Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der Älteren Kirche. Volume 77, Issue 3-4, Pages 226–241 DOI: 10.1515/zntw.1986.77.3-4.226, //1986
Die Bedeutung der neutestamentlichen »Rätselzahlen«
666 (Apk 13 18) und 153 (Job 2111) von Michael Oberweis (Kelterdell 32, 5521 Echtemacherbrück)
I. Gematrie als Problem neutestamentlicher Exegese
Zahlensymbolik ist im NT weit verbreitet. Häufig dient sie dazu, eine Gedankenverknüpfung mit bestimmten Vorgängen des Alten Bundes zu evozieren. Die zwölf Apostel beispielsweise repräsentieren die zwölf Stämme Israels, und Jesu vierzigtägiges Fasten in der Wüste erinnert an die vierzig Jahre des Zuges durch den Sinai. In diesen und ähnlichen Fällen ist die Zahl als solche Bedeutungsträger; es kristallisiert sich ein Grundbestand relativ weniger Zahlen mit ausgeprägtem Symbolgehalt heraus: die Drei, die Vier, die Sieben, die Zwölf usw.1 Daneben kannte man in der Antike eine weitere Möglichkeit, durch Zahlen nichtmathematische Inhalte auszudrücken. Sie beruhte auf der Tatsache, daß im hebräischen wie im griechischen Alphabet die Buchsta ben zugleich als Zahlzeichen verwendet wurden. Man konnte also jedes beliebige Wort durch Addition des Zahlenwerts der einzelnen Buchstaben in eine Zahl verwandeln. Diese im Vergleich zur Zahlensymbolik flexiblere, aber auch wesentlich kompliziertere Vorgehensweise wird als Gematrie bezeichnet.2 In der Exegese herrscht weitgehende Übereinstimmung dar über, daß an zwei Stellen des NT derart verschlüsselte Aussagen begegnen: in Job 2111 sowie in Apk 13 18. Die Formulierung des Apokalypsenverses fordert eine gematrisehe Deutung der Zahl des Tiers geradezu heraus, während für die 153 Fische in Job Entsprechendes durch den allegorischen Gesamtzusammenhang der Fischfanggeschichte wahrscheinlich gemacht wird. Indessen fehlt es nicht an Versuchen, die beiden Textstellen durch Zahlensymbolik im engeren Sinne zu erklären und die auf Anhieb nicht 1
Vgl. hierzu auch das Kapitel »Die Mystik der Grundzahlen« in P eter Friesenhahn, Hellenistische Wortzahlenmystik im Neuen Testament, Leipzig/Berlin 1935, 14-34. 2 Gute Einführung mit zahlreichen Beispielen bei Franz Dornseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie, Leipzig/Berlin 21925, 91-118. Auch P. Friesenhahn, a. a. 0. (Anm. 1) 70fT., liefert wertvolle Beiträge zur Geschichte der Gematrie, obgleich seine exegetischen Versuche auf haltlosen Konstruktionen beruhen. - Speziell zur hebräischen Gematrie s. Godfrey Rolles Driver, T he Number of the Beast, in: Bibel und Qumran, hg. v. Siegfried Wagner, Berlin 1968, 75-81.
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verständlichen 153 und 666 durch bestimmte Rechenoperationen auf Zah len zu reduzieren, denen eine vertraute Symbolwirkung eignet. Solchen Bestrebungen war der früh erkannte Umstand förderlich, daß die zwei Rätselzahlen eine suggestive mathematische Eigenschaft gemeinsam haben: Es handelt sich bei ihnen um sogenannte Dreieckszahlen. So läßt sich die 153 als Summe der natürlichen Zahlen von eins bis 17 darstellen, und 666 resultiert aus der Addition 1 + 2 + 3 + ... + 36. Die Betrachtung der 153 als Dreieckszahl der 17 ist allerdings nicht sonderlich hilfreich. Zwar glaubte Augustinus, hier einen Hinweis auf die zehn Gebote mitsamt den sieben Gaben des Hl. Geistes entdecken zu können3, doch ist dies nach Bultmanns Worten »gewiß kein zwingender Gedanke«. 4 Daß in Act 2 9ff. eine Liste von 17 Völkerschaften aufgezeichnet ist, bietet ebenfalls kaum einen Anhaltspunkt, denn an dieser Stelle wird die Zahl selbst nicht explizit genannt, und eine etwa unterstellte symbolische Bedeutung ist nicht erkennbar. Mit größerem Erfolg scheint sich das Konzept der Dreieckszahlen in Apk anwenden zu lassen, denn die aus der 666 herausgelesene 36 erweist sich ihrerseits als Dreieckszahl der Acht. Auf die Frage nach deren Sinn gibt Apk 1711 scheinbar eine klare Antwort: Kai 't'O 9Tt p iov ö i'iv Kai. oÖK ecrnv Kai au't'o<; öyoo 6<; ecr't'tv. Ernst Lohmeyer hielt in seinem Apokalypsenkommentar dies schlechterdings für die Lösung des Pro blems. 5 Bei genauerem Hinsehen erheben sich jedoch Zweifel: Die Zahl des Tiers wird durch ein Rechenexempel transformiert in eine andere Zahl, und diese wiederum steht für nichts anderes als eben - das Tier! Es bleibt völlig unerfindlich, weshalb der Apokalyptiker einen so unergiebigen Zirkelschluß mit der feierlichen Wendung Tnoe ft cro
Cum itaque Legis iudenario Spiritus sanctus per septenarium numerum accedit, fiunt decem et septem: qui numerus ab uno usque ad seipsum computatis omnibus crescens, ad centum quinqua ginta tres pervenit.
