Marie Louise Fischer
Nie wieder arm sein
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Marie Louise Fischer
Nie wieder arm sein
Inhaltsangabe Wenn Marie Louise Fischer, die heute zu den erfolgreichsten und beliebtesten deutschen Schrift stellerinnen gehört, eine Liebesgeschichte erzählt, dann dürfen Leserinnen und Leser sicher sein, Zeugen einer ebenso spannenden wie zu Herzen gehenden Handlung zu werden. Das gilt auch für ihren Bestseller-Roman ›Nie wieder arm sein‹. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Marion, ein von Natur mit großer Schönheit gesegnetes Mädchen. Blutjung, arm und unschuldig kommt sie aus der Kreisstadt Rosenheim nach München. Sie hat Glück und findet einen hochinteressanten, abwechslungsreichen Job. In einer der modischsten und schicksten Boutiquen der 'Millionenstadt mit Herz' bedient sie als charmante Verkäuferin viele jener Menschen, denen das Schicksal Glück und Reichtum in den Schoß gelegt zu haben scheint. Da macht sie einen kleinen, aber folgenschweren Fehler, an dem ihre Zukunft zu zerbrechen droht. In dieser Zeit völliger Verzweiflung lernt sie Alexander K. kennen, einen Fabrikbesitzer, der ihr seine Liebe, sein Herz, Vermögen, Sicherheit und Ehe zu bieten bereit ist. Doch die scheinbar märchenhafte Wende bringt Marion nicht das, was sie erwartet hat. Ihre Ehe wird – wie sich schon bald erweist – nicht glücklich. Erst das erschütternde Erlebnis einer lebensbedrohenden Krankheit – es geht um eine dramatische, von der Autorin bis ins kleinste Detail meisterhaft geschilderte Nierentransplantation – bringt Marion an die Seite ihres Mannes und in ein erfülltes Leben zurück.
Copyright bei der Autorin
Satz: acomp, Wemding
Druck und Bindung:
May & Co, Darmstadt
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
M
arion Lenz starrte auf die Vitrine, die, mit rotem Samt ausge legt und mit französischen Seidentüchern und Modeschmuck bestückt, den dekorativen Mittelpunkt des Modesalons Stoll
bildete. Aber sie sah nur ihr eigenes Gesicht, das ihr die schimmernde Schei be leicht verzerrt zurückwarf: ein helles Oval mit einem vollen, schmol lenden Mund, darin die Augen wie zwei dunkle saugende Löcher, ihre Farbe – blau – nicht auszumachen, das lange Haar glatt und blond. Niedergeschlagen nahm sie wahr, daß die Urlaubsbräune schon wie der verschwunden war. Kein Wunder, die drei Wochen, die sie mit ei ner Jugendgruppe in Italien verbracht hatte, lagen schon wieder eine Ewigkeit zurück. Jetzt war Oktober, ein warmer, föhniger Oktober, aber der Winter stand vor der Tür. Dann würde alles noch ekelhafter werden: das Aufstehen morgens früh um sechs, der halbstündige Trab zum Bahnhof Rosenheim, das Warten auf dem zugigen Bahnsteig, sie ben Uhr dreißig Fahrt nach München, fünfundvierzig Minuten später runter zur U-Bahn und, eingezwängt zwischen anderen Morgenmuf feln, die zwei Stationen bis zum Marienplatz. Wenn sie daran dach te, daß sie vor Freude ganz aus dem Häuschen gewesen war, als sie vor zwei Jahren die Lehrstelle in der bayrischen Landeshauptstadt bekom men hatte … Wie sich der Mensch doch täuschen kann. Marion gähnte verstohlen, mit geblähten Nasenflügeln und geschlos senen Lippen und machte sich mit gelangweilten, aber anmutigen Be wegungen erneut an ihre Arbeit, die darin bestand, Blusen, die eine Kundin anprobiert hatte, sorgfältig wieder zusammenzulegen. Sogar zum Träumen war sie zu müde. Begleitet von einem melodischen Läuten öffnete sich die Ladentür, 1
und eine Dame trat ein. Marion taxierte sie mit einem einzigen Blick: elegant, reich, modebewusst, nicht mehr jung. Die Dame grüßte. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte Marion mit geübtem Lächeln. Gleichzeitig gab sie der Besitzerin, die sich augenblicklich im Büro aufhielt, ein Klingelzeichen. Einmal klingeln bedeutete: Alle Ange stellten sind beschäftigt. Zweimal klingeln: dringend zur Kasse. Mari on hatte festgestellt, daß keine der beiden Verkäuferinnen frei war und sie jetzt an der Reihe war zu bedienen. Das tat sie gerne, sehr viel lieber als aufräumen und zusammenlegen. Die Kundin suchte ein dezentes Winterkleid, und Marion beriet sie fachmännisch. Drei Kleider über dem Arm – genau abgezählt, damit nichts verschwinden konnte –, begleitete sie die Dame in die Kabine. »Wenn ich nichts Passendes finde, könnte ich mir dann auch etwas anfertigen lassen?« »Selbstverständlich, gnädige Frau, aber das wird nicht nötig sein … bei Ihrer Figur haben Sie doch genug Auswahl!« Die Dame probierte eine gute halbe Stunde, und eine gute halbe Stunde lang eilte Marion zwischen der Kabine und den Kleiderstän dern hin und her und kämpfte gegen das lähmende Gefühl aufsteigen der Hoffnungslosigkeit. Wenn eine Kundin so wählerisch war, bestand wenig Aussicht, daß sie überhaupt etwas kaufte. Aber dann entschied sich die Dame doch. Sie wählte ein reinseide nes braunes Schlabberkleid, sehr unaufdringlich, sehr elegant und be sonders teuer. Marion schrieb den Kassenzettel aus und bedankte sich mit einem erschöpften Lächeln. Danach begann sie sofort, zwei Kleider, die die Kundin unachtsam über den Haken geworfen hatte, sorgfältig auf die Bügel zu hängen. Sie stellte die Probierpumps nebeneinander und – entdeckte einen blauen Schein auf dem roten Teppichboden. Eine war me Blutwelle schoß ihr in das Gesicht. Sie bückte sich und hob den Schein auf. Tatsächlich: hundert Mark! Jetzt rasten Marions Gedanken. Sie erinnerte sich, daß die Kundin mit Sonnenbrille gekommen war; später dann, in der Kabine hatte sie 2
eine nur leicht getönte Brille aufgehabt. Die Krokotasche hatte offen auf dem kleinen Hocker gestanden. Wahrscheinlich war ihr der Hun dertmarkschein beim Brillenwechseln herausgefallen. Oder sie hatte ihn mit dem Taschentuch herausgezogen. Wie konnte man aber auch nur so leichtsinnig sein, einen Geldschein lose in der Tasche zu haben! Aber so waren nun mal die Leute, die ihr Geld nicht selbst zu verdie nen brauchten. Unbeweglich stand Marion da und lauschte zur Kasse hin, gewärtig, daß die Kundin im nächsten Augenblick das Verschwinden des Gel des bemerken würde, und auf dem Sprung, mit dem Schein hervorzu schießen. Aber nichts dergleichen geschah. Die Kundin zahlte, bekam die Pla stiktüte mit dem sorgfältig in Seidenpapier verpackten Modell, und das Läuten der Türglocke verkündete, daß sie den Laden verlassen hat te. Marion steckte den Schein in ihren Büstenhalter; sie war um hun dert Mark reicher geworden, und hundert Mark bedeuteten für sie sehr viel. Zwanzig Minuten vergingen. Der blaue Schein brannte auf Marions Haut. Sie war gerade dabei, einen Rock zu verpacken, als die Kundin mit der Sonnenbrille wieder hereinkam, gelassen und damenhaft be herrscht wie vorhin. Dennoch wußte Marion sofort, um was es ging, und sie konnte nicht verhindern, daß eine warme Welle ihr bis in die hellen Haarwurzeln stieg. Die Kundin ging geradewegs auf Frau Stoll zu, die hinter der Kasse stand, und grüßte höflich. »Wahrscheinlich ist das Geld schon gefun den worden, nicht wahr?« fragte sie mit einem kleinen Lächeln. Dies hätte für Marion ein Stichwort sein können, aber sie war zu verstört, es aufzugreifen. »Geld? Nein, ich weiß nichts davon«, sagte Frau Stoll erstaunt. »Ein Hundertmarkschein. Er ist mir hier abhanden gekommen. Wahrscheinlich in der Kabine.« Frau Stoll blickte sich um; sie war eine kleine Frau mit rundem Ge sicht und einem Ansatz von Doppelkinn, in ständigem Kampf mit ih 3
rem Gewicht und dennoch zu korpulent, um ihre eigenen Modelle mit Erfolg tragen zu können. Ihr Blick fiel auf das junge Mädchen, das die Augen niedergeschla gen hatte und mit fahrigen Händen den Rock zusammenlegte. »Mari on, bitte, sehen Sie doch mal nach!« »Ja, das war das Fräulein, das mich bedient hat«, stellte die Kundin fest. »Haben Sie denn die Kabine nicht aufgeräumt, Marion?« fragte Frau Stoll. »Doch.« »Und nichts gefunden?« »Nein.« »Ich kann das Geld nur hier verloren haben«, beharrte die Kundin. »Entschuldigen Sie, bitte, einen Augenblick«, sagte Frau Stoll, und ihr Lächeln war so falsch wie ihre Zähne, »kommen Sie mit, Mari on … lassen Sie den Rock, den kann auch Fräulein Anneli einpacken.« Sie verschwand durch die Hintertür in den Lagerraum. Marion blieb nichts übrig, als ihr zu folgen. Hier, zwischen Kartons und Plastiksäcken, waren die beiden Frau en allein. »Also … was ist?« fragte Frau Stoll scharf. »Was soll schon sein?« gab Marion trotzig zurück. »Ich habe das Geld nicht … wer weiß, ob sie es überhaupt hier verloren hat!« Sie trug einen geblümten wadenlangen Rock, dazu eine rund ausgeschnittene weiße Leinenbluse – beides aus dem Geschäft, von Frau Stoll persönlich aus gesucht und ihr zum Einkaufspreis überlassen. Mit einer überraschenden Handbewegung griff Frau Stoll in ihren Ausschnitt – Marion blieb nicht einmal die Zeit zurückzuzucken – und zog den Geldschein heraus. »Und was ist das?« fragte sie. »Nun er zählen Sie mir bloß nicht, daß das Geld Ihnen gehört!« Sie segelte in die Verkaufsräume zurück und ließ Marion stehen. Das Mädchen war völlig fassungslos, nicht fähig, das Ausmaß dessen, was geschehen war, zu begreifen. Immerhin gelang es ihr, als die Geschäftsinhaberin erschien, zu stammeln: »Ich möchte Ihnen, bitte, erklären …« 4
»Da gibt's nichts zu erklären. Packen Sie Ihre Siebensachen und ver schwinden Sie. Auf der Stelle!« »Aber mein Vater …« »… hätte Sie besser erziehen sollen. Falls Sie daran denken, zum Ar beitsgericht zu gehen und sich eine Geschichte zurechtzulegen … da mit kommen Sie nicht durch. Ich habe mir die Adresse der Kundin ge ben lassen. Gehen Sie. Ich will Sie nicht mehr sehen.«
Fünf Minuten später stand Marion Lenz auf dem Marienplatz. Es war heller Vormittag. Geschäftige, fröhliche Menschen eilten in der Fuß gängerzone auf und ab oder schlenderten gemächlich dahin, um sich die Auslagen zu betrachten. Die Rathausuhr schlug elf, und die über lebensgroßen bunten Moriskentänzer begannen sich hoch über den Köpfen der Menschen im Kreis zu drehen; die fröhliche Melodie der Spieluhr erklang. Der Himmel über München war von einem tiefen, südlichen Blau. Marion sah und hörte nichts. Sie war völlig benommen. Ihr fiel nichts ein, was sie jetzt tun könnte. Nur ein einziger Gedanke schwirrte in ihrem Kopf: Das überlebe ich nicht. Es war ihr unvorstellbar, nach Hause zu fahren und ihren Eltern zu beichten, was sie getan hatte. Sie würden das nicht verstehen können. Ihr ganzes Leben waren sie ehrlich gewesen, und sie taten sich viel dar auf zugute: auf ihre Ehrlichkeit und ihren zähen Fleiß, mit dem sie sich, seit sie nach dem Krieg aus dem Osten gekommen waren, in Bay ern ein neues Leben aufgebaut und vier Kinder großgezogen hatten. Mit Strenge, Ehrlichkeit, Tüchtigkeit. Für sie würde eine Welt zusam menbrechen, wenn sie erfuhren, daß Marion mit Schimpf und Schan de aus ihrer Lehrstelle gejagt worden war. Nein, nach Hause konnte sie nie mehr. Aber wohin sonst? Sie wuß te es nicht. Ohne daß ihr Kopf den Befehl dazu gab, schlug sie nicht den Weg zum Bahnhof ein, sondern ging die Dienerstraße in Rich 5
tung Odeonsplatz – nicht, daß sie nach Schwabing gewollt hätte, so weit dachte sie gar nicht. Mechanisch setzte sie Fuß vor Fuß, nur weil sie ja etwas tun mußte, nicht einfach stehen bleiben konnte. Sie hat te ihre blaue, gestrickte Wolljacke übergezogen und ihren Regenman tel in die große zweihenklige Tasche gestopft, zu Kamm, Bürste, Seife, Bonbons, Papiertaschentüchern und was sie sonst noch so an persön lichem Krimskrams im Geschäft gehabt hatte. Sie hatte keinen Blick für die Schaufenster auf der rechten Straßen seite und blickte auch nicht hoch, als sie ansetzte, um die schmale Pfi sterstraße zu überqueren. Alle ihre Kräfte waren darauf gerichtet, den Schlag, den ihr das Schicksal versetzt hatte, zu verarbeiten. Das Kreischen der Bremsen hörte sie im gleichen Augenblick, als ein harter Stoß sie zu Boden warf.
Alexander Kühnert war das dünne Mädchen mit dem glatten blonden Haar schon Sekunden vorher aufgefallen; ihr junges Gesicht, das gei sterhaft durchsichtig wirkte, und die schlafwandlerische Art, mit der sie sich auf den Bordstein zu bewegte. Sofort hatte er den Fuß vom Gaspedal genommen, und als sie dann tatsächlich, ohne das Rotlicht der Ampel oder die heranbrausenden Autos zu beachten, auf die Fahrbahn trat, konnte er seinen Porsche mit der denkbar kürzesten Bremsspur zum Stehen bringen. Gleichzei tig wich er nach links aus, was aber nicht verhinderte, daß sie gerade wegs gegen den Kotflügel lief. Er sah sie stürzen, löste mit einem Druck den Sicherheitsgurt und sprang, ohne sich um den nachfolgenden Verkehr zu kümmern, aus dem Auto. Das Mädchen erhob sich taumelnd. Er las ihre Tasche mit dem Regenmantel auf. »Haben Sie sich verletzt?« »Nein«, sagte sie, fast ohne die Lippen zu bewegen, »nein, ich glau be nicht …« 6
»Was ist los mit Ihnen?« Er bekam keine Antwort und öffnete die an dere Autotür. »Los, steigen Sie ein!« Er stellte die Tasche neben sie, lief um das Auto herum und setzte sich ans Steuer. »Kann ich Sie irgendwohin bringen?« fragte er, als er anfuhr. »Nein«, sagte sie. Alexander Kühnert, fünfunddreißig Jahre, Besitzer eines Kunst stoffwerkes, war ein kühl rechnender, sachlich denkender Mensch, der nichts von Sentimentalitäten hielt. Aber dieses verstörte, ja, geradezu verloren wirkende Mädchen rührte ihn. Er hatte es eilig gehabt, doch jetzt war es ihm ganz unmöglich, sie ihrem Schicksal zu überlassen, wie sein Verstand es ihm riet. »Dann werden wir irgendwo zusammen einen Cognac trinken«, ent schied er, »wollen wir ins ›Café Annast‹?« Sie sagte nichts dazu. Er stellte sich vor. »Ich werde Ihnen meine Visitenkarte geben und Ihnen die Nummer meiner Versicherung aufschreiben … für den Fall, daß unser Zusammenstoß doch noch Folgen haben sollte. Sagen Sie, hören Sie mir eigentlich zu?« »Doch.« »Na, das ist ja schon etwas. Wollen Sie mir nicht sagen, wie Sie hei ßen?« »Wozu?« »Weil ich es wissen möchte.« »Marion«, sagte sie, »Marion Lenz.« »Na, dann sind wir ja schon einen Schritt weiter … Marion.« Am Odeonsplatz fand er ohne Schwierigkeiten einen Parkplatz und führte sie die wenigen Schritte zum traditionsreichen ›Café Annast‹ zurück, indem er seine Hand unter ihren Ellbogen schob. Er hatte das Gefühl, sie festhalten zu müssen, und sie duldete es ohne Abwehr – wahrscheinlich, dachte er, merkte sie es gar nicht. Da er keine Vorschläge von ihr erwartete, ging er mit ihr nach hinten hinaus in den Hofgarten. Er war lange nicht mehr hier gewesen und fand es schön, wenn auch die Blätter der alten Kastanien sich schon braun und rot verfärbt hatten und raschelnd zu Boden fielen. 7
»Sie mögen doch einen Cognac«, fragte er, als er ihr einen der Gar tenstühle zurecht rückte und ihr mit leichtem Schulterdruck bedeute te, sich zu setzen, »oder wollen Sie lieber was anderes?« »Eine Cola.« »Gut, dann aber eine Cola mit Rum. Sie brauchen was Stärkeres. Sie haben anscheinend einen Schock erlitten.« Er bestellte, zog sein Ziga rettenpäckchen heraus, steckte es dann aber gleich wieder ein; er war dabei sich das Rauchen abzugewöhnen. Marion saß einfach da und starrte ins Leere. Er hatte Muße sie zu betrachten und sah, daß ihr schmales Gesicht mit den hohen Jochbögen und den leicht schräg geschnittenen tief blauen Augen fast schön war – schön, aber leblos wie das einer Puppe. Als die Getränke kamen, schenkte er eigenhändig ein und dräng te: »So, nun trinken Sie mal … machen Sie einen großen Schluck, das wird Ihnen gut tun!« Tatsächlich stieg gleich darauf Farbe in ihre Wangen, und sie setzte das Glas noch einmal an, ohne daß er sie auffordern mußte. »Na, jetzt sehen Sie schon besser aus, Marion«, stellte er fest, »geht's wieder?« Zum ersten Mal sah sie ihn an; er hatte dichtes, mit weißen Sträh nen durchzogenes Haar und kluge graue Augen, deren Blick jetzt sehr mitfühlend auf ihr ruhte. Sie fand, daß er ein alter Mann war, und sie war froh darüber. »Ich danke Ihnen«, sagte sie. »Wofür denn? Noch habe ich nichts für Sie getan. Wollen Sie mir nicht erzählen, was passiert ist … bevor Sie mir vor den Kühler gelau fen sind?« »Das würde auch nichts nutzen.« Sie leerte ihr Glas. »Kann sein. Aber schaden würde es doch auch nichts … oder?« »Nein«, sagte sie, und plötzlich begann sie zu weinen, mit verzoge nem Gesicht wie ein Kind. Alexander Kühnert war erschrocken und fasziniert zugleich. Seit Jahren hatte er niemanden mehr so weinen sehen. Es wurde ihm be wußt, daß er sich seine Mitmenschen ziemlich weit vom Leibe gehal 8
ten hatte. Jetzt schuf dieser hemmungslose Ausbruch eine seltsame In timität zwischen ihm und dem wildfremden Mädchen. Unter Schluchzen gestand sie ihm was sie getan hatte, und ihm wur de sofort das ganze Ausmaß ihrer Tragödie klar: ein anständiges Mäd chen, das wegen einer einzigen Dummheit ihr Leben verkorkst zu ha ben glaubte. »Kommen Sie«, sagte er, »ich bringe das in Ordnung!« »Aber das können Sie gar nicht … niemand kann das!« »Ich schon!« Er war schon aufgesprungen und zahlte den herbeiei lenden Kellner. »Sie werden sehen.« Hand in Hand liefen sie zum Auto zurück.
Frau Stoll stand an der Kasse und blickte auf, als die Ladentür geöffnet wurde. Alexander Kühnert hielt Marion fest bei der Hand und kam mit großen Schritten, die zögernde Marion hinter sich herziehend, auf sie zu. Die Geschäftsinhaberin sah nur flüchtig auf das gerötete und ver weinte Gesicht des jungen Mädchen; ihr Blick blieb an Alexander Kühnert hängen, und in Sekundenschnelle taxierte sie seinen Anzug als Maßarbeit und erkannte, daß sein grau und gelb dezent gestreiftes Hemd keine Konfektionsware war, sondern aus einer Hemdenschnei derei stammte. Noch bevor er den Mund aufmachte, hatte er Gnade vor ihren Augen gefunden. »Guten Tag, gnädige Frau, ich bin gekommen, ein Missverständnis aufzuklären. Wenn Sie ein paar Minuten Zeit für mich hätten …« »Selbstverständlich, Herr …« Er reichte ihr seine Visitenkarte. »Herr Kühnert, darf ich Sie in mein Büro bitten!« Die Buchhalterin hob überrascht den Kopf, als Frau Stoll und ein fremder Herr, der Marion, den Lehrling, sozusagen im Schlepptau hin ter sich herzog, eintraten. »Lassen Sie uns allein«, bat Frau Stoll. 9
»Nicht nötig«, wehrte Alexander Kühnert ab, »was ich zu sagen habe, kann jeder hören. Marion Lenz ist meine Braut. Diese Tatsache war Ih nen unbekannt, gnädige Frau, ich weiß. Sonst wären Sie ja nie auf die Idee gekommen, Marion könnte fremdes Geld unterschlagen. Das hat sie weiß Gott nicht nötig.« »Ja, aber …« »Der Schein sprach gegen sie, ich weiß. Sie hat das Geld an sich ge nommen, um es abzugeben, hat es aber gleich darauf vollkommen vergessen. Sie litt unter dröhnenden Kopfschmerzen, wollte sich aber nicht beklagen.« Frau Stoll blickte auf Alexander Kühnert und das Mädchen. »Wa rum haben Sie mir denn nichts davon gesagt, Marion? Daß Sie verlobt sind, meine ich?« »Wir wollten es erst bekannt machen«, erklärte Alexander Kühnert an Marions Stelle, »wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig ist. Aus ver ständlichen Gründen.« Frau Stoll knetete ihre rundlichen, flinken Finger. »Da kann ich nur sagen, daß ich … ziemlich überrascht bin!« »Verständlich, gnädige Frau.« Alexander Kühnerts Lächeln fiel grim miger aus, als er beabsichtigt hatte. »Damit, denke ich, ist die Sache er ledigt. Es war, finde ich, etwas … unbedacht von Ihnen, ein unbeschol tenes Mädchen wegen eines einzigen Fehlgriffs auf die Straße zu set zen – denn es war doch wohl das einzigemal, daß etwas vorgekommen ist, denke ich?« Er hatte diese Frage ohne Hintergedanken gestellt, aber auf einmal schien ihm diese Antwort unendlich wichtig. »Doch«, gab Frau Stoll zu, »bisher gab es noch keine Klagen.« »Na, sehen Sie. Sie brauchen sich also gar keine Sorgen zu machen. Erstens wird es in Zukunft nicht wieder vorkommen … du sagst es Frau Stoll, wenn dir nicht gut ist, Marion … und zweitens stehe ich voll und ganz hinter meiner Braut. Auch finanziell. Ich danke Ihnen, gnä dige Frau.« Er verbeugte sich leicht. »Bis nachher Marion … wir tref fen uns wie gehabt.« Er dachte daran, daß es vielleicht angebracht wäre, sie zu küssen, un terließ es aber, weil er fürchtete, daß sie zurückzucken würde. 10
»Um halb acht«, stimmte Marion zu, lächelte immer noch nicht und wirkte sehr verwirrt.
Die Fabrik ›Kühnert & Co.‹ lag im Nordwesten Münchens zwischen der Dachauer Straße und dem Allacher Forst, zwei große Fabrikati onshallen und ein Bürotrakt, der durch seine farbenfrohe Kunststoff verkleidung auffiel. Es handelte sich dabei um ein Material, von dem sich die Firma besonders viel versprach, weil es nicht nur säure- und wetterbeständig, sondern auch feuerfest war. Nur war es vorläufig in der Herstellung noch zu teuer, um in befriedigendem Maße Anwen dung zu finden. Alexander Kühnert stellte seinen Porsche auf dem Parkplatz ab, der ständig für ihn reserviert wurde, und fuhr mit dem Lift in das fünfte, das oberste Stockwerk des Bürohauses. Hier hatte er sein Büro, einen großen und großzügig eingerichteten Raum, von dessen Fenstern aus er das Werkgelände und die Auslieferung überblicken konnte. Ursula Herrmann, seine Sekretärin, eine sehr gepflegte und sorg fältig zurechtgemachte junge Frau, erwartete ihn schon. Sie hatte eine gute Figur, auf die sie sehr achtete, braune Augen und kastanienbraun getöntes kurz geschnittenes Haar. »Tag, Ursula«, grüßte Alexander Kühnert zerstreut, »tut mir leid, daß ich mich verspätet habe.« »Das macht doch nichts, Herr Kühnert«, erklärte sie rasch, »ich habe Ihre Termine verschieben können.« »Ja, wenn ich Sie nicht hätte! Sie sind die Tüchtigkeit in Person!« Sie lächelte ihn dankbar an, und in ihren Augen lag mehr als die Er gebenheit einer verlässlichen Sekretärin. »Übrigens … damit ich es Ihnen gleich sage …« Er nahm hinter sei nem Schreibtisch Platz, »aus unserem Essen mit den amerikanischen Geschäftsfreunden heute Abend kann leider nichts werden … das heißt doch! Sie müssen sich der Gentlemen allein annehmen … ich bin leider verhindert.« 11
Ursula Herrmann hatte auf ihrem harten Weg nach oben gelernt, sich zu beherrschen. Diesmal jedoch reagierte sie fassungslos; sie war es nicht gewohnt, daß der Chef seine Dispositionen so unvermittelt umwarf. »Aber Herr Kühnert!« rief sie. »Dieses Zusammensein mit den ame rikanischen Herren ist doch schon seit langem geplant! Sie können doch nicht einfach … ich kann mir nicht vorstellen, was es Wichtige res geben –« Ihr Chef unterbrach sie scharf. »Bedauerlich für Sie, daß Ihre Vor stellungskraft so begrenzt ist!« Sie begriff sofort, daß sie einen falschen Ton angeschlagen hatte. »Entschuldigen Sie, bitte, Herr Kühnert, ich wollte natürlich nicht …« »Schon gut, Frau Herrmann!« Wenn er sie so und nicht bei ih rem Vornamen nannte, bedeutete das, daß er auf Distanz zu gehen wünschte. »Ich verstehe durchaus, daß Ihnen mein Entschluß überra schend kommt, muß Sie aber bitten, ihn kommentarlos zur Kenntnis zu nehmen.« »Selbstverständlich, Herr Kühnert!« Ursula Herrmanns sorgfältig zurechtgemachtes Gesicht glich jetzt einer ausdruckslosen Maske. »Ich nehme doch an, daß Sie eine attraktive Freundin haben …« Alexander Kühnert lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und musterte die Erscheinung seiner Sekretärin mit sachlicher Aner kennung. »Eine junge Dame, der es Spaß machen würde, zusammen mit Ihnen die Herren ein paar Stunden zu unterhalten. Gegen ein ent sprechendes Honorar, versteht sich.« »So auf Anhieb wüsste ich nicht …« Für Sekunden kam Alexander Kühnert die Idee, Marion Lenz zu die sem Treffen mitzunehmen, das bei einem erlesenen Essen im Schwa binger ›Tantris‹ beginnen und in einem eleganten Nachtlokal enden sollte; er verwarf diesen Gedanken aber sogleich wieder. Sie war so jung, schien ihm so zart und zerbrechlich, daß er sie keinesfalls den Zweideutigkeiten einer von Männern bestimmten Unterhaltung aus setzen durfte. »Denken Sie darüber nach«, sagte er freundlich, »es wird Ihnen be 12
stimmt jemand einfallen.« Es tat ihm plötzlich leid, daß er sie hart an gefasst hatte, denn er war sich über ihre Qualitäten, ihre Tüchtigkeit und unbedingte Loyalität durchaus im klaren. »Im übrigen ist es gar nicht ausgeschlossen, daß ich später doch noch zu euch stoße … wir könnten den Kaffee dann bei mir zu Hause nehmen.« Ursula Herrmann verzog keine Miene, aber in den Blick ihrer brau nen Augen kam Wärme. »Das wäre schön, Herr Kühnert.« »Na also«, stellte er befriedigt fest, »haben wir uns wieder geeinigt. Sie werden sehen, die Herren werden mich überhaupt nicht vermis sen … wie könnten sie denn, wenn Ihre Freundin nur halb so char mant ist wie Sie!« »Danke, Herr Kühnert.« »Machen Sie sich und den Herren einen richtig tollen Abend, damit sie morgen, wenn es geschäftlich wird, in Stimmung sind.« »Ich werde mein Möglichstes tun«, versprach Ursula Herrmann, »aber erwarten Sie bloß nicht, daß wir auf alle Wünsche der Herren eingehen.« »Das, mein liebes Mädchen, hat auch niemand von Ihnen verlangt. Wie wär's, wenn wir uns jetzt mal zur Abwechslung in die Arbeit stür zen würden?«
Für Marion Lenz wurde es ein seltsamer Tag. Es schien ihr sonderbar, daß sie wieder hinter dem Ladentisch stand, bediente, aufräumte, lä chelte und sich bewegte, so als wäre nichts geschehen. Dabei war doch tatsächlich ihre Welt in Scherben zerbrochen, die, als sie sich schon verloren glaubte, von einer fremden, kraftvollen und geschickten Hand wieder zusammengefügt worden waren. Die Situation wurde noch unwirklicher dadurch, daß Frau Stoll und auch die Verkäuferinnen nicht mehr wußten, was sie von ihr halten und wie sie sich ihr gegenüber verhalten sollten. Aus einem gewöhnli chen Kleinstadtmädchen hatte sie sich innerhalb weniger Stunden erst als Diebin und dann als Verlobte eines reichen Mannes entpuppt. Es 13
war schwierig geworden, in einem normalen Ton mit ihr zu sprechen, schwierig auch, sie nicht immer wieder von der Seite anzublicken, ge reizt von dem Wunsch, ihr Geheimnis zu enträtseln. Dabei ließ sich jedoch nur feststellen, daß sie äußerlich ganz wie im mer war, ein junges Mädchen an der Grenze der Kindheit mit glattem blonden Haar und vom Schicksal noch ungeprägtem Gesicht, auf dem, und auch das war nichts Neues, oft ein verträumter, ja, geistesabwesen der Ausdruck lag. Die Frauen fragten sich, was dieser nicht übel aussehende Fabrikant wohl an ihr finden mochte. Da sie sie zum ersten Mal nicht nur als Auszubildende und Arbeitskraft betrachteten, wurde ihnen bewußt, daß etwas in ihr steckte, das sie bisher vollkommen übersehen hat ten, ein besonderer Reiz, der vielleicht von der ganz unbewußten An mut ausging, mit der sie sich bewegte, oder von den hohen Jochbögen, die ihrem Gesicht Konturen gaben, oder dem klaren Blau ihrer leicht schräg gestellten Augen. Als die letzte Kundin kurz nach sechs den Modesalon endlich verlas sen hatte und die Tür zur Straße geschlossen wurde, versuchte Fräu lein Anneli den Bann zu brechen, indem sie einen burschikosen Ton anschlug. »Nun mal raus mit der Sprache, Marion!« drängte sie. »Wie hast du den tollen Typ kennen gelernt?« Marion zuckte mit den Schultern. »Einfach so.« »Und seit wann geht ihr miteinander?« »Hab' mir das Datum nicht gemerkt.« »Ach, lass sie doch«, sagte Renate, die andere Verkäuferin, »wenn es ihr Spaß macht, die Geheimnisvolle zu spielen. Ich habe schon immer gewußt, daß sie es faustdick hinter den Ohren hat.« Marion war es unangenehm, daß die anderen sie für etwas hielten, was sie gar nicht war. Wie eine Hochstaplerin kam sie sich vor. Aber es gab, jedenfalls vorläufig noch nicht, keine Möglichkeit, das von Alex ander Kühnert bewußt herbeigeführte Missverständnis aufzuklären. Wortlos beeilte sie sich, mit dem Aufräumen fertig zu werden. Ihre Arbeitszeit hätte eigentlich mit dem Moment des Ladenschlusses um 14
sein sollen. Den Berufsschultag mit einbezogen durfte sie nur acht undvierzig Stunden in der Woche beschäftigt werden, viermal in der Woche von neun bis sechs und am Samstag bis ein Uhr. Sie war sich ihrer Rechte voll bewußt, hatte aber niemals gewagt, sie durchzuset zen. Frau Stoll hätte sich mit tausend kleinen Schikanen dafür rächen können, und auch die beiden Verkäuferinnen würden es ihr bestimmt übel genommen haben, wenn sie sie mit der üblichen Unordnung al lein gelassen hätte. So war sie nur bemüht, es so schnell wie möglich hinter sich zu brin gen; nie arbeitete sie flinker als in dieser Stunde nach Ladenschluss – und heute, da sie eine Verabredung hatte, womöglich noch flinker als sonst. Auf die Idee, ihren Retter vergeblich warten zu lassen, kam sie gar nicht. Zwar wußte sie, daß es Ärger zu Hause geben würde, wenn sie nicht pünktlich war. Aber das war ihr egal. Dabei hatte sie keinerlei In teresse an ihrem Retter, nur ein echtes Bedürfnis, sich bei ihm zu be danken.
Auch Alexander Kühnert beeilte sich, aber er mußte die verlorenen Stunden des Vormittags nachholen, und so kam es, daß er mit einer kleinen Verspätung vor dem ›Café Annast‹ parkte. Angst überfiel ihn, daß Marion schon gegangen oder vielleicht gar nicht gekommen sein könnte, und er fand sich selber lächerlich, daß er sich wegen eines klei nen Ladenmädchens aufregte. Außerdem wußte er ja, wo er sie, späte stens am nächsten Tag, finden konnte. Trotzdem ging er mit großen Schritten auf das Café zu und, nach kurzem Rundblick, hindurch, und sein Herz wurde warm, als er sie entdeckte; sie saß auf demselben Stuhl unter der gleichen Kastanie wie am Morgen, nur daß es inzwischen, da die Sonne im Untergang be griffen war, abgekühlt hatte und zu dunkeln begann. Marion fror. Sie hatte die Schultern hochgezogen und die Arme über einander geschlagen, und ihre zarte Haut war sehr weiß. 15
»Warum sind Sie denn nicht hineingegangen?« fragte er. »Sie sagten doch … wie gehabt.« Er lachte. »Ich hätte Sie bestimmt auch drinnen gefunden. Kommen Sie, Marion!« Er reichte ihr die Hand. Sie schlug nicht ein, sondern hüllte sich nur noch enger in ihre blaue Strickjacke. »Wohin?« »Ich habe Hunger. Sie etwa nicht?« »Herr …« Der fremde Name kam ihr nicht leicht über die Lippen. »Herr Kühnert, ich wollte Ihnen nur danke sagen. Ich kann nicht blei ben, und ich kann auch nicht mit Ihnen essen gehen. Ich muß nach Hause.« »Warum? Ist etwas Besonderes los?« »Nein. Aber meine Eltern warten auf mich.« »Dann ist das doch höchst einfach. Sie rufen an.« »Was soll ich denn sagen?« »Daß Sie später kommen.« Marion schüttelte den Kopf. »Sie kennen meinen Vater nicht.« »Ist er so streng?« »Noch strenger.« »Ein Grund mehr, mit mir zu kommen. Es wird höchste Zeit, daß Ihnen jemand hilft, mit dem strengen Herrn Papa fertig zu werden.« Marion hatte Hunger, und sie war mit ihrem Leben unzufrieden. Alexander Kühnert hatte sie aus einer schwierigen Situation gerettet. Wenn einer ihr helfen konnte, glaubte sie, mußte er es sein. Sie reichte ihm die Hand und ließ sich hochziehen. Alexander Kühnert hatte einen Tisch für zwei Personen in der ›Ti roler Stube‹ des feudalen Hotels ›Continental‹ reservieren lassen. Aus nahmsweise hatte er selber angerufen, anstatt seine Sekretärin zu be auftragen. Er ärgerte sich über seine eigene Geheimnistuerei, vermied es aber, sich über deren Grund Rechenschaft abzulegen. Als sie durch die gläserne Schwingtür schritten, klammerte Marion sich an seinen Arm, als fürchtete sie, daß der reich betresste Portier sie hinausweisen könnte. Sie ließ ihren Begleiter auch nicht los, als sie die elegante, mit wunderschönen Antiquitäten ausgestattete Halle durch 16
schritten. Obwohl sie nicht ahnte, daß die reich geschnitzte Holztä felung viele hundert Jahre alt war und aus einem bayrischen Schloß stammte, war sie beeindruckt. Die ›Tiroler Stube‹ dagegen war für sie eine Enttäuschung, er sah es ihrem Gesicht an. »Gefällt es Ihnen nicht?« fragte er. Sie hob die schmalen Schultern und ließ sie fallen. »Es ist alles … so klein.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Und dunkel.« »Eine echte Tiroler Stube«, erklärte er, »alles ist original so aufgebaut wie es in einem alten Tiroler Haus war. Sehen Sie doch nur mal den Kachelofen, die ausgetretene Schwelle … und wie niedrig die Tür ist.« Aber sie ließ sich nicht begeistern. »Ja, eben«, sagte sie nur. Er lachte. »Was ist daran komisch?« fragte sie. »Jeder Mensch wünscht sich doch nur große Sachen … große Autos, ein großes Haus mit großen Räumen, einen großen Swimming-pool …« »Das sind also Ihre Wunschträume, Marion?« »Alle wünschen sich das«, behauptete sie, »bloß können es sich die wenigsten leisten. Deshalb verstehe ich es nicht, wenn reiche Leu te …« Sie ließ einen Blick über die anderen Gäste gleiten und fragte mit gedämpfter Stimme: »Das sind doch sicher hier alles reiche Leu te?« »Kann schon sein.« »Also wenn die sich in so eine Hucke verkriechen.« »Es ist gemütlich.« »Gemütlich, pah! Gemütlich ist es auch in der Küche bei uns zu Hau se!« Er gab es auf, sie zu belehren. »Das nächstemal gehen wir woanders hin«, versprach er. Sie sah ihn nachdenklich an. »Ich glaube nicht, daß ich noch mal mit Ihnen ausgehen kann.« »Ja, ja, ich weiß, Ihr Vater. Darüber sprechen wir später. Jetzt suchen Sie sich erst mal was zu essen aus.« Er machte ihr verschiedene Vorschläge, die sie aber alle nicht zu be 17
friedigen schienen, und schließlich reichte er ihr die Speisekarte, die sie lange studierte. »Das da!« sagte sie endlich und zeigte mit dem Finger auf das, was sie wollte. »Das Dinner?« »Ja.« Das Dinner bestand aus vier Gängen. Er war überrascht, denn er hatte angenommen, sie hätte sich, zart wie sie war, eine Kleinigkeit ausgesucht. »Oder ist das unverschämt?« fragte sie sofort. »Nein, gar nicht. Zuerst den Crevettencocktail?« »Ja. Dann die Kraftbrühe mit Eierstich.« »Fisch oder Fleisch?« Marion zögerte. »Kann ich nicht beides haben?« Beinahe hätte er wieder gelacht, aber er blieb ernst, um sie nicht zu verletzen. »Aber ja. Also Salm und Kalbsnüßchen und zum Abschluß Maroneneis oder Zwetschgenknödel? Oder vielleicht auch beides?« »Ich muß erst mal sehen, wie hungrig ich dann noch bin.« »Gute Idee.« Er bestellte bei Frau Paula, der Geschäftsführerin, das Dinner für Marion und für sich ein Steak mit Salat. »Und zu trinken«, sagte er und fügte, als er sah, daß Marion den Mund öffnen wollte, rasch hinzu: »Nein, nein, keine Cola, das verdirbt den Geschmack … sagen wir einen Müller-Thurgau.« »Gerne, Herr Kühnert.« Frau Paula notierte. Marion imponierte es, daß man ihn hier beim Namen kannte. Als Frau Paula den Weißwein einschenkte, freute sie sich, daß sie nicht ge fragt hatte, was ein ›Müller-Thurgau‹ war. Das ausgezeichnete Essen versöhnte sie mit der rustikalen Ausstat tung des Raumes. Alexander Kühnert, der es gewohnt war, mit Frauen auszugehen, die auf ihre Linie achten mußten, staunte über ihren Ap petit. Sie aß heißhungrig, als hätte sie vieles nachzuholen. Dabei fand sie noch Zeit, ihm von ihren Problemen zu erzählen. Wie leid sie es hatte, täglich zwischen Rosenheim und München zu pen deln. Mit den dreihundert Mark, die sie netto verdiente, hätte sie sich 18
ein Zimmer in einem Jugendwohnheim leisten können, allerdings nur mit zwei anderen Mädchen zusammen. Aber das hätte ihr nichts ausge macht. Doch die Eltern wollten es nicht zulassen. Die glaubten, daß sie sich in München wer weiß wie amüsieren wollte. Dabei war sie durch aus bereit, jedes Wochenende nach Hause zu kommen. Aber das sah der Vater nicht ein. Er hielt es für eine Verschwendung, sich in Mün chen ein Zimmer zu nehmen, wo sie doch zu Hause wohnen konnte. Sie durfte das Geld, das sie verdiente, auch gar nicht behalten. Nur hundert Mark. Hundert Mark kassierten die Eltern für Essen und Wohnen, und hundert Mark legten sie ›für später‹ auf die hohe Kante. Ein Glück, daß die Volljährigkeit jetzt auf achtzehn Jahre herabgesetzt worden war. Sonst hätte sie das noch bis einundzwanzig aushalten müssen. Marion aß und redete, trank dazwischen einen Schluck, redete, vom Alkohol beflügelt, noch lebhafter, und er, Alexander Kühnert, lausch te ihr und sah ihr zu, fasziniert von ihrer Jugend und der Greifbarkeit ihrer Sorgen. Dieses ätherisch wirkende Mädchen schien keine unbe stimmten Traurigkeiten zu kennen, keine Depressionen und keine ge fühlsbedingten Ängste. Sie fragte sich nicht nach dem Sinn ihres Le bens oder ihrer eigenen kleinen Existenz. Alles war für sie ganz einfach. Er hatte sein Steak längst gegessen, als sie noch bei ihren Kalbsnüß chen war. Es tat ihm wohl, daß sie darauf aufmerksam wurde. »Ja, sind Sie denn schon satt?« fragte sie. »Eigentlich nicht«, gab er lächelnd zu. »Warum essen Sie dann nichts mehr?« »Weil ich nicht dick werden will.« Sie schenkte ihm einen langen Blick, sah von seinem dichten, mit hellen Strähnen durchzogenen Haar in seine klugen grauen Augen, und es war ihm, als wenn sie sich seiner Persönlichkeit erst jetzt ge nau bewußt würde. »Ach, das ist doch in Ihrem Alter ganz egal«, sagte sie dann leichthin, »wenn man erst über vierzig ist, kommt es nicht mehr darauf an.« Er hatte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie verletzt er war, und zwang sich zu einem Lachen. »Ich bin fünfunddreißig.« 19
»Das kommt aufs selbe raus. Aber wenn man immer alles essen kann, was man will, dann macht man sich vielleicht gar nichts mehr draus.« Er hielt es für angebracht, das Thema zu wechseln. »Was Sie brau chen, ist also ein Zimmer in München?« »Ja.« »Ich werde mit Ihrem Vater sprechen.« »Der läßt nicht mit sich reden.« »Wir werden sehen. Ich bringe Sie jetzt nach Hause …« Aber das wollte sie auf keinen Fall zulassen. Er begriff, daß man ihr eingeschärft hatte, nicht zu einem fremden Mann ins Auto zu steigen, und es kränkte ihn, daß sie immer noch so wenig Vertrauen zu ihm hatte. Andererseits rührte ihn aber auch ihre provinzielle Unschuld, die sie so sehr von allen anderen Mädchen unterschied, die er kannte. Immerhin ließ sie es zu, daß er ein Taxi zum Bahnhof für sie bezahl te, und sie verabredeten, daß er am Samstag nachmittag nach Rosenheim kommen sollte. Als sie sich vor dem Hoteleingang verabschiedeten, ließ sie ihre schmale Hand sekundenlang in der seinen ruhen. »Warum tun Sie das alles für mich?« fragte sie, und im Blick ihrer leicht schräg gestellten blauen Augen lag etwas ganz Kindliches. »Ich weiß es selber nicht, Marion«, erwiderte er wahrheitsgemäß. Er stand am Bordstein, als sie abfuhr, aber sie winkte ihm nicht durch das Rückenfenster zu.
