Dietmar von der Pfordten Normative Ethik
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Dietmar von der Pfordten Normative Ethik
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Dietmar von der Pfordten
Normative Ethik
De Gruyter
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ISBN 978-3-11-022690-4 e-ISBN 978-3-11-022691-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandabbildung: Dreifachportrait, Öl auf Leinwand, 84,5 × 69,2 cm, entstanden in der ersten Hälfte des 16. Jhd. im venezianischen Stil, traditionell Tizian, Giorgione und Sebastiano del Piombo als Gemeinschaftschaftswerk zugeschrieben, seit 1926 im Detroit Institute of Arts, Inv. 26.107 Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, www.da-tex.de, Leipzig Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Für Leonard
Vorwort Wie sollen wir handeln? Was ist gut oder schlecht? Diese und ähnliche Fragen erscheinen uns für unser Leben wesentlich. Wir beantworten sie im Rahmen vieler kleiner und großer Wertungen und Entscheidungen unseres Alltags. Die Antworten können solche der Moral, des Rechts, der Politik, der Religion, der Erziehung oder der Ratschläge des guten Lebens sein. Die normative Ethik dient der Kritik und RechtÂ�fertigung dieser Antworten. Zur Erfüllung dieser Aufgabe der Kritik und Rechtfertigung benötigt die normative Ethik€ – so die zentrale inhaltliche These der vorliegenden Untersuchung€– fünf Elemente: erstens die einzelnen Menschen bzw. Lebewesen als Ausgangspunkt, zweitens ihre Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, also ihre Belange, drittens der Bezug dieser Belange auf alle Handlungsteile im weiteren Sinn, nicht nur auf einzelne wie den guten Willen oder die Konsequenzen, viertens die Notwendigkeit einer Abwägung, schließlich fünftens als Kriterium dieser Abwägung die relative Unabhängigkeit der Belange von den Anderen bzw. der Gemeinschaft. Die hier entfaltete normative Ethik markiert mit ihren fünf Elementen einen dritten Weg jenseits von kantischer Ethik bzw. Deontologie auf der einen Seite und Utilitarismus bzw. Konsequentialismus auf der anderen Seite. Sie versucht auf dieser Grundlage Antworten auf konkretere ethische Fragen zu geben, etwa nach dem Bestehen von Pflichten gegen sich selbst, nach der Zulässigkeit paternalistischen Entscheidens für Andere sowie nach der Beurteilung überpflichtgemäßen Handelns.
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . 2. Theorien der normativen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . 3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 14 17
I. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
23 23 28 30 32 38 46
8. 9. II. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen . . . . . . . . . . . . . . Präzisierung des normativen Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . Normativ-individualistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . Die Wahl der Bezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachliche Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . Begründung des Individualprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . Begründung des Allprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . Begründung des Prinzips der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . Die ontologische Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . Asymmetrie und Symmetrie der Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen: Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen (Belange bzw. Interessen) . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. Kritik verschiedener Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . Das Kontinuum zwischen subjektiver Manifestation und objektiver Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . Belange bzw. Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . Interessen und Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Qualifikationen von Belangen bzw. Interessen . . . . . . . . . . . . . . Menschenwürde und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . Die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften und die Handlungsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . Eine Bestätigung des normativen Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“.
46 48 49
50 50 57 65 67 69 72 74 87 88
X III. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. IV. 1. 2. 3. 4. V. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Inhalt
Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen: grundsätzliche Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . Die sieben Teile der Handlung im weiteren Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . Versuche einer psychologisch-handlungstheoretischen Reduktion: Gründe und Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . Versuche einer ethischen Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . Die deskriptive Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . Die normative Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . Der Grund für das Scheitern der Beschränkung des Bezugs . . . . . . . . . . Handlungen und Normen bzw. Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem) . . . Sollen die Zahlen zählen? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. Handeln als Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange: Vollständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . Die Möglichkeit einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . Die Wirklichkeit einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . Die Notwendigkeit einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . Gut, richtig und gerecht als Begriffe der Abwägung bzw. ZusammenÂ�fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange: das Prinzip der relativen Individualund Ander- bzw. GemeinschaftsÂ�abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . Der Fokus der Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . Kritik des Vertragsprinzipsâ•›/â•›Diskursprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . Kritik des Verallgemeinerungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . Kritik des Maximierungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . Kritik weiterer Prinzipien: Gleichheit, Genügenâ•›/â•›Suffizienz, Pareto, Aufopferungâ•›/â•›Kaldor-Hicks, Maximin, Utilex, Leistung, Priorität . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . Das Prinzip der relativen Individual- und Anderbzw. GemeinschaftsÂ�abhängigkeit der Belange . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . Die Belange der Individualzone . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . Die Belange der Relativzone . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . Die Belange der Sozialzone . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone . . . . . . . . . . . . . . Der Widerstreit zwischen Belangen verschiedener Zonen . . . . . . . . . . . . Die Hierarchie der Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . .
90 91 95 99 101 102 105 107 107 117 128 135 150 151 159 159 162
165 165 169 175 191 201 210 214 220 221 224 239 243

VI. 1. 2.
XI
Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . 245 Eine Analyse der fünf Elemente normativer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. 248 Eine Metaethik der individualistisch-objektivistischen Kohärenz . . . . . . . 252
VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände . . . . . . . . . . . . 1. Bewertung, Norm und Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflicht (Verbot, Gebot) und Pflichtfreiheit (Erlaubnis, Freistellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 3. Zum Verhältnis zwischen Wertungen sowie Normen und Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . 4. Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . .
259 259 261 263 264
VIII. Pflichten gegen sich selbst? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die fünf möglichen Relationspole einer Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 2. Worauf bezieht sich das „gegen“ bei den Pflichten gegen sich selbst? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . 3. Die Pflichten gegen sich selbst in traditionellen Ethiken und bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . 4. Die Pflichten gegen sich selbst nach der hier entfalteten Ethik . . . . . . . .
275 276
IX. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Typen von Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . Unterlassenspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . Tuns- bzw. Hilfeleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . Gemeinschaftspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . Pflichten zwischen Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . Pflichten zwischen Bekannten . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . Pflichten in Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . Tugendpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . .
281 281 285 286 288 289 290 292
X.
Über- und unterpflichtgemäßes Handeln (Super- und Supraerogation) sowie Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . Überpflichtgemäßes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . Unterpflichtgemäßes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . Weitere deontisch-axiologische Kombinationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. .
294 294 304 305 305
Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . Der Begriff des Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . Normativer Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . Keine Verwirklichung von Pflichten gegen sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . Die entscheidenden Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . Spezifik der Sozialethik, politischen Ethik und Rechtsethik . . . . . . . . . . .
307 307 310 311 312 315
1. 2. 3. 4. XI. 1. 2. 3. 4. 5.
272 272 274
XII
Inhalt
XII. 1.
Einzelne Typen moralischer Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Akteurshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . Zwei Pflichten gegenüber einem Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . Pflichten gegenüber zwei Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . Pflichten gegenüber drei und mehr Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . Kollision zwischen moralischen und rechtlichen Pflichten . . . . . . . . . . . .
2. 3. 4. 5.
319 321 322 324 332 337
XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 1. Sind nur empfindungsfähige Lebewesen zu berücksichtigen? . . . . . . . . . . 2. Sind Naturkollektive wie Arten oder Ökosysteme zu berücksichtigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . 3. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich zu berücksichtigen? . . . . . . 4. Wie weit reicht die Würde? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . .
338 339 341 343 347
XIV. 1. 2. 3. 4.
Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . .
352 352 356 363 364
XV. 1. 2. 3. 4.
Individualethik und Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . Der zentrale Unterschied: Gemeinschaft und Repräsentation . . . . . . . . . Mitglieder und Nichtmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . Strukturen der Gerechtigkeit in Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . .
365 366 369 370 377
XVI. 1. 2. 3.
Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . Arzt und Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . Gentechnik beim Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . .
381 381 385 391
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 403 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 419
Einleitung 1. Der Begriff der Ethik Ethik ist eine Art unserer Suche nach Erkenntnis. Aber Erkenntnis wovon? Eine erste Antwort ist einfach: von zu Erkennendem, das heißt ihrem Gegenstand im formalen Sinn, ihrem ErÂ�kenntÂ�Â�nisÂ�objekt. Die Unterscheidung von Erkenntnissuche und Erkenntnisobjekt ist grundlegend, denn jede Suche nach Erkenntnis richtet sich als zielorientiertes menschliches Handeln auf einen bestimmten Gegenstand im formalen Sinn. Durch diese Richtung auf einen bestimmten Gegenstand im formalen Sinn unterscheidet sie sich notwendig, wenn auch nicht ausÂ�schließÂ�lich, von anderen Arten der Suche nach Erkenntnis. Gegenstand der Ethik in einem ersten, noch vorläufigen und damit eingeschränkten Verständnis sind praktische Tatsachen im engeren Sinn, also auf jeden Fall wirklich bestehende Normen, Regeln, Wertungen und Überzeugungen, die unser Handeln und Entscheiden bestimmen, etwa Moral (Sitte), Recht, Religion, Erziehung, Politik, Technik, Medizin, Konventionen und Einsichten des guten Lebens (Ethos), seien diese Normen, Regeln, Wertungen und Überzeugungen jeweils individuell oder sozial, autonom oder heteronom, kategorisch oder hypothetisch. Ethik
Moral Recht Religion Erziehung Politik Technik Medizin Konvention gutes Leben ...
a) Primäre und sekundäre Normordnungen Sowohl die Normen und Regeln der Moral, des Rechts usw. als auch die Beschreibungen, Bewertungen und Verpflichtungen der Ethik sind menschliche Gestaltungen. Worin unterscheiden sie sich?
2
Einleitung
Die Normen der Moral, des Rechts usw. bestehen zum einen nicht nur zufällig, sondern notwendig auch als reale, das heißt wirkliche einstellungs- und handlungsbestimmende praktische Tatsachen in Raum und Zeit, und zwar als innere wie äußere Tatsachen. Sie leiten und beeinflussen zum anderen unser gesamtes Handeln und unsere gesamten Einstellungen unmittelbar und primär. Man kann deshalb auch von primären Wertungen, Normen, Regeln und Überzeugungen sprechen, oder, sofern es sich wie regelmäßig um eine systematisch verbundene Mehrzahl derartiger Denk- und Sprachformen handelt, von primären Wertungs-, Normen-, Regel- und Überzeugungsordnungen. Die Ethik als eine Art unserer Suche nach Erkenntnis besteht dagegen zum einen nicht begrifflich notÂ�wendig als wirkliche einstellungs- und handlungsbestimmende Tatsache in Raum und Zeit. Sie kann vielmehr ein nur mögliches Gedankengefüge, ein bloßes Ideal sein, das sich zwar in verschiedenen inneren Normen und äußeren Handlungsverpflichtungen verwirklichen kann, eine derartige Verwirklichung aber anders als die primären Normordnungen nicht begrifflich notwendig voraussetzt. Die Ethik bezieht sich zum anderen nicht unmittelbar und primär auf unsere gesamten Handlungen, sondern nur mittelbar und sekundär auf primäre Normordnungen, also Moral, Recht, Religion usw., die unser tägliches Handeln und Entscheiden unmittelbar bestimmen. Die Ethik ist somit€– die verbundene Mehrzahl ihrer Denk- und Sprachformen vorausgesetzt€– eine sekundäre BeschreiÂ�bungs-, Bewertungs- und Verpflichtungsordnung. Die Alltagssprache mit ihrer häufig sehr feinen und sensiblen Differenzierung markiert die Demarkationslinie zwischen dem Wirklichkeitscharakter der primären Moral und dem Möglichkeitscharakter der sekundären Ethik ganz deutlich: Eine Moral kann man „beschreiben“, nicht aber „schreiben“. Eine Ethik dagegen kann man€– wie es hier unternommen wird€– „schreiben“, nicht aber nur „beschreiben“. Angesichts der regelmäßigen Mannigfaltigkeit derartiger menschlicher Gestaltungen ist der Unterschied zwischen dem Wirklichkeitscharakter der primären Normordnungen und dem Möglichkeitscharakter der Ethik in der Realität allerdings kein absoluter, sondern lediglich ein relativer. Denn als menschliche Artefakte haben auch tatsächlich bestehende primäre Normordnungen wie Moral und Recht, insofern sie Wertungen und Utopien realisieren, gewisse idealische Züge. Und die idealische Ethik muss, um primäre Normordnungen wie Moral und Recht wirksam rechtfertigen und kritisieren zu können, wenigstens bis zu einem gewissen Grade ihrerseits wirklich, das heißt formuliert werden, sich also in inhaltlich bestimmenden Konkretisierungen, wie Erklärungen, Briefen, Artikeln, Büchern usw. niederschlagen. Aber wie beim Unterschied von Tag und Nacht schließt die Unklarheit über die genaue Demarkationslinie der Dämmerung die beiden klaren Alternativen und die Vielzahl eindeutig zuzuordnender einzelner Phänomene nicht aus. Sie macht die Unterscheidung vielmehr umso notwendiger. Der mittelbare und sekundäre Bezug der Ethik auf die unmittelbar und primär einstellungs- und handlungsleitenden Wertungen, Regeln, Normen und Überzeugungen schließt deren Beschreibung und Erklärung ein. Er dient aber auch und vor allem ihrer Bewertung sowie Normierung in Form einer Kritik bzw. Rechtfertigung. Die Möglichkeit, eine solche Kritik bzw. Rechtfertigung und damit eine normative Ethik mit Wahrheits-
1. Der Begriff der Ethik
3
oder zumindest Richtigkeitsanspruch, also objektiv, durchzuführen, ist im Alltag akzeptiert. Einige Philosophen ziehen sie aber prinzipiell in Zweifel.1 Eine eingehende Erörterung dieser Zweifel würde eine eigene, auf einer tertiären Ebene operierende Metaethik, das heißt eine auf einer sekundären Reflexionsebene angesiedelte Untersuchung der ontologischen, erkenntnistheoretischen und sprachlichen Voraussetzungen der Ethik und ihrer Gegenstände erfordern. Metaethik
Ethik
Moral Recht Religion Erziehung Politik Technik Medizin Konvention gutes Leben ...
Eine solche Untersuchung der Ethik und ihres Gegenstandsbezugs durch eine Metaethik ist zwar isoliert durchführbar. Sie wird aber€– soviel lässt sich in wissenschaftstheoretischer Perspektive vielleicht behaupten€– mangels Fähigkeit, die Widersprüchlichkeit des Begriffs einer normativen Ethik apriori zeigen zu können, die Entscheidung über ihre Möglichkeit mittels eines Verwirklichungsversuchs nicht von vornherein ausschließen können. Die hier unternommene normative Ethik ist ein solcher Verwirklichungsversuch. Aus Gründen der Beschränkung von Raum und Zeit kann die Objektivitätsfrage der Metaethik aber nur am Rande erörtert werden (Kapitel€VI). Ethik in einem ersten Verständnis ist also die mögliche bzw. idealische Suche nach der ErkenntÂ�nis notwendig auch wirklicher und primärer, also unmittelbar handlungsleitender Wertungen, Normen, Regeln und Überzeugungen wie sie sich in Moral, Recht, Religion, Erziehung, Politik, Technik, Medizin, Konventionen, Einsichten des guten Lebens (Ethos) usw. finden, und zwar in Form der Beschreibung, Erklärung, Bewertung sowie Verpflichtung, also auch der Kritik und Rechtfertigung.2 1
2
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe Band 1, 9.€Aufl. Frankfurt a.â•›M. 1993, 6.42–6.422; Moritz Schlick, Fragen der Ethik, 2.€Aufl. Frankfurt a.â•›M. 2002; Alfred Jules Ayer, Language, Truth and Logic, Londonâ•›/â•›New York 1987, S.€136â•›ff.; Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge 1985; Jonathan Dancy, Ethics Without Principles, Oxford 2004. Für eine Unterscheidung zwischen Moral und Ethik auch: William K. Frankena, Ethics, 2.€Aufl. Englewood Cliffs, S.€5; Tom L. Beauchamp und James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, 6.€Aufl. Oxford 2009, S.€1â•›ff.; Mark Timmons, Morality without Foundations. A Defense of Ethical Contextualism, Oxford 1999, S.€87, Fn.€11; Wilhelm Vossenkuhl, Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21.€Jahr-
4
Einleitung
Die Ethik ist dabei nicht auf die akademische bzw. wissenschaftliche Suche nach Erkenntnis beschränkt, sondern findet sich ursprünglich in der alltäglichen Erörterung primär handlungs- und einstellungsleitender Normen, vorausgesetzt diese alltägliche Erörterung erreicht eine gewisse Vernünftigkeit, das heißt Beschreibungs-, Erklärungsundâ•›/â•›oder Begründungskraft. Die sprachliche Äußerung des A „Du sollst den B nicht töten!“ wäre in einer konkreten Situation also eine solche der Moral. Auch die Â�bloße Bekräftigung „Ich will es so!“ wäre eine moralische. Die Begründung „…, weil es den Belangen des Opfers widerspricht“ wäre dagegen ebenso wie die Beschreibung „C will, dass A den B nicht tötet“ eine solche der Ethik. Die konkrete Institutionalisierung umfangreicher primärer Normordnungen kann wie beim modernen Recht und der modernen Politik dann allerdings auch viele Beschreibungen und Begründungen einschließen€ – mit der notwendigen Folge, dass diese zusammen mit der primären Normierung ebenfalls Gegenstand einer sekundären ethischen Beschreibung und Bewertung werden. Der sekundäre Beschreibungs- und Begründungscharakter der Ethik überschreitet den primären Normierungscharakter etwa der Moral oder des Rechts und lässt es deshalb eo ipso unerheblich sein, ob der Beschreibende oder Begründende selbst als Autor oder Adressat an der konkreten moralischen oder rechtlichen NormierungsÂ�situation oder auch nur an der ihr zu Grunde liegenden moralischen oder rechtlichen Gemeinschaft teilnimmt. Das schließt nicht aus, dass die Teilnahme an der konkreten moralischen oder rechtlichen Normierungssituation oder wenigstens an der ihr zu Grunde liegenden Gemeinschaft regelmäßig die Sensibilität für eine adäquate ethische Konfliktlösung erhöhen wird€– wenn auch die in allen Kulturen etablierten Institutionen der neutralen Beratenden oder Entscheidenden, etwa in den Personen von Priestern und Richtern, umgekehrt die Alltagseinsicht beglaubigen, dass Distanz, Neutralität und Objektivität der ethischen RechtÂ�Â�Â�fertigung ebenfalls wichtig sind. Wissenschaftliche Ethik, wie sie das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist, lässt sich von derartigen alltäglichen ethischen Beschreibungen und Begründungen der Moral nicht prinzipiell unterscheiden. Sie ist diejenige Ethik, die als säkular-immanentes Unternehmen bestimmten, relativ weitergehenden wissenschaftlichen Standards wie Allgemeinheit, Genauigkeit, Differenziertheit, Begründetheit, WiderÂ�Â�spruchsfreiheit, Kohärenz, Vollständigkeit, Einfachheit, Originalität, FruchtbarÂ�keit und Wahrheit oder wenigstens Richtigkeit genügt. Die wissenschaftliche Ethik stellt also nur eine relative Erweiterung der alltäglichen ethischen Vernünftigkeit dar, so wie etwa auch die empirischen Wissenschaften keine grundsätzlich neuen ErkenntÂ�nisquellen im Vergleich zu unseren Alltagserfahrungen erschließen. Die wissenschaftliche Ethik setzt wie die Ethik generell somit kein Fundament außerhalb der Moral voraus. Sie setzt auch nicht voraus, dass der Ethiker nicht selbst am fraglichen moralischen Konflikt beteiligt ist. Sie schließt dies aber auch nicht aus. Der Sekundärcharakter der ethischen Bezugnahme auf die primären Normen führt zur prinzipiellen Unerheblichkeit der Teilnahme an den primären Regelungen. hundert, München 2006, S.€18, 40â•›ff. Vgl. ebenfalls die Differenzierung zwischen „positive morality“ und „critical morality“ bei H.â•›L.â•›A. Hart, Law, Liberty and Morality, Oxford 1963, S.€20, 22.
1. Der Begriff der Ethik
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b) Die Unterscheidung von Moral und Ethik Der Ausdruck ta ethika wurde im Rahmen wissenschaftlicher Erörterungen, soweit wir wissen, zum ersten Mal von Aristoteles zur Bezeichnung der Untersuchung des tatsächlichen éthos (Gewohnheit, Sitte, Brauch), e¯thos (gewöhnlicher Aufenthalt, Wohnsitz, Gewohnheit, Charakter) und nómos (Brauch, Sitte, Gewohnheit, Satzung, Gesetz, Setzweise, Tonart, Gesang, Lied) verwendet.3 Er diente dann auch als Titelteil zweier seiner Abhandlungen zur praktischen Philosophie, der Nikomachischen Ethik und der Eudemischen Ethik€– wobei zweifelhaft ist, ob diese Titel von Aristoteles selbst stammen oder eine Hinzufügung späterer Herausgeber seiner Werke darstellen. Die Geschichte der Philosophie hat Hunderte von „Ethiken“ hervorgebracht. Bentham und Kant verwenden dann am Ende des 18.€Jahrhunderts den Ausdruck zwar nicht mehr im Titel, perpetuieren die klare Unterscheidung zwischen primärer Normierung und sekundärer Beschreibung bzw. Begründung dieser Normierung in ihren Werktiteln aber durch die Vorschaltung von „Prinzipien“ (bei Bentham: Introduction to the Principles of Morals and Legislation) bzw. „Metaphysik“ (bei Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). Kant betont überdies am Anfang seiner Schrift, dass die alte griechische Einteilung der Philosophie in Physik, Ethik und Logik „vollkommen angemessen“ sei und man „an ihr nichts zu verbessern“ habe, „als etwa nur das Prinzip derselben hinzu zu thun“.4 Man mag sich fragen, warum beide „Ethik“ dann nicht auch in ihre Titel aufnahmen? Vermutlich wollten sie die Neuheit ihrer Konzeptionen betonen, sich also vor allem von der aristotelischen Glücks- und Tugendethik abgrenzen. Henry Sidgwick wählt dann 1874 wieder den Titel The Methods of Ethics und Max Scheler 1913 Der Formalismus in der Ethik und die Materiale Wertethik. Beide kehren also zum klassischen Ausdruck „Ethik“ im Titel zurück. Eine Abgrenzung zur antiken Glücks- und Tugendethik war offenbar nicht mehr nötig oder vielleicht auch nicht gewollt. Heute werden vereinzelt in der Alltagssprache und sogar in wissenschaftlichen Untersuchungen die Begriffe Ethik und Moral nicht mehr klar getrennt.5 Das erscheint aber sowohl begriffs- und worthistorisch€– wegen der mit der griechischen Unterscheidung von éthos, e¯thos sowie nómos und ta ethika sowie der lateinischen Unterscheidung von mos (Sitte, Gewohnheit, Brauch) und philosophia de moribus6 bzw. philosophia
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Aristoteles, Metaphysik, 987b1. Es finden sich auch noch „ethische Theorie“ (ethikes theorias, Analytica Posteriora 89b9), „in ethischen Büchern“ (en tois ethikois, Politik 1261a31) und „ethische Beschäftigungâ•›/â•›Abhandlungâ•›/â•›AngeÂ�legenheit“ (ethike pragmateia, Magna Moralia 1181b28). Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kants gesammelte Schriften, hg. von der Â�Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademieausgabe), Berlin 1902â•›ff., Nachdr. 1968, S.€387. Vgl. Simon Blackburn, Ruling Passions, Oxford 1998, S.€2; Svend Andersen, Einführung in die Ethik, 2.€Aufl. Berlin 2005, S.€2; Richard B. Brandt, Ethical Theory. The Problems of Normative and Critical Ethics, Englewood Cliffs 1959, S.€2 Fn. Marcus Tullius Cicero, De Fato 1, 1.