4 Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK 2, Göttingen 201985, 549,
Anm. 1. 5 Ernst Lohmeyer, Die Offenbarung des Johannes, HNT 16, Tübingen 31970, 118f. 6 Dazu korrespondierend in Apk 17 9: dloe 6 vooc; 6 &xrov cro
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Über die Identität des betreffenden Herrschers läßt sich freilich trotz aller diesbezüglichen Überlegungen keine Klarheit erlangen, weil die gematrisehe Methode die unterschiedlichsten Möglichkeiten eröffnet: Da man der 666 nicht ansieht, aus welchen Summanden sie sich zusammen setzt, kann man den gematrisehen Zahlenwert durch ganz verschiedene Buchstabenkombinationen gewinnen. Hinzu kommt die Unsicherheit, ob als Ausgangspunkt der Chiffrierung eine griechische oder hebräische Namensform anzunehmen sei. So ist nahezujeder Kaiser, der in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr amtiert hat, als die apokalyptische Bestie namhaft gemacht worden. Besonderer »Beliebtheit« erfreut sich da bei Nero, weil angeblich in Kleinasien zur Entstehungszeit der Johannesapo kalypse ein »Nero redivivus« erwartet wurde. Der gematrisehe Wert 666 ergibt sich allerdings nur durch eine bedenkliche Transkription der Titulatur »Nero Caesar« ins Hebräische.7 Mittels ähnlicher Kunstgriffe (Einbezie hung des Vornamens, Zusatz eines Titels, Verwendung von Abkürzungen) sind von anderen Exegeten Caligula, Titus, Domitian, Nerva und Trajan ins Spiel gebracht worden. 8 Indes bleibt äußerst fraglich, ob derart schwierige Verrechnungsmethoden einem Leser der Apk am Ende des ersten oder zu Beginn des zweiten Jahrhunderts überhaupt zuzumuten waren. Gerade die Vielfalt der vorgeschlagenen Interpretationen unterstreicht, daß mit dem angewandten gematrisehen Verfahren keine letztgültige Klarheit zu erlan gen ist. Daß im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder aktualisierende Erklärungen der 666 aufkamen (bezogen auf Mohammed, Luther, Napo leon und viele andere) 9, illustriert nur die schrankenlose Willkür, mit welcher diese Auslegungsmethode gehandhabt werden kann. Sollte man angesichts dieser heillosen Verwirrung nicht eher davon ausgehen, daß der Apokalyptiker Johannes die Mitteilungen, die er seinen Adressaten zukommen lassen wollte, in eine zumindest den Eingeweihten eindeutig verständliche Form gekleidet hat? Die gelegentlich ausgespro chene Vermutung, einst habe eine mündlich überlieferte und später verlo rengegangene Auflösung des Zahlenrätsels kursiert10, ist sicher verfehlt; denn Apk versteht sich ausdrücklich als schriftlich fixierte Offenbarung. 11 In ein ähnliches Dilemma führen alle Anstrengungen, auf dem Wege der Gematrie hinter das Geheimnis der » 153 großen Fische« zu kommen, 7 Zur Kritik s. Charles Brütsch, Die Offenbarung Jesu Christi. Bd. 2, ZBK,
2 1970, 143f. s Einzelbelege ebd., 143 - Zur neueren Forschungsgeschichte vgl. auch Otto Böcher, Die Johannesapokalypse, EdF 41, 1980, 84fT. 9 Diese und weitere Beispiele bei Brütsch, a. a. 0. (Anm. 7) 145, Anm. 16. to So z. B. Franz Domseiff, Die Rätsel-Zahl 666 in der Offenbarung des Johannes, in: ders., Kleine Schriften li. Sprache und Sprechender, Leipzig 1964, 244-247, hier: 245. II Vgl. Apk 10 10 (das Verschlingen des Buches) und besonders die formelhaften Sank tionen in Apk 22tsr.
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zumal hier nicht einmal der Textzusammenhang einen brauchbaren Hin weis auf die verborgene Information liefert. Entsprechend phantasiereich sind die angebotenen Erklärungen, die der Rätselzahl die verschiedensten hebräischen oder griechischen Wendungen unterlegen (der zukünftige Äon, die Kirche der Liebe und vieles mehr). Kaum je passen die weitrei chenden theologischen Erwägungen, die sich an den vorgeblichen Sinn der 153 knüpfen, in den Rahmen der Fischfangperikope. Hier mag es genügen, summarisch auf die einschlägige Kritik Bultmanns12 und Schnak kenburgs13 zu verweisen. Aus all diesen Beobachtungen geht hervor, daß der bisher angewandte Mechanismus zur Entzifferung der Rätselzahlen falsch ist, daß es mithin ein anderes gematrisches Verfahren gegeben haben muß, mit dessen Hilfe eine sicherere Zuordnung von Zahl und verbaler Bedeutung möglich war. Die Suche nach diesem Schlüssel scheint aussichtslos, da sich bereits die Kirchenväter vergebens mit der Erklärung der beiden Zahlen abmühten. In der frühchristlichen Literatur findet sich jedoch ein merkwürdigerweise kaum beachteter Hinweis auf eine Form der Gematrie, die von dem oben behandelten Typus signifikant abweicht: Aus apologetischem Interesse befaßt sich der Autor des sogenannten Barnabasbriefs14 mit versteckten alttestamentlichen Anspielungen auf Jesus Christus. Dabei greift er unter anderem die Überlieferung auf, Abraham habe in seinem Haus 318 Knechte gehabt (Gen 1414). Die Zahl 318 zerlegt er in die Bestandteile 18 und 300, um daraus folgende Erkenntnis (yv&cnt;) abzuleiten: 1:0 ÖEKUOK'tO)" Uina ÖEKa, ft'ta OK'tO)" EXElt; 'ITjcrOUV. Ö'tl öt ö cr'taupot; ev Tii) 'tUU llllEAAcV EXE1V 'tijV xaptv, AEYE1 Kai 'tOUt; 'tptaKocriout;.15 Der Verfasser setzt also voraus, daß die Zahl318 in griechischen Ziffern geschrieben wird: TIH (Tau 300, Iota 10, Eta 8). Die Deutung des Tau als Symbol des Kreuzes ist nicht selten und wird durch die Gestalt des Buchstabens nahegelegt.16 Origineller wirkt die Erläuterung der Zahl 18 (IH), die hier als Abkürzung des Namens 'ITjcroi3t; verstanden wird. Auch der Barnabasbrief operiert offenkundig mit dem Zahlenwert von Buchstaben. Gegenüber der bislang bekannten Umrechnungsmethode fallt freilich ein wesentlicher Unterschied auf: Die Zahl 318 wird nicht einfach als »Quersumme« mehrerer Buchstaben aufgefaßt, deren Anzahl und Reihenfolge frei variabel ist. Dadurch, daß die Zahl in Ziffern ge schrieben wird, ist vielmehr die abtesbare Buchstabenkombination genau =
=
=
12 R. Bultmann, a. a. 0. (Anm. 4) 549 mit Anm. 1. 13 Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium. III. Teil: Kommentar
zu Kap. 13-21, HThK IV/3, 1975, 426f. 14 Ediert, übersetzt und kommentiert in: Klaus Wengst (Hg.), Schriften des Urchristen .. tums. 2. T., Darmstadt 1984, 101...:.202. 1 5 Barn 9 s (ebd., 164). 16 Vgl. F. Dornseiff, a. a. 0. (Anm. 2) 109.
