Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Swetoslaw Slawtschew Neun, die Zahl der Kobra
Kriminal...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Swetoslaw Slawtschew Neun, die Zahl der Kobra
Kriminalroman
In Port Angère verschwindet auf einer Großbaustelle, die in Kooperation mit einer Firma Österreichs von Bulgarien ausgerüstet wird, ein Wissenschaftler – Doktor Witanow. Motive für sein Verschwinden gibt es nicht. Inspektor Debyrski aus Sofia untersucht gemeinsam mit Kommissar Matias von Port Angère den mysteriösen Fall. In der Pension „Theresa“, wo Doktor Witanow ein Zimmer bewohnt, findet Debyrski in dessen Schreibtisch eine Feuerzeugpistole, die offensichtlich nicht dorthin gehört. Eine Spur weist auf eine zwielichtige Hafenbar, in der Debyrski eine interessante Entdeckung macht …
Swetoslaw Slawtschew
Neun, die Zahl der Kobra
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Девет, числото на кобрата Aus dem Bulgarischen von Egon Hartmann
Port Angère Alle großen Flughäfen gleichen einander bei Nacht, wahrscheinlich deshalb, weil der Empfang überall ähnlich ist – ebenso wie das Gefühl bei den ersten Schritten auf der Betonpiste. Unter dem grellen Schein künstlicher Sonnen und unerträglichem Gedröhn beginnt alles unwirklich wie unter einer Lupe auszusehen. Selbst die Leute, mit denen man bis vor einer Minute in der Maschine gesessen hat, bekommen auf einmal andere Züge. Hier ist es dasselbe – ich versinke in ohrenbetäubenden Lärm, Scheinwerfer blenden mich. Etwas ist jedoch anders. In die Benzin- und Öldünste mischt sich ein strenger Geruch nach salziger Feuchte und Wasserpflanzen. Der Ozean ist nahe, mir will sogar scheinen, als sei er gleich hinter den Betonpisten. Port Angère. Mein Bewußtsein weigert sich noch, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich auf dem Flughafen von Port Angère bin. Denn das war für mich stets nur ein Name, ein gewöhnlicher kleiner Kreis auf den Landkarten zwischen dem dunkelblauen Atlantik und der gelben Wüste der Sahara. Und ich habe mir nicht vorstellen 6
können, daß einmal eine Nacht kommen würde, in der ich auf seinem Flughafen aus der Maschine steige. Der Bus bringt uns die hundert Meter zum Empfangsgebäude, mehr ein Ritual als eine Notwendigkeit, die Stewardeß lächelt ihr höfliches Standardlächeln und heißt uns willkommen. Eine Glasdoppeltür verschluckt uns, und nach dem Gedröhn, das draußen zurückbleibt, ist uns, als seien wir in ein Vakuum geraten. Auf der Anzeigetafel vor uns blinken Lichter auf, eine unpersönliche Frauenstimme verkündet, daß die Maschine unserer Linie gelandet ist. Dann ein Gongschlag, und sie geht zu einer anderen Mitteilung über. Das sind die ödesten Minuten: wenn man angekommen und noch nicht da ist. Ich weiß, daß alles in Ordnung ist, bin aber dennoch nervös und frage mich, ob man mich wohl abholen wird, denke an die Dinge, die ich unerledigt in Sofia zurückgelassen habe, an vergessene Briefe und andere wichtige und unwichtige Sachen. Ich hänge meinen Gedanken nach und kann das beunruhigende Gefühl nicht loswerden, das sich tief in mir festgesetzt hat und das selbst der Schock der Ankunft nicht zu zerstreuen vermag. Es sitzt da und macht sich bemerkbar. Nichts ist wichtig. Weder die nicht abgeschlossenen Akten und die vergessenen Briefe noch die gestrigen Gespräche, die schon verzweifelt weit zurückliegen. Ein Teil meines Bewußtseins macht sich noch mit dem Gedanken etwas vor, daß sich alles vielleicht ganz einfach aufklären, mein Kommen sich als unnötig erweisen wird und ich nach ein paar Tagen wieder auf diesem selben Flughafen stehen werde und man mich verabschiedet. Unnütze Gedanken. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß die Besorgnis immer die Wahrheit sagt. Sie hat ihre eigenen, sehr sicheren Wege. Inzwischen zieht mich der bunte Strom der Passagiere an den Stahlbarrieren vorbei. Kontrolle der medizini7
schen Dokumente. In der Glaskabine sitzt eine ältere Schwester in einem Kittel mit gestärkten Umschlägen. Sie prüft die Eintragungen, liest meinen Beruf, und auf ihrem dunklen Gesicht erscheint für einen Augenblick jene Neugier, die man selbst völlig unbekannten Berufskollegen gegenüber empfindet. Dann gibt sie mir das Büchlein zurück. Die Transportbänder, die das Gepäck bringen, laufen noch nicht. Ich warte und mustere die Halle. Nichts Besonderes – künstlicher Marmor, Keramik und gehämmertes Metall. Das kann man auch anderswo sehen, wenn man von ein paar nationalen afrikanischen Motiven absieht. Blumen – wie überall auf Flughäfen. Solche Blumen kann es jedoch nicht geben. Mein Blick kehrt immer wieder zu ihnen zurück und kann sich nicht losreißen. Sie sind riesengroß, von samtiger Blässe unter dem fahlen Licht und mit himbeerroten Tropfen. Sie sehen aus wie ein Phantasieprodukt und ziehen mich magisch an. Sicherlich locken sie die Insekten genauso an, um sie dann zu verschlingen. Mit leisem Zischen beginnen die Transportbänder Koffer auszuspucken, die Menge lichtet sich. Die beiden Zollbeamten in den schneeweißen Uniformen stellen mechanisch ihre Fragen und drücken Stempel auf die Gepäckanhänger. Auch das ist überstanden. Mein Koffer ist auf ein Wägelchen verfrachtet und rollt auf den Ausgang zu. Ich gehe hinterher und schaue im Hinausgehen wieder auf die Blumen. Allmählich hört Port Angère auf, ein abstrakter geografischer Begriff zu sein, und beginnt Wirklichkeit zu werden. Am Ausgang stehen nicht viele Leute. Ein hochgewachsener junger Mann mit Brille mustert mich. „Genosse Debyrski?“ „Ja, der bin ich.“ „Willkommen! Sehr angenehm. Bankow.“ 8
Wir schütteln uns die Hand. Bankow ist an die Dreißig, mit einem klugen Gesicht und lebhaften braunen Augen hinter der Brille. Er geht ein bißchen gebeugt wie die meisten Langen und wirkt ein wenig zerstreut durch hastige Bewegungen. „Hier lang, bitte. Ist das Ihr Koffer?“ Er führt mich hinaus, wir drängen uns zwischen parkenden Autos und blubbernden Bussen hindurch, die die späten Passagiere aufnehmen. Ein paar Taxis haben dienstwillig die Türen geöffnet, man hört fremde, kehlige Laute. Die schwere, feucht-salzige Luft füllt meine Lungen, das Atmen fällt mir schwer. Mit jedem Schritt schmilzt meine Hoffnung mehr dahin, daß ich umsonst gekommen sein, könnte. Bankow hat nichts weiter gesagt, also steht es schlecht. Er schließt einen dunkelgrünen Jeep mit mächtigen Reifen auf. Wir steigen ein, aber er hat es nicht eilig loszufahren. Er holt Zigaretten aus der Tasche und steckt sich eine an. Ich schweige auch ein, zwei Sekunden, dann frage ich: „Sie wissen, weshalb ich hier bin. Etwas Neues … im Zusammenhang mit Doktor Witanow?“ „Nein, seit er am Donnerstag verschwunden ist, nichts mehr.“ Das ist nun der Fall, der mich beschäftigen wird. Ein paar Fragebogen mit Fotos, die ich im Koffer habe. Die beiden Gespräche mit dem General, den ich schon lange nicht mehr so nachdenklich gesehen hatte. („ … Du bist der geeignetste Mann, du bist doch Arzt …“) Die Ermittlungen, die man in vierundzwanzig Stunden anstellen kann. „Also, fahren wir los!“ sage ich. „Bringen Sie mich bitte zu seiner Unterkunft.“ „Selbstverständlich!“ In Bankow kommt Leben. „Wir haben gemeint, es wäre am bequemsten … Wir haben für Sie ein Zimmer in derselben Pension. Gut so?“ 9
„Ja. Ich danke Ihnen.“ Er fährt geschickt, schlängelt sich an den Autobussen vorbei, und wir kommen auf eine Landstraße hinaus. Soweit ich das im Scheinwerferlicht erkennen kann, ziehen sich rechts und links rötliche Hügel hin, entsetzlich kahl und öde. „Die Stadt liegt dort.“ Bankow nickt nach rechts. „Das hier ist die Straße nach Sidi Bakir, sie biegt nachher ab.“ Er merkt selbst, daß es sinnlos ist, mir Einzelheiten über Örtlichkeiten zu erläutern, von denen ich keine Ahnung habe. Wir wechseln nur ein paar belanglose Sätze. Das Fernschreiben ist sehr spät eingetroffen, Ingenieur Markow, Chef der Baustelle, bittet mich, ihn zu entschuldigen. Bankow ist stellvertretender Chefingenieur und Parteisekretär, der Chefingenieur selbst ist in Urlaub. Ich höre ihm zu und werfe ab und zu ein höfliches Wort ein. Dem Augenschein nach läuft das Gespräch, in Wahrheit nicht. Bankow ist bedrückt. Auch ich bin bedrückt, und vielleicht überträgt sich meine heimliche Besorgnis auf ihn. Beide denken wir an dasselbe. Daran, was hier geschehen ist. Rechts erscheint über den öden Hügeln ein rosa Widerschein. Dort liegt die Stadt. „Haben Sie etwas unternommen?“ erkundige ich mich. Übrigens weiß ich, was sie gemacht haben, wollte es aber gern von ihm hören. „Wir sind ein bißchen zu spät gekommen. Als er am Freitagmorgen nicht zur Arbeit erschien, dachten wir, er sei krank. Wir suchten ihn … begannen uns zu beunruhigen, waren aber unschlüssig, was wir machen sollten. Erst am Abend meldeten wir es auf der Kommandantur und versiegelten sein Zimmer. In der Nacht haben wir in Sofia angerufen. Na ja, das war vorgestern.“ Ich wähle sorgfältig die Worte. „Vielleicht ist er irgendwo hängengeblieben? Bei Freunden oder einer Freundin … Sowas kommt alles vor!“ 10
„Dazu ist er nicht der Mensch, Sie kennen ihn nicht“, erwidert Bankow finster. „In zwei Jahren haben wir nicht einmal erlebt, daß er zu spät gekommen wäre.“ Immerhin etwas Neues. Erste Auskunft: In den Augen seiner Umgebung ein Pedant. Eine Eigenschaft, die nicht gerade Sympathien weckt, aber Respekt abnötigt. Zweite Auskunft: Bankow weicht der Frage nach der Freundin aus. „Haben Sie ihn gekannt?“ „Natürlich!“ antwortet Bankow sofort. Interessant, keine Sekunde des Zögerns. Manch einer hätte an seiner Stelle anders geantwortet. „Gut“, sage ich. „Jetzt ist nicht der rechte Augenblick, aber ich werde Sie nachher bitten, mir etwas mehr über Doktor Witanow zu erzählen.“ Er nickt, und wir schweigen. Wir nähern uns der Stadt. Und unversehens, wie durch Zauber, erscheint grüne Vegetation, die die von Wind und Sonne verbrannten Hügel ablöst. Beleuchtete Terrassen moderner Villen tauchen aus der Dunkelheit auf, man sieht Zypressen über hohe Mauern ragen, sandbestreute Zufahrtswege für Autos. „Das ist der neue Teil“, sagt Bankow, der meinem Blick gefolgt ist. „Ausländer, hauptsächlich Franzosen. Das ist hier eine etwas komplizierte Geschichte. Da, sehen Sie, wo die Straße abzweigt.“ So etwas kann man sich kaum nur vom Wagen aus merken, dennoch befolge ich seinen Rat und schaue hinaus. Die asphaltierte Straße verengt sich und führt in Windungen einen Hügel hinauf. Nach dem Licht auf der Hauptstraße ist es hier vergleichsweise dunkel. Doch an dem sorgfältig instand gehaltenen Asphalt und den Einfassungen aus gestutzten Hecken erkennt man, daß es eins der wohlhabenden Stadtviertel ist. Noch zwei, drei Kurven, und Bankow biegt nach rechts ab. Die Scheinwerfer erfassen eine Mauer mit ei11
nem schmiedeeisernen Tor und einem Schild „Pension Theresa“. Der Weg setzt sich hinter dem Tor fort, und im Hintergrund sind undeutlich die Umrisse der Pension zu sehen, Bankow drückt zweimal auf die Hupe. Als Antwort geht hinter dem Tor eine Lampe an. Offenbar mustert man uns von irgendwo, und das nicht ohne Grund. Nächtliche Besucher wecken nirgendwo Sympathien, schon gar nicht in einer Pension, aus der ein Mensch verschwunden ist. Doch Bankow ärgert das Wartenmüssen, und er drückt erneut auf die Hupe. Hinter dem Tor erscheint die Gestalt eines untersetzten Mannes mit dunklem Gesicht und einem kleinen Fes auf dem Kopf. Bankow ruft ihm etwas Unverständliches aus dem Seitenfenster des Wagens zu. Das genügt dem Mann, er schließt das Tor auf und öffnet es weit. Wir fahren hindurch, der Sand knirscht unter den Reifen, hinten ist das sorgsame Klirren der Schlösser zu hören. Wir folgen der Allee zwischen hohen, mit blaßlila Blüten überschütteten Büschen. Im schwachen Licht phosphoreszieren die Blüten wie kalte Flammen. Ein starker, betäubender Duft geht von ihnen aus. Seitwärts vom Haus ist ein Dutzend Autos geparkt. Bankow sucht sich eine Stelle aus und stellt den Jeep daneben ab. „Da wären wir!“ stellt er fest. „Wir können gehen. Kadir bringt Ihnen Ihr Gepäck.“ Er springt rasch aus dem Wagen und hebt meinen Koffer heraus. Kadir steht schon bei uns und verbeugt sich wortlos. Ich mustere die Pension, soweit das bei dem schwachen Licht möglich ist, das aus dem Foyer dringt. Es gibt Häuser, die aussehen wie sie heißen. Der ein bißchen altmodische Name Theresa paßt außerordentlich gut zu der Pension. Sie ist dreigeschossig, mit Wie12
ner Balkons und Jalousien vor den Fenstern, ganz in dem Stil, in dem vor dem Krieg gebaut wurde. Wahrscheinlich war sie damals eine der teuren. Viel Zeit zum Betrachten habe ich nicht, weil Kadir mit dem Koffer vor mir her geht und Bankow und ich ihm folgen. Geschmackvoll eingerichtet – das ist mein erster Eindruck. Das Foyer ist nicht groß. Zwei Sessel, ein Tischchen mit Zeitschriften, eine kleine Bar mit einer Espressomaschine. Rechts die obligate Office-Nische mit Telefon und dem Buch zur Registrierung der Gäste. Dahinter befindet sich die Treppe zu den oberen Stockwerken. Links die Tür zum Speiseraum, sie steht halb offen. Daneben eine weitere Tür mit einem Schildchen. Wahrscheinlich liegen dort die Räume fürs Personal. Es ist nicht luxuriös, aber man fühlt sich auch nicht beengt wie in den schlechtgeführten Pensionen. Alles ist an seinem Platz, es ist ruhig und behaglich. Kadir klopft behutsam an die Tür fürs Personal, und von drinnen antwortet sofort eine Frauenstimme: „Moment, Kadir!“ Bankow wirft mir einen flüchtigen Blick zu, anscheinend will er herausfinden, ob es mir gefällt. Ich lächle liebenswürdig. Gegen die Pension Theresa habe ich nichts einzuwenden. Außer, daß Doktor Witanow von hier weggegangen und nicht wiedergekommen ist. Inzwischen hat sich die Tür geöffnet, und eine Frau betritt das Foyer. Sie ist verhältnismäßig jung, vielleicht ein bißchen über dreißig. Ich weiß nicht, wieso, aber ich habe mir die Besitzerin der Pension älter und als ausgeprägt französischen Typ vorgestellt. Die Frau, die mir jetzt die Hand gibt, hat schwarzes Haar, ebensolche Augen und schwarze, zusammengewachsene Brauen. Und sagt auf bulgarisch: „Willkommen! Ich freue mich!“ Sie verschleift leicht die harten Konsonanten. Natürlich, ich hätte es mir gleich denken können – eine Griechin. 13
Ich stelle mich vor. Sie zieht verwundert die Brauen hoch. „Der Herr ist … nicht von der Polizei?“ Bankow versucht sich einzumischen, aber ich komme ihm zuvor. „Ich bin Arzt, Madame … Als Sachverständiger zur Unterstützung Ihrer Kommandantur.“ Wie sich das anhört, weiß ich nicht, aber für sie klingt es gut. Ich wechsle sofort das Thema. „Sie sprechen ausgezeichnet bulgarisch, Madame!“ Sie strahlt, offenbar ist das ihr Stolz. „Oh, Monsieur, meine Mutter stammt aus Sosopol.“ Jetzt ist mir klar, weshalb meine Landsleute sich diese Pension ausgesucht haben. Immerhin doch etwas Vertrautes in diesem fernen Erdenwinkel. Und sie ist eine angenehme Frau. Als disziplinierter Gast hole ich meinen Paß hervor, doch Madame Theresa wehrt lächelnd ab: „Morgen … Ich werde Ihnen Ihr Zimmer zeigen, Monsieur.“ Wir steigen die Treppe hinauf, sie vorweg, ich mit Bankow hinterher. Mein Zimmer liegt im ersten Stock am Ende eines kleinen Korridors. Madame Theresa öffnet die letzte Tür und fordert mich auf, einzutreten. Ein sauberes, ansprechendes Zimmer. Bläulichgraue Tapeten an den Wänden, ein Bild. Vorhänge im Farbton der Tapete. Ein Schreibtisch, ziemlich alt, zwei Stühle desselben Alters, ein Teppich – ein bißchen abgetreten, aber noch anständig. Ein für den nächtlichen Gast aufgeschlagenes Bett, darüber ein Ventilator. Eine Tür führt auf den kleinen Balkon, auf dem wohl kaum auch nur einer der beiden Stühle Platz gefunden hätte. Aber es ist ein „Zimmer mit Balkon“. Die andere Tür führt ins Bad. Es gefällt mir, und ich beeile mich, das zu sagen. Madame Theresa ist zufrieden und wünscht mir eine gute Nacht. „Gute Nacht!“ antworte ich. „Sie erlauben doch, Ma14
dame, daß mir Herr Bankow das Zimmer von Doktor Witanow zeigt, nicht wahr?“ „Bitte! Und muß …“, sie stockt, immerhin hat sie mit den Sätzen Mühe, „ich kommen?“ „Nein, besten Dank. Nur eine Frage, wenn Sie gestatten.“ „Bitte.“ „Wann haben Sie Doktor Witanow zum letzten Mal gesehen?“ „Donnerstag, Monsieur! Er hat telefoniert, dann ist er hinaufgegangen.“ „Telefoniert? Es ist ein bißchen peinlich, Madame, aber Sie verstehen …“ Sie versteht, kann mir jedoch nicht helfen. Sie weiß nicht, mit wem er gesprochen hat, hatte nur den Eindruck, daß er nervös war, und überhaupt sei das Gespräch sehr kurz gewesen. „Und wann hat Doktor Witanow das Haus verlassen?“ Auch das kann sie nicht sagen. Sie sei in der Stadt gewesen, spät zurückgekommen. Sie habe nichts Besonderes bemerkt und überhaupt nicht gewußt, daß Witanow weggegangen sei. Ich merke, daß ich es mit meiner Fragerei übertreibe, aber ich muß herauskriegen, wer hierbleibt, wenn sie nicht da ist. Kadir und Germaine, die bleiben hier. Germaine hilft in der Küche. Fürs erste langt es. Wir wünschen uns abermals eine gute Nacht, und sie geht. Bankow schaltet den Ventilator über dem Bett ein und zieht die Vorhänge zurück. Das eine Fenster hat statt der Scheibe ein Gazenetz, aber das wird wohl gegen die Schwüle kaum helfen – die Luft regt sich nicht. Während er geduldig auf mich wartet und raucht, wasche ich mir im Bad das Gesicht und versuche Luft zu holen. Dann steigen wir zum Zimmer von Doktor Witanow hinauf. 15
Es liegt im obersten Stock, rechts, Nummer 39. Die Tür ist versiegelt. Vernünftig, aber zu spät. Wenn jemand in das Zimmer gewollt hat, hatte er dafür volle vierundzwanzig Stunden Zeit. Von Donnerstag bis Freitag abend. Ich entferne die Siegel, und Bankow holt einen Schlüssel aus der Tasche. Er bemerkt meinen fragenden Blick und erklärt: „Der zweite Schlüssel. Wer möchte, daß Germaine bei ihm saubermacht, hinterlegt ihn bei Madame Theresa.“ „Und Germaine hat auch am Freitagmorgen saubergemacht?“ Er bestätigt es ein bißchen schuldbewußt. Zum Haareraufen. Übrigens hat bei der gegebenen Situation ein Schlüssel mehr oder weniger keine Bedeutung. Ich bin hoffnungslos zu spät gekommen. Jetzt können drinnen wichtige Beweisstücke fehlen, oder es können Sachen hineingeschafft worden sein, von denen ich keine Vorstellung habe. Aus dem dunklen Zimmer weht uns warme und abgestandene Luft entgegen. Bankow ertastet den Lichtschalter und knipst die Lampe an, öffnet das Fenster und versucht, den Ventilator in Gang zu setzen, während ich mich umsehe. Das Zimmer ist wie meins, vielleicht ein bißchen größer, hat aber die gleiche Lage und den gleichen lächerlich kleinen Balkon. Das Bett ist nach Soldatenart gemacht, exakt, ohne jede Falte. Die Bücher auf dem Schreibtisch sind geordnet, daneben liegen beschriftete Hefter aus Plast, in einer offenen Schachtel sind verschiedenfarbige Kugelschreiber. Ein kleiner Steckkalender, auf dem man das Datum auswechseln kann. Das letzte ist nicht Donnerstag, sondern Freitag. Ich verstehe, das ist Germaines Werk. Sie hat das Datum geändert, ohne zu wissen, daß es keinen Sinn mehr hatte. Vorsichtig schlage ich den obersten Hefter auf. Pro16
duktionsberichte über die Versuchslaboratorien. Der letzte ist angefangen und nicht zu Ende geführt, er ist mit der Hand geschrieben. Bankow flucht leise auf den Ventilator, der sich nicht in Gang setzen will. Ich ziehe sacht am Schubfach, das mit einem Sicherheitsschloß abgesperrt ist, das sich als nicht gar so sicher erweist; eine Minute später ziehe ich wieder behutsam. Man kann nie wissen, was ein Schubfach für Überraschungen bereithält. Vor Jahren habe ich so eine Überraschung erlebt, aber das ist eine andere Geschichte. Nichts Besonderes geschieht. Eine komplette Schreibtischgarnitur kommt zum Vorschein, aufgebaut wie fürs Schaufenster, Briefpapier und Umschläge, ein massives Feuerzeug, eine angebrochene Schachtel Marlboro. Hinten liegen eine Mappe mit der Aufschrift „Dokumente“ und ein Notizbuch in einem Kunstledereinband. Die Mappe interessiert mich lebhaft, ich hole sie heraus und schlage sie auf. Sie ist tatsächlich voller Dokumente: eine Übersetzung seines Diploms ins Französische, das Originaldiplom, sein Dienstreisepaß, Spezialisierungsbescheinigungen, Abschriften von Ernennungsurkunden. So wichtige Dokumente hatte ich nicht erwartet. Dieser Fund verblüfft mich, er schließt eine meiner Versionen beinahe aus. Auf gut Glück klappe ich das Notizbuch auf. Bei verschiedenen Daten stehen Notizen über Verabredungen und zu erledigende Dinge, im alphabetischen Register sind Telefonnummern vermerkt. Mit dem Notizbuch werde ich mich nachher beschäftigen. In den anderen Schreibtischkästen das gleiche Bild – sorgsam geordnete kleine Dinge eines Mannes, der allein lebt. Nichts Überflüssiges und nichts Persönliches. Selbst ein Foto fehlt – von seiner Frau oder seinem Sohn, wie ich erwartet hätte. Keine humoristischen Zeit17
schriften, keine Unterhaltungslektüre. Die Bücher, die auf dem Schreibtisch stehen, sind Anleitungen zur Herstellung von Antibiotika, Nachschlagewerke über Enzyme und Biochemie. Ein merkwürdiges Gefühl bemächtigt sich meiner. Als habe hier ein Soldat gelebt, ein Mensch wie ein Uhrwerk, mit abgemessenen und abgezählten Minuten. Und dieses Uhrwerk ist plötzlich, auf unerklärliche Weise, stehengeblieben. Das ist das schlimmste. Gerade dieses unerklärliche Stehenbleiben beunruhigt mich. Ich hatte geglaubt, die Dinge lägen einfacher. Endlich ist Bankow mit dem Ventilator zu Rande gekommen, und ich werfe einen Blick in den Wandschrank. Anzüge, Hemden, Wäsche, eine Schachtel für Krawatten. Unter den Krawatten, wie beinahe nicht anders zu erwarten, ein Dutzend Banknoten für die laufenden Ausgaben. Und das Sparbuch – mit einer bescheidenen Summe. Wahrscheinlich hat er fast sein ganzes Gehalt nach Sofia überweisen lassen. Es ist Zeit, mit Bankow zu reden, der rauchend neben dem Ventilator auf dem Bett sitzt und mich aufmerksam betrachtet. Ich schaue auf meine Uhr: halb drei. Die Pension schläft, nirgendwo ein Laut. Durch das offene Fenster kommen Schwärme von Nachtfaltern herein, umkreisen wie eine Wolke die Lampe. „Darf ich Sie um ein bißchen von Ihrem Schlaf bringen?“ frage ich. „Wer weiß, ob wir morgen genug Zeit haben.“ „Selbstverständlich.“ „Ich möchte Sie bitten, mir etwas über Doktor Witanow zu erzählen. Einfach so, damit ich mir ein Bild von ihm machen kann. Zuvor jedoch noch eine Frage.“ „Bitte.“ „Meinen Sie“, ich wähle sorgfältig die Worte, „daß er das Land illegal verlassen hat?“ „Geflohen? Nein!“ 18
Er sagt es bestimmt, ohne den Schatten eines Zweifels. „Wieso glauben Sie das?“ „Wissen Sie … das ist schwer zu sagen, er ist einfach nicht der Mensch danach. Hat er einen Entschluß gefaßt, geht er bis ans Ende. Er könnte sich den Kopf einrennen, aber er hält aus. Davonlaufen wird er nicht.“ „Und wo meinen Sie, ist er hingegangen?“ „Ich weiß es nicht. Ich fürchte, es ist etwas passiert.“ „Entführt? Ermordet? Ein Unfall?“ „Keine Ahnung. Ein Unfall ist es auf keinen Fall. Von der Kommandantur holen sie uns in einem fort ins Leichenschauhaus zur Identifizierung … Im Krankenhaus haben wir nachgefragt … Da ist er nicht.“ Das wär’s. Einen Teil der Ermittlungen haben sie durchgeführt, soweit sie eben dazu in der Lage waren. Das andere kommt auf mich zu, schon morgen früh. Was heißt morgen früh? Es ist schon morgen – in ein, zwei Stunden wird es hell. „Sagen Sie mir etwas über ihn. Was hat er hier für Freunde?“ Bankow läßt sich mit der Antwort Zeit. Er zieht das Päckchen Zigaretten aus der Tasche, zündet sich die nächste an. „Emil hat fast keine Freunde“, beginnt er. „Ich bin einer der wenigen, aber ich weiß auch nichts … Ein schwieriger Charakter. Er gibt nichts auf die Meinung der anderen, nur was er denkt, ist richtig. Was anderes läßt er nicht gelten. Und starrköpfig ist er, unnachgiebig … Bis zur Verbohrtheit. Spielen Sie Schach?“ „Ja. Weshalb?“ „Erfahrene Spieler, wenn sie sehen, daß sie verlieren, geben auf und fangen eine neue Partie an. Doch mit ihm muß man weiterspielen, bis man ‚Matt!‘ sagt.“ „Nun, das ist ja manchmal gar nicht so schlecht.“ „Schon, aber es zeigt, daß er den Gegner nicht respektiert. Genau das – er respektiert den Gegner nicht.“ 19
Bankow zieht an seiner Zigarette und fährt fort: „Und jetzt stellen Sie sich einen solchen Menschen vor, der klug ist und etwas kann. Er hat glänzende Ideen und kann es nicht ertragen, daß jemand an seinen Ideen zweifelt. Aber die Leute zweifeln, bei uns in der Produktion wird nichts auf bloßen Glauben hin akzeptiert. Und er ist ständig mit irgendwem über Kreuz. Ich gelte als jemand, der sich mit ihm versteht, aber auch mit mir … Da kommt er vor zehn Tagen an, schlägt eine Verbesserung im Versuchsfermentator vor, verlangt Monteure. Ich sehe, daß seine Idee nicht dumm ist, aber meine Monteure haben Termine einzuhalten, das geht nicht einfach so! Und ich erkundige mich vorsichtig, ob’s nicht noch ein bißchen Zeit hat … Und er darauf sofort: ‚Ihr steckt alle unter einer Decke, um die Versuchsanlage abzuwürgen!‘ Wer sollte sie abwürgen und weshalb? Als ob mir das Werk nicht auch am Herzen läge. Er stürmt hinaus, und danach, was muß ich sehen? Reicht bei mir eine Beschwerde gegen mich ein! Können Sie sich das vorstellen?“ Ich kann es mir vorstellen. Genauso sieht er auf den Fotos auf den Fragebögen aus. Harte graue Augen, kurzgeschnittenes Haar, leicht vorstehendes Kinn. Solche Leute können für das kämpfen, was sie sich in den Kopf gesetzt haben. Der glänzende Verstand ist bei ihnen reichlich mit Ehrgeiz und Überheblichkeit ausgefüttert. Sie gehen, ohne nach rechts und links zu sehen. Aber man muß ihnen Mut und Entschlossenheit zugestehen. Wie sie bereit sind, die anderen zu opfern, so opfern sie sich auch selbst. Und es stimmt nicht, daß sie nichts auf die Meinung anderer geben. Sie verlangen bloß, daß diese Meinung ständige Bewunderung ist. „Die Auskünfte über ihn sind … ausgezeichnet“, werfe ich vorsichtig ein. „Sie haben die dienstlichen Beurteilungen gelesen, nicht wahr?“ sagt Bankow mit einem schiefen Lächeln. 20
„Wie sollen die nicht ausgezeichnet sein? Die habe ich auch gelesen. Energisch, mit Initiative, versteht es, das Begonnene zu Ende zu führen, wissenschaftliches Herangehen, Theorie und Praxis und so fort. Ein ausgezeichneter Fachmann, der die Produktion von Antibiotika aus dem Effeff beherrscht. Doch an wieviel Stellen hat er gearbeitet? Ich habe sie gezählt – elf! In sechzehn Jahren elf Stellen! Und immer großartige Beurteilungen. Wie finden Sie das?“ Klarer Fall. Klug, voll Wissen und unleidlich. Sie haben seine Kenntnisse nicht leugnen, ihn aber nicht ausstehen können. Eine wohlbekannte Konstellation. „Etwas über seine Familie?“ „Da wissen Sie sicherlich mehr als ich. In diesen zwei Jahren sind seine Frau und sein Sohn ein einziges Mal hier gewesen. Sie leben irgendwie zusammen, ich habe aber nicht den Eindruck, daß sie sich sehr gut verstehen.“ „Ich weiß, daß dies allzusehr ins Persönliche geht, aber es muß sein … Hat es hier bei ihm eine Frau gegeben?“ Er schweigt lange, dann drückt er die Zigarette im Aschenbecher aus und sagt: „Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Eine Zeitlang glaubte ich ja, danach nein … Maria Kramer von der Atlanta. Sie wissen, was die Atlanta ist? Das ist eine Firma, die die hier anfallenden Arbeiten ausführt.“ Von der Atlanta Bauwerk AG habe ich eine verschwommene Vorstellung aus meinen Aktenheftern in Sofia. Es ist eine italienisch-österreichische Firma, die die gesamten Bauarbeiten übernommen hat: die Gebäude, die Zufahrtsstraße, die Telefonzentrale, das Transformatorenhaus. Wir zeichnen für die Montage und die Inbetriebsetzung verantwortlich. So eine Form der Aufgabenteilung ist in den Ländern der dritten Welt sehr häufig. Mitunter sind es sogar nicht bloß zwei Firmen, sondern viel mehr. 21
Genau das erklärt mir Bankow, nebst einigen Einzelheiten. Die Firma ist nicht klein, sie hat an die zwanzig Leute hier, Ingenieure und technisches Personal, für die Hilfsarbeiten stellen sie hiesige Leute ein. Natürlich geht es nicht ganz ohne Reibereien ab, aber im großen und ganzen sind sie korrekt. „Nun ja, freilich, wir tricksen auch manchmal!“ sagt Bankow und winkt ab. „Das ist menschlich. Aber Sie hatten nach der Kramer gefragt …“ „Ja, nach Möglichkeit …“ „Was soll ich Ihnen sagen … Eine attraktive, angenehme Frau, Ingenieurin. Anscheinend hatte sie für unseren Emil Feuer gefangen, sie sind zusammen gesehen worden. Aus ihm war nichts herauszukriegen, aber unsere Frauen in der Pension haben sich den Mund zerrissen … Was das sei, warum er seine Familie nicht herhole … Sie wissen ja, wie das ist. Dann ist die Sache im Sande verlaufen. Wer kommt schon leicht mit Emil aus.“ „Weiß diese Kramer … daß er verschwunden ist?“ „Sie hat sich selbst gemeldet. Erkundigte sich, wo er sei, wegen irgendwelcher Elektroinstallationen. Wir haben was Dummes zusammengestottert, ich glaube, sie weiß es.“ „Dann weiß es der ganze Betrieb.“ „Sicherlich. Wir stehen hier alle in Verbindung mit ihnen, es geht ja nicht anders. Wenn jemandem seine Abwesenheit bis jetzt nicht aufgefallen ist, muß er es in zwei, drei Tagen bemerken.“ „Können Sie mich mit dieser Maria Kramer bekannt machen?“ „Ohne weiteres. Gleich morgen, wenn Sie wollen.“ „Morgen wird es sicherlich viel zu tun geben, aber wir wollen’s versuchen. Und noch eine letzte Frage: Hatte Doktor Witanow irgendeine Schwäche? Trank er?“ „Nein. Wir haben ihn nur ganz selten in Gesellschaft ein Glas trinken sehen. Er trank und rauchte nicht. Über 22
Glücksspiel brauchen wir nicht erst zu reden, das hätte ich Ihnen sofort gesagt.“ „Nun, ich glaube, das ist alles. Ich danke Ihnen.“ „Wenn Sie wollen, nehme ich Sie morgen im Jeep mit in die Stadt“, sagt Bankow und steht auf. „Überhaupt, wenn Sie etwas brauchen …“ Ich danke ihm noch einmal, und wir trennen uns. Er geht schlafen, ich habe leider noch zu tun. Ich muß mir das Zimmer genau ansehen, eine Skizze anfertigen, ein Protokoll und so weiter – und vor allem über ein paar Dinge nachdenken. Erneut ziehe ich das Schubfach heraus und schlage die Mappe auf. Kein Zweifel, es sind alle wichtigen Urkunden darin. Von meiner ersten Variante muß ich Abschied nehmen. Emil Witanow ist nicht geflohen. Niemand emigriert und läßt seine Diplome zurück. Und er hat überhaupt keinen Grund, es zu tun, Bankow hat ihn sehr treffend charakterisiert. Leute wie er machen sich nicht still aus dem Staub, zumindest darin habe ich Erfahrung. Die werfen die Tür mit einem Krach hinter sich zu. Eine andere Frage ist, daß sie nach ein paar Jahren wieder ankommen und an diese selbe Tür klopfen. Dennoch habe ich eine letzte Hoffnung: Er hat unter falschem Namen ein Ticket gekauft, ist in ein Flugzeug oder auf ein Schiff gestiegen und auf und davon. Es gibt nicht wenige Gründe, die es einem Menschen ratsam erscheinen lassen, sich zu verbergen! Eine vergebliche Hoffnung, sie ist unbegründet. Ich weiß, was dabei herauskommen wird. Morgen werde ich mich mit den Leuten vom Polizeidepartement treffen und die Unterlagen von sämtlichen Grenzkontrollpunkten bekommen – Häfen, Flugplätzen, Grenzübergängen. Eine elektronische Maschine wird die Mikrofilme von den Pässen bearbeitet haben. Falsche Pässe wird es nicht geben, und wenn doch, wird man mir sofort sagen, um wen es sich handelt. 23
Verschwunden. Wenn ein Mensch verschwindet, müssen Motive vorhanden sein. Ich ertappe mich dabei, daß ich diesen Satz ständig wiederhole. Als wir bei der Beratung beim General die Varianten erörterten, kreiste unser Gespräch immer darum. Der General schob die halbvolle Tasse Kaffee auf dem Schreibtisch hin und her und vermerkte etwas auf dem Bogen Papier, der vor ihm lag. Er notierte wohl kaum unsere theoretischen Konstruktionen, da war eine unsicherer als die andere. Ich legte die Ausgangsfakten dar, analysierte sie, schlug, wie das üblich ist, Varianten für Operationspläne vor. Und immer in dem fatalen Gefühl, daß ich mich in einem Zauberkreis bewegte, es gab keine Motive. Die ich mir zurechtgebastelt hatte, hingen in der Luft. Und alle bemitleideten mich ein bißchen, weil ihnen klar war, daß sie in der Luft hingen. Dann gingen die anderen in ihre Büros zurück, nahmen ihre Bedenken mit, ich blieb mit Sawow allein. Der General schwieg länger, als ich erwartet hatte, und sagte dann genau das, was ich vermutet hatte. „Sieht so aus, Debyrski, als tappten wir im dunkeln.“ Das ist sein Lieblingsausdruck, wenn ihm die Pläne für die Ermittlungen nicht gefallen. Als ob sie mir gefielen! Vermißtenmeldungen sind unsere ärgerlichsten Fälle. Sie werden bis zum Beweis des Gegenteils wie Mord behandelt. Aber Morde ohne Ermordeten, wo man nicht einmal von der gesicherten Tatsache des Mordes ausgehen kann. Und wo die Regeln der Kriminalistik sich mit nebelhaften Ratschlägen aus der Affäre ziehen. Was soll mir gefallen? Daß ich in einem fremden Land in einer fremden Umgebung einen klugen Spezialisten von borstigem Charakter suchen muß? Noch dazu einen Mann in einer Position, die wahrscheinlich für die Industriespionage von wenigstens zwei, drei Ländern von Interesse ist. Uns lagen keine Angaben vor, über die 24
Tätigkeit eines fremden Spionagedienstes, wir konnten uns aber vorstellen, wie erfreut manche sein würden, daß wir ein Werk für Antibiotika montierten. Arzneimittel sind eine strategische Ware, besonders in diesem Gebiet. Ein gerade frei gewordenes Land ist nie richtig befreit, wenn es keine Arzneimittel für seine Bevölkerung und seine Armee hat, die diese Bevölkerung schützen soll. Und der Verlust des Marktes und der Dividenden? Nein, unser Werk wird vielen ein Dorn im Auge sein, das ist klar. Aber hängt das mit dem Verschwinden von Doktor Witanow zusammen? Dieses Verschwinden kann sogar ein Schachzug sein, um die Aufmerksamkeit von etwas viel Wichtigerem abzulenken. Wo ist Emil Witanow? Wer hat ihn in den letzten Tagen und als letzter gesehen? Mit wem hat er sich getroffen und wo? Wer ist mit hineinverwickelt, ist noch jemand verschwunden? Wer hat seine Absichten gekannt, falls er welche gehabt hat? Wer hat es zur Hälfte, zu einem Viertel gewußt? Wer schweigt? Ich stoße einen ärgerlichen Seufzer aus und lege die Mappe wieder an ihren Platz. Jetzt muß ich mich daranmachen, Fingerabdrücke zu sammeln. Wenigstens die, die noch da sind. So eine Kollektion kann sich gerade dann als nützlich erweisen, wenn man es nicht erwartet. Als ich das Schubfach zuschieben will, spüre ich, daß da noch etwas ist. So ist das immer, das Gefühl ist zuerst da. Daran bin ich gewöhnt, und ich kenne es; wenn ich es nicht beachtet habe, war es immer ein Fehler. Deshalb stehe ich da und versuche zu analysieren, was mich irritiert. Offensichtlich ist es in dem Schubfach. Bleistifte, Kugelschreiber, Spitzer, Lineale, ein ganzes Sortiment Radiergummis. Nein, das ist es nicht. Das Feuerzeug! Ein schweres, massives Feuerzeug in Witanows nüchternem Einsiedlerstil. Wieso ein Feuerzeug? Er raucht doch nicht. 25
Ich setze mich auf den Stuhl, versuche es genauer zu untersuchen. Dann krame ich aus meinem Jackentaschensortiment einen kleinen Schraubenzieher und begebe mich ans Werk. Der Mechanismus ist nicht einfach, aber ich bin auch nicht ganz unerfahren. Das Feuerzeug schnappt und springt auf. Ich brauche ein paar Sekunden, ehe mir bewußt wird, was ich da sehe, denn es fällt mir schwer, es zu glauben. Dies ist ein Feuerzeug wie alle anderen und zugleich einer dieser liebwerten Gegenstände, mit denen die Menschen einander umbringen. Man kann dutzendemal darauf drücken und seine Zigarette anstecken. Aber einmal kann man auf besondere Art darauf drücken, das Hebelchen verschieben. Und wenn man es dann wieder betätigt, fällt der Mensch vor dir tot um. Drinnen ist eine einzige Kugel, eine Spezialanfertigung. Von solchen Feuerzeugen hatte ich schon gehört, doch jetzt sehe ich zum erstenmal eins. Ich setze es wieder zusammen und lege es auf seinen Platz zurück. Nachdenken will ich über diesen Fund jetzt nicht. Halb vier Uhr morgens ist nicht gerade die beste Zeit für Überlegungen über Mordfeuerzeuge und den Mann, der eins in seinem Schreibtisch gehabt hat. Und der verschwunden ist. Ich gehe hinaus und schließe leise ab. Dann steige ich in mein Zimmer hinunter. Ich muß versuchen, noch eine Mütze voll Schlaf zu nehmen, wenigstens ein, zwei Stunden. Es muß bald hell werden, in den Bäumen hört man Vögel mit den Flügeln schlagen. Und schon jetzt diese Schwüle …
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Pension Theresa Ich erwache mit scheußlichen Kopfschmerzen – das war kein Schlaf, sondern ein Alptraum. Einer dieser bösen Träume ohne Anfang und Ende, in denen man läuft und immer wieder an dieselbe Stelle gelangt und hinausfinden muß, weil man keine Luft bekommt. Wahrscheinlich werde ich mich daran gewöhnen, ans Klima wie an die Kopfschmerzen, doch zunächst zeichnet sich mein erster Arbeitstag in recht düsteren Farben vor mir ab. Ansonsten ist alles an seinem Platz, und das Zimmer sieht bei Tageslicht recht passabel aus. In der Pension sind Schritte und fernes Sprechen zu hören. Unten im Garten läßt jemand ein Auto an. Ich reiße mich zusammen, krieche aus dem Bett und beginne die kleine Tortur mit dem Rasierapparat. Aus dem Spiegel sehen mich zwei gerötete Augen unter verdächtig gedunsenen Lidern an. Das grau durchsetzte Haar vervollständigt trefflich das Bild. Während ich verträumt mein Konterfei betrachte, das die Züge eines alternden Lebemannes angenommen hat, versuche ich, mir den Plan für heute zurechtzulegen. Zuerst muß ich Bankow bitten, mich in die Kommandantur zu fahren. Dort bin ich angekündigt, und es ist ratsam, zu klären, wie weit meine Vollmachten reichen. Außerdem brauche ich die Auskünfte von den Grenzübergängen, Krankenhäusern, Fremdenheimen und dem Leichenschauhaus. Wenn sie die zweifelhaften Lokale, Quartiere und Treffpunkte der Unterwelt von Port Angère unter Beobachtung gestellt hätten, wäre das gut. Solch eine Beobachtung findet immer statt – manchmal schärfer, manchmal lässiger –, mal sehn, ob nicht etwas für mich dabei herausgekommen ist. Witanows Foto ist sicherlich schon vervielfältigt und an die entsprechenden Leute verteilt worden. Dieses erstens – ein recht umfangreiches Erstens. Zweitens – ins Werk oder „Objekt“, wie sie es hier 27
nennen. Ich muß mir Klarheit über Witanows Arbeitsgebiet verschaffen. So ungefähr ist mir das bekannt, aber dieses Ungefähr hilft mir nicht weiter. Ich brauche Einzelheiten, Unterlagen, die jemandem hätten von Nutzen sein können. Jemandem ist ein reichlich abstrakter Begriff, genauer irgendeiner Firma, die nicht gerade gut auf das Werk zu sprechen ist, das ihre Interessen berührt. Und noch etwas, bloß weiß ich im Moment nicht, wie ich es anpacken soll. Ich muß herausfinden, in wessen Gebiet das fällt. Denn die Arzneimittelkonzerne bekämpfen sich nicht immer gegenseitig. Es kommt vor, daß sie sich verständigen – das ist bisweilen billiger als der Unterhalt ganzer Untergrundorganisationen und die Zahlung ungeheurer Bestechungssummen. Drittens – mehr zu der Frage, was Witanow für ein Mensch war. Was mir Bankow erzählt hat, kann stimmen, doch ich möchte wissen, wie ihn die anderen gesehen haben. Das Feuerzeug, das mir nicht aus dem Kopf geht, paßt gar nicht zum Bild des ungeselligen Einzelgängers, der in seiner Arbeit aufgeht. Und dann die Romanze mit der Frau von der Atlanta. Ich bin kein Puritaner, doch einem Mann in meinem Beruf muß klar sein, womit solche Romanzen angefangen und wie weit sie geführt haben. Es versteht sich von selbst, daß ich mich schneide. Ich nehme diesen Fakt philosophisch hin und muß wohl oder übel zu einem Pflaster greifen. Jetzt habe ich endgültig das Aussehen eines Lebemanns, der sich im Dienst nicht gerade überanstrengt und mehr einen guten Kognak und angenehme Gesellschaft schätzt. Die Feststellung, daß ich ein Lebemann bin, ist ganz und gar nicht dazu angetan, meine Stimmung zu heben. Aber es ist höchste Zeit, daß ich mich fertigmache. Man erwartet Taten von mir, keine Selbstbetrachtungen. Ich gehe hinunter zum Frühstück, wenigstens der erste Eindruck von mir muß anständig sein. 28
Im Foyer sitzt Madame Theresa in der Office-Nische und gibt einem Mädchen mit Schürze und Häubchen Anweisungen. Das ist offenbar Germaine, ein sympathisches nettes Ding. Ein Mädchen, das bei uns in einer Schülerinnenuniform stecken und sich über die Literatur- oder Mathematiklehrerin ärgern und danach Literatur wie Mathematik vergessen würde. Ich begrüße Madame Theresa, sie erhebt sich und geleitet mich feierlich zu der Tafel im Raum gegenüber. Man sieht, dies ist eine Pension mit Traditionen, und mir wird gleich vom ersten Tag an ein fester Platz zugewiesen, obwohl ich in ihren Augen verdächtige Verbindungen zur Polizei habe. Der Speiseraum ist klein, alles in allem fünf, sechs Tische, aber jeder Winkel ist maximal genutzt. Der Tropenmorgen fällt ungehemmt durch die hochgezogenen Jalousien, die gestärkten Tischtücher glänzen. Von der Küche weht ein appetitlicher Duft von Hörnchen und Kaffee herüber. An den Tischen frühstücken ungefähr zehn Personen, und selbstverständlich richten sich alle Blicke auf mich. Vorzustellen brauche ich mich wohl nicht, sicherlich hat sich meine Ankunft in der Pension schon herumgesprochen. So ist es auch. Auf mein munteres „Guten Appetit!“ hin antwortet ein wirrer Chor von Grüßen und im großen und ganzen wohlwollendes Lächeln. Inzwischen erkundigt sich Madame Theresa, wo ich lieber sitzen möchte – am Fenster oder nicht. „Wenn es Ihnen keine Umstände macht, Madame, lieber am Fenster. Ich mag Sonne so gern.“ Ich mag Sonne überhaupt nicht, schon gar nicht jetzt, habe aber am Fenster einen Tisch bemerkt, an dem ein Mann und eine Frau sitzen, offenbar ein Ehepaar. Es ist immer gut, wenn einen von Anfang an ein Ehepaar unter seine Fittiche nimmt, das schafft sofort Kontakte. Die kleine List gelingt. Ich erhalte nach allen Regeln 29
der Höflichkeit die Erlaubnis, mich dazuzusetzen, und mache mich mit Sachariews bekannt. Der Mann, ruhig, lächelnd, angenehm, gehört zu den Leuten, die immer guter Dinge sind. Die Frau ist klein, lebhaft, in ihren schwarzen Augen funkelt heimliche Neugier. Während Germaine das Frühstück aufträgt, erfahre ich, daß die Sachariews aus Trojan sind, er ist Monteur bei den Fermentatoren, sie Zeichnerin. Anfangs wär’s ihnen sauer geworden, aber sie hätten sich eingelebt. Immerhin, das Klima … aber man gewöhne sich daran. Ich bin gespannt, wann die Rede auf Witanow kommen wird. Natürlich hält es die Sachariewa nicht lange aus. „Sie sind wegen des Vorfalls mit Doktor Witanow hier, nicht wahr? Wir haben so etwas gehört.“ „Ja, ja … Kennen Sie Doktor Witanow?“ „Wie denn nicht, wir wohnen im selben Stock, im zweiten. Er hat Zimmer neununddreißig, wir dreiunddreißig. Wir kennen uns gut.“ „Und wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?“ „Abends, genau an jenem Abend, am Donnerstag.“ Es wäre nicht schlecht, wenn sie mir ein bißchen was erzählte, aber ich bohre nicht weiter. In solchen Situationen kann mir die Phantasie von Augenzeugen einen üblen Streich spielen. Sie spinnen sich was zusammen und glauben dann daran. Hinterher findet man sich nicht mehr zurecht. Deshalb müssen auch die Fragen konkret sein: Wann hat sie ihn gesehen, wo, war er allein, was hatte er bei sich, wo ist er hingegangen, was hat er gesagt. „Ich habe ihn persönlich gesehen!“ erklärt die Sachariewa. „Ich will Ihnen nichts vormachen, aber es war sicherlich gegen halb acht.“ „Wo?“ „In unserem Stockwerk, er kam aus seinem Zimmer.“ „War er allein?“ 30
„Ja. Ich habe ihn gefragt, ob seine Frau nicht bald käme. Sie hätten sehen müssen, wie er mich angeschaut hat.“ Die Gedankenverbindung ist sehr aufschlußreich – er geht abends allein weg, und sie erkundigt sich nach seiner Frau. „Er war wie geistesabwesend“, fügt die Sachariewa hinzu. „Wie nicht ganz da.“ „Hatte er etwas bei sich?“ „Mir war, als hätte er einen Brief bei sich gehabt. Ich hab’s aber nicht genau gesehen, er steckte ihn in die Tasche. Was anderes hatte er nicht in der Hand.“ Das von dem Brief ist interessant, wenn es ein Brief gewesen ist. Auch, daß er nichts weiter bei sich hatte. Das läßt sich auf verschiedene Weise deuten. „Wo ist er hingegangen?“ „Das weiß ich nicht, wenn er nicht … In die Stadt, sicherlich in die Stadt …“ „Was wollten Sie sagen? Genieren Sie sich nicht.“ Mein Tonfall ist anscheinend recht dienstlich geworden. Ein Fehler. Die Sachariewa macht sofort einen Rückzieher. „Ach … nichts!“ Mir bleibt keine andere Wahl. Ich muß direkt aufs Ziel losgehen. „Sie dachten, er geht zu Frau Kramer, nicht wahr?“ Die Sachariewa gibt keine Antwort, aber ihr Schweigen ist beredt. Ich setze meine Attacke fort. „Das haben Sie doch gedacht, nicht?“ „Ja, also … Es ist nicht schön über Leute zu reden …“ „Es ist nicht schön, aber du redest!“ mischt sich Sachariew ein, der bis jetzt unserem Gespräch ruhig zugehört hat. „Alles Quatsch!“ Das öffnet der Empörung der Sachariewa die Schleusen. „Wenn er Familie hat, soll er sich um seine Familie kümmern! Warum nimmst du ihn in Schutz?“ 31
Es wird Zeit, daß ich den Dialog unterbreche, damit ich nicht noch irgendwelche unschmeichelhaften Verallgemeinerungen über die Männer zu hören bekomme. Im Moment interessiert mich auch etwas anderes. „Was meinen Sie“, sage ich, „wo ist Doktor Witanow?“ Hier verstummt die Sachariewa und sieht ihren Mann an. Klarer Fall. Er hat in der Ehe die Hosen an, sosehr auch seine Ansichten über gewisse moralische Ausrutscher angefochten werden. „Wir stehen alle vor einem Rätsel.“ Sachariew wiegt den Kopf. „Ein Mensch wie der Doktor, der kann nicht einfach so mir nichts, dir nichts verschwinden.“ „Glauben Sie, daß er geflohen ist?“ „Ausgeschlossen!“ Die gleiche Bestimmtheit wie bei Bankow. „Was also dann?“ „Nun, wir haben gedacht … vielleicht ist er entführt worden?“ Ich frage nach dem Grund, weshalb er das denkt, aber er faßt meine Frage anders auf. „Wissen Sie … es gibt alle möglichen Leute. Vielleicht haben sie ihn wegen Geld entführt. Vielleicht auch wegen etwas anderem … die Zeitungen schreiben doch darüber – um Gefangene freizupressen.“ „Heute ist der vierte Tag. Da hätten sie sich längst gemeldet und ihre Forderungen gestellt.“ Er hebt die Schultern. Ich will ihn noch etwas fragen, doch in diesem Augenblick betritt Bankow den Eßraum. Wir begrüßen uns, er schlägt die Tischordnung von Madame Theresa in den Wind und setzt sich zu uns. Wir wechseln ein paar Floskeln darüber, wie ich mich fühle („Ausgezeichnet!“) und wie ich geschlafen habe („Ebenfalls ausgezeichnet!“). Etwas in meinem Tonfall entgeht ihm nicht, denn ich vernehme abermals die schon bekannte Versicherung, daß ich mich daran gewöhnen werde. „Und hüten Sie sich vor der Sonne!“ fügt Bankow hin32
zu. „Damit ist hier nicht zu spaßen, wir hätten gleich zu Anfang beinahe zwei Mann verloren. Kaufen Sie sich einen Tropenhelm, wenn Sie wollen, aber ich rate Ihnen ab, sie sind nicht allzu bequem.“ Es folgt eine kleine Diskussion über die Vorzüge und Unzulänglichkeiten von Tropenhelmen, die Sachariewa bietet mir ihre Dienste an, um mich durch die Märkte zu führen, die hier Suk heißen. Der Eßraum hat sich geleert. Die Sachariews erheben sich ebenfalls. Wie ich erfahre, gibt es einen Sonderbus, der zu dieser und noch zwei weiteren Pensionen kommt, wo Bulgaren wohnen. „Ich stehe Ihnen zur Verfügung und kann Sie in die Stadt bringen“, sagt Bankow. „Auf dem Objekt werden Sie ein, zwei Stunden auf mich warten, das ist kein Beinbruch.“ Bei Tageslicht sieht er besser aus – nicht so gespannt, sein Gesicht wirkt ruhiger. Geblieben ist etwas im Blick und in manchen eckigen Bewegungen, aber es ist nicht so wie in der Nacht. Dafür bin ich heute nervös und unruhig. Ich habe das Gefühl, daß ich mit jeder Minute Zeit verliere, daß draußen Ereignisse ablaufen, in die ich eingreifen müßte. Bankow beendet sein Frühstück, den Kaffee trinkt er nicht aus. „Ich trinke ihn schrecklich gern, vertrage ihn aber nicht“, sagt er lächelnd. „Als Student habe ich eine halbe Kanne ausgetrunken, und es hat mir nichts ausgemacht. Was meinen Sie, gehen wir?“ „Ich danke Ihnen, möchte Sie aber nicht aufhalten … Ich will mit Madame Theresa und dem Hausmädchen reden.“ „Was denn?“ sagt er verwundert. „Der Doktor ist jetzt das wichtigste. Ich warte so lange wie nötig. Ich finde schon was, um die Zeit zu nutzen … Ich bitte Sie! Wenn Sie fertig sind, geben Sie mir Bescheid. Ich bin oben.“ 33
Ich lasse Bankow bei seinem Kaffee sitzen und begebe mich auf die Suche nach Madame Theresa. Im Office ist sie nicht. Es stellt sich heraus, daß sie in ihrem Appartement ist und sich nicht überrascht zeigt, als sie mich sieht. Ich entschuldige mich, daß ich störe, müsse aber mit ihr reden. Zehn Minuten, nicht länger. „Bitte Monsieur, treten Sie näher!“ Sie bittet mich hinein. „Es ist nicht aufgeräumt, Sie müssen entschuldigen.“ Natürlich stimmt das nicht. Alles ist blitzblank. Die Wohnung ist klein, sie lebt allein hier. Ein Zimmer mit einem Fenster zum Garten und ein Schlafraum mit offenem Bogen und einem Vorhang. Überall herrscht Ordnung, nur ist alles zu sehr mit Krimskrams vollgestellt. Väschen und Aschenbecher aus Kristall stehen an den unvermutetsten Stellen, und man kann nicht unterscheiden, was Vasen und was Aschenbecher sind. An den Wänden hängen kleine Wandteppiche in Bronzerahmen, hinter den Glasscheiben des eingebauten Bücherschranks ist eine Kollektion wunderlicher Glastiere mit großen Augen versammelt. Es berührt mich nicht peinlich, sondern einfach seltsam, weil ich bei Madame Theresa keinen solchen Geschmack erwartet hatte. Ich nehme nach ihrer Aufforderung Platz, wobei ich Angst habe, eins der Väschen umzureißen. Madame Theresa öffnet eine kleine Bar im Bücherschrank und fragt: „Was möchten Sie trinken, Monsieur? Portwein … Martini?“ „Am besten nichts, Madame.“ „Dann einen Aranjo.“ Ich weiß nicht, was Aranjo ist, und die Neugier siegt. Auf das Tischchen vor mir werden zwei Gläser mit einer ungewöhnlichen goldfarbenen Flüssigkeit hingestellt. Madame Theresa setzt sich in den Sessel neben mir und hebt das Glas. 34
„Zum Wohl, Monsieur!“ Sie ist eine angenehme Frau und benimmt sich ganz natürlich. Durch den Umgang mit allen möglichen Leuten in der Pension hat sie ein sicheres Auftreten und zugleich ein sehr genaues Gefühl für Maß bekommen. Sie scheint durch Witanows Verschwinden auch nicht allzusehr beunruhigt zu sein. Wahrscheinlich meint sie, dies sei ein gewöhnlicher Zwischenfall im Leben der Pension, der bald mit einem guten Ende abgeschlossen sein wird. Und der Aranjo stellt sich als starker, aromatischer Orangenbranntwein heraus. „Ich bedaure außerordentlich, Madame“, beginne ich, „daß wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten, aber es müssen einfach ein paar Dinge geklärt werden …“ Sie hört ernst zu und mustert mich aufmerksam mit ihren schwarzen Augen. Das klassische griechische Profil verleiht ihr ein etwas strenges Aussehen, aber es wird durch das dichte schwarze Haar gemildert, das mit wohlüberlegter Nachlässigkeit aufgesteckt ist. „Ich brauche ein paar Einzelheiten“, fahre ich fort. „Gestatten Sie, daß ich Ihnen ein paar Fragen stelle?“ „Selbstverständlich! Ich bringe bisweilen … eh, die Worte durcheinander, Sie müssen mir helfen.“ „Aber Sie sprechen doch ausgezeichnet bulgarisch, Madame! Sie benötigen keine Hilfe.“ Sie hört es wirklich schrecklich gern, wenn man ihr Bulgarisch lobt. Und alles, was recht ist, sie spricht ganz gut, was eine große Erleichterung bedeutet. „Seit wann kennen Sie Doktor Witanow, Madame?“ „Moment!“ Sie rechnet etwas im Kopf nach. „Seit März vorigen Jahres, da ist er in die Pension gezogen.“ „Können Sie mir sagen, mit wem er am häufigsten beisammen war?“ Sie schweigt. Es ist offensichtlich, daß sie einer Antwort ausweichen will. 35
„Legen Sie meine Frage nicht falsch aus“, bohre ich weiter. „Ich muß alles wissen.“ „Verstehe. Mit wem er zusammenkommt? Mit den Gästen aus seiner Etage: Herrn Bankow, dem Ehepaar Sachariew, Medkow … Sie sehen im Salon fern.“ „Besuchen ihn außer Ihren Gästen andere Leute?“ Sie schweigt wieder. „Bitte!“ „Ich kenne sie kaum, Monsieur! Jeder hat Freunde. Kommissar Matias hat auch schon danach gefragt.“ „Trotzdem. Wen von den Freunden des Doktors kennen Sie?“ „Ein Herr hat nach ihm gefragt, ein Ingenieur … Und dann noch eine Dame. Wie sie heißt, weiß ich nicht.“ Sie weiß sehr gut; wie sie heißt, aber ich habe keinen Grund, länger auf dieser Frage zu bestehen. „Haben Sie Doktor Witanow Donnerstag früh gesehen? Ist er zum Frühstück heruntergekommen?“ „Ja, er war unten. Wie immer … vor sieben.“ „Wie hat er ausgesehen? Haben Sie mit ihm gesprochen?“ „Er war ein bißchen, wie soll ich sagen … dunkel.“ „Finster?“ „Ja, genau. Danach müssen Sie Germaine fragen, Monsieur. Und Kadir.“ „Wieso Kadir?“ „Der wird Ihnen sagen, daß der Doktor spät nach Hause gekommen ist. Nachts macht Kadir auf.“ „Ist er allein gewesen?“ Das weiß sie nicht. Darüber hat sie mit Kadir nicht gesprochen. „Und morgens ist der Doktor gemeinsam mit den anderen zur Arbeit gegangen? Haben Sie gesehen, wann er am Nachmittag zurückgekommen ist?“ „Um halb sechs, Monsieur, dann kommen die von der ersten Schicht.“ 36
„Und die von der zweiten?“ „Um … zehn. Sie bleiben in der Stadt und kommen spät.“ „Das heißt, Ihre Gäste der ersten Schicht gehen nach sieben weg. Und die von der zweiten?“ „Um zwölf.“ „Und treffen gegen neun Uhr abends wieder ein. Das bedeutet, daß zwischen zwölf Uhr mittags und fünf Uhr nachmittags so gut wie niemand in der Pension ist?“ Sie lächelt. „Nun, ich bin ja da. Und Germaine. Auch ein paar von den Frauen.“ „Kam Doktor Witanow häufig mit der zweiten Schicht zurück?“ „Ja, er arbeitet sehr viel, Monsieur. Wenn er zu Hause ist, sitzt er die ganze Nacht über Büchern. Kommt herunter und macht sich mit der Maschine Kaffee …“ „Der Doktor ist schon den vierten Tag weg, Madame. Ist das schon einmal vorgekommen, daß er so … ohne etwas zu sagen …?“ „Nein … ich habe nichts bemerkt.“ „Was glauben Sie, könnte mit ihm passiert sein?“ „Ich weiß nicht, Monsieur. Manchmal machen Männer so etwas.“ In ihren schwarzen Augen funkeln spöttische Fünkchen. „Dann tauchen sie wieder auf.“ Das also ist der Grund für ihre Ruhe. Sie hält das Wegbleiben des Doktors für eine gewöhnliche Frauengeschichte. Ich habe keinen Anlaß, sie von dieser Meinung abzubringen. So ist es besser. „Hoffentlich haben Sie recht, Madame. Und wo könnte ich jetzt Germaine finden und mit ihr sprechen?“ „Ich hole sie her, Monsieur! Wäre es Ihnen recht?“ Natürlich ist es mir hier recht. Sie geht hinaus, um Germaine zu suchen, ich überlege mir die Fragen an das Mädchen und mustere zerstreut das Zimmer. Irgend etwas fehlt mir bei aller Überladenheit in diesem Raum. 37