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Einleitung
moralis erreichten Differenzierung€– als auch sachlich€– wegen der für jede Form der Suche nach Erkenntnis notwendigen Trennung eben dieser Erkenntnissuche und ihres Objekts€– ein Rückschritt im Phänomenverständnis. Jeder unterscheidet etwa die Physik von Materie und Energie oder die Literaturwissenschaft von Romanen, Erzählungen und Gedichten als ihren Erkenntnisgegenständen. Im Übrigen differenzieren wir klar und ohne Zweifel zwischen der Ethik auf der einen Seite und Recht, Religion, Erziehung, Politik, Technik, Medizin, Konventionen usw. als ihren€– neben der Moral€– übrigen notwendig tatsächlich bestehenden Gegenständen auf der anderen Seite. Warum mit Bezug auf die Moral als einer Recht, Politik usw. vergleichbaren, primären Normenordnung die Unterscheidung zwischen Erkenntnissuche und Erkenntnisobjekt verzichtbar sein soll, ist nicht einzusehen. Die Tatsache, dass die Pflichten der Moral im Gegensatz etwa zu solchen von Recht und Konventionen vom Adressaten auch eine innere Überzeugung fordern, hebt die eingangs erwähnten zentralen Unterschiede zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitscharakter sowie primärer Handlungs- und Einstellungsnormierung und sekundärer Bezugnahme auf diese primäre Handlungs- und Einstellungsnormierung nicht auf. Die Unterscheidung der primären Normordnungen in Moral, Recht, Religion, Erziehung usw. ist Ergebnis eines langen historischen Differenzierungsprozesses der Phänomene, dessen Erkenntnis nicht durch die Verwechslung von Ethik und Moral verdunkelt werden darf.7 Der Grund für die gelegentlich anzutreffende Ersetzung des Ausdrucks „Moral“ durch den Ausdruck „Ethik“ in der Sprache des Alltags dürfte in der allgemeinen Tendenz mancher gegenwärtiger Sprecher zum vermeintlich Besseren, Höheren und Wichtigeren liegen. Immobilienmakler preisen als Teil eines durchsichtigen Marketings heute nicht mehr „Häuser“, sondern „Wohnresidenzen“ an. Da dem Ausdruck „Moral“ immer das HandÂ�lungsÂ�beschränkende, das „Moralinsaure“ kategorischer Pflichten anhaftet, versuchen manche mit dem Ausdruck „Ethik“ mehr Reflexion, Verständnis und Bejahung zu suggerieren€– eine Verwirrung des Sprachgebrauchs in Kauf nehmend. Warum auch in wissenschaftlichen Untersuchungen zum Teil nicht mehr zwischen „Moral“ und „Ethik“ unterschieden wird, lässt sich nur vermuten. Ein Faktor mag neben dem immer weiter fortschreitenden Szientismus der zunehmende Einfluss der angelsächsischen Sprache und Begrifflichkeit sein. Das Englische kennt den Unterschied zwischen „moral(s)“ und „morality“, welcher im Deutschen nicht einfach reproduzierbar ist. Während „moral(s)“ dem deutschen „Moral“ vergleichbar nur primäre Verpflichtungen bzw. Verpflichtungsordnungen ausdrücken kann und einen Plural kennt, hat „morality“, das wie „Ethik“ nicht im Plural stehen kann („Ethiken“ ist nur eine Abkürzung für die verschiedenen ethischen Theorien einzelner Autoren oder einzelne Bereichsethiken), schon eine stärker sekundäre, das heißt beschreibende und begründende Bedeutung.8
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Vgl. Verf., Über die Begriffe Moral, Recht und Ethik, in: Religion und Ethik als Organisationen? Hg. von Jan Hermelink und Stefan Grotefeld, Zürich 2008, S.€175–193. Langenscheidt, Muret-Sanders, Großwörterbuch Englisch-Deutsch, Berlin 2001, S.€733â•›f., wo, anders als bei „moral“, bei „morality“ auch „Ethik“ und „Sittenlehre“ als Wortbedeutung angegeben ist.
1. Der Begriff der Ethik
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Darüber hinaus hat sich seit Hobbes sowie Hume und fortgeführt etwa durch Wittgenstein und Ayer im angelsächsischen Raum eine grundsätzliche Skepsis gegenüber normativ-ethiÂ�schen Rechtfertigungen ausgebreitet, was für manche die Beschränkung auf eine Beschreibung oder gar bloße Selbstbeschreibung der Moral nahelegt. Während die externe Beschreibung als deskriptive Ethik zwar reduktiv, aber zumindest möglich erscheint, wäre die bloße Selbstbeschreibung der Moral widersprüchlich und deshalb unmöglich, da die gleich noch näher zu erörternde notwendige Funktion der Moral gerade nicht in der Beschreibung liegt und es auch keinen kollektiven Akteur der Moral gibt, der eine solche Beschreibung durchführen könnte. Während der Begriff der Ethik in der Tradition von Aristoteles bis ins 19.€Jahrhundert die gesamte praktische Philosophie umfasste, wird er heute als Folge der Spezialisierung zumindest im akademischen Kontext verschiedentlich enger verstanden. Die Ethik ist danach lediglich ein Teil der praktischen Philosophie, die etwa noch die Beschreibung und Erklärung von Handlungen, Entscheidungen, Gefühlen, Einstellungen und Wertungen, also die Handlungstheorie, die Entscheidungstheorie sowie die Theorie der Gefühle, Einstellungen und Wertungen umfasst. Diese sind im Grunde genommen theoretische Untersuchungen praktisch relevanter Eigenschaften des Menschen, das heißt praktischer Tatsachen im weiteren Sinn, auf die sich die Bewertungen, Normen, Regeln und Überzeugungen der Moral, des Rechts, der Politik usw., also die Gegenstände der Ethik bzw. praktische Tatsachen im engeren Sinne wertend und verpflichtend beziehen, von denen sie ihrerseits aber auch beeinflusst werden. Untersuchungen dieser praktischen Tatsachen im weiteren Sinne sind regelmäßig deskriptiv bzw. erklärend-rekonstruktiv und nicht rechtÂ�fertigend-normativ, jedenfalls nicht in einem engeren kategorischen, sondern allenfalls in einem rationalitätstheoretisch-hypoÂ�thetischen Sinn. Für kategorisch-normative Rechtfertigungen besteht kein Grund, weil diese Gegenstände anders als viele Normen der Moral, des Rechts, der Religion und der Erziehung nicht kategorisch verpflichten. Aber die Verbindungen zwischen den praktischen Tatsachen im engeren und im weiteren Sinn sind so eng, dass jede strikte Trennung problematisch ist.
c) Subdisziplinen der Ethik Die Ethik lässt sich wenigstens in zwei Richtungen weiter differenzieren: Sie kann zum Ersten im Hinblick auf die Teile ihres Gegenstands unterschieden werden. Sie richtet sich dann jeweils auf einzelne der erwähnten primär handlungsleitenden Normordnungen. Als Ethik der Moral bzw. Moralphilosophie (Ethik im engsten Sinn) bezieht sie sich etwa auf die Moral, als Rechtsethik auf das Recht, als Ethik der Religion auf religiöse Normen, als Ethik der Erziehung auf die Erziehung, als politische Ethik auf die Politik, als Technikethik auf die Technik, als Medizinethik auf die Medizin, als Ethik der Konventionen auf konventionelle Regeln und Bewertungen und schließlich als Ethik des guten bzw. glücklichen Lebens auf Einsichten guter Lebensführung. Man fasst diese Teilbereiche der Ethik unter den Bezeichnungen „Angewandte Ethik“, „Praktische Ethik“ oder „Bereichsethiken“ zusammen.
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Einleitung
Metaethik
Ethik
Ethik der Moral Rechtse. relig. E. Erze. pol. E. Technike. Medizine. konv. E. E. d. g. Lebens
Moral Recht Religion Erziehung Politik Technik Medizin Konvention gutes Leben ...
Innerhalb dieser Gegenstandsdifferenzierung lassen sich notwendig Andere betreffende und nicht notwendig Andere betreffende Normordnungen gruppieren: Fragen der Moral, des Rechts, der Religion, der Erziehung und der Politik setzen notwendig die Betroffenheit Anderer voraus. Fragen der Medizin als solche sowie der Technik, der Konventionen und des guten Lebens usw. setzen nicht notwendig die Betroffenheit Anderer voraus, weil es ja auch medizinische, technische und konventionelle Gestaltungen geben kann, die nur den Anwender betreffen. Es handelt sich um Normen- bzw. Überzeugungsordnungen, die sich auf die eigenen Ziele, Wünsche und Bedürfnisse beschränken können. Innerhalb dieser Gegenstandsdifferenzierung kann man weiterhin notwendig kategorisch verpflichtende Normordnungen und nicht notwendig kategorisch verpflichtende Normordnungen unterscheiden. Kategorisch sind Normen, die konkret zustimmungsÂ� unabhängig Akzeptanz oder Befolgung fordern. Hypothetisch sind dagegen Normen, bei denen die Forderung nach Akzeptanz oder Befolgung von der konkreten Zustimmung des Verpflichteten abhängt. Moral, Recht, Religion, Erziehung und Politik enthalten notwendig auch kategorische Normen und sind deshalb kategorische Normordnungen. Bei der Medizin, Technik und den Konventionen hängt dies von der konkreten Ausgestaltung ab. Während etwa Ärzte früher häufig kategorische Βefolgung forderten, ist heute in jedem Fall die aufgeklärte Zustimmung des Patienten notwendig. Die Ethik kann zum Zweiten im Hinblick auf ihr Erkenntnisziel eingeteilt werden. Man kann das Ziel der Beschreibung und Erklärung von dem der Bewertung und Verpflichtung bzw. normativen Kritik und Rechtfertigung unterscheiden, wobei die Bewertung und Verpflichtung auf der Beschreibung und Erklärung aufbauen.9 Somit gäbe es eine deskriÂ�ptive, eine evaluative und eine präskriptive Ethik. Die beiden letzteren Formen werden allerdings regelmäßig€– so auch hier€– unter dem allgemeineren, wenn auch we-
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Zur Unterscheidung dieser drei sprachlichen Grundfunktionen: Verf., Deskription, Evaluation, Präskription, Berlin 1993.
1. Der Begriff der Ethik
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niger präzisen Begriff der normativen Ethik zusammengefasst, so dass sich die deskriptive und die normative Ethik gegenüberstehen. Hinsichtlich der ersten Art der Differenzierung, also des Rekurses auf Teile des Gegenstands der Ethik, ist der vorliegende Versuch grundsätzlich ein allgemeiner, das heißt prinzipiell auf alle primären Normordnungen bezogener, wobei aber eine Konzentration auf die notwendig auf Andere bezogenen und kategorischen Normordnungen der Moral, des Rechts, der Religion, der Erziehung und der Politik stattfindet (Ethik im objektbezogen engeren Sinn). Im Hinblick auf die zweite Art der Differenzierung, also mit Rekurs auf das Erkenntnisziel, ist er ein solcher der normativen Ethik. Im Vordergrund steht somit das Ziel der normativen Kritik und Rechtfertigung von primären Normordnungen, nicht ihre Beschreibung und Erklärung bzw. Rekonstruktion, wobei die Beschreibung und Erklärung wie gesagt im Prinzip notwendige Bedingung jeder normativen Kritik und Rechtfertigung ist. Allerdings erfordert die wissenschaftliche Untersuchung der Vielzahl und Vielgestaltigkeit der primären Normordnungen eine weitere pragmatische Auswahl. Da die Moral gegenüber dem Recht, der Religion, der Erziehung und der Politik die am wenigsten von weiteren sozialen Gestaltungen und Institutionen abhängige Form der Regelung unseres Verhaltens ist, wird die normative Ethik in dieser Untersuchung zunächst modellhaft auf die Moral bezogen. Aber weil Recht, Religion, Erziehung und Politik der Moral in den wesentlichen Hinsichten des notwendigen Bezugs auf Andere und der Kategorizität ähneln, ist die Ethik der Moral auf diese weiteren primären Normordnungen relativ leicht erweiterbar. Das Verständnis des Bezugs der Ethik auf die Moral als derart modellhaften Gegenstand ermöglicht also auch die Einsicht in die Ethik des Rechts und der Politik. Die Religion ist auch kategorisch, aber letztlich transzendent und deshalb vollkommen anders zu rechtfertigen. Die Erziehung enthält auch kategorische Elemente, setzt aber spezielle Einsichten in die Entwicklungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen voraus. Technik, Medizin, Konventionen und Ratschläge des guten bzw. glücklichen Lebens sind dagegen heute regelmäßig nicht kategorisch verpflichtend, sondern nur hypothetisch bzw. empfehlend und bedürfen deshalb keiner starken normativen Begründung, sondern nur einer schwachen Untersuchung der Zweckmäßigkeit ihrer Normen.
d) Die Moral Mit dem bloßen Ziel der Beschreibung und Erklärung kann die Moral ebenso wie die anderen primären Normordnungen nicht nur Gegenstand der deskriptiven Ethik, sondern auch Gegenstand anderer Wissenschaften sein, etwa der Soziologie, der Geschichte, der Ethnologie, der Anthropologie oder der Psychologie, je nachdem, welches Untersuchungsziel in den Vordergrund gerückt wird.10 Man könnte vielleicht noch 10 Vgl. Edward Westermarck, The Origin and Development of the Moral Ideas, 2 Bde., Nachdr. der 2.€Aufl., London 1912â•›/â•›17; Hartmut Kliemt, Moralische Institutionen. Empiristische Theorien ihrer Evolution,
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Einleitung
weitergehend behaupten, dass die deskriptive Ethik nichts anderes als Soziologie, Geschichte, Ethnologie, Anthropologie oder Psychologie der Moral ist, also gar kein philosophisches, sondern vielmehr ein einzelwissenschaftliches Unternehmen. Warum ist das so? Vermutlich weil die bloße Beschreibung, anders als die Normierung, welche ja die Beschreibung einschließt, keine umfassende und damit philosophische Perspektive auf einen Gegenstand entwirft. Die Moral ließe sich also zumindest im Rahmen einer reinen Beschreibung und Erklärung unabhängig von der normativen Ethik untersuchen und darstellen. Weil aber der hauptsächliche Gegenstand und das Ziel der vorliegenden Untersuchung die normative Ethik ist, wird hier auf eine nähere Erörterung der Moral jenseits dieser normativ-ethischen PerÂ�spektive verzichtet. Da für den Fortgang der Überlegungen unentbehrlich, muss jedoch eine tentative Präzisierung des Phänomens bzw. Begriffs der Moral und damit eine Abgrenzung zu anderen primären Normordnungen vorgeschlagen werden, ohne diesen Präzisierungsvorschlag hier näher erläutern oder rechtfertigen zu können:11 Moral bzw. Sitte ist danach die wirkliche, das heißt in einer konkret realisierten Gesellschaft, also in Raum und Zeit, bestehende Gesamtheit oder Teilgesamtheit von primären Wertungen, Normen, Regeln und Überzeugungen, die vor allem folgendem Ziel dienen: zwischen wenigstens potentiell divergierenden und damit konfligierenden Lebensvorstellungen zu vermitteln, um unsere Einstellungen und unseren Charakter sowie unser Entscheiden und Handeln zu beurteilen und zu lenken.12 Von anderen, einem ähnlichen Ziel dienenden primären Normordnungen unterscheidet sich die Moral durch folgende weitere spezifische Mittel und Sekundärziele: –â•fi Erstens enthält die Moral wie Recht, Religion, Erziehung und Politik auch Pflichten, das heißt Gebote und Verbote, und weitergehend kategorische Pflichten,13 nicht nur hypothetische, also nicht bloße Empfehlungen und Wertungen im Allgemeinen, wie die Regeln der Technik und der Medizin, die allgemeinen Empfehlungen und Gewohnheiten der Konventionen und die Ratschläge des guten Lebens. Moral, Recht, Religion, Erziehung und Politik unterscheiden sich also von anderen NormÂ� ordnungen wesentlich durch ihre Kategorizität. Dieses Erfordernis schließt nicht aus, dass der Verpflichtete konkret oder abstrakt tatsächlich zustimmt oder abstrakt Freiburg 1985; Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.â•›M. 1995; Lawrence Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a.â•›M. 1996. 11 Zu Kennzeichen der Moral: Günther Patzig, Moral und Recht, in: ders., Ethik ohne Metaphysik, 2.€Aufl. Göttingen 1983, S.€7–31, S.€9â•›ff.; Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 2.€Aufl. Berlin 2007, S.€8â•›ff. 12 Zur Annahme, dass die Moral widerstreitende Gesichtspunkte bzw. soziale Probleme zu lösen hat: Richard B. Brandt, Ethical Theory, S.€ 89â•›ff., 258. Auf den Kampf um limitierte Ressourcen und den Ausgleich fehlender Sympathie verengend: John L. Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, London 1990, S.€111. Gegen ein einheitliches Ziel der Moral dann aber Richard B. Brandt, A Theory of the Good and the Right, Neuauflage, Amherst 1998, S.€184. 13 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€414–420; Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, Indianapolis 1981, S.€3, 391; Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt a.â•›M. 1975, S.€257â•›ff.
1. Der Begriff der Ethik
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zustimmen können müsste. Es schließt auch nicht aus, dass derartige Verpflichtungen notwendig zu begründen sind und von anderen Bedingungen als der konkreten Zustimmung des Betroffenen abhängen. –â•fi Zweitens normiert die Moral nicht allein durch äußere, von anderen gesetzte und formale Regelungen wie das Recht (verstanden als positives Recht), sondern auch mittels innerer Wertungen und Verpflichtungen.14 –â•fi Drittens dient die Moral nicht zur zumindest partiell transzendenten Konstitution und Anleitung einer kultisch-religiösen Praxis wie die Religionen, die allerdings häufig sehr viel komplexer sind und als umfassendes soziokulturelles Phänomen auch allgemeine und damit genuin moralische Normen enthalten können. –â•fi Viertens dient die Moral nicht hauptsächlich der Entwicklung noch nicht voll einsichtsfähiger Menschen und anderer Lebewesen wie die Erziehung. Wirklich bestehende Normen bzw. Wertungen der Moral sind in vielen Gesellschaften zum Beispiel das Tötungsverbot, das Folterverbot, das Verletzungsverbot, das Lügenverbot, das Verleumdungsverbot, das Hilfsgebot in Notlagen, das Fairnessgebot sowie die Tugenden und damit positiven Bewertungen der Klugheit, Stärke, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Friedfertigkeit, Hilfsbereitschaft, Wohltätigkeit, Großzügigkeit usw. Eine bloße Konvention wäre dagegen die in der westlichen Welt vielfach als norÂ� mativ verbindlich akzeptierte Regel, beim Essen nicht zu schmatzen. Diese kulturabhängige Konvention gilt offenbar in manchen Teilen Asiens nicht. Ein Asiate könnte bei einer Essenseinladung durch einen Europäer eine Befreiung von dieser europäischen Konvention erbitten, etwa weil er mangels Übung nicht in der Lage sei, sie einzuhalten, oder weil ihm das Essen im Falle der Einhaltung dieser Regel keine Freude bereite. Die Begründetheit dieser Bitte zeigt, dass ihre Verpflichtungskraft von seiner konkreten Zustimmung abhängt, die Konvention also nicht kategorisch verpflichtet. Er könnte dagegen sicherlich keine Befreiung vom allgemeinen Tötungsverbot in AnÂ�spruch nehmen, weil dessen Verpflichtungskraft nicht von seiner konkreten Zustimmung abhängt, also kategorisch wirkt. Die Politik nimmt gegenüber Moral, Recht, Religion und Erziehung insofern einen gewissen Sonderstatus ein, als es bei ihr nicht auf den spezifischen Regelungstyp, sondern auf eine Eigenschaft des Handelnden ankommt, nämlich auf die Eigenschaft, als Vertreter einer repräsentierenden Gemeinschaft mit dem realistischen Anspruch auf Letztentscheidung zu handeln (vgl. Kapitel€XV).15 Die Politik kann sich deshalb mit allen anderen spezifischen Normierungstypen verbinden. Sie kann moralisch, rechtÂ�lich, religiös oder erzieherisch regeln. Bei manchen zeitgenössischen Theoretikern findet sich die häufig nicht näher begründete Annahme, dass das Ziel bzw. die „soziale Funktion“ der Moral die Verbesserung oder wenigstens Erhaltung des „Wohlergehens“ (well-being) und „Wachsens“ 14 Vgl. Verf., Was ist Recht? Ziele und Mittel, Juristenzeitung 2008, S.€641â•›ff. 15 Zu diesem Verständnis von Politik: Verf., Politik und Recht als Repräsentation, in: Jan Joerdenâ•›/â•›Roland Wittmann (Hg.), Recht und Politik, Stuttgart 2004, S.€51–73.