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festgelegt. Ein Nebeneinander gleichrangiger Deutungsmöglichkeiten, wie es sonst in der Gematrie unvermeidlich ist, wird damit von vomherein ausgeschlossen. Trotz dieses instruktiven Beispiels hat es anscheinend noch niemand unternommen, die neutestamentlichen Rätselzahlen in Ziffern umzuschrei ben und von daher zu erklären. Dies ist umso verwunderlicher, als der Bar nabasbrief in seiner Begriffici hkeit und seiner theologischen Gedankenwelt markante Bezüge zu Joh aufweist.17 Seinen Verfasser wird man, auch wenn er das Evangelium nirgendwo wörtlich zitiert, im weiteren Sinne dem »jo hanneischen Kreis« zurechnen dürfen. Auch das Verhältnis der Apk zum vierten Evangelium läßt sich in ähnlicher Weise bestimmen.18 So ist es gewiß nicht abwegig, eine im Bamabasbrief explizit angewandte gematrisehe Prak tik auch für Joh 21 u und Apk 1 318 in Betracht zu ziehen. Damit soll andererseits nicht behauptet werden, wir hätten es hier mit einer esoterischen Spezialität des johanneischen Kreises zu tun. Auch bei einem heidnischen Autor ist nämlich die beschriebene Spielart der Gematrie belegt: Ein Grammatiker namens Apion hat, wie Seneca in einem seiner Briefe berichtet19, in den ersten Buchstaben des Eingangsver ses der Ilias (MH)20 die Gesamtzahl der Gesänge beider homerischen Epen (48) vorweggenommen geglaubt.2t Analoge Zahlenspekulationen sind im Hebräischen geläufig. Die Ver wendung hebräischer Buchstaben als Zahlzeichen läßt sich anband von Münzen der Hasmonäerzeit bis ins zweite Jahrhundert v. Chr. zurückver folgen.22 Die Logik des dabei gebräuchlichen dezimalen Ziffernsystems wird allerdings an zwei Stellen in bemerkenswerter Weise durchbrachen: Die Zahlen 15 und 16 werden nicht, wie es den Regeln entspräche, durch Jod und He (M") beziehungsweise Jod und Waw ('!")ausgedrückt, sondern als die Summen aus 9 + 6 ('I�) und 9 + 7 (T�) umschrieben.23 Die Begründung liegt auf der Hand: In regulärer Schreibweise könnten die genannten Zahlen als Abkürzungen des heiligen Gottesnamens mißver standen werden, was durch die Umformung ausgeschlossen wird. Aufschlußreich sind die Übereinstimmungen, die sich im Vergleich zum Bamabasbrief ergeben: In beiden Fällen werden nicht nur bestimmte 17 F. M. Braun, La »Lettre de Barnabi:« et l'evangile de Saint Jean, NTS 4, 1957/8,
119-124.
18 Vgl. Oscar Cwlmann, Der johanneische Kreis, Tübingen 1975, 57f. 19 Epist. XIII, 88, 40:
Apion grammaticus . . . argurnenturn adferebat, quod (sc. Homerus) duas litteras in primo versu posuisset ex industria librorum suorum numerum continen tes. (L. Annaei Senecae ad Lucilium Epistwae morales, ed. Achilles Beltrami. Vol.
I continens libros I-XIII, impressio altera, Rom 1949, 422f.). Mi'jvtv fultöe, 9ea ... 21 Schon im Altertum waren Ilias und Odyssee in je 24 Gesänge unterteilt. 22 Vgl. Art. Alphabet, Hebrew, in: EJ 2, Sp. 674-749; hier: Sp. 743. 2 3 Ebd., Sp. 744. 20
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Ziffernfolgen unmittelbar als Buchstabenkombinationen abgelesen, son dern die gematrisehen Deutungen knüpfen jeweils an Abkürzungen von Eigennamen an. Es zeigt sich also, daß man bei der Dechiffrierung der Rätselzahlen durchaus auch mit abgekürzten Begriffe n zu rechnen hat, zumal da sowohl das Hebräische24 wie das Griechische25 in neutestament licher Zeit über einen ausgedehnten Fundus an Abbreviaturen verfugte. Bevor im folgenden die dargestellte gematrisehe Methode auf Job 2111 und Apk 1318 angewendet werden soll, gilt es noch eine Frage zu erörtern, die schon immer unter den Exegeten kontrovers diskutiert wurde: Muß man bei der Auslegung der Rätselzahlen das griechische oder das hebräische Alphabet zugrundelegen? Bisher konnte man sich mehr oder weniger willkürlich für die eine oder die andere Alternative entscheiden. Wenn man aber das im Bamabasbrief geübte Verfahren auf die 666 übertragen wollte, würde man daran scheitern, daß die griechische Ziffer Sechs, das Digamma, nicht als Schriftzeichen benutzt wird. Auch die Zahlzeichen für 90 (Koppa) und 900 (Sampi) finden im griechischen Alphabet keine Entsprechung. Demgegenüber herrscht im Hebräischen vollkommene Identität zwischen Buchstaben- und Ziffembestand: Jeder Buchstabe ist als Zahlzeichen, jedes Zahlzeichen als Buchstabe lesbar. Für den gematrisehen Gebrauch bietet das Hebräische einen weiteren Vorteil: Da die Vokale gewöhnlich nicht mitgeschrieben werden, ist es möglich, auch längere Wörter in Zahlen zu verwandeln. Im Griechischen fällt es dagegen schwer, über eine Silbe (z. B. das IH im Bamabasbrief, das MH in der Ilias) hinauszugelangen, denn die Reihenfolge der Buchsta ben muß immer jenen Regeln folgen, die für die Stellung der entsprechen den Ziffern innerhalb einer Zahl gelten: Hunderter vor Zehnern, Zehner vor Einem. Somit spricht alles für eine Präferenz zugunsten des hebrä ischen Buchstaben-/Ziffemsystems, doch nur die praktische Anwendung kann die Richtigkeit dieser Hypothese erweisen. II. Die Zahl des Tiers
1. Deutung der 666 Versuche, die Rätselzahl der Apk durch gematrisehe Spekulationen zu erklären, reichen bis ins zweite nachchristliche Jahrhundert zurück. 24 Art. Abbreviations, in: EJ 2, Sp. 46-52. Daß solche Abkürzungen ein beliebtes
Objekt magischer Praktiken waren, geht aus einem Passus der essenischen Damas kusschrift hervor: In CD XV, 1 wird untersagt, »bei Aleph und Lamed« oder »bei Aleph und Daleth« zu schwören. Es handelt sich dabei um die hebräischen Anfangsbuchstaben der Gottesbezeichnungen Elohim und Adonai. (Die Texte aus Qumran, hg. v. Eduard Lohse, Darmstadt 31981, 96). 25 Näheres bei Ludwig Traube, Nomina sacra. Versuch einer Geschichte der christlichen Kürzung, München 1907 (Nachdr. Darmstadt 1 967), 25ff.
