831; Bern00, S.68f.]. So stellen z. B. Sethi und Sethi fest, dass allein im Bereich der Produktionsliteratur mehr als 50 verschiedene Begriffe für Flexibilitätsarten existieren [SeSe90, S.289]. Durch diese Entwicklung ist „Flexibilität“ zu einem „Modewort mit vielschillerndem Inhalt“ [Meff85, S.121] geworden, das durch eine hohe Unschärfe gekennzeichnet ist. Daneben ist zu beachten, dass eine große Anzahl an Begriffen besteht, die häufig synonym verwendet werden. Beispiele dafür sind Elastizität, Anpassung, Adaptivität, Variabilität, Mobilität oder Beweglichkeit [Steg04, S.36ff.]. Somit wird die zuvor beschriebene begriffliche Unschärfe noch zusätzlich verstärkt.
2.1.1 Die Evolution des Flexibilitätsbegriffs hin zur Supra-Adaptivität
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Man kann deshalb sogar von einer „Polymorphie“ des Begriffs sprechen [Evan91, S.73ff.]. Folglich ist Flexibilität kaum „greifbar“ und eine Diskussion aufgrund der fehlenden gemeinsamen Begrifflichkeit schwierig. Ziel dieses Beitrags ist es, mithilfe einer Analyse die Evolution des Flexibilitätsbegriffes (in Deutschland) nachzuzeichnen, um daraus einen Vorschlag für einen „neuen“ Flexibilitätsbegriff abzuleiten. Ebenso soll aus diesem Ergebnis eine Verbindung zur Vision der „Supra-Adaptivität“ des Forschungsverbundes ForLog hergestellt werden.
Entwicklung der Flexibilitätsdiskussion in Deutschland Das Wort „flexibel“, abgeleitet vom lateinischen flexibilis, u. a. biegsam, anpassungsfähig und geschmeidig, stand zu Beginn der Diskussion gar nicht im Mittelpunkt. In den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde vor allem von „Elastizität/Anpassung“ gesprochen. Die ersten Beiträge, die sich mit der Thematik befassten, stammen aus dem Jahr 1926. So beschäftigte sich Schmidt mit der Notwendigkeit einer „Anpassung der Betriebe an die Wirtschaftslage“, die noch unter den Spätfolgen der Inflation – insbesondere „Stockungen des Absatzes“ und einer hohen Arbeitslosigkeit – leiden [Schm26]. Auch Schmalenbach befasste sich mit dem von Schmidt angesprochenen Problem und kommt zu dem Schluss: „Weil die proportionalen Kosten in so großem Umfange fix geworden sind, fehlt der Wirtschaft die Fähigkeit der Anpassung der Produktion an die Konsumtion“ [Schm28, S.245]. Diese erste „richtige“ Debatte im deutschsprachigen Raum begann dann als unmittelbare Reaktion auf den Beginn der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929. Den Vertretern der (deutschen) Betriebswirtschaftslehre wurde klar, dass derart gravierende Umweltveränderungen auch Untersuchungen zur Elastizität1 notwendig machen. Der Theorienbildung wurde in dieser ersten Phase allerdings wenig Beachtung geschenkt. Stattdessen wurde Flexibilität in ihren einzelnen Komponenten erfasst und klassifikatorisch analysiert. Das heißt, Flexibilität wurde zunächst lediglich fallbezogen untersucht. Beispielsweise wurden die Elastizität der Kapazität [Lore30], der Kalkulation und Preispolitik [Kosi31], der Kapitaldisposition [Fric31], der kleinen und mittleren Betriebe [Herm02] und der Betriebsführung überhaupt [Kalv31] untersucht. Das Verständnis der Flexibilität war dabei nicht proaktiv, sondern reaktiv. Die Flexibilitätsdiskussion litt in dieser Zeit folglich unter der isolierten, reaktiven Betrachtungsweise des Phänomens „Flexibi1
Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde „Elastizität“ dann durch den Terminus „Flexibilität“ ersetzt.
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K.-I. Voigt, S. Schorr
lität“. Ebenfalls wurde in dieser Periode die Zeitdimension von Flexibilität vernachlässigt. Erst 1935 wurde dieser Aspekt von Öhlinger in die Diskussion eingebracht, der zwischen lang- und kurzfristiger Elastizität unterscheidet [Öhli35]. Die nächste intensivere Flexibilitätsdiskussion kam nach dem Zweiten Weltkrieg in Gang. Sie stand dabei unter deutlich anderen Vorzeichen: Die Wahrnehmung von Flexibilität wandelte sich von einem Mittel zur Bewältigung von Krisen zu einem Instrument zur Nutzung der sich bietenden Marktchancen. Dabei standen die Produktionskapazitäten [Rieb51; Rieb54] und deren Möglichkeiten zur zeitlichen, quantitativen und intensitätsmäßigen Anpassung an eine steigende Nachfrage [Gute51] im Vordergrund. Ebenso wurden Wirkungen auf die (Grenz-)Kosten [Jaco62], die Produktionsorganisation [Peis57], die Fertigungsverfahren [Opit59] und die „produktionsnahe“ Funktion der Beschaffung [Groch59] genauer durchleuchtet. Weitere Untersuchungsgegenstände waren die flexibilitätshemmende Wirkung fixer Kosten [Hein57; Vorm59] sowie die nötige unternehmerische Planung zur Realisierung von Marktchancen [Best58]. Auch wies die theoretische und methodologische Fundierung der Flexibilitätsforschung deutliche Fortschritte auf. Zum Beispiel analysierte Gutenberg Flexibilität unter Rückgriff auf die mikroökonomische Theorie [Gute51]. Die zuvor einseitige, reaktive Sichtweise der Flexibilität wurde demzufolge in diesem Zeitraum um eine proaktive und theoretisch fundiertere Sicht ergänzt. Ebenso wurden die bisher fallbezogenen Untersuchungen, die verstärkt in den 20er und 30er Jahren durchgeführt wurden, durch Erweiterung des Betrachtungswinkels verallgemeinert. Ab Mitte der 60er Jahre schlug die Diskussion jedoch wieder um. Die deutsche Wirtschaft war wieder verstärkt mit Diskontinuitäten konfrontiert, so dass die planungsrelevanten Daten nun plötzlich unsicher wurden und zudem starken Schwankungen unterlegen waren [Alba67]. Dadurch wurde die flexible Planung unter Unsicherheit und Risiko zu einem Diskussionsschwerpunkt. Es sollte geklärt werden, welchen Beitrag flexible Maßnahmen bei der Planung eines Leistungsprogramms unter Unsicherheit oder Risiko erreichen können und wie das Planungssystem selbst flexibler gestaltet werden konnte [Dink89]. Die wichtigsten Arbeiten aus diesem Zeitraum stammen von Meffert [Meff68; Meff69], Schneider [Schn71; Schn73], Laux [Laux69; Laux71], Hax [Hax66; HaLa72] und Jacob [Jaco67; Jaco74; Jaco79]. Zu dieser Zeit flossen zudem neue Impulse in die Flexibilitätsdebatte ein: Die Überlegung, dass die Flexibilität letztlich sehr stark von dem durch Investitionen gebundenen Kapital determiniert wird, fand erstmals größere Beachtung. Somit wurde im Kontext der Flexibilität neben der Produktionsplanung ein stärkeres Augenmerk auf die Investitionsplanung
2.1.1 Die Evolution des Flexibilitätsbegriffs hin zur Supra-Adaptivität
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gelegt. Zunehmend wurde auch ein Schwerpunkt auf die Anwendung entscheidungsorientierter Modelle gesetzt. Das Konzept der „schwachen Signale“ [Anso76] zur Flexibilitätsplanung fand hierbei bereits erste Einsatzgebiete. In den 60er und 70er Jahren erfolgte im Rahmen der Flexibilitätsdiskussion eine theoretische Erweiterung. Es wurden beispielsweise Vorschläge zur Messung und zur Klassifikation (Unterscheidungen in Bestands- und Entwicklungsflexibilität [Jaco74] und in Built-in- und Handlungsflexibilität [Meff85, S.124ff.]) der Flexibilität vorgenommen. Bemerkenswert an dieser, erneut durch externe Diskontinuitäten ausgelösten, Debatte ist, dass diese, anders als in den 20er und 30er Jahren, auf einem weit höherem theoretischen Niveau und Abstraktionsgrad geführt wurde. Dennoch muss festgestellt werden, dass die schon 1969 von Meffert erhobene Forderung nach einer „… alle betrieblichen Bereiche umfassende(n) Flexibilitätstheorie“ [Meff69, S.779] bis heute unerfüllt geblieben ist [KaBl05, S.9]. Die intensive Debatte um die „flexible Planung“ in dieser Zeit zeigt beispielhaft auf, dass mehr Beiträge zur Planungs- und Entscheidungstheorie geliefert wurden, als zu der fehlenden „Theorie der Flexibilität“. Die 80er Jahre waren, bedingt durch die zweite Ölkrise, wiederum durch wirtschaftlich schwierigere Rahmendaten gekennzeichnet. Diskussionsschwerpunkt waren nun jedoch nicht mehr die verschiedenen Konzepte zur flexiblen Planung, sondern die Beschäftigung mit der „strategischen“ Flexibilität und die intensive Analyse von Teilflexibilitäten. In den 80er Jahren wurden die theoretischen und methodischen Grundlagen zum strategischen Management erarbeitet [Hung04, S.56]. Im Rahmen dieser Diskussion wurde klar, dass neben der operativ-anpassungsorientierten auch die strategische Dimension der Flexibilität mit betrachtet werden muss. Strategische Flexibilität wurde dabei definiert als „… Fähigkeit eines Unternehmens, sich rasch und gut an wesentliche nachhaltige Veränderungen der relevanten Gegebenheiten (z. B. der Nachfrage, der Beschaffungsmöglichkeiten, der Produktionsmethoden) durch ein verändertes Produktions- oder Leistungsprogramm anpassen zu lassen“ [Jaco90]. Die Debatte um die strategische Flexibilität dauert bis heute an [Evan91; KlGm97; Maye01; Burm02]. Die Erweiterung der Flexibilitätsdiskussion in den 80er Jahren betrifft, wie schon erwähnt, auch die Teilflexibilitäten. Vor allem die bislang stark beachtete Teilflexibilität der Produktion wurde um die bisher kaum untersuchten Bereiche „Absatz/Innovation“ [HaLe90], „Personal“ [Floh84; Grob85] und „Organisation“ [Knof92] ergänzt. In diesem Zeitraum wurde, wie zu Beginn der Diskussion, wieder verstärkt pragmatisch geforscht. Dies führte dazu, dass die immer noch fehlende „allgemeine“ Flexibilitätstheorie nicht weiter bearbeitet wurde.
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Auch in der jüngsten Vergangenheit hat die Flexibilitätsdiskussion in der Betriebswirtschaftslehre nicht an Dynamik verloren. Gründe dafür sind der zunehmend globale Wettbewerb, die steigende Diffusion moderner Informations- und Kommunikationstechnologien und die sich immer schneller wandelnde Umwelt [KaBl05, S.2]. Diese Entwicklungen machen es notwendig, Flexibilität nicht mehr nur auf Unternehmensebene, sondern unternehmensübergreifend zu untersuchen [Pibe01; Steg04; Dami03]. Zusätzlich wird Flexibilität wieder verstärkt empirisch untersucht, um die teilweise fehlende Praxisnähe zu verbessern [Burm02; Breh03]. Die aktuell bearbeiteten Themenbereiche in der Flexibilitätsdiskussion stellen Kaluza und Blecker vor [KaBl05, S.9ff.]. Es sind die fünf Felder: Entwicklung einer Flexibilitätstheorie [Burm02], Entwurf von Flexibilitätsstrategien, Planung der Flexibilität [Pibe01], Messung und Bewertung der Flexibilität [Pibe01, S.91ff.; Hock04, S.43ff.; Meye01, S.86ff.] sowie Flexibilitätsmanagement [Thie93; Jans97; Nage03; Dami02; Hock04].
Flexibilität als polymorphes Konstrukt Fasst man die bisher skizzierte Flexibilitätsdiskussion der Betriebswirtschaftslehre zusammen, kann man erkennen, dass Flexibilität im Verlauf um zahlreiche Facetten ergänzt wurde, so dass letztlich ein polymorphes Konstrukt geschaffen wurde. Dieses schwer „greifbare“ Konstrukt repräsentiert jedoch die Vielschichtigkeit der Flexibilität. Wie in Tabelle 1 dargestellt, sind die Ausprägungen, Aufgaben und Objekte der Flexibilität so weit gefächert, dass eine prägnante Begriffsdefinition kaum möglich ist. Eine aktuelle Definition, die die wichtigsten Eigenschaften der Flexibilität dennoch zusammenfasst, lautet: „Flexibilität ist die Fähigkeit eines Systems (Unternehmen oder Netzwerk), selbstständig proaktiv oder reaktiv mit externen oder intern induzierten Veränderungen umzugehen, um die bisherigen Ziele zu erreichen. Auch die selbstständige Anpassung des Zielsystems als Reaktion auf eine zukünftige oder bereits eingetretene Veränderung ist möglich. Die für eine Veränderungsbewältigung nötigen und zur Verfügung stehenden Ressourcen in Prozessen, Systemen und Strukturen werden als Flexibilitätspotenziale bezeichnet“ [VoSa05, S.7].
2.1.1 Die Evolution des Flexibilitätsbegriffs hin zur Supra-Adaptivität
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Tabelle 1: Entwicklung des Flexibilitätsbegriffs
Die Vision des Forschungsverbundes ForLog ist es, im Sinne eines Leitbildes, supra-adaptive Logistiksysteme zu entwickeln. Der Begriff „Adaptivität“ wird oftmals synonym mit Anpassungsfähigkeit verwendet. Die Anpassungsfähigkeit i. S. v. Adaptivität versucht einen Gleichgewichtszustand zwischen Umwelt und System herzustellen und zu halten [Edel87, S.17]. Damit wird im engeren Sinn nur der reaktive Teil der Flexibilität abgedeckt. Erweitert man die Anpassungsfähigkeit um die Gestaltungskomponente, den Gleichgewichtszustand des Systems bzw. die Umwelt aktiv zu beeinflussen, wird die notwendige proaktive Komponente mit eingeschlossen. Flexibilität und Adaptivität erhalten somit die gleiche Bedeutung. Diese Sichtweise ist in der Wissenschaft weit verbreitet, und deswegen wird der Begriff Adaptivität/Anpassungsfähigkeit meist synonym mit dem Begriff der Flexibilität verstanden und verwand [Pibe01, S.9; Dami02, S.44f.]. Um trotzdem noch ein Abgrenzung zwischen den Begriffen zu schaffen, wird folgender Gedanke vorgeschlagen. Die umfassende Fähigkeit, sich adaptiv zu verhalten, liegt in der Flexibilität. Somit ist Flexibilität das Mittel zum Zweck der Adaptivität. Der Forschungsverbund will jedoch keine adaptiven Logistiksysteme schaffen, sondern eine „Supra-Adaptivität“ erreichen. Was nun die Vision der Supra-Adaptivität kennzeichnen kann, ist anhand der Flexibilitätsdimensionen Zeit, Quantität und Qualität (Anzahl und
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Spannweite der Handlungsalternativen) sowie Ökonomie (Kosten) festzumachen. Betrachtet man die Zeit, gilt es schneller als bisher zu handeln. Ebenso gilt es, die Anzahl an Handlungsalternativen zu erhöhen. Das System sollte ständig nach neuen Alternativen suchen, um damit die Flexibilität zu optimieren. Ebenso ist die Spannweite der Handlungsalternativen zu verbreitern. Damit steigt die Aktions-Reaktionsreichweite des Logistiksystems, was bei der Vielzahl an Flexibilitätstreibern wichtig ist. Das wichtigste Kriterium in diesen Zusammenhang sind aber die Kosten. Ein System ist dann „supra-adaptiv“, wenn es gelingt, die Geschwindigkeit sowie die Anzahl und Spannweite der Handlungsalternativen zu verbessern bei einer gleichzeitigen Reduktion der Kosten. Diese Kriterien sind dabei nicht nur aus Unternehmenssicht zu erreichen, sondern müssen für das gesamte Logistiksystem in allen zur Verfügung stehenden Ressourcen, Prozessen, Systemen und Strukturen gelten. Erst aus dieser unternehmensübergreifenden Perspektive wird „Supra-Adaptivität“ zur Vision, die für alle Akteure des Logistiksystems durch das Management von Flexibilität vorteilhaft sein kann.
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2.1.2 Das Flexibilitätsverständnis in der Automobilwirtschaft – aufgezeigt am Beispiel eines Zulieferunternehmens
H. Monsees, M. Saatmann, S. Schorr
Flexibilitätsanforderungen und Flexibilitätsverständnis Flexibilität als Modewort mit viel schillerndem Inhalt lässt sich nur schwer greifen – und das obwohl Flexibilität mittlerweile sowohl im theoretischen Schrifttum als auch in der Unternehmenspraxis als strategischer Erfolgsfaktor erkannt wird [KaBe05, S.4ff.]. Die Gründe für die Uneinheitlichkeit in den unterschiedlichen Definitionsversuchen liegen vor allem in der Unterschiedlichkeit der Sichtweisen, mit denen der polymorphe Begriff Flexibilität betrachtet werden kann. Eine relativ vollständige Klassifizierung hinsichtlich potenzieller flexibilitätsrelevanter Veränderungen bietet Pibernik [Pibe01, S.902]. Ein besonders im industriellen Umfeld automobiler Wertschöpfungsnetzwerke oft beleuchteter Aspekt ist neben der grundsätzlichen Flexibilität von Unternehmen [ZaNo05, S.71ff] die Flexibilität der Produktion. Die oft der ingenieurswissenschaftlichen Literatur entstammenden Beiträge zu dieser Thematik stellen einen Schulterschluss zu den betriebswirtschaftlich ausgerichteten Beiträgen dar, die sich verstärkt strategischen Fragestellungen sowie Kosten-/Nutzenkalkülen widmen. Neben der ökonomischen sowie produktionsorientierten Sichtweise lässt sich Flexibilität als eigenständiges Themenfeld aber auch aus dem Blickwinkel der Organisationsstruktur diskutieren. Beschränkt man sich jedoch vorerst auf die produktionsorientierte Sichtweise, fällt schnell auf, dass der Flexibilitätsbegriff durch diese Beschränkung noch nicht wesentlich an Schärfe gewinnt. Um mess- und steuerbare und damit praktisch handhabbare Kenngrößen ermitteln zu können, muss eine tiefer gehende Analyse der jeweiligen Problemstellung erfolgen.
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Ähnlich gelagert ist die Situation der Flexibilität hinsichtlich der der Produktion vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsprozesse. Ein besonderer Schwerpunkt muss dabei – besonders in Supply Chains, die durch enge Zeithaushalte gekennzeichnet sind – auf die Beschaffung gelegt werden. Die in der Automobilindustrie extrem kurzen Zeithaushalte in Verbindung mit der hohen Änderungsflexibilität, die den Kunden gewährt wird, führen zu kurzfristig auftretenden Volumenschwankungen bei den Zulieferunternehmen [Wagn06, S.111ff.]. Ursache dieser Problematik ist das veränderte Kundenverhalten. Mit einem zunehmenden Maß an kundenindividuellen Fahrzeugen, die zugleich die Option der späten Konfigurationsänderung bieten, erhöhen die OEM die Komplexität in der gesamten Supply Chain. Der Preis, den alle Akteure in der Supply Chain mit der Abkehr vom Build-to-Stock-Ansatz und seinen relativ stabilen Lieferabrufen zu zahlen haben, ist die enorme Unsicherheit, die den langfristigen Prognosen, den mittelfristigen Planungen und den kurzfristigen Feinabrufen anhaftet. Die erhöhte Komplexität schlägt sich besonders in den kurzfristigen Sekundärbedarfen nieder. Durch die stetigen Änderungen an den ursprünglichen Lieferabrufen sind die Zulieferunternehmen gezwungen, ihrerseits die Planung bzgl. Beschaffung und Fertigung rollierend zu überprüfen und an die neuen Daten anzupassen. Damit wird deutlich, dass Flexibilität kein Selbstzweck, sondern vielmehr ein zur Zielerreichung unabdingbarer Baustein ist [KeKe05, S.234]. Wie kurz angesprochen, beinhaltet die Flexibilität in der Beschaffung die Fähigkeit zur Bewältigung kurzfristiger Änderungen geplanter und bereits ausgelöster Bestellaufträge. Um die Lieferfähigkeit gegenüber dem Kunden sicherstellen zu können, erstellen die OEM im Vorfeld der eigenen Planungen Absatzprognosen.
Abbildung 1: Prognose und Planung aus Prozesssicht [Wagn06, S.31]
Die Absatzprognosen bilden die Basis für die Produktions- und Materialbedarfsplanung, die in Form von Grobabrufen und schließlich Feinabrufen an die Zulieferer übermittelt werden. Abbildung 1 illustriert den Zusam-
2.1.2 Das Flexibilitätsverständnis in der Automobilwirtschaft
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menhang, der somit zwischen Prognose und Planung besteht. Da die Prognosen ihrerseits auf vergangenheitsbezogenen Absatzdaten beruhen, die sich als falsch herausstellen können, kommt es regelmäßig zu Anpassungen der Ausgangsdaten. Diese Tatsache führt zu kurzfristigen und starken Änderungen des Materialbedarfs. Schwierigkeiten ergeben sich besonders in solchen Fällen, wenn bereits ausgelöste Bestellungen beschleunigt, geändert oder storniert werden müssen [Melz04, S.29f.]. Um diese Form der Änderungen in der kurzfristigen Sekundärbedarfsplanung zumindest teilweise abmildern zu können, werden in aller Regel Schwankungsbreiten zwischen den beiden, in einer Lieferbeziehungen stehenden Wertschöpfungspartnern vereinbart. Diese Schwankungsbreite beläuft sich auf ca. 10-20% vom Indexwert 100, der aufgrund einer langfristigen Prognose bzw. Planung abgeleitet wird. Die zuliefernde Unternehmung verpflichtet sich, im Rahmen dieser Schwankungsbreiten kurzfristige Volumenänderung zu realisieren. Um diese Zusagen einhalten zu können und auf der anderen Seite die im Lean Management und der Lean Production verankerte Vermeidung von Lagerbeständen zu erfüllen, bedarf es besonderer Aufwände in der Beschaffungs- wie auch Produktionsplanung. Wie in der nachfolgenden Fallstudie ausführlicher dargestellt, können die Produktstruktur sowie die Verwendung von Baugruppen und Vorprodukten, die sich durch eine besonders lange Beschaffungszeit auszeichnen, besondere Flexibilitätsanforderungen hinsichtlich der Planung der Beschaffung und Fertigung bedingen. Das Flexibilitätsverständnis bezieht sich somit konkret auf die Erfüllung von Veränderungen der kurzfristigen Sekundärbedarfsplanung – Aspekte wie Mehrproduktlinien oder eine flexible Verlagerung von Produktionsstandorten stehen damit im Hintergrund.
Fallstudie Continental AG, Division Automotive Systems, Operations Electronics Vorstellung des Unternehmens Der Continental-Konzern ist einer der weltweit führenden, internationalen Automobilzulieferer. Die Geschäftstätigkeit konzentriert sich maßgeblich auf Entwicklung, Fertigung und Vertrieb von Produkten, die für die Sicherheit, die Dynamik und den Komfort der Fahrzeuge sorgen. Die einzelnen Divisionen unterteilen sich in Reifenprodukte, ContiTech und Automotive Systems.
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Die nachfolgenden Aussagen konzentrieren sich auf die Division Automotive Systems. Continental Automotive Systems (CAS) ist weltweit der Markt- und Technologieführer bei Radbremsen und die Nummer zwei bei elektronischen Bremssystemen und Bremskraftverstärkern. Die produktbezogene, divisionale Organisationsstruktur ist in elektronische Brems- und Sicherheitssysteme, hydraulische Bremssysteme, Fahrwerk & Antrieb, elektrische Antriebe, Komfortelektronik und Ersatzteilgeschäft untergegliedert. Als größte Kunden sind zur Zeit Volkswagen, Audi, BMW, DaimlerChrysler, PSA und General Motors zu nennen. Im engeren Fokus der vorliegenden Fallstudie steht die Continental Automotive Systems, Operations Electronics. In dieser Division werden zum Beispiel Elektronikkomponenten für Steuerungen moderner Getriebegenerationen produziert. Die Belieferung erfolgt dann entweder direkt an den OEM oder an Modul- und Systemlieferanten. Prognose und Planung bei Continental Automotive Systems, Operations Electronics Die Planung und Optimierung der Material- und Informationsflüsse wird mit einem Rolling Forecast von 18 Monaten auf Basis der Informationstechnik von SAP/R3© sichergestellt (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: 18-monatige rollierende Programmplanung von CAS [Cont07]
Eine Versorgungsabsicherung auf der Beschaffungsseite im Sinne eines Bedarfssplittings (Multiple Sourcing) ist nur für die Standardbauteile vorgesehen. Kundenspezifische Bauteile werden in der Regel nur von einem Lieferanten, daher mit Single Sourcing, bezogen. Im Rahmen des Rolling Forecasts werden entsprechende Schwankungsbreiten mit den Lieferanten
2.1.2 Das Flexibilitätsverständnis in der Automobilwirtschaft
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vereinbart. Innerhalb dieser Schwankungsbreiten können Abweichungen zwischen dem Forecast und dem tatsächlichen Abruf ohne tiefer gehende Aufwände in der eigenen Disposition und Produktion abgebildet werden. Die Prognose von CAS findet in enger Abstimmung mit dem Kunden statt und stellt eine Mischung aus vergangenheitsbasierten Nachfragemengen und prognostizierten zukünftigen Mengen der Kunden dar. CAS setzt hierfür kundenbezogene Produktsteuerer ein, deren Informationen in einer zentralen Prognose zusammengeführt werden. Schwankungen der Nachfrage – die besondere Bedeutung der Beschaffungszeiten Die Schwankungsbreiten von Kundenbestellungen haben bei der CAS, wie bei vielen Automobilzulieferern auch, die variantenbildende Teile produzieren, einen erheblichen Einfluss auf die Beschaffung der Vormaterialien. Die Bauteilkomponenten werden deshalb gemäß ihrer Beschaffungszeiten strukturiert. Dabei haben die Standardkomponenten (Normteile) kurze Beschaffungszeiten, die kundenspezifischen elektronischen Komponenten (Prozessoren) sehr lange Beschaffungszeiten (zwischen 16-26 Wochen). Im Zeitverlauf stellt sich die Situation bezüglich möglicher Schwankungen der Kundenabrufe wie folgt dar: Innerhalb der laufenden Produktionswoche (Frozen Period) sind in der Regel keine Abweichungen der Kundenabrufe vom Produktionsplan zu erwarten. Dieser Zeitraum stellt für CAS deshalb in der Regel auch keine kritische Phase dar, da die Kunden ihrerseits zumeist auch keine Veränderungen im geplanten Abruf vornehmen. Weitaus kritischer ist für CAS der kurzfristige Bereich (2-4 Wochen) vor der geplanten Produktion. Für diesen Zeitraum ist eine hohe Planungssicherheit notwendig, um die eigene Produktion der Endprodukte ohne zusätzliche Prozesskosten sicherstellen zu können. Innerhalb der vereinbarten Schwankungsbandbreiten mit dem Kunden sind die Kundenabrufabweichungen – wie vorab kurz angesprochen – jederzeit realisierbar. Somit ist Build-to-Order jederzeit gewährleistet. Abweichungen in diesem kurzfristigen Zeithorizont, die über diese vereinbarten Schwankungsbandbreiten hinausgehen, erfordern jedoch eine tiefer gehende Analyse, bevor dem Kunden etwaige Zusagen hinsichtlich der Lieferfähigkeit von CAS gemacht werden können. Diese Analyse betrifft jedoch nicht nur die internen Prozesse von CAS, sondern im Sinne einer gesamtheitlichen Supply Chain Betrachtung die Verbindungen zwischen Kunde – CAS und vor allem CAS – Lieferanten.
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Bei der Analyse der unternehmensübergreifenden Supply Chain steht die Identifikation und Quantifizierung möglicher Bottlenecks im Vordergrund der Aktivitäten. Auf Basis eines hohen Erfahrungswissens der Produktsteuerer, die neben der internen Supply Chain sowohl die Beziehungen zum Kunden als auch zu den Lieferanten im Blickfeld haben, werden mit einer strukturierten Vorgehensweise die Bauteile und Prozesse tiefer analysiert, die zu einer Engpasssituation in der kurzfristigen Erhöhung des Lieferabrufs vom Kunden führen können. Um kleinere Schwankungen schnell und unbürokratisch abdecken zu können, findet daher in diesem Kurzfristbereich ein permanenter Abgleich zwischen den eigenen Beständen, den bestellten Vormaterialen und den Lieferabrufen der Kunden statt. Weiterhin prüfen die Produktsteuerer, welche Mengen von CAS zukünftig bei den eigenen Lieferanten platziert und ob von diesen Mengen bestimmte Kontingente schneller beschaffbar sind. Ebenso wird die interne Supply Chain analysiert. Um aber diese kurzfristigen Schwankungen effizient, das heißt mit möglichst geringen zusätzlichen Prozesskosten durchführen zu können – weil kurzfristige Eingriffe mit erhöhten aktuellen und vor allem zukünftigen Prozesskosten belegt sind – ist stets eine fallbezogene Prozesskostenbetrachtung notwendig. Um jedoch nicht nur kurzfristige Schwankungen, sondern auch absehbare Schwankungen im kurz- bis mittelfristigen Bereich abbilden zu können, findet vor allem bei Nutzung der internen Supply Chain eine Anpassung der Produktionsplanungen von CAS im mittelfristigen Bereich statt. Sollte im Rahmen dieser Neuplanung ersichtlich werden, dass die kurzfristige Erfüllung der aktuellen Nachfragesteigerung zukünftig dazu führt, dass die nächste, absehbare Schwankung nach oben nicht mehr realisiert werden könnte, wird frühzeitig das Gespräch mit dem Kunden gesucht, um gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten. Die Lieferfähigkeit von CAS wird dabei – wie dargestellt – wesentlich durch die lange Beschaffungszeit der benötigten elektronischen Bauteile bestimmt. Parallel zur Überprüfung, ob die Beschaffung der notwendigen Teile in der erforderlichen Menge und Qualität zur richtigen Zeit sichergestellt werden kann, wird neben dieser Materialplanung die interne Kapazitätsplanung überprüft. Hierbei kommt es insbesondere zur Prüfung, ob die zur Produktion erforderlichen Produktionskapazitäten maschinenseitig abgebildet werden können und die notwendigen personellen Ressourcen zur Verfügung stehen.
2.1.2 Das Flexibilitätsverständnis in der Automobilwirtschaft
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Fazit Wie zu Beginn dieses Beitrags angedeutet, kann Flexibilität aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität weder theoretisch noch praktisch eindeutig definiert werden. Vielmehr wird das Flexibilitätsverständnis vor allem in der Unternehmenspraxis durch die direkten operativen Einflüsse und Anforderungen determiniert. Wie die Fallstudie anschaulich illustriert, wird im Fall der Continental Automotive Systems, Operations Electronics, speziell bei der Produktion von Elektronik-Komponenten das Flexibilitätsverständnis maßgeblich durch die Beschaffungszeiten der einzelnen Vormaterialien und Elektronikbauteilen beeinflusst. Die langen Beschaffungszeiten wirken sich insofern auf die Flexibilität von Continental Automotive Systems, Operations Electronics, aus, weil die langfristige Prognose sowie die mittelfristige bis kurzfristige Planung die potenziellen, kurzfristig auftretenden Volumenschwankungen und Änderungen in den Feinabrufen auffangen müssen.
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2.2 Flexibilität – Welchen Nutzen hat der Kunde?
Denn nur vom Nutzen wird die Welt regiert. Friedrich von Schiller
2.2.1 Revenue Management in der Automobilindustrie – Ein Ansatz zur gezielten Steuerung von Flexibilitätsbedarfen von Endkunden
K.-I. Voigt, M. Saatmann, S. Schorr
Vom Build-to-Stock zum Build-to-Order: Flexibilitätswirksame Auswirkungen auf die Supply Chain Die deutsche Automobilindustrie sieht sich mit einem stetig wachsenden Wandel konfrontiert. So drängen vor allem japanische und in letzter Zeit auch vermehrt koreanische OEM1 mit kostengünstigen und qualitativ überzeugenden Fahrzeugen in den europäischen Markt [Beck05, S.11]. Die bisher bekannten Wettbewerbsstrategien der deutschen Automobilhersteller (Kosten-/Preisführer, Differenzierung über Qualität/Zeit und die Mischform des Outpacers) müssen daher um eine neue Strategie bereichert werden. In diesem Kontext fokussieren sich vor allem deutsche Hersteller auf eine extreme Variantenvielfalt, um den Kunden ein sehr individualisiertes Produkt bieten zu können und somit ein neues Differenzierungsmerkmal gegenüber den vorwiegend von Standardisierung geprägten Konkurrenten aufbauen zu können [Meyr02, S.1]. Der Build-to-Order-Ansatz wird in diesem Zusammenhang derzeit von den OEM als die erfolgversprechendste Strategie angesehen, da die Idee der „Mass Customisation“, d.h. der individuellen Massenproduktion, damit wirkungsvoll umgesetzt werden kann [Coro04, S.401ff.]. Als Nutzen der Build-to-Order-Strategie werden neben der kundenindividuellen Produktion ein geringeres Umlaufvermögen, reduzierte Material- und Fahrzeugbestände, geringere Rabatte und Verkaufshilfen, ein besserer Modellmix, eine bessere Ausrichtung an den Kundenwünschen und folglich eine höhe1
Original Equipment Manufacturer
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re Kundenzufriedenheit angeführt [Reit05, S.271]. Als negativer Aspekt wird jedoch die steigende Komplexität im Netzwerk genannt. Diese ist auf die hohe Variantenvielfalt sowie fehlende Ausgleichmöglichkeiten in der Produktion zurückzuführen [FiIt99, S.783f.]. Verstärkt wird diese Problematik durch den Trend zu immer kürzeren Liefer- und Prozesszeiten, verbunden mit hohen Nachfrageschwankungen [Bret05]. Diese Komplexität erfordert ein hohes Maß an Flexibilität, besonders dann, wenn man dem Kunden bis kurz vor Produktionsstart die Möglichkeit der Änderung seiner Konfiguration bietet. Obwohl diese Flexibilität nicht von allen Kunden gleichermaßen benötigt wird, so wird sie dennoch permanent vorgehalten. Damit verwirkt man die Chance, die Produktion bei den OEM und den Zulieferunternehmen sowie die Kapazitätsauslastungen der Logistikdienstleister zu glätten und insgesamt Komplexitätsund Prozesskosten abzubauen. Zudem ist aktuell nicht nachvollziehbar, welcher Grad an Flexibilität tatsächlich benötigt wird und welchen Wert diese Flexibilität für den Kunden hat. Um die positiven Aspekte der Build-to-Order Strategie noch besser nutzen zu können und gleichzeitig die Nachteile zu minimieren, sind neue Konzepte gefragt. Aus dem Umfeld des Dienstleistungsmanagement stammt das „Revenue Management-Konzept“, das dort als preisgestütztes Kapazitätsmanagement bereits seit vielen Jahren in einer ähnlichen Situation Verwendung findet. Ziel dieses Beitrags soll es nunmehr sein, zu analysieren, ob und welchen Beitrag die Übertragung der Systematik und Funktionsweise des Revenue Managements auf die Automobilindustrie hinsichtlich der Steuerung von Flexibilität und Komplexität leisten kann.
Stabilität und Flexibilität: Revenue Management zur Steuerung der Flexibilität in der automobilen Supply Chain Der Ausgangspunkt des Revenue Management-Ansatzes sind strukturelle Veränderungen auf den Luftverkehrsmärkten der 70er Jahre des vorherigen Jahrhunderts. Die Deregulierung des US-amerikanischen Luftverkehrsmarkts im Jahre 1979 stellte die Luftfahrtgesellschaften vor eine vollkommen neue Situation. Während dieser Markt zuvor durch hohe Marktzugangsbarrieren und Preisbindungen gekennzeichnet war, wurde der durch staatliche Vorschriften unterdrückte Wettbewerb nun freigegeben. Als Folge traten neue Wettbewerber in den Markt ein, was in Kombi-
2.2.1 Revenue Management in der Automobilindustrie
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nation mit dem aufkeimenden Wettbewerb zwischen den bereits am Markt etablierten Unternehmen aufgrund der schnell entstehenden Überkapazitäten zu enormen Preiskämpfen führte. Die US-amerikanische Fluggesellschaft American Airlines war besonders hart von den Veränderungen betroffen und musste daher möglichst schnell ein System entwickeln, das die zwei Zielsetzungen „maximale Kapazitätsauslastung“ und „flexible Preisgestaltung“ vereinte [CoSt98, S.2]. Die dabei angestellten Überlegungen und Ideen mündeten in das Yield Management-Konzept, dem Vorläufer des heutigen Revenue Management-Ansatzes. Revenue Management in der Automobilindustrie: Prüfung der Anwendungsvoraussetzungen Um das Revenue Management-Konzept auf die Automobilindustrie übertragen zu können, muss im Vorfeld geklärt werden, was Gegenstand der Betrachtung ist und wo das Instrument an seine konzeptionellen Grenzen stößt. Betrachtungsgegenstand sind „Build-to-Order-Fahrzeuge“, d. h. Fahrzeuge, die aufgrund eines konkreten und individuellen Kundenauftrages gefertigt werden. Die einem bestimmten Auftrag zugewiesene Kapazitätseinheit bindet für den Produktionsablauf bestimmte Ressourcen (Personal, Betriebsmittel, Werkstoffe etc.). Insofern kann die Nachfrage eines Kunden nach einem Produkt im Rahmen der Build-to-Order-Fertigung auch als Nachfrage nach einem bestimmten Ressourcenbündel verstanden werden [KiMü03, S.10]. Im Wesentlichen müssen sechs Anwendungsbedingungen – die maßgeblich auf die Charakteristik der Kapazität und der Nachfrage abzielen – erfüllt sein, um ein klassisches Revenue Management anwenden zu können [KiKl05, S.5f.]. Im Folgenden wird nun überprüft, ob diese Anwendungsbedingungen bei auftragsorientierten Sachleistungen ebenfalls zutreffen oder in wieweit Anpassungen vorgenommen werden müssen. Mangelnde operative Flexibilität des Kapazitätsangebots
Die Flexibilität von Kapazitäten steht in enger Verbindung mit der Kostenstruktur der Produktion. Revenue Management wird vornehmlich in solchen Branchen eingesetzt, die durch inflexible Kapazitäten geprägt sind. Die grundsätzliche Vorhaltung dieser inflexiblen Kapazitäten ist mit zumeist hohen Fixkosten verbunden [CoSt98, S.9]. In der Automobilindustrie sind zum einen umfangreiche Sachinvestitionen vorzunehmen, zum anderen sind die Strukturen und Prozesse derart komplex und verschachtelt, dass eine schnelle Anpassung der Kapazitäten nicht möglich ist
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[Meyr02, S.6]. Somit scheint dieses Merkmal erfüllt. Allerdings lässt sich eine Eingrenzung vornehmen. Ähnlich wie die Autovermietungen [KiKl 05, S.22] sind auch die Automobilhersteller in der Lage, ihre Kapazitäten innerhalb des Produktionsverbundes zumindest teilweise auf andere Standorte zu verschieben und somit der Nachfrage anzupassen. Dies ist jedoch nur in einem begrenzten Umfang möglich. Verderblichkeit der Kapazitäten / Nicht-Lagerbarkeit
Durch die angesprochene „Build-to-Order-Produktion“ wird deutlich, dass das Fahrzeug nicht für einen anonymen Massenmarkt hergestellt wird, sondern die Leistung analog zu einer Dienstleistung erst aufgrund eines konkreten Auftrages erbracht wird. Die Buchung belegt einen tatsächlichen Platz auf dem Montageband, der bei einer Nichtnutzung verfällt. Somit kann die Bedingung der Nicht-Lagerbarkeit / Verderblichkeit der Kapazität als erfüllt betrachtet werden. Möglichkeit der Marktsegmentierung
Um eine Marktsegmentierung vornehmen zu können, muss ein eindeutig diskriminierendes Merkmal gegeben sein [CoSt98, S.11]. Dieses Merkmal erlaubt es, von verschiedenen Nachfragern mit verschiedenen Präferenzen unterschiedliche Preise zu verlangen. Somit kann ein relativ heterogen erscheinender Gesamtmarkt in homogene Segmente unterteilt werden. Es stellt sich die Frage, ob die Flexibilität hinsichtlich Änderungen der Konfiguration und der Lieferzeit ein solches Kriterium sein kann, das eine Preisprämie begründet. Die Flexibilität erlaubt es dem Nachfrager, seine Bestellung zum einen kurzfristig abzugeben und zum anderen diese Bestellung auch kurzfristig zu verändern (in einem gewissen, festzulegenden Umfang). Neben diesen ersten Überlegungen kann der Automobilmarkt auch schon bisher in zwei wesentliche Teilsegmente unterschieden werden: Build-to-Stock-Fahrzeuge, hinter denen kein konkreter Kundenauftrag steht, und Build-to-Order-Fahrzeuge, die direkt an eine konkrete Kundenbestellung gekoppelt sind. Vorausbuchung der Leistung
Die Vorausbuchung der Leistung ist notwenig, um bereits im Vorfeld der eigentlichen Leistungserstellung die Integration des externen Faktors zu antizipieren. Folglich wird die Inanspruchnahme der Leistung gedanklich vorweg genommen und auf die Stufe der Vorkombination verlagert. Somit wird der externe Faktor für das die Leistung erbringende Unternehmen
2.2.1 Revenue Management in der Automobilindustrie
67
zumindest teilweise disponierbar [CoSt98, S.10f.]. Die Möglichkeit der Vorausbuchung der Leistung ist im Fall der auftragsbezogenen Fertigung klar gegeben, so dass die Anforderung erfüllt ist. Integration eines externen Faktors
Bei der Erbringung einer Dienstleistung muss als ein Kriterium zur Wesensbestimmung von Dienstleistungen ein externer Faktor integriert sein. Dieser externe Faktor kann der Nachfrager selbst, ein Objekt oder ein immaterielles Gut sein, an dem die Dienstleistung erbracht wird [KiMü03, S.6]. Damit kann eine wichtige Parallele zwischen Dienstleistungen und einer auftragsbezogenen Sachgüterproduktion aufgezeigt werden. Es geht nicht um das Angebot zur Erstellung eines konkreten Gutes, sondern um das Angebot zur Bereitschaft bzgl. der Erbringung einer bestimmten Leistung. Im Falle der Build-to-Order-Produktion von Automobilen kann der externe Faktor die Flexibilität sein, die ihm im Zuge der Produktion seines Fahrzeuges eingeräumt wird. Heterogenität des Nachfrageverhaltens
Diese Anwendungsbedingung ist ein zentrales Element im grundsätzlichen Entscheidungsprozess, ob ein Revenue Management-System eingesetzt werden kann oder nicht. Nur wenn das Nachfrageverhalten sehr heterogen, d. h. hohen Schwankungen unterworfen und mit einer sehr hohen Unsicherheit bzgl. des Eintritt der Nachfrage verbunden ist, wird es für die Unternehmung überhaupt interessant, diese Nachfrage zu glätten und gleichzeitig Mehrerlöse zu generieren. Bei gleichen Absatzzeiten würden sich andere Instrumente (z. B. Auktionen) besser zur Umsatzmaximierung eignen [KiKl05, S.9]. Schwankungen in der Nachfrage sind in der Automobilwirtschaft durch vielerlei Ursachen begründet. Neben den Abweichungen zwischen den geplanten Absatzmengen und den real nachgefragten Fahrzeugen einer Modellreihe kommt es auch zu Volumenschwankungen innerhalb der Fahrzeugzyklen. Die Nachfrage nach Fahrzeugen variiert zudem aufgrund natürlicher, marktinduzierter Schwankungen. Fasst man die Einzelergebnisse der Prüfung der Anwendungsvoraussetzungen zusammen, so lässt sich die generelle Frage nach der Möglichkeit zur Übertragung des Revenue Managements auf die Automobilindustrie durchaus bejahen. Im Folgenden werden daher Thesen aufgestellt, die sich im Wesentlichen auf die Kriterien Änderungsflexibilität und Lieferzeit konzentrieren. Nach der Überprüfung dieser Hypothesen im Rahmen einer
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empirischen Untersuchung erfolgt im Anschluss eine kurze Darstellung einer Ideenskizze für ein mögliches Konzept zur gezielten Steuerung von Flexibilität. Revenue Management in der Automobilindustrie: Hypothesenbildung Der anhaltende Trend zum „Build-to-Order“ in der Automobilindustrie weist auf die hohe Bedeutung der kundenindividuellen Automobilproduktion hin [HoPi04, S.11f.]. BMW setzt diese Strategie mit dem „KOVPAnsatz“ (Kundenorientierter Vertriebs und Produktionsprozess) bisher am konsequentesten um. Ein häufig genannter Vorteil dieses Ansatzes ist die hohe Änderungsflexibilität, die dem Kunden aus absatz- und marketingtheoretischen Überlegungen heraus zugestanden wird. So summieren sich allein bei BMW die Änderungswünsche auf über 120.000 Änderungen pro Monat. Diese Änderungen konzentrieren sich auf ca. 50% der Fahrzeugbestellungen, die neben den tatsächlichen Kundenbestellungen auch die Fahrzeuge beinhalten, die „blind“ von einem Händler bestellt und bei Eintreffen einer konkreten Kundenanfrage modifiziert werden [Reit05, S.279ff.]. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die eigentlichen Endkunden einen sehr differenzierten Bedarf an Änderungsflexibilität haben. Ausgehend von diesen Überlegungen lässt sich die erste Hypothese ableiten: H1: Die Kunden unterscheiden sich hinsichtlich ihres Bedarfes an Änderungsflexibilität. Das Automobil besteht durchschnittlich aus 20.000 Teilen. Entsprechend des Angebotes des Herstellers kann der Kunde nun aus verschiedenen Varianten auswählen. Es muss dabei zwischen Premiumherstellern, wie z. B. Mercedes, BMW, Audi oder Jaguar, und Volumenherstellern, wie z. B. Toyota, Volkswagen, Mazda oder Nissan, unterschieden werden. Die Premiumhersteller bieten eine große Anzahl an Konfigurationsmöglichkeiten an, während die Volumenhersteller nur eine begrenzte Auswahl anbieten. So kann der Kunde beispielsweise beim Audi A6 zwischen 18.800 Türverkleidungen wählen. Dieser Variantenwildwuchs wird aber von den Kunden nicht gewünscht bzw. honoriert. Es entstehen beispielsweise 30% der Varianten ohne Kundenwunsch und werden dementsprechend nicht wahrgenommen und bestellt [Schl05, S.38ff.]. Folglich lassen sich schon im Konfigurations-/Bestellprozess die Kunden auf bestimmte Variantenmöglichkeiten eingrenzen. Ändert der Kunde nach seiner Bestellung nochmals die Konfiguration seines Fahrzeugs, ist anzunehmen, dass,
2.2.1 Revenue Management in der Automobilindustrie
69
ähnlich zum Bestellprozess, sich die Änderungen auf bestimmte Varianten/Teile/Module konzentrieren. Das heißt, die Kunden ändern nur bestimmte Teile/Module sehr häufig. Demzufolge wird folgende These formuliert: H2: Die Änderungen durch die Kunden konzentrieren sich auf bestimmte Teile/Module Eine Zielsetzung des KOVP ist eine deutliche Verringerung der Durchlaufzeit. Während BMW die Zielsetzung 8-10 Tage anstrebt, zeigt die internationale Diskussion um das „5-Tage-Auto“ jedoch, wie eine weitere Stufe in der Reduzierung der Prozesszeit aussehen kann. Das „5-TageAuto“ wirft damit eine weitere interessante Forschungsfrage auf. Handelt es sich bei dieser Vision um die Erfüllung von Kundenwünschen oder lediglich um eine Fingerübung besonders enthusiastischer Logistiker? Mit Bretzke weist ein führender Wissenschaftler und zugleich Praktiker im Bereich des SCM auf die Fragwürdigkeit des „5-Tage-Autos“ hin [Bret05]. H3a: Das „5-Tage-Auto“ ist eine Vision, die für den Kunden keinen Mehrwert bietet und daher von ihm abgelehnt wird Die Hypothese H3a lässt sich noch allgemeiner formulieren. Diversen Studien aus den Jahren 1999 und 2001 zufolge ist die Lieferzeit für deutsche Premium-Kunden nicht nur als Differenzierungsmerkmal ungeeignet, sie besitzt auch keine wesentliche Relevanz im Kaufverhalten [Audi06]. Dies führt direkt zu Hypothese H3b: H3b: Die Lieferzeit ist aktuell kein kaufentscheidendes Kriterium für den Kunden. Die Grundidee des Revenue-Management-Ansatzes basiert auf einer Segmentierung der Gesamtkapazität. Eine gegebene Gesamtkapazität wird so in Teilkapazitäten aufgeteilt und hierzu Preisklassen gebildet, dass eine integrierte Preis- und Kapazitätssteuerung erreicht wird. Es wird daher weder Umfang noch Struktur der Nachfrage beeinflusst, sondern lediglich die vorhandene Nachfrage gesteuert [CoGö05, S.32]. Im Bereich der Luftfahrtindustrie wird dies so gelöst, dass sich der Kunde mit der Buchung eines bestimmten Sitzplatzes in einer bestimmten Kategorie zur Abnahme einer im Vorfeld der Leistungserbringung klar definierten Dienstleistung verpflichtet. Aus der Übertragung dieses Ansatzes auf die Kapazitätsbelegung des Montagebandes im Automobilwerk ergibt sich die vierte Hypothese:
70
K.-I. Voigt, M. Saatmann, S. Schorr
H4: Die Kunden akzeptieren eine frühzeitige Verpflichtung zur Fixierung der Fahrzeugkonfiguration. Diese Hypothese wird zudem durch die Überlegung gestützt, dass es sich bei einem neuen PKW um eine verhältnismäßig hohe Investition handelt, der in aller Regel ein längerer Zeitraum der Kaufvorbereitung voransteht. Untersucht man den Kaufprozess der deutschen Automobilkäufer, ist festzustellen, dass sie durchschnittlich 37 Stunden über die Anschaffung eines Fahrzeugs nachdenken [o.V.06a]. Diese Zeit ist aufgrund der großen Anzahl an Modellen und Ausstattungen auch nötig, um eine „optimale“ Entscheidung treffen zu können. Während dieser Zeit, die als Informationsphase bezeichnet wird, nutzen Neuwagenkäufer Gespräche mit dem Händler bzw. Verkäufer als Informationsquelle weit stärker als z. B. Gespräche mit Personen aus dem näheren privaten Umfeld oder andere klassische Informationsquellen wie Testberichte und Prospekte [Diez01, S.69] Nachdem aber die Automobilhersteller den Kunden die Möglichkeit der Konfigurationsänderung einräumen, stellt sich die Frage, ob bei einer solch fundierten Entscheidung überhaupt noch diese Möglichkeit bestehen muss. Das Argument der Hersteller, dass die Kunden bei Vertragsabschluss teilweise noch unentschlossenen sind und folglich, vor allem im Premiumsegment [Audi06; Reit05, S.274], eine Änderungsmöglichkeit fordern, steht dazu im Gegensatz. Aus diesem Spannungsfeld wird die These H5 abgeleitet: H 5: Die Kunden besitzen bei Vertragsabschluss ein sehr genaues Wissen über ihre endgültige Fahrzeugkonfiguration. Untersucht man speziell das Änderungsangebot der deutschen Premiumhersteller, ist bei BMW festzustellen, dass die Kunden bis 4 Tage vor Produktionsbeginn Änderungen durchführen können [Reit05, S.274]. Bei Audi ist aktuell bis 5 Tage vor Beginn Karosseriebau und in Zukunft bis 3 Tage vor Fahrzeugherstellung eine Änderung möglich [Audi06]. Vergleicht man diese Fakten mit der Zeit (37 Stunden), die sich die Kunden mit dem Automobilkauf beschäftigen, stellt sich die Frage, ob sich das Änderungsangebot mit den Bedürfnissen der Kunden deckt. In diesem Zusammenhang wird deshalb folgende These aufgestellt: H6: Das derzeitige Angebot an Änderungsflexibilität übersteigt den Bedarf der Kunden deutlich.
2.2.1 Revenue Management in der Automobilindustrie
71
Revenue Management in der Automobilindustrie: Eine empirische Studie zur Überprüfung der Akzeptanz Ausgehend von diesen Thesen wurde eine empirische Untersuchung durchgeführt. Zu Beginn musste eine geeignete Zielgruppe definiert werden. Ergebnis des Auswahlprozesses war die Fokussierung auf deutsche Automobilkäufer, die sich aktuell im Kaufprozess befinden. Die Eignung dieser Zielgruppe beruht zum einen darauf, dass Personen, die sich gegenwärtig mit der Anschaffung eines Automobils befassen, die Fragen viel besser beantworten können als Personen, die zum gewählten Zeitpunkt keinen Themenbezug herstellen können. Zum anderen ist die Zielgruppe geeignet, weil der deutsche Markt in Bezug auf die kundenorientierte Produktion sehr hohe Anforderungen stellt und dabei eine Vorreiterrolle einnimmt. Folglich ist der deutsche Markt eine geeignete Basis für eine empirische Untersuchung zum Thema. Hinzu kommt, dass der sehr große deutsche Automobilmarkt mit den restlichen europäischen Märkten vergleichbar ist und somit die Ergebnisse auf andere Märkte grundsätzlich übertragen werden können. Eine Ausnahme bildet lediglich der britische Markt, der wiederum Ähnlichkeiten zum amerikanischen Markt aufweist [HoPi04, S.12f.]. Hier wollen die Kunden ihr Fahrzeug unmittelbar nach Bestellung „mitnehmen“ und demzufolge ist dort die Build-to-OrderStrategie wenig populär. Für diese Märkte sind die Ergebnisse folglich nicht übertragbar. Die Entwicklung des Fragebogens wurde nach den vorgestellten Anforderungen durchgeführt. Insgesamt wurden 26 Fragen zum Themengebiet „Autokauf“ und sieben Fragen zu soziodemographischen Daten formuliert, die den Probanden gestellt wurden. Nach mehreren Korrekturschleifen im Rahmen des Pre-Tests wurde die Erhebung im Januar 2006 gestartet. Die operative Durchführung der Umfrage wurde in Zusammenarbeit mit dem Marktforschungsunternehmen „Puls –The Navigation Company“ durchgeführt. Insgesamt lud das auf Automobilmarktforschung spezialisierte Unternehmen 2.974 deutsche Automobilkäufer zur Umfrage ein. Es beteiligten sich 816 Probanden, was einer Rücklaufquote von 27% entspricht. 803 verwertbare Fragebögen konnten letztlich mithilfe der SPSS-Software analysiert werden. Beschreibung der Stichprobenstruktur In Tabelle 1 wird die Stichprobenstruktur anhand der soziodemographischen Daten der Befragten beschrieben.
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K.-I. Voigt, M. Saatmann, S. Schorr Ausprägung
Variable Geschlecht
Alter
Familienstand
Einkommen
Männlich Weiblich
Prozent 90,0 10,0
18 bis 30 Jahre 30 bis 40 Jahre 40 bis 50 Jahre 50 bis 60 Jahre 60 bis 70 Jahre 70 bis 80 Jahre
20,0 26,4 26,7 19,2 4,9 0,7
Keine Angabe Ledig Verheiratet / Lebensgemeinschaft Geschieden / Getrennt lebend Verwitwet Keine Angabe Bis unter 500 € 500 bis unter 1.000 € 1.000 bis unter 1.500 € 1.500 bis unter 2.000 € 2.000 bis unter 2.500 € 2.500 bis unter 3.000 € 3.000 bis unter 3.500 € 3.500 € und mehr Keine Angabe
2,1 22,9 69,4 5,2 1,0 1,5 2,0 3,2 6,5 10,7 13,0 12,3 9,8 27,0 15,4
Tabelle 1: Soziodemographische Daten der Befragung
Es fällt auf, dass die männlichen Befragten überrepräsentiert sind. Da aber im Bereich der Anschaffungsplanung auch andere Studien zum Ergebnis kommen, dass dieser Prozess von überwiegend männlichen Personen durchgeführt wird, ist dies nicht als Nachteil zu sehen. [o.V.04] Auch sind in der Stichprobe die besser Verdienenden überrepräsentiert. Dieser Personenkreis ist aber gerade für die Premiumhersteller, die aktuell die Build-toOrder-Strategie am konsequentesten umsetzen, von hoher Relevanz. Somit können besser Rückschlüsse gezogen werden, ob diese Strategie von dieser Gruppe überhaupt erwünscht wird. Wichtig ist noch die Unterscheidung der Befragten hinsichtlich des Stadiums im Kaufprozess. Dazu konnte die Stichprobe in zwei Gruppen aufgeteilt werden. Personen, die die Anschaffung eines Neufahrzeugs planen, und Personen, die vor kurzem einen Neuwagen gekauft haben. Die statistische Auswertung ergab, dass 36,7% der Probanden vor kurzem ein Neufahrzeug kauften und 63,3% die Anschaffung eines Neufahrzeugs planen. Ein ebenso wichtiges Unterscheidungskriterium der Befragten ist die Herstellermarke. Insgesamt inte-
2.2.1 Revenue Management in der Automobilindustrie
73
ressierten sich die Personen für 41 Marken. Die Aufteilung der Markeninteressen sind in Abbildung 1 dargestellt. 18,1%
Andere
2,5% 2,6% 2,9% 2,9% 2,9% 2,9% 3,5% 3,7%
VOLVO PEUGEOT CHRYSLER HYUNDAI
Marke:
SKODA HONDA RENAULT CITROEN
5,2% 5,2%
FORD TOYOTA
7,8% 8,5% 9,5% 10,0%
OPEL AUDI MERCEDES-BENZ BMW
12,0%
VW
0
5
10
15
20
Prozent
Abbildung 1: Verteilung der Marken in der Stichprobe
Dieses Ergebnis repräsentiert gut den aktuellen Status der Grundgesamtheit (deutscher Automobilmarkt), da sich die Markenanteile real ähnlich verteilen [o.V.06b]. In Bezug auf die Preisklasse des Neufahrzeugs, für welches sich die Personen interessieren bzw. interessierten, fällt auf, dass ein großer Anteil der Befragten auf hochpreisige Fahrzeuge entfällt. Dies bestätigt das Ergebnis des soziodemographischen Faktors „Einkommen“ und ist aus genannten Gründen der besonderen Relevanz nicht als Nachteil zu sehen. In Abbildung 2 ist Verteilung nach „Preisklasse des Neufahrzeugs“ dargestellt.
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K.-I. Voigt, M. Saatmann, S. Schorr
11,1%
Bis 15.000 Euro
16,3%
15.000 – unter 20.000 Euro
15,6%
Preisklasse
20.000 – unter 25.000 Euro
16,8%
25.000 – unter 30.000 Euro
9,7%
30.000 – unter 35.000 Euro
14,3%
35.000 – unter 45.000 Euro
7,6%
45.000 – unter 55.000 Euro
4,0%
55.000 – unter 65.000 Euro
1,7%
65.000 – unter 75.000 Euro
2,4%
Mehr als 75.000 Euro
0
5
10
15
20
Prozent
Abbildung 2: Verteilung der Kunden nach Preis des Neufahrzeugs in der Stichprobe
Ergebnisse der Untersuchung Die Hypothese H1 lautet: Die Kunden unterscheiden sich hinsichtlich ihres Bedarfes an Änderungsflexibilität. Um diese Hypothese prüfen zu können, müssen die Kunden anhand von Kriterien segmentiert werden. Da die Herstellermarke ein wesentlicher Einflussfaktor im Kaufprozess eines Automobils ist, ist eine Unterscheidung mithilfe dieses Kriteriums sinnvoll [Kude05, S.91]. Eine Schwäche liegt jedoch darin begründet, dass bei den 41 erfassten Herstellermarken auf bestimmte Marken teilweise nur wenige Nennungen (N<3) fallen. Damit ist eine fundierte Aussage schwierig. Diese Schwäche wird überwunden, indem man die Marken zu Gruppen zusammenfasst. Aggregiert man die verschiedenen Herstellermarken in die Oberkategorien „Premium“, „Volumen“ und „Budget“, erhält man markante Segmente. Die Zusammenfassung der Marken lehnt sich dabei an die Imagepositionierung der Automobilmarken in Europa an [Beck05, S.30f.]. Die Marken, für die das Image und die produktorientierte emotionale Ansprache entscheidend sind, sind dem Premiumsegment zuzuordnen. Marken, die sich hoch rational, humanorientiert sowie leicht preisorientiert positionieren, spiegeln das Segment Volumenhersteller wieder. Das letzte Segment „Budget“ versucht sich ausschließlich über einen günstigen Preis zu differenzieren. Mit dieser Segmentierung kann demzufolge eine noch bessere Unterscheidung als
2.2.1 Revenue Management in der Automobilindustrie
75
anhand der Herstellermarken erzielt werden. Hintergrund ist, dass gerade die Premiumhersteller den Kunden eine hohe Änderungsflexibilität zugestehen und daher die Vermutung nahe liegt, dass sich diese Kundengruppe auch mehr Änderungsflexibilität wünscht [Audi06]. Die allgemeine Auswertung der Frage „Wie wichtig ist es Ihnen, bestimmte Ausstattungen nach Abschluss des Kaufvertrages noch ändern zu können?“ zeigt folgendes Ergebnis: Für 12% der Befragten ist die Möglichkeit sehr wichtig, für 29,7% wichtig, während der größte Anteil, d.h. 45,6% die Möglichkeit als weniger wichtig und 12,7 % sie sogar für unwichtig halten. Somit kann festgestellt werden, dass für die Mehrheit der Probanden eine Änderungsflexibilität weniger relevant ist. Untersucht man die Befragten anhand der Kriterien „Herstellermarke“ und „Markensegment“, lassen sich signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen feststellen. Dazu wurde der einfaktorielle ANOVA-Mittelwerttest ausgewählt, da diese Prozedur eine einfaktorielle Varianzanalyse für eine quantitative abhängige Variable (Wichtigkeit Änderungen nach Kaufabschluss) mit einer einzelnen (unabhängigen) Faktorvariablen (Marktsegmente) durchführt. Mithilfe dieser Analyse ist es folglich möglich, die Hypothese zu testen. Das Ergebnis des Tests ist in Tabelle 2 dargestellt. Wichtigkeit Änderungen nach Kaufabschluss
Zwischen den Gruppen Innerhalb der Gruppen Gesamt
Quadratsumme
df
Mittel der Quadrate
F
Signifikanz
9,445
2
4,722
6,469
0,002
576,714
790
0,730
586,159
792
Tabelle 2: ANOVA-Test – Markensegmente – Wichtigkeit der Änderungsflexibilität
Es zeigt sich, dass zwischen den Gruppen ein signifikanter Unterschied vorliegt. Mithilfe eines Post-Hoc-Spannweiten-Tests und paarweisen multiplen Vergleichen kann man untersuchen, welche Mittelwerte sich unterscheiden. Konkret bedeutet dies, dass für Käufer einer Premiummarke die Änderungsflexibilität wichtiger ist als für Kunden von Volumen-/Budget– Fahrzeugen (siehe Tabelle 3). Aufgrund der vorgestellten Ergebnisse kann die Hypothese „die Kunden unterscheiden sich hinsichtlich der Änderungsflexibilität“ unterstützt werden. Dieses Ergebnis gibt folglich Hinweise darauf, dass eine Differenzierung der Änderungsflexibilität anhand der verschiedenen Kundengruppen nötig ist.
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K.-I. Voigt, M. Saatmann, S. Schorr
Untergruppe für Alpha = .05 Markensegmente Premiummarke Low Cost/Budget Marke Volumenmarke
N
1
276
2,44
2
81
2,65
436
2,67
Tabelle 3: Turkey-B-Test: Wichtigkeit der Änderungsflexibilität nach Markensegmenten
Die Hypothese 2 lautet: Die Änderungen durch die Kunden konzentrieren sich auf bestimmte Teile/Module. Zu Überprüfung dieser Hypothese werden die Kunden aus der Gesamtheit herausgefiltert, die sich kürzlich einen Neuwagen gekauft hatten. Nur diese Gruppe wurde daraufhin untersucht, welche Änderungen sie nach Abschluss des Kaufvertrages an der Konfiguration vornahmen. Aufgrund der Vielfalt der Möglichkeiten, die von den Kunden geändert werden können, kann keine vollständige Abfrage durchgeführt werden. Beispielsweise kann der Kunde bei der Mercedes C-Klasse zwischen 80 verschiedenen Sonderausstattungen wählen, welche im Rahmen einer vollständigen Erhebung abgefragt werden müssten [Putz02]. Da ein zu langer Fragebogen aber die Bereitschaft zur Teilnahme erheblich gesenkt hätte, wurden acht Kategorien für die Ausstattungsvarianten geschaffen. Folgende Einteilung wurde dabei vorgenommen: Innenausstattung (z. B. Sitzbezüge, Verkleidung der Armaturen), Innenausstattung elektrische Geräte (z. B. Navigationsgerät), Außenfarbe/Lackierung, Motorisierungsstärke, Modellvariante, Art der Motorisierung, Außenausstattung (z. B. Felgen) und Außenausstattung elektrische Geräte (z. B. Xenonscheinwerfer). Die acht Kategorien entstanden aus den Überlegungen, dass zwischen grundlegenden Änderungen (z. B. Modellvariante, Stärke und Art der Motorisierung) und spezielleren Änderungen im Innen- und Außenbereich unterschieden werden muss. Da der Anteil der elektrischen Bauteile in den Fahrzeugen immer weiter steigt und einen großen Einfluss auf die Fahrzeugproduktion ausübt, wurde dieser Tatsache ebenfalls Beachtung geschenkt. Die ausgewählten Neuwagenkäufer wurden in diesem Kontext befragt, in welcher Kategorie bzw. in welchen Kategorien sie Änderungen nach Abschluss des Kaufvertrages vornahmen. Von den 295 Neuwagenkäufern veränderten 38 tatsächlich ihr Fahrzeug. In Tabelle 4 sind die Nennungen auf die Kategorien dargestellt.
2.2.1 Revenue Management in der Automobilindustrie Ausstattungskategorien Innenausstattung (z. B. Sitzbezüge, Armaturenverkleidung) Innenausstattung elektrische Geräte (z. B. Navigationsgerät etc) Außenfarbe / Lackierung Motorisierungsstärke (kW bzw. PS) Modellvariante (z. B. Viertürer, Kombi etc.) Art der Motorisierung (z. B. Benziner, Diesel etc.) Außenausstattung (z. B. Felgen etc.) Außenausstattung elektrische Geräte (z. B. Xenonscheinwerfer etc.)
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Nennungen 14 12 5 4 1 2 7 5
Tabelle 4: Geänderte Ausstattungskategorien nach Abschluss Kaufvertrag (Mehrfachantworten zulässig)
Sehr häufig wurde die Innenausstattung, seltener die Modellvariante oder die Art der Motorisierung von den Befragten verändert. Analysiert man die Mittelwerte der einzelnen Ausstattungskategorien paarweise, lassen sich signifikante Unterschiede zwischen den Kategorien Innenausstattung, Innenausstattung elektrisch, Außenfarbe, Außenausstattung und Außenausstattung elektrisch und den restlichen Kategorien ableiten. Das Ergebnis zeigt, dass sich die Mittelwerte der einzelnen Kategorien signifikant unterscheiden und deshalb die Hypothese anzunehmen ist. Als Zwischenergebnis kann nach den ersten zwei Ergebnissen festgehalten werden, dass sich die Änderungen auf bestimmte Kundengruppen und bestimmte Ausstattungskategorien konzentrieren. Die Hypothese H3a lautet: Das „5-Tage-Auto“ ist eine Vision, die für den Kunden keinen Mehrwert bietet und daher von ihm abgelehnt wird. Die Probanden sollten in diesem Zusammenhang in einer offenen Frage den idealen Zeitraum zwischen der Bestellung und der Auslieferung angeben. Zu dieser Frage antworteten 790 Personen, die im Mittel den Zeitraum auf 45,6 Tage als ideal bezifferten. Der Anteil der Befragten, die einen Zeitraum kleiner/gleich fünf Tagen als ideal erachteten, beträgt lediglich 0,8 %. Dadurch wird deutlich, dass das von der Industrie formulierte Ziel des „5-Tage-Auto“ eine „Vision“ ist, die aktuell nicht vom Kunden gewünscht wird. Vielmehr wird deutlich, dass im deutschen Automobilmarkt eine so kurze Lieferzeit2 nur von einer sehr kleinen Käufergruppe gewünscht wird. Selbst das zwischenzeitlich formulierte Ziel „10Tage-Auto“ wird nur von 4,7% aller Befragten als ideal erachtet und un2
Bei dem Konzept des „5-Tage-Autos“ muss per Definition die gesamte Prozesszeit mit der Lieferzeit gleichgesetzt werden.
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K.-I. Voigt, M. Saatmann, S. Schorr
terstützt nochmals das Ergebnis, dass die kurze Lieferzeit nur von wenigen Personen gefordert wird. Die ebenfalls zu diesem Themengebiet gehörige Hypothese H3b: Die Lieferzeit ist aktuell kein Kauf entscheidendes Kriterium für den Kunden zielt ebenso auf den Kontext Angebot - Lieferzeit ab. Eine Überprüfung der Hypothese erfolgt im Rahmen der Frage „Wie stark beeinflusst das Angebot einer ihrer Vorstellung möglichst passgenau entsprechenden Lieferzeit Ihre Kaufentscheidung?“. 13,5 % der insgesamt 798 antwortenden Personen beeinflusst das Verhältnis zwischen Angebot und entsprechender Lieferzeit sehr stark, 39,7 % stark, 37,5 % weniger stark und 9,3% gar nicht. Die deskriptive Statistik veranschaulicht, dass die Lieferzeit durchaus ein kaufentscheidendes Kriterium sein kann. Denn für die Mehrheit der Probanden (53,3 %) trifft ein starker bzw. sehr starker Einfluss zu. Für eine differenzierte Aussage, für welche Personen die Lieferzeit entscheidend ist, kann mithilfe des ChiQuadrat-Test (2,87, p=0,09) ein möglicher Zusammenhang zwischen der Nutzung des Automobils (privat/geschäftlich) und der untersuchten Variable hergestellt werden. Eine Beziehung zwischen der Herstellermarke und den Markensegmenten ist hingegen wie bei den vorherigen Hypothesen weniger festzustellen. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die Hypothese verworfen werden muss. Für ausgewählte Kunden ist die Lieferzeit durchaus sehr wichtig und damit kaufentscheidend. Aus diesem Ergebnis abzuleiten, dass vor allem für Kunden von geschäftlich genutzten Fahrzeugen die Lieferzeit kaufentscheidend ist, ist aufgrund von weiteren Einflussgrößen (z. B. Finanzierungsangebot, Nutzungsdauer), die nicht im Rahmen dieser Studie erhoben wurden, jedoch nicht zulässig. Die Hypothese H4 lautet: Die Kunden akzeptieren eine frühzeitige Verpflichtung zur Fixierung der Fahrzeugkonfiguration. Diese Hypothese beinhaltet zwei Aspekte: zum einen eine frühzeitige Verpflichtung zur Konfigurationswahl und zum anderen eine Fixierung der Konfiguration. Daher wird die Prüfung der Hypothese zweigeteilt. Die ideale Lieferzeit wird im Mittel mit 45,6 Tagen angesehen (siehe Hypothese 3a). Die Probanden wurden gefragt, ob sie eine noch längere Lieferzeit akzeptieren würden. Dazu wurden – analog zum Frühbucherrabatt der Tourismusbranche – die (potenziellen) Käufer befragt, welche Lieferzeit kombiniert mit einem finanziellen Rabatt für sie akzeptabel ist. Ergebnis der 803 Antworten ist, dass für nur 13,4% eine zusätzliche Wartezeit nicht akzeptabel ist. Für die restlichen Befragten erhöht sich die maximal akzeptable Lieferzeit im Mittel auf 91,3 Tage. Dies entspricht einer Steigerung um fast genau 100%. Für diese zusätzliche Wartezeit fordern
2.2.1 Revenue Management in der Automobilindustrie
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sie allerdings im Durchschnitt einen Rabatt von 12,7% des Kaufpreises. Dabei besteht eine geringe Korrelation (R= 0,34, p= 0,00) zwischen dem geforderten Rabatt und der maximal akzeptablen Lieferzeit. Das heißt, die Kunden, die nur eine geringere Verlängerung der Lieferzeit akzeptieren, fordern auch einen geringeren Rabatt. Der erste Teil der Hypothese kann somit angenommen werden. Die Mehrheit der Befragten akzeptiert eine längere Lieferzeit – allerdings kombiniert mit einem monetären Rabatt. Ob die Probanden auch auf eine Änderungsflexibilität verzichten, ist der zweite Teil der Hypothesenprüfung. Zu diesem Aspekt (n= 803) antworteten 12,6%, dass sie auf die Änderungsflexibilität überhaupt nicht verzichten würden. Für 41,4% wäre ein Verzicht ohne Gegenleistung hingegen akzeptabel. 46,0% der Befragten würden auf Änderungsflexibilität verzichten, wenn ihnen im Durchschnitt ein Rabatt von 10,6% des Kaufpreises eingeräumt würde. Folglich ergeben sich drei Gruppen. Für die kleinste Gruppe (12,6%) muss die Änderungsflexibilität angeboten werden. Der zweitgrößten Gruppe (41,4%) muss keine Änderungsflexibilität angeboten werden, da sie nicht verlangt wird. Bei der größten Gruppe (46,0%) muss eventuell fallweise entschieden werden, ob die Hersteller den Kunden die Änderungsflexibilität in Form des Rabattes abkaufen oder nicht. Eine Fixierung der Konfiguration ist demnach für 87,4% der Befragten akzeptabel. Die Hypothese wird somit unterstützt. Noch offen ist im diesen Zusammenhang die Bestimmung des optimalen Verhältnisses „maximale Lieferzeit/Rabatt“, eine detaillierte Beschreibung des Personenclusters, die die Hypothese ablehnen, sowie die Frage, wann ein OEM den Kunden die Änderungsflexibilität abkaufen soll. Dies ist jedoch Aufgabe der zukünftigen Forschungsarbeit. Die Hypothese H5 lautet: Die Kunden wissen bei Vertragsabschluss sehr genau über ihre endgültige Fahrzeugkonfiguration Bescheid. Wie schon bei der Hypothesenformulierung erwähnt, investiert der deutsche Automobilkäufer über 37 Stunden in den Entscheidungsprozess „Automobilkauf“. Doch wie wird diese Zeit von den Kunden genutzt? Die Probanden wurden dazu befragt, wie sie ihren Informationsstand bezüglich der Ausstattungs- / Konfigurationsvarianten des potenziellen/gekauften Fahrzeugs einschätzen. 50,8% bezeichnen ihren Informationsstand als sehr gut, 40,9% als gut, 6,5% als weniger gut und 1,7% sind gar nicht informiert (n= 803). Das heißt, 91,7% haben ein gutes bzw. sehr gutes Wissen über ihre jeweilige Konfiguration. Unterschiede zwischen Gruppen (z. B. Marke, Markensegment, Nutzung) können nicht festgestellt werden. Die These, dass die Kunden – bedingt durch einen schlechten Informationsstand – eine Änderungsmöglichkeit wollen, ist aufgrund dieses Ergebnisses nicht zu unterstützen. Ein Argument, dass die Kunden erst sehr kurz-
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fristig vor Fahrzeugauslieferung über die konkrete Konfiguration Bescheid wissen, würde aber dieses erste Zwischenergebnis wieder verwerfen. Daher wurden die Personen befragt, zu welchem Zeitpunkt sie tatsächlich das Wissen über die Konfiguration erwartungsgemäß haben bzw. hatten. Es zeigt sich, dass 93,1% der Befragten bei Vertragsabschluss über ihre Konfiguration bereits entschieden haben. Die restlichen 7,8% sind als unschlüssig zu bezeichnen, wobei der Anteil (1,2%) derer, die erst sehr kurzfristig über die Konfiguration Bescheid wissen, sehr klein ist. Ein Unterschied zwischen potenziellen und tatsächlichen Käufern kann bei dieser Variable nicht festgestellt werden. Es ist also festzustellen, dass die Käufer sehr gut informiert sind und sich sehr frühzeitig bzgl. der Konfiguration entscheiden. Die Hypothese kann somit unterstützt werden. Die Hypothese H6: Das derzeitige Angebot an Änderungsflexibilität übersteigt den Bedarf der Kunden deutlich, wird anhand der tatsächlichen Nutzung des Angebots untersucht. Die Automobilhersteller bieten allen Kunden die Möglichkeit, ihre Fahrzeugkonfiguration bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (kurz vor Produktionsbeginn) zu ändern. Das heißt, 100% aller Kunden können Änderungen (unter Berücksichtigung bestimmter Restriktionen) vornehmen. Vergleicht man dies mit dem Anteil der Kunden, die tatsächlich eine Änderung durchgeführt haben, muss man feststellen, dass im Rahmen der Studie nur 12,9% aller Befragten (n= 38), die einen Neuwagen kauften, diese Option tatsächlich wahrnahmen. Somit besteht ein deutliches Überangebot an Änderungsflexibilität. Hinzu kommt, dass dieses Änderungsangebot nicht nur von den Käufern der Premiummarken (63,1%), sondern auch von Käufern von Volumenmarken (31,6%) genutzt wird. Folglich müssen Volumenmarken ebenso eine gewisse Änderungsflexibilität vorhalten, obwohl die Käufer im Vorfeld diese Möglichkeit als nicht so wichtig einschätzen. Die geringe Fallzahl (n=38) muss bei diesen Ergebnissen jedoch beachtet werden. Um eine noch bessere Aussage hinsichtlich tatsächlicher Änderungen, müssten weitere Änderungsprozesse dokumentiert werden. Es zeigt sich, dass die Kunden der Automobilindustrie einen sehr differenzierten Bedarf an Änderungsflexibilität haben. So werden vor allem die Hypothesen, die direkt auf die Änderungsflexibilität abzielen (H1, H2, H5 und H6) bestätigt. Die übrigen Hypothesen, die über die Lieferzeit an die Thematik gekoppelt sind, werden zumindest weitestgehend bestätigt. Die zu Beginn formulierte Leitthese, dass durch die Steuerung der Nachfrage im Kontext einer Build-to-Order-Strategie unnötige Flexibilitätskosten vermieden werden könne, erhält somit neuen Auftrieb.
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Senkung des Planungsaufwandes und Verwendung effizienter Produktionskonzepte: Auswirkungen auf die Supply Chain Der FMNA-Ansatz: Eine Ideenskizze Es stellt sich nun die Frage, wie ein Prozess strukturiert sein muss, der jedem Kunden ein adäquates Maß an Änderungsflexibilität bietet, um auf der einen Seite die Flexibilitätskosten zu optimieren und auf der anderen Seite den Wünschen der Kunden gerecht zu werden. Mit dem FMNA-Ansatz3 gelingt es, eine Lösung für genau diese Problemstellung anzubieten. Sowohl die kundenorientierte Sichtweise (KOVP) als auch eine hohe Datenqualität (hinsichtlich Zuverlässigkeit und zeitlichem Vorlauf in der Supply Chain) und somit stabile und kostengünstige Prozessgestaltungsmöglichkeiten werden in diesem Ansatz vereint. Kernelement des FMNA-Ansatzes, der sich konzeptionell sehr stark an den Aufbau und die Funktionsweise eines Revenue Management-Systems anlehnt, ist die Segmentierung der Kunden nach unterschiedlichen Lieferzeiten und Flexibilitätspräferenzen bzgl. eines ansonsten identischen Produkts. In Kombination mit der daraus resultierenden unterschiedlichen Zahlungsbereitschaft erfolgt eine Differenzierung der aktuell noch einheitlich behandelten Build-to-Order-Aufträge. Abbildung 4 verdeutlicht die Aufteilung der einzelnen Kundensegmente auf die Fertigungskapazitäten des OEM.
Abbildung 4: Beispielhafte Belegung der Fertigungskapazitäten im Zeitablauf
Grundsätzlich werden die Kunden in drei Gruppen segmentiert:
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• Kundentyp 1: Diese Kunden verlangen eine hohe Änderungsflexibilität und tendenziell kürzere Lieferzeiten und sind zudem wenig preissensitiv („Flex“). • Kundentyp 2: Kunden dieser Gruppe sind preissensitiver. Deshalb akzeptieren Sie gegen einen gewissen Rabatt eine bestimmte Lieferzeit und damit einen bestimmten Liefertermin, der vom OEM vorgegeben wird. Zudem beinhaltet der Rabatt einen Verzicht auf Änderungen („Revenue“). • Kundentyp 3: Dieser Kundentyp legt keinen Wert auf Änderungsflexibilität und kurze Lieferzeiten („Fix“).
Effekte beim OEM
Durch den langen Planungshorizont der Typ 3 Kunden kann der OEM eine gewisse, relativ gleichmäßige Grundauslastung seiner Kapazitäten erreichen. Das heißt, der OEM bestimmt den Produktionszeitpunkt des Typ 3 Fahrzeugs nach seinen Präferenzen. Je nach Höhe der Auslastung in den jeweiligen Zeithaushalten werden Kunden des Typs 2 beim Verkaufsgespräch unterschiedliche Liefertermine angeboten, die mit unterschiedlichen Preisen hinterlegt sind. Die Höhe der Rabatte oder Zuschläge richten sich dabei nach dem Haushalt, in dem der OEM das Fahrzeug idealerweise eintakten würde. Ist beispielsweise in der KW5 eine geringere Grundauslastung zu verzeichnen, kann er über die Typ 2 Kunden diese Kapazitäten entsprechend günstiger anbieten, während Kapazitäten in der KW6 aufgrund der höheren Grundauslastung wieder teurer wären. Zusammen sollten diese beiden Kundengruppen ca. 85% der Gesamtkapazität ausfüllen. Die übrigen 15% werden dann den Kunden angeboten, die ihre Fahrzeuge kurzfristig geliefert haben wollen. Sollte die Nachfrage von Typ 1 Kunden in der geforderten KW besonders hoch sein, können im Gegenzug eingeplante Typ 3 Fahrzeuge verschoben werden (Voraussetzung ist, dass das Fahrzeug nicht kurz vor geplanter Auslieferung produziert wird). Damit kann der OEM seine Gesamtauslastung hinsichtlich Volumenschwankungen ausgleichen. Effekte beim Zulieferer
Will man die möglichen Effekte beim Zulieferunternehmen analysieren muss unterschieden werden, ob Teile zugeliefert werden, die variantenbildend sind, oder ob es sich um Losgrößenteile handelt, die in jedem Fahrzeug Verwendung finden. Durch die bei den Kundentypen 2 und 3 relativ langen Lieferzeiten und verlässlichen Fahrzeugkonfigurationen können die
2.2.1 Revenue Management in der Automobilindustrie
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OEM die entsprechenden Lieferabrufe bereits sehr früh in die Supply Chain einspeisen. Damit steigt der Planungshorizont der Zulieferer, was durch die mögliche Entkoppelung von den Lieferabrufen der OEM eine Optimierung der eigenen Produktion zulässt. Diese Optimierung kann zudem neben der besseren Planung der benötigten Ressourcen auch eine Glättung der Produktion umfassen. Besonders Zulieferer, die Teile liefern, die zur Bildung einer Variante beitragen oder stark von Änderungen der Endkunden (siehe Tabelle 4) betroffen sind, haben neben den Volumenschwankung des Fahrzeugsmodells auch noch mit einer Nachfrageschwankung nach der Variante zu kämpfen. Durch die langfristige Bereitstellung der realen zukünftigen Lieferabrufe können die betroffenen Unternehmen die Schwankungen besser antizipieren, indem sie über einen längeren Zeitraum eine Glättung der eigenen Produktion anstreben. Diese schlägt sich zudem in einer optimierten Bedarfsplanung wieder, die zudem ebenfalls sehr frühzeitig an die vorgelagerte Wertschöpfungsstufe weitergegeben werden kann. Damit sind die eben genannten positiven Effekte in der Planung und operativen Leistungserstellung im Grunde über die gesamte Supply Chain hinweg realisierbar. Anforderungen an und Auswirkungen auf die Nachfrage Nachfrageseitig ist ein besonderes Augenmerk auf die Frage zu legen, wie ein Preismodell aussehen muss, damit es als Gegenstück zu den Produktionsabläufen funktioniert. Die Kosten, die aus der Flexibilität entstehen, werden durch die Preisprämie, die der Kunde mit dem Wunsch nach Änderungsflexibilität zu zahlen hat, gedeckt. Der FMNA-Ansatz erlaubt somit die Verbindung einer hohen Variantenvielfalt mit einer zeitgleichen Komplexitätsreduzierung. Die Sicherstellung einer hohen Prozessstabilität erfolgt im Gegensatz zu den Konzepten asiatischer OEM nicht über die Reduzierung der Varianten, sondern über die zeitliche Dimension. Der FMNA-Ansatz erlaubt den OEM zudem, noch individueller auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Kunden einzugehen, indem jeder Kunde zwischen einer langfristigen und verbindlichen Bestellvariante und einer kurzfristig, flexibel gehaltenen Variante entscheiden kann. Ein berechtigter Kritikpunkt an dem aufgezeigten Modell ist, dass Kunden unter Umständen auf eine Umkonfiguration verzichten, was dem Ziel der Umsatzmaximierung entgegenspricht. Dieser Aspekt ist jedoch etwas differenzierter zu betrachten: Sollte sich ein Kunde der Kategorie 2 oder 3 dennoch zu einer Änderung entschließen, so müsste anhand von (vorher festgelegten) Entscheidungskriterien geprüft werden, welche Änderungsgebühr für die Änderung anfällt bzw. ob die Wertigkeit der
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Umkonfiguration bzw. der entstehende Aufwand zu einem Erlass oder einer Minderung der Änderungsgebühr befähigt. Besonders im Fahrzeugsegment der Luxusklasse erwarten die Kunden eine uneingeschränkte Änderungsflexibilität. Somit bietet sich der FMNA-Ansatz besonders für Fahrzeuge bis zur Mittelklasse an, denn dort treffen hohe Volumina auf unzählige Varianten und somit auf ein enormes Potenzial zur Reduzierung von Komplexität durch den gezielten Abbau nicht benötigter Flexibilität und damit letztlich von Kosten.
Fazit Insgesamt lässt sich feststellen, dass ein unreflektierter Wechsel der klassischen Build-to-Stock-Strategie zu einer Build-to-Order-Strategie diverse Nachteile mit sich bringt. Auf der einen Seite steigen die Flexibilitätskosten durch die Schaffung der Änderungsflexibilität enorm an. Auf der anderen Seite findet keinerlei Kontrolle statt, welches Maß an Änderungsflexibilität vom Kunden tatsächlich wahrgenommen und gewünscht. Es ist daher nötig, eine Steuerungs- und Kontrollfunktion zu integrieren. Der vorgestellte FMNA-Ansatz soll genau diese Aufgaben erfüllen. Der diskutierte Ansatz sowie das zugrunde liegende Datenmaterial unterliegen jedoch einigen Restriktionen. Die Befragung wurde ausschließlich auf dem deutschen PKW-Markt durchgeführt. Somit gelten die getroffenen Aussagen vorrangig für Märkte, die durch ein ähnliches Käuferverhalten gekennzeichnet sind. Eine zweite Einschränkung ist in den unterschiedlichen Fahrzeugklassen zu sehen. Während in der unteren bis oberen Mittelklasse eine reduzierte Änderungsflexibilität akzeptiert wird, wird in der Ober- und Luxusklasse eine uneingeschränkte Änderungsflexibilität erwartet. Die OEM müssen daher sehr genau unterscheiden, für welche Modellreihen dieser Ansatz Anwendung finden kann. Die gesamte Diskussion zeigt jedoch, dass eine sinnvoll umgesetzte Build-to-Order-Strategie helfen kann, die Effizienz zu steigern und gleichzeitig den Kundennutzen zu erhöhen. Damit wird offensichtlich, dass Revenue Management und vergleichbare Konzepte einen wirkungsvollen Koordinationsmechanismus zwischen Logistik/Produktion und Marketing/Vertrieb darstellen. Zukünftiger Forschungsbedarf ist vor allem in der Frage zu sehen, wie eine Steuerungs- und Kontrollfunktion genau gestaltet sein muss, um unerwünschte Effekte und Rückkopplungen im Bestellverhalten der Kunden zu unterbinden. So bietet sich eine erhöhte Änderungsflexibilität bis kurz vor der eigentliche Produktion auch dafür an, die Kunden über Marketing-
2.2.1 Revenue Management in der Automobilindustrie
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aktivitäten dazu zu bewegen, im Zeitraum zwischen Kauf und Fertigung des Fahrzeugs weitere Sonderausstattungen zu bestellen und so das Auftragsvolumen zu erhöhen. Damit kommt es unter Umständen wieder zu einem Interessenkonflikt zwischen Logistik/Produktion und Marketing/Vertrieb. Insgesamt gesehen zeigt sich jedoch, dass durch die Implementierung eines Revenue Management-Ansatzes in der automobilen Supply Chain die Chance besteht, diese in Teilen zu stabilisieren. Dies ist bei den steigenden Anforderungen an die Supply Chain auch notwendig, um das hochkomplexe Konstrukt „automobiles Wertschöpfungsnetzwerk“ weiterhin steuerbar gestalten zu können.
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2.2.2 Logistics Conjoint Measurement – Ansatz zur Bewertung des logistischen Kundennutzens
P. Wahl, B. Boeck Die Kundenzufriedenheit ist in allen Stufen der Wertschöpfungskette erforderlich. Allerdings unterscheiden sich die Beiträge der einzelnen Wertschöpfungspartner zur Kundenzufriedenheit in Hinblick auf ihre Wahrnehmung. Wer hat welchen Nutzen und wie kann er objektiv und standardisiert gemessen werden? Das aus dem Marketing stammende Instrument Conjoint-Analyse kann auf die Problematik der Logistik übertragen werden, denn auch hier liegen einzelne Kundenbeziehungen vor, die auf ihren logistischen Nutzen überprüfbar sind. Die Frage der Differenzierbarkeit und -möglichkeit stellt bei der Produktgestaltung ein zentrales Thema dar. Auch das Logistiksystem kann vielfältige Möglichkeiten bieten, sich als Unternehmen oder Unternehmensverbund von Wettbewerbern zu differenzieren. Trotz weiter steigendem Kostendruck ist es notwendiges Unternehmensziel, dem Kunden individuell und flexibel gegenüberzutreten. Ein gut funktionierendes Logistiksystem stellt einen spürbaren Endkundennutzen in Form von punktgenauen Lieferterminen und Lieferzeiten oder notwendiger Flexibilität aufgrund von kurz- bis mittelfristiger Änderungswünsche dar (siehe Abbildung 1). Wertschöpfungsstufe Beiträge zur Kundenzufriedenheit/ -unzufriedenheit
Marketing, Marktforschung • Erforschung Kundenbedürfnisse • Vorgaben an F&E • Target Pricing
F&E
• Kundengerechte Problemlösung • Kein Overengineering
Beschaffung, Einkauf
Produktion
• Materialqualität
• Fehlerfreie Produktion
• Kosten-/ Preisgünstigkeit
• Kosten-/ Preisgünstigkeit
Logistik
Verkauf, Marketing
• Lieferzuverlässigkeit/ -schnelligkeit
• Zusagen/ Versprechungen/ Erwartungen
• Keine Transportschäden
• Qualität der Beratung/ Interaktion
• Target Valueing
Abbildung 1: Beiträge der Wertschöpfungsstufen zur Kundenzufriedenheit
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P. Wahl, B. Boeck
Analog zu (Konsum-)Produkten bedarf es auch hier der Beurteilung der Leistungserfüllung und ihrer Spiegelung an den Anforderungen des Zwischen- oder Endkunden.
Die Conjoint-Methodik und Logistik Die Conjoint-Analyse zählt zu den populärsten multivariaten Analysemethoden im Marketing. Wittink und Cattin schätzten bereits Mitte der 80er Jahre die Zahl der kommerziellen Anwendungen allein in den USA auf 400 im Jahr. In Europa konnten zwischen 1986 und 1991 nahezu 1.000 von Marktforschungsunternehmen durchgeführte Conjoint-Studien nachgewiesen werden [WiVr94, S.43]. Mittlerweile dürften weltweit jährlich mehr als 1.000 Conjoint-Analysen in der Praxis eingesetzt werden. Zu den häufigsten Anwendungsfeldern der Analyse zählen Neuprodukteinführungen, Bestimmung von Preis-Absatz-Funktionen, Marktsegmentierungen und Repositionierungs-Studien. Darüber hinaus sind auch Anwendungen in Bereichen wie beispielsweise der Bedeutungserfassung von Entwicklungsdeterminanten bei Neuproduktplanungen [GuBr92], der Wahrnehmungsmessung von Produkteigenschaften [Satt91, S.168] und der Bedeutungsmessung von Einflussgrößen kooperativen Verhaltens bei zwischenbetrieblichen Informationstransfers dokumentiert. Seit der Einführung in den 70er Jahren hat sich die Conjoint-Analyse zu einer beliebten Methode in der Marktforschung entwickelt. Als ein Instrument des Marketings dient die Conjoint-Analyse der Entwicklung optimaler, an den Bedürfnissen der Kunden ausgerichteter Produkte. Die Conjoint-Analyse zeigt hierbei auf, welche Kombinationen von Eigenschaften ein Produkt haben muss, um den größten Kundennutzen zu erzielen und damit die größte Kaufmotivation beim Kunden auszulösen. Es wird versucht, den Beitrag der einzelnen Elemente eines Produkts oder einer Dienstleistung zu ermitteln. Die Datenbasis der Conjoint-Analyse bilden Befragungsergebnisse der Probanden. Damit ergibt sich als wichtiges Anwendungsgebiet der Conjoint-Analyse die Planung des Produktprogramms, bei der die Frage zu klären ist, wie die Produkte in Hinsicht auf die Bedürfnisse des Marktes optimal zu gestalten sind. In wissenschaftlichen Untersuchungen im Rahmen von Produktoptimierungen werden Objekte (Produkte) im Hinblick auf vorgegebene Fragestellungen untersucht. Diese Objekte sind Träger von Merkmalen, die bei den verschiedenen Objekttypen in unterschiedlichen Ausprägungen vorliegen. Sie können zum Beispiel unterschiedliche Größen, ein unterschiedliches Baujahr oder unterschiedliche Farben haben. Zur Marktsimulation und bei
2.2.2 Logistics Conjoint Measurement
89
der Produktlinienoptimierung werden vergleichbare, im selben Markt konkurrierende Produkte anhand eines Katalogs relevanter Merkmale und Ausprägungen beschrieben und eingeordnet. Diese Problematik lässt sich auf die Bewertung eines logistischen Systems und seines Nutzens übertragen. Auch Kennzahlen wie Liefertreue, Durchlaufzeit oder Flexibilität haben unterschiedlichste Ausprägungen, die sich je nach Anwendungsgebiet beschreiben lassen.
Formen der Conjoint-Analyse Ausgangspunkt für die Konkretisierung des Untersuchungsdesigns ist die Entscheidung für eine conjoint-analytische Erhebungsform [Schu95, S.379]. Grundlegende Methoden sind • • • • •
der Profile-Ansatz, die Zwei-Faktor-Methode, der Hybrid-Ansatz, der Choice-Based-Ansatz und der Adaptiv-Ansatz,
die sich maßgeblich in der Vorgehensweise bei der Erhebung der Präferenzurteile unterscheiden. Beim Profile-Ansatz („Full Profile“) werden Produktkonzepte aus der Kombination je einer Ausprägung aller Merkmale entworfen [Lüth99, S.16]. Diese vollständigen Stimuli werden den Auskunftspersonen meist in Form von Kärtchen mit verbalen und grafischen Erläuterungen vorgelegt. Die Probanden müssen dann das von ihnen bevorzugte Produktprofil auswählen bzw. eine Präferenzrangfolge über alle zu beurteilenden Kombinationen bilden [Goer99, S.191; Schn97, S.145]. Bei einer großen Anzahl von Kärtchen werden die Auskunftspersonen zur Wahrung des Überblicks u. U. aufgefordert, erst drei Unterteilungen zu machen (sehr ansprechend – unentschieden – ablehnend) und innerhalb dieser Gruppen nochmals eine Rangreihung vorzunehmen [BeEc01, S.280]. Die ganzheitliche und gleichzeitige Vorlage aller Konzeptbeschreibungen ermöglicht den Versuchspersonen eine möglichst realistische Vorstellung von den Testkonzepten und entspricht so am ehesten der realen Entscheidungssituation [Schn97, S.145]. Der Realitätsbezug bewirkt eine Reduzierung der kognitiven Belastung der Befragten und wirkt sich positiv auf die Reliabilität und Validität der Ergebnisse aus. Jedoch nur, solange sich die Anzahl von Merkma-
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P. Wahl, B. Boeck
len und Ausprägungen in Grenzen hält. Mit zunehmender Zahl der Attribute und ihrer Ausprägungen wachsen die Kombinationsmöglichkeiten exponentiell in Dimensionen, mit denen die Probanden überfordert sind [BeEc01, S.281]. So ergeben sich bei fünf Merkmalen mit je drei Ausprägungen bereits 35 = 243 Stimuli, eine Größenordnung, die erhebungstechnisch nicht mehr zu bewältigen ist [Schn97, S.145]. Hieraus erwächst die Notwendigkeit, aus der Menge der theoretisch möglichen Konzepte (vollständiges Design) eine Teilmenge (reduziertes Design) auszuwählen, die das vollständige Design möglichst gut repräsentiert [BaEr00, S.574]. Aber auch bei reduzierten Versuchsplänen kann die Stimulianzahl schnell ansteigen und die Beurteilungsaufgabe für die Auskunftspersonen zu komplex werden [Schn97, S.145]. Im Gegensatz zur Full-Profile-Methode werden bei der Zwei-FaktorMethode („Trade-Off“) zur Bildung eines Stimulus jeweils nur zwei Merkmale herangezogen und den Probanden Matrizen, die Kombinationen der Ausprägungen der beiden Merkmale enthalten, vorgelegt. Bei zwei Eigenschaften mit je drei Ausprägungen entstehen neun Paare, die von den Auskunftspersonen in eine Präferenzrangfolge zu bringen sind. Wird eine Alternative durch mehr als zwei Eigenschaften beschrieben, müssen mehrere Trade-Off-Matrizen gebildet und bewertet werden. [BaEr00, S.572]. Dem Vorteil einer geringen kognitiven Belastung der Befragten, also einer niedrigen Anforderung an die Konzentration, steht jedoch eine Reihe von Nachteilen gegenüber [Schn97, S.144]. Da die Zahl der Matrizen mit zunehmender Merkmalsanzahl rasch ansteigt, kommt es schnell zu einem großen Erhebungsaufwand und hohen Anforderungen an die Auskunftswilligkeit der Probanden. Der größte Nachteil liegt in der unrealistischen Beurteilungssituation, die von den Auskunftspersonen ein großes Maß an Abstraktionsvermögen verlangt, da bei jeder Paarbewertung die Ceterisparibus-Bedingung für die nicht betrachteten Attribute gilt, die Beurteilungsobjekte also bezüglich der anderen Produktmerkmale identisch sind. Nicht vernachlässigt werden darf auch die Gefahr, dass die Befragten beim Ausfüllen vieler Trade-Off-Matrizen ermüden und dies zu stereotypen Antwortmustern führt. Die Probleme bei den traditionellen ConjointAnalysen haben zur Entwicklung neuer Ansätze geführt, die die erhebungstechnisch gegebenen Nachteile weitgehend überwinden. Neben der Konzeptbewertung verwenden die hybriden Conjoint-Analysen Einzelinformationen zu den Eigenschaften, d. h. sie verknüpfen den klassischen kompositionellen mit dem dekompositionellen Ansatz. Im kompositionellen Teil geben die Befragten direkte Urteile über die Akzeptanz aller einzelnen Ausprägungen und die Wichtigkeit der Merkmale ab. Im dekompositionellen Teil bewerten sie dann „ganzheitlich“ verschiedene Profile. Die anfangs erhobenen Daten des kompositionellen Teils bewirken, dass auch
2.2.2 Logistics Conjoint Measurement
91
bei vielen Eigenschaften bzw. Ausprägungen von den Auskunftspersonen nur wenige Bewertungen von Konzepten vorgenommen werden müssen. Die Einfachheit der kompositionellen wird mit dem Realitätsbezug der dekompositionellen Methode kombiniert [HeSa00, S.3]. Die Teilpräferenzwerte der Eigenschaftsausprägungen werden für jeden Probanden durch die Verknüpfung beider Ergebnisse geschätzt [Schu95, S.380]. Beim Hybrid-Ansatz werden balancierte Blockdesigns gebildet [Schu95, S.380]. Die Gesamtstichprobe wird in Teilstichproben aufgeteilt („Blockbildung“) und die zu bewertenden Konzepte auf die einzelnen Blöcke verteilt. Vorteil dieses Ansatzes ist, dass die Anzahl der von jeder Auskunftsperson zu beurteilenden ganzheitlichen Konzepte sinkt. So ist die Schaffung von Verarbeitungskapazität für weitere Merkmale möglich [Goer99, S.192]. Die Auswertung der Daten erfolgt dann nach dem Prinzip, Probanden mit einer ähnlichen Nutzenstruktur (ermittelt aus dem kompositionellen Befragungsteil) zu homogenen Clustern zusammenzufassen und den dekompositionellen Teil nach Gruppen getrennt auszuwerten [HeSa00, S.705]. Der Hybrid-Ansatz ist nur bei einer relativ großen Stichprobe möglich [Inde00, S.14]. Die Choice-Based-Conjoint-Analyse, häufig auch als Discrete-ChoiceAnalyse bezeichnet, stellt eine Sonderform dar, da im Gegensatz zu den zuvor erläuterten Untersuchungsansätzen von den Befragten diskrete Wahlentscheidungen verlangt werden [Goer99, S.192]. Den Probanden werden am Bildschirm bis zu zwölf „Auswahlsituationen“ präsentiert, in denen jeweils zwei bis acht Alternativen gleichzeitig gezeigt werden [Schu95, S.381]. Sie geben dann keine Bewertung bzgl. der Vorziehenswürdigkeit der Alternativen in Form z. B. einer Rangreihung ab, sondern müssen sich für eine der am Computer angezeigten Konzepte entscheiden [Goer99, S.192]. Anders als bei den vorherigen Conjoint-Methoden besteht auch die Möglichkeit der Wahl der Option „Ich wähle keines der Konzepte“ [Schu95, S.380]. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt in der realitätsnahen Datenerhebung, die am ehesten die reale Kaufsituation am Markt abbildet [Schn97, S.149]. Dadurch, dass die Datenanalyse nur auf aggregiertem Niveau stattfindet, ist es möglich, die Interaktionseffekte zwischen den Konzepteigenschaften ohne erhöhten Erhebungsaufwand zu messen [Schu95, S.381]. Der Nachteil liegt zum einen in der Tatsache begründet, dass nur eine begrenzte Anzahl von Merkmalen und Ausprägungen zugelassen ist, da sonst die Beurteilungsaufgabe zu komplex wird; zum anderen können durch die Auswertung auf aggregiertem Niveau keine individuellen Teilnutzenwerte aufgrund der geringen Zahl an Auswahlentscheidungen je Proband ermittelt werden [Schn97, S.149]. Der daraus folgende Informationsverlust bleibt nur dann begrenzt, wenn die Auskunftspersonen
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P. Wahl, B. Boeck
eine ähnliche Präferenzstruktur aufweisen, also eine relativ homogene Stichprobe vorliegt. Die heute wohl größte praktische Relevanz haben computergestützte, interaktive Verfahren der Conjoint-Analyse, wie das von Johnson [John87, S.253] in Verbindung mit Sawtooth entwickelte Software-System der Adaptiven Conjoint-Analyse (ACA) [Schu95, S.380]. Bei der ACA handelt es sich ebenfalls um ein hybrides Modell. Wie der Begriff „adaptiv“ impliziert, werden die zu beurteilenden Stimuli des zweiten Befragungsteils aufgrund der Antworten des ersten Teils jedes Mal neu zusammengestellt, also an die Antworten der ersten Interviewphase angepasst [HeSa00, S.52]. Damit ist es möglich, den Präferenzbildungsprozess auf der Basis individuell wichtiger Eigenschaften zu analysieren [John87, S.259]. Liegen für bestimmte Ausprägungen noch keine ausreichend genauen Teilnutzenschätzungen vor, können diese gezielt abgefragt werden [Goer99, S.192]. Aufgrund dieses Vorteils eignet sich diese Vorgehensweise für Studien mit einer großen Anzahl an Merkmalen und Merkmalsausprägungen. Die computergestützte interaktive Datenerhebung erhöht die Aufmerksamkeit der Befragten bzgl. der individuell wichtigen Attribute und gestattet eine rasche Datenauswertung [Schn97, S.148]. Als Nachteil wird die wiederholte Verwendung von Paarvergleichen angeführt, die als unrealistisch und schwer zu bewältigen angesehen wird [GrKr91, S.220]. Die Paarvergleiche werden so konstruiert, dass – vor dem Hintergrund des ersten Befragungsteils – die beiden Alternativen bzgl. ihrer Vorziehenswürdigkeit sehr ähnlich sind [John87, S.262]. Für die Auskunftspersonen wird es dann schwierig, sich zwischen zwei Konzepten entscheiden zu müssen, die nahezu identisch sind [GrKr91, S.216]. Als letzter Kritikpunkt sei angemerkt, dass man weder auf die Konstruktion der Paarvergleiche, die den Befragten präsentiert werden, noch auf den für die Auswertung der Daten relevanten Schätzprozess Einfluss hat [Carm87, S.327]. Kriterien der Auswahl Die Auswahl eines geeigneten Conjoint-Verfahrens zur Ermittlung der Wichtigkeiten der Logistik anhand des Kundennutzens, soll anhand der folgenden Bewertungskriterien erfolgen [Goer99, S.193]. 1. Anzahl an Merkmalen und Ausprägungen: Um den logistischen Kundennutzen untersuchen zu können, sind zahlreiche Logistikfaktoren erforderlich. Die zentrale Anforderung an eine für die empirische Analyse geeignete Methode ist daher in der Bewältigung einer großen Anzahl an Merkmalen und Ausprägungen zu sehen. Damit wird der
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Profil-Ansatz, dessen Einsatz nur für Untersuchungen mit maximal sechs Attributen empfohlen wird, nicht in Betracht gezogen, da die ganzheitliche Bewertung der Konzepte zu komplex und erhebungstechnisch nicht mehr zu bewältigen ist [Goer99, S.193]. 2. Realitätsbezug: Da beim realen Beurteilungsprozess normalerweise ganze Konzepte und nicht isolierte Dimensionen miteinander verglichen werden, erscheint die Bewertung von Trade-Off-Matrizen bei der Zwei-Faktor-Methode für die empirische Analyse als ungeeignet [BaEr00, S.573]. Um valide Ergebnisse zu erhalten, ist die Realitätsnähe der Befragung von großer Bedeutung [Goer99, S.193]. Diese ist bei der Zwei-Faktor-Methode nicht gewährleistet, da Trade-OffMatrizen keiner realen Situation entsprechen. 3. Ansprüche an die Auskunftspersonen: Um die Anforderungen an die Auskunftspersonen in Grenzen zu halten, sollte eine Informationsüberlastung der Befragten durch zu viele oder zu aufwendige Beurteilungsaufgaben vermieden werden. Stereotype Antwortmuster infolge von Ermüdung oder nachlassender Auskunftswilligkeit betreffen besonders den Profil- und den Trade-Off-Ansatz. 4. Datenauswertung auf Individualniveau: Da der logistische Kundennutzen davon abhängt, ob eine wichtige Logistikeigenschaft vorhanden ist oder nicht und der Kundennutzen für die tatsächlichen Logistikeigenschaften aufgestellt werden soll, ist eine Datenauswertung auf Individualniveau zwingend erforderlich. Daher fällt die ChoiceBased-Conjoint-Methode als Möglichkeit weg, da die Datenanalyse lediglich auf aggregiertem Niveau erfolgt, also keine individuellen Teilpräferenzwerte ermittelt werden [Schu95, S.381]. 5. Zeitaufwand und Praktikabilität: Aspekte des Zeitaufwandes und der Praktikabilität legen die Verwendung von computergestützten, interaktiven Ansätzen nahe, da diese die Aufmerksamkeit der Probanden bzgl. der individuell wichtigen Attribute erhöhen und eine schnelle Datenerhebung und -auswertung ermöglichen [Goer99, S.193]. Unter Berücksichtigung der angeführten Kriterien kann die ACA als das geeignetste Verfahren für die Analyse des logistischen Kundennutzens angesehen werden. Profilmethode (Anzahl von Merkmalen und Ausprägungen zu gering), Zwei-Faktor-Methode (kein Realitätsbezug) und Choice-Based-Ansatz (Datenauswertung auf Individualniveau nicht möglich) sind zur Untersuchung der Fragestellung nicht zweckmäßig. Aspekte der Praktikabilität und des Zeitaufwandes sprechen für die Verwendung der ACA und gegen den Hybrid-Ansatz. Die Entscheidung für die ACA wird dadurch vereinfacht, dass die verschiedenen Methoden trotz unterschiedlicher
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Vorgehensweisen in zahlreichen empirischen Studien zu ähnlichen Ergebnissen führen [Goer99, S.193].
Logistische Merkmale und Ausprägungen Zu Beginn einer jeden Conjoint-Analyse ist eine Festlegung der logistischen Merkmale und deren Ausprägungen notwendig (siehe Abbildung 2). Logistische Kennzahlen wie Durchlaufzeit, Liefertermin und Flexibilität haben unterschiedlichste Ausprägungen, die sich je nach Anwendungsgebiet beschreiben lassen. So kann die Liefertreue anhand von branchentypischer Zeit in Tagen, Stunden oder Minuten oder qualitativ analog Abbildung 2 beschrieben werden. Diese stellen dann die Ausprägungen des Merkmals Durchlaufzeit dar. Merkmale
(Merkmals-)Ausprägung
Durchlaufzeit
schneller als kalkuliert
exakt kalkuliert
langsamer als kalkuliert
Liefertermin
vor dem Liefertermin
genau am Liefertermin
später als Liefertermin
jederzeit möglich
nur zu bestimmten Zeiten
nicht vorgesehen
hoch
mittel
kaum
Informationsaustausch
Flexibilität
Abbildung 2: Beispiele von logistischen Merkmalen und Ausprägungen
Die Festlegung der Eigenschaften stellt einen kritischen Punkt dar, weil die Untersuchung möglichst exakt die Realität widerspiegeln und somit valide Ergebnisse bringen soll. Für die Festlegung der Merkmale sind Marktbzw. Branchenkenntnisse erforderlich. Eventuell kann die Durchführung einer vorhergegangenen Marktanalyse notwendig sein. Die Merkmalsausprägungen sollten für die Beurteilung des Systems relevant, beeinflussbar und voneinander unabhängig sein. Darüber hinaus müssen die Ausprägungen realisierbar und möglichst vollständig sein und in einer kompensatorischen Beziehung zueinander stehen. Dies bedeutet, dass ein nachteiliges Merkmal durch ein vorteilhaftes anderes Merkmal ausgeglichen werden kann [BaEr00, S.568]. Nach der Festlegung der Merkmale mit den jeweiligen Ausprägungen kann nun ein Fragebogen erstellt werden. Da die Durchführung einer adaptiven Conjoint-Analyse computergestützt erfolgt, werden in der nachfol-
2.2.2 Logistics Conjoint Measurement
95
genden Ausführung die verschiedenen Frageformen beispielhaft dargestellt.
Logistics Adaptive Conjoint Mittels der Conjoint-Analyse werden die zuvor aufgenommenen Kennzahlen, die die einzelnen Merkmale des Logistiknutzens darstellen, und deren Ausprägungen nach der Bedeutung für die Akteure analysiert. Bei herkömmlichen (Kunden-) Befragungstechniken entscheidet sich der Proband immer für die beste Ausprägung eines Merkmals, ohne das Zusammenwirken mit den anderen Merkmalen zu berücksichtigen [Wahl07; Wild07]. Bei der Gestaltung einer Logistiknutzenbewertung ist es wichtig zu wissen, welchen Beitrag verschiedene Kennzahlen bzw. Merkmale zum Gesamtnutzen bzw. -potenzial beitragen. Beispielsweise kann es nützlich sein, zu wissen, ob eine Fokussierung auf die Liefertreue oder die Reduzierung der Logistikkosten einen größeren Beitrag stiftet. Das Hauptproblem bei der Durchführung ist die Handhabung von vielen unterschiedlich möglichen Merkmalen und Ausprägungen [Sawt02, S.3]. Die LAC löst dieses Problem, indem den Befragten nur Fragen nach den für sie wichtigsten logistischen Merkmalen und Ausprägungen gestellt werden. Dazu durchläuft die LAC die folgenden sechs Phasen: • • • • • •
Vorphase: Erste Phase: Zweite Phase: Dritte Phase: Vierte Phase: Fünfte Phase:
Eingangsfragen Eliminierung der unakzeptablen Merkmale Präferenz innerhalb eines Merkmals Relative Präferenzen der Ausprägungen Paarvergleich Kalibrierungs-Konzepte
Eine adaptive Conjoint-Analyse beginnt stets mit einem allgemeinen Teil zur Person und zu seinen Tätigkeiten, um so einen ersten Eindruck über die Nutzung von Logistikunternehmen zu bekommen, aber auch um eine spätere Segmentierung möglich zu machen. Mögliche Fragen zu diesem Bereich können sein: • Wie alt sind Sie? • In welchem Bereich in Ihrem Unternehmen arbeiten Sie? • Mit welchen logistischen Konzepten haben Sie bereits Erfahrung gesammelt?
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P. Wahl, B. Boeck
Im Rahmen der Eliminierung der unakzeptablen Merkmale werden die Probanden direkt gefragt, ob es unter den vorgelegten Attributen solche gibt, die sie auf keinen Fall und egal mit welchen zusätzlichen Attributen kombiniert auswählen würden. Werden Eigenschaften als inakzeptabel definiert, werden diese von den weiteren Phasen ausgeschlossen oder alternativ nur mit einem sehr geringen Wert berücksichtigt. In der Phase Präferenzen innerhalb eines Merkmals müssen die Probanden eine Präferenzrangfolge hinsichtlich der Ausprägungen eines Merkmals anhand einer Rating-Skala angeben. Im ersten Abschnitt der Conjoint-Befragung bewertet der Proband also, wie „wünschenswert“ er einzelne Ausprägungen eines Merkmals empfindet (siehe Abbildung 3). nicht wünschenswert
weniger wünschenswert
indifferent
wünschenswert
sehr wünschenswert
Reduktion der Durchlaufzeit Einhaltung des Liefertermins Hohe Flexibilität in Bezug auf Veränderungen von Kundenwünschen Möglichkeit zum ständigen Informationsaustausch zwischen Kunden und Logistikunternehmen
Abbildung 3: Präferenz innerhalb eines Merkmals
Im nächsten Schritt muss der Proband sich zwischen zwei Alternativen entscheiden. Er bewertet relative Präferenzen der Ausprägungen auf Basis der Ergebnisse des ersten Abschnittes eines relativen Vergleichs von Merkmalsausprägungen (siehe Abbildung 4). Wenn Sie die bestellte Ware etwas später bekommen würden als vereinbart, dafür aber eine höhere Flexibilität in Bezug auf Veränderungen ihrer Wünsche erhalten würden, wie enttäuscht wären Sie? Einhaltung des Liefertermins
Würde mich nicht stören
Ich wäre etwas enttäuscht
anstatt höhere Flexibilität
Abbildung 4: Relative Präferenzen der Ausprägungen
Ich wäre sehr enttäuscht
2.2.2 Logistics Conjoint Measurement
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Im nächsten Abschnitt der Conjoint-Befragung wird nun der Proband mit zwei unterschiedlichen Leistungsprofilen konfrontiert. Dem Befragten wird eine Reihe von Trade-Off-Paarvergleichen präsentiert, wobei immer zwei Produktkonzepte zeitgleich auf dem Bildschirm erscheinen und der Befragte seinen Favoriten und die Stärke der Präferenz für die linke oder rechte Seite bestimmen muss (siehe Abbildung 5). Wenn zwei Logistikunternehmen in den restlichen, hier nicht aufgeführten Funktionen gleich wären, welches Unternehmen würden Sie bevorzugen?
Schnelle Durchlaufzeit
Langsamere Durchlaufzeit
Eintreffen der Ware noch vor dem vereinbarten Liefertermin
Liefertermin wird nicht immer eingehalten
Keine Veränderungen mehr möglich
Hohe Flexibilität auf individuelle Kundenwünsche Ständiger Informationsaustausch möglich
Kein Informationsaustausch möglich
Starke Präferenz für linkes Unternehmen
Leichte Präferenz für linkes Unternehmen
gleichgültig
Leichte Präferenz für rechtes Unternehmen
Starke Präferenz für rechtes Unternehmen
Abbildung 5: Paarvergleiche
Die Antworten werden auf einer 9-stufigen Skala gegeben, wobei 9 „starke Präferenz für die rechte Seite“ und 1 „starke Präferenz für die linke Seite“ bedeutet [Sawt02, S.9]. Der Interviewer kann sowohl die gewünschte Anzahl der Paarvergleiche, als auch die Anzahl der Attribute bestimmen. Johnson empfiehlt mit Paarvergleichen, die zwei Attribute umfassen, zu beginnen, und sich auf drei Attribute zu steigern [John87, S.261]. Es ist auch möglich, Paarvergleiche mit bis zu fünf Attributen durchzuführen. Die Besonderheit der Adaptiven Conjoint-Analyse (ACA) liegt darin, dass zu Beginn der Paarvergleich-Phase mit einem Startwert der Teilnutzenwerte der Befragten begonnen wird, der aus den vorgegangenen Phasen errechnet wird [John87, S.261]. Jeder neue Paarvergleich wird von der Adaptiven Conjoint-Analyse so ausgewählt, dass sich der größtmögliche Informationsgewinn ergibt – der Paarvergleich läuft adaptiv ab, daher auch der Name dieser Methode. Die aus den vorherigen Paarvergleichen gewonnenen Informationen werden dazu genutzt, die Auswahl der Attribute für den nächsten Paarvergleich zu bestimmen. Der Paarvergleich wird so konstruiert, dass beide Varianten möglichst den gleichen Nutzen stiften. Dies hat den Vorteil, dass der Proband das Gefühl bekommt, dass das Sys-
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P. Wahl, B. Boeck
tem auf seine Antworten eingeht und die Urteile in der Mitte statt an den Extremen der vorgegebenen Antwortskalen liegen. Jedes Mal, wenn der Proband einen Paarvergleich beantwortet, wird der Teilnutzenwert des Konsumenten neu berechnet. Die Paarvergleiche werden so lange durchgeführt, bis entweder die im Vorlauf spezifizierte Anzahl erreicht ist oder der Interviewer diese Phase beendet. Im letzten Abschnitt gibt der Proband auf einer Skala von 1 bis 9 seine Zufriedenheit für den logistischen Kundennutzen an (siehe Abbildung 6). Im Rahmen des Kalibrierungs-Konzepts werden von der LAC zwischen zwei und neun verschiedene, hypothetische Konzepte, bestehend aus den bis zu acht wichtigsten Attributen, zusammengestellt [GrKr91, S.216]. Zuerst wird ein Konzept zur Bewertung gestellt, von dem vermutet wird, dass es dem Befragten am wenigsten zusagt, danach eines, welches ihm am besten gefallen dürfte. Diese beiden Konzepte markieren die obere und untere Schranke, alle weiteren Konzepte liegen innerhalb dieser Bandbreiten. Diese Phase wird benötigt, ohne dass auf einen willkürlichen Gewichtungsfaktor zurückgegriffen werden muss [Sawt02, S.10]. Wenn folgende Merkmale in der angebotenen Leistung inbegriffen wären, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie mit dem Logistikunternehmen zufrieden wären? Bitte geben Sie die Wahrscheinlichkeit mit einer Ziffer zwischen 0 und 9 an. (0 „würde sehr unzufrieden bedeuten“ und 9 „würde sehr zufrieden bedeuten“) Schnelle Durchlaufzeit Stets Einhaltung des Liefertermins Keine Veränderungen mehr möglich, nur gegen Bezahlung Informationsaustausch jederzeit möglich
Ziffer:
Abbildung 6: Kalibrierungskonzept
Als letzter Punkt wird den Probanden bei der adaptiven Conjoint-Analyse eine Kurzauswertung ihrer Befragung (Teilnutzenwerte) mitgeteilt (siehe Abbildung 7).
2.2.2 Logistics Conjoint Measurement
99
Kurzauswertung Die Ergebnisse ihrer Befragung werden nachfolgen dargestellt. Die Ziffern hinter den einzelnen Ausprägungen geben ihren Nutzwert an. Ein hoher positiver Wert gibt eine starke Präferenz für die jeweilige Ausprägung an. Ein hoher negativer Wert signalisiert eine starke Ablehnung.
Merkmalsausprägung
Schnelle Durchlaufzeit Einhaltung des Liefertermins Flexibilität Informationsaustausch
8 20 5 16
Abbildung 7: Auswertung einer Logistics Adaptive Conjoint
Dabei stellen die Ziffern hinter den einzelnen Ausprägungen den Nutzwert dar. Ein hoher positiver Wert bedeutet eine starke Präferenz für die jeweilige Ausprägung. Hingegen signalisiert ein hoher negativer Wert eine starke Ablehnung. In Verbindung mit einer Nutzenbewertungssystematik ist eine differenziertere Betrachtung der Conjoint-Analyse notwendig. Um Rückschlüsse auf die Gestaltung des Logistiknutzens ziehen zu können, müssen die Ergebnisse differenziert für unterschiedliche Akteursprofile ausgewiesen werden. Zur Bildung homogener Akteursprofile können an dieser Stelle weiterführende Analysen, wie die Clusteranalyse, zum Einsatz kommen. Für eine Akteursgruppe mag beispielsweise die Liefertreue und Durchlaufzeit ausreichend sein, für eine andere Akteursgruppe ist zusätzlich Flexibilität und Vertrauen von Bedeutung. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Conjoint-Analyse ein sehr hilfreiches Tool zur Ausgestaltung des Logistiknutzens darstellt. Das Tool stellt sicher, dass die individuellen Anforderungen der Akteure Berücksichtigung finden und die Bewertung objektiv vollzogen wird. Zur Erzielung einer hohen Prognosegüte muss der befragte Personenkreis, die Art der Conjoint-Analyse und die Stichprobengröße sorgfältig ausgewählt werden.
