Frederic Beigbeder
39, 90 Neununddreißig neunzig
Der Sensationserfolg! Octave Parango, Kreativer in einer Pariser Werbeagentur, hat einen Topjob, Luxus ohne Ende und die Schnauze so voll, dass ihm davon schlecht würde, gäbe es nicht den Zynismus, Frauen und Koks. Schonungslos verdammt er seine Welt, in der einfach alles käuflich ist - er selbst eingeschlossen. Bei den Dreharbeiten zu einem Werbespot entlädt sich sein Hass in einer ungeheuerlichen Gewalttat.
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Frederic Beigbeders Roman ist ein Pamphlet gegen den Totalitarismus von Medien und Werbung und gegen die neoliberale Pervertierung der Demokratie. Beigbeder reiht sich damit ein in die Front jener französischen Autoren um Michel Houellebecq, die den Verantwortlichen der globalen Realität den «Kampf auf Leben und Tod » angesagt haben.
«Mit einem zornigen Insider-Porträt der Werbeindustrie gelang Frederic Beigbeder ein Romanhit.» (Der Spiegel) «Eine komplett wahnsinnige Mischung aus Romanfragmenten, ideologiekritischen Essays zum Thema <Weltmacht Werbung> und zynischen Anekdoten macht die Qualität des Buches aus.» (Süddeutsche Zeitung)
FREDERIC BEIGBEDER
Neununddreißig neunzig
ROMAN DEUTSCH VON BRIGITTE GROSSE
ROWOHLT TASCHENBUCH VERLAG
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Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel «99 Francs» bei Bernard Grasset, Paris Redaktion Pia-Maria Funke Umschlaggestaltung anyway, Walter Hellmann / Cordula Schmidt (Foto: Thomas Lemmler) Typografie Joachim Düster
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, November 2002 Copyright © 2ooo by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «99 Francs» Copyright © 2ooo by Aditions Grasset & Fasquelle, Paris Alle deutschen Rechte vorbehalten Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 499 23324 x
Die Schreibweise Rechtschreibung.
entspricht
den
Regeln
der
neuen
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Bruno Le Moult ist von uns gegangen. Das Buch war für ihn. Deshalb schenke ich es Chloe, die gerade bei uns angekommen ist.
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Es gibt natürlich keinen Grund, warum der neue Totalitarismus dem alten gleichen sollte. Ein Regieren mittels Knüppeln und Exekutionskommandos, mittels künstlicher Hungersnöte, Massenverhaftungen und Massendeportationen ist nicht nur unmenschlich (darum schert sich heutzutage niemand viel); es ist nachweisbar leistungsunfähigund in einem Zeitalterfortgeschrittener Technik ist Leistungsunfähigkeit die Sünde wider den Heiligen Geist. Ein wirklich leistungsfähiger totalitärer Staat wäre ein Staat, in dem die allmächtige Exekutive politischer Machthaber und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von Zwangsarbeitern beherrscht, die zu gar nichts gezwungen zu werden brauchen, weil sie ihre Sklaverei lieben. Ihnen die Liebe zu ihr beizubringen ist in heutigen totalitären Staaten die den Propagandaministerien, den Zeitungsredakteuren und Schullehrern zugewiesene Aufgabe. ALDOUS HUXLEY, Schöne neue Welt, neues Vorwort 1946
Wir werden bedrängt von den Wünschen, die man über uns verhängt. ALAIN SOUCHON, Foule sentimentale, 1993 Der Kapitalismus hat den Kommunismus überlebt. jetzt kann er sich nur noch selber auffressen. CHARLES BUKOWSKI, The captain is out to lunch and the sailors have taken over the ship, 1998
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THE NAMES HAVE BEEN CHANGED TO PROTECT THE GUILTY.
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I
Ich
Man muss zumindest versuchen Zu beschreiben, was man nicht verändern kann.
Rainer Werner Fassbinder
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Alles ist vorläufig: die Liebe, die Kunst, der Planet Erde, Sie, ich. Der Tod ist so unabwendbar, dass er jeden überrascht. Dieser Tag könnte der letzte sein, wer weiß. Man denkt, man hat Zeit. Dann ist es auf einmal aus und man geht unter, Ende der Regelzeit. Der Tod ist der einzige Termin, der nicht in Ihrem Organizer steht. Alles ist käuflich: die Liebe, die Kunst, der Planet Erde, Sie, ich. Ich schreibe dieses Buch, um gefeuert zu werden. Wenn ich selbst gehe, gibt es kein Geld. Ich muss den Ast absägen, auf dem mein Komfort sitzt. Meine Freiheit heißt Arbeitslosenversicherung. Ich werde lieber von einer Firma entlassen als vom Leben. DENN ICH HABE ANGST. Um mich herum sterben die Kollegen wie die Fliegen: Herzschlag im Schwimmbad, Myokardinfarkt als Legende für eine Überdosis Kokain, Absturz mit dem Privatjet, Karambolage mit dem Kabriolett. Heute Nacht bin ich im Traum ertrunken. Ich sah, wie ich sank und Mantarochen streichelte, die Lunge voll Wasser. Aus weiter Ferne rief eine hübsche Dame vom Strand nach mir. Ich konnte nicht antworten, weil ich Salzwasser im Mund hatte. Ich ging unter, rief aber nicht um Hilfe. Und allen, die im Meer schwammen, ging es genauso. Sie sanken, ohne um Hilfe zu rufen. Ich glaube, es ist Zeit zu gehen, ich kann mich nicht mehr treiben lassen.
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Alles ist vorläufig, alles ist käuflich. Der Mensch ist eine Ware wie alle anderen, er hat ein Verfallsdatum. Deshalb bin ich entschlossen, mit 33 abzutreten. Offenbar das ideale Alter für eine Wiederauferstehung.
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2. Ich heiße Octave und kaufe meine Klamotten bei AM. Ich bin Werber: ja, ein Weltverschmutzer. Ich bin der Typ, der Ihnen Scheiße verkauft. Der Sie von Sachen träumen lässt, die Sie nie haben werden. Immer blauer Himmel, nie flaue Frauen, perfektes Glück, Photoshop-retuschiert. Geleckte Bilder, Musik im Trend. Wenn Sie genug gespart haben, um sich den Traumwagen leisten zu können, den ich in meiner letzten Kampagne lanciert habe, ist der durch meine nächste Kampagne längst überholt. Ich bin Ihnen immer drei Wellen voraus und enttäusche Sie zuverlässig. Glamour ist das Land, in dem man nie landet. Ich fixe Sie mit Neuheiten an, die den Vorzug haben, dass sie nicht neu bleiben. Es gibt immer eine neue Neuheit, die die vorige alt aussehen lässt. Mein Amt ist es, Ihnen den Mund wässrig zu machen. In meinem Metier will keiner Ihr Glück, denn glückliche Menschen konsumieren nicht.
Ihr leiden dopt den Handel. In unserem Jargon nennen wir das die «Post-Shopping-Frustration». Sie müssen unbedingt ein bestimmtes Produkt haben, und kaum dass Sie es haben, brauchen Sie schon das nächste. Der Hedonismus ist kein Humanismus, sondern Cashflow. Devise: «Ich gebe Geld aus, also bin ich.» Um Bedürfnisse zu schaffen, muss man Neid, Leid, Unzufriedenheit schüren - das ist meine Munition. Meine Zielscheibe sind Sie.
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Mein Leben besteht darin, Sie zu belügen, und dafür werde ich fürstlich entlohnt. Ich verdiene 13 000 Euro (Spesenkonto, Dienstwagen, Stock Options und Golden Parachute nicht mitgerechnet). Der Euro ist erfunden worden, damit die Einkommen der Reichen nur halb so obszön aussehen. Kennen Sie viele Typen in meinem Alter, die 13 000 Euro verdienen? Ich manipuliere Sie und bekomme dafür den neuen Mercedes SLK (mit dem Dach, das automatisch im Kofferraum verschwindet), den BMW Z3, den Porsche Boxtet oder den Mazda MX5. (Ich persönlich habe ein Faible für den Z3-Roadster von BMW, bei dem sich die aerodynamische Ästhetik der Karosserie mit der Kraft des 321 PS starken Sechszylindermotors verbindet, der in 5,4 Sekunden von o auf 1oo ist. Außerdem ähnelt dieser Wagen einem riesigen Zäpfchen - sehr praktisch, wenn man auf die Welt scheißt.) Ich unterbreche Ihre Fernsehfilme, um Ihnen meine Logos aufzudrängen, und man spendiert mir einen Urlaub in Saint Barth', Lamu, Phuket oder Lascabanes (Quercy). Ich langweile Sie mit meinen Slogans in Ihren Lieblingszeitschriften, und man offeriert mir ein Mas in der Provence, ein Schloss im Perigord, eine Villa auf Korsika, einen Bauernhof in der Ardeche, einen Palast in Marokko, einen Katamaran auf den Antillen oder eine Yacht in Saint-Tropez. Ich Bin Überall. Sie entkommen mir nicht. Wohin Sie auch schauen, prangt meine Werbung. Ich verbiete Ihnen, sich zu langweilen. Ich hindere Sie am Denken. Ich nutze den Terror des Neuen, um Leere zu verkaufen. Fragen Sie einen Surfer: Um an der Oberfläche zu bleiben, braucht man ein Nichts darunter. Surfen heißt über gähnende Löcher gleiten (das wissen die Internauten so gut wie die Champions von Lacanau). Ich bestimme, was wahr, was
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schön, was gut ist. Ich caste die Models, von denen Sie in sechs Monaten einen Ständer kriegen. Die Sie Top-Models nennen, weil sie auf allen Plakaten sind; meine Mädchen traumatisieren jede Frau über vierzehn. Sie werden meine Entdeckungen vergöttern. Diesen Winter trägt man die Brüste höher als die Schultern und das Köpfchen hohl. Je mehr ich mit Ihrem Unbewussten spiele, desto besser gehorchen Sie mir. Wenn ich an den Wänden Ihrer Stadt ein Joghurt anpreise, werden Sie es kaufen, das versichere ich Ihnen. Sie meinen, frei zu sein in Ihrer Wahl, aber eines Tages werden Sie mein Produkt im Supermarktregal wieder erkennen und Sie werden es kaufen, nur um es zu probieren, glauben Sie mir, ich kenne meinen Job. Mmmhh, ist das geil, Ihr Gehirn zu penetrieren. Ich komme in der rechten Hälfte. Ihr Begehren ist nicht mehr Ihres: Ich zwinge Ihnen meines auf. Ich verbiete Ihnen spontanes Begehren. Ihr Begehren ist das Ergebnis eines Milliarden- Euro Investments. Ich entscheide heute, was Sie morgen wollen. Das macht mich in Ihren Augen wohl nicht sonderlich sympathisch. Im Allgemeinen sollte man sich ja bemühen, den Leser zu fesseln und so weiter, wenn man mit einem Buch anfängt, aber ich will die Wahrheit nicht verfälschen: Ich bin kein netter Märchenonkel. Eher so ein Superschurke, der alles ruiniert, was er berührt. Ideal wäre, wenn Sie erst mich zu hassen beginnen und dann die Epoche, die mich hervorgebracht hat. Ist es nicht erschreckend, wie normal anscheinend alle diese Situation finden? Sie widern mich an, jämmerliche Sklaven, die meiner geringsten Laune gehorchen. Warum haben Sie mich zum Master of the Universe werden lassen? Dieses Mysterium möchte ich ergründen: Wie auf dem Höhepunkt dieses
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zynischen Zeitalters die Werbung zur Kaiserin gekrönt ward. Seit zweitausend Jahren war nie ein verantwortungsloser Idiot so mächtig wie ich. Ich würde am liebsten alles stehen lassen und verschwinden, mit dem heimlich Ersparten, dem Gift und den Nutten, auf eine blöde einsame Insel. (Dann könnte ich den ganzen Tag Soraya und Tamara auf die Finger schauen, wenn sie auf meiner Panflöte spielen.) Aber ich habe Schiss zu gehen. Deshalb schreibe ich dieses Buch. Wenn sie mir kündigen, kann ich dem goldenen Käfig entfliehen. Ich bin gefährlich, halten Sie mich auf, bevor es zu spät ist, ich flehe Sie an! Sie schieben mir hundert Eier rüber und ich mach die Fliege, Ehrenwort. Was kann ich dafür, dass die Menschheit beschlossen hat, Gott durch Massenkonsumgüter zu ersetzen? Ich lächle, weil ich, wenn es sich so ergibt, nach dem Erscheinen des Buches auch befördert werden könnte statt vor die Tür gesetzt. Die Welt, von der ich Ihnen berichten will, verdaut die Kritik, bestärkt die Frechheit, belohnt den Verrat, organisiert die Verleumdung. Wenn demnächst der Nobelpreis für Provokation ausgeschrieben wird, werde ich als Kandidat kaum zu schlagen sein. Die Revolte gehört zum Spiel. In den Diktaturen von einst hat man die Freiheit des Wortes beschnitten, die Meinung Andersdenkender zensiert, Schriftsteller eingesperrt und umstrittene Bücher verbrannt. In den schönen Zeiten mit den schlimmen Scheiterhaufen konnte man die Guten und die Bösen noch auseinander halten. ImTotalitarismus der Werbung kann keiner seine Hände mehr in Unschuld waschen. Dieser Faschismus hat aus seinen Schlappen gelernt (Berlin 1945 und Berlin 1989 - warum geht die Barbarei eigentlich jedes Mal in derselben Stadt unter?).
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Zur Versklavung der Menschheit hat die Werbung die Mittel der Niveaulosigkeit, der Schmeichelei und der Überredung gewählt. Wir leben im ersten System der Herrschaft des Menschen über den Menschen, gegen das selbst die Freiheit nichts ausrichten kann. Im Gegenteil, es setzt ganz und gar auf die Freiheit, seine größte Entdeckung. Jede Kritik lässt es besser dastehen, jedes Pamphlet nährt die Illusion seiner heuchlerischen Toleranz. Man wird auf elegante Weise unterjocht. Alles ist erlaubt, niemand macht einen zur Sau, wenn man Mist baut. Das System hat sein Ziel erreicht: Auch der Ungehorsam ist eine Form des Gehorsams geworden. Unser verpfuschtes Leben wird schön umbrochen. Ich bin mir sicher, dass Sie beim Lesen dieses Buches denken: «Wie niedlich, der kleine Rotzlöffel, der die Hand beißt, die ihn füttert, marsch in die Ecke, du sitzt hier genauso fest wie wir alle und wirst deine Steuern zahlen wie jeder andere auch.» Es gibt kein Entkommen. Alles verriegelt, mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie fühlen sich blockiert von Krediten, die Sie abstottern müssen, monatlichen Ratenzahlungen und der Miete für Ihre Wohnung? Das schlägt Ihnen aufs Gemüt? Millionen von Arbeitslosen warten nur darauf, dass Sie Ihren Platz räumen. Sie können schimpfen, so viel Sie wollen, die Antwort hat schon Churchill gegeben: «It has been said that democracy is the worst form of government except all the others that have been tried.» Er hat uns nicht belogen. Er hat nicht behauptet, Demokratie sei das beste System; er sagte, das schlimmste.
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3. Heute Morgen um neun Frühstück mit dem Marketingdirektor des Unternehmensbereichs Fresh Food bei Madone, einem der größten Nahrungsmittelkonzerne der Welt (Umsatz 1998: 84,848 Milliarden Francs, also 12,395 Milliarden Euro), in einem Bunker aus Stahl und Glas wie von Albert Speer. Man muss sich schon ausweisen können, wenn man hinein will - im Joghurt-Imperium herrscht höchste Sicherheitsstufe. Nie wurden Milchprodukte so gut geschützt. Fehlt nur noch das Verfallsdatum über den automatischen Türen. Ich erhielt eine Chipcard, um in den Aufzug zu kommen, dann musste ich durch eine Schleuse mit Metalldrehkreuzen wie in der Metro, und auf einmal fühlte ich mich megawichtig, als sollte ich gleich dem Präsidenten der Republik meine Aufwartung machen, wo ich doch bloß einen alten Wirtschaftshochschüler im Streifenhemd treffen würde. Im Aufzug sagte ich einen Vierzeiler von Michel Houellebecq vor mich hin: Die Angestellten ersteigen ihren Kalvarienberg in stählernen Aufzugkartuschen Ich sehe Sekretärinnen am Werk die sich die Wimpern nachtuschen. Und mir wurde ganz seltsam zumute, so im Inneren eines kalten Gedichts.
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Genau genommen war diese morgendliche Besprechung wahrscheinlich wirklich wichtiger als ein Besuch beim Präsidenten. Es war die wichtigste Sitzung meines Lebens, weil daraus alles andere folgte. Bei Madone im achten Stock tragen alle Produktmanager Streifenhemden und kleine Tiere auf ihren Krawatten. Der Marketingdirektor triezt seine fetten Assistentinnen, die darauf mit Harnverhaltung reagieren. Sein Name ist Alfred Duler. Alfred Duler eröffnet jedes Meeting mit dem Satz: «Wir sind nicht zum Vergnügen hier, sondern zum Vergnügen des Verbrauchers.» Als ob der Verbraucher einer anderen Rasse angehörte - den «Untermenschen»? Ich finde ihn zum Kotzen dumm, wenn man mit Lebensmitteln sein Geld verdient. Ich male mir aus, wie er sich morgens rasiert, seine Krawatte bindet, die Kinder mit seinem Mundgeruch verstört, ziemlich laut France-Info hört und dabei Les Echos überfliegt, während er in der Küche im Stehen seinen Kaffee trinkt. Seine Frau rührt er seit 1975 nicht mehr an, geht aber auch nicht fremd (sie schon). Er liest höchstens ein Buch pro Jahr, und das ist auch noch von Alain Duhamel. In der aufrichtigen Überzeugung, eine entscheidende Rolle in seiner Holding zu spielen, steigt er in seinen Anzug, er hat einen fetten Mercedes, der wrummwrumm macht im Stau, und ein Mobiltelefon von Motorola, das pilim-pilim macht in seiner Halterung über dem Autoradio von Pioneer, das Werbung ausstrahlt: CastoCasto-Castorama, Mammouth bricht die Preise, Wählen Sie richtig, wählen Sie But. Er hält die Wiederbelebung des Wachstums für eine gute Nachricht, wo Wachstum doch nichts anderes bedeutet als eine ständig steigende Produktion unnützer Dinge, eine «Akkumulation von Waren in großen
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Massen» (Karl Marx), die uns eines Tages unter sich begraben werden. Er ist tief gläubig. Das hat man ihm an der Wirtschaftshochschule beigebracht: Du sollst an das Wachstum glauben. Lasst uns Millionentonnenweise Waren produzieren und wir werden glücklich sein! Ehre der Expansion, dass die Fabriken laufen und das Wachstum mehren! Bloß nicht innehalten, um nachzudenken! Wir sitzen in einem grauen Konferenzraum, wie es sie in allen Geschäftsgebäuden der Welt gibt, im Schweißgeruch der späten Konferenzen vom Vorabend um einen ovalen Tisch mit Gläsern voll Orangensaft, und eine Sekretärin- Sklavin bringt mit gesenktem Blick eine Thermoskanne Kaffee herein. Zu Beginn des Meetings stellt Duler klar: «Alles, was hier besprochen wird, ist vertraulich; es gibt keine Charts; das ist eine Krisensitzung; wir müssen die Zahlen noch abwarten, aber der Umsatz stimmt mich etwas bedenklich; und gerade jetzt hat ein Mitbewerber eine Riesenkampagne für ein Metoo-Produkt gestartet; nach übereinstimmenden Meldungen wollen sie Teile unseres Marktes erobern; wir betrachten das als Kriegserklärung.» In Bruchteilen von Sekunden haben rund um den Tisch alle die Stirn in Falten gelegt. Fehlen nur noch die khakifarbenen Helme und die Generalstabskarten, und es wäre eine Szene aus Der längste Tag. Nach den üblichen Bemerkungen über das Wetter ergreift JeanFrancois das Wort, der Etatdirektor unserer Agentur, und fasst das Briefing zusammen, während er mit einem Overheadprojektor Folien an die Wand projiziert: «Also wir präsentieren Ihnen heute ein Dreißig-SekundenTreatment, mit dem wir den Angriff der Me-too-Anbieter auf
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Maigrelette zurückschlagen werden. Ich erinnere an unser Strategieziel vom letzten Meeting: Maigrelette steht für Innovation und will eine frische Joghurtvision im neuen Ergonomie-Pack in einem erodierenden Markt implementieren.» Er sieht von seinen Zetteln auf und wechselt die Folie. Folgendes ist in Fettschrift an der Wand zu lesen: Agenda (Fs.): Emotional Genuss/unwiderstehlich Vergnügen/Fashion MAIGRELETTE Schlankheit/Schönheit Gesund/nutritiv Rational Keiner sagt etwas dazu, also hält er sich weiter an die Vorlage, die seine Assistentin (deren Kind sich in der Krippe eine Mittelohrentzündung holte) in den Computer getippt hat. «Unser Ansatz, der mit Luc und Alfred am 23. festgelegt wurde, basiert auf dem Consumer-Benefit: <Mit Maigrelette bleibe ich schlank und ernähre mich gesund dank Vitaminen und Kalzium.> Die Brand-Review in diesem hart umkämpften Markt hat gezeigt, dass wir auf die Double Insight <Schönheit plus Gesundheit> zielen müssen. Maigrelette ist gut für Körper und Geist. Kopf und Beine sozusagen, ha ha, ähem.» Diese Präsentation beruht auf den Vorgaben des Strategic Planning Department (zwei depressive Vierziger) und seiner Projektmanager (Kommunikationswissenschaftlern aus Dijon). Sie ist vor allem auf die Wünsche und den Geschmack des Kunden abgestimmt und dient der vorwegnehmenden Rechtfertigung des Treatments, das ich gestern Abend 23
ausgebrütet habe. Jef hört auf zu lachen, weil er sich ein wenig allein fühlt. Und setzt seinen Bauchtanz fort: «Wir haben ein integratives Konzept entwickelt, das uns meines Erachtens die Tools in die Hand gibt, um dem Produktversprechen entsprechend unserer Copy-Strategy einen maximalen Impact zu geben, besonders im Hinblick auf die Key Visuals. Ja, ähm, gut, dann übergebe ich also jetzt an Octave.» Und da ich schließlich Octave bin, fühle ich mich verpflichtet, aufzustehen und in der herrschenden Grabesstille anhand eines Storyboards in zwölf Bildern, das ein überbezahlter Illustrator fabriziert hat, das Filmprojekt zu erläutern. «Gut, ja, also: Wir befinden uns am Strand von Malibu, Kalifornien. Herrliches Wetter. Zwei hinreißende Blondinen im roten Badeanzug laufen über den Sand. Sagt die eine:
Antwortet die andere: <Man sollte sich jedoch hüten, in ontologische Paronomasie zu verfallen.> Auf dem Ozean brüllen sich währenddessen zwei braun gebrannte Surfer an: <Weißt du, dass Nietzsche in Ecce Homo eine total hedonistische Eloge auf das Schwimmen verfasst hat?> Der andere, ziemlich wütend: <Überhaupt nicht, er vertritt nur das Konzept der als allegorischen Solipsismus!> Zurück zum Strand, wo die beiden Mädchen jetzt mathematische Gleichungen in den Sand malen. Dialog: <Wenn man als Hypothese annimmt, dass die Kubikwurzel aus x in Funktion des Unendlichen variiert ... > <Ja>, sagt die andere, Die Aufnahme eines Maigrelette- Bechers beendet den Film. Super: <MAIGRELETTE. SCHLANK MACHT SCHLAU.>»
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Die Stille bleibt still. Der Marketingdirektor sieht seine Produktmanager an, die sich eifrig Notizen machen, um keine Meinung haben zu müssen. Jean-Francois versucht ohne große Überzeugung einen Stepp hinzulegen: «Natürlich gibt es auch das Soundbranding <mm Madone> am Ende, ist ja klar. Äh ... Wir dachten uns, es wäre doch spannend, Schlankheitsidole zu nehmen und sie in hoch intellektuellen Diskussionen zu zeigen ... Außerdem wird Outdoor-Sport ja immer mehr Mainstream. Gut, man könnte das auch noch abwandeln: Zwei Miss France zanken über Geopolitik, besonders den Vertrag von Brest-Litowsk (1918); nackte Chippendales deuten die körperliche Blöße als Freiheit des Leibes und Negation der postmodernen Entfremdung, demonstrieren dazu ihre Muskeln und so weiter. Lustig, oder?» Einer nach dem anderen gibt seinen Senf dazu: «geht so», «tendiere in dieselbe Richtung», «überzeugt mich nicht total, obwohl ich die Idee schon verstehe», «ausbaufähiger Ansatz» ... Dabei ist anzumerken, dass jeder wie ein Papagei das nachplappert, was sein Untergebener gesagt hat. Bis Duler das Wort ergreift. Der Big Boss ist ganz anderer Ansicht als seine Subalternen. Er stellt die Grundsatzfrage: «Wozu Humor?» Eigentlich hat er Recht: Wenn ich er wäre, fände ich auch nichts zum Lachen. Ich schlucke die aufsteigende Kotze runter und versuche es mit Argumenten: «Das spricht für Ihre Marke. Humor macht sympathisch. Und fördert die Memorabilität. Dinge, über die man lachen musste, merkt man sich besser. Die Konsumenten werden den Witz weitererzählen, beim Abendessen, im Büro, in ihrer Freizeit. Denken Sie an die vielen Filmkomödien, die jetzt im Kino laufen: Die Leute lassen sich gern unterhalten ...»
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Da gibt Alfred Duler den unsterblichen Satz von sich: «Aber sie essen nachher den Film nicht auf.» Ich entschuldige mich, um zur Toilette zu gehen, und denke: Du fettes Stück Dreck, du hast dir einen Platz in meinem Buch verdient. Einen Ehrenplatz. Vom dritten Kapitel an. ALFRED DULER IST EIN FETTES STÜCK DRECK. Schriftsteller sind Nestbeschmutzer. Literatur ist immer Verrat. Ich wüsste keinen anderen Grund, Bücher zu schreiben, als um zu petzen. Ich war zufällig Zeuge einer Reihe von Ereignissen und kenne außerdem einen Verleger, der durchgeknallt genug ist, das zu veröffentlichen. Anfangs habe ich nicht viel erwartet. Ich befand mich im Inneren einer Maschine, die alles zermalmte, was ihr in die Quere kam, und ich habe nie behauptet, dass es mir gelingen würde, ungeschoren davonzukommen. Ich wollte unbedingt wissen, wer die Macht hatte, die Welt zu verändern, bis zu dem Tag, an dem mir klar wurde, dass vielleicht ich es war.
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Grob gesagt bestand ihr Vorhaben darin, die Wälder zu vernichten und durch Autos zu ersetzen. Das war kein bewusster, durchdachter Plan, viel schlimmer: Sie hatten keine Ahnung, wohin, aber sie gingen pfeifend ihres Wegs - nach ihnen die Sintflut (vielmehr der saure Regen). Zum ersten Mal in der Geschichte des Planeten Erde hatten die Menschen aller Länder dasselbe Ziel: genug Geld zu verdienen, um wie die Werbung zu werden. Alles andere war sekundär, sie würden ja nicht mehr da sein, wenn es darum ginge, die Konsequenzen zu tragen. Eine kleine Klarstellung: Ich werde hier keine Selbstkritik üben und keine öffentliche Psychoanalyse betreiben. Ich schreibe eine Beichte, abgelegt von einem Kind dieses Jahrtausends. Und wenn ich den Begriff «Beichte» verwende, dann im katholischen Sinne des Wortes. Bevor ich mich aus dem Staub mache, will ich meine Seele retten. Denn es wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen (Lukas 14.15). Der Einzige, mit dem ich noch einen unbefristeten Vertrag abschließe, ist Gott. Es soll nicht in Vergessenheit geraten, dass ich versucht habe, Widerstand zu leisten, selbst wenn ich wusste, dass schon die Teilnahme an ihren Besprechungen Kollaboration war. Setz dich in diesen morbiden klimatisierten Marmorsälen an ihren Tisch, und du wirkst an der allgemeinen Enthirnung mit. Ihr
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Kriegsvokabular verrät sie: Sie reden von Target, Strategie, Zielkorridor. Sie erobern und besetzen den Markt. Sie fürchten feindliche Übernahmen und die Kannibalisierung. Ich habe gehört, dass sie bei Mars (dem Schokoriegelfabrikanten mit dem Namen des Kriegsgotts) das Jahr in zwölf vierwöchige Perioden einteilen; sie sagen nicht erster April, sondern P4 S1! Das sind die Soldaten, die den Dritten Weltkrieg führen. Gestatten Sie mir, daran zu erinnern, dass die Werbung als Technik der zerebralen Vergiftung zwar schon 1899 von dem Amerikaner Albert Davis Lasker erfunden wurde, aber erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ihren höchsten Wirkungsgrad erreichte, als sie von einem gewissen Joseph Goebbels, der das deutsche Volk überzeugen wollte, alle Juden zu vernichten, zur Vollendung geführt wurde. Goebbels war ein großer Texter: « DEUTSCHLAND ÜBER ALLES», «EIN VOLK, EIN REICH, EIN FÜHRER», «ARBEIT MACHT FREI» ... Denken Sie immer daran: Mit Werbung spielt man nicht. Es besteht kein allzu großer Unterschied zwischen konsumieren und liquidieren. Eine Weile lang dachte ich, ich könnte das Sandkorn im Getriebe sein. Der Rebell im noch fruchtbaren Schoß der Bestie; ein erstklassiger Soldat in der Infanterie des Global Marketplace. Ich sagte: «Man kann kein Flugzeug entführen, ohne einzusteigen, man muss die Dinge von innen verändern, wie Gramsci sagte.» (Gramsci macht mehr her als Trotzki, predigt aber denselben Entrismus. Ich hätte genauso gut Tony Blair zitieren können oder Daniel Cohn-Bendit.) Das half mir, die Dreckarbeit zu erledigen. Die 68er haben mit der Revolution angefangen und sind dann in die Werbung gegangen - ich wollte es umgekehrt machen.
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Ich sah mich als eine Art liberalen Che Guevara, einen Revoluzzer in Gucci. Ha, ich war Subcomandante Gucche! Viva el Gucche! Exzellente Marke. Ausgezeichneter Erinnerungswert. Aber zwei Probleme auf der Perzeptionsebene: 1) Hört sich an wie «Duce». 2) Der größte Revolutionär des 20. Jahrhunderts ist nicht Che Guevara, sondern Michail Gorbatschow. Wenn ich abends nach Hause kam, in mein riesiges Appartement, konnte ich manchmal nicht einschlafen, weil ich an die Obdachlosen denken musste. In Wahrheit hielt das Kokain mich wach. Der metallische Geschmack stieg mir die Kehle hoch. Ich masturbierte am Waschbecken und schluckte eine Stilnox. Ich wachte um die Mittagszeit auf. Ich hatte keine Frau mehr. Im Prinzip, glaube ich, wollte ich in meiner Umgebung Gutes tun. Das ging aus zwei Gründen nicht: weil ich daran gehindert wurde und weil ich aufgegeben habe. Es sind immer die Menschen mit den besten Absichten, aus denen am Ende Monster werden. Heute weiß ich, dass nichts sich ändern wird, ausgeschlossen, es ist zu spät. Gegen einen allgegenwärtigen, virtuellen und unverletzbaren Gegner kann man nicht kämpfen. Im Gegensatz zu Pierre de Coubertin meine ich, dass das Entscheidende heute die Nichtteilnahme ist. Am besten wäre es, einfach zu verschwinden wie Gauguin, Rimbaud oder Castaneda. Auf eine einsame Insel, mit Angelica, die Öl auf die Brüste von Juliana träufelt, die an deinem Schwengel pumpt. Marihuana im Garten zu pflanzen und darauf zu hoffen, dass man stirbt, bevor die Welt untergeht. Die Marken haben den World War III gegen die Menschen gewonnen. Das Besondere am Dritten Weltkrieg ist, dass ihn alle Länder gleichzeitig verloren
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haben. Ich hätte da einen Scoop für Sie: David kann Goliath nicht schlagen. Ich war naiv. Und die Einfalt ist eine Tugend, die in dieser Zunft nicht gebraucht wird. Ich habe mich ziemlich übers Ohr hauen lassen. Das ist übrigens das Einzige, was ich mit Ihnen gemeinsam habe.
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Ich habe meine zwölf Tassen Kaffee ins Klo von Madone International erbrochen und mir dann eine Linie reingezogen, um wieder ins Lot zu kommen. Mir eiskaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Und bin zum Meeting zurück. Es ist nicht verwunderlich, dass kein Kreativer für Madone arbeiten will. Dort wird einem nichts geschenkt. Aber ich hatte noch ein paar Drehbücher in petto: ein sonderbares Damen-Dramolett, in dem drei hübsche Frauen zu Soul Music aus den 70ern herumhopsen und mit Pistolen aufs Objektiv zielen; dann verhaften sie ein paar Gangster und rezitieren BaudelaireGedichte (Judogriffe, Kung-Fu-Tritte, Rollen und Sprünge zur Bekräftigung); schließlich verdreht eine von ihnen einem armen Gauner den Arm, bis der vor Schmerz stöhnt, und spricht mit Blick in die Kamera: «Ohne Maigrelette 0 % mit Früchten hätten wir sie nicht gekriegt. Maigrelette. Fitness für Körper und Kopf!» Dieses Skript hatte genauso wenig Erfolg wie die folgenden: eine strukturalistische Hindufilmparodie, James-Bond Girls beim Psychoanalytiker, ein Remake der Liebesgrüße aus Fernost von Jean-Luc Godard und ein von David Hamilton verfilmter Vortrag Julia Kristevas. Der Idiot des globalen Dorfes hetzte weiter gegen den Humor: «Ihr Kreativen haltet euch ja immer für Künstler und schielt nach den Löwen von Cannes, aber ich muss einen Rechenschaftsbericht abliefern, es steht jetzt auf Go/No Go, die Lager müssen linear abgebaut werden, wir haben auch unsere
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Vorgaben, verstehen Sie, Octave, ich finde Sie sehr sympathisch, und Ihre Witze bringen mich zum Lachen, aber ich bin nicht die Hausfrau unter fünfzig, wir haben einen Markt zu verteidigen, wir müssen von unseren eigenen Ansichten abstrahieren können und uns der Zielgruppe anpassen, es geht auch um den Kaufmann in Vesoul ... » «Venedig», sagte ich, «Sie sollten den Kaufmann von Venedig nicht vergessen.» Er lachte nicht, der alte Procterist. Er legte den nächsten Gang ein und schaltete auf das Lob der Marktforschung um. Seine überfahrene Gefolgschaft kritzelte weiter auf den Blöcken. «Zwanzig Käuferinnen wurden befragt, und sie haben von Ihren Spinnereien kein Wort begriffen: Text-Erinnerungswert null. Was sie wollen, ist Info, sie wollen das Produkt und den Preis sehen, Punkt, Ende. Und wo bleibt mein Key Visual? Ihre kreativen Ideen sind ja ganz nett, aber ich stehe im Wettbewerb, ich brauche etwas, das man in Aktionen am Selling Point umsetzen kann! Und wie mache ich Werbung im Internet? Die Amerikaner erfinden SPAM und verschicken ihre Promotion jetzt per E-Mail. Ihre Denke ist doch zwanzigstes Jahrhundert! Aber darauf fall ich nicht rein! Ich bin durch eine harte Schule gegangen! Auf die Basis kommt es an! Ich bin durchaus bereit, Ihnen etwas Überraschendes abzukaufen, aber ich habe gewisse Sachzwänge zu berücksichtigen!» Ich tat mein Bestes, um die Contenance zu wahren. «Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Monsieur? Wie wollen Sie eigentlich Ihre Konsumentinnen überraschen, wenn Sie sie vorher nach Ihrer Meinung fragen? Fragen Sie Ihre Frau auch, womit sie zum Geburtstag überrascht werden möchte?» «Meine Frau hasst Überraschungen.» «Hat sie Sie deshalb geheiratet?»
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Jean-Francois erlitt einen Hustenanfall. Ich lächelte Duler freundlich an, konnte aber nicht umhin, an einen Satz aus Adolf Hitlers Mein Kampf zu denken: «Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt.» Diese Verachtung, dieser Hass gegen das Volk, das als dumpfe Masse angesehen wird ... Manchmal habe ich den Eindruck, die Industriellen wären imstande, die Viehwaggons wieder hervorzuholen, wenn sie so die Konsumenten zwingen könnten, ihre Produkte zu fressen. Gestatten Sie mir zwei weitere Zitate? «Die niederen Massen sind meistens viel primitiver, als wir denken. Das Wesen der Propaganda ist deshalb unentwegt die Einfachheit und die Wiederholung.» - «Es kann also keiner sagen, eure Propaganda ist zu roh, zu gemein oder zu brutal ... Sie soll gar nicht anständig sein; sie soll zu einem Erfolge führen.» Sie sind von Joseph Goebbels (schon wieder er). Alfred Duler war mit seiner Schmährede noch nicht am Ende: «Wir haben eine Zielvorgabe, die lautet, wir müssen dieses Jahr 12 000 Tonnen loswerden. Ihre Mädels, die am Strand über Philosophie quasseln, sind viel zu hochgestochen, so was passt vielleicht ins Cafe de Flore, aber die Durchschnittskonsumentin versteht dabei nur Bahnhof. Und das mit dem Ecce Homo ... also mir brauchen Sie es nicht zu erklären, aber die breite Masse denkt da doch an warme Brüder! Nein, ganz ehrlich, Sie müssen mir davon ein Rewrite liefern, tut mir Leid. Wissen Sie, wir von Procter sagen immer: » «Ist ja grauenhaft, was Sie da sagen! Das würde bedeuten, dass die Demokratie sich selbst zerstört. Mit solchen Sprüchen
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holt man doch den Faschismus zurück. Erst erklärt man das Volk für blöd, anschließend unterdrückt man es.» «Ach, jetzt kommen Sie uns bloß nicht mit dem alten Lied vom rebellischen Kreativen. Wir wollen Joghurt verkaufen, deshalb sitzen wir hier, doch nicht, um Revolution zu machen. Was hat er denn heute? Hat ihn der Türsteher nicht ins gelassen gestern Abend, ist das vielleicht das Problem?» Es wurde unruhig im Konferenzraum. Jean-Francois versuchte dem Gespräch eine neue Wendung zu geben: «Also ehrlich gesagt, diese Spannung, wenn sexy Girls über platonische Hermeneutik reden ... das drückt doch genau das aus, was Sie sagen wollen: Schönheit und Geist, oder?» «Der Satz ist viel zu lang für eine Lastwagenplane», bemerkte einer seiner bebrillten Büttel. «Ich möchte Sie an eines der Grundprinzipien der Werbung erinnern. Es lautet: Erzeuge Spannung durch Humor (bei uns heißt das kreativer Bruch) und rufe beim Zuschauer ein Lächeln hervor; das so erzielte Einverständnis ermöglicht es dir, die Marke zu verkaufen. Übrigens, für einen Procteristen war Ihre Strategie schon von vornherein wacklig: Schlanksein und Klugsein als Unique Selling Proposition zu verkaufen, also verzeihen Sie, ich weiß nicht recht!» Jean-Francois machte mir Zeichen, mich zu mäßigen. Ich wollte schon «Madone über alles» als Claim vorschlagen, ließ es dann aber bleiben. Sie finden das jetzt vielleicht ein wenig übertrieben und eigentlich gar nicht so schlimm. Aber bedenken Sie bitte, was sich in dieser kurzen morgendlichen Besprechung abgespielt hat. Es geht nicht um die Präsentation einer harmlosen Kampagne. Dieses Meeting ist bedeutender als das Münchener Abkommen. (In München haben 1938 die Ministerpräsidenten Frankreichs und Englands, Edouard Daladier und
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Neville Chamberlain, die Tschechoslowakei an die Nazis abgetreten, einfach so, an einer Ecke des Konferenztischs.) In Hunderten von Besprechungen wie dieser hier wird Tag für Tag die Welt abgetreten. Tausende Münchener Abkommen täglich! Was da geschieht, ist entscheidend: Ideen werden gemeuchelt, Veränderung ist verboten. Da sitzt man Individuen gegenüber, die die Masse verachten und sie auf einen stumpfsinnigen, konditionierten Kaufreflex reduzieren wollen. Wenn sie von ihrer Zielgruppe sprechen, meinen sie eigentlich «Mongoloide unter fünfzig». Du schlägst etwas Lustiges vor, mit ein bisschen Niveau, ein bisschen Respekt vor den Menschen, schon aus Höflichkeit, weil du ihren Fernsehfilm unterbrichst. Und wirst abgeschmettert. Es ist immer das Gleiche, jedes Mal, jeden Tag, alle Tage ... Tausende Kapitulationen täglich, mit eingezogenem Schwanz im Tergalanzug. Tausende Male «feige Erleichterung». Tausende läppische Meetings, die dem Triumph des verächtlich kalkulierten Schwachsinns über das schlichte, naive Streben nach menschlichem Fortschritt den Weg bereiten. Idealiter sollte man in einer Demokratie Lust darauf haben, die enorme Macht der Kommunikation zu nutzen, um die Mentalitäten zum Tanzen zu bringen, anstatt sie zu zertreten. Das passiert aber nicht, denn diejenigen, die über diese Macht verfügen, scheuen das Risiko wie der Teufel das Weihwasser. Sie wollen nur Vorgekautes, Testgeeichtes, sie wollen nicht Ihr Hirn auf Trab bringen, sondern Sie in ein Schaf verwandeln, ich scherze nicht, Sie werden sehen, eines Tages wird Ihnen ein Strichcode aufs Handgelenk tätowiert. Die einzige Macht, über die Sie verfügen, ist Ihre Kreditkarte, das wissen die Inserenten. Deshalb dürfen Sie nicht die Möglichkeit bekommen zu entscheiden. Unwillkürliches Handeln muss zum Kaufakt werden.
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In all diesen unpersönlichen Konferenzräumen wird erbitterter Widerstand gegen jede Veränderung geleistet. Hier, in diesem Gebäude, schlägt das Herz der Fortschrittsfeindlichkeit. Niemand weiß, warum die Schlüssel zur Macht ausgerechnet diesen kleinen Angestellten mit Schuppen und Schuheinlagen übergeben wurden. Sie sind der Mittelpunkt der Erde! Politiker haben nichts mehr zu sagen; die Wirtschaft regiert. Marketing ist eine Perversion der Demokratie - das Orchester dirigiert den Dirigenten. Umfragen bestimmen die Politik, Tests die Werbung, Panels die Platten, die im Radio gespielt werden, Sneak Previews das Ende von Kinofilmen, Einschaltquoten das Fernsehprogramm, das sind die Tools der Alfred Dulers dieser Welt. Keiner ist mehr verantwortlich außer den Alfred Dulers. Die Alfred Dulers halten die Zügel in Händen, aber es geht nirgends hin. Big Brother is not watching you, Big Brother is testing you. Der Marktforschungsfetischismus ist purer Konservatismus. Eine Abtretung. Kein Angebot, das Ihnen WOMÖGLICH nicht gefallen könnte. So wird jede Innovation, Originalität, Kreativität und Rebellion erstickt. Daraus ergibt sich alles weitere. Unsere geklonten Existenzen ... unsere mechanische Stumpfheit ... die Isolation der Menschen ... die betäubende Hässlichkeit allenthalben ... Nein, das ist keine harmlose Besprechung. Es ist das Ende der Welt in Bewegung. Man kann die Welt nicht verändern, wenn man sich ihr unterwirft. Eines Tages werden die Kinder in der Schule lernen, wie die Demokratie sich selbst zerstört hat. In fünfzig Jahren wird Alfred Duler wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt werden. Jedes Mal, wenn der Typ das Wort «Markt» gebraucht, muss man darunter «Kuchen» verstehen. Sagt er Marktforschung, heißt das Kuchenbetrachtung;
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Marktwirtschaft bedeutet Kuchenökonomie. Dieser Mann ist für eine Liberalisierung des Kuchens, er will neue Produkte auf den Kuchen werfen, neue Kuchen erschließen und vergisst nie anzumerken, dass der Kuchen global ist. Er hasst Sie, das sollten Sie wissen. Für ihn sind Sie nichts als Mastvieh, Pawlow'sche Hunde, das Einzige, was ihn an Ihnen interessiert, sind Ihre Tacken in den Taschen seiner Aktionäre (amerikanische Pensionsfonds; das heißt, ein Haufen gelifteter Rentner, die an den Swimmingpools von Miami, Florida, langsam verrotten). Auf dass die beste aller materialistischen Welten sich immer weiter drehe. Ich bat Alfred, mich noch einmal zu entschuldigen, weil ich spürte, dass ich gleich Nasenbluten bekommen würde. Das ist das Problem mit dem Pariser Kokain: Es ist so gestreckt, dass man ziemlich robuste Schleimhäute braucht. Ich merkte, wie das Blut in meine Nase schoss, zog es hoch, sprang auf, rannte aufs Klo, und dort pisste es aus meiner Nase wie noch nie, alles war voller Blut, der Spiegel, mein Hemd, die Handtuchrolle, die Fliesen, und aus meinen Nasenlöchern traten große rote Blasen. Zum Glück kam gerade keiner, ich schaute in den Spiegel und sah mein blutverschmiertes Gesicht, alles rot, das Kinn, der Mund, der Kragen, das Waschbecken und meine Hände jetzt wars soweit, sie hatten gewonnen, ich hatte buchstäblich Blut an den Händen - das brachte mich auf eine Idee, also habe ich «Pigs» an ihre Toilettenwände geschrieben, « P I G S » an die Tür, dann raus auf den Flur, pigs auf der Wandverkleidung, pigs auf dem Teppich, pigs im Aufzug, dann bin ich geflüchtet, doch die Überwachungskameras müssen diesen glorreichen Moment verewigt haben - den Tag, an dem ich den Kapitalismus mit meinem Blut taufte.
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Ups! Der Geschäftsführer der Agentur ist in mein Büro gekommen. Er trägt eine weiße Hose, einen marineblauen Blazer mit Goldknöpfen und weißem Einstecktuch, ein rosa kariertes Hemd (Vichy-Karo, klar). Fast hätte ich es nicht mehr geschafft, diesen Text von meinem Bildschirm zu löschen. Väterlich klopft er mir auf die Schulter. «Na, Arbeit, Arbeit, Arbeit?» Philippe mag mich, weil er ahnt, dass ich mir eine gewisse Distanz zum Metier bewahrt habe. Er weiß, ohne mich wäre er nichts - und umgekehrt: Ohne ihn kann ich die einsame Insel samt Koks und Nutten (Veronika ausgestreckt auf gefickter Fiona, ich in Veronika drin) vergessen. Er gehört zu den Leuten, die mir fehlen werden, wenn dieses Machwerk erschienen ist und ich in der ganzen französischen Werbeszene unten durch bin. Er bezahlt mich hoch, um mir seine Liebe zu beweisen. Und ich achte ihn, weil sein Appartement noch größer ist als meines. Auf einmal tätschelt er meine Schulter und flüstert merkwürdig erregt: «Sag mal, Octave ... bist du irgendwie müde in letzter Zeit?» Ich zucke die Achseln. «Seit ich auf der Welt bin.» «Du weißt, dass wir dich hier sehr gern haben, Octave. Aber du solltest ein bisschen aufpassen, du hast dir heute Morgen bei Madone anscheinend einen ziemlichen Knaller geleistet. Duler hat getobt am Telefon, ich musste ihm eine Putzkolonne schicken, um deine Kunstwerke zu entfernen. Vielleicht solltest du mal eine Pause machen.»
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«Vielleicht solltest du mich besser rausschmeißen, meinst du nicht?» Philippe lacht und haut mir noch einmal auf den Rücken. «Immer gleich die große Klappe. Kommt nicht in Frage, dafür wird dein Talent zu hoch geschätzt. Für die Rosse ist es sehr gut, dass es dich gibt - die Amerikaner haben die OranginaCola-Filme geliebt, wie du weißt, und deine Baseline hat einen guten Ipsos-Score bekommen -, vielleicht solltest du nur nicht so oft zum Kunden gehen, was meinst du?» «Moment, ich bin ganz ruhig geblieben. Dieser vertrottelte Duler hat mich mit seinem Webspamming fertig gemacht, ich hätte auch Charlie bitten können, dass er ihm einen Virus schickt, ein trojanisches Pferd im E-Mail-Attachment, und sein ganzes System wäre zusammengekracht. Das hätte ihn sehr viel mehr gekostet als die Kloreinigung.» Philippe hat mein Büro mit einem schallenden Lachen verlassen, typisches Zeichen, dass er einen Scherz nicht begriffen hat. Aber dass er persönlich gekommen ist, um mir eine Predigt zu halten, ist ein gutes Omen für meine Entlassung, weil er das genauso gut mit einer CC-Mail über Intranet hätte erledigen können. Die Leute sprechen immer seltener miteinander; wenn man sich dazu zwingt, jemandem die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, ist es im Allgemeinen FAST zu spät.
