Romantic Mysteries Nummer 2 „Niemand hörte ihre Schreie“ von Larissa Jordan Manchmal kam es ihr so vor, als wenn Ralph ...
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Romantic Mysteries Nummer 2 „Niemand hörte ihre Schreie“ von Larissa Jordan Manchmal kam es ihr so vor, als wenn Ralph selbst nicht mehr so glücklich über ihre Verlobung wäre. Er war ihr gegenüber längst nicht mehr so aufmerksam wie am Anfang ihrer Beziehung, seine Zärtlichkeiten schienen nur noch Routine zu sein, und ihre Verabredungen wurden seltener. Außerdem hatte Dana an Ralph einige Charakterzüge festgestellt, die ihr nicht sonderlich behagten. Er war ziemlich ichbezogen, manchmal sogar rücksichtslos, und seine Karriere bei der Bank schien ihm das Wichtigste im Leben zu sein. Dana wollte einmal Kinder haben, aber sie zweifelte immer mehr daran, dass Ralph ihnen ein liebevoller Vater sein könnte. Trotzdem mochte sie ihn sehr, und eine Trennung von ihm würde für sie wohl nicht ganz ohne Schmerzen ausgehen. Doch wenn es für sie beide besser war, die Verlobung zu lösen, anstatt in einer Ehe unglücklich zu werden, dann war sie bereit, diesen Schritt zu tun. Das Vernünftigste würde sein, wenn Ralph und sie sich einmal gründlich aussprachen, was sie schon lange nicht mehr getan hatten. Dana warf wieder einen Blick auf die Uhr. Eine weitere Viertelstunde war vergangen. Sie begann sich ernsthafte Gedanken zu machen. Okay, Ralph war zwar zu einer Party gefahren, aber wenn er sagte, dass er zu einer bestimmten Zeit käme, dann hatte sie sich bisher meistens darauf verlassen können. Außerdem hatte die Party schon am Nachmittag begonnen. Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen. Ein Unfall war schnell passiert, vor allem auf der kurvenreichen, oft nebligen Küstenstraße. Dana gähnte und stand auf. Sie beschloss, zu duschen und einstweilen ihren Schlafanzug anzuziehen. Morgen früh
Dana Hammond sah immer wieder auf die Uhr im Wohnzimmerregal. Schon zwanzig Minuten nach Mitternacht! Allmählich wurde sie unruhig. Um elf Uhr hatte Ralph, ihr Verlobter, ihr Auto zurückbringen wollen, mit dem er nach Porthcawl zu einer Party gefahren war. Sein Eigenes stand in der Werkstatt, deshalb hatte sie ihm angeboten, ihren Golf zu nehmen. Dana hatte keine Lust gehabt, Ralph zu dieser Party zu begleiten. Erstens fühlte sie sich so, als würde sie nun ebenfalls ein Opfer der Grippewelle werden, die halb Cardiff erfasst zu haben schien, und zweitens war ihre Beziehung zu Ralph in letzter Zeit nicht mehr so, wie sie hätte sein sollen. Dana hatte Ralph Talbot vor zwei Jahren an ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag kennen gelernt. Ihr Vater hatte in seinem Haus eine Party für sie gegeben, und ihre Freunde hatten Ralph mitgebracht. Der junge, gut aussehende Bankkaufmann war Dana zwar auf Anhieb sympathisch gewesen, doch eigentlich war es ihr Vater gewesen, der diese Beziehung gefördert hatte. Ihr Vater und dessen zweite Frau Helen, die nur wenige Jahre älter war als sie. Danas Mutter war schon vor vielen Jahren gestorben. Nachdem ihr Vater nun wieder verheiratet war und mit Helen das Baby Sabrina hatte, glaubte er wohl, seine älteste Tochter ebenfalls unter die Haube bringen zu müssen. Mit einem kleinen Seufzer schenkte Dana sich noch eine Tasse Tee ein. Ob sie mit Ralph heute immer noch zusammen wäre, wenn ihr Vater und Helen sich nicht ständig eingemischt und Loblieder auf ihn gesungen hätten?, fragte sie sich. War er wirklich der Mann, den sie einmal heiraten wollte? Liebte sie ihn tatsächlich? 2
paar Tagen hast du ihn wieder, und du wirst nicht mehr das Geringste daran sehen.“ Dana strich sich das nasse Haar aus der Stirn. „Okay“, seufzte sie. „Wenn nichts weiter passiert ist... Ich hatte mir schon ernstliche Sorgen gemacht.“ „Das tut mir Leid, Honey. Ich weiß, ich hätte früher anrufen sollen, aber ich hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit verging. Hoffentlich bist du mir nun nicht allzu böse?“ „Nein, Ralph“, versicherte sie ihm. „Es ist ja schließlich nicht die Welt, wenn du mein Auto etwas angekratzt hast. So etwas kann jedem einmal passieren.“ „Nimm dir ein Taxi zur Arbeit, bis du deinen Wagen wieder zurück hast“, schlug er vor. „Natürlich ersetze ich dir die Auslagen.“ „Ach, Unsinn! Der Weg zum Krankenhaus ist ja nicht weit, und du weißt, dass ich oft gern zu Fuß gehe, wenn es nicht gerade in Strömen regnet. Mach dir deswegen also keine Gedanken.“ Ralph schwieg am anderen Ende auffällig lange. „Dana“, sagte er dann schließlich, „ich wäre dir sehr dankbar, wenn du diese Geschichte für dich behalten würdest. Das heißt... ich meine, dass ich mit deinem Auto unterwegs war und es nun in der Werkstatt steht.“ Dana runzelte die Augenbrauen. „Wieso denn das? Was ist so schlimm daran, dass es niemand wissen darf?“ „Schlimm ist daran gar nichts“, erwiderte Ralph rasch. Dana fand, dass es ziemlich hektisch klang. „Ich will nur nicht als der Trottel dastehen, der mit anderer Leute Auto anderer Leute Torpfosten anfährt, verstehst du? Mir ist das eben ein wenig peinlich, und außer Frank und dir brauchen das nicht unbedingt noch andere Leute zu erfahren.“ „Und was ist mit diesem Torpfosten?“ wollte Dana wissen. „An dem ist absolut nichts zu sehen. Frank ist mein Zeuge. Wir haben ihn mit der Taschenlampe abgeleuchtet. Wie gesagt, der Schaden an deinem Auto ist nur ein kleiner Schönheitsfehler, aber ich
musste sie wieder ihren Dienst als Krankenschwester im Park Hospital in Cardiff antreten. Sie trug ihr benütztes Teegeschirr in die Küche und sah aus dem Fenster hinunter in den betonierten Hof des Apartmenthauses, wo jeder Mieter einen eigenen Stellplatz für sein Fahrzeug hatte. Es hätte ja sein können, dass Ralph ihr Auto bereits zurückgebracht und den Schlüssel in den Briefkasten geworfen hatte, weil er sie so spät nicht mehr stören wollte. Doch der weiße Golf stand weder auf ihrem Stammplatz noch an einer anderen Stelle. Voller Unruhe ging sie ins Bad und zog sich aus. Als sie gerade unter der Dusche stand, klingelte das Telefon. Hastig drehte sie den Duschhahn wieder ab und wickelte sich in ein großes flauschiges Handtuch. Ihre Nervosität steigerte sich, als sie in die Diele ging, wo das Telefon stand. Ein Anruf mitten in der Nacht bedeutete meist etwas Unangenehmes. War Ralph doch etwas zugestoßen? Wollte der nächtliche Anrufer sie benachrichtigen, dass...? Sie wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Dana musste sich regelrecht überwinden, den Hörer abzunehmen. Im nächsten Moment war sie erleichtert, Ralphs Stimme zu hören. Allerdings klang er merkwürdig fahrig und nervös. „Dana? Darling, ich... es tut mir Leid, aber ich kann dir dein Auto heute nicht mehr zurückbringen...“ Also doch! Hatte sie nicht schon die ganze Zeit über das Gefühl gehabt, dass etwas passiert war? „Warum nicht?“, rief sie ins Telefon. „Was ist passiert? Hattest du einen Unfall?“ „So kann man es nicht gerade bezeichnen.“ Ralph lachte, doch es klang seltsam gezwungen. „Als ich von der Party wegfuhr, streifte ich beim Zurücksetzen mit dem Kotflügel einen gemauerten Torpfosten. Aber du brauchst dich darüber nicht aufzuregen, Dana. Der Schaden an deinem Auto ist nur gering. Frank war mit dabei, und er hat mir angeboten, den Golf gleich in seine Werkstatt zu bringen. In ein 3
wollte es dir natürlich trotzdem nicht so zurückbringen. Und wenn du dadurch Unkosten hast...“ „Nein, Ralph, das ist schon in Ordnung. Wann kann ich es wieder haben?“ „Vermutlich am Mittwoch. Und... du schweigst darüber?“ „Natürlich, wenn du es möchtest. Es wird auch niemandem auffallen, wenn ich zu Fuß gehe, nachdem ich das öfter tue. Vor dem Haus wird mein fehlendes Auto auch nicht auffallen, weil ich es häufig auf dem Krankenhausparkplatz stehen lasse.“ Ralph atmete hörbar auf. „Danke, Dana. Ich bringe dir dann am Mittwochabend voraussichtlich dein Auto. Wenn es nicht klappt, rufe ich dich an. Hast du Lust, mal wieder groß auszugehen? Ich lade dich ein, als Entschädigung sozusagen.“ Wieder ließ er dieses nervöse Lachen hören, das Dana allmählich selbst nervös machte. „Ich weiß es noch nicht...“, ließ sie die Frage erst einmal offen. „Ich glaube, ich bekomme die Grippe oder so. Mal sehen, was bis Mittwoch ist.“ Ralph bedankte sich noch einmal überschwänglich, dann verabschiedete er sich von ihr und legte auf. Dana starrte noch einen Moment lang mit gerunzelter Stirn auf den Apparat, bevor sie ins Bad zurückging, um sich für die Nacht zurechtzumachen. Lange Zeit fand sie keinen Schlaf. Dass Ralph eine Schramme in ihr Auto gefahren hatte, war ja nicht weiter tragisch. Nur seine Stimme, seine ganze Art war ihr am Telefon merkwürdig vorgekommen. So hektisch und aufgekratzt kannte sie ihn gar nicht. Hatte er zu viele Drinks gehabt und war deshalb gegen den Pfosten gefahren? Und dann seine Bitte, niemandem gegenüber etwas davon verlauten zu lassen... War ihm diese Bagatelle tatsächlich so peinlich? Oder steckte vielleicht mehr dahinter? Dana hatte keine Ahnung von der Tragödie, die sich in dieser Nacht auf der einsamen dunklen Küstenstraße abgespielt hatte...
Dana geriet weder in die Verlegenheit, das Fehlen ihres Autos erklären zu müssen, noch vermisste sie es. Am Montagmorgen war sie gar nicht in der Lage gewesen, ihren Dienst im Krankenhaus anzutreten, sondern lag nun schon den dritten Tag mit einer Grippe im Bett. Ralph hatte ein paar Mal angerufen und sich höchst besorgt nach ihrem Befinden erkundigt. Dana hatte den Eindruck, als würde er nur aus einem schlechten Gewissen heraus anrufen. Heute Abend wollte er kommen und ihr das Auto wieder bringen. Dana kochte sich eine Suppe und machte sich ein wenig frisch, bevor sie wieder ins Bett kroch, um auf Ralph zu warten. Sie hatte sich vorgenommen, über so viele Dinge mit ihm zu reden, doch sie hatte immer noch leichtes Fieber und fühlte sich alles andere als wohl. Es fiel ihr schwer, sich auf etwas zu konzentrieren. Sie war gerade etwas eingedöst, als es an der Wohnungstür klingelte. Noch etwas benommen stand sie auf, um zu öffnen. Draußen stand Ralph mit einem Riesenblumenstrauß. Im anderen Arm hielt er eine Papiertüte, in der offensichtlich eine Flasche war. „Hallo, Darling.“ Er begrüßte sie mit einem flüchtigen Kuss und ging geradewegs in die Küche, um eine passende Vase für seine Blumen zu suchen. „Geh nur wieder ins Bett, ich komme gleich“, rief er ihr über die Schulter zu. Dana ging wieder ins Wohnzimmer, wo sie tagsüber ihr Bett auf dem Sofa aufgeschlagen hatte, um Musik hören zu können oder fern zu sehen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Ralph hereinkam. Dana hätte fast lachen müssen, wie er in einem Arm die Vase mit den Blumen zusammen mit einer Flasche Rum hielt und mit der anderen krampfhaft ein Tablett mit Teekanne und Tassen balancierte. Die Tür stieß er rückwärts mit dem Fuß zu, dann stellte er alles auf dem Glastisch vor dem Sofa ab. „Ich habe dir etwas zur Stärkung mitgebracht“, erklärte er, während er ihr
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Urlaub gebrauchen.“ „Da wirst du noch ein paar Monate durchhalten müssen“, meinte Dana mit einem leichten Lächeln. Für den Sommer hatten Ralph und sie einen Trip nach Irland geplant, doch jetzt war erst Anfang März. Ob es überhaupt noch zu dieser Urlaubsreise kommen würde? Sie seufzte innerlich. Das Gespräch schleppte sich mühsam dahin. Als Ralph Danas unterdrücktes Gähnen bemerkte, stand er auf, um sich zu verabschieden. „Du bist müde, Darling. Ich will dich nicht länger anstrengen.“ Er küsste sie flüchtig auf die Stirn und versprach, morgen wieder anzurufen. Dann ging er. Dana hörte, wie der Aufzug in ihrem Stockwerk hielt und dann nach unten fuhr. Kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss. Mit einem Seufzer setzte sie sich auf und sah auf das benützte Geschirr auf dem Tisch, den vollen Aschenbecher und die zerknüllte Zigarettenschachtel. Ralph hätte die Sachen wenigstens in die Küche tragen können, dachte sie. Er schien es eilig gehabt zu haben, wieder wegzukommen, und war über ihre Müdigkeit offenbar erleichtert gewesen. Fühlte er sich wirklich nur überarbeitet? Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass eine andere Frau dahinterstecken konnte. Aber warum war er dann nicht ehrlich zu ihr? Es wurde wirklich höchste Zeit, dass sie sich einmal aussprachen. Niedergeschlagen stand Dana auf und trug das Geschirr in die Küche, dann nahm sie ihre Medizin und legte sich ins Bett. Sie hatte schon tief und fest geschlafen, als sie durch das Klingeln des Telefons wach wurde. Benommen setzte sie sich auf und knipste die Nachttischlampe an. Ein Blick auf den Radiowecker sagte ihr, dass es kurz nach Mitternacht war. Schon wieder ein nächtlicher Anruf? Wer konnte das sein? Ihre Familie und ihre Freunde wussten, dass sie mit einer Grippe im Bett lag, und würden sie sicher nicht mitten in der Nacht stören, wenn nicht etwas passiert war. Eine nervöse Angst kroch ihr den Rücken hoch, als sie die Beine aus dem
eine Tasse voll Tee einschenkte und einen ordentlichen Schuss Rum hineingab. „Gefallen dir die Blumen?“ „Ja, sehr.“ Dana lächelte ihn an. „Vielen Dank für alles. Hast du auch mein Auto mitgebracht?“ Ralph machte eine Geste zum Fenster hin. „Steht unten. Sieht wieder wie neu aus.“ Dana trank einen Schluck von ihrem Tee. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Verstohlen musterte sie ihren Verlobten, der sich neben sie in den Sessel gesetzt hatte und sich nun mit reichlich nervösen Fingern eine Zigarette anzündete. Wie immer, wenn Ralph direkt von seiner Bank zu ihr kam, war er tadellos gekleidet und trug einen modischen, gut sitzenden Anzug. Doch sein Gesicht war heute auffallend blass, und unter seinen blauen Augen lagen dunkle Ringe. Seit seinem Anruf Sonntagnacht erschien er Dana merkwürdig verändert. Ob sie ihn rundheraus fragen sollte, was ihn quälte? Oder sollte sie warten, bis er selbst darauf zu sprechen kam? Jedenfalls schien es ihr nicht der günstigste Augenblick zu sein, um mit ihm über ihre Beziehung zu sprechen. „Wie geht es dir heute?“ erkundigte Ralph sich. Er sah sie nur kurz an und wich dann ihrem Blick aus. „Besser“, gab Dana zur Auskunft. „Aber morgen werde ich lieber noch im Bett bleiben.“ Ralph nickte, dann zog er einen Schlüsselbund aus der Tasche seines Jacketts und legte ihn auf den Tisch. „Hier, bevor ich sie vergesse. Soll ich dir morgen irgendwas besorgen?“ Dana schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank. Mrs. Atkins von nebenan sieht jeden Tag nach mir und bringt mir mit, was ich brauche.“ Sie zögerte und sah Ralph forschend an. „Hast du etwas? Du kommst mir so verändert vor, so blass und nervös.“ Ralph warf ihr einen raschen Blick zu, dann beschäftigte er sich wieder mit seiner Teetasse. „Nichts Besonderes. Außer, dass wir in der Bank zurzeit wahnsinnig viel zu tun haben. Ich könnte dringend einen 5
wüsste auch nicht, dass ich irgendwelche Feinde hätte. Trotzdem ging ihr die Sache nach. Solche nächtlichen anonymen Anrufe konnten einem wirklich Furcht einjagen. Sie wusste jetzt, was Susan in der letzten Zeit mitgemacht hatte. Als Dana endlich wieder einschlief, wurde sie im Traum auf einer einsamen dunklen Küstenstraße von einem anderen Fahrzeug gejagt, das sie schließlich von der Fahrbahn drängte, so dass sie über die Klippen in den Abgrund stürzte. Mit einem wilden Entsetzensschrei wachte sie auf.
Bett schwang und nach ihren Pantoffeln angelte. Aber vielleicht hatte sich auch nur jemand verwählt. Sie meldete sich mit einem ‘Hallo?’. Doch sie bekam keine Antwort, hörte nur jemanden am anderen Ende heftig atmen. Dana spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief. „Hallo, wer ist da?“, rief sie mit gepresster Stimme ins Telefon, während ihr das Herz plötzlich bis zum Hals schlug. Bekam sie jetzt auch diese obszönen Anrufe wie ihre Freundin Susan? Als sie wieder keine Antwort bekam, wollte sie schon auflegen, doch dann vernahm sie eine Stimme, die merkwürdig gedämpft klang. „Dana … Dana Hammond?“ Eine neuerliche Gänsehaut kroch ihr über den Rücken. Dana wurde es ganz unheimlich. „Ja, die bin ich“, stieß sie hervor. „Und wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“ Warum lege ich nicht einfach auf?, fragte sie sich im selben Moment. Warum gebe ich mich mit diesem Anrufer überhaupt ab? Wieder waren nur diese schweren Atemzüge zu hören, dann folgte ein kurzes, irres Lachen. „Rache“, sagte die geisterhafte Stimme, „Rache...“ Entnervt warf Dana den Hörer auf die Gabel. Das war einfach zuviel! Manche Leute ließen sich wirklich die letzten Sachen einfallen. Auch ihre Freundin Susan hatte in letzter Zeit häufig derartige Anrufe bekommen und nun eine Fangschaltung beantragt. Hauptsächlich allein stehende Frauen waren von diesem Telefonterror betroffen. Misstrauisch starrte sie auf den Apparat, ob er noch einmal klingelte, aber er blieb still. Trotzdem nahm sie den Hörer ab und legte ihn neben das Telefon. In dieser Nacht wollte sie nicht noch einmal gestört werden. Dana ging wieder ins Bett und zog fröstelnd die Decken hoch. Rache, hatte ihr diese verstellte Stimme, die nicht unbedingt einem Mann gehören musste, angedroht. Lächerlich, dachte sie bei sich. Ich habe niemandem etwas getan, und ich
* Am nächsten Morgen fühlte Dana sich ganz zerschlagen, obwohl ihre Grippe besser geworden war. Der Anruf in der Nacht und ihre anschließenden Alpträume saßen ihr noch in den Knochen. Schlecht gelaunt stand sie auf und ging ins Bad, bevor sie sich anzog und sich dann in der Küche ihr Frühstück aus Cornflakes und Tee zubereitete. Einer plötzlichen Eingebung folgend, ging sie ans Fenster und sah hinunter in den Hof. Hatte sie etwa daran gezweifelt, dass Ralph auch tatsächlich ihr Auto dort abgestellt hatte? Ihr weißer Golf mit dem blauroten Seitenstreifen stand wieder auf seinem angestammten Platz. Einige Bewohner des Hauses gingen gerade zu ihren Autos, um damit zur Arbeit zu fahren. Als Dana ihnen nachsah, fiel ihr zwischen den Reihen geparkter Autos ein dunkelhaariger Mann im Trenchcoat auf, den sie hier noch nie gesehen hatte. War ein neuer Mieter ins Haus eingezogen, ohne dass sie etwas davon erfahren hatte? Kaum. Mrs. Atkins, ihre Nachbarin, hätte ihr die Neuigkeit sicher sofort mitgeteilt. Dana stellte fest, dass der Unbekannte auffälliges Interesse an ihrem Auto zeigte. Sie stellte sich hinter der Gardine auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, um ihn besser beobachten zu können. Vor allem den Kotflügel, in den Ralph den Kratzer gefahren hatte, schien er sich sehr genau zu 6
Teewasser aufsetzte. Ahnungslos nahm sie den Hörer ab und meldete sich. Im selben Moment wusste sie, wer am anderen Ende der Leitung war. „Du Mörderin!“, sagte die gedämpfte Stimme unter heftigem Atmen. „Du elende Mörderin! Aber das wirst du mir büßen... büßen...“ Dana lief es eiskalt über den Rücken. Mit einer heftigen Bewegung legte sie den Hörer zurück. Mörderin! Das war ja wirklich ein starkes Stück. Handelte es sich tatsächlich nur um einen Verrückten, der Spaß daran hatte, andere Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen? Oder war es eine Verwechslung? Aber dieser Jemand hatte ihren Namen gekannt. Vielleicht hätte sie nicht gleich auflegen sollen, sondern sich ruhig und sachlich mit dieser Person auseinandersetzen und fragen, worum es überhaupt ging. Dana beschloss, es beim nächsten Mal zu tun, auch wenn der Gedanke daran ihr vor Furcht das Herz abdrückte. Doch sie zweifelte nicht daran, dass es ein nächstes Mal geben würde. Sollte sie wie Susan eine Fangschaltung beantragen, um den Anrufer dann anzeigen zu können? Eigentlich hatte Dana sich Eier und Speck zum Frühstück braten wollen, aber nun stellte sie die Pfanne wieder beiseite. Der Appetit war ihr vergangen. Sie trank lediglich zwei Tassen Tee und zog sich dann an, um ins Krankenhaus zu fahren. Es würde eine Wohltat sein, wieder unter Menschen zu kommen. Ein Blick auf die Küchenuhr sagte ihr, dass es kurz nach sieben war. Um diese Zeit war Ralph noch zu Hause. Rasch ging sie zum Telefon und wählte seine Nummer. „Ralph? Entschuldige, dass ich dich so früh schon störe, aber ich konnte dich gestern Abend nicht mehr erreichen...“ „Dana! Ist etwas passiert? Geht es dir schlechter?“ Ralphs Stimme klang besorgt, aber auch ein wenig ungeduldig. Dana musste lächeln, als sie sich ihn in seiner morgendlichen Hektik vorstellte, doch
betrachten. Er sah sich flüchtig um, warf einen kurzen Blick zur Fassade des Hauses hinauf und trat dann wieder auf die Straße hinaus. Weshalb hatte dieser Mann sich ihr Auto so genau angesehen? , fragte sie sich mit leichtem Unbehagen, als sie weiter frühstückte. Hatte Ralph vielleicht doch einen größeren Schaden angerichtet? Ihr kam das Ganze sonderbar vor. Das Beste war, wenn sie mit ihrem Verlobten darüber sprach. Die Sache ließ ihr keine Ruhe. Als sie mit dem Frühstück fertig war, zog sie sich eine warme Jacke über und verließ ihre Wohnung. Es war ein unfreundlicher Märztag. Ein kalter Wind fuhr ihr ins Gesicht, als sie aus dem Haus trat und über den Parkplatz zu ihrem Auto ging. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie den bewussten Kotflügel. Es fiel nicht gerade auf, aber man konnte trotzdem sehen, dass er ausgebessert worden war. Dass dieser Torpfosten nicht das Geringste abbekommen haben sollte, konnte sie sich dabei nur schlecht vorstellen. Dana ging wieder nach oben und machte es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem. Am liebsten hätte sie Ralph sofort angerufen und ihm von dem nächtlichen Anruf und dem fremden Mann an ihrem Auto erzählt. Konnte es sein, dass es da einen Zusammenhang gab? Doch sie wollte Ralph nicht während der Geschäftsstunden in der Bank stören, so beschloss sie, bis zum Abend zu warten, auch wenn es ihr schwer fiel. Leider hatte sie am Abend kein Glück. Ralph war offenbar ausgegangen. Immer wieder wählte sie seine Nummer, doch als er um elf Uhr immer noch nicht zu Hause war, gab sie es auf und ging ins Bett. Er selbst hatte auch nicht angerufen, wie er es versprochen hatte. War er vielleicht doch mit einer anderen Frau zusammen? Der Gedanke daran quälte sie. Sie fühlte sich plötzlich entsetzlich einsam und verlassen, und auch auf merkwürdige Weise bedroht. Der zweite anonyme Anruf kam am nächsten Morgen, als Dana gerade ihr 7
„Aber Ralph... ausgerechnet den Kotflügel?“ „Was willst du damit sagen?“, fragte er in scharfem Ton. „Ich? Ich will damit gar nichts sagen“, erwiderte sie leicht gereizt. „Ich dachte eher, dass du mir dazu etwas sagen kannst. War der Schaden vielleicht doch nicht so harmlos, wie du vorgegeben hast?“ Ein entsetzlicher Gedanke war ihr soeben gekommen, den sie lieber erst gar nicht zu Ende dachte. „Ich habe nichts vorgegeben, verdammt noch mal!“, rief Ralph wütend. Seine Stimme zitterte förmlich. „Was geht in deinem Kopf vor? Wessen beschuldigst du mich eigentlich? Denkst du etwa, ich habe dich angelogen? Wenn du mir nicht glaubst, dann kannst du ja Frank fragen. Oder die McNeills, die ich am nächsten Morgen wegen des Torpfostens angerufen hatte. Ich gebe dir die Telefonnummern, damit du deine Ruhe hast!“ Dana schluckte. So außer sich hatte sie Ralph noch nie erlebt. „Ralph, bitte reg dich nicht so auf. Natürlich glaube ich dir, aber versetz dich doch bitte auch einmal in meine Lage. Diese Anrufe, der Mann an meinem Auto...“ „Die Anrufe lasse ich ja noch gelten“, meinte er etwas ruhiger, aber immer noch ärgerlich. „Aber das mit diesem Mann ist doch sicher nur Einbildung von dir.“ „Ich habe ihn mir nicht eingebildet“, gab Dana ebenso ärgerlich zurück. „Ich meinte, dass er sich dein Auto besonders intensiv angesehen hat. Das ist lächerlich. Aber jetzt habe ich wirklich keine Zeit mehr, Dana. Ich hole dich heute Abend vom Krankenhaus ab oder komme bei dir vorbei, wenn du willst.“ Sie seufzte unterdrückt. „Okay, Ralph. Bis heute Abend dann.“ Enttäuscht legte sie auf. Sie hatte sich von Ralph wirklich mehr Verständnis erwartet.
dann wurde sie wieder ernst. „Nein, schlechter geht es mir nicht, aber es ist etwas Merkwürdiges passiert, das mich ganz fertig macht.“ Sie erzählte ihm von den anonymen Anrufen und dem fremden Mann, der sich den Schaden an ihrem Auto so eingehend angesehen hatte. Zu ihrer Verwirrung hörte sie Ralph in sich hineinfluchen. „Was ist?“, fragte sie ängstlich. „Ich meine...“ Er räusperte sich. „Hör mal, Dana, ich muss mich jetzt beeilen, wenn ich noch frühstücken will“, sagte er rasch. „An deiner Stelle würde ich mir nicht so viele Gedanken machen. Solche Anrufe sind heutzutage an der Tagesordnung, wie du selbst weißt, und...“ „Ja, obszöne Anrufe und dergleichen. Aber Rachedrohungen? Ralph, ich bin eine Mörderin genannt worden!“, rief Dana erregt. „Ich verstehe nicht, wie du das so leicht abtun kannst. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es sich nicht um diese üblichen Anrufe handelt, wie zum Beispiel Susan sie bekommen hat.“ „Hast du nicht gefragt, was das zu bedeuten hat?“, fragte Ralph. Seine Stimme klang jetzt etwas interessierter. „Nein, dazu hatte ich nicht die Nerven. Aber ich werde es beim nächsten Mal tun, falls er wieder anruft.“ „Das tut er sicher. Vielleicht solltest du eine Fangschaltung beantragen, dann wissen wir, wer dir diesen Streich spielt.“ „Ja, daran hatte ich auch schon gedacht“, gab Dana zurück. Sie zögerte kurz. „Ralph? Ich würde diesen Anrufen vielleicht nicht so viel Bedeutung beimessen, wenn... wenn ich nicht diesen Mann bei meinem Auto gesehen hätte. Irgendwie bringe ich ihn mit den Anrufen in Verbindung. Vielleicht nicht direkt, aber...“ „Das ist doch Unsinn, Dana“, fuhr Ralph ihr etwas unwirsch ins Wort. „Ich glaube, deine Phantasie geht wieder einmal mit dir durch. Was ist schon dabei, wenn sich jemand dein Auto ansieht?“ Dana hatte das Gefühl, dass Ralph doch nicht ganz so gelassen war, wie er tat.