An der Wand hängen neben den Teppichen Aufnahmen. Die kleine Theresa mit Vater und Mutter. Die größere Theresa mit einem Jungen, vermutlich ihrem Bruder, vor Sacré Coeur in Paris aufgenommen. Ein vergrößertes Foto von ihrem Bruder. Ansichten von Port Angère und irgendeiner anderen Stadt. Ein paar Flachreliefs mit Bildern. Mir fehlt das Foto eines Mannes. Und eines Kindes. Das ist im Moment völlig unwichtig, fällt mir aber auf. Inzwischen hat Madame Theresa die verlegene Germaine hereingebracht. Ich kann machen, was ich will, in ihren Augen bin ich einer von der Polizei. Mit ein paar harmlosen Fragen will ich sie für mich einnehmen. Madame Theresa übersetzt und erklärt, daß es um den Doktor aus dem zweiten Stock gehe. Ja, Germaine räumt das Zimmer des Doktors auf. Sie hat einen Schlüssel zu diesem Zimmer. Wenn saubergemacht werden muß, hinterläßt der Doktor den Schlüssel im Postfach beim Empfang. Tagsüber hat sie den Schlüssel bei sich, am Abend tut sie ihn dahin zurück. So weiß sie jeden Morgen, welche Zimmer dran sind. Das heißt, die zweiten Schlüssel sind im Office, manchmal die ganze Nacht? Anscheinend malt sich auf meinem Gesicht Unwille, denn Madame Theresa ist leicht gekränkt und erklärt: „Ich verbürge mich für das Personal!“ Ich beeile mich, sie zu beruhigen, daß ich niemanden im Verdacht habe. Nach den Schlüsseln erkundige ich mich, weil mich im Augenblick etwas anderes interessiert. „Am Freitagmorgen war der Schlüssel also im Office?“ Germaine bestätigt es. „Und Sie sind hinaufgegangen und haben saubergemacht?“ Sie bestätigt es wieder. 38
„Aber ich habe nichts weggenommen!“ rechtfertigt sie sich, und in ihren Augen erscheinen Tränen. Lieber Himmel! Ich weiß, daß sie nichts weggenommen hat. Ich habe sie ja auch gar nicht verdächtigt. Im Gegenteil, sie soll mir helfen. Wenn sie mir hilft, wäre ich ihr sehr dankbar. Nach und nach beruhigt sich Germaine. „Ist Ihnen etwas aufgefallen, Germaine? Denken Sie genau nach, rufen Sie sich alles ins Gedächtnis … wie Sie das Zimmer betreten haben … womit Sie angefangen haben …“ Madame Theresa übersetzt. Germaine hebt die Schultern. Nein, nichts. Dann, nachdem sie schon drauf und dran gewesen ist, in Tränen auszubrechen, lächelt sie wie ein Kind und sagt ein paar Worte. Madame Theresa lächelt ebenfalls. Ich bestehe darauf, daß sie übersetzt. „Ach Unsinn“, sagt sie. „Im Papierkorb ist nichts gewesen.“ Das ist gar kein Unsinn. In unserem Beruf gibt es auch Paradoxien. Ein leerer Papierkorb gibt bisweilen mehr Informationen als zehn volle. „Und haben Sie irgendwo im Zimmer … oder auf dem Balkon oder im Bad Asche von verbranntem Papier gefunden, Germaine?“ „Nein, Monsieur.“ „Sind Sie sicher? Mitunter bleiben kleine leichte Stückchen übrig, die der Luftzug in die Ecken trägt. Beim Saubermachen findet man sie.“ „Nein, Monsieur. So was hat es im Zimmer von Herrn Doktor nicht gegeben.“ „Gut. Ist Ihnen etwas anderes aufgefallen?“ „Nein. Das heißt …“ Ich stürze mich sofort auf dieses zögernde „Das heißt“. Was gibt es? Auch wenn es albern anmutet, sie soll es sagen! Germaine erklärt Madame Theresa hastig etwas, und sie überlegt, wie sie es übersetzen soll. Sie 39
sucht nach Worten, die ihr teilweise fehlen, ich helfe, so gut ich kann. Heraus kommt eine von jenen Absonderlichkeiten, wie sie nur ein Pedant von Witanows Schlag ersinnen kann. Er sei furchtbar zornig geworden, wenn Germaine seinen Schreibtisch abgestaubt und dabei seine Bücher und Hefte verschoben habe. Doch Staub bleibe Staub, selbst für einen Pedanten. Deshalb habe er mit Germaine ein Gentleman’s Agreement getroffen. Auf der Schreibtischplatte stehe ein kleiner Steckkalender aus Metall, und zwar immer rechts vom Bleistiftbehälter. Ob ich ihn gesehen hätte? „Ja, ich habe den Kalender gesehen. Weiter?“ Wenn Witanow der Ansicht war, daß er schon bis zum Hals im Staub versank und Germaines Eingreifen nötig sei, habe er den Kalender nach links gestellt, zu den Heftern. Als sie am Freitagmorgen in das Zimmer gekommen sei, habe der Kalender weder rechts noch links gestanden, sondern in der Mitte, neben der Schachtel mit den Kugelschreibern. Sie habe nicht gewußt, was sie machen solle und sich diese Einzelheit deshalb gemerkt. Was könne das bedeuten? Ich weiß nicht, was es bedeuten kann. Ein Zufall. Nur, daß in Witanows Zimmer zu viele Zufälle zusammenkommen. Ich versuche es mit noch ein paar Fragen, es kommt aber nichts dabei heraus, und Madame Theresa schickt Germaine weg. Das letzte, worum ich bitte, ist, daß ich mit Kadir sprechen möchte. „Hoffentlich ist er da.“ Sie steht rasch auf. „Könnte sein, er ist weggegangen.“ Kadir ist zugegen – nach ein paar Minuten bringt ihn Madame Theresa herein, und ich beginne mit ihrer Hilfe ein etwas ermüdendes Gespräch. Sie übersetzt, und es fällt mir schwer, auseinanderzuhalten, was Kadir sagt und was ihr Kommentar dazu ist. 40
Kadir wohnt in der Stadt, dort hat er seine Familie. In die Pension kommt er gegen fünf Uhr nachmittags und geht morgens. Er hilft in der Küche, kümmert sich um den Garten, erledigt, wenn es nötig ist, in den Zimmern kleine Reparaturen. Abends um elf schließt er das Außentor ab und wird zu so etwas wie einem Nachtwächter. Er schläft in dem Käfterchen neben der Tür und öffnet, wenn sich einer der Gäste verspätet. Dafür gebe es eine Klingel. Stimmt schon, das sei für die Gäste ein bißchen lästig, doch so sei die Hausordnung nun einmal schon seit der Zeit von Madame Theresas Vater. Ich erkundige mich, ob auch die Haustür abgeschlossen wird. „Selbstverständlich!“ antwortet Madame Theresa. „Jeder Gast hier hat einen Schlüssel, Monsieur.“ Daraus folgt, daß das einzige ernsthaftere Hindernis für einen Außenstehenden das von Kadir abgeschlossene Eisentor ist. Aber auch das ist kein Hindernis, die Mauer zu den Nachbargrundstücken ist nicht sonderlich hoch. Nachts ist die Pension verhältnismäßig leicht zugänglich. Behutsam äußere ich meine Überlegungen. Madame Theresa lächelt. „Was gibt es schon zu stehlen, Monsieur! Der müßte ja verrückt sein.“ So gesehen hat sie recht, nur, daß mich die Sache von einer anderen Seite her interessiert. Und Kadirs Nachtwachen gefallen mir nicht sonderlich. Ich frage ihn, wann der Doktor Mittwoch abend nach Hause gekommen ist. Spät, sagt Kadir, weiß aber nicht, mit wem. Er habe nur gehört, wie ein Auto weggefahren sei. Kadir gefällt mir nicht so recht. Ich kann nicht sagen, weshalb. Jetzt ist indes nicht die Zeit für Gefühlsanalysen. Fest steht, daß ich nichts weiter erfahren werde. Ich bedanke mich bei Madame Theresa und Kadir und breche auf. Bankow ist in seinem Zimmer, von der wohlbekann41
ten Atmosphäre des Berichteschreibens umhüllt. Auf Schreibtisch und Bett liegen Papierbogen herum, manche vollgeschrieben, andere durchgestrichen. „Ja, so ist das!“ sagt er und lacht hinter seiner Brille. „Ein bißchen Sauerteig aus alten Berichten kommt immer zupasse! Gehen wir?“ Wenig später fährt er den Jeep auf die Allee. Die Autos sind fort, die Pension hat sich geleert. Die Fenster sind geschlossen, die Jalousien heruntergelassen. Nur vom Eßraum her ist Geschirrklappern zu hören. Der Tag hat für alle begonnen. Jetzt sehe ich, daß die blaßlila Büsche an der Allee nicht lila sind, sondern voll grellweißer Blüten in riesigen Trauben hängen. Und obwohl es noch früh am Tag ist, strömen sie einen starken, erregenden Duft aus. „Bougainvilleas“, sagt Bankow, der meinem Blick gefolgt ist. „Sie sind einfach phantastisch. Manche aber mögen sie nicht. Sie sagen, daß sie Schlangen anlocken.“ „Im Ernst?“ „Unsinn! Die Schlangen fürchten sich vor den Menschen mehr als wir vor ihnen. Nehmen Sie übrigens diesen Hut. Die Sonne ist gefährlich.“ Er reicht mir einen schon etwas schäbigen Hut mit breiter Krempe. „Geben Sie nichts darauf, daß er nicht der neueste ist. Dann hält man Sie nicht für einen Touristen und haut Sie auf dem Markt nicht so sehr übers Ohr.“ Ich setze mich in den Wagen, und wir fahren los. Ich hatte angenommen, es würde nach unten gehen, doch wir biegen nach der anderen Seite ab, hügelaufwärts, um von der anderen Seite hinzukommen, wie er mir erklärt. Von den Villen gebe es einen direkten Weg nach unten, aber der sei zu steil und nicht für Autos geeignet. Die Villen werden immer prächtiger, Gebäude im mauretanischen Stil reihen sich aneinander, mit Bögen und Säulen, von den zähen Ästen des Oleanders umrankt. Ich 42
hätte nicht gedacht, daß es so viele verschiedene Grüntöne gibt: mächtige samtgrüne Farne, grellgrüne Orangenhaine, die voller Früchte hängen, silbriggrüne Palmen und Oliven. Über die grünen Hügel schießen Lerchen hin, und zum erstenmal sehe ich orangefarbene und blaue Lerchen. Die Straße macht eine Biegung und gelangt ins Freie. Bankow, der nicht viel redet, sieht mich an. „Die Altstadt!“ sagt er. Unter uns liegt eine Legende in Weiß und Rosa ausgebreitet, und ich vergesse einen Augenblick lang, weshalb ich hier bin. Als Kind habe ich die Märchen der Scheherezade von verzauberten Städten gelesen und danach solch farbige Träume geträumt. Über die Hänge ziehen sich schneeweiße Häuser mit flachen Dächern abwärts, darüber wachen die rosa Kuppeln von Moscheen mit dünnen Minaretten, die von hier wie Spielzeug aussehen. Der Hügel an der Bucht wird von einer alten Festung gekrönt, ihre verfallenen Schießscharten gehen aufs Meer hinaus und dahinter der glasblaue Ozean. Doch im nächsten Augenblick verschwindet das Traumbild schon, der Weg führt jetzt abwärts. Breite Straßen mit modernen Gebäuden tauchen auf, Autos kommen uns entgegen, die Stadt lebt auf mit dem Getön der Hupen und dem Lärm an den Kreuzungen. Der neue Teil der Stadt ist ein seltsames Gemisch. Die Gebäude sind neu, kurz vor oder nach dem Krieg errichtet, aber die alte Südstadt, die zum Hafen hin liegt, ist auch hier eingedrungen, hat sich der Details bemächtigt. Zwischen den europäisch gekleideten Männern, die vor den roten Augen der Verkehrsampeln warten, stehen gelassen Greise mit Turbanen und weiten weißen Gewändern. Auf dem modernen Parkplatz empfängt uns ein uniformierter Wächter. Ein Häuschen hat er nicht – seitwärts, neben Autos aller Marken, ist ein bunter Schirm aufgespannt. 43
Der Parkplatz befindet sich genau hinter der Kommandantur. Wir verabreden, daß ich Bankow wieder hier treffen werde. Der Polizist am Eingang studiert lange und konzentriert meine Papiere, dann übergibt er mich einem anderen, der mich ins Büro des stellvertretenden Kommissars bringt. Ich trete ein, hinter dem Schreibtisch erhebt sich ein junger dunkler Mann in Uniform. Seine schwarzen Augen mustern mich prüfend, während wir uns vorstellen. Das ist der stellvertretende Kommissar, zugleich der Chef der Kriminalabteilung. Er greift sofort zum Telefon. Der Mann, der hereinkommt, ist in meinem Alter – etwas über vierzig, hat ruhige braune Augen und ein Bärtchen, das ihn ein bißchen älter macht. Er ist in Zivil, und sein Benehmen ist ungezwungener, obwohl er in strammer Haltung grüßt. Er stellt sich vor: Jean Matias, Inspektor bei der Kriminalabteilung. Inspektor Matias ist mit der Bearbeitung des Falles Witanow beauftragt. Er klappt eine Ledermappe auf und beginnt, mich mit ihrem Inhalt vertraut zu machen. Auskünfte der Grenzübergänge. Eine Person mit dem Namen Witanow ist von Donnerstag bis heute nicht registriert. Wie ich angenommen habe, sind die Daten von den Mikrofilmen bearbeitet worden: zwei falsche Pässe von zwei alten Bekannten der Kommandantur. Angaben der See- und Luftstreitkräfte über Verletzungen des Hoheitsgebiets und des Luftraums: nur ein Vorkommnis – ein Motorboot, das Rauschgift geschmuggelt hat, ist aufgebracht worden. Hat mit unserem Fall nichts zu tun. Matias legt diese Unterlagen weg und schlußfolgert nüchtern: „Ich meine, Ihr Landsmann hat das Land nicht verlassen.“ „Und wenn wir von der Annahme ausgehen, daß er es auf anderem Weg versucht hat … zum Beispiel durch die Wüste? Mit Wagen und Begleiter?“ 44
„Die Stellen, wo er durch könnte, werden bewacht.“ „Und das übrige?“ Matias lächelt unmerklich mit den Augen. Meine Unkenntnis der Verhältnisse erheitert ihn. „Ausgeschlossen. Wenn er mit jemandem durch die Wüste marschiert ist, entdecken wir sie nach Monaten, eingetrocknet wie Mumien, oder nie.“ Er beugt sich wieder über die Mappe. Bringt handgeschriebene Notizen zum Vorschein. „Leider sind die Aussagen von Augenzeugen spärlich … Ihr Landsmann ist gegen halb sechs Uhr nachmittags in die Pension zurückgekehrt. Gegen halb acht ist er wieder weggegangen. Zum letztenmal ist er in einem Bistro am Kai gesehen worden. Die Inhaberin hat ihn nach dem ihr vorgelegten Foto erkannt. Hier ist das Protokoll.“ „Und sie hat ihn zweifelsfrei erkannt?“ Wieder lächelt Matias. „Sie hat ihn genau beschrieben. Sie sagt, er habe einen Kognak getrunken, bezahlt und sei gegangen. Das sei gegen halb neun gewesen. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen.“ „Einen Kognak? Er trinkt selten.“ „Sie ist ganz sicher.“ „Wenn Sie gestatten … was ist das für ein Lokal?“ „Ein Café am Kai.“ „War der Doktor auch schon früher dort?“ „Ja, aber selten. Angaben über verdächtige Kontakte gibt es nicht.“ Er holt ein neues Blatt hervor. „In den öffentlichen Häusern ist er nicht bekannt. Die Mädchen haben ihn weder am fraglichen Tag noch vorher gesehen.“ Ein neues Blatt. „In den Krankenhäusern, Kliniken und dem Leichenschauhaus ist keine Person mit den Kennzeichen Ihres 45
Landsmanns festgestellt worden. Seit Donnerstag gibt es zwei nicht identifizierte Leichen. Ihr Vertreter Ba…“, er sucht im Protokoll, „Ban…“ „Bankow?“ „Ja … hat erklärt, daß die Leichen nicht mit der gesuchten Person identisch sind.“ Er schließt die Mappe. „Das wär’s für den Augenblick. Von den Fremdenheimen liegen noch keine Angaben vor, aber von da können wir kaum irgend etwas erwarten. Sämtliche Hotels sind informiert. Auch die Pensionsinhaberin habe ich angewiesen, jeden zu melden, der nach dem Verschwundenen fragt. Das hat sie Ihnen wahrscheinlich schon gesagt.“ „Und Ihre Meinung? Haben Sie schon eine vorläufige Erklärung?“ Er überlegt und schaut auf den stellvertretenden Kommissar. „Wir haben einige erwogen. Für einen Mord haben wir kein Motiv, genauer – wir wissen nicht, ob es dafür kein Motiv gibt, führen die Ermittlungen aber auch in dieser Richtung. Am schwierigsten wird es, wenn es ein Raubmord ist oder einfach ein Mord aus Versehen. Aber das glaube ich nicht.“ „Halten Sie eine Entführung für möglich?“ „Voriges Jahr hatten wir solch einen Fall. Aber da hätten sie sofort ihre Bedingungen gestellt. Ich habe unseren … Informanten Anweisungen gegeben. Und was die Befragung der Leute angeht, mit denen Ihr Landsmann Kontakt hatte, so halte ich es für das beste, dies zunächst Ihnen zu überlassen.“ „Entschuldigen Sie, darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?“ „Selbstverständlich, Herr Kollege.“ „Ist auf den Postämtern überprüft worden, ob er an diesem Donnerstag Briefe aufgegeben hat?“ 46
Matias übersetzt meine Frage dem stellvertretenden Kommissar. Sie wechseln ein paar Worte. Es ist nicht überprüft worden. „Wir werden die Auskunft gleich haben. Glauben Sie, er hat einen Brief abgeschickt?“ „Es wäre möglich.“ Matias vermerkt es in seinem Notizbuch. Ich stehe auf, an der Wand vor mir hängt ein großer Stadtplan von Port Angère. „Können Sie mir bitte zeigen, wo das Bistro ist?“ Der Plan ist in Sektoren und verschiedenfarbige Abschnitte mit Nummern unterteilt. Der Kai ist orange und hat die Nummer sechzehn. „Hier. Café Dolly. Sie sehen das Schild.“ Ich notiere mir die Koordinaten. Inzwischen hat der stellvertretende Kommissar einen Polizeiplan der Stadt aus seinem Schreibtisch genommen und überreicht ihn mir liebenswürdig. „Bitte sehr, wahrscheinlich werden Sie ihn brauchen können. Hier sind unsere Telefonanschlüsse …“ Er unterstreicht einen davon. „Der ist von Kollegen Matias. Und dann wären da noch ein paar Formalitäten.“ Die Formalitäten bestehen darin, daß in einem anderen Zimmer, in das mich Matias bringt, meine Papiere registriert werden und ich einen Polizeiausweis erhalte. Sollte jemand meinen Namen darauf lesen, würde er nicht schlecht staunen. Ich verabschiede mich von Matias und gehe hinaus. Als ich auf die Straße trete, kneife ich vor dem scharfen Licht die Augen zu. Es sticht erbarmungslos in die Augen, ein Licht ohne Schatten. Und die Hitze, die sich auf die Stadt gelegt hat, während ich in der Kommandantur war, ist derart, daß ich schon nach den ersten Schritten den Mund aufsperre und nach Luft japse. An Stirn und Schläfen, auf dem Rücken bricht mir der Schweiß aus. Ich halte mich möglichst dicht 47
an die Häuser, an den Schatten der Markisen vor den Geschäften. Auf dem Parkplatz sind nicht mehr so viele Autos, der Wächter mit dem malerischen Schirm ist auch weg. Ich sehe mich um und bemerke Bankow, der mir zuwinkt – er sitzt unter dem Sonnendach einer kleinen Konditorei. Auf dem Tisch vor ihm stehen eine Tasse und ein Teekännchen. „Ich habe meinen Kaffeeverbrauch eingeschränkt“, erklärt er lächelnd, als ich mich zu ihm setze. „Dafür habe ich mich auf Tee umgestellt. Und so einen Tee haben Sie sicherlich noch nicht getrunken.“ Auf dem Boden seiner Tasse steht einen Finger hoch eine dunkelgrüne Flüssigkeit, die sich in meiner Vorstellung überhaupt nicht mit dem Begriff Tee verbindet. „Das ist schon die reinste Sucht!“ sagt Bankow. „Was will man machen!“ Er trinkt den Tee aus, und wir stehen auf. Den Wagen hat er in die nächste Querstraße geschafft und unter einem Miniaturschattenfleckchen abgestellt, das ein verdorrtes, versengtes Bäumchen wirft, immerhin etwas. Die Straße, von Verkehrsampeln zerschnitten, die allmählich seltener werden, geht in einen Fahrweg über, der an einem Hügel entlangführt. Die Häuser werden kleiner und immer ärmlicher, dann kommen wir auf eine Umgehungsstraße. Rechts liegt noch der Hügel, links … links ist ein anderer Planet. Wieder dieser jähe Übergang, der mich schon gestern nacht verblüfft hat. Die glühendheiße Luft verwischt sonderbar die Konturen der verbrannten roten Hügel. Eine Marswüste, in Jahrtausenden von Wind und Sonne zerfressen. Die Straße führt an dem Hügel entlang, sie meidet die Wüste. An der Gabelung erscheint wie ein Trugbild eine moderne Tankstelle mit grellroten Zapfsäulen und der Reklame von Esso. Der zähnefletschende Reklame-Tiger 48
bringt mich sofort aus den Jahrtausenden in die Wirklichkeit zurück. Durch das Fenster dringt feiner Staub, der zwischen den Zähnen knirscht. „Dort drüben sind die Büros der Österreicher!“ Bankow deutet mit dem Kopf irgendwo nach rechts zum Fuß des Hügels. „Dahinter ist das Objekt. Es ist zu sehen.“ Nichts ist zu sehen außer einem Wäldchen unterm Staub ergrauter Palmen und einem bißchen Grün, das sich an die Erde klammert. Zwischen den Palmen stehen ein paar Gebäude – wahrscheinlich ehemalige Lagerräume oder so etwas, die später umgebaut worden sind. Eins der Gebäude ist etwas höher, zweigeschossig, ein paar Treppenstufen führen zu ihm hinauf. Daneben, in dem kümmerlichen Grün, stehen akkurat ausgerichtet fünf, sechs Wagen. „Einen Moment!“ sage ich. „Das ist doch die Firma, nicht?“ Er sieht mich an. „Ja, ja, die Atlanta. Was gibt es?“ „Können Sie mich nicht zuerst dorthin fahren? Es liegt auf dem Weg.“ „Gut, wenn Sie wollen“, willigt er ein. „Ich mache Sie mit den Leuten bekannt. Was soll ich ihnen sagen?“ „Die Wahrheit. Aber ohne Panikmache.“ „Und wir haben ihnen gesagt, er sei auf Dienstreise“, knurrt Bankow. „Da stellen wir uns ganz schön bloß.“ „Das ist kein Hindernis. Sie haben eben gedacht, er sei auf Dienstreise, und dann festgestellt, daß er weg ist.“ Bankow biegt ab, und eine Minute später halten wir vor dem Gebäude mit den Treppenstufen, den Büros der Atlanta, die mich lebhaft interessieren.
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Atlanta Bauwerk AG Das zweigeschossige Gebäude wirkt aus der Nähe recht belebt. Hinter den verhangenen Fenstern mit den halbgeschlossenen Jalousien sind Stimmen zu hören, jemand diktiert etwas, gedämpft und hurtig hämmert eine Schreibmaschine. Vor der Tür unterhalten sich einige Männer in Burnussen lebhaft in ihrer kehligen Sprache. Wir steigen die Treppe zum Obergeschoß hinauf, zum Büro des Direktors. Ingenieur Falcone ist für einen Direktor verhältnismäßig jung – an die Vierzig, ein ruhiger, ziemlich reservierter Mann. Er empfängt uns indes liebenswürdig und bittet uns sofort hinein, obwohl sein Schreibtisch mit Akten überhäuft ist und er im Moment seiner Sekretärin etwas diktiert. Sie ist eine dienstlich lächelnde, adrette Frau, eine von den Frauen, deren Alter man nicht bestimmen kann. Nicht eine überflüssige Bewegung. Alles an ihr ist ausgewogen durch jahrelange Erfahrung. Sie erlaubt sich nur ein Fünkchen Neugier in den Augen vor dem Hinausgehen. Ich erläutere zurückhaltend, was zu erläutern ist, bitte Ingenieur Falcone, uns diskret behilflich zu sein. In erster Linie möchte ich wissen, wer Doktor Witanow zuletzt gesehen hat und aus welchem Anlaß. „Ich habe ihn …“, er zögert, „wahrscheinlich am Mittwoch gesehen. Da war etwas mit den Boxen, den sterilen Räumen.“ Falcone scheint nicht überrascht. Entweder weiß er es schon, oder Witanows Verschwinden interessiert ihn überhaupt nicht. „Um sicherzugehen“, schließt er, „fragen wir am besten Ingenieur Thorwald, unseren Chefingenieur. Was meinen Sie?“ Ich erwidere, daß ich mich ganz auf seine Diskretion verlasse. Er drückt auf eine Taste der Sprechanlage und sagt ein paar Worte. 50
Ingenieur Thorwald, der nach ein paar Minuten hereinkommt und mir vorgestellt wird, ist ein großgewachsener blonder Mann, ungefähr fünfzig Jahre alt. Vermutlich ist er ein bißchen eitel – er trägt eine Frisur, die die angegrauten Schläfen geschickt verdeckt. Er ist ein schöner Mann gewesen und ist es immer noch – energisch, hart, mit einem Anflug von Strenge im Ausdruck. Wenn Falcone der unerbittliche Verwaltungsmann ist, die Voraussicht, so ist dieser die Aktion. Mit ein paar Worten lege ich dar, was ich wissen möchte. Wann ist Doktor Witanow zum letztenmal hier gewesen? Mit wem hat er sich getroffen? Wann hat er selbst, Thorwald, ihn gesehen und aus welchem Anlaß? Ich entschuldige mich vorsorglich für die Störung. „Darauf kann ich Ihnen sofort antworten“, sagt er sachlich und zieht ein Notizbuch aus der Tasche. Er blättert ein paar Seiten durch. „Doktor Witanow? Donnerstag, vierzehn Uhr dreißig. Gegenstand des Gesprächs: die Elektroinstallation in Box Nummer zwei. Die Frage ist Ingenieur Kramer zur Bearbeitung übergeben worden. Reicht das?“ Das reicht überhaupt nicht, dieser Telegrammstil ist gar nicht nach meinem Geschmack. Bei unserer Arbeit zählen nicht nur Fakten, bisweilen sind die Nebenumstände, die diese Fakten begleiten, wichtiger. Aber was will ich machen, ich bedanke mich und versuche es noch einmal. „Noch eine Frage, wenn Sie gestatten. Vielleicht eine mehr persönliche … Sie kennen Doktor Witanow. Wie hat er damals ausgesehen? Ist Ihnen etwas aufgefallen? Etwas, was Sie uns mitteilen könnten?“ Er überlegt einen Augenblick. „Nein … das heißt … ja. Aber das ist, wie soll ich sagen, sehr subjektiv.“ „Ich bitte Sie, der Eindruck ist wichtig.“ „Gut. Er kam mir ein bißchen … ungeduldig vor, mehr 51
als gewöhnlich. Es stimmt, Frau Kramer war mit den Zeichnungen im Verzug, aber es war eine zusätzliche Aufgabe. Doktor Witanow wußte, wie die Dinge lagen, aber er erschien mir … unnötig gereizt.“ Ich kann mir vorstellen, was sich hinter diesem „unnötig gereizt“ verbirgt. „Kann ich Frau Kramer sehen?“ „Gerade das wollte ich Ihnen vorschlagen“, sagt Thorwald und steht auf. Bankow hat inzwischen die Zeit genutzt und mit Falcone ein dienstliches Gespräch angefangen, über irgendeinen Ventilationsschacht, der noch nicht fertig sei. Der andere macht Versprechungen und beruhigt ihn genauso, wie man ihn in einem Baubetrieb bei uns beruhigt hätte. Die Gespräche werden deutsch geführt, das heißt eigentlich nicht deutsch, sondern in jener internationalen Sprache der großen Baustellen, deren Grundlage ein gräßliches Gemisch aus deutschen und englischen Fachausdrücken ist, in denen aber auch das Italienische nicht fehlt oder man ganz unvermutet einen slawischen Deklinationsfall hört. Zu meinem Erstaunen stelle ich fest, daß ich es leidlich verstehe. Anscheinend ist es hier wie in den großen Häfen: Man hält sich zwei Tage auf den Kais auf und beginnt alles zu verstehen. Danach begleiten mich Thorwald und Bankow zu Frau Kramer, drei Zimmer weiter auf demselben Korridor. Ich bin sehr neugierig, wie die Frau aussehen mag, die die Aufmerksamkeit des trockenen Asketen Witanow erregt hat. Ich sehe sie und beginne vom ersten Augenblick an meine Meinung über Witanows Askese leicht zu ändern. Sie ist eine wirklich interessante Frau. Große graue Augen, kurzgeschnittenes helles Haar, schlanke Figur. Sie scheint in jenem Alter, an das die Frauen sich klammern – so um die Fünfunddreißig –, und sie ist gewohnt aufzufallen. Alles, was recht ist – ich zeige auch, daß sie mich beeindruckt. 52
Bankow stellt uns vor: „Doktor Debyrski. Frau Kramer.“ Sie hat eine weiche, sehr frauliche Hand. Ihre grauen Augen stehen ein bißchen weit auseinander, aber das ist kein Schönheitsfehler, im Gegenteil. In ihrem Zimmer arbeitet an einem mit Zeichnungen vollgepackten Schreibtisch noch ein Mann – Schimmer oder Schinner, ich kann den Namen nicht richtig verstehen –, ein verschlossener, farbloser Mensch. Er gibt uns nur die Hand, zwingt sich nicht einmal ein Lächeln ab. Dann setzt er sich wieder an seine Zeichnungen. Bankow erklärt, weshalb ich hier bin. Ich hatte in den Augen von Frau Kramer ein wenig Kälte erwartet, aber nichts dergleichen geschieht. Sie ist sogar interessiert. Nein, sie weiß nicht, daß mit Doktor Witanow etwas geschehen ist. Sie hat ihn vorige Woche gesehen, doch an welchem Tag … „Am Donnerstag ist er bei uns gewesen“, sagt Thorwald vor. „O ja, am Donnerstag war’s! Nachmittag!“ „Und was war der Anlaß seines Kommens?“ Sie lacht. „Er hat eine schwache Frau mit unmöglichen Forderungen gequält!“ Ich schaue sie an, und mir will etwas nicht in den Kopf. Ich kann mir Witanow und Maria Kramer nicht nebeneinander vorstellen, sie nicht in dieser sogenannten Verstrickung sehen, die die Entrüstung der Frauen in der Pension hervorgerufen hat. „Und nach dem Donnerstag hat er sich nicht mehr gemeldet?“ „Nein. Oder vielleicht … Nein, nein, ich habe ihn wegen der Zeichnungen angerufen, und man sagte mir, er sei auf Dienstreise. Wieso? Ist es so ernst? Wo ist er hin?“ Echt Frau. Anstatt daß ich die Fragen stelle, beginnt 53
sie, welche zu stellen. Aber dies ist keine Vernehmung, sondern ein freundschaftliches Gespräch – ich muß antworten, wenn ich will, daß man mir antwortet. „Ich fürchte, es ist ernst, Madame.“ „Er ist doch nicht etwa entführt worden?“ Wieder dieses Entführen! Alle denken zuallererst an Entführung, indes meine Gedanken in andere Richtung gehen. „Ich glaube nicht. Wir suchen ihn, Madame. Wenn Sie etwas erfahren … Hier ist meine Telefonnummer.“ Ich gebe ihr meine Visitenkarte, auf die ich die Nummer der Pension geschrieben habe. „Ach, Sie sind in der bulgarischen Pension? Ein reizender Ort. Und die Besitzerin ist eine ausnehmend angenehme Frau.“ Sie macht kein Hehl daraus, daß sie die Pension wie auch Madame Theresa kennt. Wenn sie mir das zu verstehen geben wollte, hat sie es großartig gemacht. „Madame“, pirsche ich mich an ein anderes Thema heran, „ich bitte Sie inständig, meine Fragen nicht falsch zu verstehen, aber es ist meine berufliche Pflicht …“ „Fragen Sie, ich bitte Sie!“ „Die Frage wäre: Hat Doktor Witanow in Ihrem Dienstbereich Bekannte, die mir einen Hinweis geben … die irgendwelche Vermutungen äußern könnten?“ Sie richtet den Blick auf Thorwald. „Mit Hans haben Sie schon gesprochen. Wer noch … Wissen Sie, wir kennen alle den Doktor gut, aber was für Vermutungen … Wenn Sie meinen, er sei nicht entführt …“ „Ich bin nicht sicher, Madame. Ich habe bloß gesagt, daß ich es nicht glaube. Aber möglich ist alles.“ „Vielleicht“, wirft Thorwald ein, „hat Doktor Witanow Gründe, die bulgarischen Behörden zu meiden?“ Diese Formulierung – „meiden“ ist mir neu, aber beachtenswert. 54
„Nein, die hat er nicht. Doktor Witanow hat das Land nicht verlassen.“ Die Wirkung ist ein bißchen merkwürdig, ich frage mich sogar, ob ich das lieber hätte nicht sagen sollen. Auf dem Gesicht von Frau Kramer malt sich Befremden, während Thorwalds Miene Ärger und Feindseligkeit ausdrückt. Gegen mich oder gegen Witanow? „Ist das … sicher?“ fragt Frau Kramer. „Er befindet sich im Land, Madame.“ „Und Sie meinen, daß er … daß es ihm unmöglich ist, sich zu melden? Aber warum?“ „Das möchte ich eben herausfinden.“ „Aber dann …“ Sie überlegt. „Wenn er hier ist … und keinen Grund hat, das Land zu verlassen, wird er sich bestimmt melden! Und Ihre ganze Sorge wird sich als überflüssig erweisen.“ Ich sage nichts dazu. Denn ich bin da anderer Meinung. Im Zimmer fängt etwas an zu rauschen. „Oh, entschuldigen Sie, das habe ich völlig vergessen!“ sagt Frau Kramer. Sie lächelt gewinnend und bringt hinter dem Schreibtisch ein verborgenes Teekesselchen mit siedendem Wasser zum Vorschein. „Trinken Sie einen Tee mit uns? Er hilft sehr gegen die Hitze.“ Die sind alle ganz verrückt mit ihrem Tee! Eine Reihe Gerätschaften erscheint, ausgesprochen orientalisch: ein Kännchen mit Deckel, ein kupfernes Sieb, ein weiteres kleines Teekännchen mit langer Tülle, in dem die Blätter liegen. Und fünf Tassen, in die Frau Kramer nur einen Finger hoch von dem dicken, grünen Tee gießt. Im Zimmer bereitet sich auf einmal ein starker Geruch nach Tropenwald aus. Der schweigsame Schimmer oder Schinner gesellt sich zu uns, der wegen des Tees seine Zeichnungen im Stich läßt. Ich kann nicht herausfinden, was er für ein Mensch ist – auf jeden Fall ist er mir unsympathisch. Er 55
hat kleine helle Augen, die mich unfreundlich mustern. Aber das bringt mich nicht in Verlegenheit, ich bin es gewöhnt, und nutze gern jede Möglichkeit zu einem Gespräch. „Vielleicht könnte Herr Schinner …“, setze ich an. „Schimmer“, sagt er. „Entschuldigung! Vielleicht könnten Sie uns mit einer Vermutung bezüglich Doktor Witanows helfen?“ „Sie suchen ihn, wo er nicht ist!“ Er ist offen feindselig. Frau Kramer und Thorwald wechseln einen verlegenen Blick. Frau Kramer will etwas sagen, aber ich komme ihr zuvor. „Verzeihung, wo ist er nicht?“ „Hier, bei uns.“ Eindeutig, was er sagen will. Nur kenne ich solche Gespräche und wähle daher mein bezauberndstes Lächeln. „Eine professionelle Deformation des Denkens, Monsieur Schimmer. Das gibt es in jedem Beruf, sicherlich auch in Ihrem.“ Frau Kramer lacht. Das lockert die Atmosphäre, und Schimmer kommt wohl zu dem Ergebnis, daß er dumm dastehen könnte, deshalb schweigt er. Thorwald mischt sich auch sofort ein. Man kommt von Witanow ab, es beginnt ein Gespräch über die Surfing-Wettkämpfe, die hier morgen nachmittag angekündigt sind. Frau Kramer besteht darauf, sich diese Wettkämpfe anzusehen – Doktor Witanow werde sich so oder so wieder einfinden, aber Surfing-Wettkämpfe werde es nicht so bald wieder geben. Zufällig weiß ich, was Surfing ist – ein verrückter Sport. Einer hält auf einem Brett in den Wellen das Gleichgewicht, sie tragen ihn wie toll auf und ab, bis sie ihn ans Ufer werfen. Es gehört eine gehörige Portion Geschicklichkeit dazu, sich auf dem Brett zu halten und dieses zweifelhafte Unterfangen unversehrt zu überste56
hen. Thorwald erklärt Feinheiten des Surfing mit der Miene eines Kenners. Dann stellt sich zu meiner Überraschung heraus, daß er sich in dieser Sportart versucht hat, er weist uns sogar eine Narbe am Handgelenk vor. Jetzt geht mir auch einer der Gründe für die Eitelkeit und leichte Großtuerei des Chefingenieurs auf. Er macht der grauäugigen Frau Kramer unverhüllt den Hof. Ich zeige das schuldige Interesse, verspreche morgen unbedingt zu den Wettkämpfen zu kommen, sowie meine Dienstgeschäfte erledigt sind. Frau Kramer scheint zufrieden, daß sie einen neuen Anhänger dieses Sports gewinnen wird, Thorwald nimmt meine Zusage großmütig entgegen, indes Schimmer einfach zu seinem Schreibtisch zurückkehrt. Das Surfing mag ja aufregend sein, Frau Kramer ist für mich aber interessanter. Aus verschiedenen Gründen. Wir trinken den Tee aus und brechen auf – schließlich müssen wir weiter. Draußen ist die Gruppe der Einheimischen angewachsen. Es sind noch mehr gekommen, und sie sprechen laut mit einem Mann, der einen breitkrempigen Hut trägt. Er winkt Bankow freundlich zu. „Der Produktionsleiter, Rijder Steeks“, erklärt Bankow. Steeks läßt seine Gesprächspartner stehen, um uns zu begrüßen. Er hat ein offenes, sonnenverbranntes Gesicht, in das die Fältchen kleine weiße Streifen gegraben haben. Wir machen uns bekannt, und Bankow erklärt ihm mit zwei Worten, wer ich bin und weshalb ich hier bin. „Na, so eine Geschichte.“ sagt Steeks einfach. „Vor Jahren hatten wir so einen Fall, da ist einer aus Eifersucht umgebracht worden, sechs Monate später haben wir ihn dann gefunden, aber gefunden haben wir ihn.“ Ein fabelhafter Trost! „Aber wieso“, frage ich, „bringen Sie das Verschwin57
den von Doktor Witanow mit einem Mord aus Eifersucht in Zusammenhang? Haben Sie da etwas Bestimmtes im Sinn?“ „Nein, nein!“ sagt Steeks lächelnd, und die weißen Fältchen auf seinem Gesicht beginnen zu tanzen. „Wir Europäer morden nicht aus Eifersucht, wir betrinken uns.“ Klar. Man kann das als Scherz auffassen, es muß aber kein Scherz sein. „Ich habe ihn nicht gesehen“, fügt Steeks hinzu. „Freitag und Samstag …“, er zählt an den Fingern nach, „war ich in Sidi Bakir, Sonntag … Nein, ich habe ihn nicht gesehen.“ Er entschuldigt sich und kehrt zu dem Grüppchen zurück, wobei er sofort zu schreien und mit den Händen zu fuchteln anfängt. Die anderen bleiben ihm darin nichts schuldig. Wir steigen in den Jeep und fahren los. Bankow biegt nicht auf die Chaussee ab, sondern folgt einem Feldweg hinter den Büros, das sei viel näher, keinen halben Kilometer. „Wieso hat er gesagt, daß vor Jahren einer umgebracht worden ist?“ frage ich. „Weil er schon lange hier ist. Zusammen mit Thorwald. Sie waren bei einer anderen Firma angestellt, die nachher in Konkurs ging, und die Atlanta trat ihre Nachfolge an. Er säuft wie ein Loch.“ „Wer?“ „Steeks. Haben Sie’s nicht bemerkt? Über den Sonntag hat er nichts gesagt, das heißt, er war … Von der Hitze fangen sie an zu saufen.“ Mir macht die Hitze auch gehörig zu schaffen. Ich bin schlapp und wie gebadet. Auf Bankows Stirn stehen ebenfalls Schweißtropfen. Der Jeep stuckert scheußlich auf dem Feldweg. Wir schweigen. 58
„Was für eine Frau!“ brummt Bankow nach einer Weile unwillig. „Hat sich nicht aufgeregt und nichts … ganz, als wäre überhaupt nichts passiert. Witanow ist weg, jetzt ist der nächste dran.“ „Nun, Sichaufregen ist ja nicht obligatorisch.“ „Wenn sie wenigstens gezeigt hätte, daß sie ein bißchen besorgt ist!“ beharrt Bankow. „Aber nichts!“ Es ist nicht nichts. Ein negatives Ergebnis ist auch ein Ergebnis, es kommt darauf an, wie man es auslegt. Ich möchte bloß schrecklich gern ein paar Einzelheiten erfahren, auf die ich im Büro nicht zu sprechen kommen konnte. Wie zum Beispiel, wo Frau Kramer am Donnerstag abend gewesen ist – oder wie Thorwalds Verhältnis zu Witanow ist. Und warum meine Eröffnung, daß Witanow das Land nicht verlassen hat, auf diese Weise aufgenommen worden ist. Der Feldweg biegt um den Hügel, und wir sehen die Baustelle. Sie ist groß, ich hatte sie mir bedeutend kleiner vorgestellt. In der Mitte erhebt sich ein hohes Gebäude in Form eines L, daneben stehen zwei dreigeschossige Bauten und das Kesselhaus mit Schornstein, der vom Staub schon ganz dunkel ist. Durch die Ebene, wo die Sonne auf das dürre Dorngebüsch brennt, ziehen sich von Kippern ausgefahrene Radspuren. Ein paar grellorangefarbene Bagger und Bulldozer kriechen wie seltsame Käfer neben der Trasse der Asphaltstraße herum, die jetzt im Bau ist. Vor dem einen der beiden kleinen Gebäude stehen zwei Busse und eine Reihe PKW verlassen in der Sonnenglut. Menschen sind nicht zu sehen. „Das ist das Verwaltungsgebäude“, erklärt Bankow. „Fürs erste haben wir uns darin eingerichtet.“ Er parkt im Schatten eines Busses, und wir steigen aus. Einen Augenblick lang weht mich der heiße Hauch der roten Hügel an. Das Büro von Ingenieur Markow, dem Bauleiter, ist 59
im ersten Stock. Bankow zeigt mir den Weg, wir treten zuerst bei der Sekretärin ein. Hinter dem Schreibtisch sitzt eine junge Frau, einen Haufen Briefe und Zeitungen vor sich, daneben eine kleine Schreibmaschine mit einem eingespannten Bogen. Der unvermeidliche Ventilator surrt, schafft es aber nur, von Zeit zu Zeit diesen Bogen zum Flattern zu bringen. Zwei braune Augen mustern mich flink. „Der Genosse aus Sofia, Stoitschewa“, sagt Bankow kurz. „Ist jemand drin?“ Die Frage ist überflüssig, von drinnen sind Stimmen zu hören. „Sie haben Sitzung!“ Die Sekretärin steht auf, um mir die Hand zu geben. „Und finden kein Ende … Dabei macht ihm sein Geschwür zu schaffen.“ Die Anspielung ist deutlich und zielt auf mich. Hinter der Tür zum Direktorzimmer platze ich in die klassische nervöse und in die Länge gezogene Beratung hinein. Um den langen Tisch vor dem Schreibtisch sitzt, in Tabaksqualm gehüllt, ein Dutzend Männer, zwei stehen und wechseln recht scharfe Worte über eine Zeichnung, die auf dem Tisch ausgebreitet liegt. „Genosse Debyrski aus Sofia“, stellt mich Bankow vor. „Treten Sie näher!“ Am Ende des Tisches erhebt sich ein kleiner dürrer Mann. „Wir sind gleich … Mach schon, Bogdanow, und faß dich kürzer!“ Den Leiter der Baustelle hatte ich mir anders vorgestellt, vielleicht irgendwie gewichtiger, Markow paßt nicht in meine Vorstellungen. Er ist eher klein, hell, hat ein längliches, intelligentes Gesicht und spöttische Augen. Und ist ziemlich blaß – der typische Magenkranke, wie ich eben erfahren habe. Die für einen Augenblick unterbrochene Beratung geht weiter. Mein Erscheinen hat ihr etwas von ihrer Nervosität genommen – immerhin bin ich ein Außenstehender! –, doch allmählich erhitzen sich die Gemüter 60
wieder. Man streitet über Termine, die irgendwer nicht eingehalten hat, über Aggregate für den zweiten Fermentator, die irgendein anderer noch nicht montiert hat. Bankow schaltet sich mit vollen Touren in den Streit ein. Und fügt zu dem Qualm noch den Rauch seiner Zigarette hinzu. Ich sitze da, und ein eigenartiges Gefühl befällt mich. Unter diesen Leuten fühle ich mich wohl. Ihre wohlbekannte und erklärliche Nervosität lenkt mich von meinen Problemen ab. Doch das währt nur einen Augenblick. Hinter den Fenstern liegen die schweigenden roten Hügel, die jetzt eine aschgraue Tönung haben. Ihr Anblick ernüchtert mich. Jeder tut seine Arbeit. Und meine ist es, Witanow zu finden. Ich höre weiter zu und merke, wie trügerisch mein erster zögernder Eindruck von Markow gewesen ist. Er ist ein Mann, der die Baustelle kennt und imstande ist, rasche und einfache Lösungen zu finden. Man hört ihm respektvoll zu, überdies hat er Sinn für Humor, eine Eigenschaft, die man in diesem hektischen Jahrhundert immer seltener antrifft. Die Beratung ist zu Ende, die Leute gehen auseinander, wobei sie im Hinausgehen ihre Gespräche weiterführen, und nach ein paar Minuten sind wir drei – Markow, Bankow und ich – allein. „Nun sagen Sie mir, was man tun kann!“ sagt Markow sachlich. „Im Moment wohl kaum etwas. Wichtiger ist, daß ich herausfinde, wer an Witanows Verschwinden interessiert sein könnte – und in welcher Beziehung das zu seiner Arbeit stehen kann.“ „Verstehe!“ Markow überlegt. „Sie meinen, jemand könnte ihn aus dem Weg räumen wollen? Um dem Objekt zu schaden?“ 61
„Wir erwägen einfach diese Möglichkeit.“ „Dann könnte“, er gerät ins Stocken, „man jeden von uns beseitigen, mich oder Bankow … Aber was hätten sie davon? Es kommt ein anderer, der sogar vielleicht besser ist als wir!“ Er kennt den Bau, nicht aber gewisse Feinheiten unseres Berufs. Mitunter wird ein Mensch beseitigt, damit ein bestimmter anderer seine Stelle einnehmen kann. Das erkläre ich ihm. „Ja, so, von dieser Seite …“ Er wiegt den Kopf. „Und ist das, was Witanow weiß, für irgend jemanden von Interesse – sagen wir mal, für irgendeinen ausländischen Konzern?“ Markow und Bankow schauen sich an. Die Frage ist offenbar erörtert worden. „Manche Fakten ja, andere nicht. Die Technologie ist bekannt, die steht in jedem Lehrbuch. Das interessiert niemanden.“ „Sondern was?“ „Wissen Sie, was eine Versuchsanlage ist?“ „Nun … annähernd.“ „Nur annähernd ist nicht genug. Das ist das Werk in Miniatur. Niemand riskiert es, die Fermentatoren mit teuren Rohstoffen zu füllen, bevor er nicht weiß, was herauskommt.“ „Und was kann herauskommen?“ Bankow weiß nicht, wie er es mir erklären soll. „Wissen Sie, die Pilzkulturen sind äußerst empfindlich … Wenn der Extrakt im Fermentator aus Mais ist, der beispielsweise auf dem Boden mit etwas mehr Molybdän gewachsen ist … kann der Ertrag nur halb so hoch sein. Verstehen Sie jetzt?“ „Ich stelle es mir vor.“ „Da ist noch mehr. Ich habe gesagt, die Pilzkulturen seien empfindlich … Ach was, sie sind geradezu abscheulich launisch! Sie reagieren auf Wärme und Kälte, 62
auf Trockenheit, auf kosmische Strahlung, wenn Sie wollen … Die heilige Empirie!“ „Aber Sie haben doch Kontrollaboratorien, Vergleichsunterlagen über den Ertrag, die Technologie. Witanow ist nicht allein.“ „Vier Laboratorien!“ Markow hält ebenso viele Finger hoch und verzieht das Gesicht wie bei alten Zahnschmerzen. (Ich verstehe – das Geschwür.) „Vier. Und dennoch ist die Versuchsanlage das Herzstück, dort wird die exakte Beschickung für eine ganze Periode ausgearbeitet. Zwei Zehntelgrad können zweihundert Kilo weniger … oder mehr Antibiotika bedeuten! Es genügt nicht, daß wir einfach das Werk übergeben und daß es zu produzieren beginnt … Es kommt darauf an, wieviel, in welcher Qualität. Das Werk muß konkurrenzfähig sein. Sonst fahren wir nächstes Jahr nach Hause, und im Jahr darauf drehen ihm die Konzerne die Luft ab.“ Ich höre aufmerksam zu, obwohl mir das nicht neu ist. Wenn Witanows Verschwinden ein Sabotageakt ist, ist er nicht sonderlich klug ausgedacht. Die Zeit der direkten Sabotage ist vorbei. Jetzt haben wir den Krieg der Technologien. Es genügt, daß man eine gute Technologie hat, der Gegner aber eine bessere, und in zwei, drei Jahren ist man erledigt. Es genügt, daß man in eine Richtung gedrängt wird, wo die Entwicklung langsam verläuft, und man gerät in eine Sackgasse. Elementare Dinge, doch weshalb mußte Witanow verschwinden? Wenn jemand von ihm etwas erfahren wollte, so hat es für ihn doch nur Wert, solange er hier ist! Selbstverständlich gibt es auch andere Varianten, doch dafür habe ich mehr als bescheidene Motive. „Genosse Bankow hat Ihnen Doktor Witanow geschildert, ich könnte kaum noch etwas hinzufügen“, sagt Markow. „Wir stehen zu Ihrer Verfügung. Was brauchen Sie?“ Ich brauche eine Dokumentation über Witanows Arbeit und ein ruhiges Plätzchen, wo ich mich hinsetzen 63
und diese Dokumentation studieren kann. Das erste ist leicht zu beschaffen, denn es besteht aus Heftern mit Berichten, Zeichnungen und Briefen, und ich erhalte es sofort. Das zweite bringt sie ein bißchen in Verlegenheit, aber schließlich setzen sie mich in ein Zimmer der Materialversorgung. „Hier dürfte es am ruhigsten sein, nehmen Sie den Schlüssel, schließen Sie sich ein und arbeiten Sie. Ich bin oben, falls Sie etwas benötigen.“ Das Zimmer steht zur Hälfte voller Kistchen, die längs der Wände gestapelt sind, und kurzen, gebogenen, grellroten Röhren, die aus irgendeinem Grund nach Asphalt riechen. Doch es liegt auf der Schattenseite des Gebäudes, ist ruhig und hat einen nicht mehr gerade neuen Schreibtisch, auf dem ich mich ausbreiten kann. Die Zeit bis zum Mittag vergeht mit Kramen in Papieren. Ich suche bestimmte Dinge. Einige finde ich, andere nicht. Auf kleinen Zetteln mache ich mir Notizen, lege sie in verschiedenen Varianten vor mir aus und versuche, logische Verbindungen herzustellen. Diese Methode der Patience hat mir immer weitergeholfen, jetzt habe ich allerdings nicht genügend Fakten. Ich erwarte nicht, daß mir augenblicklich die Erleuchtung kommt, und schnaufe geduldig vor Hitze und Ärger. Nach einer Weile klopft es mit Nachdruck an die Tür. Ich öffne und sehe mich zwei Männern in Overalls gegenüber, die mich, ohne zartfühlende Worte zu wählen, eines Fehlbestands und einer nicht ausgeführten Bestellung zeihen. Ich setze sie davon in Kenntnis, daß ich nicht der bin, für den sie mich halten. Sie ihrerseits setzen mich davon in Kenntnis, daß sie den zur Minna machen werden, sobald sie ihn aufgestöbert haben. Allzusehr glauben sie mir nicht, daß ich nicht von der Materialversorgung bin, ziehen aber doch ab. Wenn es um einen Fehlbestand geht, damit kann ich auch aufwarten – mir fehlt Witanow. 64
Gegen halb zwei klopft es abermals an die Tür. Dieses Mal ist es Bankow. „Wollen Sie nicht zu Mittag essen?“ erkundigt er sich. „Wir haben eine gute Kantine.“ Unbegreiflich, wie sie bei dieser Hitze zu Mittag essen können. Außerdem ist mir im Augenblick gerade eine Idee gekommen – keine glänzende, aber immerhin eine Idee. Und ich muß in die Pension zurück und in meinen Heftern etwas nachsehen. Bis zum Abend möchte ich nicht warten. „Assen fährt Sie gleich mit dem Jeep hin!“ bestimmt Bankow. „Ich rufe ihn gleich.“ Wenn ich den Jeep kriege, könnte ich sofort noch etwas erledigen. Ich werde beim Café am Kai vorbeifahren. Kann sein, daß Matias irgendeine Kleinigkeit übersehen hat. Den Fahrer zu finden, und dies „gleich“, ist übertriebener Optimismus. Zehn Minuten vergehen mit der Suche nach dem soeben gesehenen und soeben verschwundenen Assen, worüber sich Bankow unnötigerweise aufregt. Das gehört zum Beruf – daß sie so von der Bildfläche verschwinden. Trotzdem wird Assen gefunden, der Jeep fängt auf dem ausgefahrenen Weg an zu hopsen, bis er auf die Asphaltstraße kommt, ich werde auf dem Vordersitz schmerzhaft geschüttelt. Assen, der knapp zwanzig sein mag, kurbelt am Lenkrad und mustert mich neugierig. Er gehört zu denen, die ohne Verstellung von sich erzählen. Er hat seinen Militärdienst abgeleistet und ist hierhergekommen, um ein paar Lewa zusammenzukriegen. Und ich bin der Mann aus Sofia, nicht wahr? Alle redeten vom verschwundenen Doktor, Gerüchte gibt’s, soviel du willst. Manche erzählen, er sei entführt worden. Aber weshalb sollte man ihn entführen? Oder er sei geflohen, aber das wolle er nicht so recht glauben. Er kennt den Doktor; am Donnerstag, wo er, wie erzählt 65
wird, verschwunden sein soll, hat er ihn sogar zu den Büros der Österreicher gefahren und wieder zurück. „War er allein?“ frage ich. „Hinzu ja, auf dem Rückweg haben wir den Holländer mitgenommen … so ein Typ – sieht wie ein Cowboy aus.“ Ich unterdrücke ein Lächeln. Steeks sieht tatsächlich wie ein Cowboy aus. „Ist er an diesem Tag mit zum Objekt gekommen?“ „Nein, nein! Ich habe ihn bei der Straße abgesetzt. Sie machen doch dort den Asphalt.“ Ihn zu fragen, was sie gesprochen haben, erübrigt sich. Assen versteht die Sprache nicht. „Und wie fandest du den Doktor? Hast du etwas Besonderes bemerkt?“ „Wütend kam er mir vor. Er ist auch ohnedies nicht eben …“ Klar, das er „nicht eben“ ist. Ich habe eine Vorstellung von Witanows Charakter. Doch das mit dem Wütendsein kann er sich eingebildet haben. Wenn mit einem Menschen etwas passiert, fängt man hinterher an, ihm verschiedene Gemütsverfassungen anzudichten. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß es stimmt. Grund zum Ärger gibt es bei so einer Arbeit oft genug. Ich falte den Stadtplan auseinander und erkläre Assen, wo ich hin möchte. Er wirft einen Blick darauf und bemerkt sachlich: „Müssen bloß sehen, wo wir parken können. Das ist hier wie bei uns – entweder ist die Straße gesperrt, oder es ist Parkverbot.“ Das Parken in den Straßen um den Kai erweist sich tatsächlich als ein Problem. Wir kurven herum, bis Assen schließlich einen Lieferwagen abpaßt, der gerade abfährt, und in die Lücke witscht. Bis zu dem Café sind es noch hundert Meter. „Daß du mir nicht verschwindest!“ sage ich warnend. „Nein, nein! Wenn ich im Dienst bin, ist das nicht drin!“ Das Café Dolly ist tatsächlich ein kleines Bistro, wie 66
mir Matias gesagt hat. Ganz anständig. Glas, Metall, auf den winzigen Tischchen lustige Decken. Auf den Regalen hinter der Bar Dutzende Flaschen mit bunten Etiketts. Zwei junge Frauen mit dem typischen Aussehen reisender Engländerinnen sitzen an einem der Tischchen, trinken Orangeade mit Eis und schauen auf den Kai, wo ein paar Motorboote und ein paar größere Jachten schaukeln. Ich suche mir ein Tischchen in der Ecke aus und setze mich. Die Inhaberin kommt sofort. Das also ist Dolly. Eine üppige, lächelnde Mulattin mit aufgeworfenen Lippen und freundlichen Augen. Sie sieht aus wie eine Illustration zu „Onkel Toms Hütte“. Ich bestelle mir eine Orangeade, und als sie sie bringt, bitte ich sie, sich einen Moment zu mir zu setzen. Das Lächeln taut augenblicklich auf ihrem Gesicht weg. „Polizei?“ fragt sie. Irgendwie, findet sie, sehe ich nicht so aus, als wäre ich von der Polizei. Ich zeige meine neue Karte vor, und als sich Mama Dolly gesetzt hat, ziehe ich das Foto von Witanow aus der Tasche. „Ja“, sagt die Mulattin und nickt. „Donnerstag abend?“ „Ja. Gegen halb neun. Ein Glas Kognak.“ Sie antwortet in der Sprache, die man gewöhnlich Pidgin-Englisch nennt. Ohne Zeiten und Fälle. „Wo ist er hingegangen?“ Das hat sie nicht gesehen. Vielleicht zum Kai. Wahrscheinlich zum Kai. Bei dem Wort hake ich ein. Wieso „wahrscheinlich“? Weil sie an diesem Abend an der Kaffeemaschine war. Die Lauferei an den Tischen hat sie Sammy überlassen. Und sehen Sie, wo die Maschine ist. Fast an der Fensterscheibe am anderen Ende. Wenn der Mann am Fenster vorbeigekommen, also zurückgegangen wäre, hätte sie ihn wahrscheinlich bemerkt. Das ist alles. Dasselbe hat sie dem Inspektor gesagt. 67
Ich bedanke mich. Und könnte ich auch noch mit Sammy sprechen? Der ist nur nachmittags und abends da. Aber er könne auch nichts sagen, das habe er schon erklärt. „Dem Inspektor?“ Mama Dolly zögert plötzlich mit der Antwort. „Aber … das soll doch geheim bleiben, Monsieur.“ „Wieso geheim?“ „Das hat der junge Inspektor gesagt, der mit Sammy gesprochen hat.“ Da hat es Matias’ Assistent wohl ein bißchen zu spannend gemacht. Sinn hat es nicht allzuviel gehabt, wo Sammy nichts gesehen hat. Ich bezahle die Orangeade und gehe. So hat Witanow gezahlt, das Lokal verlassen und ist in dieser Richtung weitergegangen. Ich tue das gleiche, um zu sehen, wo die Straße hinführt. Nach der kalten Orangeade und dem Schatten im Bistro kommt es mir draußen vor, als koche die Luft. Der Hafenlärm vom Kai dringt gleichsam wie durch eine Glasglocke zu mir, so gedämpft ist er, oder aber die Hitze verändert auch die Wahrnehmungen. Dies ist ein Kai für Privatboote und Jachten. Auf dem Wasser unter der Brüstung schwimmen große Ölflecke und schimmern in allen Regenbogenfarben. Darauf schaukeln die Motorboote, mit Tauen am Kai festgemacht. Weiter hinten sind die Jachten. Auf einem Deck nageln zwei Männer mit exakten, abgemessenen Bewegungen die Verkleidung fest. Noch weiter hinten endet der Kai mit Holzstufen, die fast bis ins Wasser führen. Ein Dutzend bunter, schreiend angestrichener Boote warten mit eingeholten Rudern auf ihre Besitzer. Auf dem hölzernen Steg sitzt ein halbnackter Fischer mit ausgefransten Hosen und einer Angel in der Hand. Was hofft er wohl hier um diese Zeit zu fangen? Ich steige zu ihm hinunter. Kleine, kaum sichtbare Wellen laufen über das Wasser hin wie ein Zucken über 68
die Haut eines großen Tieres. Und Witanow geht mir nicht aus dem Kopf. Hat er sich am Kai mit jemandem getroffen? Mit wem? Wo? Mein Blick gleitet über die Jachten. Vielleicht dort. Da ist nichts mehr zu überprüfen, niemand wird sich mehr daran erinnern, was vor vier Tagen abends geschehen ist, wo Hunderte von Menschen diesen Kai passieren. Und viel weiter kann er kaum gegangen sein. Der Kai endet bei ein paar Holzbaracken – sie sehen wie Lagerschuppen aus –, anschließend beginnen die Kais des Handelshafens, die bewacht werden. Aber wahrscheinlich wird auch dieser Kai für die Privatjachten irgendwie bewacht. Irgendein Wächter ein ehemaliger Seemann in Rente. Ich muß Matias fragen. Ich klettere die Holzstufen wieder hinauf. Oben liegt alles in der prallen Sonne. Nur die beiden Engländerinnen stehen unerschütterlich an der Ecke vor Mama Dollys Bistro, haben Fotoapparate hervorgeholt und knipsen. Hier ist Fotografieren sicherlich verboten, aber es ist weit und breit niemand da, der ihnen das sagen könnte. Nur Fremde wie sie und ich schleppen sich durch die Straßen und riskieren ihre Schuhe auf dem klebrigen Asphalt. Die Augen tun mir weh von dem grellen Licht. Assen döst im Jeep, er hat sämtliche Türen geöffnet, die zu öffnen gehen. Ich wecke ihn, und sein leicht verschleierter Blick klärt sich allmählich. „Eine Viechsarbeit!“ stellt er fest. Was ist eine Viechsarbeit, seine oder meine? Weil er ein Nickerchen gemacht hat, ist er gesprächig. Und während er die Kurven auf dem Rückweg zur Pension nimmt, teilt mir Assen seine Sorgen mit. Er sei allein für zwei Schichten, die Arbeit sei nicht schwer, aber zwei Schichten seien ihm zuviel. Er könne sich nicht in der Stadt umsehen, ruhig irgendwo in ein Lokal gehen. 69
Ich bedaure ihn. Wahrscheinlich wird man bald jemanden für die zweite Schicht schicken, und ich weiß auch, wen man schicken wird. Die Pension liegt wie ausgestorben unter der blendenden Sonne, nichts rührt sich hinter den geschlossenen Jalousien. Assen setzt mich auf der Allee unter den Bougainvilleas ab und fragt, ob er warten soll. Ich muß nur oben etwas holen, zehn Minuten, nicht länger. Dennoch lebt die Pension hinter den herabgelassenen Jalousien. Aus dem Eßzimmer sind Stimmen zu hören, und ich zögere einen Moment, ob ich nicht hier zu Mittag essen soll – hier ist es behaglich und nicht so heiß. Doch Assen wartet auf mich. Ich steige hinauf, schließe die Tür auf und sehe mich aufmerksam um. Ich habe da so meine Gründe – möchte wissen, ob sich jemand allzusehr für meinen Koffer interessiert hat. Mittel, um das festzustellen, gibt es. Nein, niemand ist in meinem Zimmer gewesen. Ich suche heraus, was ich an Unterlagen brauche. Jetzt muß ich auch noch Witanows Zimmer kontrollieren. Ich benötige seine Berichte für ein paar Vergleiche. Im Korridor oben kommen mir zwei Frauen entgegen, wir grüßen uns, sie verlangsamen unwillkürlich ihre Schritte. Sicherlich möchten sie gern wissen, wohin ich gehe, oder mich fragen, ob ich etwas über Witanow erfahren habe. Meine Miene ist jedoch nicht dazu angetan, sie zu solchen Fragen zu ermutigen. Ich warte, bis sie verschwunden sind, schließe auf und überprüfe die winzige, wohlverborgene Apparatur, die beim Öffnen der Tür eingeschaltet wird. Sie gehört zu den bescheidenen Mechanismen, die keinen Alarm schlagen, niemanden wecken, sondern nur gewissenhaft denjenigen fotografieren, der das Zimmer betritt. Der Mikrofotoapparat ist nicht ausgelöst worden. Ich hatte auch nicht viel von ihm erhofft, als ich ihn gestern abend anbrachte. Wer in dieses Zimmer wollte, ist si70
cherlich längst drin gewesen und dürfte wohl kaum wiederkommen. Ich habe gewußt, daß es nutzlos war. Alles ist so, wie ich es zurückgelassen habe. Das nach Soldatenart gemachte Bett, die Bücher, die Mappen auf dem Schreibtisch. Hinter den herabgelassenen Jalousien warten die Sachen Doktor Witanows im Halbdämmer auf ihn. Sie leben ihr eigenes Leben, und es ist etwas Trauriges in ihrem Warten. Für sie bin ich ein Fremder. Ich gehe zum Schreibtisch, klappe die oberste Mappe auf und nehme den letzten Bericht heraus. Und ziehe, mehr aus Gewohnheit als in irgendeiner Absicht, an der Schublade. Ich weiß, daß sie abgeschlossen ist. Das Schubfach geht auf. Und gleich beim ersten Blick nach unten erstarre ich vor Überraschung. Das Mordfeuerzeug ist weg.
