John Griesemer
NIEMAND DENKT AN GRÖNLAND
Roman
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John Griesemer
NIEMAND DENKT AN GRÖNLAND
Roman
marebuchverlag Umschlaggestaltung: (s)sans serif Umschlagabbildung: ©Visum/Gerd Ludwig
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel No one thinks of Greenland bei Picador, New York. © 2001 by John Griesemer 1. Auflage 2004 © 2004 by marebuchverlag, Hamburg ISBN 3‐936384‐44‐4
Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke marebuchverlag
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John Griesemer
NIEMAND DENKT AN GRÖNLAND Roman 3
1959, sechs Jahre nach dem Ende des Korea‐Kriegs: Corporal Rudy Spruance kommt auf einem geheimen Army‐Stütz‐ punkt in Grönland an. Die US‐Regierung hat dort an einem Fjord ein Lazarett für Kriegsversehrte eingerichtet. Die entle‐ gene Basis besteht aus Wellblechbaracken, Lagerschuppen, Treibstofftanks und einer vereisten Rollbahn, neben der das Wrack einer Propellermaschine ruht. Das Lazarett selbst, von den Soldaten «Der Flügel» genannt, darf nur mit einer beson‐ deren Zugangsberechtigung betreten werden. Rudy lernt das skurrile Personal des Lagers kennen, darunter der halb ver‐ rückte Kommandant Lane Woolwrap und dessen Geliebte Irene, mit der Rudy einen riskanten Flirt beginnt. Während‐ dessen treibt ein riesiger Eisberg in den Fjord. Und während der gewaltige Koloss allmählich schmilzt und zerbirst, kommt Rudy einem schrecklichen Geheimnis auf die Spur. Wie schon in seinem Nummer‐Eins‐Bestseller Rausch entfaltet John Griesemer vor einem historischen Hintergrund eine Geschichte, in der Menschen mit Gewalten konfrontiert werden, die das menschliche Maß übersteigen: In Niemand denkt an Grönland ist es der Krieg, dessen Wahnsinn John Griesemer in der Tradition von MASH und Joseph Hellers Catch 22 so subversiv wie unerbittlich entlarvt – mit einem Stoff, der unter dem Titel Guy X verfilmt wurde. 4
John Griesemer, 1947 geboren, war als Schauspieler bereits in Malcolm X zu sehen. Er ist der Autor des Romans Rausch, der monatelang auf der Spiegei‐Bestseller‐Liste stand. Mit Niemand denkt an Grönland liegt jetzt ein weiterer Roman von John Griesemer auf Deutsch vor. Der Autor lebt mit seiner Familie in New Hampshire. Ingo Herzke wurde 1966 geboren und hat für den marebuchverlag bereits John Griesemers Rausch übersetzt. Darüber hinaus überträgt er das Werk von A. L. Kennedy ins Deutsche. Ingo Herzke lebt in Hamburg.
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Für den Verdienstorden erster Klasse zu empfehlen: Craig, William – Drosendahl, Glenn – Gray, Edward– Griesemer, L. C., MD – Kendali, Joshua – Metz, Don – Millmann, Lawrence (Saga‐Land. Eine Reise in den Norden, der Funke) – Soeiro, Loren– Täte, Cassandra – Weatherbees, The.
Der Übersetzer dankt Major Michael Karl für zahlreiche wertvolle Antworten auf militärische Fragen. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar. Die amerikanische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel No one thinks of Greenland bei Picador, New York. © 2001 by John Griesemer 1. Auflage 2004 © 2004 by marebuchverlag, Hamburg Alle Rechte vorbehalten, auch das der fotomechanischen Wiedergabe Umschlaggestaltung (S) sans serif, Berlin Typografie und Einhandgestaltung Farnschläder & Mahlstedt Typografie, Hamburg Schrift DTL Dorian Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3‐936384‐44‐4 Von mare gibt es mehr als Bücher: www.mare.de 6
Für Faith 7
In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts unterhielt die U. S. Army ein Lazarett für Schwerstverwundete des Korea‐ kriegs. Diese wurden vom Schlachtfeld direkt ins Lazarett geflogen und blieben dort, bis sie starben. Das US‐Militär‐ lazarett für den Koreakrieg befand sich in Narsarsuaq an der Westküste Grönlands. Auch wenn Qangattarsa nicht Narsarsuaq ist – es ist nah dran.
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EINS «Sie wollen sich bestimmt kratzen», sagte die Schwester. «Lassen Sieʹs», sagte der Sanitäter. Corporal Rudy Spruance sah vom Bett zu ihnen hoch. Mit seiner Haut stimmte etwas nicht. Er konnte die Augen kaum öffnen; sie klebten und waren fast ganz zugeschwollen. Obwohl die Schwester und der Sanitäter am Fußende seines Bettes standen, schienen sie weit entfernt, und Rudy glaubte, in einem Raum ohne Wände erwacht zu sein. Ein Gefühl, das er schon einmal gehabt hatte. «Und damit Sie sich nicht kratzen», sagte die Schwester, «haben wir Ihnen Handschuhe angezogen.» «Das Wintermodell», sagte der Sanitäter. «Das waren die einzigen, die passten.» 9
«Sie sind wirklich schlimm zerstochen», sagte die Schwester. Am Rande seines Sichtfelds bewegte sich etwas, dann stach Rudy ein Lichtstrahl in die Augen. Er zuckte zusammen und versuchte sich wegzudrehen, doch das Licht folgte ihm. «Welcher Wochentag ist heute?» Eine neue Stimme, männlich. «Keine Fangfragen, Doc», sagte die Schwester. Rudy sah nichts als das Licht. «Na gut, welchen Monat haben wir?» «Schon wieder ʹne Fangfrage», sagte der Sanitäter. «Geben Sie dem Jungen mal ʹne Chance.» Das Licht belästigte Rudy weiter. «Herrgott», sagte die Stimme. «Also gut. Welches Jahr?» «Neunzehnhundert...», sagte Rudy. Seine Stimme klang matschig; er konnte sich selbst kaum verstehen. «...neunundfünfzig.» Das Licht verschwand. Alles wurde grün und dunkelrot. Wieder hatte er dieses Gefühl, eine beklemmende Ahnung von Unendlichkeit. Er erinnerte sich, allein in einer Ödnis zu stehen. Dann fiel ihm zu seinem Erstaunen ein flimmernder Fernseher ein, und Sehnsucht durchzuckte ihn. Nicht gerade tröstlich, aber immer noch besser als die anderen Gefühle, deshalb klammerte er sich daran. Dann hörte er leiser werdende Schritte und verlor den Gedanken. «Er wird schon wieder», sagte der Arzt aus der Ferne. «Ich muss jetzt mein Flugzeug erwischen.» Rudy versuchte sich die Augen zu reiben und spürte zwei weiche Bälle an seinen Wangen. Er hob die Hände. Zwei olivgrüne Wollkissen schwebten vor seinem Gesicht: wat‐ tierte Fäustlinge, so groß wie Boxhandschuhe. «Habe ich geschlafen?», fragte Rudy, obwohl er nicht wusste, ob noch jemand im Zimmer war. Die Worte torkelten wie Betrunkene über seine geschwollenen Lippen. «Ja», sagte der Sanitäter. «Stundenlang.» Der Sanitäter und die Schwester standen immer noch am Fuß des Bettes. 10
«Wir haben Ihnen Beruhigungsmittel gegeben», sagte die Schwester. «Sie waren ein bisschen aufgeregt.» «Meine Haut fühlt sich komisch an.» «Sie ist geschwollen», sagte die Schwester. «Wir haben Sie außerdem am ganzen Körper mit Zinksalbe eingerieben. Hat Sie eigentlich niemand vor den Mücken gewarnt?» «Nein», sagte Rudy. «Wo bin ich?» «Hat Ihnen das niemand gesagt?» «Nein. Sie haben mich bloß zusammen mit ein paar Post‐ säcken abgesetzt, dann sind sie wieder abgeflogen.» «Und warum sind Sie draußen rumgelaufen?», fragte der Sanitäter. «Es war niemand da. Ich konnte nicht schlafen, es war zu hell. Also bin ich raus, ein bisschen spazieren gehen.» «‹Und kurz darauf habe ich so ein Summen gehört›», sagte die Schwester. «‹Das immer lauter wurde›», sagte der Sanitäter. «‹Ich hab versucht, sie zu verscheuchen›» «‹Ich hab wie verrückt um mich geschlagen, aber das hat sie anscheinend nur noch wilder gemacht›», sagte die Schwester. «Yeah!», sagte der Sanitäter, schlug sich auf die Hüfte und schnippte mit den Fingern wie ein swingender Jazztrom‐ peter. «‹Ich bin gerannt›», sagte die Schwester. «‹Es war furchtbar›», sagte der Sanitäter. «‹Ich wollte einfach nur weg.›» «‹Aber ich wusste nicht, wohin.›» «‹Ich wusste ja gar nicht, wo ich war.›» «Tja, Soldat, wir können Ihnen sagen, wo Sie sind», sagte der Sanitäter. «Am Arsch der Welt.» «Genau!», sagte die Schwester. «Zerstochen am Arsch der Welt.» «Ooouuhh yeahh!», sagte der Sanitäter. «Zerstochen am Arsch 11
der Welt!» Sie brachen in Gelächter aus, klatschten sich gegenseitig wie Sportler ab, vollführten eine Pirouette und stellten wie beim Schlussakkord einen Fuß nach vorn, breiteten die Arme aus und grinsten beinahe schadenfroh. Einen Augenblick glaubte Rudy, dass sie für ihre Variete‐ nummer Applaus erwarteten. Er räkelte sich unbehaglich. Getrocknete Zinksalbe krü‐ melte auf sein Kopfkissen. «Habe ich das alles erzählt?» «Nein», sagte die Schwester und beugte sich zu ihm hinun‐ ter. «Aber das wollten Sie doch erzählen. Stimmtʹs?» Da hatte sie Recht. Die Mücken hatten den Himmel um ihn verdunkelt. Sie waren aus dem verdorrten Buschwerk der hellen, sonnigen Tundra, durch die er spaziert war, aufge‐ stiegen. Er hatte herauszufinden versucht, wo zum Teufel er sich befand und was eigentlich geschehen war, seit er die Vereinigten Staaten verlassen oder vielmehr seit er sich gemeldet hatte, seit er verhaftet worden war, seit der Zeit vor seiner Verhaftung. Die Mücken waren so überraschend und in solch großer Zahl über ihn hergefallen, dass er das Gefühl gehabt hatte, gegen eine Wand gelaufen zu sein. Er konnte nichts mehr sehen und fing an zu rennen. Das Sirren der winzigen Flügel klang, als käme es direkt aus seinem Kopf, was ihn vollends in Panik versetzt hatte. Er dachte, die Mücken würden sich durch seine Ohren in sein Gehirn bohren. Er wurde überall gestochen. Die Nadelstiche brannten überall, unterm Kragen, in der Nase, in der Hose. Er rief um Hilfe, schrie, atmete Mücken ein, heulte, weinte. Er hatte keine Ahnung, wohin er rannte. Dann hatte ihn jemand zu Fall gebracht, und er war ins weiche Gras gestürzt. Dieser Jemand wickelte ihn in ein nasses Handtuch. Feuchtes Frottee um den Kopf, ein fester Griff, aus dem er zu entkommen suchte – vor lauter Panik kämpfte er gegen seinen Retter an. Der hatte ihn ange‐ 12
schrien, er solle sich zusammenreißen. Dann hatte er ihn auf die Füße gestellt und vorwärts geschoben, während er unter dem Handtuch wimmerte. Er hatte sich vorgestellt, wie das ausgesehen haben musste, als er blind und hilflos abgeführt wurde: ein Kriegsgefangener. «Was ist Ihre Abteilung ...» Der Sanitäter schaute nach dem Namensschild auf Rudys Uniformhemd, das über einem Metallstuhl hing.«... Corporal Spruance?» «P & I», murmelte Rudy. «Presse und Information?», fragte die Schwester. «Das ist doch verrückt.» «Hier gibtʹs keine Presse», sagte der Sanitäter. «Und möglichst wenig Informationen.» «Achtung!» Die Schwester stieß den Sanitäter mit dem Ellbogen an, beide traten von Rudys Bett zurück und nahmen Haltung an. Jetzt konnte Rudy die Tür sehen und erhaschte einen kurzen Blick auf eine junge Frau. Sie trug einen Schwestern‐ rock und eine Uniformbluse für Soldatinnen. Ihr rotblondes Haar war nach hinten gekämmt und so lang, wie es die militärischen Vorschriften gerade noch erlaubten. Rudy konnte den Blick nicht von ihr wenden, doch da erschien ein großer Mann in der Tür und kam auf sein Bett zu–ein Lieutenant Colonel. Da er liegend keine Haltung annehmen konnte, salutierte Rudy nur: Er schlug seine Rechte mit dem dicken Fausthand‐ schuh gegen die Schläfe, was zur Folge hatte, dass ihm Zinksalbenkrümel in sein rechtes Ause rieselten. «Corporal Spruance.» «Sir?» «Colonel Lane Woolwrap. Kommandeur der Basis.» Der Colonel erwiderte den Gruß nicht, und da Rudy nicht wusste, was er nun mit seiner Hand anstellen sollte, ließ er sie wieder auf die Bettdecke fallen. «Wir sind uns bereits begegnet», sagte der Colonel. 13
«Draußen in der Steppe. Ich war Ihr Rettungskommando. Sergeant Teal hier hat Ihren Affentanz durchs Fenster beob‐ achtet. Da habe ich meine M1‐E1‐Moskitohaube aufgesetzt und bin mit einem nassen Handtuch bewaffnet in die Arktis geeilt, um Ihren Arsch zu retten. Hat Sie niemand vor den Mücken gewarnt?» «Nein, Sir.» «Na, dann haben Sie ja gleich eine Feldübung gekriegt. Der theoretische Teil der Mückengrundausbildung geht so: Im Frühjahr, wenn die erste Generation schlüpft, ist es am schlimmsten. Sobald es wärmer wird als zehn Grad. Hab schon gehört, dass sich dann anderswo Rentiere von Klippen stürzen. Sie jedenfalls haben völlig den Verstand verloren und sind von der Basis weggelaufen. Wenn ich Sie nicht aufgehalten hätte, wären Sie direkt auf die Eiskappe gerannt. Wir besprühen den Boden rund um die Basis mit DDT, das hilft, aber Sie mussten ja unbedingt weiter hinauslaufen. Also, wie gefällt Ihnen Grönland?» «Sir?» Der Colonel brach in Gelächter aus. Er sah gut aus: wahrscheinlich Anfang fünfzig, kräftig gebaut, blonde Locken, schon ein bisschen schütter, aber das passte ganz gut zu seiner muskulösen Figur. Er stützte sich mit einem seiner Stiefel auf Rudys Bettkante und schlug sich beim Lachen auf den Oberschenkel. Rudy jedoch hatte es bei dem Wort Grönland die Sprache verschlagen. Er hatte keine Ahnung gehabt, wo er war. Aber es klang durchaus einleuchtend. Er hatte ziemlich große Berge gesehen, und Eis in der Ferne, rundherum flache Steppe, mit vereinzelten Grasbüscheln– und er inmitten einer endlosen Ödnis. «Schon richtig», sagte der Colonel. «Grönland soll uns nicht gefallen, aber wir werden es ertragen müssen, und Grönland wird uns ertragen. Solange wir hier sind, erfüllen wir unseren Auftrag. Was ist Ihr Auftrag, Corporal Spruance?» 14
«Sir?» Der Colonel rollte mit den Augen. Er hielt die Hände wie einen Trichter an den Mund und brüllte wie durch einen Lautsprecher: «Warum sind Sie hier?» «Weiß ich nicht, Sir.» «Das wissen Sie nicht?» «Ehrlich nicht.» Rudy erhob den rechten Fäustling. Der Colonel stellte beide Füße fest auf den Boden. «Na, zu welcher Einheit gehören Sie denn?» «Presse und Information, Sir.» «Sie machen Witze.» «Nein, Sir.» Er hob wieder die Hand. «Ich schwöre.» Der Colonel kratzte sich am Kopf und seufzte. «Schwachsinn.» «Sir?» «Ich meine nicht Sie damit. Obwohl die Blutspende, die Sie da in der Tundra abgegeben haben, nicht das beste Licht auf Sie wirft. Ich rede von der Army. Von einer Eigenschaft der Army. Von der seltenen Begabung, dauernd Schwachsinn zu produzieren. Schickt mir einen Hilfskaplan, der Kettenfahr‐ zeuge reparieren soll, schickt mir einen Militärpolizisten, für die Unterhaltungsshow zu Weihnachten, und einen Kaser‐ nendieb, frisch aus der Arrestzelle in Leavenworth, der das Rekrutierungsbüro leiten soll. Und dann schickt man Sie ... hierher.» Der Colonel schüttelte den Kopf. Rudy meinte sich ent‐ schuldigen zu müssen. Er wollte zu gern noch einen Blick auf die Frau an der Tür werfen. Der Colonel hatte gesagt, sie sei Sergeant. «Sie werden bald merken», sagte der Colonel, «dass es hier weder Presse noch Informationen gibt.» «Das habe ich schon gehört, Sir.» Die Schwester und der Sanitäter traten unruhig von einem Fuß auf den anderen und warfen Rudy böse Blicke zu. Der Colonel schenkte ihnen keine Beachtung. «Sieht ganz so aus, 15
als müssten wir ein bisschen auf Zeit spielen», sagte er. «Dürfte Ihrem Heilungsprozess entgegenkommen. Sie sehen übrigens beschissen aus. Starke Schmerzen?» Rudy zuckte die Achseln. «Bisschen», sagte er, «Sir.» Seine Augen schwammen. Womöglich tropfte ihm Speichel aus dem Mundwinkel, schwer zu sagen bei seinen geschwol‐ lenen Lippen. Der Colonel wandte sich zum Gehen. «Sir», sagte Rudy, der ihn nicht gehen lassen wollte. End‐ lich hatte er die Chance, mit einem Kommandierenden Offizier zu reden, nachdem er tagelang – oder waren es Wochen gewesen? – durch Übergangskasernen, Wartesäle und Zwischenquartiere geschleust und von einem zum anderen geschickt worden war, von Fort Benjamin Harrison nach Fort Dix, von der Air Force Base McGuire zur AFB Pease, weiter nach Keflavik, zu irgendwelchen Landepisten Gott weiß wo, und schließlich hierher. Im Gerichtssaal hatte er zum letzten Mal eine solche Autorität vor sich gehabt: den Richter, der ihm das alles hier eingebrockt hatte. Und damals hatte ihm sein Anwalt gesagt, er solle den Mund halten und alles nehmen, wie es komme. Diesmal aber hielt er den Mund nicht. «Ich bitte um Entschuldigung, Sir», sagte Rudy. «Aber ich weiß nicht genau, wo ich bin und was das hier für ein Stützpunkt ist.» Der Colonel blieb stehen und zog die Augenbrauen hoch. «Das hat Ihnen niemand erzählt?», fragte er und hob dabei die Stimme leicht übertrieben an, sodass sein Tonfall fast britisch klang. «Nein, Sir.» «Man hat Sie einfach hier abgeladen? Ohne Erklärung?» «Jawohl, Sir. Man konnte mir nichts sagen. Oder durfte mir nichts sagen. Jedenfalls hat man mir nichts gesagt.» «Und das ist Ihr erster Einsatz, Soldat?» «Jawohl, Sir.» 16
«Sie kommen direkt aus der Ausbildung P&I? Ein armse‐ liger Tintenkleckser in Uniform?» «Jawohl, Sir.» Der Colonel breitete die Arme aus, legte die Hände hinter dem Rücken zusammen und sah zur Decke. «Und die Frage, die unser Neuling von der Vierten Gewalt im Staate jetzt in den Raum stellt, lautet: ‹Was geht hier eigentlich vor?› Könnte man es so ausdrücken, Soldat?» «Ganz genau, Sir», sagte Rudy. «Wir sind ein Lazarett», sagte der Colonel leise und lächelte. Dann fuhr er fort: «Aber was die Einzelheiten angeht, ist die Sache ein wenig delikat.» Der Colonel schritt jetzt am Fußende des Bettes auf und ab. Die Schwester und der Sanitäter machten ihm Platz. Während der Colonel hin und her ging, konnte Rudy einen Blick auf Sergeant Teal an der Tür werfen. Sie wirkte entspannter als die anderen. Sie lehnte sich leicht gegen den Türrahmen und beobachtete Rudy. Sie hatte hohe, feine Wangenknochen und lächelte ein wenig. «Eine Krankenstation», sagte der Colonel, «oder eine End‐ station. Suchen Sie sichʹs aus.» Schwester und Sanitäter rollten die Augen. Sergeant Teal legte den Kopf schräg, ihr Lächeln erstarb; immer noch sah sie Rudy an. Der Colonel hakte die Daumen in seinen Gürtel und sagte: «Im Kasino zeigen sie einen Horrorfilm. Ich glaube, den werde ich mir anschauen.» Er drehte sich um. Sergeant Teal nickte Rudy zu und wandte sich ebenfalls zum Gehen. Rudy sah, wie Woolwraps Hand rasch über Sergeant Teals Hintern strich. Sie folgte ihm lächelnd. Die Schwester stellte einen Pappbecher auf den Metallstuhl neben Rudys Bett. «Gute Brüste», sagte die Schwester. «Gute Beine», sagte der Sanitäter. «Guter Hintern.» 17
«Die gut geratene, treue und brave Adjutantin.» «Wie bitte?», fragte Rudy. Er hatte die Nase voll von ihren albernen Nummern. «Sergeant Teal», sagte die Schwester. «Die treue und brave Adjutantin des Colonel. Sie ist Ihnen aufgefallen? Sie ist Ihnen aufgefallen.» Rudy legte die Fäustlinge über seinen Bauch. «Logisch», sagte er. «Nehmen Sie die Tabletten im Becher gegen Mitternacht, wenn die Sonne am tiefsten steht. Morgen gehtʹs Ihnen bestimmt schon besser. In ein paar Tagen sind Sie wieder einsatzbereit.» «Wie viele Patienten hat denn dieses Lazarett?», fragte Rudy. «Außer mir.» Schwester und Sanitäter waren schon auf dem Weg zur Tür gewesen. Sie wandten sich um. «Ach», sagte die Schwester, «Sie sind kein Patient.» «Nicht nach unseren Maßstäben», sagte der Sanitäter. «Das ist ja beruhigend», sagte Rudy. «Sie können in der Tat beruhigt sein», sagte der Sanitäter. «Das können Sie glauben.» «Also», sagte Rudy, «wie viele Patienten haben Sie denn nun?» «Siebzig?», fragte die Schwester den Sanitäter. «Fünfundsechzig?», fragte der Sanitäter zurück. «Sagen wir Sechsundsechzig und zwei Drittel», sagte die Schwester zu Rudy. «Das ändert sich laufend.» «Es werden weniger», sagte der Sanitäter. «Immer weniger», sagte die Schwester. «Was sind das für Patienten?», fragte Rudy. Schwester und Sanitäter schauten einander an. Sie tauschen telepathische Botschaften aus, dachte Rudy. Die Schwester sah Rudy an. «Kriegsversehrte», flüsterte sie. Der Sanitäter nickte. 18
Rudy sagte: «Es ist doch gar kein Krieg. Was denn für ein Krieg?» «Korea», flüsterten Schwester und Sanitäter gleichzeitig. «Aber wieso sind sie dann hier?», fragte Rudy. «Ich denke, ich bin in Grönland.» «Was er nicht sagt», sagte der Sanitäter zur Schwester. «Im Krieg geht man durch die Hölle», sagte die Schwester zu Rudy. «Und danach kommt man zu uns.» Der Sanitäter winkte, die Schwester warf ihm eine Kuss‐ hand zu, und beide verschwanden. Aus der Ferne war das Brummen eines Motors zu hören, heiße Luft strömte durch die Heizungsrohre. Rudy ließ sich aufs Bett sinken, und es fing an zu jucken.
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ZWEI Rudys Wecker hatte um Mitternacht geklingelt. Er hatte es trotz der Fäustlinge geschafft, die von der Schwester verordneten Tabletten zu nehmen. Nach einem Blick ins fahle Licht draußen war er schnell wieder eingeschlafen. Jetzt war er wieder wach. Die Uhr zeigte ein Uhr fünfund‐ dreißig, aber er wusste nicht, ob es tief in der Nacht oder früh am Nachmittag war. Er lag immer noch in dem Zimmer, wo er aufgewacht war und Schwester und Sanitäter vor sich gesehen hatte, dann den Colonel und Sergeant Teal mit den roten Haaren. Gar keine schlechte Bude. Ein Spind, ein Bett, zwei Klapp‐ stühle. An der gegenüberliegenden Wand waren Fracht‐ kisten und Paletten aufgestapelt. Vor dem Fenster konnte Rudy das gewölbte Dach einer Wellblechbaracke erkennen, 20
dahinter in der Ferne kahle graue Berge, zwischen denen Gletscherzungen hervorlugten. Mit den Zähnen zog er sich einen Fäustling aus. Seine Hand sah aus wie eine Steckrübe, die Finger waren auf Würstchengröße angeschwollen. Auch seine Arme und Beine waren zerstochen. Er stand auf und ging zum Spind, um sich im Spiegel zu betrachten. Das Bild seines geschwollenen Gesichts füllte das kleine runde Glas völlig aus: Es war übersät mit rosa Striemen und mit zahllosen Stichen gesprenkelt. An manchen Stellen war er so oft gestochen worden, dass die Haut wie rohes Fleisch aussah. Seine Augenlider waren wie nach einem Boxkampf angeschwollen, seine aufgeblähten Wangen schoben den Mund zusammen, und seine Lippen sahen aus wie aufge‐ pumpte Schläuche. Hier und da klebten kleine Fladen getrockneter Zinksalbe, und sein Haar hing voller Krümel. Als er sich über den Kopf fuhr, rieselte blassrosa Schnee herab. Er sah aus wie ein Außerirdischer. Immerhin juckte es kaum noch; ein schwacher Trost. Er musste aufs Klo und zog ein brutal gestärktes Drillichhemd aus seinem Gepäcksack. Die Hände gingen kaum durch die Ärmel, und seine Arme sahen aus wie Trinkhalme in ihrer krumpeligen Umhüllung, aber der steife Stoff war angenehm auf der Haut. Es hatte gar keinen Zweck, mit seinen geschwollenen Fingern das Hemd zuknöpfen oder die Schuhe zubinden zu wollen. Er trat aus dem Zimmer, konnte sich aber nicht erinnern, wo das verdammte Scheißhaus lag. Der Korridor war selt‐ sam verwinkelt, alle paar Meter eine Abzweigung oder eine Schräge, als hätten die einzelnen Gebäudeteile von allen Seiten schlingernd und stampfend angedockt. In den Fluren hingen Heizungs‐ und Entlüftungsrohre, elektrische Leitun‐ gen und Lautsprecherkabel von der Decke; ein Gewirr, das an Eingeweide erinnerte. Er zog unwillkürlich den Kopf ein, als er auf seiner Suche nach einem Klo mit offenen Stiefeln 21
den Korridor entlangschlappte. Eine Abzweigung führte in eine Sackgasse mit mehreren Türen, die alle mit LAGER bezeichnet waren. Eine andere brachte ihn vor eine Flügeltür mit zerkratzten Plexiglas‐ fenstern, die nach draußen führte. Als er einen dritten Weg einschlagen wollte, hörte er eine Schreibmaschine. Tasten klapperten, schwiegen, klapperten. Rudy steuerte auf das Geräusch zu. Weitere LAGER‐Türen. Eine davon war nur angelehnt. Jemand hatte daraufgeschrieben: «BIRD lebt!» Die Schreibmaschine verstummte, und Rudy vernahm nun ein zartes Knirschen, das klang wie das Brechen kleiner Tierknochen. Langsam schob er die Tür auf. Zwischen Lagerregalen und Kisten stand ein Schreibtisch mit einer Schreibmaschine, darüber hing eine nackte Glühbirne von der Decke. Vor der Maschine saß ein massiger, blonder Corporal, den Kopf im Nacken. Er trug zur Uniform den Knautschhut mit schmaler Krempe der eingefleischten Bebop‐Fans. Gerade zerbrach er unter seiner Nase eine kleine Ampulle und schniefte mächtig. Rudy sagte laut «Entschuldigung», und der Corporal jaulte auf. Er fuhr hoch und wirbelte herum, wobei er Papiere, Stifte, ein halbes Dutzend weiße, patronenförmige Inhalato‐ ren mit Benzedrin und mindestens zwanzig kleine in Mull verpackte gläserne Ampullen vom Schreibtisch auf den Fußboden fegte. «Ich bin Asthmatiker!», sprudelte der Corporal hervor. «Ich habe Asthma. Das ... das ist...» Er lief hinterm Schreibtisch hin und her, schnippte mit den Fingern, zertrat knirschend Ampullen und Bleistifte. «Das ist meine ... meine Medika‐ tion!» Seine Stimme überschlug sich vor Erleichterung, als er das passende Wort fand. «Kapiert? Meine Medikation.» «Aha», sagte Rudy. «Ehrlich! Und deinetwegen habe ich jetzt alles runter‐ geschmissen.» 22
«Tut mir Leid», sagte Rudy. «Wollte bloß fragen, wo das Klo ist.» Der Corporal hörte schon nicht mehr zu; er hatte jetzt Rudys Gesicht bemerkt. «Was ist denn mit dir passiert?», fragte er. «Mücken», sagte Rudy. «Ooohh yeeaahh. Yeah. Kapiert. Yeah. Hab von dir gehört. Hat dir keiner was von den Mücken erzählt?» «Nein», sagte Rudy. «Das hätten sie dir doch sagen müssen. Der Wachhabende. Oder der Dienst habende Offizier. Irgendwer hätte dich warnen müssen. Ist echt ʹne Schande, Mann. Wie du aussiehst.» Der Corporal begann, die Scherben hinter seinem Schreibtisch mit dem Stiefel zusammenzuschieben. «Du hast also Asthma?», fragte Rudy. «Ja!» «Und trotzdem haben sie dich in die Army gelassen?» Der Corporal sah Rudy einen Augenblick an und wandte sich dann ab. «Okay. Ich hab kein Asthma. Was sollʹs. Tu mir einen Gefallen, behalt für dich, was du gesehen hast. Du bist hier neu. Du weißt noch nicht alles. Du weißt ja noch nicht mal, wo das Scheißhaus ist.» «Stimmt», sagte Rudy. «Wo ist es denn?» «Bleibst du cool? Du hast mich bloß tippen sehen?» Rudy nickte. «Spruance, stimmtʹs?» Der Corporal trat knirschend hinterm Schreibtisch hervor und streckte die Hand aus. Er lächelte schläfrig. «Henry Lavone. Schreibdienst.» Rudy streckte ihm seine geschwollene Hand entgegen. Corporal Lavone berührte sie leicht. Rudy schaute wieder auf den Schreibtisch. «Und hier lassen sie dich arbeiten?» «Arbeiten, nein», sagte Lavone kopfschüttelnd. «Ich hab dienstfrei. Das ist mein Atelier.» Kisten stapelten sich bis zur Decke. Auf allen Packungen standen offizielle Bezeichnungen: Verbandmull steril; Einlauf 23
Gummi komplett/je 1. An einigen Regalen hingen Plakate von Horror‐ und Science‐Fiction‐Filmen, auf den Brettern lagen zerlesene Taschenbücher und Manuskriptstöße. In einer leeren Chiantiflasche steckte eine brennende Kerze. Der Raum war eine Mischung aus militärischer Abstellkammer und Künstlerbude. «Wie lange bist du schon hier?», fragte Rudy. «Seit Dienstschluss», sagte Lavone. «Ich mache die Nacht durch. Darum brauche ich auch ein bisschen... du weißt schon, Medikation.» «Ich meinte», sagte Rudy, «wie lange bist du schon in Grönland?» Lavone setzte sich, lehnte sich weit mit seinem Stuhl zurück, dachte einen Moment nach und sagte dann mit einem versonnenen Lächeln: «Weiß ich nicht.» «Ehrlich nicht?», fragte Rudy. «Wirklich nicht. Ich weiß es nicht. Ist hier gar nicht so ungewöhnlich. Ich weiß, dass ich länger als sechs Monate hier bin, weil ich neulich Geburtstag hatte, glaube ich.» «Glaubst du?» «Bei manchen Sachen bleibe ich genau. Das wird dir auch so gehen», sagte Lavone. «Andere entgleiten dir. Oder du entgleitest ihnen. So ist das hier in Grönland. Zeit ist auch so ʹne Sache. Es heißt, du bist Presse und Information.» «Was auch immer das hier bedeuten soll», sagte Rudy. «Ein Kollege von der schreibenden Zunft», sagte Lavone. Er klang beinahe verzweifelt. «Ich schreibe Gedichte.» Er klopfte auf einen dicken Manuskriptstapel im Regal. «Ich weiß nicht, wie viel ich hier schreiben kann», sagte Rudy. «Sie wissen nicht recht, was sie mit mir anfangen sollen, hab ich den Eindruck.» «Sie werden sich schon was einfallen lassen. Vielmehr der Colonel. Ich gehöre eigentlich zur Verwaltungskompanie, aber er hat mich zum Unterhaltungsbeauftragten ernannt.» Er zeigte auf die Plakate: The Thing, The Blob, The Day the 24
Earth Stood Still. «Ich buche sämtliche Filme für den Colonel, also für den ganzen Stützpunkt. Und viel mehr mach ich eigentlich nicht. Ich habe dir ein Bett hier im Lagersektor C zugewiesen. Kannst dich bedanken: Hier gibtʹs keine Inspektionen. Schön ruhig. Wenn alles glatt läuft, brauchst du gar nicht in die Quartiere umzusiedeln.» «Danke», sagte Rudy. «Privatsphäre kann hier recht nützlich sein», sagte Lavone. Unter einem Papierstapel hinter Lavones Schreibtisch entdeckte Rudy eine Kiste mit der Aufschrift Amylnitrit Ampullen. «Das ist hier doch ein Lazarett», sagte Rudy. Lavone nickte. «Haargenau.» «Für Kriegsversehrte», sagte Rudy. Lavone nickte wieder vage, als wolle er nicht zu viel verraten. «Aus Korea», sagte Rudy. «Ja.» «Korea ist lange her.» «Da war ich noch auf der High School», sagte Lavone. Er wandte sich einer Manuskriptseite zu, die wie eine bespren‐ kelte weiße Zunge aus der Schreibmaschine hing. «Dieser Canto ist beschissen.» «Du hast mir immer noch nicht gesagt, wo das Scheißhaus ist», sagte Rudy. «Ach ja, entschuldige. Raus und nach links. Dann in den ersten Flur, der nach rechts abgeht.» Lavone griff wieder in die Tasten. Einen Augenblick später bückte er sich nach einem der Inhalatoren auf dem Fußboden, schniefte, stieß ein «Jaaa!» aus und tippte doppelt schnell weiter. Er blickte nicht mal auf, als Rudy den Raum verließ. Nach dem Gang zum Klo setzte sich Rudy auf sein Bett. Er beschloss, sich versetzen zu lassen, sobald er wieder gesund war. Das Gewicht seines geschwollenen Gesichts zog ihn 25
hinab. Durchs Fenster sah er einen Gebäudekomplex, in dessen Fensterscheiben sich das Dämmerlicht spiegelte. Er überlegte, ob dort wohl die verwundeten Soldaten lagen. Erschöpfung übermannte ihn, aber draußen war es immer noch hell. Zwei Uhr morgens. Taghelle Nacht. Rudy rechnete aus, wie spät es jetzt zu Hause war. Dort ging gerade die Tonight Show zu Ende, und wahrscheinlich verabschiedete sich Jack Paar gerade von seinen Zuschauern. Rudy dachte an den flackernden DuMont‐Fernseher in seinem alten Wohnzimmer, an andere Fernseher in anderen Häusern in seiner früheren Nachbarschaft. Ein dunkler Frühlingsabend in der Vorstadt. Blaues Fernsehlicht. Sendeschluss. Die Nationalhymne. Das Testbild. Und er war in Grönland. Tag. Nacht. Die Zeit entgleitet dir, oder du entgleitest der Zeit, das hatte Lavone gesagt. Hier in Grönland.
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DREI Unter der niedrigen Decke des Speisesaals dröhnte ihm der Lärm in den Ohren, der wie eine feste Masse fast spürbar gegen sein Gesicht drückte. Seine Hände waren schon leicht abgeschwollen– er konnte die Finger wieder bewegen —, aber sein verschorftes G esicht war immer noch aufgequol‐ len. Nach drei Tagen auf seinem Zimmer hatte er nun einen Ausflug gewagt. Wie Lavone vorhergesagt hatte, schwand sein Zeitgefühl zusehends. Sein Wecker war stehen geblieben, und er war sich nicht sicher, ob gerade zu Mittag oder zu Abend gegessen wurde. Im Speisesaal herrschte Hochbetrieb. Ein Kommen und Gehen von Offizieren, Mannschaften, Medizinern, die Stühle 27
herumschoben, sich in den Gängen drängelten, redeten und rauchten. In einem Seitengang mühte sich ein Lieutenant vergeblich, einen Hula‐Hoop um die Hüfte kreisen zu lassen. Rudy zählte drei Runden Kartenspieler. Viele trugen eine Kombination aus weißer Lazarettuniform und Kampfanzug, wie Rudy es schon an der Adjutantin des Colonel gesehen hatte. Ein Sergeant balancierte einen Stapel Pancakes auf einem Tablett an ihm vorbei. Es gab also Frühstück. Rudy reihte sich in die Schlange vor der Essensausgabe ein und vertrieb sich die Zeit mit dem Studium des Schwarzen Bretts, das neben der Tür angebracht war. Da hingen Vorschriften für den Brandfall, Tipps zur Behandlung von Erfrierungen und Warnungen vor Eisbären, ein Filmplakat für The Fly, eine Verkaufsanzeige für eine gebrauchte Gitarre, auf der «bereits der Gefreite Elvis Presley in Grafenwöhr, Deutschland, gespielt» hatte, und ein Hinweis auf die Party des Jahres, Das Gelage: EINLADUNG ZUR FEIER DES LÄNGSTEN TAGES ... DIE SONNE GEHT NICHT UNTER, DAS BIER GEHT NICHT AUS ... ALLE ANTRETEN UND HOCH DIE TASSEN (BEFEHL VOM COLONEL)
Während er las, bemerkte Rudy, dass sich allmählich ein hoher, jammernder Ton, ein dünnes Sirren aus dem allgemeinen Lärm herausschälte. Die Erinnerung an seine Panik durchzuckte ihn, ein prickelnder Schweißfilm bildete sich auf seiner Haut. Fast hätte er um sich geschlagen, um das Geräusch zu vertreiben, als er an einem Tisch einen Staff Sergeant sah, der genau dies tat. Der Sergeant hatte einen akkuraten Bürstenschnitt und ei‐ nen runden Bierbauch. Die Ärmel seiner Uniform waren zu kurz für seine Arme, die er theatralisch schwenkte. Er war aufgestanden, fuchtelte wild um seinen Kopf herum, wackelte dabei mit den Hüften und unterbrach sein Summen, in das auch die anderen Unteroffiziere am Tisch 28
eingestimmt hatten, durch gelegentliches Grunzen und Jaulen. Sie machten die Mücken nach, und der Staff Sergeant machte Rudy nach, wie er in der Tundra mit ihnen kämpfte. Unter das Summen mischten sich Gelächter und Applaus, und die Leute an den Nachbartischen kicherten. Bald lachte der ganze Speisesaal über den Sergeant und schaute Rudy an. Der jaulende Sergeant zuckte und schrie, griff sich einen Wasserkrug vom Tisch und hielt ihn über den Kopf. «Wasser!» «Hiiilfe! Hiiilfe!» «Nehmt die Mücken weg!» «Holt den Colonel!» «Hiiilfe! Hiiilfe!» Die Rufe ließen das Gelächter anschwellen, aber der Sergeant beendete seinen Tanz und stellte den Krug hin. Er hob die Hand und zeigte an, dass die Vorstellung beendet sei. Buhrufe, Pfiffe, Applaus und Rufe nach einer Zugabe schallten durch den Speisesaal. Rudy wäre am liebsten in den Boden versunken. Einen Moment hoffte er, der Sergeant werde sich umdrehen und eine versöhnliche Geste machen, einen kameradschaftlichen Applaus für ihn einfordern. Aber nichts dergleichen geschah. Der Sergeant setzte sich einfach wieder hin, lachte und schüttelte den Kopf. Rudys geschwollene Haut brannte wie Feuer. Er überlegte, ob er zum Tisch des Sergeant gehen und den Krug Wasser über dessen Kopf leeren sollte. Aber das würde wahrschein‐ lich auf eine Schlägerei hinauslaufen, und dafür fehlte ihm der Mumm, zumal er sich auf unbekanntem Terrain befand. So ging er einfach weiter zur Essensausgabe, den Blick auf den Boden vor seinen Füßen geheftet. Als die French Toasts auf seinem Tablett lagen, hatte sich das Getöse um ihn herum wieder normalisiert. Am Ende des Speisesaals fand er einen freien Platz. Er saß 29
allein am Tisch. Ihm gegenüber standen die Tablettständer und Besteckbehälter. Er hätte das Zimmer nicht verlassen, sondern sich solange versteckt halten sollen, bis er wieder normal aussah. Nur die Schwestern und Sanitäter, die ihm das Essen brachten, hätten von seiner Anwesenheit gewusst. Ein Kaffeebecher wurde neben Rudys Tablett gestellt. «Und, was ist schlimmer, die Mücken oder die Arsch‐ löcher?» Rudy wandte sich um. Die Adjutantin des Colonel griff nach dem Stuhl am anderen Ende des Tisches. Sie trug ein T‐ Shirt und eine Arbeitshose und hatte ihr rotes Haar mit Klammern festgesteckt. Ihr Gesicht war leicht gerötet, und sie bewegte sich entspannt, wie jemand, der gerade eine harte Arbeit beendet hat. Sie ließ sich auf den Stuhl neben Rudy fallen. «Ich habe Küchendienst», sagte sie. «Ich hab gerade Tabletts abgetrocknet und die kleine Vorstellung hier gesehen. Ich glaube, wir wurden einander noch nicht vorge‐ stellt. Ich bin Irene Teal. Ich weiß, wer Sie sind.» «Wie alle hier, was?», sagte Rudy und rang sich ein schiefes Grinsen ab. Mehr ließ sein geschwollenes Gesicht nicht zu. Irene beugte sich vor und schlürfte aus ihrem randvollen Becher. Rudy bemerkte, dass er den winzig kleinen hellen Fleck auf ihrem gesenkten Kopf anstarrte. Nur wenige Zentimeter von seinen Augen entfernt. Ihr Haar entsprang aus diesem Punkt, ihr ganzes Wesen erwuchs aus diesem Punkt. Vor seinen Ausen war sie erschie‐ nen, einfach so, schwirrend, wie ein Geist aus einer Wunderlampe. «Wer sind die?», fragte Rudy, als Irene wieder von ihrem Kaffee hochsah. Er nickte in Richtung der Spötter. Irene zuckte die Achseln. «Lebenslängliche. Unteroffiziere. Die meisten sind gar nicht so übel. Sie hocken hier ein Jahr lang auf einem vereisten Felsen, und das ist eben ihre Art von Humor.» 30
Rudy sah sich um. Der Speisesaal hatte sich geleert, auch der Sergeant, der ihn nachgeäfft hatte, war verschwunden. Ein paar Unteroffiziere lungerten um den Flipper und den Trinkwasserspender beim Schwarzen Brett herum. Niemand beachtete ihn. Er wandte sich wieder Irene zu. «Wieso haben Sie Küchendienst? Wenn selbst die Adjutantin des Colonel Küchendienst schieben muss, bleibt ja niemand verschont.» «Ich habe eine Wette verloren.» «Mit wem haben Sie gewettet?» «Mit dem Colonel.» «Worum?» Sie lächelte und schnippte den Fingernagel gegen den Bechergriff. «Kann ich nicht sagen.» Ihre Koketterie berührte Rudy auf überraschende Weise. Es fühlte sich fast wie Eifersucht an, als könne er es einfach nicht ertragen, dass jemand mehr über sie wusste als er. «Sind Sie schon lange hier?», fragte Rudy. «Ungefähr ein Jahr», sagte Irene. «Ich habe die Tage nicht gezählt. Macht hier niemand.» «Habe ich schon gehört», sagte Rudy. «Und wie kriegt man sie rum? Die Zeit, meine ich.» «Na ja», sagte Irene und lehnte sich zurück, «man kann sich Filme im Speisesaal ansehen; dann gibt es den Freizeitraum; außerdem den Club für die Mannschaften. Das ist zwar bloß eine Baracke, aber wenn man Spaß daran hat, kann man sich dort so voll laufen lassen, wie man will.» Rudy bearbeitete seinen Toast mit der Gabel. Er hörte ihr gerne zu. Er genoss es beinahe, der arme, zerstochene Neu‐ ling zu sein. Sonst hätte sie womöglich gar keine Notiz von ihm genommen. Ihm fiel ein, was Schwester und Sanitäter angedeutet hatten, dass sie nicht nur die treue und brave Adjutantin des Colonel sei. Er fragte sich, ob es wohl riskant sei, hier mit ihr zu sitzen. «Sie arbeiten also für den Colonel», sagte er. 31
«Ich sage lieber, ich arbeite mit ihm», sagte sie. «Sie sind Sergeant. Er ist Colonel. Sergeants arbeiten fiir Colonels.» Sofort merkte er, wie sich die Atmosphäre zwischen ihnen abkühlte, und wartete auf eine spitze Bemerkung, die nun folgen musste. «Na, Sie sind ja ein ganz erfahrener Soldat, was, Corporal? Ich nehme an, über die Befehlskette wissen Sie alles.» Er wagte von seinem Toast aufzuschauen und Irene anzu‐ sehen. Er hatte sie nicht provozieren wollen, war aber doch froh darüber. Er taumelte durch die Unterhaltung, in einem Moment eifersüchtig, im nächsten beruhigt, dann wieder nervös und absichtlich herausfordernd. Verrückt. Er bemerk‐ te, dass sie errötete. Vielleicht empfand sie genauso, viel‐ leicht allerdings war sie auch wütend. Sie schwang die Beine zur Seite, als wollte sie aufstehen. «Vielleicht sehen Sie ja sogar irgendwann ganz gut aus», sagte sie, «wenn die Schwellung zurückgeht.» «Nein», sagte er plötzlich. «Das bin ich nicht. Wirklich nicht.» Sie starrte ihn an. «Ich bin kein erfahrener Soldat. Ganz und gar nicht, Sergeant.» Ein dünnes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, eine Mischung aus Verständnis und, wie er fand, Erleichterung. «Vielleicht müssen Sie sich einfach erst zurechtfinden», sagte sie leise. «Genau.» Rudy nickte und versuchte zu lächeln. «Genau das muss ich.» Sie stand auf. «Vielleicht könnte ich Sie ein bisschen herumführen. Nachmittags weht der Wind gewöhnlich in den Fjord hinein, dann sind die Mücken kein Problem. Morgen habe ich frei. Kommen Sie um fünfzehn null null zur alten C‐47. Dann mache ich eine Führung.» Sie trank den letzten Schluck Kaffee. «Ich muss wieder in 32
die Küche», sagte sie. «Ich stehe am Fettabscheider.» «Junge, Junge, wenn Sie eine Wette verlieren, dann aber richtig.» «Ja», sagte sie, «aber wenn ich gewinne ...» Sie entschwand in die laute Küche und ließ ihn verwirrt zurück. «Wo ist die alte C‐47?», rief er ihr nach. Aber sie war schon außer Hörweite. «ʹn Flugzeugwrack draußen am Hangar», sagte eine Stimme aus Richtung des Flippers. Ein dicker Sergeant presste seinen Bauch gegen den Automaten und drückte heftig die Knöpfe. Er sah nicht mal hoch. Das Spiel nahm ihn völlig gefangen, und er hatte Rudys Frage wie in Trance beantwortet. «C wie Cargo», murmelte der Sergeant, ohne nachzuden‐ ken. «Zweimotorig. Arbeitspferd der Lüfte.»
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VIER Während er sich durch den Papierkram ackerte, dessen Erledigung die Army jedem Neuzugang abverlangte, hatte Rudy irgendwann beschlossen, nichts mehr in die Felder für die Namen der Angehörigen zu schreiben. Er hatte sich nicht viel dabei gedacht, bloß einem Impuls nachgegeben, der ihm plausibel erschien. Wenn er schon in die verdammte Army gezwungen wurde, wollte er nicht auch noch seine Vergangenheit mit sich herumschleppen. Einmal hatte er sogar das Wörtchen verstorben in das entsprechende Käst‐ chen geschrieben, um zu testen, ob die Bürokratie ihm auf die Schliche käme. Die Army zuckte nicht mal mit der Wimper. Verwaiste Soldaten sind beim Militär sicher nichts Besonderes, hatte er gedacht. Ich bin jetzt einer von vielen. Er kam sich nicht mehr so allein vor. 34
In den Jahren vor seinem Eintritt in die Army hatte er das Gefühl gehabt, auf der Stelle zu treten, wie betäubt zu sein; unbewegt und unbeweglich. Gestrandet. Das Gefühl hatte ihn auch nicht verlassen, als der Richter ihn zum Militär‐ dienst verurteilte. Es drohte ihn zu verschlingen. Aber dann hatte er sich mit einem Federstrich in den Militärformularen neue Koordinaten verschafft. Plötzlich hob er sich vom Hori‐ zont ab; sein Profil gewann an Schärfe wie nie zuvor. Als er jetzt allein auf dem Flugfeld stand, um sich herum die ungeheure Ausdehnung der arktischen Tundra, kam er sich vor wie Strandgut. Er horchte auf das Summen der Mücken, doch nur der Wind war zu hören. Ständig knöpfte er seine Feldjacke auf und zu. Der rote Windsack auf dem Dach des Hangars zeigte wie ein gichtgekrümmter Finger in Richtung der Berge. Die Sonne schien zwar warm, aber es blies ein kalter Wind, der Rudy frösteln ließ. Es stimmte nicht, dass er eine Waise war. Sein Vater war bei einem Autounfall gestorben, das stimmte schon, aber tatsächlich hatte der Suff ihm längst sein Grab geschaufelt, ehe sich ein Baum seinem Studebaker in den Weg stellte. Rudys Mutter jedoch war sehr lebendig. Sie hatte wieder geheiratet und lebte in Florida. Rudy und Roger waren so schlecht miteinander ausgekommen, als sie alle zusammen in New Jersey gelebt hatten, dass Florida kaum weit genug weg war, nicht einmal von Grönland. Der Flugzeughangar befand sich am Ende der Piste. Die Sonne hatte das Dach aufgeheizt, sodass das Metall knackte und knarrte. Ab und zu rüttelte ein Windstoß an der Blechverkleidung, und ein jammerndes Quietschen drang aus dem höhlenartigen Gebäude. Die dünnen Wolken vom frühen Morgen waren im Osten verschwunden, und der Himmel war blau und leer. Die C‐47 stand neben dem abschüssigen Vorfeld. Das Steuerbordfahrwerk war völlig zerstört, die rechte Flügel‐ spitze war abgerissen. Am Rumpf löste sich der Army‐ 35
Anstrich und gab den Blick auf das darunter liegende vernarbte Aluminium frei. Die Propellerflügel an Steuerbord bogen sich nach hinten wie welke Blütenblätter. Jemand hatte mehrere Sitze aus der Maschine gerissen und zu dem übrigen Müll am Rand der Landebahn geworfen. Rudy zerrte einen davon an ein sonniges Plätzchen im Schutz des Flugzeughecks, von wo er das Lazarett im Blick hatte. Es war kurz nach drei, aber es war niemand zu sehen. Einige Barackendächer reflektierten die Sonnenstrahlen, und aus den Lüftungsrohren des Hauptgebäudes stiegen dünne Dampffahnen auf. Etwa vierhundert Meter von der Landebahn entfernt stand eine Wellblechbaracke mit einem Schornstein aus ineinander gesteckten Ofenrohren. Ein Jeep fuhr von der Baracke in Richtung der Hügel am Fuß der Berge. Eine Rauchwolke zog sich wie ein staubgraues Band vom Schornstein auf die leuchtenden Gletscher zu. Die Sonne brannte Rudy aufs Gesicht. Die Wärme tat gut. Sein Gesicht hatte annähernd seine normale Größe und Form zurückerlangt. Er schaute wieder in Richtung Lazarett. Keine Spur von Sergeant Teal. Seit ihrer Begegnung gestern war er nervös. Vielleicht lag es am Spott, den er im Speisesaal hatte ertragen müssen. Er war absichtlich spät zum Essen gegangen, gegen Ende der Ausgabezeiten, um größeren Gruppen aus dem Weg zu gehen, und hatte sich allein in eine Ecke gesetzt. Weil er immer noch vom Dienst befreit war, las er in seinem Zimmer abgegriffene Zeitschriften, die er aus der Kaserne in Fort Dix mitgeschleppt hatte. Er wanderte die Flure entlang und wartete darauf, zur Einweisung beordert oder zu Diensten eingeteilt zu werden, aber niemand meldete sich. Im Kopf formulierte er seinen Antrag auf Versetzung. Er suchte Lavone, aber das Lagerraum‐Atelier war verschlossen. Schließlich war ein ganzer Tag verstrichen, die Uhr zeigte 36
fünfzehn null null, und er war hinaus zur alten C‐47 ge‐ gangen. Natürlich hatte er an Irene gedacht. Im Speisesaal hatte sie sich aus Mitleid zu ihm gesetzt, aber sie hatte ihn auch geneckt. Ihre Freundlichkeit hatte ihn getröstet, und doch musste er einfach nach ihrer Beziehung zum Colonel bohren. Während die Sonne sein Gesicht durchglühte, dachte er an die Wirbel und warmen Farben ihres Haars. Er stellte sich vor, sie wäre schon hier. Er schaute noch einmal, ob sie nicht kam. Nein. Er schloss die Augen. Sie würde sicher bald da sein. Er spürte, wie sich eine Erektion ankündigte. Seine erste seit der Ankunft in Grönland. «CORPORAL SPRUANCE.»
Rudy schreckte hoch. Die Lautstärke, in der sein Name erscholl, warf ihn fast aus dem Sitz. «CORPORAL SPRUANCE, CORPORAL SPRUANCE, IHR TERMIN UM FÜNFZEHN NULL NULL WURDE ABGESAGT. MIT BEDAUERN UND DER BITTE UM ENTSCHULDIGUNG. BESTÄTIGEN SIE DEN ERHALT DER NACHRICHT, INDEM SIE DIE ARME SCHWENKEN.»
Die Männerstimme drang aus einem Lautsprecher an der Ecke des Flugzeughangars. Es klang wie Lavone, aber Rudy war sich nicht sicher. Die Worte donnerten ohne Widerhall. Die leere Weite des Himmels und der Tundra verschluckte das Echo. «BESTÄTIGEN SIE.»
Rudy starrte immer noch zum Lautsprecher. «SCHAUEN SIE ZUM GEBÄUDE Al‐A. DAS IST DAS LAZARETT. SCHWENKEN SIE DIE ARME. BESTÄTIGEN SIE.»
Rudy stand auf und winkte in Richtung des Lazaretts, das etwa vierhundert Meter entfernt hangabwärts lag. Neben dem zerstörten Flugzeug kam er sich vor wie ein auf einer einsamen Insel notgelandeter Pilot, der einem ungerührt vorbeifahrenden Frachtkapitän Notsignale gibt. Er hatte keine Ahnung, wer ihm zuschaute und von welchem Fenster. 37
«VIELEN DANK. BESTÄTIGUNG ERHALTEN.»
Rudy ließ die Hände sinken. «WEITER: SIE HABEN UM NEUNZEHN DREI NULL EINEN TERMIN BEI COLONEL WOOLWRAP. BIS DAHIN SIND ES NOCH VIER STUNDEN, DREIZEHN MINUTEN. BITTE BESTÄTIGEN SIE DEN ERHALT DER NACHRICHT MIT DREI TIEFEN KNIEBEUGEN.»
Rudy sah zum Gebäude hinunter. «BITTE BESTÄT‐»
Rudy stemmte automatisch zuerst die Hände in die Hüften und streckte dann die Arme nach vorne, als er in die Hocke ging. «SO ISTʹS RECHT. EINS ... ZWEI ...»
«Herr im Himmel», murmelte Rudy. «DREI.GUUUUUT.»
Rudy kam wieder hoch und stemmte die Fäuste in die Hüften. «UND JETZT KÖNNEN SIE DIESE UNTERREDUNG BEENDEN, INDEM SIE DEM GEBÄUDE Al‐A UND DEM GESAMTEN KOMPLEX QANGATTARSA DEN FINGER ZEIGEN.»
Rudy warf die Arme in die Luft und drehte sich im Kreis, wie ein fassungsloser Trainer an der Seitenlinie nach einer Fehlentscheidung. «SIE KÖNNEN‐»
Rudy reckte die Rechte mit ausgestrecktem Mittelfinger in den Himmel. «SEHR SCHÖN. GANZ MEINE MEINUNG. VERSTANDEN, ENDE.»
Aus dem Lautsprecher ertönte ein Knacken, als die Anlage ausgeschaltet wurde. Das Hangardach dehnte sich quietschend, der Wind wehte Staub über Rudys Stiefel. Irene kam nicht. Mit Bedauern und der Bitte um Entschuldigung. Das Lazarett schien so fern wie die Gletscherzungen zwischen den Bergen. Rudy sah sich um und beschloss, ein wenig spazieren zu gehen, denn er wollte noch nicht zurück. Er ging am Rand 38
der Piste entlang, bis er die Landelichter hinter sich gelassen hatte, überquerte ein paar sanfte Hügel und folgte einem Schotterweg, der ihn zu der Baracke mit dem rauchenden Schornstein führte. Das Wellblechgebäude hatte keine Fenster. Die große Flügeltür war verschlossen. Jemand hatte das Wort FEUERWACHE quer darüber gepinselt. Rudy versuchte durch den Türspalt zu spähen, konnte aber nichts erkennen. Er fragte sich, warum eine Feuerwache so weit von den anderen Gebäuden entfernt stand. Man würde schon mehr als zehn Minuten brauchen, um vom Lazarett hierher und mit Ausrüstung wieder zurückzukommen. Als er sein Gesicht an die Wellblechtür presste, schoss ein Jeep um die Ecke. Rudy warf sich gegen die Tür, und sein Herz begann zu rasen. Der Jeep bremste nicht einmal, sondern holperte über eine Bodenwelle und jagte weiter zum Lazarett hinauf. Rudy hörte Soldaten singen und lachen. Die Stimmen und das Motorgeheul verklangen, es wurde wieder ruhig im Tal. Der Rauch aus dem Schornstein hing immer noch in der Luft. Rudy verfolgte die Spur des Jeeps zur nächsten Anhöhe, von deren Kamm er in die letzte geschützte Senke hinab‐blickte, hinter der das Vorgebirge zu höheren Gipfeln anstieg. Hundert Meter vor ihm stand ein halbes Dutzend steinerne Rechtecke im Gras, die wie beinah völlig überwucherte primitive Fundamente aussahen. Das Grün war mit den gelben Blüten des Löwenzahns ge‐ sprenkelt. Rudy ging hinab und umkreiste einen der Quader, bevor ihm ein kleiner grauer Hügel weiter hinten auffiel, von dem ein dünner Rauchfaden aufstieg. Es war ein etwa ein Meter hoher Aschehaufen. Am Rand lag eine kleine Schale, halb unter angekokelten Stöcken vergraben. Er kniete sich nieder und sah, dass sich in der Schale Wasser gesammelt hatte, eine kleine, stille Lache in 39
einem scharfkantigen Pokal. Winzige zitternde Wesen bewegten sich darin: Mückenlarven. Er zuckte zusammen. Dann bemerkte er die Löcher in der Schale. Es waren die Augenhöhlen eines menschlichen Schädels. Er krabbelte rückwärts und richtete sich auf, um den ganzen Haufen überblicken zu können. Zwischen den grauweiß verkohlten Brocken erkannte er nun unzweifelhaft Knochenenden, größere Skelettteile, Wirbel, Gelenke. Ihm schwindelte, schwarze Flecken tauchten vor seinen Augen auf, er verlor das Gleichgewicht. Er taumelte zur Seite und wollte sich abstützen. Seine Hand landete in der Asche. Er zog sie weg. Die Asche war noch warm. Rudy rappelte sich auf und ging vorsichtig ein paar Schritte zurück. Aus dieser Entfernung sah der Haufen blass gefleckt aus, wie grobes Papier. Die Löwenzahnblüten verneigten sich einträchtig, als ein Windstoß vom Fjord durch die grasbewachsene Senke fuhr. Rudy drehte sich um und sog Luft in die Lungen. Er eilte davon und wischte sich im Gehen die Hand am Hosenbein ab. Auf dem Rückweg schaute er noch einmal die letzte Baracke an, den hohen Schornstein und den ungelenken Schriftzug FEUERWACHE. Die Rauchfahne war fast verschwunden. Er folgte den Jeepspuren über die Anhöhe und hinunter zum Lazarett. Weiter oben glitzerten die Gletscher in der Sonne.
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FÜNF «Wo sind Sie her, Soldat?» Rudy wollte gerade antworten, als Colonel Woolwrap fortfuhr: «Ach ja, ich weiß, seit Xerxes stellt jeder Kommandeur diese bescheuerte Frage, aber scheiß drauf, ich bin eben neugierig. Also woher?» «New Jersey, Sir.» «Ort?» «Mindowaskin.» «Herrgott. In New Jersey gibt es wirklich die seltsamsten Namen. Piscataway. Rahway. HoHokus. Und– wie? Mindo– was?» «–waskin.» «Noch nie gehört.» 41
«Nicht weit von New York. Eigentlich ein Vorort.» «Schön. Scheiß auf New Jersey. Ich bin aus Phoenix, Arizona. Und das hier ist Qangattarsa, Grönland, wenn wir schon von schwachsinnigen Namen reden. Und Sie sind wieder auf den Beinen. Fein. Gehtʹs Ihnen besser?» «Ja, Sir.» «Sie sehen auch besser aus. Nicht toll, aber besser. Quartier in Ordnung?» «Jawohl, Sir. Sehr gut.» «Verpflegung ist nicht schlecht hier, was?» «Nein, Sir.» «Einer der Pluspunkte, wenn man in diesem Lazarett stationiert ist», sagte der Colonel. «Man hat einen Quarter‐ master zum Befehlshaber.» «Sie, Sir?» «Ja, ich.» «Sie sind kein Arzt, Sir?» Der Colonel, der seine Hände betrachtet hatte, blickte auf. «Nein, Soldat», sagte er leise. «Ich bin kein Arzt.» Er zeigte auf das Abzeichen an der Wand. Es zeigte einen Adler, einen blauen Sternenkreis und ein Schwert, das mit einem Schlüssel gekreuzt war. Rudy fand, dass da etwas nicht stimmte: Um Schlüssel und Schwert so zu kreuzen, müsste entweder der Schlüssel so lang wie ein Golfschläger oder das Schwert so klein wie ein Füllfederhalter sein. «Das ist das Abzeichen der Quartermasters», sagte der Colonel. «Es könnte daraufhindeuten, dass ich kein Arzt bin. Dazu die Tatsache, dass hier nicht überall Doktordiplome und Urkunden herumhängen. Das sind Indizien, Corporal. Und außerdem mussten Sie nicht sechs Monate auf einen Termin warten, verdammt.» «Jawohl, Sir.» «Bei mir herrscht eine Politik der offenen Tür.» «Jawohl, Sir.» Jemand ging draußen am Vorzimmer vorbei. Vielleicht 42
Irene Teal – als Rudy eingetroffen war, hatte er sie nicht bemerkt. Colonel Woolwrap schaute zur Tür, lächelte kurz, runzelte dann die Stirn und sagte: «Naja, der fast offenen Tür.» Rudy war leicht verwirrt. Jegliche Strenge des Colonel, der sich jetzt plötzlich entspannt zurücklehnte, schien wie weggeblasen. «Waren Sie auf dem College, Soldat?» «Zwei Jahre, Sir.» «Ach so, Junior College?» «Nein, Sir. Ein ganz normales.» «Aber Sie haben nicht zu Ende studiert.» «Nein, Sir.» «Wollen Sie mir sagen, wieso nicht?» «Hab das Interesse verloren.» «Und hat irgendwas anderes Ihr Interesse geweckt und Sie von Ihren Studien weggelockt, Corporal?» «Eigentlich nicht, Sir.» «Sie sind also einfach abgegangen und haben Däumchen gedreht.» «Nicht nur. Ich habe auch ein bisschen gearbeitet.» «Was?» «So dies und das.» Rudy schaute aus dem Fenster. Er wollte das Thema wechseln. Durch die Jalousien sah er die Landepiste, in Streifen geschnitten. Er dachte an die Knochensplitter, den Totenschädel. «Außerdem ...», sagte er gedankenverloren. «Außerdem was?», fragte der Colonel. «Außerdem wurde meine Mutter krank. Ich musste mich um sie kümmern.» Er hatte eigentlich bei der Wahrheit bleiben wollen, doch es fiel ihm schwer, über seine Gefühle zu reden, über seine Antriebslosigkeit, die Arbeit als Verkäufer in einem Spiel‐ zeugladen, die Auseinandersetzungen mit seinem Stiefvater, den Rausschmiss aus dem College. Der Colonel hatte Recht 43
gehabt – im Grunde hatte er Däumchen gedreht. Also hatte er von der «Krankheit» seiner Mutter angefangen. In Wirk‐ lichkeit ging es ihr gut; sie lebte mit Roger in Florida. Aber indem er ihr hier vor seinem Kommandeur eine Krankheit andichtete, drehte er der Army eine lange Nase. So wie mit der Angabe verstorben im Feld für die Angehörigen. «Das tut mir Leid. Geht es ihr inzwischen besser?», fragte der Colonel. «Könnte man sagen, Sir. Sie ist tot.» Bisher hatte er dies immer nur in den Formularen behauptet, aber jetzt konnte Rudy die unmittelbare Wirkung beobachten. Die Reaktion des Colonel war höchst erfreulich: Er kniff die Augen zu hob dann die Brauen und nickte. Er murmelte eine Beileidsbekundung. Noch bevor Rudy antworten konnte, schob der Colonel nach: «Ach, Scheiße, hier geht es schließlich auch nur um Tod, Corporal, wie ich schon angedeutet habe, glaube ich. Am Krankenbett. Da ist es vielleicht ganz gut, dass Sie schon Ihre Erfahrungen mit den letzten Dingen gemacht haben und so entspannt darüber reden können.» «Das sollte nicht entspannt klingen, Sir», sagte Rudy. «Tut mir Leid, wenn es sich so angehört hat.» «Entschuldigen Sie sich nicht bei mir, sondern bei Ihrer Mutter.» «Jawohl, Sir.» «Möge sie in Frieden ruhen.» «Jawohl, Sir.» Jetzt bereute Rudy seinen kleinen Schwindel. Vielleicht ruinierte er seine Chancen auf eine Versetzung. Und was, wenn der Colonel seine Angaben überprüfte? Das würde weitere peinliche Befragungen und jede Menge neue Ausflüchte nach sich ziehen. «Aber warum zum Teufel reden wir über Mütter? Das möchte ich mal wissen», sagte der Colonel. Er stand auf und ließ seinen Schreibtischstuhl eine Weile 44
kreisen wie ein Rouletterad, dann fiel seine Hand schwer auf die Lehne. «Eine Zeitung», sagte er. «Ich will eine Zeitung.» Der Colonel schlug sich mit der Faust in die Hand. «Man schickt also einen P&I‐Corporal nach Grönland», sagte er. «Ich frage gar nicht erst beim Oberkommando nach, wieso, lasse gleich von Sergeant Teal eine Versetzung ausstellen. Schicke den Spaßvogel weiter nach Deutschland oder zurück in die Staaten, Hauptsache weit weg. Aber dann überlege ich mir, nein, verdammt. Warum machen wir aus dem ganzen Schwachsinn nicht etwas Sinnvolles? Nutzen die Gelegen‐ heit? Können Sie folgen?» «Ja, Sir. So weit.» «Gut. Ich dachte nämlich, auch wenn wir hier mit äußerster Zurückhaltung arbeiten, so zurückhaltend, dass wir offiziell gar nicht existieren, könnten wir trotzdem Presse und Information gebrauchen. Aber nicht um die Öffentlichkeit zu informieren, Sie könnten uns vielmehr ... etwas über uns erzählen. Wir könnten es doch mit einer Zeitung für den Stützpunkt versuchen. So was wollte ich schon immer haben. Wäre gut für die Stimmung. Könnte den Zusammenhalt stärken und mit den Gerüchten aufräumen, die hier herum‐ schwirren wie Ihre Blut saugenden Freunde.» Der Colonel schaute durch die Jalousien auf Flugfeld, Tundra und Berge hinaus. «Dahinten habe ich Sie zum ersten Mal gesehen», sagte er. «Ja, Sir. Und ich bin froh darüber.» Rudy fasste sich unwill‐ kürlich an seine geschwollene Wange. «‹Kommandeur rettet Corporal vor Mückengeschwader›. Wie wäre es damit?» «Ich würde solche Schlagzeilen in Zukunft lieber nur schreiben, anstatt sie zu liefern, Sir.» «Gute Einstellung», sagte der Colonel, drehte sich um und deutete mit dem Finger auf Rudy. «Das gefällt mir. So, und jetzt zeigen Sie mal, was Sie draufhaben. Erzählen Sie mir, 45
wie Sie so eine Zeitung aufziehen würden. Los. Denken Sie sich was Spannendes aus.» Rudy rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Nicht der günstigste Moment, den Wunsch nach einer Versetzung zu äußern. Der Colonel war in Fahrt. Keiner der Kurse an der Nachrichtenschule für die Streitkräfte in Fort Benjamin Harrison in Indianapolis, Indiana, USA, hatte ihn auf so etwas vorbereitet. Er räusperte sich. «Hm, ich nehme an, als Ausrüstung haben Sie so etwas wie einen Mimeographen?» «Nicht so etwas wie, Soldat. Einen Mimeographen, ja.» «Aha. Das beschränkt unsere Möglichkeiten ein wenig. Aber ich schätze, man könnte damit schon was Ordentliches hinkriegen, was nicht wie ein, na ja, wie ein Gemeindebrief aussieht.» «Okay», sagte der Colonel. «Nur den Speiseplan und die Sprechstunden des Kaplans und eine Liste der neuen Zeitschriften in der Bibliothek abzudrucken wird Ihnen wahrscheinlich nicht reichen.» «Nein», sagte der Colonel. «Sie wollen sicherlich etwas Besseres», sagte Rudy. «Richtig», sagte der Colonel. «Aber wie könnte das aus‐ sehen?» «Gute Frage», sagte Rudy. «Geben Sie mir eine Antwort.» «Nun, es gibt viele Möglichkeiten. Sie wollen, wie gesagt, dass wir uns etwas über uns selbst erzählen, also müsste man erst einmal herausfinden, wer wir überhaupt sind.» «Soldat, mich beschleicht das Gefühl, dass Sie aus‐ weichen!» «Sir?» «Haben Sie überhaupt Ideen?» «Ja, Sir.» «Na, dann raus damit.» «Ja, Sir. Ich bin schon dabei.» 46
«Schneller!» «Tut mir Leid, Sir.» «Und erzählen Sie mir nicht immer, was ich will. Fangen Sie mal an, wir zu denken.» «Jawohl, Sir.» «Wir, wir, wir...» «Jawohl, Sir.» «... und denken Sie bis zu Ende.» «Ja, Sir.» Rudy schwitzte. Er war wie ausgedörrt. «Interviews, Sir.» «Was?» «Wir führen Interviews. Schreiben Porträts. ‹Lernt die Männer und Frauen von Qangattarsa kennen›. Wir suchen Leute mit interessantem Hintergrund und lassen sie ihre Geschichten erzählen.» «Weiter», sagte der Colonel. «Wahrscheinlich können wir ein bisschen was aus Stars and Stripes übernehmen. Und eine Kulturseite machen. Einen Dichter habe ich schon kennen gelernt. Es gibt Interesse an Kunst.» Jetzt kam auch Rudy langsam in Fahrt. «Fotos kriegen wir nicht hin, aber vielleicht Zeichnungen. Ich glaube, auf Matrizen kann man zeichnen. Und ein Kreuz‐ worträtsel. Das könnten wir machen. Und –» «So wird das nichts.» «Sir?» «Das ist Mist. Ein Matrizenabzug mit einem freihändig gezeichneten Kreuzworträtsel auf der Rückseite?» «Na ja, Sir, wir haben doch noch nicht mal –» «Außerdem wird Stars and Stripes hier seit Jahren nicht mehr hergeliefert. Und was soll dieser Kulturquatsch? In einer Army‐Zeitung!» «Ich meine ja nur –» «Tut mir Leid, Corporal. Mein Fehler. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich werde Sie versetzen lassen. Dahin, wo Sie Ihre Talente besser entfalten können. Ich 47
nehme an, Sie haben irgendwelche Talente. War keine gute Idee. Tut mir wirklich Leid.» «Aber nein, Sir. Sie müssen sich nicht entschuldigen.» «Sie müssen sich bei Ihrer entschlafenen Mutter entschul‐ digen. Und ich mich bei Ihnen.» «Das ist doch nicht nötig, Sir –» «Doch. Tut mir Leid.» «Nein, wirklich –» Rudy hörte Schritte. Er wandte sich um und sah Irene an der Tür vorbei zu einem Aktenschrank im Vorzimmer gehen. Sie bückte sich, um etwas in die untere Schublade zu legen, und Rudy bekam den typischen Anblick eines wohlge‐ rundeten Sekretärinnenhinterns geboten wie im Film– wenn die Geigen singen und Fanfaren ertönen und dem Zuschauer der Mund trocken wird. «Nein wirklich – was, Corporal?» «Hm?» «Was, Corporal?» Irene schloss den Aktenschrank und ging hinaus. Ihre Absätze klackten übers Linoleum. Rudy schreckte aus seinen Träumen hoch und wandte sich dem Colonel zu. «Ich möchte hierbleiben. Ich möchte nicht versetzt werden, Sir.» «Sie wollen hier bleiben?» Ganz schwach hörte Rudy die Absätze immer noch. Er konnte selbst kaum glauben, was er da sagte, aber er meinte es ernst. «Ich will hier bleiben.» Der Colonel sah wieder aus dem Fenster. «Wie würden Sie so eine Zeitung nennen?» «The Times?», schlug Rudy vor. «The Mirror? The Herald?» Colonel Woolwrap schüttelte den Kopf. «Auf die Namen bin ich selbst schon gekommen», sagte er. «Ach», sagte Rudy. Seine alte Schulzeitschrift fiel ihm ein, The Quill – «Die Feder». Der Redaktionsraum hatte neben dem Büro des Vertrauenslehrers gelegen, mit Ausblick aufs 48
Footballfeld, und an Herbstnachmittagen hatte man durchs offene Fenster hören können, wie die Spieler auf die gepolsterten Trainingsböcke prallten. Immer wenn eine neue Ausgabe geliefert wurde, hatte der säuerlich beißende Geruch frischer Druckfarbe das Zimmer erfüllt. «The Quill?», fragte Rudy. «The Qangattarsa Quill», wiederholte der Colonel langsam. Er neigte den Kopf nach hinten und wieder nach vorn, als rollte er den Namen in seinem Kopf hin und her. «Nein. Eine Feder ist zu leicht und luftig. Wir schreiben schließlich für Soldaten.» Der Colonel nahm ein helles Stück Elfenbein oder Knochen, so groß wie eine Möhre, vom Schreibtisch. Rudy musste wieder an den Aschehaufen draußen bei den Mauern denken. Dann sah er ein Taschenmesser auf der Tischplatte liegen. Der Gegenstand wies Schnitzspuren auf. Der Colonel wog ihn in der Hand. «Walbein», sagte er. «Aha», sagte Rudy. «Die Eingeborenen hier fangen Wale.» «Ach.» «Und ich schnitze was aus den Knochen», sagte der Colonel, zog ein paar fertige Stücke aus seiner Schublade und breitete sie auf der grünen Schreibunterlage aus. Es waren ausschließlich Körperteile. Arme, Beine, Hände, ein Herz, sogar ein Torso, der wie eine klumpige Venus von Milo aussah. Alle waren poliert und bleich wie Kernseife. «Mein Hobby», sagte der Colonel. Er betrachtete die Knochen, drehte einige hin und her, sein Gesichtsausdruck verklärte sich. Dann sog er zischend Luft durch die Zähne und grinste. «The Harpoon», sagte er. «Walknochen. Wale. Harpunen. The Qangattarsa Harpoon.» «The Harpoon?» Der Colonel stand auf. Er fuhr mit der Hand durch die 49
Luft, als wollte er ein Banner entrollen. «‹Sie stößt zum Kern der Sache vor›», sagte er. «The Harpoon», sagte Rudy leise. «Das ist ein Name!», sagte der Colonel. «Sie haben einen Namen und ein Motto – was brauchen Sie mehr? Bringen Sie die Zeitung heraus.» «The Harpoon?» «Ganz grundlegendes Jagdwerkzeug in dieser gottverlas‐ senen Gegend. Außerdem passt eine Waffe zu unserem mili‐ tärischen Auftrag. Mir gefälltʹs.» «The Harpoon», sagte Rudy noch einmal. «Herrgott, Soldat, lassen Sie mich nicht alles selber machen.» «Nein, Sir. Entschuldigung. Ich habe den Namen bloß vor mich hin gesprochen, um mich daran zu gewöhnen. Ehrlich gesagt gefällt er mir auch.» «‹Ehrlich gesagt›? Was sagt man dazu? Dem Grünschnabel gefällt, was der Alte vorschlägt. Ehrlich gesagt.» «Entschuldigung, Sir.» «Sie entschuldigen sich verdammt oft, Soldat. Und nie bei dem Menschen, der es am ehesten verdient hat.» «Sir?» «Bei Ihrer Mutter.» «Sir, könnten wir –» «Ich weiß, ich weiß. ‹‐ meine Mutter aus dem Spiel lassen?› Die heimliche Hymne aller Soldaten. ‹Lassen Sie meine Mutter aus dem Spiel.› Okay. Aber diese ganze Entschuldigerei wird Sie als Zeitungsmann nicht voranbringen. Sie müssen sich ins Getümmel stürzen, vielleicht ein paar Leuten auch mal ein bisschen wehtun.» «Wie eine Harpune.» «So ist es.» «In Ordnung, Sir.» Der Colonel ging wieder vor den Fenstern auf und ab. Am 50
Eckfenster blieb er stehen und schaute über den Fjord hinaus, wo die Abendsonne die Berge und Gletscher rötlich färbte. «Und jetzt passen Sie mal auf: Erst mal legen Sie mit dem Mimeo‐graphen los, aber dann brauchen wir was Besseres. Als Quartermaster will man immer etwas Besseres. Ich möchte eine Zeitung mit Klasse. Ich lasse meine Verbin‐ dungen spielen. Wir werden hier eine anständige Zeitung hinkriegen.» «Sir, vielleicht könnte ich Unterstützung gebrauchen.» «Wen?» «Naja, Corporal Lavone interessiert sich fürs Schreiben.» «Klar. Je mehr Leute, desto besser. Sogar Ihre komischen künstlerischen Ideen fangen an mir zu gefallen, Corporal. Kultur. Warum nicht? Machen Sie mal.» Der Colonel rieb sich die Hände. «So was brauchen wir, um die Stagnation zu überwinden.» «Stagnation, Sir?» «Sogar noch schlimmer, Corporal. Verfall. Wir verrotten hier, Corporal. Das ist natürlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt, aber wahr.» Colonel Woolwrap fuhr mit den Fingern über einen schweren roten Vorhang, der an einer Seitenwand von der Decke bis zum Fußboden reichte und den Rudy bisher nicht bemerkt hatte. Der Vorhang war zugezogen. Der Colonel ging zu einem Standglobus neben dem Fenster und sah nachdenklich, ein wenig melancholisch hinaus. Seine Hand ruhte auf Sibirien; seine Finger erstreckten sich über den Nordpol. Das Sinnbild des einsamen Befehlshabers, dachte Rudy. «Das Lazarett ist geheim, nicht wahr, Sir?» Der Colonel sah Rudy an. «Ja», sagte er leise. Von weitem hörte Rudy das Dröhnen eines Hubschraubers näher kommen, der wohl den Fjord hinaufflog. «Soldat, in einer Woche möchte ich die erste Ausgabe Ihrer 51
Zeitung sehen.» «Junge, Junge, Sir.» «Das können Sie schaffen.» «Jawohl, Sir.» Jetzt hörte auch der Colonel den Hubschrauber. Er legte den Kopf schräg. Rudy horchte nach Irenes Absätzen, doch er hörte nur das laute Knattern der Rotorblätter, das seinen Fluchtinstinkt weckte. Doch statt wegzulaufen, stellte er eine Frage. «Darf ich den gesperrten Teil des Lazaretts betreten, Sir?» Der Colonel starrte Rudy vom anderen Ende des Zimmers an. «Was, Soldat? Können Sie das wiederholen?» Woolwrap stand außerordentlich still. Rudy wusste nicht, ob er das Wort ergreifen durfte. «Schon gut, Sir.» «Nein! Wiederholen Sie.» Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Colonel aus, das mit der Sonne um die Wette strahlte. «Sir», sagte Rudy leise, «darf ich den gesperrten Teil –» «Den Flügel, Corporal. Es heißt hier nur ‹Der Flügel›» Dann ergriff der Colonel die Schnüre der Jalousie, öffnete und schloss die Lamellen. Rudy blinzelte, weil ihn die Sonne blendete. «Ich antworte im Morsecode, Corporal.» Der Colonel bewegte weiter die Jalousie. «Ich verstehe nicht, Sir.» «Die Antwort auf Ihre Frage. Nach dem Flügel. Morsecode, Corporal. Streng geheim. Ich habe nichts gesagt.» Durch die klappernde Jalousie sah Rudy, dass der Helikopter auf dem Flugfeld gelandet war. Ein Mann in Skijacke und Zivilkleidung war ausgestiegen und in einen wartenden Jeep geklettert, der mit ihm zum Flügel fuhr. Hatte der Colonel das mitbekommen? Woolwrap zog weiter an den Schnüren. «Heißt das ja, Sir?» «Das heißt ‹Dit‐dah‐dah‐dah Dit‐dah›, Corporal.» 52
SECHS Rudy fand Lavone im Verwaltungstrakt, am Ende eines Flurs, dessen Bodenbelag sich wellte, in einem kleinen, hell erleuchteten Büro. Er saß an der Schreibmaschine, eine Chesterfield im Mundwinkel, und hatte seinen Knautschhut gegen eine normale Uniformmütze eingetauscht. An den Bürowänden hingen große Zelluloidtafeln, auf denen die Namen der Soldaten notiert waren, die Stubendienst, Wachdienst und Küchendienst hatten. Im Sanitätsraum nebenan sah Rudy zwei Gefreite, die Darts spielten. «Hast du gestern in den Lautsprecher gebrüllt?», fragte Rudy. Lavone schaute auf. «Charlie Parker war es jedenfalls nicht.» Rudy erzählte ihm, dass The Harpoon in einer Woche erscheinen solle. 53
«The Harpoon?» «Genau.» «Gefällt mir.» «Gut. Du bist dabei.» Lavones Augen weiteten sich. «Sagt der Colonel?» «Sagt der Colonel.» Nebenan stritten sich die beiden über den Punktestand. «Und was soll ich dabei tun?», fragte Lavone skeptisch. Den Blick auf Rudy gerichtet, fingerte er in seiner Hemd‐ tasche und zog einen seiner kleinen weißen Inhalatoren heraus. «Schreiben», sagte Rudy. «Journalismus?», fragte Lavone. «Ist gar nichts dabei», sagte Rudy. «Ich habʹs bei der Army gelernt.» Ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, sog Lavone geschickt zweimal am Inhalator. «Ach, bei der Army», sagte er. «Wann gehtʹs los?» Rudy ging eine Liste von Dingen durch, die angefordert werden mussten. Lavone wollte dafür sorgen, dass Rudy sein bisheriges Zimmer als Büro und Quartier bekäme. Dann ging er zum Feldtelefon und kurbelte, um die Abteilung Wartung anzurufen. Nebenan wurde der Streit lauter. Der eine Gefreite boxte den anderen gegen die Schulter. Rudy fingerte an der Verschnürung einiger achteckiger Filmkisten herum, die auf Lavones Schreibtisch lagen. Nach einigen Telefonaten sagte Lavone: «Der Mimeograph geht klar. Du kannst ihn heute Nachmittag bei Sergeant Genteen abholen. Er bringt ihn zum Laufen. Jetzt kümmere ich mich noch um Druckfarbe und Papier.» Er zögerte einen Moment. «Herrgott, was soll ich bloß bei einer Zeitung? Ich schreibe Gedichte.» «Vielleicht können wir die veröffentlichen», sagte Rudy. Lavone schaute zur Decke. «‹Möse der Winternachtsbestie / bedecke uns alle / wenn die mächtige Eisbärhyäne auf uns 54
hockt, monatelang / uns umhüllt und verdunkelt / zurück‐ zerrt in die frostige Scheide der ersten Nacht ...› Das ist aus meinem Arktischen Sutra», sagte er. «Canto Sechs.» Rudy zeigte auf die achteckigen Kisten. «Vielleicht könntest du etwas über Filme schreiben.» Lavone wackelte mit dem Telefonhörer. «Yeahhh. Ein paar Rezensionen vielleicht, ein bisschen Theorie. Ich könnte den Cineasten spielen.» Rudy war erleichtert. «Klar, Mann», sagte Lavone. Er kurbelte heftig am Telefon und führte weitere Gespräche. Rudy sah sich an, was in der Schreibmaschine steckte: ein Brief auf dem offiziellen Brief‐ papier der Army. ...Trotz der ungewöhnlich schwierigen und langwierigen Ver‐ handlungen mit der kommunistischen Regierung Nord‐ Koreas und dank der Hartnäckigkeit der amerikanischen Militärstellen können wir Ihnen jetzt zweifelsfrei mitteilen, dass Ihr Sohn im Kampf gefallen ist. Die strengen Sicher‐ heitsvorkehrungen verbieten detailliertere Auskünfte, aber sein Auftrag führte ihn in Gebiete, die heute zu Nord‐Korea gehören.
