Flucht nach Colorado
Cassie Miles
Julia Love & Crime 3 – 1/03
gescannt von almutK korrigiert von briseis
PROLOG 25...
21 downloads
496 Views
931KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Flucht nach Colorado
Cassie Miles
Julia Love & Crime 3 – 1/03
gescannt von almutK korrigiert von briseis
PROLOG 25. Juli, Aspen, Colorado Jordan Shane erwachte mit einem Frösteln. Im Gästezimmer seiner Frau war es so kalt wie in einem Leichenschauhaus. Das Federbett auf seinen Beinen fühlte sich klamm und schwer an, fast wie eine Schneedecke. Hier in den Bergen hatte er ständig den Eindruck, er stünde kurz vor dem Erfrieren, selbst jetzt, mitten im Sommer. Ein gleißender Lichtstrahl zerschnitt die Dunkelheit. Seine Zimmertür war nur angelehnt. Es musste etwa Mitternacht sein. „Lynette?" Leise rief er den Namen seiner Frau, die eigentlich keinen Grund hatte, nachts zu ihm zu kommen. Seit elf Monaten teilten sie das Bett nicht mehr miteinander, lebten nicht im selben Haus. Meistens hielten sie sich nicht einmal auf demselben Breitengrad auf, Jordans Haus und seine Firma befanden sich im Sonnenstaat Florida an der Golfküste, wo stets eine leichte subtropische Brise in den saftig grünen Palmwedeln spielte. Lynette hingegen verbrachte die meiste Zeit hier in Aspen, Colorado, wo ihr zwei Skihütten gehörten und sie eines der größten Häuser bewohnte, die er je gesehen hatte. Sie nannte es ihr Chateau. Er bezeichnete es als Hotel, weil sich permanent Freunde und Verwandte in den sechzehn Schlafzimmern einquartierten, ganz zu schweigen von Sean Madigan, dem Skilehrer, der im Gästehaus wohnte, und der Haushälterin, die ein großes Apartment hinter der Küche im Untergeschoss bewohnte. Lynette war nicht gerne alleine - nicht einmal mit ihrem Ehemann. Zumindest hatte sie diesmal dafür gesorgt, dass Jordan während seines Sommerbesuchs seine Ruhe hatte. Im Augenblick waren keine Geschäftspartner da, keine Gäste, keine Cousins oder Cousinen, keine Freunde. Die Leere in dem aus Granitstein gebauten Chateau-Hotel kam ihm beinahe unheimlich vor. Jordan war hier, um über die Auflösung ihrer gescheiterten Ehe zu sprechen. Als er am Nachmittag die Scheidung vorgeschlagen hatte, hatte Lynette sofort eingewilligt. Allerdings hatte sie ihn gebeten, die juristischen Schritte erst in einem Monat einzuleiten, weil sie vorher noch irgendwelche geschäftlichen Dinge regeln wollte. Die Trennung war einvernehmlich, es gab keine bitteren Gefühle. Ihre Beziehung hatte einfach nicht funktioniert. Im Grunde hatten sie nie irgendwelche Gemeinsamkeiten gehabt. Jordan hatte sich von Lynettes erstaunlicher Schönheit blenden lassen - ihrem langen, glänzend schwarzen Haar, den saphirblauen Augen und der perfekten blassen Haut. Selbst jetzt, nachdem die Ehe im Grunde vorbei war, erinnerte er sich noch voller Zärtlichkeit an ihre üppigen Rundungen und die vollen Brüste. Der Gedanke an ihren nackten Körper wärmte ihn. Er streckte den Arm aus, in der widersinnigen Hoffnung, dass sie vielleicht zu ihm ins Doppelbett gekommen war. Der guten alten Zeiten zuliebe. Als er über das Kopfkissen tastete, spürte er kaltes Metall. Seine Finger umschlossen den Griff einer Pistole. Die Erinnerung an Lynettes Parfüm verschwand sofort, als ihm ein Hauch von Kordit und Pulver in die Nase drang. Diese Waffe, eine automatische Glock war vor kurzem erst abgefeuert worden. Jordan sprang aus dem Bett, knipste das Licht an und blickte sich im Gästezimmer um. Lynettes antike Möbel bildeten einen krassen Kontrast zu seinem Laptop, den er mitsamt Drucker auf einem Tisch abgestellt hatte. Auch das Handy lag dort. Alles schien an seinem Platz. Aber es musste jemand hier gewesen sein. Irgendjemand hatte die Pistole zurückgelassen. Er überprüfte, ob sie geladen war. Dann schnappte er sich sein Handy, öffnete vorsichtig die Zimmertür und spähte in den Gang des ersten Stockwerks hinaus. Auf der einen Seite befand sich das Kirschholz-Geländer der Galerie, von der aus man hinunter ins Foyer blicken konnte. Auf der anderen Seite sah er die geschlossenen Türen der Gästezimmer, alle unbewohnt.
Das Schlafzimmer seiner Frau lag fünfzig Meter entfernt, am südlichen Ende des Gebäudes. Die Flügeltür stand weit offen. „Lynette!" Die dunkel verkleideten Wände an denen teure Originalgemälde hingen, schienen den Schall zu schlucken. Er rief ihren Namen nicht noch einmal. Er war sich absolut sicher, dass sie nicht mehr antworten konnte. Nur mit Boxershorts bekleidet, rannte Jordan in ihre Suite. Er hetzte an den weißen Sofas vorbei in ihr ebenfalls weiß eingerichtetes Schlafzimmer, das so kühl wirkte wie eine Gletscherlandschaft. Im hellen, von der riesigen Spiegelwand reflektierten Licht mehrerer Lampen lag Lynette blutüberströmt auf dem dicken weißen Teppich vor ihrem Himmelbett. Das Spitzennachthemd war über ihre Schenkel hochgerutscht. Der Schuss hatte sie in die Brust getroffen. Jordan warf die Pistole weg und fiel neben ihr auf die Knie. Er berührte ihren Hals, konnte aber keinen Puls feststellen. Nichts. „Hilfe!" schrie Jordan. Die Haushälterin musste da sein. „Rita, Hilfe!" Lynette starrte ihn mit leerem, ausdruckslosem Blick an. Ihre Haut war kalt. Verdammt, sie konnte nicht tot sein! Ihre Wangen waren leicht gerötet. Jordan tippte die Notrufnummer in sein Handy. „Einen Krankenwagen! Schicken Sie einen Krankenwagen!" Er nannte die Adresse. „Wie kann ich sie wiederbeleben? Sagen Sie schon!" „Sir, wenn Sie einen Augenblick dranbleiben, kann ich ..." Er warf das Telefon zur Seite. Wenn überhaupt noch ein Rest Leben in Lynettes Körper war, dann musste er schnell handeln. Er legte ihre Beine nebeneinander. Ihre nackten Arme klebten vor Blut. Als er ihren Oberkörper anhob, kippte ihr Kopf zurück, und ihr glänzendes schwarzes Haar fiel wallend über seinen Arm. Einen Moment lang drückte er sie an sich. Er hatte sich ein Ende gewünscht. „Aber nicht so, mein Gott, doch nicht so!" Rita Ramirez trat ins Zimmer. Sie trug einen gelben Bademantel. „Rita!" rief er. „Sie müssen ihr helfen." Die Haushälterin wich zurück. Ihre Hände flogen hoch, und sie presste sie vor den Mund. „Dios mio, Jordan. Was haben Sie nur getan?"
1. KAPITEL 16. September, Cascadia, Colorado „Und so sieht die Wunde aus." Mit einem roten Filzstift malte Emily Foster zwei einander gegenüberliegende Punkte auf den Arm einer siebenjährigen Pfadfinderin. Sie sollten die Bisswunde einer Klapperschlange darstellen. Die anderen acht Mädchen und die Truppenleiterin standen im engen Kreis um den Tisch in der Leitzentrale des Rettungsdienstes von Cascadia. „Kann mir irgendjemand sagen, was man jetzt als Nächstes tun muss?" „Ich weiß es", rief ein engelhafter kleiner Rotschopf. „Sie müssen die verdammte Schlange erschießen." „Die Schlange ist längst nicht mehr da." Emily zog es eigentlich vor, eine Erste-HilfeStunde nicht ausgerechnet mit Schlangenbissen zu beginnen. Wenn es nach ihr ginge, würde sie überhaupt nicht über Reptilien sprechen - diese schleimigen, hinterhältigen, Furcht einflößenden Kreaturen. Aber Kinder interessierten sich nun mal viel mehr für Katastrophen. Begegnungen mit Klapperschlangen, Berglöwen und Grizzlybären waren viel spannender, als sich zu merken, woran man giftigen Efeu erkannte. „Wer weiß also, was als Nächstes zu tun ist?" „Man muss das Gift raussaugen", sagte Libby Hanson, die Tochter der Truppenleiterin. „Und dann ausspucken." Das rothaarige Engelchen grinste frech. „Und wenn jemand in den Hintern gebissen wurde?" „Krass", sagte ein großes, schon sehr entwickeltes Mädchen mit langen braunen Haaren, die ihr bis zur Taille reichten. „Ich würde niemals am Hintern von egal wem saugen." „Außer an dem von Johnny Jamison", rief das ungezogene Engelchen. „Beruhigt euch, Mädels." Yvonne, die Truppenleiterin und Mutter von vier Kindern, legte entsprechende Autorität in ihre Stimme, aber die kleinen Pfadfinderinnen hörten gar nicht hin. Sie waren in haltloses Kichern ausgebrochen. „ Ruhe!" rief Yvonne. Mahnend hob sie eine Hand in die Höhe. Diejenigen Mädchen, die nicht gerade saugende Geräusche an ihren Armen machten, wackelten dafür mit ihren kleinen knochigen Hintern. „Still!" rief Yvonne. „Sonst gibt's nachher keine Snacks." Sofort kehrte Ruhe ein, und Emily warf Yvonne einen dankbaren Blick zu. Sie fühlte sich in Gegenwart von Kindern nie sonderlich wohl, vor allem nicht, wenn sie in Gruppen auftraten. Sie zu kontrollieren war genauso schwer, wie an einer Gabel baumelnde Spaghetti nicht fallen zu lassen. „Um genau zu sein wird die Saug- und Spuck-Methode nicht mehr empfohlen. Zuerst säubern und desinfizieren wir die Wunde." Sie ahmte die Bewegung nach. „Dann bringen wir einen Druckverband ein paar Zentimeter oberhalb an. Nicht zu fest. Es ist ganz wichtig, dass das Opfer nicht beunruhigt wird." Die vorgeblich von einer Schlange gebissene Pfadfinderin streckte sich entspannt aus, und Emily beendete die Behandlung, indem sie ein gefaltetes Stück Mull oberhalb des Bisses festklebte. „Damit übt man direkten Druck auf die Wunde aus. So, und nun?" „Hilfe holen", sagte Yvonnes Tochter. „Ganz richtig." Emily streckte einen Daumen nach oben. „Noch irgendwelche Fragen?" Eins der Mädchen meldete sich. „Ist das Ihre echte Haarfarbe?" Emily tastete nach ihrem lockigen blonden Pferdeschwanz. „Ja." „Ich habe mich nur gewundert, weil Ihre Augen so merkwürdig grün sind und nicht blau wie bei den meisten Blondinen." „Ich denke, wir sollten uns um die Erste Hilfe kümmern, nicht wahr?" Emily lockerte den Verband am Arm des freiwilligen Opfers.
Das unwiderstehliche Engelchen fragte: „Haben Sie schon mal jemanden sterben sehen, der von einer Schlange gebissen wurde?" „Nie." „Aber Sie haben schon Leute sterben sehen, oder? Schließlich sind Sie ja Krankenschwester." Bis Emily vor drei Jahren nach Cascadia gezogen war, hatte sie in der Notaufnahme eines Krankenhauses in Denver gearbeitet und oft genug sinnlose und grausame Todesfälle erlebt. Mein Gott, wie oft hatte sie Menschen sterben sehen. Die Hilflosigkeit und das Entsetzen hatten sich tief in ihre Seele eingebrannt. Aber das war nun wirklich nicht das passende Thema für siebenjährige Pfadfinderinnen. „Das Wichtigste ist", entgegnete sie, „dass man Gefahren vermeidet. Wer kann mir die wichtigste Sicherheitsregel in den Bergen sagen?" „Sei vorsichtig und vorausschauend", antworteten die Mädchen im Chor. „Und die zweite Regel?" „Sei vorbereitet." „Und wenn ein Unfall geschieht?" fragte sie weiter. „Ruhig bleiben. Die Notrufnummer 911 wählen. Erste Hilfe leisten." „Ich kapier das nicht", sagte das frühreife Mädchen. „911 ist die Telefonnummer von Sheriff Litvak. Warum ist das dieselbe wie die Notrufnummer?" „Er nimmt dann Kontakt mit der Notrufzentrale auf", erklärte Emily. „Ruft er Sie zu Hause an? Und was ist, wenn Sie gerade keine Zeit haben?" „Dann lasse ich trotzdem alles stehen und liegen und renne los", antwortete Emily. „Meistens treffen wir uns genau hier, hinter der Praxis von Dr. Cannon." Die Leitstelle der Freiwilligen Rettungseinheit von Cascadia war nicht größer als eine Doppelgarage und in etwa genauso glamourös. Der Raum war mit alten Tischen, Stühlen und einem antik anmutenden Kühlschrank ausgestattet. Die Ausrüstung aus Skiern, Schneeschuhen, Tragen, Eishaken und Nylonseilen jedoch war auf dem neuesten Stand der Technik. An den Wänden hingen wunderschöne Luftaufnahmen der Berge. Es gab Funksprechgeräte, ein Satellitentelefon und zwei Computer - elektronische Geräte, die Emily bis heute nicht wirklich begriffen hatte. Am Ende ihrer Demonstration verteilte sie kleine Erste-Hilfe-Köfferchen, auf denen die Adresse und Telefonnummer des Cascadia-Rettungsdienstes klebte. Aus Erfahrung wusste sie, dass die meisten dieser Köfferchen als Spielzeug endeten, aber zumindest würden die Kinder über Sicherheitsmaßnahmen nachzudenken beginnen. Dr. Spence Cannon, ein junger und äußerst beliebter Allgemeinmediziner, streckte seinen Kopf durch die Tür, die direkt in seine Praxis führte. „Ich dachte schon, ich hätte hier irgendwo Mäuse gehört." Aufgeregt scharten sich die Pfadfinderinnen um ihn. „Wir sind doch keine Mäuse!" „Und wie wollt ihr mir dann eure großen Ohren erklären?" Spence zog an ein paar Zöpfen. „Und diese langen Schwänze?" „Ich bin ein Adler", rief der Rotschopf, breitete die Arme aus und begann durch den Raum zu segeln. „Ach ja? Und ich bin ein Wolf." Libby Hanson entblößte ihre Fangzähne und knurrte. Das frühreife Mädchen brachte sich in Positur. „Ich bin ein Supermodel." Emily trat neben Yvonne und beobachtete, wie Spence sich zusammen mit den Mädchen an den Tisch setzte, um sich über Sandwiches und Limonade herzumachen. „Er kann mit Kindern großartig umgehen", sagte sie. „Allerdings", stimmte Yvonne zu. „Was für ein Glück für uns, dass er sich hier niedergelassen hat. Mit diesen blonden Haaren und den babyblauen Augen hätte er mit einer Praxis in Aspen ein Vermögen machen können." Obwohl Cascadia nur etwa eine Stunde von dem sagenhaften Skigebiet entfernt war, lagen in wirtschaftlicher Hinsicht Millionen Kilometer dazwischen. Cascadia konnte man nun
wirklich nicht als einen Ferienort bezeichnen. Es war kein malerisches Bergdorf mit Viktorianischen Villen, Apartmenthäusern und Souvenirläden. Die meisten Einwohner arbeiteten in Aspen und wohnten in eher bescheidenen Blockhütten, in Wohnwagen oder Motelzimmern. „Spence passt hierher", sagte Emily. „Er ist ein netter Kerl." In ihrem Fall war die Bezeichnung „nett" für einen Mediziner ein echtes Kompliment. Während ihrer Zeit als Krankenschwester in der Notaufnahme hatte sie eine starke Abneigung gegen Ärzte entwickelt. Die meisten waren Egoisten. „Danke, dass du dich mit den Kindern befasst hast", sagte Yvonne. „Diese Erste-HilfeKöfferchen sind hübsch. Wie kann sich denn unser total unterfinanzierter Rettungsdienst so etwas leisten?" „Wir haben eine Spende bekommen, die wir ausdrücklich für Schulungen der Bergsicherheit und Erste Hilfe ausgeben sollen. Zehntausend Dollar." „Wow!" Yvonne riss die Augen auf. Neben ihren familiären Pflichten züchtete und trainierte sie Rettungshunde - eine Unternehmung, die immer finanzielle Unterstützung brauchen konnte. „Wer ist denn dieser Wohltäter? Jemand aus Aspen?" „Jemand, der nicht mehr am Leben ist. Lynette Afton-Shane." „Oje! Du weißt, ich gebe ja nicht gerne an, aber ich bin mal in ihrem Haus gewesen. Das Afton-Chateau. Eine erlesene Scheußlichkeit aus Stein. Großartige Antiquitäten." „Wie kam das denn?" fragte Emily. „Hatte was mit den Kindern zu tun." Yvonne schnalzte mit der Zunge und senkte die Stimme, damit die kleinen Pfadfinderinnen sie nicht hören konnten. „Diese arme Frau. Kaltblütig vom eigenen Mann ermordet zu werden." „Ich glaube nicht, dass Jordan Shane es getan hat." „Kennst du ihn?" „Nicht wirklich. Ich habe ihn zwei Mal getroffen." Das erste Mal war vor über einem Jahr gewesen, als Jordan Shane in Aspen einen ihrer Vorträge über Bergsicherheit besucht hatte. Beim zweiten Mal war er persönlich in ihre Blockhütte gekommen, um ihr die Spende zu überreichen. Er behauptete zwar, dass die zehntausend Dollar von seiner Frau kämen, doch der Scheck war auf sein eigenes Konto ausgestellt. „Komm schon, Emily. Ich will Einzelheiten. Wie sieht er aus?" „Dunkelbraunes Haar. Irgendwie zu lang." Als sie Jordan traf, war er der Mann einer anderen Frau gewesen. Also hätte sie sein energisches Kinn, die hohen Wangenknochen und die glühenden dunklen Augen nicht bemerken dürfen. Und auch nicht seine breiten Schultern und die Art und Weise, wie die abgewetzten Jeans seine muskulösen Schenkel betonten. „Er hat einen Südstaatenakzent. Ich glaube, er lebt in Florida oder so." Yvonne zog die dunklen Augenbrauen zusammen und bemühte sich um einen vorwurfsvollen, mütterlichen Blick. „Sag jetzt bitte nicht, dass du für ihn schwärmst." „Wie denn? Er ist verheiratet." „War verheiratet. Jetzt ist er ein Mörder." „Er wird des Mordes verdächtigt", berichtigte Emily. Sis hatte den Fall in der Zeitung verfolgt. „Der Prozess hat noch nicht mal angefangen." „Korrigiere mich, falls ich mich irre, aber wurde er nicht verhaftet, als er mit rauchender Pistole in der Hand neben der Leiche stand? Und außer ihm war niemand im Haus? Keine Anzeichen dafür, dass jemand sich gewaltsam Zutritt verschafft hatte?" „Das stimmt", räumte Emily ein. „Und er hatte ein Motiv", fuhr Yvonne fort. „Wie ich hörte, wollten sich die beiden scheiden lassen, und dann hätte Jordan nichts mehr geerbt." So ziemlich jeder in den Gemeinden der Umgebung war zu der Erkenntnis gelangt, dass Jordan Shane, der Außenseiter, seine beliebte, wohlhabende Frau umgebracht haben musste.
Wegen dieser allgemeinen Stimmung hatte Jordans Anwalt dafür gesorgt, dass der Gerichtsstand verlegt wurde. „Ich weiß nicht", sagte Emily. „Aber Jordan Shane wirkt einfach nicht wie ein Mörder." „Als ob du einen erkennen würdest." Yvonne deutete auf die kichernden Mädchen und Spence. „Warum fängst du eigentlich nicht was mit ihm an?" „Spence? Auf keinen Fall. Eines habe ich als Krankenschwester gelernt - verlieb dich nie in einen Arzt." „Wieso nicht?" „Weil es nicht funktioniert." Das hatte sie selbst auf bittere Art herausfinden müssen „Davon abgesehen habe ich bereits meinen Traummann. Sein Name ist Pookie." Yvonne schnaubte ungläubig. „Pookie ist ein Golden-Retriever-Welpe und nicht sonderlich klug." „Aber er wärmt mich nachts", entgegnete Emily. „Was mich daran erinnert, dass ich ihn schon viel zu lange allein gelassen habe. Ich muss los." Bevor Yvonne so weit war, am Beispiel von Bienen und Blumen den Unterschied zwischen einem Hund und einem Mann im Bett zu verdeutlichen, verabschiedete Emily sich hastig und verließ die Leitstelle des Rettungsdienstes. Obwohl ehrenamtliche Tätigkeit ein wesentlicher Bestandteil ihres Berufslebens und Vorträge wie der für die Pfadfinderinnen eine Rechtfertigung ihres bescheidenen Gehalts darstellten, war sie froh, diese Aufgabe hinter sich zu haben. Nachdem sie bereits morgens alle Besorgungen erledigt hatte, konnte sie nun den Rest des Wochenendes mit einem guten Buch verbringen oder mit Pookie spazieren gehen oder endlich mit den lästigen Arbeiten an der Hütte beginnen, die noch vor dem ersten Schneefall fertig sein mussten. Emily rutschte hinter das Steuer ihres alten Landrover und fuhr durch die Stadt. Nach etwa zwanzig Minuten rumpelte sie über den einsamen Weg, der zu ihrer einsamen Behausung führte. Ihre Blockhütte - die solange sie denken konnte bereits ihrer Familie gehörte - stand direkt am Waldrand. Sie hatte keine Nachbarn, abgesehen von den Streifenhörnchen, einem Elch und den Kolibris. Manchmal bekam sie tagelang keine menschlichen Laute zu hören. Obwohl sie gelegentlich befürchtete, sich in eine exzentrische Einsiedlerin mit wirrem Haar zu verwandeln, liebte Emily ihr abgeschiedenes Leben. Sicher in ihrer Hütte aufgehoben, brauchte sie die tägliche Dosis an Antidepressiva nicht mehr. Die Angstattacken kamen nur noch ganz selten. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, als sie dem Wahnsinn und dem unmenschlichen Stress in der städtischen Notaufnahme den Rücken gekehrt hatte, wo es täglich, wenn nicht sogar stündlich, um Leben und Tod ging. Der Druck war zu stark gewesen. Heute, mit zweiunddreißig, zog sie die Einsamkeit vor, sie brauchte sie sogar. Emily parkte vor ihrer Hütte. Nachdem sie ausgestiegen war, blieb sie einen Moment stehen und betrachtete die mit Koniferen bewachsenen und jetzt von der Sonne beschienenen Hügel. Es war ein warmer Septembernachmittag. Der Himmel über ihr erstreckte sich in tiefem, endlosem Blau. Mein Gott, wie wunderschön! Eine frische Brise streifte ihre Wangen und zerzauste ihre blonden, lockigen Haare. Der Herbst war ihre liebste Jahreszeit. Er überzog die Blätter der Espen auf den Berghängen mit schimmerndem Gold. Frischer Schnee glitzerte auf den Gipfeln in der Nähe des Continental Divide. Ein karamellfarbenes Fellknäuel kam auf sie zugeschossen. Sie versuchte zwar, Pookie nach dem Programm von Yvonne zu erziehen, aber wenn sie ehrlich war, fand sie es herrlich, dass ihr Welpe vor Vergnügen mit dem ganzen Körper wackelte, sobald er sie sah. Und sie war auch entzückt über sein Begrüßungsgebell. „Wau-wuffz." Pookie drückte sich gegen sie. Er legte seine übergroßen Pfoten auf ihre Schenkel und ließ die Zunge aus dem Maul hängen. „Wie bist du rausgekommen?" fragte sie, während sie ihn zwischen den Ohren kraulte. „Ich bin mir sicher, dass ich dich im Haus gelassen habe."
„Wuffz, wau." Er setzte sich auf die Hinterpfoten und legte den Kopf schräg, was wohl das hündische Äquivalent zu einem Schulterzucken sein sollte. „Waschbären", murmelte sie. Dieses Pack mit den Maskengesichtern drang einfach überall ein. Vermutlich hatten sie eines der Fenster aufgestoßen. Von Pookie gefolgt, erklomm sie die Treppe zur Veranda. Die Vordertür war unverschlossen. Hatte sie sie offen gelassen? Als Emily in die Hütte trat, wurde sie von hinten gepackt. Der eiskalte Lauf einer Pistole bohrte sich in ihren Nacken. „Ganz ruhig", flüsterte eine heisere Stimme. Zwar hatte sie in der Stadt Selbstverteidigungskurse besucht, aber mit einem Mal war ihr Kopf ganz leer. Der unerwartete Angriff hatte sie vollkommen überrascht. Sie hielt den Atem an. Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus. „Ich werde Ihnen nichts tun", sagte der Mann. Er sprach mit leichtem Südstaatenakzent. „Ich brauche Ihre Hilfe, Miss Foster." Er kannte ihren Namen. „Wer sind Sie?" Er antwortete nicht. Sein muskulöser Arm umklammerte ihren Hals ein wenig fester und drückte gegen ihre Luftröhre. Ihr Körper wurde noch enger an seinen gepresst, sie spürte, dass er sehr groß war. Ihr Kopf reichte kaum bis an seine Schultern. Es war aussichtslos, sich zu wehren. Selbst ohne Pistole hätte er sie mit Leichtigkeit überwältigen können. Was wollte er? Sie zitterte. Sie konnte es einfach nicht fassen. Sie hatte sich hier doch immer so sicher gefühlt. Keuchend rang sie um Luft. Auf Pookie machte ihre Panik allerdings nicht den geringsten Eindruck. Er hüpfte um sie herum, stolperte über seine eigenen Pfoten und schien sich über das neue Spiel zu freuen. „Wau, wau. Wuff." „Bitte", flehte Emily. „Lassen Sie mich los." „Ich denke darüber nach." Er spielte mit ihr, schien seine Überlegenheit zu genießen. Das ärgerte sie trotz ihrer Angst. Sie musste etwas tun, sich irgendwie befreien. Sie spannte ihre Armmuskulatur an und versuchte, einen Ellbogen in seinen Bauch zu rammen. Doch dann mahnte sie sich zur Vorsicht. Vergiss die Pistole nicht. Das Schlimmste, was sie jetzt tun konnte, war, ihn zu provozieren. Mit möglichst ruhiger Stimme sagte sie: „Sie haben mich um Hilfe gebeten. Ich werde tun, was ich kann. Aber bitte tun Sie mir und meinem Hund nichts an." „Einverstanden." Er lockerte seinen Griff. Endlich wieder frei, drehte sie sich schnell um und sah ihm ins Gesicht. Er trug Gefängniskleidung, Jeans und ein blaues Hemd mit einer schwarzen Nummer über der Brusttasche. Sein dunkelbraunes Haar hing ihm struppig ins Gesicht. Er blutete am linken Oberarm. Blut klebte auch unter einem seiner Wangenknochen. Er gab ihren Blick zurück, düster und verzweifelt. „Jordan Shane", flüsterte sie. „Sie sind geflohen." Sie hatte sich in ihm getäuscht. Bis zu diesem Augenblick hatte sie an seine Unschuld geglaubt. Doch unschuldige Männer rannten nicht davon. Jordan Shane war ein kaltblütiger Mörder. In seiner rechten Hand hielt er eine 22er-Automatik, mit der er auf ihre Brust zielte. „ Das ist meine Pistole", stellte sie erbost fest. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich mir diese Erbsenschleuder ausgeliehen habe." Sie bewahrte die ungeladene Pistole in einer Holzkiste im obersten Fach ihres Kleiderschranks auf. Die Munition war zwischen ihrer Unterwäsche versteckt. Er hatte also ihr Haus durchsucht. Bei der Vorstellung, dass ein Mörder ihre persönlichen Sachen durchwühlt hatte, wurde ihr übel. Nichtsdestotrotz kuschelte Pookie sich zärtlich an ihn. Hatten Tiere denn nicht einen siebten Sinn für gefährliche Situationen? Emily beschloss, Pookies Urteil nicht zu ernst zu nehmen. Kühl sagte sie: „Ich habe kein Auto gesehen. Wie sind Sie hierher gekommen?"
„Ich habe in dem Schuppen hinter Ihrem Haus geparkt und die Tür verschlossen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen." Und ob sie etwas dagegen hatte! Es war nicht ihre Art, entflohenen Kriminellen Unterschlupf zu gewähren. Sie ließ sich von seiner aufgesetzten Höflichkeit nicht eine Sekunde lang täuschen. Schließlich war Jordan Shane nicht einfach nur auf eine Tasse Kaffee vorbeigekommen. „Was wollen Sie von mir?" „Ich brauche medizinische Versorgung. Ich bin angeschossen worden." Auch ohne das ganze Blut hätte Emily wegen des Zuckens seiner Schulter auf eine schwer wiegende Verletzung geschlossen. Sein Atem ging flach. Seine Gesichtsfarbe war fahl. Nichts an Jordan Shane erinnerte an den attraktiven Wohltäter, der ihr vor einem Jahr einen Besuch abgestattet hatte. Als er das letzte Mal hier gewesen war, war er tief gebräunt gewesen. Doch sechs Wochen im Pitkin-County-Gefängnis hatten seiner gesunden Farbe den Garaus gemacht. Er hatte abgenommen, wirkte aber nicht zerbrechlich. Seine Gesichtszüge waren schärfer, so als ob die Strapazen der letzten Wochen sich ihm bis auf die Knochen ins Fleisch gegraben hätten. Als sie ihn so anstarrte, verspürte sie wieder diese instinktive Sympathie für ihn. Und dieses Gefühl überwog ihre Angst und ihre Wut. Solange sie sich erinnern konnte, hatte Emily sich zu den Armen und Schwachen hingezogen gefühlt. Sie war die geborene Krankenschwester. Sie glaubte ernsthaft an das Motto des Rettungsdienstes: „... auf dass andere am Leben bleiben." In diesem Fall jedoch versagte ihr Instinkt offenbar kläglich. Jordan Shane war gefährlich. „Ich kann Ihnen nicht helfen", sagte sie. „Wenn ich es täte, würde ich Beihilfe zu einem Verbrechen leisten." „Nicht, wenn ich Sie zwinge", sagte er und spielte beiläufig an der Pistole herum. „Ich bin nicht hier, um Ihnen Ärger zu machen, Miss Foster." „Warum dann? Warum haben Sie sich ausgerechnet mich ausgesucht?" „Das war nahe liegend." Jordan trat einen Schritt zurück und lehnte sich gegen das Sofa. Ihm war schwindlig. Er glaubte nicht, dass das am Blutverlust lag. Wahrscheinlich verwirrte ihn seine eigene Verwegenheit. Er hatte nie zu den Männern gehört, die erst handelten und dann nachdachten. Und mit einem Mal war er auf der Flucht vor dem Sheriff von Pitkin County. Genau in diesem Augenblick würde eine umfangreiche Suchaktion gestartet werden. „Nahe liegend? Sie sind deswegen hierher gekommen?" „Ja." Das Denken fiel ihm schwer. Er hatte das Gefühl, dass die Ereignisse des Tages ihn nicht betrafen, obwohl er sich ganz genau daran erinnern konnte, wie er in einem Zimmer mit Fenstern am Flughafen von Aspen zurückgelassen worden war. Er sollte nach Denver geflogen werden, wo am Montag sein Prozess begann. Gemeinsam mit ihm wartete ein weiterer Gefangener. Dann war plötzlich Deputy Frank Kreiger ins Zimmer gekommen und hatte ohne Erklärung die Handschellen und Fußfesseln entfernt. Danach war er wieder verschwunden. Der andere Typ hatte nicht lange gezögert, war zu einem der Fenster gelaufen, hatte den Riegel gelöst und es aufgestoßen. Die frische Luft war Jordan wie der Duft der Freiheit erschienen. Sie hatte ihn magisch angezogen. „Ich verstehe Ihre Auffassung davon, was nahe liegend ist, nicht", hörte er Emily sagen. Ihre Stimme hallte, als ob sie vom Boden eines tiefen Tals aus sprechen würde. „Könnten Sie sie mir erklären?" Jordan verstand sie selbst nicht. Er hatte sich nicht bewusst dazu entschlossen zu fliehen, aber auf einmal war er im Freien gewesen und rannte geduckt an der Flugzeughalle entlang auf die Rollbahn zu. Schüsse peitschten. Stechende Hitze durchfuhr seinen linken Arm. Er drehte sich halb um und hörte, wie eine Kugel an seiner Wange vorbeizischte. Der andere Gefangene lag platt auf dem Boden und wartete darauf, abgeführt zu werden.
Jordan rannte. Im Zickzackkurs raste er durch den Flughafen, in dem er schon ein Dutzend Mal gewesen war. Er erreichte den Angestellten-Parkplatz und schloss einen alten Dodge kurz. Dann verließ er Aspen so schnell er konnte. Er hatte keinen exakten Fluchtweg im Kopf, und plötzlich befand er sich auf der Straße Richtung Cascadia. Er konnte sich an den Weg zu Emilys Hütte noch von damals erinnern, als er ihr den Scheck überreicht hatte. Er wusste auch noch, dass die Gegend ziemlich einsam war und es keine störenden Nachbarn gab. Er gab ihr eine kurze Erklärung. „Mir fiel ein, dass Sie früher als Krankenschwester in der Notaufnahme gearbeitet haben. Ich dachte mir, dass Sie bestimmt wissen, wie man eine Schusswunde behandelt." „Das weiß ich in der Tat." Sie kniff die grünen Augen zusammen. Sie war vorsichtig und misstrauisch. Eine absolut verständliche Reaktion. Vermutlich glaubte sie, wie jedermann in Pitkin County, dass er Lynette ermordet hatte. „Flicken Sie mich zusammen, Miss Foster, und ich verschwinde sofort." „Nennen Sie mich Emily." Sie war bewundernswert tapfer. „Nach Ihrem bewaffneten Überfall finde ich, dass wir uns mit Vornamen ansprechen sollten." Seine Mundwinkel zuckten. Es war Wochen her, dass er das letzte Mal gelächelt hatte. „Ich mag Ihren Sinn für Humor, Emily." „Er hilft überleben", klärte sie ihn auf. „Und mir ginge es um einiges besser, wenn Sie diese Pistole endlich weglegen würden." Sie streckte die Hand aus, als erwarte sie tatsächlich, dass er ihr die Waffe geben würde. „Besser nicht." „Vertrauen Sie mir denn nicht, Jordan?" „Himmel, nein." Sie war eine gesetzestreue Bürgerin, und sie würde ihn der Polizei ausliefern, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. „ Bringen wir's hinter uns." Obwohl er vermutete, dass er nur eine schmerzhafte Fleischwunde davongetragen hatte, wollte er ihre professionelle Meinung dazu hören. Der Streifschuss an seiner Wange war besorgniserregender - zum einen, weil die Wunde einfach nicht aufhörte zu bluten, zum anderen, weil nur Zentimeter fehlten, und sie wäre tödlich gewesen. Er deutete zur Küche, wo er bereits ihre medizinische Ausrüstung ausgebreitet hatte. In der halben Stunde, in der er alleine in ihrem Haus gewesen war, hatte er sich mit dem Hund angefreundet und die gemütliche Hütte gründlich durchsucht. Sie besaß keinen Fernseher, keinen Videorekorder und keinen Computer. Die Bücherregale waren voll gestopft mit Nachschlagewerken und einer umfassenden Auswahl an Romanen, einschließlich einer Menge Science-Fiction-Taschenbüchern und Medizin-Thrillern. Sie hatte eine recht anständige Stereoanlage und viele Blues- und Klassik-CDs. Obwohl ein Großteil der Möbel an den Ecken schon etwas abgestoßen war, wirkten sie nicht schäbig. Sie hatte die Räume in warmen, hellen Farben eingerichtet - eine PatchworkSteppdecke auf dem Bett, Dutzende gerahmte Drucke an den Wänden und Blumen. Emily hatte das Sonnenlicht von draußen in einer Vase mit Wildblumen und einigen goldenen Pappelzweigen eingefangen. Als sie die Küche betraten, nahm sie die energische Haltung einer Krankenschwester an. „Ziehen Sie das Hemd aus." Obwohl sein linker Arm steif war, gelang es ihm, das Hemd aufzuknöpfen und zugleich die Pistole fest umklammert zu halten. Darunter trug er ein weißes Baumwollshirt. „Ziehen Sie das auch aus." Sie stand mit über der Brust verschränkten Armen vor dem Waschbecken. „Wie ich sehe, haben Sie jede Menge Bandagen auf den Tisch gelegt. Sie hatten kein Recht, all meine Sachen zu durchwühlen, Jordan." „Sie hätten die Tür nicht unverschlossen lassen sollen." „Ich schließe fast nie ab, wenn ich gehe." Sie zuckte mit den Schultern. „Es gibt genug Möglichkeiten einzubrechen. Wenn mich jemand ausrauben will, dann kann ich mir wenigstens die Mühe ersparen, ein eingeschlagenes Fenster zu ersetzen."
„Wie großzügig", spottete er. „Davon abgesehen hatte ich gehofft, dass mein grimmiger Wachhund jeden Verbrecher abschrecken würde." „Er ist ein netter kleiner Kerl. Wie heißt er?" „Pookie." „Nun, da haben wir das Problem", sagte Jordan. „Wenn er ein Wachhund sein soll, müssen Sie ihn Spike oder Killer nennen." „Nur zu Ihrer Information, Pookie kommt von Pukka, was in Indien ein Ausdruck für Adel und Respekt ist." „Warum haben Sie ihn dann nicht gleich Ghandi genannt? Komm her, Ghandi." „Wuff wuffz, wau." Der Hund sprang auf, ignorierte die Waffe und leckte Jordans nackten Unterarm. „Komisches Bellen", sagte er. „Nicht schlimmer als seine Bisse." Jordan blickte auf den gelenkigen kleinen Golden-Retriever-Welpen herab und konnte nicht verhindern, dass sich seine Mundwinkel hoben. Schon wieder ein Lächeln. So langsam dämmerte ihm, dass er tatsächlich frei war. Nach sechs Wochen im Gefängnis war er wieder im richtigen Leben, ohne Fesseln und Handschellen. Freiheit bedeutete, dass er die Wahl hatte, verschiedene Möglichkeiten, die Chance, mehr zu tun, als nur immer wieder seine Unschuld zu beteuern, bis alle Worte leer und sinnlos klangen. „Ihr T-Shirt", sagte Emily. „Ziehen Sie es aus und kommen Sie hinüber zum Waschbecken." Er tat, wie ihm geheißen. Zwar war er sich nicht ganz sicher, ob er ihr vertrauen konnte, aber er war davon überzeugt, dass sie ihn auf jeden Fall medizinisch versorgen würde. Schon als er sie während ihres Vortrags über Sicherheit beim Bergsteigen zum ersten Mal gesehen hatte, war er von ihrer Professionalität beeindruckt gewesen. Damals war er mit Lynette zu dem Treffen der Aspen-Ski-Patrouille gegangen. Ihre Ehe war schon nicht mehr in Ordnung gewesen, doch Jordan hatte versucht, sich mehr für Lynettes Leben zu interessieren. Es hatte nicht lange gedauert, bis Emily Foster ihn zu faszinieren begann. Ihr lockiges blondes Haar und ihre lebhafte Farbe standen in strengem Kontrast zu der kühlen Schönheit seiner Frau. Als verheirateter Mann hätte Jordan nie mehr riskiert als einen Blick. Den hatte er allerdings genutzt und sie sich ziemlich genau angesehen. Jetzt in Emilys Nähe zu sein fühlte sich an wie Frühling nach einem eiskalten Winter an der Seite seiner Eisprinzessin. Arme Lynette! Diesen schrecklichen Tod hatte sie nicht verdient. Er durfte nicht zulassen, dass ihr Mörder ungestraft davonkam. „Autsch!" Emily bestrich seine Wunde mit Jod. „Das desinfiziert, damit es zu keiner Infektion kommt", erklärte sie. „Sie haben da eine saubere Austrittswunde. Die Kugel ist Gott sei Dank durchgeschlagen, ohne einen Knochen zu verletzen. Sie hatten Glück." „Vermutlich." Zwar würde er es nicht gerade als Glücksfall bezeichnen, dass er angeschossen worden war, aber zumindest konnte er nun wieder Hoffnung schöpfen. Seine unglaubliche Flucht gab ihm eine zweite Chance, und die musste er nutzen. Sie drückte ihn auf einen Stuhl neben dem Küchentisch. Bevor sie die Wunde verband, ging sie zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Orangensaft heraus und schenkte ihm ein großes Glas ein. „Trinken Sie das. Wahrscheinlich sollten Sie auch etwas essen." „Danke." Inzwischen war schon nach vierzehn Uhr, und er hatte seit dem Frühstück nichts mehr in den Magen bekommen. Als sie dann an seinem Arm weitermachte, spürte Jordan den Schmerz kaum noch. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, über seine Möglichkeiten nachzudenken. Am wichtigsten war, nicht geschnappt zu werden. „Durch Ihre Arbeit beim Rettungsdienst sind Sie doch ständig im Kontakt mit dem Sheriff."
„Das stimmt", sagte sie, presste geschickt ein Stück Mull auf die Wunde und legte den Verband an. „Was geschieht, wenn man auf der Suche nach einem entflohenen Häftling ist?" „Mit solchen Suchaktionen habe ich nichts zu tun", antwortete Emily. „Aber ich könnte mir vorstellen, dass die Polizisten die Gegend durchkämmen. Wahrscheinlich benutzen sie Bluthunde." „Wie sollen die denn meine Spur aufnehmen, wenn ich mit dem Auto gefahren bin?" „Sie würden sich wundern", entgegnete sie. „Nicht alle Hunde sind so wie Pookie, wissen Sie. Es gab mal einen legendären Bluthund in Denver, der Tage nach einem Mord und viele Meilen vom Tatort entfernt die Leiche gefunden hat." Ihm kam das ziemlich weit hergeholt vor. „Was noch?" „Ich schätze, sie setzen auch Hubschrauber ein. Und Straßensperren natürlich." An die Straßensperren hatte er selbst schon gedacht. Inzwischen hatte der Sheriff garantiert auch schon die Marke, das Modell und das Kennzeichen des gestohlenen Wagens herausgefunden. „So", sagte sie, als sie mit dem Verband fertig war. „Der Schnitt in Ihrem Gesicht ist ein größeres Problem. Gesichtswunden bluten meist sehr heftig, und Ihre muss genäht werden." Sie ging auf die Küchentür zu. „Halt!" Jordan hob die Pistole. Er konnte es sich nicht leisten, sich in einem trügerischen Gefühl von Sicherheit wiegen zu lassen, egal, wie nett Emily auch sein mochte. Sie könnte die Notrufnummer wählen und seinen Aufenthaltsort verraten. Oder versuchen, zu ihrem Wagen zu rennen. „Wohin gehen Sie?" „Als Sie mein Haus durchsuchten, haben Sie offenbar den Schrank im anderen Schlafzimmer vergessen. Dort bewahre ich einen Großteil meiner medizinischen Utensilien auf. Ich habe alles, was ich zum Nähen brauche, dort." „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich Sie begleiten." „Es macht mir etwas aus", murrte sie. „Ich mag es einfach nicht besonders, als Geisel gehalten zu werden." Er war auch nicht gerade begeistert von seiner Rolle als Kidnapper. Aber er hatte keine andere Wahl. Der Schrank im zweiten Schlafzimmer war überraschend groß. Ordentlich hatte sie einen Großteil ihrer Ausrüstung darin gestapelt. Jordans Blick fiel auf ein HochleistungsSprechfunkgerät, in das auch ein batteriebetriebenes Handy integriert war. Mit seinem unverletzten rechten Arm nahm er es hoch. „Kann man damit den Polizeifunk abhören?" „Ich habe keine Ahnung", sagte sie und schnappte sich einen roten Rucksack. „Ich kann es gerade mal anschalten, mehr nicht. Technik ist nicht mein Ding." Zum Glück war Jordan Experte in allem, was technische Dinge anging. Sein Unternehmen in Florida stellte Hightech-Computerchips her. Als sie wieder in die Küche zurückkehrten, stellte er den Walkie-Talkie an. Innerhalb von Minuten gelang es ihm, den Polizeifunk zu finden. „Ich bin beeindruckt", sagte Emily. „Wenn es ums Überleben in den Bergen geht oder um medizinische Notfälle, weiß ich genau, was zu tun ist. Aber dieses Ding hier überfordert mich völlig. Ich hasse es, wenn ich es bei Suchaktionen mitnehmen muss." Während sie die Wunde auf seiner Wange desinfizierte, konzentrierte Jordan sich auf den Report im Funksprechgerät. Der Sheriff hatte Straßensperren auf der Autobahn und einigen anderen Routen, die aus Aspen herausführten, errichten lassen. Waren sie schon bis hierher gekommen? Hatten sie auch an Cascadia gedacht? „Es wird wehtun, wenn ich nähe", sagte Emily. „Ich habe hier nichts zum Betäuben. Vielleicht sollte ich einfach nur einen Druckverband anlegen."
Doch vielleicht würde er tagelang auf der Flucht sein und keine Möglichkeit haben, sich weiterhin medizinisch versorgen zu lassen. Er brauchte eine dauerhaftere Lösung als einen Verband. ^ Nähen Sie die Wunde." Er konnte den Schmerz aushalten. Was er nicht ertragen könnte, wäre, gefasst zu werden. Um nichts in der Welt würde er zurück ins Gefängnis gehen. Sie reichte ihm ein Röhrchen mit Schmerztabletten. „Nehmen Sie drei." Er nahm noch einen Schluck Orangensaft und spülte damit vier Tabletten hinunter. „Ich bin bereit." Während sie sich vorbereitete, starrte er auf die gebogene Nadel. Wenn sie wollte, konnte sie in seinem Gesicht ernsthaften Schaden anrichten. Er stupste sie zur Erinnerung mit der Pistole in die Rippen. „Keine Extratouren." „Ich bin Krankenschwester, Jordan. Und ich bin stolz auf meinen Job. Ich werde Ihnen nicht mehr wehtun als unbedingt nötig. Versuchen Sie, stillzusitzen." Er schloss die Augen und zog sich weit in seine Gedanken zurück, auf der Suche nach Stille. Anstatt den Körper zu verkrampfen, zwang er sich dazu, sich zu entspannen. Er versetzte sich in ein Stadium, in dem er den Stich in sein Fleisch bemerkte und, genauso schnell, das darauf folgende Pochen ignorierte. Er atmete tief ein, bevor sie ein zweites Mal zustach. Hinter geschlossenen Augenlidern stellte er sich vor, wie kühlblaues Wasser an den Strand von Florida spülte und wie er durch sanfte Wellen tauchte. Er beruhigte seine Gedanken und seinen Geist, erhob sich über die pochenden Schmerzen. Er zuckte nicht zusammen. Es war nötig, dass er genäht wurde. Was er auszuhalten hatte, war nichts verglichen mit der Vorstellung, den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen, wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hatte. „Fertig", sagte sie. Als er die Augen öffnete, erhaschte er einen anerkennenden Ausdruck in ihren Augen. Einen Moment lang sah sie fast so aus, als wolle sie ihn in den Arm nehmen. Er sehnte sich nach einer Berührung von ihr, nach ihrer Aufmerksamkeit, ihrer Zuneigung. Wenn wenigstens ein Mensch an seine Unschuld glauben würde ... „Mehr kann ich nicht tun", beteuerte sie. „Sie haben versprochen, zu gehen." Er nickte steif. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Polizeifunk. Nun wurden Straßensperren in der Nähe von Cascadia aufgestellt. Er konnte also nicht mit dem Auto flüchten. Er legte sich einen Plan zurecht. Er wollte zu Fuß über die Berge entkommen, dort würde man ihn nicht so leicht finden. Allerdings war er nicht dafür ausgerüstet, in den Bergen zu überleben. Er brauchte einen Experten. Er brauchte Emily. „Packen Sie Ihren Rucksack", sagte er. „Sie begleiten mich."
2. KAPITEL Von Anfang an hatte Emily sich die Frage gestellt, was Jordan mit ihr anstellen würde, wenn er sich wieder auf die Flucht begab. Es war nicht anzunehmen, dass er einfach zum Abschied winkte und aus der Tür hinausspazierte. Er konnte sie als Zeugin nicht einfach so zurücklassen. Sie hatte damit gerechnet, dass er sie fesseln oder ihr Auto fahruntauglich machen würde. Oder sie gar bewusstlos schlagen. Doch niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass er sie mitnehmen wollte. „Warum, Jordan? Warum soll ich mit Ihnen gehen?" „Weil es nahe liegend ist", sagte er. „Nein, ist es nicht." „Denken Sie doch mal darüber nach." „Sie wollen mich als Geisel nehmen." Er brauchte sie als Unterpfand für seine Freiheit. Die Vorstellung empörte Emily. Sie war nie eine sonderlich fügsame Frau gewesen. Ihr Vater hatte in Vietnam gekämpft, und sie hatte immer genauso tapfer sein wollen wie er. „Ich warne Sie Jordan. Wenn Sie mich mitnehmen, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, damit man Sie fasst." „Dann werde ich wohl ein Auge auf Sie haben müssen." Mit blankem Oberkörper saß er auf dem Küchenstuhl und streckte die langen Beine von sich. Noch immer wunderte sie sich über die stoische Ruhe, die er während ihrer Behandlung an den Tag gelegt hatte. Er hatte nicht aufgeschrien, hatte nicht einmal einen einzigen Muskel angespannt. Seine unglaubliche Selbstkontrolle und Entschlossenheit machten ihr Angst. Dieser Mann würde niemals kampflos aufgeben. Sie sah, wie seine nackte Brust sich hob und senkte, während er tief ein- und ausatmete. Trotz des sechswöchigen Gefängnisaufenthaltes war er in ziemlich guter körperlicher Verfassung. Seine breiten Schultern und die kräftige Brust gingen in einen schlanken Torso über. Sie schätzte ihn auf Mitte dreißig, ein paar Jahre älter als sie selbst. Er war verdammt attraktiv, wie sie leider zugeben musste. Als sie die Wunde an seinem Arm versorgt hatte, hatte sie seine heiße Haut unter ihren Händen gespürt. Einmal war sie versehentlich an das schwarze, lockige Haar auf seiner Brust gekommen und hatte dabei eine merkwürdige Sehnsucht verspürt. Sie war erschrocken gewesen zu entdecken, dass sie seinen muskulösen Körper am liebsten gestreichelt hätte, und sie hatte sich ungehalten zur Ordnung gerufen. Sie durfte solche Empfindungen für Jordan Shane keinesfalls zulassen. Er war ein entlaufener Sträfling, ein Krimineller. Es war ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass er wieder in polizeilichen Gewahrsam kam. „Sie können Ihr Hemd wieder anziehen", sagte sie schnippisch. Er tat, wie ihm geheißen, obwohl er sich mit seinem verletzten linken Arm nur schlecht bewegen konnte. Er ließ das blutbefleckte Sträflingshemd aufgeknöpft. Dann hob er den Blick. Obwohl sie ein weißes, antiseptisches Mittel auf die Stiche gegeben hatte, konnte sie sehen, dass seine linke Gesichtshälfte rot und geschwollen war. „Ich brauche Sie", sagte er. „Wegen der Straßensperren. Ich kann nicht mit dem Auto verschwinden, ich muss zu Fuß flüchten." „Sind Sie verrückt? Es ist Mitte September. Die Temperaturen fallen nachts unter den Gefrierpunkt. Es könnte sogar schneien." Vorsichtig beugte er sich nach unten, um Pookie, der sich neben ihm auf den Boden gelegt hatte, zu tätscheln. „Das ist genau der Grund, warum ich Sie brauche. Ich habe keine Ahnung, wie man in den Bergen überlebt. Ich bin nur ein kleiner Computerfreak aus Florida." Danach sah er ganz gewiss nicht aus, mit diesen breiten Schultern und dem dunklen, attraktiven Gesicht. Allerdings auch nicht wie ein Mörder. Aber das äußere Erscheinungsbild konnte täuschen.
Als er auf die Füße kam und vor ihr stand, überragte er sie um Längen. „Packen Sie Ihre Ausrüstung zusammen. Gehen Sie davon aus, dass wir etwa eine Woche unterwegs sein werden." „So lange?" Ihre Stimme überschlug sich. „Aber wer soll sich in der Zeit um Pookie kümmern?" Beim Klang seines Namens sprang der Hund hoch und schaute zwischen Emily und Jordan hin und her. „Wuffz. Wau." „Wir nehmen den Hund auch mit", sagte Jordan. „Und jetzt los." Da Emily immer auf einen Notfall vorbereitet war, dauerte es nicht lange, bis sie zwei Rucksäcke mit Schlafsäcken, Kletterausrüstung, Medikamenten und medizinischem Gerät gepackt hatte, außerdem gefriergetrocknetes Essen für sich und Jordan und Welpenfutter für Pookie. „Haben Sie Landkarten im Haus?" fragte er. „In der linken obersten Schublade meines Schreibtischs." „Ich vermute, dass Sie kein GPS-Gerät haben?" „Was ist denn das?" „GPS steht für Global Positioning Satellite. Satelliten senden Signale aus, die vom Nutzer empfangen werden. Dadurch kann man über elektromagnetische Kurzwellen mit mindestens drei Satelliten in Verbindung treten und Positionen auf der Erde mit einer Genauigkeit von bis zu zehn Metern ermitteln. Und die exakte Position auf einer Karte bestimmen." Schon bei dem Wort Kurzwellen hatte sie abgeschaltet, aber sie nickte wie immer, wenn man ihr etwas Technisches erklärte. „So was habe ich nicht." Beim Packen grübelte Emily darüber nach, wie sie ohne Satelliten und Kurzwellen entwischen konnte. Einfach war besser. Wenn sie jetzt sofort wegrannte, konnte sie ihr Auto erreichen, das sie weniger als dreißig Meter von der Eingangstür entfernt geparkt hatte? Nur ein schneller Sprint, und schon würde sie hinter dem Steuer sitzen. Dann würde sie losfahren und nicht zurückschauen, bis sie telefonisch mit dem Büro des Sheriffs Kontakt aufgenommen hatte. Aber sie musste sofort handeln. Sobald sie einmal in den Bergen waren, würde eine Flucht um einiges schwieriger werden. Zum Auto zu rennen war die beste Lösung. Aber ganz tief in sich verspürte sie so etwas wie Bedauern. Jordan hatte begonnen, ihr zu vertrauen. Er hatte die 22er-Auto-matik in den Bund seiner Levi's geschoben. Irgendwie kam es ihr nicht richtig vor, ihn so zu hintergehen. „Ich bin fertig." Sie schloss den letzten Riemen ihres Rucksacks und verlagerte ihr Gewicht auf die Fersen. Immer wieder schoss ihr der Fluchtplan durch den Kopf. Sie wagte es nicht, Jordan direkt anzusehen, aus Angst, er könne ihre Gedanken erraten. „Ich muss noch einmal zur Toilette, bevor wir losgehen." „Emily?" Sie starrte ihn beunruhigt an. Wusste er, was sie vorhatte? „Was ist?" „Sind Sie in Ordnung?" „Sehr witzig." Sie versuchte, ihre Anspannung mit Sarkasmus zu überspielen. „Ich verbringe meine Samstage besonders gerne auf diese Weise. Als Geisel, die gezwungen wird, eine Bergtour zu machen." „Es war nicht meine Absicht, dass dies passiert." Die Ernsthaftigkeit, mit der er sprach, irritierte sie. „O bitte! Was hatten Sie denn ursprünglich geplant? Sie hätten mich doch so oder so nicht einfach hier lassen können. Sie wussten, dass ich dann den Sheriff anrufen würde." „Bitte glauben Sie mir eines, Emily. Ich möchte Ihnen nicht wehtun." „Sie haben eine merkwürdige Art, das zu beweisen." Sie stand auf und sah ihn direkt an. „Sie haben mich fast erwürgt, als ich durch die Tür gekommen bin." „Ich musste dafür sorgen, dass Sie den Ernst der Lage begriffen."
„Und wenn ich mich gewehrt hätte? Was hätten Sie in Kauf genommen, um mich zu überwältigen?" „Ich war mir ziemlich sicher, dass Sie kein großes Theater machen würden", sagte er. „Sie sind nicht der Typ." „Nicht wie Ihre Frau?" Er zuckte zusammen, als ob sie ihn geohrfeigt hätte. Obwohl sein Gesicht ausdruckslos blieb, brannte in seinen Augen unterdrückte Wut. „Ich werde es nur ein einziges Mal sagen: Ich habe Lynette nicht umgebracht." „Warum haben Sie dann Angst vor dem Prozess?" „Tag für Tag werden unschuldige Männer und Frauen verurteilt." Er straffte die Schultern. Er war über einsachtzig groß, und er schien Von Minute zu Minute kräftiger zu werden. „Ich gehe nicht zurück ins Gefängnis. Lieber sterbe ich." „Sie können sich nicht über das Gesetz stellen, Jordan." „Lassen Sie uns gehen." Hier war sie also. Die Chance, zu ihrem Auto zu rennen. „Ich bin in einer Minute bei Ihnen." Sie verließ das hintere Schlafzimmer und ging ins Bad. Mit einem lauten Knall warf sie die Tür zu, um vorzutäuschen, dass sie hineingegangen war. Vorsichtig holte sie die Autoschlüssel aus ihrer Jeanstasche und schlich zum Eingang. Mit ihren dick besohlten Bergschuhen war es unmöglich, überhaupt kein Geräusch zu machen. Aber sie brauchte auch nur wenige Schritte, um ins Freie zu gelangen. Ob dieser Vorsprung wohl reichen würde? Als sie auf die Veranda trat, schoss Pookie an ihr vorbei. Er sprang die Stufen hinunter. „Wuff-wuff." Von hinten hörte sie Jordan rufen: „Emily, was ist da los?" Jetzt oder nie! Sie nahm die Stufen in zwei Sätzen und raste auf die Goldkiefern zu, unter denen sie ihren alten Landrover geparkt hatte. Bitte, Gott, lass ihn beim ersten Versuch anspringen! Sie konnte Jordan hinter sich hören, sah aber nicht zurück. Würde er sie erschießen? In Erwartung einer Kugel verkrampften sich die Muskeln zwischen ihren Schulterblättern. Sie schlitterte über den Schotter und verlor kostbare Sekunden. Sie musste es einfach schaffen. Der Landrover war nur noch ein paar Meter entfernt. Sie streckte die Arme nach vorne, um die Fahrertür zu öffnen. Doch bevor sie den Griff auch nur berühren konnte, wurde sie von hinten gepackt. Jordan stürzte sich auf sie, und gemeinsam fielen sie hart zu Boden. Sie konnte kaum atmen. Sie war wie betäubt. Jordans Gewicht drückte sie nach unten, so schwer wie der Schnee einer Lawine. Sie war kurz davor, zu ersticken. Luft. Sie brauchte Luft. Sekunden später war er von ihr herunter und rollte sie auf den Rücken. Sie keuchte. Der erste Atemzug brannte in ihren Lungen. Sie atmete aus und sog dann wieder gierig Luft ein. Langsam wurde ihr Blick wieder scharf. Sie schaute hinauf in sein Gesicht, das sich gegen die Äste der Kiefer und den blauen Himmel abzeichnete. Er beugte sich über sie. Kam näher und näher. Fast berührten sich ihre Lippen. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und seinen Kuss empfangen. Doch stattdessen trommelte sie gegen seine Brust. „Was machen Sie da?" „Mund-zu-Mund-Beatmung", sagte er. „Brauche ich nicht." Sie holte noch einmal tief Luft, dann hatte sich ihre Atmung normalisiert. Offenbar war kein ernsthafter Schaden entstanden. „Tut mir Leid", sagte er bedauernd und stand etwas zittrig auf. „Das hätte nicht passieren dürfen."
Nichts von alldem hätte passieren dürfen. Emily schloss die Augen und öffnete sie wieder, als hoffe sie, die Realität mit einem Blinzeln verändern zu können. Sie sollte nicht hier auf dem Boden liegen, neben einem entflohenen Sträfling. Und die Aussicht auf einen Kuss sollte sie nicht so aus der Fassung bringen. Das alles war seine Schuld. Warum musste er auch so ein sympathischer Typ sein? Wenn er sie geschlagen hätte, würde sie sich jetzt besser fühlen. Aber stattdessen war er freundlich und entschuldigte sich sogar. Ohne auf seine Verletzung und seine Schmerzen zu achten, half er ihr auf. Sie lehnte sich an ihn und spürte seine Wärme und Stärke. Als sie die Arme um ihren Körper schlingen wollte, fuhr ihre Hand aus Versehen unter sein offenes Hemd. Bei der Berührung erschauerte er, und es war offensichtlich, dass das nicht an der Kälte lag. Im Gegenteil. Er war heiß auf sie. Und ihr ging es nicht anders. Ein schrecklicher Magnetismus zog sie unwiderstehlich zueinander hin. „Schlimmer könnte es gar nicht mehr kommen." „Das stimmt nicht", sagte er. „Hören Sie das?" Das surrende Geräusch eines Hubschraubers näherte sich. Emily hätte sich denken können, dass der Pilot, Harrison Perry, vorbeikommen und nach ihr sehen würde. Sie hatten schon auf einigen Einsätzen zusammengearbeitet. Vergangenen Winter waren sie sogar ein paar Mal miteinander ausgegangen. Jordan drängte sie zurück ins Haus. Dann drehte er sie in seine Richtung, hielt ihre Arme fest und zwang sie, ihn direkt anzusehen. „Schnell. Was wissen Sie über den Helikopter?" „Das ist ein Polizeihubschrauber. Der Pilot ist ein Freund von mir. Er will sehen, ob bei mir alles in Ordnung ist." „Was tun Sie normalerweise, wenn er vorbeifliegt?" „Ich gehe raus und winke." Der Lärm der Propeller wurde lauter. Der Hubschrauber kreiste direkt über der Hütte. Draußen führte Pookie seinen fröhlichen, wenn auch tollpatschigen Willkommens-Tanz auf. Jordan sah sie fest an. Seine dunklen Augen brannten wie glühende Kohlen. „Ich bin kein Mörder." „Aber die Beweise ..." „Wenn sie mich schnappen, wird großes Unrecht geschehen. Bitte, Emily, geben Sie mir diese eine Chance." „Ich möchte Ihnen ja glauben." Der Lärm des Hubschraubers war ohrenbetäubend. „Dann gehen Sie jetzt raus und signalisieren Sie dem Piloten, dass alles in Ordnung ist." Sie nickte. „Emily." Seine Stimme war tief und eindringlich, dann ging er einen Schritt zurück und nahm die Pistole aus dem Hosenbund. Er musste seine Drohung nicht in Worte fassen. Die Waffe allein reichte völlig aus. „Mein Leben liegt in Ihrer Hand." Emily trat nach draußen auf die Veranda. Hier war nun ihre Chance, ihn ins Gefängnis zu bringen. Sie konnte Harrison Perry ganz leicht signalisieren, dass sie in Schwierigkeiten war. Sie konnte schreien. Sie konnte ein Zeichen mit dem Daumen nach unten machen. Dann würde ersieh einen Platz zum Landen suchen und den Sheriff anfunken. Polizisten würden sie einkreisen. Und diese Tortur hätte ein Ende. Aber was, wenn Jordan wirklich unschuldig war? Was, wenn er für ein Verbrechen verhaftet worden war, das er nicht begangen hatte? Der Fluchtversuch würde womöglich noch der letzte Beweis sein, den sie benötigten. Zwar wurde die Todesstrafe in Colorado nur selten verhängt, aber ein Leben im Gefängnis war genauso schlimm. Sie stellte sich vor, wie Jordan für immer mit Fesseln an Händen und Beinen weggeschlossen wurde. Wie konnte sie ihm das antun? Sie war doch Krankenschwester. Ihre Aufgabe war es, Menschen zu helfen. Mit Pookie an ihrer Seite stand sie vor der Hütte. Die feuchten braunen Augen des Hundes schienen sie vorwurfsvoll anzublicken. Tu ihm das nicht an. Sie spähte zum Hubschrauber hinauf und spürte, wie ihre Lippen sich wie von selbst zu einem unechten Lächeln verzogen.
Der Abwind des Propellers wirbelte um sie herum. Sie hob den Arm und winkte. Zur Sicherheit formte sie mit Daumen und Zeigefinger auch noch ein O, um Harrison zu zeigen, dass sie okay war. Er winkte zurück. Dann entfernte sich der Polizeihubschrauber wie ein gigantischer Drache. Er flog tief, auf der Suche nach einem entlaufenen Sträfling, auf der Suche nach Jordan. Langsam ließ der Lärm nach, bis wieder Stille einkehrte. Sie stand bewegungslos da. Vielleicht hatte sie soeben den größten Fehler ihres Lebens gemacht. Sie hörte, wie Jordan sich ihr näherte. „Sie haben das Richtige getan." Das musste sich erst noch herausstellen. „Harrison wird berichten, dass in dieser Gegend alles in Ordnung ist. Das gibt Ihnen etwas mehr Zeit für Ihre Flucht." „Das gibt uns mehr Zeit." Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Jordan bereits seinen Rucksack aufgesetzt hatte. In einer Hand hielt er ein Nylonseil, das er wie ein Lasso über ihren Kopf warf und um ihre Taille festzog. „Was ist das?" fragte sie. „Eine Art Versicherung", antwortete er. „Für den Fall, dass Sie eine kleine Erinnerung brauchen." Wütend zerrte sie an dem Seil. „Eine Leine! Sie haben mich angeleint!" „Es bringt nichts, daran zu ziehen, Emily. Das ist ein Fischerknoten. Und den können Sie nicht öffnen, weil er an meinem Gürtel festgemacht ist." „Ich hasse Sie!" „Zu schade", sagte er. „Aber ich brauche beide Hände zum Klettern, also kann ich die Pistole nicht halten. Und irgendwie muss ich Sie ja kontrollieren." Nach allem, was sie für ihn getan hatte - seine Wunden versorgt und den Hubschrauber wieder weggeschickt -, bedankte er sich nun, indem er sie an die Kette legte. Um sie unter Kontrolle zu behalten. Am liebsten hätte sie ihn laut beschimpft, aber dazu war sie viel zu wütend. Nachdem sie keine andere Möglichkeit hatte, stapfte sie zurück ins Haus und setzte den Rucksack auf. Es war dumm von ihr gewesen, dem Hubschrauber kein entsprechendes Signal zu geben. So ein Fehler würde ihr nicht noch einmal unterlaufen. Auf dem Weg durch die Berge würde sie schon noch ihre Revanche bekommen. Sie nahm sich vor, so viele Spuren wie möglich zu hinterlassen. Noch immer rasend vor Wut, trat sie aus dem Haus und begann mit energischen Schritten loszulaufen. Die Leine hielt sie zurück, und sie wirbelte herum. „Was ist?" „Wir sollten unter dem Schutz der Bäume laufen, bis es dunkel wird. Ihr Freund mit dem Hubschrauber könnte zurückkommen." „Schön", zischte sie. „Ich möchte, dass wir uns östlich halten", sagte Jordan. „Also zurück Richtung Aspen." „Das ist so ziemlich das Dümmste, was ich je gehört habe. Jedermann wird in Aspen nach Ihnen suchen. Warum wollen Sie ein solches Risiko eingehen?" „Weil ich etwas herausfinden muss", sagte er. „Was?" Sie hatte genug von seinen rätselhaften Antworten. Auch wenn er glaubte, dass sie seine Logik nicht nachvollziehen konnte, so hatte sie trotzdem das Recht zu wissen, was in seinem Kopf vorging. „Raus mit der Sprache, Jordan. Was genau wollen Sie in Aspen herausfinden?" „Ich will wissen, wer meine Frau ermordet hat." Nachdem sie zwei Stunden und zwanzig Minuten marschiert waren, tat Jordan jeder einzelne Knochen seines Körpers weh. Die Schusswunde am Arm war nichts gegen die schmerzenden Muskeln in seinen Schenkeln und seinem unteren Rücken. Das Pochen der Naht in seinem Gesicht breitete sich nach und nach über seinen gesamten Kopf aus. Obwohl er nun schon seit
ein paar Monaten in den Bergen war und sich inzwischen akklimatisiert hatte, bekamen seine Lungen nicht genug Sauerstoff. Es half auch nicht gerade, dass Emily die ganze Zeit bergauf ging und absichtlich Zweige zurückschnellen ließ, damit sie ihn trafen. Alle fünf Minuten zerrte sie so sehr an dem verhassten Seil, das sie zusammenhielt, dass ein Ruck durch seinen ganzen Körper ging., Doch Jordan beschwerte sich nicht. Weder er noch Emily hatten seit über einer halben Stunde ein Wort gesprochen. Der Einzige, der über ihre Wanderung froh zu sein schien, war Pookie. Der Hund sprang vor ihnen her, kletterte über Steine und schoss durch die Tannenwälder. Doch auf einmal blieb er stehen und schaute umher. Hatte er etwas gesehen? Näherten sich vielleicht Suchtrupps? „Stopp", rief Jordan. „Wieso?" Emily hielt an und wandte sich nach ihm um. Ein böses Lächeln umspielte ihren hübschen Mund. „Sind Sie müde?" Verdammt richtig! Aber diese Schwäche hätte er niemals zugegeben. „ Pookie hat etwas entdeckt." Die Haare in Pookies Nacken hatten sich aufgerichtet, dann hetzte er zwischen den Bäumen hindurch. „Wau-wau-wuffz." „Was bedeutet das?" fragte Jordan flüsternd. „Warum macht er so einen entsetzlichen Lärm?" „Ich beherrsche die Hundesprache nicht", sagte sie ironisch. Er zog sie hinter einen stachligen Busch und duckte sich. Unbeholfen holte er die Pistole aus seinem Rucksack. Stimmte schon, es war eine Erbsenschleuder. Mit einer 22er-Automatik konnte er egal aus welcher Entfernung nicht sonderlich genau zielen. Aber sie war trotzdem besser als gar nichts. „Wuuf." Pookie kam zu ihnen zurückgehüpft und sah dabei irgendwie triumphierend aus. Als wäre er sehr stolz auf sich. „Was war denn da, mein Junge?" Emily grinste den Hund an. „Ein bösartiges Streifenhörnchen? Ein teuflisches Reh?" Pookie schüttelte sich ausgiebig. „Nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssten", sagte sie. „Es sei denn, Sie befürchten, von einer Armee wütender Eichhörnchen umzingelt zu werden." Sie hatte leicht reden. Sie wollte schließlich nichts lieber, als gefunden werden. Jordan konnte kaum fassen, dass sie offenbar aus Versehen einmal nett gewesen war und den Hubschrauber weggeschickt hatte. Seine Flucht wäre in diesem Augenblick vorbei gewesen. Doch sie hatte ihn gerettet. So viel Hilfe konnte er wohl kein zweites Mal von ihr erwarten. „Fertig?" fragte sie fordernd. „Lassen Sie uns weitergehen." Sie schlug ein schnelles Tempo an, und er war gezwungen, sich ihrem Schritt anzupassen. Ihre Ausdauer erstaunte ihn. Sie kletterte wie ein amerikanisches Dickhornschaf in Bergschuhen mit sicherem Schritt einen schmalen, fast nicht sichtbaren, stetig ansteigenden Waldpfad entlang. Aufwärts, verdammt, immerzu ging es aufwärts. Jordan wünschte, er hätte so festes Schuhwerk wie sie. Er trug billige Leinenschuhe, Gefängnis-Turnschuhe, die ihm nur wenig Halt boten und überhaupt keinen Schutz gegen die Steine, über die er permanent stolperte. Aber etwas anderes bereitete ihm viel größere Sorgen. Er hatte keine Jacke dabei. Obwohl Emily geradezu in einem Lagerhaus für Campingartikel lebte, in dem es sogar zwei Schlafsäcke gab, hatte sie keinen Parka in seiner Größe gehabt. Sobald die Nacht hereinbrach, würde es verdammt frostig werden. Bei Gott, er hasste diese Berge. Das Klima war einfach zu kalt und rau, viel zu ungastlich für normale Menschen. Schroffe Landschaften
hatten ihm noch nie sonderlich gefallen. Die spitzen, gezackten Felsen kamen ihm wie Zähne vor, die nur darauf warteten, sich in sein Fleisch zu graben. Er stolperte erneut und starrte auf die trockenen Kiefernnadeln unter seinen Füßen. Im Herbst gab es in diesen Wäldern nicht viel Grün zu sehen, und schon gar nicht das strahlende tropische Grün, das er aus Florida gewöhnt war. Colorados Palette rangierte zwischen dem Khaki der Kiefern und dem Graubraun der Fichten. Am Ziehen des Seils erkannte er, dass es wieder bergauf ging. Er warf einen Blick auf Emily. Da sie vor ihm ging, hätte er eigentlich genügend Gelegenheit haben sollen, den Sitz ihrer engen Jeans zu bewundern, aber selbst diese Ablenkung war ihm nicht vergönnt. Von hinten sah sie nur aus wie ein großer roter Rucksack mit Beinen. Endlich erreichten sie einen Bergrücken. Weiter hinauf ging es nicht. Endlich blieb ihnen nichts anderes übrig, als nach unten zu marschieren. Die ersten Schritte waren herrlich. Da nun völlig andere Muskelgruppen beansprucht wurden, fühlte Jordan sich sofort erfrischt. Aber kaum waren sie ein paar hundert Meter gelaufen und in einen Espenwald eingebogen, fühlten sich seine Beine wie aus Gummi an. Er konnte seinen Bewegungsapparat kaum noch kontrollieren. Der Abstand zwischen ihnen wurde kürzer. Er war nur noch eine Armlänge von ihrem Rucksack entfernt. Dann blieb Emily völlig unerwartet stehen. „Nein!" Es gelang ihm nur knapp, ihr auszuweichen. Anhalten hingegen konnte er nicht. Sein Gleichgewichtsgefühl hatte ihn verlassen. Schwankend krachte er gegen einen schlanken weißen Baumstamm. Das Seil spannte sich, und Jordan fiel flach auf den Rücken. Emily taumelte hinter ihm her. Mit einer unglaublichen Körperbeherrschung gelang es ihr jedoch, irgendwie auf den Füßen zu bleiben. Ein wenig erschrocken und völlig erschöpft starrte Jordan nach oben in die Wipfel der Espen. Seine Verletzungen pochten schmerzhaft, aber er zwang sich, die unangenehmen Empfindungen zu ignorieren. In dem bleichen Licht der Dämmerung schien sich die Luft golden zu färben. Eine schwache Brise brachte die Blätter leicht zum Zittern und ließ sie wie einen Schauer aus schwerelosen goldenen Münzen wirken. Benommen sagte er: „Ist das schön!" Sie ließ sich neben ihn fallen. „Sagen Sie jetzt nicht, dass Sie noch nie zuvor eine Espe gesehen haben." „Nur aus der Ferne, und ich habe nie kapiert, warum ihr immer so begeistert von ein paar gelben Bäumen seid." „Ihnen gefällt es in Colorado nicht besonders, oder?" „Ich fürchte nein." Jordan war ein Mann des Südens, geboren in Atlanta, wo die saftigen Laubwälder um so vieles freundlicher waren als die strengen, schroffen Rocky Mountains, aber selbst die Landschaft von Georgia hatte er stets als viel zu hügelig empfunden. Berge ließen ihn klaustrophobisch werden. An der Golfküste von Florida hingegen konnte man weit sehen, es gab jede Menge freie Flächen, Palmen und den salzigen Duft des Meeres. Er holte tief Luft und sog frischen, erdigen Geruch ein. Überall um ihn herum schimmerte es golden. Als er zu Emily aufschaute, die wie ein Engel über ihm schwebte, schien ihr Gesicht zu strahlen. Ihr lockiger blonder Pferdeschwanz glänzte wie warmer Honig. Sie war keine auffallende Schönheit, nicht wie Lynette. Emily gehörte zu den Frauen, die in einer Menschenmenge leicht übersehen wurden, doch wenn man sie einmal bemerkt hatte, sah man sofort, dass sie wie ein verborgener Schatz war. Sie kam auf die Füße und wischte sich den Staub von ihren Jeans. „Wenn Sie noch können, weiter unten gibt es einen Bach", sagte sie verächtlich. „Okay." Er zwang seine Beine, sich zu bewegen. Neben dem kleinen Wasserlauf, der kaum einen Meter breit war, warfen sie ihre Rucksäcke ab und setzten sich nebeneinander auf einen großen, verwitterten Stein. Obwohl
Jordan sich noch immer an den goldenen Blättern erfreute, konnte er nicht umhin, sich Sorgen um die frostige Kälte zu machen, die in der Luft lag. Die Sonne würde gleich hinter den Bergen untergehen. Jordan beschloss, die Schuhe auszuziehen. Das kalte, klare Wasser würde seinen schmerzenden Zehen gut tun. „Nicht", sagte sie. „Warum nicht? Meine Füße bringen mich um." „Auf einer Wanderung ist es immer besser, die Füße trocken zu halten. Davon abgesehen wäre es eine Qual, die Schuhe hinterher wieder anzuziehen." Sie stöhnte. „Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das überhaupt sage. Sie haben Schmerzen verdient." Nun, es war ihre Aufgabe, Menschen zu heilen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie es fertig brächte, zuzusehen, wenn ein anderer litt. „Wie heißt noch mal das Motto des Rettungsdienstes?" „... damit andere leben können." Sie blickte ihn düster an. „Aber ich glaube nicht, dass das auch für entlaufene Sträflinge gilt." Er beschloss, sie trotzdem um Rat zu fragen. „Ich weiß, dass Sie einen kleinen WasserReiniger in Ihrem Rucksack haben. Kann ich trotzdem aus diesem Bach trinken?" Sie zuckte mit den Schultern. „Versuchen Sie's." Doch dann folgte Jordan doch lieber ihrem Beispiel und nahm einen Schluck lauwarmes Wasser aus der Flasche in seinem Rucksack. Zwar schmeckte es nicht ganz so gut wie Scotch und Soda, aber immerhin handelte es sich um Flüssigkeit. Bei all den Strapazen war es wichtig, nicht auszutrocknen. Pookie hingegen schien der Meinung zu sein, dass das Quellwasser der Rocky Mountains ganz in Ordnung war. Begeistert tobte er durch den glitzernden Bach. „Pookie!" rief Emily tadelnd. „Komm raus." „Wuff, wuff." Pookie rutschte auf einem Stein aus und war von oben bis unten durchnässt. „Wie soll ich es nur schaffen, dass er jemals auf mich hört?" fragte Emily verzweifelt. „Lassen Sie ihn. Er ist doch noch ein Baby." „Aber er muss jetzt anfangen zu lernen, sonst wird er niemals ein guter Rettungshund werden." „Ich verstehe was von Hundeerziehung", sagte Jordan. Zum ersten Mal führten sie so etwas Ähnliches wie eine Unterhaltung, und er wollte diesen Moment weiter ausdehnen, um ihr Vertrauen zu gewinnen. „Als Kind hatte ich auch einen Hund, und ich habe wochenlang trainiert, damit er ein guter Jagdhund wird." „Sie jagen?" „Nicht mehr", antwortete er. „Und Sie?" „Nein, aber ich habe zwei ältere Brüder, die immer zur Jagd gegangen sind. Ich habe sie begleitet." Allerdings hatte es Emily nie Spaß gemacht, auf die Pirsch zu gehen und zu schießen. „Ich habe sie wieder zusammengeflickt, wenn sie sich den Knöchel verstaucht oder sich mit dem Jagdmesser verletzt hatten." „Sie waren also schon als Kind eine gute Krankenschwester." „Das kam ganz von alleine." Trotz ihrer Herkunft aus einer Familie von Kämpfern hatte sie nicht das Bedürfnis, zu töten. Sie führte die Familientradition des Heilens fort, so wie ihr Vater Mediziner geworden war, bevor er in Vietnam ums Leben kam. Sie beobachtete Jordan, wie er in seinem Rucksack wühlte, das Walkie-Talkie herausholte und den Polizeifunk einstellte. Er streckte sich auf dem Felsen aus, starrte hinauf in die zitternden Espenblätter und lauschte konzentriert. Auch wenn sie seine Abneigung gegen die Berge als einen entscheidenden Charakterfehler betrachtete, so konnte sie dennoch nicht recht glauben, dass er ein Mörder sein sollte. Nichtsdestotrotz nahm sie ein Taschentuch, riss ein kleines Stück davon ab und ließ es auf den Boden fallen. Die ganze Zeit schon hatte sie kleine Hinweise hinterlassen, die Jordan bei dem anstrengenden Marsch nicht bemerkt hatte.
„Ich würde Sie gerne etwas fragen", sagte sie. „Wenn Sie die Berge so sehr hassen, wie kommt es, dass Sie eine Frau aus Aspen geheiratet haben?" „Wir lernten uns kennen, als sie Urlaub auf den Florida Keys machte. Alles ging rasend schnell, und wir waren verheiratet, bevor wir merkten, dass wir überhaupt nichts gemeinsam hatten." „Gegensätze ziehen sich an", sagte Emily. „Am Anfang vielleicht. Unsere Ehe dauerte zwei Jahre, und davon haben wir vermutlich nur zwei Monate in ein und demselben Haus gelebt." „In der Zeitung stand, dass Sie sich von ihr scheiden lassen wollten." „Das war der Grund, warum ich nach Aspen gekommen bin", bestätigte er. Es kam ihr komisch vor, dass er so ruhig darüber sprechen konnte. In den Zeitungsartikeln war behauptet worden, dass Jordan seine Frau aus Leidenschaft getötet hatte. „Haben Sie sie noch geliebt?" „Nicht geliebt. Nicht gehasst." Er dehnte seine Rückenmuskeln. „Es waren überhaupt keine starken Gefühle mehr da." „Und haben Sie sie um die Scheidung gebeten?" „Ja." „Wie reagierte sie?" „Sie war einverstanden. Es lief alles sehr zivilisiert und ruhig ab. Sie hatte mich nur gebeten, einen Monat zu warten, damit sie vorher noch irgendein Problem mit ihren Immobilien regeln konnte." Wenn man Leidenschaft als Motiv ausschließen konnte, dann musste es sich um Geld gehandelt haben. Lynette Afton-Shane war Multimillionärin gewesen, ihr hatten zwei Skihütten und einige erstklassige Immobilien gehört. Selbst nach den Standards, die in Aspen galten, konnte man ihren Reichtum als außerordentlich beeindruckend bezeichnen. „Wieviel haben Sie geerbt?" „Wir hatten im Ehevertrag vereinbart, dass jeder zehn Prozent des Vermögens des anderen bekommt." „In Lynettes Fall könnte das eine Million Dollar sein", erklärte Emily. „Ich weiß es wirklich nicht", sagte Jordan. „Ich bin zwar finanziell nicht annähernd so gut gestellt wie sie, aber mir geht es nicht schlecht. Ich habe meine eigene Firma mit siebenundzwanzig Angestellten." Und Emily erinnerte sich daran, dass der Scheck über zehntausend Dollar auf sein Konto ausgestellt gewesen war. Jordan machte keinesfalls den Eindruck, als ob er wegen einer Erbschaft einen Menschen umbringen müsste. Plötzlich setzte er sich kerzengerade auf und hörte angestrengt dem Polizeifunk zu. „Sie nähern sich Cascadia. Haben Sie die Landkarten dabei, Emily?" Sie öffnete einen Reißverschluss am Rucksack und zog drei verschiedene Karten heraus. Auf ihnen waren sowohl die Topografie als auch Straßen verzeichnet. Obwohl Emily nicht gut im Kartenlesen war, hatte sie einen guten Richtungssinn, der sie selten täuschte. „Hat dieser Bach einen Namen?" fragte er. „Ich glaube kaum. Er ist zu klein." „Aber Sie waren schon einmal hier", sagte er. „Sie wussten, dass er sich am Fuß dieses Berges befindet." „Nur, weil ich das Plätschern gehört habe", erklärte Emily. „Außerdem deutet das Vorkommen von Espen normalerweise darauf hin, dass der Grundwasserspiegel dicht unter der Oberfläche liegt." Er zeigte auf die Karte. „Ich würde sagen, wir befinden uns ungefähr hier." Pookie kam auf sie zugerannt, blieb stehen, schüttelte sich und spritzte sie mit eiskaltem Wasser voll. „Nicht auf die Karte", rief Jordan. „Himmel, Pookie, reiß dich zusammen."
„Sie haben doch behauptet, dass er kein Training braucht", sagte Emily, nahm den nassen Hund in die Arme und drückte seinen Hintern auf den Boden. „Sitz, mein Junge." „Wuff", kam es von Pookie. Jordan richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Karte. „Es wird bald zu dunkel sein, um mit Hubschraubern nach uns zu suchen. Wir müssen uns abseits der Straßen halten." Er deutete auf ein kleines schwarzes Rechteck, das nicht allzu weit von ihrem Standort entfernt zu sein schien. „Was soll das darstellen?" „Eine Hütte zum Aufwärmen für Wanderer und Skifahrer." „Zum Aufwärmen?" „Es sind kleine Hütten, in die sich Leute wie wir flüchten können, wenn sie von schlechtem Wetter überrascht werden. Es wäre vielleicht ein guter Platz für uns, um zu übernachten." Er kniff die Augen zusammen. „Das könnte auch der erste Ort sein, an dem die Suchtrupps nachsehen. Der Sheriff verfügt schließlich auch über solche Karten, oder nicht?" Sie nickte, bot ihm aber keinen weiteren Rat an. Schließlich wollte sie ihm bei seiner Flucht nicht freiwillig behilflich sein. Jordans Schuld oder Unschuld sollte vor Gericht geklärt werden. Damit die Suchtrupps auf jeden Fall entdeckten, dass er sie und Pookie verschleppt hatte, hatte sie, seit sie von ihrem Haus aus losgegangen waren, eine Spur hinterlassen, die selbst ein Blinder nicht übersehen konnte. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte sie Äste abgebrochen, Sträucher niedergetrampelt und Fetzen von Papiertaschentüchern und Geldmünzen fallen lassen. „Heute Nacht wird es sehr kalt werden", sagte Jordan und beobachtete ihre Reaktion genau. „Ich habe keine Jacke dabei." Sie hätte ihm empfohlen, lieber das Risiko einzugehen und in einer warmen Hütte zu übernachten, als sich zu unterkühlen. Aber sie sagte nichts. „Ich brauche dringend Schlaf", fuhr er fort. „Und Zeit, mich von meinen Verletzungen zu erholen." Er hatte schon wieder Recht. Jordan fragte: „Wie weit ist es bis zu dieser Hütte?" „Wenn wir unter den Bäumen bleiben wollen, ein paar Stunden. Weniger, wenn wir unter freiem Himmel gehen." „Ihr knallroter Rucksack ist so auffällig wie eine Leuchtrakete", sagte er bitter. „Aber dieses Risiko muss ich eingehen. Wir nehmen den kürzesten Weg." Er verstaute die Karten wieder, sprang auf die Füße und schulterte seinen Rucksack. Als der Gurt seinen verletzten Arm streifte, zuckte er kurz zusammen. Emily fand seine Fähigkeit, Schmerzen ohne Jammern zu ertragen, beeindruckend, aber sie wehrte sich dagegen, Jordan Shane auch nur eine einzige positive Eigenschaft zuzusprechen. Sie wollte ihn nicht mögen. Und auf gar keinen Fall wollte sie ihm helfen. Sie traten aus dem Espenwald auf eine große Büffelgraswiese. Man konnte sie aus einer halben Meile Entfernung erkennen. Falls in dieser Gegend Suchtrupps unterwegs waren, würden sie unweigerlich entdeckt werden. Offensichtlich war Jordan zu derselben Erkenntnis gelangt, denn er blieb stehen und streckte einen Arm in die Luft. „Nicht bewegen." Emily blickte nach unten. Drei Schritte vor ihr glitt eine Schlange von einem sonnenwarmen Stein auf den Pfad. Eine Schlange! Adrenalin schoss durch ihre Venen. Gott, sie hatte Angst vor Schlangen! O Gott!
3. KAPITEL Sekunden nachdem Jordan die Schlange entdeckt hatte - die nur einen knappen Meter lang und vermutlich harmlos und ungiftig war-, passierten drei Dinge gleichzeitig. Das Reptil verschwand im hohen Gras. Zugleich stieß Emily einen Schrei aus, der lauter war als ein Fliegeralarm, und sprang der Schwerkraft trotzend fast einen Meter in die Höhe. Dann rannte sie über die Wiese. Durch das Seil mit ihr verbunden, hatte Jordan keine andere Wahl, als ihr im Eiltempo zu folgen. Seine Füße berührten kaum den Boden. Sein Herz raste. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, einen neuen Rekord im Vierhundert-MeterLauf durch unwegsames Gelände aufzustellen. Ganz im Gegenteil. Er hatte seine schmerzenden Muskeln schonen wollen, bis er sich in der Hütte auf ein Bett werfen und endlich schlafen konnte. Verdammt noch mal, immerhin war er heute erst angeschossen worden. Zwei Mal. Doch er konnte nicht stoppen. Emily raste mit solch unglaublicher Schnelligkeit voraus, dass er sicher von den Füßen gerissen und auf dem Bauch hinter ihr her geschleift worden wäre, hätte er es versucht. So viel also zu seiner Vorstellung, still und leise über das offene Gelände zu schleichen. Wenn in der näheren Umgebung ein Suchtrupp war, dann hatte Emilys ohrenbetäubendes Brüllen ihn mit Sicherheit alarmiert. Jordan versuchte beim Rennen in alle Richtungen zu schauen. Waren sie ihm schon dicht auf den Fersen? Kamen sie näher? Die Meldungen im Polizeifunk hatten den Raum um Cascadia betroffen. Würde die nächste Kugel sein Herz treffen? Auf der anderen Seite der Wiese blieb Emily endlich stehen. Sie blickte gehetzt um sich, ihr Kopf flog hektisch hin und her. Die Arme um ihre Brust geschlungen, hatte sie die Hände zu kleinen, harten Fäusten geballt. Unnötigerweise erklärte sie: „ Ich habe schreckliche Angst vor Schlangen." „Brrruff", kommentierte Pookie. „Das hätte ich jetzt nicht gedacht." Jordan beugte sich nach vorne und rang um Atem. Zwar hob und senkte sich seine Brust heftig, aber wenigstens hatte der Sprint seine Muskeln gelockert. Jetzt prickelten sie mehr, als dass sie schmerzten. „Ich kann es einfach nicht glauben." Sie sprach atemlos in Halbsätzen. „Vor ein paar Stunden. Habe ich noch unterrichtet. Pfadfinderinnen. Es ging um Schlangen. Hatten Sie ... Angst?" „Nein." In Florida gab es jede Menge Schlangen. Sie hatten Jordan nie sonderlich gestört. „Ich glaube nicht, dass diese giftig war." „Mir egal. Ich habe einfach Angst vor ihnen." Er blickte über die Wiese, die hinter ihnen lag. Er suchte nach dem Aufblitzen eines Gewehrlaufs. Er wartete auf die Rufe von Polizisten, die kläffenden Bluthunde, das Schwirren eines Hubschraubers. Doch nur das sanfte Flüstern des Bergwindes durchbrach die paradiesische Stille. Er konnte keine Bewegung erkennen, keinen Hinweis auf Suchtrupps. Sollten die Polizisten hierher gelangen, würden sie ihren Fluchtweg sofort entdecken. Das wilde Rennen über trockenes Gras hatte einen Trampelpfad hinterlassen, der wie ein Pfeil in ihre Richtung wies. Ihm war vollkommen klar, wie gefährlich es war, in der Hütte Unterschlupf zu suchen. Aber er sehnte sich nach Wärme, Schlaf und Erholung. Die Flucht mochte noch Tage andauern, sogar Wochen, und er durfte auf keinen Fall riskieren, krank zu werden. Er wandte sich Emily zu: „So etwas darf nicht noch einmal passieren." „Ich hatte nicht geplant, einer Schlange über den Weg zu laufen", entgegnete sie. „Ich dachte, Sie wären eine geübte Bergsteigerin, erfahren in Extremsituationen." „Es sei denn, es geht um Schlangen", sagte sie kleinlaut. Nachdem sie die ganze Zeit diejenige gewesen war, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten demonstriert hatte, hatte sich ihr Verhältnis nun fast unmerklich verändert. Jetzt, wo er Zeuge
ihrer Schlangenphobie geworden war, fühlte er sich nicht länger wie ein Idiot, der in den Bergen nicht zurechtkam. Endlich konnte auch er etwas Sinnvolles beitragen. „Ich bin ziemlich sicher, dass die Schlangen hier demnächst in Winterschlaf fallen. Und in der Nacht verstecken sie sich. Hier draußen ist es viel zu kalt für Reptilien. Wir werden also keine mehr sehen." „Versprochen?" Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Ein krampfhaftes Zucken durchfuhr ihren schlanken Körper. Am liebsten hätte Jordan sie in die Arme genommen und sie getröstet, aber er war sich nicht sicher, ob sie seine Umarmung erwidern oder ihm ins Gesicht schlagen würde. Er befürchtete Letzteres. „Möchten Sie sich hinsetzen und ein paar Minuten ausruhen?" „Nein! Ich will so viel Abstand wie möglich zu diesem Reptil bekommen." „Nichts dagegen." Er nahm die topografische Karte aus seiner Jeanstasche. „Lassen Sie mich aber zuerst mal die Lage checken." Er starrte in nordöstliche Richtung und entdeckte einen hohen, gezackten Granitfelsen. „Sind das die Schornstein-Felsen, die auf der Karte eingezeichnet sind?" „Ja", antwortete Emily. „Lassen Sie uns losgehen. Ich kenne den Weg bis zur Hütte." Er misstraute ihrer Bereitschaft, ihm zu helfen, zudem würde jetzt ganz schnell die Nacht hereinbrechen. In der Dunkelheit musste er sich auf den Kompass verlassen. Auf der Karte entdeckte er im Norden eine eingezeichnete Holzbrücke. Schnell errechnete Jordan den Kurs, den er auf zwölf Grad Nordost ansetzte. „In der Nähe der Hütte gibt es vermutlich eine Straße. Richtig?" „Einen Pfad", sagte sie. „Der wird von der Forstverwaltung unterhalten." Er balancierte den Kompass in seiner Hand. Die untergehende Sonne stand hinter ihnen. Er konnte bereits die Kühle in der Luft spüren. „Lassen Sie uns gehen." In gleichmäßigem Tempo erklommen sie Berge und überquerten weitere Wiesen. Als die Dunkelheit sie umfing, übernahm Jordan die Führung mit dem Kompass. Plötzlich stolperte Emily. „Au! Jordan, ich habe Taschenlampen in meinem Rucksack. Die sollten wir benutzen." „Ich habe eine bessere Idee", sagte er. „Warum hängen wir nicht einfach ein Neonschild auf, auf dem steht: Hier sind wir." „Die Suchtrupps sind so spät nicht mehr unterwegs", brummte sie. „Und wenn, dann sehen wir sie rechtzeitig. Weil die nämlich klug genug sind, Taschenlampen zu benutzen." Da hatte sie allerdings Recht. Er konzentrierte sich darauf, Lichtstrahlen in dem sie umgebenden Wald zu entdecken. Auch wenn es eher unwahrscheinlich war, bei Nacht gefasst zu werden, so hatte er trotzdem Angst, in einen Hinterhalt zu geraten. Jedes Geräusch kam ihm jetzt um ein Vielfaches lauter vor. Das Knacken von Ästen unter seinen Schuhen. Das Rauschen des Windes. Gelegentliche Schreie von Raubvögeln. Und Jordan war der Gejagte. Gut bewaffnete Polizisten mit Gewehren und Handfesseln waren hinter ihm her. Suchtrupps mit Bluthunden. Vielleicht hatten sie ihm eine Falle gestellt und warteten bereits in der Hütte auf ihn. „Woher wissen Sie, dass wir uns nicht verirren?" wollte sie wissen. „Ich benutze den Kompass." „Wir hätten die Hütte schon längst erreichen müssen", behauptete sie. „Es ist spät. Wir können nicht mehr lange weitergehen." „Wir werden sie finden." „Wissen Sie", fuhr sie fort, „andauernd verlaufen sich Leute in den Bergen. Hier gibt es meilenweit offenes Gelände." „Ich sagte, wir finden diese verdammte Hütte." Er hatte die Regeln des Navigierens gelernt, als er mit einem fünf Meter langen Segelboot auf dem Golf von Mexiko unterwegs gewesen war, und die gleichen Regeln galten auch an
Land. Er wäre auch in der Lage gewesen, seine Position an den Sternen abzulesen, allerdings war der Himmel über Colorado so klar und die Sterne strahlten so zahlreich und ungewohnt hell, dass es ihn verwirrte. Also schaute Jordan nicht länger nach oben. Vielmehr konzentrierte er sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen und in die richtige Richtung zu laufen, um Schutz vor der Kälte zu finden, die bereits jetzt den Schweißfilm auf seinem Körper gefrieren ließ. Als sie aus dem Wald heraustraten, kamen sie auf eine Lichtung, von der aus ein Weg nach Norden führte. „Das muss der Pfad sein", sagte Emily. „Es überrascht mich, dass Sie ihn gefunden haben." Ihn auch, wenn er ehrlich war. „Ich hatte keine andere Chance. Aufgeben ist nicht drin." Sie ging an ihm vorbei, wollte wieder die Führung übernehmen, aber er zog einmal sanft an dem Seil und brachte sie damit zum Stehen. Vielleicht hatte man ihm wirklich eine Falle gestellt, und er wollte ihr nicht die Gelegenheit geben, die Suchtrupps auf sich aufmerksam zu machen. „Ich gehe vor. Es könnte ein Hinterhalt sein." Erneut holte er die Pistole aus seinem Rucksack. „Und machen Sie keinen Lärm." „Was haben Sie vor?" „Pookie." Obwohl der kleine Hund eine Menge seiner Energie eingebüßt hatte, ging Jordan davon aus, dass er wie verrückt bellen würde, wenn er andere Menschen witterte. „Er wird uns warnen, falls jemand in der Nähe ist." Nachdem sie noch etwa eine Meile lang dem Weg gefolgt waren, erblickte er zwischen den Bäumen einen dunklen Umriss. Die unbeleuchtete Hütte schien verlassen, doch Jordan ließ Pookie trotzdem vorgehen. Der Hund enttäuschte ihn nicht. Wie der Blitz raste er zur Hüttentür, schnüffelte und kam dann ohne zu bellen zurückgerannt. „In Ordnung", sagte Jordan. Er war so erleichtert, dass ihm, obwohl er bis auf die Knochen durchgefroren war, warm wurde. Nur noch ein paar Schritte. Das würde er schaffen. „Jetzt können wir die Taschenlampen benutzen." Die Ausstattung war primitiv, aber Jordan kam die Hütte wie ein Erste-Klasse-Hotel vor. Das einzige Fenster war fest verschlossen, im Licht der Taschenlampe konnte er ein Spülbecken und einen Holzofen erkennen. Mehrere dünne Matratzen waren in einer Ecke übereinander gestapelt. Es gab einen rußgeschwärzten Tisch und zwei Holzstühle. Er nahm den Rucksack ab und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Das harte Holz schien ihm bequemer als ein weicher Plüschsessel. „Machen Sie das Seil los", forderte Emily ihn auf. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, dass sie noch genug Kraft hatte, um davonzulaufen, wollte sein Glück aber nicht herausfordern. „Noch nicht." „Aber ich bin am Verhungern, und Pookie muss auch gefüttert werden. Wie soll ich denn das Essen zubereiten, wenn ich mit diesem blöden Seil festgebunden bin?" Er fand es auch nicht besonders angenehm, dass sie sich nicht frei bewegen konnte. Mit letzter Kraft schob er seinen Stuhl vor die Tür, die der einzige Ausgang war. Dann setzte er sich darauf und machte das Seil von seinem Gürtel los. „Jetzt können Sie sich selbst losbinden." Sie dehnte und streckte sich, als ob sie die ganze Zeit an Händen und Füßen gefesselt gewesen wäre. Dann machte sie sich an die Arbeit. Von einem schmutzigen Regal nahm sie ein Windlicht und zündete eine dicke Kerze an, die sie ihrem Rucksack entnahm. Sofort wurde die Hütte von flackerndem Licht erhellt. Jordan beobachtete ihr geschäftiges Treiben durch halb geschlossene Augen, sah, wie sie in ihrem Gepäck wühlte und ihre Ausrüstung zusammensuchte. Sie erinnerte ihn an einen exotischen goldenen Vogel, der ein Nest baute, ein Heim.
Jordan atmete langsam aus und musste seine ganze Willenskraft zusammennehmen, um das Stechen und Pochen seiner Wunden zu ignorieren. Aber diesmal brauchte er sich nicht die Schönheit von Florida vorzustellen. Er war ganz zufrieden damit, hier zu sein. Emily um sich zu haben war merkwürdig tröstlich. „Wasser", murmelte sie. „Wir brauchen Wasser." Neben dem Waschbecken stand eine rostige Handpumpe. Entschlossen packte sie den Griff und drückte ihn hinunter, immer und immer wieder, bis sie mit einem Strahl rotbrauner Flüssigkeit belohnt wurde. Sie pumpte kräftiger, bis das Wasser relativ klar wurde. Trotzdem sagte sie warnend: „Das hier ist kein Trinkwasser, wir können uns damit nur waschen." Nachdem sie Pookie gefüttert und ihm Wasser gegeben hatte, brachte sie verschiedene unappetitlich aussehende Packungen gefriergetrockneten Essens zum Vorschein. „Dafür brauche ich heißes Wasser." „Kein Feuer", sagte er. Sosehr er sich auch nach Wärme sehnte, er durfte es nicht riskieren, Rauchzeichen in den Himmel zu schicken. „Ich brauche kein Feuer", sagte sie. Ihre Notfallausrüstung beinhaltete eine kleine batteriebetriebene Kochplatte. Während das Abendessen warm wurde, schrubbte sie das Waschbecken und wischte den Tisch ab. Sie brachte sogar eine leichte Decke zum Vorschein. „Wickeln Sie sich darin ein." Obwohl es seinen männlichen Stolz ankratzte, eingekuschelt bei der Tür zu sitzen, war ihm zu kalt, um Einwände zu erheben. Er schluckte drei von den Schmerztabletten, die sie ihm gegeben hatte. Während er darauf wartete, dass sie zu wirken begannen, fuhr er fort, Emily zu beobachten. Mit einem ungewöhnlichen Mangel an weiblicher Eitelkeit rollte sie die Ärmel hoch und wusch sich die Arme. Sie schloss die Augen, spritzte sich Wasser ins Gesicht, trat schließlich vom Waschbecken zurück und öffnete ihren Pferdeschwanz. Ihr lockiges Haar fiel in einer goldene Wolke über ihre Schultern herab. Es sah weich aus. Jordan rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, als er vorstellte, wie seidig es sich anfühlte. Am liebsten hätte er ihr die Bürste aus der Hand genommen und wäre damit durch die herrliche dichte Mähne gefahren. Ohne in einen Spiegel zu schauen, band sie es wieder zu einem Zopf zusammen. Er hatte noch nie eine Frau wie sie kennen gelernt - so offen, direkt und natürlich. Sie würde sich niemals auf irgendwelche Spielchen einlassen, und diese Eigenschaft fand Jordan äußerst anziehend. Vielleicht war es kein Zufall, dass er nach Cascadia geflüchtet war. Vielleicht hatte ihn das Schicksal zu Emily geführt. Sie tischte das Essen in kleinen Plastikschüsseln auf und stellte zwei Flaschen Wasser daneben. „Kommen Sie essen." Er wollte seinen Platz vor der Tür eigentlich nicht räumen. Nach kurzem Überlegen sagte er: „Ziehen Sie Ihre Schuhe aus." „Wie bitte?" „Barfuß können Sie nicht weglaufen." Sie verdrehte die Augen. „Gut, ich ziehe sie aus, wenn Sie jetzt an den Tisch kommen. Das ist zwar kein Gourmetessen, aber auf jeden Fall schmeckt es warm besser als kalt." Er schob seinen Stuhl über den rauen Holzboden. Nachdem er im Gefängnis sechs Wochen lang allein gegessen hatte, war er nicht sicher, ob er überhaupt noch wusste, wie man ein zivilisiertes Gespräch führte. „Nun", sagte er. „Wir haben es geschafft." „Sie haben es geschafft. Das ist Ihre Flucht", erinnerte sie ihn. „Ich bin nur die Geisel, die Sie mitschleppen." Er würde sie niemals als Schutzschild benutzen, niemals etwas tun, das sie in Gefahr bringen würde. Aber diese Tatsache musste er für sich behalten. Wenn sie nichts zu fürchten hatte, würde sie davonlaufen. Er probierte einen Löffel von etwas mit braunen,
orangefarbenen und grünlichen Brocken, das entfernt an Eintopf erinnerte. „Gar nicht schlecht." „Sie müssen auf jeden Fall das ganze Wasser trinken. Es ist wichtig, dass Sie genug Flüssigkeit zu sich nehmen." Sie runzelte die Stirn. „Vermutlich sollte ich Ihnen keine Überlebenstipps geben." „Vermutlich nicht", sagte er boshaft. „Denn wenn Sie nett zu mir sind, werden Sie mich am Ende vielleicht nicht mehr los." „Wie Fußpilz." Ungerührt erwiderte er: „Wer weiß, Sie könnten sogar beginnen, mich zu mögen." „In der Regel vermeide ich es, mich zu sehr mit entlaufenen Häftlingen anzufreunden", gab sie zurück. Trotz ihrer Feindseligkeit gegenüber Jordan spürte sie, wie sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreiten wollte. „ Die Zukunftsaussichten einer Geisel-GeiselnehmerBeziehung sind mir zu schlecht." „In meinem Fall trifft das nicht zu", versicherte er und aß einen weiteren Löffel von dem gefriergetrockneten Eintopf. „Ich bin unschuldig, und ich werde es beweisen." Er äußerte das so überzeugend, dass sie überlegte, ob er nicht vielleicht doch die Wahrheit sagte. Auch vorhin, als er über seine verstorbene Frau und die fehlende Leidenschaft in ihrer Ehe und die geplante Scheidung gesprochen hatte, war er ihr sehr glaubwürdig erschienen. „Sie sagten, dass Sie den wahren Mörder in Aspen ausfindig machen wollen." „Das ist richtig." „Aber was wollen Sie dort Neues herausfinden?" Sie hatte die Beweislage durch die Zeitungsartikel verfolgt. „Sheriff Litvak persönlich hat die Ermittlungen geführt." „Verstehen Sie mich nicht falsch", erwiderte Jordan. „Ich glaube nicht, dass Litvak mir was anhängen wollte. Aber nachdem er einmal beschlossen hatte, dass ich schuldig bin, hörte er auf, noch weiter zu recherchieren. Er muss irgendetwas übersehen haben." „Was zum Beispiel?" Sie zählte die Fakten an den Fingern ab. „Er hat die Mordwaffe, eine Pistole, die auf den Namen Ihrer Frau registriert war und auf der ausschließlich Ihre Fingerabdrücke gefunden wurden. Es gab keinen Hinweis darauf, dass jemand gewaltsam in das Haus eingedrungen war. Und eine Zeugin, nämlich die Haushälterin, sah Sie über das Opfer gebeugt dastehen." „Knien", korrigierte er. „Ich habe Lynettes Leiche gefunden und sofort den Notruf gewählt. Ich kniete neben ihr und versuchte herauszufinden, wie ich sie wiederbeleben und die Blutung zum Stillstand bringen könnte." „Sie wissen nicht, wie man jemanden wiederbelebt?" „Ich bin nicht in Erster Hilfe ausgebildet wie Sie. Ich konnte nichts tun, um ihr Leben zu retten." Ihre Blicke trafen sich, und sie sah die tiefe Traurigkeit in seinen dunklen Augen. Emily hatte schon fast vergessen, dass Lynette Afton-Shane einmal eine lebendige Frau gewesen war. Nicht nur das Opfer einer Gewalttat. Sie war Jordans Frau gewesen. „Aus dem Polizeibericht habe ich erfahren", sagte Jordan, „dass ich ihr sowieso nicht mehr hätte helfen können. Lynette war ins Herz getroffen worden. Sie muss sofort tot gewesen sein." „Sauber gezielt", sagte sie. „Das könnte doch ein Hinweis sein. Können Sie gut mit Waffen umgehen?" „Pulververbrennungen haben gezeigt, dass sie aus nächster Nähe erschossen wurde. Dazu muss man nicht sonderlich geschickt sein." Emily hatte gelesen, dass Jordan behauptet hatte, geschlafen zu haben, als seine Frau ermordet wurde. „Warum haben Sie den Schuss nicht gehört?" „Weil ein Schalldämpfer benutzt wurde. Außerdem ist Lynettes Haus riesig. Ich habe es Hotel Afton-Shane genannt, weil die sechzehn Zimmer fast immer von Freunden und Familienmitgliedern bewohnt wurden."
