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Seewölfe 157 1
Roy Palmer 1.
Der Sturmwind, auflandig und von staubfeinem Nieselregen begleitet, grub sich in Pinho Brancates Bartgeflecht und zerrte daran. Er schien diesem rauschenden Vollbart und dem ganzen wuchtigen Mann mit den breiten Schultern den Kampf angesagt zu haben. Der aber ließ sich nicht umwerfen, nicht einmal aus dem Gleichgewicht bringen. Wie eine aus“ dem Gestein der wilden Küstenlandschaft gehauene Statue stand Pinho da, breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen. Unbewegt war seine Miene, und er schien sich der Anwesenheit seiner Frau Emilia nicht bewußt zu sein. Sie hatte neben ihm auf den schroffen Klippfelsen verharrt. Der Wind heulte und zerzauste ihre schwarzen Haare. Schweigend blickten sie eine Weile auf den schäumenden Atlantik. Das Bild der aufsteigenden und gischtend gegen die Felsen anspringenden Wögen drohte jede Minute in der herabsinkenden Dunkelheit zu verschwinden. Jenen schwärzlichen Widerstand draußen im Wasser, nur eine Viertelmeile von der Küste entfernt, der für die Brancates von so großer Bedeutung war, konnte man bereits nicht mehr erkennen. Ohne den Kopf zu wenden sagte Pinho Brancate: „Wenn der Wind in dieser Nacht auch nur ein einziges Schiff weit genug auf Legerwall drückt, gibt es endlich wieder Arbeit für uns.“ „Es wird höchste Zeit“, entgegnete Emilia, eine verblühte herbe Schönheit aus der Serra da Guardunha, mit Würde. „Unsere Vorräte sind fast aufgebraucht, und in dem ausgehöhlten Ziegelstein, den wir als Versteck für unsere bescheidenen Besitztümer benutzen, befindet sich kein einziger Piaster mehr.“ „Das Riff läßt uns nicht im Stich, Emilia.“ „Die hungrigen Mägen wollen zu essen haben.“ „Laß mich nur machen“, erwiderte der große, bärenstarke Mann. „Mich und meine beiden Söhne.“
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„Gott schicke uns ein Schiff“, äußerte Emilia ihren frommsten Wunsch. „Dessen Mannschaft wir retten können“, murmelte Pinho, und seine Frau fügte sofort hinzu: „Dessen Ladung wir bergen können.“ Der Sturmwind dauerte an, nahm an Stärke zu und beugte die Wipfel der Pinien und Zypressen, die weiter landeinwärts standen. Pinho Brancate schritt aufrecht von den Klippfelsen zu dem eine halbe Meile entfernt stehenden Steinhaus zurück. Seine Frau hielt sich an seinem Arm fest, um nicht doch noch umgerissen zu werden. Pinho sah zu dem einsamen Licht, das nun in der Dunkelheit erschien und ihnen den Weg nach Hause wies. Dort, in dem roh aus Granitgestein und primitiven Schindeln zusammengefügten Haus, erwartete sie der Rest der Familie. Charutao, mit seinen vierundzwanzig Jahren der älteste Sohn Pinhos und Emilias. Ipora, der nur ein Jahr jünger war als sein Bruder. Die Mädchen Josea, zwanzig Jahre, Segura, siebzehn, sowie die dreizehnjährige Franca. Schließlich noch die Abuela, die Großmutter, wie alle sie nannten - Pinhos Mutter, von der keiner mehr genau wußte, wie alt sie wirklich war. Pinho dachte an seine große Familie und sagte: „Die ganze Nacht über werden wir auf dem Posten sein, Emilia.“ „Ja, dies ist eine zu wichtige Nacht für uns. Keiner von uns kann es sich 'erlauben, die Zeit mit Schlafen zu vergeuden.“ „Auch die Mädchen erhalten ihre Aufgabe.“ „Vergiß nicht die kleine Bucht im Süden, Pinho.“ „Segura und Franca sollen dort Wache halten“, beschloß Pinho Brancate, der bei sich zu Hause uneingeschränkte Befehlsgewalt genoß wie ein Kapitän an Bord eines Segelschiffes. „Falls irgendein Fahrzeug in die Bucht verholt, melden sie es uns - und wir sehen dann zu, daß wir das Beste für uns herausholen.“ Sie sahen sich an. Pinho schnitt eine Grimasse, zog dann die ziemlich füllige Frau mit den kräftigen Hüften zu sich
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heran und hob sie ein Stück hoch. Emilia strampelte mit den Beinen. Er ließ sie wieder zu Boden, sie lachten beide und legten schneller schreitend das letzte Stück Weg zurück, das sie noch von dem Haus trennte. Jeder Fremde mußte bei seiner Ankunft vor dem Haus bestätigen, daß es weitaus größer war, als man von weitem den Eindruck hatte. Es konnte noch viel mehr Menschen ein Dach über dem Kopf bieten als denen, die bereits darin wohnten. Und so unterhielt Pinho Brancate sein Heim als eine Art Herberge in einem Landstrich einer der ungastlichsten Gegenden Portugals, die nur selten von einem Reiter oder Wanderer besucht wurde. Hätte Pinhos die Seinen in dieser Umwelt tatsächlich unterhalten sollen, so wäre die ganze Familie inzwischen längst eines bitteren Hungertodes gestorben. Die niedrige Eingangstür knarrte leicht in ihren eisernen Angeln, als sie von innen geöffnet wurde. Die Gestalt eines schlanken, von einer durchaus nicht geizigen Natur reif ausgestatteten Mädchens erschien vor dem Licht, das im Inneren des Hauses flackerte. „Josea!“ rief Pinho Brancate. „Wir sind wieder da!“ „Ist es schon soweit?“ fragte das Mädchen. „Nein, aber mit ein wenig Glück kriegen wir heute nacht noch alle Hände voll zu tun“, sagte Emilia zuversichtlich. * Nordwärts segelte der stattliche Fünferverband portugiesischer und spanischer Schiffe, der an diesem Abend die Felsenküste passierte. Er bestand aus einer Viermast-Galeone, zwei Galeonen mit je drei Masten und zwei lateinergetakelten Karavellen, die jeweils zwei Masten führten: „Candia“, „Sao Sirio“, „Sao Joao“, „Extremadura“ und „Santa Angela“. Nordwärts segelte die „Candia“ schon seit geraumer Zeit, denn sie hatte in der Walfischbucht im fernen Südafrika den Kommandanten Lucio do Velho und
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dessen Bootsmann Ignazio, der aus Porto gebürtig war, aufgelesen. Kurs nach Lissabon hatte die stattliche Viermast-Galeone seither eingeschlagen. Do Velho hatte das Schiff, das man ihm in Manila übergeben hatte, ohne Rücksicht auf Verluste vorangetrieben und keine zeitraubenden Reisepausen eingelegt. Das Ergebnis war gewesen, daß ein Teil der Mannschaft vom Skorbut dahingerafft worden war. Do Velho war der Ansicht, daß ein solches Opfer selbstverständlich war - falls es nicht auf seine ganz persönlichen Kosten ging. Er selbst war ja dem Tod mit knapper Not entronnen, ebenso Ignazio -beide waren dem Teufel sozusagen von der Schippe gesprungen. Es war ein regelrechtes Wunder, daß' sie ausgerechnet im Land der Buschmänner doch noch mit heiler Haut davongekommen waren. Entsprechend hatten sich die hochdekorierten Almirantes und Comodoros ausgedrückt, denen Lucio do Velho in Lissabon seinen Bericht erstattet hatte. Do Velho war nun ein „Milagrolado“, ein vom Wunder Heimgesuchter. Ignazio wurde dieser Ruhm nicht zuteil, denn do Velho hatte rechtzeitig darauf hingewiesen, daß der etwas einfältige Mann natürlich nur noch am Leben war, weil er, do Velho, sich für ihn eingesetzt hatte. Die Realität sah etwas anders aus. Aber die lag weit hinter ihnen im tiefsten Afrika. Die hohe Admiralität konnte do Velho nachempfinden, was er durchgestanden hatte, als er diesen verfluchten Engländer Philip Hasard Killigrew gehetzt hatte. Anschaulich hatte do Velho, der ein geborener Mime war, dargestellt, daß er den Seewolf schon in der Bengkalis-Bucht hätte stellen und vernichten können - wenn nicht ein unvorhersehbarer Fall „höherer Gewalt“ eingetreten wäre. Und so war es dann immer wieder ein böser Zufall, ein peinliches Zusammentreffen von Unglück und Naturereignissen gewesen, das Lucio do Velho den Triumph vorenthalten hatte.
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Rügen konnte und wollte man diesen Kommandanten in Lissabon nicht, danach stand niemand der Sinn. Zu frisch war die Niederlage, die das spanischportugiesische Königreich im allgemeinen und die Armada im besonderen erlitten hatte -der Überfall Admiral Drakes auf Cadiz. Nach einem solchen Schlag der Engländer konnte nicht einmal König Philipp II. persönlich einem do Velho vorwerfen, er sei ein Versager. Seine Allerkatholischste Majestät konnte im Augenblick nur gereizt in den dunklen Sälen des Escorial auf und ab wandern und auf Vergeltung sinnen. Wie aber sollte er sich rächen, wenn seine glorreiche und unüberwindliche Armada durch Drakes Raid in Cadiz so empfindlich getroffen worden war? Erschüttert hatte Lucio do Velho in Lissabon den Bericht einiger Augenzeugen vernommen. Laut zu wettern hatte er begonnen, als er gehört hatte, daß auch ein Schiff an Drakes Seite gewesen sei, das er anhand der Beschreibungen nur allzu gut wiedererkannte: die „Isabella VIII.“. Zornig hatte do Velho seinen Vorgesetzten Aufschluß darüber gegeben, wer der Kapitän und die Mannschaft dieses „Teufelsschiffes“ war und daß es auf der Welt nur eine große, schnittige Galeone mit so hohen Masten und einer so tolldreisten Crew gäbe. Nichts hatte do Velho halten können. Er hatte beantragt, daß alle verfügbaren Kriegsschiffe im Hafen von Lissabon seinem Kommando unterstellt wurden und er Jagd auf den englischen Bastard, den Todfeind, machen durfte - und dies hatte man ihm auch bewilligt. Mehr als die portugiesischen Galeonen „Sao Sirio“ und „Sao Joao“ sowie die spanischen Karavellen „Extremadura“ und „Santa Angela“ hatte man ihm an Schiffsmaterial für die Zusammenstellung eines Verbandes jedoch nicht bewilligen wollen, da der Hafen und die Stadt Lissabon nicht ungeschützt bleiben durften. Verbissen führte do Velho seinen neuen Verband nach Norden.
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Juni war es geworden, aber Lucio do Velho hoffte, wenigstens den Seewolf auf der Heimreise nach England noch zu stellen und vor die Kanonen fordern zu können. Alle Ermahnungen der Almirantes und der Comodoros, der Feind sei zu stark, hatten do Velho nicht von seinem Vorhaben abhalten können. „Der Seewolf ist ein Einzelgänger“, sagte do Velho an diesem Abend, bevor ihn die bedenkliche Entwicklung des Wetters an Oberdeck rief. „Wenn man den Schilderungen recht geben darf, die wir in Lissabon vernommen haben, hat Killigrew zwar Seite an Seite mit Francis Drake, dieser Kanaille, gefochten. Aber wie ich Killigrew kenne, hat er sich inzwischen wieder von Drake getrennt und ist allein unterwegs.“ Über das Pult in der schwankenden Kapitänskammer der „Candia“ hinweg blickte er Ignazio an, den er zu einer kurzen Lagebesprechung herbeigeordert hatte. „Glaubst du etwa, ich wüßte nicht, wie dieser tollwütige Lobo del Mar sich verhält?“ „Senor Comandante“, beeilte sich Ignazio zu sagen. „Keiner kann ihn besser einschätzen als Sie.“ „Ich will ihn einholen.“ „Sie schaffen es, Comandante!“ „Ignazio, das sagst du nur, weil du keine eigene Meinung hast“, sagte der eitle Portugiese verächtlich. „Du läßt den Dingen ihren Lauf und harrst der Dinge, die da kommen -im Guten wie im Argen. Was für ein hirnloser Einfaltspinsel du doch bist. Was wärest du ohne mich?“ „Nichts, Senor Comandante“, erwiderte Ignazio pflichtschuldigst, während er sich in der immer bedrohlicher schwankenden Kammer an einer der Schapps festhielt. „Ohne mich wärst du verloren.“ „Aber immerhin habe ich es zum Bootsmann gebracht!“ rief Ignazio gegen das Sturmbrausen an, das von außen hereindrang. „Weil ich dich dazu ernannt habe!' „Si, Senor!“ „Allein bist du eine Null, Ignazio und vergiß nicht, daß ich dich immer noch
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wieder degradieren kann!“ Do Velho brüllte es fast, er redete sich in Eifer und Zorn. Er brauchte einen Ausgleich für sein gestörtes seelisches Gleichgewicht, und immer wieder mußte der bullige Mann aus Porto für de Velho als Prügelknabe herhalten. „Aber Senor“, sagte Ignazio. „Wenn es erforderlich ist, kann ich mächtig dreinschlagen und schwer aufräumen. Ich will mich bewähren, ich warte nur auf die Gelegenheit dazu.“ Do Velho ging die untertänige Verhaltensweise des Bootsmanns auf die Nerven, obwohl er gleichzeitig genau wußte, daß es seine Schuld war, wenn Ignazio sich derart unterwürfig benahm. Mühsam beherrscht erwiderte do Velho: „An Bord der ‚Isabella' hättest du richtig dreinschlagen sollen. Da hättest du dich bewähren können —als die ,Santa Monica` uns angriff und die Seewölfe die Chance nutzten.“ Ignazio schwieg. Senor Comandante, warum schmieren Sie mir das immer wieder aufs Brot, hätte er gern gesagt, aber er hütete sich, es auszusprechen, denn Lucio do Velho hätte nicht gezögert, ihn für eine so aggressive Frage zu bestrafen. Der Westsüdwest-Wind raste pfeifend gegen die „Candia“ und die anderen Schiffe des Verbandes an. Weit krängte die Viermast-Galeone nach Steuerbord. In do Velhos Kammer purzelten zusammengerollte Karten und einige andere Utensilien vom Pult. Ignazio taumelte durch den schräggestellten Raum, dessen Fußboden ein stark abschüssiger Hang geworden war. Er fiel, rappelte sich wieder auf und versuchte, do Velhos Karten und Gerätschaften aufzulesen. Doch die Tücke des Objekts siegte. Immer wenn der Bootsmann zugreifen wollte, kollerten die Gegenstände ein Stück weiter. Ignazio kroch auf allen vieren durch die Kapitänskammer. Do Velhos barsche Stimme stoppte ihn. „Hör auf! Wir haben Wichtigeres zu tun. Unsere Anwesenheit an Oberdeck ist nötig, wir müssen zusehen, daß wir Sturmsegel
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setzen, Manntaue spannen, die Luken und Schotten verschalken, Kurs halten und nicht zu nah unter Land geraten. Steh gefälligst auf und begleite mich, Ignazio!“ Der Mann aus Porto hielt inne und schaute auf. Ihre Blicke trafen sich. „Sieh mich nicht so dämlich an!“ rief Lucio do Velho aufgebracht. „Ich weiß, was du sagen willst — daß es besser wäre, bei dieser Windstärke und diesem Seegang eine geschützte Bucht anzulaufen und das Abklingen des Sturmes abzuwarten. Aber daraus wird nichts! Wir reiten den Sturm ab, koste es, was es wolle!“ Ignazio erhob sich und folgte seinem Comandante wankenden Ganges durchs Achterkastell der „Candia“ zum nächsten Schott. Er wußte, daß es keinen Zweck hatte, irgendwelche Einwände zu erheben. Do Velho ließ sich nicht beirren oder von seinen Plänen abbringen. Nordwärts führte sein Weg, immer weiter nordwärts, und er ließ sich .nicht durch einen läppischen Sturm aufhalten. Zu groß war sein Haß auf Philip Hasard Killigrew, zu groß sein Verlangen, Spaniens Todfeind endlich zur Strecke zu bringen. Er erreichte das Schott zur Kuhl und öffnete den Auslaß. Regen peitschte Lucio do Velho ins Gesicht. Er hielt sich mit beiden Händen fest und brüllte seine Befehle. Zu diesem Zeitpunkt trieb der Verband bereits auseinander. Wenig später verloren sowohl die zwei Dreimast-Galeonen als auch die beiden Zweimast-Karavellen jeglichen Kontakt zu ihrem Flaggschiff „Candia“. Und auch untereinander wurden sie weit auseinandergerissen. Jeder war seinem Schicksal ausgeliefert. * Das, was man in Regen und hereinbrechender Dunkelheit noch von der Felsenküste erkennen konnte, schien vor dem Bug der „Isabella VIII.“ wild auf und ab zu tanzen. Für einen Moment gab Hasard sich der Illusion hin, die
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Dimensionen und Elemente wären durcheinandergeraten und die Rollen anders verteilt. Die „Isabella“ lag als ruhender Pol unbewegt in der See, während die Wogen ganz Iberien hochhoben und durchschüttelten. „Schön wär's“, sagte der Seewolf. „Aber leider doch zu schön, um wahr zu sein.“ Er stand auf der Back seines Schiffes und hielt sich an den Fockwanten fest. Der Sturmwind drückte die Galeone genau auf die Küste zu. Nur noch das Großsegel war gesetzt, aber auch das schien zuviel zu sein. Smoky, der Decksälteste, war neben seinen Kapitän getreten. Auch er klammerte sich an den Wanten fest, kniff die Augen zusammen und fragte: „Was hast du gesagt? Ist was nicht in Ordnung?“ „Ich habe nur laut gedacht, Smoky. Es wäre großartig, wenn man Spanien und Portugal zusammen aus den Angeln heben könnte.“ „Aye, Sir, aber ohne auf Grund zu laufen!“ „Würdest du lieber durch den Sturm segeln?“ „Das nicht. Bill hat die kleine Bucht in der Dämmerung gerade noch erkannt - und sie kommt uns wie gerufen“, antwortete Smoky. „Nur wär's mir lieber gewesen, wir hätten die Wassertiefe ausloten können!“ „Du kannst es ja mal versuchen“, schrie Old Donegal Daniel O'Flynn, der sich an sie herangearbeitet hatte und so verstehen konnte, was sie sprachen. „Sobald du dich über die Galion hinausbeugst, steigt die Seehexe aus den Fluten auf und reißt dir was ab, Smoky!“ „Mann - rutsch mir doch den Buckel runter“, knurrte Smoky. Hasard drehte sich zu den beiden um. „Wir haben auflaufendes Wasser, und daher hoffe ich, daß wir mit Riffs und anderen Untiefen keine Scherereien kriegen. Möge der Herrgott unser Stoßgebet erhören! Im Moment macht mir nur eines Sorgen. Wir haben zuviel Fahrt drauf.“ Er blickte nach achtern und schrie: „Ed, he, Ed! Profos!“ „Sir?“ dröhnte das mächtige Organ Edwin Carberrys durch das Sturmtoben. „Hier bin ich!“
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„Das Großsegel wegnehmen, Ed!“ „Geit auf das Großsegel!“ brüllte der Profos. „Los, weg mit dem Fetzen! Sitzt ihr auf euren Ohren, ihr triefäugigen Kakerlaken? Oder habt ihr Bohnen darin stecken? Hopp, hopp, willig, willig, schneller, schneller, ihr Satansbraten, oder ich bringe euch auf Trab. He, Matt Davies, hast du Schlick auf den Augen? Hölle, der Himmelhund sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht, dabei baumelt das Fall genau vor seinen Schielaugen herum. Kutscher, du fällst noch über deine eigenen Füße, wenn du nicht aufpaßt, wohin du trittst! He, Sir John, du Geier, wenn ich dich zu fassen kriege! Wer hat dir die Erlaubnis gegeben, hier rumzuflattern?“ Es war die altbekannte Musik, aber eigentlich waren die Männer der „Isabella“ recht froh darüber, ihren Profos mitten im Sturm so angeregt brüllen und fluchen zu hören. Wenn Carberry nämlich nicht mehr lärmte, war die Lage wirklich ernst, oder, anders ausgedrückt: Solange er brüllte, waren er und die Crew gesund, und längst nicht alle Zeichen standen auf Sturm. So herrschte bei Hasards Männern Zuversicht. Die „Isabella“ war eine „mit Schätzen bis zur Halskrause vollgestopfte Lady“, wie Ferris Tucker zu sagen pflegte, sie hatte beachtlichen Tiefgang, aber trotzdem, man würde es schon schaffen, die „verdammte Bucht“ anzulaufen. Carberry stieß einen beruhigten, grunzenden Laut aus, als das Großsegel im Gei hing. Der Wind aus Westsüdwest bauschte jetzt nur noch die Blinde unter dem Bugspriet. Die „Isabella“ lief allmählich langsamer, hatte aber immer noch genügend Geschwindigkeit, um bis in die Bucht zu laufen, die man jetzt mehr ahnen als sehen konnte. Carberrys linke Hand löste sich vom Manntau und schoß hoch. Sie unterbrach Sir Johns Flugbahn. Der karmesinrote Aracanga krächzte und kreischte erbost, aber alles Geplärr und Flügelschlagen nutzte ihm nichts. Carberry war unerbittlich. Er stopfte sich den Papagei ins Wams und sagte: „So, und da bleibst du jetzt, bis du keinen anderslautenden Befehl
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erhältst, du Nebelkrähe. In dem Scheißwind könnten wir dich leicht verlieren, und was tun wir dann, he?“ Darauf wußte Sir John selbstverständlich keine Antwort zu geben. Er lugte aus des Profos' Wamsausschnitt hervor, hütete sich aber, noch weiter hervorzukrabbeln, weil er wußte, daß der Profos dann wirklich rabiat wurde. Carberry hielt nach allen Seiten Ausschau. Sollten sich Philip und Hasard, diese Lümmel, erdreisten, ihre naseweisen Gesichter aus einer Luke oder einem Schott hervorzustrecken, würde er ihnen gehörig den Marsch blasen. Aber die Söhne des Seewolfes zeigten sich nicht. Sie blieben unter Deck — im Mannschaftslogis, das bei Sturm und Gefecht zu ihrem Refugium geworden war. Kinder vergaßen schnell, aber die Erinnerung an das, was nördlich von Tanger in der Straße von Gibraltar geschehen war, schien unauslöschlich in den beiden Siebenjährigen zu sein. Einer von ihnen war über Bord gegangen, und der Seewolf hatte ihn nur knapp vor dem Ertrinken retten können. Einer der beiden, aber, Teufel auch, welcher war es gewesen? Philip oder Hasard? Carberry stieß einen ellenlangen Fluch aus. Hol's der Henker, er hatte es immer noch nicht gelernt, die Zwillinge auseinanderzuhalten. Sie ähnelten sich wie ein Ei dem anderen. Und man konnte schließlich nicht ständig nach den Haifisch-Symbolen suchen, die Keymis, dieser Schurke, seinerzeit auf ihre Schulterblätter hatte tätowieren lassen. Der Profos lenkte seine Gedanken in andere Bahnen. Er legte den Kopf in den Nacken und spähte zum Großmars hinauf. „Bill!“ brüllte er. „Bursche, bist du noch da, oder hat es dich von deinem Posten gerissen?“ „Alles in Ordnung, Mister Carberry“, antwortete Bill, der Schiffsjunge und Ausguck der „Isabella“, von seinem luftigen Standort. „Kannst du die Bucht noch sehen?“ „Nein, Sir.“
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„So ein Mist“, sagte der Profos. „Dann müssen wir uns jetzt doch in die Bucht hineintasten wie blinde Seehunde.“ „Ja“, sagte Matt Davies, der sich gerade in seiner Nähe befand. „Nach dem Leitsatz: Wenn es bummst, noch einen Yard.“ „Der Teufel soll dich und deine blöden Sprüche holen, Davies!“ rief Carberry in den Sturm. „Das mußt du auch gerade sagen, Profos“, erwiderte Matt. Er sagte es aber nur halblaut, so daß Carberry ihn nicht verstehen konnte. Das war gut so, denn Ed Carberry als der Zuchtmeister und Hüter der Borddisziplin konnte fuchsteufelswild werden, wenn man ihm Kontra gab. Ben Brighton hatte sich zu Hasard, Smoky und Old O'Flynn auf die Back gesellt. Angestrengt blickten die Männer voraus, und immer wieder gab der Seewolf Anweisungen nach achtern. Rudergänger Pete Ballie tat sein Mögliches, um die „Isabella“ sicher in die Felsenbucht zu dirigieren. Der Schweiß der Anstrengung lief ihm übers Gesicht. In diesen Minuten hing alles von ihm ab. Endlich rauschte das Schiff durch die Einfahrt der Bucht, die sich nun doch als breiter erwies, als die zweiundzwanzig Männer anfänglich angenommen hatten. Mit dem letzten achterlichen Schub, den die „Isabella“ durch den Sturmwind erhielt, drehte Pete Ballie bei, ohne Gefahr zu laufen, daß das Schiff querschlug – bis auf die Blinde hingen ja sämtliche Segel im Gei. Hasards Befehle tönten durch die Dunkelheit. Der Anker klatschte ins Wasser und sank tief, bis er Grund fand. „Hurra!“ rief Bill aus dem Großmars. „Wir haben es geschafft!“ Hasard lächelte seiner Crew zu. Er winkte den Kutscher heran und sagte: „Ich spendiere eine Ration Whisky für die gesamte Mannschaft. Laß die Kerle aber nicht zu tief in die Flasche gucken. Wir befinden uns immerhin in feindlichem Gebiet und müssen heute nacht Posten aufstellen, die in der Lage sind, anrückende Dons rechtzeitig zu erkennen.“ „Aye, Sir.“
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„Ich rechne bei diesem Wetter mit keinem Angriff von Land her“, sagte der Seewolf. „Aber man muß trotzdem immer auf alles gefaßt sein.“ Er ahnte nicht, wie knapp sie dem Unheil schon entronnen waren. Keine Meile weiter nördlich erstreckte sich das gefährliche Riff, das schon manchem Schiff, das sich zu dicht unter Land gewagt hatte, zum Verhängnis geworden war. Auf die scharfkantigen Unterwasserfelsen zu laufen, wäre auf jeden Fall ein größeres Verhängnis gewesen als eine Auseinandersetzung mit den Spaniern oder Portugiesen. 2. Alvaro Monforte, der Kapitän der portugiesischen Kriegsgaleone „Sao Sirio“, hatte allen Grund, auf die Seefahrt, auf den Sturm und auf Lucio do Velho zu fluchen und den Auftrag, der ihn und seine Männer hierher geführt hatte, bis in die tiefsten Schlünde der Hölle zu verdammen. Das Flaggschiff „Candia“ war seit einer halben Stunde nicht mehr zu sehen. Und die Galeone „Sao Joao“, die Karavellen „Extremadura“ und „Santa Angela“? Auch über ihr Schicksal war Monforte nichts bekannt, denn er hatte auch sie längst aus den Augen verloren. Unaufhaltsam strebte die „Sao Sirio“ der portugiesischen Küste entgegen. Monforte hatte natürlich Sturmsegel setzen lassen, aber es gelang ihm nicht, den Nordkurs zu halten. Zu heftig orgelte der WestsüdwestWind. Die „Sao Sirio“ taumelte als Nachzügler des Verbandes in den Wogen des Atlantiks allein, den Naturgewalten ausgeliefert. Monforte wünschte dem Kommandanten Lucio do Velho die Pest an den Hals, denn seiner Meinung nach verhielt sich der Mann geradezu unmenschlich. Rechtzeitig beim Schlechterwerden des Wetters hätte der Comandante sich darum bemühen müssen, einen geschützten Platz an der Küste anzulaufen. Es war verantwortungslos, einen ganzen Verband dem Sturm preiszugeben.