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Ich werde oft gefragt, warum die Kreativen so überbezahlt sind. Ein freier Journalist, der für seinen Artikel im Figaro eine Woche braucht, kriegt fünfzigmal weniger als ein freier Texter, der sich in zehn Minuten ein Plakat aus den Fingern saugt. Und warum? Weil die Arbeit des Texters mehr Geld bringt, ganz einfach. Der Anzeigenkunde verfügt über ein Werbebudget von mehreren zig oder hundert Millionen pro Jahr. Die Agentur kalkuliert ihre Honorare in Prozent des Anzeigenpreises: Im Allgemeinen nimmt sie eine Provision von 9 % (früher waren es 15 %, aber die Kunden haben den Beschiss bemerkt). Im Verhältnis zu dem, was mit ihnen verdient wird, sind die Kreativen eigentlich unterbezahlt. Wenn man die Summen betrachtet, die kursieren und ihren Auftraggebern die Nase vergolden, erscheint ihr Lohn lächerlich. Außerdem würde ein Texter, der ein zu geringes Honorar verlangt, nicht ernst genommen. Nach einem Meeting habe ich Marc Marronnier einmal gefragt: «Warum hören alle auf Philippe und nicht auf mich?» Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: «Weil Philippe 300 000 Francs im Monat verdient und du nicht.» Als Kreativer brauchst du keine Rechtfertigung für dein Gehalt; du hast einen Beruf, in dem dein Gehalt deine Rechtfertigung ist. Wie bei Fernsehmoderatoren ist deine Karriere nur kurz. Deshalb verdient ein Kreativer in ein paar Jahren, was ein normaler Mensch in einem ganzen Leben verdient. Dennoch besteht ein beträchtlicher Unterschied zwischen Werbung und Fernsehen: Ein Kreativer braucht ein Jahr, um
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einen 30-Sekunden-Spot zu drehen, während ein Fernsehmoderator in dreißig Sekunden das Programm für ein Jahr beschließt. Und dann ist kreativ sein keine leichte Arbeit. Der Ruf des Metiers leidet unter dessen scheinbarer Einfachheit. Jeder denkt, das könnte ich auch. Unser morgendliches Meeting gibt Ihnen vielleicht einen Eindruck von den Schwierigkeiten dieses Berufs. Wenn wir den Vergleich mit dem Journalisten fortsetzen, wäre das so, als würde sein Artikel erst vom stellvertretenden Chefredakteur, dann vom Chefredakteur und dann vom Textchef überarbeitet, danach von allen in seinem Artikel erwähnten Personen überprüft und geändert, anschließend einer repräsentativen Auswahl von Figaro-Käufern laut vorgelesen, dann müsste er ihn noch einmal umschreiben, und am Ende würde der Artikel mit 9o-prozentiger Wahrscheinlichkeit ohnehin nicht gedruckt. Kennen Sie viele Journalisten, die sich eine solche Behandlung bieten lassen würden? Auch dafür werden wir so gut bezahlt.
Einmal muss die Werbung, die Sie überall sehen, ja gemacht werden. Der Geschäftsführer der Agentur und seine Etatdirektoren verkaufen sie an ihre Anzeigenkunden, sie wird in der Presse diskutiert, in der Glotze parodiert, von der Marktforschung seziert und lässt dadurch den Bekanntheitsgrad des Produkts und dessen Verkaufszahlen in die Höhe schnellen. Da sitzt ein junger Spund auf seinem Stuhl, der hat sie ausgebrütet in seinem kleinen Kopf, und dieser junge Spund ist sehr, sehr viel wert, weil er der Master of the Universe ist, wie ich bereits ausführte. Der junge Spund befindet sich am äußersten Ende der Produktionskette, dort, wo die ganze Industrie hinläuft,
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dort, wo der Wirtschaftskampf am härtesten ist. Marken erfinden Produkte, die von Millionen Arbeitern in Fabriken hergestellt und in unzähligen Geschäften abgesetzt werden. Aber der ganze Aufwand wäre umsonst, wenn dem jungen Spund auf seinem Stuhl nichts einfiele, um die Konkurrenz zu vernichten, den Wettbewerb zu gewinnen und die Konsumenten zu überzeugen, dass sie keine andere Marke kaufen. Dieser Krieg ist kein unwillkürliches Handeln und kein Spiel für Dilettanten. So etwas macht man nicht irgendwie. Wenn ich und Charlie, der Art Director mir gegenüber, fühlen, dass wir eine Idee haben, wie wir der armen Hausfrau wieder einmal ein nutzloses Produkt in den Warenkorb stopfen können, geschieht etwas Mysteriöses. Auf einmal sehen wir uns mit Verschwörermiene an. Es ist die totale Magie: Leuten Lust zu machen auf etwas Neues, das sie sich nicht leisten können und zehn Minuten vorher auch noch nicht brauchten. Jedes Mal ist das erste Mal. Die Idee kommt immer aus dem Nichts. Dieses Wunder erschüttert mich, mir stehen Tränen in den Augen. Ich muss mich wirklich dringend feuern lassen. Mein offizieller Titel ist Texter/ Konzeptioner; so heißen Schreibkundige heute. Ich erfinde Drehbücher für 3o-Sekunden-Spots und Slogans für Plakate. Ich sage «Slogans», damit Sie mich verstehen, aber Sie sollten wissen, dass «Slogan» total has been ist. Heute heißt das «Claim». Ich mag «Slogan», aber «Claim» macht mehr her. Die Texter, die am meisten von sich halten, sagen alle «Claim», warum auch immer. Und plötzlich sage ich auch, ich habe den oder jenen «Claim» erfunden, weil man, wenn man viel von sich hält, öfter eine Gehaltserhöhung bekommt. Ich arbeite an acht Etats: ein französisches Parfum, eine altmodische Modemarke, eine italienische Pasta, ein
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synthetischer Süßstoff, ein Mobiltelefon, ein fettfreies Joghurt, ein löslicher Kaffee und ein Sodawasser mit Orangengeschmack. Meine Tage sind ein endloses Zapping zwischen diesen acht Bränden, die ich zu löschen habe. Ständig muss ich mich mit den unterschiedlichsten Problemen herumschlagen. Ich bin ein Chamäleon auf Kokain. Ich weiß, dass Sie mir jetzt nicht glauben werden, aber ich habe mich nicht nur wegen des Geldes für diesen Beruf entschieden. Ich erfinde gern Sätze. Kein anderes Metier verleiht den Worten so viel Macht. Werbetexter sind Verfasser verkäuflicher Aphorismen. Auch wenn ich hasse, was aus mir geworden ist, muss ich einräumen, dass man sich nirgends sonst drei Wochen lang wegen eines Adverbs anschreien kann. «Ich träume von einer Welt, in der man für ein Komma stirbt», schrieb Cioran; 0b er wohl ahnte, dass er von der Welt der Texter und Konzeptioner sprach? Jeder Texter/Konzeptioner arbeitet mit einem Art Director (AD) zusammen. Die Art Directors haben auch eine Masche gefunden, um sich wichtig zu machen, sie nennen sich Arter. Nein, ich werde Ihnen jetzt nicht alle Ticks der Werber erklären, dafür ist die Zeit zu schade, lesen Sie lieber die alten Comics von Lauzier oder gucken Sie (im Sonntagabendprogramm) die Komödien aus den 70er Jahren, in denen die Rolle des Werbers immer mit Pierre Richard besetzt war. Damals hat man über Reklame noch gelacht. Heute lacht niemand mehr. Werbung ist kein spaßiges Abenteuer, sondern eine triumphierende Industrie. Die Arbeit in einer Werbeagentur ist fast so aufregend wie die eines Wirtschaftsprüfers.
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Kurz, die Zeiten, wo Werber gern als Gaukler galten, sind vorbei. Es sind gefährliche, berechnende, gnadenlose Geschäftsleute. Die Leute merken das langsam: Sie zappen unsere Spots weg, zerreißen unsere Prospekte, fliehen unsere Wartehäuschen, sprayen ihre Tags auf unsere Plakate. Diese Reaktion nennt man «Publiphobie». Werbung ist zu einem alles beherrschenden Kraken geworden. Was wie ein Spaß begonnen hat, regiert inzwischen unser Leben: Werbung finanziert das Fernsehen, kontrolliert die Presse, diktiert den Sport (im Finale der Fußball-WM wurde nicht Brasilien von Frankreich geschlagen, sondern Nike von Adidas), alteriert die Gesellschaft, modelliert die Sexualität und fördert das Wachstum. Eine Zahl gefällig? 1998 beliefen sich die Werbeausgaben der Anzeigenkunden weltweit auf 2340 Milliarden Francs (das ist sogar in Euro ein schönes Sümmchen). Zu diesem Preis, das kann ich Ihnen versichern, ist alles käuflich - besonders Ihre Seele.
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Ich reibe mir das Zahnfleisch, es juckt dauernd. Je älter ich werde, desto schmaler werden meine Lippen. Ich bin jetzt bei vier Gramm Koks pro Tag. Das fängt mit dem Aufstehen an, die erste Linie ist vor dem Morgenkaffee fällig. Ein Jammer, dass man nur zwei Nasenlöcher hat, sonst ginge noch mehr rein. Kokain ist ein Sorgenbrecher, sagte Freud. Es betäubt die Probleme. Ich kaue den ganzen Tag Kaugummi. Nachts, wenn ich ausgehe, sieht mich keiner. Warum beherrschen die Amerikaner die Welt? Weil sie die Kommunikation beherrschen. Ich bin in diese amerikanische Agentur gegangen, weil ich wusste, dass Marc Marronnier dort arbeitet. Die Agentur heißt Rosserys & Witchcraft, aber alle sagen Rosse zu ihr. Sie ist die französische Tochter des ersten Werbekonzerns der Welt, gegründet 1947 in New York von Ed Rosserys und John Witchcraft (5,2 Milliarden Dollar Bruttogewinn 1999). Das Haus muss in den 70er Jahren gebaut worden sein: zu der Zeit, als der Ozeandampfer-Look modern war. Es hat einen großen Innenhof und viele gelbe Rohre überall. Stilistisch liegt es zwischen Beaubourg und Alcatraz, tatsächlich aber in Boulogne-Billancourt, was weniger schick ist als Madison Avenue. Die Grünpflanzen um die gigantischen Initialen R&W, die am Eingang prangen, sind sämtlich aus Plastik. Männer rasen mit Aktenmappen unterm Arm durch die Halle. Passable Frauen plappern in portable Telefone. Alle sind beseelt von einer Mission: einem Klopapier zum Ruhm zu verhelfen,
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eine neue Tütensuppe einzuführen, «die im Vorjahr optimierte Neupositionierung auf dem Margarinesektor zu konsolidieren», «der Dauerwurst neue Bereiche zu erschließen» ... Einmal habe ich eine schwangere Kontakterin im Flur beim Weinen ertappt. (Kontakterinnen pflegen sich zum Weinen zu verstecken.) Ich gab den Freund und Helfer, bot ihr einen Becher kaltes Wasser an, ein Kleenex oder eine Hand am Arsch. Nichts zu machen: Sie zwang sich zu einem Lächeln, aber ich merkte, dass sie sich nur schämte, weil jemand sie gesehen hatte, als sie zusammenklappte. «Ich hab geträumt, dass meine Füße von selber losgegangen sind, um mich zur Rosse zu bringen. Ich wollte mich dagegen wehren, aber sie waren auf Autopilot gestellt ... Es ist okay, glaub mir, ist nicht so schlimm, es geht vorbei.» Sie bat mich, ihrem Chef nichts davon zu sagen, es gehe ihr total gut, mit dem Job habe das nichts zu tun, nur die Schwangerschaft strenge sie manchmal ein wenig an. Dann puderte sie sich die Nase nach und lief davon. So ist mir klar geworden, dass ich mich einer unmenschlichen Sekte verschrieben habe, die aus schwangeren Frauen rostige Roboter macht. Marc Marronnier klatscht mir zur Begrüßung in die Hand. «Salut, du Blender! Immer noch bei deinem agenturfinanzierten Roman, mit dem du die Werbung in Grund und Boden stampfen wirst?» «Und wie! Schließlich hast du mir das beigebracht!» Das ist leider wahr. Marronnier ist der Creative Director der Rosse und veröffentlicht trotzdem Bücher, tritt im Fernsehen auf, lässt sich scheiden und schreibt Literaturrezensionen für ein Skandalwochenblatt ... Er macht tausend Dinge und
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ermutigt seine Untergebenen, es ihm gleichzutun, um den Geist auszulüften, wie er sagt (ich weiß aber, dass er sie bloß am Überschnappen hindern will). Marronnier ist in der Branche ein bisschen durch, aber eine Zeit lang war er ein gottverdammter Winner: Löwen in Cannes, Cover von Strategies, ADC-Award ... Ein paar ziemlich bekannte Slogans sind von ihm: «WAS HABEN SIE DENN FOR EIN TELEFON?» für Bouygues Telecom, «SEHEN SIE MIR IN DIE AUGEN ... IN DIE AUGEN, HABE ICH GESAGT», für Wonderbra, «EIN TEIL VON IHNEN WILL IHN UM JEDEN PREIS, DER ANDERE HÄLT SEINE KLAPPE» für Ford. Der bekannteste war: «CAFE MAMIE. ES GIBT SICHER BESSEREN KAFFEE. SCHADE, DASS ER NOCH NICHT ERFUNDEN IST.» Verflucht, das klingt so einfach, man muss nur darauf kommen, je schlichter, desto schwerer. Die schönsten Sätze sind von entwaffnender Klarheit: «NICHTS IST UNMÖGLICH», «DAS WASSER, DIE LUFT, DAS LEBEN», «EVERY TIME A GOOD TIME», «DURST IST WASSERLÖSLICH», «AUF DIESE STEINE KÖNNEN SIE BAUEN», «FREIHEIT UND DER WEG DORTHIN», «BROT, WEIN, BOURSIN», «DIE BAHN KOMMT»; «ICH BIN DOCH NICHT BLÖD», «LET'S MAKE THINGS BETTER», «SEB HAT PEP», «DIE TUN WAS», «MAILLE IST GANZ MEIN FALL», «JUST BE», «ICH WILL SO BLEIBEN WIE ICH BIN», «TRINK DIFFERENT», «WEIL ICH ES MIR WERT BIN», «WIR GEHÖREN ZUR FAMILIE», «GUTES BRAUCHT ZEIT», «NICHT IMMER, ABER IMMER ÖFTER», «SIND SIE ZU STARK, BIST DU ZU SCHWACH», «THE LIGHT SIDE OF LIFE», «LIEBER TROCKEN TRINKEN ALS TROCKEN FEIERN» und natürlich «JUST DO IT», der beste in der Geschichte des Business. (Obwohl, wenn ich darüber nachdenke, ist mir der folgende am liebsten: «HYUNDAI. PREPARE 47
TO WANT ONE.» Es ist der ehrlichste. «Du wirst schon noch reden», sagte man früher zu Menschen unter der Folter, heute heißt es: «Du wirst schon noch wollen.» Das Leiden ist größer, weil zehrender.) Marronnier kennt alle Hintergründe des Metiers aus dem Effeff. Er hat mich die ungeschriebenen Gesetze gelehrt, die sie dir an der Werbeakademie nicht beibringen. Ich habe sie zum Spaß einmal ausgedruckt und über meinen iMac gepinnt.
DIE ZEHN GEBOTE DES KREATIVEN:
1) Ein guter Kreativer spricht nicht die Konsumenten an, sondern die zwanzig Personen in Paris, die ihn eventuell einstellen könnten (die CDs der zwanzig besten Werbeagenturen). Deshalb ist es wichtiger, einen Löwen in Cannes oder einen ADCAward zu gewinnen als größere Marktanteile für den Kunden. 2) Die erste Idee ist immer die beste, man sollte aber drei Wochen Aufschub verlangen, bevor man sie präsentiert. 3) Die Werbung ist der einzige Beruf, in dem man dafür bezahlt wird, Dinge schlechter zu machen. Wenn du eine geniale Idee präsentierst und der Kunde sie dir ruinieren will, denkst du intensiv an dein Gehalt, schluderst getreu seiner Anweisung in gestoppten dreißig Sekunden irgendeinen Mist zusammen und baust Palmen ins Storyboard ein, damit du endlich für eine Woche nach Miami oder ans Cap fliegen kannst, um dort zu drehen.
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4) Zu Meetings kommst du grundsätzlich zu spät. Ein Kreativer, der pünktlich ist, macht sich unglaubwürdig. Beim Betreten des Raumes, wo seit einer Dreiviertelstunde alle auf dich warten, entschuldigst du dich auf gar keinen Fall, sondern sagst nur: «Hi, ich habe drei Minuten für Sie.» Oder du zitierst Roland Barthes: «Nicht Traum verkauft, sondern Sinn.» (Oder, weniger edel, Raymond Loewy: «Hässlichkeit verkauft sich schlecht.») Dann denkt der Kunde, dass er was kriegt für sein Geld. Nie vergessen, dass Anzeigenkunden zu den Agenturen kommen, weil sie selbst unfähig sind, Ideen zu produzieren, dass sie darunter leiden und uns dafür hassen. Deshalb müssen die Kreativen sie verachten: Produktmanager sind missgünstig und masochistisch. Sie bezahlen uns dafür, dass wir sie erniedrigen. 5) Wenn du unvorbereitet bist, sprich als Letzter und greif alles auf, was vor dir gesagt wurde. Bei einem Meeting hat immer derjenige Recht, der das letzte Wort hat. Nicht vergessen: Es ist das Ziel jedes Meetings, dass die anderen sich blamieren. 6) Der Unterschied zwischen einem Senior und einem junior ist, dass der Senior mehr verdient und weniger arbeitet. je teurer du bist, desto weniger redest du, findest aber desto mehr Gehör. In diesem Beruf hältst du entsprechend deiner Bedeutung den Mund - du giltst als umso genialer, je weniger du quasselst. Logische Konsequenz: Um dem CD eine Idee zu verkaufen, musst du ihm SYSTEMATISCH einreden, dass sie sein Einfall war. Deshalb präsentierst du deine Vorstellungen mit den folgenden Sätzen: «Ich habe intensiv über das nachgedacht, was du gestern gesagt hast», oder: «Ich habe deine
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Idee von letzter Woche aufgegriffen», oder auch: «Ich bin auf deinen ersten Ansatz zurückgekommen.» Wobei es sich natürlich von selbst versteht, dass der CD gestern nichts gesagt hat, vor einer Woche keinen Einfall hatte und nie auch nur einen Ansatz zu einer Idee. 6b) Eine andere Methode, Junior und Senior zu unterscheiden: Der Junior macht lustige Witze und keiner lacht, der Senior erzählt müde Kalauer und alle lachen. 7)Pflege den Absentismus, komm mittags ins Büro, antworte nie, wenn man hallo zu dir sagt, mach drei Stunden Mittagspause, sei an deinem Arbeitsplatz nie zu erreichen. Jeden Hauch einer Kritik weist du mit den Worten zurück: «Kreative haben keine Stundenpläne, sondern Deadlines.» 8) Frage keinen nach seiner Meinung zu einer Kampagne. Wenn du jemanden fragst, riskierst du JEDES MAL, dass er dir seine Meinung sagt. Und dann ist es NICHT AUSZUSCHLIESSEN, dass du ihr Rechnung tragen musst. 9) Jeder macht die Arbeit dessen, der über ihm steht. Der Praktikant macht die Arbeit des Texters, der die Arbeit des CD s und der die Arbeit des Agenturchefs. Je wichtiger du bist, desto weniger tust du (siehe 6. Gebot). Jacques Seguela hat sich zwanzig Jahre auf den Lorbeeren ausgeruht, die ihm der Klassiker «Force Tranquille» eingebracht hat, ein von Leon Blum geprägter Begriff, recycelt von zwei Kreativen seiner Agentur, an die sich niemand mehr erinnert. Philippe Michel ist der breiten Öffentlichkeit mit einer Plakatserie bekannt geworden, die eine Idee seines Angestellten Pierre Berville war.
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DELEGIERE deine gesamte Arbeit an einen Praktikanten: Wenn es klappt, heimst du die Lorbeeren ein; wenn es floppt, fliegt er raus. Praktikanten sind die Sklaven von heute: unbezahlt, formbar, auf Gedeih und Verderb der Fron verpflichtet, täglich kündbar, Kaffeeträger und Fotokopierer auf Füßen wegwerfbar wie Bic-Rasierer. 10) Zeigt dir ein Kollege eine gute Annonce, lässt du ihn keinesfalls merken, wie sehr du seinen Einfall bewunderst. Sag, das ist doch Hühnerkacke, poppt überhaupt nicht, wird nie verkaufen, und außerdem ist es Asbach uralt, zehntausendmal gesehen oder von einer englischen Kampagne von vor zig Jahren abgekupfert. Legt er dir wirklich Hühnerkacke vor, sagst du: «super Idee» und tust, als wärst du sehr neidisch. Jetzt wo Marronnier Creative Director ist, hat er selbst all seine Lehren vergessen. Wenn seine Kreativen mit einer Kampagne kommen, brummt er «nichschlech» oder «weesnich». «Nichschlech» heißt, dass es ihm gefällt und man vor Jahresende befördert wird. «Weesnich» bedeutet, dass man sich bei Strafe der Abschiebung binnen kürzester Frist etwas Neues ausdenken sollte. Im Grunde ist der Job des Creative Director keine Hexerei: Es genügt, an den richtigen Stellen «nichschlech» oder «weesnich» zu nuscheln. Manchmal frage ich mich allerdings, ob Marc seine Urteile nicht dem Zufall überlässt und im Kopf darum knobelt. Er hat mich irgendwie gerührt angesehen, bevor er meinen Gedankenflug unterbrach: «Du hast dich anscheinend ziemlich danebenbenommen bei Madone heute Morgen.»
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Darauf hielt ich ihm den folgenden Vortrag, den ich gleichzeitig in die Tastatur hackte, damit Sie ihn jetzt hier lesen können: «Hör mal, Marc, du weißt doch, dass ALLE Kreativen irgendwann durchdrehen. Die Arbeit ist einfach zu frustrierend, alles wird einem um die Ohren gehauen, und es wird immer schlimmer. Der Mülleimer ist unser bester Kunde. Für den malochen wir wie die Wahnsinnigen! Schau dir doch die alten Werber mal an, mit ihrer resignierten Fresse und ihren hoffnungslosen Augen! Nach einer bestimmten Anzahl abgelehnter Vorschläge ist man fertig, das frisst einen auf, und wenn man noch so sehr tut, als wärs einem egal. Wir sind doch schon lauter verkorkste Künstler und werden dann auch noch dazu gezwungen, unter Umgehung jeglicher Selbstachtung unsere Schubladen mit abgelehnten Kreationen voll zu stopfen. Immer noch besser als die Schufterei in einer Fabrik, wirst du jetzt sagen. Aber der Arbeiter weiß wenigstens, dass er etwas Handgreifliches macht, während der sich einen hochgestochenen Titel, ein lächerliches Markenzeichen zulegen muss, das zu nichts anderem taugt, als damit anzugeben und auf den Strich zu gehen. Übrigens sind alle, die hier arbeiten, Alkoholiker, depressiv oder auf Drogen. Nachmittags beginnen sie zu schwanken oder brüllen rum, spielen stundenlang Videospiele oder rauchen Joints, jeder hat seine Methode, das Ganze lebend zu überstehen. Vorhin habe ich gesehen, wie einer auf einer Säule den Seiltänzer spielte, fünfzehn Meter über dem Abgrund. Ich selber habe die Nase gestopft voll, ich knirsche mit den Zähnen, schwitze an den Wangen, und in meinem Gesicht zuckt es dauernd. Aber ich sage dir, im Namen dieser ganzen schmerzensreichen Schar: Mein Buch wird die Rache sein für alle gemeuchelten Ideen.»
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Marronnier hört mir voll Mitgefühl zu, wie ein Arzt, der einem Patienten gleich das positive Ergebnis seines Aidstests mitteilen muss. Am Ende meiner Suada spricht er es aus: «Du kannst ja kündigen», sagt er und verlässt mein Büro. Scheiß drauf, ich mache weiter und kündige nicht. Eine Kündigung wäre wie eine Aufgabe vor dem Ende eines Boxmatchs. Lieber k. o. enden und den Ring auf einer Trage verlassen. Außerdem lügt er: Keiner hier würde mich gehen lassen; wenn ich mich in die Büsche schlagen würde, wie die Nummer sechs in der gleichnamigen Serie, würden mich alle ständig löchern: «Warum hast du gekündigt?» Ich habe lange nicht verstanden, warum die Herren des Dorfes der Nr. 6 immer wieder diese Frage stellten. Heute weiß ich es: Weil es die große Frage des Jahrhunderts ist, in unserer von Arbeitslosigkeit terrorisierten und um den Kult der Arbeit organisierten Welt: «WARUM HAST DU GEKÜNDIGT?» Ich erinnere mich daran, dass ich in jeder Folge der Serie das freche Grinsen Patrick McGoohans bewundert habe, wenn er schrie: «Ich bin keine Nummer, ich bin ein freier Mann!» Heute sind wir die Nr. 6. Wir prügeln uns um einen unbefristeten Vertrag. Und schmeißt du doch mal die Arbeit hin, kann jeden Moment auf der rettenden Insel zwischen den zugekoksten Nutten eine große weiße Kugel über den Strand gehopst kommen, die dich ins Büro zurückholen soll und dich anbrüllt: «WARUM HAST DU GEKÜNDIGT?»
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9. Zu jener Zeit bepflasterte man Wände, Haltestellen, Häuser, Straßen, Taxis, Lastwagen, Gebäudefassaden während der Renovierung, bewegliche Gegenstände, Aufzüge und Fahrkartenautomaten mit gigantischen Fotos von Produkten, überall, sogar auf dem Land. Das Leben war überwuchert von Büstenhaltern, Tiefkühlkost, Antischuppenshampoos und Nassrasierern mit Dreifachklinge. Noch nie in seiner Geschichte war das menschliche Auge so gefordert: Man hatte errechnet, dass jeder Mensch bis zum 18. Lebensjahr durchschnittlich 350000mal der Werbung ausgesetzt war. Sogar an den Säumen der Wälder, an den Rändern kleiner Dörfer, in den Sohlen einsamer Täler und auf den Gipfeln verschneiter Berge, wo die Logos von den Kabinen der Seilbahn lachten: «Castorama», «Bricodecor», «Champion Midas». Keine Pause für den Blick des Homo consumans. Auch die Stille begann zu schwinden. Es gab kein Entkommen zwischen Radios, flimmernden Fernsehschirmen und schrillen Clips, die bald bis in die Privatgespräche vordringen sollten. Das war das neue Pauschalangebot von Bouygues Telecom: Gratis telefonieren gegen Werbeeinschaltungen im 100-Sekunden-Takt. Stellen Sie sich vor: Das Telefon klingelt, ein Polizist teilt Ihnen mit, dass Ihr Kind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, Sie brechen in Tränen aus, und am anderen Ende der Leitung singt eine fröhliche Stimme: «Mit Carrefour fahr ich gut.» Fahrstuhlmusik überall, nicht nur in Aufzügen.
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Handy-Gedudel in den Zügen, in den Restaurants, in den Kirchen, sogar die Benediktinerklöster waren gegen die Kakophonie der Umwelt nicht gefeit. (Ich weiß das: habs überprüft.) Nach der oben erwähnten Studie war der durchschnittliche Westeuropäer 4000 Werbebotschaften pro Tag unterworfen. Die Menschen saßen in Platos Höhle. Im Gleichnis des griechischen Philosophen waren die Menschen in einer Höhle angeschmiedet und sahen an der Wand ihres Gefängnisses die Schatten der Wirklichkeit vorüberziehen. Nun gab es die platonische Höhle, Fernsehen genannt, wirklich. Auf unserem Kathodenschirm konnten wir eine «Canada Dry»-Realität bewundern: Das sah aus wie die Wirklichkeit, hatte die Farben der Wirklichkeit, aber es war nicht die Wirklichkeit. Man hatte den Logos durch Logos ersetzt, die an die feuchten Wände unserer Grotte projiziert wurden. Zweitausend Jahre hat es gedauert, bis es so weit war.
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UND JETZT EINE SEITE REKLAME.
DIE SZENE SPIELT AUF JAMAICA. DREI RASTAS LIEGEN UNTER EINER KOKOSPALME, DAS GESICHT UNTER DEN DREADLOCKS VERGRABEN. OFFENBAR HABEN SIE RIESIGE GANJA-JOINTS GE RAUCHT UND SIND VOLLKOMMEN WEGGETRETEN. EINE DICKE SCHWARZE NÄHERT SICH IHNEN UND SCHREIT SIE AN: «HEY BOYS! DIE ARBEIT WARTET.!» KEINE BEWEGUNG. DIE DREI REGGAE-MEN SIND SO FERTIG, DASS SIE ANSCHEINEND KEINEN FINGER HEBEN KÖNNEN. SIE GRINSEN SIE AN UND ZUCKEN DIE ACHSELN. DOCH DIE DICKE LÄSST NICHT LOCKER: «AUFSTEHN JUNGS! SCHLUSS MIT DER SIESTA! LOS, AN DIE ARBEIT!» ALS SIE SIEHT, DASS DIE DREI BROTHERS SICH IMMER NOCH NICHT RÜHREN, GREIFT SIE ZUM ÄUSSERSTEN MITTEL UND SCHWENKT EINEN BECHER DANETTE. ANGESICHTS DES SCHOKOLADENDESSERTS SPRINGEN DIE DREI RASTA-MEN AUGENBLICKLICH AUF UND SINGEN DEN SONG «GET UP, STAND UP» VON BOB MARLEY SIE TANZEN ÜBER DEN STRAND UND GENIESSEN DAS PRODUKT. PACKSHOT DANETTE MIT SUPER: «JEDER STEHT AUF FÜR DANETTE. »
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II Du
In einer Seifenreklame kann man ebenso wertvolle Entdeckungen machen wie in den Pensees von Pascal. MARCEL PROUST
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1. Das wird heute eine lange Nacht. Seit Sophie weg ist, langweilst du dich immer am Wochenende. Stellst nichts mehr an. Guckst The Grind auf MTV. Tausend Bikinimädchen im zu kurzen T-Shirt hopsen unter offenem Himmel auf einer riesigen Tanzfläche herum, wahrscheinlich South Beach, Miami. Um sie herum athletische Schwarze mit Bäuchen wie glänzende Schokoriegel. Die Sendung hat keinen Inhalt außer plastischer Schönheit und Technoschweiß. Alle sollen auf ewig 16 sein. Schön, jung, sportlich, gebräunt, und immer lächelnd im Rhythmus bleiben. Ekstase ja, aber brav und diszipliniert im Sonnenschein. Knappe Kleidung ist Pflicht. The Grind ist eine andere Welt, Strand der Vollkommenheit, Tanz der Makellosigkeit. Das englische Grindbedeutet ZERMALMEN. Diese befohlene Jugendlichkeit erinnert dich an Leni Riefenstahls Triumph des Willens oder die Skulpturen von Arno Breker. Von Zeit zu Zeit gähnt im Hintergrund ein Mädchen, ganz außer Atem, das nicht weiß, dass es gefilmt wird. Dann nähert sich die Kamera, und kaum hat sie das Objektiv entdeckt, schaltet sie wieder auf Anmache um, posiert wie eine Pornodarstellerin und lutscht mit gespielter Unschuld an ihrem Finger. Eine endlose Stunde lang ziehst du dir diesen Balnearfaschismus rein und dein Koks dazu. Mit deiner «Premier»Card zerreibst du es lange auf dem Spiegel, verwandelst die Kristalle in Puderzucker, um nicht dauernd aus der Nase zu bluten. Je feiner das Pulver, desto weniger reizt es die Blutgefäße. Dein Leben läuft wieder rund. Wenn du es durch dein
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Röhrchen aus massivem Gold geschnupft hast, wirfst du den Kopf zurück, um die erweiterten Äderchen so gut wie möglich zu schonen. Wenn du den Geschmack in der Kehle spürst, trinkst du ein großes Glas Wodka Tonic, um nicht dauernd niesen zu müssen. Nach dem Heuschnupfen hast du jetzt eine neue Krankheit: den Koksschnupfen (nekrotische Nasenlöcher, Triefnase, Kieferzucken, Kreditkartenverätzung auf der bestäubten Seite). So verbringst du dein Wochenende jenseits von dir. Du konntest die Droge allmählich näher kommen sehen. Anfangs hast du bloß gehört, wie darüber geredet wurde. «Wir haben das ganze Wochenende Schnee gehabt.» Dann bist du von Freunden deiner Freunde eingeladen worden: «Willst du auch eine Nase?» Dann wurden die Freunde deiner Freunde zu deinen Dealern. Dann starb einer von ihnen an einer Überdosis, der andere endete im Knast. Am Anfang wolltest du es nur ab und zu probieren, dann wolltest du jedes Wochenende dazugehören. Dann wolltest du auch unter der Woche wieder lachen können. Dann hast du das mit dem Lachen vergessen und hast es jeden Morgen genommen, um normal zu bleiben; wenn es mit Abführmittel gestreckt ist, kriegst du Durchfall, und wenn es mit Strychnin versetzt ist, juckt es dich in der Nase. Aber du beklagst dich nicht: Wenn du dir nicht das Näschen pudern würdest, müsstest du im quietschgrünen Anzug bungeejumpen oder mit komischen Knieschützern rollerbladen oder im Chinarestaurant Karaoke singen oder mit Skinheads den Rassismus pflegen oder mit alten Tunten turnen oder allein Sport-
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Toto spielen oder dich auf einer Couch analysieren lassen oder mit Lügnern pokern oder im Internet surfen oder Sadomasochismus praktizieren oder eine Diät machen oder zu Hause Whisky saufen oder in deinem Garten Blumen züchten oder skilanglaufen oder städtische Philatelie oder bürgerlichen Buddhismus betreiben oder deinen Palm programmieren oder in Gruppen basteln oder Analsexorgien feiern. Alle brauchen irgendwelche Aktivitäten, um sich zu «entstressen», wie sie sagen, doch du weißt ganz genau, dass sie in Wirklichkeit nur durchkommen wollen. Du wichst zu oft vor Videokassetten, seit du allein lebst. Ständig kleben Kleenex-Fetzen an deinen Fingern. Als du dich von Sophie getrennt hast, hast du behauptet, Nutten wären dir lieber. «Ich bin dir treu: Du bist die Einzige, die ich mit Lust betrüge.» Wie ist das eigentlich passiert? Ah ja, du warst mit ihr abendessen, als sie dir plötzlich eröffnet, dass sie schwanger ist. Dieser Flashback ist keine angenehme Erinnerung. Auf einmal floss aus deinem Mund ein langer Monolog, unaufhaltsam. Du hast ihr um die Ohren gehauen, was alle Männer der Welt ihren schwangeren Frauen gern reinwürgen würden: «Ich fänds am besten, wenn wir uns trennen ... Verzeih ... Bitte weine nicht ... Ich sehne mich nach dem Ende ... Ich werde allein verrecken wie ein Stück Dreck ... Hau ab, verschwinde, bau dir ein neues Leben auf, solang du noch schön bist ... Geh bloß weit weg von mir ... Ich habs versucht, glaub mir, ich hab versucht durchzuhalten, aber ich kann das nicht ... Ich ersticke, ich schaffs nicht mehr, ich kann einfach nicht
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glücklich sein ... Ich träume von Einsamkeit und flüchtigen Abenteuern ... Ich möchte allein in fremde Städte reisen ... Ich kann kein Kind großziehen, wo ich doch selbst noch eins bin ... Ich bin mein eigener Sohn ... Jeden Morgen schenke ich mir das Leben ... Ich hab keinen Vater gehabt, wie soll ich selbst einer werden ... Ich will deine Liebe nicht ... Ich ... » Ziemlich viele Ich-Sätze. «Du Monster», sagte Sophie. «Wenn ich ein Monster bin und du mich trotzdem liebst, bist du genauso bescheuert wie Frankensteins Braut.» Sophie hat dich noch einmal gescannt, ist vom Tisch aufgestanden und ist aus deinem Leben verschwunden, ohne Luft zu holen. Komisch war nur, dass du, als sie schluchzend das Lokal verließ, auf einmal begriffen hast, dass eigentlich du getürmt bist. Du hast tief eingeatmet und ausgeatmet; du fühltest diese «feige Erleichterung», die allen Trennungen folgt; du hast auf das Papiertischtuch geschrieben: «Trennungen sind das Münchener Abkommen der Liebe», und: «Was die Leute Zärtlichkeit nennen, nenne ich Trennungsangst», und: «Es ist immer dasselbe mit den Frauen: Entweder du machst dir nichts aus ihnen, oder sie machen dir Angst.» Das heißt: Wenn sie dir nicht egal sind, kriegst du die Panik. Erzählt eine Frau ihrem Typ, dass sie ein Kind erwartet, lautet die ERSTE Frage, die der Typ sich stellt, nicht: «Will ich das Kind?», sondern: «Will ich mit der Frau zusammenbleiben?» Schließlich ist die Freiheit nur ein unangenehmer Moment, der vorbei geht. Heute Abend hast du beschlossen, wieder in die Bar Biturique zu gehen, dein bevorzugtes Freudenhaus. Bordelle sind in Frankreich verboten, aber allein in Paris gibt
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es gut fünfzig. Dort lieben dich die Mädchen, kaum dass du da bist. Und sie haben zwei große Vorzüge: 1. Sie sind schön. 2. Sie gehören dir nicht. Du bestellst eine Flasche Schampus, gibst eine Runde aus, und auf einmal streicheln sie dir über die Haare, lecken an deinem Hals, graben ihre Nägel in dein Hemd, streifen deine Hose, die sich beult, und säuseln dir delikate Obszönitäten ins Ohr: «Du bist so süß, dass ich dir gern einen blasen würde. Sonia, sieh mal, was für ein Hübscher! Ich würde gern sein Gesicht sehen, wenn er in meinen Mund kommt. Steck mir doch seine Hand ins Höschen, damit er spüren kann, wie feucht ich bin. Meine Klitoris zittert schon, ja da, fühlst du es pulsieren unter deinem Finger?» Und du glaubst ihnen aufs Wort. Du vergisst, dass du sie bezahlst. Im Grunde deines Herzens ahnst du, dass Joanna eigentlich Janine heißt, aber bevor du gekommen bist, ist dir das egal. Du bist der Hahn im Korb der Luxushühner. Im Souterrain der Bar Biturique nuckelst du an Silikontitten. Sie hätscheln dich. Lange Zungen legen sich auf dein Gesicht. Du hebst zu deiner Rechtfertigung an: «Um den Wagen reparieren zu lassen, bringt man ihn in die Werkstatt. Wenn man ein Haus bauen will, nimmt man sich tunlichst einen guten Architekten. Wenn man krank wird, möchte man einen kompetenten Arzt. Warum sollte die körperliche Liebe der einzige Bereich sein, in dem man nicht auf Spezialisten zurückgreift? Wir sind alle Prostituierte. 95 % der Leute würden mit jemandem schlafen, wenn man ihnen dafür zehntausend Francs bietet. Jede beliebige Schickse würde dir schon für die Hälfte einen blasen. Sie wird beleidigt tun, sie
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wird es ihren Freundinnen nicht erzählen, aber ich denke, für fünf Mille machst du mit ihr, was du willst. Und für weniger. Wenn du willst, kriegst du jede, alles nur eine Frage des Tarifs: Würden Sie es ablehnen, mir einen zu blasen, für eine Million, zehn Millionen, hundert Millionen? Liebe ist meistens Heuchelei: Hübsche Mädchen verlieben sich (ernsthaft, wie sie im Grunde ihres Herzens glauben) in Typen, die ganz zufällig Geld wie Heu haben und ihnen ein schönes Luxusleben bieten können. Sind das keine Nutten? Eben.» Joanna und Sonia sind vollkommen deiner Meinung. Sie stimmen deinen brillanten Theorien immer zu. Gleich und Gleich gesellt sich gern - du bist ja auch vom Großkapital gekauft. Außerdem sind diese Mädchen die Einzigen, die einen Ständer hinkriegen, wenn deine Nase fast platzt und du einen Präser auf dem Piepmatz hast und dir nichts Besseres einfällt als: «Was siehst du aber den Strohhalm in deines Bruders Nase, und die Latte in deiner Hose nimmst du nicht wahr?» Du spielst den knallharten Provokateur, aber eigentlich bist du gar nicht so. Du gehst nicht aus Zynismus zu Prostituierten, ganz im Gegenteil, du tust das aus Angst vor der Liebe. Sie geben dir Sex ohne Gefühl, Lust ohne Schmerz. «Das Wahre ist ein Moment des Falschen», schrieb Guy Debord - nach Hegel und die waren klüger als du. Der Satz beschreibt die Atmosphäre in einer Hostessenbar recht gut. Mit den Prostituierten wird das Falsche zu einem Moment des Wahren. Du bist endlich du selbst. Einer so genannten normalen Frau gegenüber muss man sich bemühen, sich brüsten, sich besser machen, als man ist, also lügen: Da gibt der Mann die Hure. Im Bordell
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dagegen lässt man sich gehen und versucht nicht zu gefallen oder Eindruck zu schinden. Das Bordell ist der einzige falsche Ort, wo der Mann wahr, schwach, schön und verwundbar ist. Man müsste einen Roman schreiben mit dem Titel: «Die Liebe kostet 3000 Francs.» Du zahlst viel Geld für die Freudenmädchen, um dir etwas zu ersparen. Du bist zu empfindsam, als dass du noch einmal riskieren könntest, dich zu verlieben mit allen Konsequenzen: Herzklopfen, Gefühlsstürme, plötzliche Ernüchterung, großes Geschrei. Du kennst nichts Romantischeres, als ins Puff zu gehen. Nur wahrhaft sensible Wesen müssen bezahlen, um Leiden zu meiden. Über 3o haben alle ihren Panzer: Nachdem sie ein paar Mal Liebeskummer hatten, fliehen Frauen die Gefahr, indem sie mit alten Trotteln ausgehen, die sie in Sicherheit wiegen; Männer lieben lieber gar nicht und legen Lolitas oder Huren flach; alle schotten sich ab, keiner will sich mehr lächerlich oder unglücklich machen. Du trauerst dem Alter nach, wo Lieben noch nicht weh tat. Mit 16 bist du mit Mädchen ausgegangen und hast dich leichten Herzens von ihnen getrennt oder sie sich von dir; das war in zwei Minuten erledigt. Warum ist später alles so bedeutsam geworden? Logisch betrachtet müsste es umgekehrt sein: Dramen in der Jugend, Leichtigkeit in den Dreißigern. Aber es ist nicht so. Je älter man wird, desto weicher wird man. Mit 33 ist man viel zu vernünftig. Anschließend gehst du nach Hause, wirfst ein Lexomil ein und träumst nicht mehr. Nur so gelingt es dir, du armer Kerl, Sophie für ein paar Stunden zu vergessen.
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2.
Am Montagmorgen schleppst du dich mit bleiernen Füßen in die Rosse. Du denkst über die gnadenlose Selektion von König Marketing nach: Von den sechzig Apfelsorten, die es einmal gab, sind nur noch drei übrig (golden, grün und rot). Früher brauchten Küken drei Monate, um aufzuwachsen, heute liegen zwischen dem Ei und dem abgepackten Huhn im Supermarkt 42 Tage unter grauenhaften Bedingungen (25 Tiere pro Quadratmeter, die mit Antibiotika und Anxiolytika gefüttert werden). Bis in die 70er Jahre gab es Camembert aus der Normandie in mindestens zehn Geschmacksvarianten, heute höchstens in drei (wegen der pasteurisierten Milch). Das ist nicht dein Werk, aber es ist deine Welt. Coca-Cola (10 Milliarden Francs Werbeetat 1997) enthält kein Kokain mehr, sondern Phosphorsäure und Zitronensäure, die scheinbar den Durst löschen und damit eine künstliche Abhängigkeit erzeugen. Die Kühe bekommen von dem im Silo vergorenen Futter Zirrhose; auch sie kriegen Antibiotika zu fressen, und die resistenten Bakterienstämme überleben im verkauften Fleisch (vom Tiermehl, das BSE hervorruft, ganz zu schweigen, das steht in allen Zeitungen). Die Milch dieser Kühe enthält immer mehr Dioxine, weil das Grünfutter immer stärker verseucht ist. Auch Zuchtfische werden mit Antibiotika und Fischmehl ernährt (und das ist für sie genauso schädlich wie Tiermehl für Rinder) ... Transgene Erdbeeren enthalten das Gen eines Kaltmeerfischs, damit sie im Winter nicht mehr erfrieren. Genmanipulationen übertragen Huhn in die Kartoffeln, Skorpion in die
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Baumwolle, Hamster in den Tabak, Tabak in den Kopfsalat, Mensch in die Tomate. Gleichzeitig bekommen immer mehr Dreißigjährige Krebs, Nieren-, Gebärmutter-, Brust-, Darm-, Schilddrüsen-, Bauch-, Hodenkrebs, und die Ärzte wissen nicht, wieso. Sogar Kinder sind betroffen: Die Zahl der Leukämiefälle steigt, Hirntumore nehmen zu, und in den Großstädten brechen immer wieder Bronchiolitis-Epidemien aus ... Laut Luc Montagnier lässt sich das Auftreten von Aids nicht allein durch die Übertragung des HI-Virus erklären (den er entdeckt hat), sondern auch durch andere, «mit unserer Zivilisation verknüpfte» Kofaktoren, die unsere Abwehrkräfte schwächen: die Luftverschmutzung und unsere Ernährung. Außerdem nimmt Jahr für Jahr die Spermaqualität ab; die menschliche Fortpflanzung ist bedroht. Diese Zivilisation beruht auf falschen Wünschen, die du weckst. Sie wird daran zugrunde gehen. Dort, wo du arbeitest, kommen viele Informationen zusammen: So erfährst du ganz nebenbei, dass es Waschmaschinen gibt, die nicht kaputt gehen und die kein Hersteller auf den Markt bringen will; dass einer den laufmaschenfreien Strumpf erfunden hat und eine große Strumpfmarke ihm das Patent abgekauft hat, um es zu vernichten; dass der nie platzende Autoreifen in der Schublade bleibt (um den Preis von Tausenden tödlichen Unfällen im Jahr); dass die Öllobby alles in ihrer Macht Stehende unternimmt, die Ausbreitung des Elektroautos zu verhindern (um den Preis der Anreicherung der Atmosphäre mit Kohlendioxyd, was zum so genannten Treibhauseffekt führt, einer Erwärmung des Planeten, die wahrscheinlich für viele Naturkatastrophen von heute bis ins Jahr 2050 verantwortlich ist: Orkane, das Abschmelzen der
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Polkappen, das Ansteigen des Meeresniveaus, Hautkrebs; von der Ölpest wollen wir gar nicht erst reden); dass Zahncreme ein überflüssiges Produkt ist, weil die ganze Zahnpflege im Bürsten besteht und die Paste nur gut aus dem Mund riecht; dass Geschirrspülmittel austauschbar sind, weil es ohnehin die Maschine ist, die den Abwasch macht; dass Compact Discs genauso zerkratzen wie Vinylplatten; dass Aluminiumfolie giftiger ist als Asbest; dass sich die Formel für Sonnencremes seit dem Krieg nicht verändert hat, trotz der neuerlichen Häufung maligner Melanome (Sonnencremes schützen nur gegen UVB-, nicht aber gegen die schädlichen UVA-Strahlen); dass die Kampagnen, mit denen Nestle seine Trockenmilch als Babynahrung in die Märkte der Dritten Welt drücken wollte, Millionen Tote nach sich zogen (weil die Eltern das Pulver in verschmutztem Wasser auflösten). Die Herrschaft der Waren setzt deren Verkauf voraus. Und dein Job besteht darin, die Konsumenten von dem Produkt zu überzeugen, das sich am schnellsten abnutzt. Die Industriellen nennen das: «programmierte Veraltung». Du wirst ersucht, die Augen davor zu schließen und deine inneren Zustände für dich zu behalten. Wie Maurice Papon kannst du dich immer damit herausreden, dass du von nichts gewusst hast, dass du gar nicht anders hättest handeln können, dass du dich ja bemüht hast, den Prozess aufzuhalten, aber schließlich nicht dazu verpflichtet warst, den Helden zu spielen ... Bleibt, dass du nichts dagegen unternommen hast, zehn Jahre lang, Tag für Tag. Ohne dein Zutun hätten sich die Dinge womöglich anders entwickelt. Man hätte sich durchaus eine Welt ohne allgegenwärtige Plakate ausdenken können, Dörfer ohne allesverschandelnde Schilder, Straßenecken ohne Fastfood und
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Menschen auf den Straßen. Menschen, die miteinander sprechen. Das Leben hätte nicht unbedingt so aussehen müssen. Du hast all dieses künstlich erzeugte Unglück nicht gewollt. Du hast die Blechlawine nicht losgetreten (2,5 Milliarden Autos weltweit im Jahr 2050). Aber du hast auch nichts getan, um die Welt anders einzurichten. Eines der Zehn Gebote der Bibel lautet: «Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen ... Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!» In flagranti bei einer Todsünde erwischt, du und die ganze Welt. Die Strafe Gottes für dieses Vergehen ist bekannt: Es ist die Hölle, in der du lebst. «Hast du mal kurz Zeit für ein Rebriefing, oder bist du overbooked?» Jean-Francois, der für Madone verantwortliche Etatdirektor, steckt seinen Kopf durch die Tür deines Büros. «Charlie ist beim Art-Buying», sagst du. «Er will heute Nachmittag noch mal reinschauen.» «Okay. Wie du dir wahrscheinlich schon gedacht hast, müssen wir bei Maigrelette eine Schicht zulegen. Und die Wogen ein bisschen glätten.» «Verführung, Verführung, das ist unser Amt, es gibt nichts sonst auf der Welt, das ist der Motor der Menschheit.» Er sieht dich merkwürdig an. «Sag mal, hast du dich auch gut erholt am Wochenende?» «Der Mediator des Medienwahns nimmt die neue Woche in Angriff. Vorwärts ins Vierte Reich!» J.-E kommt näher und begutachtet deine Nasenspitze. «Du bist da ein bisschen weiß.» Er staubt dein gepudertes Näschen mit seinem Ärmelaufschlag ab und probiert es noch einmal:
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«Ich bin vielleicht gleich zu einem Termin außer Haus, aber du kannst mich auf jeden Fall übers Handy kriegen.» «Mmmmh, Jef, das find ich wunderbar, dass ich dich übers Handy kriegen kann.» Kurz danach kommt Charlie wieder und nimmt seinen Platz dir gegenüber ein. Charlie ist ein Bollwerk. Er ist so kräftig wie du schmächtig. Charlie ist ein glücklicher Mann, oder er spielt es ziemlich gut. Er hat eine Frau und zwei Kinder; er betrachtet das Leben unter einem konstruktiven Blickwinkel - jeder hat seine eigene Art, mit der allumfassenden Absurdität fertig zu werden. Charlie verzeiht dir deine Exzesse. Du liebst Charlie, weil er dich ergänzt. Er raucht Joints, wenn du deine Zähne betäubst. Er verbringt seine Tage damit, die schweinischsten Porno-Sites im Internet aufzustöbern: zum Beispiel eine Frau, die einem Pferd einen bläst; einen Typen, der seine Hoden an ein Brett nagelt; eine fette Dame, die sich mit einem Plastikarm fisten lässt; er findet das «entspannend». «Kennst du The Grind auf MTV? Ich glaube, man müsste mal was machen mit dieser gefühllosen Meute, dieser Oberflächenästhetik, diesem verhurten Haufen.» Charlie nickt, während er seinen Joint baut. «Aber ja, ziemlich krank, das Ganze. Man könnte Maigrelette vorschlagen, die Sendung zu sponsern. Und für den Clip nehmen wir Zwanzig-Sekunden-Ausschnitte und blenden rechts oben das Logo ein statt dem von MTV ...» «Guter Plan. Dann hopsen die Schnösel und Schnitten auf <Maigrelette- TV> herum! Das könnte man sogar bei CNN unterbringen. Plus Liveschaltungen zu Vor-Ort-Events mit dem Co-Branding !» «Ja! Und weil es stundenlange Aufzeichnungen von der
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Sendung gibt, könnte man jeden Tag verschiedene Ausschnitte bringen - das wäre die erste Werbesendung, die sich nie wiederholt!» «Das gibt eine gute PR! Schreib das auf, was du gerade gesagt hast, das kommt in die Presseaussendung!» «Okay, aber wie bringen wir da den Benefit: <Maigrelette macht schön und schlau> rein?» «Schon bedacht. Hör zu: Man sieht Hunderte von jungen Menschen am Rand eines gigantischen Swimmingpools unter elektrisch blauem Himmel House tanzen. Und plötzlich, nach zwanzig Sekunden, der Satz: MAIGRELETTE. UND DABEI HABEN SIE NOCH GAR NICHTS GESAGT!» «Octave, du bist ein Genie!» «Nein, Charlie, du bist der Beste!» «Ich weiß.» «Ich auch.» «Dicken Kuss.» «Ich finde es großartig, wie du das machst.» «Nein, ich finde es großartig, wie du bist.» Eins, zwei, drei hast du das neue Skript geschrieben, und Charlie hat ein neues Video im Web gefunden: Ein Kerl lässt einen Dildo, der auf einem Bohrer steckt, in der Vagina eines jungen Mädchens rotieren, das an einem gebrauchten Tampon lutscht. Wirklich, sehr entspannend. Am nächsten Tag zeigst du Marronnier dein neues Skript, und er nickt mit dem Kopf (schließlich ist er der Kopf der Kreativen). «Genauso unverkäuflich, aber wenns euch Spaß macht, probierts und holt euch blutige Nasen. Ich möchte dich nur um eines bitten, Octave, dass du die Örtlichkeiten unserer
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hochverehrten Kundschaft nicht wieder mit Graffiti a la Charles Manson verzierst.» Dann rufst du den Oberpappenträger auf seinem unsagbaren Telefon an. «Jean-Francois, wir haben es!» «Yippeka!» (Das ist eine Zusammenziehung aus Yippie und Heureka.) «Aber wir brauchen drei Wochen Aufschub.» Funkstille am anderen Ende der langen Leitung. «Habt ihr Jungs einen Knall? Ich muss ihnen nächste Woche etwas präsentieren können!» «Vierzehn Tage.» «Zehn.» «Zwölf.» «Elf.» «Wir schicken ihnen heute Nachmittag eine VHS-Kassette von der Sendung», Schnitt, Charlie. «Die werden bei Madone so überrascht sein von unserer prompten Reaktion, dass sie die Idee kaufen, ohne zu überlegen.» Dann merkt J.-E noch an, das sei «ein produktorientierter Diskurs, der allerdings auf einem integrativen Branding basiert». Du klatschst Beifall. Es wird immer wieder behauptet, dass die Kreativen den Kontakt verachten und umgekehrt. Das stimmt nicht: Sie brauchen einander, und innerhalb eines Unternehmens mag man die Menschen nicht, die man braucht; die anderen lernt man erst bei ihrem Ausstand kennen. Charlie ist in Hochform. Und nach einem Schnitt von Charlie diskutiert keiner mehr.