„Aber in der Mordnacht war sonst niemand da." „Nur ich." „Wieso?" fragte sie. „Ich wollte ungestört mit ihr über unsere Scheidung sprechen. Wenn viele Menschen um mich sind, werde ich nervös wie einen Floh auf einem Hund." Je mehr er sich entspannte, desto ausgeprägter wurde sein Südstaaten-Akzent. „Ich bin meist ganz zufrieden, wenn ich mich mit meinen Computern und meiner Software beschäftigen kann." „Geht mir genauso", sagte sie. „Nicht in Bezug auf Computer, versteht sich. Aber ich war schon immer ganz gut darin, mich mit mir selbst zu beschäftigen." „Jedenfalls ist das der Grund, warum Lynette und ich alleine in dem Haus waren." Emily konnte verstehen, dass der Sheriff in ihm den Hauptverdächtigen sah. Seine Bitte um ein Wochenende zu zweit legte nahe, dass er ein Verbrechen geplant hatte. Andererseits war er kein Narr. Warum sollte er seine Frau töten, wenn keine anderen Verdächtigen im Haus waren? „Keine Anzeichen für einen Einbruch", überlegte sie laut. „Aber bestimmt hatten doch auch noch andere Leute einen Schlüssel." „Unglücklicherweise nicht. Lynette hatte eine Menge kostbare Kunstwerke, deswegen war ihr Haus komplett abgesichert. Es gab keine weiteren Schlüssel." „Vielleicht ist jemand vorbeigekommen", schlug Emily vor. „Ihre Frau machte die Tür auf und ließ ihn herein." „Das habe ich dem Sheriff auch gesagt", erklärte Jordan. „Ein später Gast oder so. Lynette war für jemanden, der vorhatte, alleine zu schlafen, in ein ziemlich aufreizendes Nachthemd gekleidet. Aber die Türklingel läutet im Apartment von Rita Ramirez, der Haushälterin, im Untergeschoss hinter der Küche. Und Rita hat nichts gehört." „Vielleicht hat Ihre Frau aufgemacht, bevor es klingelte." „Woher sollte sie wissen, dass jemand gekommen war? Es wurden keine Telefonanrufe getätigt. Außerdem hätte dieser späte Besucher nicht einfach verschwinden können, nachdem Lynette tot war. Sie hatte ein Sicherheitssystem, bei dem man eine Nummer in einen Computer eingeben muss, wenn man Türen oder Fenster öffnen oder schließen wollte, ohne den Alarm auszulösen." Seine Traurigkeit hatte grimmiger Entschlossenheit Platz gemacht. Die Lippen entschlossen zusammengepresst, schienen seine Augen sogar noch dunkler zu werden, doch in ihnen loderte ein sorgfältig kontrolliertes Feuer. Sie bewunderte seine starke Persönlichkeit und die leidenschaftliche Willenskraft, die ihm geholfen hatte, Schmerz und Erschöpfung zu überwinden. Wenn überhaupt jemand in der Lage war, den Mörder ausfindig zu machen, dann Jordan. Es sei denn ... er war selbst schuldig. Sie wehrte sich entschieden gegen die Anziehungskraft, die von ihm ausging, die sie umfing und dazu brachte, die Dinge so zu sehen, wie er es wollte. Sie war nicht bereit, sich auf seine Seite zu stellen. Jedenfalls noch nicht. Als sie sich wieder unter Kontrolle hatte, bemerkte sie, dass der Verband nach den Anstrengungen des Tages schmutzig geworden war. „Bevor wir schlafen gehen", sagte sie, „sollte ich mir noch mal Ihre Wunden ansehen." „Dann tun Sie das bitte gleich. Ich bin ziemlich müde." „Ziehen Sie sich aus und waschen Sie sich." Er ging zum Becken und schälte sich aus seinem Hemd. „Ich möchte, dass Sie mir zeigen, wie ich die Verletzungen selbst behandeln kann. Wenn Sie weg sind, muss ich wissen, was zu tun ist." „Solange es keine Infektion gibt, ist das gar kein Problem. Halten Sie die Wunden einfach sauber und nehmen Sie jede Menge Jod." Während er mit der Pumpe herumhantierte, spannte sich die seitliche Muskulatur seines Rückens. Das Kerzenlicht warf tanzende Schatten auf die Wand hinter ihm, als er seine Arme
und die Brust mit Seife abschrubbte. Er zitterte. „Kalt", sagte er. „Mir ist in den Bergen immerzu kalt." „Sie sollten mehrere Schichten anziehen." Sie klang so steif und förmlich wie ein Sicherheits-Ratgeber. Schnell presste sie die Lippen zusammen. Wenn sie ehrlich ausgesprochen hätte, was sie dachte, dann hätte sie vom Spiel seiner Muskeln geredet und davon, wie ihr seine breiten Schultern und die schmalen Hüften den Atem nahmen. Mit blankem Oberkörper setzte er sich wieder auf seinen Stuhl. „Fertig." Sie nahm den Verband ab und betrachtete die Wunden kritisch. Sie hatte gute Arbeit geleistet. „Ich habe das ganz ordentlich hingekriegt mit den Nähten. Sie werden zwar eine Narbe zurückbehalten, aber schlimm wird sie nicht aussehen." „Eine Narbe mehr oder weniger macht keinen Unterschied", sagte er. Als sie die Verbände erneuert hatte, schlüpfte er wieder in sein Hemd. „Da gibt es noch etwas, das mir im Zusammenhang mit Lynettes Tod Kopfzerbrechen bereitet. Sie bat mich um einen Monat Zeit, damit sie ihre finanziellen Angelegenheiten regeln konnte, bevor ich die Scheidung einreichte. Wieso?" „Das kommt mir nicht sonderlich merkwürdig vor." Emilys Geldgeschäfte waren zwar so geringfügig, dass alle Unterlagen für ihr Spar- und Girokonto und ihre permanent fallenden Investmentfonds gerade mal in einem Schuhkarton Platz fanden. Doch jedes Jahr, wenn sie die Steuererklärung machen musste, brauchte sie trotzdem mehrere Wochen, um die Belege zu sortieren. „Vielleicht war sie einfach ein wenig unordentlich." „Nicht Lynette. Sie war eine Frau, die täglich eine Liste aufstellte und jede einzelne Aufgabe ordentlich abhakte." Emily hob die Augenbrauen. „ Ich habe gehört, dass es solche Menschen geben soll. Tüchtige Menschen." „Ist wohl nicht Ihr Ding?" „Ich bin effizient bei den Dingen, die unbedingt getan werden müssen. Aber ich lasse mich auch schnell ablenken. Ich beginne zum Beispiel, die Tür herzurichten oder das Sturmfenster für den Winter einzubauen. Aber dann sehe ich, was für schöne Farben die Wildblumen haben, und schon spiele ich mit Pookie Frisbee." Sie warf einen Blick auf den Hund, der in der Nähe der Tür schlief. Er schien von einer Hasenjagd zu träumen, denn seine Pfoten zuckten, und er knurrte leise vor sich hin. „Und als Sie Krankenschwester waren? Da mussten Sie doch funktionieren." „Ich musste schnell sein. In einer Notfallsituation hat man keine Zeit, sich ablenken zu lassen." Dabei ging es bei der Krankenpflege um so viel mehr als nur um rein medizinische Hilfe. Emily tendierte zur ganzheitlichen Medizin. Sie versuchte, Trost zu spenden, indem sie eine Hand hielt oder eine fiebrige Stirn kühlte. Sie sprach mit den Leuten. Und hörte zu. Sie lauschte ihren letzten Worten. Die Erinnerungen brannten wie Brennnesseln, sie zwang sich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Das war nun ganz bestimmt nicht der richtige Moment, um sich an ihre schmerzhafte Vergangenheit zu erinnern. Sie durfte jetzt nicht die Kontrolle verlieren. Offenbar war sie viel erschöpfter, als sie gedacht hatte. Jordan beobachtete sie aufmerksam übenden Tisch hinweg. „Woran denken Sie gerade, Emily?" fragte er. „Nichts Besonderes." Sie hatte bisher keinem Menschen von den Panikattacken erzählt, die der Job in der Notaufnahme mit sich brachte, und sie hatte auch nicht vor, ausgerechnet jetzt damit zu beginnen. In Gedanken schloss sie die Tür zu ihrer Vergangenheit. „Wir haben von Ihnen gesprochen, über die Finanzen Ihrer Frau. Glauben Sie, das Motiv für den Mord war Geld?" „Ja", antwortete er schlicht. Emily stellte die nächstliegende Frage: „Wer erbt?"
„Ich bekomme ein Zehntel. Ich glaube, es gibt da noch etwas Bargeld für Cousinen und Cousins, aber ihr Bruder, Brian, bekommt das Haus und ihre Firma. Sean Madigan, der Skilehrer, wohnt im Gästehaus von Lynettes Chateau, und das erbt er auch, ganz klar." „Hat der Sheriff all diese Leute überprüft? Haben Sie ein Alibi?" „Brian war auf einer Party und hat wohl eine ganze Menge Zeugen. Alle anderen sagten, sie wären zu Hause gewesen und hätten geschlafen." „Was niemand beweisen kann. Oder widerlegen." „Ich werde die Beweise finden", sagte er. „Der Mörder wird nicht ungestraft davonkommen." Entschlossenheit war ja gut und schön, aber er hatte sich eine nicht zu bewältigende Aufgabe gestellt. Der Sheriff mit all seinen Möglichkeiten hatte nichts finden können, das auf jemand anderen hinwies als auf Jordan. Wie konnte er, ständig auf der Flucht, hoffen, mehr Erfolg zu haben? „Tut mir Leid, Jordan, aber für mich klingt das nicht sonderlich ermutigend", sagte Emily. „Ich weiß nicht, wie Sie den Mörder schnappen wollen, solange der nicht plötzlich das Tourette-Syndrom entwickelt und mit einem Geständnis rausplatzt." Die Spannung wich von ihm, als er loslachte. „Mir gefällt Ihr Humor." „Sie scheinen überrascht zu sein." „Ich hatte das nicht erwartet", gestand er. „Ihre Arbeit in der Notfallhilfe bringe ich normalerweise nicht mit sehr viel Humor in Zusammenhang." „Genau das kapieren die Leute, die nichts mit Medizin zu tun haben, nicht", entgegnete sie. „Mein Beruf bringt mich immer wieder in Situationen, wo es um Leben und Tod geht. Da muss man in der Lage sein, zu lachen. Sonst würde man anfangen, zu heulen, und nie mehr damit aufhören." Sie bemerkte, wie bitter sie klang. Wie viel Schmerz in ihrer Stimme lag. Ihre Gefühle waren viel zu nah an der Oberfläche und drohten, jeden Moment durchzubrechen. Bevor sie sich noch verplappern konnte, stand sie schnell auf und begann, das Geschirr abzuwaschen. Was hatte Jordan nur an sich, dass sie ihm am liebsten ihre persönlichsten Geheimnisse offenbart hätte? Lag das daran, wie verzweifelt er war? Schließlich kämpfte er um sein Leben, um seine Freiheit, seinen Seelenfrieden. Keinesfalls lag es daran, dass sie ihm vertraute. Als sie auf Strümpfen über den Holzboden ging, fiel ihr wieder ein, dass er ihr die Schuhe weggenommen hatte. Er hatte sie mit einer Leine an sich festgebunden und sie gezwungen, das Gesetz zu brechen. Sie hatte absolut keinen Grund, Mitgefühl zu empfinden. Steif sagte sie: „Wenn es Ihnen nichts ausmacht ... ich müsste mal auf die Toilette." „Lassen Sie Ihre Schuhe hier", sagte er. „Und verlaufen Sie sich nicht in der Dunkelheit." Als sie die Hüttentür öffnete, wachte Pookie auf. „Wuffz, wuffz." Sie verwuschelte das Fell auf seinem Kopf. „Du solltest wohl am besten mit mir kommen, Hund." „Gute Idee", sagte Jordan. „Wenn jemand draußen ist, wird Pookie ihn schon bemerken." „Großartig", sagte sie säuerlich und trat in die Dunkelheit hinaus. „Nun macht er aus meinem Hund einen Kundschafter. Wenn ich nicht aufpasse, muss Pookie auch noch das Fluchtauto fahren." Es war viel zu kalt, um auch nur in Erwägung zu ziehen, davonzulaufen, vor allem ohne Schuhe. Selbst wenn Emily noch in der Lage gewesen wäre, zu rennen, war sie sich nicht sicher, ob sie Jordan wirklich alleine lassen wollte. Selbstverständlich. Und zwar bei der erstbesten Gelegenheit. Selbst wenn er unschuldig sein sollte, war das noch immer kein Grund, vor der Polizei zu fliehen. Als sie mit Pookie wieder zurück in die Hütte kam, hatte Jordan bereits eine der breiten Matratzen vom Stapel gezerrt. „Nur eine?" fragte sie.
„Wir werden unsere Schlafsäcke mit den Reißverschlüssen zusammenschließen und auf einer Matratze schlafen", sagte er. „Im anderen Fall müsste ich Sie fesseln, und das möchte ich nicht." „Ach nein?" Emily versuchte genug Wut aufzubringen, um zu protestieren, doch die Anspannung des Tages forderte ihren Tribut - körperlich und seelisch. Sie brachte nur noch eine schwache Handbewegung zu Stande. „Sie haben mich in meinem Haus überfallen, mich in meinem Vorgarten auf den Boden geworfen und mit einem Seil festgebunden. Es macht Ihnen offensichtlich Spaß, mich zu quälen." „Ich bin zu müde zum Streiten. Helfen Sie mir einfach mit den Rucksäcken." „Ich will nicht mit Ihnen auf einer Matratze schlafen", sagte sie. Aber stimmte das? Von der ersten Sekunde an hatte sie Jordan äußerst attraktiv gefunden. „Wenn Sie mich anfassen, werde ich ..." „Ich werde Sie nicht berühren, Emily." Er streckte sich. Obwohl er schmutzig war und Gefängniskleidung trug, wirkte er wie ein ehrenhafter Mann. Mit übertriebenem SüdstaatenAkzent sagte er: „Sie haben mein Wort als Gentleman." „Natürlich, Rhett Butler." Er zog den rechten Mundwinkel in die Höhe. „Zu Ihren Diensten, Miss Scarlett." Etwas von überheblichen Südstaatenmännern murmelnd, befestigte Emily die Schlafsäcke aneinander. „Legen Sie sich hinein", sagte Jordan. Sie krabbelte in den Schlafsack. Als Jordan zu ihr schlüpfte, war kaum noch Platz genug, um sich zu bewegen. Sie konnte also nicht einfach verschwinden, ohne dass er es bemerken würde. Aber sie wusste ja sowieso nicht, ob sie ihn verlassen wollte. Es war Jahre her, dass sie mit einem Mann zusammen gewesen war, sie hatte ganz vergessen, wie angenehm es sich anfühlte, eng neben einem großen, männlichen Körper zu liegen. Das Schicksal herausfordernd, schmiegte sie sich an ihn. Er atmete tief und langsam im Takt seines Herzschlags. „Jordan?" Er antwortete nicht. Er war bereits tief eingeschlafen. Er hatte sein Wort als Gentleman gehalten. Verdammt.
4. KAPITEL Die Kerze war heruntergebrannt und hatte die kleine Hütte in Dunkelheit getaucht. Als Jordan aufwachte, war er froh, dass es nicht hell war. Im Pitkin-County-Gefängnis war das Licht aus der Wachstube und von draußen in seine Zelle gefallen. Eingehüllt in die ruhige, tiefschwarze Nacht, fühlte er Frieden. In dieser Hütte in den Bergen war er ein freier Mann. Und nicht nur das, er lag auch neben einer bemerkenswert schönen Frau. Allerdings hatte er nicht vergessen, dass sie auch ziemlich eigensinnig war. Sie hatte ihm verboten, sie zu berühren. Trotzdem hatten sie sich im Schlaf eng aneinander geschmiegt. Sein verletzter rechter Arm ruhte leicht auf ihr, mit dem Rücken hatte sie sich an seine Brust gekuschelt. Ihr zerzaustes lockiges Haar kitzelte ihn am Kinn. Niemand konnte ihm einen Vorwurf aus dieser für ihn äußerst angenehmen Stellung machen. Es war nicht sein Fehler, dass sie sich einander genähert hatten. Emily konnte sich über seine unbeabsichtigte Umarmung nicht ärgern. Er rührte sich nicht, genoss nur die Nähe ihres fraulichen Körpers und ihre Zartheit. Es war zu dunkel, um sie zu sehen, aber er erinnerte sich gut an den goldenen Schimmer in ihrem Haar, an ihre rosigen Lippen und ihren schlanken Hals. Von ihrem Körper allerdings konnte er sich keine Vorstellung machen, nachdem er die ganze Zeit unter Rucksack, Jeans, mehreren Hemden und in klobigen Bergsstiefeln versteckt gewesen war. Aber er war sich ziemlich sicher, dass auch ihre Figur perfekt war. Ganz vorsichtig bewegte er die Finger und ertastete die Rundung ihrer Hüfte. Dann ließ er die Hand etwas tiefer rutschen und umfasste ihren Hintern. Ihr schlafender Körper war unglaublich verlockend, er spürte, wie er hart wurde. Er begehrte sie, wollte sich an sie pressen. Bei diesem Gedanken begann sich seine Erregung schmerzhaft gegen den Reißverschluss seiner Jeans zu drücken. Wenn Emily jetzt aufwachte, wäre sie zu Recht stinksauer. Vorsichtig, damit er sie nicht weckte, ergriff er ihr Handgelenk und hob es näher an sein Gesicht, um auf ihre Armbanduhr sehen zu können. Als sich die Muskeln seines Oberarms dabei anspannten, durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz. Emily hatte behauptet, dass die Wunde gut verheilen würde, und er glaubte ihr. Er musste einfach das Beste hoffen. Eine Infektion würde seine Flucht immens erschweren. Die Armbanduhr direkt vor Augen, las er die in der Dunkelheit leuchtenden Ziffern ab. Halb fünf, kurz vor Tagesanbruch. Er bettete ihr Handgelenk behutsam in seine alte Lage zurück. Wenn er ein freier Mann bleiben wollte, musste er sich beeilen. Und er brauchte einen Plan. Gestern hatte er einfach nur gehofft, nicht erwischt zu werden. Ab jetzt musste er sich klüger verhalten. Zuallererst musste er sich angemessene Kleidung für die Berge besorgen. Eine Jacke mit Kapuze. Vielleicht ein Sweatshirt. Anständige Stiefel und warme Socken. Aber leider Gottes konnte er nicht einfach in den nächsten Laden marschieren und sich die nötige Ausstattung kaufen. Hätte er einen Computer mit Modem gehabt, wäre das Problem gelöst. Er hätte online bestellen können, was er brauchte. Jordan kannte sich nicht nur gut mit dem Internet und Computersoftware aus, er hatte sogar das eine oder andere selber entwickelt. Er wusste, wie man sich in ein System hacken, eine falsche Adresse angeben und dafür sorgen konnte, keine verfolgbaren Spuren zu hinterlassen. Doch wo sollte er einen Computer herbekommen? Soweit er wusste, stand sein Laptop noch immer in Lynettes Haus in Aspen. Um ihn zu holen, musste er dort einbrechen und das Sicherungssystem lahm legen. Viel zu riskant. Es musste einen anderen Weg geben. Emily räkelte sich, wodurch sofort jede vernünftige Planung in seinem Kopf zum Erliegen kam. Er versuchte, ein Stöhnen zu unterdrücken. Dann rückte er ein paar Zentimeter näher an
sie, nahm ihr Ohrläppchen zart zwischen die Zähne und zog ganz leicht daran. Sie gab einen leisen Laut von sich. Ermutigte sie ihn, weiterzumachen? Vielleicht würde sie sich ja umdrehen und ihn schlaftrunken küssen, bevor sie noch richtig erwachte, und dann einfach vergessen, wer er war und warum sie sich hier befanden. Er hörte ein lautes Keuchen aus der anderen Ecke des Raumes. Dann das Tapsen von Hundepfoten auf dem Holzboden. Pookies Zunge schlabberte über Jordans Stirn. „Wuffz, wuffz." „Nicht jetzt, Hund." Doch offenbar verstand Pookie diese Worte als Aufforderung zum Spielen, denn er hüpfte auf den Schlafsack. So wurde Emily also nicht durch seine Verführungskünste wach, sondern durch ihren Hund. Erschrocken zuckte sie zusammen. „Wuffz, wau." Pookie attackierte jedes Körperteil, das sich bewegte. Vorbei war es mit Emilys süßer Anschmiegsamkeit. Sie schlug hektisch mit den Armen um sich. Jordan schob sie von sich, damit sie seine Verletzungen nicht traf, und schälte sich aus dem Schlafsack. Ohne etwas sehen zu können, stolperte er zur Tür und öffnete sie. Mondlicht und kalte Bergluft strömten in die Hütte. Pookie flitzte ins Freie. Verärgert fragte Emily: „Ist es schon Morgen?" „Fast", antwortete er, holte die Taschenlampe aus seinem Rucksack und hoffte, dass seine Erektion verschwinden würde, bevor Emily sie bemerkte. Er leuchtete ihr ins Gesicht. „Haben Sie noch eine Kerze dabei?" „Hören Sie auf, mich zu blenden." Sie legte schützend eine Hand vor die Augen. „Ich hole sie. Sie würden sie sowieso nicht finden." Er verfolgte ihre Bewegungen mit der Taschenlampe. Sie brachte eine weitere dicke Kerze zum Vorschein und stellte sie in die Glaslampe. Ein sanftes Licht erhellte nun die Hütte. „Und jetzt?" Pookie, der Satansbraten, sauste wieder herein, drückte sich schwanzwedelnd an Jordans Bein und tapste dann zu seinem Frauchen, um sich eine Umarmung abzuholen. „Wau, kläffz." Obwohl Jordan den Hund wirklich mochte, spielte er einen Moment lang mit dem Gedanken, ihm das goldene Fell abzurasieren und sich daraus einen Mantel zu machen. Er warf die Tür mit einem Knall zu. „Ich würde gerne losgehen, bevor die Sonne aufgeht. Ich brauche wärmere Kleidung. Haben Sie etwas dabei?" Sie begann in den Tiefen ihres Rucksacks zu graben und zog eine Strickmütze und Handschuhe in Einheitsgröße heraus. „Wickeln Sie sich in der Decke ein. Die wiegt wenig, erhält aber Ihre Körpertemperatur." Diese silberne Decke würde aber auch wie ein Spiegel die Sonne reflektieren, sobald sie aufgegangen war. „Dieses Ding wäre wie ein Leuchtfeuer für die Suchtrupps. Und Sie wollen doch nicht, dass ich gefasst werde, oder?" „Nein?" Er hatte keine Ahnung, was sie wirklich dachte. Letzte Nacht schien sie schon so weit gewesen zu sein, ihm zu glauben. Aber jetzt? Sie vermied es, ihn anzusehen, während sie ihre Jacke und eine rote Strickmütze mit einer Quaste dran anzog. „Sie wissen, dass ich unschuldig bin", sagte er. „Alles, was ich weiß, ist, dass Sie vor dem Gesetz davonlaufen und mich zwingen, Sie zu begleiten." Er versuchte, die Decke um sich zu legen. Er spürte Muskeln, von denen er nie geahnt hatte, dass es sie gab. Nachdem er die schwarze Mütze auf den Kopf gestülpt hatte, war er davon überzeugt, dass er wie ein kompletter Idiot aussah. Doch da er sich entscheiden musste, ob er lieber erfrieren oder albern aussehen wollte, wählte er Letzteres.
Er nahm vier Schmerztabletten aus dem Röhrchen. Als er seine Flasche hochhob, wunderte er sich darüber, dass sie bis zum Rand gefüllt war. Er wandte sich nach Emily um, die gerade ein Frühstück aus Müsliriegeln zusammenstellte. „Wo haben Sie das Wasser her?" „Gestern Abend habe ich etwas aus der Pumpe durch den Reinigungsfilter laufen lassen. Es schmeckt zwar nicht wie Perrier, wird Sie aber auch nicht krank machen." „Sie denken voraus. Das ist gut." Sie wusste genau, worauf es ankam. Durch ihre Arbeit für den Rettungsdienst waren solche Vorkehrungen für sie selbstverständlich. Und das war auch der Grund, warum er sie bei sich haben wollte. Bevor sie die Hütte verließen, hörte Jordan den Polizeifunk ab. Die Suchtrupps machten sich bereits wieder auf den Weg. Es klang, als ob eine ganze Legion bewaffneter Männer samt Helikoptern und Bluthunden hinter ihm her waren. Knappe Befehle und Antworten dröhnten aus dem Funksprechgerät. Die Suche schien sich auf die direkte Umgebung von Aspen zu konzentrieren. Obwohl sie noch nicht entdeckt hatten, dass Emily verschwunden war, hörte er die Worte, die er am meisten fürchtete: „Cascadia. Nordöstlich. Wir haben eine Spur." Jordan dachte an ihren panischen Spurt über das offene Land, an das niedergetrampelte Gras. „Verdammt." Anhand der topografischen Karte beschloss er, Richtung Roaring Fork River zu marschieren. Emily blickte ihm über die Schulter, während sie einen Müsliriegel verzehrte. Sie schüttelte den Kopf. „So laufen Sie direkt in den Schlamassel hinein." „Ich muss nach Aspen. Da gibt es etwas, was ich brauche." „Was denn?" „Meinen Laptop. Er steht in Lynettes Haus." „Ein Computer? Oh, klar. Der ist wirklich überlebenswichtig. Ein Computer ist es immer wert, dass man sein Leben für ihn riskiert." „ Ich habe nicht erwartet, dass Sie das verstehen. Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, mit der Natur zu kommunizieren, als dass Sie sich um etwas so Belangloses wie Internet scheren würden." „Internet, so ein Quatsch." Sie deutete auf den Stuhl. „Bevor wir losziehen, lassen Sie mich noch mal einen Blick auf die Naht in Ihrem Gesicht werfen." Die Wunde spannte ziemlich, tat aber nicht annähernd so weh wie der Rest seines Körpers. Trotzdem ließ er sich auf den Stuhl sinken. Vorsichtig entfernte sie den Verband und versicherte ihm: „Ich tue das nicht, weil ich Ihnen helfen will. Ich fühle mich einfach von Berufs wegen verpflichtet, Sie medizinisch zu versorgen." „Geben Sie's auf, Emily. Sie sind keine sonderlich gute Lügnerin." „Wie meinen Sie das?" „Ich glaube, dass Sie beginnen, sich für mich zu interessieren." „Nicht im Geringsten", erklärte sie. „Gestern Abend haben Sie so viele Fragen über den Mord gestellt, weil sie sich selbst davon überzeugen wollten, dass ich unschuldig bin. Sie kennen die Wahrheit. Mir ist da was angehängt worden. Ich hatte keinen Grund, Lynette zu töten." „Das muss das Gericht entscheiden", sagte sie. Als er den Blick zu ihrem Gesicht hob, entdeckte er auf ihrer Nase ein paar Sommersprossen. Ihre Wimpern waren lang und dunkelbraun wie ihre Augenbrauen. Die kühlen grünen Augen blickten sehr konzentriert, als sie seine Wunde säuberte. Ihre Haltung war überaus professionell. Sie sah in ihm nicht den Mann. Für sie war er nur ein Patient, und das ging ihm ganz schön auf die Nerven. Jordan konnte ihre Wut verstehen, sogar ihre Abscheu. Aber diese Gleichgültigkeit konnte er nicht ertragen. „Sehen Sie mich an, Emily."
Ihre Wimpern flatterten, als sie ihn anblickte. Er schaute ihr direkt in die Seele, und dort entdeckte er einen Funken -etwas Zartes, das ihre nüchterne Art Lügen strafte. Bevor sie Einspruch erheben konnte, umfasste er ihren Nacken, zog sie an sich und küsste ihren feuchten, süßen Mund. Ihr überraschtes Keuchen wurde zu einem sanften Stöhnen, sie öffnete die Lippen. Als sich ihre Zungen berührten, konnte er ihre Gier schmecken, die fast genauso stark war wie seine eigene. Bevor diese Reise zu Ende war, das wusste er jetzt, würden sie miteinander schlafen. Als er sie wieder freiließ, machte sie benommen einen Schritt nach hinten. Sie zitterte. Einen Augenblick lang schien sie vergessen zu haben, dass sie eine Geisel war und er ein entlaufener Häftling. Ihre Feindseligkeit hatte sich aufgelöst, ihre Züge waren weich und wunderschön. Dann funkelte sie ihn an. „Wie konnten Sie nur! Jordan, Sie haben versprochen, mich nicht anzufassen." „Das Versprechen hat nur für letzte Nacht gegolten." Trotz der stechenden Schmerzen, die ihm die Naht auf der Wange bereitete, grinste er. „Heute ist ein neuer Tag, Emily." „Es werden niemals genug Tage vergehen, damit ich Ihnen verzeihen könnte, was Sie mir antun." Sie hob die Hand und berührte ihre prickelnden Lippen, fassungslos darüber, dass er sie geküsst hatte. Und noch schlimmer, dass sie sich hatte küssen lassen. Wut kochte in ihr hoch. „Verdammt, Jordan." Er grinste immer noch. Er war stolz auf sich! Ein Beben fuhr durch ihren Körper. Was für ein Kuss! Es hatte sich so angefühlt, als ob sie ihr Leben lang auf ihn gewartet hätte. Schon letzte Nacht hatte sie ihn gewollt, da hatte sich ihre Gegenwehr in der Dunkelheit aufgelöst. Aber jetzt war ein neuer Tag, und sie hatte wieder mehr Kraft. Vor allem kannte sie den Unterschied zwischen richtig und falsch. „Ich lasse es nicht zu, dass Sie aus mir eine Komplizin machen. Ich arbeite mit dem Sheriff zusammen. Ich bin nicht kriminell." „Genauso wenig wie ich", sagte er nur. „Lassen Sie uns gehen." Sie richtete ihren Rucksack und wuchtete ihn auf die Schultern. Letzte Nacht hatte sie tatsächlich das Gefühl gehabt, dass er unschuldig an dem Mord war. Letzte Nacht hatte sie ihm helfen wollen, auch wenn sie dafür das Gesetz brechen musste. Aber sie hatte sich geirrt. Wie sollte durch eine illegale Flucht die Wahrheit bewiesen werden? Ob er den Mord begangen hatte oder nicht, hatte sie nicht zu entscheiden. Ein Gericht musste zu einem Urteil kommen, Jordan musste sich stellen. Letzte Nacht hatte er behauptet, dass immer wieder unschuldige Menschen verurteilt würden, und vermutlich stimmte das auch. Das Rechtssystem war nicht unfehlbar, aber zumindest gab es ja auch die Möglichkeit, Berufung einzulegen. Auch wenn das Rechtssystem Mängel aufwies, so funktionierte es letztendlich doch. Emily glaubte an ihr Land und seine Werte. Das war ein Vermächtnis ihrer Familie. Sie hatte als kleines Mädchen immer vor der amerikanischen Flagge salutiert. Ihr Vater war als Patriot in Vietnam ums Leben gekommen, als er genau diese Art zu leben verteidigt hatte. Wenn sie nun also einem entlaufenen Sträfling half, dann beschmutzte sie sein Andenken. Das durfte sie auf keinen Fall zulassen. Sie hatte immer versucht so zu leben, dass ihr Vater stolz auf sie gewesen wäre. Als Krankenschwester in der Notfall-Aufnahme hatte sie ununterbrochen darum gekämpft, Leben zu retten. Sie riss sich zusammen. „Sie können nicht einfach selbst das Gesetz in die Hand nehmen." „Fertig?" Er hielt ihr die Tür auf. „Sie könnten sich stellen. Über das Funksprechgerät könnten wir die Suchtrupps informieren. Man wird es Ihnen anrechnen, wenn Sie die Bereitschaft zeigen, zu ..." „Ich gehe nicht ins Gefängnis zurück."
Sein entschiedener Ton ließ keinen Raum für Kompromisse. Aber sie war von der Richtigkeit ihrer Ansicht mindestens ebenso überzeugt. Sie zerknitterte das Papier des Müsliriegels und beschloss, auch damit wieder eine Spur zu hinterlassen. Als er das aufgewickelte Seil hervorholte, sagte sie: „Nicht die Leine. Nicht im Dunkeln, Jordan. Wir kommen schon bei Tageslicht nur schwer voran." „In Ordnung", sagte er. „Ich vertraue Ihnen, dass Sie nicht versuchen werden, zu fliehen." „Und wenn doch?" Seine Augen wurden dunkel wie Anthrazit, als er sie daran erinnerte, dass er noch immer die Pistole hatte. Sie folgte ihm nach draußen in die Kälte. Durch die Wipfel der Bäume sah sie den Mond tief am westlichen Himmel stehen. „Sie würden mich nicht erschießen." „Fordern Sie mich nicht heraus", entgegnete er grimmig. „Ich werde alles tun, was nötig ist, um zu entkommen." Sie verließen den ausgetrampelten Pfad, und sie ließ unauffällig die Verpackung des Müsliriegels fallen. Zusätzlich knickte sie auch noch einen tief hängenden Ast ab. Pookie sah zu ihr hoch. Mit seinen treuen Welpenaugen schien er sie vorwurfsvoll anzublicken. Emily kämpfte gegen das Schuldgefühl, das in ihr hochkam, indem sie sich immer wieder sagte, dass sie das Richtige tat. Gegen zehn Uhr, nachdem sie fünf Stunden marschiert waren, packte Jordan die reflektierende Decke weg. Sie hatten die ganze Zeit darauf geachtet, sich unter schützenden Bäumen fortzubewegen. An einer kleinen Anhöhe am Rande einer Lichtung blieb er stehen. „Hier stimmt etwas nicht", sagte er. Emily zerknüllte das Taschentuch in ihrer Hand. Den ganzen Weg lang hatte sie winzige Schnipsel fallen lassen. „Was soll denn nicht stimmen?" Er zog das Fernglas aus ihrem Rucksack und suchte die Gegend ab. „Ich sehe niemanden, aber ich habe das Gefühl, als ob sie näher kommen würden." Wie zur Bestätigung hörte sie in der Ferne das Surren von Hubschrauberflügeln. „Zurück", befahl Jordan. „Runter mit dem Rucksack und verstecken Sie ihn unter einem Busch." Sie schob den knallroten Rucksack unter einen Kirschtraubenbusch, an dem reife Beeren hingen. „Und Ihre rote Jacke", rief er. „Auch verstecken." Sie gehorchte. Es konnte nur einen Grund dafür geben, dass ein Helikopter diese Gegend absuchte. Der Radius der Suche war kleiner geworden, weil die Trupps die Spuren, die sie gelegt hatte, entdeckt hatten. Emily hätte sich eigentlich freuen sollen, dass ihre List funktioniert hatte. Er würde geschnappt werden. Doch stattdessen überkam sie eine dunkle Vorahnung. Was, wenn sie sich geirrt hatte? Wenn ihm wirklich Unrecht geschah? Sie war schuld, wenn sie ihn fassten und verurteilten. Er packte Pookie am Halsband. Dann wurde sie von seinen starken Armen umschlossen. Er zog sie hinter die Büsche. „Das soll kein Annäherungsversuch sein", sagte er. „Ich will nur nicht, dass Sie oder Pookie auf dumme Gedanken kommen, wie zum Beispiel aufs offene Gelände zu rennen und Ihren Kumpels da oben Zeichen zu geben." Der Hubschrauber kam in Sicht. Er flog sehr tief, die Kufen berührten beinahe die Baumkronen. Obwohl Jordan sie umklammert hielt, glaubte Emily kaum, dass er sie und den Hund im Ernstfall wirklich würde zurückhalten können. Wenn sie sich wehrte, würde sie sich sicherlich befreien können. Sie starrte auf die Lichtung, die nur wenige Meter entfernt war. Ohne das Gewicht des Rucksacks war sie schnell genug dort, um den Leuten ein Zeichen zu geben. Aber sie rührte sich nicht..
„Ich habe Ihnen nicht erzählt, wie es ist, sechs Wochen im Gefängnis zu sitzen", flüsterte er erregt in ihr Ohr. „Wie es ist, darauf zu warten, dass einem Gerechtigkeit widerfährt, ohne dass man etwas tun kann. Tag für Tag in einer quadratischen grauen Zelle." Sie konnte sich sehr wohl vorstellen, wie das. war. Ihr Vater war im Gefängnis gewesen. Ein paar Wochen vor seinem Tod war er in Vietnam als Kriegsgefangener in einen Käfig eingesperrt worden. Hilflos. „Es ist immer kalt", fuhr Jordan fort. „Und niemals ist es dunkel genug, um richtig schlafen zu können. Zuerst war ich wütend. Die Wut brannte in mir wie ein Lauffeuer." Jetzt war der Hubschrauber direkt über ihnen. Sie konnte den Abwind spüren. Jeder Muskel ihres Körpers spannte sich in der Erwartung, entdeckt zu werden. Doch der Helikopter flog weiter. Ohne auch nur eine Sekunde über ihrem Versteck zu kreisen, verschwand er. „Nach vier Wochen", sagte Jordan, „ist dieses Feuer ausgegangen. Ich hatte alle Hoffnung verloren. Egal, wie oft ich meine Unschuld beteuerte, niemand wollte mir glauben. Und ich hatte das Gefühl, dass sich das auch nie ändern würde." Die Erinnerung an einen Vater, den sie nie kennen gelernt hatte, quälte sie. Er musste sich genauso gefühlt haben wie Jordan. „Ich würde lieber sterben", sagte er, „als zurück ins Gefängnis zu gehen." Der Lärm des Hubschraubers verklang, und Jordan ließ sie los. Dann nahm er das Funkgerät in die Hand und lauschte. Die Suchtrupps hatten Beweise dafür gefunden, dass sie sich in der Hütte aufgehalten hatten. Emily hörte entsetzt, wie die Stimme sagte: „... sie bewegen sich in nördliche Richtung. Sieht so aus, als ob jemand absichtlich eine Spur hinterlässt. Mit Fetzen von Papiertaschentüchern." Jordan blickte überrascht auf. Sie konnte den Schmerz und die Wut in seinem Blick sehen. Jetzt wusste er, dass er betrogen worden war. Er packte ihr Handgelenk, öffnete ihre fest verschlossene Faust. Das zerknitterte Taschentuch fiel heraus. „Sie haben denen geholfen." Panik erfasste sie. Sie konnte nur noch nicken. Was würde er nun mit ihr anstellen? Wie würde seine Rache aussehen? „Wieso?" Sie hätte am liebsten geweint, tat es aber nicht. Sie war die Tochter eines Soldaten, das Kind eines Helden. „Ich dachte, es wäre das Richtige." Empört ließ er ihre Hand los. Dann zog er die Pistole aus seinem Rucksack. Seine Stimme war barsch. „Ich brauche Ihre Fähigkeiten, um zu überleben. Und Sie hinterlassen eine Spur für meine Verfolger, die so eindeutig ist, dass selbst Pookie sie hätte finden können." Sie starrte den Lauf ihrer 22er-Automatik an und versuchte, sich zu verteidigen. „Ich musste den Suchtrupps doch helfen. Sie sind ein entlaufener ..." „Ich bin unschuldig." Er sah ihr fest in die Augen. „Und ganz tief drinnen glauben Sie mir auch. Ich weiß, dass Sie das tun." „Darum geht es nicht, Jordan." Ihre Worte klangen hohl. „Sie müssen "die Justiz ihre Arbeit machen lassen." „Die Justiz ist gegen mich. Die Medien wollen meinen Kopf. Die guten Menschen in Ihrem feinen Aspen hassen mich, so wie sie alle Außenseiter hassen. Die wollen verdammt noch mal nichts anderes als Lynchjustiz." Er packte sie am Kinn und zwang sie, in seine Augen zu sehen. „Ich dachte, Sie wären anders, Emily. Ich dachte, Sie wären unabhängig genug, sich selbst ein Bild zu machen." „Wollen Sie mich erschießen?" Er zuckte zusammen, als ob ihm dieser Verdacht körperliche Schmerzen bereitete. Dann drückte er ihr die Pistole in die Hand. „Sehen Sie nach, Emily. Sie ist nicht geladen."
Mit zitternden Fingern überprüfte sie seine Behauptung. Nicht geladen! Aber warum? „Ich vermute, Sie haben die Munition nicht finden können." „Sie lag in der Schublade zwischen Ihrer Unterwäsche", sagte er. „Ich habe die Waffe nicht geladen, weil ich nicht vorhatte, sie zu benutzen. Ich bin kein Mörder." Sie hatte einen Fehler gemacht. Sie hatte ihn völlig falsch eingeschätzt. Im Glauben, der Gerechtigkeit zu dienen, hatte sie einen unschuldigen Mann hintergangen, der grundlos im Gefängnis gesessen hatte. Die Ähnlichkeit mit dem Fall ihres Vaters erschütterte sie. Sie würde es sich selbst niemals verzeihen, wenn Jordan gefasst wurde, bevor er seine Unschuld beweisen konnte. „Ich habe mich geirrt." „Ja." Er zog eine blaue Nylonschnur aus der Tasche. „Ich lasse Sie hier, an einen Baum gebunden und mit genug Wasser und Essen, dass es ausreicht, bis Sie gefunden werden. Das sollte nicht allzu lange dauern. Ich nehme an, Sie haben genug Wegweiser bis hierher hinterlassen." „Habe ich", gestand sie. „Nicht, dass das viel Unterschied machen würde. Ich habe oft mit diesen Leuten zusammengearbeitet, Jordan. Professionelle Fahnder sind in der Lage, eine Spur aus der Luft zu finden. Zudem haben sie Spürhunde. Sie können es gar nicht schaffen." „Aber ich muss es wenigstens versuchen." Er legte eine Schlinge um Pookies Hals und befestigte sie so, dass der Hund sich nicht aus Versehen erwürgen konnte. Dann wandte er sich Emily zu. „Strecken Sie Ihre Hände aus, Emily." Aber sie konnte ihm helfen. Ihm wirklich helfen. Sie kannte genug Tricks, um die Suchtrupps an der Nase herumzuführen. Oder zumindest für Verzögerungen zu sorgen. „Sie brauchen mich", sagte sie. „Wie ein Surfer einen Hai." „Ich habe es erst jetzt begriffen." Sie wollte ihm alles über ihren Vater erzählen, über seine Gefangenschaft. Aber sie hatte noch nie mit jemandem über seinen Tod gesprochen. Niemals den großen Schmerz mit einem anderen Menschen geteilt. „Geben Sie mir noch eine Chance, lassen Sie es mich wieder gutmachen." Er zögerte, das Seil noch in der Hand. „Reden Sie weiter." „Mein Vater", sagte sie, „ist aus Gründen, die mir niemand jemals erklärt hat, ums Leben gekommen. Er war kein Krimineller. Aber er saß im Gefängnis. In Vietnam." Jordan sah sie unbewegt an. „Meine Mutter sagte immer, dass er ein Held war. Aber ich habe ihn nie richtig kennen gelernt. Er starb, bevor ich zwei Jahr alt war. Ich habe immer versucht, so zu leben, dass er stolz auf mich gewesen wäre. Jordan, er würde wollen, dass ich Ihnen helfe." „Das zu erzählen war bestimmt nicht leicht für Sie." „Nein", gab sie zu. „Ich habe Ihnen diesen Schlamassel eingebrockt, aber ich bringe Sie da auch wieder raus. Ich werde Ihnen für den Rest des Tages helfen. Danach sind Sie dann auf sich selbst gestellt." „Sie haben mich hintergangen, Emily. Warum sollte ich Ihnen jetzt vertrauen?" „Weil ich weiß, wo Sie einen Computer herbekommen", erklärte sie. „Im Hauptquartier des Rettungsdienstes in Cascadia. Wir haben zwei Computer, die so gut wie nie benutzt werden." „Einen Laptop?" „Ich glaube schon. Es ist so ein zusammenklappbares Ding mit einer Batterie, damit man es auch auf Reisen benutzen kann." Sie blickte an ihm vorbei. Auf dem Gipfel des Berges hinter ihnen bemerkte sie das Aufblitzen etwas Metallischem. Ein Gewehr? Sie deutete mit dem Finger darauf. „Sie kommen näher." Er wirbelte herum und schnappte sich das Fernglas. „Wo? Ich sehe nichts." „Bei dem flachen Granitstein ganz oben auf dem Berg. Der ist weniger als zehn Meilen entfernt."
Er kniff die Augen zusammen. „Zwei Männer. Einer von ihnen hat ein Gewehr." „Sie brauchen mich", sagte sie noch einmal. „Alleine schaffen Sie es nicht mal bis zum Abend." Er ließ das Fernglas sinken. „Gut, wir sind im Geschäft. Was tun wir also als Nächstes?" Mit neuer Vitalität durchwühlte sie die Rucksäcke. „Wir reisen künftig leicht, wir nehmen nur das Allerwichtigste mit." „Wenn wir den Kram hier lassen, dann ist klar, dass Sie bei mir sind." „Das könnte hilfreich sein", sagte sie. „Wenn sie wissen, dass Sie eine Geisel haben, dann werden sie nicht so schnell losschießen." Als sie mit dem Aussortieren fertig war, blieben nur noch die Schlafsäcke, die medizinische Ausrüstung, das Seil, Streichhölzer, Müsliriegel und Wasser übrig. Sie hob das Taschentuch auf, das er auf den Boden geworfen hatte. „Wir gehen bergauf", sagte sie. „Wir gehen über die flachen Felsen, damit wir nicht aus Versehen weitere Äste abbrechen." „Aber dann sind wir völlig unter freiem Himmel", entgegnete Jordan. „Selbst wenn der Hubschrauber nicht zurückkommt, so haben diese Typen hinter uns garantiert Ferngläser." „Wir werden nur eine kurze Zeit lang zu sehen sein. Danach legen wir falsche Spuren." Er packte sie am Arm und drehte sie zu sich um. „Sind Sie sicher, dass das funktioniert?" Emily schaute ihm direkt in die Augen. „Ich werde Sie nicht noch mal hintergehen, Jordan." „Ich glaube Ihnen." Er hatte auch keine große Wahl. Jordan war sich im Klaren darüber, dass er die Suchtrupps allein nicht austricksen konnte. Er musste Emily vertrauen und hoffen, dass sie ihre Meinung wirklich geändert hatte. Er kletterte dicht hinter ihr her über die Felsen. Seinen Muskelkater bemerkte er gar nicht mehr, zu viel Adrenalin trieb ihn voran. Er stellte sich vor, wie die Späher näher kamen, die Gewehre im Anschlag, und auf ihn zielten. Er konnte geradezu spüren, wie die Kugeln durch sein Fleisch drangen, ihn kampfunfähig machten. Sie rannten über einen holprigen Weg am Fuße eines hohen Felsens. Er hatte das Gefühl, sein Atem ginge so laut wie ein Turbomotor, der jeden Menschen im Umkreis von zwanzig Meilen auf ihn aufmerksam machte. Nachdem sie den Felsen umrundet hatten, lehnte sich Emily keuchend an die Wand. „So weit, so gut", sagte Jordan. Falls sie entdeckt worden waren, so waren sie jetzt zumindest wieder vorübergehend außer Sichtweite. „Und nun?" Forschend blickte sie über die Berge und bedeutete ihm dann, weiterzugehen, bis sie zu einer Felsspalte kamen. Emily kletterte hinein. Der Durchlass war nur etwa einen Meter breit. Jordan erinnerte sich, schon einmal gesehen zu haben, wie Bergsteiger sich zentimeterweise in einem solchen Kamin nach oben schoben, mit den Füßen auf der einen Seite der Wand und dem Rücken an der anderen. Er starrte nach oben. Bis an die Spitze waren es etwa zehn bis zwölf Meter. Was für eine Vorstellung, sich dort hochzuarbeiten! „Sagen Sie jetzt nicht, dass wir da hinauf müssen." „Wir werden die Suchtrupps glauben machen, dass wir genau das getan haben", sagte sie. „Wenn sie der Meinung sind, dass wir geklettert sind, können sie nicht anders, als der Spur zu folgen. Heben Sie mich hoch." Er bückte sich, umfasste ihre Knie und schob sie nach oben. Vorsichtig befestigte sie ein Stück Taschentuch an einen Strauch, der auf dem Felsen wuchs. „Okay. Lassen Sie mich wieder runter." „Clever", sagte er. Wenn die Suchtrupps ihrem Hinweis folgten, würden sie eine Menge Zeit brauchen, um die Felsspalte hochzuklettern. „Wir hingegen wandern jetzt bergab." „Noch nicht sofort, aber bald. Und dann laufen wir zurück nach Cascadia." Sie gingen in südwestliche Richtung tief in den Wald hinein, mal geradeaus, dann wieder rückwärts, im Zickzackkurs.
Jordan drängte sie, sich zu beeilen. Im Schatten der Bäume und Sträucher fühlte er sich bedroht. Hatte ihre List funktioniert? Er traute sich nicht, stehen zu bleiben und zurückzublicken. Noch nicht. Nicht, solange sie nicht einen größeren Abstand zwischen sich und die Suchtrupps gebracht hatten. Am Fuße eines weiteren gezackten Felsens kamen sie auf einen kurvigen Pfad. Mit erhobener Hand bedeutete sie ihm, anzuhalten. „Jetzt müssen wir uns entscheiden." Sie zeigte über eine enge Schlucht auf das flache Vorgebirge. „Das ist Mammoth Rock. Man kann ihn ganz einfach über eine Schotterstraße erreichen, und es handelt sich um den besten Aussichtsplatz in der ganzen Gegend." Er nahm das Fernglas aus dem Rucksack, spähte hindurch und stellte die Sehschärfe ein. „Ich sehe niemanden." „Es gibt zwei Möglichkeiten", fuhr sie fort und trank dann einen großen Schluck Wasser. „Wir können den Weg unten am Felsen entlanggehen, wo wir gut zu sehen sind. Oder wir bleiben unter den Bäumen in der Schlucht. Dieser Weg ist allerdings bedeutend länger." „Wie spät ist es?" fragte er. Emily blickte auf ihre Armbanduhr. Es war fast zwei Uhr Nachmittags. Nicht, dass die Tageszeit wirklich eine Rolle spielte, sie war völlig egal. Sie brauchten nur möglichst viel Vorsprung, um zu entkommen. „Es ist ein ziemliches Risiko", sagte er. Er ging in die Hocke und dachte nach. Normalerweise bildete er sich ein, ein vernunftbegabter Mensch zu sein, der in der Lage war, klug abgewogene Entscheidungen zu treffen. Aber jetzt saß er nicht hinter seinem Schreibtisch. Gedankenverloren zerzauste er Pookies Fell. Der kleine Hund hatte sich die ganze Zeit wirklich gut benommen, war ganz nahe bei ihnen geblieben. Es war gerade so, als ob Pookie verstünde, in welcher Gefahr sie sich befanden. Jordan versuchte, sich auf die Situation einzustellen. Er war ein entflohener Häftling. Er musste sich beeilen. „Wir nehmen die schnellere Route Und hoffen, dass niemand auf dem Mammoth Rock postiert ist." Vorsichtig betraten sie den Weg. Emily ging voraus, Jordan folgte. Er spürte die Sonne auf seinem Gesicht. Hier im Freien waren sie so gut zu sehen wie die Trophäen an einem Schießstand. Lockerer Schotter knirschte laut unter seinen Füßen. Es gelang ihm, mit Emily Schritt zu halten. Es ging wieder bergauf. Sie bewegten sich sehr schnell. Plötzlich peitschte ein Gewehrschuss durch die Schlucht.
5. KAPITEL Der Knall hallte in Jordans Ohren wider, lauter als ein Donnerschlag, so kam es ihm vor. Sie hatten ihn gefunden! Er war erledigt! Instinktiv machte, einen Satz nach vorn, getrieben von etwas, das er nicht erklären konnte. Obwohl er sich selbst hätte schützen müssen, dachte er zuerst an Emily. Sie wirkte mitten im Laufen erstarrt, stand wie gelähmt zwischen den zerklüfteten Felsspitzen, die neben ihnen in den Himmel ragten. Er packte ihren Arm. Sie wirbelte mit völlig verwirrtem Blick zu ihm herum. Doch er hatte jetzt keine Zeit für lange Erklärungen. Schnell hob er sie hoch und warf sich mit ihr hinter einen großen Felsen am Ende des Weges. Er spürte, dass sie völlig verkrampft war. „Emily, sind Sie in Ordnung?" „Ich weiß nicht." „Sie sind doch nicht verletzt, oder?" „Natürlich nicht." Sie blinzelte ein paar Mal. Sie schien vielmehr geschockt als verängstigt zu sein. „Ich kann es nicht glauben, dass sie auf uns schießen. Sollten die Polizisten uns nicht zuerst etwas zurufen? So was wie Stehen bleiben!?" „Ich kenne mich mit der Polizei-Etikette nicht aus." Er versuchte, sie mit einem Lächeln zu beruhigen. „Ist schon okay. Die sind ja nicht hinter Ihnen her. Wenn Sie sich hier verstecken, kann Ihnen nichts passieren." „Sie wollen, dass ich mich verstecke?" „Ich will, dass Sie vernünftig sind." „Ich bin kein Feigling." Endlich kam wieder Farbe in ihre Wangen. „Ich lasse nicht zu, dass Sie gejagt werden wie ein Tier. Es gibt gewisse Regeln, an die man sich halten muss. Das ist einfach nicht richtig." Er fragte sich, woher sie ihre Vorstellungen von richtig und falsch hatte, doch jetzt war nicht die richtige Zeit, um eine philosophische Diskussion darüber zu beginnen. Gefahr war in Verzug. Er musste schnell handeln. Jordan hatte ihren Angreifer zwar nicht gesehen, vermutete aber, dass er auf dem Mammoth Rock stand, es war der perfekte Platz für einen Scharfschützen. Der Fels, hinter den sie sich zurückgezogen hatten, gewährte ihnen keinen wirklichen Schutz. Pookie kam zu ihnen gerannt und presste sich gegen Emilys Schenkel. Er knurrte. Jordan betrachtete die beiden. Das war also seine Truppe. Eine Blondine und ein Pookie. Oh ja, er war schon ein Furcht einflößender Sträfling auf der Flucht, eine wahre Bedrohung der Menschheit. Er legte die Stirn auf den rauen Granitstein. Am liebsten hätte er seinen Kopf dagegen geschlagen, bis er das Bewusstsein verlor. Aber so verführerisch die Vorstellung auch war, nicht mehr denken zu müssen und einfach aufzugeben, so wenig wollte er wieder ins Gefängnis zurück. Er musste nachdenken. Jordan spähte aus dem Versteck heraus. Eine steile Schlucht trennte sie vom Mammoth Rock. Unter dem Schotterweg war ein Waldgebiet. Bäume. Wenn er es bis dahin schaffte ... „Ich gebe ihnen ein Zeichen", sagte Emily. „Mich werden sie nicht erschießen." „Seien Sie da mal nicht so sicher." Als er aus dem Flughafen geflohen war, war dem Kugelhagel nicht mal die Aufforderung, sich zu ergeben, vorausgegangen. Ein weiterer Schuss knallte. Neben Jordans Schulter zersplitterte ein Stein. Bevor er sich duckte, sah er, wie das Sonnenlicht auf dem Mammoth Rock auf Metall traf. Er kauerte sich neben Emily auf den Boden. „ Die schlechte Nachricht ist, dass wir hier festsitzen." „Und die gute?" „Ich glaube, er ist alleine", antwortete Jordan. Was allerdings nicht lange so bleiben würde. Selbst wenn der Mann nicht schon längst ihre Position weitergegeben hatte, würden die
Schüsse die Suchtrupps auf sie aufmerksam machen. Jede Sekunde, die verging, verschlimmerte ihre Situation. „Ich versuche es. Sie bleiben hier, Emily." In ihren grünen Augen glänzte es verdächtig. Ihre Unterlippe zitterte. „Es tut mir so Leid, Jordan. Das ist alles meine Schuld." Er wollte ihr die Schuldgefühle nehmen, ihr sagen, dass er ohne sie die vergangene Nacht vermutlich gar nicht überlebt hätte. Er hätte ihr gern gestanden, wie sehr er ihre Fähigkeiten und ihren Charakter bewunderte. Aber er hatte keine Zeit. Er konnte jede Sekunde geschnappt werden. Er beugte sich nach vorne und streifte flüchtig ihre Lippen. „Auf Wiedersehen Emily." „Verlass mich nicht", flüsterte sie. „Liebling, ich würde nichts lieber tun, als zu bleiben." Wie gerne hätte er sie festgehalten, sie geküsst, bis sich ihre Tränen in süße Lust auflösten. Aber er war kein freier Mann. „Ich muss gehen." „Was hast du vor?" „Ich werde den Abhang hinunterspringen und hoffe, dass ich mich dann unter den Bäumen verbergen kann. Halt Pookie am Halsband fest, damit er nicht hinter mir herrennt." „Nein, Jordan. Er wird dich töten." „Ich schaffe es", sagte er mit fester Stimme. Aus der Hocke sprang Jordan blitzschnell ins Freie. Er warf sich über den Schotterweg die Böschung hinunter. Es waren nicht mehr als ein paar Meter bis zu den schützenden Bäumen. Die Sohlen seiner Turnschuhe rutschten unter ihm weg. Schüsse sausten ihm um die Ohren. Stolpernd und rutschend erreichte er den Wald. Emilys Herzschlag kam ihr lauter vor als das Gewehrfeuer. Sie hatte furchtbare Angst um Jordan, sie betete, dass ihm die Flucht gelang. Dann spähte sie vorsichtig aus ihrem Versteck. Auf dem gegenüberliegenden Berg trat der Scharfschütze hinter einem großen Felsblock hervor. Er trug Polizeiuniform. Hastig lief er zur Kante des Mammoth Rock, dessen Form an ein prähistorisches Mammut erinnerte. Er stand genau über der Stelle, wo das linke Auge gewesen wäre, und starrte auf die Bäume unter ihm. Sie konnte nicht zulassen, dass er erneut schoss, dass Jordan gejagt wurde wie ein Tier. Entgegen Jordans Warnungen sprang Emily auf die Füße. Zumindest konnte sie ihn ablenken. Mit über den Kopf erhobenen Armen winkte sie dem Polizisten zu. „Hilfe", schrie sie. „Sie da! Sie müssen mir helfen!" Pookie meldete sich ebenfalls. „Wuff. Kläffz. Kläffz." Der Polizist blickte zu ihr. Das Licht spiegelte sich auf seiner dunklen Sonnenbrille. Einen entsetzlichen Augenblick lang zielte er mit dem Gewehr direkt auf ihre Brust. „Nicht schießen!" kreischte Emily. Er ließ das lange zinnfarbene Gewehr wieder sinken. In der Absicht, Jordan nicht aus den Augen zu verlieren, ging er einen Schritt nach vorne. Und rutschte aus. Sie sah, wie der uniformierte Mann das Gleichgewicht verlor. Er stürzte. Das Gewehr fiel ihm aus den Händen und flog über den Felsrand in die darunter liegenden Baumwipfel. Er rutschte den Mammoth Rock hinunter. Verzweifelt versuchte er, Halt zu finden. „Benutzen Sie Ihre Stiefel", schrie Emily. Vielleicht gelang es ihm, sich irgendwie an dem Felsen festzuklammern. Wenn nicht, würde er über zehn Meter in die Tiefe fallen. Sie konnte nur hilflos dastehen und zusehen, wie der Mann hinabstürzte. „Sind Sie in Ordnung?" rief sie. Keine Antwort. „Hey, Deputy!" versuchte sie es erneut. „Können Sie mich hören? Ich helfe Ihnen." Noch immer Stille.
Sie musste ihn finden. Mit den medizinischen Vorräten in ihrem Rucksack konnte sie ihm Erste Hilfe leisten, allerdings wusste sie nicht, wie sie ihn allein nach oben auf den Mammoth Rock bekommen sollte. Dazu brauchte man zwei Personen, abgesehen davon, dass sie sowieso keine Trage hatte. Mit der Hilfe eines anderen wäre sie vielleicht in der Lage gewesen, ihn mit den Seilen hochzuziehen. Aber Jordan war bereits wieder auf der Flucht, und sie konnte sich kaum vorstellen, dass er einen Blick zurückwarf. Er hatte bereits Auf Wiedersehen gesagt. Auf Wiedersehen. Seine Worte breiteten sich in ihrem Bewusstsein aus wie Kreise auf dem Wasser, wenn man einen Stein hineingeworfen hatte. Sie wurden immer größer, bis sie nichts mehr fühlte als Trauer. Sie hätte froh sein sollen, dass die Geiselnahme beendet war. Doch sie wünschte, sie hätte diesen Mann besser kennen lernen können. Sie wusste nur, wie mutig und unerschütterlich er war, wenn er mit körperlichen Schmerzen konfrontiert wurde. Und das Wenige, das er gesagt hatte, zeugte von außerordentlicher Intelligenz. Zudem hatte er einen feinen Sinn für Humor. Und er war wirklich ein ehrenwerter Mensch. Er hatte sich die ganze Zeit wie ein Gentleman benommen. Von dem einen Kuss abgesehen. Seufzend berührte sie ihre Lippen und dachte an den warmen Druck seines Mundes und daran, wie sich seine Umarmung angefühlt hatte. Jetzt war er fort. Wie sollte er ohne ihre Hilfe in den Bergen überleben? Er hatte keinerlei medizinische Ausrüstung bei sich. Was würde geschehen, wenn seine Wunden sich entzündeten? Sie hob den Blick zum fernen Horizont. Er war irgendwo da draußen und rannte um sein Leben. Alles, was sie tun konnte, war, ihm Glück zu wünschen. Viel Glück, Jordan Shane. „Komm, Pookie." Mit ihrem haarigen Begleiter - dem einzigen männlichen Wesen, von dem sie sicher sein konnte, dass es in guten und in schlechten Zeiten bei ihr blieb - kletterte Emily den Abhang hinunter und machte sich auf die Suche nach dem Polizisten. Als sie ihn entdeckte, fürchtete sie schon das Schlimmste. Er lag auf einem Felsen, das rechte Bein unnatürlich verdreht. Im besten Fall war sein Knie böse verstaucht. Größere Sorgen machte sie sich über die blutende Platzwunde auf der Stirn und eine mögliche Gehirnerschütterung. Er schien bewusstlos zu sein. Sie setzte ihren Rucksack ab und kniete neben dem verletzten Mann nieder. Jetzt, ohne seine Sonnenbrille, erkannte sie ihn auch. Sein Name war Ed Collins. Er hatte bei früheren Rettungsaktionen geholfen, doch privat hatte sie keinen Kontakt zu ihm. Sie sah, dass sich seine Brust unter der Lederjacke hob und senkte. Ein gutes Zeichen. Sie beugte sich über sein Gesicht und sprach ihn mit lauter Stimme an. „Wachen Sie auf, Ed. Ed Collins. Ich möchte, dass Sie sofort aufwachen. Kommen Sie schon, Ed." Er riss die Augen auf. Sein schmales, wettergegerbtes Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Schmerzes. Dann keuchte er: „Sie sind doch die Krankenschwester aus Cascadia. Emily, richtig?" „Das stimmt." Sie schenkte ihm ihr Berufslächeln. Noch vor wenigen Sekunden hatte dieser Polizist mit einem Gewehr auf sie gezielt, aber das konnte sie ihm nicht zum Vorwurf machen. Er tat nur seinen Job. „Sie müssen ruhig liegen bleiben, während ich Sie untersuche." „Den Teufel werde ich tun." Als er sich aufsetzen wollte, drückte sie ihn energisch an den Schultern wieder nach unten. „Bei einem Sturz", erklärte sie, „besteht immer die Gefahr, dass das Rückrat verletzt wurde. Oder vielleicht haben Sie sich eine Rippe gebrochen, die Ihre Lunge durchstechen könnte, wenn Sie sich bewegen." Sie hoffte, dass sie ihn mit diesen Erklärungen zur Vernunft bringen konnte. Sie hatte jetzt nicht die Geduld, sich mit einem schwierigen Patienten abzugeben. „Tun Sie, was ich sage, Ed. Vielleicht sind Sie ja auch unverletzt."
„Wuff-wuff", meldete sich Pookie. Der Hund blieb auf Abstand, marschierte ein paar Meter entfernt nervös auf und ab. „Liegen Sie still", wiederholte Emily. „Das ist doch ein Haufen Unsinn", murrte er. „Mir geht's gut." „Sehen Sie mir ins Gesicht", sagte Emily, die sich noch immer Sorgen wegen einer Gehirnerschütterung machte. „Und jetzt schauen Sie her. Wie viele Finger sehen Sie?" „Ich sehe drei dürre Äste, die mir zuwinken. Mein Gott, was für ein Blödsinn. Und was zum Teufel haben Sie mit dem entlaufenen Sträfling zu schaffen?" „Ich war seine Geisel", entgegnete sie kühl. Pookie knurrte, und sie musste ihm Recht geben. Ed Collins war ein unangenehmer Mensch. „Und wie viele Finger jetzt?" „Spielen Sie mit jemand anderem Krankenschwester. Ich gebe hier die Befehle." Er schob sie zur Seite und setzte sich auf. Wie es aussah, war sein Rücken nicht ernsthaft verletzt. Doch als er versuchte, aufzustehen, knickte das rechte Bein unter ihm weg, und mit einem Schmerzensschrei fiel er wieder hin. „Mein Bein!" „Könnte gebrochen sein", sagte sie ohne eine Spur von Mitgefühl. Ächzend richtete er sich wieder ein wenig auf und lehnte sich an einen Felsen. Er begann zu fluchen und schließlich zu wimmern. Unbeholfen öffnete er seine Gürtelschnalle. „Was machen Sie da?" fragte Emily. „Ich ziehe diesen verdammten Gürtel aus. An dem hängen mindestens zwanzig Sachen, die mir in den Rücken stechen." „Haben Sie ein Walkie-Talkie? Dann können wir einen Hubschrauber rufen, der Sie hier rausholt." „In meinem Auto. Das habe ich oben auf dem Mammoth Rock geparkt." Er zerrte den Gürtel herunter und legte Pistolenhalfter, Handschellen, Pfefferspray und allerlei andere Ausrüstungsgegenstände so neben sich, dass er sie in Griffweite hatte. Dann jammerte er: „Geben Sie mir was gegen die Schmerzen. Ich halte das nicht aus." Sie durchwühlte ihre Tasche und brachte Schmerztabletten zum Vorschein, die sie ihm zusammen mit ihrer Wasserflasche reichte. „Etwas anderes haben Sie nicht?" „Nein", sagte sie. „Dann bin ich ja besser ausgestattet als Sie, Krankenschwesterlein." Er zog ein bernsteinfarbenes Röhrchen aus der Hosentasche. Schroff erklärte er: „Chronische Kopfschmerzen." „Welche Dosis?" „Eine pro Tag", sagte er. „Ed, ich glaube nicht, dass Sie ..." „Schön für Sie." Bevor sie ihn hindern konnte, schluckte er vier Pillen und schleuderte dann die Wasserflasche zur Seite. Das kostbare Wasser versickerte im Kiesboden. Wütend nahm sie die Wasserflache an sich und schraubte den Verschluss zu. Die schlimmsten Patienten waren immer die, die es eigentlich von Berufs wegen besser wissen müssten. Im Fall Ed Collins jedenfalls stimmte es. Sie hoffte, dass seine Tabletten ihn ruhig stellen oder vielleicht sogar einschlafen lassen würden. Schnell untersuchte sie seine Kopfwunde, bevor sie sich um die viel schmerzhaftere Beinverletzung kümmerte. „Das auf Ihrer Stirn ist eine leichte Platzwunde", sagte sie und tupfte Desinfektionsmittel darauf. „Aber Sie werden eine Beule bekommen." „Erzählen Sie mir was, was ich noch nicht weiß." Er starrte sie verärgert an, völlig wach und klar. Falls er eine Gehirnerschütterung abbekommen hatte, so konnte sie nicht schlimm sein. „Verdammt noch mal, ich hätte den Mistkerl erwischen müssen. Ich hatte freie Sicht." „Also erst mal schießen und später Fragen stellen?"
„So lauteten meine Befehle." Er zuckte zusammen, als sie ein steriles Pflaster auf seine Stirn klebte. „Ich habe auf seine Beine gezielt. Und deswegen habe ich ihn auch nicht getroffen. Ich hätte direkt auf sein Herz zielen sollen." Dem Himmel sei Dank für seine lausigen Schießkünste. „Wissen Sie, Ed, ich hätte nie geglaubt, dass so das übliche Vorgehen der Polizei aussieht. Sollten Sie einem Flüchtenden nicht zuerst die Chance einräumen, sich zu ergeben? Ganz besonders, wenn auch noch eine Geisel im Spiel ist?" „Wie zum Teufel hätte ich wissen sollen, dass Sie seine Geisel sind? Sie hätten ihm genauso gut bei der Flucht helfen können." Emily fühlte sich schuldbewusst. Sie hatte nicht das Recht, Ed wegen seines Benehmens Vorwürfe zu machen. Nicht, nachdem sie sich mit Jordan verbündet hatte. Trotzdem sagte sie: „Aus dem Hinterhalt zu schießen scheint mir einfach nicht richtig zu sein." „Der Typ ist ein kaltblütiger Mörder. Man sollte ihm am besten einen Kopfschuss verpassen." Er atmete langsam aus. Seine Pillen begannen Wirkung zu zeigen. „Davon abgesehen könnte ich das Geld gut brauchen." „Was denn für Geld, Ed?" „Das Kopfgeld. Zehntausend Dollar." Selbst im Wilden Westen von Colorado setzte der Sheriff kein Kopfgeld aus. Das war ein Anhaltspunkt. Und zwar kein unwichtiger. Emily hatte sich die ganze Zeit gefragt, wie Jordan, ein Hochsicherheitshäftling, so einfach hatte fliehen können. War sein Entkommen vielleicht arrangiert, womöglich sogar von den Behörden begünstigt worden? War der Plan gewesen, ihn auf der Flucht zu erschießen? Das würde bedeuten, dass ihn jemand hereingelegt hatte. Und wenn das stimmte, hieß es, dass er unschuldig war. Sie versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. „Wer hat die Belohnung ausgesetzt?" „Zehntausend Dollar." Seine Augenlider begannen zu flattern. Sein Kiefer fiel herunter. „Ich mache nur meinen Job." „Für mich klingt das nach einem abgekarteten Spiel, Ed. Sollte Jordan auf der Flucht erschossen werden?" „Weiß ich nicht." Er wurde immer benommener. „Konzentrieren Sie sich, Ed. Ich muss das wissen." „Was denn?" „ Das mit den zehntausend Dollar. Wer hat diese Belohung ausgesetzt?" Er drohte ihr mit dem Finger. „Ich merke es, wenn man mich ausfragen will. Verarzten Sie nun endlich mein Bein oder nicht?" „Vielleicht können Sie mir erst ein paar Fragen beantworten." „Nein." Seine Lider flatterten erneut und schlossen sich schließlich. Von Deputy Collins würde Emily also keine weiteren Informationen bekommen. Allerdings hatte er ihr etwas verraten, worüber sie nachdenken musste. Wie es schien, wollte irgendjemand verhindern, dass Jordan vor Gericht kam. Irgendjemand wollte ihn töten. Um etwas zu vertuschen? Um Jordan den Mord anzuhängen? Mehr denn je war sie nun von seiner Unschuld überzeugt. Sie bereitete die Aluminiumschiene vor, die von einer Schicht Schaumstoff umhüllt und verstellbar war, so dass sie bei so ziemlich jeder Zerrung oder jedem Bruch angelegt werden konnte. Richtig angebracht, würde die Schiene Eds Bein so lange immobilisieren, bis er im Krankenhaus medizinisch versorgt werden konnte. Als sie sein Bein streckte, zuckte er heftig zusammen, wachte aber nicht auf. Sie versuchte nicht, ihn zu wecken. Sie überprüfte seine Vitalfunktionen, vergewisserte sich, dass seine Atmung nicht blockiert war, und begann den Bruch zu versorgen. Wenn sie damit fertig war, wollte sie auf den Mammoth Rock klettern und im Auto des Polizisten per
Funk um Hilfe rufen. Collins schien es ganz bequem zu haben. Er konnte ein paar Minuten alleine bleiben. „Wuff, wuff. Wauuuuu." Sie hörte Pookies freudiges Bellen. Sie blickte über ihre Schulter und sah, wie Jordan auf sie zugelaufen kam. Er hielt im Schatten des Waldes kurz inne, bevor er ins Freie trat. Dann stand er so still, dass sie für einen Moment glaubte, er sei gar nicht wirklich da. Dass sie sich seine Gegenwart nur einbildete. Aber Pookie raste auf ihn zu, so schief wie eine Marionette, die nur an einer Seite aufgehängt ist. „Wau-wauuu. Jip, jip, jip." Jordan wehrte die ungestüme Hundeumarmung lachend ab. „Runter, du verspieltes Untier!" Emily war überrascht, wie sehr ihr Herz pochte, als sie ihn sah. Er war zu ihr zurückgekommen. Er hatte also doch nicht einfach Auf Wiedersehen gesagt. Sie war so aufgeregt, dass sie nicht in der Lage war, die Klettverschlüsse an Deputy Collins' Schiene zu schließen. Schließlich gab sie das Unterfangen auf und erhob sich. Obwohl sie sich nie für sonderlich romantisch gehalten hatte, stellte sie sich vor, wie es wäre, in Zeitlupe auf Jordan zuzurennen, mit Sprenkeln von Sonnenlicht um sie herum. Sie würde sich in seine Arme werfen, woraufhin er sie hochheben und im Kreis herumschleudern würde. Obwohl es gefährlich war, war er zurückgekommen. Er brauchte sie. Er blieb ein paar Meter vor ihr stehen. Sein Gesicht war von Staub und Schweiß verschmiert, das Pflaster verrutscht. Die Jeans waren dreckig. Das Hemd an der linken Schulter blutverschmiert. Und trotzdem fand sie ihn attraktiv und unglaublich sexy. Ihre Blicke trafen sich. Zwischen ihnen war in solch kurzer Zeit so viel geschehen. Sie hatte ihn abgelehnt und hintergangen. Sie hatte ihn beschützt. Geküsst. Und sie stellte sich vor, wie sie in seinen Armen lag und ihn leidenschaftlich liebte. Dennoch zögerte sie, weil sie sich fragte, was in dieser bizarren Beziehung wohl als Nächstes geschehen würde. Sie unterdrückte ihre Anspannung und sagte: „Ich dachte, dass du schon längst weg bist." Er zuckte mit den Schultern, etwas mehr mit der unverletzten rechten. „Noch nicht." „Du bist nicht unterzukriegen." „Unkraut vergeht nicht." Wie gerne hätte sie gehört, dass er sie vermisst hatte, obwohl sie nur kurze Zeit getrennt gewesen waren. Dass er ohne sie nicht gehen konnte, dass er sich magisch von ihr angezogen fühlte. Aber Jordan war kein Mann von der redefreudigen Sorte. Er deutete mit dem Kinn auf den Polizisten. „Ist er in Ordnung?" „Ich denke schon." Emily kniete sich wieder neben ihn und befestigte das Klettband um die Schiene, diesmal erfolgreich. „Du bist jetzt für eine Weile vor Verfolgern sicher. Sein Funkgerät ist in seinem Auto, das oben auf Mammoth Rock geparkt ist. Er hat seine Position daher bisher noch niemandem mitteilen können." „Ich habe einen Teil eures Gesprächs mit angehört", sagte Jordan, während er über seine Schulter spähte. Sie freute sich, dass er da war. Ihr gefiel sogar sein Südstaaten-Akzent. „Hast du mitbekommen, was er über das Kopfgeld gesagt hat?" fragte sie. „Nein." „Offensichtlich hat jemand zehntausend Dollar ausgesetzt, damit du geschnappt wirst, lebend oder tot. Und ich habe den Eindruck gewonnen, dass in diesem Fall tot bevorzugt wird." Stolz auf ihre Schlussfolgerung, fuhr sie fort: „Ich glaube, deine Flucht war geplant. Irgendjemand wollte, dass du entkommst. Damit du erschossen werden kannst." „Aber wer?" „Das bedeutet, dass du unschuldig bist, Jordan. Du bist reingelegt worden." „Dessen bin ich mir bewusst", sagte er trocken. „Hast du vielleicht einen Namen für mich, Emily? Wer hat die Belohnung ausgesetzt?" „Keine Ahnung." Sie sah den Deputy düster an. „Er wurde bewusstlos, bevor er es mir verraten konnte."
„Wieso?" „Er hat ein Schmerzmittel genommen. Ich habe ihm davon abgeraten, aber er meinte es besser zu wissen." „Was ist mit seinem Oberkörper?" fragte Jordan. „Hat er sich die Arme verletzt?" Was für eine merkwürdige Frage. Sie beendete die Versorgungsmaßnahmen am Bein des Polizisten und drehte sich zu Jordan um. „Warum interessiert dich das?" Sein breites Grinsen zerrte an seinem Gesichtsverband. „Weil er eine verdammt schicke Lederjacke trägt. Und gute Stiefel." „Bist du deshalb zurückgekommen?" Enttäuschung machte all ihre romantischen Vorstellungen zunichte. Jordan war also nicht ihretwegen wieder hier. Es ging ihm um praktische Dinge. Dinge, die er dringend brauchte. Dieser Mann hatte nicht eine einzige romantische Ader in sich. „Du bist in der Nähe geblieben, weil du dem Polizisten die Jacke und die Stiefel klauen wolltest?" „Und seinen Wagen." Jordan sprach ohne den geringsten Anflug von Reue. Er hatte mit angehört, wie unverschämt der Polizist zu Emily gewesen war. Am liebsten hätte er ihm einen Kinnhaken verpasst. „Er braucht seine Jacke nicht. Wir werden ihn einfach mit der Wärmedecke zudecken und per Funk den Suchtrupps sagen, wo sie ihn finden können. Er wird bald in einem hübschen, warmen Krankenhausbett liegen." „Du könntest wenigstens ein bisschen Respekt zeigen", sagte Emily. „Deputy Collins hat sein Leben in Ausübung seines Berufes riskiert." Das sah Jordan ganz und gar nicht so. Der Hilfssheriff hatte sich hinter einem Felsen versteckt und auf eine unbewaffnete Frau und einen Hund geschossen. Er hatte nicht einmal eine Warnung ausgerufen, ihm nicht die Chance gelassen, sich zu ergeben. Collins war im Grunde nichts anderes als ein Guerilla-Kämpfer, einer, der aus dem Hinterhalt schoss. Jordan wollte keine Zeit damit verschwenden, über diesen Feigling zu diskutieren. „Sollte ich den Deputy jemals wiedersehen", sagte er, „werde ich mich bei ihm für seine Kleiderspende bedanken." Darauf bedacht, den bewusstlosen Hilfssheriff nicht zu wecken, zog Jordan ihm vorsichtig die Lederjacke aus. Das mit den Stiefeln war schon etwas schwieriger, vor allem, weil er nicht wollte, dass Emilys Schiene verrutschte. Er zog Collins die Stiefel vorsichtig von den Füßen. Kurz darauf hatte er Jacke und Schuhe übergezogen. Die Jacke war an den Schultern ein wenig eng, doch die Bergstiefel passten perfekt. Zu Pookies Entzücken stampfte er darin herum. „Da freuen sich meine Füße", rief Jordan. „Was meinst du, Pookie?" Der Hund imitierte seinen ungeschickten Tanz, dem er noch ein paar typische Hunde-Pirouetten hinzufügte. Jordan grinste Emily an. „Vielleicht bin ich jetzt in der Lage, mit dir Schritt zu halten. Lass uns gehen, bevor die Suchtrupps herausfinden, wo sie suchen müssen." „Hast du da nicht etwas vergessen?" Sie presste verärgert die Lippen zusammen. „Seinen Gürtel. Und du könntest vermutlich auch sein Gewehr finden." „Das will ich nicht", entgegnete er. „Ich bin kein Scharfschütze, und ich will nicht, dass noch jemand verletzt wird. Komm schon, Emily. Nimm deinen Rucksack auf." „Wie bitte? Verstehe ich dich richtig, Jordan? Du willst tatsächlich, dass ich mit dir komme?" „Ja." Was war bloß mit ihr los? Als er aus dem Wald getreten war, hatte sie ihn mit einem so glücklichen und vor allem leidenschaftlichen Blick angesehen. Jetzt wirkten ihre Augen eher wie grünes Eis. „Bist du sauer, weil ich ihm Schuhe und Jacke geklaut habe?" „Nicht wirklich." Sie runzelte die Stirn. „Ich meine, ich billige das nicht. Verdammt, Jordan, verschwinde doch einfach. Ich bleibe hier und halte ein Auge auf Collins." „Ich dachte, ihm geht es gut. Er braucht doch keine weitere medizinische Betreuung mehr."
„Wahrscheinlich nicht." Sie mied Jordans Blick und machte eine abwehrende Handbewegung. „Geh schon. Verschwinde endlich." Er hatte keine Zeit, sich mit ihren Launen abzugeben. Es konnte einen ganzen Tag in Anspruch nehmen, herauszufinden, worüber eine Frau sich ärgerte. Lynette hatte manchmal stundenlang nicht mit ihm gesprochen, während er versuchte zu erraten, womit er sie beleidigt haben könnte. Allerdings hatte er von Emily solche Spielchen nicht erwartet. „Du kommst mit mir." „Warum sollte ich?" Er spürte, dass sie etwas Bestimmtes hören wollte, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, was, also platzte er mit dem erstbesten Argument heraus, das ihm einfiel. „Wegen unserer Vereinbarung. Du hast versprochen, bis zum Ende des Tages bei mir zu bleiben." „Wuffz, wuffz", bellte Pookie bestätigend. „Nun gut, ich habe dir mein Wort gegeben", sagte Emily langsam. „Und das halte ich auch." „Dann lass uns aufbrechen." Jordan ging vor, kletterte den steilen, gewundenen Weg, der zum Mammoth Rock führte, hinauf, was mit seinen neuen Schuhen deutlich weniger anstrengend war. Obwohl sie schon vor Tagesanbruch losmarschiert waren, verschwanden seine Schmerzen, und sein Hirn fing wieder an zu arbeiten. Allerdings konnte er sich nicht auf die Flucht konzentrieren. Er musste immerzu über Emily nachdenken. Irgendwann in der Zeit zwischen seinem Auftauchen und dem Anprobieren der neuen Stiefel hatte er etwas Falsches gesagt oder getan. Irgendwie war es ihm gelungen, diese blonde Zeitbombe mit den grünen Augen zum Ticken zu bringen. Er hätte gerne gewusst, wie, hatte jetzt aber keine Zeit, es herauszufinden. Nicht im Moment. Auf dem Gipfel von Mammoth Rock angekommen, sah er den Jeep des Polizisten mit dem Wappen des Sheriffs an der Tür. Emily lief zur Fahrerseite. „Warte", rief er. Wenn er in Aspen überhaupt etwas gelernt hatte, dann sicher und schnell durch die Haarnadelkurven und kleinen Seitenwege zu fahren. Zwar war er bei Schneefall nicht sonderlich geübt, aber die Straßen waren trocken. „Ich fahre." „Wenn du meinst." Sie lief ums Auto herum zur Beifahrerseite. „Hast du vor, den Jeep kurzzuschließen?" „Ist nicht nötig." Er langte in seine Jackentasche und zog einen Schlüsselbund hervor. „Ohne es zu wissen, hat mir Deputy Collins sehr geholfen." Jordan setzte sich hinters Lenkrad und drückte den Rücken in die Lehne des Sitzes, die zwar nicht die bequemste war, sich aber, nachdem er die ganze Zeit auf Steinen gesessen hatte, besser anfühlte als die eines Rolls Royce. Was für eine Erleichterung es war, nicht mehr laufen, zu müssen. Allerdings konnten sie nicht weit fahren. Sobald sie den verletzten Hilfssheriff gemeldet hatten, mussten sie den Jeep, nach dem sofort gefahndet werden würde, irgendwo stehen lassen. Er zog Emilys Funksprechgerät aus dem Rucksack. „Ich stelle es so ein, dass du mit der Polizei sprechen kannst. Nenn deinen Namen, sag ihnen, dass ich dich als Geisel habe, und beschreibe ihnen, wo Collins liegt." „Ich sollte ihnen außerdem sagen, dass sie einen Helikopter brauchen, um ihn zu bergen." „Werd nicht redselig", warnte er. „Sonst gibst du vielleicht aus Versehen zu viele Informationen preis. Das kann ganz schnell gehen." „Verstanden", sagte sie knapp. „Und außerdem solltest du dich anschnallen, Emily." Er startete den Jeep, legte den Rückwärtsgang ein und wendete. Mit dem Vierradantrieb war es leicht, den schmalen, holprigen Weg zu bewältigen. Als er auf eine zweispurige Straße einbog, sagte er: „Ruf an." „Jetzt schon?" fragte sie.
„Ich würde lieber bis morgen warten", entgegnete er. „Aber ich möchte nicht, dass der arme Collins zu lange dort im Freien rumliegt." Während sie mit der Polizei sprach, drückte er das Gaspedal durch und nahm die scharfen Kurven mit hoher Geschwindigkeit. Er wollte so viel Abstand zwischen sich und die Suchtrupps bringen wie nur möglich. Jordan warf einen Blick auf den Tacho. Sie waren bisher vier Meilen gefahren. Das war noch längst nicht weit genug. Der Jeep sauste die kurvenreiche Straße hinab. Auf einer relativ geraden Strecke entlang eines Flusses gab er richtig Gas. Neun Meilen. Er bog schleudernd in eine Abzweigung ein. An einer verlassenen Hütte stellte er den Jeep nahe an der Wand unter dem überhängenden Dach ab. Zwei große Fichten schützten ihn von der Straßenseite her vor Blicken. Jordan kurbelte das Fenster herunter und lauschte nach dem surrenden Geräusch von Hubschrauberpropellern. Emily saß im Beifahrersitz und stotterte: „Ich kann nicht fassen, wie schnell du warst. Du bist gefahren wie ..." „Wie ein echter Junge aus Hazzard County", unterbrach er sie. „Ich habe als Jugendlicher eine Menge Erfahrung auf Seitenstraßen gesammelt." „Was für ein Glück", sagte sie tonlos „Wie ist es? Kannst du einen Helikopter hören?" Sie lehnte sich aus dem Fenster, und er konnte nicht anders als die anmutige Biegung ihres Halses zu bewundern. Kein Zweifel, sie war eine schöne Frau. Und eine starke dazu. Er wollte nicht, dass sie ihn am Ende dieses Tages verließ. Sie mussten unbedingt miteinander sprechen, klären, was geschehen war. Zwar erschien es ihm fast wünschenswerter, auf sich schießen zu lassen, als eines dieser Beziehungsgespräche zu führen, aber Emily zuliebe wollte er es tun. „Da ist er", sagte sie. „Der Hubschrauber." Er hörte ein fernes Surren. Noch konnte er den Helikopter nicht sehen, doch der Lärm wurde immer lauter. Und entfernte sich dann langsam wieder. „Er ist vorbeigeflogen", sagte Jordan und startete den Jeep wieder. „Würde es dir etwas ausmachen, mir zu verraten, wo wir hinfahren?" „Nach Osten." Er wollte auf jeden Fall die Hauptstraßen meiden, bis Hogback fahren und dort das Fahrzeug so gut wie möglich versteckt stehen zu lassen. „Nach Hogback." „Warum?" „Wenn die Polizei den Jeep findet, wird sie vielleicht jedes einzelne Haus in Hogback durchsuchen. In dieser Zeit sind wir bereits auf dem Weg nach Cascadia, das nur fünf Meilen entfernt ist." „Also müssen wir wieder zu Fuß gehen?" „Vielleicht klaue ich ein Auto." „Das ist keine gute Idee", sagte sie. „Ich habe denen gerade erklärt, dass ich als Geisel gehalten werde. Glaubst du nicht, dass die schon einige Leute in Cascadia postiert haben?" „Vielleicht." Das Risiko musste er eingehen. „Aber ich brauche diesen Laptop aus dem Büro vom Rettungsdienst." „Der Computer!" rief sie verdrossen. „Deswegen bist du zurückgekommen." Er machte einen Schlenker nach links. „Ich möchte etwas klarstellen, Emily. Ich habe die Schuhe und die Jacke gebraucht. Und der Computer ist eine unbezahlbare Hilfe für mich. Aber das war nicht der Grund, warum ich zurückgekommen bin." „Warum dann?" wollte sie wissen. „Deinetwegen", sagte er. Er hatte sich hinter einem Baum versteckt, um zusehen, ob mit ihr alles in Ordnung war. Als er dann beobachtete, wie sie den Deputy verarztete, wurde ihm mit einem Mal klar, dass er sie vermisste - nicht nur, weil sie sich in den Bergen so gut auskannte, sondern einfach wegen ihrer Art. Alleine weiterzugehen schien ihm auf einmal furchtbar hart. „Ich brauche dich, Emily."
„O Jordan." Er hörte das Lächeln in ihrer Stimme. „Das wollte ich von dir hören." Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und drückte ihn sanft. Er wandte den Blick von der Straße ab und sah die Wärme in ihren Augen. Offenbar war ihr Streit damit beigelegt. Er würde Frauen niemals verstehen.
6. KAPITEL Kurz bevor die Dämmerung hereinbrach, glühte der Himmel über Cascadia scharlachrot und golden. Jordan saß mit Emily und Pookie auf einem Felsen und beobachtete, wie ein Falke sich, von der Luftströmung getragen, auf seine tödlich stille Jagd begab. Über den Polizeifunk hatte er erfahren, dass die Suche per Hubschrauber eingestellt worden war. Die Trupps am Boden allerdings waren weiterhin unterwegs. Zu den Mitarbeitern des Sheriffs waren die Bundespolizei und eine Einheit der Nationalgarde hinzugestoßen. Jordan wurde als „wahrscheinlich bewaffnet und gefährlich" eingestuft. Der Sprecher bat um größte Vorsicht wegen der „Geisel-Situation". Eine Belohnung wurde nicht erwähnt. Jordan stellte das Gerät ab. Stille lag über dem weiten Tal, die verstreut daliegenden Häuser von Cascadia schienen so winzig wie Streichholzschachteln. Hier oben, halb in den Wolken, hätte er sich sicher fühlen sollen, aber es gelang ihm nicht, die nagende Anspannung abzuschütteln. Er spürte die Gefahr näher kommen, und er wollte nicht, dass Emily etwas zustieß. Nachdem sie den Jeep abgestellt hatten, hatte er zwei weitere Autos kurzgeschlossen und dann ebenfalls stehen lassen. Danach hatte ihm Emily diesen flachen Fels weitab der ausgetretenen Pfade gezeigt. Hier wollten sie warten, bis es dunkel wurde, um dann zum Büro des Rettungsdienstes hinabzusteigen und den Laptop auszuleihen. Theoretisch brachen sie damit nicht einmal das Gesetz. Emily hatte einen Schlüssel, und Jordan beabsichtigte, den Computer - mit Upgrades auf dem neuesten Stand gebracht - wieder zurückzugeben, sobald er seine Unschuld bewiesen hatte. „Was für ein wunderschöner Abend", schwärmte Emily. Sie saß neben ihm, die Arme um die Knie geschlungen. Ein entspanntes Lächeln umspielte ihre Lippen. Der Sonnenuntergang ließ ihr goldblondes Haar glänzen. Liebevoll begann sie Pookie, der neben ihr schlief, zu streicheln. Seit er gesagt hatte, dass er sie brauchte, verhielt sie sich zuckersüß. Er verstand nicht, warum ihre Laune sich derart gebessert hatte. Vielleicht hatte es etwas mit ihrem Beruf als Krankenschwester zu tun; sie brauchte es, gebraucht zu werden. Wie auch immer, er hatte bestimmt nicht vor, sich zu beschweren. Er legte sich flach auf den Bauch und lockerte die verspannten Muskeln seines unteren Rückens. Obwohl er sehr müde war, fühlte er sich deutlich kräftiger als am Tag zuvor. Das lag vermutlich an den Wanderstiefeln und der warmen Jacke. „Findest du es nicht auch schön?" fragte Emily. „Mhm", murmelte er zustimmend. „Das musst selbst du zugeben. Die Berge sind gar nicht so schlimm." „Warst du jemals am Meer? In Florida?" „Ich war in Oregon und San Diego im Urlaub. In Südkalifornien ist es ziemlich warm, also nehme ich mal an, dass man das mit Florida vergleichen kann." „Nicht im Entferntesten", entgegnete er. Verglichen mit dem schwülen Klima Floridas war San Diego eine Wüste am Meer. Jordan schloss die Augen und dachte an die saftigen Farben der Golfküste. Wie immer erfrischten ihn solche Erinnerungen. Er konnte unglaublich viele verschiedene Grünschattierungen sehen, und keine von ihnen war so blass wie die der Bergkoniferen. „Wo ich lebe, ist das Klima subtropisch. Die Blumen sind dunkelrot, orange und lila. Die Blätter, Farne, Palmen grün. Und die Vögel gelb und blaugrün." „Klingt ziemlich scheckig", sagte sie wenig begeistert. „Ich ziehe die Sonnenuntergänge von Colorado vor." „Es würde dir gefallen am Meer. Es ist gewaltig. So wie die Berge." „Aber es ist völlig flach", hob sie hervor.
Er öffnete die Augen, stützte sich auf einen Ellbogen und drehte sich zu ihr um. Wie sollte er das Tosen der Wellen erklären, die sich ständig verändernde Landschaft, die saftigen Hügel? Wie sollte er ihr das faszinierende Glitzern von riesigen Wogen mit weißen Schaumkronen beschreiben? „Ich würde dich gerne mit nach Hause nehmen, Emily." Einen Moment lang hielt sie seinem Blick stand, sagte weder Ja noch Nein. Sie hätte ihn zur Ordnung rufen können, ihn daran erinnern, dass er des Mordes verdächtigt wurde und ohne einen Penny in der Tasche auf der Flucht war. Sie hätte ihn auslachen können, ihm sagen, dass dieser Vorschlag hoffnungslos optimistisch war, wenn man bedachte, wie schwierig es schon sein konnte, diesen Berghang hinunterzuklettern, geschweige denn einen Flug nach Florida zu nehmen. Aber Emily war großzügig. „Ich würde den Atlantik gerne sehen", sagte sie. „Und die Strände." Pookie gab im Schlaf seine Zustimmung. „Wuffz." „Was trägst du am Strand?" „Einen Badeanzug." So etwas Ähnliches hatte er von einer praktischen Frau wie ihr erwartet. „Ist der an den Beinen wenigstens hoch ausgeschnitten?" „Hoch genug." Sie hob eine Augenbraue. „Und du? Kurz und eng oder Boxershorts?" „Beides", antwortete er. Wenn es nach ihm ginge, würde er nie etwas anderes als Badehosen tragen, damit er immerzu die Sonne auf seiner nackten Brust und den Sand zwischen den Zehen spüren könnte. Die rosige Färbung des Himmels verblasste, und die Sterne begannen zu flackern. Er lag in Colorado auf einem Felsen in der kühlen Abenddämmerung und stellte sich Emily im Badeanzug am Strand vor, wie sie anmutig durch die Brandung lief. „Erzähl mir von deiner Firma in Florida", bat sie ihn. Nachdem sie überhaupt nichts von Computern verstand, wollte er sie nicht mit der Entwicklung und der Produktion von superdünnen, flexiblen und hitzebeständigen Chips langweilen, die immer kleiner wurden. „Wir stellen Computerteile her", sagte er schlicht. „Wie hast du damit angefangen?" „Ich bin ein Fan, seit die ersten Apple-Computer auf den Markt kamen. Meine Familie hatte nicht sonderlich viel Geld, also musste ich meinen Rechner, wenn er kaputtging, selbst auseinander nehmen und reparieren. Dann eröffnete ich eine kleine Werkstatt und verdiente genug Geld, um das College finanzieren zu können." „Was hast du studiert?" „Betriebswirtschaft. Aber meine wahre Liebe gehörte den Computern. Und meine Firma wuchs einfach irgendwie." „Wer führt sie, wenn du weg bist?" „Du meinst, wenn ich im Gefängnis sitze?" Er zwang sich, nicht zu bitter zu klingen. Auch wenn er sich dieser Möglichkeit ständig bewusst war, musste er trotzdem versuchen, positiv zu denken. „Meine Schwester kümmert sich um die Buchhaltung,. Ramon Delgado um die Produktion. Er ist in Ordnung." „Ein Freund?" Jordan hatte nicht viele Freunde. Er war kein sehr geselliger Mensch. Aber Ramon konnte man durchaus als einen Freund bezeichnen. Er war zehn Jahre älter als Jordan, hatte sechs Kinder und einen unstillbaren Hunger nach Essen, Wein und Fröhlichkeit. „Ramon und ich haben uns vor etwa sieben Jahren zusammengetan, als ich expandieren musste und keine qualifizierte Unterstützung fand: Ramon kam zu mir nach Florida, nachdem er seine eigene Computerfirma in Mexiko hatte schließen müssen. Wir haben uns gut verstanden, hatten dieselben Visionen. Also stellten wir einige seiner ehemaligen Mitarbeiter ein und besorgten ihnen ein Arbeitsvisum. Als sie mit ihren Familien nach Florida kamen, haben wir einen Lehrer engagiert, der ihren Kindern Englisch beibrachte." Er sah Emily an und sah, dass sie strahlte.