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Aber so war es immer gewesen, wenn do Velho Jagd auf den Seewolf gemacht hatte. Ohne Rücksicht auf Mann und Material ging er vor, und damit handelte er sich den Haß seiner Untergebenen ein. In der Tat war er der starrsinnigste, skrupelloseste Geschwaderführer, den die Armada je gesehen hatte. Bis zur Meuterei hatte do Velho seine Männer getrieben, ohne jedoch seine Fehler einzusehen. Der einzige Mann, der in unerklärlicher Treue und Ergebenheit zu ihm hielt, war Ignazio, der Bootsmann der „Candia“. „Senor!“ rief der erste Offizier der „Sao Sirio“ von der Kuhl zum Achterdeck hinauf. „Der Fockmast hat eine Bruchstelle. Wir wissen nicht, wie lange er noch hält!“ „Bis zur Küste ist es nicht mehr weit!“ schrie Alvaro Monforte zurück. „Solange müssen wir durchhalten, um jeden Preis! Wir suchen einen geschützten Ankerplatz und warten das Ende des Sturms ab!“ Der Erste blickte ihn sekundenlang schweigend an. „Sagen Sie das den Männern“, befahl Monforte gereizt. „Si, Senor.“ Der Erste verschwand in den Gischt- und Regenschleiern, die die Kuhl überzogen. Er wußte so gut wie sein Kapitän, daß sie es nicht schaffen würden, irgendwo vor Anker zu gehen. Bei jedem Versuch, sich vor den weiteren Entwicklungen des Sturmes zu schützen, mußten sie mit ihrem Schiff an der Küste zerschellen, von der sie wußten, daß sie in dieser Gegend steil und felsig war. Aber es war gut, sich an seine Hoffnung zu klammern. So vermessen es auch war, an einen glücklichen Ausgang des Abenteuers zu denken -die Männer der „Sao Sirio“ hielten mit aller Macht daran fest. Ein neuer Brecher tobte über die Decks des Schiffes. Alvaro Monforte mußte seinen Platz auf dem Achterdeck räumen, wenn er nicht außenbords gespült werden wollte. In den Manntauen hangelte er auf die Kuhl hinunter und verständigte sich mit seinen Seeleuten und Soldaten, die in ungewohnter Einigkeit darum kämpften,
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die Masten und Rahen, das laufende und stehende Gut vor den Hieben des Wetters zu retten. Monforte arbeitete sich mit seinem ersten Offizier, dem Schiffszimmermann und zwei Helfern bis zur Back vor. Sie versuchten, den Fockmast durch zusätzliche Laschungen zu sichern. Der Zimmermann klomm in den Luvwanten des Fockmastes hoch, um eine der Laschungen anzubringen. Wild tanzte das Schiff in den Wogen. Es heulte und pfiff, knarrte und dröhnte, und das Rufen der Besatzung ging in dieser immer lauter werdenden Höllenmusik unter. Längst hatte der Ausguck der „Sao Sirio“ auf Monfortes Befehl hin den Großmars geräumt. Aber er hätte die geschützt liegende Felsenbucht an der nahen Küste auch dann nicht erkannt, wenn er sich noch auf seinem Posten befunden hätte. Zu dunkel war es geworden. Die Portugiesen konnten auf diese knappe Distanz nicht einmal die drohend aufragenden Klippfelsen sehen. Plötzlich brach der Fockmast. Mit ihm gingen auch die Wanten, die Pardunen, Schotten, Brassen und Fallen außenbords. In den Webeleinen der Luvwanten hing der Schiffszimmermann. Sein Gesicht war in Todesangst verzerrt, er versuchte, sich zu retten, indem er bis auf die Rüsten der Backbordseite hinabgelangte, doch es mißlang. Ein einziger Aufschrei gellte über Deck, als der Zimmermann in den Fluten versank. Er tauchte nicht wieder auf. Alle hatten sein Ende mitverfolgt, und die Furcht vor einem ähnlich schrecklichen Tod wuchs ins Uferlose. Monforte wußte, daß er die Panik nicht mehr bremsen konnte, wenn er nicht eisern blieb. Mit barscher Stimme erteilte er seine Befehle. Die Männer kappten das laufende und stehende Gut des Fockmastes und hieben schließlich mit Äxten auf den Stumpf ein, an dem er noch hing. Zu sehr krängte die „Sao Sirio“ jetzt nach Steuerbord, sie drohte wegen der Last des zerstörten Mastes querzuschlagen.
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Wütend hackten die Männer auf das splitternde Holz ein. Der Fockmast war ihr Feind geworden, er führte ihren Untergang herbei. Je rascher sie sich seiner entledigten,- desto größer wurde die Chance, das Unglück weiter hinauszuzögern. Wie lange dauerte es aber noch, bis der Sturm sie endgültig vernichtete? Keiner dachte darüber nach, keiner äußerte die gräßliche Ahnung, die sie alle gepackt hatte. Der Fockmast lag frei. Er löste sich von Bord der Galeone, rutschte ganz in die aufgewühlte See und war wenig später samt seiner Rahen und seinem übrigen Beiwerk in den 'Fluten untergetaucht. Die Galeone richtete sich wieder ein wenig auf. Ein erlöster Ausdruck stand auf den Gesichtern der Männer zu lesen — jedoch nur für kurze Zeit. Es war noch nicht vorbei. Das Inferno stand ihnen noch bevor. Fast zielstrebig jagte die „Sao Sirio“ auf ihr Verhängnis zu. Sie schien die Nähe der gefährlichen Unterwasserfelsen zu suchen, und doch, es war ein furchtbarer Zufall, daß das Schiff ausgerechnet in Richtung des Riffs gedrückt wurde. Von der Existenz des Riffs erfuhren die Portugiesen erst, als sich das Schicksal nicht mehr abwenden ließ. Giganten und Dämonen der Tiefsee schienen jäh mit riesigen Hämmern auf den Kriegssegler einzuschlagen, so hörte es sich an. Da war ein Dröhnen und Krachen, das alles andere übertönte, und ein gewaltiger Ruck lief durch das ganze Schiff. Monforte spürte, wie seine Galeone hochgehoben wurde, und er wußte sofort, was das zu bedeuten hatte. Dann schrie es auch der erste Offizier: „Wir laufen auf!“ Niemand konnte sich auf den Beinen halten. Alle fielen, als die „Sao Sirio“ ihren Rumpf auf das schartige Riff setzte, die Felsen die Planken wie lächerliches Weichholz knackten und Wasser rauschend durch die Lecks eindrang. Das Schiff krängte mehr und mehr. Alvaro Monforte sah Männer über das Deck
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schießen und hörte sie brüllen, als sie im Strudel der Fluten übers Schanzkleid glitten und in der See verschwanden. Er klammerte sich an einem Manntau fest, schloß die Augen in ohnmächtigem Entsetzen und flüsterte: „Ave Maria, heilige Mutter Gottes, barmherzige Jungfrau Maria, steh uns bei.“ Urmächte richteten sich zu allen Seiten der Galeone auf, Klauen der Finsternis schienen sich nach den Männern auszustrecken. Die „Sao Sirio“ brach auf dem Riff auseinander, neue Schläge trafen sie. Seeleute, Soldaten und Offiziere wurden wild durcheinandergewirbelt. „Die Beiboote abfieren!“ rief der Kapitän noch. Aber er selbst war sich im klaren darüber, wie unsinnig diese Order war. Auch die Boote zerschellten. Alles ging im, Brüllen und Tosen des Sturmes unter. Die Männer bekreuzigten sich und bekannten ihre Sünden, flehten um Gnade und Erbarmen. Einige sprangen freiwillig ins Wasser, denn die „Sao Sirio“ war jetzt eine tödliche Falle, die jeden Augenblick alle noch Lebenden unter ihren Trümmern begraben konnte. Monforte stieß sich den Hinterkopf an einem über Deck trudelnden Balken des zerfetzten Schanzkleides. Es dröhnte in seinem Schädel, fast schwanden ihm die Sinne. Er wusste nicht mehr, wo der erste Offizier war, wo die anderen Offiziere, wer noch lebte, wen es erwischt hatte - er sah nur eine düstere, wogende Masse aus Leibern vor sich. Er hörte das Geschrei und das Heulen aller Dämonen der Hölle, das Orgeln von Feuerstürmen. Und er glaubte, gleichzeitig bronzene Glocken tönen zu hören und die Apokalyptischen Reiter herangaloppieren zu sehen. Alles brach in sich zusammen, alles versank in erlösender Finsternis. Alvaro Monforte befand sich auf einer schwarzen Rutschbahn geradewegs in den Höllenschlund. Ein letzter Gedanke gab ihm ein, daß dieses Abtreten von der Weltbühne doch letztlich genauso war, wie er es sich in seinen finstersten Träumen immer vorgestellt hatte.
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Monforte tauchte in das Fegefeuer ein, aber es war erstaunlicherweise nicht heiß, sondern kalt, ernüchternd. Er drehte sich um die Körperachse und arbeitete verzweifelt mit Händen und Füßen wie ein in den Fluß geworfener Hund. Etwas schnürte seine Kehle zu, etwas drückte heftig auf seine Brust, aber er hatte dann doch das Gefühl, Auftrieb zu haben und nach oben zu schießen. Konturen glitten an ihm vorbei, er sah wieder, gewahrte Düsteres, Undefinierbares - Felsen? Wrackteile? Menschen? Er geriet endlich mit dem Kopf über Wasser, schnappte japsend nach Luft und griff instinktiv nach dem ersten Gegenstand, der ihm zwischen die Finger geriet. Es war ein Stück Schiffsbalken, ein letztes trauriges Andenken der „Sao Sirio“. Monforte erschien der Balken in diesem Augenblick wie ein Geschenk des Himmels. Er klammerte sich daran fest, bewegte die Beine und trieb durch die Sturmsee. Wohin? Er wußte es nicht. Ein Kopf tauchte neben ihm aus dem Wasser auf. Monforte erkannte seinen ersten Offizier und streckte eine Hand nach ihm aus. Er packte den Haarschopf des Mannes und zerrte ihn zu sich heran. Mit letzter Kraft hielt sich auch der Erste an dem Schiffsbalken fest. Zwischen Wogenhängen und brüllenden Schlünden schossen sie dahin und stammelten ihre Gebete. „Es ist aus, Capitan!' stieß der erste Offizier aus. „Nein, Reto!“ Zum erstenmal nannte der Kapitän seinen Untergebenen bei dessen Vornamen. „Wir schaffen es! Wir schwimmen - bis zum Ufer!“ „Si, Senor.“ „Es kann nicht mehr weit sein.“ „Si, Senor. Ich glaube aber, die Entfernung ist immer noch groß genug!“ schrie Reto, der Erste, verzweifelt. „Wir saufen trotzdem ab.“ „Sind Sie wahnsinnig?“ „Ich sage nur, wie es ist!“ „Reißen Sie sich zusammen!“
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„Jawohl, Kapitän“, würgte Reto hervor. „Ersaufen wir zusammen.“ „Land!“ schrie Monforte plötzlich. „Ich sehe es - das Land! Die Küste!“ „Strand“, stammelte Reto. „Nein, es sind Felsen. Wir müssen aufpassen, daß wir nicht darauf zerschmettert werden.“ Alvaro Monforte blickte über die Schulter zurück und sah zu seinem Entsetzen einen riesigen Brecher, der grollend und gischtend auf sie zurollte. Zweifellos würde er sie hochheben und bis zu den Klippfelsen befördern - wenn er sie nicht schon auf halbem Weg ertränkte. 3. Der Seewolf hatte an Land drei Doppelposten aufziehen lassen, die nach jeweils acht Glasen abgelöst wurden. Er wollte in jeder Hinsicht die Gewißheit haben, daß die Portugiesen oder die Spanier ihn nicht von Land her überraschen konnten. Nach dem Überfall auf Cadiz mußten die Dons geradezu versessen darauf sein, Drake und dessen Mitstreiter zu jagen. Und auch sonst war es klug, keine Vorsichtsmaßnahme auszulassen. Während ihrer Fahrten um den Erdball hatten die Seewölfe immer wieder erleben müssen, welch unglaubliche Überraschungen in unbekannten Gegenden auftreten konnten. Matt Davies und Dan O'Flynn hatten freiwillig den ersten Doppelposten übernommen, der den nördlichen Bereich des Buchtufers kontrollierte. Sie hockten in einer Felsennische knapp unterhalb des höchsten Punktes der Klippen und unterhielten sich gedämpft, während die Brandung gegen die Küste donnerte und das Seewasser in der Bucht gischtete und rauschte. Dan O'Flynn hob plötzlich den Kopf. „Matt, da war etwas.“ „Wie meinst du das? Kriegen wir jetzt etwa auch noch ein Gewitter aufs Haupt?“ fragte der Mann mit der Hakenhand verdutzt.
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„Nein, glaube ich nicht. Ich habe ein Krachen gehört, als ob Holz zerbricht.“ „Was denn, mitten im Sturm?“ „Matt, wer gute Augen hat, hat auch gute Ohren.“ „Meistens ja, und es ist bekannt, daß deine fünf Sinne geschärft sind“, entgegnete Matt Davies. „Aber wie du diesen — diesen Laut durch dieses elende Getöse hindurch mitgekriegt haben willst, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel.“ „Und da war noch etwas anderes —ein Schrei.“ „Teufel, und das soll mir entgangen sein?“ „Matt“, sagte der junge O'Flynn. „Du warst eben doch wohl mehr auf unser Gespräch konzentriert.“ Der Hakenmann holte tief Luft. „Und ich sage, du täuschst dich, Dan. Weißt du was? Im Sturm glauben manche Leute, die Meersirenen singen und den Wassermann grölen zu hören angefangen bei deinem Alten.“ „Jetzt hör aber auf“, entrüstete sich Dan. Sie waren drauf und dran, sich in die Haare zu kriegen, aber Dan O'Flynn bog den Streit auf seine Art ab, indem er sagte: „Hör zu, Matt, ich steige jetzt kurz auf die Klippfelsen und sehe oben nach dem Rechten, klar?“ „Einverstanden. Du hast ja selber schuld, wenn du naß wirst.“ Dan beachtete Matts griesgrämige Miene nicht weiter. Er grinste sich eins, als er die Nische verlassen hatte und Matt ihn nicht mehr sehen konnte. Beim Aufstieg in die höhergelegene Felsenregion mußte Dan darauf achtgeben, nicht auszurutschen und schneller auf den schmalen Streifen Kiesstrand zurückzukehren, der rund zwanzig Yards unter ihm lag, als ihm dies zu Fuß möglich gewesen wäre. Wind und Regen erschwerten das Klettern, der rauhe Untergrund war naß und glitschig. Dans Haare waren durchnäßt, als er auf dem kleinen Plateau anlangte, das gleichsam einen natürlichen Aussichtspunkt auf den Klippfelsen darstellte. Matt und Dan hatten diesen Platz entdeckt, als sie das Terrain inspiziert
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hatten. Etwas später hatten sie sich dann in die trockene Nische zurückgezogen, von wo aus sie immer wieder Erkundungsgänge in die nähere Umgebung unternehmen wollten. Dan richtete sich auf. Zu seinen Füßen erstreckte sich die Bucht, in der er mit Mühe die „Isabella VIII.“ liegen sehen konnte. Das Beiboot, mit dem Matt, er und die anderen Wachen auf dem Kiesstrand gelandet waren, war von hier aus schon nicht mehr zu erkennen. Dan drehte sich im heulenden Wind und blickte nach Nordwesten auf die offene See hinaus. Er versuchte zu ergründen, welche Ursache die Geräusche gehabt haben mochten. Sie schienen aus jener Richtung herübergedrungen zu sein, aber er erspähte nichts. Eine Wand aus Gischt und Regen baute sich vor ihm auf. Unvermittelt erstarrte seine Gestalt. Wieder hatte ihn etwas stutzig gemacht — ein Laut hinter seinem Rücken. Das Zusammenschlagen zweier Steine mochte es gewesen sein, vielleicht durch den Sturmwind hervorgerufen. Aber Dan war auf der Hut. Plötzlich fuhr er herum. Er strauchelte fast, Weil der Wind ihn aus dem Gleichgewicht warf, fing sich aber wieder und zog die Pistole aus dem Ledergurt seiner Hose. Zwischen den Felsen, die etwas weiter landeinwärts lagen, erkannte er die Umrisse einer menschlichen Gestalt. Nein, Matt Davies war das nicht, und auch keiner der anderen beiden Doppelposten, soviel war Dan sofort klar. Erstens kroch kein Seewolf einem Kameraden hinter dem Rücken herum, ohne sich zu erkennen zu geben. Und zweitens handelte es sich bei dieser Gestalt — Dan sah es ganz deutlich — um eine ausgesprochen schlanke, fast schmächtige Person. Ähnlichkeit damit hätte allenfalls der Kutscher aufweisen können. Oder Bill, der Schiffsjunge. Aber die befanden sich an Bord der „Isabella“ und rührten sich garantiert nicht von dort fort. Dan hob die Pistole und spannte den Hahn. „Halt, stehenbleiben!“ rief er.
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Die Gestalt war zwischen den Felsen verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Dan war nicht nur neugierig geworden, mit wem er es wohl zu tun haben konnte, er witterte jetzt auch Gefahr und nahm die Verfolgung auf. Mit einem Satz war er zwischen den Felsen, die das kleine Plateau säumten, und hetzte geduckt auf nassem Geröll dahin. Er stolperte und fiel, hatte sich aber schnell wieder aufgerappelt. Fluchend hastete er weiter. Mit einemmal hatte er die mysteriöse Gestalt wieder vor sich, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Schlagartig tauchte sie wieder hinter mächtigen Steinquadern unter. Da nutzte es nichts, daß er seine Aufforderung wiederholte, der Wind trug seine Worte fort und zerstreute sie, mit seinem Heulen schien er sich über den jungen Mann lustig zu machen. Dan beschloß, dem Fremden einen Warnschuß über den Kopf zu jagen, sobald dieser sich wieder zeigte. Im Sturm konnte das Krachen nur ein paar Yards weit zu hören sein. Dan wollte ein gewisses Risiko, weiter im Landesinneren vernommen zu werden, eingehen. Hauptsache, er konnte diesen rätselhaften Beobachter einschüchtern und stoppen. Doch es kam anders. Die Bewegung über seinem Kopf registrierte er etwas zu spät. Von einem der Quader schwebte die Gestalt plötzlich auf ihn nieder, und ehe er die Pistole auf sie richten konnte, hatte sie ihn erreicht, warf ihn mit ihrem Gewicht nieder und begrub ihn unter sich. Sie lagen auf dem Gestein ineinander verkeilt und balgten sich. Dan hatte die Pistole aus der Hand verloren. Er hätte sich für seinen Leichtsinn und für seine Unachtsamkeit selbst ohrfeigen können. Durch den Regen, der in sein Gesicht prasselte, konnte er erkennen, daß sein Gegner ein Junge war. Vielleicht war er ein oder zwei Jahre älter als Bill, der Moses. Seine Züge waren jedoch erheblich weicher als die von Bill, der im Laufe der Zeit schon ein richtig harter Seemann geworden war.