Zimmer Nr. 39 Das kann doch nicht sein! Ich knipse die Schreibtischlampe an, ziehe das Schubfach ganz heraus, schiebe die akkurat geordneten Bleistifte und Lineale durcheinander. Das Unwahrscheinliche ist eingetroffen. Ich bin der Betrogene, der Genasführte. Es ist, als schaue mir jemand von der Seite mit einem spöttischen Grinsen zu, wie ich dumm in dem Schreibtisch herumwühle, und lache mich aus. Nach und nach geht die Überraschung in Wut über. Es ist eine sinnlose, unnötige Wut, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich gehe zur Tür zurück, untersuche wieder und wieder mit vergeblicher Hoffnung den Mikrofotoapparat. Er ist nur einmal ausgelöst worden, als ich eben aufgemacht habe, und hat wahrscheinlich bloß meine kluge und allzu selbstsichere Physiognomie festgehalten. 71
Mit zwei Schritten bin ich an der Tür zu dem winzigen Balkon. Sie ist von innen abgeschlossen. Hier ist niemand hereingekommen. Ich brauche Zeit, um mich zu beruhigen und nachzudenken. Das sage ich mir ein paarmal vor, setze mich in den Sessel und versuche tatsächlich, ein paar Minuten ruhig nachzudenken. Meine Wut ist noch nicht verraucht, aber nun kommt ein wenig nüchterne Selbsteinschätzung dazu. Ich bin nicht der Klügste. Was habe ich mir denn eingebildet? Komme her, stelle eine Falle und erwische das Wild: Ein Tusch! Wie einfach alles ist, wenn wir genial sind! – Wir sind nicht genial, und das hat man mir überzeugend bewiesen. Nachdem ich diese einfache Wahrheit festgestellt habe, muß ich mir auch die Fakten ansehen. Die beiden Türen und das Fenster waren verschlossen. Ich habe einen Mikrofotoapparat angebracht, der jeden Hereinkommenden hätte fotografieren müssen, aber niemanden fotografiert hat. Das Feuerzeug war da, ich habe es gesehen, als ich das Schubfach abschloß. Jetzt ist das Schubfach frech aufgeschlossen, und das Feuerzeug fehlt. Jemand hat es gebraucht und erfolgreich an sich gebracht. Dann ist er ungehört und ungesehen verschwunden. Wie ungehört und ungesehen, muß jetzt festgestellt werden. Entscheidend ist jedoch, daß er das Zimmer verlassen, die Tür abgeschlossen hat – wenn er das Zimmer überhaupt aufgeschlossen hat – und seiner Wege gegangen ist. Die klassische Situation des verschlossenen Raumes, wie ich sie aus Romanen kenne. Gelesen habe ich das, aber nie daran geglaubt. Das Zimmer, in dem ein Ermordeter liegt und das niemand verlassen hat. Hier gibt es keine Toten, aber das beruhigt mich keineswegs, weil derjenige, der dagewesen ist, das Feuerzeug nicht genommen hat, um sich seine Zigaretten damit anzuzünden. 72
Abermals packt mich Wut auf mich selbst. Wenn ich gleich morgens hergekommen wäre, wüßte ich wenigstens, wann es gewesen ist. Ein bescheidener Trost, aber jetzt fehlt mir auch der. Eine Tatsache ist unbestreitbar. Derjenige, der hier gewesen ist, kennt das Zimmer genau und weiß, wo alle Sachen sind. So daß der Personenkreis, gegen den sich mein Verdacht richten kann, nicht allzu groß ist. Und im Mittelpunkt des Kreises steht Witanow. Das ist nicht überzeugend. Wenn er das Feuerzeug benötigt hat, um irgendwelche Rechnungen zu begleichen, hätte er es am Donnerstag abend einfach in die Tasche gesteckt. Wer hat noch davon gewußt? Statt mich in Rätselraten zu verlieren, muß ich nachsehen, ob nicht noch etwas fehlt. Das wird nützlicher sein. Und versuchen, Fingerabdrücke auf dem Schubfach und Fußspuren auf Teppich und Parkett zu finden. Alles übrige ist an seinem Platz. Die Dokumente sind in der Mappe. Nur das Feuerzeug ist weg. Ich gehe für einen Moment hinunter, um meine Gerätschaften zu holen, komme wieder und beginne die Gespenstersuche. Eine Beschäftigung, die einen zur Verzweiflung bringen kann. Die Fußspuren muß ich mir gleich aus dem Kopf schlagen. In vier Tagen sind hier eine Menge Leute herumgelaufen. Germaine hat saubergemacht, Bankow die Tür versiegelt. Matias von der Kommandantur ist mit seinen Leuten dagewesen. Es hat einfach keinen Sinn. Mit den Fingerabdrücken sieht es besser aus. Mir scheint sogar, daß um das Schubfachschloß herum neue sind, aber das wird sich später herausstellen, wenn ich die Aufnahmen vergleiche. Jetzt befasse ich mich geduldig damit, die Fingerabdrücke sichtbar zu machen, die ich finde. Ich präpariere sie, schließe die Jalousien, und meine körperlosen Zeugen leuchten in dem dunklen Zimmer in gespenstischem, bläulichgrünem Licht auf. 73
Auf den alten Abdrücken sind neue – sie leuchten heller. Jetzt steht mir noch eine zusätzliche Arbeit bevor, dafür muß ich aber ein paar Dinge aus meinem Zimmer holen, und da fällt mir ein, daß ich Assen vergessen habe. Ich muß ihm sagen, daß er nicht warten soll. Aus meinen zehn Minuten ist ohnehin eine Stunde geworden. Wie nicht anders zu erwarten, ist Assen nicht da. Sein Jeep steht auf der Allee, er jedoch ist wieder verschwunden. Ich gehe los, um ihn zu suchen, und entdecke ihn in der Küche. Er sitzt da und unterhält sich mit Germaine. Ich vernehme ein unwahrscheinliches Mischmasch aus Bulgarisch und Französisch, das mir trotz meiner schauderhaften Stimmung ein unwillkürliches Lächeln abnötigt. Aber diese Sprache – genauer wohl der Bursche – hat offenbar Erfolg. Das Leben geht schließlich weiter, und die Redewendung von Ul und Nachtigall scheint hier genau zuzutreffen. Ich erkläre Assen, daß er hier nicht länger gebraucht wird. Er schaut aus dem Fenster. „Wo Soll ich jetzt hin? Wissen Sie, was in ein paar Minuten für ein Guß herunterkommen wird?“ Tatsächlich, man spürt es. Die Schwüle hat nicht nachgelassen, im Gegenteil, sie ist unerträglich geworden. Der Himmel über den Bäumen ist immer noch blau und wolkenlos, doch die Sonne ist anders – als scheine sie durch Milchglas. „Ich will bloß den Jeep unterstellen“, meint Assen. Er läßt Germaine allein und geht hinaus; ich kehre in Witanows Zimmer zurück. Noch beim Aufschließen ertönt ein ferner Donnerschlag. Ich blicke hinaus und fahre zusammen. Hinter dem Fenster sinkt eine totengraue Sonne am Himmel abwärts, während ihr vom Horizont eine dunkle Wand entgegensteigt, die sich anschickt, sie zu verschlingen. Sie ist tintenfarben und wird von hellen gelben Streifen 74
zerschnitten. So etwas habe ich bisher nur in bösen Träumen gesehen, dabei aber irgendwo im Unterbewußtsein die Überzeugung bewahrt, daß dies keine Realität sein kann. Im nächsten Augenblick flammt über der Wand ein riesiger, verästelter Blitz auf, und ich trete unwillkürlich vom Fenster zurück. Der Donner erschüttert das Haus. Der Wind heult los und biegt die Zweige, aber die Donnerschläge übertönen sein Heulen. Die Apokalypse kommt, die Rechnung für das blaue Tropenmeer, die Palmen und die Sonne. Die Sturzflut schlägt mit einemmal ans Fenster – wie eine kompakte, undurchsichtige Lawine aus Wasser. Das Haus bebt, ächzt, aus den Ecken springen Tausende unbekannter Geräusche, aber ich möchte die Lampe nicht anknipsen, als könnte das Licht die bösen Kräfte anlocken, die draußen toben. Jetzt kann man auch nicht arbeiten. Ich lege mich angezogen aufs Bett und versuche erneut, die Dinge zu überdenken. Ich darf mir nichts vormachen, ich habe einen klugen Gegner. Wenn ich bisher geglaubt habe, ich könnte Witanows Verschwinden allein aus seiner Person erklären, mit seinem Charakter oder einer vorübergehenden Verirrung, so muß ich diese Illusion jetzt aufgeben. Licht, Finsternis, Donner … Über die Innenseite der Fensterrahmen laufen dünne Wasserfäden. Irgendwo knallt eine Tür. Die Falle, die ich vorbereitet habe, hat sich als nutzloses Spielzeug erwiesen. Und das Feuerzeug ist weg. Es ist entweder ein Beweisstück oder wird in kürzester Zeit zum Corpus delicti eines Verbrechens werden. Unter der Nase hat man es mir aus einem Schubfach stibitzt, das mit einem Sicherheitsschloß abgesperrt war. Nur das. Derjenige, der hier drin war, will töten. Nichts anderes interessiert ihn. Gleich gestern abend hätte ich es an mich nehmen müs75
sen. Weshalb habe ich es überhaupt dagelassen? Weil ich mich zu sehr auf das Schema verlassen habe, das ich mir ausgearbeitet hatte. Und das hat sich als falsch erwiesen. Trotzdem muß ich den Film entwickeln, um mir die Fingerabdrücke anzusehen. Kann sein, sie sagen mir was beim Vergleichen. Doch die Stimmung, die sich meiner bemächtigt hat, läßt mich von diesem Vergleich nicht allzuviel erhoffen. Widerstrebend erhebe ich mich vom Bett – jetzt merke ich, daß ich müde bin – und befasse mich mit der Fototechnik. Draußen schlägt die Sturzflut noch an die Fenster, aber ihre Kraft hat nachgelassen – das Haus ächzt jetzt anders. Und die Blitze scheinen auch zahmer zu werden. Ihr Widerschein ist grellviolett. Was hat Thorwald gesagt? Ein anständiges Gewitter heute, und wir haben morgen ideales Surfingwetter. Sieht so aus, als wäre ich allzu versessen darauf, zu diesem Surfing zu gehen. Nach fünfzehn Minuten bin ich mit den Filmen fertig. Ich lege mein Lupensortiment parat und beginne mit dem Vergleichen. Der Zufall hilft nicht bloß meinem Gegner. Ich habe mich mit der Frage des Zufalls ebenfalls befaßt und mir Fingerabdrücke von einer Menge Leute beschafft – angefangen von Madame Theresa bis hin zu Inspektor Matias. Die Schlußfolgerungen ergeben sich schnell und sind eindeutig. Erste Schlußfolgerung: Es gibt neue Abdrücke. Sie sind dazugekommen, nachdem ich gestern in dem Zimmer war, denn manche überdecken die von Germaine und Bankow. Besonders die von Bankow, der nach Witanows Verschwinden im Zimmer war. Zweite Schlußfolgerung: Die neuen Abdrücke stammen von Doktor Witanows Fingern. Ein Irrtum ist ausgeschlossen, es sind seine. Ein merkwürdiges Gefühl regt sich in mir. Ich glaube nicht an das Offensichtliche. Mein Beruf hat mich ge76
lehrt, der menschlichen Logik und materiellen Beweisen recht zu geben. Und er hat mich gelehrt, daß diese Logik mitunter täuschen kann. Zwei und zwei ist nicht immer vier. Und was die materiellen Beweise angeht, so habe ich auch da meine eigene Meinung. Weil ich schon ein Messer mit dem Blut eines Ermordeten gesehen habe, der vergiftet worden war. Oder einen Strick, mit dem sich einer aufgehängt hat, und alles war sonnenklar. Klar war nur nicht, wieso der Strick ein paar Zentimeter zu kurz war, um eine Schlinge zu machen und ihn über den Ast werfen zu können. Aber das sind Geschichten für sich. Ich traue den Fingerabdrücken nicht. Draußen auf dem Korridor gehen ab und zu Leute vorbei. Das Gewitter ist abgezogen, auf der Treppe gehen Schritte hinauf und hinunter. So sind auch andere Schritte näher gekommen, leicht und geräuschlos – Witanows Schritte. Die Tür wurde geöffnet, er hat sich nicht lange aufgehalten, sondern alles in wenigen Minuten erledigt. Dann ist er hinausgegangen, und seine Schritte haben sich in den vielen anderen Geräuschen der Pension aufgelöst. Falls es Witanow gewesen ist. Bestimmt habe ich Halluzinationen. Ich höre leichte, leise Schritte die Treppe heraufkommen, ein Stück den Korridor entlanggehen und auf der anderen Seite der Tür stehenbleiben. Wenn ich die Luft anhalte, könnte ich den anderen atmen hören. Es sind keine Halluzinationen, dort steht jemand, der zögert. Aber das ist absurd, es kann nicht sein, daß jemand jetzt versucht, hier einzudringen. Natürlich ist es absurd. Es klopft leise an die Tür, und ich vernehme Madame Theresas Stimme: „Sie werden verlangt, Monsieur.“ Ich mache auf. Sie lächelt ein bißchen verlegen. „Sie werden am Telefon verlangt, Monsieur. Von der Kommandantur.“ 77
Ich schließe rasch ab und gehe die Treppe hinunter. Madame Theresa verschwindet diskret. „Hier ist Inspektor Matias, Herr Kollege“, sagt eine Männerstimme im Hörer. „Ich glaube, wir müssen uns sehen.“ „Warum, was gibt es?“ Der Hörer schweigt ein, zwei Sekunden. „Kann man sprechen, Herr Kollege?“ Niemand ist in der Nähe. Und wenn jemand das Gespräch mit anhört, wäre es auch nicht weiter schlimm. „Ja, sprechen Sie bitte.“ „Die Person, die wir suchen, ist aller Wahrscheinlichkeit nach gestern abend … in einem Lokal gewesen.“ Jetzt schweige ich ein, zwei Sekunden. „Sind Sie sicher?“ „Ebendeshalb wäre es gut, wenn wir uns sähen. Können Sie zu mir kommen? Oder soll ich Sie abholen lassen?“ „Ich komme, fahre sofort los.“ Wir wechseln die üblichen Grüße, und ich lege auf. Endlich eine etwas sicherere Spur. Er lebt … Witanow lebt und ist hier in der Stadt. Wir werden ihn finden, mit ihm reden, alles aufklären. Was auch geschehen sein mag, es gibt immer Wege für eine Rückkehr. Im Zimmer habe ich nicht viel zu tun. Ich überlege, ob ich was zum Überziehen mitnehmen soll, komme aber zu dem Schluß, daß es nicht unbedingt nötig ist. Oben ist abgeschlossen, den Schlüssel habe ich. Freilich hat das in dieser Pension, wo jeder zu allem Schlüssel hat, keine sonderliche Bedeutung. In der Pension ist es lebendig geworden. Oben schließt jemand geräuschvoll Fenster; eine der Frauen, die ich morgens im Eßzimmer gesehen habe, kommt die Treppe herunter. Sie geht zum Telefon, wählt eine Nummer und spricht dabei mit Madame Theresa, die bereits ihren Platz im Office eingenommen hat. Hinter der 78
Trennwand liegen ein Stoß Zeitungen und Briefe. Theresa verteilt sie in die numerierten Fächer rechts von sich. Die Post ist gekommen. Ich schalte mich in das Gespräch ein, frage, ob nicht ein Telegramm für mich dabei ist. Madame Theresa blättert schnell die Briefe durch und schüttelt den Kopf. „Bedaure, Monsieur.“ Dieses Office interessiert mich, es paßt zur Atmosphäre der Pension. Unter einer Glasplatte liegen auf dem Schaltertisch neben bunten Aufklebern Fahrpläne von Schiffen und Fluglinien und Ansichtskarten von Port Angère. Eine der Karten ist eine Aufnahme der Pension Theresa – wahrscheinlich der Stolz der Inhaberin. Doch im Moment ist der Briefkasten wichtiger für mich. Ob die Post regelmäßig abgeholt wird? Ja, regelmäßig, erklärt Madame Theresa; da aber am Nachmittag nur einmal geleert wird, müsse ich in die Stadt gehen, wenn ich einen eiligen Brief aufgeben wolle. Diese Auskunft ruft in mir gewisse, noch recht unklare Überlegungen hervor. Aber jetzt muß ich gehen. Ich weiß nun schon, wo ich Assen suchen muß. Und finde ihn wieder bei Germaine. Assen steht auf – was will man machen, der Dienst! –, ich denke daran, wie ich mich in den nassen Jeep setzen werde, und schaue hinaus. Der tropische Regenguß ist so schnell vorbei, wie er gekommen ist. Die dunkle Gewitterwand ist abgezogen, hat ihre unheimliche Farbe verloren und wandert zur anderen Seite des Horizonts, graue, zerfetzte Wolken hinter sich zurücklassend. Die schrägen Sonnenstrahlen brechen sich darin und verändern ihre Farbe – von bläulich über violett zu himbeerrot. Aus dem wie ein Schwamm vollgesogenen Garten steigt Dunst auf. Der abflauende Wind packt ihn, zerreißt ihn zu langen Strei79
fen, treibt ihn zwischen die Äste, von denen Wasserbächlein rinnen. Riesige Libellen stehen regungslos über den Blättern, dann schießen sie davon und verschwinden im nassen Grün. Der Jeep ist trocken, weil er unter dem Schuppendach hinter der Küche steht, wo niemand parken darf. Doch die Freundschaft mit Germaine bringt offensichtlich auch praktischen Nutzen. Die folgenden fünf Minuten vergehen mit hartnäckigen Versuchen Assens, den Motor anzulassen, und meinen schüchternen, überflüssigen Ratschlägen. Nach einer Weile schreckt der Motor auf, hustet ein paarmal und fängt an zu brummen. „Jedesmal dasselbe!“ knurrt Assen und tritt aufs Gas. „Ein paar Regentropfen, und er bockt!“ „Ein paar Regentropfen“ ist in diesem Fall wohl nicht die passende Bezeichnung, denn an den Biegungen der Asphaltstraße stauen sich ganze Seen, durch die der Jeep in Wolken von Spritzern hindurchsaust. Matias wartet vor der Kommandantur auf mich. „Es ist ganz nah“, sagt er, nachdem Assen weggefahren ist. „Keine fünf Minuten … Einer meiner Leute hat sich vor einer Weile gemeldet.“ „Weshalb?“ „Er hätte gestern abend jemanden gesehen, auf den unsere Beschreibung zutrifft. Wenn wir Gewißheit erlangen, würden sich viele Fragen erledigen.“ Ich teile seinen Optimismus in keiner Weise und berichte ihm von meinen nachmittäglichen Entdeckungen. „Höchst ärgerlich!“ Matias macht ein finsteres Gesicht. „Wozu braucht er das Feuerzeug? Eine Waffe ist hier kein Problem.“ Ich habe eine Version zu dieser Frage, behalte sie aber für mich. Sie ist allzu fragwürdig, als daß man sie laut äußern könnte. Die Straßen, durch die wir gehen, ähneln denen jeder 80
beliebigen europäischen Hafenstadt und haben gleichzeitig den eigenartigen Hauch des Orients. Die Schaufenster sind schreiend dekoriert, die Menschenmenge, die über die Trottoirs strömt, ist bunt zusammengewürfelt. Vor einem Kino steht eine malerische Menschenansammlung, kleine barfüßige Jungen drängen sich hindurch. Sie tragen Körbe mit Feigen, Erdnüssen, kandierten Mandeln und bemühen sich, den Lärm der Menge zu überschreien. Auf den mit einem fremdartigen Buchstabengeflecht bedruckten Kinoplakaten lächelt die fragwürdige Unschuld von Monica Vitti. Nach der Hitze und dem Regen sind die Leute auf die Straßen gekommen und treffen Anstalten zum Abendessen. Die Fenster der oberen Stockwerke funkeln noch metallen in den Strahlen der untergehenden Sonne, aber unten, in den Niederungen, flammen bereits die kalten Feuer der Reklamen auf. Der nasse Asphalt, den Tag über aufgeheizt, trocknet schnell, unter den klatschenden Autoreifen steigen dünne Dunststreifen auf. Wir warten vor einer Verkehrsampel. „Ach, das hätte ich fast vergessen!“ sagt Matias. „Jetzt hat es nichts mehr zu bedeuten, aber wir haben die Ergebnisse von den Postämtern bekommen. Nichts Interessantes. Von Mittwoch bis heute kein Absender namens Witanow. Das bezieht sich freilich nur auf die Einschreibbriefe, bei denen werden die Absender aufgeschrieben. Interessiert Sie sonst noch etwas?“ „Ja. Wie lange sind die Postämter in der Stadt abends geöffnet?“ „Bis acht. Praktisch schließen sie fünfzehn Minuten früher wegen der Abrechnung.“ Wir biegen in eine stillere und schmutzigere Straße ein, in der sich ein paar kleine Lokale etabliert haben. Die Tische stehen auf dem Trottoir, wir schlängeln uns zwischen den sitzenden Gästen hindurch. Aus den Küchen strömen Dutzende unbekannter, scharfer Gerüche. 81
Der Gedanke an den Brief läßt mich nicht los, so nutzlos er jetzt geworden ist. Ich wähle einen passenden Augenblick, um erneut anzufangen. „Kollege Matias, wenn Doktor Witanow Donnerstag abend einen Brief bei sich hatte, der unbedingt noch weg mußte … und er ist zu spät zum Postamt gekommen – was hätte er da machen können?“ „Er hätte ihn als gewöhnlichen Brief in den Luftpostbriefkasten stecken können. Das läßt sich nicht überprüfen.“ „Ich weiß. Und ist etwas auf seinen Namen eingetroffen?“ „Nein. Ich habe angeordnet, daß mir alles gemeldet wird. Wenn ein Brief für ihn ankommt, gebe ich Ihnen sofort Bescheid. So, hier ist es.“ Er verschwindet im Eingang eines kleinen Restaurants, ähnlich den anderen, hält sich aber drinnen nicht auf, wo ein Dutzend schwachbesetzter Tische steht, sondern gibt mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir steigen über ein paar Stufen zu einer Terrasse hinauf, von dort geht es über eine andere Treppe weiter, und wir gelangen in einen kleinen, in Nischen unterteilten geschlossenen Salon. Das hier ist offenbar für ein auserwähltes Publikum bestimmt, das nicht gestört werden möchte, denn vor der Tür steht ein finsterer, bulliger Kerl. Sowie er jedoch Matias gewahrt, erblüht der Zerberus in einem kriecherischen Lächeln. Matias führt mich zu einer der Nischen, wir gehen hinein, er zieht den Vorhang hinter sich zu. Hinter dem Tisch erhebt sich ein kleiner dunkler Mann mit einem spitzen Gesicht, Schnurrbärtchen und glatt anliegendem schwarzem Haar. Matias nickt ihm von oben herab zu. Wir setzen uns. Gleich darauf werden Schritte laut, und ein lächelndes Gesicht wird durch den Vorhang gesteckt. „Was wünschen die Herrschaften?“ Matias sieht mich an, ich schüttle ablehnend den Kopf. 82
„Zwei Martell!“ befiehlt er. „Und verschwinde!“ Die beiden Kognaks werden im Nu gebracht, als hätte der Besitzer des lächelnden Gesichts sie hinter dem Rücken gehalten. Matias legt die Arme auf den Tisch, knipst die kleine Lampe an, die offensichtlich dem Zweck dient, es Pärchen gemütlich zu machen. Inzwischen hat der Mann mit dem glatten Haar den einen Kognak zu sich hingezogen. Matias reagiert blitzschnell – er faßt zu und schiebt das Glas weiter weg. Die Szene spielt sich unter völligem Schweigen ab. In der Folge geschieht das, was wir in der Kriminalistik „Identifizierung eines Porträts“ nennen. Ich habe aber nicht erwartet, daß Matias so sachlich sein könnte. Er zieht fünf Aufnahmen von Männern aus der Innentasche und legt sie vor den Spitzgesichtigen hin. Witanows Foto ist nicht darunter. Der Mann betrachtet sie und schüttelt den Kopf. Die Szene geht ohne ein Wort weiter. Matias holt ein weiteres Dutzend Fotos hervor – alle im gleichen Format, von Männern, en face aufgenommen – und legt sie rasch aus. Der Spitzgesichtige zeigt sofort auf eins von ihnen. Es ist Witanow. Kein Zweifel, er hat ihn gesehen. „Wo?“ fragt Matias lautlos, nur mit den Lippen. Sein Gegenüber nennt leise einen Namen, den ich nicht kenne. „Wann?“ „Gegen zwei.“ „Allein?“ „Nein. Ein Franzose. Ich habe ihn nicht gesehen.“ „Wie lange ist er geblieben?“ „Nicht lange. Der Franzose hat drinnen auf ihn gewartet und ist sofort gegangen. Mit ihm.“ „In welche Richtung?“ Der Spitzgesichtige zieht eine schuldbewußte Grimasse. Er hat es nicht gesehen. „Hast du dich erkundigt?“ 83
Die Grimasse wird noch schuldbewußter. Matias rafft die Fotos wie ein Kartenspiel zusammen und steht auf. Er legt eine Banknote auf den Tisch und macht mir ein Zeichen zu gehen. Der Spitzgesichtige bleibt bei den beiden Kognaks zurück (die Banknote ist blitzschnell verschwunden, ich habe nicht einmal gesehen, wie!), und wir gehen wieder über die Terrasse, vom Zerberus mit einer Verbeugung verabschiedet. Diese Episode hat nicht länger als fünfzehn Minuten gedauert, aber draußen ist schon Nacht, feucht und warm … Die kleinen Restaurants sind voller Stimmengewirr, aus der benachbarten großen Straße blitzt der zuckende Widerschein der Reklamen herüber, wovon Matias’ Haar nacheinander eine bläuliche, rötliche und gelbe Tönung bekommt. Matias lehnt sich mit dem Rücken an eine Wand und wirft gewohnheitsgemäß einen raschen Blick in die Runde. Die Passanten sind seltener geworden, aber die Straße ist noch immer belebt. „Das sieht nicht gut aus! Ihr Landsmann versteckt sich in der Altstadt. Aber wir sind wenigstens sicher, daß er lebt … daß er bis zwei Uhr heute nacht am Leben war. Das ist auch etwas.“ Er ist völlig sicher, daß der Mann Witanow erkannt hat. Ich habe es ja auch mit eigenen Augen gesehen – er hat keinen Augenblick gezögert. Diese Zuträger der Polizei haben ein scharfes Auge. „Was gedenken Sie zu unternehmen?“ „Ich glaube, nichts. Daß er verschwunden ist, hat sich nicht bestätigt. Sie haben es selbst gesehen. Für ein Verbrechen gibt es keine Anhaltspunkte, zumindest bis jetzt. Und der Umstand, daß sich Doktor Witanow vor seinen bulgarischen Kollegen verborgen hält, ist kein Anlaß für Ermittlungen. Das wissen Sie.“ Ich weiß es. Und es ist mir äußerst unangenehm. „Wenn Sie aber weitermachen wollen“, fährt Matias 84
fort, „wir haben nichts dagegen. Und Sie können auch auf unsere Hilfe rechnen.“ „Eventuell … auf Ihren Assistenten?“ schlage ich vor. Es ist klar, Matias wird sich wieder seinen operativen Aufgaben zuwenden, aber ich brauche einen Mann. Seine Reaktion ist allerdings sehr merkwürdig. „Was für einen Assistenten?“ staunt er. „Im Bistro ist doch einer von Ihren Leuten gewesen. Nach Ihnen.“ Ich erzähle ihm. von dem Gespräch mit Mama Dolly. Während ich berichte, wird seine Miene immer ernster. „Das ist eine unverschämte Frechheit! Ich habe niemanden hingeschickt! Ich muß herauskriegen, wer das war!“ Ganz meiner Meinung. Bloß, wenn das jemand mit Berechnung getan hat, um die Ermittlungen auf sich zu lenken? Wir erörtern kurz diese Möglichkeit. „Jemand interessiert sich lebhaft für Ihren Doktor Witanow!“ schließt Matias. „Nur gut, daß für den Augenblick wenigstens noch kein Verbrechen vorliegt.“ „Und wenn doch?“ werfe ich ein. „Wenn sich Anhaltspunkte für Industriespionage ergeben? Ausgeschlossen ist es doch nicht, oder?“ Matias schweigt und reibt sich nachdenklich das Kinn. „Wir haben das auch überlegt und von Anfang an Maßnahmen getroffen, daß von unserer Seite keine Informationen durchsickern. Aber wenn Sie Grund haben …“ Das hört sich ein bißchen nach Vorwurf an. Hilft nichts, ich muß es schlucken. Ich bedaure bereits, daß ich dieses Gespräch weitergeführt habe. Fakten müssen her. Bis jetzt ist alles nur eine Version, die sich mehr auf Vermutungen als Indizien stützt. „Eher das Zusammentreffen mancher Umstände, Herr Kollege.“ „Gut. Wollen Sie mich in dieses … Zusammentreffen von Umständen einweihen, oder ist es noch zu früh?“ 85
„Ich möchte erst noch ein paar Auskünfte aus Sofia abwarten.“ „Wie Sie wünschen. Und wie jetzt weiter? Finden Sie von hier allein in die Pension zurück? Ich zeige Ihnen den Weg.“ „Ich danke Ihnen, aber ich gehe noch nicht nach Hause.“ „Ach ja. Port Angère ist interessant am Abend. Ich rate Ihnen bloß, nicht in die Altstadt zu gehen.“ „Wissen Sie …“, ich greife in die Tasche und hole den Stadtplan hervor, „würden Sie mir zeigen, wo dieses Lokal ist?“ Er wird auf einmal ernst. „Da muß ich mitkommen. Das ist nichts für jemanden, der sich dort nicht auskennt, zumal ein Fremder.“ „Gerade als solcher möchte ich hingehen. Sie kennt dort jeder, es wäre nutzlos.“ Matias zögert, dann hebt er die Schultern. „Nun, wie Sie wollen. Aber es ist nicht ungefährlich. Immerhin …“ „Ich versuch’s mal.“ Er faltet den Stadtplan auseinander und zeigt auf einen Punkt nahe am Hafen. „Es nennt sich Reihan. Ein Nachtklub. Unten ist eine Bar, oben ein Spielsaal … und auch Stundenquartiere.“ In seiner Stimme schwingt ein entschuldigender Unterton mit. „Wissen Sie, wir können nicht alles auf einmal beseitigen … Vielleicht verkehren dort auch Rauschgiftsüchtige, aber mit denen haben wir schon ganz schön aufgeräumt.“ Klarer Fall. Dieses Reihan ist so etwas wie ein Kombinat zur allseitigen Befriedigung der Kundenwünsche. Ich stecke den Plan weg, nachdem ich mir die Stelle genau angesehen habe, die mir Matias gezeigt hat. „Also dann, auf Wiedersehen, Herr Kollege!“ 86
„Hören Sie …“, sagt er ein bißchen unsicher. „Ich wäre ruhiger, wenn Sie mich anriefen, sobald Sie zurück sind. Es macht Ihnen doch keine Umstände? Ich habe Telefon zu Hause.“ Und er gibt mir eine Visitenkarte. „Es kann ziemlich spät werden.“ „Macht nichts. Ich schlafe nicht viel … Nun, ich wünsche Ihnen Erfolg. Hier lang ist es am nächsten.“ Er zeigt nach rechts die Straße hinunter.
Der Nachtklub Hier sind alle Taxis hellgelb oder orangefarben, manche Fahrer haben sie sogar mit Streifen aus Leuchtfarbe bemalt, damit man sie schon von weitem erkennt. Sie sehen wie leuchtende Zebras aus. Der Fahrer, der vor mir hält, ist ein älterer, ruhiger Mann. Er hört die Adresse und wirft mir einen kurzen Blick zu – wahrscheinlich hält er mich für einen neugierigen Touristen, der alle nächtlichen Vergnügungen von Port Angère kennenlernen möchte, „Der Küstenboulevard ist für den Verkehr gesperrt, Monsieur“, erklärt er kurz. Dann fährt er los, und es beginnt eine lange Kreuzund Querfahrt, bergauf, bergab, die Häuser zu beiden Seiten verändern ihr Aussehen. Sie werden niedriger, zur Straße hin schauen vergitterte Fensterchen und hohe Mauern. Die Straßen werden krumm, sie sind dunkel, aber voller Menschen. Im Scheinwerferlicht tauchen Gruppen von Männern auf, die meisten mit Burnus und Turban. Sie schlendern dahin oder bleiben seelenruhig mitten auf der Fahrbahn stehen, weichen dem Taxi nicht aus. Und der Schofför wartet mit orientalischer Gelassenheit – wir haben es ja nicht eilig. 87
Dann kommen wir auf einen kleinen Platz, das Taxi biegt ein und hält. „Hier ist es, in dieser Straße.“ Der Fahrer deutet mit dem Kopf hin. „Für Autos ist sie gesperrt.“ Ich bezahle, er wünscht mir viel Vergnügen (mit leisem Zweifel in der Stimme, wie mir scheint) und lädt sofort einen Schwung betrunkener Männer ein. Gleich zu Anfang ist die Straße mit einem hohen Tor versperrt, das oben in spitze Stacheln ausläuft. Der eine Flügel steht offen, davor ist ein Polizist in Uniform postiert. Langsam und geduldig erklärt er einer Gruppe Engländern, daß die Frauen in diese Straße nicht hinein dürfen. Das sei so Brauch. Die Engländer erklären ebenso langsam und geduldig, daß sie bei jemandem für einen Tisch in einem Nachtlokal bezahlt hätten und niemand sie von diesen seltsamen Bräuchen unterrichtet habe. Die Auseinandersetzung zieht sich hin und wird allem Anschein nach nicht so bald beendet sein. Mich beachtet der Polizist überhaupt nicht. Ich passiere und beginne meinen Nachtklub zu suchen. Sofort hängt sich ein Kerl an mich, der mir in zehn Sprachen paradiesische Wonnen verspricht, wenn ich mich bereit finde, ihm zu folgen, dann kommt er zu dem Ergebnis, daß ich ein hoffnungsloser Fall bin, und versucht, mir wenigstens ein paar pornografische Fotos anzudrehen. Am nächsten Hauseingang nimmt mich ein anderer in Empfang, und da mir die Prozedur anfängt lästig zu werden, stoppe ich seinen Enthusiasmus mit einem einzigen Wort: Polizei. Er verschwindet wieselflink. Die Häuser sind zwei- oder dreigeschossig. Manche sind besser instand, andere sind bescheidener, doch im großen und ganzen bleibt sich das Bild gleich. Unten der Salon für die Frauen, oben die Zimmer. Die Salons haben vergitterte Fenster, an den Gittern stehen Männer, die die Vorzüge und Mängel der angebotenen Ware be88
gutachten. Mir dreht es den Magen um, wenn ich daran denke, daß das Reihan so etwas Ähnliches sein könnte und ich hineingehen muß. Immerhin bin ich an Unappetitliches gewöhnt – Medizin wie Kriminalistik haben mich gehörig abgebrüht, ich kann mir aber nicht vorstellen, wie Witanow hierher geraten sein und was er hier gesucht haben soll. Auf jeden Fall keine Frauen. Das Reihan erweist sich glücklicherweise als ein um einen Grad saubereres Etablissement. Zum Eingang führen sogar ein paar weiße Stufen, und an der Tür steht ein Portier, der mir die Taxe für das „Programm“ abknöpft. Da ich ihm auch ein bißchen Bakschisch gebe, setzt er mich wohlwollend davon in Kenntnis, daß es fürs Programm noch zu früh sei, er mir aber einen guten Platz aussuchen könne, und wenn ich mich amüsieren möchte … Nein, amüsieren möchte ich mich gerade nicht, aber einen guten Platz muß ich haben. Und ich finde ihn sofort – es ist ein Tisch mit zwei Kanapees in einer Nische. Dort ist es schummrig, und wenn ich mich in die Ecke setze, kann ich eine Weile unbemerkt bleiben und den Eingang beobachten. Das Lokal ist fast leer, nur zwei, drei Tische sind besetzt, von Männern, versteht sich. Auf den hohen Barhockern baumeln ein paar stark geschminkte Mädchen mit den Beinen; sie langweilen sich offensichtlich. Sowie ich mich setze, kommt eine von ihnen auf meinen Tisch zu – ich sitze in ihrem Revier! – und versucht, sich auf dem Kanapee häuslich niederzulassen. Ich erkläre ihr, daß ich nichts dagegen einzuwenden habe, wenn sie da sitzt, sie sich sogar etwas bestellen darf, Hauptsache, sie verlangt nicht von mir, daß ich mich mit ihr beschäftige. Sie ist beleidigt, genauer gesagt, sie spielt die Beleidigte und kehrt an die Bar zurück. Um so merkwürdiger ist es, daß sie, sowie sie auf den Hocker geklettert ist, sich auf meine Rechnung einen Kognak bestellt, den sie mir zeigt. Nichts zu machen – berufliche Spesen. 89
Die Musikbox spielt irgendeinen gequälten Blues. Nachdem ich das Mädchen weggeschickt habe, beachtet mich der einzige Kellner nicht mehr, der an der Bar herumsteht. Dafür sehe ich, daß ich die Aufmerksamkeit zweier Männer errege, die am gegenüberliegenden Tisch sitzen. Der eine hat fettiges Haar bis zu den Schultern, eine Nickelbrille und ein wie gelecktes Gesicht. Der andere ist groß, hat eine Stirn wie ein Gorilla und gewaltige Koteletten. Sie wechseln ein paar Worte und zeigen mir durch Blicke, wie sehr sie mein Verhalten mißbilligen. Dann erhebt sich der Gorilla, um ein Geldstück in die Musikbox zu werfen, und kommt auf dem Rückweg an meinem Tisch vorbei. Wahrscheinlich hält er mich für einen naiven Touristen, der zufällig hierher geraten ist, und mein nicht eben muskulöses Aussehen erweckt hinter der niedrigen Stirn gewisse Gedanken. Deshalb bleibt er vor mir stehen und sagt mit finsterer Miene etwas, was wahrscheinlich bedeutet, daß ich mich bei dem Mädchen entschuldigen müsse. Einen Skandal kann ich überhaupt nicht brauchen, habe aber auch nicht die Absicht, mich zu entschuldigen, um so mehr, als der Gorilla gar nichts davon hat. Er wendet einfach einen Trick aus Olims Zeiten an: Mit seinem Körper deckt er mich gegen das Lokal ab, drückt mich mit der einen Hand aufs Kanapee und langt mit der anderen unmißverständlich nach meiner Innentasche. Er hat diese Nummer viele Male praktiziert und stets mit vollem Erfolg. Seine Hand ist wie ein Schraubstock. Im nächsten Augenblick packe ich den Daumen dieser Hand und drehe ihn soviel wie nötig in die entsprechende Richtung. Der Schraubstockgriff lockert sich, und der Gorilla macht einen Fehler. Er holt mit dem freien Arm aus. Der Griff ist einfach. Er haut mit voller Wucht die Faust auf die Tischkante und ist außer Ge90
fecht. Als Zugabe versetze ich ihm einen Fußtritt, drehe den Daumen noch weiter, und er plumpst wie ein kleines Kind neben mich auf das Kanapee. Mit dem Schmerz beginnt in dem Affengehirn etwas zu dämmern. Er merkt, daß er an die falsche Adresse geraten ist, knurrt aber noch wie ein Hund. Ich hingegen lächle mein auserwähltestes Lächeln und habe seinen Finger derart verdreht, daß er sich nicht rühren kann. Von der Seite betrachtet, muß dies das Bild zweier guter Freunde ergeben, die eine tiefsinnige Unterhaltung führen. Der andere mit dem fettigen Haar merkt, daß etwas nicht nach Plan gelaufen ist, und steht auf. Ich deute ihm unmißverständlich an, daß es sein Freund schwer zu büßen haben würde, wenn er auch nur einen Schritt tut. Das Knurren des Gorillas geht in Winseln über. Das bringt den anderen sofort zu Verstand, und da er klüger ist, kapiert er, daß er es mit einem Profi zu tun hat. Deshalb setzt er sich wieder und gibt mir durch Gesten zu verstehen, daß sich beide entschuldigen. Ich habe nichts dagegen, den Zwischenfall abzuschließen, aber erst nach einer kleinen Leibesvisitation. Wie ich es nicht anders erwartet habe, reicht der Mut des Kerls neben mir nur bis zu einem Klappmesser. Ich befreie ihn von dem gefährlichen Besitz und lasse den Daumen los. Der Gorilla kann es nicht fassen, daß er so leicht davonkommt, steht auf und kehrt hinkend zu seinem Tisch zurück, wobei er nicht versäumt, mir einen bösen Blick zuzuwerfen. Dann verziehen sich beide. Sicherlich schlägt ihnen das Gewissen. Die Episode ist nicht unbemerkt vorübergegangen, denn die Mädchen an der Bar grinsen und kommentieren sie, der Kellner verwandelt sich auf einen Schlag in ein Muster an Höflichkeit. Das Lokal beginnt sich zu füllen, eine Kapelle, aus drei Gitarristen und einer Sängerin mit erstaunlich heiserer Stimme bestehend, tritt auf. An meinem Tisch las91
sen sich irgendwelche Männer nieder, und ich gehe in Lärm und Zigarettenrauch unter. Zwei Mädchen finden sich ebenfalls ein und begrüßen die alten Kunden mit gekünsteltem Gekicher. Alles verläuft nach Programm. Mit mir beschäftigt sich niemand, was mich sehr freut. Danach ziehen sich die Stunden öde hin, ich sitze vor einem Glas Bacardi, meine Augen brennen vom beißenden Rauch und angestrengten Starren auf die beiden Treppen zum Obergeschoß und den Eingang. Vermutlich hat es auch der dämlichste Agent inzwischen mitgekriegt, daß ich auf jemanden warte. Der einzige Vorzug meiner Lage ist, daß ich über ein paar Fragen nachdenken kann. Doch ich kann mich nicht sehr heiterer Gedanken rühmen. Nach Mitternacht flaut der Besucherstrom ab, immer noch kommen grüppchenweise Männer, steigen die Treppe hinauf oder verlassen das Lokal, aber es sind nicht mehr so viele. Die Kapelle packt zusammen, und einige Mädchen verschwinden. Vermutlich, um den abebbenden Lärm wieder anzukurbeln, wird die Musikbox wieder in Betrieb gesetzt. Wenn man in einem Nachtklub so dasitzt und wartet, weiß man nicht immer, wen man erwartet. Ich warte auf Witanow, doch irgendwann gegen eins tritt mit aufgeknöpftem Jackett und Stiefeln Rijder Steeks in das Lokal. Ich könnte nicht sagen, daß ich sonderlich überrascht wäre. Nach alledem, was seit gestern abend passiert ist, bin ich nur noch schwer zu überraschen. Übrigens braucht daran nichts Merkwürdiges zu sein – Bankow hat erwähnt, daß Steeks seit vielen Jahren in Port Angère ist, und er kennt sicherlich alle diese Lokale. Der Holländer bemerkt mich sofort und kommt nach einer Minute des Zögerns auf mich zu. Er hat getrunken, seine Schritte sind etwas unsicher, aber er hält sich gerade. 92
Wir begrüßen uns wie alte Bekannte, und ich lade ihn an meinen Tisch ein. Er wirft einen vielsagenden Blick seitwärts auf meine Tischnachbarn, bei denen es hoch hergeht, merkt aber, daß ich nichts mit ihnen zu schaffen habe, und setzt sich. Ohne daß er bestellt hätte, bringt man ihm sofort ein großes Glas Gin mit Zitrone – er gehört offenbar zu den Stammgästen, und man kennt seine Gewohnheiten. „Sie studieren also bereits Port Angère!“ stellt er mit leicht spöttischem Unterton fest. „Auf Ihre Studien!“ Wir stoßen an, und er leert sein Glas zur Hälfte. Dann beschäftigt er sich damit, den Rest der Zitrone in sein Glas zu drücken. „Getroffen!“ sage ich nachgiebig. „Wollen Sie mir nicht bei meinen Studien helfen?“ Steeks schaut mich nun schon nicht mehr so spöttisch an, preßt aber die Zitrone weiter aus. Dann schwenkt er das Glas und betrachtet es kritisch. Ich denke schon, daß er mir überhaupt nicht antworten wird, doch er verzieht die Lippen und erklärt: „Gut! Ich kann Polizisten nicht ausstehen, aber Sie sind mir sympathisch! Worum geht es? Um Doktor Witanow, wie?“ „Um Doktor Witanow!“ bestätige ich. „Sehen Sie ihn oft hier?“ „Oft? Nie!“ „Aber er ist hier gewesen!“ beharre ich. „Gestern nacht. Gegen zwei.“ Steeks klappt ungläubig mit den Augendeckeln und nimmt einen Schluck aus seinem Glas. „Ich komme wegen des Gins her … der beste Gin in dieser gottverlassenen Stadt. Andere kommen …“, er deutet mit den Augen auf die Männer hinter mir, „wegen der Mädchen. Dritte wegen des Roulettes oben. Ich glaube, man könnte auch Haschisch kriegen, wenn man nur will … Weshalb war aber Doktor Witanow hier?“ „Das möchte ich auch gern wissen.“ 93
„Sind Ihre Informationen zuverlässig?“ „Ich hoffe es.“ „Dann … warten Sie, lassen Sie uns überlegen, weshalb er gekommen sein könnte. Aus den eben genannten Gründen nicht“, sagt er lächelnd und klopft mit dem Fingernagel an sein Glas. „Nein.“ „Eine Frau wie Maria Kramer ist nicht leicht zu finden“, erklärt er geradezu. „Folglich interessieren ihn auch die Mädchen nicht. Einverstanden?“ „Einverstanden.“ „Das Glücksspiel ist es ebensowenig!“ Er schüttelt den Kopf. „Da hätte ich ihn bestimmt gesehen. Bleibt … der Stoff.“ „Er ist nicht drogensüchtig.“ „Wieso sind Sie da so sicher? Der Mensch weiß nie, wo er hineingerät. Und ist er einmal hineingeraten … Es kann ja auch Haschisch sein.“ „Möglich“, stimme ich zu. „Wahrscheinlicher jedoch ist etwas anderes. Daß er hergekommen ist, um sich mit jemandem zu treffen.“ „Hier?“ Er verzieht das Gesicht, und die weißen Falten verschwinden, werden zu feinen Runzeln. „Und warum hier, wenn Sie gestatten?“ „Eben so. Stellen Sie sich vor, er will sich mit jemandem treffen. Zum Beispiel mit Ihnen. Er weiß, daß Sie herkommen, und muß Sie unbedingt sprechen. Er hat versucht, brieflich oder auf andere Weise eine Verabredung zu treffen, es ist ihm aber nicht gelungen, oder Sie haben abgelehnt. Und er kommt her, um Sie abzupassen. Ist das als Theorie akzeptabel?“ Er gießt sich den Rest aus dem großen Glas in den Hals und läßt sich mit der Antwort Zeit. Mir eilt es auch nicht, ich habe viel Zeit. Die beiden Kerle, der Gorilla und der Hippie mit der Nickelbrille warten, falls sie wieder Mut gefaßt haben, womöglich draußen auf mich, um 94
ihre Rechnung mit mir zu begleichen. Sollen sie ruhig warten. Steeks mustert mich aufmerksam mit seinen blauen Augen, als sähe er mich zum erstenmal. Dann hebt er die Schultern. „Allgemein gesehen, wäre es akzeptabel. Aber warum sollte er mich hier suchen? Und warum soll er mich überhaupt suchen, zum Teufel?“ „Genau das denke ich auch. Aber ich habe nicht gesagt, daß er unbedingt Sie suchen muß.“ „Und ich denke, Sie verschwenden Ihre Zeit!“ schließt Steeks das Gespräch ab. „Ihr Mann hat irgend etwas ausgefressen und die Kurve gekratzt, damit er nicht gefaßt wird. Finden Sie lieber heraus, was er ausgefressen hat, dann wird alles klar! Kommen Sie mit, oder bleiben Sie noch?“ „Ich komme mit. Habe letzte Nacht kaum geschlafen.“ Wir zahlen und brechen auf. Nach dem Qualm und den scheußlichen Gerüchen, die ich in den letzten Stunden in mich eingesogen habe, ist die warme Nachtluft eine wahre Wohltat. An der Ecke streiten sich laut ein paar Männer, und ihre Stimmen hallen von den schweigenden Fassaden wider. Die bläulichen und roten Lichter der Bars blinken matt. Ich gehe neben dem Holländer her, wir schweigen. Dabei habe ich das merkwürdige Gefühl, daß ich das alles schon einmal erlebt habe – irgendwo an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit. Wir sind durch diese selbe Gasse gegangen, und unsere Schritte haben genauso gehallt. Dann ist etwas passiert, aber ich weiß nicht mehr, was. Nichts wird passieren, das kommt von der Müdigkeit und den Gedanken, die aufdringlich in meinem Kopf kreisen. Ich muß einfach ins Bett und mich ausschlafen, weil vermutlich auch der morgige Tag anstrengend sein wird. 95
Die Stiefel des Holländers tappen über das Trottoir. Wer weiß, vielleicht wird er schon ein bißchen nüchtern und bereut es, daß er sich zu mir gesetzt hat. Oder er denkt an etwas anderes, wovon ich keine Ahnung habe. Doch seine Gedanken interessieren mich, denn er ist nicht so primitiv, wie er auf den ersten Blick aussieht. Dann bringt uns ein Taxi nach Hause. Es stellt sich heraus, daß Steeks in einer Villa auf demselben Hügel wohnt, bloß auf der anderen Seite, nicht allzu nahe bei meiner Pension. Ich versuche mir einzuprägen, wo es ist, aber in diesem Gewirr von asphaltierten Alleen wird nichts draus. „Trinken wir noch einen Whisky vor dem Schlafengehen?“ schlägt Steeks vor. Das fehlte mir jetzt gerade noch. Ich möchte zwar gern wissen, wo der Holländer wohnt, und das nicht aus bloßer Neugier, halte es aber doch für besser auszuschlafen. Endlich bin ich zu Hause. Ich gehe unter dem blaßlila Feuer der Bougainvilleas den Gartenweg entlang und verlangsame unwillkürlich den Schritt. Eine Minute kann ich mir erlauben. Nur dastehn, an nichts denken. Ich sehe, wie die Blüten in der Stille flammen, und Ruhe überkommt mich. So ist die Natur, sie kümmert sich nicht um uns. Weder darum, daß ein Mensch verschwunden ist, noch darum, daß ich ihn suche und immer tiefer in das Labyrinth der Vermutungen gerate. Als ich ins Foyer trete, fällt mir ein, daß Matias mich gebeten hatte, ihn anzurufen. Ich wähle die Nummer und vernehme fast augenblicklich seine Stimme. „Also, gute Nacht! Alles in Ordnung, wie?“ „Ja, ja. Gute Nacht.“ Jetzt ist gar nichts mehr in Ordnung, aber ich weiß wenigstens, daß es so ist.