„Was ist?" fragte er. „Du bist sonst immer so still. Aber wenn du von Florida sprichst, hast du plötzlich eine Menge zu sagen." „Ich bin stolz auf meine Firma." Er rollte sich auf den Rücken und starrte hinauf zum Sternenzelt. „Wenn ich ins Gefängnis gehe, muss meine Schwester alles verkaufen. Es wäre furchtbar, wenn die Leute ihren Job verlieren." „Sie sind qualifiziert und werden etwas anderes finden." „Nicht unbedingt. Eine Greencard zu bekommen ist nicht so einfach, comprende?" „Du sprichst Spanisch?" „Si!“ „Ich auch", sagte Emily. „Jedenfalls ein bisschen." Sie hatte die Grundlagen der spanischen Sprache in Denver gelernt, weil sie mit den Latino-Patienten und deren Familien besser kommunizieren wollte. Nicht nur einmal hatte sie dadurch helfen können, Leben zu retten. Sie starrte in den Himmel, zählte die blinkenden Sterne und spürte eine angenehme Wärme in sich. Die spanische Sprache war etwas, das sie mit Jordan verband. Davon abgesehen waren sie sehr gegensätzlich. Sie kamen aus völlig unterschiedlichen Welten mit unterschiedlichen Blumen, Vögeln und Bäumen. Ihre Berufe hätten sich kaum mehr unterscheiden können. Emily arbeitete als Krankenschwester mit Menschen. Jordan hingegen richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Maschinen. Der vielleicht beunruhigendste Unterschied lag in ihrer Auffassung von Moral, in den persönlichen Regeln, nach denen sie lebten. Auch wenn Jordans Flucht offenbar von anderen geplant worden war, so hatte er doch die Gelegenheit ergriffen und sich dem Gesetz entzogen. Emily hingegen war so gesetzestreu, dass sie sogar auf völlig einsamen Bergstraßen den Blinker setzte. Allerdings hatten sich ihre strengen Vorstellungen von richtig und falsch - der Versuch, es einem in Vietnam ums Leben gekommenen Vater recht zu machen - ein wenig aufgeweicht, seit sie mit Jordan zusammengetroffen war. Sie hatte seine Flucht unterstützt, indem sie die Suchtrupps auf eine falsche Fährte führte. Sie hatte zugesehen, wie er zwei Autos kurzgeschlossen hatte. Und jetzt standen sie davor, einen der Computer des Rettungsdienstes zu stehlen. Wer hätte gedacht, dass sie ein solches kriminelles Potenzial in sich trug? Sie wandte den Blick von den Sternen ab und starrte auf die Lichter der Stadt. Cascadia hatte außer einem Burger-Restaurant, einem Imbiss und einer Kneipe nicht viel Nachtleben zu bieten. Die meisten Leute aßen nach der Arbeit zu Abend und zogen sich dann zurück. Trotzdem hielt sie es für sicherer, bis nach neun Uhr zu warten, bevor sie sich dem Büro des Rettungsdienstes näherten. „In etwa einer Stunde sollten wir uns auf den Weg in die Stadt machen", sagte sie. „Und was wird aus Pookie?" fragte er. Als der Hund seinen Namen hörte, blickte er auf und bellte. „Wau?" „Ja, dich meine ich", erklärte Jordan. „Du bist ein guter Hund, aber in etwa so dezent wie eine Rockband." Sie hatte nicht bedacht, dass Pookie ein Problem sein könnte, was vermutlich daran lag, dass sie normalerweise keine kriminellen Aktivitäten unternahm. „Ich wünschte, ich könnte den Hund bei Yvonne lassen." „Bei wem?" „Yvonne Hanson. Sie ist die Leiterin der Pfadfinderinnenjugend und züchtet Rettungshunde." „Das könnte funktionieren", sagte Jordan. „Wir könnten Pookie in ihrem Garten festbinden." „Aber dann würde Yvonne wissen, dass ich bei ihr gewesen bin." Emily war sich sicher, dass ihre Geiselnahme inzwischen in den hintersten Winkeln der Stadt bekannt war. Davon
abgesehen, dass sie genau wusste, was Yvonne von Jordan hielt. „Sie würde den Sheriff rufen." „Wenn du mir deinen Schlüssel gibst, könnte ich alleine in das Büro gehen und den Computer holen." Jordan, der mit über dem Bauch gefalteten Händen auf dem Rücken lag und in den Nachthimmel starrte, schien völlig entspannt zu sein. Doch sie konnte seine Aufregung spüren. Wie seltsam! Obwohl sie so unterschiedlich waren, erkannte sie ohne Probleme jede Nuance seiner Stimmungen. Jetzt gerade versuchte er, ihr etwas zu verheimlichen. „Was ist los, Jordan? Was willst du mir sagen?" „Du hast deine Pflicht getan, Emily. Du hattest versprochen, bis zum Einbruch der Nacht bei mir zu bleiben, und du hast dein Wort gehalten." „Und?" „Du und Pookie, ihr bleibt hier. Ich gehe alleine nach Cascadia. Es ist Zeit, dass wir getrennte Wege gehen." Aber sie konnte ihn nicht verlassen. Sie war mehr denn je von seiner Unschuld überzeugt und wollte alles dafür tun, dass seine Flucht erfolgreich enden würde. „Ich kann dich jetzt nicht alleine lassen. Das wäre nicht richtig.“ „Aber es wäre klüger. Ich habe die ganze Zeit über die Belohnung nachgedacht, die Collins dir gegenüber erwähnt hat. Und jetzt endlich ist mir klar, was das bedeutet", sagte er. „Wenn sie mich eiskalt erschießen wollen, ohne Warnung, dann werden sie dich auf keinen Fall als Zeugin am Leben lassen." „Wie meinst du das?" „Sie müssen dich auch töten. Das ist nur logisch." Sie hatte nicht eine Sekunde daran gedacht, dass sie ebenfalls in Gefahr sein könnte. „Jordan, du sprichst von Sheriffs und der Nationalgarde. Die würden keine Geisel erschießen. Ich habe nichts getan." „Ich auch nicht." Er starrte noch immer in die Sterne. Das sanfte Licht unterstrich sein ausgeprägtes Kinn und malte Schatten unter seine hohen Wangenknochen. Seine Augen- und Mundwinkel begannen plötzlich zu zucken. Zum ersten Mal entdeckte sie so etwas wie Angst in seinem Gesicht. „Emily, Liebling, wenn dir etwas geschehen würde, könnte ich nicht..." „Mir passiert schon nichts", versuchte sie ihn zu beruhigen. „Ich habe den größten Teil meines Lebens damit verbracht, mich um andere Leute zu kümmern, sie gesund zu pflegen. Wirklich, du brauchst dir um meine Sicherheit keine Sorgen zu machen." „Ich kann nicht anders." Er wandte den Blick von den Sternen ab und sah ihr lange in die Augen. Mit ruhiger, tiefer Stimme sagte er: „Du bedeutest mir viel, Em." Seine Worte rührten etwas ganz tief in ihr an. Sein Blick brachte ihr Herz zum Schmelzen. Sie war überrascht, wie weh es tat. Zu viel Wärme! Sie konnte es kaum ertragen. Emily war es nie schwer gefallen, zu geben, aber sie konnte nicht damit umgehen, Zuneigung zu empfangen - zu viele Verletzungen, Enttäuschungen und Tragödien. Es hatte zu viel Tod in ihrem Leben gegeben, angefangen beim Verlust ihres Vaters. Durfte sie es sich überhaupt erlauben, verletzbar zu sein? Es wäre Wahnsinn, sich ausgerechnet Jordan gegenüber zu öffnen. Er war ein entlaufener Sträfling, auf dessen Kopf eine Belohnung ausgesetzt war. Und doch, als er ihre Wange berührte, spürte sie eine Verbindung mit ihm, die viel tiefer ging als bloße Zärtlichkeit. Sie half ihm. Nicht andersherum. „Ich werde dich nicht alleine lassen, Jordan. Du brauchst mich." „Mehr als du jemals wissen wirst", sagte er. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn. Trotz der kalten Nachluft waren seine Lippen heiß und fordernd. Als sie versuchte, sich wieder loszumachen, hielt er sie fest und küsste sie mit fieberhafter Verzweiflung. Seine Bartstoppeln rieben an ihrem Kinn. Sie ließ sich von seiner
Stärke überwältigen, er zog sie auf sich. Es kam ihr so vor, als sei sie die einzige Frau auf der Welt. Und er der einzige Mann. Als er sie endlich freigab, sank sie in seinen Armen zusammen und schmiegte sich heftig atmend an seine Brust. Es wäre Wahnsinn gewesen, sich in dieser kalten Septembernacht auf einem harten Felsen zu lieben. „Im Augenblick interessiert mich nichts anderes, als dass du überlebst", sagte Jordan langsam. „Ich muss wissen, dass du in Sicherheit bist." Sie konnte nicht mehr denken. Sein Kuss hatte sie in ein anderes Universum geschleudert. „Verstehst du mich, Em? Würdest du wenigstens einmal tun, worum ich dich bitte? Du musst mich gehen lassen." Sie hatte nicht die Kraft, zu widersprechen. Mit leiser Stimme antwortete sie: „In Ordnung." „Gut." Er küsste sie auf die Stirn. „Wir werden uns jetzt trennen, aber wenn das hier vorbei ist, sehen wir uns wieder." Sie umarmte ihn, klammerte sich an ihm fest. Sie wollte sich nicht von ihm trennen. „Ich kann dir trotzdem helfen." „Wie denn?" „Zunächst einmal sage ich den Suchtrupps nicht, in welche Richtung du gegangen bist." Ein neuer Plan nahm nach und nach Gestalt an. Jetzt hatte sie auch wieder das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. „Und ich werde dieser Geschichte mit dem Kopfgeld nachgehen. Das ist gegen das Gesetz, verstehst du? Ich werde dem Sheriff davon erzählen und dafür sorgen, dass ermittelt..." „Nein!" Er setzte sich abrupt auf und entzog ihr seine tröstliche Umarmung. „Ich möchte nicht, dass du die Sache aufbauschst." „Wieso nicht?" „Der Mann, der mich hereingelegt hat, ist ein Mörder. Vergiss das nicht. Nicht eine Sekunde lang. Wenn du anfängst, nachzuforschen, dann wirst du seine nächste Zielscheibe sein." „Ich kann durchaus auf mich aufpassen." „Du schließt doch nicht mal deine Eingangstür ab, Emily." „Ich kann misstrauischer werden", entgegnete sie. „Du versteckst deine Pistole in einem Schrank und die Munition zwischen deiner Unterwäsche." „Eine hilfreiche Vorsichtsmaßnahme." Sie wurde immer verärgerter. „Ich bin absolut in der Lage, ein paar Fragen zu stellen und die Ermittlungen in die richtige Richtung zu lenken." „Bist du nicht", sagte er. „Warum nicht? Glaubst du, dass ich zu blöd dazu bin?" „Himmel, nein. Du bist ein kluger Kopf. Aber du unterscheidest auch strikter zwischen richtig und falsch als jeder Mensch, den ich je kennen gelernt habe." „Was ist falsch daran?" „Nichts, außer du gibst dich mit schlechten Menschen ab", sagte er. „Du erwartest, dass jeder das Richtige tut. Aber du hast doch gehört, was Deputy Collins sagte. Er hat versucht, mich zu erschießen, um die Belohnung zu bekommen. Und trotzdem kannst du nicht glauben, dass ein Mann des Gesetzes unehrlich sein könnte." „Deine verdammte Logik", sagte sie, konnte sich aber der Wahrheit seiner Worte nicht verschließen. „Doch du hast nur teilweise Recht, was mich anbelangt. Ich kann meine Regeln durchaus den Umständen anpassen. Immerhin habe ich zuerst auch geglaubt, dass du ein Krimineller bist. Und dann habe ich meine Meinung geändert." „Dafür bin ich dir sehr dankbar, Em."
Sie starrten sich an, und ihr war klar, dass sie ihn noch nicht verlassen konnte. Sobald er seinen blöden Computer hatte, würde er sich völlig auf sein Ziel konzentrieren, darauf, keinesfalls entdeckt zu werden. Vielleicht schaffte er es ja tatsächlich. Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie sprang auf die Füße. Pookie schreckte aus dem Schlaf hoch. Dann starrte er schwanzwedelnd in die Dunkelheit, als ob er schon seit Stunden wachsam und auf der Hut gewesen wäre. „Kläffe." „Ich hätte schon viel früher daran denken sollen", sagte Emily. „Sandra Lomax bekommt ein Kind." Jordan erhob sich ein wenig steif. „Ich freue mich wirklich für deine Freundin. Aber ich verstehe nicht, inwiefern ..." „Es gab immer wieder Probleme in ihrer Schwangerschaft, und deshalb habe ich einmal die Woche nach ihr gesehen. Jedenfalls sind sie und ihr Mann vor drei Tagen nach Denver gefahren, damit sie auf jeden Fall in der Nähe eines Krankenhauses ist. Das heißt, ihre Hütte steht leer." „Bist du sicher?" „Absolut", rief sie triumphierend. „Wir können Pookie dort lassen, während ich dir helfe, den Computer zu besorgen." „Du solltest lieber bei dem Hund bleiben", sagte Jordan. „Viel zu viele Leute sind auf der Suche nach mir. Es ist zu gefährlich." „Nicht für mich", entgegnete sie. „Nicht in Cascadia. Ich kenne jeden in der Stadt. Mir wird niemand etwas antun." Sie wollte schon losmarschieren, doch er packte sie am Arm. „Du kannst nicht jedem vertrauen. Bis der Mörder gefasst ist, ist jeder ein Verdächtiger. Jeder könnte dir etwas antun." Emily wollte sich ihren Blick auf die Welt nicht von Angst und Misstrauen trüben lassen. Aber um Jordan zu beruhigen, sagte sie: „ Ich werde vorsichtig sein." „Versprich es", forderte er. „Ich möchte, dass du mir dein Wort gibst, Emily. Versprich mir, kein Risiko einzugehen." Sie zögerte. „Wie wäre es damit? Sobald wir die Stadt erreicht haben, wartest du einen Häuserblock entfernt. Ich gehe zuerst rein und finde heraus, ob wir freie Bahn haben. Falls geschossen wird, kann ich in ein Haus rennen, in dem ich jemanden kenne." Bevor er ihr noch ein weiteres Versprechen abverlangen konnte, begann sie, den Abhang hinunterzuklettern. Zwar waren sie viele Meilen von ihrem Haus entfernt, aber sie kannte die Gegend gut. Selbst im Dunkeln war ihr Orientierungssinn ausgezeichnet. Nach etwa einer dreiviertel Stunde standen sie hinter Sandras Haus. Alle Fenster waren dunkel, auch die Veranda war nicht beleuchtet. Emily überlegte, ob Sandra ihr Kind vielleicht schon bekommen hatte. Sie betete, dass alles gut gegangen war. Die Eingangstür war verschlossen. Emily kannte das Versteck für den Zweitschlüssel. Schnell sperrte sie die Tür auf. „Mach kein Licht", flüsterte Jordan. „Vielleicht haben sie jemanden gebeten, ein Auge auf ihr Haus zu haben." Das Mondlicht, das durch die Fenster strömte, war hell genug. In der Küche fand Emily einen Sack Hundetrockenfutter für Pookie. Nachdem sie ihm Fressen und eine Schüssel Wasser gegeben hatte, streichelte sie ihn zärtlich. „Du musst hier bleiben, Pook. Ich möchte, dass du ein guter Junge bist und in Sandras Haus kein Unheil anstellst." „Wuffz." Der Hund fuhr ihr mit der Zunge übers Gesicht. „Nicht bellen", fügte Jordan hinzu und tätschelte Pookies Kopf. „Wuffz. Wau.Wau." „Genau das sollst du nicht tun."
Der Hund blickte zwischen ihnen hin und her, ließ sich dann auf den Linoleumboden fallen und umklammerte mit den Vorderpfoten besitzergreifend den Fressnapf. „Er wird keine Probleme machen", sagte Jordan. „Lass uns gehen." Sie ließen ihre Rucksäcke zurück und traten durch die Tür. Eine Zeit lang folgten sie der Straße, die an vielen kleinen Auffahrten vorbeiführte. Die Lichter der Häuser schimmerten durch die Bäume, aber weit und breit war kein Mensch zu sehen. Es war nach neun Uhr. Die meisten Leute hatten es sich bereits in ihren Wohnzimmern gemütlich gemacht. Als die Straße eine Kurve machte, blieb sie stehen. „Da vorne ist eine Kreuzung, die auf die Hauptstraße führt. Da sind garantiert Wachposten aufgestellt." „Seit du mich gewarnt hast, dass der Mammoth Rock gefährlich sein kann, glaube ich dir jedes Wort", sagte er. „Wohin müssen wir von hier aus?" Sie deutete nach links auf einen Bach, der neben der Straße entlangplätscherte. „Wir sollten durch den Wald gehen." Er folgte ihr. „Schade. Die Straße war verdammt angenehm, da stolpert man nicht dauernd über irgendwelche Steine." „Willst du dich jetzt etwa auch noch beschweren?" „Ganz und gar nicht." Er streckte die Arme weit aus und berührte mit beiden Händen die Bäume. „Schließlich trage ich nicht länger einen fünfundzwanzig Kilo schweren Rucksack mit mir herum. Ich habe gute Schuhe und eine warme Jacke an." „Das klingt fast so, als ob. dir das Ganze Spaß macht." „Aber ja", rief er sarkastisch. „Ich fühle mich so wohl wie ein Hummer in kochend heißem Wasser." „Ab jetzt sollten wir still sein." Nach wenigen Metern signalisierte Emily ihm, stehen zu bleiben. Durch die Bäume hindurch sah sie, dass auf der anderen Seite der Straße ein Auto geparkt war. Zwei Männer lehnten an der Motorhaube. Einer von ihnen rauchte. Sie waren so nah, dass sie Fetzen ihres Gesprächs und tiefes Männerlachen hören konnten. An ihren Kopfbedeckungen konnten sie erkennen, dass es sich bei den beiden um Deputys handelte. Nervös sah sie Jordan an. Nun mussten sie sich absolut leise in der stillen Septembernacht bewegen. Jedes Geräusch - das Knacken eines Astes oder das Rascheln von Blättern - würde die beiden bewaffneten Männer auf sie aufmerksam machen. Womöglich waren sie wie Gollins. Sie würden erst schießen und dann fragen. Nun war also das eingetreten, was Jordan vorausgesagt hatte. Plötzlich sah sie vor sich, wie auf sie geschossen wurde. Getroffen und blutend stürzte sie zu Boden. Und starb. Ihre Muskeln verkrampften sich. Ihr Herz raste. „Mach langsam!" flüsterte sie. Er nickte. Sie schlich weiter, Jordan war dicht hinter ihr, sie bewegten sich so lautlos wie Schatten. Ein paar Schritte weiter konnten sie die Straße nach einer Kurve überqueren, ohne befürchten zu müssen, gesehen zu werden. Und von dort aus war es nur noch eine Meile bis zum Randgebiet von Cascadia. Als Emily aus dem Wald trat, stand sie plötzlich vor einem Elch mit mächtigem Geweih, der dabei war, sich am hohen Gras neben der Straße satt zu fressen. Erschrocken schnappte sie nach Luft, was ihr lauter vorkam, als ein Tornado. Der Elch blickte auf. Seine quadratische schwarze Nase deutete direkt in ihre Richtung. Emily versuchte, ihn mit einer Handbewegung zu verscheuchen. „He", sagte einer der Männer. „Hast du das gehört?" Der Elch stand einfach da und starrte sie an, zu sehr an Menschen gewöhnt, um Angst zu haben. Der andere Deputy antwortete: „Das kam von da vorne. Wo die Kurve ist." „Lass uns mal nachsehen."
Nervös schielte Emily zurück in den Wald. Vielleicht sollten sie sich wieder hinter den Bäumen verstecken. Jordan stand hinter ihr und wedelte mit beiden Armen, um den Eich zu verscheuchen. Das Tier setzte sich in Bewegung und lief direkt auf die beiden Polizisten zu. „Sieh dir den an! Mann, zu schade, dass jetzt keine Jagdsaison ist" Ob sie es dabei belassen würden? Sie packte Jordans Hand und zog ihn ins hohe Gras. Geduckt warteten sie. Ihr Herz hämmerte wie verrückt. Mit offenem Mund versuchte sie, so leise wie möglich zu atmen. Den Blick auf die Straße geheftet rechnete sie jeden Augenblick damit, dass die Polizisten mit ihren Gewehren vor ihr auftauchten. Ihr wurde ganz schwindlig. Sie konnte mit dieser Art Stress nicht sonderlich gut umgehen. In ihrem Kopf hatte es Klick gemacht. Sie hatte das Gefühl, ihren Körper zu verlassen. Dann spürte sie, wie sich in ihrem Hals ein Schrei formte. Eine Panikattacke. Als sie noch in der Notaufnahme arbeitete, hatte sie das oft erlebt. Sie erzählte einem der Psychiater davon, und der hatte ihr geraten, eine Therapie zu machen, weil die Symptome Erinnerungen sein könnten. An was? Emily hatte nichts Schlimmes erlebt, zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern. Ihr Leben war ruhig und normal verlaufen. Sie hatte keinen Grund, eine posttraumatische Störung zu entwickeln. Jordan tippte ihr auf die Schulter und deutete hinunter auf eine Baumgruppe, unter der sie in relativer Sicherheit vor den Wachposten sein würden. „Gut gemacht", flüsterte er. „Von dem Elch mal abgesehen." „Wieso, was meinst du?" „Hast du nicht gehört, wie ich nach Luft geschnappt habe? Das war so laut wie eine Explosion." „Eher wie ein leichter Windhauch." Er umarmte sie schnell. „Du hast schon wieder meinen Hintern gerettet, Em. Ich hätte keine Ahnung gehabt, wo die Typen sich postieren." Er sollte nicht merken, dass sie vor Angst zitterte. Schnell befreite sie sich aus seiner Umarmung. Sie begann, auf die Stadt zuzulaufen. „Wenn Pookie bei uns gewesen wäre", sagte Jordan, „hätten wir keinen Elch getroffen. Der Hund ist laut genug, um eine ganze Herde zu verscheuchen." Wenn Pookie bei ihnen gewesen wäre, wären sie geschnappt worden. Emily versuchte, nicht über die Konsequenzen ihres Handelns nachzudenken. Stattdessen rief sie sich in Erinnerung, dass der Zweck die Mittel heiligte. Sie half einem unschuldigen Mann dabei, Gerechtigkeit zu finden. Bis sie in Sichtweite der hell erleuchteten Hauptstraße kamen, schwieg sie. Nun gab es keine Möglichkeit mehr, sich zu verstecken, falls die Polizei Streife fuhr. Fast jeder würde sie sofort erkennen. Sie musste sich unsichtbar machen. Sie versteckten sich hinter einer Garage. Atemlos sagte Emily: „Es ist ein zweistöckiges Haus. An der Ecke am südlichen Ende der Stadt. Davor ist ein weißer Lattenzaun. Und ein Schild." „Geht's dir gut?" Seine Stimme klang tief und ruhig. „Ja." Sie atmete langsam ein und aus und versuchte, sich zu beruhigen. Wenn ihr das nicht gelang, würde sie womöglich umkippen. Mit festerer Stimme sagte sie: „Ich bin in Ordnung." „Was steht auf dem Schild?" „Dr. Spence Cannon, Arzt für Allgemeinmedizin." Sie fühlte ihren Puls am Hals.. Er war gleichmäßig, ging aber zu schnell. Viel zu schnell. „Er wohnt im oberen Stockwerk, sein Büro ist unten. Der Rettungsdienst ist hinter dem Haus. Kaum größer als eine Doppelgarage." „Hört sich nach einer Vielzweckanlage an", sagte Jordan. „Was ist mit Spence. Meinst du, er wird noch wach sein?" „Woher soll ich das wissen?"
„Ist er ein Freund von dir?" fragte Jordan. „Ja, aber ich verbringe nicht die Nächte mit ihm." „Das freut mich." Sie blickte in Jordans dunkle Augen und sah, dass er offenbar überhaupt keine Angst hatte. Trotz der immensen Gefahr hatte er sich völlig unter Kontrolle. Er nahm ihre Hand. „Du musst das nicht tun, Emily. Gib mir den Schlüssel, und ich gehe alleine." „Ich kriege das schon hin." „Aber du brauchst es nicht", sagte er. „Ich finde das Haus schon." Sie war kein Feigling. Ihr Vater war als Held gestorben, und sein Blut floss durch ihre Adern. Wenn jetzt die Panik die Oberhand gewann, dann verdiente sie es nicht, seine Tochter zu sein. „Los jetzt. Ich gehe immer einen Häuserblock voraus. Du folgst mir." Die einzigen Aktivitäten zu dieser Zeit konzentrierten sich auf die Kneipe am nördlichen Ende der Hauptstraße, zwei Blocks von Spences Haus entfernt. Und selbst dort war es eher ruhig. Emily umrundete die Grundschule von Cascadia und vermied es, über den gut beleuchteten Schulhof und den Basketballsplatz zu gehen. Zwar kannte sie jeden Zentimeter, doch im Augenblick schienen die Straßen sehr schmal. Die Umrisse der Häuser waren völlig verzerrt, als ob sie durch das falsche Ende eines Teleskops blickte. Hinter der Tür des Lebensmittelgeschäfts sah sie Licht. Um sieben Uhr wurde hier geschlossen. War noch jemand da? Emily rannte auf die andere Straßenseite und duckte sich hinter einem geparkten Auto. Sie starrte auf das einfache Gebäude mit dem Flachdach. Die Konturen begannen zu verschwimmen. Ihre Sicht wurde unscharf. Sie presste die Augen zusammen und wehrte sich erneut gegen ihre Angst. Dann zwang sie sich, über die Straße auf Spences Haus zu blicken. Hinter einem Fenster seiner Wohnung konnte sie das blau flackernde Licht des Fernsehers sehen. Sie mussten leise sein. Sie durften ihn auf keinen Fall stören. Sehr vorsichtig überquerte sie die Straße. Sie spürte kaum, wie ihre Beine sich bewegten. Sie war fast da. Sie schien zu schweben wie ein Gespenst, körperlos, ohne feste Form. Sie zog den Schlüssel aus der Tasche und umschloss ihn mit der Faust. So wie ihre Hand zitterte, würde er klimpern. Wie sollte sie es nur schaffen, ihn ins Schloss zu stecken? Dann stand Jordan neben ihr. Geräuschlos nahm er ihr den Schlüssel ab und öffnete die Tür. „Kein Licht", flüsterte er. Von draußen drang schummrige Straßenbeleuchtung durch die beiden hohen Fenster. Die Umrisse von Kitteln und medizinischen Geräten erinnerten sie an eine ganze Armee von Polizisten, die sie beobachtete und mit angelegtem Gewehr abwartete. Jordan schlich zu einem Tisch. Emily brachte kein Wort mehr heraus. Sie hörte ein Geräusch. Eine Tür öffnete sich. Die Deckenbeleuchtung wurde angeknipst. Emily erstarrte. Plötzlich meinte sie, große schwarze Bäume zu sehen. Der Himmel wurde von einem merkwürdigen Feuerwerk erhellt. Sternschnuppen. Patronenhülsen. Feuer explodierte in symmetrischen Reihen über einem flachen Reisfeld. Die Schmerzensschreie wurden immer schriller. Endloses Brüllen zerriss ihr Trommelfell, die grellen, orangefarbenen Flammen fraßen sich durch den Wald. Napalmbomben explodierten, ein Mal, zwei Mal, geschmolzenes Metall regnete auf sie herab. Ein brennender Mann stolperte auf sie zu. Seine Haut war verkohlt. Er stürzte. Sie sank auf den sandigen Boden.
7. KAPITEL Jordan starrte auf einen matt glänzenden Gewehrlauf. Ein Mann in Jeans und Sweatshirt zielte direkt auf seine Brust. Die Jagd war vorbei. Er hatte versagt, seine Freiheit verloren. Und jetzt? Würde er nun auch noch sein Leben verlieren? Und was war mit Emily? Er blickte zu ihr hinüber. Sie stand völlig bewegungslos und starrte in die Ferne. Irgendetwas stimmte nicht! War sie verletzt? Sie hatte den Mund wie zu einem stummen Schrei aufgerissen. Dann wurde ihr Körper schlaff, und sie fiel zu Boden. Jordan vergaß alles um sich herum, rannte zu ihr und fiel auf die Knie. Er drehte sie auf den Rücken und ergriff ihre Hand. Sie war eiskalt. Furchtbare Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er musste daran denken, dass er Lynette vor kurzem in fast derselben Position in den Armen gehalten hatte. „Emily, wach auf. Verdammt, du musst aufwachen." Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. Eine feste Stimme befahl ihm: „Gehen Sie zur Seite. Ich bin Arzt." Emily öffnete die Augen. Sie atmete schwerfällig und in Stößen. Auf einmal warf sie die Arme um Jordan, klammerte sich an ihn und vergrub das Gesicht an seiner Brust. Er hielt ihren bebenden Körper fest, dankbar, dass es ihr gut ging. Zugleich war er traurig darüber, dass er sie in diese lebensgefährliche Flucht hineingezogen hatte. Der Stress war zu groß für sie. „Bist du in Ordnung, Em? Rede mit mir." „Ich kann mich erinnern." Sie sprach mit dem dünnen Stimmchen eines verängstigten Kindes. „Es ist zwar nicht möglich, aber ich kann mich erinnern." Der Arzt hockte sich neben sie, das Gewehr noch immer in der Hand, aber ohne zu zielen. Mit sanfter Stimme sagte er zu ihr. „Ich bin's, Emily. Spence. Schau mich an, bitte." „Tu Jordan nichts." Sie klammerte sich an ihn. „Bitte, Spence. Du musst ihm helfen. Er ist unschuldig." Jordan, der sie noch immer im Arm hielt, ließ Spences bohrenden Blick über sich ergehen. Er sah eigentlich viel zu jung aus, um Arzt zu sein, doch seine feierliche Miene gab seinem Auftritt mehr Gewicht. Er taxierte Jordan ausführlich, bevor er eine Entscheidung traf. Dann legte er bedächtig das Gewehr auf den Boden. „Ich glaube dir, Emily. Du hast noch nie gelogen." Diese stille Demonstration von Loyalität fand Jordan beeindruckend. Schließlich hätte er ein kaltblütiger Mörder sein können, so wie ihn die lokalen Zeitungen beschrieben. Spence hatte keinen Grund, Emily zu glauben. Und doch tat er es. Spence Cannon zum Freund zu haben musste großartig sein. Er stand auf, ging zu einem Tisch und stellte zwei Klappstühle davor. „Bringen Sie sie rüber. Ich würde sie mir gerne einmal ansehen." „Komm, Emily." Jordan drängte sie, aufzustehen. „Wir müssen sichergehen, dass alles in Ordnung ist." Sie lockerte ihre Umarmung und ließ sich von ihm auf die Füße helfen. Sie zitterte nicht mehr. Mit gesenktem Kopf versuchte sie, seinem Blick auszuweichen. Er streichelte ihre Wange und hob liebevoll ihr Kinn. Sie kniff die Augen ein wenig zusammen. Doch als sie endlich zu Jordan hochblickte, waren ihre grünen Augen dunkel. Ihre Wimpern flatterten, als sie versuchte, wieder Fassung zu gewinnen. „Was ist passiert?" fragte er. „Ist schon in Ordnung." Sie verzog den Mund zu einem nervösen Lächeln. „Mir geht's gut." „Davon will ich mich selbst überzeugen", sagte Spence. „Nun beweg dich schon, Emily Foster. Setz dich auf den Stuhl. Und zwar sofort." Sie gehorchte seufzend. Jordan beobachtete, wie Spence ihre Reflexe überprüfte und eine ganze Reihe von Fragen stellte. Obwohl sein Verhalten äußerst professionell war, war nicht zu übersehen, dass er sich große Sorgen machte.
Jordan fragte sich, warum die zwei nie ein Paar geworden waren. Beide arbeiteten in einem medizinischen Beruf, sie hatten viel gemeinsam, unter, anderem ihre Liebe für die Berge. Sie sahen sich sogar ein wenig ähnlich. Es kann nur einen Grund dafür geben, dachte er. Spence war mit einer anderen Frau zusammen. Nachdem die Untersuchung vorüber war, fragte Jordan: „Gibt es eine Mrs. Spence?" „Beinahe hätte es eine gegeben, aber es hat nicht funktioniert." Dieser Kommentar sprach Bände. Im Verlauf eines Lebens gab es nach Jordans Ansicht für einen Mann Dutzende von Frauen, die alle auf ihre Art etwas ganz Besonderes waren. Aber es gab nur eine einzige wahre Liebe, nur eine Seelengefährtin. Diese passte perfekt in das Leben eines Mannes, sie erfüllte seine Träume und war die Antwort auf all seine Fragen. Jordan hatte von Anfang an gewusst, dass Lynette nicht seine Seelengefährtin war, aber mit der Zeit war er zynisch geworden, er hatte nicht mehr länger auf die perfekte Frau warten wollen. Er glaubte, dass sein Herz schon noch lernen würde, seine Frau zu lieben. Doch er hatte sich geirrt. Falls er diese Tortur hier überstünde, würde er denselben Fehler nicht noch einmal machen. Emily lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, die Ellbogen fest an die Seiten gedrückt und den Kopf starr aufgerichtet. Obwohl sie in Ordnung zu sein schien, waren ihre Bewegungen merkwürdig eckig - fast so, als ob sie nicht in ihrem eigenen Körper wohnte. Sie hatte sich zu Tode geängstigt. Erneut bereute Jordan, dass er sie in seinen ganz persönlichen Albtraum hineingezogen hatte. Das war egoistisch gewesen. Er beschloss, diesen Zustand so schnell wie möglich zu beenden. Sobald er gewiss sein konnte, dass sie in Ordnung war, wollte er sie in Spence' Obhut zurücklassen. „Mir geht es wirklich gut." Sie blickte zwischen den beiden Männern hin und her. „Wie oft muss ich euch das noch sagen?" Spence verschränkte die Arme über der Brust. „ Leute, denen es wirklich gut geht, brechen nicht einfach so zusammen." „Ich habe es dir doch gesagt. Ich habe heute noch nicht viel gegessen. Und vielleicht auch nicht ausreichend getrunken. Ich fühle mich ein wenig schwach. Als du das Licht angeschaltet hast, habe ich mich einfach furchtbar erschrocken." „Trotzdem würde ich gerne ein paar Blutproben nehmen und sie ins Labor schicken", sagte Spence. „Ärzte!" Sie verdrehte die Augen. „Ihr seid erst zufrieden, wenn ihr einen mit der Nadel pieksen könnt. Das Einzige, was ich wirklich brauche, ist ein Sandwich und die Möglichkeit, mir diesen ganzen Staub abzuwaschen." „Das kriegen wir hin", antwortete er. „Lasst uns nach oben gehen." Eigentlich wollte Jordan Cascadia so schnell wie möglich wieder verlassen. Aber er konnte schlecht einfach den Computer einpacken und wegrennen. Zunächst musste er sich vergewissern, dass Emily in Sicherheit war. Und dafür brauchte er Spence' Hilfe. Während sie im Badezimmer war und duschte, saß Jordan mit Spence am Küchentisch. Die Einrichtung gefiel ihm, kein Schnickschnack, eine richtige Junggesellenbude. Ein paar Teller standen im Waschbecken, Turnschuhe lagen neben der Tür, und auf dem Küchentresen stapelten sich Zeitungen und medizinische Fachblätter. Spence öffnete den Kühlschrank. „Also, Jordan, was hätten Sie gerne. Ein Sandwich?" „Oh ja." „Tomaten? Tunfisch? Oder doch lieber die Wahrheit darüber, was hier los ist?" „Die Wahrheit", sagte Jordan. „Und Tomaten." Er musste sich beeilen. Es gab eine Menge zu erklären, bevor Emily aus der Dusche kam. „Mir ist der Mord an meiner Frau angehängt worden. Auch meine Flucht war von irgendjemandem geplant, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht." „Warum denken Sie, dass die Flucht geplant war?"
„Ich befand mich im Flughafen von Aspen und sollte nach Denver überstellt werden, zum Prozess. Ein Polizist hat mich und einen anderen Gefangenen alleine in ein Zimmer in der Nähe der Abflughalle gesperrt. Er hat uns sogar die Handschellen und Fußfesseln abgenommen." „Und das ist nicht üblich?" Jordan schüttelte den Kopf. „Wer war der Polizist?" „Frank Kreiger." „Frank ist ein guter Mann. Ich habe schon öfter bei Rettungseinsätzen mit ihm zusammengearbeitet." Ohne großes Theater bereitete Spence das Sandwich zu. „Was ist dann passiert?" „Der andere Gefangene öffnete ein Fenster und sprang nach draußen. Ich bin ihm gefolgt. Wir waren kaum ein paar Schritte gekommen, als er sich auf den Boden warf und mir die Kugeln nur so um die Ohren flogen." „Sie denken also, Kreiger wollte, dass Sie wegrennen, damit er Sie auf der Flucht erschießen konnte." Spence runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ob ich das glauben soll." „Ich war mir auch nicht sicher. Bis ich von der Belohnung erfahren habe." Er blickte über die Schulter, um sicherzugehen, dass Emily ihn nicht hören konnte, und erklärte dann, was mit Deputy Ed Collins geschehen war. „Und jetzt kommt der wichtige Teil. Ab hier werde ich alleine, ohne Emily, gehen. Sie redet davon, dass sie selbst Ermittlungen wegen der Belohnung anstellen will." „Das klingt vernünftig." Spence tat das Sandwich auf einen Teller und stellte ihn auf den Tisch. „Wenn sie herausfindet, wer die Belohnung ausgesetzt hat, könnte das auf die Spur des Mörders führen." „Ganz genau", sagte Jordan. „Wenn Emily diesem verdammten Bastard gefährlich wird, dann wird er hinter ihr her sein. Sie wäre in großer Gefahr." Spence blickte düster vor sich hin, während er das Gehörte verdaute. Wenn auch jedes Wort einen Sinn ergab, so war die ganze Geschichte trotzdem schwer zu glauben. Er musste vor allem erst einmal überzeugt sein, dass Jordan wirklich unschuldig war. Und wenn es so war, warum hatte er dann Emily als Geisel genommen? Warum sollte Spence ihm abnehmen, dass die örtliche Polizei so korrupt war, eine Flucht zu inszenieren? „Ich werde nicht da sein, um sie zu beschützen", fuhr Jordan fort. „Das müssen Sie übernehmen, Spence. Sorgen Sie dafür, dass sie ihre Nase nicht in Dinge steckt, die sie nichts angehen. Kümmern Sie sich um ihre Sicherheit." Spence nickte kurz. „Sie können auf mich zählen." Jordan erhob sich und streckte ihm eine Hand hin. „Sie sind in Ordnung, Doc." Sie schüttelten sich die Hände und besiegelten ihre Abmachung. Jordan wusste, dass er sich auf Spence verlassen konnte. „Das Problem wird allerdings sein", gab Spence zu bedenken, „Emily zu kontrollieren. Da ich sie nicht gut in einem Schrank einsperren kann, weiß ich nicht, wie ich sie im Auge behalten soll." Das war wirklich nicht einfach, das musste er zugeben. Emily lebte vielleicht wie eine Einsiedlerin, aber sie war kein zartes Pflänzchen. Um der Gerechtigkeit zu dienen, würde sie sich einiges einfallen lassen. „Es gibt ein paar Leute, auf die Sie achten sollten", sagte Jordan. „Auch wenn Frank Kreiger ein netter Kerl zu sein scheint, nehmen Sie sich vor ihm in Acht. Und Ed Collins hat zugegeben, dass er hinter der Belohnung her war. Wenn einer der beiden vorbeikommt, dann bedeutet das nichts Gutes." „Wie steht es mit der Landespolizei?" fragte Spence. „Es muss doch irgendeine Behörde geben, der wir trauen können."
„ Neunundneunzig Prozent der Polizisten sind in Ordnung. Aber wir wissen nicht, wer genau. Wenn Sie mit der falschen Person sprechen, ist Emily in Gefahr." „Es ist auf jeden Fall sicherer, gar nichts zu sagen", stimmte Spence zu. „Wer, glauben Sie, hat den Mord begangen?" Jordan ging in Gedanken die Liste der Verdächtigen durch. Da waren drei Cousins, die etwas erbten, dann Lynettes Bruder, Brian Afton und den Skilehrer, der im Gästehaus lebte, Sean Madigan. Doch ohne weitere Nachforschungen angestellt zu haben, wollte Jordan keinen von ihnen besonders verdächtigen. Außerdem gab es noch jede Menge andere Möglichkeiten. Frühere Liebhaber, Geschäftsfreunde, Anwälte. „Wenn irgendjemand aus Aspen in Cascadia auftaucht und nach Emily fragt, dann betrachten Sie ihn als verdächtig." „Sie wissen ja gar nicht, wie Recht Sie haben", sagte Spence ohne Verbitterung. „Die Schönen und Reichen kommen nicht in unsere kleine Gemeinde, es sei denn, sie suchen nach einem Chauffeur oder einem Hausmädchen." „Sobald ich etwas mehr weiß, werde ich Sie darüber informieren." „Wie?" Gute Frage. Jordan war auf der Flucht, musste sich in den Bergen verstecken. Er hatte keine feste Adresse. Zwar konnte er sich ein Handy besorgen, aber damit wäre er zu einfach aufzuspüren. Und es war viel zu riskant, jeden Tag nach Cascadia zu kommen. Wie also konnten sie miteinander kommunizieren? Plötzlich sah er die Antwort so klar vor sich wie auf einem hochauflösenden Bildschirm. „Besitzen Sie einen Computer, Spence?" Emily trat aus der Dusche, wischte einen kleinen Kreis in den beschlagenen Badezimmerspiegel und starrte ihr Gesicht an, auf der Suche nach Zeichen von Wahnsinn. Ihre Augen kamen ihr ganz normal vor. Die feinen Linien in den Winkeln, schienen zwar etwas ausgeprägter zu sein, auch hatten sich die beiden Falten zwischen den Augenbrauen vertieft, aber sie entdeckte keinen irren Blick. Mit ihrer Nase war auch alles in Ordnung, von einem leichten Sonnenbrand und ein paar Sommersprossen abgesehen. Und ihre Lippen bildeten eine ruhige, ernsthafte Linie. Sie bewegte ihre Lippen. „Ich bin nicht verrückt." Vorhin, im Raum des Rettungsdienstes, als Spence das Licht eingeschaltet und sie erschreckt hatte, hatte sie wie immer reagiert, wenn unerwarteter Stress auf sie zukam. Sie war erstarrt. Das allein war allerdings keine verrückte Reaktion. In einer Gefahrensituation sorgte der menschliche Instinkt dafür, entweder zu fliehen oder zu kämpfen. Zu erstarren konnte man auch als eine Art Flucht betrachten, einen Rückzug in sich selbst. In den vergangenen Tagen hatte sie schon zwei Mal auf diese Art reagiert. Zum ersten Mal, als sie die Schlange gesehen hatte. Und dann, als Collins auf sie geschossen hatte. Dieses Muster war nicht untypisch für sie. Als sie in der Notaufnahme gearbeitet hatte, War sie öfter erstarrt. Vor allem, wenn sie mit den Folgen von Gewalt konfrontiert wurde. Nur zu gut konnte sie sich an das Blut, an die Schusswunden, die abgerissenen Gliedmaßen bei einem Autounfall und an Verbrennungen erinnern. Wenn die Verletzten hineingerollt wurden, hörte sie, was die Sanitäter riefen, sah das Opfer und erstarrte zu Eis, während um sie herum das Chaos regierte. Zum Glück dauerte diese Lähmung nie länger als eine Minute, und dann konnte sie sich an die Arbeit machen - erschüttert, aber in der Lage, ihren Job zu erledigen. Kurz bevor sie gekündigt hatte, um in die Berge zu ziehen, waren die Panikattacken regelmäßiger geworden, was sie allerdings dem Stress zugeschrieben hatte. Bis zum heutigen Tag waren diese Anfälle nichts anderes gewesen als ein dumpfes Bewusstsein kompletter Bewegungslosigkeit. Heute war ihr eine Erinnerung gekommen ... an Vietnam.
Wie konnte sie innere Bilder von einem Ort haben, an dem sie nie gewesen war? Wieso? Wieso konnte sie sich so lebhaft an einen Krieg entsinnen, den sie nie erlebt hatte? Sie sah im Spiegel, wie sich ihr Gesicht verkrampfte, und zwang sich sofort, wieder einen ruhigen, unbeteiligten Ausdruck aufzusetzen. Es war alles in Ordnung. Ihr ging es gut. Sie konnte mit so einer Lappalie leicht umgehen - ein winziges psychisches Problem. Es gab jede Menge Spezialisten, Therapeuten und Psychiater, denen sie ihren Fall schildern konnte. Allerdings zögerte sie, diesen Teil von sich einem anderen zu offenbaren. Bisher hatte sie noch nie detailliert über den Tod ihres Vaters gesprochen, über seine Zeit als Arzt und Kriegsgefangener. Kein Mensch hatte bisher etwas darüber erfahren, von Jordan einmal abgesehen. „Warum?" fragte sie ihr Spiegelbild. Warum hatte sie sich ausgerechnet einem Mann, den sie kaum kannte, anvertraut? Gut, es gab Parallelen zwischen seiner Situation und den Gefahren eines Krieges. Jordan wurde zu Unrecht beschuldigt und von bewaffneten Männern verfolgt. Mit ihm zusammen zu sein war schon so ähnlich, wie sich in einem Kriegsgebiet zu bewegen. Der Grund für ihre Panikattacke, ihre unglaubliche Erinnerung, lag in der Beziehung zu Jordan. Sie musste ihn herausfinden. Statt sich in Spence' Frotteebademantel zu hüllen, schlüpfte sie wieder in ihre schmutzigen Kleider. Im Schränkchen unter dem Waschbecken fand sie einen Föhn und trocknete ihr Haar. Sie wollte bereit sein, Jordan zu begleiten, sobald er sich wieder auf die Flucht begab. Sie fand die beiden Männer in Spence' Gästezimmer, wo sie die Köpfe vor einem Computerbildschirm zusammengesteckt hatten. Spence hatte das Haus - die Praxis im Erdgeschoss und die Wohnung ein Stockwerk darüber - von einem Kollegen übernommen, der hier mit seiner Frau gelebt hatte. Die weibliche Hand war unübersehbar: rosafarbene Tapeten und die Chiffon-Vorhänge. Davon abgesehen herrschte ein typisch männliches Durcheinander, die Bücherregale quollen über, und in den Ecken standen Sportausrüstungen, von Basketbällen bis hin zu Langlaufskiern. Das Mobiliar bestand aus nicht zusammenpassenden Stühlen, über deren Lehnen schmutzige T-Shirts hingen, einem schweren Holztisch und einer dunkelblauen Tagesdecke über dem Bett. Das Zimmer sah so aus, als befände es sich mitten in einer Geschlechtsumwandlung. „Gefällt mir sehr, was du aus der Wohnung gemacht hast", kommentierte sie sarkastisch. „Freut mich, dass du das Zimmer magst", antwortete Jordan, schwang auf dem Schreibtischstuhl herum und sah sie an. „Spence hat gesagt, dass du hier ein paar Tage unterkommen kannst. Bis sich die Dinge etwas beruhigt haben." „Hier?" Sie blickte sich empört um. „Das glaube ich kaum." Er erhob sich und kam auf sie zu. „ Deine Hütte liegt viel zu einsam, Emily. Es ist zu gefährlich, wenn du dort alleine bist." Sie ärgerte sich über die Unterstellung, dass sie nicht auf sich selbst aufpassen konnte. Seit sie ihr Elternhaus verlassen hatte, hatte sie immer alleine gelebt, und genau das wollte sie auch. „Davon abgesehen", fuhr Jordan fort, „kann ich mit Spence Kontakt aufnehmen. Und mit dir. Per E-Mail." Spence setzte sich auf den Stuhl, den Jordan freigemacht hatte. Völlig von den Grafiken auf dem Monitor in Beschlag genommen, tippte er auf der Tastatur herum. „Sieh dir das mal an, Emily. Jordan hat mir ein paar unglaubliche Internetseiten gezeigt." „Dieser Computerkram." Sie runzelte die Stirn. Während ihrer Zeit in der Notaufnahme hatte sie sich ein paar Anwenderfähigkeiten aneignen müssen, was ihr allerdings keinen großen Spaß gemacht hatte. Einer Reihe von Zahlen auf einem Bildschirm konnte man einfach nicht vertrauen, außerdem hasste sie die hüpfende grüne Linie auf einem Herzmonitor, die jederzeit plötzlich flach werden konnte.
Die praktische Seite des Rettungsdienstes sagte ihr viel mehr zu. Da konnte sie sehen, was zu tun war. Sie konnte spüren, was einem Patienten fehlte. „Du wirst nicht sehr lange bleiben müssen", versprach Jordan. „Nur so lange, bis wir wissen, dass du sicher bist." „Ich werde darüber nachdenken", sagte sie, um einer weiteren Diskussion aus dem Weg zu gehen. „Jetzt brauche ich erst mal was zu essen." Sie drehte sich auf dem Absatz um, ließ die Männer mit ihrem Spielzeug alleine und lief in Spence' Küche. Aus dem dürftigen Angebot seines Kühlschranks gelang es ihr, sich ein Sandwich zusammenzustellen. Alles war besseres gefriergetrocknetes Essen und Müsliriegel. Sie entsorgte eine grünliche Scheibe Speck, die sie im hintersten Fach fand. Hier zusammen mit Spence wohnen? Auf gar keinen Fall! Auch wenn sie nicht sonderlich anspruchsvoll war, so regelte sie die Dinge doch lieber auf ihre Art. Davon abgesehen hatte sie vor, Jordan zu begleiten. Er konnte ihr nicht einfach den Kopf tätscheln, sie bitten, keine Wellen zu machen, und dann Spence überlassen. Als Jordan in die Küche kam, sagte sie in energischem, endgültigem Ton: „Du solltest jetzt duschen." „Das klingt wie ein Befehl." „Du wirst erst halbwegs in Sicherheit sein", sagte sie, „wenn wir Cascadia verlassen haben." Ihm entging nicht, dass sie „wir" gesagt hatte. „Ich werde von nun an alleine weitermachen, Emily. Spence wird mich ein Stück fahren. Und dann verschwinde ich." Das werden wir noch sehen, „Geh jetzt duschen." „Hast du mir warmes Wasser übrig gelassen?" Sie grinste. „Du klingst wie einer meiner Brüder." „ Ich hoffe, du empfindest für mich etwas anderes als für einen Bruder." „Und wenn es so wäre?" „Du kannst mich als Freund bezeichnen", sagte er und ging langsam auf sie zu. „Oder als deinen Partner. Oder sogar als deinen Geliebten. Aber ganz bestimmt bin ich nicht wie ein Bruder für dich." Um diese Behauptung zu beweisen, umfasste er ihre Taille und zog sie fest an sich. Dann gab er ihr einen Kuss auf die Stirn. „Du riechst gut." „Vielen Dank", entgegnete sie steif. Es war merkwürdig, in Spence' hell erleuchteter Küche mit Jordan zu schmusen. Leise, nur für sie hörbar, sagte er: „ Ich könnte mich im Duft deiner Haare verlieren, deine Haut ist so weich, deine Brüste sind so süß und voll. Ich könnte ein Leben lang dein wunderschönes Gesicht und deine grünen Augen bewundern. Auch wenn ich jetzt fort muss ich komme zurück, Emily. Das weißt du." Abrupt ließ er sie los und ging aus dem Raum. Emily blieb atemlos und verwirrt zurück. Sie biss ein Stück von ihrem Sandwich ab und seufzte. Wenn Jordan einmal beschloss, in ganzen Sätzen zu sprechen, statt rätselhafte Zwei-Wort-Erklärungen abzugeben, dann hatte er tatsächlich eine Menge zu sagen. Sie würde es nicht zulassen, dass er sich mit einer Umarmung und einem Kommentar über ihre süßen, vollen Brüste einfach davonmachte. Sie wollte mit ihm gehen. Sie musste ihm helfen. Und sie musste herausfinden, warum er diese Dissonanzen in ihrer Seele auslöste. Sie ging ins Nebenzimmer, wo Spence konzentriert einen Text auf dem Bildschirm las. Er wirbelte auf dem quietschenden Schreibtischstuhl zu ihr herum. „Weißt du, was ich hier echt vermisst habe?" „Was denn?" fragte sie. „Die vielen beruflichen Kontakte, die ich in Denver hatte. In der Stadt kann man sich mit anderen Medizinern treffen, man hat Zugang zu den neuesten Forschungsergebnissen und kann darüber diskutieren. Es gibt Konferenzen." Er blickte sehnsüchtig auf den Bildschirm.
„Ich bin nie auf die Idee gekommen, den Computer für so was zu nutzen. Ich kann Kontakt mit dem Autor eines Artikels aufnehmen. Wenn ich mir vorstelle, wie viel Zeit ich damit verschwendet habe, Computerspiele zu spielen ..." „Spence, wir müssen reden." „In ein paar Minuten. Jordan hat mir gezeigt, wie man das Internet richtig nutzen kann. Das ist der Wahnsinn." „Er ist auf der Flucht", sagte sie. „Die Suchtrupps sind hinter ihm her, um ihn zu töten." Spence nickte. „Er hat mir von der Belohnung erzählt. Schwer zu glauben." „Ich habe es persönlich von Ed Collins gehört." Sie hoffte, Spence auf ihre Seite ziehen zu können. „Ich muss bei Jordan bleiben, ihm helfen, in den Bergen zu überleben." „Auf keinen Fall." „Du stehst auf seiner Seite", rief sie vorwurfsvoll. „Und das, nachdem du mich zwei Jahre lang kennst und mit mir arbeitest. Wie kannst du da auf seiner Seite sein?" „Weil es..." „Erzähl mir nicht, dass es das Beste ist." Jordan hatte ihn bereits mit seiner männlichen, logischen Denkweise infiziert - obwohl Spence doch ihr Freund war. „Ich wollte sagen, dass es zu gefährlich für dich ist, mit ihm zu gehen. Die Suche ist verstärkt worden. Der Sheriff will dich, die Geisel, retten." „Aber Jordan weiß noch nicht einmal, wie man ein Zelt aufschlägt", warf sie ein. „Sie werden ihn fassen. Spence, vielleicht bringen sie ihn um." „Du wärst eine größere Hilfe, wenn du zur Polizei gingst und ihnen falsche Angaben machst. Erzähle ihnen, dass Jordan Richtung Denver unterwegs ist." Er runzelte die Stirn. „Mehr darfst du allerdings nicht erwähnen, Emily. Kein Wort über die Belohnung. Nichts darüber, dass du von Jordans Unschuld überzeugt bist." „Ich kann es nicht fassen, dass du mir rätst, die Polizei zu belügen." „Jordan hat Recht. Da draußen läuft ein Mörder frei herum, und du weißt nicht, wem du vertrauen kannst. Du wirst auf jeden Fall hier bei mir bleiben. Du brauchst Schutz." Die beiden hatten sich also gegen sie verschworen. Wenn sie widersprach, würde das ihren Entschluss nur noch mehr festigen. Sie änderte ihre Taktik. „Ich schätze, ihr habt Recht", behauptete sie. „Aber ich will zumindest die Möglichkeit haben, mich von Jordan zu verabschieden. Kannst du mir dabei helfen?" Er grinste. „Was für eine Art von Abschied meinst du denn?" „Eine, die dich nichts angeht." „Oh." Spence betrachtete sie verwirrt. „Unsere kleine Emily hat sich also endlich verliebt. Ich bin nicht gerade überrascht, dass es sich dabei um einen angeblichen Mörder auf der Flucht handelt, hinter dem eine ganze Armee her ist. Du hast es noch hie auf die einfache Art gemocht." „Verliebt?" fragte sie schrill. „Jordan und ich sind nur Freunde. Wie du und ich." „Ja klar." Sein provozierendes Grinsen machte sie wütend. „Wirst du mir nun helfen oder nicht?" „Was soll ich tun?" „Ich habe Pookie in der Hütte der Lomax' eingeschlossen. Ich wusste, dass keiner da ist, weil Sandra in Denver ihr Kind zur Welt bringt. Lass uns dort raus, uns beide, Jordan und mich. Ich werde mich von ihm verabschieden. Wenn Jordan dann alleine weiterwill, werde ich die Nacht in der Hütte bleiben. Morgen spreche ich dann mit dem Sheriff." „Das scheint mir in Ordnung zu sein", sagte Spence. „Aber du musst Jordan davon überzeugen." Sie würde ihn schon rumkriegen. Das musste sie einfach. Wenn nicht, würde er ganz alleine verschwinden, sich in große Gefahr begeben und die Antworten auf ihre Fragen mit sich nehmen.
Unter einer schmutzigen Zeltplane versteckt, die nach dam Rauch von unzähligen Lagerfeuern stank, lag Emily in Spence' Minivan. Sie war froh, dass es ihr schließlich gelungen war, die beiden Männer zu überreden, ihren Plan zu verfolgen. „Das war keine gute Idee", murrte Jordan. Obwohl er neben ihr unter der Plane lag, nahm er sie nicht in die Arme. Er vermied es sogar, so gut es ging, sie überhaupt zu berühren. „Für die Suchtrupps wird es ein Leichtes sein, meine Spur zu verfolgen." „Wie ich bereits sagte, werde ich morgen früh, nachdem du schon eine ganze Nacht Vorsprung hast, in meine Hütte zurückkehren und den Sheriff informieren, dass es mir gut geht." „Komm bloß nicht auf die Idee, mich begleiten zu wollen", warnte er sie. „Du hast mir versprochen, eine Weile bei Spence zu wohnen, wenn ich weg bin." Sie erschauerte bei der Vorstellung, in dem unordentlichen Zimmer schlafen zu müssen. Aber wenn sie Jordan nicht umstimmen konnte, dann musste sie diesen Preis wohl zahlen. „Versprochen." Der Wagen rumpelte weiter. Nachdem schon fast Mitternacht war, konnte man zwar davon ausgehen, dass kaum Verkehr herrschen würde. Trotzdem hatten sie eine abgelegenere Route gewählt, um nicht in eine Straßensperre zu fahren. Denn auch wenn Doktor Spence ein hoch angesehener Bürger von Cascadia war, würde die Polizei sicher trotzdem darauf bestehen, seinen Wagen zu durchsuchen. Schweigend wog Emily ihre Möglichkeiten ab. Sie konnte versuchen, Jordans Meinung zu ändern. Oder in dem düsteren kleinen Zimmer bei Spence bleiben. Die Vorstellung, eine Wohnung mit jemand anderem zu teilen, widerstrebte ihr. Selbst früher, als sie noch mit ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern zusammengelebt hatte, hatte sie sich nicht wohl gefühlt. Ihre Mutter Linda war eine erfolgreiche Immobilienmaklerin in Twin Bluffs in Nebraska gewesen. Sie verdiente eine Menge Geld. Und trotzdem wehrte sie sich noch heute dagegen, das winzige Haus, das sie zusammen mit Emilys Vater gekauft hatte, zu verlassen. Wenn sie gezwungen war, sich von einem kaputten Möbelstück zu trennen, das aus der Zeit ihrer Ehe stammte, brach sie in Tränen aus. Als würde sie ihren Mann jedes Mal aufs Neue verlieren. Das Haus in Twin Bluffs war nichts anderes als eine Gedenkstätte für ihn, und das war auch ein Grund dafür gewesen, warum Emily sich so gefreut hatte, nach Colorado zu ziehen und in dieser Hütte außerhalb von Cascadia zu leben, die früher ihren Eltern gehört hatte. Ihr Vater war nie dort gewesen. Sein Geist hatte sich nicht niederlassen können. Wenn ihre Mutter sie in Cascadia besuchte, dann schien es ihr anfangs immer sehr gut zu gehen. Sie lachte mehr, sie gingen zusammen auf endlos lange Wanderungen und sprachen über alles, außer über Emilys Vater. Doch nach einer Woche begann ihre Mutter ihn regelmäßig in die Gespräche einfließen zu lassen. Dass ihm dieser Blick oder jene Blume gefallen oder wie sehr er den Sonnenuntergang hinter den Bergen genossen hätte. Wenn sie Colorado wieder verließ, vermisste sie ihn so verzweifelt, dass Emily beinahe das Gefühl hatte, er warte in Twin Bluffs auf sie.. Was in gewisser Weise ja auch der Fall war. Der Kleinbus kam rumpelnd zum Stehen. Sie hatten die Hütte der Familie Lomax ohne Zwischenfall erreicht. „Wir sind da", verkündete Spence überflüssigerweise. Pookie verschaffte sich bereits lautstark Aufmerksamkeit. Emily kam unter der Plane hervor und sprang aus dem Van. Dann rannte sie hinein, um den Hund zu beruhigen, der sie begrüßte, als sei sie statt ein paar Stunden ein paar Jahre weg gewesen. „Ist schon gut, Pookie. Jetzt bin ich ja da." Sie kniete sich auf den Boden und strich ihm durch das seidige Fell. Aus Pookies lautem Bellen wurde ein leiseres, glücklich klingendes Kläffen. Sie blickte sich in der Hütte um. Es schien alles intakt zu sein. „Du warst wohl zu müde, um hier Unordnung anzurichten."
Seine Zunge schleckte über ihr Gesicht. „Wuffz." Jordan trat ein und schloss die Tür hinter sich. Er trug den Rucksack, den Spence ihm geborgt hatte, und den für ihn so wahnsinnig wichtigen Laptop. Außerdem hatte er seine Gefängniskleidung gegen ein Paar Jeans und ein dunkelgrünes Hemd getauscht. Er hatte sich rasiert. Die Stiche auf seiner Wange waren von einem hautfarbenen Pflaster bedeckt. Er schien verärgert.
8. KAPITEL In dem blassen Mondlicht, das durch die Fenster hereinschien, konnte Emily Jordans Gesichtsausdruck zwar nicht klar erkennen, doch seine Wut war beinahe greifbar. Sie hätte gerne mit ihm geredet, aber dazu war die Atmosphäre einfach zu aufgeladen. Auf gar keinen Fall wollte sie einen Streit provozieren. „Also gut", sagte er mit kalter, gefasster Stimme. „Warum war es so verdammt wichtig, dass wir zusammen hierher kommen?" „Würdest du dich bitte erst mal beruhigen?" „Ich könnte jetzt schon ein paar Meilen Vorsprung haben, Emily. Also beantworte meine Frage." „Ich wünschte, das könnte ich. Wenn ich nur eine einfache ..." „Wuff?" unterbrach Pookie sie. Vorsichtig näherte er sich Jordan, kroch über den Teppich, während sein Schwanz wie ein Metronom auf den Boden schlug. Als er Jordans Beine erreicht hatte, warf er sich auf den Rücken und hielt ihm den Bauch hin, damit das männliche Alphatier in der Hütte sich mit der gebotenen Unterwürfigkeit anerkannt sah. Offensichtlich betrachtete er Jordan als den Anführer ihrer kleinen Meute. Jordan ging in die Hocke, tätschelte den Hund, erhob sich dann wieder, nicht im Mindesten abgelenkt von Pookies sklavischer Treuebekundung. „Also, Emily. Was soll das?" „Nicht so", antwortete sie. Er war viel zu feindselig. Was war aus seinem Wunsch geworden, für immer das Glänzen ihrer Augen zu sehen und die Fülle ihrer Brüste zu spüren? „ Ich kann nicht mit dir sprechen, wenn du dich benimmst, als wolltest du mir das Fell über die Ohren ziehen. Das ist doch keine Gesprächsatmosphäre." „Nun, das tut mir Leid", sagte er schneidend, „aber im Augenblick kann ich weder mit Champagner noch mit Rosen dienen." „ Kerzenlicht!" Sie ging in die Küche, wo sie vor ein paar Stunden ihren Rucksack zurückgelassen hatte. „Wir könnten es mit Kerzenlicht versuchen." Er lief hinter ihr her, packte sie am Arm und drehte sie zu sich herum. „Das hier ist kein Spiel. Wenn sie mich erwischen, verliere ich meine Freiheit. Vielleicht sogar mein Leben." „Aber in Spence' Haus warst du ..." „Wir mussten uns mal ein paar Minuten ausruhen. Aber das ist jetzt vorbei. Ich muss abhauen, bevor es hell wird. Warum wolltest du, dass ich hierherkomme?" „Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht." Sie starrte in sein kaltes, attraktives Gesicht. Mit den sauberen Kleidern und frisch rasiert sah er eher aus, als gehörte er zu den Schönen und Reichen aus Aspen. Und nicht zu ihr. „Ich habe noch nie jemandem von meinem Vater erzählt, und irgendwie verstehe ich nicht, warum ich ausgerechnet zu dir Vertrauen gefasst habe. Ich hatte das Gefühl, dass du eine Art Schlüssel zu meinem Gedächtnis bist." „Ich?" „Offenbar habe ich mich geirrt. Du bis ungefähr so sensibel wie ein Schaufelbagger." Er streckte die Hand aus. „Gib mir die Kerze. Wir werden reden." „Vergiss es. Ich möchte dich nicht in Schwierigkeiten bringen." „Ich habe jetzt keine Zeit für deinen Sarkasmus", sagte er. „Wir müssen einen Platz im Haus finden, wo wir die Kerze anzünden können, ohne dass das Licht draußen zu sehen ist." In den oberen Zimmern gab es Fensterläden und Vorhänge. Sie führte ihn in das Gästezimmer, in dem sie früher einmal übernachtet hatte. Jordan schloss die Läden. Dann zündete er die Kerze an und stellte sie auf einen Unterteller, den er aus der Küche mitgebracht hatte. Emily warf einen Blick auf das altmodische Messingbett. Sie konnte sich vorstellen, was geschehen würde, wenn sie sich nebeneinander dorthin legten. Obwohl er so wütend war, fand sie ihn nach wie vor überwältigend. Aber wenn sie jetzt ihrer Lust nachgab, würde sie es später sicherlich bereuen.
„Lass uns uns auf den Teppich setzen", schlug sie vor. „Schön." Als Pookie um die Kerze herumschnüffelte, die auf dem Boden neben ihnen stand, warf Jordan ihn aus dem Zimmer. „Tut mir Leid, Pook. Du wirst wohl draußen warten müssen." „Wäffz, kläffz", antwortete der Hund und klang ziemlich sauer. Emily hatte sich auf die Knie niedergelassen, und Jordan streckte sich ihr gegenüber aus und stützte den Kopf auf seinem rechten Ellbogen ab. „Ist es so besser?" fragte er. „Ja." Das Kerzenlicht tanzte auf der mit Holz verkleideten Wand, der Raum sah warm und behaglich aus, es kam ihr so vor, als ob sie vom Rest der Welt abgeschnitten wären. Aber trotzdem war sie nicht mehr in der Stimmung, ihre Seele bloßzulegen. „Erinnert mich an eine Seance", sagte er. „Warst du mal bei einer dabei?" Sie erschauerte. „Ich lasse die Toten lieber in Frieden ruhen." Ein langes Schweigen entstand. Sie lauschte dem Pochen ihres Herzens, konzentrierte sich darauf, tief und ruhig zu atmen. Sie versuchte, eine offene Atmosphäre herzustellen, die es ihr ermöglichen würde, über ihre erschreckenden Visionen zu sprechen. „Ich weiß, wo wir anfangen", begann Jordan schließlich. „Und zwar da, wo du im Büro des Rettungsdienstes umgekippt bist." „Du redest wohl nicht gerne um den heißen Brei herum." „Ich habe diese Panikattacken schon ein paar Mal bei dir beobachtet", erklärte er. „Aber diesmal war es anders. Völlig anders. Warum?" Wenn sie die Antwort darauf wüsste, müsste sie mit niemandem darüber reden. Dann könnte sie einfach ihr abgeschlossenes Leben weiterführen, glücklich, allein und sicher. „Jordan, glaubst du, dass ich verrückt bin?" Er lächelte, seine dunklen Augen blickten sie ermutigend an. „Du bist die zurechnungsfähigste Frau, die ich je kennen gelernt habe." „Ich hatte ... merkwürdige Wahrnehmungen." Da sie nicht daran gewöhnt war, ihre persönlichen Angelegenheiten mit einem anderen Menschen zu teilen, begann sie zu stottern. „Es war eine Vision, verstehst du? Es brannte, und ich sah Explosionen. O verdammt, ich kann es nicht erklären. Es war verrückt. Es war einfach völlig unmöglich." „Wie ein schlechter Traum." Er berührte ihre Hand. „Em, Liebling, ich bin schuld an diesem Albtraum. Ich hatte kein Recht, dich in diese Hölle mit hineinzuziehen." „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast mich auf etwas gebracht." „Hast du diese Panikattacken auch schon früher gehabt?" „O ja. Als ich in der Notaufnahme gearbeitet habe, bin ich oft einfach erstarrt. Ich dachte, dass das am Stress liegt, dass es eine Art Burnout-Syndrom wäre. Die anderen Schwestern und die Ärzte sagten immer, dass ich alles viel zu sehr an mich heranlassen würde." „Das scheint mir ein positiver Wesenszug für eine Krankenschwester zu sein", sagte er. „Aber es ist nicht wirklich wahr. Ich bin viel zu sehr in meine eigene Geschichte verstrickt, in die Erinnerung an meinen Vater, an den ich mich bewusst überhaupt nicht erinnern kann." Undeutlich nahm sie das Kerzenlicht wahr und dachte wieder an den brennenden Mann, der aus dem Wald stolperte. Sie starrte in die Dunkelheit, mit weit geöffneten Augen, fürchtete sich davor, zu blinzeln. Sie könnte es nicht ertragen, dieses Grauen noch einmal zu durchleben. „Emily", sagte Jordan sanft. „Woran denkst du gerade?" „Ich weiß nicht." Sie schob die Erinnerungen zur Seite. „Vielleicht wurdest du immer an deinen Vater erinnert, wenn du verletzte Menschen gesehen hast", schlug er vor. „Das ist möglich." Aber es war nicht wahrscheinlich. „Ich schätze aber, dass ich vernünftig genug bin, den Unterschied zwischen einem Patienten in der Notaufnahme und einem Mann, der vor dreißig Jahren gestorben ist, zu erkennen."
Sie blickte ihn über die Kerze hinweg an. Alle Wut war verflogen. Sie wollte ihn nicht verlieren. Mit einem Seufzen fuhr sie fort; „Deine Situation erinnert mich ebenfalls an meinen Vater. An die Gefahr. Wie es ist, von Feinden verfolgt zu werden. Aber du musst mir glauben, dass ich keine Schwierigkeiten damit habe, zwischen dir und meinem Vater zu unterscheiden." „Das ist gut", sagte er. „Ich wollte niemals eine Vaterfigur sein, außer für meine eigenen Kinder, wenn ich sie mal habe." „Und wann denkst du, wird es so weit sein?" „Ich hoffe bald." Sie hatte gewusst, dass er bereit war, Kinder zu haben. Jordan war genau wie sie über dreißig. Die altbekannte biologische Uhr tickte. „Ich auch." „Wie fühlst du dich jetzt, Emily?" „Ein bisschen besser." „Verrat mir eines, Em. Du hast gesagt, dass du nie mit jemandem über deinen Vater gesprochen hast." „Das stimmt." „Aber warum nicht? Es ist unvernünftig, dass du vermeidest, über ihn zu sprechen. Es gibt doch nichts, wofür du dich schämen müsstest." Unvernünftig. „Hier geht es um Gefühle, Jordan. In Twin Bluffs, wo ich aufgewachsen bin, hatte jeder meinen Vater gekannt. Er starb als Held. Ich musste nie etwas erklären." „Und später?" „Die Geschichte meiner Familie ist kein Thema, das man mal eben so in ein zwangloses Gespräch einfließen lässt." Und Emily war darin geübt, sich aus vertraulichen Gesprächen herauszuhalten. Jederzeit hörte sie sich die Probleme ihrer Freundinnen an, erzählte selbst aber nichts. In den letzten Tagen hatte sie zu Jordan mehr Vertrauen gefasst als zu irgendjemandem sonst in ihrem Leben. Es war paradox. Sie hatte erst als Geisel genommen werden müssen, um zuzulassen, sich einem Mann wirklich zu nähern. „Hast du mit Spence über deinen Vater gesprochen?" „Nein, das wäre nicht angemessen. Spence und ich sind Kollegen und Freunde. Er soll auf keinen Fall glauben, dass ich irgendeine komische Panikattacke bekommen könnte, wenn wir zusammen arbeiten." Jordan rollte sich auf den Rücken und starrte zur Decke. Er schien am liebsten lang gestreckt zu liegen, wenn er nachdenken wollte. „Als der Sheriff mir zum ersten Mal die Handschellen anlegte, wäre ich am liebsten gestorben. Noch nie habe ich mich so gedemütigt gefühlt. An dem Tag, an dem ich dann abgehauen bin, waren die Handschellen schon zur Gewohnheit geworden, wie ein Schlips. Zwar fand ich es schrecklich, im Gefängnis zu sitzen, aber es tat nicht mehr weh. Und ich hatte meine Fesseln akzeptiert. Ich glaube, Emily, bei dir ist es ähnlich." „Du meinst, wenn ich über meine Vergangenheit spreche und den Tod meines Vaters hinnehme, dann tut es nicht mehr so weh." Wie vorauszusehen, war Jordans Lösung einfach und rational. Wahrscheinlich zu einfach, dachte sie, aber zumindest konnte sie es versuchen. Womöglich würden sich dann auch andere Dinge lösen. „Versuch es", murmelte Jordan. „In einem Satz.". „Mein Vater war Arzt in Vietnam, wurde gefangen genommen und starb", sagte sie langsam. Der Himmel hatte sich nicht aufgetan, um Blitz und Donner auf sie zu schleudern. Was sie gesagt hatte, klang nicht einmal wie ein Geheimnis. „Es kommt alles in Ordnung, Emily." Er stieß sich vom Boden ab und stand auf. „Es ist Zeit. Ich muss los."
Als sie sich vor ihn stellte, begriff sie endlich, was sie wirklich wollte, die Wahrheit traf sie wie ein Blitz. Mit Jordan über ihren Vater zu sprechen war nur ein Teil ihres Plans gewesen. Der andere war, dass sie mit ihm zusammen sein, die merkwürdige Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, verstehen wollte. „Bleib heute Nacht bei mir." „Nichts würde ich lieber tun." Er streichelte zart ihre Wange. Sein Blick brachte sie zum Schmelzen. „Du machst es einem verdammt schwer, ein Gentleman zu sein." „Wie meinst du das?" Mit den Fingern fuhr er ihr zart übers Kinn. „Ich werde dich nicht ausnutzen, Emily." „Wie bitte? Ich bin diejenige, die dich gebeten hat, die Nacht mit mir zu verbringen. Nicht andersherum." „Ich bin ein Mann ohne Zukunft. Ich kann nicht zulassen, dass du etwas tust, was du später bereust, Emily. Du darfst nicht vergessen, mit wem du es zu tun hast." „Mit einem entlaufenen Häftling." Sie ergriff seine Hand und küsste die Innenseite. „Du bist mein Häftling." Seine Augen begannen zu funkeln. Ohne ein weiteres Wort riss Jordan sie in seine Arme. Sein fieberhafter, hungriger Kuss nahm ihr den Atem. All ihre Ängste und bösen Erinnerungen lösten sich auf, es gab nur noch Leidenschaft, überwältigende Gier. Sie wollte so schnell wie möglich ihre schmutzigen Kleider loswerden. Hastig zog sie ihr Hemd und den Rollkragenpullover aus. So viele Kleidungsstücke! Sie setzte sich aufs Bett und kämpfte mit den Schnürsenkeln ihrer Wanderstiefel. Sie zog die Socken aus. Sie zerrte an ihren Jeans. Und dann war Jordan auch schon über ihr, riss ihr BH und Höschen herunter. Sein durchtrainierter Körper presste sich gegen ihren. Wie sie ihn begehrte! Hitze breitete sich in ihr aus, ihr Puls begann zu rasen, als ob ihr das Herz zerreißen wolle. Mit seinen Beinen schob er ihre Schenkel auseinander und richtete sich ein wenig auf. In dem flackernden Kerzenlicht betrachtete sie seine breiten Schultern und seine muskulöse Brust. Er war einfach perfekt, stark und männlich. Und sie war bereit, sich hinzugeben, begierig darauf, in seiner Lust zu ertrinken. Er liebkoste ihre Brüste, die empfindsamen Spitzen. Köstliche Schauer fuhren durch ihren Körper. Noch nie hatte sie sich so gehen lassen. Nie solch pure Begierde erlebt. Als sie ihn umfasste, zitterte er. Jetzt übernahm sie das Ruder. Schnell wechselte sie die Position, legte sich auf ihn und begann, seine heiße Haut zu lecken und zu streicheln. Er stöhnte auf. „Emily." „Mhm." Sie konnte nicht sprechen. Nicht jetzt. „Ich habe kein Kondom." „Das ist mir egal." „Aber mir nicht." Er hielt ihre Hand fest. Dann schob er sie vorsichtig von sich. Schweratmend lagen sie nebeneinander auf der blauen Bettdecke. „Wir könnten uns umsehen. Vielleicht haben deine Freunde ..." „Sandra ist im neunten Monat schwanger. Und davor haben sie die ganze Zeit versucht, ein Kind zu zeugen. Sie haben ganz bestimmt keine Kondome." Oh Gott, sie wollte nicht aufhören! „Willst du mir auf diese Weise vielleicht beibringen, dass du eine sexuell übertragbare Krankheit hast?" „Himmel, nein." Sie begann nachzurechnen, wann sie zum letzten Mal ihre Regel gehabt hatte. Normalerweise kümmerte sie sich nicht darum. Außerdem war diese Verhütungsmethode nun wirklich nicht sonderlich sicher. Was wäre, wenn sie schwanger werden würde? „Ich riskiere es, Jordan."
Er beugte sich über sie und küsste sie lange. „Em, Liebling, es gibt andere Wege, wie ich dich glücklich machen kann." „Und umgekehrt." Sie lächelte ihn träge an. Er begann ihren Hals zu küssen, dann fuhr er mit seiner Zunge über ihre Brüste und hinab zu ihrem Bauchnabel. Der Rhythmus ihres Liebesspiels hatte sich geändert, aus wilder, animalischer Leidenschaft war ein erotischer, raffinierter Tanz geworden. Sie genoss jede seiner Berührungen, jede zarte Liebkosung, mit der er sie dem Orgasmus entgegentrieb. Als sie den Höhepunkt erreichte, wurde sie von einem Wirbel der Empfindungen fortgerissen und schrie auf. Mein Gott, es fühlte sich so richtig an, hier mit Jordan zu sein, mit ihm diese Nacht zu verbringen. Er befriedigte sie in so vieler Hinsicht. Sie schloss die Augen. Statt brennender Wälder hatte sie Visionen von sattem Grün und einer weiten Wasserfläche, auf der Sonnenstrahlen tanzten. Heute Nacht würde sie friedlich schlafen ... Aber noch nicht. Emily öffnete die Augen und betrachtete Jordans attraktives Gesicht. Nun war sie an der Reihe, ihm Vergnügen zu schenken. Jordan schulterte seinen Rucksack. Dank Spence war er nun gut ausgestattet für die Wildnis. Wichtiger noch als die Campingausrüstung war das GPS-Gerät, seine Orientierungshilfe, zudem hatte er den Laptop mit einem starken Akku und Internetzugang. Die Geräte gaben ihm das Gefühl, dass ihm nichts passieren konnte. Wenn es ihm gelang, den Suchtrupps auszuweichen und einen sicheren Ort zu finden, würde er den Mörder dingfest machen und endlich seine Unschuld beweisen. Er bedauerte, dass er sich von Emily trennen musste. Ihre gemeinsame Nacht war mehr als erstaunlich gewesen. Obwohl er gewusst hatte, wie einfallsreich und geschickt sie war, wäre er niemals auf die Idee gekommen, dass ihre Talente sich auch aufs Schlafzimmer erstreckten. Obwohl sie, wie man so schön sagte, den Akt nicht vollzogen hatten, hatte sie ihn vollkommen befriedigt. Zwei Mal. Er blickte die Treppe hinauf, die zu dem Zimmer führte, in dem sie noch immer lag und schlief. Er durfte sie nicht aufwecken und sich verabschieden, weil sie darauf bestehen würde, ihn zu begleiten. Ebenso wenig konnte er ihr eine Mitteilung hinterlassen, um ihr zu sagen, wie viel sie ihm bedeutete. Das wäre nur ein Beweisstück, das in falsche Hände geraten konnte. Allein bei der Vorstellung, dass der Mörder von ihrer Beziehung erfuhr und Emily etwas antat, wurde ihm flau. Jordan konnte nur beten, dass sie vernünftig sein und nicht versuchen würde, selbst Ermittlungen anzustellen, die sie unweigerlich in Gefahr brachten. Emily war viel mutiger, als gut für sie war. Er bückte sich, um Pookie zu streicheln, der zu ihm aufsah und offenbar bereit für etwas Abwechslung war. Leise sagte Jordan: „Pass auf sie auf, Pook. Sorge für ihre Sicherheit." „Wuffz." Der Hund wedelte mit dem Schwanz. Dieser gutmütige Golden-Retriever-Welpe überzeugte nicht gerade als Wachhund. Jordan wünschte, er könnte bleiben und Emily beschützen. Aber er musste verschwinden. Fliehen. Er öffnete die Tür und schlüpfte hinaus in die sternenklare Nacht. Emily erwachte langsam. Pookie hatte sich neben sie gekuschelt. Ihre Finger fuhren durch sein weiches Fell. Sie wollte die Augen nicht öffnen, weil sie wusste, dass die andere Seite des Bettes leer war. Jordan war gegangen. Sie hatte seine Abwesenheit gespürt, als ob ein Stück von ihr selber fehle. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie wollte nicht hinsehen. Sie hasste es, im Ungewissen zu sein. Er war so vielen Gefahren ausgesetzt. Er konnte sich verletzen. Getötet werden. Oder gefangen genommen und für immer hinter Gitter gesteckt werden.
Sie fand Trost darin, sich an die letzte Nacht zu erinnern. Wieder und wieder stellte sie sich vor, wie sie sich geliebt hatten, dabei berührte sie vorsichtig ihre Lippen, die von seinen fordernden Küssen noch immer leicht geschwollen waren. Sie zitterte bei der Erinnerung an seine Zärtlichkeiten. Hinter geschlossenen Augenlidern sah sie seinen herrlichen Körper und seine leidenschaftlichen dunklen Augen. Diesen Ort in ihrer Erinnerung würde sie noch oft besuchen. Zum Glück hatte Jordan dafür gesorgt, dass sie nicht schwanger werden konnte. Obwohl Emily bereit war, ein Kind zu bekommen, wollte sie es nicht mit einem Mann haben, der vielleicht die nächsten Tage nicht überleben würde. Dieses Muster erinnerte sie zu sehr an das in ihrem eigenen Leben. Pookies Pfote lag auf ihrer Schulter, er hatte sie zur Seite gedrängt und sich in der Mitte des Bettes breit gemacht. „Das reicht, Pookie." Sofort rieb das Tier seine kalte, nasse Schnauze an ihrem Kinn. „Jordan ist weg, was?" „Wuff." Zu gerne hätte sie den Hund und sich selbst davon überzeugt, dass alles gut gehen würde. Doch zugleich war ihr schmerzhaft bewusst, wie viele Hindernisse Jordans Flucht im Weg standen. Man hielt ihn für einen Mörder und jagte ihn. In den Bergen lauerten Unmengen von Gefahren. Auch wenn es tagsüber noch recht mild war, konnte jederzeit der erste Schnee fallen. Sie musste ihm helfen. Doch sie hatte zugesagt, bei Spence zu bleiben und so wenig wie möglich aufzufallen. Dieses feierliche Versprechen durfte sie nicht einfach brechen. Auch wenn sie persönlich diese Vorsicht übertrieben fand. Ärger stieg in ihr hoch. Jordan behauptete, dass er sie für eine kluge Frau hielt, dennoch traute er ihr nicht viel zu. Warum musste Spence unbedingt auf sie aufpassen? Sie konnte Jordan doch bei seinen Nachforschungen helfen, ohne in Gefahr zu geraten. Entschlossen warf sie die Bettdecke von sich und begann die Spuren ihrer gemeinsamen Nacht mit Jordan zu vernichten. Im Keller standen eine Waschmaschine und ein Trockner für die Bettwäsche. Danach wollte sie zurück zu ihrem Haus laufen, duschen und dann die Polizei informieren. Das war der schwierigste Teil. Sie musste den Sheriff belügen und so tun, als ob sie gegen ihren Willen als Geisel festgehalten worden wäre. Zu Hause. Noch war ihr die Hütte so schön erschienen. Emily hatte sich Zeit gelassen, war Umwege gelaufen. Sie hatte sogar extra ein kleines Zeltlager aufgebaut. Dort, wollte sie behaupten, habe sie die Nacht mit Jordan verbracht. Vielleicht würden die Fahnder seine Spur genau da aufnehmen, wo er sie angeblich verlassen hatte. Sie hatte gehofft, sich noch ein paar Minuten erholen zu können, doch vor der Tür war bereits ein Polizeiwagen geparkt. Sie kletterte die Stufen zur Veranda hinauf, es war fast schon Mittag. „Emily, da sind Sie ja." Deputy Frank Kreiger begrüßte sie von der Eingangstür aus. Er war ein untersetzter Mann in den Dreißigern und Extrem-Skifahrer, dafür bekannt, bei Lawineneinsätzen heroisch sein Leben aufs Spiel zu setzen. Er lächelte sie nicht an. Als Pookie ihn sah, begann er wütend zu kläffen. „Aus, Pookie." Sie versuchte, den Hund zu beruhigen. „Der Sheriff ist ein Freund." Die erste Lüge. Jordan hatte sie vor Frank Kreiger gewarnt. Er war es gewesen, der im Flughafen von Aspen Jordans Handschellen und Fußfesseln gelöst hatte. Somit war ziemlich wahrscheinlich, dass Kreiger etwas mit der inszenierten Flucht, auf der Jordan erschossen werden sollte, zu tun hatte. „Sind Sie in Ordnung?" fragte er.
Sie bewegte sich nun absichtlich mit schweren Schritten. „Könnten Sie den Sheriff darüber informieren, dass es mir gut geht? Und bitte rufen Sie Doktor Spence an." „Sind Sie verletzt? Hat dieser Bastard Ihnen etwas angetan?" Der Bastard war der Mann ihrer Träume, „Jordan Shane war der perfekte Gentleman. Aber ich bin erschöpft und habe vielleicht etwas zu viel Flüssigkeit verloren. Ich möchte, dass mich ein Arzt durchcheckt." Der Polizist nahm sie am Arm und half ihr ins Haus. Emily musste sich zwingen, nicht zusammenzuzucken. Sie durfte sich auf keinen Fall anmerken lassen, welche Abneigung sie gegenüber diesem bestechlichen Cop empfand. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht", sagte sie, „dann würde ich gerne duschen und die dreckigen Klamotten ausziehen." „Tut mir Leid", entgegnete er. „Ich muss Sie sofort verhören. Bei einer Suchaktion wie dieser zählt jede Minute. Und Sie sind unsere einzige Zeugin." „Sie werden dennoch warten müssen", rief sie. „Ich werde dem Sheriff und allen anderen nicht so, wie ich jetzt aussehe, gegenübertreten." Sie sah, wie Kreiger verärgert die Stirn runzelte. „Ich hätte nie gedacht, dass Sie so eitel sind." „Ich habe nicht vor, mich in rosa Rüschen zu kleiden." Sie stolzierte auf ihr Schlafzimmer zu. „Bis Sie den Sheriff und Spence erreicht haben, bin ich längst wieder zurück." Sie holte frische Kleider aus dem Schrank, ging ins Bad und schloss die Tür ab. Zu duschen war ein Teil ihrer Strategie. Sie musste unbedingt Jordans Geruch loswerden, hatte aber nicht vorher duschen können, um keinen Verdacht zu erwecken. Wie versprochen, beeilte Emily sich. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, ihr Haar zu föhnen, sie zog nur die sauberen Kleider an und trat mit den drei Tage getragenen schmutzigen Klamotten auf dem Arm aus dem Badezimmer. „Die nehme ich", erklärte Kreiger. Er war noch immer alleine. „Meine Kleider? Sie wollen meine dreckigen Kleider haben?" „Sie wären überrascht, was für forensische Beweise man anhand der DNA, Fasern und ..." „Das Einzige, was Sie an meiner Kleidung entdecken werden, ist ein ziemlich übler Schweißgeruch", sagte sie. „Trotzdem. Sie wollen uns doch helfen, oder nicht?" „Bitte." Sie warf ihm das Bündel zu. „Wenn Sie fertig sind, können Sie sie verbrennen." Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie ja den Eindruck erwecken musste, völlig erschöpft zu sein. Schließlich war der Plan, dass sie deswegen bei Spence bleiben sollte. Sie musste also Schwäche vorspielen. Sie ließ sich in einen Sessel sinken und murmelte: „Ich bin so müde." „Kann ich Ihnen etwas bringen?" „Vielleicht eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank." Er kam schnell zurück und setzte sich ihr gegenüber. Er benahm sich sehr steif. „Emily, wie gut haben Sie und Jordan Shane sich gekannt, bevor er Sie als Geisel genommen hat?" „Wir sind uns einmal begegnet." Sie hatte diese Art von Fragen erwartet. Wieso sie? Warum war Jordan ausgerechnet zu ihr gekommen? Zum Glück brauchte sie jetzt nicht zu lügen, die Antwort war einleuchtend und wahr. „Vor etwa einem Jahr hat er mich hier in meinem Haus besucht und eine Spende für den Rettungsdienst von Cascadia abgegeben. Auf seiner Flucht erinnerte er sich daran, dass ich Krankenschwester bin und kam, damit ich ihn medizinisch versorge." „Und Sie haben ihn zusammengeflickt?" „Er hatte meine Pistole", entgegnete sie kalt. „Was blieb mir für eine Wahl?" Kreiger blickte sie verächtlich an. „Heißt das, dass er Sie gezwungen hat? Dass Sie ihm nicht freiwillig geholfen haben?" „Ganz genau." Seine Unterstellung erschreckte sie. „Wollen Sie vielleicht andeuten, dass ich mich hätte wehren sollen? Dass ich es hätte riskieren sollen, erschossen zu werden? Das
ist genauso absurd wie die Einstellung, dass jede Frau, die vergewaltigt wird, selbst dran schuld ist. Ich bin hier das Opfer." „Nach Aussage Ihrer Freundin Yvonne Hanson sind Sie der Meinung, dass Jordan Shane vielleicht unschuldig sein könnte." Sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass dieses zwanglose Gespräch mit Yvonne beim Unterricht der kleinen Pfadfinderinnen ihr jetzt zum Verhängnis werden könnte. „Ein Mensch ist so lange unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist", sagte sie. „Und was denken Sie jetzt?" Sie biss sich auf die Lippen. Es fiel ihr schwer zu lügen. Auf dem Weg zurück zu ihrem Haus hatte sie Dutzende von möglichen Antworten einstudiert. Die Antwort, für die sie sich schließlich entschied, wich nur ein wenig von der Wahrheit ab. „ Es war nicht richtig, dass Shane aus der Haft geflohen ist. Das ist ein Gesetzesverstoß. Aber ich glaube nicht, dass er seine Frau umgebracht hat." „Da irren Sie sich, Emily. Er ist schuldig." Die Augen des Polizisten wurden kalt, er durchbohrte sie mit seinem Blick. „Sie haben Lynette Afton-Shane nicht gekannt. Sie war die schönste Frau, die ich je gesehen habe, aber sie konnte einen Mann ganz verrückt machen, so wie sie mit anderen flirtete." Hatte Jordans verstorbene Frau womöglich auch Deputy Kreiger verrückt gemacht? Emily hatte das Gefühl, seine Verbindung zu Lynette könnte über reine Freundschaft hinausgegangen sein. Er war Skifahrer, und ihr gehörten die Berghütten. Waren sie sich so nah gekommen, dass er Vergeltung wollte? „Machen Sie keinen Fehler, Emily. Wir werden Jordan Shane fassen, und dann wird er für sein Verbrechen bezahlen." „Ich habe den Eindruck, dass Sie die Geschichte sehr persönlich nehmen." „Ich diene nur dem Gesetz", antwortete er. „Ich tue alles, was nötig ist, um einen Kriminellen vor Gericht zu bringen. Ich brauche alle Informationen, die Sie mir geben können. In welche Richtung ist Shane gegangen, als er Sie zurückgelassen hat?" Wieder umging sie eine direkte Lüge. „Er wollte versuchen, nach Florida zu kommen, also musste er irgendwie nach Denver zum Internationalen Flughafen und auf die Maschine gelangen. Lassen Sie die Flughäfen überwachen?" „Verdammt richtig, das tun wir. Aber wie will er da hinkommen? Wir haben überall Straßensperren errichtet." „In der Zeit, in der ich bei ihm war, hat er zwei Autos kurzgeschlossen und eines geklaut. Er kennt sich in technischen Dingen ganz gut aus." Kreiger lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete sie eingehend. Erleichtert hörte sie das Herannahen eines Autos. Sie war froh, dass sie nun jemand anderem Rede und Antwort stehen musste. Deputy Kreiger war gefährlich. Vielleicht hatte ja er die Belohnung für Jordans Ergreifung ausgesetzt. Lebendig oder tot. „Sie müssen mit uns zusammenarbeiten, Emily." „Selbstverständlich." „Und wir brauchen alle Informationen schnell, wirklich schnell." Zwar konnte sie verstehen, dass es schnell gehen musste, aber diese Eile schien ihr übertrieben. „Ich bin nicht sicher, ob ich Sie verstehe." „Ich muss mich über Sie wundern." Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. „Sie kennen sich doch schließlich aus, was das Wetter in den Bergen betrifft. Eine Kaltfront ist im Anzug. Sie haben für heute Nacht Schnee vorausgesagt. " Während er noch sprach, fiel ihr der Temperaturabfall auf. Schnee wäre ein Segen für Jordan, weil es dann schier unmöglich war, seine Spur weiterzuverfolgen. Und die Hubschrauber konnten nicht fliegen. Aber wie sollte er in der beißenden Kälte der Rocky Mountains überleben? Sie hätte mit ihm gehen sollen. Von hier aus konnte sie ihm nicht helfen. Pass auf dich auf, Liebster.
9. KAPITEL Jordan unternahm alles, um möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Dabei bewegte er sich nicht gerade anmutig durch die Berglandschaft. Mit seinem voll gepackten Rucksack kam er sich vor wie ein riesiger Jeep, der sich mit roher Gewalt seinen Weg durch den Wald bahnte. Äste krachten laut unter seinen Füßen. Er marschierte unter tief hängenden Zweigen hindurch und streifte Büsche, aus denen Vögel aufstoben. Er gehörte einfach nicht in diese Umgebung. Wenn er auf einer tropischen Insel ausgesetzt worden wäre, dann hätte er mit Leichtigkeit überleben können. Aber hier? Er kam sich vor wie ein gestrandeter Wal, ein Fisch ohne Wasser. Gegen Nachmittag betrat er einen Espenhain und hoffte, dass er nun wieder mehr Gefallen an der Landschaft finden würde. Er blickte hoch in die zitternden goldenen Blätter, konnte diesmal aber keinen Reiz darin entdecken. Ohne Emily waren die Espen nicht mehr als ein paar gelbe Bäume. Ohne sie schien nichts eine Bedeutung zu haben. Jordan hockte sich neben einem Bach auf den Boden, um sich auszuruhen und den Polizeifunk abzuhören. Er war jetzt nahe bei Aspen - für ihn ein weiterer völlig reizloser Ort – und so war der Funkkontakt besonders gut. „... Suche nach einem Mann, vermutlich bewaffnet und gefährlich. Wiederhole - die Geisel ist frei. Ihre körperliche Verfassung ist sehr gut." Erleichterung erfasste ihn und löste die Verkrampfungen in Schultern und Rücken. Emily war in Sicherheit. Zumindest im Augenblick. Jordan feierte diese erfreuliche Neuigkeit mit einem Schluck Wasser und einem Proteinriegel, der schmeckte wie Pappe mit Schokoladenüberzug. Mein Gott, er war erschöpft, er war es leid, wegzurennen, sich unter den Bäumen zu verstecken, damit die Suchtrupps ihn nicht entdeckten. In der Dunkelheit würde er sich schneller bewegen können, dann konnte er offene Felder überqueren und den genauen Anweisungen seines GPS-Gerätes folgen. „... eine Schneewarnung", fuhr die monotone Stimme aus dem Funkgerät fort. „Zehn bis fünfzehn Zentimeter Neuschnee werden für heute Nacht erwartet." Er bemerkte, dass dicke Wolken den Himmel verdunkelten. Kein Wunder, dass die goldenen Espenblätter nicht mehr geglänzt hatten. Die Sonne war schon fast verschwunden. „Bitte keinen Schnee." Er hasste die Kälte. Vorsichtig streckte er sich auf dem Boden aus, den Kopf gegen seinen Rucksack gelehnt. Er war so müde. Er sehnte sich nach Wärme, nach Schlaf. Wenn er nur für ein paar Sekunden die Augen schließen könnte ... Er wurde vom höllischen Lärm eines Helikopters geweckt. Unter den Blättern der Espen versteckt, war er so gut wie unsichtbar, vor allem jetzt, wo die Dämmerung bereits eingesetzt hatte. Es war beinahe schon dunkel. Sollten sie doch da oben herumfliegen. Sie würden ihn unter dem dichten Blätterdach niemals entdecken. Doch dann hörte er ein anderes Geräusch, und Adrenalin schoss durch seine Venen. Das Bellen von Hunden. Während er „ein paar Sekunden" die Augen geschlossen hatte, waren die Suchtrupps näher gekommen. Sie waren ihm auf den Fersen. Sobald sich der Lärm des Hubschraubers entfernt hatte, sprang Jordan auf die Füße und schulterte seinen Rucksack. Wie nah sie wohl waren? In dieser Gegend konnte das Echo eines Schreis über Meilen hinweg getragen werden. Er kletterte rasch den Hang hinauf, bis er einen Felsvorsprung erreicht hatte. Von diesem Punkt aus hoffte er, die Trupps zu sehen, bevor sie ihn entdeckten. Er starrte durch sein Fernglas in die immer dunkler werdende Gegend. Die leichte Frische der Septemberluft hatte sich in bittere Kälte verwandelt. Jordan stellte den Kragen der Lederjacke von Deputy Collins auf und zog sich eine Strickmütze über die Ohren.
Da waren sie! Er, konnte die Lichter der Taschenlampen sehen, die sich durch die Dunkelheit bewegten. Vier Stück. Die Bluthunde bellten erneut. Er versuchte, die Distanz abzuschätzen. Vermutlich waren sie nicht weiter als eineinhalb Meilen entfernt. Offenes Gelände erstreckte sich auf der anderen Seite. Sollte er das Risiko eingehen und in diese Richtung gehen, um seinen Vorsprung zu vergrößern? Oder sollte er hier auf dem Felsen bleiben, wo man seine Spur nicht so leicht verfolgen konnte? Er wünschte, Emily wäre bei ihm. Sie hätte gewusst, was zu tun war. Vorsichtig bewegte er sich am Abgrund entlang, unsicher, ob er die richtige Richtung gewählt hatte. Er hatte keine Zeit, das GPS-Gerät zu Rate zu ziehen. Noch ein paar Schritte. Lose Steine rutschten unter seinen Schuhen weg. Er stürzte. Noch bevor er so recht merkte, was da geschah, rutschte er auf Hintern und Rücken den Abhang hinunter. Das Schicksal hatte ihm die Entscheidung abgenommen. Am Fuße des Berges angekommen, sprang er auf die Füße. Er war nicht verletzt. Instinktiv wusste er, was zu tun war: Renn los, du Idiot! Er raste los wie ein Sprinter auf dem Weg zu olympischem Gold. Er rannte mitten durch das Feld, trampelte das hohe Gras nieder und hinterließ deutliche Spuren. Seine einzige Chance war Geschwindigkeit. Nachdem er seinen Vorsprung durch sein unbeabsichtigtes Nickerchen eingebüßt hatte, musste er Boden gutmachen. Wie gerne hätte er sich einfach ausgeruht. Er sauste unter ein paar Nadelbäumen hindurch einen Berg hinauf, wieder hinunter durch einen größeren Wald. Dort hielt er keuchend an. Seine Lungen schmerzten. In den letzten paar Tagen hatte er sich zwar akklimatisiert, aber er war trotzdem kein Einheimischer. Mit zum Himmel erhobenem Gesicht rang er um Sauerstoff. Er spürte, wie die ersten nassen Schneeflocken auf seinem Kinn schmolzen. Er konnte diese Kälte in Colorado nicht leiden. Nichts verabscheute er mehr als eisiges Klima. Aber jetzt war es sein Verbündeter. Schnee würde seine Spuren verwischen. „Komm schon", murmelte er. „Lass es schneien, lass es schneien." Sein Wunsch ging in Erfüllung. Innerhalb von Minuten hüllte ihn heftiger Schneefall ein. Die Flocken fielen so schwer und gleichmäßig wie Regen und bedeckten den Boden mit einer weißen, eisigen Schicht. Seine Jeans waren durchnässt, klebten an seinen Beinen, aber wenigstens die Stiefel blieben trocken. Offenbar war Deputy Collins vorausschauend genug gewesen, um sein Schuhwerk zu imprägnieren. Natürlich war ihm klar, dass seine Fußstapfen im Schnee mindestens so unübersehbar waren wie die anderen Spuren, die er bereits hinterlassen hatte. Er benutzte das GPS-Gerät, um eine Straße zu finden, wo er nicht so viele Fußspuren hinterlassen würde. Die feste, asphaltierte Straße, auf die er schließlich gelangte, fühlte sich gut an. Nun war er weniger als fünfzehn Meilen von Aspen entfernt. Er lief Gefahr, auf einen Kleinlaster voller Polizisten zu stoßen, beschloss aber, das Risiko einzugehen. Er würde die Scheinwerfer früh genug entdecken, um noch schnell ins Gebüsch springen zu können. Nun mach schon, du Blödmann. Er kam an den Punkt, wo sein Körper sich von alleine bewegte, ohne dasseres wirklich wahrnahm. Ein Fuß vor den anderen. Lauf weiter. Der fallende Schnee hüllte ihn in seltsame Stille ein, er fühlte sich wie in einem Vakuum. Nur ein einziges Mal sah er ein Auto und ließ sich in die Büsche fallen. Der Wagen fuhr weiter, ohne langsamer zu werden. An einer Abzweigung verließ er die Straße. Nun ging es wieder bergauf. Er musste einen Platz finden, wo er sich ausruhen konnte. Wo er sich in seinen Schlafsack und die Thermodecke hüllen konnte. Er musste es schaffen. Er musste einfach überleben. Für Emily. Sie wäre bestimmt stinksauer, wenn er erfror!
Emily konnte nicht schlafen. Sie saß in dem unordentlichen Gästezimmer in Spence' Wohnung am Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Sie machte sich Sorgen um Jordan. Hatte er irgendwo Unterschlupf gefunden? Einen geschützten Platz? Der Schneesturm ließ langsam nach. Er war heftig und sehr plötzlich gekommen, hatte aber nur ein paar Stunden gedauert. Ein schöner Auftakt zu einem Winter, der hoffentlich genug funkelnden Schnee bringen würde, um aus den Bergen ein Winterwunderland zu machen, in das Touristen mit in den Skistiefeln versteckten goldenen Kreditkarten kamen. In der Gegend um Aspen bedeutete Schnee ein gutes Geschäft, die Einheimischen begrüßten freudig die treibenden, eisigen Flocken. Aber Jordan hatte keine Ahnung, wie er sich schützen konnte. Sie hätte ihm erklären sollen, was man gegen Unterkühlung und Erfrierungen tat. „Verdammt." Sie ging nervös in dem kleinen Zimmer auf und ab, wobei sie jedes Mal über einen Baseballhandschuh und einen Skischuh steigen musste. Pookie wachte auf und sprang ihr in den Weg. „Ich muss eine Möglichkeit finden, ihm zu helfen." „Wuffz." Emily hatte ihre Rolle extrem gut gespielt. Nach der harschen Feindseligkeit von Deputy Frank Kreiger waren die Befragungen des Sheriffs von Pitkin County, der Landespolizei und der Nationalgarde geradezu ein Zuckerschlecken gewesen. Sie alle waren sehr um ihre Gesundheit besorgt und bedauerten zutiefst, dass sie so eine schreckliche Tortur über sich hatte ergehen lassen müssen. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Zu dieser „Tortur" musste man sie eher beglückwünschen. Von Kreiger einmal abgesehen, waren alle froh, dass ihr nichts passiert war. Außerdem nahmen sie ihr ab, dass Jordan sich nichts mehr wünschte, als nach Florida zurückzukehren. Warum sollten sie ihr auch nicht glauben? Es war ja schließlich die Wahrheit. Er hasste die Berge. Und dieser Schneesturm hatte seine Abneigung sicherlich noch verstärkt. Als sie vor dem Computer stehen blieb, prallte Pookie gegen ihre Waden. „Geh wieder schlafen, Pookie." „Wuffz, kläff." Das brauchte man ihm nicht zwei Mal zu sagen. Emily starrte auf den Bildschirm und drückte ein paar Tasten. Spence hatte ihr gezeigt, wie man E-Mails abrief. Sie wartete eine Weile, musste dann aber feststellen, dass ihre Mailbox noch immer leer war. „Bitte, Jordan", wisperte sie, „lass mich wissen, dass es dir gut geht. Du musst einfach überleben." Den Rest der Nacht verbrachte sie abwechselnd vor dem Fenster und dem Computer, bis sie vor Erschöpfung endlich einschlief. Emily spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Erschrocken zuckte sie zusammen. Ihre Träume waren so voll von Jordan gewesen, dass sie schon fast erwartete, ihn hinter sich zu sehen. Aber es war nur Spence. Sie ächzte wie eine schlecht geölte Tür. „Klingt hübsch", sagte er. „Ich schätze, du hast zu viel Zeit mit Pookie verbracht." Sie blinzelte und starrte hinaus auf die Hauptstraße von Cascadia und dann in den klaren blauen Himmel. Der Schnee türmte sich neben der Fahrbahn, der Rest war zu Matsch geschmolzen. Wie viele Stunden waren vergangen? Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war fast Mittag. Sofort wurde sie unruhig. Die Suchtrupps waren schon längst wieder unterwegs. Genauso die Hubschrauber. Seit Stunden hatte sie den Polizeifunk nicht mehr verfolgt. „Gibt es was Neues, Spence?" Er grinste. „Du hast Post." Sie stolperte zum Computer. Mit zitternden Fingern öffnete sie Jordans Nachricht.
„Mir geht's gut", stand da. „Emily, mach keine Dummheiten." Sie las die Worte ein Mal, zwei Mal. Dann rieb sie sich die Augen und las sie erneut. „Ist das alles?" „Er muss sparsam mit dem Akku umgehen", sagte Spence. „Da kann er wirklich keine Romane schreiben." Das mochte sie nicht recht glauben. Jordan hatte zu viel Spaß daran, kleine prägnante Kommentare abzugeben, die er als logisch empfand. „Wie kann ich antworten?" Spence drückte ein paar Tasten und ließ sie dann alleine. Sie begann zu schreiben. Lieber Jordan, hast du einen warmen, sicheren Platz gefunden, an dem du bleiben kannst? Du musst bei Schneefall sehr vorsichtig sein. Ich zähle dir jetzt die ersten Anzeichen einer Unterkühlung auf... Sie schrieb energisch, schilderte die Symptome und ihre Behandlung, einschließlich Schneeblindheit, aber auch Vorbeugemaßnahmen. Sie forderte ihn dringend auf, die Sonnenbrille zu tragen. Ebenso wie die warme Mütze und Handschuhe. Liebe Güte, sie klang wie ihre eigene Mutter! Dann gab sie ihm Anweisungen, wie er seine Wunden säubern und eine Infektion vermeiden konnte. Was deine Bemerkung betrifft, dass ich keine Dummheiten machen soll, kann ich trotz meines Versprechens nur antworten: Ha! Dann schilderte sie ihm die Gespräche mit der Polizei und endete mit: Deputy Kreiger ist unverhältnismäßig misstrauisch. War er übrigens in deine Frau verliebt? Sie schickte die Nachricht los und nickte dem Computer zu. „Wage es ja nicht, auf diesen Brief mit nur einem Satz zu antworten." Dann verließ sie das deprimierende kleine Zimmer und ging in die Küche, wo Spence am Tisch saß und in einer Zeitschrift blätterte. Ohne den Blick zu heben, sagte er: „Du siehst um einiges munterer aus." „Ich bin froh, dass es Jordan gut geht. Selbst so eine kurze Nachricht ist besser als gar keine." „Emily, ich schätze, es ist besser, wenn wir - du weißt schon wen - nicht mehr mit Namen erwähnen." „Du hast Recht." Sie musste vorsichtig sein, damit sie sich nicht irgendwann aus Versehen verplapperte. „Auf dem Anrufbeantworter sind Unmengen von Nachrichten für dich", sagte er. „Von Freunden, aber auch von ein paar Reportern und vom Sheriff. Ich schlage vor, du rufst ihn zurück und hebst dir die andern auf." „Wieso?" „Weil du dich angeblich noch von dem totalen Erschöpfungszustand erholen musst. Schon vergessen? Das ist schließlich der Grund, warum du hier bist." Sie warf einen Blick in den Kühlschrank. Der minimalistische Inhalt - Bier und Wurst war nicht ergänzt worden. „Du hast ja gar nichts zu essen. Ich gehe in den Supermarkt und hole uns was." „Das wirst du nicht." „Aber er ist doch direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite."