* Dana zog ihre Jacke an und nahm ihre Tasche an sich, dann verließ sie ihre 8
jedem Nerv spüren. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, während sie fieberhaft überlegte, was sie tun sollte. Am liebsten wäre sie zum Pavillon gelaufen und hätte den Mann zur Rede gestellt. Sollte sie ihren Weg fortsetzen? Oder sollte sie lieber durch das nächste Parktor auf die belebte Straße laufen? Bis zum Krankenhaus war es noch ein ziemliches Stück. Als sie in einiger Entfernung wieder ein paar Leute kommen sah, ging sie doch in Richtung Krankenhaus weiter. Ihre Schritte wurden immer schneller. Erst, als sie ihr Ziel fast erreicht hatte, wagte sie es, sich umzudrehen. Der Mann war dicht hinter ihr und trat jetzt rasch hinter einen Baum. Dana hatte jetzt keinen Zweifel mehr daran, dass er es nur auf sie abgesehen hatte. Aber was wollte er von ihr? War er der anonyme Anrufer? Eigentlich wirkte er ganz harmlos, aber das taten wohl die meisten Verbrecher. Mit weichen Knien erreichte Dana den Seiteneingang des Klinikgebäudes und schloss erleichtert die Tür hinter sich. Im Moment war sie in Sicherheit, aber wie würde es am Abend aussehen? Würde der Mann ihr wieder auflauern und sie verfolgen? Jetzt bereute sie es, das Auto nicht genommen zu haben. Auf keinen Fall würde sie die Abkürzung durch den Park nehmen. Vielleicht holte Ralph sie ja auch ab. Was er wohl zu ihrer neuesten Beobachtung sagen würde? Würde er es ebenfalls als Einbildung abtun? Wenig später betrat Dana das Schwesternzimmer. Ihre Kollegin Selina war gerade dabei, Kaffee zuzubereiten. Überrascht sah sie Dana an. „Du? Bist du denn schon wieder okay?“, fragte die ältere grauhaarige Schwester. Überzeugt schien sie davon nicht zu sein. „Aber erst mal guten Morgen, Dana. Möchtest du eine Tasse Kaffee?“ „Guten Morgen, Selina“, gab Dana den Gruß mit einem Lächeln zurück, während sie ihre Jacke in den Schrank hängte und ihre Schwesterntracht herausnahm. „Ja, ich
Wohnung und fuhr mit dem Aufzug nach unten. Als sie aus dem Haus trat, brachen gerade die ersten Sonnenstrahlen durch die graue Wolkendecke. Sie beschloss, ihr Auto stehen zu lassen und zu Fuß durch den nahe gelegenen Park zum Krankenhaus zu gehen. Nach den letzten Tagen, die sie in ihrer Wohnung hatte verbringen müssen, würde ihr jetzt ein wenig frische Luft gut tun, außerdem empfand sie plötzlich eine merkwürdige Abneigung gegen ihren weißen Golf. Als sie über den Parkplatz ging, warf sie dem Auto einen unbehaglichen Blick zu. Mit seinen Scheinwerfern schien es sie direkt feindselig anzustarren. Dana überquerte die Straße und schlug dann den Weg zum Park ein, auf dessen anderer Seite das Park Hospital lag. So früh am Morgen begegnete ihr kaum jemand außer ein paar Berufstätigen, die die Abkürzung durch den Park zu ihrem Arbeitsplatz nahmen. Einige Jogger waren auch darunter, und Dana grüßte freundlich die bekannten Gesichter. Als sie zu der Weggabelung kam, wo zur Linken der kleine Pavillon stand, stockte ihr plötzlich der Fuß. Flüchtig, aber dennoch deutlich genug hatte sie einen Mann gesehen, der eben hinter dem Pavillon verschwunden war. Es war der Mann im Trenchcoat gewesen, der sich so auffällig den Kotflügel ihres Autos betrachtet hatte! War das ein Zufall? Dana blieb stehen und starrte mit schmalen Augen auf den Pavillon mit dem weißen Lattenwerk. Wenn der Mann weitergegangen wäre, dann hätte sie ihn jetzt auf einem der Wege sehen müssen. Offenbar stand er noch hinter dem Pavillon. Aber weshalb? Versteckte er sich vor ihr? Hatte er ihr hier aufgelauert? Dana sah sich ängstlich nach allen Seiten um. Kein Mensch war jetzt mehr im Park zu sehen. Auch die Sonne war wieder verschwunden. Die einzigen Geräusche waren der ferne Straßenlärm und das Schnattern der Enten im Teich. Der unheimliche Fremde im Trenchcoat war ganz in ihrer Nähe. Dana konnte es mit 9
„Es muss sich um einen Verrückten handeln“, meinte Selina überzeugt. „Beantrage eine Fangschaltung und zeige ihn an, dann hast du deine Ruhe vor ihm. Aber nimm dir das alles nicht so sehr zu Herzen. Du bist nicht die einzige Frau, die solche Anrufe bekommt, und du bist auch nicht die Einzige, die im Park von einem Mann verfolgt wird.“ „Ja, das mag alles stimmen, aber...“ „Vielleicht gefällst du ihm nur?“, unterbrach Selina sie. „Es kann ja sein, dass er etwas schüchtern ist und nur herausfinden wollte, wo du wohnst und arbeitest, um dich einmal abpassen zu können.“ „Meinst du?“ Diese Möglichkeit war immerhin in Betracht zu ziehen. Selina stand auf und räumte das Kaffeegeschirr weg. „Männer kommen oft auf die seltsamsten Ideen, wenn sie die Bekanntschaft einer Frau machen wollen. Natürlich wäre ich an deiner Stelle etwas vorsichtig in der nächsten Zeit, aber du tust dir keinen Gefallen damit, wenn du das Ganze überbewertest. Warte erst mal ab, ob er sich noch mal zeigt, und wegen der Anrufe kümmerst du dich um eine Fangschaltung.“ Sie nickte Dana aufmunternd zu, dann verließen beide das Schwesternzimmer und gingen ihrer Arbeit nach. Selina hat sicher Recht, dachte Dana bei sich. Das kurze Gespräch mit der Kollegin hatte ihr gut getan und sie auch etwas beruhigt. Bald darauf war Dana so beschäftigt, dass sie die unerfreulichen Vorfälle für eine Weile völlig vergaß. Erst beim Lunch in der Cafeteria wurde sie wieder daran erinnert. Phyllis, die in der Anmeldung saß, steuerte mit ihrem Tablett auf den Tisch zu, an den Dana sich gerade gesetzt hatte. „Heute Vormittag hat bei mir ein Mann nach dir gefragt“, begann sie, während sie Ketchup auf ihre Pommes Frites tat. Dana setzte das Herz einen Schlag lang aus. Sie ließ ihre Gabel sinken und starrte Phyllis alarmiert an. „Und? Was wollte er? Warum hast du mich nicht gerufen?“ „Das wollte ich ja“, verteidigte Phyllis
bin wieder okay, und ja, ich möchte auch eine Tasse Kaffee.“ Selina betrachtete sie forschend. „Ich finde, dass du schrecklich aussiehst. Ganz blass mit roten Flecken auf den Wangen. Du hättest lieber noch ein paar Tage zu Hause bleiben sollen, Kind.“ Dana sah in den Spiegel über dem Waschbecken und steckte sich ihr Häubchen im Haar fest. Selina hatte Recht, fand sie. Sie sah wirklich schrecklich aus. Ihre großen dunklen Augen blickten ihr ängstlich entgegen. Dana nahm dankend eine Tasse Kaffee entgegen und setzte sich. Sie hatte noch ein paar Minuten Zeit bis Dienstantritt. „Mit meiner Grippe hat das nichts zu tun“, erklärte sie Selina. „Du würdest auch nicht viel besser aussehen, wenn dir im Park ein Mann aufgelauert und dich verfolgt hätte.“ „Was?“ Selina machte ein entsetztes Gesicht, dann schüttelte sie den Kopf. „Die Zeiten werden immer schlimmer. Als Frau kann man heutzutage kaum mehr allein irgendwohin gehen. Ich rate dir, in Zukunft dein Auto zu nehmen, dann bist du vor derartigen Belästigungen sicher.“ Dana rührte abwesend in ihrer Kaffeetasse und trank einen Schluck. Sie hatte das dringende Bedürfnis, sich alles von der Seele zu reden. Selina war ihr schon lange eine mütterliche Freundin und hatte sich Danas große und kleine Kümmernisse stets geduldig angehört. „Du hast leicht reden“, sagte Dana schwer. „Seit ein paar Tagen bekomme ich auch anonyme Anrufe.“ Sie erzählte Selina alles bis auf die Tatsache, dass Ralph mit ihrem Auto unterwegs gewesen war und es beschädigt hatte. Vielleicht wäre gerade dieser Faktor wichtig gewesen, doch sie hatte Ralph versprochen, darüber zu schweigen. „Das klingt aber ziemlich bedenklich“, meinte Selina besorgt. „Du musst auf jeden Fall etwas unternehmen. Denkst du, dass dieser Mann auch der anonyme Anrufer ist?“ Dana zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht recht...“ 10
entdeckte. Doch er war nirgends zu sehen. In welcher Weise würde er sich ihr als Nächstes nähern?, fragte sie sich. Denn dass sie ihn nicht zum letzten Mal gesehen hatte, davon war sie überzeugt. Als sie im Taxi das kurze Stück zu ihrer Wohnung fuhr, glaubte sie, in jedem Auto hinter ihr den Mann im Trenchcoat am Steuer zu erkennen. Mein Gott, ich leide schon an Verfolgungswahn, dachte sie verstört. Dana bezahlte den Taxifahrer und betrat das Haus. Kaum war die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen, erfasste sie plötzlich ein unheimliches Gefühl, als ob eine drohende Gefahr in den langen düsteren Korridoren auf sie lauerte. Selbst die Stimmen und das Geschirrklappern hinter den Wohnungstüren hatte nichts Beruhigendes für sie. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, während sie auf den Aufzug wartete. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis er endlich im Erdgeschoss hielt. Als sie in ihm nach oben fuhr, hatte sie das Gefühl, in einem stickigen Käfig zu sein, in dem sie kaum mehr Luft bekam. Erlöst atmete sie auf, als sie endlich in ihrer Wohnung war und die Tür hinter sich abschloss.
sich. „Aber er meinte, er wolle dich jetzt nicht stören. Er wollte lediglich wissen, ob eine Dana Hammond hier beschäftigt sei. Ich sagte ihm, dass du hier als Krankenschwester arbeitest. Daraufhin bedankte er sich und ging wieder. Er hat übrigens einen sehr sympathischen Eindruck auf mich gemacht.“ Phyllis sah Dana neugierig an. „Kennst du ihn?“ „Woher soll ich das wissen, wenn ich ihn nicht gesehen habe?“ gab Dana leicht ungeduldig zurück. „Hat er wenigstens seinen Namen genannt?“ „Nein, und ich habe ihn auch nicht danach gefragt.“ „Wie sah er aus?“, wollte Dana weiter wissen. Sie glaubte, die Antwort bereits zu kennen. „Schlank, mittelgroß, etwa Mitte dreißig, dunkles Haar, heller Trenchcoat“, gab Phyllis zur Antwort. Natürlich. Der Mann im Trenchcoat. Obwohl sie sich sagte, dass alles völlig harmlos sein konnte, lief ihr ein unangenehmer Schauer über den Rücken. „Und? Kennst du ihn?“, fragte Phyllis gespannt. Dana schüttelte den Kopf. „Nein.“ Sie hatte nicht vor, Phyllis ebenfalls die ganze Geschichte zu erzählen. Phyllis war äußerst geschwätzig, und bis zum Abend würde es das ganze Krankenhaus wissen. „Mir scheint, du hast eine Eroberung gemacht“, bemerkte Phyllis. „Nur weiß der Ärmste nicht, dass du bereits in festen Händen bist.“ Sie zog eine Grimasse, und Dana musste lachen. Vielleicht hatte sie ja tatsächlich eine Eroberung gemacht, und der junge Mann wollte sie einfach nur kennen lernen. Trotzdem ging ihr die Sache den ganzen Nachmittag nicht mehr aus dem Kopf, so sehr sie sich auch auf ihre Arbeit konzentrierte. Eine innere Stimme sagte ihr, dass da mehr dahintersteckte. Nach Dienstschluss war kein Ralph da, der sie abholte. Missmutig ging Dana zum Taxistand vor dem Haupteingang des Krankenhauses. Dabei sah sie sich verstohlen nach allen Seiten um, ob sie den Fremden im Trenchcoat irgendwo
* Dana sah zum Küchenfenster hinaus auf den Parkplatz, über den sich allmählich die Dunkelheit herabsenkte. Wenn sie nur wüsste, ob Ralph noch kam und was er für den Abend geplant hatte. Wenn er mit ihr essen gehen wollte, dann war es unsinnig, wenn sie sich jetzt ein Abendbrot machte. Nach einer Weile wurde ihr bewusst, dass sie weniger nach Ralph Ausschau hielt als nach einem dunkelhaarigen Mann im hellen Trenchcoat. Ärgerlich über sich selbst wandte sie sich vom Fenster ab und zog die Vorhänge zu. Ihre Nerven waren ohnehin schon stark angeschlagen. Es brachte nichts, wenn sie sich jetzt noch mehr verrückt machte. Sie ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an, um sich abzulenken. 11
vom Küchentisch auf und ging zur Wohnungstür, um die Sicherheitskette vorzulegen. Die Zeit verging, ohne dass Ralph kam. Nach einer Weile schlug Danas Enttäuschung in Ärger um. Warum war er in letzter Zeit nur so unzuverlässig? Gerade jetzt hätte sie ihn so dringend gebraucht. Oder hatte er nur keine Lust, sich Storys über anonyme Anrufer und unheimliche fremde Männer anzuhören? Dana seufzte schwer und versuchte, sich wieder auf den Film im Fernsehen zu konzentrieren, doch es gelang ihr nicht. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem, was in den letzten Tagen geschehen war. In ihre Grübeleien hinein klingelte wieder das Telefon. „Oh, meine Nerven!“, stöhnte Dana laut, während sie unbehaglich aufstand und in die Diele ging. Wer mochte es diesmal sein? Wieder der anonyme Anrufer? Oder Ralph, der ihr Bescheid geben wollte, dass er heute nicht mehr kam? Ihre Hand war feucht vor Schweiß, als sie den Hörer aufnahm und sich meldete. Gleich darauf schloss sie vor Erleichterung die Augen und stieß die Luft aus. „Hallo, Püppchen?“ Dana lächelte. Nur ihr Vater nannte sie so. „Oh, Daddy! Wie schön, dass du anrufst.“ „Ist etwas? Deine Stimme klingt so merkwürdig. Geht es dir noch nicht besser?“ „O doch! Ich habe heute schon wieder gearbeitet. Bin nur ein wenig müde.“ Sie wollte ihrem Vater im Moment noch nichts von diesen Dingen erzählen, die sie bedrückten. Er würde sich nur zu sehr aufregen, und sie wollte ihm keine Sorgen machen. „Das kann ich verstehen, nach dem ersten Arbeitstag“, sagte George Hammond mitfühlend. „Ich wollte dich für Sonntag zum Dinner zu uns nach Hause einladen. Was hältst du davon? Oder hast du da Dienst?“ „Sonntag?“, wiederholte Dana erfreut. „Nein, da habe ich keinen Dienst, das
Wenig später ging sie wieder in die Küche, um sich nun doch einen kleinen Imbiss zu richten, da ihr der Magen knurrte. Es stand ja nicht fest, dass Ralph tatsächlich kommen würde. Dana schnitt gerade etwas Käse auf, als das Telefon klingelte. Sie erstarrte mitten in der Bewegung, und das Herz schlug ihr wieder bis zum Hals. Sie musste sich regelrecht zwingen, in die Diele zu gehen und den Hörer abzunehmen. Doch es war nur jemand, der sich verwählt hatte. Dana legte wieder auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dabei merkte sie, dass sie feucht vor Schweiß war. Nimm dich zusammen, ermahnte sie sich. Sonst bist du bald reif für die Nervenklinik. Kaum war sie wieder in der Küche, da klingelte das Telefon zum zweiten Mal. Vermutlich hat sich der Anrufer von vorhin abermals verwählt, dachte sie und meldete sich. Gleich darauf hatte sie das Gefühl, das Blut würde ihr in den Adern gefrieren. „Bald...“, sagte die unheimliche Stimme, „bald ist die Stunde der Rache gekommen...“ „Wer sind Sie?“, schrie Dana gequält ins Telefon. „Was wollen Sie von mir? Ich habe niemandem etwas getan. Sie müssen mich verwechseln!“ Sie bekam nur ein irres Kichern zur Antwort, dann wurde am anderen Ende aufgelegt. Schwer atmend starrte Dana auf den Hörer, bevor sie ihn ebenfalls zurücklegte. Die Angst in ihr wuchs. Leider hatte sie doch wieder vergessen, eine Telefonüberwachung zu beantragen. Sie nahm es sich für den nächsten Morgen vor. Diese Anrufe konnte sie nicht länger ertragen. Am meisten störte sie daran, dass der Anrufer ihren Namen wusste. Auch der Mann im Trenchcoat hatte ihn gewusst. Aber woher? War es doch ein und dieselbe Person? Sie hoffte, bald mehr zu wissen. Ohne Appetit aß sie ihr Sandwich. Allmählich begann sie schon, sich in ihrer eigenen Wohnung zu fürchten. Einer plötzlichen Eingebung folgend stand sie 12
„Das scheint die neueste Freizeitbeschäftigung zu sein! Mein Anrufer ist übrigens durch diese Fangschaltung geschnappt worden. Stell dir vor, er wohnte ganz in meiner Nähe.“ Sie musterte Dana besorgt. „Du siehst wirklich mitgenommen aus. Hast du die Fangschaltung schon beantragt? Das ist zwar nicht ganz billig, aber hinterher hast du wenigstens wieder deine Ruhe.“ „Ich werde es morgen früh tun“, sagte Dana leise. „Was hat denn dein Anrufer alles zu dir gesagt?“, wollte Susan wissen. „Meiner hat immer nur gestöhnt und dann verlangt, dass ich obszöne Sachen tun soll.“ „Das wäre mir tausend Mal lieber gewesen“, entfuhr es Dana. „Wie bitte?“ Susan sah die Freundin entgeistert an. „Denk bloß nicht, dass das für mich angenehm war! Wieso? Welche Dinge hat man denn von dir verlangt?“ „Man hat mir gedroht und mich eine Mörderin genannt.“ Dana erzählte ihrer Freundin alles, nur nicht, dass Ralph ihren Wagen gehabt hatte. „Mein Gott!“ Susan war entsetzt. „Mir scheint, dass es sich in deinem Fall nicht um die übliche Art dieser Anrufe handelt.“ „Ja, der Meinung bin ich auch“, sagte Dana düster. „Nur Ralph...“ Sie brach ab, weil ihr die Tränen kamen. Plötzlich war ihr alles zu viel. Susan drückte ihre Hand. „Was ist mit Ralph?“ fragte sie und sah Dana aufmerksam an. „Ehrlich gesagt, wegen ihm bin ich hauptsächlich hier.“ „Wegen Ralph?“ Dana hob verwirrt den Kopf. „Was ist mit ihm? Eigentlich hatte ich ihn heute Abend erwartet, aber er wird wohl nicht mehr kommen.“ „Nein, er wird nicht mehr kommen.“ Susan sah ihre Freundin offen an. „Er ist mit einer anderen Frau unterwegs. Ich habe die beiden heute in seinem Auto gesehen, übrigens nicht zum ersten Mal. Sie waren recht vertraut miteinander.“ Susan senkte den Blick und spielte mit ihrem Weinglas. „Ich finde, dass du es wissen solltest, falls du es nicht ohnehin schon weißt.“ Dana starrte einen Moment blicklos vor
heißt, erst abends. Natürlich komme ich gern.“ Sie unterhielten sich noch eine Weile, dann bedankte Dana sich für die Einladung und legte auf. Ein Dinner bei ihrem Vater und Helen war eine nette Abwechslung, die sie gebrauchen konnte. Vielleicht redete sie mit ihm dann doch über diese Geschichte. Bevor Dana wieder ins Wohnzimmer zurückging, wählte sie Ralphs Nummer. Doch wie sie schon vermutet hatte, war er nicht zu Hause. Entweder war er auf dem Weg zu ihr, oder er hatte sich etwas anderes vorgenommen. Dana zuckte nervös zusammen, als es wenig später schon wieder klingelte. Diesmal war es an der Wohnungstür. Sicher war es Ralph. Hoffentlich, fügte sie in Gedanken hinzu. Wenn es abends an der Wohnungstür klingelte, war Vorsicht geboten, und in ihrem Fall ganz besonders. Dana spähte durch den Türspion. Draußen stand nicht Ralph, sondern ihre Freundin Susan. Sie löste die Kette und öffnete die Tür. „Hallo Susan, das ist aber eine Überraschung!“, begrüßte Dana sie. „In letzter Zeit hast du dich ziemlich rar gemacht.“ „Hallo, Dana.“ Susan kam herein und hängte ihre Jacke in der Diele auf. „Ja, ich weiß“, sagte sie schuldbewusst, während sie Dana ins Wohnzimmer folgte. „Aber ich war gar nicht da. Ich bin mit Ken für ein paar Tage weggefahren. Meine Nerven hatten das dringend nötig. Du weißt schon, wegen dieser Anrufe.“ Dana nickte. Sie konnte es Susan nur zu gut nachfühlen. „Möchtest du ein Glas Wein?“ „Ja, gern.” Dana ging in die Küche und holte eine Flasche Weißwein und zwei Gläser. „Ich habe in den letzten Tagen ebenfalls anonyme Anrufe bekommen „, sagte sie, während sie Susan und sich einschenkte. „Ich weiß jetzt bestens, wie dir zumute war.“ „Du auch?“ Susan sah sie aus großen Augen an und schüttelte dann den Kopf. 13
zurückgezogen. Am Telefon war er nur kurz angebunden gewesen, und als sie zum Essen ausgegangen waren, hatte er ihr klipp und klar erklärt, dass er im Moment etwas Abstand von ihr brauche. Den Grund könne er selbst nicht so recht erklären, aber er fühle sich irgendwie eingeengt. Er hatte auch von sich aus erzählt, dass er an jenem Abend, an dem sie auf ihn gewartet hatte, mit einer Kollegin aus gewesen war. Er beteuerte jedoch, dass zwischen ihnen nicht das Geringste gewesen sei. Er brauche einfach nur Tapetenwechsel. Dana hatte sich hinterher im Stillen gefragt, wie es dann wohl einmal in ihrer Ehe aussehen würde - falls es überhaupt noch jemals dazu kam. Auch im Krankenhaus hatte Dana ihren Ärger. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sich alles gegen sie verschworen hatte. Nichts machte ihr mehr Freude, und in ihrer Freizeit saß sie nur zu Hause und grübelte. Der einzige Lichtblick in diesen trüben Tagen war das Dinner bei ihrem Vater gewesen. Auch mit Helen verstand sie sich ausgezeichnet, und die kleine Sabrina war das süßeste Baby der Welt. Der nächste Tag brachte unvermutet eine Wende in Danas Leben. Schon gleich am Morgen wurde sie zu Professor Collings gebeten, dem Leiter des Park Hospitals. Mit einem unguten Gefühl machte Dana sich auf den Weg in sein Büro. Sie konnte sich nicht vorstellen, aus welchem Grund er nach ihr verlangte. Nach kurzem Anklopfen wurde sie hereingebeten. „Guten Morgen, Professor Collings“, grüßte Dana freundlich. Der Professor bot ihr einen Stuhl vor seinem Schreibtisch an. „Setzen Sie sich, Schwester Dana. Ich habe eine ziemliche Überraschung für Sie.“ „Oh?“ Dana ließ sich auf einem Stuhl nieder und sah ihn verwundert an. Professor Collings war ein älterer, würdevoller Herr, den sie alle verehrten. „Wie würde es Ihnen gefallen, dieser Klinik hier für eine Weile den Rücken zu kehren?“, fuhr er geheimnisvoll fort. Dana lachte unsicher auf. „Wollen Sie mich loswerden, Professor Collings?“
sich hin. „Nein, gewusst habe ich es nicht, aber irgendwie geahnt. Ralph hat sich in der letzten Zeit verändert“, sagte sie dann leise. „Es muss aber nicht unbedingt etwas bedeuten“, meinte Susan. „Zieh jetzt bitte keine voreiligen Schlüsse. Vielleicht hätte ich doch nichts davon sagen sollen, wo du ohnehin schon so angeschlagen bist.“ „Nein, das ist schon okay. Wir werden uns einmal gründlich aussprechen müssen. Zu dem Schluss bin ich vor kurzem selbst gekommen.“ Dana schwankte lange Zeit, ob sie Susan nicht doch erzählen sollte, dass Ralph ihr Auto angekratzt hatte. Von da an hatten schließlich die anonymen Anrufe begonnen und war auch dieser Mann aufgetaucht. War das alles nur ein Zufall, oder bestand tatsächlich ein Zusammenhang? Doch es widerstrebte ihr, Ralph gegenüber ihr Versprechen zu brechen, deshalb schwieg sie. Schließlich lenkte sie das Gespräch auf andere Themen, und als Susan wieder gegangen war, hatte Dana trotz allem einen netten Abend verbracht. Nur dass Ralph sich überhaupt nicht mehr gemeldet hatte, bedrückte sie. * Die nächsten Tage verliefen ereignislos. Dana hatte die telefonische Überwachung beantragt, doch seltsamerweise hatte sich der Anrufer nicht mehr gerührt, als ob er es gewusst hätte. Auch den Mann im Trenchcoat hatte sie nirgends mehr gesehen. Eigentlich hätte sie aufatmen können, doch sie fühlte sich trotzdem noch ständig beobachtet und bedroht. Immer wieder musste sie an diese letzte Drohung des anonymen Anrufers denken. Bald ist die Stunde der Rache gekommen... Aber warum tat sich dann nichts mehr? Dieses unheilvolle Schweigen erschien Dana wie die Ruhe vor dem Sturm und nervte sie fast mehr als die Anrufe. Irgendwie glaubte sie nicht daran, dass die Geschichte nun so plötzlich ein Ende hatte. Ralph hatte sich immer mehr von ihr 14