100
P. Wahl, B. Boeck
Zusammenfassung Ein Logistiksystem kann vielfältige Möglichkeiten bieten, sich als Unternehmen oder Unternehmensverbund von Wettbewerbern zu differenzieren. Ein gut funktionierendes Logistiksystem stellt einen spürbaren Endkundennutzen in Form von punktgenauen Lieferterminen und Lieferzeiten oder notwendiger Flexibilität aufgrund von kurz- bis mittelfristigen Änderungswünschen dar. Allerdings unterscheiden sich die Beiträge der einzelnen Wertschöpfungspartner zur Kundenzufriedenheit im Hinblick auf ihre Wahrnehmung. Wer hat welchen Nutzen und wie kann er objektiv und standardisiert gemessen werden? Das aus dem Marketing stammende Instrument Conjoint-Analyse kann auf die Problematik der Logistik übertragen werden, denn auch hier liegen einzelne Kundenbeziehungen vor, die auf ihren logistischen Nutzen überprüfbar sind. Mittels der Conjoint-Analyse werden die Eigenschaften eines logistischen Systems, die die einzelnen Merkmale des Logistiknutzens darstellen, und deren Ausprägungen nach deren Bedeutung für die Akteure analysiert. Bei herkömmlichen (Kunden-)Befragungstechniken entscheidet sich der Proband immer für die beste Ausprägung eines Merkmals, ohne das Zusammenwirken mit den anderen Merkmalen zu berücksichtigen. Bei der Gestaltung einer Logistiknutzenbewertung ist es wichtig, zu wissen, welchen Beitrag verschiedene Kennzahlen bzw. Merkmale zum Gesamtnutzen bzw. -potenzial beitragen. Beispielsweise kann es nützlich sein, zu wissen, ob eine Fokussierung auf die Liefertreue oder die Reduzierung der Logistikkosten einen größeren Beitrag stiftet. Weitere Informationen, News und Newsletter unter: www.tcw.de
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102
P. Wahl, B. Boeck
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2.2.3 Die adaptive, kundenorientierte Value Chain
H. Wildemann Ein Problem des Supply Chain Managements ist die unzureichende Beherrschung der wachsenden Produkt- und Prozesskomplexität. Die Fixkostenbelastungen in den direkten und indirekten Bereichen erhöhen sich durch den steigenden Koordinationsaufwand mit externen und internen Partnern. Probleme ergeben sich weiterhin bei der Auslastung vorhandener Kapazitäten durch Inkonsistenz der verschiedenen Informations- und Produktionsplanungssysteme. Die verzerrte Weitergabe der Nachfrageinformation entlang der logistischen Kette führt zu Bedarfsschwankungen auf den vorgelagerten logistischen Stufen und damit zu Ineffizienzen. Die in niedrigen Wertschöpfungsstufen zunehmende Prognoseunsicherheit erschwert eine effiziente Logistik durch die Notwendigkeit des Vorhaltens von Sicherheitsbeständen. Die Bündelung von Aufträgen führt zu einer Erhöhung der Losgrößen. Preisschwankungen führen zu Schwankungen der Nachfrage. Viele Kunden bestellen bei ihren Lieferanten mehr oder weniger Material als ihr tatsächlicher Bedarf erfordert. Die Informationen innerhalb einer Logistikkette sind daher verzerrt. Die Folge sind Doppelarbeit in der Organisation, hohe Bestände, unzufriedene Kunden, Umsatzeinbußen sowie ineffektive Produktionsplanung und -steuerung. Um diese Probleme einzugrenzen und zu beherrschen, ist die Bemühung um Kundenorientierung und Adaptivität in allen Stufen der Wertschöpfungskette vorhanden. Dies zeigt der Einsatz vielfältiger Methoden und Instrumente im Rahmen des Supply Chain Managements. Es stellt sich die Frage, welche Elemente welchen Beitrag zur adaptiven, kundenorientierten Value Chain leisten und welche elektronischen Medien und Technologien eingesetzt werden können, um die Wertschöpfungskette hinsichtlich Kosten, Nutzen und Transparenz zu optimieren. Der Weg zur adaptiven, kundenorientierten Value Chain stellt sich je nach Unternehmensprofil unterschiedlich dar. Der Unterschied manifestiert sich maßgeblich im Umfang der Optimierungsanstrengungen und der Bereitschaft zur Kollaboration. Viele Unternehmen realisieren nur wenige der möglichen Potenziale, weil teilweise Unklarheit über den Einsatz und
104
H. Wildemann
die Wirkung der aktuell diskutierten logistischen Methoden und Instrumente herrscht. Die wesentlichen Fragen sind: • In welcher Form und mit welchen prozessunterstützenden Methoden und Instrumenten sollten Unternehmen zusammenarbeiten? • Wie sind die prozessualen und elektronischen Schnittstellen zwischen den Unternehmen auszugestalten und zu optimieren? • Wie wird eine durchgängige unternehmensübergreifende Kundenorientierung im Rahmen eines Collaboration Managements in der Value Chain gewährleistet? Die Beantwortung dieser Fragen grenzt den Rahmen einer adaptiven, kundenorientierten Value Chain ab.
Die adaptive, kundenorientierte Value Chain und ihre Elemente Die Beschleunigung der zeitlichen, mengenmäßigen und qualitativen Leistungsfähigkeit der Unternehmen am Point of Sales erfordert eine neue Arbeitsteilung zwischen den Wertschöpfungspartnern, die die effizientesten materiellen Flexibilitätsreserven ebenso für die gesamte Kette nutzt, wie sie eine schnelle Verarbeitung und Weiterleitung von Informationen beinhaltet. Hinsichtlich der unternehmensübergreifenden Steuerung von individualisierten Bedarfen existiert kein Gesamtkonzept, das den Anforderungen des Supply Chain Managements ganzheitlich Rechnung trägt. Es lassen sich jedoch Elemente identifizieren, die zur Ausgestaltung einer adaptiven, kundenorientierten Value Chain unverzichtbar sind: • Partnerschaftliche Prozessintegration • Kundenintegration • E-Technologien
Partnerschaftliche Prozessintegration am Fallbeispiel Just-in-Sequence Das Ziel der OEM1, die Komplexität auf die Lieferanten zu übertragen, mündet vielfach in der Strategie, die internen Prozesse zu optimieren und 1
Original Equipment Manufacturer
2.2.3 Die adaptive, kundenorientierte Value Chain
105
den Lieferanten lediglich das Lastenheft zu überreichen. Die Erfüllung der Anforderungen wird den Lieferanten überlassen. Hieraus können Prozessbrüche an der Kunden-Lieferanten-Schnittstelle resultieren, die zu Fehlern, Wartezeiten und Doppelarbeiten führen können. Fehlen beispielsweise gemeinsam definierte, für den Lieferanten verwertbare Datenübertragungsstandards, kann nicht nur Ineffizienz entstehen, sondern ein Fehlerpotenzial, das zur Falschlieferung führen kann. Des Weiteren ist die Flexibilität bei Änderungen eingeschränkt, da die nötige Kommunikationsbasis fehlt. Eine ganzheitliche Prozess-Betrachtung ist beispielsweise auch deswegen nötig, da es wenig nützt, ohne Integration des Lieferanten ein Behältermanagement zu verbessern, wenn an der Kunden-Lieferanten-Schnittstelle doch Umpackvorgänge anfallen, die Handlingaufwand und Fehlerquellen darstellen. Die ganzheitliche Prozessverbesserung bedarf jedoch eines Mitwirkens des Lieferanten. Dabei stellt sich natürlich die Frage, warum der Lieferant zur partnerschaftlichen Prozessintegration bereit sein sollte. Druck wirkt in vielen Fällen nicht mehr aufgrund der gestiegenen Abhängigkeit der OEM. Kreativität in der Problemlösung wird durch Zwang ebenfalls nicht gefördert. Der Lieferant wird sich dann einbringen, wenn er einen Eigennutzen sieht. Wirkt sich eine Prozessverbesserung erleichternd in seiner täglichen Arbeit aus, so wird er diese auch unterstützen und forcieren, vorausgesetzt, ihm wird die Möglichkeit dazu gegeben. Eine Winwin-Situation stellt somit eine weitere Leitlinie einer partnerschaftlichen Prozessintegration dar. Die Explosion der Variantenvielfalt stellt die Automobilindustrie vor eine Herausforderung, die nicht nur Entwicklung und Einkauf betrifft, sondern im besonderen Maße Logistik und Produktion. Für die Montage bedeutet die Variantenvielfalt eine erhöhte Prozesskomplexität, eine gestiegene Fehleranfälligkeit sowie eine exorbitante Bestands- und Flächenproblematik. Allein die begrenzten Flächen am Montageband machen eine reine Vorratslagerung am Band unmöglich. Die Anlieferung der variantenreichen und voluminösen Teile kann unter diesen Umständen nur „Just-inSequence“ (JIS) erfolgen, also zeitpunkt- und reihenfolgengenau, montagegerecht bei kürzesten Reaktionszeiten und höchsten Qualitätsanforderungen [Wild00; Wild01a]. Durch eine Just-in-Sequence-Anlieferung von Modulen können Prozesskomplexität und Flächen reduziert werden. Die Montage erfolgt „bestandslos“, da der Eigentumsübergang erst mit dem Einbau erfolgt. Mit JIS sind allerdings auch ausgeprägte Risiken verbunden. Kommt es zu einem Fehlteil, können erhebliche Kosten durch Nachrüstaufwand, Ausschuss oder Bandstillstand entstehen. Eine JIS-Anlieferung ist vor allem deswegen erschwert, da erst kurz vor Einbau des JISModuls die tatsächliche Montagereihenfolge bekannt ist (siehe Abbildung 1). Erst mit Montagebeginn wird dem JIS-Dienstleister der Sequen-
106
H. Wildemann
zierungsauftrag erteilt. Die Vorlaufzeit von diesem Zeitpunkt bis zum Einbau des JIS-Moduls, Steuerzeit genannt, beträgt im Extremfall weniger als eine Stunde. Während dieser Zeit hat nicht nur Anlieferung und Bereitstellung zu erfolgen, sondern auch die JIS-Kernaufgabe, die Sequenzierung. Darunter wird die reihenfolgengenaue Belegung der JIS-Gestelle mit den jeweiligen Varianten verstanden. Hierbei bestehen höchste Anforderungen an die Verwechslungssicherheit, da die Vielzahl der Varianten oftmals nicht mehr zu überblicken und unterscheiden ist. Modernste Scan-Technik verbunden mit Quality-Gates-Prinzipien ist hierbei einzusetzen, um die Reihenfolgenqualität zu gewährleisten. Der Zeitdruck steigt weiter, wenn innerhalb der Steuerzeit noch Montage- oder Kommissioniertätigkeiten stattfinden. Hinzu kommt, dass bei jedem Teil, das wieder aus dem JISGestell entnommen wird, ein Fehlerpotenzial besteht.
Abbildung 1: Just-in-Sequence-Prozess
Aufgrund der Folgewirkungen von Prozessfehlern ist eine entsprechende Abhängigkeit von den externen Prozessbeteiligten gegeben. Aufgrund der spezifischen Ausgestaltung der JIS-Beziehungen entstehen Wechselbarrieren, die eine Abhängigkeit weiter erhöhen. Da an einem JIS-Prozess mehrere Beteiligte mitwirken und damit Schnittstellen gegeben sind, ist zur Verbesserung der Prozessqualität eine ganzheitliche Prozessoptimierung nötig. Da durchaus unterschiedliche Interessenslagen vorhanden sind, stellt sich die Herausforderung, die nötigen Rahmenbedingungen für eine Prozessoptimierung zu schaffen, die durch alle Beteiligten erarbeitet und ge-
2.2.3 Die adaptive, kundenorientierte Value Chain
107
tragen wird. In einem Fallbeispiel aus der Automobilindustrie soll gezeigt werden, wie dies durch ein JIS-Audit erreicht werden konnte. Die Ziele eines JIS-Audits liegen in der Sicherstellung von Teileverfügbarkeit, Prozess-Sicherheit und Prozess-Qualität (siehe Abbildung 2). Das JIS-Audit ist eine Methode in der Umsetzungsphase des JIS-Konzepts. Zwar ist die grundsätzliche JIS-Fähigkeit schon frühzeitig in der Planungsphase zu evaluieren, jedoch erfolgt dies verstärkt aufgrund der Potenzialqualität, während das JIS-Audit in der Umsetzungsphase konkret die Prozessfähigkeit beurteilt. Ziele JIS-Audit
Sicherstellung der Versorgungssicherheit
Qualität
Prozesseffizienz
Merkmale JIS-Audit
1
Termin-Vereinbarung/Versenden des Fragenkatalogs
2
Audit-Vorbereitung: Ausfüllen und Auswertung Fragenkatalog/Problemsammlung in der Montage
4
Audit-Dokumentation und Definition von Maßnahmen
5
Versenden der Dokumentation
6
Maßnahmen-Controlling
Prozessoptimierung mit allen Beteiligten (Lieferanten, Logistik-Dienstleister)
Audit-Vorbereitung mit Fragenkatalog
Maßnahmen-Definition zur Behebung von Defiziten mit Terminen und Verantwortlichen
6
Review
Konsequentes Maßnahmen-Controlling
7
Durchführung des Audits: Identifikation von Defiziten und Lösungsansätze
Abbildung 2: Ziele, Merkmale und Vorgehensweise eines JIS-Audits
Das JIS-Audit wird vom JIS-Kunden initiiert. Im Gegensatz zu klassischen Auditierungen ist nicht die Intention vorherrschend, die Fehler und Unzulänglichkeiten der Lieferanten und des Dienstleisters aufzuzeigen und zu beheben. Ziel ist eine Verbesserung des gesamten Prozesses, unabhängig vom Verursachungsbereich. Ein Merkmal des JIS-Audits liegt somit in einer partnerschaftlichen Prozessoptimierung durch alle Beteiligten. Werden im Audit Prozessdefizite identifiziert, deren Ursachen auf Seiten des JISKunden liegen (z. B. unzureichende Datenweitergabe), so sind Maßnahmen zu definieren, deren Abarbeitung im Verantwortungsbereich des Kunden liegt. Dieses Audit-Verständnis erhöht die Akzeptanz bei Dienstleistern und Lieferanten, sich für eine Prozessoptimierung zu öffnen. Die Durchführung des Audits umfasst sowohl für Logistik-Dienstleister als auch für den Lieferanten einen Tag. Um eine zügige und effiziente Bearbeitung der Themen in dieser begrenzten Zeit zu ermöglichen, ist eine gewissenhafte Vorbereitung nötig. Hierfür senden die Auditoren den Beteiligten einen Fragenkatalog zu, der zu beantworten und mit den entspre-
108
H. Wildemann
chenden Daten zurückzusenden ist. Vor dem Audit erfolgt eine Auswertung des Fragenkatalogs durch die Auditoren und eine Problemsammlung bei dem eigentlichen Kunden, der Montage. Neben Fehlteilen werden Sequenzfehler, Qualitäts- und Handling-Probleme quantitativ und stichprobenartig erfasst. Anhand der exemplarischen Analyse der Fehlerursachen lassen sich strukturelle Defizite erkennen und beseitigen. Teilnehmer des Audits sind die Personen aus den betroffenen Bereichen beim JIS-Kunden (Disposition, Logistikplanung, Qualität), die Auditoren und die involvierten Know-how-Träger des Lieferanten bzw. beim Dienstleister. Das Audit ist nach den vier JIS-Hauptprozessen strukturiert (siehe Abbildung 3). Logistikdienstleister bzw. . Sequenzierungsstandort im Lieferantenpark
Vorlieferant(en) und Transport
Vorlieferant – Anlieferung Modulhersteller
D
Modulhersteller und Transport
C
Einlagerung Modulhersteller – Anlieferung Sequenzierungspuffer
Sequenzierungspuffer
B
Einlagerung Sequenzierungspuffer – Vorbereitung Sequenzierung
Sequenzierung und Transport
A
Einbauort Beginn Sequenzierung – Ankunft Einbauort
Einbauort
Montage
Abbildung 3: JIS-Hauptprozesse
Im Audit wird der Fragenkatalog mit den entsprechenden Antworten und Daten kritisch hinterfragt und mögliche Lösungsansätze diskutiert. Anschließend erfolgt eine Besichtigung des Fertigungs-, Montage- und Lagerbereichs. Identifizierte Defizite werden festgehalten und im abschließenden Review artikuliert. Zudem werden die Prozesse mit Hilfe einer Ampelsystematik bewertet. Behandelt werden die Bereiche Materialfluss, Infofluss/EDV, Packmittel, Kapazitäten, Qualität, Qualifikation, Notfallorganisation und Sonderprozesse (Reklamation, Nachbestellung). Die Auditoren und der JIS-Kunde formulieren in der Audit-Nachbereitung Maßnahmen, die Dokumentation wird an alle Beteiligten versendet. Entscheidend ist ein Maßnahmen-Controlling, das nach einigen Wochen durchgeführt und so lange wiederholt wird, bis die Prozess-Sicherheit gegeben ist. Mit dem durchgeführten JIS-Audit ließen sich bei einem OEM der Automobilindustrie Vorteile der klassischen Auditierung und der LieferantenIntegration verbinden. Zum einen wurde der Verbesserungsdruck durch die Evaluation gewährleistet, zum anderen wurde die zur Problemlösung nötige Motivation erzeugt. Im Vordergrund des Audits standen eine ganzheitliche Prozessverbesserung und keine einseitige Schuldzuweisung. Alle Beteiligten zogen einen Nutzen aus der Prozessverbesserung durch Abbau von Verschwendung und Blindleistung.
2.2.3 Die adaptive, kundenorientierte Value Chain
109
Kundenintegration am Fallbeispiel Value-to-the-customer Das Prinzip der Kundenorientierung findet sich auch in der Gestaltung logistischer Systeme durch die Bereitstellung individueller Problemlösungen wieder [Wild01c; Wild07a]. Die Konfiguration der Logistikprozesse reicht dabei von der Festlegung kundenindividueller Lieferservicegrade über eine kundenspezifische Auftragsabwicklung oder Bevorratung bis hin zur kundenorientierten Auslegung von Produktionsstrukturen, Fabrik- und Lagerstandorten. In der Vergangenheit hat sich die Logistik zur kundenorientierten und ganzheitlichen Logistik nach dem Pull-Prinzip gewandelt. Der Kunde wird zur Quelle und treibenden Kraft für alle wertschöpfenden Aktivitäten, sein Pull-Signal initiiert und steuert den gesamten Wertschöpfungsprozess [Wild07d]. Gleichzeitig kann er sich über Informations- und Kommunikationssysteme jederzeit über den Status der bestellten Ware informieren. Nach einer Bestands- und Terminprüfung wird bereits bei Auftragseingang ein verbindlicher Liefertermin bestätigt. Nutzen entsteht für den Kunden durch einen Wissensvorsprung, so dass er seine Prozesse frühzeitig steuern kann. Durch E-Technologien erhöht sich die Flexibilität und das Problemlösungspotenzial des Anbieters, indem sehr individuell, mit begrenztem Aufwand, auf die Bedürfnisse des Kunden eingegangen werden kann. Durch die Transparenz von Kundendaten und die Schnelligkeit, mit der diese mittels E-Technologien übermittelt werden können, sind Käuferprofile und Kaufentscheidungen nahezu in Echtzeit nachvollziehbar und auswertbar und stehen der Entwicklung von innovativen und individuellen Leistungspaketen zur Verfügung. Enterprise-Portale sind beispielsweise individuell auf den Kunden ausgerichtet und können durch ein Application Service Providing genutzt werden: Die Nutzung einer Software wird durch eine kundenindividuelle E-Technologie angeboten. Den Wandel vom Technologieführer zum kundenindividuellen Systemlöser zeigt das Beispiel Dräger Safety. Es werden nicht mehr ausschließlich sicherheitstechnische Sachprodukte (Atemmasken, ArbeitsschutzKleidung) angeboten, sondern umfassende Service- und Logistikleistungen, die den gesamten Customer Buying Cycle umfassen. Deutlich wird dies bei den angebotenen Schulungen, die von reinen „Pflichtschulungen“ zu einem umfassenden Programm für den gesamten Safety-Bereich erweitert wurden. So wird ein Brandschutz-Container vor Ort angeboten, der optimale Trainingsmöglichkeiten bietet, um Gefahrenpotenziale zu simulieren und abschätzen zu können. Beim Shut-Down-Management wird das gesamte Gefahren- und Schutzmanagement bei der Stillegung von Industrieanlagen übernommen, das beispielsweise Consulting, Planung, Ablauf-
110
H. Wildemann
organisation, Vermietung der Ausrüstung, Personallogistik und Abnahme sicherheitstechnischer Standards beinhaltet. Außerdem wird ein speziell für Feuerwehren zugeschnittenes Fitness-Programm angeboten. In der Erhaltung der Dienstfähigkeit, der Reduzierung der krankheitsbedingten Fehltage oder einer Verhinderung von Frühpensionierung liegt der Kundennutzen, der dem Kunden transparent gemacht und kommuniziert wird. Leitlinien Value-to-the-customer
Kundenbeziehungsmanagement statt Transaktions-Marketing
Vorgehensweise Value-to-the-customer
1
Kundenbeziehungen selektieren
2
Kundenbedürfnisse identifizieren
3
Kundennutzen erzeugen
4
Kundennutzen kommunizieren und fair teilen
Kundendialog statt Information-Push
Lösung der Kundenprobleme statt Product-Push
Abbildung 4: Leitlinien und Vorgehensweise Value-to-the-customer-Konzept
Selektion von Kundenbeziehungen Das Value-to-the-customer-Konzept basiert auf einer freiwilligen, partnerschaftlichen und langfristigen Zusammenarbeit. Die Leitlinien Kundenbeziehungsmanagement, Kundendialog und Problemlösungsorientierung zeigen die Möglichkeiten einer Realisierung. Die nötigen Wissensflüsse, Vertrauen und Interaktionen bedürfen des Aufbaus einer Kundenbeziehung als Rahmen für das Value-to-the-customer-Konzept. Um diesen zu füllen, bietet sich eine vierstufige Vorgehensweise an (siehe Abbildung 4): • • • •
Kundenbeziehungen selektieren, Kundenbedürfnisse identifizieren, Kundennutzen erzeugen und Kundennutzen kommunizieren und fair teilen.
Value-to-the-customer verlangt Ressourcen für die detaillierte Identifikation von Kundennutzen, für die Erzeugung und Kommunikation von Kundenbeziehungen, so dass eine Anwendung dieses Konzepts für selekti-
2.2.3 Die adaptive, kundenorientierte Value Chain
111
ve Kundenbeziehungen sinnvoll erscheint. „Nur bei jenen Kunden oder Kundengruppen, die eine entsprechende Profitabilität aufweisen, lohnen sich Bemühungen um Kundenbegeisterung und Kundenbindung“ [StHi02, S.198]. Weil Kundenbeziehungen nicht nur einmalige Transaktionen umfassen, sondern längerfristig angelegt sind, ist eine kurzfristige KostenNutzen-Rechnung als Grundlage für die Selektion nicht aussagefähig genug. Bei Kundenbeziehungen bietet sich daher eine LebenszyklusBetrachtung an, ähnlich der klassischen Investitionsrechnung. Als quantitatives Verfahren zur Berechnung des Kundenbeziehungswerts unter Zeitund Investitionsgesichtspunkten ist die Customer-Lifetime-Value-Rechnung anzusehen. Sie basiert auf der Erkenntnis, dass über den Lebenszyklus unterschiedliche Ertragssituationen vorzufinden sind. Der CustomerLifetime-Value errechnet sich aus der Gegenüberstellung von in der Beziehung auftretenden Kosten und Erlösen, die mit einem unternehmensinternen Zinsfuß auf den Gegenwartswert abgezinst werden. Die Berechnung kann dabei auf einer rein vergangenheitsbezogenen, rein zukunftsbezogenen oder auch einer entsprechenden Kombination beider Verfahren beruhen [StHi02; StMa03]. Identifikation von Kundenbedürfnissen Kundenbeziehungen schaffen die Plattform für eine fundierte Identifikation von Kundenbedürfnissen. In Kundenbeziehungen ist die Bereitschaft und die Akzeptanz der Kunden für Integration erhöht, so dass Methoden der Bedürfnisanalyse zur Anwendung gelangen können. Eine Methode zur Ermittlung von Kundenbedürfnissen, mit der auch ungewöhnliche Lösungen gefunden werden können, stellen Kreativitätstechniken, angewendet in Kunden-Workshops, dar. Bei einer Gebrauchsnutzenanalyse (Field-Valuein-Use) werden Interviews bei Kunden durchgeführt, um eine Aufzählung der Nutzen- und Kostenkomponenten zu erhalten [HoBe00]. Eine weitere Möglichkeit, insbesondere die Heterogenität von Kundenbedürfnissen zu erfassen, bietet die Conjoint-Analyse. Die Grundannahme der ConjointAnalyse liegt darin, dass Produkte und Dienstleistungen sich als Bündel von Nutzen stiftenden Attributen auffassen lassen. In der realen Kaufsituation entscheidet der Kunde nie allein aufgrund des Preises oder der Leistung: Er wägt Preis und wahrgenommenen Nutzen der Leistung gegeneinander ab. Diese Abwägung steht bei der Conjoint-Analyse im Mittelpunkt der Betrachtung. Es handelt sich um ein Verfahren, das auf der Grundlage empirisch erhobener Gesamtnutzenwerte den Beitrag der einzelnen Komponenten zum Gesamtnutzen ermittelt. Durch Einsatz der ConjointAnalyse kann Wissen über die Kundenbedürfnisse generiert werden.
112
H. Wildemann
Gleichwohl existieren Kunden, zu denen ein direkter Zugang versperrt ist. Hier kann ein bilaterales Benchmarking ansetzen, bei dem mit vornehmlich branchenfremden Partnern ein Austausch über die Anforderungen gleicher oder ähnlicher Kunden vorgenommen werden kann [Wild07b]. Dass es nicht ausreicht, nur gegenwärtige Kundenbedürfnisse zu erkennen, zeigt das Beispiel des Automobil-Zulieferanten Freudenberg. Ziel ist, dass nicht nur existierende Kundenbedürfnisse erfasst, sondern zukünftige antizipiert werden. Ein proaktives Kundenmanagement findet sich dabei in den Unternehmensleitsätzen wieder: „Die Bedürfnisse und Erwartungen unserer Kunden vorausschauend zu erkennen, sie zu verstehen und zufriedenzustellen, bestimmt unser Handeln.“ Diese Leitsätze werden im Projekt Customer Value First umgesetzt, das durch gezielten Aufbau einer Partnerschaft mit dem Kunden eine gemeinsame Kommunikationsplattform ermöglicht und somit die Basis für eine Identifikation zukünftiger Bedürfnisse schafft. Erzeugung von Kundennutzen Value-to-the-customer benötigt auch zur Erzeugung von Kundennutzen einen sinnvollen Methodeneinsatz. Dieser beginnt bei der Umsetzung der Kundenanforderungen in technische Produktmerkmale und Prozesse. Hierzu eignet sich der Einsatz eines Quality Function Deployments (QFD). Systematisch lassen sich Kundenanforderungen und -erwartungen in messbare Produkt- und Prozessparameter transformieren. Vorstellungen der Nachfrager werden mittels interdisziplinärer Arbeitsgruppen in Anforderungen für die Produktgestaltung übertragen. Im Mittelpunkt des QFDKonzeptes steht das „House of Quality“. Mit diesem Instrument gelingt die Quantifizierung der relativen Bedeutung der einzelnen Merkmale für die Nachfrager. Potenziale zur Erzeugung von Kundennutzen bestehen nicht nur durch ein materielles Produkt: Nutzen kann an allen Schnittstellen zum Kunden, an den Kundenkontaktpunkten, generiert werden. Dabei ist der Produktbegriff erweitert zu verstehen, indem der Kundendialog als Nutzenpotenzial zu betrachten ist. Die Bedeutung des Kundendialogs spiegelt sich im kommunikativen CRM (Customer Relationship Management) wider, das die gesamte Steuerung und Unterstützung sowie die Synchronisation aller Kommunikationskanäle zum Kunden (Telefon, Internet, E-Mail, Mailings, Außendienst) umfasst. Von besonderer Bedeutung ist dabei der zielgerichtete und abgestimmte Einsatz, der im Customer Interaction Center als multimedialer Kommunikationsschnittstelle Ausdruck findet [HiWi01]. Ein Kundendialog, der im Rahmen des kommunikativen CRM Kommunikati-
2.2.3 Die adaptive, kundenorientierte Value Chain
113
onsbedürfnisse des Kunden erfüllt und zu einem gezielteren Leistungseinsatz beiträgt, ist somit Bestandteil des Value-to-the-customer-Konzepts. Kundennutzen kommunizieren und fair aufteilen Es ist durchaus nicht selbstverständlich, dass ein generierter Kundennutzen dem Kunden bewusst ist. Eine Kommunikation des Kundennutzens ist dabei über verschiedene Phasen des Customer Buying Cycle anzuwenden. Es beginnt bei der Akquise, indem der erwartete Nutzen des Produkts detailliert darzustellen ist. Hierbei ist es oftmals nötig, sich bis auf die Prozessebene des Kunden zu begeben. Um den Nutzen quantifizieren und den entsprechenden Preis definieren zu können, bietet sich der Einsatz der Methode „Nutzenbasierte Preisfindung“ an. Bei der „Nutzenbasierten Preisfindung“ wird vom Nachfragernutzen ausgegangen: Der in Geldeinheiten ausgedrückte Nutzen gibt an, wieviel ein Nachfrager bereit ist, für die einzelnen Produkte oder für das Güterbündel zu zahlen. Mit Hilfe dieser Zahlungsbereitschaft lässt sich die optimale Angebotsstruktur ermitteln. Der Preis wird somit als Gegenwert des wahrgenommenen Nutzens einer Sach- oder Dienstleistung verstanden. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der Nutzen eines Produktes immer subjektiven Wahrnehmungen des Kunden unterliegt. Somit ist es die Hauptaufgabe, die subjektiven Wahrnehmungen zu kennen, um eine Nutzenbasierte Preisfindung durchführen zu können: Erfolgreiches Pricing beginnt deshalb mit besserem Wissen über die Kunden [Rein97]. Ein Beispiel einer Nutzenbasierten Preisfindung ist bei Siemens vorzufinden: Im High-Tech-Marketing richtet sich die Preisgestaltung nach dem „Economic value to the customer“ (EVC). Diese Zielgröße stellt im Vergleich zur Produkt-Preis-Orientierung den Nutzen für den Kunden in den Mittelpunkt (siehe Abbildung 5). Das bedeutet für Siemens, den Kunden zu verstehen, wie er sein Geld verdient, ihm an den wichtigsten Hebeln zu helfen, sein Geschäft zu verbessern, ihn zu unterstützen, mehr Geld zu verdienen, ihn möglichst effizient zu bedienen und den geschaffenen wirtschaftlichen Nutzen fair zu teilen. Erst die Kommunikation des generierten Nutzens erzeugt beim Kunden die Bereitschaft zur Entrichtung eines fair empfundenen Preisentgelts, so dass Kundennutzen zu einem Anbieternutzen beiträgt [Wild02; Wild07b].
H. Wildemann
Lebenszyklus, Kosten
Kaufpreis
1000
1000
300 500
Anlaufkosten
500
200
250
250
Wettbewerbsvorteil des neuen Produkts
250
Hersteller Gesamtkosten
EVC
114
100
Kundenanreiz
150
Herstellergewinn
Verkaufspreis
100
• Wie groß ist der EVC und woher kommt er? Folgekosten Betrieb, Wartung
• Wie wird EVC geteilt zwischen Anwender und Hersteller?
500 400
• Wie schafft es der Hersteller möglichst viel davon zu gewinnen?
Abbildung 5: Aufteilung des geschaffenen Nutzens
E-Technologien am Fallbeispiel E-KANBAN E-Technologien dienen zur Erfassung, Speicherung und Verteilung von explizierter Information und produzieren durch Verknüpfung und Analyse der explizierten Daten neue Informationen für verschiedene Supply ChainPartner. In diesem Sinn können E-Technologien als Enabler für neue Ansätze des Supply Chain Managements gesehen werden [Wild01b; Wild01c]. Der Abbau von Informationsasymmetrien führt zu weniger Koordinations- und Fehlleistungsaufwand und reduziert somit nachhaltig die Kosten. Durch Informationstransparenz über Kundenwünsche kann in der Supply Chain der Kundennutzen in den Mittelpunkt der Prozessorganisation gestellt werden, um so eine engere Kundenbindung zu erreichen. Die Reduzierung von internen sowie unternehmensübergreifenden Informationsbarrieren trägt durch zwei Faktoren zur Leistungsverbesserung bei. ETechnologien können eingesetzt werden, um die Wettbewerbsposition zu verbessern, um die Prozesse beherrschbar zu machen, ihre Geschwindigkeit zu erhöhen und am Markt umzusetzen. Aufgrund effektiverer Informationsbereitstellung können Komplexitäten in den Unternehmensprozessen reduziert und somit die Produktivität erhöht werden. Weiterhin werden dadurch die Produktions- und Unternehmensprozesse hinsichtlich der Durchlaufzeit verkürzt und die Position im Vergleich zum Wettbewerb verbessert. Um diese Wettbewerbsvorteile auf
2.2.3 Die adaptive, kundenorientierte Value Chain
115
lange Sicht zu sichern, können elektronische Kommunikationsmedien ebenso dazu benutzt werden, die Fähigkeiten des Unternehmens zu steuern, um damit Barrieren zum Schutz vor Imitation durch die Konkurrenz zu schaffen. E-Technologien ermöglichen demnach eine Evolution hin zu vernetzten, problemorientierten und flexiblen Supply Chain Strukturen. In den letzten Jahren zeigte sich, dass PPS- und ERP-Systeme oftmals nicht in der Lage sind, den tatsächlichen Kundenbedarf in Produktionsoder Lieferprogrammen abzubilden. Diese Systeme basieren auf einer zentralen planbezogenen Steuerungsphilosophie. Ausgehend von Prognosen erfolgen Fertigungsaufträge, die nach dem Bring-Prinzip bearbeitet werden. Die Folge ist eine Produktion, die nicht dem tatsächlichen Kundenbedarf entspricht: Es wird auf Lager produziert und somit Bestand aufgebaut. Wie sich aber in der Praxis zeigt, kann damit die Teileverfügbarkeit meist nicht gewährleistet werden. Oft ist zu hören: „Die Lager laufen über, aber das, was gebraucht wird, fehlt.“ Diese Problematik gilt umso mehr bei Kaufteilen, da Unsicherheiten und Risiken einer Teile-Nichtverfügbarkeit aufgrund der größeren Abhängigkeiten verstärkt sind. Eine Fallstudie aus der Automobilbranche zeigt, wie dieser Problematik durch Einführung von KANBAN an der Kunden-Lieferanten-Schnittstelle begegnet wurde. Um einen einfachen, sicheren und zügigen Informationsfluss zu gewährleisten, wurde eine Internet-Lösung implementiert. Bei einem OEM war die Situation vorzufinden, dass den Lieferanten eine Vorausschau zur Verfügung gestellt wurde, die im Vergleich mit der tatsächlichen Produktion des Kunden erhebliche Abweichungen aufwies. Des Weiteren zeigte sich, dass die Disziplin der Lieferanten hinsichtlich Mengen- und Termintreue begrenzt war. So kam es immer wieder trotz hoher Bestände partiell zu Engpasssituationen, die Expressaufträge auslösten („Helikopter-Aufträge“) und sogar zum Bandstillstand führten. KANBAN ist eine dezentrale Produktionssteuerung, die auf dem PullPrinzip basiert. Das bedeutet, eine Produktion wird nur durch Verbrauch in der nachgelagerten Stelle ausgelöst. Ausgangspunkt für einen Lieferauftrag ist somit der Kunde – die Anlieferung bzw. Produktion erfolgt kundenorientiert. Dies geschieht über Selbststeuerung des liefernden Bereichs durch klare Regeln und visuelle Anzeigen. Durch eine elektronische Unterstützung kann KANBAN selbst bei großen räumlichen Entfernungen oder einer hohen Variantenvielfalt realisiert werden [Wild07c]. Die Datenübertragung lässt sich durch Nutzung des Internets mit begrenztem Aufwand realisieren, ohne eine investitionsbedingte Abhängigkeit zum Lieferanten aufzubauen. E-KANBAN ermöglicht dem Lieferanten, über Passwort-Zugang den aktuellen Auftrag einzusehen. Bei Entnahme aus dem KANBAN-Puffer durch den Kunden werden die Behälter gescannt. Der Verbrauch wird täglich in einer Datenbank gesam-
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H. Wildemann
melt und zu einem definierten Zeitpunkt auf der Internet-Seite freigegeben. Der Lieferant ist verpflichtet, die verbrauchte Menge in einer definierten Wiederbeschaffungszeit zu liefern (siehe Abbildung 6).
Abbildung 6: Informations- und Materialfluss bei KANBAN
Transportentfernung und wirtschaftliche Transportlosgröße gehen in die Bestimmung der Wiederbeschaffungszeit ein. Die gelieferten Behälter werden gescannt – die Daten werden in einem KANBAN-ControllingTool ausgewertet, so dass Termin- und Mengentreue des Lieferanten in einer übersichtlichen Form beim Kunden einzusehen sind (siehe Abbildung 7). Erfolgsentscheidend ist die Lieferdisziplin des Lieferanten. Deshalb ist es nötig, ihn frühzeitig in das Projekt zu integrieren und ihm seine Vorteile auch zu kommunizieren (Value-to-the-supplier). In der vorliegenden Fallstudie wurde nach einer Fax-KANBANEinführung ein E-KANBAN konzipiert. Im ersten Schritt der KANBANEinführung steht die Untersuchung der KANBAN-Fähigkeit von Baugruppen durch eine Verbrauchsstetigkeits- und Wertigkeitsanalyse. Die Lieferanten-KANBAN-Fähigkeit wurde auf Basis der bestehenden Erfahrungen und einer Abschätzung des Lieferantenentwicklungspotenzials ermittelt.
2.2.3 Die adaptive, kundenorientierte Value Chain
117
Scannen bei Entnahme
Datenbank (Sammeln der Verbräuche, Freibgabe zu einem definierten Zeitpunkt auf Internet-Seite)
Scannen bei Anlieferung der Behälter
Firewall
KANBAN-Controlling
Internet-Seite (Einloggen über Password) Teilebez.
Teilenr.
Anzahl zu liefernde Behälter
Lieferdatum
7
17.10.03
8
17.10.03
Lieferant (Einloggen über Password)
Behälter-Anlieferung
Abbildung 7: E-KANBAN
Im zweiten Schritt wurde die KANBAN-Einführung vorbereitet. Es erfolgte eine Regelkreis-Systemdimensionierung, die Verbrauchsschwankungs- und Sicherheitsaspekte berücksichtigt. Als Informationsmedium für die KANBAN-Aufträge wurde ein Portal konzipiert, das komfortabel und sicher (Absicherung der internen Datenbank durch eine Firewall) die Verbrauchsdaten zur Verfügung stellt. Ein wichtiger Aspekt stellte die Lieferantenintegration und die Schulung der internen Mitarbeiter durch Workshops und Training dar, da die Einhaltung der KANBAN-Regeln einen entscheidenden Erfolgsfaktor des Projektes darstellt.
Quantifizierung des Nutzens logistischer Systeme Die ganzheitliche Optimierung der Supply Chain erfordert intelligente Logistiksysteme. Diese Systeme ziehen allerdings einen Investitionsaufwand mit sich, dem sich vielfältige und bislang nur ansatzweise quantifizierbare Nutzen in der Kette gegenüberstellen lässt. Bei vielen dieser logistischen Investitionen herrscht a priori große Unsicherheit bezüglich des zu erwartenden Nutzenbeitrags. Diese Unsicherheiten zeichnen sich durch Verhaltensweisen in der Wertschöpfungspartnerschaft ab. Der Ansatz einer nachvollziehbaren, transparenten und konzeptspezifischen Kosten- und Nutzenbewertung ist daher essenziell (siehe Abbildung 8).
118 1
H. Wildemann Adaptive Anwendungskonzepte
Just-in-Sequence
2
Bewertungsalgorithmus
1
Referenzprozesse
2
Konzept-Spiegelungen
3
Nutzenverteilung
XX %
Value-to-the customer 3
Nutzenwirkungen
4
Kostenwirkungen
E-Kanban
...
...
…
Akteur 1 12% Akteur 2 20%
Akteur n
5
... …
Akteur 3 16%
Kosten-Nutzenbilanz
Abbildung 8: Nutzenverteilungsmodell
Einzelne logistische Konzepte am Anfang der Wertschöpfungskette können erhebliche Effekte auf nachgelagerte Prozessschritte haben und umgekehrt. Der betriebswirtschaftliche „Gegenspieler“ des logistischen Nutzens wird durch die Summe der auftretenden Kosten dargestellt. Bei der Erfassung von strukturellen Änderungen der anfallenden Kosten müssen zur integralen Beurteilung der logistischen Leistungsfähigkeit und als Grundlage der Nutzenverteilung neben den Leistungskomponenten auch die bei den einzelnen Akteuren auftretenden Kosteneffekte der Konzepteinführung und des Konzeptbetriebes berücksichtigt werden. Erst durch eine Betrachtung der Nutzen- und Kostenseite können valide Aussagen über die echte Nutzenverteilung und Wege zu einem Vorteilsausgleich geschaffen werden. Die Ableitung der relevanten Kostenarten schafft hier die Basis zur Quantifizierung der Kosteneffekte bei der Analyse realer Fallbeispiele. Logistikprojekte sind individuelle „Unikate“, deren Kostenstruktur von einer Vielzahl externer Randbedingungen abhängt. Der Erfolg eines JIS-Prozesses hängt wesentlich von der Beherrschung der Schnittstellen-Problematik ab. Diese drückt sich im Materialfluss aus, indem beispielsweise Wartezeiten zu ungeplanten Pufferungen führen. Schnittstellen bestehen aber auch bei Informationsfluss und EDV. Hierbei geht es um eine System-Kompatibilität und eine Übertragung der relevanten Daten. In der Praxis bestehen insbesondere Probleme, da häufig zu viele Daten mit unterschiedlichen Planungshorizonten (Lieferabruf, Feinabruf, Referenzdaten, Sequenzdaten) transferiert werden, so dass der Lieferant unterschiedliche Stati zur Verfügung hat, die dann aber mit den tatsächlich abgerufenen Mengen wenig gemein haben. Die Folge ist, dass das Datenvertrauen abnimmt. Für den JIS-Kunden stehen Teileverfügbarkeit, Prozesssicherheit, Risikobegrenzung, Flexibilität (Verschiebbarkeit
2.2.3 Die adaptive, kundenorientierte Value Chain
119
der Montageplanung) und geringe JIS-Dienstleistungskosten im Vordergrund. Dagegen streben JIS-Dienstleister und -Lieferant geringe Bestände und eine Reduzierung des Handlingaufwands an. Dieser entsteht zum Beispiel durch Änderungen von Plandaten oder Entwicklungsständen. Unstetigkeiten erschweren aber auch die Kapazitätsplanung. Während für den Dienstleister die Personalplanung im Vordergrund steht, hat für den JISLieferanten auch die Maschinenplanung eine hohe Bedeutung. Hierbei spielt zudem die Losgrößen-Optimierung (Rüstzeiten) in der eigenen Produktion eine Rolle. Da die JIS-Lieferanten auf einer Maschine häufig für mehrere Kunden fertigen, kommt es zu Konflikten und zu Priorisierungen bei der Auftragseinplanung, indem unter anderem die Kundenbedeutung herangezogen wird. Durch E-KANBAN können die Bestände um 60% reduziert werden. Gleichzeitig reduziert sich der operative Dispositionsaufwand wesentlich, da dieser sich nur noch darauf beschränkt, die Dimensionierung des KANBAN-Regelkreises im Blick zu behalten und eventuell anfallende Sonderaufträge mit dem Lieferanten zu klären. Außerdem können Expressaufträge, die zuvor den Regelfall darstellten, fast vollständig beseitigt werden. Die Vorteile beim Lieferanten liegen in einer – im Vergleich zum herkömmlichen Dispositionsprinzip – verbesserten Planungsgrundlage durch einen konstanteren Bedarfsverlauf, da der tatsächliche Verbrauch maßgebend ist und nicht eine Planungsgröße, die durch Fehlprognosen und Eilaufträge verwirbelt wird. E-KANBAN ist aber auch Ausgangspunkt weiterer vielfältiger positiver Effekte. Eine engere Lieferantenbeziehung führt dabei nicht nur zu einer Erhöhung der logistischen Leistungsfähigkeit, sondern auch zu kontinuierlichen Verbesserungen im Bereich Qualität. Der Einsatz von Konzepten wie E-Kanban führt damit zu einer Neugestaltung der Abnehmer-Lieferanten-Beziehungen, reduziert Logistikkosten, erhöht Logistikleistungen und trägt zur Wertsteigerung von Unternehmen bei. Erst der kombinierte Einsatz verschiedener aufeinander abgestimmter Konzepte ermöglicht eine durchgängige Optimierung der Logistikprozesse sowie die Ausschöpfung der Potentiale. Fallstudien haben gezeigt, dass die Einsparungen durch den Einsatz von E-Technologien in den drei Bereichen Electronic Sourcing, Supply Chain Management und Customer Relationship Management zu einer Verdopplung der Umsatzrendite führen können. Eine Auswertung nach induzierten Nutzen- und Kosteneffekten pro Akteur erleichtert Konzepteinführungen und den Weg zu einer adaptiven, kundenorientierten Value Chain. Ferner wird durch eine Konsolidierung der Einzeleffekte eine Gesamtbeurteilung der Nutzen-Kosten-Relation auf der Betrachtungsebene der gesamten Wertschöpfungskette möglich. Die Bilanzierung der Nutzen- und Kosteneffekte erlaubt eine präzise Beurtei-
120
H. Wildemann
lung, welcher Akteur in welchem Umfang Nutzen aus der Konzepteinführung zieht bzw. wie die anfallenden Kosten zwischen den Beteiligten verteilt sind. Damit bildet die Bilanz eine robuste Grundlage für einen Vorteilsausgleich auf Basis der erhobenen Nutzen- und Kostenanteile. Den Unternehmen ermöglicht das Modell eine Basis für weiterführende Gespräche, Vertragsverhandlungen und Ausgleiche von Kosten und Vorteilen untereinander. Damit lässt sich die Wettbewerbsfähigkeit der Logistik überprüfen und im Vergleich der Akteure bewerten. Weitere Informationen, News und Newsletter unter: www.tcw.de
Literatur [HiWi01]
[HoBe00] [Rein97] [StHi02]
[StMa03] [Wild00] [Wild01a] [Wild01b] [Wild01c]
Hippner, H.; Wilde, K. D.: CRM – Ein Überblick. In: Helmke, S.; Dangelmeier, W. (Hrsg): Effektives Customer Relationship Management – Instrumente – Einführungskonzepte – Organisation. Gabler, Wiesbaden, 2001, S.3-37. Homburg, C.; Beutin, N.: Value-Based Marketing – Die Ausrichtung der Marktbearbeitung am Kundennutzen. IMU, Mannheim, 2000 Reinecke, S.: Nutzenorientierte Preisgestaltung. In: Belz, C. (Hrsg): Leistungs- und Kundensysteme – Kompetenz für Marketing-Innovationen. Thexis, St. Gallen, 1997, S.54-71. Stahl, H. K.; Hinterhuber, H. H.; von den Eichen, S.A.; Matzler, K.: Kundenzufriedenheit und Kundenwert. In: Hinterhuber, H.H.; Matzler, K. (Hrsg): Kundenorientierte Unternehmensführung – Kundenorientierung, Kundenzufriedenheit, Kundenbindung. Gabler, 3. Aufl., Wiesbaden 2002, S.193-211. Stahl, H. K.; Matzler, K.; Hinterhuber, H.H.: Linking customer lifetime value with shareholder value. Industrial Marketing Management 32, 2003, S.267-279. Wildemann, H.: Von Just-in-Time zu Supply Chain Management. In: Wildemann, H. (Hrsg): Supply Chain Management. TCW, München, 2000, S.49-85. Wildemann, H.: Das Just-in-Time-Konzept – Produktion und Zulieferung auf Abruf. TCW, 5. Aufl., München, 2001a. Wildemann, H.: Supply Chain Management mit ETechnologien. ZfB Ergänzungsheft 3/2001, 2001b, S.1-19. Wildemann, H.: Logistik Prozessmanagement. TCW, 2. Aufl., München, 2001.
2.2.3 Die adaptive, kundenorientierte Value Chain [Wild02] [Wild07a] [Wild07b]
[Wild07c]
[Wild07d]
121
Wildemann, H.: Service- und Wissensmanagement – Programme zur Leistungssteigerung von Unternehmen – Ergebnisse einer Delphi-Studie. TCW, München, 2002. Wildemann, H.: E-Commerce – Leitfaden zum Einsatz von ETechnologien in der Wertschöpfungskette. TCW, München, 2007. Wildemann, H.: Kundenorientierung – Leitfaden zur Einführung eines Beschwerde-, Qualitäts-, Kosten- und Preismanagements, einer Ausrichtung der F&E, der Produktion, der Produkte sowie des Vertriebs und der Mitarbeiter an Kundenbedürfnissen. TCW, 8. Aufl., München, 2007. Wildemann, H.: Kundenbeziehungsmanagement – Leitfaden zur Kundenintegration und zum wissensbasierten Einsatz von Service, Logistik und E-Technologien. TCW, 1. Aufl., München, 2007. Wildemann, H.: KANBAN-Produktionssteuerung – Leitfaden zur Einführung des Hol-Prinzips. TCW, 12. Aufl., München, 2007.
2.2.4 Quantifizierung der Flexibilität im Rahmen wertschöpfungspartnerschaftlicher Zusammenarbeit
K.-I. Voigt, H. Wildemann
Aktuelle Trends und Herausforderungen an die Logistik in der Automobilindustrie Die Automobilindustrie befindet sich in einer Phase des Umbruchs. Der aktuelle Wandel kann durch drei übergeordnete Trendkategorien beschrieben werden: die kunden- und marktbezogenen Trends, die entwicklungsund produktbezogenen Trends sowie den produktions- und beschaffungsbezogenen Trends [Wild08, S.2ff.]. Die sich abzeichnenden Trends haben signifikante Auswirkungen auf die Anforderungen an die Unternehmenslogistik und das übergreifende Supply Chain Management. Die Prozesse und Strukturen müssen gleichermaßen in der Lage sein, den aktuellen Herausforderungen Rechnung zu tragen wie auch durch eine hohe Wandlungsfähigkeit und Flexibilität sich stets neuen Anforderungen zu stellen. Die Schaffung zukunftssicherer, leistungsfähiger und vor allem flexibler Logistiksysteme ist vor diesem Hintergrund ein entscheidender Wettbewerbsfaktor für Unternehmen sämtlicher Wertschöpfungsstufen. Hierbei wirken sich logistische Leistungen in mehrfacher Weise auf die Spielregeln im Wettbewerb aus. Zum einen bestimmen logistische Leistungen den Kundennutzen, indem sie die Lieferqualität, den Lieferzeitpunkt und die Verfügbarkeit am Point of Sales beeinflussen. Zum anderen bieten logistische (Spitzen-)Leistungen ein Differenzierungspotenzial gegenüber den Wettbewerbern, da sie nur schwer imitierbar sind. Somit ermöglichen exzellente logistische Leistungen die Neudefinition von Branchenspielregeln [Wild05b, S.2f.].
124
K.-I. Voigt, H. Wildemann
Die Bedeutung der Flexibilität als Überlebensfaktor Neben der unternehmensindividuellen Optimierung der Logistik gilt es insbesondere, die unternehmensübergreifenden Logistikprozesse und -strukturen zu verbessern, da in Zukunft nicht mehr einzelne Unternehmen gegeneinander antreten, sondern aufgrund der intensiven unternehmensübergreifenden Integration der Wertschöpfungsaktivitäten ein Wettbewerb zwischen Wertschöpfungsketten stattfinden wird [Wild05a, S.504; CoGa02, S.4; Chri98, S.16; Lamb98, S.1]. Die Fähigkeit, die Supply ChainArchitektur optimal zwischen den Extrempolen Stabilität und Flexibilität zu positionieren, wird zum Überlebensfaktor für Wertschöpfungsverbünde werden. Unternehmen und Unternehmensnetzwerke bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Flexibilität – als einen potenziellen strategischen Erfolgsfaktor – und Stabilität als Garant für effiziente Prozessgestaltung mit einer idealen, weil langfristig planbaren, Ressourcenallokation. Entscheidend ist in diesem Kontext vor allem die unbedingte Synchronisation der nachfrageinduzierten Flexibilitätsbedarfe und der (unternehmens-)eigenen Flexibilitätsbereitstellung, deren Gewährleistung in erster Linie von der Entwicklung und Pflege der erfolgsnotwendigen, individuell gestaltbaren Flexibilitätspotenziale abhängt. Die Installation der Flexibilität als Paradigma einer zukunftsfähigen Unternehmensausrichtung darf dabei keinesfalls ohne Reflexion der jetzigen und Antizipation der zukünftigen Unternehmensentwicklung geschehen. Flexibilität ist kein Selbstzweck, sondern hat sich an ihrem Beitrag zur Verbesserung der Zielerreichung zu orientieren und ist dabei stets auf ihren unmittelbaren Zusammenhang mit den Anforderungen des Wettbewerbsumfeldes zu überprüfen [Altr84, S.606; Meff85, S.122; Kalu93, S.1179; Pibe01a, S.899]. Die Bereitstellung von Flexibilitätspotenzialen verursacht Kosten und ist deshalb sinnvoll, wenn den vorgehaltenen Potenzialen auch ein entsprechender Flexibilitätsbedarf gegenübersteht [KeKe05, S.234; Pibe01a, S.899ff.]. Die Bedeutung der Flexibilität für Wertschöpfungsnetzwerke deckt sich weitgehend mit der für das Einzelunternehmen [Pibe01a, S.894]. Es gibt allerdings einige Besonderheiten im Rahmen der wertschöpfungspartnerschaftlichen Zusammenarbeit, auf die hier hingewiesen sei: Die leistungswirtschaftlichen Aktivitäten eines Wertschöpfungsnetzwerks sind Einflüssen ausgesetzt, die sowohl durch die Umwelt als auch durch das Netzwerk selbst induziert werden. Diese Einflüsse unterstützen oder beeinträchtigen die Zielerreichung in einem Netzwerk. „Vor diesem Hintergrund sind Wertschöpfungsnetzwerke so zu gestalten, dass sie die Fähigkeit besitzen,
2.2.4 Quantifizierung der Flexibilität
125
auf diese Einflüsse in einer zielgerechten Weise reagieren zu können. Diese Reaktionsfähigkeit wird im Allgemeinen als Flexibilität bezeichnet.“ [Pibe01a, S.894]. Der Netzwerk-Flexibilität ist vor diesem Hintergrund ein noch größerer Stellenwert als der Flexibilität von Einzelunternehmen beizumessen. Eine weitere Besonderheit der Netzwerke im Hinblick auf die Flexibilität ist deren immanente Komplexität. Charakterisiert man ein einzelnes Unternehmen nach den relevanten Flexibilitätsarten, so ist dies bei der Betrachtung von Wertschöpfungsnetzwerken ungleich schwerer. Dann nämlich ist nicht mehr die Flexibilität eines einzelnen Unternehmens alleine Gegenstand der Betrachtung, sondern die Flexibilitäten mehrerer verschiedener Unternehmen mit deren Beziehungen, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen untereinander.
Definition und Abgrenzung des Flexibilitätsbegriffs Flexibilität als ein strategischer Erfolgsfaktor wird in der turbulenten Unternehmensumwelt als obligatorische Fähigkeit von Unternehmen betrachtet. Auch die Wissenschaft greift seit geraumer Zeit diesen Trend auf und macht die Flexibilität sowie deren Arten und Beschreibungssystematiken zum Gegenstand zahlreicher wirtschafts- und ingenieurwissenschaftlicher Arbeiten (vgl. hierzu [Bern00; Burm05; Corr94; KaBl05; Meff85; ReHi00; Rein00; SeSe90; Wild05c]). Dennoch oder gerade deshalb herrscht Uneinigkeit über die Frage, was unter dem Begriff der Flexibilität zu subsumieren sei. Im Rahmen des Forschungsverbundes ForLog wurden in einer vom Teilprojekt FlexLog durchgeführten Untersuchung vier wesentliche Merkmale identifiziert, mit deren Hilfe der Flexibilitätsbegriff weitestgehend klar abgegrenzt und definiert werden kann [VoSa05, S.6]: 1. Auslöser der Veränderung: Wird die Veränderung intern oder extern ausgelöst? 2. Form der Veränderung: Ist die Form der Veränderung, im Zeitablauf betrachtet, reaktiv oder proaktiv? 3. Umsetzung der Veränderung: Wird die Veränderung vom System selbstständig oder als Eingriff Dritter umgesetzt (Eigenschaft)? 4. Zielsystem: Geht es um die Erreichung der gleichen Ziele oder um eine Anpassung des Zielsystems?
126
K.-I. Voigt, H. Wildemann
Folgende Definition des Flexibilitätsverständnisses kann hieraus abgeleitet und den weiteren Überlegungen im Rahmen der gemeinsamen Aktivitäten zu Grunde gelegt werden: Flexibilität ist die Fähigkeit eines Systems (Unternehmen oder Netzwerk), selbstständig proaktiv oder reaktiv mit externen oder intern induzierten Veränderungen umzugehen, um die bisherigen Ziele zu erreichen. Auch die selbständige Anpassung des Zielsystems als Reaktion auf eine zukünftige oder bereits eingetretene Veränderung ist möglich. Die für eine Veränderungsbewältigung nötigen und zur Verfügung stehenden Ressourcen in Prozessen, Systemen und Strukturen werden als Flexibilitätspotenziale bezeichnet [VoSa05, S.7].
Notwendigkeit der Quantifizierung Gerade angesichts der Vielfalt der existenten Flexibilitätsdefinitionen und diskutierten Flexibilitätsarten ist es notwendig, in den bi- oder multilateralen Assoziationen der unternehmerischen Praxis jeweils ein einheitliches und verbindliches – quantifizierbares – Begriffsverständnis zu etablieren. Die Messung und Bewertung der Flexibilität und der unternehmensindividuellen Flexibilitätspotenziale stellen dabei jedoch ein zentrales Problem dar [KaBl05, S.10]. Das ist umso problematischer, als die Messung und Bewertung der Flexibilität wesentliche Voraussetzungen für eine zielgerichtete Flexibilitätsplanung sind [KaBl05, S.10]. Bei der Bewertung der Flexibilität müssen sowohl deren Nutzenpotenzial als auch die zur Flexibilitätsbereitstellung anfallenden Kosten berücksichtigt werden. Während die Ermittlung des Kostenaspektes – wie etwa Kosten für flexible Maschinenparks in der Produktion oder die Schaffung flexibler Infrastrukturen - vergleichsweise einfach ist, ist der tatsächliche Nutzen der Flexibilität nur schwer zu quantifizieren [KaBl05, S.11]. In der betriebswirtschaftlichen Literatur existieren bereits Ansätze zur Quantifizierung der Flexibilität (vgl. hierzu [Schä80; Ost93; Pibe01b]). Die Vorgehensweise zur Quantifizierung im Rahmen des Teilprojekts NutzLog unterscheidet sich von den existenten Ansätzen durch die Berücksichtigung der Flexibilitätsentwicklung als wesentliche zu berücksichtigende Nutzengröße bei der Auswahl logistischer Konzepte zur Kopplung von Akteuren einer Wertschöpfungskette. Bei vielen logistischen Investitionen herrscht a priori große Unsicherheit bezüglich des zu erwartenden Nutzenbeitrags. NutzLog zeigt auf, wie Transparenz über den logistischen Nutzen in Wertschöpfungsnetzwerken
2.2.4 Quantifizierung der Flexibilität
127
die Zusammenarbeit fördern kann, und untersucht den Vorteilsausgleich auf Basis der Nutzenverteilung. Für jedes logistische Konzept wurden entlang der Wertschöpfungskette Kosten-, Zeit- und Qualitätskennzahlen definiert, die sich durch die Implementierung eines neuen logistischen Konzeptes akteursspezifisch verändern. Über die Betrachtung der Entwicklung der akteurs- und konzeptspezifischen Kennzahlen kann abgeleitet werden, wer von der Konzepteinführung in welchem Umfang profitiert oder negativ beeinträchtigt wird. Gleichermaßen wird die zukünftige Kostenverteilung durch den Konzeptbetrieb bewertet. Die Gegenüberstellung der gesamten Nutzen- und Kosteneffekte schafft Transparenz und bildet die Grundlage für den Vorteilsausgleich zwischen den Akteuren. Bei der NutzLog-Vorgehensweise ist es möglich, Aussagen über die Flexibilitätsentwicklung zu treffen. Die Flexibilität(-sentwicklung) wird dabei über die Entwicklung charakteristischer Kennzahlen abgebildet, die Einfluss auf die Flexibilität als Ganzes haben. Im Rahmen der gemeinsamen Aktivitäten mit den Industriepartnern wurden repräsentative Kennzahlen identifiziert, die Einfluss auf die Flexibilität von Unternehmen und Netzwerken haben. Um der unterschiedlichen Relevanz der Kennzahlen Rechnung zu tragen, wurden diese gewichtet. Auf diese Weise wird die unterschiedliche Flexibilitätswirksamkeit der Kennzahlen berücksichtigt. Je nach betrachtetem logistischem Konzept verändern sich die Kennzahlen flexibilitätsfördernd oder -hemmend. Die gesamte Analyse der Nutzenverteilung und des Vorteilsausgleichs findet toolbasiert statt. Im Rahmen der rechnergestützten Auswertung werden auch Auswertungen über die Entwicklung der Flexibilität – und anderen Größen, wie die Entwicklung der Transparenz – erstellt. Diese können bei der Implementierung des Konzeptes berücksichtigt und daraus im Rahmen der partnerschaftlichen Zusammenarbeit konkrete Maßnahmen abgeleitet werden.
Flexibilitätsmanagement Nachdem Flexibilität als ein strategischer Erfolgsfaktor identifiziert wurde, stellt sich die Frage, wie dieser Erfolgsfaktor aus betriebswirtschaftlicher Sicht geplant, gesteuert und kontrolliert werden kann. Es ist offensichtlich, dass dazu ein Managementkonzept benötigt wird. Dieses Konzept sollte dabei mehrere Aufgaben und Anforderungen erfüllen: • Festlegung der relevanten Managementobjekte, • Definition und Gestaltung eines Managementprozesses,
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K.-I. Voigt, H. Wildemann
• Möglichkeit der Einbindung in bisherige Strukturen und schließlich • Operationalisierbarkeit des Konzepts. Die Definition der relevanten Managementobjekte erscheint bei Betrachtung der vielschichtigen und heterogenen Systematisierungsansätze der Flexibilität zunächst nicht trivial. Die Ansätze von Bernard [Bern00] und Burmann [Burm05] weisen nochmals auf die Gegensätzlichkeit der entwickelten Flexibilitätsansätze hin. Untersucht man darüber hinaus noch weitere Ansätze – wie von Koste/ Malhotra [KoMa99, S.75ff.], Meffert [Meff85, S.121ff.] oder Barad und Sapir [BaSa03, S.155ff.] – hinsichtlich der untersuchten Flexibilitätsobjekte, ist eine Gemeinsamkeit feststellbar: Die meisten Autoren benennen entweder ausgewählte Prozesse (wie Transportieren oder Produzieren) oder Ressourcen (wie Maschinen oder Transportmittel) als Träger von Flexibilität. Allen Ansätzen gemein ist die Systematisierung nach einem Prozess oder einer Ressource. Dies lässt den Schluss zu, dass einem Flexibilitätsmanagement die Aufgabe zukommt, die Flexibilität von Prozessen und Ressourcen zu steuern. Eine Strukturierung der Prozesse und Ressourcen nach hierarchischen Ebenen verbessert in diesem Zusammenhang die Übersichtlichkeit [KlGm93, S.27]. Es ist daher zu unterscheiden, ob die Prozesse oder Ressourcen hinsichtlich Flexibilität auf Netzwerk-, Unternehmens-, Funktions-, Arbeitsgruppen- oder Mitarbeiterebene analysiert werden. Darüber hinaus sind die Prozesse und Ressourcen inhaltlich zu klassifizieren. Es ist beispielsweise zu unterscheiden, ob informationstechnische oder organisatorische Felder betroffen sind. Zusammenfassend gelingt es mit dieser Arbeitsstruktur, die Objekte des Flexibilitätsmanagements eindeutig abzugrenzen [KlGm93, S.26f.]. Neben den Objekten ist ein Managementprozess zu definieren, der die Aufgaben eines Flexibilitätsmanagements abbildet. In der deutschsprachigen Literatur befassen sich Thielen [Thie93], von der Oelsnitz [Oels94], Jannsen [Jans97], Damisch [Dami02], Nagel [Nage03] und Hocke [Hock05] ausführlich mit dem Flexibilitätsmanagement. Die vorgestellten Prozesse unterscheiden sich jedoch wiederum erheblich. Gemeinsame Elemente sind aber auch hier feststellbar. Die meisten Autoren sprechen von Flexibilitätsmanagement, wenn Flexibilitätspotenziale in Abhängigkeit von den jeweiligen Bedarfen gestaltet und genutzt werden. Ein noch detailliertes Prozessverständnis ist bei Steger zu finden [Steg04, S.74].
2.2.4 Quantifizierung der Flexibilität
129
Im Rahmen des Teilprojekts FlexLog wurde, auf die existierenden theoretischen Grundlagen aufbauend, ein eigener Flexibilitätsmanagementprozess entwickelt, der sich besonders durch seine Vollständigkeit auszeichnet. Wie in Abbildung 1 dargestellt, umfasst der Managementprozess in der hier gewählten Sichtweise neun Prozessschritte, die bearbeitet werden sollten. Kein Flexibilitätsbedarf Anpassungsauslöser
Flexibilitätsbedarf
SollFlexibilität
IstFlexibilität
Flexibilitätspotenzial
Gap vorhanden
Gap nicht vorhanden
Flexibilitätsmaßnahmen
Flexibilitätsumsetzung (Built-in)
Flexibilitätsressourcen
Flexibilitätskosten/-nutzen
Abbildung 1: Flexibilitätsmanagementprozess
Dieser Prozess ermöglicht es, Flexibilität im Unternehmen/Netzwerk zielgerichtet und effizient zu steuern. Die relevanten Aufgaben des Managements sind die Analyse, Planung und Kontrolle der Flexibilität. Im Bereich der Flexibilitätsanalyse gilt es, die relevanten Anpassungsauslöser zu identifizieren und daraus den benötigten Flexibilitätsbedarf abzuleiten. In der Flexibilitätsplanung wird das Flexibilitätsziel – SollFlexibilität – für den jeweiligen Anpassungsauslöser festgelegt. Diese SollFlexibilität wird mit der vorhandenen Ist-Flexibilität verglichen, bei einem Gleichgewicht wird die entsprechende Ist-Flexibilität umgesetzt. Bei einem Ungleichgewicht (Gap) werden entsprechende Maßnahmen, die unter Kosten-Nutzen-Aspekten zu prüfen sind, abgeleitet. Das Resultat dieser Maßnahmen spiegelt sich in einer Veränderung der Flexibilitätsressourcen wider. Die Kontrolle der geplanten Flexibilität im Verlauf der Zeit schließt den Managementprozess ab. Wie skizziert, ist im Kontext eines Flexibilitätsmanagements eine Orientierung an einem spezifischen Anpassungsauslöser sinnvoll. In einem solchen Zusammenhang kann Flexibilität besonders zielorientiert analysiert, geplant und kontrolliert werden. Der Flexibilitätsprozess muss in einem zweiten Schritt noch nach der Managementebene, also strategisch, taktisch oder operativ, differenziert werden. Ein operatives Flexibilitätsmanagement befasst sich vorrangig mit Anpassungsauslösern, die in einem Zeithorizont von maximal sechs Monaten relevant sind. Das taktische bzw. strategische Flexibilitätsmanagement
130
K.-I. Voigt, H. Wildemann
untersucht Anpassungsauslöser, die in einem Zeithorizont von einem halben Jahr bis zu ca. fünf Jahren auftreten können. Entsprechend dieser Klassifizierung sind die inhaltlichen Schwerpunkte unterschiedlich ausgestaltet. Die Entscheidungen des strategischen Flexibilitätsmanagements setzten die Prämissen für operative Flexibilitätsentscheidungen. Die Aufgabe des strategischen Managements ist daher die Analyse der strukturellen Rahmenbedingungen und die daraus folgende Ableitung von Flexibilitätszielen. Im operativen Management hingegen, werden zum einen diese Ziele „heruntergebrochen“ und konkretisiert, zum anderen aber auch kurzfristige Maßnahmen, wie z. B. Notfallkonzepte, verankert. Zur Verbreitung von Flexibilitätsmanagement in der Unternehmenspraxis liegen nach Analyse der bisherigen Arbeiten zum Themenfeld keine Erkenntnisse vor. Eine geringe Verbreitung lässt sich daher nur vermuten. Ein potenzielles Vorgehen zur Integration des Flexibilitätsmanagements in das Unternehmensumfeld ist die Verknüpfung mit artverwandten und etablierten Konzepten, wie dem Risikomanagement. Risikomanagement überschneidet sich mit Flexibilitätsmanagement im Bereich der reaktiven Sicht der Flexibilität. Das heißt, die Anpassungsauslöser, auf die nur reagiert werden kann (Risiken), sind heute schon Element des klassischen industriellen Risikomanagements. Ein Flexibilitätsmanagement umfasst jedoch auch eine proaktive Komponente. Die inhaltliche Verbindung von Flexibilitätsmanagement und Risikomanagement stellt daher einen Weg zur Integration in bisherige Ansätze dar. Risikomanagement ist bei einem Großteil der Unternehmen bereits existent [Wild06, S.74] und bietet daher eine geeignete Grundlage für einen Ausbau in Richtung auf ein Flexibilitätsmanagement. Die größte Herausforderung im Bereich Flexibilitätsmanagement besteht jedoch hinsichtlich der Operationalisierung [Hors05, S.3]. Die fehlende Mess- und Bewertungsmethodik ist die zu überwindende Hürde [KaBl05, S.10f.]. Im Rahmen des operativen Flexibilitätsmanagements stellt der vorgestellte Ansatz von NutzLog eine Möglichkeit dar, dieses Problem zu lösen. Mit dieser Methode gelingt es, über Ursache-WirkungsKetten Flexibilität zu messen und letztlich zu bewerten. Im Bereich des strategischen Flexibilitätsmanagements ist der Realoptionenansatz als Mess- und Bewertungsmethodik schon mehrfach geprüft und verwendet worden [Darm03; Meye01; Pibe03]. Somit stehen wenigstens zwei potenzielle Methoden zur Verfügung, die eine Operationalisierbarkeit sicherstellen können. Um letztlich jedoch eine allgemeingültige Aussage treffen zu können, sind noch weitere (fallbezogene) Anwendungen notwendig. Können die formulierten Aufgaben und Anforderungen erfüllt werden, ist das eigentliche Ziel des Flexibilitätsmanagements realisierbar. Flexibili-
2.2.4 Quantifizierung der Flexibilität
131
tät kann dann unter ökonomischen Gesichtspunkten in Prozessen und Ressourcen analysiert, geplant und kontrolliert werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass aus konzeptioneller Sicht die relevanten Aufgaben und Anforderungen an ein Flexibilitätsmanagement identifiziert und entsprechende Lösungsvorschläge skizziert wurden. Wie dieses Konzept in der Unternehmenspraxis umgesetzt werden kann, soll im Folgenden näher betrachtet werden.
Expertenaussagen zum Flexibilitätsmanagement Aus dem Flexibilitätsmanagementprozess ist ableitbar, dass Flexibilität und deren Management kein eigenständiges und in der Organisation (Unternehmen oder Netzwerk) verankertes Themenfeld darstellt. Vielmehr spielen hierbei artverwandte Themenfelder wie das Risikomanagement und das Komplexitätsmanagement zusammen. Es ist jedoch unbestreitbar, dass die Bedeutung von Flexibilität zunehmend an Bedeutung gewinnt und somit auch die Bedeutung eines eigenständigen Flexibilitätsmanagements in der Industrie zu überprüfen ist. Vor diesem Hintergrund wurde von FlexLog im Rahmen von Experteninterviews und Workshops der aktuelle Stand der Implementierung eines Flexibilitätsmanagements in der Industrie analysiert. Insgesamt wurden 14 (telefonische und persönliche), strukturierte Interviews durchgeführt, die neben dem Themenfeld „Status Quo des Flexibilitätsmanagements“ auch Fragen zu weiteren Anforderungen an ein Flexibilitätsmanagement beinhalteten. Die im Rahmen dieser Experteninterviews gewonnenen Erkenntnisse wurden dann zusammen mit den Forschungspartnern in zahlreichen Workshops weiter verdichtet, um zu einem „geschlossenen Bild“ zu gelangen. In keinem der am Forschungsprozess beteiligten Unternehmen gibt es ein explizites oder gar eigenständiges Flexibilitätsmanagement. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine latent bestehende Managementaufgabe, deren Erfüllung im Kontext diverser artverwandter Problemstellungen vollzogen wird. Neben dem Risiko- und Komplexitätsmanagement sind auch das Kapazitätsmanagement und die Fertigungsplanung zu berücksichtigen. So zeigt sich, dass eine wesentliche Herausforderung im Bereich der Flexibilitätsbedarfe für alle in der Studie befragten Unternehmen die Erfüllung der Lieferabrufe ihrer Kunden ist. Quantitative Schwankungen der Nachfragemengen müssen je nach Vertragsgestaltung in einer Bandbreite zwischen +/- 15% vom Index 100 garantiert werden. Aber auch darüber hinaus gehende Schwankungen müssen schnell und möglichst effizient
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bewältigbar sein. Die Diskrepanzen zwischen der notwendigen SollFlexibilität und der vorhandenen Ist-Flexibilität sind gemäß den Erkenntnissen aus der Studie und den Workshops besonders im Bereich der Maschinenkapazitäten und der Mitarbeiter auszugleichen. Flexible Arbeitszeitkonten stellen somit einen wirksamen Baustein eines umfassenden Flexibilitätsmanagements dar [KlGm93, S.27]. Neben den quantitativen Schwankungen müssen die Zulieferunternehmen jedoch auch qualitative Veränderungen bewältigen. Dabei kann je nach Wertschöpfungsstufe ein enger Zusammenhang zwischen qualitativen und quantitativen Veränderungen bestehen, der in der nächsten Wertschöpfungsstufe eventuell nicht mehr existiert. Die Anforderungen an ein Flexibilitätsmanagement sind daher auch in der Bewältigung solcher wechselseitiger Beziehungen zu sehen. Betrachtet man die Anforderungen und Auswirkungen hinsichtlich der Volumenflexibilität auf die Unternehmensebene, so stellt sich zudem die Frage, welche organisatorische Ausgestaltung bei der Konzeption eines Flexibilitätsmanagements zu wählen ist und welche Bausteine hinsichtlich hierarchischer und heterarchischer Strukturen in welcher Weise zu kombinieren sind, um diese Volumenschwankungen schnell absorbieren zu können. In der Praxis treffen top-down-induzierte Rahmenbedingungen und topdown-formulierte Flexibilitätsziele auf eine bottom-up-getriebene Operationalisierung der Flexibilität. Während die Unternehmensführung die grundsätzliche Zielrichtung und damit die Rahmenbedingungen festlegt, ist es Aufgabe der Projektteams – Disponenten sowie Fertigungs- oder Logistikplaner – die Flexibilität zumindest in der unternehmensinternen Wertschöpfung sicherzustellen. An diesen Stellen konzentriert sich das Wissen hinsichtlich Kundenabrufen, Kapazitätsauslastungsgraden und weiteren relevanten Kennzahlen und Indikatoren. Zugleich können Abweichungen und Schwankungen schnell identifiziert und geeignete Maßnahmen eingeleitet werden. Wichtig hierfür ist ein aktueller Überblick über die zur Verfügung stehenden Flexibilitätspotenziale in den einzelnen Prozessen und Ressourcen. Eine Erhöhung der Nachfrage erfordert eine Erhöhung der eigenen Produktion, was auch die Möglichkeit einer flexiblen Anpassung der Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen voraussetzt. Die schnelle Anpassung des Personals in Produktion und Logistik ist ebenfalls von hoher Bedeutung, was zugleich auf die Relevanz von flexiblen Arbeitszeitkonten und Leiharbeitern hinweist.
2.2.4 Quantifizierung der Flexibilität
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Zusammenfassung Die Zielsetzung eines Unternehmens muss es sein, durch Produkte in Kombination mit Dienstleistungen die Anforderungen und Bedürfnisse der Kunden zu erfüllen [Reit05, S.270]. Neben der Funktionalität und Qualität des Produktes sind Zeit- und Kostenaspekte wesentlich für die Kundenzufriedenheit. Die Erfüllung von Kundenanforderungen ist die Grundlage dafür, Kunden zu gewinnen und an das Unternehmen zu binden [KeKe05, S.235]. Je schärfer der Wettbewerb wird, umso wichtiger wird die Kundenbindung. Wer es schafft, den Kunden schneller und besser zu binden als die Konkurrenz, kann die Wettbewerbsposition des Unternehmens halten und verbessern. Somit ist die Schaffung von Flexibilitätspotenzialen dann sinnvoll, wenn es dadurch gelingt, auch unter sich wandelnden Rahmenbedingungen die Kundenbedürfnisse bestmöglich zu erfüllen [KeKe05, S.235]. Flexibilität wird immer auf der Grundlage eines Bedarfs und eines Potenzials bewertet. Sowohl das Vorhalten nicht erforderlicher als auch die Abwesenheit nachgefragter Flexibilität verursachen Kosten. Keines von beiden ist sinnvoll. Die Institutionalisierung eines leistungsfähigen und unternehmensübergreifenden Flexibilitätsmanagements kann Unternehmen und Netzwerken helfen, das Flexibilitätsoptimum zu erreichen und gleichzeitig die Wettbewerbssituation zu verbessern. Die Situationsaufnahme in der Praxis zeigt jedoch, dass eine solche Institutionalisierung eines unternehmensübergreifenden Flexibilitätsmanagements aktuell schon daran zu scheitern droht, dass die Unternehmen selbst intern Flexibilität noch nicht als eigenständige Managementdisziplin begreifen. Folglich findet das Management von Flexibilität aktuell eher implizit und besonders auf operativer, unternehmensinterner Ebene statt. Aufgrund der hohen und weiter zunehmenden Relevanz sollte Flexibilität zukünftig jedoch verstärkt im strategischen Management verankert werden, um somit die Grundlage für ein eigenständiges Flexibilitätsmanagement auf strategischer, taktischer und operativer Ebene zu schaffen. Weitere Literatur, Benchmarks und Fallstudien unter: www.tcw.de
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2.3 Supply Chain Architekturen – Eine Kurzbetrachtung
Ein einziges Glied, das in einer großen Kette bricht, vernichtet das Ganze. Johann Wolfgang von Goethe
2.3.1 Supra-adaptive Architekturen in der Automobilindustrie – eine Blaupause
M. Saatmann
Rahmenbedingungen in der Automobilindustrie Die WestLB beschreibt in ihrer Studie „Flexibility as a competitive edge“ das aktuelle Dilemma der Automobilindustrie sehr anschaulich: Flexibilität gleich Auslastung gleich Profitabilität [LiWe04, S.15f.]. Die Automobilhersteller unterliegen zudem einem sich selbst verstärkenden Wachstumszwang: Unternehmen, die das Ziel der Kostenreduzierung verfolgen, müssen ihre Produktionskapazitäten stetig vergrößern, um den Fixkostendegressionseffekt realisieren zu können [Krca05, S.508]. Dieser Sachzwang lässt sich aus der Überlegung ableiten, dass sich kapitalintensive Produktionsverfahren mit niedrigeren variablen und höheren fixen Kosten, wie sie grundsätzlich in der Automobilindustrie anzutreffen sind, erst ab einer gewissen Mindestausbringungsmenge rentieren. Diese Mindestausbringungsmenge wird auch als Nutzenschwelle der Massenproduktion bezeichnet [Scho95, S.28]. Ein weit verbreitetes Ziel in der Automobilindustrie ist es zudem, einen Übergang vom „Build-to-Stock“ (BtS) zum „Build-to-Order“ (BtO) zu vollziehen. Hintergrund ist die Reduzierung von Prozesszeiten mit dem Ziel, auf die konkreten Kundenwünsche ausgerichtete Fahrzeuge zu bauen [Stau01, S.99ff.; Meyr02, S.1]. Diese Form der Mass Customisation führt jedoch zu hohen Anforderungen bezüglich der Flexibilität der gesamten Supply Chain: zum einen hinsichtlich der Bewältigung zahlreicher möglicher Varianten und zum anderen hinsichtlich der sich durch die Ausrichtung auf konkrete Kundenaufträge entstehenden kurz- und mittelfristigen Volatilität der Nachfrage. Mit einem steigenden Automatisierungsgrad – der besonders kapitalintensiv ist – steigt jedoch der Fixkostenanteil an den Gesamtkosten der Produktion und somit sinkt die Anpassungsfähigkeit der Produktion an Nachfrageschwankungen [Schi98, S.185].
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Diese Problematik beschäftigt derzeit alle namhaften Automobilhersteller und ist unter anderem mit der Atomisierung der Modellpaletten zu begründen [Beck05, S.21ff, S.83ff]. Somit manövrieren sich die OEM immer stärker in ein Spannungsfeld aus flexibler und maximaler Kapazitätsauslastung. Es stellt sich daher die Frage, wie eine zukünftige Architektur in der Automobilindustrie aussehen kann, die es ermöglicht, eine hohe Varianten- und Derivatenanzahl mit einer optimalen Kapazitätsauslastung zu verbinden. Diese Aufgabe endet jedoch nicht beim Hersteller der Fahrzeuge sondern trifft in einem oft noch viel stärkeren Maße die Zulieferunternehmen und Logistikdienstleister. Da die gesamte Supply Chain – und damit auch die Architektur der Wertschöpfungsstruktur – jedoch maßgeblich von den OEM dominiert wird, beziehen sich die nachfolgenden Ausführungen auf die Handlungsebene der Fahrzeughersteller.
Dekonstruktion der klassischen Wertschöpfungsstruktur – Etablierung von „contract manufacturer“ Die großen Sportartikelhersteller wie Adidas, Nike und Puma verfolgen bereits seit Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts ein Geschäftsmodell, dass immer mehr Nachahmer – auch in der Automobilindustrie – findet. Bereits 1984 lagerte Nike die Produktionsstufe vollständig aus und konzentrierte sich auf die Entwicklung und Vermarktung der Produkte. Diese Entwicklung führte zu einer Revolution im Aufbau der klassischen Wertschöpfungsketten. Integrierte Wertschöpfungsketten werden zerschlagen, die einzelnen Aufgaben wie besonders die Produktion an Dritte ausgelagert, um sich auf die Kernprozesse zu konzentrieren. Die integrierten Wettbewerber werden so mehr und mehr zu Orchestratoren, deren wertschaffende Geschäftsbasis in der optimierten Auswahl und effizienten Koordination von nachgelagerten Wertschöpfungspartnern begründet ist [Heus99, S.64f.]. Diese Entwicklung bzgl. der Netzwerkarchitektur lässt sich auch in der Computerindustrie nachvollziehen. Abgesehen vom Unternehmen Dell, das seinen Wettbewerbsvorteil in einer hohen Individualisierung des Endprodukts sieht, werden PCs in aller Regel relativ standardisiert in großen Mengen produziert. Die Produktion wird dabei oftmals von Auftragsfertigern, beispielsweise Flextronics, Solectron, Sanmina, Celestica oder Jabil, übernommen. Die Vermarktung findet dann unter Nutzung der am Markt bekannten Label wie HP, Compaq oder Packard-Bell statt [FaVo04, S.30f.; Lüth04, S.2].
2.3.1 Supra-adaptive Architekturen in der Automobilindustrie
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Während die Automobilhersteller in den vergangenen Jahrzehnten in aller Regel alle von ihnen angebotenen Modelle in den eignen Werken produzierten, ist besonders in den letzten Jahren eine Veränderung hinsichtlich der Fertigung von Komplettfahrzeugen zu verzeichnen. So bilden sich immer stärker werdende Auftragsfertiger bzw. „Little OEM“ heraus, die im Auftrag der großen Automobilhersteller einzelne Modelle und Modellreihen mitentwickeln und schließlich produzieren (siehe Abbildung 1) [KaKl04, S.8]. Im europäischen Raum sind neben Karmann und Magna Steyr noch Carrozzeria Bertone, Heuliez, Pininfarina und Valmet Automotive als „contract manufacturer“ anzusehen. Es stellt sich nun die Frage, welche Vorteile – besonders unter Berücksichtigung von Flexibilitätsgesichtspunkten – ein Outsourcing an eines dieser sechs Unternehmen mit sich bringt. F&E Einkauf/ Eigene Komponentenherstellung Fertigung
F&E
Einkauf
Fertigung
Komponenten F&E Komponentenlieferant
Kiekert
Systemlieferanten
Bosch
Fertigungsspezialist
Joint Venture
Porsche/ Valmet
Marketing Marketing Verkauf + Service
Historische Struktur
Logistikspezialisten Händler
Internet
Herst.unabh. Händler
Gesamtwertschöpfung heute
Servicespezialisten
Car Max, Autonation USA
Beispiele
Abbildung 1: Dekonstruktion der Wertkette in der Automobilindustrie [Heus99, S.92f.]
Während die großen Automobilhersteller aufgrund der Fertigungsstruktur die Produktionslinien auf große Volumina ausgerichtet haben und somit kaum in der Lage sind, kleine Stückzahlen ökonomisch effizient zu produzieren, spezialisieren sich die Auftragsfertiger gezielt auf diese Fahrzeuge. Die in letzter Zeit zunehmende Aufspaltung der Modellpaletten spiegelt sich somit deutlich in der hohen Anzahl an Fahrzeugen wieder, die von Auftragsfertigern produziert werden [Schl05, S.86]. So baut Karmann bspw. für Daimler-Chrysler den Chrysler Crossfire in der Coupe- und Roadster-Variante, das Mercedes Benz CLK Cabrio sowie das Audi A4 Cabriolet, Bertone das Opel/Vauxhall Astra Cabriolet, Heuliez den Opel Tigra TwinTop, Pininfarina neben dem Alfa Romeo Brera den Mitsubishi
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M. Saatmann
Colt CZC und Magna Steyr den BMW X3. Diese Liste lässt sich bei beinahe allen genannten Auftragsfertigern noch um zahlreiche Modelle erweitern. Die zunehmende Anzahl an Modellen führt auch zu steigenden Zahlen in Neuanläufen bzw. Ausläufen. So übernahm beispielsweise Karmann für Volkswagen für 1,5 Jahre die Auslaufproduktion des Golf III Variant, während Volkswagen selbst bereits den Ramp Up-Prozess der Golf IV Limousine abwickelte. Neben der kompletten Fertigung eines ganzen Modells kommt es jedoch auch zum so genannten „peak shaving“, d. h. dem Abfangen von Kapazitätsspitzen [Webe06; o.V.06, S.11]. Ein sehr bekanntes Beispiel für ein solches „peak shaving“ ist die Auftragsvergabe der Produktion von Porsche Boxster-Fahrzeugen an Valmet Automotive. Die Porsche AG erreicht über diese Strategie eine hohe „Atmungsfähigkeit“ auf Volumenebene. Diese Form der Fertigung kann als „parallel line concept“ bezeichnet werden. Es handelt sich hierbei um die Kombination einer „single-model production“ und dem „multi-model line concept“ (siehe Abbildung 2). Ein wesentlicher Vorteil des „parallel line concepts“ ist eine hohe Volumenflexibilität bei einer noch akzeptablen Variantenflexibilität. „Single-model“ 1. „Single-model“ 2. „Multi-model“ 1. „Single-model“ 2.
„Parallel line concept“
Abbildung 2: Linienkonzepte
Somit kann auf einem Band eine sehr hohe Auslastung erreicht werden, während die Volumenflexibilität vollständig auf das zweite Band überwälzt wird. Erkauft wird diese Flexibilität im Vergleich zur „single-model production“ und dem „multi-model line concept“ jedoch mit etwas höheren variablen Kosten [LiWe04, S.20ff.]. Durch den hohen Anteil an Gleichteilen von Boxter/Cayman S und dem 911 ist Porsche somit in der Lage, über eine „mixed-model-Production“ bzw. das „multi-model line concept“ das Stammwerk in Zuffenhausen nahe an der Kapazitätsgrenze zu betreiben und die Volumenflexibilität beinahe vollständig über die Fertigung in Finnland bei Valmet abzubilden. Diese Form der Produktion ermöglicht es Porsche, ohne zusätzliche Inves-
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titionen in Fabriken und Produktionsmittel bei beiden Baureihen eine sehr hohe Volumenflexibilität zu erreichen [Mein05, S.24]. Sicherlich gibt es aus Sicht der großen Automobilhersteller zahlreiche Gründe, die Produktion eines Modells an einen Auftragsfertiger zu vergeben. Die hohe Flexibilität, die die Auftragsfertiger bereitstellen können, ist vermutlich neben der oft hohen Kompetenz in Spezialgebieten ein zweiter ausschlaggebender Grund. Besonders wenn – wie z. B. im Falle Karmann – mehrere Modelle von unterschiedlichen Herstellern gebaut werden, erweist sich der Auftragsfertiger oft als „Flexibilitätsexperte“.
Volumenflexibilität – eine wachsende Herausforderung für die Automobilindustrie Dezentrale Bedarfe an Volumenflexibilität versus zentrale Bündelung und Schaffung von Ausgleichsmöglichkeiten Die Auftragsfertiger bilden die hohe Flexibilität gegenüber der enormen Volatilität aber auch gegenüber den oft kleinen Stückzahlen der einzelnen Modelle teilweise über ein ausgeprägtes „multi-model line concept“ ab. So werden nach Möglichkeit verschiedene Fahrzeuge und/oder Fahrzeugkonzepte von verschiedenen Herstellern in Auftrag gebaut. Dies erlaubt in der Regel, Volumenschwankungen einzelner Modelle zu kompensieren. Die Kombination der notwendigen Volumenflexibilität mit einer „manufacturing flexibility“ - die zwar deutlich kostenintensiver ist, bei kleinen Stückzahlen aber dennoch ein relativ effizientes Produzieren ermöglicht – lässt sich bei den großen Automobilherstellern respektive den Volumenmodellen nur schlecht abbilden. Je höher die Volumen einer Baureihe, desto mehr kommt der Aspekt der relativ standardisierten Massenproduktion auf verhältnismäßig unflexiblen Maschinen zum Tragen. Die gesamte Fertigungslinie ist vorrangig auf ein möglichst effizientes Produzieren ausgerichtet [Meyr02, S.6]. Eine gewisse Ausnahme bilden die Premiumhersteller wie BMW, Audi und Mercedes Benz, die im Rahmen ihrer internationalen Produktionsverbünde schon sehr flexible Fertigungsstrassen einsetzen. Um die flexiblen Fertigungsstrassen der Auftragsfertiger effizient betreiben zu können, werden unter Flexibilitätsgesichtspunkten besonders leistungsfähige Maschinen und Einrichtungen verwendet. Ein Beispiel ist die Lackiererei – ein typischer Engpass in der Produktion verschiedener Modelle auf einer gemeinsamen Linie – bei Karmann. „So bewältigt die
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(…) Decklackstraße (…) vier verschiedene Modellvarianten von drei unterschiedlichen Kunden in insgesamt 120 Farbtönen.“ [Schl05, S.86] Besonders in der Fertigmontage stellt das „multi-model line concept“ die Auftragsfertiger jedoch vor enorme Herausforderungen: So unterschieden sich die einzelnen Modelle der unterschiedlichen Hersteller in Größe und Form sehr deutlich. Auch technische Fragestellungen wie der Einbau des Antriebs (von oben oder von unten) verhindern aktuell noch die gemeinsame Produktion unterschiedlichster Modelle auf einer Produktionslinie. Eine weitere Problematik sind unterschiedliche Taktzeiten der einzelnen Fahrzeuge. Mit steigender Anzahl an Nischenmodellen, Klein(st)serien und Derivaten wird der Bedarf an hoch flexiblen Produktionsverfahren und -einrichtungen weiter wachsen. Für die OEM hat diese Entwicklung zur Folge, dass sie sich entscheiden müssen, ob sie eigene, hoch flexible Fertigungsstrassen installieren und mit mehreren kleinvolumigen Modellen belegen oder auf die verstärkte Nutzung von Auftragsfertigern zurückgreifen, die wiederum von verschiedenen Herstellern Aufträge bündeln und so möglicherweise effizienter produzieren können. Fällt diese Entscheidung zugunsten der Vergabe von Fertigungsaufträgen an die „Little OEM“ wie Karmann aus, so wird – um die das „multimodel line concept“ modell- und vor allem herstellerübergreifend umsetzen zu können – eine gewisse Standardisierung von Verbauvorgängen und Normierung von Aufnahmepunkten beispielsweise des Antriebs oder der Karosse notwendig. Ein grundsätzliches Problem ist – vor allem bei insgesamt steigender Nachfrage – die Zusage von Fertigungskapazitäten. Da auch die Auftragsfertiger einer kurzfristigen Kapazitätsbeschränkung unterliegen, stellt sich die Frage, zu welchem Ergebnis man gelangt, wenn man das „capable-topromise-Konzept“ komplett durchdenkt. Bei diesem Konzept werden bei der Auftragsannahme und Lieferterminbestätigung die Kundenaufträge direkt auf einen Produktionstag bzw. bei einem weiter entfernten Termin in eine bestimmte Produktionswoche eingebucht [Meyr02, S.24]. „Die mit belastbaren Lieferzeitzusagen verbundene Planungssicherheit kann man durch dieses Konzept nur erlangen, wenn Lieferanten auf eine entsprechende Verfügbarkeitsanfrage nicht nur mit Auskünften über die aktuelle oder eine ‚wahrscheinliche’ zukünftige Kapazitätssituation reagieren, sondern mit Kapazitätsreservierungen.“ [Bret06, S.10] Doch nach welchen Regeln sollten die Auftragsfertiger ihre Kapazitäten an die verschiedenen Automobilhersteller vergeben? Eine Bepreisung der Teilkapazitäten mit Hilfe von Optionsrechten scheint zwar unter theoretischen Gesichtspunkten sinnvoll, denn somit würden die Opportunitäts-
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kosten einer prognosebasierten Kapazitätsreservierung kompensiert und trotzdem eine Planungssicherheit sichergestellt, in der Realität ist dies jedoch meist kaum durchsetzbar. Vielmehr liegt es an den Auftragsfertigern ihrerseits, die Schwankungen der konzentriert bei ihnen angefragten Volumen mit Hilfe geeigneter Maßnahmen, vor allem im Bereich der Arbeitszeit, auszugleichen. Folglich benötigen sie einen ungleich höheren Puffer an Volumenflexibilität in den Ressourcen und Prozessen. Der internationale Produktionsverbund – ein Allheilmittel zum unternehmensinternen Ausgleich von Volumenschwankungen? Wie bereits geschildert, behelfen sich die Automobilhersteller, vor allem bei kleineren Stückzahlen, im Kontext von schwankenden Nachfragevolumina mit der Einbindung externer Partner. Das so erreichte „peak shaving“ findet besonders dann Anwendung, wenn innerhalb des eigenen Unternehmens keine eigenen geeigneten Maßnahmen bereit stehen, um kurzfristig auf eine erhöhte Nachfrage zu reagieren. Innerhalb der großen Automobilhersteller, wie auch bei den Zulieferunternehmen hat sich jedoch ein Konzept etablieren können, mit dessen Hilfe die eigenen Kapazitäten optimal, daher auf einem gewünschten Niveau, ausgelastet werden können. Dieses Konzept zum unternehmensinternen Ausgleich von Volumenschwankungen ist die Installierung eines nationalen oder internationalen Werke- oder Produktionsverbundes. Bestimmte Produkte können parallel an verschiedenen Standorten produziert, und somit im Idealfall überall eine gleich bleibend hohe Auslastung der Kapazitäten erreicht werden. Gleichzeitig werden andere Produkte nur an jeweils einen Standort gefertigt, um Größeneffekte realisieren zu können und eine gewisse Grundauslastung der Kapazitäten zu gewährleisten [Flei06, S.198f.]. Das BMW-Werk Dingolfing nimmt innerhalb des unternehmensweiten Produktionsverbunds eine Vorreiterrolle ein. Neben der Produktion der Modelle 5er, 6er und 7er konnten vor allem während des Modellauslaufs der letzten 5er- und 7er-Baureihe zusätzliche Einheiten des 3er produziert werden. Somit kann eine relativ gleich bleibende Auslastung zwischen 90 und 96% erreicht werden [LiWe04, S.50f.]. Die Wirksamkeit dieses Konzepts zeigt sich besonders im direkten Vergleich mit der Auslastung von Konkurrenzwerken anderer Hersteller. Obwohl sich das Fiat-Werk Mirafiori durch eine außerordentlich hohe Flexibilität in Bezug auf die Anzahl der produzierbaren Modelle auszeichnet (im Zeitraum 2000 bis 2006 elf verschiedene Modelle, 2006 sechs Modelle parallel), wird dort lediglich
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eine Auslastung zwischen 43% und 73% erreicht – bei stetig fallenden Plankapazitäten [LiWe04, S.73f.]. Der wesentliche Unterschied liegt in der hohen Flexibilität von BMW, die unterschiedlichen Modelle an den verschiedenen Standorten zu fertigen und so eventuell auftretende Überkapazitäten auszugleichen. Andere Hersteller wie Fiat bauen nur wenige Modelle an verschiedenen Standorten, bzw. fertigen zahlreiche Modelle exklusiv in einem Werk. Im Gegensatz zu Fertigungsstrassen der Endmontage von Modellen, die gemäß der „single-model production“ nur auf die möglichst effiziente Massenproduktion eines Modelltyps ausgerichtet sind, sind Fertigungsstrassen, die nach dem „multi-model line concept“ funktionieren, durch eine geringere Bandgeschwindigkeit gekennzeichnet [Flei06, S.201]. Die daraus entstehenden Kostennachteile werden jedoch durch die hohe Flexibilität der Anlagen und die daraus erzielbare optimale Kapazitätsauslastung überkompensiert. Das Grundkonzept des Werkeverbunds liegt neben der technischen Fähigkeit, bestimmte Modelle in verschiedenen Werken produzieren zu können, vor allem in der strategischen Belegungsplanung. Grundsätzlich muss zwischen der Maximalkapazität und der Normalkapazität unterschieden werden. Die Maximalkapazität ist die Kapazität, die theoretisch zur Verfügung steht, wenn die Anlage an 365 Tagen im Jahr 24 Stunden täglich in Betrieb ist. Die Normalkapazität hingegen ist die Kapazität, die unter normalen Bedingungen als Optimum angesehen wird. Kurzfristig kann nun die Normalkapazität in einem ersten Schritt bis zu einer ersten Grenze angehoben werden. Diese Grenze wird bei BMW mit „disponable Capacity level“ bezeichnet. In einem zweiten Schritt kann dann die Flexibilitätsreserve ausgeschöpft und die Kapazitätsauslastung bis zur Maximalkapazität angehoben werden. Findet jedoch eine Produktion oberhalb der Normalkapazität statt, entstehen zusätzliche Kosten (Wochenendzuschläge etc.) [Flei06, S.201f.]. Ziel muss es daher sein, die langfristige Auslastung auf dem Niveau der Normalkapazität bzw. maximal dem „disponable Capacity level“ zu betreiben, um so die Rendite zu maximieren.
Fazit Der Automobilmarkt der Zukunft definiert sich aus unzähligen verschiedenen Modellreihen, Derivaten und Varianten. Die Herausforderung aller beteiligten Unternehmen, Hersteller wie Zulieferer, ist es, trotz der hohen Vielfalt an unterschiedlichen Fahrzeugkonzepten effizient zu produzieren. Dazu gehört es in einem wesentlichen Maße, auf Volumenschwankungen
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reagieren zu können bzw. diese durch geeignete Maßnahmen im Vorfeld zu antizipieren. Die Frage lautet nun: Wie kann eine mögliche Blaupause einer supraadaptiven Wertschöpfungsstruktur in der Automobilindustrie aussehen? Im Grundsatz muss die Antwort lauten: Je kleinvolumiger die Baureihe, desto weniger interessant wird sie für die großen OEM – wie am Beispiel Fiat sehr anschaulich aufgezeigt wurde. Im Zuge der Flexibilisierung sollten die großen OEM für diese Modelle verstärkt Auftragsfertiger einbinden, um deren Fähigkeiten als Flexibilitätsexperten zu nutzen. Im Gegenzug eignen sich vor allem Modellreihen, hinter denen große Gesamtvolumina stehen, exzellent für die Produktion in einem eigenen internationalen Werke- und Produktionsverbund. BMW lebt diese Strategie vor allem mit der Volumenbaureihe „BMW 3er“ sehr anschaulich vor. Je weiter sich vor allem auch Hersteller unterhalb des eigentlichen Premiumsegments durch den Wechsel zu einer BtO-Strategie einer volatilen Nachfrage aussetzen, desto mehr müssen die OEM auf das „multi-model line concept“ setzen. Bestimmte Modelle, die in verschiedenen Werken gebaut werden können, werden so zum zentralen Instrument einer kurz- und mittelfristigen Volumenflexibilität. Die supra-adaptive Wertschöpfungsarchitektur der Zukunft definiert sich damit grundsätzlich aus Bausteinen, die heute schon bekannt sind – nur in einer wesentlich konsequenteren Umsetzung.
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148
M. Saatmann
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[Krca05] [LiWe04] [Lüth04]
[Mein05] [Meyr02] [o.V.06] [Schi98]
[Schl05] [Scho95] [Stau01] [Webe06]
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2.3.2 Anwendungsarchitekturen in supra-adaptiven Logistiknetzwerken
F. Müller, A. Otto
Motivation Die Struktur eines Informationssystems kann die Anpassungsfähigkeit eines Unternehmens in einem Wertschöpfungsnetzwerk beeinflussen; ist die Anpassungsfähigkeit eines Akteurs eingeschränkt, so ist auch die SupraAdaptivität des Wertschöpfungsnetzwerks, an dem dieser teilnimmt, eingeschränkt. Im Rahmen von Anpassungsstrategien, die Mitglieder eines supra-adaptiven Wertschöpfungsnetzwerks verfolgen, entstehen neue Anforderungen an die Informationsverarbeitung, die effizient umzusetzen sind. Die Effizienz dieser Realisierung hängt von der Gestaltung der Informationssystemstruktur ab, da je nach Architektur ein unterschiedlich hoher Aufwand für Anpassung und Betrieb entsteht. Insbesondere die Anwendungsarchitektur als Bestandteil einer Informationssystem-Architektur ist für diesen Zusammenhang relevant [MüHo06]. Um eine allgemeine Empfehlung zu ermöglichen, müssen jedoch vorab typische Anwendungsarchitekturmuster identifiziert werden. Softwarehersteller bewerben Lösungen, die nach dem Service-OrientedArchitecture-Paradigma gestaltet sind, als Alternativen zu bestehenden Architekturen und begründen dies ebenfalls über einen Flexibilitätsvorteil. Es entsteht ein Bild von zwei nebeneinander stehenden Alternativen, von denen die eine als veraltet und die andere neue als Architektur „von morgen“ dargestellt wird. Dieser Beitrag untersucht erstens dieses simple alt-versusneu-Paradigma und widmet sich zweitens der Beurteilung der im Rahmen der Taxonomie aufgezeigten alternativen Architekturklassen. In diesem Beitrag soll untersucht werden, welche Anwendungsarchitekturklassen für Unternehmen in supra-adaptiven Wertschöpfungsnetzwerken in der Automobilindustrie zur Verfügung stehen und wie diese hinsichtlich ihres Beitrags zur Supra-Adaptivität beurteilt werden können.
150
F. Müller, A. Otto
Anwendungsarchitekturklassen Zur Ableitung von Anwendungsarchitekturtypen stehen Referenz-Informationssystem-Architekturen und Integrationskonzepte zur Verfügung, die, wie in Abbildung 1 dargestellt, die Gestaltung einer Anwendungsarchitektur beeinflussen. Integrationskonzepte beinhalten im Unterschied zu Referenz-Informationssystem-Architekturen keinen Anwendungssystem (AwS)-Katalog; vielmehr liefern diese eine abstrakte Anleitung dafür, wie Aufgaben auf AwS verteilt und die Integrationsbeziehungen zwischen diesen realisiert werden sollten [Fers92].
Abbildung 1: Gestaltungsprozess und Einflussmöglichkeiten von Referenzarchitekturen und Integrationskonzepten
Referenz-Informationssystem-Architekturen Huber et al. ermitteln acht Komponenten, die in einer zukünftigen Planung einer Anwendungsarchitektur berücksichtigt werden müssten (u. a. Enterprise-Resource-Planning-Systeme, Data-Warehouse-Anwendungen und Executive Information Systems). Allerdings wird nicht klar, ob die Anordnung dieser Bausteine die einzige Dimension einer Planung der Anwendungsarchitektur ist und nach welchen Gesichtspunkten diese „Application Types“ der Anwendungsarchitektur des Informationszeitalters gebildet wurden. Zwar wird die Minimierung eines „interfacing effort“ als Zielfunktion genannt [HuAl00, S.179], es lässt sich jedoch nicht nachvollziehen, welche Schnittstellen gemeint sind bzw. wie dieser Aufwand gemessen wurde. Winter beschreibt eine branchenunabhängige „generische ReferenzAnwendungslandschaft“ [Wint06]. Das Modell enthält keine betrieblichen
2.3.2 Anwendungsarchitekturen in Logistiknetzwerken
151
Aufgaben und keinen Katalog von Anwendungssystemen, jedoch fünf AwS-Idealtypen, die an verschiedenen Integrationsbeziehungen teilnehmen können. Zentral für diese Empfehlung ist die Annahme, dass „die durchschnittlichen Kosten der Anwendungssystembildung verringert werden können, wenn eine bereits realisierte Integrationsdimension (…) komplett abgedeckt wird, während sich das AwS in den beiden jeweils anderen Dimensionen auf wenige Aspekte konzentriert“ [Wint06, S.18]. Die Dimensionen sind „Informationsobjekt“, „Funktionalität“ und „Leistung/Organisation“. Es resultieren also drei idealtypische Anwendungssystemklassen (je ein Typ pro Dimension) sowie zwei Spezialtypen („Analytische Anwendungssysteme“ und „Interorganisationssysteme“). Für viele Anwendungen in supra-adaptiven Wertschöpfungsnetzwerken werden spezielle Anwendungssysteme unter dem Namen „Advanced Planning Systems“ (APS) diskutiert. Diese Anwendungen sind in der „Supply Chain Planning (SCP) Matrix“ eingeordnet. Zwar beinhaltet das Konzept der SCP-Matrix keine explizite Empfehlung zur Gestaltung einer Anwendungsarchitektur, es wird jedoch u. a. davon ausgegangen, dass eine Aufgabe (z. B. „Master Planning“ oder „Scheduling“) jeweils in einem Softwaremodul realisiert wird.1 Zwar ließen sich die jeweiligen Module auch einzeln implementieren und koppeln, gängige Praxis ist jedoch der Einsatz eines kompletten APS-Pakets, das sämtliche benötigten Planungsanwendungen abdeckt [KiWe05]. Auf Unternehmen, die mittels Informationstechnologie vernetzt sind, zielt die „Architektur für das Business Networking“ ab [AlCä01, S.1]. Diese enthält als „Applikationskomponenten“ sowohl fachliche Anwendungssysteme (eProcurement-Systeme, eSales-Systeme, ERP-Systeme, Advanced-Planning-and-Scheduling-Systeme und CRM-Systeme) als auch technisch-organisatorische Anwendungen (so genannte „Business Collaboration Infrastructure-Applikationen“, z. B. Autorisierung oder Personalisierung) [AlCä01, S.53]. Zwar sind viele Unternehmen in supra-adaptiven Wertschöpfungsnetzwerken der Automobilindustrie mittels Informationstechnologie vernetzt; die Annahme, jedes Unternehmen verfüge über ein Portal, das „als ‚elektronisches Fenster’ sämtliche zusammengehörigen Leistungen im Kundenprozess enthält“ [AlCä01, S.4] ist jedoch in vielen Fällen nicht erfüllt.2 Die IS-Architektur für das Business Networking ist somit nicht für die Typbildung verwendbar. 1
2
„certain planning sections of the SCP-Matrix (…) are typically covered by a respective software module“ [MeWa05, S.109]. Insbesondere gelangen an vielen Schnittstellen EDI-Systeme zum Austausch von VDA-Nachrichten zum Einsatz. WebEDI zielt vielmehr auf Unternehmen ab, die bislang nicht elektronisch angebunden sind [HeNe04].
152
F. Müller, A. Otto
Integrationskonzepte Integrationskonzepte können Regeln für die Zuordnung von Aufgaben auf Anwendungssysteme (fachliche Ebene) sowie zur Gestaltung der Kopplung zwischen diesen (technische Ebene) beinhalten. Die Ergebnisse der Anwendung verschiedener Integrationskonzepte können sich unterscheiden [Fers92]. Es existieren verschiedene Kataloge von Integrationskonzepten;3 im Folgenden wird zunächst für die Darstellung der technischen Ebene auf das Konzept der „Kopplungsarchitekturtypen“ [MaEc04] zurückgegriffen. Unterschieden werden: • Ereignisorientierte Integration Anwendungssysteme tauschen Ereignisse und dazugehörige Daten über einen Nachrichtenmechanismus miteinander aus. • Funktionsorientierte Integration Funktionen (gegebenenfalls mit dazugehörigen Daten) werden von mehreren Anwendungssystemen gemeinsam genutzt. • Datenorientierte Integration Anwendungssysteme operieren auf denselben Daten oder verfügen über ein gemeinsames Datenmodell. Ergebnis der Klassifizierung Im Folgenden werden vier Anwendungsarchitekturklassen unterschieden. Zwar ließe sich einwenden, dass in der Praxis keine dieser Klassen „in Reinform“ existiert, und diese Klassifizierung somit eine rein akademische Übung sei. Ohne eine solche Klassifizierung könnten jedoch ausschließlich auf unternehmensindividueller Instanzebene Beurteilungen vorgenommen werden. Um zumindest anpassungsstrategiespezifische Beurteilungen und damit Empfehlungen zu erlauben, wird diese Reduktion auf vier idealisierte Klassen beibehalten. Gewachsene Anwendungsarchitektur
Die erste Klasse bildet die „gewachsene Anwendungsarchitektur“, in der keine Kopplungsart (und somit auch keine technische Realisierung) dominant ist und eine Vielzahl von Anwendungssystemen eine jeweils beliebige Anzahl von Aufgabenbestandteilen realisiert. Die Datenhaltung in dieser Klasse ist meist dezentral organisiert, und es werden keine standardisierten 3
Für eine verbreitete Klassifizierung siehe [Mert04].
2.3.2 Anwendungsarchitekturen in Logistiknetzwerken
153
Schnittstellen für die Kopplung der Anwendungssysteme verwendet. Der Anteil an Individualsoftware ist typischerweise hoch; für einen Teil der Aufgabenbestandteile existiert ein vielfältiges Softwareangebot. Berücksichtigung spezifischer Geschäftsprozesse
im Rahmen des vom Hersteller spezifizierten Referenzmodells variabel
durch Kombination kompa- durch beliebige Kombination tibler Softwareprodukte indi- von Softwarepaketen individuell anpassbar viduell anpassbar
Dominantes Gestaltungsziel
Funktionalität
Integration
Modularität
Anzahl Aufgabenbestandteile pro AwS
1
wenige
viele
Anzahl AwS Anteil Individualsoftware Verfügbarkeit von Softwareprodukten für Aufgabenbestandteile Dominante Kopplungsart Technische Umsetzung der Kopplungsbeziehung
wenige <25%
viele <50%
<75%
wenige Softwareprodukte mehrere Softwareprodukte weniger Hersteller verfügbar weniger Hersteller verfügbar ereignisorientiert
Integrationsinfrastruktur
keine
Schnittstellen
nicht standardisiert
Datenhaltung
viele Softwareprodukte verschiedener Hersteller verfügbar datenorientiert
funktionsorientiert standardisiertes Nachrichtenformat
API-Aufrufe
<100%
Technik
gemeinsame Datenbank
Syntax standardisiert, proprietär
zentral
gemeinsames Datenmodell
Semantik
Pragmatik
standardisiert, offen dezentral
Abbildung 2: Gewachsene Anwendungsarchitekturen
Der gewachsenen Anwendungsarchitektur liegt das Bestreben zu Grunde, durch die beliebige Kombination von Softwareprodukten unternehmensspezifische Anforderungen möglichst gut abdecken zu können (Gestaltungsziel Funktionalität). Diese Klasse wird in der Literatur als Beispiel für eine „nicht ‚architektierte’ Anwendungslandschaft“ [Wint06, S.17] präsentiert. Monolithische Architektur
Die monolithische Architektur stellt den Gegenpol zur aktuell beworbenen „Enterprise Service Oriented Architecture“4 (ESOA) dar. Idealerweise werden in einer solchen Architektur sämtliche Aufgabenbestandteile durch ein ERP-Produkt realisiert. Im prominentesten Produkt, das in diese Kategorie fällt, SAP R/3©, überwiegt eine kombinierte datenorientierte und ereignisorientierte Kopplung, die über eine gemeinsame zentrale Daten4
Im Folgenden wird der Begriff Enterprise Service Oriented Architecture verwendet, da der Begriff Service Oriented Architecture auch für den Aufbau eines Softwaresystems belegt ist [W3C04].
154
F. Müller, A. Otto
bank und API-Aufrufe realisiert ist. Die Schnittstellen, die für die Kopplung Verwendung finden, sind zwar einheitlich beschrieben, jedoch produktspezifisch und einseitig festgelegt. Typischerweise bestehen Instanzen der monolithischen Architektur aus Standardsoftware; unternehmensspezifische Anpassungen könnten jedoch als „individuelle“ Funktionalität behandelt werden (Customizing). Derartige Anpassungen sind jedoch nur in einem bestimmten Rahmen möglich.5 Für die Anbindung anderer Anwendungssysteme ist keine eigenständige Integrationsinfrastruktur vorgesehen, es können jedoch die produktspezifischen Schnittstellen oder EAIProdukte zum Einsatz gelangen. Berücksichtigung spezifischer Geschäftsprozesse
im Rahmen des vom Hersteller spezifizierten Referenzmodells variabel
durch Kombination kompa- durch beliebige Kombination tibler Softwareprodukte indi- von Softwarepaketen individuell anpassbar viduell anpassbar
Dominantes Gestaltungsziel
Funktionalität
Integration
Modularität
Anzahl Aufgabenbestandteile pro AwS
1
wenige
viele
Anzahl AwS Anteil Individualsoftware Verfügbarkeit von Softwareprodukten für Aufgabenbestandteile Dominante Kopplungsart Technische Umsetzung der Kopplungsbeziehung
wenige <25%
viele <50%
<75%
wenige Softwareprodukte mehrere Softwareprodukte weniger Hersteller verfügbar weniger Hersteller verfügbar ereignisorientiert
Integrationsinfrastruktur
keine
Schnittstellen
nicht standardisiert
Datenhaltung
viele Softwareprodukte verschiedener Hersteller verfügbar
funktionsorientiert standardisiertes Nachrichtenformat
API-Aufrufe
<100%
Technik
datenorientiert
gemeinsame Datenbank
Syntax standardisiert, proprietär
zentral
gemeinsames Datenmodell
Semantik
Pragmatik
standardisiert, offen dezentral
Abbildung 3: Monolithische Anwendungsarchitektur
Enterprise Service Oriented Architecture
Die derzeit von Softwareherstellern beworbene Anwendungsarchitektur zielt darauf ab, durch eine losere Kopplung der Funktionen einzelner Anwendungssysteme Änderungen in der Geschäftsprozess (GP)-Logik günstiger durchführen zu können als dies in einem monolithischen System möglich wäre. Die „Größe“ (Anzahl realisierter Aufgabenbestandteile) eines Anwendungssystems ist von dieser speziellen Kopplungsart jedoch 5
Siehe dazu auch [AkBo03].
2.3.2 Anwendungsarchitekturen in Logistiknetzwerken
155
unabhängig. Es können also auch wenige große Softwareprodukte viele Dienste realisieren. Anwendungssysteme können wiederum andere Services aufrufen. Eine Enterprise Service Oriented Architecture kann sowohl ereignisorientierte als auch funktionsorientierte Kopplung beinhalten (verbindungslos bzw. verbindungsorientiert [OeWa06, S.208]). Ein Softwareprodukt, das einen oder mehrere Services anbietet, ist für die von ihm verarbeiteten Daten selbst verantwortlich; eine zentrale Datenhaltung ist jedoch nicht unmöglich, wenn ein AwS sämtliche Dienste realisiert. Der Ansatz zielt darauf ab, fachlich sinnvolle Aufgabenbestandteile, die automatisiert sind, über eine standardisierte, einheitliche Schnittstelle anzusteuern, so dass sich diese mit wenig Aufwand neu kombinieren lassen (Modularisierung). Diese Schnittstellenbeschreibungen werden zentral verfügbar gemacht und können auch Angaben zur Bedeutung verwendeter Daten enthalten. Auf pragmatischer Ebene sind zudem Standards für die „Orchestrierung“ der Services vorhanden (z. B. BPWL4WS [IBM07]). Berücksichtigung spezifischer Geschäftsprozesse
im Rahmen des vom Hersteller spezifizierten Referenzmodells variabel
durch Kombination kompa- durch beliebige Kombination tibler Softwareprodukte indi- von Softwarepaketen individuell anpassbar viduell anpassbar
Dominantes Gestaltungsziel
Funktionalität
Integration
Modularität
Anzahl Aufgabenbestandteile pro AwS
1
wenige
viele
Anzahl AwS Anteil Individualsoftware Verfügbarkeit von Softwareprodukten für Aufgabenbestandteile Dominante Kopplungsart Technische Umsetzung der Kopplungsbeziehung
wenige <25%
<75%
mehrere Softwareprodukte wenige Softwareprodukte weniger Hersteller verfügbar weniger Hersteller verfügbar ereignisorientiert API-Aufrufe keine
Schnittstellen
nicht standardisiert
<100% viele Softwareprodukte verschiedener Hersteller verfügbar
funktionsorientiert standardisiertes Nachrichtenformat
Integrationsinfrastruktur
Datenhaltung
viele <50%
Technik
datenorientiert
gemeinsame Datenbank
Syntax standardisiert, proprietär
zentral
gemeinsames Datenmodell
Semantik
Pragmatik
standardisiert, offen dezentral
Abbildung 4: Enterprise Service Oriented Architecture
Fachkomponenten-Architektur
Das Fachkomponenten-Konzept zielt darauf ab, betriebliche Anwendungssysteme modular zu realisieren und durch eine standardisierte Schnittstellenbeschreibung die Austauschbarkeit einzelner Fachkomponenten zu ge-
156
F. Müller, A. Otto
währleisten. Fachkomponenten können für ihre Ausführung auf gemeinsame (fachliche) Funktionalität in einem Komponenten-Anwendungsframework zurückgreifen [Turo02]. Das Konzept wird vor allem in der Wissenschaft diskutiert und hat sich in der Praxis (bis jetzt) nicht durchsetzen können. Dennoch soll es hier betrachtet werden, da es immer noch einen gültigen Vorschlag für die Gestaltung betrieblicher Anwendungssoftware darstellt, wenn auch momentan dieses Konzept am Markt nur einen geringen Anteil einnimmt. Es ist insofern „strenger“ als eine ESOA, da auch die Implementierung der Dienste (eben in Form von Fachkomponenten) eingeschränkt wird. Je nach Ausprägung des Fachkomponentenframeworks kann eine zentrale oder dezentrale Datenhaltung realisiert werden. Berücksichtigung spezifischer Geschäftsprozesse
im Rahmen des vom Hersteller spezifizierten Referenzmodells variabel
durch Kombination kompa- durch beliebige Kombination tibler Softwareprodukte indi- von Softwarepaketen individuell anpassbar viduell anpassbar
Dominantes Gestaltungsziel
Funktionalität
Integration
Modularität
Anzahl Aufgabenbestandteile pro AwS
1
wenige
viele
Anzahl AwS Anteil Individualsoftware Verfügbarkeit von Softwareprodukten für Aufgabenbestandteile Dominante Kopplungsart Technische Umsetzung der Kopplungsbeziehung
wenige <25%
<50%
<75%
wenige Softwareprodukte mehrere Softwareprodukte weniger Hersteller verfügbar weniger Hersteller verfügbar ereignisorientiert
keine
Schnittstellen
nicht standardisiert
<100% viele Softwareprodukte verschiedener Hersteller verfügbar
funktionsorientiert standardisiertes Nachrichtenformat
API-Aufrufe
Integrationsinfrastruktur
Datenhaltung
viele
Technik
datenorientiert
gemeinsame Datenbank
Syntax
gemeinsames Datenmodell
Semantik
standardisiert, proprietär
zentral
Pragmatik
standardisiert, offen dezentral
Abbildung 5: Fachkomponenten-Architektur
Zum Anteil an Individualsoftware lässt sich keine empirische Angabe machen: Die „Vision“ der Befürworter dieses Konzepts ist ein Marktplatz, auf dem für jeden erdenklichen, betrieblichen Aufgabenbestandteil zahlreiche Anbieter untereinander kompatible Fachkomponenten anbieten.6 Eine Kombination von Fachkomponenten setzt eine Integrationsinfrastruktur voraus, in der Dienste der Fachkomponenten auf semantischer Ebene be-
6
Für eine Bestandsaufnahme und Typologie siehe [FeLo03].