Spence knickte ein Eselsohr in die Seite, die er gelesen hatte, und legte die Zeitschrift auf den Küchentisch. „Du bist angeblich krank." „Ja, aber..." „Also gehst du nicht in den Supermarkt. Und empfängst keinen Besuch von Freunden. Sprich mit so wenigen Leuten wie möglich. Je weniger du sagst, desto besser." Er stand auf und nahm den weißen Kittel vom Kleiderhaken neben der Tür. „Ich habe du weißt schon wem versprochen, dass ich auf dich aufpasse, auch wenn das bedeuten sollte, dass ich dich zu deinem eigenen Besten in den Schrank einsperren muss." Sie starrte ihn an. Genau wie ihre großen Brüder schien Spence ihr mit Vorliebe vorzuschreiben, was sie zu tun hatte. In diesem Fall jedoch hatte er Recht. Sie musste jeden als möglichen Verdächtigen betrachten und sich möglichst unauffällig benehmen. „Ich werde so tun, als ob es mir schlecht geht", versprach sie. „Ich habe genug Kranke gepflegt um zu wissen, wie das aussieht." „Ich muss wieder in die Praxis", sagte er. „Hast du den Polizeifunk abgehört?" Er nickte. „Die Suchtrupps und die Helikopter sind wieder gestartet, aber sie haben keine konkrete Spur." „Gut." „Übrigens, Sandra Lomax hat ihr Baby bekommen Ein Mädchen. Fünfeinhalb Pfund. Beiden geht's gut, aber Sandra hatte einen Kaiserschnitt, deshalb muss sie noch eine Woche in Denver bleiben." Emilys Stimmung hob sich augenblicklich. Inmitten von Sorgen und verrückten Visionen ging das Leben einfach weiter. Ein Baby! Was für ein Segen! „Wie heißt sie?" „Diana Marie." Spence ging zur Tür, die nach unten führte. „Vergiss nicht, du bist krank." Diana Marie Lomax: Emily berührte automatisch ihren eigenen flachen Bauch. Mit zweiunddreißig hatte sie noch einige Jahre Zeit, Kinder zu bekommen, aber sie fühlte sich mehr als bereit dafür. Ihre beiden Brüder hatten bereits welche, weshalb Emilys Mutter nicht das Bedürfnis verspürte, ihre Tochter unter Druck zu setzen. Der Familienname war durch ihre Neffen und Nichten gesichert. Nein, die Sehnsucht kam ganz tief aus ihr selbst. Ein Baby. Ein süßes, anschmiegsames Neugeborenes mit perfekten kleinen Fingern und Zehen. Oh Gott, sie wollte ein Kind haben, wollte sich ausgefüllt fühlen, ein Kind mit ihrer Milch nähren ... „Wäre vielleicht keine schlechte Idee, erst mal einen Vater zu finden", murmelte sie vor sich hin. Das war typisch für ihr verkorkstes Leben: Der erste Mann, für den sie sich seit Jahren interessierte, war ein entflohener Sträfling. Mit einer Flasche Wasser in der Hand, schlenderte sie zurück zum Computer. Keine Mail. Dann ging sie in Spence' Wohnzimmer und hörte den Anrufbeantworter ab. Yvonne sagte, sie hoffe, es ginge ihr besser, und bot an, sich um Pookie zu kümmern. Dann kamen drei Anrufe von Reportern, die Emily sofort löschte. Der Sheriff wollte mit ihr sprechen. Zwei andere Freunde aus dem Rettungsdienst boten an, ihr eine Suppe vorbeizubringen. „Ja!" rief Emily. „Anständiges Essen. Bringt die Suppen vorbei!" Die Stimme des letzten Anrufers war ihr völlig unbekannt. „Hallo Miss Foster. Mein Name ist Brian Afton. Meine Schwester Lynette ist das Opfer von Jordan Shane. Ich möchte Ihnen meine Anteilnahme ausdrücken. Es tut mir Leid, dass Sie in diese schreckliche Lage gebracht worden sind. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, dann rufen Sie mich bitte an." Sie drückte auf Wiederholung. Brian Afton war der Haupterbe von Lynette. Ihm gehörten zwei Skihütten. Warum machte er sich die Mühe, sie anzurufen? Nun, vermutlich war Brian Afton ein netter Kerl, der sich für alles, was mit dem Tod seiner Schwester zusammenhing, irgendwie verantwortlich fühlte. Vielleicht konnte er ihr einen Hinweis geben.
Ihr erster Impuls war, ihn zurückzurufen und ein Treffen zu vereinbaren. Vielleicht würde es ihr gelingen, ein paar Informationen zu ergattern, die die Polizei nicht erfahren hatte. Aber zuerst musste sie Jordan fragen. Sie ging zurück zum Computer, folgte den Anweisungen von Spence und tippte: „Brian Afton hat angerufen. Soll ich mit ihm sprechen?" Sie klickte auf „senden" und verließ das Zimmer, um den Sheriff und Yvonne zurückzurufen und um sich für die Suppen zu bedanken. Als sie zurückkam, hatte sie Post. Jordan schrieb: Sprich nicht mit Brian Afton. Deputy Kreiger in meine Frau verliebt? Wieso glaubst du das? Ich werde bis heute Abend nicht online sein. Muss mir die Beine vertreten. Muss mir die Beine vertreten? War das vielleicht seine Art von Flüchtlings-Humor? In ihrer Antwort gab sie eine genaue Beschreibung des Gesprächs mit Deputy Kreiger, erwähnte seine Rachsüchtigkeit und die Schwärmerei über Lynette, die er als „die schönste Frau, die ich je gesehen habe" bezeichnet hatte. Emily hielt inne, starrte auf die Worte auf dem Bildschirm. Dann schrieb sie. Wenn ich deine Frau kennen gelernt hätte, hätte ich sie vielleicht wegen ihrer Schönheit und ihres Reichtums gehasst. Aber auf eine tote Frau kann ich doch nicht eifersüchtig sein, oder? Sie ist nicht mehr da. Ermordet. Aber Lynette war nicht wirklich fort. Ihr rastloser Geist wirkte noch nach dem Tod, beeinflusste durch Erinnerungen und unerfüllte Wünsche so viele andere Leben. Was wollte sie? Suchte sie nach Gerechtigkeit? Forderte sie Rache? Oder wollte sie einfach in Frieden gelassen werden? Niemand würde es je wissen. Sie dachte sowohl an ihren Vater als auch an Lynette, als sie schrieb: Es ist merkwürdig, wie die Toten bei uns bleiben. Wir leben unser Leben auf Erden und wollen, dass sie stolz auf uns wären. Aber sie schweigen. Ich habe in den Himmel geschaut, auf der Suche nach Engeln, aber ich habe ihre Flügel nie sehen können. Nicht einmal eine Feder. Ich schaue noch immer nach oben, weil ich hoffe, etwas erkennen und ein letztes Mal Auf Wiedersehen sagen zu können. Sie klickte auf „senden" und lehnte sich in dem quietschenden Drehstuhl zurück. Sie stellte sich vor, wie ihre Worte durch Raum und Zeit flogen. Vielleicht konnte sie ihrem Vater so auch eine Nachricht zukommen lassen. Ihm schreiben, was in ihrem Leben geschah. Ihn fragen, was sie wegen Jordan tun sollte. Sie war sich ganz sicher, dass er sie bitten würde, Jordan zu helfen, dass er sie auffordern würde, etwas zu unternehmen, anstatt nur herumzusitzen. Aber sie hatte versprochen, keinen Wirbel zu machen. Und so verbrachte Emily den Rest des Tages im Morgenmantel und spielte ihren Freunden, die mit Essen vorbeikamen, vor, dass sie krank sei. Nachdem sie die Besucher nicht in ihrem voll gestopften Zimmer empfangen wollte, hatte sie es sich im Wohnzimmer in einem Stuhl bequem gemacht und sich eine Häkeldecke über die Beine gelegt. Sie ließ alle Vorhänge bis auf einen zugezogen und stellte das Telefon ab, damit sie nicht in Versuchung kam, ranzugehen. Yvonne war die Einzige, die sie nach den Einzelheiten ausfragte, aber Emily blieb bei ihrer Standardantwort: „Ich glaube, dass er unschuldig ist, aber es war auf jeden Fall falsch, auszubrechen ..."
Yvonne nahm Pookie mit nach Hause, damit er mehr Auslauf hatte als in dem kleinen Garten von Spence. Am Nachmittag kam der Sheriff. Sie kannte Sheriff Litvak nicht gut genug, um zu wissen, ob sie ihm trauen konnte oder nicht. Er war immer sehr nett gewesen, lächelte genauso beflissen wie ein Politiker, der nach einem Amt strebte. Aber zumindest war klar, dass er die Ermittlungen zu Lynette Afton-Shanes Mord völlig verbockt hatte. „Wie geht es Ihnen, Emily?" Sie sprach leise, versuchte, schwach zu klingen. „ Ich bin sehr erschöpft." „Es dauert nicht lange", versprach er. „Ich habe ein paar Fragen über den Vorfall mit Deputy Ed Collins." Ob er wohl die Belohnung erwähnen würde? Sollte sie ihm davon erzählen? Emily biss sich auf die Lippen, um nichts Falsches zu sagen. „Ja?" „Deputy Collins behauptet, dass er bei der Verfolgung des Flüchtigen verletzt wurde. Ist das Ihrer Erinnerung nach so gewesen?" Sie würde es nicht gerade Verfolgung nennen. Collins hatte von einem Felsen aus auf einen unbewaffneten Mann geschossen. Der Gedanke an seine Feigheit machte sie wütend, nervös zappelte sie unter der Häkeldecke mit den Beinen. „Ich kann nur sagen, dass Collins seinen Job bestmöglich erledigte." „Und der Mann war auf der Flucht. Ist das richtig?" „Ja", sagte sie. „Was haben Sie getan?" „Ich habe um Hilfe geschrien", antwortete sie. „Sheriff, gibt es einen Grund dafür, dass Sie mir diese Fragen stellen?" „Reine Routine." Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass „reine Routine" immer als Antwort gegeben wurde, wenn man eigentlich meinte „kein Kommentar". Sheriff Litvak hatte etwas zu verbergen. Wenn einer der Zeitungsreporter Wind von der Belohnung bekam, dann hätte der Sheriff alle Hände voll zu tun, den Ruf seines Polizeireviers wieder herzustellen. „Als Sie die Verletzungen des Deputy behandelt haben", fuhr er fort, „hat er da freiwillig seine Waffen abgelegt?" „Ja. Der Gürtel hat ihn gestört." „Ungeachtet der Tatsache, dass ein entflohener Sträfling in der unmittelbaren Umgebung war?" „Ed hatte Schmerzen. Er schluckte ein paar Kopfschmerztabletten und schlief ein." Emily gab sich verschlossen, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen. „Ich kann nicht sagen, was er sich dabei gedacht hat." „Und dann hat Shane Sie wieder als Geisel genommen." „Ja", sagte sie. „Warum hat er nicht das Gewehr von Collins mitgenommen?" Die Antwort schoss durch ihren Kopf: Weil er kein wahnsinniger Killer ist. Weil er niemanden verletzen will. Weil Sie sich getäuscht haben, Sheriff Litvak. Jordan Shane hat seine Frau nicht umgebracht. Aber alles, was Emily sagte, war: „Ich weiß es nicht." Diesen Satz wiederholte sie noch ein paar Mal, bis der Sheriff endlich ging. Er lächelte nicht, als er das Zimmer verließ, woraufhin Emily beschloss, ihn auf die Liste der Verdächtigen zu setzen, die nun aus Deputy Kreiger, Brian Afton und dem Skilehrer Sean Madigan bestand, von dem sie allerdings nicht sonderlich viel wusste. Nachdem sie gegessen hatte, richtete sie sich vor dem Computer ein und wartete auf Jordans E-Mail. Es war dreiundzwanzig Uhr, als er endlich antwortete. „Alles okay", schrieb er. „Morgen beginne ich meine Ermittlungen. Ich vermisse dich."
Hastig schrieb sie zurück. „Vermisse dich auch. Sheriff Litvak, könnte er ein Verdächtiger sein?" Obwohl er in weniger als fünfzehn Minuten antwortete, kam ihr das Warten endlos vor. Sie öffnete seine E-Mail, in der stand: „Forsche nicht weiter nach. Du hast es versprochen. Melde mich morgen wieder." Aber wie konnte er von ihr erwarten, dass sie nichts unternahm? Es war schrecklich, so passiv zu sein. Sie konnte nicht die ganze Zeit tatenlos herumsitzen. Vier Tage lang gelang es ihr, so zu tun, als ob sie sich erholen müsse. Sie bekam weitere EMails von Jordan, in denen er behauptete, dass es ihm gut ging. Ihr hingegen ging es überhaupt nicht gut. Larfgsam fühlte sie sich ernsthaft klaustrophobisch. Seit fünf langen Tagen war sie nicht aus dem Haus gekommen. In ihr hatte sich so viel Energie aufgestaut, dass man damit den Strom einer ganzen Stadt hätte herstellen können. Sie konnte keine Sekunde länger so tun, als ob sie krank wäre. Und warum sollte sie auch? Inzwischen war die Suche so gut wie eingestellt worden. Die Staatspolizei und die Nationalgarde hatten das Gebiet verlassen. Die Leute auf der Straße erzählten sich, Jordan habe Colorado verlassen und befände sich auf einer unbewohnten Insel vor der Küste Floridas. Das Telefon klingelte. „Hallo?" „Emily? Hier spricht Ed Collins." Dass sie sich sogar darüber freute, von diesem unhöflichen, widerlichen Mann zu hören, zeigte nur, wie sehr sie sich langweilte. „Wie geht es Ihnen, Ed?" „Mein Knie ist operiert worden. Es tut nicht mehr so weh, aber ich kann noch nicht laufen. Ich bin im Krankenhaus." Sie beneidete seine Physiotherapeuten nicht gerade. „Ich freue mich, dass es Ihnen besser geht." „He, hören Sie", rief er ruppig. „Ich wollte Ihnen danken. Für die Erste Hilfe und ... das andere." „Das andere?" „Sie wissen schon, als Sie mit dem Sheriff gesprochen haben. Sie hätten mich ganz schön in Schwierigkeiten bringen können." Interessant. Spielte Collins auf die Belohnung an? Auf sein schießwütiges Benehmen? Oder ging es um etwas völlig anders? Es konnte nicht schaden, ein paar Fragen zu stellen. „Ich könnte Sie doch eigentlich einmal besuchen? Wie wäre es mit heute Nachmittag?" „Ja, klar. Warum nicht?" Emily legte auf und merkte, dass ihre Lippen sich zu einem Grinsen verzogen hatten. Freiheit! Sie brach das Versprechen, das sie Jordan gegeben hatte, ja nicht wirklich. Einen alten Freund am Krankenbett zu besuchen konnte man ja wohl kaum als Ermittlungen bezeichnen. Sie hinterließ Spence eine Nachricht, dass sie jemanden im Krankenhaus in Aspen besuchen wolle, schnappte ihre Jacke, rannte die Treppen hinunter und durch die Tür auf die Straße. Ihr uralter Landrover stotterte ein paar Mal, bevor der Motor ansprang, doch als sie die Straße erreichte, schnurrte das gute Stück wie geschmiert. Die einstündige Fahrt von Cascadia nach Aspen führte durch eine wunderschöne Berglandschaft. Heute erschien ihr der Blick sogar noch spektakulärer als sonst. Der Schnee hatte die Blätter von den Bäumen gefegt. Man sah nackte Äste und hinter dem dunklen Wald raue Felsen aufragen. Die Berggipfel mit den weißen Spitzen verkündeten, dass die Skisaison in etwas weniger als einem Monat beginnen konnte. Es fühlte sich gut an, am Leben zu sein, sich zu bewegen. Nachdem sie fünf Tage lang eingesperrt gewesen war, schienen ihr die Farben satter als je zuvor. Jedes Geräusch war wie eine Melodie. Sie drehte das Radio voll auf und sang ein Lied von Billy Joel mit. Etwa acht Meilen vor Aspen hielt sie vor einem Stoppschild und stellte die Musik leiser. Hinter sich hörte sie das Dröhnen eines Motorrades.
Emily schaute in den Rückspiegel. Der Fahrer war komplett in schwarzes Leder gekleidet und trug einen schwarzen Helm mit getöntem Visier. Er sah aus wie ein gesichtsloser Außerirdischer. Als sie sich in den Verkehr einreihte, blieb er dicht hinter ihr. Sie spürte ein Prickeln im Nacken und dachte an Jordans Warnungen. Schließlich war der Mörder noch auf freiem Fuß. Womöglich war sie in größter Gefahr. Doch wahrscheinlich folgte ihr der Motorradfahrer nur, weil er genauso wie sie in die Stadt wollte. Sie beschloss, einen kleinen Umweg zu fahren. An der nächsten Kreuzung bog sie rechts ab. Der Motorradfahrer folgte ihr. Zufall? Emily bog nach links ab, dann wieder nach rechts. Der Gesichtslose blieb hinter ihr. Sie hielt nach einer Möglichkeit zu wenden Ausschau, um wieder auf eine befahrenere Straße zu kommen, aber sie befand sich auf einer schmalen Serpentinenstrecke, die sich an teuren Villen mit beeindruckenden Toren vorbei höher und höher den Berg hinaufschlängelte. Sie starrte in den Rückspiegel. Der Motorradfahrer hatte das Visier hochgeklappt. Sie konnte sein Gesicht sehen. „Oh mein Gott!" Es war Jordan.
10. KAPITEL Jordan lenkte die Harley um den geparkten Landrover herum auf die Fahrerseite. Emily starrte zu ihm hoch. Ihre grünen Augen waren vor Erstaunen aufgerissen. „Du bist es", sagte sie atemlos. „Du bist es wirklich." „Fahr mir nach", befahl er. „Hier sind wir nicht sicher." Er ließ das Motorrad aufheulen und fuhr voraus. Eigentlich hätte er wütend sein sollen, dass sie seine Warnungen ignoriert und sich in eine solche Gefahr begeben hatte, aber er konnte nicht anders, er war glücklich, sie zu sehen. Er hatte sie vermisst, ihr Lachen, ihren Körper, das Gefühl ihres pochenden Herzens an seiner Brust. Er hatte ihr Gesicht vermisst. Je länger er Emily kannte, umso schöner wurde sie für ihn. Dieses hübsche Coloradomädchen mit Jeansjacke, weißem Rollkragenpulli, breitem Gürtel und Wanderstiefeln strotzte nur so vor Vitalität. Eine einzelne Strähne ihres lockigen blonden Haares fand er aufregender als einen Bilderbuch-Sonnenuntergang in den Bergen. Er leitete sie aus dem Villen-Viertel heraus, wo vermutlich an jedem Tor eine Videokamera installiert war. Dann fuhr er durch ein Waldgebiet und bog so oft ab, bis er sich sicher sein konnte, dass niemand ihnen folgte. In den letzten fünf Tagen war die aktive Suche eingestellt worden. Was blieb, war erhöhte Alarmbereitschaft. Jordan hatte dafür gesorgt, dass man glaubte, er habe die Stadt verlassen, indem er per Computer ein paar gefälschte Kreditkartengeschäfte in Texas getätigt hatte. Die Behörden, einschließlich des FBI, gingen solchen Hinweisen nach. Jordan lenkte das Motorrad auf einen Rastplatz mit einem großen Holztisch für Picknicks. Kein anderes Auto war zu sehen. Bevor er absteigen konnte, rannte Emily schon auf ihn zu. Sie blieb einen Schritt von ihm entfernt stehen und strahlte übers ganze Gesicht. „Sieh dir das an!" rief sie. „Schwarzes Leder und eine Harley." „Stimmt." Er schwang sein linkes Bein über das Motorrad. Was wollte sie ihm damit sagen? Hatte er etwas verpasst? Vorsichtig berührte sie die Stelle, wo sie ihn genäht hatte. „Ist schon fast verheilt", verkündete sie. „Das habe ich gutgemacht. Du siehst toll aus, Jordan. Wie ein richtig gefährlicher Abenteurer." „Ich fühle mich eher wie ein Mann, der zu lange auf seine Frau verzichten musste." Er nahm ihre Hand, zog sie in seine Arme und küsste sie auf den Mund. Sie schmeckte süßer als frische Erdbeeren. Ihr geschmeidiger Körper presste sich an ihn und weckte umgehend Erinnerungen an ihre leidenschaftliche Nacht. Er spürte, wie er hart wurde, und schob sie hastig auf Armeslänge von sich. Verträumt murmelte sie: „Ich wusste schon immer, dass du ein gut aussehender Kerl bist, aber du hattest diesen seltsamen Computer-Freak-Charme. Sehr süß und intelligent..." „Emily, kannst du mir erklären, was du hier machst?" „... ich meine, jetzt siehst du wie ein ganz schön gefährlicher Kerl aus, ein moderner Elvis, der Albtraum einer jeden Mutter." Sie lächelte ihn verschmitzt an. „Hätte nie gedacht, dass ich es gut finden würde, wenn du ganz in sexy schwarzem Leder durch die Gegend fährst." „Es ist praktisch. Leder ist der beste Schutz gegen die verdammte Kälte in Colorado." „Es ist vernünftig." Lachend warf sie ihren Kopf in den Nacken, das Sonnenlicht tanzte in ihrem Haar. „Das klingt genau nach dem Jordan, den ich kenne. Erzähl mir, wie du zu der Harley gekommen bist." „Ich habe sie im Internet gekauft, beim Händler abgeholt und bin losgefahren." „Ich dachte, wenn du mit Kreditkarte bezahlst, könnte die Polizei deine Spur verfolgen." Er machte sich gar nicht erst die Mühe, ihr das komplexe Hacker-System zu erklären, das ein halbes Dutzend Mal hin und her sprang, bis es unmöglich war, den Ursprung zu finden. „Belassen wir es dabei, dass ich mein eigenes Geld ausgebe. Am Ende des Monats wird
meine Schwester, die die Buchhaltung für meine Firma macht, herausfinden, was ich tue. Bis dahin aber gibt es überhaupt keinen Hinweis." „Warum ausgerechnet eine Harley?" Nur eine Frau konnte die Wahl eines solch herrlichen Motorrades hinterfragen, das sowohl auf den Straßen als auch im Gelände hervorragend funktionierte. Jeder Mann sollte mindestens einmal im Leben eine Harley gefahren sein. Er klopfte gegen seinen schwarzen Helm. „Lass es mich so ausdrücken, ich habe sie einfach gebraucht. Und dieser Helm ist die beste Verkleidung der Welt. Ich kann alles sehen, aber niemand sieht mich." „Auf jeden Fall steht dir dieser hautenge Lederanzug wunderbar, mein Lieber." „Danke, Ma'am." Jordan musste sich zwingen, nicht zu grinsen. Er wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass es in Ordnung war, Spence' Apartment zu verlassen und alleine durch die Gegend zu fahren. „Wieso bist du in Aspen?" „Warte mal", sagte sie. „Woher wusstest du überhaupt, wo ich bin?" Er zog einen Beeper aus der Tasche und zeigte ihn ihr: „Spence hat mich informiert." „Eine Sekunde! Kann man Telefonanrufe nicht zurückverfolgen?" „ Er hat mich per E-Mail kontaktiert. Sein Computer hat sozusagen mit meinem Computer gesprochen, das Signal kam aus einem digitalen Empfänger und ..." Ihre Augen begannen glasig zu werden, weswegen er beschloss, sich kurz zu fassen. „Er hat das Telefon nicht benutzt. Jetzt bist du dran. Was soll das heißen, du willst einen kranken Freund im Krankenhaus besuchen?" „Macht es dir was aus, ein bisschen zu laufen, während wir reden? Es kommt mir seltsam vor, mit dir zusammen zu sein und nicht um mein Leben laufen zu müssen." „Die Gefahr ist noch nicht vorüber", erinnerte er sie. Der schlimmste Fehler, den er machen konnte, war, sich sicher zu fühlen. „Ich bin noch immer auf der Flucht." Ihre Augen verloren etwas von dem mutwilligen Glitzern. „Ich wollte nicht gedankenlos sein, aber ich bin so froh, dich zu sehen. Hast du meine ganzen E-Mails bekommen?" „Ja." Seite um Seite hatte er über ihre Kindheit und den tragischen Tod ihres Vaters gelesen. Er hatte sie als schüchternes kleines Mädchen in Twin Bluffs vor sich gesehen, das in dem Schrein, den seine Mutter für ihren toten Mann errichtet hatte, gefangen war. Er hatte gelesen, wie sie beschlossen hatte, Krankenschwester zu werden, genauso wie ihr Vater Arzt geworden war. Jordan hatte ihren Schmerz geteilt, ihre Ängste und auch ihre Träume. „Danke", sagte er. „Deine Worte haben mich immer wieder daran erinnert, warum ich unbedingt ein freier Mann bleiben muss. Du hast mir ein Geschenk gemacht." „Was für eines?" „Du hast mir den Schlüssel zu deiner Welt gegeben." Sie kuschelte sich in seine Arme. „Und zu meinem Herzen." Jordan wusste nicht, was er getan hatte, um ihre Liebe zu verdienen, aber das hinderte ihn nicht daran, sie dankbar anzunehmen. Emily war etwas ganz Besonderes. Er hatte viel durchmachen müssen, um sie zu finden, und er würde alles dafür tun, dass ihr nichts passierte. Leise murmelte er in ihr Ohr: „Sag mir, warum du in Aspen bist." „Weil ich mich in Spence' Wohnung zu Tode gelangweilt habe." Seufzend machte sie sich von ihm los. Sie vermied es, ihn anzusehen, und schlenderte zum Tisch. „Ich hasse es, krank zu sein, aber nur so zu tun, ist sogar noch schlimmer. Ich will dir helfen, Jordan. Ich will etwas unternehmen." „Wer ist dieser kranke Freund in der Klinik?" Sie kletterte auf die Bank und setzte sich auf den Picknick-Tisch. „Deputy Ed Collins hat mich angerufen. Er bedankte sich bei mir, dass ich ihm keine Schwierigkeiten gemacht habe, als ich mit dem Sheriff sprach, und ich dachte mir, dass er sich vielleicht auf das Kopfgeld bezieht und dass ich, wenn ich ihn besuche, vielleicht herausfinden kann, wer die zehntausend Dollar auf dich ausgesetzt hat."
Jordan überlegte. Eine wichtige Spur bei seinen Nachforschungen war die Belohnung auf jeden Fall. Möglicherweise war dafür dieselbe Person verantwortlich wie für die Inszenierung seiner Flucht aus dem Flughafen von Aspen. Und diese Person würde auf jeden Fall etwas mit dem Mord zu tun haben. Aber er wollte nicht, dass Emily sich einmischte. „Warum sollte Collins dir etwas darüber verraten?" „Vielleicht ist er wieder zur Vernunft gekommen, und ihm ist klar geworden, dass ich sein elendes Leben gerettet habe." Ihre hübschen grünen Augen blickten ihn ernst an. „Ich muss das tun, Jordan. Ich will dir helfen." Er war ernsthaft versucht, ihr Angebot anzunehmen. Er hatte seit fünf Tagen Nachforschungen angestellt und sich einen Standort eingerichtet, von dem aus er operieren konnte, ohne dem Mörder auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein. Es gab zu viele Fragen, die man nur persönlich stellen konnte. Er wollte aber nicht, dass Emily das übernahm. „Ich kann dich dieser Gefahr nicht aussetzen." „Niemand ahnt, dass wir zusammengehören", sagte sie. „Und ich bin bisher in keiner Weise bedroht worden." „Weil ich dafür gesorgt habe, dass du bei Spence sicher bist", erinnerte er sie. „Ich werde nur dieses eine Gespräch führen. Mit Collins. Wirklich, Jordan." Er setzte sich neben sie auf den Tisch und blickte in ihr Gesicht. Es strahlte Klugheit und viel Gefühl aus. Emily war durchaus in der Lage, ein Gespräch mit einem Idioten wie Ed Collins zu führen, ohne Probleme zu bekommen. Gegen seine Überzeugung gab er nach. „Gut, aber nur dieses eine Mal." Emily folgte Jordans Anweisungen und parkte in einer Straße in der Nähe des Krankenhauses. Sie schaute auf die Uhr. Um exakt Viertel vor zwei, also in einer halben Stunde, sollte sie Jordan im obersten Stock des Parkhauses treffen. Für den Fall, dass er dort nicht auf sie wartete, hatte er ihr weitere Anweisungen gegeben. Sie fühlte sich wie eine Spionin, als sie auf den Haupteingang des Krankenhauses zulief. Ihr Schritt war leicht und beschwingt. Endlich war sie in der Lage, etwas Sinnvolles zu tun. Wenn sie erst einmal mit Collins gesprochen hatte, würde Jordan endlich einsehen, dass sie ihn bei seinen Nachforschungen sehr wohl unterstützen konnte. Und dann würde sie sich nicht länger in dem voll gestopften Gästezimmer bei Spence verstecken müssen, sondern mit dem gefährlich aussehenden Abenteurer auf seiner nagelneuen Harley davonbrausen. Emily legte ein freundliches Besucherlächeln auf, achtete allerdings darauf, dass sie nicht zu glücklich wirkte. Es wäre wohl etwas unpassend gewesen, singend und kichernd durch die sterile Empfangshalle zu hüpfen. Zwar hatte sie die Schwester an der Rezeption noch nie zuvor gesehen, trotzdem entschied sie sich dafür, sich vorzustellen und vielleicht auch hier noch Neuigkeiten zu erfahren. „Mein Name ist Emily Foster, Rettungssanitäterin in Cascadia." „Ich habe schon von Ihnen gehört." Die junge Frau hinter dem Schalter erhob sich. Sie war fast einen Meter achtzig groß und athletisch gebaut, eine typische Blondine aus Colorado. „Sie sind die Frau, die als Geisel genommen wurde." „Das stimmt. Ich möchte gerne Deputy Collins besuchen. Hat er schon viel Besuch gehabt?" „Fast gar keinen", gestand die Krankenschwester. „Das ist ziemlich merkwürdig. Normalerweise ist die Hölle los, wenn ein Polizist beim Einsatz verletzt wird." „Collins ist ein wenig schwierig", sagte Emily. Die Blonde verdrehte die Augen. „Das können Sie laut sagen. Wir haben ihn nach kurzer Zeit verlegt, weil er allen anderen Patienten so auf die Nerven ging. Jetzt liegt er in einem Einzelzimmer. Nr. 201, den Gang entlang rechts."
„Ich glaube, er ist mit dem Polizisten befreundet, diesem Extrem-Skifahrer. Wie heißt er noch mal? Kreiger?" „Kreiger, ja richtig. Er war ein paar Mal hier. Gut aussehender Kerl, aber ein bisschen klein." Die Krankenschwester beugte sich vertraulich nach vorne. „Erzählen Sie mir von Jordan Shane. Nach dem Foto in den Zeitungen zu urteilen sieht er ziemlich gut aus." „Um ehrlich zu sein", sagte Emily, „ist er einer dieser Computer-Freaks." Dann winkte sie kurz und lief den Gang hinunter zu Collins' Einzelzimmer. Der Deputy saß in seinem Bett und starrte finster auf die geschlossenen Vorhänge. Sein verletztes Bein lag in einem unförmigen Gips. „Hallo Ed." „Sie sind aber verdammt schnell." Seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Lächeln. „In Ihrem Leben scheint nicht viel zu passieren, wie?" „Geht so." Sofort übernahm die Krankenschwester in ihr die Führung. Sie lief zum Fenster und riss die Vorhänge auf, woraufhin der quadratische Raum sofort von strahlendem Sonnenlicht erfüllt wurde. Sie hob die Taschentücher auf, die er auf den Boden geworfen hatte. Auf dem Nachttisch stand ein kleiner Strauß halb verwelkter Nelken, an denen eine Karte von seinen Kollegen hing. Offenbar war Collins nicht gerade der Beliebteste in seiner Einheit. „Ich nehme an, dass die Operation gut gelaufen ist", sagte sie. „Machen Sie Fortschritte bei der Krankengymnastik?" „Sie müssen ein ganz schön schlechtes Gewissen haben, wenn Sie so schnell hierher kommen." „Ein schlechtes Gewissen?" „Diese Verletzung ist Ihre Schuld", sagte er. „Sie haben mich abgelenkt, als ich den Flüchtigen verfolgen wollte." Emily ging schnell zur Tür und schloss sie. Dann baute sie sich am Fußende seines Bettes auf. „Wir beide wissen, dass es so nicht gewesen ist, Ed. Sie haben ohne Vorwarnung geschossen. Sie haben nichts getan, um mich, die Geisel, zu schützen. Sie haben Ihr WalkieTalkie im Auto gelassen. Und Sie sind aus eigener Schuld den Berg hinuntergestürzt." „Kann sein." „Nichts von dem, was Sie getan haben, war auch nur annähernd korrektes Vorgehen." Dann wagte sie, bestärkt durch sein Benehmen und die Tatsache, dass er nicht gerade wie ein Held behandelt wurde, ihre Vermutung zu äußern. „Es ist nicht das erste Mal, dass Sie was vermasselt haben, nicht wahr?" „Niemand ist perfekt. Sie haben keine Ahnung, wie hart es ist, Polizist zu sein." „Und noch viel härter, ein guter Polizist zu sein." Sie blickte auf die Uhr. Sie hatte nur noch sechzehn Minuten bis zum Treffen mit Jordan. Wenn sie ihm anständige Informationen bieten wollte, dann hatte sie keine Zeit, lange um den heißen Brei herumzureden. „Sie sind vermutlich der Ansicht, dass Sie zu viel arbeiten und zu wenig verdienen." Sein Nacken versteifte sich. An seinem Hals wurden die Sehnen sichtbar. Doch wirkte er in seinem gemusterten Krankenhauskittel nicht wirklich einschüchternd. „Worauf wollen Sie hinaus?" „Sie haben eine Belohnung erwähnt. Zehntausend Dollar. Ich möchte wissen, wer das Geld bezahlt." „Warum sollte ich Ihnen das verraten, Schwesterlein?" „Wenn Sie es nicht tun, verspüre ich vielleicht das drängende Bedürfnis, den Sheriff anzurufen und ihm zu erzählen, was auf dem Mammoth Rock wirklich passiert ist." Jetzt hatte sie ihren Trumpf ausgespielt. Sie wartete ab, ganz sicher, dass der Deputy ihr die gewünschte Information geben würde. Collins war viel zu mies, um sich irgendjemandem auf der Welt gegenüber loyal zu verhalten, auch nicht dem Mistkerl gegenüber, der die Belohnung ausgesetzt hatte. „ Kreiger hat mir davon erzählt", sagte er. „Aber sein Geld ist es nicht. Frank Kreiger ist nicht reich."
„Warum haben Sie ihm dann geglaubt?" „Kreiger hat Freunde, verstehen Sie. Er ist Skifahrer." Collins presste die dünnen Lippen zusammen. „Mehr werde ich nicht sagen." „Danke, Ed. Ich bin nur neugierig." Zwar hatte sie nicht allzu viel herausgefunden, aber das war immer noch besser als gar nichts. Sie hatte noch sechs Minuten Zeit. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde niemandem etwas verraten oder dafür sorgen, dass Sie mit dem Sheriff Ärger bekommen." Sie fühlte sich tatsächlich nicht verpflichtet, dem Sheriff die Wahrheit zu sagen. Der Deputy würde sich früher oder später vermutlich selbst verraten. Sie verabschiedete sich mit einer Handbewegung. „Wir sehen uns." „He, warten Siel" Er blickte auf die Uhr auf seinem Nachttisch. „Sie wollen doch nicht schon wieder gehen?" Sie kniff die Augen zusammen. Was war hier los? Ganz offensichtlich konnte er sie nicht leiden, und ihr erging es da nicht anders. „Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen möchten?" Er schluckte, sein Adamsapfel hüpfte auf und nieder. „Ich dachte, wir könnten so was wie Freunde werden." „Können wir nicht, Ed." Noch vier Minuten. „Was wollen Sie wirklich?" Verärgert gab er seinen Täuschungsversuch auf. „Da gibt es jemanden, der Sie treffen möchte. Ich habe ihm gesagt, dass Sie mich besuchen kommen." „Wie ist sein Name?" Sie hörte ein Klopfen an Collins' Tür und öffnete. Der Mann, der vor ihr stand, hatte rabenschwarzes Haar, das er aus der Stirn gekämmt trug. Seine Augen waren überraschend blau. Wahrscheinlich war er Ende zwanzig, wirkte aber um einiges älter. Seine Aufmachung zeugte von teurem Geschmack. Mit dunkler, wohlklingender Stimme sagte er: „Ich bin Brian Afton. Lnyette Afton-Shane war meine ältere Schwester." „Emily Foster." Sie schüttelte seine Hand. Sein Griff war locker, die Hand fühlte sich sehr weich an. Seine Fingernägel waren perfekt manikürt. Fühlte sich so die Hand eines Mörders an? Mit einem Mal nervös, blickte sie in sein Gesicht. Hatte er seine Schwester getötet? „Ich wollte gerade gehen." „Sie haben mich nie zurückgerufen, Emily." „Ich war krank", entgegnete sie hastig. Die vereinbarte Zeit war beinahe herangerückt, sie wollte nicht, dass Jordan auf sie warten musste. Trotzdem konnte sie nicht anders, als zu fragen: „Warum haben Sie mich angerufen?" „Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Dieser Vorfall ist schließlich sehr eng mit dem Tod meiner Schwester verbunden." Er bemerkte ihren misstrauischen Gesichtsausdruck und fügte hinzu: „Außerdem war ich neugierig, was Sie mir über Jordan Shane erzählen können." „Alles, was ich weiß, habe ich dem Sheriff gesagt." „Ich interessiere mich eher für den Eindruck, den Sie bekommen haben, weniger für die Fakten", sagte er. „Sie haben fast zwei Tage mit diesem Mann verbracht. Sie müssen eine Vorstellung von seinem Charakter bekommen haben. Sie müssen wissen, was für ein Mensch er ist." „Wenn es etwas gibt, was er wirklich hasst, dann sind es die Berge. Er hat überhaupt keine Freude an Sonnenuntergängen oder herrlichen Berghängen." Sie hatte nicht so viel sagen wollen. Brian war ihr unheimlich, er hatte den hypnotisierenden Blick eines Raubtieres. „Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte." Er lehnte eine Schulter so gegen den Türrahmen, dass sie nicht an ihm vorbeikam. „Erzählen Sie mir mehr, Emily. Ich möchte jede Einzelheit über den Mann wissen, der meine Schwester getötet hat." Sie bekämpfte den Drang, Jordans Unschuld zu beteuern. „Ich muss gehen. Vielleicht ein anderes Mal."
„Wunderbar. Ich habe für morgen Abend ein paar Leute eingeladen." Er griff in seine Jackentasche und holte eine Visitenkarte hervor. „Zwanzig Uhr. Ich erwarte Sie. Sie können gerne jemanden mitbringen." Sie nahm die Karte. „Ich denke darüber nach." „Es wäre mir ein großer Trost", sagte er. „Es ist nicht leicht, den Tod eines geliebten Menschen zu akzeptieren." Seine blauen Augen schimmerten, und sie glaubte beinahe, echte, tiefe Trauer darin zu entdecken. Entweder hatte ihm der Mord an seiner Schwester wirklich zugesetzt, oder Brian Afton war der talentierteste Schauspieler, den sie je kennen gelernt hatte, Emily drückte sich an ihm vorbei und marschierte aufrecht den Flur hinunter. Sie musste sich zwingen, nicht loszurennen. Sie war bereits fünf Minuten zu spät. Benimm dich normal. Sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Nach außen hin wirkte sie völlig ruhig. Aber ihr Herz klopfte wie wild. Sie begann unter ihrer Jeansjacke zu schwitzen. Eine Einladung ins Haus der Aftons konnte sie nicht einfach ignorieren. Wie sie gehört hatte, war das Anwesen ungeheuer prunkvoll, selbst an den in Aspen geltenden Standards gemessen. Was jedoch wichtiger war: An diesem Treffen würden vermutlich die meisten Verdächtigen auf Jordans Liste teilnehmen. Sie wollte dabei sein und mit jedem Einzelnen von ihnen sprechen. Auf dem obersten Parkdeck angekommen, blieb sie kurz stehen, rang nach Atem und schaute sich um. War Jordan schon weg? War er wieder verschwunden? „Komm schon", murmelte sie. „Ich bin nur fünf Minuten zu spät." Sie hörte die Harley, bevor sie sie sehen konnte. Er stoppte vor ihr und hielt ihr einen Helm hin, der genauso aussah wie seiner. „Setz ihn auf. Wir müssen los." Obwohl sie schon vermutet hatte, dass er sie auf dem Motorrad mitnehmen würde, zögerte sie kurz. Sie hatte noch nie auf einem gesessen. Sie war eine vorsichtige Frau, der Sicherheit über alles ging. In der Notaufnahme hatte sie oft genug die schlimmsten Folgen von Motorradunfällen gesehen. „Ist schon in Ordnung", sagte er. „Ich rase nicht." Wieso sollte sie eigentlich diesem gefährlichen Mann in schwarzem Leder vertrauen? Plötzlich sah sie Bilder von Heils Angels, Prügeleien und hässlichen Tätowierungen vor sich. Trotzdem setzte sie den Helm auf. Schließlich handelte es sich hierbei um Jordan. Er würde sie niemals in Gefahr bringen. Entschlossen kletterte sie hinter ihn und schlang die Arme um ihn. Die Harley fühlte sich riesig und mächtig zwischen ihren Beinen an. Als Jordan losfuhr, schrie sie auf. Es war kein angstvoller, lauter Schrei, eher ein kleines Quietschen, doch er hielt trotzdem an. „Emily, Liebling." „Ja?" „Wir wollen nicht auffallen. Keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Versuch also bitte, weniger Lärm da hinten zu machen." „Seit ich dich kenne, tue ich dauernd irgendwelche Dinge, die ich mir nicht einmal in meinen wildesten Träumen hätte vorstellen können." „Das weiß ich auch sehr zu schätzen", sagte er geduldig. „Wenn du Angst hast, solltest du vielleicht lieber die Augen schließen." „ Ich habe keine Angst." Doch als er wieder losfuhr, zuckte sie erneut zusammen. Er fuhr ein paar Kurven auf dem Parkdeck, und sie setzte sich jedes Mal kerzengerade auf. Sie versuchte es mit Augenzusammenkneifen. Das war noch schlimmer. Nicht schreien. Doch irgendwie musste sie ihre Aufregung herauslassen. Und so flüsterte sie mit zusammengebissenen Zähnen immer wieder: „O Gottogott, o Gottogott, oooh ..." Auf der Straße beschleunigte Jordan, und sie klammerte sich in schierer Todesangst an ihn. Im Grunde fuhr er nicht viel schneller als ein Fahrrad, aber es kam ihr schneller vor. Die geparkten Autos waren viel zu nah. Sie presste die Knie fest zusammen.
Jordan mied das Stadtzentrum. Nach ein paar Minuten bogen sie in bedenklicher Schräglage auf eine breite Straße ein. Das Brüllen des Motors war ohrenbetäubend. Er wurde immer schneller. Die Bäume flogen vorbei wie im Schnelldurchlauf. „O Gott, o Gottogott, oooooooh ..." Sie hatte das Gefühl, abzuheben. Es war wie Skifahren auf einer schnurgeraden, steilen Piste, wo man jederzeit die Kontrolle verlieren -konnte. Wenn man zum Beispiel plötzlich und völlig unerwartet einen Buckel erwischte und in die Luft geschleudert wurde. Aber die Geschwindigkeit war verführerisch, aufputschend. Sie lockerte ihren Klammergriff ein wenig und schloss die Augen. Plötzlich genoss sie den Wind, der an ihr zerrte, in ihren Kragen und die Ärmel hinaufkroch und ihr um die Ohren pfiff. Was nun ihren Lippen entfuhr, war ein Lachen, ein hoher, begeisterter, jauchzender Ton. Sie liebte diese Harley! Warum hatte sie es noch nie zuvor ausprobiert? Offenbar hatte sie so viel Zeit darauf verwendet, das Richtige zu tun, dass sie dabei jede Menge Spaß verpasste. Jordan hatte kommen müssen, um ihr Leben völlig durcheinander zu bringen. Ein paar Meilen nördlich von Aspen überquerten sie die glitzernden Fluten des Roaring Fork River und bogen in eine Schotterstraße ein. „Wohin fahren wir?" brüllte sie. Er bremste. „Halt dich gut fest. Ab jetzt geht's querfeldein." Er fuhr ein paar hundert Meter bergauf, hielt vor einem riesigen Busch und stellte den Motor ab. Sie zog sich den Helm vom Kopf. Zwar war es jetzt still, aber der Lärm der Maschine hallte in ihren Ohren nach. Ihre Zähne klapperten noch immer nach der holprigen Fahrt. „F-ffantastisch", stammelte sie. „Wir sind zu Hause", sagte er. Mit zitternden Beinen stieg sie ab. Jordan zog das Gebüsch auseinander und schob das Motorrad hindurch. Ein paar Meter dahinter lag ein zugenagelter Minenschacht, nicht ungewöhnlich in den ehemals goldreichen Rockys. Jordan zog die Tür in der Bretterverschalung auf und schob das Motorrad hinein. Emily folgte ihm. Er reichte ihr eine Taschenlampe. Der Eingangsbereich, ausgekleidet mit verwittertem Holz, bot gerade genug Platz für ein quadratisches, zwei Meter hohes schwarzes Zelt. Hier hauste er? „Ist das nicht gefährlich?" fragte sie. „Diese Minenschächte können doch jederzeit einstürzen." „Es ist auf jeden Fall sicherer, als irgendwo im Freien ein Zelt aufzuschlagen", antwortete er. „Die Suchtrupps haben aufgegeben, aber die Campingplätze werden nach wie vor kontrolliert, sie warten nur darauf, dass jemand Neues auftaucht." Er ging ins Zelt und zündete eine Laterne an. „Mach's dir gemütlich, ich bringe inzwischen das Gestrüpp wieder in Ordnung." Emily betrat sein kleines Reich. Auf dem Boden lag eine Luftmatratze mit einem Schlafsack. Gegenüber standen eine batteriebetriebene Kochplatte, ein Wasserfilter und verschiedene1 Kochutensilien. Davon abgesehen hatte er sich auf Brettern ein richtiges Büro mit jeder Menge elektronischem Zubehör eingerichtet. Sie entdeckte ihr Walkie-Talkie und den Computer, aber alles andere war neu. Jordan schlüpfte ins Zelt und zog den Reißverschluss zu. „Wie findest du es?" „Ich bin froh, zu wissen, dass du nicht erfrieren wirst. Bekommst du auch genug zu essen?" „Gerade so", sagte er. „Aber ich würde meine rechte Hand für ein dickes, saftiges, halb durchgebratenes T-Bone-Steak geben." „Hast du diese ganzen Sachen online bestellt?" „Das meiste. Aber ich konnte mir auch etwas Bargeld besorgen, mit Hilfe von etwa einem Dutzend Überweisungsvorgängen." „Ich bin beeindruckt. Bist du sicher, dass man dir nicht auf die Schliche kommen kann?"
„Man kann", sagte er. „Aber ich habe es so kompliziert gemacht, dass es einige Tage dauern wird und auch nur, wenn sie wissen, wonach sie suchen müssen." Er schälte sich aus seiner Lederjacke. Darunter trug er einen schwarzen Strickpulli. An seinem linken Handgelenk prangte eine modische Armbanduhr. Er wirkte, als hätte er alles unter Kontrolle. Was für eine erstaunliche Veränderung. Sie erinnerte sich an den ersten Tag, als er durch die Berge gestolpert war, völlig hilflos, ohne die geringste Vorstellung, wohin er gehen sollte. Und nun schien er ganz gut in der Lage zu sein, ohne ihre Hilfe zu überleben. „Setz dich aufs Bett", sagte er. „Und erzähl mir, was du bei Collins herausgefunden hast." „Erstens", sagte sie und setzte sich auf den Schlafsack. „Er ist nicht nur ein Mistkerl. Er ist ein total inkompetenter Mistkerl. Und er hat nicht sonderlich viele Freunde unter seinen Kollegen." „Wundert mich nicht." Jordan setzte sich neben sie. „Und was ist mit der Belohnung?" „Collins weiß nicht, wer sie ausgesetzt hat, aber Deputy Frank Kreiger hat ihm davon erzählt. Der ist offenbar um einiges beliebter als Collins." Jordan nickte. „Gut. Und zweitens?" „Der Grund, warum Collins mich angerufen hat, war, mich zu ihm zu locken. Er hatte nämlich ein Treffen arrangiert. Mit Brian Afton." „Verdammt", sagte Jordan. „Hast du Brian kennen gelernt?" „Er hat mich für morgen Abend zu einer Party in sein Haus eingeladen." „Sein Haus", wiederholte Jordan bitter. „Es gehörte Lynette. Es ist nicht mit dem Geld der Aftons gekauft worden." „Nicht? Ich hatte den Eindruck, dass Brian aus einer wohlhabenden Familie stammt." „Die Skihütten haben Lynettes erstem Mann gehört. Nachdem er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, hat sie alles geerbt. Und sie war eine Top-Geschäftsfrau. Innerhalb von sieben Jahren hat sie ihr Vermögen verdoppelt und gehörte zur absoluten High Society von Aspen. Das Haus war ihr ganzer Stolz. Und sie hat verdammt hart dafür gearbeitet." Er legte die Stirn in Falten. „Und nun kommt der kleine Bruder einfach daher und erbt alles." „Glaubst du, er ist der Mörder?" „Ich weiß es nicht." Jordan deutete auf seine elektronische Ausrüstung. „Ich habe seine Finanzen gecheckt. Vor etwa drei Monaten, ein paar Wochen, bevor Lynette ermordet wurde, hätte er um ein Haar Bankrott anmelden müssen." Sie nickte. „Klingt nach einem guten Motiv." „Aber Lynette hat ihm aus der Patsche geholfen. Mit einem Darlehen, das in Wirklichkeit eher eine Schenkung war, bei den niedrigen Zinsen. Sie war ihrer Familie gegenüber immer sehr großzügig." „Was ist mit den anderen Verwandten, die geerbt haben?" „Die habe ich inzwischen als Verdächtige ausgeschlossen. Keiner von ihnen war verzweifelt genug, einen Mord zu begehen. Und außerdem hatten sie keinen Schlüssel fürs Haus und kannten auch den Sicherheitscode nicht." „Wer bleibt also übrig?" „Brian. Und Sean Madigan, der Skilehrer, der im Gästehaus wohnt." „Der Skilehrer." Sie dachte kurz nach. „Als Collins über Deputy Kreiger sprach, erwähnte er auch, dass er Skifahrer sei." „Diese Beschreibung trifft auf die meisten Leute in Aspen zu", sagte Jordan. „Stimmt nicht ganz." Es gab eine Hierarchie unter den Skifahrern, die von kleinen Schneehasen über Freestyler bis hin zu absoluten Experten reichte. „Kreiger ist Extrem-Skifahrer. Er und seine Kumpel lassen sich von einem Hubschrauber in die Gipfelregionen fliegen und auf völlig unberührten Pisten absetzen. Das wird so ziemlich als die coolste Form des Skifahrens angesehen. Ich wette, Kreiger und Sean Madigan sind eng befreundet."
„Bleibt nur noch die Frage", sagte Jordan, „ob Madigan eine Zehntausend-DollarBelohnung zahlen könnte."
11. KAPITEL Mit Hilfe einer Kombination aus Logik und unglaublich vielen Computerdaten war Jordan zu dem Schluss gekommen, dass es zwei Hauptverdächtige gab: Sean Madigan und Brian Afton. Emily hatte dafür weniger als eine Stunde gebraucht, ein paar Hinweise und Gespräche, mehr nicht. Diese Möglichkeiten blieben Jordan allerdings verwehrt. Er war auf der Flucht. Er durfte sich nirgendwo zeigen. „Zwar halte ich weiterhin alles für möglich", sagte er, „aber ich glaube, dass entweder Brian oder Sean unser Mann ist." „Oder Kreiger", gab Emily zu bedenken. „Kann auch sein", räumte er ein. Sie streckte sich auf seinem Schlafsack aus. Jede Nacht hatte er sich vorgestellt, dass Emily bei ihm wäre, neben ihm auf der unbequemen Luftmatratze läge. Ihre regelmäßigen und ausführlichen E-Mails hatten ihm einen kleinen Einblick in ihre Seele gewährt. Jetzt sehnte er sich nach ihrem Körper. „Erzähl mir, was du noch herausgefunden hast", bat sie. „Die zwei wichtigsten Punkte sind zum einen das Motiv und auf der anderen Seite der Zutritt zum Haus. Wie gesagt, hatte Lynette das Haus hervorragend abgesichert, man braucht einen Schlüssel und einen Zugangscode, um hinein und auch wieder hinaus zu gelangen. Wer immer sie getötet hat, muss die Zahlenkombination gekannt haben, um entkommen zu können." „Ich vermute, dass niemand zugegeben hat, den Code zu kennen", sagte sie. „Doch, ich. Und ich hatte einen Schlüssel." Diese beiden Fakten sprachen leider Gottes gegen ihn, obwohl sie im Grunde ja keine Rolle spielten. „Nicht dass ich ihn gebraucht hätte. Ich war ja schon im Haus." Er beobachtete mit Vergnügen, wie sie auf ihrer Lippe kaute. „Und wie sieht es mit dem Motiv aus?" fragte sie. Jordan zwang sich, sich wieder auf den Fall zu konzentrieren. „Brians Motiv ist offensichtlich. Er erbt den Löwenanteil von Lynettes Vermögen. Aber so dringend nötig hatte er das Bargeld nicht. Seine Schwester gab ihm immer so viel, wie er brauchte." „Es ist etwas anderes, ob man Almosen annimmt oder ob einem das ganze Vermögen gehört. Vielleicht wollte er einfach alles." „Soweit ich das beurteilen kann, hat Brian nur ein Ziel im Leben: sich teuer zu kleiden und Spaß zu haben. Er ist kein Geschäftsmann." „Und wie sieht es mit Sean aus?" fragte sie. „Er wohnt im Gästehaus auf dem Anwesen. Was könnte sein Motiv sein?" „Zunächst einmal erbt er das Gästehaus und das Grundstück, auf dem es steht", erklärte Jordan. „Das klingt vielleicht nicht nach sonderlich viel, aber immerhin sprechen wir von einer erstklassigen Immobilie in Aspen. Dieses Haus - das nicht viel größer als deines ist - ist etwa eine halbe Million Dollar wert." „Wow!" Sie riss die grünen Augen auf. „Dann stimmt es wohl, wenn die Makler immer sagen, dass der Wert eines Hauses sich nach drei Faktoren berechnet: Lage, Lage und Lage." „Trotzdem ist es nicht unbedingt ein Motiv. Wie auch Brian hat Sean von einer lebendigen Lynette profitiert. Sie nahm ihn immer auf Reisen mit und kaufte ihm alle möglichen Sachen. Zum Beispiel hat sie ihm einen brandneuen Jeep Cherokee geschenkt. Und da ist noch was." Jordan blickte zu seinem Computer. Als begnadetem Hacker war es ihm gelungen, sich auf alle Fakten des Falls Zugriff zu verschaffen, selbst auf den Bericht des Leichenbeschauers und die Untersuchungsergebnisse des Sheriffs von Pitkin County. „Madigans Fingerabdrücke wurden in Lynettes Schlafzimmer gefunden." „Aha! Macht ihn das nicht zum Hauptverdächtigen?" „Nein, zu ihrem Liebhaber."
„Noch besser", sagte Emily. „Er hat sie im Streit getötet." „Die Polizei sieht das anders." Er schüttelte den Kopf. „Ihre Beweisführung ist völlig unlogisch. Auf der einen Seite behaupten sie, dass ich meine Frau getötet habe, weil sie nicht in die Scheidung einwilligen wollte. Auf der anderen Seite gehen sie davon aus, dass mein Motiv Eifersucht war, als ich herausfand, dass sie einen Liebhaber hatte." „Wusstest du von der Affäre?" „Ich hätte es ahnen müssen. Wir lebten schon über ein Jahr nicht mehr zusammen, und Lynette ist nicht die Art von Frau, die es lange ohne einen Mann aushält, der sie anhimmelt." „Was ist denn mit dir?" fragte Emily. „Bist du ein Mann, der es lange ohne ..." „Ich habe mein Treueversprechen gehalten, obwohl unsere Beziehung verdammt offensichtlich vorbei war." „Hätte ich mir denken können", neckte sie ihn. „Immer ein Gentleman." „Vielleicht bin ich einfach nicht in Versuchung gekommen. Schließlich kannte ich dich noch nicht." „Doch. Du kamst mit dieser Spende zu mir." Zu dieser Zeit war ihm der Besuch bei Emily nicht sonderlich wichtig vorgekommen. Ihm war langweilig gewesen, er hatte den Tag irgendwie sinnvoll herumbringen wollen, und ein Ausflug nach Cascadia schien ihm ein netter Zeitvertreib. Zugegeben, er hatte sich darauf gefreut, Emily wieder zu sehen. Schließlich war sie klug und hübsch. Aber er hatte keine Ahnung gehabt, dass er über sein Schicksal gestolpert war. „Wenn ich nicht verheiratet gewesen wäre, hätte sich aus diesem kurzen Besuch vielleicht mehr ergeben." „Du meinst, wir wären miteinander ausgegangen?" „Vielleicht." „Das wäre viel zu langweilig gewesen. Essen gehen, ins Kino, all diese üblichen Rituale." Sie lachte. „Da war es doch viel aufregender, mir eine Pistole an den Hals zu halten und mich als Geisel zu nehmen." „Ist das die einzige Möglichkeit, wie ein Mann dich halten kann? Indem er dich im wahrsten Sinne des Wortes an sich festbindet?" „Es hat auf jeden Fall geholfen", gab sie ehrlich zu. Sie war in der Vergangenheit so mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigt gewesen, dass sie kaum etwas sah, was über ihre eigene Nasenspitze hinausging. Sie hatte immer versucht, anderen zu helfen, und sich hinter dieser Hilfe versteckt. Die Entführung hatte sie erschüttert, sie aus ihrer bequemen Einsamkeit gerissen. Sie hatte sie verändert. Emily wollte nicht mehr länger alleine sein. Die erzwungene Einsamkeit in Spence' voll gestopftem Apartment auszuhalten war ihr schwer gefallen, hatte ihr nicht wie sonst gut getan. Sie hatte sich ihre Sorgen von der Seele geschrieben und der Tatsache ins Auge geblickt, dass sie einige ungelöste Probleme mit ihrem Vater hatte. „Auch wenn ich einer Frau, die sich nicht mehr für Männer interessiert, nicht gerade empfehlen würde, sich kidnappen zu lassen", fügte sie hinzu. „Aber in meinem Fall hat es funktioniert. Kein Wunder bei einem Entführer wie dir." Er grinste herausfordernd. „Wie mir?" „Ein Mann, der empörend logisch denkt und viel klüger ist, als ihm gut tut. Ein Freak. Ein Gentleman. Ein aufregender Typ in schwarzem Leder." „Die letzte Beschreibung gefällt mir am besten", sagte er. Als er sie berühren wollte, hielt Emily seine Hand fest. Obwohl sie es kaum erwarten konnte, auch den körperlichen Aspekt ihrer Beziehung wieder aufleben zu lassen, wollte sie erst alles, wirklich alles, über seine Nachforschungen erfahren. Jordan brauchte zwar ihre Hilfe nicht mehr, um in den Bergen zu überleben, aber um wirklich handfeste Beweise zu finden, mussten sie einige Fragen den Betreffenden persönlich stellen. Und hier kam sie ins Spiel. Sie wollte für ihn Augen und Ohren sein. Sie würde Brians Einladung annehmen und diese Fragen klären.
„Erzähl mir mehr über das, was du rausgefunden hast", forderte sie ihn auf. „Hätte Sean Madigan vielleicht ein anderes Motiv?" „Okay, es gibt da ein Beweisstück", räumte er ein. Nur zögernd nahm er seine Hand von ihr. „Wir sollten unsere Stiefel ausziehen, Emily. Die Luftmatratze ist ziemlich empfindlich." „Was gibt es also noch über Madigan zu wissen?" „Ich habe keine Ahnung, ob es ihn oder Brian oder sogar Rita Ramirez, die Haushälterin, betrifft", sagte er und begann, seine Schnürsenkel aufzuknoten. „Ich habe dir doch erzählt, dass Lynette vor unserer Scheidung noch einen Monat Zeit wollte, um ihre Finanzen zu klären?" Sie nickte, konnte sich vage an das Gespräch erinnern. „Wollte sie vielleicht erst noch ihr Testament ändern?" „Laut ihrem Anwalt nicht. Das hätte er bei Ermittlungen in einem Mordfall auf jeden Fall sagen müssen." „Warum dann?" fragte sie. „Es hat eine Weile gedauert, bis ich dahinter gekommen bin", sagte er und kickte seine Schuhe weg. „Ich habe mir verschiedene Dokumente angesehen, von ihrem Anwalt, von Geschäftsfreunden, ich habe die Buchhaltung der Skihütten und Lynettes persönliche Unterlage überprüft. Und den entsprechenden Hinweis habe ich in ihrer Buchhaltung gefunden." Jordan pflegte nicht zu prahlen, aber auf seinem Gesicht zeigte sich doch ein gewisser Stolz über seine Entdeckung. „Und?" drängte sie. „Lynette besaß eine außerordentliche Kunstsammlung, Gemälde, Skulpturen und sogar ein Faberge-Ei. Nur etwa die Hälfte davon ist in ihrem Haus zu sehen. Der Rest war im Keller archiviert." „Gehört Kunst nicht eher ins Museum?" „Vielleicht. Jedenfalls hatte sie einen Monat vor ihrem Tod einen Experten gebeten, die Kunstwerke zu katalogisieren und zu schätzen. Ich habe seine Aufstellung mit einer anderen verglichen, die in ihren Dateien gespeichert und etwa drei Jahre alt war. Mehrere Objekte fehlten." „Sie könnte sie verkauft haben", entgegnete Emily. „Ich habe keinerlei Unterlagen über eine derartige Transaktion gefunden. Bei den Objekten handelte es sich zwar nicht um Meisterwerke -vermutlich war ein jedes nur ein paar tausend Dollar wert -, aber trotzdem wäre ein Verkauf dokumentiert worden." „Also vermutest du, dass diese Kunstwerke gestohlen wurden. Vielleicht von Brian?" „Ich glaube nicht, dass Brian sich die Mühe machen würde. Das wäre ihm viel zu anstrengend." „Und die Haushälterin?" „Sie muss ich auch in Betracht ziehen, aber ich glaube es eigentlich nicht. Rita Ramirez war für mich in Aspen am ehesten das, was man eine Freundin nennen könnte. Ich habe mehr Zeit in ihrer Wohnung hinter der Küche gebracht als im Schlafzimmer meiner Frau. Ich glaube, der Dieb ist Madigan." Zweifellos wollte Jordan auf eine logische Schlussfolgerung hinaus, aber Emily hatte keine Ahnung, auf welche. Außerdem wurde sie davon abgelenkt, dass er begann, ihr die Stiefel auszuziehen. „In welchem Zusammenhang steht der Diebstahl mit dem Mord?" „Lynette hätte niemals zugegeben, dass ihr Liebhaber sie bestohlen hat. Also hat sie die neue Schätzung nie in die Buchhaltung gegeben. Genau dieses Durcheinander wollte sie erst mal in Ordnung bringen, bevor sie sich mit dem Papierkram für die Scheidung beschäftigte. Ich vermute, sie versuchte, die gestohlenen Kunstwerke von Madigan zurückzubekommen." „Sie hat ihn also zur Rede gestellt." „Das vermute ich", sagte er gedehnt. „Und er hat sie wahrscheinlich jedes Mal mit einer anderen Entschuldigung abgespeist. Als ich dann auftauchte und darum bat, alleine mit
Lynette zu sein, hat er die Chance genutzt, sie loszuwerden und die Schuld auf mich zu schieben." „Warum gibst du diese Informationen nicht dem Sheriff?" „Weil es bisher nur eine Theorie ist." Er zog ihr den rechten Stiefel aus. „Ich habe keine Beweise. Keine Belege. Es gibt keine verdächtigen Bewegungen auf seinem Konto." „Was ist mit den Kunstwerken?" Ihre Aufmerksamkeit wurde dadurch, dass er ihre Fesseln streichelte, stark beeinträchtigt. „Könnte man nicht die neuen Besitzer ausfindig machen? Und dann die Spur zu Madigan zurückverfolgen?" „Ich bin mir sicher, dass er das Geschäft über einen Zwischenhändler getätigt hat. Vielleicht sogar einen Hehler." Nun zog er ihr den linken Schuh aus. „Und selbst wenn wir beweisen, dass er die Kunstwerke verkauft hat, kann er noch immer behaupten, dass Lynette sie ihm geschenkt hat." „Trotzdem ist es ein Mordmotiv. Als sie herausfand, dass er sie bestohlen hat, wollte sie ihn womöglich loswerden. Jordan, ich finde, wir sollten das ..." Sie brachte den Satz nicht zu Ende, weil er begann, ihren Fuß zu massieren, das Gelenk leicht zu drehen und ihre Zehen hin und herzu biegen. Seine Berührungen gingen ihr durch und durch, entspannten und erregten sie zugleich. „Oh, das fühlt sich gut an." „Ich weiß etwas, was sich sogar noch besser anfühlt." Im Gegensatz zu der wilden, animalischen Leidenschaft, die sie beim letzten Mal überkommen hatte, ließ sich Jordan jetzt viel Zeit, um sie auszuziehen. Zentimeter für Zentimeter schob er den Rollkragenpullover höher, schmiegte sich an ihren Bauch, ihre Rippen, ihre Brüste. Schließlich hielt Emily es nicht mehr länger aus. Sie öffnete ihren Gürtel und zog die Jeans aus. Als er ihre intimste Stelle zu streicheln begann, rang sie nach Luft, bebte, sehnte sich nach Erfüllung. Mehr, sie brauchte mehr. „Jordan, hast du zufällig ..." „Ich habe ein Zwölferpack gekauft", antwortete er. „Du wirst sie alle brauchen." Sie zog ihm den Pullover aus und sah, dass die Wunde auf seinem Arm gut verheilte. „Das habe ich wirklich gut hingekriegt." „Du hast mir das Leben gerettet", sagte er schlicht. Und dasselbe hatte er für sie getan. Obwohl ihre Wunden nicht sichtbar gewesen waren, hatte sie immerzu Schmerzen gehabt. Sich versteckt. War alleine geblieben. Jordan hatte sie auf so viele verschiedene Arten geheilt. Als Jordan am späten Nachmittag mit seiner Harley zurück nach Aspen fuhr, fühlte er sich unbesiegbar. Trotz all der Schwierigkeiten hatte er jetzt einen Grund zu hoffen. Der Grund war Emily. Sie saß hinter ihm und hatte ihre schlanken Arme um ihn geschlungen. Als er in eine der scharfen Kurven oberhalb des Roaring Fork River fuhr, umklammerte sie ihn noch fester, ihre Brüste drückten sich an seinen Rücken. Dann lehnte sie sich zurück, und er hörte sie lachen, während der kühle Septemberwind an ihnen zerrte. Offensichtlich machte es Emily inzwischen Spaß, Motorrad zu fahren. Um genau zu sein, schien sie inzwischen so ziemlich jedes Abenteuer zu genießen, das sie zusammen erlebten. Was sie miteinander teilten, war so gut und wahrhaftig, dass er sich nicht vorstellen konnte, es jemals wieder zu verlieren. Das Schicksal durfte ihm dieses Glück nicht wegnehmen. Er musste den Mörder finden und seinen guten Ruf wieder herstellen. Morgen Abend fand die Party in Lynettes Villa statt, was nichts anderes bedeutete, als dass die Sicherheitsvorkehrungen wegen der Gäste zurückgefahren wurden. Trotz der vielen möglichen Zeugen war das die beste Gelegenheit, um auf das Anwesen zu gelangen. Er hatte vor, ein paar Abhörgeräte zu installieren. Und er wollte sich in Sean Madigans Haus umsehen.
In Aspen angekommen, nahm er kleine Nebenstraßen, auf denen es wahrscheinlich keine Kontrollen gab. In dieser malerischen, gepflegten Stadt mit den vielen Viktorianischen Gebäuden konnte man sich kaum vorstellen, dass es so etwas wie Mord überhaupt gab. Er bog in eine Tankstelle ein und stellte den Motor ab. Zwar hätte er am liebsten den Helm abgesetzt und Emily noch einen Kuss gegeben, aber er traute sich nicht, sein Gesicht zu zeigen. „Ich kann dich jetzt nicht bis zu deinem Auto bringen", sagte er. „Es könnte sein, dass man es überwacht." Sie zog den Helm ab und schüttelte den Kopf. Ihr lockiges Haar fiel auf ihre Schultern. Vor weniger als einer Stunde hatte er noch in dieser blonden Mähne gewühlt. Und sich in den smaragdgrünen Augen verloren, als sie gemeinsam den Höhepunkt erreichten. „Ich gehe auf Brians Party", sagte sie. Das hatte er schon erwartet. Sie hatte ihm inzwischen mindestens hundert Mal versichert, dass sie ihm helfen wollte, dass sie unverzichtbar für seine Nachforschungen sei. Er hätte es lieber gesehen, dass sie sich irgendwo versteckte, aber sie war wild, entschlossen. Genauso wenig aufzuhalten wie der Schnee in den Bergen. „Ich kann es dir nicht verbieten", sagte er. „Also bin ich einverstanden." Sie hob die Augenbrauen. „Du hast nichts dagegen? Du erzählst mir jetzt also nicht, dass es viel zu riskant ist und ich mich in schreckliche Gefahr begebe und so weiter und so fort?" „Würde das denn etwas ändern?" „Nein", gab sie zu. „Dann habe ich nur zwei Bedingungen", sagte er. „Dass du ein Abhörgerät bei dir trägst, damit ich genau verfolgen kann, wo du bist, mit wem du sprichst und was gesagt wird." „Klar." Emily konnte selbst nicht fassen, dass sie sich so schnell einverstanden erklärte. „Und zweitens?" „Nimm Spence mit." „Kein Problem." Er berührte ihre Schulter, strich dann langsam ihren Arm hinab und drückte ihre Hand. „Ich schätze, ich brauche schon wieder deine Hilfe." „Jordan, du weißt, dass ich alles für dich tun würde." „Sei vorsichtig", murmelte er. Dann startete er die Harley und fuhr davon. Sie blickte ihm so lange nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Sei vorsichtig. Das galt natürlich in erster Linie für ihn. Eigentlich hätte sie froh sein müssen, dass sie ihren Willen durchgesetzt hatte. Endlich konnte sie sich an Jordans Nachforschungen aktiv beteiligen, egal, in welche Gefahr sie sich dabei brachte. Sie wusste aus tiefstem Herzen, dass sie das Richtige tat. Wie hätte sie einfach untätig dasitzen können, während er um seine Zukunft kämpfte? Jordan war zu Unrecht eingesperrt worden. Sie musste ihm einfach helfen. Allerdings befürchtete sie, dass sie für die Rolle als Undercover-Agentin denkbar schlecht geeignet war. Sie war Krankenschwester, eine völlig normale Frau, gesetzestreu und ehrlich. Sie hatte keine Ahnung, wie man eine Wanze anbrachte oder sich unauffällig verhielt, wenn man beobachtet wurde. Noch nie zuvor hatte sie etwas Illegales getan. Jetzt wünschte sie, sie hätte mehr Agentenromane gelesen. Sie lief durchs Zentrum von Aspen, wo in schicken Boutiquen alles Mögliche zu völlig überteuerten Preisen angeboten wurde. Der Charme des Ortes entging ihr völlig, so sehr war sie in Gedanken vertieft. Als sie schließlich ihr Auto erreichte, das sie vor dem Krankenhaus abgestellt hatte, wurde ihr schlagartig klar, dass die Polizei auf ihren alten Landrover aufmerksam geworden war. An der Fensterscheibe hing ein Strafzettel. Wenn sie Pech hatte, bekam sie nun richtig Probleme. Auf der Rückfahrt nach Cascadia versuchte Emily, positiv zu denken. Sie würde Jordan helfen, das Verbrechen aufzuklären, und er wäre endlich ein freier Mann. Und das wollte sie schon aus ganz egoistischen Gründen. Doch würden sie, wenn die Gefahr erst einmal gebannt war, noch etwas gemeinsam haben? Eines war klar, sexuell verstanden sie sich bestens. Sie
begehrte ihn mit jeder Faser ihres Körpers, er hatte sie vollkommen glücklich gemacht. Aber er lebte in Florida, verdammt noch mal. Er hatte schon einmal versucht, eine Ehe mit einer Frau aus den Bergen zu führen, es hatte nicht funktioniert. Konnte sie sich an Palmen und Strände gewöhnen? Oder würde er den Bergen noch eine Chance geben? Nicht das Pferd beim Schwanz aufzäumen. Zunächst einmal musste sie sich darauf konzentrieren, Beweise zu finden und den Mordfall aufzuklären. Sie versuchte sich vorzustellen, was am nächsten Tag in dem prunkvollen Haus von Brian Afton geschehen würde. Sie hatte gehört, dass es dort zwanzig Schlafzimmer und sechzehn Badezimmer gab. Marmorböden. Kristallkronleuchter. Echte Chippendale-Antiquitäten. Allerdings war sie davon überzeugt, dass sie keine Zeit haben würde, das alles zu bewundern. Sie wollte einen Mörder finden. Und deswegen brauchte sie eine Strategie. Ihr Gespräch mit Deputy Collins war einfach gewesen, weil sie ihn mit ihrem Wissen unter Druck setzen konnte. Sie hatte nicht subtil vorgehen müssen, was sowieso nicht ihre Stärke war. Auf der morgigen Party durfte sie nicht so direkt sein. Irgendwie musste sie es schaffen, das Gespräch auf die entsprechenden Themen zu lenken. Auf die Belohnung. Den Zugangscode und die Schlüssel, die man wegen des Sicherheitssystems brauchte. In Seans Fall wollte sie irgendwie auf die Kunstwerke im Haus zu sprechen kommen. Aber wie? Sie war noch nie sonderlich geschickt im Small Talk gewesen, geschweige denn darin, Leuten Informationen zu entlocken. Wenn sie nur etwas hätte, womit sie die anderen unter Druck setzen könnte ... Aber sicher! Sie konnte so tun, also ob sie einen Beweis in dem Mordfall hätte. Schließlich wusste keiner, dass das nicht der Fall war. Es wurde dunkel. Emily schaltete die Scheinwerfer an. Am Straßenrand entdeckte sie zwei Rehe, die ihren Landrover mit angstvollen Augen beobachteten. Kurz blitzten ihre weißen Spiegel auf, dann sprangen sie in den Wald. Emily wünschte, sie könnte ihnen folgen. In den Bergen zu überleben war ihr zur zweiten Natur geworden. Sie gehörte hierher. Und nicht auf eine Jet-Set-Party in Aspen. Sie stellte sich einen glitzernden Ballsaal vor, in dem Leute miteinander plauderten, deren Haar nie durcheinander und deren Make-up immer perfekt war. Ob auch Prominente eingeladen waren? Filmstars? Was für Essen wohl serviert werden würde? „O mein Gott, was soll ich bloß anziehen?" Sie brauchte Hilfe. Anstatt zu Spence' Wohnung zurückzufahren, steuerte sie das Haus von Yvonne Hanson an. Sie brauchte dringend ein paar Tipps für ihre Garderobe. Als sie in der Auffahrt parkte, wurde sie von wildem Gebell aus der Hundehütte begrüßt. Schnell öffnete sie das Gartentor. Das vertraute Kläffen hob ihre Stimmung umgehend. „Pookie!" Mit weit ausgebreiteten Armen ging sie in die Knie. Der kleine Hund raste auf sie zu und begrüßte sie mit einer Begeisterung, die sie beinahe zu Boden riss. „Wie geht es meinem Jungen? Wie geht es meinem kleinen Baby?" „Nicht wirklich gut", seufzte Yvonne. Ihre Silhouette zeichnete sich im Türrahmen ab. „Ich schätze, dir geht's wieder besser?" „Wie?" Zu spät fiel ihr ein, dass sie sich eigentlich immer noch von ihrer Erschöpfung erholen sollte. „Mir geht's gut. Großartig, um genau zu sein." Ihr Leben war früher so herrlich überschaubar gewesen. Ihre einzigen Probleme bestanden darin, sich um Pookie zu kümmern und jeden Tag irgendwie hinter sich zu bringen. Ihr Leben war einfach gewesen, aber auch leer. Sie bereute es nicht, Jordan getroffen zu haben. „Ziehst du wieder in dein Haus?" fragte Yvonne. „Ja." Sie musste unbedingt wieder in die Normalität zurückkehren. „Ich muss etwas mit dir besprechen." . „Komm rein. John hat heute lange gearbeitet, deswegen durften die Kinder entscheiden, was wir zu Abend essen. Makkaroni mit Käse. Ich esse einen Salat."
„Kann ich Pookie mit reinnehmen?" Yvonne blickte den Hund finster an und rief energisch: „Nicht bellen. Und kein Theater mit den beiden anderen Hunden im Haus. Verstanden?" „Wuffz", antwortete Pookie kleinlaut. Das Haus der Hansons war gemütlich und angenehm chaotisch mit den vier Kindern und den zwei Hunden. Libby, die Pfadfinderin, war die Älteste. Sie begrüßte Emily und grinste. „Ich mag deinen Hund. Er ist total verspielt." Pookie ließ die Zunge aus dem Maul hängen und nickte zustimmend. Sein ganzer Körper wackelte, als er auf Libby zurannte und sich ein Tätscheln abholte. „Total unerzogen", kommentierte Yvonne. „Wenn aus Pookie ein Rettungshund werden soll, musst du sofort mit seinem Training anfangen." Sie stellte Emily eine Schüssel Salat hin und rief die Kinder zurück an den Tisch, wo sie umgehend zu streiten, plaudern, rempeln und kichern anfingen und zwischendurch ihre Makkaroni aßen. „Nun?" fragte Yvonne. „Worüber wolltest du sprechen?" „Ich bin morgen Abend auf eine Party in Aspen eingeladen. Und ich weiß nicht, was ich anziehen soll." „Was? Eine Party in Aspen! Und wer hat dich eingeladen?" „Brian Afton." Yvonne runzelte die Stirn. Mit einem Blick auf die Kinder fragte sie: „In dem Haus, in dem der M-O-R-D begangen wurde?" „Mord", übersetzte Libby für die jüngeren Geschwister. „Mom redet über Mord." „Ich ermorde dich gleich", sagte Yvonne, „wenn du nicht still bist und endlich dein Abendessen isst." Emily änderte ihre Strategie. An Libby gewandt, fragte sie: „Was soll ich denn deiner Meinung nach bei einer eleganten Party tragen?" „Pink", sagte Libby in einem Ton, als ob die Antwort völlig offensichtlich wäre. „Geht es um ein Abendessen oder um eine Cocktail-Party?" fragte Yvonne. „Er hat es einfach ein Zusammentreffen genannt, also vermute ich mal, dass es eher zwanglos sein wird. Aber trotzdem, es ist in Aspen." „Eben. Die meisten Leute, die dort wohnen, geben mehr Geld für ihre Schuhe aus, als wir monatlich für unsere Hypothek zahlen." Yvonne schluckte nachdenklich. „Du solltest beim Western-Look bleiben. Zieh deine schicken Cowboystiefel an, schwarze Jeans und eine Seidenbluse. Und ich habe noch einen Blazer im Westernstil, den ich dir leihen kann." Emily spießte eine Kirschtomate auf. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie seit Mittag nichts mehr gegessen und wahnsinnigen Hunger hatte. „Und was für Schmuck?" „Ich habe etwas unechten Schmuck, aber diese Leute können einen unechten Diamanten aus hundert Metern Entfernung erkennen. Hast du irgendwas Echtes?" Der einzige echte Edelstein, den Emily besaß, war ein gelber Diamant auf einem altmodischen Platinmedaillon mit passender Kette. Ein Familienerbstück, das ihre Mutter ihr zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. In dem Medaillon befand sich ein Foto ihres Vaters. Emily hatte es nie getragen; es fühlte sich zu schwer um ihren Hals an. „Ich habe einen Diamanten." „Na, dann ist ja alles klar", sagte Yvonne. „Ich war schon mal in dem Haus. Es ist wunderschön." Emily erinnerte sich daran, dass Yvonne einmal einen Besuch erwähnt hatte. „Du sagtest, es hätte was mit Kindern zu tun gehabt." „Ich hatte in Aspen eine Vorführung mit den Rettungshunden. Da war so ein liebes kleines Latinomädchen, das einfach nicht aufhören konnte, die Hunde zu streicheln und zu umarmen. Ihr Name war Isabel, sie war so was von süß. Sie konnte kaum Englisch und schien ziemlich einsam zu sein."
Emily lächelte. Es war so typisch für Yvonne, die geborene Mutter, sich für ein trauriges Kind zu interessieren. „Und dann?" „Nachdem alle gegangen waren, wurde mir klar, dass Isabel und ihre Mutter niemanden hatten, der sie nach Hause fahren würde. Die Mutter sah schwanger aus, ich hatte das Gefühl, dass ihr schlecht war, und deshalb habe ich sie mitgenommen." „Wann war das?" „Am Anfang des Sommers. Ich schätze etwa einen Monat vor dem du weißt schon was", erklärte Yvonne mit einem Seitenblick auf Libby.„Jedenfalls waren sie bei der Haushälterin, Rita Ramirez, zu Besuch, die mich kurz durchs Haus führte. Unglaublich. Es ist riesig." Emily wunderte sich über diese neue Information. Jordan hatte nicht erwähnt, dass noch jemand in dem Haus gewohnt hatte, und zumindest im Hinblick auf den Kunstraub war diese Tatsache interessant. Aber vielleicht waren Isabel und ihre Mutter ja auch nur wenige Tage geblieben. Nachdem die Kinder mit dem Essen fertig waren und sich ihren verschiedenen abendlichen Pflichten widmeten, servierte Yvonne eine Tasse starken schwarzen Kaffee und ein Stück selbst gebackenen Apfelkuchen. „Ich mache mir Sorgen um dich, Emily", sagte sie leise. „Hast du nichts Besseres zu tun?" Emily machte sich über den Apfelkuchen her. „Schmeckt herrlich." „Du weißt, was ich meine", sagte Yvonne. „Du bis nie krank, und jetzt hast du dich fast eine Woche in Spence' Wohnung verbarrikadiert." „Fünf Tage", korrigierte Emily. Fünf lange Tage. „Aber es geht mir wirklich besser." „Wie bist du an die Einladung bei Afton gekommen? Entschuldige, dass ich frage, aber du gehörst nun mal nicht zum Jet-Set." „Ich habe Brian Afton zufällig getroffen", erklärte Emily. „Und er hat mich eingeladen." „Aber warum?" Gute Frage. Was wollte Brian Afton von ihr? Sie steckte sich eine große Gabel voll Apfelkuchen in den Mund. „Vielleicht denkt er, dass ich ganz guten Gesprächsstoff zu bieten habe, wegen der Geiselnahme und alldem." Yvonne schüttelte den Kopf. „Deine Überzeugung, dass Jordan unschuldig ist, wird sich auf der Party nicht besonders gut machen. Was ist da wirklich los? Hast du dich in was reingeritten?" Emily zögerte, den Mund voll mit süßem Kuchen. Ihr Leben war so kompliziert geworden. Sie durfte die Wahrheit nicht sagen, aber sie konnte auch nicht lügen. Sie schluckte. „Ich tue das Richtige, Yvonne. Du musst mir einfach vertrauen." Alle vier Kinder und Pookie kamen in die Küche gerannt, schrien gleichzeitig durcheinander. Der Hund kläffte und jagte seinen Schwanz. „Aufhören!" rief Yvonne. „Libby, was ist los?" „Ein Polizeiwagen! Vor unserem Haus! Das Licht dreht sich und dreht sich und dreht sich und ..." „Das reicht", unterbrach Yvonne sie. Dann tätschelte sie Emilys Arm. „Egal, was geschieht, Süße, ich stehe hundert Prozent hinter dir." Emily erhob sich. „Ich werde mal nachsehen, was die wollen." Als sie die Tür öffnete, erkannte sie sofort die breiten Schultern von Deputy Frank Kreiger, der auf sie zukam. Sie hätte eigentlich über die Gelegenheit froh sein müssen, noch einmal mit einem Verdächtigen sprechen zu können, doch eine dunkle, rätselhafte Vorahnung erfasste sie. Sie zwang sich, freundlich zu blicken. „Kann ich Ihnen helfen?" „Ich habe Ihren Landrover wieder erkannt", sagte er. „Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, Emily." Yvonne kam auf die Veranda und stellte sich neben sie. „Wollen Sie meine Freundin verhaften?"
„Mich verhaften?" Emily starrte Yvonne schockiert an. „Wie kommst du auf die Idee, dass ich ..." „Keine Bange." Yvonne zwinkerte. „Wenn sie dich ins Gefängnis stecken, werde ich dafür sorgen, dass die kleinen Pfadfinder einen Kuchen mit einer Feile darin backen." „Könntest du das verantworten?" „Darauf kannst du wetten." Yvonne warf Deputy Kreiger einen unheilvollen Blick zu. „So was nennt man übrigens Loyalität. Wenn man zusammenarbeitet, zusammen Leben rettet, dann lernt man alles darüber. Verstehen Sie, was ich damit sagen will, Kreiger?" Er nickte. Zwar machte er keinen Rückzieher, doch Emily hatte das Gefühl, dass er sich unwohl fühlte, als er die Mütze abnahm und sich mit der Hand durch sein kurzes, blondes Haar fuhr. „Ich werde nicht verhaftet, Yvonne", sagte Emily, „weil ich nichts Unrechtes getan habe." Davon abgesehen, dass sie einem entflohenen Häftling bei der Flucht geholfen hatte. Sie wandte sich an Kreiger. „Was gibt es, Deputy?" „Ich habe nur ein paar Fragen. Bitte kommen Sie mit mir." Emily ging mit ihm zum Gartentor. „Machen Sie das Blaulicht aus, Kreiger", rief Yvonne hinter ihnen her. „Sie regen die Kinder unnötig auf." „Sofort", rief er zurück. Und an Emily gewandt, sagte er: „Yvonne scheint sich Sorgen um Sie zu machen." „Hat sie Grund dafür?" „Nicht, solange Sie bei mir sind." Er vermied es, sie anzusehen. „Bei mir sind Sie sicher, Emily. Ich bin Polizist." Als sie auf das Fahrzeug zugingen, sah sie, dass jemand auf dem Beifahrersitz saß. Kreiger langte durchs Fenster in den Wagen und stellte das Blaulicht aus. Der andere Mann stieg aus und ging auf sie zu. „Emily", sagte Kreiger „Darf ich Ihnen Sean Madigan vorstellen?"
12. KAPITEL Zwar war das Verandalicht nicht hell genug, um Madigans Gesicht klar zu erkennen, aber was sie sah, gefiel Emily ganz und gar nicht. Er war groß und muskulös, sein Gesicht jedoch hager mit harten Schatten unter Wangenknochen und Kinn. Es erinnerte sie an einen Totenkopf. Am auffälligsten war sein rötlich braunes, drahtiges Haar, das er in einem Pferdeschwanz trug. Als er ihr die Hand drückte, zuckte sie vor Schmerz zusammen. „Sie sind der olympische Skifahrer", sagte sie in der Hoffnung, dass sie mit Small Talk durchkäme. „Ich war vor acht Jahren im Team, habe mich aber leider vor den Spielen verletzt." Deputy Kreiger räusperte sich. Sie hatte erneut das Gefühl, dass er sich nicht ganz wohl fühlte. „Schade, dass Sie nie Ihre Chance bekommen haben, Sean. Was für ein Pech." „Kein Pech, schlechtes Training", korrigierte er sie scharf. „Ich hätte unter diesen Bedingungen niemals auf die Piste gehen dürfen." Dieser Kommentar verstärkte nur noch Emilys negativen Eindruck. Sie hielt nichts davon, andere Leute für das eigene Unglück verantwortlich zu machen. Sean Madigan war ein unangenehmer Mensch. Aber war er ein Mörder? Hatte er die Frau erschossen, die er einmal geliebt hatte? Dazu wäre eine Menge Kaltblütigkeit nötig, eine fast unmenschliche Gefühllosigkeit. Madigans tief liegende blaue Augen schienen zu glühen, als er sie anstarrte. Aber hinter diesen Augen spielte sich nicht allzu viel ab. Er war gefährlich dumm. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück und schlang die Arme um den Oberkörper, als müsse sie ihre empfindlichen inneren Organe vor einer plötzlichen Attacke schützen. Sie wandte sich an Kreiger, der verglichen mit seinem Freund geradezu ein Vorbild an gesundem Menschenverstand war. „Worüber wollten Sie mich befragen?" „Sie waren heute in Aspen", sagte er, „um Ed Collins im Krankenhaus zu besuchen. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie und Collins sich nahe stehen." „Ich habe immer eine Verbindung zu den Menschen, denen ich das Leben gerettet habe." Emily schlug einen tadelnden Ton an und hoffte, damit zu überspielen, wie sehr sie sich von den beiden Männern eingeschüchtert fühlte. „Ich wollte sehen, wie gut er sich erholt." „Und wie geht es ihm?" fragte Kreiger. „Ihrem professionellen Urteil nach?" „So gut, wie ich erwartet hatte. Obwohl man bei Knieverletzungen nie so genau weiß." „Worüber haben Sie gesprochen?" „Überdies und das." Über Sie. Wir haben darüber gesprochen, dass Sie eine Belohnung angeboten haben. Emily biss sich auf die Lippen, dankbar dafür, dass es dunkel war. „Collins' Benehmen ist nicht gerade das beste Beispiel für gute Polizeiarbeit in Pitkin County." Kreiger zappelte herum, setzte sich seine Mütze wieder auf. Es schien, dass ergenauso wie sie - versuchte, etwas zu verheimlichen. „Ich sollte das vermutlich nicht sagen, aber er ist dafür bekannt, Lügen zu erzählen, um seine eigene Haut zu retten ..." „Nicht", unterbrach sie ihn hastig. Ihr war klar, dass Kreiger kurz davor stand, zu lügen, zu bestreiten, dass eine Belohnung überhaupt existierte. Er wollte behaupten, dass Ed Collins sich das Ganze zuammenfantasiert habe. „Sagen Sie es nicht." „Was?" Sie wusste, dass er etwas mit der Belohnung zu tun hatte. Zudem war Kreiger derjenige gewesen, der am Flughafen Jordans Handschellen und Fußfesseln gelöst hatte, also musste er ein Teil der Verschwörung sein. Man konnte ihm auf keinen Fall trauen. Trotzdem war sie davon überzeugt, dass er im tiefsten Innern ein anständiger, hart arbeitender Polizist war. Sie hatte ihn oft beobachtet. Bei Rettungseinsätzen war Kreiger furchtlos, jederzeit bereit, sein Leben für einen anderen aufs Spiel zu setzen. Sie hoffte, ihn genau da treffen zu können. „Sie haben vielleicht ein paar Fehler gemacht, aber es ist nie zu spät, seine Meinung zu ändern." Madigan mischte sich ein. „Fehler? Was meinen Sie?"
Sein feindseliger Ton machte ihr Angst, und beinahe wäre sie damit herausgeplatzt. Die Belohnung. Emily senkte den Blick, um Madigan nicht ansehen zu müssen. Er war extrem angespannt, starrte sie an wie ein Raubtier, das jederzeit bereit war, ihr an den Hals zu springen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit ihm am besten umgehen sollte. „Emily!" ermunterte Kreiger sie. „Wovon sprechen Sie?" Sie flehte ihn stumm an. Eine Belohnung für die Ergreifung eines Menschen - tot oder lebendig - auszusetzen, war falsch. Das wusste der Deputy. Es musste ihm klar sein, dass er sich außerhalb des Gesetzes bewegte. Wenn sie mit ihm alleine gewesen wäre, hätte sie das Thema angesprochen. Aber in Madigans Anwesenheit war es unmöglich. Sie versteckte ihre Anspannung hinter einem Schulterzucken. „Ich denke einfach, dass Sie besser nicht schlecht über einen Kollegen sprechen sollten." „Collins ist ein Vollidiot", sagte Madigan. „Er hatte freie Bahn auf dem Mammoth Rock und hat alles versaut." „Woher wissen Sie davon?" fragte sie. „Ich war dort und habe mir alles angesehen." Er tat so, als ob er ein Gewehr in der Hand hätte, zielte und den Abzug drückte. „Ich hätte getroffen." Seine Vorführung ließ sie erstarren. Madigan hätte Jordan kaltblütig niedergeschossen. „Genau das hat Jordan Shane verdient", bekräftigte er. „Er ist ein Mörder." Emily hätte eine Diskussion darüber anfangen können, aber sie hatte Angst. Wenn sie sich mit Sean Madigan anlegte, hatte sie vielleicht nicht mehr lange zu leben. Sie wandte sich an Kreiger. „Noch irgendwelche Fragen?" „Nachdem Sie Collins' Zimmer verlassen haben, sind Sie nicht gleich zu Ihrem Auto zurückgegangen. Um genau zu sein, waren Sie so lange weg, dass Sie sogar einen Strafzettel bekommen haben. Wo waren Sie?" „Einkaufen", platzte Emily heraus. Das war auch nicht völlig unwahr. Sie war an einigen Boutiquen vorbeigekommen und hatte sich die Schaufenster angesehen. „Ich habe einen Einkaufsbummel gemacht." „Wo?" „Im Zentrum von Aspen. Ich bin gelaufen. Man bekommt dort sowieso nie einen Parkplatz." Beinahe hätte sie gekichert. Sie durfte gar nicht daran denken, wo sie in Wirklichkeit gewesen war. In Jordans Minenschacht. Wo sie einander geliebt hatten. Sie durfte nicht zulassen, dass auch nur der geringste Verdacht entstand. „Sie lügen", sagte Madigan. Furcht kroch in ihr hoch, ihr Herz begann zu rasen. Ihre Worte überschlugen sich fast, als sie fortfuhr: „Ich bin von Brian Afton zu einer Party eingeladen worden, und ich wollte mir dafür etwas Neues zum Anziehen kaufen. Also habe ich mir eine ganze Menge Kleider angesehen, habe aber nichts Passendes gefunden." „Lügnerin", rief Madigan. Er erinnerte sie an einen Klassentyrann aus ihrer Schulzeit, groß, dumm und gemein. „Ich habe mir verschiedene Kleider angesehen." Ihre Stimme wurde lauter. „Aber ich kann mir die Preise in Aspen nicht leisten." „Lügnerin. Wo waren Sie?" „ Lassen Sie es gut sein, Sean." Kreiger trat zwischen sie. „ Ich stelle hier die Fragen." „Dann fragen Sie sie. Hören Sie auf, um den heißen Brei herumzureden." „Sagen Sie mir nicht, wie ich meinen Job zu machen habe." Madigan trat zwar einen Schritt zurück und hob spöttisch die Hände, doch sein Benehmen blieb herausfordernd. „Okay, machen Sie ihn, Kreiger. Machen Sie Ihren verdammten Job." „Ist schon gut, Emily", sagte Kreiger besänftigend.
Seine Stimme war freundlich - vielleicht zu freundlich. Spielten sie dieses „guter Polizist, böser Polizist"- Spiel? Wenn das der Fall war, dann funktionierte es jedenfalls. Die beiden Männer hatten sie total aus der Fassung gebracht, sie war verwirrt und verängstigt. „Emily, ich muss Ihnen diese Fragen stellen, weil ich jeder einzelnen Spur nachgehen muss. Ich möchte nicht Ihre Integrität infrage stellen. Verstehen Sie?" „Ich denke schon." Innerlich krampfte sie sich zusammen, aus Angst, welche Frage er als Nächstes stellen würde. Sie fühlte sich nicht in der Lage, noch einmal zu lügen. „Haben Sie irgendwelche Hinweise darauf", fuhr Kreiger fort, „wo Jordan Shane sich aufhält?" „Nein." Das Wort kam ihr einfach so über die Lippen. In den anderen Befragungen hatte sie immer darauf geachtet, die Wahrheit nur ein wenig abzuändern. Doch nun hatte sie gelogen. Nun war sie Jordans Komplizin und hatte eine Straftat begangen. Kreiger nickte lächelnd. „Mehr wollte ich nicht wissen. Tut mir Leid, dass wir Sie gestört haben." Der Polizist ging zurück zu seinem Wagen, doch Madigan blieb, wo er war. Drohend beugte er sich zu ihr vor, so nah, dass sie seinen Schweiß riechen konnte. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Mit gefährlich leiser Stimme sagte er: „Ich behalte Sie im Auge, Emily." Und ich behalte Sie im Auge. Durch ein Nachtsichtgerät observierte Jordan das Gästehaus, in dem Sean Madigan wohnte. Am Abend zuvor hatte der Kerl Emily bedroht. Heute, wenn Brians kleine Party stattfinden sollte, würde Jordan sicherstellen, dass dieser rothaarige Bastard ihr nicht mehr zu nahe kam. Als er am Morgen ihre E-Mail gelesen hatte, in der sie das Gespräch vor Yvonnes Haus beschrieb, hatte er vor Wut gekocht. Er konnte den Gedanken, dass Emily belästigt wurde, einfach nicht ertragen. Ausgerechnet sie, die völlig unschuldig war. Madigan hatte außerdem überhaupt kein Recht, sie zur Rede zu stellen. Es war einfach widerlich, wie er sich hinter seinem Freund, dem Deputy, versteckt hatte. Leider war es ihm tatsächlich gelungen, Emily in Angst und Schrecken zu versetzen. Obwohl sie ihre Furcht in der E-Mail herunterspielte, war Jordan durchaus in der Lage gewesen, zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn er sich vorstellte, dass sie mitten in der Nacht zwei gefährlichen Männern gegenübergestanden hatte! Rache. Er wollte Vergeltung. Am liebsten hätte er den Kopf in den Nacken geworfen und gejault wie ein Wolf, Madigan gejagt und ihn bitter bezahlen lassen für das, was er Emily angetan hatte. Aber ihm waren die Hände gebunden, er musste sich weiterhin versteckt halten. Diese erzwungene Wehrlosigkeit zerrte an seinen Nerven. Er versuchte, ruhig und vernünftig zu bleiben, doch seine ohnmächtige Wut ließ sich einfach nicht besänftigen. Was für ein Mann war er selbst eigentlich? Wie konnte er Emily in derartige Gefahr bringen? „Vergiss die Party", hatte er zurückgeschrieben. „Geh nicht hin." Sie hatte geantwortet: „Ich habe mir bereits etwas zum Anziehen besorgt. Ich werde hingehen." Er wollte nicht mit ihr streiten. Das führte zu nichts. Ihr Entschluss stand fest, sie würde sich nicht vom Gegenteil überzeugen lassen. Aber zumindest konnte er versuchen, sie zu beschützen. Nachdem die Sicherheitsvorkehrungen wegen der Gäste gelockert worden waren, war es ihm gelungen, unbemerkt auf das Anwesen zu gelangen, das etwa zwei Quadratmeilen umfasste. Dahinter lag ein Waldgebiet, in dem Jordan seine Harley abgestellt hatte, versteckt hinter einem Gebüsch. War es tatsächlich erst eine Woche her, dass er über Waldwege gestolpert war, ungeschickt wie eine Bergziege in Skischuhen? Inzwischen hatte er sich bewundernswert an seine Umgebung angepasst. Zwar hasste er diese eiskalte Berggegend noch immer, aber zumindest hatte er gelernt, wie man hier überlebte.
Von seinem momentanen Bobachtungsposten aus konnte er sehen, wie die Fahrzeuge die Auffahrt hinauffuhren und parkten. Wie es schien, umfasste diese „kleine Party" über dreißig Gäste und erforderte einen Partyservice. Jordan senkte das Fernglas und schlich näher an das Gästehaus heran. Er starrte durch ein Fenster und konnte Madigan mit nacktem Oberkörper durchs Zimmer gehen sehen, das rotbraune Haar fiel ihm offen über die Schultern. Seine Brust hob und senkte sich rasch. Offenbar hatte er trainiert. Sein flacher Waschbrettbauch sah steinhart aus. Obwohl er davon ausgehen konnte, unbeobachtet zu sein, schien er sich ständig in Pose zu setzen. Durch den Empfänger, der in seinem Ohr steckte, konnte Jordan Emilys Stimme hören. „Okay, ich habe das Ding jetzt angeschaltet. Jordan, kannst du mich hören? Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, dass du mir antwortest." Sie hatten den Funksender am Nachmittag zusammen überprüft, er hatte perfekt funktioniert. Zwar hatte er kurz mit dem Gedanken gespielt, ihr ebenfalls einen Empfänger zu geben, damit sie miteinander kommunizieren konnten, aber er wäre in ihrem Ohr sichtbar gewesen. So konnte sie zwar mit ihm sprechen, doch er konnte nicht antworten. „Ich fahre jetzt zum Haus", sagte sie. „Schlechte Neuigkeiten. Spence kann mich nicht begleiten. Es hat einen schlimmen Autounfall irgendwo außerhalb von Cascadia gegeben, und er musste hin." Verdammt. Jordan hatte fest damit gerechnet, dass Spence Emily begleiten würde. Jetzt war sie ganz alleine. Verwundbar. „Mach dir keine Sorgen", sagte sie. „Wir sehen uns am vereinbarten Treffpunkt. Um Viertel vor elf." Er blickte auf seine Armbanduhr. Es war schon fast neun. Sie hatten ausgemacht, dass Spence und sie in einer Stunde und fünfundvierzig Minuten die Party verlassen würden. Spence sollte an einer bestimmten Tankstelle anhalten und tanken, während Emily unauffällig mit Jordan verschwand. Jetzt musste sie das Auto zurücklassen. Ihre Flucht würde für jeden offensichtlich sein. „Jordan." Sein Name klang so zart wie ein Streicheln. „Pass auf dich auf." Du auch. Von seinem Posten aus beobachtete er, wie Emily den Landrover neben den anderen Autos parkte - glänzende Limousinen von Cadillac und BMW. Sie war nur wenige Meter von ihm entfernt und zugleich durch eine Kluft von ihm getrennt, die so riesig war wie der Grand Canyon. Er konnte nicht einfach zu ihr gehen und in das helle Licht treten, er musste abwarten und in der Dunkelheit bleiben. Als sie aus dem Rover stieg, sah er, wie hübsch sie in den schwarzen Jeans und einem weinroten Blazer aussah. Ihr langes gelocktes Haar hatte sie im Nacken mit einer schwarzen Samtschleife zusammengebunden. Jordan versuchte sich zu entspannen. Alles in ihm wollte zu ihr rennen, sie in seine Arme reißen und in Sicherheit bringen. Geh nicht hinein. Sie war auf dem Weg in ein Nest von Klapperschlangen. „Himmel", flüsterte sie. „Das ist ja ein unglaubliches Anwesen. Ich kann nicht fassen, dass du hier mal gewohnt hast." Mit geballten Fäusten sah er, wie sie im Innern des Hauses verschwand. Es hatte ihn nie gereizt, an diesen Partys teilzunehmen. Doch jetzt hätte er alles dafür geben, an ihrer Seite sein zu können. Sie zu beschützen. Er ging hinter einem dicken Piniestamm in Deckung und lauschte Emilys Gesprächen mit den anderen Gästen. Ein halbes Dutzend Mal wurde ihr die erwartete Frage gestellt: „Wie war es, als Geisel genommen zu werden?" Sie lenkte diese Unterhaltungen immer ganz schnell auf ihre Arbeit beim Rettungsdienst. Doch meistens hörte sie einfach den anderen Leuten zu, die erpicht darauf waren, über sich selbst zu sprechen. Alles schien ganz harmlos zu sein. Vielleicht hatte er ja überreagiert. Er konzentrierte sich auf das Gästehaus. Sobald Madigan heraus war, wollte Jordan sich hineinschleichen und nach Beweisen dafür suchen, dass er Lynettes Kunstwerke gestohlen
hatte. Zwar rechnete er nicht damit, irgendwelche Belege zu finden, aber vielleicht die Adresse eines Händlers oder den Schlüssel zu einem Schließfach, irgendeinen Hinweiseben. Und wenn er schon mal in dem Haus war, wollte er auch gleich ein Abhörgerät installieren. Er hatte vier davon in seiner Tasche: Zwei brauchte er noch für Brian Afton, und eines wollte er in Rita Ramirez' Apartment platzieren. Jordan war überrascht gewesen, als Emily ihm in ihrer E-Mail schrieb, dass ein kleines Mädchen namens Isabel und deren Mutter Rita besucht hatten. Er bezweifelte, dass Lynette es gerne gesehen hätte, dass ihre Haushälterin Gäste beherbergte. Einer der Gründe dafür, dass sie Rita engagiert hatte, war, dass sie keine Familie in Colorado hatte und auch keinen Freund. Sie war verheiratet, und ihr Mann lebte in Mexiko. Rita schickte ihm jeden Monat die Hälfte ihres Lohns, damit sie eines Tages zusammen eine Farm kaufen konnten. Emily hatte in ihrer E-Mail angedeutet, dass vielleicht Isabels Mutter die Bilder gestohlen hatte. Doch das glaubte Jordan nicht. Rita war eine ehrliche Frau. Er hatte viel Zeit mit ihr verbracht, weil er sich in Colorado immer so fürchterlich gelangweilt hatte. Er fand es entsetzlich, dass ausgerechnet sie ihn mit Lynettes Leiche im Arm gesehen hatte. Jetzt war die Haushälterin überzeugt davon, dass er der Mörder seiner Frau war. Durch den Empfänger hörte er Emilys flüsternde Stimme. „Jordan, ich bin im Badezimmer. Unglaublich! Das ist ja größer als mein Wohnzimmer. Über der Wanne, in der man ein paar Bahnen schwimmen könnte, ist ein riesiges Oberlicht. Aber warum erzähle ich dir das? Du hast ja schließlich hier gewohnt." Gut, dachte er, sie versteckte sich im Badezimmer. Am besten bleibst du dort, Emily. „Ich habe Brian Hallo gesagt", fuhr sie fort, „und irgendeinen Typen vom Fernsehen getroffen, den ich aber nicht kannte. Sollte ich jetzt beeindruckt sein? Kreiger ist auch hier, doch Madigan habe ich bisher nicht gesehen. Ich schaue mich weiter um. Tschüs erst mal." Um halb zehn verließ Sean Madigan das Gästehaus. Er blieb einen Augenblick auf der Veranda stehen, blickte sich lange um und schnüffelte, als wäre er in der Lage, einen Eindringling zu wittern. Jordan verspürte den überwältigenden Drang, einfach auf ihn zuzugehen und diesen Mann, den Liebhaber und vermutlich Mörder seiner Frau zur Rede zu stellen. Er musste seine ganze Beherrschung zusammennehmen, um im Hintergrund zu bleiben. Beweise, er brauchte Beweise. Und er war bereits zwei Mal in eine Falle getappt. Das würde ihm nicht noch einmal passieren. Mit schwingenden Armen spazierte Madigan über einen schmalen Pfad zu dem breiten Steinweg, der zum Haus führte. Endlich war er fort. Dieses Mal würde Jordan keinen Fehler machen! Während er Emily weiterhin dabei zuhörte, wie sie auf der Party Small Talk machte, näherte er sich dem Gebäude, das einige Jahre nach dem Haupthaus gebaut worden war. Es war ein typisches Beispiel für die Architektur von Colorado: Schindeldach und Wände aus Zedernholz. Er hatte eine Auswahl an Dietrichen dabei, aber die brauchte er gar nicht. Madigan hatte nicht abgeschlossen - entweder ein Zeichen für unglaubliche Arroganz oder himmelschreiende Dummheit. Jordan schlüpfte hinein und hob das Infrarot-Fernglas an die Augen. Die Ausstattung war einfach. Oben befand sich das Schlafzimmer, unten die Küche, das Wohnzimmer, ein Badezimmer und ein Raum, der als Gästezimmer dienen konnte. Madigan hatte sich darin ein Fitnessstudio eingerichtet. Jordan begann mit seiner Suche. Es stank nach alten Socken. Er betrachtete eines der teuren Fitnessgeräte, mit dem man einzelne Muskelgruppen trainieren konnte. Dann zog er die Schiebetür des Schrankes auf, fand jedoch nur dicke Skipullis und andere Kleidung. Nichts sonst. Er nahm sich den Tisch im Wohnzimmer vor. Bei der Möblierung des Gästehauses hatte Lynette ihrem Hang zu Antiquitäten einmal nicht nachgegeben. Die Einrichtung war schlicht und klar. In den Schubladen gab es nichts Interessantes, ein paar Bankbelege, die er schon
übers Internet durchgesehen hatte. Madigan hatte keine ungewöhnlichen Abhebungen oder Einzahlungen getätigt. Seine Kreditkartenabrechnung konnte vielleicht hilfreich sein. Jordan fand allerdings nur eine, die einen Betrag über fünftausend Dollar aufwies. Bei den anderen handelte es sich um kleine Beträge, passend für einen herumziehenden Skilehrer. In Jordans Ohr begann es zu prickeln, als er Emily sagen hörte: „Hallo, Mr. Madigan." „Ich muss mit Ihnen sprechen", fauchte Madigan. „Alleine." „Vielleicht später", wehrte Emily ihn ab. „Ich bin gerade mitten in einem Gespräch mit Kiki. Sie ist Malerin." Trotz seiner Anspannung musste Jordan grinsen. Kiki Feiton konnte einem ein Loch in den Bauch reden. Er erkannte ihre dröhnende Stimme, als sie Madigan begrüßte und ihm erklärte, wie gerne sie ihn einmal so nackt, wie Gott ihn geschaffen hatte, malen würde. Sofort meldete Emily sich zu Wort. „Besitzen Sie irgendwelche Kunstwerke, Mr. Madigan?" Tu das nicht, Emily, flehte Jordan still. Provoziere ihn nicht. „Mein Körper ist mein Kunstwerk", entgegnete Madigan. Was für ein Vollidiot. Emily und Kiki gingen weiter, Kiki erläuterte einige Werke der Afton-Sammlung. Jordan rannte die Treppe hinauf und sah sich im Schlafzimmer um. Ein Doppelbett. Zwei Nachttische. Ein Tisch und Stühle vor dem Fenster. Obwohl seine Suche bisher erfolglos geblieben war, hatte er das unbestimmte Gefühl, etwas übersehen zu haben, etwas ganz Offensichtliches. Skier! Wo bewahrte Madigan seine Skier auf? Jordan ging in die angebaute kleine Garage. Leer. Madigans Auto war davor geparkt. Es musste also noch einen anderen Lagerraum geben, einen, den er bisher übersehen hatte. Jetzt hörte er die Stimme von Brian Afton. „Emily, ich bin so froh, dass Sie es einrichten konnten, zu meiner kleinen Party zu kommen. Was für ein schlechter Gastgeber ich bin, ich habe mich noch gar nicht um Sie gekümmert." „Ich amüsiere mich prächtig", antwortete sie höflich. „Sie haben ein wundervolles Haus." „Soll ich Sie herumführen?" Nein, geh nicht mit ihm! „Gerne", sagte sie. „Warum nicht?" Jordan versuchte sich einzureden, dass sie sicher war. Brian konnte in einem Haus voller Gäste nicht viel anrichten. Zumindest körperlich war Emily nicht in Gefahr. Allerdings wusste er nur zu gut, wie sie in Paniksituationen reagierte, dass sie sich dann an einen Ort erinnerte, an dem sie nie gewesen war. Er wollte keinesfalls, dass sie diese Höllenqualen noch einmal durchleiden musste. Mit einem Blick auf die Uhr stellte Jordan fest, dass ihm noch eine dreiviertel Stunde blieb. Das war noch eine Menge Zeit. Er musste so schnell wie möglich die Durchsuchung des Gästehauses zu Ende bringen und dann zum Haupthaus gehen. Und dann? Er konnte schlecht hineingehen und Emily abholen. Kreiger war auf der Party. Und Madigan. Männer, die ihn einsperren oder besser noch umbringen wollten. Mit seinem Infrarot-Fernglas suchte er die Bodendielen nach einer Falltür ab. Nichts. Er ging in die Küche. Schränke, Geräte, Küchentheke. Und eine Speisekammer. Er drehte am Türknauf. Abgeschlossen. Jordan zog den Bund mit den Dietrichen hervor. Einer würde passen. Er hörte Brians Stimme. „Oben haben wir ein paar Gemälde hiesiger Künstler. Kommen Sie mit, Emily." „Vielleicht sollten wir Kiki mitnehmen." Gute Idee, Emily. Jordan bewegte den Nachschlüssel im Schloss hin und her. Die Tür öffnete sich.