in Ruhe, bis Sie etwas von Mrs. Milford hören. Ich wollte nur vorher mit Ihnen darüber sprechen und Ihnen sagen, dass Sie meinen Segen haben.“ Dana stand ebenfalls auf. „Danke, Herr Professor. Ich werde es mir überlegen und Ihnen dann Bescheid geben.“ Noch ganz benommen ging sie ins Schwesternzimmer zurück. Nie im Leben hätte sie sich träumen lassen, dass sie einmal jemand als private Pflegerin engagieren wollte, noch dazu jemand, den sie nicht einmal kannte. Vielleicht ist das die Lösung für all meine Probleme, dachte sie. Im Moment gab es nichts, was sie in Cardiff hielt. Im Gegenteil, alles ging ihr entsetzlich auf die Nerven. In Rhondda’s Moel wartete vielleicht eine dankbare Aufgabe auf sie, ein Mensch, der ihre Hilfe brauchte. Dort war sie bestimmt sicher vor anonymen Anrufen und Männern im Trenchcoat, die sie beobachteten. Außerdem würde eine Trennung von Ralph ihr zeigen, ob sie in Zukunft zusammenbleiben wollten oder nicht. Zwei Tage später bekam Dana einen Brief von einer Claire Milford auf Rhondda’s Moel. Erwartungsvoll öffnete sie ihn und setzte sich damit auf das Sofa. ,Liebe Miss Hammond’, las sie, ,wenn Sie meinen Brief bekommen, wissen Sie sicher schon, wer ich bin, und Professor Collings wird mit Ihnen bereits gesprochen haben. Ich möchte mich nun an Sie persönlich wenden mit der Bitte, meinen zweiunddreißigjährigen Sohn zu betreuen, der nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt. Ich weiß, dass er wieder laufen könnte, wenn er den Willen und die Ausdauer für seine Gehübungen aufbringen könnte. Deshalb suche ich schon lange nach einer geeigneten Pflegerin für ihn. Nun sind Sie mir von einer Bekannten, Miss Rutherford, wärmstens empfohlen worden. Sie wurde damals im Park Hospital hervorragend von Ihnen betreut und hat sich nur lobend über Sie ausgesprochen. Professor Collings ist bereit, Sie für gewisse Zeit zu entbehren. Ich werde Ihnen Ihr bisheriges Gehalt weiterzahlen plus die Miete für Ihre
„Aber nein, Kindchen, ganz gewiss nicht. Ich weiß ja, was Sie für eine tüchtige Schwester sind. Andere Leute wissen das offenbar auch, deshalb hat man Sie als private Pflegerin angefordert. Wenn Sie damit einverstanden sind, werde ich Sie natürlich gehen lassen. Es wäre nur für eine bestimmte Zeit.“ „Mich?“, fragte Dana erstaunt. „Wer sollte mich als private Pflegerin anfordern?“ „Eine gewisse Claire Milford, Herrin von Rhondda’s Moel. Das ist ein schlossähnliches Herrenhaus in der Nähe von Porthcawl. Ihr Sohn ist nach einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt und braucht eine Pflegerin, die mit ihm intensive Gehübungen macht. Er war übrigens damals in unserer Klinik.“ „Milford?“ Dana schüttelte den Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern. Wie kommt diese Claire Milford ausgerechnet auf mich? Ich kenne sie ja überhaupt nicht.“ „Aber Sie können sich doch sicher noch an Glenda Rutherford erinnern?“, fragte Professor Collings. Dana runzelte die Stirn. „Die alte Miss Rutherford? Ja, richtig. Aber was hat sie damit zu tun?“ „Sie hat Sie wärmstens an Claire Milford empfohlen. Und ich muss sagen, dass Sie gerade mit solchen Patienten eine Engelsgeduld bewiesen haben. Ich bin überzeugt, dass Sie für diese Aufgabe die Richtige sind.“ Der Professor betrachtete sie wohl wollend. „Nun, Schwester Dana, werden Sie das Angebot annehmen? Wie gesagt, es ist nur vorübergehend, und Ihr Arbeitsplatz hier bleibt Ihnen selbstverständlich erhalten. Ich darf Ihnen noch verraten, dass Mrs. Milford ein fürstliches Gehalt zahlen wird. Sie wollte sich noch mit Ihnen persönlich in Verbindung setzen.“ Dana starrte den Professor verwirrt an. „Ich... ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Natürlich ist es ein verlockendes Angebot, aber...“ Professor Collings erhob sich. „Sie müssen sich ja nicht an Ort und Stelle entscheiden. Überlegen Sie sich die Sache 15
bleiben. Dana zweifelte jedoch daran. Nach einem letzten Blick zu den Fenstern ihrer Wohnung fuhr Dana aus der Stadt hinaus und die Küstenstraße entlang. Dabei stritten die verschiedensten Empfindungen in ihr. Erleichterung darüber, alles Unerfreuliche der letzten Zeit hinter sich zu lassen, Vorfreude auf ihre neue Aufgabe, aber auch eine gewisse Angst vor dem Unbekannten, das auf sie wartete. Sie wusste nicht einmal, wie viele Personen zu Claire Milfords Familie gehörten, oder ob sie mit ihrem behinderten Sohn allein in diesem Herrenhaus lebte. Danas Stimmung sank etwas, als es zu regnen anfing und dichte Nebelschwaden vom Meer her an den Klippen hochkrochen. Sie schaltete die Scheinwerfer an. Dabei fiel ihr auf dass ihr schon lange kein anderes Auto mehr begegnet war. Hier war es wirklich sehr einsam, und nur ab und zu erblickte sie vereinzelt ein Haus, dafür umso mehr Ruinen und Mauerreste aus längst vergangenen Tagen. Zum ersten Mal kam Dana in den Sinn, dass sie vermutlich in ein völlig abgeschiedenes Haus kam, wo es nicht viel Abwechslung geben würde. Aber das war ihr ganz recht. So konnte sie in Ruhe über verschiedene Dinge nachdenken. Die Straße wurde immer schmaler und wand sich in endlosen Kurven dahin. Dana fuhr langsamer, um die Abzweigung nach Rhondda’s Moel nicht zu verpassen. Endlich entdeckte sie den Leuchtturm, der ihr als Orientierungspunkt dienen sollte. Gespenstisch blinkte das rote Licht im Nebel. Wenig später bog sie in eine Art Feldweg ein, der laut Inschrift auf einem großen Felsbrocken nach Rhondda’s Moel führte. Dana wurde auf der holprigen Straße ordentlich durchgeschüttelt. Das Herrenhaus konnte sie bis jetzt noch nicht sehen, denn alles war in einen dichten Nebel gehüllt. Je weiter sie fuhr, umso mehr wurde sie von einem unheimlichen Gefühl erfasst. Dana versuchte es abzuschütteln, doch es gelang ihr nicht, obwohl sie sich immer wieder sagte, dass
Wohnung in Cardiff. Unterkunft und Verpflegung auf Rhondda’s Moel sind selbstverständlich frei. Ich hoffe sehr, dass Sie sich für mein Angebot entscheiden und mich in den nächsten Tagen anrufen werden. Mit freundlichen Grüßen, Ihre Claire Milford.’ Dana las den Brief zweimal, bevor sie ihn zur Seite legte. Er klang nett und freundlich. Warum sollte sie das Angebot nicht annehmen? Am nächsten Tag rief Dana in Rhondda’s Moel an und teilte Mrs. Milford ihren Entschluss mit. Claire Milford war hocherfreut über Danas Zusage. Sie bedankte sich so überschwänglich, dass es Dana schon fast peinlich war. Dana erklärte, dass sie am Sonntagnachmittag in Rhondda’s Moel eintreffen werde, um dann am Montagmorgen ihren Dienst anzutreten. Zufrieden lag Dana an diesem Abend im Bett. Sie glaubte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben und freute sich bereits auf Rhondda’s Moel, das nun für eine Weile ihr Zuhause sein würde. Obwohl sich der anonyme Anrufer nicht mehr gemeldet hatte und der Mann im Trenchcoat in den letzten Tagen nicht mehr aufgetaucht war, hatte sie immer noch Angst davor. Claire Milfords Angebot war im richtigen Moment gekommen. Dana hatte keine Ahnung, dass sie auf Rhondda’s Moel erst recht von Angst und Grauen gejagt werden sollte... * Am Sonntag nach dem Lunch lud Dana ihr Gepäck in ihren weißen Golf. Sie hatte sich bereits von ihrem Vater und ihren Freunden verabschiedet, obwohl sie künftig ab und zu mal zu Besuch kommen konnte. Rhondda’s Moel war kaum eine Autostunde von Cardiff entfernt. Dana hatte den Eindruck gehabt, dass Ralph direkt erleichtert gewesen war, dass sie für eine Weile wegfuhr. Er hatte versprochen, mit ihr in Verbindung zu 16
passte besser. Es wirkte düster, verlassen und unheimlich. In dem dunklen Torbogen, durch den sie gekommen war, bemerkte sie plötzlich eine Bewegung, als hätte dort jemand gestanden, der sich rasch wieder zurückgezogen hatte. Dana kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts mehr sehen. Doch sie wurde das unbehagliche Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. „Hallo?“, rief sie und ging ein Stück auf den Torbogen zu. Ihre Stimme klang seltsam hohl und wurde von den Fassaden des Gebäudes direkt gespenstisch zurückgeworfen. Im selben Moment hörte sie, wie sich Schritte auf dem Kopfsteinpflaster entfernten. Also war doch jemand hier gewesen! Merkwürdig, dachte Dana befremdet. Warum lief jemand vor ihr weg, anstatt dass jemand kam, um sie zu begrüßen? Hatte man im Haus nichts von ihrer Ankunft bemerkt? Alles wirkte wie ausgestorben, nur ein Hund bellte jetzt in der Nähe. Dana ging auf das große Tor zu und setzte den schweren Messingklopfer in Bewegung. Dumpf hallten die Schläge im Innenhof, doch nichts rührte sich. Erst als sie Klopfer kräftiger schwingen ließ, hörte sie drinnen Schritte näher kommen. Dann wurde das Tor knarrend einen Spalt geöffnet. Dana sah sich einer grauhaarigen, hageren Frau in einer schwarzweißen Schürze und mit einem mürrischen Pferdegesicht gegenüber. „Guten Tag“, grüßte Dana höflich. „Ich bin Dana Hammond, die Pflegerin für Mr. Milford. Ich werde erwartet.“ „Jaja, ich weiß“, sagte die ältere Frau etwas ungeduldig und öffnete das Tor ein Stück weiter. „Kommen Sie herein. Ich bin Emma Brittle, die Haushälterin.“ Dana betrat einen großen, düsteren Saal, an dessen Wänden unzählige Ölgemälde und Wandteppiche hingen. Außer einer Ritterrüstung in der Ecke und einem thronartigen Sessel zwischen zwei geschnitzten Türen gab es keine Einrichtungsgegenstände. „Mein Gepäck ist noch im Auto“, sagte
nur der Nebel daran schuld war. Im Sonnenschein war diese Gegend hier bestimmt herrlich anzusehen. Trotz der Heizung im Auto fröstelte Dana. Sehen konnte sie das Meer nicht, doch trotz des Motorengeräuschs hörte sie die Wellen bedrohlich gegen die Klippen rollen. Endlich tauchten die Umrisse von Rhondda’s Moel aus dem Nebel auf. Mit gemischten Gefühlen starrte Dana darauf und trat dabei unwillkürlich auf die Bremse. Unter einem Herrenhaus hatte sie sich etwas anderes vorgestellt, auch wenn Professor Collings es als schlossähnlich bezeichnet hatte. Vielleicht eher ein liebenswertes romantisches Haus mit Türmchen und Erkern und einer Efeu bewachsenen Fassade. Doch das, was sich jetzt aus den Nebelschwaden schälte, war ein riesiger grauer Kasten, der mehr an eine trutzige mittelalterliche Burg erinnerte. Die unregelmäßig angeordneten Fenster waren zum größten Teil vergittert und völlig schmucklos. An der linken Seite waren zwei dicke Türme nebeneinander angebaut, deren dunkle Fensterhöhlen sie drohend und feindselig anstarrten. Über den Dachzinnen erhoben sich jede Menge Türmchen, Lüftungsschächte mit kleinen Dächern und Kamine. Als Dana weiterfuhr, sah sie, dass an der rechten Seite noch ein viereckiger Turm mit Zinnen angebaut war. Ein architektonisches Meisterwerk war das Ganze gewiss nicht. Eines jedoch stand fest: Rhondda’s Moel musste schon sehr, sehr alt sein. Dana fuhr über eine altertümliche Brücke, die einen Burggraben überspannte. Durch die Nebelschwaden hindurch konnte sie vage erkennen, dass dort unten Gärten angelegt waren. Sie fuhr durch ein großes Tor und gelangte in einen weiträumigen Innenhof, in dessen Mitte sich ein mittelalterlicher Brunnen befand. Sie parkte daneben und stieg aus. Als Herrenhaus konnte man dieses Bauwerk sicher nicht bezeichnen, ging es Dana durch den Sinn. Schloss oder Burg 17
Mrs. Brittle“, erklärte Claire Milford der Haushälterin kühl. „Ich werde Miss Hammond ihr Zimmer selbst zeigen. Und sorgen Sie dafür, dass das Gepäck der jungen Dame gebracht wird.“ Mit einem kurzen feindseligen Blick auf Dana verschwand die Haushälterin. „Haben Sie gleich hergefunden, Miss Hammond?“, erkundigte Claire Milford sich. „Manchmal kann man bei diesem Nebel nicht die Hand vor Augen sehen.“ „Es war nicht allzu schlimm“, erwiderte Dana. „Aber aufpassen musste ich trotzdem, um die Abzweigung nicht zu verpassen.“ Dana folgte Claire Milford einen langen Korridor entlang. Sie konnte nicht sagen, weshalb, aber ihre neue Arbeitgeberin hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Eigentlich hatte sie mehr das Bild einer liebenswerten älteren Dame mit grauen Löckchen vor Augen gehabt und nicht diese hoch gewachsene Frau mit dem strengen schwarzen Haarknoten und dem immer noch attraktiven Gesicht. Dana schätzte Claire Milford auf Mitte fünfzig, sie konnte aber auch jünger oder älter sein. Claire Milford öffnete eine der vielen Türen und ließ Dana eintreten. „Ich hoffe, das Zimmer gefällt Ihnen“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. Dana fiel auf, dass ihre grauen Augen dabei merkwürdig kalt blieben. Oder täuschte sie sich nur wieder? Dana ließ ihren Blick durch das hübsch eingerichtete Zimmer mit den zierlichen alten Möbeln schweifen. „Oh, es gefällt mir sehr gut“, sagte sie aufrichtig. „Ich liebe alte Möbel.“ Während sie ihre Tasche ablegte und sich weiter umsah, fühlte sie Claire Milfords Blick direkt unangenehm auf sich gerichtet. Sie drehte sich um und bemerkte für den Bruchteil von Sekunden ein seltsames Flackern in deren Augen, das rasch wieder einem betont freundlichen Ausdruck wich. Mein Gott, was hat diese Frau?, dachte Dana befremdet. Warum sieht sie mich so eigenartig an? „Das freut mich“, versicherte Claire
Dana. „Vielleicht...“ „William wird sich darum kümmern“, erwiderte Mrs. Brittle. „Ich zeige Ihnen zuerst Ihr Zimmer, dann werde ich Sie Mrs. Milford melden.“ Als Dana hinter der Haushälterin den großen leeren Saal durchquerte und auf eine breite, mit Teppichen belegte Treppe zuging, klapperten ihre Absätze ein hartes Stakkato auf dem Parkettboden. Mrs. Brittle drehte sich um und blickte missbilligend auf Danas Füße. „Tragen Sie hier bitte andere Schuhe. Mit diesen dünnen Absätzen ruinieren Sie nur unser Parkett.“ Es war keine Bitte, es hatte eher nach einem Befehl geklungen. Dana ärgerte sich darüber. Natürlich sah sie es ein und wollte sich auch gern danach richten, aber sie fand, dass Mrs. Brittle das auch in einem freundlicheren Ton hätte sagen können. Dana setzte ihren Fuß auf die unterste Stufe und sah dann wie unter einem Zwang die Treppe hoch. Im selben Moment zuckte sie entsetzt zurück. Oben an der Treppe sah sie im Dämmerlicht eine schwarz gekleidete Frau stehen. Sie sah Dana mit einem derart Hass erfüllten Blick entgegen, dass ihr der Fuß stockte und sie ihre Finger um den Schulterriemen ihrer Tasche krampfte. * Plötzlich veränderte sich der Ausdruck dieser Frau, und ein strahlendes Lächeln lag jetzt auf ihrem Gesicht. „Da sind Sie ja, meine liebe Miss Hammond. Herzlich willkommen in Rhondda’s Moel. Ich bin Claire Milford.“ Mit ausgestreckten Armen kam sie auf Dana zu und drückte ihr beide Hände. Dana hatte sich von ihrem ersten Schrecken wieder erholt. Sie musste sich wohl getäuscht haben. Oder war die düstere Beleuchtung an diesem Eindruck Schuld gewesen? Dana begrüßte ihre neue Arbeitgeberin freundlich, dann ging sie neben ihr weiter die Treppe hoch. „Sie können wieder an Ihre Arbeit gehen, 18
schmiedeeisernes Tor, das direkt ins Meer zu führen schien. Dana konnte die graue Masse durch den Nebel hindurch tosen sehen. Unwillkürlich schauderte sie zusammen. Das hier war also nun für eine unbestimmte Zeit ihr neues Zuhause. Sie wusste nicht, ob sie sich darauf freuen oder ihren Entschluss schon wieder bereuen sollte. Sie wusste nur, dass Rhondda’s Moel bedrückend auf sie wirkte, sie der Haushälterin nicht willkommen war und Claire Milford einen ziemlich sonderbaren Eindruck auf sie machte. Hoffentlich waren die anderen Bewohner von Rhondda’s Moel nicht ebenso seltsam, und hoffentlich würde sie mit ihrem Patienten, Claire Milfords Sohn, gut auskommen. Dana sah einen Mann mittleren Alters in Arbeitskleidung auf ihr Auto zugehen. Er war direkt abstoßend hässlich mit seiner verwachsenen Gestalt, dem kantigen Gesicht mit der Hakennase und dem schütteren Haar. Das war sicher William, der sich um ihr Gepäck kümmern sollte. Bevor der Mann den Kofferraum öffnete, studierte er ihr Nummernschild. Dann nahm er ihre Koffer heraus. Dana runzelte die Stirn, als sie sah, wie er dann noch eingehend ihren Kotflügel begutachtete. Was ging diesen Mann ihr Auto an? Sie ärgerte sich über ihn. Wenig später klopfte er lautstark gegen ihre Tür. Dana öffnete ihm. „Vielen Dank“, sagte sie, als er ihr Gepäck abstellte. „Sie sind William, nicht wahr?“ Er musterte sie mit einem eigentümlichen Blick aus seinen stechenden kleinen Augen. „Ja, William Wells“, brummte er. „Eigentlich bin ich hier als Gärtner angestellt, aber wie Sie sehen, bin ich Mädchen für alles.“ „Ich bin Dana Hammond, die neue Pflegerin für Mr. Milford“, sagte Dana so freundlich wie möglich. „Das weiß ich bereits.“ William Wells drehte sich um und stapfte wieder davon. Dana schloss hinter ihm die Tür. Was für ein komischer Kauz, dachte sie.
Milford. „Schließlich sollen Sie sich hier so wohl wie nur möglich fühlen, wenn ich Sie schon so plötzlich aus Ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen habe.“ „Das werde ich bestimmt tun“, entgegnete Dana höflich, doch irgendwie zweifelte sie jetzt daran. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Professor Collings hatte etwas von einem Herrenhaus gesagt. Ich hatte keine Ahnung, dass ich in ein imposantes Schloss kommen würde.“ Claire Milford lachte kurz auf und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es ist nur ein hässlicher alter Kasten, an dem viel repariert werden müsste. Für mich ist er ehrlich gesagt nur ein Klotz am Bein. Mein verstorbener Mann hat Rhondda’s Moel vor vielen Jahren gekauft. Henry liebte es, und meinen Kindern ist es ebenfalls ans Herz gewachsen.“ Für einen kurzen Augenblick erschien ein gepeinigter Ausdruck auf ihrem Gesicht, und ihre Lippen pressten sich zu einem harten Strich zusammen. Doch gleich darauf hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie seufzte und hob die Schultern. „So bleibe ich eben hier. Hoffentlich wird es Ihnen nicht zu einsam hier. Aber vielleicht werden Sie sich mit meiner Tochter Shelley anfreunden. Sie dürften im gleichen Alter wie sie sein. Sie lebt mit ihrem Mann Devin hier.“ Claire Milford ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. „Ich lasse Sie jetzt bis zum Tee allein, dann werde ich Sie meinem Sohn vorstellen. Mrs. Brittle wird Sie dann in einer Stunde abholen und in den Salon begleiten.“ Sie nickte Dana kurz zu und ging hinaus. * Dana zog ihre Wildlederjacke aus und hängte sie an die Garderobe, dann ging sie ans Fenster. Von hier aus konnte sie in den Innenhof hinunterblicken, der von dem Gebäude an drei Seiten umgeben wurde. Am rechten Ende stand der viereckige Turm mit den Zinnen, an der vierten Seite war eine lange Mauer mit Schießscharten. In der Mitte befand sich ein 19
„Mr. Dylan will nicht zum Tee kommen“, antwortete die Haushälterin auf die stumme Frage ihrer Herrin. Auf Claire Milfords Wangen zeichneten sich hektische rote Flecken ab. „Warum nicht?“, rief sie schrill. „Haben Sie ihm nicht gesagt, dass seine Pflegerin gekommen ist?“ „Das wird der Grund sein, weshalb er nicht kommen will“, warf Devin spöttisch ein. „Du weißt doch, dass Dylan nichts von einer Pflegerin wissen will, Claire. Trotzdem hast du über seinen Kopf hinweg bestimmt.“ Claires Gesicht wurde rot vor Ärger. „Ich hatte nur sein Bestes im Sinn! Manche Kranken muss man eben dazu zwingen, damit sie wieder gesund werden.“ Sie wandte sich an Dana. „Nicht wahr, Miss Hammond? Sie haben mit so widerspenstigen Kranken sicher Ihre Erfahrungen.“ „Ja, das kommt manchmal vor“, erwiderte Dana zurückhaltend. Natürlich hatte Claire Milford in gewisser Weise Recht, doch es störte Dana, dass Dylan Milford sie offenbar ablehnte. Ihr neuer Job schien für sie nicht gerade leicht zu werden. „Bitte gehen Sie noch einmal in den Turm und sehen Sie zu, dass Dylan herunterkommt, Mrs. Brittle“, befahl Claire der Haushälterin. „Ich finde sein Verhalten nicht sehr angebracht. Sonst ist er auch immer zum Tee heruntergekommen.“ „Bitte lass ihn, Mum“, sagte Shelley leise. „Vielleicht fühlt er sich tatsächlich nicht danach.“ „Ich möchte mich der Meinung Ihrer Tochter anschließen, wenn ich etwas dazu sagen darf, Mrs. Milford“, meldete sich Dana zu Wort. „Wenn Sie erlauben, werde ich anschließend zu ihm gehen und mich ihm vorstellen.“ „Gut, wie Sie wollen“, gab Claire Milford nach. Sie lächelte, doch man konnte ihr deutlich ansehen, dass der Ärger in ihr kochte. Anscheinend war sie es gewöhnt, dass ihre Befehle befolgt wurden. Sie scheuchte Mrs. Brittle wieder in die Küche
Die Bewohner von Rhondda’s Moel schienen alle ein wenig merkwürdig zu sein. Dana packte ihre Sachen aus und verteilte sie in Schrank und Kommode. Dann vertauschte sie ihr Wildlederkostüm mit einem schicken Hosenanzug, zu dem sie wie gewünscht flache Schuhe tragen konnte. Wenig später kam Mrs. Brittle, um Dana in den Salon zu bringen. Die Haushälterin sagte kein Wort, während sie hinuntergingen. Sie klopfte an eine Tür und ließ Dana eintreten. Claire Milford thronte mit der Erhabenheit einer Königin auf einem zierlichen Plüschsofa mit geschwungener Lehne. Neben ihr in einem Sessel saß eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren und einem bleichen, feingeschnittenen Gesicht. Sie trug einen schwarzen Seidenpulli und enganliegende schwarze Hosen. Am Kamin lehnte lässig ein junger Mann in einem Cordanzug. Dana fand ihn auf den ersten Blick äußerst attraktiv mit seinem braunen welligen Haar und dem markanten, fast verwegenen Gesicht, doch dann störte sie der leichtsinnige Zug um seinen Mund und der spöttische Ausdruck in seinen Augen. Claire Milford winkte Dana zu. „Kommen Sie, liebes Kind, setzen Sie sich zu uns. Das hier ist meine Tochter Shelley, und der junge Mann dort mein Schwiegersohn, Devin Bennet. Kinder, das ist Dana Hammond aus Cardiff, Dylans neue Pflegerin.“ Dana begrüßte die beiden, von denen sie nicht recht wusste, wie sie sie einstufen sollte. Shelley lächelte nur schwach und zog ihre Hand gleich wieder zurück, und Devin Bennet musterte sie ungeniert mit dem Blick des Frauenkenners. Er rückte Dana den Sessel zurecht, den Claire Milford ihr angeboten hatte, und setzte sich ebenfalls. Kurz darauf kam Mrs. Brittle herein und servierte Tee und Gebäck. Claire Milford sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an. 20
„Wollen Sie etwas?“, fragte sie mürrisch, während sie die Topfhandschuhe zur Seite legte. Es fiel Dana schwer, bei dieser Frau freundlich zu bleiben, doch sie versuchte es zumindest. „Ja, ich wollte Sie bitten, mir den Weg zu Mr. Dylans Zimmer zu zeigen, damit ich meinen Patienten kennen lernen kann.“ „Ich habe jetzt keine Zeit, um Sie dorthin zu bringen“, erklärte die Haushälterin unwirsch. „Sie brauchen mich auch nicht hinzubringen“, entgegnete Dana sanft und immer noch freundlich. „Es genügt, wenn Sie mir den Weg beschreiben. Ich hörte, dass er im Turm wohnt, aber Rhondda’s Moel hat drei Türme, so viel ich gesehen habe.“ „Im eckigen Turm auf der rechten Seite.“ Mrs. Brittle beschrieb ihr den Weg, während sie Dana den Rücken zukehrte und in ihren Töpfen rührte. Dana bedankte sich und ging aus der Küche. Als sie die Tür hinter sich zuzog, rief Mrs. Brittle ihr noch etwas nach. „Machen Sie sich gleich darauf gefasst, dass Mr. Dylan von Ihrer Anwesenheit alles andere als begeistert sein wird. Sie hätten sich den Weg sparen können, wenn Sie mich fragen. Außerdem habe ich ihn bisher bestens versorgt.“ Sie warf Dana einen bösen Blick zu. „Ich sehe nicht ein, warum nun jemand anders diese Aufgabe übernehmen soll. Mr. Dylan war mit meiner Pflege vollauf zufrieden, und laufen wird er ohnehin nie mehr können.“ Die Haushälterin wandte sich abrupt wieder ihren Töpfen zu. Dana hatte den Eindruck, dass die Frau den Tränen nahe war, und verspürte plötzlich Mitleid mit ihr. Besonders glücklich schien sie in diesem merkwürdigen Schloss nicht gerade zu sein. „Ich werde mir davon selbst ein Bild machen“, sagte Dana ruhig, aber entschieden. Dann zog sie die Tür endgültig ins Schloss und machte sich auf den Weg zum Turm. Dana stellte bald fest, dass Mrs. Brittle ihr den Weg höchst ungenau beschrieben