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Was, und von so einem Milchgesicht läßt du dich unterkriegen? schoß es dem jungen O'Flynn durch den Kopf. Er fühlte es heiß in sich aufsteigen, seine Ohren schienen plötzlich zu glühen. Er war in seiner Ehre berührt - das ließ er nicht auf sich sitzen. Mit einem Ruck befreite er sich, als der Knabe ihm gerade einen Fausthieb verpassen wollte. Dan setzte nach, packte zu und erwischte die Handgelenke des Gegners. Er warf die schlanke Gestalt von sich ab, richtete sich halb auf und preßte den Gegner mit dem Rücken gegen die nächste Felswand, ehe dieser noch irgendetwas unternehmen konnte. „So, jetzt ist das Spiel aus“, sagte Dan grimmig. „Hast du dir eingebildet, du könntest mich niederschlagen? Da mußt du früher aufstehen, Freundchen.“ Der Junge musterte ihn aus großen, dunklen Augen. Angst flackerte in diesen ausdrucksvollen Pupillen auf. „Ich verstehe nicht“, antwortete er auf portugiesisch. „Richtig, in meiner Wut habe ich englisch gesprochen“, sagte Dan nun auf spanisch. Portugiesisch konnte er nicht, zwischen beiden Sprachen bestanden doch ganz erhebliche Unterschiede. Er fixierte sein Gegenüber. „Kapierst du jetzt was ich sage?“ „Sir. Du bist - ein Ingles?“ „Ire“, behauptete Dan der Vorsicht halber. Er konnte nicht wissen, was sich aus dieser Begegnung noch ergab, bestimmt war es besser, sich von vornherein nicht als Feind zu erkennen zu geben. Irland, auch ein erbitterter Gegner Englands, unterhielt beste Beziehungen zu dem Vereinigten Königreich Spanien-Portugal. „Ich habe Angst vor dir“, sagte der Jüngling mit erstaunlich heller Stimme. Er sprach jetzt ein nicht akzentfreies Spanisch.“ „Warum hast du mich angegriffen?“ wollte Dan wissen. „Ich dachte, du würdest auf mich schießen.“ „Du hättest dich von Anfang an anders verhalten können“, erwiderte Dan. „Warum hast du mich bespitzelt? Warum
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bist du davongelaufen? Ich mußte ja mißtrauisch werden. Was hast du hier überhaupt verloren, noch dazu bei einem solchen Wetter?“ „Es ist Zufall, daß ich hier bin.“ Dan lächelte spöttisch. „Hör mal, das mußt du jemandem erzählen, der sich die Hose mit der Kneifzange anzieht. Junge, ich glaube, ich nehme dich mit auf unser Schiff. Da kannst du unserem Kapitän deine Lügen auftischen.“ „Ich bin kein Junge ...“ Was dann? wollte Dan O'Flynn aufgebracht fragen, aber er verkniff es sich, denn plötzlich war es ja offensichtlich. Mit einemmal fiel ihm auf, daß sich die Brustpartie des „Knaben“ erstaunlich hervorwölbte und daß „der Portugiese“ erheblich mehr Haar unter seiner Mütze tragen mußte, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Sie standen sich im Regen gegenüber, zwei triefend nasse Gestalten, und ihre Blicke verfingen sich ineinander. Dan räusperte sich, dann meinte er: „Das wird ja immer schöner. Was hat denn ein Mädchen in einer Sturmnacht wie dieser auf den Klippfelsen zu suchen?“ „Ich werde es dir sagen, ganz bestimmt.“ „Weißt du was? Du scheinst ein hübsch ausgekochter Satansbraten zu sein, Querida.“ „Ich heiße Segura.“ „Also schön, Segura. Mein Name ist Dan. Wollen wir jetzt mit offenen Karten spielen oder nicht?“ „Du bist kein Pirat?“ fragte sie zaghaft. „Nein. Soll ich es dir schwören?“ „Nicht nötig“, erwiderte sie in kindlich wirkender Weise. „Laß mich jetzt meine Schwester rufen. Ich glaube, sie kommt um vor Angst.“ „Was? Deine Schwester?“ „Franca — sie hat sich zwischen den Felsen versteckt.“ „Meinetwegen“, sagte Dan O'Flynn, der plötzlich doch daran glaubte, zuviel von dem von Hasard spendierten Whisky in sich hineingegossen zu haben. „Ich hoffe, dein Schwesterlein schießt mich nicht über
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den Haufen und sticht mir auch kein Messer in den Leib“, fügte er hinzu. Segura steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen grellen Pfiff aus. Keine halbe Minute verstrich, und eine noch zierlichere Gestalt löste sich aus der Dunkelheit und aus dem Grauschwarz der häßlichen Felsen. Eine kindliche Schönheit, die Segura stark ähnelte, aber noch nicht ihre weiblichen Reize hatte. Franca trat neben ihre Schwester, richtete ihren feindseligen Blick auf den jungen Mann und hielt sich an Seguras Arm fest. „Das wird ja immer besser“, stammelte Dan O'Flynn. Verdammt, warum stammelst du eigentlich? fragte er sich ärgerlich. Er leckte sich die Lippen, um das trockene Gefühl loszuwerden, das plötzlich in seinem Mund spürbar wurde. Er suchte nach Worten, aber Segura und Franca wichen jetzt einen Schritt zurück. Sie hatten sein hastiges Zungenspiel völlig falsch ausgelegt. „Du gieriger Hund“, stieß die halbwüchsige Franca aus. „Bilde dir ja nicht ein, du könntest uns mißbrauchen. Zu zweit sind wir stark, verstanden?“ Sie sprach reines Portugiesisch, aber Dan hatte trotzdem keine Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Er holte tief Luft, fuhr sich mit der Hand übers Kinn und rief dann: „Ihr habt sie wohl nicht mehr alle! Glaubt ihr, ich sei derart heruntergekommen und verwildert, daß ich mich an — an zwei Bohnenstangen wie euch vergreife?“ Bohnenstangen, das Wort beleidigte die hübsche schwarzhaarige Segura zutiefst. Sie blickte zu Boden, während ihre kleine Schwester den Fremdling weiterhin zornig anfunkelte. „Wie alt seid ihr eigentlich?“ erkundigte sich Dan. „Dreizehn und siebzehn“, gab Franca zurück. „Aber das geht dich einen Dreck an.“ „Warum verrätst du es mir dann?“ Dans Mundwinkel zuckten amüsiert. „Ich könnte mir auf die Zunge beißen, daß ich es getan habe“, zischte die kleine Amazone. „Aber mehr erfährst du nicht, du
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Hundesohn. Komm her und kämpfe, wenn du Mut hast. Wir verteidigen unsere Ehre, nicht wahr, Segura, unsere Ehre...“ „Hör auf“, sagte Segura. Dan wollte energisch werden, aber in diesem Moment ertönte hinter ihm Matt Davies' Stimme. „Dan, wo steckst du Himmelhund denn bloß? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Hölle und Teufel, wie kannst du so ganz allein durch den Sturm krauchen und dich so weit von unserem Stützpunkt entfernen? Weißt du, was ich glaube, Dan O'Flynn?“ Dan drehte sich um und sagte: „Sag's mir, Matt.“ Matt Davies blieb wie vom Donner gerührt zwischen zwei Felsblöcken stehen. Er hatte jetzt die Sicht frei auf Dan und die beiden Mädchen. „Ich, äh — ich bin der Meinung, du hast zuviel Whisky gesoffen“, stieß er verblüfft hervor. „Ja, ich fühle mich auch so richtig betrunken, Matt.“ „Das da — ist das eine Hallu ... eine Hallu ...“ „Nein, es ist keine Halluzination“, entgegnete Dan. Er sah sich wieder zu den Mädchen um und stellte fest, daß Segura sich jetzt ihrer Mütze entledigt hatte - trotz des Regens. Langes schwarzes Haar fiel in lockiger Pracht auf ihre Schultern hinab. „Ich verstehe nicht, was ihr auf englisch redet“, sagte sie mit verkniffener Miene. „Aber ich bin bereit, dir zu zeigen, was die ‚Bohnenstange' zu bieten hat, Fremder. Ich lasse mich von dir nicht beleidigen.“ „Allmächtiger“, stotterte Matt, der wie jeder Seewolf des Spanischen mächtig war. „Himmel, nein, bei allem, äh Wohlwollen, laß deine Bluse auf dem Leib, Senorita.“ „Also, das wird ja immer verzwickter“, sagte Dan. „Segura und Franca, wollt ihr jetzt endlich mit der Wahrheit rausrücken, was ihr hier tut, oder müssen wir tatsächlich zu drastischeren Mitteln greifen?“ Segura sah zu Matt. „Ihr seid keine Piraten, Ire?“
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Matt schaute Dan an, verstand dessen Zeichen und schüttelte den Kopf. „Kauffahrer aus Dublin, die zwar dem Teufel ein Ohr absegeln, sonst aber nichts Arges tun.“ „Bringt uns zu eurem Kapitän“, sagte das Mädchen. * Alvaro Monforte hatte wieder das Bewußtsein verloren. Innerlich hatte er mit seinem Dasein abgeschlossen, als er sich der neuen Situation bewußt wurde, in der er sich befand. Die Nässe umgab ihn, hüllte ihn ein, ließ ihn zittern. Irgendwo weiter unten war das Donnergrollen der Brandung. Als der Kapitän den Kopf hob und Augen und Mund öffnete, stob Gischt in seinen Mund. Er spuckte aus, schüttelte sich, klammerte sich dann aber entsetzt fest, weil er abzurutschen drohte. Verzweifelt schaute er sich um. Er lag bäuchlings auf einem gewaltigen Felsen, einem Brocken mitten in der Sturmbrandung unweit des eigentlichen Ufers. Mächtig und drohend ragten die Klippen in die Nacht auf. Sie waren stumme Riesen, die sich jeden Augenblick auf den Schiffbrüchigen stürzen konnten. Trugbilder gaukelten an Monfortes geistigem Auge vorbei. Sie zehrten an den Nerven des zerschundenen Mannes und ließen ihn aufstöhnen. Aber dann besann er sich darauf, daß er der Capitan eines portugiesischen Kriegsschiffes war, ein Mann der Armada, ein Seemann ohne Furcht und Tadel - solange er noch lebte, konnte ihn nichts in die Knie zwingen. Der Balken seines zerstörten Schiffes war fort, er konnte sich an nichts mehr festklammern. Wo Reto, der erste Offizier, steckte, wußte Monforte nicht, er wagte nicht, über das Schicksal des Mannes weiter nachzudenken. Wie ein Wunder mutete es an, daß der gewaltige Brecher Monforte auf den Felsen gespült hatte, ohne ihm sämtliche Knochen im Leib zu brechen und seinem Leben ein Ende zu bereiten. Nein, er sollte noch nicht
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sterben. Seine Stunde war noch nicht gekommen. Mit dieser Erkenntnis vollzog - Monforte seine nächsten Handlungen. Die Gewißheit, ein Wunder erfahren zu haben, verlieh ihm Kraft und seelischen Auftrieb. Er wagte es, sich von dem Felsen ins Wasser gleiten zu lassen, und brachte es fertig, die restliche Distanz zum Ufer durch Schwimmen zu überbrücken. Er blieb auf grobem grauen Kies liegen und atmete heftig. Wogen leckten über seinen Rücken, umspülten seinen ganzen Körper und schienen ihn noch jetzt ertränken zu wollen. Endlich richtete Monforte sich wieder auf. Er taumelte in Gischt und Schaum an den steil aufragenden Klippfelsen entlang und suchte nach einem Einstieg, nach einem Weg ins Landesinnere. Immer wieder blickte er auch zu dem Platz, an dem sich seiner Überzeugung nach das Riff befinden mußte. Aber er konnte weder die tückische Felsenbarriere noch die Reste seiner Galeone entdecken. Er verharrte, als er eine Männerstimme hörte. „Capitan!“ „Reto!“ stieß Monforte aus. „Heilige Mutter Gottes, er lebt ...“ „Capitan, hierher!“ Alvaro Monforte strebte auf den Klang der Stimme zu. Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und stieß ein trockenes Schluchzen aus, bevor er den ersten Offizier der „Sao Sirio“ erreichte. So fühlte er sich freier, etwas von der Tonnenlast, die auf seinen Schultern und auf seinem Gemüt zu liegen schien, löste sich auf. Die Gestalt des Ersten schälte sich jetzt aus der Dunkelheit. Mitten im Fels stand Reto, und erst beim Näherkommen stellte der Kapitän fest, daß der Mann in eine Art Bresche getreten war, die in das zerklüftete Gestein hinaufführte. „Zu Ihren Diensten, Kapitän“, sagte Reto. „Bei mir sind noch drei Männer, die etwas weiter oben auf dem Pfad stehen.“ Monforte blieb dicht vor ihm stehen. „Dios - wir können also noch hoffen. Vielleicht vielleicht haben sich alle retten können. Ich
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meine, die - die noch lebten, als wir über Bord gingen.“ „Begraben Sie diese Hoffnung, Kapitän“, sagte der Erste. „Wir sind die einzigen Überlebenden“, fügte der hinter ihm stehende Mann hinzu. Er war ein einfacher Soldado, der, um nicht in die Tiefe der See gezogen zu werden, seinen Eisenhelm und seinen Brustpanzer aufgegeben hatte. Noch bevor er das auseinanderbrechende Schiff verlassen hatte, hatte er sich dieser schweren Teile seiner Montur entledigt, und nur so war er dem schrecklichen Schicksal entgangen, das seine Kameraden getroffen hatte. Etwas weiter oben in der Felsenpassage befanden sich die anderen beiden Männer der Galeone. Einer von ihnen stieg jetzt zwei, drei Schritte nach unten in die unmittelbare Nähe des Ersten und des Soldados. Monforte erkannte das Gesicht des Decksältesten der „Sao Sirio“. Der vierte Überlebende des Unglücks war einer der einfachen Decksleute, wie der Kapitän nun ebenfalls feststellte. „Senor“, sagte der Decksälteste. „Wir haben wie die Besessenen gesucht, als wir hier ans Ufer gespült worden sind. Aber wir haben nur angetriebene Leichen gefunden. Die Leichen unserer Kameraden. Es werden immer mehr, Senor, nach und nach finden sie sich an dieser elenden Küste ein. Alle.“ Alvaro Monforte geriet ins Wanken. Sein verwirrter Geist hatte sich den erschütternden Tatsachen verschlossen, aber jetzt traf ihn die Wahrheit mit unnachgiebiger Härte. Alle waren sie tot — bis auf fünf Mann. Mehr als zwei Dutzend Mann stark war die Besatzung der „Sao Sirio“ gewesen. Über zwanzig Männer hatten ihr Leben in den Fluten gelassen. Über zwanzig! Monfortes Hände ballten sich zu Fäusten. Er stand vor den kalten, nassen Felsen und schlug plötzlich auf sie ein. Er hielt inne, preßte die flachen Hände gegen das Gestein und traf Anstalten, in seiner
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ohnmächtigen Verzweiflung und Hilflosigkeit die Stirn dagegenzurammen. Reto erkannte das Vorhaben seines Kapitäns. Er stellte sich hinter ihn und hielt ihn an den Schultern fest. „Capitan“, sagte er eindringlich. „Was nutzt es, wenn Sie sich selbst umbringen? Wem bringt das etwas ein?“ „Niemandem“, sagte der Decksälteste, dessen etwas komplizierter Name Tarquinho lautete. „Seien Sie vernünftig, Capitan. Wir vier wissen, daß Sie keinerlei Schuld tragen an dem, was geschehen ist. Sie haben Ihr Bestes getan, um uns vor dem bitteren Ende zu bewahren.“ Monforte stand eine Weile wie gelähmt da, dann ließ er endlich von dem Felsen ab. Sein Blick war fest, als er die letzten Männer seiner Besatzung der Reihe nach ansah. „Sie haben Recht“, erwiderte er langsam. „Und ich bin Ihnen dankbar dafür, daß Sie trotz allem noch zu mir halten. Ich sehe das durchaus nicht als selbstverständlich an. Meuterer hätten aus Ihnen werden können, Deserteure der spanisch-portugiesisichen Marine — und doch bleiben Sie der Krone treu. Ich danke Ihnen.“ Er drehte sich um und blickte auf die See hinaus. Regen und Sturmwind fuhren heftig in sein hartes Gesicht, aber er kümmerte sich nicht darum. „Eines schwöre ich“, sagte Monforte. „Wenn wir je wieder mit dem Kommandanten Lucio do Velho zusammentreffen, ziehe ich ihn für sein unverantwortliches Verhalten zur Rechenschaft. Wahrscheinlich werde ich mich der Insubordination schuldig machen, aber das nehme ich in Kauf. Hundertmal. Im Gedenken an die toten Männer der ,Sao Sirio`.“ „Und wir schwören, daß wir Ihnen dabei beistehen, Capitan“, entgegnete Reto, der Erste Offizier. „Koste es, was es wolle.“ „Koste es, was es wolle“, murmelten die anderen drei im Chor. „Laßt uns die Toten bestatten“, sagte Monforte. Tarquinho antwortete: „Wir haben es bereits versucht, aber es gibt an diesem
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Ufer nicht genug Steine, um die Leichen ausreichend zu beschweren. Wir finden hier nur große Brocken und den Kies, aus dem die Leichname aber wieder freigeschwemmt werden, wenn wir sie darin eingraben. In der See können wir unsere toten Kameraden auch nicht beisetzen, nicht bei diesem Wetter, nicht ohne ein Boot.“ „Wir würden selbst dabei draufgehen“, fügte Reto hinzu. „Capitan, es gibt hier vorläufig nichts mehr für uns zu tun.“ Monforte, der um Jahre gealtert wirkte, nickte langsam. „Das sehe ich ein. Verlassen wir jetzt diesen Ort und sehen wir zu, daß wir irgendwo einen trockenen Platz zum Verweilen finden. Morgen, so hoffe ich, läßt der Sturm nach. Dann werden wir unsere Toten mit allen seemännischen Ehren bestatten. Anschließend werden wir versuchen, in die nächste größere Ortschaft zu gelangen und von dort aus eine Depesche nach Lissabon weiterzuleiten, in der wir der Admiralität von unserem Unglück berichten.“ „Vielleicht finden wir auch ein Schiff oder wenigstens eine Schaluppe, mit der wir heimwärts segeln können“, meinte Tarquinho. „Möglich auch, daß der Comandante im Abklingen des Sturmes umzukehren versucht und nach uns fahndet“, sagte der Soldat. Monforte musterte ihn. „Ich glaube nicht daran, aber, ich würde dem Senor do Velho einen gebührenden Empfang bereiten, das versichere ich dir, Soldado.“ Er schritt an den Männern vorbei und übernahm die Führung der Gruppe. Vorsichtig klomm er in der mit Geröll gefüllten Felsspalte nach oben. Reto, Tarquinho, der Soldat und der Decksmann folgten ihm schweigend. Ihr Respekt vor dem Kapitän war größer denn je. Sie wußten, daß er es mit seinen Ankündigungen ernst meinte. Sich jedoch offen gegen einen do Velho aufzulehnen, bedeutete nicht nur ein jähes Ende der Karriere von Alvaro Monforte, es war auch mit Meuterei gleichzusetzen. Und darauf stand das Todesurteil. Lucio do Velho
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würde nicht zögern, für den Kapitän die Höchststrafe zu fordern, die die militärischen Gesetze vorsahen. Monforte war also bereit, sich für seine Männer zu opfern. Er fühlte sich mit ihnen verbunden und hatte sie nie als die „Chusma“, das gemeine, primitive Schiffsvolk, betrachtet, sondern die gesamte Besatzung menschlich behandelt ohne dabei jedoch an Autorität zu verlieren. Sogar zwischen Soldaten und Seeleuten hatte es unter Monforte eine größere Verständigung gegeben als auf anderen spanischen oder portugiesischen Seglern. Monforte, der alles andere als ein sturer Vorgesetzter war, war in diesem Punkt seiner Zeit voraus. Seine vier Begleiter empfanden Hochachtung für ihn. Ohne große Absprache waren sie sich einig, daß sie für ihren Kapitän durchs Feuer gehen würden, falls das nötig war. Der Aufstieg endete hinter einem Durchlaß, der so schmal war, daß sich der breit gebaute Tarquinho mir mit Mühe hindurchzwängen konnte. Dann aber standen die fünf Männer auf der Höhe der Klippfelsen und schauten sich um. „Wir wandern landeinwärts“, entschied Monforte. „Nach Osten scheint das Felsland etwas abzufallen, und wahrscheinlich gibt es dort auch Vegetation. Wenn wir schon kein Dorf und keine Hütte finden, in der wir bis morgen früh unterkriechen können, können wir uns doch wenigstens im Wald ein einfaches Lager herrichten.“ Die bis auf die Haut .durchnäßten Männer strebten weiter voran. Sie erreichten schon nach wenigen Minuten die ersten geduckten. Pinien, die am Fuß des Hanges wuchsen, den sie nun hinter sich gebracht hatten. Von diesen knorrigen Nadelbäumen aus sah Reto als erster das Licht, das nordöstlich versetzt in der Dunkelheit schimmerte. „Capitan“ sagte er. „Sehen Sie doch. Sollten wir nicht doch lieber unsere Marschrichtung ändern?“ „Einverstanden“, erwiderte Monforte kurz entschlossen.