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Irenäus von Lyon zieht drei Begriffe in Erwägung, deren Zahlenwert sich jeweils auf 666 beläuft: Eöav9a� (»Wohlblühender«), Aan:ivo� (»Latei ner«) und Tettav (»Titan«).26 Zugleich gesteht er offen ein, in dieser Frage über keine sichere Kenntnis zu verfügen. 27 Vor dem Hintergrund der Bemühungen moderner Exegeten bleibt der Deutungsversuch des Irenäus gleichwohl beachtenswert, weil er zwar einen gewissen Bezug zum römi schen Kaiserkult herstellt, aber die Identifikation des Tiers mit einer bestimmten Herrschergestalt vermeidet. Der griechischsprachige Kirchen vater interpretierte demnach die Aussage dpt9J.u)� yap dv9pc.01tou tcniv (Apk 1318) keineswegs so, als ob das Tier für einen einzelnen Menschen stünde; die von ihm gewählten Begriffe zielen vielmehr auf das Kaisertum als überpersönliche Institution. Zusätzliches Gewicht erhält damit die Forderung Lohmeyers, der Ausdruck dpt9J.Lo� dv9pc.01tou sei analog zu J.LStpov ö.v9pc.01tou in Apk 21 11 zu verstehen. 28 Ebenso, wie an jener Stelle nicht das individuelle Körpermaß eines Menschen gemeint sei, sondern allgemein eine den Men schen vertraute Maßeinheit29, solle die Zahl des Tiers durch die Qualifizie rung als dpt9J.L<'>� dv9pc.01tOU von »apokalyptischen Zahlen« wie 144000 abgehoben werden, deren endgültiges Verständnis sozusagen unter einem eschatologischen Vorbehalt stehe. Demgegenüber wäre also die 666 eine Zahl, deren geheimer Sinn menschlichem Nachdenken zugänglich ist. Auch der grammatikalische Zusammenhang des Verses legt eine sol che Deutung nahe, denn der Begründungssatz dpt9J.L<'>� yap dv9pc.01tou tcniv soll offenbar den vorhergehenden Imperativ 'lfllcptcratco tov dpt9J.L6v bekräftigen und stellt somit eher eine Ermutigung für den Rätsellöser dar, nicht aber einen konkreten Hinweis auf die Lösung selbst. Lohmeyers Einwänden lassen sich weitere Argumente anschließen, die in der bisherigen Auslegungstradition zu wenig beachtet worden sind. So ist die Vision der beiden Tiere nicht die literarisch eigenständige Schöpfung des Sehers Johannes, sondern ein Rückgriff auf feststehende Elemente der apokalyptischen Bildersprache. Alle Kommentare verweisen auf das Vorbild der Danielapokalypse. Die in Dan 7 nacheinander aus dem Meere emporsteigenden Wesen werden aber transpersonal, nämlich als Weltreiche gedeutet, während einzelne Herrscher lediglich als Hörner am Haupt des vierten Tiers dargestellt sind. Eine genaue Entsprechung zu dieser Verfahrensweise findet sich in Apk 17 (das Tier mit sieben Köpfen und zehn Hörnern). Dort allein sind 26 Adv. haer. V, 30, 3 (PG 7, Sp. 1206). 27 Ebd. : 'HJ.u:ic; oöv otiK Ö.7tOKtvöuve6oJ..l EV 1tepi 'toii öv6J..la'toc; 'toii 'Avn-xpia'tou,
d7tocpatv6J..levot ßeßatronKroc; (P G 7, Sp. 1207).
28 E. Lohmeyer, a. a. 0. (Anm. 5) 118. 29 Vgl. auch den Ausdruck ypacpic; dv6pc07tOil (»ein gewöhnlicher Griffel«) in der LXX
Übersetzung von Jes 8 t!
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Bemühungen angebracht, Parallelen zur Abfolge der römischen Kaiser zu ermitteln. Die beiden Tiere in Apk 13 stehen dagegen keinesfalls für menschliche Individuen, sondern für überpersönliche gottfeindliche Ge walten. Jo Wahrscheinlich soll sich in ihnen das römische Imperium unter einem Doppelaspekt verkörpern (etwa als Land- und Seemacht, in seinem politischen und religiösen Geltungsanspruch oder ähnliches). Vielfach übersehen wird auch die einschränkende Feststellung des Apokalyptikers, der geheime Sinn der 666 sei nur denen zugänglich, die vou� besäßen. Wollte man nun hinter dem Tier einen bestimmten Kaiser vermuten, so käme man zu der absurden Konsequenz, daß die Anbeter des Tiers nicht einmal den Namen des von ihnen Verehrten wüßten. Der Kontext legt vielmehr einen Doppelsinn der Rätselzahl nahe, einen vordergründigen und einen esoterischen, und unterstützt somit die gele gentlich geäußerte Annahme, hier liege ein Fall von Isopsephie3t vor. Die Behauptung mancher Exegeten, die Zahl 666 sei bereits für sich genommen ein Symbol des Widergöttlichen, ist also teilweise richtig, auch wenn sie die zusätzliche gematrisehe Deutung nicht ausschließen darf. Die negative Konnotation der Sechs hängt wohl mit Reflexionen über den biblischen Schöpfungsbericht zusammen: Wenn Gott erst mit dem Ruhen am siebenten Tage sein Werk vollendet hat, bedeutet die Verabsolutierung der Sechs eine Auflehnung der Kreatur gegen ihren Schöpfer. Die Verviel fachung des numerischen Wertes durch Zehnermultiplikation (666 6 + 6 x 10 + 6 x 10 x 10) steigert die Grundtendenz ins Unermeßliche. In ganz ähnlicher Weise bedient sich ein Jesuslogion des Mt dieser Rechen operation, um das Postulat grenzenloser Vergebungsbereitschaft zu unter streichen: »Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.« (Mt 1822) Auf den gleichen Verstärkungseffekt zielt ein sibyllinischer Vers ab, der die Zahl des Namens lrJcrou� mit 888 angibt.32 Damit soll angedeutet werden, daß durch Jesus die Sieben als Zahl der Vollkommenheit noch dreifach übertroffen wird. Es bleibt die Frage, welche über diese äußerliche Zahlenbedeutung hinausgehende croq>ia der Apokalyptiker den vouv E?(ovn:� verspricht. Die =
'
30 Die »Tierapokalypse« des äthiopischen Henochbuches (äthHen 85- 90) scheint