und rührte dann heftig in ihrer Teetasse. Es war die ungemütlichste Teestunde, die Dana seit langem verbracht hatte. Shelley schien einen großen Kummer mit sich herumzutragen und sagte kaum etwas. Claire Milford und ihr Schwiegersohn Devin machten vor Dana kein Hehl daraus, dass sie sich gegenseitig nicht ausstehen konnten und bedachten sich immer wieder mit spitzen Bemerkungen. Nur hin und wieder richteten sie das Wort an Dana und stellten einige Fragen in Bezug auf ihr Leben in Cardiff und ihre Arbeit im Krankenhaus. Von ihrem neuen Schützling erfuhr sie nicht allzu viel, außer dass er seit einem Reitunfall im letzten Jahr im Rollstuhl saß und nach Claires Meinung sicher längst wieder laufen könnte, wenn er es nur wollte. Dana war froh, als die Teestunde vorüber war. Shelley und Devin wollten nach Swansea fahren und dort zum Dinner bleiben, und Claire wollte sich in ihr Zimmer zurückziehen um einige Briefe zu schreiben. Sie wirkte plötzlich merkwürdig abwesend, und Dana beobachtete sie verstohlen. Was war los mit dieser Frau? Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Nachdem Dana sich selbst überlassen war, beschloss sie, Dylan Milford im Turm aufzusuchen. So ging sie in die Küche, um Mrs. Brittle nach dem Weg dorthin zu fragen oder sich von ihr hinbringen zu lassen. * Dana fiel ein, dass sie noch nicht einmal wusste, wo die Küche lag, und dass ihr auch bisher noch niemand angeboten hatte, ihr das weitläufige Haus zu zeigen. Auf gut Glück ging sie den Korridor neben der Treppe entlang, bis ihr Essensgerüche und Geschirrklappern hinter einer Tür verrieten, dass sie richtig war. Sie klopfte an und trat ein. Mrs. Brittle stand gebückt vor dem großen Wirtschaftsherd und übergoss gerade einen Braten. Bei Danas Eintreten drehte sie sich um und schloss die Klappe wieder, 21
Blick aus seinen dunklen Augen sah er ihr entgegen. „Hallo“, sagte Dana freundlich und lächelte ihn an. „Ich bin Dana Hammond, Ihre neue Pflegerin. Nachdem Sie nicht zum Tee gekommen sind, dachte ich mir, ich statte Ihnen einen Besuch ab und stelle mich Ihnen vor.“ Sie ging auf ihn zu, obwohl sein Blick alles andere als einladend war. Kurz vor ihm blieb sie stehen. Er dachte offenbar gar nicht daran, ihr den Stuhl anzubieten, der neben ihr stand. Er musterte sie nur abschätzend und unwillig, bis er ihren Gruß knapp erwiderte. „Meine Mutter weiß ganz genau, dass ich keine Krankenschwester um mich haben will, die mir ständig Vorschriften macht und mich zu Dingen zwingen will, die ich nicht tun will. Ich will meine Ruhe haben, weiter nichts“, grollte er. „Erwarten Sie also nicht von mir, dass ich Sie mit großer Begeisterung empfange. Ich hasse es, wenn hinter meinem Rücken Entscheidungen getroffen werden, die etwas mit meiner Person zu tun haben.“ Dana zog sich einfach den Stuhl heran und setzte sich. „Ich kann Ihren Ärger darüber natürlich verstehen“, sagte sie, während sie versuchte, seinen Blick festzuhalten. „Aber ich kann nicht verstehen, weshalb Sie eine Krankenschwester ablehnen. Wollen Sie denn nie wieder gesund werden? Nie wieder laufen, Auto fahren, Sport treiben?“ Herausfordernd schaute sie ihn an. Natürlich war sie sich klar darüber, dass dies nicht gerade der richtige Ton war, um sich bei ihrem neuen Patienten einzuführen, doch dieser Mann reizte sie einfach zum Widerspruch. „Wer sagt Ihnen denn, dass ich das alles wieder könnte?“, fragte er mit bitterem Spott. „Glauben Sie, ich hätte nicht schon alles versucht? Meine verdammten Beine wollen nicht mehr, und daran werden auch Sie nichts ändern können.“ „Ihre Mutter sagte mir, dass Sie mit Ihren Gehübungen sehr nachlässig waren und sie dann schließlich ganz eingestellt haben. Vielleicht macht es Ihnen wieder mehr
hatte. Immer wieder blieb sie verwirrt stehen und wechselte den Korridor, bis sie endlich auf die Ahnengalerie stieß, hinter der der rechteckige Turm mit den Zinnen lag. Dana durchquerte den großen Saal und öffnete die rückwärtige Flügeltür. Die Galerie selbst wollte sie sich zu einem anderen Zeitpunkt ansehen. Im Moment drängte es sie danach, ihren neuen Schützling kennen zu lernen. Sie war schon richtig neugierig auf Dylan Milford, doch sie sah der Begegnung auch mit einem ziemlichen Unbehagen entgegen. Wie sollten ihre Bemühungen Erfolg haben, wenn er sie ablehnte? Dana gelangte in ein kaltes, düsteres Treppenhaus, in das nur durch schießschartenähnliche Maueröffnungen etwas Licht fiel. Links führte eine schmale Steintreppe nach oben, auf der rechten Seite eine nach unten. Dazwischen befand sich ein kleiner Aufzug, wie Mrs. Brittle es ihr beschrieben hatte. Dana betrat ihn und drückte auf den oberen Knopf. Ratternd und schwankend setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie oben war und der Aufzug mit einem harten Ruck zum Stehen kam. Sie öffnete die Tür und stand auf einem kleinen Vorplatz, von dem ebenfalls wieder eine Tür abging. Dana klopfte und wartete, bis eine tiefe Stimme sie hereinrief. Sie betrat ein großes, helles, mit modernen Möbeln eingerichtetes Turmzimmer, das eine typisch männliche Note hatte. Dana sah sich flüchtig um, dann entdeckte sie den Mann im Rollstuhl, der neben einem Schreibtisch und einer Stehlampe am Fenster saß und ein Buch auf den Knien liegen hatte. Er trug einen hellen Sweater und dunkelbraune Cordhosen. Mit seinem schwarzen Haar, dem kleinen Oberlippenbart und dem gutgeschnittenen Gesicht war er für Dana der bestaussehendste Mann, der ihr jemals begegnet war, auch wenn er eine ungesunde Gesichtsfarbe hatte und sich um seinen sensiblen Mund ein bitterer Zug eingegraben hatte. Mit einem finsteren 22
daneben eine Whiskyflasche. Der Aschenbecher quoll fast über. Für einen Menschen in seinem Zustand war das Gift bei der mangelnden Bewegung, doch sie wollte ihm jetzt im Moment noch keine Vorhaltungen machen. Als Erstes musste sie versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen, das war das Wichtigste. Dana lächelte ihn aufmunternd an. „Ich denke, wir sollten es auf einen Versuch ankommen lassen, finden Sie nicht? Wer ist übrigens Ihr behandelnder Arzt? Ich würde mich gern mit ihm unterhalten. Es wäre auch nützlich, wenn Sie mir etwas über Ihren Unfall erzählen würden und die Therapien, die man bei Ihnen bereits angewandt hat.“ Dylan knüllte die leere Zigarettenpackung zusammen und warf sie auf den Tisch, dann holte er aus der Schublade des Schreibtisches eine neue. „Rauchen Sie?“, fragte er und hielt ihr die geöffnete Schachtel hin. Dana nahm eine, obwohl sie nur selten rauchte und es sich ganz abgewöhnen wollte. „Möchten Sie einen Drink?“, bot er weiter an. Dana nickte. Dass er sie zu einem Drink einlud, war mehr, als sie erwartet hatte. Sie hatte schon befurchtet, dass er sie wieder aus seinem Turmzimmer weisen würde. Vielleicht konnte sie sich doch noch vernünftig mit ihm unterhalten und ihn von der Notwendigkeit und den Erfolgschancen einer Behandlung, vor allem Gehübungen und einer gesunden Ernährungsweise, überzeugen. Dylan bewegte seinen Rollstuhl zu der eingebauten Bar in der Schrankwand und nahm ein Glas heraus. Dana hatte absichtlich darauf verzichtet, es sich selbst zu holen. Es wäre verkehrt gewesen, ihm etwas abnehmen zu wollen, was er selbst tun konnte. Im Gegenteil, sie wollte ihn in Zukunft noch zu mehr Dingen ermuntern. „Wollen Sie den Whisky pur?“, fragte er. „Ich habe auch Orangensaft und Coke hier.“ „Coke bitte.“ Dana sah ihm zu, wie er aus einem kleinen Kühlschrank, der ebenfalls in der Schrankwand eingebaut war, eine Flasche
Spaß, wenn jemand da ist, der Ihnen dabei hilft. Ich weiß aus Erfahrung, dass Kranken oft der eigene Antrieb dazu fehlt. Sie werden sehen, dass Sie unter meiner Anleitung bald Fortschritte machen werden.“ Er verzog geringschätzig die Lippen. „So glauben Sie das?“ „Sicher“, erwiderte Dana überzeugt. „Und es wäre besser, wenn Sie ebenfalls daran glauben würden, als schon von vornherein am Erfolg zu zweifeln. Das erschwert nur das Ganze.“ „Sie halten sich wohl für äußerst tüchtig, wie?“, fragte er schneidend. Dana ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, obwohl sie sich über ihn ärgerte. Mit Dylan Milford konnte sie sich wohl auf manches gefasst machen. Doch sie hatte nicht vor, so leicht aufzugeben. „Wenn Sie an meinen Fähigkeiten zweifeln, dann können Sie sich bei Professor Collings vom Park Hospital in Cardiff über mich erkundigen. Ich bin schließlich auch nicht auf gut Glück für diesen Job ausgewählt worden.“ Dylan Milford betrachtete sie missmutig. Dana wusste, dass sie eine attraktive junge Frau war, doch auf diesen Mann im Rollstuhl schien sie nicht den geringsten Eindruck zu machen. Sie hatte das Gefühl, dass er mit dem Leben bereits abgeschlossen hatte und es kaum mehr etwas gab, was ihn interessierte. Dana kannte diese Depressionen, vor allem bei jungen Leuten, die in der Blüte ihres Lebens vom Schicksal getroffen wurden. Doch mit unermüdlicher Geduld und dem eisernen Willen des Patienten konnte man oft verblüffende Heilerfolge erzielen. Dylans Abwehr reizte Dana nun noch mehr zu dieser Aufgabe. „Ich zweifle nicht an Ihren Fähigkeiten“, sagte Dylan schließlich. „Ich zweifle nur daran, dass Sie in meinem Fall Erfolg haben werden.“ Der spöttische Ausdruck auf seinem Gesicht war jetzt verschwunden, und er wirkte müde und abgespannt. Danas Blick fiel auf den kleinen runden Tisch neben ihm, auf dem ein halb volles Glas stand, 23
Kranken zu betreuen, der sich offenbar nicht helfen lassen will. Ich bin schließlich nur eine Angestellte, die von ihrem Arbeitgeber hierher geschickt worden ist.“ Dana hatte sich in Erregung geredet, und jetzt tat es ihr wieder Leid. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte sie abermals. „Das hätte ich jetzt nicht unbedingt zu sagen brauchen, aber vielleicht versuchen Sie, auch mal meine Situation zu verstehen. Ich will wirklich mein Bestes tun, um Ihnen zu helfen, aber ich finde es unfair, wenn Sie mir die Arbeit unnötig erschweren.“ Dylan sah sie plötzlich mit einem interessierten Ausdruck an, dann lächelte er zum ersten Mal. Dana faszinierte dieses Lächeln, das ihn noch attraktiver machte. „Ich habe bestimmt nichts gegen Sie persönlich“, betonte er. „Es liegt mir auch fern, Ihnen das Leben auf Rhondda‘s Moel zu erschweren.“ Sein leichtes Lächeln ging in ein jungenhaftes Grinsen über. „Ich kann nur auf Sie als Krankenschwester verzichten, aber vielleicht hätten Sie Lust, meine Gesellschafterin zu sein? Spielen Sie zum Beispiel Schach?“ Dana leerte ihr Glas und wehrte ab, als Dylan ihr nachschenken wollte. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart plötzlich schrecklich unsicher. Machte er sich lustig über sie? „Ja, ich spiele ganz gut Schach, und ich werde Ihnen auch gern etwas Gesellschaft leisten, wenn Sie wollen. Aber in erster Linie bin ich hier, um Sie zu betreuen und mit Ihnen die wichtigen Gehübungen zu machen.“ Seine dunklen Augen nahmen wieder einen spöttischen Ausdruck an. „Sind Sie immer so pflichtbewusst?“ Dana wich seinem Blick nicht aus. „Immer.“ „Wollen Sie nicht auch Ihren Spaß am Leben haben?“ „Meine Arbeit macht mir Spaß.“ Er beugte sich vor und sah sie intensiv an. „Auch wenn Sie es mit so widerspenstigen Patienten wie mir zu tun haben? Mit Leuten, die sich nicht helfen lassen wollen?“ „Die meisten davon sträuben sich nur
Coca Cola herausnahm. Er kehrte wieder an den Tisch zurück und mixte ihr den Drink. „Danke“, sagte Dana, als sie das Glas entgegennahm. Dann sah sie ihn abwartend an. „Sie haben meine Fragen noch nicht beantwortet“, erinnerte sie ihn, als er keine Anstalten machte, weiterzusprechen, sondern nur in sein Glas starrte. Dylan zog die Mundwinkel nach unten. „Über meinen Reitunfall gibt es nicht viel zu erzählen. Ich war so dumm, vom Pferd zu fallen, danach lag ich eine Ewigkeit im Krankenhaus. Die Therapien bestanden aus Spritzen, Massagen, Bädern und Gehübungen. Und schönen Worten natürlich. Als kein Erfolg zu sehen war, hatte ich die Nase voll davon.“ „Natürlich geht das nicht von heute auf morgen“, bemerkte Dana und nahm einen Schluck von ihrem Drink. „Vielleicht haben Sie nur zu schnell aufgegeben?“ Sie betrachtete ihn nachdenklich. „Ist vielleicht noch etwas anderes geschehen, das Sie hat resignieren lassen?“ Er warf ihr einen kurzen, unwilligen Blick zu. „Stellen Sie nicht so viele Fragen über Dinge, die Sie nichts angehen. Ich komme mir direkt vor wie bei einem Verhör.“ „Entschuldigen Sie“, sagte Dana steif. „Aber es wäre für mich und unsere Zusammenarbeit wichtig, wenn ich alles weiß. Wer ist nun Ihr Arzt?“ „Doktor Henshire. Sie werden ihn ja bei seinem nächsten Besuch kennen lernen, dann können Sie ihn ausquetschen, so viel Sie wollen. Aber mich lassen Sie nach Möglichkeit in Ruhe. Ist das klar?“ Dana spürte, wie sie vor Ärger einen heißen Kopf bekam. Heftig drückte sie ihre Zigarette im Aschenbecher aus. „Hören Sie, ich bin nur hier, um meinen Job zu tun, was unter diesen Umständen“ sie machte eine umfassende Armbewegung - „für mich bestimmt nicht ganz einfach ist. Ehrlich gesagt, ich wäre lieber in Cardiff geblieben, in meiner gewohnten Umgebung und bei meinen Freunden, als in einem abgelegenen alten Schloss einen 24
müssen. Unwillkürlich fragte sie sich, ob es eine Frau in seinem Leben gab. Der Gedanke daran versetzte ihr plötzlich einen kleinen Stich. Energisch nahm sie sich zusammen. Es fehlte noch, dass sie sich in ihren Schützling verliebte. Sie hatte bereits Kummer genug.
anfangs dagegen, dann sehen sie ein, dass sie Vorteile von der Behandlung haben“, versetzte Dana. „Und Sie glauben, dass ich auch bald einsichtig werde und mich füge?“ Dana erhob sich und lächelte. „Bestimmt. Und gemeinsam werden wir es auch schaffen. Aber im Moment will ich Sie nicht länger stören. Ich wollte mich Ihnen nur vorstellen. Werden Sie zum Dinner nach unten kommen? Ich kann Sie abholen, wenn Sie wollen.“ „Das hat bisher immer Emma gemacht, auch wenn ich meinen Weg allein finden würde.“ Dylans Gesicht war jetzt wieder verschlossen. Dana glaubte zwar, dass seine Abneigung gegen sie etwas geschwunden war, doch sie ahnte, dass er ein schwieriger Patient sein würde. Dylan Milford war zu einem verbitterten Menschen geworden. Sie hoffte nur, dass der Alkohol nicht ein weiteres Problem war. „Dann werde ich es von jetzt an tun“, erklärte Dana bestimmt. „Das gehört mit zu meinen Aufgaben. Mrs. Brittle hat mit dem großen Haushalt sicher alle Hände voll zu tun. Sie wird sich über etwas Entlastung freuen.“ „Da bin ich mir nicht so sicher“, warnte Dylan. „Machen Sie sich darauf gefasst, dass sie nicht besonders begeistert sein wird, wenn Sie hier neue Regelungen einführen.“ „Wir werden sehen.“ Dana nickte ihm zu und ging zur Tür. „Bis später dann. Ich werde Sie zum Dinner abholen. Haben Sie bis dahin noch einen Wunsch?“ Er sah ihr mit einem undefinierbaren Ausdruck nach. „Einen Wunsch?“, wiederholte er gedehnt. Dann schüttelte er nur den Kopf und vertiefte sich wieder in sein Buch. Dana fuhr im Aufzug wieder nach unten. Sie hatte ein wenig Angst vor ihrer neuen Aufgabe, doch sie freute sich auch darauf. Dylan Milford war trotz allem ein anziehender Mann, und sie bedauerte ihn aus ganzem Herzen. Es musste hart für ihn sein, nun tatenlos im Rollstuhl sitzen zu
* Dana ging wieder zu Mrs. Brittle in die Küche und erkundigte sich, wann das Dinner eingenommen wurde. „Um sieben Uhr“, brummte die Haushälterin, während sie geschäftig herumhantierte. „Ich werde mich von nun an um Mr. Dylan kümmern“, erklärte Dana. „Sie brauchen ihn also nicht mehr zu den Mahlzeiten abzuholen.“ Die Haushälterin fuhr herum und blitzte sie zornig an, doch Dana ließ sich nicht beirren. „Wie steht es mit seinem Frühstück?“, wollte sie wissen. „Nimmt er es in seinem Zimmer ein? Bitte erklären Sie mir genau, wie er es gewohnt ist und auch, welche Medikamente er bekommt.“ „Das habe bisher ich getan, und ich werde es auch weiterhin tun!“, rief Emma Brittle hitzig. „Von Ihnen werde ich mich nicht zur Seite drängen lassen. Sie können mit ihm diese Gehübungen machen oder was auch immer, aber ansonsten kümmere ich mich wie bisher um ihn.“ „Liebe Mrs. Brittle“, sagte Dana so ruhig wie möglich. „Ich will Sie gewiss nicht zur Seite drängen. Aber ich bin nun einmal eingestellt worden, um Mr. Dylan zu betreuen, und ich werde das auch tun mit allen Aufgaben, die dazu gehören. Seien Sie froh, dass Sie entlastet werden. Ich kann mir vorstellen, dass Sie mit diesem großen Haushalt hier genug zu tun haben.“ „Was wissen Sie schon von diesem Haushalt?“, ereiferte sich Emma Brittle mit lauter Stimme. „Ich bin ohne Sie bisher bestens zurechtgekommen, das können Sie mir glauben. Sie sind hier völlig überflüssig, damit Sie es nur wissen! Mr. Dylan wird Sie wohl auch kaum mit offenen Armen empfangen haben.“ 25
ihr Auto stand. Sie schlenderte zum Brunnen und sah über die Mauereinfassung hinunter. Ein kalter Schauer überlief sie, als sie erst in mindestens zehn Meter Tiefe schwarzes Wasser schimmern sah. Wie leicht konnte man dort hinunterstürzen, wenn man sich nicht vorsah! Sie fand, dass man den Brunnen besser hätte absichern müssen. Dana lief weiter durch den Innenhof und sah an den Fassaden hoch. Rhondda’s Moel war wirklich düster und bedrückend. Sie hätte zu gern gewusst, was sich hinter diesen dicken Mauern einmal alles abgespielt hatte. Den Milfords hatte es ja nicht schon immer gehört, aber vielleicht gab es dennoch eine Chronik, die das Leben der vorherigen Generationen beschrieb. Dana ging zu den Holztoren hinüber und öffnete das Erste davon. Als sie ihren weißen Golf dahinter erblickte, schloss sie das Tor wieder und ging weiter. Rechts davon erstreckte sich die überdachte Mauer mit den Schießscharten und dem schmiedeeisernen Gittertor dazwischen, auf dessen hohen Stäben gefährlich aussehende Eisenspitzen saßen. Dana erschrak, als sie sah, wie tief es dahinter hinunterging. Die Klippen fielen unmittelbar und kerzengerade ab ins Meer. Ganz unten in der Tiefe konnte sie ein Stück Strand mit großen Felsbrocken sehen, gegen die unaufhörlich die grauen gischtigen Wellen brandeten. Bei schönem Wetter war der Ausblick auf das Meer sicher herrlich, doch jetzt sah Dana nur eine trübe graue Masse, die in den ebenfalls grauen Himmel überging. Über allem hing noch ein leichter Nebel. Sie durchquerte den Schlosshof in der anderen Richtung und ging durch das hohe Einfahrtstor, das einige Meter lang war. Auf der einen Seite befand sich eine Tür in der Mauer und ein vergittertes kleines Fenster. Dana probierte neugierig die Tür, doch sie war verschlossen. Morgen wollte sie Mrs. Milford bitten, ihr das Schloss zu zeigen, in dem sie nun für eine Weile leben sollte. Dana lief über die Brücke, über die sie
Das stimmte zwar, doch das brauchte die Haushälterin nicht zu wissen. Es wurde für Dana nicht leichter, wenn ihr nun auch noch von dieser Seite Steine in den Weg geworfen wurden. Zumindest wusste sie jetzt, warum Emma Brittle so abweisend ihr gegenüber war. Sie war eifersüchtig und fürchtete nun die Rivalin. Dana versuchte, der älteren Frau klarzumachen, dass sie ihr nichts wegnehmen, sondern lediglich ihre Arbeit tun wollte, doch sie stieß bei der Haushälterin auf taube Ohren. Schließlich gab sie es auf und ging achselzuckend aus der Küche. Dann würde sie eben Dylan selbst nach seinen Wünschen und Gewohnheiten fragen. Sie war als seine Pflegerin und Betreuerin nach Rhondda’s Moel gekommen, und sie würde diese Aufgabe auch erfüllen. Sie konnte ja nicht den ganzen Tag Gehübungen mit ihm machen, und was sollte sie dann die restliche Zeit über tun, wenn Mrs. Brittle sich weiterhin um ihn kümmern wollte? Zur Not würde sie mit Mrs. Milford über diese Angelegenheit sprechen müssen. Aber sie war fest entschlossen, ihren Standpunkt zu vertreten, auch wenn sie jetzt so weit war, dass sie am liebsten wieder nach Cardiff zurückgefahren wäre. Ihre ersten Stunden in Rhondda’s Moel waren nicht gerade sehr erfreulich verlaufen. Bis zum Dinner hatte sie noch über eine Stunde Zeit. So beschloss Dana, noch einen kleinen Spaziergang um das Schloss herum zu machen, bevor es dunkel wurde. Sie ging rasch hinauf in ihr Zimmer, um ihren Regenmantel zu holen, da es ein wenig nieselte. Dann verließ sie das Haus. Ein kalter Wind empfing sie im Innenhof. Dana sehnte sich nach dem Frühling, doch er würde wohl noch eine Weile auf sich warten lassen. Im ersten Moment erschrak sie, als sie ihr Auto nicht mehr neben dem Brunnen stehen sah, doch dann sagte sie sich, dass William Wells es sicher weggefahren hatte. An der linken Seite neben dem einen der beiden runden Türme war ein Anbau mit mehreren Holztoren. Dana nahm an, dass es Garagen waren und in einer davon 26
„Prince gehört mir“, erklärte er nicht ohne Stolz. Dann warf er mit einer ärgerlichen Bewegung seinen Zigarettenstummel in die Sträucher. „Aber ich muss ihn im Zwinger halten. Als ob nicht genügend Platz hier wäre.“ „Beißt er denn nicht? Ich meine...“ „Natürlich wird er mit der Zeit bissig, wenn er nur im Zwinger gehalten wird“, brummte der Gärtner. Dann trat er nahe an Dana heran und schaute sie durchdringend an. „Aber ich gehe dreimal am Tag mit ihm spazieren, zuletzt um elf Uhr nachts. Auf der Küstenstraße.“ Dana überlief es eiskalt. Unwillkürlich wich sie ein paar Schritte zurück. Wieso hatte er sie so merkwürdig angesehen? Und wieso glaubte er, dass es sie interessierte, wo und wann er mit seinem Hund spazieren ging? Dieser Mann hatte neben seiner abgrundtiefen Hässlichkeit offenbar auch noch einen geistigen Defekt. Sie nickte ihm kurz zu und ging weiter. Hinter den Schuppen entdeckte sie ein kleines Wohnhaus aus Holz. Sie nahm an, dass William Wells darin wohnte. Für Dana war es eine Erleichterung zu wissen, dass er nicht im Schloss wohnte. Sie fand den Gärtner direkt zum Fürchten. Die Dämmerung senkte sich jetzt immer stärker in den Burggraben herab. Dana sah, wie im Schloss einige Lichter angingen, auch in Dylans Turmzimmer. Dylan Milford. Ein ebenso merkwürdiger Mensch, dachte sie. Aber das war sicher nur auf sein schweres Schicksal zurückzuführen. Wie schwer musste es ihn getroffen haben. Dana konnte sich vorstellen, dass er vor seinem Unfall ein kraftvoller Mann voller Lebensfreude gewesen war. Und nun musste er seine Tage hilflos im Rollstuhl verbringen. Sie war fest entschlossen, ihm zu helfen, wo sie nur konnte, selbst wenn er es ihr schwer machen sollte und sie sich in Rhondda’s Moel alles andere als wohl fühlte. Als Erstes musste sie mit seinem Arzt über die genauen Verletzungen und die Heilungschancen sprechen, danach konnte sie dann ihre Therapie einstellen. Warum nehme ich das alles auf mich?