Der Brief war an einen Mr. und eine Mrs. Louis Santucci in Mineola, New York, gerichtet. Es werde der Army nicht möglich sein, die sterblichen Überreste von Louis junior in die Heimat zu überführen, stand da. Man werde den San‐ tuccis eine amerikanische Flagge schicken und für ihren Sohn einen Grabstein auf dem Heldenfriedhof in Arlington aufstellen, wenn sie es wünschten. Louis Santucci jr. gab sein Leben im Dienst für sein Land. Die Army der Vereinigten Staaten, der er ehrenhaft gedient hat, bedauert zutiefst, dass seine Angehörigen so lange im Unge‐ wissen bleiben mussten.
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Rudy war so in den Brief vertieft, dass er gar nicht bemerkte, dass Lavone aufgelegt hatte und ihm über die Schulter blickte. «Ich buche den Kerl gerade aus», sagte Lavone. «Er hat den Qangattarsa gemacht.» Lavone schwang die Arme wie Flügel. Rudy begriff nicht, was er damit sagen wollte. «Qangattarsa», sagte Lavone. «Das ist Inuktitut. Sprache der Eskimos. Der Name des Stützpunkts. Es bedeutet ‹Lasset uns hinauf‐fliegem. Dieser Santucci hat den Qangattarsa gemacht.» Lavone wedelte wieder mit den Händen. Rudy schaute auf das Blatt. «Hat er im Flügel gelegen?» «Hm‐m.» «Gestorben?» «Abgang.» Durch Lavones Bürofenster sah man in zehn Metern Entfernung die Wellblechwand einer Baracke. Zwischen den Gebäuden blühten ein paar Büschel winzig kleiner Blumen. Rudy dachte an den Löwenzahn. «Hinter dem Flugfeld», sagte er. «Da sind so Mauern, beinah zugewachsen. Da war ein Haufen –» «Du hast es erfasst», sagte Lavone. «Santucci ist gestorben, und gestern hat der Bestattungstrupp ihn verbrannt und die Asche da rausgeschafft. Er ist gestern in Grönland gestorben und vor acht Jahren in Korea. Hier ist er gestorben; dort haben sie ihn gefunden. Jetzt wird er nicht mehr vermisst.» Lavone tippte auf den Brief. «So machen wir es hier mit allen, die abtreten.» Die Gefreiten im Nebenraum hatten inzwischen eine ernst‐ hafte Schlägerei begonnen. «Woran ist er denn wirklich gestorben?», fragte Rudy. Lavone blätterte einen Stoß Papiere durch. «Herzver‐ sagen.» Er las schweigend weiter, murmelte dann: «Er hatte keine Arme und Beine mehr, keinen Unterkiefer, keinen Dickdarm ...» 56
Rudy dachte an die Flagge, die Mr. und Mrs. Santucci bekommen würden, zu einem festen Dreieck gefaltet, dessen Oberseite ein paar Sterne zeigt. «Warst du schon mal im Flügel?», fragte Rudy. Lavone schüttelte bedächtig den Kopf. «Nein. Nein danke. Ich habe zwar Zugangsberechtigung, aber ...» Er trommelte mit den Fingern auf die Schreibmaschinentasten. Es klap‐ perte leise. «Aber was?», fragte Rudy. Nach langem Schweigen antwortete Lavone: «Es reizt mich nicht.» Im selben Moment sauste ein Dartpfeil an Rudys Nase vorbei und bohrte sich in die Diensttabelle. Er duckte sich. Ein weiterer Pfeil knallte an die Schreibmaschine. Die Gefreiten schrien einander an. Der größere stürmte durch die Tür, verfolgt vom kleineren, der fluchte und mit Pfeilen warf. Eines seiner Geschosse prallte von der Hinterbacke des großen Gefreiten ab, der wütend aufheulte und sich drohend gegen seinen Verfolger wandte, doch als zwei weitere Pfeile und ein Schwall Flüche auf ihn niedergingen, zuckte er zurück. Die beiden Gefreiten tobten durch das Büro, warfen einen Stuhl um und rissen Papiere vom Schreibtisch. «He, ihr Arschlöcher!», schrie Lavone, aber die beiden waren schon nicht mehr zu sehen. Ihr Geschrei verlor sich in den Windungen des Korridors. Rudy half Lavone, die Papiere wieder aufzusammeln. «Und dabei sind im Moment noch alle glücklich und zufrieden», sagte Lavone. «Warte erst mal, bis es dunkel wird.» Rudy hielt eine Seite von Santuccis Krankenakte in der Hand. «Ich nehme an, wenn Typen wie Santucci sterben, werden wir keinen Nachruf in die Harpoon setzen», sagte er. «Auf keinen Fall», sagte Lavone. «Das ist Militärgeheimnis. Die sind offiziell nicht mal hier.» Er schob sich seinen patro‐ 57
nenförmigen Inhalator in die Nase und schnüffelte. «Wir übrigens auch nicht.» Am Nachmittag brach Rudy zur Werkstatt auf, um den Mimeographen zu holen. Die Werkstatt war ein kleiner rechteckiger Schuppen neben den halbrunden Baracken, die den Fuhrpark beherbergten. Die Tür stand offen, und aus dem Inneren drang ein metallisches Kratzen. Im schwach erleuchteten Raum sah Rudy einen Mann mit Schutzbrille, der sich über einen rotierenden Schleifstein beugte. Jedes Mal, wenn er das Stück Metall daran hielt, sprühte ein Funkenregen gegen die Wand. Der Lärm erinnerte Rudy an U‐Bahn‐Waggons, die in einer Kurve kreischten. Er hatte einen Geschmack im Mund, als lutschte er an einem Schlüssel. Der Mann musste gespürt haben, dass jemand in der Tür stand. Er trat vom Schleifstein zurück. Rudy erkannte den Bierbauch wieder, der sich erst vor kurzem im Speisesaal gegen den Flipper gepresst hatte. «Sind Sie Sergeant Genteen?», fragte Rudy. Der Mann setzte die Schutzbrille ab und blinzelte. «Ja», sagte er. Er ruckte mit dem Kopf und versuchte im Halbdunkel, Rudys Gesicht oder wenigstens seinen Rang zu erkennen. «Ich komme wegen des Mimeographen», sagte Rudy. «Schon mal was von Anklopfen gehört?», fragte Genteen. «Die Tür war offen», sagte Rudy. Genteen sah zur Tür, durch die Licht hereinfiel. Er zog einen Klumpen Rotz hoch, stellte den Schleifstein ab und ging zur Seite, um Rudy richtig anzuschauen. «He‐he‐hey», sagte er. «Der Mückenmann.» Rudy sagte nichts. «Wie gehtʹs denn so, Mückenmann?» Genteen kicherte. Dann stieß er ein hohes Summen aus. Er kicherte wieder. «Sergeant, ich bin Corporal Spruance. Ich habe den Befehl, 58
einen Mimeographen abzuholen.» Genteen richtete sich auf. «Oho», sagte er. «Ach wirklich. Tja, da steht er.» Er zeigte auf eine mächtige schwarze, chrom glänzende Maschine, die auf einer Werkbank stand. «Bedienen Sie sich.» Rudy sah sich das große Gerät an, die Drucktrommel, die Papierfächer, die Bedienungsknöpfe, die Kurbel. «Ohne Hilfe kann ich ihn wohl kaum in mein Büro bringen», sagte Rudy. «Ihr Büro?» «Das ist im Lagersektor C.» «Tja, ich weiß auch nicht», sagte Genteen, rieb sich mit einer Hand das Kinn und ließ mit der anderen die Schutz‐ brille kreisen. «Ich bin sehr beschäftigt.» Genteen sprach gedehnt und etwas nasal, wie ein Mann aus dem Mittelwesten, einer weiten, flachen und öden Gegend, wo riesige Felder das Land in Rechtecke teilen. «Sie wollen mich einfach aus meiner Arbeit reißen», fuhr Genteen fort. «Dann staut sich hier alles. Laufkundschaft ist hier nicht üblich. Wir machen normalerweise Termine.» «Aber wir hatten doch einen Termin für den Mimeo‐ graphen», sagte Rudy. «Stimmt», entgegnete Genteen. «Hatten wir. Er läuft ja auch.» «Tja, und jetzt wird er im Lagersektor C gebraucht.» «Tatsächlich? Und wofür?» Rudy wusste, dass er womöglich zu viel verriet, aber er vertraute auf die Rückendeckung des Colonel. «Für die Stützpunktzeitung», sagte er. «Oooooh ja, davon habe ich schon gehört», sagte Genteen. «Na toll», sagte Rudy. «Würden Sie mir jetzt also helfen?» «Ach, tut mir furchtbar Leid, Corporal, aber ich habe hier alle Hände voll zu tun. Sie müssen sich wohl selber helfen.» Er griff wieder nach dem Bajonett, das er geschärft hatte, zuckte hilflos die Achseln, deutete auf die Werkstatt und gab 59
sich ganz wie jemand, der vor Arbeit fast umkommt. Jetzt erst bemerkte Rudy, wie penibel aufgeräumt die Werkstatt war. Jedes Werkzeug hing an seinem Platz an der Wand, umrahmt von einer weißen Umrisszeichnung. Auf dem Fußboden waren Arbeitsbereiche und Gänge ebenfalls mit weißen Linien markiert. Der Bereich mit entflammbaren Werkstoffen und der Farbenschrank waren zur Warnung schwarzgelb schraffiert. Der Boden war makellos sauber. Selbst die Lappen lagen ordentlich gefaltet auf einem kleinen Regalbrett mit der Aufschrift «Gebrauchstücher». Genteen fuhr fort, sein Bajonett zu schärfen. Funken flogen vom Schleifstein. Zu seiner Rechten, im Bereich «Geländear‐ beiten», sah Rudy eine Schubkarre an der Wand lehnen. Er schob sie zur Werkbank hinüber und wuchtete den Mimeo‐ graphen auf die Karre, wobei er sich die Finger quetschte. Als er mit der Schubkarre umdrehte, stand Genteen vor ihm. «Können Sie lesen?» Das Bajonett zeigte auf ein Schild, das an zwei dünnen Ketten von der Decke hing. KEIN BORGER SEI UND AUCH VERLEIHER NICHT.
William Shakespeare ALSO FRAGEN SIE GAR NICHT ERST!
Sgt.R.G. Genteen Genteen tippte mit dem Bajonett gegen die Schubkarre. «Ich hab gar nicht gefragt», sagte Rudy. «Nein, du Idiot, du hast sie einfach genommen. Du wolltest einfach meine Schubkarre nehmen.» «Sie haben gesagt, ich solle mich bedienen.» Genteen zuckte zusammen und schüttelte den Kopf, als bereitete ihm Rudys bloße Anwesenheit Kopfschmerzen. «Herrgott, bist du ein Trottel. Kein Wunder, dass dich die Mücken zerstochen haben. Also gut, ich werde meine Regeln ein bisschen lockern, anscheinend ist der Colonel ja richtig scharf auf eure Zeitung. Nimm dir die Schubkarre. Aber stell sie nachher bloß wieder an ihren Platz.» 60
«Tausend Dank, Sergeant.» Rudy schob die Karre an Genteen vorbei, der leise, fast unhörbar murmelte: «Trottel kann ich überhaupt nicht leiden. Aber Klugscheißer noch weniger. Und ich hab den Eindruck, du bist beides.» Rudy trat aus der Werkstatt heraus und machte sich auf den Weg zum Lazarett. Bei jedem Stein oder Grasbüschel, das er überrollte, schwankte die Maschine bedenklich. Die Anstrengung und die hinter ihm liegende Auseinander‐ setzung brachten ihn ins Schwitzen. Genteens Stimme kreiste in seinem Kopf. Rudy zog seine Arbeitsjacke aus und wickelte sie um den Mimeographen. Ihm fiel auf, dass Genteen die Maschine wirklich gut gepflegt hatte. Sie war blitzsauber: die Chromleisten glänzten im arktischen Sonnenschein. An der Tür baute Rudy sich eine Rampe aus weggeworfenen Frachtpaletten. Er schob die Karre durch die gewundenen Flure zum Sektor C und in sein Zimmer. Mit Mühe gelang es ihm, den Mimeographen auf ein paar leere Vorratskisten zu hieven, die La‐vone und er besorgt hatten. Dann ratterte er mit der Karre zurück durch die Korridore und wieder hinaus zur Werkstatt. Genteen war nicht mehr da. Vorsichtshalber rief Rudy «Jemand zu Hause?» durch die offene Tür. Keine Antwort. Der Sergeant musste zum Mittagessen gegangen sein. Sogar hier draußen konnte Rudy den Lärm aus dem Speisesaal hören. Eine leichte Brise wehte durch ein offenes Fenster, das Shakespeare‐Schild quietschte an seinen Ketten. Rudy stellte die Karre ab und betrachtete die perfekt geordneten Werk‐ zeuge und Geräte. Auf der Werkbank neben dem Schleifstein bemerkte er das Bajonett, das exakt im rechten Winkel zu einigen Messern und Stemmeisen lag. Er nahm es, holte weit aus und schlug es auf den Amboss am Rand der Werkbank. Es klirrte einmal 61
ohne Widerhall, und ein winziger Funken löste sich vom Stahl. Am Fenster betrachtete er die Klinge im Sonnenlicht. In der Schneide war jetzt eine kleine Scharte; dort glitzerte ein nadelfeiner Zacken. Er legte die Waffe genau so wieder hin, wie er sie gefunden hatte, und verließ die Werkstatt.
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SIEBEN Während über die Lautsprecher eine Hornfanfare vom Tonband erscholl, die sie zum Exerzierplatz rief, redete Lavone wie ein Wasserfall. Offenbar hatte er bereits eine Hand voll Muntermacher und ein paar Liter Kaffee intus: Er improvisierte sinnlose Lautfolgen, hüpfte beim Laufen und erzählte Rudy, dass diese Appelle vor allem dem Vergnügen des Colonel dienten. Manchmal müssten sie jeden zweiten Tag antreten, manchmal wochenlang nicht. Er konnte sich nicht erinnern, wann das letzte Mal gewesen war. Dann fing er an, im Tonfall des Komikers Lord Buckley Verse aus seinem Arktischen Sutra zu rezitieren. Dann wollte er wissen, wie aus Rudy ein Schriftstellerkollege geworden sei. Inzwischen waren sie auf dem Exerzierplatz angekommen. Soldaten rannten zu ihren Plätzen. 63
«Schriftsteller? Ich bin doch bloß P&I», sagte Rudy. «Ja, aber wie hast du das hingekriegt?» «Mir gefiel das Klappern der Schreibmaschinen.» «Was redest du denn da? Ich finde, das klingt wie Peit‐ schenhiebe.» Lavone zuckte theatralisch zusammen und schnippte mit den Fingern. «Mir müssen die Worte aus der Feder bluten, Mann.» «Schreibmaschinen klingen viel besser als Maschi‐ nengewehre.» «Wie wahr, wie wahr. Der Mann spricht wahr.» «Also habe ich bei der Grundausbildung um einen Posten gebeten, bei dem ich tippen muss.» «Und dann landet der Mann hier!» Lavone drehte sich mit ausgestreckten Armen im Kreis. «Die Army! Man fasst es kaum.» «Angetreten!», dröhnte ein Sergeant. Die Soldaten richteten ihre Reihen aus, nahmen Haltung an und salutierten, als die Flagge gehisst wurde. Bei diesem Appell sah Rudy zum ersten Mal die ganze Truppenstärke des Lazaretts. Rudy stand neben Lavone in der zweiten Reihe der Verwaltungskompanie. Auf der anderen Seite des Exerzierplatzes stand die medizinische Abteilung, daneben die technische Truppe: die Jungs vom Fahrzeugpark und von der Wartung, die Sergeants vom Nachschub und von der Messe, die Fahrer, Funker und ein paar Mechaniker und Elektriker von den Pionieren. Insgesamt über einhundert‐ undfünfzig Männer und Frauen. Der Exerzierplatz war das ebenste und am wenigsten bewachsene Fleckchen zwischen dem Lazarett und dem Strand des Fjords, der hinter den Soldaten milchig blau glitzerte. Ein kühler Wind wehte von den Bergen herab, der den höhlenartigen Geruch der Gletscher mit sich trug. Irene Teal war in einer kleineren Truppe an der offenen Seite der Aufstellung angetreten. Dort standen ein paar Sekretärinnen aus dem Hauptquartier, ein Kaplan und ein 64
Sergeant Major. Der Colonel war weit und breit nicht zu sehen. Der Sergeant Major trat vor, nachdem der wachha‐ bende Offizier Gewehr ab befohlen hatte. Er hieß Dawes, war groß, schwarz und sprach mit starkem Louisiana‐Akzent. Er kündigte einen Filmabend im Speisesaal an und gab eine neue Abgabezeit für schmutzige Wäsche bekannt. Dann hielt er eine flammende Rede gegen den Diebstahl im Speisesaal. «Wenn noch mehr Futter abgezweigt wird, kriegt ihr alle nur noch Schnee auf Toast zum Mittag, und als warmes Abendessen eine Schüssel Dampf!» Aus den Reihen war vereinzeltes Kichern zu hören. «So viel für heute», fuhr Dawes fort. «Jetzt die neusten Weltnachrichten von unserm Kaplan, Captain Brank.» Der Kaplan trat vor; Irene hatte in seiner Nähe gestanden. Der Rückenwind wehte ihren Rock nach vorn, ihre Schenkel zeichneten sich darunter ab. Rudy fragte sich, ob sie wohl wusste, wo sein Platz in der Aufstellung war – oder ob es sie interessierte. Kaplan Captain Brank war klein und dicklich. Unter seiner Uniformmütze lugten bleiche Strähnen weißblonden Haares hervor. Seine Haut war fast rosa. Rudy überlegte, ob er wohl Albino sei und ob Albinos überhaupt zum Armeedienst zugelassen würden. Die goldenen Kreuze an Captain Branks Kragen glänzten; er hielt einen Stapel Karteikarten in der Hand und schlackerte ständig mit den Händen, als wolle er seine Manschetten zurechtrücken. «Guten Morgen, Männer ... und Frauen», sagte der Kaplan. «Guten Morgen, Euer Heiligkeit», murmelte jemand aus den hinteren Reihen im Singsang einer Kinderstimme. Falls Captain Brank das gehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken und hob an: «Ich habe in dem alten Empfänger ein paar Nachrichten aufgeschnappt, kommen wir also gleich zum Wesentlichen – zum Sport.» Der Kaplan berichtete, dass die Montreal Canadiens mit Vier‐zu‐eins‐Siegen gegen die Toronto Maple Leafs den 65
Stanley Cup gewonnen hätten. Er meldete weiter, dass die bolivianische Regierung eine Revoke der Falangisten nieder‐ geschlagen habe, dass der 116. Patriarch der Kopten in Kairo ernannt worden sei und dass in Nordgrönland vier neue Frühwarnsysteme errichtet werden würden. «Um die freie Welt vor Raketenangriffen der Kommunisten zu schützen», sagte er. «Wo kriegt er die Meldungen her?», flüsterte Rudy Lavone ins Ohr. «Und wo wir schon von Raketen sprechen», fuhr der Kaplan fort, «Sie erinnern sich, wie begeistert die ganze Nation war, als im April die sieben ersten Astronauten benannt wurden? Nun, es geht ihnen gut, und sie trainieren hart für den bemannten Raumflug.» «Aus seinem Kurzwellenempfänger», antwortete Lavone. Der Kaplan blätterte in seinen Karteikarten. «Beim Stichwort Training fällt mir ein: Ingemar Johansson aus Schweden und Floyd Patterson aus New York bereiten sich auf ihren Titelkampf im Schwergewicht vor, der im Yankee‐Stadion ausgetragen wird.» «Vielleicht», flüsterte Rudy, «könnten wir ihn dazu bringen, uns die Weltnachrichten zu liefern.» «Ruhe im Glied», knurrte ein Sergeant vom Ende der Reihe. «Und zum Schluss noch eine Meldung in eigener Sache», sagte der Kaplan. «Unser Gottesdienst für alle Konfessionen wird am Sonntag um zehn Uhr null null im Freien abge‐‐ halten, nämlich genau hier, wenn das Wetter und die Mücken es zulassen. Wenn nicht, findet er im Speisesaal statt.» Lustloser, schwacher Applaus begleitete Kaplan Brank zu seinem Platz zurück. Rudy bemerkte, dass Irene nach rechts und links schaute, als suche sie etwas außerhalb der For‐ mation. Ein überraschender Geruch stieg ihm in die Nase und mischte sich mit dem kühlen, keimfreien Wind von den 66
Gletschern. «Abteilung ...», brüllte Dawes. «Aaach‐tung!» Es roch nach Pferdemist. Die ganze Besatzung des Stützpunktes nahm Haltung an, und Colonel Lane Woolwrap bog im Kavalleriesattel auf einer stichelhaarigen Stute im Handgalopp um die Laza‐ rettecke. «Hü‐jaa», murmelte eine Stimme irgendwo in den Reihen. Staub wirbelte auf, als der Colonel das Pferd neben dem Flaggenmast zügelte. Er lächelte, tippte seine Stute mit der Reitpeitsche an die Flanke und ließ sie im Schritt an beiden Seiten der Aufstellung vorbeigehen. Erblickte von oben auf seine Soldaten herab. Wieder am Flaggenmast, richtete der Colonel sich in den Steigbügeln auf und sagte: «Sieht gut aus, Soldaten. Ich habe euch nichts Weltbewegendes mitzuteilen, außer dass das Qangattarsa‐Gelage zur Mitternachtssonne bevorsteht. Wie üblich wird es am längsten Tag des Jahres abgehalten, also zur Sommersonnenwende, wie die Druiden unter euch sagen würden. Weitere Einzelheiten dazu in der Harpoon. The Harpoon, solltet ihr noch nicht davon gehört haben – und das müssten fast alle sein, die mich jetzt hören können –, The Harpoon ist die Stützpunktzeitung, die demnächst zum ersten Mal erscheinen wird. Freut euch drauf. Weitermachen, Ser‐ geant.» Der Colonel deutete einen militärischen Gruß in Richtung Dawes an, wendete sein Pferd und galoppierte in einer Staubwolke davon. Dawes ließ die Truppen wegtreten. Rudy, Lavone und der Rest der Verwaltungseinheit hatten Ordnungsdienst. Sie kämmten den Platz in einer Reihe ab, jeweils eine Armes‐ länge vom Nebenmann entfernt, und sammelten Zigaretten‐ kippen und Kaugummipapier auf. «Was sollte das mit dem Pferd?», fragte Rudy Lavone, als sie mit gesenktem Blick über den Exerzierplatz schlurften. 67
«Reine Effekthascherei. Denk an General Custer. Oder Patton. Teddy Roosevelt am Hügel von San Juan. Woolwrap hat die Gäule mit einem Nachschubtransport einfliegen lassen, um ein bisschen Feldherrenflair zu verbreiten und unsere Moral zu stärken.» Er bückte sich nach einer Zigarettenkippe. «Es sind mehrere Pferde?» «Zwei. Seins und ihrs. Sie stehen hinter dem Hangar auf der Weide. Das wäre ja schon verrückt genug, aber überleg dir mal, was das für ein Akt ist, den Wintervorrat an Heu und Hafer für zwei Pferde auf Army‐Kosten zu einem Lazarett in Grönland schaffen zu lassen.» «Seins und ihrs?», fragte Rudy. Lavone nickte. Sie warfen Papier und Kippen ins Müllfass und schauten in Richtung Flugfeld. Der Colonel ritt auf dem Hügelkamm entlang. Rudy sah, dass Irene am Eingang des Hauptquartiers stehen geblieben war und ebenfalls den Colonel beobachtete. «Der Kerl kriegt alles, was er will», sagte Lavone und wischte sich Tabakkrümel von den Fingern. «Logistisch und auch sonst.» Ein weiß flackerndes Auge. Ein Kegel beleuchteten Ziga‐ rettenqualms, der sich durch den ganzen Raum erstreckte. Auf der Leinwand schließt sich die Tür einer fliegenden Untertasse, vor der ein riesiger Roboter Wache steht. Der Speisesaal war brechend voll, Rudy musste stehen und lehnte sich an eine Wand. Er versuchte Irenes Silhouette auszumachen. Er glaubte sie vorne im Raum mit ein paar Schwestern sitzen zu sehen. Auf der Leinwand hatte ein Soldat aus einem Panzer heraus mit seiner .45er auf einen Raumfahrer geschossen, der dem Präsidenten ein Geschenk überbringen wollte. Der Mann aus dem All sank verwundet zu Boden; das Geschenk zerbrach. Der Roboter öffnete sein Visier, und ein Lichtstrahl 68
pulverisierte die Gewehre und Pistolen der Soldaten, sogar einen der Panzer. Plötzlich stockte der Film, und der Projektor begann aufsässig zu klappern. Das Publikum stöhnte auf. Die Bilder auf der Leinwand erstarrten, bogen sich und verglühten in einem gelbvioletten Ring um einen weiß leuchtendenden Punkt. Der Dienst habende Offizier, der den Projektor bediente, fluchte laut; die Leinwand wurde weiß. Der geris‐ sene und verschmorte Film lief von den Spulen, und das leere Gerät drehte sich leise schnurrend weiter. Vor der hellen Leinwand erschien eine Gestalt, die in Richtung Projektor eilte: Lavone, der entnervte Unterhal‐ tungsbeauftragte. Am Mittelgang wurden Hände in die Luft gestreckt, die Schattenbilder von Enten, Hunden, Vögeln auf die Leinwand warfen; oder einfach Mittelfinger, die in Fäuste gesteckt wurden. «‹Laienschar belebte die Samstagsvorführung von The Day the Earth Stood Still im Qangattarsa Bijou mit improvisiertem Handpuppenspiel aufs erfreulichste›», murmelte Lavone, als er sich an Rudy vorbeischob. «Tolle Meldung für die Kultur‐ seite, was?» Ein paar Unteroffiziere fingen an zu klatschen und skandierten: «Wir wolln den Film ... Wir wolln den Film ...» Der Diensthabende, der bereits versuchte, den Projektor zu reparieren, unterbrach seine Bemühungen, um ihnen seiner‐ seits den Finger zu zeigen. Zu Füßen des Mannes lag ein Haufen Film. Lavone fing an, den Streifen von Hand auf die Aufnahmerolle zu wickeln. Vorne begannen ein paar Lieutenants, Limericks zu singen. Umsitzende Offiziere fielen in die alte Studentenmelodie mit ein, der sie einen neuen Refrain gegeben hatten: 69
Uff‐uff uff‐ uff‐ uff In der Arktis gibtʹs keinen Muff Hier gibt es bloß Eskimos mit denen ist rein gar nichts los drum fliegt mich in den Puff Rudy sah Irene in der zweiten Reihe mit zwei Schwestern plaudern und rauchen. Sie versuchten das Treiben um sie herum so gut es ging zu ignorieren. Irene drehte sich um und blies Rauch aus. Dabei sah sie in Rudys Richtung und lächelte; er lächelte zurück. Als sie sich wieder einer der Schwestern zuwandte, schaute Rudy sich um. Jetzt erst bemerkte er, dass der Colonel gleich hinter ihm am Gang saß. Auch er blickte zur zweiten Reihe und lächelte abwe‐ send. Er hatte Rudy nicht gesehen. Rudy fragte sich, wem von ihnen Irene wohl zugelächelt hatte. Das Licht im Saal flackerte und erlosch, die Gesänge und das Stampfen wurden leiser, der Film lief weiter – aber die Zuschauer hatten das Interesse verloren. Es herrschte nun ein Kommen und Gehen, und jedes Mal fiel Licht in den Saal. «Mist», sagte Lavone. «Diese Deppen ruinieren einen guten Film.» Rudy glaubte zu sehen, wie Irene aufstand und gebückt zu einer Seitentür huschte. Aus Rücksicht auf Lavone wartete er zwei Minuten. Der Mann aus dem All hatte die Schussver‐ letzung überlebt und sich unter die Erdlinge gemischt. «Ich muss mal Luft schnappen», flüsterte Rudy Lavone zu. Als er auf die Tür zusteuerte, bemerkte er, dass auch der Stuhl des Colonel leer war. Rudy überquerte den Korridor. Knutschende Pärchen füll‐ ten die Ecken und Nischen. Er drückte die Tür nach draußen auf, ging ein paar Stufen die Treppe hinunter und schaute auf den Fjord hinaus. Ein paar Möwen kreisten über dem milchig blauen Wasser. Dann bemerkte er eine Bewegung am offenen Ende der schmalen Bucht, wo der Fjord sich um 70
einen steilen Berghang krümmte. Etwas Weißes, Undurch‐ sichtiges kam langsam ins Blickfeld, wie ein überdimensio‐ naler Brief, der zögernd durch den Spalt einer riesigen Tür geschoben wird. Zuerst dachte Rudy an ein Schiff, aber er merkte rasch, dass er sich geirrt hatte. «Ein Eisberg», sagte er vor Überraschung laut. Der Eisberg war größer als der Hangar oder sonst ein Gebäude des Stützpunktes, vielleicht sogar größer als alles zusammen. Seine Spalten und Zinnen schimmerten weiß, grau und blau, und an seiner Spitze ragten einige Eiskanten wie Flügel in die Luft. Er sah wunderschön aus. Rudy hatte keine Ahnung, wie lange er den Eisberg angestarrt hatte, als er Schritte hörte. Irene bog um die Ecke des Gebäudes. Sie war allein und schien überrascht, ihn zu sehen. «Gefällt Ihnen der Film nicht?», fragte sie. Rudy schüttelte den Kopf. «Ich sehe mir das hier an.» Er nickte in Richtung Eisberg. Sie sah auf den Fjord hinaus. «Ab und zu schnuppert einer hier herein. Erstaunlich, dass sie so weit ins Landesinnere treiben.» Sie sahen zu, wie der Eisberg weiter in den Fjord hinein‐ trieb. Er war immer noch nicht vollständig zu sehen. «Tut mir Leid, dass ich Sie neulich versetzt habe», sagte Irene. «Haben Sie meine Botschaft bekommen?» Rudy nickte. Er erzählte von Lavones Lautsprecherdurch‐ sage. Sie lachte. Er sagte, er habe dann auf eigene Faust die Gegend erkundet. «Ich musste leider doch Dienst schieben», sagte sie. «Ich hätte Ihnen wirklich gern alles gezeigt. Haben Sie denn auch allein was zu sehen gekriegt?» «Ja. Was man hier so die Feuerwache nennt. Einen Haufen Asche und Knochen.» «Aha», sagte sie. «Die heißesten Sehenswürdigkeiten. Sozu‐ sagen.» 71
Sie stellte ihren rechten Fuß auf die erste Stufe und wippte mit ihrem braunen Army‐Halbschuh. «Allmählich lernen Sie die Gegend kennen», sagte sie. Rudy nickte. «Ist nicht so schlimm, wie es sich anhört», sagte Irene. «Lane tut viel, um denen zu helfen.» Sie deutete mit dem Kopf zum Flügel, der hinter den Vorratsschuppen zu sehen war. «Lane?», fragte Rudy. »Der Colonel», sagte Irene. «Er hat mir Zutrittserlaubnis gegeben», sagte Rudy. «Ich weiß. Ich habe gelauscht.» Sie musste sich also zurückgeschlichen haben, nachdem Rudy beim Treffen mit dem Colonel ihre Schritte im Gang gehört hatte. Sie lauschte also gerne mal. Eine Seelenver‐ wandte. Und noch dazu hatte sie ihn belauscht. Er spürte ein Kribbeln auf der Haut. «Ich weiß außerdem, dass die Geschichte, die Sie Lane von Ihrer toten Mutter erzählt haben, Quatsch ist», sagte sie. Rudy hielt den Atem an, das Blut schoss ihm ins Gesicht. «Ich habe Ihre Akte gelesen», sagte Irene. «Mal sind Ihre Eltern tot, dann wieder nicht.» Sie lächelte. Schüchtern, fand Rudy, und nicht ohne Wärme im Blick. Sie stellte ihn zur Rede, doch sie schien auch neugierig zu sein. «Erfinden Sie gerne Geschichten?» «Eigentlich nicht», sagte er. «Da steht auch, dass Sie in die Army eingetreten sind, um einer Haftstrafe zu entgehen, und das ist nicht erfunden», sagte sie. Volltreffer. Rudy wusste nicht, ob er froh sein oder eine Heidenangst haben sollte. «Wofür war die Strafe?», fragte sie. «Hausfriedensbruch», sagte Rudy. «Einbruch? Diebstahl?» Rudy schüttelte den Kopf. 72
«Sie sind einfach nur in Häuser eingestiegen?» Er nickte. «Wenn die Leute im Urlaub waren. Wenn es zu Hause zu schlimm wurde.» «Und dann?», fragte Irene. Rudy zuckte die Achseln. «Hab ich mich umgesehen.» «Sonst nichts?» «Hab ihre Post gelesen. In ihrem Wohnzimmer fernge‐ sehen. Mir angeschaut, wie sie lebten. Klingt das verrückt?» Irene sah ihn an und dachte einen Augenblick nach. «Was heißt, wenn es zu Hause schlimm wurde?» «Streit», sagte Rudy. «Mit meinem Stiefvater. Solche Sachen.» Irene schüttelte langsam den Kopf. Sie starrte ihn durch‐ dringend an, schien auch etwas von sich preisgeben zu wollen. «Nein», flüsterte sie. «Das klingt nicht verrückt. Das klingt ganz vernünftig.» Sie rührten sich beide nicht, und Rudy hatte das Gefühl, dass sie dahintrieben wie der Eisberg im Fjord. Dann sagte Irene: «Die Schwellung hat schon sehr nach‐ gelassen.» Rudy holte tief Luft. «Ja», antwortete er. «Wahrscheinlich kann ich mich bald wieder rasieren.» Er rieb sich über die stoppeligen Wangen. «Im Winter werden die Vorschriften gelockert. Wer will, kann sich einen Bart stehen lassen», sagte Irene. «Zum Schutz gegen die Kälte. Und um die Moral zu heben. Ich glaube, in U‐Booten erlauben sie das auch.» Sie sah zu den Gletschern hinauf. «Im Grunde», sagte sie, «ist es im Winter hier wie in einem U‐Boot. Eingeschlossen in der Dunkelheit. Die Soldaten nennen es Die Totale Um‐ nachtung.» «Mein Vater ist in einem U‐Boot gefahren», sagte Rudy. «Im Zweiten Weltkrieg. Von Bärten hat er allerdings nichts erzählt. Und was dürfen die Frauen tun, um ihre Moral zu 73
heben?» «Gute Frage», entgegnete Irene und lachte kurz auf. «Also», sagte Rudy. «Was tun Sie, um den Winter zu überstehen?» «Stürze mich in die Arbeit», sagte Irene. Sie steckte die Hände in die Taschen und schob das Kinn vor. Mehr würde sie nicht sagen. Er drehte sich um und sah auf die Ebene hinaus. «Da, wo ich herumgelaufen bin», sagte er, «und den Aschehaufen entdeckt habe, da waren solche steinernen Fundamente im Gras. Und jede Menge Löwenzahn. Sah sehr hübsch aus.» «Das ist der alte Wikingerhof», sagte Irene. «Das Haupt‐ haus. Der Kuhstall. Schafhürden und so was. Ist ungefähr tausend Jahre alt. Es gab eine ganze Kolonie. Ein paar hundert Jahre ging es ihnen ganz gut, dann ist in Europa die Pest ausgebrochen, und es sind keine Schiffe mehr hier heraufgekommen. Die Siedler waren auf sich gestellt und völlig abgeschnitten. Das Wetter wurde schlechter, die Eingeborenen rückten ihnen zu Leibe – die Wikinger haben sie Skrœlinge genannt, vielleicht wegen der Schreie, die sie beim Angriff ausgestoßen haben. Jedenfalls wurde es kälter, es gab Missernten, die Jagdbeute blieb aus. Ich habe gelesen, als endlich wieder ein Schiff aus Europa ankam, waren bloß noch ein paar degenerierte Menschen hier, die eine seltsame Abart des Christentums praktiziert haben. Eine richtige untergegangene Zivilisation.» Zum ersten Mal bemerkte Rudy die Filmmusik, die aus dem Gebäude drang. Unheimliche Weltallklänge. Mildes, rosafarbenes Licht breitete sich über der Tundra aus, färbte die Berge dunkelviolett und tauchte die Gletscher in einen zarten Lavendelton. Frauenschreie waren zu hören. Wahr‐ scheinlich war im Film gerade eine Menschenmenge in Panik ausgebrochen. «Ich muss gehen», sagte Irene. «Wo kommen Sie her?», platzte Rudy heraus. 74
«Was?» «Wo ist Ihr Zuhause?» «Da drüben sind die Frauenquartiere –» «Nein, ich meine, in der richtigen Welt.» Irene fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das in der Dämmerung erdbraun schimmerte, obwohl es eigentlich rötlicher war. «Im Westen», sagte sie. «Und wo da?», fragte Rudy. «Die längste Zeit in Idaho», sagte sie. «Wir sind ziemlich oft umgezogen, meine Mutter und ich.» «Und was ist mit Ihrem Vater?» «Im Krieg hatʹs ihn erwischt.» «In welchem?» Sie deutete auf den Flügel. «Korea. Er ist nicht gefallen oder so. Er ist einfach nicht zurückgekommen. Also, er ist zwar zurückgekommen, aber nicht geblieben. Sie haben sich scheiden lassen.» «Und was hat Ihre Mutter gemacht, dass Sie immer um‐ ziehen mussten?» Irene grinste. «Uran gesucht.» «Sie machen Witze.» «War mal die ganz große Sache. Sie hatte einen Geiger‐ zähler und wir beide einen Spitzhammer. Voll ausgerüstet. Sie wollte richtig reich werden. Sie sagte immer: ‹Reenie, wir holen uns unsern Anteil an diesen friedlichen Atomen.›» «Und hat es geklappt?» «Tja, sie arbeitet jetzt in einem Stoffladen in Spokane, und ich bin hier. Daran sehen Sie, wie es gelaufen ist.» Irene schien die Geschichte zu amüsieren. Rudy hingegen blieb an einem Detail hängen: dem Kosenamen, bei dem ihre Mutter sie nannte – Reenie. Er wollte ihn aussprechen, aber damit würde er eine Grenze überschreiten. «Ich muss los», sagte sie. «Ich bin nie weiter westlich gewesen als Indianapolis», 75
sagte Rudy. Er merkte, dass er verzweifelt versuchte, sie zu halten. «Ist eben ein großes Land», sagte sie. Sie trat einen Schritt zurück, wollte einen eleganten Abgang vorbereiten, aber sie lächelte. Sie war nicht mehr so spröde wie im Speisesaal. Vielleicht weil sie ihn versetzt hatte, vielleicht wegen des milden Lichts. «Bis bald», sagte er. Sie nickte. Er sah ihr nach. Sie ging nicht die Stufen hinauf, sondern lief, die Hände in den Taschen, über den staubigen und stoppeligen Hof zur gegenüberliegenden Ecke des Gebäudes, zum Hauptquartier, wo das Büro des Colonel lag. In einem der Fenster brannte Licht. Irene ging durch die Tür am Ende des Gebäudes. Rudy lauschte den Filmgeräuschen. Im Augenblick war nur das Murmeln eines Dialogs zu hören. Die Stimmen klangen ernst und verwirrt. Schatten bewegten sich im erleuchteten Fenster des Büroflügels. Zwischen dem Fenster und Rudys Standort standen einige leere Treibstofftanks, die Abfallschuppen des Speisesaals und ein geparkter Zweieinhalbtonner. Rudy tat, als steuerte er auf die Hintertür der Küche zu. Er roch das ranzige Fett in den Talgfässern. Im Lagerraum pfiff jemand. Er ließ die fettig glänzenden Stufen der Laderampe links liegen. An der Wand gegenüber der Rückseite des Hauptquartiers beschleunigte er seine Schritte. Er lief gebückt, wobei er sich vorkam wie Groucho Marx. Herrgott, dachte er, was mache ich hier eigentlich? Für einen kurzen Moment sah er all die Häuser in New Jersey vor sich, in die er eingestiegen war. Das Anschleichen hatte er mit der Zeit ganz gut hinbekommen. Aber da war es auch dunkler gewesen. In New Jersey musste man sich nicht mit der Mitternachtssonne herumschlagen; dort kam das Licht nur aus den Fenstern der anderen Häuser und sagte, hier 76
drin sind Menschen versammelt. So wie das Licht im Büro des Colonel jetzt. In New Jersey suchte Rudy die unbe‐ leuchteten, leeren Häuser aus. Wenn er sich dann drinnen umsah, ein paar Jalousien herunterzog und die eine oder andere Lampe anknipste, fühlte er sich geborgen, endlich zugehörig, gleichzeitig aber auch ziemlich angespannt, weil er schließlich eingebrochen war. Er war jetzt unter dem Fenster des Colonel angelangt. Ob es wohl offen stand? Wenn ja, hatte er Lärm gemacht? Wenn nicht, was wollte er tun: Seine zerstochene Nase gegen die Scheibe drücken und hineinstarren? Kilroy is here? Das ist doch verrückt. Der Gedanke schoss ihm fast hörbar durch den Kopf, und einen Moment befürchtete er, die Worte tatsächlich laut ausgesprochen zu haben. «Wo?» Irenes Stimme. Gedämpft, aber erkennbar. Das Fenster stand einen Spalt offen. «Auf dem Schreibtisch», sagte der Colonel. Irene lachte. «La‐ane», sagte sie ungläubig‐amüsiert. «Das können wir nicht machen.» «Wollen wir wetten?» «Nein. Keine Wetten mehr.» Rudy stand gebückt und mit geschlossenen Augen unter dem Fenster, das Gesicht fast auf den Knien. Er stellte sich vor, wie Irene mit blitzenden Augen die Hände in die Hüften stemmte, die Wangen vor Heiterkeit gerötet. Sie hatte grüne Augen. Etwas fiel klappernd zu Boden. «Alles bereit zur Landung», sagte der Colonel. Irene lachte wieder. Rudy hörte Möbelrücken, scharrende Füße, dann nichts mehr. Oder fast nichts. Vielleicht noch den Wind, der von den Gletschern herab wehte. Oder Haut, die sich an Haut rieb. Seufzen. Er wollte es gar nicht so genau wissen. Ein Wort vom Colonel schnappte er noch auf: «Reenie ...» Das reichte. Rudy machte auf dem Absatz kehrt und rannte 77
blind an der Wand entlang. Wie gehetzt huschte er über einen schmalen Streifen Hof und bog in die falsche Richtung ein. Er hastete an einigen Wellblechbaracken vorbei bis zu ein paar Stufen, die in Richtung Flugfeld und Gebirge führten. Vor einer Tür ließ er sich fallen. Keuchend kam er wieder zu Atem und dachte, dass er die Berge noch nie aus diesem Blickwinkel gesehen hatte. Er saß auf den Stufen, die zum Flügel führten. Er wollte gerade aufstehen, als ihm eine Fliegentür gegen den Rücken knallte. «Hoppla», sagte eine Stimme. «Tut mir Leid, Soldat.» Rudy drehte sich um. Durch den Schleier des Fliegengitters sah er einen Mann in Zivilkleidung mit einer Skijacke. «Brauchen Sie Hilfe?» Er tippte mit der Tür gegen Rudys Rücken. Rudy rutschte seitlich vom Treppenabsatz. Der Mann trat hervor. Er war klein und gedrungen, sein silberweißes Haar sehr kurz geschnitten. Blassblaue Augen und Aknenarben. Er rauchte und hielt einen Aktenkoffer in der Hand. «Zu diesem Bereich ist der Zutritt verboten, falls Sie das noch nicht wussten», sagte der Mann, stieg die Stufen hinab, streifte die brennende Asche seiner Zigarette auf den Pfad, rollte die restlichen Tabakfäden und das Papier zwischen den Fingern zusammen: feldgerecht entsorgt. Die kleine weiße Kugel steckte er in die Tasche. «Strengstens verboten», sagte er. Er wedelte mit dem Zeigefinger und ging an Rudy vorbei zum Flugfeld. Jetzt erst bemerkte Rudy, dass vor dem Hangar ein Hubschrauber wartete. Er musste gelandet sein, während Rudy den Film angeschaut hatte. Plötzlich blieb der Mann stehen, drehte sich um und kam so dicht heran, dass er fast auf Rudys Füßen stand. Er grinste und fauchte Rudy ins Gesicht. «Ich habe Sie beobachtet, Soldat», sagte er, und seine Stimme zischte vor unterdrückter Schadenfreude, «wie Sie unterm Fenster des Colonel entlanggehuscht sind. Was haben Sie da getrieben, 78
war das ein polizeilicher Blitzeinsatz? Oder sind Sie bloß vor einem Einlauf geflüchtet?» Er lachte und ging seines Weges. Draußen auf dem Flugfeld wurde der Hubschraubermotor angeworfen, der Rotor zerschnitt heulend die Luft. Hinter Rudy wurde die innere Tür zum Flügel zugezogen und abgeschlossen. Von der Zigarettenasche am Boden stieg ein dünner blauer Rauchfaden auf und zerfaserte im Wind.
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ACHT Rudy musste sich mächtig ins Zeug legen, um die Zeitung pünktlich fertig zu kriegen. Der Aufmacher war das Gelage: TITELKAMPF RÜCKT NÄHER – HÖHEPUNKT DER NÄCHTLICHEN FEIERN
QANG ATTARSA, Grönland. – Eine Radioübertragung
vom Schwergewichts‐Titelkampf zwischen Patterson und Johansson, zahlreiche sportliche und alkoholische Wett‐ kämpfe und Feiern bis zum Morgen: das sind die Höhe‐ punkte des alljährlichen Mittsommernachtsgelages von Qangattarsa, das am 21. Juni stattfinden wird. 80
Kommandeur Lt. Col. Lane G. Woolwrap verlautbarte erst kürzlich, dass die Veranstaltung «bis zum Äußersten gehen» werde. «Die Soldaten dürfen sich auf eine Großoffensive einrich‐ ten», sagte er. «Das hat eine lange Tradition, die von unseren skandina‐ vischen Verwandten initiiert wurde», fuhr Col. Woolwrap fort. «Die Sonnenwende war schon immer Anlass, gehörig auf den Putz zu hauen. Eine Entschädigung für den langen Winter, den wir hier erdulden müssen.» Die erste Nummer der Harpoon mit dem Gelage aufzumachen war reinster Opportunismus. Sowohl das Gelage als auch die Zeitung gehörten zu den Lieblingsideen des Colonel. Rudy hatte sämtliche Informationen aus einem Memo bezogen, das Lavone vom Kommandeur selbst erhal‐ ten hatte. Rudy hatte vor seiner Schreibmaschine gesessen und hinaus auf die Gletscher gestarrt. Der Mimeograph stand in einer Ecke auf einer Arbeitsplatte, die auf Paletten und Packkisten lag. Lavone hatte auch einen Schreibtisch und eine Schreibmaschine besorgt. Rudys Quartier mit Bett, Spind, einer Kiste als Nachttisch und einer Lampe war an der gegenüberliegenden Wand. Eine hübsche Unterkunft für militärische Verhältnisse, besonders nördlich des Polar‐ kreises. Lavone hatte die Pressemitteilung des Colonel und eine Verkaufsanzeige des Soldaten beigesteuert, der die angeblich von Elvis gespielte Gitarre loswerden wollte. Außerdem hatte er einen Stapel Karteikarten vom Kaplan bekommen: die Weltnachrichten. Auf Rudys Bitten hatte Captain Brank verschiedene Meldungen geliefert: Königin Elizabeths Besuch in den Vereinigten Staaten, den Kampf des Fernseh‐ lieblings Arthur Godfrey gegen den Krebs und das 81
Versprechen des aussichtsreichen Präsidentschaftsanwärters der Demokraten, Senator John F. Kennedy, die Trennung von Kirche und Staat aufrechtzuerhalten. «Er ist katholisch!», hatte der Kaplan am Rand vermerkt. Als sie gegen drei Uhr morgens mit der Vervielfältigung fertig waren, hatte Rudy zu Lavone gesagt, er solle Feierabend machen: Er werde die Zeitung allein verteilen. Er wollte nicht jede Ausgabe im Morgengrauen selber ausliefern, aber diesmal würde er nur zu gern die Stapel mit der ersten Ausgabe auf die Türschwellen des Stützpunktes werfen. Er schleppte das Bündel Zeitungen in den leeren Speise‐ saal. Dort war es still, die Luft immer noch feucht von den Warmhaltebecken und vom abendlichen Abwasch. Er legte einen großen Teil der Zeitungen auf den Flipper und beschwerte den Stapel mit einem Serviettenspender. Kurz vor dem Vervielfältigen der Matrizen hatten Lavone und er noch am Impressum gearbeitet. Sie hatten sich für Lavone auf den Titel «Kulturredakteur» geeinigt. Mit Hilfe einer illustrierten Ausgabe von Moby Dick, die er in seinem Spind gefunden hatte, zeichnete Lavone eine Harpune, die ein entrolltes Banner mit dem Motto der Zeitung aufspießte. Eigentlich hatten sie sich einen besseren Spruch ausdenken wollen als der Colonel. «Auf Nachrichtenjagd». «Hieb‐ und stichfest». Aber es war schon spät, sie hatten schnell aufgegeben, und Lavone hatte den Satz des Colonel hineingemalt: «Ein Vorstoß zum Kern der Sache». In einen Kasten auf der Titelseite hatte Rudy seinen ersten Leitartikel geschrieben. Er nannte es die «Absichtserklärung» der Zeitung. Wir sind für euch da. The Harpoon ist eure Zeitung, aber ohne euch kann sie nicht funktionieren. Helft uns. 82
Haltet uns auf dem Laufenden über alles, was in euren Einheiten los ist. Sind es Meldungen, bringen wir sie. Sind es Gerüchte, gehen wir ihnen auf den Grund. Bringt uns alles. Wir werden das Gleiche tun. Wir wollen eure Stimme sein. Rudy verließ den Speisesaal und machte sich auf den Weg zum Verwaltungstrakt. Er ging gern frühmorgens durch die Korridore. Die welligen Flure waren verlassen; niemand bog plötzlich um die Ecke; alle Türen waren geschlossen; alles war still bis auf das ferne Dröhnen des Stromgenerators, das durch tief von der Decke hängendes Röhrengewirr, durch Kabel und Leitungen drang. Im Verwaltungstrakt ließ er einen Stapel Zeitungen liegen und drückte dem schläfrigen Wachhabenden namens Hino‐ josa ein Exemplar in die Hand. «ʹn das für ʹn Scheiß?» «Ihre Morgenzeitung», sagte Rudy. Sie hatten zwar mit dem Gelage aufgemacht, aber Lavones Kulturnachrichten nahmen den meisten Raum ein. Lavone hatte zwei volle Nächte hindurch an seinem Artikel geschrie‐ ben. Hinterher war er nervös und reizbar, fummelte ständig an seinen Benzedrin‐Patronen herum und rannte immer wieder hektisch zum Klo. Was er auch eingenommen haben mochte, es hatte ihn jedenfalls zum Ausstoß endloser Spalten motiviert. Genug Stoff für eine ganze Serie. Henry Lavone über das amerikanische Kino. Eine aufbrausende und weit‐ schweifige Abhandlung, die den Science‐Fiction‐Film ins Zentrum der Gegenwartskultur rückte und als ein Sicher‐ heitsventil würdigte, welches das gefährdete Amerika im Rennen um nukleare Vorherrschaft vor Überhitzung schützte. Rudy konnte sich nur schwer vorstellen, wie der Colonel oder sonst jemand den Artikel aufnehmen würde. Er wusste nicht einmal genau, worauf Lavone hinauswollte, und so, 83
wie Lavone aussah, wusste der es selber nicht. Aber ... Wir wollen eure Stimme sein. Nachdem er den Verwaltungstrakt beliefert hatte, legte Rudy an jeder Abzweigung in den Fluren, die zu den Unterkünften führte, Zeitungsstapel auf Klappstühle. Dann schlängelte er sich den gewundenen Weg zum Haupt‐ quartier hinab und schob ein paar Zeitungen unter den Türen hindurch, bis er zum Büroeingang des Colonel kam. Als er sich dort vor die Tür kniete, horchte er einen Au‐ genblick: beinahe hoffte er, dass die beiden drinnen waren. Dann könnte er sie mit der Zeitung erschrecken. Zum Kern der Sache vorstoßen. Aber er hörte nur den Stromgenerator. Von unten wirkte sein Spiegelbild im polierten Messing des Türknaufs wie das eines buckligen Kobolds. Wie Lavones arktische Winter‐ nachtsbestie. Er drehte den Knauf. Wie beinahe erwartet, war die Tür offen. Er spürte denselben Schauer wie früher, wenn er das Schloss eines leeren Hauses geknackt oder ein ungesichertes Fenster geöffnet hatte. Dieses Gefühl, die Schwelle zu etwas Verbotenem zu überschreiten, bei dem sich für kurze Zeit erregende Angst und innerer Frieden die Waage hielten. Im Vorzimmer standen lediglich ein Sofa und ein Stuhl, davor lag ein Teppich mit dem Abzeichen der Quarter‐ masters. Rudy hatte es noch von seinem Termin beim Colonel in Erinnerung, aber jetzt wirkte jedes einzelne Ding größer und gewichtiger, selbst im Schatten. Die Wachschein‐ werfer im Hof und das Dämmerlicht, das durch die Jalousien drang, beleuchteten den Raum nur spärlich. Die Lamellen warfen ein blasses Schattenmuster auf die Wände. Die Tür zum Büro war angelehnt. Rudy hatte sich bei seinen Einbrüchen einen besonderen Gang angewöhnt; er schwebte gewissermaßen. Selbst wenn er wusste, dass das Haus leer stand und die Familie irgend‐ wo an der Küste oder in New Hampshire am See weilte, 84
bewegte er sich leise und geschmeidig, fast ohne den Boden zu berühren. Das war sein Zaubertrick. Die Räume waren leer. Irene oder der Colonel hatte vergessen abzuschließen. Glück für ihn. Er würde an ihrer Stelle zusperren, wenn er ging. Hinter einer Palisade aus Aktenschränken stand Irenes Schreibtisch. Er war fast leer. Keine Bilder, keine Erin‐ nerungsstücke. Rudy ging zu ihrer Schreibmaschine, spannte ein Blatt Papier ein, beugte sich vor und tippte im Stehen: WÄRE SCHÖN, WENN DU HIER WÄRST.
– Der Einbrecher Er ließ das Blatt in der Maschine und ging ins nächste Zimmer, das Büro des Colonel. Wenn er früher irgendwo eingestiegen war, hatte er manchmal die Jalousien heruntergelassen und das Licht angeknipst, sich hingesetzt, ein Buch gelesen oder ferngesehen, die Post durchgeblättert und die Füße auf den Couchtisch gelegt. Das war zwar riskant, aber auch seltsam entspannend. Er hatte sich selten so sicher wie in diesem warm erleuchteten Zimmer gefühlt. Seine Angst und seine Einsamkeit blieben draußen im Dunkeln. Jetzt knipste er kein Licht an, sondern schlenderte durchs Büro des Colonel wie durch ein Museum, die Hände hinter dem Rücken. Er setzte sich hinter den Schreibtisch und widerstand der Versuchung, etwas einzustecken: einen Stift, den kleinen Arm aus Walbein, der am Lampenfuß lehnte. Stattdessen ging er zum Vorhang, der ihm bei der Besprechung aufgefallen war: Zwischen zwei Bücherregalen hing roter Samt von der Decke bis zum Boden. Rudy tastete nach dem Seil und zog daran. Der Vorhang teilte sich. An der Wand hingen ausschließlich militärische Fotogra‐ fien. Einige sahen offiziell aus, andere eher nach Schnapp‐ schüssen von Soldaten. Sie waren sternförmig um zwei Flag‐ 85
gen von der 1. und 2.Kompanie des G.Bataillons der 3.Infan‐ terie‐Division arrangiert. Viele Fotos trugen einen schwarzen Trauerflor. Er trat einen Schritt zurück und schaute sich die Männer und die Flaggen eine Weile an. Geographen behaupteten, der exakte Mittelpunkt der Vereinigten Staaten befinde sich irgendwo in Missouri oder Kansas. Rudy hatte keine Ahnung, wie sie das berechnet hatten, aber er wusste, was gemeint war. Dieses Allerheiligste jedenfalls, was es auch sein mochte, war der exakte Mittelpunkt von Qangattarsa. Manchmal hatte er so etwas auch in den Häusern entdeckt, in die er eingestiegen war. Es gab immer einen Mittelpunkt. Er zog den Vorhang wieder zu. Die Gesichter, die jetzt dahinter gegen den Stoff starrten, verfolgten ihn. Er schaute sich in beiden Büros um, ob er irgendwelche Spuren hinterlassen hatte, trat vorsichtig in den Korridor, sperrte hinter sich zu und schob zwei Exemplare der Harpoon unten durch den Spalt.