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3.
Sophie hat dich verlassen, als ob das so einfach wäre. Du frühstückst allein. Früher hattest du zu viele Freunde, jetzt hast du keinen mehr. Das heißt, du hattest nie welche. Du trinkst, dein Jackett stinkt nach Raclette. Entzückend. «Lass mich dich verlassen, lass mich gehen, lass mich wieder zum Jungspund werden», hast du zu ihr gesagt. Du gehst ohne Brille aus dem Haus, weil du nicht weiter als einen Meter sehen willst. Die Kurzsichtigkeit ist dein letzter Luxus. Alles ist so wunderbar verschwommen wie in einem Video-Clip. Alles ist Oberfläche. Benimm dich. Du stehst an der Spitze der Konsumgesellschaft, auf dem Gipfel der Kommunikationsgesellschaft. Du bestellst ein Gänseleber-Sushi aus der Pfanne mit SichuanPfeffer und Birnen-Chutney an einer Kalbsfondsauce mit Soja und Balsamessig. Du siehst ein Mädchen lächeln. Du liebst sie. Sie wird es nie erfahren. Verdammt. Das war eine schöne Minute. Auf die Bar gestützt, träumst du von neuen Frauen. Es hat lange gedauert, bis du wusstest, was du vom Leben willst: Einsamkeit,
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Stille, Trinken, Lesen, Drogen, Schreiben und ab und zu mit einer sehr schönen Frau vögeln, die du nie wieder siehst. Es ist die Stunde, da sich Kreative einen blasen lassen. Im Bois de Boulogne hältst du an, um eine präserfreie Fellatio zu kaufen. Zwanzig Minuten später bist du wieder in der Agentur. «Schmeißt mich raus!», brüllst du in der Empfangshalle der Rosse, aber keiner hört dich. «Schmeißt mich doch raus!» Ein paar Praktikantinnen fangen zu kichern an und zeigen mit dem Finger auf dich, sie glauben wohl, du machst Witze, und nutzen die Gelegenheit, sich einzuschleimen, indem sie sich über deine pathetischen Scherze schier zerreißen vor Lachen. «Schmeißt mich raus!» Aber im Open Space hört keiner dich schreien. Und auf einmal begreifst du, warum sich alle so ungemein amüsieren: Am Schlitz deiner weißen Jeans sind Lippenstiftspuren zu sehen. Deine Sätze laufen den ganzen Tag im Fernsehen, immer wieder: «NEUMACHEN? NACHMACHEN!», «KRUG. WARUM VERZICHTEN?», «SALOPE. SCHÖN GEMEIN», «RADIO NOVA. IMMER ANDERS», «KENZO JUNGLE. ZÄHMEN SIE ES DOCH!», «VIAGRA. NIE WIEDER BRIDGE», «EURO STAR. WARUM VON ROISSY NACH HEATHROW, WENNS AUCH VON PARIS NACH LONDON GEHT?», «CANDEREL. DU BIST SCHÖN, DU BIST SCHLANK, DU BIST DU», «BOUYGUES TELECOM. SAGTEN SIE ZUKUNFT? BLEIBEN SIE DRAN!», «LACOSTE: VORSICHT, BISSIG», «CHANEL N°5. PASST PARTOUT.»
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«Schmeißt mich raus!» Du möchtest auf einer Wiese liegen, in den Himmel schauen und heulen. Die Werbung hat die Wahl Hitlers ermöglicht. Die Werbung soll die Bürger glauben machen, dass alles ganz normal sei, was es nicht ist. Wie die nächtlichen Rufer im Mittelalter scheint sie ständig zu schreien: «Schlaft ein, ihr Leut, 's ist Mitternacht, das Tagwerk ist vollbracht, Brot, Wein, Boursin, schlaft ein, wenn einem so viel Gutes widerfährt, das ist schon einen Asbach uralt wert.» Schlaft ein, ihr Leut, und gute Nacht. «In der modernen Welt ist jeder unglücklich», warnte Charles Peguy. Stimmt genau: Die Arbeitslosen sind unglücklich, weil sie nicht arbeiten dürfen, die Arbeitenden, weil sie müssen. Träumt süß, vergesst euer Prozac nicht. Und stellt vor allem keine Fragen. Hier ist kein Warum.
Zugegeben, im Maßstab des Universums ist das, was sich auf der Oberfläche unseres Planeten abspielt, nicht sehr bedeutend. Was ein Erdling geschrieben hat, kann nur von einem anderen Erdling gelesen werden. Wahrscheinlich ist es den Galaxien auch egal, dass der Umsatz von Microsoft dem Bruttosozialprodukt Belgiens entspricht und das Privatvermögen von Bill Gates auf 100 Milliarden Dollar geschätzt wird. Du arbeitest, du hängst an anderen Menschen, du liebst bestimmte Orte, du krauchst auf einem Kiesel, der durchs Dunkel kreist. Du könntest deine Ansprüche herunterschrauben. Ist dir eigentlich klar, dass du nur eine Mikrobe bist? Wirkt Baygon auch gegen Ungeziefer wie dich?
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Du hörst nur Platten von Selbstmördern: Nirvana, INXS, Joy Division, Mike Brant. Du fühlst dich alt, weil du dich mit 30 cm Vinyl begnügst. In Frankreich gibt es 12 000 Selbstmorde pro Jahr, das ist mehr als einer pro Stunde, jahraus, jahrein. Wenn Sie seit einer Stunde dieses Buch lesen, PENG, ein Toter. Zwei Stunden, wenn Sie etwas länger brauchen, PENG, PENG. Und so weiter. 24 freiwillige Leichen pro Tag. 168 vorsätzliche Lebensabbrüche pro Woche. Tausend selbst gewählte Tode pro Monat. Eine Hekatombe, von der niemand spricht. Ganz Frankreich ist eine riesige Sonnentemplersekte. Nach einer Sofres- Untersuchung haben 13 % aller Franzosen «schon einmal ernsthaft darüber nachgedacht», sich umzubringen. Jeden Morgen holst du dir Botschaften von vier verschiedenen Stellen: vom Anrufbeantworter in deiner Wohnung und dem in deinem Büro, von der Mailbox deines Handys und vom Server deines iMac. Nur in deinem Briefkasten herrscht gähnende Leere. Du bekommst keine Liebesbriefe mehr. Nie wieder wirst du Blätter entfalten mit scheuer Schönschrift, tränendurchnässt und nach Liebe duftend, mit der sorgsam geschriebenen Adresse auf dem Umschlag und einer Mitteilung an den Postboten: «Lieber Briefträger, zaudre nicht viel und bring diese wichtige Botschaft schnell an ihr ersehntes Ziel ...» Die Menschen nehmen sich das Leben, weil sie nur noch Werbung kriegen von der Post. Du erliegst der UV-Versuchung. Wenn du deprimiert bist, also immer, gönnst du dir eine Sitzung in einem Sonnenstudio. Das führt dazu, dass du desto brauner bist, je schlechter es dir geht. Der Trübsinn lässt dich frisch aussehen. Die Verzweiflung
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ist dein Sonnenstich. Wie soll man denn merken, dass du unglücklich bist? Dein Gesicht sprüht vor Feuer. Braun sein heißt jung bleiben, glaubst du, aber es ist genau umgekehrt: Die alten Knacker sind an ihrer Dauerbräune zu erkennen. Heutzutage haben nur die Alten Zeit, ihre Haut zu vergolden. Die Jungen sind bleich und unstet, die alten braun und fröhlich (weil ihre Rente von den Jungen bezahlt wird). Willst du so werden wie Jacques Seguela? Die künstliche Sonne wird dich am Ende verbrennen. Es war die Mega-Schiene, das große Miteinander ... Koks als mildernder Umstand. Es gibt viele Dinge, die hättest du dich ohne nicht getraut, dich von Sophie zu trennen, zum Beispiel, oder diesen Unfug zu schreiben. Koks ist ein sanftes Ruhekissen. Wenn du dieses Buch in deinen Computer tippst, hältst du dich für einen Geheimagenten, der ins Zentrum des Systems eingeschleust wurde, einen Maulwurf mit dem Auftrag, als UBoot die Ränke der Meinungsvergifter aufzudecken. (Die CIA ist schließlich auch eine Agentur.) Söldner und Spion in einer Person, speicherst du auf deiner Festplatte TopSecretInformationen. Wenn du dich dabei erwischen lässt, werden sie dich foltern, damit du deine Mikrofilme rausrückst. Aber du sagst kein Wort, sondern redest dich auf die Droge raus. Und wenn man dich auf den Lügendetektor schnallt, schwörst du tausend Eide, dass du in diesem ganzen Abenteuer nichts anderes warst als ein ... Pappkamerad. Jeden Tag, wenn du aus dem Haus gehst, kommst du an einem Penner vorbei, der aussieht wie du. Er ist dein Doppelgänger: groß, mager, bleich, die Wangen eingefallen. Er ist du, bärtig, dreckig, schlecht gekleidet, mies drauf, du mit einem Ohrring
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in der Nase, ohne Geld, stinkend wie ein Iltis, bald, wenn das Blatt sich wendet, bist du das da am Boden über dem Lüftungsschacht der Metro, die nackten Füße blutverkrustet. Du kaufst ihm keinen Reverbere ab, die Obdachlosenzeitung. Ab und zu brüllt er aus Leibeskräften: «WER WIND SÄT, WIRD STURM ERNTEN», und schläft ein. Du verbringst ganze Nächte an deiner Playstation. Für 189 Francs incl. MwSt. bist du Mitglied im Playstation-Club geworden. Siebenmal jährlich bekommst du «Demo-CDs mit Kaufaufforderung und einem Evaluierungsfragebogen, der es Sony ermöglicht, deinen Besitz, deine Kaufabsichten, den Grad deiner Zufriedenheit und deine Kritikpunkte zu erfassen». Du hängst stundenlang im Supermarkt herum und lächelst in die Überwachungskameras. Noch etwas, das du dank deinem Beruf begriffen hast: Bald werden sie nicht mehr nur dazu da sein, Kleptomanen dingfest zu machen. Unter abgehängten Decken versteckte und mit einem Zentralrechner verbundene Infrarot-Webcams werden künftig vor allem dazu dienen, die vertriebszentralen in deine Konsumgewohnheiten einzuweihen, indem sie die Strichcodes an den Waren, die du kaufst, identifizieren, dir Sonderangebote unterbreiten, neue Produkte zur Probe anbieten und dich mittels Stimme zu deinen Lieblingsregalen geleiten. Bald musst du keinen Fuß mehr vor die Tür setzen: Die Marken werden über deinen Geschmack Bescheid wissen, weil dein Kühlschrank ans Netz angeschlossen ist, sie werden zu dir ins Haus kommen, um fehlende Vorräte zu ergänzen, und dein ganzes Leben wird inventarisiert und industrialisiert sein. Ist das nicht wunderbar? Sag guten Tag zur Kamera. Sie ist deine einzige Freundin.
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Eben hast du einen Pappumschlag im A4-Format erhalten. Du hättest die Hoffnung nicht fahren lassen müssen: jemand hat dir geschrieben. Du reißt ihn auf und ziehst eine merkwürdige Laser-Fotokopie in Schwarzweiß heraus, auf der vereinzelte Buchstaben und ein paar Ziffern zu erkennen sind: 43.5 o bg4 fr15 pse12 rj33 gm f 2, alt 1 i/1 ml dr55, Datum und Uhrzeit sind links oben vermerkt. Du bist verwirrt. Zwischen weißen Flecken auf grauem Grund entdeckst du nach langer Suche endlich das Auge eines außerirdischen Wesens, das dich starr ansieht, zwei Arme, eine Nasenwurzel, hier vielleicht eine Art Ohr ... Du begreifst, dass es sich um ein Ultraschallbild handelt. Eine kurze handschriftliche Mitteilung von Sophie liegt diesem abstrakten Kunstwerk bei: «Das ist das erste und das letzte Mal, dass du deine Tochter siehst. Sophie.»
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4.
Ein paar Tage sind vergangen, ohne dass du es mitgekriegt hast. Jean-Francois schleppt seine Niedergeschlagenheit in dein Büro ein. «Ich habe ein schlechtes Kunden-Feedback bekommen. Alfred Duler hat angerufen, nachdem er die - Kassette gesehen hat, ihm sind da zu viele Farbige drin. Ich zitiere: » Die Assistentinnen sind offenbar vor Lachen fast geplatzt. Aber als er damit drohte, den Etat neu auszuschreiben, fand das keiner mehr lustig. «Hör mal», wirfst du ein, «wir lassen es lieber. Der Fascho ist die lebendige Verkörperung des Mittelmaßes. Du hättest ihn daran erinnern sollen, dass er Dioxin-Maigrelette produziert ... Dafür müsste er eigentlich verkrüppelte, verstrahlte, entstellte und vereiterte Models engagieren.» Du jubilierst innerlich: Einen der größten Werbeetats der Agentur zu verlieren ist der Königsweg zur Erhörung deines Gebets, ins Paradies der bezahlten Faulheit einzugehen und eine lange, von der Gemeinschaft finanzierte Arbeitslosigkeit zu
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genießen. Jean-Francois sieht sich schon auf der Straße. Für ihn stellt sich die Situation anders dar: Er ist programmiert auf ein Leben, in dem es die Straße nicht gibt. Er hat eine kleine private Wirtschaftshochschule für Vatersöhnchen besucht, eine echte Nervensäge geheiratet und sich fünfzehn Jahre lang von seinen Vorgesetzten wie von seinen Kunden anpöbeln lassen, um mit einem Kredit von der Societe Generale die DreiZimmer-Wohnung in Levallois-Perret zu finanzieren. Seine einzige Unterhaltung: der Originalsoundtrack von Titanic. Er weiß nicht, dass ein anderes Leben möglich ist. Er hat nie etwas dem Zufall überlassen. Umsatteln kommt für ihn nicht in Frage. Er würde sich nie mehr davon erholen, wenn Madone die Agentur wechseln würde. Er ist kurz davor, in Tränen auszubrechen; das war nicht vorgesehen in seinem Karriereplan. Zum ersten Mal seit seiner Geburt kommen ihm Zweifel. Das macht ihn fast menschlich. «Ich weiß doch auch, dass er ein faschistischer Fiesling ist», stammelt er, «aber er ist 80 000 Francs schwer.» Allmählich fängst du an, ihn zu lieben. Immerhin hat er dir vor ein paar Tagen die Nase abgestaubt. «Mach dir keine Sorgen», hörst du dich sagen, «Charlie und ich, wir kriegen das schon wieder hin, nicht, Charlie?» «Yep, ich glaube, jetzt ist es Zeit für DefCon III.» Marc Marronnier steckt seinen Kopf durch die halb offene Tür. «Na, Jungs, ihr seht vielleicht aus! Fast wie drei Angestellte von Rosserys und Witchcraft ... Uuups!» Er schlägt sich mit der Hand an die Stirn. «Wie dumm von mir! Das seid ihr doch!» «Hör auf mit dem Quatsch, Marc», mault Jef, «mit Maigrelette stecken wir bis zum Hals in der Scheiße.»
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«Ah ja ... ziemlich dicke Brocken, diese Magerjoghurtfabrikanten!» Marronnier sieht dich von oben herab an (erstens, weil er herablassend ist, und zweitens, weil du sitzt und er steht). «Octave, Charlie ...», sagt er, «meint ihr nicht, dass es Zeit wird für den Emergency-Plan?» «Sie sind schon bei DefCon III!», ruft Jef. «Aber ... ähm ... Was ist das eigentlich?» Charlies Antwort ist eine gravitätische Geste: Arme und Blick gen Himmel, holt er tief Luft und atmet geräuschvoll aus, ein Zeichen, dass er gleich das Wort ergreifen oder ein niedliches kleines Tier töten wird. Nach langem Schweigen sieht er Marronnier ein letztes Mal an. «Freie Hand, Boss?» Der Boss nickt und verlässt das Büro, das danach einen Augenblick der Ruhe und fast zenmäßigen Gelassenheit erlebt. Charlie dreht sich langsam zu dir um und sagt das Passwort: «Last-Minute-Mist.» «Schon dabei.» Und vor J.-E schustert ihr beide in einer Minute gestoppter Zeit ein Skript zusammen, von dem alle Kunden träumen: nett, hübsch, harmlos und verlogen, für ein breites Publikum aus meckernden Kälbern gedacht (denn nach diversen Genmanipulationen können nun auch Kälber meckern). Du liest ihm den Mist laut vor: «Eine bezaubernde Frau (weder alt noch jung), WEISSHÄUTIG, brünett (weder blond noch schwarz), sitzt auf der Terrasse eines hübschen Landhauses im südländischen Stil (einladend, aber nicht protzig) in einem Schaukelstuhl (nicht
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zu teuer, nicht zu billig). Sie sieht in die Kamera und sagt mit einschmeichelnder, aber Vertrauen erweckender Stimme: Mit einer gelassenen Bewegung (weder sinnlich noch gekünstelt) greift sie nach einem Becher Maigrelette, öffnet ihn behutsam (nicht zu schnell, nicht zu langsam) und nimmt einen Löffel davon (nicht zu voll, nicht zu leer). Während sie das Produkt genießt, schließt sie lustvoll die Augen (mindestens zwei Sekunden). Dann blickt sie den Zuschauer direkt an und fährt fort: <Mein Geheimnis ist ... Maigrelette. Ein köstliches Joghurt ganz ohne Fett. Dafür mit Kalzium, Vitaminen und Proteinen. Es gibt nichts Besseres, um Kopf und Körper fit zu halten.> Sie erhebt sich anmutig (aber nicht zu sehr) und lächelt verschwörerisch (aber nicht zu sehr): Schelmisches Lachen (aber nicht zu laut). Packshot (mindestens fünf Sekunden) und Super: <MAIGRELETTE. WENIGER HEISST MEHR IM KOPF.>» Jean-Francois wechselt blitzschnell von am Boden zerstört zu himmelhoch jauchzend. Der Typ könnte sich an der Schauspielschule einschreiben, Abteilung «zyklothyme Mimen». Er küsst uns die Hände, die Füße, den Mund. «Freunde, ihr habt mir das Leben gerettet!» «He, keine Intimitäten bitte», brummt Charlie, der sich gerade ein Video herunterlädt, in dem ein Mann von einem Aal sodomisiert wird. Und du stellst zu deiner großen Verblüffung fest: «Verdammt, so schnell fliege ich hier doch nicht raus. Nach dem Spot wird Philippe mir mindestens zehn Monate fürstlichen
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Frieden gewähren. Dann ficken wir Madone eben wieder in den Arsch!» Doch Charlie hat das letzte Wort: «Und wenn du noch so oft sagst, dass wir sie in den Arsch ficken, im Grunde weißt du genau, dass es umgekehrt ist.» Jean-Francois zieht hochzufrieden ab mit seinem Scheißskript unterm Arm. Dies alles begab sich zu Beginn des dritten Jahrtausends n. Chr. (Christus: ein herausragender Texter/Konzeptioner und Verfasser zahlreicher noch heute berühmter Claims: «LIEBE DEINEN NÄCHSTEN», «NEHMET UND ESSET, DENN DIES IST MEIN LEIB», «VERGIB IHNEN, DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN», «DIE LETZTEN WERDEN DIE ERSTEN SEIN», «IM ANFANG WAR DAS WORT» - nein, falsch, das war doch von seinem Vater).
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Gutes Kokain kostet 100 Euro pro Gramm. Der hohe Preis ist Absicht: Nur die Reichen sollen in Form bleiben, während die Armen weiter am Ricard verblöden. Du rufst Tamara an, dein Lieblings-Callgirl. Von ihrem Anrufbeantworter klingt dir ihre sanfte Stimme entgegen: «Wenn du mich auf ein Glas Wein einladen willst, drück auf die 1. Wenn du mich zum Essen einladen willst, drück auf die 2. Und wenn du mich heiraten willst, leg bitte auf.» Du hinterlässt ihr die Nummer deines Direktanschlusses in der Agentur: «Ruf mich an, deine Schultern sind wie weich gekochte Eier, du musst mich auf andere Ideen bringen, es ist dringend, ich will meinen Löffel in dein Leben tauchen, Octave.» Sie hat ein Gesicht, von dem sich dein Blick nicht lösen kann. Frage: Was hat eine Haut wie Bernstein, den Körper einer Mexikanerin und die Augen einer Eurasierin? Antwort: ein Rhabarbermädchen, dessen wahrer Name nicht Tamara ist. Am Abend kommt sie zu dir. Du hast sie gebeten, Sophies Parfum zu tragen, «Obsession». Ihre Stimme ist rau, ihre Finger sind schlank, ihr Blut eine wilde Mischung. Der weibliche Körper besteht aus vielen Einzelteilen, die ihren eigenen Reiz haben: Achillessehnen zur Verbindung der Knöchel mit braunen Waden, lackierte Zehennägel, ein paar Grübchen (neben den Mundwinkeln, über dem Hintern), weiße Zähne im Kontrast zu purpurnen Lippen, diverse Wölbungen (Fußsohlen, Kreuz), verschiedene Röten
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(Wangen, Knie, Fersen, Knutschflecke) und die Innenseiten der Arme, die immer weiß wie Schnee sind und zart wie das Gefühl, das sie erwecken. Ja, es war die Zeit, da sogar Zärtlichkeit käuflich war. Tamara ist die Nutte, die du nicht fickst. Auf ihrem Minirock steht: «LICK ME TILL I SCREAM», aber dir reicht es, sie am Ohr zu lecken (was sie hasst). Für 500 Euro kommt sie über Nacht ins Haus. Davor hört ihr Musik: die Gruppe «Es war einmal», die Moody Blues, Massive Attack. Du bist bereit, sehr viel für den Moment zu bezahlen, wo eure Lippen sich anziehen wie Magneten. Du willst sie nicht vögeln, nur berühren und ihrer außerirdischen Anziehungskraft erliegen. Liebende sind Magneten. Du willst in Tamara keinen Gummi tragen. Deshalb schlaft ihr nicht miteinander. Anfangs konnte sie den Kunden nicht begreifen, der sich damit begnügte, seine Zunge um ihre zu schlingen. Dann begann sie Geschmack daran zu finden, am nervösen Biss des wodkagewürzten Speichels, am Knabbern der Zähne an ihren Lippen, und jetzt schiebt sie ihre Zunge in deinen weichen Mund, und die Höhlung wird tief, deine Zunge zum Schwanz, der sie oral penetriert, die Wangen, den Hals, die Augen leckt, schmecken, seufzen, atmen, Kitzel des Begehrens. Stopp. Du hältst inne, einen Zentimeter vor ihrem Gesicht, warten können, genießen, verzögern und von neuem beginnen. Man muss die Dinge sagen, wie sie sind: Ein Kuss ist oft der größere Genuss. «Ich liebe deine Haare.» «Das ist eine Perücke.» «Ich liebe deine blauen Augen.» «Das sind Linsen.»
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«Ich liebe deinen Busen.» «Das ist der Wonderbra.» «Ich liebe deine Beine.» «Ah, endlich mal ein Kompliment.» Tamara bricht in Gelächter aus. «Das törnt total.» «Ist das ein jugendlicher Ausdruck dafür, dass du glücklich bist?» «Jetzt, in diesem Moment? Ja.» «Jetzt, in diesem Moment, tust du so als ob, das weiß ich.» «Nur weil ich es nicht umsonst tu, tu ich noch lange nicht nur so als ob. Das hat nichts miteinander zu tun. Und zweitens bin ich echt ziemlich glücklich, wenn ich bedenke, dass ich zehn Riesen Cash krieg jeden Monat.» «Also macht Geld doch glücklich?» «Nein, überhaupt nicht, aber ich leg ordentlich was zur Seite, um mir ein Haus zu kaufen und mein Baby großzuziehen.» «Schade. Ich hätte dich so gern unglücklich gemacht.» «Ich bin nie unglücklich, wenn ich bezahlt werde.» «Bei mir ist es umgekehrt: Ich bezahle dich, um nicht unglücklich zu sein.» «Küss mich, heute Abend geb ich dir 10 % Rabatt.» Sie zieht ihr Oberteil aus. Sie hat ein Goldkettchen um die Taille und eine tätowierte Rose über der rechten Brust. «Ist das ein echtes Tattoo oder ein Abziehbild?» «Das ist echt, du kannst ruhig dran saugen, das geht nicht ab.» Ein paar Liebeleien später interviewst du Tamara und filmst sie dabei mit der Digitalkamera:
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«Sag mal, Tamara, willst du wirklich Schauspielerin werden, oder war das ein Witz?» «Es ist mein Traum, diesen Beruf auszuüben neben ... dem andern.» «Und warum modelst du nicht?» «Mach ich auch, tagsüber. Wie die meisten aus der Bar Biturique. Ich geh immer zu allen Castings. Es gibt nur so viele Mädchen und so wenig Jobs, dass man ziemlich ackern muss, um über die Runden zu kommen.» «Nein, warte, ich hab dich danach gefragt, weil ... also hör zu: Ich würde deine wilde Mischung gern für die nächste Maigrelette-Werbung vorschlagen.» «Okay, heute Abend blas ich dir einen für lau.» «Auf keinen Fall, he, hast du noch nicht begriffen, dass ich der neue Robin Hood bin?» «Was?» «Ganz einfach: Ich nehms von den Reichen und gebs den Mädchen.» Ja, an manchen Abenden hast du 3000 Mäuse springen lassen, nur um sie im Regen zu küssen, und das wars wert. Verdammt, das war es wirklich wert.
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Zehn Tage später ist in der Agentur PPM (sprich: Pipiemm): «Pre-Production-Meeting». Die Konferitis auf ihrem Höhepunkt. Man hört keine Fliege summen - die sind sich natürlich auch der Gefahr bewusst, aufs brutalste sodomisiert zu werden. Alfred Duler ist mit seinen drei Musketieren vom MadoneKonzern gekommen, von der Rosse sind zwei Etatdirektoren anwesend, die FFF-(Film-, Funk- und Fernseh-)Producerin der Agentur, zwei Kreative (Charlie und du) und ein eingekaufter Regisseur namens Enrique Baducul samt seinem Pariser Produzenten, seiner depressiven Stylistin, seinem englischen Requisiteur und einer gelifteten Controllerin. Charlie hat mit dir eine Wette abgeschlossen: Der Erste, der die Wörter «anxiogen» und «minorisieren» anbringt, hat ein Mittagessen bei Apicius gewonnen. «Das Treatment ist entsprechend dem Meeting vom 12. modifiziert worden», beginnt die Producerin. «Es gibt noch ein paar Castings, aber Enrique hat dem Vorschlag der Agentur im Prinzip zugestimmt. Als Erstes werden wir Ihnen also jetzt das Video vorführen.» Natürlich funktioniert der Recorder nicht, wie immer bei solchen Veranstaltungen, und keiner kennt sich damit aus. Man muss einen Techniker rufen, weil die vierzehn anwesenden Personen, die es zusammen auf ein jährliches Einkommen von 6 720 000 Francs (das heißt: über eine Million Euro) bringen, nicht in der Lage sind, ein Gerät zu bedienen, das ein sechsjähriges Kind mit links und verbundenen Augen zum
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Laufen brächte. Während alle auf die Ankunft des Retters warten, der es versteht, auf «Play» zu drücken, verliest der Regisseur sein Konzept: «Die Mädchen soll nich ssu ssön sein, lieber bisschen erwachsen, ein hübsses, junges Frau.» Enrique Baducul hat als Modefotograf bei Glamour angefangen, bevor er der Star des ästhetisierenden Werbefilms in der Grundfarbe Orange wurde. Er kultiviert seinen venezolanischen Akzent, denn diese exotische Note ist der Hauptgrund seines Erfolgs (ungefähr 500 arbeitslose Regisseure machen genau solche Filme, mit Weichzeichner, haufenweise Filtern und einem TripHop- Soundtrack, kriegen aber keinen Job, weil sie nicht Enrique Baducul heißen). «Personalmente ich finde, dass man die Marque muss lesen von ersten Shot an. Es muy muy importante. Ma, muss una Zona für Kreativität bewahren, ich glaube.» Er wurde gebucht, weil Joe Pytka keine Zeit hatte und Jean Baptiste Mondino keine Lust. Alle folgen seinen Worten mit dem Finger auf den Fotokopien wie in der Grundschule. Ein Arbeiter im Blaumann kommt herein, ohne anzuklopfen, seufzt und schaltet den Videorecorder ein. «Danke, Gege», ruft Jef, «was wären wir bloß ohne dich!» «Angeschmiert», erwidert Gege und verlässt den Raum. «Hähähä! Dieser Gege! Gut, dann können wir ja jetzt das Casting sehen.» Die vierzehn Angeschmierten betrachten also die schöne Tamara, die mit nacktem Oberkörper und schwarzem Wonderbra vor der Kamera steht, sich auf die Lippen beißt und erklärt: «Es ist mein Traum, diesen Beruf auszuüben neben ... dem andern. Ich geh immer zu allen Castings. Es gibt nur so viele Mädchen und so wenig Jobs (Cut).»
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Du ergreifst schnell das Wort, um zu erklären, dass das ein wildes Casting war, zufällig habe sich eine Gelegenheit ergeben, dieses außergewöhnliche Model zu filmen, aber selbstverständlich würde gleich morgen ein «callback» mit dem Mädchen organisiert, um es den richtigen Text sprechen zu lassen. Alfred Duler will wissen, ob man das in der Post-Production so retuschieren kann, dass die Hautfarbe heller wird. «Klar, überhaupt kein Problem. Danach ist sie ganz B.W.R. (blauweiß-rot).» Seine Marketingmanagerin, ein Fettberg im Zara-Kostüm, wird heute nur ein einziges Mal den Mund aufmachen, und zwar um folgenden Satz loszuwerden: «Wir müssen die Leute richtig geil machen.» Faszinierend, diese Menschen, die nie gefickt und trotzdem nicht müde werden, täglich das Begehren von Millionen Konsumenten anzustacheln. Die Producerin notiert: Tamara o. k. vorbehaltlich Callback, Paintbox organisieren wg. Teintaufhellung. Jetzt sagt Alfred Duler wieder etwas: «Ich möchte betonen, dass wir uns sehr über die Zusammenarbeit mit Enrique freuen, seine Präsentation war ausgezeichnet, und wir betrachten ihn als echten Pro, was seinen Ansatz in der visuellen Kommunikation betrifft.» (Simultan übersetzt: Wir haben einen willfährigen Regisseur ausgesucht, der keinen Millimeter vom verkauften Skript abweichen wird.) «Auch was du über die Marke gesagt hast, mein lieber Enrique, hat mir sehr gefallen. Wie wir alle wissen, sind wir hier nicht im Philosophenclub. Das Wichtigste ist, dass das MadoneLogo von der ersten Aufnahme an gut zu erkennen ist.»
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«Si, si. Ich chabe gedacht, wir machen den Packshot mit viel Licht.» «Genau», trumpft Jef auf, «das Ganze muss gleichzeitig sonnig und clean anmuten.» Nun meldet die Stylistin sich zu Wort: «Das Styling sollte nicht zu trist sein.» Sie breitet drei schreiend bunte T-Shirts aus. «Wir könnten vielleicht noch was Rotes dazunehmen, mehr so flashige Sachen.» «Ja, schon», sagt einer der Produktmanager, um seine Anwesenheit bei diesem PPM (und in der Folge bei Madone) zu rechtfertigen, «aber wir brauchen doch eher ein saisonneutrales Styling, damit der Spot das ganze Jahr gesendet werden kann.» «Entsprechend dem Meeting vom I2.», moniert die Controllerin, die von Madone dafür bezahlt wird, jedem in die Suppe zu spucken und die Honorare zu drücken (außer ihrem eigenen), «müsste noch mehr Pep rein.» «Ganz klar», bläst Jef sich auf, «das ist in den Charts vom 12. genau spezifiziert.» Die haben alle das P in den Augen. Die Stylistin ist so rot wie ihre T-Shirts. «Das Hemd da habe ich auch noch mitgebracht ...» Jetzt fallen alle über das Hemd her, bis ihnen auffällt, dass der Kunde das gleiche trägt. «Hört mal», sagt Charlie, «es gibt ein Sollheft, aber ein paar spontane Einfälle beim Dreh sind doch erlaubt, oder nicht?» Alle Blicke richten sich auf Alfred-Duler-ist-ein-Trottel. «Ich sehe mich zu der Klarstellung gezwungen, dass Madone ein Treatment abgesegnet hat, und wenn wir das in der Endfassung
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nicht wieder erkennen, fliegt der Spot raus. Wir haben einen Vertrag; in diesem Punkt bin ich unerbittlich.» «Selbstverständlich wird die Agentur alles tun», säuselt Jef, «damit Sie das bekommen, was wir Ihnen in unserer Präsentation vorgestellt haben.» So geht es stundenlang weiter. Die Nacht bricht an. Und du schreibst alles auf, gewissenhaft wie ein Kanzlist - ein getreuer Skribent des zeitgenössischen Unheils. Denn diese Besprechung ist kein Detail am Rande der Geschichte des Dritten Weltkriegs. «Das Adverb ins Treatment aufnehmen. Zwingend.» «Brauchen wir wirklich dreißig Sekunden? Wenn man alle Einstellungen kürzer macht, kann man die Geschichte doch auch in zwanzig Sekunden erzählen.» «Okay, wir können die Parts anders timen, aber dann kriegt das Ganze zu viel Speed.» «Das gibt einen Hyper-Cut.» «Wenn die Marken-Attribuierung nicht darunter leidet, können wirs, glaub ich, in Zwanzig-Sekunden-Länge bringen.» «Vermerk im Treatment: durch ersetzen! Das muss unbedingt hervorgehoben werden. Ich erachte das für zwingend.» «Wir müssen ein Produkt präsentieren, dem niemand widerstehen kann. Ich darf Sie daran erinnern, dass wir den Spot vor der Ausstrahlung einigen Pre-Tests unterziehen. Wenn die Deeps nicht eindeutig ausfallen, ist der Spot gestorben.» «Ich lese euch noch einmal das Treatment vor: Produkt-in-Use: Nach dem Öffnen des Maigrelette-Bechers verzehrt die Frau den Inhalt unwiderstehlich, mit Genuss sowie mit ihrem Löffel.»
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«Findest du das komisch, Octave?» «Man könnte das Mädchen im Gehen zeigen, mit dem Becher in der Hand ...» «Auf keinen Fall! Da muss ich Sie gleich unterbrechen. Maigrelette ist doch kein Joghurt zum Spazieren führen!» Du schreibst alles auf, was sie sagen, weil es viel zu wahr ist, um schön zu sein. «Kommen wir jetzt zu den Locations: Tony hat das Wort.» «Wir haben ein paar Houses in the Surroundings von Miami gesehn. Es gibt many possibilities: sehr offen oder mit ein huge garden or mehr modern, da see die Foto, viel Terrasse, Veranda, oder wir können auch machen in ein traditional Farm, ja?» «Ma, Tony», wirft Enrique ein, «du chast gemacht Gedanken, aber was denkst du?» «Ich denke, besser classic mit ein Treppe, das ist das Beste für dich, ich denke. Wir sollen nicht langeweilige Sachen machen, nein?» «Ich bin okay, si tu estä okay.» «Sprechen wir lieber über das Produkt.» «Es muss ein Joghurt sein wie aus dem Leben gegriffen, was weiß ich, es könnte im Gras stehen, um das Naturaffine des Produkts hervorzuheben.» «Was Spielerisches hat es, aber der Gesundheitsaspekt darf nicht zu kurz kommen.» «Unser höchster Wert ist die Liebe», erklärt Duler schließlich. «Unsere Kunden kaufen Liebe (das würde Tamara gefallen, denkst du). Wir verkaufen kein Joghurt, wir verkaufen Muttermilch! Deshalb sind wir global. Liebe ist global! Wir müssen weltweit denken! Worldwide nachdenken! Global scheißen!
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Das ist meines Erachtens die Berufung von Maigrelette.»
Philippe kommt herein, ohne anzuklopfen. Wir sollen uns nicht stören lassen und einfach weitermachen, als wäre er gar nicht da, sagt er, aber natürlich fängt alles noch einmal von vorn an, nur unterbrochen vom ständigen Klingeln seines mobilen Telefons, das er nicht abgestellt hat. «Sie ist ein Vollweib. Schlichte Jeans, ein langärmliges TShirt, das Statement ist Lässigkeit und Eleganz, das muss richtig rüberkommen.» «Sieht aus wie Sharon Stone in dunkel und jünger.» «Seid ihr sicher, dass sich Madame Michu aus Valenciennes in ihr wieder erkennt?» «Moment mal, sie ist zwar middle-class, aber fun.» «Wirkt nicht sehr europäisch.» «Also wir haben ja nichts gegen Araber, aber die Zielgruppenakzeptanz könnte darunter leiden.» «Sie ist halt ein latin Typ, das ist trendy, so ein Teint ä la Ines Sastre - Jennifer Lopez - Salma Hayek - Penelope Cruz.» «Wer ist Salma Hayek?» «Enrique hat 80 Mädchen gecheckt, sie kommt in dem Licht am besten.» «Sie entspricht voll dem Markenprofil, frei, sinnlich, total Maigrelette.» «Magnifico.» «Very cute.» «Wer ist Salma Hayek?» «Sie bringt das Feeling gut rüber.» «Prinzipiell würde ich mein Go geben, aber erst, wenn wir das Callback gesehen haben.»
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«Ländliches Setting. Friedlich, aber dynamisch. Das Gras ist grün, aber mediterran. Natur-Atmo, Vogelgezwitscher.» «Wir sollten dran denken, bei der Nachbearbeitung Grillen reinzuschneiden.» «Wer ist Salma Hayek?» «Die angesagte Latino-Torte.» «War im September auf dem Cover der englischen Vogue.» «Nie gehört.» Die Stylistin am Rande des Nervenzusammenbruchs legt zwanzig Sonnenbrillen auf den Tisch, damit der Kunde eine aussucht, die Tamara sich dann in die Haare stecken kann. Nach zwanzig Minuten fällt die endgültige Entscheidung, alle Sonnenbrillen zum Dreh mitzubringen und vor Ort zu entscheiden. (Mit anderen Worten: Es wird beschlossen, nichts zu beschließen.) «Zur Musik: Fünf Musiker haben Demos geschickt. Wollen wir sie hören?» Tape I: «Zu hip.» Tape 2: «Zu hard.» Tape 3: «Zu kitschig.» Tape 4: «Zu langsam.» Tape 5: «Zu cheap.» Tracks müssen überarbeitet werden, notiert die Producerin. «Die Froschperspektive in der Produktsequenz finde ich falsch. Ich fürchte, das Mädchen wird so verzerrt. Brandingmäßig wäre ich mehr für was Klassischeres.»
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In diesem Moment hat Charlie ein Essen bei Apicius gewonnen: «Ist es zu anxiogen? Das lässt sich minorisieren.»
Philippe ist aufgestanden und wendet sich, bevor er die Runde verlässt, an die FFF-Producerin: «Sehr gutes Meeting, bravo Martine, das war gute Arbeit, du bist neu hier, oder? Willkommen in der Rosse, Marc hat den richtigen Riecher, wir brauchen Leute, die so super drauf sind wie du.» «Philippe», antwortet die so Angesprochene mit verständlicher Reserve, «ich heiße Monique und arbeite seit fünf Jahren hier.»
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7. Du bist auch schon ganz schön mager. In drei Monaten hast du 17 Kilo verloren. Du ernährst dich praktisch nur noch nasal. Jeden Morgen wachst du mit einem festen Block Kreide in deiner Gipsnase auf. Um 5 Uhr 35 kommst du ins Büro, p. m. Als Marc Marronnier etwas sagt, erwiderst du: «Ich streike, bis du mich feuerst.» «Was ist? Willst du eine Gehaltserhöhung?» «Nein, ich will weg.» «Wer hat bei dir angerufen? CLM? BDDP?» «Nein, nein, ich will aufhören! Ich bin am Krepieren, begreifst du das nicht? Schau, wie ich abgenommen habe!» «Wie Kate Moss auszusehen war noch nie ein Kündigungsgrund.» «Ich werde an einem Hirntumor sterben.» «Ausgeschlossen. Du hast doch gar kein Hirn.» «Aber ich bin immer weniger massentauglich.» «Weiß ich, aber wir brauchen dich noch für die Ultras.» Du trägst einen Anzug von Eric Bergere, ein Hemd von Hedi Slimane für Saint Laurent Rive Gauche Hommes, Schuhe von Berluti, deine Uhr ist eine Royal Oak von Audemars Piguet (so lange, bis es das Samsung Watch-Phone gibt, mit dem man mobil telefonieren kann), deine Brille ist von Starck Eyes, deine Hose ist von Banana Republic und in New York gekauft. Du besitzt eine Fünf-Zimmer-Wohnung in Saint-Germain-desPres, ausgestattet von Christian Liaigre. Außerdem gehören dir:
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- eine Hi-Fi-Säule von Bang & Olufsen mit 6fach-CDWechsler und Fernbedienung - ein Dual-Band-WAP-Handy Cosmo mit integriertem Faxmodem - sechs geerbte Louis-XV Stühle aus dem Haus deiner Großeltern - ein Tischchen «Barcelona» von Mies van der Rohe - ein Bücherschrank von Jean Prouve mit sämtlichen PleiadeBänden (nie geöffnet) - ein Multi-Norm-Videorecorder von Sony - ein neuer Flatscreen-Fernseher von Philips - ein tragbarer DVD-Player von Sony Glasstron - ein Lounge-Chair von Charles Eames (1956) – - eine Sony Playstation - ein zweitüriger Kühlschrank von General Electric (gefüllt mit Ossietra-Kaviar von Petrossian, getrüffelter rosa Gänsestopfleberpastete von La Petite Auberge und Cristal-RoedererChampagner) mit Riesengefrierfach und automatischem Eiswürfelspender - eine Digitalvideokamera Sony PC1 (36o Gramm, 12 cm hoch, 5 cm breit) - eine Digitalfotokamera Leica Digilux Zoom - 24 Kristallgläser von Puiforcat - drei Originaldrucke von Jean-Francois Jonvelle - ein 3 x 3 Meter großer Basquiat und eine Zeichnung von David Hockney - ein Jean-Cocteau-Plakat - ein niedriges Ebenholztischchen von Modenature - ein paar Originale von Pierre Le Tan, Edmond Kiraz, Rene Gruau, Jean-Jacques Sempe, Jean-Philippe Delhomme, Voutch, Mats Gustafson
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- eine Stehlampe von Urban Outfitters - 8 Pashmina-Kopfkissen in Beige und Weiß von Maisons de Famille - eine gerahmtes Autogramm von Laetitia Casta - Fotos von dir, die Mario Testino, Ellen von Unwerth, Jean Baptiste Mondino, Bettina Rheims und Dominique Issermann gemacht haben - Fotos mit dir neben Ines Sastre, Gerard Depardieu, Ridley Scott, Eva Herzigova, Naomi Campbell, Carla Bruni, David Lynch und Thierry Ardisson - ein Keller voller Premiers Grands Crus Classes aus Bordeaux, geliefert von Caves Auge (116, boulevard Haussmann, 75008 Paris): Chasse-Spleen, Lynch Bages, Talbot, Petrus, Haut Brion, Smith Haut Laffitte, Cheval Blanc, Margaux, Latour, Mouton Rothschild ... - tausend CDs, DVDs, CD-ROMs und VHS-Kassetten - ein BMW Z3 auf dem ganzjährig gemieteten Garagenplatz unter dem Cafe de Flore - ein obdachloser Doppelgänger vor deinem Haus - sechs Brillen von Berluti, drei von Nike Air Max, eine Adidas Micropacer (mit einem integrierten Chronometer und einem Microcomputer, der die gelaufene Distanz misst) - drei Cashmere-Mäntel von Hermes und drei Wildledermäntel von Louis Vuitton - drei Anzüge von Dolce & Gabbana und fünf von Richard James - Sumo, der riesige Fotoband von Helmut Newton aus dem Taschen Verlag (5o x 70 cm), auf dem Präsentiertisch von Philippe Starck - fünf Jeans von Helmut Lang und fünf Paar Gucci-Mokassins
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- zwanzig Prada-Hemden und zwanzig T-Shirts von Muji - zehn 18-fädige Cashmere-Pullover Tse von Huseyn Chalayan und zehn von Lucien Pellat-Finet (alles, was nicht aus Cashmere ist, findest du unerträglich kratzig, außer Vikunjawolle) - ein Schrank mit der gesamten APC-Kollektion der letzten zehn Seasons - ein Gemälde von Ruben Alterio - zehn Sonnenbrillen von Cutler and Gross - ein Badezimmer mit einer Ausstattung von Calvin Klein (Handtücher, Bademäntel, Seifenhalter, Kosmetikprodukte, Parfums, nur die Lotions kommen von Kiehl's, New York) - der rosa iMac, auf dem dieses Buch geschrieben wird, ein iBook in Orange mit Infrarotschnittstelle und ein Farbdrucker Epson Stylus 740. Die meisten anderen Dinge sind von Colette. Wenn sie nicht von Colette sind, sind sie von Catherine Memmi. Wenn sie weder von Colette noch von Catherine Memmi sind, bist du nicht bei dir zu Hause. Du isst selten in Restaurants, wo ein Essen weniger kostet als 100 Euro pro Person. Auf Reisen übernachtest du ausschließlich in Traditionshotels. Seit drei Jahren fliegst du nur noch Business Class (sonst kriegst du vom Schlafen einen Schiefhals) und mit Cashmere-Decke (sonst kratzt es so.). Zur Information: Der Hin- und Rückflug von Paris nach Miami kostet in der Business Class 62 000 Francs (10 000 Euro). Mit den ganzen Dingen, die dir gehören, und dem angenehmen Leben, das du führst, müsstest du zwangsweise glücklich sein. Warum bist du es nicht? Warum steckst du ständig deinen Rüssel in den Schnee? Wie kannst du unglücklich sein
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mit zwei Millionen Euro auf deinem Bankkonto? Wenn du auf dem letzten Loch pfeifst, wer spielt dann die erste Geige? Vor ein paar Tagen bist du vor Bonpoint in der Rue de l'Universite in Tränen ausgebrochen. Rotz und Wasser hast du geheult beim Anblick der Bettchen aus weiß lackiertem Holz, der Teddybär-Lampen, der perlgrauen Schühchen für drei Monate alte Babys, der kleinen Latzhosen für 36o Francs, des Minipullis für 620 Francs, und die Kunden, die aus dem Geschäft kamen, dachten sicher bestürzt, der arme Kerl, der da vor dem Geschäft steht und flennt, hat sein Kind bei einem Autounfall verloren, aber du hast gar keinen Unfall gebraucht, um dein Kind zu verlieren. Du willst dir das Maul stopfen in deiner riesigen Küche. Du gehst auf deinen ultramodernen Kühlschrank zu. Du kannst dich in ihm spiegeln. Nervös drückst du auf den Eiswürfelspender. Dein Glas Absolut geht schon über. Du drückst auf den Hebel, bis der ganze Küchenboden mit Ice-Cubes bedeckt ist. Dann programmierst du die Maschine auf «crashed ice». Und drückst wieder. Es schneit auf den schwarzen Marmor. Du betrachtest dein Gesicht im teuersten Kühlschrank der Welt. Dich wie ein verspäteter Junggeselle zu benehmen war leichter, als du zu Hause noch zärtlich erwartet wurdest. Du bist so zugekokst, dass du deinen Wodka durch den Strohhalm sniffst. Du fühlst den Kollaps kommen. Du siehst deinen Verfall im Spiegel: Wusstest du, dass etymologisch betrachtet «narzisstisch» und «narkotisch» von demselben Wort kommen? Du hast den ganzen Eisbehälter auf den Fußboden entleert. Du rutschst aus und liegst plötzlich auf zehn Zentimeter Schnee. Du ertrinkst in den kalten Würfeln. Du könntest zwischen diesen
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Tausenden Eisbergen einschlafen. Wie eine Olive auf den Grund eines riesigen Glases sinken. Absolut Titanic. Du treibst auf einer Kunsteisbahn. Deine gefrorene Wange klebt an den Fliesen fest. Was unter deinem Körper liegt, könnte einem ganzen Regiment zur Erfrischung dienen; du bist eine geschlagene Armee auf dem Rückzug aus Russland. Du leckst den Boden. Du schluckst das Blut, das dir aus deiner Nase direkt in die Kehle rinnt. Du hast gerade noch die Zeit, über dein Handy den Notarzt zu rufen, bevor du das Bewusstsein verlierst.