am Nachmittag gefahren war, und bog dann vom Fahrweg ab in einen Pfad, der durch kugelrund und kegelförmig gestutzte immergrüne Büsche führte. Hinter einer Hecke, an der sich noch keine Blätter zeigten, ging es in den Burggraben hinunter. Unten führte ein schmaler Weg durch das Gras, an dem in Abständen Bänke standen. Weiter vorn waren eingezäunte, fein säuberlich umgegrabene Gärten mit Beerensträuchern und verschiedenen Schuppen. Dana zuckte zusammen, als plötzlich ganz in ihrer Nähe ein Hund anschlug, doch dann fiel ihr ein, ihn am Nachmittag schon gehört zu haben. Sie hoffte nur, dass er nicht frei herumlief. Sie war schon einmal von einem Hund gebissen worden und hatte seitdem Angst vor ihnen, vor allem, wenn es sich um so große handelte, wie es dieser seinem tiefen Bellen nach zu sein schien. Wenig später sah sie den Hund. Zu ihrer Erleichterung war er in einem Zwinger eingesperrt. Es war ein großer deutscher Schäferhund, und sein Bellen und Knurren war alles andere als freundlich. „Ruhig, Prince“, rief eine scharfe Stimme vom Garten her. Dana ging am Zwinger vorbei und sah William Wells hinter einem Schuppen hervorkommen. Mürrisch sah er ihr entgegen. „Hallo, Mr. Wells.“ Dana setzte ein freundliches Lächeln auf, auch wenn sie beim Anblick des Gärtners eine Gänsehaut überlief. „Haben Sie schon etwas angepflanzt in Ihren Gärten? Der Frühling lässt heuer wieder besonders lange auf sich warten.“ William Wells knurrte etwas, das Dana nicht verstehen konnte. Er lief mit einer Gießkanne an ihr vorbei und goss dem Hund durch den Maschendraht des Zwingers Wasser in seine Schüssel. „Ein schöner Kerl“, versuchte sie es noch einmal, mit ihm ins Gespräch zu kommen. „Allerdings habe ich ziemliche Angst vor großen Hunden.“ William Wells warf ihr einen kurzen Blick zu, den sie bei weitem nicht mehr so unfreundlich fand. 27
von ihr. Sie konnte ihn nicht sehen, nur hören. „Sie sollten überhaupt nicht hier sein. Fahren Sie wieder nach Hause zurück, das ist mein guter Rat.“ Dana war erschrocken stehen geblieben. Jetzt sah sie in der Nähe eine Zigarette aufglühen, dann erkannte sie auch die Umrisse des Mannes. Sie hätte gern gewusst, weshalb er ihr diesen Rat gab, aber sie fand es zu gespenstisch, sich mit ihm hier zu unterhalten. Man konnte schließlich nicht wissen, auf welche Ideen so ein Mensch kam. Sie murmelte nur ein „Gute Nacht“ und lief rasch weiter. Dana war froh, als sie die Brücke und dann den Innenhof erreicht hatte. Doch plötzlich blieb sie unangenehm berührt stehen. Eine schrille Frauenstimme klang durchs Haus. Es musste Claire Milford sein, und sie musste aufs Äußerste erregt sein. Verstehen konnte Dana kein Wort, aber die Stimme wurde immer schriller und überschlug sich förmlich. Dazwischen war eine andere, dumpfe, beruhigende Stimme zu hören. Schließlich schlug irgendwo krachend eine Tür zu, dann war alles wieder still. Dana wartete noch eine Weile, bevor sie das Haus betrat. Niemand war zu sehen. Eilig ging sie in ihr Zimmer hinauf, um sich für das Dinner zurechtzumachen. Was Claire Milford wohl so in Erregung versetzt hatte?, fragte Dana sich, während sie ihr dunkles Haar bürstete und ihr bleiches Gesicht mit etwas Makeup belebte. Unwillkürlich kam ihr der Gedanke, dass die Herrin von Rhondda’s Moel krank sein musste. Dass mit dieser Frau etwas nicht stimmte, war ihr ja schon von Anfang an aufgefallen. Dana seufzte. Das hier war kein Haus, in dem der Frohsinn wohnte, dachte sie bedrückt. Würde sie in dieser düsteren Atmosphäre auf die Dauer leben können? War ihr Aufenthalt hier wirklich das kleinere Übel im Gegensatz zu den schrecklichen Tagen, die sie in Cardiff hatte erleben müssen? In ihre Zweifel hinein schob sich Dylan Milfords markantes Gesicht vor ihr geistiges Auge, und sie schöpfte neue
dachte Dana. Warum kehre ich diesem merkwürdigen, unfreundlichen Schloss nicht den Rücken und fahre wieder nach Cardiff zurück? Sie war zwar erst einige Stunden in Rhondda’s Moel, aber ihr erster Eindruck von dem Schloss und seinen Bewohnern würde sich wohl kaum mehr ändern. Trotzdem war sie entschlossen zu bleiben. Sie hatte die unheimlichen Anrufe und den mysteriösen Mann im Trenchcoat noch nicht vergessen und fürchtete, dass alles wieder von vorn losging, wenn sie zurückkehrte. Hier in Rhondda’s Moel war sie zumindest vor diesen Fakten sicher, auch wenn es ihr hier wiederum auf andere Weise nicht ganz geheuer war. Doch der Hauptgrund für ihr Bleiben, das musste sie sich eingestehen, war Dylan Milford. Nicht nur, weil sie ihm helfen wollte. Er hatte einen großen Eindruck auf sie gemacht, und sie fühlte sich trotz seiner Ruppigkeit zu ihm hingezogen. Dana wurde es immer unheimlicher zumute, je weiter sie durch den Burggraben lief. Der Nebel war stärker geworden, und die kahlen Büsche und Bäume schienen ihre Äste wie schwarze Finger nach ihr auszustrecken. Sie hatte keine Ahnung, wo der Weg im Burggraben endete, und ob er an der anderen Seite zum Schloss zurückführen würde. Sie beschloss, umzukehren und sicherheitshalber den gleichen Weg wieder zurückzugehen, bevor es so dunkel wurde, dass sie überhaupt nichts mehr sah. Nur fürchtete sie sich ein wenig davor, an dem sonderbaren Gärtner und seinem gefährlich aussehenden Hund vorbei zu müssen. Eilig lief sie den Weg zurück. Der Nebel dämpfte ihre Schritte, und plötzlich glaubte sie, hinter sich weitere Schritte zu hören. Dana lief schneller. Als sie an den Schuppen und dem Haus des Gärtners vorbeikam, fing der Hund wieder zu bellen an. Doch es war die Stimme aus dem Dunkel, die sie zusammenzucken ließ. „Sie sollten hier im Dunkeln nicht mehr herumlaufen, Miss“, sagte William Wells mit seiner seltsam hohlen Stimme unweit 28
wollen. Sie hatten jetzt ohnehin das Speisezimmer erreicht. Mrs. Brittle stieß die Tür auf und rollte Dylan hinein an den ovalen, einladend gedeckten Esstisch. Claire Milford saß bereits dort und spielte nervös mit ihrem Besteck. Mit einem unsteten Blick musterte sie Dana und Dylan, dann befahl sie Mrs. Brittle, das Essen aufzutragen. Das Speisezimmer war stilvoll eingerichtet, und die Lammkeule mit den Gemüsen war ausgezeichnet. Trotzdem brachte Dana in dieser gespannten Atmosphäre kaum einen Bissen hinunter. Dylan schien ebenfalls keinen Appetit zu haben, und auch Claire stocherte fahrig in ihrem Essen herum. Worüber sie sich auch immer vorhin aufgeregt hatte, es stand ihr noch im Gesicht geschrieben. Dana begann ein Gespräch über allgemeine Dinge, weil das angespannte Schweigen an ihren Nerven zerrte. Dylan und seine Mutter beteiligten sich nur wortkarg daran. Schließlich stand Claire auf und warf ihre Serviette auf den Teller, von dem sie kaum die Hälfte gegessen hatte. Dylan schüttelte den Kopf und aß weiter. „Entschuldigt mich bitte“, sagte sie knapp. Dann wandte sie sich mit einem missglückten Lächeln an Dana. „Es tut mir Leid, liebes Kind, aber Sie haben heute keinen besonders guten Tag erwischt. Gute Nacht.“ Dana registrierte mit Betroffenheit den kalten, fast grausamen Ausdruck, der für den Bruchteil von Sekunden in Claires Augen gestanden hatte, bevor sie aus der Tür ging. Sie warf einen vorsichtigen Blick auf Dylan, doch der aß mit versteinertem Gesicht weiter. Dana hielt es kaum mehr aus. Sie wollte etwas sagen, doch ihr fiel einfach nichts ein. Schließlich fragte sie Dylan, ob er heute Abend noch ihre Gesellschaft wünschte. Endlich sah er einmal von seinem Teller hoch und musterte sie mit seinen dunklen Augen. „Warum? Sind Sie müde und wollen Sie schon ins Bett?“ Dana schüttelte den Kopf. „Nein. Ich
Zuversicht. * Dana machte sich auf den Weg, um Dylan zum Dinner zu holen. Sie wusste noch nicht einmal, wo das Speisezimmer lag, aber er würde es ihr schon zeigen. Sie durchquerte die Ahnengalerie und trat ins Treppenhaus des Turmes hinaus. Der Aufzug stand nicht unten, also war gerade jemand oben bei Dylan. Oder war er selbst herunter und wieder hinaufgefahren? Mit seinem Rollstuhl konnte er es leicht allein schaffen, denn es gab nirgendwo hinderliche Türschwellen, wie sie festgestellt hatte. Dana hörte, wie sich oben der Aufzug in Bewegung setzte. Er hielt vor ihr, und die Tür ging auf. Mit einem triumphierenden Blick auf Dana fuhr Mrs. Brittle Dylan im Rollstuhl heraus. Grimmig schluckte Dana ihren Ärger hinunter. Ihr war klar, dass sich die Haushälterin auch weiterhin ihren Wünschen widersetzen würde, doch sie war nicht gewillt, das so ohne weiteres hinzunehmen. Sie wollte nur in Dylans Gegenwart jetzt keine Auseinandersetzung heraufbeschwören. Sie lächelte ihn freundlich an, doch er gab ihr Lächeln nicht zurück. Dana konnte ihm ansehen, wie sehr es ihm gegen den Strich ging, im Rollstuhl geschoben werden zu müssen. Vielleicht sollte er in Zukunft tatsächlich lieber allein nach unten kommen, und auch wieder zurück in sein Turmzimmer. Es war für sein Selbstbewusstsein besser, wenn er aus eigener Kraft schaffte, was ihm nur zuzumuten war. „Ich wollte Sie gerade holen“, sagte Dana, während sie durch die Galerie gingen. „Aber wie ich sehe, ist Mrs. Brittle mir zuvorgekommen.“ Die Haushälterin gab keine Antwort und starrte nur verbissen geradeaus. Dylans Gesicht war verschlossen, seine Mundwinkel wieder bitter nach untengezogen. Auch er antwortete nicht. Dana gab es auf, ein Gespräch beginnen zu 29
Dylan sah sie forschend an. „Und warum haben Sie es nicht getan?“ Verlegen wich Dana seinem Blick aus. „Ich wollte Ihnen nicht gleich am ersten Tag Vorhaltungen machen. Erst wenn wir uns ein wenig näher gekommen wären, wollte ich mit Ihnen darüber sprechen, auch über Ihren Alkoholkonsum. Aber Sie wissen vermutlich selbst, dass Sie sich damit bei Ihrer mangelnden Bewegung nichts Gutes antun.“ „Sie schließen also nicht aus, dass wir uns näher kommen könnten?“, meinte er gedehnt. Unter seinem intensiven Blick wurde sie rot bis unter die Haarwurzeln. Ihr Herz begann schneller zu pochen. „Sie wissen ganz genau, wie ich das gemeint habe“, sagte sie steif. Der Ausdruck seiner dunklen Augen wurde plötzlich weich. Er sah sie noch einen Moment lang schweigend an, dann fuhr er sich durchs Haar und konzentrierte sich auf das Spiel, bei dem Dana bereits ihren Eröffnungszug gemacht hatte. Dylan spielte miserabel. Als Dana ihm auch noch seine Dame wegnahm, fegte er mit seinem Arm unbeherrscht die restlichen Figuren vom Spieltisch und stützte den gesenkten Kopf in seine Hände. Dana betrachtete ihn besorgt. Dann stand sie wortlos auf, um die Figuren einzusammeln und sie wieder in das Holzkästchen zurückzulegen. „Tut mir Leid, Dana“, entschuldigte Dylan sich, während er sich mit einer müden Bewegung über die Augen wischte. „Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen. Claire hat Recht. Offenbar haben Sie heute tatsächlich keinen guten Tag erwischt.“ Dieses Gefühl hatte Dana auch. Sie fragte sich nur, ob sie auf Rhondda’s Moel jemals bessere Tage erleben würde. Sie wünschte ihm eine gute Nacht und verließ bedrückt das Turmzimmer. In der Galerie hatte jemand in der Zwischenzeit das Licht ausgeschaltet. Dana musste sich erst herumtasten, bis sie einen Lichtschalter fand. Diesmal nahm sie sich Zeit, die Gemälde zu betrachten. Sie zeigten wunderschöne Frauen in
wollte es nur wissen.“ Dylan aß seinen Teller leer, dann wischte er sich mit der Serviette über den Mund und warf sie auf den Tisch. „Okay, bringen Sie mich nach oben. Wenn Sie Lust haben, können wir eine Partie Schach spielen.“ Wenig später schob Dana ihren Patienten aus dem Aufzug in sein Turmzimmer. Dylan zog einen Schachtisch auf Rollen zu sich an seinen Stammplatz am Fenster und bedeutete Dana mit einer Handbewegung, sich einen Stuhl zu nehmen und sich zu ihm zu setzen. Auf dem Schachbrett standen die Figuren noch wie mitten in einem Spiel. Dylan brachte sie wieder in die Anfangsposition zurück. „Diese Partie hatte ich mit David begonnen“, sagte er merkwürdig schwer. „Aber dann...“ Er brach ab und presste die Lippen aufeinander. Er wischte etwas Zigarettenasche vom Spielbrett und drehte dann den Tisch leicht, damit Dana bequem ihre Figuren erreichen konnte. Dana wartete darauf, dass er ihr erklärte, wer David war und weshalb Dylan mit ihm die Partie nicht zu Ende gespielt hatte, doch er redete nicht mehr davon. Stattdessen fragte er Dana, ob sie einen Drink wolle. Sie nickte und stand auf, um zur Bar zu gehen. „Für mich bitte einen Scotch pur“, rief er ihr über seine Schulter zu. Dana brachte ihm den gewünschten Drink. Sie selbst hatte ein Glas Weißwein gewählt, das sie jetzt auf dem Tisch absetzte. Dylan bot ihr eine Zigarette an. Dana nahm eine und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann schluckte sie es wieder hinunter. Dylan betrachtete sie wieder mit diesem leicht spöttischen Ausdruck. „Ich weiß ganz genau, was Sie jetzt sagen wollten, meine liebe Dana. ,Rauchen Sie nicht so viel, das ist nicht gut für Sie.’ Stimmt’s?“ Dana fühlte sich ertappt und wurde leicht rot. Mit einem kleinen Lächeln schaute sie ihn offen an. „Ja, genau das wollte ich gerade sagen“, gab sie zu. 30
zurückgekommen. Warum hatten Sie es denn so eilig? Es gibt keine Gespenster auf Rhondda’s Moel, falls Sie davor Angst haben sollten.“ „Ich habe keine Angst vor Gespenstern, Mr. Bennet“, erklärte Dana kühl, während sie sich umdrehte, um weiterzugehen. „Seien Sie doch nicht so abweisend, Dana“, rief er ihr nach. „Wenn man unter diesem Dach lebt, kann man gute Freunde dringend gebrauchen. Ich heiße übrigens Devin.“ Sein veränderter ernster Tonfall veranlasste sie, sich noch einmal umzudrehen. Devins Gesicht lag jetzt im Schatten, und sie konnte seinen Ausdruck nicht sehen. „Ich wollte Ihnen gegenüber nicht abweisend sein“, erwiderte sie etwas freundlicher. „Ich bin nur müde und wollte in mein Bett, das ist alles. Außerdem haben Sie mich erschreckt.“ „Wofür ich mich entschuldigt habe, Dana. Es war wirklich nicht meine Absicht. Wie gefällt es Ihnen nun in Rhondda’s Moel?“ „Das kann ich noch nicht beurteilen, nachdem ich erst heute Nachmittag angekommen bin. Jedenfalls hatte ich nicht erwartet, in ein mittelalterliches Schloss zu kommen.“ Devin lachte leise. „Ja, Rhondda’s Moel ist eine ziemliche Festung.“ Dana sah, wie er seine Zigarette im Farnkübel ausdrückte, dann sprang er leichtfüßig die Stufen zu ihr herauf. „Ich begleite Sie noch zu Ihrem Zimmer“, bot er an. Gemeinsam gingen sie den Korridor entlang. Dana merkte, dass er eine Alkoholfahne hatte. „Haben Sie einen netten Abend in Swansea verbracht?“, erkundigte sie sich höflichkeitshalber. „Oh, ja. Man braucht etwas Abwechslung, wenn man hier lebt. Vor allem für Shelley ist es im Moment schwer. Wir nehmen Sie gern einmal mit zu einer Party, wenn Sie wollen.“ Dana wollte noch fragen, weshalb es denn für Shelley im Moment so schwer war, aber da waren sie schon vor ihrer
prachtvollen Roben und Männer in Uniformen. Leider stand bei keinem der Porträts dabei, um wen es sich handelte, aber Milfords waren es sicher nicht. Dana beschlich plötzlich ein unheimliches Gefühl, als sie durch den nur dürftig beleuchteten langen Korridor lief. Ihr war fast, als ob jemand sie beobachtete, als ob jemand in den vielen dunklen Nischen und hinter den schweren Samtvorhängen auf sie lauerte. Unwillkürlich lief sie schneller und war froh, als sie die heller erleuchtete Treppe nach oben erreicht hatte. Eilig lief sie hinauf. Doch als sie am Treppenabsatz angelangt war, zuckte sie vor Schreck zusammen und stolperte, so dass sie beinahe hingefallen wäre. Jemand hatte sie angesprochen, den sie überhaupt nicht bemerkt hatte. „Sieh an, die schöne Krankenschwester.“ In der Ecke des Treppenabsatzes lehnte, halb verborgen hinter Farnkübeln, Devin Bennet, Claires Schwiegersohn, und rauchte eine Zigarette. Lässig schnippte er die Asche in einen Blumentopf. „Wo wollen Sie denn so eilig hin?“ Dana hatte sich wieder von ihrem Schreck erholt. „In mein Zimmer natürlich“, gab sie etwas ärgerlich zurück. „Warum stehen Sie eigentlich hier und erschrecken mich?“ Devin Bennet musterte sie eingehend aus schmalen Augen, dann verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. Er ist wirklich sehr attraktiv, das muss man ihm lassen, dachte Dana. Der hübsche große, verwöhnte Junge, der an seinen Erfolg bei Frauen gewöhnt war. Dana war er nicht sonderlich sympathisch. Ihr tat die kleine, scheue Shelley richtig Leid, die mit ihm verheiratet war. „Sorry, wenn ich Sie erschreckt habe“, sagte Devin. „Ich hätte mich vielleicht bemerkbar machen sollen, bevor Sie hier heraufgerannt kamen.“ Mit unverhohlenem Interesse ließ er seinen Blick über Danas schlanke Figur wandern. „Ich stehe nur hier und rauche eine Zigarette, weil mein holdes Weib das in unserem Zimmer nicht duldet. Wir sind gerade aus Swansea 31
Nachttisch und warf einen Blick darauf. Kaum, dachte sie dann, denn es war bereits halb drei Uhr morgens. Aber wer schlich dann dort draußen herum? Oder hatte sie sich getäuscht? Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit. Nein, kein Zweifel, die Schritte kamen näher! Dana hätte es vielleicht doch nicht so bedenklich gefunden, wenn die Schritte nicht vor ihrer Tür Halt gemacht hätten. Eisiges Entsetzen ergriff sie, als ihr einfiel, dass sie die Tür nicht abgeschlossen hatte. Im ersten Moment war sie unfähig, sich zu bewegen. Dann nahm sie allen Mut zusammen und schwang die Beine aus dem Bett. Alles blieb still. Dana glaubte schon, dass sie sich tatsächlich nur etwas eingebildet hatte, als sie in der Lichtbahn des Mondes plötzlich sah, wie die Klinke ihrer Tür geräuschlos nach unten gedrückt wurde. Neues Entsetzen packte sie, ihre Knie wurden weich wie Pudding. „Wer ist da?“, presste sie hervor. Keine Antwort. Nur die Klinke bewegte sich jetzt wieder ebenso leise nach oben. Dana überlief eine Gänsehaut. Bei den Nachwirkungen ihrer schrecklichen Träume und der Tatsache, dass jemand versucht hatte, in ihr Zimmer einzudringen, schlugen ihre Zähne wie im Schüttelfrost aufeinander. Doch dann besann sie sich, und es kam Leben in ihren erstarrten Körper. Blitzschnell lief sie zur Tür und riss sie entschlossen auf. Der Korridor lag völlig im Dunkeln, doch sie konnte hören, wie leise Schritte davoneilten. „Wer ist da?“, rief sie abermals, diesmal herrischer. Doch wieder bekam sie keine Antwort. Die Schritte verhallten. Dana konnte nicht einmal sagen, in welcher Richtung sie sich entfernt hatten. Sie hörte auch nicht, dass irgendwo eine Tür ins Schloss gezogen wurde. Trotzdem wollte sie der Sache nachgehen. Dana tastete sich zum nächsten Lichtschalter und knipste ihn an. Nichts war zu sehen, nichts war mehr zu hören. Entnervt fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn. Wohin hatte sich dieser
Zimmertür angelangt. Devin wünschte ihr eine gute Nacht und hob grüßend die Hand, dann ging er weiter den Korridor hinunter. Als sie ihre Tür schloss, hörte sie auch die seine zuklappen. * Dana wälzte sich unruhig im Schlaf. In ihrer ersten Nacht auf Rhondda’s Moel wurde sie von entsetzlichen Albträumen geplagt. Ralphs Gesicht erschien ihr als grässliche Teufelsfratze, und sie wurde von Männern im Trenchcoat verfolgt. Das Schrecklichste jedoch war, dass sie deutlich wieder die anonyme Stimme am Telefon hörte: „Rache... du elende Mörderin... das wirst du büßen... büßen... bald ist die Stunde der Rache gekommen...!“ Mit einem Schrei fuhr sie in die Höhe. Auch als sie bereits hellwach und zitternd im Bett saß, glaubte Dana, diese Stimme immer noch zu hören. Nur allmählich wurde sie leiser und verflüchtigte sich dann ganz. Dana schlug die Hände vors Gesicht und seufzte tief auf. Wie konnte man nur so entsetzliche Dinge träumen? Kein Wunder, sagte sie sich dann. Sie hatte in letzter Zeit einfach zu viel erlebt, das sie noch nicht verarbeitet hatte. Sie hatte die Vorhänge nicht vorgezogen, und das fahle Mondlicht fiel jetzt ins Zimmer. Eine breite silberne Bahn ergoss sich über ihr Bett bis zur Tür hin. Es sah gespenstisch aus, und Dana wünschte in diesem Augenblick, wieder die vielen bunten Lichter von Cardiff zu sehen, statt nur die bleiche Scheibe des Mondes, der an ihrem Fenster vorbeizog. Sie hörte das Meer rauschen, doch die vertrauten Verkehrsgeräusche wären ihr im Moment tausend Mal lieber gewesen. Plötzlich glaubte sie, draußen auf dem Gang leise tappende Schritte zu hören. Dana setzte sich kerzengerade auf und hielt den Atem an. Wer schlich mitten in der Nacht da draußen herum? Ob Devin noch mal eine Zigarette rauchen wollte? Dana angelte ihre Armbanduhr vom 32
geweckt habe.“ Dana zwang sich zu einem kleinen Lächeln. „Bitte tun Sie mir den Gefallen und erzählen Sie es niemandem. Wie gesagt, ich kann mir das alles nur eingebildet haben, und ich will wirklich niemanden verdächtigen, dass er nachts zu mir ins Zimmer eindringen wollte.“ „Selbstverständlich werde ich meinen Mund halten, Dana.“ Devin zog sie kurz an sich, und Dana versteifte sich vor Abwehr. Doch er ließ sie sofort wieder los und klopfte ihr kameradschaftlich auf die Schultern. „Ich weiß selbst, dass die Atmosphäre auf Rhondda’s Moel mehr als bedrückend ist“, sagte er. „Das wird der Grund für Ihre bösen Träume sein. Aber nehmen Sie das alles nicht so schwer. Es gibt hier zwar etliche kranke und deprimierte Leute, aber mit Sicherheit niemanden, der Ihnen etwas antun wollte. Aus welchem Grund auch? Überlegen Sie mal. Claire hat Sie als Dylans Pflegerin hergeholt, weil sie will, dass er wieder laufen lernt. Wir alle wünschen ihm das.“ Devin drückte ihren Arm und nickte ihr aufmunternd zu, bevor er sich zum Gehen wandte. „Schließen Sie Ihre Zimmertür in Zukunft lieber ab, dann können Sie auf jeden Fall beruhigt schlafen.“ Damit verschwand Devin wieder in dem Zimmer, aus dem er gekommen war. Dana ging in ihr Eigenes und drehte den Schlüssel zweimal im Schloss um. Zusätzlich legte sie noch den Riegel vor, dann kroch sie wieder ins Bett. Sie zog die Decke ans Kinn und sah ängstlich aus dem Fenster auf den bleichen Mond, der sich mittlerweile ein Stück weitergeschoben hatte. Wer hatte ihr diesen nächtlichen Streich gespielt?, fragte sie sich bedrückt. Sie war sicher, dass sie sich das alles nicht nur eingebildet hatte, auch wenn Devin Bennet ihr das hatte einreden wollen. Wer sagte ihr denn, dass es nicht sogar er gewesen war? Aber welchen Grund sollte er dazu haben? Antun wollte er ihr sicher nichts, aber vielleicht war er einem Abenteuer mit der ,schönen Krankenschwester’, wie er sich am Abend noch ausgedrückt hatte,
Jemand verzogen, und wer hatte ein Interesse daran gehabt, zu ihr ins Zimmer einzudringen? Aus welchem Grund? Ein Stück hinter ihr ging eine Tür auf. Dana fuhr herum und erblickte Devin Bennet im Schlafanzug. Sein Haar war zerzaust, und er machte einen reichlich verwirrten Eindruck. „Was ist los mit Ihnen, Dana?“, fragte er. „Warum laufen Sie mitten in der Nacht im Korridor herum?“ Er kam näher und betrachtete höchst eingehend ihr hauchdünnes Nachthemd, beziehungsweise das, was darunter zu sehen war. Unbehaglich verschränkte Dana ihre Arme vor der Brust, als sie wieder auf ihre offen stehende Zimmertür zuging. „Ich hörte erst Schritte auf dem Korridor und sah dann, wie der Griff meiner Tür nach unten gedrückt wurde“, erklärte sie widerstrebend. Auf einmal kam sie sich ziemlich albern vor. Devin runzelte die Brauen. „Jemand wollte zu Ihnen ins Zimmer? Können Sie sich das nicht eingebildet haben? Ich meine, ich hätte Sie vorhin schon einmal schreien hören. Vielleicht hatten Sie nur schlecht geträumt?“ Er nahm sie am Arm und sah sie mit aufrichtigem Mitgefühl an. Dana atmete tief durch. Vor Furcht und Erschöpfung war sie den Tränen nahe. „Es stimmt, dass ich scheußliche Träume hatte“, sagte sie. „Aber von denen bin ich ja aufgewacht. Und als ich in meinem Bett saß, hörte ich die Schritte und sah, wie die Klinke nach unten gedrückt wurde. Ich fragte, wer da sei, bekam aber keine Antwort. Nur die Klinke bewegte sich wieder nach oben. Da bin ich auf den Gang hinausgelaufen und habe das Licht angemacht. Aber niemand war da, bis Sie dann aus Ihrem Zimmer kamen.“ „Merkwürdig.“ Devin Bennet sah sie ratlos an, doch Dana bemerkte auch die Zweifel in seinen Augen. Wahrscheinlich glaubte er ihr nicht. „Ach, vergessen Sie es!“, sagte sie schroffer als beabsichtigt, „Vielleicht waren es tatsächlich nur Nachwehen meines Traumes. Tut mir Leid, dass ich Sie 33
nicht abgeneigt? Dylan kam jedenfalls nicht in Frage, überlegte sie weiter. Der Gedanke daran war einfach lächerlich. Bei Claire hingegen war sie sich nicht so sicher, nachdem ihr die Frau reichlich durcheinander vorgekommen war. Dana traute ihr sogar zu, dass sie Dinge tat, an die sie sich hinterher nicht mehr erinnern konnte. Und hatte Devin nicht vorhin von etlichen kranken und deprimierten Leuten gesprochen? Dylan war das auf jeden Fall, aber hatte er damit vielleicht auch Claire gemeint? Und wie stand es mit Devins eigener Frau, Shelley? Das zarte junge Mädchen, das vermutlich noch nicht einmal zwanzig war, war Dana vom ersten Augenblick an merkwürdig vorgekommen. Mit Shelley stimmte sicher etwas nicht, genauso wenig wie mit ihrer Mutter. Oder war Mrs. Brittle die Übeltäterin gewesen? Wollte sie Dana erschrecken, damit diese die Flucht ergriff, weil sie es nicht ertragen konnte, dass die junge Krankenschwester sich nun um ihren Schützling kümmerte? Wenn das alles nicht zutraf, dann kam nur noch William Wells, der unheimliche Gärtner, in Frage. Doch konnte er nachts so ohne weiteres in das Schloss eindringen? Wurde das Eingangstor nachts nicht abgesperrt? Dana drehte den Kopf wieder vom Fenster weg und vergrub ihn in den Kissen. Es brachte nichts, wenn sie weiter darüber nachgrübelte, wer von den Bewohnern von Rhondda ‘s Moel in ihr Zimmer hatte eindringen wollen. Bis auf Dylan kam jeder in Frage – falls es sich nicht um einen Einbrecher handelte. Im Moment kam sie auf jeden Fall nicht weiter. Sie konnte nur in der nächsten Zeit Augen und Ohren offen halten, dann kam sie vielleicht darauf, wer sie hier ernstlich vertreiben oder ihr gar Schlimmeres antun wollte. Mit diesen unerfreulichen Gedanken schlief Dana endlich wieder ein.