2.3.2 Anwendungsarchitekturen in Logistiknetzwerken
157
schrieben werden können. Für die Ansteuerung der Dienste sind auf pragmatischer Ebene Mechanismen vorzuhalten.
Beurteilung von Anwendungsarchitekturklassen Beschreibung der Änderungsprofile Im Rahmen des Forschungsverbunds ForLog wurden Anpassungsstrategien erhoben, mit denen Akteure dieses Netzwerks auf Anpassungssituationen (wie in [GüBo05] beschrieben) reagieren.7 Die Umsetzung dieser Anpassungsstrategien hat u. a. Auswirkungen auf die Informationsverarbeitungsbedarfe in diesen Unternehmen. Im Folgenden werden Änderungsprofile dieser Strategien aufgestellt; dabei werden Änderungen des Geschäftsprozessablaufs, der internen Logik einzelner Funktionen und verwendeter Datenstrukturen projiziert.8 Um eine flexible Bandbelegung zu realisieren, muss in den Anwendungssystemen, die für die Produktionsplanung und -steuerung eingesetzt werden, eine derartige Zuordnung nachvollzogen werden können. Dies setzt voraus, dass in Datenstrukturen keine statischen Beziehungen zwischen Produkt(gruppe) und Betriebsmittelinstanz hinterlegt ist. Insbesondere bei OEM, bei denen zahlreiche Systeme an der Produktionsplanung beteiligt sind, sind für diese Strategie Anpassungen an der internen Logik dieser Applikationen erforderlich, da die Zuordnung mitunter Änderungen unterliegt. In der Geschäftsprozess-Logik sind Anpassungen erforderlich, da die Zuordnung eines Auftrags auf eine Ressource einen zusätzlichen Planungsschritt darstellt. Die Umsetzung der Strategie Reduzierung der Durchlaufzeit birgt starke Änderungen der Funktionalität verwendeter Planungs- und Steuerungssysteme, die mitunter nach dem Paradigma bestmöglicher Kapazitätsauslastung entwickelt worden sind. Änderungen des Prozessablaufs sind dann erforderlich, wenn ein grundlegend neues Steuerungssystem im Rahmen dieser Strategie eingeführt wird. Es sind jedoch keine fundamentalen Änderungen im Datenmodell mit der Durchführung verbunden, solange nicht im Zuge dessen die überbetriebliche Informationsverarbeitung stark verändert wird. Für die sofortige Reaktion auf Events existieren in den meisten Unternehmen, die an der Studie teilgenommen haben, bereits „Skripte“, die im 7 8
Siehe dazu Kapitel 5.2.2. Diese Einteilung wurde gewählt, da diese Kategorien die fundamentalen Änderungsdimensionen für Informationssysteme darstellen (siehe Kapitel 2.4.3).
158
F. Müller, A. Otto
Falle eines Events ausgeführt werden. Deren Ausführung ist jedoch nicht in allen Fällen automatisiert, so dass diese Logik in einem Softwaresystem abgebildet werden sollte. Eine solche Umsetzung erfordert sowohl neue Funktionalität (etwa in Form eines SCEM-Systems) als auch eine Möglichkeit, neue Geschäftsprozesse zur Störungsbewältigung im bestehenden System abzubilden, sofern die automatisierte Reaktion nicht nur in einem Alerting besteht, sondern automatisiert Symptombekämpfung und Therapie durchgeführt werden soll [Zell05]. Da die Erkennung einer Störung eine Mustererkennung auf bestehenden Daten ist, sind keine Änderungen im Datenmodell erforderlich. Es kann jedoch erforderlich sein, die Daten, die als Grundlage der Störungsbewältigung dienen, zunächst in einem Data Warehouse zusammenzufassen, um diese einer SCEM-Komponente zur Verfügung zu stellen. Für das Vorhalten zusätzlicher Kapazitätspuffer sind gegebenenfalls Funktionen zur Überwachung von Restriktionen (z. B. Wartungsintervalle, Arbeitszeit der Belegschaft) vorzuhalten. Da diese Anpassungsstrategie jedoch zum „klassischen Repertoire“ vieler Unternehmen zählt, sind diese Planungsprozesse in vielen Anwendungssystemen mit geeigneter Funktionalität und entsprechenden Datenstrukturen (z. B. Werkskalender, Betriebsmittelstatus) bereits implementiert. Eine mehrstufige, restriktionsbasierte, lieferterminorientierte Ein- bzw. Umplanung ist insbesondere bei Automobilherstellern mit starken Änderungen im Ablauf und in den jeweiligen Funktionen der PPS-Systeme verbunden. Zwar ist der Liefertermin in den betroffenen Systemen verfügbar, in der Planungslogik sind jedoch andere Zielsetzungen dominant (z. B. Kapazitätsauslastung, ausgeglichener Auftragsmix). In den einzelnen Fertigungsstufen (Karosseriebau, Lackiererei, Montage) wird jeweils nach eigenen Zielen gesteuert, so dass eine Abweichung zum Liefertermin nicht immer berücksichtigt wird. Diesbezüglich sind auch keine speziellen Funktionen in den Systemen zur Distributionsabwicklung dokumentiert, zumal dort z. T. die erforderliche Transparenz fehlt, um beispielsweise eine Express-Behandlung verspäteter Aufträge zu realisieren.9 Der mittelfristige Kapazitätsausgleich stellt neue Anforderungen an die Funktionalität bestehender Planungssysteme.10 Diese müssen eine kapazitierte, werksübergreifende Planung auf Produktgruppenebene ermöglichen. In den Unternehmen, die an der Ausarbeitung dieser Anpassungsstrategie beteiligt waren, bedingt die Durchführung des mittelfristigen Kapazitätsausgleichs zusätzliche Planungsschritte sowie eine stärkere Anbindung der Zulieferer, da deren Kapazitätsrestriktionen im Rahmen dieses Prozesses 9 10
Dies variiert je nach Entfernung und Verkehrsträger. Siehe Kapitel 5.2.1.
2.3.2 Anwendungsarchitekturen in Logistiknetzwerken
159
berücksichtigt werden. Änderungen an den Datenstrukturen können erforderlich sein, da der Planungsstand für den Bedarf einer Produktgruppe eine Versionierung unterstützen muss.11 Führt ein Akteur eine Prozessstandardisierung durch, kann dies darin resultieren, dass der Prozessablauf für Einheiten, die bislang individuelle Geschäftsprozesse realisiert haben, geändert werden muss. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass eine Standardisierung betrieblicher Abläufe eine Automatisierung (und die Änderung der entsprechenden Implementierung) in vielen Fällen erleichtert.12 Die Pilotproduktion macht die Abbildung spezieller Geschäftsprozesse in den Anwendungssystemen des jeweiligen Akteurs erforderlich (zusätzliche Aktivitäten, Projektmanagement). Ferner sind Änderungen in der Logik erforderlich, sofern für Pilotproduktion und Serienproduktion dieselben Applikationen zum Einsatz gelangen, da für erstgenannte andere Zielsetzungen gelten. Im Teilestamm muss eine Versionierung vorhanden sein, um eine Überführung der jeweiligen Daten in die Serienproduktion zu gestatten. Zum Teil werden diese Daten im Musterbau oder in der Pilotphase in separaten Softwaresystemen geführt. Die Informationsverarbeitungsbedarfe ändern sich bei einer Änderung der Fertigungstiefe nicht grundlegend: Die Änderung erfolgt in den meisten Fällen nicht innerhalb des Produktlebenszyklus, so dass bei einem neuen Produkt für die fremdvergebenen Umfänge ein externer Lieferant registriert wird. Es können spezielle Anforderungen aus dieser Anpassungsstrategie erwachsen, wenn ein Unternehmen die Herstellung kompletter Produkte an Dritte überträgt: In diesem Fall kann eine direkte Kopplung des Vertriebssystems mit dem Produktionsplanungssystem des Partners erforderlich sein, und das Distributionssystem muss eine Auslieferung vom Standort des Partners vorsehen. Eine Internationalisierung birgt vor allem Änderungsbedarf an der Funktionalität eingesetzter Anwendungssysteme und an den Stammdaten, da rechtliche Besonderheiten der jeweiligen Länder berücksichtigt werden müssen. Insbesondere zur Berechnung von Abgaben oder Zöllen und für die Formularerstellung sind je nach Land spezifische Methoden vorzuhalten. Die Oberflächen sollten pro Einsatzland anpassbar gestaltet sein, um lokale Besonderheiten und die Qualifikation der Mitarbeiter berücksichtigen zu können. Für OEM und Zulieferer ist die Internationalisierung in einigen Fällen mit der Einführung neuer Geschäftsprozesse verbunden (CKD- oder SKD-Anlieferung und -Montage). 11 12
Siehe Kapitel 5.2.1. Z. B. ermöglicht eine Standardisierung der Beschaffungsprozesse erst eine teilautomatisierte Logistikplanung [OtSc06].
160
F. Müller, A. Otto
In Tabelle 1 sind die projizierten Änderungsprofile zusammengefasst (0: geringer Änderungsbedarf, Änderungen betreffen typischerweise wenige Anwendungssysteme; +: hoher Änderungsbedarf, Änderungen betreffen typischerweise mehrere Anwendungssysteme; ++: sehr hoher Änderungsbedarf; Änderungen betreffen typischerweise viele Anwendungssysteme). Anpassungsstrategie Flexible Bandbelegung Reduzierung der Durchlaufzeit Sofortige Reaktion auf Events Kapazitätspuffer Mehrstufig restriktionsbasierte, lieferterminorientierte Ein- bzw. Umplanung Mittelfristiger Kapazitätsausgleich Prozesstandardisierung Pilotproduktion Änderung der Fertigungstiefe Internationalisierung
Änderungsprofil GP-Logik Funktion + ++ + ++ ++ + 0 +
Daten + 0 0 0
+
++
+
+ + + 0 +
++ 0 + + +
+ 0 + + +
Tabelle 1: Änderungsprofile für Anpassungsstrategien
Die obige Darstellung der Auswirkungen der Anpassungsstrategien, die Akteure in supra-adaptiven Wertschöpfungsnetzwerken planen oder durchführen, stellt eine Zusammenfassung auf die jeweiligen Informationsverarbeitungsbedarfe dar: akteurs- oder unternehmensspezifische Anpassungsanforderungen sind dort ausgeblendet. Die Änderungsprofile sind jedoch dazu geeignet, eine erste Beurteilung der Anwendungsarchitekturklassen durchzuführen: Ein sehr hoher Änderungsbedarf ist vor allem für die interne Logik einzelner Aufgaben festzustellen, wohingegen die Durchführung der meisten Anpassungsstrategien nur in einem geringen Änderungsbedarf der Datenstrukturen resultiert. Ausgehend von der Annahme, dass sich dieses Änderungsprofil für künftige Anpassungsstrategien nicht fundamental ändert, ist also eine Anwendungsarchitekturklasse umso besser, je weniger Aufwand eine Änderung der Funktionalität einzelner Aufgaben verursacht. Dieses Ergebnis ist plausibel, da die Anpassungsstrategien keine radikale Anpassung der Geschäftsmodelle einzelner Unternehmen indizieren (dann wäre die Anpassbarkeit der Geschäftsprozesse dominant) und sich das Datenmodell innerhalb eines Unternehmens typischerweise durch eine geringe Volatilität auszeichnet [Jung06, S.5].
2.3.2 Anwendungsarchitekturen in Logistiknetzwerken
161
Profilbezogene Beurteilung von Referenz-InformationssystemArchitekturen und Anwendungsarchitekturklassen Aus der generischen Referenz-Anwendungslandschaft von Winter sind für dieses Änderungsprofil insbesondere Applikationen relevant, in denen Funktionalität für mehrere Informationsobjekte und Unternehmensbereiche zusammengefasst ist. Einige der Anpassungsstrategien benötigen Funktionalität, die in der SCP-Matrix abgebildet ist (z. B. mittelfristiger Kapazitätsausgleich). Vor dem Hintergrund des Änderungsprofils ist der Einsatz eines APS, das sämtliche Planungsaufgaben integriert abdeckt, jedoch nicht sinnvoll: Änderungen, die an der Funktionalität einer Komponente durchgeführt werden müssen, können dazu führen, dass ein hoher Änderungsaufwand für die anderen Komponenten des APS-Pakets entsteht, wenn jene stark untereinander gekoppelt sind. In Tabelle 2 ist zusammengefasst, welcher Aufwand für eine Änderung in der Geschäftsprozess-Logik, an einer Funktion und im Datenmodell zu erwarten ist. Pro Änderungsdimension sind folgende Fragen zentral: 1. Wie groß ist der Bereich, in dem Anpassungen vorgenommen werden können (Anpassungsbereich)? 2. Wie viele Anwendungssysteme sind von einer typischen Änderung in dieser Dimension betroffen (Wirkungsbereich)? 3. Wie hoch ist der zu erwartende Aufwand für eine Änderung in einem AwS (Aufwand)? Die Angaben sind keine empirischen Ergebnisse, sondern basieren auf Argumentation. Eine empirische Überprüfung ist für einige Zellen möglich, wenn beispielsweise Beratungsunternehmen den Aufwand für typische Änderungen angeben könnten. Diese Daten stehen jedoch nicht zur Verfügung. Aufgrund der geringen Verbreitung von ESOA und Fachkomponenten-Architekturen ist außerdem die erreichbare Stichprobengröße für viele Zellen zu gering, um allgemeingültige Aussagen treffen zu können.
162
F. Müller, A. Otto
Tabelle 2: Änderungsaufwand je Anwendungsarchitekturklasse
2.3.2 Anwendungsarchitekturen in Logistiknetzwerken
163
Anwendungsarchitekturen, in denen Funktionalität gekapselt ist, sind für die betrachteten Anpassungsstrategien dominant. Die Zusammenstellung dieser Funktionen in Form von Geschäftsprozessen sollte jedoch deshalb nicht vernachlässigt werden. Dieses Problem wird sowohl in der Wissenschaft (z. B. in der EAI-Community [AiSc06]) als auch in der Praxis (z. B. SAP© Composite Applications [SAP04]) intensiv diskutiert. Zentraler Treiber des Anpassungsaufwands für das vorliegende Änderungsprofil ist jedoch die Wartbarkeit der Funktionsbausteine. Diese kann über Enterprise Services gefördert werden; dadurch, dass sich für diese Funktionen jedoch in den diskutierten Fällen auch die Schnittstellen ändern können, erscheint der Einsatz eines Fachkomponentenkonzepts sinnvoller: Enterprise Services können auch untereinander Abhängigkeiten unterhalten, so dass die Schnittstellenänderung einer Funktion Änderungen in der Implementierung anderer Services erforderlich macht. Ohne eine Beschränkung auf ein steuerndes AwS, in dem die Orchestrierung der Services realisiert wird, kann eine ESOA zu einer komplexen Architektur degenerieren, mit dem einzigen Unterschied, dass die Funktionen in Form von Diensten einheitlich beschrieben sind. Dieser Nachteil ist gegen das Fachkomponentenkonzept nicht anzuführen, da Fachkomponenten Dienste erbringen, ohne andere Dienste, die nicht im Anwendungsframework spezifiziert sind, vorauszusetzen [Turo02]. Sowohl Enterprise Service Oriented Architectures als auch das Fachkomponentenkonzept erlauben eine Realisierung von vielen Diensten in einem Softwaresystem. Eine solche Entwicklung ist jedoch nicht zielführend, wenn zahlreiche Änderungen der Implementierung eines Dienstes erforderlich sind, da dadurch andere Bestandteile des Softwaresystems beeinträchtigt werden können.
Zusammenfassung In diesem Beitrag wurden Referenz-Informationssystem-Architekturen und Integrationskonzepte beschrieben, deren Einsatz zu jeweils unterschiedlichen, typischen, Anwendungsarchitekturen führt. Ausgehend von einem Änderungsprofil für Anpassungsstrategien, die Akteure im supra-adaptiven Wertschöpfungsnetzwerk verfolgen, konnte die Kapselung der Aufgabenlogik als Gestaltungsempfehlung ermittelt werden. Zwar versprechen sich sowohl Praktiker als auch Wissenschaft von der zunehmenden Verbreitung von Enterprise Service Oriented Architectures eine stärkere Flexibilität in der Informationsverarbeitung, es wäre jedoch falsch, die Implementierung der jeweiligen Services unberücksichtigt zu lassen: Wenn ein Großteil der eingesetzten Services in einem Softwaresys-
164
F. Müller, A. Otto
tem realisiert sind, sind Änderungen der Funktionalität ähnlich „teuer“ wie ein klassisches Customizing oder eine individuelle Implementierung der jeweiligen Funktionalität mit zusätzlichem Kopplungsaufwand.
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2.3.2 Anwendungsarchitekturen in Logistiknetzwerken [IBM07] [Jung06] [KiKr84] [KiWe05] [Mert04] [MaEc04]
[MeWa05]
[MüHo06]
[Müll07]
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166
F. Müller, A. Otto
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[ScWi06] [StKi05] [Turo02]
[W3C04] [Wint06]
[Zell05]
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2.4 Adaptivitätstransformation im Netzwerk
Zusammenkommen ist der Anfang, Zusammenarbeiten ist der Erfolg. Henry Ford
2.4.1 Die Quantifizierung des logistischen Nutzens – Kostenausgleich und Nutzenverteilung in Supply Chains schaffen Transparenz und Vertrauen zwischen den Akteuren
H. Wildemann Lieferanten, Logistikdienstleister und Hersteller arbeiten gemeinsam an der Erstellung von Produkten und sind an der Schaffung von Wertpotenzialen beteiligt. Aber es ist nicht untypisch, dass sich die Akteure bei der Einführung logistischer Konzepte zur Effizienzverbesserung der Supply Chain immer gleichgültiger gegenüberstehen. Grund hierfür ist vor allem in mangelndem Vertrauen untereinander und in der ungleichen Nutzenverteilung zu sehen. Dieser Beitrag untersucht den Kostenausgleich auf Basis der Nutzenverteilung und zeigt auf, wie Transparenz über den logistischen Nutzen in Wertschöpfungsnetzwerken die Zusammenarbeit fördern kann. Supply Chain Management wird als eine Organisations- und Managementphilosophie gesehen, die durch eine prozessoptimierende Integration der Aktivitäten der am Wertschöpfungssystem beteiligten Unternehmen auf eine unternehmensübergreifende Koordination und Synchronisierung der Informations- und Materialflüsse zur Kosten-, Zeit- und Qualitätsoptimierung zielt. In der Theorie ist dieses Konzept mehr als hinreichend analysiert und beschrieben worden, doch die praktische Umsetzung dieses Konzeptes weicht oft erheblich von der wissenschaftlichen Betrachtungsweise ab. Was ist der Grund dafür? Die isolierte und funktionsbezogene Sichtweise von Unternehmen führte in der Vergangenheit oftmals zu opportunistischem Verhalten unter den Wertschöpfungspartnern. Das bedeutet, dass von jeder Seite Maßnahmen ergriffen werden, um Eigeninteressen zur individuellen Nutzenmaximierung zu verfolgen. In dieser Situation verhindern Eigeninteressen jedoch, dass Potenziale voll auszuschöpfen sind, da in vielen Bereichen Suboptima entstehen, die ein Gesamtoptimum verhindern. Der „Lopez-Effekt“ der Kostenabwälzung vom OEM auf Lieferanten und die daraus folgende Negativstimmung bei der Erwähnung des Wortes „Partnerschaft“ in der Au-
170
H. Wildemann
tomobilzulieferindustrie verhindert so beispielsweise die Erzielung gemeinsamer Systemoptima. Dass dieses Thema auch aktuell brisant in der Praxis diskutiert wird, zeigen die Kostensteigerungen bei Stahl, Kunststoffen, Aluminium, Rhodium oder Kupfer, vom Verarbeiter auf den allerersten Stufen der Supply Chain bis hin zum Fahrzeughersteller. In diesem Zusammenhang spricht Gottschalk, ehemaliger Präsident des Verbandes der Automobilindustrie, von einer „Zerreißprobe“ der Wertschöpfungsketten. Der oftmals strapazierte Begriff der Partnerschaft bekommt gerade in der heutigen, von steigender Komplexität und Volatilität gekennzeichneten Zeit eine ganz neue Bedeutung. Der Ansatz des einfachen „Durchreichens“ der Kosten an Akteure der vorderen Wertschöpfungsstufen kann dabei keine sinnvolle zukunftsfähige Lösung darstellen. Es ist mittlerweile unstrittig, dass zur fairen Teilung der Lasten auch Kosten- und Nutzentransparenz gehört. Dass die Akteure der Wertschöpfungskette näher zusammenrücken müssen und dieser Weg über mehr Transparenz führt, zeigt auch das aktuelle Beispiel des elektronischen Kapazitätsmanagements im Hause Audi. Audi hinterlegt hierbei auf einem Internetportal seine Bedarfspläne, Zulieferer ihre Produktionskapazitäten. Eine Software errechnet dann mögliche Kapazitätslücken und weist auf Engpässe hin. Die Umsetzung dieses Konzeptes setzt voraus, dass die Beteiligten einen individuellen Nutzen für sich sehen. Nur so können auch zukunftsfähige logistische Konzepte reaktionsschnell und wirkungsvoll in die Supply Chain eingeführt werden. Die Frage der Identifikation und Quantifizierung von Nutzen stellt somit ein zentrales Thema dar. Die Antwort auf die oben beschriebene Problematik beschäftigt sich mit der Quantifizierung von logistischem Nutzen und der darauf aufbauenden Verteilung von Kosten- und Vorteilsausgleich in Supply Chains. Die Fragestellungen lauten: • Wie ist der logistische Nutzen in der Supply Chain definiert? – Es wird untersucht, wie logistischer Nutzen in Supply Chains beschrieben werden kann, welche Kennzahlen und Softfacts wie Vertrauen herangezogen werden müssen, um den logistischen Nutzen realitätstreu abbilden zu können. • Wie kann der logistische Nutzen gemessen und bewertet werden? – Die Fragestellung beschäftigt sich mit den für die Quantifizierung von logistischem Nutzen notwendigen Instrumenten und Methoden. Diese sind zu einem sinnvollen und effizienten Instrumentenmix zusammenzuführen.
2.4.1 Die Quantifizierung des logistischen Nutzens
171
• Wie kann ein Vorteilsausgleich vor dem Hintergrund der Nutzenverteilung umgesetzt werden? – Ist der logistische Nutzen erst einmal quantifiziert und beschrieben, geht es darum, das Verteilungsmodell auf Basis der Anteile auszugestalten. Im Rahmen des Forschungsverbundes „Supra-adaptive Logistiksysteme“ (ForLog), der von der Bayerischen Forschungsstiftung gefördert wird, beschäftigt sich das Teilprojekt „Vorteilsausgleich-Nutzenverteilung“ unter der wissenschaftlichen Leitung des Autors mit der Quantifizierung des logistischen Nutzens in Supply Chains und dem darauf basierenden Vorteils- bzw. Kostenausgleich zwischen den Partnern. Eine effiziente Nutzenverteilung ermöglicht eine wirkungsvolle Zusammenarbeit und damit eine Supra-Adaptivität, die den gestiegenen Anforderungen des Marktes in Bezug auf Zeit, Qualität und Kosten gerecht wird. Es geht um die Schaffung eines Anwendungskonzeptes, das den logistischen Nutzen anhand von messbaren als auch schwer messbaren Größen wie Transparenz und Geschwindigkeit identifiziert und quantifiziert (siehe Abbildung 1). Logistikpotenzial bzw. logistischer Nutzen im Netzwerk Anforderungsgerechte und gewichtete Maßgrößen bzw. Key Performance Indikators (KPIs) verschiedenster Dimensionen, die dazu dienen, die (logistische) Effektivität und Effizienz von Unternehmenskooperationen in Netzwerken zu quantifizieren
Quantifizierung der Wirkung auf ... Bereich
Logistische Leistungen
Logistische Kosten Ebene Kennzahl
Unternehmen
Netzwerk
gering
Potenzial
hoch ∅
Kennzahl
Kooperationsqualität
Potenzial
gering
hoch ∅
Kennzahl
gering
Potenzial
hoch ∅
Transportkosten
1,67
Liefertreue
1,67
Vertrauensrate
1,67
Planungskosten
2,88
Lieferflexibilität
2,88
Kompatibilität
2,88
Lagerkosten
5,33
Durchlaufzeit
5,33
EDV-Kosten
2,50
Bearbeitungszeit
2,50
Flexibilität
2,50
…
3,17
…
3,17
…
3,17
…
4,67
…
4,67
…
4,67
…
4,67
…
4,67
…
4,67
…
3,83
…
3,83
…
3,83
Kennzahl n
3,83
Kennzahl n
3,83
Kennzahl n
3,83
Geschwindigkeit
5,33
Abbildung 1: Größen des logistischen Nutzens
Die Vorgehensweise fußt auf einem weit reichenden Logistikverständnis. Danach wird unter Logistik die material- und informationsbezogene Überbrückung von Zeit- und Raumdisparitäten verstanden. Während unter dem Begriff „Logistik“ lediglich die einzelwirtschaftliche Sichtweise eines Unternehmens zu verstehen ist, umfasst der Begriff „Supply Chain Manage-
172
H. Wildemann
ment“ die gesamte Lieferkette vom Lieferanten bis zum Kunden. Um sowohl die „einzelwirtschaftliche“ Logistik als auch das „gesamtwirtschaftliche“ Supply Chain Management in seiner Gesamtheit abdecken zu können, ist es erforderlich, logistische Aktivitäten von anderen Aktivitäten im Unternehmen abzugrenzen und mittels nachvollziehbarer Kriterien zu kategorisieren. Die erste Arbeitshypothese für das Forschungsprojekt wurde deshalb wie folgt formuliert: „Logistikaktivitäten in Unternehmen lassen sich nach aufzustellenden Kriterien eindeutig klassifizieren.“ Zur Kategorisierung von Logistikaktivitäten stehen in Praxis und Wissenschaft verschiedene Ansätze zur Verfügung, denen jeweils spezifische Kategorisierungsmotivationen zugrunde liegen. Die Logistikkosten- und Logistikleistungsrechnung ist ein elementarer Bestandteil der Planung und Steuerung logistischer Prozesse. Die Kategorisierung von Logistikaktivitäten erfolgt bei der Logistikkosten- und Logistikleistungsrechnung nach Kosten- und Leistungsarten. Eine Bewertung der Leistung sowie eine wertorientierte Betrachtung leistet die Logistikkosten und -leistungsrechnung nicht. Die Effizienz logistischer Prozessketten lässt sich auch mithilfe von Logistikbilanzen abbilden. Logistikbilanzen stellen eine Gegenüberstellung von Logistikkostenkategorien und logistischen Leistungsgrößen dar. Die „Aktivseite“ der Logistikbilanz bildet die Logistikkosten, die „Passivseite“ die Logistikleistungen ab. Sie ermöglichen damit eine integrale Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Logistik. Sie leistet allerdings keine quantitative Bewertung der Leistung und keine wertorientierte Betrachtung des logistischen Nutzens. Der Objektbereich von Logistikaktivitäten erstreckt sich über nahezu alle Teile der Wertschöpfungskette von der Lieferanten- bis zur Kundenseite. Aus diesem Grund sind auch die Auswirkungen der Logistik und des Supply Chain Managements auf den Unternehmenswert entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu untersuchen. Auf diese Weise lässt sich der logistische Nutzen in seiner Gesamtheit ermitteln und das darauf aufbauende Nutzenverteilungskonzept realisieren. „Logistikaktivitäten können wertsteigernde oder -mindernde Wirkungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette haben, das heißt beim Lieferanten, im eigenen Unternehmen oder beim Kunden. Sie lassen sich anhand logistischer Prozesse einer beliebigen Supply Chain erfassen.“ Um die Logistikaktivitäten in ihrer Wirkung entlang der gesamten Wertschöpfungskette umfassend ermitteln zu können, sind Messkonzepte
2.4.1 Die Quantifizierung des logistischen Nutzens
173
und Kennzahlensysteme erforderlich. Auch hierzu liegen in der Wissenschaft und Praxis unterschiedliche Methoden vor. Die Balanced Scorecard ist in enger Kooperation zwischen Wissenschaft und Unternehmenspraxis entstanden. Ziel ist es, durch die multidimensionale Betrachtung eines Sachverhaltes ein ausgewogenes Bild zu erhalten. Allerdings ist eine quantitative Bewertung des logistischen Nutzens nicht möglich. Insbesondere ist auch die Kopplung der Balanced Scorecard mit der Größe des logistischen Nutzens nur bedingt vorhanden. Das von der European Foundation for Quality Management (EFQM) entwickelte Bewertungsmodell bildet ein Bezugsmodell zur Einführung und Weiterentwicklung eines unternehmensspezifischen Qualitätsmanagementsystems. Dabei fokussiert es nicht nur auf die Steigerung der Prozessqualität, sondern auch auf die Verbesserung weiterer erfolgsrelevanter Parameter, wie z. B. Kundenzufriedenheit. Es kann unterstellt werden, dass die Logistik aufgrund des querschnittsorientierten Charakters einen erheblichen Einfluss auf die Bewertung nimmt. Hinsichtlich der definierten Problemstellung ergeben sich für das EFQMModell analoge Defizite wie bei der Balanced Scorecard. Das Untersuchungsobjekt Logistikprozess Supply Chain stellt die Basis für eine Wirkungsanalyse von Logistikkonzeptionen dar. Logistische Verbesserungsmaßnahmen sind in erster Linie danach zu beurteilen, ob sich durch sie ein positiver und/oder negativer Effekt auf den Unternehmenswert erzielen lässt. Dazu werden im Forschungsprojekt Instrumente entwickelt, die eine Quantifizierung der Wirkung einzelner logistischer Verbesserungsmaßnahmen ermöglichen. „Die Wirkungen von logistischen Verbesserungsmaßnahmen auf den Unternehmenswert sind anhand einer logistischen Nutzengröße abbildbar.“ Eine Quantifizierung des Nutzens ist mittels der bestehenden Methoden kaum möglich. Daher sind Managementmethoden zu entwickeln, die diese Quantifizierung des Nutzens ermöglichen. Dabei sind einerseits bestehende Methoden weiterzuentwickeln und andererseits neue Methoden zu generieren. Eine Quantifizierung des Nutzens ist über die Ermittlung der unternehmensinternen Logistikleistung wie auch die unternehmensübergreifenden Logistikleistung möglich und zu berücksichtigen. Für ein Logistiknetzwerk ist somit einmal die Leistung des jeweiligen Unternehmens sowie die Leistung des gesamten Wertschöpfungsprozesses zu bestimmen. Für diese Logistikleistung sind die Nutzentreiber zu ermitteln und in ein Messkonzept zu integrieren. Die Wirkungsbeziehungen zwischen den einzelnen Leistungsgrößen bilden die Basis für eine Quantifizierung der Logistikleistung.
174
H. Wildemann
Als Ergebnis des Forschungsprojekts wurde ein modulares Modell entwickelt, in dem die Wirkungsbeziehungen abgebildet werden können. Der Test des Modells wird im Rahmen des Forschungsvorhabens in Zusammenarbeit mit den beteiligten Industrieunternehmen erfolgen. Den Unternehmen ermöglicht das Modell die Quantifizierung des logistischen Nutzens. Damit können sie die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Logistik überprüfen und im Vergleich der Akteure bewerten. Die referenzprozessgebundene Herleitung von Kenngrößen und deren Gewichtung und Aggregation zu einer logistischen Nutzengröße ermöglicht eine nachvollziehbare Transparenz zwischen den Akteuren, die die gemeinsame Diskussion über entstehende Kosten- und Nutzenverteilung erleichtert (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Allokation auf Basis des logistischen Nutzens
Die identifizierten und analysierten Instrumente und Methoden sowie die erarbeiteten Erkenntnisse, Wirkungszusammenhänge und Vorgehensweisen werden empirisch in einem Pilotprojekt verifiziert. Dadurch wird sichergestellt, dass die vorher zu erarbeitenden Ergebnisse auch praxistauglich sind. Durch die Beteiligung eines Automobilherstellers, Zulieferunternehmens und Logistikdienstleisters konnte die Übertragung der Ergebnisse auf die Netzwerkstrukturen der Automobilbranche gewährleistet werden. Weitere Informationen, News und Newsletter unter: www.tcw.de
2.4.2 Die Stellhebel des operativen Flexibilitätsmanagements in der Automobilindustrie
S. Schorr
Flexibilitätstreiber in der Logistik der Automobilindustrie Durch den Wandel der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen müssen Unternehmen bzw. ganze Unternehmensnetzwerke vielfältige Herausforderungen meistern [KaBl05, S.2]. Sie müssen gleichzeitig die Entwicklungen in der externen Umwelt sowie der eigenen Branchenumwelt analysieren und entsprechende Maßnahmen daraus ableiten. Die Ereignisse, die die Unternehmen zum Handeln zwingen, können dabei vielfältiger Natur sein. So zeigen ausgewählte Beispiele, wie Naturkatastrophen, Lieferantenausfälle, Währungsrisiken, technische Innovation oder die schwankende Kundennachfrage, die große Spannbreite an möglichen Ereignissen. Die Fähigkeit, diese Veränderungen erfolgreich zu meisten, wird im Allgemeinen unter dem Begriff „Flexibilität“ zusammengefasst [Meff85, S.121ff.; Behr85; EvSc80, S.229]. Definiert wird Flexibilität als die Fähigkeit eines Systems (Unternehmen oder Netzwerk), selbständig proaktiv oder reaktiv mit externen oder intern induzierten Veränderungen umzugehen, um die gesetzten Ziele zu erreichen [VoSa05, S.7]. Flexibilitätstreiber sind die sich ständig verändernden Rahmenbedingungen, die einen starken Einfluss auf die Unternehmen/Netzwerke ausüben. Untersucht man den Wandel speziell in der Automobilindustrie, kann man die zuvor skizzierten Entwicklungen ebenso feststellen. Die Automobilindustrie verzeichnet aktuell sogar einen so großen Umbruch, dass in der Branche von der „dritten Revolution“ gesprochen wird. Heutzutage übernehmen Zulieferunternehmen mehr und mehr neue Aufgaben und müssen deshalb ihre gesamte Struktur neu definieren [VDA03, S.44ff.]. Die Treiber, die zu dieser Entwicklung führten, lassen sich jedoch nicht auf kompakte Weise zusammenfassen. Es wird eine Vielzahl von heterogenen Treibern genannt, die maßgeblich zur „Revolution“ beigetragen ha-
176
S. Schorr
ben. Beispielsweise werden Globalisierung, Preisverfall, Atomisierung des Marktangebotes, zahlreiche Modelloffensiven, die technische und organisatorische Komplexität des Produktes Automobil sowie ein steigender Anteil an elektronischen Komponenten erwähnt. Eine der Herausforderungen, die sich aus der Entwicklung ableiten lässt, ist die künftige Neugestaltung der Wertschöpfungskette [Beck05, S.1ff.]. Die Folge dieser Veränderung trifft schwerpunktmäßig die Logistik. Sie muss sowohl kurz- wie langfristig auf die Veränderungen reagieren, um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu sichern. Eine zielgerichtete Analyse der Veränderungen, inklusive der Ableitung der daraus folgenden Maßnahmen, wird somit zu einer wichtigen Managementaufgabe in der Logistik. Ausgangspunkt für diese Aufgabe ist es, die wichtigsten Treiber, die besonders die operative Logistik beeinflussen, zu identifizieren. Ausgangssituation und Zielsetzung der Studie In der bisherigen Flexibilitätsdiskussion in der Automobilindustrie wird immer wieder betont, wie wichtig Anpassungsfähigkeit für Unternehmen ist. Doch an welche Situationen müssen sich Unternehmen überhaupt anpassen? Versucht man, entsprechende Situationen zu strukturieren, stellt man schnell fest, dass eine vollständige Abbildung kaum möglich ist. Deshalb wurden bisher nur einige ausgewählte Ursachen bzw. Treiber der Entwicklung in der Automobilindustrie untersucht und daraus spezifische Lösungsmöglichkeiten entwickelt [Beck05; o.V.04; Krca05; Stau01; Wolf05; HoPi05]. Die Treiber leiten sich dabei teilweise aus empirischen Studien, teilweise aus allgemeinen Beobachtungen ab. Eine Gewichtung, welche Treiber besonders großen Einfluss haben und welche nicht, kann an diesen bisherigen Arbeiten jedoch nicht gefunden werden. Ebenso kann durch die Abgrenzung der jeweiligen Arbeiten noch kein strukturierter Überblick, vor allem unter dem Blickwinkel Logistik, gewonnen werden. Die Frage, welche Treiber relevant und damit Stellhebel sind (inkl. Gewichtung) und welche nicht, ist daher noch nicht beantwortet. Deshalb wurde auf Basis dieser Ausgangssituation das Ziel definiert, die Ursachen, die Einfluss auf die operative Logistik in der Automobilindustrie ausüben, mithilfe einer empirischen Untersuchung zu identifizieren, zu strukturieren und zu gewichten. Das angestrebte Ergebnis ist demzufolge eine Rangliste, die die Treiber nach Einfluss sortiert und die Stellhebel des operativen Flexibilitätsmanagements identifiziert. Um dieses Ziel zu erreichen, sind folgende Fragestellungen zu beantworten:
2.4.2 Die Stellhebel des operativen Flexibilitätsmanagement
177
• Welche Treiber sind aus logistischer Sicht für die Unternehmen die größte Herausforderung? • Von wo werden die Unternehmen in der operativen Logistik besonders stark beeinflusst? • Wie unterscheiden sich die Akteure hinsichtlich ihrer Einschätzung der einzelnen Treiber? Zielgruppe der Studie waren demzufolge Fachverantwortliche im Bereich der Logistik, die sich mit der täglichen Anpassung ihres Logistiksystems auseinander setzen müssen. Die Ergebnisse sollen ihnen helfen, die Treiber der anderen Akteure besser zu verstehen und die eigenen Prioritäten bezüglich der verschiedenen Treiber besser setzen zu können. Aus Netzwerksicht erhofft sich der Autor, dass eine Diskussion in Gang gesetzt werden kann, wie besonders relevante Treiber im Netzwerk besser kontrolliert bzw. gesteuert werden können. Gestaltung und Durchführung der Studie Die Untersuchungsmethodik, die der Studie zu Grunde liegt, ist eine Erhebung mittels eines Online-Fragebogens. Die Vorteile der schnellen Umsetzung, der großen Reichweite sowie die kostengünstige Durchführung waren ausschlaggebend für diese Art der Erhebung [BrBe05, S.142ff.]. Der Inhalt des Fragebogens wurde in mehreren Workshops erarbeitet. Die Sammlung der verschiedenen Treiber/Ursachen stellte den ersten notwendigen Arbeitsschritt dar. Anschließend wurden diese Treiber/Ursachen gegliedert und als Anpassungsauslöser definiert. In einer ersten Strukturierung wurden typische Anpassungsauslöser aus der Makroumwelt gesammelt und den Themenfeldern Politik-Recht, Ökonomie, Technologie, Gesellschaft und Ökologie zugeordnet. Im zweiten Schritt wurden Anpassungsauslöser der Branchenumwelt zugeordnet (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Themenfelder der Online-Umfrage
178
S. Schorr
Hier wurden die Unterkategorien „Kunden“, „Eigenes Unternehmen“, „Lieferanten“ und „Konkurrenz“ gewählt. Da Veränderungen des Endprodukts „Automobil“ einen großen Einfluss auf alle Akteure ausüben, wurde dieses Themenfeld in der Umfrage ebenfalls berücksichtigt. Das eigene Unternehmen wurde nochmals anhand von drei Kategorien unterteilt. Die Befragten mussten Angaben zu den Bereichen Organisation, Materialfluss und Information machen. Diese Unterteilung orientierte sich an den Netzwerkebenen, die im Zusammenhang mit dem Supply Chain Management entworfen wurden [Otto02, S.246ff.]. Die letztlich für die Umfrage ausgewählten 79 Anpassungsauslöser wurden anhand mehrerer Kriterien geprüft. Hierbei galt es, vier Voraussetzungen zu erfüllen. Zum einen musste die Zielgruppe den Anpassungsauslöser aufgrund seiner betrieblichen Erfahrung überhaupt einschätzen können. Das heißt, die Anpassungsauslöser sollten im logistischen Umfeld wahrnehmbar sein. Ebenso mussten von den Anpassungsauslösern Wirkungszusammenhänge zur operativen Logistik in der Automobilindustrie hergestellt werden können. Das heißt, Anpassungsauslöser, die zwar wahrnehmbar sind, aber keinen unmittelbaren Handlungsbedarf in der Logistik erzeugen, wurden nicht beachtet. Als dritte Voraussetzung wurde die Ausgewogenheit zwischen den verschiedenen Themenfeldern beachtet. Die Befragten sollten zu allen Themenfeldern Einschätzungen abgeben. Deshalb wurde versucht, die Anzahl der Anpassungsauslöser pro Themenfeld auf maximal 15 zu beschränken. Als letzter Gesichtspunkt wurde die Gesamtzahl der Anpassungsauslöser auf 80 limitiert. Durch diese Beschränkung konnte eine noch akzeptable Bearbeitungszeit des Fragebogens erreicht werden, da sonst eine zu hohe Abbrecherquote zu erwarten gewesen wäre [BrBe05, S.142]. Anhand dieser Kriterien wurden die Anpassungsauslöser in mehreren Gesprächsrunden überprüft und verifiziert. Die Teilnehmer waren sowohl Praktiker als auch Wissenschaftler, so dass eine große Bandbreite an Meinungen eingeholt werden konnte. Der Pre-Test des Fragebogens bildete den Abschluss. Hier wurden nochmals die Meinung der relevanten Zielgruppen eingeholt und die Themenfelder mit den dazugehörigen Anpassungsauslösern festgelegt. Die letztlich getroffene Auswahl kann als problemspezifisch, aber nicht als allgemeingültig betrachtet werden. Neben der Festlegung des Inhalts ist der Aufbau (Skala) des Fragebogens ein ebenso wichtiger Aspekt. Die Skala zur Bewertung ist nach den Erkenntnissen in der empirischen Forschung ausgelegt. Die ungerade balancierte Anzahl von Kategorien ermöglicht den Teilnehmern eine neutrale Position einzunehmen, die bei einer solchen Bewertung sinnvoll ist [Stie99, S.68ff.]. Die Skala zur Messung des Einflusses der Anpassungs-
2.4.2 Die Stellhebel des operativen Flexibilitätsmanagement
179
auslöser ist für alle Fragen gleich gestaltet und erstreckt sich von 1= sehr stark, 2= stark, 3= teils/teils, 4= kaum zu 5= gar nicht. Für die Durchführung der Studie konnte die vbw - Vereinigung Bayerischer Wirtschaft e. V. als Partner gewonnen werden. Sie verschickte in diesem Zusammenhang Einladungen an 240 Personen, die in der Automobilbranche tätig und mit logistischen Aufgaben betraut sind. Das Teilprojekt „FlexLog“ verschickte zeitgleich 149 überschneidungsfreie Einladungen an die Zielgruppe. Die Umfrage war den 389 eingeladenen Teilnehmern zwischen März und Juni 2006 zugänglich. Nach Abschluss konnten 53 (=Rücklaufquote 13,6%) verwertbare Fragebögen ausgewertet werden.
Gewichtung der Anpassungsauslöser Um die Stellhebel des operativen Flexibilitätsmanagements identifizieren zu können, gilt es, jene Anpassungsauslöser auszuwählen, die einen großen Einfluss auf die operative Logistik besitzen. Bevor diese Ergebnisse präsentiert werden, soll die Stichprobe näher vorgestellt werden. Vorstellung der Stichprobe An der Umfrage nahmen Personen aus der gesamten Wertschöpfungskette der Automobilindustrie teil. Die Verteilung hinsichtlich Position in der Wertschöpfungskette (Mehrfachnennungen möglich) zeigt folgendes Bild: OEM (16,4%), 1st Tier (42,6%), 2nd Tier (18,0%), 3rd Tier (3,3%), Logistikdienstleister (11,5%) und Sonstige (8,2%). Die Umsatzverteilung der befragten Unternehmen stellt sich folgendermaßen dar: 13,5% erzielen einen Umsatz kleiner als 50 Mio. €. 25,0% erreichen einen Umsatz zwischen 50 und 300 Mio. €, 5,7% zwischen 300 und 550 Mio. €, 3,8% zwischen 550 und 800 Mio. €, 5,8% zwischen 800 Mio. € und 1,05 Mrd. € und 46,2% erwirtschaften einen Umsatz, der größer als 1,05 Mrd. € ist. Hinsichtlich der Branchenzugehörigkeit der Unternehmen konnte eine breite Spanne in der Stichprobe abgebildet werden. Es nahmen Unternehmen der Dienstleistungs- (13,5%), Metallerzeugung und -bearbeitungs(19,2%), Maschinenbaubranche (3,8%) sowie der Elektro- (25,0%) und chemischen Industrie (17,3%) teil. Die restlichen Unternehmen (21,2%) ordneten sich sonstigen Branchen zu. Die Repräsentativität der Stichprobe kann damit als annehmbar bezeichnet werden. Betrachtet man das Kriterium „Position in der Wert-
180
S. Schorr
schöpfungskette“, so sind die OEM zwar leicht überrepräsentiert, aber aufgrund ihrer dominanten Stellung in der Branche auch von besonderem Interesse. Die Zulieferer sind bei der Analyse der gesamten realen Wertschöpfungskette zahlenmäßig am stärksten vertreten. Dies wird auch in der vorliegenden Stichprobe abgebildet. Als Schwäche muss der kleine Anteil der Logistikdienstleister erachtet werden. In der Grundgesamtheit ist der Anteil höher, so dass die Dienstleister in der Befragung unterrepräsentiert sind. Bezüglich der Branche ist jedoch festzustellen, dass alle relevanten Akteure in der Stichprobe abgebildet sind. Die Verteilung zeigt, dass die wichtigsten Branchen – Elektro-, Metall- und chemische Industrie – auch in der Umfrage entsprechend abgebildet sind. Die Umsatzverteilung spiegelt ebenso die Grundgesamtheit wider. Entweder sind aufgrund der Konzentration der Branche sehr umsatzstarke Unternehmen (> 1 Mrd. €) oder Unternehmen mit geringeren Umsätzen (< 300 Mio. €) vertreten [Stat06, S.368]. Übersicht über alle Befragten Die Ergebnisse der Umfrage werden nun in drei Schritten präsentiert: Zuerst werden die Themenfelder analysiert, um die Frage zu beantworten, wo die Flexibilitätstreiber entstehen. Anschließend werden die einzelnen Anpassungsauslöser betrachtet, um die Wichtigsten zu identifizieren. Zum Abschluss werden akteursspezifische Besonderheiten herausgearbeitet. Bildet man die Mittelwerte der Anpassungsauslöser nach Themenfeldern, um daraus die ausschlaggebenden Entstehungsorte zu identifizieren, fällt auf, dass vor allem Anpassungsauslöser aus der Supply Chain selbst (eigene Organisation (2,06), eigener Materialfluss (2,15), eigene Kunden (2,22), eigener Informationsfluss (2,23)) den größten Einfluss ausüben. Dagegen sind Veränderungen in der Makroumwelt (gesellschaftliche (2,68), politisch-rechtliche (2,78), ökonomische (2,97), ökologische Umwelt (3,29)) weniger relevant. Damit wird deutlich, dass vor allem Anpassungsauslöser aus dem unmittelbaren Umfeld der Befragten als wichtig empfunden werden. Das heißt, die Probleme/Aufwendungen, die durch die Anpassungsauslöser entstehen können, sind „hausgemacht“. Kaum beeinflussbare Faktoren der Makroumwelt, wie z. B. neue Gesetze, spielen somit eine untergeordnete Rolle. Dieses Ergebnis wird bei einer Betrachtung der wichtigsten Anpassungsauslöser nochmals deutlicher (siehe Tabelle 1).
2.4.2 Die Stellhebel des operativen Flexibilitätsmanagement
181
Mittelwert 1. Veränderung der Datenqualität der Kunden (1,79) 2. Kurzfristige Änderungen der Nachfragemengen der (1,79) Kunden 3. Änderung des eigenen Logistikkonzepts (1,80) 4. Kurzfristige Änderungen der Beschaffungsmengen (1,85) bei den Lieferanten 5. Änderung des Versorgungskonzepts der Kunden (1,86) 6. Veränderung des Liefertermins der Kunden (1,89) 7. Verkürzung der eigenen Durchlaufzeit (1,91) 8. Veränderung der eigenen Unternehmensstrategie (1,92) 9. Eigene Standortveränderung (1,94) 10. Internationalisierung der Kunden (1,96)
Anpassungsauslöser
Tabelle 1: „Top-10“ Anpassungsauslöser
Alle zehn Anpassungsauslöser entstammen den Themenfeldern „Kunde“, „Lieferant“ oder „Eigenes Unternehmen“ und zeigen deren hohen Einfluss nochmals auf. Die Rangliste kann bei näherer Betrachtung noch weiter verdichtet werden. Die kurzfristigen Änderungen des eigenen Logistikund des Versorgungskonzepts der Kunden müssen zusammengefasst werden. Es ist anzunehmen, dass in bestimmten Fällen die Änderung des Versorgungskonzepts die eigentliche Ursache ist, während letztlich die Änderung des eigenen Logistikkonzepts nur wahrgenommen wird. Hier ist eine scharfe Trennung zwischen den Symptomen und der tatsächlichen Ursache schwierig. Ähnlich verhält es sich mit den Standortveränderungen. Hier kann auch oftmals die Internationalisierung des Kunden die Ursache sein, während man nur die eigene Standortveränderung wahrnimmt. Die Änderung der Liefer- und der Beschaffungsmengen können ebenso inhaltlich verbunden werden. Die schwankende Nachfrage der Kunden schlägt auf die Beschaffungsmenge durch und somit kann hier der schon oft beschriebene Bullwhip-Effekt beobachtet werden [LePW97, S.548ff.]. An diesen drei Beispielen wird klar, dass die Unterscheidung zwischen Ursache und Symptomen schwierig ist. Das Ziel dieser Umfrage ist es aber, diejenigen Veränderungen zu identifizieren, die die Befragten als wichtig wahrnehmen. Eine tiefere Ursachenforschung soll deshalb hier nicht vorgenommen werden. Analysiert man die Liste nun hinsichtlich der Reihenfolge, ist ein Sprung zwischen der ersten drei Auslösern und dem Rest festzustellen. Dass die Datenqualität an vorderster Stelle steht, ist bisher noch nicht empirisch nachgewiesen worden. Da die Automobilindustrie aufgrund der
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S. Schorr
starken Vernetztheit in Rahmen von JIT- und JIS-Prozessen von den Lieferabrufen dominiert wird, ist der Einfluss dieses Auslösers aber nachvollziehbar [Eise02, S.62f.]. Durch die steigende Komplexität sowie die extreme Kundenorientierung [Beck05, S.1] wird es sogar noch schwieriger, eine hohe stabile Datenqualität zu erreichen, so dass sich diese Problematik noch verstärken wird. Die schwankende Nachfrage beschäftigt schon lange die Automobilindustrie [LiWe04, S.2f.]. Da immer mehr Hersteller auf das Build-to-Order-Prinzip wechseln, wird sich diese Problematik in der gesamten Kette zukünftig noch intensivieren, da Schwankungen noch stärker durchschlagen werden [HoMi05, S.64f.]. Änderungen des eigenen Logistikkonzepts können kosten- oder kundengetrieben sein (siehe Auslöser „Versorgungskonzept“). Bei einem kundengetriebenen Auslöser können die Auswirkungen über mehrere Stufen hinweg spürbar sein. Das heißt, ändert der Kunde sein Konzept, muss das eigene Konzept geändert werden, somit müssen auch Lieferanten ihr Konzept ändern usw. Der Bullwhip-Effekt kann hier somit aus Konzeptsicht beobachtet werden. Da Änderungen des Logistikkonzepts teilweise sehr aufwändig sein können, gilt es, diesen Treiber aus Gesamtsicht besser zu analysieren. Die Auslöser an Position sechs „Liefertermin“ und sieben „Durchlaufzeit“ verdeutlichen, wie stark der zeitliche Einfluss auf die Wertschöpfungskette ist. Da heutzutage die zeitlichen Puffer immer stärker reduziert werden [Reit05, S.276], sind Änderungen von Zeithaushalten eine große Herausforderung für alle Akteure, die mit enormem Aufwand verbunden sein können. Dies wird durch das Ergebnis nochmals klar. Die Änderungen der Unternehmensstrategie machen deutlich, wie stark die Logistiker von der Unternehmensspitze abhängig sind. Die Umgestaltungen der Strategie können jedoch sehr vielfältig sein, so dass sich keine weiteren Aussagen ableiten lassen. Die Positionen neun und zehn sind in Verbindung mit der Globalisierung zu sehen. Die ganze Wertschöpfungskette ist regionalen Verschiebungen ausgesetzt, wodurch Logistiker ständig das Netzwerk anpassen müssen [Stra05, S.69f.]. Diese Anpassungen können wiederum mit einem hohen Aufwand verbunden sein. Insgesamt gesehen lassen sich die typischen Trends in der Automobilindustrie, wie z. B. Volatilität der Nachfrage, Globalisierung und Kürzung der Zeitpuffer mithilfe der Studie veranschaulichen. Ausnahmen bilden Datenqualität und die Änderungen der Logistikkonzepte. Diese Herausforderungen wurden bisher noch wenig in der Literatur beleuchtet.
2.4.2 Die Stellhebel des operativen Flexibilitätsmanagement
183
Analyse anhand von Branche, Umsatz, Position im Netzwerk und Fertigungsstruktur Aufgrund der Heterogenität der Akteure innerhalb der gesamten Automobilbranche muss dieses Zwischenergebnis aber noch detaillierter analysiert werden. Kriterien für eine akteursspezifische Auswertung sind Umsatz, Position im Netzwerk und Fertigungsstruktur der jeweiligen Unternehmen. Bei Überprüfung der Korrelation zwischen Unternehmensumsatz und Wichtigkeit der Anpassungsauslöser zeigt sich folgendes Bild. Für Unternehmen, die einen geringeren Umsatz aufweisen, sind Änderungen der Steuerpolitik wichtiger als für umsatzstärkere Unternehmen. Dagegen zeigt sich bei den Anpassungsauslösern „Änderungen im Produktkonzept durch OEM“, „Zölle“, „Liefertermin der Kunden“, „Versorgungskonzepts der Kunden“, „Verpackung der Lieferanten“, „eigenes Logistikkonzept“ sowie „Internationalisierung der Lieferanten“ ein umgekehrtes Bild. Diese Anpassungsauslöser beeinflussen in besonderem Maße Unternehmen mit einem hohen Umsatz (> 1,05 Mrd. €). Damit wird klar, dass abhängig von der Umsatzgröße ausgewählte Auslöser höher priorisiert werden müssen, da sich die Strukturen der Unternehmen auch wesentlich unterscheiden. Große Konzerne sind anscheinend dem Einfluss der Globalisierung viel stärker ausgesetzt, was sich beispielhaft an den ermittelten Anpassungsauslösern nachvollziehen lässt (z. B. Zölle, Internationalisierung der Lieferanten). Analysiert man die Position im Netzwerk und die Anpassungsauslöser mithilfe des Mittelwertvergleichstests ANOVA, sind ebenfalls Unterschiede festzustellen. Für Dienstleister sind Veränderungen in der Leistungsfähigkeit der Identifizierungs- und Fördertechniken wichtiger als für die restlichen Akteure. Wechselkursschwankungen sind dagegen für die OEM eine große Herausforderung. Somit hängt die Gewichtung der Auslöser neben der Umsatzgröße auch von der Position im Netzwerk ab. Dies trifft zwar nur bei ausgewählten Auslösern zu, zeigt aber die jeweiligen Problemstellungen der unterschiedlichen Akteure. Als letztes wird noch der Einflussfaktor „Fertigungsstruktur“ untersucht. Hier wird zwischen Massenfertigern und Serienfertigern unterschieden. Wiederum konnten mithilfe des ANOVA-Tests signifikante Unterschiede bei ausgewählten Auslösern festgestellt werden. Änderungen der Kundenverpackung sowie des Transportmittels stellen Massenfertiger vor wesentlich größere Herausforderungen als Serienfertiger. Diese Verpackungs-/ Transportmittelproblematik wird in der Automobilindustrie schon lange diskutiert [ScSc05, S.57ff.; o.V.03, S.64]. Das die Massenhersteller noch stärker von diesem Auslöser getroffen werden, ist aufgrund hoher Volumina, die bei solchen Unternehmen im Umlauf sind, nachvollziehbar.
184
S. Schorr
Zusammenfassend ist festzustellen, dass auch jene unternehmensspezifische Faktoren mit berücksichtig werden müssen, die sich aus der jeweiligen Unternehmensstruktur ergeben.
Die Konzentration auf bestimmte Anpassungsauslöser ist aufgrund der Komplexität notwendig Die Frage, wo aktuell die Stellhebel des operativen Flexibilitätsmanagements in der Automobilindustrie sind, kann mithilfe der Studie beantwortet werden (vgl. Abbildung 2). Ökonomie
Logistikkonzept Durchlaufzeit Unternehmensstrategie Standort Eigenes Unternehmen
Beschaffungsmenge Internationalisierung
Ökologie …
Lieferanten
Konkurrenz Gesellsch af
t
Datenqualität Nachfragemenge Versorgungskonzept Liefertermin Kunden
PolitikRecht …
ologie Techn
Abbildung 2: „Top 10“ Anpassungsauslöser und deren Entstehungsort
Eine Verbesserung der Datenqualität, die Reduktion der kurzfristigen Nachfrageschwankungen sowie eine konsequente Steuerung der Änderungen von Logistikkonzepten sind die aussichtsreichsten Ansatzpunkte aus Sicht von Logistikern, um in der gesamten Wertschöpfungskette den Flexibilitätsaufwand zu reduzieren. Bemerkenswert an diesen Anpassungsauslösern ist, dass sie durch die Akteure selbst stark beeinflussbar sind und deshalb potenzielle Verbesserungen umgesetzt werden können. Neben diesen generellen Maßnahmen darf aber nicht der Blick für unternehmensspezifische Anpassungsauslöser verloren gehen. Dieses Dilemma verdeutlicht die Komplexität im Bereich Flexibilitätsmanagement. Die Logistiker müssten sich aus der Breite an Flexibilitätstreibern auf jene konzentrieren, die unternehmensübergreifenden wie auch eigenen Anforderungen genügen. Dabei können die Beziehungen zwischen diesen Ansprüchen sowohl komplementär, als auch konkurrierend sein, so dass für manche Unternehmen auch Nachteile entstehen können. Die Herausforderungen des operativen Flexibilitätsmanagement im Bereich der Stellhebel sind demzufolge vielschichtig gelagert. Zum einen
2.4.2 Die Stellhebel des operativen Flexibilitätsmanagement
185
sollten die netzwerkweiten Flexibilitätstreiber im Sinne aller Akteure überhaupt gesteuert werden. Zum anderen müsste die ökonomisch sinnvolle Koordination durch eine Instanz sichergestellt werden, die die Interessen des gesamten Netzwerks vertritt. Als letztes muss die in der Realität vorliegende Dynamik abgebildet werden. Das heißt, sind die aktuellen Stellhebel im nächsten Jahr noch genauso wichtig oder sind sogar manche teilweise gar nicht mehr relevant. Dies muss mithilfe eines kontinuierlichen Scanning und Monitoring der Treiber beantwortet werden [Hors05, S.91ff.]. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass für eine (unternehmensübergreifende) Umsetzung des operativen Flexibilitätsmanagements noch zahlreiche Aufgaben gelöst werden müssen. Die Identifizierung der Stellhebel des Flexibilitätsmanagements stellt jedoch einen entscheidenden Schritt in diesem Forschungsfeld dar.
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186
S. Schorr
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2.4.3 Adaptierbarkeit von Anwendungsarchitekturen
F. Müller, A. Otto
Motivation und Fragestellung Bei der Planung und der Veränderung einer Informationssystem (IS)Architektur sind Gestaltungsentscheidungen zu treffen, die sich auf die Anpassungsfähigkeit eines Unternehmens auswirken. Eine relevante Teilmenge bilden Entscheidungsprobleme, die im Rahmen einer Anwendungsarchitekturerstellung bzw. -modifikation auftreten, da deren Ergebnis den Aufwand für Implementierung, Betrieb und Wartung des automatisierten Subsystems eines betrieblichen Informationssystems beeinflusst. Um eine rationale Entscheidung treffen zu können, ist zusätzlich zu diesen Kriterien eine Prognose der jeweiligen Konsequenzen einer Alternative erforderlich [Gäfg74]. In diesem Beitrag soll ein Werkzeug entwickelt werden, das derartige Prognosen vereinfacht. Mit diesem Werkzeug sollen IS-Planer in die Lage versetzt werden, architektonische Alternativen hinsichtlich des zu erwartenden Wartungsaufwands zu vergleichen und somit bessere Architekturentscheidungen zu treffen.
Begrifflicher Hintergrund Eine Anwendungsarchitektur ist ein Strukturmodell eines Informationssystems, das betriebliche Informationsverarbeitungsanforderungen (Aufgaben) sowie Anwendungssoftwaresysteme beinhaltet, die jene realisieren. Ein Softwaresystem ist eine Zusammenfassung von Softwaremodulen, die zusammen mindestens eine Funktion erfüllen. Zwischen diesen Software-
188
F. Müller, A. Otto
systemen können Integrationsbeziehungen bestehen.1 Ein Dienst wird durch funktionale und nicht-funktionale Anforderungen spezifiziert. Funktionale Anforderungen legen fest, welche zu automatisierenden Aufgaben ein Dienst beinhaltet, nicht-funktionale Anforderungen stellen eine Einschränkung des Lösungsraums dar, da sie festlegen, unter welchen Bedingungen die Leistung erbracht werden muss (z. B. Verfügbarkeit, Skalierbarkeit). Es lassen sich nun Mengen von Software-Systemen bilden, die diese Anforderungen erfüllen (Sachziel der „Automatisierungs- und Integrationsaufgabe“ [FeSi01]). Architekturentscheidungen beziehen sich auf die Größen der Softwaresysteme und die Art der Integrationsbeziehungen zwischen diesen [Mert04, S.20].
Stand der Literatur Bestehende Zielkataloge, die für die Gestaltung und Beurteilung von Anwendungsarchitektur-Alternativen vorgeschlagen werden, beinhalten sowohl Struktureigenschaften, die typischerweise die Erfüllung nicht funktionaler Anforderungen beeinflussen, als auch wirtschaftliche Größen. Ferstl entwickelt – aufbauend auf einer groben Formalziel-Klassifizierung der „Gestaltungsaufgabe Automatisierung“ – Einzelziele der Integration [Fers92, S.9-14], die jedoch sowohl innerhalb der Klasse als auch klassenübergreifend von Ausprägungen anderer Einzelziele abhängig sein können. Schwinn und Winter argumentieren, dass ein optimaler Integrationsgrad (im Minimum von Schnittstellen- und Anwendungssystemkosten) schwer zu ermitteln sei und gruppieren fünf abhängige Gestaltungsziele, die diesen beeinflussen. Neben wirtschaftlichen Zielen (z. B. „minimale Projektaufwände für die Integration“) und nicht-funktionalen Anforderungen („minimale Infrastrukturkomplexität“) befinden sich darunter auch allgemeine Struktureigenschaften (z. B. „optimale Enge der Kopplung“). Als Oberziel dieser Gestaltungsziele führen sie „Agilität“ ein [ScWi05; HaSc06]. Es bleibt jedoch offen, ob die jeweiligen „Gruppen“ vollständig und abgeschlossen sind und wie eine Zielerreichung sinnvoll gemessen werden könnte. Huber et al. verweisen auf „Faktoren“, denen zukünftige Anwendungsarchitekturen genügen müssen: Flexibilität, Integrationsfähigkeit und Standardisierung [HuAl00, S.173-174]. Sowohl Flexibilität als auch Agilität, die in den drei genannten Katalogen als wichtiges Ziel aufgeführt sind, lassen sich unter dem Begriff Anpassungsfähigkeit subsumieren. Flexibilität ist die Fähigkeit eines Systems, auf system- oder umwelt1
Für eine detaillierte Begriffsabgrenzung vor dem Hintergrund supra-adaptiver Logistiksysteme siehe [MüHo06]
2.4.3 Adaptierbarkeit von Anwendungsarchitekturen
189
induzierte Veränderungen sinnvoll zu reagieren [Kalu93; Steg04]. Für die Anwendungsebene eines Informationssystems lässt sich Flexibilität als die Fähigkeit beschreiben, geänderte Informationsverarbeitungsbedarfe zu befriedigen (vgl. [Dunc95; GeLe05, S.44]) oder sich sonstigen Umweltveränderungen (z. B. der Infrastruktur) anzupassen. Für den Bereich der Applikationsintegration ist Agilität „die ‚Leichtigkeit’ (…), mit der sich Änderungen oder Erweiterungen [an der Anwendungslandschaft] durchführen lassen“ [HaSc06, S.277]. Für den Bereich Softwarearchitektur, also für die grobe Gestaltung einzelner Softwaresysteme, ist ein ähnliches Konzept als Ziel formuliert: Wartbarkeit (maintainability [IEEE90, S.46]) bzw. Veränderbarkeit (modifiability [BaCl98; Myer78]). Ähnlich wie für die Zielkataloge der Gestaltung einer Anwendungsarchitektur gilt, dass in verbreiteten Werkzeugen auch andere Eigenschaften und Ziele berücksichtigt werden, da sich Architekturentscheidungen auf deren Ausprägung auswirken können2. Darüber hinaus existieren jedoch auf dieser Ebene Aussagen über den Zusammenhang zwischen Struktureigenschaften und Zielerreichung, so dass im Folgenden auf Erkenntnisse aus dieser Disziplin zurückgegriffen wird. Es ist nachvollziehbar, dass die Anpassungsfähigkeit im Schrifttum viel Beachtung findet: Der Implementierungs- und Betriebsaufwand lässt sich mit dem bestehenden Instrumentarium recht gut abschätzen, wohingegen der Aufwand für Anpassungstätigkeiten nur schwer ex ante prognostiziert werden kann. Dennoch finden sich auch andere Ziele in den Hinweisen zur Gestaltung einer Anwendungsarchitektur, und es erscheint lohnenswert, den Zusammenhang zwischen diesen Gestaltungsmerkmalen zu untersuchen.
Umweltverhalten, Struktur und zu erwartende Wartungskosten Wie oben bereits erwähnt, wird angenommen, dass es für die Erfüllung funktionaler und nichtfunktionaler Anforderungen architektonische Alternativen gibt; die Effektivität dieser Alternativen wird also nicht betrachtet3, vielmehr stellt die Umsetzung dieser Anforderungen eine Menge von Nebenbedingungen dar, und es gilt, den zu erwartenden Aufwand für Implementierung, Betrieb und Wartung zu minimieren. Als Grundlage dient ein allgemeines Modell, das an das Business-Engineering-Metamodell 2 3
Für eine Übersicht siehe [CIKa02] Siehe hierzu z. B. [Jung06, S.126-152]
190
F. Müller, A. Otto
[ScSc05, S.1335] sowie das Kopplungsarchitektur-Metamodell [MaEc04] angelehnt ist (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Bezugsrahmen für die Untersuchung der Anwendungsarchitektur
Änderungswahrscheinlichkeit In Abbildung 1 sind drei Arten möglicher Änderungen dargestellt, die hier behandelt werden: Änderungen von Geschäftsprozessen, Informationsobjekten und Aufgabenbestandteilen. Gebauer und Schober verwenden process uncertainty und process variability als Unsicherheitsgrößen in einem Modell zur Bestimmung eines optimalen Informationssystem-Flexibilitätsgrads [GeSc06]. Die Prozessungewissheit ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Aufgabenbestandteil vorhergesehen und beschrieben werden kann. Da sich diese Größe auf den gesamten Lebenszyklus eines Informationssystems bezieht, erscheint es schwierig, diese ex ante zu bestimmen, zumal die Zuordnung neuer Aufgabenbestandteile zu Geschäftsprozessen bekannt sein müsste. Allerdings ließe sich die Wahrscheinlichkeit in einer Simulation oder Szenarioanalyse mit bekannten Änderungen festlegen. Für eine Analyse bestehender Geschäftsprozesse wird die Prozessvariabilität bestimmt, die angibt, mit welcher relativen Häufigkeit in einem Prozess Aufgabenbestandteile ausgeführt werden. Die Größe ist jedoch nicht mit zu erwartenden Änderungen verknüpft, so dass sie nur als Momentaufnahme in das Modell einfließt. Zwar sind die hier vorgeschlagenen Änderungsmöglichkeiten nicht so umfassend wie in anderen Modellen, dennoch erscheint deren Verwendung sinnvoll, da sie konkreter und somit leichter zu operationalisieren sind.
2.4.3 Adaptierbarkeit von Anwendungsarchitekturen
191
Größe Seien X und Y zwei Aufgabenbestandteile mit den Eigenschaften p(x) = {I X } ∪ {G X } und
p(y) = {IY } ∪ {GY } ,
wobei IX die Menge von Informationsobjekten ist, auf denen X operiert und GX die Menge von Geschäftsprozessen, in die X eingebunden ist, dann ist die „Größe“ F eines Anwendungssystems A mit t Aufgabenbestandteilen
FA =
∑
p(Xi ) + t .
Xi ∈A
Die Wahrscheinlichkeit für einen Wartungsbedarf des Anwendungssystems A ergibt sich als Funktion der Änderungswahrscheinlichkeiten für verwendete Informationsobjekte, betroffene Geschäftsprozesse oder für realisierte Aufgabenbestandteile. Zunächst werden diese Wahrscheinlichkeiten als konstant und unabhängig voneinander angenommen:
PC (I ) = PC (G) = PC (X) = c PW (A) = f (FA c)
Kohäsion Kohäsion ist ein Maß dafür, wie ähnlich die Elemente eines Moduls sind4. Die Ähnlichkeit zweier Aufgabenbestandteile ist
σ (X,Y ) = p(x) ∩ p(y) bzw. für den allgemeinen Fall einer Menge T von Aufgabenbestandteilen
σ (X1 , X2 ,...Xt ) =
I
p(Xi )
Xi ∈T
mit dem Ähnlichkeitsgrad s(X1 , X 2 ,...Xt ) =
σ (X1 , X2 ,...Xt ) .
U p(X ) i
Xi ∈T
4
Darstellung angelehnt an [Bung77]
192
F. Müller, A. Otto
Ein Anwendungssystem realisiert n Aufgabenbestandteile: A={X1,…Xn}, und jeder Aufgabenbestandteil ist eindeutig einem Anwendungssystem zugeordnet (Ak ∩ Al = ∅ , 1 ≤ k,l ≤ L , k ≠ l mit L als Menge aller Anwendungssysteme in einer Anwendungsarchitektur). Bei konstantem n und konstanter Mächtigkeit der einzelnen Aufgabenbestandteile ist die Wahrscheinlichkeit Pw(A), dass A geändert werden muss, umso höher, je weniger ähnlich die in A realisierten Aufgabenbestandteile X1,…,Xn sind (vereinfachend σ(A) für σ (X1,X2,…Xn), X1,X2,…Xn werden realisiert in A):
σ (A) > σ (A′) ⇒ PW (A) < PW ( A′ ) . Das ist nachvollziehbar, da die Summe der Änderungswahrscheinlichkeiten für die Eigenschaften der Aufgabenbestandteile von der Anzahl verschiedener Informationsobjekte oder Geschäftsprozesse abhängt, die im Fall höherer Kohäsion ceteris paribus geringer ist:
σ (A) > σ (A′) ⇔
U p(x ) < U p( x′) i
xi ∈A
wenn
∑
xi ∈A
p(xi ) =
∑
i
xi′ ∈A ′
p( xi′) und A = A′ .
xi′ ∈A ′
Bei konstanter Wahrscheinlichkeit für einen Wartungsbedarf eines Anwendungssystems kann Kohäsion den zu erwartenden Wartungsaufwand verringern, wenn die Aufgabenbestandteile nicht unabhängig voneinander implementiert sind. In der Softwareentwicklung wird dies damit begründet, dass der kognitive Aufwand der Programmierer mit zunehmender Vielfalt der zu bearbeitenden Problemfelder zunimmt. Analog ließe sich auf der übergeordneten Ebene argumentieren, dass ein „Anpassungsteam“ auf eine bestimmte Menge von Geschäftsprozessen und Informationsobjekten spezialisiert sei und deshalb mit abnehmender Kohäsion eine größere Anzahl dieser Teams eingesetzt werden müsse, so dass „Rüstkosten“ und Koordinationsaufwand steigen. Kopplung Zusätzlich zum Aufbau einzelner Anwendungssysteme beeinflusst die Kopplung mehrerer Anwendungssysteme den zu erwartenden Wartungsaufwand. Dazu wird in einem ersten Schritt untersucht, ob eine Abhängigkeit zwischen Anwendungssystemen existiert. Darauf aufbauend wird die
2.4.3 Adaptierbarkeit von Anwendungsarchitekturen
193
Kopplungsstärke als abhängige Variable der Ausprägung einer Integrationsbeziehung modelliert. Sichtbarkeit
Ohne eine weitere Skalierung der Kopplung vorzunehmen, ist es möglich, die Sichtbarkeit eines Anwendungssystems zu ermitteln5. Eine Anwendungslandschaft L bestehe aus k Anwendungssystemen A1 , A2 ,…Ak , die k(k − 1) (zunächst also symmetrische) Integrationsuntereinander maximal 2 beziehungen unterhalten. Die Sichtbarkeit ist gegeben durch die Matrix
S = L × L mit 1 ∃ sij = 0 ¬∃
Integrationsbeziehung zwischen Ai und Aj oder i=j Integrationsbeziehung zwischen Ai und Aj
Es muss aber auch die indirekte Kopplung über andere Anwendungssysteme berücksichtigt werden. Dazu kann die transitive Hülle von S gebildet werden:
S ′ = S (k −1) . Für einen Überblick lässt sich die durchschnittliche Sichtbarkeit in der Anwendungslandschaft als k
∑ s′
ij
i, j = 0 2
k
bestimmen. Intuitiv gibt diese Größe an, wie viele Anwendungssysteme durchschnittlich bei einer Änderung betroffen sind.
Kopplungsstärke
Die Art der Kopplung zwischen Anwendungssystemen wird in der Sichtbarkeitsmatrix zunächst nicht berücksichtigt. Es ist jedoch realistisch anzunehmen, dass die Ausprägung der Integrationsbeziehung zwischen zwei Anwendungssystemen unmittelbaren Einfluss auf den zu erwartenden Aufwand bei einer Änderung hat. Zusätzlich müssen zur Bestimmung dieses Einflusses verschiedene Klassen von Änderungen unterschieden werden, 5
Vgl. für Softwaresysteme [MaRu6]
194
da sich – bei gegebenen Anwendungssystemen und Integrationsbeziehungen – nicht jede Änderung in gleicher Weise auf den Änderungsbedarf in gekoppelten Anwendungssystemen auswirkt. Auch die oben eingeführte Vereinfachung symmetrischer Integrationsbeziehungen muss in diesem Zusammenhang aufgehoben werden. In Tabelle 1 ist jeweils markiert, ob die jeweilige Änderung (Zeile) eine Anpassung in einem zweiten Anwendungssystem erforderlich macht, das mit einer bestimmten „Kopplungsart“ (Spalte) mit dem geänderten verbunden ist. Kopplung
Änderung der/des Geschäftsprozess-Ablaufs
CG
internen Aufbaus eines Informationsobjekts
C Ii Schnittstelle eines Informationsobjekts C I
s
Internen Logik eines Aufgabenbestandteils C X
Content
External
Control
Stamp
Data
1
0
1
0
0
1
1
0
1
0
1
1
0
1
1
1
0
1
0
0
1
0
1
0
0
i
Verhaltens eines Aufgabenbestandteils C X
e
Tabelle 1: Auswirkungen verschiedener Änderungen auf den Änderungsbedarf in gekoppelten Anwendungssystemen
Die verwendete Einteilung der Kopplung geht auf einen Katalog aus [StMy74] zurück; eine alternative Klassifizierung differenziert z. B. nach der Art des Informationsaustauschs [MaEc04] oder weiteren Kriterien [Jung06, S.193-208]. Diese Einteilung wurde trotz ihres Bezugs zur Software-Architektur gewählt, da in ihr bereits Erkenntnisse zur Auswirkung verschiedener Kopplungsarten verarbeitet worden sind. Die Kopplungsbeziehungen sind also explizit zu modellieren, so dass sich die Teilmengen IContent , IExternal , IControl , IStamp , IData ⊆ I ⊆ { A × A} 6 ergeben. Für eine Kopplungsbeziehung sij lassen sich dann Kosten gij in Abhängigkeit der Zugehörigkeit zu einer dieser Teilmengen und der Art der Änderung angeben, die die Änderung aufwenden muss, um zu einer Beeinflussung des gekoppelten Anwendungssystems zu führen. Allerdings ist der allgemeine Binäroperator, der zur Erstellung der transitiven Hülle verwendet wurde, auf diesen gewichteten Kopplungsbeziehungen zunächst undefiniert. Lässt sich eine Vorschau auf die zu erwartende „Stärke“ einer Änderung bestimmen, kann z. B. mithilfe eines einfachen Algorithmus, die Ausbrei6
Es werden nur binäre Integrationsbeziehungen betrachtet. „Integrationsplattformen“ o. Ä. lassen sich auch als Menge derartiger Integrationsbeziehungen darstellen.
2.4.3 Adaptierbarkeit von Anwendungsarchitekturen
195
tung der Änderung untersucht werden. Wie stark die Änderung propagiert, ist jedoch auch von der Größe und vom Aufbau des geänderten Anwendungssystems abhängig: Ist die interne Struktur des Anwendungssystems so beschaffen, dass sich Änderungen nicht auf dessen Schnittstellen zu anderen Anwendungssysteme auswirken, wird die Ausbreitung der Änderung stark gedämpft. Es sind aber auch Fälle vorstellbar, in denen z. B. die Änderung der internen Logik (Input) ab einer kritischen Stärke eine Änderung der Schnittstelle eines Informationsobjekts (Output) oder andere Änderungen bedingt; die Änderung kann also in den Knoten auch verstärkt werden. Sei F = (L, I ) ein Graph mit Anwendungssystemen L und Integrationsbeziehungen I7. Die Stärke einer Störung ist in Form einer Liste gegeben, die pro Änderungsart (siehe Tabelle 1) eine Zahl aus N 0+ enthält. Die Liste S enthält sämtliche Störungen indiziert über die Menge jeweils betroffener Anwendungssysteme. Es gibt • eine Gewichtungsfunktion pro Kante κ : I × S → N 0+ • eine Gewichtungsfunktion pro Knoten λ : L × S → N 0+ und • eine Aufwandsfunktion pro Knoten µ : L × S → N 0+ . Die Ausbreitung einer Änderung lässt sich nun als Algorithmus beschreiben. Da Änderungen auch mehrfach zu Anpassungen eines Anwendungssystems führen können, ist die Anwendung eines Verfahrens zur Bestimmung eines kürzesten Wegs für dieses Problem ungeeignet. Vielmehr propagiert die Störung so lange, bis die wiederholte Anwendung der Funktionen κ und λ sämtliche Werte in der Liste S auf 0 reduziert hat. Der Aufwand, der für Änderungen von Anwendungssystemen anfällt, wird in einer globalen Variable kumuliert. Propagiert(a, b, s) 1 for each s i ∈s 2 3 4
do if κ(a, b,s i ) ≤ 0 then return false return true
Störe(M, S, κ,λ,µ ) 1 aufwand ← 0 2 for each a ∈L[M] 3 do Besuche(a, S[a]) 4 return aufwand 7
Hier über eine Adjazenzliste Adj implementiert.
196
Besuche(a, s) 1 aufwand ← aufwand ← µ(a,s) 2 for each b ← Adj[a] 3 do if PPropagiert(a, b, µ(a,s) ) 4 then Besuche(b, κ oλ(a,s) Die Vorgehensweise ist in Abbildung 2 veranschaulicht. Vorgehensmodell Mit den in den vorigen Abschnitten vorgestellten Größen lassen sich die Auswirkungen für eine Menge von Änderungen und eine gegebene Anwendungsarchitektur ermitteln. Folgende Schritte sind durchzuführen: 1. Aufgabenbestandteile X modellieren (jeweils mit Zuordnung von Geschäftsprozess G und Informationsobjekten I, 2. Aufgabenbestandteile jeweils einem Anwendungssystem A zuordnen, 3. Größen FA bestimmen, 4. Ähnlichkeitsgrad s pro Anwendungssystem bestimmen, 5. Kopplungsbeziehungen I zwischen Anwendungssystemen modellieren, 6. Funktionen λ und µ pro Anwendungssystem bestimmen (abhängig u. a. von s), 7. Funktion κ pro Integrationsbeziehung bestimmen (siehe Tabelle 1), 8. betroffene Anwendungssysteme ermitteln, 9. Algorithmus Störe ausführen.
2.4.3 Adaptierbarkeit von Anwendungsarchitekturen
197
Abbildung 2: Ausbreitung einer Störung
Zusammenfassung In diesem Beitrag wurde der Zusammenhang zwischen Struktureigenschaften einer Anwendungsarchitektur und zu erwartender Wartbarkeit modelliert. Neben dem Aufbau der einzelnen Module, die sich durch unterschiedliche Grade von Kohäsion auszeichnen können, wurde insbesondere die Kopplung verschiedener Anwendungssysteme untersucht. Das Modell kann als Simulationsmodell für die Analyse einer Anwendungsarchitektur verwendet werden, um für einen industrie- und akteursspezifischen „Änderungs-Mix“ als Benchmark verschiedene Typen zu vergleichen. Die Qualität der Ergebnisse ist jedoch in starkem Maße davon abhängig, wie gut es gelingt, die Funktionen λ, κ und µ zu bestimmen. Um eine möglichst realistische Schätzung zu ermöglichen, wurden die Änderungen vergleichsweise detailliert modelliert, so dass Anwender keine abstrakten Turbulenzmaße als Parameter festlegen müssen.
198
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2.4.3 Adaptierbarkeit von Anwendungsarchitekturen [MaRu6]
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3
Aufgabenverteilung im Wertschöpfungsnetzwerk
3.1 Logistikaufgaben, Knotenprofile und Transfermöglichkeiten
Erfolg besteht darin, dass man genau die Fähigkeiten hat, die im Moment gefragt sind. Henry Ford
3.1.1 Supra-Adaptivität in der „Automotive“ Supply Chain: Die Rolle von LogistikdienstleisterEinbindungen und Dienstleister-Strukturen
P. Klaus „Supra-Adaptivität“ ist ein Kunstwort – ein schillerndes, vielschichtiges dazu. Es wurde im Verlauf der Vorüberlegungen zur Formierung des disziplinenübergreifenden Forschungsverbundes ForLog kreiert, dessen Arbeitsergebnisse in diesem Band vorgestellt werden. Die Wahl der „Adaptivitäts“-Vokabel – statt zum Beispiel des in der Management-Literatur viel häufiger gebrauchten „Flexibilitäts“-Begriffs – soll die Assoziation zu den Phänomenen der kontinuierlichen Anpassung von Organen, Lebewesen, Systemen an sich verändernde Umfeldbedingungen wecken. Es geht um Reaktionsfähigkeit, Lern- und Evolutionsfähigkeit. Denn in der stetig turbulenter werdenden, immer weniger prognostizierbaren, dynamischen Welt der Automobilwirtschaft werden diese Fähigkeiten der Unternehmen zu entscheidenden Bedingungen des Überlebens und nachhaltigen Erfolges. Das Attribut „supra“ soll die Überzeugung der Autoren vermitteln, dass es in der Zukunft für die Unternehmen dieser Branche nicht mehr ausreichend sein wird, die Bemühungen um Flexibilität und Adaptivität im Rahmen des „business as usual“ voranzutreiben. Die Herausforderungen des globalen Wettbewerbs der „Automotive“-Branche für die Akteure im Hochkosten-Land Deutschland sind so, dass es ganz außerordentlicher, höchster – eben „Supra“ – Fähigkeiten und Strukturen der Anpassung bedarf. „Supra-Adaptivität“ könnte den Unternehmen dieses Landes eine einzigartige Chance bieten, in der Zukunft einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den primär auf Volumenproduktion, höchste Effizienz und perfektionierte „Exekution“ industrieller Routineprozesse fokussierten japanischen Branchenführern zu gewinnen, wenn das Umfeld den AutomotiveAnbietern noch häufigere, differenziertere, weniger planbare, schnelle Anpassungen abfordert (vgl. dazu die These vom möglichen Umkippen – „Dysfunctional Flip“ – besonders ausgeprägter, gefestigter „Core Compe-
206
P. Klaus
tencies“ erfolgreicher Unternehmen in erfolgsbehindernde „Core Rigidities“ [Leon92; ScKl06]).
Forschungsfragen zur Supra-Adaptivität und die Suche nach „strategischen“ Antworten Vor diesem Hintergrund waren Forschungsfragen des ForLog-Verbundes zu formulieren, die zu einem tieferen Verständnis der Zusammenhänge zwischen Supra-Adaptivität und der Überlebens- und Erfolgsfähigkeit von Unternehmen der Automotive-Wirtschaft führen: • Welche prinzipiellen Architekturen der Supply Chains sind adaptivitätsfreundlich, welche eher aptivitätsbehindernd? • Welche Aufgabenverteilungen, Organisations-, Koppelungs- und Prozesstrukturen und welche Geschäftspraktiken in den AutomotiveUnternehmen haben Einfluss auf die Adaptivität? • Wie ist für Supra-Adaptivität zu planen, welche Technologien, Ressourcen und Geschäftspraktiken können unterstützend zu deren Wahrung und weiteren Steigerung eingesetzt werden? Im vorliegenden Beitrag wird die engere Frage nach der Rolle von Logistikdienstleistern in komplexen Automotive Supply Chains und Netzwerken, deren Einbindung, sowie deren beste „Aufstellung“ für SupraAdaptivität aufgeworfen. Die Diskussion richtet sich auf die strategischen Aspekte der Auswahl zwischen alternativen „generischen“ Dienstleistertypen, der Vor- und Nachteile gegebener interner Ressourcenkonfigurationen und Strukturen dieser Dienstleister sowie der Ausgestaltungsoptionen für deren Beziehung zu den Original Equipment Manufacturer (OEM) Unternehmen und deren 1st und 2nd Tier Zulieferern. Für die eher operativen Aspekte wird auf weitere Beiträge in den Kapiteln 3, 4 und 5 dieses Bandes verwiesen.
Ein roter Faden des Arguments: Vom konzeptionellen Hintergrund zur Praxis supra-adaptiver KontraktgeberDienstleisterbeziehungen In der Praxis der Unternehmensführung wird bisher nach dem „richtigen“ Maß an Adaptivität, nach den Stellhebeln der Steigerung der Adaptivität und damit auch einer adaptivitätsgerechten Auswahl und Einbindung von
3.1.1 Supra-Adaptivität in der „Automotive“ Supply Chain
207
Logistikdienstleistern kaum systematisch gesucht. Die einschlägigen Entscheidungen werden auf der Basis von Vergangenheitserfahrungen und Intuition getroffen. Im Verlauf der akademischen Diskussionen zu den Merkmalen und Gestaltungsmöglichkeiten komplexer Organisationen, die seit Jahrzehnten geführt werden, sind aber interessante Vorschläge zur Strukturierung und Theorie der Phänomene der Adaptivität gemacht worden, die deren systematischere Analyse unterstützen und damit Wege zu rationaler, besserer Praxis aufzeigen können (vgl. für eine hervorragende Übersicht dazu [Perr86], für die deutschsprachige betriebswirtschaftliche Diskussionen um Elastizität, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von industriellen Unternehmen [KaBl05, insbes. S.6ff.]). Im ersten Abschnitt dieses Beitrages – nach Arbeitsdefinitionen der relevanten Begriffe – sollen solche Vorschläge zu einem einfachen „Modell“ der Auslöser von Adaptivitätsbedarfen, der Ebenen des Managements von Anpassungssituationen, des richtigen Adaptivitätsgrades, der potenziellen Stellhebel und bisheriger Theorie-Aussagen zur Steigerung von Adaptivität zusammengefügt werden. Der zweite Abschnitt liefert einen „Schnappschuss“ des realen Logistikdienstleister-Marktes, wie er sich aus aktuellen Logistik-Marktstudien [KlKi06] und den zahlreichen Gesprächen und Detailuntersuchungen ergibt, die im Rahmen des ForLog-Forschungsverbundes mit und über Logistikdienstleister der Automotive-Wirtschaft erfolgten. Im dritten Abschnitt sind drei prinzipielle Alternativen der Dienstleisterund Wertschöpfungsnetzwerk-Konfiguration identifiziert und diskutiert: Drei Strukturen, die die scheinbare Vielfalt der Logistik-Dienstleisterwelt ordnen helfen. Zuletzt werden einige Thesen zur Wahl und Einbindung von Dienstleistern in die Supply Chains der Automotive-Wirtschaft zur Diskussion gestellt, mit denen für unterschiedliche strategische Herausforderungen „passige“, der Situation entsprechende Dienstleisterkonfigurationen gefunden werden können.
Arbeitsbegriffe Für die Zwecke dieses Beitrages ist zuerst ein Arbeitsverständnis der Begrifflichkeiten um „Adaptivität“ herzustellen: Elastizität, Flexibilität, Agilität, Anpassungsfähigkeit. Alle betriebswirtschaftlichen Definitionen der Begriffe „Flexibilität“ und des – in der älteren Literatur synonym verwendeten – Begriffs „Elasti-
208
P. Klaus
zität“ beziehen sich auf die „Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Situationen“ eines Unternehmens bzw. einer Organisationseinheit, und zwar „in Bezug auf bestimmte Bedingungen“ (vgl. [KaBl05, S.8], und die dort ausführlich zitierten Quellen). Diese „bestimmten Bedingungen“ sind im betriebswirtschaftlichen Zusammenhang z. B. wechselnde Output-Mengen-, Produktmix- und Variantenanforderungen und Anpassung an neue Standortgegebenheiten und Zeitanforderungen (vgl. dazu auch die Ergebnisse der empirischen Erhebungen in Kapitel 2.4.2). Als besonderer Aspekt der zeitlichen Flexibilität hat in der aktuellen Supply Chain Management Diskussion die mögliche Schnelligkeit von Anpassungsvorgängen als „Agilität“ Aufmerksamkeit erlangt [Chri00]. Schon in einigen der älteren Diskussionen zum Flexibilitätsbegriff klingt ein zusätzlicher, erweiterter Aspekt der Fähigkeit von Organisationen zur Erhaltung eines „dynamischen Gleichgewichts“ bzw. „Fließgleichgewichts“ im Verlauf ihres Lebens an (vgl. z. B. [Bert75, S.154]). Über ein Verständnis von Flexibilität als Anpassungsfähigkeit an wechselnde Anforderungen, die planbar sind, wird die „Evolutionsfähigkeit“ der Organisation unter sich dynamisch, evtl. auch diskontinuierlich verändernde, nicht prognostizierbare Umfeldbedingungen einbezogen, die in der aktuelleren Management-Literatur auch als „strategische Flexibilität“ (vgl. z. B. [Harr85; Sanch95; Volb98]) und „dynamische Kompetenz“ (vgl. [TePi97; ScKl06]) bezeichnet ist. Industrielle Supply Chains repräsentieren einen besonders komplexen Organisationstyp – Netzwerke von mehr oder weniger lose gekoppelten Unternehmen. Auf die Steigerung von deren Flexibilität, Lern- und Evolutionsfähigkeit beziehen sich die folgenden Überlegungen. „Supra-Adaptivität“ soll also bezeichnen die Fähigkeit komplexer Organisationen – im gegebenen Zusammenhang vielgliedriger industrieller Supply Chains und Netzwerke – auf vorhersehbare wie auf überraschende, die Erfolge und das Überleben massiv beeinflussende Umfeldveränderungen so zu reagieren, dass dennoch im Zeitverlauf die Existenz- und Wachstumsfähigkeit der Organisation erhalten wird.
3.1.1 Supra-Adaptivität in der „Automotive“ Supply Chain
209
… und ein Modell des Managements von Supply Chain Adaptivität durch Dienstleister-Einbindung Das gedankliche Modell, das den folgenden Überlegungen eines systematisierten, rationalen Managements von Supply Chain (SC) Adaptivität und der Rolle von Logistikdienstleistern zugrunde liegt, ist in Abbildung 1 skizziert. Dabei werden in diesem Beitrag insbesondere die „strategischen“ Aspekte der Dienstleisterwahl und -einbindung angesprochen.
Abbildung 1: Modell des Managements von Supply Chain Adaptivität durch Dienstleistereinsatz
Als zentrale Herausforderung des Managements ist die Auflösung eines fundamentalen Dilemmas hervorgehoben: Es sind die kurzfristigen operativen Ziele der Effizienz und Profitabilität, die die involvierten Unternehmen in der Supply Chain – die OEM, 1st und 2nd Tier Zulieferer als Kontraktgeber und Dienstleister – jeden Tag zu beachten haben, um zu überleben, gegen das „zeitlose“ strategische Ziel der Adaptivität abzuwägen. Die Verfolgung beider Ziele fordert Ressourcen an Kapital, Arbeit, Management-Zeit und -Intelligenz, die in jedem Unternehmen nur begrenzt vorhanden sind. Oder anders gesagt: Die Erhaltung und Steigerung von Adaptivität verursacht Kosten, die zu Lasten der kurzfristigen Effizienz und Profitabilität gehen. Der zu bewältigende „Trade-Off“ besteht also darin, eine der jeweiligen Situation gerechte Balance zwischen der möglichen
210
P. Klaus
Exekutions-Effizienz der alltäglichen Geschäftsprozesse und der nötigen Adaptivität des Supply Chain Netzwerks herzustellen. Dieses fundamentale Dilemma der „adaptiven Organisation“ und die Notwendigkeit seiner Bewältigung ist aktuell und sehr anschaulich von Beinhocker [Bein06], schon früher in einem viel zitierten Beitrag von March [Marc91], als das Dilemma der Konzentration von Ressourcen entweder auf die Ausbeutung („Exploitation“) bereits bekannter, vorhandener Möglichkeiten in der Organisation oder der „Exploration“ neuer Chancen diskutiert worden. Die prinzipiellen Aussagen, die die Forschung der Organisationswissenschaften und des Strategischen Managements zur möglichen Auflösung des Dilemmas bisher anbieten, lassen sich in folgenden fünf Thesen – hier extrem verkürzt – zusammenfassen: 1. Mit zunehmender „Turbulenz“ der Umfelder der Organisation (konkretisiert z. B. in heftigen Wechselkurs- und Konjunkturschwankungen, in politischen und ökologischen Krisen, in sozio-kulturellen Veränderungstrends wie abnehmender Markentreue und zunehmender Volatilität des Konsumentenverhaltens) muss sich die Balance zwischen Effizienz und Adaptivität stark zu Gunsten der Adaptivität verschieben Æ „Supra Adaptivität“ (vgl. z. B. [EmTr65; Ansf76]). 2. Steigende Umfeld-Turbulenz und Aufgabenkomplexität sind auf Dauer nicht erfolgreich dadurch zu bewältigen, dass immer aufwändigere Planungs-, Entscheidungs- und Organisationssysteme zu deren Beherrschung eingesetzt werden. Weil die Kosten der Bewältigung zunehmender organisatorischer Komplexität exponentiell wachsen, ist Begrenzung, sogar Reduzierung von Komplexität auf beherrschbare Grade nötig. (vgl. [Simn62; Hagl88]). 3. Beherrschbare Architekturen der Komplexität basieren auf „lose gekoppelten“ Strukturen von effizienten, stabilen kleineren Einheiten (vgl. z. B. [Simn62; Weic76; Perr92]). 4. Die Bausteine und Module organisatorischer Strukturen sollten den Aufgaben entsprechend unterschiedlich gestaltet sein: Für die präzise Abwicklung definierter, stabiler Aufgaben und maximale Effizienz eignen sich hierarchisch organisierte, eng gekoppelte organisatorische „Kerne“. Für häufig wechselnde, kreative, in ständigem Austausch mit dem Umfeld stehende Einheiten sind teamartig flach organisierte, lose gekoppelte Einheiten überlegen (vgl. [Thom67; Ansf76]).
3.1.1 Supra-Adaptivität in der „Automotive“ Supply Chain
211
5. Die Überlebensfähigkeit und der langfristige Erfolg von Unternehmen in ihren jeweiligen Umfeldern wird letztlich von der „Passigkeit“ der Organisationsstrukturen relativ zu den Bedingungen des Umfeldes, der Stabilität und der Komplexität der Aufgabenstellungen bestimmt (vgl. [LaLo67] und die gesamte Literatur der „Contingency Theories“ bzw. „situativen Organisationstheorie“ [KiKu78]). Diese Aussagen der Theorie über die Praxis des Managements von Supply Chain Adaptivität sollten nun in die reale Umgebung der Automotive-Welt und ihrer Logistikdienstleister übertragen werden.
Schnappschuss: Die reale Welt des LogistikdienstleisterAnbietermarktes Aus den über 300 Mrd. € Jahresumsätzen der Automotive-Wirtschaft in Deutschland (Summe der OEM- und Zuliefererumsätze) werden ca. 15 Mrd. € unmittelbar für Logistik, also für Transport-, Lager-, Kommissionier- und verwandte Leistungen aufgewendet. Davon sind derzeit – grob geschätzt – über 50% an Logistikdienstleister „outsourced“. Das Ausgabenvolumen der gesamten Wirtschaft in Deutschland für logistische Leistungen liegt über 170 Mrd. €, das darin enthaltende konsolidierte „outsourced“ Volumen bei ca. 80 Mrd. € (vgl. [KlKi06]). Abbildung 2 zeigt sechs Merkmale von Anbieter-Unternehmen im Logistikdienstleister-Markt und deren potenzielle Ausprägungen, wie sie in den ForLog-Studien für die Bewertung von Logistikdienstleistern als Akteure und Verbindungsglieder supra-adaptiver Supply Chains als kritisch erkannt wurden.
212
P. Klaus
„kritische Merkmale“ in Bezug auf Supra-Adaptivität
Merkmals-Ausprägungen 1. Ressourcenquantität, Unternehmensgröße
< 50 Mitarbeiter (MA), geringe „Assets“
> 50 bis wenige Tsd. MA, einige „Assets“
Konzern, Tsde. MA, hohe „Assets“
2. Ressourcenqualität 2.1 Diversität der Ressourcen
gering, „Vermietung“ elementarer Produktionsfaktoren
spezifische Kombinationen von MA-Know-How und „Assets“
breites Portfolio von Kompetenzen und „Assets“
2.2 Geografische Verteiltheit und Vernetzung
nur lokal
ein oder wenige Standorte, auf Anforderung beweglich
flächendeckende Standortnetze
„einstufige“ KMU, Führung durch Unternehmer persönlich
zwei bis drei Führungsebenen, Unternehmer in Verbindung mit profess. Management
vielstufige Organisation, anonymes KonzernManagement
gering, nur reaktiv, Vorgabe von außen folgend
reaktiv und partiell proaktiv
proaktiv, intern verabschiedeten Strategien folgend
3. Grad eigener Wertschöpfung
nahe 100%
mittl. eigene Wertschöpfung > 20% bis > 80%
< 20% „4PL“
4. Kunden-/ Branchenfokus
nur ein/wenige Kunden
Fokus ausgewählte Branche („Automotive“)
vollständig offen („Common Carrier“)
„Symbiose“, totale EinzelkundenAbhängigkeit
Fokus, erhöhte Abhängigkeit
Unabhängigkeit von Einzelkontrakten
einzelne Transaktion
1-3 Jahre
Langfristiger Kontrakt
2.3 Stabilität und Durchgriffsstärke der Führung auf Ressourcen 2.4 Eigendynamik der RessourcenEntwicklung
5. Abhängigkeit in der Kundenverbindung 6. Vorherrschender Kontrakttyp
Abbildung 2: Morphologischer Kasten für die Beschreibung logistischer Dienstleister durch Merkmale, die kritisch für „Supra-Adaptivität“ sind.
Optionen: Drei prinzipielle Alternativen adaptiver Dienstleister- und WertschöpfungsnetzwerkKonfigurationen Ein Blick auf die im Logistikdienstleister-Markt für die AutomotiveWirtschaft tatsächlich erfolgreich agierenden Unternehmen erlaubt – aus der möglichen Vielfalt der Merkmalskombinationen in Abbildung 2 – drei prinzipielle „idealtypische“ Anbieterprofile von Dienstleister- und Wertschöpfungsnetzwerk-Konfiguration zu isolieren: Die umsatzstärksten Anbieter dieser Gruppe und deren Merkmale sollen hier als die „diversifizierten Netzanbieter“-Typen charakterisiert werden. Wie die nebenstehende Illustration zeigen möchte, kann deren Konzept für Adaptivität am ehesten mit dem des menschlichen Nervensystems verglichen werden:
3.1.1 Supra-Adaptivität in der „Automotive“ Supply Chain
213
Es steht dem Organismus eine sehr komplexe Netzwerkstruktur von Knoten („Synapsen“) und Kanten („Nervenfasern“) zur Verfügung. Diese ist bezüglich ihrer physischen Struktur weitgehend festgelegt. Entsprechend den Bedürfnissen der Entwicklungsstadien des Organismus, der jeweils gegebenen Umweltbedingungen und situativen Aufgabenstellungen werden diese Knoten und Kanten und die damit gegebenen Aktionspotenziale aktiviert und genutzt – oder sie bleiben passiv (vgl. dazu auch [BrCh05]). Die großen Transport-, Lager- und Serviceknoten-Netzwerke diversifizierter, flächendeckend arbeitender Dienstleister halten in vergleichbarer Weise ein vieldimensionales Nutzungspotenzial für ihre Kunden vor, das diese innerhalb großzügiger Bandbreiten von Mengenschwankungen, geografischer Verteilung ihrer Nachfragen und auch der Kombinierbarkeit der verschiedenen Netzwerke und Funktionalitäten (wie etwa Paket-, Stückgut-, Ladungsfracht, Land-, See- und Luftverkehre) in Anspruch nehmen können. Typischerweise entwickeln die großen, diversifizierten NetzwerkAnbieter ihre Angebotsstrategien eigenständig und in der Bemühung „vorauseilender“ Berücksichtigung künftiger Umfeldveränderungen und Bedürfnisse ihrer Kunden weiter. Abbildung 3 illustriert das typische „Netzanbieter“-Dienstleisterangebot an Hand des Profils vorherrschender Merkmalsausprägungen (wie sie in Abbildung 2 skizziert wurden), sowie die relative Stärke der verschiedenen Anpassungsfähigkeiten dieses Typs. relative Stärke der Anpassungsfähigkeiten
Dienstleister-Profil „Netzanbieter“
autonomes Lernen, "dynamische Kompetenz"
„kritische Merkmale“ in Bezug auf Supra-Adaptivität
Merkmals-Ausprägungen 1. Ressourcenquantität, Unternehmensgröße
< 50 Mitarbeiter (MA), geringe „Assets“
> 50 bis wenige Tsd. MA, einige „Assets“
Konzern, Tsde. MA, hohe „Assets“
2. Ressourcenqualität 2.1 Diversität der Ressourcen
gering, „Vermietung“ elementarer Produktionsfaktoren
spezifische Kombinationen von MA-Know-How und „Assets“
breites Portfolio von Kompetenzen und „Assets“
2.2 Geografische Verteiltheit und Vernetzung
nur lokal
ein oder wenige Standorte, auf Anforderung beweglich
flächendeckende Standortnetze
„einstufige“ KMU, Führung durch Unternehmer persönlich
zwei bis drei Führungsebenen, Unternehmer in Verbindung mit profess. Management
vielstufige Organisation, anonymes KonzernManagement
gering, nur reaktiv, Vorgabe von außen folgend
reaktiv und partiell proaktiv
proaktiv, intern verabschiedeten Strategien folgend
nahe 100%
mittl. eigene Wertschöpfung > 20% bis > 80%
< 20% „4PL“
2.3 Stabilität und Durchgriffsstärke der Führung auf Ressourcen 2.4 Eigendynamik der RessourcenEntwicklung 3. Grad eigener Wertschöpfung
4. Kunden-/ Branchenfokus 5. Abhängigkeit in der Kundenverbindung 6. Vorherrschender Kontrakttyp
nur ein/wenige Kunden
Fokus ausgewählte Branche („Automotive“)
vollständig offen („Common Carrier“)
„Symbiose“, totale EinzelkundenAbhängigkeit
Fokus, erhöhte Abhängigkeit
Unabhängigkeit von Einzelkontrakten
einzelne Transaktion
1-3 Jahre
Langfristiger Kontrakt
simultane Anpassung mehrere Anforderungen Schnelligkeit der Anpassung Geographische Anpassung Prozess-/ Ressourcenmixanpassung Kap./Mengenanpassung 0
20
40
60
80
100
Abbildung 3: Logistikdienstleistertyp „diversifizierter Netzanbieter“
Harte Grenzen der Anpassungsfähigkeit dieses Typs bestehen – in Analogie zum Nervensystem – aber in der nur langsam veränderlichen physischen Struktur des Netzwerks, der Begrenzung von Aktionen auf dort vor-
214
P. Klaus
gezeichnete Handlungspfade und Reaktionsmuster, dessen hoher Komplexität und daraus – im wirtschaftlichen Alltag – tendenziell hohen Transaktionskosten. Der zweite in vieler Weise ganz gegensätzliche Merkmalsausprägungen repräsentierende Dienstleistertyp soll in einer weiteren Analogie als der „Chamäleon-Typ“ oder „Ressourcenvermieter“ bezeichnet werden. Dessen Anpassungsfähigkeit ist in hoher Flexibilität der elementaren Ressourcen – sozusagen „auf molekularer Ebene“ – begründet. Chamäleon-Dienstleister sind vornehmlich kleine, sehr einfach aufgebaute, über nur einen Typ von Ressourcen (insbesondere Mitarbeiter eher geringen Spezialisierungsgrades) verfügende, direkt von selbständigen Unternehmern geführte Einheiten. Die Einbringung dieser Ressourcen in die großen und komplexen Supply Chain Zusammenhänge erfolgt gleichsam als „Vermietung“ von Personal, Fahrzeugkapazitäten oder Lagerflächen. Die Ressourcen können leicht, schnell und wenig kostenaufwändig jeweils anderen Zwecken zugeführt oder ungewidmet werden. Die Zeit- und MengenAnpassungsfähigkeiten im Kleinunternehmen, das nicht von Organisationsroutinen, Betriebsvereinbarungen und komplexen Hierarchien gebunden wird, sind relativ hoch. Dienstleister-Profil „Ressourcen-Vermieter
„kritische Merkmale“ in Bezug auf Supra-Adaptivität
Merkmals-Ausprägungen 1. Ressourcenquantität, Unternehmensgröße
< 50 Mitarbeiter (MA), geringe „Assets“
> 50 bis wenige Tsd. MA, einige „Assets“
Konzern, Tsde. MA, hohe „Assets“
2. Ressourcenqualität 2.1 Diversität der Ressourcen
gering, „Vermietung“ elementarer Produktionsfaktoren
spezifische Kombinationen von MA-Know-How und „Assets“
breites Portfolio von Kompetenzen und „Assets“
2.2 Geografische Verteiltheit und Vernetzung
nur lokal
ein oder wenige Standorte, auf Anforderung beweglich
flächendeckende Standortnetze
„einstufige“ KMU, Führung durch Unternehmer persönlich
zwei bis drei Führungsebenen, Unternehmer in Verbindung mit profess. Management
vielstufige Organisation, anonymes KonzernManagement
gering, nur reaktiv, Vorgabe von außen folgend
reaktiv und partiell proaktiv
proaktiv, intern verabschiedeten Strategien folgend
2.3 Stabilität und Durchgriffsstärke der Führung auf Ressourcen 2.4 Eigendynamik der RessourcenEntwicklung 3. Grad eigener Wertschöpfung
4. Kunden-/ Branchenfokus 5. Abhängigkeit in der Kundenverbindung 6. Vorherrschender Kontrakttyp
nahe 100%
mittl. eigene Wertschöpfung > 20% bis > 80%
< 20% „4PL“
nur ein/wenige Kunden
Fokus ausgewählte Branche („Automotive“)
vollständig offen („Common Carrier“)
„Symbiose“, totale EinzelkundenAbhängigkeit
Fokus, erhöhte Abhängigkeit
Unabhängigkeit von Einzelkontrakten
einzelne Transaktion
1-3 Jahre
Langfristiger Kontrakt
relative Stärke der Anpassungsfähigkeiten autonomes Lernen, "dynamische Kompetenz" simultane Anpassung mehrere Anforderungen Schnelligkeit der Anpassung Geographische Anpassung Prozess-/ Ressourcenmixanpassung Kap./Mengenanpassung 0
20
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Abbildung 4: Logistikdienstleistertyp „Ressourcenvermieter“
Der Chamäleon-Typ kann ein Maß an Flexibilität im Bereich der Mengenanpassung und Anpassung an sich ändernde Prozess-Rahmenbedingungen bei niedrigen Ressourcenkosten für den Auftraggeber anbieten. Die relativ geringe absolute Größe und Kapazität und die Einfachheit dieses Anbietertyps verlangt dafür von den Auftrag- und Kontraktgebern, dass diese die Leistungen der Integration der bereitgestellten Ressourcen – evtl. vieler
3.1.1 Supra-Adaptivität in der „Automotive“ Supply Chain
215
parallel tätiger „Chamäleons“ – in den Gesamtzusammenhang der Supply Chains und der Vorgabe von Anpassungsnotwendigkeiten übernehmen. Als dritter prinzipieller Typ, der Merkmale der vorher diskutierte Dienstleistertypen in einer eigenständigen Weise vereinigt, ist der – zumeist mittelständische, manchmal auch großbetriebliche Anbieter logistischer Prozess- und Funktionsmodule – „Lego“-Typ zu nennen. Er verfügt über ein Portfolio an spezialisierten, bausteinartig kombinierbaren Kompetenzen und Ressourcen, das genügend vielfältig ist, um es nutzer- und bedarfsgerecht den Auftraggebern anzubieten und es mit relativ hoher Anpassungsfähigkeit auch zu neuen Nutzungen zu kombinieren (vgl. dazu auch [BaCL97; Burr04]). Das Profil und eine relative Bewertung der typischen Anpassungsfähigkeiten des Lego-Anbieters sind in Abbildung 5 dargestellt. relative Stärke der Anpassungsfähigkeiten
Dienstleister-Profil „Modulanbieter“
autonomes Lernen, "dynamische Kompetenz"
„kritische Merkmale“ in Bezug auf Supra-Adaptivität
Merkmals-Ausprägungen 1. Ressourcenquantität, Unternehmensgröße
< 50 Mitarbeiter (MA), geringe „Assets“
> 50 bis wenige Tsd. MA, einige „Assets“
Konzern, Tsde. MA, hohe „Assets“
2. Ressourcenqualität 2.1 Diversität der Ressourcen
gering, „Vermietung“ elementarer Produktionsfaktoren
spezifische Kombinationen von MA-Know-How und „Assets“
breites Portfolio von Kompetenzen und „Assets“
2.2 Geografische Verteiltheit und Vernetzung
nur lokal
ein oder wenige Standorte, auf Anforderung beweglich
flächendeckende Standortnetze
„einstufige“ KMU, Führung durch Unternehmer persönlich
zwei bis drei Führungsebenen, Unternehmer in Verbindung mit profess. Management
vielstufige Organisation, anonymes KonzernManagement
gering, nur reaktiv, Vorgabe von außen folgend
reaktiv und partiell proaktiv
proaktiv, intern verabschiedeten Strategien folgend
nahe 100%
mittl. eigene Wertschöpfung > 20% bis > 80%
< 20% „4PL“
2.3 Stabilität und Durchgriffsstärke der Führung auf Ressourcen 2.4 Eigendynamik der RessourcenEntwicklung 3. Grad eigener Wertschöpfung 4. Kunden-/ Branchenfokus 5. Abhängigkeit in der Kundenverbindung 6. Vorherrschender Kontrakttyp
nur ein/wenige Kunden
Fokus ausgewählte Branche („Automotive“)
vollständig offen („Common Carrier“)
„Symbiose“, totale EinzelkundenAbhängigkeit
Fokus, erhöhte Abhängigkeit
Unabhängigkeit von Einzelkontrakten
einzelne Transaktion
1-3 Jahre
Langfristiger Kontrakt
simultane Anpassung mehrere Anforderungen Schnelligkeit der Anpassung Geographische Anpassung Prozess-/ Ressourcenmixanpassung Kap./Mengenanpassung 0
20
40
60
80
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Abbildung 5: Logistikdienstleistertyp „Funktions- und Prozessmodulanbieter“
Entscheidung: Empfehlungen zu einer situativen Gestaltung und Wahl „passiger“ Dienstleister-Strukturen Ein ernüchterndes Ergebnis dieser Diskussion ist, dass es weder einen eindimensionalen, gar linearen „Eskalationspfad“ wachsender Adaptivitätsbedarfe für die Unternehmen der Automotive-Wirtschaft gibt, noch eine eindeutige, einfach darzustellende Korrespondenz zwischen gewünschten Adadptivitätsgraden, wählbaren Dienstleistertypen und Formen für deren
216
P. Klaus
Einbindung in die Supply Chain Strukturen. Die Übersicht der Thesen aus der organisationswissenschaftlichen Forschung, die oben (im Abschnitt „Modell des Managements“) vorgestellt wurden, und die Einschätzungen der relativen Stärken der Anpassungsfähigkeiten der drei Dienstleistertypen (zusammengefasst in den Abbildungen 3 bis 5) konnten dazu an dieser Stelle nicht mehr als erste Anregungen liefern. Es bleibt die spannende Aufgabe, die Zusammenhänge zwischen Logistikdienstleister-Einbindungen, -Strukturen und Supply Chain Adaptivität immer weiter durch systematische Praxistests und Fortführung empirischer Forschungsarbeit aufzuklären.
Literatur [Ansf76] [BaCl97] [Bein06] [Bert75] [Burr04] [Chri00] [EmTr65] [Hagl88] [Harr85] [KaBl05]
[KiKu78] [KlKi06]
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3.1.1 Supra-Adaptivität in der „Automotive“ Supply Chain [LaLo69] [Leon92] [Marc91] [Perr86] [Perr92] [Sanc95] [ScKl06] [Simn62] [TePi97] [Thom67] [Volb98] [Weic76]
217
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3.1.2 Supra-Adaptivität durch Outsourcing – Dienstleistertypen und Kompetenzprofile
H. Voss
Flexibilität im Logistik-Outsourcing als Beitrag zur Supra-Adaptivität Die Umsetzung von Supra-Adaptivität in logistischen Netzwerken umfasst zahlreiche unterschiedliche Ansatzpunkte. Auch das Logistik-Outsourcing muss hierbei berücksichtigt werden. Durch das Outsourcing logistischer Aktivitäten werden Logistikdienstleister in das Netzwerk integriert und tragen somit einen Teil der Verantwortung, um den Herausforderungen der Supra-Adaptivität gerecht zu werden. Die Frage, wie das Logistik-Outsourcing zur Realisierung von Supra-Adaptivität beitragen kann, ist folglich von zentraler Bedeutung. Als wesentliche Facette der Supra-Adaptivität im Bezug auf das Logistik-Outsourcing gilt die Flexibilität. Das Zauberwort „Flexibilität” beherrscht die Automobilindustrie seit geraumer Zeit, so dass Flexibilitätsüberlegungen im Rahmen des Outsourcings heute auf allen Stufen der Supply Chain eine wesentliche Rolle spielen. Flexibilitätspotenzial
LogistikDienstleister als Teil der Wertschöpfungskette
Outsourcing
Outsourcing
Tier 1
LogistikDienstleister als Teil der Wertschöpfungskette
Outsourcing
Outsourcing
OEM
Flexibilitätsbedarf
Abbildung 1: Schematische Darstellung der automobilen Supply Chain [Voss06]
220
H. Voss
Wie Abbildung 1 verdeutlicht, werden durch das Logistik-Outsourcing Flexibilitätsbedarfe an die Dienstleister übertragen. Eine Untersuchung der Zusammenhänge von Flexibilität und LogistikOutsourcing vor dem Hintergrund der Supra-Adaptivität erfolgte im Rahmen von ForLog. Grundlegende Erkenntnisse aus einer hierzu durchgeführten Studie zum Logistik-Outsourcing in der Automobilindustrie [Voss06] werden an dieser Stelle zu Grunde gelegt.
Grundlagen zur Flexibilität und zur Bedeutung des Logistik-Outsourcings Flexibilität ist ein komplexes Konstrukt. Unterschiedliche Dimensionen oder Ausprägungen finden sich in der einschlägigen Literatur (vgl. [VoSa05]). Von Bedeutung für das Logistik-Outsourcing ist neben der zeitlichen insbesondere die inhaltliche Flexibilitätsdimension. Die sechs Ausprägungen: Fähigkeit zur Sonderabwicklung1, Personalanpassungsfähigkeit2, Kommunikationsfähigkeit3, Planungsanpassungsfähigkeit4, Prozessanpassungsfähigkeit5 und Kapazitätsanpassungsfähigkeit6 werden in der Automobilindustrie als relevant erachtet (vgl. Abbildung 2). Herausragend dabei ist das Bedürfnis nach Kapazitätsanpassungsfähigkeit. Die genannten Flexibilitätsdimensionen sind zugleich häufig Auslöser für die Outsourcingentscheidung. Ein Zusammenhang von Flexibilitätsanforderungen und dem Trend des zunehmenden Outsourcings, wie ihn Klaus und Kille [KlKi06] belegen, liegt daher nahe.
1
2
3
4
5
6
Die „Fähigkeit zur Sonderabwicklung“ beschreibt die Potenziale der Unternehmen, Spezialaufgaben oder -prozesse durchführen zu können. Die „Personalanpassungsfähigkeit“ steht beispielsweise für die Möglichkeiten, auf Leiharbeiter oder einen Mitarbeiterpool zurückgreifen zu können. Die „Kommunikationsfähigkeit“ beschreibt sowohl den Umgang mit Problemen im Datentransfer (Datenabriss) als auch die informatorische Reaktion auf Probleme. Die „Planungsanpassungsfähigkeit“ bezieht sich v. a. auf die Potenziale, Mengen- oder Volumenschwankungen ausgleichen zu können. Die „Prozessanpassungsfähigkeit“ bezieht sich auf den Umgang mit spezifischen Prozessanforderungen gegenüber den Kunden. Die „Kapazitätsanpassungsfähigkeit“ beschreibt die Möglichkeiten, Anpassungen bzgl. Equipmenteinsatz oder Flächenbedarfen umzusetzen.
3.1.2 Supra-Adaptivität durch Outsourcing
Fähigkeit zur Sonderabwicklung
221
31%
Personalanpassungsfähigkeit
30%
Kommunikationsfähigkeit
23% 31%
Planungsanpassungsfähigkeit
32%
Prozessanpassungsfähigkeit
45%
Kapazitätsanpassungsfähigkeit
0%
10%
20%
30%
40%
50%
Abbildung 2: Die Bedeutung unterschiedlicher Flexibilitätsdimensionen für die Logistik [Voss06]
Der Blick auf die Automobilindustrie verdeutlicht einen LogistikKostenanteil von 16 Mrd. € [KlKi06], der sich auf die für diese Branche relevanten Teilmärkte7 zurechnen lässt. Legt man den einzelnen Teilmärkten die – über alle Branchen – durchschnittlich ermittelten OutsourcingAnteile zugrunde, ergibt sich für die Automobilindustrie ein OutsourcingAnteil von ca. 6,6 Mrd. €. Obwohl dieser Outsourcing-Anteil für die Automobilindustrie eher konservativ geschätzt ist, da die Branche als Vorreiter u. a. im Outsourcing gilt, wird die aktuelle Bedeutung des LogistikOutsourcings damit aber auf jeden Fall deutlich. Abbildung 3 fasst die Verteilung der teilmarktbezogenen Logistikkostenanteile in der Automo7
Teilmarkt 2: „Nationaler allg. Ladungsverkehr“, Teilmarkt 5: „Nationaler sonst. Ladungsverkehr mit speziellem Equipment“, Teilmarkt 6: „Nationaler allg. Stückgutverkehr“, Teilmarkt 8: „Industrielle Kontraktlogistik, insb. industrielle Produktionsversorgung und Ersatzteilversorgung“, Teilmarkt 11: „Terminaldienste, nicht integrierte Lagerei-, Umschlags- und sonstige logistische Zusatzleistungen“, Teilmarkt 12: „KEP - Paket-, Kurier- und Expressdienste“, Teilmarkt 13: „Grenzüberschreitende Transport- und Speditionsleistungen (Straße und Schiene)“, Teilmarkt 14: „Grenzüberschreitende Transport- und Speditionsleistungen (Seeschifffahrt und Seehafenspedition)“, Teilmarkt 15 „Grenzüberschreitende Aircargo-Carrier und Leistungen der Luftfrachtspedition“.
222
H. Voss
bilindustrie aufsteigend nach outgesourcten Umsatzwertvolumen zusammen. Umsatzwertvolumen [Mrd. €]
8,0 6,9
7,0 6,0 5,0 4,0 3,0
2,3 1,7
2,0 1,0
0,80,6
0,2
11 :T
er m in al ,L ag 15 er :G M re W nz üb er .A ir 12 :K 6: EP N at 13 .S :G tü 5: ck re N gu nz at t üb .L er ad .L un an g (s d pe 2: z. N at E .L qu .) a du 8: ng In d. (a Ko l lg nt .) r ak 14 tlo :G gi re st nz ik üb er .S ee
0,0
1,2 0,5 0,4 0,3 0,4 0,3 0,3 0,2 0,0 0,0 0,0 0,0
Teilmärkte der Logistikwirtschaft outsourced
insourced
Abbildung 3: Die Logistik-Outsourcing-Anteile nach Teilmärkten – Automobilindustrie (in Anlehnung an [KlKi06])
Abbildung 3 verdeutlicht aber auch, dass trotz des bereits realisierten Outsourcinganteils ein weiteres Wachstum insb. im Teilmarkt der industriellen Kontraktlogistik zu erwarten ist. Hier werden heute noch etwa 6,9 Mrd. € durch die Industrieunternehmen selbst erbracht. Generell sind unterschiedliche Funktionsbereiche für das LogistikOutsourcing von Bedeutung. Im Rahmen der Studie wurden die Funktionen „Lager“, „Transport“ und „Mehrwertleistungen“ getrennt voneinander untersucht. Auch auf Ebene der Funktionen kann der hohe Outsourcinganteil in der Automobilindustrie bestätigt werden. Über 90% der befragten Unternehmen haben bereits einzelne logistische Aktivitäten outgesourct – in erster Linie im Transport (vgl. Abbildung 4).