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WIE SEHEN UNS GLEICH WIEDER EIN JUNGER MANN KOMMT IN EINEN WASCHSALON. ER BLEIBT VOR EINER RIESIGEN, ZWEI METER HOHEN WASCHMASCHINE STEHEN. ER STECKT EIN PAAR MÜNZEN IN DEN SCHLITZ HOLT EIN PAKET ARIEL AUS SEINER TASCHE, SCHÜTTET SICH EIN WENIG WASCHPULVER IN DIE HAND UND ZIEHT ES DURCH DIE NASE EIN. WIE NEU BELEBT VON DEM GESNIFFTEN PULVER, SCHÜTTELT ER DEN KOPF. DANN ÖFFNET ER DIE WASCHMASCHINE, STEIGT MIT SEINEN KLEIDERN IN DIE TROMMEL UND LÄSST SICH IM SCHNEIDERSITZ NIEDER. ALS ER DIE TÜR WIEDER SCHLIESST, SETZT DIE MASCHINE SICH IN GANG. ER WIRD IN ALLE RICHTUNGEN DURCHGESCHÜTTELT UND VON HEISSEM WASSER DURCHNÄSST. DIE KAMERA DREHT SICH UM 360', UM DIE ROTATIONSGESCHWINDIGKEIT DER WASCHTROMMEL ZU DEMONSTRIEREN. PLÖTZLICH BRICHT DIE BEWEGUNG AB. AUS DEM INNEREN DER MASCHINE SIEHT DER MANN, WIE EINE JUNGE FRAU, SEHR SEXY, IM MINIROCK, DEN WASCHSALON BETRITT. DIE FRAU GEHT AUF DIE RIESIGE MASCHINE ZU. ALS SIE DEN JUNGEN MANN DARIN SIEHT, ÖFFNET SIE DIE TÜR UND STRAHLT IHN AN. ER SPUCKT EINEN SCHLUCK SEIFENWASSER AUS. SIE LÄCHELT, ALS IHR BLICK AUF DAS ARIELPAKET VOR DER MASCHINE FÄLLT, FÄHRT SICH MIT DEN HÄNDEN UNTER DEN MINIROCK, STREIFT IHR HÖSCHEN AB UND WIRFT ES AUF DEN JUNGEN MANN IN DER TROMMEL, BEVOR SIE DIE TÜR WIEDER SCHLIESST UND DIE MASCHINE IN GANG SETZT. DER JUNGE MANN ERTRINKT, SEIFENBLASEN QUELLEN AUS SEINEM MUND AN DIE SCHEIBE. LOGO UND PACKSHOT ARIEL MIT SUPER: «ARIEL ULTRA. ULTRASAUBER, SOGAR IN DER MASCHINE.»
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III
ER
Aber es war die Zeit, da die reichen Länder, gespickt von Industrien und mit Geschäften vollgestopft, einen neuen Glauben gefunden hatten, ein Ziel, das der jahrtausendelangen Mühen der Menschen würdig war: aus der Welt ein einziges ungeheures Unternehmen zu machen. RENE- VICTOR PILHES, L´Impricateur, 1974
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1. Laut Mitteilung des Roten Kreuzes leben eine Milliarde Menschen in Elendsvierteln, das konnte Octave aber nicht davon abhalten, seinen Appetit wieder zu finden: Schaut, wie er an seinen Nägeln kaut; das ist der erste Schritt. Marronnier hat ihn, weil das Centre de Kate Barry in Soisson ausgebucht war, für einen Monat zur Entgiftung nach Meudon geschickt, in die Maison de Sante Bellevue (8, rue du Onze-Novembre). Creative Directors sind wie die Dealer-Ärzte der Tour de France: Sie dopen ihre Champions auf Topleistungen und flicken sie wieder zusammen, wenn sie aufs Maul gefallen sind. Deshalb ist Octave umgezogen, von einem Nobelappartement in eine Nervenheilanstalt. Jeden Morgen läuft er Slalom im Park, zwischen hundertjährigen Eichen und geistig Verwirrten. Er liest ausschließlich Schriftsteller, die Selbstmord begangen haben: Hemingway, Kawabata, Gary, Chamfort, Seneca, Rigaut, Petronius, Pavese, Lafargue, Crevel, Zweig, Drieu, Montherlant, Mishima, Debord, Lamarche-Vadel, ohne die Frauen zu vergessen: Sylvia Plath und Virginia Woolf. (Wer nur Autoren liest, die sich umgebracht haben, liest viel.) Seine Assistenten haben ihm aus Jux per Express ein Päckchen Mehl der Marke Francine geschickt. Der behandelnde Psychiater wusste den Scherz nicht zu schätzen. Charlie hat ihm ein Video von einer Frau mit einer Faust in der Fotze und einer im Arsch auf sein iBook gebeamt. Nun lächelt er wieder. Dank der experimentellen Therapie mit B P 897 müßte er den Entzug gut überstehen. Und
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wenn alles gut läuft, wird er bald eine Scheckkarte ansehen können, ohne zu niesen. Im Speisesaal lernt er neue Krankheiten kennen. So erzählt ihm sein Flurnachbar, er sei aidophil (eine neuartige sexuelle Perversion). «Ich hab Weiber auf Video aufgenommen, die sich von einem positiven Kumpel ohne Gummi haben poppen lassen. Die wussten natürlich von nichts. Dann hab ich sie aus einem Versteck heraus dabei gefilmt, wie sie ihre Testergebnisse abgeholt haben. Mein Höhepunkt war der Moment, wo sie begriffen haben, dass sie positiv sind. Wenn sie den Umschlag aufgerissen haben, hab ich abgespritzt. Die Aidophilie ist meine Erfindung. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie geil das war, wenn sie mit ihrem Wisch mit dem drauf aus dem Labor gekommen sind und losgeheult haben. Aber als die Bullen meine Kassetten konfisziert haben, war Schluss mit lustig. Sie haben mich in den Knast gesteckt und dann hier rein. Ich sterbe sowieso bald. Aber hier gehts mir gut, gehts mir gut. Es geht mir gut. Hier ist alles gut gehts mir gut gehts mir gut gehts mir gut gehts mir gut gehts mir gut hier gehts mir gut.» Er ist abgestürzt und sabbert Karottenpüree auf sein flaumiges Kinn. «Mir gehts genauso», bekennt Octave. «Ich leide an einer ziemlich abartigen sexuellen Psychopathie. Ich bin retrophil.» «Aha. Und was ist das?» «Verflossenenobsession. Aber mir gehts auch gut mir gehts sehr gut hier danke gut danke sehr gut gehts mir hier gut gut gut gut.» Sophie ist nicht zu Besuch gekommen. Ob sie überhaupt von seiner Einlieferung wusste? Nach drei Wochen hat Octave ein
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paar Mal gelacht, wenn er die Schizophrenen im Garten ihre Grimassen ziehen sah: Es erinnerte ihn an die Agentur. «Das Leben besteht aus Bäumen, Manisch-Depressiven und Eichhörnchen.» Doch, man kann schon behaupten, dass es ihm jetzt besser geht: Er wichst sechsmal täglich. (Und denkt dabei an Anastasia, die die Möse von Edwina leckt, die sein Sperma schluckt.) (Na gut, vielleicht ist er doch noch nicht ganz überm Berg.) Wie auch immer, es war Zeit für Octave, sich zu ändern. Die 80er-Jahre-Masche mit seinen schwarzen Anzügen, seinem Koks, seiner Kohle und seinem Groschenzynismus war überholt. Die Mode hatte sich gewandelt: Erfolg und Arbeit auszustellen war nicht mehr en vogue, man musste auf arm machen und gammelig aussehen. Low Profile war die Parole in den Anfangsjahren des neuen Jahrhunderts. Die StachanowProfis bemühten sich um größtmögliche Ähnlichkeit mit abgebrannten Arbeitslosen. Schluss mit dem lauten, vulgären Goldkettchen-Stil ä la Seguela und den Ridley-Scott-Spots mit Deckenventilatoren und Jalousien! In der Werbung gab es Moden wie überall anders auch: das Wortspiel in den 50ern; die Komödie in den 60ern; den Jugendkult in den 70ern; die Show in den 80ern; die Verschiebung in den 90ern. Seither trug man alte Adidas-Treter, ein löchriges Gap-T Shirt, schmuddelige Helmut-Lang-Jeans und einen Dreitagebart, den man jeden Tag stutzen musste. Man brauchte fettige Haare, Koteletten, eine Cap, musste eine Fresse ziehen wie aus der Zeitschrift Dazed & Confused und Schwarzweißfilme machen mit schlaksigen Anorektikern, die oben ohne auf der Gitarre gniedelten (oder mit Limousinen im Schritttempo vor grünlichem Hintergrund mit satten Farben und puertoricanischen
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Bengeln, die im Regen Volleyball spielten). Je fetter die Knete (dank Internet waren die Vermögen um drei Nullen gewachsen), desto mehr Penner. Die neuen Milliardäre erkannte man an ihren ausgelatschten Basketballstiefeln. Octave hatte übrigens beschlossen, seinen Clochard-Doppelgänger um eine Stilberatung zu bitten, wenn er aus dem Asyl wiederkäme. «Merkwürdige Feststellung: Als ich klein war, war 2000 noch Science-Fiction. Jetzt ist es letztes Jahr - ich muss erwachsen geworden sein.» In diesem großen Haus vom Ende des 19. Jahrhunderts hatte Octave Zeit zum Nachdenken. In Meudon scheint die Zeit langsamer zu vergehen. Octave schlendert über den Rasen und hebt einen zweitausend Jahre alten Kiesel auf. Kiesel vergehen nie, ganz im Gegensatz zu Zahnpastatuben. Er wirft ihn weit weg unter einen Baum; dort wird er noch liegen, wenn Sie diese Zeilen lesen. Und womöglich wird der Kiesel die nächsten zweitausend Jahre am selben Ort verbringen. So ist das: Octave beneidet einen Stein.
Er schreibt: Gib mir dein Haar Deines Leibes lebendige Kraft Deiner Augen strenges Blau Und ihren salzigen Saft
Da er niemanden hat, dem er diesen Vierzeiler widmen könnte, will er ihn, bevor er Bellevue verlässt, seinem aidophilen Freund schenken. «Schick ihn einem deiner Opfer. Und du wirst sehen, wie erregend es sein kann, die Reaktion einer Frau zu beobachten, 108
die etwas anderes liest als das positive Ergebnis ihres Aidstests.» «Lass mal sehen ... o nein, du bist ja verrückt, nein, nein, das klingt ja total nach Serial Killer, dein Gedicht.»
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2.
Für sein meisterliches Comeback hat Octave das Seminar in Senegal abgewartet. Die Rosse ist wie eine Armee: Von Zeit zu Zeit braucht sie Ausgang; das heißt dann «Motivationsseminar». 250 Personen werden per Bus zum Flughafen Roissy verfrachtet. Viele verheiratete Tippsen (ohne Mann), depressive Buchhalter (mit Tranquilizer), väterliche Direktoren, eine schwer gebeutelte Telefonistin, eine Speckschwarte, die zum Sahneschnittchen geworden ist, seit sie mit dem Personalchef schläft, und ein paar Kreative, die sich zum Lachen zwingen, um wie Kreative zu wirken. Man singt wie beim Karaoke - zur Not wird der Text erfunden. Man fragt sich, wer mit wem vögeln wird. Octave freut sich auf viele einheimische Prostituierte, deren Reize ihm Dorothy O'Leary, eine befreundete France2-Reporterin, geschildert hat. Odile, 18, nackter Rücken, Tuch in den Haaren, Pantoffeln an den Füßen, Jeanssack am Strick, lutscht Coca-Cola-Chupa-Chups. Und «macht sich Gedanken». Woran erkennt man, dass ein Mädchen 18 ist? Ganz einfach: Sie hat keine Falten, keine Augenringe, runde Wangen wie ein Baby, hört Will Smith auf ihrem Walkman und «macht sich Gedanken». Odile ist während Octaves Abwesenheit als Text-Praktikantin eingestellt worden. Sie ist nur auf Geld und Ruhm aus, macht aber auf naiv. Die neuen Mädchen sind alle so: immer mit leicht geöffneten Lippen und weit aufgerissenen Augen unterwegs wie Audrey Marnay in einer Fotoserie von Terry Richardson; gespielte Unschuld ist heute die hohe Schule des
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Karrierismus. Odile erzählt Octave, wie sie sich ganz allein an einem Samstagnachmittag die Zunge hat piercen lassen: «Das geht ohne Betäubung, der Tätowierer zieht dir mit einer Zange die Zunge raus und bohrt dir da seinen Stift durch. Nein, nein, wirklich, es tut nicht weh, nur beim Essen stört es am Anfang ein bisschen, vor allem weil durch die Entzündung, die ich gekriegt habe, alles nach Eiter schmeckte.» Sie lässt die ganze Zeit ihre schwarze Brille auf («das sind optische Gläser»), liest ausschließlich angelsächsische Magazine (Paper Talk, Bust, Big, Bloom, Surface, Nylon, Sleazenation, Soda, Loop, Tank, Very, Composite, Frieze, Crac, Boom, Hue). Sie setzt sich neben Octave und nimmt ihren Walkman nur ab, um ihm mitzuteilen, dass sie nicht mehr fernsieht, «außer ab und zu Arte». Octave fragt sich, was er hier soll (immer dieselbe Frage seit seiner Geburt). Odile zeigt auf einen Turm neben der Autobahn: «Schau, die Stadt der 4000. Da wohne ich. Beim Stade de France. Nachts, wenn alles beleuchtet ist, sieht es hier genauso schön aus wie in Independence Day.» Als Octave nicht antwortet, nutzt sie die Gelegenheit, ihre Enthaarung mit der einer Kollegin zu vergleichen. «Heute früh war ich bei der Kosmetikerin: Laserepilation. Tut super weh, besonders in der Bikinizone. Bin aber echt froh, dass ich die Haare für immer los bin.» «Erinner mich dran, dass ich am Flughafen Enthaarungscreme kaufe.» «Wann ist die Landung in Dakar?» «Um Mitternacht. Ich stürz mich direkt ins Nightlife. Die drei Abende muss man doch nutzen.» «Scheiße, ich hab meine Lara-Fabian-Kassette vergessen.» «Im Flieger werd ich mich abschminken, dass die Haut
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nicht so austrocknet, Make-up entfernen, Peeling, Feuchtigkeitscreme drauf, zack, fertig.» «Und ich mach mir die Nägel. Wenn die Zehen trocknen, fang ich mit den Fingern an.» Octave versucht bei sich zu bleiben. Er muss ohne Coco auskommen, die ungeboostete Wirklichkeit ertragen, sich in die Gesellschaft einfügen, die Menschen achten, ihr Spiel mitspielen. Deshalb startet er einen Versuchsballon: «Na, Mädels, kleiner Fick gefällig, kurz und schmerzlos?» «Armer Irrer.» «Lieber sterben.» Das gefällt ihm. Er lächelt. «Ihr macht einen Fehler, wenn ihr jetzt nein sagt. Mädels sagen entweder zu spät ja, wenn die Jungs schon die Lust verloren haben, oder zu früh, wenn sie noch gar nicht gefragt worden sind.» «...» «Außerdem würd ich fünftausend Tacken springen lassen.» «Ey, habt ihr das gehört? Der behandelt uns ja wie Nutten!» «Hast du dich mal im Spiegel gesehen? Nicht für hundert Riesen!» Octave lacht zu laut. «Darf ich euch darüber aufklären, dass Casanova seine Maitressen oft bezahlt hat, das ist keine Schande.» Dann zeigt er ihnen das Ultraschallbild, das ihm die Post gebracht hat. «Seht euch das an, mein künftiges Kind. Findet ihr mich jetzt nicht plötzlich super rührend?» Doch Octave bekommt die verdiente Abfuhr. Die Stadt der 4000 schrumpft im Rückspiegel. Jetzt kann er nicht einmal mehr baggern. Er glaubt nicht genug an die Sache. Wenn es
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etwas gibt, das sich mit Ironie nicht vereinbaren lässt, dann ist das die Verführung. Eines der Mädchen fragt ihn: «Hast du zufällig ein Deko-Magazin dabei?» «Was für eins? Newlook? Playboy? Penthouse?» «Ha, ha, ha. Gott, bist du witzig. Armer Octave.» «Du wirst langsam vulgär, weißt du das? Ich dachte, sie haben dir das Hirn repariert?» «Ist wohl noch in Arbeit. Du alzheimerst ja total.» Octave senkt die Augen und betrachtet seine Füße in den zu engen lila Schuhen (Wert: ein Mindestmonatslohn pro Fuß). Dann hebt er den Kopf, um ein Lamento anzustimmen: «Hört endlich auf mit euren Scherzen. Schon mal drüber nachgedacht, meine Damen, dass alle Leute, die ihr seht, sämtliche Trottel, an denen ihr hier vorbeifahrt, dass all diese Menschen, absolut alle, ohne Ausnahme sterben werden? Der da hinten am Lenkrad seines Audi Quattro. Und die überdrehte Vierzigjährige, die uns grade mit ihrem Austin Mini überholt. Und die Bewohner all dieser Häuser hinter den nutzlosen Schallschutzmauern. Habt ihr euch schon mal den Berg von Leichen vorgestellt, wenn man sie alle aufeinander stapeln würde? Seit es diesen Planeten gibt, haben sich auf ihm 8o Milliarden Menschen aufgehalten. Ihr solltet dieses Bild gründlich memorieren. Wir fahren auf 8o Milliarden Toten. Seht ihr den gigantischen Haufen von Kadavern vor euch, den diese Ausgemusterten ergeben werden, diesen Riesenpacken stinkender Leiber in nächster Zukunft? Das Leben ist ein einziger Völkermord.» Bravo, jetzt hat er es endlich geschafft, die Stimmung zu verderben. Er ist mit sich zufrieden. Er tastet nach der grünen Lexomil-Schachtel in der Tasche seiner Wildlederjacke von Marc Jacobs. Sie beruhigt ihn wie vor sechzig Jahren die Zyankali-Kapsel den Helden der Resistance vor dem Verhör in der Rue Lauriston. 113
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Das Flugzeug ist voller Werber. Wenn es abstürzte, könnte die Wahrhaftigkeit ihren Siegeszug antreten. Aber Flugzeuge mit Werbern stürzen nicht ab, so ist das Leben. Abstürzende Flugzeuge haben immer unschuldige Menschen an Bord, hingebungsvoll Liebende, Wohltäter der Menschheit, Otis Redding, Lynyrd Skynyrd, Marcel Dadi, John-John Kennedy. Die Arroganz der braun gebrannten Kommunikatoren kommt von ihrer Gewissheit, auf der sicheren Seite zu sein: Sie fürchten Börsenkrachs weit mehr als Flugzeugcrashs. Octave lächelt, als er diesen Satz in sein iBook tippt. Er ist wichtig, er ist reich, er hat Angst - alles kompatibel. Er trinkt Wodka Tonic im Espace 127. («Freuen Sie sich auf die bequemen ergonomischen Sitze im Espace 127. Sie haben eine Neigung von 127 Grad, das ist der Winkel, den der Körper in der Schwerelosigkeit natürlicherweise einnimmt. Mit Telefon, individuellem Videorecorder und geräuschdämpfendem Kopfhörer ausgestattet, bieten Ihnen die Sitze von Espace 127 den idealen Komfort für Arbeit und Entspannung», steht in der Body-Copy von «Air France Madame».) In der Business Class baggern Strategic Planners Artbuyerinnen an; stellvertretende Geschäftsführer betatschen FFF-Producerinnen; ein internationaler Koordinator streichelt einer Entwicklungsdirektorin den Schenkel. (Frauen, die mit einem Kollegen schlafen, erkennt man in einem Unternehmen sehr schnell: Sie sind die Einzigen, die sich sexy anziehen.) Die Orgie soll «der Vertiefung der Bindungen innerhalb der Belegschaft
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und der Optimierung der internen Kommunikation der Human Resources» dienen. Octave wurde dazu erzogen, diese Ordnung der Dinge hinzunehmen, schließlich ist das Leben, das uns auf diesem endlos im All kreisenden Kiesel gewährt ist, nur ein kurzer Moment, und warum sollten wir diesen kurzen Moment damit vertun, dauernd die ORGANISATION in Frage zu stellen? Besser, man akzeptiert die Regeln des Spiels. «Wir sind darauf gedrillt, alles hinzunehmen. Ich surfe über dem Nichts. Ist hier jemand, der mich ein für alle Mal in den Arsch ficken will?» Früher wurden seine Provokationen belächelt; jetzt sind sie nur noch peinlich. «Nach allem, was die Menschen für ihn getan haben, hätte Gott sich doch immerhin die Mühe machen können zu existieren, meint ihr nicht?» Einsamkeit unter vielen. Er hört ständig sein Telefon ab, aber das antwortet jedes Mal: «Sie haben keine Nachrichten in Ihrer Mailbox.» Octave schläft bei einem Film mit Tom Hanks ein (mehr als ein Schauspieler: ein Schlafmittel). Er träumt von einem Shooting auf den Bahamas, wo er mit seinen Fingern die triefenden, enthaarten Mösen von Vanessa Lorenzo und Heidi Klum untersucht. Er knirscht nicht mehr mit den Zähnen. Er glaubt, dass er davongekommen ist. Er bildet sich ein, Distanz gewonnen zu haben, Besonnenheit, genügend Abstand zu dem Ganzen. Mit einem diskreten Seufzer befleckt er seine 501 von Levi-Strauss (aus der Kollektion «Traurige Tropen», Herbst/Winter 2oo1). Das Unternehmen ist gelandet. Das Unternehmen hat sein Gepäck geholt. Das Unternehmen ist wieder in einen Bus 115
gestiegen. Das Unternehmen hat Chansons von Fugain gesungen, ohne sich über deren ungeheuren Pessimismus im Klaren zu sein: «Singe das Leben, singe / als müsstest du morgen sterben», und: «Bis morgen vielleicht / oder bis zum Tod». Endlich begreift Octave, warum das Raumschiff aus der Serie Star Trek Enterprise heißt: Das Unternehmen Rosserys & Witchcraft wirkt wie ein Raumschiff, das sich auf der Suche nach außerirdischem Leben in der interstellaren Leere verirrt hat. Außerdem haben nicht wenige Kollegen spitze Ohren. Nach der Ankunft im Hotel löst sich das Unternehmen auf. Einige Producerinnen stürzen sich ins Wasser, andere auf den Kontakt, der Rest geht ins Bett. Wer noch nicht müde ist, geht mit Odile und ihren Titten ins Roll's tanzen. Octave kommt nach, bestellt eine Flasche Gordon's und nimmt einen Zug aus einem Ganja-Joint. Am Strand herrschen klare Verhältnisse. Rendezvous mit den Black Girls. Eine sagt zu ihm: «Komm mit zu mir.» Aber da sie den Akzent von Conakry hat, versteht Octave: «Komm fick mit mir.» Das ist lustig. Die Lüge beruht auf Gegenseitigkeit, und alles kommt ins Lot. Er legt seine Hand an ihr Gesicht und murmelt: «Ich ficke die Frauen nicht, mein Schatz: Ich verliere sie lieber.» Der Touristenkomplex von Saly umfasst fünfzehn Hotels, die unter höchster Bewachung der senegalesischen Armee stehen. Die Agentur ist ins Savana eingefallen, das mit klimatisierten Zimmern, zwei nachts beleuchteten Swimmingpools, Tennis, Minigolf, einem Einkaufszentrum, einem Casino und einer Discothek aufwarten kann und direkt am Atlantischen
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Ozean liegt. Afrika hat sich verändert seit Hemingways Safaris. Die westliche Welt hat den Kontinent abgeschrieben (zwei Millionen Menschen sind 1998 an Aids gestorben, vor allem weil Pharmaunternehmen wie die amerikanische Firma BristolMyers-Squibb, die die Medikamente für die Dreikomponententherapie herstellen, sich weigern, die Preise zu senken). Hier ist der ideale Ort, um das kapitalistische Personal neu zu motivieren: Auf dieser vom Virus und von der Korruption zerfressenen, von absurden Kriegen und ständigem Völkermord zerrissenen Erde fassen die kleinen Angestellten wieder Vertrauen zu dem System, von dem sie leben. Sie erwerben typische Ebenholzmasken, basteln sich schöne Erinnerungen, glauben an einen gelegentlichen Meinungsaustausch mit den Eingeborenen und schicken sonnige Ansichtskarten nach Hause, um die im Pariser Winter frierende Familie neidisch zu machen. Afrika wird den Werbern vorgeführt als ein Gegenbeispiel, das sie schnell wieder nach Hause treibt, nachdem sie erleichtert festgestellt haben, dass es anderswo noch schlimmer ist. So wird auch der Rest des Jahres erträglich: Afrika dient als Anti-Appetithemmer. Weil die Armen sterben, haben die Reichen das Recht zu leben. Man teilt mit einem Jet-Ski die Wellen, man schießt Polaroids, niemand interessiert sich für niemand, alle tragen Badehosen. Wenn heute in Afrika ein Weißer das Wort an einen Schwarzen richtet, tut er das nicht mehr mit der rassistischen Herablassung des ehemaligen Kolonialherrn; viel brutaler: Er tut es mit dem mitleidigen Blick eines Priesters, der einem zum Tode Verurteilten die Letzte Ölung verabreicht.
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Dialogfetzen am Swimmingpool des Savana Beach Resort. Eine Direktionsassistentin (prustend): «Ist das geil!» Octave: «Du auch!» Eine Trafficerin (in eine Mango beißend): «Ich hab so Lust auf was Knackiges.» Octave: «Ich auch.» Eine Junior AD (auf die Cafeteria zusteuernd): «Gehn wir was essen?» Octave: «Wen hast du gefressen?»
Die Motivation läuft auf vollen Touren. Morgens versammeln sich alle zu Selbstbefriedigungssitzungen, auf denen die Bilanzen schöngerechnet werden. Die Begriffe «Eigenfinanzierung» und «mehrjährige Abschreibung» werden recht oft benutzt, um das Ausbleiben der Prämie am Jahresende zu rechtfertigen. (In Wahrheit wird das ganze Geld, das die Filiale einbringt, am Ende irgendwelchen alten Glatzköpfen an der Wall Street in den Rachen geworfen, die nie nach Paris kommen, Zigarre rauchen und nicht danke sagen. Wie die Vasallen des Mittelalters oder die Opfer der Punischen Kriege legen die Leiter von R&W Frankreich in ihrer Furcht, den Kredit für ihren Zweitwohnsitz nicht zurückzahlen zu können, den Aktionären die Ausbeute des ganzen Jahres zu Füßen.) Nachmittags findet eine Übung in konstruktiver Selbstkritik statt, bei der untersucht wird, wie man die Produktivität im Merchandising verbessern könnte. Octave hat la turista unter
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Vertrag genommen und dabei zu viele Eiswürfel in sein Gin Tonic gefüllt. Big Boss Philippe und Marc Marronnier nehmen ihn gelegentlich zur Seite, nach dem Motto: Wir sind froh, dass du da durch bist, und werden keine Silbe mehr drüber verlieren, weil wir moderne und coole Chefs sind; wir lächeln betroffen und verständnisvoll über deine Späße, und dafür kündigst du nicht, okay? Was Philippe aber nicht daran hindert, Octave noch einmal eindringlich ins Gedächtnis zu rufen, wie wichtig ein Erfolg des Maigrelette-Spots für die guten Beziehungen der Agentur zum Madone-Konzern sei. «Die haben uns ganz schön die Leviten gelesen bei unserem Strategic Advertising Committee.» «Keine Sorge, Herr Direktor, das nächste Mal kotz ich nicht auf den Kunden. Außerdem hab ich, wie du weißt, die Idealbesetzung für den Spot aufgetrieben.» «Ja, das Arabermädchen, ich weiß ... die müsst ihr mir aber in der Post-Production noch retuschieren.» «Ist ja gut, alles schon im Etat vorgesehen. Du glaubst gar nicht, was man heutzutage alles machen kann: Man nimmt ein Mädchen mit einem schönen Hintern und baut der das Gesicht von einer anderen ein, die Beine von einer Dritten, die Hände von einer Vierten, den Busen von einer Fünften. Wir sind People-Jockeys, wir produzieren Menschen-Patchwork!» «Vielleicht solltet ihr den Film lieber bei einem Schönheitschirurgen in Auftrag geben als bei einem Regisseur.» Octave hat seine Verweigerungshaltung aufgegeben, aber er will sich auch nicht erniedrigen; na, sagen wir, er ist etwas reifer geworden. Und jetzt wird er auf einmal richtig böse: «Und warum soll ein Rhabarbermädchen nicht in die Rolle passen? Musst du genauso nazistisch sein wie unsere Kunden? Jetzt reichts aber mit der Faschisierung, verdammt nochmal!
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Wenn Nike mit seinen Anzeigen für Nikepark den Petain-Look wieder aufleben lässt und Nestle keine Schwarzen in einem Basketball-Spot haben will, dann ist das kein Grund, es auch so zu machen! Wo soll denn das enden, wenn jeder das Maul hält? Und revisionistisch ist die Werbung auch geworden: Gandhi verkauft Apple-Computer! Verstehst du, was das bedeutet? Der heilige Mann, der jede Technologie ablehnte, der barfuss ging und Mönchskleider trug, als Informatik-Händler! Ein Citroen heißt Picasso, Steve McQueen fährt Ford, Audrey Hepburn trägt Mokassins von Todd's! Die müssen sich doch im Grab umdrehen, wenn man sie postum zu Handelsvertretern macht! Zombies zur Verkaufsförderung! Das ist die Nacht der lebenden Leichen! Cannibal Holocaust! An Kadavern nascht man gern! Und wo ist die Grenze? Die staatliche Lotteriegesellschaft hat schon mit Mao, Castro und Stalin auf einem Monopoly-Plakat geworben, um das Rattenrennen zu gewinnen! Wer soll denn etwas gegen den Rassismus und die Geschichtsfälschungen der globalen Kommunikation sagen, wenn du, Philippe, der Big Boss, deinen Mund hältst?» «Oh, la la, ist der aber anstrengend, seit er nicht mehr snifft! Glaubst du, ich mache mir nie Gedanken? Sicher widert mich der Job auch manchmal an, nur dass ich dabei an meine Frau und meine Kinder denke, weil ich nicht so größenwahnsinnig bin zu glauben, ich könnte alles umkrempeln, verdammt, Octave, ein bisschen mehr Bescheidenheit, wenn ich bitten darf! Es reicht, die Glotze abzuschalten und McDonald's zu meiden, ich bin doch nicht schuld an der ganzen Scheiße, sondern ihr, wenn ihr Nike kaufen müsst und dafür indonesische Sklaven schuften lasst! Ganz schön billig, sich über ein System aufzuregen, das man selbst am Laufen hält! Und hör gefälligst auf, mich wie einen geldgeilen Idioten zu behandeln.
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Es gibt genügend Dinge, die ich unerträglich finde. Nicht dass wir bei den Castings helle Haut bevorzugen, was sollen wir machen, die Zielgruppe ist rassistisch, nicht der Anzeigenkunde. Auch nicht, dass wir wie durch ein Wunder die Toten sprechen lassen. Der Geist der großen Künstler ist sowieso nie verstanden worden, die ganzen Genies rotieren doch schon zu Lebzeiten im Grab. Weißt du, mein kleiner Gucche, wovon ich wirklich langsam die Schnauze voll habe? Von all den neuen Festen, die von der Werbung erfunden werden, damit die Leute noch mehr konsumieren. Das geht mir gegen den Strich, wenn ich sehe, wie meine Familie darauf reinfällt, Weihnachten feiern geht ja noch (obwohl die Idee mit dem Weihnachtsmann von einer amerikanischen Handelskette stammt), aber Marechal Petains Muttertag, Vatertag, der Großmuttertag von Cafe Grand-Mere, Halloween, Saint-Patricks-Day, Valentinstag, russisches Neujahrsfest, chinesisches Neujahrsfest, Nutrasweet-Tag, Tupperware-Partys, was auch immer! Bald wird der Kalender voller Marken sein: Die Heiligen werden durch 365 Logos ersetzt!» «Na also, Herr Direktor, jetzt musst du doch einsehen, dass ich Recht hatte, dich in die Enge zu treiben. Halloween hasse ich auch. Früher gab es Allerheiligen, und warum man dann unbedingt ein Fest von jenseits des Atlantik importieren musste, begreif ich nicht.» «Na, weil es das Gegenteil ist! Zu Allerheiligen hat man die Toten besucht, zu Halloween besuchen die Toten uns. Ist doch viel praktischer, und man muss keine Verrenkungen machen. Alles klar: DER TOD KLINGELT AN DEINER HAUSTOR! Das finden sie toll! Der Tod als Handlungsreisender, der ihnen einen neuen Jahreskalender andreht!» «Ich glaube eher, dass die Leute sich tausendmal lieber als
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Monster verkleiden und Kerzen in Kürbisse stecken, als an die Menschen zu denken, die sie verloren haben. Aber das größte Kommerzfest überhaupt hast du in deiner Aufzählung vergessen, wenn ich dir das sagen darf die Hochzeit. Dabei laufen dafür jedes Jahr ab Januar die größten Werbe- und Promokampagnen mit Plakaten für die Boutique Blanche von Printemps, Hochzeitslisten bei den Galeries Lafayette und bei Bon Marche, Titeln auf sämtlichen Frauenzeitschriften, Dauerberieselung durch Funk und Fernsehen. Die jungen Paare sind total brainwashed, sie glauben tatsächlich, dass sie heiraten, weil sie sich lieben oder um das Glück zu finden, wo ihnen doch nur alles Mögliche angedreht werden soll, Geschirr, Handtücher, Kaffeekannen, Sofa, Mikrowellenherd etc. pp.» «Ah, dazu fällt mir die Geschichte mit Barilla wieder ein ... Erinnerst du dich, Octave, als du eine Baseline vorgeschlagen hast, in der das Wort Glück vorkam?» «... und die Rechtsabteilung uns erklärt hat, dass das nicht geht, meinst du?» «Ja, genau! Weil eine von Nestle geschützte Marke ist!! DAS GLÜCK GEHÖRT NESTLE.» «Moment, mich wundert das nicht, du weißt, dass Pepsi das Blau schützen lassen möchte?» «Hä?» «Ja, doch, ganz im Ernst, sie wollen die Farbe Blau kaufen, sie wollen deren Eigentümer werden, und das ist noch nicht alles: Sie finanzieren CD-ROMS mit Unterrichtsprogrammen, die in den Grundschulen gratis verteilt werden. So lernen die Kinder ihre Lektionen auf Pepsi-Computern und gewöhnen sich daran, das Wort neben der Farbe zu lesen.» «Und wenn sie den pepsi Himmel betrachten, strahlen ihre
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pepsi Augen, und wenn sie vom Rad gefallen sind, haben sie pepsi Flecken am Schienbein ...» «Colgate genauso: Die Marke schenkt den Lehrern Videokassetten, um den Kindern einzutrichtern, dass sie sich mit ihrer Paste die Zähne putzen.» «Ja, davon hab ich gehört. Und L´Oreal macht das Gleiche mit dem Shampoo . Gehirnwäsche reicht ihnen eben nicht, jetzt gehen sie ihnen auch noch an die Haare!» Philippe bricht in ein übertriebenes Gelächter aus, was Octave aber nicht hindert weiterzusprechen: «Ich finde es beruhigend, dass du dich für das alles interessierst ...» «Und ich bin hellsichtig: Solange nichts anderes da ist, wird die Werbung allen Raum einnehmen. Sie ist zum einzigen Ideal geworden. Nicht die Natur, sondern die Hoffnung hat den Horror Vacui.» «Grauenhaft. Nein, warte, geh nicht weg, wenn wir schon einmal reden, ich hab noch eine bessere Geschichte auf Lager. Wenn die Anzeigenkunden nicht mehr wissen, wie sie verkaufen sollen, oder einfach so, weil sie ihre obszönen Gehälter irgendwie rechtfertigen müssen, bestellen sie sich ein neues Image und bezahlen sehr viel Geld dafür, dass jemand ihre Produkte anders aussehen lässt. Das gibt immer stundenlange Meetings. Ich war einmal bei Kraft Jacobs Suchard in diesem Bürohaus in Vdlizy, bei einem Typ mit Bürstenfrisur, Antoine Poissard oder Ponchard oder so ähnlich ... » «Poudard.» «Genau, Poudard, den Namen kann man doch gar nicht vergessen. Er hat mir verschiedene Logos gezeigt und wollte meine Meinung dazu hören. Der hat völlig abgehoben und stand kurz vor dem Orgasmus, so nützlich und wichtig hat er
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sich gefühlt. Dann hat er die Entwürfe für den Relaunch auf dem Boden ausgebreitet, wir beide einander gegenüber, er glatt rasiert, Tintin und Milou auf der Krawatte, ich mitten im Absturz vom Coco, wir trinken kalten Kaffee, den eine ältliche Sekretärin, die seit dreißig Jahren keiner mehr gefickt hat, uns schnaufend serviert hat. Ich schau ihm in die Augen, und in dem Moment spüre ich, dass er zweifelt, dass er sich zum ersten Mal in seinem Leben fragt, was er da eigentlich soll, und ich sage, er soll doch irgendwas nehmen. Er entscheidet sich fürs Zufallsprinzip und fängt mit einem Abzählreim an: , und der Entwurf, den er so gezogen hat, liegt heute als Pack in sämtlichen Supermarktregalen von ganz Europa ... Hübsche Parabel, nicht wahr? UNSERE KONDITIONIERUNG ERFOLGT NACH DEM ZUFALLSPRINZIP.» Aber Philippe ist schon lange abgehauen. Er will sich nicht dazu hinreißen lassen, die Hand zu beißen, die ihn füttert. Er entzieht sich längeren Auseinandersetzungen. Seine Empörung legt er unter «monatliches Essen zur Selbstverspottung im Fouquet's» zu den Akten. Deshalb ist er immer öfter schon morgens müde. Octave atmet die heiße Luft ein und aus. Segelboote queren lautlos die Bucht. Die weiblichen Angestellten der Agentur lassen sich alle Zöpfchen flechten, um auszusehen wie Iman Bowie (Ergebnis: Bo Derek in alt). Vor dem Jüngsten Gericht, wenn alle Werber Rechenschaft ablegen müssen, wird Octave auf teilweise schuldig plädieren. Er war doch nur ein Apparatschik, ein kleiner, schwacher Angestellter, den gelegentlich sogar Zweifel befielen - der Aufenthalt in Meudon wird ihm
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wohl mildernde Umstände und die Nachsicht der Richter einbringen. Außerdem hat er im Gegensatz zu Marronnier nie einen Löwen in Cannes gewonnen. Er ruft Tamara an, seine platonische Nutte, und denkt dabei an Sophie, die Mutter seines Kindes, das er nie zu Gesicht bekommen wird. Zu viel Abwesenheit in seinem Leben. «Hab ich dich geweckt?» «Gestern Abend hab ich einen Kunden gehabt im Plaza», zirpt sie, «mit'nem Schwanz wie'n Kinderarm, ehrlich, ich erzähl dir nix, um den reinzukriegen, hätt ich ein Brecheisen gebraucht. ELEKTROGERÄTE FÜR IHREN HAUSHALT BÄNG BÄNG WÄHLEN SIE RICHTIG WÄHLEN SIE BUT.» «Was ist das denn?» «Was? Ach so, dafür muss ich nichts fürs Telefon zahlen: Sie bringen ab und zu ein bisschen Reklame, und die Gespräche sind umsonst.» «Den Wahnsinn hast du unterschrieben?» «ES GIBT DINGE, DIE KANN MAN NICHT KAUFEN. FÜR ALLES ANDERE GIBT ES EUROCARD. Na ja, man kann damit leben, wirst sehen, ich hab mich schon total dran gewöhnt. Also, was wollt ich sagen, mein Kunde von gestern Abend, Gott sei Dank war der total hinüber und kriegte keinen hoch, aber ein Teil wie ein Pony, ich schwörs dir, dann hab ich ihm auf dem Bett 'nen kleinen Strip hingelegt, und er fragt mich, ob er von meinen Füßen sniffen darf, dann haben wir ein bisschen ferngesehen, und letztendlich bin ich ganz gut weggekommen dabei. INTERMARCHE, DIE MUSKETIERE DES MARKTES. Wie spät?» «Drei Uhr Nachmittag.» «Uaaah, ich bin total erschossen, hab mich gefühlt wie 'n nasser Putzlappen, bis morgens um sieben im Banana, die falschen
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Wimpern haben mir an den Zähnen geklebt. Und du, wie gehts, wo bist du grade?» «In Senegal. Du fehlst mir. Ich lese gerade die .» «Hör mit deinen Blödheiten auf, ich muss gleich in meine Handtasche kotzen. GASTRO-CALM UND DER MAGEN LACHT. Ruf lieber später nochmal an, ja?» «Hältst du das Handy ans Ohr? Pass bloß auf! Davon wird die DNS brüchig. Das haben Tests an Mäusen ergeben: Wenn die einem Mobiltelefon ausgesetzt waren, ist die Sterberate um 75 % gestiegen. Ich hab mir ein Headset für mein Handy gekauft, solltest du auch tun, ich will jedenfalls keinen Hirntumor.» «Aber du hast doch gar kein Hirn, Octave. » CONTINENT EINKAUFEN MIT HAPPY END. «Ich halte deine Jingles nicht aus, verzeih. Ich leg jetzt auf, schlaf weiter, meine Gazelle, mein Berbermädchen, mein Malibu im Morgenland.» Das Problem des modernen Menschen ist nicht, dass er böse wäre. Im Gegenteil, alles in allem ist er schon aus praktischen Gründen lieber nett. Er hasst nur die Langeweile. Er findet sie entsetzlich, wo es doch nichts Edleres und Erbaulicheres gibt als eine ordentliche Tagesration an toter Zeit, mauen Momenten, fader Stumpfheit allein oder zu mehreren. Octave hat es begriffen: Die Langeweile ist der wahre Hedonismus. Nur die Langeweile erlaubt den Genuss der Gegenwart, aber alle Menschen der westlichen Welt wollen das Gegenteil: Um der Langeweile zu entgehen, ergreifen sie mittels Fernsehen, Kino, Internet, Telefon, Videospiel oder einer schlichten Zeitschrift die Flucht. Sie sind nie bei der Sache und leben ein Leben aus
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zweiter Hand, als wäre es eine Schande, sich damit zu begnügen, hier und jetzt zu atmen. Wer fernsieht oder vor einer interaktiven Website sitzt, wer übers Handy telefoniert oder auf seiner Playstation spielt, lebt nicht. Er ist anderswo als an dem Ort, an dem er sich befindet. Er ist vielleicht nicht tot, aber auch nicht sehr lebendig. Es wäre interessant herauszufinden, wie viele Stunden täglich wir auf diese Weise anderswo verbringen als in dem Moment, an dem Ort, wo wir sind. Es wird schwierig sein, da rauszukommen, die Maschinen werden uns als Karteileichen weiterführen. Alle Kritiker des Medienwahns haben ein Fernsehgerät. Alle Verächter der Konsumgesellschaft verfügen über eine Visa-Card. Niemand entkommt der Verstrickung. Seit Pascal hat sich nichts geändert: Immer noch flüchtet der Mensch vor seiner Angst in die Zerstreuung. Nur ist die Zerstreuung so allgegenwärtig, dass sie an die Stelle Gottes getreten ist. Und wie entgeht man der Zerstreuung? Indem man sich seiner Angst stellt. Die Welt ist irreal, außer wenn sie zum Kotzen ist. Unter einer Kokospalme frönt Octave hingebungsvoll der Langeweile; er findet sein Glück darin, zwei Heuschrecken im Sand bei der Begattung zu betrachten, und murmelt: «An jenem Tage, da alle Menschen auf Erden zur Langeweile bereit sind, wird die Menschheit erlöst werden.» Ein mürrischer Marc Marronnier entreißt ihn der köstlichen Öde. «Also ist es wirklich aus mit Sophie?» «Ja, oder besser, ich weiß es nicht ... Warum fragst du?» «Nur so. Kann ich zwei Minuten mit dir reden?» «Wenn ich nein sage, redest du trotzdem, und ich bin aus Gründen der Hierarchie gezwungen, dir zuzuhören.»
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«Stimmt. Also halt deinen Mund. Ich habe das Storyboard gesehen, das ihr an Maigrelette verkauft habt: Es ist ein Desaster. Wie konntet ihr so einen Mist ausbrüten?» Octave reibt sich die Ohren, um sich zu vergewissern, dass er richtig gehört hat. «Moment mal, Marc, du hast zu uns gesagt, setzt denen doch einfach Bullshit vor!» «Ich soll das gesagt haben? Niemals!» «Blackout oder was? Die haben uns zwölf Kampagnen zurückgeschmissen, und du hast gesagt, Emergency-Plan, LastMinute-Mist, damit ... » «Entschuldige bitte, wenn ich dich unterbreche, aber du bist hier der Kokser, der frisch aus der Kur kommt, also versuch nicht, die Rollen zu vertauschen, okay? Ich weiß, was ich zu meinen Kreativen sage. Und ich hätte nie zugelassen, dass du einem Kunden, der für die Agentur so wichtig ist, einen solchen Schwachsinn präsentierst. Ich muss jedes Mal kotzen vor Scham, wenn ich zum Abendessen in der Stadt bin. <MAIGRELETTE. WENIGER HEISST MEHR IM KOPF.> Mir reichts. Wen willst du damit eigentlich verarschen?» «Moment mal, Marc. Mit deiner erstaunlichen Falschheit könnte ich mich noch abfinden, daran gewöhnt man sich mit der Zeit. Aber das Maigrelette-Skript ist verkauft, es hat im Test gut abgeschnitten, es gab schon zwei Pre-ProductionMeetings: Das fällt dir ein bisschen spät ein, dass du alles ganz anders haben willst. Ich hab mir genug Gedanken gemacht und ...» «Dazu habe ich dich nicht eingestellt, dass du dir Gedanken machst. Es ist nie zu spät, was Besseres zu finden. Solange der Film nicht auf Sendung ist, kann man noch alles verändern. Also sag ich dir nur eines: Charlie und du, ihr werdet
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euch den Arsch aufreißen, um das Skript beim Drehen zu verbessern. Das Image der Rosse steht auf dem Spiel, verdammt!» Octave hält den Mund und nickt. Er weiß sehr gut, dass es nicht das Image der Rosse ist, das seinen CD umtreibt, sondern der Chefsessel, der sich gerade in einen Schleudersitz ver wandelt. Und dass Philippe vorhin auf ein paar Worte zu ihm kam, kann nur bedeuten, dass von Madone ein ungeheurer Druck ausgeübt wird; die Geschichte scheint auf eine Reise nach Jerusalem hinauszulaufen. Anders gesagt: An diesem Abend liegt Kündigung in der senegalesischen Luft, und Octave drängt sich der leidige Eindruck auf, dass es in diesem Spiel nicht einmal um seine eigene geht.