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Einleitung
(flourishing) der Menschen und anderen Lebewesen sei.16 Das Zweifelhafte dieser Annahme liegt darin, dass sie bereits eine Wohlfahrtsorientierung der Menschen und damit einen gewissen antiindiÂ�viÂ�duaÂ�listischen Konsequentialismus impliziert, welche für eine bloße Phänomenbeschreibung der Moral nicht überzeugen können (vgl. Kapitel€III). So sind etwa religiöse Moralen häufig nicht wohlfahrts-, sondern jenseitsorientiert. Der modernen Ethik ist im Übrigen verschiedentÂ�lich eine zu starke Konzentration des Moralverständnisses auf Pflichten, Normen und das Sollen vorgeworfen worden.17 Wie hoch der faktische Anteil von Bewertungen und Normen ist, kann aber als kontingente Tatsache dahinstehen. Dahinstehen kann auch die weiterführende deskriptiv-phänomenale Frage, worin die Wirklichkeit der Moral genau besteht, etwa in ihrer Befolgung oder in ihrer Akzeptanz, das heißt in ihrer Internalisierung, oder in beidem, und ob Sanktionen zur Förderung ihres Zieles der Konfliktvermittlung und zur Sicherung von Befolgung oder Akzeptanz eine Rolle spielen. Was die Grundlage der kategorischen Verpflichtungskraft der Moral ist, ob sie nur auf einer Metanorm beruht oder sachlich oder gar ontologisch-metaphysisch begründet ist, kann hier ebenfalls offen bleiben. Im Rahmen des schon angekündigten metaethischen Exkurses wird der Zusammenhang zwischen der Kategorizität von auf Andere bezogenen primären Normordnungen und der Objektivität ihrer normativ-ethischen Begründung näher untersucht werden. Die notwendige Kategorizität von Moral, Recht, Religion, Erziehung und Politik scheint mit dem gemeinsamen Ziel aller dieser NormÂ� ordnungen zusammenzuhängen, zwischen wenigstens potentiell divergierenden und damit konfligierenden Lebensvorstellungen unterschiedlicher Akteure zu vermitteln,18 während Technik, Medizin, Konventionen und Ratschläge des guten Lebens auch und vor allem die widerstreitenden Belange ein und desselben Akteurs ins Verhältnis setzen und Empfehlungen aussprechen. Wegen der Freiheit des Akteurs, diese Empfehlungen anzunehmen oder zu verwerfen, brauchen letztere die Normrealisierung nicht mittels kategorischer Verpflichtungen zu garantieren. Die Eigenschaft der Kategorizität bedingt zwei weitere Merkmale der Moral, welche immer wieder festgestellt wurden, für die Moral aber nicht spezifisch sind, da sie auch bei Recht, Religion, Erziehung und Politik vorkommen:19 ihre Allgemeinverbindlichkeit und ihr Anspruch auf Rechtfertigung: Weil die Normen und Werte der Moral notwendig auch kategorisch verpflichten, also nicht von der konkreten Zustimmung des jeweils Verpflichteten abhängen, können sie sich€– ihre abstrakte sprachliche Fassung vorausgesetzt€– an alle Personen mit gleichen Eigenschaften in allen Situationen richten, also allgemein verpflichten. Die Allgemeinverbindlichkeit ist allerdings praktisch sekundär gegenüber der Kategorizität, weil 16 Mark Timmons, Morality without Foundations, S.€88â•›f. 17 G.â•›E.â•›M. Anscombe, Modern Moral Philosophy, in: dies., Ethics, Politics and Religion (The Collected Philosophical Papers of G.â•›E.â•›M. Anscombe, Vol.€ 3), Minneapolis 1981, S.€ 26–42; Michael Stocker, Plural and Conflicting Values, Oxford 1990, S.€2, 95â•›ff. 18 Zum Ausschluss von Pflichten gegen sich selbst aus einer säkularen Moral siehe Kapitel€VIII. 19 Vgl. etwa Norbert Hoerster, Was ist Moral? Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2008, S.€13–18.
1. Der Begriff der Ethik
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nur die Kategorizität als Mittel zur Erreichung des Ziels der Lösung konkreter Konflikte notwendig ist, nicht aber die Allgemeinverbindlichkeit. Ob auch andere Personen in anderen vergleichbaren Situationen ähnlich handeln (sollen), kann demjenigen, der eine Moralnorm in einer bestimmten Situation äußert oder vernimmt, gleichgültig sein. Die Allgemeinverbindlichkeit der Moral ist also regelmäßig lediglich eine nichtbeabsichtigte Folge ihrer Kategorizität. Und weil die Normen und Werte der Moral kategorisch sind, also nicht von der konkreten Zustimmung des jeweils Verpflichteten abhängen, erheben sie diesem gegenüber häufig einen Anspruch auf Rechtfertigung, welche die aus Respekt vor dessen Autonomie prinzipiell notwendige Zustimmung ersetzen kann. Auch diese Folge ist ein nichtbeabsichtigtes Resultat der Kategorizität, denn für denjenigen, der eine Moralnorm äußert, ist ein implizit erhobener Anspruch auf Rechtfertigung kein notwendiges Mittel zur Erreichung des Vermittlungszwecks der Moral. Allerdings wird dieser Vermittlungszweck der Moral durch einen gegenüber dem Verpflichteten überÂ�zeugend erhobenen Anspruch auf Rechtfertigung naturgemäß erheblich befördert werden.
e) Die Metaethik In der akademischen Philosophie hat sich, beginnend in der Neuzeit mit Hobbes, DesÂ� cartes u.â•›a. und dann im 20.€Jahrhundert vor allem seit G.â•›E. Moores Principia Ethica von 1903, die Metaethik zunehmend von der Ethik verselbständigt und€ – allerdings nicht ohne signifikante Gegenbewegungen€– mehr und mehr in den Vordergrund geschoben, etwa mit Moores Leitfrage, was „das Gute“ sei.20 Dabei ist der durch die Metaethik erzielte Gewinn an Reflexionstiefe bedeutsam und begrüßenswert. Der Verlust an normativer Relevanz derartiger metaethischer UnterÂ�suÂ�chungen für die ethische Kritik und Rechtfertigung der primären Normordnungen ist allerdings der dafür zu entrichtende, hohe Preis. Für manche ist die Metaethik wohl nicht ganz zu Unrecht gar keine Subdisziplin der praktischen Philosophie, sondern eine der theoretischen Philosophie. Der Ausdruck „Metaethik“ ist im Übrigen unpräzise, denn er suggeriert, dass man sich nur auf die Ethik und nicht auch auf die Relation zu deren Gegenständen bezieht. Viele Theoretiker machen aber gar keinen deutlichen Unterschied oder richten ihre Überlegungen ohne weitere Diskussion auf die Moral, ohne zu realisieren, dass dann die Unterscheidung zwischen deskriptiver Ethik und Metaethik zu kollabieren droht.21 Der allgemeine Zug zur tertiären Ebene der Metaethik impliziert im Übrigen eine Art 20 Vorrang der Metaethik zum Beispiel bei: Richard B. Brandt, Ethical Theory; Michael Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt 2003. Gegenbewegungen: John Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1973, und die zunehmend normativ-ethischen Bücher von Richard M. Hare, Freedom and Reason, Oxford 1963, und Moral Thinking. Its Levels, Method and Point, Oxford 1981. Die Bücher von William K. Frankena, Ethics, und Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, sind dagegen normativ-ethisch ausgerichtet. 21 Nico Scarano, Moralische Überzeugungen, Grundlinien einer antirealistischen Theorie der Moral, Paderborn 2001, S.€11; Gerhard Ernst, Die Objektivität der Moral, Paderborn 2008, S.€9â•›f.
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Einleitung
disziplinären Rationalismus und Deduktivismus der Abstraktion, also eine disziplinäre top-down-Haltung, die ihrerseits gegenüber einem Empirismus und Induktivismus, also einer disziplinären bottom-up-Haltung, mit einem Ausgangspunkt der ethischen Erkenntnis in den praktischen Tatsachen keinen apriorischen Vorrang beanspruchen kann. Nach der hier vertretenen Ansicht lässt sich ein derartiger disziplinärer Rationalismus und Deduktivismus nicht von vornherein rechtfertigen. Den Vorzug verdient vielmehr eine Kohärenz der Überzeugungen auch zwischen diesen disziplinären Ebenen, also ein Erkenntnismodell, das deduktive und induktive Elemente verbindet.22 Die vorliegende Untersuchung ist deshalb nicht nur aus praktischen Gründen der zeitlichen und räumlichen Beschränkung, sondern auch aus sachlich-methodischen ÜberÂ�zeuÂ�gunÂ� gen eine primär normativ-ethische. Eine von der Ethik isolierte Metaethik, die sich nur noch indirekt und hypothetisch oder in rationalistisch-deduktiver Manier auf die Ethik und ihre Gegenstände bezieht, kann nicht wirklich fruchtbar unabhängig von einer entfalteten normativen Ethik betrieben werden. Um sich aber auf die normative Ethik und ihre Gegenstände als Erkenntnisobjekt der Metaethik zu beziehen, ist es erforderlich, die normative Ethik erst einmal näher zu untersuchen. Sie kann nicht von vornÂ� herein, a priori und quasi aus dem Lehnstuhl von der MetaÂ�Â�ethik begrenzt und bestimmt werden. Wie eine WissenschaftsÂ�theorie, die es versäumt, als Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie auch die empirische Wissenschaft in den Blick zu nehmen und somit nur über sie phantasiert, ist auch eine Metaethik, die sich nicht auf eine tatsächlich entfaltete oder zumindest mit guten Argumenten als mögliche Entfaltung vorgeschlagene normative Ethik bezieht, methodisch fragwürdig.
2. Theorien der normativen Ethik Zur Rechtfertigung moralischer, aber auch rechtlicher und sonstiger primärer Normen haben sich im Verlauf der Entwicklung der normativen Ethik vier große rivalisierende Theoriefamilien herausgebildet.
a)€Vier große Theoriefamilien Im historischen Rückgang, das heißt angefangen bei der jüngsten, lassen sich diese vier großen Theoriefamilien der Ethik folgendermaßen charakterisieren: Die Vertragstheorie (Kontraktualismus) sieht den hypothetischen Vertrag als Kern der normativen Ethik und damit als Quelle moralischer und sonstiger Normen und Bewertungen an, der Utilitarismus bzw. Konsequentialismus und die teleologische Ethik den größten Nutzen aller oder, genereller, die besten Konsequenzen, die deontologische Ethik mit dem Kantianismus als Hauptversion die Befolgung unserer Pflichten, die Tugendethik schließlich die 22 Verf., Für eine Kohärenz normativer Überzeugungen ohne Fundierung in Konventionen, im Erscheinen. Vgl. Kapitel€VI.
2. Theorien der normativen Ethik
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Tugenden (wobei sie allerdings nicht immer klar zwischen normativer Ethik der Moral und Theorie des guten Lebens unterscheidet, sich also auf beide Bereiche bezieht).23 Daneben findet sich eine unübersehbare Menge mittlerer und kleinerer Ethiktheorien, etwa die Mitleidsethik, die Diskursethik, die Ethik der Sorge (care ethics), die Klugheitsethik (Prudentialismus).24 Schließlich werden gelegentlich auch Versuche der Hybridisierung zweier oder mehrerer dieser Theorien unternommen. Wie soll man sich angesichts dieser Vielzahl erheblich unterschiedlicher Vorschläge der normativen Ethik entscheiden? Vier Reaktionsmöglichkeiten liegen auf den ersten Blick nahe, die zum besseren Verständnis des hier eingeschlagenen Wegs einleitend kurz erwähnt werden sollen, ohne dass sie näher untersucht werden können, da dies Aufgabe der Metaethik, genauer einer Wissenschaftstheorie ethischer Theorien ist: ein Monismus, Relativismus, Partikularismus oder Skeptizismus der Theoriewahl.25 Ein Monismus der Theoriewahl entscheidet sich für eine dieser Theorien und versucht sie gegen die Einwände anderer Theorien zu verteidigen. So verfahren etwa manche Utilitaristen, Kantianer und Tugendethiker. Diese Strategie erscheint im Falle der normativen Ethik angreifbar, weil€ – so die hier quasi-axiomatisch zu Grunde gelegte und natürlich weiter erläuterungs- und begründungsbedürftige Auffassung€– zentrale Elemente zumindest der vier großen Theoriefamilien wesentliche Gesichtspunkte einer begründeten normativen Ethik bilden. Dies gilt sowohl für die Notwendigkeit der wenigstens potentiellen Zustimmung der Betroffenen (Vertragstheorie), etwa in der MedizinÂ�ethik, als auch für das Maximierungsprinzip (Utilitarismus) und die Konsequenzen, etwa bei manchen Entscheidungen mit umfangreichen äußeren oder gesellschaftlichen Auswirkungen, sowie für das Prinzip der möglichen Verallgemeinerung einzelner Pflichten (Deontologie) in Fällen, in denen ein Handeln eine gemeinschaftliche Praxis zugleich voraussetzt und negiert, wie bei der Lüge oder dem falschen Versprechen, und schließlich auch für die Tugenden (Tugendethik), etwa in der Individualethik persönlicher Beziehungen. Ein Relativismus der Theoriewahl bezieht die Ethik auf einzelne, potentiell divergierende Quellen der theoretischen Rechtfertigung in unterschiedlichen praktischen Tatsachen. 23 Zur Kritik der deontologisch-teleologisch-Unterscheidung vgl. Verf., Die fünf Strukturmerkmale normativ-ethischer Theorien, in: Georg Meggle (Hg.), Analyomen 2, Proceedings of the 2nd Conference „Perspectives in Analytical Philosophy“, Vol.€III, Berlin 1997, S.€306–315. 24 Zu drei der vier Haupttheorien: Marcia W. Baronâ•›/â•›Philip Pettitâ•›/â•›Michael Slote, Three Methods of Ethics: A Debate, Malden 1997. Vgl. auch die vier Bände von Stephen Darwall (Hg.), Consequentialism; Contractarianismâ•›/â•›ContractuaÂ�lism; Deontology; Virtue Ethics, alle Malden, MA, 2003. Zur Mitleidsethik: Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, 3.€Aufl. Zürich 1994. Zur Diskursethik: Karl-Otto Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft, in: ders., Transformation der Philosophie II, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a.â•›M. 1973, S.€358–435; Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 3.€Aufl. Frankfurt a.â•›M. 1988; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, 2.€Aufl. Frankfurt a.â•›M. 1992. Zur Care-Ethik: Virginia Held, Feminist Morality. Transforming Culture, Society, and Politics, Chicago u.â•›a. 1993. Zum Prudentialismus: Christoph Lumer, Rationaler Altruismus. Eine prudentielle Theorie der Rationalität und des Altruismus, Osnabrück 2000. 25 Weitere Möglichkeiten wären ein Eklektizismus und ein Pragmatismus.
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Einleitung
Die Folge dieser relativistischen Bezugnahme wäre, dass mehrere oder sogar alle Theorien der Ethik gerechtfertigt erschienen,26 dass also kein einziger letzter Standard der Kritik und Rechtfertigung der Moral angenommen werden könnte. Dadurch werden Widersprüche in der Bewertung der Moral seitens der Ethik möglich. Das kann im Extremfall dazu führen, dass keine konsistente Stellungnahme der Ethik zu moralischen Streitfragen mehr gelingt, welche wir aber allgemein und relativ unangefochten voraussetzen. Ein Partikularismus der Theoriewahl kritisiert die Allgemeinheit bzw. Abstraktheit aller ethischen Theorien und die Akzeptabilität ethischer Prinzipien schlechthin. Er plädiert für konkrete, situative Konfliktlösungen.27 Die dadurch mögliche Annahme, in moralisch vergleichbaren Situationen könnten unterschiedliche moralische Normen bestehen, begrenzt aber unsere kognitiven Möglichkeiten der Abstraktion und Vereinheitlichung ohne Grund und bringt die Moralphilosophie auf diese Weise in einen Gegensatz zu anderen Wissenschaften, ja zum Faktum rationaler Erkenntnis schlechthin, welches eine derartige Begrenzung der Abstraktion und Vereinheitlichung nicht akzeptiert. Ein Skeptizismus der Theoriewahl sieht schließlich im Pluralismus der ethischen Theorien eine RechtÂ�Â�Â�fertigung für die Annahme, eine normative Ethik sei grundsätzlich unmöglich. Aber eine derartige Folgerung ist natürlich nicht gültig, weil jederzeit bisher nicht bedachte Theorievorschläge zu einer überzeugenden normativen Ethik führen könnten.
b) Eine Lösung Es gibt aber wenigstens noch eine weitere, aus der hier eingenommenen Sicht vorzugswürdige Art und Weise, um auf die Vielzahl der normativ-ethischen Theorien der Moral zu reagieren und zu einer begründeten normativen Ethik zu gelangen. Sie lässt sich als „phänomenal“ sowie „analytisch-synthetisch“ charakterisieren. Man kann sich erstens wieder mehr auf die Sachfragen konzentrieren und die in der modernen Philosophie immer mehr die Sachfragen überwuchernde Diskussion von Theorien über Theorien mit ihrem zunehmenden Selbstzweck- und Betriebscharakter in den Hintergrund treten lassen. Man kann zweitens komplementär dazu die bisher vorgeschlagenen Theorien in ihre einzelnen Bestandteile analysieren sowie zum einen mit den Bestandteilen anderer Theorien vergleichen und zum anderen im Hinblick auf die Sachfragen bewerten.28 Dazu können, soweit erforderlich, etwa aus unseren allgemeinen moralischen und 26 Vgl. Klaus-Peter Rippe, Ethischer Relativismus, Paderborn 1993; Gilbert Harmanâ•›/â•›Judith Jarvis Thompson, Moral Relativism and Moral Objectivity, Oxford 1996; Thomas M. Scanlon, What We Owe To Each Other, Cambridge 1998, Kapitel€8, S.€328â•›ff. 27 Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy; Bernward Gesang, Kritik des Partikularismus, Paderborn 2000; Jonathan Dancy, Ethics without Principles (ohne klare Unterscheidung zwischen Moral und Ethik). Zur Kritik: Sean McKeeverâ•›/â•›Michael Ridge, Principled Ethics. Generalism as a Regulative Ideal, Oxford 2006. 28 Zu einer ähnlichen Verbindung einzelner Theorieelemente: Günther Patzig, Der Kategorische Imperativ in der Ethik-Diskussion der Gegenwart, in: ders., Ethik ohne Metaphysik, 2.€ Aufl. Göttingen 1983, S.€164 und passim; ders., Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine
3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik
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ethischen Überzeugungen, weitere oder veränderte Elemente treten. Diese bekannten Theoriebestandteile und neuen Elemente können dann zu einer weiterentwickelten normativen Ethik synthetisiert werden. Der Analyse-, Vergleichs- und Syntheseprozess hat als solcher keine ethische Begründungskraft und soll deshalb nicht in Einzelheiten nachgezeichnet werden. Von einigen gelegentlichen Bezugnahmen abgesehen wird hier deshalb nur sein Ergebnis vorgestellt und begründet. Dieses besteht in fünf Elementen einer adäquaten normativen Ethik, die in den ersten fünf Kapiteln dieses Buches erläutert werden. Daran schließt sich wie erwähnt ein Kapitel€der metaethischen Reflexion an. Die folgenden Kapitel€dienen dazu, die in den ersten fünf Kapiteln entfaltete normative Ethik für einzelne Fragen zu konkretisieren: Pflichten und Rechte, Pflichten gegen sich selbst, überpflichtgemäßes Handeln, Handeln für Andere (Paternalismus), moralische Konflikte, Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit, Sozialethik usw.
3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik a) Fünf Fragen Jede normative Ethik muss wenigstens die folgenden fünf Fragen beantworten: (1)€Welche Wesen sind ethisch in letzter Instanz relevant? (2)€ Welche Eigenschaften dieser ethisch relevanten Wesen sind normativ entscheidend? (3)€Worauf in der Welt bzw. im Akteur beziehen sich diese normativ entscheidenden Eigenschaften? (4)€Wie ist der modale Status einer Verbindung dieser Bezugnahmen der normativ entscheidenden Eigenschaften auf die Welt, sofern sie divergieren, das heißt, wie ist der modale Status einer Zusammenfassung dieser Eigenschaften? (5)€Wie kann, sofern sie zumindest möglich ist, diese Zusammenfassung der normativ entscheidenden Eigenschaften bzw. Bezugnahmen auf die Welt inhaltlich stattfinden? Die Reihenfolge dieser fünf notwendigen Fragen einer normativen Ethik ist keine beliebige. Die fünf Fragen bauen vielmehr aufeinander auf. Jede ethische Rechtfertigung und Kritik der Moral ähnelt also einem Pfad mit vier Weggabelungen. Man erreicht vom Ausgangspunkt jede der Weggabelungen nur, wenn man die dahin führende Wegstrecke zurückgelegt hat. An jeder Weggabelung muss man sich erneut entscheiden (formale Pfadabhängigkeit). Jede säkulare, das heißt nichtreligiöse normative Ethik muss€– so lautet das zentrale Ergebnis dieser Untersuchung€– als Antwort auf diese fünf Fragen wenigstens die folgenden fünf Elemente bzw. Prinzipien enthalten. Erstens: Moralische Normen, Regeln, Bewertungen und Überzeugungen lassen sich in letzter Instanz ausschließlich durch grundsätzlich gleiche Berücksichtigung aller beBedeutung für die Ethik, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. I, Göttingen 1994, S.€72–98, S.€76; Tom L. Beauchampâ•›/â•›James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S.€361â•›f., passim; William K. Frankena, Ethics, S.€52, 70.