3.1.2 Supra-Adaptivität durch Outsourcing
223
100% 90%
92%
80% 70% 60% 50%
51% 43%
40% 30% 20% 10% 0% Lager
Transport
Mehrwertleistungen
Abbildung 4: Logistik-Outsourcing nach Funktionsbereichen [Voss06]
Trends im Logistik-Outsourcing der Automobilindustrie Unterschiedliche Trends, die sich für das Logistik-Outsourcing ergeben, sind in der Outsourcing-Diskussion zu berücksichtigen. Von Bedeutung, wie Abbildung 5 zeigt, sind insbesondere: • Die Vergabe komplexer Leistungsbündel, die von etwa drei Vierteln der befragten Unternehmen als bedeutsam erachtet wird. • Die Reduktion der eingebundenen Dienstleister, die von etwa der Hälfte der befragten Unternehmen als wichtig eingestuft wird. Beide Trends stehen in enger Beziehung zueinander, da die Vergabe komplexer Leistungsbündel dazu führt, dass grundsätzlich weniger Dienstleister benötigt werden und der Schnittstellenaufwand reduziert wird. Sonstige Trends, die Einfluss auf die Outsourcing-Entwicklung haben, sind im Vergleich wenig bedeutsam. Bezogen auf die drei Funktionsbereiche (Lager, Transport und Mehrwertleistungen) zeigt sich, dass die Vergabe komplexer Leistungsbündel vor allem die Funktionen Lager und Transport betrifft. Die Kombination dieser beiden Funktionen in umfassenden Outsourcingprojekten ist die Folge. Damit erklärt sich auch zum Teil, warum insbesondere im Transport mit einer Reduktion der Dienstleister gerechnet wird. Auch die Bündelung der Transportverantwortung für ganze Gebiete in Hand eines Dienstleisters trägt dazu bei.
224
H. Voss
Vergabe komplexer Vergabe Leistungsbündel Leistungsbündel
73%
Weitere Vergabe von Weitere Vergabe von Einzeltätigkeiten Einzeltätigkeiten
24%
Reduktion Reduktion des des Outsourcings Outsourcings
14%
Reduktion der der Reduktion Logistik-Dienstleister Logistik-Dienstleister
51%
Vergabe nichtVergabe nichtlogistischer Leistungen Leistungen logistischer sonstige Trends Trends Sonstige
24% 5%
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80%
Abbildung 5: Trends im Logistik-Outsourcing [Voss06]
Daneben wird auch beobachtet, dass die Outsourcing-Tiefe8 in der Automobilindustrie über die drei Funktionsbereiche künftig weiter zunimmt. Relative Zuwachserwartungen von 63% bei Mehrwertleistungen und 56% im Bereich Lager verdeutlichen die Entwicklungen. Dagegen sind die Potenziale im Transport weitgehend abgeschöpft. Dort werden lediglich Zuwachsraten von 10% in den nächsten fünf Jahren erwartet. Die skizzierten Entwicklungen und Trends geben den Logistikdienstleistern wichtige Signale. Angemessene Reaktionen auf die Trends sind erforderlich, um künftig wettbewerbsfähig zu bleiben oder um Geschäftsaktivitäten in der Automobilindustrie weiter auszubauen. Vor allem die Bereitschaft mehr Verantwortung bei der Erfüllung komplexerer Aufgabenstellungen im Outsourcing zu übernehmen ist hervorzuheben.
Typen von Logistikdienstleistern und ihre Bedeutung für das Logistik-Outsourcing Um das Outsourcing logistischer Tätigkeiten erfolgreich durchzuführen, sind verlässliche Partner erforderlich. Logistikdienstleister sind heute in der Lage, immer umfassendere Leistungsbündel zu übernehmen und auf 8
Unter Outsourcing-Tiefe wird hier der Anteil der Fremdvergabe in Prozent der Logistik-Kosten verstanden.
3.1.2 Supra-Adaptivität durch Outsourcing
225
spezifische Kundenanforderungen zu reagieren. Die Untersuchung der Bedeutung der Logistikdienstleister aus Sicht der Industrieunternehmen ermöglicht wichtige Erkenntnisse zu den Anforderungen der outsourcenden Unternehmen und zur Outsourcing-Beziehung im Allgemeinen. Logistikdienstleister stellen keinen homogenen Unternehmenstyp dar. Im Gegenteil, unterschiedliche Typen von Logistikdienstleistern können von einander abgegrenzt werden. Um spezifische Aussagen zur Bedeutung der Logistikdienstleister im Logistik-Outsourcing zu erhalten, lassen sich drei Dienstleister-Typen charakterisieren. Diese werden als „klassische Dienstleister“, „Kontraktlogistik-Dienstleister“ und „koordinierende Dienstleister“ bezeichnet: • Klassische Dienstleister: In diese Kategorie fallen insbesondere Einzeldienstleister, wie Transporteure oder Lagerunternehmen sowie Spediteure. Spediteure führen die Organisation bzw. Disposition von Transporten durch und bieten klassische Logistikdienstleistungen (Transport, Umschlag und Lagerhaltung) an. Einzeldienstleister spezialisieren sich dagegen auf ein engeres Leistungsspektrum (vgl. [Trip03]). • Kontraktlogistik-Dienstleister: Unternehmen dieser Kategorie werden häufig auch als 3rd Party Logistics Provider (3PL) bezeichnet (vgl. [Klau06]). Kontraktlogistik-Dienstleister erwirtschaften den Großteil ihres Umsatzes mit komplexen, individuell für einzelne Kunden gestalteten, logistischen Leistungsbündeln. Kundenbeziehungen sind mittel- bis langfristig angelegt und vertraglich abgesichert. Meist sind kundenspezifische Investitionen erforderlich [Klau03]. Viele Spediteure sind bestrebt, sich in Richtung Kontraktlogistik-Dienstleister zu entwickeln, indem sie zusätzlich so genannte Mehrwertdienstleistungen anbieten. • Koordinierende Dienstleister: Ein neuer Typ des KontraktlogistikDienstleisters kann als koordinierender Dienstleister bezeichnet werden. In der Praxis haben sich die Bezeichnungen Lead Logistics Provider (LLP) oder 4th Party Logistics Provider (4PL) etabliert (vgl. [Klau06]). Unternehmen dieses Typs bilden eine einheitliche Schnittstelle zum outsourcenden Unternehmen und koordinieren sämtliche operativ agierenden Logistikdienstleister. Zum Teil werden darüber hinaus gestalterische und steuernde Aufgaben der Supply Chain- und Systemarchitektur übernommen. Idealtypisch verfügen koordinierende Dienstleister nicht über eigenen Anlagen (non-asset based). Die Einbindung der unterschiedlichen Dienstleister-Typen im Rahmen des Logistik-Outsourcings unterscheidet sich deutlich. Mit großem Abstand werden klassische Dienstleister am häufigsten von den befragten Un-
226
H. Voss
ternehmen eingebunden (vgl. Abbildung 6). Zu erwarten ist allerdings eine Verschiebung hin zu Kontraktlogistik-Dienstleistern bzw. koordinierenden Dienstleistern. 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
95% 81%
38% 27% 19% 5% klassische Dienstleister
3PL
4PL/LLP
Abbildung 6: Einbindung der Logistikdienstleister [Voss06]
Die unterschiedlichen Logistikdienstleister-Typen werden entsprechend ihrer Ausrichtung unterschiedlich eingebunden. Eine tiefe Einbindung lässt sich durch das Outsourcing von Managementverantwortung und komplexer Aufgaben charakterisieren (Full-Outsourcing bei [SaLo05]). Derart eingebundene Dienstleister übernehmen strategische Aufgaben. Werden dagegen eher standardisierte Aufgaben mit geringer Managementverantwortung an einen Dienstleister übertragen (Out-Tasking), handelt es sich um eine operative Einbindung. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten steht die taktische Einbindung (Co-/Managed Services). Damit werden solche Beziehungen charakterisiert, in denen komplexe Aufgaben an Dienstleister übergeben werden, ohne dass jedoch ein hohes Maß an Managementverantwortung übertragen wird. In den meisten Fällen, in denen ein externer Logistikdienstleister heute eingebunden wird, handelt es sich um operative Tätigkeiten (vgl. Abbildung 7). Die Unterschiede zwischen den drei Funktionsbereichen sind dabei unerheblich. Am ehesten ist eine taktische oder strategische Einbindung der Dienstleister bei Lagertätigkeiten gegeben. Bezogen auf Mehrwertleistungen findet bei den befragten Unternehmen dagegen keine strategische Einbindung statt. Schließlich werden Mehrwertleistungen mit strategischer Reichweite häufig als Kernkompetenz wahrgenommen und entsprechend nicht fremd vergeben.
3.1.2 Supra-Adaptivität durch Outsourcing
100%
5%
6%
90% 80%
227
18%
31%
33%
70% 60% 50% 40% 30%
76%
69%
62%
20% 10% 0% Lager Operativ
Transport Taktisch
Mehrwertleistung Strategisch
Abbildung 7: Einbindungstiefe der Logistikdienstleister [Voss06]
Kompetenzprofile von Logistikdienstleistern zur Steigerung der Flexibilität im Outsourcing Werden über das Outsourcing Logistikdienstleister in die Supply Chain integriert, müssen diese die Anforderungen an Flexibilität erfüllen. Dabei liegt auf der Hand, dass unterschiedliche Dienstleister-Typen unterschiedliche Flexibilitätspotenziale haben. Entsprechend dieser Potenziale sollten sie für die outzusourcende Logistikaktivität ausgewählt werden. Allgemein gilt, dass klassische Dienstleister eher in der Lage sind, einen Mehrwert in der kurzfristigen Flexibilitätsausprägung beizusteuern, wohingegen Kontraktlogistik-Dienstleister oder koordinierende Dienstleister insbesondere zur Verbesserung der langfristigen Flexibilität beitragen können. Hinsichtlich der inhaltlichen Flexibilitätsdimension ist es noch schwieriger, pauschale Aussagen zu treffen, welcher Dienstleister-Typ hier die größten Potenziale verspricht. In Abbildung 8 wird dennoch versucht, idealtypisch die jeweilige Ausrichtung der drei Dienstleister-Typen zu skizzieren. Durch diese Kompetenzprofile wird den outsourcenden Unternehmen ein Leitfaden gegeben, um den bestmöglichen Dienstleister-Typ für die outzusourcende Aktivität einzubinden. Gleichzeitig können Logistikdienstleister anhand der skizzierten Ausprägungen ihre Profile schärfen, um als flexibilitätsorientiertes Unternehmen wahrgenommen zu werden.
228
H. Voss
Ausprägung
Schwach
Mittel
Stark
Allgemeine Kriterien
Transportkompetenz Lagerkompetenz Mehrwertleistungskompetenz Management Verantwortung Branchenfokus
Zeitliche Flexibilität
IT-Know-how Reaktivität Proaktivität Veränderungsplanung Konzeptgestaltung
Inhaltliche Flexibilität
Sonderabwicklung Personalanpassung Kommunikation Planungsanpassung Prozessanpassung Kapazitätsanpassung
Klassischer Dienstleister
KontraktlogistikDienstleister
Koordinierender Dienstleister
Abbildung 8: Kompetenzprofile von Logistikdienstleister-Typen
Ausblick: Supra-Adaptivität als Zusammenspiel von Industrie und Logistikdienstleister Die Verbesserung der Flexibilitätspotenziale der Logistikdienstleister ist eine dringende Voraussetzung, um auch künftig erfolgreiche Outsourcingprojekte realisieren zu können. Es darf aber nicht vergessen werden,
3.1.2 Supra-Adaptivität durch Outsourcing
229
dass auch die Industrieunternehmen in der Pflicht stehen. Nur wenn beide Parteien bestrebt sind, die Flexibilitätsbedarfe umzusetzen, kann ein Beitrag zur Supra-Adaptivität in der Automobilindustrie gelingen. Wesentliche Ansatzpunkte für die Industrie bestehen beispielsweise bereits in der Auseinandersetzung mit dem Thema Flexibilität. Flexibilitätsbedarfe ausreichend zu benennen ist oft nicht einfach, aber dringend erforderlich, um in Outsourcingprojekten geeignete Dienstleister auswählen zu können. Auch müssen interne Strukturen bei outsourcenden Unternehmen so ausgerichtet werden, dass ein gemeinsames Flexibilitätsverständnis mit dem Dienstleister realisiert werden kann. Schließlich soll noch erwähnt werden, dass die Abstimmung mit dem Dienstleister bezüglich Flexibilitätsanforderungen kein einmaliger, sondern ein kontinuierlicher Prozess ist. Anforderungen können sich im Zeitverlauf ändern und müssen entsprechend neu ausgerichtet werden. Die genannten Empfehlungen gilt es im Einzelfall weiter zu spezifizieren, um den gewünschten Erfolg auf dem Weg zur Supra-Adaptivität in der Automobilindustrie zu realisieren.
Literatur [Klau03] [Klau06] [KlKi06] [SaLo05] [Trip03] [VoSa05] [Voss05] [Voss06]
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3.1.3 In- und Outbound-Logistik eines 1st Tier Zulieferers – Logistikdienstleistereinsatz im automobilen Netzwerk
T. Przypadlo
Aktuelle Entwicklungen in der Automobilindustrie Die Automobilindustrie befindet sich in einer Zeit des Umbruchs und wird weltweit von einer Welle von Unternehmenszusammenschlüssen in Form von strategischen Allianzen, Kooperationen und Fusionen gekennzeichnet. Prognosen zufolge sollen von den 13 im Jahre 2000 vorhandenen, freien Automobilherstellern (Original Equipment Manufacturer – OEM) im Jahre 2015 noch ca. 10 OEM existieren. Weit dynamischer gestaltet sich dieser Trend auf Seite der verschiedenen Modullieferanten, Systemintegratoren und Zulieferer. So werden von den im Jahre 1988 vorhandenen 30.000 Lieferanten auf der ersten Ebene (1st Tier Supplier) im Jahre 2010 nach Meinung von Experten nur noch ca. 2.800 zu finden sein. Abweichende Meinungen gehen sogar davon aus, dass 2010 nur noch ca. 150 Systemintegratoren existieren werden, wobei viele der ursprünglichen Lieferanten bei diesem Szenario weiter hinten in der Lieferkette bestehen bleiben [o.V.07, S.5]. Durch diese Zusammenschlüsse versuchen die Unternehmen Synergieeffekte in der Marktdurchdringung und bei Neuentwicklungen zu erreichen, welche sich insbesondere in Kosteneinsparungen in den Bereichen Beschaffung, Produktion und Vertrieb niederschlagen sollen. Besagte Kostensenkungen können durch Skaleneffekte erschlossen werden, falls es gelingt, die wichtigsten Teilprozesse einzelner Unternehmen zu standardisieren, zu bündeln und zu integrieren. Die Fokussierung auf die jeweiligen Kernkompetenzen der Leistungserstellung ist für alle Beteiligten eine logische Folge und notwendige Voraussetzung zum langfristigen Erfolg.
232
T. Przypadlo
Hohe Kundenanforderungen haben in den letzten Jahren zu einer steigenden Fahrzeugtypen- und Variantenvielfalt geführt. Individuell auf Kundenwünsche zugeschnittene Fahrzeuge sind keine Seltenheit mehr sondern die Regel. Bei der Beherrschbarkeit einer derartigen Variantenexplosion kommt der Logistik als Querschnittsfunktion zur Steuerung von Informations- und Materialflüssen über alle Wertschöpfungsstufen hinweg eine wichtige Rolle zu. Eine übergreifende, prozessorientierte Logistiksteuerung im Sinne des Supply Chain Management ist für die Integration sämtlicher Kernaktivitäten aller Beteiligter damit eine entscheidende Voraussetzung für den gemeinsamen Erfolg. Die Entwicklung und Verfügbarkeit innovativer Logistiksysteme wird als entscheidender Wettbewerbs- und Erfolgsfaktor für alle Unternehmen gesehen - insbesondere da der stetig zunehmende Kostendruck der OEM zu immer stärker geforderten Preisnachlässen der Zulieferer führt, welche diese oft nur durch die Verlagerung kostenintensiver, manueller Produktionsschritte in Niedriglohnländer ausgleichen können. Diese Verlagerungen wurden in den letzten Jahren vermehrt nach Osteuropa vorgenommen, um eine geforderte JIT- und JISAnlieferung an bestehende Endmontagestandorte der OEM in Mitteleuropa weiter gewährleisten zu können [GrPu04, S.56ff.]. Die Automotive Supply Chain muss heute mehr denn je aufgrund der zunehmenden Entwicklungsgeschwindigkeit der Märkte und Produkte sehr kurzfristig und flexibel auf Nachfrageschwankungen reagieren, um die Kapazitäten ihrer Produktionssysteme bestmöglich anpassen zu können. Neue Produktionskonzepte der OEM sind darauf ausgerichtet, relativ kurzfristige Produktionsanpassungen in einem Werk vornehmen zu können. Dabei ergeben sich neue Anforderungen an die Adaptivität sämtlicher Wertschöpfungsprozesse in der automobilen Supply Chain. Einer der entscheidenden Wettbewerbsvorteile liegt somit in der Entwicklung innovativer und hochgradig flexibler Supply Chain Strukturen, um zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden. Nur auf diese Art und Weise ist es möglich, die Adaptivität der Wertschöpfungsprozesse gemeinsam zu steigern und auf Nachfrageschwankungen schnell reagieren zu können. Die OEM haben sich in den vergangenen Jahren auf ihre Kernkompetenzen konzentriert, ihre Wertschöpfungstiefe deutlich reduziert und viele Aktivitäten an 1st Tier Lieferanten verlagert. Durch den daraus resultierenden erhöhten Druck auf die Zulieferer ist es nun entscheidend für deren Erfolg, ebenfalls geeignete Potenziale zur Steigerung der eigenen Flexibilität zu identifizieren und zu nutzen. Aufgrund dieser Randbedingungen spielt insbesondere die sinnvolle Einbindung von Logistikdienstleistern (LDL) an den Schnittstellen der Supply Chain (zwischen den OEM, den 1st Tier Zulieferern und deren Vorlieferanten) eine entscheidende Rolle. Diese Tatsache wurde schon vor
3.1.3 In- und Outbound-Logistik eines 1st Tier Zulieferers
233
einiger Zeit von den beteiligten Unternehmen erkannt und führt stetig zu einer immer stärkeren Integration besagter Logistikdienstleister [MüJe07; Baue07; RiOv07].
Ein typischer Automobilzulieferer – Die LEONI AG Ein Beispiel für diese Entwicklung im Zuliefergeschäft ist die LEONI AG als weltweit agierender Entwicklungs- und Systemlieferant der Automobilindustrie. Das operative Geschäft wird heute über die beiden Unternehmensbereiche Draht & Kabel und Bordnetz-Systeme von ca. 35.000 Mitarbeitern in rund 80 weltweit verteilten Standorten abgewickelt. Der Konzernumsatz lag im Jahr 2006 bei mehr als 2 Mrd. €. Die Angebotspalette des Unternehmensbereichs Bordnetz-Systeme umfasst nicht nur die Herstellung von Kabelsätzen, sondern vor allem auch die Entwicklung kompletter Bordnetz-Systeme einschließlich der erforderlichen Elektronik. Mit Neuentwicklungen wie dem formstabilen Kabelsatz, durchgängigen Verdrahtungskonzepten auf Flachleiterbasis und richtungweisenden Elektroniklösungen zur Optimierung von Bordnetzen hat sich der Unternehmensbereich Bordnetz-Systeme einen Namen in der Automobilindustrie gemacht.
Abbildung 1: Komplexität eines Bordnetz-Systems
Dieser Unternehmensbereich entwickelt und liefert für den Bereich Pkw und Nutzfahrzeuge unter anderem Leitungssätze für den MobiltelefonEinbau, Sensorleitungen, Leitungssätze für ABS und ESP, Kunststoffform-
234
T. Przypadlo
teile, formstabile Kabelsätze, konventionelle Kabelsätze und komplette Bordnetz-Systeme (vgl. Abbildung 1). Für den Flugzeugbau werden zum Beispiel Kabelsätze für die Sitzverdrahtung produziert und geliefert. Eine besondere Herausforderung stellt die Produktion von kundenspezifischen Kabelsätzen (KSK) dar, welche jeweils individuell auf Kundenwunsch innerhalb eines kurzen Zeitfensters gefertigt und nach Just-In-Time (JIT)oder Just-In-Sequenz (JIS)-Konzepten an die Montagewerke der OEMs geliefert werden. Die LEONI Bordnetz-Systeme GmbH verarbeitet hierbei teilweise Produkte, die von dem Unternehmensbereich Draht & Kabel hergestellt wurden, weiter. Wegen der besonderen Produktionsanforderungen zur Herstellung von Kabelsätzen und Bordnetz-Systemen werden diese weitestgehend in Handarbeit gefertigt.
Einbindung in die Lieferstrukturen der Automobilindustrie Aufgrund der oben beschriebenen Unternehmensstruktur mit den drei Produktionsschwerpunkten (Draht, Kabel und Bordnetz-Systeme) finden sich Teile des Konzerns sowohl als klassische 1st Tier Zulieferer innerhalb der automobilen Supply Chain, sowie als 2nd oder 3rd Tier wieder. Dieses heterogene Grundmuster über diverse Wertschöpfungsstufen hinweg findet man auch im Unternehmensbereich Bordnetz-Systeme. Dieser beliefert neben diversen OEM (wie z. B. Audi, BMW, DaimlerChrysler, General Motors, Land Rover, Porsche und VW) auch andere 1st Tier Lieferanten (wie z. B. Bosch oder Siemens VDO). Die Lieferstrukturen unterscheiden sich dabei je nach Produktreihe der OEM (als Kunden) teilweise erheblich voneinander. Somit kommt der Betrachtung der jeweils herrschenden Lieferbeziehungen für die einzelnen Produktreihen der Kunden zur genauen Analyse stets eine besondere Bedeutung zu. Damit ergibt sich für LEONI ein Gesamtbild mit sehr vielen heterogenen Schnittstellen zu unterschiedlichsten Akteuren innerhalb der jeweiligen Lieferketten. Die Optimierung dieser Schnittstellen, z. B. über einen geeigneten Einsatz von Logistikdienstleistern, trägt einen wesentlichen Teil zum Unternehmenserfolg bei.
3.1.3 In- und Outbound-Logistik eines 1st Tier Zulieferers
235
Kurze Beschreibung der Entwicklungsstufen von Logistik-Dienstleistern Es existiert derzeit eine Vielzahl von verschiedenen Definitionen und Strukturierungsformen der logistischen Aktivitäten, Dienstleistungen und deren Anbietern am Markt. Deshalb soll das diesem Beitrag zugrunde liegende Verständnis der wichtigen Zusammenhänge im Folgenden kurz beschrieben werden. Verständnis logistischer Aktivitäten und Dienstleister Grundsätzlich lassen sich die logistischen Aktivitäten innerhalb der automobilen Supply Chain in die drei Bereiche Transport-, Lager- und Mehrwertleistungen einteilen [Voss06, S.10ff.]. Ebenso lässt sich die Entwicklung der zum Teil recht heterogenen Logistikdienstleister darstellen. Während seit jeher die klassischen Logistikfunktionen Transport, Umschlag und Lagerung (TUL-Logistik) von Logistikdienstleistern wahrgenommen wurden, kam nach und nach die kundenseitige Anforderung auf, auch komplexere Tätigkeiten in Form von Mehrwertleistungen anzubieten. So entwickelten sich neben den klassischen Logistikdienstleitern, wie Spediteuren, Transport- oder Lagerunternehmen, zunehmend mehr Kontraktlogistik- und weiter koordinierende Dienstleister. Kontraktlogistik-Dienstleister wiederum sind dadurch gekennzeichnet, dass sie in einer individuell gestalteten und langfristig vertraglich abgesicherten Beziehung zum Auftraggeber mehrere logistische Funktionen übernehmen, wobei das Geschäftsvolumen einen erheblichen Mindestumsatz (0,5 bis 1 Mio. €) pro Jahr überschreiten sollte. Gemäß dieser Definition werden sie auch oft als Third Party Logistics Service Provider (3PL) bezeichnet und übernehmen nicht selten komplette logistische Bereiche ihrer Kunden. Zu Ihren Kernkompetenzen zählen typischerweise die Konzeption, Planung und Steuerung komplexer logistischer Prozesse. Eine weitere, noch verhältnismäßig neue Form bilden koordinierende Dienstleister, welche sich primär auf die Konzeption logistischer Prozesse spezialisiert haben und oftmals operative, logistische Tätigkeiten an nachgelagerte LDL weiterreichen. Sie besitzen meist keine eigenen Betriebsmittel zur Erbringung ihrer logistischen Aktivitäten (non-asset based). Unter der Bezeichnung Lead Logistics Provider (LLP) oder Fourth Party Logistics Service Provider (4PL) übernehmen sie für ihre Kunden eine neutrale, koordinierende Rolle diverser logistischer Aktivitäten und weiterer Dienstleister [KlKi04, S.252; Enge04, S.15].
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Darstellung typischer Einsatzfelder von LDL in der Automobilindustrie Ein effizienter Einsatz von Logistikdienstleistern trägt, wie bereits beschreiben, insbesondere an den Schnittstellen innerhalb der automobilen Supply Chain entscheidend zum Unternehmenserfolg der einzelnen Akteure bei. Drei der typischen Einsatzbereiche mit den dort vorherrschenden Rahmenbedingungen werden im Folgenden näher erläutert. Koordinierende Unterstützung – in Produktionsnähe der OEM Aufgrund der heute weltweit verteilten Produktions- und Anlieferstationen zu beliefernder OEM haben sich die größeren Automobilzulieferer ebenfalls eine globale Präsenz in Kundennähe geschaffen. Seit Ende der 80er Jahre wurden verstärkt Lieferantenparks in unmittelbarer Produktionsnähe der OEM aufgebaut. Diese Parks ermöglichen eine möglichst effiziente und kurze Anlieferung der unterschiedlichen Zulieferteile an den jeweiligen Montageort. Sie helfen den OEM ihren Anteil der Wertschöpfung nachhaltig zu reduzieren und sich auf ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren. Dieses geschieht, indem die Verantwortlichkeiten entlang der Lieferkette neu festgelegt und ganze Bereiche der Prozesskette von Logistikdienstleistern übernommen werden. Ihr Einsatz wurde so stetig intensiviert und entwickelte sich von reinen Transportdienstleistungen hin zu allgemein koordinierenden Tätigkeiten rund um die Produktionswerke der Automobilhersteller. Neu geplante Werke der OEM werden heute nahezu ausschließlich mit dazugehörigen Lieferantenparks und Lieferanten-Logistikzentren geplant. Insbesondere großvolumige Teile werden von den 1st Tier Zulieferern idealtypisch nahe am Endkunden produziert, um Lager- und Handlingkosten zu optimieren. Das verringert nicht nur die Transportzeiten und Logistikkosten, sondern erhöht die Möglichkeit, zeitnah auf Produktionsänderungen des OEM reagieren zu können. Eine gute Koordination der beteiligten Akteure stellt für die Betreiber der Lieferantenparks eine der Hauptaufgaben dar. Diese und andere Funktionen, die dem Bereich der Mehrwertleistungen zuzuschreiben sind, werden oft von entsprechenden LDL wahrgenommen [Bart07].
3.1.3 In- und Outbound-Logistik eines 1st Tier Zulieferers
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Outbound-Logistik – vom 1st Tier zum OEM Obwohl vorab beschriebene Gründe für global ausgerichtete Produktionsstandorte in Kundennähe sprechen, führen jedoch oft einige Faktoren (z. B. hohe Produktionskosten) zu einer anderen Standortwahl. In diesem Fall würde der Lieferantenpark oder das Lieferanten-Logistikzentrum des OEM seinerseits vom weiter entfernt liegenden Produktionswerk eines Zulieferers beliefert werden. So kommt es dazu, dass die Produktionsstandorte mancher 1st Tier Lieferanten in erheblicher Entfernung von denen der OEM liegen. Beispielsweise produziert LEONI Bordnetz-Systeme für den großen OEM General Motors in der Ukraine sowie Polen und liefert diese zeitnah mit Hilfe von Logistikdienstleistern an Kundenwerke in Deutschland, Belgien und Großbritannien. Damit ergibt sich schnell eine Entfernung von über 1.000 km zwischen den Akteuren. Ein solches Szenario stellt keine Seltenheit dar. So wird z. B. der Kunde BMW mit einem Anlieferungspunkt (Logistikzentrum) im süddeutschen Raum aus Standorten in Rumänien und der Slowakei beliefert, DaimlerChrysler zum Teil aus Rumänien und Tunesien.
Abbildung 2: Das vertriebsseitige Logistiknetzwerk
Diese Anlieferentfernungen nach Deutschland ergeben sich aufgrund des wenig automatisierbaren Herstellungsprozess von Bordnetz-Systemen, welche auch heute noch vorwiegend in Handarbeit gefertigt werden müssen. Diese Produktionsvoraussetzungen, gepaart mit dem relativ hohen Lohnniveaus in Mitteleuropa, lassen eine rentable Produktion in Kundennähe oftmals nicht mehr zu. Deshalb wurden in den letzten Jahren konse-
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T. Przypadlo
quent Produktionsstandorte in Niedriglohnländern auf- und ausgebaut [MüJe07]. Insgesamt werden zur Zeit von der LEONI Bordnetz-Systeme GmbH mehr als 100 Anlieferstationen unterschiedlicher OEM und anderer 1st Tier Lieferanten aus 25 weltweit verteilten Produktionsstandorten mit Kabelsätzen aller Art beliefert. Die Belieferung erfolgt dabei nach unterschiedlichen Logistikkonzepten, welche je nach Anforderungen des OEM stark variieren können. Eine zum Teil erhebliche räumliche Distanz in der Supply Chain ist selbstverständlich nur dann tragbar, wenn das zugrunde liegende Logistikkonzept des Kunden dieses auch zulässt. Eine Just-InTime- oder Just-In-Sequenz-Belieferung mit kundenspezifischen Kabelsätzen bei bestehenden kurzen Vorlaufzeiten wird mit zunehmender Entfernung zum Kunden immer schwieriger. Der Schwerpunkt beim Einsatz von Logistikdienstleistern liegt hier eindeutig auf den klassischen Funktionen der TUL-Logistik zur Unterstützung der Lieferprozesse zum Kunden [RiOv07]. Inbound-Logistik – vom 2nd Tier zum 1st Tier Eine globale Produktion verschiedener Komponenten in unterschiedlichen Standorten stellt ebenso enorme Anforderungen an die eigene Beschaffungslogistik und die darin eingebundenen Dienstleister. Die Werke der LEONI Bordnetz-Systeme GmbH zum Beispiel werden derzeit von ca. 1.100 Produktionsmateriallieferanten mit rund 35.000 Produktionsmaterialien versorgt. Die bezogenen Materialmengen gemessen am Umsatz sind dabei sehr unterschiedlich auf diese Lieferanten verteilt und ergeben ein heterogenes Gesamtbild der Lieferantenstruktur. Alle Standorte sind für die Materialdisposition zur eigenen Produktionsversorgung inklusive der Beschaffungslogistik selbst verantwortlich und agieren somit eigenständig innerhalb der zentral ausgehandelten Konditionen mit Lieferanten und Logistikdienstleistern. Aus ähnlichen Gründen wie vorab beschrieben liegen jedoch auch die eigenen Lieferanten eines 1st Tier Zulieferers nicht immer in unmittelbarer Nähe seiner Produktionswerke, sondern in teilweise erheblicher Entfernung davon. Deshalb entstehen wiederum lange und sehr heterogene Warenströme zu den eigenen Werken. Je nach Transportvolumen werden die Standorte direkt von den Lieferanten oder über ein zwischengeschaltetes Konsolidierungslager mit Produktionsmaterial versorgt. Als einen Sonderfall der Direktbelieferung werden ebenfalls verstärkt Milkrun Verkehre über mehrere Lieferanten eingesetzt, um die Auslastung der eingesetzten
3.1.3 In- und Outbound-Logistik eines 1st Tier Zulieferers
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Transportmittel zu optimieren. Die Belieferung der Produktionswerke über ein Konsolidierungslager erfolgt im Regelfall täglich per LKW.
Abbildung 3: Die heterogene Lieferantenstruktur
Eine wesentliche Herausforderung für die effiziente Steuerung der beschaffungsseitigen Materialflüsse und Warenströme stellt somit eine gute Logistiksteuerung im Sinne des Supply Chain Managements und die darin enthaltene Festlegung geeigneter Konsolidierungspunkte und -lager zur Optimierung der Transportwege dar.
Abbildung 4: Das beschaffungsseitige Logistiknetzwerk
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T. Przypadlo
Zur Bewältigung der beschriebenen Herausforderungen greift man deshalb verstärkt auf den Einsatz von Logistikdienstleistern für die operativen Tätigkeiten, wie Transporte und Konsolidierungsleistungen (TUL-Logistik), zurück.
Arten eingesetzter LDL und Aufgabenverteilung In den dargestellten Einsatzbereichen kommen im Wesentlichen zwei Arten von Logistikdienstleistern zum Einsatz. Dies sind zum einen die klassischen Logistikdienstleister, welche vorwiegend in den Beispielbereichen 2 und 3 zum Einsatz kommen, und zum anderen Kontraktlogistikdienstleister, welche oftmals zum Betreiben von Lieferanten- und Logistikparks (Beispiel 1) eingesetzt werden. Eine im Rahmen von TransLog durchgeführte Studie zum LogistikOutsourcing in der Automobilindustrie zeigt, dass die beiden genannten Arten von Dienstleistern eine Reihe von Einzelaktivitäten für Ihre Kunden durchführen, welche sich in die drei Hauptfunktionsbereiche Transport, Lager und Mehrwertleistungen unterteilen lassen. Die grundlegenden Logistikfunktionen Transport, Umschlag und Lager (TUL-Logistik) werden den klassischen Dienstleistern zugeordnet und von diesen ausgeführt. Mehrwertleistungen hingegen fallen in den Bereich der Kontraktlogistikdienstleister. Eine genaue Abgrenzung der übernommenen Tätigkeiten je nach Dienstleister-Art ist jedoch nicht möglich, da diese zum Teil fließend ineinander übergehen. Als Ergebnis der Studie wurde festgestellt, dass bereits 92% der teilnehmenden Unternehmen logistische Aktivitäten an Logistikdienstleister vergeben haben. 92% der befragten Unternehmen haben Tätigkeiten im Transportbereich fremd vergeben, 43% Lagerdienstleistungen und 51% Mehrwertleistungen. Eine Einteilung von verschiedenen untersuchten Einzelaktivitäten in die Funktionsbereiche wurde in der Studie, wie in Abbildung 5 ersichtlich, vorgenommen und deckt sich mit den Haupttätigkeiten beschriebener Logistikdienstleistungen. Diese Tätigkeiten bilden das weite Spektrum der von LDL übernommenen Aufgaben und zeigen, wie vielschichtig und intensiv deren Einbindung erfolgen kann. Die Aktivitäten werden nicht alle gleichstark an LDL vergeben, sondern je nach Anforderung individuell angepasst. Das kann von einer einmaligen Auftragserledigung im Warentransport bis zur kompletten Vergabe der Logistikabwicklung eines Unternehmens reichen [Voss06, S.10ff.; Jung07].
3.1.3 In- und Outbound-Logistik eines 1st Tier Zulieferers
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Abbildung 5: Haupttätigkeiten von Logistikdienstleistern [Voss06, S.17ff.]
Weitere Rahmenbedingungen und Ausblick Die schon mehrfach erwähnte, räumliche Distanz zwischen Lieferanten und ihren Kunden erhöht selbstverständlich die Transportzeiten und Logistikkosten sowie das allgemeine Transport- und Ausfallrisiko. Da fast kein Unternehmen die nötigen Transporte heute noch selbst durchführt, sondern diese an entsprechende Logistikdienstleister delegiert hat, erhöhen sich ebenfalls der Aufwand des Dienstleistermanagements und die abgegebene Verantwortung. Insbesondere der erhöhte Abstimmungsaufwand zwischen den beteiligten Unternehmen sollte stets kritisch beobachtet und gegebenenfalls optimiert werden, da dieser andernfalls die Effektivität des Dienstleistereinsatzes gefährden kann. Grundsätzlich müssen bestehende Kontrakte mit Logistikunternehmen aufgrund der anhaltenden, dynamischen Entwicklung am Markt in regelmäßigen Abständen hinterfragt und deren Aktualität neu bewertet werden. Daher empfiehlt es sich, Bindungen dieser Art über einen festen, überschaubaren und angemessenen Zeitrahmen zu schließen, wobei die gewählte Vertragsdauer sehr stark von der individuellen Leistung abhängt. Die Laufzeit von Mehrwertdienstleistungsverträgen im Bereich der Kontraktlogistik ist meist auf drei Jahre festgelegt, wohin-
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gegen reine Transportkontrakte oft nur ein bis zwei Jahre umfassen. Diese überschaubaren Laufzeiten und die globale, heterogene Struktur der Lieferprozesse zu den jeweiligen OEM führen sehr oft zum Einsatz mehrerer LDL innerhalb eines Unternehmens. So arbeitet die LEONI BordnetzSysteme GmbH derzeit z. B. mit ca. 40 LDL allein auf dem europäischen Kontinent und Nordafrika zusammen, die sich je nach Region, Kunden und Leistungsart sehr voneinander unterscheiden. Zusammenfassend können wir feststellen, dass die Einsatzfelder für LDL in der Automobilzulieferindustrie sehr vielschichtig ausgeprägt sind und sich deren Integration in diesem Markt seit Jahren stetig erhöht. Ein Ende dieses Trends ist noch nicht ersichtlich. Die auch im LDL-Bereich fortschreitende Konsolidierung der Anbieter am Markt führt zur Bündelung und Erweiterung des Leistungsspektrums. Mehr und mehr Dienstleister bieten neben den klassischen TUL-Tätigkeiten auch Mehrwertleistungen für ihre Kunden an. Die Optimierung der Schnittstellen zwischen den Dienstleistern und ihren Kunden sollte in diesem Zusammenhang weiter vorangetrieben werden, um eine noch effizientere Kommunikation und stärkere Integration zu ermöglichen.
[Bart07] [Baue07]
[Enge04] [GrPu04]
[Jung07] [KlKi04]
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3.2 Aufgabentransfer – Möglichkeiten und Grenzen
Nichts ist besser geeignet, die Verschmelzung der widerstrebenden Elemente zu fördern, als gemeinsame Arbeit an gemeinsamen Aufgaben. Otto von Bismarck
3.2.1 Supra-adaptive Netzgestaltung durch Multi-User-Center (MUC) – Erfolgsversprechen und Potenzial
A. Roth Die Adaptivität automobiler Wertschöpfungsketten wird vor dem Hintergrund des internationalen Wettbewerbs immer wichtiger. Dies ist keine neue Einsicht. In der Praxis des Managements und auch in der betriebswirtschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Forschung wurden in den vergangenen Jahren viele Ansätze zur Steigerung von Adaptivität und Flexibilität entwickelt und zu Teilen auch erfolgreich umgesetzt. Die Schwerpunkte dieser Arbeiten lagen v. a. in den Bereichen Outsourcing, Anwendung neuer Technologien und alternativen Formen des Personaleinsatzes. Noch relativ wenig beleuchtet ist hingegen der Aspekt der Gestaltung von Lager- und Transportnetzwerk-Strukturen. Deshalb soll in der folgenden Diskussion die Frage erörtert werden, wie durch die geeignete Gestaltung von Lager- und Transportnetzwerken, sowie die Lenkung der Güterströme in diesen die Adaptivität und Flexibilität in automobilen Wertschöpfungsketten verbessert werden kann. Antworten werden dabei insbesondere in der Nutzung und Weiterentwicklung des erfolgreichen und in anderen Bereichen der Transportlogistik schon vielfach eingesetzten Hub-and-Spoke Systems gesucht [Klau85]. Die Idee des Hub-and-Spoke Systems wird sowohl auf mehrere Wertschöpfungsstufen, als auch auf jeweils mehrere Akteure dieser Stufen ausgeweitet, indem ein großes bestandsführendes Multi-User-Hub etabliert wird. Durch die gemeinsame Nutzung der Lager- und Kommissionierressourcen sowie insbesondere durch den gemeinsamen Knotenpunkt vieler verschiedener Warenströme werden Synergiepotenziale erwartet, die die einzelnen Akteure nicht nur finanziell entlasten, sondern netzwerkweit mehr Flexibilität ermöglichen.
248
A. Roth
Das MUC-Konzept – Idee und Charakteristika Ein Multi-User-Center ist ein Knotenpunkt, in welchem mehrere Mitglieder mindestens zweier Wertschöpfungsstufen auf gemeinsame Lager- und Umschlagstätigkeiten zurückgreifen. So kann ein MUC beispielsweise als gemeinsamer Knotenpunkt mehrerer 1st Tier und 2nd Tier Zulieferer einer automobilen Wertschöpfungskette fungieren. Es werden sowohl die Inbound- als auch die Outbound-Ströme aller Beteiligten integriert. Mit Hilfe eines MUC soll eine Entkopplung der Zulieferungen von den Bedarfen, d. h. eine einstufige Lagerhaltung realisiert werden können. Die bei Zulieferern in Losgrößen gefertigten Teile können als solche direkt verladen und per Shuttle in das MUC zur Lagerung gefahren werden. Eine produktionsnahe Zwischenlagerung und entsprechend an der Häufigkeit und am Umfang der Abrufe durch den Kunden gestaltete Auslieferung ist nicht mehr notwendig. Dies war bislang unumgänglich, da die produktionstechnisch bedingten Losgrößen der Zulieferer meist nicht mit den mengenmäßigen und zeitlichen Bedarfen der Kunden übereinstimmten. Die Kunden entnehmen ihre Waren stattdessen selbst über eine entsprechende Bedarfssteuerung direkt aus dem MUC. Die Wiederauffüllung orientiert sich am Vendor Managed Inventory Konzept [Sima99]. Dabei bleibt das Prinzip des Forecasts jedoch erhalten, so dass für alle beteiligten Akteure eine Rahmenplanung möglich bleibt. Charakteristisch für ein MUC ist, dass es von einem unabhängigen Dienstleister betrieben wird. Dieser ist von einem Konsortium, bestehend aus den Akteuren der beteiligten Wertschöpfungsstufen, beauftragt und verwaltet unter anderem die Bestände und Leergutkonten. Zusätzlich sollten durch den Dienstleister Zusatzleistungen, wie Qualitätsprüfung von Teilen, Behältermanagement, Retourenmanagement oder Vormontagen, angeboten werden. Eine wesentliche Aufgabe des Dienstleisters besteht auch darin, mögliche Synergien zwischen den Akteuren aufzuzeigen. Ein MUC ist nur für Losgrößenteile geeignet. Eine Anwendung für JIT / JISTeile ist nicht sinnvoll. Die Akteure sind über Standardschnittstellen mit der IT-technischen Verwaltung des Dienstleisters verbunden. Die Idee an sich lehnt sich stark an bisher in der Praxis bereits existierende Konzepte für Logistikzentren o. Ä. an. Auch hier werden die Transport- und Lagerströme mehrerer Akteure gebündelt und es wird versucht, auf diesem Weg Synergieeffekte zu erzielen. Gravierende Unterschiede finden sich jedoch in den folgenden Punkten: Die bisherigen Logistikzentren bündeln meist entweder die Inboundoder die Outboundströme der beteiligten Akteure. Eine integrierte Abstimmung beider Ströme mehrerer Akteure steht bislang nicht im Fokus. Selbst wenn in der heutigen Praxis in Logistikzentren mehrere Kunden betreut werden, wie z. B. in einem speditionellen Knotenpunkt, werden die
3.2.1 Supra-adaptive Netzgestaltung durch Muti-User-Center
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Kunden nach innen doch getrennt behandelt. D. h., die Abwicklungsvorgänge für Lagerung, Kommissionierung und Transport werden nur bedingt auf mögliche Synergieeffekte untersucht und integriert. Auch ist die Mischung von Kunden in einem dienstleisterbetriebenen Logistikzentrum meist zufällig. Die Struktur eines solchen Knotenpunktes ist typischerweise offen gestaltet. Im MUC werden von Anfang an bewusst vergleichbare Kunden mit ähnlicher Logik der Planungs- und Abwicklungsvorgänge in einer weitgehend geschlossenen Struktur zusammengelegt. Ähnlichkeiten können im Automotive-Bereich beispielsweise durch Eckdaten, wie notwendige Forecasts, definierte Volumenströme, nur wenige Endkunden, VDA-Label, eine gleiche IT-Logik, die Anforderung der Rückverfolgung und insbesondere die Gleichartigkeit von Teilen, gegeben sein. In Abbildung 1 ist das Transport-/Lagernetz rund um ein MUC dargestellt, um das Beziehungsgeflecht eines solchem MUH zu verdeutlichen.
Abbildung 1: Transport-/Lagernetz eines MUC
Aufgrund der einstufigen Lagerhaltung sind alle Zulieferer direkt mit dem MUC verbunden. Es erfolgen regelmäßig feste Shuttleverkehre, die die Produktionslose der 2nd und 1st Tiers direkt ins MUC zur Einlagerung abfahren. Die Organisation der Transporte für die Warenentnahme durch 1st tiers kann entweder durch diese oder durch den Dienstleister des MUC erfolgen. Die Warenentnahme durch OEM erfolgt in der Automobilbranche immer ex works, da meist feste Gebietsspediteure vorhanden sind.
Erfolgsversprechen des MUC-Konzepts Das MUC-Konzept gibt im Wesentlichen zwei Erfolgsversprechen. Zum einen können durch Synergien im Netz zahlreiche Kostenersparnisse realisiert werden. Zum anderen kann ein erheblicher Gewinn an Flexibilität
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A. Roth
umgesetzt werden. Als Sekundäreffekt daraus ist zudem mit einer deutlichen Komplexitätsreduktion zu rechnen. Um diese Erfolgsversprechen vor der Umsetzung eines Prototyps hinsichtlich ihres Potenzials beurteilen zu können, muss festgelegt werden, welche Messgrößen zum Nachweis von Synergien und Flexibilitätsgewinnen im Netz heran gezogen werden können. Kosteneinsparungen durch Synergien im Netz Mögliche Synergien im Netz können direkt über Kosteneinsparungen oder korrelierende Ersatzparameter gemessen werden. Hierzu sind insbesondere die Lager- und Umschlagskosten sowie die Transportkosten zu betrachten. Die Lager- und Umschlagskosten setzen sich aus Fixkosten für die notwendigen Lagerflächen und einen Grundbestand an Technik und Personal zusammen. Als Ersatzparameter für variable Kosten für den Einsatz von Personal und technische Einrichtungen werden vereinfachend die Anzahl Umschlagsvorgänge pro Artikel sowie die Zeitdauer pro Umschlagsvorgang herangezogen [Baue02, S.129ff.]. Stellvertretend für die Entwicklung von Transportkosten werden die Parameter „Anzahl Fahrten und LKW“, „Tonnen-km (tokm)“ und „Auslastung pro LKW“ betrachtet [ArIs02; KlKr04, S.543]. Flexibilitätsgewinn Kaluza und Blecker beschreiben „Flexibilität als eine wichtige Eigenschaft von Unternehmen zur Bewältigung komplexer, sich wandelnder und kaum vorhersehbarer Umweltsituationen…“ [Kabl05, S.5]. An anderer Stelle wird unter Flexibilität „die Eigenschaft (…) einer Sache (..), einer Einrichtung oder eines Teils davon (…), eines Tätigwerdens oder Tuns, sich gut an veränderte Gegebenheiten und, daraus resultierend, veränderte Aufgaben anpassen zu lassen“ [Jaco89, S.16] verstanden. Das Vorhandensein von Flexibilität kann nicht direkt in Kennzahlen ausgedrückt werden. Es wird daher nicht das Vorhandensein an sich gemessen, sondern nur eine Veränderung der Flexibilität durch eine bestimmte Maßnahme im Vergleich zu vorher. In Anlehnung daran und an obige Definitionen wird Flexibilität im Folgenden daher konkret als kurzfristig ungeplante oder mittelfristig geplante Änderung von Standardabläufen definiert. Dabei ist entscheidend, ob eine solche Änderung im Einzelfall im vorhandenen Prozessgeflecht überhaupt möglich ist und falls ja, mit welcher Reaktionszeit und mit welchem (finanziellen) Aufwand.
3.2.1 Supra-adaptive Netzgestaltung durch Muti-User-Center
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Ein Flexibilitätsgewinn liegt dann vor, wenn derartige Änderungen von Standardabläufen ermöglicht werden oder wenn die Umsetzung solcher Änderungen schneller und/oder mit geringerem Aufwand als bisher möglich wird.
Beurteilung der Erfolgsversprechen Vor einer möglichen Implementierung eines MUC in der Praxis soll entsprechend der oben genannten Messgrößen untersucht werden, inwieweit sich die beschriebenen Erfolgsversprechen nachweisen lassen. Theoretische Beurteilung – Qualitative Argumente Entsprechend der Charakteristika eines MUC lassen sich fünf wesentliche Effekte nennen, die sowohl eine Kostenersparnis, als auch einen Flexibilitätsgewinn mit sich bringen (siehe Abbildung 2):
Abbildung 2: Erfolgsversprechen des MUC
Einstufige Lagerhaltung
Durch die einstufige Lagerhaltung wird über ein MUC die Unabhängigkeit der Lieferungen von Bedarfen realisiert. Die Zulieferer können ihre Waren entsprechend der Produktionslose direkt ins MUC zur Lagerung transportieren, ohne sich an zeitliche und mengenmäßige Liefertakte durch Kun-
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A. Roth
denanforderungen halten zu müssen. Dadurch sind keine zusätzlichen Lagerflächen für Fertigprodukte beim Zulieferer notwendig und es fällt gegebenenfalls ein Handlingvorgang weg. In Bezug auf die Lagerkosten entfallen beim Zulieferer Fixkosten für Lagerflächen, entsprechendes Personal und technische Ausrüstung. Gegebenenfalls entfallen zusätzlich variable Kosten für einen Umschlagsvorgang. Transportkosten werden ebenfalls eingespart, da der Zulieferer seine Ladungen entsprechend seiner Lose frei gestalten kann, und damit prinzipiell kostengünstige Ganzladungen realisiert werden können [KlKr98, S.399]. Dies mindert die Anzahl an Fahrten und LKW bzw. bewirkt eine sehr gute Auslastung der Fahrzeuge [BoCl86, S.236]. Ein Flexibilitätsgewinn lässt sich insbesondere bei der Warenentnahme durch den Kunden nachweisen. Bei unvorhergesehenem Bedarf kann der Kunde im Rahmen festgelegter Grenzen selbständig auf die im MUC lagernden Vorräte zurückgreifen, ohne mit dem Zulieferer Kontakt aufnehmen zu müssen und damit von dessen Produktions- und Transportplanung abhängig zu sein. Skaleneffekte
Durch die Nutzung eines zentralen MUC ergeben sich mit der steigenden Lagergröße zahlreiche Skaleneffekte [Bohr96, S.375; Vahr05, S.96]. Für Einzelprojekte bzw. kleinere Logistikzentren ist das Erreichen der kritischen Menge oft nicht möglich. Durch das Zusammenlegen der Mengenströme vieler Akteure und aufgrund seiner Spezialisierung kann der betreibende Dienstleister effizientere Prozesse, z. B. schnellere Umschlagsvorgänge, und damit geringere variable Lager- und Umschlagskosten verwirklichen. Zusätzlich müssen die beteiligten Akteure weniger Fixkosten für die Bereitstellung von z. B. in Spitzen oder für Zusatzleistungen notwendigen Ressourcen vorhalten, da dies gemeinsam für alle Akteure geschieht. Der geringere Fixkostenanteil des einzelnen Akteurs an den Gesamtkosten senkt die Durchschnittskosten. Dies entspricht einer Variabilisierung der Fixkosten [HuMä99, S.101ff.]. Ein MUC sieht auch die gemeinsame Abwicklung von Zusatzleistungen durch den Dienstleister vor. Darunter fallen insbesondere Aufgaben, wie Umpacken, Nacharbeiten, Vereinzeln und Verpacken. Aber auch Leergutverwaltung und Behältermanagement gehören dazu. Kostenseitig gelten hier die gleichen Argumente wie bei den Hauptprozessen: Der Dienstleister kann aufgrund seiner Spezialisierung und mehr Masse kostengünstiger arbeiten. Die Abwicklung der Lager- und Umschlagsprozesse über ein MUC entspricht aus Sicht der Akteure im Wesentlichen dem Outsourcing dieser
3.2.1 Supra-adaptive Netzgestaltung durch Muti-User-Center
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Prozesse an einen Dienstleister. D. h., der zu diesem Thema in der Literatur vielfach nachgewiesene Nutzen hinsichtlich Kosteneinsparungen kann entsprechend übertragen werden [Bart03, S.16f.; Enge04, S.20f.; MüDa05, S.14f.; Voss06]. Zusätzlich wird ein Flexibilitätsgewinn erreicht. Durch die breitere Mengenbasis der vielen beteiligten Akteure kann auf ein umfassenderes Angebot an Zusatzleistungen zurückgegriffen werden, als es für einen einzelnen Akteur mit vergleichbarem Aufwand möglich wäre. Ausgleich von Mengenschwankungen
Durch das MUC ergibt sich die Möglichkeit, Mengenschwankungen über alle Akteure auszugleichen [Vahr05, S.96]. Dies bezieht sich sowohl auf Flächen- als auch Personalbedarfe. Der einzelne Akteur kann folglich in Spitzenzeiten auf gemeinsame Ressourcen zurückgreifen, ohne zusätzliche Fixkosten o. Ä. aufbauen oder Zeitarbeit eingreifen zu müssen. Insbesondere können über ein MUC auch Saisonalitäten gut aufgefangen werden. Dies gilt neben den Lager- und Umschlagsprozessen ebenso für Zusatzleistungen. Auch dieser Vorteil ist durch ein Outsourcing der Leistungen an einen Dienstleister zu erreichen. Jedoch bieten sich im Rahmen eines MUC kettenweit mehr Vorteile, da der Dienstleister in der Lage ist, gezielt über feste Kunden und Bedarfe auszugleichen. Die Anforderungen und Abläufe der einzelnen Akteure sind im Vergleich zu bisherigen Logistikzentren planvoller aufeinander abgestimmt und haben den gleichen (Branchen-) Hintergrund. Durch die Möglichkeit, Mengen, Flächen und Personal ausgleichen zu können, wird auch ein Zuwachs an Flexibilität erreicht. Dadurch, dass zahlreiche Serviceleistungen gemeinsam über einen Dienstleister genutzt werden, muss der einzelne Akteur weniger fixe Ressourcen bereit halten und ist damit weniger gebunden. Sind beispielsweise Samstagsschichten notwendig, müsste ein einzelner Akteur u. U. extra Dienstleister einkaufen, während dies im MUC bereits standardmäßig angesetzt sein könnte. Weiterhin ist der einzelne Akteur durch das Vorhalten ausreichender Ressourcen für Spitzen nur mittelfristig in der Lage, auf Mengenschwankungen zu reagieren, da fixe Ressourcen bei abnehmenden Mengen nicht sofort aufgelöst werden können bzw. für den Aufbau kurzfristiger zusätzlicher Ressourcen mindestens Anbahnungskosten o. Ä. notwendig werden und gegebenenfalls – z. B. bei Einstellen von Zeitarbeitern – mit einer anfänglich höheren Fehlerquote gerechnet werden muss.
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Bündelungseffekte
Schließlich ergeben sich mit einem MUC zahlreiche Bündelungsmöglichkeiten im Netz [Lieb91, S.21; Klau85]. Diese sind zunächst vergleichbar mit denen eines klassischen Hubs bzw. Logistikzentrums. D. h. durch den zentralen Verteilpunkt werden gegebenenfalls nicht ausgelastete Direktfahrten vermieden. Kunden können die Lieferungen mehrerer Zulieferer gebündelt abholen. Es ergeben sich kürzere Distanzen, besser ausgelastete LKW und damit eine verringerte Anzahl LKW und tokm sowie sinkende Transportkosten. Zudem können leere Rückfahrten z. B. dadurch aufgehoben werden, dass Leergüter geladen werden. Sind mehr als zwei Akteure beteiligt, ergeben sich unter Umständen weitere Bündelungsmöglichkeiten, indem ein Zulieferer seine Waren ins MUC liefert und auf dem Rückweg wieder selbst benötigte Waren seines Zulieferers mitnimmt. Durch das gemeinsame Ziel „MUC“ und ähnliche, z. B. zeitliche Anforderungen können die Shuttleverkehre der 2nd und 1st Tiers zum MUC als Milkruns gestaltet werden. Die Möglichkeit, Shuttleverkehre mehrerer Zulieferer über Milkruns zu bündeln, bietet neben eventuellen Kosteneinsparungen vor allem Flexibilitätsgewinne. Die Frequenzen der Transportströme können erhöht werden, wodurch flexibler auf Gegebenheiten der Produktion reagiert werden kann. Fährt beispielsweise nur ein Shuttle pro Tag zu einer bestimmten Uhrzeit für einen Akteur und gibt es in der Produktion unerwartete Verzögerungen, so werden heute oft teure „Sprinterfahrten“ organisiert, um den Zeitplan der Shuttleverkehre nicht durcheinander zu bringen, andererseits aber die Kundenanforderungen zu erfüllen. Durch die Bündelung dieser Shuttleverkehre über Milkruns, bieten sich für verspätete Produkte zusätzliche „günstige Mitnahmemöglichkeiten“. Gleiches gilt für das Vorstauen von Containern o. Ä. Durch die Beteiligung mehrere Akteure in einem MUC wird beispielsweise täglich ein Container voll statt nur alle drei Tage. Auch hierdurch werden die Frequenz und damit die Flexibilität erhöht. Direkte Kommunikation
Schließlich ergibt sich durch die Zentralisierung der Waren- und Lagerströme vieler Akteure im MUC eine Reduktion der Quellen und Dienstleister. Dadurch sind die Akteure der Wertschöpfungskette direkter miteinander vernetzt und können bei Bedarf eine bessere, schnellere und gezielte Kommunikation pflegen.
3.2.1 Supra-adaptive Netzgestaltung durch Muti-User-Center
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Kosten werden dadurch gespart, dass sich der Aufwand für Auftragsanbahnung, Abstimmung und Abwicklung verwaltungstechnischer Prozesse, der je Geschäftsbeziehung notwendig ist, durch die verminderte Anzahl an Schnittstellen verringert. Da die Kommunikation direkt erfolgen kann, ohne mehrere Dienstleister und Akteure separat ansprechen zu müssen, kann im Bedarfsfall auch schneller reagiert werden bzw. Prozesse können flexibler angepasst werden. Grenzen
Neben den Nutzeneffekten, die die Etablierung eines MUC mit sich bringt, gibt es bezüglich Kostenersparnis und Flexibilitätsgewinn auch einige kritische Aspekte: Den bisher erläuterten theoretischen Kosteneinsparungen ist jeweils der zusätzliche Aufwand durch den Betrieb des MUC entgegen zu stellen. Hierfür werden anteilig sowohl Lager- als auch Umschlagskosten auf alle beteiligten Akteure verrechnet. Auch das Etablieren eines MUC bringt zunächst erhebliche Transaktionskosten mit sich. Die Absprachen zwischen den Akteuren sowie deren teilweise vertragliche Fixierung sind hier zu nennen. Da in einem MUC definitionsgemäß Konkurrenten aufeinander treffen, wird im Hinblick auf die gegenseitige Kommunikation sowie die Regeln zur gesamten Auftragsabwicklung eine Reihe von Rahmenbedingungen vertraglich fixiert werden müssen. Dies könnte teilweise zu einer Einschränkung der neu gewonnenen Flexibilität führen. Beurteilung durch die Praxis Aus Sicht einer Expertengruppe aus der Praxis automobiler Zulieferer und Dienstleister ist es nicht möglich, den potenziellen Nutzen vorab in Zahlen auszudrücken. Hierzu müssten zu viele Annahmen und Schätzungen aufgestellt werden bzw. es gibt zu viele Unbekannte. Beispielsweise können die Kosten in einem MUC ebenso wie mögliche Skaleneffekte dort nur geschätzt werden. Auch ist eine quantitative Beurteilung der Vereinbarkeit der Warenströme der Partner ohne detaillierte Einblicke in deren Datenbasis nicht möglich. Dennoch schätzt die Expertengruppe den Nutzen und die Erfolgsversprechen eines MUC sehr positiv ein. Große Vorteile verspricht sich diese durch die Möglichkeit, verstärkt Ganzzüge zu fahren. Allein auf der Inbound-Seite wird dabei mit einem Potenzial von bis zu 15% gerechnet. Auch den durch gebündelte bzw. gemeinsame Transporte entstehenden erhöhten Frequenzen von Abholungen und den damit vermiedenen
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A. Roth
Sprinterfahrten wird hohes Potenzial zugesprochen. Derartige Sonderfahrten mit extra Fahrzeugen aufgrund von unvorhergesehenen Verzögerungen z. B. in der Produktion machen pro Jahr einen zweistelligen MillionenBetrag aus.
Voraussetzungen für die praktische Umsetzung und mögliche Hindernisse Zur Umsetzung der Idee des MUC bzw. eines Prototypen sind einige Voraussetzungen zu beachten. Zum einen ist die Ähnlichkeit der Partner von ausschlaggebender Bedeutung. Dabei geht es weniger um eine Ähnlichkeit der Teile, als um gleichartige Prozesse und Besonderheiten einer Branche. Die Automobilbranche ist beispielsweise gekennzeichnet durch eine überschaubare Zahl an OEM, durch definierte Volumenströme, Forecasts, VDA-Label, die Anforderung der Rückverfolgbarkeit und eine ähnliche IT-Logik in den verschiedenen Unternehmen. Zusätzlich muss die Kunden- und/oder Lieferantenstruktur der im MUC beteiligten Akteure ähnlich sein. Dabei ist auch ein regionaler Fokus von Bedeutung. Es muss möglich sein, sogenannte Gravitationszentren zu finden, die zwischen den wichtigen Knoten der Akteure als Schwerpunkt ermittelt werden können. Eine weitere wichtige Voraussetzung ist ein Regelwerk, nach welchem die verschiedenen – zum Teil konkurrierenden – Akteure im MUC zusammen arbeiten. Dabei sind z. B. Minimumbestände zu vereinbaren, über die hinaus das Selbstbedienungskonzept der Kunden begrenzt ist. Damit muss eine Grundversorgung der anderen Akteure sicher gestellt werden. Auch sollte es ein Nutzergremium geben, in welchem Absprachen und Entscheidungen gemeinsamer Belange, wie z. B. die Hinzunahme oder Ablehnung weiterer Akteure getroffen werden. Hindernisse für die Umsetzung eines MUC sind insbesondere darin zu sehen, dass das Konkurrenzdenken der beteiligten Akteure zu starkes Gewicht hat. Dadurch werden entscheidende gemeinsame Synergien verhindert, wie gemeinsame Milkruns, gemeinsame Lagerung gleicher oder ähnlicher Teile oder der Ausgleich von Mengenschwankungen. Auch das „Umfahren“ des MUC, indem Akteure in großem Maß doch andere Logistikzentren nutzen oder eigene Verkehre organisieren, würde den Nutzen des MUC mindern. Ein weiteres Hindernis zur Realisierung der Erfolgsversprechen wäre das Bestehenlassen der produktionsnahen Lagerstufen bei den Zulieferern und damit eine inkonsequente Umsetzung der einstufigen Lagerhaltung.
3.2.1 Supra-adaptive Netzgestaltung durch Muti-User-Center
257
Literatur [ArIs02] [Bart03] [Baue02] [Bohr96] [BoKl86] [Enge04] [HuMä99] [Jaco89]
[KaBl05]
[Klau85]
[KlKr98] [KlKr04] [Lieb91] [MüDa05] [Sima99] [Vahr05] [Voss06]
Arnold, D.; Isermann, H.; Kuhn, A.; Tempelmeier, H.: Handbuch Logistik. Heidelberg, 2002. Barth, T.: Outsourcing unternehmensnaher Dienstleistungen. Frankfurt am Main, 2003. Bauer, A.: Lagermodellierung für logistische Netze – Das „modulare Knotenmodell“ als Konzept zur dynamischen Abbildung von Lagern in Netzen. Hamburg, 2002. Bohr, K.: Economies of Scale and Economies of Scope. In: Kern, W.; Schröder, H. H.; Weber, J. (Hrsg.): Handwörterbuch der Produktionswirtschaft. 2. Aufl., Stuttgart, 1996, S.375-387. Bowersox, D; Closs, D.; Helferich, O.: Logistical Management – A Sytem Integration of Physical Distribution, Manufacturing Support and Materials Procurement, New York, 1986. Engelbrecht, C.: Logistikoptimierung durch Outsourcing - Erfolgswirkung und Erfolgsfaktoren. Wiesbaden, 2004. Hummel, S.; Männel, W.: Kostenrechnung. Band 1: Grundlagen, Aufbau und Anwendung. Nachdruck der 4. Auflage, Wiesbaden 1999. Jacob, H.: Flexibilität und ihre Bedeutung für die Betriebspolitik. In: Adam, D.; Backhaus, K.; Meffert, H.; Wagner, H.: Integration und Flexibilität. Eine Herausforderung für die allgemeine Betriebswirtschaftslehre. Wiesbaden, 1989, S.15-60. Kaluza, B.; Blecker, Th.: Flexibilität – State of the Art und Entwicklungstrends. In: Kaluza, B.; Blecker, Th. (Hrsg.): Erfolgsfaktor Flexibilität – Strategien und Konzepte für wandlungsfähige Unternehmen. Berlin, 2005, S.1-28. Klaus, P.: Nabe/Speiche Verkehrssysteme: Chancen für Kostenund Serviceverbesserungen in flächendeckenden Linienverkehren. In: Kooperation zwischen Verladern und Verkehrsbetrieben. GVB-Schriftenreihe, Heft 17, Frankfurt, 1985, S.31-62. Klaus, P.; Krieger, W.: Gabler Logistik Lexikon. Wiesbaden, 1998. Klaus, P.; Krieger, W.: Logistik Lexikon, Wiesbaden, 2004. Liebmann, H. P.: Struktur und Funktion moderner Warenverteilzentren. In: Zentes, J. (Hrsg.): Moderne Distributionskonzepte in der Konsumgüterwirtschaft. Stuttgart, 1991. Müller-Dauppert, B.: Logistik-Outsourcing. München, 2005. Simacek, K.: Vendor Managed Inventory (VMI) - Oder wer in der Zukunft disponieren sollte. In: von der Heydt, A.: Handbuch Efficient Consumer Response. München, 1999. Vahrenkamp, R.: Logistik Management und Strategien. 5. Auflage, München, 2005. Voss, H.: Logistik-Outsourcing in der Automobilindustrie – Eine Untersuchung zur Flexibilität. Nürnberg, 2006.
3.2.2 Ausschreibungen von Logistikdienstleistungen: Gegenüberstellung von Industrie- und Logistikdienstleister-Sicht
P. Precht
Herausforderung Ausschreibung Outsourcing als Treiber Im Zuge des anhaltenden Trends zum Outsourcing logistischer Funktionen müssen sich viele Unternehmen der großen Herausforderung „Ausschreibungen von Logistikdienstleistungen“ stellen [MüDa05, S.24ff., S.33ff.]. Dieser Beitrag richtet sich „ganzheitlich“ an die beteiligten Akteure, d. h. an die verladenden Industrieunternehmen wie auch an Logistikdienstleister, die Unterstützung im immer komplexeren Ausschreibungsprozess benötigen und auf eine strukturierte Vorgehensweise angewiesen sind. Wegen des zunehmenden Wettbewerbs auf sämtlichen Ebenen und der erheblich verkürzten „Time to Market“ [GeHe07, S.11; Beck05, S.9ff.; GöGr06, S.130ff.; MaMe03, S.13] erkennen immer mehr Industrieunternehmen das Outsourcing von logistischen Funktionen als einen Lösungsbaustein zur Erreichung drei wesentlicher Ziele: Konzentration auf Kernkompetenzen, Senkung der Logistikkosten und Steigerung der Flexibilität [Voss06, S.22f.; Bart03, S.13ff.]. Da das Outsourcing von Logistikleistungen als ein mögliches Erfolgskonzept im sich verschärfenden Wettbewerb anerkannt ist [Enge04, S.284; Gebh06, S.26; Bart03, S.13ff.; MüDa05, S.14ff.] und dadurch die Anzahl und die Komplexität der Ausschreibungen zunehmen, bedarf es einer effizienten und geregelten Vorgehensweise bei der Ausschreibung von Logistikleistungen – sowohl für das ausschreibende Unternehmen als auch für den Ausschreibungsempfänger.
260
P. Precht
Wesentliche Probleme beim Umgang mit Ausschreibungen Die Herausforderungen der Ausschreibung werden von vielen Industrieunternehmen unterschätzt. Insbesondere die Neuausschreibung komplexer Logistikprozesse bedarf einer sorgfältigen Planung und Durchführung. Daher ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen den zentralen Punkten eines Outsourcing-Projektes: Ressourcenknappheit, Missverständnisse zwischen Verladern und Logistikdienstleistern hinsichtlich des OutsourcingUmfangs, Ineffizienzen in der Bearbeitung durch fehlende Kenntnisse und Marktintransparenz sowie unterschiedliche Erwartungshaltungen hinsichtlich des Projekterfolgs. Zu den wesentlichen Problemfeldern gehören vor allem die unzureichenden Prozessbeschreibungen aus Sicht der Logistikdienstleister in den Ausschreibungsunterlagen (Request for Information (RFI) / Request for Quotation (RFQ)) und die regelmäßigen Mengen- und Volumenschwankungen, die zu falschen Annahmen bzgl. künftiger Bedarfe bei den verladenden Unternehmen führen. Des Weiteren herrscht in aller Regel ein sehr unterschiedliches Verständnis hinsichtlich der Formulierung des RFI und der Anpassung der Outsourcingtiefe im Projektverlauf. Dadurch kann es zu unklaren Abrechungsmodalitäten kommen. Erschwerend für die Logistikdienstleister kommt hinzu, dass sie zahlreiche unterschiedliche Anfragen zur Beteiligung an Ausschreibungen erhalten. Dies führt zu vermehrter Kommunikation, d. h. es wird für den Logistikdienstleister immer schwieriger, Missverständnissen und Abstimmungsproblemen vorzubeugen und diese zu beseitigen. Zudem steigt die Komplexität in der Bearbeitung von Ausschreibungen. Ausgeschriebene Leistungen werden immer spezieller und unterschiedlicher, so dass sehr spezifisches Know-how der Logistikdienstleister gefragt ist. Ein weiteres erhebliches Problem in der Praxis sind die teilweise gegensätzlichen Ziele von Industrie und Logistikdienstleister, da die Bearbeitung der Ausschreibung völlig unabhängig und „nebeneinander“ abläuft. Die eigenen Interessen beider Parteien stehen im Vordergrund. Die Industrie strebt auf der einen Seite einen möglichst standardisierten Ablauf der Ausschreibung an, um verschiedene Anbieter besser vergleichbar machen zu können. Die Logistikdienstleister auf der anderen Seite sind bemüht, sich gegenüber der Konkurrenz durch ein möglichst individuelles Angebot und Vorgehen den entscheidenden Vorteil zu verschaffen. Als Folge dieser konträren Absichten ergeben sich für beide Seiten ein steigender Abstimmungsaufwand und zunehmende Missverständnisse, die in einer erhöhten zeitlichen Belastung resultieren.
3.2.2 Ausschreibung von Logistikdienstleistungen
261
Ganzheitliche Betrachtungsweise als ein möglicher Lösungsweg Die an dieser Stelle angestrebte gleichzeitige Betrachtung von Industrieund Logistikdienstleister-Sicht verdeutlicht die Problemursachen bei Ausschreibungen und die Missverständnisse, die sich aus den unterschiedlichen Erwartungshaltungen ergeben. Es wird aufgezeigt, wie der Ausschreibungsprozess beschleunigt werden kann, indem Ressourcen und Kapazitäten zur Bearbeitung von Ausschreibungen entlastet und Abläufe standardisiert werden. Die Problemsensibilisierung der Bearbeiter soll auf beiden Seiten stattfinden und den Rücklauf der Angebote sowie die Qualität erhöhen, indem das Thema „Ausschreibungen von Logistikdienstleistungen“ ganzheitlich und somit die jeweils „andere Perspektive“ im Ausschreibungsprozess explizit betrachtet werden.
Arten von Ausschreibungen: Abgrenzung zweier Szenarios Da sich Ausschreibungen erheblich voneinander unterscheiden, besteht die Notwendigkeit einer Fallunterscheidung. Als Unterscheidungsmerkmale werden einerseits die „Art der Leistung“ und andererseits, die „Art der Ausschreibung“ zu Grunde gelegt. Bei der Art der auszuschreibenden Leistung sind der Einfachheit halber lediglich zwei Leistungsarten zu unterscheiden. Zum einen „standardisierte Leistung“, wie beispielsweise ein Transport, und zum anderen „individuelle Leistung“, wie beispielsweise eine komplexe Lagerbewirtschaftung. Die beiden Leistungen grenzen sich dahingehend voneinander ab, als dass sich die Standardleistung von Kunde zu Kunde nur marginal unterscheidet und kein individuelles „Problemlösungs-Know-how“ oder besondere Investitionen nötig sind. Hingegen ist die individuelle Leistung je nach Kunde sehr unterschiedlich und es bedarf für jeden Leistungsempfänger einer neu generierten eigenen Problemlösung. Bei der Ausschreibungsart ist grundsätzlich zu unterscheiden, ob es sich um eine „erstmalige“ oder eine „erneute“ Ausschreibung handelt. Unter einer erstmaligen Ausschreibung ist eine Leistung zu verstehen, die bisher durch das outsourcende Unternehmen selbst oder noch nicht erbracht wird. Hingegen beschreibt der Begriff erneute Ausschreibung eine Leistung, die bereits ein Logistikdienstleister erbringt. Aus den beiden Unterscheidungsmerkmalen ergibt sich ein breites Spektrum von Ausschreibungsszenarios, wie in der nachstehenden Abbildung 1
262
P. Precht
verdeutlicht. Im Weiteren werden zwei Extreme betrachtet: Szenario I: eine verkürzte Ausschreibung und Szenario II: eine komplexe Ausschreibung. Art der Leistung
verkürzte Ausschreibung
Standard Leistung (z.B. Transport)
Individuelle Leistung (z.B. komplexes Lager)
komplexe Ausschreibung
Erstmalige Ausschreibung
Erneute Ausschreibung
Art der Ausschreibung
Abbildung 1: Ausschreibungsszenarios
Szenario I: Verkürzte Ausschreibungen Szenario I, die verkürzte Ausschreibung, differenziert sich hinsichtlich „Art der Leistung“ und „Art der Ausschreibung“. Es handelt sich hierbei um eine standardisierte Leistung, die bereits fremdvergeben ist und erneut ausgeschrieben wird. Die Leistung ist durch klare Vorgaben des Auftraggebers gekennzeichnet. In der Regel stehen die Prozesse weitgehend fest und dadurch besteht nur sehr geringer Spielraum für eigene Ideen und Lösungsvorschläge des Logistikdienstleisters. Szenario II: Komplexe Ausschreibungen Szenario II, die komplexe Ausschreibung, differenziert sich ebenfalls hinsichtlich „Art der Leistung“ und „Art der Ausschreibung“. Jedoch handelt es sich hierbei um eine kundenindividuelle, komplexe Leistung, die erstmalig ausgeschrieben wird. Entweder erbringt das Industrieunternehmen die Leistung bisher in Eigenregie oder es handelt sich um eine Leistung, die bis dato noch nicht durchgeführt wurde, ein sogenanntes Projekt auf „grüner Wiese“. Szenario II zeichnet sich dadurch aus, dass nur wenige Vorgaben durch das Industrieunternehmen gemacht werden und der Logistikdienstleister somit relativ „freie Hand“ bei der Prozess-Generierung hat.
3.2.2 Ausschreibung von Logistikdienstleistungen
263
Ausschreibungsprozess als Basis zur Standardisierung Eine zentrale Herausforderung von Ausschreibungen ist es, Ansätze zur Standardisierung aufzuzeigen. Je nach Szenario lässt sich eine Ausschreibung unterschiedlich gestalten. Einer Expertengruppe führender Zulieferunternehmen und Logistikdienstleister erscheint es daher sinnvoll, ein Prozessverständnis der Abläufe einer Ausschreibung zu schaffen. Aus diesem Grund wird in Zusammenarbeit mit der Praxis ein Ausschreibungsprozess definiert. Der Ausschreibungsprozess berücksichtigt sämtliche Industrieund Logistikdienstleister-Prozesse als auch Prozesse, an denen beide Akteure beteiligt sind. Im Zuge der Best Practice Analysen konnten diese beiden Sichtweisen in einem Ausschreibungsprozess zusammengefasst werden. Diese Art der Darstellung ermöglicht erstmals eine ganzheitliche Betrachtung einer Ausschreibung. Dadurch gelingt es, die jeweils andere Seite hinsichtlich der erforderlichen Aktivitäten zu sensibilisieren, um erforderliche Informationen oder Daten möglichst proaktiv bereitstellen zu lassen. Der gesamte Ausschreibungsprozess, der je nach Ausschreibung bis zu 18 Monaten dauern kann, wird damit beschleunigt. Dieser „ganzheitliche“ Ausschreibungsprozess erstreckt sich über 13 einzelne Prozessschritte, wie in Abbildung 2 deutlich wird. 1
OutsourcingEntscheidung
Grobauswahl Outsourcingpartner
8
2 Formulierung RFI/Lastenheft
7
Eingang RFI & Bewertung / Selektion DL
16 DL-Selektion & Vertragsunterzeichnung
Eingang RFI
6
Entwicklung Lösungsansätze (RFI)
9 Formulierung RFQ
3
15 Preis- & Vertragsverhandlung
5
Kapazitätsprüfung
10 Eingang RFQ
4 Austausch ergänzender Informationen
Beurteilung Ernsthaftigkeit d. Ausschreibung
11 Bewertung IST-Situation
14 Eingang Angebot (RFQ)/ Bewertung/ Selektion DL
12 Offene Fragerunde (RFQ)
13 Angebotserstellung (RFQ) /LOI
Industrie-Prozess Dienstleister-Prozess
Abbildung 2: Der „ganzheitliche“ Ausschreibungsprozess
264
P. Precht
Skizzierung der Ausschreibungs-Prozesse Ist die Outsourcing-Entscheidung getroffen und der Outsourcing-Bedarf auf Seiten der Industrie festgelegt, müssen potenzielle Dienstleistungspartner ermittelt und die Unterlagen für das Lastenheft erstellt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die notwendigen Informationen zur Beschreibung des Ausschreibungsumfangs in einem Request for Information (RFI) an die Logistikdienstleister verteilt werden können. Die Betreuung der Logistikdienstleister und die Bewertung der eingehenden Interessensbekundungen sind Voraussetzungen, um jene Logistikdienstleister zu selektieren, die in der nächsten Runde bei der konkreten Angebotserstellung teilnehmen sollen. Im Request for Quotation (RFQ) werden dann konkrete Daten, wie Mengenströme sowie Strukturen aufgeführt und dem Logistikdienstleister zur Erstellung des Angebots zur Verfügung gestellt. Bevor ein Logistikdienstleister den Zuschlag erhält, gilt es, offene Fragen zu klären und abschließend die Preis- und Vertragsverhandlungen durchzuführen. Diesen Prozessen der Industrieunternehmen stehen diejenigen der Logistikdienstleister gegenüber. Die Logistikdienstleister müssen nach Eingang der Unterlagen gegebenenfalls ergänzende Informationen anfordern und die Ernsthaftigkeit der Anfrage prüfen. Daneben müssen die Ressourcen zur Betreuung der Ausschreibung vorhanden sein, um erste Lösungskonzepte für den RFI zu entwickeln. Im weiteren Verlauf erfolgt die Bewertung der gegenwärtigen Situation für den RFQ, wozu gegebenenfalls Rückfragen beim outsourcenden Unternehmen erforderlich sind. Nach Abgabe des Angebots ist der Logistikdienstleister aufgefordert, sich an den Preis- und Vertragsverhandlungen zu beteiligen, ehe er mit der Umsetzung des Projekts betraut wird. Einen Mehrwert bezüglich Flexibilität und Effizienz im Zuge der Phase Ausschreibung stellt weiterhin die Optimierung einzelner Teilprozesse dar. Die Beschleunigung insbesondere der Iterationsschleifen zwischen offener Fragerunde und finaler Eingrenzung der Logistikdienstleister verringert beispielsweise die Dauer des Ausschreibungsprozesses deutlich. Entsprechende Maßnahmen zur Beschleunigung und Flexibilisierung des Ausschreibungsprozesses werden im letzten Abschnitt – Handlungsempfehlung – zusammengestellt. Die Skizzierung von Gestaltungsempfehlungen erfolgt dabei sowohl für Industrieunternehmen als auch für Logistikdienstleister.
3.2.2 Ausschreibung von Logistikdienstleistungen
265
Besonderheiten der Prozesse bei den Szenarios Der dargestellte ausführliche Ausschreibungsprozess ist nicht für jede Art der Ausschreibung und Art der Leistung notwendig. Vielmehr ist der ganzheitliche Prozess je nach Szenario anzupassen. Im Szenario I, der „verkürzten Ausschreibung“, ist der Ausschreibungsprozess zu kürzen. Jedoch führen die strikten Vorgaben seitens der Industrieunternehmen dazu, dass einige Prozessschritte, wie in Abbildung 3 ersichtlich, nicht zu vernachlässigen sind. 1
OutsourcingEntscheidung
Grobauswahl Outsourcingpartner
8
2 Formulierung RFI/Lastenheft
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Eingang RFI & Bewertung / Selektion DL
Formulierung RFQ
16 DL-Selektion & Vertragsunterzeichnung
Eingang RFI
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Entwicklung Lösungsansätze (RFI)
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Eingang RFQ
15 Preis- & Vertragsverhandlung
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Kapazitätsprüfung
10
4 Austausch ergänzender Informationen
Beurteilung Ernsthaftigkeit d. Ausschreibung
11 Bewertung IST-Situation
14 Eingang Angebot (RFQ)/ Bewertung/ Selektion DL
12 Offene Fragerunde (RFQ)
13 Angebotserstellung (RFQ) /LOI
Industrie-Prozess Dienstleister-Prozess
Abbildung 3: Der „verkürzte“ Ausschreibungsprozess
Der Logistikdienstleister erstellt bei einer Standardleistung ein konkretes Angebot in Form eines RFQ und Lastenheftes, ohne zuvor einen RFI formulieren zu müssen. Des Weiteren kann auf Grund der klar definierten Leistung auf den aufwändigen und vor allem zeitintensiven Austausch von ergänzenden Informationen verzichtet werden. Ebenso ist der Prozessschritt „Beurteilung Ernsthaftigkeit der Ausschreibung“ aus Logistikdienstleister-Sicht zu vernachlässigen. Auf Grund einer hohen Transparenz der Marktpreise [MeKr02, S.82] von logistischen Standardleistungen besteht für die Industrieunternehmen keine Notwendigkeit, diesen über eine Ausschreibung in Erfahrung zu bringen. Die aufwändige Kapazitätsprüfung auf Seiten der Logistikdienstleister ist ebenso hinfällig, da bei Standardleistungen die benötigten Kapazitäten relativ zuverlässig und genau
266
P. Precht
abgeschätzt werden können. Aufgrund des Rückgriffs auf bereits vorhandene RFI bei der Entwicklung von Lösungsansätzen, kann i. d. R. dieser Schritt gleichermaßen vernachlässigt werden. Durch die Kürzung des Ausschreibungsprozesses aus Gesamt-Sicht um die Schritte zwei bis sieben ist eine effizientere und deutlich schnellere Bearbeitung der Ausschreibung für die beteiligten Akteure möglich. Im Szenario II, der „komplexen Ausschreibung“, ist eine ausführliche Bearbeitung notwendig. Wegen der kundenindividuellen Logistikleistung, die erstmalig ausgeschrieben wird, sind sämtliche Prozessschritte des Ausschreibungsprozesses zu beachten. Hier bestehen keine Möglichkeiten, einzelne Schritte auf Grund von fest definierten Vorgaben oder Erfahrungswerten zu vernachlässigen.
Szenariospezifische Ausgestaltungsalternativen der Ausschreibungsprozesse Die Ausgestaltung der Prozesse erlaubt je nach Szenario unterschiedliche Ausprägungen. Zur Verdeutlichung werden grundsätzliche Ausprägungsalternativen der Prozessschritte aufgezeigt. Dabei ist nach der Sichtweise (Industrie- und Logistikdienstleister-Sicht) und den Szenarios (verkürzte und komplexe Ausschreibung) differenziert, wobei mögliche Extreme je nach Szenario aufgezeigt sind. Die einzelnen Ausprägungen der Prozessschritte haben entsprechende Auswirkungen auf die beteiligten Akteure der anderen Seite. So soll versucht werden, dem Anspruch der „Ganzheitlichkeit“ gerecht zu werden, die Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen gegenüberzustellen und die andere Seite zu sensibilisieren. Identifikation geeigneter Ausprägungen des Ausschreibungsprozesses Beispielsweise kann die Bewertung des eingegangenen RFI beim Industrieunternehmen und die Selektion des Logistikdienstleisters einerseits sehr detailliert mit Hilfe einer Nutzwert-Analyse durchgeführt werden. Andererseits besteht die Möglichkeit, den neuen Logistikdienstleister lediglich durch einen einfachen Kriterienkatalog zu bewerten und letztlich „spontan“ zu entscheiden. Üblicherweise nutzen die Verlader bei einer „verkürzten Ausschreibung“ (Szenario I) den weniger aufwändigeren Weg über einen Kriterienkatalog. Bei einer komplexen, hoch individuellen Logistik-
3.2.2 Ausschreibung von Logistikdienstleistungen
267
leistung (Szenario II) wird i. d. R. die aufwändige und detaillierte Nutzwert-Analyse zur Entscheidungsfindung herangezogen. Als Beispiel aus Logistikdienstleister-Sicht kann der Prozessschritt „Bewertung der Ist-Situation“ genannt werden. Die Prozessaufnahme geschieht mit Hilfe von zur Verfügung gestellten Unterlagen oder durch eine vor Ort-Besichtigung. Bei standardisierten Logistikleistungen empfiehlt es sich, das Unterlagen-Studium heranzuziehen und bei komplexen, individuellen Leistungen, die Prozesse vor Ort beim Kunden aufzunehmen. Ableitung potenzieller Auswirkungen des Ausschreibungsprozesses Die Auswirkungen der genannten Prozessanpassungen (Ausprägungen) sind ebenfalls nach den Szenarios differenziert zu betrachten. Im Fall des Industrieprozesses „Bewertung RFI & Bewertung / Selektion DL“ können die Auswirkungen für die Gegenseite – hier die Logistikdienstleister – folgendermaßen aussehen: Die Bewertung des RFQ und die Selektion des Logistikdienstleisters über eine detaillierte und aufwändige NutzwertAnalyse sind bei einer komplexen Ausschreibung tendenziell eine „richtige“ Entscheidung. Das Risiko, wichtige und entscheidende Aspekte unbeachtet zu lassen, ist bei einem einfachen Kriterienkatalog und einer „Spontanentscheidung“ weitaus höher einzustufen als bei einer NutzwertAnalyse. Jedoch muss bei einer Standardleistung eine einfache Bewertung nach einem Kriterienkatalog nicht zwingend zu einer falschen Entscheidung führen. Die Möglichkeiten der „Bewertung der Ist-Situation“ der Logistikdienstleister haben verschiedene Auswirkungen auf die Industrieunternehmen. Die Prozessaufnahme durch ein Unterlagenstudium führt bei einer komplexen, individuellen Dienstleistung tendenziell zu einem „schlechten“, ein vor Ort Besuch zu einem „guten“ Angebot. Währenddessen können für eine einfache Transportleistung detaillierte Unterlagen zur Bewertung der Ist-Situation ausreichen. Die beiden Ausführungen sollen deutlich machen, dass sich durch eine ganzheitliche Betrachtung mögliche Fehlerquellen und Missverständnisse proaktiv verhindern lassen. Zudem kann die Qualität der Angebote erhöht und der gesamte Ausschreibungsprozess beschleunigt werden.
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P. Precht
Handlungsempfehlungen zur Unterstützung logistischer Ausschreibungen Aus den aufgezeigten Schwierigkeiten bei Ausschreibungen einerseits und den Auswirkungen der verschiedenen Ausprägungen der Prozessschritte andererseits lassen sich Handlungsempfehlungen für Industrieunternehmen und Logistikdienstleister ableiten, die differenziert zu betrachten sind. Handlungsempfehlungen für Industrieunternehmen Szenario I: verkürzte Ausschreibung
Beim Ausschreibungsprozess von standardisierten Logistikdienstleistungen ist ein hohes Potenzial an Standardisierung vorhanden. Es ist darauf zu achten, dass möglichst viele, unkritische Schritte eliminiert bzw. vereinfacht werden, um den Prozess effizienter zu gestalten und zu beschleunigen. Industrieunternehmen sollten insbesondere folgende Punkte beachten: • Nur mit einer gewissen Freiheit für den Logistikdienstleister erhält die Industrie, auch bei einer Standardleistung, ein individuelles Angebot. • Ein online-basierter RFQ ermöglicht eine effiziente und schnelle Bearbeitung. • Die ausführliche Beantwortung der offenen Fragen im persönlichen Gespräch tragen dazu bei, ein fundiertes Angebot zu erhalten. • Kompromissbereitschaft bei der Preis- und Vertragsverhandlung ermöglicht dem Logistikdienstleister, ein „realistisches“ Angebot zu erstellen. Szenario II: komplexe Ausschreibung
Bei komplexen Ausschreibungen von kundenindividuellen logistischen Leistungen bestehen für Industrieunternehmen wenige Möglichkeiten zur Standardisierung. Vielmehr liegen die Ansätze für einen reibungsloseren Ablauf der Ausschreibung im vorausschauenden Handeln der verladenden Unternehmen. Da sich Industrieunternehmen bereits im Vorfeld mit den möglichen Schwierigkeiten auf Seiten der Logistikdienstleister vertraut machen, können der Abstimmungsaufwand und mögliche Missverständnisse auf ein Minimum reduziert werden. Um das zu erreichen, ist den nachstehenden Empfehlungen Beachtung zu schenken: • Die Formulierung des RFI sollte bereits mit ausführlichen Daten, Mengen und Prozessen belegt sein.
3.2.2 Ausschreibung von Logistikdienstleistungen
269
• Der Bedarf an ergänzenden Informationen seitens der Logistikdienstleister sollte gedeckt werden, da nur dann eine umfassende Basis zur Angebotserstellung gewährleistet ist. • Nur mit einer gewissen Freiheit für den Logistikdienstleister erhält die Industrie ein individuelles Angebot. • Ein online-basierter RFQ ermöglicht eine effiziente, schnelle Bearbeitung. • Die ausführliche Beantwortung der offenen Fragen im persönlichen Gespräch tragen dazu bei, ein fundiertes Angebot zu erhalten. • Kompromissbereitschaft bei der Preis- und Vertragsverhandlung ermöglicht dem Logistikdienstleister, ein „realistisches“ Angebot zu erstellen. Handlungsempfehlungen für Logistikdienstleister Szenario I: verkürzte Ausschreibung
Für Logistikdienstleister bestehen weitaus weniger Ansatzpunkte zur Standardisierung und Beschleunigung des Ausschreibungsprozesses. Sie nehmen im gesamten Vorgehen eine reaktive Position ein. Lediglich bei der Angebotserstellung kann der Ausschreibungsprozess von Seiten der Logistikdienstleister beeinflusst werden. Bei einer Ausschreibung von Standardlogistikleistungen sind zwei wesentliche Punkte zu berücksichtigen: • Ein Angebot mit standardisierten, schnell zu vergleichenden Antworten erhöht die Erfolgschancen, den Zuschlag der Ausschreibung zu erhalten. • Kompromissbereitschaft bei der Preis- und Vertragsverhandlung erhöht die Erfolgschancen, den Zuschlag der Ausschreibung zu bekommen. Szenario II: komplexe Ausschreibung
Ähnlich sehen die Empfehlungen für Logistikdienstleister bei komplexen Ausschreibungen von kundenindividuellen Dienstleistungen aus. Sie konzentrieren sich ebenfalls auf die Phase der Angebotserstellung: • Der Logistikdienstleister sollte vor der Angebotsabgabe seine Kapazitäten genau prüfen, ob er die Leistung langfristig erbringen kann. • Durch individuelle, kreative Lösungsansätze steigen die Chancen, den Zuschlag der Ausschreibung zu erhalten. • Die Bewertung der Ist-Situation sollte vor Ort geschehen. • Kompromissbereitschaft bei der Preis- und Vertragsverhandlung erhöht die Erfolgschancen, den Zuschlag der Ausschreibung zu erhalten.
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P. Precht
Die aufgezeigten Handlungsempfehlungen für Industrieunternehmen und Logistikdienstleister sollen dazu beitragen, den beteiligten Akteuren die Wichtigkeit der Beachtung der anderen Seite während des gesamten Ausschreibungsprozesses zu verdeutlichen. Nur durch eine konsequente Berücksichtigung der Bedürfnisse des Geschäftspartners kann möglichen Schwierigkeiten und Missverständnissen vorgebeugt werden. Damit einher geht ein reibungsloserer, effizienter Ablauf eines Outsourcing-Projektes.
Literatur [Beck05] [Bart03] [Enge04] [Gebh06] [GöGr06] [GeHe07] [MaMe03]
[MeKr02] [MüDa05] [Voss06]
Becker, H.: Auf Crashkurs, Automobilindustrie im globalen Verdrängungswettbewerb. Berlin Heidelberg, 2005. Barth, T.: Outsourcing unternehmensnaher Dienstleistungen. Frankfurt am Main, 2003. Engelbrecht, C.: Logistikoptimierung durch Outsourcing – Erfolgswirkung und Erfolgsfaktoren. Wiesbaden, 2004. Gebhardt, A.: Entscheidung zum Outsourcing von Logistikleistungen – Rationalitätsanforderungen und Realität in mittelständischen Unternehmen. Wiesbaden, 2006. Göpfert, I.; Grünert, M.: Logistiktrends in den Wertschöpfungsnetzen der Automobilindustrie. In: Jahrbuch Logistik 2006, S.130-137, Korschenbroich, 2006. Gehr, F.; Hellingrath, B.: Logistik in der Automobilindustrie. Berlin, 2007. Mattes, B.; Meffert, H.; Landwehr, R.; Koers, M.: Die Automobilwirtschaft im Wandel: Bestandsaufnahme und Perspektiven. In: Meffert, H.; Backhaus, K.; Becker, J.(Hrsg.): Arbeitspapier. Wiss. Ges. für Marketing und Unternehmensführung, Münster, 2003. Merkel, H.; Kromer, S.: Virtuelle Frachtbörsen – Top oder Flop? In: Jahrbuch Logistik 2006, Düsseldorf, 2002, S.82-87. Müller-Dauppert, B.: Logistik-Outsourcing, München, 2005. Voss, H.: Logistik-Outsourcing in der Automobilindustrie – Eine Untersuchung zur Flexibilität. Nürnberg, 2006.
3.2.3 Ramp-Up von Kontraktlogistikdienstleistungen
C. Reuter
Die Bedeutung des Ramp-Up für den Projekt- und Unternehmenserfolg Die Kontraktlogistik ist das wachstumsstärkste Marktsegment der Logistik in Deutschland [Menn07, S.2], mit einem prognostizierten Wachstumspotenzial von 10-15% [DaKi04, S.29f.]. Neben wachsenden Bestandsgeschäften trägt der seit Jahren ungebrochene Trend zum Outsourcing von logistischen Dienstleistungen in Industrie und Handel zu diesem Wachstum bei [DaKi04, S.29f.]. Dadurch ist mit einer wachsenden Anzahl von Projektanläufen zu rechnen, bei denen Logistikdienstleister (LDL) entweder erstmalig für einen Auftraggeber bzw. Verlader arbeiten oder auf Basis bereits bestehender Geschäftsbeziehungen zusätzliche Aufgaben übernehmen. Das Outsourcing von logistischen Dienstleistungen bedingt i. d. R. die Änderung von Prozessen, um langfristig Einsparungspotenziale heben zu können [Helm06, S.52]. In der Praxis scheitern jedoch viele Umstrukturierungsversuche, was zu einer Implementierungs- bzw. Umsetzungsrate bei Logistikprojekten von weniger als 80% führt [Helm06, S.52]. Pfohl et al. heben die essenzielle Bedeutung der Realisierungsphase hervor, in der Fehler zum Scheitern von ganzen Logistikkonzepten führen können [PfKe87, S.34]. Engelbrecht [Enge04, S.211] und Pladeck [Plad05, S.70] erwarten von einer kurzen Projekt- und Implementierungsdauer gar positive Effekte auf Projekt- und Unternehmenserfolg. Der Ramp-Up von Kontraktlogistikprojekten gilt als kritische Phase für Dienstleister und Auftraggeber gleichermaßen [Helm06, S.52], findet in der Literatur bislang aber nur wenig Beachtung [Stei96, S.203]. Um dieses Defizit zu verringern, sollen die folgenden Fragen beantwortet werden:
272
C. Reuter
1. Was ist unter dem Ramp-Up von Kontraktlogistikdienstleistungen zu verstehen? 2. Welche Charakteristika weist der Ramp-Up von Kontraktlogistikleistungen in der Praxis auf? 3. Wo lauern in der Praxis Fallstricke, deren Vermeidung zur Optimierung des Ramp-Up beitragen kann?
Begriffsklärung des Untersuchungsgegenstandes Der Begriff „Ramp-Up“ entspringt der englischen Sprache und wird als Verb mit „Hochlaufen“ übersetzt. In der Sachgüterproduktion bezeichnet Ramp-Up den Anlauf eines Serienproduktes und ist damit eine Phase des Produktentstehungsprozesses [KeSc05, S.94]. Darauf aufbauend soll für den Bereich der Kontraktlogistikdienstleistungen der Ramp-Up folgendermaßen definiert werden: Der Ramp-Up von Kontraktlogistikdienstleistungen bezeichnet die Zeitspanne zwischen dem Ende der Produktentwicklung des an den Logistikdienstleister vergebenen Leistungsumfanges und dem Erreichen der vertraglich vereinbarten Leistungsvorgaben zu einem fixierten Termin. Diese Definition, die zur Beantwortung der ersten Frage beiträgt, berücksichtigt die Erkenntnis, dass bei Kontraktlogistikdienstleistungen die Verfügbarkeit der vereinbarten Leistung zu einem fixierten Termin im Mittelpunkt der Handlungen während des Ramp-Up steht. Auf die Klärung des Begriffes "Kontraktlogistikdienstleistung" wird mit Verweis auf die einschlägige Literatur [Gebh06, S.46; GiKo00, S.43; KlKi04, S.252f.] verzichtet.
Charakteristika des Ramp-Up von Kontraktlogistikleistungen in der Praxis Zur Beantwortung der zweiten und dritten Frage wurde eine qualitativdeskriptiven Forschungsstrategie in Form einer Fallstudienforschung gewählt. Diese deskriptive Vorgehensweise ist angebracht, da für dieses Untersuchungsgebiet keine Vorarbeiten vorliegen [Stie99, S.19f.]. Insgesamt neun problemzentrierte Interviews mit Verladern, Dienstleistern und unabhängigen Beratern wurden hierfür durchgeführt (siehe Abbildung 1). Die Gruppe der Verlader umfasst sowohl Zulieferer als auch OEM der Auto-
3.2.3 Ramp-Up von Kontraktlogistikdienstleistungen
273
mobil- und Luft- & Raumfahrtindustrie. Bei den Dienstleistern handelt es sich um international operierende Branchenführer der Kontraktlogistik. Die aus den Interviews gewonnenen Erkenntnisse werden im Folgenden dargestellt.
Abbildung 1: Untersuchungsraum
Die Dauer des Ramp-Up variiert je nach Projektumfang und reicht von wenigen Tagen bis zu mehreren Monaten. Eine Verschiebung des zu Beginn des Projektes definierten Termins ist i. d. R. aus zwei Gründen nicht möglich: • Bisher genutzte Ressourcen, z. B. Mitarbeiter, Lagerhallen etc., stehen ab dem anvisierten Termin nicht mehr zur Verfügung, da sie entweder freigesetzt oder anderweitig eingesetzt werden. • Kapazitätserweiterungen im Zuge des Outsourcing-Projektes müssen der Produktion rechtzeitig zur Verfügung stehen, um sie nicht zu gefährden. Der Ramp-Up ist eine Periode des Lernens und Übens. Erstmals treffen in dieser Phase operative Mitarbeiter und Führungskräfte des Verladers und des LDL sowie technische Hilfsmittel unter Bedingungen des Regelbetriebes zusammen. Die effektive Durchführung ist nicht nur Voraussetzung für die Termineinhaltung, sondern auch der Grundstein für eine längerfristige Geschäftsbeziehung zwischen Verlader und LDL. Trotz der
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C. Reuter
großen Bandbreite von Kontraktlogistikdienstleistungen können gemeinsame Charakteristika festgestellt werden. Einen entscheidenden Einfluss auf die Anforderungen an die beteiligten Ressourcen des Ramp-Up hat demnach die Anlaufkurve. Sie stellt den Zusammenhang zwischen täglich bearbeiteten Volumen und der Zeit dar. Letztere wird auf der Ordinate, das Volumen auf der Abszisse abgetragen. Es können grundsätzlich die drei in Abbildung 2 dargestellten, schematischen Anlaufkurven differenziert werden.
Abbildung 2: Anlaufkurven
Kontinuierlicher Ramp-Up Bei diesem Ramp-Up übernimmt der LDL ab Projektbeginn qualitativ den kompletten Leistungsumfang. Das abzuwickelnde Volumen liegt anfänglich auf sehr niedrigem Niveau und steigt im Verlauf des Ramp-Up kontinuierlich an. Dieser Verlauf ist u. a. dann zu beobachten, wenn der RampUp der Logistikdienstleistung parallel zum Ramp-Up der zu versorgenden Produktion erfolgt. Ausgehend von einem Sockelbestand wird das Personal im Projektverlauf aufgestockt, um die steigenden Volumina abarbeiten zu können. Stufiger Ramp-Up Bei dieser Methode werden qualitative und/oder quantitative Leistungsumfänge sukzessive, d. h. „stufenweise“, vom LDL übernommen. Die Umfänge der einzelnen Stufen werden im Projektplan definiert und sind entweder fix termingesteuert und/oder von dem Projektfortschritt der vorherigen Stufe abhängig. Bei gravierenden Störungen wird die Implementierung weiterer Leistungsumfänge, d. h. die nächste Stufe, zeitlich nach hinten verschoben. Die Stufung des Volumens erfolgt nach unterschiedlichen Kriterien, wie z. B. anliefernde Speditionen, Teilearten oder
3.2.3 Ramp-Up von Kontraktlogistikdienstleistungen
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Lagerstandorten. Erst nach Erreichen der Zielvorgaben wird ein erweiterter Leistungsumfang an den LDL übergeben. Durch dieses Vorgehen können sämtliche zur Verfügung stehenden Ressourcen auf die Fehlerbeseitigung einer Projektstufe gerichtet werden. Von auftretenden Störungen werden nicht übertragene Umfänge nicht tangiert und können in einem stabilen Umfeld weiter ausgeführt werden. Diese Methode vereinfacht einerseits das Fehlerhandling, erhöht aber gegebenenfalls die Komplexität durch die Koexistenz von mehreren Systemen und die damit einhergehende Zunahme von Schnittstellen. Radikaler Ramp-Up Der radikale Ramp-Up zeichnet sich durch die Implementierung des vollen Leistungsumfanges, sowohl qualitativ als auch quantitativ, zu einem fixierten Termin aus. Je nach Umfang des Projektes reicht der Zeitraum von wenigen Tagen bis zu mehreren Monaten. Diese Form des Ramp-Up konnte bei der Einrichtung neuer Lagerstandorte oder dem Wechsel des LDL beobachtet werden, wenn der Parallelbetrieb von zwei Systemen aus technischen oder betriebswirtschaftlichen Gründen nicht möglich war. Im Rahmen dieser Anlaufkurve treten besonders starke Personalbedarfsspitzen auf, da einerseits Personal zur unverzüglichen Störungsbehebung vorgehalten werden muss, damit abhängige Prozesse nicht gefährdet werden. Andererseits vermindern die neuen Prozesse und/oder das neue Arbeitsumfeld die Effizienz der Mitarbeiter, sodass für das gleiche Volumen im Vergleich zum eingeschwungenen Zustand mehr Mitarbeiter benötigt werden.
Fallstricke und Optimierungspotenziale in der Praxis Eine Kategorisierung der Herausforderungen während des Ramp-Up in der Praxis führt zu den vier Problemfeldern „Mitarbeiter“, „Änderungen“, „Informationstechnologie“ und „Wissen“. Abbildung 3 stellt neben diesen vier Feldern auch eine Auswahl der Fehlerquellen dar. Mitarbeiter Die Mitarbeiter stellen trotz vielfältiger Automatisierungsmöglichkeiten den Kern logistischer Aktivitäten dar. Insbesondere während des Ramp-Up sind die operativen Mitarbeiter für den erfolgreichen Anlauf verantwort-
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lich, da sie kurzfristig auf Änderungen reagieren müssen und, im Gegensatz zu automatischen Systemen, improvisieren können. Mitarbeiter
Änderungen
Unzureichende Mitarbeiterqualfikation
Unvollständiges Mengengerüst
Personelle Mehrbedarfe
Prozessänderungen
Betriebsübergang nach § 613a BGB
Hohe Änderungsfrequenz
Informationstechnologie
Wissen
Fehlerhafte Schnittstellen
Personengebundenes Wissen
Abweichung vom Standard
Unklare Kommunikationsstruktur
Abbildung 3: Problemfelder und Auslöser
Qualifikation der Mitarbeiter
Die Ausgestaltung der Qualifikations- bzw. Schulungsmaßnahmen ist von vielen Faktoren abhängig, wie z. B. Art des Projektes, zur Verfügung stehendes Budget, bisherige Geschäftsbeziehungen zwischen LDL und Verlader und nicht zuletzt der subjektive Beurteilung des Schulungsbedarfes durch Auftraggeber und -nehmer. Unzureichende Schulungsmaßnahmen können zu Defiziten im Prozessverständnis, der Bedienung von IT-Systemen und den spezifischen Handling-Anforderungen einzelner Produkte führen. Daraus resultieren vermehrte Fehleingaben, Hilflosigkeit bei auftretenden Störungen und unsachgemäßer Umgang mit Waren. Insgesamt werden die Turbulenzen während des Ramp-Up verstärkt. Betroffen sind hiervon in erster Linie die operativen Mitarbeiter, insbesondere wenn sie vom LDL für ein spezifisches Projekt neu rekrutiert werden, aber auch die Mitarbeiter des Verladers, die sich mit neuen Prozessen, IT-Systemen und Schnittstellen zur Logistik konfrontiert sehen. Mit der steigenden Abhängigkeit von IT-Systemen und deren zunehmender Vernetzung steigt der Qualifikationsbedarf. Mitarbeiter müssen die Prozesse verstehen und Auswirkungen von Fehlern erkennen können, damit sie proaktiv zur Vermei-
3.2.3 Ramp-Up von Kontraktlogistikdienstleistungen
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dung von Störungen beitragen können. Die etwaige Einschränkung dieser Qualifizierungsmaßnahmen auf einen ausgewählten Nutzerkreis mit Multiplikatorfunktion ist nicht zu empfehlen, da die geschulten Mitarbeiter dazu neigen, ihr Wissen als Expertenwissen zu schützen und nicht an Kollegen weiterzureichen [Schm01, S.25]. Des Weiteren müssen Qualifizierungsmaßnahmen bereits vor dem eigentlichen Ramp-Up durchgeführt werden, um von Beginn an die Systeme bedienen zu können (siehe hierzu Kapitel 4.3.4) Motivation der Mitarbeiter
Der Motivationsgrad der Mitarbeiter wirkt unmittelbar auf den Verlauf des Ramp-Up und die anschließende Phase des operativen Betriebs. Im Rahmen des Ramp-Up wirken sich grundsätzlich zwei unterschiedliche Faktoren negativ aus: • Allgemeine Anforderungen des Ramp-Up: z. B. übermäßige Arbeitsbelastung in Form von Überstunden, Stress durch Störungen im Ablauf • Verlust des (bisherigen) Arbeitsplatzes durch die Outsourcing-Maßnahmen: ein Betriebsübergang nach §613a BGB vom Personalstamm des Verladers in den des LDL oder auch Übernahme einer neuen Aufgabe innerhalb des Unternehmens des Verladers Insbesondere der Wechsel des Arbeitgebers durch einen Betriebsübergang kann zu drastischen Motivationseinbußen führen, da hierdurch i. d. R. im Anschluss an eine Übergangszeit ein geringeres Einkommen sowie der Identifikationsverlust mit dem Unternehmen des Verladers verbunden sind. Die Mitarbeiter fühlen sich infolgedessen oft als „Mitarbeiter zweiter Klasse“ und zeigen u. U. nicht nur eine geringere Leistungsbereitschaft, sondern wirken bewusst kontraproduktiv bei der Umsetzung des Ramp-Up mit. Die Praxis zeigt, dass eine frühzeitige Einbindung der Mitarbeiter in die Konzeption der neuen Prozesse und Arbeitsbedingungen nicht nur Vertrauen schafft, sondern auch die Begeisterung für das neue Arbeitsumfeld kreiert. Des Weiteren sind eine intensive und offene Kommunikation sowie das Aufzeigen von neuen beruflichen Entwicklungsperspektiven unerlässlich, um Zuversicht und Motivation zu steigern. Planung von Mitarbeiterbedarfen
Eine große Herausforderung des Ramp-Up liegt in der Antizipation der künftig erforderlichen Mitarbeiter. Der Mehrbedarf reicht von 20-100% an
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zusätzlichen Arbeitskräften im Vergleich zum eingeschwungenen Ablauf vor dem Outsourcing bzw. nach dem Ramp-Up. Unerfahrenheit, mangelnde Berechnungsmöglichkeiten und das Spannungsfeld der gegenläufigen Interessen aller am Ramp-Up beteiligten Akteure wirken sich negativ auf die Richtigkeit der Ressourcenplanung aus. Ein eventueller Mehrbedarf tritt ad hoc während des Ramp-Up auf und ist kurzfristig zu befriedigen, damit die Zielerreichung gewährleistet ist. Ebenso zahlreich wie die Auslöser des Mehrbedarfes, wie z. B. deutlicher Anstieg der Fehler, steigende Krankheitsquote, zusätzlicher Leistungsumfang, sind hierbei die Maßnahmen zum Ausgleich der Personalunterdeckung, die überwiegend die operative Ebene betrifft (siehe hierzu auch Kapitel 3.2.4): • Abruf von Mitarbeitern aus anderen Abteilungen/Standorten des Verladers • Abruf von Mitarbeitern aus anderen Projekten und/oder Standorten des LDL • Einstellung von Zeitarbeitern Insbesondere die Einstellung von Zeitarbeitskräften ist für den RampUp weit verbreitet. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass auch diese Arbeitskräfte den Lernkurveneffekten unterliegen. Darüber hinaus sind sie mit den eventuellen Spezifika der zu behandelnden Ware nicht vertraut und müssen diesbezüglich geschult werden. Mehrbedarfe sollten daher aufgrund der höheren Effizienz durch Mitarbeiter aus anderen Abteilungen und/oder Werken des Verladers und/oder LDL befriedigt werden und erst in letzter Instanz durch Zeitarbeitskräfte. Bereits vor Auftreten der Personalmehrbedarfe ist die Arbeitsmarktsituation im Projektumfeld zu prüfen, um festzustellen, ob Anbieter von qualifizierten Zeitarbeitskräften in der jeweiligen Region zur Verfügung stehen und überhaupt entsprechendes Personal bereitstellen können. Informationstechnologie Sowohl Verlader als auch LDL setzen überwiegend auf standardisierte, modulare ERP-Systeme. Die rechtzeitige Verfügbarkeit funktionierender IT-Systeme stellt dennoch eine kritische Komponente dar. Die Herausforderung besteht in der Einbindung zusätzlicher IT-Systeme in die bereits bestehende IT-Landschaft beim Verlader. Die Fehleranfälligkeit steigt mit der Anzahl der Schnittstellen zu vor- und nachgelagerten Systemen. Je höher der Vernetzungsgrad ist, desto weit reichender sind Fehler in der Datenverarbeitung und deren mögliche Ursachen. Die Komplexität steigt und
3.2.3 Ramp-Up von Kontraktlogistikdienstleistungen
279
damit die Zeit für die Identifikation und Beseitigung von Fehlerquellen, die in Einzelfällen den Projektverlauf um bis zu drei Tage verzögern können. Dabei sind es in erster Linie Details, die wiederholt für massive Störungen sorgen. Als Beispiele sind die unterschiedliche Nutzung von Punkt und Komma bei der Darstellung von Zahlen in Stücklisten und die abweichende Verwendung von Vorzeichen zu nennen. Zusätzliche Komplexität entsteht weiterhin bei der parallelen Verwendung von IT-Systemen, wie z. B. Bestandssysteme, in deren Folge Bestände in der Ramp-Up Phase nicht korrekt verbucht und so als Bestandsverluste ausgewiesen werden. Diese werden durch automatisch ausgelöste Lieferabrufe ausgeglichen, die wiederum zu Mehrbeständen und zusätzlichen Kosten führen. Produktionsgefährdend kann eine fehlerhafte Software bei automatischen Regalanlagen wirken. Sie verhindert das Ein- und Auslagern und führt so zu massiven Störungen im Betriebsablauf bis hin zum Produktionsausfall. Änderungsmanagement Während des Ramp-Up von Kontraktlogistikdienstleistungen treffen viele beteiligte Personen, Organisationseinheiten und Unternehmen erstmalig aufeinander. Synchron erfolgt die erstmalige Umsetzung zuvor konzipierter Prozesse und gegebenenfalls die Inbetriebnahme von Investitionsgütern. Somit stellt sich auch erst während dieser Phase heraus, ob die geplanten Abläufe in der Praxis umgesetzt werden können und wo Änderungsbedarfe bestehen. Oft sind noch nicht die Bedingungen des späteren Regelbetriebs hergestellt, da z. B. Spezialladungsträger fehlen oder Prozesse noch nicht in den IT-Systemen abgebildet werden können. Erfolgt der Ramp-Up der Kontraktlogistikdienstleistung parallel zum RampUp der zu versorgenden Produktion, beeinflusst diese dort i. d. R. vorkommenden, gravierenden Änderungen ebenfalls den Ramp-Up. So ergeben sich bereits zu Beginn des Ramp-Up und auch davor gravierende Änderungen im Mengengerüst, das vom LDL zu bearbeiten ist. Je früher dieser über Änderungen informiert wird, desto früher und damit effektiver und effizienter kann er reagieren, indem z. B. mehr Personal eingeplant und geschult wird oder zusätzliche Flächen angemietet werden. Außer der Geschwindigkeit von Änderungsmitteilungen ist auch deren richtige Adressierung und Kommunikation von herausragender Bedeutung. So zahlreich die möglichen Änderungsquellen sind, so zahlreich sind auch die Akteure, die Änderungsbedarfe kommunizieren. Aufgrund des im Projektverlauf zunehmenden Zeit- und Leistungsdrucks findet während des Ramp-Up eine ganzheitliche Prüfung der Auswirkungen von einzelnen Prozessänderungen selten statt. Somit werden diese mehrmals, mitunter in
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gegenläufiger Richtung, angepasst, was zu Mehraufwendungen in jeglicher Hinsicht führt und die Stabilität des Systems gefährdet. Wissensmanagement Sowohl Verlader, die bereits mehrere Outsourcing-Projekte in ihrem Unternehmen durchgeführt haben, als auch LDL, die diese bereits bei verschiedenen Kunden durchgeführt haben, verfügen i. d. R. über keine strukturierte Methode zur Weitergabe von Erkenntnissen bzw. sogenannte „lessons-learned“. So entstehen durch ein fehlendes projektübergreifendes Anlaufwissensmanagement Doppelarbeiten, vermeidbare Fehler und ggf. Änderungen in den späten Phasen des Ramp-Up. Hieraus resultieren höhere Kosten, Terminverschiebungen und Demotivation bei den Mitarbeitern. Während sich in einigen Unternehmen langsam der Einsatz von Checklisten etabliert, findet der Großteil des „Wissenstransfers“ zwischen verschiedenen Projekten durch einzelne Individuen, d. h. in erster Linie Projektleitern, statt. Diese transferieren ihr Wissen entweder durch die Partizipation an einem anderen Projekt oder durch informellen Erfahrungsaustausch untereinander. Der Erfahrungsschatz eines Projektleiters dient in der Praxis daher als wesentliches Kriterium für die erfolgreiche Durchführung des Ramp-Up. Diese Abhängigkeit führt jedoch bei den LDL zu Engpasssituationen und damit mitunter zu Verzögerungen von Anläufen. Reichen die Kapazitäten der Projektleitung für die Beseitigung von Störungen nicht aus, werden zunehmend sogenannte „Task-Forces“ für einen kurzen Zeitraum von ca. ein bis drei Wochen in gefährdete Projekte entsendet. Dabei handelt es sich um mobile Gruppen sehr erfahrener Mitarbeiter aus unterschiedlichen Fachbereichen, die das Erreichen der Zielvorgaben seitens des LDL sicherstellen sollen. Entsprechend ihres ausgesprochenen Expertenstatus stellt dies eine kostenintensive Form des „Wissensmanagements“ dar. Aufgrund des Erfolgsdrucks sind die Verlader jedoch offensichtlich bereit, diese hohen Kosten zu tragen. Ein systematisches Wissensmanagement könnte nicht nur Wiederholungsfehler vermeiden, sondern auch Abhängigkeiten von einzelnen Personen verringern und somit beiden Vertragsparteien schnellere, kostengünstigere und multiple Ramp-Ups ermöglichen. Ansätze hierzu können in Form von Checklisten und zentralen Datenbanken mit „lessons-learned“ vergangener Projekte gefunden werden. Trotz der Vorteile, die neue Kommunikationstechnologien für die unternehmensübergreifende Kommunikation bieten, werden diese zur Zeit noch sehr selten eingesetzt. So könnten internetbasierte Projektplattformen den beteiligten Akteuren Informationen nicht nur schneller zur Verfügung stellen, sondern auch Stö-
3.2.3 Ramp-Up von Kontraktlogistikdienstleistungen
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rungen und deren Lösungen kontinuierlich dokumentieren. Die hieraus generierten Erkenntnisse könnten zur proaktiven Fehlervermeidung bei Folgeprojekten herangezogen werden.
Ramp-Up von Kontraktlogistikdienstleistungen – Schlüssige Konzepte werden noch gesucht Der Ramp-Up von Kontraktlogistikdienstleistungen wird von Verladern, Beratern und LDL gleichermaßen als kritische und für den weiteren Verlauf der Geschäftsbeziehungen einflussreichste Phase eines Outsourcingprozesses gewürdigt. Allerdings spiegelt sich die Signifikanz dieses Projektabschnittes nicht in dessen Durchführung wider. Zwar wird i. d. R. der geplante Fertigstellungstermin eingehalten, doch sind die Ressourceneinsätze oft deutlich höher als geplant und verlangen Improvisationsvermögen. Während LDL dieses Improvisationsvermögen als eine ihrer Stärken benennen, kritisieren Verlader die Selbstverständlichkeit, mit der hierauf in Ermangelung einer verlässlichen Projektplanung zurückgegriffen wird. Sie fordern vielmehr eine verstärkte Industrialisierung der Kontraktlogistikdienstleistungen. Dazu zählen u. a. ein konsequentes Gatewaymanagement zur frühzeitigen Erkennung von Planabweichungen, ein effektives Änderungsmanagement zur Abwicklung von Änderungsbedarfen und letztendlich die Beschleunigung des Ramp-Up. Im Gegenzug fordern LDL die frühzeitige Einbindung in die Planung der OutsourcingProjekte und aussagekräftige Datenbestände zur Ermittelung des abzuwickelnden Mengengerüstes. Einigkeit besteht auf beiden Seiten bezüglich der zunehmenden Wahrnehmung des Ramp-Up als entscheidende Phase von Outsourcing-Projekten. Schlüssige Konzepte sehen sie als Möglichkeit der LDL zur Generierung von Wettbewerbvorteilen. Verlader werden dazu übergehen, Konzepte zum Ramp-Up im Ausschreibungsverfahren stärker zu berücksichtigen und bieten den LDL damit eine Chance, sich in diesem wettbewerbsintensiven Marktsegment zu profilieren. Schlüssige Konzepte für einen schnellen und erfolgreichen Ramp-Up sind in der Praxis jedoch noch nicht vorhanden, so dass hier noch Forschungs- und Entwicklungsbedarf besteht.