Am nächsten Morgen fühlte Dana sich wie gerädert. Sie hatte ihren kleinen Reisewecker auf halb sieben gestellt, weil sie zeitig auf sein wollte, um Dylan sein Frühstück zu bringen. Zuvor wollte sie sich bei Mrs. Brittle in der Küche erkundigen, wie er alles haben wollte. Sie wusste, dass das wieder einen Kampf mit der Haushälterin bedeuten würde, aber sie wollte ihn durchstehen. Dana erhob sich schwerfällig von ihrem Bett und ging in das angrenzende Bad, um zu duschen. Die Träume und Ereignisse der letzten Nacht saßen ihr noch in den Knochen, doch der kräftige Strahl der Dusche vertrieb ihre Müdigkeit und auch ihre trüben Erinnerungen. Während sie sich anzog, war sie immer mehr davon überzeugt, dass sie auch die Schritte und die Person an ihrer Zimmertür nur geträumt hatte. Mit Sicherheit konnte sie es jedenfalls nicht mehr sagen, dass sie das alles tatsächlich erlebt hatte. Nur Devins begehrliche Blicke, die sich durch ihr dünnes Nachthemd hindurchgebohrt hatten und seine anschließenden freundschaftlichen Worte, mit denen er sie zu beruhigen versucht hatte, das alles hatte sie bestimmt nicht geträumt, auch wenn es ihr jetzt lieber gewesen wäre. Dana schlüpfte in ein hübsches Kleid mit passenden flachen Schuhen und zog sich darüber ihre Schwesterntracht an. Dann ging sie nach unten in die Küche zu Mrs. Brittle. Die Haushälterin richtete gerade ein Frühstückstablett her. Dana nahm an, dass es für Dylan gedacht war. „Guten Morgen, Mrs. Brittle. Ist das Mr. Dylans Frühstück? Ich werde es ihm bringen.“ Dana war fest entschlossen, ihren Willen durchzusetzen. Emma Brittle wirkte an diesem Morgen müde und abgehärmt und schien nicht gerade Lust zu einer Auseinandersetzung zu haben. „Kümmern Sie sich lieber um Mrs. Milford“, sagte sie in knappem Ton. „Sie fühlt sich nicht wohl und kann nicht herunterkommen.“
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Claire Milfords Zimmer lag, dann ging sie hinauf und klopfte an die Tür. Als sie keine Antwort bekam, trat sie entschlossen ein. Die Vorhänge waren noch zugezogen, und nur ein schwaches Dämmerlicht fiel ins Zimmer. Claire Milford lag mit geschlossenen Augen in ihrem Bett. Fahrig zuckten ihre Hände über die seidene Steppdecke. Von Danas Eintreten schien sie nichts bemerkt zu haben. Schlief sie? „Mrs. Milford?“, rief Dana leise und trat näher. Claire Milford schlug die Augen auf. Ein Hass erfüllter Blick traf Dana, so dass sie unwillkürlich zurückwich. „Was tun Sie in meinem Zimmer?“, rief Claire schrill. „Gehen Sie, und lassen Sie mich in Ruhe!“ Dana war zutiefst erschrocken. „Mrs. Brittle bat mich, nach Ihnen zu sehen, weil Sie sich nicht wohl fühlen. Kann ich etwas für Sie tun?“ Dana ergriff das knochige Handgelenk der Frau, um ihr den Puls zu fühlen, doch Claire stieß sie heftig weg. In ihren dunklen Augen flackerte es beängstigend. „Fassen Sie mich nicht an!“, zischte sie böse. „Gehen Sie.“ Dana versuchte geduldig, Claire Milford zu beschwichtigen, doch dann musste sie einsehen, dass sie hier nichts ausrichten konnte. Von dieser Frau schlug ihr nur ein unverständlicher Hass entgegen. Sie ging wieder in die Küche, um auf Mrs. Brittle zu warten. Es war besser, wenn man den Arzt holte. Später ging Dana zu Dylan ins Turmzimmer. „Guten Morgen, Mr. Milford“, begrüßte sie ihn und schloss die Tür. Dylan Milford lag angezogen auf seinem Bett und hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt. Interessiert sah er ihr entgegen. Bei seinem Blick begann Danas Herz unwillkürlich schneller zu pochen. „Guten Morgen, Dana.“ Er richtete sich halb auf und stützte sich auf einen Ellbogen. „Sie sehen übrigens grässlich aus.“ „Oh, vielen Dank für das Kompliment“, gab Dana trocken zurück. „Darf ich fragen,
„Selbstverständlich werde ich das“, erwiderte Dana. Wenn Claire ihre Hilfe brauchte, dann musste sie natürlich zu ihr gehen. „Wissen Sie, was ihr fehlt? Soll ich ihr etwas mit hinaufnehmen?“ „Sie ist kaum ansprechbar.“ Die Haushälterin seufzte und stellte eine kleine Teekanne auf Dylans Tablett. „Als Krankenschwester werden Sie sicher besser mit ihr zurechtkommen. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie es für erforderlich halten, dass wir den Arzt holen. Ich werde Doktor Henshire dann anrufen.“ „Ist es denn so schlimm?“, fragte Dana besorgt. „Ich meine... was ist passiert?“ Die Haushälterin kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, während sie die Zuckerdose auffüllte. Ihr war anzusehen, dass sie höchst ungern darübersprach. „Mrs. Milford ist... nun, sie hatte es schon immer mit den Nerven. Davids Tod hat sie natürlich völlig umgeworfen.“ „Davids Tod?“ wiederholte Dana und ging ein paar Schritte auf die Haushälterin zu. Ihr war eingefallen, dass Dylan gestern Abend von einem David gesprochen hatte, mit dem er die Schachpartie nicht mehr zu Ende gespielt hatte. „Wer ist David?“ Emma Brittle warf ihr einen kurzen Blick zu. „Wissen Sie das denn nicht? Hat Mrs. Milford Ihnen nichts davon gesagt?“ „Nein.“ „David war Mrs. Milfords jüngster Sohn. Er ist vor zwei Wochen tödlich verunglückt. Er war erst siebzehn Jahre alt.“ Mrs. Brittle wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. Dana blickte die Haushälterin entgeistert an. „Mein Gott, das ist ja schrecklich!“, sagte sie. „Nein, ich hatte keine Ahnung davon. Niemand hat das mir gegenüber erwähnt.“ Plötzlich begriff sie alles. Die niedergedrückte Atmosphäre im Haus, Claire Milfords seltsames Benehmen, Shelleys blasses, verstörtes Gesicht und Dylans schmerzlichen Zug um den Mund. Dana empfand jetzt tiefes Mitleid mit den Bewohnern von Rhondda’s Moel. Sie ließ sich von Mrs. Brittle erklären, wo 35
tat. Feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Grimmig verzog er das Gesicht, während er mühsam den großen Raum durchquerte, um seinen Lieblingsplatz am Fenster zu erreichen. Sie warf ihm einen besorgten Blick zu, dann sah sie auf seinen Rollstuhl. „Lassen Sie bloß das verdammte Ding stehen“, knurrte er, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Bis dorthin schaffe ich es schon noch.“ Verbissen setzte er einen Fuß vor den anderen. Er schien dabei ziemliche Schmerzen zu haben. Dana schüttelte den Kopf. „Es hat keinen Sinn, wenn Sie sich gleich so überanstrengen“, mahnte sie. „Sie haben offenbar lange keine Gehübungen mehr gemacht...“ „Ach, halten Sie den Mund“, fiel er ihr grob ins Wort. Er blieb kurz stehen und presste hart die Kiefer aufeinander, dann legte er unter größter Anstrengung die letzten Schritte zu seinem Rollstuhl zurück. „Tut mir Leid, dass ich so grob war“, entschuldigte er sich dann, als er endlich saß. Dana bemerkte, wie seine Beine zitterten. „Schon gut“, sagte sie leise. „Sie sollten es wirklich nicht übertreiben.“ „Setzen Sie sich.“ Dylan wies mit dem Kopf auf einen Stuhl. „Dr. Henshire war heute hier. Haben Sie mit ihm gesprochen?“ „Ja“, erwiderte Dana. „Er hat mir genaue Anweisungen gegeben.“ „Wie geht es meiner Mutter jetzt?“, erkundigte sich Dylan weiter. „Etwas besser, wie ich von Mrs. Brittle weiß. Mich lässt Ihre Mutter aus einem unerfindlichen Grund nicht in ihr Zimmer. Dabei war Dr. Henshire froh, dass nun eine Krankenschwester im Haus ist.“ Dylan sah sie stirnrunzelnd an, dann schüttelte er den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, was sie plötzlich gegen Sie haben sollte. Manchmal ist sie etwas... nun ja, merkwürdig, wie Sie sicher schon gemerkt haben. Davids Tod wird sie wohl nie ganz verkraften.“
was Ihnen an mir nicht gefällt?“ „Ihre weiße Uniform. Sie bringen Krankenhausatmosphäre in mein Zimmer.“ „Ach so.“ Dana lächelte ihn an. „Ich bin es nun mal gewohnt, sie bei meiner Arbeit zu tragen.“ „Aber Sie sind jetzt nicht mehr im Krankenhaus. Bitte tun Sie mir den Gefallen und ziehen Sie diesen steifen weißen Kittel aus. Sie brauchen auch keine braven Kleider zu tragen, wenn Sie lieber Jeans und Sweatshirts mögen. Und nennen Sie mich nicht Mr. Milford. Ich heiße Dylan.“ Dana seufzte. „Okay, Dylan, wie Sie wollen.“ Eigentlich sah sie keinen Grund, ihm diesen Wunsch nicht zu erfüllen. Sie zog ihren weißen Kittel aus und nestelte an ihrem Häubchen. „Kommen Sie her und lassen Sie sich helfen“, befahl er, als sich die Nadeln in ihrem Haar verhedderten. Dana setzte sich auf die Bettkante. Bei der Berührung seiner Finger in ihrem Haar durchlief es ihren Körper wie ein elektrischer Schlag. „Hier.“ Er warf ihr das Häubchen in den Schoss und reichte ihr die Nadeln. „So gefallen Sie mir schon viel besser.“ Dana schüttelte ihr Haar aus. Für einen Augenblick verfingen sich ihre Blicke ineinander, dann schaute sie verwirrt zur Seite. „Es tut mir sehr Leid“, sagte sie dann unvermittelt. „Ich habe erst heute morgen erfahren, dass David... dass Sie noch einen Bruder hatten.“ In Dylans dunklen Augen zuckte es einen Moment lang schmerzlich auf, dann drückte er kurz ihre Hand. „Geben Sie mir bitte meine Krücken, ich will in meinen Rollstuhl.“ Dana stand auf und reichte sie ihm. „Schauen Sie mich nicht so verwundert an“, brummte er. „Natürlich hätte ich Sie auch bitten können, mir den Rollstuhl ans Bett zu bringen, aber Sie wollen mich doch unbedingt das Laufen wieder lehren, oder?“ Dana merkte sogleich, dass es die ersten Schritte waren, die er seit langem wieder 36
wenn er von ihr als Krankenschwester immer noch nicht sonderlich begeistert schien. Als Frau akzeptierte er sie anscheinend eher, und auch Dana konnte nicht sagen, dass Dylan ihr gleichgültig war. Sie kannte ihn zwar erst einen Tag, doch sie hatte sich vom ersten Sehen an zu ihm hingezogen gefühlt. Nach dem Gespräch mit Dr. Henshire wusste sie, dass Dylan eines Tages wieder laufen konnte. Ihm hatte es bisher nur am Willen gefehlt. Anstatt die nötige Energie und Selbstdisziplin aufzubringen, hatte er mit seinem Schicksal gehadert und sich in sein Turmzimmer verkrochen. Dana wollte dafür sorgen, dass er seine Übungen machte und wieder Spaß am Leben hatte. Sie war entschlossen, auf Rhondda’s Moel zu bleiben, solange er sie brauchte. Nachdem sie nun von dem Trauerfall in der Familie wusste, fand sie die düstere Stimmung ganz natürlich. Nur zerbrach sie sich immer noch den Kopf darüber, wer nachts in ihr Zimmer hatte eindringen wollen. Sie wusste wirklich nicht, was sie davon halten sollte. Einmal glaubte sie, alles nur geträumt zu haben, dann wieder war sie überzeugt davon, genau gesehen zu haben, wie ihre Türklinke sich bewegt hatte. Es konnte Claire gewesen sein, überlegte sie. Vielleicht hatte sie sich schon in der Nacht nicht wohlgefühlt und wollte Dana um Hilfe oder um ein Medikament bitten, hatte sich dann aber aus irgendeinem Grund wieder zurückgezogen. Claire schien seelisch krank zu sein, da musste man ihr Verhalten mit anderen Maßstäben messen. „Erzählen Sie mir etwas von sich, Dana“, bat Dylan in ihre Gedanken hinein. „Ach, viel Interessantes gibt es von mir nicht zu berichten“, erwiderte sie. „Vermutlich langweile ich Sie damit nur.“ „Da irren Sie sich.“ Er wandte den Kopf und schenkte ihr ein kurzes Lächeln. „Mich interessiert alles, was mit Ihnen zu tun hat. Ich möchte etwas über ihr Leben erfahren, Ihre Familie und Ihre Freunde. Sicher haben Sie auch einen festen Freund.“
„Wie ist es passiert?“, fragte Dana leise. Vielleicht hätte sie lieber nicht fragen sollen, denn sie sah an seinem Ausdruck, wie sehr ihn die Erinnerung daran quälte. „Verzeihung, ich wollte nicht neugierig sein. Wenn Sie...“ „David war mit seinem Fahrrad auf dem Nachhauseweg von Freunden. Es war spät abends und dichter Nebel auf der Küstenstraße. Er muss von der Straße abgekommen sein und ist dann über die Klippen gestürzt. Wells, unser Gärtner, hat ihn gefunden, als er abends noch mit seinem Hund spazierenging. Vielmehr war es Prince, der seinen Herrn darauf aufmerksam machte.“ „Mein Gott, wie schrecklich!“, murmelte Dana bestürzt. „Jetzt verstehe ich auch die niedergedrückte Stimmung hier. Gestern konnte ich mir noch keinen Reim darauf machen, und es hat mich selbst ganz deprimiert.“ „Ich dachte, Sie hätten es von meiner Mutter bereits erfahren?“ „Nein.“ Dylan wechselte das Thema. Es schmerzte ihn wohl noch zu sehr, über seinen toten Bruder zu sprechen. Dana redete mit ihm noch über die Übungen, über die auch Doktor Henshire schon mit ihm gesprochen hatte, dann schlug sie ihm vor, ihn im Rollstuhl durch die Schlossanlagen zu fahren. Er war davon nicht sonderlich begeistert, doch Dana bestand darauf, dass er an die frische Luft kam. * Der Vormittag war kühl, obwohl sich heute die Sonne etwas hervorgewagt hatte. Ein Hauch von Frühling lag bereits in der Luft, und Dana atmete tief durch, als sie den Rollstuhl durch den Innenhof und über die Brücke schob. Nachdenklich sah sie auf den dunklen Männerkopf vor sich. Dylan trug eine dicke Strickjacke und hatte eine Wolldecke auf den Knien. Ein warmes Gefühl durchströmte sie plötzlich. Sie war froh, dass er sie nicht länger ablehnte, auch 37
Seit meinem Unfall fahre ich nur noch ab und zu hin, um nach dem Rechten zu sehen. Ich habe zuverlässige Leute, und auch Devin arbeitet dort. Allerdings ist er weniger zuverlässig, dafür spielt er umso lieber den Chef. Nur Shelley zuliebe habe ich ihn noch nicht hinausgeworfen.“ „Sie mögen ihn nicht?“, fragte Dana. „Er ist ein Windhund. Mir ist völlig schleierhaft, wie Shelley auf ihn hereinfallen konnte. Aber sie war einfach noch viel zu jung.“ Dana lenkte den Rollstuhl in den Burggraben hinunter, allerdings von der anderen Seite her, wo es einen breiten, bequemen Weg gab. „Und gibt es auch eine bestimmte Frau in Ihrem Leben?“, entfuhr es Dana. Es war ihr ein wenig peinlich, aber Dylan hatte sie schließlich auch nach einem festen Freund gefragt. Dylan lachte bitter auf. „Es gab eine“, sagte er mit Betonung. „Als ich noch ein sportlicher Mann mit zwei gesunden Beinen war. Aber wer will schon einen Krüppel im Rollstuhl? Renee wollte jedenfalls keinen, deshalb zog sie sich kurz nach meinem Unfall von mir zurück. Heute spielt sie mit einem anderen Tennis.“ Dana biss sich auf die Lippen. Sie bereute es, danach gefragt zu haben. Offenbar hatte sie hier einen wunden Punkt berührt. „Es tut mir Leid“, sagte sie leise. „Es braucht Ihnen nicht Leid zu tun“, sagte er hart. „Die Sache ist für mich vorbei.“ Dana hatte jedoch den Eindruck, dass er immer noch darunter litt. Dass seine Freundin ihn verlassen hatte, war sicher der Hauptgrund für seine Lethargie gewesen. Eine Weile schwiegen sie. Jeder hing seinen Gedanken nach, bis sie an den Gärten angelangt waren. Prince schlug an, dann ging sein Bellen in ein freudiges Winseln über. William Wells war im Garten und hackte in einem Mistbeet herum. „Na, Wells, was macht der Salat?“, rief Dylan ihm zu. Der Gärtner richtete sich auf und grinste
Dana erzählte ihm in kurzen Sätzen alles Wissenswerte über sich, auch dass sie mit Ralph verlobt war, ihre Beziehung aber in eine Krise geraten war und sie keine großen Hoffnungen hatte, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. „Lieben Sie ihn sehr?“, fragte Dylan. „Lieben?“ Danas Blick wanderte über die gestutzten Büsche hinüber zur Straße. Liebte sie Ralph? Hatte sie ihn jemals geliebt? Er schien ihr plötzlich weit weg zu sein. Sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, doch es gelang ihr nicht. Dafür schoben sich Dylans markante Gesichtszüge vor ihr geistiges Auge. „Warum antworten Sie nicht, Dana?“, fragte er. „Ich... ich weiß es nicht“, sagte sie leise. „Ich sagte Ihnen ja, wie unsere Freundschaft zustande gekommen war. Durch die Trennung von ihm werde ich mir vielleicht endgültig über meine Gefühle klar werden.“ „Das sollten Sie unbedingt tun, bevor Sie ihn heiraten, Dana“, riet Dylan ihr ernst. Dana wunderte sich über sich selbst. Normalerweise war sie ziemlich verschlossen und sprach mit Fremden gewiss nicht über persönliche Gefühle, doch bei Dylan war das anders. Sie fühlte sich zu ihm auf merkwürdige Weise hingezogen und hatte auch das Gefühl, sich ihm anvertrauen zu können. „Nun sind Sie an der Reihe“, forderte Dana ihn auf, „Natürlich möchte ich über Sie nun auch etwas erfahren.“ „Interessiert Sie das wirklich, Dana?“ Mit zurückgelegtem Kopf sah er sie an. Dana bekam Herzklopfen, als sein Gesicht dem ihren so nah war. „Aber natürlich“, versicherte sie. „Es ist auch nur fair, nachdem ich Ihnen nun alles über mich erzählt habe.“ Dylan sah wieder nach vorn und zog seine Decke über den Knien zurecht. „Mein Vater kaufte Rhondda’s Moel, kurz nachdem er meine Mutter geheiratet hatte“, begann er. „Shelley, David und ich wurden hier geboren. Mein Vater besaß ein großes Stahlwerk in Swansea, das ich nach seinem Tod vor sieben Jahren weiterführte. 38
Turmzimmer einzunehmen?“ fragte Dylan. „Außer uns beiden ist praktisch niemand zum Essen da, nachdem meine Mutter vermutlich kaum aufstehen wird.“ Dana hatte jetzt auch nicht das Bedürfnis, mit Claire Milford an einem Tisch zu sitzen. Lieber war sie mit Dylan zusammen. „Gern“, stimmte sie deshalb zu. Mit dem Aufzug fuhren sie nach oben. Dana fragte, ob es über seinem Zimmer noch Räume gab, da eine weitere schmale Treppe hinaufführte. Dylan schüttelte den Kopf. „Nein. Sie führt nur auf die obere Plattform des Turmes. Aber gehen Sie dort um Himmels willen nie hinauf, hören Sie? Die Zinnen bröckeln immer mehr ab, und ich werde wohl auch bald aus meinem Zimmer ausziehen müssen, bevor mir die Decke auf den Kopf fällt.“ „Ist der Turm in einem so schlimmen Zustand?“ „Ziemlich. Ich überlege, ob es sich noch lohnt, ihn reparieren zu lassen.“ „Wollen Sie ihn denn einfach verfallen lassen?“ Dylan zuckte mit den Schultern. „Solche Reparaturen kosten viel Geld, Dana. Das Mauerwerk ist ziemlich porös, da ist es mit ein paar Ausbesserungsarbeiten nicht getan.“ Sie betraten das Turmzimmer. Dylan nahm den Hörer von der Wand neben seinem Bett, um Mrs. Brittle zu bitten, den Lunch für ihn und Dana heraufzubringen. Nach dem Lunch wollte er seine gewohnte Mittagsruhe von zwei Stunden haben, und Dana zog sich in ihr eigenes Zimmer zurück.
von einem Ohr zum andern. Dana fand ihn plötzlich gar nicht mehr so hässlich. „Wächst und gedeiht, Mr. Dylan. Nur etwas mehr Sonne bräuchten wir noch.“ Die beiden Männer unterhielten sich für ein paar Minuten. Dana hatte den Eindruck, dass sie sich, so verschieden sie auch waren, ganz gut verstanden. Ab und zu warf der Gärtner ihr scheue Blicke zu, die sie irritierten. Seine Worte von gestern Abend fielen ihr wieder ein. Sie hätte zu gern gewusst, weshalb er ihr den Rat gegeben hatte, wieder nach Hause zurückzufahren. Aber in Dylans Gegenwart wollte sie ihn jetzt nicht danach fragen. Dylan verabschiedete sich von William Wells, dann schob Dana den Rollstuhl weiter. Als sie am Zwinger vorbeikamen, redete er mit dem Hund, der sich vor Freude wie närrisch gebärdete. „Ist schon gut, alter Junge“, sagte Dylan lachend. „Das nächste Mal.“ Er wandte seinen Kopf zu Dana. „Wenn Sie nicht dabei gewesen wären, hätte ich Wells gebeten, Prince ein wenig zu mir herauszulassen. Aber in Ihrer Gegenwart wollte ich das lieber nicht riskieren. Fremden gegenüber ist er nicht gerade freundlich.“ „Ich wäre vor Schreck umgefallen, wenn Sie es getan hätten“, sagte Dana. „Ich habe eine Heidenangst vor so großen Hunden.“ Sie gelangten an die Stelle, wo Dana tags zuvor den Pfad heruntergekommen war. Mit dem Rollstuhl kamen sie dort unmöglich hinauf. „Gibt es dort vorn noch einen anderen Weg aus dem Schlossgraben, oder müssen wir umkehren?“, erkundigte sie sich. „Nein. Wir kommen hier auf einem bequemen Weg direkt zu meinem Turmeingang“, erklärte Dylan. „Was macht Shelley eigentlich?“, fragte Dana. „Ist sie den ganzen Tag zu Hause?“ „Nein. Sie arbeitet als Bibliothekarin in der Stadtbibliothek in Swansea.“ Kurz nach der Brücke führte der Weg nach oben und endete an der anderen Seite des Turmes vor einem großen Holztor. „Haben Sie Lust, den Lunch mit mir im
* Dana war nun schon über eine Woche in Rhondda’s Moel. Besondere Ereignisse hatte es in dieser Zeit nicht gegeben, außer dass sie bemerkte, dass sie ihr Herz immer mehr an Dylan Milford verlor. Sie verbrachte die meiste Zeit des Tages mit ihm und saß auch abends oft noch lange mit ihm zusammen. Er hatte nichts 39
hatte, da diese immer noch nichts von Dana wissen wollte. Ralph hatte in dieser Zeit tatsächlich einmal angerufen, doch Dana hatte den Eindruck gehabt, als wäre es für ihn nur eine lästige Pflicht gewesen. Er war ihr noch fremder geworden. Auch er schien sie nicht gerade zu vermissen. Als sie sich dann am Telefon voneinander verabschiedeten, hatte sie unwillkürlich das Gefühl, dass es ein Abschied für immer war. Dana konnte nicht sagen, ob sie darüber traurig oder erleichtert war. Eigentlich hätte sie sich auf Rhondda’s Moel ganz wohl fühlen können, wenn sie nicht ständig dieses unheimliche Gefühl einer drohenden Gefahr gehabt hätte. Vor allem nachts presste ihr oft eine unbestimmte Angst das Herz zusammen, obwohl sie ihre Tür jetzt immer verschlossen hielt und auch niemand mehr den Versuch gemacht hatte, in ihr Zimmer einzudringen. An diesem Nachmittag hatte Dana einen ausgiebigen Spaziergang gemacht, war ein Stück auf der Küstenstraße entlanggewandert und hatte sich die Umgebung von Rhondda’s Moel angesehen. Das schöne frühlingshafte Wetter hatte sie hinausgelockt, nachdem sie von Dylan beurlaubt worden war. Am Vormittag hatte sie mit ihm Gehübungen im Freien gemacht, wobei er sich offenbar ein wenig überanstrengt hatte. Dana hatte sich schon Vorwürfe deswegen gemacht, als Dylan ihr sagte, dass er sich erschöpft fühle und bis zum Dinner im Bett bleiben wolle. Sie musste in Zukunft darauf achten, dass er die Sache ein wenig langsamer anging. Erst bei Sonnenuntergang kehrte Dana wieder zum Schloss zurück. Sie trat an das schmiedeeiserne Tor in der Mauer und betrachtete fasziniert das großartige Schauspiel, wie der Feuerball im Meer versank. Der Himmel war orangeviolett gefärbt und warf seinen Widerschein auf die glatte Wasseroberfläche. Zur Rechten und zur Linken verloren sich die rötlich angehauchten Klippen in der Abenddämmerung.
Spöttisches oder Abweisendes mehr an sich und schien sie nun auch als Krankenschwester zu akzeptieren. Er hatte auch bereits einige Fortschritte gemacht. Nur manchmal verlor er die Beherrschung und wurde grob und ausfällig, wenn etwas nicht so ging, wie er es sich vorgestellt hatte. Dana nahm es ihm nicht übel und zeigte eine wahre Engelsgeduld. Dafür wurde sie wieder von einem charmanten Lächeln entschädigt, einem zärtlichen Blick aus seinen dunklen Augen oder ein paar liebevollen Scherzworten. Es war zur Regel geworden, dass Dana mit ihm in seinem Turmzimmer den Lunch einnahm. Abends aßen sie dann im Speisezimmer mit Shelley und Devin. Die vier jungen Leute verbrachten so manchen unterhaltsamen Abend zusammen, auch wenn manchmal, hauptsächlich durch Devin, Missstimmungen aufkamen. Shelley war etwas aufgeblüht und nicht mehr gar so scheu und zurückhaltend wie am Anfang. Sie freute sich ganz offensichtlich darüber, dass Dana nun im Haus war und unterhielt sich oft und gern mit ihr. Claire Milford hatte Dana in dieser Zeit nur zweimal zu Gesicht bekommen. Sie lag immer noch im Bett, weil nun noch eine Erkältung hinzugekommen war. Dana hatte sie zusammen mit Dylan besucht, und Claires Gesicht war nur eine gleichgültige Maske gewesen. Trotzdem hatte sie den Hass gespürt, der ihr von dieser Frau entgegenschlug und den sie sich beim besten Willen nicht erklären konnte. Ihre jetzige Haltung stand im krassen Gegensatz zu der überschwänglichen Freundlichkeit, die sie anfangs Dana gegenüber gezeigt hatte. Mrs. Brittle verhielt sich weiterhin mürrisch und abweisend, auch wenn es zu keiner weiteren Auseinandersetzung um Dylans Betreuung mehr gekommen war. Sie sah wohl ein, dass die junge Krankenschwester ihre Sache ausgezeichnet machte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass die Haushälterin nun alle Hände voll mit Claires Pflege zu tun 40
sich nur noch mit größter Anstrengung festhalten. „Helfen Sie mir lieber!“ „Mein Gott, das Tor bricht aus der Mauer!“, rief Shelley entsetzt. „Hol das Abschleppseil aus dem Auto“, befahl Devin seiner Frau. Im selben Moment kam Mrs. Brittle aus der Haustür gestürzt, die von Danas Hilferufen alarmiert worden war. Ihre Augen waren vor fassungslosem Schrecken weit aufgerissen. „Grundgütiger Himmel!“, stieß sie hervor. „Wie kann man ihr helfen?“ „Das werden wir gleich haben“, sagte Devin. „Halten Sie noch eine Sekunde aus, Dana.“ Er hielt das Tor fest, damit es unter Danas Gewicht nicht noch weiter aus der Verankerung brechen konnte. Dann warf er ihr das Abschleppseil zu, das Shelley eiligst geholt hatte. Über Danas Arm blieb die Schlaufe mit dem Haken hängen. Sie verging fast vor Angst, als sie mit einer Hand den Eisenstab losließ, um nach dem Seil zu greifen. Devin, Shelley und Mrs. Brittle riefen ihr ermutigende Worte zu, während sie das andere Ende des Seiles festhielten. „Lassen Sie das Tor los, es löst sich gleich vollends“, schrie Devin. „Los, packen Sie das Seil mit beiden Händen, wir ziehen Sie herauf.“ Mit letzter Kraft tat Dana, was Devin ihr gesagt hatte. Während sie sich über die Felskante auf den sicheren Boden ziehen ließ, hob sie wie unter einem Zwang den Kopf und sah zu Dylans Turmfenster hoch. Sie glaubte, sein vor Schreck erstarrtes Gesicht hinter der Scheibe zu erkennen, in der sich das letzte Abendrot spiegelte. Zitternd und schwer atmend blieb Dana auf dem Boden liegen und barg das Gesicht in ihrem Arm. Gleich darauf hob sie wieder den Kopf, als etwas polternd in die Tiefe krachte. Es war das schmiedeeiserne Tor gewesen, das der Belastung nicht länger standgehalten hatte. Shelley kniete neben ihr und strich ihr über den Arm. „Sind Sie okay?“, fragte sie mit zittriger Stimme. Dana stützte sich auf und strich sich das
Unten am Strand erkannte Dana eine dunkle Gestalt und etwas Kleineres, das hin und her rannte. Vermutlich war das William Wells mit seinem Hund Prince. Gern hätte sie den Strand einmal erkundet. Bei Gelegenheit wollte sie sich erkundigen, wie man dort hinuntergelangte. Direkt vor ihr ging es beängstigend steil in die Tiefe. Dana schätzte, dass die Entfernung zum Strand mindestens hundert Meter betrug. Ein leichter Schwindel erfasste sie, und in ihrem Magen flatterten Schmetterlinge, als sie die Gitterstäbe des Tores umklammerte und sich vorbeugte, um einen Blick in die Bucht zur Linken zu werfen, in die jetzt die letzten rötlichen Sonnenstrahlen fielen. Plötzlich gab das Tor nach und schwang mit einem unheimlichen Kreischen zum Meer hin auf. Dana verlor das Gleichgewicht, als ihr der Boden förmlich unter den Füßen weggerissen wurde. Hilflos, nur mit einem Knie auf eine Felskante gestützt, hing sie an dem schmiedeeisernen Tor, dessen Stäbe sie mit aller Kraft umklammert hielt. Als sie sich des tödlichen Abgrundes unter ihr bewusst wurde, stieß sie einen gellenden Schrei aus. Doch niemand kam ihr zu Hilfe. Mit aller Kraft versuchte sie sich hochzuziehen. Dabei bemerkte sie zu ihrem Entsetzen, wie sich die Angeln des Tores aus dem porösen Mauerwerk zu lösen begannen. Das Grauen packte sie so sehr, dass sie schon fürchtete, ihre Finger würden sich von den Gitterstäben lösen, ihrem einzigen lebensrettenden Halt. Wieder schrie sie verzweifelt um Hilfe. In diesem Augenblick bog der silbergraue Honda der Bennets in den Schlosshof ein. Devin sah sofort, was passiert war und brachte das Fahrzeug mit quietschenden Reifen dicht vor dem Tor zum Stehen, das mittlerweile nur noch an einer Angel hing. Er und Shelley sprangen gleichzeitig aus dem Auto. „Zum Teufel, was treiben Sie hier?“, stieß er mit kreidebleichem Gesicht hervor. „Wollen Sie sich ins Meer stürzen?“ „Sehr witzig“, keuchte Dana. Sie konnte 41
Kette hingekommen, die das Tor gesichert hat?“ „Es war keine Kette dran“, erwiderte Dana leicht verärgert. Sie erzählte, wie es passiert war. „Wieso ist dieses Tor überhaupt dort?“, fragte sie dann. „Es ist doch völlig nutzlos, nur gefährlich.“ „Früher konnte man dort hindurch über die Klippen zum Strand gelangen, wenn auch auf einem ziemlich gefährlichen Pfad“, erklärte Shelley. „Damals fielen die Klippen noch nicht so steil ab, aber mit der Zeit haben sich immer mehr Felsbrocken gelöst, die jetzt alle unten am Strand liegen.“ „Das Tor war immer fest verschlossen und zusätzlich mit einer schweren Eisenkette gesichert, so dass es nicht aufspringen konnte, wenn sich jemand mal dagegenlehnen sollte“, sagte Devin. „Ich kann wirklich nicht verstehen, wie es trotzdem geschehen konnte...“ „Wie ich schon sagte, war keine Kette dran“, entgegnete Dana. „Und es konnte auch nicht fest verschlossen gewesen sein, denn es gab sofort nach, als ich mich nur leicht dagegenlehnte.“ Sie sah, wie Devin und Shelley entgeisterte Blicke tauschten. „Das gibt es doch gar nicht“, sagte Shelley verstört. „Das würde ja bedeuten, dass... dass...“ „Dass jemand das Tor aufgeschlossen und die Kette entfernt hat“, ergänzte Dana düster. Devin wollte aufbrausen, besann sich dann aber. „Eine schöne Schweinerei wäre das, wenn das jemand absichtlich getan hätte“, knurrte er. „Wann war denn die Kette zuletzt noch dran?“, fragte Dana. Eine neue Angst presste ihr das Herz zusammen. Hatte jemand wirklich mit voller Absicht die Sicherheitsmaßnahmen entfernt, damit sie dort hinunterstürzte? Ein entsetzlicher Gedanke! Devin zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich sehe ja nicht jeden Tag nach, ob sie noch dort ist. Praktisch kann sie schon vor Wochen oder Monaten entfernt worden sein.“ Auch Shelley vermochte dazu nichts zu
Haar aus der Stirn. „Ich denke schon“, sagte sie mit einem verzerrten Lächeln. „Außer, dass mir der Schreck noch in allen Gliedern sitzt. Meine Finger sind auch noch ganz lahm.“ „Das gibt sich alles wieder“, meinte Devin. „Sie können von Glück reden, dass wir gerade im richtigen Moment gekommen sind. Das Tor hätte Sie nicht länger ausgehalten. Wenn Sie dort hinuntergestürzt wären, hätten Sie heute kein Dinner mehr gebraucht.“ Er half ihr beim Aufstehen. Dana musste sich auf ihn und Shelley stützen, als sie auf das Schlossportal zugingen, weil ihre Beine weich wie Pudding waren. „Wollen Sie in Ihr Zimmer?“, fragte Shelley mitfühlend, als sie in der Halle waren. „Wir bringen Sie gern hinauf.“ „Nein, danke. Ich will mich nur setzen.“ Dana stand nicht der Sinn danach, allein in ihrem Zimmer diesen Schrecken zu verdauen. Am liebsten wäre sie zu Dylan gegangen, der sich sicher zu Tode erschreckt hatte. Aber sie musste erst ein wenig verschnaufen und sich beruhigen. Er hatte ja gesehen, dass sie – wenn auch in allerletzter Minute – gerettet worden war. „Gehen wir in den Salon“, schlug Devin vor. Dann rief er Mrs. Brittle nach, bevor sie in ihrer Küche verschwand: „Lassen Sie sich ruhig noch Zeit mit dem Dinner, Emma. Wir brauchen jetzt erst mal einen Drink auf diesen Schrecken.“ Mit zitternden Knien ließ Dana sich in einen Sessel fallen. Devin holte eine Flasche Whisky und drei Gläser und goss jedem großzügig ein. Dana trank einen tiefen Schluck aus ihrem Glas. Sie spürte, wie der Alkohol ihr wohlig warm durch den Körper rann und das Zittern ihrer Beine nachließ. „Wie konnte das überhaupt passieren?, fragte Shelley. Ihr Gesicht war immer noch weiß wie die Wand, und auch in ihren Augen stand noch das Grauen. „Wieso konnte das Tor aufspringen, Devin?“, wandte sie sich an ihren Mann. „Weiß der Teufel“, knurrte er. Dann sah er Dana stirnrunzelnd an. „Was haben Sie dort überhaupt getrieben? Und wo ist die 42
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sagen. Sie konnte sich ebenfalls nicht daran erinnern, wann sie die Kette dort zum letzten Mal bewusst gesehen hatte. Dana dachte wieder an ihre erste Nacht auf Rhondda’s Moel, in der jemand in ihr Zimmer hatte eindringen wollen. Hatte sie im Schloss einen unbekannten Feind, der sie aus dem Weg räumen wollte? Sie schauerte bei diesem schrecklichen Gedanken zusammen. Sie wollte schon auf einen möglichen Zusammenhang mit dem Vorfall in der ersten Nacht hinweisen, unterließ es aber dann in Shelleys Gegenwart. Die sensible junge Frau wusste vermutlich gar nichts davon. Bedrückt seufzte Dana in sich hinein. Hatte sie nicht schon die ganze Zeit über das Gefühl gehabt, in Gefahr zu sein? Hatte ihr William Wells nicht auch geraten, wieder nach Hause zurückzufahren? Welchen Anlass hatte er zu diesen Worten gehabt? Trachtete ihr auf Rhondda’s Moel jemand nach dem Leben, und wusste der Gärtner davon oder ahnte es zumindest? Die drei im Salon beleuchteten den Vorfall noch von allen Seiten, kamen aber zu keinem Ergebnis, außer dass es sich um eine bodenlose Schlamperei handeln musste. Devin wollte William Wells dafür verantwortlich machen. Dana wollte gern glauben, dass es sich nur um eine Nachlässigkeit handelte, doch eine Stimme in ihrem Innern sagte ihr, dass das nicht der Fall war. Nach einer Weile stand sie mit immer noch leicht wackeligen Beinen auf und erklärte, vor dem Dinner noch kurz zu Dylan hinaufgehen zu wollen. Zum Essen wollten sie dann zusammen herunterkommen. Zuerst ging Dana in ihr Zimmer, um sich zu waschen und umzuziehen. Sie klebte ein Pflaster auf ihr zerschundenes Knie, dann zog sie ihren schicken schwarzen Hosenanzug und eine rote Bluse an. Wenig später durchquerte sie die Ahnengalerie, um mit dem Aufzug in den Turm hochzufahren.