„Kiki kennt sie schon", sagte Brian. „Wenn ich es nicht besser wusste, Emily, würde ich meinen, Sie haben Angst vor mir." „Hätte ich dafür denn einen Grund?" „Natürlich nicht." „Ich möchte die Bilder sehen", sagte sie. „Aber zuerst muss ich mal für kleine Mädchen. Ich bin gleich wieder da." Erleichterung erfasste ihn. Sie sollte sich eine Weile auf der Toilette verstecken, dort war sie wenigstens sicher. Die Speisekammer war lang und schmal. Sechs Paar Ski standen an die Wand gelehnt. In der hinteren Ecke entdeckte er einen großen Safe. „Verdammt." Er hatte nichts bei sich, womit er ihn hätte knacken können. Dabei hätte er wissen müssen, dass Madigan schmutziges Geld nicht auf sein Bankkonto überwies. Dass er es in einem Safe aufbewahrte, wo es von keinem Computer gefunden werden konnte. „Jordan", hörte er Emilys Stimme. „Ich bin's. Ich bin wieder im Bad. Ich werde mich gleich mal in Ruhe mit Brian unterhalten. Das ist ja schließlich der Grund, warum ich auf dieser Party bin. Wenn es nicht gut läuft, werde ich einfach früher gehen. Ich fahre dann zur Tankstelle und warte auf dich." Keine gute Idee. Sein simpler Plan begann sich aufzulösen. Erschloss die Tür der Speisekammer hinter sich ab und verließ die Hütte. Wenn er die Abhörgeräte installieren konnte, dann war der Abend wenigstens kein totaler Reinfall. Jordan schlich durch den Wald und starrte auf den elegant angelegten Garten, der um diese Zeit ziemlich kahl war. Er hörte, dass Emily sich wieder mit Brian unterhielt. Und dann wurde die Führung plötzlich unterbrochen. Jordan hörte aufgeregte Stimmen. Was zum Teufel war da los? „O mein Gott", sagte Emily. „Sean Madigan und Frank Kreiger liefern sich einen Boxkampf." Jordan wusste, dass diese Bemerkung ihm galt. Er rannte ums Haus herum auf die Seite, auf der der Wald besonders dicht war. „Ich kann's nicht glauben", fuhr Emily fort. „Kreiger hat Madigan einen Kinnhaken verpasst. Das ist kein fairer Kampf. Madigan ist viel größer und hat eine größere Reichweite." Sie klang wie ein verdammter Sportreporter. Der Lärm der Zuschauer machte es ihm schwer, zu verstehen, was sie sagte. Dieser Kampf war das Beste, was ihm passieren konnte. Die Gäste waren alle damit beschäftigt, zuzusehen. So konnte er sich unbemerkt dem Haus nähern. Er setzte sich auf einen kleinen Hügel und suchte die Gegend mit seinem Nachtsichtgerät ab. Er sah nach oben. Auf dem Dach des dreistöckigen Hauses standen zwei uniformierte Scharfschützen. Sie hatten ihm schon wieder eine Falle gestellt. Und Emily war der Köder. Als man es schließlich geschafft hatte, Kreiger und Madigan voneinander zu trennen, sah Emily verstohlen auf die Uhr. Es war Viertel nach zehn. Sie würde sich pünktlich mit Jordan treffen können. Allerdings musste sie dann sofort los. Die Atmosphäre hatte etwas Bedrohliches bekommen. Das herrliche Essen lag ihr schwer im Magen. Das Geplapper der Leute klang wie verzerrt. Jordan hatte Recht gehabt. Sie hätte nicht herkommen sollen. „Hier sind Sie", rief Brian Afton. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Emily. Ich habe Kreiger gebeten, zu gehen, und das hat er auch ohne Widerrede getan. Es war nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. Aber so sind Jungs nun mal, nicht?" Kreiger und Madigan sahen ihrer Meinung nach nicht wie Jungs aus. Was auch immer ihren Streit geschürt hatte, war bestimmt kein Spaß gewesen. Sie war überzeugt davon, dass
Kreiger Lynette geliebt hatte. Und Madigan war ihr Liebhaber gewesen. Es war erstaunlich, dass die beiden trotzdem befreundet waren. „Ich muss jetzt gehen." „Unsinn. Wir werden erst noch unsere Führung beenden." Er berührte sie sanft am Ellbogen. „Nach oben." Vor ihm hatte sie keine so große Angst wie vor Madigan. Brian war sehr höflich und wirkte überhaupt nicht bedrohlich. Mit seinem gepflegten schwarzen Haar und dem teuren Kaschmir-Pullover sah er auch nicht gerade gewalttätig aus. Und trotzdem. Als sie die geschwungene Marmortreppe nach oben stieg, vorbei an dem glitzernden Kristalllüster, hatte sie das Gefühl, ihrem Untergang entgegenzugehen. Oben angekommen, war Emily nur froh, dass sie nicht unter Höhenangst litt. Einzig ein Geländer aus Kirschholz verhinderte einen mindestens sechs Meter tiefen Sturz ins Foyer. Brian führte sie auf die gegenüberliegende Seite, wo an einer getäfelten Wand mehrere Gemälde hingen. Er begann, sorgfältig jedes einzelne Bild zu erklären und sie auf besondere Pinselstriche und Perspektiven hinzuweisen. Sein fortwährender Monolog hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. „Sie kennen sich sehr gut mit Ihren Kunstwerken aus", bemerkte sie. „Ich habe selbst einmal daran gedacht, Maler zu werden", entgegnete er. „Ich war nie so geschäftstüchtig wie meine Schwester. Vielleicht werde ich, wenn diese Geschichte hier endlich vorbei ist, mal wieder versuchen, zu malen." „Wenn diese Geschichte vorbei ist?" fragte sie. „Sie meinen, sobald der Mörder verurteilt ist." „Ja, der Mörder." Seine blauen Augen, die einen so auffälligen Kontrast zu seinem schwarzen Haar bildeten, starrten sie an wie eine Ratte, die in einem Mülleimer herumwühlt. Sie konnte nicht fassen, wie emotionslos er über den Mord an seiner Schwester sprach. Emily hatte oft genug mit Hinterbliebenen zu tun gehabt, und normalerweise war die Reaktion eine andere. Zwei Monate nach einem solchen Verlust empfanden die meisten Menschen unverminderte Trauer... „Vermissen Sie Lynette?" fragte sie. „Gute Frage." Er schob sie ein paar Schritte weiter auf eine Flügeltür zu. „Wir haben uns nie sonderlich nahe gestanden. Lynette hat immer alle anderen übertroffen, als Schönheitskönigin genauso wie als Klassenbeste. Vielleicht habe ich ihr den Erfolg missgönnt." So sehr, dass er sie getötet hat? Auf jeden Fall konnte Brian dank der Erbschaft nun ein sehr glamouröses Leben führen. „Ich weiß, was Sie jetzt denken", sagte er. „Sie fragen sich, ob ich sie ermordet habe." Ihr Magen krampfte sich zusammen. Der Augenblick, auf den sie so lange gewartet hatte, war gekommen. Ein stichhaltiger Beweis. Ein Geständnis. Und doch hatte sie Angst vor der Antwort. Wenn er ihr die Wahrheit beichtete, was würde er dann als Nächstes tun? „Nun, Emily, ich möchte Sie nicht länger auf die Folter spannen. Habe ich Lynette umgebracht? Die Antwort ist nein." Sollte sie ihm glauben? „Wir müssen nicht darüber sprechen, Brian." „Das möchte ich aber gerne. Ich muss Ihnen ein Geständnis machen. Wegen einiger komplizierter juristischer Gründe darf ich über Lynettes Vermögen erst verfügen, wenn der Prozess gegen Jordan vorbei ist. Es gibt Unstimmigkeiten wegen seiner zehn Prozent, weswegen ich erst einmal an nichts rankomme. Um ganz ehrlich zu sein, mir ist es egal, ob er schuldig ist oder nicht. Mir geht es nur darum, dass das Thema endlich abgeschlossen wird." „Er ist unschuldig", sagte sie ruhig. „Und Sie mögen ihn sehr. Da hat sich wohl etwas zwischen ihnen beiden entwickelt." „Nein."
„Bemühen Sie sich erst gar nicht, es abzustreiten. Jeder hat das schon vermutet, selbst die dämlichen Polizisten. Und das ist auch der Grund, warum Sie hier sind, Emily. Ich gehe davon aus, dass Jordan kommt, um Sie edelmütig zu retten." Eine dunkle Vorahnung packte sie. „Wieso sollte er mich retten müssen?" „Weil man Sie verhaften wird." Zum ersten Mal sah sie, dass sich so etwas wie ein Gefühl auf seinem Gesicht abzeichnete. Er war erheitert, ja, er lachte sie geradezu aus. „Sie haben einem Sträfling auf der Flucht geholfen, nicht wahr?" Die Vorstellung, ins Gefängnis zu müssen, ängstigte sie. Aber solange sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte, konnte sie alles ertragen. War nicht auch ihr Vater unschuldig in einem Camp in Vietnam festgehalten worden? Sie schluckte schwer, versuchte einen Rest an Fassung zu bewahren. „Mal angenommen, Sie hätten Recht, wie würden Sie denn Jordan ergreifen wollen?" „Ich bin gut vorbereitet. Unter den Gästen sind mehrere ausgebildete Sicherheitsleute. Ach ja, und außerdem habe ich Scharfschützen auf dem Dach postiert." „Scharfschützen? Ich dachte, Sie wollten Jordan vor Gericht bringen?" „Wenn er tot ist, wird das Problem mit der Erbschaft ebenso schnell erledigt werden." Endlich verstand Emily. „Sie haben die Belohnung ausgesetzt." „So ist es. Zehntausend Dollar sind ein geringer Preis, den ich gerne zahle." Er stieß die Flügeltür auf. „Unsere Führung wäre ohne diese Räumlichkeiten hier nicht komplett. Treten Sie ein. Lynettes Suite." Weiße Wände, Spiegel und wirkungsvoll beleuchtete Gemälde. Dazu weiße Möbel und ein weißer Teppich. Alles zusammen vermittelte ihr das Gefühl, schneeblind zu sein. Sie hatte keine Angst um sich selbst, aber um Jordan. Wenn er dem Haus zu nahe kam, würde er erschossen werden. Sie konnte nur hoffen, dass er ihr Gespräch mitgehört hatte. Sie betete, dass er klug genug war, zu verschwinden. Brian packte sie am Arm und zog sie durch die nächste Tür ins Schlafzimmer. Noch mehr Weiß. Auf dem Teppich vor dem Bett sah sie einen dunklen rostfarbenen Fleck. „Nach Aussage des Leichenbeschauers ist der Tod sofort eingetreten. Sie musste nicht leiden", sagte Brian. „Selbst wenn es ums Sterben ging, war Lynette bewundernswert effizient." „Mir wird schlecht." Emily bedeckte ihren Mund mit der Hand. Ihr Magen drehte sich. „Hier entlang." Brian deutete auf eine Tür. „Dort ist die Toilette." Sie rannte hinein, schloss die Tür ab und schaffte es gerade noch zur Kloschüssel, bevor sie sich übergeben musste. Schwach und hilflos kniete sie auf dem weißen Teppich. Warum nur hatte sie darauf bestanden, zu dieser Party zu gehen? Statt Jordan zu helfen, hatte sie ihn in eine Falle gelockt. „Bitte sei vernünftig. Verschwinde von hier, bevor sie dich töten", flüsterte sie. Sie holte ein paar Mal tief Luft. Ihr war klar, dass sie schnell handeln musste, wenn sie nicht verhaftet werden wollte. „Emily?" rief Brian von draußen. „Einen Augenblick noch." Sie spülte sich den Mund aus. Darin drehte sie den Wasserhahn voll auf, lief zur Glastür und stieß sie auf. Sie trat auf einen lang gezogenen Balkon mit Tisch und Stühlen. Brian kannte sich in dem Haus bestens aus. Sie hatte also keine Zeit zu verlieren, wenn sie entkommen wollte. Sie schwang ein Bein über das Geländer und wünschte, statt der Cowboystiefel die Kletterschuhe angezogen zu haben. Schnell ließ sie sich an der Außenseite des Balkons herab, klammerte sich fest und biss die Zähne zusammen. Sie musste sich etwa drei Meter tief fallen lassen. Eine gefährliche Höhe. Vermutlich würde sie sich einen Knöchel brechen. „Lass los", hörte sie eine Stimme von unten. „Ich fange dich auf." Sie lockerte ihren Griff und fiel in Jordans Arme.
13. KAPITEL Erleichtert und erschrocken zugleich warf Emily die Arme um seinen Hals. Sie fühlte sich beschützt. Er würde nicht zulassen, dass man sie verhaftete. Doch wie sollte er eine ganze Armee von gut bezahlten Scharfschützen aufhalten? „Schöne Stiefel", sagte er. Sie verstand nicht, was er meinte. „Wie schnell kannst du in ihnen rennen?" „Oh. Ich werde mit dir mithalten können." Jordan drückte sie kurz und ließ sie herunter. „Dann los." Er rannte gebückt an der Hauswand entlang, um nicht direkt im Licht zu sein. Nach ein paar Metern spähte er um eine Ecke und duckte sich dann neben ihr. Sehnsuchtsvoll blickte sie auf den Wald, der so nah zu sein schien. „Lass uns unter die Bäume rennen. Dort haben wir eine größere Chance." „Auf dem Dach stehen Scharfschützen. Sobald wir uns vom Haus wegbewegen, sind wir direkt in der Schusslinie." Emily war klar, dass die Scharfschützen im Gegensatz zu Ed Collins mit ihren Gewehren hervorragend umgehen konnten. Sie waren von Brian angeheuert worden, und der hatte nun wirklich die finanziellen Möglichkeiten, sich nur die Besten der Besten zu leisten. „Aber wir müssen hier weg. Brian hat..." „Ich weiß", flüsterte er. „Ich habe alles mitgehört. Deswegen war ich auch da, um dich aufzufangen." Sie hatte bisher gar nicht darüber nachgedacht, aus welchem Grund er eigentlich unter dem Balkon gestanden hatte. Ihr reichte es völlig, dass er wie durch ein Wunder einfach auftauchte, wenn sie ihn brauchte. „Hast du einen Plan?" „Wie immer", entgegnete er. Sie wartete auf eine Erklärung, aber er sagte nichts mehr. „Würde es dir etwas ausmachen, ihn mir zu verraten?" „Wir befinden uns in der Nähe der Küche", flüsterte Jordan. „Hier ist eine Menge los. Das Bedienungspersonal kommt und geht. Niemand wird vermuten, dass wir uns ausgerechnet hier verstecken." „Aus gutem Grund", wisperte sie zurück. „Wenn wir eines der Catering-Autos erreichen, kann ich es kurzschließen. Oder wir können uns hinten drin verstecken." Das klang nicht gerade nach einem besonders ausgeklügelten Plan, aber sie hatte auch keine bessere Idee. Sie konnten nicht einfach so weglaufen. Vielleicht würde man sie nicht gleich erschießen, aber entdecken auf jeden Fall. Ihre Verfolger waren ihnen zu dicht auf den Fersen und zu gut bewaffnet. Er schielte noch einmal um die Ecke. „Okay, die Luft ist rein. Auf geht's." Sie folgte ihm über den gepflasterten Hof an der Rückseite des Hauses. Er versuchte, die Heckklappe eines Vans zu öffnen. Noch bevor es ihm gelang, hörte Emily Schritte. Sie drehte sich um und schaute direkt ins Gesicht einer streng blickenden hispanischen Frau, die eine grauweiße Dienstbotenuniform trug. Sie blickte an Emily vorbei zu Jordan. „Rita", sagte er. „Buenas noches." „Jordan", entgegnete sie. Emily wartete darauf, dass die Haushälterin um Hilfe schrie. Rita Ramirez war schließlich zutiefst davon überzeugt, dass Jordan seine Frau umgebracht hatte. Sie war es gewesen, die ihn bei der Leiche entdeckt hatte. Und sie war es gewesen, die mehrmals ausgesagt hatte, dass niemand sonst im Haus gewesen war. „Ich habe mich geirrt", sagte Rita jetzt. „Kommen Sie mit mir." „Was?" fragte Emily atemlos.
„Jordan ist unschuldig." Rita deutete mit dem Kinn aufs Haus. „Schnell." Sie betraten das Haus durch eine Glastür neben dem Dienstboteneingang und gingen eine Steintreppe hinunter. Während sie durch ein Gewirr aus unterirdischen Korridoren liefen, unterhielten sich Jordan und Rita auf - Spanisch. Zwar konnte Emily nicht jedes Wort verstehen, aber sie hörte, wie der Name Isabel fiel. Sprachen sie von dem kleinen Mädchen, das Yvonne erwähnt hatte? Schließlich öffnete Rita eine schwere, quietschende Holztür. Sie zog ein Schlüsselbund aus der Tasche, machte einen Schlüssel los und reichte ihn Jordan. „Es tut mir Leid, Jordan. Ich wusste es nicht." „Pass auf Isabel und ihre Mutter auf", entgegnete er. Er packte Emilys Hand und zog sie in den Weinkeller. Zwei nackte Glühbirnen erhellten den großen Raum, an dessen Wänden zu beiden Seiten deckenhohe Weinregale standen. In fast jeder der halbrunden Vertiefungen lagerte eine Flasche. Jordan drängte sie hastig ans andere Ende zu einem bogenförmigen Ausgang. Hinter der verschlossenen Gittertür befand sich ein weiterer, viel kleinerer Raum. Jordan schloss die Tür auf und schob sie hinein. Dann gab er Rita ein Zeichen, damit sie das Licht ausknipste. Mit einem Mal waren sie in totale Dunkelheit getaucht. „Einen Moment", sagte Jordan. Und schon sah Emily den schmalen Lichtstrahl einer Taschenlampe. Er reichte sie ihr. „Sobald du etwas hörst oder siehst, mach sie aus." Er zog das Gitter wieder zu. Nun waren sie in dem engen Raum mit einem weiteren Flaschenregal eingeschlossen. „Das hier ist richtig guter Stoff", erklärte Jordan. „Hundert Jahre alter Cognac. Und Wein ab eintausend Dollar die Flasche." „Kommt mir ziemlich verschwenderisch vor, so viel Geld für Alkohol auszugeben", sagte sie. „Hat deine Frau gerne getrunken?" „Sie war eine perfekte Gastgeberin. Und legte Wert auf den perfekten Wein zum perfekten Essen." Er lief hinüber zum Steinbogen. „Hier ist gerade genug Platz, dass wir uns beide gegen die Wand drücken können, falls jemand herunterkommt und nach uns sucht." „Ohne den Schlüssel kann hier doch niemand rein." „Genau das ist der Trick." Sie glitt an der Wand entlang und setzte sich auf den Boden. Zwar konnte sie es kaum erwarten zu hören, was Rita Jordan erzählt hatte, doch zugleich hatte sie ein äußerst unbehagliches Gefühl. Ihre Situation war im Grunde nur noch schlimmer geworden. Sie räusperte sich. „Es ist gar nicht so feucht und modrig, wie man es in einem Keller vermuten sollte." „Temperatur und Luftfeuchtigkeit werden ständig kontrolliert." Er ließ sich neben ihr nieder. „Es ist Teil von Ritas Job, beides zwei Mal am Tag zu überprüfen." Sie hielt die Taschenlampe so, dass sie sein Gesicht sehen konnte. „Können wir ihr vertrauen?" „Ja." Er beugte sich zu ihr und küsste sie. Eigentlich hatte er sie nur beruhigen wollen, doch mit einem Mal wurde sein Kuss leidenschaftlicher. Und ihre Sehnsucht nach ihm war durch die letzten Stunden auch nicht gerade kleiner geworden. Sie drehte sich so, dass sie ihn ansehen konnte. Dann legte sie ihr Gesicht an seine starke Brust. „Wir schaffen es." Er streichelte ihr sanft übers Haar. „Wenn wir diese Nacht überstehen, sind wir in Sicherheit." Sie wollte ihm so gerne glauben. Aber sie wurde dieses Gefühl von Bedrohung einfach nicht los. Ihr Herz raste noch immer. Wenn sie die Augen schloss, würde sie bestimmt wieder eine Panikattacke bekommen. „Was hat Rita gesagt?" „In der Mordnacht waren Isabel und ihre schwangere Mutter im Haus. Die Mutter ist Ritas Nichte aus Mexiko." „Illegale Einwanderer", vermutete Emily. „Deswegen hat Rita sie versteckt."
„Sie will, dass die beiden zurück nach Mexiko gehen und es dann auf dem legalen Weg versuchen. Aber die Mutter, Teresa, weigert sich, zu gehen. Ihr Traum ist es, ihr Baby in diesem Land zur Welt zu bringen." „Verstehe." Sie fand es nicht richtig, gegen das Einwanderungsgesetz zu verstoßen, konnte aber verstehen, dass eine Mutter ihrem Kind ein besseres Leben ermöglichen wollte. „Isabel und Teresa sind vor ein paar Wochen wiedergekommen. Und da stellte Rita fest, dass die Kleine Albträume hat. Sie erzählte, dass es von einem Monster namens Roboso verfolgt wird. Das Monster hat ein Gewehr. Und es schießt auf Menschen." „Sie hat irgendwas gesehen." „Es dauerte etwas, bis Rita die Wahrheit herausfand. Zwar hatte sie es dem Mädchen verboten, ihre Wohnung hinter der Küche zu verlassen, aber die Kleine schlich nachts immer wieder durch das Haus, während alle anderen schliefen. Sie hat den Mörder gesehen. Sie ist ihm die Treppe hinauf gefolgt. Möglicherweise hat sie sogar mit angesehen, wie er Lynette ermordete." Emily tat das traumatisierte Kind furchtbar Leid. „Roboso?" „Spanisch", erklärte er. „Roja bedeutet rot. Und oso heißt Bär. Der rote Bär." Sofort dachte sie an das lange rötliche, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haar. „Madigan." „Er hat Lynette umgebracht." „Warum hat Rita das nicht sofort gemeldet?" „Teresa wollte es nicht. Sie ist im neunten Monat schwanger. Sie kann jeden Moment ihr Baby bekommen. Erst danach will sie ihre Tochter aussagen lassen." Zwar fand Emily es auch nicht gerade erstrebenswert, dass Mutter und Kind endlose Verhöre über sich ergehen lassen mussten und dann vermutlich auch noch abgeschoben wurden, aber andererseits hatte Jordan keine Zeit zu verlieren. „Ein Geburtstermin ist eine ziemlich ungenaue Angelegenheit", sagte sie. „Die Mutter könnte sich verrechnet haben. Es kann noch Wochen dauern. So lange können wir nicht warten, Jordan." „Ich weiß." Jordan atmete tief durch. Er hatte mit angehört, wie Brian Emily bedroht hatte. Sie sollte verhaftet werden. Er beugte sich erneut nach vorne und küsste sie aufs Haar. Es roch frisch und sauber. Er durfte nicht zulassen, dass ihr irgendetwas geschah. Gleichzeitig wollte er aber auch nicht, dass Isabel und ihre Mutter noch mehr Ärger bekamen. Die beiden waren genauso wie er auf der Flucht. Es musste einen Weg geben, dass Isabel eine Zeugenaussage machte, ohne in Polizeigewahrsam genommen zu werden. „Eine Videoaufnahme", flüsterte er. Sie presste sich gegen seine Brust und zwickte ihn leicht in den Arm. „Du musst damit aufhören, Jordan." „Womit?" „Damit, dass du mit ein, zwei Worten herausplatzt und dann erwartest, dass ich alles verstehe. Was ist mit der Videoaufnahme?" „Wir müssen dem Sheriff eine Aufzeichnung mit Isabels Zeugenaussage zukommen lassen. Das sollte ausreichen, um mich erst mal reinzuwaschen." „Aber nur, wenn ein unabhängiger Dritter diese Aufnahme gemacht hat", sagte sie. „Von dir oder mir angefertigt, würde sie nicht als Beweis akzeptiert werden." „Stimmt. Wir brauchen jemanden, der die Fragen stellt und bestätigt, dass wir das Kind nicht beeinflussen." „Kreiger", schlug sie vor. „Auf keinen Fall. Kreiger hatte mit der inszenierten Flucht zu tun. Und er ist mit Madigan befreundet.".
„Nicht nach dem Boxkampf von heute Abend", sagte Emily. „Ich glaube, dass Kreiger sich mit Madigan eingelassen hat, weil er wirklich davon überzeugt war, dass du seine geliebte Lynette ermordet hast. Er wollte Rache." „Was genau der Grund ist, warum ich mit diesem Typen nichts zu tun haben will." „Ich glaube immer noch, dass er eigentlich ein anständiger Kerl ist. Er hat einfach einen Fehler gemacht." „Und dieser kleine Fehler hat mich beinahe das Leben gekostet", entgegnete Jordan. „Auf keinen Fall. Nicht Kreiger." Sie mussten einen anderen finden, jemanden, der in Cascadia einen tadellosen Ruf hatte. Aber zumindest wussten sie jetzt, wie es weitergehen sollte: Sie würden Isabels Zeugenaussage von dem roten Bär, der durch das Haus schlich und Lynette ermordet hatte, aufzeichnen. Und dann würde der Sheriff Madigan verhören. „Ich schätze, dass du ansonsten keine Beweise gegen Madigan hast?" fragte Emily. „Nein." Jordan seufzte. „Ich habe das Gästehaus durchsucht, konnte aber nichts finden, was ihn mit dem Kunstraub in Verbindung bringt. Er ist einfach zu clever." „Das kann ich kaum glauben. Du bist schließlich so was wie ein Genie, während er nur ein gefährlicher Idiot ist." „In seinem Haus gibt es einen Safe. Ich vermute, dass darin Bargeld liegt. Wenn es so ist, kann man die Spur nicht zurückverfolgen. Kein Papierkram, keine Computerdaten. Ich könnte also nicht beweisen, dass das Geld aus dem Verkauf gestohlener Bilder stammt." Er zog sie dichter an sich heran. „Das ist wirklich Ironie. Mit meinen ganzen aufwändigen technischen Geräten habe ich den Täter nicht finden können. Dutzende von Polizisten und Fahndern konnten den Fall nicht lösen. Und dann klärt sich alles durch die Albträume eines kleinen Mädchens." Sie hörten, wie sich die Tür des Weinkellers quietschend öffnete. Jordan reagierte umgehend, stellte die Taschenlampe aus und drückte Emily neben sich gegen die Steinwand. Das Licht ging an. Sie standen reglos gegen die Wand gepresst im Schatten. „Seien Sie vorsichtig", hörten sie Brian Afton sagen. „Diese Flaschen dürfen auf keinen Fall berührt werden." Schritte hallten auf dem Betonboden. Ein schepperndes Geräusch erklang. „Passen Sie doch auf!" zischte Brian. „Sieht nicht so aus, als ob jemand hier wäre, Boss." Einer der Sicherheitsleute stand direkt vor der Gittertür. Jordan konnte seine Anwesenheit spüren, er hörte den anderen atmen. „Hey, was ist eigentlich hier hinten?" fragte der Mann. „Weg da", rief Brian böse. „Jede einzelne Flasche darin ist mehr wert als Ihr armseliges Leben." „Haben Sie einen Schlüssel?" „Schauen Sie doch einfach rein. Sehen Sie jemanden? Nein. Gehen wir." Der Mann rüttelte am Türgriff. Jordan zuckte zusammen. Er spürte, wie Emily neben ihm erstarrte. Hinter geschlossenen Augen sah Emily ein Feld mit hohem Gras, das sich im Wind kräuselte. Der Lärm eines Apache-Hubschraubers dröhnte in ihren Ohren. Sie spürte, wie sie immer weiter in die Szene hineingezogen wurde, wie sie dem grünen Hubschrauber viel zu nah kam. Die Grashalme teilten sich. Männer in Uniformen lagen blutüberströmt am Boden und schrien um Hilfe. „Ein Arzt!" Sie sah das Flackern von Geschützfeuer. Der Himmel über ihr explodierte in grellem Orange und Schwarz. Die Bäume wurden zu gigantischen Fackeln. Sie stürzte zu Boden und starrte auf ein brennendes Dorf. Menschen rannten durcheinander. „Ein Arzt!"
Ein Mann in Uniform und mit Helm trat aus dem Wald heraus. Er trug eine weiße Metallkiste mit einem roten Kreuz darauf. Weit entfernt hörte sie Jordans Stimme. „Emily, bist du okay? Emily, antworte mir." Sie spürte, wie ihre Lippen sich bewegten. Sie hörte sich sagen: „In meinem Kopf läuft ein Film ab, Jordan. Vietnam. Es ist schrecklich." „Was siehst du?" fragte er. Überall Feuer. Der Rauch brannte in ihren Augen. Trotzdem konnte sie nicht aufhören, den Mann mit dem Erste-Hilfe-Kasten anzustarren. Als er näher kam, sah sie, dass sein Gesicht mit Ruß verschmiert war. Er winkte ihr lächelnd zu. „Meinen Vater", sagte sie. Sie erkannte ihn von den Fotos, die ihre Mutter aufgestellt hatte. Er sah genauso aus wie auf dem winzigen Bild, das sie in ihrem Medaillon trug. Aber er war lebendig. Er war jung und stark, und er lebte. „Er kommt auf mich zu." „Du darfst nicht mit ihm gehen." Das war wieder Jordans Stimme. „Du musst bei mir bleiben." „Ich weiß." Sie sah nur noch das Gesicht ihres Vaters, und sie wurde von einer Klarheit gestreift, die so zart war wie der Flügel eines Engels. „Auf Wiedersehen, Daddy", flüsterte sie. „Ich werde dich immer lieben." Sie blinzelte. Dann schloss sie die Augen noch einmal und tauchte in eine beruhigende, samtene Dunkelheit. Sie hatte mit ihrer Vergangenheit Frieden geschlossen. Als sie die Augen wieder öffnete, lag sie auf dem Betonboden. Jordan hielt sie fest. Und es war nicht mehr länger dunkel. „Ist schon gut", sagte er. „Sie sind weg. Niemand wird dir etwas antun." „Das Licht ist noch an." „Brian hat vergessen, es auszuschalten. Wie fühlst du dich?" „Mir geht es gut." Endlich hatte sie die Chance bekommen, sich zu verabschieden. „Mir geht es gut." „Du kannst ruhig liegen bleiben. Wir warten so lange, bis Rita uns sagt, dass wir rauskommen können." Sie schmiegte sich an ihn, vollkommen zufrieden damit, in seinen Armen zu liegen. Jordan lehnte sich an die Wand. Sie kannte ihn so gut. Er war ihr so vertraut. Durch ihn war sie gezwungen gewesen, ganz tief in sich hineinzublicken, sich ihren verdrängten Schmerzen und Albträumen zu stellen. Und doch musste sie Jordan bald Auf Wiedersehen sagen. „Wenn das hier vorbei ist", fragte sie, „was wirst du dann tun?" „Ich gehe nach Hause." „Nach Florida." „Ja. Dort ist mein Zuhause." Er streichelte ihr zart übers Kinn. „Ich möchte, dass du mit mir kommst." „Ich könnte dort nicht leben. Es ist viel zu heiß", antwortete sie. „Von den Schlangen einmal abgesehen." „Glaub mir, Em. In Florida ist man verdammt viel sicherer als hier." „Du hast Colorado nie eine Chance gegeben." „Das Gleiche könnte ich von dir und Florida sagen." Sie machte sich nicht die Mühe, zu antworten. Jordan kam aus dem Süden, und sie würde ihn niemals dazu bringen, mit ihr in den Bergen zu leben. Wenn das hier vorbei war, würden sie vielleicht eine Zeit lang versuchen, eine Entfernungsbeziehung zu führen. Vielen Paaren gelang das. Aber das war es nicht, was Emily wollte. Sie wünschte sich eine Familie. Kinder von Jordan. Sie wünschte sich so viel von ihm. Vielleicht zu viel. Jordan beugte sich vor und nahm eine Flasche aus dem Regal. „Wie wäre es mit einem Schluck hundert Jahre altem Cognac?" „Das würde Brian wirklich ärgern."
„Ich weiß", sagte er. Sie grinste ihn verschmitzt an. „Dann los, mach die Flasche auf." Jordan wurde von einem lauten Scheppern geweckt. Er hörte Ritas Stimme. „Kommt mit", befahl sie. „Schnell. Teresa bekommt ihr Kind." „Ihr Kind?" stöhnte Jordan. Nach einigen Schlucken des wunderbar weichen Cognacs hatte er sich letzte Nacht auf dem Boden ausgestreckt, die Jacke als Kissen unter den Kopf geschoben und Emily in seine Arme genommen. „Jordan!" Rita rüttelte erneut am Gitter. „Schnell." Emily tippte ihm auf die Schulter. „Gib mir den Schlüssel." „Was hast du vor?" „Ich bin Krankenschwester, Jordan. Ich kann ein Baby entbinden." „Einen Moment mal, meine Damen. Wir müssen nach wie vor vorsichtig sein. Rita, ist Brian im Haus?" „Er ist ganz früh losgezogen, um bei der Suche zu helfen." Nun war die Fahndung nach ihm offenbar erneut in vollem Gange. „Hat der Sheriff auch wieder mobilgemacht?" „Si", entgegnete sie hastig. „Madre de dios, Jordan. Wir sind hier in Sicherheit. Die Türen sind verschlossen. Die Sicherheitssysteme aktiviert. Beeil dich! Teresa braucht Hilfe." Zögernd gab er Emily den Schlüssel und folgte den beiden Frauen nach oben in Ritas Wohnung. Jordan hatte Rita immer gerne besucht. Die Möbel in dem einfachen Apartment standen in krassem Gegensatz zu den sterilen Antiquitäten und Kunstwerken im Rest des Hauses. Alles war farbig, Dutzende von Familienfotos standen herum, eine Gitarre, auf den Polstermöbeln lagen handbestickte Kissen, und an der Pinwand hingen Postkarten aus Mexiko. Die beiden Frauen hasteten ins Schlafzimmer und schlossen die Tür. Jordan setzte sich in einen Sessel. Als er aufblickte, sah er ein Mädchen mit großen Augen und einem langen schwarzen Zopf. Sie kauerte verängstigt in einer Ecke des Sofas. „Bist du Isabel?" „Si." „ Quantos anos tienes?" Sie hob alle fünf Finger. „Cinco." Sie war fünf Jahre alt. Würde irgendjemand der Aussage eines Kindes glauben? Auf jeden Fall brauchte er einen glaubwürdigen Menschen, der das Gespräch bei der Videoaufnahme führte. Aber auf keinen Fall Kreiger. Rita stürzte aus dem Schlafzimmer, rannte zum Kühlschrank und holte Eiswürfel heraus. „Sprechen Sie Englisch mit ihr, Jordan. Sie muss die Sprache lernen." „Kann ich irgendwie helfen? Soll ich Wasser abkochen oder so was?" „Bleiben Sie einfach bei ihr und erzählen Sie ihr eine Geschichte." Er stand auf. „Darf ich mich zu dir setzen?" „Ja", sagte sie. Als er sich neben ihr auf der Couch niederließ, fiel ihm die E-Mail von Emily ein, in der sie geschrieben hatte, wie sehr Isabel sich für die Rettungshunde interessiert hatte. „Magst du Hunde?" fragte er. „Oh ja, sehr." „Dann erzähle ich dir eine Geschichte von Pookie dem Wunderhund. Er kann klettern. Und er kann sprechen. Hast du schon mal gehört, wie ein Hund ,wuffz' sagt?" Sie schüttelte den Kopf und kicherte. Rita kam aus dem Schlafzimmer. Sie ging in die Küche und kam mit einer weiteren Schüssel Eiswürfel zurück. Vor dem Sofa blieb sie stehen. „Jordan, ich hätte nie an Ihrer Unschuld zweifeln dürfen. Sie sind ein guter Mann."
„Ist schon in Ordnung", sagte er. „Wenn das alles nicht passiert wäre, hätte ich Emily nie kennen gelernt." „Gott sei Dank ist sie Krankenschwester." Rita schlug ein Kreuz über der Brust. „Das erleichtert die Sache sehr." Aus dem Schlafzimmer erklang ein Stöhnen. Rita eilte mit ihrer Schüssel voll Eis hinein. Isabel verzog das Gesicht und starrte auf die Tür, hinter der ihre Mutter in den Wehen lag. „Ihr geht es gut", versicherte Jordan ihr. „Emily wird ihr helfen. Sie weiß genau, was zu tun ist." „Ist sie deine Frau?" „Nein", sagte Jordan. Allerdings war ihm der Gedanke, Emily zu fragen, bereits öfter als einmal gekommen. Er befürchtete jedoch, dass sie niemals ihre geliebten Berge verlassen würde. Und er wollte sich ganz sicher nicht in Aspen niederlassen. „Und jetzt", sagte er, „hör gut zu." Etwa eine Stunde später, nachdem Jordan Pookie hatte Waldbrände löschen und Kinder aus Minenschächten retten lassen, machte er für sich und das Kind Mittagessen. Er hatte das Gefühl, als ob die Zeit stillstünde. Und doch war die Gefahr immer gegenwärtig, sie sickerte aus den Bodendielen, kroch durch die Fenster. Wie sehr er diese Gegend hasste. „Magst du die Berge, Isabel?" „Ja, aber es ist kalt." „Warst du schon mal in Florida?" fragte er. „Und Pookie?" „Natürlich", antwortete er. „Wieso auch nicht? Ich erinnere mich daran, wie Pookie der Wunderhund, eines Tages mit den Delfinen schwimmen ging..." Emily kam aus dem Schlafzimmer. „Pookie der Wunderhund?" „Ja", rief Isabel begeistert. „Er ist total, ahm, total klasse." Emily musste lachen. Sie hatte ihre Jacke ausgezogen, die Ärmel der Seidenbluse waren hochgekrempelt. Das Haar hatte sie auf dem Kopf zusammengesteckt. Sie sah müde aus. „Deiner Mutter geht es gut", sagte sie. „Bald wirst du eine kleine Schwester oder einen kleinen Bruder haben." „Ich will aber einen Hund", sagte Isabel. Sie zeigte auf Emilys Hals. „Das ist eine schöne Kette." „Es ist ein Medaillon." Emily beugte sich nach vorne und öffnete es. „Sieh mal, das ist mein Dad. Er ist vor langer Zeit in Vietnam gestorben. Er war Arzt. Und ich bin Krankenschwester." „Er wäre sehr stolz auf dich", sagte Jordan. Es hatte lange gedauert, bis sie in der Lage war, so zwanglos von ihrem Vater zu sprechen. „Und ich bin es auch." Mit ihren grünen Augen sah sie ihn liebevoll an, und er wusste, dass er den Rest seines Lebens mit dieser Frau verbringen, für immer den warmen Glanz ihrer Augen sehen wollte. Sie sollte die Mutter seiner Kinder sein -selbst wenn das bedeutete, im kalten Schatten der mächtigen Berge von Colorado zu leben. „Ich habe vorhin Spence angerufen", sagte sie. „Er ist schon auf dem Weg hierher, damit er offiziell bestätigen kann, dass das Baby in den USA zur Welt gekommen ist." „Du hast ihn nicht zufällig gebeten, eine Videokamera mitzubringen?" „Daran habe ich nicht gedacht", antwortete sie. „Ich muss zurück ins Schlafzimmer. Es ist gleich so weit." Nur wenige Minuten später wurde das Stöhnen im Zimmer nebenan wirklich laut. Isabel riss entsetzt die Augen auf. Ihr schmächtiger Körper zitterte. „Es ist alles in Ordnung", versuchte Jordan sie zu beruhigen. „Deiner Mutter geht es bald wieder gut." In den Augen des Mädchens entdeckte er eine Ernsthaftigkeit, die untypisch für sein Alter war. Es hatte einen Mord beobachtet und ein Leben auf der Flucht verbracht. Er wünschte, es
gäbe eine Möglichkeit, die Kleine zu trösten. „Manchmal hilft es, wenn man sich bewegt", sagte er: „Damit man auf andere Gedanken kommt." „Zeig es mir." Er stand auf und begann, hin und her zu laufen. Sie folgte ihm. Sie marschierten in dem kleinen Zimmer auf und ab, mal im Gleichschritt, mal nicht. Plötzlich war es ganz still. Und dann erscholl der durchdringende Schrei eines Babys. Rita kam aus dem Schlafzimmer gerannt. „Es ist ein Junge. Isabel, du hast einen kleinen Bruder. Freust du dich?" „Ja." Aber ihre Augen waren noch immer traurig. Rita umarmte sie. „Was meinst du, wie sollen wir ihn nennen?" Sie schaute Jordan an und kicherte: „Pookie." Dann ging sie mit ihrer Tante ins Schlafzimmer. Jordan blieb alleine auf dem Sofa zurück, von den Frauen ausgeschlossen, als ob ein Mann am Wunder des Lebens nicht teilhaben dürfte. Schwangerschaft und Geburt verlangten ein Durchhaltevermögen, das er sich nicht vorstellen konnte. Er fand es fast angenehmer, von zwölf Hubschraubern und einer ganzen Armee von Scharfschützen verfolgt zu werden, als hilflos herumzulaufen und den Schmerzensschreien einer Gebärenden zu lauschen. Schließlich kam Emily mit einem winzigen Bündel im Arm zu ihm. „Hier ist der kleine Kerl, der uns all den Ärger gemacht hat", gurrte sie. Jordan betrachtete das runde, müde Gesichtchen. Die kleinen Arme zuckten, und der Kopf drehte sich, als ob das Baby sich diesen neuen, seltsamen Ort genauer ansehen wollte. „Ist es in Ordnung, dass er so rot ist?" „Das ist völlig normal." Jordan hatte noch nie zuvor ein Neugeborenes gesehen. „Erstaunlich." „Nimm ihn mal." Obwohl er sich dagegen wehrte, bestand Emily darauf, ihm das Baby in die Arme zu legen. Er fühlte, wie es strampelte. Es starrte ihn durchdringend an. Wie konnte so eine kleine Kreatur nur entstehen? Was für ein Wunder war nötig, um ein Baby in die Welt zu bringen? „Hallo, Pookie." Das Baby gab ein leises Geräusch von sich. Klang es ein wenig wie wuffz? Eine merkwürdige Wärme erfüllte Jordan. Er hatte das Gefühl, dass er alles tun würde, um dieses Kind zu beschützen. Vorsichtig gab er das kleine Bündel zurück, und Emily brachte Pookie zu seiner Mutter. Als sie zurückkam, ließ sie sich erschöpft aufs Sofa fallen. Sie hatte Blutflecken auf ihrer Seidenbluse. Ihr Haar war schweißnass. „Ein Baby zu bekommen ist eine Menge Arbeit." „Aber es lohnt sich", sagte er. „Ich hätte gerne fünf bis sechs." „So kann nur ein Mann daherreden." Er nahm ihre Hand. Es gab noch viele typisch männliche Worte, die er Emily gerne gesagt hätte. Worte, die beschrieben, wie er sie in einer kalten Coloradonacht verwöhnen würde, ausgiebig und leidenschaftlich. Oder Worte für ihre Schönheit. Aber auch Worte, die ihm nicht so leicht über die Lippen gingen. Verantwortung. Verpflichtung. Familie. Er wollte ihr sagen, dass er nicht mehr damit gerechnet hatte, seine wahre Seelengefährtin zu finden, dass er lange gewartet und schließlich geglaubt hatte, sich mit weniger begnügen zu müssen. Dass er sie nie mehr gehen lassen würde. Weil sie ihm alles bedeutete. Er hätte endlos reden können, ohne dass ihm die Worte ausgegangen wären. Aber im Augenblick genügten drei: Ich liebe dich. Sie schloss die Augen. Sie war völlig erschöpft. Jordan drückte ihre Hand, lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Emily, ich liebe dich. Er hörte die Türglocke. Jemand hatte am Haupteingang geklingelt.
„Das muss Spence sein", sagte sie müde. „Typisch für ihn, erst aufzutauchen, wenn die Arbeit getan ist." „Bleib hier und ruh dich aus", sagte er. „Ich gehe." Er fragte Rita nach dem Sicherheitscode, um die Tür öffnen zu können, ohne dass der Alarm losging. Dann verließ er das gemütliche Apartment, das so sehr mit neuem Leben erfüllt war, lief durch die sterile Küche, das Esszimmer, das Wohnzimmer. Das Haus war riesig, leer, still. Die Sohlen seiner Wanderstiefel quietschten auf dem Marmorboden. Und dann sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Er drehte sich um und starrte direkt in das Gesicht von Sean Madigan. Der Skilehrer hielt einen 45er-Revolver in der Hand. Der rote Bär. Das Monster. Irgendwie musste er Madigan ablenken, ihn aus dem Haus lotsen. „Sie wollen mich doch nicht hier erschießen." „Nicht? Es ist aber mein gutes Recht. Sie sind ein entflohener Häftling." „Wenn Sie mich hier erschießen, werden Sie der Polizei erklären müssen, woher Sie den Schlüssel haben", gab Jordan zu bedenken. „Und dann werden eine Menge unangenehme Fragen über die Mordnacht folgen." Madigan dachte nach. Dieser Typ war wirklich nicht der hellste. Ironischerweise hatte gerade seine Dummheit ihn bisher gerettet. Er hatte die Kunstwerke gestohlen und das Bargeld im Safe seines Hauses aufbewahrt. Nicht sehr raffiniert. Aber andererseits konnte man dem Geld so nicht auf die Spur kommen. In der Mordnacht war er ins Haus gekommen, hatte Lynette erschossen und die Waffe auf Jordans Kopfkissen zurückgelassen. Geradlinig. Simpel. „Ich habe eine Frage", sagte Jordan. „Warum ich? Warum haben Sie ausgerechnet mir den Mord untergeschoben?" „Das ist nichts Persönliches." Madigan hob die Pistole und zielte. „Sie waren nur zur falschen Zeit am falschen Ort." „Und meine Flucht aus der Haft? Haben Sie das zusammen mit Kreiger ausgeheckt?" „Es war seine Idee. Er dachte, Sie würden nicht hart genug bestraft werden, weil Sie reich sind. Aber er wollte Lynette rächen." „Und was ist jetzt mit Kreiger?" Jordan dachte an die Schlägerei auf Brians Party. „Hat er es sich anders überlegt?" Es klingelte erneut, die Türglocke hallte durch das riesige Foyer. Madigan winkte mit der Pistole. „Zur Hintertür. Wir werden viel Spaß haben, Jordan. Sie dürfen losrennen, bevor ich Sie erschieße." „Wenn das keine fairen Bedingungen sind." Auf keinen Fall würde er zur Hintertür gehen. Denn dann war Madigan noch näher an Ritas Apartment. „Ich dachte, Sie wüssten, was Sportsgeist ist." „Überflüssiger Quatsch für jemand wie mich", sagte Madigan. Für sein kleines Hirn hatte er ein mächtig großes Ego. Jordan war klar, wo er ihn packen konnte. „Lassen Sie uns das wie echte Männer regeln. Mit den Fäusten." „Glauben Sie etwa, Sie haben eine Chance gegen mich?" Vielleicht nicht. Aber eines war Jordan klar. Wenn er schon sterben musste, dann auf keinen Fall durch eine Kugel im Rücken. „Jedenfalls werde ich kämpfen." Madigan richtete den Lauf der Pistole an die Decke und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Jordan ging das Risiko ein. Er stürzte sich auf den Mann, und gemeinsam krachten sie auf den Marmorboden. Jordan war oben. Er schmetterte Madigans Hand mit der Waffe gegen den Steinboden. Die Pistole schlitterte davon. Sean Madigan war ein durchtrainierter Sportler und stärker als er. Doch Jordan war entschlossener. Seine Zukunft stand auf dem Spiel. Sein Leben mit Emily. Er wurde am Kinn getroffen, so heftig, dass sein Kopf nach hinten flog und er nicht mehr denken konnte. Madigan warf ihn ohne allzu große Mühe von sich.
Ich darf einfach nicht aufgeben, dachte Jordan. Nicht jetzt. In Sekundenschnelle blendete er seine Schmerzen aus. Sprang auf die Füße. Er holte weit aus und verfehlte sein Ziel. Madigan tänzelte wie ein professioneller Boxer, verteilte gut gezielte Schwinger und Kinnhaken. Jordan konnte es nicht mit ihm aufnehmen, zumindest nicht, wenn er nicht endlich sein Hirn einschaltete. Er ließ die Arme sinken, stand ohne Deckung da. Madigan holte aus. Als der Schlag kam, duckte Jordan sich. Der gewaltige Schwung riss Madigan von den Füßen. Jordan rammte ihm das Knie in die Eingeweide. Jede Aktion zieht eine separate, aber gleichwertige Reaktion nach sich. Er wich Madigans Schlägen aus, bis diesen die Kraft verließ. Es dauerte nicht lange, und der rothaarige Mann taumelte zu Boden. Geschlagen. Durch einen blutverschmierten Nebel hindurch sah Jordan, wie die Eingangstür aufging. Polizisten, von Kreiger angeführt, stürzten ins Haus. Dann spürte er Emilys Arme um sich. Als er hinunterschaute, schien ihm der Boden entgegenzukommen. Er war kurz davor, ohnmächtig zu werden. Aber seine Kraft reichte noch für drei wichtige Worte. Ich liebe dich."
14. KAPITEL Zwei Tage später fuhr Jordan Shane durch Cascadia. Er war ein freier Mann. Die Anklage gegen ihn war fallen gelassen worden. Madigan saß im Gefängnis von Pitkin County. Kreiger war für zwei Monate vom Dienst suspendiert worden. Seine Strafe wäre höher ausgefallen, wenn er nicht schließlich doch noch für die Verhaftung Madigans gesorgt hätte. Brian Afton befand sich nun im Besitz aller nötigen Papiere, um sein Erbe anzutreten. Jordan war in Verhandlungen mit der Einwanderungsbehörde, um zu erreichen, dass Isabels Mutter bei ihm in Florida arbeiten durfte. Alles wurde gut. Von seiner Beziehung zu Emily einmal abgesehen. Sie hatte nämlich die drei wichtigen Worte nicht zu ihm gesagt. Zwei Tage lang hatte sie sich nun schon in ihre Hütte zurückgezogen und nicht mit ihm gesprochen. Aber dieses Schweigen würde er nicht länger hinnehmen. Er konnte nicht zulassen, dass sie die Beziehung so einfach beendete, ohne ihm überhaupt eine Chance zu geben, mit ihr zu sprechen. Er wollte sie heiraten. Und wenn er sie mit einem Seil an sich festbinden und schreiend und tretend vor den Altar zerren musste. Sie waren füreinander bestimmt. Seelengefährten. Sie würden einen Weg finden, sowohl in Florida wie auch in Colorado zu leben. Im Hinblick auf ihren Wohnort war er bereit, einen Kompromiss einzugehen. Aber nicht, was ihre Liebe betraf. Als er vor der Hütte parkte und ausstieg, wurde er von Pookie dem Wunderhund begrüßt. Emily kam nicht auf die Veranda. Die Eingangstür blieb fest verschlossen. Ein eisiger Wind pfiff, als er die Stufen hinaufkletterte. Es roch nach Schnee. Er klopfte. „Emily?" „Komm rein." Er öffnete die Tür und starrte in einen Aufruhr aus tropischen Farben. Eine Topfpalme. Blühende Hibiskuspflanzen. Eine riesige Platte exotischer Früchte. An der Wand eine gigantische Landkarte von Florida. Emily trug bunte Bermuda-Shorts und ein noch bunteres Hawaii-Hemd und hatte sich eine unechte Hibiskusblüte ins Haar gesteckt. „Ich dachte, ich sollte mich schon mal an all das gewöhnen", sagte sie. „Weil ich nämlich mit dir nach Florida gehe, Jordan." Er riss sie in die Arme. Sie presste ihren schlanken Körper an ihn. Als er sie küsste, schmeckten ihre Lippen nach Mango. „Wieso?" „Weil es einfach das Richtige ist. Ich werde dich nie mehr gehen lassen." Sie strahlte ihn an. „Ich liebe dich." „Willst du mich heiraten?" fragte er. „Das will ich", antwortete sie. Und Pookie sagte: „Wuff." -ENDE-
In letzter Sekunde
Patricia Rosemoor
Julia Love & Crime 03-1 – 3/03
gescannt von almutK korrigiert von briseis
PROLOG „Bitte ... warum tun Sie das?" Ihre gekrächzte Frage blieb unbeantwortet - wie alle anderen zuvor auch. Sicher, er hatte mit ihr gesprochen, irgendetwas geflüstert, das für sie allerdings keinen Sinn ergab. Die Angst nahm zu. Sie wollte ihm weitere Fragen stellen, ihn zwingen zu antworten, aber ihre Kehle war so trocken, dass sie kaum schlucken konnte. Glücklicherweise hatte er ihr nicht wieder den Mund verklebt, doch er hatte es ihr angedroht, sollte sie wieder schreien. . Sie hatte doch geschrien, oder? Wie lange war das her? Stunden? Tage? Sie erinnerte sich nicht. Ihr war so schwindlig, dass sie wahrscheinlich erst einmal nichts erkennen würde, auch wenn er ihr das Tuch vor den Augen abnahm. Auch das Denken fiel ihr schwer, sie begriff nicht, was hier wirklich geschah, wie sie hierher gekommen war, auf diesen Stuhl, mit auf den Rücken gefesselten Händen ... eine Gefangene. Ihr Verstand konnte sich einfach nicht darauf konzentrieren, was sie tun musste, damit er sie freiließ. Dann überfluteten sie unerwartet Erinnerungen. An Drohungen. Todesdrohungen. Er hatte sie verhöhnt und verspottet, angekündigt, sie umzubringen. Nicht zu wissen, warum, und wie sie einem solchen Schicksal entrinnen konnte, lähmte sie, ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Seiner Gnade ausgeliefert, kämpfte sie gegen den bitteren Geschmack im Mund an, gegen ihre Panik ... versuchte sich zu konzentrieren ... aber ihr drehte sich alles im Kopf. Weil er sie unter Drogen gesetzt hatte! Vor nicht allzu langer Zeit, als er vielleicht die Lust verlor, ihr unentwegt Fragen zu stellen, hatte er ihr Kinn festgehalten und sie gezwungen, etwas zu trinken. Es schmeckte gallebitter, und da sie befürchtete, er wolle sie vergiften, hatte sie versucht, das eklige Gebräu auszuspucken. Aber er hatte ihr ins Gesicht geschlagen, und danach hatte sie sich nicht mehr gewehrt. Hatte er ihr nicht noch ein zweites Mal etwas von dem Zeug eingeflößt? Wer war der Mann? Sie vermochte sich kaum an ihren eigenen Namen zu erinnern. Evelyn Cross. Mein Name ist Evelyn Cross. Unentwegt wiederholte sie es stumm, damit sie es nicht vergaß. Er ging jetzt im Raum umher. Sie konnte ihn hören, es klang, als bereite er etwas Schreckliches vor, etwas, das sie sich nicht genau vorstellen mochte. Leider besaß sie eine ausgeprägte Fantasie. „Bitte ...", versuchte sie es noch einmal. „Sagen Sie doch etwas. Irgendetwas." „Du bist doch diejenige, die gern Reden hält." Lynn fuhr überrascht zusammen. Sie versuchte sich die Lippen zu lecken, aber ihre Zunge war zu trocken. „Was soll das heißen?" „Überleg, was du getan hast, Evelyn." Was hatte sie getan? Als wäre sie ein Kind. Ein ungezogenes Kind, das darüber nachdenken sollte, warum es bestraft wurde. Er hatte vorhin schon einmal etwas in der Art zu ihr gesagt, nur konnte sie sich nicht erinnern. Denk nach, denk nach! Bevor die Erinnerung Gestalt annehmen konnte, ließ lautes Hämmern an der Tür sie zusammenschrecken. Sie hörte ihren Peiniger fluchen.
„Aufmachen! Polizei!" Polizei? „Hilfe!" krächzte sie. „Hilfe!" Im Raum erklangen weitere Geräusche. Wurde da ein Fenster geöffnet? „Es ist deine Schuld", flüsterte der Unbekannte ihr ins Ohr. „Es ist alles deine Schuld. Diesmal kommst du noch davon, du Schlampe. Aber du wirst bezahlen! Wir sehen uns wieder..." Und dann spürte sie, wie er verschwand. Lautes Krachen und das Splittern von Holz verrieten, dass die Polizei die Tür aufgebrochen hatte. „Gott sei Dank", schluchzte sie haltlos. „Polizei! Keiner rührt sich von der Stelle!" „Außer einer Frau ist hier niemand", erklang eine zweite, tiefere Stimme. „Überprüf das Badezimmer." Lynn fühlte eine Hand an ihrem Hinterkopf, und plötzlich blendete sie grelles Licht. Sie presste die Augen zusammen, dann öffnete sie sie einen Spalt weit und sah verschwommen ein schmuddeliges Hotelzimmer. Gleich darauf waren ihre Hände frei, aber sie konnte die Arme kaum bewegen. Sie konzentrierte ihren Blick auf eine Uniform. „Hier ist auch niemand ..." „Fenster", krächzte sie, und der zweite Polizist rannte um sie herum. „Zu spät. Er ist fort." Aber er kommt zurück, dachte sie hysterisch. Und er würde sie nicht in Ruhe lassen. Wer auch immer er war. Wir sehen uns wieder... Er würde kommen. Und sie umbringen.
1. KAPITEL „Wir kriegen den Mistkerl, Miss Cross", verkündete Detective Stella Jacobek und sah sie mitfühlend an. „Es ist nur eine Frage der Zeit." Lynn hatte vierundzwanzig Stunden gebraucht, um aus dem Drogenrausch herauszukommen. Sie setzte sich im Krankenhausbett auf und schaute die Frau an, die wohl ungefähr in ihrem Alter war, also fast dreißig. Ihre Hand bebte, als sie ihr Wasser trank. Es war das dritte Glas, seit sie ihre Aussage begonnen hatte. „Und wenn mir keine Zeit bleibt? Was ist, wenn er bei mir zu Haus auf mich wartet?" Die Polizistin klappte ihr Notizbuch zu und steckte ihren Kugelschreiber in den dicken goldbraunen Haarknoten im Nacken. „Möchten Sie vielleicht lieber ein paar Sachen einpacken und für eine Weile bei einer Freundin wohnen? Oder bei Verwandten?" Lynn schüttelte den Kopf. „Ich will niemanden in diese furchtbare Sache hineinziehen. Man glaubt, man hätte alles im Griff, und dann passiert so etwas." Ihre ältere Schwester war vor zwei Jahren gewaltsam ums Leben gekommen. Ihre jüngere Schwester arbeitete zurzeit in London und versuchte gleichzeitig, sich von den seelischen Verletzungen ihrer Scheidung zu erholen. Ihre Eltern, obwohl sie noch zusammenlebten, auch wenn allein der Himmel wusste, warum, hatten ihre eigenen Probleme. Ihr Vater war schon seit geraumer Zeit krank, und ihre Mutter musste ihn pflegen. Lynn hatte ihr telefonisch eine Kurzfassung der Geschehnisse gegeben, wollte sie aber auf keinen Fall weiter damit belasten. „Dann fahre ich Sie nach Hause und überprüfe persönlich Ihre Wohnung, Miss Cross." „Bitte, nennen Sie mich Lynn. Evelyn benutze ich nur beruflich", erklärte sie und fügte dann hinzu: „Bei mir im Apartmenthaus gibt es einen Wachdienst. Ohne deren Wissen kommt niemand hinein." „Das ist gut." Die Polizistin nickte zufrieden. „Und ich heiße Stella. Ich muss sagen, ich bewundere Sie für das, was Sie tun." „Leuten zu helfen, sich zu trennen?" „Ich sehe das anders. Sie helfen den Ehefrauen, das zu bekommen, was . ihnen zusteht." „Ich wusste nicht, dass das allgemein bekannt ist." „Wem hätte der Fall Churchill entgehen können? Bei den Schlagzeilen. Aber wichtiger noch ist Ihre unentgeltliche Arbeit - dass Sie Frauen vertreten, die nicht die Mittel haben, sich von ihren brutalen Männern zu trennen." „Ein guter Grund, morgens aufzustehen." „Ich habe nachgedacht über das, was Sie zu Protokoll gegeben haben -dass Sie glauben, der Kerl habe Sie bestrafen wollen, dass er sagte, Sie seien doch diejenige, die gern Reden hält. Sie sprechen vor Gericht. Sie nehmen Männern etwas weg. Männern, die mitunter auch gewalttätig sein können." „Der Gedanke ist mir auch gekommen. Vor allem, weil er mich Evelyn genannt hat", krächzte Lynn. Ihre Kehle war noch immer wund, genau wie ihre Handgelenke und ihr Gesicht, dort wo der Kerl sie geschlagen hatte. Sie war sich nicht sicher, was schlimmer gewesen war gefangen gehalten zu werden oder aber das, was danach kam. Ärzte, die sie auf Verletzungen untersuchten. Polizisten, die jede Einzelheit wissen wollten. Da ihre Erinnerung Lücken aufwies, wurde sie sehr gründlich durchgecheckt. Zu ihrer unendlichen Erleichterung war sie nicht vergewaltigt worden. „Aber wenn ich jetzt spontan jemand nennen sollte ..." Lynn schüttelte den Kopf, sie hatte keine Ahnung. „Lassen wir uns damit noch Zeit. Ich bin sicher, Ihnen wird dazu noch etwas einfallen. Ziehen Sie sich schon mal an. Ich warte unten in der Halle auf Sie", erklärte die Polizistin. „Außer, Sie brauchen Hilfe ..."
„Danke, das schaffe ich schon." Lynn schwang die Beine auf den Boden. „Ich meine, es geht mir wieder gut. Keine bleibenden Schäden." Detective Jacobek nickte und verließ den Raum. Keine bleibenden Schäden ... Stimmte das? Ihr Kopf war klar, sie stand fest auf den eigenen Beinen, körperlich waren keine Ausfälle zu erkennen ... Aber wie sah es in ihr aus? Während sie sich anzog, sah sie ihr geisterhaftes Spiegelbild im Fenster. Nach außen hin wirkte sie nicht verändert - lange dunkelblonde Haare, hübsches Gesicht, gesunder Körper, im Fitnessstudio trainiert. Die Augen hingegen verrieten mehr. Das Hellgrau hatte sich in ein Stahlgrau verwandelt. Wenn die Augen wirklich der Spiegel der Seele waren, dann war sie zutiefst verwundet worden. Und sie hatte Angst. Ein Schauer überlief sie. Rasch zog sie die restlichen Sachen an, die man ihr gegeben hatte. Ihre eigenen Kleider waren für kriminalistische Untersuchungen einbehalten worden. Lynn wollte keine Erinnerungsstücke an die letzten beiden Tage und war nur froh darüber, sie los zu sein. Den Berechnungen der Polizei nach, verständigt von Hotelgästen, die Lynns Schreie gehört hatten, war sie ungefähr sechsunddreißig Stunden in der Gewalt ihres Entführers gewesen. Wer immer er auch war. Lynn beschloss, ihn einfach zu vergessen. Doch das war leichter gesagt als getan. Wir sehen uns wieder... Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, band sie ihr Haar zusammen und verließ das Zimmer. Auf der Fahrt zurück nach Haus war sie ziemlich angespannt. Trotz aller Bemühungen der Polizistin, sie in eine angeregte Unterhaltung zu verwickeln, merkte Lynn, wie die Erinnerungen erneut mit Macht über sie herfielen. Was hatte sie bloß getan, dass sie so etwas Entsetzliches erleben musste? Als sie sich ihrem Zuhause näherten, einem Hochhaus am Chicago River mitten im Stadtzentrum, wuchs ihre Aufregung. Ihr Puls beschleunigte sich, und sie blickte sich prüfend um, musterte misstrauisch jedes Auto und jeden Fußgänger. „Fällt Ihnen etwas Ungewöhnliches auf?" fragte Stella, als sie den Wagen vor dem Gebäude anhielt. „Nein, das nicht. Dennoch ..." „Ihnen wird jedes Mal der Angstschweiß ausbrechen, wenn Sie gehen oder kommen, zumindest für eine Weile." „Bis Sie diesen Bastard gefasst und eingesperrt haben." „Das kann ich nicht, ehe Sie mir nicht irgendwelche Anhaltspunkte gegeben haben. Wenn Ihnen etwas einfällt, zum Beispiel ein Name, lassen Sie es mich wissen. Und ich denke, es besteht kaum das Risiko, dass der Mann sich wieder in Ihre Nähe traut." Wir sehen uns wieder... Die Drohung hallte in ihrem Kopf wider, dennoch murmelte Lynn: „Ja, mag sein." Vielleicht hat Stella wirklich Recht, dachte sie dabei. Vielleicht hat er nur geblufft. Nur zu gern wollte sie es glauben. Sie musste es glauben, wenn sie ein einigermaßen normales Leben führen wollte. Dennoch ... Als sie mit Stella das Haus betrat, ertappte sie sich dabei, wie sie unwillkürlich über die Schulter schaute. Am Tisch des Wachmanns blieben sie stehen, und Lynn machte die Polizistin mit Tony Anselmo bekannt, dem Portier der Nachtschicht. Vor ihm auf dem Tisch lag eine Morgenzeitung.
Während Stella dem Wachmann ihre Visitenkarte gab und ihn informierte, dass sie anschließend noch ein paar Fragen habe, registrierte Lynn ungehalten, dass ein Foto von ihr auf der Titelseite prangte. Sie hatte nichts dagegen, auf der ersten Seite zu erscheinen, wenn sie einen Fall gewonnen hatte, sehr wohl allerdings in diesem Fall, da sie das Opfer war. „Sicher, ich tue alles, was ich kann, damit Sie diesen miesen Kerl dingfest machen", versprach Tony und sah Lynn mitleidig an. „Ich bin nur froh, dass Sie die Sache heil überstanden haben, Miss Cross." „Danke, Tony", sagte Lynn und eilte hinüber zum wartenden Fahrstuhl. Sie wollte kein Mitleid. Von niemand. Sie war nicht hilflos. Sie war kein Opfer... normalerweise. Während der Fahrstuhl in den achtundzwanzigsten Stock hinauffuhr, holte Stella eine weitere Visitenkarte heraus und kritzelte ein paar Ziffern auf die Rückseite. „Lynn, ich gebe Ihnen meine Handynummer, nur für den Fall, dass Sie mit mir reden wollen." Falls ich meinen Entführer sehe, dachte Lynn, als sie die Karte nahm. Die kurze, aber gründliche Untersuchung ihres Apartments - Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad, Küche und das Büro im ehemaligen Essbereich mit Blick auf den See - dauerte nicht lange. Dann ging Stella. Und ließ Lynn mit ihren Gedanken zurück. Von ihrem Schlafzimmer aus hatte sie freien Blick auf den Fluss, und normalerweise beruhigte sie der Anblick. Die Uferwege waren beleuchtet, und eine gewaltige Fontäne ergoss sich in hohem Bogen quer über das Wasser. Weiter östlich war der Navy-Pier mit seinen riesigen Raddampfern und Touristenschiffen zu erkennen. Heute jedoch fand Lynn keinen Trost in der friedlichen Szenerie. Wie auch, da der Kerl immer noch frei herumlief? Gut getarnt als netter, freundlicher Zeitgenosse. Es konnte praktisch jeder sein. Ein schriller Ton ließ sie zusammenfahren. Das Telefon. Sie griff danach, zog die Hand aber wieder zurück. Egal, ob am anderen Ende der Leitung ein Reporter oder eine Freundin war, sie mochte im Augenblick keine Fragen beantworten. Nicht jetzt. Sie brauchte Zeit, sich erst einmal zu sammeln, und ließ den Anrufbeantworter das Gespräch annehmen. „Cross. Guten Tag", hörte sie ihre kühle Anwaltsstimme. „Leider sind wir im Augenblick verhindert und können Ihren Anruf nicht entgegennehmen. Aber wenn Sie Ihren Namen und Telefonnummer hinterlassen, rufen wir natürlich so bald wie möglich zurück." Auch wenn sie nicht vorhatte, mit dem Anrufer zu sprechen, wollte sie doch hören, was er sagte. „Wir? Na, komm schon, Evelyn, wem willst du etwas vormachen?" flüsterte die so schrecklich vertraute Stimme. Dann, nach einer kurzen Pause: „Wir beide wissen doch, du bist allein. Bestimmt sitzt du jetzt im Dunkeln und hast Angst vor deinem eigenen Schatten." Ihr Herz hämmerte wie verrückt, dennoch nahm sie den Hörer ab und presste ihn ans Ohr. „Wer ist dort?" Ein leises Lachen erklang, gefolgt von einem Wispern. „Derjenige, der dafür sorgen wird, dass du für deine Missetaten bestraft wirst." Und damit legte er auf. Die Drogen waren zwar aus ihrem Körper heraus, aber ihr Mund war knochentrocken, und sie vermochte kaum zu denken. Der Kerl kannte ihre Privatnummer. Und wahrscheinlich wusste er auch, wo sie wohnte. Auf keinen Fall würde sie abwarten, bis er sie wieder in die Finger bekam. Lynn zerrte ihren Koffer aus dem Schrank und warf ihn aufs Bett. Dann öffnete sie die Schublade mit der Unterwäsche. Da klingelte das Telefon wieder. Sie erstarrte, blickte wie gebannt auf den Anrufbeantworter. Ihr Herz pochte so laut, das sie
kaum ihre eigene Ansage hörte. „Lynn, hier ist Detective Jacobek. Stella." Lynn, die erwartet hatte, wieder das widerliche Flüstern zu hören, ging auf wackeligen Beinen zum Apparat. Sie nahm das Telefon schnell von der Station. „Er hat angerufen", sagte sie nur. „Wann?" „Gerade eben." Sie klemmte sich das Gerät zwischen Kinn und Schulter und machte mit dem Packen weiter. „Ich kann hier nicht länger bleiben. Er wird ..." „Tun Sie nichts Übereiltes." „Übereiltes? Es war übereilt, ohne Schutz hierher zurückzukommen. Ich werde in ein Hotel ziehen ... oder vielleicht fliege ich mit dem nächsten Flugzeug irgendwohin." Sie eilte zum Schrank zurück, nahm ein paar Hosen und ihre Lieblingsjacke, ein Designerstück, heraus, und sagte: „Ich muss hier weg." „Aber vielleicht müssen Sie gar nicht so weit fort", schlug ihr Stella vor. „Ich bekam gerade einen Anruf von ... nun, ich habe vielleicht eine Lösung für Ihr Problem. Geben Sie mir eine Stunde." „Ich kann nicht..." „Eine Stunde, Lynn, das ist alles, um was ich Sie bitte. Ich werde eine außerdienstliche private Lösung finden. Etwas Inoffizielles." Lynn, die wusste, dass die Polizei von Chicago niemanden zum Schutz möglicher Gewaltopfer abstellte, runzelte die Stirn. „Warum tun Sie das für mich?" „Weil Sie vor ein paar Monaten jemand geholfen haben, den ich seit meiner Kindheit sehr gut kenne. Einer dieser Fälle, in denen Sie eine Klientin ohne Honorar vertraten. Nun möchte ich Ihnen helfen. Und bewahren Sie das Band unbedingt auf. Vielleicht können unsere Leute vom Labor etwas damit anfangen." Das leuchtete Lynn ein. „Gut. Ich gebe Ihnen eine Stunde", erwiderte sie und fragte sich dabei, wer wohl bei Stella angerufen hatte und wie die Lösung aussah. „Und das Band." Vielleicht bekam sie jetzt etwas von dem zurück, was sie anderen Gutes getan hatte. „Was machst du denn in dieser mondänen Bar?" rief eine vertraute Stimme über den Lärm der Musik hinweg. Blade Stone blickte von dem Drink auf, den er gerade mixte. Eine junge Frau bahnte sich ihren Weg von der tiefer liegenden Tanzfläche des Club Undercover herauf zu den Barhockern. Das blaue Neonlicht hinter dem Tresen fiel ihr voll ins Gesicht. Sie strahlte ihn an, und obwohl er sie seit Jahren nicht gesehen hatte, erkannte er sie sofort. „Star Jacobek, ist das eine Freude." Sie zog die Augenbrauen hoch. „Jetzt trage ich meinen normalen Namen. Detective Star würde ein wenig ... komisch klingen, oder?" „Dann bist du nun also Detective. Ich wusste schon immer, dass du durchziehst, was du dir einmal in den Kopf gesetzt hast." Sie waren zusammen in derselben armen Gegend, in Chicagos South Side, aufgewachsen, hatten gemeinsame Freunde gehabt, gute und schlechte Zeiten miteinander geteilt. Später hatten sie dann sogar beruflich ähnliche Wege eingeschlagen. Sie war zur Polizei gegangen, er zum Militär. Für ihn war das längst Vergangenheit, aber für sie anscheinend immer noch Realität. „Also gut, dann Detective Stella Jacobek." Aber für ihn würde sie immer Star sein, ein Stern, das helle Licht, das ihn aus der Dunkelheitseiner Kindheit geführt hatte. Wie hatte er diese Freundschaft nur vernachlässigen können? Würde ihr Licht vielleicht wieder für ihn leuchten? „Lass uns deine Beförderung feiern, Sternchen." „Ich bin nicht im Dienst", erklärte sie munter. „Warte, ich bringe dir ein Bier", sagte er, als er sich an ihre Vorliebe erinnerte. „Nur einen
Moment, ja?" Rasch mixte er die Getränke fertig und stellte sie für die Kellnerin auf ein Tablett. Dann schenkte er in routinierter Bewegung seiner alten Freundin ein Bier und sich eine Cola ein. „Erzähl, was verschafft mir die unerwartete Ehre?" fragte sie und bezog sich auf die Nachricht, die er ihr hinterlassen hatte. „Und wie kannst du mir in der Sache Evelyn Cross helfen?" Plötzlich angespannt, klatschte er die Morgenzeitung auf die Theke. Von der Titelseite starrte ihn das hübsche, aber ängstliche Gesicht einer Frau an, die, von zwei Sanitätern gestützt, gerade ein Stundenhotel verließ. Die Schlagzeile lautete: Entführte gerettet. „Erzähl mir von ihr", bat er, obwohl er bereits genug wusste. „Evelyn Cross ist Scheidungsanwältin - sehr bekannt, sicher auch, weil sie bestimmte Fälle übernimmt, ohne dafür ein Honorar zu verlangen. Erinnerst du dich an Carla Rincon? Lynn hat es geschafft, Carla von Johnny wegzuholen, bevor er sie totprügeln konnte." Blade schaute auf das Gesicht in der Zeitung, besonders auf die angsterfüllten Augen der Frau, und sein Magen zog sich zusammen. „Und du hast sie gerettet?" „Nein", Stella schüttelte den Kopf, „aber ich ermittle in der Sache. Der Kerl, der sie entführt hat, läuft immer noch frei herum. Er drohte ihr, sie umzubringen, und sie hat solche Angst, dass sie fortlaufen will. Und da man uns die Mittel gekürzt hat..." .' „Wie wäre es, wenn ich bei ihr den Bodyguard spiele?" Misstrauisch sah sie ihn an. „Warum?" „Ich habe meine Gründe. Persönliche Gründe." „Interessant." Ihre Skepsis wich offener Neugier. „Irgendetwas, das du mir erzählen kannst?" „Bei Gelegenheit." Falls er überhaupt jemals darüber reden konnte, was er getan hatte. Nach kurzem Überlegen nickte sie. „Okay. Wenn du sie für ein paar Tage sicher unterbringen kannst, wird sie vielleicht doch in der Gegend bleiben. Und wenn wir den Kerl schnappen, kann sie ihn möglicherweise identifizieren." „Was verstehst du unter sicher?" „Irgendwo außerhalb ihres Apartments. Er weiß, wo er sie finden kann. Heute Abend rief er sie zu Haus an und sprach weitere Drohungen aus. Sie hatte schon mit dem Packen begonnen, aber ich habe sie überredet, mir eine Stunde Zeit zu geben, damit ich mir etwas für sie überlegen kann." Stella zuckte mit den Schultern und schnitt ein Gesicht. „Na, wie sieht es aus mit dir?" Blade wusste, es war lebenswichtig für ihn, dass man ihm verzieh, dass er seine Schuld wieder gutmachte. Auch wenn er das, was er getan hatte, nie mehr würde rückgängig machen können. Damit musste er leben. Der Barbesitzer, Gideon, und einige weitere Mitarbeiter des Club Un-dercover, wie Logan und Cassandra, würden jede Gelegenheit nutzen, Unschuldigen zu helfen. Sie nannten sich scherzhaft Team Undercover. Ihnen brauchte er nicht zu erzählen, warum er ausgerechnet Evelyn Cross ausgewählt hatte. Blade hob nochmals sein Glas und lächelte, was selten vorkam. „Ich bin dabei." Diese eine Stunde erschien ihr wie die Ewigkeit. Lynn wanderte im Wohnzimmer auf und ab und warf einen Blick auf ihre Uhr. Wieder. So wie fast jede der vergangenen siebenundfünfzig Minuten. „Kommen Sie schon, Detective, rufen Sie an ..." Weil Lynn nicht einfach davonlaufen, sich nicht verlieren und irgendein namenloses Gesicht in irgendeiner fremden Stadt werden wollte, setzte sie all ihre Hoffnungen auf die Polizistin. Dennoch konnte sie nicht ewig hier bleiben und darauf warten, dass das Fallbeil niedersauste. Er konnte überall sein, warten ... beobachten.
Er konnte sogar genau in diesem Augenblick vor ihrer Apartmenttür stehen, bereit, wieder zuzuschlagen! Das Telefon klingelte. Tony meldete sich. „Hier ist Detective Jacobek. Sie möchte zu Ihnen." „Schicken Sie sie bitte herauf." Ein Blick auf ihre Uhr zeigte Lynn, dass die Polizistin eine Minute vor Ablauf der vereinbarten Zeit gekommen war. Dennoch wäre sie fast über ihren gepackten Koffer gestolpert, als kurz darauf an die Tür geklopft wurde. „Gott sei Dank!" Sie entriegelte die Tür, riss sie weit auf und rief dabei: „Ich dachte schon, Sie würden es nicht mehr rechtzeitig schaffen." „Da bin ich." Lynn keuchte auf beim Anblick des gefährlich aussehenden dunkelhaarigen Mannes mit den dunklen Augen, hohen Wangenknochen, einer kühnen Nase und Lippen, die er fest zusammengepresst hatte. Ihr Herz hämmerte wie wild, ihr stockte der Atem. Sie versuchte die Tür wieder zuzuschlagen, aber er stand bereits im Rahmen. Im Rahmen? Er füllte ihn aus. Ihre Gedanken rasten, als sie zurückwich und wünschte, sie hätte irgendeine Waffe zur Hand. „Ich bin hier, um ..." Sie unterbrach ihn. „Verschwinden Sie wieder, oder..." „Oder was?" fragte er ruhig und kam weiter auf sie zu. Sie stellte sich vor, wie diese tiefe Stimme zu einem höhnischen Flüstern wurde, sie bedrohte. Das musste er sein, ihr Entführer - aber wie war er an Tony vorbeigekommen? Von Panik erfüllt, schaute sie sich nach einer Waffe um. Ihr Blick fiel auf die Metallskulptur, die sie eine Unsumme gekostet hatte. Sie packte sie und richtete die scharfen Kanten auf ihn. „Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun", warnte er sie. „Das Ding sieht nicht gerade harmlos aus. Sie könnten jemand damit verletzen." „Ja - Sie!" Sie ging auf ihn los. Er wich zur Seite aus, sie verlor durch den Schwung das Gleichgewicht und prallte mit der Hüfte gegen ihn. Dabei entglitt ihr die schwere Skulptur. Sie traf sein Bein, ehe sie zu Boden polterte. Er stieß einen unterdrückten Fluch aus und kniff die Augen zusammen. „Ich habe Ihnen doch gesagt, das verdammte Ding ist gefährlich." „Das bin ich auch!" schrie sie und versuchte ihm ihre langen Nägel durchs Gesicht zu ziehen. Wenige Zentimeter vor seinen Augen packte er ihr Handgelenk und hielt es mühelos fest. „Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem. Ich bin ..." „Ein Mistkerl, der einen Mord vorhat!" Als sie sich losreißen wollte, löste sich der dünne Fersenriemen ihrer Sandalette, und Lynn flog nach hinten. Zu ihrem Entsetzen verlor sie die Balance und nahm den Mann mit sich. Sie fiel rücklings auf den Teppichboden und befürchtete schon, er würde mit voller Wucht auf ihr landen. Doch er streckte rechtzeitig eine Hand aus und fing seinen Sturz ab. Ein Keuchen entrang sich seiner kehle. Nur mit einer Hand abgestützt, schob er sich über sie. Deutlich spürte sie seine Körperwärme. Sie konnte sich nicht bewegen, war wie gebannt. Dann fiel etwas aus seinem offenen Hemd und strich über ihr Gesicht. Es war ein kleiner Lederbeutel, der ihm um den Hals hing. Lynn nahm weitere Einzelheiten wahr: pechschwarze Augen, sein Haar, das etwas länger
war und im Nacken mit einem Lederband zusammengebunden war, den muskulösen, durchtrainierten Körper. „Ich bin hier, um ..." „Ich weiß, warum Sie hier sind." Lynn stemmte die Hände gegen seine Brust, allerdings erfolglos. Er war wie ein Fels. „Aber Sie werden es nicht schaffen. Hilfe!" kreischte sie. „Hören Sie auf." Sie schrie nur lauter. Er presste ihr die freie Hand auf den Mund. „Hören Sie endlich auf zu schreien und hören Sie zu, ja?" Heftig schüttelte sie den Kopf. „Also gut, versuchen wir es noch einmal", sagte er mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war. Entsetzen überfiel Lynn. Sie vermochte sich nicht mehr zu rühren. Hätte auch nicht sprechen können, selbst wenn er die Hand von ihrem Mund genommen hätte. Er würde ein zweites Mal versuchen, sie zu ermorden, und keiner konnte ihn davon abhalten. Vom Flur her drang ein Geräusch an ihr Ohr, gefolgt von einem halb erstickten Ausruf. „ Blade Stone, ich habe oft gehört, dass du von der schnellen Truppe bist, aber jetzt hast du deinen eigenen Rekord gebrochen!" Lynns Blick flog zur Tür. Detective Stella Jacobek lehnte am Rahmen.
2. KAPITEL „Lassen Sie mich am Leben, wenn ich jetzt aufstehe?" fragte Blade. Lynn antwortete mit einer Gegenfrage. „Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie mit Stella hier sind?" „Das habe ich ja versucht. Aber Sie ließen mich nicht zu Wort kommen." „Als ich die Tür öffnete, habe ich nicht mit Ihnen gerechnet, sondern mit Stella." Lynn wusste nicht, ob ihr Zorn oder ihre Verlegenheit überwog. „Was sollte ich da denn annehmen?" „Das ist eine andere Sache. Wieso öffnen Sie die Tür, obwohl Sie nicht wissen, wer draußen steht? Haben Sie den Verstand verloren?" Lynn reckte den Hals und lugte an ihm vorbei zu der Polizistin, die ein eher amüsiertes als besorgtes Gesicht machte. „Wer ist dieser Kerl?" „Ihr neuer Bodyguard." „Was?" Blade erhob sich. „Ich glaube, ich muss mir das noch einmal gründlich überlegen ..." „Das tust du nicht." Stella kam heran und stellte sich zwischen die beiden. „Lynn, Sie finden keinen besseren Beschützer als Blade Stone. Sie können ihm unbesorgt Ihr Leben anvertrauen." „Blade - Klinge? Sie wollen, dass ich mich einem Mann anvertraue, der so heißt?" „Ja. Sein richtiger Name ist Richard. Blade ist nur sein Spitzname." „Wem verpasst man denn solch einen Spitznamen?" murmelte Lynn und hob ihre Skulptur wieder auf. „Einem, der geschickt mit dem Messer ist", antwortete er. Lynn wich noch einen Schritt zurück. Sie brauchte mehr Raum. Das Atmen fiel ihr schwer. Dieser Mann schüchterte jeden ein. Womit er natürlich der perfekte Leibwächter wäre. „Und nun?" Sie versuchte ihn zu ignorieren und blickte Stella an. „Erwarten Sie von mir, dass ich ihn hier bei mir aufnehme?" „Nein", sagte Blade, „Sie kommen mit mir." Lynn wirbelte herum. Sie sollte sich von einem Mann Vorschriften machen lassen? Einem Mann, den sie nicht einmal kannte? „Wer sagt das? Und wohin?" „Wir besorgen Ihnen einen sicheren Wohnort und versehen Sie mit einer neuen Identität, einem neuen Aussehen." „Wer ist wir?" „Ein paar Leute, mit denen ich arbeite." „Was für eine Arbeit ist das?" „Ich bin Chef-Barkeeper in einer Bar, die sich Club Undercover nennt." Sie gab einen frustrierten Laut von sich und stellte die Figur wieder an ihren Platz. „Vielleicht erwische ich ja noch einen Frühflug nach ... irgendwohin." „Urteilen Sie nicht zu hastig über Blade. Wenn jemand Sie beschützen kann, dann er", sagte Stella ruhig. Das Wort beschützen löste ein spontanes Gefühl in Lynn aus, das sie nicht einordnen konnte. „Ein Barkeeper mag ja in der Lage sein, einen betrunkenen Gast vor die Tür zu setzen, aber..." „Diesen Job mache ich nur vorübergehend", sagte Blade. „Keine Sorge, ich bin ausgebildet, mich in Gefahrensituationen zu behaupten, und werde nicht zulassen, dass Ihnen etwas zustößt. Wir haben einfach einen schlechten Start miteinander gehabt. Was halten Sie davon, wenn wir einen neuen Anfang machen? Ich kenne Stella schon seit Urzeiten und habe mich bereit erklärt, auf Sie aufzupassen, solange sie mit den Ermittlungen beschäftigt ist." Ein Bodyguard ... sie brauchte wohl einen ... und die Eignung für den Job schien der Mann
auf jeden Fall zu besitzen. Solange er sie nicht zu sehr hin und her schubste, würde sie es wohl mit ihm aushalten. „Sie meinen, man kann sich wirklich auf ihn verlassen?" wandte sie sich an Stella. „Ich würde Blade mein Leben anvertrauen." Lynn nahm eine Neueinschätzung des athletischen Hünen vor und sagte schließlich: „Sie machten mir Angst, und ich habe übertrieben reagiert. Ich bin einverstanden, noch einmal von vorn zu beginnen, wenn Sie es auch wollen. Und was Ihr Honorar betrifft..." „Ich tue dies aus persönlichen Gründen und nehme kein Geld." Lynn atmete einmal tief durch. Sie brauchte jemand, dem sie rückhaltlos vertrauen konnte, und wem sollte sie mehr vertrauen als Stella, die mit ihrem Fall beauftragt worden war? Sie streckte die Hand aus, und obwohl sie keine kleine Frau war, verschwand ihre Hand fast in seiner. Während sie ihm in die Augen schaute, geschah etwas Seltsames. Es war, als spränge ein Funke über, als bestünde eine Verbindung zwischen ihnen. Reine Einbildung, ermahnte sie sich. Sie entzog ihm schnell ihre Hand. „Gut, einverstanden. Aber lassen Sie mir eine Minute Zeit, ja? Der Riemen ist gerissen ..." Sie deutete auf ihre Sandalette. „... und ich muss mir andere Schuhe anziehen." „Am besten etwas Praktisches", sagte er. Lynn presste die Lippen zusammen. Er liebte es anscheinend, andere zu bevormunden. Aber bevor sie antworten konnte, dass sie anziehen würde, was ihr gefiel - und sie trug vorzugsweise Schuhe, die eben nicht praktisch waren -, räusperte sich Stella. „Kann ich jetzt gehen?" fragte sie. „Versprecht ihr mir, dass ihr euch nicht an die Gurgel geht?" „Ja, natürlich." Lynn fiel das Band mit dem Anruf ein. Sie nahm es aus dem Anrufbeantworter und gab es ihr. „Und nochmals vielen vielen Dank, Stella." Die Polizistin warf Blade einen seltsamen Blick zu. Dann sagte sie: „Ich fahre morgen in Ihr Büro, Lynn, um zu sehen, ob sich dort etwas ergeben hat. Überlegen Sie trotzdem noch einmal genau, wer Ihnen Böses wollen könnte. Meine Handynummer haben Sie und ich Ihre. Was ist mit dir, Blade?" „Nicht meine Wahl der Waffen." Sollte das ein Witz sein? Lynn humpelte Richtung Schlafzimmer. „Bin gleich wieder da." Sie schlüpfte in Sandalen mit etwas flacherem Absatz, verteilte ein wenig Make-up über der Schwellung auf ihrer Wange und zog ihre Lippen mit einem pfirsichfarbenen Lippenstift nach. Bestimmt nicht, um diesen Macho im Nebenzimmer zu beeindrucken, redete sie sich ein. Sie wollte einfach nur wieder einigermaßen normal aussehen, das brauchte sie jetzt für ihr Selbstvertrauen. Aber ob Blade ihre Verschönerung auffiel, konnte sie nicht sagen, als sie das Schlafzimmer wieder verließ. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er einen Blick auf ihre Sandalen warf. Dann nahm er ihre kleinere Reisetasche und hängte sie sich um die Schulter. „Fertig?" „Fertig." Sie schluckte. Mit einer Leichtigkeit, als wäre er leer - was er nicht war, denn sie hatte mehr eingepackt, als eigentlich notwendig war -, nahm er nun ihren Koffer hoch. „Das Ding hat Rollen", betonte sie. Aber er war schon halbwegs aus der Tür und marschierte weiter. Das Gewicht des Koffers schien ihm nichts auszumachen. Mein Gott, was für ein Macho ... Lynn, nur mit der Handtasche bewaffnet, folgte ihm in den Flur. Sie schloss ab und hoffte dabei, es würde nicht zu lange dauern, bis sie in ihr Zuhause zurückkehren konnte. Das einzige friedliche Zuhause, das sie je gekannt hatte. Als sie um die Ecke bog, sah sie, dass ihr neuer Bodyguard ihr schon die Fahrstuhltür aufhielt. Falls er ungeduldig war, zeigte er es nicht. Lynn ließ sich Zeit mit dem Einsteigen.
Es war schon spät. Außer ihnen benutzte niemand den Fahrstuhl, er fuhr bis zum Erdgeschoss durch. Als sie am Tisch des Wachmanns vorbeikamen, fragte Tony: „Schon wieder eine Geschäftsreise, Miss Cross? Sind Sie wirklich ganz okay?" „Ja, mir geht es gut, Tony. In einigen Tagen bin ich zurück." „Dann einen guten Flug." Sie berichtigte ihn nicht, sondern folgte Blade, der am Ausgang stand und auf sie wartete. Bestimmt hatte er keine große Lust, sich ihretwegen die Beine in den Bauch zu stehen. Schließlich war er normalerweise kein Leibwächter. Er tat Stella - und auch ihr - einen Gefallen. Also sollte sie ihr Verhalten und ihre Einstellung ihm gegenüber ändern. Bestimmt würde sie ein paar Tage lang mit ihm auskommen. Sie mochte sich vielleicht nicht unbedingt darauf freuen, die nächste Zeit mit Blade in seiner Welt zu verbringen, aber als sie an seiner Seite das Gebäude verließ, fühlte sie sich doch um einiges sicherer, als wenn sie allein gewesen wäre. „Er könnte irgendwo hier draußen sein", murmelte sie und rückte unwillkürlich näher. „Nicht nahe genug, um an Sie heranzukommen." „Woher wollen Sie das wissen?" „Weil er erst an mir vorbei muss." Lynn schluckte. Tödlicher Ernst sprach aus dieser knappen Bemerkung. Ihr Instinkt verriet ihr, dass ihm keine Bewegung, kein Geräusch, kein Lebewesen in der näheren Umgebung entging. So, als wäre er darauf trainiert worden. Aber wo? Allerdings hatte sie den Eindruck, Fragen danach würden ihm nicht gefallen. Außerdem hatte Stella versichert, sie könne ihm vertrauen, also würde sie es tun. Dann fiel ihr auf, dass er leicht humpelte, und sie fühlte sich schuldig. Sie hatte ihn bestimmt mit der Skulptur verletzt. Doch er erwähnte es mit keinem Wort. Blade blieb vor dem einzigen Wagen stehen, der vor dem Gebäude parkte. Er konnte von Glück sagen, dass noch kein Strafmandat hinter dem Scheibenwischer klemmte. Und sie fragte sich, was er mit einem Jeep in der Stadt anfing. Ein Yuppie-Typ war er eigentlich nicht. Mehr der Naturbursche, falls die Jeans und Stiefel, das offene braune Hemd und die hochgerollten Ärmel ein Indiz dafür waren. Hatte er vielleicht bei der Jagd seine Instinkte geschärft, dabei mit dem Messer umzugehen gelernt? Er verstaute ihr Gepäck auf der Rückbank und öffnete die Beifahrertür. Lynn bedankte sich und stieg ein. Als sie die North Michigan Avenue überquert hatten und sich der beliebten River-NorthGegend näherten, in der sich um diese Zeit immer noch Einheimische und Touristen aufhielten, versuchte sie eine Unterhaltung in Gang zu bringen. „Erzählen Sie mir von diesem Club Undercover." „Es ist ein Nachtclub mit täglich wechselndem Abendprogramm - Gedichtlesungen, Kleinkunst, was auch immer. Den Gästen scheint die Vielfalt zu gefallen." Das klang fast, als wolle er ihr den Aufenthalt dort schmackhaft machen, aber sie war entschlossen, nicht mehr Zeit in dieser Bar zu verbringen als notwendig. „Ich persönlich ziehe Ballett, Oper oder den Besuch Kunstgalerie vor." „Aha, ein Snob." „Wohl kaum. Wir bewegen uns bloß in ... verschiedenen Kreisen." „Das kann man wohl sagen." Sie musterte ihn scharf. Was sollte das denn heißen? Aber sein Gesicht verriet nichts, während er sich aufs Fahren konzentrierte und ab und an einen Blick in den Rückspiegel warf. Einen Moment lang war Lynn fasziniert von seinem Profil, besonders von der kühnen Nase. Vielleicht hatte er indianische Vorfahren - das würde auch sein dunkles, gefährliches Aussehen erklären. „Sie erwähnten etwas davon, meine Identität zu ändern. Haben Sie so etwas schon einmal
gemacht?" Er warf ihr einen schnellen Blick zu. „Spricht hier die Anwältin?" „Sagen Sie lieber, das besorgte Opfer." Blade musste an der nächsten Ampel anhalten. „Einmal - für eine Frau, die unschuldigem Gefängnis saß." „Wie haben Sie das gemacht? Eine Art Geheimaktion?" „Ach, nichts, worüber Sie sich Gedanken machen müssten. Sie sollten es nur für sich behalten." „Okay, ich bin nicht in der Lage, Ihnen die Daumenschrauben anzusetzen. Ihr Geheimnis stirbt mit mir", scherzte sie. „Hat denn jemand eine Idee, wie diese Ermittlungen weitergehen sollen?" „Wer hat etwas von Ermittlungen gesagt?" Die Ampel schaltete auf Grün, und ergab Gas. Sie fuhren Richtung Westen. „Ich habe einfach nur angeboten, für Ihre Sicherheit zu sorgen. Mehr nicht." Lynn versuchte so zu tun, als wäre sie nicht enttäuscht, aber sie konnte sich nichts vormachen. Einen Moment lang hatte sie gedacht, sie könnte mehr als nur ein Opfer sein, das sich verbarg, dass sie vielleicht mit seiner Hilfe selbst einen Weg aus ihrer misslichen Lage finden würde. Schließlich, wer kannte ihr eigenes Leben besser als sie? Natürlich würde es helfen, wenn sie sich ein wenig genauer erinnern könnte, bislang war das jedoch nicht der Fall. Aber sie hatte eigentlich auch kaum Zeit dazu gehabt, oder? „Also, wo werden Sie mich unterbringen?" „In meinem Blickfeld. Sie haben Glück, eine Kellnerin hat gekündigt, und Gideon meint, Sie könnten ihren Job übernehmen." „Das nennen Sie Glück?" Lynn starrte ihn bestürzt an. Noch nie, nicht einmal in der Schulzeit, hatte sie bedient. „Ich bin Anwältin!" „Wenn Sie auf der Flucht sind, können Sie doch wohl kaum praktizieren, oder?" Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Sie würde in der Kanzlei anrufen und Bescheid geben müssen, dass sie für unbestimmte Zeit unbezahlten Urlaub nahm. Dennoch ... „Ich bin nicht auf Trinkgelder angewiesen. Ich habe genug Geld auf der Bank." „Wie wollen Sie dann unbemerkt bleiben? Den ganzen Abend am Tresen sitzen, jeden Abend, mir dabei zusehen, wie ich Getränke ausschenke? Eine Frau wie Sie wird sich da schnell langweilen. Und sie fällt auf." Sie hatten inzwischen die belebten Stadtviertel hinter sich gelassen und fuhren eine heruntergekommene Straße entlang - Teil eines alten Industriegebiets. Die einsame Gegend machte Lynn zunehmend Angst, und sie sagte: „ Ich hatte nicht vor, mehr Zeit im Club zu verbringen als unbedingt nötig." „Und ich habe nicht vor, meinen Job an den Nagel zu hängen", erwiderte er ruhig. „Wenn Sie meine Hilfe wollen, werden Sie ein paar Kompromisse eingehen müssen, was Ihre Ansprüche betrifft." Wieder warf er ihr vor, ein Snob zu sein! Lynn schluckte ihren Ärger hinunter und verfiel in Schweigen, während sie durch die trostlosen, einsamen Straßen fuhren. Es hatte wenig Sinn, sich mit Blade zu streiten, auch wenn seine Art, Anweisungen zu geben, ihr auf die Nerven ging. Eigentlich hatte sie genug davon, erzogen zu werden. Ihr Vater war ein Tyrann gewesen, hatte mit Einschüchterungen und Verunglimpfungen gearbeitet und jeden, der sich gegen ihn zur Wehr setzte, grausam bestraft. Sie beschloss, jetzt erst einmal mitzumachen - bis sie einen besseren Plan hatte. Die Gegend um den Wicker Park und das angrenzende Bucktown-Viertel hatte früher den Namen Polish Gold Coast getragen, wohl wegen er vielen polnischen Einwanderer, die dort
hinzogen. Nun lebte hier eine bunte Mischung von Bewohnern. Künstler hatten sich niedergelassen, als die Mieten erschwinglich waren. Für die weniger vom Schicksal Begünstigten waren städtische Wohnblocks gebaut worden. Dann kamen erfolgreiche junge Leute, die die Nähe zum Zentrum lockte, und damit begann die Aufwertung der gesamten Gegend. Chicagos Skyline funkelte in einiger Entfernung im Sonnenlicht, als Blade Lynn die Milwaukee Avenue entlang zu dem modernen Gebäude führte, in dessen Souterrain sich der Club Undercover befand. Junge Leute zwischen zwanzig und dreißig kamen und gingen, und dumpfe Bässe drangen von unten herauf bis auf die Straße. „Wie können die Leute sich bei diesem Lärm überhaupt unterhalten?" wunderte sich Lynn laut. Blade hob eine Augenbraue. „Bei welchem Lärm?" Er war ihn gewohnt. Lynn verdrehte die Augen und wich einem jungen Mann mit grellgrünem Haar aus, der gerade die Treppe heraufkam. Auch Lynn wird sich daran gewöhnen, dachte Blade. „Einen Moment bitte." Er ging zu Mags hinüber, die die Gäste empfing. Ihr zurzeit dunkelorange gefärbtes Haar passte zu ihrem knappen Outfit, das mehr einem kurzen Schlauch als einem Kleid glich. „Kannst du Cassandra und Logan bitten, zu mir in Gideons Büro zu kommen?" „Sicher, Blade." Wie alle Mitarbeiter, die bedienten, trug auch Mags ein Headset, über das sie Blades Bitte weitergab. Lynn schaute in den Clubraum, der in neonblaues und rotes Licht getaucht war. Auf der Tanzfläche bewegten sich Gäste nach den hektischen Klängen von Nebulas Come Down. Der Club erstreckte sich terrassenförmig über zwei Stockwerke, und die obersten Tische standen auf Straßenniveau. Blade führte seinen Schützling vom Eingang weg in einen ruhigeren Flur. Seine Wade tat an der Stelle, an der die Skulptur ihn getroffen hatte, höllisch weh, aber er versuchte es nicht zu zeigen. Wenn er zu Haus war, würde er die Prellung erst mal mit Eis kühlen. Doch bis dahin musste er den Schmerz einfach ignorieren, so wie er es in seiner Ausbildung gelernt hatte. Lynn war sehr schweigsam gewesen, seit er ihr gesagt hatte, dass sie im Club arbeiten würde, und er fragte sich, was in ihrem Kopf vor sich ging. Von ihr als Anwältin stand zu erwarten, dass sie sich eine Strategie zurechtlegte. Einfach dürfte es mit ihr bestimmt nicht werden. Solange sie nicht vorhat, nochmals auf mich loszugehen, ist alles in Ordnung, dachte er und unterdrückte ein Lächeln. Und eines musste er ihr zugestehen - Mut hatte sie, auch wenn sie längst nicht so knallhart war, wie sie vorgab. Ihre Augen verrieten sie. Er fragte sich, wie sie es anstellte, ihre Gegner vor Gericht zu bluffen. Andererseits, nicht jeder konnte so leicht Menschen durchschauen wie er selbst. „Hier hinein, bitte." Er beugte sich vor und griff nach dem Türknauf. Dabei stieg ihm ihr exotischer Duft in die Nase, herb und blumig zugleich. Er hatte ihn schon wahrgenommen, als sie in ihrem Apartment zusammen am Boden landeten, einander so nah gewesen waren, dass... Es war ihm schwer gefallen, seine professionelle Distanz zu wahren. Dieses Parfüm und die eleganten Riemchensandaletten waren interessante Accessoires bei einer Frau, die sich in kühler Anwaltskleidung versteckte. Cass wird sich um den Rest kümmern, dachte Blade und lächelte schwach, als er Lynn in Gideons Allerheiligstes führte. Kurzzeitig fühlte sich Lynn von Testosteron umzingelt - der Clubbesitzer Gideon hinter seinem Schreibtisch, Blade neben ihr und dazu der Sicherheitsexperte John Logan.