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3.2.4 Flexibilisierung von Mitarbeitern – Individuelle und organisationale Faktoren
A. Endörfer, M. Sauerland, D. Walch Was für den Einsatz von Führungskräften eine Selbstverständlichkeit ist, ist für operative Mitarbeiter in der produktionsnahen Logistik noch weit entfernt: Zeitliche, räumliche und aufgabenbezogene Mitarbeiterflexibilität taucht immer häufiger als Anforderung auch für das operative Personal auf. Wie so oft nimmt die Automobilindustrie eine Vorreiterrolle ein und kreiert durch ihre Ziele wie z. B. der flexiblen, kundenorientierten Fertigung mit kurzen Lieferzeiten (Vision „5-Tage Auto“) Anforderungen, die den Logistikmitarbeiter einem Spannungsfeld schnelllebiger Veränderungen unterwerfen. So müssen alle Prozesse entlang der Wertschöpfungskette schneller, aber nach wie vor in der geforderten Qualität erfolgen. Dabei überträgt sich die aus den Unternehmenszielen ergebende Forderung nach Flexibilität insbesondere auch auf die operativen Mitarbeiter, da zur Kompensation der in Logistiksystemen auftretenden Veränderungen die Verfügbarkeit von Expertenwissen in demselben Maße Flexibilität aufweisen muss, wie die betrachteten Logistiksysteme selbst. Der Mitarbeiter und dessen Motivation zur Mobilität spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle, da sein flexibles und eigenständiges Handeln auf Basis seines Expertenwissens einen wesentlichen Beitrag zur reaktionsschnellen Behebung von Abweichungen (z. B. Fehlern, Kapazitätsbedarfen etc.) vor Ort beiträgt. Im folgenden Beitrag werden hierzu zunächst Methoden zur Flexibilisierung von Arbeitskräften aufgezeigt, bevor individuelle und organisationale Faktoren (z. B. der Einfluss der Unternehmenskultur) beschrieben werden, die von Führungskräften zu beachten sind, um bei der Mitarbeiterflexibilisierung für eine hohe intrinsische Motivation zu sorgen. Eine aktuelle Untersuchung zur Entwicklung der Produktivität im internationalen Vergleich besagt, dass in Deutschland ca. 37% der Arbeitszeit unproduktiv verbracht werden und der größte Beitrag dieser fehlenden Produktivität auf mangelnde Planung und Steuerung der Personalressourcen zurückzuführen ist [o.V.05]. Besteht, wie häufig in der operativen Logistik, das Problem der schwierigen und ungenauen Planbarkeit des Mitar-
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A. Endörfer, M. Sauerland, D. Walch
beiterbedarfs, so ist es nötig, sich verschiedener Modelle und Methoden zu bedienen, die einen flexiblen Einsatz von Mitarbeitern ermöglichen. Hierdurch lässt sich eine optimale Personalauslastung unterstützen, so dass die Gefahr der Über- und Unterkapazitäten an Personal verringert werden kann. Während hohe Personalkapazitäten einerseits Leistungsvermögen und Qualität eines Unternehmens sicherstellen können, wird andererseits die Wirtschaftlichkeit gefährdet. Die Mitarbeiterflexibilität insbesondere unter dem Aspekt der Mitarbeitermobilität kann hier unterstützend wirken. Unter Mitarbeitermobilität wird die räumliche Flexibilität [FrKa00] von Logistikmitarbeitern hinsichtlich deren arbeitsplatz-, gruppen-, abteilungs-, werks- wie auch unternehmensübergreifendem Einsatz verstanden. Sie ist ein wesentlicher Faktor zur Bereitstellung von Wissen und Arbeitskraft zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um Schwankungen im Personalbedarf entlang der Logistikkette zu kompensieren. Insbesondere in der Automobilund Zulieferindustrie sind diesbezüglich die Anforderungen hoch, da Güter heute meist nicht auf Vorrat produziert werden, sondern sich nach konkreten Kundenaufträgen richten und vielfach just-in-time angeliefert werden müssen. Dabei können viele interne und externe Einflussgrößen diese Versorgungskette und die damit verbundenen prognostizierten Mitarbeiterbedarfe stören oder gar unterbrechen, was oft mit hohen Kosten verbunden ist. Angefangen bei Maschinenstörungen, die die Produktion direkt beeinflussen über Verkehrsstaus, die eine Anlieferung von Produktionsteilen verhindern bis hin zu neuen Großaufträgen, die das Produktionsspektrum erweitern, können vielfältige Einflussfaktoren einen Personalbedarf in der operativen Logistik auslösen.
Einsatz organisationaler Methoden Im Rahmen des Forschungsverbundes ForLog wurde hierzu ein Konzept zum bedarfsorientierten Mitarbeitereinsatz in der Logistik entwickelt, das den Personalplaner bei seinem Entscheidungsprozess zum effizienten Mitarbeitereinsatz unterstützt. Das Konzept zeigt zunächst in Form einer Bedarfsmatrix beispielhaft verschiedene Auslöser eines Personalbedarfs untergliedert nach deren Planbarkeit und Dauer auf (siehe Abbildung 1).
3.2.4 Flexibilisierung von Mitarbeitern
285
Abbildung 1: Logistikszenarien der Bedarfsmatrix
Die Auslöser lassen sich nach internen und externen Einflussfaktoren unterteilen, die sich sowohl auf den Ist-Personalbestand als auch auf den Brutto-Personalbedarf des Unternehmens auswirken (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Ermittlung des Netto-Personalbedarfs
286
A. Endörfer, M. Sauerland, D. Walch
Der aus der Differenz resultierende Netto-Personalbedarf entspricht den Bedarfsschwankungen, welche qualitativ als auch quantitativ abgeglichen werden können [Pfoh05]. Zur Befriedigung des Bedarfs kann auf verschiedene Weise reagiert werden. Es lassen sich hierzu Arbeitszeit, Arbeitsort und Arbeitsinhalt der Mitarbeiter variieren, um Dabei stehen verschiedene Methode nach Ausmaß des Bedarfs setzt werden können. Die Personalentwicklung und fung bzw. Personalfreisetzu
Abbildung 3: Reaktionsmöglichkeiten in Form von Modellen und Methoden (in Anlehnung an [Pfoh05])
Für den Fall der Unterkapazitäten ist in der auf Basis der Bedarfsmatrix erstellten Reaktionsmatrix (siehe Abbildung 4) eine aus Gesprächen mit Unternehmensvertretern entstandene Empfehlung zum situationsspezifischen Einsatz abgebildet. Restriktionen, wie z. B. das ohne Einwilligung des Kapovaz-Mitarbeiters1 nicht umgehbare, viertägige Zeitfenster bis zum Einsatz, lassen sich farblich visualisieren. Dabei führen Restriktionen gleichzeitig zur Abwertung der Methode in der dargestellten ++/-- Rangfolge.
1
Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit
3.2.4 Flexibilisierung von Mitarbeitern
287
Planbarkeit nicht planbar
2 Tage
kurzfristig
Szenario 1 ++ Mehrarbeit ++ Reserveschichten ++ Interne Personalbewegung ++ Kurzzeitkonten + Bereitschaft + entkoppelte Schichten + Einweisung
1 Woche
Szenario 2
3 Monate
++ Mehrarbeit ++ Kapovaz-Mitarbeiter ++ Interne Personalbewegung ++ Kurzzeitkonten ++ Gelitende Schichten
+ Urlaubsverschiebung + Leiharbeiter
+ Kurzfrist. Urlaubsvertretung
+ Einweisung
Szenario 4
befristet
mittel
hoch
Szenario 3
++ Mehrarbeit ++ KAPOVAZ-Mitarbeiter ++ Sonderschichten ++ Interne Personalbewegung ++ Kurzzeitkonten
+ Leiharbeiter + Einweisung
Szenario 5
Szenario 6
++ Mehrarbeit ++ Interne Personalbewegung ++ Leiharbeiter
++ Mehrarbeit ++ Interne Personalbewegung ++ Leiharbeiter
++ Mehrarbeit ++ Interne Personalbewegung ++ Leiharbeiter
+ Bandbreitenmodell + Praktikanten + 6-8-10 Verfahren + Kurzschulungen
+ Jahresarbeitszeitkonto + Praktikanten + 6-8-10 Verfahren + Kurzschulungen
+ Jahresarbeitszeitkonto + Fremvergabe + 6-8-10 Verfahren + Kurzschulungen
+
+ Umstellung von Schichtsystemen
+ Umstellung von Schichtsystemen
Urlaubsverschiebung
Szenario 7
langfristig
Nachhaltigkeit / Dauer
+ Kapovaz-Mitarbeiter
gering
++ Versetzung oder Änderungskündigung ++ Neuanstellung von Mitarbeitern mit langfristigen Verträgen + Umfangreiche Ausbildungsund Schulungsmaßnahmen
Szenario 8 ++ Neuanstellung von Mitarbeitern mit unbefristeten Verträgen ++ Neuordnung bzw. Umstrukturierung z.B. von Schichtarbeit + Versetzung durch Änderungskündigung + Umfangreiche Ausbildungsund Schulungsmaßnahmen
Abbildung 4: Reaktionsmatrix zum bedarfsorientierten Mitarbeitereinsatz
Die Priorisierung der Methoden und Modelle erfolgt typischerweise unter den Aspekten der Kosten, der Umsetzbarkeit und des Flexibilitätspotenzials. Insbesondere die Umsetzbarkeit der Mitarbeitermobilität hängt hierbei von den rechtlichen Gegebenheiten und verschiedenen individuellen, organisationalen und somit unternehmensspezifischen Einflussfaktoren ab. Der Faktor Unternehmenskultur Eine erfolgreiche Strategieumsetzung erfordert die Schaffung eines strategiekonformen Wertesystems im Sinne einer Unternehmenskultur [PüKo90]. Insbesondere die Unternehmenskultur und strategische Ausrichtung prägen den Einsatz der Methoden, zu denen ein Unternehmen zur Flexibilisierung des Mitarbeiterstamms greift. Abbildung 5 zeigt hierzu typische Elemente einer Unternehmenskultur und deren Ausprägungen, die sich meist über Jahre in den Unternehmen gebildet und verankert haben. So setzen beispielsweise Unternehmen, die tendenziell eher auf einen festen, eigenen Mitarbeiterstamm setzen sowie um die Wahrung ihrer Betriebsgeheimnisse besorgt sind, in ihrer Personalpolitik weniger auf Leiharbeiter. Eine Veränderung der Unternehmenskultur ist ein langwieriger Prozess, mit dem behutsam umgegangen werden muss.
288
A. Endörfer, M. Sauerland, D. Walch
Eigene Mitarbeiter
Personalpolitik
Zeitarbeiter
Patriarchalisch
Führungsstil
Demokratisch
Vertrauen / Offenheit
Unternehmensmentalität
Kontrolle
Kostenführer
Marktausrichtung
Qualitätsführer
konservativ
Innovationen
visionär
viele Ebenen / Linienorg. lang
Organisationsstruktur Entscheidungsweg
flache Hierarchie / Netzw.-Org. kurz
Abbildung 5: Ausprägungen von Elementen einer Unternehmenskultur
Individuelle Bereitschaft und Motivation Prinzipiell zeigen einer Studie von Tebert [Tebe73] zufolge Mitarbeiter eine hohe Bereitschaft zu zeitlicher Flexibilität in Form von Überstunden oder flexiblen Arbeitszeiten und sind von sich aus zu weitgreifenden Veränderungen bereit, die mit betrieblicher Flexibilisierung einhergehen. Die Bereitschaft zu örtlicher Mobilität ist hingegen geringer, da die Mitarbeiter hier um ihre berufliche und persönliche Entwicklung besorgt sind. So nimmt beispielsweise die Mobilitätsbereitschaft mit zunehmendem Alter der Mitarbeiter ab [Koll81]. Während Selbstkompetenz und ein höherer Status des Mitarbeiters Mobilitätsbereitschaft fördern, können die Familiensituation, Besitztümer sowie das bestehende soziale Umfeld die Bereitschaft zum Ortswechsel bremsen. Hier können Entgelt- und Anreizsysteme herangezogen werden, die auf den Logistikmitarbeiter extrinsisch motivierend wirken können. Für eine langfristige bzw. dauerhafte Motivation und Bereitschaft zur Mobilität bedarf es jedoch intrinsischer Faktoren. Aus dem organisationalen Umfeld des Unternehmens heraus fördert eine entsprechende Unternehmenskultur die Motivation der Mitarbeiter und deren Bereitschaft, sich mobil einsetzen zu lassen. Faktoren für den Aufbau einer flexibilitätsfördernden Kultur hinsichtlich Arbeitsinhalt, Arbeitszeit und Arbeitsort der Logistikmitarbeiter sind im Folgenden aufgeführt.
3.2.4 Flexibilisierung von Mitarbeitern
289
Individuelle Faktoren Teilhabe an Entscheidungsprozessen – Handlungsspielraum
Autonomie stellt eine äußerst wichtige Grundlage für das Ausmaß von Akzeptanz und Motivation dar. Sie stärkt das Selbstwertgefühl und die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung und vermittelt die Erfahrung, nicht einfluss- und bedeutungslos zu sein. Beispielsweise ist die Selbstorganisation flexibilitätserfordernder Aufgaben durch eine Arbeitsgruppe selbst eine Option, die Mitarbeitermobilität in heterogenen Gruppen mit mobilitätsbereiten und „immobilen“ Mitarbeitern zu fördern. Wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit solcher Maßnahmen ist es, die Mitarbeiter durch die Erweiterung des Handlungsspielraums nicht zu überfordern. Sieht sich andererseits ein Mitarbeiter in seiner Wahlfreiheit hinsichtlich seiner Verhaltensalternativen eingeschränkt, zum Beispiel durch reines Diktieren bzw. Aufoktroyieren einer aus Unternehmenssicht erforderlichen Mitarbeitermobilität (Einsatzort, Reihenfolge und Zeitpunkt der durchzuführenden Tätigkeiten), kann dies zu Reaktanz (Widerstand) führen. Bietet sich aber dem Mitarbeiter die Möglichkeit aus verschiedenen Alternativen wählen zu können, nimmt die Akzeptanz und Motivation zur Flexibilität erwiesenermaßen zu [Wein04]. Tatsächlich geht es jedoch nicht nur um die Vermeidung der negativen Folgen solch eines Widerstandes, sondern um die Kommunikation und Transparenz der tatsächlichen Alternativen für den einzelnen Mitarbeiter, aber in letzter Konsequenz auch für das Unternehmen selbst. Für die Mobilisierung der betroffenen Mitarbeiter muss dazu diese gewünschte Handlung vom Unternehmen positiv besetzt werden, sodass sie für ihn über den betroffenen Mobilitätsumfang vorteilhaft ist. Unterstützen persönlicher Ziele
Von Bedeutung für den Mitarbeiter ist die unternehmensseitige Unterstützung zur Erreichung seiner persönlichen Ziele. Diese können sich beispielsweise auf Gehaltmaximierung, einen sicheren Arbeitsplatz oder das Bedürfnis nach Weiterentwicklung konzentrieren. Je besser ein Unternehmen auf diese Wünsche und Bedürfnisse eingeht, desto größer ist das Commitment der Mitarbeiter gegenüber der Firma und desto größer auch deren Bereitschaft, das Unternehmensziel des flexiblen Mitarbeitereinsatzes mit zu tragen. Hierzu gilt es, die Bedürfnisse des Mitarbeiters hinsichtlich seines Tätigkeitsbereiches zu erfassen, um entsprechende Maßnahmen einleiten zu können. Zum einen kommt den Mitarbeitern hierbei ein Mitbestimmungsrecht zu, das ihre Zufriedenheit fördert. Zum anderen kann
290
A. Endörfer, M. Sauerland, D. Walch
bei den Mitarbeitern ein Bewusstsein über die eigenen Ziele und die des Unternehmens geschaffen werden, das ihre Einstellung hinsichtlich der Zielvereinbarungen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbessert. Augenscheinliche Zielkonflikte müssen in konsistente, gemeinsame Ziele ausgearbeitet werden. Slogans wie beispielsweise „Flexibilität sichert meinen Arbeitsplatz“ müssen sich in der täglich gelebten Unternehmenskultur für alle Beteiligten nachweisen lassen. Transparenz des produktiven Gesamtprozesses
Insbesondere kurzzeitige Einsätze eines Mitarbeiters an anderen Arbeitsplätzen stellen diesen zunächst vor die Herausforderung, die Einordnung und Notwendigkeit der neuen Tätigkeit im produktiven Gesamtprozess nachvollziehen zu können. Je transparenter sich die eigene Funktion in Bezug auf die Abläufe im Unternehmen gestaltet, umso größer ist die Bereitschaft, diese Tätigkeit auch an anderer Stelle auszuführen [Bran80]. Im Gegenzug erhält der Mitarbeiter gerade durch Maßnahmen wie Job Rotation die Möglichkeit, einen Blick über den Tellerrand hinaus zu gewinnen und so ein Bewusstsein für den Wert seiner und anderer Tätigkeiten in Bezug auf den Gesamtprozess entwickeln zu können. Dabei profitiert das Unternehmen gleichzeitig von der Möglichkeit, dass Mitarbeiter später im Krankheitsfall ihrer Kollegen, deren Tätigkeiten übernehmen können sowie bei auftretenden Störungen im Arbeitsprozess durch ihren größeren Überblick eher Lösungen entwickeln. Um im Vorfeld anstehender Veränderungen möglichem Widerstand von Seiten der Mitarbeiter entgegen zu treten, muss der Betroffene von Anfang an über Ziel, Zeitraum, Nutzen, Zweck, Alternativen, Auswirkungen, Risiken, Anforderungen und Art der Tätigkeit sowie dem Fortlauf nach Abschluss dieser Tätigkeit informiert sein. Hierzu gilt es für Führungskräfte, ein transparentes Agieren bei den Planungen sowie die fortwährende und offene Kommunikation zwischen Führung und Mitarbeitern aufrecht zu erhalten. Dabei ist vor allem wichtig, dass für die Mitarbeiter die Möglichkeit besteht, ihre zukünftige Arbeitssituation und die Arbeitsmethoden beeinflussen zu können. Bei jedem Mitarbeiter muss ein Überblick über und ein Verständnis für den Arbeitsprozess in seiner Gesamtheit sowie die Möglichkeit vorhanden sein, die eigenen Ressourcen zu nutzen und weiterzuentwickeln. Vielfalt gegen Monotonie
Eine flexiblere Arbeitsstrukturierung wie auch eine Arbeitsbereicherung (z. B. Job Rotation, Job Enlargement) kann dem Mitarbeiter helfen, be-
3.2.4 Flexibilisierung von Mitarbeitern
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stimmte (arbeitsbedingte) Stressoren abzubauen, indem ihm verschiedene Verantwortungsbereiche wie ausführende, dispositive und kontrollierende Tätigkeiten übertragen werden. Dadurch können Monotonie und einseitig wirkende psycho-physische Belastungen des Mitarbeiters verringert oder vermieden sowie dafür gesorgt werden, dass er seine Arbeit als ganzheitlich ansieht. Hierdurch fühlt er sich mehr für sein Arbeitsspektrum verantwortlich und arbeitet sorgfältiger. Sobald Mitarbeiter untereinander ihre Tätigkeiten wechseln, kann die Integration in Arbeitsgruppen erhöht werden. Das Verständnis für Kollegen wächst, Reibungs- und Kompetenzprobleme der Gruppe lassen sich hierdurch leichter abbauen. Schließlich werden auch die Kontakte – sowohl berufliche als auch private – durch diese Flexibilität am Arbeitsplatz erweitert [Reic82]. Durch die Ausführung vielfältiger Tätigkeiten sowie seiner Mobilität bzgl. der Einsätze über die Gruppen-, Abteilungs-, Werks- und Unternehmensgrenzen hinaus tauscht der Mitarbeiter das oft ortsgebundene Wissen aus und avanciert so zum Kompetenzträger und -distributor des Unternehmens. Insbesondere implizites Experten- und Erfahrungswissen, das sonst schwer zugänglich ist, kann so aus erster Hand weitergegeben werden. Organisationaler Rahmen Positive Fehlerkultur
Auch wenn der Wunsch nach einer Null-Fehler-Kultur oftmals von Seiten der Unternehmen als Ziel gesetzt wird, zeigt die Praxis, dass insbesondere der mobile Mensch in seinen verschiedenen Tätigkeiten nicht unfehlbar ist. Veränderungen bergen genau die Gefahr, insbesondere in der Anlaufphase neuer Prozesse bzw. Anlernphase des Mitarbeiters, dass dieser Fehler macht. In einer positiven Fehlerkultur, die auf die Kommunikation und Reflexion von Fehlhandlungen abzielt, wird dem Mitarbeiter die Möglichkeit gegeben, aus echten Fehlern zu lernen und Innovationspotenziale zur Vermeidung zukünftiger Fehlhandlungen zu erschließen. Eine positive Fehlerkultur nimmt dem Mitarbeiter die Angst vor Fehlhandlungen und ermutigt ihn, sich auf neue Anforderungen der Mobilität einzulassen, was sich somit positiv auf Leistung und Qualität seiner Arbeit auswirkt [DyBa05]. Kontinuierliche Aus- und Weiterbildung
Zur Unterstützung des flexiblen Mitarbeitereinsatzes ist die Förderung einer fortlaufenden Aus- und Fortbildung der Arbeitskräfte zur Mehrfachqualifikation unverzichtbar. Nach der Qualifizierungshypothese sind Mit-
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arbeiter erst durch breit angelegte Qualifikationen flexibel einsetzbar [FrKa00]. Insbesondere helfen Fortbildungen beim Umgang mit Veränderungen. Durch Schulung und Training gewinnt der Mitarbeiter Sicherheit im Umgang mit den verschiedenen, aus einem mobilen Mitarbeitereinsatz entstehenden Anforderungen. Zudem wird den Mitarbeitern die Angst vor neuen Tätigkeiten genommen und somit ihre Veränderungsfähigkeit gefördert. Die erforderliche Zeit für die Durchführung der Qualifizierungsmaßnahmen kann durch den Einsatz innovativer, virtueller aber realitätsnaher Lernmethoden reduziert werden. Würdigung der Einsatzflexibilität
Spezialisten gibt es auf allen Fachgebieten. Oft sind sie auch als solche bekannt, so dass ihnen das entsprechende Ansehen für ihre Qualifikation entgegengebracht wird. Um den Stellenwert eines Generalisten oder eben auch flexibel einsetzbaren Mitarbeiters gleichermaßen zu würdigen, können neben einem ehrlich gemeintem Lob auch plakative Darstellungen eingesetzt werden, um den Selbstwert des Mitarbeiters, aber auch seine Akzeptanz bei Vorgesetzten und Kollegen zu steigern. Beispielsweise können in der Logistik eigene „Berufsbezeichnungen“ wie „Logistikexperte“, oder „Rangabzeichen“ den „Flexibilitätsgrad“ eines Mitarbeiters in den Vordergrund rücken. Dabei muss die Auszeichnung in jedem Fall für jeden Arbeiter erreichbar sein und so den Besuch von Fortbildungen oder auch die Bereitschaft zum flexiblen Einsatz fördern. Der Status des Rangabzeichens ist jedoch kein Abzeichen auf Lebenszeit. Es kann ebenso wie erlernte Tätigkeiten verloren gehen und richtet sich demnach nach der momentanen Aktivität des Mitarbeiters bezüglich seiner Flexibilität. Kosten und Risiken des flexiblen Mitarbeiters Die Vorteile eines flexiblen Mitarbeitereinsatzes bergen auch Risiken für den Einzelnen in sich. Mit der durch Temporärarbeit (z. B. über kurzfristige Verträge) gewonnenen Flexibilität der Unternehmen werden oft eine verdeckte Maßnahme zur Lohnreduktion und eine Erhöhung der Arbeitsunsicherheit impliziert. „Flexibler Kapitalismus fördere Eigenschaften, die mit den traditionellen Vorstellungen eines „guten Charakters“ unvereinbar sind“, da der Einzelne gezwungen wird, sich immer kurzfristiger zu orientieren und dadurch Werte wie Treue und Verlässlichkeit verloren gehen [LoUe01]. Der flexible, betriebsübergreifende Personaleinsatz konfrontiert die Mitarbeiter zudem mit neuen Anforderungen wie der Anpassung an unter-
3.2.4 Flexibilisierung von Mitarbeitern
293
schiedliche Arbeitsbedingungen und dem Aufbau sozialer Kontakte in seiner neuen Aufgabe, welche durch die Kurzfristigkeit der Einsätze tiefere soziale Bindungen behindern und psychische Belastungen für die Mitarbeiter darstellen können. Von Wieland [WiKr02] konnte in einer Untersuchung zudem nachgewiesen werden, dass Leiharbeit bzw. Zeitarbeit regelrecht krank macht. Phasen der Konsolidierung, Ruhe und Stabilität werden trotz Teilzeitarbeit weniger, wobei diese jedoch essentiell sind für das Wohlbefinden und das Erhalten der Leistungsfähigkeit. Zudem müssen weniger qualifizierte Teilzeitarbeiter mit Lohneinbußen rechnen, verbunden mit schlechteren Sozialleistungen sowie geringeren Aufstiegschancen [LoUe01]. Um der Beschäftigungsunsicherheit beim flexiblen betriebsübergreifenden Personaleinsatz entgegenzuwirken, müssen im Arbeitsmarktsystem soziale Sicherheitssysteme geschaffen werden, die über das einzelne Arbeitsverhältnis hinaus wirksam sind und das Risiko von Flexibilität und Mobilität kalkulierbarer machen. Eine Möglichkeit hierfür ist die Schaffung so genannter Arbeitskräftepools, die nach bestimmten Standards der sozialen Absicherungen, wie z. B. einem Mindestgehalt, qualifizierte Arbeitskräfte für einen bestimmten Zeitraum an Betriebe „ausleihen“. Durch die Zugehörigkeit zum Arbeitskräftepool steht den Mitarbeitern dann anschließend an diese befristete Beschäftigung auch ein verlässliches Maß an sozialer Sicherheit zu [Wein96].
Resümee Auch in Zukunft wird die Anforderung der flexiblen Einsetzbarkeit von Mitarbeitern insbesondere in der Logistik weiter wachsen. Darauf deuten der weiter anhaltende Trend zum Outsourcing [Voss06] und die damit oftmals verbundene Kapazitätsverlagerung zur Steigerung von Flexibilität hin. Wie so oft besteht gerade hier in den meist kurzzeitigen Projekten die Gefahr, die Mitarbeiter und deren Bedürfnisse zu vernachlässigen. Dabei ließen sich oftmals bereits mit geringem Einsatz gerade auf dem Gebiet der Mitarbeiterflexibilität ungeahnte Potenziale hinsichtlich Reagibilität und Qualitätssteigerung erschließen, die meist nicht allein durch geeignete Flexibilisierungsmethoden, sondern insbesondere auch durch eine flexibilitätsfördernde Unternehmenskultur und einen humanen Umgang mit der wichtigsten Ressource des Unternehmens bewerkstelligt werden könnten.
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A. Endörfer, M. Sauerland, D. Walch
Literatur [Bran80] [FrKa00] [Koll81] [LoUe01]
[o.V.05] [Pfoh05] [PüKo90]
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3.2.5 Flexibler Kundenservice durch anpassungsfähige Software
M. Oberhofer, F. Müller, M. Hooites Meursing
Bedeutung der Anwendungsarchitektur In der Supply-Chain-Literatur besteht Konsens über die Architektur von Informationssystemen als wesentlicher Erfolgstreiber für die Planung und Steuerung von Liefernetzwerken [GuNg04, S.270]. Als großes Hindernis wird in diesem Zusammenhang die hochintegrierte Architektur verbreiteter ERP-Pakete, wie z. B. SAP R/3©, gesehen. Hier ist die Aufgabe „to move to a more modular, internet-like system architecture” [AkBo03, S.292]. Auch für Logistikdienstleister (LDL) sind die Anforderungen hinsichtlich der Auftragsabwicklung gewachsen. Kunden verlangen von dem Logistikdienstleister eine größere Flexibilität z. B. beim Austausch von Sendungsdaten. Gleichzeitig versuchen die LDL ihre Prozesse zu standardisieren. Für beide Anforderungen ist das Packstücklabel von großer Bedeutung. Deshalb ist die zentrale Frage dieses Beitrags, welche Anwendungsarchitektur für die Bereitstellung von Sendungsinformationen für den operativen Ablauf am geeignetsten ist. Im Rahmen dieser Fallstudie wird deutlich, welche Designparameter in der Anwendungsarchitektur für die Anpassungsfähigkeit eines LDL relevant sind. Dazu wird zuerst erläutert, wie Anwendungsarchitektur beurteilt werden kann. Im nächsten Schritt werden drei in der Praxis vorfindbare Anwendungsarchitektur-Instanzen für das Problem Packstücklabeldruck als Beispiel für flexiblen Kundenservice eines Logistikdienstleisters an der Schnittstelle zum Versender (z. B. 1st Tier Zulieferer) dargestellt und beurteilt. Das Ergebnis des Beitrags ist somit 1. die Darstellung von drei unterschiedlichen AnwendungsarchitekturInstanzen anhand eines Praxisbeispieles sowie
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M. Oberhofer, F. Müller, M. Hooites Meursing
2. die Beurteilung dieser unterschiedlichen AnwendungsarchitekturInstanzen. Zwar deckt die Fallstudie nicht die gesamte Anwendungslandschaft beteiligter Akteure ab, anhand dieses Ausschnitts lassen sich jedoch die Wirkzusammenhänge zwischen Architektureigenschaften und der betrieblichen Anpassungsfähigkeit ohne weitere Einschränkung zeigen.
Wie kann eine Anwendungsarchitektur beurteilt werden? Designentscheidungen auf Anwendungsarchitekturebene haben Auswirkungen auf Implementierungs-, Betriebs- und Wartungsaufwand des Informationssystems (z. B. [Piet03, S.45]). Implementierungsaufwand entsteht durch Tätigkeiten, die zur initialen Gestaltung eines Informationssystems durchgeführt werden, um neue betriebliche Aufgabenbestandteile im Informationssystem aufzunehmen oder eine neue Zuordnung betrieblicher Aufgabenbestandteile auf Aufgabenträger vorzunehmen (z. B. Automatisierung der Produktionsprogrammplanung). Implementierungskosten beinhalten Kosten für die Gestaltung des Systems, sowie gegebenenfalls die Softwareentwicklung und die Mitarbeiterschulung. Für die Aufgabendurchführung fallen Kosten für Infrastrukturnutzung und Personaleinsatz oder – im Fall einer ASP1-Lösung – variable Kosten pro Transaktion an. Obwohl der Wartungsaufwand in zahlreichen Fällen den größten Anteil am Gesamtaufwand im Lebenszyklus eines Informationssystems ausmacht [KrBu94], sind Modelle zur Abschätzung dieser Größe bislang nur wenig ausgereift. Deshalb muss auf Struktureigenschaften zurückgegriffen werden, die die Wartbarkeit eines Systems beeinflussen [Müll07]. Im folgenden Anwendungsbeispiel wird pro Architekturvariante jeweils eine Einschätzung des Implementierungs-, des Betriebs- und des Wartungsaufwands vorgenommen. Diese Beurteilung erfolgt anhand einer einfachen Ordinalskala auf Grundlage plausibler Überlegungen und der Erfahrung von Experten. Für den Wartungsaufwand werden jeweils die Auswirkungen verschiedener Änderungsszenarios untersucht. Diese sind: 1. Änderung des Packstück-Nummernkeises des Verladers, 2. Änderung der Routingtabelle, 3. Änderung des Layouts des Packstücklabels, 4. Anbindung neuer Kunden (LDL), sowie 1
Application Service Provider
3.2.5 Flexibler Kundenservice durch anpassungsfähige Software
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5. Anbindung neuer LDL (Verlader).
Anwendungsarchitektur für die Packstückbelabelung aus Sicht eines Logistikdienstleisters Logistikdienstleister stellen heutzutage ihren Kunden eine Palette von Services zur rationellen Auftragsabwicklung bereit. EDI und Webportale haben Speditionsaufträge und Lieferscheine in Papierform weitgehend abgelöst. Elektronische Statusrückmeldungen und Track&Trace sind Standard geworden. All diese Techniken haben das Ziel, die übergebenen Sendungen möglichst schnell auf den Transportweg zum Empfänger zu bringen und den Auftraggeber mit aktuellen Statusmeldungen zu versorgen. Der elektronische Austausch von Daten fördert aber nur dann die Ausführung in der logistischen Prozesskette, wenn die Packstücke, seien es Pakete oder Paletten, auch mit einem dazu passenden Packstücklabel versehen sind (Abbildung 1). Das Packstücklabel erfüllt gleich mehrere Zwecke. Die Packstückidentifikation bei Abholung, Umschlag und Zustellung übernimmt eine eindeutige Nummer als Barcode oder RFID. Der Standard hierbei ist die Nummer der Versandeinheit (NVE/SSCC). Die weiteren Informationen auf dem Packstücklabel wie Empfängername, die Anzahl Packstücke der gesamten Sendung und die Zielstation des LDL (Routing) sind ebenfalls wichtig. Sie vereinfachen die Sichtkontrolle im Warenumschlag.
Abbildung 1: Packstücklabel
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M. Oberhofer, F. Müller, M. Hooites Meursing
Die Prozesskette läuft optimal, wenn das Label bereits vom Versender auf dem Packstück angebracht wird und die dazugehörenden Sendungsdaten incl. der Packstücknummern elektronisch an den LDL übermittelt werden. Das Packstück kann dann ohne zusätzlichen operativen und administrativen Prozess im Produktionssystem des LDL weitergeleitet werden. Die spezielle Herausforderung besteht in diesem Ablauf darin, dass die Routinginformation auf dem Packstücklabel nur mit aktuellen Informationen aus dem System des LDL erzeugt werden kann. Außerdem ist die Integration von EDI und Packstücklabel in den Systemen der Versender oft mit großem Aufwand verbunden. Um den Versendern die Abläufe zu vereinfachen bieten die LDL für Labeldruck und EDI spezielle Lösungen, je nach Bedarf des Kunden einfache Vordrucke, komplette PC-Lösungen mit Hardware und Software und, ganz im Trend, Web-Anwendungen und Webservices. Variante 1: Komplettsystem beim Versender
Abbildung 2: Anwendungsarchitektur Packstückbelabelung (Variante 1)
Die Bereitstellung eines Komplettsystems mit Hardware und Software durch den LDL war bis zur allgemeinen Durchdringung und Akzeptanz des Internets die einfachste Lösung, wenn der Versender ohne eigene
3.2.5 Flexibler Kundenservice durch anpassungsfähige Software
299
Änderung seiner IT-Systeme EDI und Packstücklabel nach dem Standard seines LDL praktizieren wollte (Abbildung 2). Diese Lösung wird heute insbesondere noch von Paketdienstleistern favorisiert, die großen Wert darauf legen, von ihren Kunden Packstücklabel nach ihren Vorgaben zu erhalten. Beurteilung der Variante 1 Die Beurteilung der Anwendungsarchitektur-Varianten greift zurück auf die dargestellten Änderungsszenarios. Die Variante 1 ist mit einem hohen Implementierungsaufwand für beide Akteure verbunden: • Erstens muss eine eigenständige Software entwickelt werden, die nicht direkt auf die bestehende, zentrale Daten- und Logik-Infrastruktur beim LDL zurückgreifen kann. • Zweitens ist die Installation von Hardware und Software beim Verlader notwendig, was mit Personal- und Infrastrukturkosten verbunden ist. • Drittens entstehen beim Kunden Kosten für die Schulung der Mitarbeiter zur Nutzung der Spezialsoftware. Während des Betriebs muss der LDL Support-Mitarbeiter zur dezentralen Betreuung der Lösung einsetzen. • Viertens ist die Realisierung des Interface zum ERP-System des Verladers in der Regel mit aufwändigen Softwareanpassungen verbunden. Die Änderungsszenarios sind für diese Variante wie folgt zu beurteilen: 1. Änderung des Packstück-Nummernkreises: Bei einer Änderung des Packstück-Nummernkreises des Verladers müssen Änderungen an der Software des Kunden und am zentralen Kundendatensatz beim LDL durchgeführt werden. Je nach Gestaltung der Software lassen sich diese Änderungen über die Oberfläche oder eine Konfigurationsdatei ändern, so dass der Aufwand als gering eingeschätzt werden kann. 2. Änderung der Routingtabelle: Bei einer Änderung der Routingtabelle des LDL müssen sämtliche Kundeninstallationen und die zentrale Routingdatei aktualisiert werden. Im Idealfall könnte die Software beim Verlader automatisch Updates der Routingtabelle von einem zentralen Server beziehen. Ebenfalls besteht die Gefahr, dass bei einer Änderung die neue Routingdatei nicht zeitnah eingespielt werden kann.
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3. Änderung des Layouts des Packstücklabels: Das Layout ist dezentral beim Verlader gespeichert. Eine Änderung verursacht bei jedem Kunden, der die Auftragsabwicklung mittels Variante 1 durchführt, einen hohen Aufwand. 4. Anbindung neuer Kunden (LDL): Der Aufwand für die Anbindung neuer Kunden ist relativ hoch (Implementierungskosten beim Verlader), weshalb sich die Anbindung meistens nur bei Verladern mit einem hohen Aufkommen rechtfertigt. 5. Anbindung neuer LDL (Verlader): Bei einer Anbindung an einen anderen LDL muss von diesem LDL ebenfalls ein dezentrales System installiert werden. Somit ist der Aufwand hoch. Der Verlader läuft die Gefahr in mehreren Systemen für die Auftragsabwicklung arbeiten zu müssen. Variante 2: Webanwendung beim LDL Schlankere Lösungen kamen auf Basis der Internettechnologie. Heute bieten nahezu alle Logistikdienstleister Auftragserfassung und Labeldruck auch über Webportale (Abbildung 3). Diese Angebote finden insbesondere bei Versendern mit geringeren Mengen eine hohe Akzeptanz.
Abbildung 3: Anwendungsarchitekur Packstückbelabelung (Variante 2)
3.2.5 Flexibler Kundenservice durch anpassungsfähige Software
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Beurteilung der Variante 2 In dieser Variante entfallen Entwicklungskosten für eine dezentrale Software beim Verlader. Dort fallen weiterhin Kosten für die Schulung der Mitarbeiter an. Im Vergleich zu Variante 1 sind die Implementierungskosten geringer, da auf die zentrale Plattform des LDL aufgesetzt werdenkann; zudem können Web-Applikationen in vielen Fällen schneller entwickelt werden. Im produktiven Einsatz fallen höhere Infrastrukturkosten beim LDL an, da zusätzlich ein Webserver und ein Applikationsserver betrieben werden müssen. Da derartige Web-Anwendungen von vielen Anwendern in den verladenden Betrieben oftmals „intuitiv“ bedienbar sind, ist der Supportaufwand geringer. Nichtsdestotrotz müssen die Mitarbeiter des Verladers pro LDL eine eigene Software bedienen und Auftragsdaten manuell eingeben. Dies verursacht Aufwand und kann zu Fehlern in der Abwicklung führen. Die Änderungsszenarios für diese Variante sind wie folgt zu beurteilen: 1. Eine Änderung des Nummernkreises des Verladers muss in einer zentralen Datei beim LDL nachvollzogen werden. 2. Eine Änderung der Routingtabelle kann zentral für alle Kunden gleichzeitig in der Datenbank des LDL durchgeführt werden, so dass zukünftige Sendungen ab einem bestimmten Datum „automatisch“ über das aktuelle Routing abgewickelt werden können. 3. Änderungen des Layouts des Packstücklabels müssen in lediglich einer Komponente durchgeführt werden, die auch nur beim LDL „deployed“ ist (siehe Abbildung 2: „Label Printing PDF-Service“). 4. Die Anbindung neuer Kunden an dieses Anwendungssystem ist in Variante 2 ohne zusätzlichen Aufwand möglich2, da auf den zentralen Kundendatenstamm beim LDL zurückgegriffen werden kann. 5. Aus Sicht des Verladers ist die Anbindung an neue LDL ohne zusätzlichen technischen Aufwand möglich. Der Schulungsaufwand bleibt, da die Anwendungen der LDL unterschiedlich sind. Variante 3: Webanwendung beim LDL mit Java-Applet für Versender Die Anforderungen von Versendern gehen nun dahin, Webservices der LDLs möglichst elegant in die eigenen ERP- bzw. Versandsysteme zu in2
Vorausgesetzt, der Verlader verfügt über eine Internetverbindung.
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M. Oberhofer, F. Müller, M. Hooites Meursing
tegrieren. Auch diesen Anforderungen kommen die LDL mit der Entwicklung individueller Komponenten in Form von Java Applets entgegen (Abbildung 4). Beurteilung der Variante 3 In Variante 3 fallen sowohl beim LDL als auch beim Verlader Implementierungskosten an. Der LDL muss eine Client-Software (Applet) entwickeln, um die Daten des ERP-Systems zu importieren und um die Kommunikation mit den zentralen Komponenten zu realisieren, sowie eine zentrale Logik für die Übernahme der Aufträge vorhalten. Der Verlader muss den Export der Auftragsdaten aus seinem ERP-System implementieren und Mitarbeiter für die Benutzung des Applets schulen.
Abbildung 4: Anwendungsarchitekur Packstückbelabelung (Variante 3)
Im Vergleich zu den Varianten 1 und 2 ist der Schritt der Übernahme der Aufträge aus dem Versandsystem teilautomatisiert, so dass im laufenden Betrieb weniger Aufwand für das Anlegen der Versandaufträge anfällt und Fehler vermieden werden können. Dadurch, dass die Mitarbeiter beim Kunden nur für die Übermittlung eine Spezialsoftware nutzen müssen, ist
3.2.5 Flexibler Kundenservice durch anpassungsfähige Software
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kein umfangreicher Support erforderlich. Die Änderungsszenarios sind bei dieser Variante wie folgt zu beurteilen: 1. Sowohl bei einer Änderung des Nummernkreises des Verladers (1) als auch bei der Änderung der Routingtabelle (2) als auch bei der Änderung des Layouts des Packstücklabels (3) müssen lediglich zentrale Komponenten beim LDL angepasst werden (hier z. B. „Create PDFLabel“, „Kunden-Configuration“). Dadurch, dass der Client bei jedem Aufruf neu geladen wird (Java Applet), kann sichergestellt werden, dass der Verlader jeweils mit der aktuellen Version arbeitet. 2. Sollen neue Kunden mit dieser Anwendungsarchitektur angebunden werden (4), muss vom LDL in Abstimmung mit dem Kunden ein spezielles Import Interface zur Übernahme der Daten aus dem ERPSystem implementiert werden. Beim LDL müssen außerdem die zentralen Kundenstammdaten angepasst werden. Der Aufwand ist somit geringer als in Variante 1, aber höher als in Variante 2. 3. Möchte ein Verlader Aufträge über mehrere LDL (5) abwickeln, ist Grund-voraussetzung, dass der LDL diese Anwendungsarchitektur in seinem Service Portfolio anbietet. Für jeden LDL müssen dann spezielle Interfaces implementiert werden.
Zusammenfassung Anhand der Fallstudie „Packstücklabeldruck“ konnte gezeigt werden, welchen Einfluss Architekturentscheidungen auf Implementierungs-, Betriebsund Wartungsaufwand haben. Während das Verhältnis zwischen Implementierungs- und Betriebskosten vor allem durch die Größe des Kunden und das Frachtaufkommen beeinflusst werden, ist die zu erwartende Wartbarkeit für sämtliche Varianten relevant. Diese wichtigen Interfaces zwischen Versender und Logistikdienstleister werden sich mit den Neuerungen der Netzwerk- und IT-Technologie weiterentwickeln. Ziel bleibt ein hoher Grad an Funktionalität und Integrität auf Basis einer schlanken IT-Architektur und damit einer geringen Komplexität.
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M. Oberhofer, F. Müller, M. Hooites Meursing
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3.2.6 Nutzenverteilungsmodell NutzLog im Praxiseinsatz
H. Wildemann, B. Boeck, P. Wahl
Die Notwendigkeit der Nutzenquantifizierung Die Zielsetzung einer Kollaboration ist es, mehr Effizienz zu gewinnen und Synergien durch Zusammenarbeit zu heben. Lieferanten, Logistikdienstleister und Hersteller arbeiten gemeinsam an der Erstellung von Produkten und sind teilweise direkt, teilweise indirekt an der Schaffung von Wertpotenzialen beteiligt. In diesem Zusammenhang spielt Supply Chain Management (SCM) als Organisations- und Managementphilosophie, die durch eine prozessoptimierende Integration der Aktivitäten der am Wertschöpfungssystem beteiligten Unternehmen auf eine unternehmensübergreifende Koordination und Synchronisierung der Informations- und Materialflüsse zur Kosten-, Zeit- und Qualitätsoptimierung zielt [Wild00], eine zentrale Rolle. In der Theorie ist dieses Konzept mehr als hinreichend analysiert und beschrieben worden, doch die praktische Umsetzung dieses Konzeptes weicht oft erheblich von der wissenschaftlichen Betrachtungsweise ab. Die isolierte und funktionsbezogene Sichtweise von Unternehmen verhindert oftmals, dass Potenziale voll auszuschöpfen sind, da in vielen Bereichen Suboptima entstehen, die ein Gesamtoptimum verhindern [KaDu03]. Der „Lopez-Effekt“ der Kostenabwälzung vom OEM auf Lieferanten und die daraus folgende Negativstimmung bei der Erwähnung des Wortes „Partnerschaft“ in der Automobilzulieferindustrie verhindert so beispielsweise die Erzielung gemeinsamer Systemoptima [Hoek98]. NutzLog zeigt auf, wie Transparenz über den logistischen Nutzen in Wertschöpfungsnetzwerken die Zusammenarbeit fördern kann und untersucht den Vorteilsausgleich auf Basis der Nutzenverteilung [Wild05a]. Das Forschungsprojekt hat das Ziel, ein Anwendungskonzept zu schaffen, das den logistischen Nutzen anhand von messbaren als auch nicht direkt messbaren Größen (Softfacts) identifiziert und quantifiziert. Wesentliche
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H. Wildemann, B. Boeck, P. Wahl
Inhalte sind zum einen die Überführung von nichtmessbaren in messbare Größen, zum anderen die eigentliche Entwicklung einer Verteilungssystematik des logistischen Nutzens auf Basis der ermittelten Zielgrößen. Das Anwendungskonzept wird so erstellt, dass eine Übertragbarkeit auf die gesamte Supply Chain (OEM bis Tier n) sichergestellt ist. Zur Erreichung dieses Ziels wurde im Rahmen des Teilprojektes NutzLog in enger Kooperation mit den beteiligten Industriepartnern ein Tool entwickelt, mit dem diese Fragestellungen im Praxiseinsatz beantwortet werden können. Dieses Tool gibt den assoziierten Akteuren einer Wertschöpfungsbeziehung die Möglichkeit, die Nutzenverteilung unter Berücksichtigung verschiedener logistischer Konzepte zu bestimmen und zu quantifizieren. Berücksichtigt dabei werden die akteursindividuellen Kosten für Hochlauf und Betrieb des logistischen Konzeptes. Das Tool eignet sich sowohl für eine Beurteilung bereits implementierter Logistikkonzepte als auch als Entscheidungshilfe bei anstehenden Veränderungen von Waren- und Informationsflusssystemen. Die empirisch validierte Nutzenverteilung und -entwicklung schafft die Grundlage für objektive Vertragsverhandlungen, die Bereitschaft zu einer partnerschaftlichen Kooperation und damit die Erreichung des Systemoptimums der Leistungserstellungsbeziehungen. Neben Abnehmern und deren Zulieferern werden im NutzLog-Tool auch die Logistikdienstleister als Koppler der Güterströme bei der Nutzenbeurteilung berücksichtigt. Dabei wurde auch die Entwicklung berücksichtigt, dass diese Akteursgruppe zunehmend als Outsourcing-Partner umfangreiche Wertschöpfungsanteile der Hersteller übernimmt und somit aktiver denn je in die Wertschöpfungskette eingreift.
Vorgehensweise und Ergebnisse der toolbasierten Nutzenquantifizierung Die bewusste Ausnutzung von Informationsasymmetrien ist in der Praxis ein häufig eingesetztes Instrument zur Optimierung der eigenen Wettbewerbssituation. Diese Eigenoptimierung behindert signifikant die Erreichung des Systemoptimums. Potenziale zur Schaffung effizienter und wertorientierter Wertschöpfungsbeziehungen können nicht im vollen Umfang realisiert werden. Die optimale Gestaltung der zwischenbetrieblichen Beziehungen muss jedoch als ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil verstanden werden, da in Zukunft nicht mehr einzelne Unternehmen gegeneinander antreten, sondern auf Grund der intensiven unternehmensübergreifenden Integration der
3.2.6 Nutzenverteilungsmodell NutzLog im Praxiseinsatz
307
Wertschöpfungsaktivitäten ein Wettbewerb zwischen Wertschöpfungsketten stattfinden wird [Chri98, S.16; CoGa02, S.4; Lamb98, S.1; Pfoh00, S.9; Wild05a, S.504]. Wesentlicher Erfolgsfaktor partnerschaftlicher Wertschöpfungsaktivitäten ist die Bereitschaft zur Schaffung von Transparenz über Nutzen- und Kostenimplikationen der gemeinschaftlichen Konzeptimplementierung und die Bereitwilligkeit zum Abbau von Informationsbarrieren. Die meisten Leistungserstellungsbeziehungen sind durch Machtasymmetrien zwischen den Akteuren gekennzeichnet. Unternehmen mit schwächeren Machtpositionen und höheren Abhängigkeit scheuen die Offenlegung von Informationen aus Angst, dem dominierenden Unternehmen damit Argumente zur Forderung nach weiteren Kostenreduktionen zu liefern. Deswegen ist es empfehlenswert, externe Moderatoren bzw. Mediatoren mit der Analyse der Nutzen- und Kostenverteilung zu betrauen. Durch die Installation einer solchen übergeordneten und neutralen Instanz kann erreicht werden, dass die Beteiligten der Offenlegung der relevanten Kostendaten zustimmen und Vertrauen in eine faire – weil unabhängige – Nutzenanalyse fassen. Das im Rahmen des Teilprojektes NutzLog entwickelte Tool erlaubt eine logistikkonzeptspezifische Analyse der Nutzen- und Kostenverteilung. Im ersten Schritt werden daher die erforderlichen Basisdaten erhoben. Dazu gehören die Auswahl des betrachteten Logistikkonzeptes und die Bestimmung der beteiligten Akteure. Hinterlegt im Tool sind derzeit acht logistische Konzepte, die von den beteiligten Praxispartnern als besonders relevant erachtet wurden. Dies sind Just-in-Time, Just-in-Sequence, Kanban, Vendor Managed Inventory, Pick Up, das Auftragsreihenfolgekonzept, Ship-to-Stock/-Line und das Kapazitätsmanagementkonzept. Das Tool wurde so konzipiert, dass es jederzeit um ergänzende Konzepte erweitert werden kann. Bei der Auswahl der beteiligten Akteure kann der individuellen Konstellation des Projektes Rechnung getragen werden. Die Analysefunktion berücksichtigt Nutzen- und Kostenaspekte Die Analyse der projektspezifischen Situation fußt auf zwei wesentlichen Elementen, die im Forschungsvorhaben erarbeitet worden sind. Zum einen wird die akteursindividuelle Kostenwirkung der Konzepteinführung analysiert. Ausgewertet werden die relativen Kostenveränderungen durch die Einführung des jeweiligen logistischen Konzeptes und die absoluten Kosten des Konzeptbetriebes. Zur Aufnahme der Kostenarten wurde in enger Zusammenarbeit mit den beteiligten Industrieunternehmen und Logistik-
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H. Wildemann, B. Boeck, P. Wahl
dienstleistern ein übergreifend einsetzbares Kostengerüst entwickelt. Das Kostengerüst gliedert sich in folgende sieben Kostenhauptkategorien (siehe Abbildung 1): Steuerungs- und Systemkosten
Diese Kosten umfassen z. B. die Personalkosten für die administrative Logistik sowie Kosten für Logistikplanungs- und Steuerungsaufgaben, die Kundendisposition sowie Projekte und Overheadkosten. Ferner werden unter dieser Kategorie die Kosten für die Informationslogistik und die Anlaufkosten der Konzepteinführung erfasst.
Bestandskosten
Unter diese Kostenkategorie fallen Kapitalbindungskosten, Versicherungskosten sowie Abwertungen und Verluste.
Lagerkosten
In dieser Kategorie wird zwischen den Fixkosten zur Bereitstellung von Lagerkapazitäten und den variablen, volumenabhängigen Kosten der Ein- und Auslagerungsprozesse unterschieden.
Transportkosten
Unterschieden wird in dieser Kostenkategorie zwischen den Kosten der Eingangstransporte, der innerbetrieblichen Transporte und den Ausgangstransporten. Ferner wird in jeder der drei Unterkategorien zwischen fixen Bereitstellungs- und variablen Betriebskosten unterschieden.
Handlingkosten
Im Bereich der Handlingkosten wird zwischen fixen Bereitstellungskosten und variablen Betriebskosten unterschieden.
Verpackungskosten
Analog den Handlingkosten findet in dieser Kostenkategorie eine Unterscheidung zwischen Bereitstellungs- und Betriebskosten statt.
Sonstige Kosten
Unter dieser Kostenkategorie werden weitere Kostenkategorien zur Kalkulation eines logistischen Konzeptes berücksichtigt. Insbesondere kann hier die Berücksichtigung von Fremdleistungskosten, anteiligen Gemeinkosten und Qualitätskosten sichergestellt werden.
Abbildung 1: Kostenkategorien im NutzLog-Tool
Zum anderen werden die akteursspezifischen Nutzenwirkungen der Konzepteinführung aufgezeigt (siehe Abbildung 2). Die Wirkungsanalyse basiert auf den Forschungsaktivitäten, die zusammen mit den Industriepartnern durchgeführt worden sind. In zahlreichen Fallstudienanalysen, Praxisworkshops und Experteninterviews mit Unternehmen aus unterschiedlichen Wertschöpfungsstufen wurden repräsentative Kennzahlen und deren Entwicklung bei Wechsel auf ein neues Logistikkonzept identifiziert und analysiert. Die für den jeweiligen Akteur entweder vorteilhaften oder nachteiligen Kennzahlenentwicklungen werden dabei den betroffenen Prozesssequenzen zugeordnet.
3.2.6 Nutzenverteilungsmodell NutzLog im Praxiseinsatz Konzept alt
Konzept neu
Kennzahl z.B. Durchlaufzeit
309
Entwicklung
+
sinkt drastisch
sinkt deutlich
sinkt mittelmäßig
sinkt leicht
keine Änderung
steigt leicht
steigt mittelmäßig
steigt deutlich
steigt drastisch
bzw. kein Einfluss
Entwicklung z.B. Distributionsperformance
+
sinkt drastisch
sinkt deutlich
sinkt mittelmäßig
sinkt leicht
keine Änderung
steigt leicht
steigt mittelmäßig
steigt deutlich
steigt drastisch
bzw. kein Einfluss
Abbildung 2: Schematische Darstellung der Kennzahlenentwicklung
Über die Kennzahlenentwicklungen kann der akteursindividuelle Nutzen bestimmt werden. Der Nutzenentwicklung muss dabei die Veränderung der Kostensituation durch die Einführung eines neuen logistischen Konzeptes gegenübergestellt werden. Die Konsolidierung und Gegenüberstellung der analysierten Nutzen- und Kosteneffekte bilden die Grundlage für die Auswertung des betrachteten individuellen Projektes durch das Tool. Die Auswertung ermöglicht eine umfassende Beurteilung der Konzepte Das Auswertungsmodul des NutzLog-Tools bietet den Anwendern zahlreiche Optionen, um die Implikationen der Einführung eines neuen logistischen Konzeptes akteursübergreifend beurteilen zu können. Die individuellen Effekte der beteiligten Unternehmen werden konsolidiert, um eine umfassende Aussage über die Nutzen- und Kostenverteilung der gesamten Leistungserstellungsbeziehung ableiten zu können (siehe Abbildung 3):
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H. Wildemann, B. Boeck, P. Wahl
Abbildung 3: Übersicht der Auswertungen im NutzLog-Tool
Darstellung der Prozesswirkungen
Hierbei wird dargestellt, welche Prozesse von der Konzeptimplementierung betroffen sind. Visualisiert werden wegfallende und neu hinzukommende Prozesssequenzen. Darüber hinaus werden die relevanten Kennzahlenentwicklungen des betrachteten Konzeptes aufgezeigt und der davon betroffenen Sequenz zugeordnet. Konsolidierung der Kosteneffekte
In dieser Auswertung werden die absoluten Kosten und die relative Kostenentwicklung durch die Konzepteinführung aufgezeigt. Bei der Zusammenführung der Analysedaten der einzelnen Akteure wird deutlich, wer welchen Anteil an den absoluten Gesamtkosten trägt und welche Kostenentwicklung die Konzepteinführung bei den betrachteten Unternehmen verursacht. Es wird durch den Tooleinsatz darstellbar, ob das gesamte System durch die Konzepteinführung unter Kostengesichtspunkten besser oder schlechter gestellt wird.
3.2.6 Nutzenverteilungsmodell NutzLog im Praxiseinsatz
311
Konsolidierung der Nutzeneffekte
Bei dieser Auswertungsfunktion werden die einzelnen Nutzenwirkungen entlang der betrachteten Wertschöpfungskette dargestellt. Es wird der Gesamtnutzen für das System nachgewiesen und dem Ort seines Wirksamwerdens zugeordnet. Neben der Gesamtnutzenanalyse ist es bei dieser Auswertung auch möglich, die Nutzeneffekte bei den einzelnen Akteuren darzustellen und zu vergleichen. Sowohl für das Gesamtsystem als auch für die akteursspezifische Auswertung werden positive und negative Nutzenentwicklungen berücksichtigt. Auswertung von Kennzahlenwechselwirkungen
Dieses Tool-Element visualisiert die einzelnen Abhängigkeiten der Kennzahlen untereinander. Es wird aufgezeigt, ob sich Kennzahl B bei Veränderung der Kennzahl A gleichgerichtet oder ungleichgerichtet entwickelt (Diese Abhängigkeiten bestehen jedoch nicht zwischen allen Kennzahlen). Die analysierten Wechselwirkungen haben eine konzeptübergreifende Gültigkeit. Aussagen können sowohl zu unternehmensinternen als auch unternehmensübergreifenden Kennzahlenabhängigkeiten getroffen werden. Auswertung der Entwicklung weicher Faktoren
Die Berücksichtigung nicht direkt messbarer Größen und deren Quantifizierung spielt beim NutzLog-Ansatz eine wesentliche Rolle. Im Rahmen der Forschungsaktivitäten wurden zusammen mit den Industriepartnern die relevanten Soft Facts einer effizienten unternehmensübergreifenden Zusammenarbeit identifiziert. Die Entwicklung dieser Faktoren wird über deren Zusammenhang mit der messbaren Entwicklung repräsentativer Kennzahlen quantifizierbar. Dadurch wird es möglich aufzuzeigen, welche Auswirkungen die Änderung eines logistischen Konzeptes auf die in hohem Maße die Qualität und Effizienz der Zusammenarbeit bestimmenden Soft Facts hat. Beispielsweise kann dadurch eine Indikation gegeben werden, wie sich durch den Wechsel des logistischen Konzeptes die Transparenz der Zusammenarbeit oder die Flexibilität der einzelnen Akteure und der Wertschöpfungskette entwickelt. Auch bei dieser Auswertung können sowohl positive (vorteilhafte) als auch negative (nachteilige) Soft FactEntwicklungen dargestellt werden. Bilanzierung der Nutzen-Kostenverteilung der Konzepteinführung
Diese zusammenfassende Auswertung erlaubt eine ganzheitliche Darstellung aller durch die Konzepteinführung induzierten Nutzen- und Kostenef-
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H. Wildemann, B. Boeck, P. Wahl
fekte. Die Auswertung stellt die einzelnen Nutzenanteile der beteiligten Akteure deren Kostenanteilen gegenüber. Ferner wird durch eine Konsolidierung der Einzeleffekte eine Gesamtbeurteilung der Nutzen-KostenRelation auf der Betrachtungsebene der gesamten Wertschöpfungskette möglich. Die Bilanzierung der Nutzen- und Kosteneffekte erlaubt eine präzise Beurteilung, welcher Akteur in welchem Umfang Nutzen aus der Konzepteinführung zieht bzw. wie die anfallenden Kosten zwischen den Beteiligten verteilt sind. Damit bildet die Bilanz eine robuste Grundlage für einen Vorteilsausgleich bzw. ein Verteilungsmodell auf Basis der erhobenen Nutzen- und Kostenanteile.
Zusammenfassung Die Forschungsergebnisse von NutzLog und das in diesem Kontext entwickelte IT-Tool zur konzeptspezifischen Quantifizierung der Nutzenverteilung liefern einen wertvollen Beitrag zur Beurteilung der Vorteilhaftigkeit von logistischen Konzepten unter Berücksichtigung der konzeptkorrespondierenden Kosten. Damit ebnet es den Weg für einen Paradigmenwechsel hinsichtlich der Kooperationseinstellung von Unternehmen. Die durch das Tool ermöglichte objektive Beurteilung der Nutzenverteilung hilft, Vorbehalte gegenüber unternehmensübergreifender Transparenz abzubauen und schafft damit die Voraussetzungen für faire, partnerschaftliche Kooperationen, bei denen die Erreichung des Systemoptimums und damit die für alle beteiligte Unternehmen vorteilhafteste Supply ChainKonfiguration im Vordergrund steht. Vor dem Hintergrund des Wettbewerbs zwischen Supply Chains leistet das Forschungsergebnis einen wesentlichen Beitrag zur Schaffung wettbewerbsfähiger, wertorientierter und zukunftsfähiger Wertschöpfungsbeziehungen. Die außerordentlich intensive Beteiligung der Industriepartner am Forschungsvorhaben NutzLog unterstreicht die hohe Relevanz des neuen Ansatzes. Das für den Praxiseinsatz geschaffene Nutzenverteilungsmodell ergänzt das Logistik-Toolset, das im Rahmen vorangegangener Forschungsaktivitäten am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre - Unternehmensführung, Logistik und Produktion an der Technischen Universität München entwickelt worden ist. Neben dem SCM-Check zur Selbstauditierung und Ableitung von Handlungsempfehlungen für eine Optimierung der Logistik, dem Logistik-Potential-Check zur Messung des Wertbeitrages der Logistik am Unternehmenserfolg und dem Value Check zur Analyse der Wirkung logistischer Maßnahmen auf den operativen Cash-flow, ist es nun möglich,
3.2.6 Nutzenverteilungsmodell NutzLog im Praxiseinsatz
313
den Unternehmen auch ein robustes Instrument zur Analyse der Nutzenverteilung in Wertschöpfungsbeziehungen zur Verfügung zu stellen. Informationen zum Logistik-Toolset im Internet: www.tcw.de
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H. Wildemann, B. Boeck, P. Wahl
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4
Planung – adaptiv und nachhaltig
4.1 Analyse und Methodik adaptiver Logistikplanung
Nichts geschieht von selbst, sondern alles infolge eines Grundes und aus dem Grund der Notwendigkeit. Leukipp von Milet
4.1.1 Einflussfaktoren auf die Logistikplanung im automobilen Netzwerk
M. Schedlbauer, M. Scheuchl
Ausgangsbasis und Hintergründe Zur effizienten und adaptiven Gestaltung der Logistikplanung ist eine umfassende Kenntnis des Planungsumfeldes erforderlich. Für das in PlanLog konzipierte, standardisierte Planungsvorgehen ist dies insbesondere zur Konfiguration der aufgabenspezifischen Planungsbausteine von besonderer Bedeutung. Die Auswahl der richtigen Bausteine sowie die ergebnisorientierte Fokussierung innerhalb des Planungsprozesses kann jedoch nur bei Beachtung der Auslöser, der Randbedingungen sowie der Einflussfaktoren im automobilen Netzwerk sichergestellt werden. Aus dieser Problemstellung ergeben sich drei entscheidende Fragen: • Welche Faktoren lösen Planungen in der Logistik aus? • Welche Einflüsse sind dabei zu beachten? • Durch welche Planungsrestriktionen ist welcher Partner im automobilen Netzwerk besonders betroffen? Zu deren Beantwortung wurden Experteninterviews bei Industriepartnern (Fahrzeughersteller (OEM) und Zulieferer) des Forschungsverbundes ForLog durchgeführt. Befragt wurden Mitarbeiter aus der strategischen wie auch operativen Logistikplanung (siehe Abbildung 1). Grundlage der Interviews war ein strukturierter Fragebogen, der in verschiedene geschlossene und offene Frageteile untergliedert war und schrittweise von den Ursachen für Planungsaufträge hin zu den Einflüssen während des Planungsprozesses führte. Hierbei erfolgte eine Fokussierung auf die folgenden acht Hauptcluster: Produkt, Prozess und Produktion, Logistik-Prozess, Struktur und Fläche, Mitarbeiter, Gesetz und Umfeld, Markt und Unternehmensstrategie.
M. Schedlbauer, M. Scheuchl
Befragungsintensität
operativ
strategisch
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Lieferant
OEM Versorgung
Produktion
TYP
1st-tier
Transport
Wareneingang
Lager
Montage
Abbildung 1: Befragungsintensität
Als Ausgangsbasis zur Einordnung der gewonnenen Ergebnisse wurde zunächst eine erste Strukturierung erstellt. Diese gliedert sich nach dem zeitlichen Horizont sowie dem Ursprung der Faktoren, die als entweder „auslösend“ oder „beeinflussend“ definiert sind. Grundlage der Unterteilung nach zeitlichem Fokus ist die Zeitspanne zwischen Auftreten (=Erkennen) eines Faktors und dem angestrebten Reaktionszeitpunkt als Unterscheidungskriterium. Die Einteilung erfolgt dementsprechend in strategische, taktische und operative Elemente. Bei der Kategorisierung des Ursprungs eines Einflusses werden interne (Entstehung innerhalb des Unternehmens) und externe (Entstehung außerhalb des Unternehmens) Impulse unterschieden [Gude99], wobei erstere weiter in die drei Bereiche „Produkt“, „Prozess“ sowie „Ressourcen und Akteure“ untergliedert werden. Planungseinflüsse externen Ursprungs sind nach den Kategorien „Absatzmarkt“, „Umwelt“ sowie „Beschaffungsmarkt“ eingeteilt. Im folgenden Abschnitt werden zunächst die Auslöser von Logistikplanungen in der Automobilindustrie vorgestellt, bevor im Anschluss die Einflüsse näher beleuchtet werden.
Identifizierte Auslöser in der Logistikplanung Im Weiteren ist unter einem Planungsauslöser eine veränderte Randbedingung zu verstehen, die eine gezielte Reaktion des Unternehmens erfordert und für die noch keine zugeordnete Lösung vorhanden ist. Die Veränderung stößt eine Planung an. Im Zuge der Befragung wurden insgesamt vier große Themenblöcke identifiziert.
4.1.1 Einflussfaktoren auf die Logistikplanung im automobilen Netzwerk
321
Produktänderungen Produktänderungen entsprechen Transformationen der physikalischen, technischen oder administrativen Eigenschaften eines kompletten Produkts oder einzelner Produktkomponenten in unterschiedlichen Zusammenbaustufen. Sie sind die entscheidenden Auslöser in der automobilen Logistik [Schu91]. Gerade die Einführung neuer Produkte oder Derivate bzw. Maßnahmen zur Modellpflege im Laufe des Produktlebenszykluses wurden einhellig von allen Befragten als wichtigste Ursache für Planungen genannt. 80% bezeichnen die ausgelösten Tätigkeiten als sehr umfangreich. Für den OEM stehen dabei – bedingt durch die steigenden Variantenzahlen – Integrationsthemen, Änderungsmanagement aber auch strukturelle Maßnahmen im Vordergrund. Für die Zulieferer sind die Auswirkungen tendenziell geringer, aber dennoch mit großen Planungsaktivitäten verbunden. Änderungen der Anlieferform (sortenrein, sequenziert etc.) bereiten dabei meist die höchsten Aufwände. Strukturelle Maßnahmen Eine strukturelle Maßnahme ist die bauliche Veränderung bestehender Werksstrukturen und/oder Anlagen bzw. der Bau neuer Gewerke und Anlagen. Dieser Bereich erstreckt sich über strategische, taktische und operative Aufgabenstellungen [BuLu94]. Der mit Abstand wichtigste, aber auch seltenste Auslöser ist der im strategischen Bereich einzuordnende Aufbau eines neuen Produktionsstandortes bzw. die komplette Neustrukturierung eines bestehenden Standorts. Im taktischen Bereich ist vor allem die Ausplanung neuer Gebäude(-abschnitte), wie z. B. eines kompletten Lagers sowie die Erneuerung größerer technischer Umfänge, wie Förder- und Lagertechnik, zu sehen. Zu den operativen Planungsauslösern zählen z. B. die Ausplanung von Einrichtungstechnik oder Ersatzinvestitionen für einzelne technische Teilumfänge. Veränderte Wertschöpfungs- und Lieferantenstrukturen Veränderungen der Wertschöpfungs- und Lieferantenstrukturen sind definiert als Abwandlung der Supply Chain Struktur durch die Wahl neuer Lieferanten, neuer Prozesse oder durch die Verschiebung der Verantwortlichkeiten entlang der Kette unter potenzieller Einbeziehung eines Logistikdienstleisters.
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M. Schedlbauer, M. Scheuchl
Meist in Verbindung mit einer Neuprodukteinführung umgesetzt, handelt es sich mehr um implizite, denn explizite Auslöser. Die Befragung hat zudem deutlich gezeigt, dass diese Veränderung in den Augen der Experten hohe strategische Bedeutung besitzt. Einerseits erfordern In- bzw. Outsourcingentscheidungen des Unternehmens ganzheitliche Überplanungen der logistischen Prozesse. Hierzu zählen u. a. die Verlagerung bestimmter Montageumfänge (Vormontagen) und Teilefertigungen [Haus94]. Interessant ist dabei die Wechselwirkung zwischen OEM und Lieferant. Die Entscheidung des Ersten initiiert Planungen bei den Partnern im Netzwerk. Andererseits erfordert aber auch die Vergabe der physischen Logistikumfänge an einen Dienstleister eine dezidierte Analyse der Prozesse hinsichtlich neuer Schnittstellen oder veränderter Abläufe. Als besondere Ausprägung dieses Auslösers sind Global Sourcing Strategien zu sehen. Fällt die Entscheidungen für weltweit positionierte Lieferanten, ergeben sich völlig neue Planungsaufgaben hinsichtlich der Transportkoordination sowie der Wahrung der Versorgungssicherheit. Je komplexer das Versorgungsnetzwerk über die verschiedenen Tier-Stufen ist, desto umfangreichere Planungen sind durchzuführen. Im Sinne der gesamthaften Betrachtung löst auch die Verlagerung von Produktionsstandorten des OEM und des Lieferanten z. B. im Zuge der EU-Osterweiterung Logistikplanungen aus. Am Beispiel des Planungsauslösers „Veränderte Wertschöpfungs- und Lieferantenstrukturen“ zeigt sich ganz besonders die Bedeutung einer gesamthaften Analyse der Prozesse im Logistiknetzwerk. Notwendige Basis für einen reibungslosen Ablauf der ausgelösten Planungen ist die harmonische Kooperation der Partner. Technologiesprünge Ein Technologiesprung ist im Sinne der Theorie der Technologie-S-Kurve [Seib98] der Sprung von einer Kurve technischer Entwicklung zur nächsten, also nicht die Fortführung einer bestehenden Technologie, sondern der Schritt hin zu einer neuen Ausprägung (z. B. vom Verbrennungsmotor zur Brennstoffzelle). Innovationen im Produktbereich (z. B. Großmodule) erfordern neue Produktionsprozesse, die ihrerseits Logistikanpassungen nach sich ziehen. Im Fokus steht hierbei die Entwicklung neuer Abläufe in der Teileversorgung und -bereitstellung. Das zweite große Gebiet, in dem Technologiesprünge direkte Auswirkungen auf die Logistik haben, ist die technische Logistik. Um die Potenziale neuer Ident- und Kommunikationstechnologien (z. B. RFID), Steuerungselemente und fördertechnischer Entwicklungen nutzen zu können, sind bestehende Strukturen und Systeme zu überplanen.
4.1.1 Einflussfaktoren auf die Logistikplanung im automobilen Netzwerk
323
Das Produkt – der zentrale Auslöser Die Auswertung der Interviews hat gezeigt, dass sich sämtliche Planungsauslöser in die vier vorgestellten Cluster „Produktänderungen“, „Strukturelle Maßnahmen“, „Veränderte Wertschöpfungs- und Lieferantenstrukturen“ und „Technologiesprünge“ eingliedern lassen. Eine trennscharfe Zuordnung einzelner Elemente ist jedoch nicht immer möglich. Dominierend sind Auslöser aus den Bereichen der Produktänderungen und strukturellen Maßnahmen. Technologiesprünge und Veränderungen der Wertschöpfungsstrukturen werden als strategisch sehr wichtige Elemente betrachtet, liegen jedoch nicht im Fokus der täglichen Arbeit der Planer. Der Vergleich zwischen den OEM und den Lieferanten zeigt keine signifikanten Unterschiede. Die Einsteuerung neuer Produkte erfolgt immer indirekt über den Kunden bzw. die Marktanforderungen. Für die Lieferanten gilt, dass sie bei höheren Entwicklungsleistungen mehr Einfluss auf die Prozesse nehmen können und dementsprechend umfangreichere Planungen durchführen. Die Zusammenarbeit ist meist umso partnerschaftlicher, je komplexer die Produkte sind. Die Einsteuerung struktureller Maßnahmen erfolgt normalerweise nicht über die Kette hinweg, sondern spezifisch in den einzelnen Unternehmen. Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang stellen Lieferantenparks oder in die OEM-Produktion integrierte Zulieferer dar. Hingegen geschehen Veränderungen in den Wertschöpfungs- und Lieferantenstrukturen immer im Zusammenspiel der Partner und erfordern somit Planungen bei allen Beteiligten. Im Zentrum der Wahrnehmung des Einzelnen stehen jedoch vor allem die im weiteren Verlauf dargestellten und abgeleiteten Einflüsse.
Planungseinflüsse Während der Befragung ergab sich, dass alle Planer unabhängig von ihrer Position im Netzwerk und der zeitlichen Zuordnung ihrer Aufgaben einer Vielzahl von Einflüssen ausgesetzt sind. Diese haben je nach Zielsetzung unterschiedliche Prioritäten. Dabei können einzelne Einflüsse auch eine Vielzahl unterschiedlicher Ausprägungen besitzen. Die Einflüsse können entlang der Logistikkette („Logistikprozesse“) oder in den direkt angrenzenden Bereichen „Produkt“, „Produktion“ und „Strukturen“ bzw. „Flächen“ entstehen. Außerdem existieren grundlegende Einflüsse auf die Logistik, wozu neben der „Unternehmensstrategie“ und den „Mitarbeitern“ auch die externen Elemente „Markt, „Umfeld“ und „Gesetz“ zu zählen sind.
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M. Schedlbauer, M. Scheuchl
Unternehmensstrategie Mitarbeiter Produkt
Gesetz
LogistikProzess Struktur / Fläche
Prozess / Produktion Markt
Direkte Einflüsse auf Logistik
Umfeld
Grundlegende Einflüsse auf Logistik
Abbildung 2: Themencluster der Einflussfaktoren
Produkt Der wohl stärkste Einfluss auf die Logistikplanung liegt im Produkt begründet [Warn96]. Das meist genannte Schlagwort ist hierbei die Produktkomplexität, die sich u. a. auf den Modularisierungsgrad zurückführen lässt. Dieser Faktor wirkt bis hin zur Lieferantenauswahl, da nicht jeder Zulieferer die für die Modulfertigung und -bereitstellung notwendigen, vorgelagerten Prozesse beherrscht. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Variantenzahl, die aus Sicht aller Interviewpartner als zentrales Kriterium die Prozesse (z. B. JIS/JIT), Strukturen (Darstellung der unterschiedlichen Sachnummern am Band) und Behälter beeinflusst. Die Zahl der zu handhabenden Sachnummern ist gerade in den letzten Jahren stark angestiegen, während sich die Losgrößen gleichzeitig weiter reduzierten. Der Vergleich zwischen OEM und den Lieferanten zeigt, dass sich die Problematik umso mehr verschärft je näher die „Senke“ (OEM bzw. Endkunde) ist. Aufgrund der höheren Wertschöpfungsstufe erhöht sich die Anzahl der möglichen Zusammenbaugrade und Kombinationsmöglichkeiten der Einzelteile. Die Abmessungen, Geometrien und Qualitätsanforderungen der Einzelteile beeinflussen die Logistikplanung zum einen bei der Ausplanung der Behälter, zum anderen immer dann, wenn Handlingprozesse notwendig werden. Kleine konstruktive oder funktionale Änderungen wirken sich dabei meist direkt auf die Variantenanzahl aus. Dies kann zu steigenden Flächenbedarfen bzw. bei Veränderungen im Grenzbereich der bisherigen Flächenauslastung zu veränderten Abläufen (sortenrein Æ sequenziert) führen. Das zusätzliche Angebot von digitalen TV-Tunern z. B. bewirkt
4.1.1 Einflussfaktoren auf die Logistikplanung im automobilen Netzwerk
325
eine Variantenmehrung der Teilegruppe Heckscheibe (inkl. Scheibenantenne) um bis zu 50%. Jede Produktänderung, gleich ob konzeptionell oder konstruktiv, erfordert innerhalb der Logistikplanung ein entsprechendes Änderungsmanagement. Alle bereits geplanten Abläufe müssen auf Basis der Modifikationen hinsichtlich möglicher Anpassungen geprüft werden [Sche07]. Prozess und Produktion Der Produktionsprozess liefert elementaren Input für die Logistikplanung, wie beispielsweise Produktionskapazitäten bzw. -programme. Die zu liefernden Umfänge und die daraus abzuleitenden Stückzahlen bestimmen die Volumina der Materialströme. Die aktuelle Produktionskapazität legt zudem fest, ob ein neu im Werk zu integrierendes Produkt mit den verfügbaren Kapazitäten (Betriebsmittel, Mitarbeiter, Flächen, Einrichtungen etc.) zu realisieren ist. Bei positivem Entscheid leiten sich davon Themen der Fabrikplanung ab, wie sie im Cluster „strukturelle Maßnahmen“ als Auslöser identifiziert wurden [Gude99]. Bei der Beplanung des Materialflusses stellen die Verbaureihenfolge sowie die Verbauorte wichtige Randbedingungen dar. Zur Versorgung dieser Senken sind entsprechend optimale Prozesse notwendig, deren Gestaltung wiederum von der Bezugsart der Teile (Fremd- oder Eigenfertigung), der Fertigungsstruktur (Anzahl der Vormontagen) sowie vom Zeithaushalt (Taktzeiten, Abrufzeiten der Waren aus dem Lager oder vom Lieferanten, Montagedurchlaufzeiten von Einsteuerung bis zum Verbau) abhängig sind [FiDi97]. Gerade die Eigenfertigungstiefe des Unternehmens spielt eine große Rolle. Je geringer diese ist, desto komplexer sind in aller Regel die Logistikprozesse, da u. a. mehr Interdependenzen zwischen den Beteiligten im automobilen Netzwerk zu bewerten sind. In engem Zusammenhang steht dabei das Thema Vormontagen. Ein schlanker Hauptmontageprozess erfordert einen Anstieg der Vormontageumfänge und erzeugt dadurch zusätzliche Materialströme. Großen Einfluss auf die Logistikplanung können auch Veränderungen der Produktionstechnologien bzw. -strukturen haben. Komplette Montagelinien werden im Zuge eines Produktanlaufes oder größerer Ersatzmaßnahmen bei einer neuen Baureihe oftmals stark umgestaltet, Teilprozesse automatisiert. Dies macht letztendlich wiederum eine veränderte Materialbereitstellung notwendig.
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M. Schedlbauer, M. Scheuchl
Logistik-Prozess Der Logistik-Prozess selbst ist Resultat einer Vielzahl von Faktoren und Randbedingungen, deren direkt beeinflussende Elemente im Folgenden vorgestellt werden. Lieferant
Produktionskapazitäten, Flexibilität und logistische Leistungsfähigkeit der Lieferanten sind ausschlaggebend für die Gestaltung der Prozesse zwischen Zulieferer und Kunde. Als Beispiel kann die Situation der 1st Tier Zulieferer elektronischer und mechatronischer Bauteile herangezogen werden. Deren Vorprodukte benötigen bei den Spezialherstellern der 2nd Tier Stufe von der Bestellung bis zur Auslieferung bis zu 15 Wochen. Dazu besitzen letztgenannte teilweise auch eine Monopolstellung, während gleichzeitig die Automobilindustrie im Vergleich zu z. B. der Telekommunikationsbranche ein eher unwichtiger Kunde ist. Diese mangelnde Flexibilität bei gleichzeitig beschränkten Produktionskapazitäten muss bei der Beplanung der Versorgungsprozesse entsprechend berücksichtigt werden. Weitere entscheidende Einflussgröße für den Logistikprozess von Seiten des Lieferanten ist dessen Standort. Die Entfernung Lieferant – Kunde ist einerseits die Stellgröße für die Höhe der anfallenden Transportkosten, andererseits beeinflusst sie andere logistische Elemente wie den Zeithaushalt, die Versorgungssicherheit und die zugrunde liegenden Anforderungen an die Versorgungskonzepte [Augi03, S.38f.]. Sourcing-Struktur
Die Sourcing-Struktur, als Gesamtheit der Lieferantenbeziehungen, besitzt erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der Bauteilversorgung. Dies lässt sich mit folgendem Beispiel verdeutlichen. Verlangt der Produktionsprozess eine sequenzierte Anlieferung der Teile, kann im Fall des SingleSourcings die Sequenz gleich beim Lieferanten erstellt werden. Erfolgt der Teilebezug jedoch im Multi-Sourcing-Verfahren, ist die Zusammenführung der Materialflüsse und eine differenzierte Ausgestaltung der Logistikketten notwendig. Materialfluss und Versorgungsart
Die Festlegung der internen Materialflüsse als Folge der gewählten Versorgungsart sowie der Bereitstellanforderungen (Wiederversorgungszeiten etc.) ist in den Befragungen als zentrale Planungsaufgabe identifiziert worden, die langfristig die Gestaltung der Werkstrukturen, mittel- bis kurzfris-
4.1.1 Einflussfaktoren auf die Logistikplanung im automobilen Netzwerk
327
tig die auch Transportmittel, -wege und -konzepte beeinflusst. Die Ausprägung der Versorgungsart (JIS/JIT, Direktanlieferung, Puffer, Lager) beeinflusst dabei entscheidend den Umfang der Planungen. Direktanlieferungen erfordern beispielsweise eine sehr zeitsensitive Planung, um mit geringen Beständen und hohen Anlieferfrequenzen die Versorgung der Verbauorte sicherstellen zu können. Die mit dem Materialfluss verbundenen strukturellen Restriktionen schränken ferner direkt die Wahlmöglichkeiten im Bereich der Behälter und Verpackungen ein. Verpackung und Behälter
Die Wahl des Behälters wirkt sich vornehmlich auf die benötigten Flächen (Bereitstellung, Lager), aber auch auf den Materialfluss aus. So kann nicht jede Förder- oder Lagertechnik alle Behältertypen bewältigen. Restriktionen wie Gewicht oder Größe müssen beachtet werden. Ferner ist es Aufgabe des Behälters, die Produktqualität sowie eine schlanke, ergonomische und bedarfsoptimale Teilebereitstellung zu garantieren. Beispielsweise ermöglichen bei sequenzierter Bereitstellung unterschiedliche Behälterkonzepte differenzierte Strategien, z. B. zur Abwicklung und Darstellung von Sequenzstörungen. Struktur und Fläche Im direkten Zusammenhang mit den eben dargestellten Faktoren steht auch die Struktur und Flächensituation am Standort. Die Werksstruktur, d. h. die Anordnung der Gebäude und der Freiflächen, beeinflusst vor allem die „großen“ Ströme (Teile, Fertigprodukte, Mitarbeiter) im Werk. Darüber hinaus stehen meist einzelne Gebäudestrukturen – von sowohl Produktions- als auch Logistikgewerken – sowie die zugehörigen Flächen im Fokus der Planung. Die Versorgungsplanung konzentriert sich hierbei auf die Materialflussflächen (z. B. Umschlags- und Lagerbereiche), wird aber durch Produktionsflächen in ihren Freiheiten begrenzt. Mitarbeiter Die Mitarbeiter sind das flexibelste Element in Produktion und Logistik. Aus diesem Grund sehen die befragten Planer Gesichtspunkte, die den Werker betreffen, ebenfalls als wesentliche Einflussgrößen ihrer Arbeit. An erster Stelle stehen Arbeitssicherheit und Ergonomie. Um auf langfristige Sicht den Krankheitsstand zu reduzieren, sollen die Mitarbeiter nur
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zumutbare und erträgliche Arbeiten erledigen. Ob ein Teil aus einem Behälter manuell oder mit einem Hebewerkzeug entnommen werden muss, hängt dabei nicht alleine vom Gewicht, sondern auch von Behälterform und -höhe ab. Neben der Handlingergonomie, existieren noch eine Reihe anderer produktionsergonomischer Aspekte, wie etwa die Arbeitsplatzergonomie, die u. a. Mindestflächen oder Arbeitshöhen für das Personal vorschreibt. Diese Aspekte betreffen vorrangig die Strukturplanung. Ferner sind Randbedingungen zu schaffen, die es dem Mitarbeiter als Experten vor Ort erlauben, verstärkt sein Wissen in die Planung einzubringen, um die kontinuierliche Verbesserung voranzutreiben [MäPä93]. Unternehmensstrategie Die Unternehmensstrategie nimmt nach Aussage nahezu aller Interviewpartner eine wichtige Rolle in ihrer Arbeit ein. Jedoch ist die spezifische Wahrnehmung sehr unterschiedlich. Bei direkter Einbindung in langfristig strategische Themen ist dieser Einfluss in den Tätigkeiten sehr präsent, im alltäglichen Geschäft dient die Strategie eher als Leitplanke und grobe Orientierungslinie. Das Produktportfolio fließt hingegen über die Produktentwicklung indirekt in die Logistik ein. Das Produktionsprogramm bestimmt die Verteilung der Produkte im Netzwerk der Standorte. Dadurch werden Strukturen und Prozesse geprägt, die, wie oben gezeigt, entsprechend bei der Planung zu berücksichtigen sind. Direkten Einfluss auf die Ausgestaltung der logistischen Abläufe haben die festgelegten Normen und Strategien (z. B. Produktionskonzepte nach „Lean“-Prinzipien). Übereinstimmend wurde zudem von allen Befragten der permanente Anspruch zur Kostenreduzierung als starker von über 60% (im strategischen Umfeld 80%) sogar als sehr starker Einfluss identifiziert. Gesetz und Umfeld Eine Vielzahl gesetzlicher Regelungen stellen für den Logistikplaner wichtige Randbedingungen dar. Die Bandbreite reicht dabei vom Arbeitsschutz, Umweltschutz, Verkehrsvorschriften bis hin zu Local Content Bestimmungen oder Einfuhrzöllen. Ferner beeinflussen die drei großen Bereiche Standort bzw. räumliche Rahmenbedingungen, technologischer Fortschritt sowie Entwicklungen in den sozioökonomischen Feldern Politik, Gesellschaft und Wirtschaft die Logistikplanung.
4.1.1 Einflussfaktoren auf die Logistikplanung im automobilen Netzwerk
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Räumliche Rahmenbedingungen
Bezüglich der räumlichen Rahmenbedingungen ist insbesondere die Infrastruktur zu nennen. Dabei stehen Fragen, wie sich die Transporte über das entsprechende Straßen- und Schienennetz abwickeln lassen oder wie der eigene Standort im Vergleich zu den weiteren Standorten sowie den Lieferanten platziert ist, im Mittelpunkt. Auch die Steuerung der unterschiedlichen Mitarbeiter-, Teile- und Fertigproduktströme wird durch die Infrastruktur vorbestimmt. Sozioökonomische Entwicklung
Im Bezug auf die makroökonomischen Einflussfaktoren wurden hier vor allem die Trends hin zur Globalisierung benannt. Deren Folgen, die sich in unternehmensstrategischen Entscheidungen (Lieferantenauswahl, Gründung eigener Auslandsstandorte) niederschlagen, müssen von den Planern in Betracht gezogen werden. Auch gesellschaftliche Entwicklungen wie Trends hin zu verstärkter ökologischer Sensibilität, Mobilität und die demographische Entwicklung zeigen ihre Wirkung in der Logistikplanung. Dies geschieht jedoch zumeist über den Weg der Unternehmensstrategie, des Produktportfolios und langfristiger Entscheidungen hinsichtlich der Produktionsstandorte. Technologischer Fortschritt
Technologische Entwicklungen wirken sich im Vergleich zu den sozioökonomischen Entwicklungen direkt auf die Logistikprozesse aus, da der Einsatz neuer Technologien eine Steigerung der Leistung, Prozessqualität, Flexibilität und Wirtschaftlichkeit verspricht [Piet02]. Markt Der Kunde löst Nachfrageschwankungen aus und achtet stark auf die ihm gebotene logistische Qualität (Liefertreue, Transportqualität etc.). Diese ist planerisch zu erzeugen und unter Beachtung der Reaktionsfähigkeit auf Volumenschwankungen bereits in der Ausgestaltung der Prozesse abzubilden. Bei der Nennung des Kunden als Einfluss zeigte sich, dass auf Seiten der OEM primär der interne Kunde bedacht wird (Befragungsfokus: Produktionslogistik), die Lieferanten jedoch den externen Kunden (nächste Tier-Stufe bzw. OEM) darunter verstehen. Der Endkunde wird als globaler Faktor gesehen, der das Produktportfolio und somit langfristig das Produktionsprogramm bestimmt.
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M. Schedlbauer, M. Scheuchl
Die Wettbewerber hingegen beeinflussen als weitere Marktteilnehmer hauptsächlich über Benchmarking-Ergebnisse die Gestaltung logistischer Prozesse auf strategischer, taktischer und operativer Ebene
Zusammenfassung und Zuordnungsmatrix Die Befragung hat bestätigt, dass es nicht nur eine Vielzahl unterschiedlichster Planungsauslöser und Einflüsse in der Logistik gibt, sondern auch wie wichtig die gesamthafte Orientierung der Beteiligten ist. Nur wer die Zusammenhänge im Netzwerk beachtet und die Partner und Wechselwirkungen kennt, kann in Zukunft schnell und effizient planen. Im Folgenden wurden die genannten Cluster in einer Zuordnungsmatrix zusammengefasst. Die zeitliche Einordnung der Faktoren erfolgt, nach dem Schwerpunkt des Auftretens, d. h. jedoch nicht, dass die entsprechenden Faktoren nicht auch in den anderen Phasen auftreten (können). Die erste Grafik zeigt die identifizierten internen Faktoren. taktisch Nebenumsatzflächen
Werksstruktur
Mitarbeiter
Materialflussflächen
Normen/Werte Shareholder Value
operativ
Struktur/Fläche
Arbeitssicherheit Ergonomie
Mitarbeiter
Mitarbeiterstruktur Verbesserungsvorschläge
Mitarbeiterstruktur
Logistik-Prozess Versorgungsart Bereitstellort Verpackung / Behälter Zeithaushalt
Prozess
Interne Faktoren
Ressourcen
strategisch Unternehmensstrategie
Normen/Werte
Notfallkonzepte Materialfluss
Shareholder Value Produktionsprogramm
Bezugsart
Produktionsprozess
Produktionskapazität
Verbauorte/-reihenfolge Technologie Zeithaushalt
Produkt
Vormontage Produktportfolio Normen/Werte Shareholder Value
Produkt Teile Modularisierung Variantenzahl Volumen/Stückzahl
Abbildung 3: Interne Einflussfaktoren in der Logistikplanung
Den zweiten Block bilden die externen Faktoren. Auch sie sind entsprechend den Phasen (strategisch/taktisch/operativ) eingeordnet.
Beschaffungsmarkt Absatzmarkt
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Markt Markterschließung
Nachfrageschwankungen Kundenwünsche Wettbewerbskräfte
Qualitätsmängel beim Kunden
Logistik-Prozess (Lieferant) Sourcing-Struktur
Lieferantenfähigkeit Lieferantenstandort
Gesetz
Umwelt
Externe Faktoren
4.1.1 Einflussfaktoren auf die Logistikplanung im automobilen Netzwerk
Produktionsauflagen Produktauflagen Logistikauflagen
Umfeld
Standortbedingungen politische Entwicklung wirtschaftliche Entwicklung technologischer Fortschritt gesellschaftliche Entwicklung
strategisch
Umfeld Nachbarn Infrastruktur
taktisch
operativ
Abbildung 4: Externe Einflussfaktoren in der Logistikplanung
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M. Schedlbauer, M. Scheuchl
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4.1.2 Flexibilität durch Standardisierung – Adaptive Logistikplanung
J. Boppert, M. Schedlbauer, W. A. Günthner
Die automobile Welt im Wandel Im globalen Wettbewerbsumfeld sehen sich viele Unternehmen – verstärkt durch die Verkürzung der Produktlebenszyklen in Verbindung mit hohem Innovationsdruck – ganz besonders gefordert, ihre Prozesse insbesondere im Bereich der Logistik nachhaltig zu optimieren, um vor dem Hintergrund sinkender Reaktionszeiten hochqualitative Lösungen zur Beherrschung der zunehmenden Logistikkomplexität bereitstellen zu können. Die Bedeutung und das Verständnis der Logistik haben sich dabei in den zurückliegenden Jahren grundlegend geändert. War diese zunächst eine der Produktion zu- und untergeordnete Disziplin wird der Stellenwert und das Potenzial nun ganz anders bewertet. Die Logistik wird zum Enabler einer hocheffizienten und flexiblen Fertigung einerseits, aber in Bezug auf die Servicequalität auch zum Garant einer erfolgreichen Kundenbeziehung andererseits. Sie fungiert als verbindendes Element innerhalb sowie auch außerhalb der Unternehmensgrenzen. Kann sie die geforderte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gewährleisten, ist das gesamte Netzwerk in der Lage zu „atmen“ und sich somit schneller und auch effizienter auf den kontinuierlichen Wandel einzustellen. Dementsprechend gilt es, sämtliche Logistikprozesse sorgfältig zu beplanen bzw. zeitnah an geänderte Randbedingungen anzupassen. Das Ziel muss eine adaptive Planung sein, die gegenüber dem gegenwärtigen Status in kürzerer Zeit qualitativ hochwertige Ergebnisse liefert. Auch in der Planung verlangt Supra-Adaptivität eine schnelle und effiziente Anpassung der Prozesse sowie der damit in Verbindung stehenden physischen Systeme hinsichtlich Größe, Funktion und Aufbau auf sich ständig verändernde Randbedingungen. Neben den Abläufen der Fabrik von mor-
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gen müssen daher idealerweise auch deren Strukturen wandlungsfähig, flexibel, mobil und vernetzungsfähig sein.
Adaptive Planung – die Zukunft der Logistik Im Sinne nachhaltiger Optimierungsbestrebungen und verteilter Produktions- und Logistikkompetenzen hat demnach ein innovatives Planungsinstrumentarium bestehend aus Konzepten, Methoden und geeigneten Werkzeugen [ScWi05, S.40] die Schwachstellen bestehender Lösungen zu egalisieren und den kooperativen Einsatz in mehreren Unternehmen zu realisieren. Damit ergeben sich nachstehende Prämissen an ein adaptives Planungskonzept: • Ganzheitlichkeit und Netzwerkgeltung: Umfassende Betrachtung von Planungsobjekten, ihren Relationen und deren dynamischer Umgebung • Kooperation: Planungsmethodik zur Einbindung aller Wissensträger der beteiligten Disziplinen und Partner • Kontinuität: Begriffswechsel der Logistikplanung hin zu einer kontinuierlichen Aufgabe im Gegensatz zu singulärer, aufgabenbezogener Tätigkeit • Zeitbezogene Universalität: Einsatzeignung für alle Lebenszyklusphasen der unterschiedlichen Planungsobjekte (Prozesse und Strukturen) sowie in Verbindung stehende, unterschiedlichste Planungshorizonte (strategisch/taktisch/operativ) • Realisierung hoher Planungsgeschwindigkeit und Planungsqualität: Dies beinhaltet u. a. die frühzeitige Gewinnung aussagekräftiger und belastbarer Erkenntnisse, die wiederum als Input für weitere Planungsumfänge wie beispielsweise die Produktionsplanung dienen können • Integration: Verbesserte Einbindung und Verknüpfung von Werkzeugen und Wissen • Menschfokussierung: Verstärkte Zentrierung des Menschen sowohl als gestaltender Planer als auch als Protagonist in der gestalteten Umgebung
4.1.2 Flexibilität durch Standardisierung – Adaptive Logistikplanung
335
Abbildung 1: Prämissen des adaptiven Planungskonzeptes
Das integrative, bausteinbasierte Planungskonzept Der verfolgte Lösungsansatz orientiert sich an der Zielsetzung einer dynamischen und prozessorientierten Planung. Dieser beruht auf der konsequenten Weiterführung und dem Transfer der bewährten Prinzipien Modularisierung und Standardisierung auf Planungsprozesse sowie -objekte. Darüber hinaus wird dem Menschen als Kreativitäts- und Wissensquelle sowie als eigentlichem „Wandlungsbefähiger“ eine weitaus zentralere Rolle zugedacht als bisher. Als wesentliches Konzeptelement übernimmt die Digitale Fabrik die Abbildung und Gestaltung der Planungsobjekte in digitaler Form sowie die Integration der verwendeten Werkzeuge. Auch die wichtige Aufgabe der bedarfsorientierten Interpretation von Planungsdaten wird mit Hilfe digitaler Tools unterstützt. Im Mittelpunkt des Konzeptes stehen so genannte Planungsbausteine, die Workflows zur Bearbeitung einer definierten Aufgabenstellung (z. B. Behälterplanung, siehe Abbildung 2) enthalten. Die inhärente Vorgehensweise stellt dabei idealerweise eine Best Practice dar. Die Prozessabbildung erfolgt hierzu zunächst in standardisierter textueller bzw. graphenunterstützter Form und wird ergänzt durch Verweise auf die zur Gewinnung der angestrebten Ergebnisse zu verwendenden Planungswerkzeuge (z. B. Geometriesimulation). Als notwendige Vorarbeit ist die Untersuchung und Modularisierung aller logistikrelevanten Planungstätigkeiten in inhaltlich eindeutig abgrenzbare und nicht weiter unterteilbare Umfänge zu leisten. Mit Hilfe der resul-
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tierenden Bausteinsammlung wird die Möglichkeit geschaffen, entsprechend der gestellten Aufgabe individuelle Planungsprozesse zu konfigurieren, die im weiteren Verlauf ergebnisabhängig auch jederzeit angepasst werden können (vgl. Prämisse „Kooperation“). Dazu haben die Bausteine folgende Anforderungen zu erfüllen [GüBo06, S.31]: • Singularität: Eineindeutige Zuordnung eines Bausteins hinsichtlich der Gesamtheit seiner Inhalte zu einer definierten Planungsaufgabe • Standardisierung: Identischer interner Aufbau und externe Repräsentanz eines Bausteins entsprechend vorgegebener Gestaltungsregeln • Kombinationsfähigkeit: Die Bausteine sind bis auf gewisse Restriktionen beliebig kombinierbar. Sie können demnach in einem Planungsprozess auch mehrfach Anwendung finden. • Konnektivität: Die Bausteine müssen mit minimalem Aufwand informationstechnisch miteinander verknüpft werden können, um (Zwischen-) Ergebnisse für andere Bausteine zur Verfügung stellen zu können. • Offenheit: Die Inhalte eines Bausteins müssen jederzeit an Prozessverbesserungen angepasst werden können und dadurch eine einfache Pflege und Aktualisierung ermöglichen. • Transferierbarkeit: Die Bausteine müssen an Partner im Netzwerk übergeben und dort bearbeitet werden können. Durch Kenntnis inertialer Auslöser und möglicherweise damit verknüpfter beeinflussender Randbedingungen sowie definierter Planungsstrategien lassen sich Algorithmen bilden, die die Generierung von Planungsprozessketten auf Basis der Bausteine erlauben. Diese Prozessketten enthalten zu Beginn eine Vielzahl von Entscheidungsknoten, deren Erreichen unter Berücksichtigung der erzielten Ergebnisse bzw. der planungsbeeinflussenden Faktoren die Richtung für das weitere Vorgehen auswählt. Am Ende jedes Bausteins steht ein definiertes Ergebnis, das entweder anderen Bausteinen als Input dient oder im Falle des finalen Bausteins als Endresultat den Planungsprozess abschließt (vgl. Kapitel 4.1.1, [Sche07]). Die Bausteinumsetzung ist auf Basis objektorientierter Modellierung in rechnerbasierter Form realisiert. Des Weiteren ist eine Bewertung jedes Bausteins und seiner Inhalte in monetärer und temporärer Hinsicht möglich, um diese Informationen für ein effizientes Projektmanagement zur Verfügung stellen zu können (vgl. Prämisse „Realisierung hoher Planungsgeschwindigkeit und -qualität“).
4.1.2 Flexibilität durch Standardisierung – Adaptive Logistikplanung
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Abbildung 2: Schematischer Aufbau eines Planungsbausteins am Beispiel „Behälterplanung“
Schlüsselelemente der adaptiven Planung Vergleichbar der Produktentwicklung, die sich in den letzten Jahren immer mehr vom klassischen Prototypenbau hin zum virtuellen Digital Mock Up (DMU) wandelt, wird in Zukunft auch die Logistikplanung immer mehr von der realen Welt auf die digitale Umgebung übergehen. Die Motivation
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liegt dabei ähnlich wie bei der virtuellen Produktentwicklung in folgenden Aspekten begründet: • • • • • • •
Gemeinsame Kommunikationsgrundlage Einheitliche Datenbasis Beliebige Interpretationsmöglichkeiten der Daten Mehrfachverwendbarkeit von Modellen Beliebige Reproduzierbarkeit Unbegrenzte Versuchsanzahl Kontinuierliche Konkretisierung und Anpassung mit Fortschreiten der Planung • Verwendung von Daten und Modellen • etc.
Dem effizienten Zusammenspiel zwischen den beiden unterschiedlichen Planungswelten kommt insofern eine stetig steigende Bedeutung zu. Diese Aufgabe muss durch die Digitale Fabrik geleistet werden, die als Sammelbegriff für ein umfassendes Netzwerk von digitalen Werkzeugen, Modellen und Methoden steht. Die Zielsetzung geht dabei weg von den oftmals heterogen gewachsenen „Software-Inseln“ hin zu einem einheitlich aufgebauten System, das Werkzeuge und Daten aus verschiedlichsten Unternehmen und Bereichen gleichermaßen integriert (vgl. Prämisse „Integration“). Im Bereich der Logistik ist ihr Zweck in einer ganzheitlichen Planung, Realisierung, Steuerung und kontinuierlichen Verbesserung aller wesentlichen Prozesse und Ressourcen in Verbindung mit dem Produkt [VDI06, S.2] zu sehen. Die Digitale Fabrik ist dabei nicht nur als Mittler zwischen realer und digitaler Welt anzusehen, sie dient letztlich der Kommunikation zwischen Mitarbeitern einerseits und Datenhaltungssystemen andererseits (vgl. Prämisse „Ganzheitlichkeit und Netzwerkgeltung“). Die Digitale Fabrik als Interpretationsschicht Während der Mitarbeiter direkt oder indirekt Informationen an die Werkzeuge der Digitalen Fabrik weitergibt und entgegengesetzt die ihm hierüber zur Verfügung gestellten Inhalte entsprechend seiner aktuellen Aufgabe interpretieren muss (Wissensmanagement, vgl. Kapitel 4.3.2), kommuniziert die Digitale Fabrik wiederum mit einem mehr oder weniger komplexen Datenbanksystem, um Informationen zu liefern oder für ent-
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sprechende Anwendungen verfügbar zu machen (Datenmanagement, vgl. Kapitel 4.3.1). Primäre Zielsetzung des Wissensmanagements in der adaptiven Planung ist es zum einen, Wissen in der Form aufzubereiten, dass es im Planungsprozess optimal verfügbar gemacht und damit bedarfsorientiert eingesetzt werden kann, und zum anderen, mitarbeiterspezifisches Wissen gezielt abzuschöpfen und nachhaltig für den Planungsprozess nutzbar zu machen. Der Fokus des Datenmanagements liegt hingegen in der Beherrschung anfallender Datenmengen [BrSc05, S.197] sowie der Gewährleistung von Datensicherheit, -konsistenz und -verfügbarkeit. Damit umfasst Logistikdatenmanagement alle organisatorischen, konzeptionellen, methodischen und technischen Maßnahmen und Verfahren zur Erreichung eines optimalen Nutzenpotenzials aus den zur Verfügung stehenden Datenumfängen.
Abbildung 3: Werkzeuge der Digitalen Fabrik im Rahmen des adaptiven Planungsvorgehens
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In ihrer Rolle als wesentliches Verbindungselement zwischen realer Umgebung und virtuellen Modellen [MüWi05, S.32] bietet die Digitale Fabrik das geeignete Umfeld zur Ansiedlung des adaptiven Logistikplanungskonzeptes. Als umfassende Sammlung von Konzepten, Methoden und Werkzeugen stellt sie die bidirektionale Kommunikation zwischen dem Planer einerseits und den digitalen Planungsdaten andererseits her und leistet damit einen wesentlichen Beitrag in Richtung des Mitarbeiters wie auch der Datenstrukturen. Sie unterstützt den Planer durch die Bereitstellung eines breiten Spektrums an Tools sowohl für prozess- als auch strukturorientierte Aufgabenstellungen. Beispielhaft können die ereignisdiskrete Materialflusssimulation zur Prozess- und Layoutoptimierung oder der Einsatz von Virtual Reality zur geometrischen Absicherung von Fördereinrichtungen genannt werden. Die mit ihrer Hilfe erarbeiteten Ergebnisse finden wiederum Eingang in die Planungsdatenbanken und können in vergleichbaren Nachfolgeprojekten als wertvoller Input dienen. Wünschenswert für den effektiven Einsatz der Werkzeuge wäre hierzu die durchgängige Nutzbarkeit aller Planungsdaten, d. h. die problemlose Verwendung bereits vorhandener Daten durch verschiedenste Anwendungen. Aufgrund mangelnder Integration ist diese Problematik bei einer Vielzahl von Tools jedoch bis heute noch nicht zufriedenstellend gelöst. Oftmals heterogen gewachsene „Inselapplikationen“ sind für eine nachhaltige, redundanzfreie Planung über standardisierte Schnittstellen in die Digitale Fabrik zu integrieren, um bestehende Potenziale bestmöglich ausschöpfen zu können (vgl. Prämisse „Kontinuität“). Der Weg muss daher weg von den vorherrschenden Excel-basierten, vom Anwender selbst geschaffenen Tools hin zu in die Digitale Fabrik integrierte Anwendungen führen, die die geforderte redundanzfreie Datenhaltung unterstützen und nachvollziehbare Ergebnisse erlauben. Dennoch kann auch die Verwendung „gezielter“ Inseln von Vorteil sein, wenn nur ein unidirektionales Lesen und Auswerten, nicht aber ein Verändern von Daten aus den originären Datenbanken erlaubt werden soll (z. B. um bestehende Datenbestände vor unerlaubtem Schreibzugriff schützen zu können). Weitere Nutzenpotenziale verspricht die längerfristige und mehrmalige Verwendung von Modellen (vgl. Prämisse „Zeitbezogene Universalität“), um den Aufwand für die Modellerstellung sowie Reaktionszeiten gesamthaft minimieren zu können. Auch die Pflege der Modelle kann somit durch die Implementierung von Zusatzfunktionalitäten in den Modellen erleichtert werden, so dass diese vermehrt und über längere Zeiträume zur Anwendung kommen.
4.1.2 Flexibilität durch Standardisierung – Adaptive Logistikplanung
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Der Mensch im Mittelpunkt: Motivation und Akzeptanz Neben der Verbesserung der Datenstrukturen und der Nutzung der Werkzeuge darf keinesfalls der Faktor Mensch innerhalb des Planungskonzeptes außer acht gelassen werden. Vielmehr ist es erklärte Zielsetzung, dem Menschen einen höheren Stellenwert im zukünftigen Umfeld digitaler Werkzeuge und Systeme einzuräumen. Dies betrifft neben den bereits genannten Ansätzen der Sammlung und Nutzbarmachung von implizitem Wissen, bei denen gezielte Motivations- und Akzeptanzmodelle langfristig in der Unternehmenskultur zu verankern sind, auch die Gewährung kreativer Freiräumen bei der Durchführung der Planungsumfänge. Dies geschieht durch in den Planungsprozess fest integrierte Reviewschritte, die sowohl positive als auch negative Erfahrungen dokumentieren, wie auch bei der fortlaufenden Anpassung der Planungsbausteine an die ermittelten Best Practices. Ein ungenügend an den Nutzern ausgerichtetes System wird letztlich niemals die gewünschte Effizienz erreichen, so dass die Zielsetzung immer in einer mitarbeiterorientierten Vorgehensweise und Umsetzung liegen muss, die den Menschen mit seiner Kreativität als wesentliches Element aktiv einbindet und unterstützt, statt ihn wie so oft bevormunden oder automatisieren zu wollen (vgl. Prämisse „Mitarbeiterorientierung“).
Zusammenfassung und Ausblick Zielsetzung der adaptiven Logistikplanung ist die Schaffung eines ganzheitlichen Ansatzes, der für alle Planungsphasen eine adaptive und integrative Vorgehensweise sowohl innerhalb eines Unternehmens als auch über Unternehmensgrenzen hinweg erlaubt. Die durchgängige Umsetzung des Modularisierungsprinzips beginnend bei der eigentlichen Gestaltung des Planungsprozesses bis hin zu den Planungsdaten eröffnet im Umfeld steigender Anforderungen neue Möglichkeiten zur Komplexitätsreduzierung sowie Rationalisierung durch Zeit- und Kostenersparnis. Dies kann sowohl durch eine verstärkte Parallelisierung und Harmonisierung der Planungstätigkeiten realisiert werden, aber auch durch geringere Aufwendungen für Datenhaltung und -pflege. Der Supra-Adaptivität, deren Ziele eine Steigerung von Planungsgeschwindigkeit und -qualität beinhalten, wird durch die flexiblen und aufgabenspezifischen Kombinationsmöglichkeiten der Planungsbausteine Rechnung getragen. Die geforderte Flexibilität lässt sich im vorgestellten Konzept gerade durch die Standardisierung von Systematik, Bausteinen und Werkzeugen erreichen, da sie in der Lage ist, in einheitlicher Form eine spezifische Antwort auf wie auch immer geartete lo-
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gistische Problemstellungen zu bieten. Gleichzeitig wird innerhalb des vorgestellten Ansatzes erstmals eine verstärkte Betonung auf die Einbindung des Mitarbeiters und seines Wissens gelegt, um derzeit noch kaum genutzte Erfahrungswerte zu erschließen und langfristig nutzbar zu machen.
Literatur [BrSc05]
[GüBo06]
[MüWi05] [ScWi05]
[Sche07] [VDI06]
Bracht, U.; Schlange, C.; Eckert, C.; Masurat, T.: Datenmanagement für die Digitale Fabrik, Forschungsorientierter Modellansatz für ein effektives Datenmanagement im heterogenen Planungsumfeld. In: wt Werkstattstechnik online, Jahrgang 95, H.4, 2005, S.197-204. Günthner, W. A.; Boppert, J.; Wulz, J.; Schedlbauer, M.: Flexibilität durch Standardisierung – Adaptive Logistiksysteme. In: Wolf-Kluthhausen, H.: Jahrbuch Logistik 2006. free beratung GmbH, Korschenbroich, S.30-35. Müller, E.; Wirth, S.: Digitale Fabrikmodelle. In: WolfKluthhausen, H.: Jahrbuch Logistik 2005. free beratung GmbH, Korschenbroich, S.32-35. Schenk, M.; Wirth, S.: Fabrikplanung und Fabrikbetrieb wandlungsfähiger und vernetzter Fabriken. In: Wolf-Kluthhausen, H.: Jahrbuch Logistik 2005. free beratung GmbH, Korschenbroich, S.40-43. Scheuchl, M.: Einflussfaktoren und Planungsmethodik für supra-adaptive Logistiksysteme. Herbert Utz, 2007. VDI-Richtlinie 4499: Digitale Fabrik, Grundlagen. Beuth, Berlin, 2006.
4.2 Adaptivität der Planung – Methoden und Werkzeuge
Geh nicht immer auf dem vorgezeichneten Weg, der nur dahin führt, wo andere bereits gegangen sind. Alexander Graham Bell
4.2.1 Zukunftsorientierte Logistik durch adaptive Planung
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Anforderungen an die Logistikplanung im Netzwerk Eine im Jahre 2002 unter 200 deutschen Unternehmen durchgeführte Umfrage zeigt, dass sich 80% der Befragten gezwungen sehen, ihre Wandlungsfähigkeit sowohl in Hinblick auf die Innensicht (operative, taktische und strategische Veränderbarkeit der Produktionssysteme) als auch die Außensicht (Wandlungsfähigkeit erbrachter Marktleistungen hinsichtlich Produkttyp, Variante, Menge und Lieferzeit) [Wien01] unter besonderer Beachtung von Wirtschaftlichkeitsanforderungen deutlich zu erhöhen [KiWi03]. Getrieben wird diese Entwicklung durch die Verkürzung der Produktlebenszyklen in Verbindung mit hohem Innovationsdruck, den Trend zur Produktion individualisierter Produkte und die daran gekoppelte hohe Variantenvielfalt. Besondere Relevanz hinsichtlich dieser Turbulenzzunahme besitzt für die Unternehmen die Fähigkeit, frühzeitig Marktveränderungen richtig interpretieren und daraufhin rechtzeitig abgestimmte Maßnahmen ergreifen zu können [West03]. Proaktives Handeln muss bisher vorherrschendes reaktives Handeln ergänzen bzw. ersetzen. Dies erfordert eine schnelle und effiziente Anpassung der Prozesse sowie der physischen Systeme hinsichtlich Größe, Funktion und Strukturen auf sich ständig verändernde Randbedingungen. Die Abläufe und Strukturen der Fabrik von morgen müssen daher wandlungsfähig, flexibel, mobil sowie vernetzungsfähig [West99; WiEn00; WiBa01; WiWo00] – mit einem Wort supra-adaptiv – sein. Die Beherrschung dieser Anforderungen und der damit verbundenen Komplexität verlangt daher neue Konzepte zur Planung wie auch zum Betrieb wandlungsfähiger und flexibler Fabrikstrukturen [EnHi03].
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Standardisierung und Adaptivität – ein Widerspruch? Vor dem Hintergrund verkürzter Planungszeiten sowie der weiter zunehmenden Fertigung in weltweit agierenden Unternehmensverbünden gewinnt die Parallelisierung von Prozessen wie auch die verteilte Planung im Netzwerk zunehmend an Bedeutung. Um die damit verbundene Komplexitätserhöhung zumindest teilweise kompensieren und gleichzeitig in immer kürzerer Zeit hochqualitative Ergebnisse liefern zu können, empfiehlt sich ein netzwerkweit standardisiertes Vorgehen als Handlungsgrundlage aller Prozessbeteiligten. Während Synergieeffekte und Prozessbeschleunigung eindeutige Vorteile einer standardisierten Planung darstellen, birgt eine definierte Vorgehensweise jedoch gleichzeitig die Gefahr von Kreativitätsund damit verbunden Qualitätsverlusten. Dies steht im klaren Widerspruch zur Forderung nach steigender Flexibilität. Daher ist es wesentliche Voraussetzung aller Standardisierungsbestrebungen, die Kreativität des Planers nicht mehr als nötig einzuschränken, so dass er zur optimalen Zielerreichung sein Erfahrungswissen trotz definierter Prozesse einbringen kann. Um diesen Zielkonflikt durch ein sinnvolles Maß an Standardisierung zu lösen, zeichnet sich eine adaptive Logistikplanung gerade dadurch aus, dass sie lediglich den Handlungsrahmen des Planers in Form von grundlegenden Vorgehensweisen, definierten Inputgrößen, Abhängigkeiten und Ergebnissen seiner Tätigkeiten standardisiert, ihm aber die Durchführung spezifischer Aufgabenumfänge nahezu eigenständig und selbstverantwortlich überlässt. Unterstützende Werkzeuge zur verbesserten bzw. beschleunigten Aufgabenbewältigung dienen dabei lediglich als Empfehlung, eine Verwendung ist ihm jedoch freigestellt, solange er die definierten Ziele und Randbedingungen (z. B. Datenformate) in geforderter Qualität und Zeit erfüllt. Das im Rahmen des Teilprojektes PlanLog hierzu entwickelte Planungsvorgehen wird in den nachfolgenden Abschnitten zunächst kurz in allgemeiner Form und anschließend an einem konkreten Beispiel vorgestellt.
Vorgehensmodell der adaptiven Planung Essentiell für eine adaptive Logistikplanung im automobilen Netzwerk ist eine einheitliche Prozessgestaltung als Basis aller an der Planung Beteiligten. Um jedoch eine derartige Best Practice logistischer Planungsabläufe erstellen zu können, muss dem Vorgehen ein ganzheitliches Prozessdenken zugrunde liegen.
4.2.1 Zukunftsorientierte Logistik durch adaptive Planung
347
Daher gilt es in einem ersten Schritt, bestehende Bereichs-, aber auch Unternehmensgrenzen gedanklich aufzulösen, um einen durchgängigen Ansatz zur optimierten Logistikplanung entwickeln zu können. Um dennoch eine Anwendbarkeit der Ergebnisse in der Praxis zu gewährleisten, hat sich PlanLog dazu entschlossen, in konsequenter Weiterführung des Modularisierungsgedankens ein bausteinbasiertes Planungskonzept zu schaffen, das komplexe Prozesse durch die Unterteilung in standardisierte, abgegrenzte Umfänge transparent gestaltet und Optimierungspotenziale durch eine wissensgestützte, aufgabenindividuelle Kombination einzelner Planungsinhalte erschließen lässt. Den Kern des Konzeptes stellen dabei die Planungsbausteine dar, die sich jeweils durch deren individuelle Aufgabenstellung sowie das daraus erwartete Ergebnis eindeutig charakterisieren. Sie enthalten hierzu in standardisierter textueller oder graphenunterstützter Form abgelegte, in sich geschlossene Prozessbeschreibungen, die durch Verweise auf die notwendigen Input- und Outputgrößen sowie auf die zur Gewinnung der angestrebten Ergebnisse empfohlenen Planungswerkzeuge ergänzt werden. Die Gestaltung der Inhalte kann dabei unter Berücksichtigung firmenspezifischer Gegebenheiten erfolgen. Die Austauschbarkeit innerhalb eines Unternehmens bzw. Netzwerks wird mit Hilfe standardisierter Schnittstellen geleistet. Dies ermöglicht die flexible Zuweisung der einzelnen Bausteine zu den im Netzwerk am besten geeigneten Bearbeitern. Zur Unterstützung des Projektmanagements in der Planung wird jeder Baustein zeitlich und über die Verrechnung von Kostensätzen auch monetär bewertet. Zur Bewältigung einer Planungsaufgabe wird zunächst unter Beachtung geltender zeitlicher und kausaler Rahmenbedingungen ein GesamtWorkflow aus einzelnen Bausteinen kombiniert, die entsprechend ihrer Aufgabenstellung aus einem Planungsbaukasten entnommen und einem verantwortlichen Bearbeiter zugeordnet werden. Die Anordnung erfolgt vom zu erreichenden Ziel rückwärtsgerichtet hin zum Ausgangspunkt. Dort startet im Anschluss deren Abarbeitung durch die jeweiligen Planer. Bei Fertigstellung eines Bausteins wird auf Basis des Ergebnisses eine Plausibilitätsprüfung der nachfolgenden Schritte durchgeführt und gegebenenfalls das weitere Vorgehen, d. h. die Bausteinwahl und -anordnung an die möglicherweise geänderten Randbedingungen angepasst. Berücksichtigung der Planungsphasen
In Abhängigkeit des Planungshorizontes können die in den Bausteinen inhärenten Prozesse jeweils für die Phasen strategischer, operativer und taktischer Planung hinterlegt werden. Dieser Schritt ist erforderlich, da sich
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sowohl die erwarteten Resultate als auch Workflows auf Grund der unterschiedlichen Datengrundlagen und Ergebniserwartungen in den einzelnen Phasen unterscheiden, jedoch eine Verwendung des Bausteins über den ganzen Projektverlauf hinweg gewährleistet werden soll. In der strategischen Phase stehen im Allgemeinen nur sehr wenige Daten, meist in Form von Kennzahlen, Prämissen und vom Vorgängerprojekt abgeleiteten Annahmen, zur Verfügung. Auf dieser Basis gilt es vornehmlich Grobkonzepte zu entwickeln, die die Grundlage für eine weitere Detaillierung in den nachfolgenden Phasen sowie investrelevante Aussagen erlauben. Da gerade in dieser Phase die Möglichkeiten der Ergebnis- und Kostenbeeinflussung sehr hoch sind, gilt es, die Planungsqualität durch eine entsprechend intensive Absicherung der gewählten Konzepte sicherzustellen. Die im Projektverlauf zunehmend umfangreichere Datenbasis erlaubt bei der taktischen Logistikplanung bereits die Feinplanung von Prozessen und verwendeten Ressourcen, d. h. die Generierung und Bewertung verschiedener Lösungsalternativen sowie die resultierende Auswahl der zielführenden Variante. Deren spezifische Ausgestaltung erfolgt in der anschließenden operativen Planungsphase, die auch Optimierungen während und nach der Umsetzung beinhalten kann. Mitunter kann es vorkommen, dass ein Baustein aufgrund der beispielsweise sehr detaillierten, weil operativen Ausprägung seiner Aufgabenstellung, keine für die strategische Phase hinterlegten Prozessschritte aufweist. Zur Unterstützung der Ergebniserarbeitung in den verschiedenen Planungsphasen wurden in PlanLog angepasste Konzepte und Werkzeuge aus dem Umfeld der digitalen Fabrik entwickelt (siehe Kapitel 4.2.2), die den Planer sinnvoll bei seinen Aufgaben unterstützen können. Das standardisierte Vorgehen soll im Folgenden exemplarisch am Beispiel der Materialversorgung erläutert werden. Diese umfasst im Allgemeinen die physische und informatorische Koordination des Materialflusses zwischen Unternehmensbereichen [Grün04, S.3] oder auch zwischen Unternehmen, so dass die Beplanung dieser logistischen Umfänge dementsprechend in größeren Unternehmen bis zu sieben Abteilungen betreffen können (Montageplanung, Behälterplanung, Bereitstellplanung, Strukturplanung, interne und externe Versorgungsplanung sowie Einkauf).