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Die komplette Crew der „Isabella“ war auf den Beinen, als das Boot durch das bewegte Wasser der Bucht auf die Galeone zusteuerte. Alles äugte zu dem „Besuch“ hinüber, den Dan und Matt da herantransportierten, und man bedauerte insgeheim Batuti, Gary Andrews, Sam Roskill und Bob Grey, die weiterhin an Land Wache schoben und daher bei diesem Ereignis nicht mit dabei sein konnten. „Mann“, sagte Blacky. „Also, das haut doch nun wirklich dem Faß den Boden aus.“ „Zwei Weiber“, raunte Jeff Bowie. „Wo in aller Welt haben diese Himmelhunde die Frauenzimmer bei dem Sturm bloß aufgetrieben? Herrgott noch mal, da denkst du, du bist in einer Gegend gelandet, in der der Hund erfroren ist – und dann so was.“ „Vielleicht haben die Mädchen hier irgendwo ein Nest“, sagte Luke Morgan. „Witzbold“, knurrte Old O'Flynn, der sich zwischen die Gestalten geschoben hatte, die das Steuerbordschanzkleid der Kuhl belagerten. „Erzähl noch so einen dämlichen Witz. Du denkst, da oben hinter den Felsen steht ein richtiges Bordell, was?“ Lukes Miene verfinsterte sich. „Und wenn es so wär? Was würdest du dann sagen, Old Hinkebein?“ „Wie war das?“ giftete der Alte. „Wiederhole, wie du mich genannt hast, du alter Stinkstiefel.“ „Ich sagte Old Hi ...“ „Hört doch auf“, mischte sich jetzt Will Thorne ein. „Seht euch lieber an, was für schöne lange schwarze Haare das eine Mädchen hat.“ „Sie hat nicht nur die schönen Haare“, sagte Jeff. „Aber die andere ist ja noch ein Kind“, stieß Blacky plötzlich verblüfft aus. „Ho, wer wird sich daran denn vergreifen?“ Luke Morgan kratzte sich am Kinn. „Tja, das ist eine berechtigte Frage. Männer, und wenn ich mir die Schwarzhaarige jetzt aus der Nähe betrachte, dann habe ich den
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leisen Verdacht, daß sie auch nicht sehr viel älter ist.“ „Da stimmt was nicht“, murmelte Old O'Flynn. „Da geht was nicht mit rechten Dingen zu, sage ich.“ „Fehlt bloß noch, daß du behauptest, Dan und Matt hätten zwei Wasserhexen oder Sumpfsirenen ins Boot geladen“, sagte Blacky grinsend. „Na, habe ich den Nagel auf den Kopf getroffen?“ „Ja, du“, erwiderte Dans Vater. „Lach du nur. Eines Tages werdet ihr alle sehen, was ihr von eurem Spott habt. Mit gewissen Dingen scherzt man nicht. Euch holt alle noch der Sensenmann.“ „Donegal“, erklang in diesem Augenblick Big Old Shanes drohende Stimme. Der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle war hinter die Sprecher getreten. „Donegal“, wiederholte er. „Es wäre nicht das erstemal, daß du mit deiner verdammten Unkerei ein Unheil heraufbeschwörst. Hör auf mit dem Gefasel.“ „Du glaubst doch selbst an Spuk und Gespenster“, begehrte der Alte auf. „Nein. Aber ich glaube daran, daß du heute nacht noch ein Bad im Teich nimmst - mit deinem elenden Holzbein.“ „Ihr könnt mich alle mal“, sagte Old Donegal. Damit war für ihn die Unterredung beendet. Finster blickte er zu seinem Sohn und zu Matt Davies hinunter, die soeben mit dem Beiboot an der Bordwand der „Isabella“, angelegt hatten. Den Mädchen brauchten Dan und Matt nicht erst zu helfen. Die klommen schon behende an der Jakobsleiter empor. Gewandt wie die Katzen überbrückten sie die Distanz bis zur Kuhl, kletterten übers Schanzkleid und blieben auf der Kuhl stehen, als ob dies alles eine Selbstverständlichkeit wäre. Die Seewölfe musterten ihre unerwarteten Gäste in einer Mischung aus Überraschung und Belustigung. Bill, der Moses, der um diese Stunde nicht im Großmars weilte, betrachtete die portugiesischen Mädchen, als handle es sich um ein Weltwunder. Philip und Hasard, die Zwillinge - sie durften jetzt, in
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der geschützten Bucht, an Oberdeck sein -, staunten ebenfalls nicht schlecht. Der Seewolf trat langsam auf die Mädchen zu. Sein Blick wanderte an ihren Gestalten auf und ab. Hosen trugen diese beiden ländlichen Schönheiten, Blusen aus grobem Kattun und Jacken, in die jede von ihnen zweimal hineingepaßt hätte. Pitschnaß waren sie, und Franca nieste jetzt, als der große schwarzhaarige Mann mit den eisblauen Augen vor ihnen stehenblieb, zweimal kräftig. , Dan O'Flynn und Matt Davies waren nun ebenfalls aufgeentert. Dan gab seinem Kapitän hinter dem Rücken der Mädchen ein Zeichen. Hasard verstand es. Als Ire sollte er sich ausgeben, keinesfalls als das, was er wirklich war. „Also“, sagte der Seewolf auf spanisch zu den Mädchen, mein Name ist Philip Drummond, ich bin der Kapitän dieses Schiffes, das mit Fracht für Dublin vor drei Tagen Lissabon verlassen hat. Mit wem habe ich denn das Vergnügen?“ „Sie heißen Segura und Franca“, erklärte Dan, bevor die Siebzehn- und die Dreizehnjährige den Mund auftun konnten. „Ich habe sie oben auf den Klippen aufgelesen, und sie behaupten, sie wollten uns nicht belauern. Sir, ich habe es für meine Pflicht gehalten, sie dir vorzuführen. Außerdem haben sie selbst den Wunsch geäußert, mit dir zu reden“. „Ach“, entgegnete Hasard. Er zog die Augenbrauen hoch. Er begegnete Seguras Blick, einem glühenden Blick aus phantastischen dunklen Augen, und wußte, daß dieses Mädchen es faustdick hinter den Ohren haben mußte. „Gehen wir in meine Kammer“, sagte er. „Dort könnt ihr eure Kleidung ein wenig trocknen, Mädchen. Wenn wir noch lange im Regen stehen, holt ihr euch garantiert eine Erkältung.“ „Sir“, sagte Dan O'Flynn. „Ich weise dich darauf hin, daß die beiden Ladys dein Anerbieten falsch auslegen könnten. Sie glauben einfach nicht daran, daß wir anständige Kerle sind, die Kinder beschützen, statt sich an ihnen zu vergehen.“
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Wieder fühlte Segura sich in ihrer Ehre gekränkt. Kinder? Wer sagte diesem frechen jungen Kerl denn, daß sie immer noch so naiv war, wie er es sich vielleicht einbildete? Sie würde ihm schon noch beweisen, daß sie nicht so unbedarft war, wie er annahm. Hasard hob den Kopf und schaute zu seinen Männern. „Freunde, dies ist eine heikle Situation. Ben, Ferris, Shane, Smoky und Donegal, ihr begleitet uns. Dan und Matt, ihr kommt natürlich auch mit, zum Berichterstatten. Alle anderen begeben sich wieder auf ihre Posten.“ Er sah Segura und Franca an, deutete eine Verbeugung an. „Senoritas, ich versichere euch, daß euch kein Härchen gekrümmt wird.“ „Gut“, antwortete Segura. „Dem Ehrenwort eines irischen Kapitäns vertrauen wir.“ „Ich bin gerührt.“ „Ihr scheint wirklich keine Piraten zu sein und auch keine gottverdammten Engländer, die in letzter Zeit verstärkt unsere Küsten verunsichern“, sagte die Siebzehnjährige. „Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Capitan Drummond.“ Der Seewolf räusperte sich. „Das hört sich aufrichtig an. Gehen wir jetzt.“ Er dirigierte die beiden auf das Achterdecksschott zu. Seine Männer folgten ihnen, und wenig später saßen sie in der leicht schwankenden Kapitänskammer beieinander. Es war nicht das erstemal, daß Hasard sich als Captain Drummond ausgab und behauptete, Schiff und Mannschaft seien irischer Herkunft. Er hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt, und seine Crew spielte hervorragend mit, aber dennoch berührte es sie unangenehm, daß diese Mädchen eine so schlechte Meinung von den Engländern hatten. Das Volksempfinden ging mit den Entscheidungen von Regierungen nicht immer konform, aber in diesem Fall schien man auch in den entlegensten Gegenden Portugals davon überzeugt zu sein, daß England- es verdiente, früher oder später
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von der Armada mit Kanonenfeuer vom Erdball getilgt zu werden. Im Moment konnte Hasard daran nichts ändern. Aber er nahm sich im stillen doch vor, wenigstens einen Versuch zu unternehmen, um die Mädchen und ihre Angehörigen davon zu überzeugen, daß nicht alle Engländer Teufel waren. Nachdem Dan O'Flynn geschildert hatte, was sich oben auf den Klippfelsen zugetragen hatte, fragte der Seewolf die Mädchen: „Warum habt ihr solche Angst vor Piraten?“ „Weil wir schon oft überfallen worden sind“, antwortete Franca. „Die ganze Familie fürchtet sich vor Seeräubern“, erklärte nun auch Segura. „Und es kommt tatsächlich immer wieder vor, daß die Schufte diese Bucht ansteuern, um einem Sturm auszuweichen. Schon zweimal hätten sie uns um ein Haar erwischt. Wenn wir nicht Hals über Kopf unser Haus verlassen hätten und ins Landesinnere geflüchtet wären, hätten sie uns die Hälse umgedreht. Die Bucht scheint Freibeuter geradezu magisch anzuziehen.“ „Und es gibt keine portugiesischen Verbände, die mit diesem Gesindel aufräumen?“ erkundigte sich Hasard. „Das schon, aber es passiert immer wieder, daß die Piraten den Verfolgern entschlüpfen und sich verstecken“, stieß Franca aufgeregt hervor. „Capitan, du glaubst ja nicht, wie viele Halunken sich gerade in dieser Küstengegend noch herumtreiben.“ „Deshalb halten wir in vielen Nächten Wache“, sagte Segura. „Gerade bei Sturm. „Euer Vater schickt euch bei diesem Wetter hinaus“, fragte Hasard erstaunt. „Wir tun das freiwillig“, erwiderte Segura. „Wir sind eine große Familie, und jeder leistet seinen Beitrag, um seine Eltern und seine Geschwister zu schützen.“ „Wie heißt euer Vater?“ „Pinho Brancate.“ „Und wie groß ist eure Familie?“ „Außer uns beiden und Vater wären da Emilia, unsere Mutter“, gab Segura bereitwillig bekannt. „Und Josea, unsere
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Schwester. Sie ist drei Jahre älter als ich. Zwei Brüder haben wir auch, das hättest du nicht gedacht, nicht wahr, Capitan? Sie heißen Charutao und Ipora. Die älteste bei uns zu Hause ist die Abuela, die Großmutter, Vaters Mutter.“ „Ein stolzer achtköpfiger Clan“, meinte der Seewolf. Er sandte einen bedeutungsvollen Blick zu seinen Männern hinüber, dann wandte er sich wieder an die Mädchen. „Und wovon lebt ihr, wenn, man fragen darf?“ „Von ein bißchen Landwirtschaft und Viehzucht“, entgegnete Segura. „Außerdem haben wir ein großes Steinhaus. Vater hat daraus eine Herberge gemacht, in der wir Reiter und Wanderer beköstigen.“ „Keine Seeleute?“ „Selten, weil wir vor allen, die vom Meer kommen. Angst haben.“ „Richtig, richtig“, erwiderte Hasard. „Das sagtest du ja schon. Nun, Segura, ich freue mich, daß ihr Schwestern so mutig seid und eure Familie verteidigt. Wißt ihr, was wir jetzt tun? Ein paar von uns begleiten euch nach Hause. Ihr müßt euch dringend an einem Feuer wärmen und trocknen. Da wir an Bord unseres Schiffes nur noch knapp Trinkwasser haben, ergreifen wir die Gelegenheit beim Schopf und nehmen ein paar kleine Fässer mit, die wir bei euch in der Herberge füllen.“ Franca lachte und klatschte begeistert in die Hände. „Fein, unser Padre wird euch sicher gern helfen, Capitan Drummond. Er ist ein guter Mann.“ Segura pflichtete ihr durch ein Nicken bei. „Und es ist auch genug Wasser da. Bei uns auf dem Hof gibt es einen großen Brunnen, der nie versiegt.“ „Ausgezeichnet“, sagte Hasard. „Dieser Brunnen kommt uns wie gerufen. Ferris, geh schon voraus und sag dem Kutscher Bescheid, er soll die Fässer bereitstellen.“ „Aye, Sir.“ „Dan und Matt, ihr kehrt auf eure Posten an Land zurück. Bis zu eurer Ablösung sind es noch vier Glasen. Wir setzen allerdings mit euch über und marschieren querfeldein, sobald wir die Felsen
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hinaufgeklettert sind“, sagte der Seewolf. „Segura und Franca werden uns führen.“ „Aye, aye, Sir“, antwortete Dan. „Aber wen meinst du mit ‚wir'?“ „Ich suche noch die Männer aus, die mich zum Haus der Brancates begleiten“, sagte Hasard. „Kehren wir jetzt an Oberdeck zurück. Ich will keine Zeit verlieren, da ich annehme, daß Padre Brancate sich um seine Töchter sorgt, wenn sie sich in Kürze nicht bei ihm zurückmelden.“ Segura lächelte. „Ja, das stimmt. Wir sollen uns jede Stunde bei ihm melden, damit er weiß, daß wir noch wohlauf sind. Andernfalls läßt er nach uns suchen.“ „Ein großartiger Vater“, entgegnete Hasard. „Ich muß ihn unbedingt kennenlernen.“ Sie hatten fast ausschließlich spanisch gesprochen, aber als sie jetzt nacheinander die Kammer des Seewolfs verließen, wandte sich Ben Brighton auf englisch an seinen Kapitän. „Du glaubst doch wohl nicht, mir sei die Ironie entgangen, mit der du gesprochen hast, wie?“ „Nein, das glaube ich nicht.“ Ben hielt Hasard im dunklen Achterdecksgang am Arm zurück und raunte: „Bist du ganz sicher, daß die Mädchen kein Englisch verstehen?“ „Dan behauptet es.“ „Darauf können wir uns wohl verlassen“, erwiderte Ben. „Dan läßt sich so leicht nicht ins Bockshorn jagen. Darf ich ganz ehrlich reden?“ „Frei von der Leber weg, Ben.“ „An dem, was die Mädchen uns da erzählt haben, ist doch was faul.“ „Oberfaul, Ben.“ „Die wollen uns einen Bären aufbinden ...“ „Und gerade deshalb will ich mir die Herberge ihres Erzeugers mal aus der Nähe ansehen“, sagte der Seewolf. „Ferris, Dan und die anderen haben natürlich auch gemerkt, daß ich mißtrauisch bin. Nur Segura und Franca ist nichts aufgefallen, und das ist so gut. Sie denken, wir gehen ihrem netten Märchen über die Angst vor Piraten und anderen Haderlumpen gründlich auf den Leim.“
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„Diese Segura hat sich sehr aufmerksam in deiner Kammer umgesehen, Hasard.“ „Meinst du, das sei mir entgangen? Die Kostbarkeiten, die ich in den Schränken aufbewahre, haben es ihr angetan. Durch die verglasten Türen hat sie garantiert den goldenen Tukan, das goldene Malteserkreuz, die Smaragdkrone der Chibchas und andere Kleinigkeiten erkennen können“, erwiderte Hasard. „Ich kann verstehen, daß ein Mädchen da fasziniert ist, aber die Art, wie sich Seguras Gesichtsausdruck verändert hat, will mir nicht gefallen, Ben.“ „Dann sind wir uns ja einig.“ „Völlig.“ Sie traten durchs Schott auf die Kuhl hinaus. Es regnete noch immer, aber der Sturmwind hatte etwas nachgelassen und auch die Schiffsbewegungen wurden allmählich ruhiger. Hasard trat vor die Querwand des Achterkastells. Er stand frei und glich durch geschickte Beinarbeit das Schlingern der Galeone aus. „Profos“, sagte er. „Du begleitest mich. Ben, Ferris und Shane, ihr seid ebenfalls mit von der Partie. Schnappt euch die Fässer, wir entern in das Boot ab. Donegal!“ „Sir?“ „Du übernimmst während unserer Abwesenheit das Kommando über die ,Isabella`.“ „Danke, Sir. Soll ich gefechtsklar gehen?“ Der Alte hatte es auf englisch gesagt, und Hasard vergewisserte sich durch einen Blick zu Segura und Franca, daß sie es nicht verstanden hatten. Aus den Mienen der Mädchen ließ sich jedenfalls nichts Derartiges ablesen, kein Aufleuchten der Erkenntnis war in ihren Augen. „Ja“, entgegnete der Seewolf. „Und wenn wir in zwei Stunden nicht wieder hier sind, schickst du einen Stoßtrupp los. Das Haus befindet sich keine Meile entfernt in nördlicher Richtung, soweit ich verstanden habe. Dort müßt ihr nach uns suchen, wenn wir nicht wieder erscheinen.“ „Aye, Sir.“ Die Männer blickten sich verstohlen untereinander an. Es war jetzt allen klar,
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daß Hasard Unrat witterte. Der Seewolf, Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane und Edwin Carberry - das war schon eine „Elitetruppe“ für sich, und aus der Tatsache, daß sich Hasard persönlich an Land begab, sprach der Verdacht, der ihn bewegen mußte. Er ließ sich nicht aufs Kreuz legen und ging den Dingen auf den Grund. Wenn sich hinter dem scheinbar harmlosen Benehmen der Mädchen eine Falle verbarg, dann wartete Hasard nicht ab, bis sie tatsächlich zuschnappte. Er forcierte die Entwicklung der Dinge - eine Taktik, die er schon oft mit Erfolg angewandt hatte. Hasard lächelte Segura und Franca zu, die jetzt etwas unschlüssig am Schanzkleid stehengeblieben waren. „Entschuldigt“, sagte er auf spanisch; „Aber ich habe meinen Männern noch ein paar Anweisungen geben müssen, ehe wir uns zum Ufer pullen lassen können. Ich will nicht, daß die Ladung unseres Schiffes in irgendeiner Weise gefährdet wird.“ Segura blickte ihm tief in die Augen. „Was habt ihr denn für Fracht, Capitan Drummond?“ „Getreide“, erwiderte Hasard, ohne eine Miene zu verziehen. „Weizen und Gerste aus Portugal für die leeren irischen Speicher. In unserem Heimatland hungern die Menschen, Segura.“ „Schrecklich“, sagte sie. „Weißt du wirklich, wie das ist, wenn man nichts zu beißen hat?“ „Ja. Ich habe es erfahren. Am eigenen Leib.“ 5. Sie schritten auf das Licht im Nordosten zu und hatten den schmalen Gürtel aus Pinien und Zypressen hinter sich gebracht, als Kapitän Alvaro Monforte abrupt stehenblieb. „Da ist jemand“, sagte er gepreßt. „Dort, links von uns.“ Reto und Tarquinho lenkten ihre Blicke in die von ihrem Vorgesetzten angegebene Richtung. Auch der Soldat und der
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Decksmann der „Sao Sirio“ - sie hießen Tulio und Josefe -spähten nach links. So gewahrten sie alle die drei Männer, die sich ihnen näherten. Eine wuchtige und zwei schlanke Gestalten in Wind und Regen waren es. Sie hoben im Näherkommen die Hände und riefen etwas. Monforte und seine Begleiter hatten unwillkürlich zu den Waffen gegriffen. Ihre Pistolen waren durch das Seewasser unbrauchbar geworden, aber sie hatten noch Degen und Säbel, mit denen sie sich notfalls ihrer Haut wehren konnten. „Wenn das Wegelagerer sind“, zischte Monforte, „haben sie kein leichtes Spiel mit uns. Wir sind zu fünft. Solange keine anderen Männer auftauchen, sind 'wir in der Überzahl und erledigen sie, selbst wenn sie uns mit Pistolen zu Leibe rücken.“ „Ich glaube, die haben keine feindlichen Absichten“, sagte Tulio, der Soldat. „Der Mann in der Mitte ruft wieder etwas“, meinte Tarquinho, der Decksälteste. „Himmel, wenn man es nur verstehen könnte. Capitan, er hat einen mächtigen Vollbart, glaube ich.“ „Wer seid ihr?“ schrie Monforte den drei Männern zu. „Companhero“, erwiderte der Bärtige, „habt Vertrauen zu uns! Wir wollen euch helfen! Was ist euch passiert?“ „Wer seid ihr?“ wiederholte der abgekämpfte, argwöhnische Kapitän seine Frage. Der Bärtige blieb stehen, und sofort verhielten auch die beiden anderen ihren Schritt. „Pinho Brancate und seine Söhne Charutao und Ipora“, entgegnete er. „Wir sind friedfertige Bewohner der Küste, ehrbare Leute. Der Wind 'hat Schreie zu unserem Haus herübergetragen, und wir wollten nach dem Rechten sehen. Wir haben unten auf dem Kieselstrand Männerleichen entdeckt. Was hat das zu bedeuten? Habt ihr damit zu tun? Was ist geschehen?“ „Tretet näher“, forderte Monforte die drei auf. „Habt ihr Waffen?“ „Nein, wir haben keine“, sagte Pinho Brancate mit sonorer Stimme.
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Die Männer der „Sao Sirio“ musterten ihn und seine Söhne und stellten fest, daß die drei tatsächlich weder Schuß- noch Hieboder Stichwaffen bei sich führten. Das überzeugte sie vollends von der Harmlosigkeit der Brancates. Monforte, Reto, Tarquinho, Tulio und Josefe nahmen nacheinander die Hände von ihren Degen und Säbeln. Nachdem Alvaro Monforte den Vater und dessen beide Söhne eingehend betrachtet hatte, sagte er: „Wir sind Schiffbrüchige. Unsere Galeone ,Sao Sirio` ist keine Viertelmeile vor der Küste auf ein tückisches Riff gelaufen. Nur wir fünf sind ihrem Untergang lebend entkommen.“ Brancate bekreuzigte sich. „Das Riff“, murmelte er. „Das verfluchte Riff, immer wieder fordert es Opfer. Es ist schon vielen Schiffen zum Verhängnis und vielen braven Männern zum Friedhof geworden. Sie sind der Capitan, Senor?“ „Ja.“ „Ich spreche Ihnen hiermit mein Beileid aus. Kann ich irgendwie helfen? Gibt es noch irgendetwas zu tun?“ Monforte nannte seinen Namen. Er stellte auch seine vier Männer vor, und die Brancates schüttelten ihnen nacheinander die Hände. Charutao und Ipora hatten eine andere Statur als ihr Vater, aber aus der Nähe fiel doch ihre große Ähnlichkeit mit Pinho Brancate auf. Ihre Züge waren ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, das konnte auch nicht das Bartgestrüpp verbergen, das Pinho Brancates Kinn und Wangen überwucherte. Sehnige junge Männer waren Charutao und Ipora, augenscheinlich strotzten sie vor Gesundheit. „Senor Brancate“, sagte Monforte. „Sie sind Fischer, nehme ich an?“ „Nein. Ich habe keine Beziehung zum Meer, wenn wir auch nicht weit davon entfernt leben. Mehr noch, ich hasse die See.“ „Das ist ungewöhnlich ...“ „Mein Vater ertrank darin“, versetzte der Bär von einem Mann gedämpft. „Ich kann es nicht vergessen und immer, wenn ich die Abuela, meine Mutter, anschaue, erinnere ich mich an die furchtbare Szene,
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die ich miterlebte, ohne etwas tun zu können.“ Monforte nickte. „Ich kann Ihnen nachempfinden, wie Ihnen zumute ist, glauben Sie es mir. Ich habe mehr als zwanzig meiner Männer einen grausigen Tod sterben sehen. Sie haben folglich auch kein Boot, wie ich annehme?“ „Nein. Wir leben von der Landewirtschaft - meine Familie und ich: Außerdem betreiben wir nebenher noch eine bescheidene Herberge, Capitan.“ „So. Ich hatte gehofft, mit Ihrer Hilfe die Leichen meiner Männer nach seemännischem Zeremoniell bestatten zu können.“ Brancate hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Verzeihen Sie mir, aber mit einem Boot kann ich wirklich nicht dienen.“ „Im Morgengrauen könnten wir einen der Fischer aufsuchen, die in der Umgebung wohnen“, sagte Charutao, der ältere der Brüder. „Wenn wir einen dieser Männer um seine Schaluppe bitten, wird er uns gewiß nicht die Tür weisen.“ „Danke“, erwiderte Monforte. „Warten wir also bis zum Anbruch des neuen Tages.“ „Warten wir in meinem Haus“, sagte Pinho Brancate. „Wir werden ein Feuer im Kamin entzünden, Capitan, Sie und Ihre Männer können sich trocknen. Wir beköstigen Sie und geben Ihnen ein weiches Bett, in dem Sie sich ausruhen können. Ich weiß, ich weiß, Ihnen ist nach diesem entsetzlichen Unglück nicht nach Schlaf zumute, aber Sie werden schon noch einsehen, daß Sie ein wenig Schlummer bitter nötig haben.“ „Wahrscheinlich“, erwiderte Monforte erschöpft. „Aber wir können Ihre Dienste nicht bezahlen, mein werter Brancate. Wir haben keinen einzigen Escudo in der Tasche.“ „Das ist auch nicht notwendig“, sagte Brancate. Er beschrieb eine theatralische Gebärde und hob abwehrend beide Hände. „Nie würde ich von Ihnen Geld annehmen!“ „Aber die Armada wird Sie dafür entlohnen, daß Sie uns Unterkunft
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gewähren“, fuhr Monforte fort. „Die ,Sao Sirio` war eine Kriegsgaleone, wir unterstehen dem Oberkommando der Admiralität von Lissabon.“ Brancate nahm plötzlich Haltung an. Auch die Gestalten seiner Söhne versteiften sich. „Um so größer ist die Ehre, Sie in meinem bescheidenen Heim willkommen zu heißen“, sagte der Bärtige. „Ich bin stolz darauf, Männer der siegreichen, unüberwindlichen Armada unter meinem Dach zu wissen. Es würde mich zutiefst kränken, wenn Sie sich mir in irgendeiner Weise verpflichtet fühlen würden.“ Monforte erhob keinerlei Einwand, er fühlte sich zu schwach dazu. „Danke. Ich wäre froh, wenn wir jetzt zu Ihrer Herberge gehen könnten.“ Brancate übernahm sofort die Führung. Nur noch die nächste Hügelkuppe hatten sie zu überqueren, dann rückte das Licht, das die Männer der Galeone schon vorher entdeckt hatten, rasch näher und entpuppte sich als ein quadratisches, voll ausgeleuchtetes Fenster in einer hohen Hausmauer. Das von Monforte anvisierte Ziel war also mit dem Heim der Brancates identisch, der Kapitän konstatierte es mit einer Art beruhigendem Gefühl. Hier, in dieser solide gebauten Oase mitten im Sturm, schien man wirklich sicher zu sein vor weiteren Unbilden der Natur. Die Eingangstür des Steinhauses wurde von innen geöffnet, als sie nur noch ein paar Schritte davon entfernt waren. Alvaro Monforte sah eine. vom Alter gebeugte Frau in dem dämmrig leuchtenden Viereck erscheinen. Sie wandte Monforte ihr zerknittertes Greisengesicht entgegen und musterte ihn aus klaren Augen. „Was wollt ihr hier?“ stieß sie heiser aus. „Geht fort, weit fort, ihr habt hier nichts verloren. Ihr habt euch den falschen Platz zum Verweilen ausgesucht, glaubt es mir.“ „Madre“, herrschte Pinho Brancate die Alte an. „Wie oft soll ich dir noch sagen, daß. du die Tür nicht anfassen sollst? Wo stecken denn Emilia und Josea? Dios, der Wind könnte dich glatt zu Boden werfen. Abuelita, sei doch nicht so starrsinnig.“