„Mein Gott, Dana!“ Dylan sah ihr mit einem gepeinigten Ausdruck entgegen. „Du hast keine Vorstellung, welche entsetzlichen Minuten ich hinter mir habe.“ Er hatte sie zum ersten Mal geduzt, und Dana bekam vor Freude Herzklopfen. „Die habe ich auch hinter mir“, sagte sie mit einem verrutschten Lächeln. „Ich hatte mich schon in den Abgrund stürzen sehen.“ „Das Schlimmste war, dass ich keine Möglichkeit hatte, dir zu helfen. Ich konnte nur tatenlos zusehen und Emma anrufen. Zum Glück kamen dann Shelley und Devin.“ „Ja, sie sind im rechten Augenblick gekommen.“ „Komm her“, sagte Dylan rau und streckte seine Hände nach ihr aus. Wie gebannt von der tiefen Zärtlichkeit in seinem Blick ging Dana auf ihn zu. Dylan zog sie zu sich heran. Sie ließ ihren Kopf auf seine Schulter sinken und schluchzte leise auf. Das grauenvolle Erlebnis war noch zu frisch. Dylan strich ihr sanft übers Haar. „Ich hätte es nicht ertragen, wenn du dort hinuntergestürzt wärst“, stieß er heiser hervor. Dana schluckte hart und richtete sich wieder auf. Ihr Herz hatte wie verrückt zu rasen begonnen bei Dylans zärtlicher Berührung. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dicht neben ihn. „Wie konnte das überhaupt geschehen?“, fragte er. „Ich habe es erst mitbekommen, als ich deinen durchdringenden Schrei hörte.“ Sie erzählte, wie es passiert war und berichtete auch von dem anschließenden Gespräch mit Shelley und Devin. Dylan zog die dunklen Brauen zusammen und presste die Kiefer hart aufeinander. Dana beobachtete ihn gespannt. Was ging jetzt in seinem Kopf vor? Sie hatte fast das Gefühl, als ob er einen bestimmten Verdacht hatte. „Was ist, Dylan?“, fragte sie, als er nichts sagte. Er seufzte und fuhr sich mit den Fingern 43
freimütig in die Augen. „Ja, ich denke schon. Und was meine Verlobung betrifft... ich hatte dir ja von Ralph erzählt. Er hat mich vor ein paar Tagen hier angerufen.“ „Und?“ Dylan sah sie aufmerksam an. „Er hätte nicht kälter und gleichgültiger sein können. Es war für ihn ein Pflichtanruf, weiter nichts. Ich bin sicher, dass er sein Leben ohne mich genießt und sich mit einer anderen Frau amüsiert. Er getraut sich nur nicht, mir das offen zu sagen. Wahrscheinlich werde ich auch nie mehr etwas von ihm hören. Das habe ich irgendwie im Gefühl.“ Dylan hob mit seinen Fingern ihr Kinn zu sich hoch und zwang sie, ihn anzusehen. „Und schmerzt dich das sehr, Dana?“, fragte er mit einem forschenden Blick in ihre Augen. Sie lächelte schwach. „Nein, eigentlich nicht. Mir war schon lange klar, dass wir uns einmal gründlich aussprechen mussten, aber das hat sich wohl jetzt erledigt.“ „Hat es sich das wirklich?“ Dylans Stimme war rau vor Emotionen. Offen erwiderte sie seinen Blick. „Ja, Dylan. Es hat sich erledigt.“ Das Haustelefon schrillte. Dylan rollte seinen Rollstuhl zur Tür, um abzunehmen. „Ja?... Okay, Emma, einen Augenblick.“ Er drehte sich um und schaute Dana fragend an. „Das Dinner ist fertig. Wollen wir runtergehen oder oben essen?“ Dana brauchte nicht lange zu überlegen. „Ich würde gern mit dir allein essen, wenn es dir recht ist.“ Dylans zufriedenes Lächeln sagte ihr, dass auch er diesen Wunsch hatte. „Bringen Sie das Essen rauf, Emma“, hörte sie ihn sagen. „Und eine gute Flasche Weißwein dazu. Wie...? Oh ja, Miss Hammond hat sich wieder von dem Schrecken erholt. Es geht ihr gut. Sagen Sie Shelley und Devin, dass wir uns dann morgen treffen. Und... bitte erzählen Sie meiner Mutter nichts von dem Vorfall, okay? Ich möchte nicht, dass sie sich aufregt und einen Rückfall erleidet.“ Dylan legte wieder auf und kehrte zu Dana zurück. Liebevoll zog er sie an sich heran und legte seinen Arm um ihre
durch das dichte Haar. „Ich werde der Sache nachgehen. Bitte versprich mir, in Zukunft vorsichtig zu sein.“ Dana sah ihn aus großen Augen ängstlich an. „Dylan?“ Er betrachtete forschend ihr Gesicht, in dem er lesen konnte wie in einem aufgeschlagenen Buch. Er sah die Gefühle, die sie für ihn hatte, aber auch ihre Angst. Die Berührung seiner Finger war wie ein Hauch, als er die Linien ihres feingeschnittenen Gesichtes nachfuhr und mit dem Daumen sanft über ihre Lippen strich. Dann wanderte seine Hand zu ihrem Nacken und zog ihren Kopf zu sich heran. Dana beobachtete atemlos, wie sein Gesicht näher kam. Kurz bevor seine Lippen die ihren berührten, schloss sie die Augen und schlang ihre Arme um seinen Nacken. Seine warmen Lippen waren sanft und zärtlich, doch dann wurde sein Kuss fordernder. Erregt öffnete Dana die Lippen, um seiner Zunge Einlass zu gewähren. Voller Hingabe erwiderte sie seinen Kuss. Es war für sie das Selbstverständlichste auf der Welt, und ein heißes Glücksgefühl durchströmte ihren Körper. Plötzlich schob er sie ein Stück von sich. „Verzeih, Dana“, sagte er mit seltsam schroffer Stimme. „Ich hätte mich nicht so vergessen dürfen. Schließlich bist du verlobt, und ich ein Krüppel im Rollstuhl.“ „Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müsste“, sagte Dana und sah ihn offen an. „Ich hatte diesen Kuss selbst gewollt, Dylan. Du hast mich damit sehr glücklich gemacht. Aber ich will nie mehr hören, dass du dich als Krüppel bezeichnest. Du weißt selbst, welche Fortschritte du machst, und dass du schon in absehbarer Zeit wieder ohne Hilfe laufen kannst. Doch selbst wenn du dein Leben lang im Rollstuhl sitzen müsstest, würde ich...“ Sie brach ab und biss sich auf die Lippen. „Würdest du was?“, drängte Dylan sanft und nahm ihre Hände in die seinen. Er sah sie ernst an. „Mich lieben? War es das, was du sagen wolltest?“ Dana schluckte, dann sah sie ihm 44
er keiner Fliege etwas zuleide tun. Meine Mutter ist zwar ein Kapitel für sich, aber...“ Er brach ab und schüttelte den Kopf. „Sie kann ebenfalls kein Interesse daran haben. Sie hat dich schließlich nach Rhondda’s Moel geholt, damit du mir wieder neuen Mut gibst und mir das Laufen beibringst. Und weiß Gott, es ist dir bestens gelungen.“ Dana schmiegte sich an ihn. Sie verspürte nicht mehr die geringste Lust, über diese Dinge zu reden. Wenig später kam Emma Brittle ins Turmzimmer. Vorsichtig balancierte sie ein hoch beladenes Tablett vor sich her. Dana sprang auf, um es ihr abzunehmen und stellte es auf den Tisch neben sich und Dylan. „Vielen Dank, Mrs. Brittle“, sagte sie freundlich. Sie war überrascht über den aufrichtig besorgten Blick, den die Haushälterin ihr zuwarf. Doch dann drehte Emma sich abrupt wieder um, als ärgerte sie sich darüber, etwas von ihren Gefühlen verraten zu haben. Dana blieb an diesem Abend noch lange bei Dylan, bevor sie in ihr eigenes Zimmer ging. Sie hatten nicht mehr viel über diese Vorfälle gesprochen, und Dana hatte sie nur zu gern aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Doch als sie jetzt wieder allein war und in ihrem Bett lag, war die Angst wieder da. War es nur eine Nachlässigkeit gewesen, dass das Tor offen und ungesichert war, oder ein Anschlag auf ihr Leben? War die Kette absichtlich entfernt worden? Aber hatte dieser Jemand dann nicht einkalkulieren müssen, dass ein anderer Hausbewohner zu Schaden kommen konnte? Gewaltsam verdrängte Dana all diese quälenden Gedanken. Stattdessen dachte sie an Dylan und die zärtlichen Stunden, die sie mit ihm verbracht hatte. Noch nie hatte ein Mann so starke Gefühle in ihr geweckt, auch nicht Ralph. Würde sie an Dylans Seite ein dauerhaftes Glück finden? Er hatte ihr gesagt, dass er sich vom ersten Blick an in sie verliebt hatte, und ihr war
Schultern. „Du wolltest etwas sagen, Liebling, bevor wir uns küssten“, erinnerte er sie. Dana sah ihn groß an, dann kuschelte sie sich an ihn. „Tut mir Leid, aber das fällt mir jetzt nicht mehr ein“, murmelte sie an seiner Schulter. „Dein Kuss hat alles Unwichtige ausgelöscht.“ Dylan küsste sie auf die Nasenspitze. „Es scheint mir aber doch etwas Wichtiges gewesen zu sein. Du hast mich aus großen, ängstlichen Augen angesehen und gesagt: Dylan? So, als ob du mir etwas Schreckliches mitteilen wolltest. Gleich nachdem ich dich bat, in Zukunft vorsichtig zu sein.“ Jetzt fiel es Dana wieder ein. Es widerstrebte ihr zwar, in diesem romantischen Augenblick davon zu sprechen, aber dann erzählte sie ihm doch von ihrer ersten Nacht auf Rhondda’s Moel, in der jemand versucht hatte, in ihr Zimmer einzudringen. Dylan sah sie stirnrunzelnd an. „Bist du sicher? Kannst du es nicht nur geträumt haben?“ „Ich bin mittlerweile ziemlich sicher, Dylan“, erklärte Dana fest. Dann erzählte sie ihm auch, dass William Wells ihr den merkwürdigen Rat gegeben hatte, wieder nach Hause zurückzufahren. „Verstehst du das alles?“, fragte sie hilflos. „Ich kann mir absolut keinen Reim darauf machen. Ich weiß nur, dass ich mittlerweile große Angst und ständig das Gefühl einer drohenden Gefahr hier habe.“ Dylan seufzte. Gedankenvoll strich er mit seiner Hand über ihren Schenkel. „Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, von wem dir in Rhondda’s Moel Gefahr drohen sollte“, meinte er. „Devin mag ich zwar am wenigsten, aber er kann nie im Leben ein Interesse daran haben, meiner Krankenschwester etwas anzutun. Auf meine und seine Stellung im Werk hätte das nicht den geringsten Einfluss, selbst wenn ich wirklich niemals mehr laufen könnte. Meine Schwester Shelley scheidet auf jeden Fall aus. Ebenso die gute Emma, und William Wells ist uns allen seit Jahren treu ergeben. Meiner Meinung nach könnte 45
machen musste. Offiziell waren sie ja immer noch verlobt. Und sie wusste jetzt auch, dass sie ihn nicht mehr heiraten wollte. Erst jetzt hatte sie erfahren, was Liebe ist. Dylan gehörte ihr ganzes Herz. Ohne Dylan kam Rhondda’s Moel ihr richtig trostlos vor. Dana wurde direkt etwas unheimlich zumute bei dem Gedanken, nur mit Claire und Mrs. Brittle allein in dem riesigen Schloss zu sein. Deshalb wollte sie auch nicht den ganzen Tag hier bleiben und beschloss, mit ihrem Auto ein wenig die Gegend zu erkunden. Am Spätnachmittag fuhr sie wieder zurück, denn es hatte zu regnen begonnen. Der Himmel war grau und verhangen, und vom Meer her wallten Nebelschwaden über die Küstenstraße. In diesem Wetter wirkt Rhondda’s Moel noch finsterer und drohender, dachte Dana, als sie sich dem wuchtigen Gebäude näherte. Dabei hatte es in den letzten Sonnentagen manchmal direkt freundlich ausgesehen. Dana fuhr ihr Auto in die Garage und ging dann ins Haus. Die Zeit, bis Dylan zurückkam, wollte sie in ihrem Zimmer verbringen und noch etwas lesen. Als sie auf die Treppe zuging, bemerkte sie, dass die Kellertür offen stand und Licht dort unten brannte. Dana war noch nie in den Kellern von Rhondda’s Moel gewesen. Von Dylan wusste sie nur, dass sie sehr weitläufig waren, große Teile davon jedoch nicht benutzt wurden. Dort gab es auch kein elektrisches Licht, und alles war in einem sehr schlechten Zustand. Dylan hatte sie davor gewarnt, weiter als bis in die Wirtschaftskeller zu gehen. Bisher hatte Dana auch kein Interesse daran gehabt, allein in den Keller zu steigen und sich dort umzusehen. Aber nun war offenbar jemand unten, da die Tür offen stand und Licht heraufschimmerte. Sicher war es Mrs. Brittle, die Vorräte holen wollte. Dana beschloss, bei dieser Gelegenheit nun doch einmal einen Blick in den Keller zu werfen. Vielleicht konnte sie der Haushälterin auch etwas herauftragen
es im Grunde nicht anders ergangen. Doch was würde Claire sagen, wenn ihr Sohn mit seiner Krankenschwester ein Verhältnis anfing? * Ein paar Tage vergingen. Dana hatte ihr schreckliches Erlebnis schon fast wieder vergessen. Allerdings hatte William Wells hoch und heilig geschworen, dass die Kette am Vortag noch am Tor gewesen war, und es war auch nicht herauszufinden gewesen, wer sie entfernt und das Tor aufgesperrt hatte. Aber es hätte sie brennend interessiert. Dana arbeitete unermüdlich mit Dylan. Abends verbrachten sie romantische Stunden vor dem offenen Kamin in seinem Turmzimmer. Vor den anderen hielten sie jedoch ihre Gefühle zueinander geheim. Claire Milford hatte ihr Bett mittlerweile wieder verlassen können. Dana fühlte sich immer höchst unbehaglich in Gegenwart dieser Frau. Mal war sie kalt und unnahbar, dann wieder von übertriebener, geradezu hektischer Freundlichkeit und versicherte ihr, wie froh und dankbar sie war, dass Dana nach Rhondda’s Moel gekommen war und sich so erfolgreich um ihren Sohn Dylan bemühte. Dann wieder hatte Dana das Gefühl, von Claire auf merkwürdige Weise beobachtet zu werden. An diesem Tag war Dylan mit Shelley und Devin nach Swansea in sein Werk gefahren, um sich dort wieder einmal sehen zu lassen und verschiedene Dinge zu erledigen. Seinen Rollstuhl hatten sie im Kofferraum mitgenommen. Sie würden erst am Abend wieder zurück sein. Dana hatte den ganzen Tag für sich zur freien Verfügung. Erst hatte sie mit dem Gedanken gespielt, nach Cardiff zu fahren. Doch ihr Vater war mit Helen und dem Baby für ein paar Tage weggefahren, wie sie von seinem letzten Anruf wusste, und nach Ralph verspürte sie nicht die geringste Sehnsucht. Ralph war für sie immer weiter in die Ferne gerückt, aber sie wusste natürlich auch, dass sie mit ihm reinen Tisch 46
Das gespenstische Stöhnen zerrte an Danas Nerven. Immer wieder rief sie nach der Haushälterin, bekam aber keine Antwort. Dana lief schneller durch den Gang. Sie kam am Heizungskeller vorbei, dann nur noch an leeren Kellerräumen mit vereinzeltem Gerümpel. Danach wurde der Gang abschüssiger und endete an einer weiteren Treppe, die steil nach unten führte. Dort unten gab es kein Licht mehr. Unschlüssig blieb Dana stehen. Konnte Mrs. Brittle da unten sein? Von dem Stöhnen war im Moment nichts mehr zu hören. Aber wer sagte ihr, dass es die Haushälterin war? Claire Milford konnte es ebenso gut sein. Mein Gott, hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert, dachte Dana bedrückt. Dieses Haus schien vom Unglück verfolgt zu werden. Dana lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als das Stöhnen erneut erklang. Diesmal schien es aus sämtlichen Ecken des Kellers zu kommen, doch beim nächsten Mal war sie überzeugt, dass es von unten kam. Beherzt stieg sie die steilen Stufen hinunter, die schon ziemlich ausgetreten und schlüpfrig von der Feuchtigkeit waren. Der Lichtschein, der von oben herunterfiel, wies ihr für ein kurzes Stück den Weg, doch weit reichte er nicht. Dana fragte sich, wie sie sich dort unten im Dunkeln zurechtfinden sollte. Während sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen auf der immer schlechter beleuchteten Treppe setzte, überlegte sie, ob es nicht gescheiter war, wenn sie rasch wieder nach oben ging, um eine Taschenlampe und Hilfe zu holen. Offensichtlich war eine der beiden Frauen hier im Keller zu Schaden gekommen, doch die andere musste sich ja im Haus befinden. Allein würde sie eine verletzte Person nicht die Treppe hochschleppen können. In dem Augenblick, in dem Dana ihren Entschluss fasste, erlosch das Licht, und alles wurde in eine undurchdringliche Finsternis gehüllt. Dana hatte sich auf der
helfen. Kalte Luft und Modergeruch schlugen ihr entgegen, als sie ihren Fuß auf die erste Stufe setzte. Fröstelnd schauerte Dana zusammen. Sie ging eine endlose steinerne Treppe hinunter, wobei es immer kälter wurde. Alle paar Schritte blieb sie stehen und horchte auf Geräusche, die verrieten, dass jemand unten war, doch sie konnte nicht das Geringste hören. Vorsichtig stieg sie auf den ausgetretenen Stufen tiefer. Plötzlich drang ein schwaches Stöhnen an ihr Ohr. Erschrocken hielt Dana die Luft an und lauschte. Was war das eben gewesen? Oder hatte sie sich getäuscht? Nein, da war es wieder. Diesmal hörte sie das Stöhnen deutlicher, und sie glaubte sogar, dass jemand wie aus weiter Ferne ihren Namen rief. „Mrs. Brittle?“, rief Dana ängstlich. War der Haushälterin etwas zugestoßen? War sie gestürzt? Sie bekam keine Antwort. Alles war jetzt totenstill. Dana wurde es unheimlich. Am liebsten wäre sie wieder nach oben gegangen, wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass sie sich das Stöhnen nicht eingebildet hatte. Sie stieg die restlichen Stufen hinunter und stand dann in einem Vorraum, von dem zwei Gänge abgingen. Da hörte sie das Stöhnen wieder. Obwohl sie nun unten im Keller angelangt war, klang es immer noch so weit weg wie vorhin. „Mrs. Brittle?“, rief Dana wieder. „Sind Sie hier unten?“ Wieder ein Stöhnen! Dana merkte, wie sich ihr ganzer Körper mit einer Gänsehaut überzog. Es hatte einfach zu schaurig geklungen! Offenbar war die Haushälterin gestürzt und hatte sich verletzt. Wenn sie nur genau hätte sagen können, aus welcher Richtung das Stöhnen gekommen war. Entschlossen schlug Dana den Gang ein, der vor ihr lag. Er führte durch einen großen Raum, dessen Regale mit Eingewecktem und anderen Vorräten angefüllt waren. Doch Mrs. Brittle war weder hier noch im angrenzenden Weinkeller. 47
bewegte sie vorsichtig alle Glieder. „Gebrochen habe ich mir anscheinend nichts, aber ich werde wohl überall blaue Flecke bekommen. Und in meinem Kopf pocht es ganz scheußlich.“ Shelley sah sie mitfühlend an. „Emma bringt dir gleich eine Tablette.“ „Was hast du denn so tief unten im Keller gesucht, Dana?“ fragte Dylan. „Ich sagte dir doch, dass es nicht ungefährlich ist, dort hinunterzusteigen.“ Erst jetzt fiel Dana ein, was sie dort hinuntergetrieben hatte. „Du lieber Himmel!“, rief sie erschrocken. „Eure Mutter muss im Keller unten sein. Ihr müsst sofort nach ihr suchen!“ In kurzen Worten erzählte sie von dem Stöhnen, dem sie nachgegangen war, und wie dann plötzlich das Licht ausgegangen war. Emma Brittle war wieder hereingekommen und reichte Dana eine Tablette und ein Glas. Sie hatte mitbekommen, was Dana gerade gesagt hatte, und schüttelte verwundert den Kopf. „Mrs. Milford? Nein, sie ist überhaupt nicht im Haus. Sie ist zu einer Freundin gefahren und noch nicht zurück.“ Dana schluckte die Tablette, dann gab sie der Haushälterin das Glas zurück und sah sie verständnislos an. „Mrs. Milford ist nicht hier? Aber... aber wer hat dann unten im Keller so gestöhnt? Zuerst dachte ich, es wären Sie. Ich sah, dass die Kellertür offen stand und das Licht brannte. Da dachte ich, es wäre eine günstige Gelegenheit, mir den Keller einmal anzusehen, wenn gerade jemand unten ist. Dann hörte ich das Stöhnen.“ „Kannst du dich nicht getäuscht haben, Dana?“, fragte Dylan. „In diesen Kellern gibt es alle möglichen Geräusche. Man hört das Meer unheimlich rauschen und donnern, und wenn der Wind um das Haus heult, kann es durchaus wie ein Stöhnen klingen.“ „Es hat ziemlich echt und menschlich geklungen“, sagte Dana. „Aber es kann ja niemand unten gewesen sein“, warf Shelley ein. „Nachdem Mum nicht zu Hause ist...“
Treppe gerade umdrehen wollen, um nach oben zu gehen, doch nun war sie durch den plötzlichen Lichtausfall so erschrocken, dass sie stolperte und auf den feuchten Steinstufen ausrutschte. Ein Geländer gab es nicht, an dem sie sich hätte festhalten können. Mit einem Aufschrei stürzte sie die Treppen hinunter. Bevor sie hart auf dem Boden aufschlug, prallte sie noch mit dem Kopf gegen eine Wand. Ein rasender Schmerz durchzuckte sie, dann verlor sie das Bewusstsein. * Langsam tauchte sie aus ihrer Bewusstlosigkeit wieder auf. Wie von weitem drang Stimmengemurmel zu ihr, das jetzt deutlicher wurde. Mühsam öffnete Dana die Augen. Ihr erster Blick fiel auf Dylan, der neben ihr in seinem Rollstuhl saß und sie besorgt ansah. Dann erkannte sie auch Shelley, Devin und Mrs. Brittle und merkte, dass sie im Salon auf dem Sofa lag. „Dana!“ Dylan rollte seinen Stuhl näher an sie heran und griff nach ihrer Hand. „Gott sei Dank, dass du endlich zu dir gekommen bist. Ich kann einfach nicht fassen, dass dir schon wieder etwas passiert ist.“ Auch die anderen waren erleichtert und redeten alle durcheinander, als sie sich nach Danas Befinden erkundigten. Etwas war mit ihrem Kopf. Dana fasste sich an die Stirn und merkte, dass ein feuchtes Tuch darauf lag. Der Kopf schmerzte jetzt höllisch. „Holen Sie ihr bitte eine Schmerztablette, Emma“, bat Dylan. „Sollen wir nicht lieber Dr. Henshire holen?“ fragte Shelley. „Mein Gott, ich finde es wirklich schrecklich, was dir bei uns hier alles passiert!“ Dana duzte sich seit einiger Zeit auch mit Shelley und Devin. Sie richtete sich vorsichtig auf und stützte sich auf ihren Ellbogen. „Nein, ich glaube, das ist nicht nötig“, meinte sie. Sie nahm das Tuch von ihrer Stirn und ertastete eine gewaltige Beule, dann 48
jeden Winkel ab, bis ich Sie fand. Ich holte Mr. Devin, und gemeinsam schafften wir Sie herauf.“ „Und Sie haben im Keller nichts weiter bemerkt?“, fragte Dana. Sie konnte immer noch nicht recht glauben, dass dieses leidvolle Stöhnen der Wind gewesen war. Emma schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe niemanden dort gesehen. Natürlich war ich nicht überall in den Kellern, aber ich habe auch kein Stöhnen gehört.“ „Du hast verdammtes Glück gehabt, Dana“, bemerkte Dylan. „Du hättest dir den Hals brechen können bei deinem Sturz. Aber Emma können wir die Schuld daran natürlich nicht geben.“ „Es tut mir wirklich sehr Leid“, versicherte die Haushälterin noch einmal. „Möchten Sie etwas zu essen haben? Ihre Portion vom Dinner ist noch übrig.“ Dana setzte sich auf und hielt sich dabei den schmerzenden Kopf. „Nein, danke. Im Moment habe ich wirklich keinen Appetit.“ Devin kam zurück und meldete, dass sich in den Kellerräumen kein Mensch mehr befunden hätte, was ja auch höchst unwahrscheinlich gewesen wäre. Wenig später ließ sich Dana von Shelley in ihr Zimmer hinaufbringen, damit sie sich im Bett ausstrecken konnte. Sie fühlte sich schrecklich elend, nicht nur, weil ihr alles wehtat. Ihr schauderte immer noch vor dem unheimlichen Keller und dem schrecklichen Stöhnen. Sie konnte einfach nicht glauben, dass es der Wind gewesen sein sollte. Und sie konnte auch wirklich nicht verstehen, dass sie Emmas Rufen nicht gehört hatte. Dabei hatte sie doch angespannt auf jedes Geräusch gelauscht, um herauszufinden, woher das Stöhnen gekommen war. Irgendwas stimmt an der Sache nicht, überlegte sie weiter, als sie im Bett lag und in die Dunkelheit starrte. Doch dann schmerzte ihr Kopf so sehr, dass sie nicht mehr in der Lage war, länger darüber nachzugrübeln. Erschöpft schlief sie ein.