4.2.1 Zukunftsorientierte Logistik durch adaptive Planung
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Ausgangsbasis des idealen Planungsvorgehens in der Bereitstellplanung
Vor der Konfiguration des Planungsvorgehens für die Bereitstellplanung erfolgt in einem ersten Schritt die umfassende Betrachtung der herrschenden Randbedingungen. Beispielsweise schränken unternehmensstrategische Prämissen den Lösungsraum bereits vor Beginn der Planung ein. So wird derzeit die bereits lang bekannte, aber erst in den letzten Jahren auch bei den deutschen Herstellern Einzug nehmende Philosophie der konsequenten Wertschöpfungsorientierung [Ohno88; Take99; RoSo04] verfolgt, der sich alle Prozesse unterzuordnen haben. Dabei gilt es im Wesentlichen, unter Fokussierung des zentralen Wertschöpfungsprozesses alle damit verknüpften Abläufe zu dessen Verbesserung optimal anzupassen und dabei zu verschlanken bzw., wo möglich, sogar zu eliminieren. Wesentlich ist daher eine stringente Ausrichtung der Prozesse an den wirklichen Bedarfen des „Kunden“. Dies muss sich entsprechend in der Gestaltung des GesamtWorkflows widerspiegeln und findet auch Eingang bei der Kombination der Planungsbausteine. Die damit verbundene konsequente „line back“Planung führt in erster Linie zu einem Anstieg der erforderlichen Tätigkeiten für die Logistik in den vorgelagerten Prozessen, die es durch geeignete Bündelungsmaßnahmen dennoch wirtschaftlich zu gestalten gilt. Je nach betrachtetem Wertschöpfungsumfang und Planungsraum kann sich der maßgebliche Orientierungspunkt verändern und beispielsweise vom Endmontageband auf die Vormontage übergehen. Ideale Vorgehensweise der adaptiven Materialversorgung
Am Beispiel der Materialversorgung stellt im Falle einer Endmontage das Montageband selbst im allgemeinen und damit der jeweilige Fertigungsmitarbeiter im Speziellen den Kunden der Materialbereitstellung dar. Seine „Bedarfe“ zur optimalen Erfüllung seiner Tätigkeit müssen somit die oberste Direktive der Planung sein. Konkret bedeutet dies: die Aufgabe der Bereitstellung besteht darin, dem Werker alle benötigten Bauteile und Module zur geforderten Zeit in genau der Form darzubieten, die er für einen idealen Verbau benötigt. Zur Realisierung dieser Aufgabe wurden aus dem in PlanLog entwickelten Planungsbaukasten die Bausteine für die der Bereitstellplanung zugeordneten Teilumfänge ausgewählt und im Sinne eines „line back“-Ansatzes angeordnet. Dazu zählt zunächst die Festlegung der Montageanforderungen, der die Erarbeitung von Bereitstellprinzip, Behälter, Bereitstellhilfsmittel und Bereitstellart folgt. Nach Klärung dieser verbauort-
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nahen Umfänge verschiebt sich der Fokus der Planung über die Klärung der internen und externen Versorgungsprozesse bis hin zur Vormontage des (externen wie auch internen) Lieferanten.
Abbildung 1: Vorgehensweise adaptiver Materialversorgung inklusive der erforderlichen Bündelungsstufen (jedoch ohne Iterationen)
Ermittlung Montageanforderungen
Die Montage fordert allgemein für ihre Mitarbeiter eine ergonomische und prozesssichere Bereitstellung. Gleichzeitig sind die Bauteile so anzuordnen, dass der Wertschöpfungsanteil des Mitarbeiters durch eine Erhöhung der Verbauzeiten und eine Minimierung der Wege-, Such- und Greifzeiten optimiert wird. Festlegung Bereitstellprinzip
Die Ermittlung des gewünschten Bereitstellortes hat daher in engem Zusammenspiel mit Vertretern der Montage zu erfolgen. Je nach Anforderung kann dieser im direkten Greifraum des Werkers – also im, am oder
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unter dem Fahrzeug – liegen, aber auch auf der hinter dem Mitarbeiter befindlichen Bereitstellfläche, die er beim Wechsel von einem Fahrzeug zum nächsten durchschreiten muss (Werkerdreieck, siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Beispielhaftes Werkerdreieck (2) in der automobilen Endmontage: Bewegungsraum des Werkers (1) zwischen Fahrzeug und Bereitstellfläche am Montageband (3)
Auf Grundlage der Montageanforderungen erfolgt in diesem Arbeitsschritt eine erste Konkretisierung der Bereitstellform. Festlegung Behälter
Während bislang die Auswahl der Behälter oftmals nach optimalen Transportkriterien erfolgte, muss diese Aufgabe in Zukunft dem Anspruch der idealen Bereitstellung mehr denn je genügen, so dass sich je nach Verbauort unterschiedliche Behälterkonzepte (behälterlose Bereitstellung, Standardbehälter, Carsets etc.) ergeben, die dem Montagemitarbeiter eine greifraumoptimierte und ergonomische Teilebereitstellung ermöglichen. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Darstellung mengenmäßig möglichst kleiner Umfänge am Montageband, da „im Band“ selbst wie auch im idealen Werkergreifraum hinter dem Band für ein großes Teilespektrum je Takt nur verhältnismäßig wenig Platz zur Verfügung steht. Daher muss – soweit nicht die Bereitstellung selbst eine Abbildung der Losgröße eins erfordert – der Behälter möglichst klein gewählt werden, um Flexibilität auch für die Aufnahme weiterer Umfänge aus anderen Verbauorten bei Umtaktungen vorzuhalten. Daraus lässt sich zusammen mit der maximalen Verbaurate je Teil ein Verbrauchswert ermitteln, den der sinnvoll minimalste Behälter durch die Anzahl in ihm befindlicher Bauteile abzudecken hat. Anhand der jeweils vorgegebenen physischen Strukturen kann jedoch je Anwendungsfall eine Anpassung erforderlich werden, wenn der geforderten internen Wiederbeschaffungszeit nicht genügt werden kann.
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Festlegung Bereitstellhilfsmittel
Ergänzend zum Behälter sind im nächsten Schritt die daraus resultierenden Bereitstellhilfsmittel zu beplanen. Auch diese müssen den idealen Werkerzugriff bestmöglich unterstützen, haben aber die zusätzliche Anforderung, bei einer Vielzahl darzustellender Umfänge und vor allem Varianten je Takt Fehlgriffe zu vermeiden und somit einen wesentlichen Beitrag zur Prozesssicherheit zu leisten. Erfolgte die Auswahl bisher je Sachnummer, findet an dieser Stelle die erste Bündelung der entwickelten Lösungen statt, indem bei einer Prüfung aller an einem Takt gewählten Behälter- und Bereitstellhilfsmittelkonzepte ein Abgleich hinsichtlich deren Kompatibilität erfolgt. Eine Angleichung bisheriger Lösungen kann die Folge sein. Festlegung Bereitstellart
Sind die an einem Takt darzustellenden Sachnummern aufgrund der jeweiligen Variantenausprägung zu umfangreich, um diese auf der zur Verfügung stehenden Fläche bereitzustellen, kann die einfachste Art der sortenreinen Bereitstellung nicht mehr realisiert werden. In diesem Fall erfolgt je nach Anforderung der Montage und möglicher Bündelung je Takt bzw. je Bandabschnitt eine Sequenzbildung für ein Bauteil bzw. eine Setbildung für mehrere Bauteile. Festlegung des internen Versorgungsprozesses
Nach der Auswahl von Bereitstellbehälter und -art ist in einem weiteren Schritt die Art der internen Versorgung zu definieren. Als „neuer Kunde“ der Logistik fungiert demnach die Bereitstellung. Der bestmögliche – weil schlankste und damit kundenorientierteste – Prozess ist die Direktbelieferung von der Vormontage aus, die jedoch nur bei geeigneten Versorgungsvolumina bzw. bei innerhalb der Montagehalle befindlichen oder sehr verbauortnahen Vormontagen zu bewerkstelligen ist. Liegt der Vormontagepunkt außerhalb – z. B. bei einem Lieferanten –, wäre wiederum eine direkte Belieferung der Bereitstellung ab der Schnittstelle – also z. B. ab dem Anlieferpunkt – ideal. Dies wiederum bedingt von Lieferantenseite eine Versorgung in dem von der Bereitstellung – und damit der Montage – geforderten Behälter sowie in der geforderten Frequenz. Während aufgrund der zum Teil sehr großen Volumenströme eine untertägige Anlieferung oftmals (vor allem bei A-Teilen) noch zu bewerkstelligen ist, kann dennoch selbst in diesem Fall kaum auf eine verbauortnahe Zwischenpufferung geringer Umfänge verzichtet werden – solange diese die Montageanforderungen erfüllen. Bei geringeren Volumenumfängen ist
4.2.1 Zukunftsorientierte Logistik durch adaptive Planung
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jedoch in der Forderung des kleinstmöglichen Behälters am Montageband oftmals ein Zielkonflikt mit der externen Transportforderung nach bestmöglicher Auslastung der Transportmittel enthalten, den es zu überbrücken gilt. Bereitstellung
Zwischenpuffer
Lager
Wareneingang
Anlieferung
1
2
Aufnehmen Absetzen
3 Transport 4
Weiterer Prozessschritt
Abbildung 3: Erforderliche Handlingaufwendungen je möglichem internen Versorgungskonzept: (1) Direktanlieferung, (2) Anlieferung über Pufferfläche, (3) Anlieferung über Supermarkt, (4) Anlieferung über Lager
Daher sind gezielt Entkopplungspunkte vorzusehen, an denen im besten Fall lediglich eine Vereinzelung, wenn unumgänglich auch eine Portionierung oder (Re-)Sequenzierung vorzunehmen ist. Um der Forderung nach kurzen Wiederbeschaffungszeiten in der Montage Rechnung zu tragen, sind diese Flächen möglichst verbauortnah anzuordnen (kurze Wege) und sollten nur zur Abwicklung eines begrenzten Teilespektrums dienen (geringe Aufgabenumfänge), um schnelle Reaktionszeiten zu erlauben. Die Versorgung aus diesen (oftmals als Supermarkt bezeichneten) Puffern bietet wiederum eine Bündelung an: da viele Bauteile gleiche oder ähnliche Versorgungsfrequenzen aufweisen, kommt in diesem Fall für bestimmte Umfänge eine gemeinsame Versorgung eines Bandabschnitts oder sogar eines Bandes über einen Routenverkehr in Betracht, der aus dem fertigungsnahen Materialversorgungspunkt heraus mehrere Takte nacheinander anfährt und mit den geforderten Teilen beliefert. Aufgrund der Forderung nach verbesserter Prozesssicherheit ist in diesem Fall eine Taktung der Verkehre sinnvoll, so dass jeder Punkt in definierten Intervallen beliefert wird. Durch die unterschiedlichen Verbräuche – und damit verbunden unterschiedlichen Anlieferbedarfe – je Sachnummer ändert sich jedoch bei jeder Fahrt die Beladung des Routenzugs. Die Planung dieser „Mischbeladungen“ gilt es, durch geeignete Steuerungsmechanismen zur Wiederbeschaffung zu berücksichtigen.
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J. Boppert, M. Schedlbauer, W. A. Günthner
Aufgrund der Anordnung auf oftmals hochwertigen Montage(vor)flächen, sind die beschriebenen Puffer möglichst platzsparend auszulegen und können daher je Sachnummer nur geringe Bestände aufnehmen. Festlegung des externen Versorgungsprozesses
Die externe Versorgung muss den in den vorhergehenden Planungsschritten ermitteln Lösungen genügen und daher die heute oftmals realisierten Anlieferungen einmal am Tag oder sogar nur einmal pro Woche verfeinern. Es ist eine höhere Anlieferfrequenz kleinerer Umfänge gefordert, ein Umstand, der oftmals der Forderung nach bestmöglicher Transportauslastung aufgrund der geringen Anliefervolumina je Sachnummer entgegensteht. Daher gilt es, speziell diese Umfänge über externe Bündelungskonzepte zu transportieren, so dass ein Transportunternehmen z. B. in Form eines Milkruns Teile von mehreren Lieferanten abholt und diese dann gebündelt und zeitnah beim Montagewerk anliefert. Randbedingungen der Partner im Netzwerk
Der Vormontageprozess – z. B. beim Lieferanten – muss sich in konsequenter Fortführung der Kundenorientierung an den vom Versorgungsprozess zwischen den Akteuren gestellten Forderungen orientieren und dementsprechend dafür sorgen, dass zur benötigten Zeit die richtige Menge der geforderten Bauteile oder Module zur Verfügung steht, d. h. von der Vormontage bedarfsgerecht produziert wird. Aktuelle Steuerungs- und Abrufkonzepte in der Automobilindustrie [Reit05] ermöglichen heute für zahlreiche Teileumfänge eine längerfristige und verlässlichere Planung der Vormontagen, die nicht nur eine synchrone Anlieferung, sondern teilweise sogar eine nahezu synchrone Produktion erlaubt und dadurch einen früher oftmals erforderlichen Aufbau von Fertigteilbeständen vermeiden lässt. Die Vormontage hat daher die Möglichkeit, eigene Fertigungsprogramme besser zu optimieren und die geforderten Teile bedarfsgerechter zu produzieren. Dementsprechend stellt sie wiederum Anforderungen an die ihr vorgelagerten Logistikprozesse, die diese „line back“ bis zur Vormontage erfüllen müssen. Demzufolge ist das vorab beschriebene Planungsvorgehen für unterschiedliche Fertigungsstufen im automobilen Netzwerk anwendbar. Dennoch sei an dieser Stelle anzumerken, dass sich einige Umfeldkriterien zum Teil entscheidend verändern, wenn man die logistische Kette upstream verfolgt wird.
4.2.1 Zukunftsorientierte Logistik durch adaptive Planung
355
Für eine verbrauchs- und damit kundenorientierte Produktion ist, wie bereits beschreiben, eine genaue Kenntnis der Feinabrufe erforderlich. Da diese letztlich immer vom OEM ausgehen und von Stufe zu Stufe (zum Teil nach internen Optimierungen und Bündelungen) weitergegeben werden, verkürzt sich entsprechend je Lieferantenstufe die „Vorlaufzeit“ bis zum jeweils geforderten Liefertermin. Dementsprechend ist es heute auch aufgrund der räumlichen Entfernungen der Lieferanten nur in wenigen Fällen möglich, über mehr als eine Stufe hinaus wirklich synchron zu produzieren. Eine Glättung und Bündelung von Abrufen sowie die Verringerung der Anlieferfrequenzen von den Sublieferanten zum 1st Tier im Gegensatz zu seinen eigenen Versorgungsfahrten zum OEM sind logische Konsequenz, die wiederum in Form von (Eingangs-)Beständen „bezahlt“ wird. Als weiteres Kriterium lässt sich die Veränderung des Teilespektrums nennen: je weiter sich ein Zulieferer in der Kette vom OEM entfernt befindet, desto kleiner werden die Teile, die er fertigt und liefert, desto geringer wird entsprechend auch der Transportvolumenstrom [Rinz06]. Zudem sitzen die teilweise sehr kleinen Zulieferunternehmen oftmals weit verteilt, so dass sich dementsprechend auch Milkrun-Konzepte nicht mehr wirtschaftlich einsetzen lassen.
Zeile 1 1
Davis-Verteilung TUL-Kosten Mittel
Davis-Verteilung TUL-Kosten Anpassung 2003/4
Hochrechnung 2004
gerundete "Konsens"Schätzung
% 2
% 3
Mrd. € 4
Mrd. € 5
Transportkostenanteil Kosten der Aktivitäten der Lagerwirtschaft und des Umschlags
42,2%
43,0%
73,6
73,5
25,5%
26,0%
44,5
44,5
3
Zwischensumme "TUL"
67,7%
69,0%
118,1
118,0
6
Kosten Auftragsabwicklung Kosten Logistikplanung, Admin.
5,4%
5,0%
8,6
8,5
2
7 8
Kosten Bestände
9 Summe Logistikkosten Quelle zu Spalte 1: Davis (2002-2005)
8,6
5,2%
5,0%
21,7%
21,0%
35,9
35,0
8,5
100,0%
100,0%
171,1
170,0
Abbildung 4: Anteile der Kosten für Transport, Umschlag und Lagerung (TUL) an den Gesamtlogistikkosten [KlKi06, S.52]
Erschwerend kommt hinzu, dass mit Abnahme von Volumen und Wertigkeit eines Bauteils der Anteil der impliziten Logistikkosten steigt, so dass
356
J. Boppert, M. Schedlbauer, W. A. Günthner
in diesem Fall besonders auf eine optimierte Transportauslastung zu achten ist, da diese schnell den größten Anteil der Gesamtlogistikkosten darstellen kann. Somit sind – je weiter entfernt die betrachtete Vormontage in der logistischen Kette liegt – viele „schlanke“ Konzepte nicht mehr wirtschaftlich umsetzbar, da aufgrund der steigenden Logistikanforderungen die zur Optimierung erforderlichen Bündelungen nicht mehr sinnvoll abzubilden sind. Durch die in PlanLog definierte Planungsvorgehensweise lassen sich damit zwar nicht mehr alle, aber dennoch zahlreiche Optimierungspotenziale der Bereitstellung und Versorgung in der Supply Chain erschließen.
Fazit Die Schaffung von Adaptivität in der Logistikplanung basiert auf Standards. Diese bieten dem Planer die notwendigen, stabilen Rahmenbedingungen, um sich seiner Kernaufgabe, der hochqualitativen Erarbeitung aufgabenspezifischer Lösungen, widmen zu können. Das in PlanLog auf Basis modularer Planungsbausteine entwickelte Konzept unterstützt ihn dabei durch die flexible Kombination unterschiedlichster Prozessketten aus Standardelementen. Dieser Ansatz trägt damit wesentlich zur Komplexitätsreduktion bei und erleichtert zugleich die Pflege des in den Bausteinen hinterlegten Wissens. Am Beispiel der Bereitstellplanung konnte die Effektivität dieses Ansatzes demonstriert werden, der die Kundenorientierung als oberste Direktive verfolgt und somit bei konsequenter Umsetzung automatisch zu schlanken und wirtschaftlichen Prozessen führt.
Literatur [EnHi03] [Grün04] [KiWi03]
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4.2.1 Zukunftsorientierte Logistik durch adaptive Planung [KlKi06] [Ohno88] [Reit05]
[Rinz06] [RoSo04] [Take99] [West99] [West03] [WiBa01] [WiEn00] [Wien01] [WiWo00]
357
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4.2.2 Adaptive Logistikplanung durch digitale Werkzeuge
M. Schedlbauer, J. Wulz, W. A. Günthner
Ausgangssituation Um schnell und effizient auf die sich ändernden Marktanforderungen reagieren zu können, müssen Planungsprozesse in immer kürzerer Zeit verlässliche Ergebnisse generieren. Kernelement einer erfolgreichen Planung sind neben den zugrunde liegenden Methoden die eingesetzten digitalen Werkzeuge. Sie helfen die Planung zu beschleunigen, Kosten zu senken und die Qualität der Ergebnisse zu erhöhen. Aus den zunehmend anspruchsvolleren Umfeldbedingungen erwächst die Forderung nach neuen und innovativen EDV-gestützten Werkzeugen, um den Planer bestmöglich in seiner Arbeit zu unterstützen. Was in der Produktentwicklung – beispielsweise im Automobilbau – mit Technologien wie CAD, PDM etc. bereits lange Zeit etabliert ist, soll in Zukunft auch verstärkt in die Logistiksystemplanung Einzug nehmen. Im Sinne einer verteilten und vernetzten Planung gilt es, diese durchgängig zu digitalisieren. Darüber hinaus ist es nicht ausreichend, Werkzeuge zu entwerfen, die lediglich eine in sich geschlossene Lösung darstellen. Vielmehr müssen sie in eine Gesamtlösung integriert werden, um eine durchgängige Planung sowohl aus Daten- als auch aus Prozesssicht zu realisieren [MüLe06]. Die unter dem Begriff Digitale Fabrik [VDI07] erarbeiteten Lösungen bieten erste Ansätze zur Beseitigung des Integrationsproblems. Dennoch steht deren konsequente und effiziente Umsetzung heute vielfach noch am Anfang. Problematisch sind dabei insbesondere die Schnittstellen der unterschiedlichen Rechnerwerkzeuge, denen es oftmals an Kompatibilität mangelt [MeQu07]. Die Forschung ist daher gefragt, auf diesem Feld einen Beitrag zu leisten, damit die Digitale Fabrik eines Tages in ihrer Gesamtheit realisiert werden kann.
360
M. Schedlbauer, J. Wulz, W. A. Günthner
Adaptive Planung Die in PlanLog entwickelte Methodik zur adaptiven Planung von Logistiksystemen verfolgt den Ansatz der Geschwindigkeits- und Qualitätsverbesserung durch die Anwendung eines standardisierten Planungsvorgehens. Wesentliches Element sind dabei die in diesem Zusammenhang verwendeten Werkzeuge sowohl zur Schaffung des zentralen, aufgabenspezifischen Workflows aus Standard-Prozesselementen – den Planungsbausteinen – als auch zur Unterstützung bei der Erarbeitung der jeweils geforderten (Teil-) Ergebnisse. Zur Beschreibung des elementaren Faktors Adaptivität innerhalb der Logistikplanung wurden verschiedene Kriterien festgelegt (siehe Kapitel 4.1.2), die in gleicher Weise auf die digitalen Werkzeuge zu übertragen sind, die in diesem Kontext geschaffen werden. Hierzu zählen: • Zeitminimierung und Qualitätssteigerung: Als wichtigste Planungsziele einer adaptiven Planung werden die Beschleunigung der Planungsprozesse und die Erhöhung der Planungsqualität verfolgt. • Durchgängige Anwendbarkeit für alle Phasen der Planung: Werkzeuge und Datenstrukturen sollen möglichst durchgängig in allen Planungsphasen (strategisch/taktisch/operativ) bis hin zur Mitarbeiterausbildung eingesetzt werden bzw. als entsprechend angepasste Lösungen zur Verfügung stehen. • Menschfokussierung: Einfache Bedienbarkeit und verständliche Visualisierung unterstützen den Planer beim Einsatz der Werkzeuge sowie bei der Kommunikation der Ergebnisse. • Integration, Kommunikation und Offenheit: Zur vollständigen Nutzung der Potenziale der Digitalen Fabrik durch Sicherstellung der netzwerkweiten Einsetzbarkeit gilt es, die Werkzeuge in die jeweils vorhandene Umgebung bestmöglich über offene, standardisierte Schnittstellen zu integrieren bzw. eine einfache Kommunikation zwischen den einzelnen Anwendungen sicherzustellen. • Kontinuierliche Pflege und Anpassung: Eine adaptive Planung verlangt jederzeit anforderungsgerechte Werkzeuge. Die Sicherstellung der Aktualität erfolgt über den kontinuierlichen Einsatz und die aufwandsarme Adaptierbarkeit an geänderte Randbedingungen. Als Schlüsselkonzepte zur Realisierung dieser Anforderungen werden die Standardisierung der Werkzeuge sowie die Modularisierung der Datenstrukturen (vgl. Kapitel 4.3.1) verstanden.
4.2.2 Adaptive Logistikplanung durch digitale Werkzeuge
361
Adaptiver Planungsprozess auf Basis des Planerleitfadens Die zeitliche Festlegung eines Werkzeugeinsatzes erfolgt innerhalb der einzelnen Bausteine des Gesamt-Planungsprozesses, der folglich das Kernelement des Planungskonzeptes darstellt (siehe Kapitel 4.2.1). Um die Gestaltung und Bearbeitung aufgabenspezifischer Planungs-Workflows in Abhängigkeit der geltenden Auslöser und Randbedingungen (siehe Kapitel 4.1.1) und unter Berücksichtigung des Planungshorizontes mit einem geeigneten Werkzeug zu unterstützen und damit an realen Beispielen zu verifizieren, wurden zwei Umsetzungsvarianten evaluiert. Der „Planungsbaukasten“ (siehe Abbildung 1) erlaubt dem Anwender die Zusammenstellung des Workflows für seine jeweilige Planungsaufgabe aus den im Werkzeug hinterlegten, in sich abgeschlossenen Teilprozessen und unter Berücksichtigung der begleitenden Restriktionen sowie vordefinierter kausaler Zusammenhänge (z. B. ist bei JIS-Planung keine Lagerbetrachtung notwendig). Zu diesem Zweck enthält das eigenständig programmierte Tool standardisierte Datenstrukturen im XML-Format, in denen die Planungsbausteine mit ihren inhärenten Workflows sowie Zeit- und Kapazitätsbedarfen für die verschiedenen Planungsphasen (strategisch, taktisch und operativ) beschrieben werden können. Kausale Regeln bzw. die planungsbeeinflussenden Randbedingungen unterstützen die Zusammenstellung des Gesamtplanungsvorgehens durch das Werkzeug. Zur Aktualisierung bzw. Erweiterung der Planungsbausteine stehen benutzerfreundliche Oberflächen zur Verfügung, in die die jeweiligen Planungsschritte in Textform eingepflegt werden können. Desgleichen sind für die Randbedingungen leicht zu pflegende Datenfelder vorhanden, die auch die Querverbindungen zwischen den einzelnen Faktoren wiedergeben. Da dieses Werkzeug als Einzelplatzversion entwickelt wurde, erfüllt es nicht die Anforderungen nach netzwerkweiter Einsetzbarkeit. Zu diesem Zweck wurde zusätzlich auf eine Lösung zurückgegriffen, deren Basis ein kommerzielles Workflow-Management-Tool bildet [Auto07]. Dieses webbasierte Werkzeug ermöglicht es, die einzelnen Planungsbausteine (Workflows) auf verschiedene Planer im Netzwerk zu verteilen und bietet zudem Funktionalitäten zum unternehmensübergreifenden Projektmanagement (z. B. Überwachung der Bearbeitungsstati). Zur Bearbeitung der in den Workflows beschriebenen Planungstätigkeiten können standardisierte Formblätter angelegt werden, die den Planer bei der Erarbeitung der von ihm geforderten Ergebnisse methodisch und grafisch unterstützen.
362
M. Schedlbauer, J. Wulz, W. A. Günthner
Abbildung 1: Zentrale Benutzeroberfläche des Planungsbaukastens
In den Planungsbausteinen erfolgt der Verweis auf die Anwendung spezifischer, zur Ergebniserarbeitung empfohlener Werkzeuge. Entsprechend der oben genannten Kriterien steht eine durchgängige Verwendung über alle Planungsphasen im Vordergrund. Auf Grund zeitabhängiger Randbedingungen kann die Erfüllung dieser Forderung jedoch nicht immer eingehalten werden. In den nachfolgenden Abschnitten werden innerhalb des Projekts entwickelte bzw. angepasste digitale Werkzeuge entsprechend ihrer zeitlichen Verwendung (durchgängig bzw. strategisch oder taktisch/ operativ) vorgestellt. Adaptiv in allen Planungsphasen Das Rückgrat für den durchgängigen, adaptiven Einsatz digitaler Werkzeuge stellt ein funktionierendes Datenmanagement dar, das Informationen gezielt strukturiert und bereitstellt. Erst dadurch wird gewährleistet, dass die Hilfsmittel effizient eingesetzt sowie Daten ohne Systembruch durchgehend genutzt werden können. Für eine informationstechnisch stabile Basis wurden daher Ansätze für eine durchgängige Datenhaltung auf der Grundlage von Prozess- und Technikmodulen (siehe Kapitel 4.3.1) geschaffen, die alle für die Logistik erforderlichen Informationen beinhalten und entsprechend in den entwickelten Werkzeugen immer wieder Anwendung finden [GüBo06]. Planung in der virtuellen Welt
Bei der Analyse der vorherrschenden Planungsprozesse wurde der Bedarf nach einer verbesserten Abstimmung der Planungsstände, insbesondere
4.2.2 Adaptive Logistikplanung durch digitale Werkzeuge
363
bezüglich Prozess- und Layoutplanung identifiziert. Gerade bei der Vielzahl von beteiligten Planern unterschiedlicher Disziplinen gestaltet sich die Kommunikation teils sehr aufwändig, zeitnahe Entscheidungen sind jedoch für den gesamthaften Erfolg von entscheidender Bedeutung. Die virtuelle Realität stellt hierfür ein optimal geeignetes Werkzeug dar. Der Einsatz ist jedoch meist mit hohem Modellierungsaufwand aufgrund einer mangelnden Datendurchgängigkeit der verschieden Planungssysteme verbunden. Um diese Schwachstelle zu egalisieren und die damit verbundenen Potenziale aufzuzeigen, wurde exemplarisch das Werkzeug Virtuelle Realität (VR) mit einem Prozessplanungswerkzeug bidirektional gekoppelt. Bei der Umsetzung dieser Verknüpfung ist es entscheidend, den Datentransfer sowohl vom Planungstool in die virtuelle Umgebung als auch in die Gegenrichtung zu gewährleisten, um das VR-System auch tatsächlich aufwandsarm im Planungs- und Entscheidungsfindungsprozess einsetzen zu können und es nicht zu einem reinen Visualisierungswerkzeug „abzuwerten“. Im Rahmen der Umsetzung erfolgte u. a. die Integration der erarbeiteten Technikmodulstrukturen in das Planungswerkzeug eM-Planner. Durch eine gezielte Kopplung zwischen Prozessplanungs- und VR-System werden alle relevanten Daten, wie Koordinaten, Orientierungen und Zusatzinformationen der 3D-Modelle aus dem Planungssystem extrahiert und über eine Schnittstelle im ASCII-Format automatisch in ein VR-Modell umgesetzt.
Abbildung 2: Bidirektionale Kopplung Prozessplanungssystem – VR
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M. Schedlbauer, J. Wulz, W. A. Günthner
Anschließend kann die Absicherung bzw. Änderung der komplexen logistischen Systeme in der VR-Umgebung in interdisziplinären Teams durchgeführt und ohne weitere Anpassungen direkt ins Planungssystem zurück übertragen werden (siehe Abbildung 2). Die in der virtuellen Realität erstellten Modelle sind durch ihren kontinuierliche Verwendung innerhalb der einzelnen Planungsphasen schrittweise auszubauen. Durchgängiger Einsatz und Aktualisierung schaffen eine zentrale Kommunikations- und Simulationsplattform, die letztendlich bis hin zur Mitarbeiterschulung (siehe Kapitel 4.3.4) eingesetzt werden kann. Zur Erweiterung der VR-Funktionalitäten wurde in PlanLog überdies ein Simulationswerkzeug geschaffen, das es erlaubt, virtuelle Logistikumgebungen im Cyberspace zu „begehen“, um u. a. logistische, mitarbeiterbezogene Kennzahlen wie Wege- und Greifzeiten für MTM-Analysen zu bestimmen. Mit Hilfe der integrierten Dokumentations- und Analysefunktionen können aus Sicht der Planung Probleme durch die frühzeitige Mitarbeiterbeteiligung und die damit verbundene Dynamisierung des Modells erkannt und gelöst bzw. Abläufe optimiert werden. Dies führt zu einer effizienten Verkürzung der Planungszeiten und zur Vermeidung von Fehlern bei der Realisierung (siehe Kapitel 4.2.3). Durchgängig dynamisch – Ablaufsimulation
Neben dem durchgängigen Einsatz von VR-Modellen empfiehlt sich auch die Ablaufsimulation als Werkzeug zur dynamischen Prozessmodellierung für sämtliche Planungsphasen. Bestimmendes Kriterium ist hierbei die Wahl des geeigneten Detaillierungsgrades, der das Modellierungskonzept und damit den Erstellungsaufwand entscheidend beeinflusst. Innerhalb PlanLogs wurden diesbezüglich die Konzepte der Mikro- und Makrosimulation an einem geschlossenen Beispiel umgesetzt und bewertet. Da die als Mikrosimulation bezeichnete Detailsimulation eines Systems meist eine umfangreiche Datenkenntnis und einen hohen Modellierungsaufwand verlangt, empfiehlt sich deren Einsatz erst in späteren Planungsabschnitten. In den frühen Phasen bietet sich dagegen der relativ neue Ansatz der Makrosimulation an, die im Rahmen eines „Black Box“Konzeptes auf Basis von Algorithmen und Kennzahlen oder künstlichen neuronalen Netzen eine ganzheitliche Systembetrachtung auf höherem Abstraktionsniveau und mit sehr geringen Simulationszeiten erlaubt. Da dieser Ansatz bisher weit weniger Betrachtung als die Detailsimulation erfahren hat, jedoch in frühen Phasen durchaus verlässliche Aussagen mit geringem Aufwand bietet, entstand in PlanLog ein Vorschlag für den idealen Aufbau eines Makrosimulationsmodells.
4.2.2 Adaptive Logistikplanung durch digitale Werkzeuge
365
In Kooperation mit dem Karosseriebau eines OEM wurden exemplarisch sowohl ein Makromodell als auch ein Mikromodell der internen Materialflüsse erstellt, die die unterschiedlichen Aussage-Potenziale der beiden Modellierungsansätze aufzeigen sollten. Ziel war es ferner, Konzepte zu entwickeln, wie beide Modelltypen ohne Qualitätsverlust aufwandsärmer und adaptiver gestaltet werden können, um eine breitere sowie langfristige Verwendung erreichen zu können. Das Detailmodell beinhaltet alle Quellen und Senken, Puffer und Lagerflächen, Fahrwege, Peripherie (Ladestationen etc.) sowie alle Transportmittel und bildet auf dieser Basis alle derzeit implementierten Versorgungsprozesse ab. Als „Last“ werden dem Modell verschiedene realitätsgetreue Produktionsprogramme aufgeprägt. Durch Nutzung des Werkzeuges ist eine detaillierte Ermittlung der tatsächlichen Verkehrsflächennutzung möglich, die wiederum wertvollen Input für die Gestaltung der zukünftigen Strukturen erlaubt und damit in Hinblick auf die häufig stattfindenden Modellwechsel aufwändige Neu- und Umplanungen vermeiden helfen soll. Die Lage der Verkehrsachsen, die zur Ver- und Entsorgung der Anlagen dienen, spielt dabei eine große Rolle. Ferner lassen sich mit dem Modell verschiedene Steuerungsstrategien testen, so dass beispielsweise eine abgesicherte Entscheidung über die Potenziale eines Staplermanagementsystems gegenüber der derzeitigen Lösung möglich wird. Durch Entwicklung von Standardbausteinen für die Anlagen (Verbraucher), Verkehrswege, Flurförderzeuge, Bahnhöfe und Lager kann die geforderte aufwandsarme Anpassung des Modells an verschiedene zukünftige Planungsstände gewährleistet und so eine langfristige Verwendung des Modells garantiert werden. Das Makromodell hingegen soll lediglich die Bedarfe an Flurförderzeugen (Stapler, Trailer) mit geringstem Daten- und Modellierungsaufwand ermitteln, da es sich hierbei um die wichtigsten strategischen Aussagen zur Bestimmung des Flurförderzeug-Invests handelt. Auch hierzu wurden Standardbausteine – jedoch auf weitaus höherem Detaillierungsgrad und mit entsprechend geringerem Datenbedarf – entwickelt. Im Mittelpunkt standen dabei die automatisch im Modell generierten Materialströme, die über die definierte Ressourcenbeziehungen die Berechnung der benötigten Flurförderzeuge ermöglichten. Der einfache, leicht verständliche Modellaufbau, die Bausteinverwendung und die hohe Automatisierung des Modells erlauben eine einfache und aufwandsarme Nutzung und Anpassung bei zukünftigen Modellpflegen. Gleichzeitig zur Weiterentwicklung der Simulationskonzepte gilt es, diese Technologie noch stärker über verschiedene Schnittstellen in die Digitale Fabrik zu integrieren, um eine durchgängige Datennutzung sicherzu-
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M. Schedlbauer, J. Wulz, W. A. Günthner
stellen. Ein Ansatz hierzu ist das SDX (Simulation Data Exchange) Interface, das es beispielsweise ermöglicht, automatisiert aus einem CADSystem (FactoryCAD) auf Basis der dort hinterlegten Daten ein Modell im Simulationswerkzeug Plant Simulation [UGS07] zu erstellen. Dadurch kann die Übernahme aller Geometrie- und Layoutdaten in die Simulation jederzeit und ohne Schnittstellenverluste gewährleistet werden. Das wesentliche Element, sprich die Gestaltung und Steuerung der Prozessabläufe, wird jedoch vernachlässigt, da diese Daten im CAD-Modell nicht vorliegen. Um die Lücke zu schließen, wurde in PlanLog am Beispiel eines fahrerlosen Transportsystems (FTS) ein Simulationsbaustein geschaffen, der es dem Nutzer erlaubt, dialoggeführt diese Prozessintelligenz in Form von Steuerungsprinzipien nachzupflegen und auch Störungen etc. abzubilden, um ein realistisches Modellverhalten zu erreichen. Die übersichtliche und verständliche Dialogführung erlaubt es gerade auch einem NichtSimulationsexperten, in jeder Planungsphase die von ihm benötigten Ergebnisse mit Hilfe der Simulation zu gewinnen. So konnte ein Beitrag geleistet werden, zwei bestehende Anwendungen effizienter zu koppeln und so die Digitale Fabrik weiter auszubauen. Neben den bereits vorgestellten Modellen, die die durchgängige Verwendung der Ablaufsimulation anschaulich aufzeigen, wurden weitere Simulationsmodelle und Konzepte auf Basis dieser Technologie entwickelt, die in den nachfolgenden Abschnitten näher erläutert werden. Frühe Erkenntnisse mit hohem Wert Die Logistikplanung – speziell in der Automobilindustrie – erstreckt sich in ihren verschiedenen Ausprägungen und Aufgaben z. T. über lange Projektzeiträume bis hin zur operativen Umsetzung. Die unterschiedlichen Planungshorizonte - untergliedert in strategische, taktische und operative Planung - stellen sowohl an Tools als auch an Datenstrukturen unterschiedliche Anforderungen. In der strategischen Phase (50-30 Monate vor Produktionsstart – SOP) liegt der Schwerpunkt der Planungsumfänge auf der Erarbeitung von Grobkonzepten sowie der Ermittlung investitionsrelevanter Umfänge. Entsprechend hohe Qualität und Zuverlässigkeit der Ergebnisse ist gefordert, da sich hiervon richtungsweisend die weiteren Detailplanungen ableiten und die Kosten sowohl für den Planungsprozess als auch den Planungsgegenstand weitestgehend festgelegt werden. Die Schwierigkeit besteht jedoch in den zu diesem Zeitpunkt wenig vorhandenen bzw. abgesicherten Planungsdaten. Um diesen Spagat erfolgreich zu bewältigen, gilt es, die
4.2.2 Adaptive Logistikplanung durch digitale Werkzeuge
367
verfügbaren Informationen bestmöglichst zu nutzen und die ermittelten Ergebnisse auf breiter Basis sicher zu stellen. Zu diesem Zweck wurden in PlanLog Werkzeuge entwickelt, die neue Ansätze darstellen, um Planungsqualität und -geschwindigkeit bereits in der strategischen Phase zu steigern. Variantenmanager
Aufgabe des Variantenmanagers ist es, bereits in der frühen Planung erste Hinweise auf die durch Varianten generierte Komplexität aufzuzeigen und die Auswirkungen einer Variantenreduktion insbesondere in Bezug auf die Logistik zu demonstrieren. Ausgehend von der vorgegebenen bzw. prognostizierten Wahrscheinlichkeitsverteilung der Ausprägungen der einzelnen Produktmerkmale (wie z. B. Farbe, Material etc.) wird durch deren Multiplikation eine Variantenmatrix erstellt, die die prozentuale Häufigkeit jeder einzelnen Kombination wiedergibt. Um alle Varianten abbilden zu können, werden mehrere Merkmale in Zeilen und Spalten zusammengefasst. Die Variantenmatrix bildet die Grundlage für mögliche Reduktionsvorgänge von einzelnen Varianten oder ganzen Merkmalskombinationen, die sich als wenig relevant, weil wenig nachgefragt aber kostenintensiv, erweisen. Je nach Anzahl der an dieser Kombination beteiligten Merkmale beziehungsweise deren Ausprägungen sind verschieden viele Einzel-Varianten von einem Streichvorgang betroffen. Die Summe der jeweiligen Wahrscheinlichkeiten der zu streichenden Varianten wird dabei so auf die verbliebenen Varianten umverteilt, dass die ursprünglich (vom Kunden) vorgegebenen Wahrscheinlichkeiten der Produktmerkmale beibehalten werden und der „Zuwachs“ der verbliebenen Varianten erkennbar wird. Dadurch ist es möglich, auf Basis der erfahrungsbedingten Verteilungen der Merkmalsausprägungen, die letztendlich von der Kundennachfrage vorgeben werden, zu experimentieren und die eigene Fertigung und Logistik zu straffen, wenn eine Einigung über den Verzicht einzelner Varianten erzielt werden kann. Die dabei neu entstandene Matrix bietet sich sowohl im Rahmen der durchgängigen Datenverwendung wie auch als wertvoller Input für die dynamische Ablaufsimulation in frühen Planungsphasen an. Behälterkreislauf-Modell
Ergänzend zu den vorangehend erwähnten Simulationsmodellen entstand eine weitere Makrosimulation, um die vorweg entwickelten Konzepte auch am Beispiel der frühen Behälterplanung zu verifizieren. Mit diesem über Dialoge auch von Nicht-Simulationsexperten leicht zu bedienenden Tool
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können auf Basis weniger elementarer Daten (z. B. Fertigungsstandorte, Entfernungen, Füllgrade etc.) Behälterkreisläufe automatisiert aufgebaut und durch Ermittlung der für den reibungslosen Umlauf benötigten Behälterzahlen bereits frühzeitig Aussagen über den zu tätigenden Behälterinvest getroffen werden. Bestehen Unschärfen oder Anpassungsmöglichkeiten bei den Eingangsdaten können Ergebnisse verschiedener Parametervariationen übersichtlich in einer Exceltabelle gegenübergestellt und verglichen werden, um die Entscheidungsfindung bei Vorliegen unterschiedlicher Lösungsvarianten zu erleichtern. Bis ins Detail Die in der strategischen Planung verwendeten Werkzeuge unterstützen den Planer bei der Findung der weiter zu detaillierenden Grobkonzepte. Dies erfolgt anschließend in der taktischen (30-12 Monate vor SOP) sowie in der operativen Planung (12-0 Monate vor SOP und darüber hinaus). Diese Phasen sind gekennzeichnet durch eine wachsende Datengrundlage und eine zunehmende Spezifizierung der Fragestellungen. Im operativen Betrieb stehen hierbei insbesondere Optimierungsumfänge im Vordergrund. Bei der Werkzeugentwicklung ist daher verstärkt auf den Import vorhandener Planungsdaten und die aufwandsarme Generierung von Lösungsalternativen zu achten. Als besonders zielführend erweisen sich Werkzeuge, die nach der Planung in den operativen Betrieb übergeführt werden können und durch ihre kontinuierliche Verwendung eine fortdauernde Aktualisierung ihrer Datengrundlage erfahren. Im Folgenden werden hierzu einige in PlanLog entwickelte Tools vorgestellt. Diese reichen von der Lagerdatenanalyse über die bildbasierte Einrichtungs- und Layoutplanung bis hin zu einem Simulationsmodell mit PPS-Funktionalität. Lageroptimierer
Neben der geeigneten Verknüpfung verschiedenster Datenumfänge in der Planungsphase gilt es auch in der operativen Umsetzung, die in der Digitalen Fabrik verfügbaren Daten bestmöglich und v. a. kontinuierlich zur Systemverbesserung zu nutzen. Dies wird an Hand eines als „Lageroptimierer“ bezeichneten Analyse-Tools demonstriert. Mit Hilfe dieses Werkzeugs lassen sich die an einem Unternehmensstandort vorhandenen Lagerorte und -teile nach logistischen Zielsetzungen und Restriktionen optimieren. Das datenbankbasierte Werkzeug führt zunächst auf Basis der im Unternehmen vorhandenen Datengrundlage eine umfassende Analyse der
4.2.2 Adaptive Logistikplanung durch digitale Werkzeuge
369
verschiedenen Lagerorte durch. Dies betrifft die Identifikation unkuranter Bestände, von Ersatzteilen und Produktionsmaterialien. Erstere Umfänge bieten sich sofort für eine Verschrottung bzw. für eine Umlagerung aus den produktionsnahen Lagern an. Für Letztere wird mit Hilfe eines Sankey-Diagramms auf Basis der Transportzahlen die Beziehung zwischen Lager- und Verbauort auf dem Unternehmenslayout visualisiert. Teile, die an weit entfernte Verbraucher geliefert werden, lassen sich so leicht identifizieren und bieten sich für eine Umlagerung an. Das Werkzeug errechnet anschließend mit Hilfe der hinterlegten Wegematrizen, welche näher gelegenen Lagerorte sich in Abhängigkeit des Behältertyps prinzipiell eignen würden und ob dort noch Kapazitäten zur Aufnahme dieser Teile zur Verfügung stehen. Damit kann eine logistisch optimale Teilezuweisung auf die im Unternehmen vorhandenen Lagerorte erreicht werden. Neben einer Reduzierung der Lagerflächen und Bestände lassen sich gleichzeitig die Transport- und damit die Wiederbeschaffungszeiten für die Produktion verringern. Zur Optimierung der einzelnen Lagerorte selbst verfügt das Werkzeug über eine weitere Zusatzfunktionalität. Diese ermöglicht es, je Lagerort ABC-Analysen des Teilespektrums in Abhängigkeit der Ein-/Auslagerhäufigkeit der einzelnen Sachnummern durchzuführen. Die zur Verfügung stehenden Lagerplätze werden entsprechend der Umschlaghäufigkeit der einzelnen Sachnummern vergeben, so dass „Schnellläufer“ möglichst leicht zu erreichen sind, um die Zugriffszeiten zu reduzieren. Als Input dienen je eine Bewegungs- und Bestandsliste mit einem Betrachtungszeitraum von 60 Tagen, wobei die Relevanz jedes Datensatzes mittels einer Gewichtung ermittelt wird. Die Daten der letzten 30 Tage gelten als näher an den realen und zukünftigen Gegebenheiten. Dies fließt durch eine höhere Wertung in die Optimierung ein. Um eine Platzanzahl für die betrachteten Sachnummern vorschlagen zu können, werden innerhalb des Werkzeugs die Bestandsdaten analysiert und entsprechend der vorgegebenen Gewichtung über den Betrachtungszeitraum gemittelt. Ergebnis ist die entsprechend der ABC-Methode gelistete Aufstellung aller Sachnummern in grafischer und tabellarischer Form, mit deren Hilfe der Planer eine Neueinteilung des Lagers vornehmen kann. Bildbasierte Planung
Trotz steigender digitaler Datenumfänge in der taktischen und operativen Planung bedeuten Umgebungsmodelle, wie sie für die Layout- oder Einrichtungsplanung benötigt werden, meist noch hohen Erstellungsaufwand. Geeignete „Rohdaten“ sind in aller Regel nicht vorhanden oder bereits veraltet. Abhilfe schaffen kann hier eine der Virtual Reality zuordenbare,
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M. Schedlbauer, J. Wulz, W. A. Günthner
noch junge Technologie namens Augmented Reality oder auch „Erweiterte Realität“. Mit dieser lassen sich virtuelle 3D-Geometrien positionsgenau in der realen Umgebung platzieren. Für den Betrachter verschmilzt so die reale mit der virtuellen Welt. Im Bereich der Einrichtungsplanung können beispielsweise durch die Darstellung der Produktgeometrie in der realen Fördertechnik bereits ab der Designphase Engstellen und Kollisionsgefahren identifiziert werden; kosten- und zeitintensive Untersuchungen mit physischen Prototypen entfallen. Die dreidimensionale Darstellung eingebettet in den realen Bildhintergrund veranschaulicht aufwandsarm die Planungsstände, da die Modellierung der Planungsumgebung entfällt. Gleichzeitig bietet sie eine visuelle Diskussionsgrundlage für alle an der Planung Beteiligten. Die Voraussetzungen für den Einsatz der Technologie sind gering. So wird zur Identifikation und Vermessung von Störstellen neben der zu untersuchenden CAD-Geometrie lediglich eine optische Markierung, ein sogenannter Marker, sowie eine hoch auflösende Digitalkamera benötigt. Mit dem innerhalb PlanLogs entwickelten AR-Planungssystem wird anschließend in sieben Schritten das virtuelle CAD-Modell positionsgenau und perspektivisch korrekt mit der digitalen Fotografie oder dem digitalen Videostream der zu untersuchenden Szenerie „verheiratet“ (siehe Abbildung 3). Über verschiebbare Messgitter lassen sich Abstände und Kollisionen zwischen realen und virtuellen Elementen ermitteln. Dieser Vorgang wird an allen potenziellen Störstellen entlang der Fertigungs- und Förderlinie durchgeführt. Die Datenbasis (Foto, Markerposition, Kameraparameter) kann für Folgeuntersuchungen über den Planungsprozess hinweg wiederverwendet werden.
Abbildung 3: Störkantenanalyse auf Basis der Augmented Reality Technologie
4.2.2 Adaptive Logistikplanung durch digitale Werkzeuge
371
PPS auf Simulationsbasis
Digitale Planungsmodelle – gleich welcher Art – zu erstellen, bedeutet auch heute noch erheblichen Aufwand, wenn auch Technologien wie die Augmented Reality für intelligente Schnittstellenkonzepte (z. B. SDX) oder Modellierungsansätze (Makrosimulation) für eine erhebliche Reduzierung sorgen können. Folglich muss es verstärkt das Ziel sein, erstellte Modelle auch im operativen Betrieb weiter zu nutzen und zu aktualisieren. Um dies zu gewährleisten, ist mitunter jedoch eine Erweiterung der Funktionalitäten nötig. Umgesetzt wurde diese Strategie in PlanLog anhand eines Ablaufsimulationsmodells, das um PPS-Funktionen (Produktionsprogrammplanung, Materialbedarfsplanung, Termin- und Kapazitätsplanung, Auftragsveranlassung, Auftragsüberwachung) ergänzt wurde. Das Modell wurde im ersten Schritt zur optimalen Ausgestaltung einer Inselfertigung konzipiert und im Anschluss als operatives Planungs- und Steuerungsinstrument in die Fertigung übernommen. Somit konnte mit geringem Mehraufwand ein Planungswerkzeug zu einem operativen Tool weiterqualifziert werden. Es steht damit bei einer Überplanung der Anlage jederzeit als aktuelles Modell zur Verfügung.
Zusammenfassung und Ausblick Die entwickelten Planungswerkzeuge lassen erkennen, dass mit Hilfe neuer Ansätze und Technologien Planungsprozesse in Zukunft effizienter gestaltbar sind. Für die Weiterentwicklung der Planungssysteme gibt es seitens der Nutzer klare Vorstellungen. Eine zentrale Herausforderung stellt nach wie vor die bessere Integration in die IT-Verfahrenslandschaft dar. Erst die Verknüpfung der Planungsumgebung mit gängigen Planungsinstrumenten wie beispielsweise dem Prozessplanungswerkzeug eM-Planner ermöglicht einen durchgängigen Datenfluss und damit die vollständige Nutzung der Potenziale. Parallel dazu muss auch die funktionale Erweiterung bzw. Neuentwicklung der Werkzeuge vorangetrieben werden, um vorhandene Elemente zu optimieren bzw. bestehende „weiße“ Felder im Portfolio zu schließen.
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M. Schedlbauer, J. Wulz, W. A. Günthner
Literatur [Auto07] [GüBo06] [MeQu07]
[MüLe06] [UGS07] [VDI07]
Autodesk: Autodesk Buzzsaw Features. http://www. autodesk.com\buzzsaw, Abruf 02.05.2007. Günthner, W. A.; Boppert, J.; Wulz, J.; Schedlbauer, M.: Flexibilität durch Standardisierung – Adaptive Logistikplanung. In: Jahrbuch Logistik 2006, Korschenbroich, S.30-35. Meier, H.; Quade, N.: Planungsunterstützung durch Integration hierarchischer Modelle in das System „Digitale Fabrik“. http://www.technikwissen.de/wt/get_article.php?data [article_id] =33453, Abruf 14.05.2007. Müller, E.; Lehmann, J.: Mit Methode zum Erfolg. http://www.technikwissen.de/wt/get_article.php?data[article_id] =29504, Abruf 14.05.2007. UGS Corp.: UGS PLM Software – Factory CAD. http://www.ugsplm.de/produkte/tecnomatix/plant_design/factory _cad.shtml, Abruf 02.05.2007. VDI-Richtlinie 4499: Digitale Fabrik – Grundlagen. http:// www.vdi.de/vdi/vrp/richtliniendetails/index.php?ID=9718451, Abruf 14.05.2007.
4.2.3 Virtual Reality als adaptives Planungswerkzeug
R. Breining, J. Wulz
Ausgangssituation Die hohen technischen, betrieblichen und ökonomischen Anforderungen, denen moderne logistische Systeme entsprechen müssen, stellen die Planung vor anspruchsvolle und komplexe Aufgaben, da diese mehr denn je neben qualitativen Aspekten auch von monetären und zeitlichen Größen mitbestimmt wird. Besonders die im Forschungsverbund angestrebte adaptive Planungsmethodik (vgl. Kapitel 4.2.1) stellt hohe Ansprüche und erfordert ein flexibel einsetzbares Hilfsmittel, um sowohl die Planungsqualität zu verbessern, als auch die Planungsdauer auf ein Minimum zu reduzieren.
Abbildung 1: Mensch in der Virtuellen Realität.
Die Technologie der Virtuellen Realität (VR) spielt hierbei eine zentrale Rolle, da sie den Planer in informatorischer und didaktischer Hinsicht un-
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R. Breining, J. Wulz
terstützen kann, um die zeitintensiven Vorgänge der Informationsaufnahme und -verarbeitung insbesondere in interdisziplinären Projekten zu beschleunigen und zu verbessern. Neben der Optimierung dieser Vorgänge müssen effektivere Wege in der Absicherung durch eine VR-gestützte Simulation beschritten werden, um die ökonomischen Potenziale der Ausgestaltung des Planungsgegenstands (Prozesse, Layout etc.) optimal zu erschließen. Der wesentlichste Punkt jedoch ist, dass durch ein intuitiv handhabbares VR-Werkzeug, das es erlaubt, eine dreidimensionale vom Computer generierte Welt zu erleben, der Mensch als Planer wie auch als operativer Logistik-Mitarbeiter verstärkt in die Planung integriert wird (siehe Abbildung 1). Der Planungsgegenstand kann optimal auf die Bedürfnisse des Erfolgfaktors Mensch angepasst werden.
Virtual Reality – Technologie Virtual Reality ist heute zu einem Schlagwort geworden, das meist mit Innovation und High-Tech in Verbindung gebracht wird. Durch die weite Verbreitung des Begriffs verschwimmen aber gleichzeitig dessen Grenzen. Dieser Beitrag definiert Virtual Reality (VR) als einen Weg, mittels Computer in einer Echtzeit-3D-Umgebung komplexe Daten bzw. Modelle zu visualisieren sowie mit den Modellen zu interagieren und sie zu manipulieren. Das Ziel von VR ist die Verbesserung der Effizienz und Effektivität der Arbeit des Benutzers durch die dreidimensionale Darstellung und Manipulation der Daten [ICID07]. Prinzipiell sind zwei Klassen von VR zu unterscheiden: immersive VRUmgebungen und non-immersive VR-Systeme. In immersiven VR-Umgebungen „taucht“ der Benutzer selbst in die digitale Welt (Umgebung) ein und wird im Idealfall zu einem Element der VR-Umgebung. In Abhängigkeit des Visualisierungssystems nimmt er seine reale Umgebung nicht mehr oder nur noch teilweise visuell und auditiv wahr. Ein typisches Beispiel ist die virtuelle Montageplanung mit Datensichthelm (Head Mounted Display) und Datenhandschuh. Non-immersive VR-Systeme basieren auf gleichen oder ähnlichen Daten. Diese werden dem Benutzer aber über traditionelle Systeme (wie z. B. Monitor) präsentiert, so dass eine weniger intuitive Interaktivität gegeben ist.
4.2.3 Virtual Reality als adaptives Planungswerkzeug
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Virtual Reality – heutige Anwendungsfelder und Einsatzgebiete In den 90er Jahren standen die VR-Basistechnologien im Vordergrund, die mit der rasanten Entwicklung der Rechnertechnologie einhergingen. Mitte der 90er wurde mit der Entwicklung von Anwendungen für die Produktentwicklung bzw. Produktion begonnen, wobei der Fokus der Betrachtungen auf dem Produktdesign, der Produktergonomie, der Montage und der Anwendung in der Robotik lag [Borm94; BuCo94]. Gegen Ende der 90er Jahre waren bereits erste kommerzielle Systeme erhältlich. Vor allem im Automobilbau sowie in der Luft- und Raumfahrtindustrie hat sich die Virtuelle Realität in den letzten Jahren als mittlerweile anerkanntes und geschätztes Hilfsmittel etabliert. Die Palette der Anwendungen erweiterte sich dabei um erste Ansätzen in der Fabrik- bzw. Anlagenplanung [BrFa02; Sche05; WiFi02; WeRu06]. Gerade in diesem Bereich befindet sich der Einsatz der VR-Technologie noch in den Anfängen und gilt vorrangig als Forschungsfeld.
Virtual Reality in der Logistik zur adaptiven Planung Das Ziel des Forschungsprojektes ForLog ist die Nutzung der innovativen VR-Technologie zur Planung und Simulation logistischer Systeme unter besonderer Berücksichtigung des Faktors Mensch. Hierbei entstand erstmals ein neuartiger Simulationsansatz im Rahmen der Leistungsbewertung, der den Logistikmitarbeiter in entsprechender Weise beachtet. Logistische Kennzahlen, wie beispielsweise Weg- und Greifzeiten bzw. Fehlerquoten in der Kommissionierung, lassen sich in den unterschiedlichsten Szenarien ermitteln bevor ein reales System existiert, ohne dass der Mensch in einer Simulation abgebildet werden muss. Der Mensch selbst bringt seine Eigenschaften und Erfahrungen in das VR-Simulationsmodell ein und ermöglicht eine realitätsnahe Abbildung. In der Kommissionierung können so z. B. – angefangen von der Auftragsentgegennahme bis zum Pickvorgang – Prozesse komplett abgebildet und unter arbeitsund systemtechnischen, geometrischen und ergonomischen Gesichtspunkten evaluiert werden. Zudem ist es möglich, gezielt Informationen und Wissen aus dem Erfahrungsschatz der Mitarbeiter mittels einer VRSimulation abzuschöpfen. Dazu wurde ein Konzept für eine intuitive Simulationsplattform entwickelt, die die Durchführung und Auswertung von Simulationsläufen ermöglicht. Damit logistische Systeme realitätsnah analysiert und bewertet
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R. Breining, J. Wulz
werden können, müssen innovative Mensch-Maschine-Schnittstellen geschaffen bzw. implementiert werden. Die schematische Darstellung des Konzeptes wird in nachfolgender Abbildung (siehe Abbildung 2) verdeutlicht.
Abbildung 2: Konzept der Simulationsplattform
Zur Begehung virtueller Welten sieht das Konzept eine unidirektionale Bewegungsplattform vor, die den Nutzer befähigt, ähnlich wie in der Realität, durch seine Umgebung zu navigieren. Die Interaktion mit der Umwelt erfolgt durch einen Datenhandschuh, der der Objektmanipulation (z. B. für Greifvorgänge etc.) dient. Ein zentraler Punkt ist der zeitkritische Simulationskern. Auf Grund der Anforderungen an die Virtuelle Realität nach Echtzeitfähigkeit wurden zeitintensive Vorgänge der Informationsverarbeitung aus dem Simulationskern in externe Simulationskomponenten ausgegliedert. Der Kern ist für grundlegende Aufgaben wie Visualisierung, Tracking, Objektverwaltung, Steuerung des 3D-Simulationsmodells und Kommunikation mit externen Simulationskomponenten zuständig. Dadurch wird sichergestellt, dass auch größere, rechenintensivere Modelle in Echtzeit dargestellt werden können. Die externen Simulationskomponenten übernehmen die ausgelagerten Tätigkeiten des Simulationskerns. Dies ist zum einen die Steuerung der Bewegungsplattform und zum anderen eine externe Simulationseinheit, die wichtige Daten für die Simulation verwaltet und diese auswertet. Im Hintergrund der externen Einheit arbeitet eine Datenbank, in der alle relevanten Informationen zur Simulation sowie die Ergebnisse abgelegt werden. Darüber hinaus können somit sehr schnell unterschiedlichste Kommissionierauftragsszenarien zusammengestellt und im Rahmen der
4.2.3 Virtual Reality als adaptives Planungswerkzeug
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Simulation verwendet werden. Die Bewegungsplattformsteuerung übernimmt Aufgaben rund um die Regelung eines Laufbandes, auf dem sich der Mensch „frei“ bewegen kann. Bewegungsplattform Die Bewegungsplattform ist ein Laufband, auf dem sich der Benutzer „frei“ in der virtuellen Welt bewegen und mit ihr interagieren kann. Das in ForLog erarbeitete Konzept sieht ein Laufband vor, das über entsprechende Funktionalitäten verfügt, um ein möglichst intuitives „Gehen“ zu ermöglichen. Damit der Benutzer, wenn er seine Geschwindigkeit ändert (z. B. stoppt), auf dem Laufband bleibt, muss eine Anpassung der Bandgeschwindigkeit erfolgen. Als Eingangsgröße für diese Regelung wird die Position des Benutzers auf dem Laufband verwendet. Diese wird mit Hilfe des Trackingsystems und einem Gürtel mit Markern ermittelt (siehe Abbildung 3). Der Laufbandrechner bestimmt aus der momentanen Geschwindigkeit und der Position des Benutzers die Sollgeschwindigkeit und sendet diese über eine Schnittstelle zum Laufband. Der Geschwindigkeitswert selbst wird per Netzwerk an den Steuerrechner mit dem Simulationskern gesendet und dort in eine Bewegung umgesetzt.
Abbildung 3: Geregeltes Laufband
Zur Richtungsänderung wird ebenfalls das Trackingsystem verwendet. Dabei wird die Drehung des Kopfes in eine Drehgeschwindigkeit in der virtuellen Umgebung umgewandelt. Die Software ist dabei aus zwei Teilen
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R. Breining, J. Wulz
aufgebaut: Zum einen sorgt das Regelungsprogramm für eine Geschwindigkeitsanpassung des Laufbandes, zum anderen übernimmt ein Trackingprogramm die Steuerung der Richtungsänderung. Als Sicherung dienen seitliche, am Laufband angebrachte Führungsschienen, an denen sich der Nutzer festhalten kann. Simulationskern Der Simulationskern ist das Herzstück der Anwendung. Dieser übernimmt, wie in der Systemkonzipierung angedeutet, alle wichtigen Funktionen rund um die Visualisierung und Steuerung der Simulation in Echtzeit. Insbesondere von Bedeutung sind die Logik, mit der Prozesse der Logistik in der Simulation abgebildet werden, bzw. die Analysealgorithmen, die zur Ermittlung logistischer Kennzahlen dienen. Nachfolgende Abbildung (siehe Abbildung 5) zeigt ein Flussdiagramm, das einen Simulationszyklus für die Kommissionierung nach dem Prinzip „Mann zur Ware“ darstellt. Die erste in einem Zyklus durchgeführte Operation ist die Anpassung der Position und Orientierung des Betrachters in der virtuellen Realität auf Basis der per Netzwerk übermittelten Gehgeschwindigkeit. Dabei ist besonders die Zykluszeit, die zur Durchführung aller relevanten Rechenoperationen benötigt wird, zu berücksichtigen. Diese bestimmt den zurückgelegten Weg, der sich aus Zykluszeit und Gehgeschwindigkeit errechnet. Da diese Zeit variiert, muss sie bei jedem Durchlauf neu ermittelt werden, um anschließend als Berechnungsgrundlage dienen zu können. Wesentlich ist, dass dadurch sichergestellt wird, dass der auf dem Laufband zurückgelegte Weg dem Weg im Cyberspace entspricht. Gleichzeitig werden virtuelle Interaktionsobjekte wie die virtuelle Hand und der virtuelle Kommissionierwagen stets mit den tatsächlichen Bewegungen des Nutzers überlagert und aktualisiert. Darauf hin erfolgt eine Reihe logischer Abfragen, die unterschiedlichste Auswirkungen auf das Simulationsmodell haben können. Kollidiert die virtuelle Hand, gesteuert durch den Nutzer, mit einem Logistikobjekt, z. B. einer Pickeinheit, so wird bei geschlossener Datenhand das entsprechende Objekt gegriffen, wie dies auch in der Realität der Fall wäre. Erfolgt anschließend ein Kollisionsevent mit dem virtuellen Kommissionierwagen, dann wird das Objekt auf diesem abgelegt und entsprechende Analysedaten für dieses Objekt (Wege-, Greif-, Totzeit) zwischengespeichert. Wird vom System eine Kollision zwischen Abgabestation und Kommissionierwagen registriert, werden nach entsprechender Bestätigung des Nutzers an der Abgabestation, die gesammelten Daten aller kommissionierten Objekte für einen Auftrag per Netzwerk an eine externe Auswertesoftware gesen-
4.2.3 Virtual Reality als adaptives Planungswerkzeug
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det. Die externe Software schreibt die in der Simulation ermittelten Daten in eine Datenbank und stellt diese somit für weitergehende Analysen zur Verfügung. Hervorzuheben ist, dass die entsprechenden Analysedaten nur erfasst werden, wenn zu Beginn der Simulation ein Auftrag im Simulationsmodell durch eine Kollision des Nutzers mit dem Datenterminal ausgelöst und angenommen wurde. Evaluierung Um die erläuterten Konzepte und die Einsatztauglichkeit der VR für die Logistikplanung zu evaluieren, wurde im Rahmen des Forschungsverbundes ein Demonstrator aufgebaut (siehe Abbildung 4). Hierzu erfolgte eine entsprechende Erweiterung eines bestehenden Virtual Reality BasisSystems. Dabei handelt es sich um eine 3x2 m große stereoskopische Visualisierungseinrichtung, die es erlaubt, Modelle in nahezu realer Größe darzustellen.
Abbildung 4: Aufbau mit Proband
Zwei hochauflösende Projektoren, gespeist von einem Grafikrechnercluster mit zwei Workstations, erzeugen die zum räumlichen Sehen notwendigen überlagerten Bilder. Zudem ist zur Anpassung der Perspektive an den Betrachterstandpunkt eine Positionsverfolgungseinrichtung – das sogenannte Head-Tracking – installiert, über die die Steuerung der Anwendungen mit Hilfe eines intuitiv handhabbaren 3D-Eingabegerätes erfolgt.
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R. Breining, J. Wulz
Abbildung 5: Simulationskern
4.2.3 Virtual Reality als adaptives Planungswerkzeug
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Als Beispielszenario wurde ein manuelles Kommissioniersystem nach dem Prinzip „Mann zur Ware“ zu Grunde gelegt und in Form einer Rechnerrepräsentation umgesetzt. Das abzubildende Modell orientiert sich an einem real existierenden Kommissioniersystem mit vier Regalen, einem Datenterminal und einer Abgabestation. Somit können Probanden sowohl im virtuellen als auch realen System exakt dieselben Kommissionieraufgaben ausführen, damit letztendlich ein Vergleich der erzielten Simulationsergebnisse erfolgen konnte. So wurden in Folge die Kommissionierzeiten der realen Umgebung mit denen der virtuellen verglichen, um die Eignung des virtuellen Systems zur realitätsnahen Simulation zu untersuchen. Nachfolgende Abbildung (siehe Abbildung 6) verdeutlicht das Versuchsszenario und den Ablauf.
Abbildung 6: Versuchsszenario und Ablauf
Der Proband hat mehrere vergleichbare Aufträge virtuell und real auszuführen. Das Lager beinhaltet 100 Pickartikel, die beliebig in Kommissionieraufträgen als zu pickende Einheit deklariert werden können. Für die Versuche wurden insgesamt fünf Aufträge generiert, die ein Proband abzuarbeiten hatte. Nach erfolgter Versuchsdurchführung musste jede Testperson zudem einen Fragebogen mit nach psychologischen Kriterien zusammengestellten Aspekten beantworten. Nachfolgende Diagramme (siehe Abbildung 7) verdeutlichen erste Ergebnisse der Untersuchung.
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Real
Virtuelle Realität
Motivation/Akzeptanz Bewertungsskala: 1 geringe Motivation – 6 hohe Motivation
Real
Virtuelle Realität
Kognitive Belastung Bewertungsskala: 1 geringe Belastung – 6 hohe Belastung
Abbildung 7: Auswertungsergebnisse der Fragebögen
Das linke Diagramm zeigt den Motivations- bzw. Akzeptanzgrad der Probanden beim Einsatz einer derartigen Simulationstechnik in der Logistikplanung. Dabei zeigt sich, dass im Vergleich zur realen Tätigkeit die Testpersonen in der virtuellen Realität mehr Interesse einbrachten und diese Form der Simulation/Schulung empfehlen würden. Der Grad der kognitiven Belastung der Versuchspersonen war im Virtuellen wie im Realen in etwa gleich bezüglich physischer und geistiger Anstrengung. Dies zeigt, dass die angebundenen Interaktionsgeräte ein sehr intuitives Arbeiten ermöglichen und damit eine entsprechende Grundlage für eine realitätsnahe Simulation bilden. Somit ist eine wesentliche Grundvoraussetzung erfüllt, um die VR-Technologie sinnvoll als Simulationstechnik in der Logistik einsetzen zu können. Erst dadurch wird sichergestellt, dass logistische Prozesse unter besonderer Berücksichtigung des Faktors Mensch detailgetreu in einer VR-Simulation abgebildet und nachvollzogen werden können. Weiter ergab die Probandenbefragung, dass derartige Systeme in informatorischer Hinsicht und insbesondere mit Blick auf die Verbesserung der Kommunikation in interdisziplinären Planungsteams besondere herausragende Eigenschaften besitzen. So werden Probleme durch die eingängige VR-Darstellung zeitlich schneller erfasst, wodurch auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit verbessert und beschleunigt wird. Besonders fachfremde Personen können sich besser in die vorliegende Problemstellung einarbeiten und diese einfacher in einen übergeordneten Kontext einordnen, wodurch eine gemeinschaftliche, gesamtheitliche Betrachtung der zu lösenden Aufgabe möglich wird. Erste Erkenntnisse bezüglich des Kommissionierzeitenvergleichs von realer zu virtueller Kommissionierung zeigen zudem, dass die Ergebnisse
4.2.3 Virtual Reality als adaptives Planungswerkzeug
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beider Systeme sehr nahe beieinander liegen und die Simulation somit aussagekräftige Werte liefern kann. Dies gilt es, in weiteren Studien zu vertiefen und durch eine konsequente Weiterentwicklung der Simulationsumgebung die Ergebnisqualität deutlich zu verbessern.
Zukunft der Virtual Reality in der Planung Im Rahmen des Forschungsprojektes ForLog konnten die Grundlagen für die Entwicklung einer neuen Simulationstechnik in der Logistikplanung geschaffen werden. Die mit dem Funktionsmuster hinsichtlich Hard- und Software bzw. Simulationskonzepten gesammelten Erfahrungen dienen als Ausgangspunkt für zukünftige Weiterentwicklungen dieses Ansatzes. Daneben wurde auch ein innovatives Planungs- bzw. Schulungsverfahren für logistische Systeme insbesondere für die Gestaltung manueller Kommissioniersysteme erforscht. Die dabei erarbeiteten Ergebnisse können als Anstöße für Verfahrensverbesserungen bezüglich der Planungsund Schulungsprozesse dienen. Zudem erhält der Nutzer die Möglichkeit, seine kreativen Ideen in der Virtuellen Realität ohne großen Aufwand zu erproben, wodurch neue Ansätze in der Logistik entstehen können, die zu einer Verbesserung der Prozesse und somit zu mehr Adaptivität führen. Mit der Umsetzung des beschriebenen Szenarios wurden die Voraussetzungen geschaffen, auch andere logistische Prozesse in der virtuellen Umgebung abzubilden und so nachhaltig zu optimieren. Der Technologie Virtual Reality wird somit ein großes Zukunftspotenzial zur Planung und Evaluierung logistischer Systeme eingeräumt.
Literatur [Borm94] [BuCo94] [BrFa02] [Sche05] [WiFi02]
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R. Breining, J. Wulz
[WeRu06]
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Tagungsband „Die Digitale Fabrik – Mit Virtual Reality und Simulationstechnik zur erfolgreichen Produktion von morgen“. Workshop der Unity AG, Büren, 2002. Westkämper, E.; Runde, C.: Anwendungen von Virtual Reality in der Digitalen Fabrik – eine Übersicht. http://www.technikwissen.de/wt/get_article.php?data[article_id]=29030; Abruf 16.05.2007. ICIDO GmbH - Homepage. http://www.icido.de/de /Loesungen/ 1146218203, Abruf 16.05.2007.
4.3 Informationskonservierung, -transfer und -bereitstellung
Der Erfolgreichste im Leben ist der, der am besten informiert wird. Benjamin Disraeli
4.3.1 Steigerung der Informationsqualität durch effizientes Datenmanagement
D. Motus, J. Boppert
Logistikplanung im Spannungsfeld globaler Datenflut Die Komplexität von Produktions- und Logistiksystemen in der Automobilindustrie nimmt immer weiter zu. Haupttreiber dieser Entwicklung sind die Globalisierung und der damit einhergehende verschärfte Wettbewerb [Uhlm98], die zu einem steigenden Drang nach Differenzierung durch zunehmende Individualisierung führen [MoSc06]. Deren Folgen spiegeln sich in erheblich verkürzten Planungszyklen, aber auch in der Bildung immer komplexer werdender internationaler Produktions- und Logistiknetzwerke wider. Die Zusammenarbeit in diesen Netzwerken ist durch kulturelle, sprachliche und entfernungsabhängige Hürden gekennzeichnet, steigert damit die Anforderungen an Fertigungssysteme und Prozesse hinsichtlich ihrer Flexibilität [WiWo00] und stellt auch die Produktions- und Logistikplanung vor neue und umfassendere Aufgaben. Dies führt im Bereich des Datenmanagements zur Verknüpfung unterschiedlichster Datenmengen und resultiert letztendlich in einer kontinuierlich ansteigenden Gesamtdatenkomplexität, die beherrscht werden muss. Diese wird dadurch verschärft, dass die Planungskapazitäten nicht mit der ansteigenden Datenkomplexität Schritt halten können. Vor diesem Hintergrund sind die Unternehmen gezwungen, die Fertigungs- und Logistikprozesse durch einen effizienten Einsatz von technischen und organisatorischen Hilfsmitteln zu rationalisieren [GrGe97]. Zur Erreichung höherer Planungsqualität bei sinkender Zeit muss die oftmals propagierte Forderung nach einer Konzentration auf Kernkompetenzen demnach auch für die Planer von Produktions- und Logistikprozessen gelten, die sich verstärkt auf ihre Kerntätigkeit fokussieren müssen und somit von Routine- und Zusatzaufgaben zu entlasten sind. Die schnelle und flexible Anpassung der Planung des Produktions- und Logistiknetz-
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D. Motus, J. Boppert
werks an sich verändernde Rahmenbedingungen ist ohne einen optimalen Einsatz rechnergestützter Werkzeuge heute nicht mehr möglich. Neben leistungsfähigen Geschäftsprozessen (vgl. Kapitel 4.2.1) sind daher vor allem effiziente und leistungsfähige Datenmanagementkonzepte gefordert, die der raschen Ausweitung und Veränderung der Informationsbedarfe begegnen können [Broc03].
Abbildung 1: Steigende Datenkomplexität für die Planung von Produktions- und Logistikprozessen
Als zentraler Bestandteil informationswirtschaftlicher Überlegungen müssen diese ein ausgewogenes und wertsteigerndes Verhältnis zwischen Informationsbedarf und -angebot herstellen [Krcm98]. Als höchste Zielsetzung ist in diesem Zusammenhang das Grundprinzip der Informationslogistik zu beachten: die Bereitstellung der richtigen Information zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Menge am richtigen Ort in der erforderlichen Qualität (und zum richtigen Preis).
Aufbau und Struktur eines effizientes Datenmanagements für die Planung supra-adaptiver Logistiksysteme Im Bereich der Automobilindustrie lag der Fokus des Datenmanagements in den letzten Jahren vor allem im Bereich der Produktentwicklung, die sich durch so genannte Engineering-Data-Management- (EDM) oder Produkt-Daten-Management-Systeme (PDM) eine Vorreiterstellung beim integrierten Datenmanagement sicherte.
4.3.1 Steigerung der Informationsqualität
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Basis dieser Systeme ist ein integriertes Produktmodell mit Schnittstellen zu erforderlichen Planungssystemen, wie z. B. ERP1- oder APS2Software, das einen standardisierten Datenaustausch zwischen den beteiligten Applikationen sicherstellt und damit für unterschiedlichste Anwendungen und Prozesse einen einheitlichen Zugriff auf die Daten aller technischen Komponenten eines Fahrzeugs über den gesamten Produktlebenszyklus realisiert. Diese produktorientierte Sichtweise lässt im Bereich der Fahrzeugentwicklung große Optimierungspotenziale erschließen, ist aber für die (teils) nachgelagerte Produktions- und Logistikplanung nicht optimal, da hier der Schwerpunkt nicht auf dem Produkt, sondern auf den entsprechenden Prozessen liegt. Um eine Steigerung der Informationsqualität in den logistischen Planungsprozessen zu erreichen, gilt es daher, auf den Ergebnissen der Produktentwicklung aufbauend eigene Lösungen zu entwickeln.
Strategien für das Datenmanagement im Produktionsund Logistiknetzwerk Hierfür sind grundsätzlich zwei unterschiedliche Strategieansätze denkbar: zum einen können aktuell im Einsatz befindliche Systeme bestehen bleiben, so dass es gilt, diese in verbesserter Art und Weise zu verknüpfen, zum anderen bietet sich – vergleichbar dem Grundgedanken des PDM – eine adaptive Lösung mit allen für die Logistikplanung erforderlichen Daten an. Diese beiden Handlungsoptionen sollen im Folgenden vorgestellt und hinsichtlich ihrer Eignung zur Planung supra-adaptiver Logistiksysteme analysiert werden. Unternehmensinterne und -übergreifende Anwendungsintegration Eine Studie der Gartner Group ergab, dass ca. 35 % aller IT-Kosten für die Integration von Unternehmensanwendungen aufgewendet werden [Kaib02, S.1]. Somit besteht die klare Forderung, die Einbindung bestehender Systeme durch innovative Ansätze zu verbessern und damit Schnittstellenprobleme zu minimieren bzw. Transferkosten nachhaltig zu senken. Einen möglichen Lösungsansatz hierfür bietet das Konzept der Enterprise Application Integration (EAI), das heterogene Applikationen innerhalb 1 2
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eines Unternehmens oder über mehrere Unternehmen hinweg über definierte Schnittstellen verbindet. So können unternehmensinterne bzw. -übergreifende Geschäftsprozesse abgebildet werden, ohne umfassende Änderungen an bestehenden Systemen vornehmen zu müssen. EAI unterstützt damit sowohl die prozessualen als auch die informationstechnischen Aspekte der Integration und fokussiert die Einbindung heterogener Anwendungen, um eine gemeinsame Nutzung von Daten sowie die anwendungsübergreifende Integration von Geschäftsprozessen zu ermöglichen. Dabei sollen möglichst geringe Änderungen an existierenden Anwendungen und Datenbanken durchgeführt werden [MaJu01, S.4; Kell02, S.5; Kaib02, S.79f.]. Aufgrund der zunehmend verteilten Planung im Netzwerk sind für ein verbessertes logistisches Datenmanagement beide Formen der Integration von Bedeutung. Die interne Integration von Kernapplikationen innerhalb des Unternehmens führt beispielsweise dazu, dass Produktdaten, die initial und ausschließlich im PDM-System angelegt werden, automatisch – und damit ohne manuellen Aufwand – an Folgeprozesse und -systeme übermittelt werden und damit für die Logistikplanung zur Verfügung stehen. Dabei können unterschiedliche Topologien der Anwendungsintegration zum Einsatz kommen. Die externe Integration über Unternehmensgrenzen hinweg folgt den gleichen Zielsetzungen und wird vor allem durch drei in den vergangenen Jahren parallel voranschreitende Entwicklungen ermöglicht [Alt04]: 1. Entwicklung von überbetrieblichen Standards Schlagworte hierfür sind EDI-Systeme, Clearing-Center und elektronische Märkte, aus denen sich Datenstandards wie z. B. EDIFACT und ANSI X.12 entwickelt haben. 2. Entwicklung von ERP-Systemen Diese Systeme (z. B. SAP R/3©) haben zunächst die innerbetriebliche Integration unterstützt und wurden sukzessive um externe Schnittstellen erweitert. 3. Entwicklung von Internet-Technologien Aufgrund der Ubiquität des Internets können Standardanwendungen und Portale einfach und kostengünstig weltweit zur Verfügung gestellt werden. Die Konvergenz dieser drei Voraussetzungen ermöglicht die technologische Grundlage für eine verbesserte überbetriebliche Integration. Als Beispiele dafür dienen u. a. die Neuausrichtung von ERP-Systemen auf der Basis von Internet-Technologien (z. B. mySAP©), sowie die Entwicklung von neuen Daten- und Prozessstandards auf XML-Basis.
4.3.1 Steigerung der Informationsqualität
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Somit unterstützen die genannten technologischen Entwicklungen das EAI-Konzept bei der Schaffung einer möglichst durchgängige Integration auf Daten-, Objekt- und Prozessebene (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Integration auf Daten-, Objekt und Prozessebene (in Anlehnung an [RiWa99, S.26])
Die einfachste Form der Integration ist der Datentransport von einem System in ein anderes. Dies wird durch Datentransferprotokolle gewährleistet. Als Analogie zu dieser Ebene kann man zwei Personen unterschiedlicher Nationalität heranziehen, die sich zwar gegenseitig hören können, aber nicht verstehen [RiWa99, S.27]. Auf die Logistik übertragen bedeutet dies, dass zwar eine Sachnummer vom OEM an den Lieferanten übertragen wird, dabei aber nicht gewährleistet ist, dass in den Applikationen des OEM und des Lieferanten die gleiche Sachnummer für das abzurufende Teil hinterlegt ist. Die zweite Ebene der Integration übersetzt Informationen zwischen verschiedenen Anwendungen und setzt auf der Datenebene auf. Als Hilfsmittel dafür werden sogenannte Objekte definiert, die einheitliche Inhalte beschreiben. Als Beispiel kann hier die unterschiedliche Verwendung des Objekts „Bauteil“ dienen. Dabei werden einmalig die Inhalte des Objekts festgelegt, beispielsweise Sachnummer, Maße, Gewicht, Lieferant und Kosten. Die einheitliche Festlegung ermöglicht es unterschiedlichen Anwendungen, das Objekt zu erkennen und zu bearbeiten. Die Verwendung einheitlicher Objekte dient dabei zur Verhinderung von Inkonsistenzen in den unterschiedlichen Systemen. So werden beispielsweise die Objekte „Bauteil“, „Produktstruktur“ und „Auftrag“ redundant in PDM- und PPS(Produktionsplanung und -steuerung) Systemen gehalten [PaPa99]. Die anspruchsvollste Ebene der Integration stellt die Prozessintegration dar. Dabei werden die Daten nicht nur verstanden, sondern in einen sinnvollen Gesamtkontext gebracht. Beispielhaft kann ein Lieferant das Objekt „Bauteil“ im Prozess „Lieferabruf“ so interpretieren, dass das übermittelte
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Teil zu einem definierten Termin an einen definierten Ort geliefert werden muss. In PlanLog wurde im Kontext der Anwendungsintegration eine Lösung entwickelt, die die gemeinsame Nutzung einheitlicher Logistikdaten in unterschiedlichen Systemen ermöglicht. Als Ausgangspunkt der Modellierung logistischer Prozesse dient dabei ein Prozessplanungssystem, auf dem nachfolgende Planungs- und Absicherungsprozesse aufsetzen. Hier erfolgt die entsprechende Kombination von Produktdaten mit einzelnen Prozessschritten und entsprechenden Ressourcen, die anschließend in einer Datenbank abgelegt werden. Um den durchgängigen Einsatz logistischer Daten zu ermöglichen, wurde exemplarisch die bidirektionale Kopplung zwischen Prozessplanungs- und Virtual Reality- (VR) System realisiert, die der verbesserten Layoutplanung logistischer Systeme dient. Die hinterlegten Daten, die für den Aufbau von VR-Modellen erforderlich sind (z. B. Koordinaten, Orientierungen etc.) werden aus der zentralen Planungsdatenbank extrahiert und über eine Schnittstelle im ASCII-Format automatisch in ein Modell umgesetzt. Anschließend erfolgt die Absicherung bzw. Änderung der komplexen logistischen Systeme in der VRUmgebung in interdisziplinären Planungsteams. Die Ergebnisse dieser Evaluierung können ohne Schnittstellenverluste direkt ins Planungssystem zurück übertragen werden.
Abbildung 3: Bidirektionale Kopplung Prozessplanungssystem – Virtual Reality
Das Tool ist ohne Systembruch verwendbar, da die Daten wieder in die entsprechenden Felder der Datenbank übernommen und in das Prozesspla-
4.3.1 Steigerung der Informationsqualität
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nungssystem zurückgeführt werden können (siehe Abbildung 3). Bei der Umsetzung dieser Verknüpfung ist es wichtig, den Datentransfer sowohl vom Planungstool in die virtuelle Umgebung als auch in die Gegenrichtung zu gewährleisten, um das VR-System aktiv im Planungs- und Entscheidungsfindungsprozess einsetzen zu können. Der Nutzen des EAI-Konzepts liegt hauptsächlich darin, dass der Kosten- und Zeitaufwand für die Erstellung und Anpassung von Schnittstellen zwischen Applikationen deutlich reduziert werden kann. Da es sich zur Zeit bei den EAI-Werkzeugen jedoch größtenteils um proprietäre Lösungen handelt, existieren heute noch keine übergreifenden Standards, was wiederum oftmals zu Inkompatibilitäten der Werkzeuge von unterschiedlichen Anbietern führt. Adaptives Logistikdatenmanagement Neben der Integration stellt der Aufbau eines adaptiven Logistikdatenmanagements eine zweite Strategie zur Steigerung der Informationsqualität dar. Wie erwähnt, haben sich im Bereich der Produktentwicklung innovative EDM-/PDM-Systeme zur Verwaltung, Speicherung und Verteilung von produktrelevanten Daten durchgesetzt [PaPa95]. Auf Basis dieser Konzepte kann auch ein vergleichbares adaptives Logistikdatenmanagement zur Verwaltung logistikrelevanter Daten etabliert werden. Im Gegensatz zur Strategie der Integration wird hier der Aufbau einer zentralen, gemeinsamen Datenplattform betrieben, die auf der Basis von InternetTechnologien auch in Unternehmensnetzwerken effizient eingesetzt werden kann. Da das Datenmanagement für die Logistikplanung in der Automobilindustrie auf mehreren Ebenen stattfindet, die sich an den Strukturen und Abläufen der Produktion orientieren, durchlaufen sowohl die Prozesse als auch die Daten verschiedene Aggregationsebenen (siehe Abbildung 4). Jede dieser Ebenen ist somit durch eigene Anforderungen an die Geschäftsprozesse und das Datenmanagement gekennzeichnet. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, wurden in PlanLog sogenannte Prozess- und Technikmodule entwickelt, die eine digitale Beschreibung des Planungsgegenstandes in unterschiedlichen Detaillierungsebenen (siehe Abbildung 4) darstellen. Diese ermöglichen die standardisierte, rechnerbasierte Abbildung der unternehmensinternen wie auch –übergreifenden physischen Strukturen und Prozesse. Insbesondere die Technikmodule sind zur detaillierten Beschreibung der logistischen Prozesse von hoher Wichtigkeit, da sie auf der untersten Ebene Ressourcen datentechnisch
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abbilden, zu denen neben den Mitarbeitern auch die eingesetzten Maschinen und Fördersysteme gehören.
Abbildung 4: Ebenen in der Logistikplanung und Abbildung im Datenmanagement
In diesem Zusammenhang wird zwischen den Ausprägungen der Logistikund Produktions-Technikmodule unterschieden, da dies für eine Anpassung und Wiederverwendung grundsätzlich zweckmäßig scheint. Während Logistikmodule dabei die Kernaufgaben Transport und Lagerung umfassen, erfüllen Produktionsmodule die Aufgaben Fertigung, Montage und Handhabung, enthalten jedoch nur die Daten, die im Sinne einer Logistikplanung von Bedeutung sind. Als weiteres Unterscheidungsmerkmal wird zwischen Einzelkomponenten- (EKTM) und Mehrkomponententechnikmodulen (MKTM) unterschieden. EKTM beschreiben dabei Komponenten, die unabhängig von anderen Elementen ihre Funktion erfüllen können (wie z. B. ein Gabelstapler), wohingegen MKTM noch weitere Module benötigen, um die zu erfüllende Aufgabe bewältigen zu können (wie z. B. eine Elektrohängebahn). Durch die Kombination und Aggregation mehrerer Technikmodule entsteht auf der nächstübergeordneten Ebene ein Prozessmodul „Station“ (siehe Abbildung 5), das zur Modellierung logistischer Prozesse und Strukturen im Prozessplanungssystem dient. Während Technikmodule funktionsorientiert und aufgabenneutral konzipiert werden und damit einen sehr hohen Abstraktionsgrad aufweisen, sind (Stations-)Prozessmodule aufgabenorientiert und können damit konkrete abgeschlossene Produktions- und Logistik-(Teil-)Aufgaben vollständig übernehmen. Durch standardisierte Schnittstellen können sie sowohl autonom betrieben werden, wie auch eingebettet in ein rekonfigurierbares Produktionssystem in Beziehung zu anderen Prozessmodulen gleicher oder auch übergeordneter Ebene stehen. Auf Grund der in sich geschlossenen Aufgabe des Prozessmoduls ist seine Wiederverwendungswahrscheinlichkeit höher als die-
4.3.1 Steigerung der Informationsqualität
395
jenige eines einzelnen, abstrakten Technikmoduls, so dass die in die Erstellung eines Moduls investierten Know-how-, Zeit- und Kostenanteile im Falle einer Nachfolgeanwendung desselben wieder zur Verfügung stehen.
Abbildung 5: Prozessmodul mit untergeordnetem Technikmodul [GüBo06]
Die beschriebene Aggregation von Teilinhalten zu übergeordneten Einheiten setzt sich in gleicher Weise bis zum obersten Prozessmodul „Netzwerk“ fort, so dass auch auf dieser Ebene die für die Planung erforderlichen Daten zur Verfügung stehen, ohne den Nutzer mit (für ihn) unrelevanten Einzelumfängen zu belasten. So ist es auch möglich, im Falle einer Neuplanung mit einem Modell stark vereinfachter Inhalte auf hoher Abstraktionsebene zu beginnen und diese im Verlauf der Planung gezielt auszudetaillieren. Für jede Ebene wurden dabei für die unterschiedlichen Planungsphasen strategisch, taktisch und operativ bestimmte Muss- bzw. Kann-Daten definiert, die im adaptiven Logistikdatenmanagement abgebildet werden können und somit den Fortschritt der Planung und die damit verbundene Steigerung planungsrelevanter Daten berücksichtigen (siehe Abbildung 5). Alle im adaptiven Logistikdatenmanagement abgelegten Daten werden daher in einer einheitlichen Struktur verwaltet. Die Daten lassen sich dabei unterscheiden in • Metadaten sowie • Modell- und Nutzdaten.
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Metadaten definieren die Datenstruktur und werden damit in der Regel einmalig für ein System festgelegt. Sie stellen Informationen dar, die den Dateninhalt kennzeichnen bzw. zu anderen gespeicherten Informationen in Beziehung setzen (z. B. Dateiname, Attribute, Strukturinformationen etc.). Die Daten selbst bzw. der Dateninhalt werden als Modell- oder Nutzdaten bezeichnet (z. B. Layoutdaten, 3D-Geometrien, Leistungsdaten von Fördersystemen etc.). Beide Kategorien von Daten können im integrierten Logistikdatenmanagement zentral oder verteilt gespeichert werden. Das adaptive Logistikdatenmanagement dient dazu, die unterschiedlichen Partner im Produktions- und Logistiknetzwerk mit aktuellen und konsistenten Daten zu versorgen. Dies ermöglicht eng verzahnte, stark parallelisierte Logistikprozesse. Somit kann es als Informationsdrehscheibe für Speicherung, Verwaltung, Transfer und Bereitstellung aller relevanten Logistikdaten verstanden werden. Der grundsätzliche Aufbau unterscheidet sich daher nur gering vom Aufbau eines PDM-Systems. Folgende Grundbausteine werden für die Abbildung benötigt [AbGe99]: Den Kern bildet das elektronische Datendepot (engl. „Vault“), das auf einer leistungsfähigen relationalen oder objektorientierten Datenbank basiert und eine unbemerkte Manipulation von Daten verhindert. Auf diesen Kern setzen zwei Arten von Funktionen auf: • anwendungsbezogene Funktionen (applikationsspezifisches Datenmanagement, z. B. Teilefamilienmanagement, Dokumentenmanagement etc.) • anwendungs- bzw. systemübergreifende Funktionen (anwendungsübergreifende Infrastruktur für das Datenmanagement, z. B. Datenbankschnittstellen, Benutzeroberfläche etc.). Durch Verfolgung der Strategie des adaptiven Logistikdatenmanagements kann die Zeit für die Informationssuche und -abstimmung im Planungsprozess deutlich reduziert werden, da die Mitarbeiter von unnötigen Aufgaben entlastet werden. Der Zugriff auf die Arbeitsergebnisse ist innerhalb des Produktions- und Logistiknetzwerkes relativ unkompliziert möglich. Durch die zentrale Speicherung der Daten kann auch auf frühere Arbeitsergebnisse einfach zurückgegriffen werden. Diese beiden Aspekte können eine Erhöhung der Produktivität sowie eine qualitative Verbesserung der Planungsergebnisse bewirken. Auf Seiten der IT reduzieren sich durch die Verfolgung dieser Strategie die Kosten für die Entwicklung unternehmensspezifischer Einzel-Softwarelösungen inklusive der Kosten für Systemschnittstellen sowie die damit verbundenen Wartungs- und Betriebskosten. Schließlich lässt sich die Komplexität innerhalb eines ver-
4.3.1 Steigerung der Informationsqualität
397
zweigten Produktions- und Logistiknetzwerkes durch ein konsolidiertes Datenmodell beherrschen, um letztlich auch die Unternehmensprozesse nachhaltig zu optimieren. Die hier vorgestellte Strategie des adaptiven Logistikdatenmanagements ist in der praktischen Anwendung bisher nur in Ansätzen umgesetzt. Das Beispiel der PDM-Systeme zeigt jedoch deutlich die Potenziale eines derartigen Ansatzes.
Zusammenfassung Die beiden vorgestellten Lösungsstrategien stellen geeignete Ansätze zur Verbesserung logistischer Informationsqualität im Netzwerk dar. Während die erste Handlungsoption den Fokus auf die unternehmensinterne und übergreifende Integration von unterschiedlichen Anwendungen und Datenbanken legt, beinhaltet die zweite den Aufbau eines adaptiven Logistikdatenmanagements zum durchgängigen Einsatz über alle Planungsphasen. Beide Strategien bieten vielversprechende Ansätze zur Verbesserung von Informationsaustausch und Kommunikation in der automobilen Logistikplanung, haben jedoch auch Einschränkungen hinsichtlich ihres Einsatzes im Unternehmensnetzwerk: Während das integrative Modell mit teilweise großem Aufwand zwar vielfältigste Anwendungen über Schnittstellen verbindet , dem Nutzer jedoch nicht explizit die je Planungsphase erforderlichen Daten extrahieren kann, zeigt das adaptive Logistikdatenmanagement speziell im unternehmensübergreifenden Einsatz Schwächen durch die mangelnde Möglichkeit zur Anbindung unternehmenseigener SoftwareLösungen. Zielführend für eine nachhaltige Optimierung des Datenmanagements in der automobilen Supply Chain scheint daher eine Mischform aus beiden Handlungsoptionen, die die Vorteile der Systeme verbinden und damit sowohl für die unternehmensinternen Anforderungen nach „logistikgerechter“ Informationsdarstellung, wie auch für die übergreifenden Bedarfe hinsichtlich der Kopplung mit vielfältigen Netzwerkanwendungen eine geeignete Lösung darstellen kann.
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4.3.2 Adaptives Wissensmanagement – Abschöpfung und gezielte Nutzung von Mitarbeiter Know-How
J. Boppert, D. Walch
Mitarbeiterorientierung als Zukunftsstrategie innovativer Unternehmen Veränderungen der ökonomischen, technologischen, sozio-kulturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen machen eine fortschreitende Anpassung der Unternehmensführung erforderlich. Zu Taylors Zeiten war die Unternehmensführung durch eine starke Technikorientierung geprägt, die auf eine Optimierung der Arbeitsprozesse durch gezielte Aufgabenteilung zur Bewältigung der Kundenbedürfnisse zielte [BuWa02, S.370]. Mit der Individualisierung der Kundenwünsche richtete sich die Unternehmensführung in den letzten Jahrzehnten immer mehr am Absatzmarkt aus. Die weiter steigenden Anforderungen von Seiten der Kunden führten schließlich zu einer durchgängigen Fokussierung auf kundenindividuellere Produkten einerseits und erhöhten Qualitätsanforderungen über alle Unternehmensprozesse andererseits, um sich von der wachsenden Konkurrenz zu differenzieren. Heute zeigt sich eine neue Dimension der Unternehmensführung in der Mitarbeiterorientierung [BuWa02, S.372ff.]. Herausgefordert durch eine sich beschleunigende Globalisierung, aber auch den demographischen Wandel und einen eklatanten gesellschaftlichen Werteverlust, stehen Unternehmen vor der Aufgabe, durch die Gestaltung einer markt- und mitarbeiterorientierten Unternehmenskultur national und international erfolgreich zu bleiben [Bert06]. Die Erkenntnis, dass der Erfolg – sei es die Steigerung des Unternehmenswertes, die Erhöhung der Produktivität oder die der Qualität – im Wesentlichen vom Faktor Mensch abhängt, zeigt sich bei der mitarbeiterorientierten Unternehmensführung u. a. in
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• der Unternehmenskultur, die versucht, sich an den Motiven der Mitarbeiter – von sozialen Grundbedürfnissen bis hin zur Selbstverwirklichung – zu orientieren, • der Etablierung kooperations- und kommunikationsförderlicher Organisationsstrukturen, • der Neu-Gestaltung und Bereicherung des Arbeitsinhalts z. B. durch Übertragung von Verantwortung (Teamarbeit, Job Rotation, Job Enlargement etc.), • der ergonomischen Gestaltung von Arbeitsmitteln und Arbeitsplätzen – oft in intensiver Abstimmung mit den Mitarbeitern, • der konkreten Erfolgsmessung und der damit verbundenen Gestaltungsfreiheit im Arbeitsablauf, • der Förderung und Forderung eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses u. a. durch betriebliches Vorschlagswesen, • der Unterstützung der fortlaufenden Weiterbildung sowie • der Einführung eines unternehmens- oder sogar netzwerkweiten Wissensmanagements. All das sind Faktoren, die Motivation, Leistungsbereitschaft und Kreativität der Mitarbeiter freisetzen, die Identifikation mit dem Unternehmen fördern und somit die Qualifikationen und das Wissen im Unternehmen bewahren, um dessen Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und weiter auszubauen. Dies belegt auch eine aktuelle Studie, die eine Korrelation zwischen gelebten Unternehmenswerten und überdurchschnittlichem Erfolg feststellt. Diese so genannten „Financial Leader“ liegen im Vergleich zu anderen Wettbewerbern in Sachen Mitarbeiterorientierung (88% im Vergleich zu 68%), Übernahme individueller Verantwortung (68% zu 29%) und Flexibilität (42% zu 9%) weit vor ihren Mitwettbewerbern [o.V.05].
Aufgaben des Wissensmanagements im Netzwerk Vor allem in den letzten Jahren haben Unternehmen mehr und mehr erkannt, dass das Wissen ihrer Mitarbeiter einen Vermögenswert darstellt, den es zu fördern, vor dem Hintergrund personeller Fluktuation vor allem aber zu konservieren und dauerhaft verfügbar zu machen gilt [PrRa03, S.141]. Im hierarchischen Modell findet sich eine Unterscheidung zwischen Daten, Informationen und Wissen. Während Daten im Allgemeinen Zahlen oder Werte beschreiben, ordnet eine Information diese in einen Kontext ein. Wissen erzielt darüber hinaus beim Empfänger einen Erkenntnisge-
4.3.2 Adaptives Wissensmanagement
401
winn oder -prozess. Jedoch sind die Übergänge zwischen den beschriebenen Ebenen fließend und somit nicht trennscharf gegeneinander abgrenzbar [LuTr05, S.9]. Ziel des Wissensmanagements ist es, Wissen zu identifizieren, zu erwerben, im Sinne der gesetzten Ziele anzuwenden, gezielt zu bewahren und kontinuierlich weiterzuentwickeln. Aufgrund der multidimensionalen Facetten des Wissensmanagements finden sich Ansätze in der Informatik, der Wirtschaftsinformatik, der Informationswissenschaft, aber auch in der Betriebswirtschaftslehre, Psychologie und Soziologie. Hierbei sind zwei grundlegend verschiedene Formen von Wissen zu unterscheiden [Pola85; TrSp04, S.40]. • Implizites Wissen ist ausschließlich in den Köpfen der Mitarbeiter verankert und kann oftmals als Mischung von strukturierten Erfahrungen, Kontextinformation und Fachkenntnissen erworben durch Lernen, Kopieren und Imitieren verstanden werden. • Explizites Wissen liegt bereits dokumentiert in Form von Formeln, Handbüchern, Handlungsanweisungen etc. vor. Primäre Zielsetzung des Wissensmanagements in supra-adaptiven Logistiksystemen ist demnach • die gezielte Abschöpfung und Nutzbarmachung mitarbeiterspezifischen Wissens, um implizites in explizites Wissen überführen zu können, und • explizites Wissen in der Form aufzubereiten, dass es für alle künftigen Prozesse optimal verfügbar gemacht und damit bedarfsorientiert eingesetzt werden kann.
Anforderungen der Logistik im Netzwerk Je größer das Unternehmen, desto höher die Komplexität der Vernetztheit und der erforderlichen Flexibilität, was zu einer Dezentralisierung der Kompetenz führt [BuWa02, S.334]. Dementsprechend unüberschaubarer ist das Wissen der Mitarbeiter und desto ungeahnter sind die verborgenen Potenziale, die in den Mitarbeitern stecken. Was für einzelne Unternehmen gilt, zählt ebenso für kooperierende Unternehmensnetzwerke, wie sie in Supply Chains anzutreffen sind. Um den in supra-adaptiven Logistiksystemen vorherrschenden Veränderungen Herr zu werden, ist das Wissen der Unternehmen respektive ihrer Mitarbeiter gefragt.
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Für die Logistik seien im Folgenden die Herausforderungen zur Gestaltung eines adaptiven Wissensmanagements beschrieben, die sich von der Logistikplanung bis zu den operativen Bereichen erstrecken. Herausforderung Logistikplanung Mit der Entscheidung für ein neues Fahrzeugmodell und der Auswahl der Fertigungsstandorte fällt auch der Startschuss für die Planung der Produktions- und Logistikprozesse. Dieser Vorgang, der sich heute etwa alle fünf Jahre in vergleichbarer Weise wiederholt, kann jedoch nur bedingt auf das Wissen der „Vorgängerprozesse“ zurückgreifen. Waren früher ausgewiesene Experten für die Beplanung einzelner logistischer Umfänge bekannt, fordern die gestiegene Komplexität der Systeme wie auch die hierarchischen Strukturen ab einer gewissen Unternehmensgröße die Splittung dieser Umfänge in mehrere Abteilungen und damit Zuständigkeiten. Zu dieser Schnittstellen- und damit Abstimmungsproblematik kommt erschwerend hinzu, dass auf Grund der Weiterentwicklung der Mitarbeiter heute vielfach ein Abteilungswechsel nach drei bis vier Jahren angestrebt wird.Das führt dazu, dass oftmals keine Beteiligten der vergangenen Planung mehr in die neuen Projekte eingebunden werden können. Das Wissen, das während der viele Monate andauernden Planung erarbeitet wurde, ist damit für die neuen Planungsumfänge nur schwer greif- bzw. verfügbar. Standardisierte Vorgehensweisen versuchen diese Problematik teilweise zu beheben. Es bleibt jedoch zu bedenken, dass Prozesse und Vorgehensweisen oft nur unzureichend dokumentiert sind bzw. diese über die Zeit zwischen zwei Planungen oftmals veralten und damit nur noch bedingt anwendbar sind. Dazu kommt, dass ein Großteil des Erfahrungsschatzes der Mitarbeiter nicht explizit dokumentiert wird und damit lediglich in impliziter Form vorliegt. Dies liegt zum einen an der mangelnden Bereitschaft, Fehler während der Planung einzugestehen geschweige denn schriftlich zu fixieren, da (oftmals zu Recht) ein Schaden für das eigene Ansehen befürchtet wird. Zum anderen liegt es auch an der Tatsache, dass ein Großteil des Erfahrungswissens den Planungsexperten nur bedingt bewusst ist, da dies eine systematisch reflexive Aufarbeitung des während der Planung Erlernten voraussetzen würde. Genau dies wird jedoch kaum von Seiten der Organisation gefördert bzw. gefordert und ist vielfach auch nicht vom Planer selbst ohne Unterstützung zu leisten. Vor dem Hintergrund verkürzter Produktlebenszyklen müssen logistische Planungsprozesse heute und v. a. in Zukunft nicht nur effizienter sondern auch in kürzerer Zeit ablaufen. Eine wesentliche Grundlage dafür bil-
4.3.2 Adaptives Wissensmanagement
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det eine Standardisierung der Vorgehensweisen und Abläufe (siehe Kapitel 4.2.1). Wissensmanagement muss dabei zur begleitenden Aufgabe über alle Planungsphasen wie auch die Perioden zwischen zwei Planungsprojekten werden. Wesentliche Anforderungen in der Logistikplanung sind daher: • Implizites Wissen muss weitestgehend expliziert werden! • Explizites Wissen muss besser zugänglich sein! • Nicht explizierbares Wissen muss bestmöglich transferiert werden! Herausforderung operative Logistik Die operative Logistik zeichnet sich im Wesentlichen durch vorgegebene, standardisierte Abläufe aus. Aus diesem Grund spielt in erster Linie das Prozesswissen der Mitarbeiter eine entscheidende Rolle, um den Betrieb am Laufen zu halten. Da meist Routine und Monotonie den Alltag beherrschen, ist den Mitarbeitern oftmals nicht bewusst, was sie alles über die vermeintlich einfachen, jedoch oft nicht selbsterklärenden Prozesse und Handlungsschritte wissen. Genau dieses ganzheitliche Prozessverständnis gekoppelt mit Erfahrungswissen wird heutzutage von den Unternehmen gefordert, um die Einsatzflexibilität auf der einen und Reagibilität der Mitarbeiter auf der anderen Seite zu erreichen. Dadurch lassen sich Störungen im Prozess (z. B. Ausfall eines Staplers) oder Prozessveränderungen (z. B. in An- und Auslaufphasen von Produkten), die die Grundqualifikation des Mitarbeiters übersteigen, schneller bewältigen (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Prozessanforderungen an die Mitarbeiter während des Produktlebenszyklus
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Was die Ausbildung operativer Logistikmitarbeiter nicht leisten kann, muss durch ein adäquates Wissensmanagement vermittelt und verfügbar gemacht werden. Als Resultat lässt sich für den Bedarfsfall die Reagibilität der Mitarbeiter steigern, was eine schnelle Fehlerbehebung und die Einhaltung der geforderten Lieferqualität unterstützt sowie schließlich in Kosteneinsparungen mündet.
Lösungsbaukasten des adaptiven Wissensmanagements Ob Projekt- oder Produktanläufe, Störungen des laufenden Betriebs oder schwankende Kundennachfrage, der Umgang mit Veränderungen erfordert Faktenwissen einerseits und Erfahrung der Mitarbeiter andererseits. Diese sind jedoch – vor allem in den in Form von Projekten ablaufenden, logistischen Planungsprozessen – nicht immer greifbar. Abteilungswechsel, Unternehmensausstieg, aber auch Krankheit oder Urlaub hinterlassen meist eine Wissenslücke im Betrieb. Aus diesem Grund rückt Wissensmanagement und der dementsprechende Umgang mit der wichtigsten Ressource „Mitarbeiter“ immer mehr in den Vordergrund unternehmerischer Strategieentwicklung. Wissen, insbesondere Erfahrungswissen, soll in standardisierter Form dokumentiert und verfügbar gemacht werden. Mit der Nutzbarkeit für andere Mitarbeiter lässt sich die Weiterentwicklung von Wissen fördern und letztendlich neues Wissen generieren. Um Wissen für den jeweiligen Bedarfsträger – den „Kunden“ des Wissensprozesses – möglichst effizient bereitzustellen, ist es von besonderer Bedeutung, sich an den Bedürfnissen und Anforderungen dieses Kunden zu orientieren. Dementsprechend gilt es, je nach Art und Ausprägung des zu vermittelnden Wissens geeignete Möglichkeiten der Übertragung zu schaffen. Grundsätzlich eignet sich die direkte Kommunikation zwischen Personen ideal zur effizienten Vermittlung von Wissen, da sich im direkten Gespräch über den konkreten Inhalt hinaus zahlreiche Zusatzinformationen vermitteln lassen. Zudem ist durch die persönliche – und damit emotionsbehaftete – Komponente des Gesagten eine sehr viel höhere Lernkurve zu erzielen. Mit dem Hintergrund jedoch, dass eine Person als Wissensträger – gerade in größeren oder weltweit agierenden Unternehmen – schnell zum Engpass bzw. bei Ausscheiden auch zum Risiko werden kann, muss es Zielsetzung eines adaptiven Wissensmanagements sein, möglichst viel Wissen zu explizieren.
4.3.2 Adaptives Wissensmanagement
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Inhaltsbezogene Klassifizierung von Wissensmanagementlösungen Während sich speziell für Sachverhalte und Erklärungen – eingeschränkt auch für Methoden- und Prozesswissen – aufgrund der möglichen Strukturierung und Standardisierung der Inhalte eine Abbildung und damit überwiegend eine Archivierung und Bereitstellung in Form von Datensystemen eignet, ist dies in Bezug auf Quellenwissen oder so genanntes metakognitives Wissen1 mit Schwierigkeiten verbunden. Konkret stellen sich dabei typischerweise zwei Probleme: zum einen wird die Bereitschaft des Mitarbeiters vorausgesetzt, sein Wissen preiszugeben und zu teilen. Zum anderen ist das für Innovationen und die Lösung komplexer Probleme erforderliche Wissen meist nicht dokumentierbar. Implizites Wissen beinhaltet zu viele Abhängigkeiten zu anderen Faktoren bzw. steht in zu komplexen Zusammenhängen, als dass es einfach zu explizieren wäre bzw. würde dabei derart an Gehalt verlieren, dass es nicht mehr sinnvoll anzuwenden wäre. Für ein umfassendes Wissensmanagement über alle logistischen Prozesse ist daher zwischen digitalen und kommunikativen Lösungen sowie deren Mischformen zu unterscheiden: • Digitales Wissensmanagement beschreibt dabei die Wissensbereitstellung und -archivierung über IT-Systeme, die dem Nutzer nach Pushoder Pull-Prinzip gewünschte Informationen anbietet, aber auch dazu dient, sein Wissen explizit zu hinterlegen (z. B. Datenbanken, Intranet). Damit eignet sich diese Form der Vermittlung speziell für Sachverhalte und Erklärungen, die in einheitlicher, standardisierter Form abgelegt werden können und deren Schwerpunkt auf einer korrekten Wiedergabe der wesentlichen Inhalte liegt. • Beim kommunikativen Wissensmanagement hingegen erfolgt die Wissensvermittlung durch direkten Dialog und Erfahrungsaustausch. Hier werden vor allem persönliche Detailinhalte oder auch geeignete Kompetenzträger kommuniziert, die dem jeweiligen Wissensträger oftmals nicht direkt als eigene Kenntnis bewusst sind (Quellen- und metakognitives Wissen) und sich erst im Gespräch ergeben (z. B. Arbeitsgruppen, Expertenzirkel etc.). • Als Mischform der beiden vorab genannten Formen stellt digitalkommunikatives Wissensmanagement Informationen zwar in ITgestützter Form bereit, dient aber dabei dem Aufbau von Dialogprozes-
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Wissen um die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten
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sen, indem es Schlüsselpersonen und Experten zu definierten Themen als Ansprechpartner vermittelt (z. B. Yellow Pages, Wissenslandkarten). • Die entsprechende Gegenform, kommunikativ-digitales Wissensmanagement, versucht in erster Linie, Wissen von Erfahrungs- und Kompetenzträgern zu explizieren, um dieses anschließend in Form von Dokumenten zu hinterlegen. Diese Form ist besonders beim Abschluss von Projekten oder beim Ausscheiden eines Mitarbeiters aus dem Unternehmen anzuwenden (z. B. Debriefings, Austrittsgespräche, Mikroartikel), umfasst jedoch auch die gezielte Vermittlung von Informationsunterlagen im Dialog (z. B. Wissensbroker). Lösungsbaukasten adaptiver Logistik Wie so oft, gibt es kein allgemeingültiges Rezept für mitarbeiterorientiertes Wissensmanagement – zu unterschiedlich sind die Anforderungen der einzelnen Unternehmen und Organisationsbereiche. Allen gemein ist jedoch die Tatsache, dass ein effizientes Wissensmanagement immer eine kombinierte Zusammensetzung von digitalen und kommunikativen Maßnahmen und Prozessen beinhaltet, die sich in einen organisatorisch fördernden Rahmen eingliedern. Wesentliche Grundlage in Hinblick auf eine unternehmensweit einheitlich gute Wissensvermittlung ist ein strukturiertes Vorgehen. In Bezug auf die informationstechnischen Prozesse ist auf eine einfache und benutzerfreundliche Strukturierung von Wissensinhalten zu achten. Wesentliche Vorgehensweisen und Prozesse, aber auch Dokumente sind als Standards zu definieren und netzwerkweit zu etablieren (vgl. Kapitel 4.2.1). Bei einer überwiegend kommunikativen Wissensvermittlung wirkt sich die Förderung der Kommunikationswege positiv auf die Abschöpfung und Verteilung der Wissenspotenziale aus. Dazu ist in einem ersten Schritt die Analyse des bestehenden Kommunikationsnetzwerkes erforderlich [Zmij04]. Dies beinhaltet die Untersuchung der tatsächlichen Berichts- und Entscheidungswege, der Wege der Mitarbeiter bei Fragen oder Problemen bzw. auch der von Mitarbeitern getätigten Vorgänge, um an gesuchte Informationen zu gelangen. Mit einer quantitativen Analyse bzw. Schaubildern, die das Netzwerk zeigen, lassen sich schnell entscheidende Schlüsselpersonen im Unternehmen identifizieren und Wissenslandkarten aufbauen. In einem zweiten Schritt gilt es dann, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um weitere Kommunikationswege aufzubauen, bestehende Kommunikationswege zu fördern und das Wissen zu sichern.
4.3.2 Adaptives Wissensmanagement
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Abbildung 2.: Kommunikationsstudie zum Wissensaustausch der Mitarbeiter mit (links) und ohne (rechts) die identifizierten Schlüsselpersonen [Glüc07]
Konkret heißt dies, die auf Vertrautheit der Mitarbeiter untereinander bestehenden (oft latenten) Kommunikationswege durch eine mitarbeiterorientierte Unternehmensführung zu fördern und nicht zu umgehen, sowie durch die Verteilung von Wissen langfristig die Abhängigkeit von Schlüsselpersonen zu reduzieren. Letzteres kann einerseits durch die langfristige Bindung der Schlüsselpersonen an das Unternehmen durch gezielte Beteiligung an den Unternehmenswerten erfolgen und sollte andererseits durch das gezielte Schaffen einer Wissensredundanz abgesichert werden. In Hinblick auf die Archivierung expliziten Wissens gilt es darüber hinaus Wissenslandkarten aufzubauen, die durch Einbindung von Metadaten (vgl. [AlAl05; ZeAl04]) nicht nur die verbesserte Zuordnung von Dokumenten ermöglichen sondern durch die Verwendung ontologiebasierter Systeme auch die Gestaltung komplexer Knoten-Kanten-Modelle zur Darstellung inhaltlicher Beziehungen erlauben [BeMa04]. Ein verbessertes Finden von Informationen – seien es konkrete Wissensinhalte, aber auch Kontaktpersonen für Expertisen und Fragen – muss durch verbesserte Informations- und Kommunikationssysteme unterstützt werden. Dabei erfolgt eine effiziente Wissensvermittlung immer in einer Mischung aus Push- und Pull-Systemen. Insofern gilt es, informationstechnisch hinterlegte Inhalte durch verbesserte Suchfunktionen besser sichtbar zu machen. An dieser Stelle seien, neben der bereits genannten einheitlichen Strukturierung von Dokumenten und Laufwerken, vor allem Ontologien in Verbindung mit verbesserten Benutzerprofilen zu erwähnen, die vergleichbar zu heutigen Online-Shops, den „Kunden“ anhand seiner bisherigen Suchanfragen automatisiert über Neuheiten im Rahmen seiner Interessensfelder informieren. Als zusätzliche Unterstützung können Wortgleichsetzungssysteme dienen, da vor allem in größeren Unternehmen oft gleiche Inhalte mit verschiedenen Begrifflichkeiten kommuniziert – und damit auch dokumentiert – werden.
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J. Boppert, D. Walch Welche Methoden kennen Sie aus Ihrem Unternehmen, um relevantes Wissen zu verteilen? Bereitstellen (Pull)
Teilen (Push / Pull)
Verteilen (Push)
12 10 8 6 4 2
G W es ik pr is äc hs ru nd in Br en fo ai rm ns at t o io rm ns in vo M g rs ee te t in l l u gs ng Er /W en st el or lu ks ng ho vo ps n Sc Sc hu hu lu lu ng ng en su En te M r ai la l( ge "N n ew sl et te F r") Ne irm ws en ze gr ou it u ps ng im In tra ne t Pr oj ek t
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Abbildung 3: Optimale Wissensvermittlung besteht immer aus einem Mix zwischen Push- und Pull-Systemen
Für das Auffinden von Experten eignen sich neben personellen Wissensbrokern auch deren elektronische Konterfeis, die anhand der Aktivitäten der Mitarbeiter – sei es aus Organigrammen, Projektzuweisungen, Erstellung von Wissensdokumenten oder sogar E-Mail-Inhalten – deren Kompetenzen ermitteln und diese somit als geeignete Ansprechpartner für konkrete Fragestellungen ausweisen [Fisc04]. Für eine effiziente Nutzung der Systeme ist es zudem von größter Bedeutung, dass der Nutzer nicht mit veralteten oder „schlechten“ Inhalten konfrontiert wird. Als relativ einfache, aber dennoch hocheffektive Methode bietet sich in diesem Zusammenhang das Ranking hinterlegter Wissensdokumente an, bei dem je Dokument eine Bewertung bestehend aus Anzahl der erfolgten Zugriffe (vgl. Funktionsweise von InternetSuchmaschinen) und Benotung durch die Leser (vgl. Kundenrezessionen in Online-Shops) an. Besonders schwierig gestaltet sich allerdings oftmals der Prozess der Wissensabschöpfung. Um die erforderliche Akzeptanz für die Wissensweitergabe der Mitarbeiter zu erreichen, bietet eine mitarbeiterorientierte Unternehmensführung die größte Unterstützung, so dass sich eine Unternehmenskultur mit einem kommunikationsbasierten Wissensmanagement bilden kann.
4.3.2 Adaptives Wissensmanagement
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In der Logistikplanung kann dies am besten durch die Verwendung einheitlicher, netzwerkweit eingesetzter Planungswerkzeuge erfolgen, die im Idealfall eine Verknüpfung zu unterstützenden Tools – und damit verbunden eine direkte Rückkopplung eingegebener Daten bzw. ermittelter Ergebnisse – beinhalten. Im Rahmen von PlanLog wird in diesem Zusammenhang versucht, derartige „Abschöpfungsprozesse“ durch gezielten Werkzeugeinsatz – im Sinne einer verbesserten Interaktion des Nutzers mit der im Hintergrund liegenden Datenumgebung – teilweise zu automatisieren. Über in den Werkzeugen verankerte Zusatzfunktionen, die über die eigentliche Planungsaufgabe hinaus Vorteile generieren (z. B. die Verwendung von Ablaufsimulationsmodellen im operativen Prozess als PPSSystem oder Betreibersimulation), wird der Planer dazu animiert, zusätzliche Inhalte – Elemente seines bisher impliziten Wissens – ins Planungssystem einzuspeisen und so dauerhaft nutzbar zu machen. Für eine nachhaltige Nutzung von Planungsergebnissen, aber insbesondere auch von Erfahrungen sind diese zum Projektende einheitlich und vor allem vollständig zu dokumentieren. Dies wird heute bereits vielfach durch „lessons learned“-Dokumente realisiert, wobei hierbei einerseits auf den wirklichen Gehalt – Fehler werden oftmals nicht eingestanden – und andererseits auf die Verfügbarkeit dieser Dokumente zu achten ist. Eine „Umwandlung“ nicht bewusster, impliziter Projekterfahrungen in explizite Form kann unterstützend beispielsweise über so genannte Debriefings erfolgen [TrSp04, S.45], bei denen in Form von strukturierten Interviewrunden mit Wissensträgern deren Kenntnisse in standardisierte Wissensdokumente oder Mikroartikel überführt werden. Zwar stellt die beschriebene Mitarbeiterfluktuation in der operativen Logistik ein geringeres Problem dar, jedoch ist in diesem Bereich der Anteil impliziten – und damit unbewussten – Wissens um einiges höher. Dies stellt nicht nur in der Phase zwischen zwei Planungsperioden eine Herausforderung dar, sondern ist auch in der frühen Planung von enormer Bedeutung. So gilt es einerseits, nachgelagerte Anpassungen und entdeckte Fehlplanungen zu dokumentieren und somit die Aktualität für die nächste Planungsphase sicherzustellen und andererseits in der Frühphase das Wissen operativer Mitarbeiter für eine nachhaltige Verbesserung der Systeme zu berücksichtigen. Ansätze zur Schließung dieser Wissenslücke bieten innovative Konzepte, die die Mitarbeiter bereits frühzeitig in die Planung integrieren. Jedoch ist hier in besonderer Art und Weise darauf zu achten, dass Informationen angepasst und eingängig vermittelt werden. So werden in PlanLog im Sinne eines durchgängigen Werkzeugeinsatzes aus digitalen Planungsständen der physischen Strukturen virtuelle Modelle generiert, um die Interaktion operativer Mitarbeiter mit der digitalen
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Welt zu ermöglichen, somit deren Wissen abzuschöpfen und frühzeitig in die Planung einfließen zu lassen. Wissensabschöpfung
Wissensbereitstellung und -verwaltung
Wissenspflege und -aktualisierung
Digitales Wissensmanagement
Lessons Learned Mikroartikel / Story Telling Einsatz digitaler Planungswerkzeuge Wikis Wissensmarktplätze
Datenbanken Intranet Groupware Standardisierte Dokumente / Checklisten / Best Practices Diagramme / Vorgehensmodelle Internet Bibliothek Planungsbaukasten / -bausteine Digitale Wissensbroker Newsletter / Firmenzeitung Space Management Arbeitsanweisungen Lernalbum
Dokumentations-“Pflicht“ Mikroartikel / Story Telling
Kommunikatives Wissensmanagement
Expertenzirkel / Erfahrungsgruppen Team- / Projektarbeit Schlüsselpersonen
Expertenzirkel / Erfahrungsgruppen „Runder Tisch“ Workshops / Arbeitskreise Mentoring / Coaching Jour fix Schlüsselpersonen Mitarbeitereinführung und -schulung Job Rotation
Expertenzirkel / Erfahrungsgruppen Workshops / Arbeitskreise Kaffeeecken Job Rotation Schlüsselpersonen Netzwerk Mitarbeitergespräche
Digitalkommunikatives Wissensmanagement
Wissenslandkarten Kommunikationsstudien
Yellow Pages / Expertenverzeichnisse Organigramme Kommunikationsforen Elektronische Wissensbroker
Wissenslandkarten Kommunikationsstudien
Kommunikativdigitales Wissensmanagement
Debriefings / Interviews Erfahrungsberichte Austrittsgespräche Übergangsphasen der Einarbeitung Erstellung von Lernalben
Wissensbroker
Debriefings / Interviews Erfahrungsberichte Erstellung von Lernalben
Abbildung 4: Lösungsbaukasten adaptiven Wissensmanagements
Die vorab beschriebenen sowie weitere, denkbare Lösungsansätze zum adaptiven Wissensmanagement sind in Abbildung 4 für die unterschiedlichen Phasen logistischer Wissensprozesse dargestellt, ohne jedoch einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen. Denn so verschieden sich Unternehmen und Netzwerke darstellen können, so differenziert und vielschichtig gestalten sich auch Lösungen zur Vermittlung und Bereitstellung von Wissen.