Es war noch früh am Abend, und Alexander Kühnert traf die ande ren – die beiden amerikanischen Geschäftsleute, Ursula Herrmann und ihre Freundin, eine aparte Rothaarige mit wissenden Augen – noch im ›Tantris‹. Wie er erwartet hatte, waren die Herren schon recht animiert und unterhielten sich blendend. Er bereute, daß er überhaupt zu ihnen gestoßen war. Nur aus der Routine heraus gelang es ihm, ein angeneh mer Gesellschafter zu sein. Sie zogen zuerst durch einige Schwabinger Nachtlokale und landeten dann im ›P1‹ im Haus der Kunst. 20
Gegen Mitternacht mahnte Alexander zum Aufbruch. »Wir wollen doch morgen einen klaren Kopf haben …« Er lud die kleine Gesellschaft zu einem Kaffee bei sich zu Hause ein. Das schöne Jugendstilhaus in Bogenhausen, in dem er lebte, hatte er von seinen Eltern geerbt. Im Erdgeschoß lagen, durch ornamental verzierte gläserne Schiebetüren miteinander verbunden, die Gesell schaftsräume, im ersten Stock die Schlafzimmer und Bäder. Es war ein kleines Haus und dennoch zu groß für einen allein lebenden Mann. Aber hier war er geboren, hier hatte er die kurzen, stürmischen Jah re seiner Ehe verlebt, und nie wäre er auf den Gedanken gekommen, es fremden Menschen zu überlassen. Frau Marie, eine ältliche Schle sierin mit einem unaussprechlichen Nachnamen, sorgte für Ordnung und Sauberkeit. Die Rolle der Hausfrau übernahm bei gesellschaftlichen Anlässen, wie auch heute nacht, Ursula Herrmann. Sie machte das gut und si cher, versorgte die Kaffeemaschine und stellte sie ein, bot Cognac, Cal vados und Chartreuse aus gewärmten Gläsern an, servierte den Kaf fee in Mokkatassen auf silbernem Tablett und verstand es dabei noch, den Anschein zu erwecken, als koste sie dies alles nicht die geringste Mühe, als wäre der Umgang mit schönen Dingen für sie ein angeneh mes Spiel. Alexander Kühnert konstatierte, daß sie dabei eine wesent lich bessere Figur machte als die Rothaarige, die, die schönen Beine übereinander geschlagen, in der Sofaecke saß, aus einer langen Ziga rettenspitze rauchte und sich bedienen ließ. Ursula trug ein züchtiges hochgeschlossenes wadenlanges Kleid mit Stehkragen und Schulterpasse, dem Stil der Jahrhundertwende nach empfunden, und Alexander Kühnert hatte den Verdacht, daß sie es be wußt gewählt hatte, weil es so gut zu den alten Möbeln seines Hauses paßte. Das hinderte ihn aber nicht daran, sich an ihrem Anblick zu er freuen. Nachher, als die anderen aufbrachen, blieb sie zurück. »Nein, nein, fahrt nur allein, ich möchte noch aufräumen«, erklärte sie lächelnd. »Aber das macht doch Frau Marie!« widersprach er. »Gleich mor gen früh.« 21
Jetzt lächelte sie ihn an. »Sie sollten mich doch kennen, Chef. Ich bin ein ordentliches Mädchen und kann es nicht vertragen, Unordnung zu hinterlassen.« »Na dann … viel Spaß!« sagte die Rothaarige anzüglich. »Dir ebenfalls!« gab Ursula keck zurück. Alexander Kühnert sah ihr zu, wie sie abräumte. Draußen schlugen die Autotüren, und der Motor heulte auf. Die Stereoanlage war noch eingeschaltet, und aus den Lautsprechern klang das alte, süß-senti mentale Lied vom ›Moon-River‹. Ursula kam aus der Küche getänzelt und dicht auf ihn zu. »Wissen Sie eigentlich, Chef, daß Sie heute Abend kein einzigesmal mit mir ge tanzt haben?« Er sah ihr in die schönen braunen Augen, deren Wirkung durch ge schickt aufgelegte Lidschatten noch verstärkt wurde. »Ich habe über haupt nicht getanzt.« »Warum?« fragte sie, und, als er nicht antwortete, legte sie die Arme auf seine Schultern und schmiegte sich an ihn. »Wir können es nach holen!« Alexander Kühnert spürte die Wärme des schlanken Frauenkörpers, und sekundenlang war die Versuchung stark, das zu tun, was Ursu la Herrmann erwartete: sie noch enger an sich zu ziehen, ihren halb geöffneten Mund zu küssen und sich einfach fallenzulassen in jenes rauschhafte Vergessen, das sich Liebe nannte. Aber er tat es nicht. Er nahm ihre Hände von seinen Schultern, küßte eine nach der an deren, drückte Ursula sanft von sich und schüttelte den Kopf. »Nein, Ursula, wir sind nicht mehr jung genug, Dinge zu tun, die wir schon morgen bereuen würden.« »Ist es … ihretwegen?« Mit einer Bewegung ihres festen Kinns wies sie auf die silbergerahmte Fotografie auf dem Steinway-Flügel, die das helle Gesicht einer Frau zeigte, Alexander Kühnerts Frau. »Nein, Ursula. Das ist alles schon so lange her. Treue über den Tod hinaus … das klingt schön, ist aber doch wohl Unsinn.« »Ja, aber dann …« Sie hob die Arme. »Wir sind frei, wir sind erwach 22
sen, niemand kann uns Vorschriften machen … geben Sie doch zu, Sie möchten es doch auch, Alexander!« »Sie sind eine sehr anziehende junge Frau …« Sie verzog die Lippen. »Ist das der Zuckerguss, der mir die Pille ver süßen soll?« »Es ist die Wahrheit, und Sie wissen es ganz genau. Sie sind begeh renswert, Ursula … aber Sie sind meine Sekretärin.« Sie lachte auf. »Wenn das alles ist!« »Für mich ist es entscheidend. Sie sind mir eine zu wertvolle Mitar beiterin, als daß ich Sie durch eine Beziehung, die doch nur Spielerei sein könnte, verlieren möchte.« Plötzlich wirkte sie ernüchtert; der Glanz in ihren Augen erlosch. »Eine Spielerei …«, wiederholte sie, und ihre Finger strichen durch die Fransen der chinesischen Decke, mit der der Flügel drapiert war. »Mehr wäre also nicht drin?« »Nein, Ursula«, sagte er mit Bestimmtheit. »Schade.« »Nein, gar nicht. Ein Mädchen fürs Bett kann ich mir auf jeder Party aufreißen … nach einer Mitarbeiterin wie Sie es sind, müßte ich lange suchen. Sie bedeuten mir sehr viel, Ursula.« Sie seufzte tief. »Wenn ich nur wüsste, woran ich wirklich mit Ihnen bin. Ein Mann wie Sie ist mir noch nicht untergekommen.« »Und dabei habe ich immer den Eindruck, daß Sie mich ganz gut durchschauen!« Ein Lächeln verlieh seinen etwas harten Zügen Wär me. »Aber nun genug geflirtet …« Er warf einen Blick auf seine stähler ne Armbanduhr. »Wir haben einen harten Tag vor uns. Ich werde Ih nen jetzt ein Taxi bestellen.«
Später begleitete Alexander Kühnert seine Sekretärin zur Haus tür, und sie blieben nebeneinander unter dem mit stilisierten Blu men und Ranken geschmückten Portal stehen und warteten auf das Auto. 23
»Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen, Alexander?« Sie blickte ihn prüfend an. »Sie ist ziemlich indiskret, aber …« »Nur raus mit der Sprache«, ermutigte er sie, »Sie haben heute nacht volle Narrenfreiheit.« »Haben Sie eigentlich nie daran gedacht, wieder zu heiraten?« »Nein.« »Aber es wäre doch das Normale.« »Mir kommt mein Leben ganz normal vor.« Das Taxi fuhr vor. Alexander Kühnert schob seine Hand unter Ursulas Ellbogen, führ te sie die Stufen hinunter, öffnete die Tür hinter dem Fahrer und schob sie in den Wagen. »Schlafen Sie sich aus, Mädchen … vor zehn Uhr brauchen Sie nicht da zu sein!« Er ging durch den schmalen Vorgarten zum Haus zurück, löschte das Außenlicht, schloß die Haustür und schaltete die Alarmanlage ein. Zufrieden mit dem Verlauf des Abends goss er sich noch einen letzten Whisky ein, legte eine Count Basie-Platte auf, setzte sich in einen der zierlichen Sessel, streckte die Beine von sich und genoß die Ruhe vor dem Schlafengehen. Die Situation war zuletzt ein bißchen kritisch geworden, fand er, aber auch, daß er sie gut gemeistert hatte. Ursula war darauf aus, ihn einzufangen. Aber das würde ihr nicht gelingen, weder ihr noch einer anderen. Warum eigentlich war er so entschlossen, nie wieder zu heiraten? Nachdenklich ließ er die goldene Flüssigkeit in dem Kristallglas krei sen. Die Jahre mit Sybill waren wunderbar gewesen, wunderbar, wild und stürmisch. Sie hatten sich geliebt und gestritten, daß die Fetzen flogen. Beide waren sie jung gewesen, jung, verwöhnt und wild ent schlossen, den eigenen Kopf durchzusetzen. Aber ihre Auseinander setzungen hatten ihre Liebe nicht ersticken können, im Gegenteil, sie war wie der Funke zwischen zwei Steinen an ihrer Gegensätzlichkeit nur immer wieder glühend entflammt. Als es dann passierte – Sybill hatte sich nach einem leidenschaftli 24
chen Streit an das Steuer ihres Autos gesetzt und, Unglücksfall oder Kurzschlußhandlung, das hatte nie endgültig geklärt werden können, war gegen die Mauer der Unterführung am Leuchtenberg-Ring ge knallt –, war das für ihn ein echter Schock gewesen, von dem er sich lange nicht hatte erholen können. Er hatte nicht begriffen, daß sie tat sächlich tot war, daß sie nie wieder hereinkommen, nie wieder lachend den Kopf in den Nacken werfen, ihn nie wieder zornbebend anblit zen würde. Als er das, was geschehen war, endlich verstand, hatte er nicht ohne einen heftigen, geradezu körperlichen Schmerz daran den ken können. Er hatte die Erinnerung an Sybill weit von sich geschoben, weil er sie nicht ertragen konnte. Dann, eines Tages, war das Unglaubliche geschehen: Es hatte nicht mehr weh getan. Er hatte sich selber dabei überrascht, wie er auf ei ner Party eine Anekdote von ihrer Hochzeitsreise zum besten gab, ohne noch etwas anderes dabei zu empfinden als Belustigung mit ei ner leichten Wehmut vermischt. Erst jetzt, in der einsamen Stunde der Nacht, nachdem seine Gäste gegangen waren, begriff Alexander Kühnert, was mit ihm geschehen war: Er selber hatte sich verändert. Er war längst nicht mehr der grü ne, leidenschaftliche, empfindliche junge Mann, der Sybill so heftig ge liebt hatte, und auch sie, lebte sie heute noch, wäre nicht mehr die lei denschaftliche, bedingungslos fordernde Frau von damals gewesen. Vielleicht hätten sie eine andere Form des Zusammenlebens gefun den, vielleicht aber auch hätten sie sich längst getrennt, wie es so viele taten, die zu jung und zu unüberlegt in die Ehe gestürzt waren. Wie auch immer; die Vergangenheit war vorbei. Alexander Kühnert hatte sich damit abgefunden, allein zu sein, und er liebte seine Freiheit. Selten, sehr selten wie in dieser nächtlichen Stunde gestand er sich ein, daß etwas in seinem Leben fehlte. Er wußte nicht, was es war, und er dachte, daß es vielleicht nur daran lag, daß er keine Sorgen hatte – ge schäftlichen Ärger ja, Rückschläge, Enttäuschungen, aber keine hand festen Sorgen, wie andere Menschen sie kennen. »Mir scheint, alter Junge, dir geht's zu gut«, sagte er laut, leerte sein Glas und begab sich nach oben. 25
Marion Lenz fand lange nicht den Mut – nicht die Gelegenheit, ent schuldigte sie sich vor sich selber –, ihre Eltern auf Alexander Küh nerts Besuch vorzubereiten. Erst Samstag nach dem Mittagessen, als es wirklich höchste Zeit wurde, nahm sie einen Anlauf. »Du, Mutter …« Sie polierte und polierte an einem Teller herum, der längst trocken war. »Du, heute nachmittag kommt ein Mann.« »Was für ein Mann?« Anna Lenz hatte die roten Arme tief in das Ab waschwasser getunkt. »Einer, der uns 'ne Versicherung andrehen will? Du hättest ihm sagen sollen …« Sie war eine rundliche kleine Frau mit kurz geschnittenem blonden Haar; alle ihre Bewegungen waren ge zielt, energisch, durchdacht. »Nein«, sagte Marion, »doch nicht so einer. Er kommt aus Mün chen.« Frau Lenz stellte einen gespülten Teller auf das Ablaufbrett und be dachte ihre Tochter mit einem misstrauischen Seitenblick. »Will er was von dir?« »Aber nein, Mutter, was du aber auch immer denkst. Er ist schon alt … ziemlich alt jedenfalls.« »Woher kennst du ihn denn?« Marion zuckte mit den schmalen Schultern. »Nur so. Zufall.« »Und was ist er?« forschte Frau Lenz weiter. »Weiß nicht genau. Ziemlich reich jedenfalls. Fährt einen Porsche.« »So einer kommt mir nicht ins Haus«, ließ Xaver Lenz sich verneh men; er lag, in Hemdsärmeln und ohne Schuhe, lang ausgestreckt auf dem Sofa in der Wohnküche, das Oberbayrische Volksblatt vor der Nase. »Nun sei doch nicht so, Vater«, sagte Marion. »Was will er denn überhaupt hier?« fragte ihre Mutter. »Nichts.« Marion stellte den blanken Teller auf den Küchentisch und griff zum nächsten. »Mit euch reden halt.« »Was wir mit so 'nem Schlurf zu reden haben«, knurrte der Vater. »Ihr sollt ihn ja auch bloß anhören.« »Der will uns doch sicher was verkaufen«, meinte die Mutter. »Nein, bestimmt nicht. Überhaupt … vielleicht kommt er ja gar nicht.« 26
»Warum erzählst du es uns dann?« fragte die Mutter. »Nur so. Für alle Fälle. Vielleicht kommt er doch.« Marion räum te das Geschirr in den Schrank. »Ich geh' mich jetzt jedenfalls umzie hen.« Sie lief zur Tür und drehte sich noch einmal um. »Ihr solltet euch auch 'n bißchen nett machen.« »Ich bin nett genug«, brummte der Vater, »viel zu nett für so 'nen Porschefahrer.« Er blickte seine Frau über die Gläser seiner Nickelbril le hinweg an. »Weißt du, was das soll, Alte?« »Du kennst doch die Marion.« Frau Lenz hatte das Wasser abgelas sen und rieb das Becken mit dem Spültuch aus. »Die hat sich sicher bloß wieder was zurechtgeträumt.« »Wollen wir's hoffen. Das hätte mir gerade noch gefehlt, daß hier so'n Kerl auftaucht … ausgerechnet am Samstag nachmittag.« »Lass mal gut sein. Vater. Der kommt schon nicht.« Aber Alexander Kühnert kam doch. Er hatte sich vorgenommen, Marions Eltern aufzusuchen, und da er zu den Männern gehörte, die ihre Vorsätze meistens auch ausführen, tat er es, auch wenn ihm selber nicht mehr ganz wohl bei der Sache war. Das Häuschen in der Nähe des Zubringers zwischen der Autobahn und Rosenheim nahe der Kirche Heilig Blut – Marion hatte es ihm be schrieben –, war nicht schwer zu finden. Die Familie Lenz, die Eltern und Marions ältere Brüder, hatte es in den fünfziger Jahren mit eige nen Händen erbaut, und so sah es denn auch aus: schon ein bißchen windschief und ohne jede Spur ästhetischer Schönheit, ein einstöcki ges Häuschen mit Rissen in den Wänden, abblätterndem Verputz und einer verbogenen Regenrinne. Durch den frischen Lackanstrich der Fensterrahmen wirkte es eher noch ärmlicher. Es lag auf einem winzigen Grundstück gleich an einer Straße, die zu schmal war, als daß er sein Auto darauf hätte parken können. Er fuhr ein Stück weiter bis zum Kirchplatz, stieg dann aus und kam zurück. An der Haustür gab es keine Klingel. Alexander Kühnert wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Er trat einen Schritt zurück und legte den Kopf in den Nacken. Im ersten Stock bewegte sich die weiße, gestärkte Gardine. Als er gegen 27
die Tür klopfen wollte, wurde sie von innen aufgerissen, und Mari on stand vor ihm, atemlos, mit geröteten Wangen in einem rohseide nen Schlabberkleid, das nicht zu ihr und noch weniger zu ihrer Um gebung paßte; ihre Chefin, Frau Stoll, hatte es ihr aufgeschwatzt, weil das Oberteil leicht verfärbt und an eine Kundin nicht mehr zu verkau fen war. Sie wirkte darin wie ein Kind, das sich verkleidet hat, um er wachsen zu spielen. »Hallo, Marion«, grüßte er freundlich. »Ich … ich hab' Sie vorfahren sehn.« Sie hielt die Tür offen, rührte sich aber nicht von der Schwelle. »Wollen Sie mich denn nicht hereinlassen?« Marion zögerte. »Ich werd' lieber fragen, ob ich weg darf.« »Aber wir hatten doch ausgemacht …« »Das hat sowieso keinen Zweck. Bitte, warten Sie 'nen Augenblick.« Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Er fühlte sich ausgesperrt, tastete die Taschen seines wildledernen Freizeitanzuges nach Zigaretten ab, bis ihm einfiel, daß er absicht lich keine eingesteckt hatte, weil er sich das Rauchen abgewöhnen wollte. Durch die Mauern hört er das Klappern von Marions Sandalen und ihren hellen Ruf: »Er ist da!« Danach eine zornige Männerstimme, de ren Worte er nicht verstand, und einen Aufschrei. Kurz darauf wurde die Tür wieder geöffnet, nur einen Spalt. »Geh'n Sie, bitte!« sagte Marion erstickt. »Geh'n Sie weg!« Aber er dachte nicht daran, sich so abwimmeln zu lassen, schob den Fuß vor und stieß die Tür auf. Marion hielt sich, wie schützend, den Arm vor das Gesicht. Er packte ihr Handgelenk und zog sie ins Freie. Ihre schönen, schräg gestellten Augen schwammen in Tränen, und ihre linke Wange brannte. »Man hat Sie geschlagen?!« rief er empört. »Nur eine Ohrfeige!« Sie lächelte mit zitternden Lippen. »Passiert so was öfter?« »Hin und wieder. Ist ja nichts weiter dabei.« »Das finde ich aber doch. Ein Kind zu schlagen … und Sie sind ja 28
gar kein Kind mehr! Ich werde mit Ihrem Vater sprechen!« Er wollte an ihr vorbei. »Bloß nicht!« Marion klammerte sich an ihn. »Bitte nicht! Er ist so schon wütend!« »Ich werde es ihm zeigen!« »Und ich muß es nachher ausbaden.« Dieses Argument überzeugte ihn; er blieb stehen und sah sie an. »Aber hier kann ich Sie doch nicht lassen.« »Warum denn nicht? Mein Vater beruhigt sich auch wieder. Aber wenn er kommt, und Sie sind noch hier … bitte, bitte, geh'n Sie!« Seit dem Tod seiner Frau hatte Alexander Kühnen sich nie mehr so machtlos gefühlt. Er war in eine Situation geraten, in der er mit all seinem Reichtum nichts ausrichten konnte. Er mußte Marion ihrem Schicksal überlassen. »Wir treffen uns am Montag«, flüsterte sie ihm zu, »im ›Annast‹, ja?« »Marion?« rief aus der Wohnküche die Stimme der Mutter. »Wo bleibst du?« »Drückst du dich immer noch mit diesem Kerl da rum?!« brüllte der Vater. Alexander Kühnert trat eilig den Rückzug an.
Der Föhn hielt sich; er drängte die Regenwolken, die vom Westen vor dringen wollten, ab und hielt den Himmel über München seidig blau. Am Sonntag fuhr Alexander Kühnert mit Hansi Beermann, einem Freund aus Jugendtagen, und Irene, dessen Frau, zum Segeln an den Chiemsee. Aber es gelang ihm nicht, sich zu entspannen. Immer wie der mußte er an Marion denken, an ihren dünnen Körper in dem viel zu erwachsenen Rohseidenkleid, daran, wie sie, zusammengekrümmt, sich den Arm vor die brennende Wange gehalten hatte, an ihre nassen Augen und ihr zitterndes Lächeln. Es kam ihm vor, als hätte er sich wie ein Idiot benommen, aber er 29
konnte nicht herausbekommen, was er falsch gemacht hatte. Mehr mals war er drauf und dran, seinen Freunden die ganze Geschichte zu erzählen. Aber sobald er versuchte, sie in Worte zu kleiden, kam sie ihm unmöglich vor. Warum kümmerte er sich überhaupt um dieses Mädchen? Daß er sie, als sie ihm vor den Kühler gerannt war, aufgelesen und ihr etwas zu trinken spendiert hatte, das war noch gut und richtig ge wesen. Sie ihrer Chefin gegenüber als seine Verlobte auszugeben, war schon entschieden zu weit gegangen. Aber was hatte er sich dabei ge dacht, ihre Eltern aufzusuchen? Sie hatte ihn ja nicht einmal darum gebeten. Er brauchte Hansi und Irene nichts zu erzählen, er wußte ohnehin, was sie ihm sagen würden: Vergiß die Kleine. Was geht sie dich an? Ein Mädchen, von dem du eigentlich nur Negatives weißt. Aber er konnte sie nicht vergessen, und anstatt am Abend einer Ein ladung zu folgen, wie er eigentlich vorgehabt hatte, blieb er in seinem stillen Haus, hörte Platten, trank eine Flasche Veltliner Spätlese und dachte nach. Vielleicht waren Marions Eltern nicht wirklich arm, auch wenn es ihm so vorgekommen war. Immerhin besaßen sie ja ein Haus. Aber sie waren auch nicht wohlhabend. Sie drehten jedes Fünfmarkstück drei mal um, bevor sie es ausgaben, und sie zogen von Marions winzigem Gehalt hundert Mark für Kost und Miete ab. Das alles zeigte, daß Geld ihnen viel bedeutete. Also mußte bei ihnen auch mit Geld etwas zu machen sein. Gestern nachmittag war er überrumpelt gewesen, von dem unfreundlichen Empfang geschockt und durch den unerfüllten Wunsch, mit Marion zusammen zu sein, frustriert. Je länger er aber über seine Beziehungen zu Marions Eltern nach dachte, desto sicherer schien es ihm, daß er sie, wenn er es nur richtig anpackte, durchaus beeindrucken konnte. Alexander Kühnert war entschlossen, sich Marions Freiheit etwas kosten zu lassen. Den nächsten Zug wollte er aber erst tun, wenn er alle Trümpfe in der Hand hatte. 30
Am nächsten Morgen erschien er gut aufgelegt und voller Tatendrang in seinem Werk, scherzte mit Ursula Herrmann, die in einem karier ten Kleid mit weißem Kragen und weißen Manschetten einen ausge sprochenen appetitlichen Anblick bot, und bat sie, noch bevor er die eingegangene Post durchgegangen war, zum Diktat. Sie setzte sich auf den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch, die Bei ne brav nebeneinander gestellt, den Stenoblock auf dem Schoß. »Ich bin ganz Ohr«, sagte sie lächelnd. »Schreiben Sie an Frings … ja, an die Detektei, mit der wir ein Ab kommen haben …« Ursula machte sich eine Notiz. »Weiß schon Bescheid.« Alexander Kühnert pflegte bei der Detektei Frings gelegentlich Aus künfte über die Bonität eines Kunden oder Auftraggebers einzuholen. Ursula sah ihn an. »Um wen geht's denn diesmal?« »Um einen Mann namens Lenz, wohnt in Rosenheim, Nähe der Kir che Heilig Blut, die Straße kenne ich nicht …« »Könnte man im Telefonbuch nachsehen«, schlug die Sekretärin vor. »Ich bezweifle sehr, daß dieser Lenz Telefon hat.« »Nicht?« Ursula war erstaunt. »Wissen Sie denn wenigstens seinen Vornamen?« »Nein. Er ist verheiratet … schreiben Sie … hat drei erwachsene Söh ne wahrscheinlich schon aus dem Haus … wohnt übrigens im eigenen Haus, schreiben Sie das auch … und eine Tochter namens Marion, die im ›Modehaus Stoll‹ am Marienplatz arbeitet …« »Aha«, sagte Ursula. Alexander Kühnert fuhr hoch. »Was heißt das?!« Sie sah in verständnislos an. »Was?« »Warum haben Sie ›aha‹ gesagt?« »Habe ich das? Dann sicher, weil ich gedacht habe: endlich was Kon kretes!« Ihr sorgfältig zurechtgemachtes Gesicht war ausdruckslos. Er wollte sich nicht ins Unrecht setzen und verzichtete darauf, sie zu rechtzuweisen. »Ich will wissen, was der Mann verdient, wieviel Geld er hat und wieviel Schulden … ob seine Frau mitarbeitet …« 31
»… was seine Tochter verdient …« »Nein, das nicht, das ist für mich uninteressant. Also schreiben Sie das und legen Sie es mir nachher zur Unterschrift vor.« Ursula Herrmann erhob sich und ging zur Tür. »Sie wollen mir nicht sagen, was das bedeutet?« fragte sie, die Klinke schon in der Hand. »Nein!« erklärte er, dann, als er merkte, daß sie sich verletzt fühlte, zwang er sich zu einem Lächeln. »Es ist eine reine Privatangelegenheit, Ursula … eigentlich nur ein Spleen von mir.«
Der Wind schlug um, und am Nachmittag begann es zu regnen. Auf den wenigen Schritten vom Parkplatz zum ›Café Annast‹ wurden Alex ander Kühnert, der morgens keinen Regenmantel mitgenommen hat te, die Schultern nass. Er wischte sich mit einem großen weißen Ta schentuch das Gesicht, als er eintrat. Marion war nicht gekommen. Er wartete eine gute Stunde, aber sie erschien nicht. Ihr Fernbleiben beunruhigte ihn sehr. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, daß sie ihm diese Verabredung nur versprochen hatte, um ihn loszuwerden. Er trank zwei Cognacs und rang sich zu der Überzeugung durch, daß es so das Beste sei. Er hatte für sie getan, was er konnte. Jetzt hatte er nur Grund, froh zu sein, sie auf so leichte Weise loszusein. Aber er war es nicht. In der Nacht schlief er schlecht, und tagsüber konnte er sich nur schwer auf seine Arbeit konzentrieren. Er fühlte sich wie verhext. Fast eine Woche lang hielt er durch. Am Freitag war es mit seiner Be herrschung vorbei. Er mußte Marion wieder sehen, mußte in Erfah rung bringen, ob mit ihr alles in Ordnung war, wie er sich selber ein redete. Da er nicht wie ein grüner Junge am Hinterausgang des Geschäfts warten wollte, betrat er den Modesalon kurz vor Ladenschluss und ging geradewegs auf Frau Stoll zu. 32
»Guten Abend, gnädige Frau … ich bin gekommen, um meine Ver lobte abzuholen.« Frau Stoll lächelte süßsauer. Sie konnte nicht gut sagen, daß Marion noch zum Aufräumen gebraucht wurde, denn dieser Mann, das spür te sie, würde, wenn man dem Mädchen unrecht tat, sehr unangenehm werden. »Aber ja … selbstverständlich«, versicherte sie, »schnell, mach dich fertig, Marion!« Marion kam zögernd mit weit geöffneten Augen, aus dem Hinter grund des Ladens auf ihn zu, und ihr Anblick war eine Enttäuschung für ihn. Er hatte sie lebendiger in Erinnerung gehabt, nicht so farblos, blaß und blond, so dünn. Aber die Vorstellung, die sie gab, rührte ihn, weil sie so schlecht war. Sie reichte ihm weder die Hand, noch schenk te sie ihm das winzigste Lächeln. Als Frau Stoll sie drängte, ihre Jacke zu holen – die blaue Strickjak ke, die er schon kannte –, fühlte er sich bemüßigt, ihr zu erklären, daß sie sich gezankt hätten. Niemand hätte sonst glauben können, daß sie verlobt seien. »Das hätten Sie nicht tun dürfen!« sagte Marion, als sie dann auf dem regennassen Marienplatz standen. »In den Laden kommen? Warum denn nicht? Frau Stoll denkt doch …« »Es ist nicht wegen Frau Stoll.« Sie blieb stehen und zwang ihn so, zurückzukommen. »Ich soll Sie nicht mehr wieder sehen. Ich habe es meinen Eltern versprechen müssen.« »Finden Sie, daß sie ein Recht haben, Ihnen das zu verbieten?« »Sie sagen, daß Sie bestimmt schlechte Absichten haben!« Mit weit geöffneten Augen sah sie ihn an. »Und ich glaube das jetzt auch. Was könnte ein Mann wie Sie denn sonst von mir wollen?« Er packte sie bei den Schultern. »Dich heiraten!« Marion war so überwältigt, daß sie keine Worte fand und Alexander Kühnert nur fassungslos anstarrte. Er selber war kaum weniger überrascht über seine eigenen Worte; er hatte gar nicht im Sinn gehabt, diesem blutjungen Mädchen einen Hei 33
ratsantrag zu machen. Jetzt aber, da er es ausgesprochen hatte, schien es ihm mit einemmal ganz vernünftig. »Es ist mein Ernst«, bestätigte er, »ich möchte, daß du meine Frau wirst, Marion!« Bisher hatte sie seinen Griff, ohne sich zu wehren, geduldet, hatte einfach still gehalten; jetzt bewegte sie die Schultern mit einem Ruck und versuchte sich zu befreien. »Sie sind ja verrückt!« rief sie. »Ja, Sie müssen verrückt sein, so was zu sagen!« Ihre Reaktion verstärkte in ihm nur noch den Wunsch, sie zu be sitzen. Seit dem Tod seiner Frau hatten die meisten Mädchen, die er kannte oder kennen lernte – ja, ohne zu übertreiben konnte man sagen: Alle hatten sie sich mehr oder weniger geschickt bemüht, ihn in den Hafen der Ehe zu lotsen. Hier war nun eine, die ihn nicht heiraten wollte und ihn ganz ohne Koketterie für verrückt erklär te. Lachend gab er sie frei. »Sei nicht dumm, Marion! Begreifst du denn nicht: Wenn du mich heiratest, bist du aus all deinen Sorgen raus. Du kannst in München leben, das wünscht du dir doch, du brauchst dir nichts mehr von deinen Eltern gefallen zu lassen, nicht mehr arbeiten zu gehen …« »Aber ich liebe Sie doch nicht«, erklärte sie mit kindlicher Ernsthaf tigkeit. Er spürte einen kurzen, heftigen Schmerz, den er nicht weiter beach tete. »Liebe, Marion, habe ich ja auch nicht von dir verlangt. Nur, daß du mich heiratest.« »Nein«, sagte sie, »nein, das kann ich nicht tun.« »Marion«, fragte er, »glaubst du denn wirklich, daß man nur aus Lie be heiraten kann?« Sie nickte stumm. »Und weißt du denn überhaupt, was Liebe ist?« »Was Wunderschönes jedenfalls … wenn man ganz verrückt nach jemandem ist.« »Und wie lange, glaubst du, wird diese Art von Liebe dauern?« Sie zuckte mit den schmalen Schultern. »Das kommt drauf an.« »Je heftiger sie ist, desto kürzer.« Er ergriff ihre Hand. »Bitte, Mari 34
on … wir können das doch nicht alles hier besprechen, hier mitten auf dem Marienplatz. Ich werde dir mein Haus zeigen …« Sie schüttelte den Kopf. »Das darf ich nicht.« »Marion, zugegeben, du bist noch sehr jung, aber du bist doch schließlich kein Kind mehr!« »Ich hab's meinen Eltern versprochen.« »Aber da wusstest du doch noch nicht, daß ich ernste Absichten habe!« Sie sagte nichts mehr, stand einfach da, sah ihn aus ihren schräg ste henden blauen Augen an und gab ihm durch ihre Haltung zu verste hen, daß sie sich nicht überreden lassen würde. Es brachte ihn auf und gleichzeitig beeindruckte es ihn. »Na schön«, sagte er, »dann fahre ich dich jetzt eben nach Hause!« »Ich kann alleine.« »Ich weiß, daß du das kannst, aber ich möchte dich bringen. Dann kann ich gleich mit deinen Eltern reden und diesmal, Verlass dich drauf, werde ich mich nicht abwimmeln lassen.« Mit einer flehenden Geste, die ihn rührte, legte sie ihm die schma le Hand auf den Arm. »Bitte, nicht … noch nicht! Lassen Sie mich erst nachdenken!« Zögernd gab er nach. »Das muß ich wohl. Aber versprich mir, daß du dich wieder bei mir meldest, egal, zu welchem Ergebnis du kommst.« Er zog eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche. »Hier sind die Telefon nummern, unter denen du mich erreichen kannst.« Sie hielt die Karte in spitzen Fingern, als fürchte sie, sich daran zu verbrennen. »Ich soll Sie anrufen?« »Ja.« »Wann?« »So bald wie möglich.« »Na schön.« Sie seufzte leicht und sah mit einem zitternden Lächeln zu ihm auf. »Bis bald, Marion.« Er gab ihr die Hand und hätte sie am liebsten ge küßt, aber er wagte es nicht, aus Furcht, er könnte sie verschrecken. »Sie sind nett, Herr Kühnert«, sagte sie, »wirklich sehr, sehr nett!« 35
Dann drehte sie sich um, und er sah ihr nach, bis sie auf der brei ten Treppe zum U-Bahnhof verschwand, eine zarte Gestalt, leicht ge beugt, als hätte sie eine Last zu tragen, die für ihre schmalen Schultern zu schwer war; ihr glattes blondes Haar schimmerte im Licht der Stra ßenlampen.
Alles war wie immer. Die Gesichter der Fahrgäste wirkten fahl und hart im kalten Neon licht des U-Bahnhofs, keiner beachtete den anderen, jeder nur mit den eigenen Sorgen beschäftigt und darauf bedacht, sich einen Platz im nächsten Zug zu erkämpfen. Dennoch hatte sich die Welt für Marion verändert, seit Alexander Kühnert ihr die Ehe angeboten hatte. Sie selbst hatte sich verändert, war plötzlich eine Person von großer Wichtigkeit geworden, denn das mußte sie doch sein, wenn ein Mann wie er sie heiraten wollte. Marion wußte wenig von ihm, denn er hatte nie von sich selber ge sprochen und sie hatte ihm auch keine Fragen gestellt, aus Scheu und dann auch, weil sie sich nicht für ihn interessiert hatte. Aber da waren Frau Stoll und die Verkäuferinnen, deren Fragen und Anspielungen ihr klargemacht hatten, daß Alexander Kühnert in den Augen dieser Frauen etwas Besonderes war, ein schwerreicher Mann und tatsächlich noch zu haben – Frau Stoll hatte Erkundigungen eingezogen. Nicht eine Minute lang hatte Marion davon geträumt, daß er sich für sie entscheiden würde; eine solche Verbindung hatte weit außerhalb ihrer Vorstellungskraft gelegen. Nun aber war es passiert. Oder hatte er nur gescherzt? Nein, be stimmt nicht. So einer war er nicht. Natürlich war sie nicht in ihn verliebt, dazu war er viel zu alt, und sie fand auch, daß er mit seinem dichten, schon von grauen Strähnen durchzogenen Haar und den breiten Schultern nicht gut aussah. Aber er war entschieden nett, und er bot ihr eine Chance, aus ihrer eige nen Welt herauszukommen, einer Welt, die sie immer gehasst hatte. Er 36
hatte eine Fabrik, fuhr einen Porsche, und das Haus, von dem er ge sprochen hatte, war bestimmt elegant, anders als die Bruchbude, auf die ihre Eltern so stolz waren. Schon als Marion auf dem Hauptbahnhof München in den Eilzug nach Rosenheim stieg, begann sie zu bereuen, auf seinen Antrag nicht anders reagiert zu haben. So mußte er ja glauben, daß sie sich nichts aus ihm machte. Vielleicht tat es ihm jetzt schon leid, daß er sie über haupt gefragt hatte. Schön dumm war sie gewesen. Was hatte sie denn zu verlieren? Die Jungen, mit denen sie am Wochenende herumzog – spätestens um elf mußte sie zu Hause sein, sonst gab es Krach –, woll ten doch alle immer nur das Eine, wenn sie überhaupt was von ihr wollten. Es gab welche, die jedes Mädchen für ein Bier vom Fass stehen ließen, und andere, für die ihr Motorrad das Wichtigste war. Und für Stefan gab es nur seine Gitarre. Stefan, ja, den würde sie verlieren, wenn sie Alexander Kühnert hei ratete. Aber hatte sie ihn denn je besessen? Hatte sie Aussichten, je mit ihm zusammenzukommen? Und was war schon an ihm dran? Er war hübsch anzusehen mit seiner bräunlichen Haut und dem braunen lan gen Haar, das ihm in weichen Locken auf die Schultern fiel, seinen ro ten, vollen Lippen, deren Schwung so klar gezeichnet war, den schwar zen Augen und den regelmäßigen Zähnen. Ja, er gefiel ihr, und wenn sie nur an ihn dachte, schien ihr Herz rascher zu schlagen. Aber er war so alt wie sie, erst siebzehn, Schreinerlehrling – bis er heiraten konnte, würden noch Jahre vergehen, und er hatte noch nie ein Wort verlauten lassen, daß er sie überhaupt wollte. Der Zug ratterte durch den Abend. Marion stand auf dem Gang, den Rücken gegen die Abteiltür gepresst, sie starrte, ohne etwas zu se hen, in die abendliche Landschaft hinaus, und ihre Gedanken über stürzten sich. Noch nie zuvor war sie vor eine so schwerwiegende Entscheidung gestellt worden, und nie zuvor hatte sie so angestrengt nachgedacht. Eine Heirat mit Alexander Kühnert bedeutete Reichtum, schöne Kleider, Schluß mit der Rackerei, sie bedeutete Freiheit und Sicherheit zugleich. Was machte es schon, daß er nicht ihr Typ war. Jedenfalls 37
war er nett zu ihr gewesen, von Anfang an, und wenn sie ihn nicht vor den Kopf stieß, würde er sicher auch nett zu ihr bleiben. Stefans wegen auf so eine Chance verzichten – nein, so blöd war sie denn doch nicht. Als Marion in Rosenheim aus dem Zug stieg, war ihr Entschluß ge faßt. Sie wollte Alexander Kühnert heiraten. Jetzt hatte sie nur noch Angst, daß er es sich anders überlegen könnte. Von der Telefonzelle im Bahnhof rief sie ihn an. Sie wählte die Pri vatnummer auf seiner Visitenkarte und war sekundenlang irritiert, als eine weibliche Stimme sich meldete. »Hallo, hallo!« rief Frau Marie, Alexander Kühnerts Haushälterin ungeduldig. »So melden Sie sich doch!« »Könnte ich, bitte, Herrn Kühnert sprechen!« »Wer ist denn da, bitte.« »Marion Lenz.« »Einen Augenblick … bitte.« Dann, endlich, war er selber am Apparat. »Marion!« »Ich will!« rief sie atemlos. »Daß Sie es nur wissen … ich will!« Eine kleine Pause entstand, und die Angst, daß er es sich anders überlegt hatte, wuchs ins Unermessliche. »Du machst mich sehr glücklich, Marion!« Seine Stimme klang be legt vor Erregung. »Soll ich mit deinen Eltern sprechen?« »Das mach ich schon selber. Nur keine Bange, ich kämpfe es durch. In ein paar Monaten bin ich sowieso achtzehn.« »Nein, nein, ich komme zu euch raus. Ich fahre jetzt gleich los. Du kannst sie schon vorbereiten, wenn du es richtig findest. Bis nachher, also.« Er hängte ein. Marion stand noch einen Augenblick, den Hörer in der Hand, ein wenig benommen. Dann erst kam die Freude. Endlich geschah etwas in ihrem Leben. Die Zeit der Langeweile und der Plage war für immer vorbei.
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In der Wohnküche lief, wie immer, wenn Marion abends nach Hau se kam, der Fernseher. Der Vater lag auf dem Sofa und starrte auf die Mattscheibe, die Mutter saß in einem alten Korbsessel, die nackten Füße in einen Kübel mit Wasser gesteckt. Auf ihren Gruß bekam Ma rion nur ein undeutliches Gemurmel zurück. Marion öffnete den Kühlschrank, aber sie hatte keinen Hunger, hol te sich nur eine Flasche Cola heraus, öffnete sie und nahm, noch ste hend, einen tiefen Zug. »Soll ich dir ein paar geröstete Kartoffeln machen?« schlug die Mut ter vor. »Mit 'nem Spiegelei drüber?« Ehe Marion noch antworten konnte, brüllte der Vater: »Halt' den Mund, Alte! Nun hab' ich wieder nicht verstanden …« Marion blickte zur Mutter hin und schüttelte den Kopf. Dann setzte sie sich möglichst lautlos an den Küchentisch. Erst als die Tagesschau zu Ende war und eine Sprecherin mit süß lichem Lächeln und schweren Lidern, die ständig unter der Last der falschen Wimpern zuzufallen drohten, das weitere Programm des Abends verkündet hatte, platzte Marion in die kurze Stille der Um schaltpause hinein: »Er will mich heiraten!« Das kam für die Eltern so plötzlich, daß sie erst gar nichts sagten. »Alexander Kühnert«, fügte Marion hinzu, »ihr wisst doch, der …« »Spinn dich aus!« rief der Vater. »Aber der ist doch alt, hast du gesagt?« forschte die Mutter. »Ja, ziemlich«, gab Marion zu. Eine dramatische Filmmusik erklang, und auf dem Fernsehschirm riß der mächtige Metro-Goldwyn-Mayer-Löwe sein Maul auf. »Gebt's doch mal Ruh!« grollte der Vater. Frau Lenz zog ihre Füße aus dem Wasser, trocknete sie ab und schlüpfte in ihre Hausschuhe. »Komm, Marion«, sagte sie energisch, »das ist mir wichtiger als so ein alter amerikanischer Schinken!« Sie packte Marion bei der Schulter und zog sie hoch. Das Mädchen folgte ihrer Mutter aus der Küche und über den Flur in das Wohnzimmer, einem tadellos gepflegten und im Stil der fünfzi ger Jahre eingerichteten Raum, dem man anmerkte, daß er kaum je be 39
nutzt wurde. Frau Lenz knipste die Deckenbeleuchtung und die Steh lampe an und beobachtete Marion aus leicht zusammengekniffenen Augen. »Setz dich, Kind!« Sie nahm in einem der niedrigen, mit buntem Webstoff bezogenen Sessel Platz und klopfte auf den Sitz eines ande ren. »Und jetzt erzähl mal.« »Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht.« Marion schlug die Augen nieder, aber ihre Wangen glühten. »Das ist alles.« »Einfach so?« »Ja.« »Und du? Was hast du gesagt?« »Daß ich's mir erst überlegen muß.« »Das war gescheit.« Frau Lenz atmete auf. »Dann wollen wir jetzt mal in aller Ruhe …« »Ich hab's mir schon überlegt.« Marion hob den Kopf und zwang sich, ihrer Mutter ins Gesicht zu sehen. »Ich will. Und ich habe ihn auch schon angerufen. Er kommt gleich hierher. Er will mit euch spre chen.« »Warum?« fragte Frau Lenz. »Warum hast du das getan? War es denn wirklich so eilig?« Marion antwortete nicht. »Hast du es so schlecht bei uns, daß du den ersten Besten nehmen mußt?« »Er ist nicht der erste Beste. Er ist reich, Mutter.« »Ist das der Grund?« »Ja.« »Ich versteh dich nicht.« Frau Lenz schüttelte den Kopf. »Ist Geld für dich so wichtig?« »Für dich doch auch!« »Für mich ja. Ich hab' immer aufpassen müssen, daß es auch reich te. Für uns alle.« »Und hat es dir Spaß gemacht?« »Danach fragt keiner. Das Leben ist nun mal so. Es gibt schlimmere Dinge, Marion … viel schlimmere.« 40
Marion schwieg. »Du magst den Mann doch gar nicht!« sagte ihre Mutter. »Denk mal nach. Geld ist wichtig, ja, aber es ist doch nicht alles. Dein Vater und ich, wir haben aus Liebe geheiratet …« »Und was habt ihr davon gehabt?« Jetzt war es die Mutter, die keine Antwort wußte. Sie hätte vieles sa gen können, wenn die Frage nicht so eiskalt gestellt worden wäre. »Geld, Marion«, sagte sie eindringlich, »das ist nichts, was ewig hält. Viele haben im Krieg alles verloren und dann später in der Währungs reform. Ich weiß, für dich sind das alte Geschichten, aber all das kann auch wieder passieren. Gerade in letzter Zeit … Firmen haben pleite gemacht … sogar Banken. Wer sagt dir denn, daß dieser reiche Herr Kühnert auch reich bleiben wird?« »Der wird schon rechtzeitig was beiseite bringen«, erklärte Marion leichthin. »Und wenn nicht? Wenn sein Geld eines Tages weg ist, dann stehst du da mit einem ungeliebten Mann.« »Dann«, sagte Marion, »würde ich mich eben scheiden lassen.« Frau Lenz brauchte einige Sekunden, um diese Erklärung zu verar beiten. »Nein, Marion«, sagte sie dann, »das ist keine Einstellung, mit der man in die Ehe gehen kann …« »Du sollst es ja nicht, Mutter, sondern ich. Und ich werd' es tun, Ver lass dich drauf. Ich denke nicht daran, mir mein Glück von euch ka putt machen zu lassen.« »Glück? Du nennst das Glück?« »Na klar. Wenn einer das große Los gewinnt, würdest du das denn nicht auch Glück nennen?!«
Zehn Minuten später klingelte Alexander Kühnert. Frau Lenz hatte sich inzwischen umgezogen. Sie trug ein seidenes Hemdblusenkleid, tadellose Strümpfe und ihre besten Schuhe an den geschwollenen Füßen. Ihren blonden Bubikopf hatte sie sorgfältig fri 41
siert, und wenn ihr ungeschminktes Gesicht auch, von Jahren voller Sorge geprägt, nicht schön war, so fand Alexander Kühnert sie doch sofort sympathisch. Sie zeigte Würde und bemühte sich, sorgfältig und ›nach der Schrift‹ zu sprechen. Anna Lenz hinwiederum mußte feststellen, daß das Bild, das sie sich von diesem Mann gemacht hatte, ganz falsch gewesen war. Nach al lem, was sie von Marion über ihn gehört hatte, hatte sie ihn für alt ge halten, alt und fett dazu, einen Lustgreis, der sich ihr kleines Mädchen kaufen wollte. Jetzt aber sah sie, und seine grauen Strähnen täuschten sie nicht, daß er jung war, höchstens Mitte Dreißig, gut zehn Jahre jün ger als sie selber, und die Rosen, die er ihr überreichte, beeindruckten sie gegen ihren Willen. »Ich verstehe, daß es Ihnen nicht leicht fällt, Marion herzugeben«, sagte er, »aber Sie können sich darauf verlassen …« »Sie brauchen mir nichts zu versprechen«, unterbrach sie ihn, »Sie müssen es ja gut mit Marion meinen. Denn was kann sie Ihnen schon bieten?« »Jugend und Schönheit«, sagte er lächelnd. »So lange es dauert.« Frau Lenz schickte Marion fort, eine Vase für die Rosen zu besorgen. »Herr Kühnert«, sagte sie, »Marion ist noch sehr jung … und ich habe sie wahrscheinlich auch zu sehr verwöhnt. Sie selber weiß das nicht. Sie nimmt alles, was man ihr gibt, ganz selbst verständlich hin. Sie kann nicht kochen und hat sich auch noch nie um ihre Wäsche gekümmert …« »Aber das macht doch nichts«, versicherte er rasch, »bei mir braucht sie weder zu kochen, noch zu bügeln.« Draußen auf dem Flur hörten sie Marions leichten Schritt. »Sie ist noch sehr unreif, Herr Kühnert«, erklärte Anna Lenz hastig, »ich habe nichts gegen Sie, aber ich fürchte, Marion …« »Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird schon alles gut gehen. Weiß ihr Vater Bescheid?« »Ich hab's ihm gesagt.« Marion hatte die letzten Worte gehört. »Aber den sollten wir lieber vorm Fernseher lassen, mindestens bis der Film aus ist. Sonst ist er grantig.« Sie stellte die Vase auf den Tisch und zupf 42
te die Rosen auseinander. »Schön sind sie! Das Zimmer sieht gleich ganz anders aus.« Frau Lenz holte die Flasche mit dem selbst angesetzten Johannis beerlikör aus dem Schrank, kleine Gläser dazu, und bot an. Alexan der Kühnert trank aus Höflichkeit, und Marion holte sich ihre Cola aus der Küche. Die Unterhaltung verlief gezwungen. Marion und Alexander Kühnert waren glücklich, wenn auch aus sehr verschiedenen Gründen, aber sie waren einander noch sehr wenig vertraut. Frau Lenz, die die Verbin dung nicht gutheißen konnte, mußte doch einsehen, daß sie machtlos war, sie zu verhindern. Sie mochte ihren zukünftigen Schwiegersohn, und sie liebte Marion, aber sie fand, daß die beiden überhaupt nicht zueinander passten. Dennoch wagte sie es nicht, sich deutlich gegen die Heirat auszusprechen, weil sie Marion nicht ganz verlieren wollte. So versuchte sie immer wieder, wenigstens Zeit zu gewinnen, kam aber selbst damit schlecht an. »Sicher wirst du doch deine Lehre erst beenden, Marion.« »Wozu? Oder möchten Sie, daß ich arbeite, Herr Kühnert?« »Ich möchte, daß du endlich du zu mir sagst!« Er nahm Marions Hand und küßte sehr sanft und sehr zärtlich ihre Fingerspitzen. »Du und Alexander.« Sie errötete. »Willst du auch, daß ich meine Lehre fertig mache … Alexander?« »Das kannst du auch noch als meine Frau.« »Dann will ich aber nicht mehr.« Er lachte. »Man weiß nie, was das Schicksal bringt«, sagte Frau Lenz. »Dann mache ich Ihnen einen Vorschlag: Marion zieht bis zur Been digung ihrer Lehre nach München. Ich besorge ihr ein Zimmer … ob wohl das bei Licht besehen natürlich Unsinn wäre, denn mein Haus ist groß genug.« »Oh, ja!« rief Marion begeistert. »Das wäre eine gute Idee!« Aber dafür konnte nun wieder ihre Mutter sich nicht erwärmen. Ihr behagte die Vorstellung, Marion allein in der Großstadt zu wissen, 43
umworben von einem reichen, männlichen Verlobten, gar nicht. Denn wenn sie auch gegen die Ehe war, so wollte sie Marion noch weniger verführt und verlassen wissen. Sie traute ihr nicht zu, einen Mann ohne Ehering an sich fesseln zu können. So wurde auch dieser Gedanke fallengelassen, ebenso der Vorschlag, daß Marion zuerst eine Haushaltsschule besuchen sollte. Als der Vater sich endlich vom Fernseher losriss, war alles schon be schlossen: Noch vor Weihnachten sollte geheiratet werden. Wenn Herr Lenz auch Bedenken gegen diese Entwicklung hatte, besonders weil sie allzu überstürzt gekommen war, so wußte er sie doch nicht zu formu lieren. Andererseits empfand er aber auch Erleichterung, seine Toch ter versorgt zu wissen, und gegen die Person des Schwiegersohns war ja wirklich nichts zu sagen. Ein ausgewachsener Mann war einem jun gen Spund doch entschieden vorzuziehen, und ein Fabrikant einem armen Schlucker. Es gab keinen Anlass, sich gegen die geplante Heirat zu sträuben.