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„Mich wickelst du nicht ein, du raffinierter Hund“, zischte die Alte. „Mir kannst du nichts vorgaukeln, ich durchschaue dich.“ Brancate schob sich an dem Kapitän vorbei und drängte seine Mutter mit sanfter Gewalt ins Haus. Sie schimpfte weiter, aber er ging nicht darauf ein, sondern beförderte sie in einen Nebenraum des großen Kaminzimmers, in das Charutao und Ipora die Gäste jetzt geleiteten. Pinho Brancate zog die Holzbohlentür des Nachbarraumes zu, legte einen Riegel vor und begab sich mit entschuldigendem Grinsen zu seinen Besuchern zurück. ,,Die Abuela ist nicht mehr ganz richtig im Kopf“, sagte er. „Sie dürfen ihr nicht übelnehmen, was sie sagt.“ „Natürlich tun wir das nicht“, entgegnete Monforte matt. Tarquinho schaute zu dem bärtigen Riesen auf. „Viele Leute werden im Alter wunderlich. Ich habe einen achtzig Jahre alten Vater, der körperlich noch völlig auf der Höhe ist. Manchmal aber läuft er ohne jeglichen Anlaß von zu Hause weg, und es bereitet unglaubliche Mühe, ihn wiederzufinden.“ „Ja, ja“, meinte Pinho Brancate. „Wem sagen Sie das, Amigo mio. Einmal wollte sich die Abuela von den Klippen stürzen. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um sie zurückzuhalten.“ „Leben und Tod“, murmelte Alvaro Monforte. „Nur ein Hauch trennt beides voneinander. Welchen Wert hat das Leben eines Menschen? Wie leichtfertig darf man damit umgehen? Wer gibt uns das Recht dazu, über anderer Leute Schicksal zu befehlen?“ Brancate gab seinen Söhnen einen Wink. Sie verließen das geräumige Kaminzimmer. Brancate setzte sich zu seinen nassen, entnervten Gästen an den klobigen Zypressenholztisch und faltete die mächtigen Hände. „Senor Capitan“, sagte er ruhig. „Sie sind jetzt verbittert, aber Sie müssen einsehen, daß das Leben weitergeht - nicht nur für Sie, auch für diese vier Männer hier. Ich verstehe nichts von der Seefahrt, das habe ich Ihnen ja schon erklärt. Aber ich weiß,
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daß man an Bord eines Segelschiffes immer mit dem Unfaßbaren rechnen muß mit dem Tod. Wer dem Sturm entrinnt, ist zum zweitenmal geboren.“ „Sie können mich nicht begreifen“, entgegnete Monforte. „Sie kennen nicht alle Hintergründe, Brancate.“ „Haben Sie Schuldgefühle, Capitan? Machen Sie sich Vorwürfe?“ „Dazu habe ich keinen Grund.“ „Wirklich nicht“, fügte der erste Offizier der „Sao Sirio“ bekräftigend hinzu - mehr für seinen Kapitän als für den Besitzer der Herberge. „Capitan Monforte hat alles getan, um sein Schiff und seine Mannschaft vor dem Verderben zu retten.“ „Gott gebe, daß alle Männer so werden wie Sie“, sagte Brancate ergriffen zu seinem Gegenüber. Monforte fixierte ihn. „Senor, ich möchte weder zum Helden ernannt werden noch einen Glorienschein erhalten. Bitte, verlieren wir kein Wort mehr über die Vorfälle dieser Nacht. Es geht mir' nur um eins - um Gerechtigkeit.“ „Man hat Ihnen - ein Unrecht angetan?“ fragte der Bärtige verdutzt. „Unser Schiff gehörte einem Fünferverband an“, sagte Tarquinho, der Decksälteste. „Unser Capitan ist der Meinung, es war ein Fehler des Kommandanten, dem Sturm trotzen zu wollen. Wir hätten irgendwo Schutz vor dem Wetter suchen sollen.“ „Schweigen Sie“, fuhr Monforte den Mann an. „Wer hat Ihnen die Erlaubnis gegeben, diese Details an einen unbeteiligten Dritten weiterzuverraten?“ „Niemand, Senor“, antwortete Tarquinho irritiert. „Sie werden von jetzt an keine Einzelheiten mehr ausplaudern, die unseren Verband und unseren Auftrag betreffen“, erklärte Monforte barsch. „Nein, Senor“, sagte Tarquinho erschrocken. „Und verzeihen Sie mir. Ich habe - nicht mehr daran gedacht, daß ...“ „Schon gut“, entgegnete der Kapitän merklich ruhiger. „Es ist ja nicht so tragisch. Ich bin völlig fertig. Mir ist
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hundeelend zumute, da dreht man leicht durch.“ Pinho Brancates ließ seine Besucher nicht aus den Augen. Ein geheimer Auftrag? fragte er sich. Der Capitan will nicht, daß ich darüber etwas erfahre. Nun, im Grunde schert es mich ja auch einen feuchten Kehricht, was für eine Mission dieser Verband hat. Nur ein wichtiger Punkt wäre da zu beachten... Er beugte sich vor und sagte: „Senores, sicherlich wird der Geschwaderführer nach der ,Sao Sirio` suchen lassen, sobald der Sturm nachläßt und es hell wird.“ „Bei der Hast, mit der er den Verband vorantreibt, wird er sich mit uns, den ‚Nachzüglern', nicht aufhalten“, erwiderte Monforte erbittert. „Ich schätze eher, er behält seinen Nordkurs bei und wartet darauf, daß die anderen Schiffe seinen Vorsprung aufholen.“ „Aber so erfährt er nie, daß es die ,Sao Sirio` zerschmettert hat“, stieß Brancate in gut gespielter Entrüstung aus. „Und es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis jemand die, äh, traurigen Überreste des stolzen Schiffes birgt.“ „Zu bergen gibt es da nichts mehr“, erwiderte der Kapitän. „Und die ,Sao Sirio` als reiner Kriegssegler hat ja auch keine Reichtümer befördert, wenn man einmal von ihrer Armierung und ihrer sonstigen Ausrüstung absehen will. Kurzum, alle Bestrebungen des Comandanten in dieser Richtung wären vergebliche Liebesmühe. Ein Zeitverlust. Man kann darauf verzichten. Verstanden, Brancate?“ „Ja. Durchaus.“ „Aber schließen wir das Thema jetzt ab.“ „Einverstanden, Senor Capitan.“ Pinho Brancate erhob sich von seinem Stuhl; trat an den gemauerten Kamin und kauerte sich davor. Er schürte die Glut, bis dieFlammen munter emporzüngelten, und legte Holz nach. Im Nu bullerte und knisterte das Feuer, und ein hellerer Schein zuckte durch den großen Raum. Brancate wandte sich um und lud seine Gäste durch eine Geste ein näher zu rücken. Sie nahmen gern an. Mit ihren Sitzgelegenheiten begaben sie sich dicht
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vor das Feuer. Es war Juni und trotz des Sturmes eine laue Nacht, aber nach dem unfreiwilligen Bad in der See tat die Wärme wohl, die nun an ihren Gliedmaßen emporkroch. Eine Zimmertür öffnete sich, und Charutao und Ipora kehrten in Begleitung ihrer Mutter und ihrer Schwester zurück. Emilia eilte auf die fünf Männer der Galeone zu, begrüßte sie und überschüttete sie mit Freundlichkeit. Die jungen Männer holten sich Stühle und setzten sich ebenfalls an den Kamin. Josea, die Zwanzigjährige, hatte eine unaufdringliche Art, sich in dem Kaminzimmer zu beschäftigen. Sie förderte aus einem der schweren Schränke eine Korbflasche Rotwein und Becher zutage, holte Brot, Schinken, Hartwurst, Käse und stellte alles auf den Tisch. Monforte registrierte sofort, daß seine Begleiter nur noch Augen für dieses schöne, gutgewachsene Mädchen hatten: „Emilia“, brummte Pinho Brancate. „Kannst du nicht besser auf die Abuela aufpassen? Sie hat unsere Gäste natürlich sofort auf ihre Art begrüßt. Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?“ „Im Stall bei den Tieren. Konnte ich denn ahnen, daß du jemanden mitbringst?“ „Du weißt doch, wie oft wir in Sturmnächten Schiffbrüchige zu uns nach Haus geholt haben.“ „Ja, das stimmt. Und du bist ja extra deshalb aufgebrochen, weil du nachsehen wolltest, ob wieder ein Unheil am Riff geschehen war“, entgegnete die stämmige Frau. „Verzeih, Pinho, daß ich so unaufmerksam gewesen bin. Senores, verzeihen auch Sie.“ „Ach, Schwamm drüber, das ist doch nicht der Rede wert“, sagte Reto, der Erste Offizier. Er hatte wie die anderen aus Joseas Hand einen Becher voll dunklem Rotwein entgegengenommen und als erster von diesem vorzüglichen Tropfen gekostet. Es war ein herrliches Gefühl, den Wein die Kehle hinabrinnen zu lassen, und Joseas Anwesenheit trug ebenfalls zu einer gewissen Gemütswandlung bei. Fast aufgeräumt prostete Reto den Brancates
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zu. „Ihr habt viel für uns getan, und wir werden es euch nie vergessen.'„ Pinho Brancate hob seinen Becher und stieß mit ihm an, er trank aber nicht, sondern setzte das Gefäß auf dem Kaminsims ab. „Ich hoffe wirklich, daß ihr uns stets in Erinnerung behaltet, Senores“, sagte er salbungsvoll. 6. Reto, der Erste, schlief zuerst ein. Er hatte sich an den Tisch gesetzt und von dem Brot und dem Schinken gekostet. Mit der berückend schönen Josea hatte er noch ein Gespräch beginnen wollen, aber dann waren ihm die Augen zugefallen. Er ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken, legte die Arme auf und begann sanft zu schnarchen. „Es war zuviel für ihn“, sagte Traquinho. „Er hätte nicht soviel Wein trinken sollen.“ „Ja, das ist ein süffiger Tropfen“, sagte Pinho Brancate lächelnd. „Wir bauen selbst keinen Wein an, weil er am Meer nicht gedeiht, aber weiter im Landesinnern habe ich einen guten Companhero, der mir jedes Jahr einige Fässer davon für wenig Geld verkauft.“ „Ehrlich gesagt, ich bin auch sehr müde“, sagte Tulio, der Soldat. „Auf dein Angebot, bis zum Morgen in einem eurer Gästezimmer auszuruhen, würde ich jetzt nicht verzichten, Brancate.“ Josefe, der Decksmann, gähnte hinter der vorgehaltenen Hand. „Gleichfalls. Himmel, ich fühle mich so schwer, als hätte ich Blei in den Gliedern.“ „Senor Capitan“, sagte Tarquinho, dem jetzt auch die Augen zufielen. „Dürfen wir uns ein paar Stunden hinlegen, oder ist es vermessen, darum zu bitten?“ Alvaro Monforte schaute auf. Der Wein, die Wärme des Kaminfeuers -Herrgott, ihm war der Kopf auch schon halb nach vorn gesunken, und er hatte schon gar nicht mehr richtig verstanden, was gesprochen worden war. Ein wirrer Traum hatte in seinem Geist Gestalt angenommen. Jäh verblaßte jedoch das Produkt seiner
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bewegten Phantasie, er blinzelte seinen Decksältesten an. „Tarquinho, wir fünf haben den Schlaf bitter nötig, nehme ich an.“ Pinho Brancate stand auf und winkte seinen Söhnen und den Frauen zu. „Los, bewegt euch. Josea, richte die Zimmer her. Emilia, zünde die Öllampen im Obergeschoß an, damit unsere Freunde sich nicht die Köpfe stoßen. Senores, wir haben eine wunderschöne Kammer mit vier Betten und eine mit einem Bett - ich schlage vor, Sie schlafen separat, wie es Ihrem Dienstgrad zusteht, Capitan.“ „Einverstanden“, sagte Monforte mit schwerer Zunge. „Tarquinho und Josefe, ihr kümmert euch um den Ersten.“ „Das erledigen wir schon“, sagte nun Charutao und schritt mit seinem Bruder auf den schlafenden Ersten zu. Sie packten ihn unter den Armen, zogen ihn von seinem Platz hoch und hoben ihn offenbar mühelos so weit an, daß seine Füße den Holzfußboden nicht mehr berührten. Josea hatte eine Tür geöffnet und war vorausgeeilt. Emilia folgte ihr über die Stufen der Treppe ins Obergeschoß. Sie entfachte mittels eines glimmenden Dochtes die Öllampen, die in eisernen Halterungen an den Wänden des oberen Flures angebracht waren. Den Schluß der Prozession bildeten die Männer. Charutao und Ipora schritten hinter ihrem Vater, dem Kapitän, Tarquinho, Tulio und Josefe. Geschickt hoben sie die Beine des tief schlafenden ersten Offiziers über jede Stufe. Sie konnten sich ein Grinsen jetzt nicht mehr verkneifen. Vom Flur des Obergeschosses führten vier oder fünf Türen in dahinter befindliche Räume, soviel stellte der Kapitän Monforte in seinem tranceartigen Zustand noch fest. In einem rechts liegenden Raum war das schöne junge Mädchen verschwunden. Emilia schlüpfte jetzt ebenfalls hinein. Wenig später konnten die Männer eintreten. Sie befanden sich in dem VierBetten-Raum. Emilia und ihre Tochter hatten durch eine Verbindungstür bereits
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das nächste Zimmer aufgesucht, das für Monforte bestimmt war. Charutao und Ipora betteten Reto mit größter Behutsamkeit auf eins der Grasmatratzenlager. Tarquinho, Tulio und Josefe konnten nun auch nicht länger widerstehen, sie sanken jeder auf eine Ruhestatt. Alvaro Monforte wankte auf die Verbindungstür zu. Er glaubte, jeden Augenblick in den Knien einzusacken. Pinho Brancate war neben ihm, stützte ihn und redete auf ihn ein. Monforte verstand nicht mehr, was der Mann sagte. Er entfloh in seine Traumwelt, diesmal endgültig. Charutao und Ipora sahen ihrem Vater und dem Kapitän nach, dann blickten sie auf die vier Männer der „Sao Sirio“ hinunter. „Sie schlafen“, sagte Charutao. „Diese Narren.“ „Still“, zischte Ipora Er trat neben die Betten, beugte sich über jeden Mann und hob prüfend die Augenlider an. Erst dann nickte er bestätigend. „In Ordnung, sie schlummern wirklich fest.“ Charutao verzog den Mund zu einem hämischen Grinsen. „Hör mal, glaubst du denn, das Gebräu der Abuela verfehlt seine Wirkung? Mutter hat doch genug davon in den Wein gekippt.“ „Aber die Abuela will kein Schlafmittel mehr zubereiten.“ „Vater zwingt sie dazu.“ „Du glaubst, sie könnte eines Tages einen Trick versuchen und statt des Kräuterelixiers eine harmlose Brühe kochen, von dem kein Kind einschläft?“ „Das wagt sie nicht“, sagte Charutao. Er tat einen Schritt auf den Ersten zu, griff an den Gurt und zückte einen Dolch, den er unter dem Hemd versteckt in den Hosenbund geschoben hatte. „Ich schätze, der Capitan, dieser verdammte Trottel, pennt inzwischen auch selig. Besorgen wir es diesen Hunden also. Je eher wir es erledigt haben, desto besser.“ Ipora stürzte auf ihn und griff nach seinen Handgelenken. „Bist du wahnsinnig? Du weißt doch, daß wir hier im Haus niemanden umbringen sollen. Wenn Josea das sieht ...“
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„Josea, Segura, Franca werden sich daran gewöhnen. Eines Tages müssen sie ja doch die Wahrheit erfahren. Warum sollen wir uns solange mit diesen fünf Figuren aufhalten? Zu holen gibt es bei ihnen ja doch nichts, zum Teufel. Nur ihre Waffen können wir in bare Münze umsetzen. Ein Hungerlohn.“ „Sei still“, sagte Ipora gedämpft. „Denk doch daran, daß wir die Kanonen ihres Schiffes bergen und verscherbeln können. Das bringt uns etwas ein.“ „Der Aufwand lohnt nicht. Einmal haben wir Schiffsgeschütze vom Grund des Riffs heraufgeholt, aber das war eine wahnsinnige Arbeit, und das Entgelt dafür war spärlich. Hast du das vergessen?“ „Nein“, antwortete ihm eine Stimme von der Verbindungstür zwischen den beiden Kammern her. Pinho Brancate war zu ihnen zurückgekehrt. Er blickte seinen ältesten Sohn so drohend an, daß dieser den Dolch sofort in den Hosenbund zurückschob. Der bärtige Riese trat dicht vor seine Söhne hin. „Du hast Recht, Charutao“, raunte er. „Aber deswegen dürfen wir diese fünf Dummköpfe noch lange nicht ermorden. Laß dir so was nie wieder einfallen, verstanden? Oder du nimmst ein Bad im Brunnen.“ Charutao war bleich geworden. „Jawohl, Padre. Nur – was geschieht jetzt mit den Kerlen?“ „Ein Mißgeschick wird ihnen widerfahren. Sie treten zu nah an den Rand der Klippen und stürzen ab. Sie brechen sich den Hals, die Ebbe trägt sie in die See hinaus, und kein Hahn kräht mehr nach ihnen. Wer aufs Riff läuft, ersäuft, das ist doch klar. Ich glaube, der Handkorb von Monfortes Degen ist aus Silber. Dafür kriegen wir doch ein hübsches Sümmchen, und wieder halten wir uns für eine Weile über Wasser.“ ' „Über Wasser“, zischte Charutao. „Aber das große Geld verdienen wir nie, Padre.“ Pinho Brancates dunkle Augen begannen gefährlich zu glimmen. ,,Unzufrieden, Söhnchen?“ „Ich — nein, Padre.“
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„Dann schweig. Wer aufsässig wird und das Maul zu weit aufreißt, erhält von mir eine Lektion, merk dir das.“. Er wollte weiterreden, den Zeitpunkt für die „Aktion Klippfelsen“, festlegen und Einzelheiten mit seinen Söhnen durchsprechen, da ertönte aus dem Erdgeschoß des Hauses anhaltendes, dumpfes Klopfen. „Das ist die Abuela“, stieß der Bärtige aus. „Zum Teufel mit ihr. Sie ahnt natürlich, daß wir dabei sind, diese fünf traurigen Gestalten auszuplündern und zu beseitigen. Wartet hier, ich beruhige sie schon.“ Er verließ den Raum mit den vier Betten, hastete den Flur entlang und nahm die Treppe mit ein paar Sätzen. Unten angelangt, schob er den Riegel vor der Kammer seiner Mutter zurück und öffnete die Tür. Er schob sich in den Raum, ehe sie sich in das Kaminzimmer zwängen und womöglich nach oben laufen konnte. Aus haßlodernden Augen blickte die alte Frau ihren Sohn an. Sie wollte mit den Fäusten gegen seine Brust trommeln, aber er hielt sie fest und drängte sie mit sanfter Gewalt tiefer in den Raum. „Madre, Madre“, sagte er. „Was ist denn nur in dich gefahren?“ „Das weißt du!“ „Abuelita, ich schwöre dir ...“ „Schwöre nicht! Versündige dich nicht! Ihr habt sie umgebracht, habt sie erstochen, nicht wahr?“ „Aber, aber“, sagte er mit erzwungenem Lachen. „Wer wird denn so etwas tun?“ „Lüg mich nicht an!“ schrie sie. „Hör zu, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Sie senkte den Kopf und versuchte sich zu befreien. Sie trampelte auf der Stelle, aber es hatte alles keinen Zweck. Sie war ein schwaches, gebrechliches Etwas im Klammergriff des Riesen, dessen Geburtstag sie mehr als einmal verflucht hatte. Sie beruhigte sich. „Du willst allen erzählen, ich sei nicht mehr ganz richtig im Kopf“, zischelte sie. „Aber nicht alle werden es glauben, nicht alle, hörst du? Ich bin nicht verrückt, ich bin ganz normal.“
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„Aber sicher doch, Abuelita“, erwiderte er freundlich. „Sonst könntest du uns den Trank doch gar nicht mehr richtig zusammenbrauen.“ „Ich braue nichts mehr, darauf kannst du dich verlassen“, zürnte sie. Pinho Brancate wurde stockernst. „Ich versichere dir, daß die bei uns Einkehrenden, die wir um ihre Habseligkeiten erleichtern, nicht schlecht von uns behandelt werden. Wir schleppen sie nur fort und setzen sie irgendwo aus. Wenn sie aufwachen, wissen sie nicht mehr, wo sie gewesen sind und was passiert ist. Zufrieden, Madre? Sieh mich nicht so strafend an. Ich bin doch dein treusorgender Sohn, der sich bislang aufopfernd um dich gekümmert hat.“ Er beugte sich leicht vor und fuhr leise und eindringlich fort: „Und wenn du jetzt noch länger tobst und dich nicht endlich brav verhältst, mache ich meine alte Drohung wahr.“ Ihre Augen weiteten sich. „Du Schuft! Das — das würdest du tun?“ „Ich setze dich in das kleine Boot, das in unserem Keller liegt, und schicke dich aufs Meer hinaus, jawohl. Dann holen dich die bösen Seedämonen und Wassergeister, und du kehrst nie mehr zu uns zurück.“ Er ließ sie los. Sie setzte sich auf ihren Stuhl und barg das Gesicht in den Händen. Im Freien näherten sich plötzlich Schritte. Pinho Brancate trat neben das engbrüstige Fenster im Zimmer seiner Mutter, lehnte sich mit der Schulter gegen das Mauerwerk und spähte hinaus. Gestalten näherten sich dem Haus Männer. Der bärtige Riese zuckte kaum merklich zusammen. Angestrengt blickte er zu den Fremden, die genau auf die Eingangstür zusteuerten. Wer waren diese fünf Kerle? Woher stammten sie und was wollten sie? Seine Züge glätteten sich erst wieder, als er im Gefolge der fünf Unbekannten seine zwei Töchter erkannte. Segura und Franca - sie hatten die Männer also gebracht!“ „Ein Schiff“, murmelte Brancate. „In der geschützten Bucht muß ein Schiff liegen, seine Besatzung hat sich auf diese Weise
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vor dem Sturm gerettet. Vielleicht schickt der Himmel uns diesen Kahn, vielleicht gibt es dort mehr zu holen als bei den Männern der ,Sao Sirio`.“ Er wandte sich vom Fenster ab, pirschte auf Zehenspitzen durch den Raum und glitt durch den Türspalt wieder in das Kaminzimmer. Die Tür riegelte er zu, dann lief er zur Treppe, hetzte die ersten Stufen hoch und rief: „Emilia! Zur Hölle, Emilia, wo steckst du denn bloß wieder?“ Schritte polterten von oben heran, das Gesicht seiner Frau schob sich über das Treppengeländer. „Was ist? Was willst du?“ „Fesselt und knebelt die fünf Männer, wir können sie jetzt nicht fortschaffen. Sperrt die Kammertüren zu, damit keiner hinein kann“, raunte der bärtige Mann ihr zu. „Es sind neue ‚Kunden' im Anmarsch, meine Liebe, und wir wollen sie gebührend empfangen und darauf achten, daß sie Monforte und seine Leute nicht entdecken.“ „Gut, ich kümmere mich darum“, sagte Emilia. Sie hastete zu den Schlafzimmern zurück und rieb sich zufrieden die Hände. 7. Der Seewolf blieb vor dem Haus der Brancates stehen. Sein Blick wanderte über die breite Fassade, taxierte die Maße, blieb an Fenstern und Türen hängen und verharrte schließlich auf der Eingangstür, auf die Segura und Franca jetzt zustrebten. Rechnete man das Kellergeschoß mit, das halb ins Erdreich eingelassen war, verfügte das Gebäude über drei Stockwerke. Es handelte sich nicht um die üblichen Fischer- oder Bauernhütten, nein, dies war ein solider Bau, der Jahrhunderte überdauern konnte und nicht nur den acht Brancates, sondern nach Hasards Schätzungen auch einer größeren Familie genügend Platz bieten könnte. Das war sie also, die Herberge. Hasard blickte weiter nach rechts und stellte fest, daß auch der Ziehbrunnen vorhanden war, von dem die Mädchen gesprochen hatten. Soweit schien alles zu stimmen, die Frage
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war nur, ob das Haus auch tatsächlich so gastlich war, wie Segura und Franca behaupteten. Hasard schaute sich zu seinen Begleitern um und gab ihnen ein Zeichen. Mit gemischten Gefühlen folgten sie ihm zum Eingang. Ben Brighton blickte sich lauernd nach allen Seiten um und hatte schon die Hand auf den Griff seiner Radschloßpistole gelegt - für den Fall, daß sie jemand aus dem Hinterhalt zu überraschen trachtete.. Jeder hatte sich ein kleines, leeres Faß unter den linken Arm geklemmt, aber die rechte Hand blieb frei. Hasard hatte es seinen vier Männern nicht einzuschärfen brauchen, ständig auf der Hut zu sein. Sie paßten von sich aus auf, denn ihre Erfahrung sagte ihnen, daß nichts, aber auch gar nichts unmöglich war und die ganze Welt voller böser Zufälle war. Hasard trug zusätzlich zu seinem leeren Wasserfäßchen eine Ledertasche an einem Schulterriemen bei sich. Doch sie behinderte ihn keineswegs so sehr, daß er nicht mehr in der Lage war, rasch eine doppelläufige sächsische Reiterpistole zu ziehen, falls es notwendig wurde. Shane und Ferris schritten dicht nebeneinander her. Der graubärtige Riese malte sich schon aus, wie es war, wenn gleich die Tür des Hauses aufschwang und ein Trupp wilder Kerle ins Freie stürmte. Ferris Tucker fragte sich immer wieder, wie, zum Teufel, sie eigentlich in diese verzwickte Situation, hatten hineinschliddern können. Das alles wegen dieser vorlauten zwei Mädels, sagte sich der Profos, der ganz hinten in der Gruppe stapfte. Na wartet, wenn ihr was gegen uns ausgeheckt habt, ihr Satansbraten, dann haue ich euch den Hintern - voll, soviel ist sicher! Er packte sein Fäßchen fester —bereit, es jedem Angreifer mit aller Kraft auf den Schädel zu wuchten. Mit einemmal entdeckte er Sir John. Der Papagei zog seine Kreise über dem mächtigen Profos-Schädel, gurrte und ließ sich zielsicher auf Carberrys Schulter nieder. Zärtlich zupfte er seinem Herrn am Ohrläppchen herum.