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Der Gartenpavillon Der Morgen beginnt wie gestern – mit dem verlockenden Duft frischgebackener Hörnchen, der durch die Pension zieht, und dem vielstimmigen Lärm im Eßzimmer. Dieses Mal bin ich es, der zu spät kommt. Die Sachariews sind mit ihrem Frühstück fast fertig. „Genosse Bankow hat eben nach Ihnen gefragt“, sagt Frau Sachariewa. „Haben Sie ihn nicht gesehen?“ Was kann er von mir gewollt haben? Wenn es Neuigkeiten von Witanow gäbe, wüßten das alle, am ehesten Frau Sachariewa. Ich setze mich, und Germaine gießt mir eine große Tasse duftenden Kaffee ein. Ein kleines Labsal vor dem schweren Tag, der mir bevorsteht. Und schwer wird er bestimmt, da gebe ich mich keinen Illusionen hin. Ich muß ein Telex nach Sofia schicken, damit dort einige Dinge überprüft werden, mit den Leuten von der Versuchsanlage sprechen und mich damit befassen, Laborjournale durchzuackern, eine außerordentlich kurzweilige Beschäftigung. Desgleichen muß ich Matias um ein paar Auskünfte über Arzneimittelfirmen bitten. Wenn dann noch Zeit bleibt, möchte ich Maria Kramer bei den Wettkämpfen sehen. Und natürlich auch Thorwald. Ich ertappe mich dabei, daß ich zuerst an Maria Kramer gedacht habe, und schmunzle im stillen. Inzwischen plappert Frau Sachariewa vom Wetter – heute wird es wieder heiß werden und sicherlich auch wieder regnen. Jetzt ist der Beginn der Regenzeit, und so wird das nun fast jeden Tag sein. „Fangen Sie schon an, sich daran zu gewöhnen?“ erkundigt sie sich. In der Übersetzung heißt das: Gibt es etwas Neues von Witanow? Ich wähle einen vorsichtigen und munteren Ton: „Es wird wohl kaum nötig sein, daß ich mich sehr daran 97
gewöhne … Kann sein, wir sehen den Doktor bald wieder.“ „Oh, hoffentlich!“ ruft Frau Sachariewa. „Wir machen uns alle Sorgen um ihn.“ Wie wir Witanow wiedersehen sollen, weiß ich selbst nicht, aber was ich da sage, hat einen bestimmten Zweck. Bis Mittag muß das ganze Objekt wissen, daß alles gut verläuft, damit die Gerüchte ein bißchen verstummen. In solchen Fällen ist es das beste, die einen Gerüchte durch andere zu ersetzen, die aus sicherer Quelle kommen. Was will man machen, die sichere Quelle bin ich! Sachariew jedoch ist durch meinen munteren Ton hellhörig geworden. Er trinkt seinen Kaffee aus und sagt: „Nun, was es auch sei … Hauptsache, er ist am Leben!“ Er hat gemerkt, daß ich das Wort „lebendig“ vermieden habe! In diesem entscheidenden Moment meiner Gerüchtekocherei betritt Bankow das Eßzimmer und enthebt mich der Notwendigkeit, mir irgendeine akzeptable Ergänzung auszudenken. Er hat bereits gefrühstückt und kommt nicht zu uns. Er sieht mich nur an, und ich verstehe – er wartet draußen, hat mir etwas zu berichten. Ich schnappe mir ein Hörnchen (abgesehen davon, daß ich dann etwas in den Magen kriege, sehe ich so auch ruhiger aus), wünsche den Sachariews einen angenehmen Tag und gehe. Bankow steht an der Treppe. „Inspektor Matias ist mit einem Wagen da, um mich abzuholen“, sagt er. „Eine Leiche ist zu identifizieren. Sie wurde heute früh gefunden.“ „Wer? Witanow?“ Bankow schüttelt den Kopf. „Nein, nein! Matias sagt, er sieht ihm nicht ähnlich, möchte aber sicher sein. Kommen Sie mit? Ich kann üb98
rigens auch allein, wenn Sie etwas anderes zu tun haben.“ „Ich komme mit. In zwei Minuten können wir fahren.“ Die zwei Minuten brauche ich, um noch einmal hinaufzugehen und ein paar Materialien meines aus der Not geborenen Hobbys, des Fotografierens, sicherer zu verwahren. Rijder Steeks würde nicht schlecht staunen, wenn er erführe, wie oft ich ihn gestern nacht geknipst habe, Vielleicht aber auch nicht, weil er manches ahnt. Dennoch lege ich Wert darauf, daß mir diese Erinnerungen an die Stunden im Nachtklub erhalten bleiben, und ich muß auf der Hut sein, weil ich nicht weiß, was manche der ungeladenen Gäste in der Pension vielleicht gerade haben wollen. Matias ist mit einem gewöhnlichen Wagen da. Er hat vorausgesehen, daß Dienstfahrzeuge Anlaß zu Gerede geben, und Gerede ist das letzte, was ich jetzt brauchen kann. Ich habe schon Leichenschauhäuser aller Art gesehen. In Kellern, zu denen lange, ermüdende Gänge führen, in Obergeschossen hinter Stahltüren und Gittern. In Zementgrüften, übergossen vom Aluminiumlicht der Leuchtstoffröhren. Sosehr ich auch daran gewöhnt bin, angenehme Leichenschauhäuser gibt es nicht. Auch das hier ist nicht angenehm, aber so eins habe ich noch nicht gesehen. Es ist ein kleiner Pavillon mit schmalen Fenstern und zwei Kuppeln statt eines Dachs inmitten eines zauberhaften Gartens voll üppigem, unruhigem Grün. Jeder Zweig wächst und blüht hier, die Blätter machen einander jeden Tropfen Wasser streitig und streben mit heidnischer Götterverehrung der Sonne zu. Daß dies ein Leichenschauhaus ist, wäre das letzte, was jemand von diesem Pavillon in diesem Garten vermuten könnte. Doch der scharfe Formalingeruch ist zu spüren. 99
Matias klopft an eins der Fensterchen und macht jemandem mit der Hand ein Zeichen. Ein Wächter öffnet uns und auf dem Korridor empfängt uns eine dunkelgesichtige ältere Frau mit schwarzem Haar in einem weißen Kittel. Matias stellt mich vor. Die Frau ist eine Kollegin, Gerichtsmedizinerin. Sie führt uns zu dem Raum zur Linken. „Es tut mir leid, daß ich Ihnen so viel Zeit wegnehme!“ entschuldigt sich Matias. „Doch die Identität ist nicht festgestellt, und wir müssen eben doch den Mann ausschließen, den wir suchen. Eine Formalität.“ „Irgendwelche Angaben über den Ermordeten?“ „So gut wie keine. Von hinten erschossen. Ich habe nur herausbekommen, daß in der Nähe der Stelle, wo er gefunden worden ist, ein parkender dunkler Wagen gesehen wurde. Er hatte keine Papiere bei sich. Die Einsatzgruppe hat Fingerabdrücke und Fotos zur Begutachtung gegeben. Ich habe den Toten übrigens auch noch nicht gesehen. Hier entlang, bitte.“ Die Identifizierung einer Leiche ist eine sehr unangenehme Sache, hauptsächlich für Bankow, der die Besonderheiten von Leichenschauhäusern in diesen Tagen zum erstenmal kennenlernt. Deshalb verstehe ich ihn völlig, als ich sehe, daß er am Schluß geht und nicht sonderlich scharf darauf ist, den Raum zu betreten. Es ist nicht Witanows Leiche, das wird auf den ersten Blick klar. Ein Mann von etwa dreißig, fünfunddreißig Jahren, hell, mit breiten, groben Zügen. Er würde wie schlafend aussehen, wäre nicht diese grünliche Blässe auf dem Gesicht. Da ist etwas. Eine Erinnerung bemüht sich, in meinem Bewußtsein aufzutauchen, und schafft es nicht. Als wüßte ich etwas über diesen Menschen und hätte es vergessen. „Vielleicht ist das ein Zufall … das mit dem Wagen“, sage ich. 100
„Ausgeschlossen!“ Matias schüttelt den Kopf. „Es wurde aus geringer Entfernung gefeuert, mit Schalldämpfer.“ Die Gerichtsmedizinerin versteht unser Gespräch und nickt. Auf dem Sakko sind die charakteristischen Spuren eines Schusses aus nächster Nähe und mit Schalldämpfer gefunden worden. Matias fügt hinzu: „Es hat ihnen also daran gelegen, ihn mit einem einzigen Schuß umzulegen. Sonst, bei zufälligen Überfällen, täte es auch ein Messer. Aber mit dem Messer ist es unsicher … und das Opfer hat viel Zeit. Wollen wir uns auch seine Sachen ansehen?“ Im Nebenraum sind die Sachen des Ermordeten. Die Ärztin schaltet einen Scheinwerfer ein und bringt ein Sortiment Lupen herbei. Es wird auf einmal unerträglich hell in dieser bis obenhin mit kalten weißen Kacheln ausgelegten Kammer. Eine Brieftasche ist nicht vorhanden, das ist das erste, was auffällt. Dafür eine Pistole. Sonst hat er nicht viel bei sich gehabt – ein Päckchen Zigaretten, ein Feuerzeug, ein paar Geldscheine und einen Füller. Daneben liegt die Python, eine moderne Waffe, verhältnismäßig klein und weitreichend. Keinerlei Papiere. Matias nimmt die Pistole und prüft ihr Gewicht. „Pythons sind bei uns verboten“, sagt er. „Nur die Polizei hat welche.“ „Wo wurde der Tote gefunden?“ „In einer Seitengasse in dem Viertel, wo Sie gestern abend waren.“ Er wendet sich an die Gerichtsmedizinerin. „Die Aufnahmen sind gemacht, wir können ihn zur Autopsie freigeben. Wann bekommen wir das Protokoll?“ In meinem Bewußtsein bohrt etwas hartnäckig, es will nach oben und kann nicht. Ich weiß nicht, was es ist, wichtig oder nicht, aber es stört mich. 101
„Nun, wir können gehen!“ sagt Matias. „Wo soll ich Sie hinbringen?“ „In unser Objekt, wenn es keine Umstände macht.“ „Natürlich macht es keine. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie gekommen sind.“ Wir verabschieden uns von der Gerichtsmedizinerin und sind ein paar Minuten später im Auto. In dieser Stadt kann ich mich nicht zurechtfinden. Ich glaubte, wir wären ein ganzes Ende von der Chaussee entfernt, doch es stellt sich heraus, daß dem nicht so ist. Wir erreichen sehr bald die Chaussee. Wie gestern stehen die Buckel der verbrannten Hügel wieder vor dem Horizont. Dann erscheinen die hellroten Säulen der Tankstelle. Ein eiliger Laster hüllt uns in Staub, und mir beginnen die Augen zu jucken. Matias flucht leise durch die Zähne. Ich schweige. Mir fällt und fällt nicht ein, was mich im Leichenschauhaus gestört hat. So ist das menschliche Gedächtnis! Man kann es quälen, soviel man will, sich totärgern und ist doch machtlos. Besser, ich warte ab. Das ist wie ein vergessener Name. Es wird im Bewußtsein auftauchen, wenn ich es überhaupt nicht mehr brauche. Matias biegt vor dem Verwaltungsgebäude ein und hält. „Und jetzt wünschen Sie mir ein bißchen Erfolg! Hoffentlich kriege ich heute noch etwas über den im Leichenschauhaus heraus.“ „Wo könnte ich Sie erreichen, wenn es nötig werden sollte?“ frage ich. „In der Kommandantur. Sollte ich zufällig nicht dort sein, wird man Ihnen sagen, wo ich zu finden bin. Auf Wiedersehen.“ Er winkt zum Gruß und fährt an. Die folgenden Stunden bis zum Mittag sind dem Studium von Laborjournalen zugedacht. Nur jemand, der schon 102
einmal in solcher Art Unterlagen herumgewühlt hat, weiß, was sie für ein undurchdringlicher Dschungel sind. Ich muß mir die Arbeit unbedingt leichter machen und bitte deshalb Bankow, mir jemanden von Witanows Mitarbeitern zu schicken. Das Zimmerchen der Materialversorgung finde ich unverändert: die häßlich nach Asphalt riechenden Rohre und der zerschrammte Schreibtisch, der mehr als einen hitzigen Streit gehört hat. Das Fenster öffne ich lieber nicht – von draußen käme nur Hitze herein. Und Staub. Ich überlege gerade, wie ich den Schreibtisch stellen soll, um es bequemer zu haben, da klopft es. Wie ich ihn nach der Beschreibung kenne, ist das Nedkow, Witanows Stellvertreter. Ein bekanntes Gesicht, ein Fachkollege, wahrscheinlich ein oder zwei Studienjahre nach mir. Ich erinnere mich an ihn, habe ihn bloß lange nicht gesehen. Älter ist er geworden (ich bin ja auch nicht jünger geworden), im großen und ganzen hat er sich aber nicht sehr verändert. Rundlich, korpulent, zur Glatzenbildung neigend. „Oh, Kollege … Und ich habe wer weiß was gedacht … Seien Sie gegrüßt, seien Sie gegrüßt!“ Ich begrüße ihn im selben vertraulichen Ton, obwohl mir diese Vertraulichkeit nicht so recht behagt. Nedkow hat zwei solide eingebundene Laborjournale unter dem Arm und legt sie auf den Schreibtisch. „Sie haben doch die Journale verlangt, nicht? Bankow sagte mir, daß es darum gehe … Ich muß Ihnen da bloß ein bißchen was erklären, denn sonst …“ Ich fordere ihn auf, Platz zu nehmen, und setze mich selbst auf die andere Seite des Schreibtischs. Er muß mir wirklich die Art und Weise erklären, wie sie geführt worden sind. Diese Journale flößen schon durch ihren bloßen Anblick Respekt ein. Ich versuche, mich zu orientieren, wann die Vorversuche begonnen wurden und mit wel103
chem Material, und Dankbarkeit für die Pedanterie Doktor Witanows erfüllt mich. Es herrscht eine ideale Ordnung, sämtliche Details sind eingetragen. „Da, von hier an können Sie sehen …“, redet Nedkow. „Dies sind die Bedingungen, und ich habe schon gesagt …“ Nein, er gefällt mir wirklich nicht. Er nutzt jede Gelegenheit, um Witanow madig zu machen. Er tut das sehr geschickt, mit entfernten Andeutungen und halben Worten. „Emil hat sich allzusehr auf die Angaben in der Literatur verlassen … Ich sage zu ihm: ‚Schau dir’s an, Emil, wie es in der Praxis ist!‘, aber er ist eben Theoretiker … Dann mußten wir’s wiederholen … Bitte, vergleichen Sie!“ Und seine Wurstfinger fahren die Zahlenreihen entlang. Wir vergleichen. Bloß, Nedkow weiß nicht, daß ich zufällig auch ein bißchen was von der Antibiotikaherstellung verstehe. Und von menschlichen Beziehungen. Wenn mir Witanow mit seiner Überheblichkeit auch nicht eben sympathisch ist, Elan hat er gehabt. Es wäre sehr leicht gewesen, die Technologie herzunehmen, nicht vom Buchstaben abzuweichen, und im Ergebnis … was wäre das Ergebnis gewesen? Hier sind die Voraussetzungen anders, nicht so wie in unseren Fabriken. Er hätte einen mittleren oder unterdurchschnittlichen Ertrag erhalten, aber die Technologie gewahrt. Niemand hätte ihm irgend etwas vorwerfen können. In ein, zwei Jahren wäre er mit einem neuen Peugeot nach Sofia zurückgekehrt, und alle wüßten, daß er seine Arbeit gut gemacht hat. Den Kopf mochten sich die zerbrechen, die nach ihm kamen! Witanow war ein barscher, unleidlicher Vorgesetzter, aber er hatte Phantasie. Dieser Nedkow, der mir gegenübersitzt und so beflissen auf die Versäumnisse in der Arbeit hinweist, hat keine Phantasie. In ihm schreit das 104
von dem glänzenden Witanow so lange niedergehaltene Gefühl von der eigenen Bedeutung nach Vergeltung. Er ist nicht sicher, er weiß nicht, ob Witanow nicht wiederkommt, und ist deshalb sehr vorsichtig. Er weist nur auf die Versäumnisse hin, die Schlüsse muß ich selber ziehen. Dann kann er immer sagen: „Er, der Genosse Debyrski …“ Und wird wiederum keine Verantwortung auf sich nehmen. Bloß, Nedkow irrt sich in einem Punkt. Ich suche nicht die Versäumnisse, obwohl auch sie berücksichtigt werden müssen, sondern die besten Ergebnisse. Die, nach denen in ein, zwei Monaten die Nullserie anlaufen wird. Über die Versäumnisse hat es Berichte gegeben. Die hat man auf Partei- und Gewerkschaftsversammlungen durchgekaut, es sind Erklärungen über mehr objektive und weniger subjektive Gründe (wie denn auch sonst!) abgegeben worden. Im Erklären dessen, was schiefgelaufen ist, sind manche außerordentliche Meister. Witanow ist da keine Ausnahme, er hat sich mit Krallen und Zähnen gewehrt. Ich kann mir vorstellen, wie sich die beiden, Bankow und er, gestritten haben. Bankow habe ich gestern bei der Diskussion auf der Beratung erlebt. Dieser Parteiorganisator mit den lächelnden Augen hinter der Brille ist messerscharf, und mir ist inzwischen klar, warum er so nervös ist. Und Witanow ist aufbrausend. Ich höre Bankow noch zu mir sagen: „Stellen Sie sich vor, er hat bei mir eine Beschwerde gegen mich eingereicht!“ Nein, die Versäumnisse interessieren mich nicht allzusehr. Das erkläre ich Nedkow. Er stockt mitten im angefangenen Satz und sieht mich verständnislos an. Sein glänzender Schädel läuft langsam rot an. „Er … Emil … ist sogar deswegen bestraft worden“, stottert mein ehemaliger Studienkollege. „Er sollte sogar von seinem Posten abberufen werden, aber dann wurde beschlossen, ihn dort zu belassen …“ 105
So ist es. Zwei Versuche sind mißlungen. Wegen Witanows Selbstherrlichkeit. Er habe sich eine andere Temperaturregelung ausgedacht, und die Ergebnisse seien kläglich gewesen. Nur gut, daß ihn nicht solche wie Nedkow bestraft haben. „Wissen Sie, damals hat ihn Genosse Markow in Schutz genommen, sonst …“ Der Magenkranke habe sich für ihn eingesetzt. Und ihn gleichzeitig mit seiner beißenden Ironie fertiggemacht. Witanow sei nicht intelligent genug, diese Ironie zu parieren. Er habe unter dem Spott nur gekocht wie ein verstopfter Vulkan. Nichts habe er zugegeben und keine Selbstkritik geübt, und trotzdem hat man ihn auf seinem Posten belassen. Aber das ist alles bekannt. Unbekannt sind die auffallenden, hervorstechenden Ergebnisse. Wieso hat man sie bekommen, unter welchen Bedingungen? Sind sie wiederholbar? Werden die Parameter erforscht? Mit anderen Versuchen verglichen? Nedkow ist ganz verdattert. Er kann mich nicht verstehen, sicher meint er, ich führe die Ermittlungen voreingenommen, zugunsten Witanows. Dabei bin ich wirklich voreingenommen. Ich kann ihm nicht erklären, daß die Industriespionage sich ebenfalls nicht sehr für die Versäumnisse interessiert. Die Konzerne besitzen ihre Labors und haben mehr als einen Fehlschlag erlebt und wollen an das Beste herankommen, an das, was sie selbst nicht haben. Wie das vor sich geht, weiß man ja. Ein ausgezeichnetes Resultat geht einfach in einem Haufen Fakten verloren und bekommt eine falsche Erklärung. Man wird es nicht weiterverfolgen, sondern beiseite legen und auf anderen Wegen fortfahren. Diese Wege führen nicht vor eine verschlossene Tür, es gibt gewisse Resultate, gewisse Erträge. Alle sind ruhig. Und woanders, in wohlgehüteten Laboratorien, wird inzwischen der Versuch entwi106
ckelt, der die dumme Erklärung bekommen hat. Und bloß ein halbes Jahr später platzt auf dem Markt eine Bombe. Der Preis des Antibiotikums wird gesenkt. Nicht sehr, gerade nur so viel, um die Konkurrenz zu schlagen. Ein paar Todeszuckungen, der Versuch, auf eine andere Produktion umzusteigen. Kampf der Reklame, Bestechung von Politikern und ehrbaren Präsidenten medizinischer Vereinigungen. Doch der Schlag bleibt ein Schlag und ist oft tödlich. Das ist es. Und ich habe keinen Grund, das Nedkow zu erklären. Das Spiel ist viel komplizierter, als er begreifen kann. Doch Witanow hat das bestimmt begriffen. „Welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen?“ frage ich ruhig und deute auf eine der Serien. „Diese Serie hat sehr interessante Parameter, wieder die Phantasie Doktor Witanows!“ „Ein Zufall!“ Nedkow verzieht die Lippen. An Witanows Stelle würde ich mich mit Nedkow auch nicht verstehen. Zufälle in der Wissenschaft … das ist eine andere Frage. Hier gibt es keinen Zufall. Dieses Mal hat die Phantasie den Doktor nicht aufs Glatteis geführt. Der Ertrag ist fast zehn Prozent höher als vorgesehen. „Wo ist diese Serie überprüft worden?“ bohre ich weiter. Nedkow sucht, findet die ergänzenden Versuche. Sie sind verhältnismäßig jungen Datums, liegen etwa zwanzig Tage zurück. „Hier. Es ist nichts dabei herausgekommen.“ Das sehe ich selbst. Die letzte Serie, Nummer neun, bestätigt die Resultate nicht. „Waren Sie bei diesen Versuchen zugegen?“ Es ist ein bißchen dumm, so zu fragen. Hier dauert ein Versuch fast vierundzwanzig Stunden. Allein Witanow hat die Gewohnheit gehabt, einen ganzen Tag und eine Nacht in der Versuchsanlage zu bleiben. Hat Kaffee getrunken, belegte Brote gegessen, wenn jemand daran 107
dachte, ihm welche zu bringen, und durch die Quarzscheiben der Fermentatoren gestarrt. Die anderen haben einander abgelöst. Diese unbrauchbare Serie Nummer neun interessiert mich. „Wer war am Ende des Versuchs bei ihm?“ „Kollegin Deltschewa … sie ist Oberlaborantin.“ „Ich sehe hier, daß Sie auch unterschrieben haben.“ „Das ist so üblich. Einer am Anfang und einer am Ende, aber dann … Die Verantwortung tragen wir doch gemeinsam, nicht?“ Ich will nichts von gemeinsamer Verantwortung hören. Ich will wissen, was jeder gesehen hat. Wir gehen noch ein paar Protokolle durch, besser, er kommt nicht dahinter, was meine Aufmerksamkeit erregt hat. Dann bedanke ich mich bei ihm und bitte ihn, mir jemanden von den Laboranten zu schicken. „Diese … Deltschewa zum Beispiel“, werfe ich hin. „Sie ist doch eine erfahrene Laborantin, nicht?“ „O ja, sehr!“ Nedkow wird lebhaft. „Hat eine zwanzigjährige Praxis, die Frau, eine erfahrene Laborantin.“ „Gut. Schicken Sie sie mir bitte her.“ Nedkow zieht erleichtert ab, ich gehe in dem engen Zimmer hin und her und lese die Aufschriften auf den Kisten, während ich auf Frau Deltschewa warte. Eine geisttötende Beschäftigung, aber es hilft einem, sich zu entspannen, einen Augenblick abzuschalten und ein bißchen auszuruhen. Frau Deltschewa läßt nicht lange auf sich warten. Unter den verschiedenen Geräuschen auf dem Korridor höre ich näher kommende Schritte heraus und mache auf. Eine seriöse, nicht mehr junge Frau. Zusammengebundenes Haar, harte blaue Augen, nicht ein Fleck auf dem neuen Kittel. „Genossin Deltschewa?“ „Ja.“ 108
Dieser Typ Laborantinnen ist mir bekannt, und er hat mir immer Respekt abgenötigt. Frauen, die ihren Beruf beherrschen. In den Labors sind sie die reinsten Hexenmeisterinnen, können jeden jungen Arzt in die Tasche stecken, und wenn sie es nicht tun, dann nur deshalb, weil bei ihnen die Achtung vor der Rangordnung stark ausgeprägt ist. Aber sie wissen vom ersten Tag an Bescheid, was jeder Arzt auf dem Kasten hat. Und sie erkennen nur eine Autorität an – das Wissen. Ich bitte sie herein. Sie ist reserviert, eher feindselig. Und macht denselben Fehler wie Nedkow – sie glaubt, ich interessiere mich für die Fehlschläge. Als sie merkt, daß die für mich nicht sehr wesentlich sind, wird sie ein bißchen zugänglicher. Ich bitte sie, mir einige Versuche zu erklären, bei denen sie zugegen gewesen ist. Allmählich taut sie auf, erzählt Einzelheiten. Dabei wird klar, daß Frau Deltschewa die rechte Hand von Doktor Witanow ist. In ihr hat er eine wirkliche Hilfe gesehen. Wir gehen Versuch für Versuch durch, gelangen schließlich zu dieser unseligen Serie neun. „Hier ist etwas danebengegangen“, werfe ich hin. „Warum?“ Sie breitet ratlos die Arme aus. „Doktor Witanow hat es sich auch nicht erklären können …“ „Haben Sie ihn nicht danach gefragt?“ Sie lächelt. „Er gibt niemandem Erklärungen.“ „Ich weiß. Aber dennoch.“ „Nein. Wir haben nicht darüber gesprochen.“ Sie verbirgt etwas. Ganz bestimmt verbirgt sie etwas. Sie will Witanow decken, den sie achtet, und begreift nicht, daß es gerade für ihn wichtig ist, daß sie mir alles sagt. „Aber Sie haben doch im Labor miteinander gesprochen!“ 109
„Das haben wir nicht.“ Nein und nein. Ich muß mir etwas anderes einfallen lassen. Ich sitze da, betrachte die Zahlenreihen. Und gerade da fällt es mir ein. Das verwünschte Gedächtnis, das nach seinen ungeschriebenen Gesetzen funktioniert hat, spielt mir einen seiner schlechten Streiche. Mir fällt ein, wo ich den Toten aus dem Leichenschauhaus gesehen habe. Gestern abend in der Bar. Ich muß unverzüglich Matias sprechen. Jetzt, sofort! Doch zuvor muß ich in die Pension und das hervorholen, was ich brauche, und zwar meine Amateuraufnahmen aus dem Nachtklub. Ich bin kein sehr erfahrener Fotograf, doch mein Mangel an Erfahrung wird durch die Vollkommenheit der Miniaturkameras ausgeglichen, die äußerlich harmlos aussehen. Es sind Manschettenknöpfe. Unter der kunstvollen Form verbergen sich elektronische Einrichtungen, und jeder nimmt das Aufblitzen der Objektive für ein Spiel des Lichts. Ich brauche die Aufnahmen. Aber zunächst Assen mit seinem Jeep. Mit Frau Deltschewa kann ich mich auch nachher unterhalten. Es sind zwei Aufnahmen. Auf der einen ist Steeks zu sehen, der mit aufgeknöpfter Jacke und schwankenden Schritten das Reihan betritt, und hinter ihm ist der Mann, der jetzt im Leichenschauhaus liegt. Wie es aussieht, haben die beiden nichts miteinander zu tun, sie sind zufällig auf dieselbe Aufnahme geraten. Aber sie haben die Bar fast gleichzeitig betreten, und das ruft schon einige Gedanken hervor. Auf der zweiten Aufnahme ist wieder Steeks, dieses Mal mit dem Glas Gin, wie er die Zitronenscheibe ausdrückt. Der Mann sitzt am Nebentisch und schaut nicht auf Steeks, sondern auf mich. 110
Kein Zweifel – er sieht mich mit dem forschenden Blick eines lauernden Tieres an. Die Kamera hat das aufgefangen, was ich unaufmerksam übersehen habe. Vielleicht war dieser Blick ein Zufall, doch warum sollte dieser Zufall gerade mich treffen? Ich stecke die entwickelten Filme ein und haste hinaus. Assen wartet in einer der stillen Nebenstraßen in der Nähe der Pension auf mich. Jetzt zur Kommandantur! Assen merkt instinktiv, daß etwas geschehen ist, denn er redet nicht, wie es seine Gewohnheit ist, sondern gibt Gas. Um Haaresbreite saust er an einem uns entgegenkommenden offenen Wagen voller Touristen vorbei, und wir hören hinter uns empörte Rufe. „Sie sehen nicht, daß ich’s eilig habe …“, knurrt er durch die Zähne. Immer ist der andere schuld, die Melodie kenne ich! Wichtig ist indes, daß ich in fünf Minuten in der Kommandantur bin. Ich finde Matias’ Büro, klopfe an und vernehme mit beträchtlicher Erleichterung seine Stimme. Es ist ein gewöhnliches Büro, ziemlich eng. Matias hat sich den Luxus erlaubt, drinnen so etwas wie eine Besucherecke mit einem Sessel und einem Tischchen einzurichten und zwängt sich mit komplizierten Manövern um den Stahlschrank hinter seinem Schreibtisch hervor. Er ist ein bißchen erstaunt, mich zu so einer Zeit zu sehen. Ich gebe ihm die beiden Fotos ohne lange Erklärungen und haue mich in den Sessel. Meine Entdeckung ruft vielsagendes Schweigen hervor. „Mnja …“, stößt Matias nach einer Weile durch die Zähne. „Da werde ich mich also mit der Bar befassen müssen. Wir hätten schon längst damit aufräumen sollen.“ 111
Daß sie damit aufräumen wollen, ist ja gut und schön, aber das erklärt mir wohl kaum, warum sich der Ermordete so sehr für meine Person interessiert hat. Ich glaube nicht, daß ich zu den bekanntesten Persönlichkeiten von Port Angère gehöre. „Und wer ist der andere?“ erkundigt sich Matias. „Er heißt Rijder Steeks, ein Holländer.“ „Was ist er?“ „Das werden Sie besser wissen als ich. Er arbeitet bei der Atlanta.“ Matias zieht einen Notizblock vom Schreibtisch heran und schreibt sich den Namen auf. „Meiner Ansicht nach wäre es voreilig, wenn Sie ihn vernehmen wollten“, sage ich vorsichtig. Ich möchte mich nicht in ihre Arbeit einmischen, habe aber das Gefühl, daß sich durch diesen Unbekannten für mich schwer voraussehbare Komplikationen ergeben könnten. „Haben Sie festgestellt, wer er ist?“ Matias’ Gesicht verfinstert sich leicht, dann sagt er: „Ja. Ein gewisser Tim O’Gregory, ein Ire. Ist vor einer Woche angekommen und im Hotel Imperial abgestiegen. Bekannte hat er nicht.“ „Und zu welchem Zweck ist er gekommen?“ „Zu welchem Zweck … Historische Interessen! Er ist ebensosehr Historiker wie ich ein …“ Er lächelt sauer und vollendet den Satz nicht. Die Angaben sind, versteht sich, falsch. „Ein Historiker mit Pistole!“ knurrt er feindselig. „Ein echter Historiker also!“ schließe ich. „Keine Verwandten, keine Bekannten, kommt einfach her, um sich umbringen zu lassen. Haben Sie übrigens seinen Tod bekanntgegeben?“ „Nein, natürlich nicht. Es hätte die Ermittlungen stören können. Der Leichnam ist in der Kammer. Dort kommt man nur mit meiner Genehmigung hinein.“ 112
Das Telefon klingelt. Matias spricht, ich erhebe mich halb und nehme meine Fotos an mich, um sie noch einmal zu betrachten. O’Gregory also. Der Blick dieses sogenannten O’Gregory fließt nicht von Sympathie für mich über – das ist offensichtlich. Matias beendet das Gespräch, und der Ärger auf seinem Gesicht wird von düsterer Gereiztheit abgelöst. „Ich muß sofort ins Hotel.“ sagt er. „Jemand ist vor der Einsatzgruppe dort gewesen.“ Dieselbe Handschrift also! Wenn ich an den Besuch in Witanows Zimmer denke, ist das nicht sehr verwunderlich. Matias sieht auf die Uhr und hat es auf einmal eilig. „Halb eins! Ich wage nicht, Ihre Zeit in Anspruch zu nehmen, aber wenn Sie meinen, daß da ein Zusammenhang mit Ihrem Fall besteht …“ Der besteht, natürlich. O’Gregorys Blick geht mir nicht aus dem Sinn. Nur, worin der Zusammenhang besteht, weiß ich noch nicht.
Hotel Imperial Trotz seines hochtönenden Namens ist das Hotel Imperial ein zweitklassiges Unternehmen, eins von denen, die die Illusion von Luxus hervorrufen wollen, wo man aber sofort bemerkt, daß bei dem großen Spiegel im Foyer an den Rändern der Belag abgeht und die Treppe ausgetreten ist. Viel Zeit für Beobachtungen bleibt freilich nicht, weil Matias die Treppe zum zweiten Stock hinaufstürmt, wo O’Gregorys Zimmer ist. Die beiden Männer in Uniform, die wir dort antreffen – fast noch Jungen – unterbrechen das Fotografieren und die Tatbestandsaufnahme und berichten. 113
In den nächsten fünf Minuten steht bereits fest, daß uns tatsächlich jemand zuvorgekommen ist. In diesem Zimmer mit den darin vorhandenen Dingen hätte jeder Mann wohnen können, der ißt, schläft, sich regelmäßig rasiert und sich mit unbekannten Dingen befaßt. Von historischen Interessen natürlich keine Rede. Keinerlei Dokumente, keine Quittung, keine alten Fahrscheine. Als hätte jemand die Sachen des sogenannten O’Gregory sorgfältig Stück für Stück durchgesehen und alles mitgenommen, was auf die Identität des Ermordeten hinweisen könnte. Matias ist natürlich wütend, gibt sich aber Mühe, es nicht zu zeigen. Er hat seine Gründe – die Ermittlungen in einem Mordfall fangen mit einer Schlappe an. Hier bin ich überflüssig, besser, ich kehre ins Werk zurück. Ich mache mit Matias aus, daß wir in Verbindung bleiben, und gehe hinaus, vom liebenswürdigen Lächeln des Geschäftsführers begleitet. Es gibt Leute, die die Kunst, nur mit den Lippen zu lächeln, bis zur Vollendung beherrschen. Über die Stadt ist die gleiche Feuerglocke wie gestern gestülpt. Ich bin schon jetzt fix und fertig, in Schweiß gebadet, und beneide ein paar sonnenverbrannte, halbnackte Kinder von Herzen, die in der menschenleeren Straße mit einem mageren Hündchen spielen. In Wahrheit ist die Straße gar nicht ausgestorben, das Leben hat sich nur in den Schatten verkrochen. Auf der anderen Straßenseite sind ein paar kleine Läden für Souvenirs und gehämmerte Gefäße. Sie haben die Rolläden fast ganz heruntergelassen, doch die Türen stehen in vergeblicher Erwartung von Kunden offen. Ich hole den Stadtplan heraus, möchte mich orientieren, wo ich bin. In einer Straße oberhalb der Kais, nicht weit von Mama Dollys Café, das ich mir mit einem Kreis eingezeichnet habe. 114
Und mir kommt eine absurde Idee. Im nächsten Augenblick erscheint mir die Idee schon nicht mehr so absurd, und als ich mich auf den Weg zu Mama Dollys Café mache, frage ich mich, warum ich nicht früher daraufgekommen bin. Das Café ist leer, jetzt ist die tote Tageszeit. Mama Dolly steht an demselben Platz, vor den Regalen mit den bunten Flaschen, und scheint von meinem Erscheinen nicht sonderlich begeistert. Und ich beeile mich, ihre schwache Hoffnung zu zerstören, ich sei zufällig vorbeigekommen. Ich möchte mit Sammy reden, notfalls mit ihr. Einmal habe auch ich Glück. Sammy ist da. Er hat Ware gebracht und trägt Kartons in den Keller. Ich höre ihn vor sich hin pfeifen. Das Pfeifen bricht sofort ab, als ihm Mama Dolly erklärt, wer ich bin. Sammy ist ganz gespannte Aufmerksamkeit. Er ist ein flinker junger Mann mit dunklem Gesicht und krausem Haar. Seine lustigen Augen mustern mich aufmerksam. Ich habe keine schlechten Absichten und möchte, daß er das sofort begreift. Wir werden uns an eins der Tischchen setzen, und dort sage ich ihm, was ich wissen will. Sammy spricht alle Sprachen, von allen ein bißchen. So daß wir also anfangen können. Ich hole das Foto von O’Gregory aus der Tasche und zeige es ihm. Ob er diesen Mann gesehen hat? Die Reaktion erfolgt augenblicklich, sie ist die beste Antwort. In der nächsten Sekunde versucht er, mir etwas vorzulügen, es gelingt ihm aber nicht. Wahrscheinlich macht ihn etwas in meiner Miene stutzig. „Nun jaaa …“, sagt er gedehnt, „der Herr von der Polizei …“ Das wär’s. Ich hatte bloß nicht erwartet, daß er auch als Polizist aufgetreten war. „Woran hast du ihn dir gemerkt, Sammy?“ 115
An dem breiten Gesicht, den Augen … Er sei ein recht barscher Herr gewesen. Habe Sammy gedroht, er solle ja nicht verraten, daß er dagewesen sei. Sammy bereut schon, daß er es mir gesagt hat und daß er überhaupt etwas gesagt hat. Man weiß ja nie, was daraus werden kann. Aber was soll man da machen? „Dieser Herr ist nicht von der Polizei, Sammy“, versuche ich ihn zu beruhigen. „Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen, denn er ist abgereist … weit weg.“ Sammy glaubt mir noch immer nicht. Das Leben hat diese jungen Leute gelehrt, mißtrauisch zu sein, und nicht ohne Grund, wie ich zugeben muß. Doch ich kann ihm nicht sagen, daß O’Gregory ermordet worden ist. „Dieser Mann ist ein Verbrecher, Sammy“, sage ich. „Und er ist nicht mehr in Port Angère. Wir müssen wissen, was er in den letzten Tagen gemacht hat.“ Das hat Erfolg. Jetzt rufe ich auch Mama Dolly und zeige ihr, das Foto. Sie zögert einen Augenblick, denn sie hat gemerkt, daß die Sache ernst ist. „Er war es, Monsieur!“ Das wäre geklärt. Jetzt müssen sie versuchen, sich an alles zu erinnern – wann er gekommen ist, was er gefragt hat. Teils durch Mama Dolly, teils durch Sammy beginnt sich das Bild abzurunden. O’Gregory war am Freitag hier, gegen halb sieben Uhr abends, hat Mama Dolly beiseite gerufen und seine Polizeimarke vorgezeigt. (Merkwürdig, daß wir diese Marke nicht gefunden haben!) Dann habe er genau wie ich ein Foto aus der Tasche geholt und gefragt, ob sie den Mann darauf gesehen hätte. Ja, das hätte sie, sie hätte keinen Grund gehabt, es zu verhehlen. Sammy habe genau erklärt, wo der Herr gesessen habe, wie er ihm das Glas Kognak gebracht, wie der Mann gezahlt habe und gegangen sei. O’Gregory habe ein paarmal danach gefragt, wohin der Mann gegan116
gen sei, aber das habe Sammy ihm nicht genau sagen können. Er habe den Eindruck gehabt, daß er zum Kai hinuntergegangen sei, doch da sei er sich nicht sicher. O’Gregory sei sehr ärgerlich gewesen, habe sie beschimpft – Sammy hebt die Schultern: das seien sie gewöhnt. Er habe gedroht, daß sie es mit ihm zu tun bekämen, wenn sie den Mund aufmachten. Doch da ich auch von der Polizei sei, wäre es besser, die Wahrheit zu sagen. Trotzdem fragt Mama Dolly, wie sie sich verhalten soll, wenn dieser Mensch noch einmal aufkreuzt. „Er wird nie wiederkommen!“ wiederhole ich. Ich weiß nicht, inwieweit sie meine Versicherungen beruhigen. Denn ich bin selbst ziemlich unruhig, das spüren sie, und es macht sie unschlüssig. Meine Beunruhigung nimmt ganz bestimmte Züge an, als ich auf dem Rückweg zum Hotel Zeit habe, das Geschehene genauer zu überdenken. Witanows Verschwinden hat nicht nur uns beunruhigt, sondern auch jemand anderen. Und dieser Jemand handelt, ohne zu zögern, rücksichtslos und brutal. O’Gregory ist nichts, ein Bauer im Spiel, obendrein ein dummer Bauer, der für seine Dummheit bezahlt hat. Doch wenn Witanow so nachdrücklich gesucht wird, muß er einen Wert gehabt haben, und zwar einen anderen, als wir uns vorstellen. Industriespionage. Ich sträube mich, diese Schlußfolgerung zu ziehen, denn sie ist allzu logisch, und ich schätze die allzu logischen Sachen nicht. Davon habe ich genug gesehen. Alles ist erklärt, das Gebäude der Vermutungen so solide, daß man es nur noch genießerisch zu betrachten braucht. Freilich, ein Detail fehlt, aber das ist nicht weiter wichtig. Und hinterher begreift man, wie naiv man gewesen ist und wie sie einen an der Nase herumgeführt haben. Und man sitzt in endlosen Nächten wach, und durch das Bewußtsein kreist unaufhörlich jener einzige Augenblick, den man nicht hätte verpassen dürfen. 117
Und hier fehlt nicht bloß ein Detail. Es fehlt etwas sehr viel Wichtigeres – das Überzeugende in Witanows Verhalten. Mir fehlt ein Feuerzeug, das keinen Grund hat, auf diese Weise zu verschwinden. Und viele andere Dinge sind überzählig, sogar dieser unglückselige Kalender, der nicht weiß, wo er auf dem Schreibtisch hingehört und nach dem gestrigen Besuch noch immer dasteht. Das Mosaik aus Fakten, das ich zusammentrage und geduldig zusammensetze, gibt ein verzerrtes, falsches Bild von Doktor Witanow. Eins ist zumindest klar, und das betrifft mich. Ein falscher Zug von mir, und ich bin in Gefahr. Im Augenblick stelle ich wohl kaum einen ernsthaften Gegenstand für die Aufmerksamkeit solcher Leute wie O’Gregory dar. Aber ein falscher Schritt, und ich werde nicht einmal den Schuß aus der Pistole mit dem Schalldämpfer hören, deren Knall so leise ist wie das Knacken eines Zweiges. Ein an der Bordkante parkender dunkler Wagen wird anfahren, Gas geben, und niemand wird etwas bemerken. Selbst wenn dich jemand beim Fallen sieht, wird er einen Bogen um dich machen – hier hebt niemand einen Hingefallenen auf. Und ich werde spüren, wie mir die Knie so komisch weich werden, noch einen Schritt machen, ohne etwas zu verstehen, ohne das Ende begreifen zu wollen, dann wird das Pflaster schnell auf mich zukommen. Ich überlege, und allmählich packt mich Zorn, ein wilder, echter Zorn. Billig werden sie nicht davonkommen. Was sie auch machen, zwei, drei Sekunden werde ich haben. Der dunkle Wagen, der an mir vorbeifährt, wird nicht weit kommen, denn jemand hat die Sprenggeschosse erfunden, von denen Wagen wie Fackeln brennen. Und Schulung im Schnellschießen gibt es nicht nur bei ihnen. Wir verkaufen unser Leben teuer, und das wissen sie. Die Erfahrung hat sie gelehrt, lange zu überlegen, bevor sie mit ihren Wagen losfahren. 118
Auch jetzt sind mir die Knie komisch weich, aber das ist von der Hitze, und diese Feststellung ernüchtert meinen Zorn und läßt mich den Schatten suchen. Ich muß ein bißchen ruhiger werden, sonst begehe ich einen Fehler. So einen, wie er O’Gregory unterlaufen ist. Ich erinnere mich seines totengrünen Gesichts auf dem Betonbett im Leichenschauhaus und werde endgültig nüchtern. Ein falscher Zug kostet nicht nur mich das Leben, sondern auch Witanow. Also: O’Gregory ist dem Doktor nachgeschlichen, hat sich für seine Bekanntschaften interessiert. Nach meinen nächtlichen Aufnahmen – für Steeks. Wenn er Zeit gehabt hätte, wäre er wahrscheinlich auch auf die Geschichte Witanows mit Maria Kramer gestoßen. Maria Kramer, denke ich. Ob sie nicht O’Gregory irgendwo gesehen hat? Das ist eine Nachprüfung wert. Ich kann es versuchen. Die Idee am Nachmittag zum Surfing zu gehen ist gar nicht so schlecht! Ich beeile mich, ins Imperial zurückzukommen, treffe jedoch Matias nicht mehr an, er ist eben weggegangen. Die Jungs von der Einsatzgruppe, die sich noch mit dem Sachverzeichnis in dem Zimmer im zweiten Stock herumquälen, werden ihm bestellen, daß ich ihn gesucht habe. Dieses Mal bleibt mir nichts anderes übrig – ich muß die Dienste des süßlichen Geschäftsführers in Anspruch nehmen. Und er zeigt, wozu er fähig ist – wie ein Zauberkünstler treibt er ein Taxi auf. Mir kommt diese Geschwindigkeit sogar ein bißchen verdächtig vor. Die Laborjournale liegen noch so auf dem Schreibtisch, wie ich sie zugeklappt habe, und verlocken gar nicht zu einer Beschäftigung mit ihnen. Aber es hilft nichts, ich muß mich mit Geduld wappnen. Mit einem Seufzer setze ich mich hin und vertiefe mich in die Beschreibung von Stämmen und Produkti119
onsbedingungen. Und in Zahlen, entsetzlich viele Zahlen! Immerhin erweisen sie sich als doch nicht so unverständlich. Witanow hat auf übliche Weise begonnen. So hat er auch anfangen müssen – mit den bewährten Technologien. Er ist nicht von ihnen abgewichen, alles nach den Standards. Alles, ausgenommen der Ertrag. Niemand hat zu sagen vermocht, was die launischen Schimmelpilze veranlaßt hat, weniger Antibiotikum zu erzeugen. Wahrscheinlich hat die Ursache in einer der lokalen Bedingungen gelegen. Und er hat gewissenhaft jede einzelne davon überprüft. Hat die Chemiker mit Forderungen von Analysen gequält, die Analysen angezweifelt und nochmals überprüft, bis er es über hatte. Dann kam die heilige Empirie zu ihrem Recht, wie Markow gesagt hat. Ein wildes Bacchanal von Einfällen, bei dem man Dummheit nicht von Genialität unterscheiden kann. Die Jagd nach Ideen. Ich weiß, wie das ist. Und spüre, daß ich anfange, Feuer zu fangen. Das darf ich nicht, genau das darf ich jetzt nicht. Doch diese Seiten mit seiner nervösen, zerhackten Handschrift bringen mich auf Dinge zurück, die ich längst vergessen glaubte. Nächte, in denen ich durch die schweigenden Laboratorien ging und die Apparaturen im Halbdämmer wie schlafende Tiere summten. Der leise Schlag einer Wanduhr. Und Stunden über dem Mikroskop, bis der Fußboden vor den Augen schwankte. Aber das ist eine andere Geschichte. Die Zahlenreihen sind wie lebendig. Ich sehe, wie er sie aufgeschrieben hat, wie er aufgestanden und mit sich selbst redend hin und her gegangen ist. Wie er gezweifelt und gehofft hat. Und in einer dieser Nächte, wo das gemarterte Gehirn einen bis zum Überdruß durchgekauten Gedanken noch einmal und noch einmal wiederholt hat, ist plötzlich die Lösung dagewesen. Die Phantasie 120
ist übergekocht und hat die Müdigkeit vertrieben. Es ließ ihm keine Ruhe mehr, kaum konnte er den Morgen erwarten, um den Versuch zu beginnen. Ich darf mich jetzt nicht erregen. Denn die Wahrheit kann anders aussehen. Es gibt Ideen, die der Hoffnung entspringen und einen in die Irre führen. Und wenn man merkt, daß man sich getäuscht hat, ist es zu spät. Beklommenen Herzens hält man daran fest. Der Zweifel schreit lauthals, vor sich selbst jedoch rechtfertigt man sich damit, daß man den Versuch zu Ende führen will, um ganz sicherzugehen. Aber das geschieht aus sinnloser Überheblichkeit, was anderes ist es nicht. Ein paar Augenblicke lang vergesse ich, was ich suche. Ich streite mit Witanow oder billige seine Versuche. Er ist verrückt, aber was tut’s. Die Welt braucht Verrückte. Ich werde wütend, wenn ich sehe, daß er einen Versuch aufschieben muß, weil man ihm keine Leute gibt. Ich an seiner Stelle wäre noch heftiger mit Bankow aneinandergeraten. Die Anspannung treibt mich vom Stuhl in die Höhe, und ich tigere in dem engen Zimmer auf und ab. Und eine sonderbare Gewißheit überkommt mich. Diese Serie ist erfolgreich. Niemand kann mich überzeugen, daß das ein Zufall ist. Es ist ein glücklicher Zufall, einer von denen an der Grenze des Absurden. Und eben, weil es an der Grenze liegt, ist es bis dahin noch nie ausprobiert worden. Er hat es geschafft. Zehn Prozent Antibiotikum sind etwas, wofür man ihm alle seine Absonderlichkeiten nachsehen kann. Im Stehen lese ich alles noch einmal durch. Dann noch einmal, weil ich plötzlich etwas bemerke, was mir nicht gefällt. Die Bedingungen des Versuchs sind nicht mit Witanows üblicher Pedanterie aufgezeichnet. Eine Kleinig121
keit – in der Methodik werden ein paar Dinge nur angedeutet, was nicht sofort ins Auge springt, weil alles sehr logisch aufgeführt ist. Doch gerade das, was interessiert, wird nicht gesagt. Und ich habe so was schon am eigenen Leib zu spüren bekommen. Wenn man den Versuch wiederholt, kommt nichts heraus. Ich blättere die Seiten durch, finde die andere, spätere und erfolglose Serie Nummer neun. So ist es. Es ist nichts dabei herausgekommen. Absolut klar. Der Ertrag liegt unter der von der Technologie erhärteten Norm. Falls Witanow die Bedingungen des Versuchs verbergen wollte, so ist ihm das gelungen. Nedkow hat das Protokoll nur zu gern unterschrieben – ein Versuch Doktor Witanows ist fehlgeschlagen. Die Deltschewa? Ich bin mir nicht im klaren, was sie weiß. Auf jeden Fall mehr, als sie sagt. Wer hat noch unterschrieben? Eine Frau Wanewska. Ich finde ihren Namen auch unter anderen Protokollen. Sie leitet die beiden chemischen Labors. Ich habe keinen Grund zum Argwohn. Die chemischen Analysen interessieren sich nicht für die Bedingungen des Versuchs, sondern für den Ertrag. Es hält mich nicht länger zwischen diesen vier Wänden. Ich brauche Menschen, muß mit jemandem reden, um die Dinge von deren Seite zu betrachten. Und darf die Schlußfolgerungen nicht übereilen. Langsam fange ich mich wieder und höre, daß auf dem Korridor ein reges Kommen und Gehen herrscht. Mittag ist vorbei, wahrscheinlich kehren die Leute aus der Kantine zurück. Ich mag jetzt an keine Kantine denken, aber vielleicht müßte ich auch etwas essen. Einen Moment schwanke ich, ob ich die Journale zurückgeben soll. Heute können sie noch hier bleiben. Wenn sich jemand für sie interessiert hat, hat er sie längst Seite für Seite kopiert, und seine Experten haben sich bereits dazu geäußert, was Beachtung verdient und was nicht. Die Frage lautet anders: Was hat Witanow 122
gemacht? Und ob er nicht vielleicht wirklich wegen dieser unklaren Serie Nummer neun entführt worden ist? Witanow hat die Methodik in der ersten Versuchsserie verheimlicht. Das andere ist eine Auswirkung. Schluß, ich muß mir eine kleine Pause gönnen! Ich muß Mittag essen gehen. Bloß der Kaffee und die Hörnchen von Madame Theresa, das hält nicht lange vor. Ich klappe die Journale zu und gehe hinaus. Die Erregung klingt langsam ab, nach und nach komme ich wieder ins Gleis. Zwar denke ich noch immer an Witanow, aber der Lärm und die Leute mit ihren Gesprächen auf den Treppen schieben ihn in meinem Bewußtsein ein bißchen zur Seite. Die Kantine ist im Souterrain. Ich steige hinunter, und meine vom Nachdenken und der Hitze zermarterte Phantasie läßt vor mir einen prosaischen und völlig unmöglichen Gedanken entstehen: Wenn es nun in der Kantine ein kaltes Bier gäbe? So entstehen Fata Morganas! Unten ist es verhältnismäßig kühl und nicht so voll, wie ich erwartet habe. Vor der Kassiererin steht natürlich eine Schlange, und zwar eine Schlange, die lebhaft das Ereignis des Tages diskutiert – irgendein Kolarow hat den Dampf aus der zweiten Sektion entweichen lassen. Manche nehmen ihn nachsichtig in Schutz – das könne jedem passieren, seine Leute arbeiten zwei Schichten durch, ohne Pause. Andere sind unnachgiebig. Bei ihm gebe es keine Ordnung, deshalb arbeiten sie zwei Schichten. Am wütendsten ist ein kräftiger Mann mit heiserer Stimme, der keine Rechtfertigung gelten läßt. „Solche wie Kolarow“, erklärt er heiser, „müßten in das erste Flugzeug gesetzt werden, und ab nach Hause!“ Wie alle Schlangen zerfällt auch diese sogleich in zwei Parteien. Selbst ich verspüre das Verlangen, mich zu der Frage zu äußern. 123
Während die Geschichte mit diesem Kolarow durchgekaut wird, sind die Weinblätterrouladen alle. Kein Malheur, mir ist es einerlei, was ich esse. Assen erscheint mit einem Freund, gleich dahinter tritt eine kleine Gruppe ein, in der auch Nedkow und Frau Deltschewa sind. Die weiteren Ereignisse entwickeln sich so, wie es in einer Kantine und bei solchen Bekannten zu erwarten ist. Nedkow und Frau Deltschewa – wir grüßen uns selbstverständlich! – setzen sich zu ihren Begleitern, und zu mir kommt, nachdem ich mich an einem Tisch niedergelassen habe, Assen mit seinem Freund und stellt ihn familiär vor: „Gestatten Sie, Genosse Debyrski? Mein neuer Kollege, Ljubo, und das ist der Genosse aus Sofia, von dem ich dir erzählt habe.“ Und ob er es ihm erzählt hat! Der und nichts erzählen! Assens Kollege ist fünf, sechs Jahre älter als er, ein sympathischer Bursche mit lebhaften braunen Augen und spitz zulaufenden Koteletten. Er hat Stiefel an, und auf seiner einen Backe ist ein kleiner Ölfleck – sicherlich ist er gerade unter dem Jeep hervorgekrochen. Das Gespräch dreht sich um ganz gewöhnliche Dinge. Ljubo sei soeben angekommen, zu Mittag, und habe gleich seinen Dienst angetreten. „So ist das bei uns!“ Assen grinst pfiffig. „Wir sind ein Mangelberuf.“ „Es will mir einfach nicht in den Kopf“, sagt Ljubo. „Heute morgen war ich noch in Sofia, hab’ an der Adlerbrücke den Bus genommen, und jetzt bin ich hier.“ Ich mache eine banale Äußerung des Inhalts, daß die Welt klein geworden sei und es keine Entfernungen mehr gäbe. „Nun“, sage ich, „wo ihr jetzt zu zweit seid, wird es leichter!“ „Es ist was anderes“, bestätigt Assen. Und fügt gön124
nerhaft hinzu: „Na ja, mit dem Vergaser muß er noch klarkommen, aber sonst ist er ein prima Kumpel, ’s wird hinhaun mit ihm.“ Er scheint wirklich ein anständiger Bursche zu sein. Er hat ein offenes Gesicht und lacht über Assens keinen Widerspruch duldende Charakteristik. „Und wo habt ihr den Mangelberuf untergebracht?“ „Na, hier, auf dem Objekt. Wir haben noch drei Zimmer für Unverheiratete. Fürs erste wär’s das, aber wir finden schon was. Ist bei Ihnen in der Pension nicht irgendein Zimmerchen frei?“ „Ich weiß nicht, wir müssen uns erkundigen.“ „Ich rede mit dem Genossen Bankow, der schlägt’s mir nicht ab“, erklärt Assen im Ton eines Menschen, dem die ganze Verantwortung seiner Situation klar ist. Ich äußere auch eine vorsichtige Hoffnung, daß sich etwas finden werde, dann erkundige ich mich, wie sie die Arbeit zwischen sich aufgeteilt haben. Assen hat sich natürlich den Wagen der Leitung vorbehalten und den launischen Jeep großmütig dem Neuen, Ljubo, überlassen. Wir sind mit dem Essen schon fast fertig, als Assen, der Ungeniertere, sich mit einem vertraulichen Lächeln zu mir beugt. „Und wie geht’s dem Doktor, Genosse Debyrski?“ „Ich glaube, es wird wieder“, sage ich zurückhaltend und recht unbestimmt. Assen versteht das jedoch anscheinend ganz verkehrt. „Klar!“ nickt er mit Verschwörermiene. „Was ist denn so klar?“ Assen legt die Gabel weg und sagt noch vertraulicher: „Der Doktor schafft das schon, das können Sie glauben.“ Ich weiß nicht, ob ich lachen oder mich ärgern soll. Meine Äußerungen heute morgen vor Frau Sachariewa haben schon die Runde durchs Objekt gemacht, und zwar auf eine Weise umfassoniert, wie ich es selbst nicht 125
erwartet habe. Niemand redet offenbar mehr davon, daß Witanow emigriert oder in etwas verwickelt oder entführt worden sein könnte. Mag sein, daß sie ihn nicht gemocht haben, aber schließlich ist er einer von uns. Und die Leute haben nur zu gern dem neuen Gerücht geglaubt, daß die ganze Geschichte mit dem Verschwinden abgekartet sei. Witanow hat einen Geheimauftrag erhalten und ist unterwegs, um ihn auszuführen. Ich brauche ein paar Sekunden zum Nachdenken und gewinne sie, indem ich mit dem Gummibroiler auf dem Teller kämpfe. Was denn, als Idee ist das gar nicht so schlecht. Auf jeden Fall besser als die alberne Version von der Dienstreise. In meinem Kopf blitzt sogar ein Gedanke für den nächsten Schachzug auf, aber der ist noch ziemlich verschwommen. „Reden wir nicht darüber, ja?“ werfe ich hin. Das bedeutet gar nichts, kann aber auf alle mögliche Weise ausgelegt werden. „Na klar!“ nickt Assen. „Wir Fahrer sind wie das Grab.“ Hier halte ich es nun nicht länger aus und breche trotz meiner trüben Stimmung in Gelächter aus. Wir lachen alle drei, wobei jeder an etwas anderes denkt. Ich zweifle nicht daran, daß die Fahrer wie ein Grab schweigen. Wenn nicht bis zum Abend, dann weiß das ganze Objekt spätestens bis morgen früh aus sicherer Quelle, daß Doktor Witanow nicht verschwunden, sondern mit einem Auftrag – Gott mag wissen, mit welchem! – irgendwohin geschickt worden ist. Vielleicht denken sie sich auch noch einen Auftrag aus! Ich stehe auf, um zu gehen, und frage: „Assen … wenn ich am Nachmittag, so gegen vier einen Wagen brauche … Wie sieht dein Fahrplan aus?“ „Ljubo steht zu Ihrer Verfügung, Genosse Debyrski!“ erklärt Assen sofort. „Der Jeep ist eine Wucht!“ „Gut! Also gegen vier, Ljubo, ja?“ 126
Ljubo bestätigt es, und als ich aufbreche, fange ich einen aufmerksamen und leicht gespannten Blick von ihm auf. Und wie soll er nicht gespannt sein! Hauptmann Ljuben Sawow ist mein Assistent, den ich seit gestern erwarte. Und die Erwähnung des Busses ist eine Parole, die besagt, daß er Neuigkeiten aus Sofia mitbringt. Jetzt muß ich in das Kabüffchen zurück. Mir steht eine lästige Arbeit bevor – in weniger als einer Stunde muß ich so etwas wie einen Lagebericht verfassen und chiffrieren.