Mit Möbeln in Schwarz und Chrom ausgestattet und Wänden im selben dunklen Blau wie die Augen seines Besitzers, war das Büro so maskulin wie der Mann selbst. Gideon trug sein glattes schwarzes Haar nach hinten gekämmt. Mit seinem klassisch schönen Gesicht konnte er ohne weiteres das Titelblatt eines Männermagazins zieren. In diesem Augenblick stürmte eine atemberaubende Frau herein. „Habe ich irgendetwas verpasst?" rief sie temperamentvoll. „Ich war gerade dabei, meinen nächsten Auftritt vorzubereiten." An Lynn gewandt, erklärte sie: „Ich veranstalte ein paar Zauberkunststückchen zwischen den anderen Aufführungen." „Unsere bewundernswerte Cassandra ist ausgesprochen vielseitig", meinte Gideon, dann sagte er: „Wir stellen uns gerade einander vor. Dies ist unsere neue Klientin, Evelyn Cross... Cassandra Freed." „Klientin?" murmelte Lynn und fragte sich, worauf sie sich eigentlich eingelassen hatte. „Gideon ist gut darin, Leute einzuschüchtern." Cass schüttelte Lynn die Hand. „Aber er hat ein weiches Herz." Lynn mochte Cassandra auf Anhieb. Eine mahagonirote Mähne umrahmte ihr apartes Gesicht. Fuchsienrote Strähnen verliehen den langen Haaren zusätzliche Glanzlichter und passten im Farbton zum kurzen Kleid und den langen Fingernägeln. „Also, wie sieht der Plan aus?" fragte Logan, immer noch an die gegenüberliegende Wand gelehnt. Er schnippte einen unsichtbaren Fussel vom Revers seines Designerjacketts. Sein gut aussehendes, kantiges Gesicht wurde noch dadurch betont, dass er die mit silberblonden Strähnchen durchsetzten hellbraunen Haare als modisch kurze Igelfrisur trug. „Einfach", erklärte Blade. „Wir geben Lynn ein neues Aussehen, eine neue Identität und Schutz. Um Letzteres kümmere ich mich." Von seinem bestimmenden Ton überrascht, sah Lynn ihn an und wunderte sich, dass drei so ausgeprägte Charaktere wie diese Männer problemlos miteinander arbeiten konnten. Ihre männlichen Kollegen in der Kanzlei versuchten immer, einander auszustechen, und im Vergleich zu diesen Männern hier waren sie Waschlappen. „Morgen kann ich mich um Ihre äußere Verwandlung kümmern", meinte Cass zu Lynn. „Haben Sie irgendwelche Vorlieben, was die Frisur oder Haarfarbe betrifft? Wir unterhalten uns morgen früh darüber. Bei mir. Nicht zu früh!" wandte sie sich warnend an Blade. „Ja, Ma'am." Er grinste. Cassandra hat eindeutig einen anderen Geschmack als ich, dachte Lynn. „Reicht nicht ein anderes Make-up und ein neues Outfit...", begann sie. Gideon unterbrach ihren halbherzigen Protest mit einer Handbewegung. „Uns liegt daran, Ihre Sicherheit zu garantieren, sicherzustellen, dass niemand Sie wieder erkennt. Wenn Sie einen bestimmten neuen Namen haben wollen, sagen Sie mir Bescheid." Lynn pochte das Herz bis zum Hals. Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Diese Leute übernahmen die Kontrolle über ihr Leben, benutzten dazu Mittel, mit denen andere betrogen. Die Anwältin in ihr meldete sich beunruhigt zu Wort, wurde aber schnell vom Opfer zum Schweigen gebracht. Solange sie kein Verbrechen beging, konnte sie jeden Namen benutzen, der ihr gefiel. Gideon räusperte sich. „Das Einzige, um das wir Sie als Gegenleistung bitten, ist, dass Sie Stillschweigen bewahren über die Hilfe, die wir Ihnen geben." „Blade hat mich bereits darauf hingewiesen." „Dann sind Sie einverstanden?" „Ja. Ich verspreche es Ihnen", sagte sie und hoffte, es nicht eines Tages zu bedauern.
3. KAPITEL „Also, wohin bringen Sie mich?" fragte Lynn Blade, als sie wieder in seinem Jeep saßen. „Zu meinem Apartment. Es ist nur ein paar Straßen weiter. Die Wohnung neben meiner ist gerade frei geworden, und ich werde den Vermieter morgen früh anrufen. Heute müssen Sie noch bei mir übernachten." „Wie bitte?" „Ich habe ein schönes großes Bett. Sehr bequem." Der Gedanke, es mit ihm zu teilen, verursachte ihr Unbehagen. „Nun, ich schlafe nicht in Ihrem Bett!" „Dann nehmen Sie eben das Sofa." Hatte er vorgehabt, auf dem Sofa zu schlafen und ihr das Bett allein zu überlassen? Lynn fühlte, wie ihr vor Verlegenheit die Röte in den Nacken kroch. Warum hatte er es nicht gleich gesagt? Nun musste sie auf dem Sofa schlafen. Außer... „Gibt es denn hier in der Gegend keine Hotels?" „Es würde schwierig werden, Sie im Auge zu behalten, wenn Sie in einem Hotel untergebracht wären, Lynn." „Wir könnten angrenzende Zimmer nehmen. Natürlich auf meine Kosten." „Wir werden in angrenzenden Zimmern sein. Nun ja, zumindest in gewisser Weise." Was auch immer er damit meinte. Lynn enthielt sich einer weiteren Bemerkung. Blade Stone schuldete ihr nichts, er spielte nur Detective Jacobek zuliebe ihren Babysitter. Sie durfte nicht von ihm verlangen, ihretwegen sein Leben noch mehr zu verändern, als er es ohnehin schon tat. Auch wenn es ihr nicht gefiel, sie würde sich mit dem Sofa begnügen müssen, was aber eigentlich auch nur fair war. Schließlich war es seine Wohnung, sie im Grunde nur ein geduldeter Gast. Außerdem war er viel größer und breiter als sie. Wahrscheinlich passte er gar nicht aufs Sofa. Eine Vorstellung, die ihre Fantasie anheizte. Einen Moment lang sah sie ihn vor sich, wie er ausgestreckt auf dem Bett lag ... nackt. Sein muskulöser Körper bot einen wundervollen Anblick ... Sie errötete und vertrieb hastig das verlockende Bild. Blade und sie hatten nichts miteinander gemein, also sollte sie sich nicht solchen unsinnigen Vorstellungen hingeben. Besonders nicht in ihrer Lage. Da kam es darauf an, sich auf das Wichtigste zu konzentrieren - ihre Sicherheit. „Wo wurden Sie ausgebildet?" fragte sie, als der Jeep in eine schmale Gasse einbog. „Zum Barkeeper?" „Nein, zum Bodyguard." Er fuhr auf einen kleinen Parkplatz hinter einem dreistöckigen Gebäude. „Sie sind meine erste Klientin." Keine Erfahrung. Na großartig! Aber sehr wahrscheinlich schreckte allein seine Größe Gegner davon ab, sich mit ihm einzulassen. Außerdem durfte sie wohl der Einschätzung der Polizistin vertrauen. Also sagte sie: „Okay, reden wir von den Waffen." „Welchen?" „Beginnen wir mit den Messern." Die für seinen Spitznamen verantwortlich waren. Seine Antwort überraschte sie nicht. „Auf den Straßen Chicagos, auf denen es etwas rauer zugeht." Blade stellte den Motor ab, stieg aus, öffnete ihr wieder die Beifahrertür und nahm ihr Gepäck von der Rückbank. Lynn folgte ihm den Weg entlang zu der offenen Treppe. Er humpelte immer noch leicht.
Sie runzelte die Stirn und fragte sich, warum er weder etwas gesagt noch etwas gegen den Schmerz unternommen hatte, behielt aber ihre Meinung für sich. Stattdessen kehrte sie zum Thema zurück. „Dann waren Sie als Jugendlicher Mitglied einer Straßengang?" „Ich tat alles, um nicht Mitglied zu werden." „Und danach?" „Ging ich zur Armee." Was wohl bedeutete, er konnte bestimmt auch mit Waffen umgehen, die weitaus gefährlicher waren als Messer. „Waren Sie im Ausland?" „Einige Male." „Sie waren dort stationiert?" „Nicht für längere Zeit." „Wofür dann?" „Sondereinsätze." „Könnten Sie nicht noch ein wenig geheimnisvoller tun?" „Wenn Sie möchten, gebe ich mir gern mehr Mühe." Auch wenn sie annahm, dass er versuchte humorvoll zu sein, glaubte sie nicht, dass er sie wirklich necken wollte. Er drehte einfach nur den Spieß um. Vermutlich war er ein ziemlich verschlossener Mensch. Und sie, als Anwältin, war manchen Leuten zu neugierig. Ihm auf jeden Fall, wie es schien. Noch ein Beispiel dafür, dass sie wie Feuer und Wasser waren. Sie wollte alles wissen. Er wollte nichts erzählen. Als er die Treppe hinaufstieg, machte es ihm sichtlich Mühe. „Geben Sie mir den Koffer", sagte sie und griff danach. Blade aber ließ ihn nicht los, und plötzlich waren sie dicht nebeneinander. Sein Arm berührte ihren, ihre Haut fing an zu prickeln. Verwirrt war sie drauf und dran, ihm den Koffer zu überlassen. Ihr Stolz sträubte sich. „Ich kann meinen Koffer selbst tragen", beharrte sie störrisch. Er zuckte mit den Schultern und ließ ihn abrupt los. Das Gewicht riss sie fast die Treppe hinunter. Aber es gelang ihr, das Gleichgewicht zu bewahren. Sie zog den Griff aus dem Koffer und drehte ihn so, dass er sich besser manövrieren ließ. „Jeder, der nur einen Funken Verstand besitzt, würde es sich leichter machen", tadelte sie ihn. „Ich weiß nicht... Für manche Frauen gilt: je härter, desto besser." Damit wandte er sich ab und stieg, vom Gewicht befreit, die Treppe schwungvoll hinauf. Na schön, er hatte das letzte Wort gehabt. Niemand wusste besser als sie, dass die Männer immer das Sagen haben mussten, wenn eine Frau beteiligt war. So oder so. Stöhnend zerrte sie die Räder des Koffers Stufe um Stufe empor, den ganzen Weg hinauf in den dritten Stock, entschlossen, sich nicht über den flachen Humor ihres Bodyguards zu ärgern. Atemlos gelangte sie schließlich am Treppenabsatz an und wartete darauf, dass er die hintere Eingangstür aufschloss. All die anderen Balkone waren leer gewesen, auf seinem aber standen in einer Ecke zwei Korbstühle mit einem kleinen Tisch dazwischen. Vom Überdach hingen blühende Topfpflanzen. In einer Ecke stand eine üppige Grünpflanze. Einladend, dachte sie. So ganz anders als der Mann selbst. „Wer ist Ihr Innendekorateur?" fragte sie und überlegte dabei, ob eine Frau ihre Hand im Spiel hatte. Und was sie sagen würde, wenn er sie, Lynn, bei sich einquartierte, wenn auch nur für eine Nacht. „Die Möbel habe ich gekauft. Die Pflanzen sind ein Geschenk meiner Mutter." Mutter? Dass er engen Kontakt zu seiner Mutter hatte, passte nicht zu Lynns erstem
Eindruck von ihm. Ein paar weitere große Hängepflanzen milderten die karge Einrichtung des Apartments, das nur aus einem großen Raum mit einer winzigen Küche und einem kleinen Schlafzimmer bestand. Durch den Türspalt konnte sie ein ungemachtes Bett sehen. Das waren also die angrenzenden Zimmer. Großartig. Keine Privatsphäre. Sie würde in ihrer Kleidung schlafen. Er auch? Als sie ihre Tasche auf den Boden zwischen Sofa und Sessel stellte, sagte sie: „Ihr Bein ... tut es noch weh?" „Ich werde es überleben." „Aber Sie humpeln. Vielleicht sollten Sie damit zum Arzt gehen." „Ich werde es kühlen, das reicht. Sie könnten auch ein wenig Eis auf Ihren Gelenken gebrauchen." Lynn schaute auf die Schrammen und Schwellungen, die die Fesseln des Entführers hervorgerufen hatten. „Nein, das geht schon so." „Wenn Sie meinen ..." Er ging Richtung Küche. „Möchten Sie etwas trinken? Ich habe Bier und Cola da." „Tee auch?" Bestimmt würde er ihrer rauen Kehle gut tun. „Ja, wenn Sie Kräutertee mögen." „Wunderbar, das ist genau richtig." Welcher Mann serviert Kräutertee? dachte sie. Und hat Grünpflanzen in der Wohnung und auf dem Balkon? Blade Stone war wirklich ungewöhnlich. Sie schaute ihm zu, wie er sich in der winzigen Küche bewegte, Becher mit Wasser in die Mikrowelle stellte, Eiswürfel aus dem Kühlschrank nahm und sie in einen Plastikbeutel füllte. Er wirkte ungezwungen, und sie zweifelte nicht daran, dass er ebenso locker hinter der Bar stand und Drinks servierte. Blade Stone, Barkeeper. Unwillkürlich fragte sie sich, wieso er bei einem so zukunftslosen Job gelandet war, obwohl er beim Militär eine spezielle Ausbildung erhalten hatte, die ihn bestimmt für weitaus anspruchsvollere Aufgaben qualifizierte. Aber vielleicht war in diesem Club die Bezahlung einfach besser. Er kam mit den beiden Bechern zurück und stellte sie auf den Couchtisch. „Keine Teebeutel?" „Spezialmischung. Lassen Sie sie ein paar Minuten ziehen, dann ist sie gut." „Inwiefern spezial?" Er legte den Eisbeutel auf den Tisch, dann ungeniert sein verletztes Bein. „Beruhigt Sie garantiert, und gut schlafen können Sie danach auch." Lynn bezweifelte, dass sie überhaupt ein Auge schließen würde. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde verhindern, dass er an Sie rankommt", sagte Blade in beruhigendem Ton. „Woher...?" „Ihre Augen. Wenn Sie nicht wollen, dass die Leute Ihre Gedanken lesen, sollten Sie lernen, Ihre Gefühle besser zu verbergen." „Ich dachte, ich wäre gut darin, etwas vor anderen zu verstecken." „Zum Beispiel?" Lynn schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht darüber reden. Er war schließlich mehr oder weniger ein Fremder für sie, und sie verspürte nicht das Bedürfnis, vor ihm ihre Lebensgeschichte auszubreiten. So wechselte sie das Thema. „Was macht Ihr Bein?" Er schnitt eine Grimasse und zuckte mit den Schultern. „Es geht so." „Ich finde, jemand sollte einen Blick darauf werfen." „Sie?"
Überrascht sah sie ihn an. „Von mir aus ..." „Sie sind also nicht sicher, ob Sie sich mein Bein ansehen wollen?" Wieder eine seiner Wortspielereien. „Ich wollte damit ausdrücken, ich bin kein Experte in solchen Sachen. Aber ich kann es nur inspizieren, wenn Sie Ihr Hosenbein hochkrempeln." Blade nahm den Fuß vom Tisch und versuchte es. „Geht nicht hoch genug." „Dann müssen Sie sie eben ausziehen." „Wenn Sie darauf bestehen." Er erhob sich und öffnete seinen Gürtel. „He, so habe ich das nicht gemeint." Blade grinste sie wissend an. „Keine Bange, ich werde mich benehmen." Er humpelte hinüber ins Bad, und gleich darauf hörte sie Stoff rascheln. Dann ertönte ein Fluch. Lynns Neugier siegte. Nur einen kurzen Blick, sagte sie sich, stand auf und ging zur Badezimmertür, die einen Spalt weit offen stand. Was sie sah, ließ sie aufkeuchen und die Tür aufreißen. „Sie haben geblutet!" Blade stand auf dem unverletzten Bein und betrachtete das andere. Getrocknetes Blut bedeckte fast die gesamte Wade. Lynn scherte sich nicht darum, dass er keine Hose mehr anhatte. Oder dass ein Messer an seinen anderen Unterschenkel geschnallt war. „Ich kann nicht glauben, dass ich das getan habe!" Blade musterte die schöne Frau, die beim Anblick der Wunde bleich geworden war. Sie sah aus, als würde sie gleich ohnmächtig umfallen. Na wundervoll! „Es ist nur ein Kratzer. Ehrlich." Auch wenn es verdammt wehtat. „Setzen Sie sich, ich kümmere mich darum." „Ich hatte Ihnen doch gesagt, diese Skulptur ist gefährlich." Lynn warf einen Blick auf die Jodflasche auf dem Waschbecken. „Wo haben Sie Ihren Verbandskasten?" Er deutete mit dem Kopf auf die Flasche. „Das da reicht." Lynn drückte ihn mit sanfter Gewalt herunter, bis er auf der Toilette saß. Dann ließ sie heißes Wasser ins Waschbecken, holte ein sauberes Handtuch aus dem Regal und warf einen Waschlappen ins Becken. Sie würde wohl doch nicht ohnmächtig werden. Fasziniert schaute er zu, wie sie sich vor ihn hinkniete und mit sanfter Hand seine Wunde reinigte. Ihre Finger glitten leicht über seine Haut, aber sie zitterten. Kurz dachte er an andere, intimere Dinge, die sie für ihn tun konnte, da sie nun schon vor ihm kniete. Glücklicherweise war sein Hemd lang genug, um zu verbergen, dass seine Erregung wuchs. „Es ist mehr als ein Kratzer", sagte Lynn, und ihre sanften Berührungen zerrten an seiner Seelenruhe. „Aber die Wunde hat von allein aufgehört zu bluten, sie muss wohl nicht genäht werden. Sie haben doch sicher irgendwo Verbandsmaterial?" Blade deutete hinauf zum Arzneischrank und war wie gebannt, als sie sich erhob und hochreckte, wobei ihre Brüste beinahe über sein Gesicht strichen. Er musste schlucken und hatte Mühe, keine Dummheiten zu begehen. „In Ordnung", murmelte sie und ging mit dem Verbandskasten wieder in die Hocke. Sie holte ein großes Pflaster heraus. „Warum haben Sie nicht gesagt, dass ich Sie verletzt habe?" „Ich hatte andere Dinge im Kopf." Wie jetzt auch. Unangebrachte Dinge. Dinge, die er gern mit diesen Händen tun würde, weil sie ihn fast zum Wahnsinn trieben. Blade wehrte sich gegen die drängenden Wünsche mit derselben Technik wie vorhin gegen den Schmerz. „So eilig hatten wir es nun auch wieder nicht, mein Apartment zu verlassen", sagte sie und blickte auf. Deutlich sah er ihren klaren, unschuldsvollen Augen an, dass sie nichts ahnte von dem Feuer, das sie in ihm entfacht hatte. „Oh, ich weiß nicht. Sie haben durchaus den Eindruck vermittelt, dass Sie in nächster
Minute verschwinden würden - wohin auch immer." „Aber ich bin kein herzloser Mensch und außerdem verantwortlich dafür, dass Sie sich verletzt haben." Mit gerunzelter Stirn konzentrierte sie sich darauf, die Wunde zu verbinden. „Im Club hätten Sie wenigstens darauf aufmerksam machen müssen." „Da hatte ich meinen Schmerz unter Kontrolle." „Wie?" „Mit einer Technik, die man mir beim Militär beigebracht hat." Das durfte er ruhig erzählen, es fiel nicht unter die Geheimhaltung. „Nur für den Fall der Fälle." „Und der wäre?" „Falls ich jemals gefangen und gefoltert würde." Sie schüttelte fassungslos den Kopf und murmelte: „Männer. Egal was passiert, Sie haben sich also immer unter Kontrolle." „Sie nicht?" „Nicht so wie Sie, nein." Sie klebte ein zweites Pflaster auf sein Bein. „Aber ich mag es nicht, wenn jemand die Kontrolle über mich hat." „Das war offensichtlich." Als Erklärung fügte er hinzu: „Der Koffer." „Fertig." Sie schloss den Verbandskasten und stand auf. „Und nun benutzen Sie das Eis, solange es noch nicht geschmolzen ist." Lynn ging hinaus. Er schaute ihr nach und betrachtete ihr hübsches Hinterteil, was leider wieder bemerkenswerte Auswirkungen auf seine Hormonausschüttung hatte. Wirklich eine ansehnliche Frau. Zu schade, dass sie mit Nachnamen Cross hieß. Er stieg in seine Jeans und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Lynn saß bereits gemütlich auf dem Sofa und nippte an ihrem Tee. „Hm. Der schmeckt gut." Die Kräuter schienen tatsächlich zu wirken, denn sie machte einen entspannten Eindruck. Oder lag es nur daran, dass sie sich jetzt etwas sicherer fühlte? Blade beschloss, auch auf Nummer sicher zu gehen und setzte sich in den Sessel ihr gegenüber. Wozu das Schicksal herausfordern? Er legte sein Bein auf den Eisbeutel und trank einen Schluck von dem Spezialgebräu, das er sich vor langer Zeit zusammengestellt hatte, wenn er dringend schlafen musste. „Erzählen Sie mir von der Entführung", forderte er sie auf. Sofort verkrampften sich ihre Finger um den Becher. „Viel gibt es da nicht zu sagen. Ich hatte bis in den späten Abend hinein gearbeitet. Er fiel über mich her, als ich das Gebäude verließ. Ich bekam ihn nicht ein einziges Mal zu Gesicht. Er flößte mir irgendeine Droge ein, die mich benommen machte. Verband mir die Augen, bedrohte mich." „Glauben Sie, es war jemand, den Sie kennen?" „Es liegt nahe. Wahrscheinlich der Exmann oder -freund einer Mandantin. Er sagte, ich solle versuchen, mich daran zu erinnern, was ich getan hätte." „Haben Sie seine Stimme erkannt?" Sie schüttelte den Kopf. „Er sprach kein einziges Mal in normalem Ton. Ich habe bis dahin nicht gewusst, wie Furcht einflößend Flüstern sein kann." Lynn überlief ein Schauer, und ihre Augen verdunkelten sich. Blade hätte seine beunruhigenden Fragen gern wieder zurückgenommen, sie in die Arme gezogen und ihr versichert, dass er sie notfalls mit seinem Leben beschützen würde. Sein Leben für sie zu geben wäre nur fair. Lynn gähnte verstohlen und hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Der Kräutertee hat es aber in sich, dachte sie. „Zeit zum Schlafen", murmelte sie und gähnte diesmal ungeniert. „Haben Sie vielleicht ein zweites Kissen?"
„Warum nehmen Sie nicht einfach das Bett?" Die zerknüllten Laken fielen ihr ein und die Bettwäsche, die sehr wahrscheinlich wundervoll männlich und einladend duftete ... „Ich habe mich doch vorhin fürs Sofa entschieden." „Wie Sie wollen." Sie legte sich hin und machte es sich gemütlich. Vielleicht brauchte sie gar kein Kissen. Ihre Augen schlössen sich ... Eine starke Hand umfasste ihren Hinterkopf, hob ihn an, und dann lag ihr Kopf auf etwas Kühlem, Weichem. Ein Kissen. „Danke", murmelte sie, und dann fühlte sie, wie sie mit einem Laken zugedeckt wurde, während sie bereits ins Reich der Träume glitt... Du bist doch diejenige, die gern Reden hält. Erschrocken fuhr Lynn im dunklen Zimmer hoch, befreite hektisch ihre Beine aus dem zerwühlten Laken, mit hämmerndem Herzen. Diese Stimme ... wem gehörte sie? Obwohl sie angestrengt lauschte, vernahm sie keinen Laut mehr. Dennoch, im Dunkeln lauerte Gefahr. Ganz in der Nähe. Sie musste hier raus. „Blade!" flüsterte sie scharf, und als er nicht antwortete, geriet sie in Panik, sprang aus dem Bett und rannte zur Tür. Sie stieß sie auf, wurde aber im nächsten Moment gepackt. Kräftige Arme schlangen sich um sie. Einen kurzen Schrei konnte sie noch ausstoßen, dann presste sich eine brutale Hand auf ihren Mund und riss ihren Kopf zurück, so dass er gegen etwas Hartes prallte. Ihr stieg ein fauliger Geruch in die Nase, um sie herum begann sich alles zu drehen, während sie sich voller Verzweiflung wehrte ... „Lynn, wachen Sie auf." Blades Stimme. Er schüttelte sie an der Schulter, holte sie aus den Tiefen ihres Albtraums. Nach Luft schnappend, öffnete sie die Augen und sah, dass Blade neben dem Sofa hockte. Mit einem Aufschrei schlang sie ihm die Arme um den Hals. „Schon gut", murmelte er beruhigend. „Es wird alles wieder gut." „Ich dachte ... ich dachte, er hätte mich wieder gefangen." „Ein böser Traum. Sie sind hier bei mir. Sie sind sicher." „Nein, das bin ich nicht. Ich werde erst sicher sein, wenn er hinter Gittern ist." Sie zitterte vor Angst und Zorn, aber das gleichmäßige Streicheln ihres Rückens trug nicht zu ihrer Beruhigung bei. Ihr Körper erwachte unter seiner Berührung, verriet ihr, dass sie lebte. Lebte ... aber für wie lange? Wir sehen uns wieder... Wer wusste, wie viel Zeit sie noch hatte? Wenn dieser Mann sie nun ausfindig machte, egal, wo sie sich verbarg? Was dann? Voller Verzweiflung klammerte sie sich an ihn. Sie spürte nackte, warme Haut unter den Fingern, ließ sie unwillkürlich höher gleiten, erreichte sein dichtes Haar, das nun im Nacken nicht mehr zusammengebunden war. Er erstarrte. „Lynn ... warten Sie ..." „Sag nichts", hauchte sie und liebkoste sein Ohr. „Bitte. Du gibst mir das Gefühl zu leben. Nimm es mir nicht wieder." Aufstöhnend schob er alle zehn Finger in ihr Haar. Sie drehte ihm das Gesicht zu, ihre Lippen berührten sich. Ein köstlich prickelndes Gefühl erfasste Lynn. „Mehr", murmelte sie sehnsüchtig. Der Druck seiner Lippen vertiefte sich, willig öffnete Lynn den Mund, hieß seine Zunge willkommen. Blade stöhnte erneut, sein Kuss wurde wild, drängend. Lynn genoss mit allen
Sinnen. Ihre Knospen richteten sich auf, wurden hart, zwischen ihren Beinen breitete sich Hitze aus. Doch Blade tat ihr nicht den Gefallen, sie dort zu berühren. Also ergriff sie die Initiative, ließ die Hand seinen Rücken hinabgleiten und lächelte, als er leicht zusammenzuckte. Auf einmal spürte sie Unebenheiten unter den Fingerspitzen. Narben? Sie ließ die Hand zu seinem Bauch wandern und stellte fest, dass er erregt war. Bereit für das, was sie jetzt brauchte und wollte. „Lynn ..." „Zieh mich aus", flüsterte sie. „Fass mich an. Überall. Berühr mich so, wie ich dich berühre. Ich möchte deinen Mund fühlen, dich in mir spüren, deine Kraft aufnehmen. Ich möchte feiern, dass ich lebe." Einen Moment lang dachte sie, sie hätte ihn überzeugt. Doch er wich zurück und hielt sie auf Armeslänge Abstand. „Warum nicht?" Sie keuchte vor Erregung. „Weil es falsch ist." „Mach dir keine Sorgen", sagte sie atemlos. Sie konnte die feuchte Hitze zwischen ihren Schenkeln nicht ignorieren. „Ich werde mich morgen bestimmt im Spiegel ansehen können." „Aber ich nicht." . Seine Worte waren wie eine eiskalte Dusche, die sie aus ihrer Verzückung riss. Natürlich hatte er Recht. Sie wollte ihn mehr oder weniger benutzen. Heißer Sex hätte ihr geholfen, die Nacht durchzustehen. Das Wasser schwappte leise ans Ufer. Kein Laut war mehr zu hören. Endlich war der Wachmann eingenickt, wie er durchs Fernglas erkennen konnte. Er zog seine dünnen Lederhandschuhe an und machte sich auf den Weg zum Lieferanteneingang an der Rückseite des Gebäudes. Das Türschloss hatte er vorher präpariert, so dass er nun leicht ins Haus gelangen konnte. Während er die Treppe zur Eingangshalle emporstieg, immer zwei Stufen auf einmal, ging er seinen Plan noch einmal durch. Keine weiteren Fehler. Diesmal würde er in ihre Wohnung gelangen, und die Rache würde umso süßer sein. Diesmal hätte sie keine Chance zu schreien. Niemand würde die Polizei rufen. Das scharfe Klicken der Eingangstür hallte durch die Lobby, aber der Wachmann schnarchte weiter vor sich hin. Leise schlich er hinüber, schlug den Mann bewusstlos und schleppte ihn in den Aufenthaltsraum. Dort fesselte er ihn und klebte ihm den Mund zu, für den Fall, dass er bald wieder aufwachte. Dann nahm er ihm den Hauptschlüssel ab. Die Ablösung würde den Mann am Morgen finden. Evelyn Cross befand sich dann bereits im Jenseits. Er lachte leise auf, als er sich ihren Schrecken vorstellte, wenn ihr klar wurde, dass sie nicht einmal in ihrem eigenen Bett vor ihm sicher war. Das Grinsen verging ihm schlagartig, als sich die Fahrstuhltür öffnete und ein hoch gewachsener Mann in den Dreißigern herauskam. Er senkte rasch den Kopf mit der Baseballkappe, damit dieser sein Gesicht nicht erkannte, und schob sich wortlos an ihm vorbei in den Fahrstuhl. Verdammt, wenn dieser Kerl nun eine Beschreibung von ihm liefern konnte? „He, Tony, ich gehe", hörte er ihn noch sagen, bevor die Tür sich wieder schloss. Schweiß rann ihm über den Rücken. Wie würde der Mann reagieren, wenn er den Wachmann nicht hinter dem Tresen vorfand? Wenig später stand er vor ihrem Apartment, zog den Hauptschlüssel heraus und war kurz darauf in der Wohnung. Es war dunkel, nur schwach fiel Mondlicht durch die Fenster herein. Perfekt. Erregung
packte ihn, weil alles so einfach ging. Die Enttäuschung war wie ein Schlag ins Gesicht, als er in ihr Schlafzimmer schlich und das Bett leer vorfand. Er schaltete die Nachttischlampe ein, sah halb geöffnete Kommodenschubladen und ein achtlos hingeworfenes Kleid auf einem der Stühle. „Schlampe!" Sie war ihm entkommen. Aber das war unmöglich! Durchs Fernglas hatte er selbst gesehen, wie sie mit der Polizistin gekommen und diese kurz darauf gegangen war. Und er hatte gewartet, um sicherzugehen, dass Miss Gutmensch das Haus nicht auch wieder verließ. Offenbar hatte er nicht lange genug gewartet. Er straffte ermutigt die Schultern. Ein zeitlicher Rückschlag, mehr war nicht passiert.
4. KAPITEL Am nächsten Morgen mochte Lynn Blade nicht in die Augen schauen. Weil sie so weit gegangen war oder weil er sie zurückgewiesen hatte? Sie wusste es nicht. Auf jeden Fall hatte er die Kontrolle über die Situation behalten. Sie duschte ausgiebig, und nur zögernd öffnete sie dann die Badezimmertür. Der Duft nach frischem Kaffee und gebratenem Schinkenspeck stieg ihr in die Nase, und ihr Magen meldete sich sofort. „Das Frühstück ist fast fertig", wurde sie munter begrüßt. „Ich bin kein Morgenmensch", grummelte sie. „Denk dir einfach, es ist ein Brunch." Wenn sie mit ihm frühstückte, würde sie ihm ins Gesicht sehen - und die Missbilligung in seinen Augen ertragen müssen. Aber da sie gestern Abend nichts gegessen hatte, verspürte sie einen Bärenhunger. „Ich glaube, ich könnte doch einen Happen vertragen." Sie schaute in die kleine Küche hinein. Blade, das Haar mit einem Lederband im Nacken zusammengebunden, holte gerade Rührei aus der Mikrowelle. Er teilte es in zwei Portionen auf, trug sie ins Wohnzimmer und stellte sie auf den kleinen Tisch vor dem Sofa. Großartig. Ein intimes Frühstück zu zweit. Sie hatte wirklich Glück! „Nimm dir selbst Kaffee." Lynn schenkte sich ein und setzte sich zu Blade an den Tisch. Dort starrte sie mehr auf ihren Teller, als dass sie Blade anblickte. Er hatte das Rührei und den Schinkenspeck zwischen zwei Scheiben Toast gelegt. „Hm, ein Frühstückssandwich. Sieht gut aus." Sie probierte. Es schmeckte nicht schlecht. „Es ist schnell gemacht. Mit Mikrowelle und einer Kochplatte sind meinen Kochkünsten enge Grenzen gesteckt, muss ich gestehen. Iss auf. Cassandra dürfte jetzt wach sein." Lynn fiel ihre geplante Verwandlung ein. Sie verzog das Gesicht. „Weißt du, sie sieht ja wirklich klasse aus, hat aber einen ganz anderen Stil als ich." Sie hob den Blick. „Ich weiß wirklich nicht, ob ich mich von ihr ... umgestalten lassen möchte ..." „Mach dir keine Sorgen", sagte er, „sie kann sich ziemlich gut zurückhalten ... außer, du willst unbedingt karottenrotes Haar." Lynn verschluckte sich beinahe, doch dann bemerkte sie, dass Blade versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. Worauf um alles in der Welt, hatte sie sich nur eingelassen? Am besten füllte sie sich erst einmal den Magen, danach konnte sie alles Weitere klären. Ihr wurde mehr und mehr bewusst, dass sie sich bei diesem Mann besser fühlte als erwartet. Weder hatte er irgendwelche Anspielungen zu ihrem Verhalten in der vergangenen Nacht gemacht noch sie schief angesehen. „Dieser Albtraum, den du hattest- erinnerst du dich noch daran?" Zu früh gefreut! Plötzlich hatte Lynn einen trockenen Mund. Sie umklammerte ihren Becher. „Ich dachte, er hätte mich wieder gefangen genommen, in irgendeinem dunklen Loch." „Vielleicht hat dein Gehirn versucht, es zu verarbeiten, als du schliefst. Du erinnerst dich nur nicht daran, das ist es." „So, als würde ich alles noch einmal erleben ... gut möglich. Aber es war nur eine kurze Episode. Ich dachte, ich wäre aufgewacht und riefe nach dir, und dann wusste ich plötzlich, er war da. Ich versuchte zu fliehen, schaffte es aber nur bis zur Tür, dann schnappte er mich, und ich konnte seinen üblen Atem riechen." „Und woran erinnerst du dich, bevor du vorgestern Abend das Gebäude verlassen hattest?" Lynn versuchte sich zu konzentrieren. Sie sah wieder die verlassene Straße vor sich. „Es geschah genau wie in meinem Albtraum. Er kam von hinten und presste mir ein Tuch auf
Nase und Mund." „Erinnerst du dich an noch mehr? Irgendwelche Details?" Lynn schloss kurz die Augen und rief sich die Szene wieder ins Gedächtnis. „Ich versuchte mich zu wehren. Dabei prallte mein Kopf gegen etwas Hartes." „Seinen Kopf?" „Nein. Ich hörte ein Knacken ... so, als bräche Plastik." „Könnte er eine Maske getragen haben?" Wieder bemühte sich Lynn, vergeblich. „Ich ... glaube es nicht. Was ich traf, war kantig ... so wie das Gestell einer Brille vielleicht. Doch, das wird es gewesen sein - mein Hinterkopf traf seine Brille, dabei zerbrach sie." Sie schüttelte den Kopf. „Viel weiter hilft das bestimmt auch nicht..." „Aber es ist ein Detail, an das du dich gestern noch nicht erinnern konntest, also immerhin ein Anfang." „Bestimmt genügt es nicht, um deine Polizistenfreundin in helle Freude zu versetzen." „Kleinigkeiten sind wichtig." „Dann wollen wir hoffen, dass mir noch viel einfällt." „Du darfst dich nicht unter Druck setzen, dann kommt es ganz von allein." Lynn bezweifelte, dass sie sich an alles erinnern würde, da sie halb betäubt gewesen war. Und vom vielen Nachdenken bekam sie nun Kopfschmerzen. Blade erhob sich und räumte den Tisch ab. „Lass mich das machen", sagte sie. „Schon in Ordnung. Willst du vielleicht jemand anrufen? Das Telefon steht dort drüben." Er deutete hinüber zur Wand neben dem Bett. „Ich rufe wohl besser einmal im Büro an und sage Bescheid, dass ich ein paar Tage Erholung brauche. Meine Eltern sollte ich auch verständigen." „Was auch immer du tust, sag niemandem, dass du hier bei mir bist. Und auch den Club erwähne nicht." „Du meinst, dieser Mann könnte zu meinen Eltern oder in unser Büro gehen und sich erkundigen, wo ich bin? Und sie sagen es ihm so einfach?" „Es ist besser, keine Spur zu hinterlassen, sonst steht der hungrige Wolf plötzlich vor deiner Tür." „Ist das ein altes indianisches Sprichwort oder was?" „Das sagt einem der gesunde Menschenverstand." „Okay, ich halte den Mund." Ein paar Stunden später lieferte er sie bei Cassandra ab, die ein paar Straßen weiter wohnte. Es verunsicherte sie, dass er sie und Cass allein ließ. Im Grunde ihres Herzens wünschte sie sich, er würde in der Nähe bleiben. Sie folgte Cass durch das spärlich möblierte Wohnzimmer in einen größeren Raum, der wohl einmal das Esszimmer gewesen war. Aber jetzt stand dort ein ausladender Schminktisch. Ein Regal barg farbenfrohe Utensilien, wohl für ihre Show. „Wenn ich mit Ihnen fertig bin, wird nicht einmal Blade Sie wieder erkennen", meinte Cass und deutete auf einen Stuhl. „Ach, was sage ich da - nicht einmal Ihre eigene Mutter!" „Also ... genau das befürchte ich, wenn ich ehrlich bin", erwiderte Lynn, jedoch mit einem Lächeln, um Cass nicht zu verletzen. „Was genau haben Sie mit mir im Sinn?" „Mensch, Sie sind ja noch konservativer, als ich dachte!" „Ich habe ein normales Leben, zu dem ich bald zurückkehren werde. Zumindest hoffe ich es." „Bestimmt. Unser letzter Fall fand auch ein glückliches Ende", versicherte ihr Cass. „Der letzte ... die Frau, die zu Unrecht ins Gefängnis kam? Blade erzählte mir davon." „Stimmt. Sie wurde damals fälschlicherweise wegen Mordes verurteilt, und wir..." „Wegen Mordes? Sie meinen doch nicht den Fall Mitchell?" Die Zeitungen hatten
wochenlang darüber berichtet. „Elise Mitchell. Ich kenne sie von früher", erklärte Cass vage. „Ich habe einen völlig anderen Menschen aus ihr gemacht. Ein Blick, und Logan war hin und weg. Seitdem sind die beiden ein Paar. Können wir anfangen?" fragte sie dann. „Sicher. Aber vergessen Sie bitte nicht, dass ich Anwältin mit einem seriösen Ruf bin." „Den ich innerhalb von Minuten ruinieren kann." Cass machte eine kurze Pause, dann fügte sie hinzu: „Lynn, das war ein Spaß. Sie können jetzt lachen." Lynn schaffte es gerade noch, eine Grimasse zu ziehen. Dann fiel ihr etwas ein. „Warum haben Sie mich konservativ genannt?" Hatte Blade ihr das erzählt? Aber wann? „Ich ... habe so Ahnungen, Gefühle, was andere Menschen betrifft." Lynn blieb ernst. „Sie meinen, Sie sind Hellseherin?" „So mag ich mich nicht bezeichnen. Ich weiß nur manchmal Dinge, die andere Menschen nicht wissen." „Und was wissen Sie über mich?" „Dass Sie ein guter Mensch sind. Dass Sie vom Leben enttäuscht sind. Dass Sie die Dinge nicht so im Griff haben, wie Sie es glauben." Gemeinplätze. Lynn lächelte. „So etwas passt auf Millionen von Menschen." „Stimmt. Und Tausende haben in den letzten Jahren bestimmt jemanden verloren, den sie lieben. Aber nicht alle geben sich die Schuld daran." Lynn starrte sie erstaunt an. Woher wusste Cass davon? Sie wechselte rasch das Thema. „Womit beginnen wir?" „Mit Ihrem Haar." Zwei Stunden später musste Lynn zugeben, dass Cass ihr Handwerk verstand. Das jetzt kinnlange, fransig geschnittene Haar würde leicht zu einer anderen Frisur umzuwandeln sein, wenn alles vorbei war. Ihre silberblonde Haarfarbe hatte sie behalten, nur zierten sie jetzt ein paar schimmernde blaue Strähnchen. Mit etwas Make-up ließ Cass auch die leichte Verfärbung ihrer Wange verschwinden, die von dem Schlag herrührte. Sie trug einen pflaumenroten Lippenstift und leuchtend blauen Lidschatten auf und hielt ihr schließlich eine Sonnenbrille mit hellblauen Gläsern hin. „Setzen Sie sie einmal auf." „Aber ich trage keine Brille." „Die hier gibt es ohne Rezept. Ihre Augen sehen dahinter grau statt blau aus." Es stimmte. „Sie sind wirklich eine Zauberin, Cass." Sollte einer ihrer Kollegen auf der Straße an ihr vorbeigehen, er würde sie nicht erkennen. Was Blade zu der Verwandlung wohl sagte? Sie überlegte, warum sie sich diese Frage stellte. Blade war doch nur ihr Leibwächter, mehr nicht. Das hatte er sehr deutlich gemacht. Cass lenkte sie von ihren Gedanken ab. „Nun spielen wir Verkleiden." Schon bald darauf wusste sie, was Cass damit meinte. Sie fand sich in ein paar Boutiquen wieder, in die sie selbst nie gegangen wäre. Aber es machte Spaß, mit der quirligen und fröhlichen Cass einzukaufen. Als sie dann in einem silberblauen Wickelrock und weißem bauchfreien Top die Straße entlangging, kam sie sich allerdings doch ein wenig nackt vor. „Sie sollten sich noch den Bauchnabel piercen lassen", bemerkte Cass munter. Lynn zuckte zusammen. „Das Ohrlochstechen war schon schlimm genug." „Was halten Sie von einem Tattoo? Es könnte zur Not auch ein falsches sein." Lynn warf einen Blick in das Schaufenster vor ihr und sah nichts mehr von der alten Evelyn Cross. „Ich glaube, schon so erkennt mich niemand." Ehrlich gesagt, erkannte sie sich kaum selbst. Blade fiel fast hintenüber, als Lynn ihm Cass' Haustür öffnete. Er pfiff anerkennend. „Wo ist die Anwältin geblieben?" „Sie steht vor dir", beharrte sie, aber Blade hätte schwören können, dass sie erfreut aussah.
„Sie ist mein wahres Ich." „Bist du sicher?" Sein Blick verriet, dass er sie sexy fand. Ihre Wangen röteten sich. „Danke ...", sagte sie leise. „Vielleicht sollte ich mein Styling-Talent Gewinn bringend anbieten", meinte Cass. „Lieber nicht", meinte Blade, als die beiden Frauen die Wohnung verließen und Cass abschloss. „Oder würde es dir etwa gefallen zu springen, wenn deine Kundinnen pfeifen?" „Immerhin wären keine Wahnsinnigen darunter, wie bei mir", bemerkte Lynn halblaut. „Dafür gibt es keine Garantie." Blade nahm ihr die Einkaufstüten ab. „Hört sich an, als hättest du Erfahrung in solchen Dingen." „Mehr als genug. Manche Leute halten den Barkeeper für ihren Therapeuten." „Hast du mir deshalb so großzügig deine Hilfe angeboten?" Da er nicht wollte, dass sie sich zu viele Gedanken über sein Motiv machte, wechselte er das Thema. „Ich habe übrigens mit meinem Vermieter gesprochen. Die Sache geht in Ordnung." „Dann werde ich also heute Nacht mein eigenes Bett haben?" Blade fiel auf, wie wenig begeistert es klang. „Interessant", bemerkte Cass. „Sie hat auf dem Sofa geschlafen." „Das geht mich nichts an." Ein sonderbarer Ausdruck glitt über ihr Gesicht, so als wusste sie etwas, wollte es aber für sich behalten. Blade vermutete, dass sie ihn besser kannte, als ihm lieb war. Sie kamen früh im Club an. Das Team Undercover versammelte sich im Personalraum, während John Passfotos von Lynn machte. Lynn lächelte, und Blade konnte den Blick nicht von ihr nehmen. Was für eine schöne Frau! Warum verbarg sie sich hinter der strengen Anwältin? Hatte sie Angst, die Aufmerksamkeit eines Mannes auf sich zu ziehen? Als John fertig war, kam sie zu den anderen an den Tisch. „Ihr neuer Ausweis dürfte morgen fertig sein, Lynn. Haben Sie einen besonderen Namenswunsch?" „Der Mädchenname meiner Mutter war Parker. Lynn Parker ist leicht zu merken." „Parker ist okay, aber der Vorname sollte besser auch geändert werden. Wie wäre es mit Melinda? Da würde es nicht auffallen, wenn jemand Sie aus Versehen Lynn nennt." „Schön." „ Ich lasse Sie heute Abend mit einem unserer erfahrenen Mitarbeiter zusammenarbeiten", meinte Gideon, und Blade sah, dass ihr der Gedanke, als Kellnerin zu arbeiten, nicht sonderlich behagte. „Fein", sagte sie dennoch. „Cass erwähnte etwas von Arbeitskleidung." „Etwas ganz Schlichtes - schwarzer Rock und ein schickes schulterfreies Top", erklärte Gideon. „Cass weiß, wo die Sachen liegen." „Großartig." Es klang nicht begeistert, aber sie folgte Cass ohne weitere Bemerkung hinaus. „Wird sie es schaffen?" fragte Gideon. „Sie ist motiviert. Und sie hat Angst." „Dagegen können wir nichts tun." „Ich werde sie gut im Auge behalten." „Gut. Die Frage ist nur..." Gideon blickte Blade offen an. „Warum?" „Es ist etwas Persönliches." „Das habe ich mir bereits gedacht. Ich hoffe nur, nicht so persönlich, dass du Fehler begehst." „Zu spät. Ich habe bereits einen großen Fehler begangen." Einen, der sein Leben verändert hatte.
„Und was ist das nun hier? Eine Art Wiedergutmachung?" „So könnte man es nennen." Allerdings würde es nie genügen. Ein dunkelhaariger junger Mann in Seiden-T-Shirt und schwarzer Hose zeigte ihr am Abend alles Nötige. Lynn selbst war mit dem sehr kurzen Rock und einem Top aus funkelndem hellblauem Stoff etwas weniger dezent gekleidet. Als sie am Morgen den Club abschlössen, fragte sie Blade: „Kannst du mir die Schlüssel zu deinem Apartment geben? Oder besser gesagt, zu meinem neuen Zimmer. Ich muss noch einmal ins Büro." „Jetzt? Was ist denn so wichtig?" „Meine Unterlagen. Ich will anfangen, nachzuforschen, sehen, ob ich eine Liste mit Verdächtigen aufstellen kann." „Um diese Zeit?" „Weißt du eine bessere?" Sie wusste, er würde versuchen, es ihr auszureden. Aber davon wollte sie nichts hören. „Während des Tages müsste ich Fragen meiner Kollegen beantworten. Stella wollte, dass ich über alles nachdenke. Ich bin jetzt so weit." „Gibt es einen Sicherheitsdienst im Gebäude?" fragte Blade. Er wirkte sehr routiniert. „Die Männer wechseln ständig. Sie können nicht jeden im Kopf behalten. Ich habe meine Schlüssel und meinen Ausweis, so wird mir niemand Fragen stellen." „Du gehst nicht allein hin, Lynn. Ich komme mit dir." Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. „Danke." Als sie in den Jeep stieg, merkte Lynn erst, wie kaputt sie war - und dabei hatte sie nicht einmal bedient, sondern nur zugeschaut. Wie würde es erst nächste Nacht werden? Auf der Fahrt durch die Stadt beschäftigte sich Lynn wieder damit, dass sie keinen Schritt mehr allein tun konnte. Einerseits war sie froh, dass Blade sie beschützte, auf der anderen Seite gefiel es ihr nicht, dass sie ihr Leben nicht mehr allein bestimmte. Schließlich brach sie das Schweigen. „Ich gehöre nicht zu den Frauen, die gern von einem Mann abhängig sind." „Wer sagt denn, das wäre bei dir der Fall? Und außerdem, was wäre daran so schlimm?" „Eine Menge. Viele Frauen können nicht für sich selbst sorgen, es ist manchmal wirklich unglaublich. Ich hatte eine Mandantin, die nicht wusste, wie viel Geld sie im Monat zur Verfügung hatte - sie kannte nicht einmal ihren Kontostand. Kein Wunder, dass sie bei diesem Mann blieb, bis er ein hübsches junges Ding kennen lernte und sie austauschte." „Und dafür hast du ihn bluten lassen." „Darauf kannst du wetten." Nach kurzem Schweigen sagte Blade: „Du scheinst Männer nicht sonderlich zu mögen." „Ich mag sie schon. Aber ich traue ihnen nicht." „Keinem von uns?" „Dir traue ich." „Warum? Weil Stella es dir empfohlen hat?" „Das ist der eine Grund." „Und der andere?" „Du hast mir bislang keinen Anlass zu Misstrauen gegeben." „Obwohl das ziemlich einfach wäre, schätze ich", vermutete Blade. Das stimmte. Lynn hatte zu oft erlebt, was Männer Frauen antaten, angefangen bei ihren eigenen Eltern. Deswegen war sie immer auf der Hut. „Warum eigentlich? Hat ein Kerl, der dir etwas bedeutete, einfach Schluss gemacht?" „Ich mache lieber selbst Schluss, als mir den Laufpass geben zu lassen", sagte sie leichthin. „Oft?"
„Immer, bevor die Sache zu ernst wird. Das tut niemandem weh." „Aber wenn du dich niemals ernsthaft auf eine Beziehung einlässt, wirst du nie erfahren, wie sie sich entwickelt. Vielleicht lernst du so niemals jemand kennen, der etwas Besonderes für dich sein könnte." „Du und Romantik? Also, Blade, ich hätte nie gedacht... aber ich sehe keinen Ehering an deinem Finger. Und von einem besonderen Menschen in deinem Leben habe ich dich auch noch nicht reden hören." Das reichte, dass er das Thema fallen ließ. Schweigend fuhren sie eine Weile dahin. Als ihr Bürogebäude in Sicht kam, empfand sie aus einem unerfindlichen Grund doch das Bedürfnis, ihm ihre Einstellung zu erklären. „Mein Misstrauen kommt nicht von ungefähr. Meine Mutter ist ohne einen Mann hilflos. Und mein Vater nutzt das weidlich aus." „Misshandelt er sie?" „Mit Worten. Er gibt ihr das Gefühl, klein, schwach und wertlos zu sein. Ich habe nie verstanden, warum sie es sich gefallen lässt. Sie sagt, sie liebt ihn und würde ihn nie verlassen. Nun hat er Krebs und muss sich einer weiteren Chemotherapie unterziehen. Mom opfert sich für ihn auf, und er behandelt sie schlimmer als je zuvor." Sie seufzte. „Wenn das Liebe ist, verzichte ich gern." „Wer sagt denn, dass es so sein muss, wenn du dein Herz öffnest?" „Meiner Schwester Danielle ist es ebenso ergangen. Sie ähnelt Mom sehr. Und leider hat sie jemand geheiratet, der Dad gleicht. Ich habe versucht sie davon abzuhalten, aber sie wollte nicht auf mich hören. Sie war schrecklich verliebt. Irgendwann erkannte sie die Wahrheit." „Hat ihr Mann sie misshandelt?" „Nein, das nicht. Dani hätte sich das nie gefallen lassen. Aber ihr Selbstbewusstsein hatte einen kräftigen Schlag erhalten. Es hat so lange gedauert, bis sie auf mich hörte." Blade hielt vor dem Bürogebäude. „Und dann hat sie ihn verlassen." „Gott sei Dank. Unglücklicherweise finden Frauen, die als Kinder Gewalt in der Familie erlebten, welcher Art auch immer, solche Männer oft anziehend." Lynn hatte dies immer für sich befürchtet, als sie erwachsen wurde. „Nicht notwendigerweise", wandte Blade ein. „Es hängt von der Person ab. Und du bist eindeutig nicht schwach." Aber aus irgendeinem Grund hatte sie ihre Befürchtungen nie wirklich überwinden können. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. „Du kennst mich doch gar nicht." „Ich kenne dich gut genug." Meinte er damit, er kannte ihren Typ? Oder war er eine Art Hellseher wie Cass? „Und du willst mir immer noch helfen ..." Blade stellte den Motor aus und fragte: „ Findest du nicht, dass du es wert bist?" War sie es? Manchmal war sie sich nicht sicher. „Ich habe in meinem Leben eine Menge Fehler begangen", gab sie zu. „Jeder macht Fehler." Lynn öffnete die Tür und stieg aus. „Aber keinen, der die eigene Schwester das Leben kostet."
5. KAPITEL Lynn war so flink aus dem Wagen und eilte Richtung Eingang, dass Blade nicht nachfragen konnte. „Beeil dich, Blade", rief sie ihm zu, bevor sie die Tür zum Gebäude aufstieß. „Ich arbeite schnell, und du willst doch nicht zurückbleiben, oder?" Am Tresen des Wachmanns holte er sie ein. Der Mann war jung, vielleicht gerade volljährig, und starrte Lynn verwundert an. Vor allem ihren nackten Bauch. Blade räusperte sich, und der junge Mann blickte schuldbewusst auf. „Kann ich Ihnen helfen?" „Sie sind neu hier, nicht wahr, Keith?" sagte Lynn nach einem kurzen Blick auf sein Namensschild und holte ihren Hausausweis heraus. „Sonst würden Sie wissen, dass ich öfters spät arbeite. Evelyn Cross." Der Mann sah sie unsicher an. „Es ist mitten in der Nacht." Sein Blick flog von ihr zum Ausweisfoto. „Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich." „Ich gehöre nicht zu denen, die ihre Berufskleidung rund um die Uhr tragen. Schauen Sie sich mein Gesicht an", forderte sie ihn auf und schob ihr Haar zur Seite, „nicht meinen Bauch." Der Mann errötete und gehorchte. „Ja, okay, Sie sind es wohl." Leicht nervös schob er ihr ein Klemmbrett und einen Kugelschreiber zu. „Sie müssen bei Betreten und beim Verlassen des Hauses unterschreiben." Er warf einen Blick auf Blade. „Was ist mit ihm?" Lynn unterschrieb und reichte dann Blade das Klemmbrett. „Offensichtlich ist er mit mir gekommen, oder?" Sie gab sich ruhig und professionell, so ganz anders als die verängstigte Frau, die sich auf der Flucht befand. Als sie sich abwandten und zum Fahrstuhl gingen, sagte sie leise zu ihm: „Entweder werden die Wachmänner immer jünger oder ich werde älter." „Zumindest alt genug, um diese Sache hier glänzend zu regeln." Blade musste zugeben, er war beeindruckt. Allerdings hatte Evelyn Cross beruflich nicht umsonst diesen Erfolg. Da fiel ihm ihre Bemerkung wieder ein. „Diese Sache mit deiner Schwester..." „Ich hätte nichts davon sagen sollen." „Hast du aber. Es lastet offenbar auf dir, du solltest also darüber reden", beharrte Blade. „Was geschah?" Sie seufzte. „Lorraine war Sozialarbeiterin. Eine meiner Mandantinnen war mit einem Mann verheiratet, der sie aus religiösen Gründen von der Welt abschottete. Irgendwann kam sie zu mir, um sich scheiden zu lassen. Doch eines Tages zog sie das Scheidungsbegehren zurück. Ich vermutete, dass sie entweder unter Druck gesetzt wurde oder sich ausmalte, was ihr und ihren Kindern passieren könnte, wenn sie ihren Mann verließ. So bat ich meine Schwester, mit ihr zu sprechen, sie zu beraten, was Unterkunft und Hilfsprogramme für Frauen in ihrer Lage betraf. Meine Schuld ist es, dass Lorraine sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielt. Und nun ist sie tot." Die Fahrstuhltüren öffneten sich, doch Blade stand wie erstarrt da. „Aber du warst nicht verantwortlich dafür..." „Doch, das war ich. Ich schickte sie in diese Gegend, und man hat sie auf offener Straße erschossen. Ihr Mörder kam nicht vor Gericht, da er nie gefasst wurde. Mich trifft jedoch genauso viel Schuld, weil Lorraine sich auf meine Bitte hin dort aufhielt." Sie wird diesem Mann niemals vergeben, dachte Blade. Der Druck in seinem Magen nahm zu. Wenn sie nicht einmal sich selbst vergibt... Was würde sie tun, wenn sie die Wahrheit herausfand? Er war der Mann, der Lorraine Cross aus Versehen umgebracht hatte.
Sobald Lynn ihr geräumiges, klassisch elegant ausgestattetes Büro betreten hatte, strebte sie zu den Aktenschränken, die eine ganze Wand einnahmen. Sie zog gut ein Dutzend Akten von Fällen des letzten Jahres heraus und legte sie auf den Kirschholzschreibtisch. „Womit beginnen wir?" fragte Blade und ließ sich in einen der Sessel vor dem Schreibtisch sinken. „Du gar nicht. Dies sind vertrauliche Akten. Zumindest einige der Daten, die meine Mandanten betreffen." Außerdem wollte sie das Gefühl haben, wenigstens einen Teil ihres Lebens allein bestimmen zu können. Konzentriert ging sie die einzelnen Akten durch, in denen sie auch Informationen und Eindrücke über die Ehemänner und Freunde ihrer Mandantinnen vermerkt hatte. Viele von ihnen waren gar nicht gut auf sie zu sprechen gewesen, einige hatten sogar Drohungen ausgesprochen. Aber welcher von ihnen bedeutete eine wirkliche Gefahr für sie? Trotz ihrer Konzentration fiel ihr auf, dass Blade noch stiller wirkte als vorher. Beschäftigte es ihn, dass sie sich die Schuld am Tod ihrer Schwester vor zwei Jahren anlastete? Sie schob diese Gedanken beiseite und richtete ihr Augenmerk wieder auf die Unterlagen, obwohl Blade sie dabei beobachtete. Seine dunklen Blicke waren wie eine Liebkosung, und ihr kroch unwillkürlich die Röte ins Gesicht. Hoffentlich bemerkt er es nicht, dachte sie. Er schwieg weiterhin. Sie riss sich zusammen und teilte die Akten in zwei Stapel auf. Einige der Männer hatte sie schnell aussortiert. Einer war zu klein, ein anderer zu dick. Ein dritter zu hager. Somit blieben nur acht Möglichkeiten. Unter halb gesenkten Lidern betrachtete sie unauffällig Blade, der sich jetzt in ihrem Büro umschaute. Er war wirklich ein überwältigend gut aussehender Mann. Unwillkürlich zuckte sie bei der Erinnerung an seine Hände auf ihrer nackten Haut zusammen. „Gibt's ein Problem?" fragte er aufmerksam. „Natürlich. Ich muss herausfinden, welcher dieser Männer Rachegelüste gegen mich hegen könnte." „Das ist Stellas Job. Sehr wahrscheinlich ist sie diese Akten schon gründlich durchgegangen." Auch wenn Lynn wusste, dass Stella mit jedem im Büro hatte reden wollen, musste sie lachen. „Du kennst meine Partner nicht!" Sie waren sehr eigen, wenn es galt, ihre Mandanten zu schützen. Bestimmt hatten sie kaum Informationen weitergegeben. „Sie würden nicht mit der Polizei kooperieren?" „Nur so weit, wie sie gesetzlich verpflichtet sind. Außerdem kennt keiner die genauen Einzelheiten, was verärgerte oder wütende Exehemänner oder Freunde der Mandantinnen betrifft, so gut wie der Anwalt, der den Prozess geführt hat. Wenn jemand deiner Freundin etwas Solides an die Hand geben kann, dann nur ich selbst." Allerdings hatte sie nicht vor, Stella die Listen zu geben und dann abzuwarten, was geschah. Es ging um ihr Leben, und sie würde tun, was notwendig war, um sich zu schützen. „Außerdem, wer außer mir weiß, welcher von diesen Männern eine Brille trägt und welcher nicht?" murmelte sie dann. Sie widmete sich wieder ihren Unterlagen und sortierte weitere zwei Männer aus, die sie trotz der ausgestoßenen Drohungen gegen sie nicht für gefährlich hielt. Dazu hatten sie zu wenig Rückgrat. Zwei weitere mögliche Kandidaten fielen heraus, weil der eine im Gefängnis saß und der andere in sein Heimatland zurückgekehrt war, wie weitere Recherchen im Computer ergaben. Die Informationen über die anderen vier druckte sie zweifach aus. Eine Kopie für sie, die andere für Detective Jacobek. Bei einer letzten Durchsicht fiel noch einer der Männer durch die Maschen.
„Drei Kandidaten", sagte sie schließlich zu Blade und schob ihm die Ausdrucke zu. Er warf nur einen flüchtigen Blick darauf. „Erzähl mir von ihnen." „Victor Churchill, Eigentümer von V.C.Technology. Ihm gehört auch dieses Gebäude." „Mir kommt sein Name irgendwie bekannt vor..." „Weil er in den Medien genannt wurde. Er hatte ohne Wissen seiner Frau Gelder aus dem gemeinsamen Vermögen abgezweigt. Wir kamen dahinter, und Carol erhielt bei der Scheidung erheblich mehr, als wenn er ehrlich gewesen wäre, weil der Richter sich auf ihre Seite stellte. Und dann gab es noch eine offizielle und sehr gut dokumentierte Untersuchung seiner Geschäftspraktiken. Churchill war alles anderes als glücklich darüber. Ebenso wenig die Frau, für die er Carol verlassen hatte. Sie trennte sich von ihm." „Womit er noch weniger gut auf dich zu sprechen war." Sie nickte. „Er drohte mir, mich zu ruinieren, ging aber nicht in Details." „Wer ist der Nächste?" „Johnny Rincon." „Ihn kenne ich von früher, aus meiner Kindheit." „Stella erzählte, sie kenne seine Exfrau Carla - meine Mandantin. Und mir scheint, du magst ihn nicht besonders." „Als wir noch zur Schule gingen, versuchte er, mich und Stella in eine Straßengang zu zwingen." „Und was tatest du?" „Mein Messer hat ihm Respekt eingeflößt." Er sprach so ruhig darüber, dass es ihr kalt über den Rücken lief. „Rincon nannte mich eine Hure und sagte, ich würde bekommen, was ich verdient hätte." „Wurdest du vergewaltigt?" „Nein. Der Entführer hat mich sexuell nicht belästigt. Vielleicht beweist das, dass Rincon es nicht gewesen ist. Er trug zwar jedes Mal eine Sonnenbrille, wenn ich ihn sah, aber ich wurde am Abend überfallen ..." „Du solltest Johnny nicht unterschätzen", warnte Blade sie. „Er ist unberechenbar. Selbst damals war er schon gefährlich ..." Aber Blade war offenbar noch gefährlicher gewesen. Und ist es immer noch, dachte sie. „Wer ist Verdächtiger Nummer drei?" „Jemand, von dem deine Freundin Stella bestimmt nicht gern hört." „Er ist bei der Polizei?" „Leider. Roger Wheeler hat den Ruf, ziemlich brutal mit Straftätern und Verdächtigen umzugehen. Als er zu Haus damit angab, wie er sie verprügelte, zeigte ihn seine Frau an. Sie hatte Angst um ihre Kinder, und wir haben einen Haftbefehl gegen ihn beantragt." „Dann ist der Fall also noch nicht abgeschlossen. Und wie hat Wheeler dir gedroht?" „Er meinte, wenn es nach ihm ginge, würde ich noch den Tag bereuen, an dem ich geboren wurde." Sie nahm die Akten und sortierte sie wieder in die Schubladen ein. „Was ist mit diesem hier?" Blade deutete auf die letzten Unterlagen, die sie aussortiert hatte. „Timothy Cooper? Ich glaube nicht, dass er es war." „Warum nicht?" „Erstens, weil er keine Brille trägt..." „Was du vermutest", meinte Blade. „Stimmt. Ich habe ihn nie mit einer gesehen. Und zweitens, er hat seine Frau oder Kinder niemals körperlich misshandelt." „Auch das vermutest du nur." „Ich wüsste nicht, wie Sharon Cooper es vor mir hätte verheimlichen sollen. Außerdem führte sie als Scheidungsgrund unüberwindliche Differenzen an."
„Aber da du seine Akte herausgenommen hast, musst du in ihm irgendeine Bedrohung gesehen haben, stimmt's? Sonst hättest du ihn gar nicht erst in Erwägung gezogen." „Ich bin sicher, er ist nur ein Großmaul. Von Beruf Koch." Lynn zog sich der Magen zusammen, als sie an den merkwürdigen Mann dachte. „Dazu passt seine Bemerkung, er würde gern meine Leber bei einem guten Glas Chianti verspeisen." „Vielleicht hat er eine Schwäche für Hannibal Lecter." Blade nahm Coopers Unterlagen und warf sie auf den Dreierstapel. „Das war's dann, oder?" „Mehr fallen mir nicht ein. Aber bevor wir gehen, möchte ich noch einen Blick in meinen Terminkalender werfen und meine Voicebox abhören, ob etwas Wichtiges ansteht." „Tu dir keinen Zwang an." Lynn hatte kaum ein paar Seiten ihres Timers umgeblättert, als es ihr einfiel. „Der Fall Wheeler- ich habe ganz vergessen, dass er am Donnerstag vor Gericht verhandelt wird." Und sie bezweifelte entschieden, dass ihr Entführer bis dahin bereits hinter Gittern saß. „Lass das jemand anders übernehmen." „Das ist nicht mein Arbeitsstil." „Dann bitte um Terminverschiebung." Lynn dachte an Julie Wheeler, wie verzweifelt sich die arme Frau die Scheidung von ihrem Mann wünschte, damit sie sich endlich wieder sicher fühlen konnte. Sie schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Wheeler hat ihn schon ein paar Mal verlegen lassen. Es wäre unverantwortlich von mir, die Verhandlung noch weiter hinauszuzögern. Ich muss dorthin, Blade." „Dann begleite ich dich in den Gerichtssaal." „Gut. Nun will ich noch schnell meine Voicebox abhören, dann können wir gehen", erklärte sie. Während Lynn wählte, blätterte Blade in den Informationen der Verdächtigen, als wolle er sich einige Dinge einprägen. Dass er sich so engagierte, gab Lynn ein gutes Gefühl. „Drei Nachrichten", murmelte sie und griff zum Kugelschreiber. Die erste kam von einer Mandantin, die ihrem Zorn Luft machte, weil ihr Mann nicht mit den geforderten Unterhaltszahlungen einverstanden war. Die zweite von Julie Wheeler, der Polizistenfrau. „Ich habe Angst, Miss Cross. Er hat mir gesagt, ich könne mir die Auflage des Gerichts sonst wohin stecken, er würde die Kinder sehen, wann er es wolle. Ich habe in der Zeitung gelesen, was Ihnen passiert ist. Sie glauben doch nicht, dass er..." Sie begann zu weinen. „Warte, ich spiele es dir über Lautsprecher vor", sagte Lynn zu Blade. Blades Gesicht verdüsterte sich, während er zuhörte. „Es macht den Eindruck, als wäre dieser Kerl auf Ärger aus", sagte er dann. „Stella muss sich das anhören. Und was den Gerichtstermin am Donnerstag betrifft..." „Ich gehe hin. Dies hier hat mich überzeugt, wie wichtig es ist. Ich denke, Julie ist derselben Meinung, sonst hätte sie mich nicht gewarnt." Sie sicherte die Aufnahme und spielte dann den letzten Anruf ab. „Du bist also an den Ort des Verbrechens zurückgekehrt, Evelyn?" Sie hatte vergessen, den Lautsprecher wieder abzuschalten, und das bekannte Flüstern erfüllte den Raum. Ihre Nackenhaare richteten sich auf. „Oder hörst du diese Nachricht von einem sicheren Ort aus ab?" „Mein Gott, das ist er!" „Aber kein Ort ist sicher genug für dich", fuhr die heisere Stimme fort. „Ich finde dich, Evelyn, und wenn ich dich gefunden habe ..." Es klickte, und Lynn murmelte: „Wir sehen uns wieder..." Mit bebender Hand sicherte sie den Anruf. „Was soll das heißen?" wollte Blade wissen. „Es bedeutet, dass er mich noch immer umbringen will. Und dass ich einen Weg finden
muss, mich zu verteidigen." „Du hast mich." „Dafür bin ich auch sehr dankbar. Aber was ist, wenn du gerade nicht hinschaust?" „Falls du dich wohler fühlst, zeige ich dir ein paar Tricks, mit denen du dich verteidigen kannst." „Ich lerne schnell", versicherte sie ihm. Obgleich sie Gewalt verabscheute, wollte sie doch in der Lage sein, sich zu wehren. „Gut. Und nun zu den Nachrichten ..." „Ich habe ein Diktafon", sagte sie und holte es aus einer der Schubladen heraus. Sie benutzte das kleine Gerät manchmal bei der Arbeit. „Ich werde Sicherungskopien machen." Nachdem sie auch noch eine Kopie für die Polizei angefertigt hatte, erklärte sie: „So, das war's", und verstaute alles in ihrer Tasche. Blade deutete auf die Unterlagen. „Hast du diese Drohungen eigentlich jemals der Polizei gemeldet?" „Warum sollte ich das, außer wenn ich sie für ernst hielt?" „Bei wie vielen war das der Fall?" „Nur bei ein paar. Als dann aber nichts geschah ..." „Vielleicht druckst du die Informationen über die anderen auch aus", schlug er vor. „Vielleicht hast du dich geirrt und einen von ihnen unterschätzt." Das bedrückende Gefühl, wieder einmal die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, nahm zu. Lynn fragte sich, wie viele tödliche Fehler sie sich noch leisten konnte ... Es gelang ihr zwar, ihre neuerliche Verunsicherung zu überspielen, aber als sie die Eingangshalle wieder betraten, nahm ihre Nervosität zu. Ihr Angreifer konnte irgendwo dort draußen sein, auf sie warten, so wie am Freitagabend. „Das hat ja nicht lange gedauert", bemerkte der Wachmann. Erschien überrascht. „Ich musste nur ein paar persönliche Unterlagen holen", erklärte Lynn. Als sie sich austrug, vermeinte sie die Stimme des Angreifers zu hören: Wir sehen uns wieder... Nicht hier, nicht jetzt, dachte sie und riss sich zusammen. Sie bildete sich die Gefahr nur ein. Der Mann würde bestimmt nicht an den Ort des Verbrechens zurückkehren. Der junge, unbedarfte Wachmann hatte ihn benachrichtigt, wie sie es vereinbart hatten. Sie befand sich im Gebäude. Von seinem Platz im Schatten aus konnte er eine Frau sehen, die sich vom Empfangstresen entfernte. Überrascht erkannte er, es war nicht Evelyn Cross. Dann schaute er nochmals hin. Ihre Aufmachung war anders, aber wie sie sich bewegte ... Außerdem, wer sollte sich sonst um diese frühe Morgenstunde dort aufhalten? Sie hatte sich verkleidet... Sehr schlau. Auf der Straße hätte er sie nicht erkannt, das musste er ihr zugestehen. Allerdings hatte sie sich umsonst so viel Mühe gemacht... Sie erreichte die Tür. Er wollte losgehen. Abrupt blieb er stehen, als er den Mann sah, der ihr folgte. Verdammt! Sie war nicht allein! Er wich in den Schatten zurück und beobachtete, wie die beiden das Gebäude verließen. Auf dem Weg zum Jeep hatte der Mann den Arm beschützend um ihre Schultern gelegt. Sie machte einen nervösen Eindruck, und das war nur gut so. Sie hatte sich also Schutz besorgt. Aber das würde ihr auch nicht helfen. Sie war zu arrogant, um sich zu verkriechen. Sie würde einen Fehler begehen, und dann würde er zur Stelle sein. Als der Jeep davonfuhr, flüsterte er: „Wir sehen uns wieder, Evelyn ..."
Lynn hatte alle Mühe, ihre Unruhe einigermaßen in den Griff zu bekommen. Als sie das Bürogebäude verließen, hatte sie das bedrohliche Gefühl gehabt, der Mann würde sie beobachten, jeden einzelnen Schritt zum Jeep. Unsinn, erklärte ihr Verstand. Sie betraten das kleine Apartment neben Blades Wohnung. „Hier sieht es ja genauso aus wie bei dir", sagte sie. „Nur die Topfpflanzen fehlen." „Die Bettwäsche ebenfalls. Aber ich kann dir welche ausleihen." Er öffnete das Badezimmer, das ihr ebenfalls merkwürdig vertraut vorkam. Zu ihrem Erstaunen durchquerte er es, öffnete eine gegenüberliegende Tür und betrat seine eigenen Räume. Sie folgte ihm, blieb aber an der Tür stehen. „Sag mal, bin ich blöd, oder ist das wirklich dein Badezimmer?" „Es ist unser Badezimmer. Normalerweise werden diese Apartments von gleichgeschlechtlichen Mietern bewohnt, die sich dann das Badezimmer teilen. Aber der Vermieter hat mir einen Gefallen getan und eine Ausnahme gestattet. Für dich ist das doch in Ordnung, oder?" „Ja, ja, schon", erwiderte sie, obwohl sie die Wohnbedingungen durchaus ungewöhnlich fand. „Eigentlich wollte ich hier nur vorübergehend bleiben", erklärte Blade, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Irgendwie war ich dann aber zu träge, wieder umzuziehen." Er drückte ihr Bettwäsche in die Hände. „Handtücher sind dort drüben", meinte er weiter und deutete auf den Stapel. „Vergiss nur nicht, mir Bescheid zu geben, wenn du das Bad benutzt, sonst platze ich aus Versehen vielleicht herein. Und wenn du fertig bist, lass die Tür einfach einen Spalt weit offen stehen." „Okay." Es war schon ein seltsamer Zustand - sie teilte sich das Bad mit einem Mann, einem, den sie seltsamerweise ausgesprochen anziehend fand. Und die Vorstellung, Blade jede Nacht so dicht in ihrer Nähe zu haben, beunruhigte sie. Andererseits, falls ihr Entführer ihren Aufenthaltsort doch ausfindig machte, war es ausgesprochen beruhigend, Blade auf der anderen Seite der Tür zu wissen. „Es war ein langer Tag. Du gehst besser schlafen." „Eigentlich sollte ich müde sein ..." Leider war sie hellwach. „Tee?" schlug Blade vor. „Bitte." Lynn folgte ihm in sein Apartment, wanderte auf und ab und schaute ihm zu, wie er den Tee zubereitete. Noch immer war sie nervös. Vielleicht half es ja, wenn sie redete. „Ich habe noch einmal über die Verdächtigenliste nachgedacht und frage mich; ob ich mit den Informationen nicht mehr anfangen kann als Stella", sagte sie. „Außerdem, was ist, wenn sie diesen Kerl verschreckt und der seine Spuren verwischt, niemals gefasst wird? Dann bliebe immer das Gefühl der Bedrohung. Von dem Wunsch nach einer gerechten Strafe ganz abgesehen." „Das klingt nicht gut." Blade drückte einen Knopf an der Mikrowelle und wandte sich wieder Lynn zu. „Was hast du vor?" Er musterte sie so scharf, dass sie errötete. „Nur einfach ein paar Dinge auf eigene Faust überprüfen." Allerdings wusste sie nicht, wie. Noch nicht. Aber sie war schließlich nicht dumm. Als Anwältin verfügte sie über nützliche Informationsquellen. Es musste etwas geben, das sie tun konnte. „Du willst dich selbst doch wohl nicht als Köder benutzen?" Blade sah sie düster an. „Denn wenn Johnny Rincon dahinter steckt, dann verschwindest du diesmal vielleicht für immer. Es ist besser, solche Ermittlungen Leuten wie Stella zu überlassen." Die Mikrowelle
meldete sich, er holte den Becher heraus und gab einen gehäuften Löffel Kräuter hinein. „Sie weiß mit Leuten wie ihm umzugehen und hat auch die entsprechende Unterstützung." „Du hast natürlich Recht." Aber sie würde bestimmt nicht dasitzen und Däumchen drehen. Je mehr Leute daran arbeiteten, desto schneller konnte es eine Lösung geben. „Ich rufe sie gleich morgen früh an." „Gut." Er gab ihr den Teebecher. „Nun trink aus und geh schlafen." Leichter gesagt als getan, dachte sie eine Stunde später, als sie immer noch hellwach war. Vielleicht lag es auch an dem winzigen Schlaf räum, da konnte man ja Platzangst bekommen. So wechselte sie aufs Sofa im Wohnraum. Aber auch dort konnte sie nicht einschlafen, trotz aller Entspannungsübungen. Immer wenn sie gerade in den Schlaf glitt, kehrten die Schrecken der Entführung zurück. Du bist doch diejenige, die gern das Reden übernimmt. Sie wälzte sich auf die andere Seite und versuchte es sich bequemer zu machen. Überleg, was du getan hast, Evelyn ... Sie hatte nichts getan, wofür sie bezahlen müsste. Was mag diesem Mann am wichtigsten gewesen sein, überlegte sie. Sein Geld? Seine Kinder? Oder einfach eine Frau zu haben, die er misshandeln konnte? Der Kerl war krank. Aber was war es, das die Idee, sie zu verfolgen und zu bedrohen, in ihm ausgelöst hatte? Wenn sie sich nur besser an die Entführung erinnern könnte. Sie brauchte dringend Schlaf. Dann wäre sie in der Lage, klarer zu denken. Aber ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Aber kein Ort ist sicher genug für dich ... Lynn zog die Knie an, machte sich unbewusst ganz klein. Wir sehen uns wieder... Sie konnte es nicht verhindern, dass sie sich auf die Stimme des Mannes konzentrierte. Sie versuchte zu hören, was er sagte. Versuchte, irgendeinen Hinweis herauszufiltern. ... nachdem du mir diesen Verlust zugefügt hast... ... verdienst du, was du bekommst... Fragmente von Beschuldigungen und Drohungen, nicht mehr. Nichts Neues. Nichts verriet ihr, was er verloren hatte. Frau, Kinder, Geld - was war es? Sie grübelte und grübelte. Warum nur konnte sie nicht damit aufhören und endlich einschlafen? Gestern hatte der Tee Wunder gewirkt, warum also nicht heute? Vielleicht war es auch nur Blades Nähe gewesen, die sie ruhig hatte einschlafen lassen. Aber er war doch nebenan, direkt auf der anderen Seite der Türen ... Türen, die so leicht zu öffnen waren. Wieder versuchte sie ihre Gedanken auszuschalten, aber ein Gedanke ließ sie nicht los: Sicherheit war nur ein paar Schritte weit entfernt. Sie erhob sich vom Sofa und ging die wenigen Schritte im Dunkeln. Ihre Augen hatten sich daran gewöhnt, deswegen erkannte sie Schatten und Umrisse. Erst als sie im Bad stand, zögerte sie, weil ihr Herz auf einmal laut pochte. Bestimmt würde Blade sie für dumm halten, wenn er wüsste, was sie vorhatte. Doch dann entschied sie sich, das Risiko einzugehen, schlüpfte in Blades Zimmer und horchte einen Moment. Das sanfte Schnarchen aus dem Schlafraum verriet ihr, er schlief tief und fest. Da drehte er sich um, und das Schnarchen hörte auf. Ein Gefühl der Sicherheit, des Geborgenseins überkam sie sogleich, als sie sich auf dem Sofa zusammenrollte, und sie lauschte seinen regelmäßigen Atemzügen. Innerhalb weniger Minuten wurden ihre Lider schwer, und sie fühlte, wie sie langsam in den Schlaf hinüberglitt ... ... bis Helligkeit sie weckte. Sie öffnete die Augen. Es war Tag. Nun ja, noch sehr früh am Tag. Morgendämmerung.
Langsam erinnerte sie sich daran, dass sie auf dem Sofa lag. Blades Sofa. Es war Zeit, wieder in ihr Zimmer zurückzugehen. Im Apartment war es still. Wenn er nun wach dalag und wusste, dass sie wie ein Feigling heute Nacht in sein Zimmer geschlichen war? Befangen stand sie auf und schaute in den winzigen Schlaf räum, dessen Tür offen stand. Blade schlief tief und fest. Er lag auf dem Bauch, und das Laken war so weit verrutscht, dass es seinen Po nur spärlich bedeckte. Er war nackt! Lynn errötete, riss den Blick von dem anregenden Bild, das er bot, los und versuchte unbemerkt zu verschwinden. Gerade als sie das Bad erreichte, rührte Blade sich, und als sie sich umwandte, hatte er sich herumgedreht. Ohne das Laken. Ihr Mund wurde trocken, und einen Moment lang starrte sie nur hin. Wie sollte sie anders, wo so viel männliche Schönheit vor ihr lag? Lynn fühlte, wie ihr Körper reagierte ... bis ihr klar wurde, dass sie seine Intimsphäre verletzte. Voller Scham, auch wegen der Erregung, die sie empfand, obwohl er kein Interesse an ihr hatte, hastete sie ins Bad und weiter in ihr Apartment. Gut, dass er nicht aufgewacht war. Ihr konnte nichts Schlimmeres passieren, als wenn Blade aus Abscheu vor ihrem Verhalten seine Hilfe zurückzog. Er war ihre Verbindung zur wirklichen Welt. Ihre Sicherheit, dass sie nicht den Verstand verlor. Ihr Schutz. Sie wusste nicht, was sie ohne ihn anfangen sollte. Entsetzt erkannte sie, wie schnell sie von diesem Mann abhängig geworden war. Und konnte nur hoffen, dass sie es niemals bereuen musste.
6. KAPITEL Wenige Stunden später betraten Blade und Lynn das Fitnessstudio, in dem Blade trainierte. Es gehörte nicht zu den modernsten, war aber frisch gestrichen, und die Umkleideräume waren sauber und ordentlich. In der einen Ecke der Halle stemmten schon einige Männer Gewichte. In der anderen attackierte eine junge Frau einen Sandsack. Sie begaben sich zu einem mit Matten ausgelegten Bereich in der Mitte. „Der menschliche Fuß besteht aus sechsundzwanzig Knochen", begann Blade. „Und warum muss ich das wissen?" Lynn fragte sich plötzlich, ob sie nicht einen Fehler beging- Blade so nahe zu kommen, Körperkontakt eingeschlossen. Sie wünschte, sie hätte Stella Jacobek erreicht. Leider hatte sie ihr nur eine Nachricht hinterlassen können, wo sie sich aufhielten. „Der kräftigste Knochen sitzt in deiner Ferse", fuhr Blade fort. „Du kannst ihn als Waffe gegen die schwächeren Fußknochen eines Angreifers benutzen." „Du meinst, ich soll darauf herumtrampeln?" „So ungefähr." „Und um das zu lernen, muss ich in dies Fitnessstudio kommen?" „Du musst lernen, was du als Erstes tust. Übung macht den Meister. Komm her und dreh dich um." Er hatte eine eng anliegende Sporthose und ein ärmelloses T-Shirt an, das nur zu deutlich seine perfekte Muskulatur zeigte. Dieser Anblick war eindeutig gefährlich für ihren Seelenfrieden. Aber wie sollte sie Abstand zu ihm halten, da sie eingewilligt hatte, sich von ihm in Selbstverteidigung unterrichten zu lassen? Also tat Lynn, was er verlangte. Blade stellte sich dicht hinter sie, und seine Nähe ließ ihr den Atem stocken. Sie hatte auf einmal einen trockenen Mund. „Nun stell dir vor, ich bin der Angreifer..." „Ja..." „... und dass ich hinter dir bin, um dich zu packen." „Okay." „Du kannst davon ausgehen, dass er deine Hände und Arme festhält, so dass du sie nicht benutzen kannst." Er demonstrierte es, umfasste sie und hielt sie fest. Großartig. Sie fühlte jeden Zentimeter seines Körpers, und ein Teil von ihr wollte sich an ihn lehnen und einfach nur genießen, ihn spüren. Aber der andere Teil in ihr focht darum, einen klaren Kopf zu bewahren. „So, als Angreifer habe ich zwei deiner mächtigsten Waffen aus den Verkehr gezogen", flüsterte er an ihrem Ohr. „Deine Hände und Ellbogen." Lynn bemühte sich um Konzentration. „Aber ich habe immer noch meine Beine und Füße." „Und damit kannst du spielend die Knöchelchen meines Fußes brechen, egal ob du mir zugewandt bist oder nicht." „Brechen? Du willst, dass ich dir die Knochen breche?" „Meine nicht", betonte er. „Es sollte nur ein Beispiel sein. Ich meine natürlich den Angreifer. Wenn du dich in Lebensgefahr befindest, kannst du dir Zimperlichkeit nicht leisten." „Da hast du natürlich Recht. Und wie schaffe ich es, dass ich den Fuß auch wirklich erwische?" „Spielen wir es durch. Langsam." Blade stand so dicht hinter ihr, dass sein warmer Atem über ihr Ohr strich. Am liebsten hätte sie ihn gebeten, ein wenig Platz zwischen ihnen zu lassen, aber diese Demütigung wollte sie sich ersparen. Er sollte nicht wissen, dass seine Nähe ihr unter die Haut ging. Schließlich
war dies eine professionelle, keine persönliche Angelegenheit für ihn. Er fuhr fort: „Heb jetzt dein Knie so weit wie möglich an, dann tritt so kräftig wie du kannst, mit angezogenem Fuß. Lass deine Ferse sein Schienbein entlangrutschen und triff genau seine Fußknochen. Denk daran, all deine Kraft hineinzulegen. Aber nicht jetzt", warnte er sie. „Ich möchte, dass du die Bewegungen ganz langsam übst." „Ich werde versuchen, dir nicht wehzutun", meinte sie trocken, befolgte aber genauestens seine Anweisungen. Dabei pressten sich ihre Pobacken gegen seinen Unterkörper. Es überlief sie heiß. Beinahe hätte sie aufgekeucht. „Gut", meinte er sachlich. „Nun wiederholen wir es noch einmal, diesmal ein wenig schneller. Ich komme von hinten, aber..." „Ich weiß, ich weiß." „Ich möchte, dass du heute erst einmal die Grundlagen lernst, eine Vorstellung bekommst..." „Ich habe schon einige Vorstellungen", murmelte sie, aber die hatten absolut nichts mit Selbstverteidigung zu tun. Als Blade sie wieder von hinten packte, durchfuhr es sie nochmals heiß, aber sie versuchte es zu ignorieren und sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. „Gut", lobte Blade sie, ließ sie aber nicht los. Mit hämmerndem Herzen fragte sie: „Und was kommt als Nächstes?" „Wenn du ihm mit etwas Glück einen Knochen gebrochen hast, wird er nicht mehr voll einsatzfähig sein und seinen Griff ungewollt lockern. Nun kannst du deinen Kopf als Rammbock gegen seine Nase oder Mund benutzen. Versuch es einmal, aber bitte vorsichtig." Sie hielt den Kopf, wie er vorgab, berührte dabei sein Gesicht, und es erinnerte sie an den Kampf mit dem richtigen Angreifer und das Knacken der Brille. Und plötzlich ... ... jetzt wird abgerechnet, Evelyn ... Sie erstarrte und versuchte den Erinnerungsfetzen festzuhalten, hoffte, dass noch mehr hochkommen würde. „Ist alles in Ordnung? Hast du dir wehgetan?" „Was?" Lynn wurde bewusst, dass Blade sie losließ. „Ja ... es geht mir gut. Ich habe mich nur an etwas erinnert. Er sprach davon, abzurechnen." „Noch mehr?" Sie schüttelte den Kopf. „Die Erinnerungen kommen in Bruchstücken, wie die Teile eines Puzzles. Aber ich kann damit nichts anfangen." „Möchtest du dich hinsetzen?"' „Ich trainiere lieber meinen Frust ab!" sagte sie und wehrte sich gegen die aufsteigende Furcht. „Also, wie viele Knochen hat die Hand?" Blade hielt ihr einen Kurzvortrag über die Anatomie der Hand, dann erklärte er ihr, wie wirkungsvoll es war, einen einzelnen Finger zu packen. Mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung könne sie ihn brechen. Wieder ging er mit ihr die einzelnen Schritte durch. „Das hilft mir nicht", beklagte sie sich. „Willst du nicht verschiedene Arten der Selbstverteidigung kennen lernen?" „Ich brauche Action. Ich will das Gefühl bekommen, dass ich etwas zu Stande bringe." „Diese Übungen sind notwendig, bevor wir bestimmte Griffe in die Tat umsetzen können. Das hatte ich für das nächste Mal geplant." „Dann sind wir für heute fertig?" „Eine Sache will ich dir noch zeigen", sagte er. „Ich komme diesmal nicht von hinten, sondern von vorn und packe dein Handgelenk." Er demonstrierte es ihr. „Ich trete gegen dein Schienbein? Auf den Fuß?" „Ich dachte an etwas anderes. Zieh deinen Arm herunter und reiß dich los. Dann ergreif
mein Handgelenk, zerr es hoch und dreh dich unter meinem Arm mit dem Rücken zu mir. Dann zieh meinen Arm kraftvoll über deine Schulter und schleudere mich zu Boden." „Hört sich interessant an." Aber es würde unbefriedigend sein, wenn es nur eine Übung blieb. Als hätte er ihre Gedanken erraten, schlug Blade vor: „Diesmal darfst du es richtig ausprobieren. Versuch mich über die Schulter zu werfen." Ein verlockendes Angebot. Aber angesichts seiner Größe bezweifelte sie, dass sie es konnte. „Na klar..." „Komm, Lynn, zeig mir, aus welchem Holz du geschnitzt bist", forderte er sie heraus. „Los geht's. Ich greife dich an." Seufzend ging sie in Stellung. Als er ihr Handgelenk packte, riss sie sich los, packte seines, drehte sich in ihn hinein, unter seinen Arm, und im nächsten Moment lag er am Boden. Er fing den Fall mit einer Hand ab, wie bei ihrem Angriff in ihrem Apartment. Und Lynn konnte nicht anders ... Sie nutzte seine missliche Lage aus, warf sich auf ihn und drückte ihn rücklings zu Boden. Gleichzeitig umklammerte sie mit den Schenkeln seine Hüften. Adrenalin schoss durch ihre Adern. Euphorie erfasste sie, und sie lachte laut. Blade, unter ihr, stimmte ein. Und dann verfingen sich ihre Blicke. Das fröhliche Lachen erstarb. Der Triumph machte einem anderen Gefühl Platz, das tief in ihr etwas anrührte. Und in seinen Augen meinte sie das Gleiche zu lesen. Noch nie hatte sie so bei einem Mann empfunden, und sie war überrascht, dass ihre Empfindungen sich in seinem Blick spiegelten. Plötzlich befangen, wollte sie gerade aufstehen, als sie hinter sich jemanden spürte. „Müsst ihr zwei euch denn jedes Mal miteinander am Boden wälzen, wenn ich komme?" Es sah so aus, als hätte Detective Jacobek ihre Nachricht erhalten. Stoisch ertrug Blade Stellas anzügliches Grinsen und die flapsigen Bemerkungen, als sie in einem kleinen Restaurant einen Happen aßen und gemeinsam die Anrufe und Lynns Liste der Verdächtigen durchgingen. Schließlich wandte sich Stella an Lynn. „Mich wundert, dass Sie das Risiko eingingen, nochmals an den Tatort zurückzukehren." „Ich hatte Schutz." Wieder grinste Stella Blade an. „Mir scheint, ihr beide habt euch gefunden, und das in weniger als einem Tag." Blade fiel auf, dass Lynn ihn kaum anblickte. Verdammt, auch ihm fiel es schwer, sie anzusehen, wenn auch aus einem ganz anderen Grund. Als er unten auf der Matte lag, hatte es zwischen ihnen heftig gefunkt, und es war nicht das erste Mal gewesen. Aber er war entschlossen, sich nicht mit ihr einzulassen. Denn das würde bedeuten, dass er über seine Vergangenheit reden musste, und dazu war er nicht bereit. Besonders nicht mit ihr. Warum war von allen Frauen in den letzten Jahren ausgerechnet Evelyn Cross die einzige, die er wirklich haben wollte? „Lynn und ich haben das Gleiche im Sinn", erwiderte er. „Wirklich?" Wieder dieses viel sagende Grinsen. Er warf ihr einen düsteren Blick zu und knurrte: „Gerechtigkeit und Lynns Sicherheit." „Ja, natürlich ... klar." Stella musterte Lynn von oben bis unten. „Ich schätze, diese Verkleidung gehört dazu." „Wer würde sie wohl so wieder erkennen?" meinte Blade. „Wie haben Sie das gemacht?" fragte Stella Lynn. „Modezeitschriften studiert?" Als Blade antwortete: „So ähnlich", bevor Lynn antworten konnte, bedachte Stella ihn mit einem seltsamen Blick.
Sie wandte sich wieder den Unterlagen zu. „Eine Ihrer Kolleginnen bezeichnete Victor Churchill als einen Mann, der immer einen Weg fände, die Zahl seiner Feinde zu reduzieren, Lynn. Natürlich meinte sie damit geschäftliche Dinge. Und Johnny Rincon jagte ihr einen Todesschrecken ein." „Sie meinen Susan Matthews", sagte Lynn. „Sie unterhielt sich mit mir vor dem Gerichtssaal an dem Tag, als seine und Carlas Scheidung ausgesprochen wurde. Er belegte Susan mit einem ziemlich üblen Namen und riet ihr, zu verschwinden." Stella blickte Blade an. „Hast du ihr von Johnny erzählt?" „Eine kurze Zusammenfassung." „Er ist wirklich Abschaum", warnte die Polizistin Lynn. „Gefährlich. Ich würde ihm durchaus zutrauen, dass er es gewesen ist." Blade auch. Deswegen hatte er vor, am Nachmittag seinem alten Viertel einen Besuch abzustatten. Er wollte selbst herausfinden, was Johnny Rincon vorhatte. „Haben Sie sich die Stimme auf dem Band angehört?" fragte Lynn. „Könnte es seine sein?" „Angehört habe ich sie mir. Aber leider kann ich nicht sagen, dass ich sie erkannte. Zum einen waren es nur wenige Worte, zum anderen noch dazu geflüstert. Außerdem habe ich Johnny seit Jahren nicht mehr getroffen. Die Kollegen im Labor analysieren jetzt die Hintergrundgeräusche." „Wozu soll das gut sein? Glauben Sie, er war so dumm, von zu Haus oder einem Büro aus anzurufen?" „Sicher ist sicher. Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Nur für den Fall weiterer Anrufe - ich würde gern Ihr Telefon überwachen lassen." „Gern." Stella blickte Blade an. „Was ist mit dir? Du hast es doch auch gehört. Kommt dir die Stimme bekannt vor?" „Wie du schon sagtest, er flüstert. Und ich habe Johnny auch jahrelang nicht gesehen." „Vielleicht kann ein Experte mehr herausfinden. Aber wir haben nicht die Stimmen aller Verdächtigen. Was noch ein zusätzliches Problem darstellt." „Warum?" fragte Lynn. „Wenn wir die Stimmen aller Verdächtigen auf Band hätten, und Experten sie mit der Stimme auf dem ..." Stella unterbrach sie. „Solange der Kerl nicht weiß, dass er abgehört wird, sind solche Aufnahmen illegal und deswegen vor Gericht wertlos", erklärte sie. „Es gibt noch etwas, das Sie wissen sollten, Lynn. Wenige Stunden, nachdem Sie und Blade das Haus verließen, gab es einen Vorfall in Ihrem Apartmentgebäude." „Was ist passiert?" „Eine merkwürdige Geschichte. Der Wachmann wurde niedergeschlagen, und der Täter nahm ihm den Hauptschlüssel ab. Offenbar wurde aber nirgendwo eingebrochen, wie die Untersuchungen ergaben. Wir wissen nicht, was der Eindringling eigentlich dort wollte." „Warum erzählen Sie mir dann davon?" „Weil ich nicht an Zufälle glaube. Und weil ein Freund einer der Mieterinnen zur selben Zeit das Gebäude verließ. Der Wachmann war nicht anwesend, so dachte er, er machte gerade eine Pause. Wie auch immer, als erden Fahrstuhl verließ, begegnete er einem Mann, und irgendetwas kam ihm seltsam vor." „Konnte er eine Beschreibung geben? Geht es Tony gut?" „Tony ist in Ordnung. Und die Beschreibung ist dürftig. Ungefähr einsachtzig groß, normal gebaut. Er trug eine Baseballkappe und hielt den Kopf gesenkt. Heute Morgen ließ ich mir Ihr Apartment öffnen, um mich dort umzusehen. Alles ist unverändert. Wenn jemand Ihnen einen Besuch abgestattet hat..." Sie zuckte mit den Schultern. Blade spürte, dass Stellas Beunruhigung sich auf Lynn übertragen hatte. Auf dem Nachhauseweg war sie nervös. Er überlegte kurz, ihr anzubieten, wieder bei ihm zu schlafen.
Allerdings bezweifelte er, dass es ihr angenehm wäre, wenn er ihr seine Beobachtungen letzte Nacht verriet. Natürlich hatte er geschlafen, aber seinem intensiven Training für Spezialeinsätze verdankte er, dass das leiseste Geräusch ihn weckte. Lynn hatte sich zwar bemüht, leise zu sein, aber geräuschlos war ihr Besuch in seinem Apartment nicht gewesen. Trotzdem hatte er sich einen Kommentar verkniffen und keinen Ton darüber verloren. Es wäre ihr peinlich gewesen, dessen war er sicher. „Ich brauche unbedingt eine Dusche", sagte sie. „Sollen wir losen, wer zuerst das Bad benutzen darf?" „Ich lasse dir den Vortritt. Ich muss mich noch um etwas anderes kümmern." „Du lässt mich hier allein?" „Betrachte das Haus als sicher. Niemand wird hier nach dir suchen. Du fühlst dich doch sicher, oder?" „Bei dir ja. Wenn du in meiner Nähe bist, habe ich immer das Gefühl, mir kann nichts passieren." Wenn sie jemals herausfand, was ihrer Schwester passiert war... Er würde es nie vergessen. Und er würde niemals wieder volles Vertrauen in sich haben. „Du wirst doch nicht lange fort sein, oder?" fragte sie. „Ein paar Stunden." Er brauchte diese Zeit für sich, ein wenig Distanz, um wieder einen klaren Blick zu bekommen. Weil sonst die Gefahr bestand, dass er ihr alles gestand. Nachdem er beide Türen abgeschlossen hatte, verließ er das Haus und stieg in seinen Jeep. Niemand wird Lynn hier finden, beruhigte er sich. Er fuhr hinaus zur South Side, dachte an die Narbe, die er Johnny Rincon auf der High School verpasst hatte. Und dem Ekel gefiel sein Aussehen sogar noch, weil sein verunstaltetes Gesicht anderen Leuten Angst machte. In der Gegend hatte sich nicht viel geändert. Auf den Eingangsstufen und den Fußwegen lungerten Leute herum. Die Straßen waren der Lebensmittelpunkt der Anwohner. Kinder spielten dort, und an den Straßenecken hingen jugendliche Gangs herum und besprachen ihre Geschäfte. Auf den Baikonen saßen die Alten, ließen das Leben vorüberziehen. An der Hauptstraße reihten sich Billigläden, Pfandhäuser und Second-handgeschäfte aneinander. Hier gab es weder Büchereien noch modische Coffeeshops oder Sushi-Bars. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein in diesem Teil der Stadt. Blade hatte große Anstrengungen unternommen, ihr zu entfliehen. Seine Mutter war vor rund sechs Jahren zu ihrer Schwester in einen der Vororte gezogen, als seine jüngere Schwester Rena heiratete. Damals war er beim Militär gewesen. Und als er dann vor einem Jahr die Spezialeinheit verließ, hatte ihn nichts mehr hierher gezogen. Was er jetzt tat, tat er für Lynn. Mit etwas Glück fand er einen freien Parkplatz in der Nähe von Skipper's. Die Kneipe lag an der Ecke einer Seitenstraße, wo sich alles traf, was in der Gegend Rang und Namen oder keinen festen Job hatte. Hoffentlich war es immer noch so. Dichter Tabakqualm und die alte pseudomaritime Einrichtung empfingen ihn, als er die Gaststube betrat. An der Tür blieb er stehen. Trotz der frühen Stunde herrschte bereits reger Betrieb, und der Besitzer Skipper -die Kapitänsmütze auf dem Kopf-beherrschte immer noch die lange Theke, auch wenn er inzwischen grau geworden war. An einem der Tische wurde Karten gespielt. Aus dem Hinterzimmer war das Klicken von Billardkugeln zu hören. Blade schlenderte hinüber und sah sich die Spieler an. Gegen das Gesetz oder nicht, sie spielten natürlich um Geld. Etwas anderes hätte er auch nicht erwartet. „Na, wer beehrt uns denn da mit seinem Besuch - Blade Stone!" erklang da Skippers Stimme. Schlagartig wurde es still rundherum. Alle Köpfe drehten sich nach Blade um. Er ließ sich auf einem der Barhocker nieder. Mehr als nur ein paar Gäste waren Freunde von Johnny oder
ihm irgendwie verpflichtet. In einer Gegend wie dieser wurde nichts vergessen - weder Gutes noch Schlechtes. Ein Leben lang nicht. Einer zog ein Handy hervor, klappte es auf, drehte Blade den Rücken zu und telefonierte. Ein anderer Mann mit Spitzbart warf seine Karten auf den Tisch. „Ich passe", verkündete er laut. „Ihr habt mir heute zu gute Karten, Jungs." Er erhob sich, schlenderte zur Bar und setzte sich neben Blade. „Na, das ist ja eine große Überraschung. Tauchst endlich einmal wieder auf. Ich hätte gedacht, ich würde dein hässliches Gesicht hier nie mehr zu sehen bekommen, Blade." „Wenn ich gewusst hätte, dass du hier bist, Leroy, wäre ich noch länger weggeblieben." Blade ergriff die Hand des kleineren Mannes. „Wie geht es dir?" „Durstig." „Das können wir beheben." Blade bedeutete Skipper, ihnen zwei Bier zu bringen. „Immer noch der Alte, was, Leroy?" „Aber sicher. Hab inzwischen noch zwei Kinder." „Das macht fünf, oder? Das Wort Enthaltsamkeit gehört wohl nicht zu deinem Wortschatz?" Leroy lachte und griff nach seinem Bier. „Das Weib will es noch mal probieren - sie möchte unbedingt ein Mädchen haben." Er trank einen kräftigen Schluck, dann fragte er: „Wie viele hast du?" „Ich bin nicht verheiratet." „Was hat das denn damit zu tun?" Beide lachten, stießen an und tranken, während Blade rasch das Bild einer zierlichen Blondine mit großen grauen Augen verscheuchte, das vor seinem inneren Auge aufgestiegen war. Die nächsten fünf Minuten berichteten sie sich, wie es ihnen ergangen war, dann bestellte Blade noch zwei Bier. Sie trugen sie hinüber zu einem abseits stehenden Tisch, und nun kam Blade zur Sache. „Ist Johnny Rincon immer noch der große Boss hierin der Gegend?" erkundigte er sich mit gesenkter Stimme. „Für einige schon." Leroy war Carlas Cousin, und er hatte nie viel für Johnny übrig gehabt, weil der Frauen schlug. „Ich habe gehört, Carla hat ihm endlich einen Tritt in den Hintern verpasst." „Ja, sie ist zur Vernunft gekommen." „Und Johnny soll für ihre Anwältin nicht sonderlich viel übrig haben." Leroy schwenkte sein Bier im Glas und musterte ihn scharf. „Was soll das Ganze, Blade?" „Ich brauche ein paar Informationen. Letzten Freitag hat sich jemand diese Anwältin geschnappt und gedroht, sie umzubringen. Sie weiß nicht, wer es war." „Du meinst, es könnte Johnny gewesen sein?" Blade zuckte mit den Schultern. „Welches Interesse hast du daran?" „Die Anwältin." „Sie hat dich angeheuert?" „Nicht direkt. Es ist eine persönliche Sache." „Aha! So viel Einsatz habe ich bei dir seit Mary Elizabeth Ferguson nicht mehr erlebt." Eine kurzzeitige Affäre, die endete, als er zum Militär ging. Er hatte keine Lust, mit Leroy über persönliche Dinge zu sprechen. „Ich will nicht, dass ihr etwas passiert", sagte er. „Du weißt, wie es ist, wenn du eine Frau beschützen möchtest." Soweit Blade bekannt war, hielt Leroy seiner Theresa seit der HighSchool-Zeit die Treue. „Also, war Johnny letztes Wochenende hier?" Leroy überlegte. „Ich war am Samstag auch nicht da. Familientag. Aber ich werde mich
umhören, weil ich diesen Bastard hasse für das, was er meiner kleinen Cousine angetan hat. Vielleicht finde ich ja etwas heraus." „Was zum Beispiel?" Als die Stimme erklang, wurde es wieder still in der Kneipe, so als hielten alle den Atem an. Blade wusste, Johnny stand hinter ihm. Es fühlte sich an, als würde ihm etwas den Rücken hinaufkriechen. Leroys Gesicht verschloss sich. Er mochte den Exmann seiner Cousine hassen, würde ihn aber niemals direkt herausfordern. „Ich hab Blade gerade gesagt, ich würde mich umhören, ob irgendwo eine alte Corvette zu verkaufen ist", erwiderte er. „Ich dachte, ich sollte mir vielleicht etwas Hübscheres zulegen als den alten Jeep." Blade warf einen Blick auf Johnny, dann blickte er wieder Leroy an, der nun aufstand. „Am liebsten in Rot." „Wie ich schon sagte, ich werde mich umhören." „Ich melde mich." Leroy ging gemächlich zur Tür, als hätte er alle Zeit der Welt. „So, du willst dir also eine rote Corvette kaufen." Nun stand Johnny direkt vor Blade. Er trug eine Sonnenbrille, trotz der schummrigen Beleuchtung. Früher war er recht attraktiv gewesen, aber die Narbe quer über der rechten Wange verlieh ihm ein wildes Aussehen, besonders, wenn er lächelte. Wie jetzt. Er drehte einen Stuhl herum und setzte sich rittlings darauf. Die Weste über dem weißen TShirt verbarg sehr wahrscheinlich eine Pistole hinten im Hosenbund. Er schnippte mit den Fingern in Richtung Skipper, ohne auch nur hinzusehen. „Ich habe da vielleicht etwas für dich. Was willst du anlegen?" Blade wusste, Johnny handelte mit gestohlenen Autos. Er konnte alles auf Bestellung besorgen. „Ich glaube, deine Preise kann ich mir nicht leisten." „Nicht einmal, wenn ich dir einen Deal vorschlage, den du einfach nicht ablehnen kannst?" „Genau davor habe ich Manschetten. Wenn mich nämlich die Polizei schnappt, machen die auch einen Deal mit mir, den ich nicht ablehnen kann, einen, bei dem ich im Knast lande." Johnny warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Dann wurde er wieder ernst. Skipper stellte zwei Bier auf den Tisch, und Johnny scheuchte ihn mit einer herablassenden Handbewegung fort. „Geht auf mich." „Danke, Johnny, aber zwei sind mein Limit", erklärte Blade. „Ich muss noch fahren." „Bald, hoffe ich. Und komm möglichst nicht wieder. In dieser Gegend hast du nichts mehr zu suchen." „Eigentlich war ich immer der Meinung, dies wäre ein freies Land." „Ja, und ich habe gehört, du beschützt es jetzt vor Typen wie mir. Liege ich da richtig?" Blade sah den Köder, biss aber nicht an. Er lehnte sich zurück und betrachtete sein Gegenüber. Johnnys Augen waren durch die dunklen Gläser nicht auszumachen. Lynn hatte den Angreifer nicht erkannt, aber allein der Gedanke, Rincon könnte sie angefasst haben, brachte ihn in Rage. Wenn Johnny es gewesen war, würde er es bitter bezahlen ... „Eine neue Sonnenbrille?" fragte Blade. „Denkst du daran, dich zu verschönern?" „Ich fühle mich wohl genug in meiner Haut." „Noch wohler würdest du dich fühlen, wenn du woanders wärest." „Du sagst das nun schon das zweite Mal, Johnny", meinte Blade mit gesenkter Stimme. „Soll das eine Drohung sein?" Um auf alles vorbereitet zu sein, ließ er die Hand zum Bein sinken, an dem er ein Messer angeschnallt hatte, und starrte seinen alten Feind an. Plötzlich lachte Johnny wieder, allerdings humorlos. „Es war nur so eine Bemerkung von mir - du bist keiner von uns." „Das war ich nie."