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Einleitung
troffenen Einzelnen rechtfertigen. Das ist das Prinzip des normativen Individualismus, welches den Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen einer adäquat begründeten Ethik bildet. Die hier vorgeschlagene Ethik kann deshalb auch „Ethik des normativen Individualismus“ heißen. Man könnte sie aber auch als eine radikal humanistische bzw. personale Ethik bezeichnen, sofern man damit keine antireligiösen oder antitranszendenten Annahmen verbindet und sich nicht von vornÂ�herein auf moralische und sonstige Konflikte zwischen menschlichen bzw. personalen Wesen beschränkt. Zweitens: Die entscheidenden normativ-ethisch rechtfertigenden Eigenschaften der Einzelnen sind ihre Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, zusammengefasst ihre Belange bzw. Interessen. Das ist das Prinzip der Belange als normativ-ethisch rechtÂ� fertigende Eigenschaften. Drittens: Die Belange der Einzelnen und damit die moralischen Bewertungen, Normen und Regeln beziehen sich in grundsätzlich gleicher Weise auf alle möglichen Teile des Handelns von Individuen im weitesten Sinne, nicht primär oder gar ausschließlich auf einzelne ihrer Elemente wie den guten Charakter, den guten Willen oder die guten Folgen bzw. Konsequenzen. Das ist das Prinzip des Handlungsuniversalismus. Viertens: Es besteht sowohl eine Möglichkeit, Wirklichkeit als auch Notwendigkeit, die Belange der Individuen mit Hilfe eines Abwägungsprinzips zusammenzufassen und auf diese Weise zur RechtÂ�fertigung und Kritik moralischer Verpflichtungen und Bewertungen zu gelangen. Das ist das Prinzip der modalen Vollständigkeit. Fünftens: Die Einzelnen müssen sich im Rahmen der Abwägung in je größerem Maße eine Relativierung ihrer Belange gefallen lassen, je weitergehend diese Belange von den Anderen bzw. einer Gemeinschaft abhängen. Als erstes und abstraktestes maßgebliches Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzip wird damit ein Prinzip der relativen Einzel- und Ander- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit der Individualbelange vorgeschlagen, das als Metaprinzip die Anwendung konkreterer Prinzipien und Abwägungen wie diejenige des Gleichheitsprinzips, des Maximierungsprinzips, des Differenzprinzips oder des Paretoprinzips steuert.
b) Die Reihenfolge der Antworten Anknüpfend an die Reihenfolge der fünf Fragen jeder normativen Ethik, also ihre formale Pfadabhängigkeit, ist auch die Abfolge dieser fünf notwendigen Elemente einer adäquaten normativen Ethik keine beliebige. Die Elemente zwei bis fünf lassen sich zwar nicht logisch aus dem ersten Element des normativen Individualismus oder den jeweils nächsten Elementen folgern. Aber eine rechtfertigende Abhängigkeit und damit eine sachlich begründete Abfolge gibt es gleichwohl. Jedes der folgenden Elemente lässt sich nur adäquat erörtern und normativ bestimmen, wenn und weil das vorherige Element akzeptiert wurde. Man kann dies in Ausfüllung des Rahmens der bloß formalen Pfadabhängigkeit jeder normativen Ethik ihre normativ-inhaltliche Pfadabhängigkeit nennen. Auf diese Weise erhält man auch eine Begründung für die externe Vollständigkeit dieser fünf Elemente einer begründeten normativen Ethik. Da die fünf Elemente rechtÂ�
3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik
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fertigend voneinander abhängen, kann kein weiteres vollkommen unabhängiges externes Element fehlen. Denkbar wäre nur, die interne Differenzierung einerseits zu verfeinern oder zu vergröbern, um die Elemente weiter aufzuteilen oder zusammenzufassen oder dem fünften Element andererseits noch ein sechstes oder weiteres abhängiges Element folgen zu lassen. Weil die fünf Elemente zum einen nur zusammen eine adäquate normative Ethik bilden und zum anderen rechtfertigend voneinander abhängen, ist es auch nicht sinnvoll, eines dieser Elemente isoliert zu betrachten. Das wäre, als wollte man die einzelnen Zahnräder einer Maschine isoliert voneinander beschreiben. Natürlich weisen diese auch isoliert beschreibbare Eigenschaften auf, etwa ihre Größe, ihr Gewicht, ihre chemische Zusammensetzung. Aber entscheidend für ihre Bestimmung als inÂ�einandergreifende Zahnräder ist doch ihre Funktion für die Maschine als Ganzes. Bei gedanklichen Komplexen wie einer Ethik lassen sich für die einzelnen Teile nun nicht einmal derart körperliche Eigenschaften isolieren. Die Teile sind vielmehr nur im funktional-intentionalen Zusammenhang einer ethischen Begründung bzw. Rechtfertigung sinnvoll charakterisierbar. Deshalb können die Elemente einer normativen Ethik nur zusammen sinnvoll dargestellt und diskutiert werden. Der Zusammenhang muss im Zweifel auch in der Darstellung primär gegenüber der Detailliertheit der Analyse der einzelnen Elemente sein. Aus diesem Grund werden in diesem Buch alle fünf notwendigen Elemente der normativ-ethischen Rechtfertigung erläutert, unter Inkaufnahme, dass die einzelnen Elemente nicht so ausführlich diskutiert werden können, wie dies zumindest quantitativ, aber eben nicht qualitativ-funktional möglich wäre, würde man nur eines der Elemente analysieren. Der vorliegende Versuch ist also methodisch von einem tiefen Zweifel gegenüber verschiedentlich anzuÂ�treffenden Unternehmen getragen, die einzelnen Elemente der normativen Ethik isoliert und dann vielleicht statt in eine umfassende normative Ethik eingebettet sogar mit ihrer bloßen Bedeutung für ein gutes Leben, das heißt ihrer Klugheitsfunktion zu erörtern, etwa das Wohlergehen, die Wünsche oder die Bedürfnisse.29 Diese Begriffe können als ethische Begriffe nur in ihrem jeweiligen funktionalintentionalen Zusammenhang einer deskriptiven oder einer normativ-verpflichtenden Theorie, also einer Psychologie der Moral oder einer normativen Ethik adäquat bestimmt werden, weil es sich nicht um konkrete deskriptive Begriffe handelt, die sich auf einfache empirische Tatsachen beziehen (und selbst da wäre die Isolierung problematisch), sondern um theoretische und damit im Hinblick auf die normative Ethik stark normativ geprägte und abstrakte Instrumente der Erkenntnis. Eine normative Ethik kann Normen der Moral nur als Ganzes kritisieren oder rechtfertigen. Deshalb müssen ihre Elemente im Hinblick auf diese Aufgabe auch in ihrer Funktion für das Ganze der Begründung untersucht werden. Man könnte nun fragen: Richtet sich diese Skepsis gegenüber isolierten Untersuchungen einzelner Elemente der Ethik nicht auch gegen das hier durchgeführte Unter29 Vgl. etwa James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance, Oxford 1986; Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness, and Ethics, Oxford 1996; David Braybrooke, Meeting Needs, Princeton 1987; Garrett Thomson, Needs, London 1987.
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nehmen einer normativen Ethik im engeren Sinn, also einer Ethik, die sich zunächst modellhaft auf die Kritik und Rechtfertigung von Moral und dann von Recht und Politik beschränkt? Sollte die normative Ethik nicht vielmehr im Zusammenhang einer umfassenden Ethik, die auch Fragen des guten Lebens behandelt, oder vielleicht einer umfassenden, alle Fragen berücksichtigenden praktischen oder sogar allgemeinen Philosophie untersucht werden? Eine Antwort darauf hat wenigstens zwei Teile. Der erste Teil lautet: Es wäre besser, aber es stößt an pragmatische Grenzen der Produktionsfähigkeit des Autors und der Rezeptionsfähigkeit des Lesers. Der zweite Teil lautet: Anders als bei ihren einzelnen Elementen erscheint eine isolierte Darstellung der normativen Ethik mit Bezug auf einzelne Gegenstände vertretbar, weil wir hier mit der Moral zum Ersten einen klar abgrenzbaren tatsächlichen Gegenstand der Bezugnahme dieser normativen Ethik vor uns haben und die normative Ethik der Moral zum Zweiten innerhalb der Ethik eindeutig die Interpretationshoheit der Grenzziehung beansprucht. Fragen, welche die Relation zwischen Problemen der Moral und solchen des guten Lebens betreffen, etwa ihren Vorrang oder ihre partielle oder vielleicht sogar vollständige Überschneidung, können dann zwar noch nicht erörtert werden. Aber es ist nicht ersichtÂ�Â�lich, warum die normative Ethik der Moral nicht zunächst selbständig entwickelt werden könnte, bevor diese Fragen diskutiert werden. Es scheint sich also eher um Fragen zu handeln, die zunächst die Entfaltung einer Theorie der Moral und einer Theorie des guten Lebens voraussetzen, um adäquat behandelt werden zu können, als dass sie umgekehrt Voraussetzung der Entfaltung dieser Theorien wären. Fragen der Moral und des guten Lebens sind erst in Gemeinschaften, insbesondere politischen Gemeinschaften, untrennbar miteinander verbunden. Darauf wird in den letzten Kapiteln näher eingegangen werden. Eine umfassende praktische oder sogar allgemeine Philosophie kann nur Ergebnis einer Arbeitsteilung oder eines Lebenswerks sein.
c) Die Grenze der Betroffenheit Wie sich gezeigt hat, unterscheiden sich Normen der Moral, des Rechts, der Religion, der Erziehung und der Politik einerseits und Fragen der Technik, der Medizin, der Konventionen und des guten Lebens andererseits im Hinblick auf die notwendige Betroffenheit Anderer und die Kategorizität der Normierung. Diese Grenzziehung impliziert€– wie sich im Kapitel€VIII erweisen wird€– eine Ablehnung moralischer Pflichten gegen sich selbst. Natürlich kann diese Grenzziehung zwischen kategorischen und nichtkategorischen Normordnungen ihrerseits Gegenstand von Zweifeln und Fragen sein: Kann nicht jedes Handeln im weitesten Sinne Andere betreffen? So mag etwa das Wissen, dass jemand über seine eigene berufliche Zukunft nicht gründlich und vernünftig nachdenkt, bei Anderen Unbehagen erzeugen. Und dass jemand schlechte statt gute Musik hört oder schädliches statt gesundes Essen zu sich nimmt, mag bei Anderen Missbilligung hervorrufen. Auf diesen Einwand gegen eine Grenzziehung zwischen kategorischen und nichtkategorischen Normen sind zwei Antworten möglich, eine Antwort, die auf Fakten verweist, und eine normative.
3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik
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Die auf Fakten verweisende Antwort wird geltend machen, dass die Menschen zumindest in unserer Zeit und in unserer Gesellschaft Bereiche des Lebens in Anspruch nehmen, die Andere nicht betreffen und die sie deshalb nichts angehen, etwa unsere Geschmacksurteile, unser individuelles Denken und Fühlen, unsere Einrichtung der eigenen Wohnung oder unsere Gestaltung des je eigenen Tagesablaufs. Es mag spezielle Situationen geben, in denen selbst in diesen Fällen Andere moralisch betroffen sind, etwa wenn das Denken in einem Mordplan besteht, die Wohnung als Versteck der Mordwaffe dient oder die Gestaltung des eigenen Tagesablaufs das Verbrechen des Mordes einschließt. Aber das sind extreme Fälle, in denen Handlungen, die Andere normalerweise nicht betreffen, für diese direkt und stark negativ werden. In den meisten Fällen sehen wir derartige Handlungen aber als moralisch neutral an. Wer etwa Pop statt Klassik hört, dem kann kein moralischer Vorwurf gemacht werden. Konstatiert man die Faktizität einer derartigen Grenzziehung zwischen Fragen des guten Lebens und der Moral, kommt man allerdings nicht umhin, ihre partielle historische und kulturelle Relativität anzuerkennen. Das kulturübergreifende Faktum der Grenze als solcher wird durch die kulturrelative Variabilität der konkreten Grenzziehung aber nicht dementiert. Die normative Antwort auf die Infragestellung der Grenzziehung wird auf die Normativität von Moral und Ethik im engeren Sinn verweisen. Weil Moral und Ethik im engeren Sinn, wie sich sogleich im ersten Kapitel€zeigen wird, das Individuum als wesentliche Quelle moralischer und ethischer Normativität akzeptieren, muss den Individuen ein Bereich der eigenen Lebensführung zugestanden werden, der nicht oder nicht wesentlich unter dem Vorbehalt der Berücksichtigung Anderer und damit einer Moral steht.
d) Die Janusköpfigkeit der fünf Elemente Der funktionale Zusammenhang der nachfolgend entfalteten fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik und daraus resultierend ihre Fähigkeit, gemeinsam eine solche Ethik zu bilden, zeigt sich in folgender spezifischer Charakteristik: Jedes einzelne der fünf Elemente ist in seinen Eigenschaften janusköpfig, das heißt doppelt relational sowohl zum vorherigen als zum nachfolgenden Element gewendet. Man kann das mit fünf Menschen vergleichen, die sich an den Händen fassen und auf diese Weise eine Kette formen. Eine Ausnahme bilden dabei naturgemäß nur das erste und das letzte Element der Kette, da hier die „Hände“ bzw. Relationen über die ethische Theorie hinausreichen. Das erste der fünf Elemente, das Element des normativen Individualismus, verknüpft die normative Ethik mit der sehr grundlegenden ontologischen Entscheidung zwischen Einzelnen oder Gemeinschaften. Das letzte der fünf Elemente, das Prinzip der relativen Einzel- und Ander- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit der Einzelbelange, vollendet die Objektivität und damit intersubjektive Notwendigkeit, die eine normative Ethik zur Erfüllung ihrer Aufgabe der Kritik und Rechtfertigung der Moral benötigt, und mündet damit in den Zweck dieser normativen Ethik, den Zweck der Kritik und Rechtfertigung der Moral. Das erste Element verbindet die Ethik mit der real bestehen-
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den Welt der Dinge und Tatsachen. Das letzte Element richtet die Ethik normativ auf die Moral als ihren spezifischen Gegenstand der Rechtfertigung und Kritik aus. Zusammengenommen überbrücken die fünf Elemente den Unterschied zwischen dem Faktischen und dem Normativen. Sie geben also eine Antwort auf das Problem der Sein-Sollen-Dichotomie bzw. des naturalistischen Fehlschlusses. Der Übergang von jedem der Elemente zum nächsten enthält einen Hiatus zwischen Faktischem und Normativem und ist deshalb kein logischer oder semantischer. Insofern sind die SeinSollen-Dichotomie und die Kritik am naturalistischen Fehlschluss vollkommen berechtigt. Aber in ihrer funktionalen Verbindung zur Rechtfertigung des moralischen Ziels der Vermittlung möglicher gegenläufiger Belange stellen die fünf Elemente zusammengenommen einen solchen Übergang vom Faktischen zum Normativen her. Sie zeigen damit, dass die RechtÂ�fertigungskraft der normativen Ethik sich auch auf natürliche Fakten wie Individuen und Eigenschaften stützen kann, ohne naturalistisch zu sein und deshalb der berechtigten Kritik am naturalistischen Fehlschluss anheim zu fallen.
I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen Welches sind die letztlich ethisch relevanten und damit moralisch bzw. rechtlich vorrangig zu berücksichtigenden Wesen? Als Alternative kommen grundsätzlich Einzelne oder Gemeinschaften bzw. Kollektive in Betracht. Die These des normativen Individualismus bzw. Humanismus lautet, dass im Rahmen einer säkularen, also nichtreligiösen Ethik in letzter Instanz ausschließlich die Einzelnen und zwar alle betroffenen Einzelnen zu berücksichtigen sind, nicht aber irgendwelche Gemeinschaften bzw. Kollektive. An diese These schließen sich zwei Fragen an: Wie ist dieses erste Element des normativen Individualismus genauer zu verstehen? Wie lässt es sich begründen?
1. Präzisierung des normativen Individualismus Das Prinzip des normativen Individualismus enthält drei Teilprinzipien, das Individualprinzip, das Allprinzip und das Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung:
a) Die drei Teilprinzipien (1) Individualprinzip: Ausschließlich Individuen können letzter Ausgangspunkt einer legitimen primären Verpflichtung bzw. Wertung und damit als betroffene Akteure bzw. Andere erstes Element einer adäquaten normativen Ethik sein, nicht aber Gemeinschaften oder Kollektive, etwa die Nation, das Volk, die Gesellschaft, die Rasse, die Familie, die Sippe, die Kommunikationsgemeinschaft, das Ökosystem oder die Biosphäre.1 Der verpflichtende und deshalb letztlich ethisch zu berücksichtigende Andere muss also ebenso wie der Akteur in letzter Instanz immer ein Einzelner sein. Oder anders formuliert: Das normativ-ethische Grundverhältnis Akteur-Anderer kann in letzter Instanz nur zwischen Einzelnen bestehen. Man kann dieses Prinzip das „Individualprinzip“ des normativen Individualismus nennen (zu seiner Begründung vgl. sogleich Kapitel€I, 5). (2) Allprinzip: Alle von einer Handlung bzw. Entscheidung betroffenen Einzelnen sind bei deren ethischer Rechtfertigung zu berücksichtigen, nicht nur einer oder einige 1
Zum Gegenmodell einer kollektiven bzw. holistischen Ethik: Ludwig Siep, Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik, Frankfurt a.â•›M. 2004, S.€14, 16, 24, 26â•›ff.; Martin Gorke, Artensterben. Von der ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur, Stuttgart 1999.
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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen
wenige. Das heißt im Rahmen der letztinstanzlichen Rechtfertigung einer Handlung oder Entscheidung müssen alle von dieser Handlung oder Entscheidung betroffenen Individuen Beachtung finden. Man kann dieses Prinzip das „Allprinzip“ des normativen Individualismus nennen. Verschiedentlich wird auch vom „Universalismus“ gesprochen.2 Das Allprinzip des normativen Individualismus impliziert nicht€– das sei besonders betont€ – dass die solchermaßen zu beachtenden Belange aller zu berücksichtigenden Individuen sich dann auch vollständig oder auch nur teilweise durchsetzen. Das ist€– obzwar individuell häufig wünschenswert€– natürlich nicht immer möglich, sonst wäre die Moral als Lösung potentieller Widerstreite zwischen Belangen und damit auch die Ethik im engsten Sinn überflüssig. (3) Prinzip der Gleichberücksichtigung: Alle von einer Handlung bzw. Entscheidung betroffenen Einzelnen müssen grundsätzlich gleich berücksichtigt werden. Man kann dieses Prinzip das „Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung“ nennen. Es bedeutet: Niemand, der prinzipiell Beachtung verdient, darf von Moral und Ethik bzw. dem fraglichen Handelnden von vornherein ohne weiteren Grund weniger berücksichtigt werden.3 Allerdings kann es natürlich jenseits dieser grundsätzlichen Pflicht zur Gleichberücksichtigung im Falle konkreter Bedingungen bzw. Situationen möglicherweise Gründe für eine Erlaubnis oder gar Pflicht zur spezifischen Ungleichbeachtung, Ungleichbehandlung oder Ungleichstellung geben. Eltern etwa dürfen, ja sollen ceteris paribus nach einer noch zu diskutierenden normativ-ethischen Auffassung ihre Kinder in vielfältiger Weise faktisch viel stärker beachten und besser behandeln als fremde Kinder, weil sie ihnen aufgrund der Zeugung und des vorherigen Zusammenlebens in besonderem Maße moralisch, rechtlich und ethisch verantwortlich sind. Das gleiche gilt nach dem Sozialstaatsprinzip in Bezug auf sozial Bedürftige für die politischen Institutionen. Aus dem Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung folgt also nicht ohne weiteres eine Pflicht zur konkreten Gleichbeachtung, Gleichbehandlung oder gar Gleichstellung. Man muss hier vielmehr mit zusätzlichen Gründen zum einen oder anderen Ergebnis kommen.
b) Erklärung einzelner Begriffe Wichtig für das Verständnis des normativen Individualismus und seiner Teilprinzipien ist zunächst eine Erklärung des Begriffs des Individuums. Der Begriff des Individuums kann in diesen Prinzipien nicht bloß ontologisch oder physikalisch verstanden werden, 2 3
Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, Oxfordâ•›/â•›Cambridge 2002, S.€92â•›ff., 101â•›ff., 169. Vgl. für neuere Formulierungen des Prinzips: Walter Pfannkuche, Die Moral der Optimierung des Wohls. Begründung und Anwendung eines modernen Moralprinzips, Freiburg 2000, S.€190 (Prinzip der starken Unparteilichkeit); Ronald Dworkin, Sovereign Virtue, Cambridge 2002, S.€5, und stärker auf das Handeln abstellend: Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt a.â•›M. 2003, S.€128, 153.
1. Präzisierung des normativen Individualismus
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denn letzte Individuen in einem ontologischen Sinn sind nicht mehr weiter rückführbare Seiende. Und letzte Individuen in einem physikalischen Sinn sind nach derzeitigem Wissen Partikel bzw. Quarks. Aus der ontologisch und physikalisch abgrenzbaren Menge der möglichen Dinge müssen im Rahmen der Ethik und damit auch dieser Prinzipien vielmehr diejenigen ausgewählt werden, für welche die Unterscheidung zwischen Individuen und Kollektiven überhaupt einen normativ-sozialen Sinn bzw. eine Funktion der Konfliktlösung haben kann. Dies können im Normalfall nur Individuen nach dem Verständnis einer gewissen mittleren Sinnebene unseres Handelns und unserer möglichen Handlungsbeeinflussung sein. Individuen in einem normativ-ethischen Sinn sind danach prinzipiell einzelne Menschen, Tiere, Pflanzen, Mikroben bzw. vergleichbare Objekte auf einer sozial relevanten Ebene wie Steine usw.€– wo die Grenze verläuft wird noch zu erörtern sein€– im GegenÂ� satz zu Kollektiven als Verbindung dieser Individuen, also Gruppen von Menschen, Tieren, Pflanzen, Mikroben, Naturobjekten, etwa Familien, Nationen, Staaten, Rassen, Biotope, Ökosysteme, Landschaften und die Biosphäre. Die Grenzen der normativethisch relevanten Ebene gegenüber sehr kleinen und sehr großen seienden Dingen werden von der grundsätzlichen Erkennbarkeit, BerücksichtigungsÂ�fähigkeit und möglichen Handlungsbeeinflussung der je betroffenen Anderen bestimmt. Auch der für alle drei Teilprinzipien des normativen Individualismus wichtige Begriff der Betroffenheit bedarf näherer Erläuterung. Es handelt sich um eine Relation zwischen der fraglichen Handlung und den moralisch relevanten Individuen. Diese Relation besteht darin, dass die Handlung den moralisch relevanten Individuen mit ihren moralisch entscheidenden Eigenschaften im konkreten Einzelfall entweder entsprechen oder widersprechen kann, und zwar in praktischer, nicht nur in logischer Form. Das heißt, es bestehen zwei Voraussetzungen: Zum einen müssen die fraglichen Betroffenen grundsätzlich moralisch relevante Individuen sein. Zum anderen muss im konkreten Einzelfall ein Widerspruch oder eine Entsprechung zu einer moralisch entscheidenden Eigenschaft zumindest möglich erscheinen. Dabei ist mit dem Erfordernis einer moralisch relevanten Eigenschaft schon auf das im nächsten Abschnitt zu erörternde zweite Element einer konkreten normativ relevanten Eigenschaft der Individuen verwiesen. Hier zeigt sich also die oben erwähnte janusköpfige bzw. kettenartige Verbindung der ersten beiden Elemente der normativ-ethischen Rechtfertigung. Sowohl das Individualprinzip als auch das Allprinzip und das Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung des normativen Individualismus sind inhaltliche Prinzipien der normativen Ethik, nicht lediglich prozedurale Prinzipien. Das heißt: Sie setzen unseren Einstellungen und unserem Handeln primär inhaltliche Standards. Nur sekundär implizieren sie auch prozedurale Verpflichtungen jedes moralisch Handelnden, etwa die Verpflichtung, den Belangen aller betroffenen Individuen grundsätzlich gleichermaßen Gehör zu schenken (audiatur et altera pars), sie zu erwägen, eine Entscheidung gegenüber den Beteiligten nicht geheim zu halten, diese zu begründen usw. Als Gegenpart des normativen Individualismus kann man den normativen Kollektivismus formulieren. Seine zentrale These lautet: Moralische Normen, Regeln und Bewertungen können ihre letzte Rechtfertigung in einem politische Legitimität ver-
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leihenden Kollektiv, das heißt dem Staat, der Nation, dem Volk, der Rasse, der Sippe, der Familie, der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Sprach- oder Kulturgemeinschaft, der Nachbarschaft, der Diskursgemeinschaft, dem Ökosystem, der Biosphäre usw. finden. Die konträre These des normativen Kollektivismus beinhaltet also, dass wenigstens die Rechtfertigung einzelner moralischer Verpflichtungen in letzter Instanz nicht auf die betroffenen Individuen zurückzuführen ist, sondern auf Gemeinschaften, wie die Nation, das Volk, die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Nachbarschaft, das Biotop, das Ökosystem usw. Stärkere Versionen des normativen Kollektivismus vertreten sogar, dass alle oder wenigstens die wesentlichen moralischen Verpflichtungen letztlich mit Bezug auf Kollektive zu rechtfertigen sind.
c) Andere Möglichkeiten ontologischer Anknüpfung Die beiden Alternativen des normativen Individualismus und des normativen Kollektivismus schließen andere Möglichkeiten einer theorieexternen ontologischen AnÂ� knüpfung der normativ-ethischen Rechtfertigung an unser allgemeines Bild der Welt logisch-begrifflich nicht aus. Denkbar sind etwa religiöse, wertobjektivistische bzw. naturrechtliche sowie naturalistische RechtÂ�Â�fertigungen. Derartige RechtÂ�fertigungen haben jedoch in der Neuzeit für eine säkulare Ethik wegen ihres starken religiösen, metaphysischen oder naturalistisch-reduktiven Anspruchs, welcher nicht mehr allgemein anerkannt wird, immer mehr an genereller Überzeugungskraft eingebüßt. Religiöse Rechtfertigungen setzen religiöse Überzeugungen voraus. Da die Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften diese religiösen Überzeugungen nicht teilen, können sie auch die religiösen Rechtfertigungen zurückweisen. Religiöse Rechtfertigungen scheiden deshalb per definitionem als letzter ontologischer Ausgangspunkt für eine säkular-immanente, philosophische Ethik mit allgemeinem RechtfertigungsanÂ�spruch aus (anders aber natürlich für eine transzendente, religiöse Ethik und damit für jeden einzelnen Gläubigen als Mitglied einer Religionsgemeinschaft). Wertobjektivistische Rechtfertigungen enthalten zwar keine religiösen, aber immerhin starke metaphysische Annahmen über das Bestehen empirisch nicht sinnlich wahrnehmbarer objektiver Werte, die von sehr vielen in Zweifel gezogen werden.4 Naturalistische Rechtfertigungen implizieren eine Reduktion normativ-ethischer Begründungen auf die Beschreibung natürlicher Tatsachen, die ebenfalls vielfach abgelehnt wird.5
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Neuere realistisch-wertobjektivistische Konzeptionen: Franz von Kutschera, Grundlagen der Ethik, 2.€Aufl. Berlin 1999, S.€213â•›ff.; Christoph Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, Frankfurt a.â•›M. 2007. Die am meisten beachtete Kritik formuliert hat John Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, S.€15â•›ff. Neuere naturalistisch-objektivistische Positionen: David O. Brink, Moral Realism and the Foundations of Ethics, Cambridge 1989; Peter Schaber, Moralischer Realismus, Freiburg 1997, S.€18â•›ff., 89â•›ff.