Surfing Ljubo habe ich bloß zwei Tage nicht gesehen, habe aber das Gefühl, daß Wochen vergangen sind. Ein bekanntes Gefühl. Es kommt von der Anpassung und weil in diesen beiden Tagen viel geschehen ist. Auch mit Ljubo scheint eine Wandlung vor sich gegangen zu sein. Seit Mittag ist er hier, hat sich aber schon so in seine Rolle als Fahrer eingelebt, daß er sogar mit Assens Wortschatz und auf seine nachlässig-vertrauliche Art spricht. Anfangs geht mir das ein bißchen gegen den Strich, aber dann stelle ich mich auf diesen Ton ein. Ich sehe, wie er mit dem Jeep klarkommt, und staune, wo er die Selbstsicherheit hernimmt, zwischen den Erdarbeiten für die Straße durchzulavieren. Ich staune zu früh. Es folgt ein Kunststück, bei dem wir fast im Straßengraben landen und mein Ellenbogen die Festigkeit der Tür ausprobiert. „So ein vergammelter Schlitten!“ flucht Ljubo. „Haben Sie sich gestoßen?“ Der nächste Versuch, den Asphalt zu erklimmen, ist erfolgreicher. Ljubo gibt Gas, wir fahren um zwei röh127
rende Bulldozer herum und biegen auf die Straße zur Stadt ein. Ich weiß nicht genau, wo die Wettkämpfe stattfinden werden, hoffe aber, daß wir sie schon finden und nicht allzuviel zu spät kommen werden. Ljubo schaut in den Rückspiegel und wartet, bis uns ein Wagen überholt hat. Dann faßt er in seine Innentasche, bringt einen zusammengefalteten Umschlag daraus hervor und gibt ihn mir schnell. So haben wir das Verfahren noch in Sofia festgelegt, ich darf nicht riskieren, daß er demaskiert wird. Der Umschlag enthält einen gewöhnlichen Brief. Meine Frau schickt mir Grüße, die Tochter hat eine Prüfung bestanden und so fort. Wahrscheinlich wird es geraume Zeit dauern, bis ich dechiffriert habe, was mir der General für Grüße schickt. Und in der nächsten Sekunde nimmt Ljubo eine ebenso gewöhnliche Liste von Teilen entgegen, die repariert werden müssen. Dies ist das Sendschreiben, dem ich nach dem Mittagessen eine volle Stunde gewidmet habe. Sicherlich wird auch Ljubo die Dechiffrierung dieser Liste eine gewisse Mühe kosten, damit ihm die Lage klar wird. Und seine erste Aufgabe hier. Inzwischen geht das Gespräch im Fahrerjargon weiter. Ich: „Ein vergammelter Schlitten, aber er tut seins.“ Ljubo: „Tut seins! Wer weiß, wo er alle macht!“ Die tiefsinnige Erörterung der Vorzüge des Jeeps geht im selben Ton weiter, wobei ich mir heftig den Ellenbogen reibe. Gern würde ich von irgendwo die Visage desjenigen beobachten, der das Vergnügen hat, uns zuzuhören. Das wäre immerhin eine Entschädigung für den Ärger, den er mir bereitet. Wir erreichen die Stadt, und ich versuche mich zu orientieren, wo der Strand liegt. Es stellt sich heraus, daß der Strand und der Ort der Wettkämpfe zwei verschiedene Dinge sind. Unsere Fragen nach dem Surfing 128
bleiben den Leuten, bei denen wir uns erkundigen, unverständlich. Endlich geht einem Passanten ein Licht auf, er zeigt auf den Hügel jenseits der Stadt und sagt: „El bajo! El bajo!“ Dieses Durchfragen und das Herumkurven kostet uns noch eine halbe Stunde. Wir sind hoffnungslos zu spät dran. Ganz Port Angère müssen wir durchqueren, um zu dem Hügel mit der Festung zu gelangen. Die Straße führt fast am Ufer tief unter ihr vorbei. Soweit meine Kenntnisse reichen, bedeutet „el bajo“ Bucht. Das ist tatsächlich eine kleine Bucht mit einem schmalen Streifen Sand und einem steinigen Strand. Rechts fällt ein steiler Felsen gerade ins Meer hinein ab. Der Wasserstaub unter ihm leuchtet in einem hellen Regenbogen. Und über dem Regenbogen klettern, unwahrscheinlich und furchterregend, die Festungsmauern in die Höhe. Zwischen den mächtigen Blöcken klaffen schartige Risse, aus denen vom Salz weiß überkrustetes Gras wächst. Ein eckiger Turm schaut mit toten Augen auf den Ozean. Und all das – die Felsen, der Regenbogen, der Turm – ist eine so seltsame Zusammenstellung, daß es mir wie ein Bild vorkommt, das nach einem Traum gemalt worden ist. Der Stadtteil unten ist in vollem Kontrast dazu sehr irdisch. Wahrscheinlich ist hier einmal ein, von der Festung beschützter Hafen gewesen, doch dann hat sich die Stadt allmählich verlagert. Jetzt ist El bajo eine Vorstadt Von Port Angère, die von den Touristen und für sie lebt. Zu beiden Seiten der Straße stehen dicht an dicht Cafés und Teestuben mit blendendweißen Mauern, kleine Bars und Nachtlokale, sogar ein Kasino mit zwei Terrassen. Die bevorstehenden Wettkämpfe haben alles auf die Beine gebracht. Vor die Lokale hat man Tischchen gestellt, verlockende Schirme darübergespannt und soviel wie nur möglich von der Bucht eingenommen. In der Luft kreischen aufgeregte Möwen. 129
Dies ist ein richtiger orientalischer Basar, und die Wettkämpfe sind offenbar nur ein Vorwand oder gehören dazu. Überall wimmelt es von Menschen – eine unwahrscheinliche Vielfalt von Kleidung, Gesichtern und Sprachen. Die Straße ist verstopft von Menschen, Ständen mit Holzdächern und ohne Holzdächer, abgestellten und entgegenkommenden Autos. Ljubo drückt wütend auf die Hupe. Das hilft nicht viel, und wenn man uns ausweicht, dann nur, weil die kostspieligeren Wagen eine angeborene Angst vor Jeeps haben. Ljubo ist das wohlbekannt, und er nutzt es aus, um sich ungeachtet der empörten Schreie der Fahrer links und rechts in eine winzige Lücke zu drängen. Aber ein Parkplatz ist ein Parkplatz. Ljubo sieht sich um, dann schaut er mich an. „Weißt du“, sage ich, „ich werde sicherlich ziemlich lange wegbleiben. Du kannst ein Weilchen hierbleiben und dann gehen. Ganz, wie du willst.“ Ich nehme an, er hat begriffen. Es ist nicht eben menschenfreundlich, daß ich ihn in der Gluthitze in Wolken von Benzindunst und Staub schwitzen lasse, aber er muß jetzt die Aufzeichnung lesen und sich mit seinem Auftrag befassen. Ich habe ihm alles gegeben, was er braucht, einschließlich der Autonummern der Atlanta. Ljubo nickt, ich zwänge mich aus dem Jeep und verschwinde in der Menge. Ich will mich orientieren und sehen, wo ich Thorwald und die anderen finden kann. Ringsum ist wirklich ein Basar – lärmend und lustig. Er gleicht unseren Märkten und doch auch wieder nicht. Das Geschrei der Verkäufer, das Gedränge, die Stände – das ist mir aus meiner Kinderzeit bekannt. Die Waren und die Menschen sind anders. Stimmengewirr, scharfe, unbekannte Gerüche, Sonne, Kinder, die sich überall durchschlängeln. Sie kauen Stückchen Zuckerrohr, und ihre Gesichter sind verschmiert von dem süßen Saft. Ich sehe Berge von Bananen, Feigen und großen, pelzigen 130
Früchten, von denen ich nicht einmal weiß, wie sie heißen. Mächtige Stücke frischer, noch blutiger Fische mit vorquellenden Augen, die sich noch zu bewegen scheinen. Schilfmatten, auf denen Krüge und Tongefäße mit unwahrscheinlichen Ornamenten feilgeboten werden. Daneben dösen Kamele, die Beine in orientalischer Gelassenheit untergebogen. Viel Zeit, mich in der Menschenmenge herumzudrängen, habe ich nicht – ich muß Thorwald und Maria Kramer finden. Soweit ich Thorwald kenne, wird es ihm seine Eitelkeit nicht erlauben, Maria Kramer woandershin als ins feinste Lokal zu führen. Also muß ich sie im Kasino suchen. Meine Vermutung erweist sich als richtig. Die Leute von der Atlanta sind da, auf der besseren der beiden Terrassen. Das Drum und Dran ist beinah untadelig – ein Portier, Tischchen mit schneeweißen Decken, Servierwägelchen mit Kühlkübeln für die Getränke, ein dunkelbrauner Ober mit Frack und Fliege, der mich begrüßt. Thorwald hat einen Tisch mit Blick auf die Bucht reservieren lassen und ist, wie nicht anders zu erwarten, Mittelpunkt der Gesellschaft. Er ist ein Muster an Eleganz und chevaleresker Zuvorkommenheit. Im Moment zeigt er Madame Kramer, wie ein Fernglas zu handhaben ist. Der Belehrungsprozeß verläuft in ziemlich engem körperlichem Kontakt, und ich registriere dies, obwohl es meine Arbeit nicht betrifft, mit einem Quentchen außerberuflichen Neids. Neben Maria Kramer sitzen eine Frau und ein Mann, die ich nicht kenne. Der letzte in der Runde ist schließlich Rijder Steeks. Jetzt sieht der Holländer weitaus normaler aus, als nachts in der Bar. Er ist glattrasiert und trägt einen hellen Sommeranzug, wie übrigens auch alle andern Männer. Der Ober findet einen Platz für mich und führt mich hin. Doch Steeks bemerkt mich, sagt etwas zu der Tisch131
runde und winkt mir zu, wobei er einen freien Stuhl zu sich heranzieht. Man begrüßt mich freundlich, sogar freundlicher, als ich erwartet habe. Thorwald übernimmt es sofort, mich den Unbekannten vorzustellen. „Doktor …“ (Hier nuschelt er etwas, was von fern meinem Familiennamen ähnelt.) „Madame Bergen, Ingenieur Bergen.“ Der Mann ist wesentlich jünger als Thorwald und Steeks. Wahrscheinlich ein Schwede oder Norweger – sehr hell, mit blauen Augen. Liebenswürdig erklärt er mir, daß er den Bau der Straße leitet. Seine Frau jedoch ist geradezu unsympathisch. Vielleicht kommt das bloß mir so vor, denn sonst scheint sie eine ganz angenehme Frau zu sein. Aber sie gehört zu jenem Typ junger Ehefrauen, die meinen, unbedingt und überall originell sein zu müssen, in Wahrheit aber sind sie für ihre Umgebung nur anstrengend. So ist es auch jetzt. „Oh, der Herr Doktor! How interesting!“ Also haben sie schon von mir gesprochen. Nur gefällt mir nicht, daß auch Madame Kramer in die Ausrufe einstimmt, die das Erscheinen meiner ungewöhnlichen Persönlichkeit begrüßen. In den Winkeln ihrer grauen Augen blitzen spöttische Fünkchen auf. Ihr ist völlig klar, wie ich über Frau Bergen denke. Und sie ist ihr absolutes Gegenteil – diese bescheidene Eleganz, die so schwer zu erreichen ist. Ein leichtes helles Kostüm, nur eine orangefarbene Brosche und ein Ring mit ebenso einem Stein, sonst nichts. Ich ziehe mich mit einem nichtssagenden Satz aus der Verlegenheit und setze mich auf die andere Seite zu Steeks. Vor einer weiteren Unterhaltung mit Madame Bergen bewahrt mich der Ober, der Bestellungen entgegennimmt. Steeks ist schon beim zweiten Gin, Thorwald und Bergen trinken Whisky, die Frauen haben Aranjo bestellt. Ich nehme auch lieber Aranjo. Ein Inspektor, so 132
ein interessanter noch dazu, müßte sich eigentlich als Mann zeigen und Whisky trinken, aber sollen sie denken, was sie wollen. Was in der Bucht vorgeht, kriege ich nicht mit. Die unten unter den Schirmen sitzen, lärmen und schreien, auf dem Meer knattern Motorboote. Sie kurven irgendwie herum, zerschneiden die Wellen in Wolken von Spritzern, und das erscheint mir nicht so weltbewegend, daß es sonderliche Begeisterung erwecken könnte. Thorwald erklärt mir die Situation. Das Surfing hat noch nicht angefangen. Dies ist das Ende des Motorbootrennens. Heute sei das Meer schwierig, die Wellen liefen quer, aber das Surfing würde großartig sein. „Die Zuschauer sind ja mächtig aufgeregt“, bemerke ich. Er lächelt. „Nicht ohne Grund, Herr Doktor. Viele von ihnen haben im Totalisator gewettet.“ Daß man auf Motorboote wie auf Pferde setzen kann, habe ich nicht gewußt, behalte es aber für mich. „Madame Bergen beteiligt sich auch.“ Er schaut sie an. „Ich habe mir erlaubt, ihr einen Rat zu geben. Zufällig kenne ich die Eigenschaften der Motoren.“ Es hätte mich sehr gewundert, wenn Madame Bergen nicht gewettet hätte und ihm die Eigenschaften der Motoren nicht bekannt wären. Unten stehen Lautsprecher, aus denen Musik und von Zeit zu Zeit abgehackte Sprache quillt. Thorwald horcht hin. „Iris ist zurückgefallen“, sagt er zu Frau Bergen. „Diese Wette hat schon keine Aussichten mehr. Aber Zentaur liegt gut im Rennen, nur eine Sekunde hinter Bobby Raff!“ Es beginnt ein Dialog, in dem jeder zeigt, was er kann: Frau Bergen Exzentrizität, er seine Kenntnisse in den Wassersportarten. Steeks schweigt, ich schweige auch und beschäftige 133
mich mit meinem Aranjo. Ich warte darauf, daß er mir seine übliche Frage stellt, aber er läßt sich Zeit. Statt dessen kneift er nach einer Weile spöttisch die Augen zu und meint leise: „Sie tun mir leid, Inspektor.“ Mitleid kann ich nicht ausstehn. Schon gar nicht, wenn es so ausgedrückt wird. „Weshalb, wenn Sie gestatten?“ „Daß Sie hier sind, kann ja nur heißen, daß es mit Ihrem Doktor nicht vorangeht.“ Natürlich hat er recht. Mir bleibt nur übrig, mit den Schultern zu zucken. Und es hat keinen Sinn, mich zu verstellen. Besser geradezu. „Daran sind Sie auch mit schuld, Monsieur Steeks.“ Inzwischen geht auf dem Meer etwas vor. Eins der Motorboote beginnt ungleichmäßig zu knattern, fängt an zu husten und bleibt stehen. Der ganze Strand unter den Schirmen schreit. Die Stimme aus dem Lautsprecher geht in dem Geschrei Hunderter Stimmen unter. Thorwald wendet sich Frau Bergen zu. „Meinen Glückwunsch, Madame. Mit Iris haben wir verloren, aber mit Zentaur haben Sie gewonnen. Bobby hat einen Motorschaden, und das ist das Ende.“ Takt kann man ihm nicht absprechen: „… haben wir verloren“, „… haben Sie gewonnen“. Mir wäre das beispielsweise nicht eingefallen. Madame Bergen zeigt so stürmische Freude, daß man ihr von den Nebentischen mißbilligende Blicke zuwirft. Inzwischen hat Maria Kramer aufs Meer gezeigt. „Sehen Sie? Was ist das, Hans?“ Thorwald nutzt die Gelegenheit sofort mit seinem verwünschten Fernglas, die anderen kneifen die Augen zu, setzen Sonnenbrillen auf und starren auf die sonnenfunkelnde Bucht. Durch die dunkle Brille sieht das Meer auf einmal olivgrün aus. Das Unglücksboot wird zur Seite geschleppt, und zwei Kutter fahren in die Bucht hinaus. Der Lärm ringsum 134
schwillt an und verstummt sofort, weil über die Lautsprecher irgendwelche Kommandos ertönen. Die Kutter schaukeln leicht in der Ferne. In Wahrheit sind die Wellen dort auch hoch, und wenn sie in die Bucht kommen, wachsen sie noch höher. Irgendwo auf halbem Weg reißen die trübgrünen Kämme ab und kippen vornüber, und die Wellen stürzen sich in Gischtwolken eine nach der andern auf das steinige Ufer. Jetzt, wo die Menge schweigt, hallt das Dröhnen der Brandung von den Felsen wider. Steeks nimmt einen Schluck von seinem Gin und wirft leise hin: „Habe ich Sie eben richtig verstanden, Inspektor? Was für eine Schuld?“ „Sie wollen mir nicht helfen.“ Wieder schweigen wir. Dieses portionsweise Gespräch fällt mir allmählich auf den Wecker. Aber niemand hört uns zu. Thorwald erzählt Maria Kramer etwas, sie lacht, die beiden Bergen schauen aufmerksam auf die Kutter. Vom Deck des einen löst sich die kleine Figur eines Menschen. Sie gleitet einfach über die Wellen. Für einen Augenblick taucht sie auf, wir sehen sie, dann saust sie abwärts und verschwindet aus dem Blickfeld. Allmählich wird sie größer und kommt näher. Ein Motorboot fährt seitlich neben der kleinen Figur her. In Thorwald kommt Leben. „Aufgepaßt, meine Herrschaften! Dort, wo sich die Welle bricht!“ Der Mann ist schon ziemlich nah. Das Brett, auf dem er steht, ist nicht zu sehen, aber er ist auf dem Kamm der Welle. Ein phantastischer Anblick! Aufrecht in voller Größe auf dem Wasser stehend, gleitet er mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit dahin. Im nächsten Augenblick bricht die Welle, der Mann schießt vorwärts, der Gischt hüllt ihn ein und verbirgt ihn vor unseren Augen. Ein paar Sekunden vergehen, und ich denke schon, der 135
Mann wird nicht wieder zum Vorschein kommen, doch auf einmal taucht er genau vor der Welle auf, die hinter ihm wie eine grüne Wand in die Höhe wächst. Sie trägt ihn unaufhaltsam vorwärts, hebt ihn hoch, um ihn auf dem steinigen Strand zu zerschmettern. Noch ein bißchen, noch einen Augenblick! Ich beobachte den Mann und auch Steeks. Der Mann verschwindet erneut im Wasser, er ist mit einer unmerklichen Bewegung untergetaucht. Die Wasserwand bricht mit blinder Wucht aufs Ufer nieder und zerfließt. Die nächste Welle ist zehn, fünfzehn Meter dahinter. Das genügt. Der Mann taucht aus dem Wasser auf, ein langes Brett unter dem Arm, das er teils trägt, teils nachzieht, und springt geschickt ans Ufer, bevor ihn die nächste Welle erreicht hat. Die Zuschauer empfangen ihn mit lautem Rufen und Händeklatschen. Thorwald erläutert, wie wichtig der Augenblick des Herauskommens ist. Doch auch ohne seine Erklärung ist das allen klar – eine falsche Bewegung, ein kurzes Zögern, und die nächste Welle holt ihr Opfer ein. „Wunderbar!“ sage ich zu Steeks. „Sehr schön!“ Steeks verzieht den Mund und wirft wieder so beiläufig wie eben hin: „Sie sagten, ich will Ihnen nicht helfen. Im Gegenteil. Soll ich Ihnen einen Rat geben?“ „Ich bitte darum.“ „Warum sagen Sie Ihren Leuten nicht, sie sollen mich nicht beschatten? Sie verschwenden nur Ihre Zeit.“ Ich bemühe mich, keine Bewegung zu machen, selbst den Blick nicht abzuwenden. Das ist ja merkwürdig. Sollte Matias jemanden geschickt haben? Nicht eben wahrscheinlich. Vom anderen Kutter startet ein neuer Wettkämpfer. Er gleitet ebenso sicher über die Wellen, scheint aber erfahrener, denn er macht mit dem Brett Figuren. 136
Von der Seite mag es so aussehen, als kommentierten wir beide, Steeks und ich, das Können des Wettkämpfers. „Nicht, daß es mich sonderlich interessierte“, sagt Steeks, „aber sie machen es derart primitiv, daß sie lästig werden.“ „Gestatten Sie mir“, entgegne ich leise, „Ihnen auch einen Rat zu geben?“ „Selbstverständlich.“ „Mir scheint, der Gin im Reihan ist gar nicht so gut.“ Steeks schaut mich mit halb zugekniffenen Augen an, wie eine Katze. Doch bloß für einen Augenblick. „Welcher Gin?“ „Der im Reihan, den Sie gestern getrunken haben.“ „Warum sprechen Sie in Rätseln, lieber Inspektor?“ fragt er mit einem leicht feindseligen Unterton. „Glauben Sie mir, es sind keine Rätsel!“ sage ich. „Der Gin ist schlecht. Einem meiner Bekannten ist er so übel bekommen, daß er auf der Stelle ins Krankenhaus gebracht werden mußte.“ Steeks mag Alkoholiker sein, aber beherrschen kann er sich. Er grinst sogar. „Sie sind wirklich ein Inspektor mit Phantasie! Wen hat es denn so erwischt, wenn es kein Geheimnis ist?“ „Tim O’Gregory. Ein Historiker.“ Er hebt die Schultern. „Kenne ich nicht, falls Sie das herauskriegen wollten.“ Und er befaßt sich wieder mit seinem Gin. Doch ich blicke nicht auf ihn, sondern auf Maria Kramer. Da ist etwas. Ich kann nicht sagen, was, aber sie kennt den Namen. Sie verzieht keine Miene, ihr Gesicht bleibt völlig ausdruckslos. Aber gerade das macht mich stutzig. Der Mann auf den Wellen ist schon nah. Er wiederholt die Figur auf dem Wellenkamm und steigt rasch, voller Gischt, ans Ufer. „Besser, zweifellos besser!“ sagt Thorwald autoritativ und wendet sich an uns. „Die Acht war tadellos.“ 137
Madame Kramer hat das Gespräch über O’Gregory gehört, da bin ich sicher. Thorwald hat es auch gehört, aber nicht beachtet. Und ich biete ihm jetzt eine großartige Gelegenheit, mir genau zu erklären, was eine Acht beim Surfing ist, und so kann ich einen raschen Blick zur Seite werfen. Wer verfolgt Steeks? Und wer mich? Jetzt werde ich das kaum herausfinden können. Vielleicht will mich Steeks auch irreführen? Ich durchdenke ein paar Möglichkeiten und komme zu dem Ergebnis, daß die einfachste die beste ist. Ich entschuldige mich, stehe auf und gehe auf den Ober zu, der sofort beflissen herankommt. Ich erkundige mich nach dem nächsten Telefon, und er führt mich, nachdem er seinen Geldschein bekommen hat, in die Direktion. Hier ist ein ständiges Kommen und Gehen, aber das stört mich nicht. Wer zuhören will – bitte sehr. Ich wähle die Nummer von Inspektor Matias, warte, und als ich gerade wieder auflegen will, vernehme ich seine Stimme. „Matias.“ „Hier spricht Debyrski, Herr Kollege“, sage ich. „Ich habe was in dem Fall von heute morgen.“ „Gut, daß Sie angerufen haben!“ antwortet Matias. „Ich bin gerade herein, und man hat mir gesagt, daß Sie noch mal im Hotel waren. Geht es jetzt, oder müssen wir uns sehen?“ „Besser bei Ihnen. In einer oder anderthalb Stunden?“ „Selbstverständlich. Von wo rufen Sie an?“ „Vom Kasino in El baja.“ „Vom Kasino?“ wundert er sich. „Ich sehe mir mit meinen Bekannten von der Atlanta die Surfingwettkämpfe an. Sehr interessante Wettkämpfe.“ Er schweigt eine Sekunde. Dann: „Nun, ich hoffe, Sie werden mir davon erzählen.“ „Mit Vergnügen. Sie können die Leute abziehen.“ 138
Mein Ton ist ein bißchen sonderbar, hoffentlich versteht er! „Mnjaaa … ich werde mich darum kümmern“, antwortet er nach einem abermaligen Schweigen. „Aber Sie wissen ja, wie schwierig das ist.“ Er hat’s verstanden. Und niemanden hinter Steeks hergeschickt. Das wollte ich wissen. „Ziehen Sie sie ab!“ wiederhole ich laut. Wenn jemand mithört, kann er sich die Hilfe der Elektronik sparen. „Ich werde das Nötige veranlassen. Nun, ich wünsche Ihnen angenehmen Zeitvertreib!“ Das ist schon freundschaftlich gemeinte Ironie. Sicherlich ist ihm klar, womit ich mir die Zeit vertreibe. Ich kehre auf die Terrasse zurück, achte dabei darauf, daß es nicht zu schnell geschieht, und setze mich auf meinen Platz neben dem Holländer. Steeks mustert mich neugierig. Seine Gesten sind ein bißchen unsicher geworden – das dritte Glas Gin ist fast leer. „Sie haben ein großes Schauspiel verpaßt“, sagt er grinsend. „Einer wäre beinah abgesoffen, sie haben ihn gerade noch rausziehen können.“ Er wirft einen Blick zu den Schirmen hinunter und fügt hinzu: „Die Hälfte kommt übrigens bloß deshalb! Sie möchten sehen, wie jemand ersäuft. Nur gut, daß es gleich vorbei ist.“ Tatsächlich starten die letzten Wettkämpfer. Thorwald kommentiert ihre Qualitäten, als kenne er sie persönlich (vielleicht kennt er sie auch). Frau Bergen versucht sich in geistreichen Bemerkungen, womit sie nur blasses Höflichkeitslächeln hervorruft. Sie sind fertig, über die Lautsprecheranlage werden die Ergebnisse bekanntgegeben. Das Publikum klatscht und schreit, bei manchen Namen pfeift es empört. Dann wälzt sich der Menschenstrom hinaus. Wir lassen uns Zeit, warten ab, bis das Gedränge nach139
läßt, und stehen auf. Der Ober begleitet uns dienernd hinaus. Über die Treppe, die ohnedies nicht allzubreit ist, drängen eine Menge Leute nach unten. In diesem Augenblick spüre ich deutlich, daß ich beobachtet werde. Wie dieses Gefühl heißt, weiß ich nicht – Telepathie oder nicht, aber es existiert. Dutzende Männer und Frauen sind vor und hinter mir, ich steige ebenfalls mit der sorglosen Miene eines Mannes abwärts, der sich gut unterhalten hat, aber ich bin sicher – hinter mir ist jemand, der mich verfolgt. Herauszukriegen, wer es ist, ist nicht so leicht, aber ich muß es versuchen. Und dafür gibt es nur eine Methode. Ich drehe mich jäh um, als hätte ich etwas vergessen. Und da macht er einen Fehler, er ist nicht schlau genug. Alle, die mich bis dahin nicht beachtet haben, sehen mich mehr oder weniger neugierig an. Er allein tut das Gegenteil – er wendet sich für eine Sekunde ab. Der Herr gehört zu einem wohlbekannten Typ, Leider sind solche Leute keine Erfindung, die durch die billigen Filmserien spazieren, es gibt sie wirklich. Eine üble Visage. Breites Gesicht mit glattem, gescheiteltem Haar und Koteletten. Kleine wäßrige Augen und ein massiver Unterkiefer. Das ist ein Mensch, der für Töten bezahlt wird und es gewissenhaft tut. Ich verlangsame meinen Schritt, bis wir auf der Treppe auf gleicher Höhe sind. Nein, mein Gefühl hat mich nicht getäuscht: Das ist mein Mann! Er hat inzwischen ebenfalls gemerkt, welchen Fehler er begangen hat, und kommt zu dem Ergebnis, daß er sich nicht mehr zu verbergen braucht. Er mustert mich im Bewußtsein seiner Überlegenheit unverschämt. Anscheinend wägt er ab, ob so eine schwächliche Figur wie ich ihm viel zu schaffen machen wird. Klarer Fall. Zunächst haben ihn seine Brötchengeber nur beauftragt, mich zu beschatten. Noch ist die Zeit nicht gekommen, wo sie auf mich zeigen werden. Aber diese Zeit 140
könnte kommen. Dann wird er irgendeinen primitiven Trick anwenden, einen von denen, die er schon viele Male erprobt hat und die seine Opfer unvorbereitet getroffen haben. Und wer dann am Leben bleibt – er oder ich –, das wird von den zwei Zehntelsekunden abhängen, die mir zur Verfügung stehen. Ein bißchen sehr wenig, diese zwei Zehntelsekunden. Er mustert mich, ich erwidere den Blick mit reinem Haß. Vielleicht hätte ich mich zurückhalten, ihm etwas wie Überraschung oder Angst vorspielen sollen, um ihn in Sicherheit zu wiegen, aber ich habe nicht die seelische Kraft, mich zu verstellen. Mag er wenigstens Bescheid wissen! Er will keinen Zwischenfall riskieren, deshalb geht er, wenn auch langsam, weiter die Treppe hinunter. Hier begeht er den zweiten Fehler, denn ich hefte mich an seine Fersen. So dicht, daß er sich nicht umdrehen kann, sondern weiterlaufen muß, weil der Menschenstrom ihn mitschwemmt. Ein scheußliches Gefühl, ich kenne es. Stufe um Stufe steigen wir, dicht hintereinander, abwärts, und als er schließlich zur Seite treten und sich umdrehen kann, sehe ich, daß wir quitt sind. Jetzt funkelt in seinen wäßrigen Augen Haß reinsten Wassers. Er möchte – und wie gern möchte er! – zuschlagen, doch die Angst vor seinen Herren ist größer als der Haß. Und ich trete ihm mit voller Wucht auf den Fuß, einen Augenblick lang setzt mein Verstand aus. Nein, ich trete ihn nicht, es gelingt mir gerade noch, meinen Fuß woandershin zu setzen, aber ich höre gleichsam die Knochen unter meinem Absatz knacken. Und er hat auch gemerkt, was ich vorhatte, so viel kriegt er immerhin mit. Auf seinem Gesicht erscheint so etwas wie Staunen. In diesem Augenblick kommt er mir wie eine überraschte Bulldogge vor, die es nicht für möglich hält, daß jemand ihr die Zähne zeigt. Die anderen warten am Ausgang auf mich: Thorwald, 141
Maria Kramer und der Holländer. Die Bergens sind weg. Wie ich erfahre, werden sie jeden Moment wiederkommen, sie sind ihren Gewinn vom Totalisator holen gegangen. „Was haben Sie?“ erkundigt sich Madame Kramer. „Sie sehen so merkwürdig aus.“ Wenn wir genau sein wollen: Sie sieht auch recht merkwürdig aus. Ich weiß bloß nicht, ob es deshalb ist, weil sie O’Gregorys Namen gehört hat. Ich erkläre ihr, daß es sicherlich von der Hitze kommt und ich mich noch nicht daran gewöhnt habe. Übrigens hat die Hitze bereits spürbar nachgelassen, die Sonne steht schon tief über den Felsen. Auf dem Basar ist jetzt Hochbetrieb, dies ist die günstigste Zeit – wenn es noch hell genug, aber nicht mehr so schwül ist. Von Zeit zu Zeit weht vom Meer sogar ein Lufthauch herüber. Die Bergens erscheinen, mit triumphierenden Rufen empfangen. Der Gewinn erweist sich als recht anständig, Frau Bergen verkündet, daß wir ihn unbedingt und bis auf den letzten Nickel vertrinken werden. Ich weiß nicht, wie sie beschwipst ist, hoffentlich wenigstens ein bißchen natürlicher. Sie haben noch keine rechte Lust, gleich aufzubrechen. „Hans“, schlägt Madame Kramer vor, „schauen wir uns doch ein bißchen um. Zum Nachhausegehen ist es zu früh.“ Der Vorschlag wird angenommen. Ehrlich gestanden, ich habe auch noch keine Lust zu gehen. Ich mag Basare, wo man nicht weiß, was man am nächsten Stand sieht und wen man in dem Menschengewühl trifft. Nein, ich kann der Versuchung nicht widerstehen und genehmige mir fünfzehn Minuten. In diesem Bacchanal von Lauten und Farben gibt es alles. Es geht laut und aufgeregt zu. Man weiß wirklich 142
nicht, was man sehen wird. Neben feuerroten Tiegeln aus klingendem Kupfer liegen Armbänder aus falschem Gold. Daneben prachtvolle geschnitzte Wasserpfeifen aus Holz und Matten, auf denen, mit der Ergebenheit Verdammter, Hähne mit zusammengebundenen Beinen dösen. Es riecht scharf nach verbranntem Hammelfleisch. Auf viereckigen Kohlebecken schmurgeln fette Schaschliks. Der Talg tropft zischend in die Glut. Dann kommen Haufen von Feigen, Orangen, Rosinen und großbeerigen Weintrauben, über denen zornige Wespen summen. Melonen mit orangefarbener Schale, so groß, wie ich noch keine gesehen habe. Sie werden scheibenweise verkauft, der Verkäufer zerschneidet sie mit einem langen, krummen Messer, von dem dunkler Saft wie Blut läuft. Neben den Melonen, mit dem Rücken zum Verkäufer, sitzt auf einem abgeschabten Teppich im Türkensitz ein alter Mann. Er beachtet den Lärm um sich herum nicht, streicht nur mit den Fingern über ein langes Bambusrohr, das auf seinen Knien liegt. Daneben hockt, ebenso stumm und mit der Ruhe eines Greises, ein kleiner Junge. Thorwald geht weiter, aber sein Blick fällt ebenso wie meiner auf den Jungen. Dann hebt er die Brauen. „Moment! Das ist des Ansehens wert!“ Maria Kramer ist ebenfalls stehengeblieben und lächelt verschmitzt mit ihren grauen Augen. „Glauben Sie an Magie, Herr Doktor?“ Jetzt bemerke ich erst die beiden Körbe neben dem Jungen. Sie sind mit geflochtenen Deckeln verschlossen. Allmählich dämmert es mir. „Schlangen?“ „Ja. Schaun wir sie uns doch an, Hans!“ Hans Thorwald hat den Wunsch erraten, noch bevor er ausgesprochen wurde. Er geht um den Melonenhaufen herum und bleibt vor dem Alten stehen. Dann sagt er ein paar Worte zu ihm, der Alte nickt bejahend. Der kleine 143
Junge erhebt sich, ein paar Leute, die herumstehen, verfolgen das Gespräch, selbst der Nachbar, der die riesigen Melonen verkauft, hört auf, mit dem Messer zu fuchteln. Ich muß gestehen, daß es mich interessiert. Und nicht nur mich. Während Thorwald mit dem Alten verhandelt, sammelt sich wie auf Verabredung eine kleine Menschenmenge an. Steeks und die Bergens holen uns ein, und Frau Bergen versäumt selbstverständlich nicht, ihre Meinung zu äußern. „Alles Hokuspokus, nicht?“ zwitschert sie. „Die Schlangen haben keine Giftzähne, ich möchte wetten.“ Maria Kramer lächelt immer noch. „Wetten Sie lieber nicht, Anelia!“ Sie schüttelt den Kopf. „Hans!“ Thorwald dreht sich zu uns um. „Hans, bitte ihn doch … das Wort zu sagen, wenn es geht.“ Thorwald nickt und redet weiter mit dem Alten, dann nimmt er einen Geldschein aus der Brieftasche und gibt ihn ihm. Der Alte steckt ihn nicht weg, sondern legt ihn neben sich auf den Teppich. Mit denselben wortlosen, langsamen Bewegungen hebt er das Bambusrohr und bläst hinein. Nur zwei oder drei langgezogene Töne, die sich wiederholen. Der kleine Junge, der bei den Körben gestanden hat, verschwindet irgendwohin, er drängt sich durch die Menge. Und kommt beinahe augenblicklich wieder. Er hält einen großen weißen Hahn mit zusammengebundenen Beinen in der Hand, der mit den Flügeln in den Staub schlägt, und legt ihn vor den Teppich. Danach kreuzt er die Arme vor der Brust, sagt etwas und verneigt sich zuerst vor dem einen Korb, dann vor dem anderen. Die Menge verstummt. Es könnte komisch aussehen, tut es aber nicht. Dann hebt er die geflochtenen Deckel hoch und tritt flink zurück. 144
Der freie Kreis um den Alten erweitert sich plötzlich. Das Bambusrohr stöhnt weiter seine leise, traurige Melodie. Aus den Körben kommen, gleichsam diesen Tönen lauschend, zwei Schlangen gekrochen. Sie dehnen und dehnen sich, mir will scheinen, sie nehmen kein Ende – so lang sind sie. Dann rollen sie sich zusammen und heben die Köpfe. Das sind Kobras. Sie haben sich aufgerichtet, blähen die Hälse und erstarren. Der Alte wiegt die Bambusflöte nach rechts und links, sie verfolgen sie mit ihren gläsernen Augen. Ihre schwarzen Körper schillern ins Dunkelgrüne und Metallgraue. In den späten Sonnenstrahlen glitzern ihre Schuppen, als seien sie aus Glimmer. Die Menge ist verstummt. Ein Kind fängt an zu weinen, dann wird es auch still. Der Lärm des Basars bleibt hinter dem Menschenkreis zurück. Nur die Melodie umschwebt uns, einsam und unbegreiflich. Jetzt gibt es nichts anderes auf der Welt – nur zwei Schlangen, die Melodie und einen alten Mann, von dem etwas sehr Altertümliches ausgeht. Es gibt solche Träume. In ihnen laufen die Bilder wie in Zeitlupe beklemmend langsam ab. Die Bambusflöte wiegt sich, langsam beginnen die aufgerichteten Köpfe der Kobras zu schwanken. Ich versuche aufzuwachen und das, was dort vorgeht, mit anderen Augen zu sehen. Es geht nicht. Die Köpfe der Kobras wiegen sich wie behext. Wie lange das dauert, weiß ich nicht. Dann ändert sich die Melodie ein wenig, bloß die Tonfolge. Die Schlangen senken die Köpfe, die aufgeblähten Halsschilde verschwinden, und sie kriechen auf ihre Körbe zu. Ihre Körper winden sich erschöpft über die Erde. Der Alte setzt die Bambusflöte ab und sagt etwas sehr leise. Eine Schlange kriecht in ihren Korb und verschwindet. Die andere hält an, als habe sie die Bitte gehört, hebt den Kopf und starrt den Hahn an. Bis eben 145
hat er noch mit den Flügeln geschlagen, jetzt ist er mit vor Entsetzen glasigen Augen erstarrt. Die Schlange verhält und wartet. Der Alte legt seine Bambusflöte auf die Knie und nickt. Die Schlange stößt den Kopf vor und liegt wieder still. Kaum jemand hat gesehen, wie sie den Vogel gebissen hat. Dann kriecht sie zu ihrem Korb und rollt sich darin zusammen. Erneut streckt sie den Kopf heraus, die lange, schmale Zunge fährt aus ihrem Maul und züngelt in der Luft. Der Junge, der irgendwo abgeblieben war, tritt heran und verbeugt sich abermals mit verschränkten Armen. Der Kopf der Schlange verschwindet. Und der Hahn stirbt. Er flattert mit den Flügeln, versucht aufzuspringen, zerwühlt aber mit den zusammengebundenen Beinen nur die Erde. Ein abstoßender Anblick. Dann schlägt er den Schnabel ins Erdreich, zuckt noch ein paarmal und streckt sich. Die bisher schweigende Menge beginnt durcheinanderzureden, der Kreis reißt auf, und der Lärm des Basars überschwemmt uns aufs neue. Der Verkäufer nebenan beginnt wieder, mit seinem langen Messer die Melonen zu zersäbeln. Wie im Märchen vom verzauberten Schloß wachen alle auf. Das ist kein Schauspiel. Das ist etwas zu Fremdes und Seltsames, um ein bloßes Schauspiel sein zu können. Frau Bergen ist blaß geworden. Steeks kaut nachdenklich an seiner Unterlippe. Wir gehen aufs Ende des Basars zu, wo in völligem Chaos die Autos geparkt sind. Noch stehen wir unter dem Eindruck der Schlangen, die Unterhaltung schleppt sich nur so hin. Natürlich bedanken wir uns bei Thorwald für das interessante Erlebnis. Allerdings frage ich mich, ob es mir gefallen hat. Eher nicht. Dies ist eins von den Dingen, die eher betreten machen, als daß sie gefallen. Ich weiß, die Sache ist erklärt, alles ist Dressur, Schlangen haben kein Gehör, sie 146
hören weder die Melodie noch die Worte. Aber ich mag allzu einfache Erklärungen nicht. Frau Bergen hat sich wieder gefangen und löchert Thorwald mit Fragen. Vor allem: Was hat der Alte da gesagt? „Ich weiß nicht genau. Das ist ein Mantra.“ „Ein was?“ „Ein Mantra“, erläutert Thorwald. „Eine Beschwörung mit einer Zahl … die Zahl der Kobra. Sowie sie sie hört, muß sie den Willen ihres Herrn erfüllen. Hübsch ausgedacht, nicht?“ „Vielleicht ist es gar nicht ausgedacht“, wirft Madame Kramer ein. „Ja … wie?“ Thorwald lächelt nachsichtig. „Wissen Sie, was man noch erzählt? Die Kobra sei ihr Leben lang Sklavin, gehorche ihr ganzes Leben, aber wenn die Stunde ihres Todes nahe, müsse ihr Herr sie freilassen.“ Über diese Legende könnte man sich schon seine Gedanken machen. Doch im Moment beschäftigt mich etwas anderes – ich blicke auf das Durcheinander von Autos und suche unseren Jeep. Er ist nicht da. Also widmet sich Ljubo der Erfüllung seines Auftrags und hat etwas gesehen, das ihn interessiert. Jetzt kann ich mir nur noch den Anschein geben, als wollte ich noch bleiben, und mich von den anderen verabschieden. Wir wechseln die üblichen Wünsche, und ich schicke mich schon zum Gehen an, als Madame Kramer noch einmal sagt: „Und vielleicht, Hans … ist es nicht bloß ausgedacht?“ „Was?“ fragt Thorwald verwundert. „Das Mantra. Vielleicht hat jeder Mensch seine Zahl?“ Sie schaut uns nacheinander ins Gesicht und lacht über ihren eigenen düsteren Scherz. Nach einer unbehaglichen Pause stimmen wir mit ein. Was bleibt uns anderes übrig?