„Was willst du dann hier? Wonach suchst du, Blade?" „Eine rote Corvette - aber nicht von dir." Damit erhob er sich und schlenderte hinüber zur Bar, wo er seine Rechnung bei Skipper beglich. Als er ging, spürte er Johnnys Blick im Rücken, bis er die Tür hinter sich schloss. Blade hoffte, dass dieser Mistkerl Leroy in Frieden ließ, bis er die Antwort auf seine Frage hatte.
7. KAPITEL Nachdem Lynn geduscht und sich die Haare gewaschen hatte, war sie wieder besserer Stimmung und beschloss, ihre Eltern zu besuchen. Wenn Blade allein losziehen konnte, warum dann nicht auch sie? Aber sie wollte vor ihm zurück sein. Nicht aus Angst, dass er ihr womöglich Vorwürfe machen würde - nein, einfach so ... Da sie ihre Eltern nicht durch ihr Aussehen erschrecken wollte, verzichtete sie auf die blauen Strähnen und verbarg ihr ultrablondes Haar unter einem Strohhut. Sie zog eine braune Hose und ein weißes Top an, Sachen aus ihrem eigenen Kleiderfundus. Die gerötete Stelle auf der Wange verdeckte sie mit etwas Make-up, legte ein wenig Lipgloss auf und war fertig zum Gehen. Im letzten Moment entschloss sie sich, Blade eine Nachricht zu hinterlassen, nur für den Fall, dass er doch vor ihr zurückkommen sollte. Mit einem Taxi fuhr sie in den Nordwesten der Stadt, eine Gegend mit großen Grundstücken und ebenso großen Häusern darauf, erbaut mit Geld, das sich seit Generationen in den Familien häufte. Auf der Auffahrt stand der schwarze Wagen ihres Schwagers. „Was macht er denn hier?" murmelte sie vor sich hin. Als sie das Haus durch den Seiteneingang betrat, hörte sie, wie Nathan Sennet auf ihre Mutter einredete. „Im Ernst, ich habe mich wirklich geändert. Ich schwöre es dir. Sollte Danielle nicht die Chance bekommen, es mit eigenen Augen zu sehen?" „Also ... ich weiß nicht." Lynn kannte ihre Mutter. Sie stand kurz davor, alles auszuplaudern. Rasch betrat sie die Küche. „Aber ich. Dani will nichts mit dir zu tun haben, Nathan. Sie ist deinetwegen ins Ausland gegangen." Gut aussehend, blond, gebräunt, charmant und beruflich erfolgreich, darüber hinaus gesegnet mit einer athletischen Figur, war Nathan der Traummann vieler Frauen. Für Dani hatte er sich als der Wolf im Schafspelz entpuppt. „Ins Ausland?" Sein Lächeln verwandelte sich in den Ausdruck eines verlorenen kleinen Jungen. „Du meinst, sie ist in Urlaub gefahren? Wohin? Und für wie lange?" „Wohin und wie lange geht dich nichts mehr an." „Aber natürlich. Ich liebe Danielle von ganzem Herzen. Sie ist mein Leben, meine Welt. Hör mal, Evelyn, ich weiß, du denkst, ich bin so wie euer Vater, aber das stimmt nicht", sagte er mit gesenkter Stimme, wie um ihre Mutter zu schonen. „Ich gebe zu, wir hatten einige Probleme, und vielleicht war ich ein wenig überängstlich, was Danielle betrifft. Inzwischen bin ich mit professioneller Hilfe dabei, an meinen Schwächen zu arbeiten." Er blickte sie mit einem Ausdruck an, als wäre es ihm ungemein wichtig, dass sie ihm glaubte. „Ich schwöre, ich bin jetzt ein ganz anderer Mensch." „Wie gut für dich." „Nicht für mich. Bei dem Psychotherapeuten war ich deiner Schwester wegen." „Das hättest du letztes Jahr machen sollen, als sie noch daran interessiert war, eure Ehe zu retten. Nun ist es zu spät." „Darüber kannst nicht du entscheiden. Du und deine Vorurteile ... Du siehst nicht einmal das, was direkt vor deiner Nase ist. Aber Danielle wird interessieren, was ich ihretwegen auf mich nehme. Sie liebt mich noch immer." Lynn wusste, es stimmte. Gott sei Dank hatte sie Dani überreden können, diesen Job in London anzunehmen, damit so viel Entfernung zwischen ihr und Nathan lag, dass er sie nicht überreden konnte, zu ihm zurückzukehren. „Ich weiß nicht, was ich tun soll, um dich zu überzeugen", fuhr Nathan fort. „Ich liebe Danielle von ganzem Herzen. Deswegen habe ich in den vergangenen Monaten alles getan, mir ihre Liebe zu verdienen. Ich gebe dir den Namen meines Therapeuten. Du kannst dich bei
ihm gern nach meinen Fortschritten erkundigen. Außer... du willst gar nicht, dass deine Schwester glücklich ist." „Selbstverständlich will ich, dass sie glücklich ist." Verunsichert, weil er es ernst zu meinen schien, fuhr Lynn fort: „Ich werde darüber nachdenken und mich bei dir melden." Sie würde Dani anrufen und sie selbst entscheiden lassen müssen. Nathan strahlte sie an. „Mehr verlange ich gar nicht." Sein strahlendes Lächeln verblasste. „He, tut mir Leid, ich habe überhaupt nicht daran gedacht, was dir geschehen ist. Ich war richtig geschockt, als ich dich im Fernsehen sah. Glücklicherweise ist ja alles noch einmal glimpflich ausgegangen. Haben sie diesen Kerl schon geschnappt?" „Noch nicht." Bei der Erinnerung an alles zog sich ihr der Magen zusammen. „Also, bis sie ihn hinter Gittern haben, solltest du dich möglichst unsichtbar machen." Er machte eine unbeholfene Geste, als wage er nicht, sie in die Arme zu nehmen. „Pass auf dich auf, ja?" Kaum war er aus der Tür, nahm ihre Mutter sie in die Arme. „Ich bin so froh, dass du gekommen bist, Lynn. Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte." „Du darfst ihm nichts sagen, Mom, außer Dani will, dass er erfährt, wo sie ist." Sie löste sich von ihrer Mutter. „Er ist ihr Ehemann." „Nein, Mom, das ist er nicht. Sie sind geschieden." „Ich halte nichts von Scheidungen." Ihre ewige Ausrede, warum sie selbst bei ihrem Mann geblieben ist, dachte Lynn. Nicht, dass sie ihren Vater nicht liebte. Er hatte sich immer gut um seine Familie gekümmert, was das Finanzielle betraf, und wenn er nicht gerade wieder in einer seiner düsteren Stimmungen war, konnte er durchaus gefühlvoll sein. Aber unter diesen Stimmungen hatte die Familie so oft zu leiden gehabt. „Du siehst gut aus", meinte ihre Mutter, nachdem sie sie gemustert hatte. „Ist wieder alles in Ordnung?" „Ja, sicher. Wie geht es Dad heute?" fragte Lynn. Sie wusste, er machte gerade wieder eine Chemotherapie, und wollte vorbereitet sein, ehe sie ihn sah. „Der arme Mann - heute scheine ich ihm nichts richtig zu machen." „Richtig so, Mom, gib dir selbst die Schuld", murmelte Lynn. Sie ging ins Wohnzimmer hinüber, wo ihr Vater im Sessel vordem Fernseher saß. Er sah abgemagert und noch hinfälliger aus als beim letzten Mal. „Hi, Dad, wie geht es dir?" Als sie sich über ihn beugte, um ihm einen Kuss zu geben, streifte ihr Hutrand sein Gesicht. „Nimm das Ding weg", knurrte er. „Wieso trägst du überhaupt im Haus diesen dummen Hut?" „Ich hatte mir gerade die Haare gewaschen, und sie sind hoch ein wenig feucht. Aber du hörst dich an wie immer", bemerkte sie. „Dann kann es dir so schlecht nicht gehen." „Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen. Dein loses Mundwerk ist es, was dich in diese Schwierigkeiten gebracht hat." „Wie bitte?" „Ein Mann überfällt und entführt eine Frau nicht ohne Grund." Lynn traute ihren Ohren nicht. „Du willst damit doch nicht sagen, ich hätte mir das alles selbst zuzuschreiben?" „Nein, Liebling, das meint er nicht", versicherte ihr ihre Mutter schnell. „Sprich nicht für mich, Frau." Zum ersten Mal kümmerte sich ihre Mutter nicht darum, was er sagte. „Er hat sich solche Sorgen um dich gemacht. Es ist nur die Chemotherapie, die ihn so grantig werden lässt." Ihr Vater hatte sich abgewandt, starrte auf den Fernseher, als wäre sie gar nicht mehr da. „Nein, Mom, das ist nicht der Grund. So ist er schon immer gewesen. Ich wusste, ich hätte
nicht herkommen sollen. Aber es ist ja noch nicht zu spät, den Fehler zu berichtigen." Lynn küsste ihre Mutter auf die Wange und eilte zur Tür. Sie wollte nur noch aus dem Haus, ehe sie in Tränen ausbrach. „Pass auf dich auf", rief ihr ihre Mutter hinterher. „Ich melde mich bei dir." Als Lynn draußen war, fiel ihr ein, dass sie sich ein Taxi rufen musste. Per Handy bestellte sie eines und wartete am Straßenrand. Die herzlose Bemerkung ihres Vaters ging ihr nicht aus dem Sinn. Selbst Nathan hatte mehr Mitgefühl gezeigt. Gegen ihren Willen liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Als ein gelbes Taxi heranrollte, wischte sie sie rasch mit dem Handrücken fort. Sie wünschte sich, Blade wäre jetzt bei ihr und würde sie in die Arme nehmen. Auf sie aufpassen ... Nathan hatte gesagt, sie solle auf sich aufpassen. Das überraschte sie. Sie und ihr Exschwager hatten einander noch nie wirklich gemocht, waren jedoch ihrer Schwester wegen höflich miteinander umgegangen. Vielleicht verdient er doch eine zweite Chance, ging es ihr durch den Kopf. Sie nahm sich fest vor, Dani anzurufen und mit ihr über Nathan zu reden. Und auch über Blade musste sie noch einmal nachdenken. Hatte der negative Einfluss ihres Vaters vielleicht dahin geführt, dass sie zu allen Männern, die sich für sie interessierten, unfair gewesen war? Hatte sie an ihnen immer nur das Schlechte gesehen? Vielleicht auch bei Nathan? Erschrocken fragte sie sich, ob sie durch ihre Voreingenommenheit vielleicht Danis Ehe zerstört hatte. Sie hoffte, nicht. Das war niemals ihre Absicht gewesen. „Sagen Sie, senorita, kann es angehen, dass Ihnen ein Freund folgt?" riss die Stimme des Fahrers sie aus ihren Gedanken. „Wie bitte?" Sie fuhr herum, starrte aus dem Rückfenster und sah einen silberfarbigen Wagen. Er war jedoch zu weit entfernt, als dass sie den Fahrer erkennen konnte. „Wieso kommen Sie darauf, dass der Wagen uns folgt?" „Seit Sie eingestiegen sind, hängt er hinter uns. Kam aus einer Seitenstraße." „Das kann nur Zufall sein." Aber als sie dann abbogen, nahm der andere Wagen dieselbe Strecke, und Lynns Pulsschlag beschleunigte sich. Konnte es der Mann sein, der sie überfallen und entführt hatte, der nur auf eine weitere Chance wartete? Wir sehen uns wieder... „Er ist immer noch hinter uns", bemerkte der Fahrer. „Ich weiß, ich weiß." War der Mann mit dem Hauptschlüssel des Wachmanns in ihr Apartment gekommen und hatte ihr kleines Adressbuch gefunden, das neben ihrem Computer lag? Hatte er dann darauf gewartet, dass sie am Haus ihrer Eltern auftauchte? Lynn hämmerte das Herz in der Brust, und ihr rauschte das Blut in den Ohren. Sie bekam kaum noch Luft. „Biegen Sie rechts ab, dann sehen wir, ob er uns weiterhin folgt", stieß sie hervor. „Si, senorita." Sie drehte sich im Sitz um. Der andere Wagen klebte immer noch an ihnen. „Wir werden tatsächlich verfolgt." Lynn versuchte einen klaren Kopf zu bewahren. Sie war zu ihren Eltern gefahren, ohne ihre Verkleidung, und hatte ihm damit direkt in die Hände gespielt. „Können Sie ihn abschütteln?" Der Fahrer warf ihr ein Lächeln zu. „Für Sie selbstverständlich, senorita." Das Taxi schoss vorwärts, und Lynn musste sich festhalten, als der Wagen um die nächste Ecke schleuderte und dabei fast ein entgegenkommendes Fahrzeug rammte.
Der Taxifahrer hielt kaum am nächsten Stoppschild, dann bog er scharf um die Ecke ab in die Western Avenue. „Fahren Sie einen Umweg!" rief ihm Lynn zu. „Bringen Sie ihn nicht in die Nähe von Bucktown!" Der Fahrer schob umgehend seinen linken Arm aus dem offenen Fenster, setzte sich vor einen Wagen, der neben ihnen fuhr, und blinkte links. „He, das können Sie nicht!" keuchte Lynn. „Sie befinden sich auf der rechten Spur!" Aber anscheinend konnte er doch. Bremsen kreischten, als er gegen die Vorschrift abbog. Lynn entdeckte den silbernen Wagen. Hoffentlich entkomme ich nicht meinem Widersacher, nur um dann bei einem Verkehrsunfall zu sterben, dachte sie angsterfüllt. Ihr Stoßgebet wurde anscheinend erhört. Das Taxi raste ungehindert die Straße entlang, bog dann in nördlicher Richtung in eine Einbahnstraße ab. Wenig später hielt es vor einem dreistöckigen Apartmentgebäude. Von dem anderen Auto war nichts zu sehen. Lynn atmete das erste Mal erleichtert auf, seit die Verfolgungsjagd begonnen hatte, und sank gegen die Rückenlehne. „Wo haben Sie so fahren gelernt?" Der Mann drehte sich um und grinste stolz. „Ich bin zehn Jahre Taxi in Mexico City gefahren!" Blade wurde fast verrückt, während er wartete. Warum nur hatte er sie allein gelassen? Er hätte Cass anrufen und sie bitten sollen, auf Lynn aufzupassen. Wenn ihr nun etwas zugestoßen war... Er würde nicht darüber hinwegkommen. Nicht nur wegen ihrer Schwester, sondern auch weil er sich mehr und mehr zu ihr hingezogen fühlte. Lynn war eine attraktive Frau, aber das war nicht der einzige Grund. Ihr Bestreben, anderen zu helfen, imponierte ihm. Vor allem, da sie ihre Unterstützung nicht nur Menschen mit einem dicken Bankkonto gewährte. Der dumpfe Druck in seinem Magen würde stärker. Trotzdem blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten. Er wusste ja nicht einmal, wann sie fortgegangen war. Und er war länger weg gewesen, als er vorgehabt hatte. Sie ist erwachsen, sagte er sich, sie trifft ihre eigenen Entscheidungen. Als er endlich einen Wagen heranfahren hörte, eilte er zum Fenster und schaute hinaus. Es war ein Taxi. Blade warf sich in den Sessel, umklammerte die Lehnen und lauschte angestrengt Lynns Schritten auf der Treppe. Dann war es mit seinem Vorsatz vorbei, darauf zu warten, bis sie zu ihm kam. Er sprang auf und war im nächsten Moment durchs Badezimmer in ihrem Raum. Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, saß er zurückgelehnt auf ihrem Sofa, die Arme vor der Brust verschränkt. Und zwang sich zur Ruhe. Lynn öffnete die Tür, erstarrte und stieß einen spitzen Schrei aus. Dann erst erkannte sie ihn. „Blade, was machst du denn hier?" „Viel wichtiger ist noch - wo bist du gewesen!" Sichtlich beunruhigt, wurde sie rot. „Ich hatte dir einen Zettel hingelegt, dass..." „Ich dachte, du wolltest dich ein wenig hinlegen und schlafen." „Das war deine Idee." „Und eine verdammt gute." Lynn schlug die Tür zu und kam näher. „Hör auf, mir vorzuschreiben, was ich tun soll. Du bist nicht mein Boss!" Ihr Ton gefiel ihm nicht. „Nein, ich bin nur dein Bodyguard", erwiderte er ruhig. Sie warf ihren Hut aufs Sofa. „Nun, dann benimm dich auch wie einer!" Das klang herablassend, aber Lynn war aufgewühlt, wie er sah. Er riss sich zusammen.
„Ich dachte, genau das täte ich. Schließlich versuche ich für deine Sicherheit zu sorgen. Aber wie soll ich das, wenn du nicht einmal im Haus bleibst, wenn ich kurz fortgehe? Ein Krimineller gibt seinem Opfer keine Verschnaufpause." Lynn brach in Tränen aus. Blade sah sie entgeistert an. Was zum Teufel war passiert? Vergeblich bemühte sie sich um Fassung. Spontan streckte er die Arme aus und zog sie an sich. Noch immer schluchzend, landete sie an seiner Brust und schmiegte sich an ihn. Was passierte hier? Erst schrie sie ihn an, um im nächsten Moment wie ein Häuflein Elend vor ihm zu stehen. Er drückte sie an sich, strich ihr über den Rücken, bis das Schluchzen aufhörte und sie nur noch leicht zitterte. „Er... war dort, am Haus meiner Eltern, und hat auf mich gewartet", erzählte sie stockend. „Sicher war er es, der den Wachmann niederschlug. Er war in meinem Apartment und hat sich mein Adressbuch geholt..." „Wir müssen es Stella erzählen." Lynn nickte. „Ich wollte keinen Ärger heraufbeschwören. Ich hatte nur vor, nieine Eltern zu besuchen und zu sehen, wie es ihnen geht. Deswegen hatte ich auch meine eigene Kleidung an, um sie nicht zu schockieren. Als ich dann mit dem Taxi losfuhr, folgte uns ein Wagen. Ein silberner Taurus, mit einem Nummernschild aus Illinois. PKM 363 F. Aber wir konnten ihn abhängen." „Wenn es überhaupt sein eigener Wagen war", murmelte Blade und dachte an Johnny Rincon. Ein Schauer überlief Lynn, und sie hob den Kopf. Blade sah den Kummer in ihren grauen Augen, in den Wimpern schimmerten noch die Tränen, und er wollte sie vergessen lassen, was geschehen war. Wollte ihr das Gefühl geben, sicher zu sein. Glücklich. Sein Mund näherte sich ihrem. Und für einen kurzen Moment, in dem er sich nicht beherrschen konnte und mit dem Mund ihre Lippen streichelte, hatte er das Gefühl, Lynn gehöre tatsächlich ihm. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, als wolle sie ihm noch näher sein. Ihre Brustspitzen waren hart, er spürte sie durch sein Hemd hindurch. Erregung erfasste ihn. Lynn schlang ihm die Arme um den Nacken, schob die Hände in sein Haar. Blade stöhnte auf und vertiefte den leidenschaftlichen Kuss. Sie drängte sich an ihn, seufzte an seinem Mund, all ihre Sorgen schienen vergessen. Aber er konnte es nicht. Sanft schob er Lynn von sich, gab sie jedoch noch nicht ganz frei. Enttäuschung flackerte über ihr Gesicht, dann wurde es ausdruckslos. Ihre Augen verrieten sie jedoch, wie immer. Sie war verletzt.. Verwirrt. „Du weißt, dass ich dich in Sicherheit wissen möchte, nicht wahr?" fragte er sanft. „Ja, natürlich. Um Stella einen Gefallen zu tun." „Lass Stella aus dem Spiel. Ich möchte nicht, dass dir etwas geschieht." „Ich auch nicht." „Dann wirst du nicht mehr so etwas Dummes tun, ja?" „Kommt darauf an, was du unter dumm verstehst." Mit trotziger Miene löste sie sich von ihm. Blade versuchte es mit Logik. „Wenn wir über juristische Themen sprächen, wärest du mir überlegen, oder?" „Worauf willst du hinaus?" „Dass ich mit gefährlichen Situationen und ihrer Bewältigung vertrauter bin als du." Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „ Deine Vorstellung davon, meine Situation zu bewältigen ist, nichts zu tun?"
„Dich zu beschützen, nennst du nichts tun?" „Das habe ich nicht gesagt." „Und dass ich meinen Schlaf geopfert und deine Unterlagen durchforstet habe, um eine Spur zu diesem Kerl zu finden, das war auch Nichtstun?" „Nun, nein, aber..." „Und dass ich in mein altes Viertel gefahren bin, um herauszufinden, ob jemand Johnny Rincon an dem besagten Wochenende gesehen hat- auch das ist nichts?" Sie musterte ihn einen Moment lang. „Warum hast du mir nicht erzählt, was du vorhattest?" fragte sie schließlich. „Weil ich vermutete, du würdest dann mitkommen wollen. Was ich dir nicht gestattet hätte, nebenbei gesagt." „So?" „Zu deinem eigenen Besten." Sie schluckte, öffnete den Mund, klappte ihn aber gleich wieder zu. Blade wollte sich nicht streiten. „Wir müssen erst in einer Stunde zur Arbeit und könnten beide ein wenig Ruhe gebrauchen. Aber missversteh das bitte nicht dahingehend, dass ich dir vorschreiben will, was du zu tun hast." Damit verließ er Lynn und fragte sich auf dem Weg in sein Apartment, ob sie aus ihrem Schrecken an diesem Nachmittag wohl etwas gelernt hätte, so entschlossen, wie sie war, auf eigenen Füßen zu stehen. Aber das machte auch ihren Reiz aus. Sie hatte Mut und zeigte ihm immer wieder neue, interessante Seiten von sich. Einerseits wollte sie Verantwortung übernehmen, andererseits forderte sie seinen Schutz. Die starke körperliche Anziehung gab ihm am meisten zu denken. Verdammt, er war auch nur ein Mann. Er wusste nicht, wie lange er seine Gefühle für sie noch im Zaum halten konnte. Andererseits wollte er nicht einfach nehmen, was sie ihm anbot. Damit hätte er sie ausgenutzt, denn sie kannte nicht die volle Wahrheit über den Tod ihrer Schwester. Wusste sie die Einzelheiten, sie würde ihn mit anderen Augen ansehen. Ihn vielleicht sogar hassen. Blade wollte nicht, dass sie diese Wahrheit erfuhr. Niemals. Nachdem er in der North Side herumgefahren war, bis ihm der Sprit ausging, hatte er den verdammten Wagen einfach stehen lassen. Nicht, ohne vorher alle Fingerabdrücke abzuwischen. Genau wie er erwartet hatte, dass sie zurück in ihr Büro fahren würde, hatte die Schlampe auch ihre Eltern besucht. Aber nun war sie vorgewarnt und würde wohl keinen Fuß mehr in das Haus setzen. Doch wo sollte er sie suchen? Erinnerte sie sich vielleicht doch an irgendetwas, das die Polizei zu ihm führte? Die Frage stellte er sich immer wieder. Er hatte ihr Angst einjagen wollen - seine Spezialität -, damit sie begriff, welche Fehler sie begangen hatte. Er wollte ihr eine Lektion erteilen, die sie nie mehr vergaß. Er wollte erreichen, dass sie vor ihm auf die Knie ging und um ihr Leben bettelte. Vielleicht, wenn er hätte sicher sein können, dass er sie gebrochen hatte, würde er sie geschont haben. Davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Nicht, wenn sie ihm immer wieder entwischte. Nicht, wenn sie ihm immer wieder den Triumph nahm. Stella Jacobek wusste mit Sicherheit, wo sie sich verkrochen hatte. Es spielte eigentlich keine Rolle, dass sie ein Bulle war, oder? In erster Linie war sie eine Frau. Dieser Gedanke gefiel ihm. Er lächelte. Bestimmt gab es einen Weg, sie zum Reden zu
bringen.
8. KAPITEL „Drei wilde Buben aus einem der Vororte verliefen sich bei dem Versuch, Chicago zu durchqueren. Also beschlossen sie, in drei verschiedene Richtungen zu gehen, um Hilfe zu holen", erklärte Cassandra dem Freiwilligen, der zu ihr auf die Bühne gekommen war. „Derjenige, dem dies als Erstem gelang, würde die anderen retten kommen." Cass nahm die ersten drei Karten von dem Stapel, den sie in der Hand hielt. „Auf geht's." Cass schlägt die Leute wirklich in Bann, dachte Lynn, als sie ein Bier vor einen Gast hinstellte. Er starrte auf Cass und grinste dabei wie ein Idiot Die anderen Männer verhielten sich ähnlich. Selbst diejenigen in weiblicher Begleitung. „Also, Sir, würden Sie bitte nun einen der Buben obenauf, den anderen in die Mitte und den letzten nach unten legen?" bat Cass. „Danach heben Sie einmal ab." Lynn schaute hinauf zu Cass, die mit einem Zauberstab über den Kartenstapel strich, eine kleine Show abzog, schließlich den Stapel umdrehte und die Karten auffächerte. Alle drei Buben lagen in der Mitte beisammen. „Es sieht so aus, als hätten die drei Freunde sich wieder gefunden und wären alle zusammen in den Club Undercover gekommen, um zu tanzen und heiße Musik zu hören! Maestro!" rief sie dem DJ zu. Im nächsten Augenblick dröhnte Musik durch den Club, und das Publikum klatschte begeistert. Cass verbeugte sich mit einem Lächeln, genoss den Beifall sichtlich. Ihre Ausstrahlung wirkte nicht nur bei Männern, sondern auch auf Frauen. Lynn fragte sich, warum sie in diesem kleinen Nachtclub arbeitete, anstatt auf einer professionellen Bühne. Als sie zur Theke zurückkehrte und Blade ihr zwei Cocktails auf das Tablett stellte, fing er ihren Blick auf. Hitze durchströmte ihren Körper. Sie begehrte ihn, da machte sie sich nichts vor, und sie konnte nichts dagegen tun. Er dagegen schien sich völlig unter Kontrolle zu haben. Aber das letzte Mal war er ebenso erregt gewesen wie sie, und hätte er nicht die Notbremse gezogen, hätten sie beide jede Hemmung verloren. Die Kontrolle aufgeben ... das passte so gar nicht zu ihr. Wie nur war es dazu gekommen? Wenn es jemals ein Paar gab, das nicht zueinander passte, dann sie beide. „Brauchst du sonst noch etwas?" Lynn fuhr zusammen und sah auf ihr Tablett. Er hatte ihr einen Daiquiri, ein Bier und zwei Mai Tai dazugestellt. „Das ist alles", sagte sie ein wenig atemlos. Zumindest was die Getränke betrifft, dachte sie dabei. Was sie brauchte, war... ja, was? Ihn? In ihrem Leben ... ihrem Bett... in ihrem Herzen? Befindet er sich nicht schon längst dort? fragte sie sich, als sie den Tresen verließ und sich ihren Weg zwischen den stehenden Gästen in Richtung der Tische suchte. Zwei Mal hatte sie bereits in seinen Armen gelegen. Jeder andere Mann hätte die Gelegenheit genutzt, aber nicht Blade. War es wirklich nur eine Sache der Selbstbeherrschung, oder handelte er aus einem Ehrgefühl heraus? Nachdem sie die Getränke serviert hatte, nahm sie eine Essensbestellung vom Nebentisch auf, ging zur Kasse und gab die Bestellungen in den PC ein. Ihr taten die Füße weh von der ungewohnten Arbeit. „Ich brauche eine Pause", sagte sie zu Todd, dem Kellner, der sie eingewiesen hatte. „Kannst du für mich übernehmen?" „Kein Problem." Im Vorraum der Damentoilette standen ein paar bequeme Polstermöbel, genau richtig, um sich auszuruhen. Sie traf Cass an, die gerade vor einem der Spiegel ihr Make-up auffrischte. „Das Publikum war begeistert von dir", sagte Lynn und ließ sich in den smaragdgrünen Sessel fallen.
Cass puderte sich geschickt die Wangen, dann drehte sie sich schwungvoll herum. „Die Leute mögen es, wenn man mit ihnen spielt. Es war ein schlichter Amateurkartentrick, und wenn sie auch nur ein wenig aufgepasst hätten, hätten sie ihn sofort durchschaut", gab sie zu. „Leider habe ich davon nicht viel auf Lager." „Selbst beigebracht?" „Ich war einmal Max Streets Assistentin." Ihr Gesicht verdüsterte sich. „In einem anderen Leben." „Maxwell Street?" Lynn hatte seine Fernsehsendung im letzten Winter gesehen. „Seine Zaubertricks sind atemberaubend. Du warst also ..." „Und nun fragst du dich, wieso ich hier gelandet bin." Cass schaute sich im Vorraum um, um sicherzugehen, dass niemand zuhörte. „Leider bin ich auf dem Umweg über das Gefängnis hergekommen, Lynn. Man beschuldigte mich, ich hätte ein wertvolles Halsband verschwinden lassen, und ich wurde verurteilt." „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du eine Diebin bist, Cass!" „Danke." Cass zuckte mit den Schultern. „Ich habe für ein Vergehen gesessen, das ich nicht beging. Eines Tages werde ich meinen guten Namen wieder reinwaschen, glaub mir. Ich weiß nur leider noch nicht, wie. Aber ich muss es tun, wenn ich wieder erhobenen Hauptes durchs Leben gehen möchte." „Das kannst du doch jetzt schon." Lynn glaubte Cass. „Du kennst die Wahrheit, auch wenn das Gericht es anders gesehen hat." „Ja, ich kenne sie." Da das Thema Cass sichtlich bedrückte, versuchte Lynn sie auf andere Gedanken zu bringen. „Welche Zaubertricks hast du noch auf Lager?" „Es sind Illusionen", stellte Cass klar. „Keine richtigen Tricks. Man bringt das Publikum dazu, das zu sehen, was es sehen soll." „Dann bin ich auch so eine Art Illusion? Ich meine, als Melinda Parker." Cass lachte. „Mein Meisterstück." „Dann sollte ich vielleicht Kapital daraus schlagen." „Wie meinst du das?" „Ich muss mein Problem lösen, Cass, wie auch immer." „Lynn, sei vorsichtig. Lass das die Polizei erledigen, es ist ihr Job." „Die Polizei ist durch Vorschriften in der Wahl ihrer Mittel und Vorgehensweisen eingeschränkt. Ich normalerweise auch, da ich Anwältin bin. Aber in diesem Fall bin ich das Opfer, verdammt noch mal! Ich habe keine Lust, diese Regeln einzuhalten, wenn es bedeutet, dass ich kein normales Leben mehr führen kann." „Wie denkt Blade darüber?" „Ich habe es ihm noch nicht erzählt." Lynn zuckte mit der Schulter. „Einverstanden wäre er sicher nicht." Lynn musste an Maxwell Street denken, der in seiner Sendung auch Hypnose angewandt hatte. Damit hatte er Leute dazu gebracht, sich an etwas zu erinnern, das sie scheinbar längst vergessen hatten. „Schade, dass du nicht auch hypnotisierst", meinte sie zu Cass. „Wen sollte ich denn hypnotisieren?" „Mich", spaßte Lynn mit Galgenhumor. „Dann könnte ich mich vielleicht an alles erinnern, und dieser Typ würde hinter Gittern landen, ehe er seine Drohung wahr machen kann." „Dann weißt du also überhaupt nichts mehr?" „Nur ein paar Bruchstücke. Mein Gehirn will einfach nicht mitspielen." „Ich habe mich schon im Hypnotisieren versucht", bekannte Cass. Lynn starrte sie überrascht an. „Ich meinte das nur als Scherz." „Aber einen Versuch könnte es doch wert sein ..." Bei diesem Gedanken pochte Lynns Herz schneller. Wenn es funktionierte ... Andererseits
... sie pflegte sich nicht aus der Hand zu geben, Fremden keinen Zutritt zu gestatten. Allein der Gedanke, sich hypnotisieren zu lassen, nahm ihr die Luft. „Du kannst mir vertrauen", versicherte Cass ihr. Aber durfte sie sich selbst trauen? „Ich denke darüber nach." Spät in der Nacht, nachdem die letzten Gäste und die anderen Mitarbeiter gegangen waren, traf Lynn sich mit Cass und den Männern an der Bar. Gideon gab Lynn ihren neuen Ausweis. „Ich habe gehört, Sie hatten heute Nachmittag ein unangenehmes Erlebnis", sagte er. Er hatte es wohl von Blade erfahren. Sie nickte. „Jemand verfolgte mich - das heißt, mein Taxi. Aber wir konnten ihn abhängen, und mir ist nichts passiert." „Ich habe bereits das Kennzeichen überprüfen lassen", sagte Logan. „Der Wagen gehört Nachbarn Ihrer Eltern." „Bist du sicher?" fragte Blade. „Es ist eine offizielle Auskunft. Der Nachbar hat den Wagen heute Nachmittag als gestohlen gemeldet. Er hatte dummerweise den Autoschlüssel stecken lassen, als er noch einmal ins Haus ging, um etwas zu holen. Als er wieder herauskam, war der Wagen weg." „Hat irgendjemand etwas gesehen?" „Nein." Logan schüttelte den Kopf. „Der Wagen ist auch noch nicht gefunden worden. Aber sehr wahrscheinlich wird es sowieso keine Fingerabdrücke geben." Enttäuschende Neuigkeiten. So war der Kerl also immer noch hinter ihr her und würde alle Mittel einsetzen, um an sie heranzukommen. „Also, Lynn, ich habe gehört, Sie hätten eine Idee, wie Sie Ihren Entführer vielleicht identifizieren können?" sagte Gideon. „Ja. Aber zuerst: Haben Sie Zugang zu einem Tonstudio?" „Wäre wohl möglich", meinte Logan. „Wenn wir die Stimmen aller Verdächtigen auf Band hätten, könnten wir sie mit der auf meinem Anrufbeantworter vergleichen", erklärte sie. „Keine schlechte Idee", sagte Logan. „Leider ist das Ergebnis vor Gericht nicht zu verwerten." „Vielleicht nicht. Aber einen Schritt nach dem anderen. Wenn wir den Mann identifizieren können ..." „Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung", gab Gideon ihr Recht. „Dann könnten wir uns etwas überlegen, um ihn festzunageln", fügte Cass hinzu. Schließlich wurde beschlossen, Lynn mit einem Aufnahmegerät und einem Programm vertraut zu machen, das ihre Stimme verfremdete. Blade versprach, mit ihr am nächsten Tag ins Clubbüro zu kommen, um die notwendigen Anrufe zu erledigen. „Ich brauche unbedingt diese Aufnahmen", sagte sie zu ihm, als sie nach Haus fuhren. „Egal wie, und wenn ich sie persönlich besorgen muss." „Das wäre zu gefährlich", wandte Blade ein. „Meine Verkleidung schützt mich", beharrte Lynn. „Diese Männer würden mich nie erkennen, aber ich weiß, wer sie sind." „Trotzdem wärst du in Gefahr. Es ist Sache der Polizei. Du solltest dich besser ruhig verhalten und sie ihren Job erledigen lassen." Lynn ließ das Thema fallen, dachte aber weiter darüber nach. Obwohl sie sich erst ein paar Tage versteckt hielt, kam sie sich vor wie Dr. Kimble auf der Flucht. Und wenn Stella und ihre Kollegen den Mann nicht dingfest machen konnten? Dann würde sie nie mehr einen normalen Alltag haben. Und am Ende ein nervliches Wrack sein. So wollte sie nicht leben. In dieser Nacht hatte Lynn sich wieder in Blades Apartment geschlichen. Obwohl sie sich Mühe gab, lautlos zu sein, wurde er doch wach, kaum dass sie den Raum betrat. Er wartete
still, bis sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte und ihr Atem ruhig und regelmäßig ging. Dann stand er auf und betrachtete sie im Schlaf. Nun befanden sie sich im Fitnesszentrum, wo er ihr einige neue Selbstverteidigungstechniken beibrachte. Immer wieder musste er daran denken, wie verängstigt sie sein konnte, wie tapfer und dumm zugleich. „Sieh zu, dass du innerlich darauf eingestellt bist, Gewalt anzuwenden", sagte er. Entschlossen straffte sie die Schultern und betrat die Matte. Er sprang vor, packte sie und presste ihre Arme fest an ihren Körper. Aber sie war gut vorbereitet und knallte ihm ihre Ferse gegen das Schienbein. Trotz des fünf Zentimeter dicken Beinschutzes spürte er den Tritt. „Gut!" rief er, selbst als ihr Fuß niederschoss und beinahe seine Zehen zerquetschte. „Au!" brüllte er übertrieben laut. „Du meine Güte, nun habe ich dir wieder wehgetan!" Lynn drehte sich entsetzt in seinen Armen um. „Reingefallen!" Er sah, wie der Schrecken aus ihrem Gesicht verschwand und von Entrüstung abgelöst wurde. „Das war nicht witzig." „Ich habe es durchaus genossen." Das tat er wirklich. Genoss es, sie zu betrachten. Sie zu halten. „Das darfst du nicht mit mir machen. Ich habe immer noch Schuldgefühle, weil ich dich mit der Skulptur verletzt habe." „Komm, entspann dich. Das Bein ist wieder in Ordnung, fast wie neu, und du bist großartig. Nur übertrieben ... angespannt." „Ich möchte es richtig machen." „Das tust du auch." „Könntest du mich dann vielleicht loslassen?" Er gab sie frei, und ihre geröteten Wangen verrieten ihm, dass ihre Gefühle sich nicht sehr von seinen unterschieden. „Was nun?" riss sie ihn aus seinen Gedanken. „ Ich werde jetzt einen Angriff von vorn starten, aber denk daran, ich habe nur dieses eine Paar Augen!" Sie zog die Brauen hoch. „Du hast kein Vertrauen in mich?" „Ich befürchte einfach nur, dass du zu viel Enthusiasmus an den Tag legst. Du lernst schnell." „Motivation ist mein zweiter Vorname." „Bei welchem genau?" Sie runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht..." „Evelyn Cross oder Melinda Parker?" „Bei meinem wirklichen Ich." „Ich bin mir gar nicht mehr sicher, welches das ist." Sie grinste. „Vielen Dank." „Das sollte ein Kompliment sein, ehrlich. Also, probieren wir noch ein paar Griffe." Jedes Mal, wenn Blade sie anfasste, begann sein Herz zu rasen. Er nutzte jede Gelegenheit, sie zu berühren, konnte nicht genug von ihr bekommen. Wie sollte er sie jemals wieder gehen lassen? Als Lynn am späten Nachmittag das Clubbüro betrat, überfiel sie überraschend Nervosität. Lampenfieber? Vielleicht hätte sie doch Cass bitten sollen, die Anrufe zu übernehmen. Bestimmt würde sie eine grandiose Vorstellung liefern. Aber es war für Lynn wichtig, dass sie ihr Leben wieder in die eigenen Hände nahm. Sie musste sich beweisen, dass sie im Angesicht der Gefahr nicht hilflos war.
Sie legte ihre Unterlagen auf den Schreibtisch. „Ich hoffe, wir können mit den Verdächtigen am Arbeitsplatz telefonieren." „Wenn nicht, versuchen wir es später noch einmal bei ihnen zu Haus", meinte Blade. „Oder morgen." Morgen ... Wie viele Morgen würde es noch für sie geben? Der einzige Trost bei der ganzen Angelegenheit war, dass sie mit Blade zusammen sein konnte. Sobald der Kerl erwischt war, würde sie Blade aber vielleicht nie wieder sehen. Daran mochte sie gar nicht denken. In diesen wenigen Tagen war er ihr Halt geworden, ein wichtiger Teil ihres Lebens. „Starten wir zuerst das Sprachumwandlungsprogramm", sagte Blade und schaltete den Computer an. Er setzte sich das Headset auf und reichte ihr ebenfalls eins. Ein paar Versuche, und sie konnten loslegen. Ihre Stimme klang nun höher und heller als normal. Dennoch spürte sie einen leichten Druck im Magen, als sie das Polizeirevier anrief. „Chicago Police Department, Abteilung drei, Sergeant Thomas am Apparat. " „Sergeant Roger Wheeler, bitte." „Einen Moment." Lynn, die gedämpfte Stimmen im Hintergrund hörte, leckte sich nervös die trockenen Lippen und tippte mit den Fingernägeln gegen die Schreibtischkante. Und während sie wartete, ging sie noch einmal in Gedanken ihre Geschichte durch. Aber als der Sergeant wieder an den Apparat kam, wartete eine Enttäuschung auf sie. „Er ist gerade nicht hier. Versuchen Sie es in einer Stunde noch einmal." Lynn legte auf und stieß den Atem aus. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. „Niemand da." „Du siehst ein wenig blass aus", sagte Blade. „Soll ich es nicht besser übernehmen?" Lynn wurde rot. Wie immer, nahm er Rücksicht auf ihre Gefühle. Aber hierbei konnte er ihr nicht helfen, höchstens sich um die technische Ausrüstung kümmern. „Ich muss selbst auch etwas tun", bekräftigte sie. „Und ich werde durchaus mit Wheeler und den anderen fertig. Schließlich geschieht alles nur übers Telefon." „Bitte vergiss nicht, dass du nicht allein dastehst." Er drückte ihr die Hand, und ihr wurde warm. „Das weiß ich, und dafür bin ich auch dankbar, Blade. Aber ich habe nachgedacht und nachgedacht und weiß nun, ich kann nicht in der Ecke hocken und darauf warten, dass andere die Dinge für mich erledigen. Das habe ich vielleicht vor ein paar Tagen gewollt, aber da war ich noch voller Angst. In Wirklichkeit bin ich nicht so." „Das brauchst du mir nicht zu sagen. Ich weiß, wer du bist." Einen Moment lang fühlte sie eine so starke Bindung zu ihm, dass es ihr den Atem nahm. Noch nie zuvor hatte sie einen Mann wie Blade Stone gekannt. Oder wenn ja, dann musste sie Scheuklappen getragen haben. Mittlerweile waren ihre Augen weit offen, und sie hatte nicht vor, sie wieder zu verschließen. Als sie bemerkte, dass sie ihn anstarrte, räusperte sie sich und murmelte: „Es ist wohl besser, die anderen Anrufe zu erledigen, ehe es zu spät ist." Ihr nächster Anruf galt Victor Churchill, aber seine tüchtige Sekretärin fing sie ab, wollte ihren Namen und die Nummer wissen, unter der sie erreichbar war. „Danke, ich versuche es später noch einmal." Lynn verzog das Gesicht und wählte die nächste Nummer. „Hoffentlich klappt es bei diesem Kandidaten." „Du wirst sicher nicht aufgeben." Davon war Blade überzeugt. „Nein, bestimmt nicht." Diesmal hatte sie Glück. Ja, Timothy Cooper sei im Haus, und ja, er würde mit ihr sprechen.
„Cooper." „Mr. Cooper, hier spricht Rachel Franklin." „Ja?" „Ich arbeite für Sunshine Kitchens." „Wen?" Lynn begegnete Blades Blick und zuckte mit den Schultern. Konnte der Mann nicht wenigstens einen zusammenhängenden Satz sprechen? „Wir haben eine neue Kollektion von Gewürzen und Dressings entwickelt und ..." „Nein." „Sicherlich gibt es in dieser Hinsicht doch etwas, was Sie ..." „Ja, dass Sie auflegen, damit ich weiterarbeiten kann." Damit beendete er das Gespräch. Frust packte Lynn. „Reicht das?" Er zuckte mit den Schultern. „Das müssen wir erst einmal abwarten." Sie nickte und wählte Johnny Rincons Nummer. Der Anschluss war gesperrt. „Wie kann man kein Telefon haben?" beschwerte sie sich bei Blade. „Dank der Handys ist das nicht mehr unbedingt nötig. Er besitzt bestimmt eins, wenn vielleicht auch nicht auf seinen Namen." Lynn versuchte es nochmals bei Churchill, aber er war immer noch nicht zurück. Dann wählte sie wieder Wheelers Nummer. Drei Mal klingelte das Telefon, ehe abgenommen wurde. „Abteilung für Gewaltkriminalität." In ihrer sanftesten, damenhaftesten Stimme flötete sie: „Detective Roger Wheeler bitte." „Am Apparat." Sie blickte Blade an und hob den Daumen. „Hier spricht Rachel Franklin von der Lake Shore Ladies' League." „Was kann ich für Sie tun, Miss Franklin?" „Mrs. Franklin, bitte." „Was kann ich für Sie tun?" wiederholte er. „Unsere Interessengemeinschaft ist sehr besorgt wegen der Verbrechen." „Sie möchten ein Verbrechen melden?" „Wir möchten es verhindern." „Ich benötige Einzelheiten." „ Ich möchte Sie bitten, unserer Damengruppe einen Vortrag über die Sicherheit auf unseren Straßen zu halten." „Was soll ich?" Wheeler hörte sich genervt an. „Ich habe hier wichtige Fälle zu bearbeiten. Rufen Sie die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit an." Damit war das Gespräch abrupt beendet. „Unhöflicher Klotz!" meinte Blade. „Die Zeit reicht doch, oder?" „Er hat eine Menge mehr gesagt als dieser Kerl auf dem Anrufbeantworter." Lynn seufzte erleichtert auf. „Zwei erledigt, bleiben noch zwei. Wenn ich doch nur zu Victor Churchill durchkäme. Macht seine Sekretärin denn niemals Kaffeepause?" „Mehr als probieren kannst du nicht." So versuchte sie es nochmals. Wieder Fehlanzeige. „Vielleicht gibt es einen anderen Weg, an Churchill heranzukommen." „Und welcher?" „Maria Savage ist am Freitagabend hier", sagte sie und dachte daran, den Auftritt der Jazzsängerin für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. „ Ich war schon auf einem ihrer Konzerte. Sie wird bestimmt einmal berühmt, und der Club bekommt ordentlich Reklame. Churchills Exfrau zufolge liebt er es, mit seinen Freunden einen netten Abend zu verbringen. Wie wäre es, wenn wir ihm eine VIP-Einladung schicken, sagen wir für... sechs Leute?"
„Du willst einen Verdächtigen direkt hierher bringen?" „Was bleibt mir anderes übrig?" „ Du unterschätzt die Gefahr." „Er wird mich nicht erkennen." „Ich dachte, du wolltest deine Informationen nur per Telefon einholen?" „Ich habe meine Meinung geändert." „Du wirst nicht dicht genug an ihn herankommen." „Aber irgendjemand muss an ihn heran, um seine Worte aufzunehmen. Niemand beachtet Kellnerinnen." „Außer, sie sehen so aus wie du." Lynn lächelte ihn an und ignorierte seinen Einwand einfach. „Abgemacht?" „Vielleicht ist Gideon nicht einverstanden ..." „Dann übernehme ich die Kosten." Damit war das Thema für sie erledigt. „Was machen wir mit Johnny Rincon? Ich kann Carla schlecht anrufen und sie um seine Handynummer bitten. Falls sie sie überhaupt hat." „Versuch es im Skipper's. In der Kneipe hängt er meistens herum." Er nannte ihr die Nummer. Lynn wählte. „Hier ist Skipper." „Klar sind Sie da", schlug sie einen flirtenden Ton an. „Johnny auch?" „Johnny wer?" Sie seufzte theatralisch. „Wer wohl? Johnny Rincon." „Nein. Hab ihn heut auch noch nicht hier gesehen. Wenn Sie wollen, hinterlassen Sie eine Nachricht." „Ich versuche es später wieder, Süßer." Sie legte auf und blickte Blade an. „Heute scheint nicht mein Tag zu sein." „Rincon wird schon noch auftauchen. Skipper's ist nämlich sein zweites Zuhause." „Oder... ich schicke ihm ebenfalls eine Einladung." „Das ist keine gute Idee." Auch wenn leichte Beklommenheit sie befiel, so beharrte sie: „Doch, ich denke schon." „Johnny ist gefährlich." „Ich möchte endlich wieder mein normales Leben führen. Außerdem, selbst wenn er mich erkennt - was nicht der Fall sein wird -, was kann er mir hier schon antun?" „Was kann er dir nicht antun, das ist die Frage!" erwiderte Blade. „Wir haben die Möglichkeit übers Telefon noch nicht ausgeschöpft. Morgen Nachmittag erreichst du vielleicht sowohl Churchill als auch Rincon." „Und wenn nicht?" Sein Gesicht verdüsterte sich, und er presste kurz die Lippen zusammen. „Du solltest dir die Sache mit dem Konzert noch einmal durch den Kopf gehen lassen." Es war klar, für wie gefährlich er Johnny Rincon hielt. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, und plötzlich bekam sie Angst vor der eigenen Courage. „Also gut, ich denke darüber nach." Aber sie wusste auch, letztendlich würde sie alles tun, damit sie in ihr altes Leben zurückkehren konnte.
9. KAPITEL Als Blade am Abend Drinks mixte, versuchte er sich einzureden, dass Lynn auf ihn hören würde. Sie ahnte nicht, was für ein Dreckskerl Johnny Rincon war. Zu schade, dass sie ihn nicht telefonisch erreichen konnte, denn dann hätten sie jetzt vielleicht schon Sicherheit, was ihn anbetraf. Die Bänder mit den Stimmen von Cooper und Wheeler hatten sie Logan bereits übergeben. Morgen würden sie Näheres wissen. Da fiel Blade ein, dass er sich noch nicht wieder bei Leroy gemeldet hatte. So begab er sich in seiner ersten Pause ins Büro und rief ihn von Logans Telefon aus an, aber er war nicht zu Haus. Blade wählte die Nummer vom Skipper's und gab seine Geschichte zum Besten, dass er Leroy wegen des Wagens sprechen müsste. Als Carlas Cousin an den Apparat kam, spielte er gleich richtig mit. „Ich habe vielleicht eine Corvette gefunden. Allerdings ist die Sache ein wenig unsicher." Blade wusste, der Mann musste vorsichtig sein, was er sagte, falls jemand Johnny Rincon Bericht erstattete und dieser Verdacht schöpfte. Im Hintergrund war es still, sehr wahrscheinlich hörte die ganze Bar dem Gespräch zu. „Du hast also mit jemand gesprochen, der weiß, wo Johnny sich das letzte Wochenende aufgehalten hat?" fragte er. Leroy lachte. „Ja, ich weiß, eine Corvette ist tiefer gelegt und schön schnell... wie manche Frauen." „Johnny war mit einer Frau zusammen?" „Genau das habe ich gehört." „Aber selbst bestätigen kannst du es nicht?" „Leider nicht. Technische Einzelheiten sind noch nicht verfügbar." „Du willst sagen, dass niemand Johnny am Wochenende persönlich mit dieser Frau gesehen hat? Dass nur vermutet wird, dass er sich irgendwo mit ihr ins Bett verzogen hat?" „So ist es. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Wenn du willst, bleib ich am Ball." Da Blade nicht wollte, dass Leroy in echte Schwierigkeiten geriet, sagte er: „Lass die Sache sausen. Du hast genug getan." „Na schön, wenn du wirklich kein Interesse hast... Dann viel Glück woanders." In noch schlechterer Stimmung als zuvor machte Blade sich auf den Rückweg an die Bar. Stella Jacobek wartete dort auf ihn. Er schenkte ihr ein Bier ein und stellte es vor sie hin. Da tauchte auch Lynn auf. „Wie laufen die Ermittlungen?" erkundigte sie sich. „Wir sind die Liste der Verdächtigen durchgegangen und konnten alle überprüfen, bis auf einen, der sich im Ausland aufhält. Ich muss sagen, keiner dieser Typen hat einen sonderlich guten Eindruck auf mich gemacht. Aber alle hatten ein Alibi." „Einschließlich Johnny?" fragte Blade und beobachtete Lynns Reaktion. Aber als Stella sagte: „Besonders Johnny", zeigte sie keine Regung. Was immer sie dachte, sie behielt es für sich. Stella fügte hinzu: „Drei seiner Kumpel haben ihn Poker spielen sehen. Die ganze Samstagnacht." Blade schüttelte den Kopf. „Leroy erzählt etwas anderes." „Leroy? Du hast Leroy eingespannt? Weißt du, wie viele hungrige Mäuler er zu stopfen hat?" „ Ich habe ihm gesagt, er soll die Sache fallen lassen. Aber er hat gehört, dass Johnny sich das ganze Wochenende über mit seiner neuen Puppe verzogen hatte. Und doch hat ihn keiner gesehen." „Hört sich nicht schlecht an", meinte Stella grinsend. „Das könnte endlich der Nagel zu seinem Sarg sein." „Moment", sagte Lynn, „Sie meinen, er könnte es gewesen sein?"
„Außer, er kommt uns mit einem wasserdichten Alibi ..." „Hör zu, Stella", unterbrach Blade sie. „Johnny ist gefährlicher als je zuvor. Lass das jemand anders erledigen ..." „Blade, bitte! Keine Ratschläge." „Darin ist er klasse", sagte Lynn. Stella hatte aufgehört zu lächeln, ein harter Ausdruck lag nun auf ihrem Gesicht. „ Ich bin kein Kind mehr. Seit langer, langer Zeit versuche ich diesem Mistkerl etwas nachzuweisen." Blade hatte ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, dass sie ihren alten Feind festnageln wollte. „Versprich mir, kein unnötiges Risiko einzugehen. Und auch, dass du nichts allein unternimmst." „Versprochen." Gleich ging es ihm wieder besser. Lynn und er berichteten ihr von den Anrufen, und als er erzählte, dass Lynn vorhatte, am nächsten Tag ins Gericht zu gehen, versprach Stella, die Sicherheitsvorkehrungen im Gebäude verstärken zu lassen. Ein Gast winkte, und Lynn ging, um seine Bestellung aufzunehmen. Blade blieb mit Stella allein an der Bar. „Also, was gibt es Neues bei dir?" erkundigte er sich. Sie grinste. „Woher weißt du davon?" „Bisher wusste ich gar nichts. Wie heißt er?" „Hugh Keaton." „Er scheint dich richtig zu behandeln." „Wir sind uns heute zufällig über den Weg gelaufen", berichtete sie. „Wortwörtlich. Vor einem Laden sind wir beinahe zusammengeprallt. Und nun treffe ich mich gleich mit ihm." Blade hob eine Augenbraue. „Tu nichts, was ich nicht auch tun würde." Stella lächelte noch breiter, während sie vom Hocker rutschte. „Das lässt viel Raum ..." „Morgen kannst du mir erzählen, wie viel." In ihrer Pause wollte Lynn ein paar Anrufe erledigen, und Gideon gestattete ihr, sie von seinem Büro aus zu führen. Sie hockte sich auf die Schreibtischkante und streifte die hochhackigen Sandaletten ab. Ihre Schuhe waren wirklich nicht zum Servieren geeignet, und sie bedauerte es längst, sich nicht irgendetwas Vernünftiges gekauft zu haben. Während sie ihre Büronummer wählte, massierte sie mit der freien Hand ihren schmerzenden Spann. Keine geflüsterten Nachrichten. Erleichtert rief sie Julie Wheeler an und bestätigte ihr den morgigen Gerichtstermin. Sie versicherte der nervösen Frau, dass sie persönlich kommen und alles in ihrer Macht Stehende tun würde, damit sie ein gutes Scheidungsurteil erreichten. Dann rief sie in ihrem Apartment an und hörte ihren Anrufbeantworter ab. Es war nur eine Nachricht ihrer Freundinnen darauf, die gerade auf Hawaii Urlaub machten und sich um sie sorgten. Sie hatten irgendwie von dem Überfall auf sie erfahren. Ihr Verfolger hingegen blieb seltsam stumm. Eigentlich sollte sie sich freuen ... und doch hatte sie ein ungutes Gefühl. Was hatte er vor? Sie versuchte die beunruhigenden Gedanken zu verscheuchen und wählte die Nummer ihrer Eltern. Wie immer, nahm ihre Mutter ab. „Hallo, Mom, wie geht es euch?" „Fein, danke." Aber danach hörte es sich überhaupt nicht an. „Was ist los, Mom?" „Gar nichts." „Mom ..."
„Nathan ist hier." „Schon wieder?" Lynn brauchte nicht nach dem Grund zu fragen. „Du hast ihm doch nicht Danis Adresse oder Telefonnummer gegeben, oder?" „Nun ... nicht genau." Also hatte sie ihm doch irgendetwas verraten. „Aber du hast ihm erzählt, dass sie in London ist, stimmt's?," „Ja." „Sag ihm bitte nicht mehr, Mom! Nicht, bevor ich nicht mit Dani gesprochen habe und sicher bin, dass sie nichts dagegen hat, wenn Nathan Kontakt mit ihr aufnimmt." Als ihre Mutter nicht antwortete, schloss sie die Augen. „Lass mich mit Nathan reden." „Na schön." Lynn hörte, wie sie ihn ans Telefon rief. Sie versuchte sich zu entspannen und dachte daran, ein schönes warmes Fußbad zu nehmen, wenn sie nach Haus kam. Dann sagte Nathan: „Hallo, Evelyn." „Nathan, ich habe über unsere Unterhaltung nachgedacht..." „Und?" fragte er gepresst. „Und nun beschlossen, dass ich Dani anrufe und ihr weitererzähle, was du mir gesagt hast." Er lachte und schien erleichtert. „Bestimmt wirst du es nicht bereuen, das verspreche ich dir." „Aber ob sie mit dir reden will oder nicht, ist ganz allein ihre Sache." „Klar." „Deswegen möchte ich dich bitten, bis dahin darauf zu verzichten, Informationen aus meinen Eltern herauszuholen. Das wäre ihnen gegenüber nicht fair." Ein Moment Schweigen. „Nathan?" „Ja, okay, ich halte mich zurück", lenkte er ein. Aber Lynn spürte, es gefiel ihm überhaupt nicht. „Wann wirst du Danielle anrufen?" Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. In London war es jetzt nach Mitternacht, aber ihre Schwester pflegte lang auf zu sein. Wenn sie früh ins Bett ging, schaltete sie den Anrufbeantworter ein. „Heute Abend, aber sehr wahrscheinlich werde ich eine Nachricht hinterlassen müssen." „Großartig. Danke. Ich weiß, wenn du ihr erzählst, wie sehr ich mich bemühe, sie zurückzugewinnen, wird sie bestimmt von mir hören wollen." Aber Lynn war sich nicht sicher. Noch hatte sie nicht mit seinem Therapeuten gesprochen. Und dazu hatte sie im Moment weder Zeit noch Lust. „Ich verspreche dir nichts." „Okay. Es hängt allein von Danielle ab. Das habe ich begriffen." „Schön. Gib mir noch einmal Mom." Er rief ihre Mutter. Lynn schlüpfte wieder in ihre Schuhe und zuckte zusammen, da ihre gepeinigten Füße sie schmerzten. Einen Moment später war ihre Mutter wieder am Apparat. Lynn erkundigte sich nach ihrem Vater, dann beschwor sie sie noch einmal eindringlich, weder Danis Adresse noch Telefonnummer zu verraten. Wie versprochen, rief sie anschließend Dani an, erreichte aber nur den Anrufbeantworter. Kurz berichtete sie von dem Gespräch mit Nathan. Bevor sie auflegte, fügte sie noch hinzu: „Hör zu, Dani, vielleicht habe ich mich wirklich zu sehr in eure Ehe eingemischt. Möglicherweise habe ich dir einen falschen Rat gegeben. Ich hätte mich wohl aus allem heraushalten sollen. Es tut mir aufrichtig Leid ..."
Damit legte sie auf. Ihre Hand zitterte. „Schlechte Neuigkeiten?" Lynn fuhr herum. „Blade! Ich habe dich gar nicht kommen hören." „Stimmt was nicht?" „Es hat nichts mit meiner Entführung zu tun", versicherte sie ihm rasch. „Familienangelegenheiten." „Ich bin ein guter Zuhörer." „Danke." Lynn verspürte nicht das Bedürfnis, ihm ihre Schuld an der Scheidung ihrer Schwester eingestehen zu müssen. Das würde nur zu weiteren Fragen führen. Zu ihrem Glück klingelte das Telefon. „Willst du nicht abnehmen?" Blade griff zum Hörer. „Club Undercover." Er lauschte einen Moment, dann gab er dem Anrufer Anweisungen. Lynn nutzte die Gelegenheit zu verschwinden. Ihre kummervolle Miene ging Blade nicht aus dem Sinn. Was bedrückte Lynn? Doch da es eine Familienangelegenheit war, wollte er sie nicht weiter bedrängen. Dazu hätte er während der Arbeit sowieso kaum Gelegenheit gehabt. Der Club war voll, auf der Tanzfläche bewegten sich dicht gedrängt die Gäste. Die Musik dröhnte, und über die riesige Leinwand zuckten Videoclips. Es wurde reichlich getrunken, nicht nur an der Bar, sondern auch im VIP-Bereich, der auf Straßenniveau lag. In den letzten Monaten waren die Umsätze stetig hoch gegangen, Gäste kamen selbst aus den Vororten, und Blade wusste, Gideon hatte einen richtigen Hit gelandet. So war es kein Wunder, dass Lynn ziemlich erschöpft wirkte, als sie im Morgengrauen den Club verließen. „Du humpelst ja", bemerkte Blade. „Diese Schuhe sind wirklich nicht die richtigen für einen solchen Job. Ich möchte nicht wissen, wie viele Blasen ich habe ..." „Vielleicht solltest du einem Schuhgeschäft einen Besuch abstatten." Lynn stöhnte nur, blieb kurz stehen und zog sich die Sandaletten aus. Es folgte ein Seufzer der Erleichterung, und den Rest des Wegs zum Wagen ging sie barfuß. Gleich nach der Ankunft zu Haus ließ Blade Wasser in die Badewanne ein. „Und sag mir Bescheid, wenn ich dir den Rücken schrubben soll", rief er ihr durch die Tür zu. Wieder stöhnte Lynn, und es platschte, als sie sich in die Wanne gleiten ließ. Einen Moment lang stellte er sich vor, wie er sie einseifte, ihren Rücken ... ihre Taille ... andere Stellen ihres Körpers ... Er riss sich zusammen, der Name Cross erschien in großen Lettern vor seinem geistigen Auge. Das Bild einer Frau drängte sich in seine Erinnerung. Wieder sah er ihre leblose schlanke Gestalt auf der Straße liegen, ihr Gesicht von blonden Haaren verborgen. In diesem Augenblick hatte er begriffen, welchen Fehler er begangen hatte. Die Szene war in sein Gehirn eingebrannt, er würde sie niemals vergessen können. So als wäre alles gerade eben geschehen. Er hätte getötet werden können, wäre ihm sein Kollege nicht zu Hilfe gekommen. Er selbst war verwundet gewesen, war herumgewirbelt, hatte geschossen, als er ein Geräusch hinter sich hörte - und eine unschuldige Frau getroffen, die zufällig in die Razzia geraten war... Wochen hatte seine Genesung gedauert. Wochen, in denen ihm nichts zu tun blieb, als zu grübeln, während die Behörden alles taten, die misslungene Geheimoperation zu vertuschen. Wochen, in denen ihn Schuldgefühle quälten, bis ihm klar wurde, dass er nicht weitermachen, nicht länger bei der Spezialeinheit bleiben konnte, weil ihm der Gedanke unerträglich war, vielleicht nochmals einen Unschuldigen zu verletzen oder zu töten.
Danach war seine militärische Karriere beendet gewesen. Und nichts hatte ihm diese Schuldgefühle nehmen können. Nichts bis jetzt... aber vielleicht.... wenn er Lynns Sicherheit garantierte ... Die Badezimmertür öffnete sich, und Lynn steckte den Kopf heraus. „Soll ich dir nun Wasser einlassen?" Er hatte Mühe, in die Gegenwart zurückzukehren, sah einen Moment ihre Schwester vor sich. Dann verscheuchte er das Bild und sagte: „Danke, nein. Wie geht es deinen Füßen?" „Ein wenig besser." „Komm, ich massiere sie dir." „Eine Fußmassage?" Es klang vorsichtig und erfreut zugleich. „Ich habe eine Salbe, die hervorragend hilft." Noch immer zögernd, kam sie zu ihm herein, in einem Nachthemd, das knapp oberhalb ihrer Knie endete. Der dünne Stoff schmiegte sich um ihre Rundungen und klebte an all den feuchten Stellen, die sie nicht richtig abgetrocknet hatte. Er bekam einen trockenen Mund, mied ihren Blick und sagte: „Setz dich." „Wohin?" „Aufs Sofa." Nachdem er die Salbe aus dem Badezimmer geholt hatte, setzte er sich neben sie und bat sie, ihre Füße in seinen Schoß legen. Zuerst gab er die kühle Creme auf den einen Fuß, dann auf den anderen. Neugierig schaute sie auf das Glastöpfchen. „Da steht ja gar nichts drauf", sagte sie. „Was ist das?" „Mein irokesischer Großvater hat mir die Zubereitung beigebracht, als wir zusammen auf der Jagd waren." Er verteilte die Salbe auf dem linken Spann. „Wir sind eine Woche marschiert, und ich habe es nur hiermit durchgehalten." Nach den Zehen massierte er ihren Ballen und arbeitete sich hoch bis zur Ferse. Ihr Fuß bebte leicht unter seinen Berührungen, und er hatte Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was er tat. Anstatt an das zu denken, was er viel lieber getan hätte ... Lynn seufzte wohlig. „Wenn ich danach wieder schmerzfrei gehen kann, bist du ein Genie." „Es hilft tatsächlich", versicherte er ihr mit leicht gepresster Stimme. Wie gern würde er weitermassieren, ihren Knöchel, die Wade, ihr Knie ... „Du kannst morgen nicht humpelnd vor Gericht erscheinen." Er begann mit dem rechten Fuß. Wieder stöhnte Lynn lustvoll. „Wegen der Gerichtsverhandlung mache ich mir keine Sorgen." „Das solltest du aber." „Ich habe doch dich, der sich Sorgen um mich macht", murmelte sie lächelnd, und ihre Lider flatterten und schlössen sich. „Und der mir Sicherheit garantiert." Er wollte viel mehr, als ihre Sicherheit garantieren. Er wollte jeden Zentimeter ihres Körpers berühren, beginnend bei diesen langen Beinen ... Nun stöhnte er. Von Lynn kam keine Reaktion. Sie war eingeschlafen. ... Gift für eine Beziehung... Lynn rührte sich und protestierte halbherzig. ... du weißt nicht, wie es ist... bist ja nie ein Mann gewesen ... Im unruhigen Schlaf des frühen Morgens sah Lynn ihren Entführer vor sich, aber seine Gesichtszüge nur undeutlich. Sie träumte ... wachte auf ... kämpfte darum, tiefer in die Erinnerungen einzutauchen. ... verdienst den Tod... Diese geflüsterten Worte hallten noch in ihrem Kopf nach, als sie endgültig aufwachte. Sie brauchte einen Moment, um sich zurechtzufinden.
Graue Morgendämmerung fiel durch die Scheiben herein, warf dunkle Schatten im Zimmer. Sie war in Blades Wohnung. Er hatte sie auf dem Sofa liegen lassen, ihr aber ein Kissen unter den Kopf geschoben und sie zugedeckt. Er hatte sich um sie gekümmert. Wieder einmal. Leise, um ihn nicht zu wecken, erhob sie sich und schlüpfte ins Badezimmer. Als sie die Tür hinter sich schloss, hörte sie ein letztes gemeines Flüstern in ihrem Kopf. Wir sehen uns wieder...
10. KAPITEL Seit ihrem ersten Auftritt vor Gericht war Lynn nicht mehr so nervös gewesen. Sie trug ihre eigene Kleidung und hatte die blauen Strähnen aus den Haaren gewaschen und es wie gewohnt zurückgebunden. „Fertig?" fragte Blade und musterte sie noch einmal prüfend. Ob ihm ihr Aussehen gefiel, wusste sie nicht zu sagen. Er aber gefiel ihr. Blade trug eine braune Hose und ein rehbraunes Jackett. Das cremeweiße Hemd stand am Hals offen und zeigte bronzene Haut und den Lederbeutel, den er nie ablegte. Ein umwerfend gut aussehender Mann, dachte sie. „Fertig oder nicht..." Er hielt ihr die Tür auf und legte ihr dabei die Hand auf den Rücken, als wäre er ihr Begleiter und nicht ihr Bodyguard. Fast so, als wären sie zusammen ... Bei diesem Gedanken schnürte sich ihr die Kehle zusammen. Was ist los mit mir? dachte sie im nächsten Moment. Noch nie war ihr ein Mann richtig unter die Haut gegangen, nicht einmal einer von denen, mit denen sie geschlafen hatte. Ein Gedanke, der eine Kette von anderen auslöste. An jenem ersten Abend hätte sie nur zu gern mit Blade geschlafen, einfach, damit es ihr besser ging. Aber er hatte sie zurückgewiesen. Andererseits wusste sie, er fand sie attraktiv. Die Art, wie er sie manchmal ansah, verriet es ihr, besonders, wenn er dicht neben ihr stand. Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu und versuchte alle Gedanken an ihn aus ihrem Kopf zu verbannen. Auf dem Weg zum Gericht sagte sie: „Die Sicherheitsstufe im Gebäude ist erhöht worden." „Das ist gut." „Ich dachte dabei an das Messer, das du an der Wade trägst." „Keine Bange, ich werde dich nicht aufhalten." Er trug also keine Waffe. Aber Blade würde sie auch so beschützen können. „Darüber mache ich mir keine Sorgen", erwiderte sie. „Ich möchte nur nicht der Grund dafür sein, dass du irgendwelche Probleme bekommst. Noch mehr Probleme, besser gesagt", setzte sie hinzu, als sie daran dachte, welche Komplikationen sie in sein Leben gebracht hatte. „Ich bin froh, dass ich dir helfen kann." „Tust du es für Stella?" „Nein, für Evelyn Cross." Welch eine seltsame Antwort, dachte sie. Warum sagte er nicht: für dich? Stattdessen: Evelyn Cross. So, als würde er von jemand sprechen, der nicht anwesend war. Als wäre ihr Name wichtiger als sie selbst. Sehr wahrscheinlich meinte er die öffentliche Person, die Anwältin, die Mandanten umsonst verteidigte, wenn sie kein Geld besaßen. Von seiner Mutter und seiner Schwester hatte er ihr nicht viel erzählt, deshalb vermutete sie, dass es im Zusammenhang mit etwas stand, das einer von ihnen passiert war. Obwohl sie es sich nicht erklären konnte, hatte sie das Gefühl, er beschützte sie aus persönlichen Gründen. Seltsam. Aber sie mochte ihn nicht genauer danach befragen. Und auch nicht zu weit in die Zukunft denken, obwohl sie schon festgestellt hatte, dass sie sich ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen konnte. „Stella hat einen Beamten abstellen lassen, der Wheeler die ganze Zeit über im Auge behält, solange der im Gebäude ist", unterbrach Blade sie in ihren Gedanken. „Aber da Wheeler viele seiner Kollegen kennt, kann das nur aus sicherer Entfernung geschehen." „Das reicht mir völlig." Aus irgendeinem Grund hatte Lynn mehr Zutrauen zu Blade als zu irgendeinem anonymen Polizisten. Wenig später parkten sie den Jeep und überquerten die Plaza, den weiten Platz vor dem Gericht, als sich ein Mann aus dem Schatten der gigantischen Picasso-Skulptur löste und auf
sie zukam. Er hatte sich dort mit jemand unterhalten und anscheinend auf sie gewartet. „Das ist Victor Churchill", murmelte sie. Blade legte sofort schützend den Arm um sie. Als Churchill in Hörweite war, rief er laut: „Erstaunlich, dass Sie sich in die Öffentlichkeit trauen, Evelyn." „Haben Sie ein Problem damit?" antwortete Lynn, und Blade drückte sie aufmunternd. „Neues Spielzeug?" fragte Churchill abschätzig und deutete mit dem Kopf auf Blade. „Schlechte Wahl. Der verschafft Ihnen bestimmt keinen Zutritt zum Yachtclub." „Den bekomme ich auch so, wenn mir danach sein sollte!" meinte sie von oben herab. Churchill lachte. „Sie würden es tun, nicht wahr? Nur um es dem Kerl, der es Ihnen gegeben hat, zu zeigen, stimmt's?" „Wie bitte?" „Ich meine den Typen, der Sie entführt hat. Er hat den Männern dieser Stadt einen Gefallen getan, indem er versuchte, Sie aus dem Verkehr zu ziehen. Wenn ich könnte, würde ich ihm die Hand schütteln, Evelyn. Und dann würde ich ihn fragen, warum er die Sache nicht zu Ende gebracht hat." Lachend ging Churchill davon, Lynn stand da und blickte ihm fassungslos nach. Blade machte Anstalten, ihm zu folgen, aber sie hielt ihn am Arm zurück. Sie wusste, sie durfte nicht voller Wut in den Gerichtssaal stürmen. Daher versuchte sie den Zwischenfall herunterzuspielen. „Und ich hatte Angst vor Wheeler ... Andererseits, Churchill ist sehr wahrscheinlich nur ein Großmaul. Ein Mann wie er macht sich nicht die Finger schmutzig." „Er könnte jemanden dafür bezahlen", meinte Blade grimmig. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Es war etwas Persönliches. Der Kerl, der mich überfiel, hat auf eigene Rechnung gehandelt." Auch wenn sie sich nicht an viel erinnern konnte, die blanke Feindseligkeit hatte sie nicht vergessen. Ohne Schwierigkeiten kamen sie am Sicherheitsdienst vorbei und fuhren mit dem Fahrstuhl zum Gerichtssaal hinauf. Julie Wheeler wartete bereits im Gang, offenbar bedrängt von ihrem Noch-Ehemann. Mit hämmerndem Herzen marschierte Lynn direkt auf ihn zu. „Das Gericht hatte verfügt, dass Sie sich von Ihrer Frau fern halten sollen, Mr. Wheeler", sagte sie kühl. Er wirbelte herum und funkelte sie hasserfüllt an. „Sie wissen sicher, was Sie mit dieser Auflage machen können, oder?" „Vielleicht sollten Sie das dem Richter erzählen und ihn um seine Meinung bitten ..." „Schlampe!" Mit geballten Fäusten ging Wheeler drohend auf Lynn zu. Ihr schlug das Herz in der Kehle. Aber noch bevor sie zurückweichen konnte, stellte sich Blade vor sie. „Wer zum Teufel sind Sie?" knurrte Wheeler. „Wenn Sie eine dieser Frauen anfassen, werden Sie sich wünschen, nie geboren worden zu sein." „Ihr Name?" verlangte Wheeler. „Blade. Sie sollten sich nicht mit mir anlegen." „Wollen Sie mir drohen?" „Muss man Ihnen drohen?" fragte Blade ruhig. „Wenn ja, kann ich durchaus detaillierter werden. Ich habe fast zehn Jahre in ..." Lynn packte ihn am Arm und hielt ihn davon ab, weiterzureden. „Sollten Sie noch einmal gegen die Auflage des Gerichts verstoßen, lasse ich Sie in Haft nehmen!" fuhr sie Wheeler an. Wutschnaubend starrte er sie an, aber anscheinend hielt ihn Blades Anwesenheit davon ab, eine konkrete Drohung auszustoßen. Sein Anwalt hastete mit besorgtem Ausdruck auf dem feisten Gesicht auf ihn zu. „Danke, Evelyn", sagte Julie, als der Rechtsbeistand ihren Noch-Ehemann davonzog.
„Aber Sie sollten auf sich aufpassen. Roger hasst Sie, und es kommt bei ihm selten vor, dass er es so offen zeigt." Angesichts seiner Position im Polizeidienst war es besonders Besorgnis erregend, wie wenig Wheeler auf gerichtliche Anordnungen gab. Und er hatte Verdächtige geschlagen und seiner Frau und den Kindern gedroht, mit ihnen ebenso zu verfahren. Damit hatte er sie jahrelang unterdrückt. Aber war er deswegen gleich ein potenzieller Mörder? Ein Mann, der eine Frau entführte und sie mit Todesdrohungen quälte? Lynn wusste es nicht zu sagen. Allerdings würde sie nicht zulassen, dass ihre Unentschlossenheit über Wheelers Schuld oder Unschuld ihren Auftritt vor Gericht beeinflusste. Und am Schluss erreichte sie für Julie das, was diese sich ersehnt hatte. Roger Wheeler würde seine Kinder nur wieder sehen dürfen, wenn er sich in psychiatrische Behandlung begab. Und erst wenn der Therapeut keine Gefährdung der Kinder mehr sah, würde das Gericht die Einschränkung aufheben. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll", sagte Julie hinterher. „Passen Sie nur gut auf sich auf, das ist alles." Mit abgewandtem Gesicht murmelte Julie: „Sie auch." Dann ging sie davon. Nachdenklich blickte Lynn ihr nach. Vermutete Julie, ihr Exmann hatte sie überfallen? „Gute Arbeit", sagte Blade. „Ich hoffe es. Und ich hoffe auch, dass es nicht Wheeler war, der mich entführt hat. Wenn er mich schon mit dem Tod bedrohte, was stellt er dann mit der Frau an, die sich von ihm getrennt hat?" Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Blade legte leicht den Arm um sie. Die Wärme seiner Hand drang durch den dünnen Stoff ihrer Jacke. An seiner Seite fühlte sie sich sicher. Als sie durch die Flure gingen, wurde sie von einigen Anwälten gegrüßt, mehrere Frauen musterten sie von oben bis unten, mit neidischem Blick. Lynn unterdrückte ein Lächeln und rückte noch ein Stück näher an Blade heran. Sie waren gerade um den Hausmeister im Overall herumgegangen, der den Boden wischte, als plötzlich eine attraktive Rothaarige auf sie zugelaufen kam und Blade am Revers packte. „Meine kleine Tochter", keuchte sie, „sie ist erst sieben und davongelaufen, ohne dass ich es bemerkte. Haben Sie sie vielleicht gesehen?" „Tut mir Leid, uns ist kein Kind aufgefallen." „Ich habe mich nur ganz kurz abgewandt!" Blade schaute sich um. „Am besten suchen Sie jemand vom Sicherheitsdienst..." Die Frau zerrte an seiner Jacke. „Bitte, helfen Sie mir. Bitte!" Blade sah Lynn fragend an. „Hilf ihr, jemand vom Sicherheitsdienst zu finden", sagte sie. „Du bist ja gleich wieder zurück. Ich bin dort drinnen." Sie deutete auf die nahe Damentoilette. Blade nickte, wenn auch nicht sonderlich glücklich, und folgte der Frau in die andere Richtung. Lynn ging hinüber zur Toilettentür, aber ein Schild daran verkündete, dass sie gerade gereinigt wurde. Als sie sich abwenden wollte, bekam sie einen kräftigen Stoß von hinten, der sie in den Raum taumeln ließ. „He, was soll das?" rief sie empört. Sie konnte sich an der Wand abstützen und wollte sich umdrehen, wurde aber im nächsten Moment gegen die Wand gepresst. Von einem Mann. Da erkannte sie ihren Peiniger wieder. Unwillkürlich hielt sie die Luft an, während eine heisere Stimme an ihrem Ohr flüsterte: „Du solltest dich aus dem Leben anderer Leute heraushalten, Evelyn. Es ist nicht gesund, sich einzumischen."
Lynn erstarrte. Sie brachte kein Wort heraus. Nein, nicht an einem gesicherten Ort wie diesem ... Nicht, wenn sie einen Leibwächter hatte ... Ein Leibwächter, den man erfolgreich fortgelockt hatte. Eine andere Frau hatte diesem Kerl geholfen, sie in die Falle zu locken. Heiße Wut schoss in ihr hoch. Lynn versuchte herumzuwirbeln, aber der Mann packte ihr Haar mit der einen Hand, mit der anderen umfasste er ihren Körper, so dass sie sich nicht bewegen und auch nicht sein Gesicht sehen konnte. Ein erstickter Laut entrang sich ihrem Mund, bevor ein stinkender, feuchter Lappen den Schrei unterdrückte. ... du verdienst eine Lektion ... Lynn schwankte, als das Erinnerungsfragment zurückkehrte. Ihr wurde schon seltsam leicht im Kopf. Sie wusste, wenn sie jetzt nicht kämpfte, würde sie innerhalb weniger Sekunden ohnmächtig sein. So hielt sie den Atem an und versuchte den Kopf zur Seite zu reißen. Aber der Mann hielt sie mit eisernem Griff fest, presste ihr die Ellbogen an den Körper und schob sie vorwärts. Instinktiv trat sie nach hinten aus, wie Blade es ihr beigebracht hatte, aber sie stand auf unsicheren Beinen, und ihr Fuß rutschte an seinem Schienbein ab, anstatt die Kniescheibe zu treffen. Er gab zwar einen Grunzlaut von sich, aber ihr Tritt blieb ohne weitere Wirkung. Die Benommenheit nahm zu. ...du hast mein Leben zerstört... Wieder ein Stück Erinnerung. Nochmals hielt sie den Atem an, als er sie vorwärts schob, hinein in den hinteren Raum. Dort nahm er den Lappen von ihrem Gesicht und flüsterte: „Ich will nicht, dass du ohnmächtig wirst, Evelyn. Ich will, dass du mitbekommst, was mit dir geschieht." Er drängte sie in eine der Kabinen und drückte sie brutal auf die Knie. Sie schrie auf. Vor Schmerz - und weil der Putzeimer immer näher kam. „Ich will, dass du erfährst, was Todesangst bedeutet, Evelyn", flüsterte er heiser. „Diesmal kann nichts und niemand dich retten." „Was ...?" murmelte sie, und ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, eine Ohnmacht vorzutäuschen. Sie ließ sich schwer gegen ihn sinken, aber damit konnte sie ihn nicht täuschen. Er packte ihr Haar wieder fester und drückte ihren Kopf tiefer, dem vollen Putzeimer entgegen. „Nein", krächzte sie schwach. Da sie kniete, war sie hilflos und konnte keinen der Tricks anwenden, die Blade ihr beigebracht hatte. Sie versuchte hektisch den Kopf zur Seite zu wenden, fühlte ihre Wange nass werden. „Spar dir die Mühe, dich zu wehren." Einen Moment lang ließ der Druck nach. Sie rang nach Atem, der beißende Geruch nach Reinigungsmitteln brannte ihr in der Nase. „Du kannst nicht lange genug die Luft anhalten." Und wenn ich es tue, kann ich auch nicht schreien, dachte Lynn, als er ihren Kopf nach unten drückte. Aber was blieb ihr noch? Lynn schloss die Augen, kämpfte gegen den Würgereflex an und griff mit der Hand nach hinten, suchte nach einem Halt, als er ihren Kopf ins Wasser drückte. Ihre Finger fanden die Stelle zwischen seinen Beinen. Sie drückte so kräftig zu, wie sie es vermochte, während ihr Kopf unter Wasser geriet, ihre geschlossenen Augen bedeckte, ihre Nase ... Als sie einen Schrei hörte, dachte sie, es wäre ihr eigener. Aber plötzlich gab der Bastard sie frei und flog zurück. Sie riss den Kopf aus dem Wasser. Ein weiterer Schrei - nicht von ihm, sondern der einer Frau! Nach Luft ringend, wischte sie sich das triefende Gesicht mit dem Jackenärmel ab und kroch aus der Kabine. Sie sah gerade noch den Rücken des Unbekannten, als er durch die äußere Tür nach draußen floh.
Die Frau, die geschrien hatte, stürzte auf sie zu. „Ich habe es nicht gewusst! Wirklich nicht!" rief sie entsetzt. „Sie sind doch nicht verletzt?" Es war die Rothaarige, die Blade abgelenkt hatte. Und dann war auf einmal Blade da. Bevor er ihr auf die Beine helfen konnte, keuchte sie: „Lauf! Dort hinaus! " Sie deutete auf die Tür zum anderen Flur. Um die Rothaarige konnte sie sich allein kümmern. Als sie noch hinzufügte: „Der Hausmeister!" war er schon hinaus.
11. KAPITEL Blade unterdrückte sein instinktives Verlangen, Lynn in die Arme zu ziehen und sich zu vergewissern, dass sie unversehrt war. Mit langen Schritten eilte er dem Mann hinterher, der sie überfallen hatte. Und das, während er auf sie aufpassen sollte ... Ein weiterer Fehler. Wie viele konnte er noch begehen? Gott sei Dank hatte der Schweinehund sie nicht umgebracht. Blade schaute sich im Flur um. Dutzende von Leuten hielten sich hier auf, aber er sah keinen Hausmeister. Da entdeckte er einen Polizisten. Er rannte auf ihn zu. „Damentoilette. Eine Frau wurde angegriffen!" Der Beamte lief sofort los, und Blade setzte seine Suche fort. Doch er fand den Mann nicht. Er änderte seine Taktik. „Wo ist der Hausmeister!" rief er laut. „Hat jemand den Hausmeister gesehen?" Die meisten Leute ignorierten ihn, ein paar sahen ihn befremdet an, aber eine ältere Frau sagte: „Dort drüben." Sie deutete auf die Feuertreppen. „Danke." Blade hastete ins Treppenhaus, seine Gedanken rasten. Hinauf oder hinunter? Er blieb stehen und konzentrierte sich auf das, was sein irokesischer Großvater und später seine Ausbilder beim Militär ihm beigebracht hatten. Von unten vernahm er nun das kaum hörbare Knirschen von Ledersohlen auf Zementfußboden. Er rannte los, nahm immer zwei Stufen auf einmal, nutzte das Geländer, um schneller um die Ecken zu kommen, und sprang auf Treppenabsätze. Und dann sah er einen grauen Overall. Nur noch zwei Stockwerke ... eineinhalb ... eins ... Der Angreifer war schnell. Blade war schneller. Jetzt war er nur noch ein paar Stufen hinter ihm, warf sich auf ihn und presste ihn mit dem Gesicht nach unten auf die Stufen. Aber als Blade ihn an der Schulter packte und herumdrehen wollte, riss der Mann eine Sprühflasche aus seiner Uniform und zielte. Die Ladung traf Blade voll im Gesicht, und er schrie vor Schmerz auf. Als er die Hände hochriss, stieß ihm der Mann mit Wucht den Ellbogen in den Magen. Blade fiel zurück und schlug mit der gerade verheilten Beinwunde gegen eine Treppenkante. Er fing sich ab und versuchte die Augen zu öffnen und etwas zu erkennen, aber es war unmöglich. Er konnte gerade noch etwas Graues verschwinden sehen, dann musste er die Augen wieder zusammenpressen, weil sie höllisch schmerzten. Tränen strömten ihm über die Wangen. Ein hämisches Lachen ertönte, dann wurde eine Tür geöffnet und geschlossen. Geblendet versuchte Blade ihm zu folgen, fluchte dabei laut und ausdauernd. Wieder einmal war der Kerl entwischt. „Du hast Glück, dass du dein Augenlicht nicht verloren hast", meinte Stella zu Blade, als sie sich in einem Konferenzraum über das Geschehen unterhielten. „Du hättest ihn laufen lassen und bei Lynn bleiben sollen. So war es abgemacht." „Ich hatte ihn schon erwischt", grollte Blade, und er hörte sich so frustriert an, wie Lynn sich fühlte. Sie waren vorbereitet gewesen, aber der Entführer war ihnen wieder entkommen. Sie beide hatten körperlichen Kontakt mit ihm gehabt und doch sein Gesicht nicht gesehen. Blade blickte sie bedauernd an. Lynn wusste, erfühlte sich schuldig, weil er glaubte, er hätte sie im Stich gelassen. Aber das stimmte nicht. Sie schluckte trocken. Obwohl Blades Augen sofort mit klarem Wasser gespült worden
waren, waren sie erschreckend rot und geschwollen. Die herbeigerufenen Sanitäter hatten ihm ein Medikament in die Augen geträufelt und gemeint, es würde alles wieder in Ordnung kommen. Auch Lynn war untersucht worden, aber sie brauchte eigentlich nur eine heiße Dusche. Stella setzte sich auf die Tischkante. „Diese Miss Crane behauptet, ein Fremder hätte ihr fünfzig Dollar geboten, wenn sie einen Freund von ihm foppte." „Ich glaube ihr", sagte Lynn. „Sie hat um Hilfe geschrien und schien ehrlich entsetzt zu sein. Und voller Schuldgefühle." „Leider ist Miss Cranes Beschreibung des Täters nicht viel besser als Ihre." „Welche Beschreibung?" fragte Lynn verwundert, frustriert, weil sie nicht einen einzigen Blick auf das Gesicht des Mannes hatte werfen können. „Genau. Der Mann trug eine Baseballkappe und einen Hausmeisteroverall, als er sie ansprach. Er hielt den Kopf gesenkt und sprach leise, ohne auffälligen Dialekt oder Akzent." „Roger Wheeler kann es demnach nicht gewesen sein, oder?" fragte Lynn. „Ich meine, da ja ein Polizist auf ihn angesetzt war." „Was das betrifft..." Stella räusperte sich. „Der Kollege scheint abgelenkt worden zu sein und verlor ihn wenige Minuten, nachdem Sie den Gerichtssaal verlassen hatten, aus den Augen." Lynn schlug das Herz bis zum Hals. „Dann könnte er es gewesen sein ..." „Leider ja." „Oder Victor Churchill", überlegte Blade laut. „Wieso?" wollte Stella wissen. „Er war heute hier." Lynn berichtete ihr von dem Zusammentreffen auf dem Vorplatz. „Aber ich glaube eher, Wheeler ist unser Mann. Es passt alles zusammen." Stella ging nicht darauf ein, sondern meinte: „Ich frage mich, was unsere anderen Kandidaten zu der fraglichen Zeit taten. Wenn Rincon oder Cooper ein Alibi hätten, wären ein oder zwei Verdächtige weniger auf der Liste." „Leroy könnte uns da vielleicht helfen", meinte Blade. „Und keine Bange, Stella, ich habe ihm bereits gesagt, er soll sich in dieser Angelegenheit bedeckt halten." Stella nickte. „Und ich werde sehen, wo unser makaberer Küchenchef war. Das Gleiche gilt für Wheeler und Churchill." Lynn, die wusste, wie leicht man ein Alibi beschaffen konnte, beschloss, ihre eigenen Pläne weiterzuverfolgen. Stunden später war Blade immer noch wütend, weil er sich wie ein Amateur von einer Sprühflasche mit Haushaltsreiniger außer Gefecht hatte setzen lassen. Noch war der Club nicht geöffnet, und er und Lynn saßen im Mitarbeiterraum und warteten auf die anderen. Lynn sah schlimm aus. Nicht, dass sie an Schönheit eingebüßt hätte, aber ihre Körpersprache, ihr Gesichtsausdruck sprachen Bände. Vor ihm saß eine Frau, die mit den Nerven fertig war, die einfach zu viel durchgemacht hatte. Und das alles war seine Schuld. „Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich diesen Kerl an dich herangelassen habe." „Ich finde, du hast dir genug Vorwürfe gemacht." „Aber ich bin losgegangen und ..." „Und ich folgte einem dringenden Bedürfnis. Du hättest doch wohl kaum auf der Damentoilette meine Hand halten können." „Es wäre meine Pflicht gewesen, am Eingang Wache zu halten." „Es gab eine zweite Tür", erinnerte sie ihn, gerade als Cass hereinkam. „Oder ich hätte mit dir gehen sollen. Du kannst dir die Schuld geben, solange du magst, es wird am Ergebnis nichts ändern. Am wichtigsten ist doch, dass mir nichts passiert ist. Und nun ist es Zeit,
weiterzumachen." Er sah sie misstrauisch an. „Wie weitermachen?" Lynn antwortete nicht, sondern blickte kurz auf, als Gideon eintrat, gefolgt von Logan. Auch wenn die Teammitglieder bereits von dem letzten Angriff auf Lynn erfahren hatten, versorgte sie sie nun noch mit den widerwärtigen Einzelheiten. Blade hätte sich dabei ständig ohrfeigen können. „Sieht so aus, als müssten Sie Ihre neue Identität beibehalten", meinte Gideon. „Zu schade, dass du dich nicht an die Details des ersten Überfalls erinnern kannst", sagte Cass und sah Lynn dabei mit einem bedeutungsvollen Blick an. „Du solltest dir wirklich überlegen, ob du deine Erinnerung nicht ein wenig auf Trab bringen willst." Blade fragte sich, was sie damit meinte, besonders, als Lynn schnell beiseite schaute. Wusste Cass irgendetwas, das er nicht wusste? Er versuchte sich keine Sorgen zu machen und wandte sich an Logan. „Gestern Nachmittag haben wir versucht, Churchills und Johnnys Stimme auf Band zu bekommen, aber leider erfolglos." „Schade. Immerhin habe ich aber die Ergebnisse über die beiden anderen aus dem Labor erhalten." Lynn wurde sichtlich aufmerksam. „Und?" „Einen der Verdächtigen können wir von der Liste streichen." „Timothy Cooper?" vermutete Blade. „Nein, Wheeler." „Was?" keuchte Lynn. „Sind Sie sicher?" Obwohl Blade das Gesicht des Mannes nicht gesehen hatte, so hatte er doch mit ihm Körperkontakt gehabt. Deswegen hätte er eher auf den jüngeren, durchtrainierten Polizisten als auf den Geschäftsmann getippt. Andererseits gab es immer noch Johnny. Der war knallhart und ohne Skrupel ... Aber woher hätte er wissen sollen, dass Lynn an diesen Morgen im Gericht erscheinen würde? „Bestehen wirklich keine Zweifel?" fragte er. „Nicht, wenn man der Stimmerkennungstechnik vertraut", erwiderte Logan. „Die Sprachmuster... das Atmen ... nun, all das deutete daraufhin, dass Wheeler es nicht war. Eine eindeutige Aussage über Cooper ist nicht zu treffen, da das Material nicht ausreicht." „Ich war mir so sicher", murmelte Lynn. „Alles passte. Ich meine, Wheeler war dort, und er hatte mich knapp eine Stunde vorher bedroht!" „Churchill ebenfalls", erinnerte sie Blade. „Stimmt." Aber sie klang nicht überzeugt. Churchill hätte es tatsächlich gewesen sein können, zumal er keinen Zeugen für die Zeit des Überfalls auf Lynn beibringen konnte. Allerdings hatte er eine halbe Stunde später ein wichtiges Treffen gehabt, und nach Aussage seiner Geschäftspartner war er pünktlich gewesen. Hatte er alles wirklich in einem so engen Zeitrahmen planen können? fragte sich Blade. „Vielleicht sollten wir die drei verbliebenen Verdächtigen permanent überwachen", schlug Gideon vor. „Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche?" fragte Blade. „Das ist wahrscheinlich die einzige Möglichkeit..." „Nein!" Heftig stellte Lynn ihren Becher ab. Kaffee schwappte ihr auf die Hand. „Was würde das schon bringen - außer, ich gebe dem Kerl eine neue Gelegenheit? Es hat wenig Sinn. Ich möchte es auf meine Weise machen." Blade verspürte einen unangenehmen Druck im Magen. Er schaute sie grimmig an, aber sie mied seinen Blick. Ihre Wangen röteten sich, und der verwundete, gehetzte Ausdruck wich aus ihrem Gesicht. Was gut war, wie Blade sich eingestehen musste. Lynn war wieder zum
Kampf bereit. Plötzlich merkte er, dass Gideon, Logan und Cass sie beide anstarrten, warteten ... Und dann räusperte sich Gideon und brach das Schweigen. „Wie meinen Sie das, Lynn?" „Da es uns nicht gelungen ist, die Stimmen aller Verdächtigen auf Band zu bekommen, habe ich überlegt, einige Gratiseintrittskarten für das Konzert von Maria Savage morgen Abend zu verschicken. Dadurch erhalte ich die Gelegenheit, dicht an sie heranzukommen. Ich könnte ein Aufnahmegerät bei mir tragen, während ich Drinks serviere." Sie hatte die Idee also immer noch nicht aufgegeben. Blade hatte es geahnt! „Du denkst dabei an Churchill, nicht wahr?" fragte er gepresst. „Ja... Und Cooper." Und das war noch nicht alles, er konnte es ihrer Stimme entnehmen. Noch immer blickte sie ihn nicht an. „Lass Johnny außen vor", befahl er ruhiger, als ihm zu Mute war. Trotzig schob Lynn das Kinn vor und gab keine Antwort. Niemand im Raum sagte ein Wort, und er konnte fast die Gedanken der anderen hören. Vielleicht ist das der einzig mögliche Weg. Und das Team wäre in der Nähe, um ihr gegebenenfalls zu helfen. Das bedeutete noch lange nicht, dass Blade von diesem Plan begeistert war. Aber er kannte Lynn gut genug, um zu wissen, dass sie tun würde, was sie für richtig hielt. „Zeit, an die Arbeit zu gehen", durchbrach Gideon die Spannung. „Ausgenommen Sie, Lynn. Kommen Sie bitte in mein Büro, dort erledigen wir die Sache mit den Eintrittskarten. Wir können sie gleich morgen früh zustellen." Sie folgte Gideon hinaus, ohne sich umzuschauen. Blade gefiel das Ganze nicht, weil er ausgeschlossen war. Das durfte er nicht zulassen. Beschützen konnte er sie nur, wenn er bei ihr und sie ihm gegenüber offen war. Den ganzen Abend über wurde er ein mulmiges Gefühl nicht los, und als er später einen Rückruf von Leroy erhielt, verstärkten sich seine Sorgen noch. Niemand wusste, wo Johnny Rincon sich am Vormittag aufgehalten hatte. Obwohl die Straße menschenleer war, als sie Stunden später den Club verließen, schaute sich Blade ständig unauffällig um, als würde gleich jemand aus dem nächsten Hauseingang gesprungen kommen. Seine erhöhte Aufmerksamkeit jagte Lynn einen Schauer über den Rücken, auch wenn sie hier keinen Angriff erwartete. Zumindest nicht jetzt ... morgen Abend mochte es vielleicht anders aussehen. Sicherlich war Blade nur übervorsichtig wegen des Ereignisses heute früh. Dennoch war es ihr ein wenig unheimlich, die fast verlassene Milwaukee Avenue entlangzugehen. Unwillkürlich begann auch sie misstrauisch jeden Türeingang, jeden geparkten Wagen zu mustern. Blade machte keine Bemerkung, aber offenbar spürte er ihre innere Anspannung, denn er legte ihr leicht die Hand auf den Rücken. Und seltsamerweise half es. „Wie geht es deinen Füßen?" fragte er. „Besser", erwiderte sie munterer, als sie sich fühlte. „Sie schmerzen, aber zumindest humpele ich heute nicht." „Es ist nie zu spät, etwas Vernünftigeres zu tragen." „Oder überhaupt nichts", murmelte sie, und er wusste nicht, ob sie nur die Schuhe meinte. Sein Schweigen verriet ihr, dass Blade sich über ihre Bemerkung Gedanken machte. Unwillkürlich rückte sie näher an ihn heran, aber nicht, weil sie sich sicherer fühlen wollte. Wieder empfand sie dieses Verlangen, diese Lust, die sie in seiner Gegenwart oft überfiel. Viel zu schnell waren sie beim Jeep angelangt. Blade half ihr beim Einsteigen, und die kurze Berührung seiner Hand an ihrem Ellbogen sorgte schon dafür, dass ihr Puls schneller schlug. Als er hinters Steuer schlüpfte und den Motor anließ, sagte er: „ Ich wundere mich
wirklich, dass du die Kraft hattest, heute zu arbeiten nach dem, was du heute Morgen erlebt hast." „Ich höre deswegen doch nicht einfach auf zu leben", protestierte sie. „Nun, in gewisser Weise wohl schon. Ich habe aufgehört, mein eigenes Leben zu leben. Was gar nicht so schlimm ist", gab sie zu. „So erfahre ich, wie andere ihre Zeit verbringen. Ich wünschte nur, ich hätte mehr Raum für Spontaneität." „Das kann arrangiert werden." „Na klar." „Bestimmt." Blade bog ab und fuhr Richtung Osten. „Was ist? Wohin fahren wir?" „Dorthin, wo wir spontan sein können." „Dazu bist du nicht der Typ." „Was für ein Typ bin ich denn?" „Ernst. Ruhig. Konzentriert." „Langweilig?" „Das habe ich nicht gesagt." „Vielleicht kann ich deine Gedanken lesen." „Dann liest du sie falsch. Außerdem, Cass ist die Hellseherin, stimmt's?" „Das behauptet sie." „Glaubst du ihr?" „Ich glaube, dass gewisse Menschen Talente haben, die andere nicht verstehen." Aber warum konnte Cass dann nicht einfach ihre Gedanken lesen und ihr Details des Überfalls nennen? Das wäre doch das Einfachste. Wozu dann noch Hypnose? Andererseits, sie selbst war es gewesen, die davon angefangen hatte. Cass hatte sie nur daran erinnert. Warum tue ich es nicht? Worauf warte ich? dachte sie. Weil sie dabei die Kontrolle über sich verlor. Andererseits war sie sicher, sie konnte Cass ebenso vertrauen wie Blade. Wenn also nichts anderes weiterführte ... Bei dem Gedanken jedoch schlug ihr Herz gleich schneller. Sie blickte auf. Blade war Richtung Lake Shore Drive, der Straße am Seeufer entlang, gefahren. Selbst um diese Stunde herrschte dort noch reger Autoverkehr. „Machen wir eine Spritztour?" „Etwas in der Art." Als sie den Drive unterquerten, fiel es ihr ein. „Der Strand?" „Gute Idee." Blade fuhr direkt auf den Parkplatz. Die Aussicht auf einen Spaziergang am See weckte romantische Vorstellungen in Lynn. Sie und Blade allein unter dem silbernen Vollmond ... Der North Avenue Beach lag direkt neben einem Fitnesscenter, in dem sich die Besucher bei frischer Seeluft kräftig auspowern konnten, mit Ausblick auf Chicagos beeindruckendes Panorama. Das neue Gebäude enthielt die üblichen Umkleide- und Ruheräume, war aber in der ungewöhnlichen Form eines Ozeandampfers gehalten. Lynn hatte manche Nachmittage und Abende im Dachrestaurant verbracht. Jetzt lag alles verlassen da. Chicagos Parks und Strände waren um diese Zeit längst geschlossen. Dennoch stiegen sie aus, streiften sich die Schuhe ab und schlenderten zum Ufer. Die Wellen umspülten ihre nackten Füße, und Lynn sprang zurück, weil es so kalt war. „Bestimmt tut dir das Wasser gut", meinte Blade. „Ich muss dir wohl glauben." „Muss?" „Nun, du hattest Recht mit dem Tee und der Salbe. Aber was genau sollen der Sand und
das Wasser bewirken?" „Sie sorgen für Ausgleich. Du lässt die Seele baumeln, wirst eins mit der Natur." Lynn lachte. „Ich bin kein Naturkind. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie gezeltet. Ich übernachte lieber in einem komfortablen Hotelbett." „Man muss nicht unbedingt in der freien Natur übernachten, um eins mit ihr sein zu können", argumentierte Blade. „Hast du jemals in Ehrfurcht vor einem traumhaften Sonnenaufgang gestanden?" „Schon einige Male", gab sie zu. In letzter Sekunde „Oder eine wundervolle Landschaft genossen?" „Natürlich." „Bist an einem heißen Sommertag stehen geblieben und hast die sanfte Brise auf deinem erhitzten Gesicht willkommen geheißen?" „Viele Male." „Dann hast du etwas für Natur übrig. Ich schlage nur vor, dass du dieses Empfinden vertiefst." Er hielt ihr die Hand hin. Wie konnte sie da widerstehen? Als sie Richtung Norden wanderten, grub sie ihre Zehen in den nassen Sand und ließ all ihre Sorgen für den Moment fallen. „Ich habe noch nie einen Mann wie dich gekannt." „Ist das gut oder schlecht?" „Ja." „Ich bin also halb schlecht?" fragte Blade in einem Ton, der ihr Blut zum Singen brachte. „So würde ich es nicht nennen." Sie zögerte. „Du lässt mich Dinge empfinden, die ich niemals empfinden wollte." Er blieb stehen. Sie auch. „Erzähl mir davon. Ich bin ein guter Zuhörer", flüsterte er und drehte sie zu sich herum. Das silberne Mondlicht fiel ihm ins Gesicht, und nie hatte er besser ausgesehen. Lynn ließ den Blick von seinen nachtschwarzen Augen zu der kühnen Nase wandern, weiter zu den vollen Lippen ... und verweilte dort. „Abhängigkeit." „Das tut mir Leid." „Mir nicht." Sie schaute ihm wieder ins Gesicht. „Es ist schwer zu erklären. Diese Abhängigkeit ist anders als die meiner Mutter von meinem Vater oder die, die meine Schwester Dani bei ihrem Exmann erlebt hat. Sie bedeutet, dass ich dir vertrauen kann, du mich nicht im Stich lassen wirst. Dass uns ein Band verbindet, das uns ..." „Was?" Lynn zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht", gab sie zu. Sie wollte ausdrücken können, was sie fühlte. Wollte Blade sagen, wie wichtig er ihr in dieser kurzen Zeit geworden war. Wie sehr sie ihn mochte ... vielleicht sogar liebte. Aber konnte sie das? War es denn wirklich so? Liebe? Furcht machte sich in ihr breit, ihr Herz schlug schneller. Und als wenn er sie hören und genau verstehen könnte, wie durcheinander und erstaunt sie war, senkte er den Kopf und küsste sie zart. Sie schmiegte sich an ihn, presste ihre Lippen auf seine, klammerte sich an seinen Schultern fest, weil sie fürchtete, sonst umzufallen. Und auch, dass er sich zurückziehen könnte. Blade schlang die Arme um sie, und sofort fühlte sie sich besser. Sicher. Vollständig. Er würde mich niemals fallen lassen, dachte sie, mich niemals mehr loslassen.