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NEUN In den Sommermonaten wagten sich hungrige Eisbären manchmal bis an die Basis heran, um in den Abfällen nach Nahrung zu suchen. Sie waren nicht nur lästig, sondern auch gefährlich, weshalb der Zutritt zur Müllhalde verboten war, doch ab und zu schickte der Colonel Sporadische‐Bären‐ Aufscheuch‐Trupps (SBATs) dorthin. Als sich eines Nachmittags die Kunde verbreitete, dass zwei Bären den Abfall durchwühlten und ein SB AT auf sie angesetzt sei, fuhren Rudy und Lavone, die sich noch von ihrer nächtlichen Schlussredaktion und der Auslieferung der Zeitung erholten, mit dem Verwaltungsjeep los, um das Spektakel zu beobachten und ein wenig Sonne zu tanken. Sie hielten auf einem Hügel oberhalb der Müllhalde, die in einer 87
Gletschermulde ungefähr eine Meile vom Stützpunkt ent‐ fernt angelegt worden war. Fast alle Soldaten mit Fahr‐ erlaubnis waren über die Tundra ausgeschwärmt und röhrten mit ihren Jeeps zwischen den Abfallbergen umher. Vom Fjord wehte eine milde Brise. Lavone lag mit freiem Oberkörper auf einer Zeltplane. Seinen Hut hatte er übers Gesicht gezogen. Rudy saß auf der Kühlerhaube des Jeeps und lehnte sich gegen die Windschutzscheibe. Er beob‐ achtete die Müllhalde durch den Sucher einer ver‐ schrammten alten Zeiss‐Kamera mit einem 200‐Millimeter‐ Objektiv, die Lavone anstelle eines Feldstechers mitgebracht hatte. Mehrere Jeeps und ein Halbkettenfahrzeug jagten die beiden Eisbären um die dampfenden Müllberge. Aus der Senke schallten Hupen und Gejohle. Lavone nahm sich ein Bier aus einer Munitionskiste, die sie als Kühlbox benutzten. «Das Ganze hat etwas vom alten Rom», sagte Lavone. «Ein Amphitheater. Wilde Tiere. Soldaten in Streitwagen.» Er hielt seine Bierdose hoch. «Kaiser Gaius Augustus Woolwrap, wir grüßen dich.» Rudy sah einen verärgerten Eisbären, der vor einem Jeep wegrannte. Er stellte die Linse scharf und hielt die Schulter des Bären im Fadenkreuz. Das Tier bewegte sich vor dem bockenden Fahrzeug mit bedächtiger Grazie. «Bier und Spiele», sagte Rudy. «Oder Bär und Spiele.» Er ließ die Kamera sinken. Mit bloßem Auge betrachtet, wirkte die Müllhalde flacher und breiter. «Warst du schon mal im Büro des Kaisers?», fragte er. Lavone rollte die eiskalte Bierdose über seine Stirn. «Nein», antwortete er. «Versuche ich zu vermeiden. Liegt für mich jenseits der bekannten Welt. Wieso?» «Ich habe bloß grad an ein paar Bilder gedacht, die ich da gesehen habe.» «Und wann hast du diese Bilder gesehen?» «Als ich das erste Mal beim Colonel war», log Rudy. 88
«Und was für Bilder? Versautes Zeug?» «Nee. Bloß Schnappschüsse von Soldaten. Dritte Infanterie‐ Division.» «Das war die Einheit des Colonel in Korea. Sind wahr‐ scheinlich alte Saufkumpane.» «Wahrscheinlich», sagte Rudy. Unten in der Senke stellte sich einer der Bären auf die Hinterbeine. «Oouuuh, Mama», sagte Lavone und setzte sich auf. «Der Bur‐sehe ist aber sauer.» Die Jeeps umfuhren den Bären, kehrten jedoch rasch wieder um und jagten ihn weiter. Sie holperten in großen Bogen hinter ihm her. Hin und wieder drehten sie bei und rasten auf einen Möwen‐schwarm zu, der sich daraufhin kreischend in die Luft erhob. Wenn der Bär brüllte, was wie die hydraulischen Bremsen eines Lastwagens klang, antwor‐ teten die GIs mit noch lauterem Johlen. «Weißt du was, Mann», sagte Lavone, «ich muss mich bei dir bedanken. Ich fahre total ab auf diesen Journalis‐ muskram, den du mir aufgehalst hast.» Lavone lag wieder auf seiner Plane, die Arme ausgebreitet. «Es ist wirklich irre, mein Zeug gedruckt zu sehen. Klar, ich weiß nicht, wann man meine Gedichte schätzen wird. Aber diese Zeitung, das ist so konkret, Mann. Ich schreibe was, und, zack!, am nächsten Tag lesenʹs die Leute. Darauf fahr ich vollkommen ab. Ich frag mich allerdings, hast du schon irgendwelche Leserbriefe oder so gekriegt? Zu meinen Sachen?» «Nein. Noch nicht.» «Noch nichts, was? Keine Kommentare? Reaktionen? Gar nichts?» Rudy ließ die Kamera sinken und schüttelte den Kopf. «Du darfst nicht zu viel erwarten», sagte er. «Wir sind schließlich in der Army.» Er schwenkte den Sucher wieder über die fleckig glitzernden Abfallberge. Es war irgendwie rührend, dass Lavone so sehr auf eine begeisterte Leserschaft hoffte. 89
Plötzlich überschlug sich ein Jeep, der zu schnell um einen Müllhaufen gekurvt war. Rudy und Lavone hörten Geschrei und richteten sich auf. Die Soldaten krabbelten aus dem verunglückten Wagen und rannten auf die Halbkette zu, als einer der Bären plötzlich hinter einem Haufen Pappkartons hervorkam. Laut brüllend sprangen die Männer mit dem Kopf voran in das Kettenfahrzeug, dessen Fahrer in Panik geriet und die Kontrolle verlor. Die Halbkette schlingerte wild, während sich einige der Soldaten außen an ihr festklammerten, und rollte schließlich mitten über den umgestürzten Jeep. Der Bär blieb stehen und schaute zu. «Scheiße», sagte Lavone. «Jede Menge Papierkram.» Das Kettenfahrzeug entfernte sich mit knirschendem Getriebe. Der Bär trottete zum zerknautschten Jeep, be‐ schnüffelte ihn und pinkelte schließlich gegen den rechten Hinterreifen. «Eins zu null für Nanuk», sagte Lavone. Bald tauchte ein weiterer Jeep auf, und die Jagd ging weiter. Rudy und Lavone öffneten zwei neue Bierdosen. Rudy griff wieder nach der Kamera. Er schwenkte zum Fjord, zu den Bergen und Gletschern, auf denen das Sonnenlicht glänzte. Das Objektiv verkürzte die Perspektive, und Rudy hatte den Eindruck, Filmbilder eines Reiseberichts zu sehen. Er richtete die Kamera nach unten und stellte auf ein paar weiße Blumen scharf, die nicht weit entfernt im Wind zitterten. Dann fuhr er wieder zur blauweißen arktischen Pracht eines Gletschers hinauf. Sein Blick huschte über die geduckten Army‐Gebäude am Ende des Fjords und blieb an einer Gestalt hängen, die vom Flugfeld herunter‐ kam. Es war Irene, und sie war allein – ein fröhliches Bauern‐ mädchen auf einem friedlichen Feldweg. «Weißt du, was mich wundert?», ließ sich Lavones verträumte Stimme von der Zeltplane vernehmen. «Da ist zwar einer unserer Bären, sporadisch aufgescheucht von der 90
U. S. Army. Jetzt frage ich mich nur: Wo ist der andere Bär?» Die Antwort war in Rudys Sucher aufgetaucht, gerade als Lavone die Frage stellte. Der zweite Bär war durch den Ring seiner Verfolger geschlüpft und aus der Müllgrube ent‐ kommen. Jetzt trabte er über die freie Fläche zwischen Flugfeld und Stützpunkt direkt auf Irene zu. Rudy hechtete über die Windschutzscheibe des offenen Jeeps und schwang sich hinters Steuer. Er tastete hektisch nach dem Schlüssel. Lavone blickte erstaunt. «Spring an, verdammt!», schrie Rudy. «Was hast du vor?», rief Lavone. Der Motor sprang an, und Rudy rammte den Schalt‐ knüppel in den ersten Gang. Er ließ die Kupplung springen, der Wagen hüpfte wie ein Zeichentrickauto und schoss los. Als er durch die bucklige Tundra holperte, knallte er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe. Er sah Sterne, tastete nach Blut, fand aber keines. Er raste querfeldein und musste aufpassen, nicht aus dem Wagen geschleudert zu werden. Der Bär rannte etwa dreihundert Meter entfernt zu seiner Rechten und war ziemlich schnell. Auf der Straße zur Müllhalde tauchte ein weiterer Jeep auf. Rudy fing an zu hupen. Vielleicht könnte er das Tier erschrecken und verjagen. Doch der Bär hielt unbeirrt weiter auf Irene zu. Die drehte sich um, als sie die Hupe hörte, und erstarrte. Dann rannte sie los. Irene war schnell, aber der Bär beschleunigte ebenfalls und holte auf. Doch auch Rudy rückte dem Bären näher. Er konnte bereits die dicken Speichelfäden an den schwarzen Lefzen erkennen. Das Spiel der Muskeln sandte Wellen über den weißen Pelz. Rudy fuhr parallel zu Irenes Laufrichtung und war bald in Rufweite. «Spring auf!» Er nahm den Fuß vom Gas, um auf ihre Geschwindigkeit 91
abzubremsen. Irenes Augen waren schreckgeweitet. Mit der rechten Hand hielt Rudy das Lenkrad fest, die linke streckte er ihr entgegen. Sie griff danach, und irgendwie schaffte sie es, in den Wagen und dann über seinen Schoß auf den Beifahrersitz zu klettern. «Oh Gott!», rief sie. Sie kniete sich auf den Sitz und sah nach hinten. «Fahr! Fahr! Fahr zu! Er ist direkt hinter uns!» Sie war völlig außer sich und sah aus, als wollte sie gleich wieder aus dem Jeep springen. «Mach ein Foto!», rief Rudy. «Waas?!» «Mach ein Foto!» Rudy hielt ihr die Kamera vor die Nase. Sie griff zu. Aus den Augenwinkeln konnte er das wogende weiße Fell des Bären sehen. Sehr nah. Direkt vor der Stoß‐ stange des Jeeps. «Beeil dich!» Er hörte, wie Irene neben ihm nach Luft schnappte und den Auslöser drückte. «Du Arschloch!», schrie sie. Er oder der Bär? Der Jeep machte einen heftigen Satz, als Rudy über einen Felsen fuhr. Er sah zur Seite: Irene war noch da und knipste weiter. «Okay, das reicht!», rief er. «Halt dich fest!» Rudy bog scharf nach rechts. Irene flog gegen seine Schul‐ ter; einen Augenblick nahm ihr Kopf ihm die Sicht. Um Himmels willen, er konnte tatsächlich ihr Haar riechen, ihr Shampoo und einen leichten Pferdegeruch. Sie kam wohl gerade von der Weide. Rudy steuerte den nächsten Feldweg an, um schneller voranzukommen. Auch der Bär schwenkte nach rechts, zog aber nach links, als der verfolgende Jeep mit den johlenden GIs ihn beinahe rammte. Die Soldaten bewarfen das Tier mit Bierdosen und winkten Rudy und Irene zu. Sie mussten unterwegs Lavone aufgesammelt haben, denn der stand hinter der Windschutz‐ scheibe und zeigte den beiden den hochgereckten Daumen. 92
Die Verfolger drängten den Eisbären vom Stützpunkt ab und zum Wasser hinunter. Rudy bremste ab, drehte um und hielt schließlich auf einem Hügel, von dem man den Stützpunkt und den Fjord überblicken konnte. Seine Hände fingen an zu zittern, und sein Herz pochte heftig. Irene saß mit der Kamera im Schoß neben ihm und kniff die Augen zu. Sie hyperventilierte und hielt die Fäuste gegen die Schläfen gepresst. «Oh Mann, oh Mannomannomann!» «Alles in Ordnung?», fragte Rudy. «Du bist verrückt!», sagte Irene. Sie sah ihn an. Ihr Gesicht konnte sich nicht für einen Ausdruck entscheiden und zeigte stattdessen unterschiedlichste Gefühle im Schnelldurchlauf. Schließlich fing sie an zu lachen. «Ooh Mann! Du bist wirklich absolut verrückt!» «Und außerdem ein Arschloch?» Rudy versuchte sein Zittern zu unterdrücken. Irene lachte noch einmal erleichtert auf. Es klang nach Freude und einem kleinen Rest Hysterie. «Klar. Und noch so einiges mehr», sagte sie. «Herrgott, bin ich froh, dass du da warst. Oh Mann ...» «Ich auch», murmelte Rudy. Irene sah auf die Kamera in ihrem Schoß und nahm sie in die Hand. «Was sollte das eigentlich? ‹Mach ein Foto!›» Rudy zuckte die Achseln. «Weiß auch nicht. Meine Nachrichtennase wahrscheinlich.» Irene drehte am Aufzug. «Jedenfalls brauchst du einen neuen Film. Ich habe alle Bilder verschossen.» «Ist sowieso leer.» «Was?» «Die gehört Lavone. Ist gar kein Film drin.» «Du bist wirklich ein Arschloch!» Ihr Gesicht glühte vor Entrüstung, aber mehr noch vor Heiterkeit, vielleicht auch vor Bewunderung für seine Dreistigkeit. «Ich wollte dich bloß beschäftigen, solange wir auf der 93
Flucht waren.» Irene ließ sich in den Sitz fallen, legte den Kopf nach hinten und schloss die Augen; sie versuchte wohl, das Geschehene zu begreifen und sich zu beruhigen. Rudy sah Irene an, und die Welt um ihn herum schien ihretwegen stillzustehen. Als ihr Atem gleichmäßiger wurde, kam alles wieder in Bewegung, aber langsamer als zuvor, als lägen die Bärenjagd und die ganze Aufregung, sein ganzes vorheriges Leben lange zurück. Eine neue Zeit hatte begonnen. Draußen im Fjord schwammen die beiden Bären davon; ihre Köpfe waren weiße Punkte, ihr Kielwasser zwei stumpfe Winkel. Rudy stieg die Hitze ins Gesicht. Es war riskant, er wusste nicht, ob man sie beide sehen konnte oder wie sie reagieren würde, dennoch legte er seine Hand auf ihre. Sie duldete seine Berührung, drehte dann ihre Hand und drückte die seine. Sie schüttelte den Kopf und ließ sich tiefer in den Sitz sinken, die Augen immer noch geschlossen, den Kopf zurückgelehnt. «Puuuuuh», seufzte sie. «Genau», sagte Rudy. «Phiiuuh.» Sie hielten sich bei der Hand, und Rudy schaute den Bären hinterher, die weiter ins Blau hinausschwammen. Stille senkte sich über den Hügel. Selbst der Wind ließ nach. , Nach einer Weile flüsterte Irene: «Danke.» Sie drehte den Kopf und sah ihn an.–ü «Kein Problem», sagte Rudy. «Gern geschehen.» Bald huschte ein listiger Ausdruck über Irenes Gesicht. «Übrigens», sagte sie. «Ich habe deine Zeitung gesehen.» «Gefällt sie dir?», fragte Rudy, o «Weiß ich noch nicht. Ich bin noch nicht dazu gekommen, sie zu lesen. Eine andere Nachricht hat mich abgelenkt... ‹Einbrecher›?... ‹Wäre schön, wenn du hier wärst›?» Rudy lächelte. «Wäre auch schön gewesen.» «Und wie bist du ins Büro gekommen?» 94
«Ich habe die Zeitung ausgetragen, unter den Türen durchgeschoben. Und deine Tür war offen.» Irenes Miene verdüsterte sich. «Ach du Schande. Ein Sicherheitsverstoß. Da war ich wohl mit den Gedanken woanders. Zu lange gearbeitet.» Rudy verdrängte den Gedanken, was das wohl für Arbeit gewesen war, und wandte sich ab. Jetzt erst fiel ihm auf, dass er genau im Zentrum einer sternförmigen Kreuzung parkte, von der Wege zu allen Enden der Basis führten. Irene hatte seine Hand noch nicht losgelassen, und der Händedruck, den sie dort austauschten, war der eigentliche, winzig kleine Mittelpunkt der Kreuzung. «Können wir uns wiedersehen?», fragte er leise. Irene blickte auf die beiden Hände herab, die sich da umklammerten. Sie seufzte und zog ihre Hand zurück; Rudy ließ sie gewähren. Sie sah sich um, voller Verzweiflung schweiften ihre Blicke über den ganzen Stützpunkt. «Ein schrecklicher Ort», flüsterte sie. Dann sah sie ihn an, schüttelte leise den Kopf und lachte dabei, fast hilflos. «Nein, ick bin schrecklich.» Da hätte Rudy sie küssen können, vielleicht hätte sie es sogar geduldet, aber das war viel zu gefährlich. Er musste sie gehen lassen. Alle Wege führten auf sie beide zu, sie waren von überall zu sehen. «Ich muss wohl wieder da runter», sagte sie und deutete mit dem Kopf in Richtung Basis. «Klar.» Ihm war schwindlig. Seine Stimme klang dünn und blechern in seinen Ohren, wie der Hilferufeines ertrinkenden Mannes weit vor der Küste. Er ließ den Jeep an, und ohne ein weiteres Wort fuhren sie zum Stützpunkt hinunter. Rudy hielt auf einem Schotter‐ arkplatz und tellte den Motor ab. Irene stieg die Treppe zum Hauptquartier hinauf, ihre Schuhe scharrten auf den Brettern. Rudy sah ihr nach. An der Tür machte sie eine fast militärische Kehrtwendung und marschierte die Holzstufen 95
wieder hinab. An der Beifahrertür des Jeeps blieb sie stehen. Mit fester Stimme sagte sie: «Ich werde mich mit dir treffen. Ganz bestimmt.» Und dann ging sie hinein. Er starrte weiter auf die ge‐ chlossene Tür, doch ihr Gesichtsausdruck stand ihm noch vor Augen: ein Lächeln, das von Entschlossenheit zeugte, jedoch auch von Unsicherheit geprägt war. Er wollte gerade nach dem Zündschlüssel greifen, als er aus einem der geöffneten Fenster unten im Hauptquartier das Rattern einer Jalousie hörte.
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ZEHN Im Mannschaftsclub war die Luft rauchig, der Lärmpegel hoch und die Stimmung bestens. Ein paar Frauen waren zu sehen, aber größtenteils saßen Männer an den Tischen und an der Bar, die aus ein paar Brettern und Ölfässern gezimmert war. Von der Decke baumelten Lampions mit Glühbirnen, an den Wänden hingen Poster von Fliegen‐ ischern in amerikanischen Flüssen, dazwischen hier und da alte Auto‐Kalenderblätter, die wohlgeformte Mädchen und Autos zeigten. Einer der Köche zapfte Bier. An den Tischen saßen vier, sechs, manchmal noch mehr Männer. In einer Ecke stand eine fest verankerte Jukebox, für die man keine Münzen brauchte. Musik und überschwängliches Lachen hallten durch den Raum. 97
Rudy kam mit einem Exemplar der Harpoon in der Tasche herein, das ihm der Colonel geschickt hatte. Während Rudy beim Mittagessen gewesen war, hatte jemand die Zeitung unter seiner Tür hindurchgeschoben. Hier und da war etwas angestrichen, und neben Lavones Artikel stand ein großes Fragezeichen, aber es lag auch eine Notiz dabei: BIN ENDLICH ZUM LESEN GEKOMMEN. SIEHT GUT AUS. WEITERMACHEN! Lt. Col. L. G. Woolwrap
Rudy sah Lavone mit zwei anderen Männern in der Nähe der Jukebox am Tisch sitzen. Sie winkten ihn zu sich heran. Petri und Beef waren die beiden Gefreiten, die Rudy beim Dartspiel gesehen hatte. Sie bewohnten die Stube neben Lavone. «Chefredakteur», sagte Petri, «setzen Sie sich zu uns. Oder sind Sie auf Storyjagd?» Petri war gebaut wie ein Gewicht‐ eber und warf sich unablässig Sonnenblumenkerne in den Mund, wobei sein Arm wie ein Katapult von seinem Schoß hochschnellte. «Keine Story», sagte Rudy. «Dienstfrei.» «Vielleicht jagt er Bären», warf Beef ein. «Eisbären.» «Oder Jungfrauen in Not», sagte Petri. «Lavone hat uns von Ihrem gepflegten Fahrstil draußen an der Müllhalde erzählt.» «Von seiner gepflegten Aufreißermasche.» «Sammelt sie einfach ein, die Bräute.» «Und dann noch die Braut des Colonel.» «Und grinst den Bären ins Gesicht. Wie Davy Crockett.» «Und grinst vor allem den Bräuten ins Gesicht.» «Ein Toast», sagte Beef und erhob sich schwankend. «Auf die Herren von der Presse. Und auf Bars wie diese hier.» «Und auf die Bräute.» «Und auf Davy Crockett.» Sie warfen die Köpfe in den Nacken und schütteten sich 98
das Bier in die Kehlen. Sie sahen alle reichlich angeschlagen aus, vor allem Lavone, dessen Knautschhut völlig verrutscht war. Rudy setzte sich auf den freien Stuhl und schenkte sich ein Bier aus dem Krug ein. Ihm war nicht wohl dabei, dass alle über sein Eisbärenabenteuer mit Irene redeten. Eine Menge Leute mussten sie beobachtet haben. «Corporal Spruance», sagte Petri, als er ausgetrunken und ausgiebig gerülpst hatte, «wir machen gerade eine Unter‐ uchung. Könnte für Ihre Zeitung interessant sein. Als Mann von erwiesenen Fahrkünsten: Besitzen Sie einen Wagen?» «Nein», sagte Rudy. «Und wenn Sie sich einen aussuchen könnten», sagte Petri, «egal, welche Marke, welcher Typ, was würden Sie nehmen?» «Einen Jeep», sagte Rudy. «Scheißwahl», sagte Petri. Er schnippte Rudy einen Sonnenblumenkern zu. Rudy fing ihn und steckte ihn sich in den Mund. «Was hättet ihr euch denn so ausgesucht?», fragte Rudy. «Corvair», sagte Lavone. «Mädchenauto», sagte Petri. «Aber ein Cabrio», sagte Lavone. «Ich möchte so einen Ford mit einfahrbarem Hardtop», sagte Beef und kratzte sich an der Nase. «Was ist mit Ihnen?», fragte Rudy Petri. «DeSoto Firesweep», sagte Petri. «Mit beleuchtetem Indianerkopf auf der Kühlerhaube.» «Man braucht sieben Motoren, um das Hardtop in den Kofferraum zu versenken», sagte Beef. «Ein Corvair‐Cabrio oder einen TR‐3 oder einen T‐Bird vor 1957, ehe sie so aufgetakelt wurden», sagte Lavone. «Ich steh auf Heckflossen», sagte Petri und warf weiter Kerne ein. «DeSoto baut noch Flossen, und ich bin ein Flossenreund.» 99
«Sieben Motoren, und bestimmt zehn Relais, und ich glaube, an die zwölf Grenzschalter.» «Du machst doch in deiner Freizeit nichts anderes, als so einen Quatsch zu büffeln», sagte Petri zu Beef. «Grenz‐ chalter, dass ich nicht lache.» Beef war ein magerer Lebenslänglicher. Obwohl nur fünf Jahre älter als Rudy, hatte er schon in der Navy gedient, den Dienst quittiert und sich nach einem dreimonatigen Ausflug ins Privatleben wieder zurückgemeldet, diesmal bei der Army. Er behauptete, er wolle alle Waffengattungen auspro‐ ieren. Er war Elektriker und Heizer und teilte sich eigentlich ein Zimmer mit Petri, doch die meisten Nächte verbrachte er auf einem Feldbett im Kesselraum. «Was gibtʹs da zu lachen?», fragte Beef. «Anscheinend haben wir hier zwei Lager: Heckflossen‐ reunde und Heckflossengegner», sagte Lavone. «DeSoto und Firebird‐Ford und Jeep.» «Fahren wir nicht sowieso bald alle mit der Schwebebahn?», fragte Rudy. Er kratzte sich am stoppeligen Kinn und starrte ein Poster an, auf dem ein Mann eine Regenbogenforelle aus einem Fluss in den Rocky Mountains fischte. Der springende Fisch sah unecht aus, als hätte man ihn nachträglich ins Bild montiert. Am gegenüberliegenden Ufer klatschte eine langbeinige Blondine aufgeregt in die Hände. Rudy störte an dem Bild nicht nur der unechte Fisch. «Flossen», sagte Petri, «sind aerodynamisch. Sie verleihen einem Auto mehr Fahrstabilität.» «Schwachsinn», sagte Beef. «Unser Mann am Grenzschalter sagt, Flossen sind Schwachsinn», verkündete Petri. «Düsenrucksäcke», sagte Lavone. «Schwebebahnen und Düsenrucksäcke. So was soll doch kommen.» «Ich will Flossen an meinem Düsenrucksack», sagte Petri. «Ich will meine eigene Schwebebahn.» «Ich will noch ʹn Bier.» 100
Beef ging zur Bar, die anderen drei lauschten der Musik. Der Song rumpelte Bomp‐di‐bomp‐bomp, bomp‐bomp‐bomp dahin. «Bo Diddley, Bo Diddley», mehr verstand Rudy nicht. Das Bier zeigte Wirkung. Der zähe, verzerrte Sound gefiel ihm. «Hab ich eigentlich schon erzählt, dass ich mit Elvis zusam‐ men in Deutschland stationiert war?» Beef war mit einem vollen Krug zurückgekehrt. «Na klar, du Trottel», sagte Petri. «Die haben doch deine blöde Anzeige in ihrer Zeitung gebracht.» «Selbe Einheit.» Beef ignorierte Petri. «Und wie war Elvis so?», fragte Lavone. Unterm Tisch rollte er eine Ampulle Amylnitrit zwischen seinen Fingern, steckte sie aber zurück in die Tasche und nahm stattdessen einen Zug aus dem In‐halator. «Sehr still», sagte Beef, «ʹn Junge vom Land.» «Haben Sie oft mit ihm geredet?», fragte Rudy. «Nicht ein Wort», sagte Beef. «Er hat sich doch deine Scheißgitarre ausgeliehen», sagte Petri. «Angeblich.» «Mein Bettnachbar hat sie ihm geliehen, als ich Wachdienst hatte. Hat mich nicht mal um Erlaubnis gefragt. Der hat mir hinterher erzählt, Elvis hätte sie zurückgebracht und gesagt, wenn er mit so ʹner Gitarre hätte anfangen müssen, hätte er die Musik an den Nagel gehängt und wäre lieber gleich Jeepfahrer bei der Army geworden.» «Und woher weißt du, dass dich dein Bettnachbar nicht verarscht hat?», fragte Petri. Beef lächelte, er zog seine Brieftasche aus der Hosentasche und kramte darin herum. «Daher», sagte er. Er hielt ein Piektrum aus Schildpatt hoch, auf das in Schreibschrift der Buchstabe E gestanzt war. Alle beugten sich vor, um es näher zu betrachten. «Das lag in meinem Gitarrenkoffer, als ich von der Wache zurückkam», sagte Beef. «Er hat es reingelegt.» 101
Am Tisch herrschte einen Moment lang Schweigen. «Ist er noch in Deutschland?», fragte Rudy. «Na klar», sagte Beef. «Hast du dir mal überlegt, wieso sie dich hierher versetzt haben und nicht Elvis?», fragte Petri. «Nicht eine Sekunde», antwortete Beef. «Aus Sicherheitsgründen», sagte Lavone. «Was für ein Alb‐ traum: Elvis hier bei uns.» Der Alkohol hatte Rudy entspannt und benebelt. Sollten die anderen nur weiter dummes Zeug lallen. Er stellte sich Elvis vor, wie er von einer neugierigen Meute über den Stützpunkt verfolgt wurde. Blitzlichter, Soldaten, Zivilisten. Er sah Fotos vor sich. Gesichter. Hinter dem Vorhang im Büro des Colonel. Und er sah Irenes Gesicht. Ihren Blick, als sie vor dem Bären flüchtete. Dann ihr Lächeln: entschlossen, aber unsicher. Dann bemerkte Rudy an der Bar einen Mann mit langen Armen. Es war Genteen. Rudys Magen verkrampfte sich. Er hatte den Sergeant nicht hereinkommen sehen. Genteen lehnte mit dem Rücken zu Rudys Tisch an der Theke und unterhielt sich mit zwei Krankenschwestern. «Spruance», sagte Petri. «Sie müssen sich was Besseres ein‐ fallen lassen als den Jeep, ʹn anderes Auto.» «Was fährt Elvis denn für einen Wagen?», fragte Rudy und wandte sich wieder zu den anderen. «Cadillac natürlich», sagte Beef. «Ungefähr ein Dutzend.» «Also ein Cadillac. Aber einer reicht mir.» «Und die haben alle Heckflossen», sagte Petri. «Wo ist Lavone hin?», fragte Beef. Ein schwacher Geruch nach fauligen Äpfeln hing in der Luft. Lavone hatte sich unter den Tisch gebeugt, um die Ampulle zu knacken. Er sog heftig ein, zuckte hoch und knallte unter die Tischplatte, sodass die Gläser wackelten. Mit einem breiten Grinsen tauchte er wieder auf. «Bisschen an der Wunderlampe gerieben, was?», sagte 102
Petri und hielt sein Glas fest. «Herrgott, Lavone», sagte Beef. «Du wirst bestimmt noch abhängig –» «Der Thomas De Quincey von Grönland», sagte Lavone. Rudy schaute zur Bar: Genteen war nicht mehr da. Neben den beiden Frauen war nun der Platz frei, wo Genteen gestanden hatte. Rudy schaute sich um. Der Sergeant war nirgends zu sehen. Die beiden Frauen lachten und steckten sich eine Zigarette an. Petri drehte sich um, weil er wissen wollte, wo Rudy hinsah. «Auf wen haben Sie denn ein Auge geworfen, Spruance?», fragte er. «Auf niemanden», sagte Rudy und beugte sich vor, um von seinem Bier zu trinken. «Er hat sich an Sergeant Teal rangemacht, aber der Colonel lässt sie von Eisbären bewachen», sagte Lavone. «Haben Sieʹs schon mal bei den Eingeborenen versucht?», fragte Beef. «Ich hab noch gar keine gesehen», sagte Rudy. «Werden Sie bald», sagte Beef. «Beef steht auf Rothäute», sagte Petri. «Ja und, verdammt? Da bin ich ja wohl nicht der Einzige.» «Oh nein», sagte Petri. «Die Eskimösen lassen jeden ran.» «Was weißt denn du armes Arschloch?», fragte Beef. «Du kommst ja bestens allein zurecht.» Er machte eine Geste, die nach Masturbation aussah. Ein Hagel Sonnenblumenkerne ging auf ihn nieder. Auf einen langsamen Song aus der Musikbox folgte nun tatsächlich Elvis: «Jailhouse Rock». Die Frauen an der Theke sagten etwas zum Barkeeper, und er ging zur Jukebox und drehte die Lautstärke auf. Überall fingen Leute an zu tanzen, allein oder mit Partnern. Über ihnen, an der gewölbten Decke, angelte der Mann seine Forelle. So dumm das auch sein mochte, Rudy wünschte sich, er wäre auf dem Poster 103
und finge den Fisch und am anderen Ufer neben dem makel‐ losen Zeltplatz würde Irene auf ihn warten. «Und warum hat man Sie hergeschickt?» Die Stimme klang beinahe hitzig und so dicht an Rudys Ohr, dass er Petris Gesicht ein paar Zentimeter vor sich er‐ wartete, als er sich umdrehte. Doch das Bier und der Lärm mussten ihn getäuscht haben, denn Petri saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl und sah ihn an, die Hände auf dem Tisch gefaltet. Auch Beef sah ihn an, nickte im Takt mit dem Kopf und klopfte mit der Hand auf den Tisch, als hätte er alle Zeit der Welt, auf Rudys Antwort zu warten. Nur Lavone igno‐ rierte ihn; der zählte Ampullen unterm Tisch. Rudy zog die zusammengefaltete Harpoon aus der Tasche. «Um eine Zeitung herauszubringen?» Beef und Petri tauschten einen flüchtigen, fast verstohlenen Blick und sahen dann wieder Rudy an. Sie musterten ihn. Schließlich nickte Petri mit zusammengekniffenen Augen. «Wahrscheinlich stimmt das sogar.» Die Worte breiteten sich aus wie ein Ölfilm und versanken im Lärm. Beef und Petri stürzten ihre Biere hinunter. Die Unterseiten ihrer Gläser starrten Rudy an. Die Musik schien von oben auf ihn niederzuprasseln. Er schaute hoch zum Poster. Er hatte den Colonel gebeten, hier bleiben zu dürfen. Er hätte sich versetzen lassen können, aber er hatte abge‐ lehnt. Dann fiel ihm auf, was ihn an dem Poster störte. Der Angler hatte den gleichen silbergrauen Militärhaarschnitt wie der zischelnde Mann in der Skijacke, den Rudy auf den Stufen des Flügels getroffen hatte. Rudy verspürte den Drang zu fliehen. Er verabschiedete sich so leise, dass ihn keiner der anderen hörte. Noch bevor sie ihre Gläser abgesetzt hatten, war er weg. Es dauerte ewig, sich durch die tanzende Meute zur Tür zu drängen. Elvis rockte den ganzen Zellenblock. 104
Als er in sein Zimmer zurückkehrte, war sie da. Er hatte die Vorschriften noch nicht gelesen, aber das musste ein Verstoß sein. Irene stand mitten im Raum, zwischen Bett und Schreibtisch, und schien kein bisschen Angst zu haben, erwischt zu werden. Sie hielt bloß ein Exemplar der Harpoon hoch und sagte: «Sieht gut aus.» Rudy blieb in der Tür stehen. «Genau das hat der Colonel auch geschrieben», sagte er. Irene schüttelte den Kopf. «Das war ich. Ich habe die Notiz geschrieben.» «Danke», sagte Rudy. Der Nebel in seinem Kopf lichtete sich plötzlich, und er fühlte sich, als habe er soeben reinen Sauerstoff inhaliert. Sie war in seinem Zimmer. «Die Tür war offen», sagte sie. Sie ging zum Schreibtisch und lehnte sich dagegen. «Ist es trotzdem Einbruch?» Irene lächelte ihn an und wartete auf seine Reaktion. Er wollte Fassung bewahren, aber das ging alles zu schnell. Er konnte nur mit den Achseln zucken. Er machte zwei Schritte und setzte sich auf die Bettkante. Ihm war etwas schwindelig. Er musste sich sammeln. Sein Herz hämmerte. Das Linoleum auf dem Boden zwischen ihnen schien sich endlos auszudehnen. Irene inspizierte die Büroeinrichtung. «Ich habe die Notiz zwar geschrieben», sagte sie. «Aber der Colonel war der gleichen Meinung. Das weiß ich sicher. Die Zeitung hat ihm gefallen. Mit dem Artikel über Filme konnte er allerdings nicht viel anfangen.» Rudy gluckste vergnügt. «Da war er nicht der Einzige. Aber er kriegt eine zweite Chance. Und wahrscheinlich auch eine dritte, vierte und fünfte: Lavone plant eine ganze Serie. Wenn die Zeitung lange genug existiert.» «Das wird sie», sagte Irene. Sie spielte mit der Kurbel des Mimeographen. «Lane will eine richtige Druckpresse einflie‐ gen lassen. Ich habe schon Fernschreiben an alle möglichen Stützpunkte in Deutschland schicken müssen. Er will aus der 105
Harpoon eine richtige Zeitung machen.» «Aber warum um alles in der Welt?», fragte Rudy. «Warum nicht?», entgegnete Irene. «Es ist eine Aufgabe. So was brauchen wir hier. Das wirst du auch noch merken.» Rudy fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Der Gedanke an eine richtige Zeitung gefiel ihm eigentlich. Es kam ihm zwar absurd vor, und er wusste beim besten Willen nicht, wie sie es anstellen sollten, aber das war ihm jetzt auch egal. Selbst wenn die Idee vom Colonel stammte – Irene schien begeis‐ tert, das reichte. Sie hatte die neutrale Zone zwischen dem Bürobereich und Rudys Bett betreten, zeigte auf die Kiste neben dem Bett und verschränkte dann die Arme vor der Brust. «Keine Familienbilder», sagte sie. Rudy sah hin. Auf dem Army‐Handtuch stand nur sein Wecker, stumm, reglos, nicht aufgezogen. «Du hast keine Fotos von deiner Familie, deinem Hund, deinem Auto, dem Mädchen, das du zurückgelassen hast», sagte Irene. «Wieso nicht?» «Ich hab keinen Hund. Und kein Auto», sagte Rudy. «Im Grunde auch keine Familie. Mein Vater ist gestorben, als ich vierzehn war. Mom und Roger leben in Florida.» «Das ist der Stiefvater, mit dem du dich gestritten hast?», fragte Irene. «Und wie», sagte Rudy. «Weswegen?» «Das Übliche. Mein Haarschnitt. Hausaufgaben. Ausgang. Geld. Er hat von dem Geld genommen, das mein Vater Mom hinterlassen hat.» Rudy lehnte sich zurück und wollte es dabei bewenden lassen. Doch Irenes Blick bat ihn, weiter‐ zuerzählen. «Das war so», sagte er, «nach dem Tod meines Vaters nahm meine Mutter einen Job als Sekretärin bei Roger an. Er ist Zahnarzt. Sie war Witwe und, na ja, wahrscheinlich einsam. 106
Und bestimmt hat er gesagt: ‹Meine Frau versteht mich nicht.› Den üblichen Scheiß. Sie haben also eine Affäre. Roger verlässt seine Frau und seine beiden kleinen Töchter, verlobt sich mit Mom. Seine Praxis geht den Bach runter. Die ganze Stadt weiß natürlich Bescheid. Mom fängt an, ihm was von ihren Ersparnissen zu leihen. Ich wollte das nicht. Aber sie stellt sich vor Roser und heiratet ihn. Und das warʹs.» Rudy fühlte sich angezählt und benommen. Ihm wurde klar, dass er die Geschichte noch kein einziges Mal an einem Stück erzählt hatte. Tröpfchenweise hatte er hier und da Ein‐ elheiten herausgelassen, aber nie den ganzen Zusam‐enhang. Die Erinnerung an die Wut und Einsamkeit schnürte ihm die Brust ein. «Die Ironie dabei ist», sagte Rudy, «dass Vater das Geld sowieso nach und nach versoffen hätte, wenn er nicht gestorben wäre.» «Wie ist dein Vater denn gestorben?», fragte Irene. «Alkohol. Autounfall.» Irene zuckte zusammen. «Das muss hart sein, wenn es so plötzlich passiert», sagte sie. «Der Schock.» «Eigentlich kam es gar nicht so plötzlich. Er hatte schon darauf hingearbeitet», sagte Rudy. «Ich hab ihn danach noch im Krankenhaus gesehen. Er lag im Koma, und er sah nicht viel anders aus als sonst, wenn er von der Arbeit kam und ein paar getrunken hatte. Im Sessel eingeschlafen. Bewusst‐ os. Er ist friedlich gestorben.» Irene schwieg. Rudy starrte den stummen Wecker auf der Kiste an. Er spürte die Stille im Zimmer. Er schaute zu Irene, die ihn ein wenig neugierig mit geneigtem Kopf ansah. Er stand auf. «Es stimmt», sagte er, «was ich dir gerade erzählt habe. Nicht wie die Geschichte, die ich dem Colonel aufgetischt habe. Du kannst es in meiner Akte nachlesen.» «Ich weiß», sagte Irene. 107
Rudy hatte die Hände in den Hosentaschen. Irene war ein halbes Zimmer von ihm entfernt. «Und was ist mit dem Mädchen, das du zurückgelassen hast?», fragte sie. «Das steht sicher nicht in der Akte.» Rudy zuckte die Achseln. «Es gibt keins. Musst du mir einfach glauben.» Irene lächelte. «Tu ich.» Einen Augenblick standen sie einander so gegenüber, dann drehte Irene sich um und wollte die Harpoon, die sie in der Hand hielt, auf Rudys Schreibtisch legen. «Noch mal Danke», sagte sie, «du weißt schon, wegen dem Bär.» «Kein Problem», sagte Rudy. «Ich glaube ...», sie deutete in Richtung Tür. «Du hast gesagt, du wolltest mich noch einmal treffen», sagte Rudy. «War es das jetzt?» «Zu den Männerquartieren haben Frauen keinen Zutritt. Und umgekehrt. Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein. Ich wollte mich nur bei dir bedanken.» «Das freut mich», sagte Rudy. «Aber vielleicht könnten wir uns ja woanders treffen? Wo wir beide Zutritt haben?» Sie sah ihn an, die Zeitung immer noch in der Hand, und schwieg. «Was?», fragte er leise. «Gibt es hier nirgendwo freien Zutritt?» Statt einer Antwort schlug Irene die Augen nieder, zog sich hinter einen unsichtbaren Vorhang zurück. «Wie wäre es beim Gelage?», fragte Rudy. Die Frage erschien ihm sofort absurd. Da stand er mit ihr– gegen alle Vorschriften in seinem Zimmer und schlug ein Treffen beim großen Besäufnis vor. Sie stand ganz still, und er war über‐ eugt, gleich würde sie ungläubig fragen, ob er Witze machte. Doch dann sah sie ihn an, nickte und sagte: «Ich werde da sein.» «Ohne den Colonel?» 108
Irene errötete. Sie legte die Zeitung auf den Schreibtisch und drehte den Zeigefinger auf dem Artikel über das Gelage, als wollte sie das Papier festschrauben. «Der Colonel hat oft viel zu tun», sagte sie. «Traditionell wird er sich nach dem langen Winter wahrscheinlich betrin‐ en.» «Tja, ich bin ein bisschen spät hier angekommen und habe den langen Winter verpasst», sagte Rudy. Irene grinste schief. «Und ich lege nicht viel Wert auf diese Tradition.» «Beim Gelage also», sagte Rudy. Irene nickte; sie sah erleichtert aus. Vielleicht weil sie es ge‐ schafft hatten, sich zu verabreden. Rudy jedenfalls war froh; das Gelage konnte gar nicht schnell genug kommen. Sie ging zur Tür. «Entschuldige, dass ich so unangemeldet hereingeplatzt bin», sagte sie, ohne sich umzudrehen. «Aber ich konnte nicht widerstehen, beim Einbrecher einzubrechen.» «Die Tür war offen», sagte Rudy. «Also war es streng genomen gar kein Einbruch. Weder bei mir noch bei dir. Eher unerlaubtes Betreten.» «Bitte um Vergebung», sagte Irene. Sie nickte zum Ab‐ schied, wie beim ersten Mal, als Rudy sie gesehen hatte, doch diesmal war kein Colonel da, der ihren Hintern tätschelte. Nur Rudy, der ihr hinterherschaute. Er wollte schlafen gehen. Er zog das Rollo herunter, um das Zimmer abzudunkeln. Er blätterte eine alte Ausgabe von Look durch, warf die Zeitschrift auf den Fußboden. Er spielte im Kopf Irenes Besuch noch einmal durch. Die Bilder verschwammen. Er sah Nahaufnahmen von ihrem Finger, der sich auf dem Schreibtisch in die Harpoon bohrte; von ihren Augen, die sich in seinem Zimmer umsahen; er hörte ihre Fragen; sah wieder ihre Augen, ihren Blick, mal zurückhaltend, mal zustimmend. Dann sah er einen Moment lang seinen Vater im Sessel. Die Augen seines Vaters sahen 109
durch ihn hindurch, schlossen sich, er verlor das Bewusst‐ sein. Rudy dachte an seine Mutter und an Roger. An den zischelnden Mann. Den Hubschrauber. Die Bilder im Büro des Colonel. Dann sah er wieder Irene und fühlte sich besser. Ihr neckender Spott, ihre heimliche Freude über seine Nachricht in ihrer Schreibmaschine. Ihr Nicken, Winken, Lächeln. Er fiel in einen tiefen Schlaf. Wegen des Biers im Club, der endlosen Dämmerung draußen, der Dunkelheit drinnen wusste er nicht genau, wie lange er geschlafen hatte, als er überfallen wurde.
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ELF Zuerst spürte er den Druck auf der Brust. Der Angreifer hatte einen langen Gurt mitgebracht, wahrscheinlich von der Sorte, mit der man die Ladung auf Sattelschleppern festzurrt, und Rudy damit auf dem Bett festgeschnallt. Der Gurt lief über seine Brust, fesselte seine Arme und schnürte ihm die Luft ab. Als er den Kopf hob, wurde ihm ein Tuch in den Mund gestopft. Er würgte. Seine Zunge wurde in den Rachen gedrückt. Er versuchte zu schreien, brachte keinen Laut hervor. Sogar in seinen eigenen Ohren klang seine Stimme jämmerlich und weit entfernt. Rasch hatte der Angreifer ihm die Augen verbunden, und Rudy spürte, wie Seile zuerst um sein linkes, dann um sein 111
rechtes Handgelenk geschlungen und seine Hände ans Bettgestell gefesselt wurden. Rudy trat um sich, und er hoffte, dass das Bett gegen die Wand knallen und Lärm schlagen würde, doch sofort wurden auch seine Beine niedergehalten und seine Knöchel verschnürt. Rudy versuchte, sich loszuwinden, aber es hatte keinen Zweck. Er war an zu vielen Stellen gefesselt. Er gab auf. Er versuchte, ohne Sicht etwas Verräterisches zu registrieren: einen Geruch, ein Geräusch, irgendwas. Er hörte den schweren Atem des Angreifers, der nach Rauch roch, aber vielleicht war das auch nur der Gestank seiner eigenen Furcht. Dann erkannte er den Geruch: geöltes Metall. Im selben Moment packte eine Faust Rudy am Schopf, riss ihm den Kopf zurück aufs Kissen, und sein Gesicht begann furchtbar zu brennen. Etwas schrappte über seine linke Wange, blieb am Bart hängen, rupfte daran, riss die letzten Mückenstiche auf. Rudy zuckte zurück, und die Hand, die sein Haar festhielt, zerrte noch heftiger. Grellrote Flammen explodierten auf seiner Netzhaut. Der Schmerz wanderte über sein Gesicht, unter seinem Kinn entlang. Er wurde trocken rasiert. Die Klinge schabte jetzt vom Kragen seines T‐Shirts aufwärts, an Rudys Luftröhre entlang, und scherte sich nicht um sein Halsprofil. Rudy wartete auf den horizontalen Schnitt, der seine Kehle aufschlitzen würde. Er rechnete fest damit und unterdrückte ein Wimmern, das aus seiner Brust aufstieg. Als seine Luftröhre nicht durchtrennt wurde und die Klinge stattdessen begann, seine rechte Gesichtshälfte zu bearbeiten, wurde Rudy wütend. Er versuchte wieder zu schreien. Er warf sich wild hin und her, der Schmerz an Wange und Kopfhaut war ihm egal. Blut rann auf sein Kissen. Die Tropfen kitzelten ihn an den Ohren. Die vom Schorf befreiten Stellen fühlten sich auf der brennenden Haut wie kühle Seen an. 112
Als die Rasur vorbei war, fluchte Rudy weiter hinter sei‐ nem Knebel, bis ihm die Augenbinde abgenommen wurde. Er blinzelte und versuchte, seine verschwommene Umge‐ bung zu erkennen. Aus dem Nebel schälte sich ein Mann mit einer Winterschutzhaube über dem Gesicht, die nur die Augen frei ließ. Er trug eine mit grellen Zacken und Kreisen bemalte Schutzbrille. Die Feldjacke des Angreifers war von innen nach außen gewendet, zeigte also kein Namensschild über der Tasche. Er hielt Rudy einen Handspiegel vors Gesicht: der Barbier ließ den Kunden seine Arbeit inspizie‐ ren. Im Spiegel erkannte Rudy ganz kurz drei riesige weiße Kreise: seine aufgerissenen Augen und seinen geknebelten Mund. Seine Wangen waren blutig. Auf seinem Kissen waren Blutflecken. Der Angreifer zog den Spiegel weg und hielt ihm eine Klinge vors Gesicht. Das Bajonett. Der Mann tätschelte Rudys Wange liebevoll mit dem Stahl. Dann zeigte er mit dem Finger auf die Scharte in der Klinge. Er ging zum Schreibtisch, nahm sich eine Ausgabe der Harpoon und wischte die Waffe daran sauber. Er warf die Zeitung auf den Boden, kam zurück zum Bett und zog Rudy die Binde wieder über die Augen. Rudy hatte mittlerweile seine Knöchel frei gestrampelt und wollte um sich treten, überlegte es sich jedoch anders. Da er nun wusste, mit wem er es zu tun hatte, zog er es vor, sich ruhig zu verhalten, um Genteen die Genugtuung zu versagen, ihn in Panik zu sehen. Genteen ging ums Bett herum und sammelte die Gurte auf; Rudy hörte das Klirren des Bajonetts, leise Schritte, das Schließen der Tür, dann nichts mehr. Den Generator. Sonst nichts. Rudy wartete zehn Sekunden, bevor er mit seinen Fesseln zu kämpfen begann. Schließlich warf er die Beine zur Seite und schaffte es so, sich mit dem Bett auf dem Rücken um‐ zudrehen. 113
Als er flach auf dem Bauch lag, rieb er den Kopf so lange am Boden, bis er die Augenbinde abgestreift hatte. Dabei rieb er sich zwar Staub und Dreck in die Wunden, aber zumindest konnte er wieder sehen. Als Nächstes zog er die Knie an, ging in die Hocke und kämpfte sich hoch, mitsamt Bettgestell, Matratze und Bett‐ zeug. Schließlich stand er auf den Füßen wie ein Möbel‐ packer, der eine schlecht balancierte Ladung auf dem Rücken hat. Das Bett schwankte, und Rudy krachte auf dem Weg zur Tür erst gegen seinen Schreibtisch, dann gegen den Spind und schließlich die gegenüberliegende Wand. Er musste sich bücken und kräftig schieben, um durch die Türöffnung zu kommen. Im Flur blieb er stehen, um Atem zu schöpfen und zu horchen, so gut er konnte, während ihm Laken, Decken und Matratze um die Ohren hingen. Er hoffte, Lavone in seinem Atelier tippen zu hören, doch nichts dergleichen war zu vernehmen. Also stellte er sich in der Mitte des Korridors auf und steuerte auf das Verwaltungsbüro zu, wo der Wach‐ habende sitzen würde. Als er sich dem Büro näherte, fragte er sich, wie viel Lärm er machte; offenbar nicht genug, denn drinnen bemerkte ihn niemand. Durch die halb offene Tür sah er einen Mann und eine Frau: Der Mann saß auf einem Schreibtischstuhl, so weit zurückgelehnt, wie die Rückenlehne es erlaubte; sie auf seinem Schoß, die Beine übereinander geschlagen, einen Fuß erregt in die Luft gestreckt. Seine Hand hatte ihren Rock weit hochgeschoben, beide ließen befriedigtes Gurren und Brum‐ men hören. Rudy versuchte zu rufen, brachte aber nur ein ersticktes Grunzen hervor. Erst beim zweiten Mal richtete sich die Frau auf und drehte sich um. Sie ließ die Hände auf den Schultern des Mannes liegen, wie eine Autofahrerin, die sich zu jeman‐ dem auf dem Rücksitz wendet. Rudy erkannte eine der beiden Krankenschwestern, die im 114
Club an der Bar gestanden hatten. Sie wirkte ganz ruhig, beinahe amüsiert, als sei es nichts Besonderes, im Dienst beim Knutschen erwischt zu werden. Doch als sie Rudy in Unterwäsche mit seinem Bett auf dem Rücken vor sich sah, einen Knebel im Mund, das Gesicht voller Blut und Schmutz, verlor sie die Fassung. «Verdammte Scheiße!», rief sie. Sie sprang vom Schoß des Mannes, der mit seinem Stuhl gegen die Dienstpläne an der Wand kippte. «Was zum –?» Es war Sergeant R. G. Genteen. Als er Rudy erblickte, stand er auf, legte der Frau von hinten die Hände auf die Schultern und schob sie sanft zur Seite. «Herr im Himmel, Soldat», sagte er. «Was ist denn mit Ihnen passiert? Kommen Sie, ich helfe Ihnen.» Und er kam mit ausgestreckten Armen auf Rudy zu, die Hilfsbereitschaft in Person.
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ZWÖLF Dawes, der König der Fischer. Als er den Sergeant Major am Fjordufer auf der Mole sitzen sah, musste Rudy an sein einziges Lyrikseminar am College denken. Sie hatten T. S. Eliots Das wüste Land gelesen. Der alte König beim Angeln, den Rücken dem Ufer zugewandt. Die Gralslegende. Die verwunschene Kapelle. Der junge Ritter muss die richtigen Fragen stellen. Rudy hatte Befehl, sich wegen des Vorfalls beim Sergeant Major zu melden. Er war zu Dawesʹ Büro gegangen, wo er vom Sekretär erfuhr, dass Dawes unten beim Anleger war. «Sie sehen wieder mal beschissen aus», sagte der Sekretär. Rudy ignorierte ihn und verließ das Gebäude nach Westen, 116
ging über den Exerzierplatz, wo das Flaggenseil leise an den Mast schlug, und ging hinunter zum Strand. Auf seinem Gesicht klebte ein halbes Dutzend Pflaster. Seine Wangen waren rot verschrammt, der Hemdkragen scheuerte schmerzhaft am Hals, außerdem hatte er ein blaues Auge. Aber immerhin war er glatt rasiert. Als Genteen am Abend zuvor im Korridor auf ihn zuge‐ kommen war und seine Hände losgebunden hatte, hatte Rudy sich auf ihn gestürzt. Er hatte nicht mal gewartet, bis er das Bett los war. Sobald er die Hände frei hatte, war er auf den Sergeant losgegangen. Genteen und er taumelten zu Boden, verhedderten sich in Bett und Bettzeug. Rudy hatte wild um sich geschlagen und ein paar Treffer in Gen‐teens Gesicht gelandet, so glaubte er zumindest. Eine vom Laken gedämpfte Faust hatte Rudy am Auge erwischt. Die Krankenschwester fing an zu schreien, und bald waren zwei Männer vom Wachtrupp gekommen und hatten die beiden auseinander gezerrt. Genteen hatte Rudy beschimpft, sich dann aber demons‐ trativ schockiert gezeigt und den Staub von seiner Kleidung abgeklopft. Rudy seinerseits hatte völlig die Kontrolle verloren und geschrien, dass Genteen ein Arschloch und Hurensohn sei, der vors Kriegsgericht gehöre. Der Dienst habende Offizier – der Meteorologe des Stützpunkts – war hinzugekommen und hatte Genteen gesagt, er solle wieder ins Büro gehen und eine Meldung schreiben. Rudy hatte er befohlen, sein Bettzeug einzusammeln und in sein Quartier zurückzukehren, und ihm Stubenarrest verpasst. Nur zum Waschraum durfte er gehen, um seine Blutungen zu stillen. «Ich denke, Dawes sollte der Sache auf den Grund gehen», hatte der Diensthabende gesagt. Dawes saß am Ende des kleinen Anlegers, der in den Fjord hinausragte und aus einem verrotteten Ponton mit einer hölzernen Plattform bestand. Die kleine Brücke war ungefähr anderthalb Meter hoch und schwamm auf dem 117
klaren Brackwasser der Bucht. Dawes angelte mit einer Blinkerrute. Er saß geduckt auf einer Kiste, bog die Rute nach hinten und schleuderte den Köder aufs Wasser hinaus, wo er mit einem leisen plopp versank. Dawes wirkte in seiner Feldjacke vor den unge‐ heuren Türmen der grauen Berge gedrungen und massig. Am gegenüberliegenden Ufer war der gezackte Eisberg weiter in den Fjord hineingetrieben und sah unter der hohen Wolkendecke aschgrau aus. Die Planken krachten unter Rudys Stiefeln, als er auf den Anleger trat. Er blieb weit genug hinter Dawes stehen, um außer Reichweite von Köder und Angelhaken zu sein. Wie befohlen meldete er sich beim Sergeant Major. Dawes drehte sich immer noch nicht um. Er schnellte den Köder auf den Fjord hinaus. Die Schnur sirrte durch die Rutenringe. Flopp. «In der Meldung vom Wachhabenden», sagte Dawes, «also von Sergeant Genteen, steht, dass er Ihnʹn helfen wollte und dass Sie ihn angegriffen harn.» «Er hat mich angegriffen, Sergeant Major», sagte Rudy. «Er hat das hier zuerst getan.» Dawes drehte sich um. Er sah Rudy mit zusammen‐ gekniffenen Augen an und holte dabei seine Schnur ein. «Na ja», sagte er. «Ihr Gesicht sieht nich grad gepflegt aus. Sie be‐ haupten, das war Genteen?» «Er hat mich mit einem Bajonett rasiert, Sergeant Major. Und mich dafür gefesselt.» «Genteen hatte Wachdienst.» «Das weiß ich, Sergeant Major.» Der Schwimmer klickte gegen die Spitze der Rute. Dawes schleuderte ihn wieder hinaus. Flopp. Er begann zu kurbeln. «Genteen schreibt, er hat nichts und niemanden gesehn», sagte Dawes. «Natürlich nicht», sagte Rudy. «Sie behaupten also, er hat seinʹ Wachposten verlassen, is in Ihr Zimmer gekommen, hat Sie angegriffen, gefesselt und 118
trocken rasiert?» «Richtig.» Klick. Schwirr. Plopp. «Da war auch noch ʹne Schwester», sagte Dawes, «die ihre Abendmeldung gemacht hat. Die hat auch nichts gehört.» «Die ist wahrscheinlich erst nach dem Überfall gekommen. Ich habe ungefähr, ich weiß nicht, zwanzig Minuten ge‐ braucht, um mich so weit zu befreien, dass ich den Flur entlanglaufen konnte. Außerdem haben die beiden rum‐ gemacht.» Dawes unterbrach das Kurbeln. «Wer, Genteen und diese Krankenschwester?» Rudy nickte, und Dawes lachte auf. «Das is gut, Corporal. Sie sagen, der Wachhabende hat seinʹ Posten verlassen, Ihr Gesicht aufgeschlitzt und dann noch im Dienst mit ʹner Krankenschwester rumgemacht. Wolln Sie ihm nich noch ʹn bisschen Steuerhinterziehung anhängen?» Dawes kicherte vor sich hin, bis er bemerkte, dass seine Schnur sich verfangen hatte. Rudy sah zum Eisberg hinüber. Er wusste, dass seine Geschichte unglaubwürdig klang. Er wünschte, er hätte den Mund gehalten. «Ich will mich nich lustig machen, Corporal», sagte Dawes. «Aber wissen Sie, wie ich das seh? Ich seh ʹnen kleinen Kasernenkrach unter Soldaten. Da kann ich gar nich viel machen, außer ich streu noch Salz in die Wunden und verhäng Disziplinarstrafen und so. Aber verraten Sie mir eins: Wieso sollte Sergeant Genteen Sie unbedingt trocken rasiern wolln?» Rudy wusste nicht, ob er den Hintergrund aufklären sollte, und wenn ja, wie. Er tastete sich langsam vor. «Weil er glaubt, dass ich sein Eigentum beschädigt habe.» «Was für ʹn Eigentum?» «Sein Bajonett.» «Mit dem er Sie rasiert hat? Angeblich?» Dawes blieb geduldig. Rudys ausweichende Antworten schienen ihn 119
nicht zu stören. Er angelte weiter nach Informationen. Der König der Fischer. «Ja. Ich habe eine Scharte reingeschlagen.» «Na, und warum machen Sie ʹne Scharte in sein Bajonett?» Rudys Gesicht fing an zu kribbeln. Nicht nur an den rasierten Stellen, überall. «Weil», sagte Rudy, «weil er sich so bescheuert angestellt hat, als er mir den Mimeographen zur Herstellung der Stütz‐ punktzeitung aushändigen sollte. Er hatte schließlich den Befehl dazu.» «Haben Sie Ihren Mimeographen denn gekriegt?» «Ja.» «Und wie lange hatʹs gedauert, das Ding zu kriegen?» «Nicht lange.» «Wie lange?» «Fünf Minuten.» Dawes hielt die Rute ruhig und sah zum Himmel hinauf. «Tja, Corporal, da stecken wir wohl in ʹner Sackgasse.» «Hören Sie, Sergeant Major, Genteen und ich... also, man könnte sagen, das ist eine längere Geschichte zwischen uns.» «Eine längere Geschichte. So lang sind Sie doch noch gar nich hier. Wie lang kann die Geschichte denn wohl sein? Wie oft harn Sie schon mit Genteen geredet?» Rudy antwortete nicht. Dawes ruckte an seiner Schnur, wartete aber auf Rudys Antwort. «Einmal», sagte Rudy. Dawes pfiff durch die Zähne. «Ziemlich lange Geschichte.» Rudy trat von einem Fuß auf den anderen. «Corporal, wir befinden uns hier nich grad in der freundlichsten Umgebung.» Dawes nickte in Richtung der Berge. «Eis. Schnee. Dreck. Schaun Sie sich die verdammten Wasserfälle an. Schütten so viel Süßwasser in den Fjord, dass man gar nich mehr weiß, obʹs ʹn See oder das Meer ist. Schöner Mist fürs Angeln. Kaum Fische. Außer Lachsen, aber Lachse kommen hier auch nich 120
her, weilʹs keinen Fluss gibt, wo sie ihre Eier reinlegen können. Bloß die Wasserfälle da, und die sind zu steil. Schaun Sie mal, die fallen beinah senkrecht ab. Und das Flüsschen dahinten plätschert bloß so breit über die Felsen. Viel zu flach für ʹn Fisch. Was solln die Fische da machen?» Rudy sah sich die weißen Wasserfälle an, die von den Hängen und Klippen des Fjords stürzten. Sie waren wie Dutzende bleicher Arterien, die den Fjord mit farbloser Körperflüssigkeit versorgten. Dawes fuhr fort: «Ich will ja gar nich billigen, was passiert is. Aber ich glaub einfach, dass ich nich viel machen kann. Sie sagen, Genteen warʹs, aber es gibt keine Zeugen und keine Beweise. Die Zeugen sagen, Genteen war der Erste und Einzige, der Ihnen helfen wollte. Ich find, Sie lassen das Ganze einfach auf sich beruhen, dann geht Ihre Zeit hier auch schneller rum.» «Das ist alles?», fragte Rudy. «Die Sache auf sich beruhen lassen?» Dawes nickte. «Ganz genau. Lassen Sieʹs ruhen.»
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DREIZEHN Zuerst war nicht auszumachen, wo das Geschützfeuer herkam und wo die Geschosse einschlugen. Der erste Schuss hatte Rudy aus dem Bett gerissen. Noch im Halbschlaf kroch er zum Fenster und spähte hinaus. Er sah nichts Ungewöhnliches– keine Granatentrichter, keinen Rauch–, nur eine Menschenmenge, die am hinteren Ende des Lazaretts stand. Wie die Zuschauer eines Golfturniers drehten sie alle gleichzeitig den Kopf, als erneut Geschützdonner über den Fjord rollte. Die Bergwände warfen den Knall der Detonationen in alle Richtungen zurück. Die Menge jubelte und zeigte aufs Wasser. Rudy zog sich rasch an und eilte nach draußen. Auf dem Exerzierplatz, zwischen dem Hospital und der Bucht, 122
standen vier Lazarettzelte. Die Seitenwände waren hochge‐ rollt und festgebunden. Soldaten schlenderten zwischen den Zelten umher. Zwischen zwei Zeltstangen hing ein handge‐ maltes Transparent: GELAGE ZUR MITTERNACHTSSONNE! Während Rudy noch das Transparent betrachtete, krachte ein weiterer Schuss. Das Geschütz stand ein paar hundert Meter weiter die Straße hinauf, in Richtung der Feuerwache. Es war eine Haubitze, gezogen von einem Jeep. Der Lauf zeigte über das Lazarett hinweg aufs Wasser. Unten am Ufer zerplatzte ein Teil des gestrandeten Eisbergs in einer weißen Explosion. «Jaaah!», jubelte die Menge. Eissplitter regneten ins Wasser. Kra‐wumm! Ein weiterer Schuss. Rudy hätte geschworen, dass er die Granate über seinen Kopf zischen hörte. Sie klatschte jenseits des Eisbergs ins Wasser. «BUUUUH!», zeterten die Zuschauer. «Ihr seid doch Penner!» Petri brüllte vom Rand der Menge in Richtung der Haubitze. Er hatte schon ein Bier in der Hand. Rudy überlegte gerade, in welcher Form er in der Zeitung über das Gelage berichten könnte, als ein weiterer Schuss losging. Die Spitze des Eisbergs verschwand in einer Wolke aus Rauch und Splittern. Jetzt jubelten die Männer wieder. Von den Zelten unten hörte man lautes elektronisches Knistern und Knacken, dann pustete jemand ins Mikrophon. «TEST ... TEST ... MATTHÄUS, MARKUS, LUKAS UND JOHANNES ... TEST. TEST.»
«Der Kaplan macht wohl einen Soundcheck», sagte Petri. «Haben Sie auf den Kampf gewettet?» «Noch nicht», sagte Rudy. «Setzen Sie auf den Nigger», riet Petri. «Was haben die Schweden für ʹne Ahnung vom Preisboxen? Der einzige Preis, den sie haben, ist der Nobelpreis, und das ist ein Friedenspreis. Denken Sie mal drüber nach. Und holen Sie sich ein Bier.» 123
Petri drehte sich um und beschimpfte lauthals die Geschützbesatzung, die gerade dabei war nachzuladen. Unten bei den Zelten begann das Saufgelage. Unter den Zeltdächern standen Tischreihen und Stühle. Milchige Brocken Gletschereis, von der Haubitze zermalmt, kühlten die Bierdosen in Blechwannen. Neben jeder Wanne waren Bierkisten gestapelt. Zwischen den Zelten war eine Grube ausgehoben, über der mehrere Köche einen Moschusochsen grillten. Die mächtigen Fleischstücke drehten sich langsam über einem Feuer ausbrennenden Frachtpaletten. Ein Koch bespritzte das Fleisch mit Grillmarinade, die er aus einem Feuerlöscher pumpte, den er auf dem Rücken trug. Hinter Rudy erscholl eine dröhnende Stimme. «Spruance! Schön, Sie bei der Arbeit zu sehen.» Die Köche salutierten hastig, aber der Colonel winkte ab. «Rührt euch! Rührt euch den ganzen Tag und die ganze Nacht, verdammt», sagte er. «Das ist eine Party hier. Und natürlich ein Sportereignis. Wie siehtʹs mit Ihrer Sportbe‐ richterstattung aus, Spruance?» Er schob sich die Ärmel hoch und nahm einem Koch die langstielige Bratengabel aus der Hand. Der Colonel trug ein Footballtrikot der University of Arizona und eine Trappermütze aus Waschbärenfell. Er beugte sich über das Feuer, stach mit der Gabel in den Ochsen und sah zu, wie das Fett in die Flammen troff. «Ganz gut, Sir.» «Hervorragend. Denn um zwölf Uhr mittags startet das Große Zecher‐Rennen.» Er grinste Rudy an: Sein Gesicht glühte vor Erregung, oder vielleicht auch von ein paar frühen Bieren. Der Colonel ließ die Gabel im Fleisch stecken und bedeutete Rudy, ihn zu begleiten. «Ich will, dass Sie schreiben, wie sehr ich mich über die Mithilfe von allen Einheiten bei der Vorbereitung dieser Festivität freue, und dass ... ach, Scheiße, Ihnen wird schon was Gutes einfallen, was ich gesagt habe. Alles klar, Soldat?» 124
«Sicher, Sir.» «So istʹs recht. Wozu haben wir denn die Sache mit der Zeitung in Gang gesetzt?» «Für die Moral», sagte Rudy. «Und für die Kommuni‐ kation.» «Meine Idee.» «Genau, Sir.» «Und genau darum machen wir das.» Der Colonel schwenkte den Arm in Richtung der vier Zelte. «Das muss man ihnen geben», sagte er und nickte hinüber, «weil wir alle mit dem hier leben müssen.» Und er zeigte auf das Hauptgebäude des Stützpunkts, die schmuddeligen Wände und das wahllose Durcheinander von Anbauten. Rudy schaute über die Gebäude hinweg auf die Schuppen und Baracken, die im Tal verstreut lagen, auf den Metallschrott und Militärmüll in der Tundra, die grauen, kahlen Berge und das Eis. «Ist schon alles ziemlich deprimierend», sagte Rudy. «Das alles meine ich gar nicht, Soldat», bellte der Colonel. «Bloß das da.» Er deutete zum entfernten Ende des Lazaretts, zum Flügel. «Sind Sie schon drin gewesen?», fragte der Colonel. «Nein, Sir.» «Sie haben Zutritt.» «Ja, Sir.» «Gehen Sie rein.» «Jetzt, Sir?» «Nein. Nicht jetzt, Herrgott. Jetzt sollen Sie sich amüsieren. Ihren Schwächen nachgeben. Gehen Sie rein, wenn Sie sich stark fühlen. Ihr Gesicht sieht übrigens fast wieder vorschriftsmäßig aus. Aber das blaue Auge haben Sie nicht von den Mücken.» «Ich bin im Dunkeln gegen eine Tür gerannt, Sir.» «Aha», sagte der Colonel. «Das kommt hier öfter vor. Besonders im Winter. Die Totale Umnachtung nennen wir 125
das. Die Leute rennen gegen Türen. Sozusagen.» Er ging weiter. Rudy blieb stehen und sah weiter zum Flügel hinü‐ ber. Er hatte nur noch ein paar Pflaster im Gesicht; die Kratzer waren fast ganz verschwunden; das Veilchen war nur noch ein blasser Halbkreis. «Hab von Ihrer kühnen Rettungstat gehört», sagte der Colonel. «Wollen Sie das auch in der Zeitung bringen?» «Sir?», rief Rudy. Der Colonel sah sich überrascht um. Er hatte angenommen, dass Rudy ihm gefolgt sei. Er hob die Stimme. «Wie Sie Sergeant Teal draußen in der Tundra gerettet haben, Corporal. Beeindruckend.» «Ach,na ja –» «Ich rette Sie vor ein paar Mücken, Sie retten meine Adjutantin vor einem Bären. Wollen Sie mich übertrumpfen, Spruance?» Er schlenderte dorthin, wo Rudy stand. «Nein, Sir.» «Gut. Nächster Punkt: Kampf.» Der Colonel blieb direkt vor Rudy stehen. Rudys Herz stockte. «Sir?» «Der Schwergewichtskampf, Corporal. Haben Sie schon gewettet?» «Nein, Sir.» «Für wen sind Sie?» Rudy hatte noch kaum darüber nachgedacht, also hielt er sich an Petris Tipp. «Patterson, Sir.» «Ich setze auf den Schweden», sagte der Colonel. «Hat eine mörderische Rechte. Man nennt sie den Hammer des Thor.» Er hob seine eigene rechte Faust und betrachtete sie mit einem Ausdruck der Zufriedenheit. «Ich habe gehört, dass er 52 bei den Olympischen Spielen in Helsinki disqualifiziert wurde, weil er zum Kampf nicht aufgetaucht ist», entgegnete Rudy. «Es heißt, er sei faul.» «Das war vor seiner Profizeit. Jetzt meint erʹs ernst», sagte der Colonel. «Wie wärʹs also mit einer Wette? Eine schöne 126
Wette ist doch was Feines.» «Ich weiß nicht, Sir.» «Na los, wo ist Ihr Sportsgeist? Ich habe schließlich Ihren Arsch vor den Mücken gerettet.» «Mir ist klar, dass ich Ihnen dafür was schulde, Sir.» «Na, dann tun Sie mir den Gefallen und wetten Sie mit mir. Setzen Sie Geld auf Ihren Mann.» «Wie viel?», fragte Rudy. Er dachte an fünf oder zehn Dol‐ lar. «Hundert», sagte der Colonel. Rudy verschluckte sich. «Sir, ich verdiene nicht viel.» «Sie haben Recht. Vergessen Sieʹs», sagte der Colonel. Er wandte sich ab. «Weitermachen.» Diese schnelle Entlassung hatte etwas derart Beleidigendes, dass Rudy hinter dem breiten Rücken des Colonel herrief: «Ach, scheiß drauf, Sir, warum nicht?» Der Colonel drehte sich um und lächelte. «Corporal, Sie haben Mumm.» Und sie schlugen ein. Rudy bereute die Wette sofort. Der Colonel marschierte pfeifend davon, die Hände in den Taschen. Jetzt fühlte Rudy sich an ihn gekettet, ob er nun gewann oder verlor. Er setzte sich auf einen Felsbrocken. Der Colonel sah zum Himmel auf, als ein weiteres Geschoss durch die Luft heulte. Er hätte ebenso gut im Park einer Grasmücke hinterherschauen kön‐ nen. Die Granate schlug genau in der Mitte des Eisbergs ein. Rudy blieb allein sitzen. Das Knistern des Verstärkers und das Rauschen des Kurzwellenempfängers wehten vom Zelt herauf. Er schaute hinüber und sah Lavone auf sich zu‐ stapfen, der sich sichtlich außer Atem neben ihm niederließ. «Was hatte der Kaiser dir zu sagen?», fragte Lavone. Rudy erzählte von der Wette. «Uiuiui.» Lavone verzog das Gesicht. «Warum hast du eingeschlagen?» «Keine Ahnung», sagte Rudy. «Liegt vielleicht an seinem 127
einnehmenden Wesen. Oder an seinem Rang.» Rudy wollte nicht darüber nachdenken, ob es etwas mit Irene zu tun hatte. «Ja, der Alte wettet wirklich zu gern», sagte Lavone. «Was sollʹs. Vielleicht gewinnst du ja.» Aus den Lautsprechern erscholl Rock ʹnʹ Roll. Rudy ging mit Lavone zu einem der Zelte, wo die Köche eine Ausgabestelle eingerichtet hatten. Für alle, die nicht auf den Moschusochsen warten wollten, lagen Würstchen in heißem Wasser bereit. Rudy und Lavone setzten sich an einen Tisch. Um sie herum schütteten die Teilnehmer des Zecher‐Ren‐ nens Milch in sich hinein, um ihre Mägen für das anstehende Besäufnis vorzubereiten. Jedes Team bestand aus etwa einem Dutzend Männern, hier und da ergänzt durch eine der kräftigeren Kranken‐ schwestern. Das Rennen war eine Art Schnitzeljagd: Die Mannschaften mussten an verschiedenen Stationen im Tal nach Hinweisen suchen und dabei jedes Mal Bier trinken. Die Regel lautete «Ohne Drink kein Wink». Ein Mechani‐ kerteam hatte sich die Schädel kahl rasiert und «ENDSTA‐ TION SUFF» daraufgemalt. Auch Genteen war unter ihnen. Der geschorene Schädel wirkte winzig auf seinen breiten Schultern. Sein Kopf war ebenso eiförmig wie sein Bier‐ bauch. Rudy und Lavone traten aus dem Esszelt, um den Start zu beobachten. Colonel Woolwrap stand mit gezogener .45er Automatik auf der Rückbank eines Jeeps. Er erklärte den Teams, die schnaubend und hüpfend an der Startlinie standen, die Spielregeln. Er hielt den Siegerpreis hoch: eine golden lackierte Bettpfanne. «Und für alle Teams», dröhnte er, «die nicht Erster wer‐den ... zwei Wochen Extradienst hier in Grönland!» Die Wettkämpfer brüllten, jubelten und buhten. Der Colonel feuerte in die Luft, und die etwa sechzig 128
Starter drängelten und schlitterten über den Schotter des Exerzierplatzes zum anderen Ende, wo fünf weibliche Armeeangehörige ihre Mantel abwarfen und sich in Badeanzügen präsentierten. Die Frauen nahmen Pin‐up‐ Posen ein und hielten den Mannschaften Zettel mit einem ersten Hinweis entgegen. Als die rennende Meute sie er‐ blickte, schrien alle verzückt auf. Eine der Frauen war Irene. Hinter den Teams holperte der Jeep des Colonel an Rudy und Lavone vorbei und steuerte auf den Hügelkamm ober‐ halb des Stützpunkts zu. Rudy marschierte los, quer über den Exerzierplatz. «He, wo willst du hin?», rief Lavone. «Bin verabredet», sagte Rudy, ohne sich umzudrehen. Er konzentrierte sich ganz auf Irene, die den Startern Bierdosen hinwarf, als fütterte sie Hunde mit Knochen. Als Irene Rudy kommen sah, hatten die meisten Teil‐ nehmer ihr Bier bereits ausgetrunken, die Dosen fallen gelas‐ sen und waren zur nächsten Station aufgebrochen. Irene schlüpfte wieder in Mantel und Stiefel, winkte den anderen Frauen zu und kam Rudy entgegen. Sie zog ihre Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. Ihre Schnürsenkel schlenkerten ihr um die Füße. Als sie beieinander standen, bot sie ihm einen Zug an. Er rauchte fast nie, griff trotzdem zu und spürte die seidigen Reste ihres Lippenstiftes auf seinen Lippen. «Ich hätte nicht gedacht, dass du hier mitmachst», sagte er. Er blies den Rauch aus, den der Wind ihm zurück in die Augen wehte. «Die Mädels meinten, das würde ein großer Spaß», sagte sie. «War das deine Idee?», fragte er. «Ja, war es», sagte sie und lächelte, doch ihre Augen ver‐ engten sich. Ihr spröder Ton brachte Rudy durcheinander. Doch Irene strich über das Pflaster an seinem Hals. «Beim 129
Rasieren geschnitten?», fragte sie mit wärmerer Stimme. «Sieht so aus», sagte er. «Ich habe gehört, du hattest nächtlichen Besuch von einem Barbier», sagte sie. Rudy nickte. Irene strich über seinen Ärmel. Sie sagte nichts, drückte aber kurz seinen Arm – eine kleine, plötzliche Geste des Mitgefühls. Diese Berührungen waren erregend, zerrten aber auch an seinen Nerven. Wurden sie beobachtet? Rudy schaute sich um. Überall GIs, aber die waren mit Feiern beschäftigt. Die anderen Frauen gingen auf eines der Bierzelte zu. Der Jeep des Colonel war nirgends zu sehen. «Komm mit», sagte sie. Rudy folgte ihren langen Schritten. Er fragte sie, wieso Frauen Badeanzüge einpackten, wenn sie in Grönland stationiert würden. «Die haben wir nicht eingepackt», antwortete Irene über die Schulter. «Lane hat sie einfliegen lassen.» «Bloß hierfür?» «Klar», sagte Irene. «Er ist ein echter Entertainer.» «Offensichtlich», sagte Rudy und spürte ein Brennen in der Brust. «Wie ist es denn, für ihn zu arbeiten? Oder mit ihm? Oder wie auch immer du das nennst.» «Gut», sagte sie. «Was auch immer du meinst.» Sie warf ihm einen kurzen, scharfen Blick zu und ging weiter. Als sie am Anleger angekommen waren, nahm Irene den letzten Zug von ihrer Zigarette. Sie bückte sich und tauchte den Rest ins Wasser, zerlegte die Kippe dann feldgerecht und steckte den Filter in die Manteltasche. Genau wie der Mann in Zivilkleidung mit dem Bürstenschnitt es getan hatte. «Eine Frau habe ich das noch nie machen sehen», sagte Rudy. «Hat meine Ma mir beigebracht», sagte Irene. «In den paar 130
Monaten, als wir Uran gesucht haben. Sie war sehr pingelig, wenn es darum ging, keine Spuren zu hinterlassen.» «Hatte sie Angst vor Trittbrettfahrern, die ihr womöglich den Claim streitig machen?» Irene lachte. «Nein. Sie meinte bloß, Rauchen gehöre sich nicht für eine echte Dame, und wenn ich schon mit ihr rauchen wolle, dann dürften wir wenigstens keine Spuren hinterlassen.» Irene trat auf den Ponton. Rudy folgte ihr. Vor ihnen erstreckte sich das Panorama des Fjords: blauschwarzes Wasser, die Bergkette, grauer Himmel, ein Rest des zerschossenen Eisbergs. Am Ende des Anlegers warf Irene ihren Mantel ab und stieg aus ihren Stiefeln. Dann vollführte sie einen eleganten Kopfsprung und tauchte ins Wasser ein, in dem sie spurlos verschwand. Kurz darauf brach sie mit einem Schrei durch die Ober‐ fläche und schwamm schnell wieder zur Leiter zurück. «Du bist ja verrückt», sagte Rudy, der ihr ihren Mantel entgegenhielt. Ihre Zähne klapperten, und sie hatte eine Gänsehaut, so rau und weiß wie genarbtes Fensterglas. Er wickelte den Mantel um sie und konnte nicht anders, als auf ihre Brüste zu schauen, von denen Wassertropfen perlten. Er sah die kleinen Härchen, die sich auf ihren geröteten Schenkeln aufgerichtet hatten. Sie war nicht länger biegsam und beweg‐ lich, sondern verkrampft. Er drückte den Mantel fest an ihren Körper, bevor er sie losließ. Sie nickte dankbar. Der Geruch von gebratenem Fleisch wehte zum Anleger herunter. Dazu trug der Wind einen Song von Frankie Avalon und wüstes Geschrei der Feiernden in ihre Richtung. «Wenn man wieder draußen ist, fühlt man sich toll», sagte Irene mit klappernden Zähnen. Rudy blickte zu den Zelten und dann wieder zu Irene. Sie neigte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durchs nasse 131
Haar. Er zog seine Brieftasche aus der Hosentasche und drückte sie ihr in die Hand. Hüpfend und schlitternd schnürte er seine Stiefel auf und konnte sie gerade noch ausziehen, bevor er bis zum Ende des Anlegers gestolpert war. Er wusste, dass seine Eingebung schmerzhafte Folgen haben würde, aber das war ihm egal. Es galt, eine spontane Verrücktheit zu begehen. Er warf Mütze und Jacke ab und sprang. Er versuchte gar nicht erst, schnittig ins Wasser zu gleiten, sondern umfasste seine Knie und machte eine Arschbombe. Das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Die Kälte schien nach ihm zu greifen, ihn nach unten und vom Ufer weg zu ziehen, während er sich zur Leiter zurückkämpfte. «Oh Gottogottogott», bibberte er, als er die unterste Sprosse erreichte. Irene applaudierte. Er kletterte auf die Planken, zog sich schnell wieder an und trottete tropfnass und zitternd zum Ufer zurück. Oben bei den Zelten sahen sie einige Soldaten aufs Wasser deuten. Sie drehten sich um und sahen vom äußersten kahlen Ende des Fjords etwa ein Dutzend Boote – Kajaks, Ruderboote, Ausleger – näher kommen. «Inuit», sagte Irene. «Die kommen von ihrer Siedlung draußen an der Davisstraße.» Von der kleinen Flotte drangen unverständliche Gesänge übers Wasser: eine Art rhythmisches Stöhnen im Takt der Paddelschläge. Auch die Soldaten in den Zelten hatten zu singen begon‐ nen. Sie hämmerten auf die Klapptische und grölten um die Wette. Einige hatten sich sogar untergehakt und schunkelten, als wären sie in einer deutschen Bierhalle. Sie schmetterten Limericks und Marschlieder, die sich zu einer dröhnenden Kakophonie vermischten. Rudy sah Irene an. Ihr Haar war noch feucht, ihre roten Wangen leuchteten. Sogar ihre Sommersprossen hatten Farbe bekommen. 132
Kreischend sprang der Verstärker wieder an. Der Rock ʹnʹ Roll erscholl jetzt mit doppelter Lautstärke. «Der Kaplan wollte wohl mal wieder richtige Musik hören», rief Rudy. Aber Irene sah auf die Tundra hinaus, durch die der Jeep des Colonel heranbrauste. Woolwrap hielt sich an der Windschutzscheibe fest und feuerte eins der Zecher‐Teams an. Im Fahrtwind stand der Schwanz seiner Trappermütze waagerecht in der Luft. Rudy sagte zitternd, er müsse sich umziehen, und Irene forderte ihn auf, ihr zu folgen. Sie rannten zum Lazarett und stürmten durch den erstbesten Eingang. Als die Tür sich hinter ihnen schloss, war vom Gelage fast nichts mehr zu hören. Rudys Uniform war völlig durchnässt, und um seine Füße bildete sich eine Pfütze. «Sehen wir uns nachher wieder?», fragte er. «Sicher», antwortete Irene. Keiner von beiden bewegte sich. Sie waren allein in dem Gebäude. Rudy überlegte, ob er einen Vorstoß wagen sollte. Irene brach das Schweigen. «Wir treffen uns im Korridor Delta.» Rudy sagte, er werde da sein. Dann schlappte sie mit offenen Stiefeln und wehenden Mantelschößen den Flur hinunter. Der Korridor Delta führte zu den Frauenquartieren und endete an einer Abzweigung, nicht weit vom Durchgang zum Flügel. Rudy wartete dort. Inzwischen war ihm wieder warm und wohl, sein Haar war gekämmt, er trug trockene Kleidung. Er hörte Schritte und metallisches Klappern. Ein schwarzer Sanitäter kam den Gang entlang, ein Corporal wie Rudy. Er schob einen Transportwagen vor sich her, an dem ein Rad eierte. «Gar nicht beim Gelage, Soldat?», fragte er im Vorbeigehen. «Geh gleich hin.» 133
«So istʹs recht.» Rudy sah, dass sich auf dem Wagen Einlaufbeutel und Gummischläuche türmten. Der Wagen bog um die Ecke und klapperte den Flur hinunter. Rudy hörte, wie der Sanitäter die Tür zum Flügel aufschloss und sein Gefährt hindurchschob. Er lief bis zur Abzweigung, um einen Blick in den Flügel zu erhaschen, doch als er um die Ecke spähte, fielen die Türen gerade wieder ins Schloss. Zuerst die äußere, dann die innere. Das gedämpfte Rattern war auch von drinnen noch zu hören. Rudy sah sich um. Hier war er noch nie gewesen. Ein paar Ausgaben der Harpoon lagen auf einem Klappstuhl. TITELKAMPF RÜCKT NÄHER ...