Fazit Innovationen, Prozessverbesserungen und hohe Produktivität entstehen durch den Mitarbeiter. Sein Know-How und seine Motivation nehmen direkten Einfluss auf Erfolg und Misserfolg des Unternehmens. Vielen Un-
4.3.2 Adaptives Wissensmanagement
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ternehmern ist dies zwar bewusst, doch werden Mitarbeiter selten systematisch gefördert, um ihr Engagement, ihre Ideen und ihr Wissen weiter zu entwickeln und gewinnbringend für das Unternehmen einzusetzen. Um Wissen als Wettbewerbsvorteil erfolgreich einsetzen und weiterentwickeln zu können, bedarf es jedoch oftmals einer Neuorganisation der verfügbaren Human-Ressourcen im Unternehmen. Mit einer offenen und kommunikativen Kultur lassen sich die beschriebenen Konzepte erfolgreich unterstützen und somit der Informations- und Wissensaustausch auf allen Unternehmensebenen fördern, aber auch gezielt fordern. Denn… „Der Fortschritt lebt vom Austausch des Wissens.“
Albert Einstein
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4.3.3 Akzeptanz von Werkzeugen in Planung und Schulung
M. Sauerland, D. Walch, M. Hammerl Aufgrund zahlreicher Faktoren sind die Märkte einer zunehmenden Dynamik unterworfen. Solche Faktoren bringen eine hohe Volatilität an Veränderungen für Unternehmen mit sich, auf die sie adaptiv reagieren müssen. Die sich daraus ergebenden Anforderungen an Unternehmen und deren Mitarbeiter können beispielsweise mithilfe innovativer technischer Werkzeuge bewältigt werden. Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich mit den Problemen, die die Einführung solcher technischer Innovationen mit sich bringen kann. Darüber hinaus werden entsprechende Lösungsmöglichkeiten erörtert.
Einleitung Arbeit stellt eine natürliche und unmittelbare Lebensäußerung des Menschen dar – Tätigkeit und Aktivität gehören zwingend zum menschlichen Wesen [Marx69]. In zahlreichen Definitionen des Arbeitsbegriffs manifestiert sich diese Intuition. Die Berechtigung dieser Annahmen kann auch immer wieder an den schwerwiegenden psychologischen Folgen der Arbeitslosigkeit demonstriert werden [Jaho83; Kies83]. Zudem ist der Mensch neugierig, grundsätzlich offen für Neues und überdies zu einem gewissen Grad risikobereit [ScSc00]. Langweile und Passivität, Monotonie und Rigidität scheut er als aversive Zustände ebenso wie den Rückzug, die Lethargie, die Angst [Niet96]. Jahrmillionen der Evolution statteten den Menschen mit einer unsagbaren Anpassungs- und Leistungsfähigkeit aus [Buss04]. Gab es in der Menschheitsgeschichte je Belege, die diesen Annahmen zuwiderliefen, so, weil falsche Menschenbilder, widrige Bedingungen und fehlende Stimulans „den Menschen in Ketten legten“ – schlimmstenfalls mit dem Resultat einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung [RoJa68]. Sind die Rahmenbedingungen hingegen förderlich, so beginnt sich die Leistungsfähigkeit des Menschen zu entfalten. Der u. a. auf
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die protestantische Arbeitsethik zurückführbare ökonomische Fortschritt belegt dies exemplarisch [Webe04; Webe22]. Gesetzt, diese Annahmen bestünden zu Recht, dürfte es dann ein Problem der Akzeptanz von Innovation und neuer Technologie geben? Gemessen an dieser Darlegung der Menschennatur, wie viele Fehler müssen begangen worden sein, wenn bei der Einführung neuer Technologien tatsächlich Widerstände und Akzeptanzprobleme auftreten? In den nachfolgenden Abschnitten werden die Gründe dafür benannt, warum überhaupt Akzeptanzprobleme bei der Einführung neuer Technologien auftreten können. Darüber hinaus werden – im Sinne eines Handlungsleitfadens für Führungskräfte – Möglichkeiten zur Lösung solcher Akzeptanzprobleme erörtert.
Das Problem der Akzeptanz neuer Technologien Gemäß einiger noch immer weit verbreiteter Menschenbilder liegt die Ursache der Non-Akzeptanz neuer Technologien primär in der natürlichen Faulheit des Menschen begründet, in seiner mangelnden Arbeitsmotivation, in fehlender Veränderungsbereitschaft oder auch in seiner unzureichenden intellektuellen Fähigkeit, gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen [Tayl77]. Akzeptanzprobleme müssten sich somit auf recht einfache Weise durch Drohungen, Mittel des Zwangs, geschickte persuasive Kommunikation, aufoktroyierte Ziele oder auch durch finanzielle Anreize von Seiten der Führungskräfte lösen lassen. Möglicherweise greift bei solchen Mitteln in der Tat die normative Kraft des Faktischen. Auch könnten psychologische „Tricks“ eingesetzt werden, um die Akzeptanz neuer Technologien zu steigern. Beispielsweise besagt die Selbstwahrnehmungstheorie [Bem72], dass Personen erst durch die Beobachtung ihres eigenen Verhaltens auf ihre Einstellungen zu einem bestimmten Objekt oder Sachverhalt schließen. Werden Personen somit einfach zu dem erwünschten Verhalten gebracht, ändert sich danach auch ihre Einstellung in die erwünschte Richtung. Um dies zu erreichen, ist allerdings einiges Geschick erforderlich, da dieser psychologische Mechanismus an bestimmte Voraussetzungen gekoppelt ist. Beispielsweise dürfte eine Zwangsmaßnahme nicht als solche wahrgenommen werden. Ähnliches gilt auch für die Dissonanztheorie von Festinger [Fest57]. Aber auch aus der Dissonanztheorie können diverse Maßnahmen abgeleitet werden, um bei Mitarbeitern – durch deren eigenes einstellungsdiskrepantes Verhalten (z. B. indem sie dazu gebracht werden, bei der Gestaltung des Designs einer neuen Technologie mitzuwirken) – einen generellen Einstel-
4.3.3 Akzeptanz von Werkzeugen in Planung und Schulung
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lungswechsel zugunsten der neuen Technologie zu bewirken. Des Weiteren könnten die psychologischen Prinzipien, die in der Theorie des sozialen Vergleichs beschrieben werden [Fest54], dazu benutzt werden, die Bereitschaft zum Erlernen neuer Technologien zu steigern, indem z. B für jeden einzelnen Mitarbeiter ersichtlich wird, welchen Kenntnisstand seine Kollegen bei einer Lernaufgabe bereits erreicht haben. Der damit provozierte soziale Vergleich führt i. d. R. zu dem Wunsch, die Kollegen übertreffen zu wollen. Letztlich wäre es auch aus lerntheoretischer Perspektive hochgradig plausibel, dass Maßnahmen, wie z. B. Lohnerhöhungen oder Sanktionierungen, in dem genannten Problemfeld erfolgreich eingesetzt werden können, weil generell die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens mit dessen Verstärkung oder Bestrafung variiert. In der Tat ist somit nicht ausgeschlossen, dass die beschriebenen Maßnahmen den erwünschten Effekt nach sich ziehen. Ist ein Menschenbild jedoch undifferenziert, mit Mängeln behaftet oder gar empirisch falsch, so müssen auch die daraus abgeleiteten Maßnahmen hinter den Möglichkeiten der Akzeptanzmaximierung zurückbleiben. Für das den bisherigen Ausführungen zugrunde liegende Menschenbild lässt sich dieser Sachverhalt sehr einfach veranschaulichen: So kann es beispielsweise durch den alleinigen Verlass auf finanzielle Anreize unter bestimmten Umständen auch zu Einbrüchen der Arbeitsleistung kommen, weil die intrinsische Motivation der Mitarbeiter unterwandert wird [DeRy85]. Es können zudem Widerstände gegen die Einführung neuer Technologien auftreten, und zwar allein deshalb, weil es sich um aufoktroyierte, erzwungene Maßnahmen handelt. Der auf diese Weise erzeugte Reaktanzzustand [BrBr81] kann konsequenzenreich sein: Beispielsweise kann es zu einer Abneigung gegen den Arbeitgeber seitens der Mitarbeiter, zu sinkender Loyalität und erodierendem Commitment kommen. Die krankheitsbedingten Fehlzeiten (Absentismus) steigen möglicherweise aufgrund wachsender Arbeitsbelastung oder auch aufgrund fehlender Arbeitszufriedenheit, wenn die oben genannten Maßnahmen ergriffen würden [Ulic01]. Fehlende Zufriedenheit mit der Berufstätigkeit oder mit dem Unternehmen allgemein kann sich auch auf die Fluktuationsrate der Mitarbeiter auswirken, was teuere Anlernzeiten und den Verlust von implizitem Wissen für das Unternehmen zur Folge haben kann [Ulic01]. Generell sind die bislang geschilderten Maßnahmen wenig geeignet, um intrinsische Arbeitsmotivation zu fördern, viel eher sind sie geeignet, das Unfallrisiko zu steigern [Ulic01]. Es ist darüber hinaus zu bedenken, dass die Non-Akzeptanz einer Innovation seitens der Mitarbeiter auch faktisch berechtigt sein kann. Angst und die daraus resultierende Vermeidung und Ablehnung von Objekten oder Sachverhalten stellt ein i. d. R. hochgradig funktionales Reaktionssys-
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tem des Menschen dar. Werden solche Ängste übergangen, können der Organisation selbst Nachteile daraus erwachsen. Berechtigte Gründe für eine ablehnende Haltung neuer Technologien können somit beispielsweise darin liegen, dass neue Technologien erstens nicht selten zu Unterforderung der Mitarbeiter führen; d. h., durch ihren Einsatz entfernen sich Mitarbeiter von einem leistungsoptimalen Aktivierungsniveau. Dies ist immer dann problematisch, wenn plötzlich andersgeartete Aufgaben zu erfüllen sind. Zweitens werden oft Arbeitsprozesse von neuen Technologien übernommen, die bislang von den Mitarbeitern selbst völlig automatisiert erledigt wurden. Durch den Einsatz neuer Technologien kommen aber i. d. R. neue Kontrollaufgaben (supervisory control) hinzu, die nun phasenweise mit bewusster Anstrengung ausgeführt werden müssen und dadurch möglicherweise sogar störend in den Arbeitsprozess eingreifen [Sher92]. Solche Kontrollaufgaben kommen hinzu, um ein weiteres, drittes Problem einzudämmen, nämlich die Gefahr der Overreliance – der blinde (subjektive) Verlass auf die Funktionstüchtigkeit eines technischen Systems. Overreliance entsteht zum einen dann, wenn das System von den Mitarbeitern nicht genügend verstanden wird und zum anderen – scheinbar paradoxerweise – auch dann, wenn das System objektiv sehr verlässlich ist. Bei tatsächlich eintretenden Systemfehlern können die Konsequenzen wesentlich weitreichender und drastischer sein als z. B. bei vollständigem Verzicht auf die neue Technologie. In Abhängigkeit der Art des Systems kann es viertens u. U. auch zur so genannten Risikoadaptation kommen, d. h., das System verleitet zu einer Ausreizung von Handlungsspielräumen, auch solcher, die zuvor vernünftigerweise gemieden wurden. Das System erlaubt einer Person dann eine homöostatische Steigerung ihres Risikohandelns auf das von ihr dispositionell akzeptierte Niveau [Wild82]. Überdies ist mit der Einführung neuer Technologien für Mitarbeiter selbstverständlich auch immer die Gefahr verbunden, dass sie unselbständiger werden. Sie können leichter ersetzt werden und sind somit faktisch austauschbar. Zudem kann ihre Tätigkeit durch die Einführung neuer Technologien sequentiell und hierarchisch fragmentiert und unvollständig werden, was zu einem Verlust an Sinnerleben und zu einem Kompetenzverlust wegen fehlender Einsicht in die Prozessabläufe führen kann [Hack86; HaOl80; Volp87; Volp89]. Oft werden Mitarbeiter durch neue Technologien auch sozial isoliert. Dies kann zur Folge haben, dass die Beanspruchungsschwelle sinkt, wenn Belastungen nicht mehr gemeinsam getragen werden können. Eine weitere Folge kann darin bestehen, dass die Zeit zur Entwicklung von Lösungen im Störungsfall steigt, wenn Ideen nicht mehr zur gegenseitigen Befruchtung ausgetauscht werden können. Wandelt sich das Tätigkeitsfeld des Mitarbeiters durch die neue Technolo-
4.3.3 Akzeptanz von Werkzeugen in Planung und Schulung
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gie sehr stark, kann dies sogar zu einem Identitätsverlust mit weit reichenden Folgen führen. Aufoktroyierte Ziele, Mittel des Zwangs, persuasive Strategien, der ausschließliche Verlass auf finanzielle Anreize etc. stellen somit Maßnahmen dar, die hinter den Möglichkeiten maximal erreichbarer Akzeptanz zurückbleiben. Sie sind ethisch fragwürdig und langfristig wirtschaftlich suboptimal. Es stellt keinen unauflösbaren Widerspruch dar, Humankriterien und ökonomische Kriterien miteinander zu vereinbaren. Wie dies auf die Einführung neuer Technologien übertragen werden kann, wird im nächsten Kapitel ausführlich erläutert.
Lösungsmöglichkeiten für das Problem der Akzeptanz neuer Technologien Wahl- und Entscheidungsfreiheit Sobald eine neue Technologie in einem Betrieb eingeführt wird, sollten die von dieser Neuerung betroffenen Mitarbeiter einen möglichst hohen Grad an Wahl- und Entscheidungsfreiheit eingeräumt bekommen [Hack86], z. B. dahingehend, ob überhaupt, wann und in welcher Anwendungsmodalität sie auf die neue Technologie zurückgreifen. Auch das technische System per se sollte derart konzipiert sein, dass es Handlungsspielräume bei der Ausführung von Aufträgen offen lässt (z. B. frei wählbare Reihenfolge der Auftragsabarbeitung). In Abhängigkeit der Art des Systems kann selbst die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Darstellungsarten o. ä. wählen zu können, förderlich sein (z. B. im Falle des Einsatzes von Head Mounted Displays in der AR-gestützten Kommissionierung; vgl. Kapitel 5.2.3). Bei all diesen Empfehlungen handelt es sich um Maßnahmen, mit denen u. a. die Entstehung von psychologischer Reaktanz verhindert oder reduziert werden kann. Zudem kann durch den Zuwachs an Autonomie die Arbeitsmotivation der Mitarbeiter gesteigert werden [HaOl80; Lipm32]. Die Vorgabe des vermeintlich objektiv richtigen Idealwegs sollte zugunsten einer selbst bestimmten Suche nach einer individuell guten Passung zwischen der Art des Arbeitsmittels und den Bedürfnissen des Mitarbeiters aufgegeben werden. Partizipation und Mitbestimmung Bereits bei der Beschaffung oder Entwicklung neuer Technologien können die Wünsche und Bedürfnisse der Mitarbeiter einbezogen werden. Ihnen
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sollte maximal mögliches Mitspracherecht zum frühest möglichen Zeitpunkt eingeräumt werden [Neub85]. Damit könnten nicht nur das Wissen und die Erfahrung der Mitarbeiter über die Probleme des relevanten Arbeitsprozesses für die präventive und prospektive Arbeitsgestaltung optimal genutzt werden (und somit teure Korrekturen vermieden werden), sondern durch die Anwendung dieser Maßnahme kann darüber hinaus die psychologische Reaktanz seitens der Mitarbeiter reduziert werden. Zudem dient die Maßnahme der Herstellung von Commitment und Loyalität der Mitarbeiter gegenüber ihrer Organisation und gegenüber ihrer Arbeitstätigkeit. Des Weiteren führt sie zu einer Steigerung der Mitarbeitermotivation. Ein weiterer Vorzug liegt darin, dass Erwartungen von Seiten der Unternehmensleitung an die Mitarbeiter bei diesem Prozess frühzeitig geklärt werden können. Transparenz Generell sollten die Ziele der Organisation den Mitarbeitern frühzeitig transparent gemacht werden, insbesondere jedoch dann, wenn Entscheidungsfreiheiten und die Möglichkeiten der Mitbestimmung (s. o.) aus bestimmten Gründen eingeschränkt sind. In der Regel unterstützt die Einführung neuer Technologien auch den Mitarbeiter bei der Erreichung seiner persönlichen Ziele – beispielsweise dadurch, dass durch Innovationen die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens gesteigert wird und dadurch wiederum der Arbeitsplatz des Mitarbeiters dauerhaft erhalten bleibt oder z. B. auch dadurch, dass ein Arbeitsprozess weniger belastend wird [Ulic01]. Durch die Kommunizierung der Ziele und der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens kann eine solche oft bestehende Zielkongruenz zwischen den Anliegen der Organisation einerseits und den Bedürfnissen des Individuums andererseits verdeutlicht werden. Da durch diese Maßnahme der Anreizcharakter einer Innovation für die persönlichen Motive des Mitarbeiters herauskristallisiert werden kann und fremd definierte Ziele so zu selbst definierten Zielen werden können, lässt sich die Akzeptanz neuer Technologien deutlich steigern. Anreizsysteme Offenkundig lassen sich Personen durch Löhne und Gehälter zu Arbeitsleistungen motivieren. Eine „Überbezahlung“ kann u. U. sogar zu einem sprunghaften Anstieg der Arbeitsleistung führen [Gree88; Gree90; WaWa78]. Somit können Einkommenserhöhungen selbstverständlich als Anreize für die Erbringung hoher Leistungen und für die Steigerung der
4.3.3 Akzeptanz von Werkzeugen in Planung und Schulung
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Bereitschaft, sich mit neuen Technologien zu befassen, herangezogen werden. Das Engagement, z. B. beim Erlernen einer neuen Technologie, kann auch mit anderen Anreizarten, wie z. B. verbesserte Aufstiegschancen, Arbeitsplatzsicherheit oder einen Zusatz an Privilegien, gefördert werden. Die Möglichkeiten der Motivierung von Mitarbeitern gehen aber noch wesentlich weiter. Die bislang beschriebenen Maßnahmen tangieren lediglich die so genannte extrinsische Motivation [RyDe05]. Zur Steigerung der davon trennbaren intrinsischen Motivation, die sich auf die Tätigkeit selbst bezieht, können weitere Instrumente herangezogen werden, wie z. B. die Erhöhung des „Funfaktors“ der Arbeit oder die Gestaltung der Software eines neuen Systems derart, dass ein Flow-Erleben erzeugt wird etc. [Csik02]. Angstreduktion Wie bereits ausführlich dargelegt, können Ängste von Mitarbeitern bei der Einführung von innovativen Techniken durchaus faktisch berechtigt sein. Selbst wenn Ängste partiell irrational sind, weil sie beispielsweise lediglich auf die kurzfristigen Auswirkungen einer Innovation fokussiert sind o. Ä., sollten sie nicht ignoriert, übergangen oder unterdrückt werden – dies schadet letztlich der gesamten Organisation. Werden Ängste hingegen ernst genommen, eröffnet sich die Möglichkeit, ihre irrationalen Anteile effektiv abzubauen und auf evtl. berechtigte Anteile aufmerksam zu werden. Ängste können mit einer Vielzahl von Instrumenten abgebaut werden (s. o.). Beim Erlernen einer neuen Technologie kann beispielsweise auch darauf geachtet werden, dass die Mitarbeiter die gestellten Anforderungen auch bewältigen können – sie müssen das Gefühl von Kompetenz, Kontrolle und Selbstwirksamkeit entwickeln können [Band77; YiHw03]. Zeitpuffer Der zeitliche Rahmen, der für die Einführung neuer Technologien einkalkuliert wird, muss es zulassen, dass an dem neuen System sequentielle Übungsphasen durchlaufen werden können. Zudem können Einführungsveranstaltungen für Mitarbeiter durchgeführt werden, es können Anleitungen gegeben werden, oder es kann mithilfe von Modellen die optimale Anwendung des neuen Systems direkt demonstriert werden [Band65]. Auch diese Empfehlungen dienen neben dem schnellen Wissenserwerb dem globalen Angstabbau [Chan05].
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Positive Fehlerkultur Bei dem Prozess des Erlernens der Funktionsweise eines neuen Systems ist es günstig, ein lernfreundliches Klima zu schaffen. Zu diesem Zweck ist es beispielsweise möglich, Leistungsfeedback zu geben, das sich sehr stark an persönlichen Verbesserungen und Lernfortschritten orientiert, anstatt aufgetretene Fehler in den Vordergrund zu rücken. Allerdings lernen Menschen auch und insbesondere durch die von ihnen gemachten Fehler [OsHa99]. Dennoch sollte zumindest die Rückverfolgung und Bestrafung von Fehlern vermieden werden [Este44]. Eine gewisse Fehlertoleranz seitens der Organisation ist daher erforderlich. Zahlreiche dynamische Faktoren, die zusätzlich zu ihrer je eigenen Dynamik auch noch untereinander in Interaktion treten können, beeinflussen i. d. R. einen Arbeitsprozess. Die Entstehung von Fehlern ist in solch schwer berechenbaren Systemen ohnehin nicht vollständig auszuschließen. Mit einer gewissen Fehlertoleranz geht für die Organisation als Ganzes die Möglichkeit einher, aus Fehlern zu lernen, da diese von Mitarbeitern nicht aus Angst verschwiegen oder vertuscht werden [Murp96]. Organisationale Unterstützung Aus der Balancetheorie von Heider [Heid58] leitet sich ab, dass es für die Schaffung von Akzeptanz für eine neue Technologie förderlich ist, wenn es den Führungskräften gelingt, den Mitarbeitern zu vermitteln, dass die neue Technologie vom Unternehmen befürwortet wird. Gesetzt den Fall, der einzelne Mitarbeiter hat selbst eine positive Einstellung zu seinem Unternehmen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch er die neue Technologie akzeptiert (siehe Abbildung 1). Technologie +
… wird ebenfalls positiv
Mitarbeiter
Organisation +
Abbildung 1: Balancetheoretisches Modell nach Heider
4.3.3 Akzeptanz von Werkzeugen in Planung und Schulung
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Fazit Menschenbilder beeinflussen organisatorische Entscheidungen in bedeutend höherem Maß als dies von Entscheidungsträgern üblicherweise eingestanden wird oder ihnen bewusst ist [Wiel96]. Selbst wenn die marktwirtschaftliche Situation zwischen Unternehmen und Mitarbeitern eine Machtasymmetrie erzeugt, sollte dies nicht zu einer voreiligen Akzeptanz solcher simplifizierten Menschenbilder auf Seiten der Führungskräfte führen, die ein Alibi dafür zu geben scheinen, Mitarbeiter zu bestimmten neuen Verhaltensweisen zu zwingen, ihnen Unternehmensziele oder neue Technologien aufzuoktroyieren etc. Langfristig schadet ein solches Verhalten der Organisation selbst, gerade deshalb, weil Konkurrenten, die Arbeitsplätze, Organisationsprozesse und -strukturen nach humanen Leitlinien gestalten, letztlich differenzierter vorgehen und einen Wettbewerbs-vorteil für sich erarbeiten können. Zudem dürfen ökonomische Interessen nicht zu einem Verzicht gesellschaftspolitischer Selbstreflexion führen [EiHa05]. Literatur [Band65] [Band77] [Bem72] [BrBr81] [Buss04] [Chan05] [Csik02] [DeRy85] [EiHa05] [Este44] [Fest54]
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4.3.4 Innovative Mitarbeiterqualifizierung im logistischen Umfeld
D. Walch, U. Katzky Die in heutigen Logistiknetzwerken herrschenden Veränderungen, wie zum Beispiel die Verschiebung von Aufgabenumfängen in der Supply Chain, erfordern schnelle Reaktionen und Änderungen in den Tätigkeitsfeldern der operativen Mitarbeiter. Dem Mitarbeiter kommt daher eine entscheidende Rolle zu. Durch seine Qualifikation und sein flexibles Handeln ist es ihm möglich, Veränderungen reibungslos zu bewältigen sowie Fehler zu vermeiden oder zu korrigieren, um so seinen Beitrag zur SupraAdaptivität zu leisten. Dabei wird er mit immer höheren Anforderungen konfrontiert, die die heutigen in der Logistik üblicherweise eingesetzten Schulungsmethoden oft vor unüberwindbare Hürden stellt, wie z. B. die mangelnde Einbindung der Mitarbeiter. Im Folgenden sind die im Forschungsverbund ForLog entwickelten Methoden dargestellt, die auf neuen didaktischen Prinzipien und dem Einsatz neuer Technologien wie der Virtual und Augmented Reality (VR/AR; vgl. Kapitel 4.3.2 und 5.2.3) zur innovativen Mitarbeiterqualifizierung beruhen. Dazu werden Vor- und Nachteile sowie zukünftige Potenziale einzelner, im Verbund realisierter Konzepte von einer virtuellen Montageumgebung bis zur virtuell unterstützten Kommissionierung beschrieben.
Konventionelle Schulungsmethoden in der Logistik Ein in der Ausbildung nach wie vor häufig eingesetztes Instrument ist der Frontalunterricht, da hier mehrere Auszubildende gleichzeitig geschult werden können. Hingegen mangelt es bei dieser Form des Unterrichts oftmals an Praxisnähe und einer zu geringen Ausrichtung der Schulung auf die Bedürfnisse des individuellen Lerners. Eine Ausbildung schafft generell die Möglichkeit, prinzipielle Zusammenhänge (in der Logistik) sowie Grundlagen der später auszuübenden Tätigkeiten zu vermitteln. Jedoch sind die Anforderungen der Logistik bei den späteren Arbeitgebern viel zu spezifisch, als dass sie durch eine allgemeine Ausbildung gänzlich abgedeckt werden könnten. Dementsprechend greifen Unternehmen nach der
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D. Walch, U. Katzky
Einstellung eines operativen Logistikers auf weitere Methoden der Schulung zurück. Neben der allgemeinen Form einer Einweisung erfahren die Lernenden meist ein „Training on the Job“. Hierbei begleitet der Lernende den Ausbilder in seiner täglichen Arbeit und versucht so, z. B. zu Kenntnissen über die in der Logistik vorherrschenden Prozesse und Arbeiten zu gelangen. Nach und nach übernimmt der Lernende immer schwierigere Tätigkeiten selbst, wobei er durch den Ausbilder kontrolliert wird. Diese Methode zeichnet sich gegenüber verschiedenen Unterrichtsformen insbesondere durch ihren Praxisbezug aus und benötigt keinerlei besondere Hilfsmittel (wie z. B. Schulungsräumlichkeiten, Versuchsanlagen für Auszubildende). Dagegen ist die Ausbildung aufgrund der meist mangelnden Standardisierung stark abhängig von der Qualität des Lehrenden, d. h. in diesem Fall von seiner Qualifikation. Je nach dessen Fähigkeiten kann durchaus eine auf das Individuum zugeschnittene und erfolgreiche Ausbildung erfolgen, der sich jedoch üblicherweise keine Überprüfung des Wissensstands des Auszubildenden anschließt. Zudem unterliegt dieser Methode meist eine verhältnismäßig lange Ausbildungsdauer, während der beide Personen nicht ihre geforderte Produktivität erreichen.
Ein neuer Ansatz: Von der Belehrung zum selbst gesteuerten Lernen Konventionelle Schulungsmethoden werden von der Vorstellung getragen, dass sich Lerninhalte unmittelbar durch einen linearen Vermittlungsprozess in den „Köpfen“ der Lernenden abbilden lassen. Eine alternative Sichtweise hingegen besagt, dass sich jeder Mensch (und damit auch jeder Lernende) ein individuelles und subjektives Bild seiner Welt „konstruiert“. Mit anderen Worten: Nicht der Ausbilder, die Lehre oder ein Lernprogramm erzeugen das Wissen, das die Lernenden aufnehmen sollen, sondern die Lernenden selbst. Lernende konstruieren damit selbstständig neues Wissen durch einen aktiven Konstruktionsprozess. Aufgrund verschiedenster Erfahrungen entsteht so eine kognitive Landkarte der Welt, die den Lernenden individuell beeinflusst. Will man dieser Auffassung nachkommen, sind Lernarrangements zu gestalten, die die selbsttätige und selbständige Wissenserschließung und -aneignung ermöglichen. Damit wird einer gleichermaßen lerntheoretischen wie didaktischen Grundvorstellung Rechnung getragen, die in der Pädagogik und Psychologie in den letzten 20 Jahren als „konstruktivistische Didaktik“ [Reic06] bzw. als „konstruktivistisches Lernparadigma“ entwickelt, erforscht und anerkannt wurde. Hierbei gilt es, die Lernarrangements konstruktivistisch „gemäßigt“ anzubieten, weil im Unterschied zum so genannten „radikalen Konstrukti-
4.3.4 Innovative Mitarbeiterqualifizierung im logistischen Umfeld
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vismus“ ein zielgerichtetes und steuerndes Einwirken durch den Ausbilder auf die Organisation der Lernprozesse zugelassen wird und sogar für eine ergebnisorientierte Wissenserschließung als hilfreich anzusehen ist. Dazu werden Vorstellungen des klassischen Lehrens und Lernens aufgenommen, deren Berechtigung sowohl parallel als auch verzahnt mit dem Konstruktivismus in den letzten Jahren durch neuere psychologische Forschung belegt wurde [Spit05]. Im Sinne dieses gemäßigten Konstruktivismus steht der Lerner im Mittelpunkt der didaktischen Überlegungen. Er entscheidet maßgeblich aus der Erkenntnis und Reflexion seiner eigenen Lernbedarfe über Lerninhalte, -wege und -schritte. Um ihm diesen selbst gesteuerten Lernprozess zu ermöglichen, bedarf es der Moderation und Beratung durch einen qualifizierten Ausbilder. Zur Überführung einer gemäßigt konstruktivistischen Didaktik in konkretes Lernhandeln bieten sich in besonderem Maße handlungsorientierte Methoden an. Denn nur eine „vollständige Handlung“, bestehend aus Zielsetzung, Planung, Ausführung, Kontrolle und Reflexion, gibt den Lernenden die Möglichkeit, eigene Lernbedarfe und Lernergebnisse in konkreten, realitätsnahen Situationen zu erfahren und diese Erfahrung später in geeigneter Weise auf ähnliche Situationen übertragen zu können. Dabei kommt der Lernaufgabe, die die Lernhandlung auslöst und ihren Verlauf indirekt beeinflusst, eine zentrale Bedeutung zu. Lernaufgaben sollen in handlungsorientierten Lernszenarios die Realität in das Lerngeschehen „hineinholen“ und damit tatsächliche und zukünftige Anforderungen an den Lerner aus seiner (beruflichen) Alltagswelt repräsentieren. Durch konkrete Handlungsaufgaben kann der Lernende aufgefordert werden, seine zukünftigen Tätigkeiten realitätsnah im Rahmen einer Simulation auszuführen. Der Lernende erkennt seine aktuell vorhandenen Kenntnisstände und aufgedeckte Lernbedarfe – idealer Weise in Arbeitsgruppen. Dabei basieren die jeweiligen Handlungsaufgaben auf dem aktuellen und zukünftigen Arbeitsfeld des Lernenden. Die Ableitung des Lernbedarfes aus konkreten Handlungsaufgaben bietet die Möglichkeit, den Lernstoff sehr individuell auf den einzelnen Lernenden und seinen Aufgabenbereich abzustimmen. Der Lernende selbst kann in Kooperation mit anderen Lernenden und unter Beratung und Moderation eines Ausbilders selbst entscheiden, welche Kenntnisse und Fähigkeiten er sich in welcher spezifischen Tiefe für die Bewältigung seiner zukünftigen Aufgaben aneignen will und muss. Dadurch wird ein Lehren nach dem „Gießkannenprinzip“ vermieden sowie Lehr-/Lernressourcen zielorientiert und somit effizient genutzt. Genau aus diesem Grund spielen selbstgesteuerte Lernprozesse eine neue und wichtigere Rolle in der Ausbildung als es lineare Prozesse vermögen. Sie bieten dem Lerner neue Möglichkeiten, da sie mehr Freiheiten in der Wahl der erforderlichen Lerninhalte und Lernwege einräumen. Das
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führt u. a. zu einer höheren Identifikation mit dem Lernprozess und wirkt motivationsfördernd. Der Lerner erhält, soweit zweckmäßig, die Möglichkeit, sein Lernszenario bezüglich Lerninhalten, -ort, -zeit, -weg und -methodik selbst zu gestalten. Dabei steht der Ausbilder diesem Prozess in der Form unterstützend zur Seite, als dass er steuernd eingreift, aber nicht mehr als es in linearen Vermittlungsprozessen üblich ist. Durch das selbstgesteuerte Lernen ist der Lerner in der Lage, den Lernprozess als persönliche Entwicklung zu verstehen. Lernziele und Inhalte werden durch die Lernbedarfe des Lerners selbst bestimmt. Dabei findet das Lernen im problemorientierten, situativen Kontext statt; idealer Weise gestaltet als sozialer Prozess. Der Einsatz neuer Technologien aus der Virtual und Augmented Reality kann hier Verbesserungen in der Effizienz der Schulung einerseits, aber auch hinsichtlich ihrer Qualität und Effektivität andererseits erzielen.
Virtuelle Lernumgebungen am Beispiel der manuellen Serienmontage Auch aufgrund von sinkenden Preisen für leistungsfähige Hard- und Software rücken Virtual Reality und ähnliche Technologien immer mehr in den Fokus moderner Schulungssysteme. Nachdem jahrelang nur spezielle Bereiche wie Luftfahrt oder Militär von den Möglichkeiten dieser Technologien profitieren konnten, wird deren Einsatz zunehmend für eine breitere Basis an Anwendungen interessant. Im ersten Schritt setzen Unternehmen auf eine für einfachere Schulungsmaßnahmen zweckmäßige und kostengünstige Lösung mit einem geringeren Grad an Immersion, d. h. einer geringeren Eingebundenheit des Nutzers in die Virtual Reality. Dabei greift die virtuelle Lernumgebung auf für den Einsatzfall geeignete, aber der Realität weniger entsprechende Interaktions- und Visualisierungsgeräte zurück. So werden virtuelle Lernumgebungen vereinfacht auf Computern visualisiert, wobei der User mit den virtuellen Objekten über die Maus interagiert. Dadurch geht zwar einerseits das Realitätsempfinden eines physischen Greifens und Handhabens der virtuellen Objekte verloren, andererseits stellt sich diese Form der Interaktion für viele Anwender als sehr vertraut und somit ebenso intuitiv dar.
4.3.4 Innovative Mitarbeiterqualifizierung im logistischen Umfeld
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Abbildung 1: Virtuelle Trainingsumgebung zur Montage elektronischer Baugruppen bei der Firma Zollner Elektronik
Bei dem von MitLog in Zusammenarbeit mit der Firma Ray Sono entwickelten Demonstrator (Abbildung 1) handelt es sich um das virtuelle Abbild eines realen Montagearbeitsplatzes zur Montage von elektronischen Baugruppen bei der Firma Zollner Elektronik AG. Dem Lerner werden hierbei die Arbeitsschritte in Form von Anweisungen eingeblendet, nach denen er die Montage einer Baugruppe durchführen kann. Wie in der Realität stehen dem Auszubildenden für die Anfertigung des Produkts die erforderlichen Werkzeuge und Bauteile zur Verfügung. Mit der visuellen und systemseitigen Einbettung der Vorgabezeiten ist zudem eine automatische Auswertung von Sollzeit zu tatsächlicher Anfertigungsdauer gegeben. Dementsprechend lässt sich bei wiederholter Durchführung der virtuellen Montage das Fortschreiten des Lernerfolgs dokumentieren. Während das Ziel des Forschungsverbundes das Aufzeigen der Potenziale einer solchen virtuellen Lernumgebung war, hatte die Firma Zollner die Intention, über diesen neuen Weg der Mitarbeiterqualifizierung ihr Personal zur flexiblen Einsetzbarkeit nach dem Prinzip „Job Rotation“ für verschiedene Fertigungsinseln zu schulen. Die steigende Komplexität der Produkte sowie der Fertigungsprozesse gab dabei den Ausschlag, einen neuen Weg zur Effizienzsteigerung gegenüber bisherigen Qualifizie-
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rungsmaßnahmen zu beschreiten. Das entstandene System zeichnet sich dabei durch folgende Eigenschaften aus: • Standardisierte Ausbildung • Dokumentation und Analyse des Lernerfolgs • Modularer Aufbau der entwickelten Software für Anpassbarkeit der virtuellen Arbeitsumgebung an andere Fertigungsinseln und Produkte • Keine Orts- oder Zeitgebundenheit der Schulungsmaßnahmen durch die Einsatzmöglichkeit auf handelsüblichen PCs • Keine Störung des laufenden Betriebs durch Entkopplung der Schulungsmaßnahme von der Fertigung • Intuitive, einfache Interaktion durch die Computermaus • Einsparung von Schulungspersonal und Kosten für den durch die Schulung an realen Objekten produzierten Ausschuss Darüber hinaus bieten virtuelle Lernumgebungen die Möglichkeit, Fehlerszenarien zu kreieren, um Mitarbeiter im Umgang mit Gefahrensituationen zu schulen, ohne sie persönlichen Gefahren oder den Konsequenzen kostspieliger Fehlhandlungen auszusetzen. Eine Evaluierung der virtuellen Montageumgebung zeigte eine hohe Akzeptanz von Seiten der Mitarbeiter für diese Art der Schulung. Insbesondere der Visualisierung wurde größte Bedeutung beigemessen (Abbildung 2). 17%
Visuelle Schnittstelle 50%
33%
Manuelle Schnittstelle Auditive Schnittstelle
Abbildung 2: Bedeutung der Systeminteraktion
Zudem ließ sich als Potenzial die Reduzierung der Qualifizierungsdauer bei gleichzeitiger Erhöhung der Qualifizierungsqualität erkennen. Laut Schätzungen der Fertigungsplaner ließe sich mit einer derartigen Schulungsmethode bis zu 70% des Schulungsbedarfs decken.
4.3.4 Innovative Mitarbeiterqualifizierung im logistischen Umfeld
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Immersive Lernumgebungen am Beispiel der Kommissionierung Bei immersiven Lernumgebungen handelt es sich um den Einsatz der Virtual Reality Technologie mit dem Ziel, der Realität durch die vollkommene Eingebundenheit des Nutzers in die virtuelle Welt so nah wie möglich zu kommen. Im Falle des in ForLog verfügbaren Virtual Reality Labors werden zur Verbesserung der Immersion eine stereoskopische Visualisierungseinrichtung zur Generierung der 3D-Welt, ein Laufband für den intuitiven „walk-through“ durch die virtuelle Welt und ein Datenhandschuh zur Interaktion mit den virtuellen Objekten eingesetzt. Im Wesentlichen gelten die gleichen Vorteile virtueller Lernumgebungen auch für die immersive Welt. Die Erhöhung des Immersionsgrades durch Einsatz von Projektionswänden gegenüber herkömmlichen Monitoren ist jedoch mit höheren Investitionskosten verbunden und geht gleichzeitig zu Lasten der flexiblen Einsetzbarkeit des Systems. Im Gegensatz zu konventionellen Lernmethoden bietet die Virtual Reality jedoch den Vorteil, dass bei der in der virtuellen Umgebung lernenden Person ein hohes Maß an Konzentration und psychologische Eingebundenheit erreicht wird. Dies hat grundsätzlich einen positiven Effekt auf die Wirksamkeit der jeweiligen Schulungsmaßnahme [Dede06]. Um die hohen Investitionskosten aufzuwiegen, wird im Rahmen des Forschungsverbundes der durchgängige Einsatz der VRTechnologie verfolgt, angefangen von der virtuellen Layoutplanung logistischer Systeme (vgl. Kapitel 4.2.5), über die menschintegrierte Simulation bis hin zum Training von Logistikmitarbeitern. Zudem ist davon auszugehen, dass die Anschaffungskosten heutiger VR-Systeme weiter sinken werden. Durch eine schnelle Überführung von 3D-CAD-Daten in die VR stehen alle Möglichkeiten für einen breiten Einsatz in der Logistik offen. Als Referenzprojekt dient in ForLog die manuelle Kommissionierung in einem virtuellen Lager (Abbildung 3). Während die Navigation und Fortbewegung über ein reales Laufband erfolgt, wird ein Datenhandschuh zur Entnahme und auftragsbezogenen Zusammenstellung der Waren aus dem Lager verwendet. Die erste Evaluierungsphase des virtuellen Kommissioniersystems zeigte bereits, dass die Abbildbarkeit der realen Prozesse in der virtuellen Welt möglich ist und die immersive Lernumgebung auf eine hohe Akzeptanz bei den Nutzern stößt (vgl. Kapitel 4.3.2, Abbildung 7).
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Abbildung 3: Kommissionieren im virtuell geplanten Lager
Einsatz der Augmented Reality zu Schulungszwecken Als Augmented Reality wird das Anreichern bzw. Erweitern der realen Welt mit virtuellen Zusatzinformationen verstanden. Typischerweise trägt der Nutzer dieser Technologie hierbei eine Datenbrille (Head Mounted Display), die für die Einblendung der virtuellen Informationen in sein Sichtfeld sorgt, um so bestehende Prozesse zu optimieren. Im Rahmen des Forschungsverbundes wurde diesbezüglich die Entwicklung eines Demonstrators zur Augmented Reality-unterstützten Kommissionierung (vgl. Kapitel 5.2.3) verfolgt (Abbildung 4). Dem Auszubildenden wie auch dem erfahrenen Kommissionierer lassen sich dabei Handlungsanweisungen, Wegbeschreibungen aber auch die essenziellen Auftragsdaten virtuell in sein Sichtfeld projizieren, wodurch dem Anwender das Auffinden der gelagerten Artikel erleichtert wird. Die Bereitstellung der Daten erfolgt situationsbezogen, d. h. abhängig vom momentanen Handlungsschritt des Kommissionierers. Dies ist durch die laufende Positions- und Blickrichtungserfassung (Tracking) möglich. Dementsprechend lassen sich prozessunterstützende Anweisungen (z. B. der nächste Handlungsschritt in der Kommissionierung, aber auch Zusatzaufgaben wie Qualitätssicherung) zur richtigen Zeit am richtigen Ort in den Ablauf integrieren. Dieses Verfahren zielt dabei auf eine Reduzierung
4.3.4 Innovative Mitarbeiterqualifizierung im logistischen Umfeld
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von Fehlhandlungen (insbesondere beim Einsatz ungelernter oder unerfahrener Werker) in der Kommissionierung ab.
Abbildung 4: Kommissionieren mit Augmented Reality-Unterstützung
Das System erfordert prinzipiell eine Kurzeinweisung bezüglich der Handhabung, bietet jedoch durch die Einblendung aller für die Durchführung der Kommissionieraufgabe relevanten Informationen die Option, weitestgehend ohne Prozessschulung der operativen Logistikarbeiter auszukommen. Dementsprechend eignet sich der Einsatz der Augmented Reality Technologie sowohl für die Einarbeitungsphase neuer Mitarbeiter als auch für den ganztägigen Einsatz im Lager, um Anlauf- wie auch Standardprozesse zu beschleunigen.
Resümee Die Technologien der Virtual und Augmented Reality zeigen bereits heute, dass sie neue Methoden zur Unterstützung der Schulung operativer Logistiker eröffnen. Mit der didaktischen Untermauerung und der fortlaufenden Verbesserung momentan am Markt verfügbarer Hardwarekomponenten werden diese Technologien mehr und mehr Einzug in das betriebliche Leben und die Schulung von Personal erhalten. Dabei spielt die Wirtschaftlichkeit zum Einsatz solcher Systeme eine entscheidende Rolle. In manchen Bereichen werden diese Technologien unersetzlich sein bzw. bleiben
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(Training und Simulation von personengefährdenden oder in der Realität zu kostspieligen Situationen), in anderen Bereichen nicht notwendigerweise erforderlich. Wie so oft, ist der Erfolg der Virtual und Augmented Reality abhängig von Einsatzfall und Umfeld. In geeigneter Kombination mit herkömmlichen Schulungsmethoden stellen sie eine Möglichkeit dar, Mitarbeiter standardisiert und gleichzeitig individuell mit unterschiedlichsten Lerninhalten zu schulen und so eine qualitativ hochwertige Ausbildung zu erreichen.
Literatur [Dede06] [Reic06] [Spit05]
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Veränderungen des Auftrags- und Produktionsmix – die flexible Reaktion im Netzwerk
5.1 Ursachen und Symptome
Wie töricht ist es, Pläne für das ganze Leben zu machen, da wir doch nicht einmal Herren des morgigen Tages sind. Lucius Aenaeus Seneca
5.1.1 Anforderungen supra-adaptiver Logistiksysteme: Fehlerkultur – Fehlerprävention – Fehlermanagement
S. Weisweiler, B. Schwerdtfeger, M. Hammerl Im Rahmen supra-adaptiver Logistiknetzwerke müssen Mitarbeiter und Organisation durch die hohe Volatilität von Veränderungen mit vielfältigen Anforderungen adäquat umgehen können. Zwangsweise steigt aufgrund der hohen Anforderungen das Risiko von Fehlhandlungen der operativen Mitarbeiter. Zudem führt die Verkettung der Supply Chain zu einer Schnittstellenproblematik, die den Umgang mit Fehlern erschwert. Neben den individuellen stellen die organisationalen Bedingungen bislang einen eher wenig beachteten Bereich des Fehlermanagements durch Unternehmen dar. Während auf individueller Ebene die Qualifizierung von Mitarbeitern die Voraussetzung zur Fehlerprävention darstellt, spielt auf organisationaler Ebene die Kultur im Umgang mit Fehlern eine wesentliche Rolle. Damit ist die Einstellung eines Unternehmens gegenüber Fehlern gemeint und die Art, wie mit ihrem Auftreten umgegangen wird. Über die Unternehmensgrenze hinaus ist zudem ein netzwerkweites Fehlermanagement erforderlich, um die Reaktionsschnelligkeit auf in der Supply Chain identifizierte Fehler zu wahren. Im Folgenden werden im Rahmen des Forschungsverbundes entwickelte Ansätze dargestellt, welche Möglichkeiten sich mit der Implementierung einer Fehlerkultur einerseits und eines netzwerkweiten Fehlermanagements andererseits bieten.
Fehlerkultur Prinzipiell ist jedes Unternehmen mit Fehlern konfrontiert, da laut Seneca Irren menschlich ist. Ein bekanntes Beispiel in Deutschland war die Entwicklung eines neuen Automobilkonzeptes eines schwäbischen Herstellers. Beim so genannten „Elchtest“ zeigte sich dann, dass ein Fahrzeug unter extremen Umständen umkippen kann. Dieser offensichtliche Fehler wurde von der Unternehmensleitung zum Anlass genommen, harte Sankti-
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onen auszuüben. Diese Maßnahmen verunsicherten die Entwickler dahingehend, innovationsreich weiterzuarbeiten. In Japan beispielsweise herrscht eine andere Fehlerkultur, in der nur durch Erkennen und Ansprechen von Fehlern eine positive Veränderung („Kaizen“) möglich ist. Ohne Veränderung findet also auch keine Weiterentwicklung statt. Gerade der große Erfolg ostasiatischer Unternehmen und der in Japan gelebten Fehlerkultur erzwingt eine kritische Überprüfung der in westlichen Unternehmen praktizierten Fehlerstrategien.
Lernen aus Fehlern In der Theorie befassen sich verschiedene Autoren mit dem Lernen aus Fehlern (z. B. [Grub99; Kolo83; OsHa99]). Kolodner [Kolo83] weist darauf hin, dass aus Fehlern nicht nur gelernt werden kann, sondern auch die Kompetenz im Umgang mit neuen und unerwarteten Problemen und Situationen gefördert wird. So gesehen sind Fehler eine Ausgangsbasis für Kreativität und Innovation. Oser, Hascher und Spychiger [OsHa99] verdeutlichen besonders die Relevanz der im Betrieb vorherrschenden Kultur im Umgang mit Fehlern als den zentralen Einflussfaktor für das Lernen aus Fehlern. Fehler sind somit notwendig, um Erfahrungen zu sammeln und die individuelle Handlungskompetenz zu erhöhen. Um das aus Fehlern gewonnene Wissen nicht träge werden zu lassen, bedarf es unbedingt einer Rückkopplung in die Handlungsbasis für zukünftige Prozesse [ReMa96]. Aktuelle Studien weisen dem „incident reporting“, also der Dokumentation von Fehlern z. B. in Wissensdatenbanken, einen hohen Stellenwert zu. Neben dem medizinischen Bereich sind hier vor allem in der Flug- und Sicherheitstechnik große Fortschritte zu verzeichnen [BaSm00; Hofi02]. Die Frage nach den Konsequenzen von Fehlern verweist direkt auf die in einem Unternehmen vorherrschende Fehlerkultur. Der Stellenwert von Fehlern lässt sich auf einem Kontinuum beschreiben [Baue04]. Im Sinne der „Null-Fehler-Kultur“ gilt es, Fehler möglichst zu vermeiden, da sie Geld und Zeit kosten, zu mangelhaften Produkten führen oder ganz allgemein dem Unternehmen schaden. Im Gegensatz dazu sind beim so genannten Fehlermanagement Fehler prinzipiell nicht vollständig vermeidbar. Sie sind sogar grundsätzlich erlaubt und werden sowohl kommuniziert als auch reflektiert. Damit stellen Fehler eine willkommene Lerngelegenheit und Entwicklungsmöglichkeit dar. Gefragt wird, wie ein erfolgter Fehler und seine negativen Konsequenzen möglichst schnell, einfach und stressfrei behoben werden können [ZaFr99] und wie daraus gelernt bzw. welches Innovationspotenzial daraus geschöpft werden kann. In einer Unter-
5.1.1 Fehlerkultur – Fehlerprävention – Fehlermanagement
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suchung zeigte sich, dass nur aus echten Fehlern gelernt werden kann [IvHe00]. Konfrontiert man Mitarbeiter in einer Schulung hingegen mit hypothetischen Fehlern, so ergibt sich kein Lerneffekt. Entwicklung einer positiven Fehlerkultur Um eine positive Fehlerkultur in Unternehmen entwickeln und implementieren zu können, sind verschiedene Voraussetzungen sowohl auf organisationaler als auch auf individueller Ebene zu berücksichtigen. Aufgrund der Verzahnung sind diese beiden Bereiche in der Praxis häufig nicht zu trennen. Dies ist auch nicht wünschenswert, da ein Ineinandergreifen von Mensch und Unternehmen zur positiven Fehlerkultur beiträgt. Kommunikation und Transparenz
Als die bedeutendsten Merkmale bezogen auf die Fehlerkultur werden die Kommunikation innerhalb des Unternehmens sowie die Transparenz über interne Abläufe und Vorgehensweisen angesehen. Dabei ist Transparenz eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Kommunikation. Jeder Mitarbeiter muss sich z. B. im Klaren über folgende Fragen sein: Was gehört zu meinem Aufgabenbereich? Was wird von mir erwartet? Was sind Werte/Normen und Vorgehensweisen des Unternehmens und warum? Worauf legen die Führungskräfte Wert und warum? Wozu ist z. B. der eigene Produktionsschritt wichtig? Was passiert, wenn das Produkt fehlerhaft weitergeleitet wird (auch bezogen auf das Endprodukt)? Anhand einer Befragung wirtschaftlich erfolgreicher Firmen sind Faktoren herausgearbeitet worden, die zu einer effektiven Kommunikation führen [YoPo93]. Der entscheidende Schwerpunkt liegt dabei auf dem Führungspersonal, das neben der Realisierung einer wechselseitigen Kommunikation zwischen Führungskräften und Mitarbeitern vor allem auch darauf achten sollte, die Mitarbeiter dahingehend zu ermutigen, auch negative Neuigkeiten (wie Fehler, das Scheitern von Projekten oder Kundenbeschwerden) weiterzuleiten. In einer Kultur, in der über Fehler frei gesprochen werden kann, ohne Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, entwickeln Mitarbeiter ein gutes Gespür für Hochrisikosituationen und halten bei Fehlern effektive Lösungsstrategien parat [Math00]. Mitarbeiter in fehleranfälligen Bereichen können durch andere Mitarbeiter besser und schneller unterstützt werden. Das Wissen über Fehler verkürzt die Zeit zwischen dem Auftreten und dem Entdecken (und der anschließenden Korrektur) eines Fehlers. Eine schnelle Fehleraufdeckung hat somit eine geringere Anzahl negativer Konsequenzen. In den USA lassen sich ungewöhnliche Maß-
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nahmen finden, die in der Lage sind, eine informelle Kommunikation über Fehler anzuregen. Neben so genannten „Fehler-Parties“ finden sich auch Firmen, die Rekordbücher anlegen, in denen Fehler notiert werden [McKe06]. Zumindest sollte in der täglichen Praxis die Möglichkeit bestehen, über alle aufgetretenen Fehler zu sprechen und die verwendeten Lösungsstrategien zu diskutieren und effektiver zu gestalten. Neben der Ermöglichung von Kommunikation spielt die Motivation der Mitarbeiter eine wichtige Rolle, um eine positive Fehlerkultur entwickeln und implementieren zu können. Motivation
Mit Motivation ist der Beweggrund für bestimmte Verhaltensweisen gemeint. Eine hohe Motivation ermöglicht das Lernen aus Fehlern und ist somit ein weiteres Element zur Verbesserung der Fehlerkultur im Unternehmen. Die Effektivität und Qualität von Arbeit kann durch die Motivation erhöht werden. So können einerseits extrinsische Faktoren, wie z. B. finanzielle Belohnung, Lob und Anerkennung, Aussichten auf Beförderung oder ein Karrieresprung motivierend wirken. Andererseits sind es häufig intrinsische Motivationsfaktoren, die eine größere Rolle spielen. Die Arbeitsmotivation von Mitarbeitern kann durch verschiedene Aspekte angeregt werden, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Einfluss auf die Motivation haben einerseits Ziele. Nach Latham und Locke [LaLo91] kann eine zielgerichtete Entwicklung nur erfolgen, wenn Ziele definiert werden und damit die Richtung einer möglichen Entwicklung festgelegt wird. Dies ermöglicht in einzelnen Etappen einen Soll-IstAbgleich, der in den weiteren Zielsetzungsprozess einfließen kann. Die daraus ableitbare SMART-Regel thematisiert, wie Ziele gestaltet sein sollten, damit sie angemessene Aktivitäten auslösen: spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminierbar. Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen Zielsetzung und Leistung, da Ziele die Anstrengung und Ausdauer regulieren und direkt die Aufmerksamkeit beeinflussen. Wichtig, um einer Ablehnung vorzubeugen, ist eine Zielbegründung den Mitarbeitern gegenüber, wenn Ziele vorgegeben werden [KiWa05]. Das Konzept „Management by Objectives“ oder die Führung durch Zielsetzung beruht auf der Annahme, Führung über Ziele fördere die Initiative, Kreativität und Flexibilität der Mitarbeiter [Peun99]. Das Konzept bietet eine Reihe von Chancen, wie die Förderung des Teamgeistes, des Kostenbewusstseins und der Leistungsqualität. Eine weitere Schlüsseldimension des Leistungsverhaltens ist die Selbstwirksamkeit. Damit ist die Überzeugung gemeint, in bestimmten Situationen angemessene Leistungen zu erbringen. Menschen, die sich einer
5.1.1 Fehlerkultur – Fehlerprävention – Fehlermanagement
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Aufgabe gewachsen fühlen, erzielen höhere Leistungen als Personen, die fürchten zu scheitern (vgl. [GiMi92]). Fehler und Selbstwirksamkeit hängen unmittelbar miteinander zusammen. Die Sensibilität für Fehler muss gestärkt werden, ohne die Selbstwirksamkeit zu gefährden. Sinnvoll ist dabei eine konstruktive Auseinandersetzung mit gemachten Fehlern, so dass in der Folge ein Lernen aus Fehlern und ein Schutzwissen entstehen (vgl. [Chot99]). Um die Fehleranzahl generell zu reduzieren, kann die Selbstwirksamkeit gestärkt werden. Diese Stärkung, z. B. durch Stressbewältigungsmethoden, führt mit höherer Wahrscheinlichkeit zu erfolgreichen Lösungen, zum Beispiel in Fehlersituationen. Für Führungspersonen ist eine hohe Selbstwirksamkeit dahingehend wichtig, da sich diese positiv auf den Erfolg der Mitarbeiter auswirken kann. Ein weiterer Faktor, der die Arbeitsmotivation und somit auch die Qualität der Arbeit beeinflusst, ist die Identifikation mit dem Unternehmen. Diese führt auch dazu, dass die Ziele und Wertvorstellungen übernommen und als die eigenen erlebt werden. Dieser Ansatz geht auf die Theorie der sozialen Identität zurück [TaTu86], die davon ausgeht, dass das Selbstkonzept einer Person durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen geprägt wird. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Mitarbeiter eines Unternehmens mit positiver Fehlerkultur auch insgesamt weniger Fehler machen. Häufig wird davon ausgegangen, dass Mitarbeiter sich automatisch mit ihrem Unternehmen identifizieren. Diese Identifikation kann z. B. durch Logos, Geschenke oder auch der Beteiligung an Gewinn und Verlust gestärkt werden. Damit zusammen hängt das Commitment gegenüber einem Unternehmen. Darunter ist der Grad zu verstehen, zu dem jemand gewillt ist, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen und somit zusätzlich Zeit für die Ziele und das Interesse des Unternehmens zu investieren [MoPo82]. In der Regel sind Kombinationen, wie die Partizipation bei Entscheidungen über die Arbeit selbst, projektbezogene oder beratende Partizipationen vorhanden [DrTh98]. Neben den bisher genannten Faktoren, auf die Management und Geschäftsführung Einfluss nehmen können, gibt es auch unbewusst ablaufende Prozesse, wie z. B. die Gruppendynamik, die sich auf die Motivation und Leistung auswirken können. Umweltfaktoren
Neben den genannten Einflüssen haben auch Umweltfaktoren eine erhebliche Wirkung auf die Arbeitsleistung der Mitarbeiter und die gegebenenfalls daraus resultierenden Fehler. Monotone Arbeit, z. B. am Fließband, kann sich negativ auf die Vigilanz auswirken. Wenn aber die Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum nicht auf einem hohen Level gehal-
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ten wird, können Personen nur erschwert auf seltene oder zufällig auftretende Reize oder Ereignisse reagieren. Fehler sind dann die Folge. Monotonie kann am wirksamsten durch einen Wechsel der Aufgabe (Stichwort „Job Rotation“) verhindert werden. Zusätzlich können Musik oder körperliche Bewegung Abhilfe schaffen. Auch durch Stress können Fehler entstehen. Gerade chronischer Stress kann durch eine Reihe individueller und organisationaler Faktoren ausgelöst werden (z. B. Über- bzw. Unterforderung, Rollenkonflikte zwischen Mitarbeitern, Verantwortung für Personen und Projekte). Um mit solchen Anforderungen adäquat umgehen zu können, sind Coping-Strategien hilfreich [Laza91]. Diese können durch Trainingsformen unterstützt werden. Coping-Prozesse werden aber auch durch Persönlichkeitsmerkmale beeinflusst. Als allgemein positiv wird die soziale Unterstützung angesehen. Es hat sich gezeigt, dass ein mittlerer Grad an Belastung gut ist, da sonst das soziale Netz zu sehr beansprucht wird und Schaden nehmen kann [DuSk90]. Durch gemeinsame Aktivitäten, wie z. B. Betriebsausflüge, Gruppen/Projekt-Incentives können Unternehmen die sozialen Strukturen aufbauen und erhalten. Zudem kann Lärm am Arbeitsplatz Stress hervorrufen. Die Vermeidung von Lärm kann dementsprechend ebenfalls zu einer Leistungssteigerung innerhalb einer positiven Fehlerkultur beitragen.
Fehlerprävention Die vorangegangenen Ausführungen zeigen die Relevanz einer geeigneten Fehlerkultur im Umgang mit aufgetretenen Fehlern. Um Fehler von vorne herein möglichst vermeiden zu können, bedarf es zudem einer sinnvollen Fehlerprävention. Mit der bereits angesprochenen Dokumentation von aufgetretenen Fehlern in einer allgemein zugänglichen Wissensdatenbank kann die Fehlerprävention unterstützt werden. Die Qualifizierung von Mitarbeitern spielt jedoch in der Fehlerprävention die wichtigste Rolle. Vor dem Hintergrund des flexiblen Mitarbeitereinsatzes im supra-adaptiven Unternehmensnetzwerk bildet diese Aufgabe die größte Herausforderung, da hierbei Mitarbeiter fortlaufend mit wechselnden Arbeitsbedingungen (Arbeitsort, Arbeitszeit und Arbeitsinhalt) umzugehen haben. Damit Arbeiten fehlerfrei erledigt werden können, müssen die Mitarbeiter entweder in erforderlicher Art und Weise qualifiziert sein oder bei ihren Aufgaben derart unterstützt werden, dass sie möglichst keine Fehler mehr begehen (z. B. durch die situative Bereitstellung des für die Tätigkeit erforderlichen Wissens). Qualifizierungszeiten sind teuer, da Mitarbeiter
5.1.1 Fehlerkultur – Fehlerprävention – Fehlermanagement
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dem Unternehmen zu dieser Zeit keinen Wert bringen. Eine einfache Kürzung der Qualifizierungszeiten führt jedoch in der Regel zu einer erhöhten fehlerhaften Ausführung der Arbeit. Darum sind innovative Mitarbeiterqualifizierungen (siehe Kapitel 4.3.4) zu entwickeln, die die Mitarbeiter in kürzester Zeit durch Einsatz von zum Beispiel Augmented und Virtual Reality Technologien für die Aufgabe qualifizieren.
Fehlermanagement Das Fehlermanagement beschreibt einen ganzheitlichen Ansatz, dem Auftreten von Fehlern entgegenzuwirken bzw. diese schnellstmöglich zu kommunizieren und zu beheben. Es lässt sich nach präventiven, aktiven und reaktiven Maßnahmen untergliedern. Das präventive Fehlermanagement schließt die bisher diskutierten Punkte des Etablierens einer Fehlerkultur und die Fehlerprävention ein. Es dient dem Sensibilisieren der Mitarbeiter, auf vorhandene Fehler zu achten, und motiviert sie, diese gegebenenfalls auch zu kommunizieren. Zudem sollen Mitarbeiter geschult werden, so dass Fehler gar nicht erst entstehen. Als aktives Fehlermanagement wird die Unterstützung des Mitarbeiters während der aktuellen Ausführung seiner Arbeit verstanden. Das heißt, der Mitarbeiter wird immer zur richtigen Zeit mit kontextabhängigen Informationen versorgt. Dies können sowohl Informationen zur Fehlervermeidung (z. B. Gefahrenhinweise oder Handlungsanweisungen), zur Unterstützung der Fehleridentifikation aber auch zur Fehlerbewältigung (z. B. Prüfanweisungen) sein. Innovative Systeme, wie das Augmented Reality-unterstützte Kommissionieren (siehe Kapitel 5.2.4), bieten die Infrastruktur, um relevante Fehlermanagementinformationen für den Mitarbeiter situativ über ein portables Display bereit zu stellen. Hierbei kann der Kommissionierer zum einen mit den erforderlichen Auftragsdaten und Handlungsschritten des Kommissionierens versorgt werden. Zum anderen lassen sich ihm zusätzlich Anweisungen geben, wie z. B. kratzempfindliche oder durch elektrostatische Entladungen gefährdete Teile zu handhaben sind. Darüber hinaus können in den Kommissionierprozess komplizierte Zusatzaufgaben wie die der Qualitätssicherung integriert werden. Das reaktive Fehlermanagement setzt ein, wenn existierende Fehler entdeckt werden und bezeichnet im Wesentlichen die effiziente Fehlerkommunikation auch über die eigenen Unternehmensgrenzen hinaus. Dabei sollten Mitarbeiter in der ersten Phase soweit motiviert worden sein, dass sie nicht nur fremd verschuldete, sondern auch eigene Fehler melden. Sind der Fehler und die von den Auswirkungen des Fehlers betroffenen Perso-
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nen bzw. Unternehmen identifiziert, muss dies schnellstmöglich weitergemeldet werden, um so Folgeschäden für das Unternehmensnetzwerk zu minimieren. Dabei ist eine zielgerichtete Kommunikation der Fehler entscheidend.
Fazit Laut der globalen Produktivitätsstudie der Unternehmensberatung Proudfoot Consulting [Craf05] werden entscheidende Fehler nicht in der Produktion als vielmehr im Management begangen. Vor allem mangelnde Planung und fehlende Steuerung sind für 60% der Produktivitätsverluste zuständig. Zu wenig Zeit für Schulungen sowie Selbstüberschätzung, unausreichende Delegation, falsche Zielsetzungen und das Ignorieren von Problemen führen zur Vergeudung von 37% der Arbeitszeit. Probleme mit der IT, mangelnde Qualifikation oder Arbeitsmoral spielen hingegen eine untergeordnete Rolle. Maßgebliche Verluste sind also meist im Bereich des Managements zu verzeichnen. Dennoch ist es nach wie vor vonnöten, sich zusätzlich um Prozesse, Arbeitsabläufe und Qualitätsdefizite zu kümmern. Die Summe vieler kleiner Fehler hat in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens durchaus Gewicht. Mittels einer positiven Fehlerkultur, die in den Werten und Normen des Unternehmens verankert sein soll, wird durch das Vorleben von Management und Führungsebene der erste Schritt in eine gewinnbringende und vor allem nachhaltig positive Zukunft getan.
Literatur [BaSm00] [Baue04]
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[IvHe00] [KiWa05] [Kolo83] [LaLo91] [Laza91] [Math00] [McKe06] [MoPo82] [OsHa99]
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5.1.2 Anpassungsstrategien in der Automobilindustrie
M. Hooites Meursing
Einleitung Unternehmen in der Automobilindustrie müssen sich an ihre Umwelt anpassen. Als Gründe für die Anpassung werden Globalisierung und damit einhergehender Kostendruck aufgeführt. Welche Strategien entwickeln die Unternehmen, um sich diesen Entwicklungen anzupassen? In diesem Beitrag wird daher die folgende Frage beantwortet: Welche Anpassungsstrategien verfolgen Unternehmen in der Automobilindustrie? Das Ergebnis ist somit 1. eine Liste von identifizierten Anpassungsstrategien (AS) und 2. die Bewertung der Aktualität dieser Anpassungsstrategien durch die einzelnen Akteure in der Automobilindustrie. Unter Akteuren in der Automobilindustrie werden in diesem Beitrag Hersteller, Zulieferer und Logistikdienstleister verstanden. Die Anpassungsstrategien wurden durch mehrere Interviews mit Personen aus den Unternehmen, die im Forschungsverbund Forlog involviert sind, erarbeitet. Anschließend wurde eine bayernweite Umfrage zu diesen Anpassungsstrategien durchgeführt.
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M. Hooites Meursing
Anpassungssituationen und Anpassungsstrategien Woran müssen Unternehmen in der Automobilindustrie sich anpassen? Günthner et al. identifizieren die Neuprodukteinführung, das Anlaufmanagement, Kundenspezifische Prozesse, Standortverlagerungen, Mengenabweichungen sowie elementare Produktionsfaktoren als die wichtigsten Anpassungssituationen [GüBo05, S.66]. Dabei wurden die Akteure in der Automobilindustrie auf den OEM, 1st Tier Zulieferer und Logistikdienstleister beschränkt. Nach Chandler ist eine Strategie "the determination of the basic long-term goals and objectives of an enterprise, and the adoption of courses of action and the allocation of resources necessary for carrying out these goals" [Chan62, S.13]. Die Umsetzung von neuen Handlungsweisen kann erforderlich werden, wenn die Umfeldbedingungen eines Unternehmens sich ändern, um weiterhin die gesetzten Ziele zu erreichen. Anpassungsstrategien (AS) sind somit Handlungsweisen, mit dessen Unternehmen auf geänderte Situationen reagieren. In den mit mehreren Unternehmen geführten Interviews sind nachfolgende Anpassungsstrategien identifiziert worden. Diese wurden literaturbasiert unterstützt. Kundenbezogene Produktion Eine kundenbezogene Produktion ist eine auftragsbezogene Planung der Produktion. Ziele einer kundenbezogenen Produktion, auch Build-to-Order genannt, sind für die Automobilindustrie die Verringerung der Fertigwarenbestände, die Ermöglichung einer schnelleren Reaktion auf Kundenwünsche und die Vermeidung oder Verminderung von Rabatten auf den Listenpreis von Fahrzeugen [HoPi01, S.76]. Hersteller haben in der Vergangenheit einen Großteil ihrer Produktion auf diese Produktionsform umgestellt. So produziert BMW ca. 80% seiner Fahrzeuge kundenbezogen [Brow05, S.20]. Nachteil einer kundenbezogenen Produktion kann eine ungewollte Häufung von Kundenaufträgen sein, mit der Folge, dass Kunden lange auf das bestellte Fahrzeug warten müssen [Wall04, S.13]. Deshalb sind folgende Voraussetzungen für eine Build-to-Order Produktion zur Verminderung der Gefahr eines „Produktionsstaus“ und somit einer längeren Wartezeit, zu beachten: 1. Flexible Bandbelegung: Eine flexible Bandbelegung bedeutet, dass auf einer Produktionslinie mehrere Produktmodelle einer Produktklasse produziert werden können. Eine Produktklasse ist ein bestimmter Typ Produkt, z. B. ein Motor. Produktmodelle bezeichnen dann 4-, 6-, oder 8-Zylindermotoren [ElHu04, S.203].
5.1.2 Anpassungsstrategien in der Automobilindustrie
451
2. Reduzierung der Durchlaufzeit: Um eine für die Kunden akzeptable Wartezeit zu gewährleisten, müssen Unternehmen gegebenenfalls ihre Durchlaufzeit senken. Die Durchlaufzeit bezeichnet hier die Zeitspanne zwischen dem Zeitpunkt der Abgabe des Auftrages vom Kunden und der Auslieferung des Fahrzeuges an den Kunden. 3. Sofortige Reaktion auf Events: Eine sofortige Reaktion auf Events beinhaltet eine unverzügliche Erkennung einer Störung in der Versorgungskette sowie die Minimierung der möglichen Konsequenzen dieser Störung, bevor diese die Kundenzufriedenheit oder operationelle Prozesse beeinflusst [Otto03, S.3]. Unter einer Störung wird eine Abweichung zwischen Plan- und Istwerten verstanden. Da diese Störungen in einer Build-to-Order Umgebung aufgrund geringere Beständen schlechter ausgeglichen werden können, ist eine schnelle Erkennung einer Abweichung sowie eine schnelle Reaktion erforderlich. 4. Kapazitätspuffer: Ein Kapazitätspuffer bezeichnet einen zeitlichen oder intensitätsmäßigen Puffer der Produktionskapazität, um einen erhöhtem Nachfragebedarf entsprechen zu können1. Zäpfel weißt auf die Notwendigkeit einer ausreichend zur Verfügung stehenden Kapazität bei einer Build-to-Order-Produktion hin [Zäpf98, S.708]. 5. Lieferterminorientierte Umplanung: Eine lieferteminorientierte Umplanung bedeutet eine restrikionsbasierte, operative Ein- oder Umplanung eines Auftrages nach seinem Liefertermin. Das heißt, dass Fertigungspläne nach dem Liefertermin zu planen sind, wobei Auftragsänderungen bis kurz vor Produktionsbeginn möglich sein sollten. Der KOVP-Ansatz von BMW zielt auf diese maximale Änderungsflexibiltät [BMW05, S.10]. Werksübergreifender Kapazitätsausgleich Werksübergreifender Kapazitätsausgleich ist die unterjährige, außerplanmäßige Verteilung des Produktionsvolumens auf bestehende Standorte eines Unternehmens, die aufgrund einer geänderten Nachfrage erforderlich wird. Diese kurzfristige Umverteilung bei gegebener Kapazität kann in einer Build-to-Order-Produktionsumgebung zu einem höheren Umsatz führen [BiMu05, S.179].
1
Die Diskussion der Reduzierung der Durchlaufzeit in der Automobilindustrie ist geprägt worden vom "3-day-car-project" [Holw03; 3Day04]
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M. Hooites Meursing
Internationalisierung Eine Internationalisierung der Unternehmen in der Automobilindustrie bedeutet eine regionale Ausdehnung der Wertschöpfungsprozesse eines Unternehmens. Die strategischen Vorteile eines globalen Unternehmens können die Nutzung von länderspezifischen Standortvorteilen, Skalenvorteile für die weltweite Planung und Produktion, Diversifikationsvorteile, die Umgehung von Handelshemmnissen, sowie die Präsenz in Zukunftsmärkten sein [Bend85, S.22]. Auch in der Automobilindustrie wird diese Anpassungsstrategie angewendet. So stieg die Zahl der Auslandsstandorte der deutschen Automobilindustrie von 1.122 in 1996 auf 1.958 Standort in 2004 [VDA05, S.14]. Prozessstandardisierung Standardisierung bedeutet eine zweckmäßige Vereinheitlichung von Objekten nach bestimmten Mustern [Rees93, S.3941ff.]. Die Prozessstandardisierung bedeutet somit eine Vereinheitlichung von Prozessen nach bestimmten Mustern, welche unternehmensspezifisch oder unternehmensübergreifend sein können. Clarke identifiziert die Reduzierung der Wertschöpfungstiefe wie auch die vereinfachte Kontrolle über ein weltweit aktives Unternehmen als zwei Hauptgründe für Standardisierungsbemühungen [Clar05, S.205]. Vorserienproduktion Um Probleme im Anlauf eines Produktes zu vermeiden, planen sowohl OEM als auch Zulieferer eine Vorserienphase ein. Eine Vorserienproduktion, oder auch Pilotproduktion, sind somit Pilotserien, ausgeführt in einem Produktionssystem, welches für kommerzielle Benutzung vorgesehen ist und beginnt, wenn das Produkt von der Entwicklungsabteilung an die Produktion übergeben wird [Almg00, S.4589]. Dabei kann die Vorserienproduktion an dem geplanten, endgültigen oder an einem vorübergehenden Standort stattfinden. Änderung der Fertigungstiefe Die Fertigungstiefe bezeichnet das Ausmaß der eigenen Produktionsleistung im Verhältnis zu der insgesamt erforderlichen Wertschöpfung für ein Endprodukt [Adam97, S.187ff.]. In der Automobilindustrie haben die Her-
5.1.2 Anpassungsstrategien in der Automobilindustrie
453
steller in der Vergangenheit die Fertigungstiefe reduziert [VDA03, S.65] und es ist abzusehen, dass diese weiter reduziert werden wird [KlDa04, S.4]. Zulieferer werden in bestimmten Bereichen dahingegen ihre Wertschöpfung ausbauen [VDA05, S.61]. Eine Änderung kann auch eine Erhöhung der Fertigungstiefe beinhalten.
Umfrage zur Anpassungsstrategie Das Ziel der Umfrage war die Verifizierung der vorab identifizierten Anpassungsstrategien. Dazu ist es nicht nur von Interesse ob die Unternehmen die Anpassungsstrategien jetzt verfolgen, sondern auch, ob diese Anpassungsstrategien in fünf Jahren verfolgt werden oder verfolgt werden sollten. Die Umfrage wurde an 574 Personen aus Unternehmen der Automobilindustrie übermittelt, wovon 69 Fragenbogen ausgefüllt zurückgeschickt wurden. Die Rücklaufquote liegt somit bei 12%. Die Verteilung nach Akteur betrug absolut 54 Zulieferer, 5 Hersteller, 5 Logistikdienstleister und 5 sonstige Unternehmen (Beratung oder Softwarehersteller). Die Verteilung der Unternehmen nach Mitarbeiterzahl und Umsatz ist in den Abbildungen 1 und 2 angegeben. 17.0
20
20
16
15
12
12
8
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1
be
0
ga
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7
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ne
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0 01
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10 0 10
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010
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Anzahl Unternehmen
16
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Anzahl Unternehmen
18
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Anzahl Mitarbeiter
Abbildung 1: Anzahl der Mitarbeiter der teilnehmenden Unternehmen
ohne Angabe
Umsatz eines Unternehmens (Mio. €)
Abbildung 2: Umsatz der teilnehmenden Unternehmen
Fragestellungen Zu jedem der vorab erläuterten Anpassungsstrategien wurden folgende, nachfolgend an dem Beispiel der kundenbezogen Produktion gezeigten, Aussagen formuliert und den Personen in dem Unternehmen vorgelegt: • Unser Unternehmen verfolgt die Strategie "Kundenbezogene Produktion".
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M. Hooites Meursing
• Unser Unternehmen sollte in fünf Jahren die Strategie "Kundenbezogene Produktion" verfolgen. • Unser Unternehmen wird in fünf Jahren die Strategie "Kundenbezogene Produktion" verfolgen. Die befragten Personen der Unternehmen konnten die Aussagen mit "ich stimme zu", "ich stimme bedingt zu", "ich stimme nicht zu" und "keine Antwort" beantworten. Die Möglichkeit, nicht erwähnte Anpassungsstrategien in einem freien Feld zu ergänzen, war vorhanden.
Ergebnisse der Umfrage Welche Anpassungsstrategien werden momentan verfolgt? Die am meisten verfolgte AS der befragten der Unternehmen ist die kundenbezogene Produktion (BTO) mit einer Zustimmung von 85,5% (siehe Abbildung 3). Die Anpassungsstrategien „Internationalisierung (INT)“, „Prozessstandardisierung (PROZ)“ und „Vorserienproduktion (VORS)“ erhalten eine Zustimmung von 69,6%, 71% und 76,8%. „Werksübergreifende Kapazitätsabgleich (KAP)“ und „Änderung der Fertigungstiefe (FERTIG)“ erhielten den geringsten Zuspruch mit 39,1% bzw. 47,8%. 100% 90%
60
80% Keine Antwort Ich stimme nicht zu Ich stimme bedingt zu Ich stimme zu
60% 50% 40% 30% 20% 10%
PR O Z VO R S FE R TI G
P
IN T
KA
BT
O
0%
Abbildung 3: Verfolgte Anpassungsstrategien der Unternehmen
50 Anzahl Unternehmen
Prozent
70%
Ich stimme zu
40
Ich stimme bedingt zu Ich stimme nicht zu Keine Antwort
30 20 10 0
Red.Durchlaufzeit
flex. Bandbelegung
Events
Umplanung
Kapazitätspuffer
Abbildung 4: Bestandteile einer kundenbezogenen Produktion
Zusätzlich wurde nach den Bestandteilen der Anpassungsstrategie Kundenbezogene Produktion gefragt (siehe Abbildung 4). Die Zustimmung zur Reduzierung der Durchlaufzeit ist über alle Akteure mit 76,8% hoch, ebenfalls zur flexiblen Bandbelegung mit 55,1%. Die Reaktion auf Events ist vor allem für Zulieferer von Bedeutung, ein Großteil der Hersteller stimmt dem nur bedingt zu. Ebenfalls von größerer Bedeutung für die Zulieferer als für die Hersteller sind die auftragsorientierte Umplanung sowie die Vorhaltung von Kapazitätspuffern.
5.1.2 Anpassungsstrategien in der Automobilindustrie
455
Welche Anpassungsstrategien sollten und werden in fünf Jahren verfolgt werden? Abbildung 5 zeigt die Antworten der befragten Personen auf die Frage, welche Anpassungsstrategien in fünf Jahren verfolgt werden sollten. Das Ergebnis kann nicht als repräsentativ gewertet werden, da für alle Anpassungsstrategien über 40% der Befragten mit „keine Antwort“ geantwortet haben. Von den Befragten, die diese Frage beantworten konnten, erhielten die Anpassungsstrategien „Internationalisierung“ und „kundenbezogene Produktion“ den größten Zuspruch. 100%
100%
90%
90%
80%
80%
40%
50% 40%
BT
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PR O Z VO R S FE R TI G
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Keine Antwort Ich stimme nicht zu Ich stimme bedingt zu Ich stimme zu
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Prozent
70%
Keine Antwort Ich stimme nicht zu Ich stimme bedingt zu Ich stimme zu
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Prozent
70%
Abbildung 5: Anpassungsstrategien, Abbildung 6: Anpassungsstrategien, die in fünf Jahren verfolgt werden die in fünf Jahren verfolgt werden sollten
Abbildung 6 zeigt die Antworten der befragten Personen auf die Frage, welche Anpassungsstrategien in fünf Jahren verfolgt werden. Im Gegensatz zur vorherigen Frage wird hier unabhängig von einer persönlichen Einschätzung, ob die jeweilige Anpassungsstrategie gut ist, nach dem Einsatz der Strategie in fünf Jahren gefragt. Aber auch hier hat ein Großteil der Befragten die Frage mit „keine Antwort“ beantwortet, weshalb auch hier die Ergebnisse nicht repräsentativ sind. Die Einschätzung der übrigen Befragten geht davon aus, dass, abgesehen von Veränderungen der Wertschöpfungstiefe, alle Anpassungsstrategien in fünf Jahren verfolgt werden.
Fazit Vor allem Hersteller und Zulieferer in der Automobilindustrie verfolgen die Anpassungsstrategie „kundenbezogene Produktion“. An zweiter Stelle hat die „Vorserienproduktion“, gefolgt von der „Prozessstandardisierung“ die größte Zustimmung. Die „Vorserienproduktion“ ist vor allem seitens der Hersteller und Zulieferer eine wichtige Anpassungsstrategie, wohingegen die „Prozessstandardisierung“ auch von Logistikdienstleistern hoch
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eingestuft wird. Hauptbestandteil der „kundenbezogene Produktion“ ist die Reduzierung der Durchlaufzeit, gefolgt von einer flexiblen Bandbelegung. Die Frage, welche Anpassungsstrategie in fünf Jahren verfolgt werden sollte, wurde häufig mit „keine Antwort“ beantwortet. Die Auswertung ist deshalb schwierig. Als Ergebnis kann gelten, dass die Anpassungsstrategie „Internationalisierung“ sowohl die größte Zustimmung, als auch die größte Ablehnung, erhält. Die „kundenbezogene Produktion“ und die „Prozessstandardisierung“ erhalten die zweitgrößte Zustimmung. Die Anpassungsstrategie „kundenbezogene Produktion“ findet insgesamt auch die größte Zustimmung in Bezug auf die Frage, welche Anpassungsstrategie in fünf Jahren von den Unternehmen verfolgt werden wird. Die Hersteller stimmen dieser Anpassungsstrategie verglichen mit den anderen Strategien am häufigsten zu. Für die Zulieferer ist die „kundenbezogene Produktion“ die zweitwichtigste Anpassungsstrategie, nach der „Internationalisierung“. Eine Veränderung der Fertigungstiefe ist für Hersteller und Zulieferer nicht so wichtig wie die anderen Anpassungsstrategien und dies, obwohl davon ausgegangen wird, dass die Fertigungstiefe bei Herstellern sinken und bei Zulieferern steigen wird [KlDa04]. Die niedrige Zustimmung zu dieser Anpassungsstrategie kann aber daran liegen, dass sie langfristige Wirkungen hat und somit vorerst nicht direkt als Anpassungsstrategie in Betracht gezogen wird.
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5.2 Maßnahmen und Reaktionen
Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun. Johann Wolfgang v. Goethe
5.2.1 Mittelfristige Kapazitätsplanung eines Zulieferers in der Automobilindustrie – Anforderungen an ein Anwendungssystem
M. Petri, M. Hooites Meursing
Motivation und Forschungsfrage Hersteller in der Automobilindustrie geben ihre mittelfristigen Bedarfe der Komponenten an ihre Zulieferer. Beispielhaft ist hier das Projekt „eCap“ der Audi AG erwähnt [Hero05, S.39]. Die übermittelten Bedarfe der Hersteller haben einen Zeitraum von 3 bis 12 Monaten. Hersteller verlangen von Ihren Zulieferern hierauf eine Meldung, ob die geforderten Stückzahlen in der jeweiligen Periode geliefert werden können. Der Grund hierfür ist eine Erhöhung der Abhängigkeit ihrer Produktion von den 1st Tier Zulieferern aufgrund von einer Verlagerung der Wertschöpfung auf die Zulieferer [VDA02, S.58], eine Verringerung der Bestände [ChFr05, S.1025], eine erhöhte Gefahr von Schwankungen in der Produktion durch die Buildto-Order-Strategie [Wall04, S.12] sowie eine mögliche Verstärkung der Schwankungen wegen einer verringerten Prognosegenauigkeit für einzelne Fahrzeugmodelle [Pisz05, S.3]. Für 1st Tier Zulieferer hat diese Forderung große Auswirkungen. Erstens ist ihre Produktion größeren Schwankungen ausgesetzt, zweitens muss die mittelfristige Planung häufiger durchgeführt werden und drittens müssen 1st Tier Zulieferer Transparenz über die Kapazität ihrer Zulieferer haben, um eine genaue Rückmeldung machen zu können. Um diese Anforderungen umsetzen zu können, muss die mittelfristige Aufgabe eines Anwendungssystems (AwS) unterstützt werden. Dieser Beitrag hat deshalb das Ziel, folgende Fragestellung zu beantworten: Welche funktionale Anforderungen an ein Anwendungssystem (AwS) resultieren aus dem Prozess der mittelfristigen Kapazitätsplanung eines 1st Tier Zulieferers der Automobilindustrie?
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M. Petri, M. Hooites Meursing
Ergebnis soll ein Katalog der funktionalen Anforderungen an die mittelfristige Kapazitätsplanung eines 1st Tier Zulieferers sein. Die Frage wird anhand eines Fallbeispiels eines großen 1st Tier Automobilzulieferers, der Continental Temic microelectronic GmbH (Continental Temic), beantwortet. Die dargestellten Ergebnisse erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sondern sind als unternehmensindividuell zu betrachten. Zuerst wird der aktuelle Stand der Forschung dargestellt, wonach anschließend wesentliche Begriffe erklärt werden. Im nächsten Abschnitt wird die Ausgangssituation bei Continental Temic beschrieben. Hieraus wird abgeleitet, welche Ziele der Prozess erfüllen sollte. Ein Sollprozess wird erstellt, welcher in Zusammenarbeit mit Continental Temic und mittels Gestaltungsprinzipien erarbeitet wurde. Anschließend werden zur Beantwortung der Forschungsfrage die aus diesem Prozess resultierenden funktionalen Anforderungen an ein AwS abgeleitet.
Aktueller Stand der Forschung Die Organisation Odette beschreibt in ihrer Empfehlung für die Automobilindustrie „Demand Capacity Planning“ – das Verfahren zur Abstimmung der vorhandenen Kapazitäten – lediglich zwischen einem Hersteller und seinen Lieferanten [Odet04]. Außerdem wird der Prozess nur für den Fall beschrieben, dass die Kapazität des ersten Zulieferers nicht ausreicht und Maßnahmen zur Kapazitätsabstimmung getroffen werden sollen. Scheer beschreibt ein Referenzmodell der Kapazitätsplanung ohne Bezug zur Automobilindustrie und ohne unternehmensübergreifende Kapazitätsabstimmung [Sche97, S.266]. Anforderungen an ein AwS werden hierin nicht abgeleitet. Somit fehlt ein individueller Katalog an Anforderungen an ein AwS für das beschriebene Problem.
Begriffliche Abgrenzung Der Begriff „Kapazitätsplanung“ setzt sich aus den Begriffen „Kapazität“ und „Planung“ zusammen. Kapazität bedeutet ein Leistungsvermögen einer wirtschaftlichen oder technischen Einheit beliebiger Art, Größe und Struktur in einem Zeitabschnitt [Kern62, S.27]. Unter Planung wird eine geistige Vorwegnahme zukünftiger Handlungsalternativen, deren Bewertung anhand zu verfolgender Zielsetzungen und die entsprechende Auswahl einer oder mehrerer zu realisierenden Alternativen verstanden [DoSc97, S.1]. Eine Zusammenführung beider Definitionen könnte eine
5.2.1 Mittelfristige Kapazitätsplanung eines Zulieferers
463
Definition des Begriffes „Kapazitätsplanung“ ergeben. In der Literatur aber wird der Begriff „Kapazitätsplanung“ unterschiedlich für die lang-, mittel- und kurzfristige Kapazitätsplanung definiert (vgl. [Mieg03; HaDi73, S.19; Zäpf01, S.168]). Je nachdem, welcher Planungshorizont gemeint ist, kann der Inhalt der Planung und somit die Definition des Begriffes unterschiedlich ausfallen. Die mittelfristige Kapazitätsplanung bezeichnet hier die Einplanung von Kapazitätsnachfrage und -angebot sowie die unternehmensinterne und -externe Kapazitätsabstimmung über einen mittelfristigen Zeitraum. Der Detaillierungsgrad der Planungsperioden hängt von der zu beplanenden Periode ab. Perioden, die relativ nahe am Gegenwartszeitpunkt liegen, können auf Wochenbasis geplant werden. Liegt die Planungsperiode von der Gegenwart weiter entfernt, wird üblicherweise auf Monatsbasis geplant [HaDi73, S.19].
Ausgangssituation bei Continental Temic Die Continental Temic microelectronic GmbH ist ein 1st und 2nd Tier Automobilzulieferer für Elektronikkomponenten mit Produktionsstandorte in mehreren Ländern. Sie produziert in einem Assemble-to-Order (AtO) System, was bedeutet, dass Komponenten oder Module auf Lager gehalten werden, das Endprodukt aber erst gefertigt wird, nachdem der Kundenauftrag eingegangen ist1. An mehreren Standorten können mehrere Produkte, aber nicht jedes Produkt kann an jedem Standort hergestellt werden. Die Fertigungsanlagen sind meistens zur Herstellung nur eines oder Varianten eines bestimmten Produktes ausgelegt2. Teilweise bestimmen die Kunden, z. B. Toyota, an welchen Standorten ihre Komponenten hergestellt werden müssen. Die beschriebene Kapazitätsplanung würde seitens Continental Temic vorrangig für A-Teile eingesetzt werden. A-Teile sind Kauf- oder Rohteile mit einem hohen Einkaufswert. Zur Umsetzung der Anforderung der Hersteller nach einer Verfügbarkeitsaussage der Kapazität sind folgende unternehmensspezifische Situationen zu berücksichtigen: Kommunikation mit den Kunden: Continental Temic hat unterschiedliche Kunden (in diesem Fall hauptsächlich Hersteller), die Ihre Bedarfe elektronisch über den VDA-Abruf 4913 [VDA96] übermitteln. Die Rückmeldung von Continental Temic hat auf einer kundenspezifischen Platt1
2
Vgl. zu den verschiedenen Auftragsabwicklungsstrategien und zur Position des „Decoupling Point“ [HoRo92, S.7; Olha03, S.320] Vgl. zu dieser Art der Fertigungsanlage in der Automobilindustrie [ElHu04, S.203ff.]
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M. Petri, M. Hooites Meursing
form zu erfolgen. Somit muss Continental Temic für die Rückmeldung unterschiedliche Plattformen der Hersteller bedienen, was im Moment manuell passiert. Die Bearbeitung dieser Meldungen erfordert somit einen hohen Aufwand und stellt ein technisches Problem dar. Genauigkeit der Bedarfsdaten: Die Genauigkeit der vom Kunden gemeldeten Bedarfsdaten nimmt ab, umso weiter die Bedarfe in der Zukunft liegen. Die Aussagefähigkeit der Bedarfsdaten für die mittelfristige Kapazitätsplanung bei Continental Temic verringert sich somit. Soll aber Kapazität aufgebaut werden, kann die Umsetzung der Maßnahmen in der mittelfristigen Kapazitätsplanung bis zu 1,5 Jahre dauern (z. B. Aufbau neuer Werke), weshalb die Genauigkeit der Planung erhöht werden sollte. Transparenz Kapazität Zulieferer: Continental Temic bezieht für seine Produktion Teile bei 2nd Tier Zulieferern. Um eine verlässliche StückzahlMeldung an den Kunden abgeben zu können, sollte die Continental Temic GmbH über Daten der für sie verfügbaren Kapazität der 2nd Tier Zulieferer für die jeweilige Periode verfügen. Momentan wird diese Information manuell aus den bestehenden Lieferverträgen genommen. Eine Aussage über den aktuellen Stand der verfügbaren Kapazität bei dem jeweiligen Zulieferer ist nicht vorhanden. Interner Zeitaufwand der Planung: Der interne Prozess der Kapazitätsplanung mehrerer Werke ist momentan mit manuellem Aufwand verbunden, indem Daten aus dem Business Warehouse manuell in Excel importiert und anschließend bearbeitet werden. Die manuelle Bearbeitung des Planungsprozesses verbraucht pro Monat ca. 3 Manntage. Beschaffungslieferzeiten: Die Lieferzeiten für Elektronikkomponenten können bis zu einem Jahr betragen. Continental Temic hat somit keine Möglichkeit, kurzfristig Komponenten zu bestellen. Es sind daher für einen Zeitraum Komponenten bestellen, für den noch nicht bekannt ist, wie groß der Bedarf sein wird. Die Bedeutung der Genauigkeit der Prognose der Bedarfsdaten steigt somit. Marktsituation: Die Marktmacht von Continental Temic auf dem Beschaffungsmarkt für Elektronikbauteile ist gering. Das Volumen für die Automobilindustrie im Verhältnis zur Konsumentenelektronika- und Telekommunikationsindustrie wird auf 5% zu 95% des Marktvolumens (gemessen in Stück) geschätzt. Zusätzlich ist dieser Markt von großen Unternehmen dominiert (z. B. Texas Instruments).
5.2.1 Mittelfristige Kapazitätsplanung eines Zulieferers
465
Prozessziele der mittelfristigen Kapazitätsplanung für Continental Temic Die genannten Probleme müssen in Ziele umformuliert werden [SpSc05, S.185]. Folgende zwei Ziele sind für Continental Temic maßgeblich: Verringerung des Zeitaufwands des Planungsprozesses: Eine Verringerung des Zeitaufwands leitet sich aus dem internen Zeitaufwand der Planung und Kommunikation mit den Kunden ab. Die Dauer des Prozesses vom Eingang der Bedarfsdaten bis zur Rückmeldung an den Kunden ist heute zu lang. Auch die manuelle Bearbeitung der Rückmeldung an den Kunden verursacht einen großen Zeitaufwand. Erhöhung der Zuverlässigkeit der Planung und Gewährleistung einer raschen Rückmeldung an die Kunden: Aus der Genauigkeit der Bedarfsdaten, der Transparenz der Kapazität der Zulieferer und der Beschaffungslieferzeiten leitet sich das Ziel der Erhöhung der Zuverlässigkeit der eigenen Planung und somit auch der Rückmeldung von Continental Temic an seine Kunden ab. Die Beschaffungslieferzeiten bestimmter Teile können aufgrund der schwachen Marktsituation zwar nicht von Continental Temic beeinflusst werden, sind aber wesentliche Grundlage der Planung, weshalb eine Zuverlässigkeitserhöhung notwendig ist. Um die Bestellmenge richtig ermitteln zu können, sind genaue Bedarfsdaten erforderlich. Transparenz über die Kapazität der Zulieferer erhöht die Zuverlässigkeit der Planung, indem die Unwissenheit über das Risiko, dass ein Zulieferer in einer Periode keine Kapazität zur Verfügung hätte, verringert werden kann.
Gestaltungsprinzipien Um einen Sollprozess zu modellieren, kann auf Gestaltungsprinzipien zurückgegriffen werden. Gestaltungsprinzipien sind Leitlinien, die die Konstruktion eines Sollprozesses begleiten. Die Idee ist dass, wenn diese Gestaltungsprinzipien eingehalten werden, der zu konstruierende Prozess ein „guter“ Prozess sein wird. Diese müssen aber nicht für alle Ziele und für alle Sichten gelten. Sichten repräsentieren einen Blickwinkel auf den Prozess oder Zustand3.
3
Weitere Sichten sind in [Sche98, S.36] oder [SpSc05, S.173ff.] vorhanden.
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M. Petri, M. Hooites Meursing
Tabelle 1: Gestaltungsprinzipien für die Prozesssicht
Die Ziele der Prozessgestaltung können in die Kategorien Zeit, Kosten und Qualität unterteilt werden [ScVr94, S.103]. Die beiden von Continental Temic genannten Ziele sind somit in die Kategorien Zeit und Qualität einzuordnen. Welche Gestaltungsprinzipien für die Prozesssicht sind in der Literatur für diese Ziele vorhanden? Tabelle 1 zeigt einen Überblick über vorhandene Gestaltungsprinzipien für die Prozesssicht – eingeordnet nach den Zielen, die mit diesen Prinzipien erreicht werden können. Otto und Kotzab leiten aus der Literatur Prinzipien zur Gestaltung einer Supply Chain ab (SCM-Prinzipien) und wenden diese beispielhaft auf einen Prozess an [Ot-
5.2.1 Mittelfristige Kapazitätsplanung eines Zulieferers
467
Ko01, S.163]. Anschließend werden die SCM-Prinzipien verdichtet und allgemein beschrieben. Schwegmann und Laske erarbeiten Merkmale, die zur Operationalisierung von Zielen dienen und somit als Gestaltungsprinzipien zu interpretieren sind [ScLa05, S.173]. Speck und Schnetgöke erläutern „heuristische Grundprinzipien“ aus der Praxis, die sich bei der Modellierung von Sollprozessen bewährt haben sollen [SpSc05, S.204]. Voigt und Loewe stellen prozessbezogene Lösungsansätze (Weglassen, Auslagern, Zusammenfassen, Parallelisieren, Verlagern und Beschleunigen) zur Durchlaufzeitverkürzung vor [Blei91, S.196]. Krcmar unterscheidet vier Gestaltungsalternativen (Sequenzielle Reihung, Parallelisierung, Verzweigung und Wiederholungen) für die Modellierung von Prozessen [Krcm05, S.124]. Hammer und Champy beschreiben Merkmale der Prozesse, die im Rahmen von Implementierungen des Konzeptes „Business Process Reengineering“ (BPR) beobachtbar sind (wie z. B. „Zusammenfassung von Aufgaben“ oder „Mitarbeiter fällen Entscheidungen“) und somit als Gestaltungsprinzipien aufgefasst werden können [HaCh94, S.71ff.].
Soll-Prozess der mittelfristigen Kapazitätsplanung bei Continental Temic Abbildung 1 verdeutlicht den Sollprozess der mittelfristigen Kapazitätsplanung bei Continental Temic. Dieser Prozess ist in Gesprächen mit der Zentrale Logistik von Continental Temic unter Berücksichtigung der genannten Gestaltungsprinzipien entstanden. Er zeigt auf einem hohen Abstraktionsniveau, an welcher Stelle welcher Prozessschritt zu vollziehen ist, um die in beschriebenen Problemfelder zu lösen. Nachfolgend werden die einzelnen Funktionen des in Abbildung 1 dargestellten Prozesses beschrieben, wobei die Annahme getroffen ist, dass das Produkt für das die Kapazitätsplanung durchgeführt werden soll, bereits ausgewählt wurde. Empfang Stückzahl Kunde: Die Bedarfsmeldung des Kunden wird in der IT in Frankfurt empfangen. Der Bedarf wird über den Standardabruf gemäß VDA übertragen [VDA96]. Evaluierung Stückzahl: Der Disponent kann den vom Kunden gemeldeten Bedarf nach Erfahrung abändern. Liegt dieser abgeänderte Bedarf außerhalb des Budgets und somit oberhalb des Kapazitätsangebots der jeweiligen Periode, wird die Zuteilung von Kapazitätsbedarf und -angebot neu vorgenommen.
468
M. Petri, M. Hooites Meursing
Änderung in Kapazität der Produktion aufgetreten
Stückzahlen empfangen
Produktnr./Liefertermin/ Lieferort/Stk.Zahl (VDA 4913)
SAP
Übernahme Stückzahlen Kunde
IT Frankfurt
Zentrale Logistik
periodische Planung Verkauf (CDP) (Stk./Monat/Werk)
Kapazitätsangebot ermittelt
Stückzahlen übernommen
Evaluierung Stückzahl
Ermittlung Kapazitätsangebot
Planung abgeschlossen
Logistikplaner ZL
Analyse Kapazitätsbedarf zum Kapazitätsangebot (CPV)
Stückzahl ist nicht plausibel
Stückzahl ist plausibel
Kapazitätsenpaß nicht vorhanden
Kapazitätsangpaß vorhanden
Interne Kapazitätabstim mung
Zentrale Logistik
Kapa.-Engpaß gelöst mit Überschreitung der Kapazität der 2nd-Tiers
Unternehmensübergreifende Kapazitätsplanung
Kapazitätsengpaß gelöst
Kapazitätsengpaß nicht gelöst
Kapa.-Engpaß gelöst ohne Überschreitung der Kapazität der 2nd-Tiers
Kapa.-Engpaß nicht gelöst
Zentrale Logistik Zentrale Logistik 2nd-Tier
Erstellung Meldung Kunden
Meldung an Kunden erstellt
Übermitteln Meldung
Meldung übermittelt
Abbildung 1: Sollprozess der mittelfristigen Kapazitätsplanung
Zentrale Logistik
Vertrieb/ Logistik /Projektmanagement
5.2.1 Mittelfristige Kapazitätsplanung eines Zulieferers
469
Ermittlung Kapazitätsangebot: Das vorhandene Kapazitätsangebot wird ermittelt. Dieses schwankt aufgrund von Feiertagen und der Anzahl der Arbeitstage pro Monat und wird in Stück pro Periode dargestellt [Laye79, S.874ff.]. Dazu werden die realisierbare Kapazität pro Werk ermittelt, Stückzahlen empfangen und über alle Werke kummulativ über den Planungszeitraum addiert. Periodische Planung Verkauf: Der Vertrieb überprüft seine Absatzplanung periodisch. Weichen die neuen Absatzzahlen von den vorherigen ab, wird die mittelfristige Kapazitätsplanung angestoßen. Interne Kapazitätsabstimmung: Bei einer Zuteilung, bei der die Kapazitätsnachfrage das Kapazitätsangebot übersteigt, findet zuerst eine interne Kapazitätsabstimmung statt. Maßnahmen können hier eine zusätzliche Produktion in einem anderen Werk oder Sonntagsarbeit sein (vgl. zu Kapazitätsabstimmungsmaßnahmen [Zäpf01, S.192; HaDi73, S.19]). Sollte eine interne Lösung möglich sein, bei der allerdings die Kapazität des 2nd Tier Zulieferers überschritten wird, wird diese zuerst akzeptiert. Somit ist in diesem Prozessschritt Transparenz über die zur Verfügung stehende Kapazität des 2nd Tier Zulieferers notwendig. Unternehmensübergreifende Kapazitätsabstimmung: Die benötigte Kapazität der Periode beim 2nd Tier Zulieferer wird gebucht. Dieser muss die Buchung bestätigen. Erstellung Meldung Kunden: Nachdem die Zuteilung, die interne Kapazitätsabstimmung oder die unternehmensübergreifende Kapazitätsabstimmung durchgeführt worden sind, wird eine Rückmeldung an den Kunden erstellt. Übermitteln Meldung: Die erstellte Rückmeldung wird nach einer Prüfung für den Kunden auf der entsprechenden Plattform verarbeitet.
Anforderungen an ein Anwendungssystem In diesem Abschnitt werden die Anforderungen an ein Anwendungssystem zur Umsetzung der mittelfristigen Kapazitätsplanung anhand des dargestellten Prozesses formuliert. Eine Anforderung ist eine Aussage über eine zu erfüllende qualitative und/oder quantitative Eigenschaft eines Produktes [Balz00, S.118]. Die Methode einer Ableitung von Anforderungen an ein
470
M. Petri, M. Hooites Meursing
Anwendungssystem anhand eines Prozessmodells entspricht dem gängigen Vorgehen in der Literatur [Scha05, S.279ff.; FeSi01, S.179ff.]. Dabei wird pro Prozessschritt ermittelt, ob der Vorgang (teil-)automatisiert werden kann [FeSi01, S.200]. Die so ermittelten Anforderungen sind funktionale Anforderungen. Diese sind Aktionen, welche das Zielprodukt, hier das Anwendungssystem, ausführen können soll [Scha05, S.277]. Nicht-funktionale Anforderungen werden in diesem Beitrag nicht bearbeitet.
Tabelle 2: Funktionale Anforderungen an ein AwS der mittelfristigen Kapazitätsplanung
5.2.1 Mittelfristige Kapazitätsplanung eines Zulieferers
471
Tabelle 2 zeigt die ermittelten funktionalen Anforderungen an die mittelfristigen Kapazitätsplanung. Die Rangfolge in der Tabelle richtet sich nach der Rangfolge der Beschreibung der einzelnen Prozessschritte. Pro Prozessschritt wird definiert, in welchem Umfang die Aufgabe automatisiert erfolgen kann oder sollte. Eine Aufgabe ist dann automatisierbar, wenn diese mittels eines Verfahrens, das in einem bestehenden oder zu konstruierenden Anwendungssystem implementiert werden könnte, durchgeführt werden kann [FeSi01, S.200].
Fazit Funktionale Anforderungen wurden aus dem erstellten Prozessmodell abgeleitet. Da der Prozess auf einem hohen Aggregationsniveau gestaltet wurde, sollte dieser in einer tiefer gehenden Analyse verfeinert werden. Eine Umsetzung in einem Anwendungssystem könnte aber aufgrund einer geringen Bereitschaft der 2nd Tier Zulieferer, Continental Temic die aktuelle Kapazität mitzuteilen, schwierig sein. Es ist aber davon auszugehen, dass ein 2nd Tier Zulieferer diese Information bereitstellen kann.
Literatur [Balz00] [Blei91] [ChFr05] [DoSc97] [ElHu04] [FeSi01] [HaDi73] [HaCh94] [Hero05]
Balzert, H.: Lehrbuch der Software-Technik. 2. Aufl., Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 2000. Bleicher, K.: Organisation. 2. Aufl., Gabler, Wiesbaden 1991. Chen, H.; Frank, M. Z.; Wu, O. Q.: What actually happened to the inventories of American companies between 1981 und 2000? In: Management Science, 51 (2005) 7, S.1015-1031. Domschke, W.; Scholl, A.; Voß, S.: Produktionsplanung. 2. Aufl., Springer, Berlin, 1997. Elkins, D. A.; Huang, N.; Alden, J. M.: Agile manufacturing systems in the automotive industry. In: International Journal of Production Economics, 91 (2004) 3, S.201-214. Ferstl, O. K.; Sinz, E. J.: Grundlagen der Wirtschaftsinformatik. Bd. 1, 4. Aufl., Oldenbourg, München, 2001. Hackstein, R.; Dienstdorf, B.: Grundfragen der Kapazitätsplanung. In: Zeitschrift für wirtschaftliche Fertigung, 68 (1973) 1, S.18-25. Hammer, M.; Champy, J.: Business Reengineering. Campus, Frankfurt 1994. Herold, L.: Kundenorientierte Prozesssteuerung in der Automobilindustrie. DUV, Wiesbaden, 2005.
472
M. Petri, M. Hooites Meursing
[HoRo92] [Kern62] [Krcm05] [KuKa97] [Laye79] [Mieg03] [Odet04] [Olha03] [OtKo01] [Pisz05]
[Scha05] [Sche97] [Sche98] [ScLa05] [ScVr94]
[SpSc05] [VDA96]
Hoekstra, S.; Romme, J.: Integral Logistic Structures. Industrial Press, New York, 1992. Kern, W.: Die Messung industrieller Fertigungskapazitäten und ihrer Ausnutzung. Westdeutscher Verlag, Köln Opladen, 1962. Krcmar, H.: Informationsmanagement. 4. Aufl., Springer, Berlin, 2005. Kueng, P.; Kawalek, P.: Goal-based business process models: creation and evaluation. In: Business Process Management, 3 (1997) 1, S.17-38. Layer, M.: Kapazität: Begriff, Arten und Messung. In: Kern, W. (Hrsg.): Handwörterbuch der Produktionswirtschaft. Poeschel, Stuttgart, 1979, S.874-882. van Mieghem, J. A.: Capacity management, investment, and hedging: review and recent developments. In: Manufacturing & Service Operations Management, 5 (2003) 4, S.269-302. Odette: Demand Capacity Planning, Version 1.1. http:// www.odette.org/ html/pub_current.htm, Abruf am 06.05.2006. Olhager, J.: Strategic positioning of the order decoupling point. In: International Journal of Production Economics, 85 (2003), S.319-329. Otto, A.; Kotzab, H.: Der Beitrag des Supply Chain Management zum Management von Supply Chains. In: ZfbF 53 (2001), S.157-176. Piszczalski, M.: „Flexibility Envelope” is key focus in automotive manufacturing. http://www.gartner.com/DisplayDocument? ref=g_search&id=483164, Studie Gartner G2, Abruf 06.09.2006. Schach, S. R.: Object-oriented and Classical Software Engineering. McGraw-Hill, Boston (USA), 2005. Scheer, A.-W.: Wirtschaftsinformatik – Referenzmodelle für industrielle Geschäftsprozesse. 7. Aufl., Springer, Berlin, 1997. Scheer, A.-W.: ARIS - vom Geschäftsprozess zum Anwendungssystem. 3. Aufl., Springer, Berlin, 1998. Schwegmann, A.; Laske, M.: Istmodellierung und Istanalyse. In: Becker, J.; Kugeler, M.; Rosemann, M. (Hrsg.): Prozessmanagement. 5. Aufl., Springer, Berlin, 2005, S.155-184. Scholz, R.; Vrohlings, A.: Prozess-Redesign und kontinuierliche Prozessverbesserung. In: Gaintanides, M.; Scholz, R.; Vrohlings, A.; Raster, M. (Hrsg.): Prozessmanagement. Carl Hanser, München, 1994, S.99-122. Speck, M.; Schnetgöke, N.: Sollmodellierung und Prozessoptimierung. In: Becker, J.; Kugeler, M.; Rosemann, M. (Hrsg.): Prozessmanagement. 5. Aufl., Springer, Berlin, 2005, S.185-220. VDA: Empfehlung 4913 – Datenfernübertragung von Lieferschein- und Transportdaten. http://www.vda.de/de/service/ bestellung/downloads/4913.pdf, Abruf 26.09.2006.
5.2.1 Mittelfristige Kapazitätsplanung eines Zulieferers [VDA02] [Wall04] [Weel05] [Zäpf01]
473
VDA: Jahresbericht 2002. http://www.vda.de/de/service/ jahresbericht/files/vda_2002.pdf, Abruf 06.09.2006. Waller, B.: Market responsive manufacturing for the automotive supply chain. In: Journal of Manufacturing Technology Management, 15 (2004) 1, S.10-19. van Weele, A. J.: Purchasing & Supply Chain Management. 4. Aufl., Thomson Learning, London, 2005. Zäpfel, G.: Grundzüge des Produktions- und Logistikmanagements. 2. Aufl., Oldenbourg, 2001.
5.2.2 Eine Anwendungsarchitektur für die mittelfristige Kapazitätsplanung in der Automobilindustrie
M. Hooites Meursing, F. Müller
Einleitung Im Rahmen des Forschungsverbundes ForLog untersucht das Teilprojekt SysLog die Anwendungsarchitektur. Eine Anwendungsarchitektur ist ein Strukturmodell eines Informationssystems, das betriebliche Anforderungen (Aufgaben) sowie Anwendungssoftwaresysteme beinhaltet, die erstere realisieren. Die Anwendungsarchitektur ist entscheidend für die Anpassungsfähigkeit eines Unternehmens sowie das Wertschöpfungsnetzwerk, in dem sich das Unternehmen befindet. Ist das Unternehmen aufgrund seiner Anwendungsarchitektur nicht in der Lage, sich an Situationen anzupassen, ist auch die Supra-Adaptivität des Wertschöpfungsnetzwerkes beeinträchtigt. In der Automobilindustrie werden Anpassungsstrategien verfolgt, um auf Anpassungssituationen zu reagieren1. Ziel dieses Beitrags ist die situative Empfehlung einer Anwendungsarchitektur für die Anpassungsstrategie „Mittelfristige Kapazitätsplanung“. Diese Anpassungsstrategie wird vor allem von 1st Tier Zulieferern verfolgt. Die zentrale Frage des Artikels lautet deshalb: Welche Anwendungsarchitektur sollte für die mittelfristige Kapazitätsplanung eines 1st Tier Zulieferers verwendet werden? Ergebnis ist somit die Empfehlung einer spezifischen Anwendungsarchitektur sowie einer Anwendungsarchitekturklasse zur Realisierung dieser für die mittelfristige Kapazitätsplanung eines 1st Tier Zulieferers.
1
Vgl. zu Anpassungsstrategien Kapitel 5.1.2
476
M. Hooites Meursing, F. Müller
Vorgehensweise Abbildung 1 zeigt das situative Vorgehen zur Ermittlung einer Anwendungsarchitektur. Zur Bestimmung einer spezifischen Anwendungsarchitektur und der Realisierung der mittelfristigen Kapazitätsplanung mit einer Architekturklasse wird dieses Vorgehen angewandt. Nachfolgend werden die einzelnen Schritte kurz erläutert.
Abbildung 1: Vorgehensweise zur Ermittlung einer Anwendungsarchitektur
Um die Frage zu beantworten, woran Unternehmen in der Automobilindustrie sich anpassen müssen, wurde ein Katalog mit Anpassungssituationen erstellt [GüBo05]. Mittels Umfragen und Interviews wurde ermittelt, mit welchen Anpassungsstrategien Unternehmen in der Automobilindustrie auf diese Anpassungssituationen reagieren2. Um die Anpassungsstrategien zu verdichten, wurden Workshops mit Unternehmen aus der Automobilindustrie durchgeführt. Als Ergebnis wurden detaillierte Prozesse der wichtigsten Anpassungsstrategien entwickelt. Die funktionalen Anforderungen an ein Anwendungssystem werden anhand dieser Prozesse abgeleitet3. Um eine Anwendungsarchitektur bewerten zu können, wird die Beurteilungssystematik von Müller angewandt [Müll07, S.93]. Die Beurteilung verwendet die aus dem Software Engineering bekannten Metriken Kohäsion und Kopplung und überträgt diese auf die Anwendungsarchitektur4. Damit kann sowohl eine spezifische Architektur als auch eine Anwendungsarchitekturklasse beurteilt werden. In einem weiteren Schritt sind 2 3 4
Vgl. Kapitel 5.1.2 Vgl. Kapitel 5.2.1 Vgl. Kapitel 2.4.3
5.2.2 Eine Anwendungsarchitektur für die mittelfristige Kapazitätsplanung
477
spezifische Anwendungsarchitekturen beschrieben5. Anwendungsarchitekturklassen können als Gestaltungsziel einer Anwendungsarchitektur gesehen werden. In der Praxis wird sich eine Klasse aufgrund von unternehmensspezifischen Gegebenheiten kaum realisieren lassen. Es kann aber eine spezifische Anwendungsarchitektur pro Anpassungsstrategie gebildet werden. Diese Anwendungsarchitektur wird mittels eines Verfahrens aus dem Business Systems Planning gebildet [Lee99], um dann mittels der Beurteilungskriterien auf ihre Ähnlichkeit mit einer Anwendungsarchitekturklasse verglichen werden zu können. Im Ergebnis werden situative Normstrategien für die Gestaltung einer Anwendungsarchitektur gebildet. Im nächsten Abschnitt wird die Problematik der mittelfristigen Kapazitätsplanung eines 1st Tier Zulieferers in der Automobilindustrie kurz erläutert. Die entwickelten Anforderungen an ein Anwendungssystem werden um die zu verwendeten Daten ergänzt.
Anforderungen aus der mittelfristigen Kapazitätsplanung Hersteller in der Automobilindustrie geben ihre mittelfristigen Bedarfe an Komponenten an ihre Zulieferer weiter. Beispielhaft sei hier das Projekt „eCap“ der Audi AG erwähnt [Hero05, S.39]. Die OEM6 verlangen von ihren Zulieferern hierauf eine Meldung, ob die geforderten Stückzahlen in der jeweiligen Periode geliefert werden können7. Die Folgen für die 1st Tier Zulieferer sind, dass die mittelfristige Kapazitätsplanung erstens schwieriger wird und zweitens häufiger durchgeführt werden muss. Daher wollen die 1st Tier Zulieferer ihre mittelfristige Kapazitätsplanung weitestgehend automatisieren und unternehmensübergreifend gestalten. Ein Anwendungssystem soll deshalb diese Aufgaben übernehmen können. Die detaillierten Anforderungen, die ein Anwendungssystem für die mittelfristige Kapazitätsplanung erfüllen soll, sind in Tabelle 1 formuliert.
5 6 7
Vgl. Kapitel 2.3.2 Original Equipment Manufacturer Für eine detaillierte Beschreibung der Problematik siehe Kapitel 5.2.1
478
M. Hooites Meursing, F. Müller
Tabelle 1: Prozessschritte, funktionale Anforderungen und Daten der mittelfristigen Kapazitätsplanung
Die in den Prozessschritten verwendeten oder erstellten Daten sind in der letzten Spalte aufgelistet. Diese werden in der Ermittlung einer Anwendungsarchitektur verwendet.
5.2.2 Eine Anwendungsarchitektur für die mittelfristige Kapazitätsplanung
479
Bildung einer spezifischen Anwendungsarchitektur Für die Bildung einer spezifischen Anwendungsarchitektur gelangt ein Verfahren aus dem Business Systems Planning (BSP) [IBM84] zum Einsatz. Die in Tabelle 2 aufgeführten Daten wurden hierfür zu Dokumenten zusammengefasst, die mit den beschriebenen Prozessschritten eine Matrix bilden:
Kapazitätsmeldung
Kapazität Zulieferer
Produktionszuteilung
R
W R
4. Periodische Planung Verkauf
R
R
5. Zuteilung Produktionsvolumen
R
R
6. Interne Kapazitätsabstimmung
R
W R
R
W
7. U.-übergreifende Kapazitätsabstimmung 8. Erstellung Meldung Kunden
W
Progn. Bedarf Kunde (Budget)
R
Stückliste
historischer Bedarf
W
Kapazitätsangebot
Bedarf evaluiert
Prozessschritt 1. Empfang Stückzahl Kunde 2. Evaluierung Stückzahl 3. Ermittlung Kapazitätsangebot
Bedarf Kunde
Daten
R R
9. Übermitteln Meldung Kunden
R W
R
R
W R
W R
Tabelle 2: Abhängigkeiten zwischen Prozessschritten und Daten
Aufbauend auf einen BSP-Algorithmus [Lee99] wurden Cluster aus Prozessschritten gebildet, die sich durch eine hohe Kohäsion auszeichnen.
480
M. Hooites Meursing, F. Müller
Andere Prozessschritte blieben dabei unberücksichtigt. Es wurden vier Cluster gebildet ( λ =0,5, R=0,5, W=1): Cluster 1: Prozessschritt 1, Cluster 2: Prozessschritte 2, 3, 4, 5, 6 und 7, Cluster 3: Prozessschritt 8, Cluster 4: Prozessschritt 9. Es ist erkennbar, dass die eigentlichen Planungsschritte zusammengefasst, Kommunikations-Prozessschritte an der Schnittstelle zum Kunden jedoch isoliert bleiben.
Korrespondierende Anwendungsarchitektur Die ermittelte Anwendungsarchitektur stellt keine Anwendungsarchitekturklasse in Idealform dar8. Dennoch wird hier die Frage gestellt, mit welcher Architekturklasse eine Lösung umzusetzen wäre. Nachfolgend werden dazu ein Änderungsprofil sowie eine Beurteilung der Anwendungsarchitekturklassen durchgeführt. Erstellung eines Änderungsprofils Die Umsetzung dieses Prozesses bei einem 1st Tier Zulieferer hat Auswirkungen auf die Informationsverarbeitungsbedarfe in diesem Unternehmen. Zur Beurteilung, welche Anwendungsarchitektur zur Umsetzung geeignet wäre, werden Änderungsprofile aufgestellt9. Dazu werden Änderungen in den Kategorien Funktionen und Datenstrukturen betrachtet. Tabelle 3 stellt die Auswirkungen der einzelnen Prozessschritte dar. Der Prozessschritt Empfang Stückzahl Kunden stellt, verglichen mit der jetzigen Durchführung der mittelfristigen Kapazitätsplanung, keine neuen Anforderungen an die Funktionalität. Auch die Daten der Übertragung bleiben gleich. Der Prozessschritt Evaluierung Stückzahlen ist mit funktionalen Änderungen verbunden, da neuere Prognoseverfahren eingesetzt werden. Die Einführung dieser Verfahren kann zu einer leichten Veränderung der Datenbasis führen. Somit ist eine stärkere funktionale und eine wenig stärkere Datenänderung zu erwarten. Der Prozessschritt Ermittlung Kapazitätsangebot wird keine funktionalen und keine Datenänderungen bei einer Einführung notwendig machen. So ändert sich nichts an der Berechnungsart und der Berechnungsbasis des Angebots.