dieser Regel zu widersprechen, weil sie auch einzelne Menschen als Tiere versinnbild licht (Abraham als Stier, David als Widder usw.). Doch treten in dieser Allegorie nur solche Tiere auf, wie sie in der Realität vorkommen, während die überdimensionalen Fabelwesen in Dan und Apk ersichtlich in eine ganz andere Kategorie gehören. 3 1 Der Begriff besagt, daß aus einer Zahl zwei oder mehr verschiedene Bedeutungen herauszulesen sind. Irenäus' dreifache Erklärung der 666 ist ein Beispiel für dieses Verfahren. - Zur Isopsephie im allgemeinen Dornseiff, a. a. 0. (Anm. 2) 96ff. 3 2 Sib I, 327ff. (Sibyllinische Weissagungen, hg. u. übers. v. Alfons Kurfess, 1951, 48). Die Gleichung 'IT}croii<; 888 war vor allem in gnostischen Kreisen verbreitet; vgl. Dornseiff, a. a. 0. (Anm. 2) 108 u. 131. =
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Lösung des Rätsels ist abhängig vom richtigen Verständnis der Anweisung 'I'TJcpt<:rO:tco tov apt9�6v. Die Kommentatoren der Stelle scheinen einhellig davon auszugehen, 'I'TJcpi�etv besage soviel wie »den (gematrischen) Zah lenwert berechnen«. Diese Übersetzung aber ist augenscheinlich sinnlos, denn es kommt hier gerade nicht darauf an, den Zahlenwert eines gegebe nen Wortes auszurechnen, sondern umgekehrt einen hinter der 666 ver steckten verbalen Begriff zu erschließen. Folglich muß das Verb 'I'TJcpi�etv an dieser Stelle anders zu verstehen sein. Im Griechischen heißt 'l'ficpo� nicht allein »Zahl«, sondern auch »Buchstabe« bzw. »Ziffer«. Das davon abgeleitete Zeitwort kann also auch meinen: »eine Zahl in Ziffern/Buchstaben schreiben«. Damit gibt der rätselvolle Vers selbst die Information preis, wie die Zahl 666 in eine Buchstabenkombination zu transformieren sei. Eine Heranziehung des griechischen Ziffernsystems kommt freilich nicht in Betracht, weil das griechische Zahlzeichen für Sechs keine Buchstabenfunktion hat. Schreibt man hingegen 666 mit hebräischen Lettern, so erhält man ein im Textzu sammenhang durchaus sinnvolles Wort:
,O,l"l Bei dieser finiten Verbform handelt es sich um die 2. Pers. masc. plur. des Qal-Imperfekts zur Wurzel 00, (zertrümmern, vernichten). Mit adhortativem Charakter übersetzt, ergibt sich die Bedeutung: »Ihr sollt vernichten/zerstören!« Damit erhellt schlagartig, warum die Ausgießung der Zornesschalen laut Apk 1 6 2 gerade jene Menschen trifft, »die das Zeichen des Tiers tragen«: Weil die Anbeter des Tiers die 666 sichtbar am Körper tragen, fordern sie wegen der verbalen Bedeutung der Ziffernfolge ironischerweise selbst ihre Bestrafung heraus. Der Apokalyptiker inten diert gewissermaßen eine Travestie des Exodusgeschehens: Während die mit dem Blut der Passalämmer bestrichenen Häuser der Israeliten von der Tötung der Erstgeburt - der letzten ägyptischen Plage - verschont blieben, liefert das Zeichen des Tiers dessen Anhänger den Plagen der sieben Zornesschalen aus. 33
Die Fülle der alttestamentlichen Anspielungen im Zahlenrätsel ist damit erst angedeutet. In der hebräischen Bibel kommt das Verb 00, nur an einer einzigen, allerdings um so aufschlußreicheren Stelle vor, und zwar in Form eines substantivierten Derivats: »Der Herr befiehlt, man solle das große Haus in Trümmer (C"O"O,) schlagen und das kleine Haus in Stücke.« (Am 611 ) Das Drohwort gegen das »große« und das »kleine Haus« liefert den Schlüssel zur Interpretation des Verses Apk 1 316, der den Gegensatz groß/ klein aufgreift und durch die Paarbildungen reich/arm sowie Freier/Sklave 33 Auch hier findet sich also der Gegensatz zwischen Lamm und Tier, der als zentrales
Motiv die gesamte Apk beherrscht.
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erweitert. Heinrich Kraft hat diese Aneinanderreihung von Dan 3 2f. hergeleitet34, dabei jedoch übersehen, daß die Formulierungen des Daniel buches ausschließlich hochgestellte Amtsträger des babylonischen Hofes erfassen, also den wesentlichen Gegensatz groß/klein überhaupt nicht thematisieren. Andererseits hat ausgerechnet Kraft in den methodischen Vorbemerkungen zu seinem Apokalypsenkommentar apodiktisch festge stellt: »Wir können generell sagen, daß wir die Stellen nicht ausgelegt haben, in denen es uns nicht gelungen ist, die alttestamentliche Quelle für die apokalyptische Weissagung nachzuweisen.«35 Daß mit Hilfe der in der Zahl 666 verborgenen Wurzel 001 ein Alllosspruch als Grundlage für Apk 13 16 ermittelt werden konnte, dürfte somit ein gewichtiges Argument für die Richtigkeit der hier praktizierten Art gematrischer Auslegung darstellen. Die Abhängigkeit der Tiervision von der alttestamentlichen Prophe zeiung läßt sich vielleicht anband eines weiteren Beispiels demonstrieren. In unmittelbarer Nähe des zitierten Drohworts 611 findet sich in Am die Schau einer im letzten Augenblick abgewendeten Heuschreckenplage (7 1-3}. Auch Apk entwirft das Szenario einer Heuschreckeninvasion (9 3-5} und stellt dabei zumindest indirekt einen Bezug zur Zahl des Tiers her: »Es wurde ihnen gesagt, . . . nur den Menschen Schaden zuzufügen, die das Siegel Gottes nicht auf der Stirn haben.« (9 4) Die Zahl 666 wird gleichfalls auf der Stirn (oder der rechten Hand) getragen, und die sieben Zornesschalen ergießen sich über tou� exona� to xapayJ.La toü 9TJpiou (162). Wie also die 666 auf Am 611 hinweist, könnte auch die unterschwellige Assoziation zwischen der Heuschreckenplage und den Anbetern des Tiers in Apk 9 4 auf dem Vorbild des Amosbuches beruhen. 36 -
2. Die Textvariante 616
In einer kleinen Gruppe griechischer und lateinischer Handschriften wird als Zahl des Tiers nicht 666, sondern 616 angegeben. Zwar ist diese Variante mit größter Wahrscheinlichkeit als sekundär anzusehen, andererseits kann man sie, wie Lohmeyer richtig bemerkt, »aus textkri tischen Gesichtspunkten nicht . . . erklären«37• Sie wird somit zu einem 34 Heinrich Kraft, Die Offenbarung des Johannes, HNT 16a, 1974, 181.