Er faltete die Zeitungen zusammen und steckte sie in die Tasche. Er mochte es nicht, wenn Ausgaben der Harpoon ungelesen herumlagen. Durch ein schmales Flurfenster sah er draußen dunkle Gestalten zu den Zelten stürmen und sich dort versammeln. Eine Gruppe heulender GIs torkelte durchs Bild. Ein Zecher‐ Team auf der Zielgeraden. Rudy schlich zur Tür, die in den Flügel führte, und drückte behutsam: sie war verschlossen. Er drehte sich um und erblickte Irene, die ihn von der Abzweigung aus beobachtete. Sie trug wieder die Kombination aus Frauenuniform und Schwesterntracht. Durch die Wände drang der dumpfe Knall der Haubitze. «Das Rennen ist zu Ende», sagte Irene. «Jetzt geht die Party richtig los.» Rudy schwieg. «Du wolltest reingehen», sagte Irene. «Ich will es sehen», sagte er. «Jetzt?» Rudy nickte. Es war alles ihretwegen. Die Wette mit dem 134
Colonel, der Sprung in den Fjord, jetzt hier mit ihr am Eingang zum Flügel zu stehen. Gehen Sie rein, wenn Sie sich starkfühlen. Jetzt fühlte er sich stark. Oder verrückt. Es war die gleiche heimliche Trotzigkeit, die ihn auf der Suche nach Zugehörigkeit in leer stehende Häuser getrieben hatte, die ihn aus seiner Eremitenpanik gerissen und ihm eine Art Frieden geschenkt hatten, und wenn schon nicht Frieden, dann wenigstens vorübergehend etwas angespannte Ruhe. Ihm war, als würde er in sein eigenes Ich einbrechen. Und sie war dabei. Deshalb fühlte er sich stark. Oder verrückt. Draußen knallte es noch einmal. Ohne ein Wort kam Irene auf ihn zu und zog ein Schlüsselbund aus der Tasche. Rudy trat zur Seite, und sie schloss die Tür auf. Er versuchte ihre Gefühle zu ergründen, aber sie blieb undurchschaubar. Sie wirkte nüchtern und distanziert, als würde sie ihm bloß einen Wäscheschrank aufschließen. Er trat durch die Tür in einen Vorraum, in welchem Tragen, Infusionsständer, Wagen aus emailliertem Metall und Rollstühle abgestellt waren. Irene drückte auf den Knopf einer Gegensprechanlage. «Teal und Spruance», sagte sie. Die Türen am anderen Ende klickten. Irene nickte Rudy zu, er solle hindurchgehen. Der Raum, den er betrat, war lang, so lang, wie der ganze Flügel von außen wirkte. Während er darauf vorbereitet war, einen Saal voller Krankenbetten mit jeweils einem Patienten darin zu sehen, zog etwas ganz anderes seine Aufmerk‐ samkeit auf sich. Er hatte einen Raum mit glatten Wänden, lindgrünem Anstrich, Chrom und Glas erwartet, Streckver‐ bände, Infusionen und medizinische Schläuche; einen Krankensaal, so funktional wie ein Laderaum. Als er aber durch die Türen trat, fielen ihm zuerst die Eichenvertäfe‐ lung und das Dämmerlicht der Tiffanylampen auf.
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VIERZEHN Die Männer, die Rudy zuerst sah, hatten keine Augen. Entweder waren ihnen die Köpfe verbunden, oder trans‐ plantierte Haut gab dem, was von einem Antlitz übrig war, ein rosig‐marmoriertes Aussehen. Große Teile der Schädel schienen mit einem Löffel entfernt worden zu sein. Sie sahen aus wie unvollendete Büsten aus Knetgummi, die ein wütendes Kind einsedellt, zerdrückt, platt gehauen hatte. Statt einer Nase hatten sie alle nur noch Löcher im Gesicht: manchmal zwei, oft nur noch eins, eine große, verbreiterte Öffnung. Die meisten augenlosen Schädel hatten auch kein Kinn: die Gesichter, oder was davon übrig war, endeten am Oberkiefer, in dem noch ein oder zwei Zähne steckten, und Versorgungsschläuche führten durch einen Klumpen Ver‐ bandmull in den Rachen. 136
Farbiges Fensterglas dämpfte das Licht, das vom Himmel und von den Bergen draußen hereindrang. Schwere Vor‐ hänge und fahle weiße Gardinen bekleideten die Fenster. Die Vertäfelung war kein billiges Furnier, sondern echtes Holz: massive, dunkel gemaserte Eiche. Die sechs Tiffanylampen, die über dem Mittelgang an Ketten aufgehängt waren, warfen jeweils einzelne Lichtkreise auf den Fußboden; der Rest des Raumes lag im Halbdunkel. Manche Männer hatten gar keine Gliedmaßen. Die meisten Patienten, die Rudy sah, besaßen einen Rumpfund Teile des Kopfes – und sonst fast nichts. Viele der Männer waren nicht größer als eine Reisetasche. Die Luft hing schwer im Raum, wie in einer alten Bibliothek oder einem Clubzimmer, allerdings roch sie hier anstatt nach Pfeifenrauch, Leder, gereiftem Kognak und altem Pergament nach gebleichter Wäsche, Bohnerwachs, menschlichen Ausscheidungen und den bitteren Aromen von Medikamenten und Desinfektionsmitteln. Von irgendwoher erklang ein Stöhnen – ein leises Ge‐ räusch, fast nur ein Seufzen, wie das Gurren einer Taube. Rudy konnte nicht ausmachen, woher es kam. Das Stöhnen verebbte wieder, und nur das ferne Summen des Generators war noch zu hören. Mitten im Saal stand ein achteckiges Häuschen aus Holz und Glas, etwa drei Meter im Durchmesser. Im Licht der Schreibtischlampen mit grünen Glasschirmen, wie man sie in Banken findet, sah Rudy den schwarzen Sanitäter und eine Krankenschwester Karten spielen. Ohne auf Irene zu achten, ging Rudy den Gang entlang. Auf beiden Seiten standen normale Lazarettbetten in einzelnen Nischen, durch niedrige Holzwände voneinander getrennt. Wegen dieser dunklen Abtrennungen sah jede Nische wie der Zeugenstand eines alten Gerichtssaals aus. An den Krankenbetten standen medizinische Geräte. Fla‐ schen und Infusionsbeutel hingen an Ständern oder Bettge‐ 137
stellen; jeder Patient hing an einem Tropf, und aus beinahe jeder Körperöffnung ragten Schläuche. Rudy schritt durch die Lichtkegel. Hier und da waren die Vorhänge nicht ganz zugezogen, sodass dämmeriges, bräun‐ liches Tageslicht hereinfiel. Irenes Schritte folgten ihm, doch bald schon hörte er noch etwas anderes. Ein Geräusch begleitete sie beide den Gang entlang, das klang, als ob sie etwas hinter sich herschleiften. Ein verwischtes Raunen, das ihnen wie eine Welle folgte. Rudys Nacken versteifte sich, als ihm klar wurde, was er hörte. Die Körper riefen nach ihm. Sie zischten durch die Löcher ihrer Luftröhrenschnitte oder röchelten mit den Resten ihrer Zungen und Gaumen, als Rudy und Irene vorübergingen. Auch wenn sie nichts sehen konnten, spürten die Verstümmelten offenbar ihre Anwe‐ senheit. Sie riefen leise, es war kein Weinen oder Klagen, bloß ein Raunen, wie der Klang einer weit entfernten Brandung, wie das Wasser, das nach dem Land ruft. Ohne es zu merken, hatte Rudy den gesamten Flügel durchquert und war jetzt am anderen Ende angekommen. Bleierne Müdigkeit überkam ihn, und er musste sich an der Wand abstützen. Irene stand neben ihm. Im Wachhäuschen tänzelte der schwarze Sanitäter und boxte in die Luft– wahrscheinlich demonstrierte er der Schwester die Feinheiten des Titelkampfes zwischen Patterson und Johansson. Irene berührte Rudys Wange. Er schaute ihr in die Augen und erinnerte sich, wie er sie zum ersten Mal an der Tür seines Zimmers gesehen und beobachtet hatte, wie sie ihrerseits seine Reaktion prüfte, an ihm interessiert war. Und auch jetzt sah sie ihn aufmerksam an und legte ihm noch dazu die Hand an die Wange. Mit dem Daumen streichelte sie seine Schläfe. Rudy ließ seine Hände in den Hosen‐ taschen. Sie waren so schwer, dass er sie nicht bewegen konnte. «Hat er das so eingerichtet?», flüsterte Rudy. 138
Irene nickte. «Früher sah es hier so aus, wie man sich ein Lazarett vorstellt», sagte sie. «Lane hat ein paar gute Bezie‐ hungen genutzt und besorgt, was er kriegen konnte. Über seine Quartermaster‐Kontakte.» «Sehr seltsam», sagte Rudy. «Der Flügel?» Er nickte. «Natürlich», sagte Irene. «Andererseits ...» Rudys Stimme verebbte. Ganz leise hörte er den Partylärm. Es klang wie ein Hornissennest in der Wand. «... möchte man am liebsten hier bleiben», sagte er. «Es ist so anders als der Rest.» «Das ist gar nicht so seltsam», sagte Irene. «Manchmal komme ich einfach her, um hier zu sitzen. Andere machen das auch. Das ist die Wirkung des Flügels.» Sie strich ihm mit dem Handrücken über die Lippen. Sein Atem zitterte von ihrer Berührung und ihrem Geruch. «Bleib hier», sagte sie. «Ich treffe dich später draußen wieder.» Rudy sah ihr nach, als sie zum Ausgang ging. Sie winkte dem Sanitäter und der Schwester durch die Scheibe zu. Sie winkten zurück und widmeten sich dann wieder ihren Spielchen: der Sanitäter versuchte, der Schwester Sparring beizubringen. Sie lachten, aber Rudy konnte nicht verstehen, was sie redeten. Der Colonel musste gewusst haben, was er tat, als er den Flügel so ausstattete. Rudy überkam ein unerwartet fried‐ liches Gefühl. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen. Vor ihm waren auf beiden Seiten Männer in Betten aufgereiht, durch Holzwände abgetrennt. Schon seit Jahren fristeten sie hier ihre Existenz. Sie kamen von der anderen Seite der Welt, aus grauenhaftem Lärm und Schmerz. Ihre furchtbaren Verwundungen rührten von Landminen, Flammenwerfern und dem Feuer von Heckenschützen her. 139
Manche dieser Männer waren wahrscheinlich von ameri‐ kanischen Waffen verstümmelt worden, die versehentlich ihre eigenen Stellungen getroffen hatten. Davon hatte Rudy gehört. Krieg ist Chaos, hatte sein Vater gern gesagt. Aber es fiel ihm schwer, sich das Chaos vorzustellen, denn hier schien alles so beruhigend, machte ihn schläfrig und schwer. Er dachte: Die Männer hier haben sich auch mal so gefühlt. Der Schock. Dieses Abgleiten und Loslassen, weg vom Schmerz und von der Furcht. Spüre ich das jetzt auch?, fragte er sich. Kannte der Colonel das Gefühl? Wie diese Männer sich in ihren letzten wachen Augenblicken gefühlt hatten, vor fast einem Jahrzehnt in Korea? Und hatte er ihnen hier in Grönland einen Ort geschaffen, an dem sie in Erinnerung dessen, was sie gewesen waren, bevor ihnen Schreckliches zugestoßen war, ihrer Erlösung entgegen‐ dämmern konnten? Rudy merkte gerade, dass er selber in eine Art Schockzu‐ stand glitt, als die Tür am anderen Ende der Station geräuschvoll aufging und zwei Sanitäter mit einer Kranken‐ schwester hereinkamen. Sie bogen um das Häuschen in der Mitte, und Rudy erkannte die Schwester, die er in der Nacht bei Genteen gesehen hatte. Sie war größer als die beiden Männer. Alle drei lachten über irgendetwas. Sie bemerkten Rudy erst, als sie fast über ihn stolperten. Die Schwester grüßte knapp, während die beiden Sanitäter zu einem leeren Bett gingen. «Gar nicht einfach, heute zwei nüchterne Soldaten für ein Begräbnis zu finden», sagte sie. Ihre heisere, rauchige Stimme klang seltsam entfernt, als redete sie an Rudy vorbei. Er fragte sich, ob sie ihn erkannte. Die Sanitäter lösten am Bett verschiedene Schläuche und wickelten das obere Laken um einen Körper. Rudy hatte das Bett für leer gehalten, hatte den winzigen Leichnam gar nicht bemerkt. «Welches Fenster?», fragte einer der beiden. Er hielt den 140
Toten wie ein schlafendes Kind. Der andere blickte nach draußen. «Das letzte», sagte er und zeigte auf ein Fenster, an das ein Jeep rückwärts heran‐ gefahren war. Ein Gefreiter lehnte am Fahrzeug, rauchte und trank Bier. Die Schwester öffnete das Fenster und rief ihm zu: «Könntest du mal mit anfassen?» Er warf die Bierdose weg, rülpste und kam zum Fenster geschlurft. Drinnen erklangen vom Häuschen her die klagenden Töne einer Mundharmonika. Der schwarze Sanitäter war aus dem Schwesternzimmer getreten und spielte den Zapfenstreich. Durch das offene Fenster mischte sich der Lärm des Gelages in die Melodie. Der Colonel verkündete über die Sprechan‐ lage die Gewinner des Zecher‐Rennens. Die Schwester und die Wachsoldaten reichten den Körper durchs Fenster nach draußen. Der Gefreite bettete ihn sanft auf die Ladefläche des Jeeps. Alle Anwesenden– Rudy, die Schwester, die Wachhabenden, sogar der Fahrer des Jeeps– nahmen Haltung an, bis die Mundharmonika schwieg. Als der Zapfenstreich vorüber war, löste einer der beiden Sanitäter den Schlauch vom Tropfund legte die medizini‐ schen Gerätschaften auf einen Wagen, der in Rudys Nähe stand. «Warum habt ihr ihn durchs Fenster nach draußen geschafft?», fragte Rudy. «Tradition», sagte der Soldat. «Die Inuit haben dem Colonel erzählt, dass sie es so machen. Sie schieben die Leiche durchs Fenster und nicht durch die Tür, damit der Geist des Toten nicht den Weg zurück ins Haus findet und den Lebenden Ärger macht. Der Colonel fand das gut. Jetzt haben wir Befehl, es auch so zu machen.» «Woran ist der Mann gestorben?», fragte Rudy. «Das Übliche», rief die Schwester vom Krankenbett aus, das sie gerade abzog. «Multiorganversagen.» Rudy ging zu ihr hinüber. 141
«Und von hier wird er zur Feuerwache gebracht?», fragte er. «Stimmt», sagte sie. Rudy wollte die Krankenkarte vom Fuß des Bettes nehmen, aber die Schwester nahm ihm das Klemmbrett rasch aus der Hand. «Entschuldigen Sie», sagte sie scharf. Sie schob die Karte zu den Laken und legte eine Decke darüber. Rudy sah ihr eine Weile zu. «Sie haben Dawes erzählt, Sie wüssten nichts davon, dass Genteen mich überfallen hat», sagte Rudy. Die Schwester unterbrach ihre Arbeit. Jetzt erst wurde ihr klar, wen sie vor sich hatte. «Stimmt», sagte sie. «Ich weiß nicht, ob Genteen das gemacht hat. Er hat nichts davon gesagt.» «Und Sie haben nicht gesehen, wie er die Wache verlassen hat?» «Ich war doch gerade erst gekommen, als Sie aufgetaucht sind.» «Na, dann kommen Sie aber ziemlich schnell zur Sache.» Die Schwester presste die Lippen zusammen und warf die gefaltete Decke auf die Matratze. Beim Aufprall streifte sie Rudys Beine. «Was soll das werden, Herr Chefredakteur? Schnüffeln Sie für eine Story in Ihrer Zeitung?» «Nein. Ich hätte mir nur gewünscht, dass Sie ein bisschen hilfsbereiter wären.» «Hören Sie, ich habe nichts gegen Sie. Ich stehe übrigens auch nicht besonders auf Genteen. So ist eben das Leben hier auf dem Eis. Man nimmt mit, was man kriegen kann. Ich habe Dawes alles erzählt, was ich wusste. Wenn Genteen was angestellt hat, dann, bevor ich gekommen bin. So wahr ich hier stehe.» Sie standen sich gegenüber. Sie sah ihm direkt in die Augen, bis Rudy den Blick abwandte. Wahrscheinlich sagte sie die Wahrheit. Er sagte, es sei auch nicht so wichtig. Sie 142
sagte, sie müsse los. Rudy blieb noch, als die drei gegangen waren. Er ging zum Fenster neben dem abgezogenen Bett und sah dem Jeep nach, der die Straße zur Feuerwache hinaufschaukelte. Die letzte Mannschaft des Zecher‐Rennens stolperte vom Ufer zu den Zelten hinauf. Eine Horde glatzköpfiger Männer rannte mit der goldenen Bettpfanne herum. Genteens Team hatte gewonnen. Rudy beschloss, den Flügel zu verlassen und Irene zu suchen. Er wollte gerade gehen, als er ein Röcheln vernahm. Ein menschlicher Laut, ein näselndes, kratziges Tremolo, das aus der benachbarten Nische kam, glaubte er. Rudy fürchtete, dass es ein Todesröcheln war. Andererseits wusste er gar nicht, wie Todesröcheln klang. «Sie ... sie ... cha‐hha‐» Eine gedämpfte Stimme, wie durch Watte, aus einem aus‐ getrockneten Mund. Rudy schaute über die Holzwand und sah einen dünn behaarten Schädel, einen von getrocknetem Speichel um‐ rahmten Mund und ein einzelnes Auge. Auf dem Kopf saß ein Augenspiegel, wie ihn Ärzte benutzten, und ein Arm wischte wie ein Tentakel über die Bettdecke. Rudy starrte den Mann stumm an. Das Auge beobachtete ihn. Der Arm winkte ihn näher heran. Der Mann war nur noch Oberkörper und ein Arm. Im schwachen Licht der Nachttischlampe sahen die dünnen Strähnen seines Haars farblos aus. Der Helmholtzspiegel an seiner Stirn sah neben dem richtigen Augapfel wie ein blindes, glänzendes Tellerauge aus. Die Stimme sprang endlich an wie ein kalter Motor, und die Worte tuckerten leise, aber deutlich aus dem trockenen Mund. «Sie hha ... sie hat Sie Chefredakteur genannt.» Das Auge zwinkerte abwartend. Rudy hatte das Gefühl, als stünde er in einem fernen Königreich vor dem Thron des 143
Herrschers und dürfte auf keinen Fall etwas Falsches sagen. Das Auge sah ihn weiter forschend an. «Ich mache die Stützpunktzeitung», sagte Rudy. Der Arm streckte sich zum Nachttisch hinüber. Der Kopf des Mannes drehte sich ein wenig auf dem Kissen. Sein Schädel schien hinten ungewöhnlich flach. Er zog ein paar Zeitungsseiten aus der Schublade, hielt sie vors Gesicht und fing laut zu lesen an. «‹Haltet uns auf dem Laufenden über alles, was in euren Einheiten los ist. Wir wollen eure Stimme sein.›» Der Arm sank wieder auf die Bettdecke. Das Auge sah Rudy an. «Das ist von mir», sagte Rudy. «Die Stützpunktzeitung», sagte der Mann. «Niedlich.» «Ich habe Befehle», sagte Rudy. «Kommen Sie mal rüber», sagte der Mann. «Bitte.» Rudy ging um die Zwischenwand herum zum Fußende des Bettes. Auf der Krankenkarte stand SOLDAT X – DEZ. 52. «Sie sind Corporal?», krächzte der Mann. Rudy nickte. Der Augenspiegel warf das Lampenlicht zurück in Rudys Gesicht. «Ich war auch Corporal», sagte der Mann. «Früher. Ich war schon kurz vor der Beförderung zum Major. Dann hat man mich degradiert. Wieder runter zum Corporal. Bis zu dem Rang, den Sie gerade erreicht haben. Ich nehme an, Sie wurden nicht degradiert.» Rudy schüttelte den Kopf. «Mich hatʹs erwischt. Und dann bin ich auch noch in Wonju in ein Bombardement geraten, und da hatʹs mich dann richtig erwischt.» Er kicherte und keuchte dabei so heftig, dass seine Tropfflasche klapperte. Er klammerte sich ans Bettgestell. Rudy bemerkte, dass er nur noch drei Finger und einen halben Daumen hatte. Das Lachen des Mannes erstarb, und er seufzte. Das war also das Taubengurren gewesen, das Rudy gehört hatte, als 144
er in den Flügel eingetreten war. Der Patient schloss sein Auge. Seine Finger strichen über die Bettdecke. «Wie ist Ihr Name?», fragte Rudy. «Auf der Karte steht nur X.» ‹«Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen»», sagte der Mann mit immer noch geschlos‐ senem Auge. «Ich werde X genannt. So wie es da steht.» «Die wissen Ihren Namen nicht?» Der Kopf bewegte sich hin und her. «Da drüben lag jemand», der Mann zeigte quer durch die Station, «vor einiger Zeit, ist inzwischen weg, da wussten sie nicht mal das Geschlecht. Zu viel weggeschossen. Was zählt es da, wenn man den Namen verliert?» «Wissen Sie denn Ihren Namen noch?», flüsterte Rudy beinahe. Das Auge ging auf und sah Rudy an, der Kopf wandte sich ihm zu. Ein leichtes Nicken, gefolgt von Schweigen. «Aber man nennt Sie X», sagte Rudy. «Ich bin nur noch eine Witzfigur. Kein Soldat mehr. Nur ein bettlägeriger Kerl, irgendein guy», sagte der Mann. «Nennen Sie mich doch Guy X.» «Guy X», wiederholte Rudy. «Und wie ist wohl Ihr Name?» Rudy stellte sich vor. Guy X schloss zufrieden das Auge. «Mit Admiral Spruance verwandt? Aus dem Zweiten Welt‐ krieg?» «Nein», antwortete Rudy. «Das haben sie meinen Vater auch immer gefragt, als er in der Marine war. Im Zweiten Weltkrieg.» «Wissen Sie was, Rudy Spruance, ich weiß nicht mal, welches Jahr wir haben», sagte Guy X. «Und im Grunde bin ich stolz darauf.» «Sie wollen es gar nicht wissen?» «Sie sagen es mir nicht.» «Ich kann es –» 145
«Nein! Bitte nicht. Es ist wichtig, es nicht zu wissen.» Rudy schaute auf die Ausgabe der Harpoon auf der Bett‐ decke. Der Titel enthielt kein Datum. Lavone und er mussten es schlicht vergessen haben. Typisch. Typisch Grönland. «Und manchmal vergesse ich auch, wo ich bin», sagte Guy X. «Sogar ziemlich lange. Na, was heißt schon lange? Ist auch egal. Ich bin oft ganz woanders. Und deshalb glaube ich, alle denken, ich kann gar nicht sprechen. Aber ich kann sprechen, oder? Sie hören mich doch? Jetzt gerade?» «Ja», sagte Rudy. Wieder das körperlose Seufzen. «Gut», sagte Guy X. «Das will ich glauben.» Plötzlich blickte das Auge Rudy streng an. Dann wurde es glasig, ohne dass der Körper sich regte. Eine beinahe un‐ merkliche Veränderung, doch Rudy bekam es mit der Angst zu tun. Er sah, dass Guy X noch atmete und lebte, aber nicht mehr bei Bewusstsein war. Sein Auge sah genauso wenig wie ein gekochtes Ei. Nur die Fingerspitzen zuckten leicht. Rudy wusste nicht, was er tun sollte. Er wedelte mit der Hand vor dem Gesicht von Guy X herum. Dessen Auge zwinkerte nicht einmal. «Hallo?», flüsterte Rudy. Keine Antwort. Er wollte gerade zum Schwesternhäuschen laufen, als das Augenlid zuckte und Guy X im selben Tonfall wie vorher weiterredete. «Sie wollen wissen, was in meiner Einheit los ist?» «Ja, was?» «Sie wollen meine Stimme sein?» «Alles in Ordnung mit Ihnen?» «Bestens. Hab mich noch nie besser gefühlt. Wollen Sie wissen, was in meiner Einheit los ist? Meine Stimme sein?» «Naja...» «Dann kommen Sie wieder.» Guy X sah Rudy direkt ins Gesicht. Nicht mehr streng oder abwesend, sondern ernst und beinahe verzweifelt, und Rudy 146
wusste, er musste dieser Bitte nachkommen. Er sah sein eigenes Gesicht im Augenspiegel. «Wann?» Guy X zuckte die Achsel – ein schiefes Zusammenziehen der Schultermuskeln. «Wann es Ihnen passt», sagte er. «Ich weiß ja nicht mal, welches Jahr wir haben. Ich werde nicht merken, ob Sie zu früh oder zu spät kommen.» Rudy fand Irene nicht bei den Zelten. Die Soldaten hatten sich schwer betrunken, und das Gelage drohte gefährlich auszuufern. Überall brachen Schlägereien aus, und niemand schritt ein. Die Soldaten bewarfen sich mit Ochsenfleisch und taumelten brüllend und blutverschmiert herum. Andere schüttelten Bierdosen und spritzten den Inhalt beim Öffnen durchs Zelt, oder sie schleuderten volle Dosen wie Hand‐ granaten. Rudy fand keinen Platz, der ihm behagte; also trank er allein und stürzte ein Bier nach dem anderen herunter. Lavone lag bewusstlos auf einem der Tische, in jedem Nasenloch einen Inhalator; Petri und Beef deckten sich gegenseitig mit Hieben ein und lachten dabei. Sie unterbrachen ihren Schlagabtausch, um Rudy zu begrüßen. In einem Zelt hatten Soldaten die Tische beiseite geräumt und einen Boxring aufgebaut. Vier oder fünf Paarungen von schwarzen und weißen Boxern standen einander gegenüber und imitierten den Titelkampf zwischen Patterson und Johansson. Überall knutschten Pärchen. Frauen schoben Männer entrüstet von sich oder gaben ihnen Ohrfeigen, um sie dann wieder wild zu küssen. Rudy erinnerte sich an die Stille im Flügel, an die ganzen und halben Gesichter. Sie murmelten ihm etwas zu. Die Gesichter schwankten hin und her. Er konnte Irene nicht finden. Aus den Lautsprechern schallte «The Ballad of Davy 147
Crockett». Auch der Colonel war nirgends zu sehen. Rudy trank noch ein Bier. So schnell hatte er noch nie getrunken. King of the Wild Frontier. Jetzt sah er wieder die Gesichter vor sich, hörte ihre Stimmen nach ihm rufen, während er den Gang entlangschritt. Er schüttelte den Kopf. Er trank zu viel. Er sah Guy X. Rudy hatte seinen Vater erwähnt, seinen eigenen bewusstlosen Vater, seinen toten Vater. Er hatte Guy X versprochen wiederzukommen. Rudy steckte sich ein paar Dosen Bier in die Taschen und torkelte weg von den Zelten. Er blickte aufs Wasser hinunter, wo der gestrandete Eisberg vor der Kulisse der Berge lag. Dort unten hatten die Inuit etwa hundert Meter vor den Zelten der Feiernden ein kleines Lager aufgeschlagen– Bündel lagen unter Fellen, die zu provisorischen Dächern aufgespannt waren. Sie hatten ihre Boote auf den Strand gezogen. Ein paar Kinder rannten herum. Alte Männer standen rauchend neben ausgebreiteten Decken, während einige GIs die darauf ausgelegten Kunstgegenstände begut‐ achteten. Rudy ging auf das Lager zu. Sein Kopf wurde klarer, je weiter er sich von den Zelten entfernte, seine Schritte sicherer. Die Inuit boten auf den Decken Schnitzereien aus Knochen feil. Einige der Männer tranken Bier. Rudy schaute sich die Arbeiten an. Es waren Halsbänder und Messergriffe, darun‐ ter eine kleine Frauenfigur, Bären, Iglus und Kajaks. Die Inuit beobachteten, wie er von Decke zu Decke schlenderte. Sie hatten breite, flache, gebräunte Gesichter und trugen bunt zusammengewürfelte Kleidung, die teils aus Häuten und Pelzen gefertigt war und teils aus Army‐ Beständen stammte. Rudy schaute sich die kleine Frauenfigur an. Sie war glatt und grau, etwa so groß wie ein Taschenmesser, hatte keine Gesichtszüge und Arme – die Beine endeten etwa an den Knien –, doch dafür waren die Brüste und das Geschlecht deutlich herausgearbeitet. 148
«Woraus ist das?», fragte Rudy den Eingeborenen, der ihm auf der anderen Seite der Decke am nächsten stand. Rudy hatte keine Ahnung, ob man ihn verstehen würde, doch der Mann antwortete: «Walrosszahn.» «Wie viel?», fragte Rudy. «Ein Dollar», sagte der Mann. «Und ein Bier.» Rudy hockte sich hin und nahm die Figur in die Hand. Er legte sie auf die Handfläche und spielte mit den Fingern um die kleinen Stümpfe und den Kopf. Sie fühlte sich gut an. «Hast du das gemacht?», fragte Rudy. Der Mann schüttelte den Kopf. «Wer dann?», fragte Rudy. Der andere zuckte die Achseln. Er deutete mit der Hand ausladend auf den Fjord, die Berge, die anderen Inuit. Er zuckte noch einmal die Achseln. «Wie heißt du?», fragte Rudy. «Allez Hopp», sagte der Mann. Er grinste schief, zeigte drei oder vier Zähne. «Ululluik. Allez Hopp.» Rudy gab ihm einen Dollar und eine Dose Bier. Der Mann dankte ihm. Sie nickten einander zu. Rudy zog im Weitergehen eine Bierdose aus der Tasche. Ihm war ein bisschen schwindelig, aber die Figur in seiner Tasche beruhigte ihn. Sie fühlte sich angenehm an. Ein Talisman, dachte er. Er lehnte sich gegen die Heckklappe eines Zweieinhalb‐ tonners, der ungefähr fünfzig Meter von den Zelten entfernt parkte. Ein Song von Elvis lief. Alle tanzten zu «Hound Dog», sogar einige der Inuit bei ihren Decken. Rudy schaute zum Lazarett hinauf. Die Müdigkeit fiel ihm ein, die er dort verspürt hatte, der Wunsch, dort zu ver‐ weilen. Er streichelte die Figur, tastete über ihre Brüste und die Schamlippen. Elvis sang. In seiner Nähe versuchte je‐ mand, zum Refrain den Limerick mitzusingen – Uff‐uff‐uff‐ uff‐uff‐, gab aber rasch auf. Am äußersten Rand des Hügelkamms, ganz hinten beim 149
Hangar, da sah er sie. Zwei Menschen zu Pferde, die im Trab die Anhöhe überquerten. Sein Pferd und ihres. Sie fielen in Galopp. Die Frau beugte sich über den Hals ihres Pferdes und ging in Führung. Sie galoppierten über den Kamm und verschwanden. Er schaute wieder auf die Puppe in seiner Hand, auf ihre Kurven. Ein paar winzige weiße Flocken landeten auf seinem Ärmel. Erst hielt er sie für Schneeflocken, aber das konnte nicht sein, es war viel zu warm, außerdem schmolzen sie nicht. Er sah zu den Zelten hinüber. Vor dem düsteren Olivgrün der Zelte, wo Scharen von GIs tanzten, grölten und tranken, sah er weitere winzige Flocken, die über dem ganzen Gelage niedergingen. Noch bevor er sich umwandte, wusste er, woher sie kamen. Dann sah er vor dem grauen Himmel die Rauchwolke, die über der Feuerwache aufstieg. Der Jeep holperte gerade von der Einäscherung zurück. Die kleinen weißen Flocken wurden vom Krematorium herübergetragen. Beim Fest schien es niemand zu bemerken. Etwas von der Asche war auch auf der Puppe gelandet, und Rudy verwischte sie mit dem Daumen. Er rieb die Asche so lange in Brüste, Bauch und Genitalien, bis sie sich aufgelöst hatte. Die Flocken fielen immer noch, als Captain Brank, der Kaplan, die Musik unterbrach, um zu verkünden, dass der Titelkampf zwischen Floyd Patterson und Ingemar Johans‐ son abgesagt worden sei. In New York und über dem Yankee‐Stadion regnete es heftig. Heute würde kein Box‐ kampf stattfinden. Es dauerte einen Augenblick, bis diese Nachricht bei allen richtig angekommen war, aber dann begannen die Feiernden zu buhen. Es war mehr als ein kurzer Ausdruck der Enttäuschung; ein langes, ausdauerndes Wutgeheul brach sich Bahn. Auch Rudy spürte den Drang. Bald stimmten alle ein: Männer wie Frauen; Offiziere, Unteroffiziere, Gefreite; alle buhten um die Wette, heulten und schwangen die 150
Fäuste. Genteen sprang auf einen Tisch, reckte das Gesicht gen Himmel und buhte. Sogar die Inuit in ihrem Lager buhten. Rudy auch. Er ging ein paar Schritte vom Lastwagen weg, blieb auf einer freien Stelle stehen und buhte in Richtung Lazarett, in Richtung Hügel, wo er die beiden Reiter gesehen hatte, in Richtung Feuerwache, er buhte den ganzen beschis‐ senen Stützpunkt aus. Ganz kurz flackerten die Gesichter der Männer im Flügel wieder vor seinem inneren Auge. Und dann verwandelten sie sich zu seinem Erstaunen in die Männer vom Altar im Büro des Colonel, die Fotos hinterm Vorhang, unter den Kompanieabzeichen. Er hörte das Zischen und Knacken, das ihn und Irene im Flügel aus den Betten verfolgt hatte. Doch all das löschte er bald mit dem Geräusch aus, das aus seiner eigenen Kehle drang. Seine Halsschlagadern sprangen vor, seine Augen röteten sich, seine Eier zogen sich zusammen, als er sich den letzten Rest Atem aus den Lungen schrie. Er holte tief Luft, trank einen Schluck und schrie dann weiter, immer weiter, zusammen mit all den anderen Soldaten und Eingeborenen, die sich unter der kalten Mitternachtssonne den Verstand aus den Köpfen brüllten.
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FÜNFZEHN Eine C‐47 kam über die Landepiste angerollt. Aus der Fahrbereitschaft rumpelten ihr ein Zweieinhalbtonner und ein Gabelstapler entgegen. Der Colonel stand mit seinem Jeep schon auf dem Flugfeld und rieb sich die Hände, als Rudy näher kam. Am Rand des Vorfeldes stand ein Einweiser vom Bodenpersonal, gab die Signale und lotste den Piloten in Richtung des Jeeps. Beim Näherkommen erkannte Rudy, dass es Irene war. Sie trug einen Overall und achtete beim Rückwärtsgehen darauf, dass Tragflächen, Räder und Pro‐ eller genug Spielraum hatten. Sie schien das Flugzeug förmlich anzuziehen. Als der Pilot die Propeller auf Segel‐tel‐ lung fuhr und den Motor gedrosselt hatte, gab er mit dem Daumen das Zeichen, dass alles in Ordnung sei, und schob das Cockpitfenster auf. Irene warf ihm ein Klemmbrett mit 152
Formularen zu. Ihre souveräne Kompetenz erfüllte Rudy mit unerklärlicher Freude. «Ein bisschen Tempo, Soldat!», rief der Colonel ihm zu. «Die Maschine muss gleich wieder raus, dürfte sich unserm bescheidenen Stützpunkt nicht mal von ferne nähern.» Der Colonel sprang vom Jeep direkt in die Frachtluke des Flugzeugs. Über den Motorenlärm hinweg schrie er Rudy zu, er bekomme soeben eine Flachbett‐Zylinderpresse von Goss und eine neuwertige Linotype‐Setzmaschine in Vor‐ riegsualität geliefert, die aus Deutschland über Paris und Glasgow nun bis nach Grönland gereist seien. «Die Frachtpapiere dieser Schmuckstücke sind der reinste Baedeker», schrie Woolwrap. «Und Sergeant Teal hat sich die ganze Sache ausgedacht.» Der Colonel bedeutete Rudy, den Gefreiten von der Fahrbereitschaft zu helfen, die Kisten mit dem Gabelstapler auf den Lastwagen zu verladen. In weniger als fünf Minuten war das Flugzeug ausgeladen. Irene war draußen geblieben; Rudy hatte aus den Augenwinkeln gesehen, dass sie auf der Kühlerhaube des Jeeps Papiere ausfüllte. Als das Flugzeug abflugbereit war, leitete sie den Piloten auf die Piste, winkte ihm zu und machte die flatternde Qangattarsa‐Geste: Lasset uns hinauffliegen. Die Frachtmaschine startete durch und verschwand in einer Staubwolke. Rudy saß hinten im Jeep auf einem Kanister, Irene und der Colonel vorne. Rudy hatte nur verstohlene Blicke auf Irene werfen können. Sie bewahrte schweigend Haltung, schien aber auch ein wenig nervös. «Und das Wunderbarste ist», sagte der Colonel am Steuer, «dass Sergeant Teal in den Akten unserer Männer auf einen gestoßen ist, der das Ding tatsächlich bedienen kann. Ist das zu glauben?» «Kaum, Sir. Wirklich ein Wunder.» Irene würdigte die beiden keines Blickes. «Kennen Sie Desmond?», fragte der Colonel. «Ein Topf‐ 153
ratzer.» Ein Koch also. Rudy sagte, er kenne ihn nicht. «Sie werden ihn kennen lernen», rief der Colonel über den Motorenlärm des Flugzeugs hinweg, das gerade von der Piste abhob. «Er wird Ihr Drucker.» Der Colonel sah zu, wie Rudy und die Gefreiten die Kisten in eine ungenutzte Baracke der Fahrbereitschaft schafften, die nur ein paar Meter von Genteens Werkstatt entfernt lag. Als alles ausgeladen war, fuhren die Gefreiten davon. Der Colonel wies Irene an, im Jeep zu warten, er sei gleich wieder bei ihr, und sprach sie dabei militärisch korrekt mit «Ser‐ eant» an. Irene nickte nur, statt zu salutieren. Auf dem Weg nach draußen musste sie an Rudy vorbei, und er sprang zur Tür, um sie ihr aufzuhalten. «Ein Wunder», flüsterte er. Sie verzog das Gesicht. Seinetwegen? Das musste er abwarten. Rudy wurde unruhig, als er mit dem Colonel allein war. Er hörte den Motor des Jeeps draußen im Leerlauf brummen. Er spähte durch eines der zerkratzten Kunststofffenster, doch das ging auf Genteens Werkstatt hinaus. Dort sprühte ein Schneidbrenner Funken. Der Colonel zeigte auf die Kiste mit der Druckpresse. «Ich nehme an», sagte er, «einer der ersten Artikel, die dieses Ding drucken wird, fängt ungefähr so an ... ‹Der schwe‐ische Schwergewichtler erschütterte nicht nur Floyd Patterson und das Yankee‐Stadion, sondern die gesamte Boxwelt mit seiner gnadenlosen Rechten ...›» Rudy brauchte eine Sekunde, bis er Woolwrap folgen konnte. Er schluckte. «Der Titelkampf?», fragte er. «Sie wol‐ en, dass wir vom Titelkampf berichten?» Der Colonel zuckte die Achseln. «Sie sind der Chefre‐ akteur. Wichtiger ist die Wette. Ich möchte, dass Sie Ihre Wettschuld begleichen.» Der Kampf zwischen Patterson und Johansson hatte am Tag nach der Absage stattgefunden. Patterson war siebenmal zu Boden gegangen, bevor Johansson ihn in der dritten 154
Runde schließlich ausknockte. Die meisten Soldaten von Qangattarsa, darunter auch Rudy, konnten der Übertragung im Speisesaal wegen eines schweren Katers nicht folgen. Er hatte hinterher vom Ausgang erfahren. Jetzt schuldete er dem Colonel hundert Dollar. «Ich werde Desmond und Ihnen ein bisschen Zeit geben, die neue Ausrüstung zum Laufen zu bringen», sagte der Colonel beim Gehen. «Für die Wettschuld gilt das Gleiche.» «Danke, Sir.» Als der Jeep sich entfernte, wehte der Wind Schlacke vom Hof gegen die Wellblechwände der Baracke. Rudy saß auf einem Reifenstapel und starrte die mächtigen Maschinen an, die Irene ihm besorgt hatte und die in ihren groben Holzkisten wie Zirkustiere auf der Reise wirkten. «Hallo, X, alter Knabe. Wie gehtʹs uns denn heute? Besser? Ich finde, Sie kriegen schon wieder Farbe. Die letzten Wochen sah es nicht so gut aus, aber jetzt sind Sie doch wieder das blühende Leben.» Die Schwester wechselte die Bettwäsche von Guy X. Sie rollte ihn geschickt auf die eine Seite, zog dort das Bett ab, rollte ihn zurück, zog die andere Seite ab und wiederholte das Ganze dann beim Beziehen mit der frischen Wäsche. Rudy bot seine Hilfe an, aber die Schwester lehnte ab, weil sie es allein schneller könne. Sie war füllig, hatte leichte Aknenarben auf den von weitem rosig scheinenden Wangen und wirkte wie eine freundliche Kindergärtnerin. Während Rudy am Bett von Guy X saß, hatte sie die ganze Reihe Betten frisch bezogen und mit jedem Patienten geschwatzt und gescherzt, obwohl sie außer einem gelegentlichen Glucksen keine Antwort bekam. Rudy war wieder in den Flügel gegangen, weil er sowohl sein Versprechen halten als auch das Gefühl der Ruhe noch einmal genießen wollte, das ihn bei seinem ersten Besuch durchströmt hatte. Die Lampen, das schwere, dunkle Holz und die vielen 155
Nischen verblüfften ihn erneut; als er dann leise den Gang entlangging, verfolgt vom Murmeln und Ächzen der Patienten, bemerkte er einen eigentümlichen Geruch. Ein süßlicher Hauch lag in der Luft, der von Bohnerwachs, Medikamenten und Ausscheidungen überlagert wurde. Das Seltsame war, dass er zugleich ganz persönlich und intim roch, wie der Geruch der eigenen Spucke. Es war der Geruch der Wunden, erkannte er, die sich nicht schließen wollten. Guy X schien zu schlafen. Rudy setzte sich neben sein Bett und beobachtete, wie sich die Brust unter der Bettdecke hob und senkte. Das Auge war geschlossen, die Haare lagen strähnig auf dem Kopfkissen. Selbst als die Schwester ihn hin und her rollte, wachte er nicht auf. «K.O.», sagte die Schwester, während sie das Bett bezog. «Solche Anfälle hat er seit Jahren.» «Hat er mir erzählt», sagte Rudy. «Sie machen Witze», sagte die Schwester. «Nein.» «Er hat mit Ihnen gesprochen?» «Ja.» Die Schwester stemmte die Hände in die Hüften, ihr Mund stand offen. «Das glaub ich nicht», sagte sie. Rudy berichtete von seinem Gespräch mit Guy X. «Unglaublich», sagte die Krankenschwester. Sie schaute den bewusstlosen Patienten an. «Seit ich hier bin, hat er kein Wort gesagt. Er hat wirklich geredet?» «Mit mir.» «Auf Englisch?» «Jedes Wort.» «Ich hab mal gehört, dass er früher Zettel geschrieben hat», sagte sie und zeigte auf die Zettel auf dem Nachttisch, «aber das hat auch nachgelassen. Ich dachte schon, wir verlieren ihn. Sie lösen sich irgendwie auf. Was von ihnen noch da ist, wird immer weniger, und eines Tages kommt man rein, und sie sind weg.» 156
«Multiorganversagen», sagte Rudy. «Kommt vor», sagte die Schwester. Sie machte die flattern‐ de Handbewegung. «Qangattarsa.» Sie war fertig mit dem Bett und rückte vorsichtig den Spie‐ gel am Kopf von Guy X zurecht. «Wofür hat er das Ding?», fragte Rudy. «Früher hat er damit die Dienst habende Schwester geru‐ fen. Er hat Lichtsignale damit gegeben. Wir haben ihm den Spiegel gelassen, obwohl er den Kontakt sozusagen hat abreißen lassen.» Sie trat einen Schritt zurück und begut‐ achtete ihre Arbeit. «Er hat also mit Ihnen geredet.» «Nur ein bisschen», sagte Rudy. Ihm war unwohl, weil sie direkt vor dessen Bett über Guy X redeten und damit irgend‐ wie seine Privatsphäre verletzten. Deshalb war er froh, als die Schwester den Kopf schüttelte und zum nächsten Bett weiterging. Vor seinem Besuch war er nervös gewesen und hatte gehofft, mit niemandem außer Guy X reden zu müssen; jetzt war er erleichtert, dass auch das nicht möglich war. Guy X lag still da, sein Augenlid flatterte schwach, seine Finger zuckten auf der Brust, als spielten sie ein unsichtbares Instrument, eine Klarinette vielleicht oder eine Harfe. Rudy hatte das Gefühl, die Finger zupften an seinen eigenen Nerven. Die Anwesenheit im Flügel beruhigte ihn diesmal nicht, sondern regte ihn eher noch mehr auf. Er wollte ein Problem lösen; er wusste nur nicht genau, welches. Alles um ihn herum war verstörend: allein schon, dass er überhaupt hier war; dann dieses Gebäude, der Flügel; die beunruhigenden Launen des Colonel, die Wette, die Zeitung; Genteens Unverschämtheit. Und vor allem Irene. Inzwischen dachte er dauernd an sie und wurde immer fahriger. Er wollte in ihrer Nähe sein, wollte ohne Angst und ungestört bei ihr sein. Und ohne dass sie nervös wurde, denn offensichtlich war sie genauso verstört wie er. Ihnen beiden war unbehaglich, weil 157
sie sich von den Umständen beherrschen ließen. Er erinnerte sich an ihr Beisammensein nach der Bärenjagd: die erschöpfte Ruhe, die über sie beide gekommen war, die Stille nach der panischen Hektik, als sie beide dicht nebeneinander gesessen hatten. Damit konnte er umgehen. Er hatte eine Bedrohung erkannt und abgewendet. Wie oft im Leben war ihm das gelungen? Bisher hatte seine Lösung immer darin bestanden, in fremde, unbewohnte Häuser einzudringen und dort einfach ein bisschen zu sitzen, fernzusehen, aus dem eigenen Leben auszusteigen und nach einer Weile, beruhigter, wieder hin‐einzuschlüpfen. Und wohin hatte ihn das geführt? Erst Knast, dann Army, jetzt Bruchlandung auf Grönland. Rudy schaute auf den Nachttisch. Dort lagen zerknüllte, vergilbte Blätter und ein paar Bleistifte. Auf den meisten Zetteln war nur Gekritzel zu sehen, aber einer war beschrieben. Die Schrift war krakelig wie die eines Kindes, aber lesbar. Sehr geehrter Herr CHEFREDAKTEUR, was wird mit uns geschehen, wenn es hier zu Ende geht? Denn es wird zu Ende gehen. Was wird mit uns geschehen? Es gibt Gerede. DAS SIND NICHT NUR GERÜCHTE! Ich habe die maßgeblichen Stellen mit eigenen Ohren darüber sprechen hören. Sie auch? Soll dieser Brief veröffentlicht werden? JA!!! Darum muss ich mich auf Andeutungen beschränken. Soweit ich weiß, bin ich der Einzige, der sprechen kann. Aber Sie können ihn veröffentlichen! Stellen Sie Fragen. Alle möglichen Fragen. Und zwar bald. Ein KAMERAD 158
Guy X erwachte nicht aus seiner Bewusstlosigkeit. Er lag still da, mit flatterndem Augenlid, zupfenden Fingern und nach oben gerecktem Gesicht, als empfange er etwas über die Radarpulse seiner zarten Zuckungen. Nach ungefähr einer Stunde stand Rudy auf, steckte den Brief in die Tasche und verließ den Flügel. Desmond war noch ein Junge. Er gestand Rudy, dass er noch nicht mal siebzehn war. Er hatte sich mit einer falschen Altersangabe zur Armee gemeldet. Sein Vater betrieb eine Druckerei in Terre Haute. «Und da hab ich mir selbst eine Geburtsurkunde ge‐ druckt», sagte er. «Zurückdatiert.» Desmond trank zu viel; beängstigend viel für einen Sechzehnjährigen. Rudys Personal bestand nun also aus einem drogensüchtigen Möchtegerndichter und einem min‐ derjährigen Trinker. Es dauerte einige Tage, bis Rudy und Desmond die Maschi‐ nen zusammengesetzt und verstanden hatten. Die Bauanlei‐ tungen waren alle auf Deutsch, was Lavone zum Glück ein Jahr lang in der High School gelernt hatte, sodass sie sich irgendwie durchwursteln konnten. Als alle Geräte liefen, diktierte Rudy Desmond die Texte, die der direkt in die Linotype haute. Desmond war oft zu betrunken zum Lesen, aber blind tippen konnte er wie der Teufel. Was noch besser war: er kannte einen Apothekenhelfer in der medizinischen Abteilung, der mit dem vom Colonel eingeflogenen Material Druckvorlagen von Fotos erstellen konnte. Die erste verbesserte Ausgabe der Harpoon erschien im vierseitigen Großformat. Aufmacher war die Zusammen‐ fassung des Gelages mit einem Foto vom siegreichen Zecher‐ Team. Auf den Innenseiten fanden sich der «Weltweite Nachrichtenüberblick» vom Kaplan und die Fortsetzung der filmtheoretischen Abhandlung von Lavone mit dem Titel «Die Rote Gefahr im Horrorfilm»: 159
Welche Farbe nimmt denn der Schleim aus dem Weltall an – in The Blob, wenn er hilflose Kleinstädter verschlingt? ROT natürlich. So verpacken die Filmemacher ihre Bot‐ schaft, dass wir uns einer alles verschlingenden, amorphen Bedrohung von außen gegenübersehen ... Dazu kam ein Artikel, den Rudy eines Tages auf seinem Bett gefunden hatte. Er war von Hand auf Ringbucheinlagen geschrieben. Der Titel lautete: MEINE UNVERGESSLICHSTE BEGEGNUNG
Es folgte die Unterzeile: Zum Abdruck in der Zeitung Harpoon, eingereicht vom Gefreiten Charles T. «Beef» St. Beeve. Und dann der Text: Er war ein junger Lastwagenfahrer, der seiner Mutter auf eigene Kosten ein Geburtstagsständchen aufgenommen hatte. Bald darauf sollte er es zu Ruhm und Reichtum bringen. Doch ich kannte ihn nur als einfachen Jungen vom Lande, höflich und still, dessen Bett am anderen Ende meines Schlafsaals stand. Erst im Januar dieses Jahres kam er in der 2. Kompanie des 7. Bataillons der 3. Bewaffneten Division in Grafenwöhr, Deutschland, an. Meine Dienstzeit dort betrug noch vier Wochen. Ich habe nie länger mit ihm gesprochen, aber ich werde den regneri‐ schen Abend nie vergessen, als er eintraf: ein neuer Jeepfahrer, der unserer Kompanie zugeteilt worden war. Er trat tropfnass durch die Tür, den Gepäcksack auf der Schulter. Wir hatten schon alle auf ihn gewartet, aber er 160
stellte sich trotzdem vor. «Entschuldigt, Leute», sagte er leise. «Gefreiter Elvis Presley.» Neben mir stand ein Spaß‐ vogel, der sofort wie ein hysterisches Mädchen zu quietschen anfing. Dafür boxte ich ihn in den Magen ... Es wurden also tatsächlich Artikel eingereicht. Die Zeitung kam langsam in Schwung. Bei aller Begeisterung fiel Rudy plötzlich der Brief des KAMERADEN ein, der in seiner Tasche steckte. Er hatte ihn noch nicht abgedruckt. Am Tag der Drucklegung kurbelten sie die alte Zylinder‐ presse an und zogen die Bogen einzeln von der Rolle. Desmond drehte die Kurbel, Rudy las stolz und ungläubig die bedruckten Blätter, immer noch auf der Suche nach Druckfehlern. Als sie ein Bündel Zeitungen beisammen‐ hatten, machte er sich daran, sie auszutragen. In der Gasse zwischen der Druckerei und der Werkstatt hörte er das Knattern eines Hubschraubers, der in geringer Höhe über den Stützpunkt flog. Über den Baracken blieb er in der Luft stehen, als ob er etwas suchte. Der Heckrotor wippte hin und her wie der Schwanz eines Hundes. Rudy konnte nicht sehen, wer im Helikopter saß, weil die niedrig stehende Sonne sich in den Scheiben spiegelte und die Rotorblätter so viel Schotter aufwirbelten, dass er sich den Kragen vor das Gesicht ziehen und sich abwenden musste. Der Wind riss einige der Zeitungen von seinem Stapel; er versuchte sie zu schnappen, aber sie wirbelten zwischen den Baracken davon. Die Steinchen prasselten schmerzhaft auf ihn ein und knallten gegen die Wellblechwände. Nach einigen Sekunden flog der Hubschrauber in Richtung Fjord davon. Das Trommeln seiner Rotoren hallte von den Bergen wider, wurde aber rasch leiser. Rudy wischte sich die Augen, richtete sich auf und sah Genteen in der Tür seiner Werkstatt stehen. Eine Zeitung hatte sich um seine Waden gewickelt, er bückte sich danach. Lesend schlenderte er auf Rudy zu. 161
Das Haar auf Genteens rasiertem Schädel wuchs unregel‐ mäßig nach. Kleine weiße Narben sprenkelten seine Kopf‐ haut, wie die Schrammen und Kratzer an der Stoßstange eines alten Autos. Er sah sich die Zeitung von beiden Seiten an, betrachtete sein eigenes Abbild auf dem Siegerfoto des Zecher‐Rennens und zog ein Messer aus der Tasche. Es war so scharf, dass er damit das Bild in der Luft ausschneiden konnte, ohne die Zeitung hinzulegen. «Das können Sie haben», sagte er zu Rudy und stopfte ihm das Stück Papier mit seinem Bild in die Tasche. «Den Rest kann ich gebrauchen. Ich geh grad scheißen.» Er knüllte die Zeitung zusammen und verschwand damit zwischen den Baracken.
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SECHZEHN Irgendwann musste schließlich auch Rudy Wachdienst schieben. Der Gefreite, den Rudy ablöste, wartete am Tor des Munitionslagers, als Rudy mit dem Wachoffizier vorfuhr, einem massigen Sergeant von der Versorgungskompanie, der den ganzen Weg über die Lebensmittel schwadronierte, die er in Grönland am meisten ver‐misste. Der Gefreite war ein blasser Junge aus dem Süden mit fast bläulicher Haut und dem nölenden Akzent, der in der Gegend von Ozark, Alabama, gesprochen wurde. «Ich war beinah gestorben vor Langeweile», sagte er zur Begrüßung. «Ich hab in der Hütte ein paar Donuts liegen lassen. Wenn Sie mögen ...» Rudy bedankte sich und schloss sich innerhalb des Zauns ein. 163
Nachdem der Gefreite mit dem Sergeant abgefahren war, herrschte völlige Stille. Der Wind fuhr lautlos durch die kleinen roten Büschel Steinbrech, die vor dem Maschen‐ drahtzaun wuchsen. Der oben mit Stacheldraht versehene Zaun lief etwa vierhundert Meter die Hügel der Tundra hinauf und hinab und umschloss drei Bunker und eine Wachhütte. An der Innenseite hatten die wachhabenden Soldaten einen Pfad ausgetreten. Die Bunker erhoben sich wie eine Dreierwelle aus dem Boden. Bei zweien gähnte der Eingang leer, der dritte war verschlossen. Darin lagerte die gesamte Munition des Laza‐ retts. Rudy ging zur Wachhütte hinauf, die auf dem höchsten Punkt des Geländes stand. Schon seit einigen Tagen herrschte strahlender Sonnenschein– Rudy wusste nicht mehr, wie lange schon. Dieses endlose Licht. Der Himmel war beinahe violett wie die Stratosphäre, und jenseits der Hügel, hinter denen das Lazarett verborgen lag, schim‐ merten Felsen und Gletscher wie frisch poliertes Metall. Rudy betrat die Hütte. Drinnen dominierte ein monotones Oliv: das Klemmbrett, der Hocker, die Nägel, an denen die Taschenlampe und die Notrufsirene hingen, die Initialen und Worte, die in die Bretter geritzt waren– alles zeigte sich im schlammigen Grün der Armee. An manchen Stellen war die Farbe so dick, als hätte man sie mit einer Kelle aufgetragen. Rudy nahm einen Donut aus der Tüte, die der Gefreite zurückgelassen hatte, und ging wieder nach draußen. Er konnte ebenso gut spazieren gehen. Es schien absurd, ein Lazarett mit einem Munitionsdepot auszustatten. Widersprach das nicht der Genfer Konvention? Wahrscheinlich hatte Lavone Recht: das Munitionslager war nur eingerichtet worden, damit die Offiziere von Qanga‐ ttarsa die Mannschaften mit Wachdiensten quälen konnten. Sonst wäre es kein richtiger Armeestützpunkt, hatte Lavone 164
gemeint. Rudy betrat einen der Bunker und sah leere Holz‐ regale an den Wänden. Die Bretter trugen militärische Kenn‐ ziffern, die wiederum mit Schmierereien überdeckt waren: Namen von Soldaten, von Heimatstädten, von Frauen; ferner Obszönitäten, Penisse, die gestrichelte Linien in weibliche Genitalien mit übertrieben großen Gewitterwolken von Schamhaar spritzten, ein paar anzügliche Verse, ein Kilroy‐ Gesicht und drei oder vier Anspielungen auf Jesus den Herrn. Er ging weiter, an dem zweiten offenen Bunker vorbei, bis er zu dem verschlossenen kam. Er drückte die Klinke; ein wummernder Widerhall war zu hören, ein Donnern unter der Tundra. Er nahm an, dass es später Abend war. Das ständige Tages‐ licht erstaunte ihn noch immer, doch alle, die schon länger hier waren, erzählten nur von der langen Winternacht in Grönland. Die kommt noch früh genug, sagten sie. Sie nannten die Dunkelheit genau wie Irene und der Colonel Die Totale Umnachtung. Doch heute lag alles noch im Dämmerlicht, und die Sonne kroch von Westen nach Osten über den Horizont. Manche Männer blieben den ganzen Sommer wach. Es war immer irgendwas los auf dem Stützpunkt. Sogar zum Malen reichte das Licht anscheinend noch, denn Captain Brank, der Kaplan, saß auf dem Hügelkamm zwischen Lazarett und Munitionslager vor einer Staffelei. Er starrte auf den Fjord hinaus, tupfte Farbe auf die Leinwand und starrte wieder hinaus. Aus dieser Entfernung sah er aus wie ein Vogel, der im Futterhäuschen nach Körnern pickt. In Rudys Nähe flatterten zwei Spatzen aus einem Dickicht aus Zwergebereschen auf, flogen weiter über das Tor und landeten im Maschendraht. Sie waren so klein, dass sie in den Maschen sitzen konnten, und sahen wie braune Papier‐ schnipsel aus, die herangeweht und im Zaun hängen geblieben waren. Rudy pfiff zu ihnen hinüber und spuckte 165
eine Salve Donutkrümel in ihre Richtung. Sie legten ihre Köpfchen schräg und flogen davon. Auf dem Hügel unterbrach der Kaplan seine künstlerische Tätigkeit und grüßte hastig. Einen Augenblick später kam der Colonel über den Kamm geritten und lenkte sein Pferd am Kaplan vorbei auf das Munitionslager zu. Rudy wusste, warum er kam. Er hatte schon damit ger‐ echnet. Er hatte die hundert Dollar zusammengekratzt – zwanzig hatte er von Lavone leihen müssen – und trug das Bündel Scheine seit einigen Tagen mit sich herum. Er war dem Colonel nicht aus dem Weg gegangen, hatte ihn aber auch nicht aufgesucht. Das Geld ließ seine Hosentasche an‐ schwellen wie ein kranker Zahn die Wange: ein lästiges Problem, dessen Lösung er vor sich herschob. «Lassen Sie das Tor ruhig zu», rief der Colonel, als Rudy auf den Eingang zuging. Das Pferd trippelte seitwärts, wie Polizeipferde bei Paraden. «Herrliche Nacht», sagte der Colonel, «wenn man das hier Nacht nennen kann.» Er erhob sich im Sattel und setzte sich dann wieder, wobei das Leder knarrte. Er schaute zum Himmel hinauf und seufzte. Er würde sich nicht erniedrigen und nach dem Geld fragen. Rudy zog die aufgerollten Banknoten aus der Hosentasche und schob sie durch den Zaun. Die Rolle war ungefähr so groß wie einer der Spatzen. Der Colonel langte aus dem Sattel herunter und schnappte sich das Geld. «Das sind schlechte Manieren, Corporal, dass Sie mich hinter meinem Gewinn herlaufen lassen.» «Ich weiß, Sir. Ich hatte zu viel zu tun. Ich bitte um Ent‐ schuldigung.» «Oder haben Sie gehofft, ich vergesse das Ganze?» «Ich habe kurz daran gedacht, Sir, aber nicht daran ge‐ glaubt.» Der Colonel gluckste vergnügt. Er zählte das Geld auf dem 166
Sattelknauf, routiniert wie ein alter Bankangestellter. Dann steckte er sich die Scheine in die Brusttasche und wendete sein Pferd, doch die Stute drehte sich im Kreis, sodass er am Ende wieder Rudy ansah. «The Harpoon macht sich übrigens gut.» «Vielen Dank, Sir.» «Die Berichte könnten noch ein bisschen knackiger sein, aber die Machart: ausgezeichnet. Ich muss zugeben, die Zei‐ tung sieht erstklassig aus.» «Danke, Sir. Die Druckpresse ist eine große Hilfe.» «Gern geschehen, Soldat. Freut mich, dass ich helfen konnte.» Jetzt bucht er die Druckpresse schon auf sein eigenes Kon‐ to, dachte Rudy. Die Stute trippelte wieder, und diesmal bekam der Colonel sie unter Kontrolle. In Denkerpose verweilte er einen Moment im Sattel, blickte in Richtung Lazarett und ließ Rudy warten. Im Gebüsch zwitscherten die Vögel. «Soldat, etwas beschäftigt mich.» Rudy dachte sofort an Irene und spürte ein Ziehen in der Brust, doch äußerlich blieb er ganz ruhig. «Fragen Sie nur, Sir.» Der Colonel blickte auf Rudy hinab, der seine Finger in den Maschendraht gehakt hatte. «Ich frage mich, ob Sie meine Anweisung befolgt haben. Waren Sie schon im Flügel?» «Ja, Sir.» «Und was denken Sie?» «Tja, Sir, ich bin beeindruckt.» «Nicht ganz das, was Sie erwartet haben?» «Nicht ganz, Sir.» Der Colonel lächelte zufrieden. «Sie haben einiges dazu‐ gelernt, seit Sie als geschwollenes Nadelkissen im Kranken‐ bett aufgewacht sind und nichts als dumme Fragen im Kopf hatten, meinen Sie nicht auch?» 167
«Doch, Sir.» «Jetzt haben Sie eine Ahnung, worum es hier geht.» Das Pferd wurde unruhig und begann wieder, im Kreis zu tänzeln. Dabei streifte ein Steigbügel den Zaun und klirrte leise. «Ja, Sir. Ein bisschen mehr.» «Aber so ein Wissen kann auch gefährlich werden, stimmtʹs?» Woolwrap starrte auf ihn herab und blickte dann zum Stützpunkt hinüber. «Das nehme ich an, Sir», antwortete Rudy. «Daher obliegt es mir, Sie weiter im Auge zu behalten, Soldat. ‹Ewige Wachsamkeit ist der Freiheit Preis›.» «Interessanter Wahlspruch, Sir. Ihrer?» Woolwrap schüttelte den Kopf. «Nein, vom Kommando der Strategischen Luftstreitkräfte. Gefällt mir aber ganz gut.» «Und um wessen Freiheit geht es dabei, Sir?» «Natürlich um meine, Soldat. Ganz allein um meine.» Unvermittelt gab Woolwrap seinem Pferd die Sporen, und das Schnauben der Stute klang wie ein Trommelwirbel. Sekunden später galoppierten Ross und Reiter den Hügel hinauf. Vermutlich hätte Rudy sich über die Folgen oder wenigstens die Entstehung eines bestimmten Verhaltens‐ musters Gedanken machen sollen, das deutlich hervortrat: immer wenn der Colonel herrisch wurde, reagierte Rudy impulsiv. Stattdessen war sein erster Gedanke, als er den Colonel jetzt mit seinem schönen Geld wegreiten sah, dass er den Brief des KAMERADEN abdrucken würde. Es war keine kluge Idee, sich als Wachhabender im Bunker hinzulegen, aber es war einfach zu verlockend. Die harten Dielen im Rücken, wand sich Rudy ein wenig, um die Munitionstaschen und sein Feldbesteck in die richtige Lage zu bringen, damit sie nicht drückten. Sein Gewehr lag direkt an seiner Seite. 168
Jetzt gegen Ende seiner Wache war das Wetter völlig umgeschlagen. Statt der einzelnen weißen Wölkchen am blauen Himmel schob sich nun eine tief hängende graue Masse den Fjord hinauf. Frostiger Niederschlag trieb schräg an der Bunkertür vorüber –Regen wechselte mit Graupel‐ schauern. Der leere Bunker lag unterirdisch und war deshalb wärmer als die Hütte oben auf dem Hügel, die den Sommer über noch nicht einmal mit einem Gasheizer ausgestattet war. Rudy pfiff vor sich hin. Er würde nicht einschlafen, auf keinen Fall. Bloß ein bisschen ausstrecken. Sein Pfeifen erstarb im leeren Bunker. Draußen ließ das Prasseln der Graupeln wieder nach und wurde vom Rauschen des Regens abgelöst. Dann wieder Prasseln. Rudy gähnte. Regentropfen oder Graupel oder was auch immer rauschten und prasselten weiter vor sich hin. Sehr beruhigend. Eigentlich müsste er draußen nachsehen; es war bestimmt nicht klug, hier herumzuliegen, aber es lag sich so entspannt auf den Dielen. Vielleicht war er eingeschlafen. Das Regengeräusch verän‐ derte sich für einen Moment, als könne der Klang nicht mehr durch die offene Tür herein. Rudy wandte den Kopf. Der Mann, der in der Tür stand, versicherte ihm, er werde ihn nicht vors Kriegsgericht bringen, obwohl er allen Grund dazu hätte. Er sagte, er könne verstehen, dass man sich hier leicht in Sicherheit wiegen könne, in einem schäbigen Muni‐ tionsdepot im arktischen Niemandsland. Jeder Soldat konnte wegen fehlender Feinde weiß Gott selbstgefällig werden, auch wenn ihn jederzeit ein Offizier kontrollieren mochte. Der Mann sagte, dass Rudy eines Tages vielleicht gar mit seinen Freunden darüber scherzen würde, wie er mal auf Wache eingeschlafen war und von einem Major General überrascht wurde. Das konnte nur ein Traum sein. Rudy war aufgesprungen, hatte dabei sein Gewehr auf den Boden geworfen und so schnell wieder aufgehoben, dass er sich den Laufan die Stirn 169
schlug. Zitternd und mit einem leichten Schwindelgefühl nahm er Haltung an. Scheiße, ein Major General. Was sollte das? Man setzte ihn ins Munitionsdepot und schickte dann eine ganze Prozession von Stabsoffizieren vorbei? Zuerst der Colonel, und dann dieser Kerl. Dieser Kerl lehnte am Türrahmen. Nach und nach konnte Rudy Einzelheiten erkennen. Der Mann hatte die Hände in den Taschen einer blauen Skijacke versenkt. Sein grauer Bürstenschnitt hob sich kaum vom gleichfarbigen Himmel ab. Scheiße, ein Major General. «Folgen Sie mir», sagte der Mann. Rudy folgte ihm hinaus in den Schneeregen. Weißgrauer Schneematsch bedeckte den Boden. Dabei war es doch Sommer. «Die Wetterstation vom Abschnitt Rot West meint, morgen kommt die Sonne wieder raus, dann schmilzt der ganze Dreck», sagte der General. Zwei Jeeps standen mit laufendem Motor in der Nähe der Wachhütte. Der Dienst habende Offizier, ein Lieutenant von der Fahrbereitschaft, tauchte aus dem Schatten auf. Er musste Rudy gesucht haben. «Alles in Ordnung, Lieutenant», rief der General. «Er hat bloß einen der leeren Bunker überprüft. Hat uns nicht gehört. Ich übernehme.» Der Lieutenant salutierte und sah Rudy misstrauisch an. Trotz seiner offenkundigen Skepsis stieg er in seinen Jeep und fuhr weg. «Hab Ihren Arsch gerettet, Soldat. Sie sollten mir dankbar sein», sagte der General. Rudy konnte nichts sagen. Der General sah ihn genauer an. «Sie sind doch derselbe Bursche, der vor dem Fenster des Colonel herumgeschlichen ist, was?» «Jawohl, Sir.» Das klang wie ein Piepsen. 170
Der General schüttelte den Kopf. Er befahl Rudy, zum ver‐ schlossenen Bunker zu kommen. Dann stieg er in seinen Jeep, fuhr hin und stieg mit einem Klemmbrett, einer Taschenlampe und dem Schlüssel bewaffnet aus. Die Tür klemmte auf ihren rostigen Schienen, und der General musste Rudy beim Öffnen helfen. Der General ging hinein und ließ den Strahl der Taschen‐ lampe durch den muffigen Raum schweifen. Rudy erkannte die gleichen Regale wie in den leeren Bunkern, doch hier waren sie mit Holzkisten gefüllt. Er las die Etiketten, die der General beleuchtete: Munition für das M‐1, Patronengurte für Maschinengewehre, dazu kistenweise Granaten und Mörsergeschosse. Der General murmelte vor sich hin. Er las die Kennziffern auf den Kisten, zog einige heraus und hob die Deckel, öffnete die Metallbehälter, die darin lagen. Über seine Schulter konnte Rudy die Stahl‐ und Messinghülsen der Geschosse erkennen. «Alle abgelaufen, verdammte Scheiße», hörte Rudy den General murmeln, der sich wieder aufrichtete und die Kiste, die er gerade untersucht hatte, mit dem Fuß ins Regal zurückschob. «Die Geschichte wiederholt sich. Woolwrap, was soll ich bloß mit dir machen?» Der General drehte sich um und schien beinahe überrascht, Rudy vor sich zu sehen, doch dann wandte er sich wieder der Munitionsüberprüfung zu. «Wir sollten den ganzen Schlamassel einfach in die Luft jagen, wenn wir abhauen. Das wäre ein gelungener Ab‐ schied. Leb wohl, Koreakrieg! Bumm!» Der General mar‐ schierte an Rudy vorbei in den Schneeregen hinaus. «Aber das ist ja alles schon so alt, wahrscheinlich würde es bloß noch pfffft machen.» «Wie meinen, Sir?» «Ach nichts. Egal. Machen Sie die Tür zu, wenn Sie rausgehen, Corporal. Und halten Sie den Mund.» 171
SIEBZEHN Das Schloss klickte leise, nachdem Rudy über die Sprech‐ anlage seinen Namen genannt hatte. Er drückte die Tür sachte auf und trat ins Allerheiligste des Flügels. Das Licht war gedämpft wie immer; die Lampen glommen; es roch wie sonst auch, und als er weiter hineinging, hörte Rudy das übliche Murmeln. Heute allerdings waren mehrere GIs anwesend, von denen nur einige als Sanitäter damit beschäf‐ tigt waren, die Tropfflaschen zu wechseln. Von den anderen starrte einer aus dem Fenster in die Berge, ein anderer saß auf einer Trage und sah zu Boden, ein dritter war auf seinem Stuhl eingeschlafen. Der Colonel hatte gesagt, der Flügel sei der Sinn und Zweck des Stützpunkts überhaupt. Irene hatte von seiner 172
besonderen Wirkung gesprochen. Offenbar war sie nicht die Einzige, die manchmal bloß zum Herumsitzen herkam. Das Gemurmel der Patienten weckte zwei der Soldaten aus ihren Gedanken, und sie nickten Rudy zu. Er tippte sich mit der zusammengerollten Ausgabe von Life, die er mitgebracht hatte, an die Schläfe und deutete einen Gruß an. Niemand sprach etwas. Guy X schien zu schlafen. Sein Arm lag auf der Brust, die drei Finger zuckten. Der Augenspiegel verdeckte sein halbes Gesicht und sah in der Umgebung von weißen Laken und bleicher Haut wie eine silberne Eisscheibe aus. Rudy trat in die abgeteilte Nische. Immer noch keine Reaktion. Draußen war es fast dunkel. Inzwischen war der Wechsel der Jahreszeit deutlich zu erkennen: In der Nacht gab es jetzt tatsächlich Dunkelheit, und die verlängerte sich von Tag zu Tag um zehn Minuten. Rudy setzte sich und schlug die Zeitschrift auf. Er hatte gedacht, wenn Guy X bewusstlos war, könnte er ihm aus Life vorlesen. Vielleicht ein bisschen albern, aus einer Zeitschrift vorzulesen, die hauptsächlich aus Bildern bestand– aber er malte sich aus, dass der Klang seiner Stimme das Entschei‐ dende war. Als sein Vater nach dem Unfall damals im Krankenhaus lag, hatte eine Krankenschwester ihm erzählt, dass Komapatienten hören könnten. Manchmal hatte er mit seinem Vater geredet. Das hatte ihn zwar nicht gerettet, aber immerhin hatte er etwas zu tun, während sein Vater ihm entglitt. Die Titelstory drehte sich um die sieben Astronauten des Mercury‐Programms. Rudy las Guy X den Artikel vor und beschrieb die Fotos von den Astronauten in den Cockpits ihrer Düsenflugzeuge, in Zentrifugen und Tauchtanks, beim Training in der Wüste. Rudy musste zugeben, dass sie toll aussahen: entschlossene Teufelskerle mit Bürstenschnitten. Sie waren bereits Helden, obwohl sie noch gar nicht im All gewesen waren. Rudy schaute Guy X an. Weggetreten. Er 173
sah sich in der Station um. Still und ruhig. Das Ende allen Heldentums. Auf einem Foto sah man die sieben Astronauten, wie sie der Presse vorgestellt wurden. Sie trugen Anzug und Krawatte und saßen hinter einem langen Tisch mit weißer Decke und mehreren Mikrophonen. Alle sieben grinsten breit und hoben die Hand. Rudy hörte auf zu lesen und sah Guy X an. Im Reflektor sah er sein eigenes Gesicht, aber durch das kleine Guckloch in der Mitte wurde er beobachtet. Guy X war aufgewacht; sein Auge bewegte sich im Schatten hinter dem Augen‐ spiegel. «Hallo –», flüsterte Rudy. Guy X seufzte. Rudy war ihm so nahe, dass er seinen Atem riechen konnte. Er hatte Mundgeruch erwartet, aber es roch eher nach feuchter Wolle. «Zeigen Sie mal das Bild», krächzte Guy X. Rudy hielt es hoch. «Hier steht, man hat sie gerade gefragt, wer der Erste im Weltraum sein möchte», sagte er. «Und alle haben sich gemeldet.» Guy X sah sich das Bild durch den Reflektor an. Der Lichtpunkt tanzte über die lächelnden Gesichter der Astro‐ nauten. Er drehte den Kopf weg. «Bringen Sie Bücher mit», sagte er. «Beim nächsten Mal bringen Sie Bücher mit. Klassiker. Lesen Sie mir aus den Klassikern vor.» «Okay», sagte Rudy. Er klappte die Zeitschrift zu. «Klassiker.» Guy X sah ihn an. «Der Corporal ist also wiedergekommen», sagte er mit belegter Stimme. Er leckte sich die Lippen und klappte den Spiegel hoch. «Ich war schon mal hier», sagte Rudy. «Sie waren bewusst‐ los. Ich habe einen Brief gefunden, der an mich gerichtet 174
war.» «Haben Sie ihn mitgenommen?» Rudy nickte. Guy X wirkte einen Augenblick erleichtert, dann wurde er streng. «Warum haben Sie ihn nicht abgedruckt?», fragte er. «Werde ich. Ganz bestimmt», sagte Rudy. «Ich weiß nur nicht genau, was er mir sagen soll.» «Was drinsteht», sagte Guy X. «Geht es darum, dass der Stützpunkt geschlossen wird?» «Sie haben es erfasst, Sherlock.» «Und irgendetwas muss mit euch hier passieren.» Guy X spannte die Muskeln an, als wollte er sich auf‐ richten. «Ich habe das kleine Zivilistenarschloch reden hören», sagte er. Rudy beugte sich vor und legte die Hand auf das Bett. «So einer mit Skijacke und Bürstenschnitt?» Guy X nickte. «Das ist kein Zivilist», sagte Rudy. «Was hat der hier zu suchen?» «Guckt sich um. Summt vor sich hin. Macht Notizen. Spricht mit dem Colonel.» «Und Sie haben gehört, dass sie den Laden dichtmachen wollen?» «Sie denken darüber nach. Ich höre dauernd ‹Wenn wir .. .› und ‹Sollten wir nicht.. .›. Und dann denke ich mir mein Teil.» Guy X klang traurig, und Rudy überraschte sich selbst– er stand auf und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Aus der Nähe wirkte Guy X noch körperloser. «Meinen Sie, dass Ihnen etwas zustoßen wird?», fragte er. Guy X hörte nicht zu. Er schien an die Decke zu starren. Vielleicht, dachte Rudy, versucht er, mit dem Spiegel Signale zu geben; aber Guys Blick war leer. Er atmete noch, aber es waren kurze, flache Züge. Sein ganzer Körper vibrierte unter einem Krampf, wie ein Wasserglas bei großem Lärm. Hätte 175
Rudy nicht direkt neben ihm gesessen, hätte er vielleicht gar nicht bemerkt, dass Guy X am ganzen Körper zitterte. Ein leises Quieken stieg aus der Kehle des Verstümmelten. Rudy kam der absurde Gedanke, dass dem Vibrationsmotor der Schmierstoff ausgegangen sei und dass deswegen die Lager zu quietschen anfingen. Er dachte an das Geräusch der Beatmungsmaschine am Sterbebett seines Vaters. Solche Geräusche, ob innerlich oder äußerlich, kündigten das Ende an; das hatte er jedenfalls mit vierzehn geglaubt. Er hoffte inständig, dass sich diese Vorstellung jetzt nicht noch einmal bewahrheitete. Er stand auf. Er wusste nicht, ob er eine Schwester rufen oder versuchen sollte, Guy X festzuhalten. Das Zittern wurde stärker. Dann hörte es plötzlich auf. Der Strom war sozusagen abgeschaltet. Guy X hob den Arm und öffnete das Auge. «Ich will, ich will», röchelte er. Sein Arm hing in der Luft. Rudy kniete sich neben ihn. «Was?» «Ich will.» «Was denn?», fragte Rudy. «Ich will als Erster in den Weltraum, du Arsch.» Guy X ließ seinen Arm auf die Matratze fallen und atmete nun die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge eines Schlafenden. Als Rudy sich zum Gehen wandte, bemerkte er, dass die Sanitäter und Soldaten alle schon gegangen waren. Nur noch zwei der Tiffanylampen brannten. Im Verschlag in der Mitte des Flügels saß eine Schwester und füllte Krankenkarten aus. Es herrschte Nachtruhe. Rudy ging leise den Mittelgang entlang und bemerkte, dass bei einem Patienten offenbar noch Leute waren. Er blieb stehen. Obwohl es dunkel war, konnte Rudy erkennen, dass keine Schläuche gewechselt oder Wunden verbunden wurden. Rudy trat näher. Er erkannte den Colonel, der mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen am Fuß eines Bettes 176
kniete und betete. Rudy verharrte einen Moment und starrte den Colonel an, als aus dem Schatten am Fenster eine andere Gestalt hervortrat. Es war Irene. Sie sah beunruhigt aus und bedeutete Rudy, dass er still und leise verschwinden solle. Er ging weiter, schaute sie aber die ganze Zeit an und warf ihr kurz vor dem Ausgang eine Kusshand zu. Der Colonel hob den Kopf, und Irene legte ihm gerade die Hand auf die Schulter, als Rudy durch die Tür schlüpfte. Dem Kaplan, Captain Stu Brank, war die Lazarettbibliothek als Unterkunft zugeteilt worden. Das Zimmer war mit Metallregalen voll gestellt, die von Büchern, alten Zeit‐ schriften und älteren Ausgaben des Armeemagazins Stars and Stripes überquollen. In einer Ecke stand das Bett des Kaplans, darüber hing ein Kreuz an der Wand. Captain Brank nahm Rudy an der Tür in Empfang. Er hatte blaue Augen, konnte also kein echter Albino sein, aber seine Haut war bleich wie Kerzenwachs. Er trug T‐Shirt und Dril‐ lichhose. Auf seinen Unterarmen kräuselte sich dichtes, weißes Haar, das an Holzwolle erinnerte. Rudy hörte das Rauschen eines Kurzwellenradios, in das sich piepsende, jaulende Störgeräusche mischten. Der Empfänger stand auf einem Tisch zwischen Tuben mit Öl‐ farben, Pinseln, Lappen und einer gerade gelegten Patience. «Corporal!», begrüßte ihn der Kaplan. «Ich habe die Weltnachrichten für Sie schon fertig getippt. Kommen Sie rein!» Der Kaplan eilte ins Zimmer zurück, stellte das Radio leiser und nahm einen Stapel Papiere vom Tisch. Rudy war zum ersten Mal hier. Als Erstes fielen ihm die Fenster auf: sie waren mit Leinwänden zugehängt, die das Meer zeigten. Der Kaplan bemerkte Rudys Blick. «Gefallen sie Ihnen?», fragte er begeistert. «Das ist mein Sujet.» 177
«Das Meer?», fragte Rudy. «Genau!» Der tiefblaue Himmel, den Rudy über Qangattarsa hatte leuchten sehen, fand sich auf den Bildern wieder, doch nichts erinnerte an den Fjord oder die Berge draußen. Felsen und Wasser waren zwar zu erkennen, doch alle Bilder zeigten eine kleine Steinhütte auf einer baumlosen Insel inmitten des wild bewegten offenen Meeres. Rudy fand die Gemälde ziemlich gelungen. «Schon mal vom heiligen Brendan gehört?», fragte der Kaplan. «Nein, Sir.» «Na, na, na ...» Der Kaplan wedelte drohend mit den beschriebenen Seiten. «Oh Verzeihung, Stu –», verbesserte Rudy sich. Der Kaplan mochte nicht mit Captain, Kaplan oder Sir angeredet werden. «Der heilige Brendan war sozusagen der erste irische Auswanderer. Ende des fünften Jahrhunderts wurde er geboren. Mit zwölf Mann soll er von Irland nach Grönland gesegelt sein – auf einer Curragh, wie man die kleinen Fellboote nannte.» Das Wort Curragh sprach der Kaplan so heiser aus, dass Rudy befürchtete, er werde sich gleich räuspern und ihm den Auswurf auf die Stiefel spucken. «Kleine Teetassen mit Segeln», fuhr der Kaplan fort und tippte zur Verdeutlichung mit dem Finger an eine der Tassen auf dem Tisch. «Wenn das stimmt, war es eine seemännische Meisterleistung, die sogar die Wikinger in den Schatten stellt.» Der Kaplan legte den Stapel Papiere auf den Tisch und begann, einen der Pinsel mit dem Lappen zu säubern. «Ich bin ja kein Katholik», sagte er, «sondern Episkopalist. Aber was ich über Brendan gelesen habe, hat mich sehr fasziniert. Diese Triebkraft. Dieser Wille. Dieser Wagemut. Stellen Sie 178
sich das mal vor, mein Sohn.» Der Kaplan starrte Rudy an, ein Auge zugekniffen, wie ein alter Pirat. Rudy wich unwillkürlich einen Schritt zurück. «Ich stelle es mir dauernd vor», sagte Captain Brank und wedelte mit dem Lappen in Richtung der Bilder. «Ich stelle es mir so deutlich vor, dass ich gar nichts anderes mehr sehen will. Brendans Mönchszelle hatte die Fenster oben, zum Himmel hin, zu Gottes Wohnung. Ich sehe nur Brendans Wohnung.» «Deshalb stehen die Leinwände vor den Fenstern?», fragte Rudy. «Genau!», antwortete Captain Brank. «Das sind alles An‐ sichten von Brendans Einsiedelei. Oder sagen wir, meine Impressionen davon. Bloß eine Schäreninsel. Das Meer. Der Fels. Gott.» Der Kaplan wischte so heftig am Pinsel herum, als wollte er ihm die Haare ausreißen. «Es gibt eine Theorie, dass besonders die Einsiedler in der Wüste die großen Erscheinungen der Heiligen hatten, dass mystische Erfah‐ rungen an die Sonne gekoppelt sind. Das ist aber großer Unsinn! Hier in der Arktis gibt es ebenso viele Erschei‐ nungen. Ich warte allerdings noch auf meine. Vielleicht werden auch Sie eine erleben. Was glauben Sie?» Der Kaplan beugte sich vor. Es sollte keine rhetorische Frage sein. «Ich weiß es nicht», sagte Rudy. «Natürlich nicht!», sagte der Kaplan. «Das weiß niemand. Wir müssen einfach bereit sein. Wir sind hier. Sie wird uns schon rechtzeitig erreichen. Hier sind Ihre Meldungen.» Er drückte Rudy die Blätter in die Hand. Rudy bedankte sich. Sein Blick schweifte über die Regale, und ihm fiel wieder ein, warum er eigentlich gekommen war. «Klassiker», sagte er. «Haben Sie welche?» Das Gesicht des Captain erhellte sich. «Wollen Sie einen Wintervorrat anlegen?», fragte er. 179
«Ja», antwortete Rudy. «Der kommt anscheinend schneller, als man denkt.» Der Kaplan machte sich freudig auf die Suche. Rudy schlenderte an den Regalen entlang. Es roch staubig und leicht muffig, wie im Keller alter Kirchen, wo Chorgewänder in Schränken hängen und Altarbilder in Decken gewickelt aufbewahrt werden. Er entdeckte eine Abteilung mit fast vergessenen, gestifteten Romanen und jede Menge Kurz‐ fassungen von Readerʹs Digest. Er fuhr mit dem Finger über die Rücken einiger Bände Militärgeschichte. Im untersten Re‐ galfach lagen mehrere Stapel alter Ausgaben von Stars and Stripes. Captain Brank kehrte mit Tom Sawyer, Ivanhoe und Walt Whitmans Gedichtsammlung Grashalme zurück. «Ich werde Ihnen noch mehr heraussuchen. Ich kann auch noch mit einer Ausgabe vom Leben des heiligen Brendan dienen, von Baeda Venerabilis, wenn es Sie interessiert», sagte er. «Ich fange erst mal hiermit an», sagte Rudy. «Danke.» Dann entdeckte er hinter der Schulter des Kaplans ein zweibändiges Werk– Die Geschichte der Divisionen der Vereinigten Staaten von der Revolution bis zum Koreakrieg. «Könnte ich mir von da drüben auch das eine oder andere ausleihen?», fragte Rudy. «Militärgeschichte?», fragte Captain Brank zurück und blickte sich um. «Ich fange an, mich dafür zu interessieren», sagte Rudy. «Bedienen Sie sich», sagte der Kaplan. Rudy zog also einige Bücher und Zeitungen heraus und legte sie zu den Klassikern. Er musste zweimal gehen, um alles in sein Zimmer zu schaffen. Es dauerte mehrere Stunden, bis er etwas entdeckte. Er hatte die Bücher und Zeitungen auf dem Fußboden ausge‐ breitet. Zuerst überprüfte er im zweiten Band der Divi‐ sionsgeschichte, wo die Bataillone im Koreakrieg stationiert 180
waren. Dann arbeitete er die Ausgaben der Stars and Stripes durch. Das 6.Bataillon der S.Infanterie‐Division hatte 1951 nördlich von Seoul schwere Gefechtsverluste hinnehmen müssen. Es gab Hinweise auf «Materialversagen» und «schadhafte Munition», was den Ausgang der Schlacht beeinflusst hatte. Das Amt für Presse & Information teilte mit, der Fall sei «Gegenstand einer Untersuchung». In späteren Ausgaben der Zeitung wurde der Vorfall kaum noch erwähnt. Bei der Untersuchung seien «Unregelmäßigkeiten bei der Beschaf‐ fung» aufgedeckt worden, die möglicherweise die «Gefechts‐ fähigkeit der Soldaten beeinträchtigt» hätten. Diese Unregelmäßigkeiten hinsichtlich der Ausrüstung und Munition seien «ein internes Problem der Quarter‐ masters», so P&I. «Zwei Kompanien haben wir beinahe vollständig ver‐ loren», hieß es. Es waren die 1. und 2.Kompanie des 6. Batail‐ lons der S.Infanterie‐Division.