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„Sir John, du Mißgeburt“, grollte der Profos. „Habe ich dir nicht gesagt, du sollst an Bord bei Old O'Flynn bleiben? Warum bist du mir wieder nachgeflogen, was, wie?“ Hätte Sir John den Inhalt dieser Worte verstanden und wäre er in der Lage gewesen, Sinnvolles in der Sprache der Menschen auszudrücken, so hätte er jetzt geantwortet, daß er den alten O'Flynn nun mal nicht leiden konnte. So aber krächzte er nur: „Beidrehen! Mann über Bord!“ Carberry verspürte Lust, sich den Vogel von der Schulter zu pflücken und ihm den Hals umzudrehen, aber er beherrschte sich. Er blickte sich stattdessen um und prüfte, ob ihnen etwa auch die Zwillinge nachgelaufen waren. Zuzutrauen war es Philip und Hasard, aber Gott sei Dank, sie tauchten nirgendwo auf. Segura hatte versucht, die Tür zu öffnen, aber von innen schien ein Riegel vorgeschoben zu sein. „Padre! Madre!“ rief sie. Daraufhin schlurften von innen Schritte heran. Jemand hantierte an der Tür, ein Balken schien zur Seite gezogen zu werden - die Tür öffnete sich. Der Bärtige, der das Rechteck der Tür mit seiner Gestalt ausfüllte, war das Betrachten wirklich wert. Ein echter Koloß war er. Was den Umfang seines Bartgestrüpps sowie seine Körpermaße betraf, konnte er es mit Big Old Shane durchaus aufnehmen. Shane war um ein paar Zoll breiter und größer als Hasard, Ferris und Carberry. Er blickte Pinho Brancate denn auch ziemlich mißbilligend an. War es nicht eine Zumutung, daß jemand es wagte, ihm ähnlich zu sehen? Brancate breitete die Arme aus und setzte eine Miene auf, als sei er von einer wunderbaren Erscheinung überwäligt. „Segura, Franca, meine Töchter - por Dios, wen bringt ihr denn da nur mit?“ Segura setzte es ihm auseinander, während sie alle eintraten. Der Vollbärtige schüttelte „Captain Philip Drummond!“ und dessen Begleitern spontan und hocherfreut die Hände.
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Segura und Franca berichteten abwechselnd, was sich auf den Klippfelsen abgespielt hatte. Pinho Brancate hörte zu, nickte hin und wieder, schaute zu seinen fünf Besuchern und lud sie durch Gesten ein, doch an dem großen Zypressenholztisch Platz zu nehmen. Auf dem Tisch zeugte inzwischen nichts mehr davon, daß hier kurz zuvor fünf Schiffbrüchige beköstigt worden waren. Und auch die übrigen Spuren im Kaminzimmer, die einen Verdacht hätten wachrufen können, hatte die flinke Emilia beseitigt, nachdem sie Josea, Charutao und Ipora im Obergeschoß ihre Anweisungen gegeben hatte. Nur die Korbflasche Wein, Schinken, Wurst und Brot waren auf der wuchtigen Tischplatte zurückgeblieben — als Zeichen, daß die Familie hier über kurz oder lang ihre Abendmahlzeit einzunehmen gedachte. Als die Mädchen ihre Schilderung beendet hatten, lächelte Pinho seinen neuen Gästen wohlwollend zu. Dann drehte er sich um und rief: „Emilia! Emilia, wo in aller Welt steckst du wieder?“ Emilia trat ein, umarmte kurz und heftig ihre Töchter, begrüßte die Seewölfe und begann auf eine Gebärde ihres Mannes hin, Becher auszuteilen. „Ja, ja, die Piraten“, sagte Pinho Brancate in einer Mischung aus Portugiesisch und Spanisch. „Sie haben ja gehört, welchen Ärger wir mit diesem Lumpenpack haben, Capitan Drummond. Zweimal haben wir in kopfloser Flucht unser Haus verlassen. Zweimal! Wir haben uns wie die Tiere im Wald verstecken müssen -und als wir nach dem Verschwinden dieser Kerle zurückkehrten, wissen Sie, wie wir da unser Heim vorfanden?“ „Ich kann es .mir vorstellen“, entgegnete Hasard. „Alles in allem müssen wohl auch wir, meine Männer und ich, froh darüber sein, bislang an der portugiesischen Küste keinen Seeräubern in die Hände gefallen zu sein.“ Emilia bejahte aufgeregt. „Das müssen Sie, Senor Drummond. Herrje, was hätte Ihnen alles passieren können!“
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Hasard wechselte einen kurzen Blick mit seinen Männern. Er wandte sich wieder den Gastgebern zu und zog die Ledertasche auf seine Knie. Die Seewölfe hatten die Fäßchen in der Nähe der Tür abgesetzt und dann an der klobigen Tafel Platz genommen. Carberry, Shane und Ferris mit dem Rücken zum Kamin, Hasard und Ben ihnen gegenüber an der anderen Seite des Tisches. „Seltsam“, sagte der Seewolf. „Dabei dachte ich, man hätte allenfalls an den afrikanischen Küsten noch die Seeräuber zu fürchten. In Lissabon, wo ich Holz für den Schiffsbau löschte und Getreide für Irlands Kornspeicher übernahm, wurde mir außerdem versichert, daß die Küsten Iberiens ausgezeichnet bewacht seien durch die Armada.“ Pinho räusperte sich. Emilia griff zur Korbflasche und schenkte Carberrys Glas als erstes voll. „Im Prinzip ist das wahr“, erklärte der bärtige Portugiese. „Aber unsere glorreiche Armada wird immer wieder abgelenkt und anderswo gebraucht - was man meistens geflissentlich verschweigt, damit ja keiner glaubt, die Zahl der Schiffe, die SpanienPortugal zur Verfügung stehen, sei begrenzt.“ „Aha“, erwiderte Hasard, ohne überzeugt zu wirken. „Aber unter uns könnten wir doch ruhig ehrlich sein. Welche Routen segeln die Galeonen Philipps II. denn gerade? Sind sie in die Neue Welt unterwegs? Oder kämpfen sie gegen die dreisten Barbaresken, die vielleicht einen neuen Schlag gegen die christliche Welt planen?“ „Es braut sich was zusammen“, sagte Brancate mit Verschwörermiene. „Ich habe vernommen, daß ein Angriff auf Cadiz stattgefunden hat.“ „Durch die Muselmanen?“ „Nein, durch die Engländer.“ Ben Brighton hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die Brancates zusammenfuhren. „Die englischen Bastarde“, sagte Hasards Erster und Bootsmann in täuschend echt gespielter Wut. „Sie begnügen sich nicht mehr damit, gegen uns zu kämpfen, sie
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fallen jetzt auch über unsere Verbündeten her. Der Teufel soll sie holen!“ Carberrys Augen weiteten sich. Fast hätte er Ben angebrüllt, was ihm denn eigentlich einfalle, das eigene Nest zu beschmutzen, aber rechtzeitig besann er sich darauf, daß sie ja „Iren“ waren. Trotzdem, er mußte seinen Ärger über Bens Äußerung herunterspülen, mit einem kräftigen Schluck Wein. Er setzte seinen Becher an, ehe Hasard ihn daran hindern konnte. Mit einem tiefen Zug leerte ihn der Profos. Er leckte sich die Lippen, stieß einen wohligen Laut aus, und Emilia schickte sich an, sofort von der dunkelroten Flüssigkeit nachzugießen. Hasard hatte jetzt eine bauchige Flasche aus seiner Ledertasche gezogen und setzte sie auf dem Tisch ab. „Aber nein, nein“, sagte er. „Den Begrüßungstrunk liefere ich, das lasse ich mir nicht nehmen. Ben, entkorke die Flasche und schenke die Becher voll. Senor Brancate, beleidigen Sie mich nicht, indem Sie diesen edlen Tropfen ablehnen. Sie wollen doch wohl nicht ihren eigenen Wein trinken, während ich Ihnen einen Riojo kredenze, den mir ein spanischer Freund von der Hafenkommandantur in Lissabon mit auf die Reise gegeben hat?“ „O nein, natürlich nicht“, entgegnete Pinho, der sich ausgezeichnet in der Gewalt hatte. „Hierzulande weiß man, was es heißt, das Geschenk eines Gastes abzulehnen.“ Er schob seinen leeren Becher zu Ben, und Ben kippte ihn lächelnd voll. Carberry wollte Emilia auffordern, ihm doch noch etwas von dem „vorzüglichen portugiesischen Landwein“ einzuschenken, aber der Seewolf schoß einen derart drohenden Blick auf ihn ab, daß er es sein ließ. Allmählich dämmerte es dem Profos. Er lehnte sich zurück, starrte ausdruckslos auf einen imaginären fixen Punkt und schob seinen Becher gleichfalls zu Ben Brighton hinüber. Ben bediente den Profos, wie es sich gehörte, und der Profos hob seinen Becher, prostete dem Seewolf zu und sagte nicht sonderlich laut: „Auf unser aller
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Wohl, Sir. Auf daß alle Piraten und Hundesöhne krepieren, Sir.“ Er stürzte den kostbaren Riojo in einem Zug hinunter. Ben musterte Edwin Carberry besorgt. Wenn der Profos leise sprach, war Holland in Not. Dann konnte es passieren, daß er den Großmast aus dem Kielschwein hob und sich mit dem Großsegel die Nase putzte, dann verschlang er vielleicht auch Sir John samt seinen bunten Federn und derben Sprüchen. Während sich draußen das Wetter zusehends beruhigte, standen hier alle Zeichen auf Sturm, denn Ed hatte begriffen, warum sein Kapitän auf keinen Fall von dem Wein der Brancates kosten wollte. Pinho Brancate hob seinen Becher. „Auf die Freundschaft zwischen Spanien, Portugal und Irland, Senores !“ „Ja“, sagten die Seewölfe. „Auf gute Freundschaft!“ Sie tranken den Riojo, dann lehnte sich Brancate zu Hasard hinüber und sagte jovial: „Sagen Sie, Capitan Drummond, haben Sie denn tatsächlich Getreide geladen? Keine Waffen, wie?“ „Waffen für Irland? Nein, die geraten auf anderem Weg in unser Land“, erwiderte Hasard. „Außerdem haben wir Korn genauso dringend nötig wie Flinten und Schwarzpulver, das dürfen Sie mir glauben, mein Freund. Ich meine, der Hunger ist Irlands ärgster Feind.“ „Ja, Hunger ist schlimm“, murmelte Emilia. Hasard packte aus, was er außer dem Wein in seiner Ledertasche mitgebracht hatte Speckseiten, Mehl, Zucker, Salz und ein frisches Huhn aus der Vorratskammer des Kutschers. Seit der letzten Proviantübernahme waren die Seewölfe mit Eßwaren recht gut eingedeckt. Sie konnten diese Kleinigkeiten erübrigen. Hasard wollte das Spiel auf die Spitze treiben und die Brancates menschlich herausfordern. Er wollte einfach sehen, wie weit das Spiel ging. „Segura und Franca haben mir erzählt, daß Ihre Familie früher einmal großen Hunger gelitten hat“, sagte er. „Das hat mich
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zutiefst beeindruckt, und ich wollte auf meine Art zur Besiegelung dieser Freundschaft beitragen.“ Er schob die Lebensmittel auf Emilia zu, aber die lehnte es sofort gestenreich ab, anzunehmen. „Das können wir nicht akzeptieren!“ rief nun auch Pinho Brancate. „Auf gar keinen Fall! Sie beschämen uns, Capitan Drummond!“ „Ach wo“, antwortete der Seewolf. „Nun nehmen Sie schon hin, Senor. Sie können sich dafür mit etwas Trinkwasser revanchieren, das wir gern in unsere mitgebrachten Fässer füllen würden.“ „Gut“, sagte Brancate. „Aber Sie kriegen noch mehr von uns, nicht nur Wasser.“ „Ja, das glaube ich“, brummte der Profos schläfrig. Er wollte noch etwas hinzufügen, bevor Hasard, Ben, Shane oder Ferris ihn daran hindern konnten, aber dann verschlug es ihm doch die Sprache, denn die restlichen Mitglieder der BrancateFamilie waren eingetreten. Charutao, Ipora - und Josea. Den Söhnen des Herbergswirts schenkten die Seewölfe kaum Beachtung, wohl aber der schönen Josea. Sie grüßte freundlich, wechselte ein paar Worte mit ihren Schwestern und half dann der Mutter, Schinken und Wurst zu schneiden und den Besuchern das einfache Mahl auf Tellern vorzusetzen. Segura stellte eifersüchtig fest, daß ihre ältere Schwester dem Seewolf immer wieder Blicke zuwarf. Hasard merkte das auch, und ein belustigter Ausdruck spielte um seine Mundwinkel. Er stand plötzlich auf. „Danke, Senor Brancate“, sagte er. „Aber bevor wir etwas zu uns nehmen, erledigen wir die Sache mit dem Wasser. Sie wissen schon: erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ „Wirklich?“ Brancate zuckte mit den Schultern, dann grinste er breit und zufrieden. „Also schön, wie Sie meinen, Capitan Drummond. Aber ich möchte Ihnen einen dieser wirklich vorzüglichen Schinken schenken, die wir in Eigenproduktion herstellen. Josea kann Sie nach oben in den Speicher begleiten, wo
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die Schinken und Würste aufgehängt sind, während einer meiner Söhne und ich Ihren Kameraden dabei helfen, Wasser aus dem Brunnen heraufzuziehen.“ „Eine gute Idee“, erwiderte Hasard. „Ich schlage Ihr Angebot nicht ab, Senor, weil ich weiß, daß Sie dann wirklich gekränkt wären.“ „So ist es.“ „Senor“, sagte Emilia zu Ben Brighton. „Gehen Sie mit Charutao in den Keller hinunter. Ich möchte, daß Sie etwas von unserer vorzüglichen Kuhmilch in eins Ihrer Fäßchen abzapfen. Die Männer an Bord Ihres Schiffes werden dankbar für diese Abwechslung sein.“ „Ben, das geht in Ordnung“, sagte Hasard. Carberry gähnte und erinnerte sich zu spät daran, daß man in der Gegenwart von Ladys am besten die Hand vor den Mund hielt. „Sir, ich komme natürlich mit“, sagte er in seiner Muttersprache, weil Spanisch jetzt viel zu anstrengend war. „Ich mache mich auch nützlich, aye, Sir, so wahr ich hier stehe.“ „Sitze“, brummte Ferris Tucker. „Ed, es wäre besser, wenn du dich irgendwo hinlegen könntest. Du bist ja völlig fertig. Vierundzwanzig Stunden ununterbrochen auf den Beinen - das setzt einem früher oder später eben doch zu.“ „Was, ich? Vierundzwanzig Stunden?“ Carberry verstand die Welt nicht mehr. Nach seiner Rechnung waren höchstens fünfzehn oder sechzehn Stunden vergangen, seit er seinen Achtersteven aus der Koje im Logis der „Isabella“ gewuchtet hatte - und warum waren die anderen auf einmal so besorgt um ihn? „Im Nebenzimmer steht eine Liege, Senor“, sagte Pinho Brancate, „dort können Sie sich ausruhen. Bitte keine falsche Bescheidenheit. Segura und Franca, ihr begleitet unseren Freund in das Hinterzimmer hinüber, anschließend geht ihr nach oben und zieht euch trockenes Zeug an. Es nutzt doch nichts, daß ihr vor dem Kamin hockt, ihr holt euch ja noch den Tod nach dem vielen Regen, den ihr abgekriegt habt.“
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„Ja, das meine ich auch“, entgegnete Hasard. „Aber jetzt brauchen die Mädchen ja nicht mehr Wache bei der Bucht zu halten. Meine Männer besorgen das. Falls irgendjemand Ungebetenes mit hinterhältigen Absichten auftaucht, geben sie uns Bescheid.“ Segura und Franca verließen mit dem wankenden Carberry den Raum — nicht, ohne noch einen mißgünstigen Blick auf Josea abgeschossen zu haben. Der Profos seinerseits sandte der schönen Josea einen sehnsüchtigen Blick nach. Er wünschte sich, jetzt an Hasards Stelle sein zu können und mit dem bezaubernden Mädchen die Treppe hinaufzusteigen. Stattdessen ließ er sich im Nebenraum auf einer Art Pritsche nieder und schlief sofort ein. 8. Es stimmte: Vom Obergeschoß des Hauses führte eine kurze Stiege bis unter das Dach, und dort baumelten von dicken Balken die Schinken und Würste, von denen Pinho Brancate so schwärmerisch gesprochen hatte. Hasard kletterte hinter Josea die Sprossen der Stiege hinauf und hatte Gelegenheit, ihre schwingenden Hüften zu bewundern. Er hätte einigermaßen beruhigt sein können, als sie jetzt auf dem Dachboden-Speicher verharrte und im Schein eines Talglichtes, das das Mädchen hielt, zu der Pracht schauten, die da aufgehängt worden war. Aber er wurde das dumpfe Gefühl nicht los, daß man sie überwältigen wollte. „Suchen Sie sich den schönsten aus“, sagte Josea, als sie auf die Schinken zutraten. „Mein Vater will, daß Sie aufs beste bedient werden.“ „Und Sie, Senorita?“ Ihr Blick traf seine eisblauen Augen. Ihre Züge waren weich, unbeschreiblich weich und ebenmäßig —und voller Verheißung. „Ich tue, was der Padre sagte“ „Dann beraten Sie mich.“ „Man muß ein Geschenk kosten, um zu wissen, wie es schmeckt“, erwiderte sie
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leise. „Ist Ihnen das nicht bekannt — Capitan?“ „Ich heiße Philip mit Vornamen.“ Sie blieb dicht vor ihm stehen und wandte sich ganz zu ihm um. „Vater würde mich schlagen, wenn er wüßte, daß Sie Josea zu mir sagen.“ „Noch habe ich es nicht getan.“ „Sind alle Iren so — so zurückhaltend?“ Verdammte Koketterie, dachte Hasard, raffiniertes Biest, aber ich lasse mich von dir nicht einwickeln. „Iren sind Hitzköpfe voller Temperament“, antwortete er verhalten. „Hat dir noch keiner gesagt, daß sie den Portugiesen ähneln, Josea?“ „Nein. Von dir könnte ich viel lernen, oder?“ „Das kommt ganz darauf an.“ „Du bist ein kluger Mann, Philip.“ Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. „Es spricht aus deinen Worten, aus deiner Art, dich zu bewegen, daß du weit herumgereist bist und viele Erfahrungen gesammelt hast.“' „Ein Narr wird höchst selten Schiffskapitän.“ „Ich mag kluge Männer, und wenn sie zudem noch so gut aussehen wie du, verliere ich den Verstand“, wisperte sie. Sie schloß die Augen. Ihre Hände schoben sich um seine Schultern herum, glitten tiefer, ihr Mund näherte sich seinen Lippen. Stille umgab sie. Man konnte nicht hören, was unten im Haus gesprochen und getan wurde. Sie schienen sich jetzt in einer völlig anderen Welt zu befinden. Hasard erwiderte den Kuß des Mädchens. Weich, warm und verlangend waren diese Lippen —und für einen Augenblick ließ er sich doch von ihren Reizen und Liebkosungen gefangen nehmen. Die Rechnung für seine Leichtfertigkeit kriegte er sofort präsentiert. Joseas rechte Hand fuhr an seinen Gurt. Sie tat aber nicht, was die meisten Mädchen in dieser Situation nun zweifellos getan hätten - sie verhielt sich völlig anders. Plötzlich hatte sie seine doppelläufige Reiterpistole gezückt, entschlüpfte seiner Umarmung und wich zwei Schritte zurück.