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Für den zweiten Abend hatte der Zeremonienmeister eine Expedition in den Busch vorgesehen. Ziel: den unbefristet Angestellten vorzugaukeln, dass sie ihren Luxusknast verlassen können und etwas vom Land zu sehen kriegen. Wurde natürlich nichts draus. Man karrte sie im Allradjeep zu einem afrikanischen Tanzspektakel am Lac Rose, dann gab es Lamm am Spieß, aber nichts Wahres. Durch den Ortswechsel konnten sie sich vergewissern, dass die Landschaft tatsächlich so aussah wie in der vom Tour-Operator verteilten Broschüre. Der Tourismus verwandelt den Reisenden in einen Revisor, die Entdeckung in eine Bestätigung, das Staunen in eine Ermittlung, den Tramper in den heiligen Thomas. Immerhin wurde Octave fast von den Mücken gefressen; ein bisschen Abenteuer war also doch noch möglich, sofern man sein Zitronenkrautspray im Hotelzimmer vergessen hatte. Nach dem Abendessen gab es einen Wettkampf im senegalesischen Ringen zwischen Seminaristen (Lacoste-signiert) und falschen Stammeskriegern (wie Wilde aus Tarzan-Filmen kostümiert). Der hinreißende Anblick Marc Marronniers, wie er im Känguru-Slip über den Lehmboden rollte, Tam-Tams im Hintergrund, darüber ein riesiger Affenbrotbaum, Mond und Sterne, der nach Benzin schmeckende Wein, das weiß gezähnte Lachen der Beauftragten für auswärtige Beziehungen, der hungrige Blick der einheimischen Kinder, das warme Gras der Casamance und der würzige Mais ließen Octave schon wieder
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die Lust verspüren, den Himmel zu umarmen und dem Universum dafür zu danken, dass er hier sein durfte, vorläufig wenigstens. Er liebte die permanente Feuchtigkeit, die Hände über die Haut gleiten lässt und Küssen einen brennenden Geschmack verleiht. Wenn nichts mehr Sinn hat, gewinnt jede Einzelheit an Wert. Für einen Abhängigen ist Abhängen wahrscheinlich unabdingbar. Octave war im Rückwärtsgang zu dieser Zwangsreise aufgebrochen; nun streifte er das Erhabene, rührte an das Ewige, liebkoste das Lebendige, wuchs über das Lächerliche hinaus und verstand das Einfache. Als ein Dealer namens «Goldgrube» ihm sein tägliches Päckchen Ganja brachte, fläzte er sich in den Sand und stammelte «Sophie», den Namen, der ihm den Atem raubte. «Liebe hat nichts mit dem Herzen zu tun, diesem abstoßenden Organ, das nur eine Art blutgefüllter Pumpe ist. Liebe drückt zuerst auf die Lunge. Man sollte nicht sagen: (Du hast mir das Herz gebrochen), sondern: (Du hast meine Lunge erstickt.) Die Lunge ist das romantischste aller Organe: Liebende haben immer Tuberkulose; es kann kein Zufall sein, dass Tschechow, Kafka, D. H. Lawrence, Frederic Chopin, George Orwell und die heilige Therese de Lisieux an dieser Krankheit gestorben sind; und hätten Camus, Moravia, Boudard, Marie Bashkirtseff und Katherine Mansfield ohne sie dieselben Bücher geschrieben? Auch ist zu bedenken, dass die Kameliendame keinen Herzinfarkt erlitt; diese Geißel bleibt den gestressten Karrieristen vorbehalten und verschont die leidenschaftlich Fühlenden.» Octave schwebte und redete vor sich hin. «Im Grunde eines jeden ruht ein schlummernder Liebeskummer. Ein ungebrochenes Herz ist kein Herz. Die Lunge
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wartet auf die Tuberkulose, um sich lebendig zu fühlen. Ich bin euer Lehrer für Lungenertüchtigung. Man muss eine Seerose im Brustkorb haben wie Chloe im Schaum der Tage oder Madame Chauchat im Zauberberg. Ich habe dich so gerne schlafen sehen, selbst wenn du nur so getan hast als ob, wenn es spät war und ich betrunken, ich habe deine Wimpern gezählt, und manchmal hatte ich das Gefühl, du lächelst mich an. Ein verliebter Mann sieht seiner Frau gern zu, wenn sie schläft, und auch ab und zu, wenn sie kommt. Hörst du mich, Sophie, über Tausende Kilometer hinweg, wie in der Werbung für das SFR-Mobilfunknetz? Warum müssen Menschen erst gehen, bevor man erkennt, dass man sie liebte? Verstehst du nicht, dass ich nichts anderes von dir wollte, als dass du mich, wie am Anfang, ein bisschen leiden lässt, am Lungenweh?» Aber schon kreuzten die entblößten Tippsen auf und Odile, die busenträchtige Praktikantin; sie ließen ein MarihuanaPfeifchen kreisen, was ihnen Gelegenheit zu zahllosen zweideutigen Scherzen bot: «Es geht ja nichts über einen Vierer mit Pfeife.» «Nicht blasen, saugen!» «Ich sauge und sauge, aber es kommt nichts.» «Schluckst du das Zeug eigentlich?» «Okay, jetzt ist die nächste Pfeife dran. Aber nur, wenn sie sich gewaschen hat.» Hier klingt das vielleicht vulgär, aber im Kontext war es wirklich lustig. Alle leitenden Angestellten männlichen Geschlechts tragen einen Pullover über den Schultern, entweder mit vorn verschlungenen Ärmeln oder lässig über ihr rosa Ralph-LaurenPolo geworfen. Octave findet das untragbar und redet sich in Rage:
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«WAS WOLLEN DIE ALLE MIT IHREM UM DEN HALS HÄNGENDEN PULLOVER? Entweder, oder. Entweder es ist kalt, dann zieht man ihn an, oder es ist warm, dann lässt man ihn zu Hause. Der um den Hals gehängte Pullover verrät Feigheit, Entscheidungsschwäche, Zugangst, Gedankenlosigkeit und Verweichlichung sowie Shetland-Exhibitionismus (weil die Herren Kollegen natürlich zu knickrig sind, um sich Cashmere zu leisten). Sie tragen diesen schlaffen Kraken um den Hals, weil sie es nicht hinkriegen, eine dem Wetter angemessene Kleidung zu wählen. Wer einen Pullover auf seinen Schultern trägt, ist jämmerlich, unelegant, impotent und feige. Schwört mir, Mädchen, dass ihr so was meiden werdet wie die Pest. NIEDER MIT DER DIKTATUR DES UMHÄNGE-PULLOVERS!» Dann wurde es Nacht und wieder Tag und es gab ein Barbecue mit am Spieß gegrillten Langusten. Wer redet da von Entkolonialisierung? Nichts kolonialisiert mehr als die weltweite Werbung: In der hintersten Ecke der kleinsten Hütte am äußersten Ende der Welt wurden Frankreich, England, Spanien und Belgien durch Nike, Coca-Cola, Gap und Calvin Klein ersetzt. Nur die kleinen Negerlein müssen sich mit den Brosamen begnügen: Cap-Kopien, Rolex-Fakes und Lacoste-Hemden, die beim ersten Waschen die schlecht imitierten Krokodile verlieren. Der Rose knallt ein bisschen rein, aber das soll er ja auch. Siebzehn Flaschen wurden zu acht geleert. Charlie ist völlig enthemmt - wie ein Irrer stürzt er sich in sämtliche Hotel-Animationen, Polonaisen, Karaoke-Veranstaltungen, Wet-T Shirt-Contests, und verteilt McDonald's Spielzeug an die einheimischen Bälger, die «Geschenke! Geschenke!» schreien.
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Octave weiß, dass am Montag Schluss sein wird mit dieser Lüge. Aber wo eine Lüge endet, findet man nicht unbedingt die Wahrheit. Vorsicht: Hinter einer Lüge kann sich die nächste verstecken. Verdammt, das macht das Ganze so kompliziert, dass man höllisch aufpassen muss, um ihnen nicht einszweidrei auf den Leim zu gehen. Charlie haut Octave in den Rücken, der gibt ihm seinen Joint. «Eh, wusstest du, dass Pepsi sich das Blau schützen lassen wollte?» «Klar weiß ich das, Charlie, und das Glück gehört Nestle, was glaubst du denn? Ich informiere mich doch laufend über die neuesten Meldun ... «Richtig. Und ich hab noch was Besseres für dein Buch.» (Er schlägt eine Ausgabe von Le Monde auf.) «Schau dir das mal an: Das Mediametrie-Institut hat ein neues System zur Aufmerksamkeitsmessung entwickelt. Es besteht aus einer Box mit Infrarotkamera, die die Augenbewegungen überwacht, und einer Uhr mit Mikro, Prozessor und Speicher, die die Aktivität des Gehörs aufzeichnet. Damit sie endlich erfahren, was die Konsumenten zu Hause hören und sehen, aber nicht nur zu Hause vor der Glotze, sondern im Auto, im Supermarkt, überall! BIG BROTHER IST WATCHING YOU!» Charlie macht einen Zug und bekommt einen Hustenanfall. Octave hat sich totgelacht. «Huste nur, Mister Bollwerk, huste, das ist das Beste, was man tun kann! Orwell hat Recht gehabt, sich eine Tuberkulose einzufangen. Sonst hätte er noch erkennen müssen, wie Recht er hatte.»
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Das Motivationsseminar beginnt mit einer kollektivistischen Utopie: Auf einmal sind wir alle gleich, die Sklaven duzen die Herren, die soziale Orgie kann beginnen. Wenigstens am ersten Abend. Weil schon am nächsten Tag die Clans sich wieder formieren, Vermischung findet nur noch nachts statt, auf den Fluren, wo Zimmerschlüssel ausgetauscht werden: Dann wird das Vaudeville zur einzigen Utopie. Eine sternhagelvolle Juristin pinkelt hockend in den Garten; eine Sekretärin isst allein zu Mittag, weil keiner mit ihr reden will; eine Arterin unter Beruhigungsmittel haut, wenn sie ein Glas Wein zu viel getrunken hat, jedem aufs Maul (aber heftig: Es setzt Ohrfeigen oder einen Faustschlag aufs Auge, Octave hat sie gar das Hemd zerfetzt); in der Tat gibt es auf dieser Reise keinen normalen Menschen. Das Leben in der Firma lässt die Grausamkeit der Schulzeit wieder aufleben, aber brutaler, weil keiner dich schützt. Unerträgliche Zoten, grundlose Aggressionen, sexuelle Übergriffe und Scharmützel um die Macht - alles ist erlaubt, wie in deinen schlimmsten Pausenhof-Erinnerungen. Die gekünstelte Lässigkeit in der Werbung reproduziert den Albtraum der Schulzeit in tausendfacher Potenz. Jeder nimmt sich Gemeinheiten gegen jeden heraus, als wäre jeder erst acht, und jeder hat das lächelnd hinzunehmen, sonst ist er «uncool». Am kränksten sind natürlich die, die sich selbst für die Normalsten halten: CDs, die davon überzeugt sind, zu Recht CDs zu sein, ADs, die davon überzeugt sind, zu Unrecht nicht Agenturchefs zu sein, Trafficer, die nur noch auf ihre Rente warten, Agenturchefs, die trunken sind von der Macht, Stellvertreter, die betrunken sind, dass es kracht. Doch wo ist Jef? Octave hat ihn auf der Reise noch nicht gesehen. Schade, dieser Superkontakter hätte ihn vielleicht aufklären können, welche Angst die Bosse der Rosse so sehr quält. Duler-das-Stück-
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Dreck hat ihnen anscheinend wieder einen Dolchstoß verpasst. Am Strand weint Octave vor Ergriffenheit, wenn er den Sand bewundert, der am Schweiß der Mädchen klebt, die blauen Flecken auf ihren Schenkeln, die Schürfwunden auf ihren Knien, noch ein Zug aus dem Joint, und er müsste sich blöderweise in ein Schulterblatt verlieben. Er braucht jeden Tag seine Ration Schönheitsmale. Er küsst die Arme von Odile, weil sie «Obsession» trägt. Stundenlang spricht er über ihren Ellenbogen. «Ich liebe deinen in die Zukunft gereckten Ellenbogen. Lass mich ihn bewundern, deinen Ellenbogen, dessen Macht dir gar nicht bewusst ist. Mir ist dein Ellenbogen lieber als du. Zünd deine Zigarette an, ja, hol die Flamme ganz nah an dein Gesicht. Versuch ruhig eine Finte, du kannst mich doch nicht dran hindern, deinen Ellenbogen zu küssen. Dein Ellenbogen ist mein Rettungsring. Dein Ellenbogen hat mein Leben gerettet. Dein Ellenbogen existiert, ich habe ihn getroffen. Ich weihe meinen Körper deinem zarten Ellenbogen, der mich zu Tränen rührt. Dein Ellenbogen ist ein Knochen mit Haut darüber, ein bisschen abgenutzter Haut, die du, als du klein warst, hast bluten lassen. Früher war oft Grind an dieser Stelle, die ich küsse. Nichts Besonderes, nur ein Ellenbogen, aber ich könnte suchen, so viel ich wollte, ich würde doch keinen anderen Grund finden, in eben diesem Augenblick zu leben.» «Bist du süß.» «An deinem Ellenbogen zu lecken reicht mir fürs Erste. Der Tod folgt auf dem Fuß.» Er deklamiert:
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Die Ellenbogen Odiles Sind meine Ferse des Achilles. Dann benutzt unser braun gebrannter Valmont Odiles Rücken als Schreibunterlage für eine Karte an Sophie: «Geliebte Obsession, würdest du bitte die Güte haben, mich vor mir selbst zu retten? Sonst stecke ich die Füße ins Wasser und die Finger in die Steckdose. Es gibt etwas, das schlimmer ist, als mit dir zu sein: ohne dich zu sein. Komm zurück. Wenn du zurückkommst, schenke ich dir einen New Beetle. Okay, einverstanden, das Angebot war ein bisschen blöd, aber daran bist du schuld: Seit du fort bist, werde ich immer solider. Mir ist aufgefallen, dass es keine Frau wie dich gab. Und daraus habe ich geschlossen, dass ich dich liebte.» Unterschrift überflüssig, Sophie wird seinen besonderen Stil wieder erkennen. Gleich nachdem er die Karte abgeschickt hat, bedauert Octave, dass er sie nicht auf Knien angefleht hat: «Hilfe ich schaff es nicht ich kann ohne dich nicht auskommen Sophie es ist unmöglich dass wir nicht mehr zusammen sind wenn ich dich verlier, verlier ich alles», Scheiße, das hätte er tun sollen, ihr zu Füßen kriechen, und nicht einmal dazu war er fähig? Vor Sophie riss er Mädchen auf, indem er ihnen unterstellte, sie hätten falsche Wimpern. Sie protestierten. Er bat sie, die Augen zu schließen, um sich zu vergewissern, und nutzte die Gelegenheit, ihre glänzenden Lippen zu küssen. Und dann gab es noch den Lastwagen-Trick. «Sag Lastwagen.» «Lastwagen.»
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«Töff! Töff» (auf ihre Brüste drückend) Die Wette nicht zu vergessen: «Ich wette mit dir, dass ich dir an den Hintern fassen kann, ohne deine Kleider zu berühren.» «Okay.» «Verloren!» (die Hand auf ihren Hintern legend) Und «Tequila bäng bäng»: Man bittet das Mädchen, auf ein Stück grüner Zitrone zu beißen, man schüttet Salz auf ihre Hand, leckt das Salz ab, trinkt ein Tequila-Schweppes auf ex und holt die Zitrone aus ihrem Mund. Nach drei solchen Durchgängen wird im Allgemeinen die grüne Zitrone durch die Zunge ersetzt. Gegen alle Erwartung funktionierten diese Strategien. Mit Sophie war es anders. Er machte ihr weis, dass er sich ernsthaft für sie interessierte. Und sie tat so, als schenkte sie ihm Gehör. Am Ende glaubten sie, was sie einander nicht sagten. Und eines Tages fragte sie ihn: «Warum sagst du nichts?» «Wenn ich nichts sage, ist das ein sehr gutes Zeichen: Das heißt, dass ich schüchtern bin. Wenn ich schüchtern bin, ist das ein sehr gutes Zeichen: Das heißt, dass ich verwirrt bin. Wenn ich verwirrt bin, ist das ein sehr gutes Zeichen: Das heißt, dass ich mich verliebe. Und wenn ich mich verliebe, ist das ein ganz schlechtes Zeichen.» Er liebte sie, weil sie verheiratet war. Er verliebte sich in sie, weil sie nicht frei war. Er arbeitete mit ihr bei TBWA, konnte sie aber nicht kriegen. Er liebte sie auch, weil er verheiratet war, weil es verboten war, heimlich und schmutzig. Er liebte sie wie alle Frauen, die man nicht aufreißen darf wie seine Mutter, seine Schwester, die Verlobten seines Vaters und seine erste Liebe, unmöglich, Einbahnstraße. Mit der Liebe ist es
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wie beim Domino: Der erste Fall zieht alle weiteren nach sich. Er begehrte sie wie alle hübschen Mädchen in seiner Kindheit, das heißt, ohne dass sie davon wusste. Dann hatte er zu ihr gesagt: «Wenn ich mich verliebe, ist das ein ganz schlechtes Zeichen», und sie war nicht erstaunt gewesen. Er hatte sich mit ihr um Mitternacht auf dem Pont des Arts verabredet, dritte Bank von der Academie Francaise aus gesehen, mit Blickrichtung zum Pont-Neef, wo die Seine sich in zwei Arme zur Zukunft öffnet. Was danach kam, war fast zu hübsch, um wahr zu sein. Es reichte, dass sie zu dem Rendezvous gekommen war. «Gestatten Sie, Mademoiselle, würden Sie mir Ihre Nummer geben, damit ich Sie zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal kontaktieren kann?» «Aber selbstverständlich, Monsieur ...» «Octave, nennen Sie mich bitte Octave. Ich glaube, ich bin in Sie verliebt. Würde es Sie stören, wenn ich Ihre Brust touchiere, Gnädigste?» «Tun Sie, wie Ihnen beliebt. Aber vielleicht könnten Sie, bevor Sie etwas sagen, siebenmal Ihre Zunge in meinem Munde kreisen lassen?» «Wissen Sie vielleicht einen Platz?» Es ist schade, wenn man sich so leicht verliebt. Ein Rausch der Sinne findet statt, wenn jeder einen Partner hat. Lust ist das Damoklesschwert der Ehe. Sophie führte ihn an einen dunklen, stillen Ort, zum Parkhaus der Agentur in der Rue du PontNeuf, wo sie sich an einer Betonwand zwischen zwei Dienstwagen im Stehen liebten. Es war für beide der längste Orgasmus ihres Lebens. Anschließend lieh sie sich sein Handy, tippte ihre Nummer ein und speicherte sie ab: «Damit du nicht sagen kannst, du hast sie verloren.»
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Octave war so verliebt, dass sein Körper sofort rebellierte, wenn er von ihr getrennt war. Er bekam Pickel, Allergien, rote Flecken am Hals, Magenschmerzen, dauerhafte Schlafstörungen. Wenn das Hirn glaubt, alles im Griff zu haben, begehrt das Herz auf, und die Lunge wird leer. Wer seine Liebe leugnet, wird krank und zur Vogelscheuche. Ohne Sophie wurde Octave hässlich. Das gilt auch jetzt noch: Es ist nicht nur die Droge, die ihm fehlt. MEIN SCHWANZ SCHREIT HUNGER! Octave schreit ins Mikro. Odile wippt. Octave legt in der Hotelbar Platten auf. Er muss sich mit dem begnügen, was da ist: ein paar alte Maxis, französische Unterhaltungsmusik, drei verrottete 45er. Mehr schlecht als recht gelingt es ihm, die Tanzfläche einverständlich zu beschallen, vor allem mit dem schönsten Chanson der Welt, «C'est si bon», gesungen von Eartha Kitt: Es ist so schön, Arm in Arm singend irgendwohin zu gehn. Aber er lässt sich auch zu Leichterem überreden und legt «YMCA» auf. Und versteigt sich sogar zu der Behauptung, die Village People seien wie Wein, «je älter, desto besser». Jedenfalls ist alles besser als «Marcia Baila». Von Zeit zu Zeit schmiegt sich Odile an ihn, wenn ihre Freundinnen dabei sind. Kaum sind sie weg, löst sie sich wieder. Nicht er gefällt ihr, sondern er vor ihrer Girls-Group. Er fühlt sich alt und hässlich in einer schönen, jungen Welt. Er ärgert sich und packt sie am Handgelenk: «Peinlich, diese Anmache bei einer 18-Jährigen.» «Nicht so peinlich wie Scheidung bei einem 33-Jährigen.» «Das Einzige, was ich an dir nie werde ändern können, ist mein Alter.»
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Er läuft massenhaft schönen Mädchen nach, um sich nicht fragen zu müssen, warum er massenhaft schönen Mädchen nachläuft. Weil er die Antwort nur zu gut kennt: Um nicht mit einer allein sein zu müssen. Nichts ist passiert später. Octave nahm Odile mit auf sein Zimmer; sie schwankte. Er legte sich aufs Bett. Sie rannte ins Bad, er hörte, wie sie sich übergab. Sie zog die Spülung und putzte sich die Zähne in der Hoffnung, dass er nichts bemerkt hatte. Als sie sich auszog, stellte er sich schlafend, dann ist er wirklich eingeschlafen. Das Zimmer hat nach Erbrochenem und Fluocaril gerochen. Auf dem Rückflug waren eine Lawine von Föhnfrisuren sowie zahlreiche Deopannen zu beklagen. Octave trug mit lauter Stimme die Worte vor, die Alain Delon in «Paroles, Paroles» 'spricht, einem Chanson von Dalida: «Es ist seltsam, Ich weiß nicht, wie mir geschieht heut Abend Ich seh dich wie zum allerersten Mal Und weiß nicht mehr, wie es dir sagen. Du bist diese schöne Liebesgeschichte Die ich ewig lesen werde Du bist gestern und heute Und seit je Meine einzige Wahrheit.» Komisch, wie einem von komischen Dingen oft so ganz komisch zumute wird. «Du bist wie der Wind, der in den Geigen singt und von fern den Duft der Rosen bringt.» Niemand aus seiner Generation wagt es mehr, so zu sprechen.
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«Du bist für mich die einzige Musik, nach der die Sterne auf den Dünen tanzen.» Oft hat er diese Worte gehört und vor Lachen gebrüllt im Suff mit seinen Freunden. Warum klangen sie ihnen so lächerlich in den Ohren? Warum wird uns bei Romantik immer unwohl? Man schämt sich der Gefühle. Pathos wird behandelt wie die Pest. Ist es wünschenswert, die Kälte zu glorifizieren? «Du bist mein verbotener Traum Meine einzige Qual Und meine letzte Hoffnung.» Die Sekretärinnen kichern, obwohl sie in Tränen zerfließen würden beim ersten Typ, der sich traute, ihnen zu sagen: «Du bist mein verbotener Traum», und ihnen dabei offen in die Augen schaute. Vielleicht grinsen sie nur aus Gier so nervös. Sie wechseln das Thema, reden über das günstige Angebot des Betriebsrats für die Entwicklung von Fotos. Die Führungskräfte nennen sie nur mit ihren Initialen: «Hat FHP eigentlich mit PYT schon darüber gesprochen?» «Das muss noch mit JFD abgeklärt werden.» «Das P P M mit H P T und RG P ist gut gelaufen. » «Ja, aber LG und AD haben noch nicht ihr Go gegeben.» Der Rest des Fluges wird genutzt, um über die wenigen Essensmarken zu meckern. Octave versucht, immer lauter zu lachen als alle anderen, und manchmal gelingt es ihm sogar.
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6. Nach dem unsichtbaren Mann die unbesiegbare Frau. In einem Flugzeug, das genau in die entgegengesetzte Richtung flog, las Sophie ein paar Tage später Octaves Karte und fand sie nicht besonders. Sie war von ihm schwanger, liebte ihn aber nicht mehr. Seit einem Monat betrog sie ihn mit Marc Marronnier. Der hatte beschlossen, seinen Aufenthalt in Senegal zu verlängern, wo sie ihn treffen wollte. Anfangs hatte sie Folterqualen gelitten. Jemanden zu verlassen, den man liebt und dessen Kind man im Bauch trägt, erfordert übermenschlichen Mut, nein, falsch, untermenschlichen: tierischen Mut. Das ist irgendwie so, als würde man sich ohne Betäubung mit einem verrosteten Opinel-Messer ein Bein abschneiden, nur dass es länger dauert. Dann wollte sie sich rächen. Ihre Liebe hatte sich in Hass verwandelt, und so rief sie Octaves Chef wieder an, für den sie vor ein paar Jahren gearbeitet hatte. Er lud sie zum Mittagessen ein, und sie brach am Tisch des Quai Ouest weinend zusammen. Marronnier hatte sich gerade von seinem letzten Model getrennt, also passte ihm das ganz gut in sein Gefühlstiming. Sie hatten «Sushi von Kammmuscheln an Vinaigrette» bestellt. Octave rief Sophie auf ihrem Handy an, als Marc schon mit ihr füßelte. «Hallo, Sophie? Warum rufst du mich nie zurück?» «Ich hab deine Nummer nicht mehr.» «Wie, du hast meine Nummer nicht mehr?» «Ich hab sie gelöscht.»
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«Und warum?» «Sie hat zu viel Speicherplatz belegt.» Sie legte auf, schaltete das Gerät aus und ließ sich über dem halb festen Schokoladenmark küssen. Am nächsten Tag wechselte sie ihr Handy. Sophie räumte auf, wenn ihr zu viel Platz genommen wurde. Octave wusste nichts von ihrem Verhältnis mit Marc, doch er hätte sich glücklich schätzen können: Von seinem Arbeitgeber Hörner aufgesetzt zu kriegen kam einer indirekten Kündigung gleich. Sophies Flugzeug stürzte auch nicht ab. Marronnier erwartete sie am Flughafen von Dakar. Sie liebten sich einmal täglich, acht Tage lang. Sie kamen langsam in das Alter, wo das schon viel ist. Keiner der beiden litt; sie lungerten gern zusammen herum. Alles kam ihnen so einfach vor, war auf einmal so klar. Man wird nicht glücklicher, wenn man älter wird, aber man legt die Latte tiefer. Man ist tolerant, man sagt, was nicht geht, man bleibt gelassen. Jede Sekunde Aufschub kommt gelegen. Marc und Sophie passten nicht gut zueinander, konnten aber gut miteinander, was viel seltener ist. Am meisten ärgerten sie sich darüber, dass sie wie eine schlechte Sitcom hießen: «Marc und Sophie». Deshalb haben sie aber nicht beschlossen, sich umzubringen. Oder?
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BLEIBEN SIE DRAN! NACH DER WERBUNG GEHT DER ROMAN WEITER. EIN JUNGER, BÄRTIGER DEALER STEHT MIT VERSCHRÄNKTEN ARMEN AUF EINER MÜLLHALDE. UM IHN HERUM HABEN SICH ZWÖLF KUNDEN IN EINEM KREIS VERSAMMELT. SIE TRAGEN KAPUZEN-SWEATSHIRTS, KWAY-JACKEN BASEBALL-CAPS, BAGGY-SHORTS. SIE HULDIGEN IHM AUF DEM ÖDEN GELÄNDE. AUF EINMAL FÄNGT DER VERKÄUFER ZU SPRECHEN AN: «WAHRLICH, WAHRLICH, ICH FRAGE EUCH, WER VON EUCH WIRFT MIR DEN ERSTEN STEIN ZU?» EINER DER APOSTEL REICHT IHM EINEN BROCKEN KOKAIN. «O HERR, NIMM MEINEN STEIN IN DEINE HÄNDE. » WEIHEVOLLE MUSIK ERTÖNT, WÄHREND EIN LICHTSTRAHL, DER VOM HIMMEL FÄLLT, DEN WEISSEN BROCKEN BELEUCHTET, DEN UNSER HEILIGER DEALER MIT DEM AUSRUF EMPORHEBT. «DU BIST PETRUS, UND AUF DIESEN STEIN WILL ICH MEINE KIRCHE BAUEN.» DARAUF ZERMALMT UNSER HAARIGER SUPERSTAR DEN KOKSBROCKEN IN SEINER FAUST, UM WEISSES PULVER DARAUS ZU MACHEN. ALS ER DIE HAND WIEDER ÖFFNET, VERLAUFEN DARAUF ZWÖLF VOLLKOMMEN PARALLELE LINIEN. NEHMET UND SNIFFT, DAS IST MEINE SEELE, DIE FÜR EUCH HINGEGEBEN WIRD. » DIE ZWÖLFJÜNGER FALLEN INMITTEN DER HAUSABFÄLLE AUF DIE KNIE UND RUFEN: «HALLELUJA! ER HAT DEN STOFF VERMEHRT!» PACKSHOT: EIN HÄUFCHEN WEISSES PULVER IN KREUZFORM MIT DARIN STECKENDEN STROHHALMEN. 0FF: «KOKAIN! EINMAL IST KEINMAL.»
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IV
Wir
Um unsere Botschaft an die Öffentlichkeit zu bringen und damit einen möglichst dauerhaften Eindruck zu hinterlassen, mussten wir Menschen töten.
THEODORE KACZYNSKI, genannt «Unabomber» Am 19. September 1995 in der Washington Post und in der New York Times veröffentlichtes Manifest.
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1. Marcs Selbstmord hat uns alle schockiert. Aber es wäre eine Lüge gewesen zu sagen, dass er uns überrascht hätte. Die offizielle Version lautete, er sei vor Saly von einer unterseeischen Strömung erfasst worden und ertrunken. Aber wir wussten nur zu gut, dass er sich aufs offene Meer hatte hinaustreiben lassen, um ein Leben loszuwerden, das ihm zur Last geworden war. Wir alle wussten, dass Marc gestresst war, wir spürten, wie er mit sich kämpfte, wir ließen uns von seiner falschen Begeisterung anstecken und wechselten das Thema, wenn er von Selbstzerstörung sprach. Wir wollten das Offensichtliche nicht sehen: Marronnier hatte die Absicht, sich zu töten, und wir hatten nicht die Absicht, ihn zu retten. Wir hatten sein Begräbnis schon organisiert, bevor er tot war. «Der König ist so gut wie tot, es lebe der König!» Anlässlich seiner Beisetzung flennten 300 Werber auf dem Friedhof von Bagneux, vor allem die, die Marc gehasst und ihm seit langem den Tod gewünscht hatten: Sie wurden von Schuldgefühlen geplagt, weil sie erhört worden waren, und fragten sich, wen sie von nun an hassen sollten. Um in der Welt der Kommunikation etwas zu werden, braucht man einen Feind, den man zerschmettern will; wird man dieses unerlässlichen Antriebs beraubt, verliert man die Richtung aus den Augen. Uns wäre es lieber gewesen, wir hätten die ganze Zeremonie nur geträumt. Wir waren auf dem Begräbnis eines Provokateurs, sahen den Sarg ins Loch sinken und hofften, das wäre
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bloß seine letzte Finte. Wie schön, wenn ein plötzlicher Kameraschwenk uns davon überzeugt hätte, dass das Ganze eine Inszenierung war: Der Priester hätte sich als alternder Komödiant entpuppt, die tränenüberströmten Freunde wären in Gelächter ausgebrochen, ein Technikerteam hätte hinter uns die Kabel abgerollt, und ein Regisseur hätte «Aus!» geschrien. Aber es schrie niemand «Aus!». Wir wünschten uns oft, dass unser Leben nur ein Traum wäre, dass wir aufwachten und durch diesen Trick wie in schlechten Filmen alle Probleme gelöst fänden. Kaum ertrinkt einer im Kino, yippie, ist er wieder bei Bewusstsein. Wie oft haben wir das schon auf der Leinwand gesehen: Der Held wird von einem klebrigen, blutgierigen Monster angegriffen, die Sackgasse ist zu Ende, die grässliche Bestie will sich gerade auf ihn stürzen, um ihn zu zerfleischen, Schnitt, und er fährt schweißüberströmt aus seinem Bett auf. Warum passiert uns das im wirklichen Leben nie? Hä? Und wie soll man aufwachen, wenn man nicht schläft? Es gab einen Sarg mit echter Asche drin (Charlie hat sogar eine Hand voll in seine Tasche gesteckt). Und wir weinten echte Tränen. Wir, das heißt die gesamte Rosse Europa: Jef, Philippe, Charlie, Odile, die Praktikantinnen, die Mächtigen, die Überflüssigen und ich, Octave mit seinem Kleenex, Octave noch immer, nicht gegangen, nicht gefeuert, nur ein bisschen enttäuscht, dass Sophie nicht da war. Wir, das heißt alle vom Geld der Rosse zehrenden Parasiten: Besitzer von Fernsehsendern, Aktionäre großer Rundfunknetze, Sänger, Schauspieler, Fotografen, Designer, Politiker, Chefredakteure, Kaufhausdirektoren, wir, die Entscheidet, wir, die Opinion-Leaders, wir, die verkauften, anerkannten oder verdammten Künstler, wir
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alle weinten. Wir beweinten unser erbarmungswürdiges Schicksal: Wenn ein Werber stirbt, gibt es keine Zeitungsartikel, keine auf Halbmast wehenden Plakate, keine Programmunterbrechung, nur unverkaufte Stock Options und ein vereinsamtes Nummernkonto in der Schweiz. Wenn ein Werber stirbt, passiert überhaupt nichts, außer dass er durch einen lebenden Werber ersetzt wird.
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2.
Ein paar Tage später, South Beach, Miami. Pamelaandersons jeden Kalibers, Jeanclaudevandammes im Überfluss. Wir sind alle Friends. Wir lassen uns im Bräunungsstudio UV-bestrahlen, bevor wir unser Gesicht in die Sonne halten. Um in einer solchen Welt zu bestehen, muss man aussehen wie eine Schokotorte oder ein Pornodarsteller. Wir nehmen Drogen, weil Alkohol und Musik uns nicht genügend aufputschen, dass wir miteinander zu sprechen wagen. Wir leben in einer Welt, in der das einzige Abenteuer Poppen ohne Präser ist. Warum laufen wir alle der Schönheit hinterher? Weil diese Welt zum Erbrechen hässlich ist. Wir wollen schön sein, weil wir besser sein wollen. Die Schönheitschirurgie ist die letzte uns verbliebene Ideologie. Alle haben den gleichen Mund. Die Perspektive, dass man eines Tages Menschen klonen könnte, findet alle Welt schrecklich, dabei gibt es das schon, es heißt «plastic surgery». In jeder Bar singt Cher «Glaubst du an ein Leben nach der Liebe?». Worüber wir uns jetzt Gedanken machen müssen, ist das Leben nach dem Menschen. Eine Welt bewunderungswürdiger posthumaner Geschöpfe, befreit vom Unrecht der Hässlichkeit, mit Miami als Hauptstadt. Wir alle hätten die gleiche gewölbte, unschuldige Stirn, seidenweiche Haut, Mandelaugen, jeder hätte Anspruch auf lange, schmale Hände mit grau lackierten Nägeln, es gäbe einen allgemeinen Vertrieb für Schmolllippen, hohe Wangenknochen, flaumige Ohren, Stupsnasen, feine Haare, parfümierte schlanke Hälse und vor allem spitze Ellenbogen. Ellenbogen für alle! Auf zur Demokratisierung des
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Ellenbogens! Wie Paulina Porizkova in einem Interview so bescheiden bemerkte: «Ich bin froh, dass die Leute mich schön finden, aber das ist nur eine mathematische Frage. die Anzahl der Millimeter zwischen meinen Augen und meinem Kinn.» Charlie und ich stehen im Meer und telefonieren drahtlos. Wir fahren in riesigen Jeeps über den Strand. Trotz Marronniers Tod haben wir den Dreh für Maigrelette nicht abgesagt - dazu ist in die Produktion schon zu viel investiert worden. Einmal hat Charlie eine kleine Schachtel aus seiner Tasche geholt, die ein paar Gramm von der Asche Marc Marronniers enthielt. Er streute sie ins Wasser. Das hätte Marc sich gewünscht: auf den Wellen von Miami zu treiben. Ein bisschen Asche war noch in Charlies Hand, da kam mir eine Idee: Ich bat ihn, den Arm auszustrecken und seine Hand zur Sonne zu öffnen. Ich neigte mich darüber. Und so sniffte ich die Reste meines Freundes, meines Mentors Marc Marronnier. I've got Marronnier runnin' around my brain! Sagen Sie Bescheid, wenn Sie auch nur ein maues Mädchen finden in dieser Stadt. Diejenigen, die anderswo abnorm sind, statistisch gesehen (die Schönen und Muskulösen), sind hier die Norm; das wird fast langweilig (sicherheitshalber wollen wir daran erinnern, dass ich ein Anhänger der Langeweile bin). Es gibt immer ein Mädchen, das noch jünger, noch hübscher ist als das vorige. Holde Pein. Doch Hoffart ist eine der sieben Todsünden. Miami, du Schwester Sodoms, Gomorrhas und Babylons! In Coconut Grove führt ein Kerl sechs Chihuahuas an der Leine und sammelt mit einem Plastikhandschuh ihre Häufchen ein. Salsaverkäufer und Langläufer auf Rollen kreuzen seinen
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Weg. Gruppen sonnengebräunter Wesen sprechen vor dem Colony mit ihren mobilen Telefonen. Wir begreifen, dass wir uns hier in einer einzigen Riesenreklame bewegen. In Miami kopiert die Werbung nicht mehr das Leben, sondern das Leben kopiert die Werbung. Rosa Cadillacs mit neonbeleuchtetem Boden vibrieren im Rhythmus des Chicano-Rap. Von so viel Schönheit und Reichtum muss einem ja schwindlig werden. Im News Cafe verzehren wir die Top-Models mit den Blicken, wo wir sie doch gefressen haben. Miamis Art-deco-District liegt im Süden der Stadt am Meer. Er wurde in den 30er Jahren für Senioren errichtet. Anfang der 40er Jahre waren viele Soldaten in Miami stationiert, weil die US-Army einen japanischen Angriff auf Florida befürchtete. Der Sturz Batistas führte 1959 zu einer starken Einwanderung aus Kuba. So mischen sich in Miami Rentner (Anleger bei Pensionsfonds, für die alle Angestellten der westlichen Welt das ganze Jahr über arbeiten) mit Militärangehörigen (die sie beschützen) und Kubanern (die sie mit Drogen versorgen): der perfekte Cocktail. In den 70er Jahren verpasste die Ölkrise der Stadt einen Dämpfer. Sie schien am Ende, aus der Mode gekommen, has been, bis zum Relaunch durch eine Werbekampagne zehn Jahre später, 1985. In diesem Jahr machte Bruce Weber ein Shooting für Calvin Klein auf dem Ocean Drive. Die paar Anzeigenseiten in den Zeitschriften der Welt machten Miami im Handumdrehen zur Welthauptstadt der Mode. In Miami ist der Fürst ein Fotograf. Hätten die Nazis über die Werbestreitmacht eines solchen Ortes verfügt, dann hätten sie noch zehnmal mehr gemordet. Christy Turlington wurde hier von einem «talent scout» am Strand entdeckt. Gianni Versace hat sämtliche Kataloge
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vor Ort produziert, bevor er ebendort starb, ermordet am 15. Juli 1997. Auf den Bürgersteigen gleiten rollenbewehrte Wesen vorüber, kupferhäutige Kubanerinnen und Gays in Shorts, die Augen hinter dem neuesten Oakley-Modell verborgen. Das widerspricht sich alles nicht. Schließlich und endlich haben die Nazis gewonnen: Selbst die Blacks blondieren sich die Haare. Um der fidelen Hitlerjugend zu gleichen, kämpfen wir um Bäuche wie weiße Schokoladenriegel. Die Antisemiten haben erreicht, was sie wollten: Woody Allen bringt die Mädchen zum Lachen, aber den Beischlaf vollziehen sie lieber mit dem blonden Arier Rocco Siffredi. Im Schatten einer gerupften Palme verfolgen wir am Strand das Volleypalooza, ein zweitägiges Volleyball-Turnier zwischen den Modelagenturen. Schiedsrichter sind Steven Meisel und Peter Lindbergh. (An den restlichen 363 Tagen des Jahres sind sie übrigens auch Schiedsrichter der Welt.) Makellose Schönheiten in roten und schwarzen Bikinis smashen auf dem glühenden Sand. Meerwasserversetzte Schweißtropfen fliegen aus ihren blonden Haaren und landen auf dem sahnigen Nabel ihrer lachenden Gefährtinnen. Ab und zu bekommen sie Gänsehaut von der leichten Brise, die vom Ozean herweht; selbst aus der Ferne ergötzen uns die zarten Schauder an ihren Armen. Der Sand auf ihren schmalen Schultern schimmert wie ein Regen feiner Pailletten. Dieser Anblick trifft mein Herz mit einem Schmerz dumpf und bang. Am schlimmsten sind ihre weißen Zähne. Wenn ich wenigstens eine Platte eingespielt hätte, die sich zehn Millionen Mal verkauft hat! Ach, übrigens, das Team im roten Bikini hat das Volleypalooza gewonnen. Die Kapitänin der Siegermannschaft ist fünfzehn; gegen sie sind Cameron Diaz, UmaThurman, Gisele Bündchen und Heather
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Graham vier alte Schachteln. Und glaubt bloß nicht, wir hätten nichts anderes im Sinn, als diese Wunder zu bespringen. Ihre Vagina ist uns total egal. Wir würden gerne einen Kuss auf ihre Lider hauchen, ihre Stirn mit unseren Fingerspitzen streifen, an ihrem Körper ausgestreckt liegen und ihnen zuhören, wenn sie von ihrer Kindheit in Arizona oder South Carolina erzählen; wir würden gerne Daily Soaps mit ihnen gucken und CashewNüsse kauen und ihnen allerhöchstens ab und zu eine Strähne hinters Ohr streichen, versteht ihr, was ich meine, oder nicht? Ach, wir würden uns so gern um euch bemühen, beim RoomService Sushi bestellen, zu «Angie» von den Rolling Stones einen Slow mit euch tanzen, über Erinnerungen aus der Schulzeit lachen, ja, weil wir nämlich die gleichen haben (das erste Bierbesäufnis, die peinlichen Frisuren, die erste Liebe, die auch die letzte war, Jeansjacken, Feten, Hard Rock, Der Krieg der Sterne und das alles), aber die Sahneschnittchen ziehen immer schwule Booker und Ferrarifahrer vor, und deshalb läuft die Erde nicht rund. Nein, ich bin nicht sexbesessen, aber es gibt kein Wort für meine Lungenobsession. Oder vielleicht doch: Ich bin pulmoman, das ist es. Abendessen mit ein paar Models, die noch nicht top sind, auf einer gemieteten Yacht. Nach dem Dessert wettet Enrique Baducul um tausend Dollar mit einem Mädchen, dass sie sich nicht traut, ihr Höschen auszuziehen und an die Decke zu werfen, um zu sehen, ob es kleben bleibt. Das Mädchen tuts und wir lachen, obwohl es nicht sehr komisch war (ihr Slip ist in die Schüssel mit den Spaghetti gefallen). Alle Welt prostituiert sich. Bezahlen oder bezahlt werden, das ist die Frage. Grosso merdo wird man bis vierzig bezahlt; danach bezahlt man, so ist das - das Tribunal der leiblichen Schönheit lässt keinen
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Einspruch zu. Playboys mit Viertagebärten sehen sich um, ob sie gesehen werden, wir sehen, wie sie sich umsehen, ob sie gesehen werden, und sie sehen, dass wir sehen, wie sie sich umsehen, ob sie gesehen werden, es ist ein endloses Ballett, das an ein Spiegelkabinett erinnert, eine alte Jahrmarktsattraktion, ein Labyrinth, in dem man sich an seinem Abbild stößt. Als Kinder hatten wir vor lauter Kopfstößen am Ende immer die Birne voller Beulen.
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3.
Der Ocean Drive im Neonlicht, das fluoreszierenden Passanten elektrische Schläge versetzt. Der warme Wind weht die Flyers vergangener Feste davon. Die tanzenden Mädchen im Living Room abends wie Schlachtteile. (Wenn du ins Living Room reinkommst, bist du ein VIP. Hast du dort einen Tisch, bist du ein VVIP. Steht eine Flasche Champagner drauf, bist du ein VVVIP. Und wenn dich die Chefin auf den Mund küsst, bist du ein VVVVIP oder Madonna.) Miami Beach ist wie eine riesige Konditorei: Die Gebäude sehen aus wie IceCreams und die Mädchen wie Bonbons, die man sich gern auf der Zunge zergehen lassen würde. Um sechs Uhr früh raus, um im schönsten Licht drehen zu können. Wir haben ein Milliardärshaus in Key Biscayne gemietet, dessen Wände Kopien von Bildern Tamara de Lempickas zieren. Tamara (unsere) gewöhnt sich schnell an ihr neues Dasein als Werbestar. Im Trailer wird sie frisiert, geschminkt und mit Kaffee abgefüllt. Die Requisite ist beauftragt, den Rasen nachzufärben (weil er nicht grün genug ist für das Storyboard). Der Chef-Operator erteilt verständigen Technikern unverständliche Befehle. Sie verbringen ihre Zeit damit, die Belichtung zu messen und kabbalistische Zahlen auszutauschen: «Geh mal mit der 4 auf 12.» «Nein, wir versuchens mit einer anderen Brennweite, stell mal die 8 auf 14.»
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Charlie und ich essen alles, was das Catering zu bieten hat: Chewing-Gums, Bubble-Gums, Käse-Ice-Creams, Lachs-Hamburgers, Hühnchen-Käse-Lachs-Ice-Cream-Chewin-Gum-Sashimis. Auf einmal ist es halb neun, und Enrique lächelt nicht mehr. «Der Chimmel ist weiß, man kann nicht drehen bei diese Wetter.» Der Kunde hat ausdrücklich blauen Himmel und Schlagschatten bestellt. «Ma que», ergänzt Enrique, «eso es Licht von Gott.» Worauf Charlie hoheitsvoll verkündet: «Gott ist einfach ein sauschlechter Aufnahmeleiter.» Ein weißer Himmel ist auch in der Post nicht mehr zu retten. Wenn wir bei dem Licht drehen, müssen wir Bild für Bild mit dem Flame nachkolorieren, das kostet 15 000 pro Tag. Also frühstücken wir zehnmal und warten darauf, dass der Nebel sich hebt. Die Producerin rauft sich die Haare, als sie mit dem Pariser Versicherer telefoniert, um den «Weather Day»Regenschirm für uns aufzuspannen. Nur ich kriege nicht die Panik: Seit ich durch bin mit dem Koks, bin ich nur noch am Essen. Tamara, Charlie und ich spielen Jules et Jim in Florida. Die Amis fragen uns ständig: «Are you playing a <menage a trois>?» (französisch im Original) Den ganzen Vormittag trinken wir Corona und lachen ununterbrochen. Alle verlieben sich in Tamara: Sie bekommt schließlich 10 000 Euro pro Tag, um diese chemische Reaktion beim Mann hervorzurufen. Bärtige tragen Mützen und Kabel, Walkie-Talkies schnarren ins Leere, die Beleuchter sehen mit ohnmächtiger Miene zum Himmel, und wir schmieren uns
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mit Sonnencreme ein, um die Sonne zu locken. Schwarze Filter schützen uns vor der Wirklichkeit; die Welt ist abgeblendet. Doch wozu ist Miami ohne Sonne gut? «Denkt dran, dass keine Palmen ins Bild dürfen, man soll ja glauben, dass wir in Frankreich sind. Oder wir planen ein Matte-Painting mit Pappeln und Buchen ein.» «Bravo Octave, guter Tipp, du fängst ja an, dich nützlich zu machen. Mit dem Satz hast du dein Flugticket schon verdient.» Charlie scherzt, aber er wirkt bedrückt. Seit heute Morgen schleicht er um den heißen Brei herum. Springt er jetzt ins kalte Wasser? Ja, er tuts. «Hör mal, Octave, ich muss dir was sagen. Es wird große Veränderungen geben in der Agentur.» «Ja, danke, aber das war zu erwarten nach dem Tod des CD.» «Tod sagt man nicht, es heißt: Ableben des CD.» «Du wagst es, mit dem Freitod unseres viel geliebten Vorgesetzten zu spaßen?» Tamara amüsiert sich köstlich, doch Charlie lässt sich nicht beirren. «Ist dir aufgefallen, dass Jef nicht mit war in Senegal?» «Natürlich ist es mir aufgefallen, ich wollte gleich wieder zurückfliegen. Dass wir diese vier Tage ohne ihn überlebt haben, ist das reinste Wunder.» «Hör auf mit dem Quatsch. Ich weiß, wo er war, unser Jef. Wir spielen da unten Dadadirladada, und unser hoch geschätzter Kontaktmann ist in New York, stell dir vor, und verlangt von den obersten Instanzen der Rosse Philippes Posten.» «Was erzählst du da?» «Er hat das geschickt eingefädelt, der kleine Jef. Mit Duler von Madone im Rücken ist er in der Zentrale eingelaufen und
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hat denen erklärt, wenn die französische Führungsriege nicht ausgewechselt wird, geht der Etat leider flöten. Und weißt du, was sie gesagt haben, die Konzernbonzen?» «?» «Mitnichten. Das lieben sie, die Amis, den jungen Wolf, der nach oben will und die Alten wegbeißt - das bringen sie in Harvard und in den Western mit John Wayne den Halsabschneidern doch gerade bei.» «Nein, warte, du spinnst dir da was zusammen. Hast du das alles selber erfunden?» Charlie kaut an einem Nagel und sieht nicht nach Lügen aus. «Octavio, vor lauter Sammeln für dein Buch hast du ganz vergessen, dich umzuschauen, was um dich herum passiert.» «He, du hast es grade nötig, wo du deine Tage damit verbringst, im Net rumzusurfen und nach abartigen Bildern zu suchen.» «Das ist ganz was anderes, ich mache nur Recherchen über die Zeit, in der wir leben. Apropos, erinnere mich daran, dass ich dir den Film mit der Neunzigjährigen zeige, die ihre Kacke frisst. Wie auch immer. Hast du gar nicht bemerkt, wie die alle geflippt haben auf dem Seminar? Wach auf! Jef wird anstelle von Philippe zum Geschäftsführer der Rosse ernannt, und Philippe übernimmt Europa, das ist ein offenes Geheimnis. Dafür kriegt er den Titel oder irgendein anderes Label.» «JEF AGENTURCHEF?? Aber der ist ja noch keine 30, der ist doch ein Bubi!» «Bubi vielleicht, aber ein Waisenknabe ist der nicht, wenn du mich fragst. Willkommen in den Nullerjahren, Partner. Geschäftsführer mit 30 Lenzen, so was hat man heute. Die sind
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genauso schlecht wie die Fünfzigjährigen, aber sie präsentieren besser und kosten weniger. Also haben die amerikanischen Aktionäre gesagt: Bingo. Mit dem größten Etat der Agentur im Hintergrund konnte da gar nichts schief gehen. Und Jef konnte Marronnier nicht riechen, kapierst du jetzt?» «Scheiße, dann hat Marc sich umgebracht, weil er wusste, dass der kleine Kläffer ihn rausschmeißen will?» «Genau. Und vor allem hat er geahnt, dass wir es sein werden, die ihm seinen Posten klauen.» Der Himmel kann ja so weiß sein, wie er will, das ist kein Grund, uns auf den Kopf zu fallen. «Ich glaub, ich hab dich nicht richtig verstanden, oder wolltest du sagen, dass Jef uns zu Creative Directors macht?» «Jef hat mich heute Morgen angerufen, um uns beiden den Job anzubieten. 30 000 Euro im Monat für jeden plus Spesenkonto, bezahlter Wohnung und Porsche als Dienstwagen.» Tamara lächelt. «Octave, Schätzchen, das ist doch nicht schlecht für einen, der grade noch gekündigt werden wollte, oder?» «Halt du lieber den Mund, du vorlaute Kreatur.» «Du hast ja Recht, Schätzchen: Ihr seid Kreative, und ich bin eben nur eine Kreatur.» «Ganz hübsch», fällt Charlie ihr ins Wort, «aber du machst einen Fehler, Herzblatt. Jetzt sind wir nämlich Creative Directors, und das ist ein Unterschied.» «He! Ich hab nicht gesagt, dass ich das Angebot annehme.» «Das ist eine Offer, die du nicht kannst ablehnen», hat da Enrique eingeworfen, denn offensichtlich wussten alle am Set, was gespielt wurde, außer mir. Und genau in diesem Moment hat die Sonne beschlossen, wieder aufzutauchen, die Schamlose.