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ACHTZEHN Als er sich zum Mannschaftsclub aufmachte, war es zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Qangattarsa richtig dunkel. Es wurde Herbst. Er hatte überlegt, womit er die nächste Ausgabe der Harpoon aufmachen sollte. Vielleicht etwas ganz Harmloses: Vorschläge für den langen Winter – Trinkspiele, die Kunst‐ kurse des Kaplans, ein Flipperturnier. Nicht sehr aufregend. Aber er hatte noch eine andere Idee. Der Brief des KAMERADEN und die Lektüre der Bücher aus der Bibliothek hatten ihn darauf gebracht. Er war allerdings nicht sicher, ob er sie tatsächlich umsetzen sollte, weshalb er das Ganze bei einem Bier noch einmal überdenken wollte. Im Club bot sich das unter der Woche übliche Bild: Die 182
Jukebox spielte Tony Bennett, ein paar Gefreite und zwei oder drei Schwestern waren da. Niemand aber, den Rudy kannte, und so setzte er sich allein an die Theke. Er nippte an seinem Bier, als er sich an die kleine Statue erinnerte, die er dem Eskimohändler Allez Hopp abgekauft hatte. Seit dem Gelage hatte er die Figur immer bei sich und fuhr oft mit dem Daumen darüber. Manchmal nahm er sie in die Hand und drückte sie, als könnte ihm das Glück bringen oder seine Sehnsucht lindern. Er betrachtete die Figur, bis ihm einfiel, dass der Barkeeper oder sonst jemand ihn beobachten könnte: einen einsamen Trinker, der sich an ein Eskimototem klammerte. Schnell ließ er die Figur wieder in der Tasche verschwinden, bezahlte und ging. Als er draußen stand und nach Süden schaute, sah er am Himmel Wolkenfetzen von den Berggipfeln wehen. Sie schienen zu flackern, wie gepeitscht von einer kräftigen Brise unter dem Mondlicht. Doch die Luft war still. Und es gab auch keinen Mond. Etwas stimmte nicht. Rudy drehte sich um. Am Himmel über dem Club stiegen riesige blaugrüne, weiß violette Licht vorhänge von der Bergkette auf, die das nördliche Ufer des Fjords begrenzte. Das Nordlicht. Er verlor beinahe das Gleichgewicht, als er den Kopf in den Nacken legte, um die aufstrebenden Lichtfahnen in ihrer ganzen Breite und Höhe am Nachthimmel zu sehen. Als er vorhin zum Club aufbrach, war das Polarlicht noch nicht da gewesen. Jetzt war es so hell, dass es beinahe die Sterne auslöschte. Er ging den Kiesweg hinunter. Seine Augen gewöhnten sich nach und nach an das ungewöhnliche Licht, und er gewahrte menschliche Gestalten. Vielleicht dreißig, vierzig Leute, die um ihn herum zu zweit und in Gruppen zusam‐ mensaßen und das Spektakel betrachteten. Sie waren ins Freie gekommen, während er an der Bar gesessen hatte. Ab 183
und zu, wenn die Lichter besonders lebhaft pulsierten, zeigte jemand nach oben, und es folgte ein andächtiges Oooh und Aaah der Zuschauer. Alles war violett erleuchtet. Rudy kam sich vor wie in einem Autokino ohne Autos. Im Hauptquartier brannte noch Licht. Er bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen – sogar ein paar Inuit hatten sich unter die GIs gemischt und tranken Bier mit ihnen– und erreichte schließlich das Gebäude. Er sah sich um: die Him‐ melsspäher waren alle weit genug entfernt und schauten in die entgegengesetzte Richtung. Er schlich sich an das einzige erleuchtete Fenster heran, hinter dem jemand schnell und versiert tippte. Wie Kilroy lugte er über das Fenstersims. Irene war allein im Büro. Sie saß am Schreibtisch, einen Bleistift quer zwischen den Zähnen wie einen Piratendolch, und tippte. Sie war so wunderbar sicher in dem, was sie tat. Er spürte förmlich ihren Rhythmus. Es war zwar nur Büroarbeit, aber Irene erledigte sie so effizient und souverän, dass er sie mit staunender Freude betrachtete. Neulich an der Frachtmaschine, als die Druckpresse geliefert worden war, war es ihm ganz ähnlich ergangen. Nun klopfte er ans Fenster. Irene sah auf – ganz ruhig, ohne einen Anflug von Besorgnis – und legte den Kopf schräg. Rudy winkte. Sie kniff die Augen zusammen und lächelte, als sie ihn durch die spiegelnde Scheibe erkannte. Er winkte sie zu sich. Sie kam und öffnete das Fenster einen Spalt. Ein Lichtstreifen fiel aufsein Gesicht. «So spät noch bei der Arbeit?» «Leider.» «Hat der Chef schon Feierabend?» Sie nickte. «Siehst du, was hier draußen geboten wird?» «Meinst du dich?» «Ich meine den Himmel.» Irene schaute nach oben, konnte aber offenbar nichts 184
erkennen. «Mach das Licht aus», sagte Rudy. Sie knipste die Lampe aus. Das Zimmer war nun vom Schein des Nordlichts durchflutet. «Mein Gott ...», hörte Rudy sie von irgendwoher sagen. «Komm nach draußen», flüsterte er. Rudy hörte Irene im Zimmer rascheln und dann die Büro‐ tür abschließen und dachte, sie sei vielleicht schon hinaus‐ gegangen, als sie plötzlich wieder am Fenster auftauchte. Sie öffnete es ganz und kam herausgeklettert, in seine Arme. Einen Augenblick standen sie da wie ein Brautpaar vor der Schwelle. Rudy spürte ihre Hand im Nacken und sah ihr Gesicht im Himmelslicht und konnte in ihren Augen erken‐ nen, dass sie sich zwar genau wie er über ihre kitschige Pose amüsierte, dass sie diese aber auch genoss. Er setzte sie behutsam ab und half ihr, das Fenster zu schließen. Einen Augenblick betrachteten sie schweigend die gewaltigen leuchtenden Wolkenfahnen über sich und staunten, dass etwas so Großes und Lebendiges keinen einzigen Laut verursachte. «So schön habe ich es noch nie gesehen», flüsterte Irene. «Gehen wir ein Stück», sagte Rudy. «Wohin?» «Keine Ahnung. In die Richtung.» Er zeigte zu den Bergen hinter der Landebahn. Sie schlenderten schweigend über Geröll und Flechten. Als sie den Stützpunkt hinter sich gelassen hatten, hakte Irene sich bei Rudy unter, und ein Freudenschauer durchfuhr ihn. Er fragte sich, ob sie das wohl bemerkte, während sie sich beim Gehen an ihn drückte. Sie kletterten die Böschung am Ende der Piste hinauf und sahen sich am Straßenrand wie Schulkinder nach links und rechts um. Dann folgten sie dem Fahrweg, vorbei an dem Aschehaufen bis zu den Findlingen, die Irene als alten Wikingerhof bezeichnet hatte. 185
Rudy kletterte auf eine der Steinmauern und ließ Irenes Hand los. «Was sagtest du, wie lange es her ist, dass die Wikinger hier waren?», fragte er. «Tausend Jahre.» Rudy sah sich die Mauern an. «‹... sind nur wie ein Tag, wenn er vergangen ist›», fuhr Irene fort, «‹... und wie eine durchwachte Nacht.›» Rudy wandte sich um zu ihr. «Das ist aus der Bibel», sagte sie. «Bist du religiös?» Er balancierte mit ausgestreckten Armen auf der Mauer. Sie ging am Boden neben ihm her. «Mein Vater war es. Er hat uns immer und immer wieder aus den Psalmen vorgelesen.» «Uns?» «Ma und mir.» Sie nannte ihre Mutter Ma; Rudy hatte seine mit Mom angeredet, wie alle Kinder in seiner Nachbarschaft. Aber hier war er mit einer Frau aus dem Hochland. Flach und eben bis zu den Bergen am Horizont. «Du hast doch erzählt, dass dein Vater deine Mutter verlas‐ sen hat. Dann war es mit der Religion nicht so weit her, dass er sich an die Regel ‹bis dass der Tod uns scheidet› gehalten hätte?» Irene schüttelte den Kopf und setzte sich dort auf die Mauer, wo Rudy stand. Sie wandten dem Stützpunkt den Rücken zu und schauten zu den Bergen hinauf. «Nein», sagte sie. «Nach Korea nicht mehr, nehme ich an. Nach der Scheidung ist er abgehauen. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist.» «Seit dem Koreakrieg vermisst», sagte Rudy. «Wie diese Jungs da unten.» Er nickte in Richtung Lazarett. «Könnte man so sagen», flüsterte Irene. Rudy setzte sich neben sie und erzählte von seinem Vater, der im Zweiten Weltkrieg im U‐Boot gefahren war; er 186
erzählte, wie dieser Vater später dann oft schrecklich still einfach nur so dagesessen und zu Boden oder in die Luft gestarrt habe, dorthin, wo Wände und Zimmerdecke sich trafen. «Es sah aus, als würde er dem Sonargerät lauschen, als würde er über sich die Schrauben eines Zerstörers hören. Als würde er darauf warten, dass eine Wasserbombe ihn erwischt.» «Hast du ihn je darauf angesprochen?» «Ja, gelegentlich. Als ich klein war. ‹Was machst du da, Dad?› – ‹Ich denke nach.› – ‹Worüber?› – ‹Schätze, über den Krieg.› – ‹Weißt duʹs nicht genau?› – ‹Nein.›» Rudy stand auf und warf einen Stein gegen die entfernte Felsmauer. Es klickte, als er die unten liegenden Findlinge traf. Das Nordlicht flackerte noch. Etwas in ihm flackerte und flatterte auch, und das rührte nicht daher, dass er mit Irene zusammen war. Über seinen Vater zu reden hatte ihn aufgeregt. Er schleuderte noch einen Stein hinterher, der prallte klackend ab und landete mit einem dumpfen Geräusch in der Tundra. «Meine Mutter hatte auch manchmal solche Zustände», sagte Irene. «Das lag wahrscheinlich an ihrer Arbeit als Uransucherin. Manchmal habe ich sie beobachtet, wenn wir unterwegs waren. Sie hat geraucht und aus einem Motel‐ fenster in die Wüste gestarrt. Ich habe gemerkt, dass ihr alles absolut albern vorkam. Und gleichzeitig schrecklich. Als würde sich jemand einen furchtbaren Scherz mit ihr erlau‐ ben. Irgendein Stein sendet unsichtbare Strahlen aus, die einen Geigerzähler klicken lassen, und schon wird man Millionär. Aber sie wurde nicht reich, sondern nur einsam. Auch wenn sie es nie gesagt hat. Sie hat immer weiter‐ gesucht, aber ich habe es gemerkt. Irgendwie hat sie auch unsichtbare Strahlen ausgesandt, und dann hat es bei mir klick gemacht: Sieh zu, dass du nicht allein bleibst.» Rudy wollte gerade einen weiteren Stein werfen, aber er ließ ihn fallen und setzte sich wieder. Irene rückte näher an 187
ihn heran. Er sah sie an und drehte ihren Kopf vorsichtig in seine Richtung. Sie schien aus einem tiefen Traum zu erwachen. Zuerst küssten sie sich ganz sacht. Die Wärme ihrer weichen Lippen überraschte Rudy. Und plötzlich schien ihm alles um sie herum von einer Kälte, die ihn frösteln ließ: das Licht, das Land, das Militär. Er spürte ihren Atem auf seinem Gesicht. Wieder erschauerte er, umarmte sie, drückte sie an sich, und sie küssten sich heftiger. Irgendwann standen sie auf und gingen weiter. Das Polar‐ licht wurde schwächer. Rudy war etwas schwindelig. Irene erzählte ihm, dass die Wikinger das Nordlicht für den Widerschein der goldenen Schilde der Walküren hielten, der jungfräulichen Kriegerinnen, welche die Seelen der ver‐ storbenen Helden über den Himmel geleiteten, über die Regenbogenbrücke nach Walhalla ins ewige Leben. Auf einer kleinen Erhebung oberhalb der rechteckigen Steinwälle blieben sie stehen. Der Löwenzahn, den Rudy bei seinem ersten Besuch hier gesehen hatte, war verblüht. Einige Steine waren ins Erdreich gesunken und hatten Löcher hinterlassen, gestrichelte Linien, die anzeigten, wo die Grundmauern einmal verliefen. Noch einmal erzählte sie ihm von der untergegangenen Kolonie der grönländischen Wikinger, von den Resten des Stammes, der in Inzucht verkümmerte und sein seltsames Christentum praktizierte. Hand in Hand erreichten sie die Wegkreuzung oberhalb des Stützpunktes. «Lieber nicht zu nah», flüsterte Irene. «An den Stützpunkt, meinst du», sagte Rudy, und Irene lachte. «Nein», neckte sie. «An mich.» Dann zog sie ihn an sich, und sie küssten sich lange und leidenschaftlich, tauschten hastige Zärtlichkeiten aus, küssten sich auf Hände, Hals, Gesicht, schauten sich in die Augen, küssten sich wieder und 188
trennten sich dann nach verzweifelten Umarmungen. Es wäre zu riskant gewesen, gemeinsam zum Stützpunkt zurückzugehen, also wartete Rudy und sah Irene nach, die allein im Schein des verglühenden Polarlichts den Weg zu den Quartieren entlangwandelte. Dann drehte er sich um, sah ein letztes Mal zum Himmel und zu den großartigen Lichtern hinauf. Auch für ihn galt: So schön waren sie ihm noch nie erschienen. «Ein, zwei Dinge, Corporal.» Rudy war in Unterwäsche, als er die Tür öffnete — er hatte dienstfrei –, und stand seinem Kommandeur gegenüber. Der Colonel hielt ein Exemplar der Harpoon in der Hand und zog den Falz mit Daumen und Zeigefinger nach. Er hielt Rudy die Schlagzeile auf der Titelseite vor die Nase: GERÜCHTEKÜCHE KOCHT ÜBER
Der Colonel warf die Zeitung auf Rudys Bett, sodass beide sie lesen konnten. «Korrigieren Sie mich, wenn ich was Falsches sage, Corpo‐ ral, aber sollte eine Zeitung nicht Nachrichten vermelden?» Rudy wusste nicht, wohin mit seinen Händen. Wenn er sie auf dem Rücken zusammenlegte wie beim Appell, fühlte er sich zu ungeschützt. Sie vorne vor die Genitalien zu halten schien ihm zu zimperlich. Also ließ er einfach die Arme hängen. Der Colonel trat einen Schritt zurück. Er starrte die Aus‐ gabe der Harpoon an, als untersuche er eine Stuhlprobe. «Das da», sagte er mit einer abfälligen Handbewegung, «würde ich nicht als Nachricht bezeichnen. Ein Aufmacher über Gerüchte, Corporal. Sind das Ihre Nachrichten?» Rudy sog Luft durch die Zähne. «Ich gebe zu, das ist eher ungewöhnlich, Sir.» Der Colonel nickte spöttisch. 189
«Aber», fuhr Rudy fort, «ich dachte, so eine Reportage kann man machen. Ich meine, seit dem Gelage ist hier so gut wie nichts mehr passiert.» Das Gesicht des Colonel gefror in einem angespannten Starren. «Aber Gerüchte, Sir, gibt es eine ganze Menge. Wir hatten doch beschlossen, dass die Zeitung uns etwas über uns selbst erzählen sollte. ‹Interne Presse› haben Sie das genannt, glaube ich. ‹Über uns, für uns›. Und über uns ist mir das am meisten aufgefallen: die Gerüchte hier. Also, habe ich gedacht, schreibe ich einen Artikel darüber. Truppen‐ gerüchte. Hörensagen. Andeutungen. Die Buschtrommeln. Das wildeste Gerücht, das ihr je gehört habt. Frauengerüchte und Männergerüchte im Vergleich. Gerüchte, die man gerne glauben will. Das Körnchen Wahrheit an aktuellen Gerüch‐ ten. Die Spekulationen —» «Ich habe den Artikel gelesen, Spruance.» «Jawohl, Sir.» Der Colonel ging zu Rudys Schreibtisch, nahm sich eine Büroklammer und bog sie auf. «Vielleicht muss ich die Artikel doch kontrollieren, bevor sie in Druck gehen. Ich hatte gehofft, das wäre nicht nötig. Dieses Überraschungs‐ moment gefiel mir ganz gut. Das bisschen Spannung, wenn die neue Ausgabe auf meinem Schreibtisch landet. Aber ...» Der Colonel schüttelte den Kopf und seufzte schwer. «Sir, was genau hat denn an diesem Artikel ...» Rudy suchte nach dem passenden Ausdruck. «... Ihr Missfallen erregt?» Der Colonel wickelte den Klammerdraht um seinen Zeigefinger und richtete ihn auf Rudy. «Das darf ich Ihnen nicht sagen, Corporal.» «Nein?» «Nein. Damit würde ich womöglich indirekt geheime In‐ formationen preisgeben.» «Ach so. Das geht natürlich nicht.» 190
Die Augen des Colonel verengten sich weiter. «Klug‐ scheißer sind nirgends beliebt, Corporal. Und schon gar nicht in der U.S. Army.» Der Colonel hielt inne. Vielleicht wartete er auf eine Entschuldigung, aber Rudy schwieg. Auch in Unterwäsche war er nicht bereit, klein beizugeben. «Und dann», fuhr der Colonel schließlich fort, «ist da noch das hier. Er nahm die Zeitung vom Bett, schlug die Leser‐ briefseite auf und zeigte auf den Brief des KAMERADEN. «Wissen Sie, wer das geschrieben hat?», fragte er. Rudy zögerte einen Augenblick und sagte dann: «Nein.» Der Colonel drehte die Büroklammer weiter um seinen Finger und musterte Rudy von oben bis unten. «Sie drucken anonyme Briefe? Kommt nicht infrage, Corporal. Nicht in dieser Zeitung. Keine Briefe ohne eindeutigen Absender. Die Harpoon wird keine Schmierereien abdrucken, und anonyme Briefe sind genau das.» «Jawohl, Sir.» «Ansonsten», sagte der Colonel, «weiter so.» Er ging zur Tür. Rudy schoss eine Frage durch den Kopf. Es wäre Wahn‐ sinn, sie zu stellen, aber nachdem ihn der Colonel schon fast nackt erwischt hatte, war ohnehin nicht mehr viel zu ver‐ lieren. Er hatte sich wegen der Zeitung mehrere Nächte um die Ohren geschlagen und Irene nicht gesehen, aber ständig an sie gedacht. Im Grunde konnte er von Glück reden, dass er keine Erektion hatte, als der Colonel klopfte. Seiʹs drum, die Erinnerung an ihre Küsse machte ihn leichtsinnig. «Sir?», fragte er. «Sir, was wird denn nun aus einigen Leuten, wenn es hier zu Ende geht?» «Was?» Der Colonel hatte ihn verstanden, das wusste Rudy ganz genau. «Anonym oder nicht, der Brief wirft doch eine interessante Frage auf. Ich dachte, ich darf sie stellen, weil ich doch hier 191
die Zeitung betreue, die für uns und über uns berichtet. Viel‐ leicht auch nur inoffiziell, ganz unter uns?» Der Colonel wandte sich um. «Corporal, ich fände es höchst bedauerlich, wenn Sie mit dieser Zeitung, die ich Ihnen anvertraut habe, Schindluder trieben. Sie haben in diesem Laden einen ziemlich gemütlichen Posten abbekom‐ men, Grönland hin oder her. Das wissen Sie doch, oder?» «Jawohl, Sir.» «Sie dürfen diese Frage also nicht stellen. Ist das klar?» «Ich glaube schon, Sir.» «Ich werde einfach vergessen, dass Sie diese Frage gestellt haben, denn weder Sie noch sonst jemanden geht das was an. Hier läuft alles bestens. Das ist die Nachricht. Weitere Fragen?» «Nein, Sir.» «Gut.» «Nur eins noch, Sir.» Rudy befeuchtete sich die Lippen. Eine seltsame Hoch‐ stimmung überkam ihn; als würde er gerade wieder in ein Haus einbrechen, wobei diesmal der Bewohner zu Hause war, was die Sache noch tollkühner machte. «Sir, was wissen Sie über die 1. und 2. Kompanie des 6. Ba‐ taillons der 3. Infanterie‐Division, Korea?» Der Colonel drückte mit dem Daumen so heftig gegen den Draht, den er um seinen Zeigefinger gewickelt hatte, dass die Fingerkuppe anschwoll und sich von gestautem Blut purpur‐ rot färbte. «1. und 2. des 6. Bataillons?», wiederholte Rudy und tat dies mit einem unschuldigen Unterton. Er hatte das Gefühl, reinen Sauerstoffeinzuatmen. Sein Kopf wurde herrlich leicht. Das wog die verlorene Wette und die peinliche Begeg‐ nung in Unterhosen wieder auf. «Ich habe ein paar Sachen nachgelesen.» Rudy deutete auf die Divisionsgeschichte und den Stapel zerfledderter Stars and Stripes. 192
Der Colonel stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich vor. «Corporal, auch wenn Sie hier gute Arbeit leisten, neigen Sie offenbar dazu, sich in die Scheiße zu reiten. Habe ich gleich gemerkt. Als Spezialist für Presse und Information nach Grönland versetzt. Dann von einem Mückenschwarm überfallen. Dann höre ich von der Pyjamaparty, die jemand für Sie gegeben hat. Sie reiten sich dauernd in die Scheiße. Vielleicht ist es gar nicht immer Ihre Schuld, aber Sie ziehen so etwas an. Wie ein Magnet. Sie wagen sich anscheinend gern auf dünnes Eis. Was Ihre Frage angeht: Das geht Sie ganz und gar nichts an. Ich wiederhole: gar nichts. Ange‐ kommen?» «Laut und deutlich, Sir», sagte Rudy, ohne seine Haltung zu verändern. Die Stimme des Colonel wurde noch schärfer. «Bringen Sie einfach Ihre Zeitung raus, Soldat. Klar? Bleiben Sie weg vom dünnen Eis, reiten Sie sich nicht wieder in die Scheiße. Und dabei fällt mir noch was ein, Corporal. Ist nur so eine Vermutung, aber ich sagʹs trotzdem: Vögeln Sie nicht in der Gegend herum. Die Army ist stärker als Sie, Corporal. Und hier oben bin ich die Army.» Woolwrap schnippte sich die verbogene Büroklammer vom Finger; sie prallte vom Schreibtisch über die Sitzfläche eines Klappstuhls an die Wand und landete schließlich rotierend auf dem Linoleum. Rudy starrte fasziniert auf den kleinen glänzenden Kreisel, während der Colonel mit stampfenden Schritten aus dem Zimmer marschierte.
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NEUNZEHN Für Rudy gab es die Zeit vor Irene und nach Irene. Vor Irene war es ihm schön schwer genug gefallen, die Tageszeit oder das Datum im Auge zu behalten. Nach Irene war das schlicht unmöglich. Er hatte das Gefühl, die Zeit sei in einen der Gletscher gesperrt, eingefroren. Er träumte davon, wie er auf die gewölbten Gletscherzungen kletterte und die Zeit im Eis entdeckte: Vielleicht sah sie aus wie eine Stahlfeder; oder ein blau geädertes, schwach pulsierendes Organ; oder ein glän‐ zendes Metallpendel, im Schwung gefroren. Die Tage waren jetzt viel kürzer als die Nächte. Der Herbst war Bekommen oder was man hierzulande so nannte. Sehr warm war es ohnehin nie gewesen, doch nun war die Kälte ausgebrochen. In der Arktis gehorchten Wärme und Licht anderen Spielregeln. 194
Er hatte gewusst, dass es nicht leicht sein würde, sich mit ihr zu treffen. Sie mussten vorsichtig sein und vielleicht eine Weile warten, um den richtigen Moment abzupassen. Aber ohne jedes Zeitgefühl hatte «eine Weile» keinerlei Bedeu‐ tung. Ebenso wenig wie Tag und Nacht. Es gab nur Wachen und Schlafen. Wenn er schlief, träumte er vom Flügel. Seltsam zerrissene Träume, unvollständig und zerstückelt wie die Patienten dort. Im Traum nahm er sich gleitend wahr. Es war dasselbe Gefühl wie bei seinen früheren Einbrüchen in leere Häuser oder bei seinen heimlichen Besuchen im Büro des Colonel. In seinen Träumen glitt er über die Betten und betrachtete die Männer. Oder die Männer schwebten, und er lag im Bett, sein Körper unversehrt, doch bewegungsunfähig. Einmal lag sein vervielfältigter Vater in allen Betten auf der einen Seite des Flügels und seine Mutter in allen auf der anderen Seite. Sie atmeten im gleichen Takt – ein ... aus ... auch Rudy, wäh‐ rend er schwebte. Wegen der Träume schlief er weniger. Er überlegte, ob das der Preis für die angenehm schläfrige Ruhe war, die ihn im Flügel regel‐mäßig überkam. In jedem seiner Träume hörte Rudy die trockene, stockende Stimme von Guy X, auch wenn er ihn nicht sah. Wenn er dann aufwachte, lag er still in seinem Bett und versuchte sich zu erinnern, was Guy X gesagt hatte. Bei nächster Gelegenheit ging Rudy wieder in den Flügel. «Die ... Bücher!», krächzte Guy X. «Sie haben Ihr Ver‐ sprechen gehalten.» «Ich dachte, ich könnte was vorlesen», sagte Rudy. «Wie lange ist es her, dass Sie hier waren?», fragte Guy X und lachte heiser auf. «Nein, sagen Sieʹs nicht!» Er schaute sich die Bücher an, die Rudy in der Hand hielt. «Ist das alles, was die Army anzubieten hat?», fragte er. «Der Kaplan meinte, er wollte noch mehr besorgen.» Guy X seufzte und wählte Whitman und wünschte sich 195
ganz bestimmte Gedichte: «Mit der Fähre nach Brooklyn» und «Als Flieder letztmals blühte im Hof». «Kennen Sie das Zeus?» «Ich habe früher ziemlich viel gelesen.» Rudy fing an, die Gedichte vorzulesen. Die rollende, wogende Sprache machte die schmale Nische, in der er mit Guy X eingeschlossen war, noch enger. Guy X verfolgte Rudys Vortrag nickend, schloss manchmal das Auge, schlief aber nicht ein und bekam auch keinen Anfall. Er bat um «Ich singe den Leib, den elektrischen». Rudy hob an: «Ich singe den Leib, den elektrischen Die Heere derer, die ich liebe, umfassen mich, und ich umfasse sie. Sie wollen nicht ablassen von mir, bis ich mit ihnen gehe, ihnen zu Diensten bin, Und sie läutere und fülle mit der Ladung der Seele.» «Halt», unterbrach ihn Guy X. «Lesen Sie das noch mal.» Rudy tat wie ihm geheißen. Guy X ließ ihn noch zweimal lesen, dann wiederholte er die Verse auswendig. «Wirklich gut», sagte Rudy. «Ich möchte das ganze Gedicht auswendig lernen», sagte Guy X. Rudy blätterte bis zum Ende. «Ist ziemlich lang.» «Na und? Wenn ich gehe, möchte ich etwas Neues im Kopf haben, nicht nur den ganzen alten Kram.» «Gehen? Wohin?», fragte Rudy. Guy X antwortete nicht. Er wiederholte die ersten Zeilen, hielt inne und starrte ins Dunkel am Ende des Flügels. Rudy dachte erst, ein Anfall stehe bevor, aber Guy X schien in Gedanken und konzentriert. «‹Sie wollen nicht ablassen von mir›», murmelte er. «Jetzt kommen wir zur vorgeschobenen Stellung bei Wonju. Januar einundfünfzig. Die Chinesen haben den 38. Breitengrad nach 196
Süden überschritten. Über die Stärke hört man alles Mög‐ liche, von vier bis zu sieben Verbänden. Insgesamt hundert‐ zwanzigtausend Mann. Bei Wonju kämpft die 2. Division, und sie hält sich wacker. Die 8. Armee zieht sich befehlsgemäß aus Seoul zurück. Offiziell heißt es, die Achte verlässt ihre Stellungen, weil die 2. Division in Wonju zurückgeschlagen werden könnte und die Achte dann eingeschlossen wäre. Aber wir halten die Stellung. Verdammt noch mal, wir halten sie. Insgesamt halten wir den Vormarsch des Feindes sechzehn Tage auf, die chinesischen Verluste gehen in die Tausende.» Die Worte sprudelten leichter aus Guys Mund als je zuvor. Rudy kam der Gedanke, dass diese Geschichte vielleicht schon seit Jahren in seinem Kopf kreiste und nun zum ersten Mal hinausgelangte. Vielleicht hatte ihnen Whitman den Weg gebahnt. Guy X atmete schwer. Er wirkte benommen. «Wollen Sie noch mehr Verse lernen?», fragte Rudy. «Wollen Sie sich unterhalten?» Das Auge zwinkerte leicht verärgert in Rudys Richtung. «Sie hätten mich nicht wiedererkannt», sagte Guy X. «Damals war noch alles dran. Kampfanzug, Gewehr, Briefe von meiner Liebsten in der Tasche.» Er klopfte sich auf die Brust. «Ich hatte alles, was ich brauchte, und alle Körper‐teile – Ich singe den Leib, den elektrischen –: Augen, Schädel, Beine, Arme, Finger, Schwanz, Bauch, sogar einen Bart. Und damit kommen wir zum Knackpunkt unserer kleinen Geschichte ... der Bart.» Rudy war immer noch bei der Liebsten, versuchte sie sich vorzustellen. Aber Guy X fuhr bereits fort: «Alle Stabsoffiziere der Zweiten und ein großer Teil der Mannschaften hatten sich einen Bart wachsen lassen. Seit die Roten zwei Wochen vorher den 38. Breitengrad überschritten haben. Das war natürlich gegen die Dienstvorschrift, aber für 197
uns war es eine Art Ehrenzeichen. Wir wollten uns nicht eher rasieren, als bis wir den Feind wieder über die Linie zurück‐ getrieben hätten. General McClure hatte nichts dagegen. Wir waren schließlich die Helden von Wonju. Aber dann kommandierte das Hauptquartier in Tokio McClure ab. Schmiss ihn einfach raus. Wir konnten es nicht glauben. Der Mann, der uns in einer der großartigsten Schlachten des ganzen Krieges gegen die Roten geführt hatte – gefeuert! Es hieß, dass wir unsere Sache zu gut gemacht hätten. Dass MacArthur den Rückzug wollte, und zwar den vollständigen Rückzug. Die ganze Halbinsel preisgeben, damit er die Mandschurei bombardieren konnte. Und wir hatten den Plan versaut. Wir hatten heldenhaft gekämpft, die Stellung gehalten und seinen Plan versaut. Also trat er den Schul‐ digen in den Arsch.» Guy X unterbrach sich und versuchte, seine trockenen Lippen zu lecken. Auf dem Nachttisch stand eine Ketchup‐ flasche aus Plastik mit einem Klebestreifen, auf dem H2O stand. Rudy nahm sie, und Guy X führte seine Hand an seinen Mund. Rudy berührte ihn zum ersten Mal. Guys Finger umklammerten Rudys Hand; sie fühlten sich fremd und mechanisch an; es waren zu wenige für eine mensch‐ liche Hand. Guy X klopfte Rudy aufs Handgelenk und nickte: Genug. Es war, als füttere man einen verletzten Vogel. «Ich habe damals eine Protestaktion organisiert», sagte Guy X. Seine Stimme war wieder klar. «Ich habe den anderen Stabsoffizieren gesagt: ‹Wir rasieren uns die Barte ab. Wir sagen nichts, wir rasieren uns bloß. Das werden die schon begreifen.) Wir rasierten uns also und sorgten dafür, dass die Presseoffiziere es mitbekamen. Sie wussten genau, was das bedeuten sollte, aber die Zensur unterband die Veröffentlichung der Geschichte. Die kämpfende Truppe der Vereinigten Staaten protestiert nicht.» 198
Guy X wurde langsam müde. Sein Kopf rollte auf dem Kissen hin und her. Rudy wollte das Buch zuklappen. «Nein», sagte Guy X. Er rezitierte noch einmal die ersten Zeilen und gab Rudy mit den Fingern ein Zeichen, wenn er ihm einhelfen sollte. Er arbeitete noch eine halbe Stunde mit Rudy und lernte dabei fast die ganze erste Strophe. Und wenn der Leib nicht völlig so viel vermag als die Seele? Und wäre der Leib nicht die Seele, was dann wäre die Seele? Guy X sackte in sich zusammen; sein Augenlid hing herab, seine Aufmerksamkeit schwand, er begann heftig zu stot‐ tern. Rudy schlug vor, eine Pause einzulegen. «Nein.» «Ich muss mich zum Dienst melden», sagte Rudy. Das war zwar gelogen, aber er wollte den Besuch einigermaßen wür‐ devoll für Guy X zu Ende bringen, denn der wurde immer verkrampfter und verzweifelter. «Leck mich am Arsch», sagte Guy X. «Ich hätte meine Geschichte gar nicht erzählen sollen.» Er versuchte sich umzudrehen, konnte aber nur den Kopf abwenden. Rudy sah, wie schlimm Guys Schädel deformiert war: er sah aus wie eine halb zerquetschte, faulige Melone, auf der die Haarsträhnen wie ein Geflecht von Schimmel‐ pilzen wirkten. Rudy sank der Mut. Es schien sinnlos, beinahe grausam, einem so hoffnungslosen Fall zu helfen, Gedichte auswendig zu lernen. Offensichtlich nahm Guy X sich die Sache sehr zu Herzen. «Gehen Sie», sagte Guy X. «Ich komme wieder», versicherte Rudy. «Ein anderes Mal.» «Ja sicher. Sicher.»
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ZWANZIG Der erste Schneesturm des Winters kam von Norden herangebraust wie eine Bomberschwadron. Er fegte über die Eisfelder und schnitt durch die Bergpässe. Auf dem Exerzierplatz fing das Flaggenseil heftig zu zittern an. Der Motorenlärm des Generators wurde je nach Windrichtung lauter oder leiser. Als die Sturmfront die Gipfel überwunden hatte, raste sie über die Tundra. Eben noch schwebten nur ein paar Flocken vor den Fenstern des Lazaretts; im nächsten Augenblick verschwand alles in einem Wirbel von vernichtendem Weiß. Nachdem der Colonel die Gerüchteausgabe gedeckelt hatte, beschritt Rudy den Weg des geringsten Widerstandes und nahm sich vor, eine harmlose Ausgabe mit «Vor‐ schlägen für den langen Winter» herauszubringen. Lavone 200
und er wollten gerade damit beginnen, als Rudy dem Mist‐ dienst zugeteilt wurde. Auf den Aushängen lautete dafür die offizielle Bezeichnung «Aufräumungsarbeiten Außengebäu‐ de», aber in Qangattarsa hieß es nur Mistdienst, da die «Auf‐ räumungsarbeiten» vor allem darin bestanden, Scheiße zu schaufeln. «Eins muss man dem Colonel lassen», hatte Lavone gesagt. «Den Mistdienst schiebt er sogar manchmal selber. Ich habe ihn schon mit der Schaufel da oben schuften sehen. Sind natürlich auch seine Gäule, deren Dreck wir wegmachen müssen. Zieh dir lieber Stiefel an.» Rudy stieg in seine Mickymaus‐Stiefel – klobige, besonders kälteresistente Army‐Gummistiefel, die aussahen wie von Disney gezeichnet und wie Blei waren. Er zog seinen Winter‐ parka über und stapfte in Richtung Hangar. Unablässig hatte er an Irene gedacht. In letzter Zeit hatten sie sich nur heimliche Blicke im Speisesaal zuwerfen können. Jeder Kontakt war riskant. Er konnte sich schon nicht mehr erinnern, wann sie zuletzt miteinander gesprochen hatten. Während ihm die Zeit entglitt, nagte die Sehnsucht an ihm. Draußen lag bereits ein halber Meter Schnee, doch der Sturm machte keine Anstalten nachzulassen. Ein Wartungs‐ trupp hatte die Sturmleinen aufgehängt: Kabel und Seile an zwei Meter hohen Pfosten, an denen Stoffwimpel hingen und die von einem Gebäude zum anderen führten, damit die Soldaten sich im Schneesturm daran entlanghangeln konnten und sich nicht verirrten. Die Sturmleinen sahen aus wie schäbige Telegraphenleitungen. Rudy konnte die Lichter des Hauptgebäudes hinter sich erkennen, als er durch den knietiefen Schnee stiefelte; vor ihm schwankte der Mast mit dem Außenlicht beim Hangar, neben dem eine Schneeraupe parkte. Eiskristalle schmolzen in Rudys Kragen, während er sich durch die Schneewehen kämpfte. Dieser erste Sturm war ein Vorgeschmack auf die Verwüstung, mit der sie im Winter zu rechnen hatten. 201
Vorschläge für den langen Winter, in der Tat. Innen an der Tür des kleinen Stalls mit den zwei Boxen hing in einer Plastikhülle ein Blatt mit Arbeitsanweisungen. Der starke Geruch nach Mist und Stroh beruhigte Rudy, weil er sich so deutlich von allen anderen im Stützpunkt unter‐ schied: von den Ausdünstungen im Flügel, dem kalten Zigarettenqualm in den Quartieren, dem Bohnerwachs der Flure und dem Duftspray der Latrinen, dem Fett des Speise‐ saals, dem Schweiß und den Fürzen der Soldaten, von La‐ vones Chemikalien und dem seltenen Hauch von Parfüm, der Rudy in die Nase stieg, wenn er auf dem Korridor einer Krankenschwester oder Soldatin begegnete. Außerdem verband er den Stallgeruch mit Irene, deren Haar bei ihrer ersten Begegnung leicht danach gerochen hatte. Bald würde er auch danach riechen – ein kleiner Pluspunkt des Mist‐ dienstes. Nur ein Pferd war im Stall: ein brauner Wallach. Seltsam, dachte Rudy, an so einem Abend auszureiten. Er hoffte, dass Irene nicht unterwegs war. Er machte sich daran, die vorgeschriebenen Aufgaben zu erledigen: die Boxen ausmisten, das Trinkwasser auffüllen, je zwei Dosen Hafer und etwas Heu in die Krippe, frisches Stroh in die Boxen. Der Gasheizer an der Decke sprang an und sandte einen warmen Luftschwall herab. Rudy machte gerade eine Pause und klopfte dem Pferd auf die Flanke, freute sich am leisen Schnauben und Kauen des Tieres, als Irene erschien. Er konnte kaum reagieren, so schnell kam sie auf ihn zu, schob das Pferd mit der Schulter zur Seite und schlang die Arme um ihn. Sie küssten sich in der Pferdebox, hielten einander, und Rudy sah sich und Irene plötzlich als Liebende, die sich nach langer Trennung auf einem belebten Bahnsteig in den Armen hielten, und das Pferd verwandelte sich in eine alte Lokomotive, eine Dampf‐ wolke verbarg sie vor allen Unbilden, Alibis, Drohungen und Sorgen, schenkte ihnen einen Augenblick magischer 202
Zweisamkeit. Ihr Körper, fest an ihn geschmiegt, tat ihm wohl. Irene hielt ihn, klammerte sich fast verzweifelt an ihn. Er versuchte sie zu beruhigen, ihr mit seinen Armen zu versichern, dass er sie halten würde, solange sie wollte. Sie erschauerte. Dann fasste sie sich, und sie standen wie ein Tanzpaar aneinander gelehnt, sprachen über die Schulter miteinander. Sie sagte, sie habe auf dem Dienstplan gesehen, dass er hier draußen sei, und habe einfach herkommen müssen. «Was bin ich froh», sagte er. «Ich habe dich so vermisst.» Es erregte ihn, sie im Arm zu halten. Er spürte, wie auch sie sich an ihn presste, doch dann fiel ihm wieder ein, dass ja nur ein Pferd im Stall war und das zweite mit seinem Reiter jederzeit zurückkehren konnte. «Ich bin immer wieder in den Flügel gegangen, um nachzu‐ denken», sagte sie. «Ich hatte gehofft, dir dort zu begegnen, aber wir haben uns wohl verpasst.» «Worüber hast du im Flügel nachgedacht?», fragte er. Sie hatten sich ein wenig voneinander gelöst, aber noch immer umklammerte sie fest seine Arme. «Worüber?» «Na, du hast doch gesagt, du bist zum Nachdenken hinge‐ gangen.» Sie nickte und blickte zu Boden. Anscheinend entschloss sie sich, seiner Frage nicht mehr auszuweichen. «Über alles», sagte sie. «Wie ich hierher gekommen bin. Wie das alles pas‐ siert ist. Über dich.» «Waren das schöne Gedanken?», fragte Rudy. Das Pferd stampfte auf und schüttelte seinen Halfter. In‐ stinktiv legten sie beide ihre Hand auf die Flanke des Wal‐ lachs, um ihn zu beruhigen. «Teilweise. Einige Gedanken waren schön.» «Andere traurig?» «Habe ich das gesagt?» Sie wich ein wenig zurück und lehnte sich gegen die Bretterwand der Box. Dann schaute sie 203
ihn an, überlegte kurz und nickte. «Andere waren traurig, ja», sagte sie. «Aber in denen kommst du nicht vor.» «Das ist gut», sagte Rudy. «Du bist anders. Deswegen bin ich auch so durchein‐ ander.» Sie tätschelte dem Pferd den Bauch, schlüpfte aus der Box und trat an das kleine, beschlagene Fenster des Stalls. «Lane ist irgendwo da draußen», sagte sie. Bevor Rudy etwas entgegnen konnte, hatte Irene sich schon wieder vom Fenster abgewandt. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ging mit großen Schritten auf und ab. Dann beruhigte sie sich etwas, schritt langsamer aus. So erregt hatte Rudy sie noch nie gesehen. «Ich habe darüber nachgedacht, dass ich mir früher immer die Anführer ausgesucht habe. Verstehst du? Ich als Cheer‐ leader mit dem Kapitän der Footballmannschaft.» So habe alles angefangen, sagte sie. Mit siebzehn hatte sie geheiratet. Den Quarterback der High‐School‐Mannschaft. Die Ehe hatte keine zwei Jahre gehalten. «Er hat im Sand gebuddelt: ein gut bezahlter Job als Baggerfahrer auf dem Testgelände in Nevada. Hat die Tunnel für die unterirdischen Bombentests gegraben», erzählte sie. «Ich war noch ein Kind. Nevada war natürlich praktisch wegen der Scheidung. Zu heiraten schien damals gar nicht so dumm. Aber sich scheiden zu lassen war noch klüger.» Sie sagte, zu ihrer Mutter habe sie nicht zurückgekonnt, weil die wegen ihrer erfolglosen Uransuche schon ein bisschen seltsam geworden sei. «Also habe ich mich in einem Anfall von Leichtsinn bei der Army gemeldet – und es lange Zeit sehr bereut. Aber immer‐ hin war ich nicht allein. Drei warme Mahlzeiten und ein Bett, was will man mehr? Ich war schon fast überall in den Staaten stationiert. Bis ich Lane traf ...» 204
«Einen Anführer», sagte Rudy. Irene zuckte die Achseln. «Er hat mich hierher versetzen lassen. Er meinte, mit ihm könnte ich einen Teil der Welt sehen, den nur wenige zu Gesicht kriegen. Und das habe ich auch.» Rudy nahm den Sturm, der draußen tobte, kaum noch wahr. «Aber alles verändert sich», flüsterte Irene. «Was meinst du damit?» «Die Sache mit uns», sagte sie. «Und mich selbst.» Rudy schnürte es die Luft ab. Sie würde ihm sagen, dass es aus war. Erst hatte sie ihn aufgerissen, jetzt würde sie ihm den Laufpass geben. Sie konnte ihren großen, starken Colonel nicht verlassen. Rudy konnte kaum atmen. Irene schien es nicht zu bemerken. «Ich ... ich habe hier fest‐ gesteckt», sagte sie. «Lane hat sich verändert. Oder vielleicht auch ich, wer weiß. Und dann bist du plötzlich aufgetaucht, und alles geriet aus den Fugen.» Rudy holte Luft. Eigentlich wollte sie ihm etwas ganz anderes sagen. «Was heißt das?», fragte er. «Ich weiß auch nicht. Früher wusste ich immer ganz genau, wieso mir ein Kerl gefiel. Aber jetzt...» «Na ja, ein Anführer bin ich nicht gerade», sagte Rudy. Irene lächelte, nahm seine Hand und küsste sie flüchtig. «Vielleicht war das ja gerade der Grund. Was ist das für ein Mann? Warum denke ich dauernd an ihn? Deshalb bin ich auch deine Akten durchgegangen– weil ich nach Antworten gesucht habe.» Sie ließ seine Hand los. «Aber manches steht in keiner Akte der Welt», fügte sie hinzu. Rudy lächelte und fuhr mit den Fingern durch ihr rotes Haar. Draußen heulte der Sturm lauter, und ein Schatten fiel über Irenes Gesicht. Sie sah zum Fenster. «Lane ist da draußen ...», sagte sie. 205
«Habe ich auch schon gehört», sagte Rudy. Irene starrte aus dem Fenster. «Wirklich Wahnsinn, bei diesem Wetter», flüsterte sie. «Du hast gesagt, er habe sich auch verändert», sagte Rudy. «Was macht er mit dir, Irene?» Irene winkte ab und schüttelte den Kopf. Niemand sprach. So verharrten sie lange, schweigend. «Ist das dein Pferd?», fragte Rudy schließlich. Irene zuckte wieder die Achseln, gleichgültig. «Könnte man sagen. Aber er gehört mir nicht. Auf dem Papier ist er ein ‹Einsatztransportmittel Land› oder ein ‹Artefakt der Militär‐ geschichte›, je nachdem, welche Bücher wir gerade frisieren.» Sie streichelte dem Pferd lächelnd die Flanke. «Irene», fragte Rudy, «wird das Lazarett geschlossen?» Irene antwortete nicht gleich. «Sieht so aus», sagte sie schließlich geistesabwesend. Dann seufzte sie und kehrte in die Gegenwart zurück. «Ich bin nicht sicher. Ich weiß nur, dass Lane deshalb ziemlich nervös ist.» Sie schaute wieder zum Fenster. Rudy erzählte ihr von den Fotos, die er im Büro des Colonel gesehen hatte, und was er über das Schicksal der 1. und 2. Kompanie der 3. Division in Korea gelesen hatte. «Aus dem Bataillon waren ungefähr ein Dutzend Verwun‐ dete hier», sagte Irene. «Jetzt ist nur noch einer übrig.» «In dem Bett, an dem der Colonel gebetet hat?» Irene nickte. «Nur wegen dieser Männer ist der Flügel das geworden, was er ist. Ihretwegen wurde Lane hierher ver‐ setzt. Militärgerechtigkeit. Er sollte sich um die Jungs küm‐ mern, deren Leben er versaut hatte. Aber er hat es der Army gezeigt und den Flügel erfunden.» «Was hat er denn in Korea angestellt?» «Gefälligkeiten erwiesen. Man hat das nie richtig auf‐ dröseln können. Wollte die Army wahrscheinlich auch nicht. Er hat Ausrüstung für ein paar befreundete Quartermasters in höheren Rängen zurückgehalten, die damit auf dem 206
Schwarzmarkt Geschäfte machen wollten. Kein Mensch hätte das Zeug jemals verwendet, es war Ausschuss. Alle wussten, dass es nichts taugte. Aber das Geschäft ist aufgeflogen, die Nordkoreaner haben eine Großoffensive gestartet, die Aus‐ rüstung wurde angefordert, und Lane konnte die Auslie‐ ferung nicht stoppen. Am Ende saß also eins unserer eigenen Bataillone mit schlechtem Napalm, kaputten Maschinen‐ gewehren und schadhafter Munition da. Die höheren Ränge sind abgetaucht, und Lane stand ohne Hosen da. Die Army wollte ihn nicht verlieren, weil er so ein logistisches Genie ist. Also haben sie ihn hierher geschickt. Der Flügel ist seine Buße.» «Und was wird mit den Männern im Flügel passieren?», fragte Rudy. «Ich glaube, das weiß niemand.» «Und was, glaubst du, wird mit uns beiden passieren?» Sie sah ihn an. Rudy hätte gern bedingungslose Liebe und Hoffnung in ihrem Blick gesehen; stattdessen registrierte er Verzagtheit und ein Bemühen um Mut. Doch das konnte er ihr nicht vorwerfen. Mehr hatte er selbst auch nicht zu bieten. «Wir stecken da zusammen drin», sagte Rudy und ver‐ suchte, es wie eine Feststellung klingen zu lassen, nicht wie eine Frage. Irene nickte. «Ja, zusammen.» Sie küssten sich, und Rudy sehnte sich mit jeder Faser seines Körpers danach, auf der Stelle mit ihr zu schlafen; doch er wusste, warum sie «Zeit zu gehen» flüsterte. Doch es blieb keine Zeit. Schon machte sich jemand an der Außentür des Stalls zu schaffen. Durch das Heulen des Sturms hörten sie draußen das Wiehern eines Pferdes. Der Colonel kehrte zurück. Irene schlüpfte aus Rudys Armen und verbarg sich in einer Ecke hinter einem Stapel Heuballen. Der Colonel kam herein. Rudy schaffte es gerade noch, die 207
Mistgabel wieder zur Hand zu nehmen, um den Eindruck zu vermitteln, er sei gerade mit der Arbeit fertig geworden. «Ganz schön kalt draußen, Soldat», sagte der Colonel kernig und munter. Sowohl er als auch seine Stute waren von oben bis unten mit Schnee überzogen. «Kann man wohl sagen, Sir.» Der Colonel führte sein Pferd in den Stall, zog Handschuhe und Parka aus. «Sieht gut aus, Soldat», sagte er. «Ich übernehme den Rest.» Der Colonel hängte seine Oberbekleidung über die Trenn‐ wand zwischen den Boxen und machte sich am Sattelgurt zu schaffen. Das gab Rudy die Gelegenheit, einen Blick auf die Heuballen zu werfen, hinter denen Irene verschwunden war. Es war nichts von ihr zu sehen. «Sir», sagte er, «das kann ich doch machen. Das Pferd trockenreiben und so. Wenn Sie zurück ins Hauptquartier wollen.» Der Colonel sah ihn forschend an. «Ich habe doch gesagt, ich mache das, Soldat.» «Na ja, ich habe sowieso Dienst, Sir, und da dachte ich –» «Wegtreten, Soldat. Ich brauche Sie nicht. Vielen Dank, auf Wiedersehen.» «Jawohl, Sir.» Rudy salutierte flüchtig und zog sich an. Er riskierte keinen weiteren Blick zu den Heuballen, weil der Colonel ihn offensichtlich genau beobachtete. Er wollte Irene nicht im Stich lassen, aber was konnte er machen? «Draußen steht eine Schneeraupe, Corporal. Schlüssel steckt. Damit können Sie runterfahren.» «Und Sie, Sir?» «Ich werde die Gute hier ordentlich trockenreiben. Ein kleiner Spaziergang macht mir nichts aus. Die Sturmleinen hängen ja schon, und das bisschen Wind ist gar nicht so schlimm. Wenn es erst richtig Winter wird, werden Sie schon sehen, was ich meine.» «Sir, ich möchte Ihnen keine –» 208
«Nehmen Sie die Raupe, Corporal. Und zwar zügig.» «Jawohl, Sir.» Das Kettenfahrzeug sprang sofort an. Rudy setzte zurück, und das Licht der Scheinwerfer strich zuerst über den Anbau, dann über den Hangar. Als er in Richtung der Hauptgebäude fuhr, sah er im Spiegel die kleiner werdende Außenbeleuchtung und das erleuchtete Fenster des Stalls. Die Schneeraupe rutschte schräg über eine Schneewehe, und Rudy musste sich aufs Fahren konzentrieren. Am Hügel oberhalb des Lazaretts bemerkte er, dass vor ihm an der Windschutzscheibe etwas von der Fahrzeugdecke baumelte. Er dachte zuerst an einen heiligen Christophorus, den Schutzheiligen der Schneeraupenfahrer, aber als er die Innenbeleuchtung anschaltete, erkannte er eine Eski‐ mofigurine, ganz ähnlich dem kleinen Torso in seiner Tasche. Jemand hatte der Figur ein Loch in den Kopf gebohrt und eine Kette hindurchgezogen, an der sie jetzt wild hin und her sprang. Angst stieg in Rudy auf, und schnell sah er noch einmal in den Spiegel, aber der Hangar und der Stall waren aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit bereits außer Sicht.