„Und William Wells, euer Gärtner?“, fragte Dana. „Kommt er nicht manchmal in den Keller?“ Dylan sah zu Devin. „Sieh mal vorsichtshalber nach“, bat er seinen Schwager. Es war Devin anzusehen, dass er es nicht sonderlich gern tat und Danas Wahrnehmungen als Hirngespinste betrachtete. Mit einem Seufzer ging er aus dem Salon. „Wer hat mich überhaupt im Keller gefunden?“, wollte Dana dann wissen. „Ich weiß nur noch, dass das Licht ausging und ich die Treppe hinuntergefallen bin.“ „Ich habe Sie gefunden, Miss Hammond“, sagte Mrs. Brittle. Verlegen sah sie zur Seite. „Es tut mir wirklich sehr Leid, dass Sie durch meine Schuld gestürzt sind.“ „Durch Ihre Schuld?“ Dana schaute die Haushälterin verwundert an. „Wieso denn das?“ „Nun, ich sah, dass die Kellertür offen stand und Licht brannte. Wenn jemand unten war, dann konnten nur Sie es sein, dachte ich mir. Ich rief ein paar Mal nach Ihnen, bekam aber keine Antwort. Da glaubte ich, ich selbst hätte die Tür aus Versehen offen gelassen, als ich kurz zuvor unten war, um ein paar Gläser Eingewecktes zu holen. Da löschte ich das Licht und schloss die Tür wieder.“ „Sie brauchen sich keine Schuld daran zu geben“, sagte Dana freundlich. „Sie wussten ja nicht, dass ich unten war. Ihr Rufen habe ich nicht gehört, dazu war ich wohl zu weit weg. Aber wie ist Ihnen dann in den Sinn gekommen, dass ich doch dort unten war? Wie lange habe ich überhaupt dort gelegen? Wie spät ist es jetzt?“ „Gleich acht Uhr“, erwiderte Mrs. Brittle. „Als Sie nicht wie gewohnt zum Dinner erschienen, wunderte ich mich darüber, denn ich hatte Sie heimkommen sehen. Ich ging hinauf in Ihr Zimmer, um Sie zu holen, aber da waren Sie nicht. Mr. Dylan fand das merkwürdig und bat mich, Sie zu suchen. Als ich Sie nirgends fand, fiel mir plötzlich siedendheiß die offene Kellertür ein. Ich ging sofort hinunter und suchte
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stehen blieb und lauschte. Bei diesem Wind heute musste der ganze Keller von Stöhnen und Seufzen erfüllt sein, wenn Dylans Theorie stimmte. Doch außer dem fernen Rauschen des Meeres konnte sie beim besten Willen kein anderes Geräusch hören. Sie gelangte an die Treppe, auf der sie gestürzt war. Mit einem mulmigen Gefühl sah sie hinunter. Hatte es einen Sinn, dort hinabzusteigen? Ihr Vorhaben kam ihr jetzt etwas lächerlich vor. Sie überlegte, ob sie nicht lieber wieder hinaufgehen sollte, nachdem dieses merkwürdige Stöhnen heute offensichtlich ausblieb. Doch dann siegte die Neugierde und der Drang, den Keller einmal ganz zu erforschen, nachdem sie schon hier unten war. Sie war gerade auf halber Treppe, als sie erstarrte. Von unten her wehte ein lang gezogener Seufzer zu ihr herauf. Der Wind? Dana schlug das Herz bis zum Hals, als sie zögernd weiter nach unten stieg. Der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe warf gespenstische Schatten an die feuchten Wände. Konnte es tatsächlich der Wind sein? Sie musste es wohl glauben, auch wenn es ihr schwer fiel. Plötzlich glaubte sie, ganz in ihrer Nähe leise Schritte zu hören. Atemlos lauschte sie, doch jetzt blieb wieder alles still. Mein Gott, meine Nerven!, dachte sie. Vielleicht sollte ich doch besser wieder umkehren. Doch stattdessen trieb es sie weiter in den dunklen Gang hinein, der sich jetzt zu ihrer Linken auftat. Er war abschüssig und schlüpfrig und mündete in einen weiteren Gang. Kellerräume schien es hier unten keine mehr zu geben, nur an der einen Seite befand sich eine schwere Eisentür. Dana zuckte zusammen, als sie wieder das Stöhnen hörte, diesmal näher und deutlicher. Verdammt, dachte sie entnervt, was ist das? Wenn es der Wind wäre, müsste es doch anders klingen, fand sie. Nach einer Weile befand sie sich in einem wahren Labyrinth aus niederen, grob in den Felsen gehauenen Gängen. Sie fragte sich, wozu man sie einmal angelegt
Dana musste in den nächsten Tagen im Bett bleiben, weil sie sich doch eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen hatte, wie Doktor Henshire feststellte. Dylan hatte darauf bestanden, dass der Arzt geholt wurde, nachdem Dana am nächsten Tag nicht in der Lage gewesen war aufzustehen. Dr. Henshire hatte ihre Abschürfungen und Prellungen verarztet und ihr strikte Bettruhe verordnet. Dana erholte sich rasch. Bald war die Beule auf ihrer Stirn wieder verschwunden. Nur eine in allen Farben schillernde Stelle erinnerte noch daran. Ihr Erlebnis im Keller ging Dana jedoch nicht mehr aus dem Sinn. Für die anderen Hausbewohner schien der Fall klar zu liegen, doch Dana konnte sich einfach nicht damit abfinden. Ein Gefühl sagte ihr, dass da noch etwas anderes dahinter gesteckt hatte, auch wenn sie verstandesmäßig den anderen Recht geben musste. Aber klären lassen würde sich das Ganze wohl kaum mehr. Dana ließ die Sache keine Ruhe mehr. Als alle ihre Mittagsruhe hielten, beschloss sie, sich den Keller noch einmal gründlich anzusehen. Es ging ein noch heftigerer Wind als vor ein paar Tagen und sie wollte herausfinden, ob er in den Kellerräumen tatsächlich ein so schauriges Stöhnen hervorrufen konnte. Es war pure Neugierde, die sie hinuntertrieb, und sie war größer als ihre Furcht vor den unheimlichen weit verzweigten Kellerräumen. Doch diesmal holte sie sich dazu eine Taschenlampe aus ihrem Auto. Als sie das Garagentor wieder schloss, hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um und warf einen kurzen Blick über die graue Fassade des Schlosses. Hatte sich an einem der Fenster nicht eben die Gardine leicht bewegt? Dana machte sich keine weiteren Gedanken deswegen. Sie betrat das Haus und ging zielstrebig auf die Kellertür zu. Sie knipste das Licht an und ließ die Tür weit offen stehen, damit man im Notfall gleich sah, dass sie dort unten war. Dana ging denselben Weg wie beim letzten Mal, wobei sie immer wieder 50
Devin ausgerechnet dazukam. Als ich dich vor ein paar Tagen mit meinem Stöhnen in den Keller lockte, hat es auch nicht geklappt. Doch jetzt ist endgültig die Stunde der Rache gekommen. Niemand wird den Schuss hören, und ich werde dafür sorgen, dass dich niemand findet.“ „Mrs. Milford!“, schrie Dana in höchstem Entsetzen auf. „Nehmen Sie die Waffe weg! Mein Gott, Sie sind ja wahnsinnig!“ Halb besinnungslos vor Angst warf sie sich herum und jagte einen der Gänge entlang, wobei sie gellend um Hilfe schrie. Doch schon nach wenigen Schritten sah sie sich wieder Claire Milford und der Mündung ihrer Pistole gegenüber. Sie musste in dem Labyrinth von der anderen Seite her auf sie gelauert haben. Blindlings rannte Dana in den nächsten Gang. Sie war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie begriff nur, dass Claire Milford auf sie schießen wollte, aus welchem Grund auch immer. „Du hast David, meinen Sohn umgebracht!“, keuchte Claires Stimme hinter ihr. „Dafür wirst du büßen. Du hast ihn mit deinem Auto auf der Küstenstraße angefahren und ihn in den Abgrund stürzen lassen! In der Nacht zum dritten März. Aber das weißt du ja selbst.“ „Ich habe niemanden angefahren!“, schrie Dana verzweifelt, während sie weiterhastete. „Das muss alles ein schrecklicher Irrtum sein!“ Im gleichen Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Plötzlich erinnerte sie sich deutlich an die Nacht zum dritten März. Es war die Nacht gewesen, in der Ralph ihr Auto beschädigt hatte. Als Dana die Zusammenhänge begriff, fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe. Für einen Augenblick wurde es ihr schwarz vor Augen, doch sie musste weiter. Fort aus der Schussweite dieser völlig unzurechnungsfähigen Frau, die von dem Gedanken besessen war, die Mörderin ihres Sohnes vor sich zu haben. „Das war Ralph... Ralph!“ schrie sie. Ein irres Lachen antwortete ihr, dann krachte ein Schuss. Dana hörte, wie die Kugel an ihrem Ohr vorbeipfiff und neben
hatte. Doch mehr beschäftigte sie die Frage, von woher sie nun eigentlich gekommen war. Mein Gott, hoffentlich verlaufe ich mich hier nicht auch noch, dachte sie ängstlich. Auf gut Glück schlug sie den Rückweg ein. Sie hatte genug von den Kellergewölben und dem unheimlichen Stöhnen. Sie wollte nur noch nach oben und hoffte, den richtigen Weg zu finden. Plötzlich erstarrte sie vor Entsetzen, als eine schauerlich verzerrte Stimme durch das Gewölbe hallte. Dana kannte diese Stimme nur zu gut, und das Blut gefror ihr förmlich in den Adern. „Mörderin...“, hallte es schaurig von den Wänden. „Jetzt ist die Stunde der Rache gekommen. Jetzt wirst du büßen. Diesmal wird es nicht fehlschlagen...“ Vor Grauen fasste Dana sich an den Hals und wich zurück, bis sie das kalte Gestein in ihrem Rücken spürte. „Wer sind Sie?“, würgte sie hervor. „Warum verfolgen Sie mich? Ich habe niemandem etwas getan!“ Ein grauenvolles, irres Gelächter erfüllte die Gänge. Dana wollte sich herumwerfen und davonrennen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. „Ich habe dich nach Rhondda’s Moel gelockt, um dich zu töten, Dana Hammond! Hier und jetzt werde ich David rächen.“ Die Stimme war jetzt ganz nah. Dana erstickte der Entsetzensschrei im Hals, als sie Claire Milford unweit von sich stehen sah. Ihr Gesicht war im Schein einer Fackel teuflisch verzerrt, und in ihren Augen flackerte der Wahnsinn. Sie hielt eine Pistole auf Dana gerichtet. „Schon in der ersten Nacht wollte ich dich umbringen und dir ein Kissen auf dein unschuldiges Gesicht drücken, du elende Mörderin!“ Mit katzenhaften Bewegungen kam Claire Milford näher auf die völlig erstarrte Dana zu. „Doch du wachtest auf, noch bevor ich in deinem Zimmer war. Die Klippen bist du auch nicht hinuntergestürzt, weil du dich an diesem dummen Tor festklammern konntest und 51
ihr in das Mauerwerk schlug. Vor Schreck stolperte sie und verlor ihre Taschenlampe. Verzweifelt schrie sie wieder um Hilfe, während Claires eilige Schritte hinter ihr unbarmherzig näher kamen. Plötzlich glaubte sie, noch andere Schritte in dem Kellergewölbe zu hören. Schwere Schritte, die von mehreren Personen zu stammen schienen. Und rief da nicht auch jemand nach ihr und Claire? Doch das konnte sie sich auch nur eingebildet haben. Dana war schon selbst halb wahnsinnig vor Angst und Grauen. Aber dann sah sie einen Lichtschein vor sich und rannte mit letzter Kraft darauf zu. Ihre Lungen stachen, und ihre Beine trugen sie kaum mehr, doch Claires Schritte hinter ihr trieben sie weiter. Mit letzter Anstrengung schrie sie wieder um Hilfe. Dann sah sie plötzlich zwei Polizisten mit vorgehaltenen Waffen auf sich zustürmen. Dahinter erkannte sie schemenhaft das Gesicht von William Wells. Dana stolperte ihnen keuchend entgegen, dann verschwamm plötzlich alles vor ihren Augen. Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, krachte ein zweiter Schuss. * Als Dana wieder zu sich kam, lag sie abermals auf dem Sofa im Salon. Ihr war entsetzlich übel, und sie merkte, dass sie am ganzen Körper schweißnass war. „Ich glaube, sie kommt wieder zu sich“, hörte sie jemanden murmeln. Dana schlug die Augen auf und erkannte wie durch einen Schleier hindurch Mrs. Brittle. Auch Dylan saß in seinem Rollstuhl neben ihr wie vor ein paar Tagen, als sie im Keller gestürzt war. Vor ein paar Tagen? Mühsam versuchte sie, ihre Gedanken zu sammeln. Nein, sie lag immer noch auf dem Sofa, dachte sie dann verwirrt. Sie war in den Keller gegangen, und dann hatte sie dieses Stöhnen gehört. Dann war das Licht ausgegangen, und sie war auf der Treppe gestürzt, richtig. Man hatte sie gefunden und auf das Sofa im Salon gelegt. Da war sie dann wieder eingeschlafen und hatte
entsetzliche Alpträume gehabt, in denen sie Claire Milford mit einer Pistole durch die Gewölbe jagte und auf sie schoss. Dana stöhnte leise. „Dana.“ Das war Dylans Stimme gewesen. Sie hatte rau und besorgt geklungen. Dana versuchte, den Schleier zu durchdringen, der vor ihren Augen lag. Dann erblickte sie zu ihrem Schrecken zwei Polizisten und einen völlig verstörten William Wells. Plötzlich war die Erinnerung wieder da. Sie wusste, dass es kein Traum gewesen war, was sie in den Kellergewölben erlebt hatte. Mit einem erstickten Laut schlug sie die Hände vors Gesicht. Dylans Hand zitterte, als er ihr übers Haar strich. „Es ist vorbei, Dana“, sagte er mit gepresster Stimme. „Du bist in Sicherheit und brauchst keine Angst mehr zu haben.“ „Deine Mutter“, stieß Dana hervor, ohne aufzusehen. „Deine Mutter...“ Mit einem gequälten Schluchzen brach sie ab. „Sie steht noch völlig unter Schock“, hörte sie Emma Brittle sagen. „Sollen wir sie nicht doch lieber in ein Krankenhaus bringen, Doktor Henshire?“ Man hatte also den Arzt geholt, dachte Dana flüchtig. Nur langsam wich ihre Benommenheit. „Nicht ins Krankenhaus“, flüsterte sie. Sie wollte bei Dylan bleiben. Dana sah, wie einer der beiden Polizisten zu ihr ans Sofa trat. „Miss Hammond, sind Sie in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?“ „Sie ist noch nicht vernehmungsfähig, sehen Sie das denn nicht?“, sagte Emma Brittle streng. „Kommen Sie später wieder, wenn es ihr besser geht.“ „Es geht schon wieder einigermaßen“, erklärte Dana müde. „Was wollen Sie wissen?“ „Bitte fassen Sie sich kurz, meine Herren“, hörte sie Doktor Henshire gebieterisch sagen. „Miss Hammond hat in letzter Zeit einiges mitmachen müssen, und ich halte ihren Zustand für sehr kritisch.“ „Gut, nur eine Frage“, sagte der Polizist. „Wer ist Ralph, Miss Hammond?“ Dana biss sich auf die Lippen und drehte 52 A T C pxd
„Dylan“, sagte sie eindringlich, als er nicht antwortete. „Bitte sag mir, was passiert ist. Vermutlich weißt du mehr als ich.“ Dylan seufzte schwer. „Du musst dich erst etwas erholen, Dana. Doktor Henshire wäre es sicher nicht Recht, wenn ich jetzt schon mit dir darüber spreche.“ „Dylan, ich muss es wissen!“, sagte sie beschwörend. „Zuvor hätte ich keine ruhige Minute mehr. Bitte, Dylan. Ich habe ein Recht darauf. Ich kann einiges vertragen, glaub mir das.“ „Gut, vielleicht ist es tatsächlich besser“, sagte er schwer. „Ich wüsste übrigens nichts von der ganzen Geschichte, wenn William nicht ein Geständnis abgelegt hätte.“ „William?“, fragte Dana entgeistert. „Was hat der damit zu tun?“ „Ich werde dir alles erzählen, was ich weiß. William war es auch, der die Polizei geholt hat, weil er es nicht mehr länger verantworten konnte. Er hat den richtigen Entschluss im richtigen Moment gefasst. Ein paar Minuten später hätte es zu spät sein können. Alles begann in der Nacht, in der David tödlich verunglückte...“ „Mein Gott, es war Ralph“, stieß Dana hervor. „In der Nacht zum dritten März. Ich kann es noch immer nicht fassen.“ Sie erzählte, was sich damals zugetragen hatte. Dylan nickte. „Ja, das wissen wir nun. Als du hier ohnmächtig lagst, hast du wie im Delirium immer wieder gestammelt: ,Es war Ralph... Ralph hat mein Auto in dieser Nacht gefahren... er hat den Kotflügel beschädigt...’ Die Polizisten bekamen das ebenfalls mit, deshalb fragten sie nach ihm.“ „Deine Mutter sagte, sie hätte mich nach Rhondda’s Moel gelockt, um mich... um mich zu töten“, presste Dana hervor. „Sie wollte Davids Tod rächen. Aber wie ist sie überhaupt auf mich gekommen?“ Dylan strich ihr tröstend über das Haar, als sie aufschluchzte. „Ich fürchte, das Ganze regt dich doch zu sehr auf.“ Dana schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Bitte rede weiter.“ „William machte in dieser Nacht noch
den Kopf zur Seite. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Stimmte es denn überhaupt, was sie sich da zusammengereimt hatte? „Wir wissen lediglich, dass er Ihr Verlobter ist, Miss Hammond“, redete der Polizist eindringlich weiter. „Aber Sie dürfen ihn jetzt nicht schützen. So, wie der Fall liegt, hat er ein Menschenleben auf dem Gewissen und mit Ihrem Wagen Fahrerflucht begangen. Wenn Sie uns seinen Nachnamen sagen, ersparen Sie uns lediglich ein paar Nachforschungen. Herausfinden würden wir es ohnehin.“ „Ralph Talbot“, sagte Dana leise, ohne den Kopf zu drehen. Dann nannte sie auch noch seine Adresse. Sie würden es ja ohnehin herausfinden, hatte der Polizist gesagt... Sie schluchzte auf und barg das Gesicht in den Händen. Wie durch einen Nebel hindurch hörte sie die Stimme William Wells’, die zu ihr sprach. Er sagte, dass er das alles aus tiefstem Herzen bedauere und dass Claire für ihre Tat bereits gebüßt habe. Er selbst würde der Strafe für sein Schweigen ebenfalls nicht entgehen. Dana begriff das alles nicht. Erschöpft schloss sie die Augen und war wenig später wieder eingeschlafen. Als sie wieder aufwachte, lag sie immer noch im Salon auf dem Sofa. In der Ecke brannte die Stehlampe. Draußen war es dunkel geworden. Dylan saß neben ihr, doch sonst war niemand im Zimmer. Er hatte die Augen geschlossen, und ein gequälter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Dylan?“ Beim Klang ihrer Stimme öffnete er die Augen und griff nach ihren Händen. „Dana! Wie fühlst du dich jetzt?“ „Besser. Aber in meinem Kopf geht noch alles durcheinander. Wieso war die Polizei so schnell da? Und wieso fragten sie nach Ralph? Und was hatte William zum Schluss gemeint? Oder habe ich das phantasiert? Wo ist deine Mutter?“ Sie sah, wie es in Dylans Gesicht zuckte. Er presste ihre Hände so fest zusammen, dass sie fast aufgeschrien hätte. 53
Unfälle gehen vermutlich auf ihr Konto.“ „Ja, ich weiß“, sagte Dana leise. „Sie hat es mir selbst gesagt.“ Sie erzählte ausführlich von der Begegnung mit Claire in den Kellergewölben. „ Wo ist deine Mutter jetzt?“ fragte sie. Dylan antwortete nicht gleich. „Sie ist tot“, sagte er dann schwer. „Tot?“, wiederholte Dana fassungslos. „Mein Gott – was ist passiert?“ Dylan nahm einen großen Schluck aus seinem Whiskyglas und musste sich dann erst ein paar Mal räuspern, bevor ihm die Stimme wieder gehorchte. „Als sie sich plötzlich zwei Polizisten gegenübersah, richtete sie sich mit ihrer Waffe selbst“, erklärte er. Dana schwieg erschüttert. Auch Dylan sagte eine Weile nichts mehr, dann brachte er das Gespräch wieder auf William Wells. „William war meiner Mutter jahrelang treu ergeben“, fuhr er fort. „Er hätte praktisch alles für sie getan, was sie von ihm verlangt hätte. Sicher hast du bemerkt, dass er nicht gerade eine große Leuchte ist. Darum begriff er anfangs auch gar nicht recht, was meine Mutter im Sinn hatte. Erst allmählich erfasste er das Ausmaß ihrer Rachsucht. Da lief er zur Polizei.“ Wieder schwiegen sie eine Weile. Mrs. Brittle kam herein und fragte, ob sie etwas brauchten. Dana und Dylan verneinten. Mrs. Brittle legte Holz nach. Ihr Gesicht wirkte eingefallen, und ihre Augen waren gerötet. „Von der Polizei ist ein Anruf gekommen“, sagte sie. „Ihr Verlobter hat mittlerweile gestanden, in der Nacht zum dritten März auf unserer Küstenstraße einen jungen Fahrradfahrer angefahren zu haben, der daraufhin in den Abgrund stürzte. Mr. Talbot hat sich noch um ihn gekümmert, aber nur noch Davids Tod feststellen können. Da er etwas getrunken hatte und dem Jungen ohnehin nicht mehr zu helfen war, hat er Fahrerflucht begangen.“ Dana nickte nur. Sie hatte kein Mitgefühl für Ralph, nur Abscheu und Verachtung. Mrs. Brittle ging wieder hinaus. Plötzlich musste Dana an Shelley denken.
mit Prince einen Spaziergang auf der Küstenstraße. Dabei fiel ihm ein Auto auf, das plötzlich mit kreischenden Reifen startete und schlingernd an ihm vorbeifuhr. Aus irgendeiner Eingebung heraus merkte er sich das Kennzeichen. Wenig später stieß er durch Prince auf David. Er lag zwischen den Felsen - tot.“ Dana brachte kein Wort heraus, weil ihr ein Klumpen im Hals saß. Als Dylan sich wieder gefasst hatte, sprach er weiter. „William überbrachte zuerst meiner Mutter die schreckliche Nachricht und erzählte ihr auch von dem Auto, dessen Nummer er sich gemerkt hatte. Claire verbot ihm, der Polizei etwas davon zu sagen. Für sie stand fest, dass der Fahrer dieses Wagens David auf seinem Fahrrad angefahren hatte, so dass er in den Abgrund stürzte. Sie wollte keine Anzeige erstatten, sondern Davids Tod auf ihre Weise rächen. Sie wollte nicht, dass der Täter lediglich eine Gefängnisstrafe bekam oder gar nur eine Geldstrafe.“ Dana überlief ein Schauer. „Mein Gott, und sie ist auch die anonyme Anruferin gewesen. Im Keller unten sagte sie die selben Worte zu mir... Dana erzählte ihm von den Anrufen und auch von dem Mann im Trenchcoat. Dylan meinte dazu, dass es vermutlich ein Detektiv gewesen war, den seine Mutter auf Dana angesetzt hatte, nachdem sie das Kennzeichen ihres Autos wusste. „Und dann hat sie mich unter dem Vorwand, eine Pflegerin für dich zu brauchen, nach Rhondda’s Moel gelockt, wie sie mir selbst unten im Keller sagte“, fügte Dana hinzu. „Ich verstehe nur nicht, wie sie so weit gehen konnte, und dass William auch noch mitgemacht hat.“ „Meine Mutter war schon lange geistig krank“, sagte Dylan düster. „Es trat immer deutlicher zutage, und ich glaubte, es wäre das Beste, sie in ein Sanatorium zu geben. Nur Shelley wollte es nicht. Eine Zeit lang schien auch eine Besserung eingetreten zu sein, doch nach Davids Tod verwirrte sich ihr Geist völlig. Sie wusste offenbar nicht mehr, was sie tat, und war nur noch von Rachegedanken besessen. Deine beiden 54
Lippen, und in seinen Augen las Dana eine ganze Welt von Liebe. „Nein, eine Krankenschwester werde ich nicht mehr brauchen - aber eine Frau, mein Darling. Bist du bereit, auch diese Stellung anzunehmen?“ Trotz des Schrecklichen, das passiert war, durchströmte Dana ein wundervolles Glücksgefühl. „Ja, ja, ja!“, rief sie mit einem frohen Auflachen. „Es wird die schönste Stelle sein, die ich jemals gehabt habe. Ach Dylan, ich bin ja so glücklich! Glücklicher, als ich es jemals beschreiben kann!“ Ihre Lippen fanden sich zu einem Kuss, der voller Verlangen war und mehr ausdrückte, als Worte es vermochten...
„Shelley weiß noch gar nichts davon“, sagte sie niedergedrückt. „Es wird für sie ein schwerer Schlag sein.“ „Sie und Devin kommen erst spät zurück, weil sie noch ausgehen wollten“, sagte Dylan schwer. „Ich hoffe nur, dass sie es einigermaßen mit Fassung trägt.“ Schweigend tranken sie beide ihren Whisky. „Ich nehme an, dass du unter diesen Umständen nicht länger auf Rhondda’s Moel bleiben willst?“, bemerkte Dylan dann. Dana sah ihn offen an. „Ich bin nur deinetwegen hier geblieben, Dylan. Und ich werde es auch weiterhin tun.“ Sie zögerte, bevor sie weitersprach. „Nur wirst du nicht mehr lange eine Krankenschwester brauchen.“ Dylan senkte seinen Kopf zu ihr herunter. Ein kleines Lächeln spielte um seine
ENDE
Im Juli erscheint Romantic Mysteries Nummer 3: „Casino der verlorenen Seelen“ von Leslie Garber
Romantic Mysteries erscheint bei vph Verlag & Vertrieb Peter Hopf, Goethestr. 7, D32469 Petershagen. © Copyright aller Beiträge 2003 bei vph und den jeweiligen Autoren. Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach schriftlicher Genehmigung durch den Verlag gestattet. Cover: Thomas Knip Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
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