8 9
Vgl. Kapitel 2.3.2 Vgl. Kapitel 2.3.2
5.2.2 Eine Anwendungsarchitektur für die mittelfristige Kapazitätsplanung
481
Der Prozessschritt Periodische Planung Verkauf wird zusätzliche Funktionalität erhalten, dadurch dass sowohl für die kumulierten, evaluierten Stückzahlen, als auch für die kumulierten Kundenstückzahlen ein Abgleich mit dem bis dahin gültigen geplanten Budget vorgenommen wird. Dies stellt vor allem eine funktionale Änderung unter Hinzunahme einer geänderten Datenbasis dar.
Tabelle 3: Änderungsprofil der Anpassungsstrategie „Mittelfristige Kapazitätsplanung“
Der Prozessschritt Zuteilung Produktionsvolumen pro Werk stellt eine funktionale und eine Datenänderung dar. So ändert sich die Zuteilung, da diese sowohl mit den kumulierten Kundenstückzahlen, als auch mit den
482
M. Hooites Meursing, F. Müller
kumulierten, evaluierten Stückzahlen stattfinden kann. Ebenfalls kann das Budget als Vergleichsgröße verwendet werden. Bei Hinzunahme dieser zusätzlichen Vergleichsgrößen ändert sich dementsprechend auch die Datenbasis. Der Prozessschritt Interne Kapazitätsabstimmung stellt aufgrund der Berücksichtigung der aktuellen Kapazität des jeweiligen Zulieferers eine Datenbasisänderung dar. Die funktionale Änderung ist dagegen geringer, da die Funktion der Kapazitätsabstimmung sich nicht ändert. Der Prozessschritt Unternehmensübergreifende Kapazitätsabstimmung ist eine funktionale Änderung, da dieser Prozessschritt bisher nicht ausgeführt wird. Dazu werden neue Daten verwendet, so dass die Datenbasis sich ebenfalls ändert. Der Prozessschritt Erstellung Meldung Kunden stellt eine funktionale Änderung dar, da diese bisher hauptsächlich manuell durchgeführt wurde. Aufgrund der automatischen Generierung stellt dies für ein Unternehmen eine Beschleunigung der Abwicklung dar. Die Meldung selbst ist eine Erweiterung der benutzten Datenbasis, weshalb ebenfalls eine Datenänderung zu bejahen ist. Der Prozessschritt Übermitteln Meldung Kunden ist eine funktionale Änderung. Die Übermittlung wird aktuell hauptsächlich manuell durchgeführt, weshalb diese Funktion in einem Anwendungssystem neu geschaffen werden müsste. Somit stellen die einzelnen Prozessschritte der mittelfristigen Kapazitätsplanung bei ihrer Implementierung vor allem eine funktionale Änderung dar. Empfehlung Anwendungsarchitekturklasse Das Änderungsprofil korrespondiert mit dem übergreifenden Profil, das über sämtliche Anpassungsstrategien gebildet wurde10. Ausgehend von der konkreten Anwendungsarchitektur, die mittels BSP-Verfahren ermittelt wurde, kann nun untersucht werden, welche idealtypische Architektur geeignet ist. Da sowohl die Signaturen der Funktionen (veränderter Datenbedarf) als auch die Funktionalität selbst Änderungen unterworfen sind, lässt sich feststellen, dass eine „gewachsene Anwendungsarchitektur“ ungeeignet wäre, die neuen Anforderungen abzudecken. Die Realisierung in diesem Stil sähe so aus, dass vier separate Anwendungssysteme entwickelt wür10
Vgl. Kapitel 2.3.2
5.2.2 Eine Anwendungsarchitektur für die mittelfristige Kapazitätsplanung
483
den, um die Anpassungsstrategie zu realisieren; diese müssten über individuelle Schnittstellen an die übrigen Planungs- und Dispositionssysteme angebunden werden. Die zweite Anwendungsarchitekturklasse repräsentiert den Status Quo für viele Unternehmen, die im Rahmen von ForLog befragt wurden: Ein monolithisches ERP-System realisiert einen Großteil der betrieblichen Aufgabenbestandteile in der Planung und in produktionsfernen Domänen. Für die eigentliche Steuerung kommt meist ein individuelles Steuerungsund Manufacturing Execution System (MES) zum Einsatz (z. B. [o.V.06]). Die Anpassungsstrategie „Mittelfristige Kapazitätsplanung“ erscheint als zentrales Aufgabengebiet eines Advanced Planning Systems (APS), das sich mit einem derartigen ERP-System koppeln lässt11. Es ist jedoch kein APS-Produkt verfügbar, dass derartig viele verschiedene Bedarfsdaten aus unterschiedlichen Quellen und mit unterschiedlichem Horizont, wie in dieser Anpassungsstrategie erforderlich, im Rahmen eines Demand Planning zusammenführen könnte. Ferner ist zu erwarten, dass die Komponente zur „korrigierten Bedarfsschätzung“ nicht nur regelmäßig über Parameter neu zu kalibrieren sein wird, sondern dass vielmehr neue Methoden zur besseren Schätzung des Bedarfs implementiert werden müssen. Dies ist mit einem Komplettpaket nur mit hohem Aufwand zu realisieren. Sowohl Enterprise Service Oriented Architecture (ESOA) als auch das Fachkomponentenkonzept zielen darauf ab, Anpassungen günstiger durchführen zu können. Dadurch, dass beide Klassen bislang kaum im Produktiveinsatz sind, lassen sich keine Erfahrungswerte angeben. Nachfragen bei den Softwareherstellern, die im Teilprojekt SysLog mitwirken, haben ergeben, dass ähnliche Anwendungsfälle entweder über eine monolithische Architektur (APS) oder – mit eingeschränktem Funktionsumfang – über ein Web-Anwendungssystem realisiert würden. In Kapitel 2.3.2 wurde allgemein argumentiert, dass die Klasse „Fachkomponentenarchitektur“ durch eine strengere Einschränkung der Implementierung der Services und eine Vermeidung von Abhängigkeiten zwischen Fachkomponenten untereinander vorzuziehen ist. Dieses Argument ist auch für diesen Fall gültig, es ist jedoch nicht abzusehen, ob sich derartige Produkte innerhalb des mittleren Umsetzungszeitraums der Anpassungsstrategie auf dem Markt etablieren werden. Dadurch, dass namhafte Softwareanbieter bereits ESOA-Plattformen vermarkten, bleibt abzuwarten, ob diese oder Drittanbieter eine Software anbieten werden, die eine Realisierung über Enterprise Services teilweise oder vollständig erlauben. Eine Alternative bestünde darin, die (weitestgehend standardisierte) Kommunikationskomponente einer derartigen Plattform über Services zu nutzen, benötigte Daten, von de11
Vgl. [StKi05]
484
M. Hooites Meursing, F. Müller
nen ein Großteil ohnehin in den Planungssystemen vorhanden ist (Stückliste, Werkskalender, Verfahrensanweisungen, Kundenbedarfe) über Services zu beziehen und die Komponenten „Evaluierung Stückzahlen“ (mit zusätzlichen Versionen zu erwartender Bedarfe: Budget, Vertriebsplan) und „Kapazitätsplanung“ individuell zu implementieren.
Fazit Ziel dieses Beitrags ist die Ermittlung der spezifischen Anwendungsarchitektur und einer korrespondierenden Anwendungsarchitekturklasse für die mittelfristige Kapazitätsplanung eines 1st Tier Zulieferers. Es wurde gezeigt, dass die Ermittlung einer spezifischen Anwendungsarchitektur möglich ist. Die einzelnen Planungsschritte der mittelfristigen Kapazitätsplanung sollten in einem Anwendungssystem durchgeführt werden und die Prozessschritte, die eine Kommunikation mit Partnern in der Wertschöpfungskette beinhalten, sollten einzeln gestaltet werden. Da dies eine situative Handlungsempfehlung darstellt, ist nicht zu erwarten, dass das Ergebnis „Anwendungsarchitektur für die mittelfristige Kapazitätsplanung“ identisch mit einer Klasse von Anwendungsarchitekturen sein würde. Die Überlegungen der Bildung eines Änderungsprofils sowie der Rückgriff auf die strategieübergreifende Darstellung führen zu dem Ergebnis, dass die ermittelte Anwendungsarchitektur idealerweise mit einer Fachkomponentenarchitektur, realistisch gesehen jedoch mit einer Anwendungsarchitektur gemäß der Klasse „Enterprise Service Oriented Architecture“ zu realisieren wäre.
Literatur [o.V.06] [GüBo05] [Hero05] [IBM84] [Lee99]
o. V.: BMW optimiert seine Logistikprozesse mit SAP. In: Computer Zeitung, Nr. 21/22, 2006, S.16. Günthner, W. A.; Boppert, J.; Scheuchl, M.; Hooites Meursing, M.: Anpassungssituationen im automobilen Netzwerk. In: Industrie Management, 21 (2005) 5, S.65-67. Herold, L.: Kundenorientierte Prozesssteuerung in der Automobilindustrie. DUV, Wiesbaden, 2005. IBM (Hrsg.): Business Systems Planning - Information Systems Planning Guide. IBM, 4.Aufl., Armonk, 1984. Lee, H.-S.: Automatic clustering of business processes in business systems planning. In: European Journal of Operational Research, 2 (1999) 114, S.354-362.
5.2.2 Eine Anwendungsarchitektur für die mittelfristige Kapazitätsplanung [Müll07]
[StKi05]
485
Müller, F.: Anwendungsarchitektur-Beurteilung unter Berücksichtigung zu erwartender Flexibilität. In: Oberweis, A.; Weinhardt, C.; Gimpel, H.; Koschmider, A.; Pankratius, V.; Schnizler, B. (Hrsg): eOrganisation: Service-, Prozess-, MarketEngineering. 8. Internationale Tagung Wirtschaftsinformatik, Universitätsverlag Karlsruhe, Karlsruhe, 2007, S.89-106. Stadtler, H.; Kilger, C. (Hrsg.): Supply Chain Management and Advanced Planning Concepts, Models, Software and Case Studies. 3. Aufl., Springer, Berlin, 2005.
5.2.3 Neue Techniken zur Informationsbereitstellung in der Kommissionierung
B. Schwerdtfeger, R. Reif, T. Frimor, G. Klinker Unternehmen sind aufgrund der Globalisierung dazu gezwungen, weltweit zu agieren. Dabei entstehen unternehmensinterne wie -externe Netzwerke, die sich flexibel an der jeweiligen Marktsituation ausrichten können. Auch der Einsatz der Mitarbeiter muss an diese neuen Randbedingungen angepasst werden (vgl. Kapitel 3.2.3). Für den einzelnen Mitarbeiter heißt dies, dass er an ständig wechselnden Arbeitsplätzen an einem Standort, aber auch standortübergreifend eingesetzt werden kann. Dementsprechend hat er sich fortlaufend auf neue Arbeitssituationen einzustellen. Um dabei die Einarbeitungszeiten des Mitarbeiters zu minimieren und eine effiziente und fehlerfreie Ausführung der Arbeitsaufgabe zu ermöglichen, bedarf es neuer Methoden der Bereitstellung von Handlungsinformationen. Exemplarisch für einen Prozess, bei dem es bedingt durch Auftragsschwankungen zum kurzfristigen und flexiblen Einsatz von (Leih-)Arbeitern kommt, wurde die Kommissionierung ausgewählt. Die Kommissionierung ist eine wichtige Prozessfolge in der logistischen Kette, weil sie eine direkte Auswirkung auf die Lieferqualität (Fehler und Lieferzeit) hat und somit das Kunden-Lieferanten-Verhältnis entscheidend beeinflusst. Aufgrund von ständig größer werdenden, vielfältigeren und inhomogeneren Sortimenten ist die Flexibilität des Menschen in diesem Bereich kaum durch Maschinen zu ersetzen, so dass die Kommissionierung noch viele manuelle Arbeitsschritte umfasst. Zur fehlerfreien Ausübung dieser Arbeitsschritte gilt es, den Mitarbeiter ideal mit den benötigten Handlungsinformationen zu versorgen. Er kann sich somit auf seine eigentliche Tätigkeit, das Zusammenstellen der Aufträge, konzentrieren und ist nicht mit dem Suchen nach Informationen beschäftigt. Um eine optimale Bereitstellung dieser Handlungsinformationen zu ermöglichen, wurden verschiedene Technologien für die visuelle Unterstützung des Kommissionierers klassifiziert, in Anwendungen umgesetzt und evaluiert. Das Vorgehen wird im Folgenden erläutert.
488
B. Schwerdtfeger, R. Reif, T. Frimor, G. Klinker
Technologischer Hintergrund: Augmented Reality Zum besseren Verständnis der entwickelten Konzepte wird an dieser Stelle kurz die Technologie der Augmented Reality (AR) erklärt, welche im Bereich der Bereitstellung von Handlungsinformationen seit einigen Jahren reges Interesse weckt (siehe u. a. das Verbundforschungsprojekt ARVIKA in [Frie04]). Augmented Reality (dt.: Erweiterte Realität) ist eine Technologie, bei der virtuelle Objekte lagerichtig (dreidimensional) in der realen Umgebung platziert werden (siehe Abbildung 1). Dabei ist eine Interaktion mit diesen virtuellen Objekten in Echtzeit möglich [Azum97]. Solch ein System wird typischerweise durch eine Datenbrille, ein so genanntes Head-mounted Display (HMD), realisiert. Es kommen aber auch andere Displays (wie z. B. Standardmonitore, Tablet-PCs oder Projektoren) zum Einsatz [BiRa05]. Zur dreidimensionalen Platzierung der virtuellen Objekte in der realen Umgebung ist eine Bestimmung von Position und Blickrichtung des Benutzers notwendig. Hierfür werden Tracking-Systeme [BiWe01] eingesetzt. Oft werden HMDs aber auch ganz einfach wie mobile Monitore benutzt, in denen Informationen ohne visuellen dreidimensionalen Bezug zur realen Umgebung (z. B. als Texte oder Icons) angezeigt werden. Derartige Nutzungen von HMDs kommen ohne den Einsatz einer Tracking-Technologie aus und sind somit keine echten AR-Darstellungen. Im Folgenden seien sie „Head-mounted 2D-Visualisierungen“ (kurz HV) genannt.
Abbildung 1: Ein optisches Durchsicht-HMD: Mittels eines optischen Kombinierers (halbdurchlässiger Spiegel) hat der Benutzer zeitgleich einen Blick auf die reale Welt und die ihm virtuell eingeblendete Information. Der Benutzer sieht einen virtuellen Pfeil, der auf ein reales Lagerfach zeigt (wie auf dem linken Bild zu sehen ist).
5.2.3 Neue Techniken zur Informationsbereitstellung
489
Visuelle Informationsbereitstellung in der Kommissionierung Zur Bereitstellung von Handlungsanweisungen im industriellen Umfeld mittels Augmented Reality existieren bereits einige Voruntersuchungen. Tan et al. [TaOw04] evaluierten verschiedene Informationsbereitstellungstechniken für einfache Montageaufgaben. Dabei agierten die Probanden unterstützt durch ein AR-System ca. 10% schneller und begingen bis zu 80% weniger Fehler als mit einer Handlungsliste, dargestellt auf einem Monitor oder mittels eines HV-Systems. Derartige Untersuchungen, speziell auf die Kommissionierung bezogen, wurden bis dato nur wenige durchgeführt. Alt [Alt03] stellte eine Papierliste einem AR-System gegenüber, wobei die Kommissionierer mit dem ARSystem circa 25% schneller waren. Dangelmaier et al. [DaFr06] verglichen verschiedene AR- und HV-Konzepte in einem sehr einfachen Test miteinander, wobei die HV-Systeme besser abschnitten. Regenbrecht [Rege07] und Brau et. al. [BrUl05] entwickelten HV-Systeme, welche sie Praxistests bei Nutzfahrzeugherstellern unterzogen. Darauf aufbauend untersuchte Fritsche [Frit06] die Eignung für den dauerhaften Einsatz von HMDs in der Automobilproduktion mit positivem Ergebnis. Dabei wurde die Kommissionierung als Anwendungsbereich für den wirtschaftlichen und effektiven Einsatz eines HMD identifiziert und empfohlen. Dieser Beitrag beschreibt die erste ausführliche Evaluierung mobiler (displaybasierter) Informationsbereitstellungssysteme zur Unterstützung in der Kommissionierung. Hierzu wurden zunächst verschiedene Klassen von Displays identifiziert. Diese lassen sich beliebig mit Visualisierungen kombinieren, was zu einer Vielzahl möglicher Lösungen führt. Mittels eines interdisziplinären Teams wurden hieraus eine Reihe erfolgsversprechender Informationspräsentationskonzepte ausgewählt, implementiert und anhand der für die Kommissionierung entscheidenden Parameter (Zeit und Fehlerrate) evaluiert.
Darstellungsschemata zur mobilen Informationspräsentation Die beiden wesentlichen, mentalen Informationsverarbeitungsprozesse des Werkers in der Kommissionierung sind die Weg- und die Lagerfachfindung. Sie machen 10% der gesamten Kommissionierzeit aus [Malt91]. Dabei bezeichnet die Wegfindung den Prozess des Auffindens des (Fuß-) Wegs zum Regal und die Lagerfachfindung die mentale Aufnahme und
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Umsetzung der Greifinformation, also das Auffinden des richtigen Lagerfaches zur Entnahme des Artikels. Zur Unterstützung dieser Informationsaufnahmeprozesse wurden Darstellungsschemata entwickelt, die im Wesentlichen auf der Kombination verschiedener Display- und Visualisierungsklassen basieren (siehe Abbildung 3). Es wurden dabei jeweils drei Klassen gebildet, wodurch sich neun Optionen für die Präsentation von Informationen zur Weg- und neun zur Lagerfachfindung ergeben. Aufbauend auf der Klassifizierung von Bimber und Raskar [BiRa05] wird hier zwischen folgenden Displays unterschieden: • Räumliche Displays (Abbildung 2a) bezeichnen jene Displays, die „überall“ in der Umgebung platziert sind, wie ubiquitäre Monitore oder ubiquitäre Projektoren, aber auch Pick-by-Light-Anzeigen. • Hand-held Displays (Abbildung 2b) sind mobile Geräte, welche in der Hand gehalten werden, oder am Arm bzw. am Kommissionierwagen befestigt sind. Zu solchen Displays zählen Tablet-PCs, PDAs, mobile Projektoren aber auch klassische Papierlisten. • Head-attached Displays (Abbildung 1 und Abbildung 2c) beziehen sich auf alle am Kopf tragbaren Displays wie Head-mounted Displays oder kleine Projektoren, welche bisweilen jedoch nur prototypenhaft existieren.
Abbildung 2: Verschiedene Displayklassen für den Einsatz in der Kommissionierung a) Räumliche b) Hand-held und c) Head-attached Displays
Zusätzlich zu der gerade vorgestellten Taxonomie der Displays werden die Visualisierungen klassifiziert (siehe Abbildung 3). Es existieren diverse Ansätze zur Klassifikation [Elli03], wobei an dieser Stelle eine Einteilung nach der räumlichen Dimension, mit der die Informationen präsentiert werden, stattfindet:
5.2.3 Neue Techniken zur Informationsbereitstellung
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• Eindimensionale Visualisierungen ordnen Daten entlang einer Achse an. In diesem Fall entspricht dies der Darstellung der klassischen, gedruckten Kommissionierliste. • Zweidimensionale Visualisierungen stellen Informationen in einer Ebene dar, wie beispielsweise eine horizontale Drauf- oder eine vertikale Vorderansicht des Regals. Dabei wird zwischen zwei Perspektiven unterschieden: egozentrisch (Ich-Perspektive, wie z. B. ein Kompass) oder exozentrisch (Vogelperspektive, wie z. B. eine Landkarte). • Dreidimensionale Visualisierungen basieren auf drei räumlichen Achsen [BoKr05]. Die Metaphern variieren hier von World-in-Miniature (3DKarte) bis hin zu Augmented-Reality-Darstellungen. Solche Visualisierungen können exozentrisch als feste Wegpunkte (z. B. Verkehrsschilder oder 3D-Pfeile vor dem nächsten Artikel) oder als im Benutzerkoordinatensystem „schwebende Objekte“ aus egozentrischer Perspektive (z. B. 3D-Kompass zum nächsten Lagerort) angeordnet sein.
Abbildung 3: Darstellungsschemata zur Informationspräsentation für Weg- und Lagerfachfindung. Die Punkte markieren mögliche Kombinationen aus Display und Visualisierung. Die eingekreisten Punkte zeigen die Kombination, die hier implementiert und evaluiert wurden.
Zusammengefasst ergeben die vorgestellten Möglichkeiten der Informationspräsentation ein Spektrum von drei Visualisierungsklassen multipliziert mit drei Typen von Displays. Dabei sind nur bestimmte Visualisierungen
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auf bestimmten Displays realisierbar, welches (durch die Punkte) in Abbildung 3 verdeutlicht wird.
Evaluation In einem interdisziplinären Team aus Usability- und Augmented RealityExperten, Logistikern sowie Psychologen wurden elf konkrete Visualisierungen aus dem Darstellungsschema (Abbildung 3) diskutiert und evaluiert. Der Ordnung der Schemata folgend, wird zunächst die Implementierung für die Wegfindung und dann für die Lagerfachfindung vorgestellt. Wegfindung Räumliche Displays
Es wurden ein-, zwei- und dreidimensionale Visualisierungen der Wegfindung auf den räumlichen Displays entwickelt (Abbildung 2c): • 1D: klassische Kommissionierliste (Abbildung 4a) • 2D: egozentrische und kontextsensitive Karte (Abbildung 4b) • 3D: Wegpunkt-Metapher: Die Anzeige von 2D-Pfeilen auf ausgerichteten Monitoren gibt den Pfeilen eine 3D-Bedeutung. (Abbildung 4c).
Abbildung 4: Visualisierungsschemata auf räumlichen Displays. a) textbasierte Liste (1D): Artikelnummer, Menge, Lagerort; b) kontextsensitive Karte (2D), Punkt: Position des Kommissionierers, farbiges Rechteck: Position des nächsten Artikels; c) Wegpunkte: vergleichbar mit Verkehrsschildern (3D).
5.2.3 Neue Techniken zur Informationsbereitstellung
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Hand-held Displays
Die 1D- und 2D-Visualisierungen wurden analog zu denen auf räumlichen Displays gewählt (Abbildung 2b): • 1D: klassische Kommissionierliste (Abbildung 4a) • 2D: egozentrische und kontextsensitive Karte (Abbildung 4b) • 3D: keine Implementierung: Die Positionsbestimmung (Tracking) des (meist auf Handhöhe getragenen) PDAs konnte wegen der Verdeckung der Sichtverbindung zwischen den Regalen nicht in ausreichender Qualität zur Verfügung gestellt werden.
Abbildung 5: Wegfindungsszenario – ein virtuelles Verkehrsschild zur Anzeige des Lagerortes: a) gesehen durch das HMD und teilverdeckt durch ein reales Regal; b) nur die Augmentierung Head-attached Displays
Die 1D- und 2D-Visualisierungen wurden wie auf den anderen beiden Displays gewählt (Abbildung 1 und Abbildung 2a): • 1D: klassische Kommissionierliste (Abbildung 4a) • 2D: egozentrische und kontextsensitive Karte (Abbildung 4b) • 3D: Augmented Reality – Mit einer egozentrischen Wegpunktmetapher wird ein virtuelles Schild vor dem entsprechenden Regal platziert (Abbildung 5a). Um das Auffinden dieses Schildes zu erleichtern (wenn der Benutzer z. B. in die andere Richtung blickt), wurde eine „Gummiband“-Visualisierung entwickelt. Diese besteht aus einem Kompassähnlichen Pfeil, der sich in fixer Position zum Benutzer befindet und dabei immer in Richtung des relevanten Verkehrschildes zeigt. Der Pfeil wird erweitert durch ein Gummiband flexibler Länge (Abbildung 5b).
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Lagerfachfindung (Greifinformationen) Bei der Lagerfachfindung steht der Benutzer, ganz im Gegensatz zum vorherigen Experiment, nur vor einem Regal und bewegt primär seine Arme, um nach einem Artikel zu greifen. Der Kopf hat somit relativ zum Display (unabhängig ob PDA, HMD oder Monitor) nahezu die gleiche Blickrichtung. Aus diesem Grund waren keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Verwendung unterschiedlicher Displays zu erwarten. Die Visualisierungen wurden darum lediglich auf dem HMD getestet (und hieraus Rückschlüsse auf PDA und Monitor gezogen). Dabei wurden folgende Visualisierungen verwendet: • 1D: klassische Kommissionierliste (wie Abbildung 4a) • 2D: vertikale Karte analog zur kontextsensitiven Karte (wie Abbildung 4b) • 3D: Augmented Reality: Durch eine egozentrische Wegpunktmetapher schwebt ein dreidimensionaler Pfeil vor der relevanten Box (Abbildung 6a). Wie auch bei der 3D-Wegfindung wurde eine Gummibandvisualisierung eingesetzt, die auf die relevante Augmentierung zeigt (Abbildung 6b).
Abbildung 6: a) Ein Pfeil, der auf das Lagerfach deutet – gesehen durch das HMD; b) Kompass-Pfeil mit Gummiband, welcher auf die relevante Augmentierung zeigt, die sich außerhalb des Blickfeldes befindet.
Durchführung und Ergebnisse Da die Informationsbereitstellung für die Kommissionierung aus den zwei Teilaufgaben Weg- und Lagerfachfindung besteht, wurde das Experiment in zwei Subexperimente unterteilt (Dekomposition). Zudem fand eine Aufteilung der Evaluierungen bezüglich der einzelnen Displays statt. Letztend-
5.2.3 Neue Techniken zur Informationsbereitstellung
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lich resultierte dies in vier unabhängigen Experimenten: drei Wegfindungsexperimente bezüglich der verschiedenen Displays (Monitore, PDA, HMD) und ein Experiment zur Lagerfachfindung mit dem HMD. In einem Within-Subject1 Design wurden 18 Versuchspersonen zwischen 23 und 48 Jahren getestet. Die Experimente zur Wegfindung wurden in einem Lager mit acht Zeilen, die zur Lagerfachfindung vor einem Regal mit 5x10 Fächern durchgeführt. Von hauptsächlichem Interesse waren • die benötigten Zeiten (Wegfindung: Wegzeit + Totzeit; Lagerfachfindung: Suchzeit + Totzeit) sowie • die Anzahl der durch die Probanden begangenen Fehler. Ergebnisse der Wegfindungsexperimente Es konnten hinsichtlich der drei Displays (Monitore, PDA, HMD) keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Wegfindungszeiten zwischen der 1D-Kommissionierliste und der 2D-kontextsensitiven Karte gemessen werden (siehe Abbildung 7a-c). Viele Testpersonen äußerten eine Präferenz für die 1D-Kommissionierliste, weil ein einziger Blick auf diese ausreichend war, um die Information aufzunehmen und sie sich zu merken. Bei der 2D-Karte mussten sie diese hingegen ständig beobachten, um ans Ziel zu gelangen. Letzteres steht im Gegensatz zu den guten Erfahrungen, die Dangelmaier et al. [DaFr06] mit einer Karte im HMD machten. Unterstützt durch 3D-Visualisierungen agierten die Probanden in ihrer Gesamtheit betrachtet signifikant langsamer als mit Hilfe der 1D- und 2DVisualisierungen. Bei der 3D-Darstellung im HMD ließen sich jedoch zwei interessante Beobachtungen machen: Obwohl die Probanden eine Einführung bekamen, waren sie, verglichen mit dem ersten Versuchsdurchlauf, im letzten Durchlauf 50% schneller. Hierin spiegelt sich zum einen ein Lerneffekt wieder, aber auch eine gesteigerte Faszination nach dem ersten Umgang mit einem Augmented Reality System. Zudem konnten zwei Benutzergruppen identifiziert werden: schnelle und langsame Probanden. Ihre Kommissionierzeiten stehen in Korrelation zu ihrem Grad an 3D-Erfahrung2. 3D-erfahrene Benutzer agierten im Mittel unterstützt durch ein 3D-System (hier AR) schneller als die Gesamtgruppe der Nutzer mit einem 1D- beziehungsweise 2D-System. Nennenswerte Fehler wurden in diesen Experimenten von keinem der Probanden begangen. 1 2
Jeder Proband hat jedes Szenario in permutierter Reihenfolge getestet. 3D-Erfahrung: Benutzer ist erfahren im Umgang mit CAD, Computerspielen, AR oder VR.
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Abbildung 7: Gemessene Zeiten in den Experimenten a) - d) (von links nach rechts – von oben nach unten).
Ergebnisse der Versuchsreihe zur Lagerfachfindung In den Experimenten zur Lagerfachfindung konnten keine signifikanten Zeitdifferenzen zwischen der 1D-, 2D- und 3D-Visualisierung gemessen werden (siehe Abbildung 7d). Jedoch ließen sich bei den Fehlerraten erhebliche Unterschiede feststellen. Die Testpersonen machten mit der 3DVisualisierung zehnmal mehr Fehler als mit der 1D- bzw. 2D-Visualisierung. In den meisten Fällen griffen sie eine Reihe zu hoch oder zu tief, welches auf Probleme mit der Tiefenwahrnehmung mit dem verwendeten (monoskopischen) HMD zurückzuführen ist. Der Einsatz eines 3D (stereoskopischen) HMD kann dieses Problem jedoch beheben. Zur 2D-Kartendarstellung äußerten die meisten Probanden, dass sie die Information durch Zählen der Reihen und Spalten auf die 1D-Information zurückrechneten, welches die 2D-Darstellung eigentlich überflüssig macht. Wie auch schon in den ersten Teilexperimenten war ein erheblicher Unterschied zwischen 3D-erfahrenen und unerfahrenen Benutzern auszumachen.
5.2.3 Neue Techniken zur Informationsbereitstellung
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Eignung von Augmented Reality zur Unterstützung des Kommissionierens Diese Evaluation hat gezeigt, dass neue Technologien wie die Augmented Reality nur mit Bedacht zur Unterstützung von scheinbar trivialen Aufgaben eingesetzt werden sollten. Zunächst lies sich beobachten, dass die Probanden im Schnitt mit der 3D-Darstellung langsamer agierten als unterstützt durch die 1D- bzw. 2D-Darstellung. Jedoch war die Teilgruppe 3Derfahrener Nutzer schneller als das Mittel aller Probanden. Zudem ließen sich bei der Benutzung von 3D-Darstellungen erhebliche Lernfortschritte vom ersten bis zum letzten Testdurchlauf identifizieren. Dieser Effekt war bei 1D und 2D vernachlässigbar. Als Zwischenergebnis heißt dies für den Einsatz von Augmented Reality: Wenn ungelernte Mitarbeiter für ihren Einsatz ausgewählt werden (z. B. Leiharbeiter aus einem Pool), sollte dies nach dem Kriterium „3DErfahrung“ wie in Howe et. al. [HoSh98] erfolgen, damit ein effizienter Einsatz der Technologie gewährleistet ist. Langfristig scheint dieses Problem vernachlässigbar, da sich 3D-Benutzerschnittstellen allmählich im Alltag etablieren und vor allem junge Menschen schon heute fast generell als 3D-erfahren gelten. Des Weiteren profitiert diese Technologie von einem außerordentlichen Lerneffekt, der schon nach mehrmaliger Anwendung eintritt. Dennoch ist fraglich, ob es sich im Fall eines wenig komplexen und stetig gleich ablaufenden Prozesses wie der Kommissionierung nicht um ein Übermaß an Unterstützung handelt. Die AR-Technologie ist sinnvoll für Arbeitsprozesse mit einer hohen Komplexität einsetzbar [Alt03], sowie in Situationen, in denen sich die Tätigkeit des Mitarbeiters nicht regelmäßig wiederholt. Für jede Aufgabe existiert somit eine individuell zu bestimmende, kritische Komplexität, ab der Einsparungspotenziale durch den Einsatz der AR-Technologie vorhanden sind [Frie04; Oehm04].
Resümee Zunächst lässt sich festhalten, dass mittels des Einsatzes von Augmented Reality der Kommissionierprozess beschleunigt wird, wenn auf 3Derfahrene Mitarbeiter zurückgegriffen werden kann. Dabei müssen diese Mitarbeiter noch nicht einmal geschult sein, da die Augmented Reality eine intuitive Informationspräsentation ermöglicht. Dennoch muss für den Einsatz einer neuen Technologie zur Bereitstellung der Daten in der Kommissionierung der Kosten-Nutzen-Aufwand betrachtet werden.
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Die Komplexität des Kommissionierprozesses hat in den letzten Jahren stetig zugenommen, da sich durch neue Logistikkonzepte (z. B. das Outsourcing der gesamten Logistik an einen Dienstleister; vgl. Kapitel 3.1.1) die Abläufe flexibler gestalten und durch die Erhöhung der Variantenvielfalt in der Produktion das Sortiment stetig weiter vergrößert. Diese erhöhte Komplexität allein rechtfertigt jedoch noch nicht den Einsatz einer aufwändigen Technologie wie der Augmented Reality. Jedoch kann durch ein AR-Kommissionier-System die mentale Beanspruchung des Arbeiters gesenkt und er zusätzlich mit anderen Aufgaben, wie der Qualitätssicherung konfrontiert werden (vgl. Kapitel 5.2.4). Die Ergebnisse dieser Studie legen den Schluss nahe, dass für die Unterstützung des reinen Kommissionierprozesses eine einfache 1D-Anzeige (Kommissionierliste) ohne den Einsatz eines Trackingsystems völlig ausreichend ist. Mittels eines AR-Systems kann der Prozess jedoch etwas beschleunigt und der Mitarbeiter mit Parallelaufgaben konfrontiert werden. Die Auswahl des Displays hängt meist stark von den unternehmensspezifischen Randbedingungen ab und muss für jeden Anwendungsfall individuell gestaltet werden.
Literatur [Alt03] [Azum97] [BiRa05] [BiWe01] [BoKr05] [BrUl05]
[DaFr06]
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5.2.3 Neue Techniken zur Informationsbereitstellung [Elli03] [Frie04] [Frit06] [HoSh98] [Malt91] [Oehm04] [Rege07] [TaOw04]
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Ellis, S.: A taxonomy of visualization techniques for simulation in production and logistics. Proceedings of the 2003 Winter Simulation Conference. 2003. Friedrich, W. (Hrsg.): ARVIKA - Augmented Reality für Entwicklung, Produktion und Service. Publicis Corporate Publishing, Erlangen, 2004. Fritzsche, L.: Eignung von Augmented Reality für den Vollschichteinsatz in der Automobilproduktion. Diplomarbeit, TU Dresden, 2006. Howe, T.; Sharkey P. M.: Identifying Likely Successful Users of Virtual Reality Systmems. In: Presence, Vol.7, No.3, MIT Press, 1998. Malton, I.: Efficient Order Picking: The need for it and possible solutions. Proc. 11th International Conference Automation in Warehousing. Helsinki, 1991. Oehme, O.: Ergonomische Untersuchung von kopfbasierten Displays für Anwendungen der erweiterten Realität in Produktion und Service. Shaker, Aachen, 2004. Regenbrecht, H.: Industrial Augmented Reality Applications. In: Emerging Technologies of Augmented reality Interfaces and Design. Idea Group Publishing, Hershey, 2007. Tang, A.; Owan, C.; Biocca, F.; Mou, W.: Performance Evaluation of Augmented Reality for Directed Assembly. In: Ong, S. K.; Nee, A. Y. C. (Hrsg.): Virtual and Augmented Reality Applications in Manufacturing, 2004.
5.2.4 Einsatz von Augmented Reality zur aktiven Fehlervermeidung
B. Schwerdtfeger, T. Alt, G. Klinker Der Kundenwunsch nach immer individuelleren Produkten initiierte in der Vergangenheit eine stark gestiegene Variantenvielfalt sowie den Anstieg des Funktionsumfangs komplexer Produkte. Für die Produktion resultiert daraus u. a. ein überproportional gestiegener, zeitlicher Aufwand für die Qualitätskontrolle, der ebenfalls zu einem Anstieg der dadurch entstandenen Kosten führt. Eigene Qualitätskontrollen am Ende von Prozessen, die durch spezielle Mitarbeiter ausgeführt werden, sind mit einem hohen finanziellen Aufwand verbunden, so dass in einem modernen Unternehmen die Qualitätssicherung die Aufgabe jedes Mitarbeiters werden muss. Dieses macht jeden für die Qualität seines Arbeitsprozesses selbst verantwortlich [Feig91]. Die große Herausforderung dabei ist die Rationalisierung der Prüfprozesse, welche durch den Einsatz neuer Technologien, wie computergestützte Qualitätsinformationssysteme (CAQ-Systeme) [Hoit93] erreicht werden kann [Alt03]. CAQ-Systeme ermöglichen eine effiziente Aufnahme, Speicherung und Auswertung von qualitätsbezogenen Daten. Zur effektiven Interaktion des Mitarbeiters mit solchen CAQ-Systemen kann die Technologie der Augmented Reality (AR, vgl. Kapitel 5.2.1) zum Einsatz kommen. Sie ermöglicht eine benutzerzentrierte Systemgestaltung, wodurch Handlungsanweisungen (beispielsweise zur Qualitätskontrolle) direkt am Arbeitsobjekt präsentiert werden können. Im Weiteren werden drei Fallstudien zum Einsatz von Augmented Reality im Bereich der Interaktion mit CAQ-Systeme gegeben: 1. Qualitätskontrolle in der Cockpitmontage 2. Qualitätskontrolle von Schweißpunkten in der Karosseriefertigung 3. Fehlermanagement in der Kommissionierung.
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1. AR-Qualitätskontrolle: Montage von Cockpitmodulen Ein Augmented Reality System zur Qualitätssicherung bei der Montage von Cockpitmodulen im Automobilbereich wurde von Alt [Alt03] entwickelt und im industriellen Umfeld getestet. In dem betrachteten Anwendungsfall werden Cockpitmodule nach dem Prinzip der Fließfertigung montiert. Dabei werden fahrzeugspezifische Cockpitmodule einzeln an Vorrichtungen befestigt und auf einem Band durch den Montagebereich transportiert. Zur Ausführung seiner Tätigkeit bewegt sich der Mitarbeiter mit dem Band. Jeder Werker hat dabei ein eingegrenztes Aufgabenspektrum, das in den jeweiligen Fertigungsplänen festgelegt ist. Neben den Montagetätigkeiten werden am Ende der Modulfertigung eine Vielzahl von dokumentationspflichtigen Prüf- und Korrekturtätigkeiten durchgeführt. Primäres Informationsmedium ist die Cockpitbegleitkarte, in die der Hauptteil der qualitätsbezogenen Daten in Form von Stempeln und ausgedruckten Prüfprotokollen eingetragen wird. Dieses AR-CAQ-System zur Optimierung des Prozesses der Cockpitmodulfertigung setzt an zwei Punkten an: • dem aktiven Fehlermanagement und • der Unterstützung in der Nachbearbeitung von Fehlern. Beim aktiven Fehlermanagement wird der Mitarbeiter während der Ausführung seiner eigentlichen Arbeit angeregt, auch auf Fehler zu achten. Zum einen darauf, dass keine Fehler begangen und zum anderen, dass vorhandene Fehler entdeckt werden (vgl. Kapitel 5.1.1). Zur Unterstützung des aktiven Fehlermanagements werden in dem ARCAQ-System entdeckte Fehler elektronisch erfasst und ausgewertet. Dies ermöglicht eine produktspezifische Mängelerfassung und somit eine Identifikation von Mängelschwerpunkten. Tritt beispielsweise ein Fehler vermehrt auf, kann kontextabhängig bei nachfolgenden Prüfungen auf solche Fehler hingewiesen werden beziehungsweise können entsprechende Prüfungsschwerpunkte gesetzt werden. Dies kann in einfacher Form durch die Anzeige von textuellen Hinweisen oder Soll-Abbildungen (siehe Abbildung 3a) geschehen. Zudem kann Augmented Reality eingesetzt werden, um mit einer kongruenten virtuellen Überlagerung dem Kontrolleur am realen Objekt die potenziellen Mängel dreidimensional anzuzeigen. Auf gleiche Weise unterstützt das System die Fehlernachbearbeitung. Nach Eingabe einer Identifikationsnummer navigiert das AR-CAQ-System den Arbeiter direkt mittels dreidimensionaler Pfeile an den zu behebenden Fehler am Cockpitmodul.
5.2.4 Einsatz von Augmented Reality zur aktiven Fehlervermeidung
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Die Anwendbarkeit des entwickelten Konzeptes wurde in Versuchen nachgewiesen, wobei sich zwei wesentliche Vorteile beim Einsatz eines Head-mounted Display (HMD) basierten Systems (siehe Kapitel 5.2.3) herausstellten. Es ist erstens eine höhere Effizienz durch Parallelisierung der Informationsaufnahme mit Nebentätigkeiten wie Laufwegen festzustellen und zweitens ist eine hohe und freihändige Beweglichkeit des Anwenders zu beobachten.
2. AR-Qualitätskontrolle: Karosseriefertigung Zur Unterstützung der Qualitätskontrolle in der Automobilproduktion wurde an der TU München [ScKl07] ein hybrides AR-basiertes Anzeigekonzept entwickelt. Ziel dieser Entwicklung war es, die Vorteile von Augmented Reality Systemen zu nutzen, jedoch dabei auf den Einsatz von HMDs zu verzichten. Dieses geschah vor dem Hintergrund, dass HMDs zur Darstellung dreidimensionaler Inhalte noch nicht in einer Qualität verfügbar sind, die einen dauerhaften industriellen Einsatz erlaubt. Der hier entwickelte Prototyp setzt dabei auf eine intelligente Verteilung der bereitzustellenden Information auf Projektoren und konventionelle Displays.
Abbildung 1: a) Head-mounted Augmented Reality Laserprojektor (HMLP) b) Einfache Augmented Reality Laserprojektion auf eine Karosserie: Spotlight auf einen Schweißpunkt
Die Vorzüge des entwickelten hybriden Informationsbereitstellungskonzeptes wurden anhand eines Qualitätssicherungsprozesses in der Fertigung von Karosserieteilen erprobt. In diesem Prozess wird die Qualität von
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Schweißpunkten in regelmäßigen Abständen durch verschiedene Methoden (z. B. Sicht-, Ultraschall- oder Zerstörungsprüfungen) getestet. Im bisher verwendeten Ablauf verfügt der Mitarbeiter dafür über eine Zeichnung des Karosserieteils, auf welcher der zu prüfende Punkt und die jeweilige Prüfmethode notiert sind. Zunächst sucht der Mitarbeiter auf dieser Zeichnung den entsprechenden Punkt, um ihn dann auf dem Karosserieteil wiederzufinden. Danach bestimmt er die Kontrollmethode und führt den Test durch. Dieser Prozess hat zwei wesentliche Fehlerstellen: das Auffinden des richtigen Punktes und die Anwendung der richtigen Prüfmethode. Zudem ist eine Beschleunigung des Prozesses anzustreben. Der sinnvolle Einsatz von AR in derartigen Prozess wurde schon im Verbundsprojekt ARVIKA [Frie04] gezeigt. Aufbau des Augmented Reality Laserprojektors Als Alternative zur Realisierung des AR-Qualitätssicherungssystems zur Schweißpunktkontrolle durch HMDs wurde ein projektorbasiertes System entworfen. Mit dem Fokus auf industrielle Anwendungen wurden herkömmliche Projektoren [Bimb05] ausgeschlossen, um auch unter Tageslichtbedingungen klar lesbare Informationen projizieren zu können. Abbildung 1a zeigt den entwickelten Augmented Reality Laserprojektor. Dieser wurde als Head-mounted System entwickelt, kann aber ebenso fest in der Umgebung installiert werden. Das System basiert auf einem grünen Laser geringer Leistung (<1mW). Da eine Laserablenkeinheit eingesetzt wird, ist die effektive Projektion für das menschliche Auge ungefährlich. Durch die Verwendung grünen Lichts ist sie jedoch immer noch gut sichtbar, da das menschliche Auge in diesem Wellenlängenbereich bezüglich der Helligkeitswahrnehmung am sensibelsten ist. Abbildung 1b zeigt eine einfache Laserprojektion. Durch die Verwendung einer speziellen Sensorik (Tracking-System) werden die relativen Positionen zwischen Projektor und Projektionsfläche kontinuierlich neu bestimmt, wodurch die Projektion auch bei der Bewegung des Mitarbeiters (Abbildung 1b) immer an der gleichen Stelle bleibt. Informationspräsentation zur Schweißpunktkontrolle Die Realisierung von AR durch projektionsbasierte Displays, insbesondere wenn auf nicht planare und reflektierende Oberflächen projiziert wird, ist limitiert, weil die Augmentierung nicht von beliebiger Komplexität sein kann. Zum Beispiel können lange Texte nur schlecht lesbar auf eine Karosserie projiziert werden. Deswegen wird die Information dieses Systems
5.2.4 Einsatz von Augmented Reality zur aktiven Fehlervermeidung
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in where-to-act und what-to-do aufgeteilt. Dabei beschreibt die where-toact Information den Handlungsort und die what-to-do Information die Handlungsanweisung an dieser Markierung (in Form von Text oder Bild).
Abbildung 2: Einfache abstrakte Augmented Reality Projektionen lassen sich auf den Karosserien darstellen, komplexere Informationen, die keiner Darstellung am Objekt bedürfen, werden auf einem separaten Monitor dargestellt.
Die Präsentation der where-to-act-Information (hier der Ort des Schweißpunktes) kann durch ein einfaches Spotlight der Position auf dem Objekt geschehen (siehe Abbildung 2). Die (möglicherweise) komplexe Information what-to-do, welche in diesem Szenario die jeweilige Prüfmethode ist, bedarf keiner direkten Platzierung auf dem Objekt. Diese Information kann somit auf einem separaten Monitor am Arbeitsplatz untergebracht werden. Der AR-Laserprojektor erlaubt es, von den dreidimensionalen interaktiven Eigenschaften der Augmented Reality zu profitieren, ohne dabei ein HMD einsetzen zu müssen. Dieses entwickelte hybride Anzeigekonzept wurde bereits in einer Benutzerstudie [ScKl07] erfolgreich erprobt.
3. AR-Kommissionierung Die Qualität in der Kommissionierung ist ein wesentlicher Baustein zur Sicherstellung der Kundenbindung. Fehlerhafte Lieferungen untergraben das Vertrauen des Kunden und können zu erheblichen finanziellen Verlusten führen [HoSc04; Loll03]. Typische Kommissionierfehler sind beispielsweise die Entnahme aus einer falschen Bereitstelleinheit, die Verwechslung von Artikeln, die Entnahme der falschen Menge oder die Ablage in den falschen Auftragsbehälter [Gude05], wobei Mengen- und Typfehler die mit Abstand häufigsten Fehlerarten sind. Solche Kommissionierfehler entstehen teilweise durch eine Überforderung des Menschen [Vogt97], die auch durch eine unzureichende Informationsbereitstellung bedingt sein kann. Bisher werden verschiedene Methoden angewandt, um Kommissionierfehler zu vermeiden. Es werden zusätzliche Kontrollinfor-
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mationen, wie das Scannen des Lagerfaches oder eine Gewichtsprüfung, angefordert. Da diese Methoden sehr zeitaufwändig sind, kann alternativ auch eine optimierte Informationsbereitstellung helfen, Kommissionierfehler zu vermeiden. Der Einsatz eines HMD zur Bereitstellung von Handlungsinformationen (insbesondere in der Kommissionierung) wurde bereits ausführlich untersucht (siehe Kapitel 5.2.1) und als geeignet befunden [Frit06]. In der Kommissionierung kann dieses Display zum Beispiel nicht nur für die einfache Einblendung der Kommissionierinformationen (Lagerort, Artikel, Menge etc.) benutzt werden, sondern zudem das aktive und reaktive Fehlermanagement unterstützen.
Abbildung 3: Beispiel einer Benutzerschnittstelle zum Fehlermanagement (Blick durch ein HMD): a) aktives und b) reaktives Fehlermanagement
Aktives Fehlermanagement bedeutet in der Kommissionierung zunächst, dass die Entnahme des richtigen Artikels in der richtigen Menge aus dem richtigen Fach sichergestellt wird. Dafür muss die Greifinformation in eindeutiger und intuitiver Weise dargestellt werden. Um zu gewährleisten, dass der Kommissionierer in das richtige Lagerfach und auch nach dem richtigen Artikel greift, kann ihm das Lagerfach – ähnlich, wie bei einem Pick-by-Light-System – mit einer optischen Markierung im HMD hervorgehoben werden. So kann ein dreidimensionaler Pfeil (dargestellt durch ein AR-System) auf das Lagerfach zeigen (vgl. Kapitel 5.2.1, Abbildung 6a). Zusätzlich lassen sich Bilder des Artikels im HMD einblenden, die auf markante Merkmale des aktuellen Artikels hinweisen können (Abbildung 3a). Die Vermeidung von Mengenfehlern gestaltet sich schwieriger. Soll auf die Quittierung oder das Scannen jeder Entnahme verzichtet werden, kann die Anzahl deutlich im HMD angezeigt werden, so dass der Arbeiter sie verinnerlicht. Zusätzlich ist eine Unterstützung durch Hinweise zum Abzählen möglich.
5.2.4 Einsatz von Augmented Reality zur aktiven Fehlervermeidung
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Je besser und intuitiver die Informationsdarstellung, desto geringer ist die benötigte Aufmerksamkeit, um die Primäraufgabe (die Kommissionierung) korrekt zu erledigen. Wird die mentale Beanspruchung durch den Einsatz eines HMD-basierten Systems gering gehalten, kann der Mitarbeiter zudem mit der Nebenaufgabe der Qualitätssicherung beauftragt werden. Dafür können dem Kommissionierer (wie in Abbildung 3a) kontextabhängig Zusatzinformationen zum Fehlermanagement eingeblendet werden. Das reaktive Fehlermanagement (vgl. Kapitel 5.1.1) bezeichnet die schnelle Behandlung von Fehlern, die z. B. durch aktives Fehlermanagement gefunden wurden. Für den Kommissionierer bedeutet dies im Wesentlichen die sofortige Weitermeldung des Fehlers zur Minimierung möglicher Folgeschäden. Dafür wird ihm idealerweise eine einfache Benutzerschnittstelle (siehe Abbildung 3b) zur Verfügung gestellt, die während des aktiven Fehlermanagements zum Melden eines Fehlers aufklappbar ist (vgl. [Alt03]). Die Benutzerschnittstelle enthält eine Anzahl von Annotationsmöglichkeiten, um den Fehler zu vermerken. Stellt er z. B. fest, dass weniger Artikel im Lagerfach sind, als er laut Kommissionierauftrag entnehmen soll, kann er diesen Fehler sofort an das übergeordnete Lagerverwaltungssystem melden, so dass dieses eine Korrektur des Lagerbestandes durchführen kann. Sind Artikel beschädigt (Zustandsfehler), kann dies an die zuständige Stelle weitergeleitet werden, so dass diese schnellstmöglich reagieren kann.
Resümee Dieser Beitrag zeigt drei Fallstudien, in denen Augmented Reality und einfache Visualisierungen im HMD effizient zur aktiven Fehlervermeidung eingesetzt wurden. Schon der generelle Einsatz eines HMD ermöglicht hierbei eine Parallelisierung der Informationsaufnahme mit Nebentätigkeiten (wie Laufwegen) und ein hohe freihändige Beweglichkeit des Anwenders. Zudem erlauben HMD-/AR-Systeme eine sehr benutzerzentrierte Systemgestaltung, durch die Handlungsanweisungen optimal platziert werden können und die dem Mitarbeiter helfen, Fehler erst gar nicht zu begehen. Wird die eigentliche Tätigkeit auf dieses Weise vereinfacht, kann so die mentale Beanspruchung durch die Primäraufgabe gesenkt werden, ist es ausserdem möglich mit einer Sekundäraufgabe, wie der Qualitätssicherung, zu konfrontieren und somit nachhaltig zur Verbesserung beizutragen.
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Literatur [Alt03] [Bimb05] [Feig91] [Frie04] [Frit06] [Gude05] [Hoit93] [HoSc04] [Loll03] [ScKl07]
[Vogt97]
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5.2.5 Die Einführung logistischer Konzepte in Theorie und Praxis – Fallbeispiel Kapazitätsmanagement
A. Lochmahr, H. Wildemann Für die Automobil- und Automobilzuliefererindustrie ist Supply Chain Management (SCM) mittlerweile zu einem unverzichtbaren Lösungsansatz herangewachsen. Erfolgreiche Unternehmen realisieren verstärkt, dass in den wesentlichen Teilprozessen exzellente Kompetenz aufgebaut wurde, intelligente Verknüpfung von Prozessen und Informationssystemen jedoch häufig nicht gewährleistet ist. Vor dem Hintergrund der Realisierung eines Order-to-Delivery-Prozesses (OTD) mit dem Ziel einer reduzierten Durchlaufzeit von weniger als 14 Tagen stellt sich ein direkter Zugriff auf relevante Planungsinformationen aller beteiligten Akteure wie Kapazitäten, Materialien und in Transit befindliche Ware als Voraussetzung und Grundlage zur Entscheidungsfindung dar. Das unternehmensübergreifende Kapazitätsmanagement ist ein Planungselement zur Absicherung und zum Abgleich der Kapazitäten zur Deckung der Marktbedarfe auf mittel- bis langfristiger Ebene in der gesamten Supply Chain. Die reibungslose Implementierung setzt voraus, dass alle Beteiligten einen individuellen Nutzen für sich sehen, was oftmals die beteiligten Akteure vor erhebliche Herausforderungen stellt.
Ausgangssituation und Zielsetzung Supply Chain Management wird als eine Organisations- und Managementphilosophie verstanden, die durch eine prozessoptimierende Integration der Aktivitäten der am Wertschöpfungssystem beteiligten Unternehmen auf eine unternehmensübergreifende Koordination und Synchronisierung der Informations- und Materialflüsse zur Kosten-, Zeit- und Qualitätsoptimierung zielt [Wild05a, S.8]. Supply Chain Management hat aufgrund der wachsenden Bedeutung der Logistik und der Optimierung von Schnittstellenproblematiken an Bedeutung für den Unternehmenserfolg gewonnen.
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Als wesentliche Einflussfaktoren sind an dieser Stelle die Globalisierung der Beschaffungs- und Absatzmärkte, die Deregulierung der europäischen und weltwirtschaftlichen Handelsvorschriften und steigende Kundenanforderungen hinsichtlich Zeit, Qualität, Kosten und Flexibilität sowie die zunehmende Verlagerung der Wertschöpfungsanteile hin zum Zulieferer zu nennen. Erfolgreiches Handeln wird durch stagnierende Märkte, spürbare Ressourcenverknappung und Umweltbelastung, die Dynamik des technologischen Wandels sowie den Wertewandel und den wachsenden Anforderungen bei den Kunden geprägt. Die Logistik muss sich diesen Herausforderungen stellen und sich an der Beherrschung einer wachsenden Produktund Prozesskomplexität orientieren. Die neue Herausforderung besteht in der individualisierten Massenproduktion, die das Ziel verfolgt, eine marktgerechte Vielfalt an Produkten und Prozessen sicherzustellen. Zusammengefasst sind dies im Einzelnen: • Gestiegene Kundenanforderungen an einen Premiumhersteller in Form von kurzer Lieferzeit, hoher Auftragsänderungsflexibilität und hoher Liefertermintreue • Ausweitung des Produktangebotes bei einer zunehmenden Anzahl von Nischenmodellen, Sondereditionen und Derivaten • Ausweitung des Produktangebotes bei Motor- und Getriebevarianten und -kombinationen sowie gestiegene Anzahl an Ausstattungsvarianten und Individualausstattungen • Verkürzte Modellzyklen mit verkürzten Produktentwicklungsphasen und steileren Anlaufkurven • Ausbau des Händlernetzes und Ausweitung der Vertriebsstandorte in den Wachstumsmärkten der Zukunft • Öffnung der Märkte durch die weltweite Globalisierung und damit Zugang zu einer internationalen Beschaffungs- und Distributionsorganisation Die Automobilindustrie sieht sich einer gewachsenen informations- und materialvernetzten Wertschöpfung im mehrstufigen Netzwerk von Automobilherstellern, Logistikdienstleistern, Modul- und Einzelteillieferanten gegenüber. Die Konsolidierung auf allen Stufen dieses Netzwerkes implizierte bei Audi die Erweiterung der Produktpalette sowie die Vergrößerung des Lieferantenportfolios auf internationaler Ebene. Die zentrale Funktion erfolgreicher Logistik ist es, dieses komplexe Netzwerk zu steuern und gleichzeitig den erhöhten Kundenansprüchen nachzukommen. Die Versorgungsnetzwerke müssen zukünftig ein hohes
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Maß an Effizienz, Flexibilität und Adaptivität aufweisen. Im Kern umfasst ein adaptives Belieferungsnetzwerk den Zusammenschluss von Unternehmen über mehrere Fertigungsstufen hinweg zu einer flexiblen und dynamischen Partnerschaft.
Akteursübergreifende Integration der Wertschöpfungsprozesse Prozesse sind das Grundgerüst einer jeden Supply Chain. Bei den einzelnen kooperierenden Akteuren lassen sich zahlreiche miteinander in Beziehung stehende logistische Ketten identifizieren, die die funktionsübergreifenden Veränderungen logistischer Prozesse hinsichtlich Zeit und Ort beschreiben. Mit ihnen wickeln die Unternehmen gemeinsam Kundenaufträge ab. Um eine durchgängige Wertschöpfungskette erfolgreich zu implementieren und zu managen, bedarf es daher eines ausgereiften Zusammenspiels zwischen allen beteiligten Funktions- und Unternehmensbereichen. Die zunehmende Vernetzung der Logistikprozesse im Rahmen partnerschaftlicher Zusammenarbeit erschwert jedoch maßgeblich die Umsetzung. Den sich immer komplexer darstellenden Ketten, die sowohl die Koordination von physischen als auch informatorischen Prozessen beinhalten, kommt die Aufgabe zu, die entkoppelten Prozesse zu verbinden und die Schnittstellen zwischen den Funktionen und Unternehmen zu beseitigen. Die prozessorientierte Logistikkonzeption versteht sich dabei nicht als Konglomerat statischer Funktionen, sondern als strukturiertes Netzwerk unternehmensübergreifender, dynamischer Prozesse. Das Spektrum der gemeinschaftlich abgewickelten Supply Chain-Prozesse umfasst über die Gestaltung, Planung und Steuerung auch die Ausführung. Längst sind sich alle Beteiligten einig darin, dass neue Potenziale in der Automobilindustrie erst durch eine Optimierung der unternehmensübergreifenden Prozesse umgesetzt werden können. Als klassische Potenzialhebel werden in diesem Zusammenhang eine erhöhte Flexibilität, geringe Bestände, eine bessere Kapazitätsauslastung und eine erhöhte Wettbewerbsfähigkeit angeführt (siehe Abbildung 1). In den wesentlichen Teilprozessen wird Kompetenz aufgebaut, die intelligente Verknüpfung von Prozessen und Informationssystemen ist jedoch häufig nicht gewährleistet. Ein wesentliches Merkmal von Kollaboration ist schließlich die Synchronisierung dieser logistischen Prozesse durch eine Verbesserung der technischen und kommunikativen Schnittstellen zwischen den Partnerunternehmen [StFr04, S.3; BaZa00, S.1].
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L i e f e r a n t e n
Erhöhte Flexibilität Höhere Planungssicherheit Verkürzte Wiederbeschaffungszeit Geringere Bestände Höhere Abnahmesicherheit Bessere Kapazitätsauslastung Erhöhung der Qualität Geringer administrativer Aufwand
A b n e h m e r
Bessere Marktbedienung/Wettbewerbsfähigkeit
Abbildung 1: Potenzialhebel einer Supply Chain-Kooperation
Ein gemeinsam abgestimmtes Referenzprozessmodell, welches die Transparenz in der Kette nachhaltig fördert, ist die Voraussetzung für eine unternehmensübergreifende Integration der einzelnen Akteure. Nahezu alle Hersteller haben auf diese Trends aktiv reagiert und ziehen logistische Konzepte zur Umsetzung der Kundenanforderungen heran, um die neuen Herausforderungen zu bewältigen und sich einen strategischen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Viele der heute sich im Betrieb befindenden logistischen Systeme besitzen jedoch nicht die Flexibilität und Funktionalität, die notwendig ist, um schnelle Entscheidungen zu treffen. Planungen erfolgen zudem meist iterativ. Die Konsequenz sind Planungszeiten von mehreren Tagen bis Wochen, so dass es schwer ist, zukünftige Markt- und Wettbewerbsveränderungen zu antizipieren und entsprechend zu reagieren [Lawr00, S.9].
Integrationskonzept Kapazitätsmanagement: Im Spannungsfeld zwischen Vertrauen, Transparenz und Flexibilität Ein wesentliches Problem in der Projektplanung sind die beschränkten Ressourcen. Das Kapazitätsmanagement stellt ein Planungselement zur Absicherung und zum Abgleich der Kapazitäten zur Deckung der Marktbedarfe auf mittel- bis langfristiger Ebene im Rahmen der Produktionslogistik dar [Wild05b, S.37f.]. Zielsetzung des Kapazitätsmanagement ist damit die Absicherung des aus dem Markt resultierenden Bedarfes durch aktives, vorausschauendes Erkennen von Kapazitätsengpässen und das Einleiten gegensteuernder Maßnahmen zur Erstellung baubarer Produkti-
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onsprogramme, sowie die Erhöhung der Einplanungstreue, der Programmtreue und der Liefertreue in der gesamten Kette [Stra06, S.94]. Während das Bedarfsmanagement die Bedarfserfassung und -speicherung, eine mehrstufige Stücklistenauflösung für alle Module und kritischen Lagerteile auf mehreren Stufen der Supply Chain sowie die kontinuierliche Auftragsüberwachung umfasst, beinhaltet das Kapazitätsmanagement die Ermittlung und den Abgleich des Kapazitätsbedarfs mit den Kapazitätsangeboten aller relevanten Werke und der (kritischen) Zulieferer der Supply Chain. Das Planungselement ist zudem für die Allokation der Kapazitäten zu konkreten Bedarfen zuständig und sichert eine kapazitätsbasierte Einplanung von Aufträgen. Dabei greift das Kapazitätsmanagement auf alle für die jeweilige Produktion verfügbaren Werke zu. Die Werksauswahl umfasst die Ermittlung eines geeigneten Fertigungswerks für jeden einzelnen Kundenauftrag unter Berücksichtigung relevanter Faktoren wie Kosten und Kapazitäten. Es muss somit sichergestellt werden, dass alle relevanten Restriktionen der in Frage kommenden Werke, wie Materialverfügbarkeit und Kapazitätsauslastung, sowie alle Kostenfaktoren bei der Auswahl berücksichtigt werden Die vertrauensvolle und uneingeschränkte Kooperation der Akteure ist eine Voraussetzung für die erfolgreiche Einführung eines übergreifenden Kapazitätsmanagements. Schließlich müssen sich die Partner bereit erklären, wertvolle Informationen zur Verfügung zu stellen, die im Normalfall einer Eigenoptimierung dienen. So müssen Lieferanten beispielsweise ständig Einblick in den Auftragsbestand des OEM1 und der OEM in den Kapazitätsauslastungsgrad des Lieferanten haben. Als entscheidend für den Erfolg der Kooperation sind folgende Kriterien zu nennen: • • • • • •
Gemeinsam abgestimmte Zielsetzung, Bereitschaft der Kooperation, Verwendung von IT-Standards und -technologien, Managementunterstützung, messbares Potenzial und transparente Verteilung der Kosteneinsparungen.
Die Chancen und Risiken bei der Einführung logistischer Konzepte sind primär von der Komplexität des jeweiligen Konzeptes abhängig. So beschäftigen sich viele Unternehmen mit Themen wie Sendungsverfolgung/Rückverfolgbarkeit in der Logistikkette oder Verbesserung des Supplier Relations Management (SRM) [Stra06, S.24f.]. Viele Unterneh1
Original Equipment Manufacturer
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men führen sowohl Zeitknappheit als auch Schnittstellenprobleme als maßgebliche Gründe an. Die Chance, Supply Chain Management zu einem operativen und strategischen Wettbewerbsfaktor auszubauen und die damit verbundenen Potenziale zu erschließen, ist primär von der Supply Chain-Strategie abhängig. In diesem Zusammenhang sind die maßgeblichen Eckpfeiler kooperativer Zusammenarbeit die Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit, der Aufbau von Vertrauen sowie die Sicherheit und Stabilität seitens der relevanten Partner [Wild05c]. Obwohl SCM wissenschaftlich und praktisch anerkannt ist, bestehen immer noch erhebliche Hindernisse bei der Umsetzung von Kooperationskonzepten. Während vor kurzer Zeit als Hemmnisse mangelndes Vertrauen und mangelnde Informationsverfügbarkeit angeführt wurden, zählen Unternehmen die Ungewissheit über die Profitabilität und der zu tätigenden Investitionen im Rahmen von Logistikprojekten aktuell zu den größten Risiken [Ferb05, S.103ff.]. Die reibungslose Umsetzung von logistischen Projekten setzt voraus, dass alle Beteiligten einen individuellen Nutzen für sich sehen. Die Frage der Identifikation und Quantifizierung von Nutzen stellt somit ein zentrales Thema dar.
Nutzen- und Kosteneffekte des Kapazitätsmanagements in Theorie und Praxis Auf der Nutzenseite ergeben sich im Vergleich zwischen Lieferant und OEM quantitativ überwiegend messbare Vorteile für den OEM. Während der Lieferant im Bereich der Engpasserkennung profitiert und die Zeit zur Hochrechnung und Grobbedarfsermittlung erheblich reduziert, weist der OEM vor allem im Bereich der Versorgungssicherheit, dem Horizont der Bedarfsprognose, der Anzahl von Sonderfahrten, der Anzahl der Fehlteile und Zukäufe und der Datenaufbereitungszeit Potenziale auf. Die Kostenseite zeigt bei einer gemeinsamen Abwicklung einer unternehmensübergreifenden Kapazitätsplanung eine deutliche Reduzierung der Gesamtkosten bei Zulieferer und OEM. Ausgehend von einer individuellen Betrachtung führt ein gemeinsam realisiertes Kapazitätsmanagement zwar zu einer Erhöhung der Summe der Bestell- und Lagerkosten des OEM, jedoch ist die damit verbundene Reduzierung der Summe der Rüst- und Lagerkosten beim Zulieferer größer als der Kostenanstieg beim OEM. Herrschen Machtasymmetrien vor, so besteht hier kein Anreiz, von einer Eigenoptimierung abzuweichen. Eine gemeinsame Lösung kann erst als Ergebnis eines vertrauensvollen Umgangs, von Erfahrungen und Verhandlungen er-
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reicht werden. Die Effektivität und Effizienz dieser Verhandlungen ist von gesicherten Informationen abhängig. Durch den Abbau der vorherrschenden Informationsasymmetrien zwischen den Akteuren kann die Qualität der Zusammenarbeit und damit der Verhandlungen erheblich verbessert werden. Unternehmen im automobilen Bereich realisieren verstärkt, dass die Integration der Partner im Rahmen des Kapazitätsmanagements der Planungsschlüssel für eine anzustrebende ganzheitliche Auftragsabwicklung und -steuerung in der Wertschöpfungskette ist. Themenbereiche des Kapazitätsmanagements, die in diesem Zusammenhang im Rahmen von Projekten verstärkt diskutiert und optimiert werden, sind [Wild06, S.88ff.] (siehe Abbildung 2): • • • •
der kontinuierliche Planzahlen-Kapazitäts-Abgleich, das Engpassmanagement, das interne und externe Kapazitätsmanagement und das Fehlteilmanagement. Unternehmen im Handlungsfeld
Problemstellung
Ergebnisse
Unternehmen 1
• Planzahlen-KapazitätsAbgleich: Abgleich der Vertriebsplanzahlen mit internen und externen Kapazitäten
• SOLL-Prozess für den Kapazitätsabgleich, monetäre Potenziale und qualitative Verbesserungen
Unternehmen 2
• Engpassmanagement mit Schwerpunkt der Maßnahmenbewertung
• Modellbasierte Vorgehensweise zur Bewertung von Engpässen und Beurteilung von Maßnahmen
Unternehmen 3
• Internes Kapazitätsmonitoring mit Schwerpunkt auf einen Unternehmensbereich
• Strukturierung der Monitoringelemente und Erarbeitung eines internen Kapazitätsmonitorings
Unternehmen 4/ Unternehmen 5
• Optimierung des eigenen Fehlteilmanagements
• Allgemeingültige Vorgehensweise zur Einführung und zur Optimierung eines Fehlteilmanagements
Abbildung 2: Themen und Fallstudien des Kapazitätsmanagements
Ein Ansatz zum Abgleich der Vertriebsplanzahlen mit den internen und externen Kapazitäten ist der Planzahlen-Kapazitäts-Abgleich. Der Abgleich kann dabei sowohl rein intern als auch extern erfolgen. Bei Unternehmen 1 aus dem Automobilzulieferbereich erfolgte der interne und externe Kapazitätsabgleich organisatorisch isoliert voneinander. Aussagen gegenüber Kunden und internen Abteilungen bezüglich verfügbarer Kapa-
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zitäten waren kaum verlässlich, die Abschätzungen von zukünftigen Kapazitätssteigerungen stellten sich als schwierig dar und die Identifikation von Engpässen (z. B. lieferantenseitige Ressourcen) und Stellhebeln zur Engpass-Vermeidung war nahezu unmöglich. Die organisatorische Zusammenfassung von interner und externer Kapazitätsplanung zu einer zentralen Kapazitätsplanung überwand diese Problematiken und führte das Unternehmen zu reduzierten Pönalen. Sonderlogistikkosten konnten in einem Segment um bis zu 100% reduziert werden, der Lieferrückstand wurde vollständig abgebaut. Das Automobilunternehmen 2 verfügte bereits über eine zentrale Kapazitätsplanung. Hier konnten eine Effizienzsteigerung in der Produktion durch Transparenz und Standardisierung in der gesamten Supply Chain mit Hilfe moderner Informationstechnologien realisiert werden. Die Integration von Lieferanten wurde durch die Erweiterung der werksspezifischen Sicht über organisatorische Grenzen hinweg und die Integration von Verfahren mit geeigneter Software vollzogen. Die direkte Anbindung des Kundenbestellprozesses an den Auftragsmanagementprozess des Unternehmens ermöglichte schnelle Reaktionszeiten. Dennoch stellte sich die Bewertung von Engpassereignissen und Maßnahmen zur Engpassvermeidung aufgrund einer fehlenden Systematik zur Vorgehensweise als maßgebliches Problem dar. Auf Basis der vorliegenden Problematik wurde ein 6-stufiges Konzept erstellt (siehe Abbildung 3).
• Bewertung der Maßnahmen durch Veränderung der Lage des Engpassereignisses im Portfolio (=Nutzen) • Gegenüberstellung von Aufwand und Nutzen, Auswahl
• Abgrenzung der Maßnahmen auf Basis der relevanten Steuergrößen
1. Charakterisierung Engpassereignis 4. Maßnahmen bewerten und umsetzen
• Abgrenzung des Engpasses • Definition des Ereignisses
2 A. Ermittlung des Schadensausmaßes
• Auswahl der Kennzahlen (Potenzialgrößen) • Gewichtung und Bewertung und Aggregation zum Schadensausmaß
Vorgehensweise zum Engpassmanagement 3. Definition der Maßnahmen zur Vermeidung
• Quantitative und/ oder qualitative Abschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit des Engpassereignisses
2 C. Darstellung im Schadensportfolio 01 ppt
• Visualisierung der Bewertung des potenziellen Engpassereignisses im Portfolio
2 B. Ermittlung der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit
Abbildung 3: Vorgehensweise zum Engpassmanagement
Nach einer Abgrenzung des Engpasses und der Definition des Ereignisses werden sowohl Schadensausmaß als auch Schadenseintrittswahrschein-
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lichkeit zunächst isoliert ermittelt und dann in einem Schadensportfolio gegenübergestellt. Je nach Lage des Engpassereignisses werden Standardmaßnahmen auf das Ereignis adaptiert, bewertet und zur Umsetzung ausgewählt. Die Strukturierung von Controllingelementen und die Zusammenführung zu einem internen Kapazitätsmonitoring-System wurden in Zusammenarbeit mit dem Unternehmen 3 vollzogen (siehe Abbildung 4). Ein fehlender Standardprozess zur Kapazitätsplanung in mehreren Segmenten erschwerte sowohl den Abgleich als auch die interne Abstimmung der Planungsdaten. Die Planungsebenen wichen hier teilweise erheblich voneinander ab. Die Unterstützungswerkzeuge waren heterogen. Eigenlösungen, mit denen sich die verantwortlichen Mitarbeiter behalfen, erschwerten die segment- und bereichsübergreifende Zusammenarbeit und erhöhten die Durchlaufzeit. Der Ansatz einer standardisierten Vorgehensweise zur Synchronisation und Harmonisierung der Daten von Quelle (Kapazitätsbereitstellung) und Senke (Bedarfsabruf) begegnete diesen Problemstellungen. Das standardisierte Modell sah eine zentrale interne Kapazitätsplanung vor, bei der die Daten, wie strategische Programmplanungen, Prognosen und Kapazitätszahlen aus beiden Bereichen (Quelle und Senke) zusammengeführt und zentral verarbeitet wurden. Diese Vorgehensweise ermöglichte eine erhebliche Reduzierung der Durchlaufzeit bei gleichzeitiger Erhöhung der Planungssicherheit. Die interne Standardisierung stellte zugleich die Grundlage für ein weiterführendes externes Kapazitätsmanagement mit Kunden und Lieferanten dar. Bedarfsabruf - Senke -
„Übersetzung der Informationen in die Sprache des Empfängers“
Kapazitätsbereitstellung - Quelle -
Interne & externe Bedarfe
Abgleich & Harmonisierung
Interne & externe Kapazitäten
• Strategische Programmplanung • Vertriebsdaten und -prognosen • Produktionsplanung •…
Zielsetzung
Zentralisiertes Kapazitätsmonitoring und -controlling
• Maschinen- und Anlagenkapazitäten • Personalkapazitäten • Materialkapazitäten •…
Abbildung 4: Zentrales Kapazitätsmanagement als Synchronisationsinstrument
Das Fehlteilmanagement als Element des Kapazitätsmanagements stellt sich maßgeblich als unternehmensübergreifendes Element dar und setzt sich aus den vier Wirkungsbereichen Planung, Sourcing, eigene Produktion und IT zusammen. Für die betrachteten Unternehmen 4 und 5, die in ei-
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ner Zulieferer-Abnehmer-Beziehung standen, war die Verfügbarkeit von Teilen der Betrachtungsgegenstand der Optimierung. Eine Fehlteilquote von fallweise 20%, die sowohl qualitative als auch zeitliche Gründe haben konnte, zwang die Partner gemeinsam zum Handeln. Im Rahmen des Lösungskonzeptes wurde ein Fehlteilmanagement entwickelt, das sich an der Vorgehensweise zum Engpassmanagement orientiert. Nach einer Analyse der Ist-Situation durch Performance-Messungen und Problemerörterungsworkshops wurde hier ein Messkonzept entwickelt, das Fehlteile nach Fehlteilursache und -wirkung zeitnah erfasst und Standardmaßnahmen je nach Ursache vorhält. Das ganzheitliche Controlling-Konzept setzt sowohl bei der Steuerung und Überwachung des Zulieferers als auch des Abnehmers an und integriert beide Systeme. Durch die Implementierung des Controlling- und Monitoringkonzeptes konnte die Reaktionszeit erheblich reduziert und der Austausch von Daten, wie Fehlteilursachen, beschleunigt werden. Unternehmen 4 konnte somit die jeweiligen Ursachen systematisch im eigenen QM-System berücksichtigen und präventiv gegensteuernde Maßnahmen veranlassen.
Kapazitätsmanagement der Audi AG: Kommunikation und Information als Schlüsselfaktor des Erfolges Der Abbau von Informationsdefiziten sowohl innerhalb unternehmensinterner Prozessketten als auch unternehmensübergreifender Wertschöpfungsnetzwerke wird bei Audi als Voraussetzung für die Schaffung optimierter Wertschöpfungsprozesse und zukünftig als wesentliche Aufgabe der Logistik angesehen. Im Spannungsfeld zwischen Marktbedarf, Lieferantenkapazitäten und geplantem Produktionsprogramm übernimmt das Bedarfs-Kapazitäts-Management (BKM) eine regulierende und steuernde Rolle. Als Teil eines konzernweit synchronisierten, revolvierenden Programmplanungsablaufes dient der BKM-Prozess der Optimierung aller nachgelagerten Planungs- und Steuerungsprozesse sowie der Erhöhung der Einplanungs- und Programmtreue durch aktives, vorausschauendes Erkennen von Kapazitätsengpässen [KrLo06]. Zunächst werden die Informationen des Vertriebs über die aktuelle Auftragssituation und die Veränderungen des Absatzmarktes von der Logistik in einen Produktionsprogrammentwurf eingebracht und umgesetzt (siehe Abbildung 5). In diesem Zusammenhang spielen die Produktionsmöglichkeiten der fahrzeug- und aggregatebauenden Werke eine vordergründige Rolle. Anschließend wird der Produktionsprogrammentwurf auf Baubarkeit geprüft, das heißt, es erfolgt eine Prüfung, ob die Fertigungskapazitäten der Modul-
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und Einzelteillieferanten ausreichen, den aus dem Programmentwurf resultierenden Teilebedarf abzusichern und eine störungsfreie Produktion sicher zu stellen.
Abbildung 5: Spannungsfeld Bedarfs-Kapazitäts-Management
Das Ziel ist ein endgültiges Produktionsprogramm als gemeinsames Commitment zwischen Vertrieb und Produktion, das von der Logistik koordiniert wird und im Ergebnis zu einem störungsfreien Fertigungsprozess führt. Möglich wird dies durch ein proaktives Kapazitätsmanagement zur rechtzeitigen Erkennung der benötigten Kapazitäten und Fertigungsressourcen und der Sicherstellung einer ausreichenden, wirtschaftlichen Materialversorgung. Bereits Anfang der 90er Jahre wurde im Volkswagen-Konzern der strategische Einsatz von markenübergreifenden Gleichteilen im Bereich des Fahrzeugunterbaus und des Fahrgestells eingeführt, um größtmögliche Synergieeffekte in der Produktentwicklung und im Einkauf realisieren zu können. Die Beschaffungsstrategie, sich weltweit auf wenige Lieferanten zu konzentrieren, führte zu einem hoch komplexen, weltumspannenden Versorgungsnetzwerk. Das konzernweite Management der Lieferantenkapazitäten innerhalb dieses komplexen Netzwerks erfordert eine systematische Planung und Koordination und stellt damit eine zentrale Herausforderung für die Logistik bei Audi und im Volkswagen-Konzern dar.
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Wirkmechanismen der kooperativen Konzeptimplementierung mit Wertschöpfungspartnern Anfangs konzentrierte sich der Prozess des traditionellen BedarfsKapazitäts-Managements auf ausgewählte versorgungskritische Einzelteilumfänge. Mit der steigenden Anzahl und Komplexität der Lieferbeziehungen ergibt sich die Notwendigkeit, den Teileumfang auszuweiten. Vornehmlich im Aggregatebereich (Motor, Getriebe, Fahrwerk) ergab sich Handlungsbedarf, da diese Komponenten im Rahmen der Gleichteilestrategie von allen Marken des Volkswagen-Konzerns verbaut werden und die Versorgungssicherheit hier sehr schnell eine kritische Größe erreichen kann. Ein weiterer Teilaspekt ist die Versorgungsabsicherung plattformübergreifender Gleichteile durch eine zentrale Koordination, da alle auf dieselben Kapazitätsressourcen der Zulieferer zurückgreifen, so dass die Einzelbedarfe zu einem Konzernbedarf zusammengefasst und mit einer Gesamtkapazität abgeglichen werden. Mit Einführung des Bedarfs-Kapazitäts-Managements auf Konzernebene konnten die ursprünglich überwiegend autonom gesteuerten Bedarfshorizonte organisatorisch zusammengeführt werden. Eine webbasierte Anwendung als Teil der Volkswagen-B2B-Lieferantenplattform unterstützt die beschriebenen Geschäftsprozesse und eröffnet neue technische und funktionale Lösungsmöglichkeiten zur effizienten Informationsverarbeitung und -verteilung über mehrere Wertschöpfungspartner hinweg. Die zur Verfügung gestellten Services zur weltweiten Kommunikation und Kooperation unterstützen dabei sowohl Prozesse bei und mit Lieferanten, als auch Prozesse innerhalb des Konzerns. Das Kernelement des Bedarfs-Kapazitäts-Managements ist der BedarfsKapazitäts-Abgleich, der für den mittel- bis langfristigen Planungszeitraum potenzielle Versorgungsengpässe aufdecken soll. Offengelegt werden sowohl Kapazitätsengpässe und Bedarfsunterdeckungen als auch Kapazitätsüberhänge und Bedarfsüberdeckungen des Lieferanten. Im Bedarfs-Kapazitäts-Abgleich werden die Zusammenhänge zwischen Bedarfen und Kapazitäten in einem Beziehungsmodell abgebildet. Dies erfordert neben der quantitativen Erfassung der Kapazitätsgröße die qualitative Analyse der beim Zulieferer vorhandenen Kapazitätsstruktur. Eine Kapazitätseinheit kann dabei eine Maschine oder Fertigungseinheit beschreiben, aber auch eine Folge von mehreren Fertigungsanlagen in Parallel- oder Reihenfertigung. Dies können sowohl einzelne Engpassmaschinen, vollständige Montagelinien, besonders ausgebildete Mitarbeiter als auch Transportfahrzeuge sein. Im System verdichtet der Lieferant ent-
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sprechend seiner Fertigungsstruktur die von ihm zu liefernden Einzelteilumfänge auf Teile- oder Komponentenbasis zu so genannten Kapazitätsknoten. Je nach Zergliederungsgrad des Fertigungsprozesses ist eine mehrstufige und hierarchisch gestaffelte Modellierung möglich (siehe Abbildung 6). Fertigung
Werk / Fertigung Fertigungseinheit
Fertigungseinheit
Materialfluss
M1
Maschine 1
M2 M3
M4 M5
Bedarfs-Kapazitäts-Struktur
Teil A
Teil B
Teil C
Bedarfs-Kapazitäts-Bäume (exemplarisch)
Kapazitätsknoten Fertigungseinheit Maschine Teile
Abbildung 6: Fertigungseinheit als Bedarfs-Kapazitäts-Struktur
Auf diese Weise können Abhängigkeiten und Restriktionen im Fertigungsablauf auf eine Bedarfs-Kapazitäts-Beziehung übertragen werden. Gleichwohl können Ressourcen, die anfänglich als Engpassfaktor eingestuft wurden, zwischenzeitlich durch ein intelligentes Management an Kritizität verloren haben, so dass eine dynamische Analyse der aufgebauten Bedarfs-Kapazitäts-Bäume erforderlich wird. Die besondere Herausforderung beim Aufbau der Kapazitätsstrukturen liegt nicht allein in der Analyse und der schematischen Darstellung der Fertigungsstruktur, sondern hauptsächlich in der Identifikation des Engpassfaktors. Die ausschlaggebende Funktionalität ist eine aus dem System heraus automatisch generierte Problemmeldung (Alert), sowohl bei Bedarfsunterals auch bei Bedarfsüberdeckungen. Der Benutzer kann den Versandrhythmus festlegen. Er kann wählen, ob die Zusammenstellung aller Alerts an seine Email-Adresse (z. B. in Outlook) täglich, wöchentlich oder monatlich erfolgen soll. Mit diesem Frühwarnsystem ist für alle Beteiligten die Basis für die höhere Reaktionsfähigkeit in VersorgungsengpassSituationen gegeben. Es kann frühzeitig erkannt werden, ob der Zulieferer
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im Mittel- bis Langfristzeitraum dem Bedarf mit seiner Fertigungskapazität entsprechen kann. Im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Lieferant sowie Logistik und Einkauf im Konzern werden die notwendigen Abstimmungsprozesse über einen integrierten Workflow gesteuert, der mittels konkreter Lösungsfunktionalitäten zu einer Engpassvermeidung und -beseitigung beiträgt. Allen Anwendern steht zu jeder Zeit der jeweils aktualisierte Informationsstand über Kapazitäten und Bedarfe zur Verfügung und erzeugt erhöhte Transparenz über die Versorgungssituation im Belieferungsnetzwerk.
Erfolgsfaktoren des Konzeptes Die Motivation für die marken- und regionsübergreifende Konsolidierung der Bedarfe in einem gemeinsamen Prozess ist die frühzeitige Erkennung unvorhergesehener Kapazitätsengpässe sowie die Erweiterung des Bedarfshorizontes auf bis zu 24 Monate. Die Erfolgsfaktoren für den Einsatz eines systemgestützten BKM zur Unterstützung bestehender Prozesse sind • der Austausch von Kapazitäten und Bedarfe über den Zeithorizont des verbindlichen Lieferabrufes hinaus, • die durchgängige Synchronisation der Materialflüsse entlang der gesamten Wertschöpfungskette, • die größtmögliche Flexibilität durch Einbindung der Lieferanten in den strategischen und operativen Planungsprozess, • die flexible Reaktion auf Programmänderungen und StörungsManagement und • der definierte Prozess zur Anpassung von Kapazitäten und Glättung der Produktion. Unvorhergesehene Änderungen des Marktbedarfes können erheblichen Einfluss auf bereits verabschiedete Produktionsprogramme haben. Unter Umständen harmonisiert ein veränderter Marktbedarf nicht mit den vorhandenen Kapazitäten eines Lieferanten, so dass es zu Lieferengpässen oder Überkapazitäten kommen kann. Gerade um solche Entwicklungstendenzen möglichst frühzeitig erkennen zu können, werden die Kapazitäten und Bedarfe erfasst und abgeglichen. Alle eingebundenen Lieferanten können die aktualisierten Produktionspläne und angepassten konsolidierten Bedarfe aller Marken und Regionen zeitnah und zu jeder Zeit über das Internet verfolgen.
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Die Bedarfsvorschau bis zu einem Horizont von 24 Monaten kann Probleme bei der Versorgung im Kurz- und Mittelfristbereich verhindern: einerseits durch den langfristigen Aufbau von Kapazitäten (strategische Kapazitätsplanung) und andererseits durch die planerische Sicherung (programmorientierte Kapazitätssicherung). Dabei wirkt das BedarfsKapazitäts-Management indirekt auf die logistischen Folgeprozesse wie Einplanung der Kundenaufträge, konzernweiter Materialabruf und fabrikbezogene Fertigungssteuerung und schafft damit nicht nur die notwendigen Voraussetzungen bei Produktentscheidungen und Investitionen, sondern auch für die Entscheidungsunterstützung im gesamten Programmplanungsprozess und eine strategisch ausgerichtete Kapazitätsplanung [Loch03].
Zusammenfassung Zur Bewältigung der aufgezeigten Herausforderungen werden innovative Steuerungsinstrumente und -methoden benötigt. Ein partnerschaftliches, bereichs- und unternehmensübergreifendes Prozessverständnis löst die klassisch funktionale Aufteilung ab. Dies erfordert ein Umdenken von traditionell hierarchischen Organisationsstrukturen hin zu einem integrierten Geschäftsprozess-Szenario. Die weiter wachsende Kundenorientierung in der Automobilindustrie fordert verstärkt innovative, zukunftsorientierte Konzepte innerhalb der Logistik. Im Rahmen des Kapazitätsmanagements gibt es vier wesentliche Optimierungsbereiche: der kontinuierliche Planzahlen-Kapazitäts-Abgleich, das Engpassmanagement, das (interne und externe) klassische Kapazitätsmanagement und das Fehlteilmanagement. Alle vier Bereiche weisen Ansätze und Modelle auf, die ein integriertes, ganzheitliches Kapazitätsmanagement möglich machen. Die Ansatzpunkte sollten dabei nicht als kurzfristige Kostenreduzierungsprogramme betrachtet werden, sondern als strategische, langfristige Lösungen gesehen werden. Durch den Übergang von der Teile- zur Komponentenkette ergeben sich auch neue Anforderungen an die Informationssysteme und die Kommunikation zwischen den Partnern. Nur so lässt sich das Ziel eines transparenten und synchronisierten Supply-Netzwerkes erreichen. Kommunikation und Information für alle am Prozess Beteiligten werden zum Schlüsselfaktor des Erfolges. Dass ein integriertes Konzept zum Erfolg führt, verdeutlicht der Weg der Audi AG. Ein effizienter Bedarfs-Kapazitäts-Abgleich im Rahmen des Bedarfs- und Kapazitätsmanagements (BKM) konnte durch die frühzeitige Einbindung der Lieferanten in die Planungs- und Steuerungsaktivitäten er-
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reicht werden. Mit einer deutlichen Verbesserung der Performance leistet die Audi Logistik einen wesentlichen Beitrag zu der geplanten Produktivitätssteigerung in der Fahrzeugproduktion. Bereits heute zeichnet sich deutlich die neue Rolle der Logistik als Prozessgestalter und Prozessinnovator im gesamten Versorgungsnetzwerk ab. Weitere Literatur, Checklisten und Tools unter: www.tcw.de
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A Ablaufsimulation
339, 364, 371, 409 Adaptivität 31, 42, 47, 205, 209, 356, 511 Änderungsflexibilität 68, 70 Akzeptanz 71, 289, 292, 341, 382, 408, 414, 415, 420, 430 Anpassung 31, 47 Anpassungsauslöser 178, 179 Anpassungsstrategien 157, 449 Anreizsysteme 288, 418 Anwendungsarchitektur 149, 187, 295, 475 gewachsene 152 monolithische 153 Anwendungsarchitekturklasse 152, 482 Anwendungsintegration 389, 390 Anwendungssystem 150, 161, 461 Audit 107, 312 Auftragsfertiger 141, 143, 147 Augmented Reality 370, 488, 501 Ausschreibung 259, 260, 264, 281 Ausschreibungsprozess 263, 265 Ausschreibungsszenario 262 Automobilindustrie 3, 21, 31, 54, 65, 71, 81, 105, 123, 139, 147, 175, 221, 236 Automobilzulieferer 55, 82, 233, 463
B Bereitstellplanung 349, 356 Bündelung 254, 350 Build-to-order 18, 24, 57, 63, 81, 139, 182, 450, 462 Build-to-stock 18, 23, 54, 63, 139 C Conjoint-Analyse
88, 100, 111
D Datenmanagement 339, 359, 387 Datenmodell 158 Dienstleister 35, 205, 297 klassische 225, 235 koordinierende 225, 235 Kontraktlogistik- 225, 235 Digitale Fabrik 335, 338, 359 E Enterprise Service Oriented Architecture 153ff., 163, 483 E-Kanban 114, 116f. F Fabrikstrukturen 34, 345 Fachkomponenten-Architektur 155 Fehlerkultur 291, 420, 440 Fehlermanagement 445, 506 Fehlerprävention 444, 501 Fertigungstiefe 5, 159, 453 Flexibilität 27, 33, 41, 53, 124, 205 Flexibilitätsmanagement 127, 175 FlexLog 33, 125, 129, 131, 179
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FMNA-Ansatz 81, 83f. ForLog 13, 29, 32, 47, 125, 157, 171, 205, 211,220, 284, 319, 375, 425, 449, 475 Funktions- und Prozessmodulanbieter 215 G Globalisierung 3, 182, 329, 510 Global Sourcing 22, 322 H Hub-and-Spoke-System 247 I Informationsbereitstellung 114, 487ff., 503, 506 InformationssystemArchitektur 34, 187 Innovation 5, 10, 14, 23 Internationalisierung 158, 452 J Just-in-Sequence (JIS)
12, 104ff., 118, 307
K Kanban 115ff., 307 Kapazität 65, 158, 451, 467, 477, 509 Kohäsion 191 Kontraktlogistikdienstleistungen 271 Kooperation 5ff., 23, 27, 173, 231, 312, 322, 334, 512ff. Kopplung 192 Kommissionierung 381, 431, 487, 505 Kommunikation 113, 446, 518 Kosten 4, 292, 308, 310, 514
Kundennutzen 87ff., 110ff., 123 Kundenorientierung 103, 283, 352ff., 532 Kundenservice 295 L Lager 222, 241, 494 Lageroptimierer 368 Lernumgebung 428ff. Lieferzeit 69, 78 Logistik 12, 24, 29, 211, 237f. Logistikdatenmanagement 393 Logistikplanung 333, 359, 369, 379, 519 Logistikkosten 26, 221 M Materialversorgung 349 Mehrwertleistung 222, 241 Mitarbeiter 327, 341, 399 Mitarbeiterbedarf 277, 285 Mitarbeitereinsatz 284, 287, 289ff., 444 Mitarbeiterflexibilisierung 283 Mitarbeitermotivation 277, 288, 442 Mitarbeiterqualifizierung 35, 276, 291, 425 MitLog 35, 429 Modellpalette 19 Modularisierung 17, 335 Multi-User-Center (MUC) 247 N Nachfrageschwankung 57, 67 Netzanbieter 212 NutzLog 35, 126, 127, 130, 305, 310, 312 Nutzen 170, 311, 514 Nutzenverteilungsmodell 305 O Order-to-Delivery-Prozess 509
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Organisation
Outsourcing
45, 56, 114, 131, 177ff., 208ff., 284ff., 291, 400, 420, 441, 523 211, 219, 259
P Packstückbelabelung 297 Pilotproduktion 159, 452 PlanLog 34, 319, 346, 356, 366, 371, 392, 409 Planerleitfaden 361 Planungsauslöser 320 Planungsbaustein 335, 337, 361 Planungseinflüsse 323 Planungskonzept 334ff., 347 Planungsphasen 341, 347, 360ff., 395, 403 Produkt 8, 323 Produktlebenszyklus 5, 6, 20 Produktionsverbund 145 Prozessmodul 395 Prozessplanungssystem 363, 392 Prozessqualität 26 Q Qualitätskontrolle 502, 503 Quantifizierung 117, 126, 169 R Ramp Up 272 Request for Information (RFI) 264, 268 Request for Quotation (RFQ) 264, 268 Ressourcenvermieter 214 Revenue Management 63 S Schulung
Service Oriented Architecture 149, 154 Skaleneffekte 252 Standardisierung 23, 159, 263, 346, 452 Supply Chain Management (SCM) 24, 101, 114, 169ff., 208, 303ff., 509 Supra-Adaptivität 14, 29, 36, 41, 47, 205, 208, 219, 333, 341 SysLog 34, 475, 483 T Technikmodul 395 Technologie 6, 322, 414 TransLog 35, 240 Transport 222, 241 U Unternehmenskultur 283, 287ff., 341, 399, 408 V Value Chain 103 Value-to-Customer 110 Variantenmanager 367 Versorgungsprozess 326, 350ff. Virtual Reality 363, 373, 392 Vorteilsausgleich 35, 171 W Wandlungsfähigkeit Wissen 401, 408 Wissensmanagement digitales 405 kommunikatives
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5, 12ff., 27, 29, 123, 345 280, 339, 399, 410 405
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Dr.-Ing. Thomas Alt, Jahrgang 1975, ist Geschäftsführer der metaio GmbH in Garching bei München und beschäftigt sich mit dem Einsatz der Augmented Reality Technologie für industrielle und KonsumerAnwendungen. Er promovierte 2002 am Institut für Fertigungstechnik und Qualitätssicherung der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg. Vorher war Herr Dr. Alt bei der Volkswagen AG in Wolfsburg im Bereich Zentralplanung Produktion Konzern für den Bereich Einsatz von Augmented Reality in der Fahrzeugfertigung verantwortlich. In der Zeit von 1995 bis 1999 studierte Thomas Alt an der Technischen Universität München Maschinenwesen, Fachrichtung Produktionstechnik. Dipl.-Ing. (FH) Dipl.-Wirtsch.-Ing. Univ. Bernhard Boeck studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Technischen Universität München und Bauingenieurwesen an der Fachhochschule München. Im Anschluss war er in verschiedenen Funktionen bei Logistikprojekten für die Bau- und Luftfahrtindustrie in Europa und Nordamerika tätig. Seit 2004 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Unternehmensführung, Logistik und Produktion der Technischen Universität München. Er beschäftigt sich in diesem Zusammenhang vor allem mit dem Forschungsschwerpunkt Supply Chain Management und begleitet dabei Praxisprojekte mit Industriepartnern. Im Rahmen seiner Dissertation setzt er sich mit der Messung und Optimierung der Kooperationsqualität im SCM auseinander. Dipl.-Ing. Julia Boppert studierte Maschinenwesen an der Technischen Universität München und ist seit April 2003 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Fördertechnik Materialfluss Logistik beschäftigt. Seit September 2004 ist sie mit der Geschäftsführung und Koordination des Bayerischen Forschungsverbundes „Supra-Adaptive Logistiksysteme (ForLog)“ betraut. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich adaptive Planung, Supply Chain Strategien und Wissensmanagement.
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Dipl.-Ing. Ralf Breining startete seine berufliche Laufbahn, nach dem Studium des Maschinenwesens, im Marktstrategieteam Product Design des Instituts für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement der Universität Stuttgart. 1995 wechselte er in das Competence Center Virtual Reality des Fraunhofer IAO. Dort verantwortete er den Aufbau einer der ersten CAVEs in Europa und 2001 den Aufbau der ersten 6-Seiten-CAVE in Deutschland. Inhaltlich fokussierte er parallel dazu auf industrielle VRAnwendungen. In 2001 begann Herr Breining dann in der von ihm mit gegründeten Firma ICIDO GmbH als Verantwortlicher für den VR-Einsatz im Engineering. Mit der ersten großen projektierten Kundeninstallation baute er verantwortlich die ICIDO Professional Services auf. Parallel dazu ist er heute der zentrale Ansprechpartner für Universitäten, Hochschulen, Forschungseinrichtungen. Ergänzend betreibt Herr Breining Business Development in neuen Marktsegmenten. Dipl.-Ing. Alfred Endörfer war nach seinem Studium des Maschinenbaus in Braunschweig und Stuttgart für einen namhaften deutschen Automobilhersteller in mehreren Ländern in den Bereichen Montage, Vertrieb und Logistik tätig. Seit Oktober 2000 ist er bei der Schenker Deutschland AG in verantwortlicher Position im Geschäftsfeld Logistik/SCM tätig, seit September 2004 als Leiter der Geschäftsstelle Eching bei München. Troels Frimor, M. Sc. studierte an der Universität Aarhus (Dänemark) und der Technischen Universität München, wo er sich auf die Gebiete Augmented Reality und Human Computer Interaction spezialisierte. Dies ermöglichte es ihm, seine Masterarbeit am Lehrstuhl für Augmented Reality innerhalb des ForLog-Projektes zu schreiben und dabei intensiv am Teilprojekt MitLog mitzuarbeiten. Die Arbeit beinhaltete Experimente zur Eignung verschiedener Visualisierungs- und Display-Technologien in supra-adaptiven Logistiksystemen. Troels Frimor arbeitet weiterhin mit Augmented Reality – nun jedoch primär im Bereich der Medizintechnik. Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirtsch.-Ing. Willibald A. Günthner studierte an der Technischen Universität München Maschinenbau und Arbeitsund Wirtschaftswissenschaften. Nach seiner Promotion am dortigen Lehrstuhl für Förderwesen trat er als Konstruktions- und Technischer Leiter für Förder- und Materialflusstechnik in die Fa. Max Kettner Verpackungsmaschinen ein. 1989 übernahm er die Professur für Förder- und Materialflusstechnik an der FH Regensburg. Seit 1994 ist Prof. Günthner Leiter des Lehrstuhls für Fördertechnik Materialfluss Logistik an der TU München. Er ist Gründungsmitglied und Schatzmeister der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Technische Logistik WGTL und Mitglied des Vorstands der
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VDI-Gesellschaft FML. Seit September 2004 ist er Sprecher des Bayerischen Forschungsverbundes „Supra-adaptive Logistiksysteme (ForLog)“. Prof. Dr. rer. nat. Marianne Hammerl studierte Psychologie an der Universität Düsseldorf und hat seit Oktober 2002 den Lehrstuhl für Sozialund Organisationspsychologie an der Universität Regensburg inne. Sie ist zudem wissenschaftliche Leiterin des Zentrums für Weiterbildung der Universität Regensburg und Vertrauensdozentin der Bayerischen EliteAkademie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich sozial- und lernpsychologischer Phänomene, die sie sowohl unter Grundlagen- als auch Anwendungsgesichtspunkten untersucht. Dipl.-Kfm. Menno Hooites Meursing studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Regensburg. Anschließend arbeitete er drei Jahre im Bereich Business Process and Organisation für die Danzas Eurocargo Holding GmbH, Düsseldorf. Seit April 2004 arbeitet er an der Universität Regensburg als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Controlling und Logistik. Er engagiert sich seit September 2004 im Teilprojekt SysLog des Forschungsverbundes ForLog. Dipl.-Ing. Horst Monsees studierte Mess- und Regelungstechnik an der Technischen Universität Braunschweig und begann 1986 als Logistikplaner in der Volkswagen AG. Als Logistikleiter arbeitete er von 1992 bis 1994 bei Schrader Logistik und als Produktmanager von 1995 bis 1997 bei Arcus Logistik. Seit 1998 ist er bei Continental Automotive Systems, Operations Electronic als logistische Führungskraft tätig. Heute ist er für die Leitung der Prozessoptimierung in der Zentralen Logistik zuständig. Dipl.-Wirtsch.-Inf. Daniel Motus studierte Wirtschaftsinformatik in Augsburg und Wismar. Seit April 2004 befasst er sich im Rahmen seiner Dissertation am Institut für Technische und Betriebliche Informationssysteme der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg mit der Entwicklung von rechnerunterstützten Ingenieursystemen. Seit Dezember 2003 ist er bei der BMW Group tätig, zunächst in der Technologie Montage und seit November 2006 in der Ressort-IT Entwicklung und Einkauf. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Referenzmodellierung, Gestaltung von Entwicklungs- und Produktionssystemen sowie Datenmanagement.
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Dipl.-Wirtsch.-Inf. Felix Müller studierte Wirtschaftsinformatik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und ist seit Januar 2005 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Controlling und Logistik, an der Universität Regensburg beschäftigt. Er ist im Bayerischen Forschungsverbund „SupraAdaptive Logistiksysteme (ForLog)“ als Mitglied des Teilprojekts „Informationssystem-Architekturen supra-adaptiver Logistiksysteme in der Automobilindustrie“ tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Informationssystem-Architekturen, Modellierung von Unternehmensnetzwerken und Simulation. Dr. phil. Uwe Katzky (Jahrgang 1962) studierte Elektrotechnik an der Universität der Bundeswehr in München und promovierte in Pädagogik an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Seit 1989 setzt er sich mit der Entwicklung von Lernsoftware auseinander. Heute liegen seine Schwerpunkte im Bereich e-Learning, Virtuelle Realität und Simulation vor dem Hintergrund konstruktivistischer Ausbildungskonzeptionen. Als Account Manager der Firma Ray Sono AG ist er zudem für die Betreuung der Firmenkunden verantwortlich. Prof. Peter Klaus, D.B.A. Boston Univ. (Jahrgang 1944) ist seit 1990 Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Logistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg und seit 1996 Leiter der Fraunhofer Arbeitsgruppe für Technologien der Logistik-Dienstleistungswirtschaft (ATL) in Nürnberg. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre zum Dipl.-Kfm. war er zunächst für circa zehn Jahre in der Speditionswirtschaft praktisch tätig. Die Promotion und ein Studium zum M. Sc. (Transportation) absolvierte er an der Boston University und dem Massachusetts Institut of Technology in den USA. Seine heutigen Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Fragen des Managements von Logistik-Dienstleistungsunternehmen und konzeptioneller Entwicklungen der Logistik mit einem Schwerpunkt im Bereich organisations- und verhaltenswissenschaftlicher Aspekte. Prof. Gudrun Klinker, Ph. D. hat an der Friedrich-Alexander Universität in Erlangen und an der Universität Hamburg Informatik studiert und an der Carnegie-Mellon University in Pittsburgh (USA) in Computer Science mit Schwerpunkt Farbbildverarbeitung promoviert. Von 1989 bis 1994 war sie am Cambridge Research Laboratory (CRL) bei der Digital Equipment Corporation in Boston beschäftigt und erarbeitete Konzepte für flexibel einsetzbare, telekollaborative Datenexplorationsumgebungen, um drei- und höherdimensionale Datensätze in medizinischen und industriellen Anwen-
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dungen zu untersuchen. Seit 1995 hat sie am European Computer-Industry Research Lab in München und am Fraunhofer Institut für grafische Datenverarbeitung an verschiedenen Aspekten der neuen Forschungsrichtung „Augmented Reality“ gearbeitet. Seit 2000 ist sie Professorin für Augmented Reality an der Technischen Universität München, mit Forschungsfokus auf der Verbindung von Augmented Reality mit Wearable und Ubiquitous Computing. Dr. rer. pol. Andrea Lochmahr studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Regensburg. Seit 1996 ist sie bei der Audi AG in unterschiedlichen Funktionen in Vertrieb und Logistik tätig und promovierte berufsbegleitend zum Dr. rer. pol. Nach Leitung diverser Supply Chain Management Projekte und Aufbau der Audi Logistikstrategie ist sie derzeit Vertreterin der Markenlogistik in diversen Gremien und Arbeitskreisen. Sie ist zentrale Ansprechpartnerin der Markenlogistik für Forschungsprojekte und Hochschulkontakte. Dr.-Ing. Helmut Mößmer studierte Elektrotechnik und anschließend Betriebswirtschaft an der TU München. 1999 promovierte er am Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswirtschaften der TU München. Seit 1999 arbeitet er bei der BMW Group in unterschiedlichen Managementfunktionen. Aktuell ist er bei der BMW M GmbH für die Funktion „Fachstrategie und Steuerung“ zuständig. Max Oberhofer entwickelte Softwaresysteme für Banken bei der Rechenzentrale Bayerischer Genossenschaften, der Reuschelbank und bei Siemens, bevor er 1982 bei Dachser in die Logistik-Branche wechselte. Als langjähriger Leiter der Softwareentwicklung für Speditionsanwendungen war er maßgeblich am Aufbau der Dachser IT-Systeme beteiligt. Aktuell leitet er bei Dachser den Fachbereich IT-Architektur. Sein fachlicher Schwerpunkt liegt im Entwurf integrierter Datenbanksysteme im Transportmanagement. Prof. Dr. rer. pol. Andreas Otto ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Controlling und Logistik an der Universität Regensburg. Vor dieser Tätigkeit war er von Herbst 2000 bis Frühjahr 2004 Produktmanager „Order Fulfillment“ bei der SAP AG, Walldorf. Von 1997 bis Mitte 2000 war Dr. Otto verantwortlich für den Beratungsbereich „Logistikdienstleister“ am Fraunhofer Anwendungszentrum für Verkehrslogistik und Kommunikationstechnik, Nürnberg. Zuvor hat er von 1994 bis Mitte 1996 bei der Dachser GmbH & Co. KG Verantwortung für die Bereiche Zentralcontrolling und Unternehmensentwicklung getragen.
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Dr. Otto hat Betriebswirtschaftslehre an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg studiert und am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Logistik (Prof. Klaus) promoviert. Dipl.-Wirtsch.-Ing. Michael Petri ist als Leiter der Zentralen Logistik der Continental Automotive Systems Operations Electronics für die Materialwirtschaft und Logistik aller Elektronikstandorte zuständig. Nach dem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens trat er 1987 bei VDO als Fertigungsprogrammplaner ein und wechselte 1989 zur TEMIC in die Fertigungssteuerung. Nach vielfältigen Aufgaben im Unternehmen wechselte er 1997 als Leiter Materialwirtschaft des Werkes Neustadt zur Firma Peguform. 1999 kehrte er zur TEMIC zurück und übernahm die Logistik des Geschäftsbereiches EBS. Seit der Übernahme der TEMIC durch die Continental AG 2001 bekleidet er die jetzige Funktion. Dipl.-Kfm. Philipp Precht studierte Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Logistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und ist seit Januar 2006 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Logistik tätig. Er beschäftigt sich im Rahmen des Forschungsverbundes „Supra-Adaptive Logistiksysteme (ForLog)“ mit der Identifikation von Maßnahmen zur Steigerung der Flexibilität an der Schnittstelle zum Logistik-Dienstleister. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Automobillogistik und Logistikoutsourcing. Dipl.-Kfm. Torsten Przypadlo studierte Betriebswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Logistik, Wirtschaftsinformatik und Industriebetriebslehre an Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Seit dem Jahr 2002 ist er als IT- und Prozess-Berater für den Einsatz von Management-InformationsSystemen bei der LEONI AG beschäftigt. Als Leiter diverser internationaler Einführungsprojekte an global verteilten Standorten der LEONI Gruppe konnte er sich ein umfassendes Know-how im Automotive-Bereich aufbauen. Seit 2004 promoviert er zu dem als externer Doktorand am Lehrstuhl für Logistik der Universität Nürnberg-Erlangen. Sein Forschungsschwerpunkt bildet die Optimierung und strategische Ausrichtung international agierender Produktionsnetzwerke mittels Business Process Management. Dipl.-Ing. Rupert Reif studierte Maschinenwesen mit den Schwerpunkten Systematische Produktentwicklung und Produktionsmanagement an der Technischen Universität München und ist seit November 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Fördertechnik Materialfluss Logistik. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Logistikpla-
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nung, Kommissionierung sowie der Virtual und Augmented Reality. Dabei beschäftigt er sich vor allem mit dem Einsatz der Augmented Reality als unterstützendes Medium, das dem Kommissionierer alle wichtigen Informationen kontextbezogen über eine Datenbrille bereitstellt. Dipl.-Kfm. Carsten Reuter studierte Betriebswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Logistik und Internationales Management an den Universitäten Hamburg und Nürnberg. Seit Mai 2005 wirkte er als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Logistik von Prof. Peter Klaus, D.B.A./ Boston University im Teilprojekt TransLog mit. Vor seinem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei der DaimlerChrysler AG in Hamburg und arbeitete anschließend in einem Projekt zur Einführung von SAP R/3© in der DaimlerChysler Vetriebsorganisation Deutschland. Dipl.-Ing. Tobias Rinza ist Geschäftsführer bei der Miebach Logistik GmbH und verantwortet dort das Geschäftsfeld „Kunden & Märkte“. Zudem koordiniert er die weltweiten Automotive Activities der Miebach Logistik Gruppe. Nach seinem Maschinenbau-Studium trat er 1995 in das Frankfurter Büro des Unternehmens ein, 1996 war er als Projektleiter verantwortlich für den Aufbau der Niederlassung in Bangalore, Indien. Während seiner anschließenden Tätigkeit im 1997 gegründeten Büro in Detroit, USA, führte er für die multinationalen Kunden primär internationale Supply Chain Projekte mit Schwerpunkt auf die Region Asien - Pazifik durch. Von Mitte 1998 leitete er ein für die Miebach Logistik Gruppe strategisches Großprojekt zur Entwicklung der Gesamtlogistik eines Automobilherstellers in Nordspanien. Seit Beginn 2000 arbeitete er im Office Berlin und rückte im Mai 2001 in die Geschäftsführung von Miebach Logistik auf. Von 2001 bis 2005 übernahm er dabei auf Seiten Miebach Logistik die Betreuung für die Planung und Realisierung der Logistik-Installationen der neuen BMW Fahrzeugmontage in Leipzig. Dr. rer. pol. Angela Roth studierte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Logistik. Nach mehrjähriger intensiver Forschung und Projekttätigkeit insbesondere im Bereich Entscheidungsunterstützungssoftware zur Gestaltung und Optimierung logistischer Netze übernahm sie von 2001 bis 2003 die Leitung des Arbeitsfeldes Entscheidungsunterstützungssysteme (EUS) der Arbeitsgruppe für Technologien der Logistik-Dienstleistungswirtschaft in Nürnberg. Frau Roth beschäftigte sich in ihrer Dissertation mit dem Thema »Dynamische Modellierung von Lagern in logistischen Netzen«. Seit 2003 habilitiert sie am Lehrstuhl für Logistik der FAU Erlangen/Nürnberg.
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Dipl.-Kfm. Michael Saatmann studierte in Nürnberg Betriebswirtschaftslehre. Seit 2004 ist er im Rahmen des Forschungsverbund ForLog als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Industriebetriebslehre von Herrn Prof. Dr. K.-I. Voigt beschäftigt. Sein Forschungsschwerpunkt ist besonders im Themenfeld „Flexibilität“ zu sehen. Das vertiefte Forschungsinteresse an der flexiblen Gestaltung von Supply Chains besonders in der Automobilindustrie sowie an theoretischen Überlegungen zur Planung und Gestaltung der Flexibilität werden durch erste Veröffentlichungen unterstrichen. Dr. phil. Martin Sauerland studierte Psychologie und Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal und promovierte im Fach Psychologie an der Universität Regensburg. Seit März 2007 ist er als Akademischer Rat am Lehrstuhl für Sozial- und Organisationspsychologie der Universität Regensburg beschäftigt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Werbe- und Konsumentenpsychologie und im Bereich der evolutionären Sozialpsychologie. Dipl.-Ing. Michael Schedlbauer studierte Maschinenwesen an der Technischen Universität München und ist seit November 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Fördertechnik Materialfluss Logistik. Seit September 2004 bearbeitet er das Teilprojekt PlanLog des Bayerischen Forschungsverbundes „Supra-Adaptive Logistiksysteme (ForLog)“, seit Mai 2006 ist er Lenkungskreismitglied des Lehrstuhls. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich adaptive Planung, Logistikstrategien und Ablaufsimulation. Dr.-Ing. Michael Scheuchl studierte Maschinenwesen an der Technischen Universität München. Im Anschluss promovierte er parallel zu seiner Tätigkeit bei der BMW Group am Lehrstuhl für Fördertechnik Materialfluss Logistik der Technischen Universität München. Seit 2006 ist er als Consultant im Bereich Supply Chain Management und Produktionslogistik tätig. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich adaptiver Planung, Logistikstrategie- und Organisationsentwicklung. Dipl.-Kfm. Sascha Schorr studierte in Nürnberg Betriebswirtschaftslehre. Seit 2005 ist er im Rahmen des durch die bayerische Forschungsstiftung finanzierte Forschungsprojekt „ForLog“ als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Industriebetriebslehre von Herrn Prof. Dr. K.-I. Voigt beschäftigt. Sein Forschungsschwerpunkt ist besonders im Themenfeld „Flexibilität“ zu sehen. Das vertiefte Forschungsinteresse an der flexiblen Ge-
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staltung von Supply Chains besonders in der Automobilindustrie sowie an theoretischen Überlegungen zur Planung und Gestaltung der Flexibilität werden durch erste Veröffentlichungen unterstrichen. Dipl.-Inf. Björn Schwerdtfeger hat an der Universität Paderborn und der University of Helsinki (Finnland) Informatik studiert. Nach seiner Diplomarbeit bei der EADS Deutschland GmbH hat er im Dezember 2005 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Augmented Reality begonnen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der mobilen Mensch-Maschine-Interaktion. Dabei beschäftigt er sich sowohl mit der Umsetzung und Anwendbarkeit der Augmented Reality Technologie im industriellen Umfeld als auch im Entertainment. Prof. Dr. Kai-Ingo Voigt studierte an der Universität Hamburg Betriebswirtschaftslehre. In den Folgejahren (1986-1991) war Voigt als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Herbert Jacob an der Universität Hamburg beschäftigt. Dort promovierte er im Jahr 1991 mit dem Abschluß Dr. rer. pol. 1991-1997 war er als Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Industriebetriebslehre und Organisation der Universität Hamburg (Prof. Dr. Karl-Werner Hansmann) tätig. Nach seiner Habilitation an der Universität Hamburg im Jahre 1997 folgten 1996-98 Vertretungsprofessuren für "Internationales Marketing" an der FH Nordostniedersachsen in Lüneburg (1996-1998) und für „Produktion“ an der TU Braunschweig (WS 1997/98). Am 01.10.1998 folgte er einem Ruf an die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Dort übernahm er den Lehrstuhl für Industriebetriebslehre am Betriebswirtschaftlichen Institut der Universität Erlangen-Nürnberg von Herrn Prof. Dr. Werner Pfeiffer. Seit geraumer Zeit ist Voigt im Rahmen diverser internationaler Kontakte als Visiting Lecturer an der Universität UIBE (Beijing, China), Tongji Universität (Shanghai, China) und der Universität Alcalá (Spanien) tätig. Die Forschungsschwerpunkte decken unterschiedliche Themenfelder ab. Neben der klassischen Industriebetriebslehre und dem Produktionsmanagement sind „Entrepreneurship & Unternehmensgründung“ sowie „Technologie- und Innovationsmanagement“ Kernaktivitäten von Prof. Voigt. Im Rahmen des durch die bayerische Forschungsstiftung geförderten Forschungsverbundes „ForLog“ beschäftigt er sich zudem mit dem Themenkomplex Logistik. Zahlreiche Veröffentlichungen und Konferenzbeiträge unterstreichen die hohe Forschungsaktivität des Nürnberger Lehrstuhls für Industriebetriebslehre in den verschiedenen Themengebieten. Die notwendige Praxisorientierung stellt Prof. Voigt über zahlreiche Projekte mit namenhaften Unternehmen und Konzernen sicher, für die er in beratender Funktion tätig ist.
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Dr. rer. pol. Holger Voss studierte Betriebswirtschaftslehre an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (WFI) der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Von 2001 bis 2006 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Logistik der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg bzw. der Fraunhofer Arbeitsgruppe für Technologien der Logistik-Dienstleistungswirtschaft (ATL) tätig. Im Rahmen dieser Tätigkeit promovierte er zum Thema „Life Cylce Logistik – Der Weg zur produktlebenszyklus-orientierten Ersatzteillogistik“. Seit November 2006 ist Dr. Holger Voss als Manager Supply Chain Optimization bei der Eurocopter Deutschland GmbH in Donauwörth beschäftigt. Dipl.-Wi.-Ing. Philipp Wahl studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Technischen Universität Berlin und an der University of Berkeley, Kalifornien. Nach Berufserfahrungen bei einem Automobilzulieferer in den USA ist er seit 2003 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre - Unternehmensführung, Logistik und Produktion tätig. Philipp Wahl beschäftigt sich in diesem Zusammenhang vor allem mit den Forschungsschwerpunkten Logistik und Supply Chain Management und verfügt über zahlreiche Projekterfahrungen in diesen Bereichen. In Rahmen seiner Dissertation setzt er sich mit Logistikpotenzialbewertungssystematiken und dem Nutzen-/Vorteilsausgleich in Wertschöpfungsnetzwerken auseinander. Dipl.-Ing. Dennis Walch studierte Produktion und Logistik an der Technischen Universität München und war von September 2005 bis März 2007 am Lehrstuhl für Sozial- und Organisationspsychologie der Universität Regensburg mit der Betreuung des ForLog-Teilprojekts MitLog betreut. Seit April 2007 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Fördertechnik Materialfluss Logistik der TU München beschäftigt und führt dort die Betreuung im Rahmen des Bayerischen Forschungsverbundes „Supra-Adaptive Logistiksysteme (ForLog)“ fort. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Qualifizierung und Flexibilisierung von Logistikmitarbeitern sowie der Virtual und Augmented Reality. Dipl.-Psych. Silke Weisweiler M.A. studierte Psychologie und Pädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Carl-vonOssietzky-Universität Oldenburg und der Universität Regensburg. Seit 2003 ist sie Doktorandin am Lehrstuhl für Sozial- und Organisationspsychologie der Universität Regensburg. Im Jahr 2006 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt MitLog und hat dort schwerpunktmäßig in den Bereichen Fehlerkultur, Mitarbeitermobilität und -qualifizierung sowie Akzeptanz neuer Lehr-Lerntechnologien gearbeitet. Weitere Forschungs-
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schwerpunkte sind Aus- und Weiterbildung, Lehr-Lernprozesse und Transferforschung. Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Horst Wildemann studierte in Aachen und Köln Maschinenbau (Dipl.-Ing.) und Betriebswirtschaftslehre (Dipl.-Kfm.). Nach einer mehrjährigen praktischen Tätigkeit als Ingenieur in der Automobilindustrie promovierte er 1974 zum Dr. rer. pol., Auslandsaufenthalte am Internationalen Management Institut in Brüssel und an amerikanischen Universitäten schlossen sich an. 1980 habilitierte er (Dr. habil.) an der Universität zu Köln. Seit 1980 lehrt er als ordentlicher Professor für Betriebswirtschaftslehre an den Universitäten Bayreuth, Passau und seit 1988 an der Technischen Universität München. Er hat Rufe an die Universitäten Stuttgart Hohenheim und Dortmund, an die Freie und die Technische Universität Berlin, an die Hochschule St. Gallen und die Universität of Southern California Los Angeles erhalten. Neben seiner Lehrtätigkeit steht Prof. Wildemann einem Beratungsinstitut mit über 60 Mitarbeitern für Unternehmensplanung und Logistik vor. In 40 Büchern und über 600 Aufsätzen, die in engem Kontakt mit der Praxis entstanden sind, hat er neue Wege für die wirtschaftliche Gestaltung eines Unternehmens mit Zukunft aufgezeigt. Für führende Industrieunternehmen ist Prof. Wildemann als Berater, Aufsichts- und Beiratsmitglied tätig. Ihm wurde die Staatsmedaille des Freistaates Bayern sowie das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland und die Ehrendoktorwürden der Universitäten Klagenfurt und Passau verliehen. 2004 wurde er in die Logistik Hall of Fame aufgenommen und erhielt 2006 für seine herausragenden Leistungen in Wissenschaft und Industrie den Bayerischen Verdienstorden. Dipl.-Ing. Johannes Wulz studierte Maschinenwesen an der Technischen Universität München und ist seit November 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Fördertechnik Materialfluss Logistik. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Digitalen Fabrik mit dem Schwerpunkt auf der Virtual Reality Technologie. Weiterer Fokus im Rahmen seiner Forschungstätigkeiten liegt auf der Weiterentwicklung technischer Systeme in der Logistik.