35 Ebd., 16. 3 6 In den einschlägigen Kommentaren wird die apokalyptische Heuschreckenplage meist mit Ex 1012-20 und Joell-2 in Verbindung gebracht. Dabei wird übersehen, daß die eigentliche Pointe von Apk 9 4 gerade in der Verschonung der Frommen liegt. Dieser Umstand paßt eher zur Amosvision, weil dort die drohende Plage auf Bitten des Propheten nicht realisiert wird. - Man beachte auch die wörtliche Übereinstimmung -rov x.op-rov -rfj� yfj� in Apk 9 4 und der LXX - Version von Am 72. 37 E. Lohmeyer, a. a. 0. (Anm. 5) 117.
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Prüfstein für jede Deutung der 666 und für die dabei jeweils angewandte Methode. Jene Kommentatoren, die hinter der 666 einen römischen Kaiser vermuten, verstehen die Variante, soweit sie überhaupt darauf eingehen, meist als zeitgemäße »Anpassung« der Zahl an den Namen eines späteren Herrschers. Da aber, wie oben gezeigt wurde, die apokalyptische Bestie überhaupt keine individuelle Persönlichkeit symbolisiert, kommt eine der artige Erklärung für die 6 1 6 gleichfalls nicht in Frage. Die verblüffend einfache Lösung des Problems ergibt sich, wenn man auch hier die Zahl in Ziffern schreibt: ,,.,l"'
Die auf den ersten Blick sinnlos erscheinende Buchstabenkombina tion ist nichts anderes als die hebräische Umschrift des Genetivs 9T)piou. Der Urheber der Lesart »6 1 6« hat also die Anweisung 'I'TJ
große Fische
1. Gematrie in Joh Die beabsichtigte Schlußwirkung der programmatischen Verse Job 20 30f. gibt zu erkennen, daß Job 2 1 nicht von der Hand des Evangelisten selbst stammt. Dennoch bietet das Evangelium auch innerhalb seines ursprünglichen Bestandes ein bemerkenswertes Beispiel gematrischer Ver schlüsselung: In 5 5 heißt es von dem am Teich Betesda Geheilten, er sei 38 Jahre lang krank gewesen. Wenn Bultmann bezüglich der 1 53 in Job 2 1 11 feststellt, sie müsse einen allegorischen Sinn haben, »da sie keine 3 8 Vgl. Carl Schneider, Art. JlStC01tov, in: ThWNT IV, 1942, 638-640; hier 639:
»Anschaulich haben Verf und Leser der Apk solche Stirnzeichen bei stigmatisierten Sklaven gesehen. Das Einbrennen von Buchstaben - selten mehr als 1 -3 - in die Stirn von Sklaven ist meist eine Strafe für Entlaufen oder andere Vergehen . . . «
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runde Zahl ist«39, so gilt dies nicht minder für die 38.40 Diverse Versuche, die Zeitangabe mit der vierzigjährigen Wüstenwanderung der Israeliten in Zusammenhang zu bringen (noch zwei Jahre bis zu Christi Passion und Auferstehung!)41, können indessen nicht überzeugen, weil gerade in dieser heilsgeschichtlichen Perspektive die Krankenheilung verfrüht wirken müßte. Im Hebräischen hat die Zahl 38 folgende Gestalt: ""
Als Wort gelesen, bilden diese Buchstaben ein Substantiv, das von der Wurzel nn':' (befeuchten, erfrischen) abgeleitet ist und eine im Kontext der Betesda-Perikope sehr aufschlußreiche Doppelbedeutung besitzt, näm lich a) Feuchtigkeit, Nässe (so in der hebräischen Fassung des Sirachbu ches 3113) und - im übertragenen Sinne - b) Frische, Lebenskraft (so in Dtn 34 7). Beide Übersetzungsmöglichkeiten verweisen auf die Situation des Kranken, der vom Naß des aufwallenden Teiches die Wiedergewin nung seiner Lebenskraft erhofft. Überdies wird hieraus ersichtlich, warum die betreffende Krankheit nicht konkret benannt, sondern nur allgemein als acreevtta, Schwäche, gekennzeichnet ist. Das Beziehungsgeflecht, welches sich durch die vorliegende Interpre tation der Zahl 38 knüpfen läßt, reicht noch darüber hinaus. Im Gespräch mit der Samaritanerin am Brunnen verheißt Jesus seiner Zuhöretin >>leben diges Wasser« (Joh 410). Beide Bestandteile dieser Formulierung, Leben und Wasser, sind im Bedeutungsspektrum des hebräischen ""enthalten. Mithin tritt Jesus in Joh 5 als Spender des üorop l;;&v in Konkurrenz zu dem nur scheinbar belebten Wasser des Teiches, auf dessen Wirksamkeit der Kranke vergeblich vertraut. Die kryptische Verbindung zwischen dem Dialog in Joh 4 und dem Zeichen in Joh 5 wirft vielleicht neues Licht auf die viel diskutierte »Blattvertauschungshypothese«, gemäß welcher das sechste Kapitel des Joh eigentlich vor dem fünften einzuordnen wäre42: Der Evangelist könnte die Umstellung ganz bewußt vorgenommen haben, weil ihm die intendier ten theologischen Zusammenhänge wichtiger waren als die vordergründige Konsistenz des Erzählrahmens.