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4.
Man könnte wirklich denken, Tamara hätte ihr ganzes Leben lang Theater gespielt - und wenn man sichs überlegt, stimmt das ja auch. Das Metier des Callgirls ist eine weit effektivere Schule der Schauspielkunst als das Actors Studio. Sie ist vor der Kamera ganz unbefangen. Sie flirtet mit dem Objektiv und löffelt ihr Joghurt so gierig, als ginge es um ihr Leben. Nie war sie hinreißender als in diesem künstlichen, nach Florida transponierten mediterranen Garten. «She's THE girl of the new century», verlautbart der Vor-OrtProducer der Tusse, die das «making-of» dreht. Ich glaube, er will sie a) John Casablanca von Elite vorstellen und b) von hinten nehmen. Wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Wir fallen erst in ein fremdes Land ein, dann besetzen wir den medialen Raum. Die Maigrelette-Kampagne wird bis 2004 vom Fernsehen ausgestrahlt und von zahllosen flankierenden Maßnahmen begleitet: 18-I City-Light-Poster, Anzeigen in Frauenzeitschriften, Aktionen am Selling Point, PromotionAngebote, Fassadengemälde, Beach-Wettbewerbe, Vor-OrtEvents, Flyers, Internet-Sites, Verkostungen in Supermärkten, Coupon-Aktionen. Du wirst überall sein, Tamara, wir machen aus dir das Markenzeichen des Marktführers für Magerjoghurt im gesamten Schengener Raum. Wir trinken Cape Cod und plaudern mit der Make-up-Artistin über Aspen. Ein paar Magerkühe (unser Spitzname für die anorektischen Grunge-Mädchen, die auf der Suche nach
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Heroin die Washington Avenue entlangstromern) laufen uns über den Weg. Vor dem Haus von Gianni Versace spielen wir sterben. Als wir unter den Maschinengewehrsalven zusammenbrechen, schießen die Touristen Fotos wie wild. Wir hüllen uns in die weißen Wandbehänge des Delano Hotels: Aus Tamara wird Scheherezade und aus mir Casper, das nette Gespenst. Die Leute um uns rum sind so narzisstisch, dass sie nur noch sich selber ficken können. Was ist ein gelungener Tag in Miami? Ein Drittel Rollerbladen, ein Drittel Ecstasy, ein Drittel Onanie. Schon wieder ist das Gras auf dem Set in der Sonne verdorrt. Um es neu ergrünen zu lassen, versprühen die Requisiteure Lebensmittelfarbe. Für heute Abend ist das Finale im DragQueen-Ringen auf der Lincoln Road angekündigt: Transen, die sich in einem Catcher-Ring gegenseitig die Perücken vom Kopf reißen. «Nichts ist wirklich wichtig», singt Madonna, die hier ein Haus hat. Das nenne ich den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich liebe Tamara und ich liebe Sophie; das Einkommen eines Creative Director reicht locker für beide. Ich will aber kein Angebot annehmen, das die erste Seite dieses Buches Lügen straft. Dort habe ich behauptet: Ich schreibe dieses Buch, um gefeuert zu werden. Oder ich müsste das ändern und sagen: Ich schreibe dieses Buch, um befördert zu werden ... Tamara unterbricht meine Gedanken: «Willst du einen Kaffee, einen Tee oder mich?» «Ich will alles. Sag mal, Tamara, was ist deine Lieblingswerbung?» «LESS FLOWER, MORE POWER. Der Slogan für den New Beetle von Volkswagen.» «Das heißt nicht <Slogan>, sondern . Merk dir das, wenn du von mir engagiert werden willst.»
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Wir lümmeln den ganzen Nachmittag vor dem Combo, dem bildgenauen Video-Monitor von Sony. Tamara auf der Terrasse, Tamara auf der Treppe, Tamara im Garten, Tamara in der Totale, Tamara close, Tamara natürlich gekünstelt, Tamara mit Blick in die Kamera, Tamara gekünstelt natürlich, Tamara mit Produkt (Deckel öffnen, Löffel eintauchen, orale Lust), Tamara mit rührendem Ellenbogen, Tamara mit gebrüsteten Brüsten. Doch die Tamara, die mir am liebsten ist, habe ich für mich allein: Tamara im Bikini-Slip auf dem Balkon meines Zimmers mit einem Ring an ihrem linken Zeh und einer tätowierten Rose über ihrer rechten Brust. Die, zu der ich zu sagen wage: «Ich habe keine Lust, mit dir zu schlafen, aber du verzauberst mich. Ich glaube, Tamara, ich liebe dich. Du hast große Füße, aber ich liebe dich. Computerretuschiert siehst du viel besser aus als in echt, aber ich liebe dich.» «Ich kenne viele Ekel, die auf nett machen, aber du bist ein seltener Vogel: ein Netter, der auf Ekel macht. Küss mich, das eine Mal ist umsonst.» «Du bist mein verbotener Traum, meine einzige Qual und meine letzte Hoffnung. Du bist für mich die einzige Musik, nach der die Sterne auf den Dünen tanzen.» «Worte, Worte, nichts als Worte», erwidert Tamara. Die Produktsequenz ist immer am schlimmsten: In der prallen Sonne nach dem Mittagessen musste das arme Berbermädchen beim Einführen von Löffeln voller Maigrelette in ihren Mund zwanzigmal Ekstase simulieren. Nach ein paar Takes hatte sie es satt. Der Best Boy brachte ihr eine Schale, in die sie nach Enriques «Cut!» das Joghurt spucken konnte. Wir vertrauen Ihnen hier ein kleines Geheimnis an, Sie müssen es ja nicht überall
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weitererzählen: Jedes Mal, wenn Sie in einem Werbespot einen Schauspieler genießerisch ein Produkt der Nahrungsmittelindustrie verzehren sehen, sollten Sie wissen, dass er es nie schluckt, sondern, kaum dass die Kamera zu surren aufhört, in einen eigens für diesen Zweck bereitgestellten Behälter spuckt. Charlie und ich sitzen auf Plastikstühlen mit kiloweise JunkFood als einziger Gesellschaft. Es ist immer derselbe Zirkus beim Dreh: Man parkt die Kreativen in einer Ecke, straft sie mit totaler Missachtung und hofft inständig, dass sie nicht allzu oft ihr Maul aufreißen unter dem Vorwand, sie hätten die Kampagne, die hier umgesetzt werde, schließlich entworfen. Wir fühlen uns übergangen, überflüssig und mit Süßigkeiten überfüttert, kurz, noch übler als gewöhnlich. Wir tun so, als machte uns das alles nichts aus, denn wenn wir erst CDs der französischen Rosse sind, werden wir tausendmal Gelegenheit haben, erbarmungslos Rache zu üben. Wir werden reich und ungerecht sein. Wir werden unsere früheren Freunde feuern. Wir werden sämtliche Angestellten mit Zuckerbrot und Peitsche terrorisieren. Wir werden die Einfälle unserer Untergebenen uns zuschreiben. Wir werden junge Regisseure einladen, um frische Ideen abzuzocken, indem wir ihnen einen Riesenjob in Aussicht stellen, den wir am Ende hinter ihrem Rücken selber machen. Wir werden Urlaubssperre verhängen, bevor wir selbst nach Mauritius abdüsen. Wir werden größenwahnsinnig und schamlos sein. Wir werden die besten Etats für uns behalten und die spannendsten Kampagnen Freelancern in Auftrag geben, um alle Festangestellten so richtig zu deprimieren.
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Wir werden darauf bestehen, auf den Wirtschaftsseiten des Figaro porträtiert zu werden, um sofort nach Erscheinen die Entlassung der Journalistin zu fordern, sofern ihr Artikel nicht genug Lobhudelei enthielt (was wir mit der Drohung untermauern werden, dem Figaro keine einzige Anzeigenspalte mehr abzukaufen). Wir werden für die Innovation der französischen Werbung stehen. Wir werden eine PR-Lady bezahlen, um auf den Kommunikationsseiten von Strategies sagen zu können: «Konzept und Perzept sind zwei Paar Schuhe.» Wir werden auch das Verb «präemptieren» oft gebrauchen. Wir werden überlastet und unerreichbar sein; man wird mindestens drei Monate auf einen Termin bei uns warten müssen (der am Morgen vor dem geplanten Treffen im letzten Moment von einer arroganten Sekretärin abgesagt wird). Wir werden unsere Hemden bis oben hin zuknöpfen. Wir werden schubweise nervöse Depressionen um uns herum auslösen. Es wird viel böses Gerede geben in der Branche, aber keiner wird es uns ins Gesicht sagen, weil man uns fürchtet. Wir werden uns zwar einen Dreck drum kümmern, aber' keiner unserer Verwandten und Bekannten wird uns mehr besuchen. Wir werden gefährliche Party-Animals werden. Wir werden die Drahtzieher der modernen Gesellschaft sein. Wir werden im Schatten bleiben, auch bei Licht betrachtet. Wir werden stolz sein auf unsere wichtigen Verantwortungslosigkeiten.
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«Und mit die Make-up Sie sein zufrieden?» Unser Delirium wird von der Maskenbildnerin unterbrochen, die eine dezidierte Stellungnahme von uns erwartet. Zu gegebener Zeit werden wir sie zur Make-up-Artist in Chief der Gruppe R & W ernennen, da sie schon vor unserer Nominierung in der Lage war, unsere Bedeutung zu erkennen. «Was ganz Natürliches reicht», verkündet Charlie, «sie soll gesund-ausgeglichen-dynamisch-authentisch aussehen.» «Yeah, ich mache sie die Lippen a little bit glossy, ich mache sie nichts mit ihr Haut, ihr Haut sein wonderful.» «Nein, nicht glossy», beharrt Charlie mit der ganzen Überzeugungskraft des künftigen Bosses, «lieber shiny.» «Of course ist shiny besser als glossy», beeile ich mich zu bekräftigen. «Sonst entgleist uns das Farbliche.» Vor Lippen-Make-up-Spezialisten dieses Kalibers - offensichtlich Profis, die sich nichts vormachen lassen - gibt sich die Maskenbildnerin ehrerbietig geschlagen. Jetzt müssen wir nur noch der Food-Stylistin einen Dämpfer geben e tutto wird bene. Tamara bezaubert die ganze Truppe. Wir lieben sie alle und blinzeln uns angesichts ihrer hieratischen Schönheit verschwörerisch zu. Wir hätten glücklich sein können, hätte ich nicht die ganze Zeit an jemand anders gedacht. Warum muss ich mich immer nach Menschen sehnen, die nicht da sind? Von Zeit zu Zeit legte Tamara die Hände auf mein Gesicht; es beruhigte sie. Mir fehlte eine Prise Leichtigkeit. Ach, da hätte ich doch noch eine gute Baseline in Reserve für alle Fälle: «MAIGRELETTE. JEDER BRAUCHT EINE PRISE LEICHTIGKEIT». Das schreibe ich mir auf. Man weiß ja nie. «Dann wirst du das viele Geld, das sie dir geben wollen, also annehmen?»
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«Geld macht nicht glücklich, Tamara, das weißt du doch.» «Jetzt weiß ich das, von dir. Vorher hab ich das nicht gewusst. Um zu wissen, dass Geld nicht glücklich macht, muss man beides kennen: Geld und Glück.» «Willst du mich heiraten?» «Nein, oder doch, aber nur unter einer Bedingung: dass zu unserer Hochzeit ein Helikopter rosa Marshmallows über uns regnen lässt.» «Und was machen wir mit den weißen Marshmallows?» «Essen.» Warum senkt sie den Blick? Wir sind beide befangen. Ich nehme ihre mit Henna-Ornamenten bemalte Hand. «Was ist denn?» «Es ist nicht nett von dir, so nett zu sein. Mir wäre es lieber, du machst auf Ekel.» «Aber ...» «Lass das. Du weißt genau, dass du mich nicht liebst. Ich wäre ja gern so oberflächlich wie du, aber ich will nicht mehr spielen, verstehst du, ich hab nachgedacht und ich glaub, ich hör mit dem Ganzen auf, mit dem Geld von Maigrelette kann ich mir ein Häuschen in Marokko kaufen, ich hab meine Tochter dort gelassen, bei meiner Mutter, ich will sie großziehen, sie fehlt mir so ... Hör mal, Octave, du solltest zu deiner Verlobten zurückgehen und dich um dein Kind kümmern. Sie hat dir das schönste Geschenk gemacht - nimm es doch an.» «Scheiße, was habt ihr eigentlich alle? Kaum fühlt man sich wohl mit euch, müsst ihr von Babys reden. Statt die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten, reproduziert ihr lieber das Problem.» «Hör auf mit deiner Groschenphilosophie! Mit so was macht man keine Witze. Meine Tochter hat keinen Vater.»
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«Und? Mein Vater war auch nicht da, um mich zu erziehen, und ich mach nicht gleich ein Drama draus.» «Dann schau dich doch mal an! Du schmeißt eine Frau raus, die von dir schwanger ist, und verbringst deine Nächte mit Nutten.» «Ja, gut ... aber wenigstens bin ich frei.» «Frei? Ich glaub, ich träume! Hör auf, Octave, hör mir damit auf! Nadinamouk! Du bist total zwanzigstes Jahrhundert! Schau mir in die Augen, in die Augen, hab ich gesagt! Das Kind, das bald auf die Welt kommt, KANN einen Papa haben. Zum ersten Mal in deinem Leben wärst du zu etwas nütze. Wie lange willst du das denn noch durchhalten, in schmuddligen Bars rumzuhängen und dir ständig dieselben ordinären Geschichten anzuhören von immer denselben debilen, impotenten Säufern? Wie lange noch, verdammt? Ist das deine Freiheit, Blödmann?» Es gibt Psychoanalytiker für 1000 Tacken pro Sitzung -Tamara ist für 3000 Francs die Stunde Moralistin. «Lass mich mit deinen Moralpredigten zufrieden! Scheiße!» «Hör auf, mich anzupöbeln, oder mein Aneurysma platzt. Moral ist vielleicht nicht besonders hip, aber sie ist immer noch das Beste, was man bisher erfunden hat, um Gut und Böse auseinander zu halten.» «Und? Ich bin lieber widerlich und frei, ja, frei, du hast richtig verstanden, als anständig und eingesperrt. Ich verstehe, was du mir sagen willst, aber begreifst du nicht, dass das Familienglück viel erschütternder sein kann als eine scheißverfickte Story von einem vertrottelten Saufkopf um sechs Uhr morgens? Und wie soll ich mich überhaupt um ein Kind kümmern, wenn ich mich alle zwei Minuten in irgendeine Fotze verliebe? Uuups!»
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Damit habe ich eine von Tamaras Grundregeln übertreten: Niemand außer ihr hat das Recht, das Wort Fotze zu gebrauchen; wenn es jemand anderer tut, versteht sie es als Beleidigung. Sie bricht in Tränen aus. Ich versuche meinen Fauxpas wieder gutzumachen. «Nicht weinen, verzeih, du bist eine Heilige, das weißt du doch, das hab ich dir doch immer wieder gesagt. Da war ich schon der Einzige, der eine Hure bezahlt, um sie nicht zu vögeln, und jetzt hab ichs auch noch geschafft, sie zum Heulen zu bringen. Nicht gerade berauschend, oder? Ach, leih mir doch mal dein Handy, ich lass mich gleich ins Guinness-Buch der Rekorde eintragen, hallo, ja? Verbinden Sie mich doch bitte mit der Rubrik !» Gewonnen: Sie lächelt wieder; die Maskenbildnerin wird nur ein bisschen Wimperntusche nachlegen müssen. Ich setze meine Selbstanalyse weiter fort: «Erklär mir nur eines, geliebte Emigrantin: Warum will jede Frau, kaum dass wir sie lieben und alles wunderbar ist, uns zur Zwergenaufzucht verdonnern, eine Schar Blagen zwischen uns stellen, ein Heer von Bambini, das plärrend zwischen unseren Beinen wuselt und uns am Zusammensein hindert? Verdammt, ist es denn so schrecklich, zu zweit zu sein? Ich war zufrieden mit meinem DINK-Dasein (Double Income No Kids), warum wollt ihr uns eine FAMILIE aufzwingen (Fabrikation von Mühsal und irreparabler lymphatisch induzierter Erschlaffung)? Ist es nicht kläglich, wenn man Kinder hat? Romantisch verliebte Paare, die nur noch vom Popo sprechen können? Findest du das sexy, wenn die Gallagher-Brüder ihre Bälger windeln? Da muss man ja skatophil sein! Außerdem ist in meinem Z3 Coupe von BMW kein Platz für einen Kindersitz!»
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«Du bist kläglich. Wenn deine Mutter keine Kinder bekommen hätte, könntest du hier keinen solchen Unsinn verzapfen.» «Wär doch nicht schade!» «Halt die Klappe!!» «Halt du doch die Klappe!!» «UND HÖR ENDLICH AUF MIT DEINEN STÄNDIGEN AUSRUFEZEICHEN!!!!!» Sie schnieft. Und schnäuzt sich. Mein Gott, ist sie umwerfend, wenn sie heult. Wahrscheinlich fügen Männer den Frauen nur deshalb so viel Leid zu, weil Frauen durch Tränen so viel schöner werden. Sie hebt ihren Kopf wieder und weiß nun die richtigen Worte zu finden, um mich zu überzeugen. «Wir könnten uns ja heimlich weiter sehen.» Diese Moral lob ich mir! Blaise Pascal war es, der gesagt hat: Wahrer Moral ist die Moral egal. Ich habe ihre Tränen durch den Strohhalm meines Seven Up gesnifft, und in diesem Augenblick hatten wir beide denselben Gedanken. «Weißt du, warum das mit uns nichts werden kann?» «Ja», sagte ich, «ich weiß. Weil ich nicht frei bin und du zu sehr.»
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Der Dreh ist vorbei. Wir haben in drei Tagen mal eben drei Millionen Francs (500 000 Euro) verpulvert. Vor dem Wegpacken der Kameras haben wir Enrique gebeten, noch eine TrashVersion des Spots zu drehen. Okay, wir waren zu, Tamara auch, und Charlie schrie: «Hört mal. ALLE MAL HERHÖREN! Listen to me, please. Als ich Marc Marronnier das letzte Mal lebend gesehen habe, hat er Octave hier angeschnauzt, dass das Skript, das wir gerade verfilmt haben, läppisch ist und er es gefälligst neu schreiben soll.» «Stimmt», ergänzte ich. «Und dann hat er einen Satz losgelassen, der sich auf ewig in mein Gedächtnis eingebrannt hat: <Es ist nie zu spät, was Besseres zu finden.>» «Mesdames et Messieurs, Ladies and Gentlemen, dürfen wir uns über den letzten Willen eines Toten hinwegsetzen?» Die Techniker waren nicht gerade überglücklich. Aber nach ein paar Gesprächen mit der Producerin und Enrique fiel die Entscheidung, doch noch eine Agentur-Fassung zu drehen, einen Mastershot, in Echtzeit, ohne Schnitte, die Kamera auf der Schulter, im «Dogma»-Stil (das war in dem Winter, wo alle Filme mit dem «Video-Gag» das dänische Intellektuellenlabel aufgedrückt bekamen). Und so sah sie aus, die Dogma-Version des Maigrelette-Spots: Tamara streunt durch das Teak-Dekor, streift auf der Veranda gewandt ihr T-Shirt ab, sieht mit nacktem Oberkörper in die Kamera und verteilt Joghurt auf ihre Wangen und Brüste.
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Sie dreht sich einmal um sich selbst, galoppiert barfuß durch den Garten und brüllt ihr Light-Joghurt an: «Maigrelette! Im gonna eat you!», dann wälzt sie sich im frisch gefärbten Gras, bis ihre Brüste von grüner Farbe und Maigrelette ganz verschmiert sind, stöhnt und leckt sich einen weißen Spritzer von der Oberlippe (Zoom auf ihr Gesicht, von dem Joghurt tropft): «Mmmmmhh ... Maigrelette. It's so good when it comes in your mouth.» Was für ein Talent! Wir beschließen, diese Version in Cannes einzureichen, ohne sie vorher bei Madone zu präsentieren. Wenn wir einen Löwen ernten, wird Duler gezwungen sein, uns Beifall zu klatschen. Marronnier hätte diese Ergebenheit zu schätzen gewusst. Wir können ruhigen Gewissens nach Paris zurückfliegen und seinen noch warmen Sessel einnehmen. Aber Charlie reicht das nicht. Er ist mehr Bollwerk denn je. Nach dem Abschlussfest im Liquid schleppt er uns mit auf ein bedauerliches Abenteuer, von dem ich hier leider berichten muss.
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6.
Stroboskope zerhackten den Raum. Eine alte SM-Schlampe mit zehn Zentimeter Taillenumfang überquerte die Tanzfläche. Sie sah aus wie eine Sanduhr im schwarzen Lederetui. «Weißt du, woran ich denken muss, wenn ich die Oma da sehe? Da schmeißen die Unternehmen in Europa Tausende auf die Straße, nur um mehr Knete abzudrücken für die Rentner von Miami, hab ich Recht?» «Äh, also ... na ja, so im Großen und Ganzen. Die Alten in Florida sind alle Aktionäre von Pensionsfonds, denen Firmen auf der ganzen Welt gehören, also vereinfacht gesehen, könnte man sagen, dass es stimmt.» «Na also, und wo wir nun schon mal hier sind, könnten wir diesen alten Besitzern der Welt doch auch einen Besuch abstatten? Wär doch blöd, die Gelegenheit sausen zu lassen, sich einmal richtig mit ihnen zu unterhalten, vielleicht können wir sie ja überzeugen, dass sie nächstes Mal keinen mehr rausschmeißen, was meinst du?» «Ich meine, du bist hacke, Charlie, aber okay, wir gehen.» Und dann gingen wir, Tamara, Charlie und meine Fresse, durch die Straßen von Miami Vice, auf der Suche nach einem Repräsentanten des weltweiten Aktionariats. Ding! Dong-Ding! Dong-Ding-Dong-Ding-Dong-Ding! In Miami spielen sich sogar die Klingeln auf. Die hier spielt die Kleine Nachtmusik, statt einfach «dring» zu machen wie andere auch. Eine Stunde sind wir schon durch das Wohnviertel Coral
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Gables geirrt, um Fondspensionäre zum Abmahnen zu finden. Endlich schellt Charlie am Tor einer prächtigen Villa im marokkanischen Stil. «Yes?» «Good evening, Madame, do you speak french?» «O ja, sicher, nur eine kleine bisschen, aber warum Sie lauten so spät?» «Also, das hier ist Tamara (Tamara lächelt in die Überwachungskamera), die behauptet, ihre Enkelin zu sein, Mrs. Wird.» Bzzz. Die Tür geht auf, und wir stehen vor einer Mumie. Einem Wesen, das vor sehr sehr langer Zeit einmal eine Frau gewesen sein muss, in einer sehr sehr weit entfernten Galaxie. Nase, Mund, Augen, Stirn, Wangen sind voll gepumpt mit Collagen. Der Rest des Körpers gleicht einer schrumpeligen Kartoffel wobei diese Analogie zweifellos dem Hauskleid geschuldet ist, das an ihr herunterhängt. «Nur die Haut ist ein bisschen gestrafft», erklärt Charlie plump. «Was Sie sagen? Enkelin? Ich ...» Zu spät. Ohne ihr Zeit zum Widerspruch zu lassen, hat Tamara die Alte flachgelegt (sie besitzt den braunen Judo Gürtel). Wir betreten ein Haus aus purem Gold. Was nicht aus Gold ist, ist aus weißem Marmor. Es stinkt nach Geld. Tamara und Charlie verfrachten Mrs. Ward auf ein psychedelisch gemustertes Sofa, das modern gewesen sein muss, als die Besitzerin es noch war. Wahrscheinlich zwanzigstes Jahrhundert. «Da Sie ja französisch verstehen, Madame Warddings, würden wir Sie bitten, uns freundlicherweise ein wenig Gehör zu schenken. Wohnen Sie hier allein?»
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«Ja, I mean, NO, gar nicht, der Polizei sein gleich hier HILFE HEEEEELP!» «Wir knebeln sie. Tamara, dein Tuch!» «Da.» Sie stopft ihr die Bandana in den Hals, Charlie setzt sich auf die Alte drauf, und ich kann Ihnen schwören, dass er genauso plump ist wie seine Scherze. Nun kann die Pensionärin sich in aller Ruhe anhören, was er zu sagen hat. «Sehen Sie, Madame, das Los ist auf Sie gefallen, aber es hätte auch jeden anderen treffen können, der für das derzeitige Elend verantwortlich ist. Von heute an werden solche Besuche gang und gäbe sein, müssen Sie wissen. Die Aktionäre der amerikanischen Pensionsfonds sollten sich im Klaren sein, dass sie nicht ungestraft das Leben Millionen Unschuldiger zerstören können, ohne eines Tages dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, habe ich mich verständlich ausgedrückt?» Charlie ist in Fahrt. So ist das mit den stillen Wassern: Wenn sie einmal losgelegt haben, sind sie nicht mehr zu bremsen. «Sagt Ihnen die Reise ans Ende der Nacht von Louis-Ferdinand Celine etwas?» «Mpffghpffhmmghphh.» «Nein, Celine ist keine Schuhmarke. Sondern ein französischer Schriftsteller. Der Held seines berühmtesten Romans heißt Bardamu und sucht auf der ganzen Welt nach einem Schuldigen. Er sieht Krieg, Elend, Krankheit, kommt nach Afrika, nach Amerika und findet doch nie den Verantwortlichen für unsere Verzweiflung. Das Buch ist 1932 erschienen, und fünf Jahre später hatte Celine seinen Sündenbock gefunden: die Juden.» Tamara inspiziert das Haus, öffnet den Kühlschrank,
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genehmigt sich ein Bier und bringt uns auch eins. Ich schreibe die Predigt mit, die Charlie der Mumie, die er auf ihrem scheußlichen Sofa bereitet, angedeihen lässt. «Wir alle wissen, dass Celine sich verrannt hat, als er zu einem gemeinen Antisemiten wurde - verzeihen Sie den Pleonasmus. Aber auch wir suchen nach einem Verantwortlichen, wie Bardamu. Die junge Dame hier heißt Tamara und wüsste gern, warum sie gezwungen ist, ihren Arsch zu verkaufen, um ihrer Tochter Geld schicken zu können. Der Kretin da neben mir heißt Octave und macht sich auch viele Gedanken, wie Sie an seinem Gesicht sehen können, das an einen tuberkulösen Wasserspeier erinnert. Er fragt sich, woher es kommt, dass die Welt so schlecht ist. Wer sind die Bösen? Die Serben? Die Russenmafia? Die islamischen Fanatiker? Die kolumbianischen Kartelle? Alles nur Prügelknaben! Wie die <jüdisch-freimaurerische Verschwörung> der dreißiger Jahre! Merken Sie, worauf ich hinauswill, Lady Dingsbums? Unser Sündenbock sind Sie. Es ist von großer Bedeutung, dass wir alle, die auf dieser Erde leben, die Folgen unseres Handelns erkennen. Wenn ich zum Beispiel Produkte von Monsanto kaufe, fördere ich die Genmanipulation und die Privatisierung des Saatguts. Sie haben Ihre Ersparnisse einer Finanzgruppe anvertraut, die Ihnen genügend Zinsen einbringt, dass Sie sich diese scheußliche Villa in einem guten Viertel Miamis leisten können. Sehr wahrscheinlich haben Sie die Folgen dieser für Sie ebenso harmlosen wie schicksalhaften Entscheidung nicht ausreichend bedacht, verstehen Sie? Denn diese Entscheidung macht Sie zum MASTER OF THE UNIVERSE.» Charlie tätschelt ihr die Wange, damit sie ihre tränenerfüllten Augen aufschlägt. Die klagenden Laute, die die alte Vettel ausstößt, werden vom Tuch erstickt.
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«Wissen Sie, als ich klein war», fährt er fort, «habe ich JamesBond-Filme geliebt, und da gab es immer einen Bösen, der die Welt beherrschen wollte, in einer unterirdischen Festung eine Geheimarmee zusammenstellte und damit drohte, den Planeten mit Atomraketen in die Luft zu jagen, die er in Usbekistan geklaut hatte. Können Sie sich an diese Filme erinnern, Madame Wardschön? Wie auch immer, ich habe jedenfalls vor kurzem herausgefunden, dass James Bond auf dem Holzweg war, genau wie Louis-Ferdinand Celine. Der Master of the Universe ist nämlich ganz anders, komisch, was? Er hat ein schäbiges Hauskleid, eine blöde Villa, eine blaue Perücke, eine Bandana im Kehlkopf und weiß nicht einmal, dass ers ist. Der Master of the Universe sind nämlich Sie, Frau Hausward! Und wissen Sie, wer wir sind? 007! Ta ta tan ta ta-tata tan tan tan!» Charlie summt die Musik von John Barry vor sich hin, richtig, dennoch beginnt der Master of the Universe ergreifend zu heulen, den Kopf in einem knalligen Kissen im Versace-Stil vergraben (Versace ist nicht tot, denn sein Werk lebt). «Versuchen Sie es bloß nicht mit der Mitleidstour, Frau Wardarsch. Haben Sie vielleicht Mitleid gehabt, als ganze Regionen zusammengebrochen sind unter Entlassungswellen, brutalen Restrukturierungsmaßnahmen und untauglichen Sozialplänen, die nur um Ihrer schönen Augen willen beschlossen wurden? Also keine Sperenzchen. Ein bisschen mehr Würde, wenn ich bitten darf, dann wird alles gut. My name is Bond, James Bond. Wir sind nur gekommen, weil wir Sie bitten wollten, Ihrem Pensionsfonds Templeton, der 1300 Milliarden Francs verwaltet, zu sagen, dass er in Zukunft nicht mehr die gleichen Erträge von seinen Unternehmen einfordern kann, weil sonst immer mehr Leute wie wir kommen, um Leute wie Sie zu besuchen, klar?»
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An dieser Stelle schaltete sich Tamara ein: «Warte, Charlie, ich glaube, sie will dir etwas zeigen.» Tatsächlich, die Vettel wies mit ihren Wurstfingern auf ein gerahmtes Schwarzweißfoto, das auf ihrem Beistelltisch stand. Es zeigte einen hübschen Soldaten der US-Army, lächelnd, mit einem Helm auf dem Kopf. «Mmfhghmfphh!!!», zeterte sie. Ich nahm ihr die Bandana aus dem Mund, damit wir besser verstehen konnten, was sie uns mit Mmfhghmfphh sagen wollte. Sie begann zu gackern wie ein aufgebrachtes Huhn: «WE SAVED YOUR ASS IN '44! MY HUSBAND DIED IN NORFUCKINGMANDY!! Sieh hier, IDIOT, das Foto von MEIN MANN, who ist gestorben an D-DAY BEI EUCH!!» Ich persönlich fand ja, dass sie damit einen Punkt gemacht hatte. Aber Charlie rastete völlig aus. Ich kannte seine Familiengeschichte vorher nicht. Ehrlich, ich hörte das zum ersten Mal. «Jetzt pass aber mal auf, Miss. Wir wollen uns nicht den ganzen Abend lang unsere Toten um die Ohren hauen. Ihr habt diesen Krieg nur angezettelt, um Coca-Cola zu exportieren. IT'S COCA-COLA WHO KILLED YOUR HUSBAND! Mein Vater hat sich umgebracht, weil sie ihn rausgeschmissen haben, um den Profit zu erhöhen. Und ich hab ihn gefunden, erhängt, verstehst du das, du alte Fotze? YOU KILLED MY FATHER!» Die Ohrfeige war ein bisschen heftig. Die Alte blutete aus der Nase. Ich schwöre Ihnen, ich hab versucht, ihn zu bremsen, aber der Alkohol hat seine Kräfte entfesselt. «DU HAST MEINEN VATER GEKILLT, DU ALTE SAU, DAFÜR MUSST DU BÜSSEN!»
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Er schlug auf sie ein, traf mit den Fäusten ihre Augen, zog ihr seine Bierflasche über die Nase, dass ihr das Gebiss herausflog, und steckte es ihr in die Möse, na gut, man kann es so sehen, dass er ein leidvolles Leben, das ohnehin fast am Ende war, ein wenig verkürzte, aber man könnte auch sagen, scheint mir, dass ihm die Sicherung durchgebrannt ist. Nach fünf Minuten jedenfalls (und das ist sehr lange - eine Boxrunde zum Beispiel ist viel schneller vorbei) hatte Mrs. Ward aufgehört zu atmen, und ein Gestank nach Scheiße erfüllte den Raum. Die VersaceHousse war wohl reif für die Reinigung. Tamara, die solche Ausrutscher anscheinend gewohnt war, verzog keine Miene. Nachdem sie der Alten den Puls gefühlt, das heißt, ihr Ableben festgestellt hatte, fing sie an, umsichtig und so schnell wie möglich die Schäden zu beseitigen. Sie befahl uns, die Leiche der Pensionärin am Fuß ihrer griechischrömischen Treppe abzulegen. Dann verließen wir auf Zehenspitzen die verdreckte Villa, setzten aber noch die Videokamera mit Steinen aus dem Garten außer Gefecht. «Glaubst du, dass die aufzeichnet?» «Nein, das ist bloß eine Gegensprechanlage.» «Na ja, auch wenn es Spuren gibt, uns kennt hier ja doch keiner.» Über den letzten Satz mussten die Wachmänner, die die verschiedenen Sicherheitsmonitore beobachteten, herzlich lachen (einer von ihnen stammte aus Haiti und sprach fließend Französisch); das Lachen verging ihnen allerdings, als sie feststellten, dass Mrs. Ward einem Angriff zum Opfer gefallen war und sie einen Bericht für das Miami Police Department verfassen mussten.
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Von da an habe ich aufgehört zu denken. Das Viertel war menschenleer. Charlie war wieder zur Vernunft gekommen. Und stimmte mit Tamara überein: «Das Sofa war echt zu eklig.» Wir ließen den Abend im Club Madonna ausklingen, einer Striptease-Bar, wo perfekt gestylte Tänzerinnen im String (man könnte ein Wort für diese Cyberfrauen kreieren: «perstylt») mit den Lippen Zehn-Dollar-Scheine aus deinem Hosenschlitz pflückten. Wir applaudierten ihren Brüsten, die unglaublich waren, aber auch unwahr. «So sind die Frauen», sagte Charlie, «entweder enttäuschend oder widerwärtig.» Tamara, in ihrem professionellen Stolz verletzt, verwöhnte uns dann mit einer hinreißenden Show auf der Bar, sie lutschte den Hals ihrer Corona-Flasche und steifte ihre Brustwarzen mit Eiswürfeln aus meinem Wodka, bis man uns wegen unlauteren Wettbewerbs vor die Tür setzte. Danach sind wir vor dem Payper-View-Fernseher im Hotel eingeschlafen, wo ein ausgezeichneter Pornofilm mit einem analen Double Fist lief, den ich rein technisch nicht für möglich gehalten hätte, und ich muss gestehen, dass mir von den Schreien der Darstellerin in meiner Hose einer abging. Am nächsten Tag, auf dem Rückflug nach Paris (wieder Business für 35 000 Francs pro Platz, es gab «Nest von Buchweizennudeln mit Ossietra-Kaviar an einem Ring aus dem Saft roher Tomaten») sagte mir Charlie, dass er die Ernennung zum CD annehmen würde. Ich betete, dass das Flugzeug abstürzen möge, aber wie üblich ist nichts passiert. Und so war ich an einem Tag zum Creative Director der Agentur und zum Komplizen eines Mordes geworden.
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Zurück in Paris fanden wir in unseren Rechnern folgenden EMail-Rundbrief an alle Mitarbeiter von Rosserys & Witchcraft International vor (sah aus wie von einem Übersetzungsprogramm):
Liebe Freunde der Gruppe Rosserys & Witchcraft, es ist eine meiner vornehmsten Verpflichtungen gegenüber unseren Kunden, unseren Aktionären und jedem von Ihnen die Zukunft von Rosserys & Witchcraft darzulegen. In den letzten Jahren haben wir alle von dem Glück einer außergewöhnlichen Qualität von Managern profitiert. Eine Gruppe von Individuen von Talent hat uns erlaubt, unsere Ziele als Spezialisten für integriertes globales Marketing zu erreichen, indem sie unsere Gruppe zum Marktführer in Kommunikation gemacht hat. Heute anerkenne ich ihre Bedeutung für unseren Erfolg und bereite den Weg für die Vitalität von Rosserys & Witchcraft im nächsten Jahrtausend. Mit großer Freude und Stolz teile ich Ihnen die Berufung von Jean-Francois Parcot zum Geschäftsführer von Rosserys Paris mit. Philippe Enjevin wurde zum Direktor Europa mit dem Titel Chairman Emeritus befördert. Diese Nominierungen sind ab sofort gültig. Philippe wird mehr Zeit haben zu tun, was er liebt: aktiv daran zu arbeiten, eine verbesserte Qualität von
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integrierter Kommunikation mit globalen Ergebnissen auf den Markt zu bringen. Die neue Stellung von Jean-Francois wird ihm erlauben, sich auf das zu konzentrieren, was er am besten kann: mit uns daran zu arbeiten, eine verbesserte Qualität und strategische Innovation mit unserem Bemühen um internationales Wachstum zu vereinen. JeanFrancois hat es geschafft, seit 1992 mit seinem Sinn für Dynamik und seiner Arbeitskraft das Madone-Budget zu revitalisieren. Ich lege Wert darauf, Philippe hier persönlich meinen Dank auszudrücken für seinen enormen Erfolg an der Spitze unserer französischen Filiale. Kein Zweifel, dass auch das europäische Netz von seiner Kenntnis des Terrains und unseres KundenPortefeuilles profitieren wird. Jean-Francois legte Wert darauf, die französische Kreativdirektion zu erneuern durch die Nominierung von Octave Parango und Charlie Nagoud anstelle von Marc Marronnier, dessen tragisches Ableben alle Freunde und Kollegen schockiert hat. Er wird Sie über die weiteren Veränderungen des Organigramms in Kenntnis setzen. Ich lege Wert darauf, der Familie von Marc hier mitzuteilen, wie sehr sein ungewöhnlicher Sinn für konzeptuelle Intuition und kreative Opportunität die Geschichte der Agentur und die Entwicklung der globalen Kommunikation bereichert hat. Ich werde selbstverständlich Jean-Francois, Octave und Charlie im gesamten Maßstab unserer Möglichkeiten helfen und weiß, dass Sie es genauso tun werden. Die Zukunft von Rosserys & Witchcraft sehe ich
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mit Stolz und äußerster Zuversicht. Die Leadership von R & W im 21. Jahrhundert wird auf der Topebene des Business bestehen. Mit den freundlichsten Grüßen Edward S. Farringer Jr. Dieses Arschloch von Charlie hat in unser beider Namen zugestimmt, eine Woche vor dem Dreh. Ich brauchte nur noch ein paar Papiere zu unterschreiben. Ich dachte, wenn ich annehme, habe ich vielleicht die Macht, etwas zu ändern. Das war ein Fehler: Die Macht wird nie denen verliehen, die sie womöglich nutzen könnten. Und was für eine Macht denn überhaupt? Die Idee der Macht ist doch längst überholt. Die heutigen Mächte sind so vielfältig und so verwässert, dass das System seine Macht verloren hat. Wir mit unserem gramscistischen Credo: «Man kann kein Flugzeug entführen, ohne einzusteigen!» Ironie des Schicksals! Jetzt, wo wir mit unseren Granaten in der Hand das Cockpit enterten und unseren Befehlen an den Piloten mit unseren Maschinenpistolen Nachdruck verleihen wollten, machten wir die Entdeckung, dass es keinen Piloten gab. Wir wollten ein Flugzeug entführen, von dem niemand wusste, wie es zu steuern war.
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EINER MUSS IMMER BEZAHLEN: NACH DIESER BOTSCHAFT SEHEN WIR UNS WIEDER. DIE SZENE SPIELT IM CARROUSEL D U LOUVRE, WO EIN GROSSES MODE-DEFILEE STATTFINDEN SOLL. MENSCHEN DRÄNGELN SICH VOR DEM EINGANG, DER VON EIN PAAR HÜBSCHEN JUNGS MIT ROTEN KRAWATTEN AUS DEM GYMNASIUM JANSON-DE-SAILLY BEWACHT WIRD. WIR BETRETEN DEN SAAL, DER VOR LAUTER VIPs AUS ALLER WELT FASTAUS SEINEN NÄHTEN PLATZT. DAS LICHT GEHT AUS. EIN AAAH DER ZUFRIEDENHEIT ERHEBT SICH AUS DER MENGE DER GELADENEN GÄSTE. ZUM KLANG EINES TECHNO-DIRTY-METAL HARD-ACIDHOUSE-MIX DEFILIEREN DIE MÄDCHEN VOLLKOMMEN NACKT ÜBER DEN LAUFSTEG. ANGESICHTS DER ERHABENEN SCHÖNHEIT DER VON ALLEN KLEIDERN BEFREITEN MANNEQUINS GERATEN DIE GÄSTE GÄNZLICH AUSSER RAND UND BAND: MAJESTÄTISCHE BRÜSTE, PERFEKT GERUNDETE HINTERN, ENDLOSE BEINE, RECHTECKIG RASIERTE VENUSHÜGEL. PLÖTZLICH BLEIBEN SIE MITTEN AUF DEM CATWALK STEHEN, SCHIEBEN IHRE MANIKÜRTEN HÄNDE UNTER IHRE ACHSELN UND FINDEN DORT EINEN REISSVERSCHL USS! DANN ÖFFNEN SIE IHRE GLÄNZENDEN HÄUTE UND STREIFEN IHRE EPIDERMIS AB, WIE MAN SICH AUS EINEM TAUCHERANZUG SCHÄLT. IM PUBLIKUM FÄLLT EINE ALTE HERZOGIN IN OHNMACHT. EIN BÄRTIGER SONNENBRILLENTRÄGER EJAKULIERT AUF DAS JACKETT DES VOR IHM SITZENDEN HERRN. EIN ZWÖLFJÄHRIGES MÄDCHEN LUTSCHT AN EINEM EIS IN PHALLUSFORM UND STREICHELT SICH ZWISCHEN DEN BEINEN. UNTER DER KÜNSTLICHEN HAUT SIND DIE MODELS AUS METALL. BLITZENDE ANDROIDEN, CYBORGS AUS GEHÄRTETEM STAHL. EINE IST MIT 100-EURO-NOTEN
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BEHÄNGT. EINE ANDERE BEGINNT MÜNZEN ZU SPUCKEN. EINE DRITTE WIRFT MIT KREDITKARTEN UM SICH WIE MIT KONFETTI. ES SIND RICHTIGE SPARDOSENROBOTER (EINE GIBT ÜBRIGENS MIT IHREM METALLENEN GESCHLECHT GELDSCHEINE AUS WIE EIN FAHRKARTENAUTOMAT). STANDING OVATIONS. DIE LEUTE GRUNZEN VOR VERGNÜGEN. DIE STIMMUNG IST AUFGELADEN. DIE MUSIK WIRD IMMER SCHNELLER, BIS ES NICHT MEHR AUSZUHALTEN IST. KÖPFE PLATZEN IM PARKETT. MAN BEKLAGT EIN DUTZEND HERZSTILLSTÄNDE UND MEHRERE MASSENVERGEWALTIGUNGEN IM ZWEITEN RANG. PACKSHOT- EIN REGEN VON MÜNZEN ERGIESST SICH AUF DEN NACKTEN KÖRPER EINER BLUTJUNGEN THAILÄNDERIN. Super: «SCHNELL ZUM ZIEL: KOMMEN SIE IN EINER HURE. » Gefolgt von dem gesetzlichen Hinweis: «DAS WAR EINE BOTSCHAFT DER FFFFF (FRANZÖSISCHE FÖDERATION FÜR EINE FREIGABE DER FREUDENHÄUSER). »
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V
IHR
In einer blockierten Gesellschaft, wo jeder schuldig ist, ist es das einzige Verbrechen, sich erwischen zu lassen. In einer Welt der Diebe ist Dummheit die einzige unverzeihliche Sünde. HUNTER S. THOMPSON, Las Vegas Parano, 1971
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1. Als Sieger in die Rosse zurückzukommen ist ein ganz komisches Gefühl. Erst einmal ist die Agentur umgezogen. Das alte Dampfschiff verfaulte, und ihr habt es absaufen lassen, jetzt ähnelt die Place Marcel-Sembat in Boulogne-Billancourt, wo depressive Docker im Rapper-Aufzug vor McDonald's Wurzeln schlagen, einem verlassenen Schiffsdock. Für eure neuen Räumlichkeiten dreihundert Meter weiter habt ihr eine alte Fabrik abreißen lassen, bevor sie identisch wieder aufgebaut wurde, ihr wisst nicht, warum (Asbestsanierung? Unfähigkeit des Architekten? Oder beides?) Ein zwanzig Meter hoher Kamin krönt das Gebäude wie ein Phallus aus roten Ziegeln. In ihm brennt nie etwas - jedenfalls noch nicht. Ihr genießt euren beruflichen Aufstieg. Die angsterfüllten Blicke der 300 Angestellten. Die nymphomanischen Lippen der ehemals Gleichgültigen. Den veränderten Ton der Ex-Vorgesetzten, die jetzt Untergebene sind. Die ebenso offene wie plötzliche Kumpanei jener, die sich auf einmal als eure alten Genossen und Freunde aus Urzeiten zu erkennen geben. Respekt ist der Ruin. Aber ihr habt euren bescheidenen Triumph, Charlie und du. Ihr versammelt die ganze Belegschaft und haltet folgende Rede: «Liebe Freunde, die Idee, uns zu Creative Directors zu befördern, ist so unfassbar, dass wir gar nicht anders konnten, als das Angebot von Jean-Francois anzunehmen. Es war mutiger, ja zu sagen als nein. Wir sind bereit, uns einer schwierigen Periode zu stellen: Zunächst, weil es nicht leicht ist, nach
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einem echten Genie wie Marc zu bestehen (hier lasst ihr vier Sekunden und zehn Hundertstel in betroffenem Schweigen verstreichen), und dann, weil wir publiphobe Werber sind und dieses Paradox mit eurer Hilfe überwinden müssen. Werbung ist Weltverschmutzung, und es wird unsere Aufgabe sein, eine Ökologie der Kommunikation zu entwickeln. Für uns - und deshalb auch für euch - gibt es von nun an eine Verpflichtung zur Intelligenz aus Achtung vor dem Konsumenten. Schluss mit überflüssigen Bildern auf vergeudeten Filmen! Wir haben beschlossen, die Agentur neuen Kreativen zu öffnen: verkannten Schriftstellern, verdammten Dichtern, abgelehnten SitcomAutoren, Underground-Graphikern, Pornofilmregisseuren. Es ist an der Zeit, dass die Werbung wieder an die künstlerische Avantgarde ihrer Epoche anknüpft. Die Rosse muss wieder zu dem Experimentallabor werden, das sie einmal gewesen ist; wir werden versuchen, dem kreativen Anspruch zu genügen, der stets ihr Aushängeschild war. Deshalb fangen wir mit ein paar symbolischen Maßnahmen an (die ab sofort gelten): Der Song (du bist o. k., du bist super, du bist in) der Gruppe Ottawan wird ständig über Lautsprecher laufen und als Zwischenmusik in der telefonischen Warteschleife zu hören sein. Die Telefonistinnen und Empfangsdamen in der Eingangshalle des Gebäudes sind oben ohne. Sämtliche Präsentationen von Kampagnen bei unseren Kunden werden nur noch von Kleinkunstkomikern bestritten und stimmungsvoll von einem russischen Orchester untermalt. Alle Angestellten der Rosse müssen sich zur Begrüßung zwingend auf den Mund küssen. Alle Kreativen erhalten eine Sony PCI-Kamera, um damit alle Bilder zu realisieren, die ihnen durch den Kopf gehen. Wir müssen die ursprüngliche Unschuld wieder finden, die 188
Kindheit der Kunst. Lasst uns unablässig STAUNEN. Dieses selbstgenügsame System muss zerschlagen werden, überrascht durch eine Änderung der Spielregeln, sonst erreichen wir die Leute nicht und werfen das Geld unserer Marken aus dem Fenster. Vergesst nie, und das wird unser Schluss sein, dass ihr zu EUREM Vergnügen hier seid, und nur wenn IHR euch vergnügt, könnt ihr möglicherweise auch unseren Käufern Vergnügen verschaffen. Die neue Devise der Rosse Frankreich ist von Sir Terence Conran: Sie wird morgen früh über dem Eingangsportal eingraviert. Danke für eure Aufmerksamkeit. Das Fest geht weiter!» Der Applaus war lebhaft, aber nicht sehr spontan. Ihr habt eure 300 neuen Untergebenen zu einem Umtrunk im Patio zusammengetrommelt. Die haben sich so ins Hemd geschissen vor Angst, dass sie fast davon überzeugt waren, ihr hättet die Wahrheit gesagt und alles würde sich ändern. Ihr würdet nicht mehr tun müssen, als sie allmählich zu enttäuschen, bevor ihr euch davonmacht wie euer Vorgänger (der in der Kasse ein Loch von 20 Millionen Euro hinterlassen hat). Als bedeutende neue moderne Vorgesetzte notiert ihr in eurer Agenda Dinge, die zu tun sind, um euch beliebt zu machen: 11.00 Uhr: Höflich sein zu jemand Oberflüssigem 13.00 Uhr: Ans Denken denken 15.15 Uhr: Einen Niedriglöhner beim Vornamen rufen (Personalabteilung fragen) 17.10 Uhr: Sich nach der kranken Tochter eines Untergebenen erkundigen (vor Zeugen) I9.00 Uhr: Beim Weggehen lächeln
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Nach eurem Inthronisierungs-Cocktail hat Charlie eine Überraschung für alle Senior-Kreativen organisiert. ein ChewbaccaDiner. Also habt ihr euch alle als Riesen-Orang-Utans verkleidet, bevor ihr zu Laperouse gegangen seid, in einen Privatsalon, wo zwölf Mietmädchen Kopf standen, nackt, mit gespreizten Beinen, damit ihr die frischen Austern von ihrem Geschlecht schlürfen konntet. Charlies unleugbarer Sinn für interne Motivation!