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Das San-Felipe-Krankenhaus Matias sitzt eingezwängt zwischen Schreibtisch und Stahlschrank in seinem Miniaturbüro und betrachtet mit der Lupe Fingerabdrücke auf langen Bändern. Die Lampe hat er angeknipst – draußen dämmert es schon. Er steht auf, um mich zu begrüßen, und deutet auf den Sessel. „Nehmen Sie Platz, Herr Kollege. Was gibt es Neues vom Surfing?“ Die alten Sessel sind nicht sonderlich bequem, aber irgendwie richte ich mich ein. „Im großen und ganzen war es interessant“, antworte ich. „Mir sind da ein paar Ideen gekommen. Doch zunächst – wissen Sie, wer in Ihrem Namen bei Mama Dolly gewesen ist?“ „Wer?“ „O’Gregory!“ „Ach, zum Teufel!“ knurrt Matias ärgerlich. „Ich hätte es mir denken sollen. Ist es sicher?“ „Mama Dolly und Sammy haben ihn nach dem Foto erkannt.“ „So ist das also … Ich wollte mich auch gerade mit Ihnen in Verbindung setzen, als Sie anriefen. Wissen Sie, weshalb? O’Gregory ist vorgestern abend mit Doktor Witanow im Nachtklub gewesen!“ Klar. Der Kreis schließt sich. Matias hat erneut den Spitzgesichtigen aufgesucht und ihn ausgefragt. „Haben Sie das etwa schon gewußt?“ fragt Matias. Er sieht, daß ich nicht eben überrascht bin. „Nur vermutet. Sonst ginge die Patience nicht auf.“ „Welche Patience?“ Ich erzähle ihm von meiner Methode des Nachdenkens mit den Zettelchen. Matias findet sie bemerkenswert, hat aber offensichtlich andere Methoden. „Die Patience geht auch jetzt nicht auf“, füge ich hin148
zu. „Aber ein paar Dinge werden wenigstens klarer … Auf Kosten anderer. Ist noch jemand in Ihrem Fotolabor?“ „Ja. Weshalb?“ „Ich habe ein paar Aufnahmen vom Surfing.“ Matias drückt auf eine Taste der Sprechanlage, die vor ihm steht. Inzwischen knöpfe ich meine Manschettenknöpfe ab und zerre den Sessel zum Schreibtisch. Das Öffnen dieser Knöpfe ist ein bißchen kompliziert, und ich möchte die mikroskopisch kleinen Filmrollen nicht auf den Fußboden fallen lassen. Matias schiebt mir zuvorkommend die Lampe. hin. Ein hochgewachsener Mann in einem Kittel tritt ein, dessen Ärmel von Säure zerfressen sind. Ich übergebe ihm die Röllchen und setze mich wieder im Sessel zurück. „Gut“, sage ich. „Dort war einer hinter mir her. Sie werden seine Visage sehen. Wichtiger aber ist etwas anderes. Sind Sie immer noch der Meinung, daß Sie im Zusammenhang mit Witanows Verschwinden nicht weiter zu ermitteln brauchen?“ Er schweigt eine Sekunde. „Nein … Die Lage hat sich verändert. Und Sie halten weiter an Ihrer Version fest, die Sie gestern abend erwähnten?“ „Ja. Hinter den Vorgängen um Doktor Witanow steckt Industriespionage. Und wie sich zeigt, ist O’Gregory darin verwickelt.“ „So sieht es aus. Es wäre gut, wenn wir die Fakten noch einmal durchgingen.“ „Das wollte ich Ihnen vorschlagen.“ „Und ich möchte Ihnen erst eine Tasse Kaffee vorschlagen. Möchten Sie?“ „Danke, da sage ich nicht nein.“ Er drückt zweimal auf eine andere Taste der Sprechanlage, offenbar das Zeichen für den Kaffee. War ein 149
guter Einfall. Ich bin fix und fertig, die Kopfschmerzen melden sich auch wieder. Nach dieser Manipulation zieht Matias einen Ordner auf dem Schreibtisch zu sich heran. Diesen Ordner kenne ich vom Vormittag, aber er ist nicht mehr so hoffnungslos dünn. „Den Anfang kennen Sie.“ Er überschlägt die ersten Seiten. „Vorigen Montag ist er aus London gekommen. Er hat das Visum bekommen, um in der Bibliothek von Sidi Hajum zu arbeiten.“ „Und was ist, war er dort?“ „So klug ist er nicht gewesen. Oder er hat keine Zeit gehabt. Morgens hat er das Hotel verlassen, spätabends ist er wiedergekommen. Ein einziges Mal hat ein Mann am Telefon nach ihm gefragt, soweit man sich dort erinnert.“ „Wann ist das gewesen?“ „Das können sie nicht sagen. Mittwoch oder Donnerstag. Oder vielleicht Freitag. Eine wertvolle Information.“ Matias grinst sauer. „Immerhin etwas. So wissen wir wenigstens, daß er nicht allein ist.“ „Natürlich ist er nicht allein. Er ist ein Profi und mit einem Auftrag hier. Und zwar im Zusammenhang mit Doktor Witanow. Er sucht ihn, findet ihn im Reihan.“ „Wissen Sie Genaueres? Wie ging das vor sich?“ „Er hat drinnen gesessen, als Witanow hereinkam. Sowie er ihn sah, ist er aufgestanden, und die beiden sind gegangen.“ „Ihr Mann hat gesagt, es sei ein Franzose gewesen.“ Wiederum lächelt Matias. „Für ihn sind alle Ausländer Franzosen. Ansonsten aber hat er ein scharfes Auge. Was er gesehen hat, hat er gesehen.“ „Und gestern abend?“ „O’Gregory ist zweifellos dort gewesen, um die Zeit, als der Holländer aus dieser Firma kam. Wann er die 150
Bar verlassen hat, wissen wir nicht. Nach dem Ergebnis der Autopsie ist der Tod gegen halb drei eingetreten.“ „Und wer hat ihn gefunden?“ „Niemand.“ „Wie, niemand?“ „Zwanzig vor drei hat ein Mann von einer Fernsprechzelle aus angerufen. Wir haben die Stimme auf Band, es muß aber ein zufälliger Passant gewesen sein. Die Einsatzgruppe ist hingefahren und hat ihn sofort abtransportiert, weil sie dachten, es gebe noch Hoffnung. Aufnahmen sind selbstverständlich gemacht worden.“ „Das heißt, er hat ungefähr zehn Minuten auf der Straße gelegen?“ „Nicht länger.“ Er blättert den Ordner durch, ich überlege. Die Idee, die verschwommen durch mein Bewußtsein gegeistert ist, nimmt feste Formen an. „Das ist gut“, sage ich. „Was ist gut?“ „Daß niemand genau weiß, ob er tot ist. Besonders der, der geschossen hat. Und Sie haben nicht bekanntgegeben, daß er ermordet wurde, und niemand weiß, daß er im Leichenschauhaus liegt. Was wäre, wenn wir verbreiteten … daß er lebt?“ Matias brummt ein „Hm!“, dann sagt er: „Wenn wir verbreiten, daß er lebt? Das geht nicht.“ „Warum? Ist es denn so unmöglich?“ Er hebt die Schultern. „Einen Ermordeten als lebend auftreten lassen? So was habe ich bisher nur in Büchern gelesen.“ „Ich auch. Aber stellen Sie sich vor …“, überlege ich laut. „Nicht direkt lebend, sondern bewußtlos! Jede Minute kann er zu sich kommen und reden! Die werden Port Angère auf den Kopf stellen, um an ihn ranzukommen, und wir … bleiben auch nicht untätig!“ 151
„Sie werden nicht drauf reinfallen!“ Matias schüttelt ungläubig den Kopf. „Um da anzubeißen, sind sie zu gerissen.“ „Auch der Gerissenste fällt mal rein. Ein lebender O’Gregory in unseren Händen ist für sie eine ständige Bedrohung, versetzen Sie sich in ihre Lage.“ „Sicherlich haben sie schon im Leichenschauhaus nachgesehen.“ „Das war nicht nötig – er war ja tot. Und jetzt auf einmal lebt er.“ „Es ist schwierig, Herr Kollege.“ Zuerst hat er glatt nein gesagt, jetzt macht er Einwände. Also findet er diese Fuchsfalle schon nicht mehr so absurd. Mir erschien sie zunächst auch absurd, sie ist es aber nicht. Und was den Toten angeht, so kann man ihn selbst bei diesem heißen Klima zwei, drei Tage erhalten. Wir schweigen. „Mnjaaa …“, sagt Matias nach einer Weile gedehnt. „Wer weiß … Wenn wir O’Gregory in ein Krankenhaus schaffen, in ein isoliertes Zimmer … Aber es ist verdammt schwierig, der Teufel soll’s holen! Es ergeben sich so viele Probleme.“ „Ist es unmöglich?“ bohre ich weiter. „Formell nicht … Im San-Felipe-Krankenhaus zum Beispiel. Ich habe dort einen Arzt und eine Schwester von der Chirurgie. Und das Zimmer haben wir auch früher schon für unsere Verletzten benutzt …“ „Also wäre es nicht unmöglich.“ Es klopft an die Tür. Der Kaffee wird gebracht, dazu zwei belegte Brote. Das kleine Zimmerchen ist auf einmal vom Duft gerösteten Brotes erfüllt. „Sie haben doch noch nicht zu Abend gegessen, wie?“ fragt Matias. „Danke, nein, habe ich nicht“, gestehe ich. Die kurze Kaffeepause bringt uns von den Ideen in die Realität zurück. Ich befasse mich mit den Broten, Matias 152
überlegt und notiert sich etwas auf ein Blatt Papier. Ich spüre, daß die Sache heranreift. Er wirft mir einen Blick zu, ob ich meine Brote aufgegessen habe, und sagt: „Es hindert uns nichts … die Angelegenheit zu erörtern. Wenn es sich nicht machen läßt, müssen wir’s eben bleibenlassen.“ In der nächsten Stunde entfalten wir eine lebhafte Tätigkeit, hauptsächlich theoretischer Natur. Matias zeichnet Dreiecke und Quadrate auf sein Blatt Papier, verbindet sie mit Pfeilen, fügt zu den Pfeilen Namen. Wir setzen die Etappen fest, die Leute, den Transport, die Sicherheitsmaßnahmen. „So also“, präzisiert er. „Ich gehe ins Leichenschauhaus, tausche die Dokumente aus und organisiere das Wegbringen der Leiche. Wir schaffen sie auf schnellstem Weg als Schwerverletzten ins San-FelipeKrankenhaus. Dort müssen Sie die Sache deichseln.“ „Ihre Leute?“ „Zwei – der Arzt und die Schwester, von denen ich sprach. Sie sind erfahren. Ich überprüfe gleich, ob sie dort sind.“ Er telefoniert, informiert jemanden, dann hat er seine Assistenten von der Einsatzgruppe an der Strippe. „Sie haben recht“, sagt er nach einer Weile, nachdem er den Hörer hinlegt. „Niemand hat sich im Leichenschauhaus umgesehen. Mal sehn, wo die Information durchsickern kann, daß O’Gregory lebt … Vielleicht im Hotel?“ „Im Hotel, unbedingt. Aber sie ist schon durchgesickert“, unterrichte ich ihn bescheiden und erzähle von dem Gespräch beim Surfing. Ich erzähle und sehe selbst, wie ärgerlich voreilig ich gewesen bin. Wenn Steeks oder Maria Kramer etwas mit unserer Angelegenheit zu tun haben, habe ich sie aufs dümmste gewarnt. Aber wer weiß, vielleicht ist es auch zum Guten. Matias hebt die Schultern. Ihm gefällt meine Voreiligkeit auch nicht gerade. 153
„Jetzt wird’s wirklich kompliziert! – Wenn wir also handeln wollen, müssen wir es sofort tun. Was hielten Sie davon, einen Arbeitsplan aufzustellen? Der Oberst ist noch hier, wir könnten hingehn und ihn damit bekannt machen.“ Wir kommen recht ermutigt wieder. Der stellvertretende Kommissar war zunächst ebenfalls skeptisch, hat die Idee dann aber unterstützt. Mehr noch. Es stellte sich heraus, daß es zur Zeit des Widerstands hier einen ähnlichen Fall gegeben hat. Und er hat den Plan mit ein paar praktischen Details ergänzt, an die wir nicht gedacht hatten. Es folgt erneutes Herumtelefonieren, und natürlich fängt der Ärger an. Der Austausch der Dokumente erweist sich als nicht so einfach, wie wir uns das vorgestellt haben. Und mit dem Transport klappt auch nicht alles. In einer bestimmten Etappe muß ich Ljubo mit dem Jeep einbeziehen, obwohl ich keine Ahnung habe, wo er steckt. Matias habe ich schon von Ljubo erzählt, ihm seine Koordinaten und die Parole gegeben. Auf einmal fallen mir meine Filmrollen ein. Matias klingelt, der Laborant mit dem zerfressenen Kittel erscheint und bringt die Rollen nebst vergrößerten Abzügen mit. Ich zeige Matias ein paar Fotos von Steeks, danach von Thorwald und Maria Kramer. Madame Kramer beeindruckt ihn. „Ja … im großen und ganzen …“ „Im großen und ganzen – ja!“ schließe ich. „Intelligent, rascher Verstand und eine sehr merkwürdige Art zu scherzen.“ „Das ist also die Frau, für die sich Doktor Witanow interessiert hat?“ Und dann sagt er etwas, das mich konsterniert: „Wissen Sie, ich kann sie mir nicht nebeneinander vorstellen.“ 154
Das gleiche, was mir gestern auch durch den Kopf gegangen ist! „Und wer ist das da?“ fragt er und zeigt auf die Bergens. Ich erkläre es ihm. Er nimmt die Lupe und betrachtet die Gesichter. „Wollen wir für alle Fälle in der Kartothek nachsehen?“ Eine Überprüfung kann nie schaden. Um so mehr, als sie sich auch auf Steeks erstrecken wird. Das nächste Foto zeigt die Bulldogge. Es bedarf keines Kommentars. Matias sieht sich die Aufnahme auch durch die Lupe an. In dem gewölbten Glas wirkt das Gesicht der Bulldogge noch breiter und abstoßender. „Den werden wir versuchen einzukassieren!“ erklärt Matias entschlossen. „Damit wir ihn bei uns haben.“ Wenn sie das schaffen, ersparen sie mir vielleicht manche künftige Unannehmlichkeit. Aber auch dafür müßte er Leute abstellen. Er ist nicht allmächtig. Er legt das Foto beiseite, wirft aber noch einen Blick darauf und kann sich die Bemerkung nicht verkneifen: „Was für eine Visage! Wahrscheinlich ist er bewaffnet.“ „Bestimmt.“ „Ich werde die Jungs warnen. Lassen Sie uns jetzt noch einmal im einzelnen durchgehen, was wir zu tun haben.“ Die erste Aufgabe fällt ihm zu – den Leichnam im Leichenschauhaus auszutauschen. Das wird während der Ablösung der Nachtwache geschehen. Die Ambulanz mit den Leuten steht schon bereit, aber die brauchen nicht zu wissen, was sie da eigentlich machen. Ich bin währenddessen im Krankenhaus und bereite vor, was ich kann. Arzt und Schwester sind unterrichtet. Die Schwester wird mir bei der Dokumentation für den „schwerverletzten“ O’Gregory helfen. Wenn alles gut geht, trifft die Ambulanz gegen halb elf vor dem Eingang zu den Ambulatorien ein. 155
Ich habe nicht die geringste Vorstellung vom Verlauf der Korridore und der Lage der Zimmer in diesem Krankenhaus. Matias weiß so ungefähr Bescheid und zeichnet es mir auf ein Blatt Papier, ohne freilich allzu sicher zu sein. „Das hier ist das Zimmer im ersten Stock“, sagt er und kennzeichnet es. Dann lächelt er. „Operation ‚faux cadavre‘.“ Das ist nicht ganz genau. Faux cadavre bedeutet „falscher Leichnam“, und wir haben einen falschen Lebenden. Aber ich streite nicht. Matias steht da und überlegt etwas. „Wissen Sie“, sagt er, „wir werden Sie vielleicht markieren müssen. Wir lassen uns da mit Leuten ein … die zu allem entschlossen sein werden.“ Das bedeutet, daß ich einen Miniatursender bekomme, der in bestimmten Intervallen ein Signal auf der Wellenlänge der Kommandantur ausstrahlt. So etwas ist der gesamten Unterwelt wohlbekannt und stellt nichts Neues dar. Es geht darum, daß es nicht leicht ist, diesen in der Kleidung oder in einem Gegenstand gut versteckten Mikrosender zu entdecken. Inzwischen könnte man auf der Kommandantur feststellen, wo sich der Überfallene befindet, um ihm zu Hilfe zu kommen. Wahrscheinlich ist auch Matias markiert. In den nächsten fünfzehn Minuten beschäftigt man sich unter Matias’ aufmerksamem und leicht spöttischem Blick in einem der Laboratorien mit mir, genauer gesagt mit meiner Kleidung. Schließlich wird der Mikrosender ins Futter eines kleinen Täschchens eingenäht, einer dieser Schneidermarotten, die zu nichts zu gebrauchen sind. Diesmal leistet das Ziertäschchen seine Dienste. Wir wünschen uns gegenseitig Erfolg, und ich breche auf. Draußen ist längst die schnelle, von den flackernden Lichtern der Reklamen zerrissene Tropennacht hereinge156
brochen. Hoch über meinem Kopf funkelt ein Kranz grellgrüner Flämmchen – die Spitze eines Minaretts. Als der Autolärm auf dem Boulevard für einen Moment abschwillt, ist vom Minarett der dünne Gesang des Muezzins zu hören. Irgendein Feiertag steht vor der Tür. Der Wagen der Kommandantur sieht wie ein gewöhnliches Taxi aus und wartet auf dem Parkplatz auf mich. Der Fahrer unterscheidet sich in nichts von anderen Fahrern – er sitzt hinter dem Lenkrad und raucht gleichmütig. Ich spiele die Komödie vom üblichen Taxianheuern und lasse mich auf den Sitz fallen. Dann breite ich meinen Stadtplan auf den Knien aus und beginne ihn im Licht der Leuchtreklame gegenüber zu studieren, die unsicher in Gelb und Blau zuckt. Vom Ozean her weht es feucht. Ich finde das San-Felipe-Krankenhaus auf dem Plan und deute wortlos darauf. Dies ist jetzt nicht die Zeit für Gespräche. Das Krankenhaus liegt im neuen Teil der Stadt, und das Karussellfahren, das wir durch die Straßen beginnen, ist nicht so sehr kompliziert. Nach zehn Minuten biegen wir um eine Ecke und sehen große Leuchtpfeile mit Aufschriften vor uns. Das Taxi kommt auf dem benachbarten Parkplatz unter, ich steige aus und versuche eine Vorstellung von der Örtlichkeit zu bekommen. Das Krankenhaus ist ein modernes viergeschossiges Gebäude. Unter dem vorspringenden Betondach über dem Eingang halten alle Minuten Fahrzeuge – Ambulanzen und Taxis. Die Fensterreihen der Stockwerke sind erleuchtet. Dieser lebhafte Verkehr ist günstig. Die Tragbahre mit O’Gregorys Leiche wird unbemerkt durchgehen. Das Problem besteht überhaupt nicht so sehr darin, O’Gregory hineinzuschaffen. Das Schwierige kommt hinterher – Personal wie Patienten davon zu überzeugen, daß wir einen Schwerverletzten behandeln, der bewacht werden muß. Hier wird sich eine Reihe heikler Fragen ergeben, ange157
fangen bei den Visiten bis hin zu der Mappe mit den Unterlagen, die jeden Verletzten begleitet. Krankenblätter, Untersuchungsergebnisse, zu verabreichende Medikamente – alles muß glaubwürdig sein, selbst die Fehler, die in solchen Fällen für gewöhnlich gemacht werden. Bevor die sich zu etwas entschließen, werden sie genau prüfen. Industriespionage ist ein exakter Beruf, da gibt es keinen Platz für Dilettanten. Ich blicke auf die erleuchteten Fenster, die Krankenwagen, die vor dem Eingang vorfahren, und langsam befällt mich Zweifel. Ich habe schon kompliziertere Dinge vollbracht, aber so etwas noch nicht. Es besteht die Gefahr, daß eine alberne Farce herauskommt, eine Komödie, an die niemand glaubt. Und zu allem Überfluß habe ich leichtsinnigerweise auch noch Matias zu diesem Spiel verleitet. Müßte ich in diesem Moment noch einmal entscheiden, was ich tun soll, ich würde wohl die Finger davonlassen. Das einzige, was mir Hoffnung macht, ist, daß ich jetzt in einer günstigeren Lage bin als meine Gegner. Ich bestimme den Ort der Handlung und kenne diesen Ort besser als sie. Obendrein haben sie gar nicht viel Zeit für Nachforschungen – O’Gregory kann jeden Augenblick zu reden anfangen. Sie gehen ein Risiko ein, nicht ich. Mich kann man schlimmstenfalls zurückrufen und degradieren, wenn mein verrückter Einfall ins Auge geht. Wär’ nicht so schlimm, ich bin schon mal degradiert worden. Während mir diese nicht eben erheiternden Gedanken durch den Kopf gehen, sehe ich mich um, wie man in das Krankenhaus hineinkann. Nicht meinetwegen – die müssen ein Loch finden, durch das sie in O’Gregorys Zimmer im ersten Stock gelangen können. Durch den Personaleingang, der an der Seite liegt, ist es ausgeschlossen. Dieser Eingang wird gut bewacht, weil von da aus Treppe und Fahrstühle direkt in die Stationen führen. Durch die Ambulatorien, wo ständig Kranke kom158
men und gehen, ist es ebenfalls gefährlich. Dort liegen die Fahrstühle wahrscheinlich so, daß sie durch die Aufnahme führen, wo ein Fremder sofort bemerkt wird. Durch den Park? Hinter dem Krankenhaus liegt ein von einer hohen Mauer eingefaßter Park. Ein eisernes Doppeltor versperrt den Eingang. Ein Eingang, den ich mir nachher anschauen muß. Hier ist wahrscheinlich die Einfahrt für die Lastautos zum Küchentrakt. Die nächtlichen Bereitschaftsambulatorien liegen mit den anderen Ambulatorien im Parterre. Dieser Eingang wird nicht bewacht wie der Personaleingang, weshalb auch. Nur ein verschlafener älterer Sanitäter in einem weißen Kittel steht an der Tür und sieht mich kaum an, als ich an ihm vorbeigehe. Sofort umfängt mich die bekannte Atmosphäre von Anspannung, leichtem Karbolgeruch und gedämpften Stimmen. Über die frisch gebohnerten Korridore quietschen die Gummiräder von Krankenwagen. Das chirurgische Nachtambulatorium ist die zweite Tür links. Ich klopfe an und trete ein. Ein ganz gewöhnliches Ambulatorium. Hinter dem Schreibtisch sitzt eine dunkelhäutige Schwester und füllt ein Krankenblatt aus. Der Arzt untersucht auf dem Sofa einen stöhnenden Mann und wendet sich mir erst zu, als er mit der Untersuchung fertig ist. Er diktiert der Schwester etwas und sieht mich fragend an. Hier ist keine Zeit für lange Gespräche. „Entschuldigen Sie, Herr Kollege“, sage ich. „Wahrscheinlich bin ich bei Ihnen angemeldet worden. Ich muß einen Fall in Ihrer Station sehen.“ „Doktor Vernier“, stellt sich mein Kollege vor, und wir geben uns die Hand. „Um wen handelt es sich?“ „Um O’Gregory. Tim O’Gregory. Er ist heute nacht gegen drei eingeliefert worden.“ „Einen Moment.“ Vernier hebt die Hand. „Sie können sich anziehn“, sagt er, zu dem Kranken gewendet. 159
Er geht zum Schreibtisch und blättert das große Ambulatoriumsjournal durch. Sein Blick gleitet über die Seiten. „Tim … Tim O’Gregory? Ja.“ Seine anfängliche Liebenswürdigkeit ist auf einmal weg. „Tut mir leid, Herr Kollege, er steht unter Bewachung. Nur mit Genehmigung der Kommandantur.“ Das sind die vereinbarten Kontrollfragen. Ich zeige meine Karte vor, er vergleicht sorgfältig das Foto mit meinem Gesicht, dann nickt er zur Schwester hin. „Mademoiselle Chabrol, führen Sie den Herrn Kollegen hinauf. Suchen Sie Schwester Bently, sie soll kommen und Sie vertreten, und sagen Sie dem nächsten, er soll hereinkommen. Ich hoffe, das genügt, Herr Kollege?“ Es genügt. Doktor Vernier hat eine Möglichkeit gefunden, O’Gregory rückdatiert ins Journal einzutragen. Das war es, was ich von ihm erfahren wollte. Schwester Chabrol verschwindet für eine Minute und kommt mit einem weißen Kittel für mich wieder. Sie gibt den Kranken vor der Tür Anweisungen und führt mich zu den Aufzügen am Ende des Korridors. An der Ecke, wo die Treppe einmündet, ist ein Kabüffchen für einen Pförtner. Hinter dem Schalter sitzt ein junger Mann, der die Hereinkommenden beobachtet. Nichts Ernsthaftes. Es genügt, daß jemand einen Arzt- oder Krankenkittel anhat, um ungehindert passieren zu können. Wortlos warten wir auf den Fahrstuhl. Schwester Chabrol ist eine junge, dunkelhäutige Frau mit strengen Zügen und kurzgeschnittenem Haar, das unter die Haube gesteckt ist. Mit dieser Strenge und Resolutheit ähnelt sie Frau Deltschewa. Sie ist noch jung, aber sicherlich schon eine Reihe von Jahren Krankenschwester, sie gehört zu den Menschen, die mit der Zeit ein Stück vom Krankenhausinventar werden und die man erst bemerkt, wenn sie einmal nicht da sind. 160
Im ersten Stock ist ein kurzer Korridor, von einer Tür mit Summer abgeschlossen. Schwester Chabrol holt ein Schlüsselbund aus der Tasche und öffnet. „Bitte! Das Zimmer liegt am Ende des Ganges.“ Sie hat eine tiefe, sehr ausdrucksvolle Altstimme, die für ihr Äußeres recht überraschend ist. „Das übrige Personal?“ frage ich leise. Sie nickt. Im Korridor ist kein Laut zu hören – alles liegt hinter den dick gepolsterten Zimmertüren verborgen. Nur links, über einer großen Doppeltür, leuchtet ein dunkelrotes Auge. Dort ist der Operationssaal. Eigentlich ist das die Station für die schweren Fälle, in dem die Patienten auf die Operation vorbereitet werden und nicht lange bleiben. Dem Operationssaal genau gegenüber sind zwei Arbeitsräume – der für den Arzt und der für die diensthabende Schwester. Im übrigen hat die Station nicht viele Zimmer, fünf oder sechs. Schwester Chabrol führt mich den Korridor entlang, macht die Tür zum Schwesternzimmer auf und spricht von der Tür aus mit jemandem. Ich höre eine Männerstimme. Es geht darum, daß von der Antischockstation ein Schwerverletzter hierher verlegt werden soll. Alles ist ganz natürlich, jetzt käme auch der Schlaueste nicht mehr dahinter, wann O’Gregory eingeliefert worden ist. Das für uns vorbereitete Zimmer ist das letzte in der Reihe. Ein winziger Raum, bewundernswert sauber – und der Platz rationell genutzt: Bett, Nachtschränkchen, Lampe, Kleiderschrank und Waschbecken. Es sähe wie ein winziges Hotelzimmer aus, wenn der Tropf für die Bluttransfusion nicht dastünde und das Tischchen auf Rädern zum Füttern der Schwerkranken. Hier wird also O’Gregory untergebracht. Wir werden den Tropf anschließen, ein paar Kleinigkeiten auf das Nachtschränkchen legen, einen Teil seines persönlichen 161
Besitzes. Unter dem Bett wird, gut versteckt, ein Tonbandgerät angebracht mit der Aufzeichnung von verschiedenen Geräuschen und dem leisen Stöhnen eines Menschen, der im Fieber phantasiert. Ein Uhrwerk wird es in unterschiedlichen Abständen einschalten. Darum wird sich Matias kümmern, ich muß die Dokumente vorbereiten. Und ich muß mir unbedingt die benachbarten Zimmer, den Korridor und die Aufzüge ansehen. Unter anderem muß alles so vorbereitet werden, daß für die Kranken in den benachbarten Zimmern keinerlei Gefahr entstehen kann. Die Verzagtheit, die mich draußen vor dem Krankenhaus befallen hatte, schwindet allmählich. Es ist, als finge ich an, mich von der Seite zu betrachten. Was könnte Argwohn erregen? Ich glaube nicht, daß unter diesen Leuten ein Arzt ist, aber von Medikamenten verstehen sie bestimmt etwas. Also müssen wir mit den Medikamenten besonders aufpassen. „Die Unterlagen“, sage ich. „Bringen Sie alles, was Sie finden. Und die Aufstellung der Medikamente, bitte.“ Wir schließen uns ein, und in der Zeit, die bis zum vereinbarten Treffen bleibt, befassen wir uns mit den Krankenblättern, Anforderungen von Blutkonserven, Untersuchungen, Röntgenaufnahmen und der Aufnahme in die Verpflegungsliste. Schwester Chabrol kennt, wie jede Schwester, die schwachen Punkte der Station. Sie hat sich mit ausreichend unterschriebenen Blankoformularen eingedeckt. Wie überall, achten die Ärzte auch hier nicht sonderlich auf das, was sie unterschreiben. Die Medikamentenversorgung und die Analysen der Untersuchungsergebnisse kriegen wir gut hin. Und als wir am Ende den Toten noch auf die Verpflegungsliste gesetzt haben, bin ich meiner Sache sicher. Zu dieser Sicherheit gesellt sich auch ein Gefühl, Hazard zu spielen – ich setze hoch, aber wie ein Spieler, der die Karten danach hat. 162
Wir überprüfen noch einmal unsere literarischen Ergüsse und gehen hinaus, um uns die benachbarten Zimmer anzusehen. Das dunkelrote Auge über dem Operationssaal leuchtet noch immer warnend. Jetzt steht uns noch ein heikler Schachzug bevor – der diensthabende Sanitäter muß entfernt werden, damit O’Gregory unbemerkt hereingeschafft werden kann. Und der Nachtsanitäter, der seinen Dienst in einer Stunde antritt, weiß dann bereits, daß im letzten Zimmer ein Schwerverletzter liegt, der von der Polizei bewacht wird. Schwester Chabrol macht das großartig. Der Sanitäter, ein kleiner, ruhiger Mann, wird mit einem eiligen Auftrag zu Doktor Vernier ins Ambulatorium geschickt. Er brauche sich keine Sorgen zu machen – sie sei ja hier. Jetzt kann ich mir das Arztzimmer und die übrigen Zimmer ansehen. Nichts Besonderes. Im Arztzimmer wird Matias wahrscheinlich die Wache unterbringen. In den Krankenzimmern liegen drei, vier schwere Fälle, die morgen operiert werden sollen. Es sind Männer. Wie ich erfahre, liegt auf der anderen Seite des Operationstrakts genauso eine Station, der Zwilling von dieser, für Frauen. Aber dennoch: Wo werden sie hereinkommen? Das ist schwer vorauszusehen. Vielleicht kommt mit den Aufzügen, die am Ende des Ganges sind, jemand herauf, der wie ein harmloser Arzt aussieht? Oder eine Schwester? Oder ein unbekannter Sanitäter bringt ein Rollbett mit einem Schwerkranken? Ich darf sie nicht unterschätzen, sie werden für ihre edlen Absichten sehr erfinderisch sein. Einen direkten Angriff werden sie nicht wagen. Sie werden den Mann, der bis gestern ihr Komplice war, von allen irdischen Sorgen befreien, doch ohne das Risiko eines offenen Zusammenstoßes mit der Polizei einzugehen. Das ist aber nun schon Matias’ Sache. Er wird dafür sorgen, daß die Fuchsfalle gut funktioniert; für mich ist es höchste Zeit hinunterzugehen. 163
Ich erkläre Schwester Chabrol, wie sie uns empfangen soll, und merke, daß diese gelassene Frau anfängt, nervös zu werden. Mich hingegen überkommt eine ungewöhnliche Ruhe. Ein paar Minuten lang denke ich sogar an O’Gregory nicht wie an einen Toten, sondern wie an einen wirklich Schwerverletzten, der ohne Bewußtsein ist. Unten komme ich gerade zur rechten Zeit an. Ich trete ins Freie, und vor dem Eingang hält eine Ambulanz, die rote Rundumleuchte auf dem Dach dreht sich noch. Zwei Sanitäter holen geschwind die Tragbahre mit dem Verletzten heraus, der bis über die Nase mit einer Wolldecke zugedeckt ist. Vom Platz neben dem Fahrer steigt der Mann aus, den Matias mir beschrieben hat. Er sieht wie ein Arzt aus, selbst das Stethoskop hängt auf charakteristische Weise aus der Kitteltasche. Der Sanitäter am Eingang öffnet sofort die Tür vor ihm. Und alles ist so echt – das Bein des Verletzten schaut so kraftlos unter der Decke hervor –, daß ich mich einen Moment lang frage, ob das die richtigen Leute sind oder dies ein anderer Fall aus der Stadt ist. Es sind die richtigen Leute – ich fange einen Blick des Arztes auf. Und mit der unbeteiligten Miene eines Menschen, der seiner eigenen Beschäftigung nachgeht, wende ich mich zum Aufzug am Ende des Ganges. Schwester Chabrol ist schon da. Die Tragbahre wird zu ihr gebracht und verschwindet in der offenen Tür. Der Arzt tritt ins Ambulatorium zu Doktor Vernier. Der erste Akt der Operation „Faux cadavre“ ist erfolgreich abgeschlossen. Jetzt werde ich mich umsehn, ob etwas Verdächtiges in der Nähe ist, und hinaufsteigen, um am zweiten Akt teilzunehmen, an dem ganz wenige handelnde Personen beteiligt sind: Schwester Chabrol, ich und der Tote. Die Anspannung der Tagesereignisse macht sich im Taxi bemerkbar. Ich habe mich auf den Sitz fallen lassen, hal164
te mich mit einer Hand am Armaturenbrett fest, damit es mich nicht in den Kurven umwirft, und der Schlaf überschwemmt mich in Wellen. Ich habe keine Kraft, mich ihm zu widersetzen, muß aber um jeden Preis noch eine Weile durchhalten. Es ist schrecklich heiß in dieser stickigen Bar, und ich mag keinen Gin, doch Steeks sitzt mir gegenüber und gießt mir ein, und ich warte darauf, daß er mir etwas sehr Wichtiges sagt … Ich schrecke hoch. An der Gabelung am Fuße des Hügels hebt ein Mann die Hand, um das Taxi anzuhalten. Der Fahrer beachtet ihn nicht und will schon vorbeifahren. „Sie können ihn mitnehmen!“ sage ich. Der Mann steigt durch die hintere Tür ein und nennt irgendeine Adresse. Ich wechsle ein paar Worte mit dem Fahrer. Natürlich bringt er zuerst mich nach Hause. Dabei fällt ein kleiner Metallzylinder in meine Jackentasche. Er ist nicht größer als ein gewöhnlicher Knopf, aber darin steckt Ljubos ganze Arbeit von diesem Nachmittag. Denn der Mann ist Ljubo und hat auftragsgemäß auf mich gewartet, und Ergebnis der Arbeit ist eine Filmrolle. Wir halten vor der Pension, sagen gute Nacht, und ich steige aus, bin aber am Ende meiner Kräfte. Jeden Augenblick kann ich hier umfallen und einschlafen. Jemand macht die Tür auf, sicherlich Kadir, und ich stolpere über die Allee. Ich gehe wie ein Automat, und mein einziger Gedanke ist, ob ich es bis auf mein Zimmer schaffen werde.
Das Objekt Ich habe hoffnungslos verschlafen. Dieser Gedanke geistert irgendwo in mir herum, und als er mir ins Bewußt165
sein dringt, bin ich schon wach. Ich mache die Augen auf und versuche noch nicht aufzustehen, weil ich weiß, daß ich es nicht kann. Es ist tatsächlich spät. Durch die Ritzen der Vorhänge stehlen sich Lichtstreifen, brechen sich an der Schreibtischkante, und wo sie auf den schon recht abgetretenen Teppich fallen, entreißen sie ihm grelle, unglaubliche Farben. Es ist still, alle sind zur Arbeit gegangen, und ich muß auch aufstehen, wenn der Vormittag nicht vollends hin sein soll. Mit dem üblichen Seufzer setze ich mich auf und sehe, wie akkurat ich meine Sachen hingelegt und aufgehängt habe. Wie ich das gemacht habe, weiß ich nicht mehr. Dafür aber tauchen sehr klar und mit einem Schlag die Ereignisse von gestern in meinem Gedächtnis auf: der tote O’Gregory, die kalten weißen Fliesen im Leichenschauhaus, die blendende Sonne am Kai, Steeks beim Surfing, die unverschämte Visage der Bulldogge, die Schlangen und der Basar. Und das Wichtigste: die Falle im San-Felipe-Krankenhaus. Jetzt ist etwas anderes vordringlich – ich muß den Brief des Generals dechiffrieren und währenddessen Ljubos Filmrolle entwickeln. Ich setze mich an den Schreibtisch und mache mich ans Dechiffrieren. Eine halbe Stunde reicht, um den Brief in den Klartext zu übertragen und zu verbrennen. In Sofia hat man im großen und ganzen geklärt, zu wessen Absatzgebiet Port Angère gehört, und man teilt es mir mit. Bloß, daß die ermutigenden Worte, die mir der General schreibt, mich nicht eben sehr ermutigen, denn der Sanati-Konzern ist einer der aggressivsten Arzneimittelkonzerne. Und er hat große Möglichkeiten – angefangen von seiner Reklameabteilung, was die offizielle Tarnbezeichnung für seine Industriespionage ist, bis hin zu den engen Verbindungen zur Organisation von Cesare Mateotti, auch noch als Fra Cesare bekannt. Eine Or166
ganisation professioneller Totschläger mit straffer Disziplin, die in internationalem Maßstab arbeitet. Sie gehört zu den Organisationen, bei denen Entführung, Erpressung und Mord ihren exakten Preis haben – da gibt es Tarife und Termine, sie zahlen ihren Kunden bei gelegentlichen Terminüberschreitungen sogar gewissenhaft Konventionalstrafen. Ich stehe auf, um nachzusehen, wie weit die Entwicklung von Ljubos Filmrolle gediehen ist, und dabei geht mir ein Gedanke durch den Kopf, der zwar ein bißchen bitter ist, mir aber dennoch ein Lächeln abnötigt. Ich weiß nicht, wie hoch nach Fra Cesares Tarif das Leben von Leuten wie mir veranschlagt wird, vielleicht gibt es für Inspektoren aus unseren Ländern Sondertarife. Die Auseinandersetzung hier in Port Angère ist für Sanati keine sonderlich große Sache, und gegen uns sind ein paar seiner kleineren Agenten eingesetzt, aber sie stehen bestimmt mit irgendeinem militärischen Geheimdienst in Verbindung und sind gut mit Technik ausgestattet. Sie werden nicht lange überlegen, wenn sie beschließen, mich aus dem Weg zu räumen. Die Filmrollen sind fertig und die Aufnahmen interessant, sogar interessanter, als ich erwartet hatte: Thorwalds Wagen, ein nicht mehr ganz neuer Mercedes, inmitten des Basargewühls geparkt. Danach hat etwas Ljubos Aufmerksamkeit erregt – ein grauer Citroën. Er kommt angefahren und sucht einen Platz in der Nähe. Nicht einen Platz schlechthin, sondern eine Position, von der aus er den Mercedes beobachten kann – das hat Ljubo genau gesehen. Er quetscht sich recht unbequem hin, bleibt aber stehen, obwohl die Leute um ihn herum schimpfen. Eine Großaufnahme. Hinter dem Lenkrad des Citroëns sitzt ein Mann, den ich sogar als schön bezeichnen würde. Aber es ist jene peinliche feminine Feinheit der Züge, die bei einem Mann ein Warnsignal ist. Dunkles, 167
lockiges Haar, wohlgeformte Lippen, weiches Kinn, leicht gedunsene Lider, hinter denen sich ein aufmerksamer Blick verbirgt. Katzenhaftes Phlegma verbunden mit versteckter Energie und Unverfrorenheit. Diesen Mann habe ich noch nicht gesehen. Und ich kann seinen Beruf auch nicht annähernd bestimmen. Er kann ein reicher Kaufmann aus dem Nahen Osten sein oder blasierter Erbe eines, auf verdächtige Weise erworbenen Reichtums oder ein Filmregisseur, der gekommen ist, um sich das Surfing anzuschauen. Er ist nicht wegen des Surfings da. Wir treten aus dem Kasino. Der Citroën verläßt seinen Beobachtungspunkt und fährt los, Richtung Chaussee. (Hier hat ihn Ljubo mit dem Jeep verfolgt, und der streitbare Klapperkasten hat gezeigt, was er kann. Er hat mit den 150 PS des Sportcitroën mitgehalten.) Der Citroën auf dem Weg zum Villenhügel. Der Citroën in günstiger Position, von der aus eine Villa im Auge behalten werden kann. Vor der Villa halten Thorwald in seinem Mercedes und Steeks in einem Wagen, es ist nicht seiner. Die ganze Gesellschaft steigt aus: Thorwald, Maria Kramer, das Ehepaar Bergen, Steeks. Offenbar werden sie, wie Frau Bergen verkündet hat, den ganzen Gewinn unbedingt und bis auf den letzten Nickel vertrinken. Der Citroën wartet das Ende des rituellen Trinkgelages nicht ab. Er steht vor einer anderen Villa. Das ist, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, die Villa von Steeks. Danach – und das ist mir äußerst unangenehm! – steht er bei der Pension Theresa. Doch Ljubo ist ein einmaliger Schuß gelungen – was dem Teleobjektiv und vor allem seiner Umsicht zu verdanken ist. Es ist ein Bild, auf dem Madame Kramer den Citroën bemerkt. Genau so: bemerkt. Auf ihrem Gesicht liegt keine Überraschung, eher Ärger und leichte Gereiztheit. Sie weiß von der Existenz dieses Citroëns. 168
Während ich erneut die Aufnahmen betrachte, höre ich auf der Treppe Schritte. Ich habe das Gefühl, daß da jemand meinetwegen kommt, denn es sind suchende Schritte. Ich springe auf und rühre mich nicht, auf jede Überraschung gefaßt. Es gibt keine Überraschung. Jemand klopft an die Tür, und ich vernehme Assens Stimme: „Sind Sie hier, Genosse Debyrski?“ Ich frage von drinnen, was es gibt, während ich aufmache. „Ach nichts!“ erwidert Assen. „Guten Tag! Genosse Bankow schickt mich mit dem Wagen. Er meint, Sie könnten ihn vielleicht brauchen.“ Er kommt wie gerufen, weil ich schon so spät dran bin. Aber ich gehe nicht gleich mit, zehn Minuten habe ich noch zu tun. Er soll sich in der Pension aufhalten, ich werde ihn schon finden. Er verkündet erneut, daß er zu meiner Verfügung steht, und verschwindet. Ich weiß sehr gut, womit er sich beschäftigen wird. Ich hingegen betrachte wieder die aufschlußreichen Fotos, die Ljubo gemacht hat. Soviel ich von Gesichtern und Mimik verstehe, besteht kein Zweifel: Der Citroën und der Mann darin sind Madame Kramer bekannt. Das ist es. Was dieser Mann mit ihr, mit Sanati oder Fra Cesare gemein hat, das herauszufinden ist nun schon meine Sache. Denn ich glaube nicht, daß er sich aus rein touristischem Interesse um die Pension Theresa herumgedrückt hat. Jetzt muß ich gehen. Ich verstaue Filmrolle und Fotos an entsprechender Stelle, verbrenne das Unnötige und steige hinunter. Madame Theresa sitzt in ihrem Office und füllt irgendwelche Formulare aus. Sie sieht mich und steht liebenswürdig auf. „Möchten Sie frühstücken, Monsieur?“ Ich erkläre, daß ich gar keine Zeit habe, aber sie läßt nicht locker. 169
„Nur einen Kaffee, Monsieur, er ist fertig.“ Ich komme zu dem Ergebnis, daß meine menschliche Maschinerie doch die eine oder andere Kalorie benötigt. Sicherlich steht mir auch heute ein reichlich schwerer Tag bevor. Im Eßzimmer sitzen zwei Männer beim Frühstück, die ich bisher nicht gesehen habe. Sicherlich gehören sie zu irgendeiner Nachtschicht, wenn sie um diese Zeit hier sind. Wir grüßen uns, und sie laden mich familiär an ihren Tisch ein, wobei sie sich vorstellen. „Manew!“ „Atanassow. Nehmen Sie Platz, Genosse.“ Beide sind ganz unbefangen. Während ich hastig den schon etwas kalten Kaffee hinunterkippe, erfahre ich, daß sie aus der Gegend von Stara Sagora stammen, schon anderthalb Jahre hier sind, als Monteure arbeiten und Doktor Witanow sehr gut kennen. „Wie geht es ihm? Sehen wir ihn bald wieder?“ erkundigt sich Manew mit einem sonderbaren Unterton. Ich verstehe. Assens Geheimnis ist zum Geheimnis des ganzen Objekts geworden. Und weil keiner etwas Schlechtes über einen Landsmann hören will, haben sie die heroische Version sofort aufgegriffen. Sie erklärt alles. „Nun … das hängt von vielen Dingen ab“, antworte ich. Das reicht, um die Version zu bestätigen. Niemand büßt dabei etwas ein. Wenigstens hören die Gerüchte auf. „Der Doktor ist ein toller Kerl!“ verkündet Manew. „Ein bißchen verschroben, aber sonst nicht übel.“ Wir wechseln noch ein paar Worte, und ich stehe auf. Die beiden wünschen mir einen angenehmen Dienst, und Manew grinst dabei abgefeimt. Assen ist natürlich bei Germaine in der Küche. Er erhebt sich, als er mich sieht, sie sagt ihm etwas und wird dabei ein bißchen rot. Die Sache ist anscheinend ernster, als ich gedacht habe. Und weshalb auch nicht? 170
Heute ist Assen mit dem Wagen der Direktion da – ein Peugeot älterer Bauart. Den Jeep hat er zur „Durchsicht“ gegeben, wie er sofort erklärt. Ich kann mir Ljubos Gefühle und Gedanken vorstellen, mit einem Maulschlüssel in der Hand unter dem Motor liegend. Unterwegs informiert mich Assen über die frischesten Neuigkeiten aus dem Objekt. Der gewisse Kolarow, der gestern den Dampf hat entweichen lassen, hat heute morgen tüchtig eins übergebraten gekriegt und wird nicht so leichten Kaufs davonkommen. Gestern abend sind mit dem Flugzeug zwei Laborantinnen fürs Chemielabor eingetroffen. Daß sie da sind, schön und gut, aber ihnen wurde die Unterkunft zugewiesen, die er für Ljubo ins Auge gefaßt hatte. Im Kiosk ist bulgarischer Weißkäse eingetroffen, er könne mir was zurücklegen lassen, wenn ich möchte. Er ist mir sympathisch, trotz all seiner kleinen Tricks und Kniffe. Und deshalb erlaube ich mir, ihn mit Germaine ein bißchen hochzunehmen. „Aber sie ist ein braves Mädchen“, antwortet Assen mit scheinbarer Beiläufigkeit. „Paßt in unseren Streifen.“ Klarer Fall. Ich habe da also offene Türen eingerannt. Bin mit meiner Entdeckung ein ganzes Ende zu spät gekommen. Die Tankstelle mit den roten Zapfsäulen taucht auf, und Assen hält, um zu tanken. Die Sonne gießt Glut auf unsere Köpfe, über der Straße schwebt eine Wolke feinen Staubs. Wild klappernd rasen Laster vorbei und tauchen hinein. Wir fahren weiter und verschwinden ebenfalls in der Wolke. Gestern hat es nicht geregnet, und wenn es nach zwei, drei Tagen nicht regnet … Assen fehlen die Worte zu erklären, was dann ist, deshalb winkt er bloß ab. Vor dem Verwaltungsgebäude setzt er mich ab und fragt, ob ich ihn noch brauche. Bis Mittag hätte er si171
cherlich zu tun, die von der Materialversorgung wollten in die Stadt, doch am Nachmittag sei er in der Garage. Sollte man ihn zufällig wo hinschicken, werde er mir Bescheid geben. Dieser Schachzug mit dem Bescheidsagen gefällt mir nicht sonderlich, und so empfehle ich ihm, er solle zusehn, daß man mit der Durchsicht fertig werde und der Jeep einsatzbereit sei. Assen versteht. Ich ziehe mich in mein Zimmerchen zurück und nehme eine kleine Überprüfung vor. Niemand ist drin gewesen. Die Journale liegen auf dem Tisch, aber mit ihnen werde ich mich jetzt nicht befassen. Bis zum Mittag habe ich, falls es so läuft, wie ich mir das denke, einen genau festgelegten Plan für Besuche, und der erste ist in der Versuchsanlage. Sie befindet sich im Haupttrakt des Objekts im Kellergeschoß, wo auch die Räume für die Fermentatoren sind. Im Parterre liegen chemische und biologische Laboratorien sowie ein paar Büros. Nach unten führen Stufen, die mit einem Scherengitter abgeschlossen werden können. Nachts wird es wahrscheinlich vorgezogen. Jetzt ist es zur Seite geschoben. Ich steige die Stufen hinunter und stoße zuerst auf einen Vorraum mit Spinden und Kleiderhaken, an denen ein Dutzend Kittel hängt. Bevor ich mich noch orientieren kann, geht die Tür vor mir auf, und Nedkow kommt herein. Er ist überrascht, als er mich sieht, und ich kann ihm im Moment nicht erklären, was mich herführt. „Seien Sie gegrüßt!“ sage ich in einem muntersten Ton. „Ich wollte mal sehen, wo Sie arbeiten … Geht das?“ Es kommt schrecklich unglaubwürdig heraus. „Selbstverständlich, wie … Deltschewa!“ ruft er durch die offene Tür. „Einen frischen Kittel für den Kollegen.“ Frau Deltschewa erscheint, und ihrer Miene ist nichts zu entnehmen. Sie ist von meiner Absicht, sie zu besuchen, weder beunruhigt noch sonderlich erfreut. Vermutlich betrachtet sie mich als ein notwendiges Übel. 172
In frischen Kitteln habe ich mich nie wohl gefühlt. Das ist anscheinend eine Art Atavismus, von den zahllosen Jungengenerationen zurückgeblieben, die jede neue Hose gehaßt haben. Ein alter, schon ein bißchen angeschmuddelter Kittel ist was ganz anderes. Da kann man in der Tasche die Notiz finden, die man sucht und von der man immer wieder vergessen hat, daß man sie sucht, und der blaue Fleck am Ärmel scheint das ganze Leben lang dort gewesen zu sein. Doch jetzt bleibt mir keine Wahl. Ich ziehe einen frisch gebügelten Kittel über und fange langsam an, darin zu kochen. Hier ist es übrigens beträchtlich wärmer und stickiger als oben. Die Ventilation taugt nichts. Sicherlich hat sich Bankow wegen ihres Ventilationsschachts vorgestern mit Falcone in den Haaren gelegen. Nedkow geht neben mir her und bemüht sich, mir den Prozeß zu erklären, indes ich mich bemühe, höflich zu bleiben. Genauer gesagt – ich bin vorsichtig, und er glaubt mir nicht. Anscheinend meint er, ich sei hier, um jemandes Schuld an etwas zu suchen, er weiß bloß nicht; woran. Deshalb laufen alle seine Erklärungen darauf hinaus, wie gut die Arbeit klappt. (Mit einem verborgenen Unterton – die Arbeit klappt jetzt gut, wo Witanow nicht da ist.) Seit ich die Technologie kenne, hat sie sich nicht sonderlich verändert. Vor mir funkeln zwei kleine Fermentatoren in ihrer stählernen Sauberkeit. Unter ihnen windet sich ein Geflecht von Rohren, das in Manometern und einem Pult mit Skalen endet. Der Raum flimmert im Aluminiumlicht der Leuchtröhren, die Flüssigkeit in den Rohren blubbert, und man hat das Gefühl, in einem Unterseeboot zu sein, das langsam auf Tauchstation geht. Von Zeit zu Zeit schaue ich auf meine Uhr. Nedkow weiß nicht, was ich suche, und kann aus meiner zerstreuten Miene nicht schlau werden, wohin ich eile und 173
ob ich es überhaupt eilig habe. Denn ich habe meine Gründe, auf die Uhr zu sehen. Sie ist ein bißchen ungewöhnlich. Sie hat alle Zeiger wie jede andere Uhr, aber dazu noch einen mehr, den andere Uhren nicht besitzen. Im Moment steht er still, aber wenn er ruckt, weiß ich, daß ein Abhörgerät in der Nähe ist. Deshalb bin ich hier. Ich höre Nedkows Erklärungen an und versäume nicht, ihm ab und an ein lobendes Wort zu sagen. Und ich meine es ehrlich. Nedkow mag beschränkt sein, aber er ist ein guter Ökonom, sorgfältig und auf seine Art gewissenhaft. Bei ihm haben die Technologen und Laboranten sicher ein viel ruhigeres Leben als bei dem nervösen Witanow. Das glänzende Resultat werden sie kaum erreichen, aber die Standards werden erfüllt, und das ist ja auch nicht wenig. Hier gibt es keine Wanze. Abermals betrachte ich das Geflecht aus Rohren, das Pult, werfe sogar einen völlig überflüssigen Blick auf den Stahlrohrstuhl, auf dem Frau Deltschewa sitzt. Man weiß ja nie, was man zu erwarten hat und wo. Die Kunst, Abhörgeräte zu tarnen, hat längst auf gehört, eine Kunst zu sein, sondern ist zur Wissenschaft geworden. Und zwar zu einer sich schnell entwickelnden Wissenschaft. Die Telefonhörer mit eingebautem Mikrofon sind längst Archaismus, und niemand nimmt so etwas mehr ernst. Aus dieser Zeit stammen auch die Handtaschen mit den hübschen Verschlüssen. Aber auch die sind nur noch etwas für Amateure, weil der Preis für diese Art Verschlüsse auf dreißig Dollar gefallen ist. Die Fingerringe für Sekretärinnen, die teuren automatischen Kugelschreiber, das Futter für den Frack, den der Modeschneider für den offiziellen Empfang näht, die Messergriffe der Bestecke für den Empfang mit eingelegten Wappen-Mikrofonen – all das ist längst bekannt und ruft nur ein nachsichtiges Lächeln hervor. Jetzt herrscht das Zeitalter der Laser und mikroelektronischen Technik. Auf das Fenster des Kon174
kurrenzunternehmens wird ein Laserstrahl gerichtet und durch das unsichtbare Vibrieren der Scheiben das Gespräch verfolgt. Fliegen – wessen Phantasie mögen sie entsprungen sein! – fliegen durch den Sitzungssaal des Konzerns und tragen mikroelektronische Apparate auf dem Rücken. Phantasie muß man der Industriespionage bescheinigen, um so mehr, als die Phantasie mit Schecks gut ausgefüttert ist. Daß hier, auf unserem Objekt, jemand seine Phantasie besonders angestrengt hat, glaube ich nicht, hier wird es sich um etwas Gewöhnlicheres handeln. Ich muß es nur finden; Das Gespräch schleppt sich hin. („Ja, Herr Kollege, wünschen Sie noch genauere Auskünfte?“ – „Danke, Kollege, sie sind völlig ausreichend.“) Ich warte darauf, daß Nedkow vorschlägt, in die Büros hinaufzugehen, deute sogar etwas in diesem Sinne an. Wie ich erfahre, sind sie da ein bißchen beengt, weil man zuerst die Laboratorien eingerichtet hat. „Ein bißchen beengt“, ist noch untertrieben, denn in das Büro im Parterre, in das mich Nedkow führt, sind vier Schreibtische hineingestopft, vier Rollschränke und ein Bücherschrank. Auf letzterem liegen, fast bis an die Decke gestapelt, Ordner mit festen Pappdeckeln. Dieses babylonische Durcheinander wird noch von zwei Schränkchen mit chemischen Reagenzien geziert, die dem Raum vollends ein surrealistisches Aussehen verleihen. Wie Doktor Witanow mit seiner Pedanterie hier zurechtgekommen ist, bleibt mir ein Rätsel. Und wann haben sie es bloß geschafft, all diese Ordner anzuhäufen! An drei von den vier Schreibtischen sitzt im Moment niemand. Am vierten, dem am Fenster, arbeitet eine junge, mollige Frau in einem Kittel – sie trägt irgendwelche Daten in ein Journal ähnlich denen ein, die drüben bei mir liegen. Das ist Frau Wanewska, die die bei175
den chemischen Labors leitet. Eine sehr ruhige Frau, sogar ihre Redeweise ist ein wenig schleppend. „Der Genosse Debyrski … möchte sich ein bißchen umsehen …“, sagt Nedkow und schaut mich an. Ich bestätige es. „Aber bitte sehr!“ sagt Frau Wanewska lächelnd. „Ich kann Ihnen nicht einmal einen Platz anbieten. Sie sehen ja, was hier los ist!“ Ich setze mich an einen der freien Schreibtische und beginne ein allgemeines Gespräch. Frau Wanewska gehört zu dem Typ ausgeglichener, ein wenig phlegmatischer Frauen, die immer gut gelaunt sind. Sie ist kein bißchen befangen, wählt einen passenden Moment und stellt mir die völlig natürliche Frage, ob es etwas Neues von Doktor Witanow gebe. „Neuigkeiten gibt es immer“, sage ich unbestimmt. Das ist die reine Wahrheit, und ohne eine weitere Frage abzuwarten, erkundige ich mich: „Hat sich Doktor Witanow manchmal mit Ihnen beraten?“ Frau Wanewska zieht erstaunt die Brauen hoch. „Wer, Emil?“ „Wieso verwundert Sie das?“ „Gott bewahre einen, ihm einen Rat zu geben! Erst wird er fuchtig, weil man ihm in seine Arbeit hineinredet, und dann wird er fuchtig, weil er ihn nicht befolgt hat.“ „Aha! Und hat er sich oft mit Ihnen gestritten?“ „Weshalb?“ „Wegen Analysen zum Beispiel.“ „Was gibt es da zu streiten? Ich gebe ihm das Resultat. ‚Du kannst doch lesen, Emil, nicht?‘ Er tobt, aber ich lasse ihn toben.“ So ist es, mit Frau Wanewska kann man sich nicht streiten. Seine Ausbrüche, die die anderen auf die Palme gebracht haben, hat sie weise auf Frauenart abgetan. Er schreit ein bißchen und wird sich auch wieder beruhigen. 176
„Und Sie …?“ fragt sie. „Haben Sie ein besonderes Anliegen? Können wir Ihnen helfen?“ Sie kann mir nicht helfen. Denn das, was ich suche, ist hier. Der Zeiger der sogenannten Uhr ist geruckt. Ich sehe noch einmal hin, um sicherzugehen. Irgendwo hier, in einem Umkreis von zehn Metern, ist eine Wanze versteckt. Und ich habe nicht die geringste Aussicht, sie zu entdecken. Sie ist unwahrscheinlich klein und kann in dem harmlos offenstehenden Glasschrank für die Reagenzien stecken oder an den Deckel eines dieser Ordner geklebt sein. Aber sie ist hier. In diesem Augenblick wird unser Gespräch irgendwo, doch nicht weiter als fünf, sechs Kilometer entfernt, aufgezeichnet. „Ach nein, danke“, sage ich zu Frau Wanewska. „Ich wollte mich nur mal umsehen, um einen allgemeinen Eindruck zu bekommen.“ Allgemeine Eindrücke! Viel mehr interessieren mich ganz konkrete Dinge. Wo wird das Gespräch aufgezeichnet? In welchem der Bagger, die draußen in der glutheißen Wüste ihre Greifer schwenken? Oder einfach in dem Bus, der vor dem Verwaltungsgebäude steht? Die Tonbandkassette ist ebenfalls winzig. Jetzt dreht sich die Rolle, dann bleibt sie stehen. Oh, sie sind sparsam, die Leute von der Industriespionage! Die werfen kein Geld zum Fenster hinaus. Die Kassette schaltet sich nur bei Sprache oder Geräusch ein, sonst steht sie still. Sie kann tagelang stillstehen. Dann kommt der Mann, der kommen muß. Beiläufig steckt der die Kassette in seine Aktentasche, denn das Kassettengerät kann ein gewöhnliches Buch mit bescheidenem Einband sein. Und dann geht er. „Was meinen Sie“, frage ich Frau Wanewska, „hat sich Doktor Witanow aufgeregt … ich meine, hat er sich die Mißerfolge sehr zu Herzen genommen, die er in letzter Zeit hatte?“ Frau Wanewska zögert, ehe sie antwortet. 177
„Er war immer ein bißchen finster. Aber tatsächlich, seit etwa zehn Tagen, ich kann das nicht genau beschreiben …“ „Erzählen Sie’s mir!“ „Wissen Sie, er ist finster, aber exaltiert – das ist das Wort! Ständig in Eile, dauernd hat er sich mit jemand in der Wolle, aggressiv irgendwie … Aber jetzt ließ er den Kopf hängen, er stritt sich sogar nicht soviel. Einmal saß er dort, wo Sie jetzt sitzen, es muß vor vier, fünf Tagen gewesen sein, und hat mich gefragt: ‚Was würdest du tun, Vera, wenn du unversehens sehr berühmt würdest? Wenn du, sagen wir mal, was entdecktest, das den anderen vor der Nase gelegen hat, aber sie waren blind?‘ Aber er sagte das so … nicht freudig.“ „Und Sie?“ Sie lächelt schwach. „Was sollte ich darauf antworten? ‚Ach, Emil‘, habe ich gesagt, ‚ich weiß sehr gut, was ich in der Wissenschaft darstelle. Ein braves Tantchen. Ich tue mein Bestes, aber zuerst kommen mein Mann und die Kinder.‘ Er hat geschwiegen und geschwiegen und schließlich gesagt: ‚Na gut, und was tätest du, wenn du merktest, daß dich niemand braucht? Daß du allen gleichgültig bist?‘ Ich darauf: ‚Da wäre ich sehr unglücklich, Emil, Gott behüte, daß mir das einmal auf meine alten Tage passiert.‘ Da ist er aufgestanden und ohne ein Wort hinausgegangen.“ Sie lächelt nun nicht mehr. „Es hat mir nicht gefallen, dieses Gespräch, das war nicht in seinem Stil! Hinterher habe ich immerzu an ihn gedacht. Es muß ihn etwas bedrückt haben, sonst hätte er sich nicht hingesetzt und so mit mir gesprochen.“ „Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?“ „Nein, nichts.“ Hier habe ich nichts mehr zu suchen. Ich stehe auf und verabschiede mich von den beiden. Nedkow geht in 178
die Versuchsanlage im Kellergeschoß, ich steige die Treppe hinauf und schlendere durch die Fabrikationsräume. Am besten, jeder tut seine Arbeit, hat die Wanewska gesagt. Mein Herumschlendern ist ebenfalls Arbeit. Ich muß herauskriegen, wo die Gespräche noch abgehört werden. Der Haupttrakt kostet mich über eine Stunde. Ich kann nicht nur gehen und auf meine sogenannte Uhr schauen. Ich begegne Leuten aus der Pension, bleibe stehen, sie stellen mich anderen vor. Dabei fällt mir etwas Merkwürdiges auf – sie fragen fast gar nicht nach Witanow. Also hat die Kunde von dem angeblichen Auftrag des Doktors schon überall die Runde gemacht, und – nicht zu begreifen! – alle haben es geglaubt. Sie möchten mich nicht in Verlegenheit bringen. Ich denke an das Gespräch Witanows mit Frau Wanewska. Was bedeutet, „daß dich niemand braucht“? Ich versuche, mich in seine Lage zu versetzen, einen Entschluß aus seiner Situation heraus zu fassen, aber ohne Resultat. Ich beende meinen Rundgang durch den Haupttrakt, steige in die Kantine hinunter und esse rasch etwas zu Mittag. Dann gehe ich zum Verwaltungsgebäude hinüber. Ich wechsle mit diesem und jenem Grüße (hier gehöre ich schon dazu!), schaue kurz in die Zimmer und ernte verwunderte Blicke. Doch weil viele andere genauso wie ich durch die Korridore hasten und kurz mal in die Zimmer sehen, ist die Verwunderung nicht allzu groß. Ich hatte geglaubt, bei Markow sei eine zweite Abhöranlage, habe mich aber getäuscht. Der Zeiger rührt sich nicht. Frau Stoitschewa sitzt hinter ihrem Schreibtisch und verfaßt irgendeinen Bericht auf der Maschine. Markows Zimmer ist leer. Der Ventilator auf dem Schreibtisch 179
summt leise wie ein Insekt, über dem langen Konferenztisch hängt graublauer Nebel vom Tabakrauch. „Genosse Markow ist vor ein paar Minuten gegangen“, informiert mich Frau Stoitschewa. „Aber wenn es sein muß, rufe ich ihn an.“ Dieses „wenn es sein muß“ sagt unzweideutig, daß es nicht sein muß. „Nein, es ist nicht nötig“, beruhige ich sie. „Das Magengeschwür, ja?“ „Das Magengeschwür. Wie oft habe ich ihnen gesagt, sie sollen wenigstens das Rauchen lassen!“ entrüstet sich die Stoitschewa. „Das gibt ihm noch den Rest.“ Offenbar sind die Punischen Kriege, die sie mit den Rauchern führt, nicht sonderlich erfolgreich. So ist das. Das Leben im Objekt geht weiter, und der Fall Witanow wird allmählich auf ein Nebengleis geschoben. Bloß nicht für mich. Bankows Büro liegt gegenüber. Ich klopfe an, höre ein „Ja!“ und trete ein. Bankow ist nicht allein, er sitzt auf dem Kanapee neben dem Schreibtisch, ihm gegenüber in den Sesseln sitzen Ingenieur Bergen und Schimmer. Auf dem Tischchen zwischen ihnen ist eine Zeichnung ausgebreitet, an den Ecken von leeren Kaffeetassen festgehalten, damit sie sich nicht einrollt. „Treten Sie näher!“ fordert mich Bankow auf. „Sie kennen sich?“ Er meint Bergen, dem ich die Hand reiche. Wir wechseln ein paar Worte. Schimmer oder Schinner zieht ein finsteres Gesicht, gibt mir aber auch die Hand. „Bitte!“ Bankow zeigt auf den freien Sessel. „Ich erörtere mit den beiden Herren gerade eine Frage. Wegen der Straßenabzweigung muß das Transformatorenhaus für eine Weile abgeschaltet werden … Setzen Sie sich doch.“ Ich lehne ab. Sei nur mal vorbeigekommen, nichts Wichtiges. 180
„Sind Sie am Nachmittag hier?“ frage ich Bankow. „Könnte sein, daß ich Sie irgendwann mal anrufe.“ Noch zwei, drei Sätze, und ich gehe. Ich setze den Rundgang fort, muß auch noch auf einen Sprung zu dem noch nicht fertigen Nachbargebäude. Es gibt Wanzen, die schon beim Bau in die Wände eingemauert werden. Deshalb empfiehlt es sich, auch das zu überprüfen, damit es hinterher von dieser Seite keine Überraschungen gibt. Dann kehre ich in mein Zimmerchen zurück, wo mich die Journale auf dem Schreibtisch und der bekannte Asphaltgeruch empfangen. Ich öffne das Fenster, die Schwüle in dem Zimmerchen läßt nach, dafür dringt reichlich Staub herein, den die Laster draußen aufwirbeln. Am Horizont hängt über den aschgrauen Hügeln schwerer Dunst. Vielleicht wird es regnen. Mit den Journalen werde ich mich jetzt nicht befassen, ich muß nachdenken, und zwar gründlich. Die Situation im Objekt ist klar. Und noch etwas. Ich könnte mir das Gerücht zunutze machen, daß Doktor Witanow mit einem Auftrag irgendwohin geschickt worden ist. Dieses Gerücht wird schon für Wahrheit genommen und ist sicherlich auch meinen Gegnern zu Ohren gekommen. Ich setze mich an den Schreibtisch und lege meine Zettel vor mich hin. Jeder von ihnen ist ein Mensch oder ein Fakt. Zu den Fakten muß ich bloß die Präsenz des Sanati-Konzerns und von Fra Cesares Untergrundorganisation hinzufügen. Der Sanati-Konzern. Ich hole einen kleinen Prospekt aus der Tasche, den ich in einem der Büros gefunden habe. Eine kostspielige Ausgabe mit modernen, sehr bunten Illustrationen und diskreter Werbung. Angesehene Wissenschaftler führen eigene klinische Erfahrungen an. Sie wissen, Ärzte haben eine besondere Psyche und mögen schreiende Reklame nicht, die kommt ihnen immer verdächtig vor. 181
Ich klappe den Prospekt auf, und auf jeder Seite sieht mich das Firmenzeichen von Sanati an. Geschickt gemacht. Einfach, so daß es sich leicht einprägt. In der Mitte der Becher und die Äskulapschlange. Wenn man der Legende glauben darf, ist diese Schlange eine Jochnatter. Die Sanati-Schlange ist keine Jochnatter. Mir ist, als sehe ich den erhobenen Kopf der Kobra von gestern vor mir. Und die gläsernen Augen, die auf das Wort warten. „Wenn du etwas siehst, wofür die andern blind gewesen sind!“ So ähnlich hatte sich doch Witanow Frau Wanewska gegenüber geäußert. Ich weiß, was er gesehen hat – die Serie Nummer neun. Aber genau dies ist die Serie, die auch die Kobra gesehen hat. Neun war die Zahl der Kobra. Ich denke nach, die Zeit vergeht langsam. Sie vergeht immer langsam, wenn man einen wichtigen Entschluß fassen muß. Dann stehe ich auf. Ich muß Assen oder Ljubo finden, damit mich jemand in die Kommandantur fährt. Natürlich sind weder Assen noch Ljubo in der Garage. Dafür treffe ich Sachariew an, der einen Reifen aufpumpt – er habe in der Stadt zu tun. Genau zur rechten Zeit.