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O ja, sie konnte mit der Waffe umgehen. Schnell spannte sie beide Hähne des Radschlosses und zielte auf Hasards Brust. „Philip Drummond“, zischte sie. „Zwinge mich nicht, auf dich zu schießen. Glaub mir, ich tue es, falls du Widerstand leistest.“ Der Seewolf hatte sich in der Gewalt. Hatte er nicht die ganze Zeit über fest damit gerechnet, daß die Brancates hinter dem Mantel der Herzensgüte und Hilfsbereitschaft ganz bestimmte Absichten verbargen? War dies nicht endlich der Beweis dafür? Die Schleier der Scheinheiligkeit waren gefallen, aber trotzdem erschütterte es ihn, daß ein Mädchen wie Josea an diesem Komplott teilnahm. Er mußte doch um seine Fassung kämpfen. „Wenn das deine persönliche Art zu scherzen ist, dann hör sofort damit auf“, sagte er leise. „Gib die Pistole her.“ „Nein. Wir gehen jetzt zu Segura und Franca. Sie werden dich fesseln und knebeln, und ich rate dir, nicht zu schreien, um deine Leute zu warnen. Ich will dich nicht töten, aber in dem Fall wäre ich dazu gezwungen, wie gesagt.“ „So ist das also.“ Hasard lächelte hart. „Ich hatte also wirklich recht mit meinen Ahnungen.“ „Versuche nicht, mich zu überlisten“, wisperte sie drohend. „Gehen wir jetzt. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ „Drei hübsche Mädchen, eins davon noch ein Kind, spielen die Lockvögel“, sagte der Seewolf unbeirrt. „Das habt ihr euch fein ausgedacht. Normalerweise gebt ihr den Gästen, die ihr ausplündern wollt, wohl von eurem Wein zu trinken, nicht wahr? Nur, damit habe ich insgeheim gerechnet ...“ „Womit?“ „Daß ein Schlafmittel darin ist. Als ich vor einigen Jahren von einer Preßgang an Bord eines Schiffes verschleppt wurde, hatte man vorher auch versucht, mir einen Schlaftrunk einzutrichtern. Es klingt absurd, aber in gewisser Weise kann man von Nathaniel Plymson, diesem Schlitzohr, doch auch was lernen. Ein gebranntes Kind
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scheut das Feuer, Josea. Mein Profos ist leider darauf hereingefallen und schlummert nun selig. Warum gebt ihr euren ‚lieben Freunden', die euch besuchen, nicht gleich Gift zu trinken?“ „Schweig“, raunte sie mit wütend verzerrter Miene. „Wir sind keine Mörder. Die Abuela bereitet den Schlaftrunk zu, wir betäuben die Leute, denen wir etwas von ihrem Besitz abnehmen, und setzen sie später einige Meilen von hier entfernt aus, damit sie nie zurückfinden.“ „Wer das glaubt, wird selig.“ Josea rückte unwillkürlich näher auf ihn zu. „Nie würde ich einen Menschen umbringen, nie, hörst du?“ sagte sie leidenschaftlich. „Und das gleiche gilt für meine Eltern, Schwestern und Brüder. Im übrigen handeln wir aus Notwendigkeit, wenn wir hin und wieder jemanden um sein Hab und Gut erleichtern. Wir wollen nie wieder Hunger leiden, nie wieder. Du weißt nicht, wie grausam das ist.“ „Jeder rechtfertigt sich auf seine Weise“, erwiderte er so ruhig wie möglich. „Aber der wirkliche Schurke ist euer Vater, der euch zu Dieben und Strandräubern erzogen hat.“ „Schweig!“ „Woher willst du eigentlich wissen, daß es bei uns etwas zu holen gibt?“ „Segura und Franca haben uns bei Tisch Zeichen gegeben. Wir haben eine geheime Gestensprache.“ „Ziemlich ausgekocht.“ „An Bord eures Schiffes müssen Segura und Franca Wertvolles gesehen haben. Gold, Silber und Juwelen.“ „In meiner Kammer. Dachte ich es mir doch, daß sie diese Entdeckung so schnell wie möglich weiterverraten würden.“ „Ich wette, daß ihr kein Getreide befördert, Capitan“, flüsterte sie. „Ihr habt etwas ganz anderes an Bord.“ „Und wenn es so wäre?“ „Wir werden eure Kameraden dazu zwingen, uns das Schiff zu überlassen. Sie werden es nicht wagen, das Leben ihres Kapitäns und vier seiner besten Seeleute aufs Spiel zu setzen. Während sie sich in den Beibooten aus der Bucht entfernen,
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werden wir die Galeone von oben bis unten durchsuchen und uns nehmen, was uns gefällt. Später könnt ihr euer Schiff wiederhaben, aber dich, Philip, und deine vier Kameraden lassen wir natürlich an einem anderen Platz wieder frei ...“ Es war weniger der Gedanke an den Schatz in den Frachträumen der „Isabella“, der Hasard zum Handeln trieb. Vielmehr bangte er um das Leben seiner Männer, denn Josea konnte ihm viel über ihre „Diebesehre“ erzählen, er glaubte einfach nicht daran, daß Pinho, Charutao und Ipora Ben Brighton, Ferris Tucker, Shane und den Profos mit Samthandschuhen anfaßten. Unvermittelt tat er einen Schritt auf das Mädchen zu. Ehe sie es sich versah, hatte er ihren Arm mit der Reiterpistole gepackt und halb herumgedreht. Er entriß ihr die Waffe, die Gott sei Dank nicht losging, packte Josea grob mit der freien Hand und zerrte sie zu sich heran. Die Pistole, deren Hähne immer noch gespannt waren, stopfte er sich in den Gurt zurück. Dann hielt er Josea die rechte Hand vor den Mund und preßte ihn zu, bevor sie einen Schrei von sich geben konnte. „Du hast dich selbst verraten“, raunte er ihr ins Ohr. „Und eigentlich bin ich froh, daß du es nicht fertigbringst, wirklich auf jemanden zu feuern und ihn zu töten. Vorwärts, gehen wir jetzt zu Segura und Franca. Sie warten auf uns.“ Er drängte sie zur Stiege, verhielt aber, bevor er mit ihr nach unten stieg. „Wo halten die Mädchen sich auf?“ fragte er sie leise. „Im Obergeschoß? Rede!“ Er riß ihren Kopf ein Stück weiter in den Nacken zurück. Sie wertete es als offene, brutale Drohung und nickte ängstlich. „Führe mich zu der Kammer, in der sie stecken“, befahl Hasard. * Segura und Franca hatten in einer der Kammern bereits Stricke und einen Knebel zurechtgelegt, mit denen sie den Seewolf in ein „kunstgerechtes Paket“ verwandeln wollten. Franca hielt überdies einen hölzernen Hammer in der rechten Faust -
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auf Anweisung ihres Vaters hin sollte sie das Opfer damit ins Reich der Träume schicken. Da der Trick mit dem gepanschten Wein ja nur bei dem einen Kerl halbwegs funktioniert hatte, mußte man sich eben einer drastischeren Methode bedienen, um die Männer des Schiffes außer Gefecht zu setzen. Jemand drückte die Türklinke herunter, und Segura sagte: „Tritt ein, Josea, es ist alles soweit fertig.“ Keine Sekunde zweifelten Segura und Franca daran, daß Josea Erfolg gehabt hatte. Die List mit dem Speicher, der voller Schinken und Würste hing, hatten die Brancates schon oft ausgeführt, und Joseas Reizen war dabei noch jeder Narr erlegen. Nur: Ein solcher Narr war der Seewolf eben nicht. Er trat mit seiner Gefangenen in den Raum, drückte die Tür hinter sich ins Schloß und sagte: „Segura und Franca, ihr wollt doch sicher nicht, daß eurer Schwester etwas geschieht. Ich warne euch. Wenn ihr schreit oder sonst wie Alarm schlagt, vergesse ich mich.“ Segura und Franca fuhren zu ihm herum. Sie sahen, daß der schwarzhaarige Mann mit den kühnen eisblauen Augen Josea fest im Griff hatte. Er preßte sie fest an sich, hielt ihr den Mund zu und drückte ihr die Schneide eines großen, furchterregenden Messers an die Gurgel. Segura und Franca standen mit stockendem Atem da. Niemals hätten sie mit einer solchen Überraschung gerechnet. Segura taumelte und mußte sich auf den Rand des einfachen Bettes setzen, das zur Ausstattung des Zimmers gehörte. „Tu das nicht“, flüsterte sie entsetzt. „Laß sie in Ruhe - bitte.“ „Laß sie frei“, flehte Franca, der der Schock aus den weit aufgerissenen Augen abzulesen war. „Segura“, sagte der Seewolf. „Du fesselst und knebelst jetzt deine kleine Schwester. Danach tust du das gleiche mit Josea. Na los, beeil dich, oder soll ich meine Drohung ausführen?“ Segura nickte verstört und ging an die Arbeit. Keinen Augenblick dachte sie
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ernsthaft daran, etwas gegen den Seewolf zu unternehmen. Ihre Furcht, Josea könnte etwas zustoßen, war viel zu groß. Der familiäre Zusammenhalt der Brancates war tatsächlich groß, vor allem zwischen den Schwestern. Sie hatten sich geschworen, sich gegenseitig zu beschützen. Dieses feierliche Gelübde gipfelte nun darin, daß Segura die beiden Schwestern tatsächlich mit den Stricken band, ihnen Knebel in die Münder stopfte und sie auf das Bett verfrachtete. . Hasard stand mit leicht abgespreizten Beinen im Raum, das Messer hielt er immer noch in der Faust, um Segura abzuschrecken. Nie hätte er es sich einfallen lassen, den Mädchen auch nur die Haut zu ritzen, aber er wußte nicht, welches andere Mittel er anwenden sollte, um sie einzuschüchtern und am Schreien zu hindern. Segura drehte sich zu ihm um. „Jetzt bin ich dran, nicht wahr, Capitan?“ „Du hast es erraten.“ Sie blickte ihn durchdringend an, etwas in ihren Zügen veränderte sich. Plötzlich begann sie, an ihrer grobleinenen Bluse herumzunesteln. „Du kannst mich haben, Philip“, flüsterte sie. „Ich sträube mich vor dir nicht. Du gefällst mir, und wenn du endlich das Messer wegsteckst, können wir in eins der Nebenzimmer gehen und uns auf angenehmere Weise die Zeit vertreiben.“ Sie lächelte unendlich verführerisch. „Falls es dich nicht stört, daß Josea und Franca uns zusehen, können wir es aber auch gleich hier erledigen.“ „Segura“, sagte er. „Ich verpasse dir zwei Ohrfeigen - zwei, nicht nur eine, wenn du jetzt nicht augenblicklich parierst.“ Sie wich vor ihm zurück, nahm die restlichen Stricke vom Fußboden auf und ließ es sich dann mit angstgeweiteten Augen gefallen, daß er sie fesselte und knebelte. Der letzte Versuch, den Seewolf zu umgarnen und hereinzulegen, war gescheitert. Hasard verließ- die Kammer, pirschte aber zu den anderen Zimmern des Obergeschosses weiter, ehe er nach unten
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zurückkehrte. Einem inneren Antrieb folgend, durchsuchte er auch diese Räume. Fast hätte er einen Pfiff der Verwunderung ausgestoßen, als er in den letzten beiden auf den Flur mündenden Kammern die fünf gefesselten Männer entdeckte. Sie hatten Knebel zwischen den Zähnen stecken, aber sie hätten auch ohnedem nicht geschrien, denn sie lagen im tiefsten Schlaf. Portugiesischer Landwein, dachte Hasard grimmig, na warte, du Hund von einem Banditenwirt! * Der Profos lag auf dem Rücken und schnarchte. Wenn ich an der Koje horche, pflegte ergelegentlich zu den Männern der „Isabella“ zu sagen, dann könnt ihr mich wegtragen, dann kann der Kahn absaufen und die ganze Welt untergehen - dann wache ich nicht auf. Im Grunde stimmte das auch. Matt Davies behauptete, Carberry schnarche und grunze wie ein Walroß und es sei eine Zumutung, in seiner Nähe zu schlafen. Auch das entsprach im Prinzip der Wahrheit, und doch gab es eine Möglichkeit, den Profos abrupt aus dem Reich der Träume hochzuscheuchen und sein gräßliches Schnarchen mit einem Schlag abreißen zu lassen. Diese Möglichkeit hieß Sir John. Der karmesinrote Arancanga krabbelte dem Profos auf dem Bauch herum, erklomm dann seine Brust und seinen Hals und anschließend das mächtige Rammkinn, das wie ein Amboß in das Dunkel des Raumes aufragte. Sir John begann nun, seinem Herrn an der Nase herumzuknabbern. Als auch das nichts nutzte und der Profos sich nicht rührte, zwackte Sir John ihm zweimal kräftig in den unteren Teil der Nase. Böse Zungen bezeichneten die Profos-Nase als eine „Kartoffel“ oder als eine „Gurke“, aber „Rüssel“ schien doch am treffendsten zu sein, denn wenn man einem Elefanten
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in den Rüssel biß, wurde er garantiert. fuchsteufelswild. Nicht anders erging es nun dem Profos. Der Schmerz reichte aus, um ihn aus den finsteren Sphären seiner Träume auf die Welt mit all ihrem Elend und ihren Ungerechtigkeiten zurückzubefördern. Unter Normalumständen wäre Ed Carberry hochgefahren, hätte einen Schwall übelster Wörter losgelassen und versucht, Sir John zu greifen. Da er aber nach wie vor benommen von dem „vorzüglichen portugiesischen Landwein“ war, schlug er vorerst nur verdattert die Augen auf, ließ ein wölfisches Knurren vernehmen und richtete sich schwerfällig mit dem Oberkörper auf. Sir John schlug mit den Flügeln und gurrte begeistert. Er hüpfte auf die gewaltige Profos-Brust zurück und freute sich mächtig darüber, daß er seinen Herrn zum Leben erweckt hatte. „Du verlauste Vogelscheuche“, lallte Carberry. „Hätte ich dich doch nie vom Amazonas mitgebracht. O Hölle und Teufel, was ist das doch alles für ein verdammter Mist hier!“ Umständlich erhob er sich von dem einfachen Lager, schaute sich um und wurde aus der Situation immer noch nicht schlau. In seinem Kopf wühlte und wirbelte es, als bewegten sich dort Mühlsteine. Immerhin war es schon eine beachtliche Leistung, sich unter der Wirkung des Schlafmittels einfach auf der Pritsche aufzusetzen. Carberry dachte darüber nach, allmählich ging ihm ein ganzer Kerzenleuchter auf, aber er drohte doch immer wieder auf die Liege zurückzusinken. Sir John krächzte empört, als sich plötzlich eine Tür öffnete. Carberrys Körper straffte sich. Eine Glocke in seinem Hirn schien Alarm zu schlagen. Er tastete nach seinen Waffen. Sie waren fort, man hatte sie ihm abgenommen, aber immerhin konnte er noch von Glück sagen, daß man ihn nicht gefesselt hatte. Offenbar hatte Brancate dies nicht für notwendig erachtet.
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Die Tür schien nicht die zu sein, durch die er, Carberry, in diesen Raum gelangt war, soviel wurde ihm bewußt — und, in der Tat, es war wirklich die Verbindungstür zwischen diesem Raum und der Kammer, in der die Abuela von ihrem Sohn gefangen gehalten wurde. Carberry sah eine schmale Gestalt, die sich in sein Zimmer schob. „Wer da?“ brummte er unruhig. Er erhielt keine Antwort. Sir John flog von der Pritsche auf, Carberry erhob sich ganz und stand schwankend wie eine Pappel im Sturmwind. Dann vernahm er eine flüsternde Frauenstimme. „Fremder, hab keine Angst vor mir!“ Josea, dachte Carberry sofort, Himmel, dieses Prachtstück von einem Frauenzimmer ist zu Besuch aufgekreuzt. Habe ich's mir doch gedacht! Na, die Weiber wissen eben, wo die größten Qualitäten verborgen sind! Sie verharrte neben dem einzigen niedrigen Fenster des Raumes. Carberry schob sich auf sie zu. Er beugte sich mit verzückter Miene zu ihr hinunter und wollte irgendetwas Unsinniges, völlig Unangebrachtes sagen, das ihm gerade einfiel — da erstarrte er. Statt in das zarte Antlitz Joseas zu blicken, hatte er das zerknitterte Gesicht einer Greisin vor sich. Ein abgemagertes Gesicht war das, faltige, ledrige Haut spannte sich über die Knochen und erfüllte die Höhlungen mit schlaffen Runzeln. „Hol's der Henker“, entfuhr es dem Profos, „des Teufels Großmutter höchst persönlich!“ „Fremder“, zischte die Alte. „Ich will dir helfen und dich retten, denn unter diesem Dach darf kein weiteres Unheil geschehen. Verstehst du mich?“ „Mit Ach und Krach.“ „Hör mir gut zu. Einer deiner Freunde ist mit Charutao in den Keller hinuntergestiegen. Du mußt ihn als ersten niederschlagen.“ „Wen?“ fragte Carberry verwirrt. „Charutao natürlich, wen denn sonst?“ sagte die Abuela ärgerlich. „Anschließend solltest du ins Freie gehen und den beiden
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beistehen, die gerade von Pinho und Ipora, diesen schmutzigen 'Bastarden, zum Brunnen begleitet werden. Dort wollen sie Wasser holen, aber Pinho und Ipora werden sie niederknüppeln, das schwöre ich dir. Und wenn sich deine Freunde zu sehr wehren, werden meine Leute nicht zögern, sie im Brunnen zu ersäufen.“ „Ja, da hört sich doch alles auf“, murmelte Carberry, der sich jetzt schon sehr viel nüchterner und wacher fühlte. „Schließlich wäre da noch der Schwarzhaarige, der mit Josea zum Dachboden hinaufgestiegen ist“, wisperte die Alte. „Um ihn bereite ich mir aber die wenigsten Sorgen.“ „Ich auch. Hasard kann sich am besten von uns allen helfen, und von dem Mädchen läßt er sich nicht um den Finger wickeln.“ „Vorwärts, ich zeige dir jetzt eine Treppe, die in den Keller führt“, sagte die Abuela. „Beeil dich. Und tu mir einen Gefallen, Ja? Im Stall liegt ein Boot, eine lächerliche, häßliche Nußschale. Zerstör sie. Zerschlag das elende Ding, verstanden, mein starker Freund?“ „Ja, Rose von Portugal“, antwortete der Profos. „Wir schaukeln das schon. Ich verspreche es dir. Ich habe jetzt nämlich die Nase voll.“ 9. Shane und Ferris hatten im Kaminzimmer noch einen Schluck Riojo-Wein zu sich genommen und von dem Schinken gekostet, bevor sie mit Pinho Brancate und dessen jüngstem Sohn das Haus verlassen hatten. Als sie zum Ziehbrunnen hinter der Herberge marschierten, jeder mit zwei Fäßchen unter dem Arm, wandte Ferris Tucker sich leise an den graubärtigen Riesen. „Shane. ob der Schinken wohl vergiftet ist?“ „Was, das fällt dir jetzt ein?“ „Mir ist eben erst der Verdacht gekommen. Der Wein, den diese Galgenstricke uns unterjubeln wollten, scheint ja mit einem Schlafmittel angereichert zu sein.“
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„Ferris“, zischte Big Old Shane. „Hast du denn nicht gesehen, wie sich auch Pinho Brancate einen ordentlichen Kanten von dem Schinken zwischen die Kiemen geschoben hat?“ „Darauf habe ich nicht geachtet.“ „Du bist ein gottverdammter Klamphauer. Was hast du mir für einen Schreck eingejagt!“ „Shane, ob es wohl richtig war, den Profos in dem Hinterzimmer zurückzulassen?“ „Natürlich. In seinem Tran wäre er uns jetzt bloß zur Last gefallen. Wir dürfen die beiden Kerle nicht aus den Augen lassen. Wäre Carberry mit von der Partie, hätten sie außerdem mit ihm leichtes Spiel.“ „Du denkst, die greifen uns an?“ „Ja“, antwortete Shane. „Willst du noch mehr wissen?“ „Nein, das reicht mir“, sagte Ferris voll Grimm. „Still jetzt, die Burschen drehen sich nach uns um.“ Die beiden Brancates hatten den Ziehbrunnen hinter dem Haus erreicht. Pinho wandte den Kopf und lächelte seinen „irischen Gästen“ zu, man konnte seine untadeligen Zähne im Mondlicht schimmern sehen, das jetzt durch eine Lücke in den Wolkenbänken fiel. Ipora war bereits damit beschäftigt, den Holzkübel aus der Tiefe des Brunnens heraufzuziehen. „Das Wetter bessert sich“, sagte der Herbergswirt. „Der Wind hat merklich nachgelassen, und bestimmt hat sich auch die See beruhigt.“ „Jawohl, es klart auf“, sagte Big Old Shane. Er setzte seine Fässer neben dem gemauerten Brunnen ab, entkorkte die Öffnungen und richtete sich mit einem knappen Blick in den Himmel wieder auf. „Im Morgengrauen können wir dann wohl den Anker hieven, die Bucht verlassen und weitersegeln, um unsere Reise fortzusetzen - wenn alles gut geht.“ „Ja, wenn alles gut geht“, echote Ferris Tucker. Er hatte seine Fässer ebenfalls zu Boden gelassen und harrte der Dinge, die da folgen würden. Ipora hielt plötzlich in seiner Tätigkeit inne und blickte ziemlich entgeistert in den
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Brunnen hinunter. Seine Stimme klang hohl von den Innenwänden wider, als er zu seinem Vater sagte: „Padre, da ist was - ein Widerstand. Ich kann den Kübel nicht hochziehen.“ Pinho trat neben ihn. „Laß mich mal“, brummte er, aber so sehr er auch zerrte und ruckte, der Kübel ließ sich keinen Zoll höher ziehen. „Senores“, sagte Pinho Brancate in gespielter Verzweiflung. „Können Sie nicht mal mit anpacken? Zu viert schaffen wir es vielleicht.“ „Oder das Tau reißt“, widersprach der rothaarige Schiffszimmermann. „Hat denn so was die Welt schon gesehen? He, Senor, kannst du mit deinem eigenen Brunnen nicht umgehen?“ Der Herbergswirt überhörte dies geflissentlich. Er schien ganz in seine Tätigkeit vertieft zu sein. Big Old Shane und Ferris Tucker traten an den Brunnenrand, hüteten sich aber, sich über den Mauersims zu beugen. Pinho Brancate und sein Sohn fuhren plötzlich zu ihnen herum. Der Kübel, bislang noch von beiden am Seil festgehalten, sauste in die Tiefe und klatschte Sekunden später unten ins Wasser, weil die Portugiesen das Seil losgelassen hatten. Stattdessen hatten sie sich mit dicken Knüppeln bewaffnet, die in eigens dafür angebrachten Eisenhalterungen an der Brunneninnenseite gehangen hatten. Ohne daß die „lieben Freunde“ es gemerkt hatten, hatten die Brancates blitzschnell zu diesen Waffen gegriffen. Das Versteck der Knüppel war Pinhos glorreiche Erfindung. Er war sehr stolz darauf, denn schon mehrfach hatte es sich als eine wahrhaft grandiose Einrichtung bewährt. Die Freundlichkeit war wie weggewischt aus Pinhos und Iporas Mienen. Ohne Warnung droschen sie auf den ehemaligen Schmied von Arwenack und Hasards rothaarigen Schiffszimmermann ein. Sie dachten, leichtes Spiel zu haben, weil sie das Überraschungsmoment ausnutzen –
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aber bei Shane und Ferris waren sie an die Falschen geraten. Überrascht waren die beiden keineswegs, sie hatten ja mit einem Ausfall der zwielichtigen Portugiesen gerechnet. So erfolgte ihre Reaktion jetzt gedankenschnell. Ferris sprang zur Seite. Ipora schlug mit dem Knüppel ins Leere und wurde durch die Wucht des Hiebes aus dem Gleichgewicht gebracht. Es riß ihn nach vorn. Big Old Shane blockte den brutalen Schlag des Vollbärtigen ab, indem er den rechten Fuß hochschwingen ließ. Seine Stiefelspitze traf Pinhos Knüppelarm an dessen Unterseite, und zwar so heftig, daß der bullige Mann aufstöhnte. Den Knüppel ließ er aber nicht los. Ferris war herumgefahren und hatte sich auf Ipora geworfen. Dadurch wurde der Halunke nun vollends aus der Balance gebracht, er fing sich nicht mehr, sondern landete bäuchlings im Matsch vor dem Brunnen. Ferris' große Faust landete mit dumpfem Laut in Iporas Nacken, aber der Bursche wurde nicht bewußtlos. Er konnte einiges einstecken. Lesen und Schreiben hatte Brancate seinen Sprößlingen nicht beigebracht, vom Rechnen ganz zu schweigen. Wohl aber praktische Nahkampfmethoden! Ipora wälzte sich herum, wehrte Ferris' Hagel von Hieben ab und versuchte, den Knüppel wieder hochzubringen und ihn dem Rothaarigen mitten ins Gesicht zu schlagen. Shane duckte sich und vollführte eine halbe Körperdrehung, als Pinho Brancate erneut den Knüppel auf sein Haupt niedersausen ließ. Das Rundholz, dicker und schwerer als ein Belegnagel oder eine Handspake, verfehlte Shanes Kopf und knallte auf seine linke Schulter. Greller Schmerz zuckte durch Shanes Körper, aber er hatte sich in der Gewalt und schaffte es, Brancates Waffe festzuhalten, ehe dieser das Holz wieder zu sich zurückziehen konnte. Shane und Pinho zerrten an beiden Enden des Knüppels. Pinho trachtete den graubärtigen Riesen bis an den Brunnen zu befördern und ihn gegen die Mauer prallen
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zu lassen. Shane ließ sich nicht vom Fleck bewegen. Es war ein Ringen der Giganten, sie rissen beide wie verrückt an dem Rundholz, aber das Kräfteverhältnis schien fünfzig zu fünfzig zu sein. Sie liefen rot in den Gesichtern an, und ihre Schläfenadern traten schwellend hervor. Ferris landete einen Hieb auf Iporas Schulter. Für einen Augenblick war der Portugiese gelähmt, und Tucker ergriff seine Chance. Mit einem weiteren Schlag fegte er Ipora den Knüppel aus den Fäusten, er segelte ein Stück durch die Nachtluft und blieb auf dem Untergrund liegen - unerreichbar für den jungen Brancate. Ipora revanchierte sich mit einem Haken und hielt seinen' Gegner durch eine Serie von weiteren Boxhieben in Atem. Ferris kippte hintenüber, sprang aber auf, bevor Ipora sich auf ihn stürzen konnte. Mit zwei Schritten zurück war Ferris beim Brunnen angelangt und wartete den nächsten Angriff ab. Pinho Brancate zerrte plötzlich nicht mehr an seinem Knüppel, er stieß ihn in die entgegengesetzte Richtung und traf Big Old Shanes breite Brust. Shane keuchte, behielt aber seinen festen Stand bei. Er war außerdem so geistesgegenwärtig, die hölzerne Waffe rasch nach unten zu drücken. Sie schrammte über seinen Leib, aber auch das ertrug er. Brancate stolperte auf Shane zu, beide ließen fast gleichzeitig den Knüppel los, und dann rammte Shane dem Herbergswirt mit einem saftigen Fluch die Faust unters Kinn. Pinho Brancate taumelte zurück, strauchelte und fiel auf den Rücken. Er breitete die Arme aus, und es hatte den Anschein, als ob er der Bewußtlosigkeit und Kapitulation nahe war. Ferris ließ den anstürmenden Ipora auflaufen, packte ihn dann jählings am Hals und schob ihn mit aller Macht an seiner Körperflanke vorbei auf den Brunnen zu. Da nutzte es nichts mehr, daß Ipora entsetzt aufstöhnte und wild gestikulierte. Ferris dirigierte ihn so auf den gemauerten Sims zu, daß Iporas Kinnlade mit dem Stein kollidierte.