Als Alexander Kühnert die nächtliche Autobahn in Richtung Mün chen brauste, war er so glücklich, daß er hätte singen mögen. Erst als er an der Steigung des Irschenberges zurückschalten mußte und an Tem po verlor, kam die Ernüchterung. Er erkannte das Ausmaß dessen, was geschehen war. War er denn von allen guten Geistern verlassen gewesen, dieses un bedeutende kleine Mädchen zu bitten, seine Frau zu werden? Was war denn an ihr? Sie war jung, sie war hübsch, sie war naiv – aber mehr doch auch nicht. Und ihre Eltern mochten ja anständige Leute sein, aber, wenn er vor sich selber ehrlich war, fand er sie gräßlich, beide, be sonders aber diesen unmöglichen Vater. Ausgerechnet in diese Familie wollte er einheiraten, er, der für die schönsten, intelligentesten und gepflegtesten Töchter aus guten Häu sern nur ein Lächeln übrig gehabt hatte. Ausgerechnet von einem im Grunde primitiven jungen Ding wie Marion hatte er sich einfangen 44
lassen. Nein, das stimmte nicht. Sie hatte nicht versucht, ihn einzufan gen. Sein Heiratsantrag war ihr völlig überraschend gekommen – wie ja auch ihm selber. Er hatte etwas getan, was er nicht bedacht und nicht wirklich ge wollt hatte. Wie hatte ihm das passieren können? Fast kam es ihm vor, als ob sie über magische Kräfte verfügte, deren sie sich selber nicht be wußt war. Er mußte sich aus ihrem Bannkreis befreien, mußte Schluß machen, jetzt gleich, heute noch. Anrufen, daß er es sich anders überlegt hätte. Eine weite Reise antreten – egal wohin, nur weg, weit weg von diesem Mädchen, dieser gefährlichen kleinen Hexe. Aber noch während er es dachte, wußte er schon, daß er nicht mehr die Kraft dazu aufbringen würde.
Gleich am Samstag morgen, noch vor der Geschäftseröffnung, trug Marion ihrer Chefin den Wunsch vor, aus dem Ausbildungsvertrag entlassen zu werden. Die beiden Frauen waren im Büro hinter den Verkaufsräumen allein, denn die Buchhalterin arbeitete samstags nicht. Frau Stoll zog ein saures Gesicht. »Also, ich muß schon sagen, daß mir das ziemlich überraschend kommt …« »Ja, ich weiß«, gab Marion zu. »Wieso paßt es Ihnen plötzlich nicht mehr hier bei uns?« »Das ist es ja nicht, Frau Stoll.« Marion spielte ihren Trumpf aus. »Ich möchte heiraten.« »Diesen Herrn Kühnert?« »Ja.« Marion reichte ihr das kurze Schreiben, in dem ihre Eltern ihr Einverständnis zu diesem Schritt erklärten. Frau Stoll, die aus Eitelkeit keine Brille trug, ließ das Lorgnon, das ihr gewöhnlich an einer langen goldenen Kette über dem rundlichen Bauch baumelte, aufschnappen und begann es zu studieren. »Da hat man sich nun jahrelang Mühe mit Ihnen gegeben …« 45
»Tut mir leid, Frau Stoll, ehrlich«, behauptete Marion, aber nicht die Spur von Reue schwang in ihrer hellen kindlichen Stimme. Die Chefin hatte sich schon wieder gefaßt; als realistisch denkende Frau erkannte sie, daß sie Marion, da sie sie als Lehrling nicht halten konnte, als zukünftige Kundin gewinnen sollte. Sie entschied sich, den Kurs zu ändern, und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Dann kann ich Ihnen nur noch gratulieren, Fräulein Lenz! Und im übri gen … ich verstehe Sie gut! Wenn man so jung ist wie Sie, ist die Liebe natürlich das Wichtigste. Vielleicht ist sogar schon etwas unterwegs?« »Was Sie gleich denken!« Marion wurde flammend rot. »Nein, na türlich nicht.« Merkwürdigerweise ging ihr bei dieser Anspielung ih rer Chefin zum ersten Mal der körperliche Aspekt ihrer bevorstehen den Ehe auf; Alexander Kühnert würde von ihr verlangen – sie schau derte bei der noch ganz verschwommenen Vorstellung. Frau Stoll bemerkte es. »Ist Ihnen nicht gut, Kindchen?« »Es ist gestern abend ziemlich spät geworden, Sie werden sich den ken können …« »… daß Sie müde sind, aber sicher, und auch nicht mehr in Gedan ken bei uns. Trotzdem hoffe ich, daß Sie uns wenigstens bis Ende des Monats erhalten bleiben werden.« »Aber sicher.« Frau Stoll klappte ihr Lorgnon zu. »Inzwischen kann ich mich nach einem Ersatz umschauen.«
Die beiden Verkäuferinnen wurden blaß vor Neid, als sie die große Neuigkeit erfuhren. »Und das soll ich glauben?« rief Fräulein Anneli. »Und warum nicht?« »Du trägst ja gar keinen Ring!« Marion blickte auf ihre schmale Hand, deren Nacktheit ihr plötz lich selbst bedenklich vorkam. »Wird schon noch kommen«, behaup tete sie. 46
»Uns kannst du nichts vormachen«, hakte Renate, die ihre Unsi cherheit merkte, nach, »zu einer richtigen Verlobung gehört auch ein Ring.« »Ich habe ja gar nicht gesagt, daß wir uns verlobt haben … nur daß wir heiraten wollen.« »Ausgerechnet! Du vielleicht … aber er! So einer wie der kann doch an jedem Finger zehn haben!« spottete Anneli. »Meinen Sie wirklich?« fragte Marion überrascht. »Ja doch, und wenn du genau wissen willst, was ich von deiner an geblichen Heirat halte …« Frau Stoll beendete das Hickhack. »Schluß jetzt! Machen Sie auf, Marion … es ist schon zwei Minuten nach! Ich will nichts mehr von diesem Geschwätz hören!« Die Gruppe löste sich auf. Marion ärgerte sich, daß sie ihre Sache nicht mit größerer Bestimmt heit vertreten hatte, aber für sie selber war alles noch so traumhaft unwirklich, daß sie fast erwartete, jäh aufzuwachen und sich in einer raueren Wirklichkeit wieder zu finden. »Wenn Sie denken, daß ich mich bloß aushalten lassen will …«, flü sterte sie Fräulein Anneli später zu, als sie sich vor den Kabinen begeg neten. »Was denn sonst?« zischte die Verkäuferin zurück. »… dann haben Sie sich geschnitten!« Mit einem hochmütigen Achselzucken ging die andere weiter. Unwillkürlich ballte Marion die Fäuste. Sie war von dem heißen Wunsch erfüllt, es allen, die sie schikaniert und verspottet hatten, heimzuzahlen.
Alexander Kühnert hätte Marion gern so rasch wie möglich sein Haus gezeigt, das er liebte und auf das er stolz war, ihr allein. Aber er ver stand, daß ihre Mutter sie keiner wie auch immer gearteten zweifel haften Situation ausgesetzt sehen wollte, und es lag ihm viel daran, ihr 47
Vertrauen zu gewinnen. So hatte man denn einen ganz offiziellen Be such der Familie Lenz verabredet. Am Sonntag morgen ging er noch einmal prüfend durch die Räu me; er fühlte sich aufgeregt wie ein Schuljunge, der weiß, daß er sich auf ein verbotenes und gefährliches Abenteuer einlässt, und er genoß dieses Gefühl, denn er hatte nicht gehofft, es noch einmal erleben zu dürfen. Es war ein grauer, neblig nasser Novembertag, und deshalb knipste er alle Lampen an. Überall hatte Frau Marie frische Blumen in kostba re Vasen verteilt, denn er wußte jetzt, daß Marion Blumen liebte. Alexander Kühnerts Blick fiel auf das Foto Sybilles, das, silbern ge rahmt, den Steinway-Flügel schmückte. Irgendwann würde er mit Ma rion über seine frühere Ehe und seine verstorbene Frau sprechen müs sen, aber nicht heute. Heute wollte er nicht Vergangenes aufrühren, sondern nur an die Zukunft denken. Er nahm das Bild und schob es, da es eben an der Haustür klingelte, unter die chinesische Seidenstickerei, mit der der Flügel drapiert war. In der Diele begegnete er seiner Haushälterin, einer kräftigen Person mit in der Mitte gescheiteltem und straff zu einem Knoten gebunde nen Haar, einer Frisur, die uneitel wirken sollte, es aber nicht war, da sie ihr Haar blauschwarz nachtönte. Sie hatte ein braunes, fast india nisch wirkendes Gesicht mit breiten Wangenknochen und volle, sinn liche Lippen, die sie mit einem Bürstchen zu bearbeiten und sorgfäl tig zu cremen pflegte. Mit ihrer schmalen Taille und dem hohen Bu sen war sie nicht ohne weiblichen Reiz, den Alexander Kühnert jedoch noch nie bemerkt hatte. »Lassen Sie nur«, sagte er und lächelte an ihr vorbei, »das mache ich selber.« Als er die Tür aufriss und die Familie Lenz vor sich sah, war er zuerst doch erschrocken über den provinziellen Eindruck, den die drei Men schen machten, mit denen er nun bald verwandt sein sollte. Anna Lenz hatte einen Hut aufgesetzt, und das hätte sie nicht tun sollen, denn es war eines jener farblosen Konfektionsmodelle, die we der schmückten, noch gegen Wind und Wetter schützen. Er, Xaver 48
Lenz, hatte sich seine spärlichen Haare sehr sorgfältig quer über den blanken Kopf gelegt und sie dann noch mit Pomade festgeklebt, ein Versuch, Fülle vorzutäuschen, der Alexander Kühnert ungemein lä cherlich erschien. Unter dieser kunstvollen Haartracht sah er ausge sprochen mißmutig drein – grantig, wie Marion gesagt haben wür de –, mißmutig deshalb, weil er den Sonntag nicht in Ruhe zu Hause verbringen konnte, weil er sich hatte fein machen müssen und weil er einem Mann gegenübertrat, der, wesentlich jünger als er selber, ihm in jeder anderen Hinsicht jedoch weit überlegen war. Selbst Marion wirkte unvorteilhaft; sie trug einen Regenmantel, ge gen den nichts zu sagen war, als daß er zu kurz war und mehr als eine Handbreit ihres wadenlangen Rocks sehen ließ. Eine Sekunde lang vermochte Alexander Kühnert seine Empfindung nicht zu verbergen. Marion sagte sofort: »Wir können auch wieder gehen!« Er war entsetzt über sein eigenes Verhalten. »Habe ich sehr dumm geschaut?« rief er. »Es tut mir ja so leid, aber ich … ich war einfach überrascht, daß ihr schon da seid!« »Es ist elf Uhr, und elf Uhr war ausgemacht.« »Stell dir vor, ich habe einfach nicht gemerkt, daß es so spät ist … ich hatte drinnen alle Hände voll zu tun, aber, bitte, kommt doch endlich herein!« Er öffnete die Tür weit, nahm Marion bei der Hand, zog sie an sich und küßte sie sanft auf den Mund – in der Verwirrung über die sen seinen ersten Kuß vergaß sie ihren Ärger. In der Garderobe half er erst Marion und dann, da Xaver Lenz nichts dergleichen tat, sondern voll damit beschäftigt war, sich selber aus sei nem abgewetzten Überzieher zu schälen, ihrer Mutter aus dem Man tel. »Nimm doch den Hut ab«, bat er. Sie zögerte. »Aber ich dachte …« »… daß eine Dame den Hut aufbehält? Stimmt schon, aber doch nicht zu Hause … ihr sollt euch doch bei mir ganz zu Hause fühlen.« Als sie sich von dem unsagbaren Hut befreit hatte, sah sie schon wieder besser aus; sie trug dasselbe Hemdblusenkleid, das sie auch vorgestern 49
abend angehabt hatte, wahrscheinlich war es ihr bestes. Marion hatte jenes elegante, rohseidene Schlabberkleid gewählt, das ihr so gar nicht stand. Der Ton ließ ihre weiße Haut gelblich scheinen und ihr Haar fahl, ganz davon abgesehen, daß es viel zu erwachsen an ihr wirkte. Alexander Kühnert ärgerte sich über die oberflächliche Art, mit der er an Menschen Kritik übte, die ihm doch nahe standen – was besag ten schon ein geschmackloser Hut, ein unschönes Kleid, das waren doch Dinge, die man mit Leichtigkeit ändern konnte. »Ich bin sehr froh, daß ihr da seid«, behauptete er und merkte selber, daß es nicht überzeugend klang. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Anna Lenz – sie hatten, als er um Marions Hand anhielt, Bruderschaft miteinander getrunken –, »du wirst uns nicht allzu oft hier bei dir sehen.« »Was soll das heißen?« Sie blickte ihn fest aus ihren blauen Augen, die blasser waren als die Marions, an. »Das wirst du wohl wissen.« Er war beschämt. »Sei nicht zu hart mit mir, Anna«, bat er und legte ihr den Arm um die Schultern, »ich merke ja selber, daß ich nicht ge rade ein blendender Gastgeber bin, aber das alles ist für mich noch so ungewohnt … mindestens so ungewohnt wie für euch.« Zögernd folgten sie ihm in die Diele, einem vieleckigen, fast runden, mit dunklem Holz getäfelten Raum, dessen hohe Decke schöne Stuck arbeiten zeigte. Die Orientteppiche gaben an vielen Stellen den einge legten, blank gebohnerten Parkettboden frei. »Das ist ja … wie im Film!« rief Marion beeindruckt. »Das denn doch nicht!« widersprach er. »Du wirst schon sehen, das Haus ist nicht sehr groß … kaum größer als eures.« Anna Lenz lächelte verzerrt. »Aber ein Unterschied wie Tag und Nacht.« »Nun ja«, sagte Alexander Kühnert und schämte sich – nicht zum er sten Mal – seines ererbten Reichtums, »es ist vor dem Ersten Weltkrieg gebaut, da schien alles noch stabil, und man baute auch entsprechend. So ein Parkett wird heute gar nicht mehr gelegt, und richtige Stuck ateure sind wohl auch ausgestorben.« 50
Xaver Lenz klopfte gegen das dunkle Holz, als erwartete er, daß es morsch oder von Würmern zerfressen sein könnte. »Lang wird das auch nicht mehr halten.« »Dann reißen wir es eben ab.« Alexander Kühnert lächelte Marion ermutigend zu. »Außer der Diele gibt es hier unten nur noch drei Räu me, die alle miteinander verbunden sind … das sogenannte Damen zimmer, das Musikzimmer und das Herrenzimmer … die Küche ist im Souterrain …« Er öffnete eine Tür in der Holztäfelung. »Dein zu künftiges Reich …« Erwartungsvoll blickte er sie an. Marion starrte in das schöne Zimmer, das in echtem Jugendstil mö bliert war; es gab einen zierlichen Schreibtisch, an dem sich bunte Blu menornamente rankten und einen dazu gehörigen Sessel, dazu eine wunderschöne grüne Lampe und eine bezaubernde Sitzecke. »Das ist ja wie im Museum!« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Ich habe die Möbel vor Jahren vom Boden geholt«, erklärte Alexan der Kühnert stolz, »und natürlich auch einiges ergänzt.« »Das gibt schon was her, wenn man für Nostalgie was übrig hat«, gab Marion zu, »aber bequem machen kann man es sich hier nicht … und man muß dauernd Angst haben, daß was kaputt geht.« Alexander Kühnert verbarg seine Enttäuschung. »Nehmen wir es eben als Salon her … wenn Gäste kommen.« Er hätte Marion gern in diesem Jugendstilzimmer gesehen, in einem lose fallenden, langen Kleid, wie es die Damen jener Zeit trugen, lesend, vielleicht auch hand arbeitend, wenn er abends nach Hause kam, aber er wollte sie zu nichts zwingen. »Du kannst dir oben das Gästezimmer einrichten … ganz nach deinem eigenen Geschmack.« »Das ist lieb von dir.« Marion errötete leicht. »Weißt du, was ich wahnsinnig gern hätte?« »Was?« »Eine Stereoanlage!« »Marion!« sagte ihre Mutter scharf. Marion sah sie an. »Warum soll ich das denn nicht sagen?« »Ganz richtig, Liebling.« Alexander Kühnert führte ihre Hand an die Lippen. »Du kriegst eine Stereoanlage.« 51
Sie strahlte. »Gleich zur Hochzeit?« »Aber ja. Sie gehört mit zur Einrichtung.« Danach konnte weder das etwas feierliche mit Louis-Seize-Möbeln eingerichtete Musikzimmer mit dem großen Flügel, noch das ganz in Mahagoni und grünem Leder gehaltene Herrenzimmer Marion mehr schrecken. Sie dachte an ihre Stereoanlage und war glücklich. Im Herrenzimmer hatte Frau Marie einige Vorspeisen – Krabben, Artischockenböden, Lachs und eingelegte Maiskolben – vorbereitet, und eine Flasche Champagner stand im eisgefüllten Kühler. »Sekt?« rief Marion. »Am Vormittag?!« Er lächelte über ihre Naivität. »Da schmeckt er am besten.« »Ein Schnaps wäre mir lieber«, ließ sich ihr Vater vernehmen. »Sollst du auch haben!« Alexander Kühnert nahm eine Flasche Grappa aus der Hausbar, schenkte sich und Xaver Lenz ein. »Auf gute Freundschaft, Schwiegervater!« Dann öffnete er geschickt die Cham pagnerflasche. Als der Champagner in den Gläsern perlte, sagte er: »Da hätte ich doch beinahe etwas vergessen!« Er griff in die Hosentasche und hol te eine kleine Pappschachtel heraus; er tat das sehr selbstverständlich, dabei hatte er sich tatsächlich intensiv überlegt, was für einen Verlo bungsring er wählen sollte. Keines der vielen Schmuckstücke aus dem Erbe seiner Mutter und seiner Frau waren ihm für seine junge Braut geeignet erschienen. »Gib mir deine kleine Pfote«, bat er und schob ihr einen Weißgoldreif mit einem schönen, einkarätigen Saphir über den Finger. »Oh!« Mehr konnte Marion nicht herausbringen. »Er paßt zu dir. Ich habe dem Juwelier gesagt: Ich suche einen Ring für ein kleines blondes Mädchen mit großen blauen Augen.« Impulsiv schlang Marion die Arme um Alexander Kühnert und drückte ihm einen Kuß auf die Wange; es war eine mehr töchterliche Zärtlichkeit, und doch beglückte sie ihn zutiefst, weil sie – zum ersten Mal – von ihr selber ausgegangen war. »Danke, Alexander! Den werde ich dem Fräulein Anneli und der Re nate aber unter die Nase reiben … diesen missgünstigen Gänsen …« 52
Er lachte. »Du willst den doch nicht etwa im Geschäft anziehen?« fragte ihre Mutter. »Aber gerade!« »Und wenn du ihn verlierst?« »Ich werd' schon nicht.« Sie wandte sich Alexander Kühnert zu. »Ich darf ihn doch im Geschäft tragen … oder?« »Einen Verlobungsring trägt man immer.« Marion triumphierte. »Siehst du, Mutter!« Er hob sein Glas. »Auf unsere Zukunft.« Es wurde angestoßen. Marion, die noch nie Champagner getrunken hatte, wurde sehr rasch gelöst, und auch ihre Eltern verloren etwas von ihrer abwehren den Spannung. Frau Marie kam herein und fragte gemessen: »Wann soll gegessen werden?« »Noch lange nicht«, rief Marion vergnügt, »wo's gerade so lustig ist!« »Das ist Frau Marie, meine langjährige Haushälterin«, stellte Alex ander Kühnert vor, »Fräulein Lenz, meine künftige Frau und ihre El tern.« Frau Marie musterte das junge Mädchen, ohne sich ein Lächeln ab zuringen. »Dann darf man wohl gratulieren«, sagte sie trocken. »Das dürfen Sie.« »Und wann soll gegessen werden?« »Etwa in einer halben Stunde.« »Du, die ist aber nicht nett«, sagte Marion, als die Haushälterin das Zimmer verlassen hatte. »Doch, das ist sie. Sie ärgert sich bloß, daß eine Frau ins Haus kommt.« »Ich mag sie nicht.« »Ach was, du wirst dich schon an sie gewöhnen.« Als er sah, daß Ma rions Augen sich verdunkelt hatten, fügte er rasch hinzu: »Und wenn nicht, werfen wir sie eben raus.« 53
»Ja«, brummte Vater Lenz, »für die reichen Leute ist alles ganz ein fach.«
Als Alexander Kühnert am Montag morgen zu seiner im Nordwe sten Münchens gelegenen Fabrik hinausfuhr, kam er nur langsam voran. Es war ein nebliger Herbsttag, und immer wieder geriet er in Verkehrsstauungen. Aber das störte ihn nicht, sondern er war dank bar, noch eine Weile seinen privaten Gedankengängen nachhängen zu können, bevor er sich auf seine Arbeit in der Firma konzentrieren mußte. Es war sonderbar, seit er Marion kannte, dieses farblose kleine Mäd chen, hatte sein Leben einen ganz neuen Glanz bekommen, eine Span nung, die es vorher nie besessen hatte. Obwohl ihn ihre Naivität und ihre Ungeschliffenheit immer wieder ernüchterten, hielt die Bezaube rung, die sie auf ihn ausübte, unvermindert an. Er stellte den Porsche auf dem für ihn reservierten Parkplatz ab, dicht beim Eingang zum Bürotrakt, erwiderte freundlich den Gruß des Pförtners und fand ein paar mitfühlende Worte für den alten Mann, dessen Rheuma sich in der feuchtkalten Jahreszeit immer besonders schmerzhaft bemerkbar machte. In seinem großen Arbeitsraum im obersten Stockwerk erwartete ihn schon Ursula Herrmann. Sie wirkte gepflegt wie immer, aber leichte Schatten unter ihren braunen Augen verrieten, daß sie spät ins Bett ge kommen war oder schlecht geschlafen hatte. »Ein nettes Wochenende gehabt?« fragte er. »Es ist ziemlich hoch hergegangen«, gestand sie mit einem Lächeln, das verlegen und zugleich geheimnisvoll wirken sollte. Er verstand, daß sie sich interessant machen wollte, und nahm es ihr nicht übel, womöglich hatte sie mutterseelenallein bis zum Sende schluss in ihrer Junggesellinnenwohnung vor dem Fernseher gehockt. »Na ja, Spaß muß sein«, meinte er. Sie nahm ihm den Trenchcoat ab und hängte ihn auf einen Bügel in 54
den Garderobenschrank. »Die Post vom Samstag habe ich gerade sor tiert«, sagte sie, »sie steckt in der Eingangsmappe.« »Braves Mädchen.« Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, von dem aus er durch die beiden Panoramafenster einen weiten Blick über das Werksgelände hatte. »Was Interessantes dabei?« »Der Bericht von der Detektei …« Er hob überrascht den Kopf; er hatte vollkommen vergessen, daß er die Detektei Frings beauftragt hatte, private Erkundigungen für ihn einzuziehen. »Na, über diese Familie Lenz in Rosenheim … scheinen merkwürdi ge Leute zu sein …« Der abfällige Ton, in dem sie über Marions Angehörige sprach, är gerte ihn. »Ich erinnere mich nicht, daß ich Sie um ihr Urteil gebeten hätte.« Ursula Herrmann machte sofort einen Rückzieher. »Entschuldigen Sie, bitte, ich wollte natürlich nicht …« »Schon gut.« Er winkte ab. »In diesem Zusammenhang sollte ich Ih nen wohl auch mitteilen, daß ich mich verlobt habe.« »Verlobt?« Ursula wurde weiß um die Lippen. Er sah sie an. »Ich verstehe, daß Sie überrascht sind – ich bin es ja selber.« »Aber ich hatte nie geahnt, daß Sie die Absicht hatten …« »Hatte ich auch nicht. Es mußte mir erst ein –« Er überlegte, wie er Marion beschreiben sollte und worin eigentlich ihr Reiz für ihn lag, kam aber zu keinem Ergebnis. »– ein ganz besonderes Mädchen über den Weg laufen.« »Und wer …? Ich will natürlich nicht aufdringlich sein …« »Sind Sie gar nicht, Ursula! Sie werden es bald in sämtlichen Tages zeitungen lesen können. Wir wollen noch in diesem Jahr heiraten.« Ursula Herrmann hatte sich schon wieder etwas gefaßt und rang sich sogar einen scherzhaften Ton ab. »Und die Glückliche ist?« »Marion Lenz.« Er schlug die Posteingangsmappe auf. »Nein«, sagte sie, »nein. Das kann nicht wahr sein.« Sie lachte auf. »Ein Witz. Sie wollen sich einen Scherz mit mir machen! Das mit der 55
Verlobung habe ich Ihnen ja noch geglaubt … ich bin wirklich darauf reingefallen! Aber Marion Lenz – unmöglich! Das gibt's doch nicht!« Sie begann hemmungslos zu lachen. »Werden Sie bloß nicht hysterisch«, sagte er kalt. Ihr Lachen brach ab. »Herr Kühnert!« Sie stürzte zu ihm hin, und es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre neben ihm in die Knie gesunken. »Es ist nicht wahr, sagen Sie mir, daß es nicht wahr ist!« »Jetzt ist es aber genug!« verlangte er. »Reißen Sie sich gefälligst zu sammen. Es paßt Ihnen nicht, daß ich heirate – verständlich. Aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, an der Person meiner zukünfti gen Frau herumzumäkeln.« »Herummäkeln, ich!? Sie tun mir unrecht, Herr Kühnert, Sie sehen die Dinge falsch. Wenn Sie nur wüssten … lesen Sie, lesen Sie, und dann werden Sie mich versteh'n!« Sie stürzte aus dem Raum, die Hän de an den Kopf mit dem kurz geschnittenen kastanienbraunen Haar gepresst. Kopfschüttelnd blickte er ihr nach; noch nie hatte er sie so außer sich erlebt. Dann begann er die Posteingangsmappe durchzublättern, bis er zu dem Bericht der Detektei Frings kam, den er, ohne ihn in die Hand zu nehmen, überflog. Xaver Lenz, gelernter Bauarbeiter … seine Frau Hilfsarbeiterin bei der Firma ›Klepper‹ … eigener Grund- und Hausbesitz … Wert des Grundes übersteigt den des Hauses, das mit einer Hypothek von DM 5.000,- belastet ist … reparaturbedürftig … Das war alles so, wie Alexander es sich ungefähr vorgestellt hatte. Er las weiter. »Kaspar Lenz, ältester Sohn des Ehepaars, geboren am 3.7.1941 … 1955 in Fürsorgeerziehung … 1957 Mitglied einer Rocker bande, im gleichen Jahr zum ersten Mal straffällig … Jugendstrafe mit Bewährung … 1958 Raubüberfall auf offener Straße … zwei Jahre Haft … kaum entlassen brutaler Raubüberfall mit Todesfolge auf Ki oskbesitzer …« Alexander Kühnert vermochte nicht weiter zu lesen; rote Kreise be gannen vor seinen Augen zu tanzen. Marions Bruder war ein Schwerverbrecher! 56
Es brauchte einige Zeit, bis Alexander Kühnert den Schock verkraf tet hatte. Seine Hände zitterten, als er in den Schreibtischschubladen nach einer Zigarette kramte. Dann fiel ihm wieder ein, daß er sich vor genommen hatte, das Rauchen aufzugeben, und er drückte seine eben angezündete Zigarette wieder aus. Er schloß die Augen, bis er sich entspannt hatte. Worüber regte er sich so auf? Wenn ein Gangster, Strumpfmaske über dem Gesicht und eine Maschinenpistole unter dem Arm, herein gestürmt wäre und ihn zur Kasse gebeten hätte, würde er es wahr scheinlich gelassener aufgenommen haben. Er war ein erwachsener Mensch und wußte, daß es Kriminalität gab und zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftsformen gegeben hatte. Es war lächerlich, zu glau ben, daß man selber mit ihr niemals in Berührung kommen würde, genauso lächerlich wie die Einbildung, gegen Krankheit, Katastrophen und schließlich den Tod gefeit zu sein. Aber daß Marion, die zarte, hilflose Marion so nahe verwandt mit einem brutalen Verbrecher war – das eben war für ihn unvorstellbar! Endlich nahm er sich den Bericht der Detektei noch einmal vor, und das Unfassbare wurde zum Normalen. Kaspar Lenz, 1941, mitten im Krieg geboren und in der desolaten Nachkriegszeit aufgewachsen, der Vater Soldat und dann in Gefangenschaft, von der Mutter allein erzo gen, die erziehen nie gelernt hatte und alle Kraft daran setzen muß te, sich und ihre drei Kinder – die beiden jüngeren Söhne kamen auch noch im Krieg zur Welt, jeder wahrscheinlich die Frucht eines Fron turlaubes – überhaupt am Leben zu erhalten. Er war auf die schiefe Bahn geraten wie so viele vor ihm und nach ihm – auch in ruhigeren Zeiten. Wem sollte man da einen Vorwurf machen? Seinen Eltern sicher nicht, denn auch gelernten Pädagogen geschah es, wie die Zeitun gen meldeten, daß ein Kind zum Mörder geriet. Daß man es ihm ver schwiegen hatte, als er sich um Marion bewarb? Wahrscheinlich wur de über den missratenen Sohn – die beiden anderen Brüder waren or dentliche Leute, wie er dem Bericht entnahm – in der Familie über haupt nicht gesprochen. Man schwieg den Fall tot, als habe es ihn nie 57
gegeben. Fraglich, ob Marion, die Spätgeborene, vom Schicksal des Bruders überhaupt wußte. Obwohl er so ruhig und so vernünftig über den Fall denken konn te, glaubte er gleichzeitig doch ganz deutlich eine schicksalhafte War nung zu spüren. Diese Auskunft der Detektei gab ihm eine letzte Chan ce, sich mit Anstand aus der Affäre zu ziehen. Sollte Marion alles be halten, was sie sich für sein Geld gekauft hatte, auch den Ring, sollte sie die Stereoanlage noch dazu bekommen, an der ihr so viel lag, wenn er nur seine Freiheit zurückgewann. Sie mußte es einsehen, daß er sie nicht heiraten konnte. Aber noch während das Gefühl der Bedrohung ganz stark war, wuß te er, daß er Marion nicht fallenlassen würde. Er konnte ihr das nicht antun, und er war auch gar nicht mehr fähig, sie aufzugeben. Dieses schwache Mädchen übte eine Anziehungskraft auf ihn aus, die er sich nicht erklären konnte. Sie hatte ihn in ihren Bann geschlagen. Viel leicht war sie wirklich eine Hexe, vielleicht war es aber gerade ihre Schwäche, die, wie ein luftleerer Raum, ihn magisch anzog. Er wußte es nicht; er wußte nur, daß er die Verlobung nicht lösen würde. Nachdem er die übrige Post durchgearbeitet hatte, drückte er den Knopf der Sprechanlage und beorderte seine Sekretärin zum Diktat. Ursula Herrmann hatte sich frisch gemacht. Die Lippen waren sorg fältig nachgezogen, und auch das Make-up um die Augen war tadel los. Aber ihre Augen waren stark gerötet und zeugten von vergosse nen Tränen. Mit sehr geradem Rücken nahm sie ihm gegenüber Platz, aber sie sah ihn nicht an, und trotz aller Beherrschung konnte sie nicht verhindern, daß ihre Lippen zitterten. Um den Fall herunterzuspielen, gab er ihr erst seine Kommentare und Richtlinien zur Beantwortung der Geschäftspost, bevor er noch einmal auf den Bericht der Detektei zu sprechen kam. »Und was nun meine Verlobung betrifft, Ursula … nehmen Sie die Sache um Himmels willen nicht zu tragisch.« »Was werden Sie jetzt tun?« fragte sie, fast ohne die Lippen zu bewegen. 58
»Tun? Was könnte ich da tun? Das schwarze Schaf sitzt in Haft. Selbst der beste Rechtsanwalt könnte nichts daran ändern.« »Das meine ich nicht.« »Ursula, Mädchen, Sie kennen mich jetzt doch seit … na, wie vielen Jahren?« »Sechs.« »Na, da sollten Sie mich doch allmählich einigermaßen kennen. Sie haben so viel Zeit mit mir verbracht wie mit einem Ehemann. Die Tat sache, daß Marion Lenz einen kriminellen Bruder hat, hat selbstver ständlich nichts an meiner Einstellung zu ihr geändert.« »An Ihren Gefühlen?« »An meinen Gefühlen … schön, wenn Sie so wollen.« »Herr Kühnert …« Ursula Herrmann beugte sich vor, »Sie lieben dieses Mädchen, nicht wahr?« Er versuchte sich ehrlich Rechenschaft abzugeben, konnte aber nicht erklären, was er tatsächlich für Marion empfand. »Ich fühle mich sehr stark von ihr angezogen, sagen wir lieber so.« »Sie ist sehr jung und wahrscheinlich ist sie schön … ich verstehe das.« »Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte er mit einem Lächeln, über das er sich selber ärgerte, weil Ursula Herrmann es nicht verdient hatte. »Aber Sie können sie nicht heiraten!« »Wer oder was sollte mich daran hindern?« »Ihre Vernunft. Herr Kühnert, vergessen Sie nicht, ich kenne Sie tat sächlich seit sechs Jahren, und ich kenne Sie sehr gut. Ich habe Sie im mer wegen Ihrer Vernunft geschätzt, wegen Ihres Sinnes für Realitä ten. Ihrer Fähigkeit, das Erreichbare anzustreben und sich nie gehenzulassen …« »Das mag richtig sein, Ursula. Aber hier geht es nicht um Geschäfte. Hier sind ganz andere Dinge im Spiel.« Ursula Herrmann erhob sich langsam und sah ihn mit einem Aus druck an, als sähe sie ihn zum ersten Mal oder als habe er sich vor ih ren Augen von einem normalen Mann in ein unheimliches Monster verwandelt. »Sie müssen wahnsinnig geworden sein …« 59
Er zwang sich zu einem Lachen. »Es gibt einen sehr süßen Wahn sinn, Ursula.« »Ja, spotten Sie nur! Aber niemand – auch Sie nicht – kann sich un gestraft über alle Konventionen hinwegsetzen. Heiraten Sie das Mäd chen, wenn Sie sie nicht anders kriegen können … aber ich sage Ihnen jetzt schon: Sie werden es bereuen!« Er blieb ganz gelassen. »Schönen Dank für den Tip, verehrte Kas sandra!« »Ach, Sie! Man kann ja nicht mehr mit Ihnen reden!« rief sie und stürzte aus dem Zimmer. Nachdenklich blickte er auf die mit Kunststoff gepolsterte Tür, durch die sie verschwunden war. Sie war eifersüchtig und tief in ihrer weibli chen Eitelkeit gekränkt, das verstand er. Wahrscheinlich hatte sie, ob wohl sie es nicht einmal sich selber eingestanden haben mochte, im ge heimen die Hoffnung genährt, eines Tages seine Frau zu werden. Wenn er sie wegen einer reichen Erbin oder einer Gesellschaftslöwin beisei te geschoben hätte, wäre sie leicht damit fertig geworden. Aber mit der Tatsache, daß er ihr ein unbedeutendes Mädchen aus zweifelhafter Fa milie vorzog, konnte sie sich nicht abfinden. Sollte er ihr kündigen? Es wäre ihm schwer gefallen, auf ihre Mitar beit zu verzichten, aber er hätte es um Marions willen getan, wenn es einen Sinn gehabt hätte. Aber durch eine solche Maßnahme konnte er ihr auch nicht den Mund stopfen. Er konnte nur auf ihre Loyalität hoffen, die es ihr – vielleicht – ver bieten würde, über Marions Herkunft zu reden. Sie bitten, zu schwei gen, konnte er nicht. Aber er war sich darüber klar, daß schon ihr bloßes Wissen es Mari on erschweren würde, sich als seine Frau durchzusetzen. Die Schuld daran trug er allein. Es war idiotisch von ihm gewesen, dachte er jetzt, einen Bericht über ihre Familie einzuholen, noch idio tischer, ihn an seine Geschäftsadresse schicken zu lassen, so daß er Ur sula Herrmann in die Hände fallen mußte. Er seufzte, ohne es selber zu merken. Es war schwerer, als er gedacht hatte, dieses kleine Mädchen zu schützen. 60
Marion schwamm in einem Meer der Freude. Die Vorbereitungen zur Hochzeit waren das Schönste, was sie je erlebt hatte. Tag für Tag fuhr sie – auch als sie ihre Ausbildungsstelle im Mode salon Stoll schon aufgegeben hatte – nach München und lief durch die Geschäfte, um sich von Kopf bis Fuß mit neuer Garderobe zu verse hen. Noch nie hatte sie so teuer einkaufen, noch nie zuvor sich jeden Wunsch erfüllen können. Dreitausend Mark hatten ihre Eltern für sie gespart, die galt es jetzt so auszugeben, daß sie das Beste dafür erstand. Und sie mußte keine Angst haben, daß sie mit diesem Geld nicht auskam, denn sie war ganz sicher, daß ihr zukünftiger Mann, so bald es ausgegeben war, etwas da zulegen würde. So oft er sich freimachen konnte, begleitete er sie bei ihren Streifzü gen durch die Geschäfte. Er versuchte nicht, sie zu beeinflussen, aber sein Ja oder Nein erleichterte ihr die Wahl, denn sie selber war nicht sehr entscheidungsfreudig, konnte eine halbe Stunde darüber grübeln, ob sie lieber die blauen oder die beigen Schuhe, den karierten oder den geblümten Rock nehmen sollte. Wenn er dann sagte: »Nimm beide!«, konnte es passieren, daß sie ihm vor allen Leuten um den Hals fiel und ihn küßte. Das Aussuchen, das Anprobieren, das Wählen, das Gefühl grenzen loser Möglichkeiten machten ihr aber mindestens so viel Spaß wie die schönen Dinge, die sie mit nach Hause nehmen konnte. Bei ihrer zar ten Figur brauchte sie keine Sonderanfertigungen in einem Modesa lon, wie Alexander Kühnert es zuerst vorgeschlagen hatte. Sie hätte auch kaum die Geduld aufgebracht, tagelang zu warten, bis das Kleid, das sie sich wünschte, endlich fertig war. Sie wollte das, was ihr gefiel, gleich, jetzt, sofort haben. Nur das Brautkleid, das sie ohnehin erst am Hochzeitstag brauch te, ließ sie nähen, und zwar im Modesalon Stoll, wo sie früher gearbei tet hatte. Das war schon was, an Fräulein Anneli und Renate mit kur zem Gruß und hochmütigem Gesicht vorbeizurauschen, sich von der ehemaligen Chefin bedienen zu lassen, die Anspruchsvolle und Unzu friedene zu spielen. Marion genoß es ohne Skrupel. Die Rechnung da 61
für übernahm Alexander Kühnert, aber er half ihr weder bei der Wahl, noch begleitete er sie auf die Anproben, denn es sollte alles ganz richtig sein; erst am Hochzeitstag sollte er sie darin sehen. Er verließ sich auf Frau Stolls Geschmack, denn Marions Mutter oder ihrer Schwägerin Hanni Lenz, einer gutmütigen jungen Frau, die, wenn er selber verhindert war, Marion manchmal begleiteten, traute er weniger Verständnis in Sachen Mode zu als Marion selbst. Für Marion stellte die Wahl des Brautkleides kein Problem dar: Selbstverständlich sollte es lang sein, ein Traum aus Tüll und Spitzen. Für das Standesamt riet Frau Stoll ihr zu einem Complet aus leichtem weißen Wollstoff, einem schmalen ärmellosen Kleid mit rundem Aus schnitt und leicht ausgestellten Rock, das in Verbindung mit der taillier ten Jacke wie ein Kostüm wirkte. Später, sagte Frau Stoll, würde sie das Kleid auch allein oder beide Teile mit anderen Kleidungsstücken kom biniert tragen können. Marion war leicht zu überreden, sich auch noch eine lange Hose aus dem gleichen Stoff schneidern zu lassen, so daß sie dann noch einen kompletten Hosenanzug hatte, dazu eine hellblaue Sei denbluse, die sie unter dem Kleid oder zu der Hose tragen konnte. Zum Schluß kamen ihr dann doch Bedenken. »Ich muß aber erst meinen Verlobten fragen«, sagte sie. »Herr Kühnert wird schon einverstanden sein«, meinte Frau Stoll lä chelnd. Sie behielt recht. Auch wenn Marion ihm nur halb so begeistert von ihren Neuerwerbungen erzählt hätte, würde er zugestimmt haben. Das Einrichten eines eigenen Wohnzimmers in ihrem zukünftigen Heim war eine andere Aufgabe, in die sie sich mit Begeisterung stürz te. Im obersten Stock gab es zwei Schlafzimmer, die mit einem Bad ver bunden waren – mit einer Erleichterung, die sie nicht hatte verbergen können, hatte Marion festgestellt, daß er nicht in einem Zimmer mit ihr zu schlafen wünschte. Es hatte ihm einen Stich gegeben, aber er ließ es sich nicht anmerken. »Ich bin froh, daß es dich nicht stört«, behauptete er, »aber ich habe schon während meiner ersten Ehe feststellen müssen, daß ich auf die Dauer kein guter Schlafkumpan bin.« 62
»Du warst schon mal verheiratet?« »Ja« sagte er kurz, denn er hatte keine Lust, ihr gerade jetzt von sei ner stürmischen Ehe und ihrem tragischen Ausgang zu berichten. Zu seiner Überraschung wurde sie blaß. »Ist das denn so schlimm?« Er lächelte gutmütig. »Hast du wirklich erwartet, die erste Frau in meinem Leben zu sein?« »Es ist nur … dann können wir doch nicht kirchlich heiraten!« Er durchschaute sie. »Du hast Angst, daß du dein schönes Kleid nicht zur Geltung bringen kannst. Nein, nein, keine Sorge. Ich bin nicht ge schieden, sondern Witwer.« »Das ist gut!« Ihr künftiges Schlafzimmer war ein schöner, behaglich eingerichte ter Raum mit einem hellbeigen Teppichboden, weißen Wandschrän ken, einem weißen Toilettentisch mit großem verstellbaren Spiegel. Die Gardinen waren von einer gelbseidenen Schabracke umrahmt und das überbreite weiße Bett war mit vergoldeten Kugeln geschmückt. Das Zimmer gefiel ihr auf Anhieb, dann fragte sie, ein wenig unbe haglich: »Hier hat sie also geschlafen?« »Ich habe es völlig neu einrichten lassen.« Was Marion nicht wußte: Dieses Schlafzimmer hatte ihm dazu gedient, in Zeiten der Verliebt heit Freundinnen bei sich einzuquartieren. Das Gästezimmer hingegen war ein ebenfalls recht großer Raum, an dessen Einrichtung aber seit über dreißig Jahren nichts mehr geändert worden war. Es war ausgestattet mit einem Doppelbett und Kleider schränken aus Mahagoni. »Das kommt natürlich alles raus«, erklärte Alexander Kühnert, »du kannst es dir einrichten wie du willst … auch neue Tapeten und Vorhänge natürlich, von mir aus auch einen neu en Boden …« Er zupfte zärtlich an einer Strähne ihres glatten blonden Haares. »… alles um die Stereoanlage gruppiert, nehme ich an.« »Du bist so lieb!« Sie legte den Kopf in den Nacken und sah aus ihren schräg gestellten Augen zu ihm auf. Er nahm sie in die Arme und küßte sie, nicht wie ein Freund oder ein Vater, sondern wie ein Liebender. Zuerst setzte sie ihm Widerstand entgegen, aber dann öffnete sie ihm doch die Lippen und erwiderte 63
seinen Kuß, wenn auch nicht leidenschaftlich, so doch zärtlich erge ben. Es war ihr, als wenn sie ihm alles schuldig wäre, was es in ihrem Leben an Schönem gegeben hatte.