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EINUNDZWANZIG Captain Brank, der Kaplan, legte seinen Ornat an. «Ich kann auch wiederkommen, wenn nicht gerade Sonntag ist», sagte Rudy. Er hatte noch ein paar Ausgaben von Stars and Stripes durchblättern wollen, um sich von den ständigen Gedanken an Irene abzulenken. Seit ihrer Begegnung im Stall vor ein, zwei oder vielleicht noch mehr Tagen hatte er sie nicht mehr gesehen. «Heute ist nicht Sonntag», sagte der Kaplan. «Ich habe zwar keine Ahnung, was für einen Tag wir haben, aber Sonntag bestimmt nicht.» Er begleitete Rudy zwischen die Regale. Das Radio knarzte vor sich hin. Die wehenden Gewänder des Kaplans fegten den Staub von Taschenbuch‐ krimis und Armeehandbüchern. «Ich habe die Sachen bloß anprobiert. Ich überlege, ob ich katholisch werden soll.» Er zupfte an seiner Kasel und 210
richtete den Kragen. «Das sind natürlich keine katholischen Messgewänder. Bloß der komplette episkopalische Ornat. Aber es kommt dem Ganzen schon recht nahe. Meine Malerei hat mich dazu gebracht, über meine Berufung nachzudenken. Was habe ich wirklich zu sagen? Wonach suche ich? Ich male das Meer und den Himmel. Den heiligen Brendan. Mir wurde klar, in welche Richtung ich mich bewege: Katholizismus. Ich werde mich beurlauben lassen oder den Dienst quittieren und ins Priesterseminar gehen. Und dann als katholischer Priester wieder in die Armee eintreten.» «Pater Brank», sagte Rudy. «Stu.» «Pater Stu», verbesserte Rudy sich. Der Kaplan lächelte be‐ seelt, bekreuzigte sich schwungvoll und ließ Rudy allein weitersuchen. Auf einigen staubigen und vergilbten Seiten fand Rudy schließlich Berichte über Wonju und den Rückzug aus Seoul. Alles ziemlich vage, ohne die Färbung, die Guy X den Ereignissen in seiner Erzählung gegeben hatte, aber es war schließlich eine Militärzeitung. Rudy fand einen Artikel über den neuen Befehlshaber der 2. Division, aber nichts über die Entlassung des alten. In einer älteren Ausgabe prangte ein Foto von bärtigen Soldaten, die lachend in die Kamera winkten. Der Artikel hieß ERFOLG IN WONJU. Rudy nahm die Zeitungen mit in den Flügel. Guy X schlief. Rudy zog sich einen Stuhl ans Bett, beugte sich vor und legte sein Ohr an Guys Brust. Die leisen, ange‐ strengten Atemzüge klangen wie langsame Schritte durch feuchtes Laub. Rudy lauschte eine Weile und fühlte eine wohlige Müdigkeit in sich aufsteigen. Der ganze Raum pulsierte sanft im Rhythmus der Atmung. «Seien Sie gegrüßt», röchelte Guy X plötzlich. Rudy richtete sich auf. 211
«Sie sind also wieder da», sagte Guy X. «Ich auch.» «Woher?», fragte Rudy, der sich ein wenig erschreckt hatte. «Von meinen Reisen», antwortete Guy X. «Reisen? Wohin?» Guy X tippte sich an die Stirn. «Hier drin. Kommt von den Anfällen, die mich ab und zu schütteln.» Er leide seit seiner Verwundung in Korea darunter. «Habe ich vorher nie gehabt», sagte er. «Aber jetzt schicken sie mich auf Zeitreise. Kein Scherz. Ich reise zurück durch mein ganzes Leben. Bis zu meinen Anfängen. Bis in die allererste Keimzelle. Ich sehe, wie sich meine Zellen teilen. Zwei. Vier. Acht. Sechzehn ... und so weiter ... eins kann ich Ihnen sagen: Ich singe den Leib, den elektrischen. Alle denken, ich bin bewusstlos. Bin ich aber nicht, ich stecke nur ganz tief drinnen. Aber wissen Sie was: Ich komme ganz gern dorthin zurück, an diesen Ort, in diese Zeit. Ist mein Zuhause. Wirklich. Und ich bin schon so gut wie abgetreten, das weiß ich. Ich trete ab, aber ich gehe nirgendwohin. So sieht es aus für Guy X ... Sie hätten diesen Laden mal sehen sollen, als ich herkam.» Die Worte sprudelten aus Guy X heraus, als müsste er seinen Text zu einem bestimmten Termin abliefern. Er berichtete von einem geräumigen Anbau an den Flügel, der inzwischen wieder abgerissen worden war, von Betten über Betten, so weit das Auge reichte – «und in meinem Fall heißt es wirklich das Auge». «Hier war alles voll mit Verwundeten aus dem Koreakrieg. Es gab eine eigene Abteilung nur für Brandwunden. Wurde die Grillstation genannt. In Korea ging das mit Flammen‐ werfern und Napalm so richtig los. Das können Sie mir glauben, ich war dabei.» Guy X erzählte, wie geschäftig es damals im Lazarett zuging. Rund um die Uhr kamen Flugzeuge und flogen die Verwundeten ein. Es gab ein eigenes, inzwischen abge‐ rissenes Gebäude für Operationen. Ständig wurden Patien‐ 212
ten in die Operationssäle geschoben und kamen mit frischen Verbänden zurück, doch meistens hatte sich für sie nichts zum Besseren gewendet. «Damals war hier wirklich was los, aber es sah nicht so gepflegt aus. Alles grün und weiß wie in jedem Kranken‐ haus, und im Winter war das kaum auszuhalten. Es kam uns vor wie eine verkehrte Welt: drinnen Eis und Schnee und grünlicher Himmel, draußen die Berge wie Edelstahl, Schneefelder wie polierte Emaille, Licht, so rot wie ein Plasmatropf. Aber es war immer was los. Dauernd habe ich alle gefragt: ‹Wo bin ich? Wo bin ich?› Aber keiner wollte es mir verraten, bis irgendwann ein Pfleger zurückgefragt hat, ob ich ein Geheimnis bewahren könnte. Ich antworte, ich glaube, ich bin selbst ein Geheimnis. Da nickt er und sagt ‹Grönland›. Anfangs glaube ich ihm nicht. Niemand ist in Grönland. Aber dann denke ich: ‹Warum eigentlich nicht? Also Grönland. Tun wir einfach so, als wären wir in Grön‐ land›, und so habe ichʹs gehalten.» Guy X kicherte und erschauerte, und Rudy wollte ihm die Hand auf die Schulter legen, aber da fing er schon wieder zu reden an. «Und dann kamen die Jungs des Colonel. Die er auf dem Gewissen hatte. Ich hatte davon gehört. Zur Krönung am Ende auch noch er selber. Dann hat sich aber was getan hier! Richtig fein rausgeputzt hat er den Laden. Schöne neue Welt, die solche Bürger beherbergt. Hübsch eingerichtet, was? Aber es wurden immer noch Männer rausgeschoben, die nicht mehr wiederkamen. Wieder ein Bett frei. Die Räder quietschen leise zum Abschied. Zermürbungstaktik. Das Lazarett ist immer kleiner geworden, wir immer weniger, meine Anfälle immer länger. Und zwischen den Anfällen sah ich den Tod kommen. Wir waren zurückgefallen aufs nackte Leben ... aber dann starben nicht mehr so viele, nicht mehr so schnell. Die Letzten, die übrig sind, das sind die Hart‐ näckigen. Wir tragen die Fackel. Wir gehen erst, wenn die 213
Party vorbei ist. Wir bleiben, auch wenn keine Musik mehr läuft. Und der Gastgeber schon im Bett ist. Und alle längst wieder am Montagmorgen zur Arbeit gegangen sind. Wir sind immer noch da, weil wir da sind, und weil wir da sind, sind wir noch da ...» Guy X schwitzte, Speichel war in seinen Mundwinkeln getrocknet. Er lag still, bis sein Atem sich beruhigte. Rudy hatte ihn noch nie so viel reden hören, erst recht nicht mit so viel Emphase. Schweigend saß er am Bett. Nach einigen Minuten holte er die Zeitungen aus der Tasche. Guy X drehte den Kopf, um zu sehen, womit Rudy raschelte. «Ich habe ein paar alte Zeitungen ausgegraben», flüsterte Rudy. «Was Sie mir über Korea erzählt haben, hat mich interessiert. Ich könnte Ihnen daraus vorlesen, wenn Sie wollen.» Er zeigte Guy X die Schlagzeilen. Guys Auge weitete sich, seine Halsadern schwollen an. Er schien nach der Zeitung schlagen zu wollen, aber dann packte er Rudy mit seinen verstümmelten Fingern am Ärmel und zog ihn näher zu sich heran. Es war der Artikel über den ERFOLG IN WONJU mit dem Foto der lachenden bärtigen Männer. Rudy drehte die Zeitung so weit herum, dass Guy X das Foto auch sehen konnte. Guy X zeigte auf einen der Soldaten und ließ den Finger auf der Brust des Mannes liegen. «Sie?», flüsterte Rudy. Guy X nickte. Als er seinen Arm wieder aufs Laken sinken ließ, schaute Rudy sich den Mann genauer an. Er hatte dunkles Haar und einen dichten, kräftigen Bart. Den Kopf hatte er vor Lachen in den Nacken geworfen und blickte mit strahlenden Augen zu einigen anderen Soldaten. Die Namen der Männer wurden nicht genannt, die Unterzeile lautete nur: Stabsof‐ fiziere der 2. Division, die in Wonju die Stellung hielten. Guy X war den Tränen nahe. Rudy legte die Zeitungen 214
beiseite. «Als wir uns rasierten», krächzte Guy X, «wusste der neue Kommandeur natürlich sofort Bescheid. Ich wurde einbe‐ stellt und von meinem Kommando entbunden. Also habe ich noch einen draufgelegt: Ich habe mich voll laufen lassen, mir auch noch den Kopf kahl rasiert und bin mit dem Jeep in das Zelt eines General gefahren. Bin natürlich im Bunker gelan‐ det, und kaum war ich wieder nüchtern, hatten sie mich schon degradiert und in eine andere Einheit gesteckt.» Guy X schloss das Auge. Er hatte seinen bleichen Arm mit der farblosen Lederhaut über sein Gesicht gelegt, als wolle er sich vor allzu hellem Licht schützen. Bisher waren ihm die Worte flüssig von den Lippen gekommen, doch nun geriet er ins Stocken. «I‐in einem Dorf nördlich von Anyang – über Funk kamen die falschen Koordinaten ... eine F‐80. Viel zu tief. So tief, dass ich den Piloten erkennen konnte ... Ich war bloß noch Corporal ... Meine Einheit kriegte die Bomben und Napalm‐ ladungen ab, die für das Dorf bestimmt waren. Unsere Stellung war plötzlich ein Brennofen, und damit wurde alles anders ... Verstehen Sie? Und jetzt sagen Sie mir nur noch, dass ich Glück gehabt habe.» Er sah Rudy an. Das, was von seinem Gesicht noch übrig war, verriet Entschlossenheit. «Das kann ich nicht», sagte Rudy leise. «Na klar», sagte Guy X. «Schauen Sie mich doch an. Ich habe Schwein gehabt. Ich hätte tot sein können.» Er lachte bitter. Darauf herrschte wieder Schweigen, bis Guy X sich plötz‐ lich an Rudy wandte. «Würden Sie so etwas überhaupt tun? Wenn ich Sie darum bitte?» «Was?», fragte Rudy. «Würde ich was tun?» «Töten.» Rudy schaute ihn einen Augenblick an, bevor er nach‐ fragte: «Wovon reden wir hier eigentlich?» 215
«Von mir», sagte Guy X, «und von Ihnen.» Die beiden Männer verharrten reglos. Rudy war nicht nach Sprechen zumute. Die Kraft der Stille schien die Dunkelheit, die sie umgab, zu Blei zu gießen, als die Nacht anbrach. Zeit floss aus dem Gletscher, um die Dinge voranzutreiben, und schließlich bemerkte Rudy, dass der Körper von Guy X das verräterische Zucken eines Anfalls zeigte. Er stand leise auf und ging auf Zehenspitzen hinaus. Aber den Flügel verließ er nicht. Er brachte es nicht fertig, Guy X ganz allein zu lassen. Das Auge, das in Tränen schwamm, der Klang der dünnen Stimme, die ihre Ge‐ schichte hervorsprudelte, das Foto der lachenden Soldaten – sie ließen ihn nicht los. Statt also am Schwesternhäuschen vorbei zur Tür zu gehen, wandte er sich in die entge‐ gengesetzte Richtung. Am Ende des lang gestreckten Rau‐ mes standen unbenutzte Betten und Geräte herum, die wohl noch aus den hektischen Tagen stammten, die Guy X gerade beschrieben hatte. Das Gerumpel lag im Schatten und war vom Rest der Station durch mehrere altmodische Wand‐ schirme abgetrennt. Rudy kam es vor, als schliche er sich im Theater hinter die Kulissen. Der erleuchtete Teil des Flügels war von Dunkelheit eingerahmt und sah aus diesem Dunkel wie ein schwebendes Lichtviereck aus; das Häuschen in der Mitte wie eine kleine Schmuckschatulle. Rudy nahm sich zwei Decken aus einem Baumwollsack, der nach Mottenkugeln roch, und legte sich auf einen Matratzenstapel. Er streckte seine Glieder und versuchte sich zu entspannen. Hinter dem Wandschirm schien das Röcheln der Patienten weit entfernt, aber wenn Guy X einen heftigen Anfall bekam oder sich aufregte, würde Rudy ihn hören und an seine Seite eilen. Doch alles blieb ruhig. Ein‐ oder zweimal drang ein Winseln oder ein Aufschrei zu Rudy, nächtliche Signale von Männern, die so schwer verwundet waren, dass sie nicht mehr merkten, was sie von sich gaben. 216
Die Atmosphäre des Flügels beruhigte ihn. Er starrte an die Decke, der Schlaf kroch zu seinen Augen hoch. Sein Atem ging ruhiger. Vertraute Traumbilder flatterten durch seinen Schlaf, dieselben, die ihn schon seit Wochen heimsuchten. Bis er sah, dass Irene sich auszog. Wie oft hatte er sich das vorgestellt: in seinem Zimmer, im Heu oben im Stall, auf einer alten Liege im Hangar, in der alten C‐47, in der Baracke, wo die Druckpresse stand – aber den Flügel hatte er nie als Kulisse gesehen. Und doch – irgendwie schien es richtig. Dass er hier war. Mit ihr. Rudy sah Irene an. Eine Festigkeit lag in ihren Augen, die sich auf ihn übertrug. Das war kein Traum. Sie hatte ihn gefunden. Sie streckte die Hand nach ihm aus, berührte ihn, sie küssten sich. Ihre Hände strichen über seinen Körper. «Lass uns nackt liegen», flüsterte sie – diese Worte zu hören ging fast über seine Kräfte. Gemeinsam rissen sie ihm die Sachen vom Leib. Er hörte ihre Worte, auch als sie– wie er selbst – anfing, leise zu summen und zu stöhnen, und sie begannen, ihre Körper mit den Lippen zu erforschen. Für einen flüchtigen Augenblick erinnerte er sich daran, wie er unter dem Fenster des Colonel gelauscht hatte. An das Klappern der Gegenstände, die vom Tisch flogen. «Reenie.» Der Gedanke streifte ihn wie ein kalter Hauch, und ihn schauderte. Sie beruhigte ihn: «Schhhh.» Er küsste sie am ganzen Körper, ließ seine Lippen hinun‐ terwandern, wohin ihre Hände sie drängten, verweilte, bis er sie über sich wahrnahm, und kam wieder über sie. Jetzt hatten sie es eilig, er jedenfalls, und sie willigte ein. Sie hielt ihn, half ihm, er stützte sich auf, sie sahen einander in die Augen. Beinahe hätten Rudys Arme vor Lust und Wonne nachgegeben – doch auch, weil er so nah am Abgrund war. Von irgendwoher rauschte Wind heran, als tobte im Flügel ein Schneesturm, der an seinen Schultern und Schenkeln zerrte, ihn wegzureißen versuchte von dem, was vor ihm, 217
unter ihm geschah. Und wieder erschauerte er, doch nur ganz kurz, dann war er wieder da. Alles war wieder gut. Er war bei ihr. Er fand sie wunderschön, und doch fehlte ihr etwas. Die Art, wie sie sein Gesicht, seinen Körper musterte, sagte ihm das. Sie nickte. Er wusste nicht, wieso, aber er sagte: «Oh, ja.» Dann richtete Irene sich langsam auf, erwiderte Rudys Bewegung in ihr. So bekam ihr Zusammensein Form und Ziel. Ein paar kurze Worte, dann griffen sie nacheinander und bewegten sich dem Höhepunkt entgegen. Zuerst Rudy, Irene später; viel später, als sie aus der ersten Ermattung auftauchten, er sie berührte und sie sich noch einmal liebten. Diesmal waren sie ganz still, sodass die Gerüche und Geräusche des Flügels Rudy nach einer Weile wieder ins Bewusstsein drangen. Diesmal schlossen weder er noch Irene die Augen. Sie sahen einander nicht an, aber sie hielten sich aneinander fest, liebten sich, als suchten sie im Dunkeln nach etwas, das aus dem Licht kommen könnte, in dem die Verwundeten lagen. Diesmal gab Irene einen Laut von sich, eine kurze Silbe, die sie am Ende fast gewaltsam un‐ terdrückte. Hinterher lag sie neben ihm, den Blick zur Decke gerichtet. «Woher wusstest du, dass ich hier bin?», flüsterte er. «Geraten. Der Pfleger sagte, du seist hereingekommen. Dann habe ich von hier hinten so etwas wie einen Schrei gehört.» «Einen Schrei?» «Oder etwas Ähnliches. Du musst schlecht geträumt haben. Ich habe nachgesehen und dich gefunden.» Rudy lächelte, dachte aber zugleich darüber nach, weshalb er geschrien haben könnte. Er wusste es nicht, weil er sich nicht an seine Träume erinnerte. «Als der Colonel mich neulich aus dem Stall geschickt hat», flüsterte er, «ist da alles gut gegangen?» 218
Sie nickte. «Hat er dich entdeckt?» Sie schüttelte den Kopf. «Bist du rausgekommen?» «Erst als er längst weg war. Ich bin bestimmt die halbe Nacht da geblieben. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, hat es mir ganz gut gefallen, so bei den Pferden, während draußen der Sturm heulte.» Rudy lag auf dem Rücken, hatte eine Hand unter den Kopf gelegt und streichelte sie mit der anderen. «Ich hab mir Sorgen gemacht.» Sie schmiegte sich an ihn, doch er spürte, dass sie angespannt war. «Wir müssen hier weg», flüsterte sie. «Aber einzeln», sagte er. «Ich glaube, da drüben ist eine Hintertür.» Sie schüttelte den Kopf. «Ich meine: ganz weg.» Das ungeheure Gewicht dieser wenigen Worte stürzte auf Rudy nieder und drückte ihn in die Matratze. Doch sofort fiel es wieder von ihm ab, und er fühlte sich leicht und beflügelt. «Wir werden weggehen», sagte er. «Gemeinsam», sagte Irene und drückte ihn fest an sich. Rudy küsste sie und spürte die Kraft seines Versprechens. Sie lächelte und schloss die Augen. Gemeinsam hatte sie gesagt. Er schaute nach oben und folgte mit den Augen der Linie, wo Wand und Decke aneinander stießen. Dort sah er das tanzende Licht – es zuckte hin und her. Rasch glitt Rudy von den Matratzen und spähte hinter den Wandschirmen hervor. Der Flügel lag ruhig und vom Dunkel gerahmt wie zuvor. Rechts stand das Bett von Guy X. Rudy hatte die Stehlampe angelassen. Guys Augenspiegel reflektierte das Licht und sandte Blitze durch den Raum. Selbst aus dieser Entfernung konnte Rudy erkennen, dass Guy X einen Anfall hatte und 219
zuckend willkürliche Signale aussandte. Rudy sah sich nach Irene um. Sie hatte sich aufgesetzt und wirkte beunruhigt. Er bedeutete ihr, dass alles in Ordnung sei, und sie legte sich wieder hin. Rudy sah nach dem Licht. Es hüpfte, zitterte und schoss an Wänden und Decke hin und her, bis es schließlich langsam auf Irenes Körper niedersank wie eine Sternschnuppe.
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ZWEIUNDZWANZIG Rudy stieß im Speisesaal auf Lavone, der ein neues Filmplakat aufhängte. «Das ist mal ein Film», sagte Lavone und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. Das Poster kündigte The Thing an. Eine düstere Gestalt ragte über den horrortriefenden Buchstaben des Titels auf. Im Hintergrund waren Gebäude zu sehen, die an Qangattarsa erinnerten– inklusive Schnee und Gletscher. «Ein Horrorfilm, der in der Arktis spielt», sagte Lavone. «Wie für uns gemacht.» Dann hängte er den Plan für den Küchendienst dieser Woche auf. Rudy stand irgendwo ganz oben auf der Liste. «Tut mir Leid, Mann», sagte Lavone. «Ich hab noch ver‐ 221
sucht, was zu drehen, aber wir sind langsam unterbesetzt. Sogar mich selbst musste ich eintragen.» Er zeigte auf seinen Namen weiter unten. «Das Grauen. Das Grauen», krächzte er. «Was meinst du mit unterbesetzt?», fragte Rudy. «Dass ein ganzer Trupp schon sehr bald ausgeflogen wird. Nach Hause. Ich hatte kaum Zeit, alle Marschbefehle auszu‐ stellen. Mir gehen die Arbeitskräfte aus.» «Und warum werden die versetzt?» «Ich weiß nur, dass hier gekürzt wird.» Abgesehen vom Wecken um vier Uhr dreißig war der Küchendienst gar nicht so schlimm. Desmond, fröhlich und angeheitert, sorgte dafür, dass Rudy angenehme Arbeiten zugeteilt bekam. Zum Frühstück teilte er Haferbrei aus, aber er hatte kaum Abnehmer. Der Dampf umspielte warm und entspannend sein G esicht. Er stand im Halbschlaf vor seinem Kessel und dachte an Irene. Soldatengesichter zogen an ihm vorüber. Die Heere derer, die ich liebe, umfassen mich, und ich umfasse sie. Er fand sie alle wunderbar. Schöne Frauen, harte Männer. Sogar Genteen sah gut aus, wie er sein Tablett und seinen Kugelbauch vor sich herschob. Als Rudy wieder hinten am Spülbecken stand und seine Breischüssel schrubbte, sah er Irene in der Kaffeeschlange. Sie bemerkte ihn nicht, und er konnte auch nur einen kurzen Blick auf sie werfen, aber er hatte das Gefühl, sein ganzer Körper sei in die Spüle getaucht worden– ein heißer, ekstatischer Schauer überkam ihn. Beim Mittagessen sah er sie nicht; verträumt sortierte er die Bestecke. Als er kurz vor dem Abendessen Pause hatte und mit ein paar anderen Soldaten auf den Kartoffelsäcken im Lager saß, kam ein Koch herein, der sein zerbrochenes Bril‐ lengestell mit Klebeband repariert hatte. Er winkte Rudy mitzukommen. «Du kriegst ein echtes Ehrenamt», sagte er, sobald sie außer Hörweite waren. «Gibtʹs nicht so oft für unsereinen. Und du 222
kommst aus der Küche raus.» «Was ist es denn?», fragte Rudy. «Verbrennungstrupp.» «Mein Gott.» «Ist doch im Grunde wie am Herd, oder? Ein bisschen zu heiß gekocht vielleicht. Ich kann auch wen anders hin‐ schicken.» Rudy meldete sich in Winterausrüstung am Flügel. Die Schwester im Häuschen stand auf und zeigte auf ein Bett ungefähr in der Mitte des Raumes. Auf der Matratze lag ein kleines, in Laken gewickeltes Bündel. Die Schwester hatte die Leiche schon eingehüllt. «Sie kennen sich mit den Bestattungsriten aus?», fragte sie. Rudy nickte. «Ich mache das Fenster auf», sagte sie. Wie erwartet war der Körper sehr leicht. Er versuchte sich vorzustellen, wie der Mann wohl ausgesehen hatte und was wohl von ihm übrig war. Rudy hatte irgendwann jeden Patienten einmal angeschaut, also auch ihn. War nicht hier in der Nähe d^s Bett, vor dem der Colonel gebetet hatte? Rudy wusste es nicht mehr. Er schaute zum Bett von Guy X hinüber, konnte aber nur Tropfflaschen und Tiffanylampen erkennen. Ihm wurde schwindelig. Der Geruch nach schwä‐ renden Wunden und Desinfektionsmittel stieg ihm zu Kopf. Der Leichnam in seinen Armen war viel zu leicht. «Alles okay?», fragte die Schwester, und ein kalter Luftzug weckte Rudy wieder auf. Er stand vor dem offenen Fenster. Von draußen beugte sich ein Soldat herein und nahm ihm den Toten ab. «Alles okay», sagte Rudy. Sie fuhren im Dunkeln mit einer weißen Schneeraupe zur Feuerwache hinaus. Das Fahrzeug erinnerte an einen Lieferwagen aus den Dreißigern; man hatte vier Ketten‐ fahrwerke darangeschraubt. Bei der Feuerwache warteten die Schwester und der Wachhabende in einer zweiten Raupe 223
mit laufendem Motor. Rudy trug den Leichnam hinein. Nachdem seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, fand Rudy sich in einem turnhallengroßen Raum mit Schotterboden wieder. Zwei nackte Glühbirnen hingen von der Decke. Mehrere Jeeps, eine Halbkette und ein Schützen‐ panzer waren im Halbdunkel an der Wand geparkt. Vor ihm befand sich ein aus verschiedenen Fahrzeugteilen zusa‐ mmengeschweißter Metallverschlag, von dem ein Ofenrohr bis zur Decke hinaufführte. Vorne stand eine Tür offen, drinnen brannte mit bläulicher Flamme unter einem schwarzen Rost ein dicht gepacktes Kohlenfeuer. Neben dem Krematorium standen der Kaplan, der Colonel und Irene. Der Kaplan räusperte sich und las aus seinem Gebetbuch. Er hatte den vollen episkopalischen Ornat angelegt und schlug recht wahllos an verschiedenen Stellen der Zeremonie das Kreuz, während er von Auferstehung und ewigem Leben, von Asche zu Asche und Staub zu Staub sprach. Rudy hielt den Leichnam auf den Armen und sah, dass der Colonel Irenes Hand hielt. Als der Kaplan zum Ende gekommen war, trat er auf Rudy zu und nahm ihm den Toten ab. Rudy wollte Irene ansehen, aber sie stand hinter Woolwrap. Captain Brank hockte sich vor die Ofentür und hielt den Leichnam linkisch vor die Öffnung. Er zögerte im Angesicht der Hitze. «Zum Teufel!», murmelte der Colonel und riss dem Kaplan das Bündel aus den Händen. Er holte aus und warf es schwungvoll durch die Türöffnung auf den Rost. Dann trat er die Türe zu. «Kurbeln Sie am Blasebalg», flüsterte Captain Brank Rudy zu. Rasch brachte er den Mechanismus in Gang; der Schwung riss ihm beinahe die Kurbel aus der Hand. Bei jeder Umdrehung krümmte sich sein Oberkörper, und das Feuer im Ofen begann zu seufzen. Während er kurbelte, sah Rudy aus dem Augenwinkel, 224
dass der Colonel und Irene hinausgingen. Sie ließen die Tür offen stehen, und die Scheinwerfer einer Schneeraupe schwenkten durch die Nacht, bevor sie abfuhr. Die Nacht war sternenklar, und Rudy sah durch die Tür einen Funkenregen mit dem Wind davontreiben; offenbar aus dem Feuer, das er anfachte. Als er schneller kurbelte, sah er wenige Sekunden später, dass Funken und Asche dichter aus dem Schornstein drangen. Ein wenig fachte Rudy das Feuer noch an, dann schlossen der Kaplan und er die Feuerzüge. Sie öffneten die Ofentür und wichen vor der Hitze zurück. Mitten auf dem rot glühenden Gitter lag ein Häufchen weißer Asche. «Sobald das abgekühlt ist, kommt der Bestattungstrupp und holt es ab», sagte der Kaplan. Sie schlossen die Tür der Feuerwache und stiegen in die zweite Schneeraupe. «Ich fahre Sie», sagte der Kaplan. «Ich hoffe, ich kann das Ding überhaupt steuern. Schätze, der Colonel wollte nicht länger als nötig bleiben.» Captain Brank ließ das Fahrzeug knirschend an, verschal‐ tete sich ein paarmal und fuhr dann haarscharf an der Ecke der Feuerwache vorbei. Im Lichtkegel der Scheinwerfer sah Rudy einen dünnen Schleier schwarzer Punkte auf der Schneedecke: Asche. «Kommt der Colonel immer zu solchen Anlässen?», fragte er. «Selten. Aber dieser war ein besonderer Fall.» «Wer war es denn?» «Gefreiter L.W.Sterner, 2. Kompanie, 6. Bataillon, 5. Infan‐ terie‐Division. Vom Rückstoß seines eigenen Flammen‐ werfers abgefackelt. 1951 in Korea schon für tot gehalten, schließlich in Qangattarsa, Grönland, an Lungenentzündung gestorben – 1959.» Sie näherten sich dem Lagersektor C. Der Kaplan versuchte herunterzuschalten. 225
«L.W. Sterner gehörte zu dem Bataillon, das der Colonel mit schadhafter Ausrüstung beliefert hat», sagte Rudy. Der Kaplan schaute ihn an. «Er war der Letzte», fügte Rudy hinzu. Der Kaplan fuhr gefährlich dicht an das Gebäude heran und fand endlich den Leerlauf. «Oder nicht?», fragte Rudy. Drüben im Flügel leuchtete das Lampenlicht orangerot durch die dünnen Vorhänge. «Doch, der Letzte», sagte der Kaplan. «Möge er in Frieden ruhen.» Rudy stieg aus, der Kaplan haute den Gang rein, und kreischend setzte das Fahrzeug sich in Bewegung. Rudy sprang die Stufen zum Eingang hinauf und presste sich an die Wand, die vordere Kette der Schneeraupe rollte über den Treppenabsatz, brach große Splitter aus den Brettern und zermalmte zwei Stufen. Dann brummte der Kaplan mit seinem Gefährt in die Nacht und hinterließ eine Spur von Eisbrocken und Holzsplittern. Rudy war erschöpft. Er musste nicht mehr zum Küchendienst zurück, hatte nicht einmal Appetit auf Abendessen. Er wollte nur ins Bett. In seinem Zimmer fand er zwei Botschaften auf dem Kissen. Eine war von Irene und lautete: «Es war schön, dich zu sehen, aber zum Trösten war es nicht nah genug.» Der andere Zettel war nicht unterschrieben, aber Rudy erkannte die krakelige Schrift. «Das warʹs dann wohl. Unsere Lebensader ist tot. Glauben Sie mir. Wo sind Sie? Melden Sie sich!» Doch er konnte sich nur noch mit den beiden Zetteln auf der Brust aufs Bett werfen. Er hörte den Generator, dessen Brummen sich nach und nach in das Seufzen der Flammen verwandelte. Hinter seinen geschlossenen Lidern sah er den von ihm entfachten Funkenregen, der als Asche auf dem Schnee niederging. 226
DREIUNDZWANZIG In den friedlichsten Momenten hatte Rudy den Eindruck,
dass alle Patienten des Flügels im Takt atmeten und der Raum in einem gemeinsamen Rhythmus pulsierte. Heute jedoch ging dieser Atem flach und hektisch. Der Flügel wirkte nervös. Guy X war nicht ansprechbar. Rudy erkannte das typische Zittern an Händen und Halsmuskeln. Der silberne Augen‐ spiegel hing schräg zur Seite und gab den Blick auf die eingefallene Gesichtshälfte und das traurige Loch am Hinter‐ kopf frei. Rudy lauschte dem Puls der Station. Die Unruhe war allge‐ mein. Als hätte jemand einen Stein in einen Teich geworfen. Guy X schien davon jedoch nichts mitzubekommen. Sein Atem folgte einem ganz eigenen, abgehackten Rhythmus. Rudy nahm den Whitman vom Nachttisch. Er drehte die 227
Klemmlampe in seine Richtung und schlug «Ich singe den Leib, den elektrischen» auf. Er las die erste Strophe, dann sah er Guy X an. Mit seinem kleinen Körper und den dünnen Haarsträhnen wirkte er wie ein krankes Kind. Das Zittern hatte aufgehört. Rudy hielt das Buch in den Lichtkegel der Lampe und las laut. Wenn Guy X schlief, dann würden ihn die Verse vielleicht sanft wecken; und wenn er immer noch von seinen Krämpfen geschüttelt würde, könnten ihm die Zeilen vielleicht heraushelfen. «Sie wollen nicht ablassen von mir, bis ich mit ihnen gehe, ihnen zu Diensten bin ...», las Rudy leise, eigentlich nur für sich. «Die Liebe zum Leibe eines Mannes oder eines Weibes entzieht sich der Rechenschaft –» «Wie war das? Ich kann Sie nicht verstehen.» Rudy blickte auf. Guy X war immer noch bewusstlos; die Schwester saß in ihrem Häuschen. Die Stimme war von der anderen Seite des Ganges gekommen, von weit hinten, wo die leeren Betten und das Material lagerten. Dort lag ein Mann, zum Teil von den Wandschirmen verdeckt. Rudy stand auf und erkannte den Major General. Er lag ausgestreckt auf einer blanken Matratze, gleich neben dem Stapel, auf dem Rudy und Irene miteinander geschlafen hatten. Er hatte die Hände hinterm Kopf verschränkt, die Wanderschuhe ausgezogen und die Skijacke über ein Bettgestell gehängt, trug ein kariertes Hemd und sah aus, als würde er sich nach einem erfolgreichen Jagdausflug in seiner Hütte entspannen. «War das Shakespeare?», fragte er. «Nein, Sir», antwortete Rudy, unsicher. «Whitman.» 228
Der General schwang sich von der Matratze und kam auf Socken zum Bett von Guy X. Er stellte sich neben Rudy, schaute zuerst den Patienten und dann das Buch in Rudys Hand an. «Meinen Sie, das hilft?» «Er hat mich gebeten, es ihm vorzulesen», sagte Rudy. «Sieht mir nicht sehr verständig aus, der Mann.» «Nein, Sir.» Der General seufzte fast unhörbar. Er ging zu seinen Sachen zurück und winkte Rudy mitzukommen. «Mein Hubschrauber verspätet sich. Da hab ich mich hier aufs Ohr gelegt.» Der General setzte sich auf ein Bett und zog sich die Schuhe an. «Friedlich hier. Ist Ihnen das auch schon aufgefallen?» «Ja, Sir.» «Erstaunlich ...» Der General rammte seinen Fuß in den Wanderstiefel. «... friedvoll. Gefällt mir.» Er beugte sich vor und streckte Rudy die Hand entgegen. «Tolson Vord, Soldat», sagte er. «Major General, United States Air Force.» Rudy schüttelte die dargebotene Rechte. Der General bückte sich, um die Stiefel zu schnüren, und redete weiter. «Wir laufen uns hier ja ständig über den Weg, Corporal. Wie heißen Sie?» «Spruance, Sir. Rudy.» «Verwandt mit Admiral Spruance?» «Nein, Sir. Ganz und gar nicht.» «Da habe ich ja Glück gehabt, was? Wenn ich Sie zur Schnecke gemacht hätte, als Sie auf Wache eingenickt waren, und Sie wären der Neffe eines Admiral oder so was, dann stünden wir doch alle dumm da, was?» General Vord lachte, schüttelte den Kopf und betrachtete dann seine geschnürten Stiefel. Er hatte sie nicht wie üblich über Kreuz geschnürt, sondern wie die Fallschirmspringer als Leiter. 229
«Erstaunlich friedvoll», sagte Vord noch einmal. «Kommen Sie öfter hierher?» «Ab und zu, Sir. Nicht sehr oft.» «Sie geben doch diese Zeitung heraus, die Woolwrap sich ausgedacht hat.» «Ja, Sir.» Vord stand auf und steckte sein Hemd in die Hose. «Hab ich gelesen. Die Ausgabe, wo es um die Schließung des Stützpunkts ging.» Der General zog einen silbernen Flachmann aus der Hosen‐ tasche, nahm einen Schluck und bot Rudy ebenfalls einen an. Rudy lehnte ab. «Wer hat den Brief geschrieben, Corporal?» Rudy hörte den glucksenden Atem der Krankenstation. Der General starrte ihn aus wasserblauen Augen an. Wären sie noch wässriger gewesen, hätte man sie für die tränenden Augen eines Trinkers oder eines Greises halten können; so aber leuchteten sie unheilvoll. «Weiß ich nicht», antwortete Rudy. «Doch, natürlich wissen Sie das. Weiß ich genau.» «Er war nicht unterschrieben, Sir.» «Wer war es, Rudy?» «Sir, selbst wenn ich es wüsste, was macht das schon? Es war doch bloß ein Brief. Bloß eine Frage.» «Hat der Colonel was dazu gesagt?» «Dass ich keine weiteren anonymen Briefe veröffentlichen darf.» Vord zeigte auf Guy X. «Nehmen wir mal an, dass es unser Freund hier war. Aus Ihrer Poesiegruppe. Nehmen wir es nur mal an. Haben Sie hier eine kleine Verschwörung am Laufen?» «Eine Verschwörung? Mit ihm?», fragte Rudy zurück. «Wohl kaum, Sir.» «Aber es ist Ihnen schon durch den Kopf gegangen», sagte Vord, «dass die Army den Stützpunkt womöglich schließt.» 230
«Ist mir durch den Kopf gegangen, Sir.» «Und darüber machen Sie sich Sorgen.» «Nun, ich kann die Sorgen verstehen, die in dem Brief zum Ausdruck kommen, Sir.» «Ein besorgter Bürger in Uniform», sagte Vord und ging zum Fenster. Er zog den Vorhang zur Seite und sah hinaus. Über seine Schulter erblickte Rudy Wachscheinwerfer und Wolken, die sich am fast schwarzen Himmel vor den Bergen türmten. Es war Mittag. Dieses schwache Glimmen war ihre tägliche Ration Licht. «Ich möchte Ihren Blick ein wenig erweitern», sagte Vord. «Ich will Ihnen was über Frieden und Sicherheit erzählen. Über Ihre Sicht der Welt. Erinnern Sie sich an die Weltkarte in Ihrem Klassenzimmer früher? Corporal Spruance?» «Jawohl, Sir.» «Die haben Sie zweifellos jeden Tag angeschaut», sagte Vord mit leiser, beinahe hypnotisierender Stimme. Er sah immer noch aus dem Fenster. «So haben Sie die Welt kennen gelernt. Vielleicht stand ja auch irgendwo ein Globus, aber die Karte hing jeden Tag direkt vor Ihren Augen. Wenn Sie nach vorn gegangen sind und direkt daran gerochen haben, hatten Sie den bitteren Duft der Druckfarbe in der Nase. Die Karte war auf schwerem Gewebe gedruckt, fast so dick wie Ölzeug. Die Welt. Ein Teil Ihrer Bildung.» Vord drehte sich um. «Aber wissen Sie was, diese Karte hat Ihnen ein ganz falsches Bild vermittelt, Rudy Spruance. Sie hat Ihnen die Welt näher bringen sollen, aber sie war vom falschen Standpunkt aus gezeichnet. Völlig irreführend. Das liegt an der Mercatorprojektion, die uns glauben macht, dieser Klumpen Eis und Felsen hier, dieses Grönland, sei doppelt so groß wie die Vereinigten Staaten von Amerika.» Rudy dachte darüber nach. Auf den Schulkarten hatte es tatsächlich so ausgesehen. Er glaubte sich zu erinnern, dass Grönland auf einer der Karten sogar grün gefärbt gewesen war. Sehr witzig. 231
Der General fuhr fort: «Sie sitzen also in Ihrem Klassen‐ zimmer und starren die Karte über der Tafel an, und ganz links ist Russland, ganz rechts die Vereinigten Staaten. Viel‐ leicht sind wir auch in der Mitte, und Russland ist in zwei Hälften geteilt. Es sieht also wegen der Mercatorprojektion so aus, als ob der Russe entweder in einem geteilten Land oder am anderen Ende der bekannten Welt sitzt und wir deshalb auf der sicheren Seite sind. Russland ist weit weg. Kommt nicht an uns ran. Und jetzt schlaft gut, liebe Kinder ... Das ist natürlich eine grandiose Fehleinschätzung.» Vord begann auf und ab zu gehen, die Hände in den Taschen, und warf Rudy ab und zu kurze Blicke zu. «Aber schauen Sie sich die Welt mal von hier oben an. Aus ark‐ tischer Sicht. Vom Nordpol. Dann ist der Russe nicht mehr so weit weg, irgendwo im Ostblock am anderen Ende der Karte. Er ist unser direkter Nachbar, verdammt. Unsere Ein‐ flussgebiete spielen hier oben sozusagen Ringelreihen um den Pol, Alaska und Sibirien hängen auf der einen Seite zusammen, Skandinavien und die Halbinsel Kola auf der anderen.» Um seine Worte zu unterstreichen, rieb er sich die Hände. Dann nahm er sie wieder auseinander und presste sie in Höhe der Lendenwirbel auf den Rücken, lehnte sich seufzend nach hinten und sah sich im Flügel um. «Woolwrap ist schon eine Nummer, was?», sagte Vord. Rudy sah zu den Betten, dem erleuchteten Schwestern‐ häuschen und dem reglosen Guy X. «Und dann erst seine Adjutantin, hm?», fügte Vord hinzu. «Was halten Sie denn von der?» «Sir, ich weiß nicht, was Sie meinen», antwortete Rudy. «Reden Sie keinen Scheiß.» Rudys Kiefer mahlten so stark, dass es schmerzte. «Wissen Sie nicht mehr, wie wir uns das erste Mal über den Weg gelaufen sind? Haben Sie inzwischen noch öfter durch das Fenster gelinst? Vielleicht haben Sie sich auch für den 232
Wäschereidienst gemeldet, um an ihren Höschen zu schnüf‐ feln. Wie wäre das, Corporal?» Rudys Gesichtsmuskeln zuckten. Er sagte: «Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, worauf Sie hinaus‐ wollen, Sir.» «Ha! Werden Soldaten jetzt aus den feinen Kreisen angeworben? ‹Ich kann mir beim besten Willen nicht vor‐ stellen ... ›» Vord gluckste amüsiert und schüttelte den Kopf. Dann sah er sich noch einmal in der Station um. «Dazu braucht man schon ein gewisses Talent, so ein Lazarett auf Armeekosten einzurichten, aber wozu es gut sein soll – keine Ahnung. Sehen Sie – und genau da liegt unser Problem.» Vord zog die Vorhänge ganz auf. Draußen ragten die Berge im Dämmerlicht auf, zwischen zwei Gipfeln schob sich die weiße Zunge eines Gletschers hervor. Vord tippte an die Fensterscheibe. «Die Polkappen», sagte er, «bieten im atomaren Zeitalter kein bisschen Schutz gegen Raketen. Nicht mal gegen Bomber. Und zwischen uns und ihnen liegt nichts als diese Eiskappe. Hinter diesen Bergen ist alles flach, mein Freund. Wie ein Kuchentablett. Natürlich kann man ihre Raketen oder Bomber auch besser kommen sehen, weil es keine Deckung gibt. Aber wir haben eben auch keinen Schutz. Wir brauchen also Frühwarnung, Soldat. Denken Sie an meine Worte: Der nächste Krieg wird in der Luft ausgetragen.» General Vord wandte sich vom Fenster ab. Sein Gesicht war gerötet. Er ging zwischen den Betten entlang und ließ seine Hand über die emaillierten Bettgestelle gleiten. Er rief Rudy die nächsten Worte quer durch die Station zu. «Der Russe hat sechzehn große Flugplätze allein auf der Halbinsel Kola. Auf dem Fleckchen Erde ist genug Spreng‐ kraft versammelt, die ganze Welt in die Luft zu jagen.» «Sie wollen also einen Luftkrieg?» «Von Wollen kann keine Rede sein. Aber wenn ich wählen 233
müsste ...» Rudy schaute sich um. Guy Xʹ Auge war immer noch ge‐ schlossen, doch hatte er den Kopf gedreht, sodass sein Gesicht beinahe normal wirkte. Sein kleiner Leib unter der Bettdecke zuckte einmal, wie bei einem träumenden Kind. «Wir brauchen Warnung, Rudy Spruance. Wir müssen Zeit gewinnen. Beim Luftkrieg kommt es auf Minuten an, auf die Sekunden bis zum Einschlag. Der Sekundenzeiger tickt für die Schulkinder unter ihren Tischen, für alle, die versuchen, in die Schutzräume zu gelangen. Darauf läuft es letztlich hinaus. Zeit. Frühwarnsysteme. Radaranlagen.» «Hier?» «Sehr gut geeignet, abgesehen von der einheimischen Bevölkerung.» Er deutete auf die Betten. «Und was ist mit denen?», fragte Rudy mit wachsendem Trotz. Der General hängte sich seinen Parka an zwei Fingern über die Schulter, lässig wie Frank Sinatra. Er schaute traurig und verloren, aber Rudy ahnte, dass diese Miene nur aufgesetzt war. «Das Atomzeitalter ist eine große Sache, Rudy Spruance. Größer als ich, als Sie, als diese Männer hier. Korea wird schon der vergessene Krieg genannt, und da ist was dran. Wenn einem die Atombombe überm Kopf schwebt, vergisst man vieles», sagte Vord. Dann wandte er sich zur Tür und ging. «Was werden Sie mit denen machen?», rief Rudy ihm hinterher. «Was würden Sie denn vorschlagen?» Vord blieb stehen und drehte sich zu Rudy um. «Mal ernsthaft. Was würden Sie mir vorschlagen?» «Naja ... sich um sie zu kümmern.» «Ja? Und?» «Was ‹Und›?», fragte Rudy zurück. «Passen Sie mal auf», sagte General Vord und kam so 234
schnell auf Rudy zu, dass es fast nach einem Angriff aussah. «Man muss hier Prioritäten setzen. Wie soll ich mich um die hier kümmern und gleichzeitig um die Verteidigung unseres Landes? Um diese Männer und um unser von Gott geseg‐ netes Amerika?» Er stand geduckt vor Rudy, zum Sprung bereit. Seine Aknenarben zeichneten sich im erhitzten Gesicht noch stärker ab. Rudy merkte, dass sie beide genau gleich groß waren. «Tun Sieʹs einfach», sagte Rudy. Vord trat einen Schritt zurück und nickte. «Ich sollʹs einfach tun», sagte er. Jetzt sah es so aus, als wollte er in Gelächter ausbrechen. «Ich sollʹs einfach tun. Einfach mit den Fingern schnippen und es tun. Spruance, Sie können sich gar nicht vorstellen, mit was für riesigen Problemen ich mich hier herumschlage.» «Nein, Sir», sagte Rudy. «Offensichtlich nicht.» Aber Vord hörte schon nicht mehr zu. Er hatte kehrt‐ gemacht und marschierte wieder an den Betten vorbei zur Tür. Die Begleitgeräusche der Patienten brandeten hinter ihm her. Aus einer Kehle drang eine Art gurgelnder Triller, der nach wenigen Sekunden wieder erstarb. Rudy wartete auf das Klicken der Tür, dann wandte er sich um. Guy X hatte sein Auge jetzt weit aufgerissen und starrte hinter Vord her. Schon von weitem sah Rudy die Wut in seinem Blick.
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VIERUNDZWANZIG «Helfen Sie.» «Wie?» «Weiß ich nicht!» Sie flüsterten. Zumindest Rudy. Guy X sprach mit seiner kratzigen Stimme, die Worte raspelten leise über seine trockene Zunge durch die zwei oder drei Zähne, die ihm geblieben waren, über die zusammengeflickten Lippen. Rudy fühlte sich wie ein Verschwörer. Vord war gegangen, doch seine Worte fanden im wütenden Zittern von Guy X ihren Widerhall. «Soll ich vorlesen?», flüsterte Rudy in das verstümmelte Ohr. «Um Gottes willen, nein», sagte Guy X. Dann murmelte er: «So ein Arschloch.» «Wer?» 236
«Na, der Drecksack.» «Der General?» «General ist er?» «Ja.» «Herr im Himmel, schon wieder ein General, der mich in die Scheiße reitet. Er wird uns umbringen.» «Wen?» «Uns. Nicht Sie. Uns hier drinnen in der Station.» «Das hat er nicht gesagt.» «Das musste er auch nicht. Sie haben ihn doch gehört. Das Lazarett ist erledigt.» «Na und?» «Sie wollen es schließen. Wer soll sie daran hindern? Der letzte Soldat des Colonel ist abgetreten. Warum sollte der Colonel für uns kämpfen? Sie werden den Laden dicht‐ machen und uns verlegen. Und wie viele werden das über‐ stehen?» Rudy beugte sich vor, stützte den Ellbogen auf die Matratze und ließ den Blick über die Bettdecke schweifen, die wie eine verwehte Schneewüste aussah. «Und wen interessiert es, wie viele es überstehen?», fragte Guy X. «Keine Ahnung», murmelte Rudy. «Sie müssen mir helfen.» «Wobei?» «Lassen Sie nicht zu, dass man mich verbrennt.» «Was reden Sie denn da?» «Versprechen Sie es. Vom Feuer hab ich genug. Sorgen Sie dafür, dass man mich nicht noch mehr verbrennt.» «Wie soll ich denn —» «Begraben Sie mich. Oder legen Sie mich da draußen auf einen Felsen, damit mich die Pinguine fressen.» «In Grönland gibt es keine Pinguine.» «Grönland!» «Da sind wir nämlich.» 237
«In Grönland? Herrgott.» «Haben Sie es vergessen?» «Ich hab es nie geglaubt... Scheiß auf die Pinguine. Aber nicht einäschern, okay? Kein Feuer.» «Wissen Sie, ich –» «Versprechen Sie es!» «Meine Güte! In Ordnung. Aber was reden Sie denn da? Sie ster‐ben doch gar nicht.» «Könnte ich aber.» «Aber noch nicht. Also reden Sie nicht –» «Und außer Ihnen würde es niemand merken.» «Reden Sie nicht so.» «Sie würden es merken.» Rudy lehnte sich zurück. Guy X hatte ihn erwischt. Rudy nahm den Whitman vom Nachttisch und blätterte darin. «Darf ich Sie etwas fragen?», sagte Rudy. Guy X drehte den Kopf. Der Augenspiegel warf einen Lichtpunkt auf Rudy. «Mit wem reden Sie noch?», fragte Rudy. «Außer mit mir. Kommt Sie noch jemand besuchen?» «Nein.» «Und wer hat mir dann Ihren Zettel gebracht?» Die Frage überraschte Guy X. Rudy sah seinen Kopf kurz hochzucken, bevor er wieder aufs Kissen sank. «Die Rothaarige», sagte er. «Sie haben also mit ihr geredet?» «Ich habʹs versucht.» «Kommt sie zu Ihnen?» «Nein.» Rudy fragte sich, ob Guy X tatsächlich rot wurde. Diese Möglichkeit hatte er noch nie in Betracht gezogen. Er hatte keine Ahnung, was von Guy X unterhalb des Bauches noch vorhanden war. Kannte er noch Triebe, oder streiften ihn nur die Erinnerungen daran? «Wen besucht sie dann?», fragte Rudy. 238
«Niemanden. Sie sitzt nur hier. Ein paarmal habe ich versucht, sie zu rufen, aber sie hat mich nie gehört, bis auf dieses eine Mal. Vielleicht. Vielleicht habe ich auch nur geträumt.» «Wie meinen Sie das?» «Ich kann das nicht mehr unterscheiden. Ich schlafe nicht richtig; ich sehe dann, dass die Schwester meine Bettwäsche wechselt, aber wenn ich sie anspreche, reagiert sie nicht, also muss ich wohl träumen. Kurz daraufschaue ich nach, und mein Bett ist frisch bezogen. Also war die Schwester wirklich da, aber ich habe sie nicht wirklich angesprochen. Manchmal denke ich, dass ich mit Leuten rede, dabei tue ich es gar nicht. Außer bei der Rothaarigen. Die hat mich anscheinend gehört.» «Und ich jetzt auch. Ich höre Sie auch», sagte Rudy. Guy X verzog das Gesicht zu einem Lächeln und krallte seine drei Finger um Rudys Handgelenk. «Dann helfen Sie mir. Kommen Sie wieder. Versprechen Sieʹs mir.» «Das habe ich doch schon. Ich komme wieder.» «Ich will hier nicht mehr weg. Wenn ich wegmuss, bin ich erledigt.» «Meinen Sie, einen Transport würden Sie nicht überleben?» «Womöglich nicht. Und selbst wenn, wo würde ich dann landen? Ich würde verschwinden. In irgendeinem Vetera‐ nenheim, in einer geschlossenen Station. Wahrscheinlich würden sie mir einen neuen Namen und eine neue Biogra‐ phie geben. Mir einen Auto‐ oder Arbeitsunfall andichten.» «Sie könnten doch Ihren richtigen Namen sagen.» »Das würde denen so passen. Dann hätten sie mich am Kanthaken.» Er ließ Rudys Arm los, und eine Weile schwiegen sie. «Sagen Sie Ihren Namen», flüsterte Rudy. «Nein!» «Aber wenn die wüssten, dass Sie noch verständig sind» – er benutzte den Ausdruck des General – «dann würde sich 239
die Lage vielleicht ändern.» «Werʹs glaubt.» «Dann verraten Sie wenigstens mir Ihren Namen», flüsterte Rudy. Guy X schüttelte den Kopf. «Dann eben nicht, verdammt», sagte Rudy. Guy X packte seinen Arm. «Kommen Sie wieder. Ver‐ sprechen Sie es.» «Hab ich doch.» Guy X klammerte sich an Rudys Arm, sein Kopf hatte sich vom Kissen gehoben, die Sehnen an seinem Hals traten hervor. «Beruhigen Sie sich», flüsterte Rudy. «Kommen Sie wieder?» «Ja», antwortete Rudy. «Wann?» «Gleich morgen früh.» Rudy ging in sein Zimmer, arbeitete an der Zeitung, trank ein Bier im Club, hoffte Irene zu sehen, die aber nicht erschien, ging ins Bett. Als er am nächsten Morgen aufstand, ging er als Erstes zum Flügel. Beinah hoffte er, dass Guy X einen Anfall hatte, dann würde er ihm einfach eine Nachricht hinterlassen. Doch die Worte des General, die Guy X mit angehört hatte, beunruhigten auch Rudy. Am Flügel angekommen, drückte er auf den Klingelknopf und sagte seinen Namen in die Sprechanlage. Normaler‐ weise ließ ihn die Schwester oder der Sanitäter sofort hinein, doch diesmal musste er warten. Schließlich knackte es im Lautsprecher. Die Stimme eines Sanitäters sagte: «Tut mir Leid. Kein Zugang.» Rudy drückte wieder auf den Sprechknopf. «Wie bitte?» «Hier steht: Kein Zugang. Ihre Genehmigung ist widerrufen worden.» «Das ist doch Quatsch. Lassen Sie mich rein.» «Tut mir 240
Leid, Mann. Kann ich nicht machen.» Und mit einem Knacken erstarb der Lautsprecher.
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FÜNFUNDZWANZIG Rudy konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt die Sonne gesehen hatte. Der Tag bestand jetzt aus etwa einer Stunde Dämmerung am südlichen Horizont; ansonsten herrschte tiefe Nacht. Wochenlang hatte der Fjord wie ein schwarzer Finger in die schneebedeckten Berge hineingeragt. Doch als das Licht vollständig verschwand, hatte die Kälte das Brackwasser in eine zähflüssige graue Masse verwandelt. Und jetzt war es schließlich fest gefroren, waren die Eisberge und Schollen zu einer begehbaren Landschaft verwachsen, die sich zwischen den steilen Berghängen erstreckte. Der Fjord war nun ein Teil der eintönigen weißen Wüste, die Qangattarsa umgab. Doch es herrschte keine absolute Finsternis. Selbst in mondlosen Nächten erhellten die Sterne den Fjord. Im schwachen Licht schimmerte das Eis blaugrau mit dunkleren 242
Streifen und Flecken. Freiliegende Felsen zeigten sich als düstere schwarze Löcher, und jede menschliche Gestalt, die aus dem Licht der Wachscheinwerfer trat, war nur noch als dunkler Schatten zu ahnen. Es wagte sich ohnehin selten jemand hinaus. Seit Thanksgiving war das Thermometer nicht mehr über null gestiegen, und jetzt war bald Weih‐ nachten. Die gemessene Zeit – Tage, Stunden, tickende Uhren, abgerissene Kalenderblätter – schien an Rudy vorbei‐ zuziehen, hinter einer dünnen Membran, die er nur mit großer Anstrengung durchdringen konnte. Er konnte zwar in der Realzeit eine Zeitung fertig stellen oder zu den Mahlzeiten gehen, doch vermochte er sich kaum zu ent‐ sinnen, wie lange er schon in Grönland war und wie lange er noch bleiben sollte. Das sei ganz normal, sagte Lavone. Zum Beispiel Petri: der stehe plötzlich kurz vor dem Ende seiner Dienstzeit. Die Abschiedsparty war bereits geplant, und Rudy war eingeladen. Er folgte einem ausgetretenen Pfad im Schnee bis zum Ende des Exerzierplatzes, wo er auf zwei beleuchtete Iglus stieß. Beef hatte die Party organisiert und einige Inuit aus der Siedlung am Ende des Fjords damit beauftragt, für Räum‐ lichkeiten und Frauen zu sorgen. «Das Motto lautet ‹Grönland kann mich mal›», hatte Beef verkündet. «Das wird Petri gefallen.» Rudy wollte eigentlich nicht hingehen, aber Beef hatte ihn damit überredet, dass es eine Überraschung für Petri werden sollte. «Ich wusste gar nicht, dass Petri seine Zeit schon hinter sich hat», hatte Rudy gesagt. «War ihm auch neu», hatte Beef geantwortet. «Aber wer hat das hier schon im Blick? Jedenfalls wird er morgen mit noch ein paar Funkern und Fahrern ausgeflogen.» Er machte das Qangattarsa‐Zeichen: Lasset uns hinauffliegen. Ein Halbmond stand am Himmel, das Thermometer zeigte 243
zwanzig Grad unter null. Der Schnee knirschte unter Rudys Stiefeln. Als er sich den Iglus näherte, hörte er lauten Gesang und ebenso lautes Jaulen. Einige Hundeschlitten standen in der Nähe, und die Gespanne heulten mit den Feiernden im Chor. Vor dem Iglu pinkelte ein betrunkener Eskimo in den Schnee. Als Rudy sich bückte, um durch den Eingang zu kriechen, drehte der Mann sich zu ihm um und traf ihn mit seinem Strahl beinah ans Bein. Der Eskimo leuchtete Rudy mit einer Armeetaschenlampe ins Gesicht und sagte: «ʹtschuldigung, Mann, ʹtschuldigung», während er seine Robbenfellhose richtete. Dann packte er Rudy an der Schul‐ ter. «Allez Hopp», sagte er und schlug sich auf die Brust. «Allez Hopp.» Es dauerte einen Augenblick, bis Rudy den Mann erkannte, der ihm beim Gelage die kleine Figur verkauft hatte. «Allez Hopp.» Rudy nickte. Er zog die Figur aus der Tasche. Allez Hopp lächelte, drehte sich dann zur Seite und kotzte in den Schnee. Rudy wollte ihn stützen, doch der Eskimo winkte ab. Also kroch Rudy durch den Eingang. Eine Petroleumlaterne der Army erleuchtete das Iglu; in der gewölbten Decke steckte Christbaumschmuck. Petri lag mit nacktem Oberkörper in der Mitte des Raumes auf Fellen und stemmte eine kichernde Inuitfrau in die Höhe. Acht Soldaten, die meisten von ihnen aus der Fahrbereitschaft, saßen zusammen mit ein paar Eskimos auf einer abge‐ deckten umlaufenden Wandbank aus Eis. Ein Tonbandgerät, das an eine Lastwagenbatterie angeschlossen war, spielte Laverne Bakers «I Cried A Tear». Es war erstaunlich warm und feucht im Iglu, und ein Aro‐ ma von Bier, Schweiß und Rauch hing in der Luft — Rauch von Tabak und Gras. Lavone hatte seine Medizinkiste mitge‐ bracht und bot den Eskimofrauen Amylnitrit‐Ampullen an. 244
Die Frauen betrachteten die kleinen Glasröhrchen neugierig und lächelten. Ein Gefreiter fingerte in einem mit Nembutal‐ Kapseln und Amphetamin‐Pillen gefüllten Geschossmantel herum und lallte «Schneller? Langsamer? Schneller? Langsa‐ mer? SchnellSchnellSchneller? Langsamer? La‐angsa‐amer? La‐a‐ang‐sa‐a‐a‐mer ...» Er stierte Rudy an und fiel kichernd hintenüber. Rudy hatte das Gefühl, dass er auf dieser Party nicht alt werden würde, nahm sich aber trotzdem ein Bier und setzte sich neben Beef auf die Bank. Ein Sergeant kroch mit einer der Frauen durch einen Verbindungsgang, der dem Eingang gegenüberlag. «Interesse an einer Eskimöse? Hier entlang bitte», sagte Beef. «Da gehtʹs zu unserem Vögelnest.» Allez Hopp war mittlerweile wieder hereingekommen und stand mit einigen anderen Inuit in einer Ecke, wo Lavone ihnen ein pornographisches Daumenkino mit den Disney‐ figuren Klarabella Kuh und Rudi Ross als Protagonisten vorführte. Die Eskimos blickten zwar etwas verschämt, aber durchaus neugierig in das kleine Buch. Petri hatte seine Gespielin abgesetzt und zog sich ein Hemd über den massigen Oberkörper. Er nahm sich ein Bier und kam auf Rudy zu. «Spru, mein Bester», dröhnte er. «Was würdest du machen, wenn du an meiner Stelle wärst? Kurz vor Dienstende? Verlängern oder aussteigen?» «Keine Ahnung», antwortete Rudy. «Keine Ahnung?», schrie Lavone beinahe. «Soll das heißen, du ziehst Verlängerung in Betracht?» «Er hat doch gefragt, was er machen soll», verteidigte sich Rudy. «Hey. Mann. Schlag dir das aus dem Kopf», sagte Lavone. «Nimm das Wort Verlängern gar nicht erst in den Mund.» «Drei warme Mahlzeiten und ein Bett», sagte Beef. «Wenn du dabeibleibst», sagte Lavone, «dann gehtʹs dir mit 245
der Army wie in diesem Heft.» Er blätterte das Daumenkino vor und zurück. «Ob vorwärts oder rückwärts, du wirst immer gefickt.» Vom Tonband erklang Bill Parsons Elvis‐Imitation «All‐ American Boy». «Hey, Leute, ihr lasst euch von der Dunkelheit runter‐ ziehen», sagte Lavone. «Man wird doch verrückt hier. Als würde ein Tier auf uns hocken, und wir krabbeln unter ihm herum.» Petri nahm sich Beefs Gitarre und schlug auf die Saiten ein. «Was soll das!», schrie Beef. «Ich will singen», sagte Petri. «Das ist meine Party, ich bin beinahe durch, und ich will singen.» Er hämmerte weiter auf die Gitarre ein. «Das Instrument steht immer noch zum Verkauf», sagte Beef. «Dann kaufe ich es eben», sagte Petri. «Abschiedsgeschenk für die Hauptperson.» Er zog einen Zwanzig‐Dollar‐Schein aus der Tasche und warf ihn auf die Felle. «Jetzt gehört sie mir», sagte er. «Ich hab noch nicht –», hob Beef an, aber Petri schrammelte schon wieder auf den Saiten herum, sprang durch das Iglu und sang ein Potpourri verschiedener Songs von Elvis Presley. Die Eskimos applaudierten. «Ich spüre die Kraft von Elvis durch die Saiten der Gitarre», schrie Petri. Er schlug auf das Instrument ein, knallte gegen die Igluwände und trat beinahe einer Frau ins Gesicht, die aus dem Durchgang spähte. Rudy schnappte sich die Laterne, um sie vor Petris Stiefeln zu retten. «He!», schrie Beef. Aber Petri war schon gestolpert, taumelte im Kreis herum und krachte schließlich mit dem Knie auf die Gitarre. Die Saiten rissen, und der Schallkörper splitterte unter lautem Krachen. «Du Arschloch!», schrie Beef. «Das war eine Reliquie!» 246
«Das war ein Stück Scheiße», schrie Petri zurück. Beef sank auf die Knie und starrte fassungslos seine Gitarre an. Die Eskimos beugten sich vor, um besser sehen zu können. «Du Hurensohn», knurrte Beef, packte die Reste des Instruments und schlug sie Petri mit elegantem Schwung ins Gesicht. Petri ging zu Boden und krabbelte durch die Öff‐ nung ins Nebenislu, Beef hinterher. Von nebenan hörte man Schreie und Flüche, dann kamen Petri und Beef wieder herausgeschossen, drehten eine Runde in dem großen Iglu und jagten durch den Ausgang ins Freie. Beef schrie: «Wenn das Arschloch mir die Gitarre kaputt‐ haut, hau ich ihm eben die Party kaputt», und bald darauf hörten Rudy, Lavone und die anderen kratzende Geräusche außen am Iglu, die sich an der Wand hinaufbewegten. Sekunden später brach ein Stiefel durch die Decke. Zuerst bröckelte es nur, dann stürzten ganze Eisblöcke vom Dach herab, das der schnaufende Beef eintrat. Die Insassen drängten sich zum Ausgang, als das ganze Bauwerk zu‐ sammenfiel. Rudy warf die Laterne nach draußen, als Beef hinter ihm schreiend durch die Decke stürzte. Jetzt saßen sie alle wie in einer Badewanne bis zur Brust im Schnee. Beef war völlig verschüttet, trat um sich und rief um Hilfe. Doch niemand raffte sich auf, ihn zu befreien. Die Hunde bellten. Petri bog sich vor Lachen. Petroleum war aus der Laterne gelaufen, und die züngelnden Flammen auf dem Schnee erleuchteten die Szenerie. Der Anbau, aus dem das Grunzen brünftiger GIs und Inuit drang, stand noch. Lavone, der neben Rudy saß, zerbrach eine Ampulle Amylnitrit. «Willkommen in der Totalen Umnachtung», sagte er. 247
«Herzlichen Glückwunsch», flüsterte Irene. «Was?» Er war in ihr, sie standen in einer Besenkammer des Verwaltungstrakts. Ein Quickie. Sie waren sich zufällig vor dem Speisesaal über den Weg gelaufen, nachdem sie mindestens zwei Wochen nicht mehr allein beisammen gewesen waren. Rudy hatte in atemloser Erwartung auf die nächste Begegnung mit Irene gehofft, sich um Guy X gesorgt, über die Pläne von General Vord und Colonel Woolwrap nachgegrübelt. Ab und zu war er Irene auf den Fluren begegnet, aber es wurde schwieriger, sich zu verabreden. Der Stützpunkt war schrecklich eng, die Dek‐ kung dünn geworden. Abgesehen von Momenten wie diesem. Eine zufällige Begegnung. Ein Zwinkern, ein Nicken, hinein in die Abstell‐ kammer, Licht aus, einen Besen unter die Türklinke geklemmt. Erregt griffen sie im Dunkeln nacheinander, öffneten Knöpfe, schälten sich aus ihren Kleidern. Ehe sie recht wussten, wie ihnen geschah, hatten sie Sex im Stehen. Die Kammer roch wie eine desinfizierte Höhle. «Ich habe in deiner Akte nachgesehen», sagte Irene. «Heute hast du Geburtstag.» «Du machst Witze.» «Du hast es vergessen?» «Ja, wirklich.» «Happy Birthday toooooyoouuu.» «Schhhh.» «Jaa ...» «Schhhh.» «Hoooch soll er leben ...» Rudy kam. Irene lachte leise und seufzte, dann ließen sie sich auf zwei umgedrehte Wischeimer sinken. Sie lehnte sich an ihn und streichelte seinen Schenkel, kitzelte ihn mit den Fingernägeln. Rudy war schwindelig und lehnte seinen Kopf nach hinten gegen die Wand. 248
«Wenn du es dir jetzt aussuchen könntest», flüsterte Irene, «wo wärest du am liebsten?» Rudy wusste, dass er jetzt so etwas sagen müsste wie Paris oder Tahiti, ganz egal, Hauptsache, mit ihr zusammen– und das stimmte auch, er wollte nicht ohne sie sein–, doch das Erste, was ihm einfiel, war der Flügel, und er sprach es aus. Irene richtete sich auf. Im Dunkeln war ihr Gesichts‐ ausdruck nicht zu erkennen. Er spürte ihre Hand an seiner Stirn und dachte zuerst, sie wolle sich über ihn lustig machen, seine Temperatur prüfen, ob er vielleicht Fieber hätte, doch dann sank sie auf seinen Schoß und umarmte ihn; resigniert, verständnisvoll oder verwirrt, das ließ sich nicht ausmachen. Er versuchte zu erklären, welchen Frieden er im Flügel fühlte, dass er sich um die Patienten sorgte, besonders um einen. «Dessen Nachricht du mir überbracht hast», sagte er. «Er lag bewusstlos im Bett», sagte Irene, «und hatte den Zettel in der Hand. Auf dem dein Name stand.» «Hast du ihn gelesen?» «Mhm‐m.» «Er hat versucht, mit dir zu reden.» «Ich hab nichts gehört.» «Aber irgendwie hat er doch deine Aufmerksamkeit erregt.» «Na ja, ich habe eben den Zettel bemerkt und mitgenommen.» «Was glaubst du, was mit ihnen passieren wird?» Irene antwortete nicht. Sie beugte sich vor und suchte in ihren Taschen nach einer Zigarette. Im Schein des Feuer‐ zeugs sah Rudy ihr Gesicht. Er wollte sie küssen. «Ich weiß nicht», sagte sie schließlich und ließ das Benzin‐ feuerzeug zuklappen. Es war wieder dunkel. Rudy erzählte ihr, dass er keinen Zugang mehr zum Flügel hatte. «Gibt es irgendeinen Grund?» 249
«Ich dachte, du wüsstest vielleicht was.» «Ich weiß von nichts. Hast du nicht nachgefragt?» «Ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen.» «Wieso Aufmerksamkeit?» «Ich weiß auch nicht. Wer es auch war, ich weiß nicht, wieso meine Zugangsberechtigung widerrufen wurde. Ich hatte bloß das Gefühl, wenn ich nachfrage, verrate ich mich.» «Was kannst du denn verraten?» «Ich weiß nicht. Ich möchte nur nicht auffallen.» «Das ist doch Unsinn.» «Hat der Colonel was gesagt?» «Worüber?» «Über uns.» «Nein.» Die Antwort war kurz und abrupt. Danach herrschte eine Stille, die jede weitere Äußerung schwierig machte. Einige Sekunden schwiegen sie, dann fasste Rudy Irene am Unterarm. Er musste daran denken, wie Guy X ihn am Ärmel gepackt hatte. «Ich möchte uns hier herausbringen», sagte er. «Und das ist es, was ich wirklich will: Irgendwo anders sein– und mit dir.» «Ich auch», sagte sie, doch es klang unbestimmt und abwesend. Etwas regte sich in Rudys Brust. Er vermutete, dass sie immer noch am Colonel hing, und wider alle Vernunft fühlte er sich dieser Loyalität oder gar Liebe wegen noch mehr zu ihr hingezogen. Er spürte, dass sein Puls schneller ging. Er wünschte, er könnte in der Dunkelheit ihr Gesicht sehen. «Irene, ich muss wissen, was hier gespielt wird. Liebst du ihn noch?» «Nein», flüsterte sie. «Ich glaube nicht ... Ach, verdammt, ich weiß es nicht. Es ist alles so verwirrend.» «Und wie willst du jetzt mit ihm umgehen?» «Wie soll ich denn wohl mit ihm umgehen? Hier macht man nicht mal eben so Schluss. Wir sind in der Army, und 250
noch dazu in Grönland, Herrgott noch mal.» «Du hast Recht», seufzte Rudy. Verzweiflung brandete ihn an, als er die Angst in ihrer Stimme hörte. Er wurde unruhig, die Kammer wurde ihm zu eng. Er beugte sich vor und fuhr ihr mit der Hand durchs Haar. «Wir werden von hier wegkommen», sagte er. «Wir werden neu anfangen. Nur wir beide.» Irene schmiegte sich an seine Brust. «Ich weiß», sagte sie. «Das liebe ich so an dir. Deine Träume.» «Meinst du, das ist Spinnerei?» Irene schwieg. «Keine Eile mit der Antwort», sagte Rudy. «Nein, für Spinnerei halte ich das nicht. Ich habe nur gerade überlegt, dass mir so was noch nie passiert ist. Ich habe Entscheidungen immer getroffen, um eine missliche Lage zu verbessern. Einsam? Dann heirate ich eben. Unglücklich verheiratet? Dann lasse ich mich scheiden. Die Army eine Sackgasse? Dann geh ich mit Lane nach Grönland. Noch nie hat mich jemand angeschaut und ... na ja... Träume gehabt.» Draußen waren Schritte zu hören, jemand pfiff vor sich hin. «Was für ein Geburtstag», flüsterte Irene. «Ist schon in Ordnung», sagte Rudy. «Ohne dich hätte ich gar keinen gehabt.» Sie saßen still beieinander. Als sie schließlich aufstanden, um sich anzuziehen, fragte Rudy: «Kannst du mir einen Gefallen tun? Kannst du für mich in den Flügel gehen?» Er konnte ihre Überraschung im Dunkeln spüren. «Sag dem Mann, dass ich zu ihm kommen werde, ja?» «Und was, wenn er wie üblich weggetreten ist?» «Sag es ihm trotzdem. Flüster es ihm ins Ohr. Immer wieder. Sag ihm, ich komme ihn besuchen.» «Und wie willst du das anstellen?» «Weiß ich noch nicht.» «Das ist womöglich wirklich Spinnerei», sagte Irene, «aber 251
ich machʹs.» Sie ging zuerst, und Rudy blieb minuten‐ oder stundenlang in der Kammer sitzen und dachte daran, wie Irene sich angefühlt hatte. Während er wartete und überlegte, ob die Luft wohl rein war, summte er im Dunkeln «Happy Birthday» vor sich hin. Der Colonel schien verhärmt und hatte an Gewicht verloren. Seine Augen wirkten größer. Seine Finger waren entweder zu Fäusten geballt oder trommelten auf jeder verfügbaren glatten Oberfläche herum. Er sah gleichzeitig ausgezehrt und erregt aus. Bei den Mahlzeiten tönte seine gezwungen leutselige Stimme quer durch den Saal, und die Offiziere in seiner Nähe duckten sich wie ängstliche Höflinge. Ab und zu konnte Rudy einen verstohlenen Blick mit Irene wechseln, wenn sie bei diesen Gelegenheiten in der Mannschafts‐ abteilung des Speisesaals saß. Sie starrte dann immer an‐ gestrengt auf ihr Tablett, und ein feiner Schweißfilm stand ihr auf der Stirn. Doch eines Tages setzte sie sich Rudy direkt gegenüber. Sie war mit dem Colonel hereingekommen, aber der war zum Essen in die Offiziersabteilung gegangen. Rudy saß mit Beef und einem Meteorologen zusammen, der über radioaktive Wolken und Strontium‐90 in ihrer Trinkmilch redete. «Wie geht es Ihnen, Sergeant?», fragte Beef, als Irene sich setzte. «Gut, meine Herren.» Sie lächelte Rudy an, der sie kurz angrinste und dann in seinen Bohnen herumstocherte. Beef bemerkte nichts und wandte sich wieder dem Meteorologen zu. «Aber die ist doch aus Milchpulver», sagte er. «Die kommt noch nicht mal aus einer Kuh. Wie soll sie da radioaktiv sein?» «Ich habe Ihre Botschaft an Ihren Freund weitergeleitet», sagte Irene leise zu Rudy. 252
«Danke. Was hat er gesagt?» «Er war bewusstlos. Ich habe es ihm ins Ohr geflüstert. Immer wieder.» «Gut.» «Ich kam mir sehr albern vor. Normalerweise gehe ich dorthin, um zu entspannen.» Beef und der Meteorologe ließen ihre Blicke auf der Suche nach Bräuten durch den Speisesaal schweifen. Rudy und Irene aßen schweigend weiter. Nach etwa einer Minute spürte Rudy, dass Irene ihn mit dem bloßen Fuß am Bein streichelte; sie musste aus ihrem Schuh geschlüpft sein. Ihre Zehen liebkosten die Innenseite seines Oberschenkels. Er hoffte, dass niemand sie sah. Beef und der Meteorologe schauten in die andere Richtung. Irene schien ganz gesittet ihren Möhrensalat zu essen. Ihr Fuß war in seinem Schritt angekommen und rieb an seiner Hose. Rudys Atemzüge wurden kurz und flach. Plötzlich begann der Colonel vom anderen Ende des Saales ein Gespräch mit Kaplan Captain Brank, der drei Tische weiter saß. «Padre», tönte der Colonel, «haben Sie für Weihnachten eine Mitternachtsmesse geplant? Könnte den Männern gefallen.» Als sie Woolwraps Stimme hörte, hielt Irene einen Moment inne, rieb dann aber weiter. Captain Brank drehte sich nach dem Colonel um. Aufseiner bleichen Haut erschienen rote Flecken, er tupfte sich mit der Serviette nervös den Mund. «Also eigentlich, Sir, hatte ich noch nicht —» «Ach, hab ich ganz vergessen. Sie sind gar nicht katho‐ lisch!» «Nein, Sir.» «Dann halten Sie gar keine Messe ab, oder? Wie wäre es dann mit einem Gottesdienst? Kaplan? Einem Mitternachts‐ gottesdienst?» 253
«Klingt gut», sagte der Kaplan. «Um Mitternacht.» «Dann wollen wir das mal ankündigen», sagte der Colonel. «Spruance?» Rudy hatte den Mund voller Bohnen; sein Kiefer erstarrte. Irene hörte auf zu reiben, ließ aber ihren Fuß zwischen seinen Beinen. Beef und der Meteorologe beugten sich vor und schauten Rudy an, der verzweifelt versuchte, einen ganz normalen Eindruck zu erwecken. Seine Erektion schrumpfte rasch. Irene aß weiter. «Haben Sie verstanden, Spruance?», rief der Colonel. Rudy konnte nicht sprechen, denn die Bohnen schienen sich in seinem Mund auszudehnen. An Schlucken war nicht zu denken. «Wo zum Teufel stecken Sie, Spruance? Ich habe Sie doch vorhin hier gesehen.» Der Colonel war aufgestanden und sah sich nach Rudy um, der rot anlief und die Hand hob. Irenes Fuß war immer noch da. Sie bewegte nur die Hand mit der Gabel und den Mund. «Ach, da sind Sie ja», sagte der Colonel. «Haben Sie mich verstanden?» «Hmmpf», sagte Rudy und nickte, «Sir.» «Gut. Mitternachtsgottesdienst. Heiligabend. Anwesenheit freiwillig.» Der Colonel machte Anstalten, sich wieder zu setzen, richtete sich dann aber noch einmal auf. «Und kommen Sie um neunzehn null null heute Abend in mein Büro, Spruance. Pünktlich. Anwesenheit befohlen.» Rudy wollte nur einmal nicken, hob und senkte aber dann im Reflex das Kinn wie eine Ente beim Schlucken. Seine Erektion war völlig abgeklungen. Er rang nach Luft. Der Colonel schaute ihn einen Augenblick an, setzte sich dann wieder hin und rief über die Schulter: «Klopf doch mal jemand dem armen Schwein auf den Rücken.» Der Colonel schenkte Brandy ein. «Nein danke, Sir», sagte Rudy. 254
«Nein?» Der Colonel hielt die Flasche über den Schwenker. «Geht schon in Ordnung. Sie sind doch nicht im Dienst, oder?» «Nein, Sir.» «Also?» «Na gut. Aber nur einen kleinen.» «Ist auch nur ein kleiner», sagte Woolwrap. Die Flüssigkeit schwappte im Glas hin und her. Durch die Schlitze der Jalousie sah Rudy Schneeraupen, die mit rie‐ sigen Walzen den Schnee auf der Landepiste einebneten. Es hatte wieder geschneit, und die Verwehungen reichten bis an die Fenster hoch. Woolwrap gab ihm seinen Schwenker. Rudy hatte Brandy bisher nur mit Pfirsichgeschmack aus der Flasche getrunken. Aber aus Filmen wusste er, dass man den Weinbrand im Glas herumschwenkte und dann daran roch. Er hätte lieber ein Bier gehabt, und auch das lieber nicht in diesem Büro. Er hätte gern gewusst, wo Irene war. Sie war nicht im Vor‐ zimmer gewesen, als er pünktlich um neunzehn Uhr eintraf. Vielleicht auch besser so. Rudy stellte sich vor, dass Woolwrap ihm womöglich vorwerfen würde, ihm die Geliebte ausgespannt zu haben. Und das könnte entweder vors Kriegsgericht oder zu einer Schlägerei hier im Büro führen. «Was macht die Zeitung?», fragte der Colonel. «Macht sich gut», antwortete Rudy. «Die Weihnachtsausgabe müsste bald rauskommen, oder?» Rudy hatte genug Material für ungefähr eine halbe Ausgabe zusammen. Er ließ sein Glas kreisen und rechnete. «Kommt auf den Markt, Sir, in ... mal sehen ... vier bis sechs Tagen.» Der Colonel runzelte die Stirn. «Das ist ein bisschen spät für eine Weihnachtsausgabe, Corporal. Weihnachten ist übermorgen.» Rudy hatte nicht gewusst, welcher Tag heute war. Er nahm 255
einen Schluck Brandy, der furchtbar schmeckte. «Naja, es ist so eine kombinierte Ausgabe für Weihnachten und Silvester. Ich wollte nicht zu viel Wert auf den religiösen Feiertag legen, Sir. Außerdem sind Silvesterfeiern in ihrer traditionellen Form diesem Ort eher angemessen. Dachte ich jedenfalls. Als Ge‐ genpol zum Gelage und so. Und eine Weihnachtsausgabe würde wahrscheinlich bloß Heimweh wecken, die Sehnsucht nach der Familie, dem heimatlichen Herd und so weiter.» «Corporal», sagte der Colonel, «das klingt ja beinahe rührend.» Er rutschte vom Schreibtisch und schenkte sich einen zweiten Brandy ein. «Aber es ist Quatsch, oder?» Rudy nahm noch einen Schluck und holte Luft. «Jawohl, Sir. Quatsch. Ich bin ein bisschen spät dran. Aber die Zeitung kommt Weihnachten raus. Versprochen.» «Heiligabend, Soldat», sagte der Colonel. «Das heißt morgen.» «Jawohl, Sir. In Ordnung. Morgen.» «Und wenn Sie die ganze Nacht aufbleiben müssen.» »Das werde ich wohl, Sir.» «Und warum sind Sie spät dran, Corporal Spruance?» Der Colonel rieb sich die Augen, als ermüdete ihn das vor ihm Liegende schon jetzt. Rudy klammerte sich an sein Glas, zwang sich dann aber zu entspannen, um den Fuß des Kelches nicht abzubrechen. «Weiß ich nicht, Sir», antwortete er. «Das ist doch schon wieder Quatsch. Sie wissen, warum.» Der Mann war nicht zu durchschauen. Rudy konnte nicht erkennen, ob Woolwrap ihm eine Falle stellte oder bloß ein nettes kleines Frage‐und‐Antwort‐Spiel zwischen Komman‐ deur und Soldat anfangen wollte. Der Colonel sah zur Piste hinaus. «Jeder Soldat weiß, was für Scheiße er gebaut hat, Corporal. Und damit ist er nicht allein. Das ist das Schöne an der Army. Wie ein Korsett: stützt und fesselt zugleich. Wenn Sie Scheiße bauen, finden 256
Sie mit Sicherheit andere Soldaten, die den gleichen Scheiß gebaut haben. Könnten sogar Offiziere sein. Wir sind alle Soldaten, Spruance. Waffenbrüder. Wir können alle mal was verbocken. Im Großen und Ganzen zeigt das Militär für solche Versager große Toleranz. Die Army kann sie auffangen. Sie verwenden und schützen. Ich denke, das ist nur fair, denn die Army schickt sie schließlich auch in die Schlacht. Die Army passt auf ihre Schäfchen auf. Führt sie sicher durchs Leben. Deshalb gibtʹs auch Lebenslängliche.» Rudy wusste nicht genau, worauf der Colonel hinaus‐ wollte, ob von ihm oder von ihnen beiden die Rede war. «Der Stützpunkt wird aufgelöst, falls Sie das noch nicht wussten», sagte der Colonel. «Irgendwann.» «Hab ich schon vermutet. Ich wollte doch darüber in der Zeitung berichten, erinnern Sie sich, Sir?» «Scheiß auf die Zeitung.» Woolwrap wedelte fahrig vor seinem Gesicht herum. Zum ersten Mal kam Rudy der Gedanke, dass er vielleicht schon vor seiner Ankunft getrun‐ ken hatte. Der Colonel sank tiefer in seinen Schreibtischstuhl und drehte sich zum Fenster. Hinter den Walzen, die über die Piste gezogen wurden, spritzten Schneefontänen auf. «Sir», sagte Rudy in die Stille hinein. «Ich habe erfahren, dass der Mann, dessen Bestattung ich beigewohnt habe, ein Kamerad von Ihnen war.» «Wer hat Ihnen das erzählt?», fragte der Colonel. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wirkte leicht benebelt. «Das habe ich mir zusammengereimt, Sir.» «Ach was. Und?» «Also, na ja, mein Beileid.» Der abwesende Blick des Colonel wurde misstrauisch. «Danke, Corporal.» Er legte den Kopf in den Nacken. «Wir fliegen schon eine Menge Leute aus, Spruance. Nach Hause. Wollen Sie weg?» «Ist das ein Angebot, Sir?» 257
«Bisher bloß eine Frage. Wollen Sie weg?» Rudy presste sein Glas an die Lippen, in dem nur noch der Duft des Brandys hing. Er überlegte rasch: Ein Ja würde bedeuten, dass ihm nichts wichtiger sei, als hier wegzu‐ kommen – vor allem nicht Irene, wenn der Colonel darauf hinauswollte; ein Nein hingegen, dass er entweder geisteskrank war oder einen triftigen Grund fürs Bleiben hatte– und die Flanke musste gedeckt bleiben. «Ja, Sir», sagte er. «Ich würde gern hier wegkommen.» «Geht aber nicht», sagte Woolwrap. «Ich lasse Sie nicht.» «Dann nicht. Sie entscheiden.» Der Colonel schaute ihn streng an. Vielleicht würde er jetzt gleich explodieren. Doch stattdessen lächelte er – ein breites, aufgesetztes Grin‐ sen. «Wir brauchen einen Mann Ihres Kalibers, Spruance. Sie landen hier im Eis, ich gebe Ihnen den Auftrag, eine Zeitung rauszubringen, und Sie schaffen es. Das war bestimmt nicht leicht. Aber Sie sind offensichtlich ein anpassungsfähiger und einfallsreicher Soldat.» Der Colonel hielt inne, und Rudy musste nun etwas sagen. «Vielen Dank, Sir», murmelte er. Der Colonel stand auf und schien mit einem unsichtbaren Baseballschläger in der Hand auf ein ebenso unsichtbares Schlagmal zu steigen und sich den Dreck von den Stollen zu klopfen. «Nach der Weihnachtsausgabe werde ich die Harpoon ein‐ stellen, Spruance.» Er schwang den Schläger. Rudy blinzelte. «Einstellen, Sir?» «Ja, einstellen.» «Aber warum, Sir?» Der Colonel nahm die Haltung des Schlagmannes ein, der den Ball des Werfers erwartet. «Wessen Schlaghaltung ist das, Corporal? Der härteste Schwung, den Sie kennen. So heftig, dass er sich am Ende den Schläger selbst in die Nieren haut. Deshalb trägt er auch Polster hier. Na, wer?» 258
«Mein Gott, Sir – keine Ahnung. Williams?» «Williams», schnaubte der Colonel verächtlich. «Nein. Jim Gentile.» Er schwang durch und tat so, als würde er sich auf den Rücken schlagen. «Sir, hat das Einstellen der Zeitung was damit zu tun, dass ich keinen Zugang mehr zum Flügel habe?» «Nein. Und wer ist das?», fragte der Colonel. Er stand gebeugt, mit gesenktem Kopf, den Schläger dicht am Körper. «Wer schlägt so?» «Mantle?» «Nein.» «Maris?» «Nein.» «Berra? Skowron? Kluzewski?» «Nein. Nein. Kluzewski? Niemals. Das ist Musial.» «Ach ja. Tut mir Leid, Sir. Musial.» Der Colonel zog den Schwung durch. «Stan the Man», fügte er hinzu. Rudy rutschte im Sessel hin und her. «Lassen Sie mal Ihre Haltung sehen, Corporal.» «Sir?» «Hoch mit Ihnen. Wollen doch mal sehen, wie Sie das Holz schwingen. Treten Sie in die Schlagbox.» Der Colonel deutete auf einen kleinen Perserteppich vor den Bücherregalen. Rudy stand langsam auf, stellte sein Glas auf den Schreib‐ tisch und nahm auf dem Teppich Schlaghaltung an. «Nicht schlecht», lobte der Colonel. «Ein bisschen mehr Gewicht aufs hintere Bein. So istʹs recht. So bleiben.» Rudy stand mit dem Gesicht in Richtung Jalousien und hob einen unsichtbaren Schläger. Der Colonel stand hinter ihm. «Ich habe Ihre Zugangsberechtigung zum Flügel nicht aufgehoben, Spruance. Der Befehl kam von ganz oben.» «Von oben, Sir?» «Bleiben Sie in Stellung. Rechter Ellbogen höher. Sehr schön.» 259
Rudys Nackenmuskeln zuckten. Er wollte die Arme sinken lassen oder wenigstens schlagen. «Ja, von oben. Haben Sie den Hubschrauber nicht ge‐ sehen?» «Doch, Sir.» «Pentagon. Direkt aus Washington, Corporal Spruance. Das ist ganz oben. Und der Mann hat gesagt: ‹Lassen Sie den Jungen nicht mehr rein.› Da gab es für mich nichts zu disku‐ tieren. Also bleiben Sie draußen. Warum hat er das gewollt, was meinen Sie?» «Keine Ahnung, Sir. Bis eben wusste ich nicht, dass der Kerl mit der Skijacke das befohlen hat.» «Der Kerl ist Major General. Das wussten Sie, nicht wahr?» «Ja, Sir.» «Und Sie haben mit ihm gesprochen, oder?» «Ja, Sir.» «Also verarschen Sie mich nicht.» «Nein, Sir.» «Ich mag es nicht, wenn etwas hinter meinem Rücken ge‐ schieht. Dann werde ich nervös. Und in diesen Zeiten passieren Sachen hinter meinem Rücken, das weiß ich. Und jetzt wissen Sie auch, dass ich es weiß.» «Ja, Sir.» Rudy lief der Schweiß die Wirbelsäule hinunter, seine Achseln wurden feucht. «Aber Sie wissen nicht, wie viel ich weiß, stimmtʹs?» «Nein, Sir.» «Ich will es Ihnen verraten. Ich weiß, wie man Spuren im Schnee verfolgt. Sagen wir, vom Frauenquartier zum Stall beim Hangar. Können Sie sich jetzt vorstellen, wie viel ich weiß?» «Ja, Sir.» «Eine ganze Menge, was?» «Jedenfalls genug, Sir.» «Na los, ziehen Sie durch, Corporal. Schlagen Sie.» Und Rudy schlug. 260
«Nicht schlecht. Und jetzt wieder in Stellung.» Rudy seufzte entnervt, stellte sich aber wieder zum Schlag bereit auf. «Mögen Sie Baseball, Spruance?» «Nein, Sir.» «Wissen Sie was: ich auch nicht. Nicht besonders. Ist mir wahrscheinlich nicht kämpferisch genug. Aber was sollʹs? Wir beide mögen also Baseball nicht. Da sind wir wohl Außenseiter, oder?» «Weiß nicht, Sir. Ich habe mich nie als Außenseiter gesehen.» «Und was ist mit mir, Spruance?» Der Colonel bewegte sich hinter ihm. Rudy versuchte, sein Spiegelbild in der Fenster‐ scheibe durch die Lamellen der Jalousie zu erkennen, aber das Zimmer war nicht hell genug beleuchtet. Rudy blieb in Wartestellung stehen; er hatte das unangenehme Gefühl, belauert zu werden. «Zwei Außenseiter», murmelte der Colonel. «Und was haben wir noch gemeinsam, Spruance?» «Weiß nicht, Sir.» «Denken Sie nach. Es muss doch etwas geben, was wir beide gerne tun.» «Ich weiß wirklich nicht –» «Denken Sie nach!» Rudys Kiefer mahlten. «Nichts, Sir. Wir haben nichts gemeinsam.» «Dann schlagen Sie.» Rudy schwang den imaginären Schläger, doch in der Bewegung flog ihm plötzlich der Kopf nach hinten, und der Raum drehte sich. Er sah den Fußboden auf sich zukommen, die Decke entschwinden; seine Füße flogen nach hinten weg, und er landete auf dem harten Linoleum. Der Teppich war nicht mehr da. Der Colonel hockte hinter Rudy am Boden, in der Hand die Kante des Teppichs, den er gerade weggerissen hatte. Rudys 261
Hüften und Handgelenke schmerzten vom Aufprall. «Wenn das keine Metapher ist, Corporal.» «Was soll das denn bitte heißen, Sir?» Rudy atmete schwer. Er hatte sich umgedreht, stützte sich auf die Hände und sah den Colonel an. «Jedem wird mal der Boden unter den Füßen weg‐ gezogen.» Der Colonel setzte sich auf den Fußboden, zog die Beine an und legte die Arme um die Knie– wie am Lagerfeuer. «Wissen Sie was, Corporal Spruance: Ich bin am Arsch. Am besten, Sie erfahren es gleich von mir selber. Eigentlich wollte ich meine Dienstzeit hier absitzen, den Laden am Ende selber dichtmachen oder an einen würdigen Nach‐ folger übergeben und dann in den Ruhestand gehen. Ich hätte weiter meine Verbindungen spielen lassen können. Mein Gott, ich hätte sogar Ihnen das Kommando hier über‐ tragen können. Ein paar außerordentliche Beförderungen, ein bisschen bei den Berichten geschummelt, und schon wären Sie Oberkommandierender von Qangattarsa. Glauben Sie mir, ich hätte das fertig gekriegt. Nach der Pleite in Korea hat die Army mich behalten, weil sie meinten, ich sei ein bürokratisches Genie. Und die Armee der Vereinigten Staaten muss es schließlich wissen.» Der Colonel wippte vor und zurück und starrte seine Schreibtischlampe an. Rudy drehte sich auf dem Boden um. «Aber dann haben sie mich kalt erwischt. Wollen Radar‐ stationen bauen. Frühwarnsysteme. Das hier wird nicht mehr gebraucht. Was kann ich dagegen sagen? Schauen Sie sich an, was ich hier aufgebaut und was ich alles aufge‐ trieben habe. Meinen Sie, das lief alles über offizielle Kanäle? Wenn man wollte, sieht mein Tätigkeitsbericht als Offizier wie ein Vorstrafenregister aus. Deshalb mache ich mich still aus dem Staub. So weit, so gut.» «Und deswegen stellen Sie auch die Zeitung ein?» «Mehr oder weniger.» 262
«Und was soll ich tun, wenn es die Zeitung nicht mehr gibt?» «Sie bekommen andere Aufgaben. Das kann die Army am besten: Aufgaben verteilen. Löcher buddeln, Löcher zu‐ schütten.» «Aber aus Grönland soll ich nicht weg?» «Nein. Ihr Platz ist hier. Bei uns. Und jetzt ab zum ersten Mal.» «Hhm?» «Gehen Sie. Wegtreten. Weitermachen. Sie sind entlassen. Lassen Sie mich allein. Ich hab Sie Aus geworfen, Sie Mistkerl. Gehen Sie zum Mal.»