Das Büro Ein Taxi – eins dieser Taxis von der Kommandantur – bringt mich ins Objekt zurück. Die Reifen quietschen in den Kurven, schwerer Dunst liegt über den grauroten Hügeln. Ich bin unruhig und voller Spannung. Aber nicht wegen des nahenden Unwetters. Ich muß jetzt einen schwierigen Zug ausführen. Matias hat lange gezögert, bevor er eingewilligt hat. Er hat ein Argument nach 182
dem anderen angeführt, und alle waren stichhaltig. Vor allem schlug er vor, zunächst das Ergebnis der Falle mit O’Gregory abzuwarten. Wir können nicht abwarten. Sie müssen ununterbrochen gezwungen werden, sich zu wehren, kurzfristig etwas zu unternehmen. Das Taxi setzt mich ab und fährt zurück. Ich schließe das Zimmerchen im Parterre auf. Das Dämmerlicht hat es ausgefüllt, der Wind prallt ans Fenster, daß es scheppert. Irgendwo im Korridor zerbricht klirrend Glas. Aber das Unwetter zieht anscheinend in größerer Entfernung vorbei, denn es hat nicht die Kraft von vorgestern. Die Regengüsse kommen stoßweise, immer, wenn es blitzt. Ich schalte die Lampe an und schaue hinaus. Es ist nichts zu sehen, als seien wir von der Welt abgeschnitten. Selbst die orangefarbenen Bulldozer, die das Erdreich auf der Straßentrasse vor sich her schieben, sind hinter dem Vorhang aus Wasser verschwunden. Ich muß warten, bis es aufhört. Für das, was ich mit Matias beschlossen habe, brauche ich gutes Wetter. Und ich muß Ljubo sehen, für den ich eine neue Botschaft bereithalte. Ich sammle die Patience ein und will sie in die Tasche stecken, zögere aber. Nein, ich darf nichts mehr bei mir haben. Alles Nötige habe ich Ljubo aufgeschrieben, das andere kann sich in einem bestimmten Moment gegen mich wenden. Deshalb muß ich mich von meinen Aufzeichnungen trennen, und zwar auf die sicherste Weise – indem ich sie verbrenne. Ein paar Minuten später schließe ich das Zimmerchen ab und begebe mich auf den Weg zur Garage. Der Regen klatscht noch an die Korridorfenster, es wird aber schon heller. Der Wasservorhang hat sich gehoben, indem er unter dem zerbrochenen Fenster auf dem Zementfußboden eine große Pfütze zurückläßt und draußen eine weite 183
Fläche fetten, roten Morasts. Die Bulldozer stehen wie verlassene Tiere darin. In der Garage geht es fröhlich zu, die Ursache klärt sich sofort auf – sie spielen Tricktrack. Assen sitzt mit einem mir unbekannten jungen Burschen auf der Pritsche in dem kleinen Verschlag, drei andere stehen darum herum und erteilen Ratschläge. Versteht sich, daß Ljubo darunter ist. Alle sehen sich um, als ich eintrete. Assen hält die Würfel in der Hand. „Ah, Genosse Debyrski! Sie wollen zu uns?“ „Ja“, antworte ich. „Ich wollte mal kurz in die Stadt, aber bei dem Morast wird das jetzt wohl nichts.“ „Es trocknet schnell!“ beruhigt mich Assen. „Wenn Sie noch etwas anderes zu tun haben …“ „Nein, nein, ich schaue ein bißchen zu …“ „Spielen Sie das auch?“ staunt Assen. (Als wäre Tricktrack unter der Würde eines Inspektors!) „Wie denn nicht!“ entgegne ich mit gespielter Entrüstung. „Ich gebe an der Universität Lektionen in Tricktrack.“ Die Erklärung ruft ein paar ironische Bemerkungen hervor, und die Befangenheit verschwindet sofort. „Pasch!“ verkündet Assen und knallt den Stein mit Künstlergebärde auf das Brett. „Wir sind nicht kleinzukriegen!“ Ich stelle mich zu den Kiebitzen, genauer gesagt, neben Ljubo. „Was ist, hast du den Jeep hingekriegt?“ frage ich in einem passenden Moment, als Assen mit blumigen Ausdrücken sein Glück verwünscht, das ihn unversehens im Stich gelassen hat, und die anderen sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ihm gute Ratschläge zu erteilen. In diesem Augenblick wechselt die Aufzeichnung, die ich vorbereitet habe, von mir zu Ljubo über. „Ja, ist in Ordnung!“ erwidert Ljubo. „Der Vergaser war verstopft, jetzt schnurrt er nur so.“ 184
„Gut“, sage ich. „In die Stadt muß ich trotzdem, ich melde mich so in einer Stunde wieder. Du bist doch hier?“ Ljubo bestätigt es. Assen und der andere junge Bursche beginnen eine neue Partie (Assen hat natürlich verloren), und ich verlasse den Verschlag, wo die Leidenschaften toben, und mache mich auf den Weg zu Bankows Büro. Auf den Korridoren herrscht reges Treiben. Ein paar Leute sind vor den Eingang getreten und blicken zur Chaussee hinüber, auf der schon Laster fahren. Aber die Schichtbusse sind noch nicht da, und bis zur Straße ist es wenigstens ein halber Kilometer Weg durch den roten Morast. Niemand will das riskieren. Es nieselt noch leicht. Bankow ist allein in seinem Büro. Er sitzt am Schreibtisch vor einem Haufen Aktenheftern und sieht müde aus. Die nervösen Gesten sind wieder da. „Nehmen Sie Platz!“ fordert er mich auf, indem er sich erhebt. „Tut mir leid, daß es sich vorhin so getroffen hat. Es ist doch nichts … Eiliges?“ Anscheinend sieht man es mir am Gesicht an, daß die Dinge, die ich mich darzulegen anschicke, nicht sehr erfreulich sind, denn er stellt keine weiteren Fragen. Er steckt sich nur eine Zigarette an (mit diesen Zigaretten kennt er kein Maß!) und wartet, daß ich fortfahre. Doch ich zögere. Vielleicht ist er doch nicht der richtige Mann für mein Vorhaben, und ich sollte mir lieber einen Unauffälligeren, nicht so Exponierten aussuchen? Ich setze mich auf das Kanapee, werfe dabei einen zerstreuten Blick in die Runde, während Bankow sich in dem Sessel mir gegenüber niederläßt. „Übrigens“, sage ich, „was halten Sie von Ingenieur Bergen?“ Bankow überlegt kurz. „Nun ja … er ist oft hier. Korrekt, höflich. Fragt nie 185
mehr als nötig. Wir haben ein paar kleine Korrekturen an der Zufahrtsstraße miteinander abgestimmt, das ist alles. Ich habe einen guten Eindruck von ihm.“ Es ist einleuchtend, warum ihm die Leute Vertrauen schenken. Bei Bankow gibt es kein Wenn und Aber. „Ich habe einen guten Eindruck von ihm“ – kurz und bündig. „Und dieser Schimmer?“ „Schimmer? Der ist unmöglich. Mit dem kommt kein Mensch klar. Dabei ist er nicht so einfältig, wie er aussieht.“ „Vermutlich … kann er uns nicht ausstehn?“ „Bestimmt. Nur, was haben wir ihm getan?“ „Weiß man’s. Und Madame Kramer?“ „Ja, die … ist ein besonderer Fall. Sehr gescheit … einfach ungewöhnlich gescheit. Und sie gefällt mir nicht. Nein, ich meine nicht ihr Aussehen!“ fügt Bankow mit einem Lächeln hinzu. „Wieso gefällt sie Ihnen nicht?“ „Ich weiß nicht. Ich fühle mich unbehaglich in ihrer Gegenwart. Wir sitzen so da, unterhalten uns, und ich fühle mich unbehaglich. Kennen Sie dieses Gefühl nicht auch?“ „Doch, doch! Sie sagten, daß der Transformator vorübergehend außer Betrieb gesetzt wird. Wirkt sich das auf das Objekt aus?“ Bankow schüttelt den Kopf. „Nein, wir haben noch zwei Reserveleitungen zur Verfügung. Im übrigen ist das ein völlig normaler Vorgang.“ „Wie Sie meinen. Ich frage nur, weil ich so meine Vorstellungen habe.“ „Es besteht keine Gefahr“, versichert Bankow. „Und dann … Sie wissen nicht, was für ungeheure Konventionalstrafen sie für jede Minute Stromausfall zahlen! Nein, die beiden Reserveleitungen sind zuverlässig.“ „Gut. Ich habe noch eine Bitte an Sie.“ „Aber gern.“ 186
„Ich muß Doktor Witanows Schreibtisch öffnen. Drüben, in seinem Büro. Können Sie dabeisein?“ „Jetzt gleich?“ „Wenn es Ihnen paßt, jetzt gleich.“ Wir stehen auf. Bankow stopft die nicht angebrannte Zigarette in die Tasche, und wir verlassen sein Zimmer, um in den Haupttrakt hinüberzugehen. Wir steigen die Treppe hinunter, ich überprüfe auf der Uhr, ob alles in Ordnung ist, und verzögere ein bißchen den Schritt. „Moment! Ich muß Ihnen noch etwas sagen.“ Er verlangsamt ebenfalls den Schritt und sieht mich an. „Ich werde dort Dinge sagen, die Sie verwundern werden. Sie brauchen nicht zu antworten, doch wenn Sie es tun, zeigen Sie durch nichts Ihre Verwunderung.“ Bankow runzelt die Brauen. Er versteht nicht, warum ich das verlange. „Jetzt kann ich Ihnen das nicht erklären. Vor allem aber – wundern Sie sich nicht! Nehmen Sie alles ganz natürlich auf.“ „Gut! Seien Sie beruhigt“, sagt er und nickt. Wir gehen weiter und treten vor das Gebäude. Assens Voraussage bewahrheitet sich. Die ebene rote Schlammfläche bietet unter den warmen Strahlen der Sonne, die wieder hervorgekommen ist, einen phantastischen Anblick. Aus der Erde quillt Dampf. Er steigt auf, ballt sich zu haarigen Knäueln, sie zerreißen in große Fetzen und lösen sich auf. Wundersame Gespenster entstehen und sterben in derselben Minute. Die Fläche trocknet vor unseren Augen. Die beiden Busse, auf die die Leute gewartet haben, blubbern schon, über und über mit Schmutz bespritzt, vor dem Eingang des Hauptgebäudes. Die zweite Schicht ist da, die erste geht. Auf dem Korridor begegnen wir der eilenden, atemlosen Wanewska. 187
„Sie warten doch noch, ja?“ fragt sie und hastet weiter. Das Büro ist leer. Nedkow ist sicherlich gegangen, nichts ist abgeschlossen, die Journale liegen auf den Schreibtischen. Dies ist nicht der Augenblick für eine Lektion über elementarste Sicherheitsmaßnahmen, es ist ja auch niemand da, dem ich sie halten könnte. Ich muß einfach den Zug machen, den ich mir ausgedacht habe. Ich setze mich an Witanows Schreibtisch und mustere die Schlösser. Eine primitive Angelegenheit, jeder zweite Schlüssel paßt. Offenbar hat sich Doktor Witanow nicht sonderlich vorgesehen, das linke Türchen ist überhaupt nicht abgeschlossen, weil es kaputt ist. Inzwischen hat Bankow den Riegel des Sicherheitsschlosses festgestellt und läßt sich hinter dem Schreibtisch der Wanewska mir gegenüber nieder. Ich beginne den Inhalt der Schubfächer auszuräumen und auf der Tischplatte zu sortieren. Hauptsächlich sind es Bücher und referierende Zeitschriften, dazwischen Mappen mit Zeitungsausschnitten über verschiedene Fragen der Antibiotikaproduktion – ziemlich alte Ausschnitte. Wahrscheinlich hat er sie sich aus Sofia mitgebracht. Und natürlich eine Menge unnützer Kram – Dinge, von denen man weiß, daß man sie nie wieder brauchen wird, aber man bringt es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Alles ist geordnet, die Hefter sind nach Themen beschriftet. Ich schlage einen auf und sage leise: „Da ist ja, was wir brauchen, Genosse Bankow!“ Gar nichts brauche ich, versteht sich. Außer, daß der Abhörapparat aufzeichnet, daß hier zwei Personen sind, von denen die eine Bankow ist und die andere etwas Wichtiges gefunden hat … Bankow rutscht unruhig auf seinem Stuhl, geht aber auf mich ein: „Das meine ich auch, Genosse Debyrski.“ Ausgezeichnet! Jetzt ist klar, wer der zweite im Zimmer ist. 188
„Schauen Sie her!“ sage ich. „So etwas werden Sie einfach nicht erwarten.“ Und ich schiebe den Hefter recht geräuschvoll hin und her. Dieses Mal fällt Bankow nichts Gescheiteres als ein „Selbstverständlich“ ein. Seine braunen Augen funkeln angespannt hinter der Brille. „Ich versuche gleich, eine Fotokopie zu machen“, fahre ich fort. „Und dann wollen wir überlegen. Morgen abend kommt er mit den Informationen zurück.“ Zuviel darf ich auch nicht reden, es wäre verdächtig. Bankow schweigt, ist auch besser. Für die genügt: „Morgen abend kommt er zurück.“ Wer, ist klar. Bloß ein Detail fehlt noch. „Sowie er da ist, verteile ich sofort die Aufgaben. Ich rechne damit, daß wir morgen nacht alles erledigen.“ Ich lege die Bücher wieder in die Schubfächer zurück. Bankow denkt einen Moment nach, dann fragt er: „Sind Sie sicher, Genosse Debyrski?“ Eine geschicktere Frage hätte er kaum stellen können. „Doktor Witanow ist nicht der Mann, der uns hereinlegen würde. Sie kennen ihn nicht.“ Ich schließe die Türchen ab und stehe auf. „Und jetzt Abmarsch! Den Auftrag wie besprochen. Morgen abend!“ Ich schaue auf meine Uhr. Zweierlei kann ich sofort ablesen: Daß dieses ganze Gespräch nur sechs Minuten gedauert hat und die Abhöranlage eingeschaltet war. Wir verlassen das Zimmer, gehen den Korridor entlang. Der Uhrzeiger ist auf seinen Platz zurückgesprungen. „Ich danke Ihnen!“ sage ich zu Bankow. „Ich glaube, es ist gut gelaufen.“ Er lächelt mit einer gewissen Unsicherheit. Er weiß nicht, ob er jetzt Fragen stellen kann. Besser, er stellt sie nicht. Ich muß ihn indes über manche Umstände aufklären. 189
„Wahrscheinlich wird man Sie beobachten“, sage ich. „Nicht nur wahrscheinlich, sondern bestimmt. Wenn Sie was bemerken, zeigen Sie nicht, daß Sie was bemerkt haben. Reden Sie nicht über Witanow. Sollte man Sie nach ihm fragen, weichen Sie aus. Und …“ Hier stocke ich, ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll. „Für Sie besteht keine Gefahr, aber bleiben Sie bis morgen abend nicht allein! Sehen Sie zu, daß Sie immer mit Bekannten zusammen sind.“ „Verstehe.“ „Ich muß jetzt gehen.“ Wir trennen uns, und ich gehe zur Garage, um Ljubo zu suchen. Und denke an das, was ich soeben zu Bankow gesagt habe: „Für Sie besteht keine Gefahr!“ Und weshalb habe ich gestockt? Weshalb die Worte so sorgfältig gewählt? Besteht wirklich keine Gefahr, oder glaube ich das nur? Dieser Gedanke taucht unversehens auf, begleitet von unbestimmter, bohrender Unruhe. Warum? Ich habe doch mit Matias alles durchdacht. Wir haben es durchdacht. Haben geredet, Matias war vom Schreibtisch aufgestanden. Die Idee erschien ihm gefährlicher als vertretbar. „Aber die können doch einfach … wie bei O’Gregory!“ widersprach er. Er wollte das Wort „umbringen“ vermeiden. So dumm es auch ist, dies ist einer der Aberglauben unseres Berufs. Man darf den Teufel nicht an die Wand malen. Ich widersprach ebenfalls. Daß sie zuerst versuchen würden, etwas aus mir herauszuholen. Mit den bekannten Methoden. Sie würden mich beschatten, aber wir würden auch nicht schlafen. Vielleicht würden sie sich auch zu einem Überfall entschließen, aber das wohl doch kaum. Wenn wir alles gut organisierten, wäre das ihr Ende. Jetzt müßten sie sich unbedingt zeigen, aus ihren Schlupfwinkeln kommen. Ein wohlberechnetes Risiko 190
unsererseits sei überhaupt kein Risiko. Wir seien die Stärkeren. Matias war sich völlig im klaren darüber, daß der Fall Witanow nicht nur unser Objekt betraf, sondern sein Land, und das machte ihn nachgiebiger. Dennoch brauchte er die Einwilligung des Kommissars, um mehr Leute einzusetzen und meinen Schutz zu organisieren. Leicht war das nicht. „Sie wollen also“, überlegte er, „eine vermeintliche Bedrohung schaffen und sie zum Handeln zwingen.“ Eigentlich ja. Aber es ist eine doppelte Schlinge. Wenn Witanow bei ihnen ist – dies wäre die erste Möglichkeit! –, stellen wir ihn mit diesem scheinbaren Auftrag bloß. Das hätte er vollauf verdient, falls er bei ihnen ist. Und wenn er es nicht ist – und dies ist die zweite Möglichkeit –, dann werden sie etwas gegen mich unternehmen. Sie werden um jeden Preis den Auftrag Doktor Witanows erfahren wollen. Vor allem werden sie mich beschatten. Mit einem Schlag können wir ein paar der kleineren Agenten erwischen und den Knoten entwirren. Sie können versuchen, mich zu entführen. Doch Matias würde mich absichern. Nicht bloß mit einem Mikrosender, sondern durch doppelte und dreifache Markierung. Durch einen Mann, der mir wie ein Schatten folgte. Durch Bewachung rund um die Uhr. Die Kommandantur verfügt über Leute wie über Technik. Die Gegenseite würde sich nicht dazu entschließen, mich zu töten, weil sie dann sämtliche Spuren verlor und der rätselhafte Witanow übrigblieb, von dem eine unbekannte Bedrohung ausging. Allmählich gab Matias nach. Dann gingen wir die möglichen Schachzüge der Gegenseite durch und trafen Vorkehrungen zum Handeln. Und nun stellt sich heraus, daß ich die Gefahr für Bankow unterschätzt habe. 191
Für ihn besteht ein Risiko, das ist mir inzwischen klar. Wenn ich das Recht habe, über mich selbst zu bestimmen – und auch dieses Recht ist zweifelhaft! –, so hat mir niemand erlaubt und wird mir niemand erlauben, einen anderen Menschen einer Gefahr auszusetzen! Ljubo. Ich muß auf Ljubo verzichten und bis morgen abend allein bleiben, um Bankows wegen beruhigt zu sein. Ein anderer Ausweg bleibt mir nicht. Damit habe ich einen Entschluß gefaßt. Die Unruhe bohrt noch in meinem Bewußtsein, klingt aber langsam ab. Ich reiße ein Blatt aus meinem Notizbuch und schreibe, mich am Fensterrahmen abstützend: „Du fährst sofort zurück und weichst Bankow nicht von der Seite! Nicht eine Minute!“ Keine Chiffrierung, diesen Luxus kann ich mir nicht mehr leisten. Ljubo schaut aus dem Augenwinkel auf den Zettel und nickt. Dann legt er den Gang ein, und wir fahren los, während ich das Feuerzeug nehme und dieses Halbtelegramm verbrenne. Jetzt bin ich ruhiger. Losfahren ist zuviel gesagt. Nach den ersten hundert Metern hört der Jeep auf zu stuckern, weil die Räder durchdrehen. Der Motor heult, eine rötliche Wolke feiner Spritzer fliegt um uns herum. Nur mein höherer Dienstgrad hindert Ljubo zu sagen, was er denkt. „Schieben wir ein bißchen!“ schlage ich vor. Zum Schieben ist es auch schon zu spät, weil wir langsam und unaufhaltsam in eine Grube rutschen. Ljubo wird blaß vor Wut, ich betrachte die Dinge philosophischer, wie es unserem Altersunterschied ansteht. Der Zwischenfall wird von den Tricktrackspielern behoben, die unser Malheur bemerkt haben und in einem malerischen Haufen angerannt kommen – barfuß, mit hochgekrempelten Hosenbeinen. Sie waten durch den roten Morast wie durch Tomatenmark. Nachdem sie uns herausgeholt haben, muß sich Ljubo Assens Belehrun192
gen übers Fahren in unwegsamem Gelände anhören. Macht nichts, wir sind auch dafür dankbar. Stück für Stück arbeiten wir uns zur Chaussee vor, und zehn Minuten später sind wir vor dem San-FelipeKrankenhaus. Ich wechsle noch einen Blick mit Ljubo, er nickt – hat verstanden! – und setzt mich vor dem Eingang ab. Am späten Nachmittag ist das Krankenhaus viel belebter als gestern abend. Vor den Ambulatorien im Parterre stehen Dutzende von Patienten, die Bänke längs der Wände sind von Kranken besetzt. Der lange Korridor ist voller Lärm und Stimmengewirr. Ich schaue nur für einen Moment ins chirurgische Ambulatorium – dort hat jetzt ein anderes Team Dienst – und fahre mit dem Fahrstuhl hinauf. Niemand hält mich an, es ist offensichtlich, daß man beim Zutritt zu den Etagen durch die Finger sieht. Die Tür zur Station ist abgeschlossen wie gestern. Ich klingle, nach einer Weile verhalten leise Schritte hinter der Tür. Man hat es nicht eilig, mir zu öffnen, wahrscheinlich werde ich von irgendwo gemustert. Einer der beiden Assistenten von Matias schließt mir auf, einer der beiden, die gestern im Hotel die Tatortaufnahme gemacht haben. Dem allzu neuen Sanitäterkittel sieht man an, daß er nicht ihm gehört. Er führt mich ins Zimmer des diensthabenden Arztes, und ich versuche, soweit wir uns verständigen können, mir ein Bild von der Lage zu machen. Alles läuft ohne Überraschungen ab. O’Gregorys Zimmer ist abgeschlossen, das betreten nur Doktor Vernier und Schwester Chabrol. Die Schwester ist irgendwo in der Nähe, sicher bei den Kranken in den anderen Zimmern. Matias hat für die Nacht eine doppelte Bewachung angeordnet und angerufen, daß er bald hier sein werde. Der zweite von der Einsatzgruppe ist unten beim Eingang, und die Verständigung mit ihm im Alarmfall 193
gesichert. Die Tür zu dem Zimmer, in dem O’Gregory liegt, ist ebenfalls mit dem Signalnetz verbunden. Wenn ich hinein will, müssen wir Schwester Chabrol suchen. Ich kenne die Vorkehrungen um O’Gregory, denn ich war gestern nacht bei der Anbringung der Requisiten zugegen, trotzdem ist es nicht verkehrt, mal hineinzuschauen. Deshalb lasse ich unseren vermeintlichen Sanitäter im Arztzimmer zurück und suche die Krankenzimmer nach Schwester Chabrol ab. Ich finde sie beinahe sofort – sie trägt die abendlichen Arzneien für die Kranken aus und macht Injektionen. Ein Sanitäter folgt ihr und schiebt ein Wägelchen vor sich her, auf dem in strenger Ordnung Schachteln mit Ampullen und Fläschchen stehen; aus einer Metallbüchse für Injektionsnadeln steigt noch Dampf auf. Sowie mich Schwester Chabrol erblickt, sagt sie etwas zu dem Sanitäter, und er geht mit dem Wägelchen ins nächste Zimmer, während sie mich ohne jede Frage zu dem letzten Zimmer auf dem Gang führt. O’Gregory liegt noch so da, wie wir ihn am Abend zuvor verlassen haben. Der Anblick gehört nicht zu den angenehmsten – der Tropf zur Blutübertragung an einen Toten angeschlossen. Doch in dem halbverdunkelten Zimmer ist die Illusion vollkommen. Auf dem Nachtschränkchen liegen Röhrchen und ein Taschentuch, auf dem Stuhl Wäsche, es riecht nach Kampfer aus den leeren Ampullen, die man nachlässig in einer Schale am Bett hat liegengelassen. O’Gregory liegt der Wand zugekehrt, ich höre, wie er in der Bewußtlosigkeit leise stöhnt. Sie werden sich täuschen lassen. Der hereinkommt, wird keine Zeit haben zu beurteilen, ob O’Gregory lebt. Und um zu schießen, muß er unbedingt drinnen sein, O’Gregory ist absichtlich so hingelegt worden. Zwei Schritte – eine Sekunde; Pistole ziehen – eine Sekunde; schießen. Alles in allem drei oder vier Sekunden. Und 194
inzwischen wird sich die Tür hinter ihm automatisch schließen und verriegeln. Und einer von Fra Cesares Leuten wird begreifen, daß er das Spiel verloren hat. Bis jetzt ist nichts Besonderes passiert, Schwester Chabrol hat nicht bemerkt, daß sich jemand für O’Gregorys Zimmer interessiert hätte. Der Arzt vom Frühdienst hat Doktor Verniers Erklärung ohne weiteres akzeptiert, um so mehr, als auch der Mann von der Einsatzgruppe da war. Die Kranken sind mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt. Die Schwester? Eine andere Schwester habe es nicht gegeben, sie sei seit dem Morgen da. Ich habe diesen Typ Krankenschwester immer bewundert. Schwester Chabrol hat nicht mehr als eine Stunde geschlafen, und wenn operiert worden ist, ist nicht einmal soviel zusammengekommen. Ärzten steht in solchen Fällen das Vorrecht zu, nervös zu sein und ihre schlechte Laune zu demonstrieren. Den Schwestern nicht. Schwester Chabrol ist knapp, sachlich, kein überflüssiges Wort. Wir verlassen O’Gregorys Zimmer, und sie ruft sofort den Sanitäter mit dem Wägelchen. Die Kranken warten. Die nächsten fünfzehn Minuten widme ich den Lastaufzügen – ich fahre die Stockwerke ab bis hinunter zur Küche, die im Kellergeschoß ist. Meine gestrige Vermutung erweist sich als richtig. Die Küche wird über den Park versorgt, die Lastautos mit den Lebensmitteln kommen über die asphaltierte Chaussee und halten hinter dem Krankenhaus. Hier ist die Achillesferse von San Felipe. Wenn jemand in die Stationen will, wird er diesen Weg wählen Die Küchen werden nicht bewacht. Hier drücken sich auch jetzt alle möglichen Leute herum. Ich fahre wieder hinauf, und an der Tür zum Arztzimmer stoße ich fast mit Matias zusammen. Er hat das Kinn vorgeschoben, seine Augen blicken kriegerisch. „Haben Sie den Verwundeten gesehen?“ fragt er statt 195
einer Begrüßung und fügt leise hinzu: „Ich muß Ihnen etwas sagen.“ Wir gehen in das Zimmer, er schickt seinen Assistenten hinaus, ich zelebriere die heilige Handlung mit der Uhr. Ich möchte gegen die Überraschungen der Elektronik abgesichert sein. „Sie haben im Leichenschauhaus nachgefragt!“ verkündet Matias. „Heute nachmittag. Von der Ermittlungsabteilung ist bei der Ärztin wegen eines Fehlers im Protokoll angerufen worden. Natürlich war es nicht die Ermittlungsabteilung. Aber es war so geschickt inszeniert, daß sie ihnen um ein Haar aufgesessen wäre.“ „Und was war?“ „Sie hat am Telefon erklärt, daß sie so eine Autopsie nicht vorgenommen haben und das Protokoll sicherlich aus dem anderen Leichenschauhaus stamme, dem des Medizinischen Instituts. Der am andern Ende hat sich entschuldigt und aufgelegt. Das Gespräch ist auf Band genommen, wir haben die Aufzeichnung verglichen. In unserer Kartei ist die Stimme nicht vorhanden.“ „Sicherlich haben sie auch hier nachgeforscht.“ „Bestimmt, ich weiß bloß nicht, wie. Und bei Ihnen … ist alles gut verlaufen?“ Ja und nein. Ich erzähle ihm von der Szene im Büro und von meinen Befürchtungen wegen Bankow. Ich sehe, daß ihm diese Komplikation nicht gefällt. Aber er überlegt nüchterner als ich. „Bei ihm … werden sie’s wohl kaum versuchen. Sie sind sich darüber im klaren, daß er Doktor Witanows Auftrag nicht kennt. Nun, trotzdem war das mit Ihrem Assistenten richtig. So können wir wenigstens beruhigt sein.“ Er schweigt einen Moment und fügt hinzu: „Seinetwegen ja, doch Ihretwegen bin ich ganz und gar nicht ruhig. Wie Sie sehen, hat sie die Geschichte mit O’Gregory schon nervös gemacht.“ 196
Wir wechseln noch ein paar Worte über meine Absicherung. Matias hat getan, was er konnte, der Kommissar hat Leute bewilligt, und sie haben zusätzlich ein paar Aktionsvarianten ausgearbeitet. Er denkt weiter nach. „Wir lassen uns jetzt auf einen direkten Kampf ein. Aber Sie haben recht, wir können sie nicht in Ruhe lassen. Wenn wir sie in Ruhe lassen, sind sie Herr der Lage.“ So ist es. Und wenn wir Witanow nicht finden können, werden wir in ein paar Tagen in die Verteidigung gedrängt. Matias begreift das, und es ist gut, daß er es begriffen hat. „Wir müssen auch auf Überraschungen gefaßt sein“, sage ich. „Sie können auf eine Art handeln, die wir nicht vorausgesehen haben. Wir arbeiten ebenfalls mit vielen Unbekannten.“ Matias verzieht die Lippen. „Sollten sie so gerissen sein? Ich glaube es nicht.“ Er steht auf, nimmt einen Kittel vom Kleiderhaken und zieht ihn an. „Sie haben sich hier umgesehen“, sagt er. „Aber ich glaube, es ist nicht schlecht, alles noch einmal abzugehen. Hauptsächlich die Wege auf denen sie versuchen könnten …“ Mit dem vorgeschobenen Kinn und den angegrauten Schläfen sieht er wie ein Dozent aus, der sich auf die Visite vorbereitet. Ein recht sorgenvoller Dozent.
Das Erdgeschoß An diesem Abend komme ich verhältnismäßig früh nach Hause. Nach den angespannten letzten Nächten erscheint mir das völlig verdient. Ich werde auf mein 197
Zimmer gehen, eine Stunde habe ich vielleicht noch mit der Chiffrierung der Information für Sofia zu tun, dann lege ich mich hin. Aus der Stadt habe ich mir einen Roman mitgebracht, der mich einschläfern soll. Ein richtiges Kolportageheft, ausgezeichnete Lektüre für ängstliche Hausverwalter, Handelsreisende und skeptische Inspektoren. Der Wagen der Kommandantur setzt mich vor der Pension ab und fährt weiter. Er wird bis zur nächsten Straßengabelung fahren, und dort steigt der Mann aus, der von jetzt an mein unsichtbarer Schatten sein wird. Dieser Schatten ist aus Fleisch und Blut und heißt Henry. Ein untersetzter, rundlicher, lächelnder Bursche. Ich finde ihn geistesgegenwärtig und sehr reaktionsschnell. Mit ihm sind alle Parolen und genauen Zeiten abgesprochen, zu denen ich mich über einen Taschensender melden werde. Die einzige Gefahr ist im Moment, daß mich ungeladene Gäste in meinem Zimmer erwarten, und diese Gefahr ist nicht gering zu achten. Aber ich glaube nicht, daß sie sich zum sofortigen Handeln entschlossen haben. Innerhalb von Minuten wird es dunkel. Oben auf dem Hügel ist es noch hell, und die Wipfel der ansonsten düsteren Zypressen sind jetzt goldiggrün und zart. Doch auf dem Weg abwärts verdichten sich die Schatten. Die Olivenwäldchen strömen Stille aus. Ich stehe in dieser Stille auf dem Weg, gefangen von diesem Wunder des scheidenden Tages. Wieder ein Tag meines Lebens. Früher bewegte und quälte mich das – ich dachte an die Unwiederbringlichkeit eines jeden vergangenen Tages, an die orangeroten Sonnenuntergänge, den warmen Wind, die Stimmen, die nicht mehr wiederkommen würden. Und mir war schwer ums Herz. Dann ging das vorbei. Ich habe geraume Zeit gebraucht, um zu lernen – der gefährliche Beruf hat mich das gelehrt –, mich jeder Minute des Lebens zu freuen. Dazustehen 198
und die Stille zu genießen, die vergoldeten Wipfel der Zypressen, den aufregenden Geruch feuchter Erde. Der Mensch kann wissen, daß er gehen wird, und sich doch nicht fürchten. Dann rückt alles an seinen Platz. Langsam gehe ich die Allee zur Pension entlang und höre Schritte und Stimmen hinter mir. Andere kommen auch nach Hause. Eine Frau holt mich ein mit zwei großen Jungen, so zwölf, dreizehn Jahre, mit Schultaschen in den Händen. Mir ist, als hätte ich sie schon am ersten Tag gesehen. Sie reden von einem Internat, wo sie zur Schule gehen, von Prüfungen und Basketball. Sie informieren ihre Mutter ausführlich über das Basketballspiel, obwohl sie sich betont für die Prüfungen interessiert. Wir grüßen uns, die Jungen verlangsamen den Schritt und lassen ihre Mutter vorangehen. In ihren Augen glänzt so eine ungespielte Neugier und der Wunsch, mich anzusprechen, daß ich nicht widerstehen kann. Ich bin auch mal ein Junge gewesen und weiß, wie es ist. „Ich hab’ da was von Basketball gehört“, sage ich. „Wie stehen die Aktien?“ Da bricht der Damm. Während ihre Mutter provokatorische Zwischenbemerkungen über den Nutzen der Mathematik einwirft, erfahre ich alles über das Basketballspiel, bis in die letzten Einzelheiten. Im Internat seien ein Dutzend Bulgaren, sie hätten eine Mannschaft gebildet und schon zwei entscheidende Spiele gewonnen. Kozo hätte ein tolles Dribbling drauf. Sie erklären mir, wer Kozo ist. Im Foyer trennen wir uns. Die mathematikfeindlichen Basketballer gehen zu Abend essen, ich schaue ins Office, ob nicht ein Brief für mich da ist. Ich weiß, daß nichts dasein kann. Mein Fach ist leer. Die Pension hat sich belebt. Aus dem Eßzimmer dringen Stimmen und Lärm, Leute kommen die Treppe herunter. Manche kenne ich, andere nicht. Irgendwo im Obergeschoß spielt ein Transistorradio. 199
Ich schwanke, ob ich zu Abend essen soll, und komme zu dem Ergebnis, daß es noch zu früh ist. Besser, ich sehe nach, wie die Lage in Witanows Zimmer ist. Meine Deklaration vom Nachmittag über seinen Auftrag könnte bei irgend jemandem eine neue Anwandlung von Neugier hervorgerufen haben. In Nummer 39 ist alles unverändert. Der Mikrofotoapparat ist nicht ausgelöst worden – ich traue ihm übrigens nicht mehr allzusehr. Auf dem Schreibtisch dieselbe pedantische Ordnung, das Bett nach Soldatenart gemacht, die Gardinen sind zugezogen. Aber es liegt schon etwas Undefinierbares in der Luft, wie es verlassene Zimmer an sich haben. Im Halbdämmer setze ich mich auf das Bett und denke an Witanow. Ich weiß nicht, wo dieses Gefühl herkommt, aber er wird nicht mehr hierher zurückkehren. Vor drei Tagen lebte das Zimmer noch, obwohl sein Bewohner davongegangen war. Jetzt ist es noch genau so, jeder Gegenstand ist am selben Platz. Aber es ist leblos, mit einem feinen Geruch nach Staub, mit den unsichtbaren Spinnweben, die aus den Ecken kriechen. Genauso ein Abend ist es gewesen, als Witanow aufbrach. Vielleicht hat er wie ich auf dem Bett gesessen und zugesehen, wie die Dämmerung in Wellen durch das Balkonfenster eindrang. Dann hat er die Nachttischlampe angeknipst und lange die Hefter auf seinem Schreibtisch geordnet. Oder er hat einen Brief an seine Familie geschrieben. Diesen Brief, den er nicht eingeworfen hat. Mir ist schwer ums Herz, dieses Zimmer bedrückt mich. Ich strecke die Hand aus und knipse die Lampe an. Das weiche grüne Licht holt den Schreibtisch und den Sessel aus der Dunkelheit, belebt die seltsamen Muster auf dem Teppich. In die Bücher auf dem Schreibtisch kommt auch Leben, die Titel auf ihrem Rücken schim200
mern, der kleine Kalender zeigt das mir wohlbekannte Datum. Dieser Kalender, der nach Germaines Worten nicht am richtigen Platz steht. Ich sitze da, denke an Witanow, und auf einmal kommt mir die Erleuchtung, eine recht seltsame, doch zugleich logische. Ich glaube, jetzt verstehe ich, warum der Kalender da steht. Aber dann müssen alle meine Hypothesen neu durchgesehen werden. Die Situation hat sich verändert. Ich irre mich nicht. Diese winzige Kleinigkeit verschiebt erneut sämtliche Fakten und die Verbindungen zwischen ihnen, gibt ihnen einen neuen Sinn. Mit einem verdrossenen Seufzer stehe ich auf. Ich habe Zeit zum Überlegen, die ganze Nacht liegt noch vor mir. Doch jetzt muß ich in den Speiseraum hinuntergehen, um zu Abend zu essen, und mich danach in mein Zimmer zurückziehen. Ich fahre von einem Klopfen an der Tür aus dem Schlaf. Im nächsten Sekundenbruchteil bin ich vollends wach, werfe die Decke zur Seite, jeder Muskel ist wie eine Feder gespannt. Dann überlege ich. Ein Überfall ist es nicht. Es kann kein Überfall sein. Ich bin in meinem wohlverschlossenen Zimmer. Nach dem Abendessen bin ich gestern auf mein Zimmer gegangen, habe über ein paar Dinge nachgedacht und ein bißchen gelesen. Danach bin ich eingeschlafen. Instinktiv schaue ich auf die Uhr an meinem Handgelenk. Zehn vor zwei. Wer kann um diese Zeit etwas von mir wollen? Abermals klopft es. „Sie werden verlangt, Monsieur!“ Das ist Madame Theresas Stimme. „Einen Moment!“ Hastig fahre ich in meine Sachen und nähere mich 201
der Tür von der Seite. Diese Türen sind nicht sehr vertrauenerweckend. „Wer verlangt nach mir, Madame?“ Eine zweite Stimme meldet sich. Das ist Matias’ Assistent, einer der Jungs, die im Krankenhaus Wache halten. Der Inspektor möchte mich sehen, wenn möglich sofort. Ich mache auf. Vor der Tür steht wirklich einer unserer angeblichen Sanitäter – der, der mich am Abend eingelassen hat. Und Madame Theresa, die so freundlich lächelt wie unter diesen Umständen möglich. Ich entschuldige mich für die Aufregungen, die ich ihr bereite, sie geht die Treppe hinunter, ich bitte Matias’ Assistenten in mein Zimmer, solange ich brauche, um mich fertigzumachen. In der nächsten Minute erfahre ich, daß im Krankenhaus jemand ermordet worden ist. „Witanow?“ frage ich mit zugeschnürter Kehle. Ich bin fast sicher, daß er es ist. Nein, es ist nicht Witanow. Ein unbekannter Mann. Er ist in einem der Aufzüge gefunden worden, die vom Kellergeschoß mit den Küchen zu den Stationen führen. Sie hätten gedacht, der Aufzug sei defekt, weil er spätnachts zwischen zwei Stockwerken steckengeblieben sei. Niemand habe weiter darauf geachtet, und nur durch einen Zufall hätten sie entdeckt, was geschehen war. Inspektor Matias sei schon dort. Das ist alles, was er weiß. Die Achillesferse des Krankenhauses. Unsere Falle. Sie ist zugeschnappt, hat aber einen Toten gefangen. Der zweite Ermordete innerhalb von achtundvierzig Stunden. Und wer ist es? Der Polizei ist er nicht bekannt. Sie sehen ihn zum erstenmal. Wir rennen die Treppe hinunter. Der Wagen, der mich gestern abend hergebracht hat, wartet jetzt vor 202
dem Außentor. Drinnen sitzt Henry, der auf geheimnisvolle Weise aufgetaucht ist. Matias’ Assistent fährt – er wendet, wir kommen auf die Straße und brausen mit Höchstgeschwindigkeit davon. Alles erscheint mir unwirklich – vielleicht, weil es so schnell ging. Mir ist, als schliefe ich noch und als sei der Traum so realistisch, daß ich nicht aufwachen kann. Das Licht der Scheinwerfer zeichnet vor uns einen Kreis, und wir jagen ihm wie hypnotisiert nach, während seitwärts die hohen, gestutzten Hecken vorbeifliegen. Zwei Uhr nachts, die Villen von Port Angère schlafen. Die Stadt liegt wie tot da, nur die Verkehrsampeln blinken warnend an den Kreuzungen. Matias’ Assistent wirft einen Blick in die leeren Straßen und fährt bei Rot ’rüber. Der Sanitäter am Eingang des San-Felipe-Krankenhauses weiß wahrscheinlich noch nicht, was geschehen ist, denn er beachtet uns überhaupt nicht, als wir an ihm vorbeieilen. Sicherlich glaubt er, wir seien vom Nachtambulatorium. Der andere Pförtner jedoch ist unterrichtet, er fragt mit dem Blick und bekommt ebenfalls durch einen Blick die Antwort, wer ich bin. Wir biegen zur Treppe ab, die in das Kellergeschoß hinunterführt. Es folgt ein langer betonierter Gang, mit Feuchtigkeit und dem Geruch ungewaschener Wäsche vollgesogen. Hier irgendwo ist die Wäscherei. Ihr häßliches Gebrumm ist hinter der Wand zu hören. Der Korridor ist zu Ende, der Geruch wird von den üblichen Küchengerüchen verdrängt. An der Biegung steht ein Mann in Zivil, der die Hand hebt, um uns anzuhalten, dann erkennt er uns jedoch. Jetzt weiß ich, wo ich bin. Links sind die Türen zu den Küchen, genau geradeaus die beiden Aufzüge. Davor stehen, mit dem Rücken zu mir, vier Männer. Das Blitzlicht eines Fotoapparates flammt in gleichmäßigen Abständen auf. 203
Einer der vier ist Matias; er dreht sich um und erblickt uns, dann macht er mir neben sich Platz. Sein Gesicht ist unbeschreiblich finster. Und nicht ohne Grund. In der Kabine des Aufzugs liegt mit unnatürlich eingebogenen Armen Doktor Vernier. Er hat einen Kittel an, die weiße Chirurgenmütze auf dem Kopf. Auf dem Kittel zeichnet sich auf der rechten Brustseite ein dunkler Blutfleck ab. Es ist nicht Doktor Vernier. Dies ist der Mann … jener Mann von Ljubos Filmrolle. Der Mann aus dem Citroën mit dem femininen Gesicht. Er ist kleiner als Vernier und sieht ihm ähnlich, aber nicht ganz. Alles rührt von der dünnen Maske her, die er trägt. Sie ist völlig durchsichtig, aus Plast und Gummi, und hat die charakteristischen Züge Doktor Verniers. Die Kleidung vervollständigt die Illusion. Sogar ich habe mich im ersten Moment täuschen lassen. „Raffiniert!“ stößt Matias durch die Zähne. „Eine halbelastische Maske.“ Ich weiß. Habe so was in den Spezialmuseen gesehn. Und da wir es mit Fra Cesare und seinen Möglichkeiten zu tun haben, hätten wir es voraussehen müssen. Sie hätten jeden beliebigen von uns kopieren können, und sogar noch besser. Denn diese Kopie gehört nicht zu den besten. „Ich kenne diesen Mann“, sage ich leise zu Matias. Und erzähle ihm halblaut von Ljubos Aufnahmen. Matias erläutert ebenfalls halblaut, was er weiß. Allem Anschein nach ist es kurz nach Mitternacht passiert. Oben auf der Station ist operiert worden, und mit diesem Aufzug ist als letzter ein Sanitäter von der OP gegen drei Viertel zwölf hinaufgefahren. Etwa eine halbe Stunde später bemerkte man, daß der Aufzug zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk festsaß. Niemand hat sich weiter drum gekümmert, weil der zweite Aufzug funktionierte. 204
Matias berichtet mir diese Einzelheiten, gibt zwischendurch seinen Mitarbeitern Anweisungen, fragt nach dem Wagen, der kommen muß. Dann wendet er sich mir zu. Der Elektrotechniker sei zufällig im Krankenhaus gewesen, man habe ihn wegen irgendeines Apparates in den Operationssaal geholt. Den Aufzug wollte er sich am nächsten Tag vornehmen, doch, bevor er ging, noch nachsehen, wo der Defekt steckte. Und habe sofort Alarm geschlagen. „Was meinen Sie, ist es hier passiert?“ „Ich nehme es an“, sagt Matias. „Sehen Sie sich seinen Kittel an.“ Er ist völlig sauber. Das heißt, er ist nicht irgendwoanders hingefallen und nicht hierhergeschafft worden. Er wurde in der Kabine des Aufzugs ermordet oder vor dessen Tür. „Hat ihn jemand gesehen? Vielleicht vom Küchenpersonal?“ Es stellt sich heraus, daß die Küchen von elf Uhr abends bis vier Uhr morgens geschlossen sind. Eine einzige Frau ist über Nacht da, die im Bedarfsfall Tee und Kaffee herausgibt. Sie sei sich nicht sicher, meint aber, Doktor Vernier gesehen zu haben … diesen Vernier. Und irgendeinen Mann aus der Wäscherei. Matias hat die Wäscherei natürlich überprüft und nichts Verdächtiges gefunden. Dieser Mann ist entweder verschwunden, oder es hat ihn nicht gegeben. Und das Blockieren des Aufzugs ist ein ganz einfacher Trick. Ein Schraubenzieher, ein Ende Leitungsdraht und das nötige Geschick. Wenn der Elektriker nicht hiergewesen wäre, wäre die ganze Sache erst morgen früh entdeckt worden. Aber was nützt uns das? „Herr Kollege“, sagt Matias, „kann ich Sie einmal sprechen?“ Seine Stimme klingt übertrieben höflich, was mir nicht 205
gefällt. Er ist ein wenig betreten, versucht aber, es nicht zu zeigen. Wir lassen die anderen allein, damit sie mit ihren Aufnahmen und Skizzen zu Ende kommen, und steigen hinauf ins Zimmer des diensthabenden Arztes. Die Korridore der Station sind menschenleer. Sogar die Lampe über dem Operationssaal brennt nicht. Wir treten in das Arztzimmer, und Matias langt ohne lange Vorrede in seine Jackentasche. Er bringt etwas zum Vorschein, das in sein Taschentuch geschlagen ist, wickelt es aus und legt es auf den Schreibtisch. Es ist Witanows Mordfeuerzeug. „Ja?“ sage ich nach einer recht langen Pause. Etwas anderes fällt mir im Moment nicht ein. „Wir haben es draußen, vor der Tür zum Lagerraum, gefunden. Die Kugel ist abgefeuert, Sie können sich überzeugen.“ Ich brauche mich nicht zu überzeugen, es ist klar. „Und ist er mit dieser Kugel ermordet worden?“ „Allem Anschein nach. Bei der Autopsie werden wir es erfahren.“ Wir schweigen. Unsere so gut vorbereitete Falle! „Herr Kollege“, sagt Matias nach einer Weile, „ich beabsichtige, dem Kommissar vorzuschlagen, Doktor Witanow suchen zu lassen, und zwar als besonders gefährlichen …“ Er spricht nicht zu Ende. Der ganze Satz würde lauten: „als besonders gefährlichen Verbrecher“. Er hat das offenbar genau überlegt und wartet jetzt auf meine Reaktion. Im ersten Moment bin ich einfach baff. „Sie wollen … wirklich?“ Das da in der Kabine des Aufzugs hat nicht Witanow getan, und Matias weiß das genau. So kaltblütig und berechnend gehen nur professionelle Mörder zu Werke. 206
Und das Feuerzeug ist eine Finte, noch dazu eine der allerprimitivsten! Doch Matias schaut vielsagend gerade auf das Feuerzeug. „Das kann sonstwer dahin geworfen haben!“ sage ich. „Völlig klar“, stimmt er mir zu. „Aber es gehört ihm, nicht wahr? Und Sie haben selbst erklärt, daß die letzten Fingerabdrücke … dort, in seinem Zimmer, von Doktor Witanow stammten!“ „Das ist inszeniert worden! Jetzt glaube ich auch Ihrem Agenten nicht mehr, der ihn in der Bar gesehen hat.“ Er zögert einen Augenblick. „Dennoch: Sie können seine Beteiligung an diesem Mord nicht mit Bestimmtheit ausschließen.“ Das kann ich nicht. Aber das ist kein ausreichender Grund einzuwilligen, daß ein Bulgare als besonders gefährlicher Verbrecher gesucht wird. Bild im Fernsehen, Bekanntmachung im Radio … Nein, ich fühle mich gedemütigt. Und wie wird erst den Leuten vom Objekt zumute sein! Witanow ist kein Mörder. Matias weiß das, will sich aber nach allen Seiten gegen mögliche künftige Unannehmlichkeiten absichern. Dienst bleibt Dienst. Daraus wird nichts. Ich werde ebenfalls ins Kommissariat gehen und meine Erwägungen darlegen. Das Feuerzeug ist jetzt kein Indiz gegen Witanow. Im Gegenteil, daß es gefunden wurde, erfordert eine völlig andere Auslegung. Matias merkt, daß er zu weit gegangen ist. Es dürfte wohl kaum allzu schwer sein, mir das am Gesicht abzulesen. „Gut“, sagt er und gibt nach. „Ich bestehe nicht darauf … im Moment. Gehen wir wieder hinunter, was meinen Sie?“ Wir stehen auf. Er wickelt das Feuerzeug wieder in sein Taschentuch. 207
Wir gehen durch den stillen Korridor, und uns ist unbehaglich zumute. Matias denkt wahrscheinlich, ich habe mich grundlos widersetzt, nur weil Witanow Bulgare ist. Ich muß zugeben, daß er zum Teil recht hat. Doch außerdem bin ich überzeugt, daß die anderen einen Fehler gemacht haben. Sie sind primitiv. Es wäre raffinierter gewesen, hätten sie das Feuerzeug behalten. In der Tür des Schwesternzimmers taucht das Gesicht eines unserer vermeintlichen Sanitäter auf. Es liegt nichts an, er hat nur die Schritte gehört. Matias winkt zornig ab, und er verschwindet. Unten ist die Tatortaufnahme abgeschlossen, man wartet auf uns. „Schaffen Sie ihn in den Wagen!“ ordnet Matias an. „Wir kommen.“ Als diese Prozedur beendet ist, beginnen zwei seiner Mitarbeiter die Kabine im Licht eines Scheinwerfers zu untersuchen. Die Wände, der Fußboden, die Knöpfe auf dem Schaltbrett – alles wird Zentimeter für Zentimeter untersucht. Ein Stückchen Schmutz von einem Schuh kann uns in eine bestimmte Gegend verweisen. Ein Haar kann ein Indiz sein, das seinen Besitzer in allen Einzelheiten beschreibt – Körpergröße und Alter, Haut und Gesichtsfarbe, sogar das Shampoon, mit dem er sich wäscht. Der Scheinwerfer entwickelt eine unerträgliche Hitze. Über die Gesichter der beiden laufen schon nach einer Minute große Schweißtropfen. Ich trete ein bißchen zur Seite, und während ich darauf warte, daß Matias das Zeichen zum Aufbruch gibt, versuche ich mir vorzustellen, wie es vor sich gegangen ist. Der mit der Maske ist vom Park her gekommen. Anscheinend hat er die Lage der Küchen genau gekannt und hatte alles geplant, um O’Gregory innerhalb weniger Minuten um die Ecke zu bringen. Er hat die Tür an der 208
Laderampe aufgeschlossen, vielleicht war das auch gar nicht nötig – in einem Krankenhaus sind solche Türen so etwas wie ein Tag und Nacht geöffneter Hinterausgang. Sicherlich benutzen ihn Ärzte und Schwestern, und er hat sich darauf verlassen, daß er nicht auffallen würde. Den Korridor zu überqueren war eine Sache von Sekunden. Er hat lediglich riskiert, daß ihn die diensthabende Küchenfrau ansprach. Aber die war drinnen, halb wach, halb schlafend hinter dem Schiebefenster, und das Risiko war minimal. Dann ist er vor den Aufzügen stehengeblieben und hat einen gerufen. Und der andere ist von der Wäscherei her gekommen. Ich sehe gleichsam, wie er kommt – klein, unscheinbar, in einer fadenscheinigen Drillichschürze, ein leeres Wägelchen für Krankenhauswäsche vor sich her schiebend. Bei den Aufzugtüren ist er stehengeblieben und hat sich eine Zigarette in den Mund gesteckt. Dann hat er auf selbstverständlichste Weise in die Tasche nach dem Feuerzeug gelangt. Und im nächsten Augenblick hat der falsche Vernier begriffen, daß er sterben würde. So geht es nicht. Fra Cesares Leute sind erfahren, und keiner von ihnen wird sich hinters Licht führen lassen. Die haben schon gesehen, wie Pistolen anstelle von Zigaretten und Feuerzeug aus Taschen geholt wurden. Und zweitens: Verniers Doppelgänger hat bestimmt Schutz gehabt. In so ein kompliziertes Unternehmen würde man ihn nicht allein schicken. Hinter ihm ist jemand hergegangen, aber wo ist er zurückgeblieben, um auf ihn zu warten? Draußen, vor der Tür? Oder hier? Zu zweit in die Aufzugkabine zu steigen wäre zu gefährlich gewesen. Die Anwesenheit eines Leibwächters schließt die Version mit dem fragwürdigen Mann aus der Wäscherei nicht aus, läßt sie aber recht unwahrscheinlich werden. Und wenn gerade dieser Mann der Leibwächter war? Ich gehe ein Dutzend Schritte nach links und stelle 209
mich an das Schiebefenster. Ich möchte das Bild von dort aus sehen, wie es sich der diensthabenden Küchenfrau dargeboten haben kann. Vergebens. Von dem Fensterchen aus ist nur ein Teil des Korridors zu überblicken, die Aufzugtüren bleiben im toten Winkel. Obendrein hat sich die Küchenfrau nicht dafür interessiert, wohin Doktor Vernier eilte und wer hinauffuhr. Moment, und wer herunterkam? Die Frage taucht urplötzlich auf und bringt das System ins Wanken, das ich mir errichtet habe. Wenn der Mörder nicht aus dem Gang zur Wäscherei gekommen ist, dann ist er von oben gekommen. Oder er hat den Aufzug im ersten Stock abgepaßt. Damit ergeben sich ganz andere Lösungsmöglichkeiten. Dann kann er wie ein Kranker von den Stationen ausgesehen haben. Warum er? Sie kann ausgesehen haben wie eine Schwester. Sie hat die Tür aufgemacht und Doktor Vernier um Erlaubnis gebeten einzusteigen. Der war ohne Bewachung, fast schon am Ziel und hat deshalb kein Risiko eingehen wollen. Und der andere hat unten gestanden – zehn Minuten, fünfzehn, eine halbe Stunde … Hat begriffen, daß das Spiel verloren war, sich in den Park zurückgezogen oder voll unterdrückter Wut auf die erleuchteten Fenster im ersten Stock gestarrt. Der Wagen hat in der nächsten Straße auf ihn gewartet und ist erst losgefahren, als die blauen Glühwürmchen der Polizeiautos auftauchten und alles klar war. Wie es genau war, werden wir nicht erfahren. Matias gibt schon das Zeichen. Einen seiner Leute läßt er als Wache im Parterre zurück, und wir gehen durch denselben Hinterausgang hinaus. Auf meine Frage, was wir jetzt mit O’Gregory machen, wird er nachdenklich, aber ich sehe ihm an, daß er bei der neuen Komplikation jetzt nicht die geringste Lust hat, sich mit O’Gregory zu beschäftigen. 210
„Machen wir bis morgen abend weiter?“ schlage ich vor. Morgen bedeutet heute. Draußen wird es hell. Die Nacht liegt noch über der Stadt, aber das gelbe Licht der Lampen im Park ist leicht verblaßt. Die Polizeiautos sind auf den sandbestreuten Alleen hereingefahren, halten unter den Bäumen, und um ihre roten Rücklichter bewegen sich undeutliche Schatten. Ich steige mit Matias in das erste Auto, und wir fahren ohne viel Lärm ab. Hinter uns manövriert vorsichtig das zweite Auto – ein Polizeikrankenwagen. In ihm liegt der falsche Vernier, und wir geleiten ihn auf seinem letzten Weg – zum Pavillon in dem Garten, wo vor nur zwei Tagen O’Gregory gelegen hat. Der Schütze versteht etwas von Anatomie. Die Kugel ist rechts am Brustbein vorbeigegangen und hat eine der Lungenvenen nahe am Herzen zerrissen. Der Tod ist fast augenblicklich eingetreten. Der, dessen Namen wir noch nicht kennen, hat nicht einmal Zeit gehabt, einen Schrei auszustoßen. Und selbst wenn er geschrien hätte, niemand hätte ihn hören können. Bloß der andere, dessen einzige Sorge es nun schon war, unbemerkt zu verschwinden und das Feuerzeug an einer geeigneten Stelle wegzuwerfen. Der Gerichtsmediziner holt die Kugel heraus und zeigt sie mir auf der flachen Hand. Eine Spezialanfertigung, an dem einen Ende vom Aufschlag auf Kleidung und Gewebe leicht abgeplattet. Nur für einen Schuß aus geringster Entfernung. Wenn ich sie in jener Nacht aus dem Feuerzeug genommen hätte, lägen die Dinge jetzt anders. Doch in unserem Beruf gibt es wohl kein überflüssigeres Wort als „wenn“. In dem scharfen bläulichen Licht sieht das Blut braun aus, das Gesicht des Toten wie eine Wachsmaske. Die andere Maske ist abgenommen, doch mir kommt es wei211
terhin so vor, als sähe ich Vernier – so stark war der erste Eindruck dort in der Kabine des Aufzugs. Jetzt liegt er also vor mir, nicht mehr nur ein Foto. Und er sieht nicht wie ein reicher Kaufmann oder Filmimpresario aus. Einfach einer von Fra Cesares Leuten. Sein feminines Gesicht ist in einer Grimasse der Überraschung erstarrt. Der Kollege setzt seine Arbeit fort. Matias und ich gehen in den Nebenraum, um uns seine Sachen anzusehen. Es ist, als wiederhole sich alles von neulich – die Kleidung liegt wieder genauso geordnet da, Sakko, Hemd, Binder, Wäsche … Kleine Dinge: Portemonnaie, eine hübsche Krawattennadel, Uhr, ein paar Münzen, ein Kugelschreiber. Und eine entsicherte Pistole. Er ist so überrascht worden, daß er keine Zeit gefunden hat, danach zu greifen. Neben der Pistole liegt die Maske, ein Häufchen unscheinbaren Plasts, und weiter weg ein merkwürdiger Gegenstand. Matias beachtet die Maske gar nicht, obwohl sie sicherlich recht interessant ist, sondern hebt vorsichtig diesen Gegenstand auf und hält ihn ins Licht. Es ist so etwas wie eine lange Metallnadel in einem durchsichtigen Etui. Am oberen Ende ist ein kleiner Griff, das spitze Ende ist frei. Ich bin ebenfalls neugierig, weil ich ahne, was es ist. „Eine Spinella“, sagt Matias. Spinella heißt Stachelchen. Hinter dieser Verkleinerungsform verbirgt sich eine furchtbare Waffe. Der Stachel ist hohl, darin befindet sich ein einziger Tropfen Gift. Aber ein Gift, vor dem sich die Königskobra schamvoll verkriechen würde. In den Lehrbüchern steht nichts von solchen Erfindungen der modernen Chemie, aber es gibt sie. Die Lähmung tritt innerhalb von sieben Sekunden nach dem Stich ein. Das Opfer sieht und hört alles, denn das Bewußtsein bleibt erhalten, ist sogar geschärft. Und es stirbt an Erstickung, weil die Atmung aussetzt. 212
Die Spinella war für O’Gregory bestimmt. Mir läuft es kalt über den Rücken, und ich kann den unangenehmen Schauer nicht unterdrücken. Im Menschengedränge auf der Straße geht so ein Halunke mit femininen Zügen und gelocktem Haar an einem vorbei. Du spürst den Kratzer gar nicht, weil er dich angestoßen hat und sich entschuldigt. Dann verändert sich die Welt, wird kristallklar und erstarrt. Jede Zelle deines Körpers schreit vor Schmerz und Todesangst. Und der Kerl kommt dir sogar noch zu Hilfe. („Helfen Sie, dem Herrn ist schlecht geworden!“) Nirgends sonst empfinde ich solchen Abscheu wie bei Giftmorden. Die Pistole ist immerhin eine würdige Waffe, weil sie ein Risiko birgt. Gift ist die Waffe der Feiglinge. Solche wie dieser da müssen verfolgt und vernichtet werden wie … ich kann nicht einmal sagen wie was. Er hat bekommen, was er verdient hat, und wenn Witanow ihn erschossen hat – um so besser! Ähnliche Gedanken scheinen Matias zu bewegen, denn er äußert etwas über heimtückische Morde und holt aus dem Schrank ein Stahlröhrchen, in das er die Spinella legt. Das Vertrauen zwischen uns ist nach der Verstimmung im Büro wiederhergestellt. „Schauen wir uns die übrigen Sachen an“, schlägt er vor. Gerade das tue ich im Augenblick. Vor allem beschäftigen mich die Uhr und die Krawattennadel. Ich würde gern wissen, ob diese Uhr nicht zufällig etwas Besonderes an sich hat. Hat sie nicht. Dafür wiederum entspricht die Krawattennadel, wie man so sagt, den Erwartungen. Auf der Unterseite des Steins ist das Miniaturmikrofon eingebaut, das ich suche. Sicherlich sind wir außer Reichweite des Empfängers, dennoch halte ich Matias wortlos das Mikrofon hin. Er nickt und sagt leichthin: „Nun, es hat offenbar keinen 213
Sinn. Legen wir das da ’rein, und fahren wir in die Kommandantur, das ist vielleicht nützlicher.“ Bei „das da“ macht er ein Holzkästchen auf und bedeutet mir, die Nadel hineinzutun. Irgendwie möchte ich mich nicht sofort von dieser Nadel trennen. Ich kenne sie. Und ich kann sie eigentlich nicht kennen, weil ich diesen femininen Typ nie gesehen habe. Die Männer, denen ich hier begegnet bin, haben keine solchen Nadeln getragen. Überhaupt sind Krawattennadeln im glutheißen Port Angère eine Seltenheit. Krawatten haben sie aus dem offiziellen Anlaß beim Surfing getragen. Matias wundert sich über mein Schweigen und steht mit dem offenen Holzkästchen in der Hand da, während ich mein Gedächtnis anstrenge. Steeks? Nein, seine Krawatte hing schief am Hals. Bergen? Hatte keine Nadel. Thorwald? Seine Nadel war anders, sie ist mir damals schon aufgefallen – sie hatte einen Brillanten, dieser Stein hier ist jedoch dunkelorange. Mein Gedächtnis täuscht mich nicht, ich habe diese Nadel schon gesehen! Ich drehe sie zwischen den Fingern, spüre, daß es mir jeden Moment einfallen wird … Ja! Nicht die Nadel und nicht bei einem Mann. Maria Kramers Ring! Sie haben etwas gemeinsam. Die Goldfarbe und eine auf den ersten Blick nicht erkennbare Ähnlichkeit – der Stein ist anders, aber auf die gleiche achteckige Art geschliffen. Und die Feinheit der Gravur. Die Handschrift des Juweliers ist dieselbe, wie man so sagt. Fra Cesares Juwelier. „Sie haben recht“, sage ich, „es hat keinen Sinn.“ Und lege die Nadel in das Kästchen. Matias sieht mich aufmerksam an, er merkt, daß etwas ist, stellt aber keine Fragen. Im Aufbrechen werfen wir noch einen Blick nach ne214
benan, wo der Gerichtsmediziner seine Arbeit beendet. Er hat nichts Bemerkenswertes mehr. Aber was er gefunden hat, genügt ja. Wir treten ins Freie, und ich atme erleichtert die Morgenluft ein. Ich bin ganz vom Formalingeruch durchtränkt, ich kann ihn nicht loswerden. Und wie sollte ich auch, solange ich so merkwürdige Pavillons besuche. Es ist hell geworden. Die Sonne hat sich noch nicht gezeigt, doch das Grün im Garten glänzt in seinen richtigen satten Farben. In den Blättern der Bäume zwitschern unsichtbar Tausende Stimmen. Von Zeit zu Zeit schwillt das Gezwitscher an, und aus einem Baum steigt ein Schwarm grellgelber, lärmender Vögel auf. Im Schatten ist es noch kühl. Matias verschließt unsere Funde im Kofferraum und steckt den Schlüssel ein. Jetzt ist der Augenblick gekommen. „Gehen wir ein Stückchen spazieren, wenn Sie mögen“, schlage ich vor. Wir schlendern über den Parkweg zu den Bäumen auf der anderen Seite des Pavillons. Hier ist der rechte Ort. Und es bedarf nicht vieler Erklärungen, er begreift sofort aus halben Worten. Ich zähle ihm die Tatsachen auf, spüre jedoch, daß meine anfängliche Sicherheit weggeschmolzen ist, jetzt bin ich schon unschlüssig. Ja, Maria Kramer hat einen Ring derselben Machart getragen. Ja, dieser Mann ist nach dem Surfing den Autos gefolgt, und wahrscheinlich besteht eine Verbindung zwischen ihm und Maria Kramer. Doch die Ähnlichkeit zwischen Fingerring und Krawattennadel kann reine Einbildung sein – als ob ich mich in solchen Fällen nicht schon oft genug getäuscht hätte! Und es kann sein, daß Maria Kramer mit dieser Geschichte nichts zu tun hat. Matias ist nicht so zurückhaltend, er meint, daß es die Vermutung wert sei, vollends aufgeklärt zu werden. 215
Doch unsere Fakten sind so gut wie keine Fakten, mit ihnen allein geht es nicht. Hier ist Exaktheit vonnöten. „Das wichtigste ist jetzt, daß wir feststellen, wer dieser Mann ist.“ Matias nickt zu den Fensterchen des Pavillons hinüber. „Und wenn möglich, etwas über seine Kontakte! Ich fahre in die Kommandantur zurück, um nachzusehen, was die Einsatzgruppe zusammengetragen hat. Kommen Sie auch hin?“ „Sicherlich gegen Mittag. Mich interessiert mehr, was Nadel und Ring miteinander zu tun haben. Ich kehre in die Pension zurück.“ „Wie Sie wünschen. Wenn Sie wollen, fahren wir Sie mit dem Wagen hin. Und gegen Mittag warte ich auf Ihren Anruf, ja? Vielleicht rufe auch ich Sie an.“ Wir gehen wieder um den Pavillon herum, und am Ende der Allee verlangsame ich unwillkürlich den Schritt. Rechts von mir hat ein niedriger Strauch drei, vier riesige Blüten geöffnet, wie jene Blüten bei meiner Ankunft auf dem Flugplatz. Ihre wächserne Blässe ist mit himbeerroten Tropfen und Tupfen von seltsamen Umrissen gesprenkelt. Ich kann nicht sagen, womit, aber in irgend etwas erinnern sie mich an den femininen Typ mit der Giftnadel.