Die Hochzeit sollte am 29. November stattfinden, einem Freitag, die standesamtliche Trauung vormittags um neun Uhr am Mariahilfs platz, die kirchliche Zeremonie zwei Stunden später in der schönen Barockkirche nahe der Feldherrnhalle. Je näher der Termin rückte, um so nachhaltiger verlor Marion ihren freudigen Überschwang. Statt seiner nahm Angst vor dem, was so un ausweichlich auf sie zukam, von ihr Besitz. Mit der Hochzeit, darüber war sie sich klar, würde sie all ihre frühe ren Freunde und Freundinnen, ja, sogar ihre Familie verlieren. Sie war noch keineswegs snobistisch, aber es war nicht zu übersehen, daß kei ner von ihnen in das feine Münchner Haus paßte oder sich darin wohl fühlen konnte. Sie würde also sehr viel allein sein – allein mit Frau Marie, die sie nach wie vor nicht mochte, auf deren Entlassung zu be stehen sie aber dennoch nicht wagte, weil sie selber nichts von Haus haltsführung verstand. Das aber war nicht das Schlimmste. Ihr Wohnzimmer war inzwi schen fast fertig, ein Reich, in das sie sich zurückziehen konnte. Sie würde sich dort auf der wunderbar bequemen Sitzgarnitur räkeln, Ra dio und Schallplatten hören, lesen, vielleicht handarbeiten – nein, es würde ihr schon nicht langweilig werden. So gut hatte sie es ja nie ge habt – und mindestens jeden Tag einmal ins Kino gehen. Was sie wirklich fürchtete, so stark, daß es ihr manchmal geradezu den Atem abschnürte, war die Stunde der Wahrheit – der Augenblick, in dem Alexander Kühnert das Letzte von ihr verlangen würde. Marion war aufgeklärt, sie hatte auch schon mit verschiedenen Jun gen herumgeknutscht und, wenn sie sich auch, streng erzogen und noch sehr unter dem Einfluß der Eltern stehend, bisher Zurückhaltung auferlegt hatte, nie Angst vor körperlicher Beziehung gehabt. Ihr war 64
das immer als etwas ganz Natürliches erschienen, zu dem es kommen mußte, wenn man sich liebte und Vertrauen zueinander hatte. Zusam men mit einem hübschen Jungen mußte es sogar Spaß machen. Aber Alexander Kühnert war eben kein Junge mehr, er war ein Mann, ein alter Mann in ihren Augen, doppelt so alt wie sie selber, und die achtzehn Jahre, die er ihr voraus hatte, waren wie eine Kluft zwischen ihnen, über die es keinen Weg gab. Manchmal wachte sie nachts auf, und ihr Gesicht war tränenüber strömt, ihr Kopfkissen nass. Sie hatte geträumt, daß er sie mit einer riesigen Pistole in der Hand durch das Haus gejagt hatte, um sie zu tö ten, und ihre Tränen hatten seinen Zorn nicht mildern können. Natürlich wußte sie, daß er ihr in Wirklichkeit nichts Böses zufügen wollte, aber ihre Angst blieb. Und sie konnte mit niemandem darüber sprechen. Allen gegenüber hatte sie getan, als hätte sie das große Los gewonnen – wie konnte sie jetzt zugeben, daß sie den falschen Mann genommen hatte. Mehr als einmal dachte sie daran, es Alexander Kühnert selber zu sagen. Aber immer wieder schreckte sie davor zurück. Nicht etwa, weil sie ihm nicht weh tun wollte – sie empfand ihn als so überlegen, daß sie es sich gar nicht vorstellen konnte, daß er über etwas, das sie tat oder unterließ, wirklich verletzt sein konnte. Sie sah klar die Folgen eines solchen Geständnisses. Wenn sie sich ihm nicht hingeben wollte, dann würde er sie auch nicht heiraten, denn ein Narr war er nicht. Sie würde in das Nichts zurücksinken, aus dem sie gekommen war – vorbei der Traum vom schönen Leben. Sie würde sich der Schadenfreude aller, die sie kannten, aussetzen, und den berechtigten Vorwürfen ihrer Eltern, weil sie die für ihre Aussteu er bestimmten Ersparnisse in nichts anderem als Garderobe angelegt hatte. Marion saß in der Falle. Oft war sie so in Panik, daß der Tod ihr der einzige Ausweg erschien. Aber sterben, ohne je ihr wunderschö nes Brautkleid getragen zu haben, das brachte sie denn doch nicht über sich. Als Marion am Mittwoch vor der Hochzeit abends nach Rosenheim 65
zurückkehrte, mit dem Zug, denn Alexander Kühnert war geschäft lich beansprucht und hatte sie nicht mit dem Auto bringen können, entdeckte sie Stefan Weil in einer Gruppe von Burschen, die in der Bahnhofshalle zusammen standen. Er hatte das braune, leicht gelock te Haar kürzer geschnitten als früher, sah aber sonst noch genauso gut aus wie immer. Die Jungen lärmten und lachten miteinander, und obwohl die mei sten sie kannten, sah niemand zu ihr hin. Normalerweise wäre Marion einfach vorbeigegangen und hätte sie hinter sich her pfeifen lassen. Aber Stefans Anblick versetzte ihr Herz in Aufruhr. Vielleicht war es das letzte Mal, daß sie ihm begegnete. Allen Mut zusammennehmend trat sie auf die Gruppe zu. »Hei, Ste fan!« Betont langsam drehte er sich zu ihr um. »Is was?« Sie stand einfach da und sah ihn lächelnd an. Alexander Kühnerts Werbung hatte ihr Selbstbewußtsein gestärkt. In dem neuen gefütter ten Regenmantel, der sie etwas molliger machte, den schmalen Stie feln und der dazu passenden Schultertasche sah sie sehr gut aus, nicht mehr wie das kleine unterernährte und ständig übermüdete Mädchen, das sie einmal gewesen war. Ihr Auftreten blieb nicht ohne Wirkung. Stefan löste sich aus der Gruppe und kam langsam auf sie zu; das hübsche braune Gesicht mürrisch verzogen. »Wir haben uns lange nicht mehr gesehen«, begann Marion, anschei nend ganz unbefangen. »Kann schon sein.« »Ich habe manchmal gedacht, was du wohl machst.« »Was schon.« »Ich hab' gerade Zeit.« Sie schob den Ärmel zurück und ließ ihn ei nen Blick auf ihre teure, sportliche Automatic tun. »Wollen wir uns nicht ein bißchen unterhalten?« »Von mir aus.« »Nimmst du mich mit auf deine Bude?« »Warum?« 66
Es gelang ihr zu lachen. »Weil ich noch nie dort war … und weil ich Wunderdinge darüber gehört hab. Sie soll ja Spitze sein.« »Geht schon.« »Also … dann komm.« Sie hätte sich gern bei ihm eingehakt, aber sie wagte es nicht, denn sie wußte, daß er nichts mehr fürchtete, als lächerlich gemacht zu wer den – und die anderen Jungen hätten es wahrscheinlich lächerlich ge funden. Es mochte Stefan Überwindung genug gekostet haben, seine Freunde eines Mädchens wegen stehenzulassen. Sie traten aus dem Bahnhofsgebäude und eilten die Stufen auf den Vorplatz hinunter. Zwar hatte es aufgehört zu regnen, aber das Pflaster glänzte vor Nässe, und ein kalter Wind fuhr auf sie los. Stefan zog den Reißverschluss seines Anoraks hoch und eilte, mit vorgeschobenem Kopf, die Schultern gegen den Wind gestemmt, voran. Marion hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Ein Gespräch kam nicht zustande. Stefans Eltern wohnten nicht allzu weit vom Bahnhof entfernt, auf der Ayinger Landstraße, und seine sogenannte Bude war nichts ande res als ein Schuppen im Hinterhof, den er sich wohnlich gemacht hat te. Wände und Decke waren mit überlebensgroßen Postern von Stars der Popszene tapeziert, und der größte Teil des Bodens war mit alten Matratzen bedeckt. Ein Kanonenöfchen bullerte, und an einem Haken hing Stefans Gitarre. Noch vor wenigen Wochen hätte Marion dies alles mit anderen Au gen gesehen; jetzt mußte sie sich zur Anerkennung zwingen. »Top hast du's hier«, sagte sie. »Im Sommer ist es natürlich schöner. Platz dich.« Zögernd zog Marion ihren gefütterten Mantel aus und warf ihn auf die Matratzen; sie trug darunter einen schottischen Kilt und einen ro ten Kashmirpullover, der die zarten Linien ihres Busens unterstrich. Stefan machte keine Anstalten ihr zu helfen. Er hatte sich schon mit gekreuzten Beinen, nahe dem Ofen niedergelassen und begann auf sei ner Gitarre zu klimpern. Marion setzte sich dicht neben ihn und lehnte sich leicht an seine Schultern. Wenn es ihn irritierte, so ließ er es sich doch nicht anmer 67
ken. Mit gerunzelter Stirn war er ganz damit beschäftigt, seiner Gitar re eine Melodie zu entlocken. »Kennst du die?« fragte er endlich. »Neal Diamond?« fragte sie zurück. »Nein. Stefan Weil.« »Du komponierst?« fragte sie, jetzt doch beeindruckt. »Ich versuch's.« »Du wirst es schon schaffen.« Sie schmiegte sich noch ein bißchen enger an ihn. »Sag mal, Stefan, magst du mich eigentlich?« »Es geht schon.« »Weißt du …« Sie streichelte seinen Arm. »Ich mache mir nämlich 'ne Menge aus dir. Ehrlich.« »Was soll das?« Er unterbrach sein Spiel und sah sie an. »Ist denn das so schwer zu verstehen? Du weißt doch, ich ziehe nach München … wir werden uns vielleicht nie wieder sehen …« »Na und?« »Da möchte ich eben einfach wissen, ob ich … ob du … ich meine, ob du auch was für mich empfindest.« Seine schwarzen Augen waren blank vor Verständnislosigkeit. »Was ihr Mädchen euch immer zusammenspinnt.« »Stefan …« Sie richtete sich auf und berührte mit den Handflächen sein Gesicht. »… willst du mir nicht wenigstens zum Abschied einen Kuß geben?« Er legte die Gitarre beiseite und küßte sie auf jungenhaft linkische Art, die ihr verriet, wie wenig Erfahrung er noch hatte – aber gerade das fand sie wunderbar. Sie verstand ihn so gut, sein Leben, das zwi schen Alltag, Arbeit und dem Traum von der großen Karriere pendelte. Er war so jung wie sie, dachte und fühlte nicht anders. Aus ihrer Zärt lichkeit wurde Leidenschaft, und ihre Leidenschaft steckte ihn an. »Hör auf, Marion«, keuchte er, »hör auf! Du weißt ja nicht, was du tust!« Marion klammerte sich an Stefan, der sich von ihr zu befreien such te. »Und ob ich das weiß! Ich will es ja, will es … bitte, nimm mich! Mach's mir doch nicht so schwer!« Für Sekunden vergaß er sich zu wehren, und sein hübsches Gesicht 68
nahm den Ausdruck törichten Erstaunens an. »Ja, aber … alle sagen doch, du wirst heiraten!« »Gerade drum, Stefan! Ich muß heiraten … einen alten Mann …« »Wer verlangt das von dir?« fragte er ernüchtert. »Er!« »Aber er kann dich doch nicht zwingen, Baby!« »Doch, Stefan. Ich schulde ihm so viel. Ich muß.« »Quatsch. Wirf ihm die Klamotten doch einfach an den Kopf und mach Schluß.« »Wenn das so einfach wäre!« Sie reckte ihr Gesicht zu ihm hoch und versuchte, seinen Mund zu erreichen. Er drehte den Kopf zur Seite, packte sie bei den Armen und hielt sie von sich weg. »Hat er dich in der Hand?« Diese sachliche Frage brachte Marion zum Nachdenken; sie sah ein, daß es ihr unmöglich war, Stefan die Situation und den Zwiespalt ihrer Gefühle begreiflich zu machen, und so sagte sie nur: »Ja.« Er stieß sie hart von sich, stand auf, legte zwei Briketts nach und be gann dann auf dem schmalen Gang zwischen den Matratzen auf und ab zu gehen. »Man könnte ihn zusammenschlagen … ich kenn' da ein paar Typen … die prügeln jeden krankenhausreif, der ihnen …« »Nein, Stefan, nur das nicht!« rief sie entsetzt. »Und warum nicht?« »Er hat mir doch nichts getan.« »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.« »Ich habe Angst, wahnsinnige Angst …« »Vor dem Kerl?« »Er ist alt … furchtbar alt …« »Warum hast du dich überhaupt mit ihm eingelassen?« »Er war nett zu mir«, gestand sie, »und ich war so allein.« »Na, dann ist doch jetzt alles in bester Butter.« »Nein, eben nicht, Stefan!« Mit niedergeschlagenen Augen drehte sie an ihrem Verlobungsring mit dem leuchtenden Saphir. »Du bist auch so eine, die nicht weiß, was sie will, Baby. Das ist das Schlimme mit euch Mädchen.« 69
»Oh, doch, ich weiß es. Wenn du mich nur mal beachtet hättest …« »Was tu ich denn anderes? Schon die ganze Zeit! Ich hab' dich mit in meine Partybude geschleppt und hör mir deinen Quatsch an …« »Ich hätte kein Wort gesagt, wenn du bloß ein bißchen netter zu mir gewesen wärst!« »Kann ja sein, daß ich blöd bin.« Er blieb vor ihr stehen und blickte auf sie herab. »Aber mir kommt das Ganze wie eine verdammt dreckige Ge schichte vor. Du hast diesen alten Knacker ausgenommen wie 'ne Weih nachtsgans, man braucht dich ja bloß anzusehen, dann weiß man's … und jetzt willst du ihn betrügen, noch bevor du mit ihm verheiratet bist.« »Du verstehst nichts, gar nichts …« »Kann schon sein«, gab er gutmütig zu, »mir liegen so Sachen nicht.« Marion sprang auf die Füße, zog ihren roten Kashmirpullover zu recht und trat dicht auf ihn zu. »Du hältst mich für … verdorben?« »Zumindest für verdreht.« »Ich möchte glücklich sein! Einmal im Leben richtig glücklich sein … mit dir!« Er sah schweigend auf sie herab. Sie sehnte sich danach, ihn zu berühren, aber sie fürchtete, noch ein mal zurückgestoßen zu werden. »Ist das denn wirklich so verrückt?« »Ziemlich«, behauptete er. »Eine einzige Nummer … was hast du schon davon?« Ohne zu wissen, was sie tat, schlug sie ihm ins Gesicht. Er packte sie beim Handgelenk. »Mach das nicht noch einmal … du! Oder du kannst was erleben.« Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. »Wenn du mir nur ein Wort sagen würdest … ein einziges Wort!« »Was denn noch?« »Daß du mich lieb hast … daß du mit mir gehen willst! Ich mache al les rückgängig, das verspreche ich dir … ich heirate nicht!« »Sonst noch was, ja?« Er schleuderte ihre Hand von sich. »Damit du's mir dauernd unter die Nase reibst!« »Nie! Nie würde ich das tun!« rief sie leidenschaftlich. 70
Er spürte die Anziehungskraft, die von ihr ausging, und trat einen Schritt zurück. »Es tut mir leid«, sagte er, »tut mir wirklich leid. Du bist … na ja, du weißt schon selber, was du bist, brauchst ja bloß in den Spiegel zu sehen. Aber aus uns beiden kann nichts werden.« »Warum? Sag mir wenigstens … warum?« »Hat mit dir nichts zu tun. Nur überhaupt. Ich hab' keine Lust, mich festnageln zu lassen. Und auch gar keine Zeit für so was. Hab' ganz an dere Pläne.« Er zuckte die Achseln. »Tut mir leid, Baby.« Marion begriff, daß sie nichts erreichen konnte. Jetzt galt es nur noch, einen einigermaßen guten Abgang zu finden. Sie bückte sich, hob ihren gefütterten Regenmantel auf, schlüpfte hinein und nahm ihre Schultertasche. »Na dann«, sagte sie mit einem zitternden Lächeln, »kann man nichts machen. Wenigstens habe ich deine Partybude gesehen. Also mach's gut, Stefan.« »Soll ich dich wohin bringen?« fragte er. Marions Bus war längst weg, und es wäre vernünftig gewesen, sich von Stefan nach Hause fahren zu lassen. Aber zu dieser Überlegung war sie nicht fähig. Sie wollte allein sein und wollte ihn nicht auch noch den Triumph erleben lassen, wie sie in Schluchzen ausbrach. »Lass nur«, wehrte sie ab. Ohne ihn noch einmal anzusehen, stürzte sie in die Nacht hinaus. Es regnete schon wieder, und sie war froh darüber. So sah niemand, daß es Tränen waren, die ihr über die Wangen liefen.
Als Marion eine gute halbe Stunde später zu Hause ankam, war ihr blondes Haar dunkel vor Nässe, sie hatte sich nicht die Mühe genom men, ihren Taschenschirm aufzuspannen. »Bist du's, Marion?« rief die Mutter von der Küche her. Marion mochte sich in ihrem Zustand nicht sehen lassen und rann te nach einem kurzen »Ja« die Holztreppe hinauf. Aber das war verkehrt gewesen, denn sie hatte ihr Zimmerchen noch nicht betreten, als Frau Lenz schon oben war. 71
»Was ist passiert, Kind? Wie siehst du aus!?« »Bin ein bißchen nass geworden«, murmelte Marion, der Tür zuge wandt, damit die Mutter ihr Gesicht nicht sehen konnte. »Hast du den Bus verpasst?« Marion nickte. »Warum hast du dann kein Taxi genommen? Alexander hätte dir das Geld …« Jetzt war es mit Marions Beherrschung vorbei. »Alexander!« schrie sie. »Immer Alexander! Und Geld! An was anderes könnt ihr ja gar nicht mehr denken!« Sie lief in ihr Zimmer. Frau Lenz kam ihr nach. »Du bist ja ganz durcheinander, Kind!« Sie hängte Marions Mantel sorgfältig über einen Bügel. »Kein Wunder, die paar Tage vor der Hochzeit.« Marion warf sich quer über ihr Bett. »Ich möchte sterben, nichts wei ter … tot sein möchte ich!« Frau Lenz zog ihr die Stiefel von den Füßen. »Na, na, na!« sagte sie beruhigend. »Du wirst schon sehen … nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.« Sie nahm ein Frottiertuch vom Haken neben dem Waschbecken und begann liebevoll Marions Haar abzutrocknen. »Wo hast du den Fön?« »Rechts oben in der Kommode.« »Also setz dich!« Frau Lenz holte den Fön, schob den Stecker in die Dose und schaltete ihn ein. »Ach, Mutter, mir ist so … so übel.« »Kann ich mir ganz gut vorstellen.« »Ehrlich?« Marions Tränen versiegten von einer Sekunde zur ande ren. »Ja, ehrlich. Ich bin doch eine Frau. Ich weiß, was eine Hochzeit für ein Mädchen bedeutet. Und gerade in deinem Fall.« »Wie meinst du das?« »Du liebst ihn nicht. Das ist es doch, was dir so zu schaffen macht.« »Stimmt.« Marion war überrascht, sie hätte ihrer Mutter niemals so viel psychologischen Scharfsinn zugetraut. »Ich bring's einfach nicht über mich … Ich schaff's nicht.« 72
»Du mußt es ja auch nicht, Marion!« Frau Lenz bearbeitete Marions Haar mit der Rundbürste, während sie es trocken fönte. »Wenn du es dir anders überlegt hast, läßt du es eben bleiben.« Marions Augen wurden immer größer. »Das würdet ihr … erlau ben?« »Na, ein Jammer wär's schon, nachdem du all deine Ersparnisse aus gegeben hast … und wo er doch wirklich ein so netter junger Mann ist. Bei ihm hättest du es gut gehabt. Aber so ganz, weißt du, habe ich nie geglaubt, daß was draus wird. Habe ich also wieder recht behalten. Für unsereins müssen Träume eben Träume bleiben. Das war immer so. Und was die Leute reden … oh, was kümmert's uns. Die haben sich schon genug die Mäuler über uns zerrissen. Da kommt's auf ein biß chen Skandal mehr oder weniger auch nicht an.« »Daß du dabei so gelassen bleiben kannst!« »Ich hab's kommen sehn, Kindchen, das ist es. Wenn ich mir das Ende auch anders vorgestellt habe. Ich habe gedacht, er würde dich vor die Tür setzen.« »Aber … weswegen?« »Wegen Kaspar, du weißt schon. Diese schlimme Geschichte. Jeden Tag habe ich gedacht, jemand steckt's ihm. Wir hätten es ihm sagen sollen.« »Meinst du?« »Ja, das wäre richtig gewesen … wo er doch so anständig zu dir war.« Marions Haar war trocken, und es hatte seinen hellen Schimmer zu rückgewonnen. Frau Lenz schaltete ab und legte Fön und Rundbürste beiseite. »Wir machen's so. Ich werde ihm von dem Unglück mit Kaspar erzählen. Dann wird er froh sein, daß du nicht auf der Heirat bestehst. Paß nur auf.« Sie stand auf. »Du willst doch nicht etwa jetzt gleich …?!« rief Marion. »Du kannst ihn heute Abend gar nicht erreichen! Er ist geschäftlich unterwegs.« »Dann werde ich ihm ein Telegramm schicken. Er muß so schnell wie möglich Bescheid wissen.« 73
»Tu's nicht!« rief Marion. »Bitte, tu's nicht!« Unter dem Blick ihrer Mutter wurde sie verlegen. »Nicht jetzt gleich, meine ich. Gib mir eine Nacht Bedenkzeit.« Ihre Mutter blickte sie nachdenklich an. »Einmal hü und einmal hott. Das sieht dir ähnlich. Ich sag's dir schon heute: Wenn es in deiner Ehe nicht klappt, dann liegt's nicht an ihm sondern an dir. Du bist ein Kind … ein Kind, das alles haben will und nie nach dem Preis fragt. Werde du erst mal erwachsen.« Am nächsten Morgen kamen Mutter und Tochter nicht mehr auf das Gespräch zurück. Es war nicht nötig. Beide wußten, daß Marion nie mals die Kraft aufbringen würde, auf das, was das Schicksal ihr bot, freiwillig zu verzichten oder es auch nur zu gefährden. Marion verstand nicht mehr, wie sie sich Stefan hatte an den Hals werfen, wie sie sich vor der Mutter hatte so entblößen können. Sie war entschlossen, es durchzustehen.
Für Alexander Kühnert war es selbstverständlich, seine Schwiegerel tern zur Hochzeit einzuladen. Doch Marions Mutter winkte ab. »Das wäre nicht das Richtige.« »Wie, ihr wollt eure einzige Tochter nicht sehen, wenn sie …« »Wir sehen sie ja zu Hause«, brummte Xaver Lenz. »Aber ihr als Eltern habt das Recht, die Hochzeit mitzufeiern!« Anna Lenz sah ihn prüfend aus ihren blassen blauen Augen an. »Hät test du uns denn wirklich gern dabei?« »Dumme Frage«, gab er zurück, wurde aber doch ein wenig verlegen. »Es gehört sich einfach so.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Alexander, wir sind keine, die sich aufdrängen, das wirst du schon noch merken. Ich weiß, du würdest es inkauf nehmen, und das ist sehr anständig von dir. Aber wir müssen an Marion denken.« »Dann fragen wir sie doch!« Sie saßen zusammen in der Wohnküche; Marion war auf ihrem Zim 74
mer, um sich eine ihrer Neuerwerbungen anzuziehen und anschlie ßend vorzuführen. Anna Lenz schüttelte den Kopf. »Nein, die weiß doch gar nicht, was für sie gut ist. Diese Hochzeit, das ist doch der Anfang von einem ganz neuen Leben für sie, und da soll sie nichts von früher mit hinüber schleppen … kein Stück, und auch nicht uns.« Alexander Kühnert verstand, daß Anna Lenz es gut meinte; impul siv küßte er ihre abgearbeitete Hand, die sie, fast erschrocken, zurück zog. »Wir könnten ja in der Familie feiern«, schlug er vor, »dann wäre es ein Abschied und ein neuer Anfang.« »Nein, nein, sie soll einen guten Start haben … den besten.« Alexander Kühnert war erleichtert, aber gleichzeitig auch beschämt. Er schlug vor, dann am Vorabend der Hochzeit die ganze Familie zu sich nach München einzuladen. Aber auch davon wollte Frau Lenz nichts wissen. Sie meinte, daß ihre Leute sich in dem feinen Haus nicht wohl fühlen würden, und wollte den Polterabend lieber bei sich zu Hause ausrichten. »Dann kann Marion auch ein paar von ihren Freundinnen und Freunden einladen.« Marion, die gerade hereingekommen war, in einem kleinen Partykleid aus hellblauem Chiffon, hatte die letzten Worte gerade noch ge hört. »Bloß nicht!« rief sie. »Was soll ich denn mit denen?« »Gibt es denn keinen, der dir ein bißchen nahe gestanden hat?« frag te Alexander Kühnert. Marion dachte an Stefan und sagte energisch: »Nein.« Gerade vor Stefan wollte sie sich nicht mit ihrem alten Mann sehen lassen, und vor den Freundinnen genauso wenig. Fräulein Anneli und Renate wa ren ja auch selber nicht mehr jung, schon über zwanzig, das war etwas anderes. Weit entfernt, ihre Gedanken zu erraten, sagte Alexander Kühnert: »Ich werde nicht dabeisein.« Marion fühlte sich durchschaut und errötete bis in die Wurzeln ih res hellen Haars. »Du kommst nicht?« 75
»Nein. Ich hab's mir gerade überlegt: Ich werde mit ein paar Freun den Abschied von der Freiheit feiern.« »Das solltest du aber nicht tun«, widersprach Frau Lenz, »ich weiß, wir haben dir nichts zu sagen, aber ich hatte mir gedacht … statt der Hochzeit. Marions Brüder möchten dich doch auch mal kennenler nen.« »Einverstanden«, sagte er und merkte zu seiner eigenen Überra schung, daß er dieser einfachen Frau in jedem Punkt nachgegeben hatte. »Werden sie denn alle kommen?« »Nein. Kaspar nicht«, antwortete Anna Lenz rasch, »er ist zur Zeit im Ausland.« Alexander ärgerte sich, daß sie ihn anlog, mehr aber noch ärgerte er sich über seine Frage, mit der er diese Lüge heraufbeschworen hatte. »Na schön. Ich überlasse das also euch.« Er stand auf. »Wenn du jetzt dieses Kleidchen ausziehen würdest, Marion …« »Wieso? Gefällt es dir nicht?« »Doch, sehr.« »Es ist ein französisches Modell.« »Aber viel zu kühl für diese Jahreszeit. Und viel zu elegant für einen gewöhnlichen Abend in der Woche.« »Schade«, sagte sie, war nahe daran zu schmollen, als ihr noch recht zeitig einfiel, daß er ja der Spender all dieser Herrlichkeiten war, gab ihm einen raschen Kuß auf die Wange und flog davon. Am Morgen der Hochzeit fuhr Alexander Kühnert pünktlich um acht Uhr drei ßig vor, diesmal nicht in seinem Porsche, sondern in einem seriösen schwarzen Mercedes 450 mit werkszugehörigem Chauffeur, der ihm den Schlag aufriss. Er sah sehr gut aus in seinem auf Taille gearbeite ten schwarzen Anzug, das Gesicht leicht gebräunt – er hatte am Abend zuvor ein paar Minuten unter der Höhensonne gelegen – und wirkte überlegen und gelassen. Der Tag war sehr kalt, aber zum Glück regnete es weder, noch schnei te es. Schon als er auf das Haus zuging, öffnete sich die Tür, und Marion kam heraus, sehr elegant und fast erwachsen wirkend in ihrer Kombi 76
nation aus weißem Wollstoff. Sie hatte sich das von Natur glatte blonde Haar zu langen Locken gedreht und wirkte auf Alexander Kühnert, der nichts davon gewußt hatte, im ersten Augenblick sehr fremd – fremd, aber wunderschön und strahlend. Er ahnte nicht, daß sie durchsichti ges Rouge benutzt hatte, um ihre Blässe zu kaschieren. Sie hatte sich schon von ihren Eltern verabschiedet, und er führte sie jetzt rasch zum Auto, half ihr, im Fond einzusteigen, ging um den Wa gen herum und setzte sich neben sie, hinter den Chauffeur. Der Vorgang hatte nur wenige Minuten gedauert, und dennoch hat ten sich Fenster in der Nachbarschaft geöffnet, und neugierige Frauen hatten sie beobachtet. »Diese Puten«, schimpfte Marion, »möchte bloß wissen, was die das angeht!« »Viele Menschen lieben nun mal Hochzeiten! Du hattest einen gro ßen Auftritt.« Er nahm ihre Hand, und als er merkte, daß sie eiskalt war, nahm er beide und versuchte sie zu wärmen. Während der Fahrt plauderte er von den bevorstehenden Freuden der Hochzeitsreise. Obwohl sie im Voralpenland aufgewachsen war, hatte sie ihm gestehen müssen, daß sie eine sehr mäßige Skiläuferin war; sie hatte nie Unterricht gehabt und war auf den Brettern nur ein bißchen herumgerutscht. Deshalb hatte er seine ursprüngliche Absicht, mit ihr nach St. Moritz zu fahren, geändert und sich statt dessen entschieden, in wärmere Gefilde auszuweichen. Damit war sie gerne einverstanden gewesen, und er hatte über Airtours fünf Wochen Bahamas gebucht. Sie wollten auch über die Weihnachtsfeiertage und Silvester fortblei ben. Eine endlose Zeit des süßen Nichtstuns lag vor ihnen. Bisher hatte Marion sich stets von seiner Begeisterung anstecken las sen – tat er doch den Schritt in die Ehe zum zweiten Mal – heute blieb sie stumm. Er hatte selber Angst genug vor dieser Hochzeit gehabt und begriff, was es für sie bedeuten mußte: Angst vor dem Unbekannten, Angst auch, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Hansi und Irene Beermann warteten schon vor dem Standesamt am Mariahilfsplatz. Hansi Beermann war Alexander Kühnerts ältester Freund, sie hatten zusammen das Internat Marquartstein besucht, und 77
Irene, kinderlos geblieben, war eine sehr kameradschaftliche Frau. So hatte Alexander Kühnert die beiden zu Trauzeugen gewählt. »Kopf hoch und lächeln!« mahnte er seine Braut, als er ihr aus dem Auto half. »Eins mußt du wissen: Ich werde dich nie zu etwas zwingen, das du nicht selber willst!« Hansi Beermann gab Alexander Kühnert den Brautstrauß und hielt ihm gleichzeitig einen Flachmann hin, den er aus der hinteren Hosen tasche gezogen hatte: »Da, nimm einen Schluck! Das macht alles leich ter!« Irene Beermann umarmte Marion und legte, behutsam, um weder Marions noch ihr eigenes Make-up zu zerstören, ihre Wange an die der Braut. »Du siehst fabelhaft aus, Liebes … schön wie eine Fee! Han si, sieht Marion nicht fantastisch aus?!« »Ja, da möchte man wirklich zehn Jahre jünger sein …« Hansi Beer mann brach ab und bekam einen hochroten Kopf. »Entschuldige, Alex ander, alter Junge, ich weiß wirklich nicht, was in mich gefahren ist …« »Wahrscheinlich ein Schluck zuviel aus der Flasche«, sagte der Bräu tigam gutmütig, »steck sie lieber weg, bevor du ins nächste Fettnäpf chen trittst.« Irene Beermann gab ihrem Mann einen ganz unfeierlichen Stoß mit dem Ellbogen in die Seite. »Trottel!« Im Standesamt mußten sie eine Zeitlang mit anderen Paaren warten, bis sie aufgerufen wurden. Der Beamte ließ es sich nicht nehmen, eine nicht gerade kurze Ansprache zu halten, von der Marion in ihrer Auf regung kein Wort verstand. Ihr »Ja« war nur ein Hauch, so daß der Standesbeamte sie auffordern mußte, lauter zu sprechen. Dann war alles vorüber; im Namen des Volkes waren sie zu Mann und Frau erklärt. Als sie ihre Unterschrift geben sollte, erinnerte sie ihr Mann: »Du mußt jetzt Marion Kühnert schreiben …« »Moment mal!« sagte der Beamte. »Sie wissen, daß im nächsten Jahr ein neues Gesetz in Kraft tritt. Danach können Sie, Herr Kühnert, auch den Namen Ihrer Frau annehmen …« 78
Alexander Kühnert schüttelte den Kopf. »… oder Sie, gnädige Frau, können Ihren Mädchennamen behalten oder ihn dem Namen Ihres Mannes voraussetzen.« »Nein, danke!« Marion lächelte ihrem Mann zu – das erstemal, daß sie an diesem Morgen lächelte. »Kühnert gefällt mir sehr gut.« Er küßte sie sanft auf die rot bemalten Lippen. Draußen warteten Fotografen. Marion erschrak und wich unwill kürlich zurück. Alexander Kühnert nahm sie fest beim Arm. »Kopf hoch und lä cheln … du bist eine Braut, die sich sehen lassen kann.« »Aber warum? Was wollen die?« »Ein Mann in meiner Position …« Er führte sie, nach allen Seiten freundlich nickend, zum Auto. »… hat eine gewisse Bedeutung für die Öffentlichkeit, und wenn er ein schönes Mädchen heiratet, interessiert das die Zeitungen … und besonders ihre Leserinnen.« Marion atmete auf, als sie wieder sicher im Auto saß. »Es ist noch nicht vorbei«, sagte er, »zu Hause werden uns Gäste er warten. Du kennst die wenigsten von ihnen schon persönlich und brauchst dir heute auch gar keine Namen zu merken. Sag immer nur irgendwelche Floskeln, etwa ›Ich freue mich sehr‹, ›Ja, ich bin sehr glücklich‹, ›ein wunderschöner Tag‹ … das wirst du doch können?« »Ich werd's versuchen.« Sie zitterte. »Es kann überhaupt nichts schief gehen.«
Als Marion das schöne Haus in München-Bogenhausen, ihr neues Heim, betrat, waren tatsächlich schon einige Gäste um das kalte Buf fet versammelt, deren Glückwünsche sie scheu entgegennahm. Aber bei der nächsten Gelegenheit flüchtete sie in ihr Schlafzimmer, wo Frau Stoll, ihre ehemalige Chefin, ihr Kleid für die kirchliche Trauung schon bereitgelegt hatte. Persönlich half ihr die Modistin beim Um ziehen, Marion und ihr eigenes Werk immer wieder bewundernd um kreisend. 79
Marion vertrödelte absichtlich soviel Zeit wie möglich, bis endlich ihr Mann im Smoking an die Tür klopfte und hereinkam. »Marion, bist du denn …« Er verstummte, um sie hingerissen zu betrachten. »Ja, in so einem Traum von Tüll und Spitzen muß jedes Mädchen wie eine Prinzessin aussehen!« behauptete Frau Stoll. Alexander Kühnert lachte. »Nicht jedes, Frau Stoll … beileibe nicht jedes! Wir müssen zur Kirche, Liebling. Jetzt hast du dich gar nicht er frischen können … hier, trink wenigstens einen Schluck!« Er reichte ihr ein Glas Champagner. Sie leerte es in einem Zug, ihre Benommenheit schwand, und ihr Lächeln wurde echt und warm. »Oh, Alexander … noch nie hat ein Mann ein Mädchen so verwöhnt!« »Noch nie ist ein Mann so stolz auf seine kleine Frau gewesen!« Inzwischen waren mehr und mehr Gäste eingetroffen, aber alle Ge spräche verstummten, als Marion am Arm ihres Mannes die Treppe herunterkam. Man ist den Anblick schöner Mädchen in der Münch ner Gesellschaft gewohnt, aber diese Mädchen pflegen selbstbewusst und sicher aufzutreten. Marion dagegen strahlte einen scheuen Lieb reiz aus, wie man ihn nur noch selten fand. »Ahs« und »Ohs« ertönten, und man machte eine Gasse, um dem Paar den Weg zur Haustür freizugeben. »Da könnt ihr fragen, warum er wieder geheiratet hat«, hörte sie je manden flüstern. Und einen anderen: »So ein Glückspilz!« Die Fahrt zur Kirche, die Trauung, das Hochzeitsmahl im Gotischen Saal des Hotel Continental und der nachfolgende Tanz, alles wurde zu einem einzigen Triumph für Marion. Es war wirklich ihr großer, ihr ho her Tag, und sie genoß ihn in vollen Zügen. Eine ausgezeichnete kleine Band spielte, und die Stimmung war heiter bis ausgelassen. Schon längst brannten die Lichter, als er sie zu einem langsamen Walzer aufforderte. Strahlend sah sie zu ihm auf. »Ich bin so glücklich … stell dir vor, ich wußte gar nicht, daß man so glücklich sein kann!« »Ich auch nicht, Liebling!« Er lächelte auf sie herab. »Aber langsam wird es Zeit für uns zu gehen … findest du nicht auch?« 80
»Schon?« Ihre Augen wurden von einer Sekunde zur anderen dunkel. Alexander Kühnert spürte, wie Marion in seinen Armen zitter te. »Wenn du lieber noch weiter feiern möchtest«, sagte er beherrscht, »gut, bleiben wir noch.« Eine Weile tanzten sie schweigend, und allmählich wurde ihr Herz schlag wieder normal. »Werden die anderen das nicht … komisch finden?« fragte sie end lich zaghaft. »Aber wieso denn?« Er war erstaunt, bis er sie verstand. »Mach dir darüber keine Gedanken, Liebling. Die sind sowieso alle davon über zeugt, daß wir längst miteinander geschlafen haben.« »Ja«, sagte sie, erleichtert, daß er so unbefangen über das Thema spre chen konnte, »das habe ich gemeint.« Er lachte. »Für die meisten Leute ist die Ehe bloß noch eine Formsa che.« »Für dich nicht?« »Nein. Für mich ist es der Anfang von etwas ganz Neuem. Ich liebe dich sehr, Marion.« Sein Bekenntnis, anstatt sie zu beruhigen, erschreckte sie. Sie fürch tete, ihm nichts geben zu können, nicht die Hälfte von dem, was er von ihr erwartete. Aber sie war dankbar für die Gnadenfrist, die er ihr ge schenkt hatte. Doch als es auf Mitternacht zuging und die Gäste sich zu verabschie den begannen, wurde er energisch. »Einmal muß Schluß sein, Lieb ling, the Party is over … nein, du brauchst dich nicht zu verabschie den, wir verschwinden sang- und klanglos über die Hintertreppe.« Er hatte Wagen und Fahrer längst fortgeschickt, und so kehrten sie im Taxi nach Bogenhausen zurück. Auf der Fahrt legte er seinen Arm um ihre Schultern, aber sie lehnte sich nicht an ihn, sondern blieb steif neben ihm sitzen. »Ich bin furchtbar müde«, klagte sie. »Verständlich«, sagte er nur, »es war ein langer Tag für dich.« Während er den Chauffeur entlohnte, lief sie schon die Stufen hin auf. 81
»Rühr nicht an die Tür«, rief er ihr nach, »die Sicherheitsanlage ist eingeschaltet.« Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. »Du hast eine Sicher heitsanlage?« »Was dachtest du? Ich will mich doch nicht ausplündern lassen.« Als er das System ausgeschaltet und die Tür aufgeschlossen hatte, sagte er: »Moment! Wir wollen es doch richtig machen!« Er nahm sie auf die Arme und trug sie über die Schwelle in das Haus, in dessen Diele Licht brannte, dann stellte er sie wieder auf die Füße. »So, Lieb ling, und jetzt husch, ab mit dir ins Körbchen.« »Du kommst nicht mit?« Die Erleichterung, die sie empfand, war so stark, daß sie sie nicht vor ihm verbergen konnte. »Nein.« Er lächelte, obwohl es ihn schmerzte. »Schlaf gut und träum was Schönes!«
In der Nacht hatte sie wieder diesen schrecklichen Traum, daß er, der jetzt ihr Mann war, sie mit einer riesigen Pistole durch das Haus jagte. Sie war nackt und bemühte sich verzweifelt, gleichzeitig ihre Blöße zu bedecken und vor ihm zu fliehen. Als sie erwachte, war ihr Gesicht tränennaß. Sie tastete nach dem Schalter ihres Nachttischlämpchens und fand es nicht. Da erst begriff sie, daß sie nicht mehr zu Hause in Rosenheim, nicht mehr Marion Lenz war, sondern die junge Frau Kühnert. Dann fand sie das Licht und stellte fest, daß der schöne Raum mit dem hellbeigen Teppichboden, dem weißen Toilettentisch und den gelbseidenen Vorhängen nichts Bedrohliches an sich hatte, sondern ihr, im Gegenteil, ein Gefühl von Behagen und Geborgenheit vermit telte. Dennoch zwang es sie aufzustehen. Barfuss tappste sie ins Bad. Die Tür zum Schlafzimmer Alexander Kühnerts stand offen, aber es brannte kein Licht. Sie mußte einen Blick hineinwerfen. Im schwachen Schein, der aus dem Bad fiel, sah sie ihren Mann. Auch 82
im Schlaf wirkte sein Gesicht nicht entspannt, sondern beherrscht und ernst. Härte und Kraft lag darin, aber keine Spur von Grausamkeit oder Bosheit. Zum ersten Mal fiel ihr auf, daß seine Wimpern für ei nen Mann ungewöhnlich dicht waren. Sie hätte ihm einen Kuß auf die Stirn geben mögen, aber ihre Angst, ihn dadurch zu wecken, war zu groß. So zog sie sich dann lautlos wie der zurück. Aber sie wußte, daß in dieser Nacht kein böser Traum sie mehr verfolgen würde. Als Marion am nächsten Morgen herunterkam, hatte Alexander Kühnert schon gefrühstückt, und er war, wie Frau Marie ihr nicht ohne einen Unterton von Schadenfreude mitteilte, nicht allein. Marion wagte nicht, ihn in seinem Arbeitszimmer zu stören. Sie frühstückte lustlos und machte sich daran, ihre Toilettenutensilien in die neue Kosmetiktasche zu ordnen und sie in den einen der beiden schon vor der Hochzeit gepackten Koffer zu verstauen. Dann mühte sie sich, die Koffer in die kleine holzgetäfelte Diele hinunterzuschaffen. Frau Marie machte keine Anstalten, ihr dabei zu helfen, und sie darum zu bitten oder es ihr gar zu befehlen, traute Marion sich nicht. So holte sie auch Alexander Kühnerts Koffer herunter und kam sich sehr haus fraulich und tüchtig dabei vor. Endlich erschien er, gefolgt von seiner Sekretärin, und obwohl Ursu la Herrmann lächelte, war der Blick ihrer Augen kühl abschätzend, so daß Marion sofort die Ablehnung spürte. Zutraulicher, als sie es sonst getan hätte, warf sie sich in Alexander Kühnerts Arme und küßte ihn auf beide Wangen. »Entschuldige, daß ich dich allein habe frühstücken lassen, Lieb ling«, sagte er, belustigt über ihre Reaktion, die er sofort durchschaute, »aber es waren noch ein paar dringende geschäftliche Angelegenheiten zu erledigen.« Er stellte die beiden jungen Frauen einander vor. Auf Marion wirkte die Chefsekretärin sehr elegant, sehr selbstsicher, überlegen und ziemlich alt. Sie fühlte, daß zwischen ihr und ihrem Mann ein besonderes Verhältnis bestand und daß die andere eine Ri valin, wenn nicht gar eine Feindin war. Ursula Herrmann sah in der jungen Frau ein unbedeutendes, ja, fast 83
unscheinbares junges Ding, blutlos mit dem fast durchsichtigen wei ßen, heute morgen nicht geschminkten Gesicht, und dem Haar, das ihr wieder glatt und kunstlos frisiert auf die Schultern hing. »Sind Sie nicht ein bißchen zu leicht angezogen?« fragte sie; sie woll te besorgt scheinen, es klang aber eher herausfordernd. Marion blickte an sich herab; sie hatte für den Flug einen Hosenan zug aus weißem Wollstoff, dazu die hellblaue Seidenbluse gewählt und sich, bevor sie Ursula Herrmanns unerbittlicher Blick getroffen hatte, für sehr schick gehalten. »Aber auf den Bahamas ist es doch warm«, verteidigte sie sich. »Frau Herrmann hat recht«, erklärte Alexander Kühnert. »Gefalle ich dir nicht?« fragte Marion ganz erschrocken. »Du gefällst mir immer, Liebling, aber ich will nicht, daß du dich er kältest. Schon gestern habe ich den ganzen Tag Angst um dich gehabt.« »Na schön.« Marions Miene glich der eines enttäuschten Kindes. »Dann zieh ich mir eben meinen Regenmantel über.« »Ich weiß was Besseres.« Alexander Kühnert bückte sich, ließ das Schloß seines Koffers aufschnappen, griff hinein und holte einen hell grauen, winzig klein gelockten Persianer heraus. Marion stand sprachlos da und machte keine Bewegung, den Man tel entgegenzunehmen. »Es sollte eigentlich meine Weihnachtsüberraschung sein!« Er häng te ihr den Pelz um die Schultern. Jetzt kam Leben in Marion. Sie blickte Alexander Kühnert an und dann Ursula Herrmann, die fahl unter ihrem Make-up geworden war, warf sich so stürmisch in die Arme ihres Mannes, daß der Pelz fast von ihren Schultern gerutscht wäre. »Ein Pelzmantel!« jubelte sie. »Ein richtiger Pelzmantel! Oh, ich dan ke dir! Du bist einfach fabelhaft!« Sie stürzte zum Garderobenspiegel, versuchte, in die Ärmel zu schlüpfen, was ihr in ihrer Aufregung erst gelang, als er ihr half. »Und wie er mir paßt!« rief sie. »Er ist wunderbar, ganz wunderbar!« Sich vor dem Spiegel drehend fügte sie hinzu: »Hoffentlich ist es auf den Baha mas nicht gar zu warm.« 84
»Es werden schon kalte Nächte kommen!« Er freute sich über ihre Begeisterung. Als sie sich umdrehte, um sich Ursula Herrmann zu präsentieren, war die Sekretärin verschwunden. »Frau Herrmann hat dem Fahrer Anweisung gegeben, die Koffer ins Auto zu bringen«, erklärte er ihr, »komm jetzt, es ist höchste Zeit.« Auf der kurzen Fahrt zum Flughafen München-Riem kuschelte sich Marion zum ersten Mal zärtlich und vertrauensvoll an ihren Mann; sie tat es, weil ihr Herz vor Dankbarkeit überquoll, aber auch deshalb, weil Ursula Herrmann vorne neben dem Chauffeur saß und sie ihr zei gen wollte, wie glücklich sie war. Obwohl Alexander Kühnert sie durchschaute, machte ihre so teuer erkaufte Zärtlichkeit ihn doch glücklich.
Es war Marions erster Flug, und sie trat ihn etwas ängstlich, aber auch voller Abenteuerlust an und fand es höchst aufregend, daß sie sich von einer Sicherheitsbeamtin nach Waffen untersuchen lassen mußte. Beim Start hatte sie ein seltsames Gefühl in der Magengrube, aber als sie eine Stunde später in Frankfurt landeten, ohne daß ihr übel wurde, hatte sie ihre Angst überwunden. Von Frankfurt aus starteten sie mit der LH 480 pünktlich um 13 Uhr 35. Er hatte einige Taschenbücher mit, aber sie ließ sich dennoch von der Stewardeß mit Illustrierten versorgen. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?« fragte die Stewardeß lä chelnd. »Eine Flasche Champagner, bitte«, sagte Alexander Kühnert, »so bald wir oben sind.« »Aber gerne.« »Du trinkst Champagner im Flugzeug?« »Wir beide trinken Champagner im Flugzeug«, verbesserte er sie lächelnd, »und sag jetzt bloß nicht, daß du lieber eine Cola willst … nicht auf unserer Hochzeitsreise.« 85
»Ist das denn nicht schrecklich teuer?« »Nein. Auf internationalen Flügen sind Getränke immer billiger, weil der Zoll wegfällt. Und diesmal kostet es uns überhaupt nichts, weil wir erster Klasse fliegen.« Marion war beeindruckt. Sie hatte sich schon gewundert, daß der Raum so klein war und nicht sehr belegt, aber da sie noch nie geflogen war, hatte sie geglaubt, es müßte so sein. »Fliegst du immer erster Klasse?« »Auf kurzen Strecken lohnt es sich nicht. Aber wenn man weit fliegt, ist es schon sehr viel bequemer, du wirst sehen.« Die Maschine raste über die Rollbahn, blieb stehen, der Lärm der Motoren erreichte einen Höhepunkt, das Flugzeug rollte wieder los und erhob sich in die Lüfte. Unwillkürlich hatte Marion die Hand ihres Mannes gesucht, und er hielt sie zärtlich fest. Dann schwebten sie oben, weit über den Wolken, die nicht mehr grau, sondern weiß waren unter einem blauen Him mel. »Herrlich!« rief Marion. »So was Schönes habe ich noch nie erlebt!« Lange Zeit sah sie wie gebannt aus dem Fenster, bis sie sich ihm zu wandte. »Wann kommen wir in Nassau an?« »Achtzehn Uhr zehn Ortszeit.« »Dann fliegen wir ja weniger als fünf Stunden! Ich hab' es mir bis zu den Bahamas viel, viel weiter vorgestellt.« »Ist es auch, Liebling. Die Uhren dort gehen anders. Zwischen Mün chen und Nassau ist ein Zeitunterschied von sechs Stunden, um es ge nau zu sagen. Wenn wir dort landen, ist es hier Mitternacht.« »Ach so ist das.« Sie lächelte zu ihm auf. »Was du alles weißt.« Er streichelte ihre Hand. »Was du noch alles lernen mußt, solltest du sagen.« Sie verstand ihn richtig. »Muß ich das?« fragte sie erschrocken. »Ich hoffe, daß du es möchtest. Oder willst du etwa immer ein klei ner Dummkopf bleiben?« »Nnnnein.« Es kam zögernd. Die Stewardeß brachte den Champagner, öffnete die Flasche und 86
goss ein. Alexander Kühnert und seine junge Frau stießen miteinan der an. »Du bist so lieb zu mir«, sagte sie und war böse auf sich, weil sie nicht glücklich sein konnte.