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SECHSUNDZWANZIG Die Weihnachtsausgabe erschien rechtzeitig. Sie war voll mit Erinnerungen der Soldaten an ihr schönstes Fest: Geschichten von Feldlazaretten, die mit Girlanden aus Mull‐ binden, Versorgungsschläuchen und Kompressen dekoriert waren, vom herzerwärmenden Wiedersehen mit Frau oder Geliebter, von in letzter Minute genehmigtem Urlaub und Besuchen bei sterbenskranken Verwandten, die sich plötzlich und überraschend erholten, von Süßigkeiten und Schlitten‐ fahrten und züchtigen Begegnungen mit engelsgleichen Soldatinnen. Es war unglaublich: Als sich herumsprach, was Rudy suchte, wurden ihm die Geschichten geradezu aufgedrängt. Die Leute umringten ihn im Speisesaal, kamen zu seinem 264
Zimmer, schoben ihre zu Papier gebrachten Erinnerungen unter seiner Tür durch. Rudy wusste nicht, ob die Geschich‐ ten der Wahrheit entsprachen, doch das an Verzweiflung grenzende Drängen der Soldaten ließ ihm keine Wahl: er druckte jeden einzelnen eingereichten Text. Der ganze Stützpunkt schien unter einer Art Weihnachtshysterie zu leiden. Rudy musste sich beinahe gewaltsam in andere Stimmung versetzen, als er sich an den Leitartikel über die Einstellung der Harpoon machte. Doch er brachte ihn nicht zustande. Stundenlang saß er vor der Schreibmaschine, aber ihm fiel nichts ein. Schließlich schoss er den Leitartikel in den Wind und druckte statt‐ dessen einen Cartoon von Lavone ab, der die Totale Umnachtung zeigte: eine monströse Kreuzung aus Eisbär und Hyäne, die auf dem Fjord und dem Stützpunkt hockte. Der Winter macht es sich gemütlich, lautete die Unterschrift. Das Bild schien besser zu passen als jeder Artikel. Es hatte sich eindeutig etwas verändert. Irgendein Tier hockte tatsächlich auf Qangattarsa. Der Colonel, dessen Macht und Einfluss bei Rudys Ankunft so deutlich spürbar gewesen war, ließ sich kaum noch blicken, nicht einmal bei den Mahlzeiten. Auch Rudy bekam Irene nur noch selten zu Gesicht, und wenn, dann wirkte sie angespannt und ab‐ wesend. Immer öfter brachen willkürliche, brutale Schlägereien im Speisesaal aus. Hinterher konnte sich keiner der Beteiligten an die Ursache erinnern. Die Männer hatten einfach Lust, sich zu schlagen. Und niemand hinderte sie daran. Die anderen Soldaten schoben entweder die Tische beiseite oder schubsten die Kämpfenden durch die Tür ins Freie, wo sie im Schnee weiter aufeinander einschlugen, bis Kälte oder Erschöpfung sie übermannten. Und manche bekamen Weinkrämpfe. Des Öfteren sah Rudy im Speisesaal Männer, die grundlos in Tränen aus‐ brachen und sich die Seele aus dem Leib heulten, das Besteck 265
noch in der Hand. Weinende Soldaten wurden meist allein gelassen. Die Plätze neben ihnen wurden geräumt und blieben frei, als wären sie stinkende Penner in der U‐Bahn. «Das liegt an der Dunkelheit», lautete die immergleiche Diagnose. Am ersten Weihnachtstag begann Rudys neuer Dienstplan. La‐vone brachte ihm die Liste für den Küchendienst. «Du bist dreimal hintereinander dran», sagte er. «Ich fasse es nicht. Normalerweise mach ich den Plan ja selbst, aber das hier kam aus dem Hauptquartier.» Er zeigte Rudy einen schriftlichen Befehl mit den Initialen des Colonel. Darin wurde angeordnet, dass Corporal Spruance so oft wie möglich für den Küchendienst eingeteilt werden solle, um «die aus den jüngsten Truppenbewegun‐ gen resultierende Personalknappheit auszugleichen. Ansons‐ ten wird er Sicherungs‐ und Reinigungsdienste überneh‐ men.» «Und dann noch das hier», sagte Lavone. Eine weitere Anweisung mit denselben Initialen. Rudy sollte bis zwanzig null null am Abend sein Zimmer räumen. Einzelzimmer seien nicht mehr vorgesehen. «Ich habe dich zu Beef und seinem Kumpel in das Zimmer am Ende des Ganges gesteckt. Die Stube ist ziemlich groß, und die beiden sind in Ordnung. Wird schon nicht so schlimm», sagte Lavone. Lavone half ihm, seine Sachen zu packen und zu den Mannschaftsquartieren zu schaffen. Beef und sein Zimmergenosse hockten auf ihren Betten: ein schwarzer Sanitäter aus Wilmington namens Barton, den alle Philly nannten. Rudy grüßte die beiden und warf seinen Kleidersack vor dem leeren Schrank auf den Boden. Dann rollte er auf dem freien Bettgestell seine Matratze aus. «Alles in Ordnung?», fragte Lavone. Rudy nickte. 266
«Soll deine Schreibmaschine auch hierher?» «Ich glaube nicht, dass ich sie noch brauchen werde», sagte Rudy. «Ich hab gehört, du musst ausziehen, weil dein Abschnitt geschlossen wird», sagte Beef. Er machte gerade sein Bett und strich die Kanten gerade. «Klingt nach einem guten Grund», sagte Rudy. «Wenn sie den Sektor platt machen, sitzt der gute Corporal Lavone mit dem Arsch im Freien», sagte Beef. «Was soll aus deiner Beatnik‐Bude werden, Mister Cool?» «Ich lasse mir von dir ein Iglu bauen, du Arsch», sagte Lavone. «Wird in der Zeitung noch mehr von Beefs Prosa veröf‐ fentlicht?», fragte Philly mit tiefer, rauer Stimme. Er lag rauchend auf dem Bett. «Nein», antwortete Rudy. «Die Zeitung wird eingestellt.» «Eingestellt?», fragte Beef. «Wieso?» «Ohne Grund. Der Colonel sagt, er hat keine Lust mehr auf die Harpoon.» «Ach, Scheiße», stöhnte Beef. «Und meine Schreibe wurde gerade ganz gut. Stimmt doch, oder?» «Elvis wäre stolz auf dich», sagte Lavone. Philly lachte auf. «Quatsch. Woolwrap hat sich wahrschein‐ lich deinen Mist angeguckt und sich gedacht: ‹Den wollen wir lieber von seinem Leid erlösend›» «Gar nicht wahr. Ich bin wirklich besser geworden», ent‐ gegnete Beef, der jetzt seine Stiefel an der Naht des Lino‐ leums vor seinem Spind aufreihte. Er trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. Phillys Zigaretten‐ rauch hing in der Luft. «Sieht absolut perfekt aus, Beef», sagte Philly. «Und jetzt verschwinde, ich will mich hinlegen. Was dagegen, wenn ich schlafe, Spruance?» Rudy verneinte; er selber musste wegen des Küchen‐ dienstes früh aufstehen. Beef und Lavone machten sich 267
gemeinsam auf; Beef wollte Lavone einen kleinen Munter‐ macher abkaufen, Um die Nachtwache im Kesselraum zu überstehen. Bevor er ging, sagte er Rudy, dass es ihm um die Zeitung Leid tue. «Der Colonel ist nicht mehr ganz dicht», sagte er. «Glaub mir, ich kenne mich aus. Ich bin Lebens‐ länglicher.» Rudy bezog sein Bett und warf den Kleidersack ungeöffnet in den Spind. Auspacken konnte er später. Er ging zum Waschraum. Als er zurückkam, war das Licht aus, und Philly lag im Bett. Aber er war noch wach, denn seine Ziga‐ rettenglut bewegte sich im Dunkeln. Rudy legte sich hin. Er drehte sich zur Wand. Das Gebäude summte und kam allmählich zur Ruhe, doch jetzt war er in einem anderen Korridor mit anderen Geräuschen. Der Generator klang fremd, als sei er nicht an seinem Platz. Die Leitungen knackten auf ungewohnte Weise. Rudy hatte das Gefühl, Millionen Meilen von Irene entfernt zu sein. Er sehnte den Schlaf herbei, doch der war nicht leicht zu finden. Un‐ wohlsein überkam ihn, dann hatte er sogar Schmerzen, schließlich litt er unter einer lastenden Leere. Wenn er sich wie ein Embryo zusammenrollte, ging es ihm besser. Lavones Zeichnung fiel ihm ein: die gigantische Eisbärhyäne, die auf Qangattarsa hockte. Möse der Winternachtsbestie / be‐ decke uns alle. Arktisches Sutra, Canto Sechs. «Ich kenne dich seit deinem ersten Tag hier», rollte Phillys tiefe Stimme aus dem Dunkel. Rudy drehte sich um. Die Zigarettenglut leuchtete auf. Philly blies den Rauch aus. «Die Mücken», sagte er. «Da hatte ich Lazarettdienst.» «Du hast mich gepflegt?», fragte Rudy. «Ich gehörte zum Rettungsteam», antwortete Philly. Rudy hörte die Sprungfedern quietschen, als Philly sich auf den Ellbogen stützte. «Sag mal, stimmt das, dass du die Braut vom Colonel 268
geknallt hast?» «Wo hast du das denn her?» «Glaubst du, hier bleibt irgendwas Privatsache, Mann? Hier weiß jeder von jedem, wie viel Klopapier er ver‐ braucht.» Rudy legte sich auf den Rücken. «Wenn sowieso jeder alles weiß», sagte er, «wieso fragst du dann überhaupt?» «Ich wollte es bloß vom Preisträger selber hören. Mehr nicht.» «Sagen wir einfach: Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.» Philly lachte tief und seufzend. «Du warst verdammt zer‐ stochen, Mann. Hast mir echt Leid getan. Ich arbeite im Flügel, da sehe ich genug kaputte Körper, aber daran ge‐ wöhnt man sich. Dieses Leiden zum Ende hin macht dir irgendwann gar nicht mehr so viel aus. Aber komisch, auf einmal tut es dir Leid, wenn du siehst, wie es einem besser geht. Kannst du mir das erklären?» Rudy dachte einen Moment nach. «Nein», sagte er schließlich. Sie schwiegen eine Weile. «Philly?» «Ja.» «Du arbeitest im Flügel?» «Genau.» «Kannst du mich da reinlassen?» «Du warst doch schon drinnen, oder?» «Mein Zugang ist gestrichen. Ich komme nicht mehr rein.» «Dich haben sie auch gestrichen?» «Ja. Aber kannst du mich reinlassen? Wenn du mal Wache hast? Bist du da mal allein?» «Ja, inzwischen dauernd. Weil wir weniger Personal haben. Aber was willst du denn im Flügel?» «Mit einem Patienten reden.» «Mit einem Patienten reden? Mit welchem?» 269
«Liegt auf der Nordseite. ‹Soldat – Name unbekannt›.» «Ach der – und der redet? Ich hab gesehn, wie er zittert oder mit dem Auge rollt. Und ich habe gehört, früher hat er gelesen. Was erzählt er denn?» «Dass er gern Gesellschaft hätte.» «Oh, Mann.» «Also, wie siehtʹs aus?» «Na ja, ist ʹne riskante Sache. Was ist da für mich drin? Was hast du mir zu bieten?» «Vergiss es, Mann.» Rudy drehte sich um. «Nein. Schon gut», sagte Philly. «Ich frag ja nur.» «Ich hab nichts», sagte Rudy. «Ich wollte dich bloß um einen Gefallen bitten. Es ist nicht für mich, sondern für einen verwundeten Soldaten. Frag ihn doch, was er dir zu bieten hat.» «Okay, okay», sagte Philly. «Du hast Recht.» «Also?» Philly zog ein letztes Mal an seiner Zigarette. «Also lasse ich dich rein.» Drei Tage Küchendienst, allerdings kein Schichtdienst wie bei den Köchen, sondern den ganzen Tag am Stück: von vier Uhr dreißig bis einundzwanzig Uhr. Die Köche wussten, dass Rudy übel mitgespielt wurde, und gaben ihm deshalb leichte Aufgaben. Zwischen den Mahlzeiten konnte er sogar ins Regal kriechen, seinen Kopf auf einen Reissack betten und sich eine Mütze voll Schlaf gönnen. Am Mittag sah er Irene. Sie fragte, wie es ihm gehe. «Ganz gut», antwortete er und zupfte mit seiner Zange an dem Sauerkraut, das er mit Schweinekoteletts servierte. «Nein, eigentlich nicht.» «Ich weiß», sagte sie. «Mir auch nicht.» Er legte ihr das Sauerkraut in einzelnen Fäden auf, damit es länger dauerte. Er hatte sie seit Tagen nicht mehr gesehen. Wenn sie in seiner Nähe war, lockerte die Winternachtsbestie 270
einen Augenblick lang ihren Griff. Aber am Ende der Schlange klapperten zwei Gefreite schon ungeduldig mit ihren Tabletts. «Ich liebe dich.» Sie formte die Worte mit ihren Lippen, bevor sie sich umdrehte und zu einem Tisch mit lauter Kran‐ kenschwestern ging. Rudy schaute ihr hinterher, sah ihren Körper sich bewegen, ihren Hintern sich unter ihrem Rock abzeichnen, während sie sich durch die Stuhlreihen schlängelte. In ihm löste sich etwas Schweres, krachte durch den Fußboden und stürzte weiter in Richtung Erd‐ mittelpunkt. Metallisches Klappern holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Die beiden Gefreiten standen jetzt vor ihm und schlugen mit ihren Tabletts auf die Ablage. «He‐hee! Was ist denn unter diesem Sauerkraut?» Rudy schaute sie verträumt an. «Schwein», sagte er. Silvester. Rudy sollte auf Geheiß des Kommandeurs die Flure wischen, bohnern und polieren. Niemanden schien der Jahreswechsel, der ein neues Jahr‐ zehnt einläutete, besonders zu interessieren. Es gab keine Silvesterparty, obwohl auf den Fluren allerlei trunkenes Gegröle zu hören war. Abgesehen von vereinzelten Wün‐ schen – «Frohes neues Jahr, verdammte Scheiße!» – wurde das alte Jahr nicht offiziell verabschiedet, das neue nicht begrüßt. Die Winternachtsbestie hockte schwer und breit über Qangattarsa. Der Speisesaal war von den Offizieren besetzt worden. Die Mannschaften schmorten in ihren Baracken. Rudy rollte sein Wischzeug zum Verwaltungstrakt, wo sich jemand neben einem Abfalleimer übergeben hatte. Nachdem er das Erbrochene beseitigt hatte, schlurfte Rudy an dem Korridor vorbei, der zum Flügel führte, und sah Philly durch die Doppeltür verschwinden. Rudy stellte den Wagen mit Eimer und Wischmopp ab, 271
ging den Flur entlang zum Vorraum des Flügels und drückte auf den Klingelknopf. «– hes neues Jahr», knarzte die Stimme aus dem Laut‐ sprecher. «Philly», sagte Rudy. «Spruance hier.» «Hey.» «Bist du allein?» «Abgesehen von ein paar menschlichen Überresten, die hier so herumliegen: ja.» «Lässt du mich rein?» Einen Augenblick später ertönte der Summer, und Rudy drückte die Tür auf. Zuerst wirkte die Station wie immer, doch bald schon merkte Rudy, dass weniger Tiffanylampen brannten als sonst. Das abgedunkelte hintere Ende des Flü‐ gels war größer geworden und reichte jetzt bis vorne an die Eingänge. Das Häuschen schwebte im Halbdunkel, und Philly lehnte am Türrahmen wie ein Zollbeamter an der Grenzstation. Rudy ging den Gang zwischen den Betten hinunter, begleitet vom sporadischen Röcheln und Rascheln der Patienten. Längst nicht alle Betten waren belegt; manche waren offenbar frisch abgezogen; leere Tropfflaschen und Ausscheidungsbehälter hingen an Ständern, die wie glänzende Garben zusammengeschoben waren. «Sieht aus, als sei die Einwohnerzahl gesunken», sagte Rudy. «Seit Weihnachten haben wir einige ausgeflogen. Da hast du wohl Küchendienst gehabt», sagte Philly. «Komm rein.» Im Häuschen hing süßlicher Haschischgeruch. «Meine Neujahrsmedizin», sagte Philly. «Ich würde dir ja einen Zug anbieten, aber ich habe bloß noch einen halb gerauchten Joint in meiner Tasche gefunden. Bisschen was zu naschen.» Er kicherte. «Hab nicht mit Besuch gerechnet.» «Macht nichts», sagte Rudy. Philly schaltete den Ventilator an. 272
«Willst du zu deinem Patienten?», fragte er. «Ja», antwortete Rudy. «Ist er noch da?» «Wahrscheinlich in einem anderen Bett. Sie haben alle verlegt», sagte Philly. Die Patientenkarten hingen an Haken unter den Fenstern; jeder dritte oder vierte Haken war leer. «Aber da ist er noch.» Er zeigte auf ein Klemmbrett mit der Kennzeichnung «Soldat – Name unbekannt». «Wo fliegen sie die Männer hin?», fragte Rudy. «Keine Ahnung», sagte Philly. «Ist nach meinem Feier‐ abend passiert. Duffy hatte Spätschicht, und er hat erzählt, sie hätten sie durch die Hintertür in ein paar Schneeraupen geladen. Jungs von der Air Force. Hatte er noch nie gesehen. Und ab ins Blaue.» Er machte das Qangattarsa‐Zeichen. «War der Colonel dabei?» «Ich denke schon.» «Und so ein Typ mit grauen Haaren, Bürstenschnitt?» «Weiß ich nicht.» «Hat immer eine Skijacke an?» «Hey, Mann, ich war nicht dabei. Ich hab echt keine Ahnung.» «Und was hat man den Schwestern und Pflegern gesagt?» «Mein Gott, du fragst immer noch, als wärst du von der Zeitung. Ist doch gut, dass wir bald alle hier wegkommen.» «Ich bin bloß neugierig.» Rudy spürte, wie Wut in ihm aufstieg. «Was haben sie dir erzählt?» Philly seufzte. «Sie nennen es einfach Truppenbe‐ wegungen, und wie üblich hält dabei jeder die Schnauze und hat nichts gesehen oder gehört. Ich weiß also von nichts. Die Männer sind weg.» «Die Männer sind weg», flüsterte Guy X. «Habe ich gehört», sagte Rudy. Er saß neben ihm, den Kopf zum Kissen hinabgebeugt. «Sie machen uns fertig, Chefredakteur. Sie wollen den Laden dichtmachen.» 273
«Ich habe keinen Zutritt mehr zur Station. Und der Colonel hat meine Zeitung in die Tonne getreten», sagte Rudy. Guy X zuckte. Der Augenspiegel war heruntergeklappt und blinkte wie ein künstliches Auge. «Sie sind also gar nicht mehr Chefredakteur?», fragte Guy X. Es klang jämmerlich, konnte aber ebenso gut spöttisch gemeint sein. «Nicht mehr», bestätigte Rudy. «Sie werden also auch fertig gemacht», krächzte Guy X. Rudy richtete sich auf und sah sich im Flügel um. Guy X lag am Rande des abgedunkelten Teils. Hinter seiner hölzernen Trennwand erstreckten sich Nischen mit leeren Betten. In der entgegengesetzten Richtung sah Rudy Philly in seinem Häuschen. Sein Kopf war auf die Tischplatte gesun‐ ken. Er hatte das neue Jahr schon eingeläutet. Das Atmen der Patienten war fast nicht mehr zu hören. Guy X wandte den Kopf auf dem Kissen ab. «Wie lange waren Sie weg?», fragte er. «Ein paar Tage», antwortete Rudy. Guy X schüttelte den Kopf. «Falsch. Genau siebenund‐ dreißigeinhalb Tage. Ich habe mitgezählt.» «Sie können die Tage zählen?» Guy X nickte. «Jetzt, wo sie uns fertig machen, will ich alles genau mitkriegen. Sagen Sie mir, welches Datum wir haben.» «Soll ich?» «Ja.» «Morgen ist Neujahr», sagte Rudy. «Welches Jahr?» «1960.» Guy X zuckte ganz leicht zusammen; vielleicht nur einer seiner Muskelkrämpfe, die es schwer machten, in seiner Miene zu lesen. «Na dann prost Neujahr», sagte er. «Sie können das Datum auf den Brief schreiben.» «Welchen Brief?» Guy X zeigte auf den Nachttisch, wo Papier und Bleistift 274
lagen. «Ich möchte Sie bitten, einen Brief für mich zu schreiben», flüsterte er. «Einen Brief nach draußen. Für mich. Sie können ihn mit der Post schicken.» Er griff nach Rudys Ärmel und zog ihn in Richtung Nacht‐ tisch. «Sie sollen im Namen eines Freundes schreiben», sagte Guy X. «Der Freund möchte die Adressatin dieses Briefes wissen lassen, dass er sie nie vergessen hat.» Sofort fiel Rudy ein, was Guy X über die Briefe gesagt hatte, die er in Korea in der Tasche gehabt hatte. Von seiner Geliebten. Wahrscheinlich hatte er diese Briefe auch bei sich getragen, als der F‐80‐Bomber seine Stellung zu niedrig angeflogen hatte. Rudy sah Guy X an, schrieb aber noch nichts. Guy X schien das nicht zu bemerken. «Jetzt kommt die Beglaubigung», fuhr er fort. «Damit sie auch weiß, dass es vom Richtigen kommt.» Er nannte ein Motel, den Titel eines Liedes und schließlich den Namen eines Parks. Dann lag Guy X eine Weile still und fragte Rudy schließ‐ lich: «Fertig?» Rudy nahm sich den Whitman als Schreibunterlage und brachte die Botschaft langsam zu Papier. «Fertig», sagte er. «Schicken Sie es ab.» «Wohin?» Guy X nahm einen Zettel vom Nachttisch und schrieb eine Adresse in Virginia darauf. «Schreiben Sie sich als Absender drauf», sagte Guy X. «Wenn sie dann noch mehr wissen will, kann sie sich an Sie wenden.» «Und was erzähle ich ihr dann?» «Was Sie wollen. Sie kennen meinen Namen nicht, Sie wissen nicht, wohin ich verfrachtet werde, und ich weiß nicht, wo Sie landen. Ich werde die Frau nie wiedersehen, 275
aber sagen Sie ihr bitte, dass ich sie nie vergessen werde.» Guy X zupfte an seinem Bettlaken herum, drehte den Augenspiegel zurecht. Dann bedeckte er sein Gesicht mit der Hand. «Soll ich gehen?», fragte Rudy. «Nein», sagte Guy X, die Hand noch vor dem Auge. Seine ohnehin schon trockene Stimme klang noch brüchiger. Er schürzte die Lippen. «Ist der Brief an Ihre Frau?», flüsterte Rudy. Guy X zog die Hand weg, und der Ansatz eines Lächelns stahl sich in seine Züge. «Nein», sagte er. «Aber an eine nahe stehende Person?» Jetzt kicherte Guy X sogar. «Wir standen uns sogar sehr nahe», sagte er. «Sie war die Frau eines Offizierskameraden. Ist sie wahrscheinlich noch. Wir beide ...» Guy X winkte ab. «Ich will ihr einfach ein Lebenszeichen senden, das ist alles», flüsterte er. «Klar», sagte Rudy und lehnte sich zurück. Guy X hatte sich wieder gefangen und starrte nach schräg oben, wo sich Wand und Decke trafen, wie Rudy es bei seinem Vater so oft gesehen hatte. «Hören Sie», sagte Rudy. Guy X rührte sich nicht, hörte aber offensichtlich zu. «Weil es ja womöglich auf mich zurückfällt, darf ich Sie vielleicht fragen, ob Sie das tatsächlich für eine gute Idee halten.» «Natürlich.» «Dieses ganze Lazarett», sagte Rudy, «alle Patienten hier sind seit Korea offiziell als vermisst gemeldet. Wussten Sie das?» «Überrascht mich nicht.» «Die Frau glaubt wahrscheinlich, dass Sie seit Jahren tot sind.» «Ja und? Deshalb schreibe ich ihr ja. Damit sie es erfährt.» «Ja, aber», Rudy rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her, «was genau erfährt sie denn? Sie glaubt, es gibt Sie nicht 276
mehr. Jetzt wird sie denken, Sie kommen zurück. Was weiß ich, was sie denken wird. Sie wollen ihr einfach diesen Brief schicken und sich dann wieder aus dem Staub machen?» «Aus dem Staub machen kann ich mich wohl kaum», zischte Guy X. «Tut mir Leid», sagte Rudy. «So war das nicht gemeint. Aber Sie verstehen doch, was ich sagen will?» Rudy beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Guy X packte Rudys Hand. Er war außer Atem, die schmale Brust hob und senkte sich in rascher Folge. «Ich habe Sie erreicht, Chefredakteur. Sie sind der Einzige, den ich erreicht habe. Die anderen, die Rothaarige, all die anderen hatten nie Kontakt mit mir, entweder hatte ich einen Anfall, oder sie konnten mich nicht hören. Aber Sie habe ich erreicht, und deshalb werden Sie mir helfen. Das weiß ich. Sie sind der Einzige.» Guy X rollte sich halb herum und sah Rudy an. Er klam‐ merte sich noch fester an Rudys Hand und zog ihn zu sich heran. «Wenn der Brief sie erschreckt, na gut. Vielleicht will ich ja jemanden erschrecken.» Guy X hielt sich weiter an Rudy fest und rollte wieder auf den Rücken. Er wiegte sich sachte hin und her. Rudy hatte das Gefühl, die Hand eines Mannes zu halten, der auf den Wellen des Meeres dümpelte. «Neulich, vor ein paar Tagen oder vor ein paar Jahren, ich weiß es nicht», sagte Guy X mit hohler Stimme, «da dachte ich, vielleicht bin ich schon ein Geist. Und Geister müssen Leute erschrecken. Oder sie müssen verschwinden.» Jetzt zitterte seine Hand leicht, als ob ihn ein schwacher Strom vom Grund des Meeres durchflösse. «Sie sind kein Geist», sagte Rudy. «Ich werde Ihren Brief abschicken.» Guy X lächelte und nickte, ließ Rudys Hand aber nicht los. Schließlich wurde aus dem Zittern ein Zucken. Das Meer war abgeflossen, Guy X auf die Matratze zurückgesunken. 277
Einer seiner Krämpfe ergriff Besitz von ihm. Rudy versuchte nicht, ihn anzusprechen oder wach zu halten.
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SIEBENUNDZWANZIG Ein bewaffneter Wachtrupp hatte ihn abgeholt. Es waren Philly und Lavone, die mit Maschinenpistolen vor ihm standen, was ihnen ungeheuer peinlich war. «Ist ein Befehl», hatte Lavone gemurmelt. «Von wem?», hatte Rudy gefragt, als sie ihn in sein altes Zimmer im Lagersektor C brachten, das jetzt eine kahle Zelle war: ein Bett, sein leerer Schreibtisch und die alte Schreib‐ maschine. Er stand unter Hausarrest. «Also, der Befehl kam vom Colonel, aber es sieht so aus, als hätte sie ihn getippt», sagte Lavone und zeigte ihm das Blatt. In der linken unteren Ecke standen die Initialen LGW/it. Rudy überflog das Schreiben. Der Befehl lautete, ihn von einem bewaffneten Wachtrupp festnehmen und im Quartier unter Bewachung stellen zu lassen, wegen «Verstoßes gegen die Sicherheitsbestimmungen des Stützpunktes (SBS 12 [a‐e], 279
besonders Abs. e7), namentlich der Verbreitung, Übertra‐ ung, Weiterleitung, Herausgabe oder Ausfuhr nicht auto‐ isierter Mitteilungen vom Stützpunkt». Der Brief von Guy X. Rudy hatte ihn einfach in den höl‐ ernen Briefkasten vor dem Speisesaal geworfen, und man hatte ihn abgefangen. Er hätte sich denken können, dass jede Post, die Qangattarsa verließ oder erreichte, gelesen wurde. Er war so naiv gewesen, weil er selber, seit er hier angekom‐ en war, weder Briefe geschrieben noch erhalten hatte. Sein ganzes Leben hatte sich hier in Grönland abgespielt. Und jetzt beschränkte es sich auf sein altes Zimmer. Zu den Mahlzeiten wurde er in den Speisesaal eskortiert und dann zurückgebracht. Im Korridor, wo der Lagersektor vom Ver‐ alungsrakt abzweigte, saß eine Wache. Immer häufiger starteten und landeten Flugzeuge. Ihre Landelichter sahen aus wie Fühler, mit denen sie nach der Piste suchten. Manchmal konnte er Lademannschaften und Schneeraupen erkennen, die zwischen Stützpunkt und Rollbahn hin‐ und herpendelten. Mit der Zeit betrachtete er seine Verhaftung als einen Gefallen des Colonel. Beim Essen bekam er mit, dass die üblichen Schlägereien noch viel schlimmer geworden waren. Die oberen Ränge nahmen ihre Mahlzeiten aus Sicher‐ heitsgründen mittlerweile in ihren Quartieren ein. Auf Wein‐ krämpfe folgten häufig Wutanfälle. Einmal sah Rudy beim Mittagessen, wie ein weinender Gefreiter vom Küchendienst mit erhobenem Tranchiermesser über die Ausgabetheke sprang, weil ein Sergeant in der Essensschlange geniest hatte. Ein anderes Mal belauschte er an seinem einsamen Platz– laut Befehl musste er allein essen – ein Gespräch über einen Offizier, der versucht hatte, sich im Hauptwaschraum an einem Duschkopf zu erhängen. Nachdem der Selbstmord‐ versuch fehlgeschlagen war, marschierte er am nächsten Tag splitternackt zum Fjord hinaus. Diesmal hatte er Erfolg und erfror zusammengekauert neben dem Flaggenmast. Der 280
Suchtrupp rollte ihn zum Stützpunkt zurück wie eine Schneekugel. Die Zahl der Soldaten, die sich zu den Mahlzeiten blicken ließen, nahm beständig ab, und jedes Mal, wenn er sein Zimmer verließ, fiel Rudy auf, dass auch die Ausrüstung der Basis Stück für Stück verschwand. Aber das Ganze folgte weder einem erkennbaren Plan noch einer vernünftigen Reihenfolge. Eines Tages war die Hälfte der Stühle aus dem Speisesaal abtransportiert, und die Auseinandersetzungen beim Essen verschärften sich, weil man nun auch um einen Sitzplatz kämpfen musste. Ein paar Tage später war sämtli‐ ches Besteck verschwunden, und als Rudy zum Frühstück erschien, sah er Soldaten Rührei mit der Hand in den Mund schaufeln. Am nächsten Tag aßen sie mit Plastikbesteck wie bei einem Picknick. Manchmal sah Rudy beim Essen Lavone, Beef oder Philly, und sie gaben einander verstohlene Zeichen: ein Augenzwin‐ kern, ein erhobener Daumen. Sie signalisierten sich, dass sie durchhielten, dass sie noch normal waren. Alle anderen um sie herum schienen auszurasten. Den Colonel bekam er nie zu Gesicht, und Irene nur einmal, endlich, beim Abendessen. Anscheinend waren die meisten Frauen bereits vom Stützpunkt abgezogen worden, Irene war womöglich die letzte. Sie verließ gerade den Speisesaal, und sie sah bleich und abgespannt aus. Ohne nachzudenken, rief Rudy ihren Namen. Sie drehte sich er‐ schrocken und verwirrt um, als sei sie überrascht, ihn hier zu sehen. Dann war sie verschwunden. Als Rudy später wieder in seinem Zimmer im Lagersektor stand und sich Sorgen um Irene machte, startete draußen eine C‐47 und brummte über ihn hinweg. Die Maschine flog eine Kurve, nahm Kurs auf den Fjord hinaus und entfernte sich. Lasset uns hinauf‐fliegen, dachte Rudy. Er musste in eins dieser Flugzeuge gelangen. Aus dem Gang war ein Jaulen zu hören, ein menschliches 281
Heulen. Die Lampen flackerten. «Möchten Sie beten?» Rudy fuhr herum. Kaplan Captain Brank stand lächelnd im Zimmer – er hatte sich hereingeschlichen. Rudy betrachtete ihn miss‐trauisch. Der Kaplan hob die Hände: Ich komme in Frieden. «Beten? Sie und ich?», fragte er. Rudy entspannte sich etwas. «Nein danke», sagte er. Der Kaplan zuckte die Achseln. «Ich dachte, ich muss wenigstens fragen.» Er trat weiter ins Zimmer. «Ich komme als Ihr Hirte. Ein Gefangenenbesuch. Tut mir furchtbar Leid, dass Sie hier festsitzen.» «Ist gar nicht so schlimm», sagte Rudy. «Wenn man sich anschaut, was draußen so los ist.» Das Jaulen aus dem Gang hielt an. Rudy und der Kaplan lauschten, bis es verebbte. «Schwierige Zeiten», sagte Captain Brank. «Auf so einem Posten war ich bisher noch nie. Diese Dunkelheit, diese Käl‐ te. Eigentlich gefällt es mir ja ganz gut, aber die Soldaten ... Ich tue, was ich kann. Ich habe außerordentliche Gottes‐ dienste angeboten – niemand kommt. Meine Tür steht allen offen, die Seelsorge brauchen – keiner traut sich über die Schwelle. Ich setze mich abwechselnd an alle Tische im Speisesaa – die Männer wenden sich ab, starren in ihr Hüh‐ nerfrikassee. Also versuche ichʹs mal mit dem missio‐ narischen Ansatz. Ich besuche den Häftling in seiner Zelle.» «Danke», sagte Rudy und setzte sich aufs Bett. «Mönche haben ja auch Zellen», sagte der Kaplan. «Viel‐ leicht können Sie die Zeit kontemplativ nutzen.» «Das habe ich in der Tat», sagte Rudy. «Ach ja. Gut. Und wie läuft es so?» «Ich will so schnell wie möglich hier raus.» Der Kaplan nickte. «Ist Ihnen nach Weinen zumute?», fragte er. «Noch nicht», sagte Rudy. «Das ist gut. Das macht einen bloß verrückt. Mich hat es 282
auch schon erwischt.» Der Kaplan setzte sich auf den Schreibtisch und stützte sich auf die Schreibmaschine. «Ich habe mich endgültig entschlossen, katholisch zu werden. Ich habe mal wieder das Alte Testament gelesen und gemerkt, was für ein tolles Buch das ist, und auf einmal ... ich bin einfach in Tränen ausgebrochen. Aus heiterem Himmel. Wie alle hier. Plötzliche Weltschmerzattacke, ich habe geheult wie ein Schlosshund. Irgendwann war es vorbei, aber das Komische ist, ich habe mich überhaupt nicht erleichtert gefühlt. Man ist hinterher nicht erschöpft und befreit, sondern man wird eher wahnsinnig wütend. Das hat mich an Korea erinnert. Das Töten, wohin hat es geführt? Hinterher wollten wir bloß noch mehr töten. Jedenfalls metaphorisch. Oder auch tatsächlich. Ich weiß nicht. Aber wo wir jetzt die Bombe haben ... jawohl...» Der Kaplan bohrte seine rechte Faust in die linke Handfläche und starrte mit irrem Blick auf den Fußboden. Dann schaute er hoch. «Ach!» Er lachte. «Entspannen Sie sich, Soldat. Es geht mir gut. Ich habe ein Heilmittel für diese Anfälle gefunden. Die Abtötung des Fleisches. Kinderleicht. Ich lege mich nackt aufs Bett und lasse das Fenster auf. Da ist mir der Kampfgeist sehr bald vergangen, das können Sie mir glauben. Zum Glück hatte ich also das Beispiel der irischen Heiligen vor Augen, als mich die Mordlust überkam.» «Mordlust, Sir?» «Hat mich gepackt, Rudy Spruance, tatsächlich. Zum Glück ist das jetzt vorüber.» «Gut.» Der Kaplan sprang vom Schreibtisch. «Wissen Sie was, mein Sohn, ich vermisse das Artikel‐ schreiben mit Ihnen. Als die Zeitung eingestellt wurde, ist mir wirklich etwas abgegangen. Ihnen sicher auch.» Er sah sich um. «Kann ich irgendetwas für Sie tun?» «Nein», sagte Rudy. Er beugte sich vor und faltete die 283
Hände. «Naja», fügte er hinzu, «vielleicht doch.» «Sagen Sieʹs nur.» «Ich hätte gern Besuch.» «Aha ...?» «Sergeant Teal.» «Oh.» «Ich will nur mit ihr reden.» «Sicher.» «Bitte, Sir.» Der Kaplan pfiff leise vor sich hin. «Ich bewege mich ja gerade in die entgegengesetzte Richtung. Askese. Etwas Reines, hoffe ich. Das Zölibat. Die Lüsternheit verbrennen. Oder vielleicht eher einfrieren. Um alle Beschwernisse abzuwerfen, verstehen Sie? Sie scheinen mir sehr beschwert, mein Sohn. Stimmt das?» «Ich liebe Irene, Sir.» Der Kaplan nickte. «Das steht Ihnen ins Gesicht geschrie‐ ben.» «Und sie braucht mich.» «Das steht ihr auch ins Gesicht geschrieben.» «Also?» «Also steht es geschrieben. Ich werde sehen, was ich tun kann.» Der Kaplan ging, doch niemand kam. Weder Irene noch die Eskorte zum Essen. Niemand. Ab und zu war ein Flugzeug zu hören, Schreie, Geheul, bellende Hunde, Schläge an die Rohrleitungen, als wollte sich ein Mieter über den Lärm von oben beschweren, und das ständige Mahlen des Generators. Wieder flackerten die Lampen, dann gingen sie aus. Fünf, fünfzehn oder vielleicht dreißig Minuten lang herrschte totale Finsternis. Rudy brüllte. Niemand antwortete. Er schlug mit dem Kopf gegen die Wand, um sich zu überzeugen, dass er wach war. Er glaubte, von draußen einen Schrei zu hören. Nichts Menschliches; vielleicht ein Tier. 284
Das Licht ging wieder an, und die normale Geräusch‐ kulisse setzte ein: Generator, Geheul, knackende Rohre. Wie lange war es dunkel gewesen? War es überhaupt dunkel gewesen? Scheiß drauf, dachte Rudy, Zeit zum Essen. Oder noch besser: Lavone auftreiben und einen Fluchtplan schmieden. Er ging zum Ende des Korridors, wo die Wache hätte stehen sollen. Die Türen waren offen. Er schaute in den Vorraum. Auf dem Klappstuhl saß niemand. Hinter der Ecke hörte Rudy jemanden herzzerreißend weinen. So musste sich das Leiden auf dem Schlachtfeld anhören. Heftiges Aufschluch‐ zen, gefolgt von ansteigendem Geheul. Als er um die Ecke bog, lag dort ein weinender Mann auf einem Haufen sauberer Wäsche. Ausgestreckt, das Gesicht in einem Berg aus Bettlaken und Handtüchern vergraben, die den ganzen Flur versperrten. Rudy schlich sich heran, drückte sich an die Wand und versuchte, unbemerkt über Mann und Wäsche hinweg‐ zusteigen, doch dann streifte er den Wachsoldaten am Fuß und schreckte ihn auf. Es war Sergeant R. G. Genteen. Rudy stand mitten auf der Wäschebarrikade mit dem Rücken zur Wand. «Entschuldigung», sagte er. Genteen hustete und spuckte, wischte sich dann aber rasch Tränen und Rotz mit dem Ärmel ab. «Scheiße», sagte er. «Entschuldigung», wiederholte Rudy. «Drecksack», sagte Genteen. «Hören Sie –» «Was haben Sie gesehen?» «Tut mir Leid.» Genteen sprang auf und fing an zu schreien: «Dieser Mann hat mein Bajonett versaut, Euer Ehren! Und außerdem, Euer Ehren, hat er meine Schubkarre beschädigt!» «Jetzt beruhigen Sie –» 285
Plötzlich täuschte Genteen einen Angriff vor, und Rudy fiel darauf herein. Er rannte zurück in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Drinnen rannte er auf und ab wie ein verschrecktes Eichhörnchen. Er ärgerte sich über seine Kopflosigkeit und schimpfte laut, bis er draußen Schritte hörte, die sich schlurfend näherten. Dann hörte er Schnüffeln, Seufzen, das Klicken und Einrasten gut geölter Metallteile, und schließlich eine ohren‐ betäubende Explosion. Der Knall erschreckte Rudy so sehr, dass er aufs Bett hüpfte. Der Türknauf polterte übers Linoleum. Einen Augenblick später trat Genteen die Tür auf und schlenderte mit einer automatischen Armeepistole Kaliber .45 in der Hand herein. Er sah Rudy auf dem Bett und kicherte. «Buh! Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.» Rudy bewegte die Füße, die Bettfedern quietschten. Genteen schüttelte angewidert den Kopf. «Wissen Sie, was mich hier am meisten ankotzt, Corporal? Na?» «Nein», brachte Rudy heraus, und es klang gar nicht so ängstlich, wie er befürchtet hatte, obwohl seine Kehle sich so zerbrechlich anfühlte wie billiges Plastik. «Diese Scheißheulkrämpfe», sagte Genteen. «Davor warnt einen niemand. Damit darf man selber fertig werden. Sie haben mich doch gesehen, oder? Oder?» «Jetzt hören Sie doch, ich –» Genteen kam mit schlenkernden Armen auf ihn zu. «Man fühlt sich hinterher so, ach, ich weiß nicht. Sauer. Angefressen. Man möchte aus der Haut fahren. Einer aus dem Lazarett hat mir Pillen besorgt, gegen Depressionen, helfen aber kein bisschen, wie Sie gerade gesehen haben. Ich bin total neben mir, und ich will nur wieder runterkommen, aber wie? Wie? Wie, verdammt? Sie haben mich heulen 286
gesehen. Das kann ich nicht ab. Das ist Privatsache. Aber Sie haben es gesehen.» «Also Genteen –» Der Sergeant trat heftig gegen das Bett, Rudy spürte die Er‐ schütterung bis ins Genick und zuckte zusammen. Die Situation war außer Kontrolle geraten. «Wie wärʹs mit einem Fluchtversuch?», fragte Genteen. «Dann könnte ich den Helden spielen und Qangattarsa im Alleingang vor Ihnen retten.» «Kommen Sie, Genteen.» «Was? WAS?», fragte Genteen und beugte sich vor wie ein Ringer, der einen Griff anbringen will. Er umkreiste das Bett zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Plötzlich richtete er sich auf, als hätte er per Telepathie einen Befehl erhalten. Seine Augen wurden glasig, und er sagte müde: «Na ja. Was soll der Scheiß?» Dann hob er die Pistole und zielte mit ausgestrecktem Arm auf Rudy. Panik stieg in Rudy auf und schnürte ihm die Kehle zu. Er wollte gerade losschreien, als sich der dröhnende Pulsschlag in seinen Ohren in Schritte verwandelte, die an der Zimmer‐ tür endeten. Als Rudy sah, wer dort stand, entfuhr ihm tatsächlich ein Schrei. Genteen erschrak, wirbelte zur Tür herum und drückte ab. Die Kugel schleuderte Irene herum und zurück gegen den Türpfosten. Sie riss Mund und Augen weit auf, als hätte ein Vorschlaghammer sie getroffen. Sie rutschte im Türrahmen zu Boden. Rudy sprang hinter Genteen vom Bett. Der drehte sich um, schaute jedoch in die falsche Richtung, denn Rudy stand inzwischen am Schreibtisch. Irene stöhnte auf, und Genteen wandte sich wieder zu ihr. Rudy packte die Militärschreib‐ maschine, hob sie über die rechte Schulter und ließ sie auf Genteens Hinterkopf niedersausen. Der Sergeant ging zu Boden. Ein weiterer Schuss löste sich und riss ein großes Loch in Rudys Matratze. 287
Von Genteens Kopf tropfte Blut. Rudy stieg der beißende Geruch des Schießpulvers in die Nase, dessen Schärfe ihn wieder zur Besinnung brachte. Irene rief seinen Namen. Ihr Kopf zitterte, und ihre rechte Hand hing in der Luft, als wagte sie nicht, die Verletzung zu betasten. «Irene», sagte er und eilte zu ihr. Ihr Blick war glasig, sie erkannte ihn womöglich gar nicht. Er krabbelte um sie herum, um ihre Verletzung begutachten zu können. Ihr linker Uniformärmel war zer‐ rissen, und der Stoff glänzte dunkel von ihrem Blut. «Mein Gott», stöhnte er. «Es fühlt sich nicht schlimm an», sagte Irene leise. Er berührte ihre Wange. «Gut», sagte er. «Das ist gut.» Wahrscheinlich ein Schultertreffer, vielleicht auch der Oberarm. «Ganz ruhig», flüsterte er. Dann beugte er sich in den Flur hinaus; ihm fiel nichts anderes ein, als «Sanitäter!» zu rufen. Doch es kam keine Antwort. Niemand hatte den Schuss gehört. Genteen stöhnte. Rudy hob Irene vom Boden auf, sie schlang den unverletzten Arm um seinen Nacken. Gemein‐ sam stolperten sie den Flur hinunter. Sie trampelten über den Wäschehaufen, schlängelten sich zwischen Bettgestellen und Vorratskisten hindurch. Offene Aktenkisten waren in Seitennischen aufgestapelt. Vorrats‐ schränke waren aufgebrochen und geplündert worden. Die Sprechanlage war angeschaltet, und die Lautsprecher im Flur summten leise. «Sanitäter!», schrie Rudy im Laufen, doch abermals reagierte niemand. Und das in einem Lazarett, dachte er. Bis kurz vor dem Speisesaal gab es kein Lebenszeichen, dann hörte Rudy Gejohle. Irene war bleich und hatte die Augen halb geschlossen. Schockbehandlung, dachte Rudy. Er wusste zwar nicht genau, was das bedeutete, aber der Ausdruck ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Schock‐ 288
behandlung. Schockbehandlung. Er lief zum Speisesaal und hörte von drinnen Gelächter. Ein Schild verkündete NUR FÜR OFFIZIERE. Er trat die Tür auf. Im abgedunkelten Saal drehten sich zahlreiche Gesichter nach ihm um. Neben der Tür ratterte ein Projektor, und auf der Leinwand am anderen Ende des Raums lutschte eine Frau im Dirndl den Schwanz eines Deutschen Schäfer‐ hundes, während ein nackter Mann mit Melone, dem sie nebenbei einen runterholte, ihren Hintern mit einer neun‐ schwänzigen Katze bearbeitete. In der ersten Reihe bellte jemand. Irene stöhnte leise. «Sanitäter!», schrie er in die erschrockenen Gesichter. Im flackernden Licht des Projektors kamen einige Männer auf ihn zu. «Schockbehandlung!», rief Rudy, als sie ihm Irene aus den Armen nahmen.
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ACHTUNDZWANZIG Irene hatte Glück gehabt. Nur eine Fleischwunde. Auch Genteen war glimpflich davongekommen. Mehr wusste Rudy nicht. Die Offiziere hatten ihn in sein Zimmer zurück‐ geschickt. Ein paar Stunden später war Philly vorbei‐ gekommen, um ihn zu informieren. Rudy hatte wie betäubt mit bleischweren Gliedern und rasendem Herzen auf dem Bett gelegen. Als er Phillys Stimme hörte, war er jedoch sofort aufgesprungen und durch die zerschossene Tür in den Flur gelaufen. Philly stand vor der doppelten Feuertür und setzte an, durch den Spalt von Irene und Genteen zu berichten. «Ich bin doch nicht aussätzig», sagte Rudy. «Ist nicht abgeschlossen, komm rein.» 290
«Wow», sagte Philly. «Willst du denn nicht, dass abge‐ schlossen wird?» «Nein. Ich will so schnell wie möglich hier raus. Wieso sollte ich mich einschließen lassen?» «Zum Schutz, Mann. Dann kannst du zwar nicht raus, aber die anderen auch nicht rein.» «Welche anderen?» «Na, alle. Hier sollte man sich vor jedem vorsehen. Alle völlig durchgedreht.» «Wo ist Genteen?» «Sie haben ihn in der Medikamentenausgabe eingesperrt. Heute Abend wird er ausgeflogen.» «Philly, bitte treib Lavone für mich auf.» «Aus dieser Höhe ist es gar nicht so leicht, jemanden zu finden.» «Alles in Ordnung, Philly?» «Hey, ich fliege, Mann.» «Bist du high?» «Ich schaue mir das alles von oben an. Anders ist es nicht zu ertragen. Lavone und ich haben unsere pharmazeutischen Hilfsmittel, so bleiben wir unangreifbar. Wir sind sicher, wie du. Die Totale Umnachtung kann uns nichts anhaben. Wir jammern nicht rum.» Aus den Fluren drang von irgendwoher ein Heulen, dann Hundegebell. «Und wie kriege ich was zu essen?», fragte Rudy. «Willst du vielleicht gar nicht», sagte Philly. «Der Speise‐ saal ist echt ein Irrenhaus. Zwei Tage lang Erdnussbutter und Gelee, und was glaubst du, was sie gerade zum Mittag serviert haben? Milch und Kekse. Ich versuche, was Anstän‐ diges für dich aufzutreiben, bevor ich den Abflug mache.» «Haust du ab?» «Hab den Marschbefehl.» «Wann?» «Noch nicht ganz sicher. Aber bald. Qangattarsa.» 291
Durch den Spalt sah Rudy Phillys große Hände flattern. Dann seufzte der Sanitäter und verschwand. Rudy steckte den Kopf durch die Tür: der Flur war leer. Eine Rohrleitung knackte. Er ging wieder in sein Zimmer. Er musste geträumt haben. Er lag auf seinem Bett und hörte Hundegebell. Das Geräusch erinnerte ihn an die Wikinger, von denen Irene erzählt hatte: vergessen und verlassen hatten sie Kälte und Dunkelheit ertragen und sich gegen die Überfälle der nördlichen Stämme zur Wehr gesetzt, die von den nach Süden wandernden Gletschern bedrängt wurden. Shrodinge war der Name der Wikinger für diese Eingebo‐ renen gewesen, hatte Irene gesagt. In Europa hatte die Pest gewütet, und niemand hatte an Grönland gedacht. Im Vati‐ kan hatte man sich schließlich der verlorenen Kolonie erin‐ nert; eine Gesandtschaft aus Rom sollte in der vergessenen Diözese nach dem Rechten sehen. Die Gesandten fanden im Fjord eine Siedlung verkümmerter Gestalten, die ein seltsa‐ mes Christentum praktizierten, das eher an heidnische Rituale erinnerte. Sie verließen Grönland, und die westliche Zivilisation vergaß die riesige Insel. Jemand begann über die Lautsprecheranlage zu singen. Zuerst waren es nur sinnlose Lautfolgen, von Rauschen unterbrochen, dann die Zeile «Bo Diddley, Bo Diddley, have you heard ...?», und schließlich eine männliche Kopfstimme, die eine Strophe von «When You Wish Upon a Star» sang. Rudy ging zum Fenster. Wünschen, dachte er– wünschen würde ich mir auch zu gern etwas. Vor allem, von hier wegzukommen. Draußen arbeiteten Männer mit einer Schneeraupe und einer Winde. Sie zogen eine schwere Last aus dem Schnee. Er sah, dass es sich um etwas Steifgefrorenes handelte, etwas Großes, das den Männern einige Schwierigkeiten bereitete. Schließlich kam die behaarte Gestalt ganz ins Blickfeld– sie schleppten einen Pferdekadaver ab. Das Fahrzeug wühlte sich durch den Schnee davon, das 292
gelbe Blinklicht wurde schwächer und verschwand schließ‐ lich im Gestöber. Dann bemerkte Rudy ein weiteres Licht. Zuerst fiel es ihm gar nicht auf, weil es nicht richtig blinkte. Im Flügel flackerte es, als schaukelte eine Lampe im Wind, so wie in den Western die quietschenden Laternen in den Geisterstädten, wenn es durch die geborstenen Fenster‐ scheiben zieht. Geborstene Fenster ... Rudy rannte los. Die Tür der Station stand einen Spalt offen. Eiskalte Luft zog hindurch. Rudy riss die Tür auf. Im dämmrig schwankenden Licht einer Tiffanylampe flatterten die Vorhänge an der Nordseite. Die Fenster standen offen, arktische Kälte strömte herein. Die Vorhänge wehten im Wind wie eine Horde böser Geister. Das Häuschen war verlassen. Rudy rannte zum ersten Fenster. Auf der Fensterbank hatte sich bereits eine kleine Schneewehe gebildet. Er schlug das Fenster zu und rannte zum nächsten. Nebenbei schaute er in die Betten. Die meisten waren leer und abgezogen. Aber nicht alle. Ein paar Patienten waren noch da. Keiner bewegte sich oder schien überhaupt noch zu atmen. Die Decken waren alle halb aufgeschlagen. Kein Zischen oder Gurgeln war mehr zu vernehmen. Die Patienten lagen ungeschützt an der Luft, der Kälte ausgeliefert. Er fasste einige im Vorbeigehen an. Kalt. Rudy rannte hinüber zur anderen Seite. Dann sah er den Augenspiegel blinken. Guy X hatte sich zusammengerollt. Rudy bremste ab, sprang in die Bettnische und beugte sich zu Guy X hinab. Er rief nach ihm und berührte ihn am Hals. Noch warm ... und noch Puls. Guy X brummte. Sein Auge war geschlossen und zum Kissen gewandt. Er versuchte sich zu rühren, um zu sehen, wer ihn rief. Rudy wollte um Hilfe rufen, doch da fiel ihm ein, dass die Fenster ganz sicher absichtlich geöffnet worden waren. Also 293
blieb er still, drehte Guy X langsam um und hob ihn hoch. Er war zugedeckt, und das hatte ihn wahrscheinlich gerettet: Guy X hatte es noch geschafft, die Decke wieder über seinen Körper zu ziehen und sich so vor dem Erfrieren zu schützen. Rudy sah seine Atemwolke. Guy X erkannte ihn und seufzte leise. Rudy sagte dieselben Worte, die er vor ein paar Stunden zu Irene gesagt hatte: «Ganz ruhig. Ganz ruhig.» Und bevor er so richtig begriff, was er eigentlich tat, trug er Guy X zur Tür. «Ein letzter Blick», sagte er und drehte Guy X so weit, dass der den ganzen Flügel überblicken konnte. Die eine Tiffany‐ lampe leuchtete in der starren Kälte. Alles andere lag im Schatten. «Der verdammte Drecksack», flüsterte Guy X, und Rudy schob sich rückwärts durch die Tür.
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NEUNUNDZWANZIG «Und jetzt? Willst du ihn als Haustier behalten, oder was?» Philly kniete neben der Matratze und betrachtete Guy X, der zu schlafen schien. Rudy lehnte hinter Philly am Regal in Lavones Atelier. «Ich werde ihm helfen», sagte Rudy. «Ihm helfen? Wie hast du ihn überhaupt hierher gekriegt?» «Spielt doch keine Rolle. Jetzt brauche ich ein paar Tipps, wie ich ihn versorgen kann.» «Da brauchst du aber ein bisschen mehr als bloß Scheiß‐ tipps.» «Ich weiß doch», sagte Rudy, «dass du bald weg bist. Ich will bloß wissen, wie das mit diesen Schläuchen funktio‐ niert.» «Er kann hier nicht für immer bleiben», sagte Philly. «Und du auch nicht. Was hast du vor?» 295
«Ich will ihn hier rausschaffen. Ich habe einen Plan», antwortete Rudy. «Du hast einen Plan.» Philly grunzte und setzte sich auf den Boden. Er kratzte sich am Kopf und rieb sich die Augen. «Ich dachte, die Kerle wären alle tot.» «Was soll das heißen?», fragte Rudy. Sie standen zwischen den Regalen und Lavones Schreibtisch, wo Rudy mit seiner Matratze ein kleines Nest für Guy X gebaut hatte. Er hoffte, dass er dort nicht so schnell entdeckt würde. Dann hatte er sich auf die Suche nach Philly gemacht. «Das soll heißen», sagte Philly, «dass es eine Riesenpanne gegeben hat. Die Heizung im Flügel ist ausgefallen. Irgend.‐ was hat mit dem Schichtplan nicht hingehauen, deshalb hatte niemand Dienst, als der Kessel ausgefallen ist. Wusstest du das gar nicht?» Rudy schüttelte den Kopf. «Scheiße, Mann», sagte Philly. «Ich dachte, das wusstest du.» «Das war keine Panne», sagte Rudy. «Jemand hat die Fenster aufgemacht.» Rudy erzählte ihm, was er im Flügel gesehen hatte. Philly sackte zusammen. «Wer bringt denn so was fertig?», flüsterte er und sah Guy X an. Der lag reglos da und atmete flach im Schlaf. Rudy antwortete nicht, weil er keine Antwort wusste. «Und das Schlimmste an der Sache ist», sagte Philly, «dass kein Mensch was davon erzählen kann, weil die Army sowieso alles abstreiten wird. Keiner von uns ist offiziell hier. Er nicht, du nicht, ich nicht. Und wer würde dir wohl glauben, dass lauter Soldaten, die in Korea vermisst gemel‐ det wurden, neun Jahre später in Grönland erfroren sind?» Sie hörten Guy X noch eine Weile beim Atmen zu; dann stand Philly auf und zeigte Rudy, wie man die Kolosto‐ miebeutel wechselte und säuberte, wie man Guy X fütterte und ihm Spritzen gab. 296
«Wenn er sich eine Infektion einfangt», sagte Philly, «ist er am Arsch. Antibiotika oder auch nur Schmerzmittel gibt es hier nicht mehr. Das meiste ist schon abtransportiert worden, und den Rest haben wir bei den Eskimos eingetauscht. Also sieh zu, dass du deinen Kumpel so schnell wie möglich hier rausschmuggelst.» «Er wird bald abreisen», sagte Rudy. «Gut», sagte Philly. «Ich auch. Ich muss los.» Er reichte Rudy die Hand. «Viel Glück.» «Werde ich brauchen», sagte Rudy. «Stimmt», entgegnete Philly. Dann zog er zwei Schoko‐ Karamell‐Riegel aus der Tasche. «Die wollte ich eigentlich für den Flug aufheben, aber er kann sie wahrscheinlich besser gebrauchen.» Er gab Rudy die Riegel, bückte sich und zog die Decke glatt, die Guy X warm hielt. «Ein Sanitäter ist immer im Dienst», sagte Philly und ging. Guy X trieb an der Schwelle des Bewusstseins. Er mur‐melte, lallte bisweilen, stöhnte oft. Rudy fütterte ihn mit zer‐ hacktem Schokoriegel. Guy X bat flüsternd um Wasser, und Rudy tröpfelte ihm durch einen Versorgungsschlauch etwas in den Mund. Später versuchte er ihm klein geschnittene Dosenpfirsiche einzuflößen. Er hatte im hinteren Teil des Lagersektors ein paar abgepackte Tagesrationen gefunden. Guy X wandte den Kopf ab. «Fertig», sagte er. «Na los», sagte Rudy. «Essen Sie.» Guy X versuchte kraftlos, den Löffel wegzuwischen, und schloss das Auge. «Fertig», sagte er noch einmal. «Sie müssen was essen», sagte Rudy. Guy X schüttelte den Kopf. «Fertig.» Rudy ließ Löffel und Dose sinken. Er legte Guy X die Hand auf die Stirn. Sie fühlte sich heiß an. 297
Rudy lehnte sich gegen die Spindtür. Über ihm dröhnte ein Flugzeug davon. Wahrscheinlich saß Philly darin, oder Genteen, oder vielleicht sogar Irene. Letzteres beunruhigte ihn. Draußen heulten und bellten Hunde. «Ist Post da?» Rudy schreckte hoch. «Ist Post gekommen?», krächzte Guy X noch einmal. Er fasste Rudy am Ärmel. «Eine Antwort. Von der Frau. An die Sie geschrieben haben. An meiner Stelle.» «Noch nicht», sagte Rudy. «Sie müssen Geduld haben. Noch ein Weilchen. Haben Sie Geduld.» «Habe ich», sagte Guy X. Dann schloss er das Auge wieder und schlief offenbar ein. Rudy knipste das Licht aus und dachte im Dunkeln nach. Was er Philly von einem Plan erzählt hatte, war ge‐ schwindelt. Jetzt wollte er die Möglichkeiten abwägen, aber in der stummen Finsternis fiel ihm nichts ein. Sein Atem passte sich dem leisen Gurgeln von Guy X an. Vielleicht konnten sie einfach ewig hier bleiben. Plötzlich knallte ohne Vorwarnung die Tür auf, und das Licht ging an. Rudy warf sich über Guy X, um ihn zu schützen. «Verdammte Scheiße.» Lavone stand wie angewurzelt unter der Lampe, das Zugband noch in der Hand, und sah damit aus wie die Freiheitsstatue. «Was ist denn hier los?» «Mach die Tür zu!», zischte Rudy und drehte sich um. Lavone schloss die Tür und sah sich dann die Bescherung an. Rudy saß auf dem Fußboden neben Guy X, der wimmernd, mit geschlossenem Auge auf der Matratze hin und her schaukelte. Lavone war wie hypnotisiert von seinem An‐ blick, und Rudy wurde klar, dass Lavone nie im Flügel gewesen war. «Hey. Mann. Wow», sagte Lavone schließlich und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. «Du musst mir helfen», sagte Rudy. 298
Guy X stöhnte. «Ihm kann ich helfen», sagte Lavone. «Und zwar gleich.» Er stand auf und zog eine Kiste aus dem Regal. Dahinter ließ sich eine Hartfaserplatte wegschieben, und aus dem Loch zog er einen Pappkarton, den er auf den Knien öffnete. Er war voll mit Ampullen, Spritzen und Tabletten. Lavone gab Guy X eine Morphiumspritze, und dessen Stöhnen verwandelte sich fast augenblicklich in ein er‐ leichtertes Seufzen. Vor ihren Augen entspannte sich der Patient, schien fast wieder zu Kräften zu kommen. Lavone zog auch für sich eine Spritze auf. «Bist du immer noch Sekretär der Verwaltung?», fragte Rudy. Lavone sah überrascht aus. «Na klar», sagte er. «Was glaubst du denn?» «Keine Ahnung, Mann», sagte Rudy. «Ich war doch die ganze Zeit außer Dienst. Ich weiß gar nicht, was hier so los ist.» «Hier gehtʹs zu wie auf einem Flohmarkt», sagte Lavone. Er zuckte kurz zusammen, als er sich die Spritze in den Arm stach. Seine Lippen sogen nach Luft. «Die Dänen wollen den Laden hier übernehmen, wenn wir weg sind, weil Grönland ja zu Dänemark gehört. Alles, was wir hier lassen, wollen sie an einen norwegischen Schrotthändler verscherbeln.» «Was soll das heißen?», fragte Rudy. «Ich dachte, hier wird eine Radarstation gebaut.» «Weiter nördlich», sagte Lavone. «Änderung der Pläne. Die Radarstation wird weiter nördlich gebaut. In der Nähe von Thule. Aber der Laden hier wird trotzdem dichtgemacht. Ich soll die Auflösung organisieren. Wie ein Testaments‐ vollstrecker.» «Du?» «Die Kommandoebene hat sich sozusagen aufgelöst.» Lavone rollte die Spritze zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete sie wie eine gute Zigarre. «Man könnte aber 299
auch sagen, dass wir gleitende Hierarchien eingeführt haben. Der Colonel ist entweder ein Pflegefall oder ein Psychopath, je nachdem, wen man fragt. Ich persönlich habe ihn seit ungefähr drei Wochen nicht mehr gesehen. Meine Befehle kommen immer noch aus dem Hauptquartier, und ich...» Lavone schaltete ab. Rudy wartete geduldig, wie nachts vorm Radio, wenn ein entfernter Sender nur schwer zu empfangen war. «... und ich ... werde langsam ein ganz guter Nachlass‐ verwalter. Ich glaube, die Befehle kommen von Vord. Keine Ahnung. Sergeant Teal erholt sich immer noch von ihrer Verletzung, irgendwo im Frauenquartier, Sektor Delta, von ihr können die Anweisungen also nicht kommen. Letztlich hängt es alles von einem einzigen Typen ab: von mir. Ich löse den ganzen Stützpunkt eigenhändig auf, kapierst du? Ich wedele ständig mit Frachtpapieren, schriftlichen Befehlen und Personalakten herum.» Lavone grinste albern. «Übri‐ gens, deinen Freund Genteen habe ich nach Indochina geschickt. Da wird er sich wohl fühlen. Ich habe schon selbst dran gedacht, mich nach Saigon zu versetzen. Der geheim‐ nisvolle Ferne Osten. Tropisch warm, erstklassige Drogen ...» «Lavone, kannst du uns einen Platz in einem Flugzeug besorgen? Weg von hier?», fragte Rudy. «Uns?», fragte Lavone zurück. «Meinst du dich und ihn hier?» Sie schauten beide auf Guy X hinunter. «Mich, ihn und noch jemanden.» «Wen denn?» «Die Adjutantin des Colonel.» Lavone grinste immer noch. «Raucher oder Nichtraucher?», fragte er.