1. Präzisierung des normativen Individualismus
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Die Diskussion dieser weitergehenden ontologischen Anknüpfungen ist Aufgabe der Metaethik und nicht der hier entfalteten normativen Ethik. Ihre Erörterung kann aber auch deshalb dahinstehen, weil derartige religiöse, wertobjektivistische oder naturalistische Quellen der Verpflichtung und Bewertung€– sofern sie tatsächlich anzunehmen wären€– immer durch Subjekte, das heißt durch einzelne Individuen oder zu Kollektiven verbundene Individuen erkannt und in ihre Einstellungen aufgenommen werden müssten, um handlungs- und betroffenheitsrelevant zu werden,6 so dass sich die Alternative normativer Individualismus versus normativer Kollektivismus auch dann stellen würde, wenn auf einer noch fundamentaleren ontoÂ�loÂ�giÂ�schen Ebene derartige religiöse, wertobjektivistische oder naturalistische Quellen der Verpflichtung und Bewertung aufgewiesen werden könnten. Dabei ist es zwar prinzipiell nicht ausgeschlossen, prima facie aber nicht erkennbar, dass derartige weitere ontologische Quellen die Entscheidung zwischen normativem Individualismus und normativem Kollektivismus in die eine oder die andere Richtung beeinflussen. Es soll an dieser Stelle nicht verhehlt werden, dass der Autor dieser Untersuchung jenseits religiös-transzendenter Überzeugungen auf einer säkular-immanenten Ebene weitere wertobjektivistische oder naturalistische Fundierungen der Moralbegründung weder für möglich noch für nötig hält. Warum letzteres so ist, wird in Kapitel€VI näher erläutert.
d) Graduelle Abstufungen So wie die Thesen des normativen Individualismus und des normativen KollektÂ�ivisÂ� mus formuliert wurden, erlauben sie keine graduellen Abstufungen oder Kompromisse zwischen beiden Alternativen. Das würde zutreffen, wenn ethische Rechtfertigungen lediglich aus einem einzigen natursprachlichen Satz bestünden. Komplexere ethische Theorien bestehen aber natürlich nicht nur aus einem einzigen Satz. Folglich können bei ihnen manche Teile normativ-individuaÂ�listisch, andere normativ-kollektivistisch sein. Das führt allerdings selbstredend zu internen Konsistenzproblemen. Die Theorie des Thomas Hobbes lässt sich etwa in ihrem Ausgangspunkt bei der Etablierung des Staates bzw. des „Leviathans“ als normativ-individualistisch ansehen. Ist der Staat allerdings einmal etabliert, so sind kaum Vorkehrungen für eine weitere Berücksichtigung der Individuen getroffen, so dass man die Theorie in ihrer Gesamtheit nicht als rein normativ-individualistisch qualifizieren kann. Hobbes hat also den Terminus „letzter Ausgangspunkt“ in der obigen Definition des Individualprinzips des normativen Individualismus nur in einer sehr eingeschränkten und zweifelhaften Weise konkretisiert.7
6 7
Das gestehen auch Vertreter eines Wertobjektivismus zu: Christoph Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, S.€277, 298â•›f. Vgl. Verf., Rechtsethik, München 2001, S.€296â•›ff.
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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen
2. Normativ-individualistische Theorien Viele neuzeitliche normativ-ethische Konzeptionen stimmen bei genereller Betrachtung zumindest im Ausgangspunkt oder in manchen Zügen mit dem normativen Individualismus überein, etwa der Kantianismus, der Utilitarismus, aber auch die Vertragsethik (Kontraktualismus). Nur bei der Tugendethik liegen die Verhältnisse komplizierter und ebenso bei einer Klugheitsethik des aufgeklärten Eigeninteresses (Prudentialismus), der Mitleidsethik oder einer Ethik der Sorge (care ethics): Nach Kants zweiter Formel des Kategorischen Imperativs dürfen sowohl der Akteur als auch jeder Andere als Personen (genauer: die Menschheit in ihnen) niemals bloß als Mittel, sondern sie müssen jederzeit zugleich als Zweck „gebraucht“ werden.8 Eine Welt vernünftiger Wesen ist nach der dritten Formel des Kategorischen Imperativs als Reich der Zwecke nur durch die „eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder“ gekennzeichnet.9 Die Allgemeinheit des Gesetzes setzt also die Berücksichtigung aller autonomen Individuen voraus. Freilich stellt sich die in Kapitel€V. 3 noch näher zu erörternde Frage, ob das Abwägungsprinzip des Kategorischen Imperativs die Individuen wirklich ernst nimmt. Im Übrigen beschränkt Kant den Kreis der zu berücksichtigenden Individuen auf vernünftige Wesen, schließt also die Berücksichtigung von Lebewesen ohne Vernunft wie Tiere um ihrer selbst willen aus. In der politischen Philosophie hat Kant das Recht der politischen Partizipation und das Wahlrecht auf männliche und erwachsene Selbständige beschränkt.10 Aber zwischen der Möglichkeit politischer Partizipation und der moralischen bzw. ethischen Berücksichtigungswürdigkeit und Verantwortlichkeit muss klar unterschieden werden. Kant war ohne Zweifel der Ansicht, dass Frauen und Kinder als einzelne Vernunftwesen selbständig moralisch zu berücksichtigen sind, wenn er Ersteren auch€– aus zeitbedingten, heute nicht mehr überzeugenden Gründen€– das politische Wahlrecht nicht zuerkennen wollte. Der klassische Utilitarismus nimmt seinen Ausgang bei Lust und Leid der betroffenen Individuen.11 Auf dieser Basis wird die Nutzensumme ermittelt. An diesem normativindiviÂ�duaÂ�listiÂ�schen Ausgangspunkt ändert sich auch nichts, wenn, wie im modernen Präferenzutilitarismus,12 statt Lust und Leid die Präferenzen entscheidend werden. Allerdings verhindert, wie noch näher zu erläutern sein wird (V. 4), das utilitaristische Prinzip der Maximierung des kollektiven Nutzens die umfassende und adäquate Berücksichtigung der Individuen mit ihren ethisch relevanten Eigenschaften. Die Vertragstheorie geht in ihren verschiedenen Varianten bei Hobbes, Locke, Rousseau, Gauthier, Rawls und Scanlon trotz großer Unterschiede in Einzelheiten immer 8 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€429. 9 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€438. 10 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VI, Berlin 1907â•›/â•›14, Nachdr. Berlin 1968, S.€314â•›f. 11 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789), Nachdr. Buffalo 1988, S.€1â•›f. 12 Vgl. zum Beispiel Peter Singer, Practical Ethics, 2.€Aufl. New York 1993.
2. Normativ-individualistische Theorien
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von Individuen aus,13 die in letzter Instanz als vertragsschließend angesehen werden. Die Unterschiede betreffen die Frage, wie die Individuen zu verstehen sind, welche ihrer Eigenschaften entscheidend sein sollen und wie der Vertragsschluss zu interpretieren ist. Die Tugendethik akzeptiert dagegen bereits die in der Einleitung zu Grunde gelegte Trennung zwischen Moral und Fragen des guten Lebens nicht. Ihr Fokus ist nicht auf den von einer Handlung betroffenen Anderen gerichtet, sondern regelmäßig akteurszentriert.14 Entscheidend soll der Charakter des Akteurs sein, nicht der Andere als individuell Betroffener. Damit wäre das Allprinzip verletzt. Dieser negative Befund bedarf aber einer Einschränkung: Es wäre voreilig, dieser Grundorientierung der Tugendethik kritiklos zu folgen. Denn sie beruht auf einer fragwürdigen Entscheidung. Hat man den betroffenen Anderen zu berücksichtigen, so ist es nicht ausgeschlossen, sondern sogar sehr wahrscheinlich, dass dessen Wünsche und Ziele sich nicht nur auf die Handlungen und Konsequenzen, sondern auch auf die Charaktereigenschaften derjenigen Akteure richten, deren Handeln ihn betrifft (vgl. Kapitel€III). Warum ist das so? Jeder von uns kann häufig sicherer sein, dass seine Wünsche und Ziele nicht missachtet werden, wenn Akteure, deren Handlungen ihn betreffen, einen guten Charakter aufweisen. Insofern wird jeder von uns wünschen, dass Akteure einen derartigen guten Charakter haben oder zumindest in der Zukunft ausprägen. Ob und wann dieser Wunsch berechtigt ist, ist eine weitere Frage, die noch zu erörtern sein wird. Entscheidend ist, dass eine Berücksichtigung des Charakters des Akteurs nicht akteurszentriert sein muss, sondern mit einer normativ-individualistischen Berücksichtigung des Anderen vereinbar ist. Bei der Tugendethik muss zwischen klassischen Versionen, etwa denjenigen von Platon und Aristoteles, und modernen Versionen unterschieden werden. Platons Ethik einer Gerechtigkeit in der Polis wendet sich mit ihrem Grundprinzip, dass jeder das Seine zur Polis beitragen soll,15 zwar auch an individuelle Akteure, ist aber insgesamt eher auf das Wohl der Gemeinschaft gerichtet, also bis zu einem gewissen Grade kollektiv orientiert. Aber bereits bei Platon ist diese Gemeinschaftsorientierung in verschiedener Hinsicht relativiert: Es sind die Bedürfnisse der Individuen, die zur Begründung der Polis führen.16 Neben der Gerechtigkeit in der Polis steht auch die des Einzelnen in Frage.17 Die Sorge um die Seele und die Tugendhaftigkeit des Einzelnen sind ein Ziel der Polis.18 Aristoteles verstärkt diesen normativen Individualismus. Das Glück des Einzelnen rückt ins Zentrum der Ethik.19 Statt der Verpflichtung jedes Einzelnen, das Seine zur Polis beizutragen, akzentuiert er den Grundsatz „Jedem das Seine“.20 In der modernen 13 Vgl. etwa Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€229, 218–223. 14 Michael Slote, Virtue Ethics, in: Marcia W. Baronâ•›/â•›Philip Pettitâ•›/â•›Michael Slote, Three Methods of Ethics. A Debate, S.€175–238, S.€177. 15 Platon, Politeia, 433a9. 16 Platon, Politeia, 369c10. 17 Platon, Politeia, 368e2. 18 Platon, Nomoi, 631c5–8, 963d2, 965d3; vgl. auch Minos 321d1–3 (Platons Autorschaft ist umstritten). 19 Aristoteles, Nikomachische Ethik I 1095a18. 20 Aristoteles, Nikomachische Ethik V 1133b3.
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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen
Tugendethik wird der Schwerpunkt dann explizit auf das tugendhafte Individuum mit seinen inneren Veranlagungen, Dispositionen und Motiven gelegt.21 Die moderne Tugendethik folgt also grosso modo und mit einigen retardierenden Momenten dem allgemeinen Trend der neuzeitlichen Ethik zu normativ-individualistischen Konzeptionen. Bei anderen akteurszentrierten Ethiken, wie der Mitleidsethik, der Ethik der Sorge (care ethics) und der Klugheitsethik des aufgeklärten Eigeninteresses (Prudentialismus), ergibt sich Ähnliches wie bei der Tugendethik. Auch sie können aufgrund ihrer Beschränkung auf das Mitleid, die Sorge oder die Klugheit des Akteurs die Berücksichtigung des Anderen zwar partiell und indirekt, aber nicht vollständig und direkt in ihre Theorie integrieren. Ihr normativer Individualismus bleibt deshalb ein halbierter, ausschließlich oder zumindest dominant auf den Akteur bezogener, auch wenn der Andere bei der Mitleidsethik, der Klugheitsethik und der Ethik der Sorge zumindest vermittelt über Gefühle oder Vernunfterwägungen des Akteurs berücksichtigt wird.
3. Die Wahl der Bezeichnung Elemente und Aspekte des normativen Individualismus tauchen in der ethischen Diskussion unter den verschiedensten Bezeichnungen auf: „Individualismus“, „legitimatorischer Individualismus“, „IndiviÂ�dualität“, „Wert des Einzelnen“, „Person“, „Humanismus“, „Liberalismus“, „Subjektivismus“ (normativ-ethisch verstanden), „Kooperation“, „Selbstbestimmung“, „Autonomie“, „Freiheit“.22 Dennoch scheint der Ausdruck „normativer Individualismus“ den anderen Alternativen überlegen zu sein, und zwar aus folgenden Gründen: „Individualismus“ schlechthin kann sich auch auf ein rein soziologisch zu beschreibendes Faktum der Individualisierung beschränken. „Legitimatorischer Individualismus“ betont zwar die Legitimation. Aber auch diese kann nur als bloßes Legitimationsfaktum beschrieben werden. „Individualität“ wird eher als psychologische denn als ethische Kategorie verstanden. „Wert des Einzelnen“ schränkt die Ethik von vornherein auf eine Werttheorie ein. Der „Wert des Einzelnen“ kann überdies auch als bloße Er21 Michael Slote, Virtue Ethics, S.€177. 22 Für „Individualismus“: Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, S.€169. Für „legitimatorischen Individualismus“: Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S.€45â•›ff. Für „Wert des Einzelnen“: Heiner Hastedt, Der Wert des Einzelnen. Eine Verteidigung des Individualismus, Frankfurt a.â•›M. 1998. Für „Freiheit“: Friedrich A. von Hayek, The Constitution of Liberty, Chicago 1960. Für „Humanismus“: Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986, S.€194, der den Terminus dann aber auf wenig einleuchtende Weise nichtindividualistisch interpretiert. Für „Subjektivismus“: John L. Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, Chap. I, 2.; Rainer W. Trapp, „Nicht-klassischer“ Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.â•›M. 1988, S.€304, 310â•›ff.; Franz von Kutschera, Grundlagen der Ethik, 2.€Aufl. Berlin 1999, S.€59, 121â•›ff. Für „Kooperation“: Julian Nida-Rümelin, Demokratie als Kooperation, Frankfurt a.â•›M. 1999, S.€162â•›ff. Für „Selbstbestimmung“: Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999; ders., Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S.€155â•›ff. Für „Autonomie“: Tom L. Beauchampâ•›/â•›James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S.€99â•›ff.; Jerome Schneewind, The Invention of Autonomy, Cambridge 1998; Joel Feinberg, Harm to Self, Oxford 1986, S.€27â•›ff.
3. Die Wahl der Bezeichnung
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gänzung in einer kollektivistischen Theorie anerkannt werden. Im Übrigen wird mit „Wert“ der notwendige Aspekt der kategorischen Verpflichtung in moralischen Konflikten nicht klar genug ausgedrückt. „Humanismus“ impliziert von vornherein eine Beschränkung auf Menschen. Dieser Begriff schließt also Tiere und andere Lebewesen aus. Das ist ohne Begründung nicht zu rechtfertigen. Die hier entwickelte Ethik ist aber natürlich im Hinblick auf Menschen eine humanistische in einem weiteren Sinne. Sie ist es allerdings nicht in dem engeren Sinne, in dem der Begriff neuerdings von manchen zur Kennzeichnung einer Ethik des Wohlergehens in Abgrenzung zum normativen Individualismus gebraucht wird.23 Der Terminus „Person“ hängt stark von seinem spezifischen Verständnis ab. Es gibt Theorien der „Person“, die mit der Wahl dieses Ausdrucks sehr viel weiter gehende metaphysische Vorstellungen verbinden, etwa wie Hegel die Selbstbestimmung des Individuums als Allgemeines.24 Deshalb erscheint es sinnvoll, zunächst einen neutraleren und weniger anspruchsvollen Begriff zur Kennzeichnung der ethisch relevanten Individuen zu wählen. „Normativer Individualismus“ und „Liberalismus“ sind sich sehr nahe. Es gibt trotzdem einen wesentlichen Unterschied: Der normative Individualismus ist legitimatorisch grundlegender, weil er den direkten Bezug zu den entscheidenden, legitimationstragenden Wesen klarstellt. Er ist ein rechtfertigendes Prinzip bzw. eine rechtfertigende Theorie, während der Liberalismus eher ein gesellschaftliches, politisches und rechtliches Programm als wesentliche Auswirkung des normativen Individualismus formuliert. Aber es besteht keine strikte legitimatorische Korrelation. Der Liberalismus ist als politisches Programm zum Beispiel prinzipiell auch auf religiöser oder naturrechtlicher Grundlage möglich. „Subjektivismus“ wird von vielen nicht nur als normativ-ethischer Bezug auf die Individuen, sondern als methodische bzw. metaethische Entscheidung für den Verzicht auf eine objektive ethische Konfliktlösung verstanden.25 Dabei wird angenommen, dass die Pluralität und Beliebigkeit individueller Belange eine objektive Ethik ausschließen. Das ist aber, wie sich im Kapitel€VI zeigen wird, ein Irrtum. Man kann sich bei der normativen Rechtfertigung im Ausgang ausschließlich auf die Individuen und ihre zum Teil kontingenten Eigenschaften beziehen und trotzdem€– wie es hier geschieht€– eine objektivistische normative Ethik vertreten. „Kooperation“ ist eine zentrale Folge des normativen Individualismus, steht aber wie „Liberalismus“ schon zu weit in der Anwendung. Der Terminus der „Selbstbestimmung“ bzw. „Autonomie“ weist gegenüber dem des normativen Individualismus drei Nachteile auf: Der erste Nachteil liegt darin, dass er auch als eine bloße empirisch-psychologische Beschreibung verstanden werden kann. Das Begründungsziel der normativen Ethik wird deshalb nicht in ähnlicher Weise wie beim Begriff des normativen Individualismus deutlich. Der zweite Nachteil besteht darin, dass der Begriff der Selbstbestimmung von vornÂ�herein auf einsichtsfähige Menschen 23 Vgl. Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€194. 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke 7, Frankfurt a.â•›M. 1986, §§ 34â•›ff., S.€93â•›ff. 25 John Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, S.€18.
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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen
beschränkt ist. Nicht einsichtsfähige Menschen, Tiere, andere Lebewesen sowie Gott können mit ihm nicht erfasst werden. Die Frage, wer moralisch zu berücksichtigendes Individuum ist, würde auf diese Weise bereits durch den BeÂ�griffsgebrauch entschieden. Für den ethischen Hauptfall des Konflikts einsichtsfähiger Menschen ist der Begriff der Selbstbestimmung also hilfreich. Aber seine Verwendung darf nicht dazu führen, dass andere Wesen nicht als ethisch zu berücksichtigende Individuen wahrgenommen werden. Es verwundert nicht, dass der Begriff der Selbstbestimmung insbesondere auftaucht, wo regelmäßig ausschließlich einsichtsfähige Menschen eine Rolle spielen, etwa in der Medizinethik,26 nicht aber in der Tierethik oder der ökologischen Ethik. Der dritte Nachteil liegt darin, dass der Begriff der Autonomie nicht auf Individuen beschränkt ist. Der ursprüngliche griechische Begriff Autonomie bezeichnete zunächst vor allem die Selbstbestimmung politischer Gemeinschaften.27 Dieser politische Sinn von Autonomie findet sich auch noch in der Gegenwart, etwa im Prinzip der „Selbstbestimmung der Völker“ in Artikel€1 Nr.€2 der Charta der Vereinten Nationen. Der Begriff der Selbstbestimmung ist demnach allein nicht in der Lage, das Individualprinzip des normativen Individualismus auszudrücken. Seine Verwendung ist aber immer dort sinnvoll, wo sich ein Gebiet der Angewandten Ethik primär auf einsichtsfähige Individuen bezieht, wie etwa die Medizinethik und die politische Ethik, etwa bei Fragen des Arzt-PatientenVerhältnisses, der Euthanasie, der politischen Partizipation und Repräsentation.
4. Sachliche Abgrenzung Sachlich lässt sich der normative Individualismus durch einige negative Abgrenzungen weiter charakterisieren: Das ethische Prinzip des normativen Individualismus ist selbstredend mit der Anerkennung der Tatsache vereinbar, dass die Individuen faktisch regelmäßig mehr oder weniger eng in Gemeinschaften, Ehen, Familien, Nachbarschaften, Gemeinden, Staaten etc., eingebunden sind, also tatsächlich sozial bzw. kollektiv leben. Keine realistische Ethik kann dies bestreiten. Zwischen dem Faktum des sozialen Zusammenlebens und der normativen Rechtfertigung von potentiell widerstreitenden Belangen ist aber klar zu unterscheiden. Ein deskriptiver Kollektivismus sozialer Tatsachen wäre mit dem normativen Individualismus durchaus vereinbar, wobei eine stark kollektivistische Beschreibung aufgrund der zunehmenden Individualisierung der modernen Gesellschaften zumindest für die westlichen Industriestaaten kaum mehr als zutreffend angesehen werden kann.28 Die Menschen leben zwar nach wie vor überwiegend in Gemeinschaften wie Ehen, Partnerschaften, Familien, Gemeinden und Staaten. Aber die Bindungen 26 Vgl. zum Beispiel Tom L. Beauchampâ•›/â•›James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S.€99â•›ff. 27 Rosemarie Pohlmann, Artikel „Autonomie“, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1, Darmstadt 1971, Sp. 701–719, Sp. 701. 28 Ulrich Beckâ•›/â•›Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.â•›M. 1996.