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Ipora brach zusammen. Ferris stieß einen Laut der Genugtuung aus. Shane schritt mit ausgebreiteten Armen auf den liegenden Pinho Brancate zu. „Laß dich umarmen, Compadre“, sagte er grollend. „Mich kannst du nicht ins Bockshorn jagen. Du bist noch längst nicht erledigt. Stell dich, damit ich dir den Rest geben kann.“ Brancate warf sich im Matsch herum und begann zu kriechen. Er gelangte plötzlich an eine kleine Erhebung, die weder Shane noch Ferris zuvor entdeckt hatten. Der Buckel entpuppte sich als ein aus Steinen zusammengefügtes längliches Gebilde, das oben durch ein Brett abgedeckt war. Ehe Shane es verhindern konnte, hatte der bärtige Portugiese das Brett zur Seite geräumt und förderte aus dem darunter freiwerdenden Hohlraum etwas zutage. Eine Flinte. Genauer, ein Tromblon. Big Old Shane identifizierte den Typ der Waffe einwandfrei, als Brancate auf ihn anlegte und den Hahn spannte. Charakteristisch für diese auch Blunderbuss oder Blunderbüchse genannte Flinte war die trichterförmig erweiterte Mündung. Auch die Seewölfe verfügten an Bord ihres Schiffes über solche Tromblons. Wenn sie mit gehacktem Blei und Eisen geladen waren, entwickelten diese Schießeisen eine verheerende Wirkung. Also noch ein geheimes Waffenversteck, das der ausgekochte Brancate für alle Fälle in der unmittelbaren Nähe seines Hauses angelegt hatte! Er spielte den Harmlosen, Gutmütigen, aber er war für alle Eventualitäten gerüstet. Shane brauchte sich keinen Illusionen hinzugeben. Selbstverständlich war das Tromblon geladen, und es befand sich dank der Abdeckung des Verstecks auch in völlig trockenem Zustand. Es regnete nicht mehr, folglich gab es wirklich keine Hoffnung, daß die Waffe etwa durch Feuchtigkeit unbrauchbar geworden war. „Was habt ihr mit meinem Sohn getan?“ schrie Pinho Brancate. „Ich bringe euch um, ihr dreckigen Bastarde! Ich mache euch fertig - so, wie ich alle anderen
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Hurensöhne abserviert habe, denen ich die Taschen leerte! Verreckt!“ Er war außer sich vor Wut und hatte jede Beherrschung verloren. In seinem Zustand war er zu allem fähig, auch zum Amoklauf. Shane konnte seine Pistole nicht zücken, Brancate hätte auf jeden Fall zuerst abgedrückt. Und Ferris? Von dem war auch keine Hilfe zu erhoffen. Er stand neben dem Brunnen, war durch das Mauerwerk nicht gedeckt und befand sich zudem noch in einer Schußlinie mit Big Old Shane, so daß der Portugiese sie mit einem einzigen Schuß aus dem Tromblon niederstrecken konnte. Brancate erhob sich mit haßverzerrtem Gesicht. Er wußte nicht, daß seine drei Töchter, die gefesselt und geknebelt in einer Kammer des oberen Geschosses lagen, jedes seiner Worte verstanden hatten und in diesem Augenblick für sie eine Welt zusammenbrach, weil sie immer geglaubt hatten, der Padre und die beiden Brüder verschonten ihre Opfer. Brancate bemerkte ebenso wenig, daß rund drei Yards über ihm der Seewolf eins der engen Fenster geöffnet hatte und auf ihn niederblickte. * Charutao hatte Ben Brighton zwar sofort nach dem Abstieg in die Stall- und Kellerräume bewußtlos schlagen wollen, aber Hasards Erster und Bootsmann hatte ihm keine Gelegenheit dazu geboten. Immer wieder hatte er nach dem BrancateSproß geblickt - und Charutao zögerte aus berechtigtem Anlaß, sich mit dem stämmigen Mann anzulegen. Zu griffbereit ragte der Kolben der Radschloßpistole aus Bens Gurt auf, und sicherlich wußte der „Ire“ auch vorzüglich mit der Waffe umzugehen. Also war Vorsicht geboten, Charutao mußte schon warten, bis Ben ihm den Rücken zuwandte. Charutao führte Ben gehorsam in den Nebenraum des Stalles, in dem die Fässer mit der Frischmilch aufgebockt standen. Nebenan war das Rumoren der Kühe, der
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Maultiere, Schafe und Ziegen zu vernehmen, die den bescheidenen Reichtum der Familie darstellten. Charutao steckte einen Trichter aus gehämmertem Blech in die Öffnung des Fäßchens, das Ben mitgebracht hatte. Danach schöpfte er aus einem der offenen, vertikal aufgestellten Behälter mittels einer Art Muck Milch und füllte sie um. Gluckernd lief die weiße, fette Flüssigkeit den Trichter hinab. Dann kam der Augenblick. Durch ein gewolltes Mißgeschick Charutaos lockerte sich der Trichter. Er löste sich aus dem Spundloch des Fäßchens und landete klappernd auf dem Steinboden. Ben beging einen Fehler, als er sich danach bückte. Der Brancate-Sproß nutzte die Gelegenheit, indem er die Muck ins Faß fallen ließ und sich eine Schaufel griff, die ganz in seiner Nähe an der Wand lehnte. Er wollte Ben Brighton die Schaufel so fest über den Hinterkopf ziehen, daß dieser für die nächsten Stunden nicht mehr aufwachte. Aber da war plötzlich eine zweite Hand, die sich um die seine schloß, als er die Schaufel gepackt hatte. Verdutzt wandte Charutao sich um. Er blickte in das wüste Narbengesicht des Mannes, den Segura und Franca in das Hinterzimmer geführt hatten und von dem alle annahmen, daß er im tiefsten, ohnmachtähnlichen Schlaf lag — alle außer der Abuela. „Por Dios, der Profos“, konnte Charutao noch stammeln. Dann trachtete er zwar, seine Hand von dem Schaufelgriff zu lösen, aber Carberry klammerte sie fest, hielt den jungen Schurken in seiner Nähe, während er seine andere, freie Faust hochzog und sie auf den Gegner abfeuerte. Charutao glaubte, von einem der Maultiere des väterlichen Stalles voll ins Gesicht getroffen worden zu sein. Er prallte zurück, stöhnte auf und konnte dann doch endlich rückwärts stolpern, weil Edwin Carberry ihn jetzt freigelassen hatte. Charutao strauchelte über das halb mit Milch gefüllte Seewölfe-Fäßchen und stürzte, wollte sich dann jedoch wieder
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aufrappeln. Aber diesmal war Ben Brighton schneller. Ein nicht minder wuchtiger Hieb des Ersten der „Isabella“, und der älteste Brancate-Sohn sank ‚bewußtlos zusammen und streckte alle viere von sich. Sir John flatterte durch den Kellerraum und stieß die schönsten Flüche aus seiner Sammlung aus, auf englisch und auf spanisch. „Mann, wie konntest du wissen, daß ich hier unten bin und der Knabe mich niederschlagen wollte?“ fragte Ben. Carberry grinste säuerlich. „Ein Engel hat euch in dem Kaminzimmer beobachtet, wohl durchs Schlüsselloch des einen Nebenraums. Dann hat er's mir geflüstert, was hier läuft. Ein Engel, der so um die siebzig, achtzig, neunzig Jahre alt ist.“ „Ed, weißt du auch wirklich, was du sagst?“ erkundigte Ben sich besorgt. „Ja. Lauf nach oben und sieh zu, daß du Brancates Frau und die Mädchen zurückhältst, damit sie ja nicht nach draußen können, wo Shane und Ferris jetzt wahrscheinlich mit diesem Vollbart und seinem zweiten Sohn alle Hände voll zu tun haben. Mann, nun lauf schon — nach oben, ins Kaminzimmer zurück. Von der Abuela, der Oma, haben wir übrigens keine Hinterhältigkeiten zu erwarten.“ „Und was tust du?“ fragte Ben verblüfft. „Ich hab hier noch kurz was zu erledigen“, erwiderte der Profos. „Ich will ein kleines Boot kaputtschlagen. Warum, das weiß ich selbst nicht genau. Aber ich hab's versprochen.“ In diesem Moment war von draußen das Gebrüll Pinho Brancates zu vernehmen. Ben Brighton hielt sich nicht mehr damit auf, sich über Carberrys merkwürdiges Benehmen zu wundern — er stürmte los. 10. Hasard kauerte auf der Fensterbank und hatte die Hände links und rechts von sich an den hölzernen Rahmen gelegt. Er wartete noch, bis der zornige Herbergswirt seinen Standort geringfügig verändert hatte - dann ließ er sich vornüberkippen und
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hechtete sich auf den Mann. Die zweieinhalb oder drei Yards freier Fall waren in einem Atemzug überbrückt. Brancate registrierte noch, daß über ihm etwas war, aber ehe er sich darauf einstellen konnte, hatte der Seewolf ihn erreicht. Schwer landete Hasard auf Brancates Gestalt und riß ihn mit sich zu Boden. Es gab einen klatschenden Laut, als sie im Matsch aufschlugen. Brancate brachte es mit einem mörderischen Fluch noch fertig, das Tromblon hochzureißen. Hasard rang mit ihm, Shane und Ferris duckten sich instinktiv, dann ging die Flinte los und entließ ihre höllische Ladung in den Nachthimmel. Hasard und der bärtige Portugiese wälzten sich im Schlamm. Über und über waren sie mit dem schwärzlichen Morast besudelt, als der Seewolf es endlich fertigbrachte, dem Kerl die Faust unters Kinn zu rammen. Brancate gab einen gurgelnden Laut von sich, schien aber immer noch nicht genug zu haben. Hasard schlug wieder und wieder zu, während der Wirt versuchte, seine mächtigen Hände um den Hals des Gegners zu schließen. Brancate schaffte dies noch, aber dann verließ ihn unter dem Einfluß eines neuen Kinnhakens jegliche Kraft. Schlaff sank er in den Morast zurück. Der Seewolf richtete sich auf. Er keuchte, wischte sich Schlamm aus. dem Gesicht und drehte sich zu seinen heraneilenden Männern um. „Shane und Ferris“, sagte er. „Fesselt diesen Mörder und schafft ihn ins Haus. Mit Ipora verfahrt ihr genauso. Ferris, du hast ihn doch wohl hoffentlich nicht zu heftig traktiert?“ „Der Bursche lebt, ich habe eben an seiner Brust gehorcht“, erwiderte der rothaarige Zimmermann grimmig. „Wir sollten auch nach weiteren versteckten Waffen Ausschau halten.“ „Ja, tut das.“ Hasard wollte sich dem Haus zuwenden, aber in diesem Augenblick öffnete sich schon die Tür, und Ben Brighton trat mit Emilia ins Freie.
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Die kräftige Frau wehrte sich nach Leibeskräften, aber gegen Ben konnte sie sich nicht behaupten. Als sie das einsah, verlegte sie sich darauf, den wackeren Ben mit den wohl unflätigsten und gemeinsten Verwünschungen zu überschütten, die die portugiesische Sprache kannte. „Was ist mit Charutao?“ wollte Hasard von Ben wissen. „Der liegt im Keller, außer Gefecht gesetzt. Der Profos hat mitgeholfen, den Lümmel zu überwältigen.“ „Und die Abuela?“ „Die hat uns geholfen, wenn ich Ed richtig verstanden habe.“ „Aha“; sagte Hasard. „Dann hätten wir sie ja alle zur Räson gebracht. Übrigens, unsere drei jungen Amazonen liegen sorgfältig verpackt in einer der Kammern des oberen Stockwerks. Ich gehe jetzt rauf und sehe nach, ob sie schon versuchen, ihre Stricke durchzunagen.“ Er trat an den Brunnen und hievte den hölzernen Kübel hoch, der natürlich nie irgendwo hängengeblieben war. Er goß sich einen Schwall Wasser ins Gesicht, ließ das Naß an sich herablaufen und befand sich somit in einem leidlich sauberen Zustand. „Das Wasser scheint in Ordnung zu sein“, stellte er nüchtern fest. „Wir können die Fässer also tatsächlich damit füllen, sobald wir mit der Familie Brancate fertig sind. Ben, Shane, Ferris, erledigt das bitte. Ich gehe jetzt nach oben. Übrigens, wußtet ihr, daß sich außer uns noch weitere fünf ‚Gäste' in diesem aufnahmebereiten Haus aufhalten?“ Sie sahen ihm verblüfft nach, als er jetzt zum Eingang schritt und das Kaminzimmer durchquerte. Hasard verhielt auf halbem Weg, denn soeben erschien Carberry mit dem bewußtlosen Charutao auf der Bildfläche. Grinsend ließ der Profos den Burschen auf die Holzbohlen des Fußbodens sinken. Er vergewisserte sich, daß er immer noch im Reich der Träume lag, trat dann an den Tisch und goß Riojo-Wein in einen unbenutzten Becher. „Melde mich zum Dienst zurück, Sir“, sagte er. „Das mit dem Wein war ein
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Mißgeschick, das mir so schnell nicht wieder passiert.“ „Ich hatte dich nicht rechtzeitig warnen können, Ed.“ „Ich hätte selbst aufpassen müssen. Verdammt, ich war wohl geistig weggetreten. So ein Pech aber auch ...“ „Schwamm drüber, Ed.“ „Aye, Sir.“ Carberry griff sich den Becher, marschierte bis vor die Tür der AbuelaKammer, drückte den Riegel zur Seite und sagte: „Du kannst rauskommen, Oma, das Gefecht ist vorbei.“ Ihm fiel ein, daß er englisch gesprochen hatte, darum wiederholte er das Gesagte in seinem grauenvollen spanischen Kauderwelsch. Erstaunlicherweise schien die Abuela verstanden zu haben. Sie verließ ihr Zimmer, blieb vor dem häßlichen Riesen stehen und fragte: „Ist das Boot kaputt, Fremder?“ „Si, Rose von Portugal. Du kannst es im Kamin verfeuern, dazu taugt es vielleicht noch.“ „Das werde ich tun“, entgegnete sie mit Würde. „Und nun laßt uns auf den Sieg anstoßen.“ Sie nahm den Becher aus des Profos' schwieliger Hand entgegen, trank ihn in einem Zug leer und wandte sich an den überraschten Seewolf. „Kapitän, ich schwöre dir, daß die drei Mädchen nicht wußten, was sie taten. Pinho, dieser Bastard von einem Vater, hatte ihnen immer vorgelogen, daß er und seine Söhne die Ausgeplünderten mit dem Maultierkarren fortbrachten und irgendwo in der Einöde aussetzten. Das ist nicht wahr. Sie haben sie von den Klippen gestürzt oder anders beseitigt. Nie hätten Josea, Segura und Franca dabei als Komplicen mitgemacht.“ „Ich glaube Ihnen“, antwortete Hasard. „Vielen Dank, Senora.“ Er stieg die Stufen zum Obergeschoß hoch und suchte die miteinander verbundenen Zimmer auf, in denen er die fünf gefesselten und geknebelten Männer entdeckt hatte. Er befreite sie, aber sie schliefen immer noch — aussichtslos, sie wachrütteln zu wollen.
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Hasard begab sich in die angrenzenden Räume und befreite Josea, Segura und Franca, die immer noch nebeneinander auf der Bettstatt lagen, von ihren Knebeln. „Wenn ich wüßte, daß ihr keine Dummheiten anstellt, würde ich euch auch eure Fesseln abnehmen“, sagte er. „So töricht sind wir nicht“, erwiderte Josea mit vibrierender Stimme. „Nicht mehr. Der Padre hat sich selbst verraten und des mehrfachen Mordes überführt. Wir wußten nicht, daß er ein solcher Verbrecher ist, aber wir wollen mit ihm und allen anderen, die bei dem schrecklichen Komplott als Mitwisser dabei waren, nichts mehr zu tun haben.“ „Ist das jetzt ehrlich?“ fragte Hasard. Er sah Josea in die großen, dunklen, traurigen Augen. „Ja“, flüsterte sie. „Und ich bin bereit, für diese meine Worte zu sterben.“ „Ich sorge dafür, daß ihr drei nicht belangt werdet“, entgegnete der Seewolf. Er begann, ihre Fesseln zu lösen, wurde aber kurz darauf durch Schritte unterbrochen, die die Treppe heraufpolterten. Hasard stand auf und trat auf den Flur. Zu seinem Erstaunen erkannte er in der Gestalt, die soeben die letzten Stufen hinter sich brachte, Dan O'Flynn. Der junge Mann schritt auf ihn zu und sagte: „Da staunst du, was? Nun, die vier Glasen, die Matt, mir, Batuti, Gary, Sam und Bob noch an der Wachablösung fehlten, waren um. Wir wollten gerade an Bord der ‚Isabella' zurückkehren, da vernahmen wir alle den Schuß, der hier fiel. Mein Vater ordnete an, ein Trupp Freiwilliger solle sofort losziehen und nach dem Rechten sehen.“ „Du und die anderen fünf ?“ „Ja, Sir.“ Hasard lächelte. „Danke für euren schnellen Einsatz, aber hier ist bereits alles geregelt. Los, hilf mir, die Mädchen loszubinden, sie haben eben den Schock ihres Lebens erfahren. Da man gerade dabei ist, Wahrheiten auszuplaudern, halte ich es auch für angebracht, unsere wahre Identität preiszugeben. Wir werden ihnen
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eben ganz einfach beibringen, daß nicht alle Engländer Teufel sind.“ „Ja, ich finde auch, das wird langsam Zeit“, meinte Dan. Er erblickte in dem offenen Raum hinter Hasard die drei Mädchen und grinste Segura, die ihn fast flehend anschaute, aufmunternd zu. * Nach Mitternacht drehte der Wind. Es blies jetzt nicht mehr aus Westsüdwest, sondern aus Nordwesten. Der Sturm hatte sich gelegt, nur eine mäßige Dünung bewegte die See, und Lucio do Velho konnte die Manntaue entfernen lassen und die normale Besegelung gegen die Sturmsegel seiner Viermast-Galeone „Candia“ austauschen. Unter den letzten zum Land strebenden Wolkenfetzen kletterte er auf das Achterdeck seines nur leicht lädierten Schiffes und hielt eine kurze Ansprache an die Offiziere und das Schiffsvolk. „Wir haben es geschafft“, sagte er. „Dem Himmel sei Dank, aber vergessen Sie auch nicht, daß es meiner vorbildlichen Schiffsführung zu verdanken ist, wenn wir im Sturm kein größeres Unheil erlitten haben. Der beste Beweis für die Richtigkeit meiner Manövrierkunst ist die Tatsache, daß wir die anderen Schiffe unseres Verbandes aus den Augen verloren haben, Senores. Die Kapitäne der ,Sao Sirio', der ,Sao Joao', der ,Extremadura' und der ,Santa Angela' waren meiner großen Strategie, gegen den Wetterfeind ins Feld zu ziehen, nun einmal nicht gewachsen.“ „Wir wollen nicht hoffen, daß sie alle gesunken sind, Senor Comandante“, erwiderte der erste Offizier. „Beten wir zum Himmel, daß sie nur den Kontakt zu uns verloren haben und uns bald wieder einholen.“ Do Velho blickte mißbilligend zu dem Ersten. Wie konnte dieser Gimpel es wagen, ihn einfach zu unterbrechen? Do Velho wollte ihm eine geharnischte Antwort geben, doch dann überlegte er es sich doch anders. Bei aller Überheblichkeit erschien es auch ihm nicht angebracht, den
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abgekämpften, physisch und nervlich ausgelaugten Männern Standpauken bezüglich ihres Benehmens zu halten. „Bei den derzeitigen Windverhältnissen können wir darauf nicht hoffen“, erwiderte Lucio do Velho nur. „Die Schiffe müssen kreuzen, um den Nordkurs halten zu können.“ „Das dauert eine halbe Ewigkeit“, sagte Ignazio, der Mann aus Porto. „Senor, ich glaube, soviel Zeit können wir nicht verlieren.“ Do Velho musterte seinen Bootsmann unter hochgezogenen Augenbrauen. „Wie? Ja, richtig, Ignazio. Ich würde den Seewolf allein jagen, wenn ich könnte, aber ich kann auf die Unterstützung der beiden Galeonen und der Karavellen nicht verzichten. Wir müssen klug vorgehen, klug und taktisch.“ „Wie ist also Ihre Order, Senor Comandante?“ erkundigte sich Ignazio. „Wir halsen und segeln mit raumem Kurs an der Küste entlang“, sagte do Velho bissig. „Liegt das denn nicht auf der Hand, Bootsmann?“ „Nein - ich meine, selbstverständlich, Senor.“ „Wir müssen in diesen sauren Apfel beißen“, sagte do Velho. „Je eher wir die Segler unseres Verbandes wiedergefunden haben, desto besser. Ich brauche einen vollständigen, schlagkräftigen Verband, bevor ich meine Mission weiterführen kann.“ Die Offiziere - ausgenommen Ignazio blickten sich untereinander an. Sie fragten sich im stillen, ob es nicht genauso klug, nein, intelligenter gewesen wäre, das Toben des Sturmes an einem geschützten Ort abzuwarten. In diesem Fall wäre der Verband komplett geblieben, und er hätte jetzt, gegen Morgen, ohne weiteren Verzug wieder nordwärts segeln können. Aber es lohnte sich nicht, mit dem eingebildeten Kommandanten darüber zu diskutieren. Auf Kriegsschiffen wurde nicht debattiert, auf Schiffen der Armada wurden die Befehle der höchsten Vorgesetzten ausgeführt - und damit basta.
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Im Morgengrauen richtete Alvaro Monforte sich endlich von seiner Bettstatt auf und vernahm den Bericht des „Captains Philip Drummond“. Josea, Segura und Franca hatte der Seewolf reinen Wein einschenken können, was seine Herkunft betraf —dem Kapitän eines portugiesischen Kriegsschiffes gegenüber durfte er das aber weiß der Himmel nicht tun. So hatte Hasard die Mädchen zum. absoluten Stillschweigen verpflichtet, nachdem er von ihnen erfahren hatte, um wen es sich bei den fünf schlafenden Männern handelte. Monforte nickte verdrossen, als Hasard geendet hatte. „So“, sagte er. „Das war also die großartige ,Hilfe für Schiffbrüchige'. Por Dios, in was für ein Räuber- und Mördernest sind wir doch geraten. Erst der Untergang unserer Galeone - und dann dies. Wenn Sie und Ihre Männer nicht gewesen wären, Capitan Drummond, hätten der Erste, der Decksälteste, der Soldado, der Decksmann und ich jetzt am Fuß der Klippfelsen neben den Leichen unserer Kameraden gelegen.“ Dan war eingetreten und meinte: „Ich habe mich also doch nicht verhört, als ich Matt von dem Krachen und Schreien erzählte. Himmel, wenn wir gleich die Felsen hinuntergeklettert wären, hätten wir vielleicht noch etwas für Ihre Mannschaft tun können, Capitan Monforte.“ „Nein, sicherlich nicht. Da war absolut nichts mehr zu machen - wir waren alle unserem Verhängnis ausgeliefert, niemand konnte seinem Schicksal entgehen. Senor Drummond, helfen Sie uns, unsere Toten mit seemännischen Ehren zu bestatten?“ „Darauf können Sie sich verlassen. Darf auch ich Sie um einen Gefallen bitten?“ „Das ist doch selbstverständlich.“ „Schaffen Sie die Brancates mit dem Maultierkarren in die nächste Stadt, wenn wir in See gehen“, sagte der Seewolf. „Sie werden verstehen, daß wir keine Zeit damit verlieren können und es außerdem viel
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mehr Gewicht hat, wenn Sie die Verbrecher an die Gerichtsbarkeit ausliefern und vortragen, was geschehen ist und welche Schuld Pinho, Emilia, Charutao und Ipora Brancate auf sich geladen haben.“ „Ja, das sehe ich ein. Aber was ist mit der alten Frau und den drei Mädchen, Capitan?“ „Sie haben sich einer gewissen Komplicenschaft schuldig gemacht“, entgegnete Hasard ernst. „Aber sie wußten nicht, daß es Beihilfe zum Mord war. Die Abuela hat mitgeholfen, die vier Oberhalunken festzunehmen, und Josea, Segura und Franca sind bereit, gegen ihre Eltern und Brüder auszusagen. Ich finde, das hat Gewicht genug.“ „Wir könnten sie also vor einer Gefängnisstrafe bewahren, wenn ich mich dafür einsetze“, sagte Monforte. „Tun Sie es?“ „Ja. Da dieser Vorschlag von einem Mann wie Ihnen erfolgt, Capitan Drummond, kann ich nur einwilligen. Sicherlich täuschen Sie sich nicht, wenn Sie mir zu verstehen geben, daß die Abuela und die Mädchen keine neuen Schandtaten aushecken.“ „Sie tun es ganz sicher nicht.“ Monforte stand auf, trat ans Fenster und blickte zur See, die man in der Ferne unter milchigen Schleiern mehr ahnen als sehen konnte. „Sie gehen also wieder in See - mit welchem Kurs?“ „Nordwärts“, antwortete Hasard. „Heim nach Irland. Dublin ist unser Heimathafen.“ „Sollten Sie unterwegs meinem Comandante begegnen, dann grüßen Sie ihn von mir“, sagte Monforte bitter. „Richten Sie ihm aus, daß ich ein Disziplinarverfahren gegen ihn anstrengen
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werde - weil er meine Männer auf dem Gewissen hat.“ „Hat er sich so verantwortungslos verhalten?“ „Ja. Ich kenne keinen Verbandsführer, der so rücksichtslos ist wie er.“ „Kann man seinen Namen erfahren?“ fragte Dan O'Flynn. „Lucio do Velho”, erwiderte Alvaro Monforte freimütig. Hasard und Dan blickten sich an. Sie standen da wie vom Donner gerührt und waren heilfroh, daß der portugiesische Kapitän sie in diesem Augenblick nicht beobachtete. „Man nennt ihn den ,Milagrolado' „, fuhr Monforte wie im Selbstgespräch fort. „Ja, er scheint in Südafrika wie durch ein Wunder dem sicheren Tod entgangen zu sein. Ich kenne nicht die ganze Geschichte, aber ich lege auch keinen Wert darauf, sie zu erfahren. Mir geht es nur um eins: daß man do Velho zur Ordnung ruft — ja, daß man ihn degradiert.“ „Capitan“, sagte der Seewolf, der sich jetzt wieder gefaßt hatte. „Erzählen Sie mir mehr über diesen Lucio do Velho. Vielleicht bin ich ihm irgendwo schon einmal begegnet. Und vielleicht treffe ich ihn wirklich schon bald wieder und kann ihm tatsächlich sagen, was Sie mir mit auf den Weg geben.“ Monforte wandte sich um und musterte Hasard. „Auch das würden Sie allen Ernstes für mich tun?“ „Dies und noch einiges mehr würde ich do Velho auseinandersetzen“, erklärte der Seewolf. Nur Dan O'Flynn verstand, wie das gemeint war, denn Monforte konnte ja nicht ahnen, daß Hasard die Spur seines Erzfeindes wiedergefunden hatte...
ENDE