Sie niemals enttäuschen. Sein Kuss wurde leidenschaftlicher, und sie legte den Kopf in den Nacken, so dass er sich über sie beugen musste. Überall wo er sie anfasste, schien sie in Flammen zu stehen. Sie konnte einfach nicht genug von ihm bekommen. Ihre Haut prickelte, wenn er sie berührte, seine harte Brust an ihre Brüste drängte, mit beiden Händen über ihren Rücken strich. Hitze breitete sich in ihr aus ... Eine größere Welle schwappte ihnen kalt über die Füße. Sie sprangen auseinander. „Ich sagte dir doch, dass du dich am Wasser besser fühlen wirst." Blade lachte. Lynn lachte auch. „Nicht am Wasser. Bei dir. Du gibst mir das Gefühl der Sicherheit." Blade stöhnte und zog sie fester an sich. „Ich möchte, dass du dich sicher fühlst. Ich möchte nicht, dass dir etwas geschieht. Das glaubst du mir doch, oder?" Es klang fast verzweifelt. Und sie wollte ihm glauben. „Ja"', murmelte sie. „Ja ..." „Deswegen möchte ich auch nicht ..." Er rieb sanft seine Lippen an ihren. „... dass du etwas mit Johnny Rincon zu tun hast." „Ich muss..." „Nein, musst du nicht. Wenn es mit Churchill und Cooper nicht klappt, finden wir einen anderen Weg, um zu erfahren, ob Johnny mit der Sache zu tun hat, ohne dich mit hineinzuziehen. Ich verspreche dir, er wird nicht davonkommen, wenn er es war. Vertrau mir." „Das tue ich." „Dann begib dich nicht in Gefahr. Egal, ob er derjenige war, der dich überfallen hat oder nicht, er ist zu gefährlich." Sie spürte, wie wichtig es ihm war. Und sie vertraute darauf, dass er richtig entschied. „Gut", sagte sie schließlich. „Ich werde ihm keine Einladung schicken." Blade küsste sie, lange und leidenschaftlich, wie zur Belohnung. Zumindest sah sie es so, als er den Kuss dann viel zu abrupt beendete und ihr Kopf auf dem Rückweg zum Jeep wieder klarer wurde. Eine Belohnung dafür, dass sie getan hatte, was er wollte. Unsicherheit beschlich sie. Hatte sie sich tatsächlich gerade von einem Mann manipulieren lassen?
12. KAPITEL Lynn wusste, dass sie in der vergangenen Nacht um ein Haar mit Blade geschlafen hätte. Stattdessen übernachtete sie das erste Mal, seit sie zu ihm gezogen war, in ihrem eigenen Bett. Leider war ihr Schlaf unruhig gewesen, und sie war vor der Morgendämmerung aufgewacht, wie gerädert, gequält von Erinnerungsfetzen. Das kalte Licht des Tages ließ manches anders aussehen. Mit Blade zu schlafen wäre ein großer Fehler gewesen. Sie waren zu verschieden, hatten nichts gemeinsam. Wenn diese Sache erst einmal zu Ende war... Sie verdrängte die Verzweiflung, die der Gedanke in ihr auslöste, und betrat die Zentrale des Kurierdienstes, über den sie die Karten an Churchill und Cooper schicken lassen wollte. Bei dem Umschlag an Johnny Rincon zögerte sie. Aber natürlich hatte Blade Recht. Er hatte immer Recht. Sie würde die Karten an Rincon nicht abschicken. Lynn musste ein paar Minuten warten, und auch dann wurde ihr Gespräch mit dem Inhaber durch eingehende Telefonate mehrmals unterbrochen. Als alles erledigt war, kehrte sie zum Jeep zurück, in dem Blade saß und wartete. Da sie ein realistischer Mensch war, machte sie sich nichts vor. Gegensätze mochten sich anziehen, zwei gegensätzliche Menschen konnten eine wilde kurzzeitige Romanze miteinander haben, aber für ein ganzes Leben reichte es nicht. Daran versuchte sie sich zu erinnern, als sie das Fitnesszentrum erreichten und ihre Übungen begannen. Jede Berührung von ihm war wundervoll und schmerzlich zugleich, so dass sie irgendwann abrupt aufhörte. „Ich kann nicht weitermachen", erklärte sie ihm. „Wieso? Hast du dir wehgetan?" Sie hörte die Besorgnis in seiner Stimme und sah sie auch seinem Gesicht an. „Nein, mir geht es gut. Ich bin einfach nur... nicht bei der Sache." „Du musst dich voll darauf konzentrieren ..." „Ja, ich weiß!" „Ist etwas nicht in Ordnung? Machst du dir Gedanken wegen heute Abend? Noch ist es nicht zu spät, die ganze Sache abzublasen." „Es geht nicht um heute Abend." Sie biss die Zähne zusammen. Aber warum sollte sie den Mund halten? „Du willst wirklich wissen, was nicht in Ordnung ist? Du bist es!" Lynn senkte die Stimme, damit nicht alle im Raum es mitbekamen. „Ich mag es nicht, wenn man mich manipuliert." „Ich verstehe nicht." Seine offensichtliche Verwirrung reizte sie weiter. „Ich meine damit die Art, wie du mich dazu gebracht hast, einzuwilligen, Johnny Rincon doch keine Karte zu schicken." „Ich habe einfach nur an deinen gesunden Menschenverstand appelliert." „Du hast an viel mehr appelliert." Zum Beispiel an ihr Herz. „Du hast mich verführt, damit ich einwillige." Er grinste. „Glaub mir, Lynn, wenn ich dich verführt hätte, würde ich mich garantiert daran erinnern." Darüber konnte sie gar nicht lachen. Sie schob ihn von sich und marschierte los, Richtung Umkleideraum. „Das ist wirklich kein Spaß", murrte sie. „Lynn, warte." Sie ging weiter, aber er holte sie im Flur ein. „Warte", wiederholte er. Lynn wirbelte herum. „Warum? Damit du mir sagen kannst, dass ich mich irre?" „Damit ich mich entschuldigen kann. Ich sehe das, was zwischen uns geschah, nicht so wie du. Es passierte aus dem Moment heraus, ein wundervoller Moment, übrigens, und ich wollte dich nur unbedingt davon überzeugen, dich von Johnny fern zu halten. Und ich meinte es sehr
ernst, dass mir an deiner Sicherheit liegt." „Du kannst nicht mein Leben für mich leben." „Das versuche ich auch gar nicht. Mein Eindruck ist, deine Sicht von Mann-FrauBeziehungen ist ein wenig verquer - bestimmt nicht ohne Grund. Aber du hast es diesmal mit mir zu tun, Lynn, mit jemand, der dich mag..." „Mein Vater hat das Gleiche immer zu meiner Mutter gesagt, und Nathan zu Dani auch." „Ich bin weder dein Vater noch dieser Nathan. Ich mag dich, weil du stark und voller Selbstvertrauen bist- nun, zumindest die meiste Zeit. Du kämpfst für wichtige Dinge, für Recht und Gerechtigkeit. Und bei mir war es auch schon immer so." „Ich bin erwachsen. Ich kann meine eigenen Entscheidungen treffen." „Lynn, ich will dir nichts vorschreiben, aber Beziehungen können manchmal schwierig sein. Wenn du mir schon etwas unterstellen musst, dann, dass ich einfach nur dafür sorgen will, dass dir nichts passiert. Und immer alles unter Kontrolle haben zu wollen ist dein Ding, nicht meins." Praktisch das Gleiche hatte Nathan ihr auch gesagt. Lynn atmete einmal tief durch. Hatte sie ihn auf Grund ihrer eigenen Lebensgeschichte gestern Nacht falsch eingeschätzt? Sehr gut möglich. Auf jeden Fall wirkte er jetzt aufrichtig. Lynn traf eine spontane Entscheidung. Von nun an würde sie nicht mehr jeder seiner Handlungen und Worte mit Misstrauen begegnen. Zumindest wollte sie es versuchen. „Du hast Recht", gab sie zu und blickte ihm offen ins Gesicht. „Und ich sollte mich bei dir entschuldigen." „Frieden?" „Frieden." Er lächelte sie an, warm und gefühlvoll, und ihr Herz schlug auf einmal schneller. „Dann lass uns zurück in die Halle gehen", sagte Blade, „damit ich dir noch ein paar Tricks beibringen kann." Neue Tricks oder nicht, Lynn war schrecklich nervös, als sie sich auf die Arbeit im Club vorbereitete. Der große Abend. Heute würde sie dem Mann gegenübertreten, der sie entführt hatte - um ihn hinter Gitter zu bringen. Sie zitterte vor Aufregung ... und Furcht. Maria Savage sollte erst in einer Stunde eintreffen, aber ihr Team hatte bereits den Raum für die Mitarbeiter mit Beschlag belegt. Küchenpersonal und Bedienungen schwirrten aufgeregt hin und her. Und die Gäste bildeten eine lange Schlange bis auf die Straße, warteten auf den Einlass. Lynn konnte ihr normales Ensemble nicht tragen, da die Kellnerinnen im VIP-Bereich schlicht geschnittene, paillettenbesetzte Outfits anhatten. Sie wühlte im Schrank und fand schließlich ein dunkelblaues Kleid, das sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte ... Was ein kleines Problem bedeutete, da sie verkabelt werden würde. In Gideons Büro warteten Cass und Logan auf sie. Das Mikrofon, das Kabel und der Sender lagen bereits auf dem Tisch. Die Aufnahmegeräte würden im Büro hinter der oberen Bar aufgestellt werden. „Kleben Sie das Kabel unter eine Brust und führen es dann seitlich herunter", sagte Logan in sachlichem Ton. „So ist es unauffälliger. Den Sender befestigen wir mit einem Klettband an Ihrem Schenkel." Als er es ihr zeigte, erinnerte es Lynn an die Messerscheide, die Blade an seiner Wade trug. „Sieht fast aus wie ein Strumpfband", murmelte sie. Niemand lachte. Dazu waren alle zu angespannt. Cass nahm das Kabel und sagte: „Komm, ich helfe dir." Taktvoll drehte Logan sich um.
Lynn wusste nicht, wie das hautenge sexy Kleid den Sender verbergen sollte, nicht einmal einen so flachen. Aber sie befolgte die Anweisungen, und Cass verband Sender und Kabel. Danach klebte sie das Kabel an mehreren Stellen fest, damit es nicht verrutschte, wenn sie sich bewegte, und Lynn sich dadurch verriet. Nun war der Sender an der Reihe. Der beste Platz war natürlich zwischen den Schenkeln, aber beim Gehen würde sie verrückt werden. Und sie würde heute Abend viel laufen müssen. Als das Klettband schließlich angebracht war, rückte Lynn den Sender so weit zurecht, bis der andere Schenkel nicht mehr daran rieb. Zum Schluss war weder vom Kabel noch vom Sender oder dem winzigen Mikrofon tief in ihrem Ausschnitt etwas zu sehen. Gideon und Blade betraten das Zimmer. Bei ihnen war ein Lynn unbekannter Mann. „Dies ist Gabe Conner", stellte Gideon ihn vor. „Ich habe ihn heute Abend als zusätzliche Unterstützung geholt." „Freut mich, dass ich helfen kann", sagte Gabe. Lynn nickte nur kurz und fragte sich, wie weit der dunkelhaarige, grünäugige Fremde wohl eingeweiht worden war. Aber wenn Gideon ihm vertraute, dann tat sie es auch. „Geht es so?" fragte sie und drehte sich langsam um sich selbst. Im Raum gab es keinen Spiegel, also musste sie sich auf das Urteil der Männer verlassen. Das Aufblitzen in Blades Augen aber war so überraschend, dass sie beinahe über ihre eigenen Füße stolperte. „Gute Arbeit", meinte Gideon. „Kein Mensch wird etwas bemerken." Sie riss sich zusammen. „Prima." Logan öffnete einen Aktendeckel. „Ich habe mir aus dem Internet Fotos von Churchill und Cooper geholt. Behalten Sie die beiden im Auge." Er reichte ihr die zwei Ausdrucke. Lynn besah sie sich kurz. Churchill sah darauf fast so unangenehm aus wie bei der Begegnung heute Morgen, aber keinesfalls bedrohlich. Auch Cooper konnte sie nicht sonderlich beeindrucken in seiner makellos weißen Kochkleidung. Vielleicht war es ein Fehler zu glauben, ein Mann, der von Beruf Koch war, könne nicht gewalttätig sein. Der Gedanke an scharfe Messer und andere gefährliche Küchenutensilien ging ihr durch den Kopf. Dennoch fiel es ihr schwer, ihren Peiniger mit einem dieser Gesichter zu verbinden. Gideon führte den Plan weiter aus. „Ich halte mich im VIP-Bereich auf, um sie zu beobachten. Logan wird bei mir sein, aber sobald einer der Verdächtigen aufsteht und den Tisch verlässt, wird er ihm folgen. Gabe arbeitet an der Bar und dient als Verstärkung. Blade, du achtest auf den unteren Bereich, und Cass, du wirst heute Nacht für Blade die Augen offen halten." Lynn konnte Blade deutlich ansehen, dass er mit dieser Regelung nicht zufrieden war. Sicher hatte er gehofft, oben zu arbeiten und so alles selbst im Blick behalten zu können. Aber er protestierte nicht. Alle Beteiligten würden sich über ihre Headsets jederzeit verständigen können. „Also, meine Damen, meine Herren, sind wir bereit?" fragte Gideon. „Bereit", kam es im Chor zurück. „Zwanzig Minuten bis zur Show", sagte Cass. Noch zwanzig Minuten, bis die Clubtüren geöffnet wurden und sie sich hinauswagte, sich freiwillig als Köder anbot für denjenigen, der sie genau vor einer Woche überfallen hatte, wie Lynn klar wurde. Cass und sie begaben sich in die Damentoilette. Lynn besah sich noch einmal im Spiegel. Heute Abend war alles an ihr blau - Haare, Lippen, Fingernägel, getönte Gläser, dazu das Kleid. Reichte diese Tarnung aus, um sie zu schützen?
Als hätte Cass ihre Gedanken gelesen, sagte sie: „Er wird dich nicht erkennen." „Es wird schon alles gut gehen", antwortete Lynn, mehr zu sich selbst. „Wie sieht es mit der Erinnerung aus?" „Immer noch lückenhaft." „Hast du noch einmal über Hypnose nachgedacht?" Sehr oft sogar, aber Lynn war noch zu keiner Entscheidung gelangt. „Vielleicht als allerletztes Mittel." „Du kannst mir vertrauen." „Ich weiß." Lynn umarmte sie. „Danke." „Mach dir keine Sorgen." Cass drückte sie kurz. „Kannst du das mit einer deiner Visionen bestätigen?" Der Rotschopf grinste und schüttelte den Kopf. „Nein, wir stehen nur alle hinter dir." Wofür Lynn ausgesprochen dankbar war. Noch zehn Minuten. Sie hielt das Warten nicht mehr aus, brauchte irgendetwas, das sie beschäftigte. Doch die Vorbereitungen waren abgeschlossen. Sie musste nur noch in den VIPBereich gehen und anfangen zu arbeiten. Da sie heute ihren Anrufbeantworter im Büro noch nicht abgehört hatte, rief sie dort an. Glücklicherweise gab es nichts Beunruhigendes. Aber ihre Partner machten sich wohl doch Sorgen wegen ihrer Abwesenheit. Eine ihrer Assistentinnen fragte nach, wann sie zurückkommen würde. Alle wollten es gern wissen. „Ich wünschte, ich wüsste es, Leute. Ich wünschte es." Dann rief sie zu Hause an. Eine einzige Nachricht lag für sie vor, früher am Tag aufgenommen. Als sie die bekannte Flüsterstimme hörte, umklammerte sie den Hörer unwillkürlich fester. „Du hältst es wohl für sehr clever, dich irgendwo zu verstecken, Evelyn, du Miststück." Sie hatte plötzlich einen Stein im Magen, und ihre Nackenhaare richteten sich auf. „Ich werde herauszufinden, wo du dich verkrochen hast... Das ist das Einzige, woran ich denken kann." „Dann tu es doch, damit die Sache endlich ein Ende hat!" Diesmal würde sie vorbereitet sein. „Ich bin besessen von dir, Evelyn. Du wirst niemals frei sein. Solange du lebst." Er lachte. „Wir sehen uns wieder..." Der Anruf endete mit einem weiteren gemeinen Lachen, und Lynns Herz raste. Ihr erster Gedanke war, Blade davon zu erzählen, aber als sie das Büro verließ und ins untere Foyer ging, drängten sich dort die Menschen, die in den Club wollten. Sie schaffte es weder zum engen Durchgang noch zu Mags zu gelangen, die für den Einlass zuständig war. Nicht einmal die Aufmerksamkeit der Rausschmeißer konnte sie auf sich lenken, die alle Hände voll zu tun hatten, die Leute im Zaum zu halten. Als sie versuchte, sich durchzudrängeln, bekam sie einen kräftigen Ellbogenstoß in die Rippen. „He, warten Sie, bis Sie dran sind!" rief wütend einer der Gäste. Sie gab es auf und nahm die Treppe, um zum Eingang des VIP-Bereichs zu gelangen, der zu ebener Erde lag. Hier oben war Par-Tee der Aufpasser, ein kaffeebrauner Athlet, an dem niemand vorbeikam, der nicht einen Platz im VIP-Bereich reserviert hatte. „Na, Melinda-Baby, gibt es Probleme?" fragte er. Sie fuhr zusammen, weil sie sich immer noch nicht an diesen Namen gewöhnt hatte. „Ich habe zu lange gewartet, deswegen kam ich unten nicht mehr durch die Menge." Er hakte das dicke Seil auf und ließ sie ein, dann öffnete er ihr die Eingangstür. „He, wenn Sie schon die Puppe reinlassen, dann uns gefälligst auch!" Beim Klang der bekannten Stimme jagte ein Adrenalinstoß Lynns Puls in die Höhe. Ein reiner Reflex, dass sie herumfuhr. Hinter ihr stand Victor Churchill, am Arm eine junge, sehr
schlanke und attraktive Brünette. Lynn schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er sie nicht erkannt hatte. Heute Abend war es so weit. Eines musste er ihr zugestehen - wenn er sie nicht schon vor ein paar Tagen gesehen hätte, als sie ins Büro ging, hätte er sie nicht erkannt. Aber nun hatte er sie. Seine Aufregung war unbeschreiblich gewesen, als er sie wie eine verängstigte Ratte ins Gebäude huschen sah. Er lachte vor sich hin. Ein passender Vergleich. Ungeziefer. Genau das war sie. Hätte er doch nur etwas Gift... Nein, das wäre zu einfach. Dann würde die Jagd zu schnell zu Ende sein. Sie war eine eiskalte Schlampe, die es verdiente zu leiden. So wie sie ihn leiden ließ. Immer noch in Sorge, dass Churchill sie erkannt haben könnte, ging Lynn auf seinen Tisch zu, ein ungutes Gefühl im Bauch. Bei ihm saßen die Brünette und zwei Paare, die er mitgebracht hatte. Es waren wahrscheinlich Geschäftsfreunde, deren Gattinnen von den hübschen, leicht bekleideten jungen Frauen in Begleitung ihrer Männer nichts wussten. Einen Moment lang beobachtete Lynn Churchill. Er gab offenbar irgendeine lange Geschichte zum Besten. Das war gut, so würde er der Kellnerin kaum Aufmerksamkeit schenken ... „Darf ich Ihre Bestellung aufnehmen?" fragte sie mit munterer, fröhlicher Stimme, die so ganz anders als ihre eigene klang. „Bringen Sie den besten Champagner, den das Haus zu bieten hat." Churchill schwenkte in prahlerischer Geste die Hand, als zahle er so etwas aus der Portokasse. „Haben Sie auch schon einen Blick in die Speisekarte geworfen?" „Ich kann leider nichts essen", erklärte die Brünette mit Schmollmund. „Nächste Woche habe ich wichtige Aufnahmen. Die Kamera lässt einen immer gleich zehn Pfund dicker aussehen, wissen Sie." Ein Model. Du könntest zehn Pfund mehr auf den Rippen gut vertragen, dachte Lynn, enthielt sich aber jeder Bemerkung. Es ging allein darum, Churchill zum Reden zu bringen. Sie beugte sich weiter vor und gestattete ihm einen besseren Einblick in ihren Ausschnitt. Außerdem konnte so das Mikrofon besser aufnehmen. „Vielleicht einen kleinen Happen vorweg?" fragte sie. „Ich nehme Sie als Vorspeise, Schätzchen." Anzüglich starrte er ihr direkt in die Augen. Lynn fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Nur mit Mühe brachte sie heraus: „Wie wäre es mit Bruschetta?" „Haben Sie nicht etwas Weicheres?" Sein Blick klebte förmlich an ihren Brüsten. „Wir haben Shrimps mit Ziegenkäse", flötete sie. Dieser alte Bock! „Dann muss ich mich wohl damit zufrieden geben." Er lachte schallend und schaute sich Beifall heischend um. Die Frauen lächelten angestrengt, während die Männer sich anscheinend bemühten, ihre Gedanken nicht zu offen zu zeigen. Und bevor Lynn davongehen konnte, fühlte sie Churchills Hand an ihrem Hintern. Er drückte ihn kurz und kräftig. „Bedienen Sie mich ordentlich, Honey, und Sie bekommen von mir, was Siebrauchen." Nur aus einem Grund brach ihm Lynn nicht die Finger, wie Blade es ihr beigebracht hatte weil dann das Spiel gelaufen wäre. Stattdessen zwang sie sich zu einem dümmlichen Grinsen und machte sich eiligst davon. Als sie wütend die Bestellung in die Kasse tippte, kam Gideon heran. „Was hat Ihnen das arme Ding getan?" „Churchill ist ein Widerling. Aber ich habe ihn!" sagte sie triumphierend und haute auf die Taste für die Shrimps. „Nun darf ihm jemand anders servieren."
Gideon deutete mit dem Kopf auf einen freien Tisch. ,, Cooper ist noch nicht da, was?" „Ich schätze, ein Konzert und ein Essen umsonst reichen nicht, einen Koch von seinen Freitagabend-Spezialmenüs fortzulocken." „Das würde ich nicht sagen. Ich habe in seinem Restaurant angerufen. Raten Sie mal, wer sich heute Abend krankgemeldet hat?" Lynn riss die Augen auf. „Dann wird Cooper kommen." Aber wann? fragte sie sich. Schon in Kürze würde das Konzert beginnen. Das Lokal war brechend voll... bis auf einen einzelnen leeren Tisch, der sie zu verspotten schien. Blade beschäftigten zwei Dinge - das Mixen der Getränke und die Sorge um Lynn. Es wird oben schon alles klargehen, beruhigte er sich. Schließlich waren Gideon und Logan dort, um auf sie aufzupassen. Während des ersten Auftritts von Maria Savage liefen weniger Bestellungen ein. Die talentierte Sängerin schlug die Zuhörer in ihren Bann, für Blade eine gute Gelegenheit, sich zum ersten Mal am Abend richtig umzuschauen. Sein Blick richtete sich sofort auf die gestaffelten Plätze für die VIP-Gäste, die freie Sicht auf die Bühne boten. Lynn hatte er schon eine ganze Weile nicht gesehen. Ob sie inzwischen an Cooper und Churchill herangekommen war? Seltsam, ein Tisch war immer noch leer... Er sah sich weiter um und erstarrte, als er einen Mann mit Sonnenbrille an einem der letzten Tische sah. Verdammt! Blade überprüfte sein Headset - nur das Team Undercover und Lynn sollten auf Kanal drei geschaltet sein. „Notfall", sagte er leise ins Mikrofon. „Lynn - kommen." Als sie sich nicht meldete, fluchte er unterdrückt und überließ die Bar seinem Kollegen. „Stimmt was nicht?" fragte Gideon. „Dort drüben am anderen Ende." Er deutete mit dem Kopf unauffällig in die Richtung und eilte zur Treppe. „Wer ist das?" „Johnny Rincon."
13. KAPITEL Lynn hatte keine Ahnung, dass Blade in den VIP-Bereich hinaufgekommen war, bis sie seinen Atem im Nacken spürte. „Warum trägst du kein Headset?" wollte er leise direkt an ihrem Ohr wissen. Sie erschrak angesichts seiner ärgerlichen Miene und griff sich spontan an den Kopf. „Ich habe es vergessen." „So wie du vergessen hast, mir zu erzählen, dass du Johnny doch Eintrittskarten geschickt hast?" „Was? Das stimmt nicht!" „Und warum ist er dann hier?" „Wo?" keuchte sie. Blade deutete hinüber zu dem Tisch in der Ecke. Lynn schaute an ihm vorbei zu dem Mann mit der Sonnenbrille, der allein dort saß. Sie begriff gar nicht, wieso sie ihn nicht bemerkt hatte. Vielleicht, weil sie so wütend auf Churchill gewesen war. Und ihr wurde klar, wie gefährlich solche Unaufmerksamkeit für sie werden konnte. Sie blickte Blade an und sprach mit erhobener Stimme, um die Musik zu übertönen. „Von mir hat er keine Karten bekommen. Ich habe den Umschlag an ihn in den Papierkorb geworfen." Sie versuchte sich daran zu erinnern, aber es gelang ihr nicht so richtig. „Also ... auf jeden Fall wollte ich es tun. Nein, warte, es kann sein, dass ich ihn auf dem Tresen im Laden liegen gelassen habe, und er ist aus Versehen weitergeleitet worden." Blade sah sie finster an. „Halt dich von Johnny fern." „Er sitzt nicht in meinem Bereich", sagte sie und presste die Lippen zusammen. Musste er sie deswegen so herunterputzen? „Was machst du überhaupt hier oben?" „Abgesehen davon, dass ich auf dich aufpasse? Ich spiele den Barkeeper." „Dann solltest du dich besser wieder an deinen Arbeitsplatz begeben." „Pst!" Einer der Gäste warf ihnen einen giftigen Blick zu. Während Blade zum Tresen zurückmarschierte, schaute Lynn hinüber zu dem Tisch, an dem Johnny saß. Bildete sie es sich ein, oder starrte er sie an? Die dunklen Gläser verbargen seine Augen. Vielleicht ist er einfach nur neugierig, versuchte sie sich zu beruhigen. Er konnte sie unmöglich erkannt haben. Kaum hatte Maria Savage die Bühne verlassen, liefen die Bestellungen ein, und Blade war nur froh, dass er Gabe Conner als Hilfe hatte. So konnte er Johnny und Lynn im Auge behalten. Er hoffte nur, dass sie seine Anweisungen befolgte und sich von dem Kerl fern hielt. Seine Anweisungen. Lynn reagierte allergisch darauf. Einerseits konnte er es ihr nicht verdenken. Andererseits, warum wollte sie so verrückt sein und ihr Leben aufs Spiel setzen, nur um sich und ihm ihre Unabhängigkeit zu beweisen? „Ich habe gehört, man hat nach mir gefragt." Blade drehte sich langsam zu seinem alten Feind um. „Welche Überraschung, Johnny, dich hier zu sehen. Ich dachte, Skipper's wäre mehr nach deinem Geschmack." „Maria Savage tritt nicht bei Skipper auf. Vielleicht kannst du mich ihr vorstellen ... um der alten Zeiten willen." „Frag jemand von ihrem Team. Ihren Leibwächter." „Ja, sie braucht wirklich jemand, der ihren Leib beschützt. Der ist fast so heiß wie der von der Puppe, der du vorhin was ins Ohr geflüstert hast. Du weißt schon ... die Kellnerin mit den blauen Pailletten." „Du meinst Melinda." „Du könntest mich dieser Melinda vorstellen."
„Ich glaube nicht." „Wieso? Hat sie auch einen Leibwächter? Dich vielleicht? Also, das macht sie eigentlich noch interessanter." Johnny lachte, und Blade unterdrückte nur mit Mühe seinen wachsenden Ärger. „Aber kommen wir zurück zu meiner Bemerkung", sagte Johnny. „Welche?" „Dieses auffallende Interesse an mir. Du weißt nicht zufällig etwas darüber?" Blade sah, dass Lynn Richtung Bar kam. „Warum sollte ich?" Was zum Teufel war mit ihr los? Warum arbeitete sie gegen ihn? „All die seltsamen Fragen, die man stellte nach deinem Besuch bei Skipper, Blade, alter Kumpel. Sollte das wirklich ein Zufall sein?" „Manche Leute glauben nicht an Zufälle." Lynn blieb stehen, direkt neben Johnny. „Aber wenn Sie mich fragen, sie passieren ständig. Ich brauche zwei Pellegrino, mit Eis", wandte sie sich an Blade. Gabe hatte gerade mit einer anderen Bestellung alle Hände voll zu tun. Blade griff nach zwei Gläsern und gab Eiswürfel hinein. „Sie sind also Melinda?" „Entweder sind Sie Hellseher, oder aber es hat jemand aus der Schule geplaudert." Es machte Blade nervös, wie sie sich vertraulich zu diesem Bastard hinüberbeugte. Er wusste, sie flirtete mit Rincon, um ihn zum Sprechen zu bringen, wollte so dicht wie möglich an ihn herankommen, damit die Stimme brauchbar aufgenommen wurde. Johnny lachte. „Schule. Das ist echt gut. Ich habe sie nie zu Ende gebracht, Schätzchen. Aber ich kann ein Mädel wie Sie immer zufrieden stellen. Wie wäre es, wenn wir beide ...", „Nein." Blade knallte zwei Gläser und zwei Flaschen Pellegrino vor Lynn auf den Tresen. „Du kümmerst dich besser um deine Gäste." Sie lächelte zufrieden. „Gern, ich habe ja nun, was ich wollte." „Nicht so schnell, Süße." Als Johnny nach Lynns Arm griff, sah Blade rot. „Lass sie los!" „Gehört sie dir?" „Ich gehöre niemandem!" protestierte Lynn, was Blade noch wütender machte. „Wollen wir gemeinsam überlegen, wie das zu ändern ist?" schlug Johnny vor. Er legte den Arm um ihre Schultern. Mit Blades Beherrschung war es vorbei. Ohne zu überlegen, schoss er um die Bar herum und warf sich auf Johnny. Eine Frau kreischte auf, als die beiden Männer über einen Tisch flogen und zu Boden krachten. Blade sah, dass Johnny hinter sich griff, wahrscheinlich nach der Pistole im Hosenbund, aber er war schneller und hatte im nächsten Moment sein Messer gezogen. Er rammte Johnny auf den Boden und presste ihm die Messerspitze an die unversehrte Wange. „Dein Fehler, herzukommen und Ärger zu machen", knurrte er. „Schon gut, dann habe ich einen Fehler gemacht. Lass mich los, ich verschwinde." „Soll ich die Polizei rufen?" fragte Gabe, den Hörer schon in der Hand. „Keine Bullen!" brüllte Johnny. Blade hätte dem Kerl gern eine zweite Lektion verpasst, riss sich aber zusammen. Er steckte sein Messer wieder ein und stand auf. Lynn legte ihm die Hand auf den Arm. „Keinen Anruf", sagte er zu Gabe. „Der Dreckskerl geht." „Bring ihn raus", befahl Gideon Par-Tee. „Sei vorsichtig", warnte Blade den Rausschmeißer. „Er ist bewaffnet." Par-Tee packte Johnny, riss ihn unsanft hoch, griff mit der freien Hand unter sein Jackett und zog eine beeindruckend große Pistole heraus. Er gab sie Blade. „Machen wir einen kleinen Spaziergang, Freundchen", sagte er dann zu Johnny.
„Okay, okay." Aber als Par-Tee ihn davonschob, schaute Johnny über die Schulter zurück. Er blickte von Blade zu Lynn, dann wieder auf Blade und bewegte die Lippen. „Das wirst du noch bereuen", flüsterte er fast unhörbar. „Ihr zwei solltet eine kleine Pause einlegen", schlug Gideon vor und deutete auf die Tür hinter der Bar. In dem kleinen Büro, zu dem sie führte, standen die Aufnahmegeräte. „Gabe übernimmt den Ausschank, und ich kümmere mich hier um alles Weitere." Lynn konnte es kaum erwarten, mit Blade allein zu sein. Kaum hatte er die Tür hinter ihnen geschlossen, fuhr sie ihn an: „Ich wäre auch ohne Gewaltanwendung mit Johnny Rincon fertig geworden!" Blade verschränkte die Arme vor der Brust. „Woher willst du das wissen?" „Wir hatten Dutzende von Zeugen. Was hätte er mir also unter solchen Umständen antun können?" „Er hat dich angefasst!" Gut, dass Blade nicht dabei war, als Churchill mir an den Hintern gefasst hat, dachte Lynn, Sehr wahrscheinlich hätte er ihm an Ort und Stelle den Hals umgedreht. „Und das war es wert, einen solchen Aufstand zu machen?" fauchte sie wütend. „Deswegen musstest du dein Messer ziehen?" „Er griff nach seiner Pistole." Das war der Grund, warum sie so wütend auf Blade war - weil er sich selbst in Gefahr gebracht hatte. Weil er hätte getötet werden können. „Weil du ihn angegriffen hast!" „Ich habe versucht, dich zu beschützen." „Übertrieben, wie ich finde, Blade." „Mag sein." Auch wenn er sich unter Kontrolle hatte, spürte sie doch deutlich seinen Ärger. „Ich hatte dir von Anfang an gesagt, du sollst dich von Johnny fern halten", erinnerte er sie. „Ich wollte mir auf keinen Fall die Gelegenheit entgehen lassen, seine Stimme aufzuzeichnen. Ich bin dieses Versteckspiel leid. Ich will mein normales Leben wiederhaben." Er stand da, als hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen. Aber bevor sie ihre Worte abmildern konnte, fragte er: „So sehr, dass du es deswegen aufs Spiel setzen willst?" „Ach, hör doch auf! Ich war umgeben von kräftigen Männern - Gideon, Logan, du. Und Johnny hatte mich nicht erkannt. Er hat mich nur benutzt, dich zu provozieren, denn du hast ihn glauben lassen, dass etwas zwischen uns läuft." „Ist es denn nicht so?" Lynn wurde rot. Natürlich lief etwas zwischen ihnen, ob es nun vernünftig war oder nicht, ob sie zusammenpassten oder nicht. „Jedes Mal, wenn ich den Eindruck habe, du empfindest etwas für mich, ziehst du dich zurück", erwiderte sie. „Ein Bodyguard, der sich mit seinem Schützling einlässt, gefährdet ihn eher." Lynn trat näher an ihn heran, musterte sein ausdrucksloses Gesicht. „Ist das wirklich der wahre Grund, Blade?" Ihr Ärger war rasch abgeklungen. Er hatte aus persönlichen Gründen so heftig auf Johnnys Provokationen reagiert. Weil sie ihm tatsächlich etwas bedeutete. Konnte es sein, dass ihn seine Gefühle ebenso verwirrten wie sie? „Wir sollten wieder an die Arbeit gehen", meinte er, traf aber keine Anstalten, die Tür zu öffnen. „Warum? Hast du Angst, darüber zu reden?" Lynn scherte sich nicht darum, dass dies eigentlich nicht der richtige Moment für ein solches Gespräch war. Sie brauchte Antworten. Sie suchte nach einer Erklärung dafür, dass sie sich diesem Mann öffnete - einem Mann, den sie kaum kannte. Warum sie mehr von ihm wollte. „Du hast gesagt, ich bedeute dir etwas.
Wie viel?" „Mehr, als mir lieb ist." Sie rückte nun so dicht an ihn heran, dass kaum eine Hand zwischen sie passte. „Vielleicht ist das unser Schicksal ..." Mit einem Stöhnen schlang Blade die Arme um sie und zog sie an sich. Lynn keuchte auf, und ehe sie noch einmal Luft holen konnte, küsste er sie leidenschaftlich. Benommen ergab sie sich ihren Gefühlen, überließ sich den köstlichen Empfindungen, die keiner Erklärung bedurften. Was sie für Blade empfand, war so alt wie die Zeit selbst. Eine Frau und ein Mann trafen aufeinander und konnten nicht mehr voneinander lassen. Sie wollte ihn. So einfach war das. So natürlich. So verrückt. Lynn schmiegte sich an ihn und stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie nun weitermachten ... Sie war bereit, so sehr bereit... besonders, als er eine Hand zwischen ihre Schenkel wandern ließ, die andere zu ihrer Brust. Die Berührung setzte sie in Flammen ... Und wieder zog er sich zurück. Enttäuscht holte Lynn Luft und strich sich bebend das Haar aus dem Gesicht. Da sah sie, dass sich seine Finger im Kabel verheddert hatten. Er löste sie vorsichtig, und einen Moment lang starrten sie sich an, ehe er es wieder unter den Stoff schob. Eine weitere Welle des Verlangens überschwemmte sie. Dennoch sagte sie so ruhig wie möglich: „Wir haben wohl ein wenig die Beherrschung verloren." Sie verließen das Büro. Glücklicherweise stand Maria Savage wieder auf der Bühne, so dass sich die Bestellungen in Grenzen hielten. Gideon und Logan schienen die Einzigen zu sein, die ihre Rückkehr bemerkten. Dennoch beschlich sie das ungute Gefühl, dass das nächste unangenehme Ereignis nicht lange auf sich warten lassen würde. Jemand beobachtete sie. Churchill? Bei jeder nur möglichen Gelegenheit schaute sie unauffällig zu ihm hinüber, aber sie ertappte ihn nie dabei, dass er sie anstarrte. Außer, wenn sie an den Tisch kam und die Drinks servierte. Warum hatte sie dann ständig den Eindruck, dass jemand ihr über die Schulter blickte? Cooper? Stand oder saß der unheimliche Koch unerkannt hier irgendwo und überlegte sich, wie er Hackfleisch aus ihr machen würde, wenn er sie in die Finger bekam? Bei den VIPs saß er nicht, das stand fest. Der einzelne Tisch war immer noch leer, und sie konnte ihn auch nirgendwo sonst entdecken. Die Leute saßen dicht gedrängt - ideale Bedingungen für ein Katz- und Mausspiel. Ein weiterer Blick verschaffte ihr die Gewissheit, dass Blade, Gideon und Logan in der Nähe waren. Von so vielen fähigen Männern beschützt zu werden, war ausgesprochen beruhigend. Während sie servierte, ließen ihre innere Anspannung und die Furcht mehr und mehr nach. Sie hatten die Stimmen zweier Verdächtiger auf Band, einen anderen hinausgeworfen, und der Rest der Nacht sollte eigentlich ruhiger verlaufen. Das Konzert endete mit tosendem Beifall. Maria Savage sang noch drei hinreißende Zugaben, dann verschwand sie endgültig von der Bühne. Lynn schaute in den unteren Bereich und sah, dass Cass Richtung Bühneneingang eilte. Sehr wahrscheinlich wollte sie dafür sorgen, dass die Sängerin und ihre Gefolge ohne Probleme den Club verlassen konnten. Ungefähr die Hälfte der Gäste ging wenig später, die anderen blieben bei einem letzten Drink und brachen schließlich in kleinen Gruppen auf. Lynn war so mit Aufräumen beschäftigt, dass sie nicht einmal mitbekam, dass Victor Churchill und seine Freunde gingen. Als sie es dann bemerkte, war sie unendlich erleichtert. „Ich schaue mich unten an der Bar noch einmal um", sagte Blade, als sich keine Gäste mehr im VIP-Bereich befanden. „Danach bin ich fertig."
„Ich muss noch dieses Kabel loswerden." Logan war offenbar ebenfalls unten und Gideon auch. Also ging sie allein ins Büro hinter der Bar. Dort schaltete sie das Aufnahmegerät ab, löste den Sender von ihrem Schenkel und das Mikrofon von ihrem Mieder. Das angeklebte Kabel abzuziehen war etwas schmerzhaft, aber sie biss die Zähne zusammen und riss es mit einem Ruck ab. Wenn sich all dieser Aufwand nur gelohnt hatte. Lynn hatte nicht damit gerechnet, heute Abend Johnny Rincon aufs Band zu bekommen. Bestimmt reichte es aus, um zu klären, ob er der Entführer gewesen war oder nicht. Sie hatte das befriedigende Gefühl, diese Nacht gute Arbeit geleistet zu haben. Entspannt schlenderte sie hinaus. Draußen war es schon dunkel, nur eine entfernte Lampe spendete schwaches Licht. Es war unheimlich ruhig. Ein Schauer überlief sie. Unsinn, ermahnte sie sich im nächsten Moment, es besteht kein Grund, sich Sorgen zu machen. Als sie auf die Treppe zugehen wollte, hörte sie ein leises Geräusch hinter sich ... so, als wäre eine Tür geschlossen worden. „Blade?" rief sie. Bevor sie sich umdrehen und nachsehen konnte, bohrte sich etwas Hartes in ihren Rücken. Ihr blieb beinahe das Herz stehen, als die verhasste Flüsterstimme ertönte. „Dreh dich nicht um. Sag kein Wort." Ein Klicken verriet, dass die Waffe entsichert wurde. „Wenn du schreist, bist du tot - und er auch, wenn er kommt."
14. KAPITEL Blade, der inzwischen alles erledigt hatte, wunderte sich, wo Lynn so lange blieb. Hatte sie Probleme mit dem Kabel? Er beschloss, ihr zu helfen. Kaum war er die Treppe hinauf, hörte er ein scharrendes Geräusch. „Lynn?" Keine Antwort. Blade sprintete los und sah gerade noch, wie sich der Notausgang zur Nebenstraße schloss. „Was zum Teufel...?" Alle noch anwesenden Mitarbeiter befanden sich unten. Alle, bis auf Lynn. Was um alles in der Welt wollte sie dort draußen? Vielleicht tat sie es nicht aus freien Stücken ... Er raste zur Tür und stieß sie auf. Ein schwarz gekleideter Mann mit einer Skimaske über dem Gesicht zerrte Lynn gerade zu einem Wagen. Ihr waren die Augen verbunden, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Sie stolperte und wäre fast hingefallen. Blade war nicht mehr zu halten. Die Tür schlug hinter ihm ins Schloss, das Geräusch machte den Mann aufmerksam. Nach einem Blick in Blades Richtung stieß er Lynn brutal auf ihn zu, verlor dabei seine Autoschlüssel, die klirrend am Boden landeten. Lynn fiel auf die Knie, und der Kerl versuchte zu flüchten. „Lynn ..." „Mir geht es gut." Obwohl Blade wusste, der Mann würde ihm sehr wahrscheinlich entkommen, half er Lynn auf die Beine und riss ihr das Tuch von den Augen. „Wer ist es?" keuchte sie. „Rincon?" Während er ihre Hände befreite, musste Blade zugeben: „Ich habe sein Gesicht nicht gesehen. Hol Gideon und Logan - ich laufe ihm nach." „Blade, nein! Er hat eine Pistole!" Aber er war schon losgerannt, auch wenn nur eine geringe Chance bestand, den Kerl noch zu fassen. Sein Vorsprung war inzwischen zu groß geworden. Als er den Flüchtenden am Ende der Gasse ausmachte, beschleunigte er das Tempo. Langsam verringerte sich die Distanz zwischen ihm und dem Maskierten. Der Entführer warf einen Blick über die Schulter - er trug immer noch die Skimaske. Dann sprang er auf einen großen Müllcontainer, zog sich an der eisernen Feuerleiter hoch, die dicht darüber hing. Der Mann musste körperlich fit sein, und wieder fragte sich Blade, ob er tatsächlich Johnny Rincon vor sich hatte. Aber wer immer es auch war, er war die Leiter bereits halb hinauf, als Blade endlich den Müllcontainer erreichte und die erste Sprosse erklimmen konnte. Er hatte vier Stockwerke hinter sich gebracht, da hielt der Mann über ihm auf dem Treppenabsatz abrupt inne und griff nach einem Grill, den jemand dort stehen gelassen hatte. Asche regnete auf Blade herab, er konnte nicht ausweichen. Augen und Nase brannten, er hielt den Atem an und presste sich dicht an die Hauswand. Trotzdem streifte der metallene Rost auf dem Weg nach unten schmerzhaft seine Schulter. Blade fluchte und setzte die Verfolgungsjagd fort. Über ihm hatte der Angreifer inzwischen den obersten Treppenabsatz erreicht und hangelte sich aufs Dach hinauf. Ein paar Sekunden später verschwand er außer Sicht. Zwei Schüsse dröhnten durch die Nacht, und von unten her erklangen Stimmen. Blade hatte nur ein Ziel: den Kerl zu fangen. So ignorierte er alles andere und zwang sich, noch schneller hochzusteigen. Aber als er endlich das Flachdach erreichte, war von dem anderen nichts mehr zu sehen. Die Tür zum Treppenhaus ... die normalerweise verschlossen war.
Der Flüchtige hatte das Schloss aufgeschossen. Blade riss die Metalltür auf. Undurchdringliche Finsternis empfing ihn. Ohne zu zögern ging er hinein. Einen Moment lang blieb er stehen, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Ein schwacher Lichtschein half ihm, die Treppe zu entdecken, aber dennoch musste er sich seinen Weg hinunter mehr ertasten, sich auf seinen Instinkt verlassen. Erst im dritten Stock fiel Licht aus einem Fenster in den Flur. Das heruntergekommene, staubige Gebäude erinnerte an einen Kaninchenbau, es war voller kleiner Firmen und Künstlerstudios. Bestimmt war die Miete billig, baupolizeiliche Vorschriften wurden offenbar nicht sonderlich streng eingehalten. Der betagte Fahrstuhl kroch im Schneckentempo dahin, Blade hingegen war jung und schnell. Als der Lift den zweiten Stock erreichte, hatte er den quietschenden Kasten eingeholt. Und als sich im Erdgeschoss die Türen auseinander schoben, war er zur Stelle. Er wollte schon sein Messer ziehen, erstarrte aber, als er sah, dass sich nur eine junge Frau mit gepiercter Augenbraue, Nasenring und aufwendigen Tätowierungen auf beiden Armen in der Kabine befand. Voller Schrecken starrte sie ihn an. Bestimmt hatte sie um diese späte Stunde niemanden mehr hier erwartet. Obwohl Blade sich sofort wieder entfernte, rannte sie wie gehetzt Richtung Ausgang. Wo in diesem Labyrinth hatte sich der Kerl versteckt? „Du musst verschwinden, Lynn." Blade und die anderen hatten sich in Gideons Büro versammelt. Überrascht blickte sie ihn mit großen Augen an. „Ich bin bereits verschwunden ..." „Diesmal richtig", fügte er hinzu. „Ohne eine Spur zu hinterlassen. Und du darfst nicht wiederkommen, ehe wir diesen Bastard dingfest gemacht haben." „Er hat Recht", meinte Gideon. „Ihr Angreifer hat herausgefunden, dass Sie hier sind ..." „Aber wie?" unterbrach ihn Lynn. „... und er hat Ihre Tarnung durchschaut." „Du bist bei uns nicht mehr sicher", stimmte Cass ihm zu. „Manchmal ist die beste Verteidigung, sich sozusagen in Luft aufzulösen", meinte Gabe. „Du bist bei mir nicht mehr sicher." Das kam von Blade. Er will mich fortschicken, erkannte Lynn mit wachsendem Entsetzen. Und das jetzt, da sie begonnen hatte, zu begreifen, wie tief ihre Gefühle für ihn waren. Noch bevor ihr ein schlagkräftiges Gegenargument einfiel, kam Logan herein, gefolgt von Stella Jacobek. Die Polizistin wollte die gesamte Geschichte des Abends in allen Einzelheiten wissen, von Anfang an. Lynn saß stumm da, während Blade berichtete. Er schloss: „Wir haben das ganze Gebäude nach dem Kerl abgesucht, aber das war sehr wahrscheinlich Zeitvergeudung. Jetzt denke ich, er hat mich hereingelegt und sich auf dem Dach versteckt. Kaum war ich drinnen, ist er dann wohl die Feuerleiter wieder hinabgeklettert und entkommen." Stella schüttelte den Kopf. „Lynn zu beschützen - das ist deine eigentliche Aufgabe." „Ich weiß, es war nicht richtig ..." „Du bist zu weit gegangen!" Stella blickte sich um, und ihr Blick blieb an Gabe haften. „Du steckst auch in der Sache drin, nicht wahr? Soll das eine Art Verschwörung sein? Wieso habe ich das nicht schon vorher erkannt?" „Du wolltest es nicht sehen", sagte Blade. „Und du musst es auch jetzt nicht." Ihrer Miene nach zu urteilen versteht Stella anscheinend, was er meint, dachte Lynn. „Alle hier haben nur versucht, mich zu beschützen", sagte sie. Keiner sollte ihretwegen Probleme bekommen. Mit verengten Augen blickte Stella Blade an. „Ich fand es von Anfang an seltsam, dass du
zu mir kommst und anbietest, den Leibwächter zu spielen." Das war eine echte Überraschung für Lynn. Bislang war sie davon ausgegangen, dass Stella Blade um Hilfe gebeten hatte. „Lies nicht zu viel hinein." Stella tat es offensichtlich doch. Sie blickte von einem zum anderen. „Exmilitär. Expolizist. Exknacki ..." „He!" rief Cass empört. „Ich dachte, das hört sich etwas netter an als Exsträfling." Stellas Blick wanderte forschend von Logan zu Gideon. „Und was ist mit Ihnen? Wer sind Sie wirklich?" Ruhig erwiderte Gideon ihren Blick. „Sie sehen das, was Fakt ist. Mir gehört dieser Club." „Und Sie leiten diese Operation?" Als niemand antwortete, sagte Lynn: „Stella, Sie müssen diese Spekulationen für sich behalten." „Muss ich?" „Bitte", bat Lynn. „Sie haben mich hergebracht, damit ich sicher bin. Und das wäre ich auch, hätte ich nicht darauf bestanden, die Stimmen der Verdächtigen auf Band zu bekommen. Es war also allein meine Schuld. Und wenn Sie mich nicht an diesen Ort gebracht hätten, an dem ich mich wirklich sicher fühlte, wäre ich davongelaufen. Aber nun laufe ich nicht davon. Und alle hier stehen auf unserer Seite - meiner und Ihrer." Ihre Worte blieben nicht ohne Wirkung. Lynn sah es Stellas Gesicht an. „Ich hätte im Grund nicht unbedingt etwas dagegen, alles für mich zu behalten, was ich über diese Operation weiß", erwiderte sie langsam. „Aber mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass hier so unüberlegt Leben aufs Spiel gesetzt werden. Und damit meine ich nicht nur Ihr Leben, Lynn." Eingehend musterte sie jeden der Anwesenden. „Ich meine das aller Personen hier im Raum." Die Männer saßen stumm da, wirkten gereizt. Lynn wusste nicht, was sie denken sollte. „Sie werden es niemand erzählen", sagte da Cass zu Stella. „Seien Sie sich nur nicht zu sicher." „Doch, das bin ich. Ich weiß es. Sie würden uns nicht enttäuschen. Sie wünschen sich, Sie hätten Leute wie uns, wenn Sie selbst einmal Hilfe brauchten:" Lynn hätte schwören können, dass die Polizistin blass wurde. Cass hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Hatte sie nur geraten? Oder aber konnte sie tatsächlich die Gedanken anderer Menschen lesen ...? „Also, was ist?" fragte Blade. „Stella ...?" „Gut. Ich werde den Mund halten", versicherte sie hastig. „Jedenfalls vorerst." „Für immer", fuhr da Cass fort. „Denn Sie wollen nicht, dass einer von uns bestraft wird, nur weil er jemandem aus der Klemme geholfen hat, der es bitter nötig hatte." Alle im Raum schienen den Atem anzuhalten. Lynn spürte, dieser Augenblick war entscheidend für das Überleben des Team Undercover. Endlich nickte Stella knapp. „Versprecht mir nur, dass ihr euch von jetzt ab heraushaltet. Überlasst die Polizeiarbeit mir." Keiner sagte ein Wort. Stella hob das Kinn. „Gut, dann ist ja alles geregelt." Vielleicht für sie, dachte Lynn, aber nicht für mich. Sie würde nirgendwo anders hingehen als zu Blade, auch wenn alle sich Sorgen um ihre Sicherheit machten. Als sie dann bat, nach Haus fahren zu können, hatte niemand einen Einwand. Zumindest nicht, bis Blade und sie im Jeep saßen und Richtung Milwaukee Avenue fuhren. „Vielleicht solltest du heute Nacht in einem Hotel bleiben", meinte er. „Vielleicht auch nicht."
„Es geht mir nur darum, was für dich am besten ist." „Bist du sicher, es wäre nicht zu deinem Besten?" fragte sie. „Streite dich deswegen nicht mit mir, Lynn." „Und sag du mir nicht, was ich tun soll!" „Es ist wirklich nur in deinem Interesse!" Wie oft habe ich als Kind diese Worte gehört? dachte sie verbittert, während er den Wagen hinter seinem Haus parkte. Ihr Vater hatte es ständig gesagt und ihre Mutter und Schwestern ebenfalls. Es spielte eigentlich keine Rolle, dass es diesmal für sie um Leben oder Tod ging. Oder dass Blade wirklich einen berechtigten Grund hatte, dass sie sich seinen Argumenten beugte. Lynn sah nur die Bevormundung. Sie wartete, bis sie die Treppe hinauf waren. Außer Atem sagte sie dann: „Ich hasse das alles." Dann drehte sie ihm den Rücken zu und rammte ihren Schlüssel ins Schloss. „Das weiß ich, Lynn. Deswegen versuche ich ja, dir verschiedene Möglichkeiten anzubieten." „Ich rede nicht davon, hier oder woanders zu wohnen, nicht einmal davon, Gewaltopfer zu sein." Sie schloss auf und öffnete die Tür, wusste, Blade war direkt hinter ihr. Aufgebracht wirbelte sie herum und blickte ihm in die Augen. „Ich hasse es, dass ich dir ausgeliefert, dein Opfer bin!" Wie konnte mir das nur passieren? dachte sie, als er die Tür hinter ihnen zudrückte und abschloss. Ich hatte doch geschworen, niemals so zu werden wie meine Mutter, geschworen, mich niemals mit einem Mann einzulassen, der sich und andere unter Kontrolle haben wollte. Wieso habe ich mich ausgerechnet in Blade Stone verliebt? „Mein Opfer?" Er hörte sich aufrichtig erstaunt an. „Ich will doch nur, dass du in Sicherheit bist." „Du willst mich fortschicken!" Das ist das eigentliche Problem, wurde Lynn bewusst. Nun endlich war sie bereit zuzugeben, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Warum sonst wohl fürchtete sie eine Trennung von ihm? Aber Blade war sich über seine Gefühle offenbar nicht im Klaren, und anstatt sich für sie zu entscheiden, wies er sie lieber zurück. „Was ich will, ist unwichtig. Deine Sicherheit steht an erster Stelle." „Und was willst du wirklich?" fragte sie. „Dich beschützen." Die Art, wie er es sagte, verursachte ein Prickeln auf ihrer Haut. Eigentlich war es nur natürlich, dass jemand einen anderen beschützen wollte, den er mochte. Und dass er sie mochte, hatte er mehr als nur einmal gesagt ... aber wie sehr? „Das ist alles?" fragte sie leise. „Mehr willst du nicht? Wenn doch, dann sag es mir, Blade, bevor die Gelegenheit vorbei ist. Oder bin ich dumm, dass ich mir einbilde, du willst vielleicht mehr... nur weil ich es möchte?" Er stöhnte auf, wie ein Mann, der sich geschlagen gibt. „Ich will dich." Ihre Blicke trafen sich. Lynns Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Die Gefahr zählte nicht mehr, Sicherheit war unwichtig, Auseinandersetzungen, Streitpunkte, all das war vergessen. Stattdessen bot dieser Moment eine Chance - die Chance auf eine gemeinsame Zukunft. „Dann nimm mich", bot sie ihm mit sanfter Stimme an. Sein Zögern ließ sie bangen und hoffen zugleich. Würde er die Herausforderung annehmen? Er zog sie zu sich. Lynn schmiegte sich an seine Brust, spürte seinen Herzschlag und konnte ihn bald nicht mehr von ihrem unterscheiden. Es war, als schlügen ihrer beider Herzen wie ein einziges. Während Blade ihren Mund mit einem hungrigen Kuss eroberte, drängte er sie gleichzeitig zur Couch. Lynn stieß an die Armlehne, fiel im nächsten Moment auf die Polster, und Blade landete auf ihr. Nicht ohne jedoch sich rechtzeitig mit einer Hand abzustützen, um ihr nicht sein volles Gewicht zuzumuten. Die Geste war ihr längst bittersüß vertraut.
Er würde mir nie wehtun, dachte sie. Dann senkte er den Kopf, liebkoste ihre Brüste. Hitze durchströmte Lynn. Mit den Zähnen packte Blade den Saum ihres Tops, wollte es höher ziehen, doch Lynns Geduld reichte dafür nicht. Kurz entschlossen riss sie es sich über den Kopf. Dass er die Gelegenheit sofort nutzte, um ihre Knospen durch den hauchdünnen BH mit den Lippen zu umschließen, entlockte ihr ein Stöhnen. Mit der Zunge umkreiste er die harten Spitzen, leckte darüber und zog eine feuchte Spur über ihren Bauch. Lynn hob unwillkürlich die Hüften, bog sich seiner Zunge entgegen. Blade richtete sich auf, öffnete ihre Hose, streifte sie ihr ab. Gleich darauf lag sie nackt da, zitternd vor Verlangen. Im Handumdrehen entledigte er sich seiner eigenen Kleidung, beugte sich über Lynn und setzte seine Erkundung ihres Körpers fort, erforschte ihre feuchte Wärme mit Lippen, Händen und Zunge, bis sie es vor Verlangen kaum noch aushielt. Mit weit geöffneten Schenkeln hieß sie seine Liebkosungen willkommen, stöhnte und wand sich unter dem turbulenten Ansturm auf ihre Sinne. Dann küsste er sie wieder auf den Mund, und der kleine Lederbeutel, den er immer trug, schlug gegen ihren Hals. Lynn nahm ihn ab und ließ ihn zu Boden fallen, knotete das Band auf, das seinen Zopf hielt, und schob alle zehn Finger in Blades dichtes dunkles Haar. Blade biss zärtlich in ihre Unterlippe: Sie spürte, wie er lächelte, als sich ihr ein tiefes Stöhnen entrang. Erregend langsam strich er dann mit dem Mund über ihren Hals, ihre Brüste, über ihren Bauch und tiefer, bis er erneut ihre empfindsamste Stelle fand. Er wusste, was er tun musste, damit sie vor Lust loderte. Sobald Lynn bereit war, schob er sich auf sie und zog sie zu sich, bis sie die fordernde Spitze seiner Männlichkeit an ihrem geschwollenen Fleisch fühlte. Sie wölbte sich ihm entgegen, und mit einem einzigen kraftvollen Stoß füllte er sie aus. „Bitte", flehte sie, weil sie die Spannung kaum noch ertrug, „bitte ..." Blade ließ seine Hand zwischen sie gleiten und fand sie feucht und hoch empfindlich. Er reizte sie mit zwei Fingern, und die Woge, die sich in ihr aufbaute, schlug schier über ihr zusammen. Dann trieb er sie mit wenigen Stößen zum Höhepunkt. Während sie vor Entzücken aufschrie, erzitterte er und sank auf ihr zusammen. Dieses Mal hatte er sich nicht bei ihr zurückgehalten. „Ich liebe dich", flüsterte sie. Sie waren endlich eins geworden. Das Telefon riss Lynn aus dem Schlaf. Vorsichtig und auch nur ungern löste sie sich aus Blades Umarmung, genoss noch einen Moment lang die Wärme seines Körpers und setzte sich aufrecht hin. Irgendwann in der Nacht waren sie in seinem Bett gelandet, nachdem sie sich auf dem Weg dorthin mehrmals geliebt hatten. Das Telefon klingelte beharrlich. Sie schlang eine Bettdecke um sich und griff nach dem Hörer. „Hallo?" N „Lynn? Hier ist Logan." „Hallo, Logan. Was gibt's?" „Ich habe gleich heute Morgen die Bänder zu meinem Freund ins Labor gebracht. Er hat bereits Churchills und Rincons Stimmen analysiert." Ihr schnürte sich die Kehle zusammen. „Und?" „Negativ." „Was?" „Keine der Stimmen passt zu dem Sprachmuster Ihres Entführers. So bleibt nur noch ..." „Timothy Cooper", beendete sie den Satz für ihn. Die Aufnahme von ihm war zu kurz gewesen, um ein eindeutiges Resultat herzugeben. „Danke, Logan. Dann bis später." Noch bevor Blade fragte, fühlte sie seinen warmen Atem über ihr Haar streichen. „Was ist mit Timothy Cooper?"
Er schnupperte an ihrem Nacken. Ein lustvoller Schauer überlief sie. Voller Verlangen lehnte sie sich gegen ihn, genoss die Berührung, als er die Hände auf ihre Brüste legte und mit den Daumen ihre Knospen reizte. Wellen der Lust rannen durch ihren Körper. „Er allein bleibt übrig", stieß sie erstickt hervor, drehte sich in Blades Armen und stöhnte, als sie ihn vor sich sah, noch immer nackt. „Logan hat die Aufnahmen der letzten Nacht prüfen lassen." „Dann war es also nicht Johnny?" Sie schüttelte den Kopf. „Churchill auch nicht." „Stella wird es wissen wollen. Am besten rufe ich sie gleich an", sagte er, rührte sich aber nicht von der Stelle. „Sag ihr, sie soll Timothy Cooper genau unter die Lupe nehmen." „Gleich, sobald wir..." Er senkte den Kopf, aber sie wich ihm aus, lachte. „Erst die Arbeit." Widerstrebend gehorchte er, während sie ins Bad ging und duschte. Als sie herauskam, telefonierte er immer noch mit Stella. Also ging sie in ihr Apartment und zog sich frische Sachen an. Anschließend begann sie die gestern Nacht achtlos hingeworfenen Kleidungsstücke aufzusammeln. Dabei stieß sie mit dem Fuß gegen einen kleinen weichen Gegenstand. Blades Lederbeutel. Durch den unbeabsichtigten Tritt hatte sich die Schnur gelöst, und er war aufgegangen. Seufzend bückte Lynn sich, um den verstreuten Inhalt einzusammeln -ein paar glatte Steine, dazu ein vergilbtes Stück Zeitungspapier. Das Wort ermordet fiel ihr ins Auge. Neugierig geworden, faltete sie den Ausschnitt auseinander und sah die Überschrift: Junge Frau ermordet, dazu ein Foto. Sie hatte das Gefühl, ihr würde das Herz stehen bleiben. Das Bild zeigte ihre Schwester Lorraine, bäuchlings auf der Straße. Tot...
15. KAPITEL Lynn starrte immer noch auf den Zeitungsartikel, als sie Blade hinter sich spürte. „Ich habe gerade mit Stella telefoniert..." Sie fuhr herum und hielt ihm den Ausschnitt unter die Nase. „Warum trägst du dies hier mit dir herum?" Er wurde blass und fluchte leise. Lynn bemerkte einen bitteren Geschmack im Mund, auch wenn sie nicht wusste, warum. Blade schien sich zusammenzureißen. Noch vor ein paar Minuten hatte er ganz ihr gehört, mit seinem sexy Lächeln und den geschickten Händen, und nun stand da ein Fremder vor ihr. „Warum?" Es klang wie ein ersticktes Flüstern. Er trug nur einen Slip, und sie musste sich zwingen, ihm weiterhin unbeirrt in die Augen zu schauen. Blade schüttelte den Kopf und setzte sich auf die Lehne des Sofas, auf dem sie sich in der Nacht geliebt hatten. „Wir hatten eine verdeckte Operation geplant", begann er. „Es ging um den Einsatz gegen ein Terroristentrainingscamp im Nordwesten Chicagos, von dem wir Wind bekommen hatten. Die Leute waren sehr gefährlich, Lynn, ausgebildet, unschuldige Menschen zu töten." Der Nordwesten von Chicago ... wohin sie damals ihre Schwester geschickt hatte. Lynn musste schlucken. „Du wurdest eingesetzt, um diese Männer zu töten?" „Wir sollten sie dingfest machen. Und ja, wir waren autorisiert, notfalls Gewalt einzusetzen. Hier ging es nicht um einen gewöhnlichen Mord, sondern es herrschte Krieg, hier, in unserem eigenen Land. Diese Männer mussten aufgehalten werden. Leider sickerte etwas durch, wir wurden überfallen." Ein schmerzlicher Ausdruck trat in sein Gesicht. „Auf beiden Seiten kamen Menschen ums Leben." „Meine Schwester Lorraine eingeschlossen ... und ich habe sie mitten in dieses entsetzliche Geschehen hineingeschickt! Weißt du, wer sie getötet hat, Blade? Ist er auch tot?" „Nein. Er lebt, Lynn." Ihr Puls beschleunigte. „Dann weißt du, wer es ist." „Sogar sehr genau. Es ist..." Unbewusst hielt sie den Atem an. „Ich war es." Niemals hätte sie diese Antwort erwartet. „Was ...?" Lynn räusperte sich. Ich muss ihn missverstanden haben, dachte sie entsetzt. „Einer der Schüsse hatte mich getroffen, und ich hörte hinter mir jemanden. Zum Nachdenken blieb keine Zeit. Ich feuerte, noch während ich mich umdrehte. Ich sah die Frau erst, als sie bereits am Boden lag. Nun sehe ich sie jeden Tag meines Lebens vor mir." Seine Worte fuhren ihr wie ein Messer ins Herz. „Du hast Lorraine getötet?" Ihre Augen brannten, aber sie wollte nicht weinen. „Und die ganze Zeit über hast du es feige vor mir verschwiegen." „Wäre ich dazu in der Lage gewesen, ich hätte die Verantwortung übernommen. Aber ich weiß nur noch, dass mich einer der Männer fortschleppte, danach wachte ich erst im Krankenhaus wieder auf. Und inzwischen hatte die Vertuschungsaktion begonnen. Die Situation damals war sehr angespannt. Niemand wollte eingestehen, dass eine solche Aktion fehlgeschlagen war. Die Terroristen waren entweder tot oder saßen im Gefängnis. Alle Beweise für das, was in jener Nacht geschah, waren sorgfältig beseitigt worden." „Bis auf die Leiche meiner Schwester." Lynn sah ihn wie durch einen Schleier. Als sie dann an das Begräbnis dachte, begannen die Tränen jedoch ungehemmt zu fließen. „Kein Wunder, dass die Polizei mit der Suche nach dem Mörder nicht weiterkam." Blade erhob sich und kam auf sie zu. „Lynn ..." Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie schlug sie beiseite. „Nein! Fass mich nicht an! Ich möchte nur noch eins wissen ... eine Frage, die mich
innerlich zerreißt... wie konnte es passieren, dass ich mit dem Mörder meiner Schwester geschlafen habe?" „Weil ich dich ausgesucht habe", gestand er ein. „Ich musste herausfinden, wer du bist. Ich wollte mehr erfahren über die Familie der jungen Frau, der ich das Leben nahm. Meine Schuldgefühle fraßen mich allmählich auf, Lynn. Ich lag nachts wach und grübelte, überlegte, was ich tun könnte, meinen Fehler wieder gutzumachen, soweit so etwas überhaupt möglich ist. Und dann sah ich dich in den Nachrichten, hörte von der Entführung und dass dieser Verbrecher frei herumlief und dich bedrohte. Da sah ich endlich meine Chance. Wenn ich dich retten könnte ..." „Du bist mit mir ins Bett gegangen, um den Mord an meiner Schwester wieder gutzumachen?" „Ich habe dagegen angekämpft, das weißt du - erinnerst du dich an die erste Nacht hier? Ich war bereit, dich zu beschützen. Mein Leben hätte ich für dich gegeben ..." „Blade, das ist geschmacklos!" unterbrach sie ihn heftig. „Entschuldige, wenn ich nicht beeindruckt bin." ' „Ich meine es ernst, Lynn. Ich würde mein Leben geben, um deines zu retten. Zuerst nur deiner Schwester wegen. Inzwischen ist mehr daraus geworden. Ich hatte nicht vor, mich in dich zu verlieben, aber es ist geschehen." „Lügner", flüsterte sie und wich vor ihm zurück. „Lynn, bitte, du musst mir glauben ..." „Nicht ein Wort mehr, Blade. Nicht nachdem du mich so hinters Licht geführt hast. Und ich bleibe auch nicht hier." Er stand schweigend da und sah zu, wie sie den Schrank öffnete, ihren Koffer herausholte und einen Arm voller ^Kleidungsstücke von der Stange nahm. Achtlos warf sie alles in das Offene Gepäckstück, Kleider, Bügel und alles andere. „Tu es nicht, Lynn." „Was? Nicht zu meinem normalen Leben zurückkehren? Oder soll ich nicht aufwachen und sehen, wer du in Wirklichkeit bist?" „Brich die Verbindung zu mir nicht einfach ab ..." „Das habe ich bereits getan." Lynn schaute auf den Berg Kleidung in ihrem Koffer und wusste, sie würde ihn niemals zubekommen. Und im Schrank lag noch viel mehr... Aber natürlich gehörte ein ganzer Teil davon zu ihrer Tarnexistenz als Melinda Parker. Voller Abscheu schob sie den Koffer von sich. „Ich schicke jemand, der meine Sachen abholt", sagte sie. „Meine Sachen. Evelyn Cross' Sachen." Sie schnappte sich ihre Handtasche und marschierte zur Tür, aber er schnitt ihr den Weg ab. „Wohin willst du?" „Nach Haus." „Das könnte gefährlich sein." „Du bist gefährlich." Damit duckte sie sich unter seinem Arm durch, durchquerte das Badezimmer und ging in sein Apartment hinüber. Als sie bemerkte, dass er ihr folgte, seine Kleidung von letzter Nacht in der Hand, sagte sie: „Die ganze Zeit über hast du mir erzählt, dass du mich beschützen willst." Sie öffnete die Apartmenttür. „In deiner Gegenwart war ich einer viel größeren Gefahr ausgesetzt, als mir jemals bewusst war." Sie hastete los. „Lynn, warte! Lass mich dich wenigstens nach Haus fahren!" Schon halb auf der Treppe, sah sie, wie er sich abmühte, seine Jeans anzuziehen, Stiefel und Hemd überzustreifen. Ohne zu antworten, rannte sie aus dem Haus, zwischen den Gebäuden hindurch, fort von
seinem Jeep. Wenn er ihn erreichte und vom Parkplatz war, wäre sie längst über alle Berge. Aber wohin sollte sie gehen? Sie musste für einen Moment zur Ruhe kommen. Cass. Genau. Sie würde zu ihr gehen. Die halbe Meile zu Cass' Haus lief sie mehr oder weniger, wischte sich dabei immer wieder die Tränen ab, die nicht versiegen wollten. Sie betete zum Himmel, dass Cass daheim war. Als sie Sturm klingelte und sich niemand meldete, befürchtete sie, umsonst gekommen zu sein. Dann erklang eine schläfrige Stimme durch die Gegensprechanlage: „Wer ist dort?" Lynn sank erleichtert gegen die Tür. Ein paar Minuten später saßen die beiden Frauen bei einem starken Kaffee zusammen, und Lynn schüttete Cass ihr Herz aus. Cass war in Nachthemd und Pantoffeln, ihr Haar stand zerzaust vom Kopf ab, das Gesicht zeigte keine Spur Make-up. Und als Lynn sie nun so sah, so ganz anders als die charismatische, glamouröse Schöne der Nacht, wurde ihr bewusst, dass auch Cass eine Tarnung trug. „Oh, Kindchen, es tut mir so Leid", sagte Cass und drückte sie fest. „Deine Verzweiflung kann ich gut verstehen. Aber Blade ..." „Kein Aber", flüsterte Lynn. „Bitte, kein Aber." Cass nickte. „Wie du möchtest." Lynn packte den Becher so fest, dass ihre Knöchel weiß durch die Haut schimmerten. „Ich möchte, dass diese Sache endlich ein Ende hat, ein für alle Mal. Ich möchte, dass diese Qual aufhört, nicht zu wissen, wann dieser Kerl wieder zuschlägt. Cooper, nicht Blade." „Ja..." „Hilf mir bitte, Cass." „Sag mir, was ich tun soll." „Hypnotisier mich." Selbst als Lynn das Wort aussprach, spürte sie einen Druck im Magen, und ihr schnürte sich die Kehle zusammen. Freiwillig hatte sie sich noch nie einem Menschen völlig ausgeliefert. „Ich muss mich an alles erinnern, genug jedenfalls, um Cooper hinter Gitter zu bringen. Dann endlich werde ich sicher sein." „Willst du das wirklich?" Lynn holte tief Luft. „Ja." „Also gut", sagte Cass. „Komm mit." Sie führte Lynn durchs Wohn- und Esszimmer hinüber in einen hellen, freundlichen Wintergarten voller Grünpflanzen, mit einem Sessel, Sofa und einer Ottomane aus Korbgeflecht. „Mach es dir gemütlich", sagte sie, während sie die Jalousien herunterließ, um das Licht zu dämpfen. Dann ging sie für einen Moment hinaus, und Lynn legte sich aufs Sofa. Sie versuchte sich innerlich auf die Hypnose vorzubereiten. Sie musste es tun ... musste es ... „Entspann dich." Cass war zurück. Sie zog sich den Sessel heran, so dass sie Lynn direkt in die Augen sehen konnte. Dann hob sie die Kette mit dem geschliffenen Kristall daran, die sie geholt hatte. „Schau auf die Facetten und konzentrier dich auf das blitzende Licht darin. Atme tief und langsam." „Und das soll mich in Hypnose versetzen?" „Entspann dich. Lass alles fallen. Konzentrier dich auf meine Stimme und den Kristall." Lynn versuchte es. „Und was dann?" „Lass alles los, was dich bedrückt. Spür, wie es in deinen Zehen strömt ... in deinen Füßen. Jetzt breitet es sich über deine Waden aus ... deine Schenkel ... es hinterlässt Wärme, angenehme, pulsierende Wärme ..." Lynn konzentrierte sich auf Cass' Stimme und den Kristall, fühlte tatsächlich das Strömen
und die Wärme. „Nun deine Finger... deine Unterarme ... tief und langsam atmen ... und die Wärme dehnt sich schneller aus, konzentriert sich jetzt auf die Mitte. Breitet sich zu deinem Nacken hin aus ... erfasst dein Gesicht... dein Gehirn ..." Das Licht im Kristall veränderte sich leicht. „Bist du entspannt?" „Ja... „Dann nehme ich dich jetzt mit zum Freitag vor einer Woche", verkündete Cass sanft. „Diesmal bin ich die ganze Zeit bei dir, du bist also nicht in Gefahr. Du bist sicher bei mir." „Ja." „Und du fühlst dich warm und angenehm." „Ja", flüsterte Lynn. „Behalte den Kristall im Blick. Im Kristall sind wir geschützt. Niemand kann uns dort etwas antun. Nimm meine Hand ..." Lynn ergriff Cass' Hand, und auf einmal verließen sie die Eingangshalle ihres Hauses. „Sag mir, was du siehst." „Dunkelheit." Ihr Blickfeld war eingegrenzt, und sie fühlte eine besondere Leichtigkeit im Kopf. Eine Stimme tauchte aus dem Nichts auf. Diese schreckliche höhnische Stimme. Du hältst dich für so klug, du Schlampe ... aber du bist in meiner Gewalt ... Ich kann alles mit dir machen ... und du kannst nicht das Geringste dagegen tun... Lynn hörte sein Flüstern ganz deutlich. „Er ist direkt hinter mir", sagte sie ängstlich Cass' Stimme klang wie durch eine große Wattewolke. „Er kann dir nichts anhaben. Vergiss das nicht. Er wird dir verraten, wer er ist, Lynn, wenn du nur richtig hinhörst." Nachdem du mir diesen Verlust zugefügt hast... spiele ich mit dir und lass dich wieder gehen ... könnte überall und zu jeder Zeit sein ...du wirst dich immer verfolgt fühlen ... „Bis wir uns wieder sehen", flüsterte Lynn. „Hast du immer noch Verbindung zu ihm?" fragte Cass. „Ja. Aber ich kann ihn nicht sehen." „Konzentrier dich." Lynn drang tiefer in ihre Erinnerung ein, lauschte. Sie war der Mittelpunkt meines Lebens, bis du dich zwischen uns gedrängt hast... „Er hasst mich", murmelte sie. „Ich fühle es deutlich." Sie spürte seine Arme auf ihren Brüsten. Cooper. Ihr wurde übel. Weißt du, was ich dabei empfinde? Nichts. Du bist nicht sie! Wieder drückte er sie, fester, und sie riss sich los. Er verschwand. Mit ihm die Stimme in ihrem Kopf. Die Erinnerungen. „Komm zurück, du Schweinehund." „Lynn?" „Er ist fort." „Dann hole ich dich jetzt zurück. Die Wärme schwindet, und dein Körper beginnt zu erwachen. Du spürst deine Glieder wieder, deine Finger, Zehen. Ich werde jetzt den Kristall fortnehmen ... und du wirst wach, erinnerst dich an alles." Lynn blinzelte, und dann war das Funkeln verschwunden. Sie schaute in Cass' freundliches Gesicht. Cass ließ sie eine Minute in Ruhe zu sich kommen, dann bat sie sie, alles zu wiederholen, damit die Erinnerung nicht wieder verloren ging. „Das war es", sagte Lynn schließlich. „Wir wissen, es ist Timothy Cooper, aber solange wir es nicht beweisen können, bevor er wieder über mich herfällt ..." Sie schüttelte den Kopf. „Viel ist nicht dabei herausgekommen."
„Vielleicht nicht bei dem, was du erkannt hast. Aber wenn du dich darauf konzentrierst, was er noch gesagt hast, wirst du dich möglicherweise daran erinnern." Cass drückte ihr aufmunternd die Hand, die sie immer noch gehalten hatte. „Ich hoffe, du hast Recht, denn ich will zurück in mein normales Leben, Cass. Heute. Keine Melinda Parker mehr. Kein Club Undercover." „Kein Blade mehr?" Lynn schluckte. „Kein Blade mehr." „Bist du sicher? Ich weiß, du bist innerlich zerrissen, aber Blade würde sogar eine Kugel, die für dich bestimmt ist, mit seinem Körper abfangen." „Was? Läuft er herum und erzählt allen, wie gern er sein Leben für mich opfern würde?" Könnte es so sein? „Nein, er hat mir nichts gesagt." „Woher willst du es dann wissen ...?" Lynn blickte Cass in die großen grauen Augen und bekam eine Gänsehaut, Cass besaß seherische Fähigkeiten, und sie hatte etwas über Blade und sie gesehen. Lynn wusste, sie würde es ihr nicht sagen. Cass' Voraussagen waren immer geheimnisvoll. Natürlich brauchte sie nicht daran zu glauben. Aber allein der Gedanke, dass Blade für sie sterben würde, war so entsetzlich, dass ihr der Magen wehtat. Musste noch ein Mensch sterben, den sie liebte ... wieder ihretwegen? „Er stirbt doch nicht wirklich, oder?" flüsterte sie. „Das hängt von dir ab." Von ihr? Lynn hatte Mühe, nicht durchzudrehen. Sie wollte nicht noch einmal für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich sein. Besonders nicht für Blades Tod. Wie sollte sie damit leben? Sie mochte ihn vielleicht nicht wieder sehen wollen, aber gewiss wünschte sie ihm nicht, dass ihm etwas zustieß. Genauso wenig hat Blade Lorraines Tod gewollt, flüsterte eine innere Stimme. „Erzähl mir mehr." Cass schüttelte den Kopf. „So geht es leider nicht. Ich kann diese Dinge nicht wie in einem Film sehen. Es sind eher flüchtige Empfindungen, kurze Einsichten. Es tut mir Leid." So plagte Lynn den ganzen Heimweg eine neue Sorge. Die Angst, wieder etwas von dem zu vergessen, woran sie sich unter Hypnose erinnert hatte. Cass hatte sie gebeten, über das nachzudenken, was er gesagt hatte. Vielleicht kam die Lösung ganz von selbst. Sie war der Mittelpunkt meines Lebens, bis du dich zwischen uns gedrängt hast ... Warum musste sie gerade an diese Worte denken? Warum fielen ihr nicht die Dinge ein, die Coopers Schuld bewiesen und ihn ins Gefängnis brachten? Dann brauchte sie sich um Blades Sicherheit keine Sorgen mehr zu machen. Aber ihr Herz nannte sie Lügnerin. Sie würde sich immer Sorgen um ihn machen. Egal, was er getan, egal, ob er die Details um den Tod ihrer Schwester verheimlicht, egal, dass er sie zum Narren gehalten hatte, sie liebte ihn. Wenn er ihr doch nur von Anfang an die Wahrheit gesagt hätte ... Aber hätte sie dann überhaupt Verständnis für seine Qual, seine Schuldgefühle aufgebracht? Oder hätte sie ihn augenblicklich zurückgewiesen -und auch sein Angebot, ihr zu helfen? Das Taxi hatte inzwischen ihr Haus erreicht. Aber bevor sie ausstieg und in die Halle ging, schaute sie sich vorsichtig um. „Schön, Sie zu sehen, Miss Cross", grüßte Tony freundlich. Dann fiel sein Blick auf ihr Haar. „Welch eine Veränderung", meinte er überrascht. Lynn lächelte. „Ich experimentiere gerade ein wenig", sagte sie. „Tony, ich habe von dem Einbruch hier gehört. Ich weiß, es mag sich ein wenig albern anhören, aber könnten Sie vielleicht mit hinaufkommen und nachsehen, ob in meinem Apartment alles in Ordnung ist?"
„Kein Problem. Und albern finde ich das gar nicht." Er kam um den Tresen herum und ging mit ihr zu den Fahrstühlen. „Hören Sie, dieser Mann, der Sie das letzte Mal begleitet hater war hier, hat nach Ihnen gesucht." Blade war hier gewesen? Ihr Herz schlug schneller. „Wann?" „Vor ungefähr einer Stunde. Ich sagte, Sie wären nicht hier, aber er wollte warten. Er ist erst vor fünf, zehn Minuten wieder gegangen. So wie er auf und ab wanderte ... also, mich hat er nervös gemacht, deswegen war ich froh, als er wieder weg war. Ich dachte, Sie sollten von seinem Besuch wissen." War Blade vielleicht aus einem anderen als einem persönlichen Grund hier gewesen? Wollte er sie womöglich vor drohender Gefahr warnen? Blade würde sogar eine Kugel, die für dich bestimmt ist, mit seinem Körper abfangen, hatte Cass gesagt. Was hatte sie noch gesehen? Er stirbt doch nicht wirklich, oder? Das hängt von dir ab ... Warum zerbrach sie sich darüber den Kopf? Auch wenn Lynn nicht allein war, so begann ihr Herz zu rasen, als der Fahrstuhl sich ihrem Stockwerk näherte. Als sie vor ihrer Eingangstür stand, hatte sie Mühe, gleichmäßig zu atmen. Tony suchte die gesamte Wohnung ab, jeden Winkel, jede Ecke, jeden Schrank. Sogar unters Bett schaute er. Nichts. Ihre Aufregung war umsonst gewesen. Sie bedankte sich herzlich bei ihm und wollte ihm einen Geldschein zustecken. Aber er verbarg die Hände hinter dem Rücken. „Es kommt überhaupt nicht infrage, dass ich von Ihnen Geld nehme, Miss Cross. Nicht nach dem, was Sie letzte Woche durchmachen mussten. Es war mir ein Vergnügen, Ihnen behilflich zu sein." Nochmals dankte sie dem jungen Wachmann und schloss dann zwei Mal hinter ihm ab. Wieder zu Haus zu sein verschaffte ihr nicht das gute Gefühl, das sie erwartet hatte. Sie schaute hinunter auf den Fluss, den Navy-Pier und den Park davor, und zum ersten Mal beeindruckte sie dieser schöne Anblick nicht. Ihr Apartment erschien ihr plötzlich groß und kalt, und sie wünschte, sie hätte sich eine kleinere, gemütlichere Wohnung genommen, mit Grünpflanzen anstatt Skulpturen. Verdammter Blade! Ein paar Tage mit ihm hatten bewirkt, dass sie die Welt mit anderen Augen sah. Er war schuld daran, dass sie sich Dinge ersehnte, die sie nicht haben konnte - und das schloss ein Leben mit ihm ein. Um sich abzulenken, schaute sie nach, ob jemand angerufen hatte. Der Anrufbeantworter hatte eine Nachricht gespeichert. Sie erwartete Blades Stimme zu hören, nur um erstaunt festzustellen, dass ihre Schwester angerufen hatte. „Lynn, ich hatte so sehr gehofft, du würdest nach Haus kommen. Mom hat mir von dem Angriff auf dich erzählt und dass du nicht in der Wohnung bleiben wolltest. Es tut mir Leid, Lynn. Es muss schrecklich für dich gewesen sein. Ich hoffe, du hörst diese Nachricht, denn Mom hat auch noch gesagt, dass Nathan aus ihr herausgeholt hat, dass ich in London bin. Bitte, sprich mit ihr darüber. Sie darf ihm weder meine Adresse noch meine Telefonnummer geben. Er darf mich nicht finden." Lynn hörte erschrocken, wie panisch die Stimme ihrer Schwester auf einmal klang. „Ich habe dir nie erzählt, was wirklich passiert ist, Lynn. Ich ... ich habe Angst vor Nathan. Glaub kein Wort von dem, was er dir erzählt. Er... er hat mich ... geschlagen. Deswegen habe ich ihn verlassen. Ich ... ich hätte es dir sagen sollen. Ruf mich an, ja?" Nathan hatte Dani geschlagen? Warum nur hat sie mir das verschwiegen? dachte Lynn, während sie hektisch die Nummer ihrer Schwester wählte. Und ich habe meinem eigenen Instinkt misstraut und stattdessen Nathan geglaubt. Wie konnte ich nur so dumm sein? Sie ist mein Leben, meine Welt, hatte er im Haus ihrer Eltern neulich gesagt.
Sie war der Mittelpunkt meines Lebens ... klang so ähnlich. Sie hörte das Freizeichen. Niemand hob ab, dann sprang der Anrufbeantworter an. Lynn fluchte leise vor sich hin. Als der Signalton verstummte, sagte sie: „Dani, ich bin jetzt zu Haus. Ruf mich an, sobald du meine Nachricht abhörst. Ich muss mit dir über Nathan sprechen ..." Dann war die Leitung auf einmal tot. Sie wirbelte herum und sah die Telefonschur von behandschuhten Fingern baumeln. „Was willst du Dani von mir erzählen?" Nathan ließ die Zweitschlüssel, die sie normalerweise in ihrem Computerschreibtisch aufbewahrte, einfach zu Boden fallen, und nun wusste Lynn, wie gefährlich er wirklich war.
16. KAPITEL Es machte Blade fast verrückt, dass er nicht wusste, wo Lynn steckte. Zu Haus war sie nicht. Auch nicht im Büro. Er wusste nicht einmal, wo er noch nach ihr suchen sollte. Er hätte ihr niemals von ihrer Schwester erzählen dürfen. Und wenn er nicht mit ihr geschlafen hätte, hätte er ihr auch nichts erklären müssen. Sie hätte niemals den Zeitungsausschnitt gefunden, den er als ständige Erinnerung an seinen schrecklichen Fehler in dem Lederbeutel bei sich getragen hatte. Einen Fehler, den er wieder gutmachen musste. Nun hatte Lynn ihm diese Gelegenheit aus der Hand genommen. Sie hasste ihn, wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben, und es gab nichts, was er machen konnte. Zum ersten Mal wünschte Blade, er hätte ein Handy. Dann könnte er wenigstens einen Rundruf starten und sich nach Lynn erkundigen, während er auf der Suche nach ihr ziellos durch die Gegend fuhr. Aber wohin sollte er sich wenden? Er hatte keine Ahnung. Als er einen leeren Parkplatz an der Straße entdeckte, hielt er an, stieg aus und machte sich auf die Suche nach einer Telefonzelle. Zuerst versuchte er Stella zu erreichen, aber bei ihrem Handy war nur die Mailbox eingeschaltet. Blade hinterließ ihr die Nachricht, dass Lynn sich entschlossen hatte, ihre Tarnung aufzugeben, und er sie nicht finden könne. Irgendwo muss sie doch stecken, dachte er und befürchtete das Schlimmste - dass Cooper sie wieder in seine Gewalt gebracht hätte. Als Nächstes rief er Gideon an, dass die ganze Operation vielleicht wieder anlaufen müsste. Aber der Clubbesitzer schien nicht besorgt zu sein, zumindest nicht um sich selbst. „Lynn ist eine kluge, vorsichtige Frau, aber nur für den Fall der Fälle sage ich Logan Bescheid. Wir beide können nach ihr suchen, wenn das hilft." „Danke. Ihr tut mir damit einen persönlichen Gefallen." „Dann ist dein Versuch der Wiedergutmachung also nach hinten losgegangen?" „Voll und ganz." „Tut mir Leid, das zu hören, Blade. Jeder verdient eine zweite Chance, finde ich." Gideons Motto, dachte Blade, als er Cass' Nummer wählte. Es hatte kaum geklingelt, da nahm sie ab und sagte: „ Blade", als hätte sie gewusst, wer am anderen Ende war, „Lynn ist gerade gegangen, vor ungefähr einer halben Stunde." „Sie war bei dir?" Warum hatte er nicht daran gedacht. „Wohin ist sie gefahren?" „Nach Haus." Blade fluchte unbeherrscht. „Ich muss sie ganz knapp verpasst haben!" „Dann fahr schnell zu ihr und, Blade ... sei bitte vorsichtig." Bei ihren letzten Worten rieselte es ihm kalt über den Rücken. „Hast du etwas ... gesehen?" „Es steht schlimm um sie. Er hat vor, sie umzubringen, Blade. Beeil dich!" Ohne Gruß legte er auf und rannte zu seinem Wagen. Mit durchdrehenden Reifen raste er aus der Parklücke und die Straße entlang. Aber als er sich der North Michigan Avenue näherte, hielt ihn der dichte Verkehr für ein paar Minuten auf. Blade hieb mit der flachen Hand auf das Steuer, war drauf und dran, den Jeep einfach stehen zu lassen und den Rest im Dauerlauf zurückzulegen, als der Stau sich auflöste. Er trat das Gaspedal durch und fuhr über die nächste Kreuzung, kurz bevor die Ampel auf Rot sprang. Der Anblick von Lynns Hochhaus beruhigte ihn ein wenig. Aber nur bis er sie aus dem Haus kommen sah. Ein Mann hatte ihr den Arm um die Hüfte gelegt. Er war groß und athletisch gebaut. Blondes Haar umrahmte sein tief gebräuntes Gesicht. Er trug eine Sonnenbrille. Blade bremste scharf und beobachtete die beiden. War das ein Freund, von dem sie ihm nur nicht erzählt hatte?
Da verriet ihm ihre Körperhaltung, dass etwas nicht stimmte. Er sah genauer hin. Drückte ihr Begleiter ihr etwas in den Rücken? Eine Pistole ... Dieser Kerl bedrohte sie mit einer Pistole, und sie kamen direkt auf ihn zu! Blade fuhr den Wagen an den Straßenrand. Der Mann war nicht Timothy Cooper. Auch keiner der Verdächtigen von ihrer Liste. Blade stieg aus und schickte ein Gebet zum Himmel, dass Lynn nicht auf seinen Anblick reagierte. Er wollte nicht, dass sie verletzt wurde. Schweiß brach ihm aus. Seit er das Militär verlassen hatte, war er außer Übung. Einen Fehler konnte er sich jetzt nicht leisten. Dann sah sie ihn. Sie riss die Augen weit auf, ließ sich aber sonst nichts anmerken, und Blade vermutete, dass ihr Entführer nichts mitbekommen hatte. Ihm fiel auf, dass dessen Sonnenbrille mit Klebeband geflickt war- sie musste bei seinem ersten Überfall tatsächlich zerbrochen sein. Blade bereitete sich mental vor. Und dann änderte sich etwas an der Haltung des Mannes, und die Sonnenbrillengläser richteten sich auf Blade. Im nächsten Moment schwenkte das Paar zum Fluss ab. Blade wollte ihnen folgen, wurde aber von einer Gruppe Teenager aufgehalten, die aus einem Kombi sprangen, sich gegenseitig einen Ball abzujagen versuchten und ihm damit den Weg versperrten. „Macht Platz!" brüllte er. „He, immer cool bleiben, Mann!" kam die Antwort. Einer der Teenager trat auf ihn zu und starrte ihm herausfordernd ins Gesicht. Blade schob ihn einfach beiseite und bekam mit, wie Lynn von ihrem Entführer eine Treppe hinuntergestoßen wurde. Beinahe wäre sie gestürzt, aber Nathan trieb sie vorwärts. Er warnte sie, wenn sie fiele, würde er sie auf der Stelle erschießen. Sie glaubte es ihm und verfluchte ihre hochhackigen Sandaletten. Die Stufen führten über drei Ebenen mit ihrem Netzwerk von Straßen hinab, die Zugang zur Innenstadt und zu den Brücken über den Chicago River boten. Sie hatten die zweite Ebene erreicht, als sie Blades Schritte näher kommen hörte. „Er wird uns einholen", warnte sie Nathan. „Dann ist er ein toter Mann." „Nein, du darfst ihn nicht umbringen!" Abrupt schaltete sie auf eine andere Taktik um. „Du bist doch kein Mörder, Nathan", jammerte sie. „Du brauchst einfach nur professionelle Hilfe." „Ich brauche Danielle, aber du hast dafür gesorgt, dass ich sie nicht mehr habe. Wärst du nicht, würde sie mich sehen wollen." Er leidet unter Wahnvorstellungen, dachte Lynn. „Du brauchst wirklich Hilfe, Nathan. Beratung. Dann wird Dani bestimmt bereit sein, dich zu sehen", log sie. „Du bist das Problem. Du musstest deine Nase unbedingt in Angelegenheiten stecken, die dich nichts angehen. Jetzt weiß ich, wie ich Danielle wiedergewinne", fuhr er fort. „Wenn du tot bist, wird Danielle zur Beerdigung kommen, und ich werde da sein, voller Mitgefühl und Trost. Schon sehr bald wird sie wieder mein sein." „Wenn du dir nicht helfen lässt, auf keinen Fall", entgegnete Lynn. „Sie hat Angst vor dir." „Sie hat Angst vor dir und deiner Meinung von mir", konterte Nathan. „Deswegen hat sie mich verlassen." Sie hatten die unterste Ebene erreicht, laufend, und Nathan schob sie in Richtung des mit Gittern abgetrennten Bereichs, in dem die Stadt die von der Polizei abgeschleppten Autos verwahrte. Ein paar Arbeiter am Tor schauten zu ihnen herüber, unterhielten sich dann aber weiter. Lynn warf einen Blick über die Schulter und sah Blade die letzten Stufen herabhetzen. Er kam direkt auf sie zu. Sie war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, sich von ihm helfen zu lassen, und der Furcht um sein Leben.
Sie musste etwas tun ... aber was? Im Apartment hatte sie sich nicht gewehrt. Auch nicht, als er sie zwang, mit ihm zu gehen. Wie benommen war sie gewesen, hatte sich ihrem Schicksal ergeben. Aber nun ging es nicht nur um sie allein. Sie erinnerte sich an Cass' Worte, an das, was sie über die Kugel gesagt hatte. Wenn er erschossen wurde, traf sie allein die Schuld. Sie hatte Fehler begangen, übersehen, dass Nathan auch zu den Verdächtigen zählte. Dann war sie nach Haus zurückgekehrt und hatte unwissentlich dafür gesorgt, dass Blade direkt in eine tödliche Falle gelaufen war. Mein Leben hätte ich für dich gegeben ... Jetzt glaubte sie es ihm. Er stirbt doch nicht wirklich, oder? Das hängt von dir ab ... Ihr Überlebenstrieb erwachte schlagartig. Lynn raste los, zwischen zwei Reihen Autos entlang. Sie ging davon aus, dass Nathan ihr nachlaufen und versuchen würde, sie wieder einzufangen. Gut in Form, hatte er sie rasch eingeholt, schlang ihr den Arm um die Taille und schleuderte sie herum, so dass sie mit dem Gesicht zu Blade schaute, der sich auf der anderen Seite der Wagen befand. Er blieb abrupt stehen, und sein Blick heftete sich auf ihren Kopf. Lynn spürte den Pistolenlauf an der Schläfe. In ihren Ohren rauschte das Blut Da sie nichts mehr zu verlieren hatte, stieß sie einen lauten, schrillen Schrei aus, trat nach hinten aus und rammte Nathan mit voller Wucht den Ellbogen in die Rippen. Als er einen Schmerzenslaut von sich gab und seinen Griff lockerte, ließ sie ihren spitzen Pfennigabsatz auf seinen Spann sausen. Er schrie auf und ließ sie los. Sie rannte auf Blade zu, sah das Entsetzen in seinem Gesicht. „Aus dem Weg!" schrie sie. „Duck dich!" „Runter mit dir!" brüllte er, und sie wusste, Nathan zielte auf sie. Trotzdem rannte sie weiter.. Als sie dicht genug heran war, packte er sie am Arm und wirbelte sie herum, so dass er zwischen ihr und Nathan war. Lynn stieß Blade noch beiseite, als Nathan feuerte, doch Blade warf sich nach vorn und wurde getroffen. „Oh, mein Gott! Nein!" schrie sie, als er in sich zusammensank, die Augen dunkel und weit aufgerissen. „Nein! Oh nein! Blade!" Sie versuchte ihn zu halten, aber es gelang ihr nicht, und so fiel er gegen einen der Wagen und rutschte auf den Zementboden. Er stirbt doch nicht wirklich, oder? Sie hatte versucht, ihn zu retten, und sie hatte versagt. „He, was ist da los?" rief einer der Arbeiter. „Mord!" schrie sie. „Hilfe, Polizei!" Ich hätte mein Leben für dich gegeben ... Lynn schluchzte auf. Es war tatsächlich passiert. Ihr Kummer verwandelte sich in heiße Wut, und sie sah rot. „Das wirst du büßen!" schrie sie Nathan an. Er grinste gemein und hob langsam die Pistole. Aber noch bevor ihr Peiniger abdrücken konnte, zischte etwas an ihr vorbei, sein Körper wurde zurückgeworfen, und ein erstickter Laut drang aus seinem offenen Mund. Nathan riss die Hände an den Hals, fiel nach hinten. Ein Abschleppwagen kam im selben Moment mit hoher Geschwindigkeit näher, der Aufprall war unvermeidlich. Nathan flog wie eine Puppe durch die Luft. Als er auf dem Boden aufschlug und reglos liegen blieb, sah sie das Messer, das ihn zu Fall gebracht hatte. Blades Messer.
Lynn wirbelte herum, erleichtert, dass der geliebte Mann noch lebte. Im nächsten Augenblick wurde er vor ihren Augen ohnmächtig. „Ich habe nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir quitt sind." Lynn hatte Blade erzählt, wer der Angreifer wirklich war. „Weil ich die Kugel für dich eingefangen habe?" Bei dem Gedanken, wie prophetisch Cass' Worte gewesen waren, überlief es Lynn kalt. „So würde ich es nicht ausdrücken." Obwohl sein Verhalten viel darüber aussagte, welch ein ehrenhafter Mann er war - und was er für sie empfand. „Weder wollte ich, dass du dich für mich in die Schusslinie stellst, noch wolltest du eine unschuldige Frau erschießen." Trotz ihrer rationalen Betrachtung blieb das schreckliche Gefühl, dass er ihretwegen im Krankenhaus lag. „Dass ich getroffen wurde, war nicht deine Schuld." „Und ob. Du sagtest, du würdest dein Leben für mich geben, und ich habe dir nicht geglaubt." Erneut durchlebte sie den albtraumhaften Moment, als sie dachte, er wäre tot. „Mein blindes, gedankenloses Handeln löste dann alles Weitere aus." „Ich denke, das Schicksal hatte auch seine Hand im Spiel." „Das ändert nichts daran, dass du beinahe gestorben wärst, nur um mich zu retten." „Aber du warst es, die mich rettete", sagte er. „Ich schulde dir mein Leben." Wahrscheinlich hatte ihr Stoß kurz vor dem Schuss wirklich das Schlimmste verhindert. Die Kugel war knapp an lebenswichtigen Organen vorbeigegangen. Und nachdem Nathan keine Bedrohung mehr darstellte, hatte sie sich um den bewusstlosen Blade gekümmert, die Hand auf die Wunde gepresst, damit er nicht verblutete, bevor der Krankenwagen kam. Blade würde noch ein paar Tage im Krankenhaus liegen müssen, ehe er nach Haus durfte. In ein paar Wochen sollte er jedoch wieder so gut wie neu sein, wie einer der Ärzte versichert hatte. Wenn nur ihre Beziehung genauso einfach zu kitten wäre. „Es ist vorbei", sagte er. „Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen, dass Nathan noch einmal über dich herfallen könnte." „Und Dani kann endlich nach Haus kommen." Nathan war tot, ob durch Blades Messer oder durch den Aufprall auf den Abschleppwagen, konnte nicht genau geklärt werden. Stella hatte versichert, dass es keine Untersuchung gegen Blade geben würde. Es handelte sich eindeutig um Notwehr. Lynn verspürte trotz des Terrors, dem sie ausgesetzt gewesen war, so etwas wie Mitleid für ihren Exschwager. Nathan war nicht durch und durch böse gewesen, doch seine Liebe hatte sich in krankhafte Besessenheit verwandelt. Der Grund dafür musste in seiner Vergangenheit liegen. Wenn er rechtzeitig die notwendige Hilfe bekommen hätte ... Aber dafür war es jetzt zu spät. Für vieles war es zu spät. Lynn erhob sich von ihrem Stuhl. „Ich sollte jetzt gehen, damit du dich ausruhen kannst." Er griff nach ihrer Hand. „Ich schlafe ruhiger, wenn ich weiß, wo du bist." Ihr Puls flatterte unter seinen langen, warmen Fingern. „Ich werde zu Haus sein." „Ich meine, wenn ich mit dir zusammen bin." Er wollte mir ihr zusammen sein? Ihr Herz zog sich bei dem Gedanken zusammen. Lynn schluckte. „Du kannst jetzt nicht einfach das Bett verlassen", protestierte sie leise. „Vielleicht nicht, aber ich könnte zur Seite rücken, damit du auch noch hineinpasst." Ohne sie loszulassen, tat er genau das. „Die Frage ist... hast du genügend Platz für mich ... in deinem Leben?" Warum fragt er das? Lynns Herzschlag beschleunigte sich. „Willst du wirklich zu meinem Leben gehören, nachdem ich so schrecklich zu dir war?"
„Du hast unter Schock gestanden", sagte er, „und dein Zorn auf mich war durchaus berechtigt, weil ich dir nicht früher die Wahrheit gesagt hatte. Aber ich liebe dich, Lynn, und auch wenn wir aus zwei verschiedenen Welten kommen, sollten wir doch den Versuch wagen, miteinander glücklich zu werden. Komm her." Sie hob die Augenbrauen. „Soll das ein Befehl sein?" „Betrachte es als dringenden Appell. Ich glaube, ich werde gleich ohnmächtig und muss augenblicklich reanimiert werden." Lynn schlüpfte unter die Decke zu dem Mann, den sie liebte, nahm seinen Kopf in beide Hände und flüsterte: „Wie könnte ich einem solchen Befehl widerstehen." - ENDE -