4. Sachliche Abgrenzung
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zwischen den einzelnen Mitgliedern dieser Gemeinschaften haben sich€– man mag dies bedauern oder nicht€– gelockert. Aus dem Faktum des Zusammenlebens der Menschen resultiert zweitens, dass Kollektive Ziele formulieren und Interessen haben können. Der normative Individualismus schließt die Berücksichtigung dieser Ziele und Interessen von Kollektiven nicht aus. Was er fordert, ist lediglich die letztinstanzliche, normativ-ethische Rückführung derartiger kollektiver Ziele und Interessen auf die Belange von Individuen. In letzter Instanz dürfen also nur solche Ziele und Interessen von Kollektiven Berücksichtigung finden, die, wenn auch vielleicht nur indirekt, rechtfertigend auf die jeweils betroffenen Individuen rückführbar sind. Der normative Individualismus bestreitet im Übrigen nicht, dass die einzelnen Individuen in der Bildung und Formulierung ihrer Belange von ihrer sozialen Umgebung beeinflusst werden. Er leugnet also keinen partiellen genetischen oder faktischen Kollektivismus. Er behauptet aber, dass zwischen dem Faktum der Einbettung der Einzelnen in kollektive Lebensgemeinschaften sowie der daraus resultierenden teilweise kollektiv bestimmten Genese ihrer Bedürfnisse, Wünsche und Ziele und den moralisch und ethisch zu berücksichtigenden Belangen klar zu unterscheiden ist.29 Die soziale Prägung macht individuelle Eigenschaften nicht zu kollektiven. Die moralisch zu beachtenden Individuen gewinnen ihre moralische Berücksichtigungswürdigkeit gerade aufgrund der Tatsache, dass sie ihre Belange als ihre je eigenen begreifen, vertreten und gewahrt wissen wollen. Ethik und Moral dürfen diesen grundlegend individualistischen Impuls der Selbstbestimmung30 nicht durch den Verweis auf nicht zu leugnende soziale Bedingungen unterdrücken. Selbst wenn die Ziele der Individuen vollständig sozial bedingt wären, würde dies die Tatsache, dass die Individuen diese Ziele als die je ihren ansehen, bejahen und berücksichtigt wissen wollen, und damit die Grundlage und Rechtfertigung des normativen Individualismus nicht entwerten. Dies gälte selbst dann, wenn die individuelle Bejahung und Berücksichtigung ihrerseits als Ziel sozial bedingt wäre. Insofern muss klar zwischen dem Sein sozialer Bedingungen und dem Sollen individueller Belange bzw. Interessen (das allerdings natürlich auch den Charakter einer, wenn auch normativen Tatsache hat) unterschieden werden. An dieser Stelle darf sich kein naturalistischer Fehlschluss einschleichen. Der normative Individualismus impliziert des Weiteren keinen psychologischen oder sonstigen Egoismus.31 Mit der allgemeinen Sozialpsychologie geht er vielmehr davon aus, dass die Individuen regelmäßig in erheblichem Umfang altruistische Wünsche und idealistische Ziele haben. Diese fließen allerdings nicht als objektive Wahrheiten, sondern als individuelle Belange und Vorstellungen in die Bewertung des moralischen Konflikts ein. Der normative Individualismus fördert auch keinen Egoismus, da nicht erkennbar
29 Anders als Michael J. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982, S.€50â•›ff., das tut. 30 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; Jerome Schneewind, The Invention of Autonomy; Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. 31 So aber zum Beispiel Franz von Kutschera, Grundlagen der Ethik, S.€302.
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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen
ist, wieso dieser im längerfristigen und umfassend verstandenen Interesse der Individuen liegen sollte. Der normative Individualismus impliziert auch keinen Relativismus der Moral oder der ethischen Rechtfertigung im Sinne einer Beliebigkeit ihrer Normen. Die individuellen Belange, welche die Grundlage seiner Normen bilden, sind zwar vom Willen der betroffenen Menschen abhängig und insofern relativ und damit auch zufällig. Aber zum einen gibt es menschliche Grundbedürfnisse, auf deren Befriedigung kein Mensch€ – sofern er weiterleben will€ – vollständig verzichten kann, etwa Atemluft, Wasser und Nahrung. Und bei vielen weiteren Wünschen besteht im Grundsätzlichen große Übereinstimmung, etwa bei dem Wunsch nach Wärme, Trockenheit, Sauberkeit, Helligkeit, Handlungsfreiheit, SchmerzÂ�freiheit, Schutz vor Tötung und Verletzung usw. Zum anderen muss man annehmen, dass sich bei widerstreitenden Interessen zumindest eine relativ objektive Grenze der besten Konfliktlösung finden lässt (oder mehrere). Diese metaethische Frage des Verhältnisses von Subjektivismus und Objektivismus wird noch in Kapitel€VI erörtert. Zu betonen ist weiterhin, dass eine normativ-individualistische Position nicht mit einer libertären Theorie bzw. der Konzeption eines Ultraminimalstaats zu verwechseln ist.32 Die Restriktion gemeinschaftlicher Entscheidungen bzw. der Moral auf das, was sich in einem tatsächlichen KoorÂ�diÂ�naÂ�tionsÂ�prozess unter Verwendung der Methode der Unsichtbaren Hand ergeben würde, lässt sich nicht auf den normativen Individualismus stützen, da die Individuen auf diese Weise gehindert werden, die ihren Belangen nicht ausreichend Rechnung tragenden, mageren Resultate dieses Prozesses€– etwa fehlende Förderung der Kultur, Bildung, Infrastruktur usw.€– zu vermeiden. Liegt es im Interesse der Individuen, die Beschränkung auf einen selbstlimitierenden und selbstschädigenden Prozess zu umgehen, und schränken sie sich auch faktisch nicht derart ein, so muss man annehmen, dass diese Beschränkung nicht zu rechtfertigen ist. Der normative Individualismus darf auch nicht mit der Vertragstheorie gleichgesetzt werden.33 Die Vertragstheorie war zwar historisch eine wesentliche Ausprägung des normativen Individualismus. Aber auch der Utilitarismus, der Kantianismus und in beschränktem Sinne und in manchen Varianten sogar die Tugendethik gehen, wie sich ergab, von den Individuen aus und sind deshalb zumindest bis zu einem gewissen Grade normativ-individualistische Theorien. Die Vertragstheorie ist ein Modell und damit eine von mehreren möglichen Konkretisierungen des normativen Individualismus. Manche Vertragstheoretiker haben die tatsächliche Einstimmigkeit der betroffenen Individuen als notwendige Bedingung der moralischen Rechtfertigung angesehen, also deren fak32 Vgl. Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, New York 1974, S.€18. 33 Dies gilt für beide Zweige der Vertragstheorie, die mittlerweile unterschieden werden: den sog. „Contractarianism“, der zum Beispiel von Thomas Hobbes und David Gauthier vertreten wird, und den sog. „Contractualism“, der zum Beispiel von Jean-Jacques Rousseau, John Rawls und Thomas M. Scanlon als begründet angesehen wird. Während Ersterer die eigenständige Verfolgung hauptsächlich egoistischer Interessen in einem Prozess des Aushandelns aus der Perspektive der Individuen in den Vordergrund stellt, soll bei Letzterem eher die gemeinschaftliche Perspektive der allgemeinen Zustimmung zu Regeln entscheidend sein. Vgl. die Einleitung in Stephen Darwall (Hg.), Contractarianismâ•›/â•›Contractualism, S.€1â•›ff.
4. Sachliche Abgrenzung
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tische Zustimmung.34 Dieses Erfordernis mag jenseits der Moral in eng umgrenzten Bereichen der Politik als repräsentativem Handeln gerechtfertigt sein, wenn es etwa um fundamentale Verletzungen von Menschenrechten, zum Beispiel der Menschenwürde oder des Rechts auf Leben geht. Als generelles Erfordernis der Moral stünde das Prinzip der faktischen Einstimmigkeit jedoch im Widerspruch zur moralischen Grundsituation, weil eine begrifflich notwendige Bedingung der Moral im hier verstandenen Sinn gerade im zumindest möglichen Widerstreit der Belange besteht, also zumindest die Möglichkeit der Nichtübereinstimmung voraussetzt. Viele Vertragstheoretiker haben auf das Fehlen einer tatsächlichen Einstimmigkeit mit dem Erfordernis der fiktiven Einstimmigkeit reagiert, den Vertrag also als hypothetischen Vertrag verstanden. Der fiktive Vertrag kann anders als der faktische auf die tatsächliche Nichtübereinstimmung und damit auf die moralische Konfliktsituation reagieren. Allerdings gilt: Resultat des hypothetischen Vertrags kann nur das sein, was man vorher in Form von quasi-axiomatischen Grundannahmen in ihn hineingesteckt hat. Das Vertragsmodell ist also legitimatorisch nicht so grundlegend wie das Prinzip des normativen Individualismus. Der normative Individualismus schließt weiterhin nicht aus, dass Gemeinschaftsbeziehungen an einem bestimmten Punkt der Moral und ethischen Theorie zu speziellen Verpflichtungen und theoretischen Differenzierungen führen. Es wird zum Beispiel vielfach angenommen, dass wir gegenüber unseren Eltern und Kindern erhöhte Verantwortungs- und Hilfspflichten haben, die etwa aus früherem Verhalten und dem spezifischen Nähe- und Vertrauensverhältnis zu ihnen resultieren. Man darf aber die Frage der grundsätzlichen moralischen Berücksichtigungswürdigkeit nicht mit der Frage erhöhter spezifischer Anforderungen aus besonderen Näheverhältnissen verwechseln. Voraussetzung für erhöhte Verantwortungs- und Hilfspflichten ist die selbständige Berücksichtigungswürdigkeit unserer Eltern und Kinder als Individuen im ethischen Grundverhältnis Akteur-Anderer. Gegenüber einem unselbständigen Organ unseres Körpers, etwa unserer Leber, haben wir trotz möglicherweise im Einzelfall schädigenden Vorverhaltens durch übermäßigen Alkoholgenuss und einem unleugbaren Näheverhältnis keine grundsätzlichen oder gar erhöhten moralischen Verantwortungs- und Hilfspflichten, weil unsere Leber Teil unser selbst als Betroffene und deshalb kein eigenständig moralisch zu berücksichtigendes Individuum ist. Der normativ-individualistische Ausgangspunkt von Ethik und Moral schließt auch in keiner Weise aus, dass im Interesse der betroffenen Menschen gemeinsame Handlungen und Gemeinschaften gefördert und kollektive Ziele wie Patriotismus, Gemeinsinn oder Gleichheit angestrebt werden. Der normative Individualismus ist also mit einem gemäßigten praktischen Kommunitarismus vereinbar. So wird sich der normative Individualismus zum Beispiel im Interesse der Menschen gegen den Zwang zu isolierenden und vereinzelnden Lebensformen wenden. Er wird politische und rechtliche Regelungen ablehnen, die derartige isolierende und vereinzelnde Lebensformen zur einzigen Möglich34 Dazu: Peter Stemmer, Die Rechtfertigung moralischer Normen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 58 (2004), S.€483–504.
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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen
keit machen, etwa eine Bauplanung, die anonyme Wohnblöcke ohne Infrastruktur weit vor der Stadt errichtet. Er wird Ehe, Familie und Partnerschaft vielfach stärker als bisher unterstützen. Er wird freiwillige Gemeinschaften fördern. Aber alle kollektiven Ziele müssen sich letztlich an den Belangen aller betroffeÂ�nen Einzelnen messen lassen. Sie dürfen keinen ultimativen SelbstÂ�zweck haben. Der normative Individualismus schließt also einen strikten Kommunitarismus aus, insbesondere einen solchen, der gegen den klaren Willen der betroffenen Individuen in letzter Instanz einer Gemeinschaft und ihren Eigenschaften den Vorzug geben will. Der normative Individualismus stellt in der hier vorgestellten Formulierung zunächst eine schwächere Form der Abgrenzung zu allen kollektiven Theorien der Ethik dar. Nicht ausgeschlossen sind damit€– wie sich oben ergab€– metaethische Positionen, die objektive Werte, Pflichten oder sonstige normative Tatsachen als letzte Quelle der Rechtfertigung ansehen. Behauptet wird nur, dass diese objektiven Werte, Pflichten oder sonstigen normativen Tatsachen€– sofern sie bestehen€– in letzter Instanz immer durch die betroffenen Individuen erkannt und als eigene oder fremde Belange für die moralische Konfliktsituation zur normativen Relevanz erhoben werden müssen, um normativ entscheidender Teil einer säkularen ethischen Rechtfertigung sein zu können. Im Hinblick auf eine vergleichbare Begriffsbildung in den Sozialwissenschaften mag schließlich fraglich sein, warum nicht von „methodologischem“ oder „methoÂ�dischem“ Individualismus gesprochen wird.35 Der methodologische Individualismus vertritt die Auffassung, dass soziale Phänomene nur durch den Bezug auf Individuen zu beschreiben und zu erklären sind:36 35 Die Wortverbindung „methodologischer Individualismus“ scheint vor allem auf Karl Popper und John W.â•›N. Watkins zurückÂ�zugehen: Vgl. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2.€ Aufl. München 1970; John W.â•›N. Watkins, The Principle of Methodological Individualism, The British Journal for the Philosophy of Science 3 (1952), S.€186–189; ders., Ideal Types and Historical Explanation, in: Herbert Feiglâ•›/â•›M. Brodbeck (Hg.), Readings in the Philosophy of Science, New York 1953, S.€729–732; ders., Methodological Individualism: A Reply, in: Philosophy of Science 22 (1955), S.€ 58–62; ders., Historical Explanation in the Social Sciences, in: P. Gardiner (Hg.), Theories of History, New York 1959, S.€503–514, S.€512. Vgl. auch Paul Oppenheimâ•›/â•›Hilary Putnam, Unity of Science as a Working Hypothesis, in: H. Feiglâ•›/â•›M. Scrivenâ•›/â•›G. Maxwell (Hg.), Concepts, Theories, and the Mind-Body Problem, Minneapolis 1958, S.€3–36, S.€17. Vgl. zu umfassenderen Darstellungen, Analysen und Diskussionen: John O’Neill (Hg.), Modes of Individualism and Collectivism, New York 1973, Teil 3 und 4; Viktor J. Vanberg, Die zwei Soziologien: Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975; Rajeev Bhargava, Individualism in Social Science. Forms and Limits of a Methodology, Oxford 1992. 36 Die sachliche Annahme beginnt sich bereits seit dem 18.€Jahrhundert zu entwickeln. Vgl. Bernard de Mandeville, The Fable of the Bees, or, Private Vices, Publick Benefits, London 1924, Teil II; David Hume, A Treatise of Human Nature, hg. von L.â•›A. Selby-Bigge, 2., rev. Ausg. hg. von P.â•›H. Nidditch, Oxford 1978, Book€III, Part II, Sec. II, S.€495; Adam Smith, An Inquiry into the Nature & Causes of the Wealth of Nations, hg. von R.â•›H. Campbellâ•›/â•›A.â•›S.€Skinnerâ•›/â•›W.â•›B. Todd, Bd. 1, Oxford 1976 (= The Glasgow Edition Vol. II, 1), S.€26â•›ff.; John S.€Mill, A System of Logic Ratiocinative and Inductive, hg. von J.â•›M. Robinson, Toronto 1974 (Collected Works Vol. VIII), S.€879. Die sozialwissenschaftliche Verwendung des Begriffs „Individualismus“ wird auf Friedrich A. von Hayek, Individualism and Economic Order, Chicago 1948, S.€1â•›ff. zurückgeführt. Von Hayek unterscheidet allerdings begrifflich nicht zwischen methodologischem und normativem Individualismus, sondern spricht nur von „individualism“. Nach einer Bestimmung als Theorie des Verstehens (S.€ 6) folgen auch normative Regeln, die jenseits bloßer Beschreibung und Erklärung liegen. Von Hayek hat also auch in der Sache noch keine klare Differenzierung zwischen den zwei Arten des Individualismus eingeführt. In seinem späteren Hauptwerk, The
4. Sachliche Abgrenzung
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Es handelt sich also erstens um eine Antwort auf die Frage, welcher Art Hypothesen bzw. Theorien sind, mit denen wir beschreiben und erklären können, was in der „sozialen Welt“ vor sich geht.37 Die normative Ethik kann sich dagegen nicht auf eine bloße Beschreibung und Erklärung beschränken, sondern muss ein normatives Prinzip der RechtÂ�fertigung angeben. Anders als dem methodologischen Individualismus geht es dem normativen Individualismus also nicht um Beschreibung und Erklärung, sondern um Begründung und Kritik. Das Ziel der Begründung und Kritik des normativen Individualismus führt zweitens zu einer anderen Differenzierung der Anwendungsbereiche. Der Anwendungsbereich des normativen Individualismus geht einerseits prinzipiell über den Bereich des Sozialen hinaus und betrifft auch individuelles Werten und Handeln ohne allgemeine gesellschaftliche Folgen, während dies für den methodologischen Individualismus€– zumindest soweit er in der Sozialethik vertreten wird€– ohne Bedeutung ist. Im Spektrum des Sozialen ist der Anwendungsbereich des ethisch zu Rechtfertigenden dafür andererseits gegenüber dem zu Beschreibenden und Erklärenden kleiner. Während der methodologische Individualismus alle möglichen sozialen Folgen kollektiven wie individuellen Handelns beschreiben und erklären, also eine umfassende Theorie des Sozialen liefern soll, geht es dem normativen Individualismus im Bereich des Sozialen nur um eine Kritik und Rechtfertigung moralischen, rechtlichen und politischen Handelns usw., also um eine moralische, politische und rechtliche Ethik, nicht um eine allgemeine Theorie aller sozialen Phänomene.38 Beide Gesichtspunkte hängen drittens eng zusammen. Manche allgemeine soziale Phänomene, etwa die Entwicklung der Bevölkerungszahl oder der Prozentsatz der Eheschließungen, sind selbstredend Ergebnis einzelner menschlicher Handlungen. Sie sind aber zunächst im Regelfall nicht als kollektive moralische, politische oder rechtliche Handlung intendiert oder zumindest relevant und damit weder normativ-indiviÂ� dualistisch rechtfertigungsfähig noch -bedürftig, sondern lediglich methodologischindividualistisch erklärbar, also als Ergebnis individuellen Handelns.39 Für den engeren Bereich von Moral, Recht und Politik ist die Charakterisierung als rechtÂ�fertigungsfähige und -bedürftige Handlung aber zumindest weitgehend und in zentralen Bereichen plausibel, so dass nur hier eine normativ-indiÂ�viÂ�duaÂ�listiÂ�sche Rechtfertigung möglich, aber auch€– will man in seinem Verstehen nicht reduktionistisch bleiben€– notwendig ist. Damit soll nicht behauptet werden, dass eine sozialwissenschaftlich-kausale Erklärung politischer Phänomene keinen Wert hätte. Aber zumindest im Kernbereich moralischen, Constitution of Liberty, Chicago 1960, tritt der BeÂ�griff des Individualismus dann auch ganz hinter den Begriff der Freiheit zurück. 37 Viktor J. Vanberg, Die zwei Soziologien: Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, S.€3, Fn.€3. 38 Fraglich ist dann allerdings, wozu man das Handeln nichtpolitischer Gemeinschaften, wie Vereine, Unternehmen, Verbände usw., zählt. Aber selbst wenn man dieses auch der Sozialethik zuordnet, ist deren Bereich immer noch kleiner als der Bereich der Sozialtheorie des methodologischen Individualismus, der ja auch alle sozialen Folgen rein individuellen Handelns berücksichtigt. 39 Derartige Handlungen können aber natürlich individualethisch bedeutsam sein.
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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen
rechtlichen, religiösen, erzieherischen und politischen Entscheidens überwiegt für uns doch der Charakter der sozialen Phänomene als rechtfertigungsfähiges und rechtfertigungsbedürftiges Handeln gegenüber dem lediglich blinden und zufälligen Resultat sozialer Prozesse. Sozialwissenschaftlich-kausale Faktoren werden von Prozessen der Kommunikation, Deliberation und Rechtfertigung überlagert und verlieren deshalb im Zentrum von Moral, Recht und Politik an Relevanz. Viertens divergieren auch die Traditionsbezüge: Für die Sozialwissenschaften waren Bernard Mandeville, Adam Smith, David Hume, Edmund Burke und Alexis de Tocqueville Theoretiker des methoÂ�doÂ�loÂ�gischen Individualismus, weil sie kollektive Phänomene als ungewollte Folgen individuellen Handelns erklärten.40 Hobbes wird von ihnen dagegen teilweise als methodologischer Kollektivist angesehen, weil der Staat als Leviathan einem Gesamtplan entspringen soll,41 während Hobbes nach dem Verständnis der Ethik einen€– wenn auch sehr eingeschränkten und mangelhaften€– normativen Individualismus vertreten hat. Der normative Individualismus sieht sich dagegen in der Tradition der philosophischen Vertragstheorien, aber auch des Utilitarismus, Kantianismus und anderer liberaler Theorien sowie der Tugendethik. Nunmehr ist zu fragen, wie der normative Individualismus zu begründen ist. Dabei ist es sinnvoll, zwischen seinen drei Teilen, also dem Individualprinzip, dem Allprinzip und dem Prinzip der prinzipiellen Gleichberücksichtigung zu unterscheiden.
5. Begründung des Individualprinzips Wie sich ergab, legen die wesentlichen heute vertretenen Theorien der normativen Ethik, wie die Vertragstheorie, der Kantianismus, der Konsequentialismus sowie die Tugendethik das Prinzip des normativen Individualismus zu Grunde. Insofern steht man mit ihm im Lager der weit überwiegenden Auffassung. Da diese Auffassung aber häufig nur implizit besteht und nicht explizit geäußert wird, muss gefragt werden, wie der normative Individualismus begründet werden kann. Warum können in letzter Instanz nur Individuen moralische Verpflichtungen bzw. Wertungen rechtfertigen? Warum gilt also das Individualprinzip des normativen Individualismus?42
40 Friedrich A. von Hayek, Individualism and Economic Order, S.€4, spricht auch von John Locke. Aber diese Nennung dürfte nur auf die fehlende klare Abgrenzung von methodischem und normativem Individualismus zurückzuführen sein. 41 Viktor J. Vanberg, Die zwei Soziologien: Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, S.€6, S.€172â•›ff. Anders aber Rajeev Bhargava, Individualism in Social Science. Forms and Limits of a Methodology, S.€1. 42 Vgl. zu einer modernen Kritik des normativen Individualismus aus perfektionistisch-konseÂ�quentialistiÂ� scher Perspektive: Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€193â•›ff.