39 R. Bultmann, a. a. 0. (Anm. 4) 549.
Warum R. Bultmann (ebd., 180, Anm. 7) dies im Falle der 38 abstreitet, bleibt angesichts seiner Äußerung zur 153 unerfindlich. 41 So schon Cyrill von Alexandrien, In Joannis Evangelium II 55 (PG 73, Sp. 337). Einen möglichen Anknüpfungspunkt bietet die Zahlenangabe in Dtn 2 14. 42 Das Für und Wider dieser Hypothese wird ausführlich erörtert bei Rudolf Schnak kenburg, Das Johannesevangelium. II. Teil: Kommentar zu Kap. 5-12, HThK IV/ 2, 1971, 6 ff.
40
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2. Deutung der 153 Ebenso wie die 666 der Apk hat die Zahl 153 im Zusatzkapitel des vierten Evangeliums bereits den Kirchenvätern Rätsel aufgegeben. Hieronymus berief sich auf eine angebliche Lehre antiker Naturforscher, derzufolge sich die Zahl aller Fischarten auf 153 belaufe, und sah in Job 2111 eine Heilszusage für die gesamte Menschheit.43 Diese Behauptung hat in der modernen Exegese kaum noch Anklang gefunden, wurde aber jüngst von Ernst Haenchen in seinem Johanneskommentar erneut aufgegriffen. 44 Daher sei hier in Kürze auf ein entscheidendes Gegenargu ment aufmerksam gemacht: Wenn dem Verfasser tatsächlich die Summe aller bekannten Fischarten vorgeschwebt hätte, müßten sich konsequen terweise größere und kleinere Fische im Netz befinden. Statt dessen heißt es ausdrücklich, es seien » 153 große Fische« gefangen worden. Die Spekulationen des Hieronymus sind also - ebenso wie die bereits erwähnten des Augustinus - trotz ihres hohen Alters für die Auslegung der Perikope ohne Belang. Vielmehr empfiehlt sich auch hier die Anwendung jener Methode, die hinsichtlich der Zahl des Tiers und im Fall der 38 Jahre währenden Krankheit zu sinnvollen und dem Textzusammenhang entsprechenden Ergebnissen geführt hat. Gibt man die Zahl 153 in hebräischen Ziffern wieder, so erhält man die scheinbar wenig aufschlußreiche Buchstaben folge
lli', die sich auf Anhieb weder als Verbform noch als Substantiv oder Eigen name lexikalisch einordnen läßt. Hier hilft eine eingehendere Analyse der Fischfanggeschichte weiter, zu deren Besonderheiten die Feststellung gehört, der Jünger Natanael stamme aus Kana in Galiläa (Job 212). Die Herkunftsbestimmung muß auffallen, weil sie im Evangelium ansonsten bei den Erwähnungen Natanaels fehlt, also offensichtlich von dem Autor des Nachtragskapitels (oder einer ihm vorliegenden Sondertradition) her rührt. Als ursprüngliche Form des Ortsnamens Kana hat man rtli' er schlossen45, ein Wort, das kaum zufällig in seinen beiden ersten Buchstaben mit der hebräischen Schreibweise der Zahl 153 übereinstimmt. Daß der Schlußbuchstabe i1 bei der numerischen Verschlüsselung entfällt, ist nicht 43 Commentaria in Ezechielem XIV
47 (PL 25, Sp. 474): Aiunt autem . . . centum quinquaginta tria esse genera piscium quae omnia capta sunt ab aposto/is ... et omne genus hominum de mari hujus saculi extrahitur ad salutem.
44 4S
Ernst Haenchen, Das Johannesevangelium. Ein Kommentar, Tübingen 1980, 587. Gustav Dalman, Orte und Wege Jesu, Gütersloh 1919, 98. Die von Dalman vorge nommene Identifizierung des biblischen Ortes mit Chirbet Kana hat sich in der Forschung allgemein durchgesetzt und liegt auch den folgenden Ausführungen zugrunde.
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weiter irritierend, weil allgemein in der hebräischen Gematrie die matres lectionis ganz nach Willkür einbezogen oder eliminiert werden, wenn es gilt, bestimmte Zahlenwerte zu erhalten. 46 Außerdem bleibt in der griechischen Namensform Kava, die möglicherweise für die Kodierung maßgebend war, der Hauchlaut ebenfalls unberücksichtigt. Durch Vokalisation der zwei ersten chiffrierten Buchstaben ergibt sich also vorläufig die Gleichung 1 5 3 »Kana G.« Wenn man aus den genannten Gründen in der Rätselzahl eine geheime Anspielung auf den Ort Kana sehen will, erklärt sich das Gimel, die letzte der drei Buchstaben Ziffern, zwanglos als Hinweis auf die Landschaftsbezeichnung »in Gali läa«. Im vierten Evangelium erscheint Kana nicht ein einziges Mal ohne diesen Zusatz, so daß man ihn wohl als integralen Namensbestandteil aufzufassen hat. Daß es im Rahmen gematrischer Praktiken nichts Außergewöhnliches ist, in Ziffern geschriebene Zahlen als abgekürzte Eigennamen zu interpre tieren, wurde im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung gezeigt. Dem Zahlenrätsel in Joh 21 liegt das umgekehrte Verfahren zugrunde: Die beiden Elemente des Namens »Kana in Galiläa« wurden, durch ihre jeweiligen Anfangsbuchstaben abgekürzt, auf dem Wege der Gematrie in die Zahl 153 umgedeutet. =
3. Zur Auslegung von Joh 21 Daß der Verfasser bzw. Redaktor von Joh 21 ein besonderes Interesse an Kana hat, wird nicht nur durch die Dechiffrierung der Rätselzahl belegt, sondern auch, wie gesagt, durch die genaue Angabe der Herkunft Natanaels. Die Fischfanggeschichte ist mit Recht von jeher als Allegorie auf erste Missionserfolge der Jünger interpretiert worden, doch scheint das Augenmerk des Erzählers speziell der Missionierung Kanas zu gelten. Stellt man die Frage, warum sich das Nachtragskapitel einer derart verhül lenden Ausdrucksweise bedient, so stößt man auf ein Problem, das in der johanneischen Forschung weitgehend unbeachtet geblieben ist: Obwohl der vierte Evangelist gleich zwei spektakuläre Zeichen Jesu in Kana stattfinden läßt (das Weinwunder sowie die Fernheilung des Beamtensoh nes zu Kafarnaum), fehlt jeder Hinweis auf einen Bekehrungserfolg im Ort selbst. Auf die Verwandlung von Wasser in Wein reagieren lediglich die Jünger mit Glauben (211), und die Resultate der Fernheilung beschrän ken sich auf Familie und Dienerschaft des königlichen Beamten in Kafar naum (4 53).