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DREISSIG Der Schnee reichte ihm bis zu den Oberschenkeln. Er wühlte sich durch die Verwehungen hinter dem Lagersektor C und stemmte sich dann gegen den Wind über einen Innen‐hof, der mit verstreuten Paletten und Propangasflaschen übersät war. Es war finster, aber der Sturm hatte nachgelassen; die Sterne waren hinter Wolken verschwunden. Aus Nordwes‐ ten blies eine steife Brise, die sich trotz zwanzig Grad unter null feucht anfühlte. Als er die Stufen zum hölzernen Windfang vor dem Ein‐ gang erreichte, war er außer Atem. Rudy lehnte sich mit der Schulter gegen das Schild an der Tür, auf dem stand: 301
QUARTIERSEKTOR DELTA NUR FÜR Sektor D sah aus, als sei er überstürzt verlassen worden: ein paar Bettgestelle lehnten an der Wand, Papiere flatterten auf dem Fußboden herum. Unter Rudys nasser Sohle blieb ein leeres Blatt lavendelfarbenen Briefpapiers kleben. Schwacher Parfümduft hing noch in der Luft, und neben den Feuer‐ löscher hatte jemand einen BH an die Wand genagelt. Er ging an offenen Türen vorbei, blickte in verlassene Zimmer: aufgerollte Matratzen, leere Spinde, an denen Bilder aus Zeitschriften klebten. In einem Zimmer entdeckte Rudy ein Foto der sieben Astronauten. Es war das Titelbild von Life, ein Farbfoto der Männer in ihren silbernen Raumanzügen. Das Bild hypno‐ tisierte ihn. Die sieben hielten ihre Helme unter dem Arm wie Kapitäne einer Footballmannschaft. Alle hatten ein ernstes und tapferes Lächeln aufgesetzt. Wer will schon, sinnierte er, der Erste im Weltall sein? Eine summende Frauenstimme riss ihn aus seinen Gedan‐ ken. Er lauschte einen Moment, um sicherzugehen, dann holte er Luft und trat ein. In der hinteren Ecke des Raumes, durch die offene Tür nicht zu sehen, stand ein Himmelbett, darauf ein weißer Überwurf mit kleinen Troddeln. Dort saß Irene in Schwesternbluse und Unterrock, den Arm in einer olivgrünen Schlinge. Ihr Haar war raspelkurz geschnitten. Sie las eine Zeitschrift. Als sie Rudy sah, hörte sie auf zu summen. Sie starrten einander an. «Die Prinzessin im verwunschenen Schloss», sagte sie. «Alles in Ordnung?», fragte Rudy, doch es klang eher wie eine Feststellung. «Mit meinem Arm – ja.» Irene ließ die Zeitschrift fallen und berührte die Schlinge. «Jedenfalls bald. War nicht so 302
schlimm.» «Das ist gut.» Ihre Haare waren so kurz geschoren, dass ihre Kopfhaut durchschimmerte. «Dein Haar, Irene.» «Habe ich geschnitten.» Rudy sah auf seine Mickymaus‐Stiefel, an denen die Schneeflocken schmolzen. Er schaute sich im Zimmer um. «Sind die Frauen nicht neidisch, dass du in so einem Bett schlafen darfst?», fragte er. «Die anderen Frauen sind weg», sagte Irene. «Lane hat mir das rüberbringen lassen, nachdem alle anderen ausgeflogen worden waren. Es war seins.» Fast hätte Rudy aufgelacht, als er sich den Colonel im Himmelbett vorstellte; doch im nächsten Moment fand er die Vorstellung rührend. «Und wo schläft er jetzt?», fragte er. «Weiß ich nicht.» Rudy wandte den Blick ab. Er spürte eine Schwere; die Zeit schien sich zu verlangsamen. Das im Gletscher eingefrorene Pendel kam ihm in den Sinn. Er fühlte sich wie ein un‐ sicherer, entfernter Bekannter beim Krankenbesuch im Lazarett. Wie ist das Essen? Behandeln sie dich auch anständig? «Ich habe gute Nachrichten», sagte er. Irene schaute ihn fragend an. Mit ihrem geschorenen Kopf sah sie aus wie ein Mönch, fast wie einer der Einsiedler des Kaplans – eine Heilige des hohen Nordens. Ihre angezo‐ genen Beine schimmerten seidig glatt unter ihrem Unterrock. Würde er sie je wieder berühren dürfen? Den linken Arm in der Schlinge hielt sie wie einen gebrochenen Flügel vor der Brust, die Stirn hatte sie auf die Knie gelegt. Ein Seufzer, fast schon ein Schluchzen stieg aus ihrer Kehle auf. Rudy ging zum Bett und berührte sie sanft an der Wange. «Wir gehen hier weg», sagte er. «Wie ich versprochen habe. Ich 303
bringe uns hier raus. Dich und mich und Guy X. Er lebt noch. Wir nehmen ihn mit. Lavone hat alles klargemacht.» Irene wirkte schockiert. Ihm brach der Schweiß aus, trotz‐ dem legte er seinen Plan weiter dar, ganz langsam und ausführlich, um überzeugend zu klingen. Um zweiundzwanzig Uhr sollte eine Frachtmaschine starten, die meteorologische Instrumente der Basis und Ver‐ pflegung zu einer dänischen Zinkmine weiter nördlich in Maarmorilik brachte; das Geschäft hatte Lavone eingefädelt. Von dort flog die Maschine über die Eiskappe nach Keflavik auf Island; nach einer Zwischenlandung ging es dann weiter zur Rhein‐Main Air Base bei Frankfurt. Lavone würde die Unterschrift des Colonel fälschen und ihnen Marschbefehle ausstellen, die Rudy und Irene bis nach Deutschland bringen würden, und wollte ein paar Briefe schreiben, die eventuelle Widersprüche in ihren Akten bereinigen sollten. Irene hörte sich das alles schweigend an. Während Rudy ihr seinen Plan darlegte, wurde ihm plötzlich mit Schrecken klar, wie kopflos er klang – die Wahnvorstellungen eines Morphiumsüchtigen und eines Trottels. «Es geht dir vor allem darum, deine Haut zu retten», sagte Irene. «Natürlich», entgegnete Rudy, verwundert über den vorwurfsvollen Ton. «Und um uns beide.» «Willst du ihn auf irgendeine Schwelle legen wie ein ausgesetztes Kind?» «Wen?» «Deinen Freund aus dem Flügel.» «Wir bringen ihn in ein richtiges Militärkrankenhaus», sagte Rudy, der eine gewisse Empörung unterdrücken musste. «Die Basis Rhein‐Main hat alle nötigen Einrich‐ tungen, um Guy X zu versorgen. Lavone hat das überprüft.» «Lavone. Lavone kennt sich wohl bestens aus, ja?» V, «Gut genug.» «Und was, wenn Guy X schon schlappmacht, bevor wir ein 304
Militärkrankenhaus erreichen? Was ist, wenn er stirbt? Willst du ihn dann in der Sanitätsstation irgendeiner Zinkmine abladen?» «Nicht abladen.» «Dann eben zurücklassen.» «Nein. Bei ihm bleiben.» «Was du da vorhast», sagte Irene, «vor allem wenn etwas schief geht, läuft auf Desertion hinaus.» Rudy schwieg. «Vielleicht schafft er es nicht.» «Egal was passiert, im Moment lebt er jedenfalls noch und hat keine Schmerzen. Und das ist ja wohl besser, als wenn er im Flügel geblieben wäre.» «Wahrscheinlich», murmelte Irene. «Glaubst du nicht?» Er konnte kaum fassen, dass sie sich stritten; er hatte sie doch retten wollen. «Mein Gott, Irene, Vord hat die Fenster geöffnet, damit die Männer erfrieren.» Sie starrte zum Baldachin des Bettes hinauf und sagte mit ermatteter Stimme: «Ich weiß. Ich war dabei.» «Was?», flüsterte Rudy. «Ich war dort, als er kam.» Irene schloss die Augen. «Ich habe bloß herumgesessen. Der Streifschuss war genäht wor‐ den, und ich konnte nicht schlafen, also bin ich spazieren gegangen. Die Schmerzmittel hatten mich ziemlich benebelt. Ich bin zum Flügel gegangen, um mich ein bisschen hin‐ zusetzen – du weißt schon. Der Mond schien. Dann ist er reingekommen, und ich habe gesehen, was er tat. Ich wollte ihn aufhalten, irgendetwas sagen, aber ich habe bloß dagesessen. Er hat mich auch gesehen, mich angelächelt und immer mehr Fenster geöffnet. Die Vorhänge sind herein‐ geweht. Er ist einfach um mich herumgegangen und hat weitergemacht.» «Hat er was gesagt?», fragte Rudy. Irene schüttelte den Kopf. «Ich habe versucht, mich zu bewegen, aber es ging nicht, wegen der Medikamente. Ich 305
habe angefangen zu weinen, und dann konnte ich mich auf einmal doch bewegen, aber nur wie ein Zombie. Ich habe versucht, eins der Fenster zuzumachen, da kam er und hat mich am Arm gepackt. Das tat so weh, dass ich nichts mehr machen konnte. Dann hat er mich ganz vorsichtig aus dem Flügel hinaus‐ und hierher geführt und mir sehr freundlich gesagt, ich solle hier bleiben und mich ruhig verhalten.» «Und das warʹs?» Sie nickte mit geschlossenen Augen und zog eine Grimasse – sie wollte offenbar die Erinnerung verdrängen. «Das ist alles wie im Traum passiert. Ich stand völlig neben mir und konnte nichts daran ändern. Ich war dabei, aber eigentlich auch nicht.» Rudy fiel ein, wie Guy X sein Dasein beschrieben hatte: Er träumte davon, Kontakt zu Menschen aufzunehmen, aber er schaffte es nicht. «Und seitdem bist du hier?», flüsterte er. Irene atmete ein paarmal tief durch. Sie beruhigte sich. «Lane ist hergekommen. Ich glaube, nur einmal. Er hat mir erzählt, dass man ihm das Kommando entzogen habe, und mir was zu essen gebracht. Er wollte eine Strähne von meinem Haar zur Erinnerung haben. ‹Wo willst du denn hin?›, habe ich ihn gefragt, und er hat geantwortet, das wisse er nicht. Aber er wollte eine Haarlocke. Ich habe ihm eine abgeschnitten. Und als er dann wieder weg war, habe ich einfach weitergeschnitten.» Rudy wurde schwindelig. Irenes Worte waren wie ein Strudel, der ihn hinabzog. «Und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.» Sie sah Rudy an. «Und jetzt kommst du. Manchmal denke ich, wenn du nie nach Qangattarsa gekommen wärst, wenn du nie in den Flügel gegangen wärst, dann wäre das alles nicht passiert.» «Du hast mich hingeführt», sagte Rudy. «Nachdem ich dich darum gebeten hatte.» 306
Sie waren sich so nahe, dass ihr Atem sich mischte. Aus dieser Entfernung konnte man die Augen des Gegenübers kaum noch scharf erkennen. Irenes grüne Iris verschwamm, während ihre Pupillen hin und her zuckten und ihr Blick über sein Gesicht flog. «Warum wir?», fragte sie. Rudy wusste nicht, ob sie atmete oder ein Luftzug über sein Gesicht strich. Er dachte an das erste Mal, als sie miteinander geschlafen hatten, an den kalten Hauch, der plötzlich über seine Haut gefahren war. Einen Augenblick lang spürte er eine fremde Gegenwart im Zimmer, etwas Dunkles, das über ihnen aufragte. Dann war es wieder verschwunden. Die Welt bestand nur noch aus ihren Augen; die Dunkelheit draußen, das Eis, die Felsen, die Asche, das Meer mit seinen fernen Gestaden– alles war in ihren Augen. «Komm mit mir», sagte er. Es war ein Befehl und eine Bitte. Die Kraft ihres ruhigen Blickes verzehrte ihn, doch er konnte darin die Antwort lesen. Sie stand auf, wandte sich ab und ging zum Fenster. «Das kann ich nicht.» «Du hast doch gesagt, dass wir gemeinsam weggehen wollen.» Sie nickte und schloss die Augen. «Ich habe die Marschbefehle praktisch schon in der Tasche.» «Ich kann nicht desertieren.» «Wir desertieren doch nicht.» «Aber darauf läuft es hinaus», sagte sie und trat auf ihn zu. Sie sprach leise weiter. «Wenn du auch nur die kleinste Chance haben willst, das Leben dieses Mannes zu retten, dann musst du mit ihm in ein richtiges Krankenhaus. Kein richtiges Militärkrankenhaus. Dann musst du Lavones Marschbefehle aus dem Fenster werfen und der Army den Rücken kehren.» 307
Jetzt wandte Rudy sich ab. Seine Gedanken, seine Pläne fielen auseinander. «Du meinst also», sagte er, «mein Plan ist zum Scheitern verurteilt.» Irene legte ihm die Hand auf den Arm. «Ich möchte dich nicht gehen lassen. Ich habe schon so viel verloren. Nicht auch noch dich.» «Und was ist mit Guy X?», fragte Rudy. «Den musst du gehen lassen», flüsterte sie. Rudy schüttelte den Kopf. «Es lässt sich nicht ändern», sagte Irene. «Ist das deine Meinung, oder spricht da Woolwrap oder gar Vord aus dir?» «Meine, ganz allein meine. Ich liebe dich. Ich liebe dich, gerade weil du glaubst, so etwas fertig zu bringen, aber wir können das nicht gemeinsam tun. Das lässt sich nicht ändern ... und außerdem kann ich ihn nicht im Stich lassen.» «Ihn? Den Colonel?» Sie nickte und senkte den Blick. «Das ...» Sie stockte. «Das wollte ich dir sagen, als ich zu dir gekommen bin und das hier passiert ist.» Fast erstaunt schaute sie auf ihre Schuss‐ wunde. «Herrgott, Irene.» Rudy rang nach Luft. «Er ist weg. Der Kommandeur hat sich ohne Erlaubnis von seinem Posten entfernt. Hat ihn irgendjemand gesehen? Du etwa?» «Deshalb kann ich ihn ja nicht im Stich lassen.» «Oh Gott», murmelte Rudy. Er schnappte nach Luft und be‐schloss, nicht zu betteln. Sie beugte sich zu ihm; ihre Köpfe berührten sich; beide blickten zu Boden. Sie flüsterte: «Ich liebe dich.» Das Zimmer schwankte unter seinen Füßen. Er wollte ihre Worte immer wieder nachsprechen — Ich liebe dich, Ich liebe dich —, als könne er ihren Entschluss damit ändern. Doch er wusste auch, dass Worte es nicht vermochten, ihre 308
Entscheidung zu beeinflussen, und so kroch das eigenartig vertraute Gefühl wieder in ihm hoch, das seine Liebe zu ihr begründete, obwohl es sie gleichzeitig zunichte machte. Ihre Standfestigkeit, ihre Treue zu dem Mann, den sie doch schon verloren hatte, verstärkten seine Zuneigung noch. Rudy rieb über sein Gesicht, kniff sich in die Nasenwurzel. «Also dann», sagte er. Sie drehte sich um und öffnete einen Fensterladen. Der Sturm war wieder stärker geworden, Schnee wirbelte gegen die Scheiben. Am äußersten Rand der Wachbeleuchtung konnte man im weißen Treiben den Rumpf des C‐47‐Wracks erkennen, der bis zu den Tragflächen eingeschneit war. Irene starrte hinaus, als Rudy vom Bett aufstand und zu ihr trat. «Da habe ich ganz zu Anfang mal auf dich gewartet», sagte er. «Als du mir den Stützpunkt zeigen wolltest.» «Habe ich nie gemacht, oder?» «Nein.» «Und jetzt ist es zu spät.» Rudy legte die Hände auf ihre Schultern. Sie drehte sich um und sah ihn mit feuchten Augen an. Er löste den Knoten der Schlinge in ihrem Nacken; dann hob er ihren Arm und löste den Verband. Langsam rollte er die Bandage auf, die er von ihrem Arm abwickelte. Die unterste Lage Verbandmull war von der Heilsalbe golden verfärbt. Langsam löste er sie von der Wunde. Dann stützte er ihren Arm und schaute ihn zusammen mit Irene an. Die Wunde war mit vier Stichen genäht, um die Ränder hatte sich eine blauviolette Kruste von getrocknetem Blut gebildet, die Jodtinktur hatte glänzende Flecken hinterlassen. Er hob den Arm an und senkte den Kopf, und als sie zu weinen begann, gab er ihr auf jeden der vier Stiche einen sanften Kuss.
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EINUNDDREISSIG Der Wind nahm zu und rüttelte an den Wellblechwänden; das Klappern hallte im kalten, dunklen Hangar wider. Rudy zog einen Schlitten mit seinen Habseligkeiten und Guy X hinter sich her. In der großen Halle standen keine Flugzeuge, nur ein Jeep ohne Räder. Auf dem Boden lag ein defektes Düsentriebwerk: eine riesige, verbeulte silberne Hülse. Im verlassenen Einsatzraum war es warm, denn die Gasheizung hatte seit dem letzten Flug heute Morgen gebrannt. Doch das Klappern der Wände ließ Rudy frösteln. Die Außentemperatur war auf 25 Grad unter null gesunken; die Kälte drängte herein. Rudy schleifte den Schlitten, den er zusammen mit Lavone aus einer Palette gezimmert hatte, bis in den Einsatzraum. Lavone hatte ihm die Geschirrgurte umgelegt und ihn an der Tür des Lagersektors verabschiedet. Als Abschiedsgeschenk 310
hatte er Rudy sogar sein einziges Plakat von The Thing in den Kleidersack gestopft. «Ich melde mich», hatte Rudy gesagt, auch wenn sie beide nicht recht daran glaubten. «Geht klar. Bin gespannt auf die Briefmarke.» Sie umarmten sich, und Rudy brach zum Hangar auf. Im Einsatzraum legte er Guy X auf ein altes Sofa neben die Heizung und öffnete den Mumienschlafsack ein wenig. Die Haut des Verwundeten sah noch fleckiger aus als sonst– sie fühlte sich immer noch heiß an, doch sein Blick war wacher geworden. Vielleicht hatten ihn die kalte Luft und die Bewegung aufgeweckt. «Wir werden ausgeflogen», sagte Rudy. «Wir sind im Einsatzraum und warten auf unser Flugzeug.» Guy X versuchte, sich die Lippen zu lecken. Er konnte nicht sprechen. Rudy zog die Flasche mit dem Schlauch aus dem Gepäck und tröpfelte ihm etwas Wasser in den Mund. Guy X nickte erleichtert und fragte: «Wohin?» «In Sicherheit», antwortete Rudy. «Es wird alles gut.» Er klopfte bekräftigend auf Guys Schlafsack. Rudy sah sich um. Hier schlugen die Piloten und Mannschaften ihre Zeit tot. An den Wänden hingen Pin‐ups und Wetterkarten neben alten Dienstplänen und Frachtlisten. An der Wand, die dem Hangareingang gegenüberlag, war ein großes Schild angebracht: WILLKOMMEN IN QANGATTARSA (INUKTITUT, ÜBERSETZUNG: «LASSET UNS HINAUFFLIEGEN!»)
Darunter hatte jemand gekritzelt: UND NIE WIEDER HERKOMMEN!
Guy X lag auf dem Sofa und atmete ruhig. Es war ungefähr siebzehn Uhr, noch fünf Stunden bis zum Abflug. Lavone 311
hatte gesagt, alles müsse blitzschnell gehen: Das Flugzeug lande eigentlich nur, um rasch Ladung aufzunehmen, um dann sofort weiterzufliegen–General Vords außerplan‐ mäßige Geschäfte mit dänischen Bergbauunternehmen seien im Flugplan gar nicht vorgesehen. Lavone hatte Kranken‐ transportpapiere für Guy X ausgestellt, es dürfte also keine Probleme geben. Rudy zog alle Jalousien herunter, knipste die Decken‐ beleuchtung aus und schaltete die Schreibtischlampe an. Das warme Licht schien bis zum Sofa, auf dem Guy X lag. Rudy nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben seinen Schützling. Er öffnete den Schlafsack und rückte den Kolos‐ tomiebeutel zurecht, damit Guy X es bequemer habe. «Wie fühlen Sie sich?» «Mir ist heiß.» Guy X grinste zahnlos, und Rudy war nicht sicher, ob er eine Grimasse zog oder Tapferkeit beweisen wollte. Aus den Falten des Daunenschlafsacks tauchte der Arm auf und griff nach Rudy mit derselben schlangenartigen Bewegung, die ihn vor ein paar Monaten so erschreckt hatte. Die Finger fassten ihn am Ärmel, tasteten sich nach unten und nahmen Rudys Hand. «Danke», sagte Guy X. «Schon in Ordnung», sagte Rudy und drückte die Hand fest. Guy X schüttelte den Kopf. «Ich werde es nicht schaffen», flüsterte er. «Sagen Sie nicht so was.» Guy X schüttelte noch einmal den Kopf und schloss das Auge. Er sammelte sich. Dann sah er Rudy wieder an. «Haben Sie den Whitman mitgebracht?», fragte er. Rudy stellte erschrocken fest, dass er das Buch vergessen hatte. Er suchte nach Worten. «Macht nichts. Ich singe den Leib, den elektrischen», flüsterte Guy X, der immer noch Rudys Hand hielt, sie drückte und 312
aufmunternd schüttelte. Er war es, der Rudy tröstete. «Ich habe einen Brief bekommen», sagte Rudy. Guy X begriff nicht sofort, aber als ihm klar wurde, was Rudy meinte, drehte er sich zu ihm um und sah ihn neugierig an. «Erzählen Sie», flüsterte er. «Sie hat geschrieben», sagte Rudy. «Sie erinnert sich an Sie.» Die Lüge kam ihm ganz von selbst über die Lippen. Guy X strahlte. «Sie möchte mehr von Ihnen wissen», sagte Rudy. «Sie hat geschrieben, obwohl in ihrem Leben seither sehr viel passiert ist, denkt sie immer noch gern an die Zeit mit Ihnen zurück. Sie schreibt, dass es ...» Rudys Phantasie stockte. «Was denn?», wollte Guy X wissen. Rudy wusste nicht, ob er weitermachen konnte. Er hoffte, dass Guy X den Brief nicht würde sehen wollen. «Dass es was?» «Sie schreibt, dass es wundervoll war.» «Weiter», sagte Guy X. «Viel mehr hat sie nicht geschrieben», sagte Rudy. Er sagte sich, dass diese Lüge den letzten Wunsch eines zum Tode Verurteilten erfüllte oder zumindest seiner Seele Frieden schenkte. Trotzdem fühlte er sich schwach. «Ist sie noch verheiratet?», fragte Guy X. «Nein», sagte Rudy. «Nicht mehr.» «Aha», sagte Guy X, und Rudy hatte den Verdacht, dass er Bescheid wusste, dass er den Brief nie würde sehen wollen, dass er keinen Beweis brauchte. «Sie möchte, dass ich ihr mehr erzähle», sagte Rudy. Das Klappern der Wellblechplatten schien ihm lauter als zuvor. «Über Sie.» «Vielleicht können Sie das ja eines Tages tun», sagte Guy X. Eine schrille Rückkopplung quietschte aus dem Laut‐ sprecher. 313
Rudy und Guy X schauten in die Richtung, aus der das Ge‐ räusch gekommen war. Lavones Stimme ertönte. «Achtung, eine Durchsage: Die Funker haben gerade Meldung bekommen, dass der Flug nicht eintreffen wird. Wetterprobleme. Wahrscheinlich auch in den nächsten beiden Tagen nicht. Weiß auch nicht, was jetzt das Beste ist. Auf jeden Fall in Deckung bleiben. Werde versuchen zu helfen. Ende.» Der Lautsprecher knackte und ging aus. Guy X hielt immer noch Rudys Hand, doch jetzt lockerte sich sein Griff. Er schloss das Auge, zog sich in sich zurück. Rudy schob den erschlafften Arm vorsichtig zurück in den Schlafsack. Guy X atmete flach und schnell, aber regelmäßig. Er war eingeschlafen. Rudy lehnte sich zurück. Kein Flug in den nächsten Tagen. Er suchte nach einem Ausweg. Lavone würde helfen. Viel‐ leicht sogar Irene. Müdigkeit übermannte Rudy. Er hatte den Eindruck, alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben, und war mit seinem Latein am Ende. Eine Sackgasse. Er schloss die Augen und lauschte dem Sturm. Als die Tür aufgerissen wurde, schreckte er aus dem Schlaf. Vor dem Schein der Wachbeleuchtung zeichnete sich die Silhouette eines Mannes mit einem Maschinengewehr ab. Er war groß, trug die volle arktische Montur, die Kapuze festgezurrt, und Rudy hatte das Gefühl, in den Film The Thing hineingeraten zu sein. Rudy blieb sitzen und sagte: «Sie waren lange weg, Sir.» Der Colonel kam herein, trat die Tür hinter sich zu und knipste das Licht an. Seine Stimme klang wie ein Knurren. «Aber nicht vergessen, oder?» Er zerrte die Kapuze seines Parkas zurück. Rudy behielt die Waffe im Blick. Der Colonel wirkte erhitzt und atemlos, als sei er eine weite Strecke gerannt. Seine Augen zuckten hin und her. «Nein, Sir», sagte Rudy. «Bestimmt nicht vergessen.» 314
Der Colonel reckte den Hals, um das Bündel auf dem Sofa zu erkennen. Er ging hin und schob mit dem Gewehrlauf den Schlafsack von Guy Xʹ Gesicht herunter. Rudy drehte sich langsam um und sah, dass Guy X den Colonel ausdruckslos anstarrte. Woolwrap trat einen Schritt zurück. «Davon will ich lieber gar nichts wissen, Corporal», sagte er leise. Rudy richtete sich in seinem Stuhl auf. «Wo sind Sie gewesen, Sir?», fragte er. «Meistens da draußen.» Der Colonel deutete mit dem Gewehr zur Tür. «Ich habe mich sozusagen von der Truppe abgesetzt. Sie haben vielleicht schon gehört, dass man mir das Kommando entzogen hat?» «Ja, Sir.» «Wer hat es Ihnen erzählt?», fragte Woolwrap. Dann sagte er wie zu sich selbst: «Als ob ich das nicht wüsste.» Rudy antwortete nicht. Der Colonel schien sich beruhigt zu haben, aber er hatte immer noch das M‐1‐Maschinengewehr in der Hand, dessen Lauf er jetzt schulterte. Er sah aus wie ein Büffeljäger, der Spuren zu lesen versucht. «Militärisch bin ich am Arsch. Verstehen Sie, Corporal?» «Mir ist klar, dass es für Sie nicht besonders gut aussieht, Sir.» Der Colonel lachte. «Für uns beide nicht, Kumpel.» Er zeigte auf Guy X, der sie schweigend, aber mit aufgerissenem Auge beobachtet hatte. «Was hat das zu bedeuten, Corporal?», fragte Woolwrap. «Ich nehme alles zurück: ich will es doch wissen.» «Wir verschwinden von hier, Sir.» «Interessanter Plan. Wohin?» «Keine Ahnung, Sir. Aber ich werde diesem Mann helfen.» Woolwrap ging zum Sofa und kniete vor Guy X nieder. «Hallo, Soldat», sagte er. Guy X sah ihn einfach nur an. 315
Der Colonel beugte sich weiter zu ihm herunter und sprach leise. «Was soll ich sagen, Soldat? Ihre Chancen, mit dem Corporal hier rauszukommen, sind gleich null. Und für Sie gibt es kein Zurück. Für mich auch nicht. Für den Corporal hier vielleicht, weiß ich nicht. Aber er hat sich unerlaubt von der Truppe entfernt. Ich übrigens auch. Und Sie, Soldat, Sie sind vermisst, wahrscheinlich gefallen. Dumm gelaufen.» Der Colonel rieb die Hände aneinander; er sah aus wie ein Bittsteller, der vor Guy X kniete. Das Gewehr lag auf dem Boden. Rudy überlegte, ob er sich die Waffe mit einer schnellen Bewegung schnappen könnte. Aber er wusste nicht, was er dann damit anstellen sollte. «Wie heißen Sie, Soldat?», fragte Woolwrap. Guy X antwortete nicht, der Colonel wiederholte seine Frage. «Das wird er Ihnen nicht sagen», flüsterte Rudy. «Er hat es noch niemandem erzählt.» Der Colonel sah Rudy an, dann wieder Guy X. «Gut für ihn», sagte er. Dann beugte er sich wieder zu Guy X hinunter. «Ich habe für Sie und die anderen getan, was ich konnte», sagte er. «Wollen Sie mir das glauben? Das war nicht Ihre Army oder Ihr Land, sondern ich.» Er stand auf und sah in Richtung Fenster. «Wenn sich doch nur jemand daran erinnern würde, verdammt.» Rudy sah die Tränen in Guys Auge und auf seiner Wange, schaute den Colonel an und fühlte sich überflüssig. Guy X schloss das Auge, aus dem immer noch Tränen sickerten. Der Colonel schaute ihn an und salutierte, hielt die Hand mehrere Sekunden lang an die Schläfe und zog sie dann militärisch zackig wieder weg. Er drehte sich um, nahm das Gewehr und sah Rudy an. «Ich möchte, dass Sie mir helfen, Corporal», sagte er. «Machen Sie Ihre Jacke zu.» Er machte die Tür auf, die Gum‐ midichtung am Türrahmen ploppte laut, und ein Windstoß 316
blies Schnee herein. «Und was ist mit ihm?» Rudy versuchte, den Sturm zu übertönen. «Wir sind gleich wieder da», sagte der Colonel. «Ich muss nur rasch was erledigen.» Rudy beugte sich über Guy X und packte ihn sicher in den Schlafsack ein. Der schmale Körper zitterte wie in einem Krampf, aber das Auge war weit aufgerissen, und Guy X war hellwach. «Sie haben genug getan», sagte er. «Was?» «Genug ist genug.» Guy X drehte sein Gesicht zum Sofakissen. «Was?», fragte Rudy noch einmal. Doch Guy X schaute ihn nicht mehr an. «Corporal», rief der Colonel und klopfte mit dem Gewehr‐ lauf gegen den Türrahmen. Rudy richtete sich auf und ging zur Tür. Er sah sich noch einmal nach Guy X um, dessen Atem schneller ging als gewöhnlich. «Beeilen wir uns», sagte Rudy an der Tür. «Er sollte nicht lange allein bleiben.» Der Colonel deutete mit dem Gewehr an dem Gebäude ent‐ lang nach Osten und stapfte los. Rudy kämpfte mit der Tür, die sich nicht schließen ließ, weil schon Schnee hineingeweht war. Er stemmte sich mit dem Fuß gegen den Rahmen und zerrte an der Klinke. «Corporal!», rief der Colonel durch den Schneesturm. Ein letztes Mal riss Rudy an der Tür, und sie blieb zu. «Bleiben Sie dicht an der Wand», rief Woolwrap. Schnee wehte in Rudys Kapuze und rieselte in seinen Nacken. Er erschauerte. «Was machen wir eigentlich?» «Hier rein.» Der Colonel öffnete den Riegel einer Schiebe‐ tür. Sie waren beim Pferdestall. 317
Drinnen stank es nach vergammeltem, uringetränktem Heu. Der Gasheizer brummte leise, und Rudy trat instinktiv darauf zu. In der Ecke stand ein Feldbett mit einer Über‐ decke, daneben lagen einige leere Dosen und Päckchen aus Feldrationen. «Nein», sagte der Colonel. «Hier rüber.» Er öffnete die Tür zu einer Box. Das Tier war kaum noch als Pferd zu erkennen. Abge‐ magert bis auf die Knochen, die Augen trüb, die Beine wacklig, scheute es sofort zurück, als Woolwrap und Rudy in die Box traten. Der Futtertrog war leer. Dreißig oder vierzig leere Cornflakes‐Packungen lagen zerknüllt in der Ecke. «Ich hatte kein anderes Futter mehr, nachdem Vord meine Heu‐ und Haferversorgung abgeschnitten hatte», sagte Woolwrap. «Und das hier ist ihm nicht bekommen. Und irgendwann war auch davon nichts mehr da.» Er trat gegen eine leere Schachtel. Das Tier stieß eine Art leises Grunzen aus, das mit einem Keuchen endete. Der Colonel zog einen Army‐Schal aus der Parkatasche und verband dem Pferd, das zu schwach war, sich zur Wehr zu setzen, vorsichtig die Augen. Woolwrap gab Rudy das Gewehr und flüsterte dem Tier etwas ins Ohr. Dann führte er es zur Tür und beruhigte es, als es zitternd vor dem kalten Luftzug zurückwich. Mit ein paar weiteren Worten brachte er es nach draußen. Sie stapften durch den Schnee, Woolwrap mit dem Pferd vorneweg, Rudy mit dem Gewehr hinterher. Zweimal, als der Wind um die Ecke des Hangars blies, fiel das geschwächte Tier beinahe um. Sie traten aus dem Schein der Wachbeleuchtung. Rudy sah nur noch waagerecht treibende Schneemassen. Dahinter lagen im Dunkein die Berge und die Eiskappe Grönlands. Hinter ihnen klapperte das Dach des Hangars, und der Wind heulte in Rudys Kapuze. 318
Ungefähr hundert Meter vom Gebäude entfernt brach das Pferd zusammen. Es fiel steif zur Seite wie ein Reiter‐enkmal, das von unsichtbaren Vandalen gestürzt wird. Sofort wehte Schnee auf seine Flanke, und als es den verbundenen Kopf heben wollte, konnte der Körper seinem Willen nicht mehr folgen. «Scheiße», sagte der Colonel. «Das warʹs. Kommen Sie her. Halten Sie es direkt an seinen Kopf. In der Kammer steckt eine Patrone. Bringen wirʹs zu Ende.» Der Colonel kniete sich hin, tätschelte dem Pferd den Hals und sprach ein paar beruhigende Worte. Auf seinen Augen‐ rauen und Wimpern hatte sich Schnee gesammelt. Rudy hörte nicht, was er sagte, aber einen Moment später schaute der Colonel auf und sagte: «Na los. Machen Sieʹs kurz.» Rudy trat um das Pferd herum. Von den Lichtern des Lazaretts sah man durch den Sturm nur noch entfernte, grau verschwommene Flecken. Er zog den rechten Fäustling aus, behielt aber den wollenen Unterhandschuh an, damit sein Finger nicht am Abzug festfror. Sofort spürte er die Kälte an der Hand. Er musste sich beeilen. Er hob das Gewehr an die Wange, und der hölzerne Kolben kribbelte kalt an seinem G esicht. Er könnte den Colonel erschießen, dachte er. Das Pferd würde ohnehin sterben, war vielleicht schon tot. Rudy konnte dem verdammten Drecksack eine Kugel in den Kopfjagen. Doch stattdessen erschoss er das Pferd. Das Tier zuckte nicht einmal. Rudy betrachtete den Schnee, der den Kadaver zudeckte, und fragte sich dumpf, was er gerade getan hatte. Der Colonel nahm ihm das Gewehr ab und zeigte in Richtung Hangar. Sie machten sich auf den Rückweg. «Das war ihr Pferd», sagte der Colonel. «Als ob ich das nicht wüsste», murmelte Rudy. Seine Denkfähigkeit ging im eintönigen Grau der Welt langsam verloren. Seine Gedanken verwandelten sich in wirbelnde Schneeflocken, die eine Orientierung unmöglich machten. 319
Innen und Außen begannen zu verschmelzen. Nachdem sie sich ungefähr fünfzig Meter durch den Schnee geschleppt hatten, sah Rudy ein schwaches Licht, das den weißgrauen Wirbel durchbrach. Das Licht fiel aus der Tür des Einsatzraums, und das durfte nicht sein. Die Tür hätte geschlossen sein müssen. Rudy versuchte zu rennen. Er ruderte hilflos mit den Armen, während er sich durch die Schneewehen quälte. Der Sturm peitschte ihm den Schnee ins Gesicht, die Flocken stachen Rudy in die Augen. Als er endlich näher kam, sah er die Tür schlagen. Ein verschwommenes gelbes Leuchten drang aus dem Raum, in den bereits eine Schneezunge ragte. Der Sturm hatte die Tür aufgeweht. Rudy blieb auf der Schwelle stehen und musste sich mit beiden Händen am Türrahmen abstützen. Vor ihm auf dem Boden lag Guy X. Er hatte sich aus dem Schlafsack geschält, vom Sofa gerollt und war dann mit seinem einen Arm zur Tür gerobbt. Er war nackt, und seine Haut war blau. Mit den Schläuchen und Beuteln, die er hinter sich hergeschleift hatte, sah er aus wie ein gestrandeter Krake. Er hatte es bis zum Schneedreieck am Eingang geschafft, hatte sich auf den Rücken gerollt, um in den Sturm hinausschauen zu können, und war gestorben.
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ZWEIUNDDREISSIG «Decken Sie ihn zu.» «Er ist tot», sagte Rudy. Die Nacktheit des Toten erfüllte ihn mit Erstaunen, die großen blau gefrorenen Genitalien, auf denen schon Schneeflocken lagen. Der Leichnam sah wie ein glatter, blauer Edelstein aus, der auf ein weißes Tuch gebettet war. Das Auge stand of‐fen; der Schnee fiel direkt auf den Augapfel. «Er wollte nicht verbrannt werden», sagte Rudy. «Wir müssen ihn begraben.» Der Colonel sagte nichts, also bückte Rudy sich und löste vorsichtig die Schläuche, wie Philly es ihm gezeigt hatte. Er nahm eine Armeedecke vom Sofa, wickelte Guy X hinein und hob ihn hoch. Rudy ging auf die Tür zu, aber der Colonel hielt ihn auf. 321
«Nicht durch die Tür», sagte er. Mit dem Gewehrkolben schlug er die Fensterscheibe ein. «Ich reiche ihn raus. So kann sein Geist aufsteigen.» «Qangattarsa», sagte Rudy. «Amen», antwortete der Colonel. Nachdem er Rudy den Leichnam durchs Fenster gereicht hatte, ging der Colonel zum Sicherungskasten an der gegenüberliegenden Wand und legte einen großen Schalter um. An der Piste erstrahlten die blauen Landelichter, zwei parallele Linien, die sich über eine halbe Meile erstreckten. Rudy betrachtete die leuchtende Allee einen Moment lang und wandte sich dann nach Norden, zum Wikingerhof, wo die Toten bestattet wurden. Wortlos schloss sich ihm der Colonel an, und die beiden kämpften sich Seite an Seite durch den Schnee. Im Schneesturm verbreitete die Landebeleuchtung ein unwirk‐liches Zwielicht. Rudy hatte das Gefühl, in einer riesigen blauen Halle zu stehen. Schnee wirbelte in alle Richtungen, manchmal kamen die Flocken direkt von oben, manchmal schienen sie aber auch wie aufgeschreckte Vögel vom Boden aufzustieben. Rudys Arme und Finger wurden taub vor Kälte. Seinen Beinen und Füßen ging es noch besser, weil er sie bewegte, doch die Arme, mit denen er den Leichnam hielt, schienen schon steif gefroren. Er wusste, er konnte den Colonel bitten, ihm die Last abzunehmen, aber er wollte Guy X nicht loslassen. «Corporal.» Woolwrap schrie gegen den Sturm an. «Ich wünschte, ich könnte irgendetwas sagen.» «Brauchen Sie nicht, Sir», rief Rudy zurück. «Man könnte das hier einen Schlamassel ersten Ranges nennen. Bei solchen Wetterbedingungen hier draußen herumzulaufen.» «Könnte man, Sir.» «Würde ich aber nicht.» 322
«Ich auch nicht, Sir.» «Wissen Sie, was Sie tun?», fragte Woolwrap. «Bis zu einem gewissen Grad», antwortete Rudy. Er blickte bis zum Ende der zusammenlaufenden Lichter‐ reihen. Sie liefen aufeinander zu, trafen sich aber nicht. Der Schnee wehte um die Lampen, von denen einige schon zugedeckt waren: glimmende kobaltblaue Kreise. Die Lichter des Lazaretts oder des Einsatzraumes waren nicht mehr zu sehen, nur noch die versinkenden Landelichter. Der Schnee reichte ihm jetzt bis zur Hüfte. «Ich weiß, was ich tue», sagte der Colonel so ruhig und ausdruckslos, dass Rudy an Genteen denken musste, der ihn mit der Pistole bedroht und dabei ähnlich geklungen hatte. Rudy erschrak, und als er zu Woolwrap hinübersah, rechnete er damit, in die Mündung des M‐l zu blicken. Doch der Colonel stapfte weiter mit zusammengekniffenen Augen durch den Sturm. Sie mussten die Landebahn längst hinter sich gelassen haben, denn die blauen Lichter waren nicht mehr zu sehen. Dennoch warf der Schnee einen gewissen Widerschein zurück, womöglich vom Mond und von den Sternen, die hoch über dem Sturm schienen, oder vom Licht des Lazaretts, das auf allerlei Umwegen reflektiert und durch Millionen Eiskristalle gebrochen bis hierher drang. Rudy rutschte aus und packte Guy X fester. Der Boden wurde abschüssig, wahrscheinlich die Böschung am Ende der Landebahn. Rudy sah, dass der Colonel den direkten Weg verließ. Er schritt aufrecht durch den Schnee– vielleicht hatte er versteckte Reserven mobilisiert, um militärische Haltung zu bewahren. Er verschwand im Gestöber. «Sir!», rief Rudy, doch seine Stimme klang dünn und gedämpft. Er bekam keine Antwort. «Colonel! Sir! He! Lane!» Nichts. Der Schnee fiel noch dichter, das wenige Licht schien noch etwas schwächer zu werden. Rudy hielt Ausschau nach Spuren und hatte dabei das 323
Gefühl, einen Bogen nach rechts zu laufen. Vielleicht lief er im Kreis; das war typisch für Verirrte, die in Panik gerieten. Hatte Rudy irgendwo gelesen. Er überlegte, wo er das wohl herhatte. Vielleicht aus einem Comic. Auch seine Gedanken wanderten schon im Kreis. Seine Schultern schmerzten, deshalb nahm er Guy X unter den Arm wie eine Aktentasche. Er schrie noch einmal und bekam wieder keine Antwort. Er schleppte sich weiter. Der Schuss kam von links. Der Knall wurde durch Sturm und Schnee gedämpft, aber Rudy wusste, dass das M‐1 abgefeuert worden war. Er schrie wieder in den Wind; dann kam ihm der Gedanke, dass der Colonel auf ihn geschossen haben könnte. Er biss sich auf die Lippen und duckte sich, wobei er Guy X fest an die Brust presste. Der Sturm wütete weiter, und es hatte überhaupt keinen Sinn, nach weiteren Geräuschen zu lauschen. Aus allen Richtungen prasselten die eisigen Kristalle auf ihn ein. Rudy wartete auf einen zweiten Schuss, doch nichts geschah. Inmitten des heulenden Sturms schien sich eine tiefe Stille auszubreiten. Rudy begriff, dass der Colonel tot war. Es würde kein weiterer Schuss fallen. Der Colonel war im Kreis gelaufen und dann zur Seite abgebogen, um Rudy abzuschütteln und ungestört das Gewehr auf sich selbst richten zu können. Jetzt war Rudy allein. Allein unter Toten. Das war weit mehr als ein Schlamassel, obwohl seine missliche Lage auch etwas von Bestimmung, Schicksal und Pflicht hatte. Wir sind immer noch da, weil wir da sind, und weil wir da sind, sind wir noch da ... Und tief im Herzen wollte er auch hier sein, fern jeder Hilfe, ohne die Möglichkeit umzukehren, ohne jede Fessel, erfüllt von dem erhebenden Gefühl der Befreiung, das ihn plötzlich durchströmte. Vielleicht war er übergeschnappt, aber er fühlte sich rein. Er hielt Guy X in den Armen und sah 324
zum Himmel auf. Er vermutete, hinter der Landebahn zu stehen, und daraus schloss er, wo sich die Feuerwache befinden müsste. Wenn er sich ungefähr fünfundvierzig Grad westlich davon hielt, würde er auf den Wikingerhof stoßen. Dort wollte er Guy X niederlegen. Er ging weiter. Den Leichnam des Colonel entdeckte er nicht. Ebenso wenig die Feuerwache. Er hätte direkt auf die Ruinen der Hofstelle stoßen müssen. Irgendwann kam ihm der Gedanke, stehen zu bleiben, aufzugeben. Er könnte sich einfach hin‐ legen und schlafen, sich neben Guy X legen und schlafen. Guy X und Rudy X. Waffenbrüder. Minutenlang blieb sein Kopf gedankenleer, vielleicht sogar stundenlang, während er immer weiterging. Er spürte seine Gliedmaßen nicht mehr: das Heben und Senken der Knie, das Brennen der Muskeln und Gelenke kam ihm vor wie Wellen und Strömung, die ihn davontrugen. Er strauchelte. Er konnte nicht am Wikingerhof sein, denn vor ihm lag keine Mauer, sondern ein Hang, und bei den Ruinen gab es keine Anhöhe. Ein Hang – der Gedanke gefiel ihm. Ein Anstieg, eine Herausforderung. Er schob sich weiter, und bald stieß er auf eine mächtige Wand, die vor ihm in den Himmel ragte. Rudy betastete sie mit seinem Fausthandschuh: Eis. Er hatte den Gletscher erreicht. Unvermittelt wurde ihm seine Lage bewusst. Er begriff, wie weit er sich vom Lazarett entfernt hatte, und sah sich selbst vor dieser Eiswand stehen, ein Zwerg vor einem Titanen. Er rieb über die gefrorene Oberfläche, die der Wind so glatt wie Porzellan geschliffen hatte. Rudy vermutete, dass die Gletscherzunge mindestens dreißig Meter über ihm aufragte. Er stand im Bett eines Flusses, der von der grönländischen Eiskappe herabfloss und vor ihm zu einer gigantischen Mauer gefroren war. 325
Er legte Guy X nieder, lehnte sich gegen den Gletscher und betrachtete das Eis. Wenn der Gletscher sich aus zahllosen Lagen Schnee gebildet hatte und er vor der untersten Schicht stand, dann blickte er jetzt in die Vergangenheit. Er stellte sich Gegenstände und Geheimnisse vor, eingeschlossen in einem kristallklaren Grab: der Gletscher seiner Phantasie, der die gefrorenen Pendel und Erinnerungen barg. Aber die Wirklichkeit sah anders aus. Hier war der Beweis: die Zeit war ausdruckslos und kalt, riesig und undurch‐ sichtig. Sie wog so schwer, dass sie Stein zermalmte. Rudys Blick fiel auf die Armeedecke zu seinen Füßen. Hier sollte Guy X seine letzte Ruhe finden. Der Gletscher würde ihn auf seinem Weg ins Tal verschlingen. Seine Knochen würden zermahlen werden und im Weiß des Gletschers verschwinden. Und Rudy selber ebenso. Er hatte es geahnt, und jetzt wurde es ihm klar: Auch für ihn gab es kein Zurück. Er starrte auf Guy X hinab, der zu verschwinden schien. Der Schnee deckte alles zu. Die Eiswand summte im Sturm. Rudy lauschte und hörte zuerst die Stimme seiner Mutter, dann die seines Vaters. So friedlich. Dann hallte der Schuss vom Gletscher wider, den der Colonel abgefeuert hatte. Das Zischeln der Männer im Flügel. Auch Guy X stimmte ein und krächzte: Genuß ist genug. Genug ist genug. Rudy sank auf die Knie. Er war müde. Der Schnee deckte alles zu. Er wurde schläfrig. Dann hörte er Irenes Stimme und spürte ihre Hand. Sie war nicht im Eis eingeschlossen wie alle anderen. Er spürte, dass sie auf ihn herabsah wie vom Rand der Welt. Er kämpfte sich hoch. Er musste sie finden. Jetzt wusste er, wonach er in all den Häusern gesucht hatte, in die er eingebrochen war: nach ihr. Er stolperte voran. Er musste zu ihr, so einfach war das. Er musste bei ihr sein, auch wenn er in ihren Armen sterben 326
sollte. Er rief ihren Namen. Nur ein Flüstern. Oder ein ohrenbetäubender Schrei. Das konnte er nicht mehr unterscheiden, aber er rief weiter. Irene. Irene. Er stolperte an der Gletscherwand entlang, stieß mit der linken Schulter dagegen, fuhr mit der Hand über das Eis. Er hatte gedacht, seine Füße und Finger würden schmer‐ zen, doch irgendwann fiel ihm auf, dass er sie nicht mehr spürte. Alles taub. Eigentlich beunruhigend, aber er kicherte. Wo war das Problem? Als er plötzlich ein Flackern wahrnahm, wunderte er sich, denn er dachte, die Augen seien ihm längst zugefallen. Dann vernahm er ein neues Geräusch, das sich zu seinen Schreien, zum Brausen des Sturms, zum Summen des Gletschers gesellte. Ein rumpelndes Brummen. Rudy wandte sich um und sah jenseits des Hangs einen Lichtkreis, der immer heller wurde. Tausende von Schneeflocken hoben sich dunkel davor ab. Irgendetwas würde geschehen, sagte sich Rudy und war gleichzeitig erfüllt von Freude über die nahende Rettung und Ärger über den Einbruch in seine Einsamkeit. Zwei Scheinwerfer und ein dröhnender Motor: eine Schneeraupe sprang über den Hügelkamm. Rudy starrte das Fahrzeug fasziniert an. Kabel, Taue und Pfosten hingen an der Karosserie oder schleiften hinterher, wie bei einem mehrfach getroffenen Wal, der mit Harpunen im Rücken durch die Wasseroberfläche bricht; offenbar war der Fahrer quer durch die Sicherheitsleinen des Stützpunktes gerast. Schnee stob von den Ketten. Die Raupe fuhr direkt auf ihn zu. Rudy warf sich zur Seite. Das Fahrzeug schlingerte, als der Fahrer das Lenkrad herumriss. Rudy beschirmte die Augen vor den blendenden Scheinwerfern und versuchte zu erken‐ nen, wer in der Kabine saß. Der Fahrer war bleich, fast so weiß wie der Gletscher selbst, 327
und Rudy ging auf, dass es sich um den Kaplan handeln musste. Rudy winkte und rannte auf die Schneeraupe zu, die sich den steilen Hang zum Gletscher hinaufwühlte. Er konnte die kleine Eskimofigur erkennen, die wild an ihrer Kette sprang und gegen die Windschutzscheibe schlug. Der Kaplan sah beunruhigt aus. Er riss das Lenkrad herum, kurz bevor die Schneeraupe schräg gegen die Gletscherwand krachte. Das Gefährt schleuderte, und der Kaplan begann zu schreien, als es seitwärts den Hang hinabglitt, auf Rudy zu. Rudy stolperte und richtete sich wieder auf. Das Motor‐ geräusch kam näher, dazu das Klappern und Kreischen der durchdrehenden Ketten. Die Schneeraupe fuhr immer noch vorwärts, rutschte aber gleichzeitig diagonal den Hang hinunter. Der Kaplan hatte die Kontrolle verloren und entfernte sich wieder von Rudy. Das Fahrzeug glitt mit überraschender Eleganz den Hang hinab und schleuderte im hohen Bogen Schnee in die Luft. Rudy stapfte und ruderte in Richtung seines Retters, doch das war so sinnlos wie der Versuch, sich in starker Brandung aufrecht zu halten. Schließlich konnte er nur weiterkriechen, weil Hände und Füße ihm nicht mehr gehorchten. Doch es war vergebens. Das Motorengeräusch war verstummt. Die Schneeraupe war fort. Verschwunden. Minutenlang, vielleicht stundenlang kroch Rudy weiter wie ein Tier, bis er zusammenbrach. Er überlegte, ob er sich mit Schnee bedecken sollte. Wie der Colonel es auf seine Weise getan hatte. Und Guy X auch. Doch ihm fehlte die Kraft. Er wollte schlafen. Wieder hörte er den Motor. Aber nein. Es war nur das Geräusch seiner eigenen Stimme. «Irene», murmelte er. Er drückte sein Gesicht ins ewige Weiß und spürte keinen Schmerz.
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DREIUNDDREISSIG Der Pilot meldete sich über Lautsprecher. Ein Sturmtief in westlicher Richtung erfordere eine kleine Kursänderung, sodass sie über Cape Cod fliegen müssten. Unter den Passagieren erhob sich Gemurmel. In der DC‐6 saßen ungefähr dreißig Männer, die meisten von der Air Force, dazu zwei Matrosen von einem U‐Boot‐Stützpunkt in Schottland, ein Gardist von der Botschaft in London und drei oder vier Armeesoldaten wie er. Rudy Spruance hatte keine Lust, mit irgendwem zu reden. Er hatte einen Fensterplatz ergattert, seinen Kleidersack in den Gang gelest, wo er auch seine Krücken angelehnt hatte. Er hatte die san‐ze Reihe für sich allein. Die Krücken waren silbern und ließen sich mit Metall‐ 330
schlaufen an den Unterarmen befestigen; dasselbe Modell wie für die Opfer von Kinderlähmung. Die Ärzte im Lazarett in Bishop Williams hatten gesagt, dass er zuerst mit diesen Gehhilfen zurechtkommen müsse, dann werde irgendwann ein Stock reichen. Bis er mit einem orthopädischen Spezial‐ schuh ganz ohne Stütze laufen könne, werde es noch dauern, aber eines Tages sei er ganz sicher so weit. Rudy lockerte die Krawatte. Obwohl offiziell schon Zivilist, trug er noch Uniform. Für die Flüge von England zur Basis in Pease, zum Stützpunkt McGuire und schließlich nach Oakland musste er seine Ausgehuniform anziehen. Er war auf dem Weg zum Pazifik. Das Erste, woran er sich nach seiner Rettung erinnerte, war der Anblick des General, der sich über ihn beugte. Wann wird es wehtun?, wollte Rudy wissen, aber das konnte er nicht fragen. Niemand hörte ihn. Jemand hatte ihm erzählt, er würde sich kratzen wollen ... nein, das war später. Der General hatte sich also über ihn gebeugt, und als Rudys Blick sich langsam scharf stellte, hatte er eine Tiffanylampe erkannt. «Wissen Sie, wo Sie sind?», hatte der Major General gefragt. «Natürlich weiß ich das, Sie Arschloch.» Rudys erste Worte. Danach wurde er wieder bewusstlos. Der Kaplan hatte Rudy gerettet. Als er später wieder zu sich kam, hatte Lavone ihm die ganze Geschichte erzählt: Der Kaplan war noch einmal umgekehrt und hatte Rudy wie durch ein Wunder gefunden, ohne ihn zu überrollen. Er hatte ihn in die Schneeraupe gehievt und zum Lazarett hinuntergefahren. Während Lavone das erzählte, schaute er sich im Flügel um– er hatte ihn zum ersten Mal betreten. Rudy lag allein zwischen lauter leeren Betten. Als er wieder bei vollem Bewusstsein war, setzten die Schmerzen ein, wes‐ halb Lavone ihm mit einer kleinen zusätzlichen Dosis Morphium aushalf. Daher war Rudy schon wieder 331
weggetreten, bevor Lavone ihm die schlechten Nachrichten vermelden konnte. Das übernahm dann der General, als er das nächste Mal hereinschaute. «Sie werden bald verlegt», hatte er gesagt. «Für den letzten Transport bekommen wir eine C‐124 Globemaster mit Landekufen. Damit bringe ich Sie nach England. Zum Luftwaffenlazarett in Bishop Williams.» «Und warum nicht nach Hause?» «Weil noch ein bisschen an Ihnen herumgeschnitzt werden muss. Ich kenne da einen britischen Arzt, der Beste seines Fachs, genau der Richtige für Sie. Außerdem brauchen Sie noch ein bisschen Zeit. Ihre Akte können wir total abschreiben. Wir basteln Ihnen eine neue, dann kriegen Sie keine Probleme. Und danach sind Sie ein freier Mann.» «Klingt ja nett.» «Ist es aber nicht. Hören Sie zu und reißen Sie sich am Riemen.» Der General zog sich einen Stuhl ans Bett und erzählte ihm von den Amputationen, von denen Rudy noch nichts wusste. Der größte Teil seines rechten Fußes, die meisten Finger der linken Hand: Erfrierungen. «Und darum schicke ich Sie nach England. Die beste Reha und Prothesen der Spitzenklasse. Für den Fall, dass Sie welche brauchen. Bester Stahl aus Sheffield.» «Ich habe keinen Fuß mehr?», fragte Rudy. «Doch, einen haben Sie noch», sagte der General. «Und einen halben. Ich habe weiter nördlich einen dänischen Arzt aufgetrieben, der den Eingeborenen die Hasenscharten operiert, und habe ihn einfliegen lassen. Er hat getan, was er konnte.» «Wo ist die Adjutantin des Colonel?» Rudy wusste, dass er erst einmal die Mitteilungen des Major General verarbeiten sollte, aber es kam ihm vor, als würde er dabei gegen eine glatte Wand rennen–wie draußen am Gletscher. Also fragte er nach Irene. 332
«Machen Sie sich darüber keine Gedanken», sagte der General. «Ruhen Sie sich aus.» «Wo ist sie?» «Versetzt», antwortete Vord. «Alle, die hier stationiert waren, wurden auf verschiedene Stützpunkte verteilt. Ist besser für alle Beteiligten. Haben Sie verstanden, was ich Ihnen gerade gesagt habe?» Rudy stützte sich auf die Ellbogen. Ihm fiel jetzt zum ersten Mal auf, dass sein linker Unterarm von der Hand bis zum Bizeps verbunden war. Mit der Rechten versuchte er, die Bettdecke zurückzuschlagen, um einen Blick auf seine Beine zu werfen. Der General half ihm. Sein linkes Bein war in Ordnung. Der Fuß ein wenig geschwollen, leichte Blutergüsse. Er konnte ihn bewegen. Sein rechter Fuß jedoch sah kurz und stumpf aus, wie ein kleiner Schmiedehammer. Rudy ließ sich aufs Kissen zurückfallen. «Sie haben mich hier reingebracht, Sie Arschloch», sagte er. «Ich habe Ihnen das Leben gerettet», entgegnete der General. «Sie haben alle Patienten in diesem Flügel umgebracht.» «Wir haben sie verlegt. Sofern wir anderswo Plätze für sie hatten.» «Sie haben die Fenster aufgemacht. Sie haben alle umge‐ bracht, und jetzt legen Sie mich hier rein.» «Darin liegt in der Tat eine gewisse Ironie.» Jetzt spürte Rudy die Schmerzen. Sie fuhren durch seine Glieder und nagten an ihnen. Ein Schrei stieg in seiner Kehle auf, den er nicht aufhalten konnte und wollte. Er durfte nur nicht zu hören sein. Also ließ er einen stummen Schrei über seine Lippen dringen, über die leeren Betten hinter dem General herfliegen, der zur Tür ging. Im Flugzeug war Rudy so in Träumen versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie sich die weißen Kumuluswolken am westlichen Horizont in eine Gewitterfront verwandelten. 333
Blitze flogen zwischen den Wolkentürmen hin und her wie Seile, die über Abgründe geworfen werden. «In Kürze überfliegen wir Cape Cod», kündigte der Pilot an. «An Backbord sehen Sie die Turbulenzen, denen wir aus‐ weichen.» Die Maschine korrigierte den Kurs mit einer leichten Kurve, und Rudy sah das geschwungene Kap wie einen ausgestreckten Arm unter sich liegen. Dort unten war Hochsommer, und nach den Monaten in Grönland und Wochen in England sehnte Rudy die Hitze herbei. Langsam kehrte sein Zeitgefühl zurück, und er begann, die Sonne zu vermissen. Zum Glück war er auf dem Weg nach Kalifor‐ nien, zum Pazifik. In Bishop Williams war er aus der Armee entlassen worden. Ein amerikanischer Sergeant war aus London angereist, Rudy hatte mit ihm auf einer Bank im Garten des Hospitals gesessen. Laut seiner Papiere hatte Rudy fast ein Jahr Dienst auf einer Wetterstation in Schottland getan. Die Amputationen waren die Folge eines Bootsunfalls. Unglaub‐ lich. Rudy unterschrieb einfach. Der Sergeant ließ sich nicht anmerken, dass es sich um ein Täuschungsmanöver han‐ delte. Vielleicht wusste er es auch gar nicht. Er lächelte, bot Rudy seinen Stift an und hielt ihm den Aktenkoffer als Schreibunterlage hin. Als alles erledigt war, ließ der Sergeant den Koffer mit einem vernehmlichen Klicken zuschnappen, stand auf und reichte Rudy die Hand. Am Zaun schnitt eine britische Armeekrankenschwester Teerosen. Der Sergeant stellte sich zu ihr und versuchte, mit ihr zu flirten. Während die beiden miteinander redeten, zog Rudy ein kleines Päckchen aus der Tasche seines Bademantels, das sich unter seinen Sachen befunden hatte. Er war erst in Bishop Williams dar‐ aufgestoßen und hatte es meistens versteckt gehalten; er öffnete es nur, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Darin befand sich die in Papiere gewickelte kleine Eskimo‐ 334
figur. Der Sergeant und die Schwester scherzten und lachten an der Rosenhecke, und Rudy hielt die kleine Statue in der linken, der verletzten Hand. Er versuchte sie mit den Fingern zu ertasten wie früher, aber das fiel schwer. Er dachte bisweilen immer noch, er könne sie umfassen. Die Ärzte hatten ihn auf dieses Phänomen vorbereitet: eine Weile werde er glauben, alle Finger und der ganze Fuß seien noch da. Doch in Wirklichkeit sei da nur noch ein Zucken oder ein Jucken, manchmal auch Schmerzen. Phantomschmerz hatten sie das genannt. Damit war zu rechnen. Rudy schaute sich die Papiere an, welche die Statue umhüllten. Ein Versetzungsbefehl und Kopien von Reise‐ papieren, alle auf den Namen Sergeant Irene Teal. Sie war nach Fort Ord in Kalifornien versetzt worden, südlich von San Francisco an der Pazifikküste. Auf der Rückseite einer Manuskriptseite aus dem Arktischen Sutrn stand eine Botschaft an Rudy: Vord hat mir den Papierkram aufgehalst, und ich dachte, du wärst vielleicht interessiert an ein paar Durchschlägen. Außerdem darfst du doch dein Püppchen nicht vergessen. Gute Besserung, Mann. Lavone Rudy blickte auf: die Schwester und der Sergeant waren ver‐ schwunden. Er war allein im Garten. Als am nächsten Tag ein Verbindungsoffizier von der Royal Air Force kam, um seine Reiseroute zu organisieren, sagte Rudy ihm, er würde gern den Pazifik sehen. Eine Gruppe großer Häuser tauchte unter der Tragfläche des Flugzeugs auf; sie flogen über die Südküste von Cape Cod an der Ostküste der USA. Weiße, riesige Villen im Kolonialstil mit ausladenden Veranden, die vom Rest des Ortes abgetrennt waren. Großzügige Rasenflächen er‐ streckten sich bis zum Meer, wo eine Pier und ein 335
Wellenbrecher weit ins Meer hinausragten. Rudy kamen die herrlichen Anwesen an der Küste des Kaps wie die Umkeh‐ rung von Qangattarsa vor: der graue Fjord, der ins Land ragte, und daran die gedrungenen Gebäude am dunklen Wasser, das Eis, der Schotter, die Asche. «Hyannis», sagte jemand in der Reihe hinter ihm. Auch der Sprecher sah aus dem Fenster; seine Stimme war an der Sitzlehne vorbei an Rudys Ohr gedrungen. «Man nennt es ‹Das Lagen», fuhr die Stimme fort. «Der Sitz der Kennedys.» Rudy schaute zum Horizont. Der Sturm würde erst in ein paar Stunden losbrechen, und dann waren sie längst weit weg. Das Gewitter würde sich über Cape Cod entladen und dann vielleicht mit dem Golfstrom die Küste hinaufziehen. Schließlich würde es sich in kleinere Tiefausläufer auflösen, die womöglich bis über den Atlantik durchhielten und auf Grönlands Fjorden als Regen oder Schnee niedergingen. Der Schnee würde auch auf Qangattarsa, auf die Gebäude und die Asche fallen. Rudy starrte seine linke Hand an, der die meisten Finger fehlten und die ein wenig wie die von Guy X aussah. Er fasste in seine Brusttasche, wo Irenes Papiere steckten. Gleich neben der Eskimo‐figur. Wahrscheinlich schmiegten sie sich aneinander. Er fragte sich, ob Irene ihn würde sehen wollen, wenn er sie denn fand. Am Strand unterhalb der Villen brachen sich die Wellen, die aus dieser Höhe nur als dünne weiße Fäden zu erkennen waren. Eine Segelyacht hielt mit geblähtem Spinnaker auf den Anleger zu. Das Lager der Kennedys lag in der sommerlichen Mittagssonne eines Samstags. Vielleicht bereitete sich John F. Kennedy dort unten gerade auf seinen Wahlkampf vor. Rudy wusste, dass sie ihn würde sehen wollen. Er würde sie finden, sie würde sich mit ihm treffen, sie würden sich unterhalten. Sie hatten einiges zusammen erlebt, so viel 336
stand fest. Sie würden sich wiedersehen, und dann konnte die Zeit von neuem beginnen. 337
VIERUNDDREISSIG Qivittoq heißen die bösen Geister, die in den Gletschern leben. Wenn man einen sieht und darüber spricht, verleiht man ihm Macht, und er verfolgt den Finder, um seine Seele zu rauben und Stück für Stück zu verzehren. Wenn man also einen Qivittoq sieht, darf man auf keinen Fall davon sprechen, sondern muss das schreckliche Geheimnis für sich behalten. Ululluik fütterte vor der Baracke, die als Druckerei gedient hatte, seine Schlittenhunde. Jahre waren vergangen, seit die amerikanischen Soldaten Qangattarsa verlassen hatten. Ululluik– den die GIs «Allez Hopp» genannt hatten– war inzwischen ein alter Mann. Er war auf dem Rückweg in sein Dorf und hatte angehalten, um seine Hunde zu füttern. Drüben in Arsuk hatte er Felle eingetauscht. Die verfallenen 338
Gebäude von Qangattarsa und die Erinnerungen, die sie weckten, beunruhigten Ululluik immer, aber die Hunde brauchten etwas zu fressen, also hielt er an. Die Schlittenhunde schnappten nach dem Fleisch, das er ihnen zuwarf. Er fütterte sie immer in der gleichen Reihenfolge– zuerst den stärksten, zuletzt den schwächsten. Sonst würden die stärkeren Tiere die schwachen beim Fressen attackieren. Die Hunde schnappten die Fleisch‐ brocken aus der Luft, schlangen sie hastig hinunter und setzten sich dann wieder hin. Ululluik unterbrach die Fütterung für einen Moment und sah zum Horizont. Im Süden glühte der Himmel. Das letzte Licht vor der monatelangen Dunkelheit. Die Hunde jaulten; er warf ihnen weitere Fleischstücke zu. Er wurde langsam zu alt für solche Touren, dachte er. Vielleicht war dies seine letzte Fahrt. Es war schon Jahre her, dass Ululluik in diesem Tal den Qivittoq gesehen hatte, doch noch nie hatte er auch nur ein Wort darüber verloren. Nach dem Schneesturm waren die Amerikamiut zu den Inuit gekommen und hatten sie um Hilfe gebeten. Sie waren auf der Suche nach einer Leiche gewesen. Ein Mann war im Schnee gestorben, in der Nähe des Feldes, von dem die Flugzeuge flogen. Wenn die Inuit nach ihm suchten, sollten sie eine Belohnung erhalten. Ululluik war mit zwei Stammesgenossen hinausgegangen. Einer der beiden, Sammik, hatte ein Pferd gefunden, das man in den Kopf geschossen hatte. Sammik sagte, an dem armen Tier habe kein Stück Fleisch mehr gehangen. Anarfiik hatte dann den Mann gefunden, nach dem die Amerikamiut suchten– auch der hatte ein Loch im Kopf gehabt. Anarfiik meinte, er habe sich sogar den halben Schädel wegge‐ schossen. Das Gewehr war an seinen Händen festgefroren, weil er sich die Handschuhe ausgezogen hatte. Was hast du gefunden?, hatten Sammik und Anarfiik gefragt. 339
Nichts. Die beiden hatten ihn angesehen. Nichts, hatte er wiederholt. Er hatte sich gezwungen, nicht an den Qivittoq zu denken, als er ihnen in die Augen sah. Wenn du davon erzählst, erweckst du den Geist zum Leben, und dann zerfrisst er dir Stück für Stück die Seele. Auf der Suche hatte er seinen Schlitten weit über das letzte Gebäude der Qallunaaq und mehrmals in weiten Bogen hin und her gelenkt, von den gefrorenen Wasserfällen im Norden bis zu den niedrigen Mauern im Süden. Er fand nichts und beschloss, den verwehten Spuren einer Schnee‐ raupe zu folgen, die ihn bis zum Gletscher führten. Oben an der Gletscherzunge beschrieb die Spur Schlangenlinien und Kreise, als ob das Fahrzeug getorkelt wäre oder sich verwirrt abgewendet hätte. Ululluik ließ die Spur links liegen und fuhr an der Gletscherwand entlang. Nach ungefähr hundert Metern blieben seine Hunde stehen. Er versuchte sie anzutreiben, aber irgendetwas im Schnee hatte ihr Interesse geweckt. Ululluik ging nach vorn und fand die Decke. Er schälte die gefrorene Wolle zur Seite und dachte einen Augenblick, er habe einen eingewickelten Säugling gefun‐ den; doch dann sah er den Qivittoq. Er war klein und blau, hatte einen Arm, keine Beine, keine Ohren, einen zahnlosen, offenen Mund und ein offenes Auge, das ihn anstarrte. Der böse Geist jagte nicht hinter ihm her, aber das musste er auch gar nicht. Ululluik fuhr auf‐ stöhnend zurück. Die Hunde drängten heran und wurden aggressiv, als hätten sie ein Stück Fleisch gefunden. Ululluik musste sie zurückzerren und anschreien, sonst hätten sie womöglich den Qivittoq gefressen. Er kehrte dem Ort den Rücken. Ululluik ging nicht wieder zu den Amerikamiut und berichtete auch nicht, was er entdeckt hatte, und auch Sammik und Anarfiik gegenüber schwieg er. Jahrelang. 340
Vielleicht war dieses Schweigen der Grund, dass er so alt geworden war. Die verlassenen Gebäude der Amerikamiut waren längst verfallen. Die Soldaten waren nach Norden gezogen, um mit ihren Geräten nach Bombern und Raketen zu horchen. Doch inzwischen hatten sie auch damit aufgehört, war Ululluik zu Ohren gekommen, und das Land endgültig verlassen. Bevor er zu seinem Schlitten zurückkehrte, warf Ululluik einen letzten Blick in die Baracke. Er war alt geworden; vielleicht war er zum letzten Mal hier. Die Wellblechhütte lag voller Schrott. Doch auf einem Tisch fand er einen Kasten mit winzigen Buchstaben. Tausende Schriftzeichen der Qallunaaq, in einem Rahmen festgeklemmt. Er berührte die Buchstaben, und sie hinterließen Abdrücke auf seinen Fingern. Ululluik nahm eine der gesetzten Kolumnen in die Hand und presste den Daumen auf die Lettern. Sie hinterließen Eindrücke auf der Haut. Er steckte die Form in die Tasche; sie sollte sein Glückszauber sein, den er immer bei sich trug. Ab und zu wollte er sich die Buchstaben auf die Haut drücken und sich so daran erinnern, dass er noch jahrelang schweigen musste. Viele Jahre, wenn er noch so lange leben sollte. So war er sicher vor dem seltsamen Geist, auf den er am Gletscher gestoßen war. Und niemand würde je davon erfahren. Als er seinen Schlitten wieder gepackt hatte und abfahrbereit war, musste er seine Hunde nicht antreiben. Auch sie wollten diesen Ort verlassen: Sie sprangen ungeduldig auf, legten sich ins Geschirr und zogen an. 341
Inhalt E I N S ..........................................................................................................9 Z W E I ........................................................................................................20 D R E I ........................................................................................................27 V I E R ........................................................................................................34 F Ü N F .......................................................................................................41 S E C H S ...................................................................................................53 S I E B E N .................................................................................................63 A C H T .......................................................................................................80 N E U N ......................................................................................................87 Z E H N .......................................................................................................97 E L F .........................................................................................................111 Z W Ö L F .................................................................................................116 D R E I Z E H N ........................................................................................122 V I E R Z E H N ........................................................................................136 F Ü N F Z E H N .......................................................................................152 S E C H Z E H N .......................................................................................163 S I E B Z E H N .........................................................................................172 A C H T Z E H N .......................................................................................182 N E U N Z E H N .......................................................................................194 Z W A N Z I G ...........................................................................................200 E I N U N D Z W A N Z I G .......................................................................210 Z W E I U N D Z W A N Z I G ....................................................................221 D R E I U N D Z W A N Z I G ....................................................................227 V I E R U N D Z W A N Z I G ....................................................................236 F Ü N F U N D Z W A N Z I G ...................................................................242 S E C H S U N D Z W A N Z I G ...............................................................264 S I E B E N U N D Z W A N Z I G .............................................................279 A C H T U N D Z W A N Z I G ...................................................................290 N E U N U N D Z W A N Z I G ...................................................................295 D R E I S S I G .........................................................................................301 E I N U N D D R E I S S I G ......................................................................310 Z W E I U N D D R E I S S I G ..................................................................321 D R E I U N D D R E I S S I G ..................................................................330 V I E R U N D D R E I S S I G ..................................................................338 Zentaur 2004‐12‐01
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