5. Begründung des Individualprinzips
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a) Der Kern der Begründung Eine Begründung muss ihren Ausgangspunkt beim Sinn und Zweck der Moral und daran anÂ�knüpfend der Ethik nehmen. Die Moral dient€– wie eingangs festgestellt wurde€– dazu, unseren Charakter sowie unser Handeln und Entscheiden angesichts zumindest potentiell widerstreitender Lebensvorstellungen zu bestimmen und zwischen diesen potentiell widerstreitenden Lebensvorstellungen zu vermitteln, und zwar nicht nur mittels Ratschlägen und Empfehlungen, sondern auch mittels kategorischer Pflichten. Die Moral hat also als Teil der menschlichen Kultur den Sinn und Zweck, faire und vernünftige Lösungen eventuell gegenläufiger Charakter-, Handlungs- und Entscheidungsoptionen zu ermöglichen, die dann auch handlungsleitende, kategorische Verpflichtungen umfassen. Das erfordert, dass Handelnder und Betroffene nicht Teil eines einzigen, normativ letztentscheidenden Kollektivs sind. Denn wären sie Teil eines einzigen, normativ letztÂ� entscheidenden Kollektivs, so würde das bedeuten, dass sie zueinander nur im Verhältnis einer internen, also die Elemente dieses Kollektivs verbindenden normativen Relation stünden, nicht im Verhältnis einer externen, also auch zu Nichtelementen dieses Kollektivs bestehenden normativen Relation. Stünden sie aber zueinander nur im Verhältnis einer internen normativen Relation als Teil eines einzigen umfassenden und normativ letztentscheidenden Kollektivs, so wäre nicht zu erklären, warum zwischen ihnen kategorische, handlungsbegrenzende Pflichten bestehen sollten, wie sie für die Moral begrifflich-kennzeichnende Voraussetzung sind. Innerhalb eines einzigen, normativ letztentscheidenden Kollektivs mit ausschließlich internen Relationen kann es gute Gründe der Klugheit geben, einzelne widerstreitende Handlungsgesichtspunkte zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Kategorische Verpflichtungen müssen ihren letzten Ausgangspunkt aber außerhalb eines solchen Kollektivs finden, denn nur dann hängen sie nicht von den an Kollektivzielen orientierten Entscheidungen des Kollektivs mit unmittelbarer Wirkung für seine abhängigen Teile ab. Hängen Konfliktlösungen von derartigen Entscheidungen des Kollektivs für seine abhängigen Teile ab, so erfolgt keine externe kategorische Verpflichtung, sondern eben nur eine interne, unmittelbar wirksame Klugheitsentscheidung einer Zentrale für die Peripherie. Kollektive bedürfen für interne normative Letztentscheidungen keiner kategorischen Verpflichtungen. Innerhalb eines normativ letztlich relevanten Kollektivs herrscht keine Moral und damit auch keine Ordnung, deren Verpflichtungen auf externen Relationen basieren, sondern die Faktizität der kollektiven, mehr oder weniger klugen Entscheidung über interne Relationen seitens einer Zentrale. Nun könnte man einwenden, dass damit der normative Individualismus noch nicht begründet sei, weil sich ja nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive in externen Relationen gegenüberstehen können, etwa wenn eine Räuberbande eine Reisegruppe überfällt. Warum sind in letzter Instanz die Belange der überfallenen einzelnen Reisenden als Andere für die Räuber handlungsbegrenzend und nicht die der Reisegruppe als Ganzes? Kollektive wie Reisegruppen, Räuberbanden, Familien oder politische Gemeinschaften lassen sich intern noch einmal normativ differenzieren. Innerhalb der Reisegruppe
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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen
besteht etwa für jeden einzelnen Reisenden die moralische Verpflichtung, die Gruppe in dieser Situation zu verteidigen. Für diese interne Verpflichtung gilt nun aber die im letzten Absatz formulierte Einsicht: Eine genuin moralische Verpflichtung kann sie nur sein, wenn sie sich im Hinblick auf eine externe normative Relation ergibt, nicht aber als eine interne normative Relation, die in normativer Hinsicht in letzter Instanz nur von der Entscheidung des Kollektivs abhängt. Kollektive kann man immer noch einmal moralisch und ethisch hinsichtlich ihrer eigenen Mitglieder intern beurteilen, also rechtfertigungstheoretisch analysieren. Deshalb kann die Kollektiventscheidung nicht letzter Maßstab der begründeten moralischen Rechtfertigung sein. Zwischen Individuen und Kollektiven besteht insofern eine unhintergehbare moralische und damit ethische Asymmetrie. Wir sprechen zwar von den Belangen bzw. Interessen von Kollektiven und akzeptieren damit das Bestehen derartiger kollektiver Belange bzw. Interessen. Daran lässt sich aber immer die Frage anschließen: Entsprechen diese kollektiven Belange bzw. Interessen auch wirklich den dahinter stehenden moralisch zu berücksichtigenden Belangen bzw. Interessen der Mitglieder des Kollektivs? Liegt etwa ein bestimmtes Handeln eines Unternehmens auch wirklich im Interesse der Arbeitnehmer und Aktionäre? Das Umgekehrte gilt aber nicht: Wenn Individuen moralisch betroffen sind und nicht in speziellen Rollen als Repräsentanten eines Kollektivs handeln, so kann man€– so jedenfalls unsere phänomenologisch zu ermittelnde allgemeine Auffassung€– nicht normativ bzw. moralisch, sondern nur faktisch bzw. kausal sinnvoll fragen: Entsprechen die Belange der betroffenen Individuen auch wirklich in moralischer Hinsicht den dahinter stehenden, individuenÂ�unabhängigen Belangen des Kollektivs? Selbst Marx’ Klassentheorie ist hier kein Gegenentwurf, sondern eine Bestätigung. Denn Marx hat seine Klassentheorie nur als naturalistisch-historistische Theorie entworfen, nicht als normativ-moralische.43 Das heißt, die Belange der Individuen sind faktisch-historisch Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zu einer Klasse in einer bestimmten historischen Situation. Aber sie können nicht als normativ-moralisch durch diese Zugehörigkeit bestimmt angesehen werden.
b) Weitere Rechtfertigungen Die Rechtfertigung des Individualprinzips des normativen Individualismus zeigt sich auch in folgenden Konkretisierungen: Erstens: Jedes Handeln eines Akteurs, das Andere in deren Handeln betrifft, impliziert eine zumindest partielle Verschiebung des Handlungswillens und der Handlungsausführung von diesen Betroffenen auf den Handelnden. Der Handelnde reißt also durch sein Handeln das Handeln eines anderen Betroffenen und damit dessen Handlungswillen und Handlungsausführung wenigstens teilweise an sich. Wer einem 43 Vgl. Brian Leiter, The Hermeneutics of Suspicion: Recovering Marx, Nietzsche, and Freud, in: ders., The Future for Philosophy, Oxford 2004, S.€7–105, S.€76â•›ff.
5. Begründung des Individualprinzips
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Anderen die Geldbörse stiehlt, bestimmt bis zu einem gewissen Grade den Handlungswillen und die Handlungsausführung des Betroffenen hinsichtlich dieser Geldbörse. Er nimmt ihm nämlich die Möglichkeit, mit dem Geld, das sich darin befindet, etwas zu kaufen. Da aber nur Individuen in einem vollen Sinne Akteure sind und Kollektive nur über sie repräsentierende Individuen handeln können, betrifft die Verschiebung von Handlungswille und Handlungsausführung in letzter Instanz immer die handelnden Individuen. Dann muss sich aber auch die Rechtfertigung letztlich auf diese Individuen beziehen, um die ultimative Verschiebung des Handlungswillens und der Handlungsausführung durch den Akteur von den eigentlich Betroffenen auf ihn selbst zu legitimieren. Andernfalls kann man nicht von ethischer Rechtfertigung in einem vollen Sinne sprechen. Zweitens: Das Handeln gegenüber anderen Betroffenen führt zu einer Diskrepanz zwischen Handlungsausführung durch den Akteur und Handlungsinteresse bei den Betroffenen. Eine ethische Theorie muss darauf reagieren. Eine Rückbindung der Handlungsausführung an das Handlungsinteresse kann aber nur gelingen, wenn die Rechtfertigung diese Diskrepanz zwischen Handlungsausführung durch den Akteur und Handlungsinteresse beim Betroffenen überwindet. Dies ist gegenüber den Individuen aber nur möglich, wenn die Individuen selbst letzter Bezugspunkt der RechtÂ�fertigung sind und nicht nur ein undifferenziertes Kollektiv aus Akteur und Betroffenen. Drittens: Das Handlungsinteresse der Individuen manifestiert sich in einem tatsächlichen RechtÂ�fertigungsverlangen. Zwar erheben auch Kollektive Forderungen nach Rechtfertigung von Handlungen durch andere. Aber Kollektive tun dies erstens regelmäßig in letzter Instanz nur in Vertretung ihrer Mitglieder, etwa eine Familie für ihre Mitglieder, eine Aktiengesellschaft für ihre Aktionäre, eine Gesellschaft beschränkter Haftung für ihre Gesellschafter, ein Verein für seine Mitglieder, ein Staat für seine Staatsbürger. Und zweitens wäre die bloße Befriedigung des RechtÂ�fertigungsÂ�verlangens des Kollektivs nicht hinreichend, um auch das RechtfertigungsÂ�verlangen der hinter dem Kollektiv stehenden Individuen zu befriedigen. Die grundlegende Asymmetrie der moralischen bzw. ethischen Berücksichtigung von Individuen und Kollektiven manifestiert sich phänomenologisch am deutlichsten in der unterschiedlichen Auflösbarkeit. Lässt man religiöse oder sonstige transzendente Erwägungen außer Betracht, so sehen wir anders als bei Individuen keinen ethischen Grund, warum Kollektive gegen den klaren Willen, das heißt die Wünsche und unabhängigen Ziele aller Beteiligten, bestehen bleiben sollten.44 Stimmen alle Beteiligten bewusst und freiwillig zu, so ist die Auflösung von Kollektiven ethisch nicht verwerflich. Man hat es etwa nicht allgemein als verwerflich angesehen, dass die Sowjetunion oder die Tschechoslowakei aufgelöst wurden, allenfalls als unzweckmäßig. Ebenso sieht man es nicht als ethisch verwerflich an, wenn Freundschaften auseinander gehen oder ein Verein seine Selbstauflösung beschließt. Nur enttäuschte Erwartungen, nicht erfüllte Verpflichtungen oder andere Belange bzw. Interessen der Individuen können in solchen 44 Die Frage, was gilt, wenn Individuen freiwillig der Unauflöslichkeit einer Gemeinschaft zugestimmt haben, etwa der Ehe oder dem Eintritt in einen geistlichen Orden, bleibt hier außer Betracht.
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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen
Fällen zu einer negativen ethischen Bewertung und zu entsprechenden Verzögerungsund Kompensationspflichten führen, nicht aber die Beendigung der Gemeinschaft als solche. Sie ist ethisch neutral, weil die Gemeinschaft als solche unabhängig von ihrer Bejahung durch die Individuen keinen eigenen Wert hat. Wie bei der Frage der Auflösbarkeit zeigt sich der Unterschied in der Berücksichtigung von Individuen auch bei der Ersetzbarkeit. Kollektive lassen sich, sofern alle betroffenen Individuen zustimmen, ohne ethische Beschränkungen durch andere Kollektive substituieren. Niemand hat es etwa als ein ethisches Problem angesehen, dass in Frankreich die Vierte Republik durch die Fünfte Republik ersetzt wurde. Und niemand sah es als ethisches Problem an, dass die Europäischen Gemeinschaften Teil der Europäischen Union wurden. Die Umwandlung von Unternehmen einer Rechtsform in eine andere ist tägliches Brot der Wirtschaftsberater, Rechtsanwälte und Registergerichte. Würde dagegen jemand zwei Menschen töten und dann zwei neue zeugen, um die Getöteten zu ersetzen, so würden wir das unter allen Umständen für ethisch verwerflich halten und als Mord bzw. Totschlag qualifizieren.45 Wir sind davon überzeugt, dass individuelle Menschen anders als Kollektive nicht wechselseitig ersetzbar sind. Viele würden das auch für Tiere akzeptieren, während es bei Bäumen schon zweifelhaft wäre€– was die noch zu erörternde abnehmende Berücksichtigungswertigkeit dieser Gruppe von Individuen zeigt.
c) Einwände Es ist zwar nicht logisch zwingend und auch nicht ohne weiteres empirisch belegbar, dass alle Individuen selbständig und frei entscheiden.46 Aber keine Ethik kann sich auf logische Notwendigkeiten oder empirisch vollständig erfasste Daten stützen. Sie muss vielmehr von allgemein akzeptierten Fakten ausgehen. Ein Faktum ist, dass der einzelne Mensch anders als Kollektive im Laufe seiner kindlichen und jugendlichen Entwicklung mit zunehmender körperlicher und geistiger Reife regelmäßig aus sich selbst heraus sowohl in der Lage als auch willens ist, über zentrale Fragen seines Lebens selbständig und selbstbestimmt zu entscheiden.47 Es gibt zwar ganz bestimmte Lebenssituationen, wo manche Handlungen, die uns betreffen, bis zu einem gewissen Grade auch von vertrauenswürdigen Experten abhängen,48 etwa dem Arzt, dem Rechtsanwalt, dem Apotheker oder dem Pfarrer. Aber erstens ist es sicherlich nicht so, dass es sich hierbei um die meisten Fragen unseres Lebens handelt.49 Zweitens wollen wir auch in diesen 45 Dieses Beispiel stammt von Marcia W. Baron, Kantian Ethics, in: Marcia W. Baronâ•›/â•›Philip Pettitâ•›/ Michael Slote, Three Methods of Ethics: A Debate, S.€3–91, S.€24. 46 So ein Gegenargument von Ludwig Siep, Konkrete Ethik, S.€111â•›f. 47 Davon geht auch das Recht aus: „§ 1626 BGB Elterliche Sorge: (2) Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewußtem Handeln. […]“ 48 So ein weiteres Argument Ludwig Sieps, Konkrete Ethik, S.€112. 49 So die Annahme Sieps.
5. Begründung des Individualprinzips
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Fällen zunächst autonom entscheiden, ob und wie weitgehend wir uns den Experten anvertrauen. Drittens versuchen die meisten trotz dieser Verantwortungsübertragung an Experten ein Höchstmaß an Kontrolle über deren Handeln zu behalten. Der Arzt soll etwa nicht beliebig, sondern nur mit der aufgeklärten Zustimmung des Patienten behandeln. Er muss den Patienten laufend über die Diagnose und Therapie informieren. Schließlich stehen die Experten gerade nicht notwendig oder auch nur häufig in einem besonderen familiären, freundschaftlichen oder sonstigen Kollektivverhältnis zu uns. Wir konsultieren sie vielmehr regelmäßig als Fremde und aus zweckrationalen Überlegungen, um bestimmte Ziele zu erreichen, die wir allein nicht realisieren können, etwa um unsere Gesundheit wiederzuerlangen, einen Prozess zu gewinnen, ein Medikament zu erhalten oder religiöse Sakramente zu empfangen. Die Experten haben für uns primär die Funktion, unser Leben zu fördern, obwohl wir sie natürlich, weil sie Menschen und damit moralisch zu berücksichtigende Individuen sind, nicht nur als Mittel zum Zweck behandeln dürfen. Joseph Raz hat den normativen Individualismus mit folgender Erwägung in Frage gestellt:50 „Is there anything wrong with moral individualism? Are any collective goods intrinsically desirable? I will suggest that some collective goods are intrinsically desirable if personal autonomy is intrinsically desirable. If this is so then right-based theories cannot account for the desirability of autonomy.“ An dieser Aussage ist schon die keinesfalls notwendige Verbindung von normativem Individualismus und einer Rechte-basierten Ethik problematisch, denn die Rechte-basierte Ethik kann€– wie sich im nächsten Abschnitt noch erweisen wird€– allenfalls als eine mögliche KonÂ�kretisierung des normativen Individualismus angesehen werden. Aber sieht man von diesem Einwand ab, so gilt: Raz geht davon aus, dass Autonomie im Sinn von Wahlfreiheit intrinsisch gut für ein Leben ist. Wenn Autonomie intrinsisch gut für ein Leben ist, dann soll es auch intrinsisch gut sein, eine hinreichend große Zahl von möglichen und akzeptablen Optionen für die autonome Wahl zu haben, etwa die Möglichkeit, Architekt zu werden, oder die Möglichkeit, als Homosexueller eine eheähnliche Gemeinschaft einzugehen. Das Ideal der persönlichen Autonomie soll also nach Raz dazu führen, dass wenigstens einige der entsprechenden kollektiven Güter intrinsisch gut sind, was den normativen Individualismus widerlegen soll.51 Diese Erwägung steht und fällt mit der Auszeichnung der Autonomie als intrinsisch gut. Aber dafür liefert Raz keine Rechtfertigung. Autonomie im Sinne von Wahlfreiheit ist jedoch ein Spezialfall unter den Gütern. Sie ist gerade nicht unabhängig von den Individuen und ihren Belangen absolut, sondern nur relativ zu diesen Individuen und ihren Belangen gut. Sie selbst und das Maß ihrer Güte hängen von ihrer Forderung und Bewertung durch die betroffenen Individuen ab. Wir würden es nicht als gut ansehen, wenn jemandem Autonomie im Sinne von Wahlfreiheit jenseits des von ihm gewünschten Maßes aufgedrängt würde, weil darin eine Missachtung des Individuums 50 Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€199–207. 51 Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€206: „The ideal of personal autonomy entails, therefore, that collective goods are at least sometimes intrinsically valuable.“
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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen
läge. Das zeigt aber, dass die Autonomie im Sinne der Wahlfreiheit, zumindest sofern sie gemeinschaftlich erzeugt und gewährt wird, in ihrer tatsächlichen Realisierung kein intrinsisches Gut ist, sondern die Bejahung durch die Betroffenen zur notwendigen Bedingung hat. Autonomie im Sinne von Wahlfreiheit ist eine erste und wesentliche Konkretisierung des normativen Individualismus. Es mag etwa sein, dass sich in einer Gesellschaft alle Menschen endgültig gegen bestimmte Optionen der Berufs- oder Partnerwahl entscheiden, etwa aus religiösen, nicht weiter objektivierbaren Gründen. Der Vertreter intrinsischer kollektiver Werte bzw. Güter müsste dann behaupten, dass diese intrinsischen kollektiven Werte bzw. Güter gegen den Willen aller Betroffenen bestehen bleiben oder durchgesetzt werden sollen. Aber die Autonomie der Wahlfreiheit des Einzelnen kann im Extremfall zur berechtigten Entscheidung für die Existenz als Eremit führen und damit jede Gesellschaft sowie alle in ihr erreichbaren kollektiven Güter negieren. Die Möglichkeit und Berechtigung dieses Extremfalls zeigt, dass kollektive Güter in einer Gemeinschaft nicht unabhängig von individuellen Interessen intrinsisch wertvoll sein können. Man kann den Einwand gegen Raz noch allgemeiner fassen: Selbst wenn es von menschlicher bzw. sonstiger individueller Bewertung unabhängige Güter oder Werte gäbe, wäre es doch notwendig, dass Individuen diese Güter oder Werte zunächst erkennen und dann vor allem mittels eigener Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele zum für sie und andere moralisch relevanten Belang erheben. Denn es ist nicht ersichtlich, woraus ohne eine solche individuelle Bewertung im Rahmen einer immanenten, nichtreligiösen Perspektive die normative Kraft dieser Werte resultieren sollte. Autonomie kann nun aber nicht nur die Wahlfreiheit äußerer kollektiver Optionen meinen, sondern auf einer fundamentaleren Ebene auch die Willens- und Handlungsfreiheit, also die grundsätzliche Möglichkeit, zu wollen und gemäß diesem Wollen zu handeln. Aber diese Autonomie als Willens- und Handlungsfreiheit ist nun weder ein kollektiver Wert noch ein kollektives Gut. Es handelt sich vielmehr um eine€– im Fall der Willensfreiheit umstrittene€ – natürliche Bedingung individuellen menschlichen Handelns. Kann es eine Rechtfertigung oder Widerlegung des normativen Individualismus geben, die ontologisch noch grundlegender ist als die hier vorgestellte? Gibt es etwa ein grundlegendes „Prinzip der Individualität“?52 Oder gibt es umgekehrt einen grundlegenden Kollektivismus, wie ihn manche strikte Kommunitaristen annehmen? Wie erwähnt, scheinen hier Zweifel angebracht zu sein. Sobald man versucht, im Rahmen der ersten Frage der moralisch zu berücksichtigenden Wesen noch grundlegender und damit notwendig noch ontologischer zu argumentieren, büßt die normativ-ethische Fundierung zwangsläufig an Begründungskraft ein. Man stellt dann zwar vielleicht eine ontologische Beschreibung bzw. Behauptung auf, formuliert aber kein Element einer normativen Ethik, das schon eine gewisse normative Kraft aufweisen muss, um erster Teil einer rechtfertigungsfähigen Ethik sein zu können.
52 Vgl. Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität.
45
5. Begründung des Individualprinzips
d) Akteur und Anderer Das normativ-ethische Grundverhältnis, also die Konkretisierung der Kritik und Rechtfertigungsfunktion der normativen Ethik im engeren Sinn mit Bezug auf die Relation Akteur-Anderer, lässt sich folgendermaßen visualisieren, wobei der durchbrochene Pfeil die fragliche Handlung mit Bezug auf den betroffenen Andern symbolisiert und der nicht durchbrochene Pfeil die potentiell gegenläufige Verpflichtung des Handelnden durch den betroffenen Anderen: A
A
K
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T
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E
U
R
R
E R
Auf dieser Stufe der Theorie ist mit der abstrakten Unterscheidung zwischen Akteur und betroffenem Anderen noch nicht ausgeschlossen, dass beide im konkreten Fall ein und dasselbe Individuum sind, dass also Pflichten gegen sich selbst bestehen. Kapitel€VIII wird aber zeigen, warum derartige Pflichten nicht anerkannt werden können. Die Verpflichtungs- und Handlungsrelationen können natürlich auch umgekehrt bestehen, so dass der Akteur zum Anderen wird und der Andere zum Akteur. Sind beide Beteiligte nicht nur moralisch betroffene Andere, sondern auch moralisch einsichtsfähig handelnde Personen wie etwa beim Standardfall zweier Erwachsener, so sind Handlungen und Verpflichtungen regelmäßig wechselseitig: A
A
K
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E
U
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R
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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen
6. Begründung des Allprinzips Warum sind alle von einer Handlung betroffenen Individuen zu berücksichtigen und nicht nur einige, zum Beispiel eine Elite, wie es etwa manche Äußerungen Nietzsches nahe legen,53 warum gilt also das Allprinzip? Die Trennung zwischen dem Handelnden und dem von einer Handlung moralisch Betroffenen und damit das Individualprinzip des normativen Individualismus setzen voraus, dass der Betroffene moralisch relevante Eigenschaften aufweist oder entfaltet (welche, wird im nächsten Kapitel€zu erörtern sein). Ist dies nicht der Fall, so kann er nicht selbständig moralisch berücksichtigungswürdig sein. Dieses Erfordernis der Entfaltung moralisch relevanter Eigenschaften gilt nun aber für alle moralisch zu berücksichtigenden Einzelnen in gleicher Weise. Alle moralisch zu berücksichtigenden Individuen stehen unter dem Erfordernis, eigenständige moralisch relevante Eigenschaften aufzuweisen oder zu entfalten. Ist dies aber die entscheidende Voraussetzung für die moralische Berücksichtigungswürdigkeit, dann ist kein Grund ersichtlich, warum nicht alle Wesen, bei denen diese moralisch relevanten Eigenschaften bestehen, also die erste Voraussetzung für die moralische Berücksichtigungswürdigkeit zutrifft, grundsätzlich moralisch bzw. ethisch zu berücksichtigen sein sollen (vorbehaltlich der anderen vier Elemente der Rechtfertigung). Für alle moralisch zu berücksichtigenden Individuen ergibt sich eine Betroffenheit, sofern die Individuen eine entsprechende moralisch relevante Eigenschaft aufweisen und die Handlung im konkreten Einzelfall dieser Eigenschaft entweder entsprechen oder widersprechen kann. Diese Einsicht bereitet auch die noch näher zu erörternde Frage vor, wie weit die Grenze der moralisch zu berücksichtigenden Arten von Individuen zu ziehen ist (vgl. Kapitel€XIII).