46 Vgl. F. Dornseiff, 16
a. a.
0. (Anm. 2) 110.
Zeitschr. f. d. neutest. Wiss. 77. Band 1986
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Aus der mehrfachen Erwähnung Kanas in Joh hat man die Existenz einer bedeutenden »johanneischen« Gemeinde an diesem Ort gefolgert. 47 Möglicherweise hat dort das Bedürfnis nach einer »Gemeindegründungs tradition«48 bestanden, das vom Evangelium in seiner ursprünglichen Fassung nicht befriedigt werden konnte. Der Nachtrag scheint diesem Mangel auf zweifache Weise abhelfen zu wollen: Zum einen wird Natanael, laut Joh 145fT. einer der ersten Jünger Jesu, gewissermaßen im nachhinein zum Einwohner Kanas erklärt, zum anderen wird der Fang der 153 Fische (für Eingeweihte gleichbedeutend mit der Missionierung Kanas) auf einen Befehl des Auferstandenen zurückgeführt. Auch das Nachtragskapitel verlegt die Anfänge der Gemeinde zu Kana nicht in die Zeit des irdischen Jesus zurück und wahrt insofern die Harmonie mit Joh 2 und 4. Folgt man dem hier vorgeschlagenen Interpretationsmodell, so lassen sich auch andere Details der Allegorie leicht entschlüsseln. Der betonte Umstand, daß das Netz trotz der vielen Fische nicht zerreißt, dürfte den besonders festen Zusammenhalt der Christen in Kana veranschaulichen, zumal da die johanneischen Gemeinden - wie sowohl das Evangelium als auch die Briefe zeigen49 - durchaus von Spaltungen bedroht waren. Zu der Anordnung Jesu, das Netz auf der rechten Bootsseite auszu werfen (Joh 2 1 6) , meint Bultmann erläuternd, dies sei nach allgemeiner Vorstellung die »Glückseite«50• Dieser Hinweis läßt nicht nur im unklaren, warum sich der Auferstandene den Vorlieben des Volksaberglaubens unter wirft; er vermag ebensowenig die merkwürdig umständliche Wendung eit; ta Öe�ta JlEPTJ tou 1tA.oiou zu erklären. »Die rechte Seite von irgendetwas» wird im NT - wie im Griechischen überhaupt - sonst durch einfaches (ta) Öe�u1 mit nachfolgendem Genetiv wiedergegeben51, während der Plural ta JlSPTJ entweder die Teile eines Ganzen 52 oder eine Landschaft bezeichnet.53 Es scheint, als wolle der Ausdruck ta Öe�ta JlSPll einen geographischen Begriff andeuten, etwa »die rechts vom Boot liegende Gegend«. Da die Initiative zum Fischfang von Petrus ausgeht (Joh 2 1 3) und in Joh 144 Betsaida als »die Stadt . . . des Petrus« bezeichnet wird, ist
47 Gottfried Schille, Anfange der Kirche. Erwägungen zur apostolischen Frühge 48
49 50
51 52 53
schichte, BEvT h 43, 1966, 186. Ebd., 39fT., ist eine Anzahl solcher Traditionen (Schille spricht auch von »Missionsle genden«) zusammengestellt. Bezeichnenderweise hat Schille diesen Gattungsbegriff im Zusammenhang der Kana-Überlieferung nicht gebraucht. So schon Job 6 64; deutlicher dann 1 Job 219 und 2 Job 7fT. R. Bultmann, a. a. 0. (Anm. 4) 548, Anm. 4. Vgl. Lk 1 t t: Eie öe�ui'lv -roii 9ucnacr"t1Jpiou und Act 225: &K öe�ui'lv JlOU. Apk 16 19: Kai eyeve-ro i\ 1t6A.tc; i\ J1Ey6.1..1J Eie; -rpia JlEPTJ. Z. B. Mt 222: -ra JlEPTJ -rfjc; raA.tA.aiac; Mk 8 to: -ra JlEPTJ Aai..J1avou96. Act 2 10: -ra JlEPTJ -rfic; Atß6TJc;.
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die geschilderte Handlung am Nordufer des Sees von Tiberias zu lokalisie ren. Von dort aus gesehen, liegt Galiläa - und damit auch Kana - in der Tat »auf der rechten Seite«. Die Distanz zwischen Kana und Betsaida beträgt übrigens mehr als 30 km54, das sind nach antikem Wegemaß knapp 200 Stadien. Könnte dies der Grund sein, weshalb die Jünger bei ihrem Fischzug »ungefähr 200 Ellen« vom Ufer entfernt sind?55 Wie dem auch sei: In jedem Fall kommt in Joh 21 ein spezifisches Interesse an der Ortschaft Kana und ihrer Missionierung zu Wort - ein Interesse freilich, das sich in eine rätselhafte Allegorie gekleidet hat. Es wird wohl immer offen bleiben, ob der Verfasser des Nachtragskapitels selbst diese eigentümlichen Züge in die Erzählung eingefügt hat oder ob er sich lediglich als Redaktor einer lokalen Tradition bediente, deren geheimen Sinn er bereits nicht mehr verstand.
54 Nach G. Dalman, a. a. 0. (Anm. 45) 101, beträgt »der gradeste Weg« (!) von Kana
nach Kafarnaum 26 km; zwischen Kafarnaum und Betsaida liegen weitere 4 km (ebd., 16 1). Ein Vergleich mit modernen Karten des Heiligen Landes zeigt, daß Dalmans Angaben eher zu niedrig bemessen sind. 55 Die »200 Ellen« sind unter keinen Umständen wörtlich zu nehmen, denn der Dialog zwischen Jesus und den fischenden Jüngern (Joh 21 sr.) kann sich kaum über eine Distanz von rund 100 m hinweg abgespielt haben. Emmanuel Hirsch, Studien zum vierten Evangelium, BHTh 11, 1936, 180, hat nachdrücklich auf diese Absurdität hingewiesen (»die geradezu tolle Selbstankündigung des auferstandenen Jesus mit dem über etwa 100 m Wassers hin hallenden lauten Rufe«), die zweifellos auch den zeitgenössischen Lesern des Evangeliums bewußt wurde. Es ist unzulässig, mit E. Haenchen, a. a. 0. (Anm. 44) 595f., das Problem als bloßes Produkt moderner Bibelkritik abzutun. 16*