Als sie im Hotel eintrafen, dem Hotel Nassau Beach bei Nassau, schien die Sonne strahlend von einem unwahrscheinlich blauen Himmel. Aber Marion, die wußte, daß es in München mittlerweile ein Uhr nachts ge worden war, fühlte sich todmüde und wollte auch nichts mehr essen. So ließ Alexander Kühnert sie, nachdem er dem Boy, der die Koffer brachte, ein Trinkgeld gegeben hatte, allein. Sie war dankbar dafür. Das Zimmer war nicht so elegant, wie sie es sich vorgestellt hatte, aber groß und zweckmäßig eingerichtet. In der Mitte stand ein breites Doppelbett, das Marion gar nicht anzusehen wagte. Da sie noch kei nen Paß auf ihren neuen Namen besaß, hatte Alexander Kühnert beim Empfang ihren Trauschein vorzeigen müssen, und so wußten alle im Hotel, daß sie jung verheiratet waren. Wahrscheinlich hatten sie es so gar schon vorher gewußt, denn auf dem Tisch stand ein Strauß schö ner Rosen mit ›the best wishes‹ von der Direktion. Vom Fenster aus konnte sie den riesigen Swimming-pool sehen, an dem sich noch fröhliche, braun gebrannte Menschen tummelten und dahinter erstreckte sich, weit bis zum Horizont, der blaue Ozean. Marion bereute es plötzlich, nicht doch noch hinuntergegangen zu sein. Dann fiel ihr ein, daß Alexander Kühnert jeden Augenblick zu rückkommen konnte, und hastig zog sie sich aus. Nach der langen Rei se hatte sie den Wunsch nach einem Bad, aber sie wagte erst Wasser einzulassen, als sie festgestellt hatte, daß die Tür abschließbar war. Da nach zog sie eines ihrer neuen Nachthemden an, blau und türkis ge mustert, mit Spitzen verziert, und schlüpfte ins Bett. Am liebsten hät te sie auch die Tür zum Gang verschlossen, aber rechtzeitig fiel ihr ein, daß Alexander Kühnert sie dann hätte wecken müssen, um hereinzu kommen. 87
So müde sie gewesen war, jetzt konnte sie nicht einschlafen. Zu viel war geschehen, und zu viel lag vor ihr. Sie stand noch einmal auf und zog die Vorhänge zu. Aber auch als es dämmrig im Zimmer war, wur de sie nicht ruhiger. Sie rollte sich auf die äußerste Kante des Doppel bettes. Endlich, es mochte wohl eine Stunde vergangen sein, kam Alexan der Kühnert zurück. Marion schloß die Augen und bemühte sich, tief und gleichmäßig zu atmen. Aber es entging ihr kein Geräusch, und sie wurde innerlich, während er sich leise bewegte, Wasser laufen ließ, sich auszog, starr vor Angst. Ohne sie anzusprechen, legte er sich in das große Bett. Jetzt, dachte sie, jetzt wird er seine Hand nach mir ausstrecken! Aber nichts dergleichen geschah. Sie hörte das Rascheln von Papier und schloß daraus, daß er noch las. Wenig später löschte er das Licht. Minutenlang klopfte Marion das Herz bis zum Hals, dann begriff sie, daß er eingeschlafen war. Auch in den nächsten Tagen und Nächten geschah nichts zwischen ihnen. Sie schwammen im Pool und im Meer, lagen auf dem weißen Sand in der Sonne oder segelten. Er weihte sie in die Anfänge von Ten nis und Golf ein. Wasserski zu lernen, lehnte sie ab; sie hatte Angst da vor. Aber sie wunderte sich, daß er – in seinem Alter – noch so sicher auf den Brettern stand. Bei jeder Gelegenheit suchte er ihre Berührung, ging Hand in Hand mit ihr, alberte im Wasser mit ihr herum, zog sie beim Tanz eng an sich und küßte sie oft mit zärtlicher Leidenschaft, aber daran, sie wirk lich zur Frau zu machen, schien er nicht zu denken. Zuerst hatte sie dem Frieden nicht getraut, dann war sie erleichtert über seine Zurückhaltung gewesen, allmählich aber war sie beunru higt. War er etwa impotent? Oder andersrum? Beides hätte ihr nichts ausgemacht, wenn sie es nur sicher gewußt hätte. Aber sie wagte nicht, ihn danach zu fragen. Was aber, wenn nur sie ihn nicht reizen konnte? Wenn sie ihm zu dünn, zu kindlich, zu unerotisch war? Vielleicht fehlte ihr etwas, das eine Frau haben mußte, von dem sie nur nichts wußte. Stefan hatte sie 88
auch abgelehnt, ja, eigentlich hatte noch nie ein Mann wirklich auf sie gestanden. Es fiel ihr eine Geschichte ein, über die sich ihre ehemalige Chefin und die beiden Verkäuferinnen im Modesalon zungenfertig unterhal ten hatten. Die Ehe einer Kundin war für ungültig erklärt worden, weil sie nicht wirklich vollzogen worden war. Marion hatte damals wohl verstanden, was das bedeutete, und sie hatte sich abgewandt, weil sie rot geworden war und sich nicht dem Gespött der anderen Frauen hat te aussetzen wollen. Jetzt hätte sie etwas darum gegeben, wenn sie bes ser hingehört hätte. Die geheime Angst begann in ihr zu bohren, daß ihr das gleiche pas sieren könnte. Es stimmte ja, trotz Standesamt und Kirche waren sie noch nicht richtig verheiratet. Sie war für Alexander Kühnert nicht mehr als ein Spielzeug. Er konnte sie einfach dahin zurückschicken, woher sie gekommen war. Konnte er das wirklich? Sie sollte es nicht darauf ankommen lassen. So nahm sie eines Abends allen Mut zusammen, trat, schon im Nachthemd, an sein Bett und fragte scheu: »Kann ich ein bißchen zu dir kommen?« Er verstand sie sofort. »Möchtest du es denn wirklich?« Sie nickte, blutrot geworden. Sanft zog er sie in die Arme, löschte das Licht, streichelte und küßte sie, bis sie, zu ihrer eigenen Überraschung, in Erregung geriet. Er nahm sie sehr behutsam, und es schmerzte nur wenig. Nachher kuschelte sie ihren Kopf an seine Brust. »Glücklich?« fragte er. »Sehr!« sagte sie und fügte ehrlich hinzu: »Es war halb so schlimm, wie ich gedacht hatte.« In seinem Lachen lag Bitterkeit. »Das ist das tollste Kompliment, was mir eine Frau je gemacht hat.« Sie erschrak. »Habe ich etwas Falsches gesagt? Das tut mir leid. Ich wollte nur sagen …« Er strich ihr über das glatte blonde Haar. »Lass nur, ich habe dich sehr gut verstanden.« 89
Nach dieser Nacht war Marion erst wirklich entspannt. Da sie er kannt hatte, daß die körperliche Seite der Liebe mit Alexander Küh nert nichts Abstoßendes an sich hatte, konnte sie sich der schönen Zeit jetzt endlich von ganzem Herzen freuen. Sie plauderte unbefangen und lauschte allem, was er ihr zu sagen hatte, mit wirklichem Interesse. Manchmal glaubte er, daß sie zu ihm gefunden hätte. Dann wieder mußte er einsehen, daß es ein Irrtum war. Die Bekanntschaft der anderen Gäste suchten sie nicht, und nie sah er, daß sie einem der Jungen oder Männer auch nur einen Blick ge schenkt hätte. Aber sie tanzte leidenschaftlich zu den Klängen einer schwarzen Band, die ausschließlich Soul spielte. Sie war dann nur drei Schritte von ihm entfernt, und dennoch spürte er, daß sie durch Welten von einander entfernt waren. Sie gab sich ganz dem Rhythmus hin, wirkte wie in Trance – so, dachte er, können nur Hexen tanzen. Es tat ihm fast körperlich weh, ihr zuzusehen, und er begriff, daß sie etwas ersehnte, das er ihr bei aller Liebe nicht geben konnte. »Du darfst nie glauben, daß ich ein Besitzrecht auf dich beanspru che«, sagte er zu ihr, als sie einmal nach einem solchen Abend nach oben fuhren; sie waren allein im Lift. »Wenn du mich eines Tages ver lassen willst, werde ich dich nicht halten.« Statt sie zu beruhigen, wie er gewollt hatte, machte diese Bemerkung sie unsicher. »Aber wir sind doch verheiratet«, entgegnete sie. »Bis daß der Tod uns scheidet?« »Ja.« Er legte ihr die Hand unter das Kinn. »Liebling, jetzt sei einmal auf richtig. Hast du das ganz, ganz ehrlich gemeint, als du es in der Kirche versprochen hast?« Darauf wußte sie nichts zu sagen. »Da haben wir es«, sagte er lächelnd, »es war dir nur darum zu tun, in Weiß zu heiraten, und deshalb kann dein Schwur gar nicht bin dend sein.« Als sie etwas einwenden wollte, legte er ihr den Finger auf 90
die Lippen. »Und außerdem … falls du dich in einen anderen verlie ben solltest, ist es mir immer noch sehr viel lieber, du verläßt mich und bringst mich nicht gleich um.« »Ich werde nie einen anderen lieben«, behauptete sie. In dieser Nacht war sie so leidenschaftlich wie nie.
Als sie Anfang Januar nach München zurückkehrten, war der Himmel grau. Marion fröstelte in ihrem schönen Persianermantel. Der Alltag, den sie jetzt bewältigen lernen mußte, stand wie eine Mauer vor ihr. Zu ihrer eigenen Überraschung freute sie sich gar nicht auf ihr schönes Zimmer mit der Stereoanlage, wie sie es sich vorgestellt hatte. Bei dem Gedanken, daß sie nun nicht mehr von früh bis spät mit ihrem Mann zusammen sein konnte, empfand sie eine grenzenlose Leere, wie sie sie früher nie gekannt hatte. Auch er hatte sich Gedanken darüber gemacht, wie seine junge Frau die Tage verbringen sollte. Er hielt es für nützlich, wenn sie etwas lern te, und sie war damit einverstanden, wie sie sich jetzt in allem seiner Führung überließ. Sobald sie sich an den Klimawechsel gewöhnt hatte, belegte sie in der Berlitz School einen Kursus für Englisch, dessen Anfänge sie schon auf der Hauptschule gelernt hatte. In Französisch nahm sie Einzelstunden; Alexander Kühnert war der Meinung, daß es genügte, wenn sie die richtige Aussprache und die Bedeutung der französischen Fremdwör ter lernte. Er selber engagierte ihr, da er an ihre Musikalität glaubte, ei nen Klavierlehrer, der zweimal in der Woche ins Haus kam und der sie ermunterte, mindestens eine Stunde jeden Tag zu üben. Außerdem nahm sie Tennisunterricht, um später einmal ihrem Mann eine richti ge Partnerin sein zu können, denn es war ihr wohl bewußt, daß es ihm keine Freude machen konnte, mit einer Anfängerin zu spielen. So hatte sie viel zu tun und wenig Zeit zu träumen oder sich gar zu langweilen. Dennoch fühlte sie sich unausgefüllt. Sie hatte sich ihre Ehe nicht so vorgestellt, daß sie auf einmal wieder Schülerin sein soll 91
te. Sie hatte nie gern gelernt, und jetzt tat sie es nur ihrem Mann zulie be, weil er sie immer wieder ermutigte, sie lobte und ihr klarmachte, wie wichtig die Kenntnisse, die sie sich erwarb, für ihre gesellschaftli che Stellung waren. Als er ihr im April vorschlug, ihre erste kleine Einladung zu geben, war sie überglücklich. Nur an vier Gäste war gedacht, Hansi und Ire ne Beermann, dazu ein jüngeres Paar, die Krusenbergs. Er wollte nicht, daß sie sich für den Anfang zuviel zumutete. Es sollte ein festliches Abendessen werden mit Vorspeise, Suppe, Wildbraten und einem sü ßen Nachtisch. Mit Feuereifer machte Marion sich daran, eine Speisenfolge aufzu stellen, die Alexander Kühnerts Zustimmung fand und die sie stolz Frau Marie übergab. Eigenhändig deckte sie, als der große Tag gekommen war, mit großer Sorgfalt den Tisch, schmückte ihn mit Kerzen und kleinen Blumen sträußen, legte mit Freude das schöne Silberbesteck auf. Danach war eine große Unruhe in ihr. Sie ging in die Küche und fragte Frau Marie, ob sie ihr helfen könnte. Die hochbusige Frau mit der schmalen Taille und dem schwarzen, aus der Stirn gekämmten Haar, stand am Herd und nahm sich nicht einmal die Mühe, sich nach ihr umzudrehen. »Ich möchte aber gerne helfen«, beharrte Marion; es sollte befehlend klingen, kam aber nur flehend heraus. »Nein«, sagte die Haushälterin, »ein für allemal. Ich kann keine Topf gucker in meiner Küche brauchen.« Einen Augenblick verschlug es Marion die Sprache. Dann erklärte sie energisch, obwohl sie ein Zittern ihrer Stimme nicht unterdrücken konnte: »Aber dies ist mein Haus und meine Kü che!« Jetzt fuhr die Haushälterin herum, lang aufgestauter Zorn funkel te aus ihren schwarzen Augen. »So!?« fauchte sie. »Sind Sie das? Sind Sie das wirklich? Sie sind hier die Herrin, wie?« Sie riß an den Bändern ihrer weißen, gestärkten Schürze. »Dann machen Sie gefälligst Ihren Kram allein!« 92
Marion war blaß geworden bis in die Lippen. »Was fällt Ihnen ein!?« Frau Marie hatte die Schürze abgenommen und warf sie heftig auf einen Stuhl. »Was mir schon längst hätte einfallen sollen: ich gehe. Ich lass mich doch nicht von einer hergelaufenen Person herumkomman dieren.« »Aber … das ist doch gar nicht wahr!« Marion vertrat ihr den Weg. »Sie können mich doch jetzt nicht im Stich lassen! Wir erwarten Gä ste! Meine ersten Gäste!« »Ihre Gäste! Pah! Wenn es Ihre Gäste sind, dann bekochen Sie sie doch selber!« Mit einer weit ausholenden Bewegung ihres kräftigen Armes schob sie Marion beiseite. »Frau Marie!« schrie Marion. Die Haushälterin drehte sich zu ihr um und starrte ihr drohend in die Augen. »Ist noch was?« Marion wußte: Hätte sie sich jetzt entschuldigt, hätte sie verspro chen, nie wieder einen Blick in die Küche zu tun, Frau Marie wäre ge blieben. Aber sie konnte es nicht. Sie war unfähig, ein Wort hervorzu bringen. Es waren keine vernünftigen Überlegungen, die sie davon ab hielten, sich der Haushälterin zu unterwerfen; es war wie ein Zwang. »Ganz wie Sie wünschen.« Die Haushälterin zog ab. »Kommt daher von ich weiß nicht wo«, murmelt sie, während sie Mantel und Kopf tuch an sich nahm, »angelt sich den Herrn … einen feinen Herrn, wie es keinen zweiten gibt … läßt sich von früh bis spät bedienen und spielt sich als Frau des Hauses auf … Hausfrau, daß ich nicht lache …« Dann hörte Marion die Haustür hinter ihr zuschlagen. Sie war allein. Mutterseelenallein. Die Knie zitterten ihr. Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. An das Verhalten der Haushälterin ver schwendete sie keinen Gedanken. Sie hatte immer schon gewußt, daß die Frau sie hasste und einen unerwünschten Eindringling in ihr sah. Das war ihr egal. Aber was sollte nun aus der Einladung werden? Ihr erster Impuls war, Alexander Kühnert anzurufen. Er hätte bestimmt einen Rat ge wußt; er wußte ja immer alles und meisterte jede Situation. Doch ge 93
rade deshalb konnte sie sich nicht an ihn wenden. Sie wollte sich nicht wie ein Kind behandeln lassen. Dann kam ihr der Einfall, ein Delikatessengeschäft anzurufen. ›Fein kost Käfer‹ war ja nicht weit. Sie konnte ein kaltes Buffet bestellen oder auch, warum denn nicht, genau das Essen, das sie heute abend hatte ge ben wollen. Schon wollte sie aufstehen und zum Telefon laufen, wagte es dann aber doch nicht. Sie konnte eine so teure Bestellung nicht auf geben, ohne sich vorher mit ihrem Mann besprochen zu haben. Wenn es ihm nun nicht recht war? Ein Menü aus einem Delikatessengeschäft war nicht das gleiche wie ein zu Hause gekochtes. Dann hätten sie mit ihren Freunden ja gleich in ein Restaurant gehen können. Nein, es gab nur einen Ausweg: Sie mußte selber kochen. So schwer konnte das ja nicht sein. Sie hatte der Mutter oft genug zugesehen, und einfache Sachen, Röstkartoffeln mit Spiegelei, Rührei, Eierpfannku chen hatte sie auch selber schon gemacht. Vielleicht hatte Frau Marie sogar alles so weit vorbereitet, daß sie es nur noch in den Ofen schie ben brauchte. Marion begann sich in der Küche umzusehen und fand zwei Stücke Fleisch, das eine gespickte mußte wohl der Rehrücken sein, in Schüs seln im Eisschrank. Noch nichts war daran getan. Auch eine Schüssel mit Crevetten stand dort. Noch gab Marion nicht auf. Ein Kochbuch war es, was sie brauch te, ein Kochbuch, in dem alles genau beschrieben war. Aber es gab in der Küche keines. Kunststück, wenn jemand wie Frau Marie seit über zwanzig Jahren kochte, dann hatte sie es im Kopf. Inzwischen war es drei Uhr geworden. Marion hatte keine Ahnung, wie lange ein Braten brauchte, aber sie wußte auch, daß sie keine Zeit mehr verschwenden durfte. Jetzt gab es nur noch einen Menschen, der ihr helfen konnte. Entschlossen ging sie in das Herrenzimmer, wählte die Vorwahl von Rosenheim und die Nummer der Firma ›Klepper‹, bei der ihre Mutter arbeitete. Es gelang ihr, nach einer Weile Frau Anna Lenz an den Ap parat zu bekommen. Marion hatte die Mutter zwar, seit sie verheiratet war, nur ein einzigesmal gesehen, aber das war ihr gar nicht bewußt. 94
»Marion, du?« fragte die Mutter alarmiert. »Um Gottes willen, was ist geschehen?« »Halb so wild, reg dich wieder ab. Unsere Haushälterin, du kennst sie ja, dieses alte Biest, ist abgehaun, und da muß ich selber kochen.« »Ach so«, sagte Frau Lenz erleichtert. »Wir haben nämlich Gäste heute abend.« »Und was soll es geben?« »Also erst einmal ein Crevettencocktail … das sind so Crevetten in einer rosa Soße …« »Ich weiß, was das ist. Die Soße kannst du fertig kaufen, wahrschein lich hat Frau Marie das schon getan. Sieh mal im Kühlschrank nach. Du brauchst die Crevetten also nur hübsch anzurichten.« »Eine Bouillon mit Einlage …« »Wenn du eine gute Brühe haben willst, setz das Fleisch mit den Knochen kalt auf, immer wieder abschäumen, damit sie schön klar wird …« »Und als Einlage?« »Eierstich. Du verquirlst zwei Eier mit zwei Esslöffeln Milch, Salz und Muskat, schüttest, das in einen ausgefetteten Stieltopf, den du ins Wasserbad stellst.« »Danach Rehrücken …« »Rehrücken?« wiederholte Frau Lenz. »Nein, Marion, das kannst du nicht!« »Aber, Mutter, wenn ich doch muß!« »Du mußt gar nichts. Wann wollt ihr denn essen?« »Um acht.« »Bis dahin schaffen wir es leicht. Paß auf, ich nehme den nächsten Zug …« »Du willst also kommen?« Trotz ihrer erzwungenen Zuversicht war Marions Erleichterung riesengroß. »Oh, Mutter, das vergesse ich dir nie. Was kann ich denn bis dahin tun?« »Kartoffeln schälen, nimm zwei Pfund … und eine kleine Zwiebel schneiden. Das andere mache ich selber.« 95
Am Abend klappte alles tadellos. Alexander Kühnert wunderte sich nicht, daß Marion selber das Essen auftrug. Er wußte, daß Frau Ma rie immer nur ungern bediente, und Marions Erklärung, daß sie zu sehr in der Küche beschäftigt sei, genügte ihm und den Gästen voll kommen. Alle lobten das Essen und beneideten Alexander Kühnert um seine Haushälterin, die Herren allerdings mehr noch um seine junge Frau, die sich in ihrem hellblauen Chiffonkleid so anmutig bewegte. Obwohl sie herzhaft aß, wirkte sie wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Die ser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß sie sehr wenig sprach. Sie hatte Angst, sich zu blamieren, aber das wußte nur ihr Mann. Die anderen fanden ihr lächelndes Schweigen geheimnisvoll. Er war sehr stolz auf seine junge Frau, und es wurde ihm bewußt, daß er die Hei rat, die er mit so schweren Bedenken eingegangen war, nicht eine Se kunde zu bereuen gehabt hatte. Der Rehbraten war, wie er sein sollte, innen zart rosa und außen knusprig braun, aber den Höhepunkt des Essens bildete die Zitronen creme, Alexander Kühnerts Lieblingsdessert. »Frau Marie hat sich heute selber übertroffen«, rief er begeistert, »ich muß in die Küche und ihr danken.« Marion legte ihm die Hand auf den Arm. »Später«, bat sie, ihr Blick war flehend. Er wurde stutzig, gab aber nach. »Wenn du meinst, Liebling!« Marion stand als erste auf, wie er sie gelehrt hatte, und sie gingen in das Musikzimmer hinüber. Sie stellte die Kaffeemaschine ein, bot Co gnac, Calvados und Chartreuse aus gewärmten bauchigen Gläsern an und servierte später den Kaffee in Mokkatassen auf silbernem Tablett. In jeder ihrer Bewegungen war eine leichte Unsicherheit zu spüren, die ihre Anmut noch erhöhte. Wer sie ansah, spürte, daß dieser Um gang mit schönen Dingen für sie nicht nur Routine, sondern ein Er lebnis war. Auf dem Flügel lagen ihre Noten. Hansi Beermann merkte es sofort. »Willst du uns nicht etwas vor spielen?« fragte er. 96
»Ich kann ja noch nichts.« »Wir wissen, daß du gerade erst angefangen hast«, ermutigte Irene Beermann sie, »wir stellen bestimmt keine Ansprüche.« Marion blickte fragend auf ihren Mann. Er mochte sie nicht drän gen, aber sie wußte, daß er es gern sah, wenn sie sich präsentierte. »Also gut«, sagte sie mit einem Lächeln, »ein ganz kleines Stück … es sind alles nur ganz kleine Stücke, die ich spiele.« Diese Bemerkung wurde wie ein geistvoller Scherz belacht. Marion spielte das Lied des Meermädchens aus der Oper ›Oberon‹ von Weber, in einer Fassung für Anfänger, versteht sich, und, als alle sie darum baten, noch einen kleinen Walzer. Es war nichts Besonderes an ihrem Spiel, aber ihre Finger glitten so leicht über die Tasten, und sie war mit einem so schulmädchenhaften Ernst bei der Sache, daß Alexander Kühnerts Herz vor Liebe und Rührung schmerzte. »Ich muß Abbitte leisten«, flüsterte Hansi Beermann ihm beim Auf bruch zu, »ich habe diese Ehe zuerst für einen Fehler gehalten, aber jetzt muß ich einsehen, daß du dir ein Zaubermädchen ins Haus ge holt hast.«
»Wie war ich?« frage Marion, als alle Gäste gegangen waren. Alexander Kühnert schaltete die Sicherheitsanlage ein. »Einsame Spitze.« »Du ahnst nicht, was für Lampenfieber ich gehabt habe.« »Man hat es dir nicht angemerkt.« Er zog sie in die Arme und küßte sie. »Aber bei Frau Marie muß ich mich morgen auch noch bedanken.« Marion atmete tief durch. »Sie ist noch nicht gegangen, und es ist auch nicht Frau Marie!« Sie erzählte ihm, was passiert war. »Ich habe sie wirklich nicht beleidigt«, verteidigte sie sich. »Ganz bestimmt nicht!« Er nahm sie bei der Hand. »Ich glaube dir ja.« Zusammen gingen sie in die Küche, wo Frau Anna Lenz gerade da bei war, das Geschirr aus der Spülmaschine zu räumen. Er küßte sie auf beide Wangen. 97
»Ich danke dir, Anna, du warst wunderbar. Ein Jammer, daß du dei ner Tochter nichts von deinen Künsten beigebracht hast.« »Ich wollte es ja! Erinnerst du dich? Aber ihr konntet ja nicht schnell genug heiraten.« Er legte den Arm um ihre Schultern. »Und haben es nicht bereut. Jetzt aber raus aus der Küche. Du trinkst doch sicher noch einen Schluck mit uns nach all der Plackerei.« »Wenn ihr nicht zu müde seid.« »Ich bin Stress gewohnt, und Marion kann sich ausschlafen.« Anna Lenz mochte sich nicht hinsetzen, bevor sie die gebrauchten Gläser und Tassen weggeräumt und die Aschenbecher geleert hatte. Aber Alexander Kühnert verwehrte es ihr. »Das kann Marion tun«, entschied er, »ruh deine Füße aus.« Er schenkte ihr Chartreuse ein. »Es hat mir unheimlichen Spaß gemacht, mal so aus dem Vollen wirtschaften zu können«, gestand sie, »und ich kann natürlich gern ein paar Tage bleiben, bis ihr jemanden gefunden habt.« Er schnupperte an seinem Cognac. »Du verkennst die Situation, Anna«, sagte er ruhig, »Frau Marie wird wiederkommen, und sie wird sich bei Marion entschuldigen. So leicht findet eine Frau ihres Alters keine Stellung, und eine so leichte schon gar nicht.« Er lächelte über sein Wortspiel. »Dazu ohne Zeugnis. Nein, so dumm ist sie nicht, daß sie einfach davonlaufen würde.« Er streckte Marion, die wieder herein gekommen war, die Hand entgegen. »Ich erzähle gerade deiner Mut ter, daß wir uns wegen Frau Marie keine grauen Haare wachsen lassen müssen. Spätestens morgen früh ist sie wieder da.« Ein Schatten fiel über Marions helles Gesicht. »Aber ich will sie gar nicht mehr haben.« »Sie hat vierteljährige Kündigungsfrist, und die wollen wir doch ein halten.« »Noch ein Vierteljahr?« rief Marion entsetzt. »Nein, das halte ich nicht aus.« »Du wirst noch ganz andere Dinge in deinem Leben durchstehn müssen«, meinte ihre Mutter. Alexander Kühnert zog Marion auf seine Knie. »Zieh kein Mäul 98
chen, Liebling. Wir sehen uns mit allem Nachdruck nach jemand an derem um, und sobald wir einen passenden Ersatz gefunden haben, das verspreche ich dir, schicke ich Frau Marie fort. Ich zahle sie aus, und dann sind wir sie los.«
Alexander Kühnert sollte recht behalten. Frau Marie erschien am nächsten Morgen und richtete das Frühstück, als wäre nichts gewesen. Nach einem kurzen Gespräch unter vier Augen kam sie sehr blaß aus seinem Zimmer und entschuldigte sich mit schmalen Lippen bei Ma rion. Dieser Sieg bereitete Marion keine Genugtuung. Sie wußte, daß die Haushälterin sie jetzt, wenn möglich, noch mehr hasste, als früher. Stets atmete sie auf, wenn ihre Feindin abends das Haus verließ. Ihr Mann begriff, wie ungut die Situation für sie war. Er hatte sich sofort mit dem Arbeitsamt in Verbindung gesetzt und Inserate im ›Münchner Merkur‹ und in der ›Süddeutschen Zeitung‹ aufgegeben. Es kamen auch Frauen und Mädchen, um sich vorzustellen, aber was er suchte, war nicht darunter. Marion wäre geneigt gewesen, einen Kom promiss einzugehen, nur um Frau Marie loszuwerden. Doch er woll te nicht nach wenigen Monaten oder gar Wochen wieder auf die Suche gehen und war es gewohnt – und glaubte, es verlangen zu können –, daß der Haushalt wie am Schnürchen lief. Er wußte, daß er mit Frau Marie auf jeden Fall ein Stückchen seiner Bequemlichkeit opfern muß te, aber er machte Marion keinen Vorwurf daraus. Auch im Betrieb mußte er sich nach einer neuen Kraft umsehen, und auch hier war Marion, wenn es auch nicht ausgesprochen wurde, die eigentliche Ursache. Ursula Herrmann hatte gekündigt. Ein jüngeres Mädchen aus einem der Vorzimmer rückte nach, und die Chefsekre tärin arbeitete sie gewissenhaft ein, aber es würde noch eine gute Wei le dauern, bis die Neue so perfekt sein würde wie ihre Vorgängerin – falls sie das je schaffte. Dennoch versuchte Alexander Kühnert nicht, Ursula Herrmann zu 99
rückzuhalten, im Gegenteil, er nahm ihre Kündigung mit Erleichte rung zur Kenntnis. Sie war die einzige, die mit ihm das Schicksal von Marions straffällig gewordenem Bruder kannte. Solange sie bei ihm war, hatte er immer fürchten müssen, daß ihre Eifersucht sie zu einer Indiskretion oder auch zu einer Ungezogenheit Marion gegenüber ver leiten könnte. Ihre Kündigung bewies ihm, daß sie einen Schlussstrich unter ihre Hoffnungen gezogen hatte. Sie war ein realistisch denken des Mädchen, und gerade das hatte er an ihr so sehr geschätzt. Auch noch in anderer Beziehung bereitete Ursula Herrmanns Ab gang ihm Genugtuung. Durch diesen Schritt bewies sie ihm einmal mehr, daß seine Ehe ein Erfolg war. Auch nach seiner Verehelichung war Ursula Herrmann noch geblieben, weil sie mit einer Katastrophe gerechnet hatte. Dann hatte sie da sein und ihn trösten wollen. Jetzt fühlte sie sich beiseite gedrängt. Nie mehr durfte sie in seinem schö nen Haus in Bogenhausen die Gastgeberin spielen. Bald schon ging ihr Chef auch dazu über, bei privaten Zusammenkünften mit wichti gen Geschäftsfreunden nicht mehr sie, sondern seine junge Frau mit zunehmen. Das war mehr, als sie ertragen konnte. Obwohl Alexander Kühnert also gefühlsmäßig über den Wechsel in seinem Büro froh sein konnte, bedeutete er tatsächlich doch einen Stö rungsfaktor. Sein Leben hatte sich überhaupt seit seiner Heirat mit Ma rion entschieden verändert. Früher war er uneingeschränkt für seine Arbeit und seine Aufgaben im Betrieb dagewesen, alles, was er sonst noch tat, hatte nur seiner Entspannung und seiner Unterhaltung ge dient. Jetzt stand Marion im Mittelpunkt all seiner Gedanken. Zu jeder Stunde überlegte er, was sie tat, ob sie lernte, sich langweilte oder amü sierte oder ob er sie gar überforderte. Er mußte sich zurückhalten, sie nicht anzurufen, denn er wollte nicht den Eindruck erwecken, daß er sie überwachte. Dabei gestand er sich nicht ein, daß er nicht nur besorgt um sie, son dern auch eifersüchtig war. Als er sie kennen lernte, war sie eher un scheinbar gewesen. Nur er, niemand sonst, hatte einen Blick für ihren Zauber gehabt. Sie hatte nur ihm gehört. Inzwischen hatte er ihr den 100
Rahmen gegeben, der sie voll zur Geltung brachte. Sie zog die Blicke auf sich, und wenn sie es auch nicht zu beachten schien – oder auch wirklich nicht beachtete, denn immer noch war sie in ihre Träume eingesponnen –, konnte doch jeden Tag ein Mann in ihr Leben treten, der diesen Träumen entsprach. Dann würde er sie nicht halten kön nen, das wußte er. Dennoch ließ er ihr jede Freiheit. Er regte sie sogar dazu an, Fahrstunden zu nehmen, und am 17. Mai, ihrem Geburtstag, überraschte er sie mit einem feuerroten Sportwagen, einem Fiat 850 Spider, einem schicken Auto, nicht zu schnell, denn er hatte Angst um sie. Für Marion bedeutete das eigene Auto etwas Ungeheures. Es war nicht nur die Bewegungsfreiheit, die es ihr gab, nicht nur das herrli che Gefühl der Geschwindigkeit, wenn sie selber am Steuer saß und der Fahrwind an ihrem Haar riß, sondern vor allem die Tatsache, daß sie, Marion Kühnert, geborene Lenz, mit achtzehn Jahren es zu einem Auto gebracht hatte. Ihr Auto veranlaßte sie sogar, ihre Eltern zu besuchen, nicht, weil sie Sehnsucht gehabt hätte oder weil es jetzt für sie einfacher geworden war, nach Rosenheim zu kommen, sondern nur weil sie es ihnen vor führen mußte – ihnen und den Brüdern und der ganzen Straße. Soll ten es doch alle sehen, wie beneidenswert sie es in ihrer Ehe getroffen hatte. Wenn sie am Steuer ihres Autos saß, war sie fast restlos glücklich. Dann spürte sie nicht jene ziehende Sehnsucht, dieses Gefühl von Un zufriedenheit, das sie, als sie noch arm gewesen war, gekannt hatte. Da waren ihre Wünsche noch sehr einfach und greifbar gewesen; ein Zimmer in München, mehr Geld, Besuch in einer tollen Diskothek, Freundinnen, einen netten Freund. Jetzt lebte sie in München, hatte mehr Geld, als sie sich je erträumt hatte, einen Mann, der mit ihr tanzen ging, und sogar ein eigenes Auto. Sie ärgerte sich über sich selber, weil sie das alles zwar genoß, aber auf eine merkwürdige Weise, als stünde sie neben sich und würde sich zu sehen und dabei denken: Sie hat doch wirklich allen Grund, glücklich zu sein. 101
Aber sie war es nicht. Wenn Alexander Kühnen nicht bei ihr war, fühlte sie sich einsam, und oft auch in seiner Gegenwart, wenn sie sei nen Gedanken nicht folgen konnte. Er hatte schon so viel erlebt, als sie noch gar nicht auf der Welt gewesen war. Einmal rechnete sie aus, daß sie erst vier Jahre alt gewesen war, als er das erstemal geheiratet hatte, und sie erschrak bei der Vorstellung. Auch seine Bekannten blieben ihr fremd. Die meisten waren zwar freundlich zu ihr, aber alle waren sie älter, und die meisten verheiratet. Einmal forderte Irene Beermann sie auf, an einem Bridgenachmittag teilzunehmen. Aber Marion lehnte ab. Sie wäre sich dabei wie in einer Runde alter Tanten vorgekommen. Im Tennisclub gab es einige Mädchen in ihrem Alter, und sie wa ren nett zu ihr. Hin und wieder ergab sich eine kleine Plauderei, und manchmal erbarmte sich eine, mit ihr, der Anfängerin, zu spielen. Aber zwischen ihr und diesen Mädchen stand wie eine Schranke die Tatsache, daß sie schon verheiratet war. Vielleicht wäre sie zu über springen gewesen, wenn Marion sich aktiver um Freundschaft bemüht hätte, denn unerfahren und unberührt waren die meisten dieser Mäd chen gewiß nicht mehr. Aber aktiv war Marion nun einmal in keiner Beziehung. Sie ließ alles an sich herankommen, war nicht bereit, et was zu geben, und ihre Ausstrahlung wirkte nur auf das andere Ge schlecht. Marion war sich dessen nicht bewußt. Da ihre eigene Sexualität auch in der Ehe noch nicht richtig geweckt war, hielt sie selber sich auch nicht für sexuell anziehend. Wenn ein junger Mann mit einem Scherz ihre Aufmerksamkeit zu erregen suchte, glaubte sie, er wolle sie ver spotten. Die begehrlichen Blicke deutete sie, wenn sie ihr überhaupt bewußt wurden, als neugierig oder kritisch. Eines Vormittags erfrischte sie sich nach ihrer Trainerstunde an der Bar des Tennisclubs mit einer Cola, als ein junger Mann, ebenfalls noch im weißen Dress, einen maisgelben Pullover mit vorne verknote ten Ärmeln über die Schulter geschlungen, sich auf den Hocker neben sie schwang. Er bestellte sich einen frisch ausgepressten Orangensaft und blickte sie mit offenem Interesse an. Das war ihr unangenehm, 102
und sie wäre am liebsten gleich gegangen, aber sie hatte ihre Cola ge rade erst bekommen und wollte sie weder hinunterstürzen, noch ste hen lassen. Der junge Mann begann ungeniert eine Unterhaltung. »Hören Sie, ich habe Sie doch schon mal gesehen …?« »Das ist gut möglich«, erwiderte Marion und kam sich sehr damen haft dabei vor, »ich komme fast jeden Tag in den Club.« »Ach so. Ich bin noch neu hier, müssen Sie wissen. Dietmar Engel. Ich studiere Volkswirtschaft.« Er reichte ihr die Hand. Aber sie schlug nicht ein, sondern tat, als sähe sie es nicht, und saug te eifrig an ihrem Strohhalm. »Jetzt fällt's mir wieder ein«, führ er unbekümmert fort, »gestern abend war's, da habe ich Sie spielen sehen … mit Ihrem Vater! Donner wetter, der alte Herr hat aber noch einen Aufschlag!« Marion wandte ihm ihr heftig errötetes Gesicht zu und erklärte mit blitzenden Augen: »Sie sprechen von meinem Mann!« »Au weia!« Dietmar Engel schlug sich die Hand vor den Mund, wirkte aber durchaus nicht ernsthaft bestürzt. »Da bin ich mal wieder schön ins Fettnäpfchen getreten! Das kommt bloß daher, daß ich dau ernd drauflosquatsche. Eine verheiratete Frau also … wer hätte das ge dacht. Und wissen Sie, das Schönste: Vorhin hätte ich Sie beinahe mit du angesprochen. Ich habe Sie doch glatt für eine Gymnasiastin gehal ten oder für eine Studentin.« Wortlos rutschte Marion von ihrem Hocker und wollte fort. Er hielt sie fest. »Nein, nein, so kommen Sie mir nicht davon. Ich müßte ja sonst glauben, daß Sie mir böse wären, und das könnte ich nicht ertragen.« »Ich bin Ihnen nicht böse.« »Beweisen Sie es mir, indem Sie noch eine Cola trinken. Nein, nicht an der Bar, setzen wir uns da hinten an den Fenstertisch, da ist es be quemer.« Sein Glas in der Hand dirigierte er sie dahin, wo er sie ha ben wollte. Das war der Anfang. Danach trafen sie sich öfter, erst zufällig, aber Marion ertappte sich dabei, daß sie immer, wenn sie das Clubgebäu 103
de betrat, zuerst nach ihm Ausschau hielt und enttäuscht war, wenn er nicht da war. Später wurden Verabredungen daraus. Dietmar Engel war ein gut aussehender, fröhlicher, junger Mann. Mit seinen braunen Haaren und den dunklen Augen erinnerte er sie an Stefan, wenn er dem Wesen nach auch ganz anders war, sehr viel unkomplizierter, sicherer und sportlicher, dabei auch einen guten Kopf größer als ihr Jugendschwarm und sehr viel breiter in den Schultern. Sie war gern mit ihm zusammen, wie gern, das gestand sie sich nicht ein. Sie wollte ihre Beziehungen für ganz harmlos halten und machte ihn sogar mit Alexander Kühnert bekannt, der sein Unbehagen und seine Beunruhigung vor ihr zu verbergen wußte. An einem Tag im Juni küßte Dietmar Engel sie, an einem sonnigen Morgen auf einer Bank mitten im Englischen Garten. Es geschah so unvermittelt, daß sie gar nicht daran dachte, sich zu wehren, auch keine Angst empfand, weil ihr hier in aller Öffentlichkeit doch nichts geschehen konnte. Als sie seine Lippen auf den ihren, sei ne zärtlich forschende leidenschaftlich fordernde Zunge spürte, über wältigte sie ein Aufruhr der Gefühle, eine schwindelnde Glückselig keit, wie sie sie nie auch nur erahnt hatte. »Na endlich«, sagte er, als er sie freigab, »so konnte es mit uns ja auch nicht weitergehn.« Marion, atemlos und aufgewühlt, konnte nur seinen Namen sagen, sonst nichts. »Dietmar«, stammelte sie, »oh, Dietmar!« Dietmar Engel küßte sie noch einmal, und jetzt schlang sie hinge bungsvoll ihre Arme um seinen Hals. Sie war so hingerissen, daß ihr gar nicht bewußt wurde, wie leicht sie im hellen Sonnenschein mitten im Englischen Garten von einem der Spaziergänger hätte erkannt wer den können. Er war es, der sie in die Wirklichkeit zurückführte. »Wir müssen vorsichtig sein«, mahnte er, nahm ihre Hände von seinen Schultern und rückte sogar ein Stück von ihr ab. »Vorsichtig?« wiederholte sie, und ihre blauen klaren Augen blickten ihn ganz verständnislos an; es gelang ihr nicht so schnell, sich aus der Verzauberung zu lösen. 104
»Ich will dich auf keinen Fall kompromittieren.« Sie hatte dieses Wort noch nie gehört. »Ich verstehe dich nicht …« »Oder würdest du deinen Mann meinetwegen verlassen?« fragte er, nun seinerseits überwältigt. »Würdest du das wirklich für mich tun?« Sein junges Gesicht war ernst geworden. »Ich … ich weiß nicht …« »Aber du liebst ihn doch gar nicht. Du kannst ihn nicht lieben.« »Er ist so gut zu mir.« »Na wenn schon. Wer könnte denn anders als gut zu dir sein! Lass ihn sausen, Marion.« Er nahm ihre beiden Hände und blickte sie be schwörend an. »Er ist doch ein alter Knacker. Was verlierst du schon mit ihm?« Gerade diese Frage machte ihr klar, daß sie sehr viel verlor, wenn sie sich von Alexander Kühnert trennte, aber das mochte sie vor Dietmar Engel nicht zugeben. »Ich kann ihm das nicht antun«, behauptete sie statt dessen. »Ach was, er kommt schon drüber weg. Steig aus, Marion. Ich schwö re dir, du wirst es nicht bereuen. Sobald ich mit dem Studium fertig bin, heiraten wir.« »Und bis dahin?« Er lachte. »Du kannst Fragen stellen. Sind wir ein Liebespaar, wie es so viele in München gibt. Wenn du erst frei bist …« »Du stellst dir das alles so einfach vor.« Sie entriss ihm ihre Hände. »Ich hätte nicht mal genug zu leben.« »Du wirst eben arbeiten … wie alle andern das tun.« »Was kann ich denn schon? Meine Ausbildung als Verkäuferin habe ich abgebrochen …« »Bist du denn wirklich so weltfremd, Marion?« rief er. »In Schwabing gibt es Boutiquen wie Sand am Meer. Du, mit deiner Figur und über haupt … du kannst jederzeit mit Kusshand eine Stellung kriegen.« Nichts hätte ernüchternder auf Marion wirken können als die Vor stellung, wieder den ganzen Tag in einem Laden stehen, bedienen und, noch schlimmer, aufräumen zu müssen. »Nein, Dietmar«, erklärte sie energisch, »das ist nichts für mich.« 105
»Na schön.« Er verschränkte die Arme über der Brust. »Dann erzähl du mir mal, wie es mit uns weitergehen soll.« »Eben … wie bisher.« »Du meinst, du kannst mich auf Abstand halten? Ein kleiner Flirt und hie und da ein heimliches Küsschen! Ist es das, was du dir vor stellst?« »Ich weiß es nicht, Dietmar, ich weiß es doch wirklich nicht! Warum quälst du mich denn so?« »Weil ich dich liebe und Klarheit haben will!« Sie blickte in sein braungebranntes, frisches Gesicht, in dem sie noch nie einen so gespannten Ausdruck gesehen hatte, und ihr Herz schlug höher. »Lass mir Zeit«, flehte sie, »bitte, lass mir Zeit.« »Ich finde, daß wir schon viel zuviel Zeit vertan haben.« »Bitte!« Sie sprang auf. »Ich kann mich nicht von einer Sekunde zur anderen entscheiden.« Er stand auf, um sie zu begleiten. »Nein, bitte«, wehrte sie ab, »lass mich allein gehen. Ich muß nach denken. Ich …« Sie brachte kein Wort mehr heraus und rannte fort. Unwillkürlich machte er ein paar Schritte hinter ihr her, zwang sich dann aber, stehenzubleiben. Wie sie da mit dem kurzen weißen Ten nisröckchen, den schlanken, gebräunten Beinen, dem fliegenden blon den Haar durch den Park lief, wirkte sie wie ein ganz junges Ding, wie ein Schulmädchen, und doch hatte sie ihn so bezaubert wie nie eine Frau zuvor, so sehr, daß er im Begriff stand, sich ihretwegen zum Nar ren zu machen. Dietmar Engel ließ seinen Schläger durch die Luft sausen, als ginge er auf einen unsichtbaren Gegner los. Dann ging er mit langen Schrit ten in die entgegengesetzte Richtung davon. Marion hatte ihren Fiat an der Keferstraße geparkt. Bevor sie ein stieg, öffnete sie gewohnheitsmäßig – tatsächlich war sie so durchein ander, daß sie gar nicht wußte, was sie tat – das Verdeck und befestig te es. Dann erst setzte sie sich hinter das Steuer. Aber ihre Hände zit terten, und es gelang ihr nicht sofort, den Schlüssel in das Zündschloss zu stecken. 106