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2.
Unsere erste Kundenpräsentation war dennoch eine Katastrophe. Bei Madone hatten Alfred Duler und seine Handlanger den Maigrelette-Film (in der aseptischen Version) einem Panel von Konsumentinnen des Produkts vorgeführt, und die Testergebnisse waren nicht berühmt: Während einer lebhaften Konferenzschaltung musstet ihr euch gegen das Verdikt der Hausfrau unter fünfzig verteidigen: zu abgehoben, overpromising, anxiogen, schwacher GRP, zu geringer Impact, zu viel Maghrebinismus, nicht kredibel auf der Ebene tone and manner, Packshot nicht ausreichend attribuierbar ... Waterloo. Ihr habt euch tapfer geschlagen während der gesamten Videokonferenz, «potenzielle Modifikationen auf der Klangebene» und eine «substanzielle Vergrößerung des Packs in der PostProduction» versprochen, eine «Farbkorrektur ASAP» (As Soon As Possible) in Aussicht gestellt, die «Bedeutung einer formalen Innovation in der Produktnische» sowie «hohe Affinität und gute Recall-Werte bei der Zielgruppe» ins Feld geführt, und als ihr aufgelegt habt, gab der Kunde sein «O. k. unter Vorbehalt der in der Brand-Review fixierten Hinweise zur Farbkorrektur, Fax ASAP». Ihr erkennt, dass Chefsein nicht vorm Buckeln schützt. Ein Creative Director ist wie ein Tischler, der von seinem Kunden den Auftrag bekommt, einen wackligen Tisch herzustellen, mit der Begründung, dass er ja schließlich dafür bezahlt werde. Den Anzeigenkunden fällt das zwar nicht auf, aber aus lauter Vorsicht geben sie den größten Teil ihres Geldes dafür aus, dass
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ihr unsichtbare Werbung macht. Sie haben solche Angst, ihrer Kundschaft zu missfallen (bei ihnen heißt das «Minorisierung des Image-Kapitals»), dass sie sich regelrecht durchsichtig zeigen. Sie wollen auf euren Bildschirmen präsent sein, aber am liebsten gar nicht wahrgenommen werden. Und ihr als Creative Directors seid nur dazu gut, diese Schizophrenie zu bestätigen. Das ist die große Kette der kommunikativen Verachtung: Der Regisseur verachtet die Agentur, die Agentur verachtet den Kunden, der Kunde verachtet sein Publikum, und das Publikum verachtet seinen Nächsten. Was übrig bleibt von den 30 Sekunden Maigrelette, die in Miami gedreht wurden, ist kein Neuschnitt, sondern die Amputation einer Amputation (Wundbrand an einem nicht vorhandenen Holzbein?). Voila: Tamara in amerikanischer Einstellung sitzt auf der Terrasse eines hübschen Landhauses. (Keine Inter-Cuts vor der Produktsequenz; Beine der Schauspielerin höhen, um Consumer-Insight zu verstärken; Gesicht zur Aufhellung des Teints farbkorrigieren.) Sie sieht in die Kamera und sagt: «Bin ich schön? Man sagt es. Aber ich mache mir darüber keine Gedanken. Ich bin ganz einfach ich.» (Streichen: «Man sagt es» - weckt Zweifel, und: «Aber ich mache mir darüber keine Gedanken» - überflüssig; wenn sie sich keine Gedanken macht, warum sollte sie dann darüber reden? Ergibt am Ende: «Bin ich schön? Ich bin ganz einfach ich.») Sie greift nach einem Becher Maigrelette, öffnet ihn behutsam und nimmt einen Löffel davon. (Produkt in allen Einstellungen größer.) Während sie das Produkt genießt, schließt sie lustvoll die Augen.
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(Kann man die Einstellung verlängern? Nicht vergessen: Das ist laut Post-Test das Key Visual. Die Begehrlichkeit des Produkts muss unbedingt dramatisiert werden, um den emotionalen Zusatznutzen entkulpabilisierter Esslust zu verstärken.) Dann blickt sie den Zuschauer direkt an und fährt fort: «Mein Geheimnis ist ... Maigrelette. Ein köstliches Joghurt ganz ohne Fett. Dafür mit Kalzium, Vitaminen und Proteinen. Es gibt nichts Besseres, um Kopf und Körper fit zu halten.» (Plus 3D-Demo des Produkts, das sich in ein Glas sahnige Milch ergießt, mit den Worten «Kalzium», «Vitamine», «Proteine», «0 % Fett» in Fettschrift eingesupert, zur Verstärkung der Akzeptanz/Appetenz bei unseren Konsumentinnen.) Tamara erhebt sich und lächelt verschwörerisch: «Das ist mein Geheimnis. Aber jetzt, wo ich Ihnen alles verraten habe, ist es ja keines mehr, hihi.» (Den unnötigen Witz streichen, das sind drei Sekunden auf Kosten des Produkts. Besser mit «Das ist mein Geheimnis» enden, da im Konkurrenzkontext spezifischer; Leadership wird stärker betont.) Packshot und Super: «MAIGRELETTE. WENIGER HEISST MEHR IM KOPF.» (Bitte andere Baselines prüfen! Die unterschiedlichen Zielgruppen müssen angesprochen werden: Kinder, Senioren, Erwachsene, Jugendliche, Männer, Frauen, und zwar auf viel modernere Weise.) Jingle zur Wiedererkennung der Marke: «mm Madone». Das mit der Baseline lässt euch kalt, da ihr ja eine in Reserve habt: «MAIGRELETTE. JEDER BRAUCHT EINE PRISE LEICHTIGKEIT» (s. Akt IV, Szene 4).
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3.
Dann das Festival in Cannes, nein, nicht das für die Cineasten, sondern das andere, das wahre, das jedes Jahr im Juni, einen Monat nach der gesponserten Maskerade, unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet wie die Versammlungen der WTO oder die Symposien in Davos: die Internationale Woche des Werbefilms, auf Englisch: «48th International Advertising Festival» oder «Cannes Lions 2001». Dort finden sich die diskreten Allmächtigen ein, die Spielfilme durch Productplacement finanzieren (wie BMW James Bond oder Peugeot Taxi 1 und 2), die sich von ihrem Taschengeld Filmstudios kaufen (wie es Seagram mit Universal machte, Sony mit Columbia-triStar, AOL mit Warner Bros.), die Filme nur zum «Collection Support» produzieren, um ihr Merchandising anzukurbeln (wie Disney oder Lucasfilm), die den Planeten besitzen und bescheißen. Ein 30 Sekunden langer Werbespot erreicht viel mehr Menschen als ein anderthalbstündiger Spielfilm (der MediaPlan des Maigrelette-Clips etwa ist darauf ausgelegt, 75 % der Bevölkerung in den Zielländern zu erreichen). Werbeausgaben der wichtigsten französischen Anzeigenkunden (1998): Vivendi .............. 2,o Milliarden Francs L´Oreal .............. 1,8 Milliarden Francs Peugeot-Citroen ....... 1,8 Milliarden Francs France Telecom ........ 1,5 Milliarden Francs
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Nestle ......... . ..... Madone.............
1,5 Milliarden Francs 1,3 Milliarden Francs
Diese Marken sind im strengen Sinne unangreifbar. Sie haben das Recht zur Rede, aber niemand hat das Recht zur Gegenrede. Über natürliche Personen kann man in der Presse die schlimmsten Dinge verbreiten, aber eine Zeitung, in der ein bisschen über einen Anzeigenkunden hergezogen wird, riskiert gleich den Verlust von Millionen Francs Werbeeinnahmen. Im Fernsehen ist es noch fieser: Ein Gesetz untersagt die Nennung von Markennamen, um Schleichwerbung zu vermeiden; in Wahrheit verhindert es die Kritik an den Marken. Die Marken haben das Recht, sich zu äußern, so oft sie wollen (und zahlen sehr viel Geld dafür), aber man kann ihnen nie etwas erwidern. Und was das Buch betrifft ... wahrscheinlich wird der Roman zensiert wegen Verunglimpfung eines eingetragenen Warenzeichens, Fälschung, Piraterie, übler Nachrede, Markenmissbrauchs oder unlauteren Wettbewerbs. Das Wort Slogan stammt vom gälischen «sluagh-ghairm», Kriegsgeschrei, ab. Wir waren also gewarnt. Bei der Zollkontrolle werdet ihr gefragt: «Haben Sie etwas zu deklarieren?» Ihr antwortet: «Ja, ich habe ein Diplom in Marketing, und er hat Kunst studiert.» Charlie und du, ihr verkörpert den Erfolg in Cannes: Im RosseT-Shirt («Hier setzts Rosse» vorn und «In der Rosse sind wir die Bosse» hinten, den Claim hat ein kleiner Angestellter
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auf Mindestlohnbasis erfunden) schlendert ihr über die Croisette, jung, braun gebrannt, reich, schrecklich und supercool mit euren schwarzen Sonnenbrillen von Helmut Lang Opticals und euren New Balance an den Füßen. Eigentlich müsstet ihr die Karrieretussen auf Jobsuche poppen, die mit ihrem Book unterm Arm im Jane's Club rumhängen, den Premiere Heure gemietet hat (eine große Filmproduktion, die den Kreativen hier Honig ums Maul schmiert). Aber ihr geht lieber gratis essen am Carlton-Strand, wo euch Alain Bernard und Aram Kevorkian an ihren Tisch bitten, die Bosse von Pac (und schlimmsten Feinde von Premiere Heure; sie pflegen hier die Geschäftsbeziehungen zu ihren Sandkastenfreunden). Ihr erlebt Momente flüchtiger Freude, Augenblicke eines unerklärlichen Glücks und tauft sie «Near Life Experience». Am Buffet trefft ihr auf alle neuen Stars der Branche, als Penner verkleidet, eine langhaarige (oder kahl geschorene), schlecht rasierte Horde in zerrissenen T-Shirts, ausgewaschenen Jeans, verrotteten Basketballstiefeln mit den höchsten Gehältern der Republik. Die Namen stehen auf ihren Badges: - Christophe Lambert, Geschäftsführer von CLM-B B D O (441 Millionen Francs Bruttogewinn, Agentur von Total: «Zufällig kommen Sie nicht mehr zu uns», France Telecom: «Wir werden Sie lehren, 2000 zu lieben», Pepsi Cola: «The choice of a new generation») - Pascal Gregoire, Geschäftsführer Kreation von Leagas Delaney (einer kleinen Agentur, die zur Fußballweltmeisterschaft 98 einen Riesencoup gelandet hat: - Adidas: «Der Sieg ist in uns») - Gabriel Gaultier, Vorsitzender des Art Directors Club, eines Vereins, dem sämtliche Kreativen angehören, und CD
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bei Young & Ruhicam (481 Millionen Francs Bruttogewinn, Agentur von Orangina: «Orangina muss man gut schütteln, sonst bleibt das Fruchtfleisch unten», Stimorol: «Deutlich Dänisch», Ricard: «Achten wir das Wasser») - Christian Blachas, Direktor von C B News (ihr könnt ihn jeden Sonntagabend auf M6 sehen, wo er mit Thomas Herve «Culture Pub» moderiert) - Eric Tong Cuong, Direktor der Euro RS C G Babinet Erra Tong Cuong, wie sein Name schon sagt (Bruttogewinn unbekannt, Agentur von Evian: «Offizieller Jungbrunnen für Ihren Körper», Peugeot: «Damit Fahren Spaß macht», Canal+: «Wenn man Canal + sieht, hockt man wenigstens nicht vor der Glotze») - Benoit Devarrieux, Gründer von devarrieux-villaret (126 Millionen Francs Bruttogewinn, Agentur von CrMit Lyonnais: «Ihre Bank ist Ihnen Rechenschaft schuldig», Volvic: «Das Wasser von Volvic ist ein Segen») - Bernard Bureau, Stellvertretender Geschäftsführer von Ogilvy & Mather (472 Millionen Francs Bruttogewinn, Agentur von Perrier: «Das Wasser, die Luft, das Leben», Ford Ka: «Alles Ka») - Gerard Jean, Mitgründer von Jean & Montmarin (Agentur von Yop: «Die Yop-Jahre», Teisseire: «Sie hätten ihnen Teisseire nicht vorenthalten dürfen», Herta: «Wir nehmen das Einfache ernst») - Jean-Pierre Barbou, einer der zahlreichen CDs von BDDP@TBWA (834 Millionen Francs Bruttogewinn, Agentur von McDonald's: «McDo für Freunde», SNCF: «Wir bringen Sie zum Umsteigen», 1664: «Vier Ziffern sagen mehr als tausend Worte») - Christian Vince, Stellvertretender Geschäftsführer der Gruppe DDB France (843,5 Millionen Francs Bruttogewinn,
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Agentur von Volkswagen: «Es ist ganz einfach, sich nicht zu irren», FNAC: «Unruhestifter seit 1954», Badoit: «Essen ohne Badoit? Undenkbar!») Bertrand Suchet, Gründer und Leiter von Louis XIV (Agentur von Audi: «Äußerlichkeit ist überholt», Regina Rubens: «Atmen Sie auf, Sie sind eine Frau», Givenchy: «Ein bisschen weiter als unendlich») Auch Zzzz ist hier, so genannt, weil er sich von allen Filmproduktionen Reisen nach Moustique spendieren lässt (überall, wo er hinkommt, wird er von einem Summen empfangen, alle seine Kollegen machen «zzzzzz», das ist ziemlich komisch, aber komischerweise findet er es überhaupt nicht komisch). Auch all die Biedermänner mit Bauchansatz sind hier, die vor zwanzig Jahren zwei, drei gute Ideen hatten und sich seither irgendwie über Wasser halten. Einer von ihnen hat sein ganzes Vermögen gemacht, indem er den gleichen Slogan verschiedenen Kunden verkauft hat: «Kindy ist der Strumpf», «Kiri ist der Käse», «Banania ist der Kakao», «Kelton ist die Uhr», «Bata ist der Schuh» ... Ihr gebt euch alle Mühe, so auszusehen, als ob ihr euch blendend amüsiertet. Sich amüsieren ist das Gleiche wie sich suizidieren, außer dass man es jeden Tag tun kann. Kaum spricht man Charlie und dir gegenüber den Namen von Marronnier aus, zieht ihr eine angemessene Grimasse und sagt: «Ah lä lä lä lä lä lä lä lä, was sagst du da, er fehlt uns, ja, wir kriegen auch immer noch Post für ihn, Kataloge von ImageBank mit seinem Namen, verdammt, die könnten wirklich mal ihre Adresslisten aktualisieren, Scheiße, die Branche trauert, mit Cannes ist es jedenfalls vorbei ... Sehen wir uns abends nach der Shortlist in der Bar Martinez?»
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Die Shortlist ist die Jury-Auswahl der 200 besten Werbefilme der Welt (aus 5000 Bewerbungen). Und ihr seid dabei, mit eurem «Maigrelette. It's so good when it comes in your mouth». Die Jury aus japanischen, englischen, deutschen, amerikanischen, brasilianischen und französischen Kollegen fand euren Dogma-Clip so gewagt, dass sie sich trotz einiger Pfiffe im großen Auditorium für ihn entschieden hat. Ihr habt ihn erst in letzter Minute eingereicht, nachdem ihr ihn ein einziges Mal um drei Uhr morgens auf Canal Jimmy habt laufen lassen. Dadurch gilt er juristisch betrachtet als echte Kampagne, obwohl der Kunde ihn nie wollte und das Publikum ihn nie sah (wogegen die Version «amputiertes Holzbein» mit der neuen Headline «MAIGRELETTE. JEDER BRAUCHT EINE PRISE LEICHTIGKEIT» allabendlich in maximaler Schaltfrequenz auf TF1 ausgestrahlt wird, aber, was man gar nicht erwähnen muss, hier nicht einmal die erste Runde schaffte). Tamara müsste morgen nachkommen, und es wäre doch wirklich sagenhaft, wenn ihr kaum einen Monat nach eurer Berufung an die Spitze von Rosserys & Witchcraft Frankreich auch noch einen Preis bekämt. Ihr würdet ins Rampenlicht treten und in Presse und Fernsehen Erwähnung finden: «Frankreich, in puncto Werbekreation stets im Schlepptau der anderen westlichen Länder, hat nun doch einige Auszeichnungen eingeheimst, unter anderem einen Goldenen Löwen für einen Clip im Stil einer Porno-Travestie, den die Agentur Rosserys & Witchcraft, seit kurzem unter einem neuen Führungsduo, für Maigrelette/Madone realisierte.» In Stratigies könntet ihr eure Fotos bewundern, und darunter stünde: Octave Parango und Charlie Nagoud: «Am wichtigsten ist es, die Leidenschaften dort zu bündeln, wo sich die Begegnungen von morgen kreuzen. »
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Gesprächsfetzen vom Wasserskianleger des Majestic, wo Menschen einander zur Begrüßung in die Hand schlagen: «Dior find ich langweilig.» «Hast du den Dreißigsekünder mit dem Häschen gesehen, das Gummi-Twist springt?» «Und den Megane-Clip mit den Bremsen, bei denen sich die Haare biegen?» «Hammer. To-tal me-tall.» «Der neue Air France von Gondry ist mega.» «Die neuen Diesel, da bin ich mir nicht sicher, zu vertrackt.» «Die TAG-Heuer-Kampagne ist ein Drama.» «Die letzten Pepsi nerven.» «Was hältst du von Kiss FM mit dem fetten Schwarzen, der in seinem Käfer singt?» «Telmor. Over the top.» «Die Norweger werden wie immer alles absahnen.» «Für die Torte, die die Tunte anbrät, gibts sicher Standing Ovations.» «Das war ein echter Einfall!» «Und die zwei Typen in der Sauna, hast du das gesehen? Das stinkt doch nach Gold.» «Dein Maigrelette liebe ich, nur blöd, dass keine Tiere dabei sind. Hunde und Katzen sind der totale Bringer in Cannes.» «Hast du gewusst, dass unsere Väter fast Kompagnons waren?» «Wirklich? Lass dich umarmen! Wie war nochmal dein Name?» «Nathalie Faucheton.» «Ah, Fräulein Seitensprung, ich spann Sie gern aus, ich bin nämlich ein ganz Frecher.» Verkniffenes Lächeln. «Und kommst du nicht mit mir, so brauch ich Gewalt.» 200
«Oh, la la, und ich hab dich für seriös gehalten!» «Für mich ist jetzt endgültig Schluss: Den Winter verbringe ich auf der Südhalbkugel.» «Hast du unseren kleinen Maigrelette gesehen?» «Überfashion.» «Geile Idee, nur in der Durchführung haperts.» «Nein, ernst jetzt, geil oder ungeil?» «Also wenn du so fragst, eher ungeil.» «Hör auf, ich bin schon immunodepressiv.» «War nur ein Scherz. Nein, im Ernst, er ist grandios, nur die französische Baseline hättet ihr behalten sollen, lebt zu sehr vom Wortspiel.» «Egal. Die Amis sind so puritanisch, dass sie dafür stimmen müssen. Die finden doch jede Schweinerei superkühn, weil sie so was zu Hause nie verticken könnten.» Daumen nach oben. «Gestern auf einem Meeting sagt der Kunde zu mir: Willst du wissen, was ich ihm geantwortet hab? » Vaginales Lachen. «Mein Teamleiter kommt mir ständig mit dem . Das Wort kennt der gar nicht!» «Geschmack lernt man auch nicht an der Wirtschaftsakademie.» «Jedenfalls ist es besser, man sagt , als .» «Aber der absolute Überhype ist doch der, wo der Kerl auf ein Auto wartet, das jeden Tag vorbeifährt, und dabei singt: .»
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«Nicht gesehen. Könntest du mir die Kassette hinterlegen?» «Das ist ganz tief im Produkt und gleichzeitig reine Idee.» «Ist mir zu retro.» «Schon, aber sehr hetero.» «Ich fass es nicht, dass sie Nike shortlisten und das Bekenntnis von Hulks Frau durchfallen lassen.» «Sicher die Japaner, die haben das nicht geblickt.» «So was wie den Maigrelette-Porno muss man sich erst mal trauen.» «Das ist so doof, dass es schon wieder funktioniert.» «Das gibt ein Gemetzel.» «Kennst du den letzten Coup von Tony Kaye? Der hat verlangt, dass sie ihm einen Tunnel bauen und 600 Doraden an die Wände nageln, und hat ihn dann nie benutzt.» «Ich bring ein neues Medium raus, ein Mittelding aus Katalog und Magazin, muss unbedingt mit dir darüber reden, nennt sich Magalog.» «Warum nicht Katazin?» Zum Himmel erhobener Blick. «Und wie gehts Sophie?» «Sie erwartet ein Baby.» «Ach nee, und ich mein Kanapee.» «e-salut. » Das ist Mathieu Cocteau, ehemaliger Texter von BDP, der jetzt Internet-Sites entwirft. «e-hallo. Wie läuft dein kleines e-business?» «e-ja. In sechs e-Monaten hab ich e-200 Millionen gemacht.» «Und was e-treibst du e-hier?» «Man e-braucht euch. Ich muss werben, um meine Mist Sites
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bekannt zu machen, und Banners zur Finanzierung verkaufen. Nichts e-Neues im New Bizz: Es funktioniert wie das alte, nur durch Werbung.» «Ja, das war eine Meisterleistung, kann ich dir sagen: In den 80er Jahren haben wir den Leuten die Werbung verleidet, in den 90ern haben wir sie glauben lassen, wir seien völlig out, und in den 00ern, wir seien vom Net überholt worden. Wo wir noch nie so powerful waren!» «e-gut. Zu wenig e-Zeit zum e-Chatten. Muss ins Cybercafe am Strand, meine Mail checken. Dann also e-ciao!» «byebye.com!» Nachts, im Nibarland, tanzt ihr sitzend in euren Sesseln wie Tetraplegiker. Die Mode kommt aus New York, wo der Bürgermeister die Konzessionen für Tanzlokale so weit eingeschränkt hat, dass die Nachtschattengewächse in den Bars aufeinander kleben, in denen Tanzen verboten ist. So wedelt man im Spy, im Velvet, im Jet, im Chaos, im Liquid, im Life zu lautstarkem House mit den Armen, ohne sich vom Hocker zu rühren. Jetzt ist die Welle über den Atlantik nach Europa geschwappt. Sich aufrecht über eine Tanzfläche zu bewegen ist absolut ordinär. Wer up to date sein will, bleibt sitzen in der herrschenden Kakophonie. Eingeborene kann man in dieser Disco in Cannes leicht daran erkennen, dass sie mit den hübschen Mädchen aus der Umgebung tanzen und sich amüsieren wie Bolle, während die Werber auf ihren Bänken hocken und an ihren Flaschen nuckeln, um den Kollegen zu demonstrieren, dass sie gerade aus New York City zurück sind. Nur ihr steht extra zehnmal auf, um aufs Klo zu gehen, Charlie und du, wartet dort fünf Minuten, bevor ihr schniefend und zerzaust auf euren Platz zurückkehrt, große Gläser Wasser
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kippt und euch die Nase reibt, damit die Japaner von Dentsu denken, ihr hättet Koks, im Gegensatz zu ihnen. Diesmal fühlt ihr euch wie in einem Film von David Lynch: Eine dunkle Dimension, eine geheime Gewalt, ein zerstörerischer Wahn, verborgen hinter einer zivilisierten, lächelnden Erscheinung, erzwingen von euch ein noch breiteres Grinsen.
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4.
Und jetzt versetzt euch bitte mal in die Lage von Kommissar Sanchez Ferlosio, 53. Ihr sitzt in diesem kleinen Büro in Cannes, der Tag neigt sich dem Ende zu, ruhig seht ihr dem Wochenende entgegen, freut euch auf das Zirpen der Zikaden und euer Gläschen Weißen im Bahnhofscafe, und plötzlich heißt es: Fertig zum Gefecht! Ein internationaler Haftbefehl flattert per E-Mail auf euren Tisch, mit einem Real Video im Anhang. Doppelklick auf das Icon, und schon seht ihr in Schwarzweiß aus einer Villa drei Franzosen kommen, die ihr kaltstellen sollt. «Glaubst du, dass die aufzeichnet?» - «Nein, das ist bloß eine Gegensprechanlage.» - «Na ja, auch wenn es Spuren gibt, uns kennt hier ja doch keiner», hört ihr, bevor sie mit Steinen in der Hand auf die Kamera zugehen. Mühsam entziffert ihr die englische Botschaft unter dem Titel «First Degree Murder Prosecution» (immerhin). Euer Englisch ist nicht so gut, aber so viel kriegt ihr mit, dass die Polizei von Florida bei den Behörden der Stadt Miami Auskünfte über eine Dreherlaubnis im Februar eingeholt hat. Die Namen der drei verdächtigen Franzosen flimmern über euren Bildschirm, und bei den Berufsangaben wird euch klar, wie sie gerade auf euch kommen und das ausgerechnet jetzt, mitten im Festival. Ihr trauert den langsamen, umständlichen Zeiten eures Metiers hinterher und nehmt den Hörer ab, um euch von den Grandhotels an der Croisette die Listen der Anmeldungen durchgeben zu lassen.
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Wenn der Tag sich neigt, wacht ihr auf, Tamara und du. Das Carlton hat sehr dicke Vorhänge, und solange das Schild «Do not disturb» am Türgriff hängt, lässt euch auch der Etagenservice in Ruhe. Ihr habt die ganze Nacht gezecht, und du hattest immer noch keinen Rückfall. Statt Koks habt ihr es lieber mit Pilzen aus einem Amsterdamer Smart Shop probiert. Das verhalf dir um vier Uhr morgens zu einer Idee für die Ausschreibung von Humex Fournier (Gelatinekapseln gegen Schnupfen): Eine Blondine mit Föhnfrisur sitzt im Fond eines fetten Mercedes neben einem reichen Araber. Der Chauffeur des Wagens ist ziemlich verschnupft. Bei der Einfahrt in den Tunnel am Pont de l'Alma muss er plötzlich niesen: «Ha ... ha ...» Der Bildschirm wird schwarz. Reifenquietschen und ein schreckliches Krachen sind zu hören. Logo «Humex Fournier» und Super: «Humex Fournier. Killen Sie den Schnupfen, bevor er Sie killt.» Nicht schlecht, denkst du, als du dir den Entwurf, den du auf die Tischtuchecke gekritzelt hast, noch einmal durchliest. Der ist gut eine Million Euro wert. Aber es geht noch besser. John-John Kennedy sitzt am Steuer eines kleinen Flugzeugs über Long Island, wo die Hochzeit seiner Cousine stattfindet. Er ist schwer erkältet, hustet und niest ununterbrochen. Seine Frau Carolyn macht sich Sorgen und bietet ihm eine Kapsel Humex Fournier an. John-John lehnt ab, sie seien ohnehin schon zu spät (reimt sich auf ihren Mädchennamen Besserte). Ein plötzlicher Niesanfall bringt das Flugzeug ins Trudeln. Logo «Humex Fournier» und Super: «Humex Fournier. Bloß nicht die Nase hängen lassen!»
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Gestern Abend habt ihr euch zum ersten Mal geliebt, richtig und fruchtig. Und du, Octave, machtest dabei deinem Ruf als Penetrationsexperte wieder einmal alle Ehre. Auf MTV sang die Gruppe REM «Das ist das Ende der Welt und mir geht es gut». Tamara rückte näher an dich heran; du hast nach einer Serviette gesucht, um dir die klebrigen Finger abzuwischen, weil du gerade einen Aprikosenbeignet gegessen hattest; sie begann deine Hand abzulecken; der Rest war klar. Du hast mitgemacht, ihr habt einfach weitergemacht, wie auch immer. Ihre Lippen waren süß (der Aprikosenbeignet). Sie hat dich mit ihren schleppenden Haaren gestreichelt. Du konntest dich spiegeln im Schimmer ihrer Haut. Kaum bist du gekommen, warst du schon wieder steif. Das ist dir schon lange nicht mehr passiert. Wenn man zusammen wohnt, gibt es keine zweite Erektion. Der zweite Gang fällt aus. Dabei tut das so gut: Nach dem Höhepunkt schaut ihr euch an, trinkt ein bisschen Wasser, raucht eine Zigarette, kichert ein bisschen, und auf einmal, peng, springt euch von neuem die Lust an, die Möse ist feucht, der Schwanz tut weh, weil er so hart ist. Baseline: Ein kleiner Rückstoß, Tamara, und es geht von vorn los. Im Schlaf legten sich Schweißtröpfchen wie Tau auf ihre Schultern und ihre Stirn. Sie hat, wie Paul-Jean Toulet in Mon amie Nane sagt, «die schlafende Anmut der Kreolen, die des Nichtstuns müde sind». Dass du so lang gebraucht hast, ihr den weißen Overall auszuziehen! Wenn du gewusst hättest, wie schön das ist ... Ihre Haare sind gefärbt, aber sie sind nicht blond, sondern besonnt. Gestern Abend saß Tamara am Swimmingpool des Majestic und aß Tarama. Sie fragte: «Willst du, dass ich dich nehme?» «Eh! Du hast spitzige Brüste!» «Ohne Spitzen kein Stechen.»
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Sie brauchte nur den Kopf zu drehen und verdrehte den Männern den Kopf mit ihrem beredten Profil. (Die Haare nicht blond, sondern besonnt; das Profil stet, aber beredt; die Augen nicht braun, sondern golden wie bei einem Kapaun: Wenn man sie ansieht, schwillt alles, selbst die Worte, mit denen man sie beschreibt.) Ihre Haare kamen nur träge nach, sie hatten Mühe, ihr zu folgen, sie schwangen in ihrem Rücken und schwängerten die Luft mit einem Duft, den du kanntest: «Obsession» ... Sophies Parfum, anfangs, als sie noch spielte mit ihrer Macht über dich, mit halb geöffneten Lippen schmollend wie in einer Anzeige für Carolina Herrera. Dabei fällt dir ein, dass ihr ohne Kondom gevögelt habt. «Pass auf, Tamara, ich bin furchtbar fruchtbar.» «Da flattern mir aber die Eierstöcke. Ich nehm seit zehn Jahren die Pille. Oder bist du krank?» Ihr tut so, als wärt ihr vorm Kabelfernsehen eingeschlafen, und werdet von Charlie geweckt, der in den Hörer brüllt: «Wir haben Aids! Wir haben Aids!» «Was?» «Na, wir habens geschafft: Das Gesundheitsministerium hat uns den Etat für die Aidsvorsorge gegeben. Ist das nicht Klasse? Zehn Millionen Euro ohne Pitch!» «Was gibt es?», will Tamara von dir wissen. «Ach, nichts ... war bloß Charlie ... Wir haben Aids.» Gestern Morgen, als ihr die aus Amsterdam mitgebrachten halluzinogenen Pilze namens Psillos gegessen hattet (je 4 Köpfe und 3 Stiele), nahmen eure Gespräche eine ganz neue Wendung: «Du hast zwei Köpfe.» «Der Schrank explodiert.»
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«Ich bin starshooted.» «Ich will einen Film sehen, aber warum, ist das normal?» »Wenn ich verstanden habe, was du gefragt hast, ist es zum Antworten zu spät.» «In meinem Kopf arbeitet es dauernd.» «Ich hab mit der Minibar gekämpft.» «Der Geifer der weißen Taube trifft die alte Kröte nicht.» «Ich werde wieder ich.» «Ich hab keine Lust auf Porno. Na ja, egal, wir gucken trotzdem.» «Wir müssen euch Frauen Gründe geben, uns zu behalten.» «Ich hab einen Horror vor Sätzen, die mit anfangen.» «Du stillst meinen Durst.» «Du betrügst mich schon wieder.» «Ja, aber es wäre noch viel schlimmer gewesen, wenn ich dich geheiratet hätte.» Kennt ihr den Unterschied zwischen Arm und Reich? Die Armen verkaufen Drogen, um sich Nikes zu kaufen, und die Reichen verkaufen Nikes, um sich Drogen zu kaufen. Das Meer tanzte den dunklen Golf entlang. Es schillerte nicht, das Meer. Erst am folgenden Tag hat Tamara dir eröffnet, dass sie dich für immer verlässt. «Mit wem?» «Mit Alfred Duler, deinem Kunden von Madone! Er ist ganz verrückt nach mir. Er spricht mir jeden Tag zwanzig Nachrichten auf die Mailbox. Letzte Woche haben wir miteinander geschlafen, er hat mich ins Trianon Palace mitgenommen und war hin und weg, der ist fast gestorben vor Angst,
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echt süß. Er ist ganz nett, weißt du, er hat mir haufenweise Erklärungen gemacht; ich glaub, er will seine Frau wirklich verlassen, weißt du, sein Leben geht ihm auf den Geist.» «Das ist kein Scoop: Er geht auch Millionen von anderen Leuten auf den Geist. Und was willst du mit deiner Tochter machen? Lässt du sie in Marokko?» «Aber nein, Alfred ist einverstanden, sie wieder nach Frankreich zu holen, er will, dass wir zusammenziehen, er reicht die Scheidung ein, er will, dass wir heiraten, die Totaloperation ... Es ist irre, weißt du, wie man das Leben eines Fünfzigjährigen über den Haufen werfen kann, wenn man eine schmale Taille und eine flinke Zunge hat ...» «Und zwanzig Jahre jünger ist als seine Frau.» «He, mach nicht so ein Gesicht, du weißt genau, dass einem solche Gelegenheiten nicht oft geboten werden. Es ist die Chance meines Lebens! Ich komme unter die Haube und werde richtig bürgerlich. Ich werde zum ersten Mal ein eigenes Haus haben, das ich selber einrichten kann. Ich werde Madame Duler heißen und meine Tochter Mademoiselle Duler, wir werden ein Auto haben und in der Provence Ferien machen. Ich werde in Sicherheit sein und endlich zunehmen können! Aber dich vergesse ich nicht, du kommst doch zur Hochzeit, ja? Ich hätte dich auch gern als Trauzeugen gehabt, aber Alfred möchte das nicht, er ist sehr eifersüchtig auf meine Vergangenheit.» «Du hast ihm alles erzählt?? Pass auf, er ist immerhin mein größter Anzeigenkunde!» «Äh, nein, nicht in allen Einzelheiten, da legt er gar keinen Wert drauf, aber er ahnt natürlich, dass etwas war zwischen uns.» «Was gar nicht wahr war bis gestern Abend.»
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«Ja, deswegen musste ich dich auch überfallen, weil es mich genervt hat, dass wirs nie getrieben haben miteinander. Sag mal, du warst ja gestern in Hochform, wars schön, hats dir gefallen? Ich wollte nicht gehen, bevor du die Ware geprüft hast. Schließlich ist mir das alles nur deinetwegen passiert ...» (Dabei zeigt sie auf die Elle, von deren Titel sie lächelt, fotografiert von Jean-Marie Perier, Headline: «Tamara Maigrelette auf Maghrebinisch».) «Und du willst gar nicht zur Verleihung der Löwen mitkommen?» «Alfred hält nicht viel davon, verstehst du, er ist ziemlich besitzergreifend, und ich möchte ihn lieber nicht verärgern. Außerdem hat er auch nicht ganz Unrecht. Er meint, wenn ich zum Film will, darf ich mich nicht in der Werbung verschleißen.» «Das ist also das Ende? Und ich hab grade angefangen, dich zu lieben!» «Hör auf! Als du es das letzte Mal gesagt hast, war es zu früh, und jetzt ist es zu spät.» Da küsst sie dich auch schon zum letzten Mal, und du lässt ihr zierliches Handgelenk los. Du lässt sie gehen, weil du alle gehen lässt. Du lässt sie ziehen auf die Laufbahn des Superstars, die ihr alle kennt. Du fühlst dich mehr und mehr tuberkulös. In der Sekunde, da sie die Tür schließt, beginnt die Sehnsucht nach allen Sekunden, die vorher waren. Der Himmel zergeht im Ozean: Das heißt Horizont. «In der Morgenröte des dritten Jahrtausends ... » Sie wurde so lange angekündigt, dass es ein merkwürdiges Gefühl ist, sie nun zu sehen, die Morgenröte des dritten Jahrtausends ... Gar nicht
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so schlimm. Öltanker kreuzen die Bucht und lassen das Meer in ihrem Kielwasser schillernd zurück (das heißt verschmutzt). Du betrachtest das Ultraschallbild von Sophie, das mehr und mehr verschwimmt, aber du zuckst nicht mit den Lidern, du lässt die Augen offen, bis deine Wangen nass sind. Ihr trefft auf Menschen, die euer Leben verändern, es aber nicht wissen und euch schrittweise verraten, ihr seht sie mit dem Feind paktieren und am Ende abziehen wie eine Armee nach der Plünderung, im Hintergrund Trümmer und untergehende Sonne.
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5. Ihr seid Produkte einer Epoche. Nein. Der Epoche den Vorwurf zu machen ist zu einfach. Ihr seid Produkte. Da Menschen für die Globalisierung uninteressant sind, musstet ihr Produkte werden, damit die Gesellschaft sich wieder für euch interessiert. Der Kapitalismus verwandelt Menschen in verderbliche Joghurts und dopt sie mit Spaß, das heißt, drillt sie auf die Vernichtung ihres Nächsten. Um euch zu entlassen, wird man nur euren Namen über den Bildschirm in den Papierkorb ziehen müssen und anschließend im Menü «Datei» auf «Papierkorb leeren» klicken. Dann fragt der Rechner: «Soll dieses Objekt wirklich gelöscht werden? Löschen. O. K. » Man wird nur auf O. K. klicken müssen, um euch abzuschaffen. Einmal hieß es in der Werbung: «Ein kleiner Klick ist besser als ein großer Schock», doch heute führt ein kleiner Klick zum großen Schock. Wenn ihr schon ein Produkt seid, hättet ihr gern einen unaussprechlichen, komplizierten, schwer zu merkenden Namen, den Namen einer harten Droge, ihr wärt gern kackfarben, eine starke Säure, die einen Zahn in einer Stunde auflöst, eine übersüßte Flüssigkeit mit bizarrem Geschmack und würdet trotz dieser eklatanten Mängel die bekannteste Marke der Welt bleiben. Ihr wärt am liebsten eine Dose ätzendes Coca-Cola. Bis dahin würdet ihr, wenn ihr Charlie Nagoud in seinem Hotelzimmer wärt, verschiedene Sex-Sites ansurfen und wärt damit zufrieden, euch ein «entspannendes» Video (wie ihr
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immer sagt) herunterzuladen, in dem eine junge Asiatin ein Pferd bläst, bevor sie einen Liter seines Samens spuckt, was euch daran erinnern würde, dass es höchste Zeit ist, euch schön zu machen für die öffentliche Verleihung der internationalen Löwen. Nur dass Odile, die nicht mehr Praktikantin wäre, sondern frisch gebackener Senior AD, seit einer Dreiviertelstunde das Bad belegte. Wenn ihr Octave Parango wärt, stündet ihr vor dem großen Saal des Festivalpalasts, dieses großen, neonazistisch anmutenden Blockhauses an der Croisette, wisst ihr, wo die Stars unter den Blitzlichtsalven der Fotografen die Treppen von Cannes hinaufsteigen. Ihr stündet euch die Füße platt mitten in einem Haufen von Werbern im geliehenen Smoking, die die Verleihung der Eigenlobtrophäen miterleben wollen. Stimmengewirr dränge an eure Ohren, schwere Parfums und Angstschweiß stiege euch in die Nase. Ihr blicktet zum Meer mit seinem feinen Sandstrand und den weißen Yachten. Dreht euch ruhig um, ihr seht keine zweitausend Jahre hinter euch, nur einen blöden Holländer. Dann säht ihr wieder den fünftausend Jahre alten Sand und dem ist eure Fresse Jacke wie Hose. Was sind schon zwei Jahrtausende für den Sand? Weil ihr ein paar Jahre vor einem Kalendersprung geboren seid, braucht ihr doch keinen solchen Aufstand zu machen. Ihr wisst, dass ihr es immer schaffen werdet. Ihr braucht nur eine Idee. Euch wird immer was Blödes einfallen, um wieder up to date zu sein: Ihr werdet den Leuten Pornos verkaufen, in denen sie mit ihren Eltern schlafen, die in synthetisierten Bildern wieder auferstehen, ihr werdet fettfreies MaigreletteJoghurt mit Fallschirmen über einem Land abwerfen, in dem
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eine Hungersnot herrscht, ihr werdet eine Droge in Zäpfchenform oder Zäpfchen in Dildoform auf den Markt bringen, ihr werdet Coca-Cola vorschlagen, das Gesöff rot zu färben, um die Kosten für die Etikettierung einzusparen, ihr werdet dem Präsidenten der Vereinigten Staaten vorschlagen, bei innenpolitischen Problemen jedes Mal den Irak zu bombardieren, ihr werdet Calvin Klein vorschlagen, transgene Nahrungsmittel zu lancieren, Madone, Bio-Kleidung zu designen, Bill Gates, alle armen Länder aufzukaufen, Nutella, Pralinenseife zu produzieren, Lacoste, vakuumverpacktes Krokodilfleisch zu kommerzialisieren, Pepsi-Cola, einen eigenen blöd-blauen Fernsehsender zu kreieren, der Gruppe TotalFinaElf, Hostessenbars in allen Tankstellen zu etablieren, Gillette, einen Rasierer mit 8 Klingen einzuführen ... Ihr werdet es doch immer schaffen, oder? Dann allez hopp und auf in den Tanz!
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6.
Der Saal ist knallvoll. Euer Herz schlägt sehr laut. Ihr fahrt euch mit der Hand durch die Haare und sprüht euch DeomintSpray in den Mund. Die Stunde eures Ruhmes hat geschlagen. Ihr seid ein bisschen böse auf Tamara, dass sie euch hat sitzen lassen, ist aber nicht so schlimm, Odile züngelt mit Charlie, im Saal sind 6000 Leute, man ruft euch vielleicht auf die Bühne, wenn ihr die Auszeichnung kriegt ... Alles ist gut. Und warum dann das immer verkrampftere Lächeln? Ihr knüpft ein Gespräch mit eurer Nachbarin zur Linken an: «Hi. My Name is Charlie und das ist Octave.» «Ich weiß, ihr seid die neuen Bosse der Rosse.» «Ach, eine Französin, wie schön. Und wo arbeiten Sie?» «In der Rosse. Adeline, Productionerin.» «Stimmt ja, natürlich, Adeline, jetzt erkenne ich dich wieder. Verzeih, wir haben sehr wenig geschlafen die letzten drei Tage.» «Kein Problem. Glaubt ihr, dass der Maigrelette-Film Chancen hat?» «Schwer zu sagen. Schon möglich. Er ist so doof, dass er durchkommen könnte.» «Ach ja, richtig, das muss ich euch noch sagen: Lady Di und John-John gehen in Test.» «Ich weiß, ich weiß. Und wir haben Aids.» «Ja, bin aware. Wir sind damit in der Going-over-Phase.» Das Licht geht aus. Lebhafter Beifall. Ihr schlagt die Beine
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übereinander, schaut auf eure Uhr und wartet auf eure Kategorie (Milk & Dairy Products). Ihr kämmt euch noch einmal mit den Fingern die Haare, und die kreativsten Clips der Welt ziehen an euren Augen vorbei: unglaubliche Delirien über Cornflakes, Diätkost, Parfums, Jeans, Shampoos, Wodka, Schokoriegel, Nudeln, Pizza, Computer, kostenlose Internet-Sites, Hundefutter, Geländewagen, Momente von Phantasie und Selbstironie, die wundersamerweise der Wachsamkeit der Anzeigenkunden entgangen sind, innovative Typographien, unscharfe Aufnahmen grüner Äpfel, grobkörniger 16-mm-Film, Design von morgen, «interpellierende» Sätze, dreidimensionale rote Logos, hinduistischer Zeichentrick, parodistische Jingles, Sprachspielereien auf höchstem Niveau, gepfeilte Wörter, Etats auf Anschlag, handgeschöpfte Filme, Massen in Zeitlupe, freigesetzte Emotionen und lauter hübsche Mädchen, weil alles auf ihnen aufbaut, was anderes interessiert die Leute nicht. Ihr versucht, entspannt zu wirken neben eurer Nachbarin, die auf ihrem Sitz herumrutscht und vor sich hin summt, um relaxt zu erscheinen. Hätte Albert Cohen diese Szene vor 1968 gesehen (was aber vor 1968 unmöglich war, weil sie daraus folgt), hätte ihn das zu den Spielchen seiner Schönen des Herrn inspiriert. «And the winner is ... Maigrelette - The Nymphomaniac by Rosserys & Witchcraft France!» Ehre sei dir, Goldener Löwe. Hosianna dem höchsten der Himmel. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit Amen. Ihr platzt vor Freude, «yyyyesss! », lauft den Gang hinunter, erklimmt die Stufen,
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ihr schickt euch gerade an, Enrique, dem Regisseur, zu danken, «ohne den wir hier nicht stünden», sowie der schönen Tamara, «die das alles erst möglich machte», und zu verkünden, ihr wolltet «eine Hymne auf das Leben singen, voller Achtung für das menschliche Timing», und so weiter und so weiter, da haben sie euch erwischt. Drei Polizisten packen euch vor den Augen des gesamten internationalen Berufsstands, und Kommissar Sanchez Ferlosio höchstpersönlich legt euch die Handschellen an wegen Mordes an Mrs. Ward in Coral Gables, Miami District, Florida State. In gewisser Weise, könnte man sagen, habt ihr euch selber aus dem Feld geschlagen.
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7. «So ist das Leben: Du wirst geboren, du stirbst, und dazwischen hast du Bauchweh. Leben heißt Bauchweh, die ganze Zeit: mit 15, weil du verliebt bist; mit 25, weil du Angst vor der Zukunft hast; mit 35, weil du trinkst; mit 45, weil die Arbeit dich auffrisst; mit 55, weil du nicht mehr verliebt bist; mit 65, weil du Angst vor der Vergangenheit hast; mit 75, weil der Krebs dich auffrisst. Sonst hast du nichts getan, außer deinen Eltern zu folgen, den Lehrern, den Chefs, den Gatten, den Ärzten. Manchmal hast du geahnt, dass du ihnen scheißegal bist, aber zu spät, und eines Tages sagt einer von ihnen zu dir, du wirst sterben, dann stecken sie dich in eine Holzkiste und bringen dich auf dem Friedhof von Bagneux im Regen unter die Erde. Und ihr glaubt, das bleibt euch erspart? Umso besser für euch. Wenn ihr das lest, bin ich tot. Ihr werdet leben, ich nicht. Ist das nicht erschütternd? Ihr werdet spazieren gehen, trinken, essen, ficken, ihr könnt es euch aussuchen, nur ich werde nichts davon tun, weil ich anderswo bin, an einem Ort, den ich nicht besser kenne als ihr, aber kennen werde, wenn ihr diese Zeilen lest. Der Tod wird uns trennen. Das ist nicht traurig, nur dass ich, die Tote, und ihr, die ihr diesen Brief lest, auf verschiedenen Seiten einer unüberwindlichen Mauer stehen und trotzdem miteinander reden können. Leben und einer Leiche zuhören, die zu euch spricht - praktisch, das Internet. Euer liebstes Gespenst Sophie.»