Der Hügel Die Pension ist schon erwacht, das Tor steht weit offen, und aus der Küche ertönen Stimmen. Madame Theresa gibt Germaine Anweisungen. Die alltägliche Geschäftigkeit hat begonnen. Durch den Garten fliegen riesige Schmetterlinge, auf den Flügeln dunkle Figuren, wie Augen. Hinter den Bougainvilleas hat Ljubo den Jeep geparkt und macht sich an ihm zu schaffen; er wischt die Mor216
genfeuchtigkeit von der Frontscheibe. Ich halte mich bei ihm nicht auf, wir wechseln nur einen Gruß. Ljubo deutet mit den Augen zu den Balkonchen. Also ist Bankow noch in seinem Zimmer. Ich eile die Treppe hinauf und komme gerade dazu, wie er sein Zimmer verläßt und die Tür abschließt. Sowie er mich erblickt, blitzt in seinen kurzsichtigen Augen für einen Moment Hoffnung auf. Witanow? Nein, ich habe ihn nicht gefunden; er versteht es, ohne daß ich etwas sage. Und er stellt keine Fragen – es ist klar, daß unsere Absprache betreffs der Aufgabe in Kraft bleibt. Bankow ist nervös und angespannt wie immer, doch dieses Mal spüre ich, daß da noch etwas ist. Man sieht es ihm an – er hat sich flüchtig rasiert und sieht besorgter aus als gewöhnlich. Und während wir ein paar allgemeine Redensarten wechseln, erfahre ich, daß Markow krank ist. Er liegt in der anderen Pension, und Bankow kommt eben von dort zurück. Er will sich nur ein paar Unterlagen holen und zum Dienst gehen. Es ist mir peinlich, ihn bei all seinen Sorgen mit zusätzlichen Problemen zu belasten, aber es geht nicht anders. Wir steigen die Treppe hinunter, ich passe einen geeigneten Moment ab und frage ihn beiläufig: „Sie sehen doch heute Madame Kramer?“ Er wirft mir durch seine Brille nur einen kurzen Blick zu. „Ja, ich hatte vor, sie … jetzt aufzusuchen. Wegen des Transformators.“ Weil ich nicke, fügt er nach kurzem Überlegen hinzu: „Da haben sich … ein paar Komplikationen ergeben, die wir besprechen müssen. Wir finden schon einen Weg.“ Der Satz, daß er einen Weg finden werde, bedeutet nichts anderes, als daß er dafür sorgen werde, daß alles ganz natürlich vor sich geht. Er weiß bloß noch nicht, wie. Wir durchqueren das Foyer, aus dem Speiseraum erscheint Madame Theresa. Nichts zu machen, ein paar 217
Minuten sind futsch. Sie interessiert sich lebhaft für Herrn Markows Befinden und fragt nach Neuigkeiten der letzten Nacht. Sie meint es ehrlich, keine Spur von falscher Freundlichkeit. Bankow erklärt recht kurz, wie es sein Stil ist, daß man eine Blutung befürchtet, der Arzt von der Dringlichen Medizinischen Hilfe jedoch erklärt habe, ganz so schlimm sei es nicht. Und heute morgen gehe es Markow tatsächlich besser. Für alle Fälle sei aber Assen mit dem Peugeot bei ihm in Bereitschaft. Nein, danke, frühstücken möchten wir nicht, wir haben es eilig. Wir steigen in den Jeep, und Ljubo braust mit Vollgas los; er merkt, daß wir keine Zeit zu verlieren haben. Wir nehmen die Straßenbiegung nach oben, dann die nächste, und ich schaue gewohnheitsgemäß in den Rückspiegel. Hinter uns fährt ein dunkelgrauer Citroën. Das ist der Citroën von den Aufnahmen. Es geht los. Ljubo hat das Auto ebenfalls bemerkt und wendet einen einfachen Trick an. Er gibt Gas und bremst danach scharf, Bankow prallt fast auf seinen Rücken und brummt ärgerlich etwas. Ljubo entschuldigt sich. Nein, der dunkelgraue Citroën hinter uns zeigt kein Verlangen, uns zu überholen. Das kann immer noch Zufall sein, weil Gegenverkehr herrscht, doch bei der seit gestern abend gegebenen Situation glaube ich nicht an Zufälle. Und überlege fieberhaft, was geschehen könnte. Einen direkten Überfall werden sie wohl kaum versuchen, das löst die Aufgaben nicht, die wir ihnen gestellt haben. Wahrscheinlich haben sie meine Beschattung verstärkt und führen etwas im Schilde. Ljubo schaltet und schiebt versehentlich den Verschluß des Werkzeugkastens zurück, der unter dem Sitz liegt. Bankow bemerkt dieses kleine Manöver nicht. Ich kann mir denken, was in dem Werkzeugkasten ist – etwas, das aus dem Citroën einen Haufen zerbeultes Blech macht. 218
Sie werden uns nicht überfallen, sie verfolgen uns nur. Wir fahren bereits hügelabwärts und um die Tankstelle mit den roten Zapfsäulen herum. Die hinter uns halten vor der letzten Biegung, und wir verlieren sie aus den Augen. Für jetzt. Diese Tankstelle ist gewissermaßen der Vorposten zu der anderen, wilden Welt der roten Hügel. Obwohl es gestern geregnet hat, ist die Straße wieder mit einer dicken Staubschicht bedeckt, in die die Laster zwei endlose Fahrspuren eingegraben haben. Ein schwüler Wind weht. Der Reklametiger fletscht mit den Zähnen die Wüste an. Die Gebäude der Atlanta tauchen hinter der Biegung auf, genau wie am ersten Tag. Langweilige Bauten, zwischen denen zwei Wäldchen aus zähen Palmen und staubgrauen Büschen um ihr Leben ringen. Es ist noch früh, die Wagen stehen noch nicht da. Im spärlichen Schatten der Palmen knien drei oder vier Kamele, daneben sitzen in schweigender Erwartung ein paar Männer in Burnussen. Sie rühren sich nicht einmal, als der Jeep an ihnen vorbeikurvt. „Sie brauchen nicht mitzukommen“, sagt Bankow, als wir halten. „Ich gehe nur nachsehn, glaube aber, daß sie noch nicht da sind.“ Er steigt aus, geht die Treppen hinauf und kommt fast sofort wieder. Die Leute, die wir brauchen, sind nicht da. Ich steige ebenfalls aus und lehne mich an den Jeep. Die Arbeitszeit beginnt in zehn Minuten, und wenn wir so lange warten, ergibt sich die Begegnung draußen ganz natürlich. Bankow hat Fragen, er ist jeden Tag hier, und ich will zum Objekt und benutze den Wagen mit. Als Inszenierung nicht gerade glanzvoll, aber doch annehmbar. Ich denke an die in dem grauen Citroën. Das sind die Bauern im Spiel, halbe Roboter, in Schußwaffengebrauch und Karate geschult, von denen hängt nichts 219
ab. Doch wenn sie so mobil werden, heißt das, daß ihre Herren nervös sind. Gestern habe ich fast nicht geglaubt, daß jemand auf diesen Trick mit der Wanze im Büro hereinfallen könnte. Aber offenbar sind sie darauf hereingefallen. Ich weiß nicht, wo Witanow ist, aber sie wissen es auch nicht. Und haben Angst. Nacheinander kommen die Autos. Zuerst zwei, aus denen mir unbekannte Leute steigen. Sie sehen Bankow, grüßen ihn, er stellt mich vor (Doktor Debyrski, nichts weiter, versteht sich), und sie beginnen ein Gespräch über ihre Angelegenheiten. Dann trifft Falcone ein, gibt uns die Hand und bittet uns hinauf. Wir danken. Nein, es ist nicht nötig, genauer gesagt, wir haben keine Zeit. Bankow möchte nur eine Minute Madame Kramer sprechen, und ich sei sehr in Eile. Ich flehe das Schicksal an, daß jetzt nicht Steeks dazwischenplatzt, denn seine Ungeniertheit kann zu wer weiß was für Komplikationen führen. Das Schicksal ist mir wohlgesinnt, es gibt keine Komplikationen. Bergen und Schimmer kommen in einem Wagen zusammen mit Falcones Sekretärin. Schimmer geruht nicht einmal zu grüßen, doch jetzt ist nicht die Zeit für Betrachtungen über Flegelhaftigkeit. Dann schüttet ein Kleinbus eine neue Gruppe Leute aus. Und gleich danach langt der Mercedes mit Thorwald und Madame Kramer an. Sie haben uns schon gesehen. Thorwald schließt den Wagen ab und kommt auf uns zu. Bankow redet einen Moment mit einem Bekannten aus der letzten Gruppe, ich mime den sich langweilenden Inspektor. Madame Kramer ist elegant und guter Laune wie immer, Thorwald kommt in seiner Rolle als gönnerhafter Edelmann daher. Wir geben uns die Hand, Bankow fängt sofort ein Gespräch an. Es geht um irgendwelche genaueren Festlegungen wegen der Reserveleitungen. Nichts von Belang, eine Frage von zwei Minuten, sie 220
brauchten nicht einmal hinaufzugehen. Nun gut, wenn Madame Kramer darauf bestehe, werden sie sich die Skizzen ansehen. Will Monsieur nicht auch mitkommen? Wenigstens auf einen Tee? Nein, danke, ich habe es wirklich sehr eilig. Die großen grauen Augen mustern mich neugierig. Sie ist zu klug, um zu glauben, ich sei zufällig hier, und lächelt mit den Mundwinkeln. Mir ist völlig klar, womit sie Witanow gefesselt hat. Die Bewunderung so einer intelligenten und schönen Frau hat ihm gutgetan. Thorwald und Maria Kramer steigen mit Bankow die Treppen hinauf, ich schaue auf meine Uhr und versuche mir ein Urteil über das zu bilden, was ich gesehen habe. Genauer gesagt über das, was ich nicht gesehen habe. Madame Kramer trug dieses Mal einen anderen Ring, und nach den Angaben meiner Uhr gab es in ihrem Umkreis kein arbeitendes Abhörgerät. Ringe kann man wegen der Toilette oder einfach aus weiblicher Laune wechseln, aber Mikrofone nicht. Und ein negatives Resultat ist, wie bekannt, ebenfalls ein Resultat. Jetzt muß die Patience aufgehen, einschließlich des dunkelgrauen Citroëns und des plötzlichen Einfalls von Madame Kramer, die Ringe zu wechseln. Wir langen im Objekt fast gleichzeitig mit den Bussen an, die die erste Schicht bringen, und jeder geht an seine Arbeit. Bankow hat eine Sitzung, Ljubo bringt den Jeep in die Garage, und nachdem er Frau Stoitschewa davon unterrichtet hat, daß ihm aufgetragen worden ist, sich zur Verfügung zu halten, läßt er sich bei ihr häuslich nieder und beginnt unverfroren Zeitung zu lesen. Die Zeitung ist genau eine Woche alt, wichtiger jedoch ist, daß er in Bankows Nähe bleibt. Ich ziehe mich in mein Zimmerchen zurück und werfe einen letzten Blick in die Journale, ehe ich sie Nedkow wiedergebe. Diese ermüdende Arbeit ist beinahe über221
flüssig. Die Zahlen verschwimmen vor meinen Augen, ich bemühe mich gewissenhaft, bei der Sache zu bleiben, denke aber an anderes. Witanow hat seine Entdeckung geheimgehalten – soviel ist klar. Das Protokoll über die neunte Kontrollserie ist falsch – das steht auch fest. Aber diese Serie, so wichtig sie auch sein mag, ist nicht die Ursache für die Ereignisse. Sie ist nur der Anlaß. Für das, was sich hier abspielt, für diese brutale Abrechnung mit O’Gregory und dem Schweinehund mit der Spinella, ist der Einsatz viel größer. Jemand hat Angst. Jemand, für den Menschen nichts sind, hat hysterische Angst. Und ist bereit, jeden zu zertreten, der ihm in den Weg kommt. Mich ebenfalls. Ich habe ihn auch erschreckt und ihm eine Frist bis heute abend gesetzt. Ich habe das Gefühl, daß mich jemand ununterbrochen ansieht. Die Nerven, versteht sich. Im Augenblick denkt niemand an mich, außer denen im Citroën. Aber das Auto ist irgendwo in den Straßenbiegungen zurückgeblieben, sie werden es nicht riskieren hierherzukommen. Ich wandere zwischen den Rohren und Kisten im Zimmer hin und her, bis mich der Geruch dieser Rohre vollends verrückt macht und ich auf den Korridor hinausgehe. Dort ist wenigstens mehr Platz. Gerade zur rechten Zeit. Frau Stoitschewa kommt die Treppe herunter, geht auf die Tür der Materialversorgung zu und sieht mich am Fenster stehen. „Genosse Debyrski“, stößt sie hastig hervor, „eben ist von der Kommandantur angerufen worden. Inspektor Ma … Matias.“ „Was gibt es? Ist er am Telefon?“ „Nein. Er hat gesagt, daß er im Krankenhaus auf Sie wartet …“ Sie stockt. „Im San Felipe?“ 222
„Ja. Er schickt den Wagen. Das hat er ausrichten lassen.“ Gut, also haben sie im Krankenhaus etwas gefunden! Das stand zu erwarten, der Mensch mit dem Feuerzeug ist kein körperloser Geist. Er muß irgendwo langgegangen sein, jemand muß ihn gesehen haben, er hat Spuren hinterlassen. Wenn wir einen etwas festeren Faden zu fassen bekommen, muß sich der Knoten entwirren. Ich bedanke mich bei Frau Stoitschewa und kehre in mein Zimmerchen zurück. Der Wagen wird vielleicht in zehn Minuten hier sein, was bedeutet, daß ich noch Zeit habe, zu Ljubo hinaufzugehen, um ihn zu informieren, daß ich ins San-Felipe-Krankenhaus fahre und Nedkow die Journale zurückgebe. Das tue ich auch. Ljubo bleibt bei der Stoitschewa sitzen, die Zeitungen hat er beiseite gelegt und bildet sich mit Illustrierten weiter. Von drinnen, aus Markows Büro, dringt undeutliches Stimmengewirr. „Wenn Genosse Bankow nach mir fragt“, sage ich, „ich bin im Krankenhaus. Er weiß, in welchem.“ Ljubo weiß das auch, aber ich sage das, um sein Hiersein zu rechtfertigen. Frau Stoitschewa mag Fahrer ohne Arbeit gar nicht gern. Dann gehe ich auf einen Sprung in den Haupttrakt und bringe Nedkow die Journale. Als ich aus der Versuchsanlage zurückkomme, sehe ich, wie ein Krankenwagen vorsichtig über den ausgefahrenen Weg kurvt und bei den geparkten Autos hält. Der Fahrer stellt den Motor nicht ab, er steigt nur aus und schaut zum Eingang. Er wartet auf mich. Ich laufe zum Treppenabsatz und kneife in der grellen Sonne die Augen zu. Der Fahrer bemerkt mich und steigt ein, um mir von innen die andere Tür aufzumachen. Er ist ein dunkler, kleiner Mann. Mir ist, als hätte ich ihn im Krankenhaus gesehen. „San Felipe?“ 223
„Sí, Señor!“ Ich steige ein, er dreht am Lenkrad, und wir fahren los Danach stößt er mit der Hand gegen den Rückspiegel. Im selben Moment erkenne ich, daß ich verloren bin. Aus dem Spiegel schaut mir das Gesicht der Bulldogge entgegen. Zuerst sind die Kreise da – blaue rote –, riesige Kreise, die zu Funken zerplatzen. Dann falle ich abwärts, von Schmerz überschwemmt. Und abermals erscheinen die Kreise. Sie drehen sich, berühren mich, und in jeder Berührung ist neuer Schmerz. Ein unklarer Gedanke, daß ich lebe. Da ich etwas fühle, bin ich also am Leben. Ich muß mich zusammenreißen und aufwachen. Der Schmerz verlagert sich ein bißchen und konzentriert sich irgendwo außerhalb von mir. Nein, nicht außerhalb, er sitzt im Nacken und im Arm, in der rechten Schulter. Ich habe schon das Bewußtsein von meinem Körper. Mit dem Bewußtsein kehren auch die letzten Bilder zurück, aber in umgekehrter Reihenfolge. Das Gesicht der Bulldogge im Spiegel. Wir fahren an, der dunkelgesichtige Schofför dreht am Lenkrad. „Sí, Señor!“ Die Stoitschewa, die die Treppe herunterkommt, weil man mich vom Krankenhaus angerufen hat. Ich muß mich zusammenreißen und die Augen öffnen, lasse mir aber Zeit. Ich bin in ihren Händen, aber nicht so, wie ich mir das ausgedacht hatte. Mit dem Krankenwagen haben sie mich ausgetrickst. Daß sie einen Krankenwagen schicken würden, konnte ich nicht voraussehen. Allmählich kehrt das Gehör zurück, ich vernehme eine Sprache, die ich nicht verstehe. Wieder tauche ich weg, verliere aber das Bewußtsein nicht mehr. Ich muß sehen, wo ich bin und was mit mir geschehen ist. 224
Um mich herum ist trübes, verschwommenes Licht mit doppelten Konturen. Dann beginnt sich der Gesichtssinn zu fügen, die doppelten Flecken schieben sich übereinander, die Konturen gewinnen reale Umrisse. Ein Sitz, darauf ein Mann. Eine mattschwarze Oberfläche. Jemandes Hände. Diese Hände gehören mir, sind aber wie fremd. Ich kann sie nicht bewegen. Die Bilder klären sich und erstarren. Neben mir sitzt Steeks, ich befinde mich auf dem Vordersitz eines Autos, er ist hinter dem Lenkrad. Der Wagen steht. Genau vor uns steigt der Hang eines kahlen, rötlichen Hügels an, der spärlich mit Gebüsch bewachsen ist. Die eine Seite des Hügels ist wie zerfressen, unten im Schatten zeichnet sich dunkel ein Gebäude ab. Neben dem vernachlässigten Weg sind Steinhaufen aufgeschüttet. Die schrägen Strahlen der Sonne, die hinter dem Hügel versinkt, bescheinen sie nur von einer Seite. Das ist ein alter, längst verlassener Steinbruch. Steeks betrachtet mich aufmerksam, dann dreht er sich um. Jemand hinter mir reicht ihm eine Thermosflasche. Er schraubt den Becher ab, gießt ihn voll und hält ihn mir an den Mund. „Trinken Sie. Das hilft!“ Ich höre seine Stimme wie unter einer Glocke, von sehr fern, und versuche, etwas von der Flüssigkeit in dem Becher hinunterzuschlucken. Es ist etwas Scharfes, stark Riechendes, bitter und unbekannt. Von dem Schluck strömt Wärme durch meinen Körper und in die gelähmten Arme. Ich verstehe alles, und mein Bewußtsein ist ungewöhnlich klar, doch die Muskeln gehorchen nicht. „Hören Sie mich jetzt?“ fragt Steeks. Ich versuche zu nicken und schaffe es. Auch bewegen kann ich mich. Ich hebe den linken Arm, der rechte ist noch taub. „Das überstehen Sie“, sagt Steeks. „Tut mir leid, daß 225
wir Sie so hart anpacken mußten, aber bei Ihnen geht es nicht anders.“ Dies ist nicht der Krankenwagen. Sie haben das Auto gewechselt und mich entführt. Hinter mir sitzt jemand – ich merke es am Atmen und den leichten Bewegungen. Wahrscheinlich die Bulldogge. Ich hebe den linken Arm, strecke ihn aus und greife nach dem Becher, den mir Steeks hinhält. Nein, ich werde ihn nicht fallen lassen. Die Muskeln gehorchen noch nicht völlig, aber ich kann ihn doch an den Mund führen und trinken. Der scharfe, bittere Geruch klärt mein Bewußtsein vollends, zugleich werden auch die Bewegungen sicherer. „Gut!“ stellt Steeks fest. „Also können wir uns auch unterhalten.“ „Ja“, sage ich dumpf. Meine Stimme klingt fremd, aber ich spreche. Der Schmerz in der Schulter ist schon nicht mehr so stechend, reicht jedoch, damit ich das Gesicht zu einer Grimasse verziehe. Ich rutsche auf dem Sitz hin und her und stemme mich mit geschlossenen Beinen nach oben, um bequemer zu sitzen. Hinter mir sitzt tatsächlich die Bulldogge – ich sehe ihr Spiegelbild auf dem Armaturenbrett. Wir drei sind allein. Ringsum ist trostlose Ödnis – rötliche Hänge, Gesträuch und dieser verlassene Steinbruch. Das ist das Ende. Steeks schaut mich mit seiner üblichen Ironie an, und die Runzeln auf seinem Gesicht geraten in Bewegung. „Lieber Inspektor“, fängt er an, „Sie haben verloren. Und in Ihrer Lage …“, ein schiefes Lächeln erscheint auf seinen Lippen, „und in meiner, versteht sich, kann man nur einmal verlieren! Hören Sie mich deshalb an, ohne sich groß aufzuregen.“ Ich kann nur schweigen. Steeks faßt das als Zustimmung auf. 226
„So. Sie wissen, was für Fragen ich Ihnen stellen werde, und Sie wissen ferner, daß wir Mittel haben, Sie zum Sprechen zu bringen.“ „Solche Mittel gibt es nicht“, sage ich. Und ich glaube daran, daß es sie nicht gibt. Er mustert mich mit unverhohlener Ironie. Vermutlich sieht er mir meine Meinung über mich am Gesicht an, denn er lächelt wieder schief. „Sie gehören zu den naiven Typen, die sterben, aber nicht reden, wie? Provozieren Sie mich nicht, ich könnte es versuchen! Nun?“ Gibt er jetzt der Bulldogge das Zeichen zum Anfangen? Ich bin von dem Schlag und dem Betäubungsmittel, das sie mir gegeben haben, so erledigt, daß ich rasch das Bewußtsein verlieren werde, wenn sie mich foltern. Viel würden sie nicht davon haben. „Einerlei!“ sagt er, als er keine Antwort erhält. „Stellen wir die Frage der Mittel und Wege ein Weilchen zurück … Ihre Erörterung wird von anderen Dingen abhängen. Ich werde Ihnen einen Vorschlag unterbreiten, obwohl ich nicht die Erlaubnis habe, es zu tun.“ Das stimmt nun ganz und gar nicht, daß er einen Vorschlag auf eigene Faust macht. Bei denen werden Vorschläge genau durchdacht. Meine einzige Chance ist, ihn hinzuhalten. Er scheint meine Gedanken erraten zu haben. „Wenn Sie meinen, jemand wird Ihnen helfen, so täuschen Sie sich! Ihre Mikrosender fahren jetzt durch Port Angère spazieren. Reden wir wie Männer!“ Ich nicke und verziehe vor Schmerz das Gesicht. Besser, ich bleibe still sitzen. „Ich biete Ihnen an, für uns zu arbeiten“, sagt Steeks. „Gegen gewisse Garantien, versteht sich. Ein Jahr in Südamerika, damit Gras über die Geschichte wächst und Sie sich eingewöhnen. Wir können Ihre Familie herausholen, wenn Sie es wünschen.“ Er grinst vielsagend. „Denn manche wollen es nicht. Und danach?“ 227
Eine wohlabgemessene Pause, damit ich das Angebot überdenken und meiner hoffnungslosen Lage gegenüberstellen kann. „Danach werden Sie in irgendeiner Firma angestellt. Kuwait, Singapur … einerlei! Wichtig ist, daß es normale Arbeit sein wird, für das andere haben wir unsere Leute.“ In seinen blauen Augen blitzt Spott auf. Diese Anspielung wird der Bulldogge kaum sehr angenehm sein; sie rutscht unruhig hin und her. „Das Gehalt ist anständig … Nun, nicht gerade glänzend, aber es langt. Sie können was zurücklegen. Denn Pension gibt es bei uns nicht – nur, was man sich verdient.“ Ich höre ihm aufmerksam zu, ich muß Zeit gewinnen. Inzwischen merke ich, daß ich auch den rechten Arm schon ein bißchen bewegen kann. Dieses seltsame Getränk hilft. Ich setze den Becher an und trinke lange, mit langsamen Schlucken. „Wollen Sie noch?“ fragt Steeks. „Ich gieße Ihnen ein, wenn Sie möchten. Und jetzt … warum wir das alles machen? Bilden Sie sich nicht ein, daß die Dinge, die Sie uns sagen werden, von großer Bedeutung sind. Das sind Kleinigkeiten. Und wir benötigen sie lediglich für die Verhandlungen mit unserer geschätzten Konkurrenz. Nichts weiter.“ Ich verstehe. Da sind zwei Konzerne, die sich bekämpfen. Witanow ist bloß der Anlaß. Doch jetzt sind die Konzernherren zu dem Ergebnis gekommen, daß es sinnlos ist, noch mehr Leute zu verlieren. O’Gregory und der mit. der Spinella reichen, Agenten kosten Geld. Zu diesem Ergebnis sind sie gekommen, können und wollen aber nicht verhandeln, solange sie nicht wissen, was jeder für Trümpfe in der Hand hat. Und ein paar dieser Trümpfe habe ich. „Dies ist in großen Zügen das Angebot“, sagt Steeks. 228
„Es erübrigt sich, Sie davon zu überzeugen, daß Sie keine andere Wahl haben.“ Ich weiß. Ich muß ins Gras beißen. Alles, was er daherredet, ist nichts weiter als gutgespieltes Theater. Steeks denkt gar nicht daran, daß ich einwilligen könnte, sonst hätte er mit ihren Mitteln und Wegen angefangen. Zwischen uns beiden ist alles klar. Bis jetzt hat ein Teil meines Bewußtseins noch immer einen Ausweg gesucht und gehofft. Es gibt keinen Ausweg, ich bin ein toter Mann. Ich begreife, und Angst befällt mich. Wilde, unsinnige Angst, die meinen ganzen Körper, jeden Muskel, jede Zelle in höchste Spannung versetzt. Aufspringen, wegrennen, noch in diesem Augenblick etwas tun, denn im nächsten ist es zu spät. Allein der Gedanke, daß sie mich dann auf der Stelle erschießen, hält mich auf dem Sitz fest. Dann kommt die klare Überlegung wieder. Ich werde so lange wie nur möglich leben. Wenigstens sollen sie nicht die Genugtuung haben, einen Feigling zu sehen. „Die Fragen?“ sage ich. „Oh, mein lieber Inspektor!“ ruft Steeks ironisch. „Sie möchten erst mal herauskriegen, was ich nicht weiß?“ „Die Fragen!“ wiederhole ich hartnäckig. Seine Herren haben ihm nicht erlaubt, mich umzubringen, bevor er die Fragen gestellt hat. Er überlegt und schüttelt den Kopf. „Egal! Das ist jetzt wohl kaum noch von Bedeutung. Gut, hier sind sie. Wo ist Ihr Witanow, und was hat er für einen Auftrag? Zweitens: Von wem hat er diesen Auftrag erhalten? Von Ihnen, oder …“, er kneift vielsagend die Augen zu, „hat jemand dafür bezahlt?“ Ob jemand dafür bezahlt hat? Steeks nimmt also an, daß nicht nur Witanow, sondern auch ich im Dienst der anderen stehen kann, der Konkurrenz, die ihm so viele Unannehmlichkeiten bereitet. 229
„Und versuchen Sie nicht, sich irgendeine Geschichte mit dem Brief aus den Fingern zu saugen!“ fügt er hinzu. „Das hilft Ihnen nichts.“ Witanows Brief, den ich so lange gesucht habe, den hat also er! „Ich möchte nachdenken“, sage ich. „Gut.“ Steeks hebt die Schultern. „Denken Sie nach.“ Dann sieht er auf die Uhr. „Ich gebe Ihnen zehn Minuten … Das reicht. Es sind wichtigere Dinge in kürzerer Zeit entschieden worden.“ Er legt sich aufs Lenkrad und schaut hinaus. Die Sonne sinkt immer tiefer auf den Hügel, und die langen Schatten kommen auf uns zugekrochen. Irgendwo hoch oben fliegt ein Flugzeug vorbei, sicherlich sind wir nicht sehr weit von der Stadt. Aber mich betrifft das nicht mehr. Mich betrifft nichts mehr, weil meine letzten zehn Minuten ablaufen. Ich habe eine merkwürdige Empfindung. Als sei ich gespalten. Ein Teil von mir steht daneben und beobachtet den anderen, der auf dem Sitz sitzt und die unbarmherzigen zehn Minuten abwartet; sicherlich sind es schon nicht mehr zehn, sondern neun oder acht. Und dieser andere hat begriffen, daß es aus ist, und ist ganz ruhig. Bisweilen habe ich versucht mir vorzustellen, was zum Tode Verurteilte fühlen und woran sie zurückdenken. Ich habe es nie gekonnt. Und jetzt finde ich es sonderbar, daß ausgerechnet ich diese Empfindungen haben müßte. Aber es ist, als hätte ich eine Grenze der Anspannung überschritten, hinter der man aufhört, sich zu erregen. Das Bewußtsein hält sich an Kleinigkeiten fest, es will der schrecklichen Wahrheit entfliehen. Die Ränder der Ledersitze haben Risse. An meinem linken Handgelenk ist eine Narbe. Sie stammt aus meiner Kindheit, aus der Zeit, da die Welt groß war. Angst habe ich nicht. Ich wundere mich sogar, daß ich 230
keine Angst habe. Nur ein bißchen traurig bin ich, daß ich die Menschen nicht mehr sehen werde, die ich liebe. Sicherlich werden sie auch um mich trauern, doch dann werden Tage vergehen, aus den Tagen werden Monate und Jahre, und ich werde in ihrem Bewußtsein nur eine verschwommene Erinnerung bleiben. Das wird alles sein. Ich habe keine Angst. Es gibt schrecklichere Dinge als den Tod. Steeks hat sich aufs Lenkrad gestützt und drängt nicht. Das macht ihm Ehre – er ist nicht nervös, schaut nicht auf seine Uhr. Er ist einfach Teil einer Maschine, die in Gang gesetzt worden ist und nicht mehr angehalten werden kann. Die Sonne geht unter, die Schatten reichen schon bis zum Weg. Ein Flugzeug zieht hoch über der Stadt seine Kreise. Es ist sicherlich dasselbe, das vor einer Weile über uns weggeflogen ist. Dort geht das Leben weiter. Es wird auch weitergehen, wenn ich nicht mehr da bin. Steeks wendet sich mir zu und sieht mich an. Vorbei. Meine Zeit ist vorbei. Alles ist klar, er braucht mich nicht erst zu fragen, wie ich mich entschieden habe. „Tut mir leid“, sagt er und verzieht die Lippen. „Ich habe Ihnen eine Chance gegeben. Sie haben selbst gewählt.“ Ob er’s hier tut oder draußen? Anscheinend draußen. Die Bulldogge öffnet die Tür und steigt aus, sie langt nach meiner Tür, um sie zu öffnen. Ich werde aussteigen müssen und ein paar Schritte gehen. Sie wird mir in den Rücken schießen. Da ist etwas. Ich kann nicht dahinterkommen, was es ist, aber da ist etwas. Die Bulldogge zögert. Und Steeks dreht den Kopf weg und horcht. Das Flugzeug. Es hat seine Kreise gezogen, entfernt sich jetzt aber nicht. Das Dröhnen der Motoren ist hoch 231
über uns stehengeblieben und kommt tiefer. Es ist kein Flugzeug, es ist ein Hubschrauber. Er hängt über uns. Zusammen mit dem Motorengedröhn überschüttet uns für einen Augenblick grellrotes Licht. Der Hang vor uns wird dunkel, in das dürre Gesträuch kommt Leben, es bewegt sich gleichsam, dann kehrt es an seinen Platz zurück. Am Ende der Rakete kräuselt sich dünner grauer Rauch. Die Bulldogge duckt sich plötzlich, rennt zur Seite hinter die Steinhaufen und reißt eine Maschinenpistole von der Schulter. Steeks läßt den Motor an und legt den Gang ein. „Steigen Sie aus!“ befiehlt er. „Stellen Sie sich vor den Wagen, und geben Sie ein Zeichen, daß man uns wegläßt. Und keine faulen Tricks!“ Ich strecke den heilen Arm aus und packe den Schalthebel. Steeks versucht instinktiv, meine Hand zu öffnen, schafft es aber nicht. Mit aller Kraft, die mir geblieben ist, halte ich fest. Er stößt einen Fluch aus, langt unter den Sitz und bringt eine Pistole zum Vorschein. „Wenn Sie schießen, verlieren Sie alles!“ sage ich rasch. „Sie haben nur eine Chance! Hören Sie!“ Die Pistole ist auf meine Brust gerichtet. „Sie sind ausländischer Staatsbürger“, fahre ich fort. „Mit meinen Aussagen kommen Sie billiger davon. Wenn Sie mich umlegen, gibt es keinen Prozeß! Man hat mir versprochen, Sie hier an Ort und Stelle zu erledigen.“ Nichts ist mir versprochen worden, aber das ist in seinem Stil. Und es geht um seine eigene Haut. Steeks zögert eine Sekunde lang. „Alle Wege sind blockiert!“ schreie ich durch das Dröhnen, das sich von oben heruntersenkt. „Stecken Sie die Pistole weg, und links …“ Ich kann den Satz nicht zu Ende sprechen und ducke mich tief in den Sitz. Denn die Bulldogge mit der Ma232
schinenpistole begeht die letzte Dummheit ihres Lebens. Sie gibt einen langen Feuerstoß auf den Hubschrauber ab. Und wird still. Die im Hubschrauber schießen viel genauer. Ich kann es immer noch nicht glauben, daß der Alptraum vorbei ist. Hinter dem Fenster wiegen die Bäume im Garten der Pension ihre Zweige, ich höre die Vögel darin, doch vor meinen Augen liegt immer noch der rötliche Hügel mit dem stillgelegten Steinbruch. Alles ist vorbei. Ein paar Dinge werde ich sofort für den Bericht festhalten müssen, andere kommen später dran, bei der Vernehmung des Holländers. Maria Kramer ist uns jedoch durch die Lappen gegangen. Vielleicht hat ihr ein sechster Sinn zugeflüstert, daß die Ereignisse eine schlechte Wendung nehmen, und mein Besuch im Büro hat ihre Zweifel bestätigt. Seit heute mittag hat sie niemand mehr gesehen. Nicht weiter wichtig, das Wesentliche ist klar. Wir werden Doktor Witanow nicht mehr finden. Vor mir auf dem Schreibtisch liegt sein letzter Brief. Nur ein paar Zeilen. Port Angère 16. Juni, 19.30 Uhr
Liebe Jenny! Dies ist das Ende. Auf dieser Welt wird für alles bezahlt, ich muß für meine Illusionen ebenfalls zahlen. Es wäre nicht richtig, zu sagen, daß ich ihr Opfer geworden bin. Ich habe nicht einmal den Trost, ein Opfer zu sein, denn ich habe mich freiwillig in diese Hölle begeben. Ich möchte mich nicht rechtfertigen und Dich nicht um Verzeihung bitten, es erübrigt sich. Ich bereue vor niemandem. Wenn ich nicht in Würde leben kann, so kann ich wenigstens mit Anstand sterben. 233
Es tut mir leid, daß ich Dir und Kosse solchen Schmerz bereite, aber glaube mir, so ist es wirklich besser. Gib Kosse einen Kuß von mir, und wenn Du mir doch verzeihen kannst, so verzeih mir. Es küßt Dich zum Abschied Dein Emil Ich streiche mit der Hand über das Blatt Papier, glätte es und lese es noch einmal. Dann versuche ich, mir die Ereignisse vorzustellen. Angefangen hat das schon in Sofia. Emil Witanow erregte die Aufmerksamkeit eines der Agenten von Sanati, und ihr Erkundungsdienst hat ihn eine ganze Weile beobachtet, bevor sie versuchten, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Zunächst haben sie seine Stimmungen studiert, seine Ambitionen und sein ungezügeltes Verlangen nach Berühmtheit. Danach haben sie seiner Eigenliebe geschmeichelt, ihm für den Fall, daß er zu ihnen überträte, ein weites Arbeitsfeld versprochen. Sie haben ihm Zeit zum Nachdenken gelassen, keine Informationen von ihm verlangt und ihn nach und nach an sich gebunden. Er aber hat immer gemeint, er sei keine Bindung eingegangen und könne sie austricksen. Dann wurde er hierher versetzt, und da wurden die Vorschläge konkret. Sanati hat Wert darauf gelegt, über die Kernpunkte der Forschung Bescheid zu wissen, über die Richtungen, die Projekte für neue Produktionen. Und sie haben auf alle Weise versucht, ihm zu zeigen, wie geringfügig die Informationen seien, die sie von ihm erhielten. Diese Aufgabe hat Maria Kramer übernommen. Sie hat sich an Witanow herangemacht, indem sie so tat, als hätte sie für ihn Feuer gefangen, hat von Sanati Anweisungen erhalten und ihm die Informationen aus der Nase gezogen. Sanati ist sehr behutsam vorgegangen. Denn dieses Absatzgebiet hat schon anderen gehört, dem hollän234
disch-amerikanischen Konzern Merkator. Und Merkator war nicht gewillt, ruhig zuzusehen, wie andere in seinen Hoheitsbereich eindrangen. Sein langjähriger Vertreter Rijder Steeks hat sich gut umgesehen. Kann sein, er ist von selbst auf Witanow gestoßen, kann sein, er hat die Information über irgendwelche unbekannten Kanäle erhalten, aber zu guter Letzt hat er Witanow vorgeschlagen, Sanati zu verraten und zu ihnen überzuwechseln. Ich kann mir vorstellen, wie dem ehrgeizigen und von sich eingenommenen Witanow zumute war, als Steeks anfing, ihn zu erpressen. Und zur selben Zeit kam die Entdeckung – keine große, aber eben doch eine Entdeckung. Witanow verheimlichte sie durch die scheinbar ergebnislose neunte Serie und hat sicherlich geglaubt, sich damit von dem grausamen Spiel loskaufen zu können. Vergebens. Die Spinnen von Sanati und Merkator wollten ihn nicht mehr aus ihren Netzen lassen. Und er hat immer besser begriffen, daß er verloren war. Daß sich niemand für seine Ambitionen interessierte und er in Wahrheit zu einem kleinen Stein im Spiel geworden war, den die Konzerne jeden Augenblick opfern konnten. „Wenn du merkst, daß dich niemand braucht“, hat er zur Wanewska gesagt. Und damit hatte er zweifellos recht. Die einzige Möglichkeit, die ihm blieb – umzukehren und zu gestehen –, hat er sich durch seinen Stolz selbst versperrt. Und die Entscheidung war nahe. Steeks hatte seine Forderungen kategorisch gestellt und ihm eine Frist gesetzt. Witanow erkannte, daß sein ganzes Leben verpfuscht war und ihm nur noch die Schande blieb. Selbst seine eigene Entdeckung war jetzt ein Trumpf gegen ihn, weil Steeks davon wußte. An jenem Abend hat er sich alles abermals durch den Kopf gehen lassen. Er hat gesehen, wie allein er war, wie klein und unbedeutend. Diesen Schlag hat er nicht mehr 235
verwinden können. Und faßte seinen Entschluß. Er schrieb diesen Brief und wahrscheinlich noch einen. Den Brief an seine Frau ließ er in einem Umschlag auf dem Schreibtisch zurück und stellte den Kalender darauf, damit er ins Auge fiel. Den anderen Brief hat er mitgenommen. Er wollte ihn auf der Post einwerfen, kam aber zu spät. Er hat ihn nicht eingeworfen, vielleicht hat er ihn bis zum Schluß in der Tasche mit sich herumgetragen. Was mit diesem Brief geworden ist, werden wir wohl kaum erfahren. Damit hat ihn Frau Sachariewa gesehen, als er wegging. Dann hat er unten vom Office aus Steeks angerufen. Er hat fest abgelehnt, sich nun wie ein Mann benommen, weil er ja entschlossen war zu sterben. Er ging in die Stadt hinunter, am Kai entlang, trank bei Mama Dolly einen letzten Kognak. Danach begab er sich zur Anlegestelle, band unbemerkt ein Boot los und fuhr davon. Ein oder zwei Stunden ist er vielleicht gerudert, bis am Horizont auch die letzten Lichter von Port Angère verschwanden. Er zog einen der Holzpfropfen aus dem Boden, und das Boot begann sich langsam mit Wasser zu füllen. Steeks aber hatte das Gespräch aufgeschreckt. Er selbst oder sein Komplice – die Bulldogge – drang in der Nacht in die Pension ein und sah sich in Witanows Zimmer um. Nahm den Brief an sich. (Übrigens wußte er nicht, was er mit dem Kalender anfangen sollte, und ließ ihn in der Mitte des Schreibtischs stehen – das war Germaine aufgefallen.) Für alle Fälle steckte er alles Papier aus dem Papierkorb ein, weil er nicht wissen konnte, was womöglich darunter war. Auch das Feuerzeug hat er gesehen, aber beschlossen, abzuwarten und Steeks zu fragen. Und Steeks hat richtig vermutet, daß Witanow dieses Feuerzeug von den Sanati-Leuten hatte. Schon da entstand in ihm der unbegründete Verdacht, der Brief sei eine Finte, Witanow von seinen Gegnern 236
versteckt worden und man bereite einen Schlag gegen ihn vor. Witanows Verschwinden hat auch Maria Kramer in Unruhe versetzt. Sie hatte sich auf die Auseinandersetzung mit Merkator von langer Hand vorbereitet, und ihre Auftraggeber schickten ihr die Leute Fra Cesares – O’Gregory und den mit der Spinella. Die beiden waren mit allen Hilfsmitteln Fra Cesares wohl ausgerüstet, einschließlich eines Sortiments plastischer Masken. Diese halbplastischen Masken können leicht, bloß durch Hinzufügung einiger Kleinigkeiten, eine breite Skala von Gesichtern imitieren. Die beiden verfolgten Witanows Spuren, wobei O’Gregory nicht zögerte, sich bei Mama Dolly und Sammy als Mitarbeiter der Kommandantur auszugeben. Da bin ich eingetroffen und habe mit meinen Ermittlungen den Kampf der beiden Gruppen kompliziert. Steeks beschloß, Witanows Zimmer noch einmal zu überprüfen, in der Hoffnung, etwas zu finden, das ihm sein Verschwinden erklären konnte. Das war riskant, aber er war auch gut ausgerüstet. Es gibt elektronische Geräte, die Mikrofotoapparate außer Betrieb setzen. Er hat nichts gefunden, aber das Feuerzeug mitgenommen, weil er meinte, es könnte ihm vielleicht zupasse kommen. Und weil er Fingerabdrücke von Doktor Witanow besaß, trug er Gummihandschuhe, in die dessen Fingerabdrücke hineinpräpariert waren. Dieser Trick wird in der Industriespionage oft angewendet, um den Gegner zu täuschen. Mir waren gleich Zweifel gekommen, daß sie von Witanow herrühren könnten – die Abdrücke waren allzu augenfällig und deutlich. Der Kampf zwischen Merkator und Sanati wurde, obwohl erbittert, immer noch im Untergrund geführt. Die beiden Gruppen waren bemüht, die Behörden nicht gegen sich zu aktivieren, Entführungen und direkte Überfälle zu vermeiden. Doch das verdächtige Verschwinden 237
Witanows lenkte die Auseinandersetzung in unvorhergesehene Bahnen. Vielleicht hat O’Gregory die Bulldogge entdeckt und versucht, sie auf eigene Rechnung zu verwenden. Vielleicht war es aber auch umgekehrt – die Bulldogge ist O’Gregory auf die Spur gekommen und hat ihn wegen irgendwelcher eigenartigen Vorstellungen von Sicherheit ins Jenseits befördert. Das ist sogar wahrscheinlicher, weil sie sofort sein Zimmer im Imperial durchsucht hat. Inzwischen hatten in der Nacht zuvor O’Gregory und der mit der Spinella im Reihan ein von Maria Kramer ausgedachtes Theater inszeniert. Ein Täuschungsmanöver, um herauszufinden, was ich wußte, und um die Merkator-Leute in Schach zu halten. Man hat Matias’ Agenten – und auch Steeks Leuten – einen falschen Witanow vorgeführt. Die Rolle hat wahrscheinlich der mit der Spinella gespielt, der auch Verniers Rolle übernommen hatte. Dieser Zug war geschickt. Wir beide, Matias und ich, sind darauf hereingefallen, er hätte beinahe zum Abbruch der Ermittlungen um Doktor Witanow geführt. Damit wäre die Kommandantur aus dem Kampf ausgeschieden, und Maria Kramer hätte wenigstens diesbezüglich aufatmen können. Auch Steeks ist ihnen auf den Leim gegangen. Obzwar er immer noch gewisse Zweifel hegte, kam er endgültig zu dem Ergebnis, daß ihn der Abschiedsbrief in die Irre führen sollte und Witanow am Leben war. Die Ermordung O’Gregorys bedeutete eine neue Komplikation. Das versetzte Maria Kramer in Weißglut und brachte ihre Absichten durcheinander. Noch mehr verwirrte sie die Nachricht, daß O’Gregory in Wahrheit lebte, in unserer Hand war und sie jeden Moment bloßstellen konnte. Unser falscher Leichnam im San-FelipeKrankenhaus brachte sie aus dem Gleichgewicht. O’Gregory mußte endgültig sterben, und sie schickte den 238
mit der Spinella. Der war nicht dumm, kundschaftete die Möglichkeiten des Zutritts zum Krankenhaus aus und kam auch hinein – sicherlich gegen eine solide Summe. Doch beim Surfing erfuhr nicht nur Maria Kramer, sondern auch Steeks, daß O’Gregory lebte. Es fiel ihm nicht schwer, vorauszusehen, wie Fra Cesares Leute vorgehen würden. Und so bot sich dieses Mal für Steeks die Gelegenheit, einen Schlag zu führen, Witanows Feuerzeug zu verwenden und erneut zu versuchen, in Erfahrung zu bringen, was wir über sein Verschwinden wußten. Und gleichzeitig O’Gregory zu retten. Er zweifelte nicht daran, daß seine edle Tat belohnt werden und O’Gregory, sowie er zu Bewußtsein kam, die SanatiLeute verraten würde. Dazu kam noch mein Gespräch mit Bankow in Witanows Büro. Der allzu mißtrauische Steeks ließ sich eben wegen seines Mißtrauens täuschen. Er vermutete nicht, daß ich seine Wanze entdeckt hatte, und war nun völlig überzeugt, daß der Brief und Witanows Verschwinden ein Schachzug seiner Gegner war. Der unbekannte Auftrag Witanows alarmierte ihn. Er wußte nicht, ob Witanow nicht Enthüllungen gemacht hatte, ob diese Enthüllungen nicht bevorstanden und ob man ihm nicht eine Falle stellen wollte. Er verstieg sich sogar zu der Annahme, daß ich ebenfalls in den Kampf der beiden Konzerne verwickelt sei und auf der Seite von Sanati stehe. Sein Fehler war, daß er nicht abgewartet hat. Die geglückte Aktion im San-Felipe-Krankenhaus mit der Liquidierung des Mannes mit der Spinella hat ihn ermutigt. Und die Ungeduld angesichts der Ungewißheit bewog ihn, den Schritt zu tun. Er kam zu dem Ergebnis, daß er auch mit mir abrechnen könnte, nachdem er wußte, was Witanow für einen Auftrag hatte, und er ihn vereitelt hatte. Auf diese Weise wäre er absoluter Herr der Lage gewesen. Seiner Ansicht nach drohte ihm von 239
der Kommandantur im Moment keine sonderliche Gefahr. Und alles Gerede über Verhandlungen zwischen den beiden Konzernen war natürlich ein gewöhnlicher Bluff. Mein Fehler hingegen war, daß ich ihn unterschätzt hatte. Ich hatte gemeint, daß wir im gegebenen Augenblick jemanden von seinen Leuten ergreifen könnten oder ich selbst mit einem oder zweien fertig würde, bevor sie mich überfielen. Und ich hatte gehofft, daß selbst im Fall einer erfolgreichen Entführung Henry sofort Alarm schlagen würde und man mich durch die versteckten Mikrosender rasch fand. Doch Steeks täuschte mich mit dem Anruf bei Frau Stoitschewa und dem gestohlenen Krankenwagen. Ich hatte einen Überfall von dem Citroën erwartet, in dem einer der Leute – vielleicht der letzte! – von Maria Kramer saß. Der Überfall kam jedoch von Steeks. Die Bulldogge und ihr Komplice luden mich in der Garage rasch in das Auto der Bulldogge um. Dort hat auch Steeks auf mich gewartet. Sie durchsuchten mich, während ich ohne Besinnung war, fanden die beiden Mikrosender und brachten sie in einem Bus vom städtischen Nahverkehr an. Henry fuhr zunächst dem Krankenwagen nach, er hegte keinen Verdacht gegen ihn. Dann sah er, daß ein Auto aus der Garage herauskam. Er wartete den Krankenwagen ab, und erst als der Dunkelgesichtige ihn in einer Straße stehenließ, begriff er, daß die Sache brenzlig war. Er schlug Alarm. Die Kommandantur setzte sich mit Ljubo in Verbindung, man beschrieb ihm das Auto, in dem ich entführt worden war. Inzwischen drangen sie in die Garage ein und gaben die Meldung an alle Ausfallstraßen von Port Angère durch. Aber es war schon zu spät. Es stand auf des Messers Schneide. Ein Umstand hat mich gerettet. Das Auto, mit dem ich in die Hügel ge240
schafft wurde, war derselbe Wagen, in dem Steeks am Abend nach dem Surfing nach Hause fuhr. Und Ljubo hatte damals den Auftrag, den ich ihm gegeben hatte, in allen Punkten ausgeführt. Er hatte an zwei Wagen Mikrosender angebracht und sie so markiert, daß wir immer wußten, wo sie waren. Sie gehörten Leuten, die ich im Verdacht hatte, sie hätten etwas mit Witanows Verschwinden zu tun. Steeks war der eine. Volle zwei Stunden kreiste der Hubschrauber über Port Angère und den Vororten, am Ende fing er das Signal außerhalb der Stadt auf. Er hätte es ebensogut auch nicht auffangen können. Während ich mich vor Schmerz auf dem Sitz zusammenkrümmte, hätte der Hubschrauber weit weg, außerhalb der Reichweite des Mikrosenders, sein können. Was übrigens den Schmerz im Nacken angeht, so nehme ich an, daß er mir ziemlich lange ein Andenken an Port Angère bleiben wird. Aber das ist, genau überlegt, eben nur eine Kleinigkeit.
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1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1979 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/113/79 • LSV 7244 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 394 7 DDR 2,– M