»Lass mich mal«, sagte eine männliche Stimme sehr nahe über ihr. Sie blickte hoch und sah in das zynisch grinsende Gesicht ihres Bru ders Kaspar. Sie kannte ihn kaum. Als sie auf die Welt kam, war er schon in Fürsorgeerziehung gewesen und auch später nur noch spo radisch zu Hause aufgetaucht. Aber sie erkannte ihn sofort, sie hät te nicht zu sagen gewußt wieso, vielleicht an einer gewissen Familien ähnlichkeit; sie wußte einfach, daß nur er es sein konnte. Aber in ih rem Zustand vermochte nicht einmal das plötzliche Auftauchen ihres kriminellen Bruders sie zu erschrecken. »Du Kaspar?« fragte sie, und ihre Stimme klang nur leicht erstaunt. »Ich dachte …« »Sprich's nur aus, Schwesterchen. Du dachtest, ich säße im Hafen. Aber ist nicht mehr. Wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Rutsch durch.« Sie gehorchte, er nahm ihr den Schlüssel aus der Hand, setzte sich und ließ den Motor an. Jetzt erst begann ihr Erlebnis mit Dietmar Engel in den Hintergrund zu treten, und sie wurde sich dessen, was mit ihr geschah, bewußt. »Wohin fährst du?« »Nach Hause.« »Aber ich wohne nicht mehr in Rosenheim …« Sein Lachen klang nicht fröhlich. »Weiß ich längst. Du hast eine gute Partie gemacht, wie? Kannst stolz auf dich sein. Nimmst deinen Mann aus wie eine Weihnachtsgans. Nein, nein, halt's Maul. Ich mache dir ja keinen Vorwurf. Jeder so gut wie er kann, und wenn man eine wie dich heiratet, dann darf man sich nachher nicht beklagen.« Marions Unbehagen wuchs, aber sie versuchte, es sich nicht anmer ken zu lassen. »Was soll das?« fragte sie. »Fahr rechts ran und lass mich ans Steuer. Ich kann jetzt wieder.« »Das war' mir viel zu riskant.« »Ach Quatsch!« Sie versuchte, ihm ins Steuer zu greifen. Brutal stieß er ihr den Ellbogen in die Seite. »Versuch' das nicht noch einmal!« Sie preßte die Lippen zusammen, weil sie ihn nicht merken lassen 107
wollte, wie weh er ihr getan hatte, brauchte aber eine ganze Weile, bis sie wieder mit klarer Stimme sprechen konnte. Sie hatten den Englischen Garten durchquert und fuhren jetzt über die John F. Kennedy-Brücke auf den Ring. »Du kannst mich nicht nach Hause bringen«, sagte sie, »das geht ein fach nicht.« »Hast Angst, daß dein Mann was von mir erfahren würde? Brauchst du nicht, Süße. Er ist ja nicht da. Und eure teure Frau Marie hat heu te Ausgang. Ich kenn mich aus, da staunste, wie? Ich bin kein Anfän ger mehr. Wenn ich in ein Ding einsteige, baldowere ich es gründlich vorher aus.« »Was willst du?« »Das erfährst du früh genug.« Als er vor dem schönen Jugendstilhaus hielt, zog sie den Zündschlüs sel heraus und sagte: »Also dann … auf bald mal.« Er hatte wieder dieses bösartige, kalte Grinsen aufgesetzt. »Aber nicht doch, Schwesterchen. Jetzt haben wir uns doch gerade erst wie der gefunden. Du willst mich doch nicht etwa schon loswerden?« »Doch«, stieß sie wütend heraus. »Ist das die wahre Geschwisterliebe?« Er half ihr, das Verdeck zu schließen, und blieb ihr auf den Fersen bis zur Haustür. »Ihr habt 'ne Sicherheitsanlage, wie?« »Das geht dich einen Dreck an!« »Na, na, na! Du willst wohl eine gescheuert kriegen.« Tagsüber war die Anlage nie eingestellt, und so konnte sie ohne wei teres die Tür aufschließen. Dabei arbeiteten ihre Gedanken so schnell wie noch nie in ihrem Leben. Sie hätte Alarm in der Sicherheitsanlage geben können, und wenige Minuten später wäre die Polizei erschienen. Aber was hätte sie ihnen sagen können? Es war kein Verbrechen, wenn ein Strafentlassener seine leibliche Schwester besuchte. Kaspar Lenz schnalzte beim Anblick der holzgetäfelten Diele anerken nend mit der Zunge und öffnete eine der Türen, als ob er hier zu Hau se wäre. Mit wachen Augen durchmaß er die unteren Räume und küm merte sich nicht um Marion, die sich bemühte, ihn zurückzuhalten. 108
»Du darfst hier nichts kaputt machen«, flehte sie, »bitte, nimm nichts mit. Er hängt so an den alten Sachen.« »Als ob ich mich für den Plunder interessieren würde. Was glaubst du, wie schwer das zu verscherbeln ist.« »Was willst du denn?« »Wirst du gleich sehen.« Im Herrenzimmer nahm er ein Ölgemälde von der Wand, fand nichts, fluchte, nahm ein anderes ab und – entdeckte Alexander Küh nerts Safe. Beifällig pfiff er durch die Zähne. »Ein Zahlenschloss«, stell te er fest, »kennst du die Kombination?« »Nein!« Ohne zu merken, was sie tat, rang Marion ihre schmalen Hände. »Ich habe nicht mal gewußt, daß da überhaupt ein Safe ist.« »Scheint nicht sehr viel Vertrauen zu dir zu haben. Na ja, ich kann's ihm nicht verdenken.« Kaspar Lenz hängte das Bild wieder an seinen Platz. »Jetzt will ich erst mal was zu essen haben … aber was Anstän diges, verstehst du!« »Ich kann nicht kochen.« »Nicht mal das? Da scheint dein werter Gatte ja wirklich einen ganz großartigen Griff getan zu haben. Heiratet ein Mädchen, das nichts hat und nichts kann … na ja, seine Sorge. Ein paar Spiegeleier wirst du aber wohl noch fertigbringen.« »Schon.« »Dann gehen wir also mal in die Küche und sehen nach, was du mir bieten kannst.« Der Kühlschrank war gut bestückt. Marion stellte ihrem Bruder Brot, Butter, Wurst und Käse auf den Tisch, eine Flasche Bier dazu, legte Speckscheiben in die eiserne Pfanne, ließ sie glasig werden und schlug drei Spiegeleier darüber. Er aß mit Bedacht, und für Sekunden empfand sie fast Mitleid mit ihm. Sie dachte an die vielen Jahre, die er hinter Mau ern verbracht hatte. Obwohl sie keine Ahnung hatte, wie es im moder nen Strafvollzug vor sich ging, konnte sie sich vorstellen, daß die Mas senverpflegung bestimmt nicht gut oder gar schmackhaft sein konnte. Endlich wischte er den letzten Rest Eigelb und zerlassener Butter mit einem Brotstück auf, zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Ich 109
verlange ja nicht viel von dir. Bloß zwei Dinge. Bring die Nummer von dem Safe raus.« Ihr Mitleid war sofort weg. »Das kann ich nicht.« »Doch, doch«, sagte er ruhig, »du mußt dir nur ein bißchen Mühe geben.« Sie saß ihm gegenüber am Küchentisch. »Und warum sollte ich das tun?« Er grinste. »Eine kleine Gefälligkeit für deinen großen Bruder.« »Du mußt verrückt sein.« »Na, dann drücken wir es anders aus: Du willst doch sicher nicht, daß dein Mann was von mir erfährt? Der weiß doch bestimmt bis heu te nicht, daß es mich überhaupt gibt.« Marion warf den Kopf in den Nacken und reckte ihr Kinn vor. »Ich werd's ihm sagen.« »Was wirst du? Da kann ich ja nur lachen.« »Doch, ich werd's ihm sagen.« Marion hieb mit ihrer kleinen Faust auf den Küchentisch. »Er ist nicht so wie die anderen … er wird's mir nicht ankreiden, weil er weiß, daß ich nichts dafür kann.« »Du traust dich was. Na schön. Lang mir noch 'ne Flasche Bier rü ber.« Kaspar Lenz zündete sich eine neue Zigarette an. Marion holte eine frische Flasche Bier aus dem Eisschrank und knall te sie vor ihn auf den Tisch. »Du kannst mir nicht bange machen.« Er setzte wieder sein fatales Grinsen auf. »Muß schön sein, einen so großzügigen Mann zu haben. Kann er etwa nicht?« »Was meinst du?« Marion errötete bis an die Wurzeln ihres hellen Haares. »Tu nicht so. Du verstehst mich ganz gut. Bist schließlich kein Veil chen.« »Hör mal, ich hab' genug von dir.« Marion blieb beim Tisch stehen. »Trink dein Bier aus und verschwinde. Ich lass' mich nicht von dir er pressen.« »Bravo. Das nenn' ich Haltung. Ich frag mich nur …« Er kratzte sich hinter dem Ohr. »Also, dann stört's dich wohl auch nicht, wenn ich ihm stecke, daß du dir einen jungen Beschäler zugelegt hast.« 110
Marions Gesicht wurde weiß, ihre Knie gaben nach, und sie ließ sich auf den Küchenstuhl sinken. »Das ist nicht wahr«, behauptete sie hilf los. »Jedenfalls hast du dich von ihm abknutschen lassen. Das hab' ich mit eigenen Augen gesehen. Und nicht nur ich. Ziemlich unvernünftig für eine verheiratete Frau. Findest du nicht auch?« Marion schwieg lange und sah ihn aus verstörten Augen an. »Wa rum willst du mein Leben kaputt machen?« fragte sie mit einer Stim me, die ihr kaum noch gehorchte. »Aber, aber! Das will ich doch gar nicht! Wie käme ich denn dazu. Bin doch froh, daß wenigstens einer aus der Familie es zu was gebracht hat. Ich will bloß ein kleines Stück vom großen Kuchen haben, und das ist mein gutes Recht.« »Du willst meinem Mann nehmen, was ihm gehört, und mich zu deiner Komplizin machen.« »Jetzt hör mich mal an, Marion.« Kaspar Lenz wechselte den Ton. »Versuch die Dinge mal so zu sehen, wie sie wirklich sind. Dein Mann hat Geld wie Heu. Er hat alles, und ich habe nichts. Der spürt es ja gar nicht, wenn ich ihn um ein bißchen was erleichtere. Wahrscheinlich ist er sogar versichert. Aber ich brauche das Geld. Ich will mich abset zen. Hilf mir dabei. Danach verschwinde ich aus deinem Leben, ich schwör's dir.« Er hatte sehr eindringlich gesprochen, und Marion begriff, daß er vor nichts zurückschrecken würde, um an sein Ziel zu kommen. Sie wußte weder ein noch aus. »Aber wie könnte ich das denn?« »Das will ich dir erklären …«
Marion fühlte sich wie in einem schlimmen Traum. Als ihr Bruder endlich gegangen war, räumte sie die Küche auf und versuchte die Spu ren seines Besuches zu entfernen. Aber sie war gar nicht wirklich bei sich. Sie verstand nicht, wie ihr dies geschehen konnte. 111
Nicht einen Augenblick kam ihr der Gedanke, Kaspars Erpressung zum Anlass zu nehmen, Alexander Kühnert die ganze Wahrheit zu gestehen und ihn zu bitten, sie freizugeben. Gerade jetzt, wo ihr sorgloses Leben be droht war, begriff sie, was es ihr bedeutete, nicht mit dem Pfennig rechnen zu müssen, Schmuck zu haben, schöne Kleider, ein eigenes Auto, morgens ausschlafen zu können. Es schien ihr unmöglich, das aufzugeben. Diet mar Engel war zu einem konturlosen Schatten geworden, von dem Glück, das sie bei seinen Küssen empfunden hatte, spürte sie nichts mehr. Sie war bereit, alles zu tun, damit Alexander Kühnert nicht von ih rer Liebelei erfuhr, war fast besinnungslos vor Angst, daß es ihr nicht glücken könnte. Obwohl sie alle Kraft zusammennahm, um sich nichts anmerken zu lassen, entging es Alexander Kühnert nicht, daß sie verstört war. Wie meist, wenn Frau Marie Ausgang hatte, aßen sie an diesem Abend au ßer Haus. Er fragte sie nach ihren Studienfortschritten, erzählte von seinen eigenen Erlebnissen, versuchte sie aufzuheitern, aber sie konnte nicht lachen und blieb geistesabwesend. Er begriff, daß irgend etwas mit ihr geschehen war, und hoffte, daß sie sich ihm freiwillig anvertrauen würde. Aber sie tat es nicht. Es lag ihm nicht, in sie zu dringen, aber er mochte sie auch nicht mit ihrem Kummer allein lassen. Sie brachen schneller auf, als gewöhnlich, und als sie wieder zu Hau se waren, faßte er sie sanft bei den Schultern. »Marion, Liebling, hast du mir nichts zu sagen?« Sie wurde blaß und rot. »Ich … dir? Wie kommst du darauf?« »Weil ich den Eindruck habe, daß dich etwas bedrückt.« »Ich … ach ja … es ist etwas passiert …« »Na also. Komm, trinken wir noch einen Schluck zusammen, und du erzählst mir alles.« Sie gingen in sein Zimmer, er goss ihr einen kleinen Cognac ein, sich selber einen größeren Whisky und machte es sich in einem Lederses sel bequem. Marion blieb stehen. »Ich … heute beim Tennis … ich weiß gar nicht, wie es passieren konnte … ich habe meinen Ring verloren.« 112
Er lachte erleichtert. »Wenn das alles ist!« »Ich finde es gar nicht komisch.« Marions Stimme wurde lebhafter. »Für mich war es ein Riesenschreck, ein richtiger Schock. Ich bin fast ohnmächtig geworden.« »Armes Mädchen.« Sie zeigte ihm ihre Hand. »Zum Glück habe ich ihn wieder gefun den.« Jetzt verstand er gar nichts mehr. »Aber dann ist doch alles in Ord nung.« »Ja, schon. Ich bin heilfroh.« Er streckte die Hand nach ihr aus. »Na also.« Sie ließ sich auf seinen Schoß ziehen. »Aber ich will ihn jetzt nicht mehr beim Tennis tragen.« »Sehr gescheit.« »Ich weiß bloß nicht, wo ich ihn dann lassen soll.« »In deinem Zimmer.« Er streichelte ihren Nacken. »Man kann Frau Marie allerhand nachsagen. Aber stehlen tut sie nicht.« »Vielleicht nicht. Aber wir kriegen doch jetzt bald eine Neue.« Mit Überwindung fügte sie hinzu. »Hast du nicht einen Safe?« »Klar, habe ich. Wenn es dich beruhigt …« Er ließ sie von seinen Knien rutschen, stand auf und nahm das Gemälde über dem Safe von der Wand. »Da, sieh mal. Die Zahlenkombination ist zwo … acht … eins … null … zwo … zwo …« Er hatte den Safe geöffnet. »Kannst du dir das merken?« Plötzlich begann Marion zu weinen. Sie weinte wie ein Kind, mit verzogenem Gesicht, und dicke Tränen liefen ihr über die Wangen. »Aber, Marion, Liebling, was ist denn?« fragte er erschrocken. »Ich weiß es selber nicht«, schluchzte sie. Aber sie wußte es sehr gut. Sie weinte, weil es so leicht gewesen war, und sie weinte aus einer tiefen, brennenden Scham, wie sie sie nicht einmal damals empfunden hatte, als ihre Chefin den gestohlenen Hun derter bei ihr entdeckt hatte. Liebevoll nahm er sie in die Arme, aber es konnte keinen Trost für sie geben. 113
Am nächsten Morgen frühstückte Alexander Kühnert allein. Frau Marie, die, seit ihre Tage in seinem Haus gezählt waren, noch strenger blickte als früher, schenkte ihm Kaffee ein. »Gestern war ein Mann in meiner Küche«, erklärte sie missbilligend. Alexander Kühnert zwinkerte. »War er wenigstens nett?« »Sie werden sich erinnern, daß ich Ausgang hatte. Ich habe ihn nicht gesehen.« »Woher wissen Sie es dann?« »Schmutzspuren auf den Fliesen, im Kühlschrank fehlten mehrere Flaschen Bier, Wurst, Käse … und auch die Pfanne war nicht so sau ber, wie sie bei mir zu sein pflegt.« Er nahm es immer noch von der humorvollen Seite. »Das sind ja tat sächlich sehr überzeugende Indizien.« »Ich will nichts gegen Frau Marion sagen, aber es war ein Mann. Er hat geraucht. Die Küche roch noch danach, und es lagen Stummel im Mülleimer.« Jetzt erst wurde ihm klar, daß ihre versteckte Anschuldigung nicht aus der Luft gegriffen war; doch er ließ es sich nicht anmerken. »Ich bewundere Ihren Scharfsinn, Frau Marie, an Ihnen ist eine Detektivin verloren gegangen«, behauptete er, immer noch in leichtem Ton, »hof fentlich sind Sie nicht zu sehr enttäuscht, daß ich das ganze Geheim nis in zwei Sätzen klären kann. Ein Freund hat mich gestern abend be sucht, und meine Frau und ich haben ihn ohne alle Umstände in der Küche bewirtet.« Frau Marie glaubte ihm nicht, wagte aber auch nicht, ihm zu wider sprechen. Sie war ihren Verdacht losgeworden, und das war ihr die Hauptsache. Alexander Kühnert zwang sich, so ruhig wie zuvor zu essen, aber er war tief beunruhigt. Marion hatte einen Mann mit ins Haus genom men, einen Mann, von dem sie ihm nichts erzählt hatte. Dietmar En gel? Es war nicht zu übersehen, daß der junge Student ihr gefiel. Sie war gestern sehr verstört gewesen – und dann die Sache mit dem Ring, der ihr ganzer Stolz gewesen war und den sie plötzlich nicht mehr tra gen wollte, die Frage nach dem Safe und ihre Tränen. 114
Ohne seine Serviette zusammenzulegen, stand er auf und ging nach oben. Leise trat er in Marions Schlafzimmer. Marion lag auf der Seite, den rechten Arm leicht über den Kopf ge beugt, und ihr glattes blondes Haar, das sie in der letzten Zeit etwas kürzer trug, breitete sich auf dem Kissen aus. Ihr schmales Gesicht wirkte, vollständig abgeschminkt, noch jünger als gewöhnlich. Die langen Wimpern waren hell, und der rosige Mund war im Schlaf leicht geöffnet. Rührung ergriff ihn bei ihrem Anblick; er konnte ihr nicht böse sein. Rasch eilte er noch einmal hinunter, füllte ein Glas mit dem frisch aus gepressten Apfelsinensaft und trug es in ihr Zimmer. »Wach auf, Liebling … es ist schon heller Tag.« Er setzte sich zu ihr auf den Bettrand. Langsam schlug sie die Augen auf, mit einem Blick, der von weit, weit herkam, und erschrak, als sie ihn erkannte; jäh richtete sie sich auf. »Ist was?« »Ich wollte mich nur erkundigen, ob es dir heute morgen besser geht.« »Ja, viel, viel besser«, log sie. Er merkte deutlich, daß mit der Erinnerung zugleich auch die Angst wieder zurückgekommen war. »Trink das!« Er reichte ihr das Glas und stellte es auf den Nachttisch, als sie es mit durstigen Zügen geleert hatte. »Ich glaube, wir beide müs sen etwas miteinander besprechen.« »Jetzt?« »Wir hätten schon viel eher darüber reden sollen. Du hast einen Bru der, der auf die schiefe Bahn gekommen ist …« Ihre blauen Augen wurden dunkel. »Woher weißt du das?« »Spielt keine Rolle. Ich habe es schon vor unserer Hochzeit gewußt. Inzwischen ist er aus der Haftanstalt entlassen worden und hat sich an dich herangemacht.« »Nein!« »Marion«, sagte er beherrscht, »begreifst du denn immer noch nicht, daß du Vertrauen zu mir haben kannst?« 115
Ihre Lippen zitterten, und sie brachte kein Wort heraus. »Er hat dich unter Druck gesetzt und von dir verlangt, daß du die Kombination des Safes herausbringen sollst. Dann brauchst du nur noch an einem bestimmten Abend die Alarmanlage auszustellen …« »Woher weißt du das alles?« »Ich habe zwei und zwei zusammengerechnet. Du dummes, dum mes, kleines Mädchen … warum bist du nicht gleich zu mir gekom men und hast mir alles erzählt?« »Ich hatte Angst … solche Angst …« Sie warf sich in seine Arme und barg ihr Gesicht an seiner Brust. »… Angst dich zu verlieren.« »Niemals!« Er streichelte beruhigend ihren Rücken. »Was auch ge schieht … ich werde dich niemals aufgeben.«
Alexander Kühnert hatte zuerst vorgehabt, Kaspar Lenz bei seinem nächsten Treffen mit Marion, das auf dem ›Monopterus‹, dem klei nen Sonnentempel auf einem Hügel des Englischen Gartens stattfin den sollte, zu überraschen und zur Rede zu stellen. Aber dann ließ er diesen Plan wieder fallen. Um den Monopterus waren immer viele Menschen. Kaspar Lenz konnte bewaffnet sein, er konnte in Panik flie hen und damit eine Bedrohung bleiben, oder sogar auf die Idee verfal len, Marion als Geisel zu nehmen. So überzeugte er Marion davon, daß es das beste wäre, dem Bruder die Kombination zu verraten, ein Bündel Geldscheine hineinzulegen und ihn ins Haus kommen zu lassen, um es sich zu holen. Vielleicht würde er ja sein Versprechen halten und nie mehr auftauchen. Wich tig war nur, daß Marion ihm nicht verriet, daß er, ihr Mann, über al les im Bilde war. In der Nacht, die sie für den Einbruch verabredeten, gab Alexander Kühnert seiner Frau ein starkes Schlafmittel; er wollte nicht, daß sie sich ängstigte. Kaspar Lenz kam eine gute Stunde, nachdem alles im Haus dun kel geworden war. Er öffnete die Haustür fast geräuschlos, durchquer 116
te sehr leise die Diele, öffnete die Tür zum Herrenzimmer und näher te sich zielsicher dem Safe. Das Licht seiner Taschenlampe glitt über das Ölgemälde. In diesem Augenblick ging die Stehlampe an. »Bitte, erschrecken Sie nicht, Schwager«, sagte Alexander Kühnert ruhig, »ich wollte die Gele genheit nutzen, mich mit Ihnen zu unterhalten.« Der Einbrecher fuhr herum; in seiner rechten Hand schimmerte ein Revolver. Alexander Kühnert saß im Licht der Stehlampe, die Beine überein ander geschlagen, die Hände flach auf die lederne Sessellehne gelegt. Kaspar Lenz zielte mit der Mündung seines Revolvers auf seinen Kopf. »Hände hoch!« »Lassen Sie den Unsinn, Schwager«, erklärte Alexander Kühnert be herrscht, »das bringt Ihnen doch nichts ein. Ich bin unbewaffnet, und dies ist keine Falle. Denken Sie doch mal nach. Wenn ich gewollt hät te, hätte Sie ja auch die Polizei hier empfangen können.« Langsam, noch unentschlossen, ließ Kaspar Lenz die Waffe sinken. »Diese Kanaille!« sagte er wütend. »Es ist ganz allein Ihre Schuld, Schwager. Sie haben Ihrer Schwester eine Rolle anvertraut, der sie nicht gewachsen war. Aber setzen Sie sich doch. Trinken Sie einen Whisky mit mir. Wir wollen in aller Ruhe mit einander sprechen.« »Über was?« »Über Sie, Schwager. Sie sind in einer schwierigen Situation. Sonst wären Sie nicht auf den verzweifelten Einfall gekommen, sich an mei nem Safe zu vergreifen. Was glauben Sie, was da so drin liegt. Höch stens ein paar Tausender. Wie weit wären Sie damit gekommen? Ganz davon abgesehen, daß nach der Art des Vorgehens der Verdacht sofort auf Sie gefallen wäre.« »Sie glauben wohl, Sie sind ein Superschlauer«, sagte Kaspar Lenz, setzte sich aber doch, wenn auch unbehaglich auf die äußerste Kan te des Sessels. »Ich versuche, Ihnen zu helfen.« »Das wäre aber mal was ganz Neues.« 117
Alexander Kühnert holte die Whiskyflasche, schenkte sich und dem Bruder seiner Frau ein. »Ich weiß, daß man es Ihnen nie leicht gemacht hat. Ich kenne Ihr Vorstrafenregister.« »Und trotzdem reden Sie so mit mir?« »Gerade deshalb. Sie sind in einer schlimmen Zeit aufgewachsen, sind an schlechte Freunde geraten …« »Kommen Sie mir nicht mit der Tour«, sagte Kaspar Lenz, »die kenne ich. Erzählen Sie mir bloß nicht, ich soll ein anderes Leben anfangen … als ob das für einen wie mich überhaupt möglich wäre. Momentan doch schon gar nicht. Da sind ja sogar anständige Leu te, Leute, die was gelernt haben, ohne Arbeit. Wer würde schon ei nen wie mich nehmen? Und für was?« Er nahm einen kräftigen Schluck. »Gerade das möchte ich mit Ihnen gemeinsam herausfinden. Was würde Ihnen denn Spaß machen?« »Spaß?« »Ja. Es ist doch möglich, daß Sie es in der Anstalt gar nicht so übel fanden, daß Sie nicht regelmäßig arbeiten mögen, daß Sie das Risiko reizt, die Gefahr … was weiß ich …« »Was dann?« »Würde ich Ihnen ins Ausland helfen, irgendwohin, wo Sie richtig loslegen können … nach Südamerika oder so.« »Sie wollen mich abschieben!« »Wenn Sie nicht bereit sind, Ihr Leben zu ändern … ja. Können Sie es mir verdenken? Ich will meine Frau vor Ihnen schützen.« »Ach die! Die Kanaille ist …« Er brach mitten im Satz ab, sagte: »Da sieh mal einer an!« Marion, in weißem langen, mit Rüschen verzierten Nachthemd, war in der Tür erschienen; geisterhaft blaß, mit dem Ausdruck einer Schlaf wandlerin, blickte sie von einem der Männer zum anderen. »Marion!« rief Alexander Kühnert und sprang auf. Lautlos fiel sie in sich zusammen und sank auf den Perserteppich. Alexander Kühnert lief zu ihr hin, kniete sich neben sie und fühl 118
te ihren Puls. »Ich bring sie nach oben.« Er hob sie mit beiden Armen hoch. »Warten Sie hier auf mich.« Kaspar Lenz blieb allein in dem in grünem Leder und rotbraunem Mahagoni gehaltenen Herrenzimmer. Eine Sekunde lang dachte er daran, das Gemälde von der Wand zu nehmen und zu versuchen, den Safe zu öffnen, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, daß es klappen würde. Nach allen Erfahrungen seines bisherigen Lebens mußte ihm Alexander Kühnert eine falsche Kombination zugespielt haben. Oder etwa doch nicht? Ein seltsamer Vogel war dieser Herr Schwa ger. Einen ähnlichen Menschen hatte er noch nie kennen gelernt. Ob er versuchte, ihn hereinzulegen? Aber das hätte er einfacher haben kön nen. Vielleicht wollte er ihm wirklich helfen. Er beschloß, es darauf ankommen zu lassen, nahm einen kräftigen Schluck Whisky, machte es sich endlich in seinem Sessel bequem und zündete sich eine Zigarette an. Alexander Kühnert hatte Marion auf ihr Bett gelegt, den Kopf tief, die Füße hoch gelagert. Ihr Puls schien ihm normal zu sein, wenn auch etwas verlangsamt. Er wußte nicht, was mit ihr geschehen war, noch weniger, was er jetzt tun sollte. Mit einem warmen Tuch wischte er ihr feuchtes Gesicht ab. Er rieb ihr die eiskalten Füße und sprach zärtlich und beruhigend auf sie ein, obwohl er wußte, daß sie seine Worte gar nicht hören konnte. Endlich kam wieder ein wenig Farbe in ihre Wangen. Er öffnete eine Flasche Toilettenwasser und hielt sie ihr unter die Nase. Marion schlug die Augen auf. »Alles in Ordnung, Liebling!« Er lächelte ihr zu und schob das Kis sen unter ihren Kopf. »Schlaf schön.« »Mein Bruder …« »Ja, er ist hier. Ich habe dir nicht gesagt, daß ich ihn sprechen wollte, um dich nicht aufzuregen. Vielleicht war das falsch von mir.« »Was … willst du von ihm?« »Eine Lösung finden.« Er nahm die Felldecke, die er zusammenge faltet unter ihre Füße gelegt hatte, und breitete sie über sie. »Er ist gefährlich.« 119
»Nur, wenn man ihn in die Enge treibt. Mach dir keine Gedanken, Liebling. Ich bringe das schon in Ordnung.« »Alexander, ich …« Es kostete sie Überwindung, zu sprechen. »Ich muß dir etwas sagen.« »Ja?« fragte er und setzte sich auf die Bettkante. »Er hat mich gesehen.« Er fragte nichts, wartete ab, bis sie von sich aus weiter sprach. »Wie jemand mich geküßt hat«, gestand sie stockend, »im Englischen Garten.« Es gab ihm einen Stich, aber er zwang sich zu lächeln. »Solange du dich nur in aller Öffentlichkeit küssen läßt, wird's schon nicht so schlimm sein.« »Du bist mir nicht böse?« Er schüttelte den Kopf. »Schlaf jetzt.« Als Alexander Kühnert das Herrenzimmer betrat, erklärte er, ehe Kaspar Lenz ihm noch eine Frage stellte: »Ich hatte ihr ein Schlafmit tel gegeben, dazu die Aufregung, das war wohl zu viel. Jetzt geht es ihr schon wieder besser. Wollten Sie mir nicht vorhin gerade etwas sagen, Schwager?« »Ich hab's vergessen.« »Das ist auch besser so.« Alexander Kühnert setzte sich ihm gegen über. »Sie können davon ausgehen, daß ich sehr viel mehr über Ihre Schwester weiß, als Sie je in Erfahrung bringen können. Erpressung zieht deshalb nicht. Falls Sie Marion aber bei mir schlecht machen wollen, bringt Ihnen das auch nichts ein. Kapiert?« »Ja, Chef.« »So ist's richtig. Ich sehe, Sie haben Ihr Glas leer, schenke Ihnen aber trotzdem nichts mehr ein. Ich möchte, daß Sie einen klaren Kopf be halten. Ins Ausland wollen Sie also nicht.« »Höchstens Österreich oder die Schweiz. Ich spreche keine Sprachen.« »Und was wollen Sie da anfangen?« Kaspar Lenz zuckte die Achseln. »Also alles wie gehabt!« Alexander Kühnert ließ den Whisky in sei nem Glas kreisen. »Nur in einem anderen Kino. Ob es das bringt?« 120
»Was hat denn einer wie ich schon für Möglichkeiten?« Kaspar Lenz zog ein Zigarettenpäckchen aus der Anzugtasche und hielt es Alexan der Kühnert hin. »Danke, nein. Ich hab's mir abgewöhnt. Aber rauchen Sie ruhig. Was die Möglichkeiten betrifft … ich könnte sie Ihnen verschaffen. Die Fra ge ist nur, ob Sie wirklich wollen.« »Was?« »Innerhalb des Gesetzes leben.« »In die Fabrik gehen?« »Zum Beispiel.« Kaspar Lenz wollte die Asche seiner Zigarette auf den Boden schnip pen, besann sich dann aber und zog den Aschenbecher an sich heran. »Das ist dann auch nicht viel anders als im Knast, oder?« »Sie hätten die Abende und die Wochenenden frei. Aber ich sehe schon, das schmeckt Ihnen nicht recht. Können Sie kleinere Schlosser arbeiten ausführen? Klempnern? Reparieren?« »Ja. So was tu' ich gern.« »Dann hab' ich, glaub' ich, was für Sie. Mir gehören ein paar Häuser in Berg am Laim. Für die brauche ich einen Hausmeister. Das Studen tenehepaar, das das bisher gemacht hat, hat gerade gekündigt.« »Ich soll Hausmeister werden?« wiederholte Kaspar Lenz, und zum ersten Mal war er deutlich aus der Fassung gebracht. »Mit Nachschlüs sel und so? Also, Chef, ich glaube nicht, daß die Mieter das mögen würden.« »Die brauchen gar nicht zu wissen, daß Sie vorbestraft sind, und wenn es doch herauskommen sollte … mir gehören die Häuser, und ich stehe hinter Ihnen, Schwager.« Kaspar Lenz öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu und sagte dann: »Ich steh' im Wald.« Alexander Kühnert stand auf, öffnete, ohne sich durch die Anwesen heit seines Schwagers stören zu lassen, den Safe und nahm einen Tau sender heraus. »Das ist für den Anfang«, sagte er, »damit Sie die Zeit, bis die Wohnung frei wird, überbrücken können. Kommen Sie morgen zu mir in die Firma, damit wir es schriftlich machen.« 121
»Warum«, fragte Kaspar Lenz und nahm das Geld entgegen, »wa rum tun Sie das für mich, Chef?« »Die Frage«, erwiderte Alexander Kühnert, »können Sie sich mit ein bißchen Nachdenken selber beantworten.«
Marion war unendlich erleichtert, daß Alexander Kühnert das Pro blem ihres Bruders aus der Welt geschafft, erleichtert auch, daß er ihr halbes Geständnis, ohne zornig zu werden, zur Kenntnis genommen hatte. Doch es blieb Dietmar Engel, und eine große Scheu, ihm wieder zu begegnen. Sie wußte jetzt, daß sie mit dem Feuer gespielt hatte, und war entschlossen, Schluß zu machen, noch ehe es wirklich begonnen hatte. Aber sie hatte kein Zutrauen zu sich selber und fürchtete, daß der junge Mann, wenn er es darauf anlegte, ihre Schwäche ausnützen könnte. »Weißt du«, sagte sie am nächsten Abend, nachdem Alexander Kühnert ihr von seinem Vertrag mit ihrem Bruder erzählt hatte, scheinbar unvermittelt, »ich habe es mir überlegt. Ich möchte nicht mehr allein in den Tennisclub gehen. Nur noch mit dir, auch wenn wir nicht dauernd zusammen spielen. Ich möchte einfach, daß du bei mir bist.« Alexander Kühnert verstand sie sehr gut; er hatte sofort gewußt, daß dieser ›jemand‹, der sie geküßt hatte, nur Dietmar Engel sein konnte. »Marion, ich habe mir auch etwas überlegt«, erwiderte er, »hättest du nicht Lust, wieder mal zu verreisen?« »Mit dir?« »Was dachtest du denn, Liebling? Ich lasse dich doch nicht alleine fort.« »Das wäre wunderbar«, rief sie begeistert, »dann brauchte ich auch Frau Marie nicht mehr zu sehen … sie kann in aller Ruhe, wenn wir weg sind, die Neue einarbeiten … und … und …« Er lächelte über ihren Eifer. »Und deine Stunden?« 122
»Ach, die kann ich ruhig mal unterbrechen. Ich habe ja noch so viel Zeit, zu lernen. Bitte, Alexander, bitte, fahr mit mir fort.« »Schon versprochen.« »Wohin denn?« »Ich habe an Marbella gedacht. Da ist es jetzt noch nicht zu heiß. Marbella Club Hotel.« »Ist das nicht das, wo all die interessanten Leute verkehren? Die aus den Illustrierten?« »Genau.« Marion strahlte. »Hoffentlich stell' ich mich da nicht zu dumm an.« »Du weißt genau, daß du das nicht tun wirst.« Marion war aufgesprungen. »Wann können wir fahren?« »Wann du willst. Von mir aus übermorgen, und sag jetzt bloß nicht, du hast nichts anzuziehen. Das Nötigste hast du, und da unten gibt es herrliche Boutiquen.« Marion küßte ihn dankbar. »Ach, Alexander, ich bin ja so glücklich.« Sie gestand sich nicht ein, daß sie nur froh war, einer unangenehmen Situation ausweichen, vor einer Entscheidung fliehen zu können.
Marion und Alexander Kühnert flogen am 9. Juni mit der LH 601 nach Frankfurt, wo sie um 11 Uhr 55 landeten, und eine Stunde später mit einer Maschine der Iberia direkt nach Marbella starteten. Marion wunderte sich, wie selbstverständlich ihr ein Flug und dazu noch erster Klasse geworden war und daß sie es trotzdem genoß. Sie empfand keine Beklemmung mehr, wie bei ihrer Hochzeitsreise, son dern nur eine ganz starke Vorfreude auf vierzehn sorglose Tage am Meer. Sie mieteten gleich am Flughafen einen Fiat Spider, Marion zuliebe, die ja dieses Modell gewohnt war, und fuhren geradewegs auf einer ro mantischen Küstenstraße zum Marbella Club Hotel, das etwas außer halb des Städtchens lag. Anders als in Nassau dachte Marion nicht daran, zu Bett zu gehen, 123
obwohl es inzwischen Abend geworden war. Sie beeilte sich mit Aus packen, weil sie unbedingt noch in einen der beiden Swimming-pools springen wollte, die gleich vor dem kleinen Bungalow lagen, in dem sie untergebracht waren. »Nur zu«, ermunterte Alexander Kühnert sie; ihm wurde die positi ve Veränderung bewußt, die sie in ihrer Ehe gemacht hatte, und freu te sich darüber. »Kommst du dann auch?« »Unbedingt. Aber ich nehme, glaube ich, lieber eine Dusche hier im Bad und bestell uns was zu trinken.« »Auch recht.« Sie gab ihm einen raschen Kuß und lief in ihrem hell blauen Bikini, den weißen Bademantel über die Schultern gelegt, hinaus. Die milde warme Luft war eine Wohltat für sie. Zwar war es auch in München Sommer, aber gegen Abend wurde es doch immer schnell kühl; hier, am südlichsten Zipfel Spaniens, hielt sich die Temperatur bis in die Nächte hinein. Der Himmel war noch hell. Marion liebte Wärme, sie konnte gar nicht genug davon bekommen. Vorsichtig streckte sie ihre Zehen in das Wasser des Pools und stell te mit Befriedigung fest, daß es gut temperiert war. Ein Mädchen mit nassem braunen Haar tauchte vor ihr am Becken rand auf. »Hi«, rief sie, »where did you come from?« »From Western Germany«, antwortete Marion, froh über ihren Eng lischunterricht. »Ich auch! Dann können wir ja Deutsch miteinander reden. Bist wohl gerade erst angekommen?« Marion, die es nicht mehr gewohnt war, sich selbstverständlich unter jungen Leuten zu bewegen, war durch die vertraute Anrede etwas irri tiert, ging aber dennoch darauf ein. »Du hast's erfasst!« Das Mädchen ließ sich durch ihren kühlen Ton nicht stören. »Na mach schon«, drängte sie, »hops rein. Es ist eh eine lauwarme Brühe.« Marion ließ ihren Bademantel ins Gras fallen, streifte die Frottee schuhe ab und sprang. Als sie wieder auftauchte, war das braunhaari ge Mädchen neben ihr. Sie hatte eine Stupsnase, runde braune Augen und konnte nur wenig jünger sein als sie selber. 124
»Du, ich freu mich«, sagte sie vergnügt neben Marion kraulend, »endlich mal ein junges Gesicht. Ich heiße übrigens Yvonne.« »Und ich Marion.« »Es ist nichts los hier.« »Nichts los?« wiederholte Marion ganz erstaunt. »Ich dachte, es gäbe eine Diskothek im Strandclub, Boutiquen und …« »Na klar. Aber wenn ich von ›nichts los‹ spreche, bezieht sich das na türlich auf Männer. Ich sag' Mutter dauernd, daß wir in die falschen Hotels gehen.« »Wieso?« »In diese teure Luxusherberge kommen ja immer nur die Leute mit Geld. Und wer hat schon Geld? Die Alten. Daß sich mal ein Junger hierher verirrt, ist die große Ausnahme.« »Schon möglich.« Marion begann, Yvonnes unbefangenes Geplau der angenehm zu empfinden. »Aber in einfache Hotels will Mama natürlich nicht. Sie hat zwar selbst genug davon, aber es muß natürlich einer mit Geld sein, damit sie nicht das Gefühl hat, er hat es nur auf ihre Moneten abgesehen. Es ist schon kompliziert.« Marion machte Pause am Beckenrand, Yvonne hing sich neben sie ins Wasser. »Da sieh mal«, rief sie alarmiert, »sie hat einen an der An gel!« »Wo?« »Da vorne … die da auf dem Liegestuhl im gelben Seidendreß, das ist Mama, und der Mann daneben im Korbstuhl der mit der interessan ten Strähne, das ist der Kerl, den sie sich geangelt hat.« Überrascht erkannte Marion, daß sie Alexander Kühnert meinte. »Phänomenaler Typ, wie?« meinte Yvonne. »Findest du den wirklich toll?« fragte Marion ungläubig. »Aber echt! Bloß, fürchte ich, gehört der zu der Sorte, die nie wirk lich anbeißen. Ein Abenteuer ja … aber Heirat auf keinen Fall.« Marion plätscherte, auf dem Rücken liegend, mit den Füßen. »Ich bin mit ihm verheiratet.« »Was!?« 125
»Er ist mein Mann.« »Du machst Witze.« »Überhaupt nicht.« »Mensch, da hast du aber Glück gehabt. Den hätte ich auch sofort ge nommen. Mit Kusshand.« Nach einer Weile fügte sie hinzu. »Da hät te ich dich eigentlich gar nicht duzen dürfen, aber du siehst so jung aus …« »Ich bin achtzehn. Bleiben wir ruhig bei du.« Yvonne strahlte. »Einverstanden. Ich werd's in einem halben Jahr. Würdest du mich jetzt mit deinem phänomenalen Mann bekannt ma chen?«
Alexander Kühnert und Yvonnes Mutter, die auf den Namen Grete Wiener getauft worden war, sich aber seit ihrer Scheidung lieber Mar gy nennen ließ, waren sehr rasch ins Gespräch gekommen. Frau Wiener hatte, als er sich in einiger Entfernung in seinen Korb stuhl gesetzt hatte, ihr goldenes Zigarettenetui fallen lassen, und er hatte sich, als sie im Gras danach tastete, beeilt, es ihr aufzuheben. Ob wohl er ihr kleines Manöver durchschaute, nahm er es ihr doch nicht übel. Sie war eine sehr gepflegte Frau mit langen, schlanken Gliedern, bronzebrauner, von der Sonne verbrannter Haut und kastanienrotem Haar. »Bitte, gnädige Frau«, er verbeugte sich leicht. Sie sah ihn bedeutungsvoll an. »Seltsam, ich habe Sie noch nie gese hen.« »Ich bin gerade erst angekommen.« »Es ist wunderschön hier, es wird Ihnen gefallen.« Sie wechselten noch ein paar Worte, dann schlug sie ihm vor, seinen Korbsessel näherzustellen, damit sie sich besser unterhalten konnten. Es war eine Enttäuschung für sie, daß der Boy dann zwei Gläser brachte – Alexander Kühnert hatte die Getränke vom Bungalow aus bestellt, einen Whisky mit Eis für sich, eine Cola mit Rum für Mari 126
on –, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Alexander Kühnert bat den Boy, noch einen zweiten Korbstuhl und ein Tischchen zu bringen. Dann kamen schon Marion und Yvonne vom Swimming-pool her, triefend vor Nässe, aber sehr erfrischt auf sie zu. »Ich habe dir einen Cuba libre bestellt, Marion«, rief Alexander Küh nert seiner Frau zu, »ich nehme an, es ist recht so.« »Ach so«, bemerkte Frau Wiener erleichtert, »Sie reisen auch mit Ih rer Tochter! Genau wie ich.« Alexander spürte nicht den Schatten einer Kränkung, sondern nur Stolz. »Sie irren sich, gnädige Frau. Marion und ich sind verheiratet.« Jetzt verlor Frau Wiener doch die Fassung. »Eigentlich sind Sie doch noch gar nicht in dem Alter, wo man auf die ganz jungen Dinger steht«, sagte sie boshaft. »Ach, ich glaube, das ist keine Sache des Alters, sondern des Ge schmacks«, gab er leichthin zurück und stand auf, um Marion zärt lich abzutrocknen. »Nimm einen Schluck und dann zieh dich erst mal um.« »Das trocknet auf der Haut, es ist doch so warm.« Marion ließ sich, nass wie sie war, in den für sie bereitgestellten Sessel sinken. »Das ist übrigens Yvonne … Yvonne, das ist Alexander Kühnert, mein Mann.« Durstig begann sie durch den Strohhalm zu saugen. Das war der Beginn einer Ferienfreundschaft. Von nun an unter nahmen die vier fast alles zusammen. Es war zwar ein bißchen so, daß die Wieners sich anhängten, aber Alexander Kühnert und seine jun ge Frau empfanden das nicht als unangenehm. Margy Wiener, eine gute Sportlerin, war beim Tennis und auch beim Golf eine wesentlich bessere Partnerin für Alexander Kühnert, während die beiden jungen Mädchen sehr viel unausgeglichener spielten. Für Marion war es ein Erlebnis, eine Freundin gefunden zu haben, zum ersten Mal seit ihren frühen Kindertagen. Yvonne war zutraulich, offen und fröhlich, und Marion freute sich auf jede Stunde mit ihr. In der größten Mittagshit ze, wenn Alexander Kühnert und Margy Wiener in ihren Bungalows Siesta hielten, schlenderten Marion und Yvonne gern durch den sub tropischen Park, der sich zwischen Strand und Küstenstraße erstreck 127
te, plauderten und lachten miteinander. Vor Yvonne war es Marion nicht peinlich, mit Alexander Kühnert verheiratet zu sein, die Freun din himmelte ihn sogar ein wenig an, und nach und nach erzählte Ma rion ihr ihre ganze Geschichte, die Yvonne ›fantastisch‹ fand. Sie revanchierte sich, indem sie Marion ihre Sehnsüchte, Hoffnun gen und ersten Liebeserfahrungen anvertraute. Alle vier zusammen unternahmen einen Ausflug nach Cadiz, ein mal sogar nach Gibraltar und von dort mit dem Schiff nach Tanger, und pflegten fast jeden Abend durch die malerische Altstadt von Marbella zu schlendern; sie bewunderten die alten Häuser mit ihren üppig blühen den Blumen in Töpfen und den schönen schmiedeeisernen Gittern vor den Fenstern und nahmen dann auf der belebten Plaza einen Drink. Die Zeit verging sehr schnell. Marion war noch nie so braun, ihr Haar noch nie so blond gewesen. Alexander Kühnert war erleichtert darüber, daß sie Dietmar Engel schon vergessen zu haben schien. Am Abend vor dem Abflug, als sie noch einmal zusammen in der eleganten Hotelbar saßen, bettelte Marion: »Es ist so wunderschön hier, Alexander … können wir noch ein bißchen bleiben?« »Unmöglich. Es war mir schwer genug, mich frei zu machen. Ich muß in die Firma zurück.« »Mußt du wirklich? Wo wir hier doch so glücklich sind.« »Man kann nicht ein ganzes Leben lang glücklich sein, Liebling.« Sie sah ihn aus ihren großen blauen Augen an, die in ihrem braun gebrannten Gesicht jetzt noch leuchtender wirkten. »Kann man das wirklich nicht?« »Kindskopf.« Er nahm ihre Hand. »Aber ich verspreche dir, im Herbst kommen wir wieder hierher.« »Aber dann wird es nicht dasselbe sein.« »Marion könnte doch auch ohne dich noch bleiben«, schlug Margy Wiener vor, »wir sind noch eine Woche hier, und ich werde schon auf sie achtgeben.« »Sie ist ein erwachsener Mensch«, erklärte er aggressiv, wie es sonst nicht seine Art war, »sie braucht keinen Aufpasser.« »Ein Grund mehr, sie noch bei uns zu lassen!« rief Yvonne. 128
Alexander Kühnert wandte sich an Marion. »Möchtest du das denn wirklich?« »Ach ja«, sagte sie, »bitte.« Er dachte nach; zwar ließ er sie höchst ungern allein zurück, aber vielleicht würde eine längere Trennung von Dietmar Engel auch ihr Gutes haben. »Ich werde dich zwar sehr vermissen«, sagte er langsam, »aber … von mir aus!« »Du bist der Liebste, Beste!« rief sie und gab ihm vor allen Gästen ei nen Kuß.