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Ihr starrt euch feindselig an, Sophies Eltern und du: Warum solltet ihr im Sprechzimmer miteinander sprechen können wenn Sprechzimmer zum Sprechen da wären, wüsste man es -, jetzt, wo Sophie nicht mehr da ist, wenn ihr es nicht einmal konntet, als sie noch lebte. Schließlich sind sie doch zu Besuch gekommen ins Gefängnis von Tarascon, zu dir, Octave, dem Rabenvater, der bei Familienfesten stets von oben herab behandelt wurde. Sie haben geschwollene Augen mit Ringen drum herum. Vier große rote Kugeln der Verzweiflung im Kopf. «Sie hat die Nachricht aus einem senegalesischen Hotel per EMail übers Internet geschickt. Und du hast nichts von ihr gehört seit ... » «Seit unserer Trennung? Nein. Und ich habe es oft genug versucht.» Den Schlag verzeihst du ihr nicht. Als Marronnier sich umgebracht hat, war sie in Senegal ... Haben sie sich gemeinsam vom Acker gemacht? Was hat sie mit ihm dort getrieben? Verdammt, es ist hart genug, wenn man erfahren muss, dass man cornuto ist, aber wenn man es postum erfährt und im Knast ... «Das kann nicht sein, das ist nicht wahr, das ist nicht wahr, das kann nicht sein.» (Eine Stunde lang sagt ihr abwechselnd diese beiden Sätze, sinnlos, euer Gejammer hier zu wiederholen.) Du betrachtest die beiden Alten mit dem zitternden Kinn. Kaum hast du das Sprechzimmer verlassen, brichst du beim Anblick des Anzeigenmagazins von Air Liberte in Tränen aus. Du heulst nicht zum ersten Mal, seit du im Knast bist. Eigentlich heult ihr für harte Männer ziemlich häufig, Charlie und du. Charlie wollte sich sogar aufhängen am Tag nach seiner Einlieferung. Du jammerst und klagst:
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«Ich liebte sie nicht mehr und werde sie immer lieben nur hab ich sie nicht genug geliebt obwohl ich sie immer geliebt hab aber nicht liebte wie sie es verdiente.» Du weinst noch immer, als du diese Zeilen schreibst. Bergson definierte das Lachen als etwas Mechanisches, das etwas Lebendiges überdeckt. Tränen sind also das Gegenteil: etwas Lebendiges, das etwas Mechanisches überdeckt. Also ein Roboter, der eine Panne hat, ein Dandy, der vom Natürlichen überwältigt wird, ein Einbruch der Wahrheit in die totale Künstlichkeit. Plötzlich schlägt dir ein Unbekannter vor, dir mit der Gabel in den Bauch zu stechen. Plötzlich schlägt dir ein Unbekannter vor, dich unter der Dusche in den Arsch zu ficken. Plötzlich schlägt dir eine Unbekannte mit einem Ultraschallbild ihren Abschied vor. Wenn eine Schwangere sich umbringt, macht das zwei Leichen zum Preis von einer, wie bei einem Waschmittelsonderangebot. Und Mylene Farmer singt dazu frech im Radio: «Wenn ich von hoch oben stürze, soll mein Fall langsam sein.»
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DIE LETZTE WERBEPAUSE, BIS BALD.
IN EINER LEEREN WOHNUNG SITZT EIN MANN ALLEIN AUF DEM BODEN. FLASHBACK IN ZEITLUPE (SCHWARZWEISS): MAN SIEHT, WIE GERICHTSVOLLZIEHER SEIN HAB UND GUT DAVONTRAGEN. MAN SIEHT EINE HÄUSLICHE SZENE MIT SEINER FRAU, DIE TÜR KNALLEND DIE WOHNUNG VERLÄSST. MAN BEGREIFT, DASS ER ALLES VERLOREN HAT. DANN SIND WIR WIEDER BEI IHM. ER BLICKT VERZWEIFELT IN DIE KAMERA. EINE STIMME AUS DEM OFF SPRICHT IHN AN: «IHRE FRAU HAT SIE VERLASSEN? SIE HABEN KEINEN EURO MEHR? SIE SIND BLÖD UND HÄSSLICH? DEM LÄSST SICH IM HAND UMDREHEN ABHELFEN.» DER MANN HORCHT AUF. BETRÜBT SCHÜTTELT ER DEN KOPF. AUF EINMAL NIMMT ER EINEN REVOLVER AUS DER TASCHE UND HÄLT SICH DEN LAUF AN DIE SCHLÄFE. DIE STIMME AUS DEM OFF FÄHRT FORT «STERBEN HEISST FREI SEIN WIE VOR DER GEBURT. » DER MANN SCHIESST SICH EINE KUGEL IN DEN KOPF. SEIN SCHÄDEL PLATZT. DAS HIRN SPRITZT AN DIE WÄNDE. DOCH ER IST NOCH NICHT GANZ TOT. MIT BLUTÜBERSTRÖMTEM GESICHT LIEGT ER ZITTERND AUF DEM BODEN. DIE KAMERA NÄHERT SICH SEINEM MUND. ER MURMELT. «DANKE, TOD.» DANN BEWEGT ER SICH NICHT MEHR, UND SEINE OFFENEN AUGEN SIND STARR ZUR DECKE GERICHTET. VERSCHWÖRERISCH RAUNT DIE STIMME AUS DEM OFF: «PER DU MIT DEM TOD: BRING DICH UM! FREITOD FÜR LEBENSABBRUCH UND SORGENSTOPP.»
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Super und Logo der FFFFF: «NIE WIEDER VERZWEIFLUNG: FREITOD IST EINE LEISTUNG.» Gefolgt von dem gesetzlichen Hinweis: «DAS WAR EINE BOTSCHAFT DER FRANZÖSISCHEN FÖDERATION FÜR EINEN FRIEDLICHEN FREITOD (FFFFF)» ALTERNATIVE BASELINES: «DER TOD: TOTAL UP TO DATE.» «GEGEN DAS LEBEN- FÜR DEN TOD! » «LEBEN? ÜBERLASS DAS DOCH DEINEN FREUNDEN!»
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VI
SIE
Ich habe gesagt, es wird keine fabelhaften Reisen mehr geben, nachdem ich im College war und so. Mach doch die Ohren auf. Es wäre nicht mehr das Gleiche. Wir müssten dann mit unsern Koffern im Lift hinunterfahren. Wir müssten uns von allen Leuten telefonisch verabschieden und ihnen von jedem Hotel Postkarten schicken. Und ich würde in einem Büro arbeiten und einen Haufen Geld verdienen und im Taxi oder mit dem Autobus ins Büro fahren und Zeitungen lesen und die ganze Zeit Bridge spielen und ins Kino gehen und blöde Kurzfilme und neueste Moden und die Wochenschau sehen. Die Wochenschau, heiliger Bimbam. Man sieht immer irgendein blödes Pferderennen und so ein Weib, das über einem Schiff eine Flasche zerschlägt, und einen Schimpansen, der in Hosen Rad fährt. Es wäre gar nicht mehr das Gleiche wie jetzt. Du weißt überhaupt nicht, was ich meine. J . D. SALINGER Der Fänger im Roggen, 1951
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1.
Sie sind nicht tot. Sie sind auf einer Insel. Sie atmen und schlendern. Marc Marronnier und Sophie machen sich lächerlich und darüber lustig. Das liegt an der Freude, die Freude ist schuld. Sie leben im Wasser. Am Ende lieben sie einander, denn wenn man sich zu oft liebt, verwechselt man das mit dem Gefühl. Sie haben Senegal verlassen für eine kleine Hütte ohne Telefon, Radio, Disco, Klimaanlage, Dosenbier, nichts außer ihnen. Sie braten den Fisch von den Fischern des Dorfes mit Kokosreis und panschen unter weißen Wolken in Punsch. In Senegal haben sie außer einem netten Amerikaner niemand getroffen am Strand. Es geht ihnen gut, danke, sie sind geflohen, sie haben gewonnen. Allmählich lachen sie sich krumm und schief. Umgebracht hat sie der Amerikaner. Die Jungs, die Autos abfackeln, haben die Gesellschaft durchschaut. Sie tun es nicht, weil sie sie nicht haben können: Sie fackeln Autos ab, um sie nicht haben zu wollen. Wie hinreißend sie sind. Marc und Sophie verdienen ihre Sitcom-Namen. Ghost Island, Cayman-Archipel. Wie sind sie da wohl hingekommen? Der Amerikaner nannte sich Mike, aber der Name tut nichts zur Sache, außerdem war er wahrscheinlich falsch. Mit seinem zerklüfteten Gesicht sah er dem Fotografen Peter Beard ähnlich. Er stellte sich als FBI-Agent im Ruhestand vor.
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Am Strand des Savana in Saly freundeten sie sich mit ihm an. Nach ein paar Zechtouren schilderten sie ihm ihre Lage: Marcs Unterschlagungen, seine baldige Entlassung, Sophies Schwangerschaft, ihre Lust, alles hinzuschmeißen. Mike schlug ihnen einen Deal vor: Sie sollten auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Ihren Tod vortäuschen, um abzutauchen. Er kannte das Prozedere, er hatte als FBI-Beauftragter für das Zeugenschutzprogramm jahrelang die «Pentiti» der Mafia betreut. Das war seine Berufserfahrung: ehemalige Kriminelle zu verstecken, ihnen ein neues Gesicht und eine neue Identität zu verschaffen und sie dann an einen geheimen Ort zu bringen. Jetzt hatte er einen Trick gefunden, sein Einkommen aufzurunden: Er ließ Privatpersonen in den Genuss seines Könnens kommen. Er stellte nur eine Bedingung: Sie durften nie mehr zurück nach Hause. Um Marc und Sophie zu töten, brauchte er nur eine Mini-Polaroid, echte US-Pässe, einen ganzen Haufen offizieller Stempel, und so wurden Marc und Sophie zu Patrick und Caroline Burnham. Wenn man den Leuten zu oft erklärt, dass ihr Leben keinen Sinn hat, drehen sie irgendwann völlig durch, rennen schreiend durch die Gegend, weil sie ein Dasein ohne Zweck nicht hinnehmen können, und wenn man sich das einmal überlegt, ist es auch wirklich ziemlich unerträglich, sich sagen zu müssen, dass man zu nichts da ist außer zum Sterben, und da wundert es einen dann nicht, dass jeder auf dieser Welt einen Stich hat. Was ist Glück? Weißer Sand, blauer Himmel, salziges Wasser. «Das Wasser, die Luft, das Leben», wie es bei Perrier heißt. Das Glück besteht darin, in eine Perrier-Anzeige einzusteigen, zu der Pacific-Reklame mit dem berühmten Abdruck eines nackten
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Fußes zu werden, der aus dem Meer kommt und sich sofort verflüchtigt auf dem glühend heißen Steg. Marc und Sophie haben Werbung gemacht; Patrick und Caroline sind selber eine. Sie haben sich entschieden, das Leben in einer ihrer Schöpfungen zu verbringen, ein sonnengebräuntes Klischee abzugeben, ein Cover für Voici, eine Maigrelette-Kampagne mit Teak-Veranda vor exotischem Background, eine ClubMed-Anzeige mit schöner Typo im weißen Rahmen.
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2. Skript: PATRICK IST NOCH JUNG UND SCHÖN. ER FLITZT MIT EINEM AUSSENBORDER ÜBERS MEER. DIE ROLLE KÖNNTE MARC MARRONNIER ÜBERNEHMEN. ER SPRINGT AUS SEINEM FAHRENDEN BOOT INS MEER UND SCHWIMMT ZUM STRAND ZURÜCK. EINE BEZAUBERNDE FRAU MIT EINEM HÜBSCHEN LÄCHELNDEN BABY AUF DEM ARM KOMMT IHM ENTGEGEN. ER EILT ZU IHR HIN. ERGREIFENDE MUSIK VON GABRIEL YARED. DIE ROLLE DER FRAU KÖNNTE MAN MIT SOPHIE BESETZEN, OCTAVES EX. SIE SCHMIEGEN SICH ANEINANDER UND HEBEN IHR KIND ZUM STRAHLEND BLAUEN HIMMEL EMPOR. IN DEM MOMENT FLIEGT EIN WASSERFLUGZEUG ÜBER SIE HINWEG. CLOSE-UP AUF IHRE GESICHTER MIT DEN ERSTAUNT AUFGERISSENEN AUGEN. DAS BABY BEGINNT ZU LACHEN. ERNEUTER KAMERASCHWENK ZUM FLUGZEUG, DAS SICH ALS LÖSCHFLUGZEUG ERWEIST, UND JETZT VERSTEHT MAN, WARUM IHRE GESICHTER SO LEUCHTEN: DAS FLUGZEUG ZIEHT EINE SCHLEIFE UND LÄSST FÜNFZIG TONNEN BUNTES KONFETTI AUF SIE HERUNTERREGNEN. DIE MUSIK ERFÜLLT DEN RAUM (TON IN DER POST RAUFFAHREN). ZEITLUPE, ZURÜCK ZUM STRAND, TOTALE MIT DEM LOUMAKRAN VON OBEN. WENN DER ZUSCHAUER DIESEN MOMENT REINER
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SCHÖNHEIT VOR AUGEN HAT, MÜSSEN SICH ALLE SCHLEUSEN BEI IHM ÖFFNEN: DAS VEREINTE PAAR, DIE VOLLKOMMENE SZENERIE, DAS UNSCHULDIGE BABY, DER REGEN VON ROTEM, BLAUEM, GELBEM, GRÜNEM UND WEISSEM KONFETTI. JETZT KANN MAN AUCH SEHEN, DASS SIE AUF EINER EINSAMEN INSEL SIND, INMITTEN VON KOKOSPALMEN UND WEISSEM SAND. CLAIMS (ZUR WAHL): GLÜCK IST DIE NIEDERLAGE DES UNGLÜCKS. GLÜCKLICHSEIN IST KEIN UNGLÜCK. DAS GLÜCK GEHÖRT NICHT NUR NESTLE. DER GLÜCKLICHE IST WOHLGEMUT, GLÜCKLICHSEIN TUT MEHR ALS GUT.
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Wie vollkommen sie sind. Sie lieben einander auf einer flachen Privatinsel des Cayman-Archipels. Ghost Island ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Sie verbringen ihre Tage in der Betrachtung des Himmels und des Meeres und eines Kindes, das lächelt, wenn es den Himmel und seine Mutter ansieht. Die Bäume haben keine Marke: Es klebt kein Logo «Kokospalme» dran. Caroline und Patrick haben den Ausweg gefunden: Sie lauschen der Stille, am liebsten in der Hängematte. Nicht ich kümmere mich um meine Tochter, sagt Caroline, sie kümmert sich um mich. Sie vertrauen dieser Welt, weil sie glauben, ihr entkommen zu sein. Die Dinge dieser Welt sind nicht so stark wie das Leben dieser Welt. Sie wissen endlich, was Liebe ist. Sie betrachten ihre Tochter, betrachten einander und fangen von vorn damit an, unaufhörlich. Das Baby betrachtet die Pelikane. Stunden, Tage, Wochen tun sie nichts anderes. Man könnte einen Scheißschiefhals davon kriegen, und wer das nie erlebt hat, ist arm dran. «Ich bin gegangen, weil alles getan war. » « Was sagst du da?» «Ich bin gegangen, weil ich drauf und dran war zu ersticken. »
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Irgendwo in der Karibik, zwischen Kuba und Honduras, hat Gott die Cayman-Islands hingestreut. Man kommt mit einem kleinen Flugzeug hin. Die Landebahn des Flughafens von Little Cayman quert die einzige Straße. Das Dorf hat weniger als 20 Bewohner, wenn man die Leguane nicht mitzählt. Auf Grand Cayman gibt es 600 Finanzinstitute mit Nummernkonten. Die Caymans sind eine britische Kolonie mit einer unabhängigen Regierung und 35 000 im Handelsregister eingetragenen Off-Shore-Unternehmen. Nach Ghost Island gelangt man mit einem geheimen Pirogen-Taxi (Mike hat sie dorthin begleitet). Sie werden sich dort wohl fühlen. Außerdem fühlen sie sich jetzt schon wohl: Kokosnüsse, Vanille-Rum, Honig, Gewürze, Salzluft, Calvin Kleins Obsession, Ganja und Regen am Ende des Tages. Blütenduft und Schweißgeruch. «Ich trinke deinen Mund, ich lecke deine Zähne, ich sauge deine Zunge. Ich atme deine Seufzer und schlucke deine Schreie. » Gegen eine Million Euro in Scheinen hat Mike alles organisiert: die Überführung ihrer angeblichen Asche nach Paris, Sophies Abschieds-E-Mail, den Transfer ihrer geheimen Rücklagen aus der Schweiz ... Üblicherweise schickte er seine Kunden in den Escape Complex Castaneda, das Resort, wo es das ganze Jahr über schön ist. Ein Ensemble von Bungalows aus Palisander, Filao und Teak, versteckt in einem Wald aus Hibiskus und Frangipani. Sie wohnen in einer Hütte aus Schilf, einem kleinen Pfahlbau über einer azurnen Lagune. Jeden Abend treffen sie die anderen falschen Toten der Insel: Die Sänger Claude Francois, 231
62, und Elvis Presley, 66, hören dem kleinen Kurt Cobain, 34, zu, wenn er mit Jimi Hendrix, 59, Country-Songs komponiert; der ehemalige Premierminister Pierre Beregovoy, 76, plaudert mit Francois de Grossouvre, 81; der Schriftsteller Romain Gary, 87, geht Hand in Hand mit seiner Frau Jean Seberg, 63, spazieren; der Werber Philippe Michel, 61, spielt Tennis mit Michel Berger, 54; Arnaud de Rosnay, 55, erteilt Alain Colas, 58, Unterricht im Windsurfen; John-John Kennedy, 44 schlendert Arm in Arm mit seinem Vater John Fitzgerald Kennedy, 84, und der Schauspielerin Marilyn Monroe, 75, über den Strand. Während die leichte Brise die Palmen zu riesigen Fächern sträubt, teilen sich Patrick und Caroline eine Orangeade mit Serge Gainsbourg, 73, und Antoine Blondin, 79, die auf der anderen Seite der Insel zusammen mit Klaus Kinski, 75, und Charles Bukowski, 81, in einer Bambushütte mit Palmdach wohnen. Der psychedelische Schriftsteller und (gemeinsam mit dem inzwischen verstorbenen Pablo Escobar) Begründer des Escape Complex, der seinen Namen trägt, Carlos Castaneda, ca. 61, isst mit Jean Eustache, 63, sein Peyotl und studiert dabei die Börsenzuwächse des Kapitals von Ghost Island. Die Geheiminsel finanziert sich in der Tat selbst aus den Zinsen des von allen ihren Einwohnern eingebrachten Kapitals (das Eintrittsticket wurde auf 3 Millionen Dollar festgelegt). Ein Ärzte- und Chirurgenteam aus Genspezialisten und Bionikern kriegt es hin, das Leben aller Inselbewohner auf ungefähr 120 Jahre zu verlängern. Alle Einwohner von Ghost sind offiziell verschieden in den Augen der Welt*, aber das ist kein * Mit drei Ausnahmen: Paul McCartney (der Echte) und Guy Bedos (der Lustige) wohnen seit zehn Jahren auf Ghost Island und haben sich in der «realen Welt» durch Doppelgänger ersetzen lassen, genauso wie der britische Schriftsteller Salman Rushdie.
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Grund, sich gehen zu lassen: plastische Eingriffe, Transplantationen, Liftings, Implantationen und Silikoninjektionen sind umsonst, wie übrigens alles andere auch. Deshalb sieht man Romy Schneider ihre 63 überhaupt nicht an, wenn sie mit Maurice Ronet, ihrem Kollegen aus Der Swimmingpool, 74, über Kino plaudert oder mit Coluche, 57, scherzt. Auch Diana Spencer und Dodi Al-Fayed, 4o bzw. 46, sind da. Sie verleben friedliche Tage in diesem Altersheim für Milliardäre, wo Fernsehen, Telefon, Internet und jede andere Form der Kommunikation mit der Außenwelt strengstens verboten sind. Nur Bücher und Schallplatten sind erlaubt. Jeden Monat werden die 10 000 wichtigsten internationalen Neuheiten aus Literatur, Musik und Film automatisch in die Plasmabildschirme eingespeist, die in den Bungalows installiert sind. Kinderprostituierte beiderlei Geschlechts befriedigen (gegen Jahresmiete) auch die geringsten erotischen Gelüste. Ja, wenn man zwei Minuten überlegt, was sie uns da zu schlucken geben, nämlich dass es nichts anderes gibt und wir nur zufällig hier sind, dann ist das ungefähr so bescheuert, wie dass sie uns einen Gott mit Rauschebart und Engeln um ihn herum verkaufen wollen, und es ist genauso abartig, an die Sintflut, die Arche Noah und Adam und Eva zu glauben wie an den Big Bang und die Dinosaurier. Patrick und Caroline sitzen am türkisfarbenen Meer unter den Lianen der Mangroven inmitten handtellergroßer Schmetterlinge und trinken Ananassaft. Jeden Morgen steht ein schickes Hermes-Köfferchen mit allen Drogen der Welt auf der Matte
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vor ihrer Haustür. Sie nehmen nicht immer welche; es kommt sogar vor, dass sie mehrere Tage lang nicht abtauchen, Orgien feiern oder Sklaven quälen. Caroline ist im «Hemingway Hospital» niedergekommen, der hypermodernen Klinik von Ghost Island (deren Namen auf den angeblichen Tod des amerikanischen Schriftstellers 1954 in Kenia anspielt). Bald werden Unternehmen die Länder ersetzt haben. Dann ist man nicht mehr Bürger einer Nation, sondern Markenbewohner, lebt in Microsoftien oder Macdonaldland, ist Calvin Kleiner oder Pradaese. Sie tragen ungebleichtes Leinen. Sie sind den Tod los, also auch die Zeit. Im Rest der Welt baut niemand mehr auf sie. Jetzt erfahren sie die Lehre der Freiheit wie Jesus, als er drei Tage nach seiner Hinrichtung das Grab verließ und sich dem Offenkundigen beugen musste: Auch der Tod ist vergänglich, nur das Paradies dauert ewig. Sie sehen ihre Tochter mit der Amme plappern, die den Affen misstraut und die Pfauen im Blick hat. Caroline ist schön, also ist Patrick glücklich. Patrick ist glücklich, also ist Caroline schön. Eine Ewigkeit im Rhythmus der Gezeiten. Inmitten roter und goldener Canna essen sie Bichiques (gegrillte Fische, die sehr gut schmecken), Kabeljaubällchen und Langusten mit Vanille. Ihre einzige Kleidung: offene Hemden über Surfshorts. Ihre einzige Sorge: sich nicht die Fußsohlen zu versengen auf dem weißen Sand. Ihr nächstes Vorhaben: eine Dusche zu nehmen, um das Salz von ihrer Haut zu spülen. Ihre einzige Angst: beim Schwimmen von Strömungen erfasst zu werden, die sie ins offene Meer hinaustreiben und so tatsächlich töten könnten.
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4.
Als sie vor die Anklagebank traten, forderte der Richter, der den Vorsitz führte, das Publikum im Saal auf, sich zu setzen, und Charlie und Octave, sich zu erheben, aber sie senkten den Kopf. Die wachhabenden Polizisten nahmen ihnen die Handschellen ab. Es war wie in der Kirche: die Gesetzbücher, die feierlichen Riten, die Roben - kein großer Unterschied zwischen dem Justizpalast und einer Messe in Notre-Dame. Nur dass ihnen nicht vergeben würde. Octave und Charlie waren nicht stolz, aber glücklich, dass Tamara entwischt war. Der Prozess fand öffentlich statt, und die ganze Branche war gekommen - im Gerichtssaal dieselben Gesichter wie bei der Beerdigung Marronniers. Sie sahen sie durch die schmutzige Scheibe ihrer Box und begriffen, dass alles ohne sie weitergehen würde. Sie kriegten zehn Jahre, hatten aber keinen Grund zur Klage (die französische Justiz hatte eine Auslieferung glücklicherweise abgelehnt: Wären sie in Amerika verurteilt worden, hätte man sie gegrillt wie Würstchen auf einem Barbecue in einem Herta-Clip). ... MICROSOFT. WHERE DO YOU WANT TO GO TODAY? Ich muss grinsen, wenn ich das im Fernseher sehe, der von meiner Zellendecke hängt. Das ist so weit weg jetzt. Sie machen weiter wie vorher. Und werden noch lange so weitermachen. Sie singen, sie lachen, sie tanzen ausgelassen. Ohne mich. Ich huste die ganze Zeit. Ich hab mir die Tuberkulose gefangen. (Besonders unter Gefängnisinsassen breitet sich die Krankheit wieder stärker aus.)
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Alles ist vorläufig, alles ist käuflich außer Octave. Denn ich habe mein Ansehen wiederhergestellt, hier, in meinem abgefuckten Gefängnis. Ich habe (für wenig Geld) die Erlaubnis bekommen, in meiner Zelle fernzusehen. Menschen, die essen. Menschen, die konsumieren. Menschen, die Auto fahren. Menschen, die vögeln. Menschen, die sich gegenseitig fotografieren. Menschen, die reisen. Menschen, die glauben, alles wäre noch möglich. Menschen, die glücklich sind, ohne etwas davon zu haben. Menschen, die unglücklich sind, ohne etwas dagegen zu tun. Was Menschen sich alles so einfallen lassen, um nicht allein zu sein. «Glückliche Menschen bringen mich zum Kotzen», sagte das Große Ekel, der Cartoonist Reiser. Glückliche Menschen (der Typ mit der Brille an der Bushaltestelle zum Beispiel, den ich vom Fenster meines Lochs aus sehen kann, wie er einer sanften Rothaarigen die Hand hält im Nieselregen), die «happy few», wollte ich sagen, bringen mich nicht zum Kotzen, sondern zum Heulen, vor Wut, Neid, Bewunderung, Ohnmacht. Ich stelle mir Sophie im Mondlicht vor, mit Dunst auf den Brüsten, und Marc streichelt die Innenseite ihres Ellenbogens, die so zart ist, dass sie trotz der Bräune durchscheinend wirkt. Die Sterne spiegeln sich in ihren feuchten Schultern. Wenn ich krepiere, werde ich sie wieder finden und Sperma aus meiner Eichel auf die Zunge der Mutter meiner Tochter spritzen. Wenn die Sonne hinterm Horizont versinkt, werde ich sie sehen. Ich sehe sie jetzt schon, auf der Reproduktion eines Gauguin-Gemäldes im Hintergrund meiner Zelle, die nach Pisse stinkt. Keine Ahnung, warum ich das Bild, Die Piroge, aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und über meine Pritsche gehängt habe. Ich bin besessen davon. Ich dachte, ich hätte Angst vor dem Tod, und hatte doch Angst vor dem Leben.
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Sie wollen mich von meiner Tochter trennen. Sie haben alles getan, dass ich dir nicht in deine großen Augen schauen kann. Zwischen zwei Hustenanfällen hab ich genügend Zeit, sie mir vorzustellen. Zwei große schwarze Kreise, die das Leben entdecken. Diese Sadisten, jetzt zeigen sie im Fernsehen auch noch den Evian-Clip mit den Babys, die sich für Esther Williams halten und synchron zu «Bye-Bye Baby» schwimmen. Sie töten meine verdorrte Lunge. Zwei sprühende Augen in einem rosigen Gesicht. Sie hindern mich, daran meine Freude zu haben. Ein Mund zwischen runden Wangen. Winzige Händchen, die mein zitterndes Kinn umklammern. An ihrem milchigen Hals zu riechen. Die Nase in ihre Ohren zu stecken. Sie ließen mich nicht von deinem Kaka kosten. Sie ließen mich nicht deine Tränen trocknen. Sie ließen mich dich nicht willkommen heißen. Sie hat sich umgebracht und dabei dich ermordet. Sie haben mir meine Tochter genommen, die eingerollt schläft, die Mini-Ellenbogen und kleinen Knie angezogen unter sich, die sich die Wangen kratzt, schnell atmet, ein bisschen gähnt und wieder langsamer atmet, mein Baby mit den langen geschwungenen Wimpern eines Vamps, mit dem granatroten Mund und dem blassen Gesicht, Lolita, deren Blutgefäße durch Schläfen und Augenlider scheinen, sie haben mich nicht erfahren lassen, wie sie loslacht, wenn man sie an der Nase kitzelt, sie haben mir ihre Öhrchen entzogen, perlmuttern schimmernd wie Muscheln, sie haben mir das Wissen vorenthalten, dass es Chloe ist, die die erste Geige spielt. Und wenn ich, als ich all diesen Mädchen nachlief, nur auf der Suche nach ihr gewesen wäre? Ich liebte den flaumigen Nacken, die durchdringenden schwarzen Augen, den Schwung der Brauen und
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die feinen Züge der anderen Mädchen, weil sie mir meines verhießen. Wenn ich gern Cashmere trug, dann um mich an deine Haut zu gewöhnen. Und wenn ich jede Nacht ausging, dann um mich an deinen Zeitplan anzupassen. Eh! Und wenn in Wirklichkeit nicht ich hier im Gefängnis säße, sondern mein Doppelgänger, der Clochard auf dem Platz, der Penner aus meiner Straße, wenn der in dieser Scheißzelle hockte, und ich wär weg, verstehen Sie, WEG. Wenn ich mit ihm den Platz getauscht hätte, der könnte doch froh sein: ein Dach überm Kopf und was zu essen, und ich wär frei und am anderen Ende der Welt. Wär doch für jeden ein Gewinn. Aber ich hab nicht mehr alle Tassen im Schrank. Und meine Lunge ist hin. Mein Buch ist fertig, es kostet DM 39,90. Mist, dabei habe ich grade die beste Maigrelette-Baseline gefunden: «SEID BLOSS NICHT SCHÖN UND BLÖD.» Man müsste nur die Rechte kaufen an diesem Chanson und die Stelle sampeln, wo Jacques Brel so schön nölt: «SCHÖN UND BLÖÖÖÖD.» Wenn man es direkt hinter die Stimme aus dem Off schneidet, ginge das so: «MAIGRELETTE. SEID BLOSS NICHT ... SCHÖN UND BLÖÖÖÖD.» Das wär der Hammer. So ein Mist! Das einzige Fenster meiner Zelle erinnert mit seinen Gitterstäben an einen Strichcode. Im Fernsehen wiederholen sie das Konzert der Schwachköpfe: Da singen Jean-Jacques Goldman, Francis Cabrel, Zazie und die anderen im Chor: «Nimm mich mit ans Ende der Welt / Nimm mich mit ins Wunderland / weil das Elend nicht so quält, / scheint nur die Sonne unverwandt.»
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Und die Mörder, die den ganzen Tag auf dem Flur rumbrüllen, die ständig stöhnen und jammern, rauben mir noch den letzten Nerv. Hätten sich das ja auch vorher überlegen können mit dem Leuteabstechen. Charlie ist gestern in einer riesigen Blutlache gefunden worden, hat sich die Pulsadern aufgeschnitten mit einer Sardinenbüchse von Saupiquet. Und hat es auch noch geschafft, der Wahnsinnige, das Ganze mit einer versteckten Webcam zu filmen und live ins Netz zu stellen. Hauptsache, sie haben Tamara nicht gefunden, ich freue mich, dass sie da raus ist, so haben sie wenigstens nicht alles versaut. Und an die Wand meiner VIP-Zelle (ich bin da allein, hab eine Glotze und Bücher, das geht, nur dass es nach Pisse stinkt und ich meine Lunge auskotze), hab ich mir mit Tesa ein Bild von 1896 hingeklebt, Die Piroge von Gauguin. Es ist aus der Sammlung von Sergej Schtschukin, die in Leningrad in der Eremitage hängt. Ich huste den ganzen Tag davor: eine Piroge am Strand in Polynesien, und rundherum lümmeln träge ein Mann, seine Frau und ihr Kind. Gauguin hat in einem seiner letzten Briefe geschrieben: «Ich bin ein Eingeborener.» Ich brauche mir ja nur zu denken, dass ich nicht im Gefängnis sitze, sondern von der Welt erlöst bin. Mönche leben schließlich auch in Zellen. Ich betrachte Die Piroge, dieses Idyll mit dem Paar und seinem kleinen Baby, Gauguin hat einen glutroten Sonnenuntergang dahinter gemalt, der aussieht wie ein Atompilz, ich schwimme zu ihnen hin, ich springe in die Piroge, ich besuche sie auf ihrer
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Insel, sie werden mich mögen, ich kraule zum Strand, treffe Mondfische unterwegs, Mantarochen liebkosen meine Handflächen, ich finde sie schon, dann machen wir alle Liebe zusammen, Tamara mit Sophie, Duler mit Marronnier, ich werde alles überstehen, sie sind der Gesellschaft entwischt, wir bilden eine neue Familie, wir vögeln zu viert, und ich werde Chloes Füße mit Zärtlichkeit überhäufen, sie ist so klein, dass sie in eine Hand passt, du wirst schon sehen, wir treffen uns auf der Geisterinsel, das können Sie ruhig glauben, ja, klar bin ich durchgeknallt, ich schwimme unter dem Meer, schlucke Wasser, fühle mich wunderbar, und der Sonnenuntergang von Gauguin sieht echt aus wie eine Atomexplosion.
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Auf Ghost Island sind ein paar Monate vergangen. Sie haben vom Totsein die Schnauze voll. Sie finden, dass unter dem unverwandten Schein der Sonne das Elend ganz schön quält. Sie sind zu wohl genährt. Vegetieren in der üppigen Vegetation dahin. Wenn sie in Form sind, vermischen sie sich mit Trauben von Menschen: River Phoenix lässt sich von Caroline einen blasen, und Patrick fickt Ayrton Senna; die ganze kleine Welt bumst, vögelt, bläst, leckt Sperma, reibt sich die Klitoris, pumpt an Schwänzen, spritzt auf Gesichter, malträtiert Mösen, peitscht sich die Brüste, bepisst sich, schwuchtelt und wichst in Freude und Entspannung. Aber nach einiger Zeit hat man genug von Siebzehnern. Also vervollkommnet man seine Rückhand im Tennis, geht in den Weiten des Atolls auf Unterwasserfischfang, macht eine RivaTour um die Bucht, spielt Ping-Pong unter einem großen Sonnenschirm, veranstaltet Dom-Perignon-Schlachten und BocciaPartys im String, und heute Abend, stellen Sie sich das mal vor, heute Abend hat Caroline höchstpersönlich Patricks TShirts gebügelt, er war zutiefst gerührt, als sie ein Bügelbrett bestellte statt dem Room Service, er hätte gar nicht vermutet, dass ihn das so erschüttern würde, diese Einfachheit wieder zu erfahren. Zwischen Aromatherapie-Massagen und Shiatsu-Sitzungen relaxen sie auch öfter in sensorischen Isolationskammern oder auf Matratzen, die mit kochendem Wasser gefüllt sind.
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Keine Alternative zur wirklichen Welt. Azur, Azur, Azur, Azur, sie haben eine Überdosis Azur abbekommen, sie leiden an Paradiesverstimmung auf ihren Liegestühlen oder Korbsesseln ä la Emmanuelle, die am Hintern kratzen, am Rand des Swimmingpools, wo Mona, Tania und Lola planschen, die bezahlten Nymphchen, deren rasierte Schlitze sich drei bartlose Epheben träge teilen. Sie haben Wänste bekommen. Sie haben zu viel gefressen, ihr Schmerbauch hängt über die Bermudas, die etwas kariert aus der Wäsche gucken. Die Wampe verrät die Profiteure. Schau sie dir an, die glücklichen Idioten, die aus Feigheit zu Alkoholikern wurden: Eine dicke Fettschicht liegt auf ihren zufriedenen Zügen. Sie tanzen ungestraft Lambada. Sie sind vor den Menschen geflohen, die ihnen weniger wichtig sind als Blumen und Flüsse, die zum Meer gehen. Sie hören kalifornischen Reggae. Sie sind von Trüffeln und Kaviar übersättigt. Wonneproppen wie ihr Baby. Caroline hätschelt, Patrick gärtnert, Baby brabbelt. Das Glück hinterlässt einen faden Nachgeschmack. Jeder französische Haushalt gab 1998 durchschnittlich 640 Francs pro Woche für Nahrungsmittel aus. Coca-Cola verkauft weltweit eine Million Dosen pro Stunde. In Europa gibt es zwanzig Millionen Arbeitslose. Sie hätten gern Zeitungen, Fernsehen, Aufregung - und haben doch nur die laue Trägheit von Tagen, die einander gleichen. Barbie verkauft weltweit zwei Puppen pro Sekunde. 2,8 Milliarden Erdenbewohner leben von weniger als zwei Dollar pro Tag.
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70 % der Weltbevölkerung haben kein Telefon und 50 % keinen Strom. Das globale Rüstungsbudget übersteigt 4000 Milliarden Dollar, das ist doppelt so viel wie die gesamte Auslandsschuld aller Entwicklungsländer. Caroline findet es allmählich grauenhaft, ihre Tochter in dieser blasierten Sekte großzuziehen. «Kann sie denn nie von hier weg? Sie braucht Dreck, Krach und Auspuffgase!» Patrick pflegt im Bambushain seine Depri. Selbst das Plätschern der Wellen lullt keinen mehr ein. Die Stunden gleiten über sie hinweg. Sie besaufen sich mit bunten Cocktails und haben die ganze Zeit Kopfweh. Der salzige Wind macht Migräne. Das glitzernde Meer wiederholt sich. Der Ozean macht blöde. Das Privatvermögen von Bill Gates entspricht dem Bruttosozialprodukt Portugals. Das von Claudia Schiffer wird auf mehr als 200 Millionen Francs geschätzt. 250 Millionen Kinder auf der Welt arbeiten für ein paar Pfennig pro Stunde.
Entfliehn! Hinweg! Ich spüre, dass die Vögel Migräne haben ... Patrick hat ständig neue Anzeigenideen und den Kopf voller Konzepte, das läuft und läuft und läuft, er erinnert sich. FÜR DIE KERLE DIE KERLE LIEBEN DIE NUTTEN LIEBEN DIE SNIFFS LIEBEN DIE ZECHINEN LIEBEN. Keine Alternative zur wirklichen Welt. Sie heiraten, lassen sich scheiden, heiraten wieder, setzen Kinder in die Welt, um die sie sich nicht kümmern, ziehen die der
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anderen groß, und andere ziehen ihre groß. Die 200 größten Vermögen der Welt wachsen täglich um 500 Dollar pro Sekunde. Der Sonnenaufgang ist ein Sonnenuntergang in Autoreverse. Die Abenddämmerung ist eine zurückgespulte Morgendämmerung. Beides ist rot und dauert zu lang. Schätzungen besagen, dass 25 % aller Tierarten vor 2025 von der Erdoberfläche verschwunden sein könnten. Oft enden Märchen mit der Formel: «Und sie lebten glücklich und hatten viele Kinder.» Punkt. Nie wird gesagt, was danach passiert: Der Märchenprinz ist gar nicht der Vater seiner Kinder, er fängt an zu trinken, verlässt die Prinzessin wegen einer Jüngeren, die Prinzessin ist fünfzehn Jahre in Analyse, die Kinder nehmen Drogen, der Älteste bringt sich um, und der Jüngste geht in den Gärten der Place du Trocadero auf den Strich. Patrick und Caroline verbringen ihre Tage mit dem Warten auf den Abend und ihre Nächte mit dem Warten auf den Morgen. Wenn sie sich lieben, wird es bald nicht mehr zu ihrem Vergnügen sein, sondern um die nächsten acht Tage Ruhe zu haben. All diese kleinen Buchten mit dem kristallklaren Wasser, diese von Korallenriffen umsäumten Lagunen sind nur dazu da, sie im Blau einzusperren. Ihre Hütte aus Korallenstein und Mangrovenholz ist vor allem von Wasser umschlossen. Diese Insel ist ein Spukschloss. Ganze Tage, um Margeriten zu entblättern: Ich liebe dich, gar nicht mehr, nicht mehr sehr, nicht besonders, weniger als gestern, mehr als morgen. Das Ende der Welt findet in fünf Milliarden Jahren statt, und wenn die Sonne explodiert, wird die Erde verbrennen wie ein Tannenzapfen im Flammenwerfer. Die Sonne fällt durch die getrockneten Palmwedel. Die Sonne ist ein gelber Countdown. Der Umsatz von General Motors (168 Milliarden Dollar) entspricht dem Brutto
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inlandsprodukt Dänemarks. Mond am helllichten Tag, Füße im Wasser, laues Plätschern, widerlicher Wind, Bougainvilleen und Jacarandablüten duften, zum Kotzen, all diese stinkenden Blumen, wie ein Stick-up von Airwick.
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6. Aber eines Tages bedeckt sich der Himmel; und an diesem Tag lässt Patrick sich von einer Strömung treiben, die ihn trägt; und sieht, wie die Küste sich entfernt; weit weg, vom Strand, ruft Caroline nach ihm, aber er kann ihr nicht antworten, weil er Salzwasser im Mund hat; er macht den toten Mann und lässt sich ins immer dunklere Meer hinausziehen, ins immer tiefere Blau; sich tragen lassen; Treibholz werden; eine Flaschenpost ohne Botschaft; und über ihm die Vögel und unter ihm die Fische; er begegnet Haien, Doraden, Delphinen; Mantarochen liebkosen seine Handflächen; und in Patricks Hirn herrscht Auflösung; er schwimmt unter dem Meer; schluckt Wasser; fühlt sich wunderbar; «und nun badete ich im Poem des Meers» (Rimbaud); jedenfalls bin ich schon tot und begraben; wascht mich mit allen Wassern; plötzlich beginnt es zu regnen, eine warme Dusche schlägt mir ins Gesicht; und die Sonne errötet; keine Tropfen mehr aus zerstoßenem Glas; keine Verben mehr beugen; ich du er wir ihr sie; Infinitiv werden; wie in einer Gebrauchsanweisung oder einem Kochrezept; versinken; den Spiegel durchschreiten; endlich ausruhen; Teil der Elemente sein; Ockertöne der Purpurstrahlen; vor dem Big Bang hat es nichts gegeben und nach der Explosion der Sonne wird nichts überleben; der Himmel wird blutrot; Tautränen trinken; deiner Augen salzigen Saft; ihr strenges Blau; fallen; Teil des Meeres sein; Ewigkeit werden; eine Minute ohne zu atmen, dann zwei, dann drei; eine Stunde ohne zu atmen, dann zwei, dann drei; in fünf Milliarden Jahren ist das Meer mit der Sonne
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fort; eine Nacht ohne zu atmen, dann zwei, dann drei; den Frieden wieder finden; «du bist schöner als die Nacht, antworte mir, Ozean, willst du mein Bruder sein?» (Lautreamont); auf der Oberfläche schwimmen wie eine Seerose; surfen über dem Nichts; unbeweglich bleiben; die Lunge voller Wasser; aquatische Seele; ins Blaue hinein; fünf Milliarden Jahre vorher: nichts; fünf Milliarden Jahre nachher: nichts; der Mensch ist ein Unfall in der interstellaren Leere; um mit dem Sterben aufzuhören, braucht man nur mit dem Leben aufzuhören; Kontakt verlieren; ein auf dem Grund der Ozeane verborgenes Atom-UBoot werden; nichts mehr wiegen; kraulen zwischen Engeln und Sirenen; im Himmel schwimmen; im Meer fliegen; es ist vollbracht; im Anfang war das Wort; man sagt, dass man im Augenblick des Todes sein Leben an sich vorbeiziehen sieht, doch Patrick sieht etwas anderes GARTE NOTRE EIN KAFFEE NAMENS SEHNSUCHT ICH HABE DAVON GETRÄUMT SO WEICH SO FRISCH EIN TRAUM VERNELL GAP JEDER IN LEDER OHNE DIE SONNE GÄBE ES KEIN LEBEN AUF DER ERDE BETEN SIE SIE AN OPEL ASTRA CABRIO NIKE JUST DO IT DIE BAHN KOMMT NOKIA CONNECTING PEOPLE KOMM UND LASS DICH VERZAUBERN DISNEYLAND PARIS FRANCE TELECOM WILLKOMMEN IM LEBEN.COM RENAULT SCENIC NICHT ZU VERWECHSELN MIT EINEM AUTO NISSAN MADE IN QUALITY KLEBER DENKT AN SIE TAG FÜR TAG SHARP TRÄUME LEBEN WIE NIE ZUVOR AIGNER ONCE YOU HAVE IT YOU LOVE IT BÜCHER BRAUCHEN WIRKLICHKEIT LIBRI MAKE UP YOUR LIFE MANHATTAN NESTLE SCHOKOLADENSTARK FRUCHTIG TROCKEN UNWIDERSTEHLICH FREIXENET LONGINES ELEGANCE IS AN ATTITUDE PEUGEOT MIT SICHERHEIT MEHR VERGNÜGEN 247
MUSTANG TRUE STYLE NEVER DIES ES GIBT DINGE DIE KANN MAN NICHT KAUFEN FÜR ALLE ANDEREN GIBT ES EUROCARD ALLURE EINZIGARTIG MÄNNLICH WEIL ICH ES MIR WERT BIN L´OREAL IKEA ENTDECKE DIE MÖGLICHKEITEN NICHTS IST UNMÖGLICH TOYOTA UNITED TECHNOLOGIES NEXT THINGS FIRST SIEMENS WIR GEHÖREN ZUR FAMILIE METAXA SONNE FÜR DIE SINNE LERNEN SIE MENNEN KENNEN NIKON TODAY IS LIVING LIVING IS CREATING GUTES BRAUCHT ZEIT EMMENTALER POLO LIFE CAN BE SO SIMPLE MCDONALD'S IST EINFACH GUT WE KEHR FOR YOU ICH WILL SO BLEIBEN WIE ICH BIN DU DARFST GO CREATE SONY HARIBO MACHT KINDER FROH KEIN MENSCH GLEICHT DEM ANDEREN KEIN WASSER GLEICHT DEM ANDEREN APOLLINARIS WER IN DIE POST WAS REINSTECKT KANN AUCH WAS RAUSKRIEGEN APPLE TRINK DIFFERENT OPEL WIR HABEN VERSTANDEN SIND WIR NICHT ALLE EIN BISSCHEN BLUNA SIND SIE ZU STARK BIST DU ZU SCHWACH FISHERMAN'S FRIEND GUTEN FREUNDEN GIBT MAN EIN KÜSSCHEN FERRERO TUMI DESIGN IN MOTION BOUNTY EIN KLEINES STÜCK VOM PARADIES DAVIDOFF THE MORE YOU KNOW EON NEUE ENERGIE NICHT IMMER ABER IMMER ÖFTER CLAUSTHALER MARS BRINGT VERBRAUCHTE ENERGIE SOFORT ZURÜCK JUST BE CALVIN KLEIN LET'S MAKE THINGS BETTER PHILIPS BACKEN IST LIEBE SANELLA IST BACKEN UNSER DORF SOLL SCHÖNER WERDEN LIEBE IST WENN ES LANDLIEBE IST GILLETTE FÜR DAS BESTE IM MANN QUADRATISCH PRAKTISCH GUT LUCKY STRIKE SONST NICHTS LEERDAMMER HER ODER ES GIBT EIN
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MALHEUR DIE EG GESUNDHEITSMINISTER RAUCHEN GEFÄHRDET DIE GESUNDHEIT EUROPÄISCHES RINDFLEISCH AUS KONTROLLIERTER HERKUNFT DAMIT SIE WISSEN WAS AUF DEN TELLER KOMMT THE RED SIDE OF LIFE KRAFT DUSCHDAS DAS DUSCHAS FERNET BRANCA MAN SAGT ER HABE MAGISCHE KRÄFTE TRIUMPH FÜR DEN KÖRPER FÜR DIE SINNE MENTOS THE FRESHMAKER CAROLL JEDER TAG IST SCHÖN ENJOY YOUR LIFE COCA-COLA CLARINS MACHT IHR LEBEN EINFACH SCHÖNER D2 LIVE DABEI CHANGE YOUR LIFE PANASONIC FRISCHE DES LEBENS HOLLYWOOD CHEWING-GUM WORLD ONLINE FREEDOM OF MOVEMENT UNITED COLORS OF BENETTON LOOP UP YOUR LIFE TICTAC IST DIE MILDE TAKTIK HAVE A BREAK HAVE A KITKAT PICTURE YOUR LIFE KODAK PRINGLES EINMAL GEPOPPT NIE MEHR GESTOPPT COME TO WHERE THE FLAVOR IS MARLBORO LOULOU OUI C'EST MOI C'EST BON C'EST BON GERAMONT ICH TRINKE JÄGERMEISTER WEIL MEIN DEALER IM KNAST SITZT DIE SCHÖNSTEN PAUSEN SIND LILA SUCHARD FARBE BLEIBT FARBE MIT FEWA LIGNE ROSET LE STYLE DE VIE GUHL LIVING COLORS BESSER ANKOMMEN FORD VICHY WEIL GESUNDHEIT AUCH HAUTSACHE IST VW DRIVERS WANTED SNICKERS UND DER HUNGER IST GEGESSEN WIR HALTEN UNSERE VERSPRECHEN ROC TEST THE WEST FEEL FREE CAREFREE OUI A FEMALE FORCE IN FASHION FLEUROP GRÜNDE GIBT'S GENUG FREIHEIT UND DER WEG DORTHIN PEUGEOT 206 GIVENCHY EIN BISSCHEN WEITER ALS UNENDLICH TCHIBO JEDE WOCHE EINE NEUE WELT IBM LÖSUNGEN FÜR EINEN KLEINEN PLANETEN CITIBANK THE 249
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Tamara wurde eingekleidet von Stella McCartney für Chloe. Dank an Manuel Carcassonne, Jean-Paul Enthoven, Gabriel Gaultier, Thierry Gounaud, Michel Houellebecq, Pamela Le Moult, Pascal Manry, Vincent Ravalec, Stephane Richard, Delphine Vallette. An diesem Buch sind sie mit schuld.
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