So war es denn abgemacht. Marion fuhr Alexander Kühnert am näch sten Morgen nach Malaga zum Flugplatz. Sie winkte ihm von der Ter rasse zu, als er sich auf der Gangway noch einmal umsah. Das Herz wurde ihm schwer, als er sie entdeckte, schon weit entfernt und winzig klein, und es war ihm, als würde er sie nie wieder sehen. Nahe daran, im letzten Moment noch umzukehren, schalt Alexan der Kühnert sich einen abergläubischen Narren und Schwächling. Sei nen Panamahut schwenkend grüßte er zu Marion hinüber, wandte sich dann langsam ab und verschwand im Inneren des Flugzeugs. Für Marion war es wie eine Befreiung. Sie wartete, bis die Maschine auf das Rollfeld fuhr und sich mit aufröhrenden Motoren in den tief blauen Himmel erhob. Sie hätte singen mögen; ihr war es, als wäre sie durch die Trennung von Alexander Kühnert noch einmal ganz jung geworden, ja, als stünde sie am Anfang ihres Lebens und tausend Mög lichkeiten böten sich ihr. Aber dann wurde es doch nicht so, wie sie es sich erträumt hatte. Alexander Kühnert fehlte ihr, ihr und auch Margy und Yvonne Wie ner. Zwar stand der tropische Garten immer noch in voller Blüte, war der Strand weiß und fein und warm, die Mahlzeiten und Drinks deli kat, aber ohne ihn schien alles plötzlich langweilig geworden. Aus ehrlichem Herzen konnte Marion ihm am Telefon sagen: »Du fehlst mir sehr! Ich freue mich schon auf zu Hause.« 129
Sie begann die Tage bis zum Abflug zu zählen. Doch dann trat ein Ereignis ein, das die Stimmung der drei Frauen schlagartig veränderte. Eines Morgens, zwei Tage vor dem geplanten Rückflug, kam Yvonne atemlos an den Strand gelaufen, wo ihre Mutter und Marion im Schat ten eines roten Sonnenschirms lagen. »Wisst ihr, wer heute Abend in die Strandbar kommt?« rief sie schon von weitem. »Ratet mal! Ich hab's eben zufällig vom Manager erfah ren!« »Mach's bloß nicht so feierlich.« Margy Wiener gähnte. »Nick van Dam!« verkündete Yvonne. Marion schoß das Blut zum Herzen; sie kannte Nick van Dam aus zahlreichen Berichten in den Illustrierten, und sofort stieg ein Bild vor ihr auf, das eines jungen Mannes, der, trotz eines sportlich durchtrai nierten Körpers, zart und sensibel wirkte, mit einem vollen Mund, grauen, verschleierten Augen und einem aschblonden Lockenkopf. Sie wußte, wer er war. Yvonne hätte ihrer Ankündigung gar nicht hinzufügen brauchen: »Der begehrteste Junggeselle Europas.« »Ein grüner Junge«, erklärte ihre Mutter abwertend. »Grüner Junge hin, grüner Junge her …« Yvonne ließ sich zwischen die beiden mit überkreuzten Beinen im Sand nieder. »… glaub ihr kein Wort, Marion. Nick van Dam muß jetzt so um die vierundzwanzig sein, und er hat ein Riesenvermögen geerbt.« »Hat sich mit zwanzig Millionen Dollar abfinden lassen«, berichtig te Margy Wiener. »Na, zwanzig Millionen … ist das etwa nichts?« Yvonne war ganz aus dem Häuschen. »Es ist der Nick van Dam, von dem man immer liest, Marion … der es mit den Schauspielerinnen und den Manne quins hat.« »Ach der!« Marion drehte sich auf den Bauch, damit die anderen nicht sehen sollten, daß sie errötete. »Du kennst ihn doch, Mutter, nicht wahr?« fuhr Yvonne eifrig fort. »Du hast mir doch sogar mal erzählt, daß wir über drei Ecken mit ihm 130
verwandt sind. Du mußt uns unbedingt mit ihm bekannt machen. Das ist die Chance für uns.« »Ich denke gar nicht daran.« Margy Wiener richtete sich auf und be gutachtete im Spiegel den Sitz ihres Turbans, den sie sich um das ka stanienrote Haar geschlungen hatte, um es vor der Sonne zu schützen. »Er ist kein Mann zum Heiraten, und für eine Spielerei bist du mir zu schade.« »Gemeinheit! Warum darf ich nicht auch mal einen Spaß haben?« »Ein Spaß, der teuer bezahlt werden muß, ist kein Spaß mehr.« »Und was ist mit Marion?« Margy Wiener warf einen nachdenklichen Blick auf Marions schma len Rücken. »Wenn ich auch nicht verpflichtet bin, auf Marion aufzu passen, denke ich doch auch nicht daran, für sie die Kupplerin zu spie len. Das bin ich Alexander Kühnert schuldig.« »Was ihr bloß redet«, murmelte Marion, »mir liegt doch gar nichts an diesem … diesem Playboy.« »Um so besser«, erklärte Margy Wiener energisch, »dann wäre das Thema also gestorben.« Yvonne gab sich scheinbar geschlagen und begann davon zu reden, wie man, nach Deutschland zurückgekehrt, den Kontakt miteinander aufrechterhalten konnte. Die Wieners lebten in Frankfurt. Marion fühlte sich innerlich ganz hohl vor Enttäuschung; sie wuß te selber nicht, was mit ihr los war, und glaubte, dieses hohle Gefühl käme von einem leeren Magen. »Ich habe wahnsinnigen Hunger«, er klärte sie, »könnten wir nicht schon essen gehen?« »Warum nicht?« Yvonne war mit einem Satz auf den Füßen. »Ich könnte auch 'nen Happen vertragen!« Doch als sie dann vor der dampfenden Paella saßen, stellte Mari on fest, daß sie überhaupt keinen Appetit hatte. Der würzige Geruch stieß sie ab. Es kostete sie Überwindung, zu essen, aber sie tat es, um sich keiner lästigen Aufmerksamkeit oder gar einem Verdacht auszu setzen. Sie war froh, als es endlich überstanden war. Frau Wiener legte sich wie gewöhnlich in ihrem Bungalow zur mittäglichen Ruhe nieder, während die beiden Freundinnen unter Palmen promenierten. 131
Es stellte sich heraus, daß Yvonne den Gedanken an Nick van Dam nicht hatte loswerden können. »Mutter ist eine alte Spielverderberin«, schimpfte sie, »bloß weil sie selber zu alt für Nick van Dam ist, spielt sie den Tugendbolzen.« Vertraulich schob sie ihre Hand unter Marions Ellbogen. »Wir gehen natürlich hin. Das wäre doch gelacht.« »Aber wie können wir das?« fragte Marion zaghaft, und ihr Herz schlug so stark, daß sie fürchtete, Yvonne könnte es spüren. »Wir müssen Mama natürlich ausschalten. Am besten schlagen wir ihr vor, daß wir am Abend alle zusammen nach Malaga ins Kino fah ren. Das wird ihr zu umständlich sein. Aber wir bestehen auf unse rem Kino, und ich wette, sie wird uns fahren lassen. Sie wird wahr scheinlich ganz erleichtert sein, daß wir auf diese Weise aus dem Weg sind.« »Und dann?« »Setzen wir uns in die Strandbar und warten auf ihn.« »Und wenn deine Mutter auch dort ist?« Yvonne lachte. »Um so besser. Dann ist sie die Blamierte. Dann muß sie uns mit ihm bekanntmachen.« »Und wenn nicht?« »Du mit deinem ewigen und, und, und!« spottete Yvonne freund schaftlich. »Sei doch nicht so ängstlich. Wir werden ihn eben auf uns aufmerksam machen.« »Aber wir kennen ihn doch gar nicht!« »Eben drum. Wir werden ihn kennenlernen, und sei es bloß, daß wir zu Hause dann angeben können!«
Yvonnes Plan klappte. Frau Wiener ließ nach einigem Hin und Her ihre beiden Schützlinge allein losfahren – nach Malaga ins Kino, wie sie arglos glaubte. Tatsächlich fuhren die beiden nur zwei Kilometer die Küstenstraße entlang, parkten den Fiat und kehrten zu Fuß, die Schuhe in der Hand, am Strand entlang, zurück. Als sie die bunten Lichter der Hotelbar vor sich auftauchen sahen, 132
überfiel Marion eine jähe Angst. »Yvonne!« rief sie und packte die Freundin beim Arm. »Bitte, lass uns umkehren!« »Auf einmal?« »Ja. Ich hab' so ein Gefühl … es ist nicht richtig, was wir tun!« Yvonne lachte unbekümmert. »Aber, Marion, sei doch nicht so lasch. Was kann uns denn schon passieren. Außerdem ist Nick bestimmt noch gar nicht da. Die Sorte taucht frühestens gegen zehn auf. Wir können also noch in aller Ruhe einen Daiquiri trinken.« »Dazu brauchen wir doch nicht in die Bar!« »Dazu nicht, aber wir wollen doch Nick van Dam sehen … ihn uns wenigstens ansehen. Wenn er uns nicht gefällt, können wir ja immer noch gehen.« »Bitte, bitte nicht«, flehte Marion, »ich habe Angst!« Ihr schmales Gesicht war wie verzerrt von Schmerz. Yvonne verstand gar nichts mehr. »Wenn das so ist«, sagte sie, »dann geh doch zurück. Fahr allein ins Kino. Ich mach's.« Sie ließ Marion ste hen und stapfte weiter barfuss durch den rieselnden Sand. Marion blickte ihr nach, hin- und hergerissen zwischen ihrem Ver langen und ihrer Angst. Musikfetzen wehten aus der Diskothek der Strandbar zu ihr herüber. Yvonne hatte sich schon ein gutes Stück von ihr entfernt. Marion wollte sich umwenden, aber sie konnte es nicht. »Halt!« rief sie. »Halt! Yvonne, ich komme mit!«
Die sogenannte Strandbar des Marbella Club Hotels war ein Komplex für sich, am Strand in einiger Entfernung vom Meer gelegen, zu dem zahlreiche bunt gedeckte Tische, ein Schwimmbecken und eine Tanz fläche gehörten. Sie lag zum größten Teil unter freiem Himmel, nur die Bar selber war durch ein Strohdach gegen die Sonne, wohl auch gegen mögliche Regenfälle geschützt, der Boden war rot gefliest, und auf den Tischen brannten Windlichter. Aus der Stereoanlage ertönten unent wegt bekannte internationale Schlager, bevorzugt sentimentaler Art, die die romantische Atmosphäre noch unterstrich. 133
Es waren nicht mehr Menschen als gewöhnlich hier zu sehen; offen bar lag dem Manager mehr an dem Wohlbehagen seines berühmten Gastes als daran, die Bar durch die Anziehungskraft seines Namens noch attraktiver zu machen. Alles war ganz wie sonst. Außer Yvonne schien niemand etwas von dem erwarteten Gast zu wissen, nirgends fiel sein Name. Marion fürch tete schon, die Freundin könnte sich getäuscht haben. Aber Yvonne blieb unbeirrt. »Siehst du den Tisch da an der Tanzflä che? Gerade gegenüber? Den hält der Oberkellner dauernd reserviert. Wirst sehen, der ist für Nick bestimmt.« »Der ist doch viel zu groß!« »Du hast Begriffe! Denkst du etwa, Nick käme allein? Nein, so je mand hat immer ein ganzes Gefolge mit.« Sie warteten mit steigender Spannung, lehnten es, obwohl sie mehr fach aufgefordert waren, immer wieder ab zu tanzen und tranken jeder zwei Daiquiris. Als Nick van Dam dann erschien, erfolgte sein Einzug so lautlos und selbstverständlich, daß sie ihn beinahe verpasst hätten. Er saß schon fast am Tisch, als die Freundinnen ihn erkannten. »Da ist er!« sagte Yvonne atemlos. Nick van Dam wirkte kleiner als auf den Fotos, eigentlich gar nicht sehr eindrucksvoll – und doch war es Marion, als setzte ihr Herz ei nen Schlag lang aus. Es war ihr, als hätte sie nur gelebt, um diesem ei nen Mann zu begegnen, diesem Mann mit den anmutigen Bewegun gen und den geschwungenen Lippen eines griechischen Gottes. Er trug eine schwarze Leinenhose, dazu eine weiße Smokingjacke über einem offenen hellblauen Hemd. Wie Yvonne vorausgesehen hatte, war er mit Gefolge erschienen. Drei Männer begleiteten ihn, einer in einer dunkelblauen goldbetressten Jak ke – der Kapitän seiner Yacht, wie Marion später erfahren sollte –, die beiden anderen in Blazern, sein Masseur und sein Leibwächter, alle drei breitschultrig und untersetzt. Auch eine junge Frau war mit von der Partie, sie war schlank und elegant in einem fließenden seegrünen Kleid, braungebrannt und dunkeläugig, was in einem reizvollen Kon trast zu ihrem hellrot gefärbten Haar stand. Sie rauchte gelangweilt. 134
Champagner wurde aufgefahren, der schon eisgekühlt bereitgestan den hatte. Die Gläser klirrten. Nick van Dams Begleiter redeten, lach ten, schienen sich zu amüsieren. Er selber verzog keine Miene. Aus der Stereoanlage tönten die Rhythmen eines Tangos, den an scheinend die wenigsten Gäste zu tanzen verstanden. Die Fläche leer te sich bis auf drei Paare. »Jetzt!« sagte Yvonne, faßte Marion bei der Hand und zog sie mit sich. Mit energischen Schritten überquerte sie die Tanzfläche und ging ge radewegs auf Nick van Dam zu. Marion folgte ihr wie in Trance. Nick van Dams Begleiter standen auf, als wollten sie die jungen Frau en abwehren. Er befahl ihnen mit einer Geste, nichts zu unterneh men. »Ich bin Yvonne Wiener«, erklärte Yvonne atemlos, aber mit fester Stimme, »Sie kennen meine Mutter, Herr van Dam. Margy Wiener. Sie ist, glaube ich, sogar eine Kusine von Ihnen.« Nick van Dams verschleierter Blick glitt an Yvonne vorbei, und seine grauen Augen trafen Marion. »Und wer ist das?« fragte er. »Meine Freundin Marion.« Marion trug ein ärmelloses weißes Leinenkleid, das ihr gut zu der sonnengebräunten Haut stand; ihr glattes blondes Haar schimmerte im schmeichelnden Licht der Kerzen, ihre blauen Augen waren groß und dunkel und schienen nichts wirklich wahrzunehmen. Langsam erhob sich Nick van Dam, schob Yvonne mit einer lässigen Bewegung beiseite und kam auf Marion zu. Ihr wie gebannt in die gro ßen Augen blickend, legte er ihr den rechten Arm um die Hüfte, nahm ihre Hand und begann mit ihr zu tanzen. Nie zuvor hatte Marion einen Tango getanzt, aber nicht eine Se kunde kamen ihr Bedenken, daß sie es in seinen Armen nicht können würde. Sie gab sich seiner Führung und dem Rhythmus der Band hin, tanzte, den Kopf leicht zurückgelegt, mit halb geschlossenen Augen, so leicht, daß man glauben konnte, sie schwebte. Die Gespräche an den Tischen ringsum verstummten, alle Augen richteten sich auf das ungewöhnliche junge Paar, und unwillkürlich 135
wichen die anderen, die bisher noch getanzt hatten, zurück, als seien sie sich ihrer Unzulänglichkeit bewußt geworden; sie bildeten einen lockeren Kreis um Marion und Nick van Dam. Als der Tango verklang, kam spontaner Beifall auf. Marion öffnete weit die Augen, als sähe sie Nick van Dam jetzt zum ersten Mal. Er hielt ihre Hand fest und zog sie mit sich. »Komm!« Seine Begleiter verstanden sofort. Einer, Bob, der Leibwächter, zahl te, und alle brachen auf. Sie verschwanden so selbstverständlich, wie sie gekommen waren, nur daß jetzt Marion und Yvonne mit von der Partie waren. Als sie draußen in die wartenden Strandautos stiegen, kam der Ma nager besorgt herbeigeeilt. »Alles in Ordnung!« Nick van Dam legte ihm kurz die freie Hand auf die Schulter. Der Manager strahlte, als hätte er einen Ritterschlag empfangen. Nick van Dam setzte sich ans Steuer des ersten Buggy, und er star tete, kaum daß Marion auf dem Nebensitz Platz genommen hatte. Sie mußte sich festhalten, denn er fuhr wie ein Wilder in großen Kurven über den glatten Strand. Die anderen hinter ihm taten es ihm mit Hal lo und Gelächter gleich und obwohl der leichte Wagen mehr als ein mal zu kippen drohte und nur auf zwei Rädern fuhr, empfand Marion keine Angst. Nick van Dam lachte ihr mit weißen Zähnen zu, und sie war sicher, daß ihr nichts passieren konnte: Dies endlich war das gro ße Abenteuer. Der Wind riß an ihrem Haar, und das unendliche Meer schimmerte silbern im Schein des Mondes. Im Hafen von Marbella stiegen sie in Dingis um und brausten zu der weißen Yacht, die weit draußen vor Anker lag. Ohne eine Spur von Schwindel, so als hätte sie es schon oft getan, kletterte Marion hinter Nick van Dam das Fallreep hoch und sprang leichtfüßig neben ihn auf Deck. Eine Pfeife schrillte, betresste Stewards erschienen und fuhren Champagner auf. Drei junge Männer in Matrosenuniform tauchten auf, einer von ihnen trug eine Gitarre. Ein Podest mit einem kleinen 136
Flügel wurde an Deck geschoben, und die drei fanden sich zu einer Band zusammen, der dritte spielte Querflöte. Marion fühlte sich wie in einem wunderbaren Traum. Champagnerpfropfen knallten, und durstig stürzte sie ein Glas hinunter. Nick van Dam nahm sie bei den Händen, und wieder tanzten sie, als wären sie füreinander geboren. Bob tanzte mit der Hennaroten, die immer noch gelangweilt aussah, Henry, der Kapitän, mit Yvonne. Sie wechselten ab, so daß auch Max, der Masseur, zu seinem Recht kam. Aber Marion tanzte nur mit Nick van Dam, die ganze Nacht hin durch, bis der Himmel sich purpurn verfärbte. »O je, wir müssen uns beeilen!« rief Yvonne. Marion hörte es gar nicht; sie hatte die Schuhe abgestreift und tanz te, jetzt barfuss, immer noch traumverloren. Yvonne lief zu ihr hin und packte sie beim Arm. »Es wird allerhöch ste Eisenbahn! Komm endlich! Wir müssen da sein, wenn Mama auf wacht!« Ohne sich aus dem Rhythmus bringen zu lassen, rief Nick van Dam dem Kapitän zu: »Lass sie zurückbringen!« »Danke!« Yvonne strahlte Nick van Dam an. »Danke für alles! Es war eine tolle Nacht! Komm jetzt, Marion.« »Marion bleibt«, erklärte Nick van Dam, ohne die Stimme zu he ben. »Aber … das geht doch nicht!« rief Yvonne fassungslos. »Das ist doch unmöglich! Bitte, Marion …« »Ich bleibe«, erklärte Marion. »Ja, bist du denn verrückt geworden?! Hast du ganz vergessen!? Du bist verheiratet!« »Das gilt jetzt nichts mehr.« »Wie kannst du so was sagen! Marion! Komm zur Vernunft!« »Bringt sie weg«, befahl Nick van Dam, und er verzog das Gesicht, als würde er von einer aufdringlichen Mücke belästigt. »Fast schon geschehen, Sir!« erklärte der Kapitän, hob Yvonne, ehe sie es sich versah, hoch und warf sie einem Matrosen zu, der nahe dem Fallreep stand. 137
»Packt ihr Zeug zusammen und bringt es her!« »Okay, Sir.« »Sonst noch was, Marion?« »Der Fiat!« rief Yvonne, die auf den Armen des bärenstarken Matro sen zappelte. »Ach ja.« Marion zog die Autoschlüssel aus der Tasche ihres weißen Leinenkleides. »Er muß zum Autoverleih zurück. Yvonne weiß, wo er steht.« »Überleg's dir noch mal, Marion!« rief Yvonne. »Du machst eine Rie sendumm –« Mehr konnte sie nicht sagen. Der Matrose hob sie hoch und warf sie in weitem Schwung ins Meer hinaus. Yvonne schrie, und Marion schrak zusammen. »Eine kleine Abkühlung«, sagte Nick van Dam und zog sie noch en ger in seine Arme, »kann ihr nur gut tun.« Die anderen lachten, als wäre Yvonne unfreiwilliges Bad für sie ein wundervoller Spaß. Selbst die gelangweilte Hennarote schien den Zwi schenfall höchst amüsant zu finden. Ein kleiner Schauer kroch über Marions Haut. »Du frierst ja«, sagte Nick van Dam, »Zeit für uns, schlafen zu ge hen.« Ihre Kabine, ein eleganter kleiner Salon mit angeschraubten Maha gonimöbeln und einem runden Bullauge, durch das vom Meer reflek tierte Licht der frühen Sonne fiel, war schon gerichtet, der Vorhang vor dem Bett zurückgezogen und das Bett selber aufgeschlagen. »Im Bad findest du alles, was du brauchst«, sagte Nick van Dam, »und schließ nicht ab … ich komme zu dir.« Er küßte sie, und seine Zähne bohrten sich in ihre Lippen. Sie erzitterte. Später nahm er sie mit einer routinierten Zärtlichkeit, die nicht frei von Grausamkeit war. Aber in dieser Nacht, die schon ein Morgen war, hätte sie alles mit sich geschehen lassen. Sein Körper war jung und glatt, und ihr Herz so voll Glück, daß es sie schwindelte. Marion glaubte, am Ziel ihrer Träume zu sein. 138
Nass, schmutzig und allein, wie sie ins Hotel zurückgekommen war, mußte Yvonne ihrer Mutter alles gestehen und sich die entsprechen den Vorwürfe gefallen lassen. Frau Wiener meldete sofort ein Gespräch nach München an; Alex ander Kühnert meldete sich an seinem privaten Anschluss. »Bitte, mach mir keine Vorwürfe, Alexander«, flehte Margy Wiener, »es tut mir entsetzlich leid … es ist wirklich nicht meine Schuld …« Er unterbrach sie. »Geschenkt. Erzähl mir lieber, was passiert ist.« »Marion ist fort … mit einem Nichtsnutz namens Nick van Dam. Yvonne und Marion haben ihn sich in der Bar geangelt und sind zu seiner Yacht hinausgefahren. Marion ist bei ihm geblieben.« Jetzt wein te Margy fast. »Sogar ihre Sachen hat er abholen lassen.« Für Sekunden blieb es ganz still am anderen Ende der Leitung, und Margy Wiener, die vor Erregung nicht weiter sprechen konnte, hörte nur ihr eigenes Schluchzen. »Ach so, das meinst du«, sagte er dann, und seine Stimme klang völ lig beherrscht, »Marion hat mit mir telefoniert, und ich habe ihr er laubt, an einer Kreuzfahrt im Mittelmeer teilzunehmen.« »Ja, aber …« Jetzt war Frau Wiener völlig aus dem Konzept ge bracht. »Es sind ja noch andere Frauen an Bord, nicht wahr? Es ist also kein Grund, das Schlimmste anzunehmen.« »Natürlich nicht, nur … Yvonne hatte den Eindruck …« »Yvonne ist ein Kindskopf, und wahrscheinlich ist sie eifersüch tig. Trotzdem war es lieb von dir, daß du mich benachrichtigt hast. Ihr müßt uns in München besuchen, wenn Marion zurück ist. Also dann …« Sie wechselten noch ein paar belanglose Worte, bevor sie einhäng ten. Margy Wiener war erleichtert und enttäuscht zugleich, erleichtert, weil ihr ihr Schuldgefühl genommen, enttäuscht, weil es nicht zu ei nem Skandal gekommen war. Sie ahnte nicht, daß Alexander Kühnert die Fingernägel in die Hand teller gebohrt hatte, um nicht laut aufzuschreien. Nichts in seinem Le 139
ben hatte ihn solche Überwindung gekostet, wie die Beherrschung, mit der er den Schlag aufgenommen hatte, der ihn getroffen hatte – ei nen Schlag, mit dem er immer gerechnet hatte, und der ihn dann doch wie unvorbereitet traf. Auch er kannte Nick van Dam, war ihm sogar einmal persönlich begegnet, hatte Freunde, die eine Verbindung hätten herstellen kön nen. In den ersten Minuten, nachdem er erfahren hatte, daß Marion mit ihm fort war, hatte er nichts anderes vor, als sie zu suchen, ihn zur Rede zu stellen, ihn zusammenzuschlagen, wenn es sein mußte, Mari on von ihm fortzuholen. Erst als er ruhiger wurde, begriff er, daß es nichts nutzen konnte. Marion mußte freiwillig zu ihm zurückkommen oder gar nicht.
Marion erlebte Nächte voll glückhaften Rausches. Sie dachte kaum noch an Alexander Kühnert, und wenn sie es doch einmal tat, dann nur ganz flüchtig. Er war für sie nicht mehr als die Sprosse einer Leiter, die sie zu Nick geführt hatte. Jetzt gab es keine unbestimmte Sehnsucht in ihr, sondern nur noch den Wunsch nach seiner Nähe und seiner Zärtlichkeit. »Mein Prinz«, nannte sie ihn, und er hörte es gerne. An Bord der ›Fantasia‹, so hieß Nick van Dams Yacht, gab es keine Langeweile, sondern eine Kette von Belustigungen und Zerstreuun gen. Jeder richtete sich einzig und allein nach Nicks Wünschen. Hatte er Lust zu tanzen, wurde getanzt, zu fischen, wurde gefischt, zu spie len, wurde gespielt, Wasserski zu fahren, geschah auch das. Für Mari on war es ganz selbstverständlich, sich nach jedem Wink seiner grau en, verhangenen Augen zu richten. Mal wurde tagelang nur Englisch gesprochen, mal mußte äußerste Ruhe herrschen, und dann wieder mußten alle so viel Lärm machen, wie sie nur konnten. Oft wurde die Nacht zum Tag, der Tag zur Nacht gemacht, dann wieder noch vor Sonnenaufgang aufgestanden. Marion versuchte alles mitzumachen, auch wenn sie beim Wasserskifahren die Angst nie verlor und Glücks 140
spielen keinen Genuss abgewinnen konnte. Am liebsten saß sie ein fach da und sah Nick zu, seine anmutige Schönheit war ein immer neues Geschenk für sie. Wenn sie gegen ihn spielte, verlor sie immer, schon weil sie sich nicht konzentrieren konnte. Eine Weile machte ihm das Spaß, dann wurde es ihm langweilig, und er spielte wieder mit der Hennaroten, die Jane hieß, wie Marion jetzt wußte. Die beiden spielten Back Gammon, mit hohem Einsatz; Nick tat es mit großer Leidenschaft, Jane kühl und überlegt. Am Ende war immer sie es, die eine hohe Summe gewonnen hatte. Er versuchte, es mit Ge lassenheit zu tragen, aber einmal verlor er die Beherrschung. »Bringst mir kein Glück!« fuhr er Marion zornbebend an. Nick van Dam hob die Hand zum Schlag. Marion wich zurück. »Aber, Nick, ich kann doch nichts dafür …« Er stieß einen Fluch aus, wandte sich ab und ging zu seiner Kabine. »Nick, bitte!« Marion sprang auf und wollte ihm nach. Jane hielt sie fest. »Lass das!« sagte sie scharf. »Damit machst du es nur noch schlimmer.« »Aber ich muß doch …« »Gar nichts mußt du. Möchtest du von ihm verprügelt werden? Ja, er tut das, wenn er in Wut ist. Sieh mich nicht so an.« Marion dachte an seine Grausamkeit die sie oft schon im Liebesspiel zu fühlen bekommen hatte, und wurde unsicher. »Was habe ich ihm denn getan?« »Nichts. Aber er sucht einen Sündenbock. Armer kleiner Junge, kann es nicht ertragen zu verlieren.« Marion blickte Jane in die spöttischen dunklen Augen, die so gar nicht zu ihrem hennaroten Haar passten. »Wenn du ihn so hasst, wa rum bist du dann hier?« »Um ihm ein bißchen von seinem allzu vielen Geld abzunehmen. Das ist der einzige Grund. Wenn du klug bist, machst du es mir nach. Nick ist kein Mann, in den man Gefühle investieren sollte.« Sie sammelte ihren Gewinn ein und ging. Marion blieb allein unter dem Sonnensegel zurück. Die Yacht glitt stetig über das blaue Meer, blauer noch als der wolkenlose Himmel. 141
Weit weg im Norden zeigte sich die weiße Linie einer fernen Küste. Es gelang Marion den Schatten der Angst, den sie bei Janes Worten ge spürt hatte, abzuschütteln. Sie raffte sich auf und ging Nick nach. Er lag bäuchlings auf seinem Bett. Seine Kabine war abgedunkelt. »Kann ich was für dich tun?« fragte sie zaghaft von der Tür her. »Lass mich in Ruhe«, murmelte er erstickt. »Bitte, Nick, schick Jane weg … sie ist eine harte, eiskalte Person.« Jäh rollte er sich auf den Rücken und starrte sie an. »Und mit wem soll ich dann spielen? Etwa mit dir? Du bist doch eine Null … you are boring, langweilig.« Das war schlimmer für sie, als hätte er sie geschlagen. »Aber … ich liebe dich doch«, sagte sie ganz erschüttert. »Was habe ich schon von deiner Liebe. Verschwinde endlich. Ich will allein sein.« Da ging sie, fassungslos, wie betäubt. In dieser Nacht kam er nicht zu ihr. Sie wagte nicht einzuschlafen, weil sie nicht von ihm überrascht werden wollte. Immer hatte sie ihn wach und voll Bereitschaft empfangen. Stunden kämpfte sie gegen die Müdigkeit, lauschte dem Brummen des starken Motors und dem Rau schen der Wellen, die der Bug durchschnitt. Endlich stand sie auf, um die Tür zu verriegeln. Zuvor öffnete sie sie einen Spalt und sah den Gang entlang, der durch ein blaues Nachtlicht nur spärlich erhellt war. Da hörte sie Stimmen aus Janes Kabine, Stim men und Gelächter, und sie wußte, daß es Nick war, der mit Jane lach te – vielleicht über sie. Sein Gelächter war anders als das der anderen Männer an Bord, hoch und hochmütig. Marion wußte nicht, was die beiden da drinnen in Janes Kabine trieben, lange nach Mitternacht, sie begriff nur, daß sie sich prächtig verstanden, und daß Jane, ob sie Nick nun hasste oder nicht, ihm gewachsen war und ihn zu nehmen wuß te. Diese Erkenntnis schmerzte, und doch empfand sie keine Eifersucht. Sie begriff mit großer Klarheit, wie in einer Erleuchtung, daß ihre Lie be zu Nick van Dam Verblendung gewesen war, nur eine Seifenbla se, ein Nichts. Gleichzeitig fragte sie sich zum ersten Mal, was Alex 142
ander Kühnert wohl empfunden haben mochte, als er erfuhr, daß sie ihn ohne ein Wort, ohne eine Zeile verlassen hatte. Plötzlich fühlte sie sich ihm so stark verbunden wie noch nie zuvor. Es war ihr, als wenn er und sie das gleiche litten und aus dem gleichen Traum erwachten. Nick hatte ihre Liebe nicht verdient, er hatte sie nur ausgenutzt, bis sie ihm lästig geworden war. Aber sie selber war nicht besser als er. Sie hatte Alexander Kühnerts Liebe hingenommen, sie nie erwidert und nichts mit ihr anzufangen gewußt. Sie war so schlecht wie Nick van Dam, so oberflächlich, so kindisch, verwöhnt und selbstsüchtig wie er; sie hatte ihm nichts vorzuwerfen. Heiße Sehnsucht nach Alexander Kühnert überfiel sie, nach dem Mann, ihrem Mann, den sie schon vergessen zu haben geglaubt hat te. Sie hätte alles darum gegeben, wenn sie ihre Dummheit hätte unge schehen machen können. Sie verriegelte die Tür, aber ihre Müdigkeit war verflogen. Glühend wurde ihr bewußt, was Alexander für sie getan hatte, und sie erkannte, was sich in all den Geschenken, mit denen er sie überhäuft hatte, ver borgen hatte: seine Liebe, seine unerschütterliche starke Liebe. Und sie hatte dieses größte Geschenk, das ein Mensch je erhalten konnte, mit Füßen getreten. Wenn es nur einen Weg zu ihm zurück gegeben hätte! Auf alles hät te sie verzichtet, auf allen Luxus, ihr Auto, das schöne Haus, wäre er ihr nur nahe gewesen. Nicht einmal ein Foto hatte sie von ihm, aber sie sah ihn vor sich, sein gutes, männliches Gesicht, das dichte, von grau en Strähnen durchzogene Haar; sie sah ihn mit den Augen der Liebe, und es war ihr, als wäre sie bis zu dieser Nacht mit Blindheit geschla gen gewesen.
Am nächsten Tag kam Marion erst spät an Deck, aber niemand hat te sie vermisst. Nick lag bäuchlings auf der Massagebank und ließ sich von Max durchkneten. Er war völlig nackt, und das Öl auf seinem schlanken jungen Körper schimmerte in der Sonne. Er war so schön 143
wie immer, aber seine Schönheit hatte keinen Wert mehr für Marion, stieß sie beinahe ab. Jane las ihm aus einer Zeitung, die an Bord ge kommen sein mußte, während Marion schlief, die Schlagzeilen vor. Sie konnte Nick van Dam und Jane gleichgültig begrüßen, als wäre nichts geschehen. Es fiel ihr nicht einmal schwer; sie waren ihr wirk lich gleichgültig geworden. Jane sah kurz auf. »Heute Abend legen wir in Monte an«, verkünde te sie. Marions Augen leuchteten auf; das war eine Gelegenheit sich von Nick zu trennen. »Monte Carlo?« fragte sie. »Aber du kommst nicht mit«, entschied er, »ich will spielen, und du bringst mir kein Glück.« »Nick«, sagte Marion mit Entschiedenheit, »ich möchte an Land ge hen.« »Warum?« »Weil ich es möchte. Ich will nicht weiter mit euch fahren.« Er hob den Kopf, und seine verschleierten Augen musterten sie miß trauisch. »Soll das heißen, du willst zu deinem Alten zurück?« »Das kann ich nicht, nach allem, was geschehen ist.« »Was aber dann?« »Ich werde versuchen, Arbeit zu bekommen.« »In Monte Carlo?« Er lachte auf, sein hohes Lachen. »Wenn du schon so was vorhast«, erklärte Jane in einem Ton, als wäre allein der Gedanke an Arbeit schon völlig abwegig, »dann ver such es lieber in Frankreich. Frankreich ist in der EG, und dort wür dest du wahrscheinlich eine Arbeitsgenehmigung bekommen. Wenn du Nick recht schön bittest, fährt er dich vielleicht nach Nizza.« »Würdest du das tun, Nick?« Er zögerte; und es war ihm anzusehen, wie es in ihm kämpfte. Jetzt, da sie sich von ihm lösen wollte, reizte sie ihn wieder, und sei es auch nur als Opfer seiner Launen. »Vielleicht«, sagte er, »morgen.« »Dann gehe ich doch in Monte Carlo von Bord«, sagte Marion, »ich komme auch so irgendwie weiter.« 144
»Das bezweifle ich nicht«, erklärte er ironisch, »bei deinen Talenten. Bloß ist dies kein Vergnügungsdampfer, den man nach Belieben betre ten oder verlassen kann, es ist eine Privatyacht.« »Deshalb bin ich aber noch lange nicht deine Sklavin.« Sein Gesicht verdüsterte sich, aber statt eines Wutausbruchs lachte er auf. »Sieh einmal an, das Kätzchen zeigt die Krallen. Schade, daß dir das jetzt erst einfällt.« Ein Steward servierte Marion das Frühstück im Schatten des Son nensegels. Sie setzte sich und betrachtete es ohne Appetit: den frisch gepressten Orangensaft, die Eier im Glas, den knusprig braunen Toast, die eisgekühlte Butter und den hauchdünn geschnittenen Schinken. Ein Stück trockenes Brot in Alexander Kühnerts Gesellschaft hätte ihr besser geschmeckt. »Hör mal, willst du wirklich fort?« fragte Nick in versöhnlichem Ton. »Du hast doch alles, was du brauchst, oder nicht? Ich halte es für eine Kateridee. Solange dir nichts Besseres einfällt als zu arbeiten, bleibst du hier.« Marion schwieg. Sie wußte aus Erfahrung, daß Nick stets nach dem eigenen Kopf handelte. Da er sie nicht freiwillig an Land gehen ließ, würde sie eine Gelegenheit abpassen müssen, heimlich zu verschwin den, das aber würde unmöglich sein, wenn er erst der Besatzung An weisung gab, sie festzuhalten. Aus diesem Grund hielt Marion es für besser, das Thema fallenzulassen, was aber keineswegs bedeutete, daß sie ihren Plan aufgegeben hatte.
Am späten Nachmittag ankerten sie im Hafen von Monte Carlo. Jane hat te sich schon Stunden vorher schön gemacht; sie trug ein weißes langes Abendkleid mit Perlenstickerei und einem sehr tiefen Ausschnitt, der ih ren gleichmäßig gebräunten Rücken freigab. Nick sah in einem weißen Smoking, diesmal aber korrekt mit schwarzem Binder, blendend aus, aber das beeindruckte Marion nicht mehr. Hinter dieser schönen Fassade, das hatte sie erkannt, steckte ein unreifer, oberflächlicher, egoistischer Junge. 145
Wieder fuhren sie in großer Besetzung mit den beiden Dingis los: Henry, Max und Bob bildeten das Gefolge. Marion blieb mit der Be satzung allein an Bord zurück. Aber es gab für sie keine Möglichkeit an Land zu kommen. Wie immer ankerte die Yacht weit draußen, um die anderen Schiffseigner nicht zu stören und nicht gestört zu werden. Die Boote waren alle fort, und ins Wasser zu springen – auch das er wog sie – wäre allzu dramatisch gewesen. Sie konnte sich nicht erlau ben, auf ihre Koffer zu verzichten, und sie von der Polizei abholen las sen, wollte sie nicht, da sie nicht vergessen hatte, daß sie freiwillig an Bord gekommen war. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als auf eine bessere Gelegen heit zu warten. Nur zu einem war sie fest entschlossen: sich nie wieder Nick van Dam hinzugeben. Sie schämte sich, wenn sie nur daran dach te, daß sie sich von ihm hatte missbrauchen lassen. Ganz allmählich wurde es dunkel. Marion blieb an Deck und blick te auf die Lichterkette, die die Bucht von Monte Carlo in einem wei ten Bogen schmückte; ihr Glanz wurde noch übertroffen vom Strah len der Sterne am klaren südlichen Himmel. Es war ein wunderschö ner Anblick, und dennoch nahm Marion ihn gar nicht wahr. Sie war so allein, und sie war unendlich müde. Doch sie wollte dieser Müdig keit nicht nachgeben, denn sie hatte begriffen, daß sie endlich erwach sen sein und ihr Leben fest in die Hand nehmen mußte. Aber die Be nommenheit blieb, und ihr Kopf schmerzte. Ein Steward servierte ihr eine delikate kleine Mahlzeit, Hummer vom Rost mit Teufelssauce, dazu warmen Toast mit eisgekühlter But ter, aber Marion konnte keinen Bissen hinunterbringen. Sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund, und schon beim Anblick des Es sens mußte sie gegen aufsteigende Übelkeit kämpfen. Mitternacht war vorbei, als die anderen endlich zurückkehrten. Ma rion erkannte ihre Stimmen schon von weitem. Unter Hallo und Ge lächter sausten die Dingis durch das Hafenbecken knapp an den an deren Schiffen vorbei auf die Yacht zu. Fast erleichtert stellte Marion fest, daß sie nicht allein kamen. Wieder hatte Nick von Dam sich zwei Mädchen aufgegabelt. 146
»Zwillinge!« rief er triumphierend, als er an Deck kletterte. »Noch nie habe ich Zwillinge gehabt!« Die Mädchen waren reizend, sehr schlank, mit mandelförmigen dunklen Augen und glattem schwarzen Haar; beide trugen sie pastell farbene Kleider mit plissierten Röcken. Sie zwitscherten Französisch. »Und sie haben dir Glück gebracht«, stellte Marion fest. »Ja, das haben sie! Du kannst dich mit mir freuen!« Nick van Dam klopfte wohlgefällig auf seine dicke Brieftasche. Dann war alles so wie in der Nacht, an der Marion selber an Bord ge kommen war. Champagnerpfropfen knallten, die Band formierte sich auf dem Podest. Betresste Stewards eilten lautlos hin und her. Aber jetzt war es für Marion kein Märchen mehr. Sie sah darin nur noch den sinnlosen Zeitvertreib eines über alle Maßen verwöhnten Jungen, der allein nichts mit sich anzufangen wußte. »Laßt uns happy sein!« rief er übermütig. »Happy … happy … hap py! Das gilt auch für dich, Marion! Mach kein Gesicht!« »Entschuldige, bitte, Nick, aber ich bin sehr, sehr müde.« »Von was denn? Du bist den ganzen Tag doch nur herumgehan gen … immer hängst du nur herum!« »Bitte, sei mir nicht böse, aber mir ist nicht besonders.« »Trink, dann wird dir gleich besser werden.« Er hielt ihr sein Glas an den Mund, und der überschäumende Champagner floß ihr in den Ausschnitt. Marion schauderte, und alle lachten, als wäre das ein herrlicher Spaß. »Hab dich nicht!« rief Nick und gab ihr einen kräftigen Stoß. »Jetzt wird getanzt!« Sie flog über die glatten Planken in die starken Arme Henrys, des jungen Kapitäns. Trotz ihrer elenden Verfassung kam ihr der Einfall, Henry zu bitten, sie morgen früh an Land zu bringen. Vielleicht würde er Verständ nis für sie haben. Flehend blickte sie zu ihm auf, aber sie las in seinen scharfen blauen Augen Verachtung – wie konnte er auch etwas ande res empfinden für eine junge Frau, die so leichtfertig gehandelt hat te wie sie. 147
Sie versuchte sich von ihm zu lösen, die Füße zum Tanz zu heben, aber da kam es wie eine riesige schwarze Wolke auf sie zu, etwas Dro hendes, nie Gekanntes, und löschte ihr Bewußtsein aus. Sie stürzte zu Boden. Die anderen lachten. Nick gab ihr sogar, im Vorbeitanzen, einen Tritt. »Don't be a fool!« rief er. »Lass das Theater! Wer fällt denn schon auf so was rein.« Marions Arme und Beine zuckten. Jane beugte sich über sie. »Vielleicht ist sie epileptisch.« »Widerlich«, sagte Nick, unbekümmert weitertanzend. Eine Pfütze von hellem Urin breitete sich unter Marion aus. »Was es auch ist, die ist wirklich krank!« rief Jane. »Sieh du sie dir mal an, Max.« Max, der ein paar Semester Medizin studiert hatte, hob Marions Au genlider hoch und ließ sie wieder fallen. »Das möchte ich auch mei nen«, erklärte er mit fachmännischer Miene. »Dann schafft sie in ihre Kabine«, befahl Nick. »Aber rasch. Ich lasse mir die Laune nicht verderben.« »Nick, so geht das nicht«, erklärte Jane entschieden, »sie muß ins Krankenhaus. Sofort. Ich weiß, daß du das nicht gern hörst. Aber ich glaube nicht, daß wir uns eine Leiche an Bord erlauben können. Denk nur an die Zeitungsfritzen. Es würde deinem Image schaden.« Jetzt endlich blieb Nick stehen; angewidert verzog er das Gesicht, als er auf Marion niederblickte. »Schweinerei.« »Ja, Nick«, stimmte Jane ihm zu, »je früher wir sie loswerden, desto besser.« »Wer soll es tun?« »Henry und ich. Ein Steward kann schon mal ihre Sachen zusam menpacken.« Nick gab die Anweisung. »Noch etwas, Nick«, sagte Jane und blickte ihm fest in die Augen, »du wirst draufzahlen müssen. Nichts auf der Welt ist umsonst, und ein Klinikaufenthalt schon gar nicht.« »Wieviel?« 148
»Tausend Dollar werden genügen. Als Anzahlung. Bis die Rechnung kommt, sind wir längst wieder unterwegs.« Nick dachte nach, dann schrieb er unter den Blicken der Zwillin ge, die gleichgültig zu tun versuchten, einen Scheck aus, legte ihn aber nicht in Janes ausgestreckte Hand, sondern gab ihn Henry. »Ist mir lieber so«, erklärte er mit einem boshaften Grinsen, »ich kenne dich, Jane.« Jane zuckte die Achseln. Sie gaben sich nicht die Mühe, Marion zu säubern, sondern wickel ten sie nur in ein altes Segeltuch, in dem sie sie über Bord in eines der Beiboote ließen. Als Schwerkranke verließ sie die Yacht, die sie noch vor wenigen Wochen als glückliche junge Frau voll törichter Hoffnun gen betreten hatte. Nick van Dam vergaß sie sofort und vollständig.
Sechzehn Stunden später erwachte Marion in einem freundlichen klei nen Zimmer. Ihr erster Blick fiel auf den Mann im weißen Arztman tel, der neben ihrem Bett saß und sie aufmerksam beobachtete. Seine Haut war von Narben entstellt, aber seine braunen Augen waren voll Güte, die Stirn hoch, und sein Kinn verriet Energie. Es war kein schö nes Gesicht, aber Marion schien es das erste wirklich menschliche Ge sicht nach langer Zeit. Er lächelte ihr ermutigend zu. Sie versuchte, sich zurechtzufinden. Das Zimmer war sehr einfach eingerichtet. Es gab einen weißgestrichenen Schrank, einen zweiten Stuhl, ein Waschbecken, einen Spiegel, sonst nichts. Über der Tür hing ein geschnitztes Kreuz, und der Himmel vor dem Fenster war som merlich blau. »Dies ist ein Krankenhaus, nicht wahr?« fragte sie. »Wie bin ich hier her gekommen?« »Sie sind im Monegassischen Krankenhaus, Frau Kühnert. Genau ge nommen in der urologischen Abteilung. Freunde haben Sie gebracht.« 149
Die Erinnerung kam zurück, und ein Schatten fiel über Marions Ge sicht. »Das waren keine Freunde.« »Ach so. Ich hatte mich schon gewundert, daß keiner sich nach Ih nen erkundigt hatte. Ich bin übrigens Doktor Serrant.« Marion bemerkte einen leichten Verband an ihrem linken Arm. »Was ist das?« »Wir haben Ihnen einen Shunt anlegen müssen, einen Kurzschluss zwischen der Armarterie und der Armvene.« »Warum? Was ist überhaupt mit mir passiert?« »Ihre Nieren haben versagt. Wir müssen noch herausbringen, wie es dazu gekommen ist. Wahrscheinlich gibt es einen Eiterherd in Ihrem Körper, es können die Mandeln sein, der Kiefer, ein Zahn. Ihre Nie ren waren überfordert. Sie konnten das Blut nicht mehr entgiften. So kam es zum Koma.« Dr. Serrant sprach ein deutliches, etwas mühsa mes Deutsch mit starkem Akzent. »Zu meiner Ohnmacht?« Marion bemühte sich zu verstehen. »Ja. Wir mußten Sie an die künstliche Niere legen. Sie wissen, was das ist? Ein großer Apparat, der die Funktion der echten Nieren völlig übernehmen kann.« »Und deshalb der … der Shunt?« Sie blickte auf den Verband. »Ja. Durch ihn wird eine Erweiterung und Verdickung der Vene be wirkt. Dadurch kann sie dauerhaft punktiert an die künstliche Niere gelegt werden.« »Dauerhaft?« Marions Pupillen erweiterten sich schreckhaft. »Soll das heißen, daß es öfter geschehen muß?« »War es denn so schlimm? Sie sind doch dabei sogar eingeschlafen, kaum daß Sie aus der Bewusstlosigkeit erwacht sind.« »Wie oft noch?« wollte Marion wissen. Dr. Serrant wich aus. »Natürlich müssen Sie auch Diät halten und die Flüssigkeitszufuhr beschränken.« »Wie oft?« wiederholte Marion ihre Frage. »Ich glaube, darüber sollten wir lieber zu einem späteren Zeitpunkt sprechen.« »Aber Sie wissen es doch, Doktor Serrant, Sie wissen es schon jetzt!« 150
Er begriff, daß er sie nur aufregte, wenn er ihr die Wahrheit vorent hielt. »Zweimal wöchentlich«, sagte er, »jeweils acht bis zwölf Stun den.« »Nein!« »Frau Kühnert.« Er nahm ihre Hand. »Sie sind dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen, so sagt man doch in Deutschland? Sie ha ben großes Glück gehabt, daß Ihre … daß diese Leute Sie gleich hier her gebracht haben und daß eine künstliche Niere zur Verfügung stand und frei war. Sie sollten dem Schicksal dankbar sein.« »Wofür?« »Daß Sie leben!« »Nein, Doktor Serrant!« Marion schloß die Augen, als wollte sie sich ganz in sich zurückziehen. »Es ist ein völlig verpfuschtes Leben.« »So dürfen Sie nicht reden. Es gibt viel schlimmere Krankheiten, Frau Kühnert. Zweimal in der Woche in der Klinik schlafen zu müs sen, was bedeutet das schon.« »Immer?« »Ja, Frau Kühnert. Sie müssen sich damit abfinden. Ihre Nieren sind kaputt. Eine Heilung gibt es nicht.« Marion weinte nicht. »Das ist die Strafe«, flüsterte sie. »Was reden Sie sich da ein!« »Doch, es ist die Strafe. Für meine Dummheit, meine Lieblosigkeit, meine Untreue. Oh, mein Gott, und ich habe sie verdient.« Dr. Serrant räusperte sich. »Haben Sie Verwandte, die man benach richtigen könnte?« Sie schüttelte stumm den Kopf. »Ihre Eltern?« »Niemanden.« »Ein so junger Mensch wie Sie kann doch nicht ganz allein auf der Welt sein.« Er versuchte noch weiter in sie zu dringen, aber Marion antworte te nicht mehr.
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Dr. Serrant gab nicht auf. Obwohl er die Dinge der Patientin gegenüber zu bagatellisieren versucht hatte, wußte er doch sehr gut, daß eine le benslange Abhängigkeit von der künstlichen Niere eine schwere, nicht nur körperliche, sondern auch seelische Belastung bedeutete. Mari on war in einer Verfassung, in der sie den Kampf nicht durchstehen konnte; sie brauchte Trost und Hilfe, wie er als Arzt sie ihr nicht ge ben konnte. Aus ihren selbstanklagenden Worten hatte er herausgehört, daß sie eine Tragödie durchgemacht hatte, und nahm dies auch als Grund, daß sie ihre Verwandten nicht benachrichtigt haben wollte. Sie schäm te sich und erwartete kein Mitleid. Dr. Serrant wollte es dennoch, auch gegen den Willen der Patien tin, versuchen. Er fragte in der Anmeldung nach, und dort lag ihr Paß. »Marion Kühnert, geb. Lenz«, las er und weiter: »Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher.« Geburtsort und Geburtsdatum waren angege ben, Größe, Farbe der Haare und Augen. Ausgestellt war der Paß in München, aber eine Angabe des Wohnorts stand nicht darin – in kei nem Paß, wie ihm jetzt erst klar wurde. Er steckte in einer grünen Lederhülle. Dr. Serrant fuhr mit dem Zei gefinger zwischen Leder und Umschlag, glaubte etwas zu ertasten und nahm den Paß aus der Hülle. Eine schmale Visitenkarte fiel ihm entge gen mit der Aufschrift Alexander Kühnert, 8 München-Bogenhausen, Röntgenstr. 17, und zwei Telefonnummern, eine private, die andere ge schäftlich. Das mußte ein Verwandter sein. Da es noch keine fünf Uhr war, versuchte Dr. Serrant es zuerst an der Geschäftsadresse. Er wählte durch.
Alexander Kühnert war gerade dabei, die Post des Tages zu unter schreiben. Seine neue Sekretärin, sehr schlank, noch ein wenig unsi cher und sehr beflissen, stand neben ihm und blätterte die Seiten der Unterschriftenmappe um. Als das Telefon klingelte, nahm sie den Hörer ab und meldete sich: 152
»Chefzimmer Alexander Kühnert!« Sie lauschte, legte die Hand über die Sprechmuschel und sagte: »Ein Anruf für Sie, Chef. Aus Monte Carlo.« Alexander Kühnert nahm seiner Sekretärin den Hörer aus der Hand, gab ihr einen Wink, ihn allein zu lassen, und meldete sich. »Hier spricht Doktor Serrant vom Monegassischen Krankenhaus«, ertönte eine tiefe Stimme mit französischem Akzent, »entschuldigen Sie, bitte, die Störung, Monsieur Kühnert, aber ich bemühe mich, Ver wandte einer Patientin auszumachen. Der Name der jungen Frau ist Marion Kühnert.« »Ich bin ihr Mann«, erklärte Alexander Kühnert, ohne zu zögern. »Das ist sehr gut«, sagte Dr. Serrant erleichtert. »Ich glaubte sie auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer! Was ist mit ihr? Ein Unfall?« »Nein. Sie ist krank.« »Was hat sie? Nun reden Sie schon, Doktor!« »Das darf ich leider nicht. Nicht ohne Einverständnis der Patien tin.« »Was sollte sie dagegen haben?« »Ich rufe gegen ihren Willen an«, erklärte Dr. Serrant geduldig, »sie weigerte sich, mir Ihre Adresse zu geben. Ich habe sie nur durch einen Zufall herausgebracht … eh bien, um ehrlich zu sein, ich habe dem Zu fall un peu … ein wenig nachgeholfen.« »Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar, Herr Doktor. Ich fliege mit der nächsten Maschine nach Nizza. Und nochmals Dank, Herr Doktor.« So oft hatte er an Marion gedacht, in Sehnsucht und in Sorge, daß ihm keinen Augenblick der Gedanke, sie ihrem Schicksal zu überlas sen oder sich vielleicht nur um ihre materielle Lage zu kümmern, ge kommen war. Ohne seine Sekretärin zu bemühen, rief er selber beim Amtlichen Bayerischen Reisebüro an und erkundigte sich nach der besten Verbin dung. Er erfuhr, daß das nächste in Frage kommende Flugzeug erst am nächsten Morgen um zehn Uhr in München startete. Er würde in Zü rich und Genf umsteigen müssen, um 13 Uhr 55 in Nizza sein. Gleich 153
zeitig mit dem Flug buchte er ein Zimmer im Holiday Inn Hotel in Monte Carlo. Nach der ersten Enttäuschung, nicht schneller bei Marion sein zu können, entschloß er sich, die Situation zu nutzen und seine wichtig sten Mitarbeiter zu einer Besprechung zusammenzurufen. Er wußte nicht, wie lange er würde fortbleiben müssen.
Als Alexander Kühnert am nächsten Tag Marions Krankenzimmer betrat, ging es auf halb vier zu. Sie hatte nach dem Essen vor sich hingedämmert und glaubte zu träumen; das Blut schoß ihr in die Wangen, und ihre blauen Augen leuchteten auf. »Du!?« rief sie. »Alexander!? Nein, nein … das ist nicht Wirklichkeit!« Unwillkürlich streckte sie die Arme nach ihm aus. »Marion! Liebling!« Er trat näher. Von einer Sekunde zur anderen verfinsterte sich ihr Gesicht, und ihre verlangend erhobenen Hände bogen sich in Abwehr. »Geh! Geh!« Ihre Stimme klang spröde, wie gebrochen. »Ich will dich nicht sehen. Geh weg!« »Aber, Marion, Liebling, was ist los mit dir? Eben hast du dich doch gefreut … ich habe gesehen, wie du dich gefreut hast.« »Ich war verwirrt, nicht darauf gefaßt, daß du kommen könntest. Bit te, geh. Ich habe dich nicht rufen lassen, das mußt du mir glauben.« »Das weiß ich ja, Marion.« Er legte ihr den Strauß roter, süß duften der Rosen, den er ihr mitgebracht hatte, auf die Bettdecke. »Es hat kei nen Sinn, daß du dich aufregst. Du bist krank. Wie geht es dir? Ich muß schon sagen, du siehst nicht halb so schlecht aus, wie ich erwar tet hatte.« Zwar war sie noch dünner geworden und völlig ungeschminkt, aber die Hämodialyse, die Blutreinigung durch die künstliche Niere, hat te ihr so gut getan, daß man ihr nicht ansehen konnte, wie krank sie wirklich war. »Es ist aus mit uns«, erklärte sie, krampfhaft bemüht, an ihm vorbeizusehen. 154
»Nur keine Angst«, sagte er, »ich werde dich in keiner Weise belästi gen …« »Du belästigst mich nicht!« brach es aus ihr heraus. »Du beschämst mich! Wenn du wüsstest, was alles passiert ist …« Sie schlug die Hän de vor das Gesicht. »Für wie dumm hältst du mich eigentlich?« Er zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Du hast dich in einen anderen Mann verliebt, das war mir von Anfang an völlig klar, du hast dich ihm hingegeben.« Sie ließ die Hände sinken und sah ihn jetzt doch an, weil sein kluges, gutes Gesicht eine unwiderstehliche Anziehung auf sie ausübte. »Und das sagst du so ruhig?« »Natürlich hat es mich geschmerzt, Marion. Ich liebe dich doch. Aber ich finde, es ist nicht der Moment, uns über diese Geschichte zu unterhalten. Zuerst mußt du wieder ganz gesund werden.« »Das kann ich nicht, Alexander, nie mehr!« »Unsinn, das redest du dir jetzt ein. Eine so junge Frau wie du …« »Es ist doch wahr. Frag Doktor Serrant.« Sie schluckte schwer. »Mei ne Nieren sind kaputt. Weißt du, was das heißt? Ich muß an die künst liche Niere. Jede Woche zweimal. Immer wieder. Bis an mein Lebens ende.« Diese Eröffnung kam so unerwartet und kam so niederschmetternd, daß Alexander Kühnert keine Worte fand. Dr. Serrant trat ein. »Sagen Sie's ihm, Doktor!« rief Marion. »Sagen Sie, wie es um mich steht. Er will's mir nicht glauben.« »Es ist wahr. Leider.« Dr. Serrant legte Alexander Kühnert die Hand auf die Schulter. Alexander Kühnert schüttelte den Kopf, als dröhnte er ihm unter ei nem dumpfen Schlag. »Ich begreife es nicht.« »Bei entsprechender Medikation …«, begann Dr. Serrant, unterbrach sich dann selber, weil ihm bewußt wurde, daß das, was er sagen woll te, kein wirklicher Trost sein konnte. Alexander Kühnert hatte seine Hände zu Fäusten geballt und häm merte auf seine Knie. »Es muß eine Hilfe geben! Es muß!« 155
»Ja, schon … eine Nierentransplantation!« Alexander Kühnert fuhr herum und starrte Dr. Serrant an. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« »Um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Es ist schwierig, einen geeigneten Nierenspender zu finden. Und Ihre Frau hat, wie wir fest stellen mußten, eine etwas ungewöhnliche Blutgruppe, nämlich A zwei.« »Aber sie kann doch nicht der einzige Mensch auf der Welt damit sein …« »Natürlich nicht.« »Dann werden wir auch einen Spender finden.« »Alexander, bitte«, sagte Marion, »ich will nicht …« »Du willst nicht wieder gesund werden?« »Ich kann nicht noch mehr Geld von dir annehmen.« »Jetzt hör mal zu …« Dr. Serrant unterbrach ihn. »Eine Nierentransplantation ist keine Sa che des Geldes. Ich nehme an, Madame Kühnert ist in einer Kranken kasse …« »Ja«, sagte Alexander Kühnert, »ich habe sie bei meiner Versiche rung angemeldet.« »Jede Krankenkasse zahlt eine solche Transplantation, wenn sie durchführbar ist, vor allem bei Menschen unter dreißig. Eine Dau erbehandlung mit der künstlichen Niere wäre in solchen Fällen noch teurer.« Alexander Kühnert lächelte Marion zu. »Na, siehst du.« »Wir hier in Monaco sind allerdings noch nicht so weit.« »Ich wollte meine Frau sowieso nach München holen. Wann können wir hier weg?« »Ja, Professor Schmidt an der dortigen Universitätsklinik hat mit Er folg Transplantationen durchgeführt.« Dr. Serrant strich sich über das Kinn. »Ich denke, die Patientin sollte sich morgen noch erholen, über morgen nacht legen wir sie noch einmal an die künstliche Niere, und danach können Sie mit ihr abfahren. Am besten im Krankenwagen.« Eine Schwester kam und brachte ein Tablett mit einer Tasse Tee und 156
einem Stück Sandkuchen. Dr. Serrant wünschte guten Appetit und ließ Alexander Kühnert mit Marion allein. »Warum tust du das alles für mich?« fragte sie. »Denk mal gut nach.« »Aber du kannst mich doch nicht mehr lieben, wo ich … nachdem ich … ich verdiene es einfach nicht.« »Man wird nicht nach Verdienst geliebt.« »Du glaubst jetzt, daß du darüber wegkommen kannst, aber du kannst es nicht.« »Unsinn. Die Zeiten sind vorbei, wo die Männer erwarten durften, eine Jungfrau zu heiraten. Du warst eine, und das ist der Grund für al les, was danach gekommen ist. Du konntest vor der Ehe keine Erfah rungen machen, und da hast du sie in der Ehe nachgeholt.« »Das ist aber nicht das gleiche.« »Nein. Aber es ist auch nicht schlimmer. Die Frage ist jetzt nur, was haben diese Erfahrungen dir gebracht? Hast du erkannt, daß du zu jung in die Ehe gerannt bist? Daß du den falschen Mann genommen hast?« Sie schüttelte, ohne ihre Augen von seinem Gesicht zu lassen, den Kopf. »Oder möchtest du zu mir zurückkommen? Möchtest du, daß wir noch einmal von vorn anfangen?« »Ich werde mir nie verzeihen können.« Sie zerkrümelte das Kuchen stück zwischen den Fingern. »Daß ich so blind war. Ich habe nur das gesehen, was du mir gegeben hast … und dich dahinter gar nicht ent deckt.« »Das war auch meine Schuld. Ich habe es gut gemeint, aber wahr scheinlich habe ich dir zu viel geboten.« »Es ist alles so schrecklich, Alexander.« Ihre Stimme klang tonlos. »Ich bin am Ende. Bitte, widersprich mir nicht, lass mich ausreden. Wir müssen jetzt doch ganz aufrichtig zueinander sein. Ich muß ster ben … jetzt, wo ich zum ersten Mal liebe. Ich liebe dich, Alexander.« »Du wirst nicht sterben«, beschwor er sie, »du darfst nicht sterben. Versprich mir, daß du dich wehren wirst!« 157
»Ich will es ja, Alexander … ich will es ja von ganzem Herzen.« Aber er las in ihren Augen, die keine Kinderaugen mehr waren, eine große Hoffnungslosigkeit.
In den nächsten Tagen wich Alexander Kühnert nicht von der Seite seiner jungen Frau. Während der ganzen Fahrt nach München saß er neben ihrer Liege und hielt ihre Hand, plauderte mit ihr, immer dar auf bedacht, sie zu ermutigen und aufzuheitern, ihre düsteren Gedan ken zu zerstreuen. Marion war in einem seltsamen Zustand. Sie glaubte nicht, daß das Leben ihr noch eine Chance bot; sie war todtraurig und doch glücklich zugleich, weil der Mann, den sie liebte, ihr so nahe war wie nie zuvor. In München wurde sie in die Allgemeine Station der Universitätskli nik eingeliefert, wo verschiedene Fachärzte sich darum bemühten, den Krankheitsherd ausfindig zu machen. Es stellte sich heraus, daß ihre Tonsillen vereitert waren; sie mußten operativ entfernt werden. Alexander Kühnert hatte sich sofort an Professor Schmidt gewandt. Der Professor war fünfzig Jahre und wirkte, eine sportliche Erschei nung, braungebrannt mit blondem, dichten Haar und intensiv blauen Augen, wesentlich jünger. »Ja«, sagte er, »Kollege Serrant hat mir den Fall schon geschildert. Die Befunde sprechen für eine Transplantation. Ein gesundes Herz, gute Lungen, sehr jung …« »Aber?« fragte Alexander Kühnert. »Die seltene Blutgruppe.« »Es muß sich doch irgendein Mensch finden lassen …« Professor Schmidt brachte ihn mit einer Bewegung seiner gut ge formten Hand zum Schweigen. »Sicher, sicher. Aber die Blutgruppe al lein genügt ja nicht. Sonst brauchten wir uns ja nur an das Rote Kreuz zu wenden und in den Karteien der Blutspender nachzusehen. Es muß darüber hinaus das Antigenmuster im Blut des Spenders mit dem des Empfängers übereinstimmen … Antigene sind, wie Sie wohl wissen, 158
Stoffe, die Antikörper im Blut erzeugen … überhaupt muß eine sehr weitgehende Gewebsidentität bestehen.« »Warum?« »Wir sind auf dem Gebiet der Organverpflanzung heute schon sehr weit fortgeschritten. Aber selbst die gelungenste Operation nutzt nichts, wenn der Körper des Patienten das fremde Organ später ab stößt. Darin besteht die größte Gefahr.« »Davon habe ich gelesen.« »Sehen Sie, und hier besteht die Schwierigkeit. Wir haben Patienten, die schon über ein Jahr auf eine geeignete Niere warten, ja, es könnten in Deutschland etwa sechshundert Menschen jährlich gerettet werden, das ist statistisch nachgewiesen, wenn geeignete Nieren für eine Trans plantation zur Verfügung ständen.« »Ich würde jede Summe zahlen.« »Mit Geld, lieber Herr Kühnert, ist da auch so gut wie nichts zu ma chen. Theoretisch könnten Sie, wenn eine geeignete Niere hereinkä me, sie einem anderen Patienten wegschnappen. Aber das machen wir nicht. Bei uns geht es immer schön der Reihe nach.« »Soll das heißen, daß noch andere Patienten auf die gleiche Niere warten, wie meine Frau sie braucht?« Alexander Kühnert hatte sich er hoben. »Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn sämtliche Befunde vorliegen. Aber es wäre möglich.« »Entsetzlich!« Alexander Kühnert sank in seinen Sessel zurück. »Selbstverständlich versuchen wir jede Niere zu bekommen, die wir nur kriegen können«, versicherte der Professor! »Aber auch von Unfal lopfern … die kommen als Spender am ehesten infrage … sind die Nie ren nicht immer gesund. Manche haben zwei Arterien, dann eignen sie sich nicht zur Verpflanzung … oder aber die Verwandten weigern sich, die Organe freizugeben. Es ergeben sich da ja auch wirklich manchmal sehr makabre Situationen: hier die eine Familie, die um das Leben ihres Sohnes, des Vaters, oder der Schwester zittert, dort die andere Familie, die darum betet, daß ein Verunglückter stirbt, damit eine Niere herein kommt. Wir stoßen da an die Grenzen der Humanität.« 159
Alexander Kühnert hatte nachgedacht. »Ja, müssen es denn immer Tote sein?« fragte er jetzt. »Durchaus nicht. Jeder Mensch hat ja zwei Nieren, von denen eine un ter normalen Umständen ausreicht, die Funktion der Blutreinigung zu übernehmen. Aber ein Mensch mit nur einer Niere ist selbstverständlich immer gefährdeter. Wenn sie geschädigt wird, ist kein Ersatz da, und dann … es ist ja doch eine große Operation und wie alle chirurgischen Eingriffe – machen wir uns nichts vor – mit einem Risiko verbunden.« »Ich würde sofort eine Niere spenden«, erklärte Alexander Kühnert, »wenn ich nur die gleiche Blutgruppe hätte.« Professor Schmidt blickte ihn aufmerksam an. »Sie lieben ihre Frau sehr?« »Ja«, sagte Alexander Kühnert schlicht. »Es gibt natürlich eine Möglichkeit: wenn sich jemand aus der Fami lie Ihrer Frau bereit fände. Gerade innerhalb der Verwandtschaft fin det sich am ehesten die erforderliche Gewebsidentität …« »Wenn es so ist!« Alexander Kühnert faßte neue Hoffnung. »Ich fah re sofort hin!« Er stand auf. »Ich danke Ihnen, Herr Professor.« »Ich verstehe Ihre Gefühle, Herr Kühnert, aber ich muß Sie warnen! Setzen Sie die Leute nicht unter Druck. Wenn keine echte psychische Bereitschaft besteht …« Er unterbrach sich, weil Alexander Kühnert schon die Klinke in der Hand hatte und ihm gar nicht mehr zuhörte. »Na dann … viel Glück!«
Alexander Kühnert fuhr sofort nach Rosenheim. Aber er fand das Häuschen nahe der Kirche Heilig Blut verlassen. Er rechnete sich aus, daß Marions Eltern wahrscheinlich noch bei der Arbeit waren, und wartete, ungeduldig vor der Tür auf und ab gehend. Als Anna Lenz dann von der Ecke her auftauchte, auf einem Fahr rad sitzend, an dessen Lenkstange ein Netz mit Einkäufen baumelte, eilte er ihr entgegen. 160
Seine Schwiegermutter betätigte den Rücktritt und sprang ab. »Alex ander!« rief sie. »Es ist doch hoffentlich nichts passiert?« »Eine ganze Menge.« Er hatte niemandem gesagt, daß Marion ihn verlassen hatte, und doch hatte seine Schwiegermutter es sich, nachdem sie wochenlang nichts von ihr gehört hatte, zusammengereimt. »Du hättest Marion nicht heiraten sollen«, sagte sie, nahm ihr Kopftuch ab und lockerte sich mit der freien Hand die Frisur. »Sie ist krank, Anna, sehr krank!« Er folgte ihr in das Haus und wei ter in die Küche, während er ihr berichtete. Seine Schwiegermutter stellte indessen Wasser auf und Tassen auf den Tisch. Er faßte sie bei der Hand. »Du bist der einzige Mensch, der ihr hel fen kann, Anna!« »Ich würde alles für dich tun«, sagte sie, »seit du dich so um Kaspar gekümmert hast … das werde ich dir nie vergessen.« »Du sollst es nicht für mich, sondern für Marion tun … und damit natürlich auch für mich. Anna, du kannst Marion retten, wenn du be reit bist, ihr eine deiner Nieren abzugeben.« Sie ließ sich auf den Küchenstuhl sinken. »Eine große Operation?« »Ja.« Einen Augenblick dachte sie nach. »Ich bin bereit«, sagte sie dann. »Wenn du nur die richtige Blutgruppe hast!« »Doch. Das weiß ich zufällig. Ich habe Blut gespendet … vor der Währungsreform. Da kriegte man Butter und Milch dafür.« »Dann wird hoffentlich auch alles andere stimmen.« »Ja, ich hoffe es. Das arme Ding.« »Anna«, sagte er, »ich habe dich doch hoffentlich nicht überrumpelt? Ich wünsche es natürlich sehr, aber …« »Schon gut«, wehrte sie ab, »welche Mutter würde das nicht für ihr Kind tun? Und wenn ich dabei drauf gehe, was soll's? Ich habe mei ne besten Jahre hinter mir, und wie ich die Männer kenne, wird Xa ver sich dann noch mal eine andere nehmen.« Sie lächelte. »Vielleicht würde es ihm sogar gut tun. Die könnte ihn sicher mal vom Fernse her weglocken.« 161
»Red doch nicht so was.« »Ich sage bloß, was wahr ist.« Anna Lenz tat Pulverkaffee in die Tas sen und goss kochendes Wasser auf. »Wann soll's denn losgehen?« »Am besten sofort. Es müssen ja eine Menge Untersuchungen ge macht werden.« »Dann pack' ich gleich ein paar Sachen«, beschloß Anna Lenz gefaßt, »schreibst du, bitte, dem Xaver einen Zettel? Die Hanni soll sich um ihn kümmern, wenn ich weg bin.«
Aber es ging alles nicht so schnell, wie Alexander Kühnert es sich er hofft hatte. Zwar stellte Professor Schmidt fest, daß Anna Lenz als Spenderin geeignet war. Doch erst einmal mußten Marions Mandeln entfernt und andere Infektionen ausgeschlossen werden. Anna Lenz blieb in dieser Zeit in München. Sie wohnte bei Alexan der Kühnert und wechselte sich mit ihm bei Marion ab. Die Patien tin war jetzt sehr ruhig geworden und widersprach nicht, wenn sie ihr Hoffnung zu machen versuchten. Aber sie stimmte ihnen auch nicht zu. Am Tag, bevor ihre Nieren entfernt werden sollten, fragte ihr Mann sie noch einmal: »Willst du es wirklich, Marion?« »Ja«, sagte sie und blickte ihn an. »Manchmal habe ich Angst, daß ich dir etwas eingeredet habe.« Sie streckte ihre Hand nach ihm aus. »Du hast dir nichts vorzuwer fen, Alexander.« Er nahm ihre schmale kalte Hand zwischen seine warmen, kräftigen Finger. »Danach gibt es kein Zurück mehr, Marion.« »Ich will auch nicht zurück.« Schon am Abend vor der Operation wurde sie mit Beruhigungsmit teln versorgt, so daß sie am nächsten Morgen kaum merkte, daß sie in den Operationssaal gebracht wurde. Unter Narkose wurden ihr bei de Nieren durch Flankenschnitte entfernt. Danach wurde sie an die künstliche Niere angeschlossen. 162
Als die Operationswunden endlich abgeheilt waren, wurde ihre Harnblase durch tägliche Einträufelungen keimfrei gemacht. Die Na trium-, Flüssigkeits- und Eiweißzufuhr wurden beschränkt. Alle die se Maßnahmen zielten darauf hin, die Patientin in einen möglichst guten Allgemeinzustand zu bringen. Erst dann bestimmte Professor Schmidt endlich den Tag der Transplantation. Jetzt wurde auch Anna Lenz stationär aufgenommen. Die Vorun tersuchungen hatten ihren guten Gesundheitszustand bestätigt. Jetzt wurden noch einmal die Urin- und Blutbefunde überprüft, die Nie ren-, Lungen- und Herzfunktionen bestimmt und Röntgenbilder des gesamten Harnbereichs gemacht. Den Abschluß aller Untersuchungen bildete die sogenannte transfe morale Aortographie, eine durch den Oberschenkel führende Besichti gung. Hierbei wurde von der Beinarterie aus ein Katheder in die Aorta geschoben und kurz oberhalb des Abgangs der Nierenarterie ein Kon trastmittel injiziert. Dadurch erhielt man auf dem Röntgenbild eine voll kommene Darstellung der Gefäßarchitektur der Niere. Es ergaben sich bei Anna Lenz ideale Verhältnisse; es lag eine großkalibrige Nierenarte rie vor, die keinerlei arteriosklerotische Veränderungen aufwies. Noch während diese Untersuchungen liefen, wurde das Blut von Mutter und Tochter an das Immunbiologische Zentrum geschickt, wo die Antigenmuster überprüft wurden; die Auskunft war günstig. Am Tag vor der Operation trat das Transplantationsteam unter Lei tung von Professor Schmidt zusammen, um die allgemeine Marschrou te festzulegen. Es wurde beschlossen, die linke Niere der Spenderin in den rechten Unterbauch der Empfängerin zu implantieren. Das war das günstigste Vorgehen, da alle Gefäße und besonders die Vene der linken Niere naturgemäß länger ausgebildet sind als auf der rechten Seite. Es wurden zwei Operationsgruppen gebildet. Die erste unter Ober arzt Dr. Gruber übernahm die Aufgabe, die Niere der Spenderin zu entnehmen und für die Transplantation zu präparieren. Zur gleichen Zeit sollte die zweite Gruppe unter Professor Schmidt die Implantati onsstelle der Empfängerin vorbereiten. Das Team war guten Mutes. Alle Ärzte waren schon bei Nierenver 163
pflanzungen dabei gewesen, und alle waren überzeugt, daß die Bedin gungen gerade im Fall Marion Kühnert besonders günstig lagen.
»Du mußt daran glauben, daß die Operation glückt«, sagte Alexander Kühnert, als er sich von seiner jungen Frau verabschiedete. Marion hatte ihre Sonnenbräune längst verloren; rührend zart und blaß lag sie in ihren Kissen. »Ich werd's versuchen«, versprach sie mit zitternden Lippen. »Um meinetwillen«, bat er. Sie nickte stumm. Zwei Schwestern kamen, um sie ins Untergeschoß zu fahren. Sie soll te die letzten zwölf Stunden vor der Operation noch einmal an die künstliche Niere angeschlossen werden, um beste Blut-, Elektrolytund Harnstoffverhältnisse zu schaffen. »Lassen Sie mich mit meinem Mann allein … bitte, nur einen Au genblick noch!« flehte sie. Die Schwestern wechselten einen Blick. »Wir warten vor der Tür«, sagte die eine. »Was möchtest du mir noch sagen?« »Wenn wir uns nicht mehr wieder sehen …« »Das ist doch Unsinn, Liebling!« »Bitte, lass es mich aussprechen, Alexander! Denk nicht schlecht von mir, Alexander … ja, ich weiß, ich habe schlecht gehandelt, aber ich bereue es sehr … so sehr.« »Wir haben alle Fehler gemacht, Liebling.« »Nein, nein, tu nicht so, als wäre nichts gewesen, sondern gib zu, daß ich schlecht war … und verzeih es mir! Bitte, verzeih!« Statt aller Worte nahm er sie in die Arme und küßte sie innig. Als sie dann über den langen Gang zum Aufzug gerollt wurde, war ihm das Herz so schwer wie nie zuvor. Er ging neben ihr her, um noch so lange wie möglich bei ihr zu sein, und plötzlich war ihm, als würde er sie nie wieder sehen. 164
Ihr Lächeln schnitt ihm ins Herz. Erst als die Türen hinter ihr zuglitten, wandte er sich ab, um noch ein letztesmal seine Schwiegermutter aufzusuchen.
Am nächsten Morgen wurden Marion Kühnert und ihre Mutter in die Anaesthesievorbereitungsräume gebracht. Beide Patientinnen hatten schon Beruhigungsmittel bekommen. Jetzt wurde ihnen Penthonal di rekt in die Armvene gespritzt, Marion bekam es über den Shunt, und sie fielen in leichten Schlaf. Für die eigentliche Narkose wurde AlloferinsR appliziert, das aus dem Pfeilgift südamerikanischer Indianer gewonnen wird. Es dient zur Er schlaffung der Muskulatur, die herbeigeführt werden mußte, um die Patientinnen zu intubieren. Durch die Stimmritze wurde jeweils ein Tubus, eine starre, biegsame Röhre, durch die Luftröhre eingeführt und fixiert, der Tubus an seinem anderen Ende an einen der beiden Beatmungsapparate angeschlossen. Durch diese Apparate konnten ih nen auch je nach Dauer der Operation in diesem Zustand Narkosemit tel zugeführt werden. Danach wurden die Patientinnen mit den Atmungsapparaten in den großen Operationsraum gebracht und für die Eingriffe gelagert, Anna Lenz auf der Seite, Marion auf dem Rücken. Da lagen sie nun, ohne Bewußtsein, ihrer menschlichen Würde beraubt, im schattenlo sen Licht der Operationslampen. Schwestern machten sich sofort dar an, die Operationsgebiete gründlich zu sterilisieren. Beide Operations tische standen so, daß die Chirurgen ständig Sprechkontakte mitein ander hatten. Die beiden Chirurgen mit ihren Teams zogen in den Operationssaal und begannen gleichzeitig.
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Durch einen großen Flankenschnitt, der drei Querfinger in den 11. Zwi schenrippenraum hineinreichte, durchtrennte Dr. Gruber die Haut der Spenderin. Danach folgte die Spaltung des Fettgewebes. Die drei que ren Bauchmuskeln wurden samt der sie umgebenden sehnigen Hül le durchtrennt und die Fettkapsel der Niere freigelegt. Dieses Fett ent hielt feinste Blutgefäße, die von den Assistenten entweder abgebunden oder elektrochirurgisch verschorft werden mußten. Danach wurde der Nierenhilus sichtbar, eine Vertiefung an der Oberfläche des Organs, in das die Nierengefäße einmündeten. Zuerst machte sich Dr. Gruber daran, die Nierenvenen freizulegen. Für Mi nuten herrschte gespanntes Schweigen. Vor der Operation, auch durch die Arteriographie, kann man nichts über die Zahl und die Lage der Venen erfahren. Dr. Grubers Augen schienen seinem ersten Assistenten zuzulächeln, als er feststellte, daß die Niere, an der er arbeitete, nur eine große Vene besaß. »Sehr gut!« rief er zu Professor Schmidt hinüber. »Eine einzige Vene, und was für eine … tadellos!« »Glückwunsch!« rief Professor Schmidt zurück. »Paßt bloß auf!« ermahnte Dr. Gruber seine Assistenten. »Daß ihr mir nichts mit euren Haken anrichtet!« Die Nierenvene mündete in die Eierstock- und in die Nebennieren vene. Sie wurden sorgsam freipräpariert, mit feiner Seide angeschlun gen, abgebunden und durchtrennt. Schon während der Venenpräparation war die Nierenarterie durch kräftiges Pulsen sichtbar geworden; sie lag kopfwärts zur Vene. Dr. Gruber löste sie von der Hinterfläche der Niere her sorgfältig los. Gleichzeitig mußten von den Assistenten feine Blutgefäße, die im Bin degewebe lagen, abgebunden werden. Dann war die Abgangsstelle der Nierenarterie aus der Aorta, der großen Hauptschlagader, erreicht, so daß beide Gefäße, Arterie und Vene, jetzt frei von umgebendem Ge webe dalagen. Danach arbeitete der Chirurg sich zum Harnleiter vor, wobei er das Fettgewebe im Nierenbecken sorgsam schonte. Der Harnleiter wur de im oberen Abschnitt angeschlungen und bis tief ins kleine Becken 166
verfolgt. Seine Herauslösung gelang ohne Schwierigkeiten. Dort, wo er sich mit den Beckengefäßen kreuzte, wurde er unterbunden und ab getrennt. Jetzt war es soweit. Die Niere hing nur noch an ihren Gefäßen und konnte, sobald die Vorbereitung bei der Empfängerin beendet war, entfernt werden. »Wir sind's!« rief Dr. Gruber. Auch der Anästhesist, der ständig Puls und Blutdruck kontrollierte, war mit dem Zustand des Spenders zufrieden. Inzwischen hatte Professor Schmidt die Haut der Empfängerin mit einem ausgedehnten, leicht bogenförmigen Schnitt im rechten Unter bauch durchtrennt. Nach der Spaltung des Unterhautfettgewebes set zen die Assistenten die großen Wundhaken an. Alle Blutgefäße, selbst die haarfeinsten, wurden einzeln mit Klemmen gefaßt und mit dün nem Katgut abgebunden, einem aus Darmseiten gewonnenen Naht material, das während der Heilung vom Gewebe verflüssigt und aufge sogen werden würde. Eine elektrochirurgische Blutstillung war nicht möglich, weil bei der neuen Niere die Blutgerinnungsfähigkeit zu nächst herabgesetzt werden mußte, und eine mögliche Nachblutung tödlich hätte enden können. Mit dem elektrischen Messer wurden die schrägen Bauchmuskeln durchtrennt und der gerade Muskel im unteren Abschnitt eingekerbt, damit auch die Blase der Empfängerin zugänglich wurde. Danach wurde das Bauchfell zur Mitte hin fortgeschoben, so daß sich die gro ßen Beckengefäße zeigten. Jetzt wurde die Beinarterie herausgearbeitet, und zwar vom Leisten band bis zu der Stelle, aus der die Beckenarterie abging. Mit ihr sollte die Venenarterie der Spenderin anastomisiert, das heißt, Öffnung an Öffnung, verbunden werden. Sie wurde angeschlungen und von der Abzweigungsstelle bis ins kleine Becken hinein verfolgt, wo sie sich in drei kleinere Arterien aufsplitterte. Ebenso wie die Arterie wurde auch die Beckenvene herausgeholt. Um sie so beweglich wie möglich zu machen, wurden alle kleinen Ve nen, die vom Becken in das Hauptgefäß mündeten, unterbunden. 167
In der Tiefe des kleinen Beckens wurde nun der Bauchfellsack zur Mitte hin verschoben, um Platz für die Niere zu schaffen und auch die seitliche Blasenwand freizulegen. Sorgsam überprüfte Professor Schmidt danach noch einmal das vorbereitete Nierenbett und stillte zwei winzige Sickerblutungen. Jetzt trat er an den Operationstisch der Spenderin und überzeugte sich selbst über Länge und Größe von Nierenvene und Nierenarterie, die vom Blutkreislauf noch nicht abgelöst waren – das geschah wenige Minuten, nachdem Dr. Gruber verkündet hatte, daß es soweit war. »Sehr schön«, sagte Professor Schmidt bewundernd, als handelte es sich um ein Kunstwerk. Es war geplant, die Nierenarterie Öffnung zu Öffnung mit der Bek kenarterie der Empfängerin zu verbinden, während die Nierenvene seitlich an die Beckenvene angeschlossen werden sollte. Professor Schmidt stellte fest, daß die Nierenarterie großkalibriger war als die Beckenarterie der Empfängerin; die Beckenarterie mußte also geweitet werden. »Ihr könnt«, sagte er dann und hob die Hand zum Zeichen für Dr. Gruber, die Niere des Spenders aus dem Kreislauf auszuschließen. Er selber verlangte von der instrumentierenden Schwester Bulldogg klemmen. Mit zwei dieser Klemmen unterbrach er auf einer Länge von 10 Zentimetern die Blutzufuhr in der Vene und schnitt aus der Venenwand ein ovales Stück heraus, das der Öffnung der Nierenvene ent sprach. Danach legte er zwei Bulldoggklemmen an die Beckenarterie, nahe an ihre Abzweigung aus der großen Beckenvene. Mit Bougies, kleinen, stabförmigen Instrumenten, dehnte er das Loch in der Venenwand, bis das Gefäßkaliber der Nierenarterie erreicht war. Inzwischen hatte der Operateur an der Spenderin die Nierenarterie nahe der Aorta und die Nierenvene nahe der großen Hohlvene abge trennt. Während der erste Assistent die Gefäßstümpfe versorgte, leg te Dr. Gruber die Niere in die vorbereitete Schale mit der auf 4 Grad Celsius abgekühlten Kochsalzlösung, die mit 10 mg Heporin versetzt war, um die Blutgerinnung herabzusetzen. Er begann mit der Perfusi on, der Säuberung vom Spenderblut. Dann führte er das Ansatzstück 168
des Infusionsbestecks in die Nierenarterie ein und ließ die Niere mit sanftem Druck durchströmen. Von diesem Moment an lief die Uhr, damit dieser Vorgang genau gestoppt werden konnte. Nach drei Minu ten war das in der Niere vorhandene Blut ausgespült, und aus der Nie renvene lief klare Spülflüssigkeit. Die Oberfläche der Niere war blaß geworden. In der gleichen Zeit hatte Professor Schmidt an der Vene zwei aus stülpende Ecknähte aus dünner, aber reißfester Gefäßseide gelegt. Die gesäuberte Niere wurde nun in das vorbereitete Bett gegeben. Mit ei nem der Fäden wurde von einer Ecke durch eine fortlaufende Naht die Vereinigung der Nierenvene mit der Beckenvene durchgeführt. Sobald der andere Eckfaden erreicht war, wurden die beiden Fäden miteinan der verknüpft und durch Umkippen der Niere an der hinteren Wand vernäht. Es folgte die Verbindung der beiden Arterienstümpfe Öffnung an Öffnung. Damit die Öffnung weiter klaffte, wurden vom Operateur drei Ecknähte gelegt und mit einer ausstülpenden Naht der Vorder wand begonnen. Vorder- und Hinterwände wurden durch eine enge Nahtreihe mit der Stichführung außen – innen, innen – außen bei straffer Fadenführung wasserdicht miteinander verbunden. Nach der Fertigstellung dieser Anastomosen, so wurde eine Verbin dung der Öffnungen genannt, wurden die Klammern an der Arterie und der Vene rasch und gleichzeitig gelöst. Sofort strömte das Blut in kräftigem Pulsschlag durch die Arterie, verteilte sich in der Niere, um gleich wieder durch die Vene weiterzufließen. Die Oberfläche der Nie re wurde dunkelrot. »Wie lange?« fragte Professor Schmidt. Er wollte wissen, wie lange die Niere alles in allem ohne Durchblu tung gewesen war. Dr. Gruber verstand ihn sofort. »Dreißig Minuten.« »Günstig«, stellte Professor Schmidt fest und war zufrieden mit sich und seiner Leistung. »Das Herz?« fragte er. »Ganz in Ordnung«, erwiderte der Anästhesist, der die Empfänge rin betreute. 169
Das zweite Operationsteam war schon dabei, die Operationswunde der Spenderin schichtweise zu verschließen. Professor Schmidt ging nun daran, den Harnleiter in die Blase einzu pflanzen. Zwischen zwei Haltefäden ritzte er die Muskulatur der Bla se vorsichtig in einer Länge von zweieinhalb Zentimetern an. Er drang bis zur Blasenschleimhaut vor, die er mit einem Einstich in der unteren Ecke der so entstandenen Rinne öffnete. Das Ende des Harnleiters wur de an einen Katgutfaden befestigt und die Nadel dann durch den Ein stich in die Blase hinein und wieder nach außen geführt. Damit zog er das Harnleiterende in den Blasenraum hinein. Danach verknüpfte er den Katgutfaden an der Außenseite der Blasenmuskulatur. Der Harn leiter lief jetzt spannungslos von der Niere zur Blase, und das Harnleite rende ragte etwa einen halben Zentimeter in den Blasenraum. Jetzt folgte die Vereinigung der gespaltenen Harnleitermuskulatur, so daß sich ein Tunnel bildete, durch den Professor Schmidt das untere Harnleiterende in einer Länge von etwa zweieinhalb Zentimetern zog. So entstand ein Ventil, durch das der Nierenurin zwar mühelos in die Blase gelangte, der Blasenurin aber durch Zusammenziehen der Blase nicht zurück in die Niere gedrückt werden konnte. Noch einmal überprüfte Professor Schmidt die Lage der Niere im kleinen Becken und die Durchgängigkeit der Anastomosen. »Ausgezeichnet«, stellte er fest. Die Assistenten entfernten die großen Wundhaken, und sanft legte sich der Bauchfellsack auf die Niere. Schichtweise wurde die Muskula tur und danach, mit Einzelkopfnähten, die Haut geschlossen. Getrennt wurden die beiden Patientinnen auf die Wachstation ge bracht. Die Nierentransplantation war ohne Zwischenfall verlaufen.
Als Marion erwachte, war ihr erstes Wort: »Wo ist mein Mann?« Die Krankenschwester trug einen Mundschutz. »Wie fühlen Sie sich?« »Mein Mann …« 170
»Ihr Mann weiß, daß die Operation gut verlaufen ist. Der Professor hat es ihm selber gesagt.« »Warum kommt er dann nicht?« »Weil er nicht darf. Passen Sie auf, ich werd's Ihnen genau erklären. In Ihrem Körper ist jetzt eine fremde Niere eingepflanzt. Wir müssen deshalb die normalen Abwehrreaktionen unterdrücken. Deshalb krie gen Sie Cytostatika und Corticosteroiden, so heißen die Medikamen te. Weil aber ihre Abwehrreaktionen jetzt nicht funktionieren, müssen wir aufpassen, daß Sie nicht irgendeine Infektion aufschnappen. Wir müssen ganz, ganz vorsichtig sein.« »Wie lange?« »Je nachdem. Drei Wochen.« Rasch fügte die Schwester hinzu: »Aber wenn es Ihnen ein bißchen besser geht, kommen Sie in ein Zimmer mit Fenster zum Gang. Dann können Sie Ihren Mann doch wenig stens sehen.« »Ist das auch alles wahr?« »Also hören Sie mal, Kindchen, ich lüge doch nicht.« Jetzt begannen bange Tage. Immer wieder versicherte Professor Schmidt sich selber und Alex ander Kühnert, daß alle Vorbedingungen für einen Erfolg der Trans plantation so günstig wie nur möglich gewesen waren, und doch bang te auch er darum, ob die Niere der Mutter von der Patientin angenom men würde und ob ihr geschwächter Körper die starke Medikamenta tion ertragen würde. Täglich zweimal erschien Alexander Kühnert an dem Fenster zu Marions Krankenzimmer, lächelte ihr zu, schickte ihr Küsse, und ihre Augen hingen an seinem Gesicht. Mehr als einmal war er nahe daran, das Fenster zu öffnen, um ihr wenigstens ein Wort, ein einziges Wort zu sagen. Aber er mußte es sich verbieten, weil er ihr Leben nicht ge fährden wollte. Für Marion bedeutete es viel, ihn auch nur sehen zu dürfen; nie zu vor hatte sie sich nach irgend etwas so gesehnt, wie nach seinem Auf tauchen vor ihrem Fenster und seinen kleinen Pantomimen, mit denen er sie ermutigen und erheitern wollte. 171
Auch die Mutter erschien am Fenster, sie, die ihr Leben für sie ris kiert hatte, und auch ihr schlug Marions Liebe entgegen. Zwei Wochen nach dem Eingriff durfte Anna Lenz die Klinik verlassen. Auch bei Marion verlief der Heilungsprozess gut. Die fremde Niere funktionierte. Ganz allmählich, um nur ja nichts zu gefährden, wur den die Medikamente abgesetzt. Marions Körper hatte das fremde Or gan akzeptiert. Als Alexander Kühnert seine Frau zum ersten Mal besuchen durf te, saß sie in einem Korbsessel am Fenster. Sie trug einen bodenlangen blauen Hausmantel, der ihr schmales Gesicht mit einer Krause ein rahmte. Sie schien ihm schöner und zerbrechlicher denn je, und er wagte immer noch nicht, sie zu berühren. »Ich bin so froh, Liebling«, sagte er, »so über alle Maßen froh.« »Du hast mir das Leben gerettet.« »Nicht ich, deine Mutter …« »Ohne dich hätte ich nicht die Kraft gehabt, es durchzustehen.« Lange saßen sie einfach nur da und sahen sich in die Augen, erfüllt von dem Glück, einander nahe zu sein. »Ich habe nachgedacht in all den Wochen«, sagte Marion endlich, »ich weiß so wenig von dir, immer hast du dich nur um mich geküm mert.« »Wenn's weiter nichts ist, das können wir nachholen«, erklärte er mit einem zärtlichen Lächeln. »Ich werde dir alles über mich erzählen, Marion. Wir haben ja zum Glück viel Zeit vor uns … ein ganzes lan ges Leben.«
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