7. Begründung des Prinzips der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung Mit dem Individualprinzip und dem Allprinzip des normativen Individualismus notwendig verbunden ist das dritte Teilprinzip des normativen Individualismus, das Prinzip der fundamentalen Gleichheit der Berücksichtigung aller Individuen. Wenn alle betroffenen Individuen zu berücksichtigen sind, so gibt es keinen Grund, einzelne Individuen von vornherein und als solche ungleich zu berücksichtigen, sofern sie grundsätzlich betroffen sind. Keiner hat einen prinzipiell herausgehobenen Status. Denn worauf sollte dieser sich stützen, wenn keine religiösen oder ontologisch-metaphysischen Zusatzannahmen gemacht werden? In der Abwägung von Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und
53 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Sämtliche Werke 5, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Studienausgabe München 1980, S.€205â•›ff.
7. Begründung des Prinzips der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung
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Strebungen ist grundsätzlich jeder gleichermaßen Quelle von Normativität. Wenn die betroffenen Individuen als Individuen zu berücksichtigen sind, so gibt es keinen Grund, sie auf einer fundamentalen Ebene als ungleich zu berücksichtigen. Jede Form einer grundsätzlichen UngleichbeÂ�rückÂ�sichtigung von Frauen und Männern, von Erwachsenen und Kindern, von Alten und Jungen, von Bürgern und Nichtbürgern, von Armen und Reichen, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist deshalb ethisch ausgeschlossen. Allerdings muss zwischen dem grundsätzlichen Prinzip der Gleichberücksichtigung als erstem Element der normativ-ethischen Theorie und verschiedenen anderen Ausprägungen des Gleichheitsgedankens klar unterschieden werden: Erstens: In Kapitel€V wird sich zeigen, dass bei der Abwägung der fraglichen Belange das Prinzip der Gleichheit der Interessenbefriedigung eine Rolle spielt. Dabei wird sich aber erweisen, dass es sich weder um das einzige noch um das grundlegende Abwägungsprinzip der normativen Ethik handelt. Zweitens: Vom Prinzip der Gleichberücksichtigung und dem Prinzip der Gleichheit der Interessenbefriedigung muss des Weiteren die Pflicht zur Gleichberücksichtigung bzw. Gleichbeachtung klar unterschieden werden. Die Pflicht zur Gleichberücksichtigung bzw. Gleichbeachtung ist ein mögliches Ergebnis der gesamten normativ-ethischen Rechtfertigung, also ein Ergebnis der Verbindung aller fünf Elemente der normativethischen Begründung primärer Normordnungen. Dabei kann es natürlich mit guten Gründen im Einzelfall oder in bestimmten Typen von Fällen eine Erlaubnis oder sogar eine Pflicht zur Ungleichberücksichtigung geben. Eigene Kinder etwa verdienen mehr Aufmerksamkeit als fremde€– sofern nicht spezielle Umstände hinzukommen, etwa die Übernahme einer besonderen Aufsicht über die fremden Kinder. Nicht ausgeschlossen ist also€– wie noch näher zu erläutern sein wird –, dass auf der Basis des fundamentalen Prinzips der Gleichberücksichtigung spezifische Belange und Interessen einzelner Individuen in unterschiedlichen Konfliktsituation unterschiedlich stark beachtet werden müssen. Drittens: Vom Prinzip der Gleichberücksichtigung, dem Prinzip der Gleichheit der Interessenbefriedigung und der Pflicht zur Gleichberücksichtigung sind schließlich sorgfältig die Pflichten zur Gleichbehandlung und zur Gleichstellung zu unterscheiden. Die Pflicht zur Gleichbehandlung ist wie die Pflicht zur Gleichberücksichtigung kein Teil eines der fünf Begründungselemente, sondern ein mögliches Ergebnis der fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik. Dabei kann es im Einzelfall oder in bestimmten Typen von Fällen natürlich gute Gründe für eine Erlaubnis oder sogar eine Pflicht zur Ungleichbehandlung geben. Behinderte müssen etwa unter bestimmten Umständen bevorzugt werden. Vergleichbares gilt für eine noch weiter gehende Pflicht zur Gleichstellung. Man sollte sich an dieser Stelle das Verhältnis zwischen den ersten beiden Teilen des Prinzips des normativen Individualismus und dem Prinzip der grundsätzlichen Gleichheit der Berücksichtigung der Individuen deutlich machen. Das Individualprinzip und das Allprinzip des normativen Individualismus sind fundamentaler. Das Prinzip der grundsätzlichen Gleichheit der Berücksichtigung der Individuen stellt eine wesentliche Folgerung aus den ersten beiden Teilprinzipien des normativen Individualismus dar.
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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen
8. Die ontologische Voraussetzung Wie jeder ethischen Theorie liegt auch dem normativen Individualismus eine gewisse Minimalontologie als notwendige, wenn auch nicht normativ bestimmende, also hinreichende Bedingung zu Grunde. Ausschließlich Individuen als in letzter Instanz moralisch zu berücksichtigend anzusehen setzt voraus, dass derartige Individuen zum einen als prinzipiell bestehend (wenn auch vielleicht erst in der Zukunft) und zum anderen als von anderen Wesen unterscheidbar angenommen werden. Vorauszusetzen ist also eine individualistische Sozialontologie.54 Allerdings handelt es sich dabei wie gesagt nur um eine minimale Ontologie und auch nur um eine Sozialontologie als Teil der allgemeinen Ontologie. Es ist zum Beispiel durchaus mit dem normativen Individualismus vereinbar€– und im Übrigen empirisch sehr gut begründet –, davon auszugehen, dass es keine völlig isolierten Individuen ohne Relationen zu anderen Individuen gibt. Jeder Mensch hat etwa biologische Eltern. Mit dem normativen Individualismus ist es auch vereinbar, anzunehmen, dass alle Individuen Teil eines größeren Ganzen, etwa der Welt als Ganzes, sind. Nur drei sehr extreme ontologische Auffassungen sind denkbar, welche den normativen Individualismus prinzipiell ausschließen würden. Die erste wäre ein absoluter ontologischer Holismus, also eine Theorie der absoluten metaphysischen Einheit bzw. Identität der Welt, wonach nur ein einziges, intern nicht differenziertes Seiendes bestünde.55 Die zweite wäre ein absoluter ontologischer Nihilismus, wonach nichts besteht. Die dritte wäre ein absoluter ontologischer Kollektivismus, wonach die Welt nur in Kollektive zerfällt, die wiederum nicht in Individuen zerfallen€– was immer man darunter zu verstehen hätte, denn es scheint so zu sein, dass der Begriff des Kollektivs bereits den der Individuen als Teil dieses Kollektivs voraussetzt. Keine dieser extremen Varianten einer Ontologie wird ernsthaft vertreten. Würde eine der ersten beiden Varianten zutreffen, so wäre ohnehin mangels Differenzierung von Handelndem und Betroffenem jede Moral und Ethik undenkbar. Diese beiden ontologischen Varianten sind also rein begrifflich mit der Frage nach einer Moral und Ethik ausgeschlossen. Die dritte Variante eines absoluten ontologischen Kollektivismus widerspricht nicht nur allen unseren Annahmen über die Welt, sondern wird€– soweit ersichtlich€– weder von Philosophen im Allgemeinen noch von holistischen Ethikern im Besonderen auch nur in Erwägung gezogen.
54 Vgl. zu einer dazu passenden allgemeinen Ontologie: Peter F. Strawson, Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, Nachdr. London 1990. 55 Vgl. dazu: Verf., Absolute Identityâ•›/â•›Unity, in: The Review of Metaphysics LXII (2009), S.€803–818.
9. Asymmetrie und Symmetrie der Verpflichtungen
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9. Asymmetrie und Symmetrie der Verpflichtungen Moralisch und ethisch verpflichtet können nur einsichtsfähige Menschen sein (sog. moralische Subjekteâ•›/â•›moral agents). Stehen sie in einem moralischen Konflikt nicht gleichermaßen einsichtsfähigen Menschen, sondern anderen moralisch zu berücksichtigenden Individuen (sog. moralischen Objektenâ•›/â•›moral patients) gegenüber, so resultiert eine Asymmetrie der Verpflichtung. Begegnen sich dagegen in einem moralischen Konflikt zwei einsichtsfähige Menschen, so tritt zur fundamentalen Gleichheit der moralischen Berücksichtigung eine Symmetrie als moralisch Handelnde und Wissende hinzu. Oder abstrakter ausgedrückt: Einsichtsfähige Menschen verdienen nicht nur passiv in gleicher Weise durch den jeweils Anderen Berücksichtigung. Sie sind einander auch aktiv in gleicher Weise verpflichtet. Schließlich wird auch das jeweilige Wissen einsichtsfähiger Menschen, das diesen aktiven wie passiven Aspekten der Verantwortung und Berücksichtigung zu Grunde liegt, prinzipiell als gleich angenommen, obwohl es sich in der Realität natürlich unterscheidet.
II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen: Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen (Belange bzw. Interessen) Akzeptiert man den normativen Individualismus als erste und grundlegende Forderung an die Moral und damit als erstes und grundlegendes Element bzw. Prinzip der normativen Ethik, so stellt sich die weitere Frage: Welche Eigenschaften der in letzter Instanz moralisch zu berücksichtigenden Individuen sollen für eben diese Berücksichtigung relevant sein?1
1. Kritik verschiedener Vorschläge a) Zwei Adäquatheitsbedingungen Zur Frage der moralisch entscheidenden Eigenschaften der Individuen gibt es eine schier unübersehbare Vielzahl von Vorschlägen, etwa Selbsterhaltung (Hobbes), Wille, Willkür (Rousseau, Kant), Geschädigtsein (harm, Mill), individuelle menschliche Entwicklung (human flourishing, Pogge), Glück (eudaimonia, happiness, Aristoteles), Freiheit (von Hayek), Funktionen und Fähigkeiten (capabilities, Sen), Wohlergehen, WohlÂ�fahrt (well-being, welfare, Griffin, Raz, Sumner), Lust und Leid bzw. Nutzenbefriedigung, sog. Hedonismus (Bentham, Mill, klassischer Utilitarismus), das moralische Gesetz „in mir“ (Kant), Autonomie (Selbstgesetzgebung, Kant), Gefühle (Tugendhat), Mitleid (Schopenhauer), Rechte (Nozick, Dworkin), faktische Einwilligung (Locke), fiktive Zustimmung bzw. Rechtfertigung (Scanlon, Habermas, Koller), Bedürfnisse (Marx, Apel), Wünsche (desires, Sidgwick), Ziele (aims, goals), Strebungen, Interessen (Höffe, Hoerster, Patzig), Präferenzen (Arrow, Gauthier).2 1 2
Der Begriff der Eigenschaft wird dabei in einem sehr weiten Sinn verstanden, also einschließlich zweiund mehrstelliger Relationen und auch im Sinne von Tätigkeits- und Ereignistypen. Thomas Hobbes, Leviathan, hg. von Richard Tuck, Cambridge 1991, Kap. XVII, S.€117; Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social, Paris 1992, 2. Buch, 3. Kap., S.€54; Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€ 393; ders., Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S.€ 230; John S.€ Mill, On Liberty, hg. von Elizabeth Rapaport, Indianapolis 1978, S.€ 9; Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, S.€26â•›ff.; Amartya K. Sen, Inequality Reexamined, 3.€Aufl. New York 1995, passim; Friedrich A. von Hayek, The Constitution of Liberty, passim; James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance; Joseph Raz, Ethics in the Public Domain, Oxford 1994, S.€3â•›ff.; Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness, and Ethics; Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. I 1., S.€1; Immanuel Kant, Kritik der
1. Kritik verschiedener Vorschläge
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Diese umfangreiche, aber noch keineswegs vollständige Aufzählung von Vorschlägen soll davor bewahren, sich zu schnell und ohne weiteres auf einen von ihnen zu beschränken, wie dies häufig geschieht3 und was zu wenig umfassenden, das heißt philosophischmethodisch zweifelhaften Erklärungsversuchen führt. Man wird sich vielmehr zunächst fragen müssen, wie man überhaupt aus diesen verschiedenen Vorschlägen auswählen soll. Zwischen diesen Vorschlägen lässt sich nur mit Hilfe zweier Adäquatheitsbedingungen entscheiden. Diese zwei Adäquatheitsbedingungen sind€– wie in der Einleitung zu den Elementen einer begründeten normativen Ethik erläutert€– janusköpfig: Die erste blickt quasi auf das erste Element des normativen Individualismus zurück. Die zweite schaut auf die Auswahl zwischen möglichen Charakterformen, Handlungen bzw. Entscheidungen und dann weitergehend auf das normative Ziel der ethischen RechtÂ� fertigung voraus: Die erste dieser Adäquatheitsbedingungen ergibt sich aus einer Anwendung des normativ-indiviÂ�duaÂ�listiÂ�schen Grundprinzips auf einer sekundären, theoriebestimmenden Ebene:4 Sieht man die Individuen als letzten Ausgangspunkt der normativen Ethik an, so darf man ihnen von außen keine bestimmte Eigenschaft als ethisch entscheidend zuschreiben. Man darf ihren Entscheidungsspielraum nicht einschränken, welcher Aspekt ihrer Individualität im Rahmen der moralischen Berücksichtigung für die KonstiÂ� tuierung des Konflikts und damit in der Abwägung mit den Belangen Anderer wesentlich sein soll. Eine derartige Selbstbestimmung durch einzelne konkrete Individuen ist natürlich im Rahmen einer intersubjektiv notwendigen Abwägung der Moral bzw. einer abstrakten Theorie, wie sie eine Ethik notwendig sein muss, unmöglich. Dann wird man aber zumindest Annahmen machen müssen, durch welche die Individuen in ihrer Freiheit und Individualität möglichst zur Geltung kommen. Die gesuchte Eigenschaft der Individuen darf also nicht zu eng und paterÂ�nalistisch sein, soll sie das normativ-individualistische Prinzip der selbständigen Berücksichtigung der Individuen nicht unzulässig einschränken. Notwendig ist deshalb, dass eine subjektive Haltung und Bewertung eine wesentliche Rolle spielt. Die Eigenschaft darf also nicht rein aus
3 4
praktischen Vernunft (1788), Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. V, Berlin 1908, Nachdr. Berlin 1968, A 288, S.€161; John S.€Mill, Utilitarianism, hg. von H.â•›B. Acton, Londonâ•›/â•›Melbourne 1972; Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, S.€IX; Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Cambridge 1977, S.€ 184â•›ff.; John Locke, Two Treatises of Government (1691), hg. von Peter Laslett, Cambridge 1991, The Second Treatise, § 95; Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€189â•›ff.; Peter Koller, Moderne Vertragstheorie und Grundgesetz, in: Winfried Brugger, Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1.€Aufl. Baden-Baden 1996, S.€361–393; Karl-Otto Apel, Transformationen der Philosophie€II, Frankfurt a.â•›M. 1973, S.€425; Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, Indianapolis 1981, S.€43â•›ff., Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S.€55â•›ff.; Norbert Hoerster, Ethik und Interesse, Stuttgart 2003; Günther Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeutung für die Ethik; Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values, 2.€Aufl. New Haven 1963, S.€11â•›ff.; David Gauthier, Morals by Agreement. Etwa bei Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness and Ethics; James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance. Dies zeigt, dass das erste, ontologisch-fundamentale Element des normativen Individualismus grundlegender als die anderen Elemente ist, weil es auch die anderen Elemente mitbestimmt.
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
der Perspektive eines bloßen Beobachters festgelegt werden. Jede objektive Feststellung muss die Selbstzuschreibung der Betroffenen berücksichtigen.5 Die zweite Adäquatheitsbedingung ergibt sich aus der Funktion bzw. dem Ziel der normativ-ethischen Untersuchung: Die normativ-ethische Untersuchung dient nicht der bloßen Beschreibung der Moral, sondern auch und vor allem ihrer Begründung und Kritik. Sie ist also notwendig normativ im Sinne einer Fähigkeit, die Moral bzw. andere primäre Normordnungen zu begründen und zu kritisieren. Diese Normativität muss aus ihren Elementen erwachsen. Das erste Element des normativen Individualismus trifft zwar eine Auswahl zwischen ontologisch möglichen Alternativen und kann damit innertheoretisch die Grundlage für die anderen, normativ wirksamen Elemente liefern. Aber es schafft allein noch keine extern wirksame Normativität, die eine Rechtfertigung und Kritik moralischer Verpflichtungen ermöglichen würde. Die moralisch entscheidende Â�Eigenschaft der Individuen hat dagegen diese Normativität zumindest in einer noch rohen und durch die nachfolgenden Elemente der Theorie weiter zu formenden Gestalt zu liefern. Die gesuchte Eigenschaft der Individuen muss also in der Lage sein, die ethische Relation zwischen den Individuen normativ zu bestimmen. Das heißt, es muss sich zwar um eine beÂ�schreibÂ�bare Tatsache bzw. Eigenschaft handeln. Aber anders als rein faktische Eigenschaften wie die Körpergröße oder das Gewicht einer Person braucht die für Moral und Ethik entscheidende Eigenschaft auch eine normative Dimension. Als Eigenschaft der moralisch und ethisch allein relevanten Individuen muss sie zur letzten Quelle der moralischen Normativität taugen€– auch wenn sich diese, wie wir noch sehen werden, natürlich nicht in ihr erschöpft, da sie hinsichtlich der potentiell widerstreitenden Belange allein noch keine Objektivität der Konfliktlösung gewährleisten kann. Im Folgenden werden nun einzelne Vorschläge mit Hilfe dieser beiden Adäquatheitsbedingungen untersucht:
b) Einzelne Möglichkeiten Das Streben nach Selbsterhaltung mag ein zentrales Interesse der Menschen sein. Aber es gibt daneben noch andere Bedürfnisse und Wünsche, welche die Menschen befriedigt sehen wollen, etwa die Verwirklichung ihrer religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Überzeugungen. Die Beschränkung der moralisch relevanten Eigenschaft auf das Streben nach Selbsterhaltung ist also zu eng und paternalistisch und genügt der ersten Adäquatheitsbedingung einer weiten, die umfassende Berücksichtigung der Selbstzuschreibung der Individuen ermöglichenden Eigenschaft nicht. Der Willensbegriff verengt nach dem heutigen Verständnis€ – abweichend von der sehr spezifischen Kantischen Interpretation, zu der gleich noch etwas zu sagen sein wird€– die Bestimmung der RechtferÂ�tigungsrelaÂ�tion auf einen tatsächlich bestehenden psychischen Zustand eines IndiÂ�viduums mit höheren kognitiven Fähigkeiten. Die BeÂ� rücksichtigung der Belange von Neugeborenen, Komatösen usw. wird damit problemaÂ� 5
Vgl. Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness and Ethics, S.€27╛ff.
1. Kritik verschiedener Vorschläge
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tisch. Entsprechendes gilt für die Belange von Erwachsenen, wenn sie der jeweiligen Person nicht bewusst sind. Dem psychologischen Willensbegriff fehlt es also sowohl an Weite als auch an normativer Bestimmungskraft. Weder hinreichend weit und offen noch hinreichend normativ sind auch die Eigenschaften der Schädigung und der menschlichen Entwicklung. Wir erwarten auch die Berücksichtigung von Belangen und Wünschen, welche nicht durch Schädigungen oder Ziele der menschlichen Entwicklung motiviert sind. Der Begriff der menschlichen Entwicklung hat überdies den Nachteil, dass er bereits rein begrifflich nichtmenschliche Lebewesen wie Tiere als moralisch und ethisch relevante Seiende ausschließt, die nach dem ersten Element des normativen Individualismus nicht von vornherein unberücksichtigt bleiben dürfen. Interpretiert man die Freiheit entweder als innere psychologische Handlungsbedingung oder als Unabhängigkeit von äußerem Zwang, so ist sie als Bestimmung zu einseitig und zu wenig normativ, um als grundlegende moralisch relevante Eigenschaft der Individuen zu taugen. Funktionen und Fähigkeiten der Individuen sind zwar wichtige Eigenschaften. Aber sie bleiben rein objektivistisch, ohne die je spezifische, subjektive Haltung der Betroffenen zu ihnen ausdrücken zu können. Sie nehmen die eigenen Entscheidungen der Individuen, also die erste Adäquatheitsbedingung, nicht hinreichend ernst. Verweigert jemand die Ausübung von Funktionen oder den Erwerb von Fähigkeiten, so ist das normativ-ethisch hinzunehmen. Beiden Eigenschaften fehlt überdies die nach der zweiten Adäquatheitsbedingung erforderliche normative Kraft. Die Eigenschaften sind als Ziele der Entwicklungspolitik propagiert worden und haben dort sicher einen sehr guten Sinn.6 Aber sie sind als alleinige normativ begründende Eigenschaften der Individuen im Rahmen einer grundlegenden, normativ-ethischen Theorie nicht hinreichend. Steht etwa in Frage, ob Versprechen zwischen Privaten gehalten werden sollen, so kann es nicht entscheidend sein, ob dadurch Funktionen und Fähigkeiten gefördert werden. Vergleichbares gilt für den Glücksbegriff. Das Glück bzw. ein glückliches Leben kann zwar in einem sehr formalen Sinn als abstraktestes Ziel vieler Menschen angesehen werden. Aber es bleibt doch zweifelhaft, ob dies wirklich für alle zutrifft, etwa für Märtyrer. Die Aspekte des Glücksbegriffs müssen überdies konkretisiert werden, um innerhalb einer normativ-ethischen Theorie als normativ wirksame Elemente dienen zu können. Im Übrigen ist der Glücksbegriff offen für eine rein objektivistische Bewertung durch Dritte und genügt damit der in der ersten Adäquatheitsbedingung geforderten Bestimmung durch die subjektive Selbstzuschreibung der Betroffenen nicht. Zumindest begrifflich ist es nicht widersprüchlich, jemanden „zu seinem Glück zu zwingen“. Ähnliches spricht dagegen, Wohlergehen bzw. Wohlfahrt als die grundlegende Eigenschaft anzusehen. Wir müssen annehmen, dass die betroffenen Individuen selbst noch einmal mit Rekurs auf ihre Ziele, Wünsche und Bedürfnisse über ihr Wohlergehen entscheiden wollen, und zwar jenseits aller objektivistischen Vorgaben.
6
Martha Nussbaum, Woman and Human Development. The Capabilities Approach, Cambridge 1999, S.€5╛ff.
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
Für Lust und Leid, also den Hedonismus gilt: Es mag sein, dass manche unserer normativ relevanten Eigenschaften faktisch-kausal auf Lust und Leid rückführbar sind oder zumindest auch Aspekte von Lust und Leid beinhalten. Aber wir nehmen als entscheidungsfähige Wesen für uns in Anspruch, die wesentlich körperlichen Strebungen von Lust und Leid noch einmal durch unseren Willen und unsere mentalen Fähigkeiten zu bewerten und zu beurteilen. Wir setzen etwa ein Fußballspiel trotz verletzungsbedingter Schmerzen fort. Wir helfen Anderen, weil es notwendig ist, selbst wenn es Gefühle der Unlust in uns erzeugt. Diesem Anspruch auf voluntativ-mentale Bewertung und Beurteilung der physischen Zustände von Lust und Leid, der zentraler Ausdruck unserer Individualität und unseres Selbstverständnisses ist, muss eine adäquate normativ-ethische Theorie Rechnung tragen. Sähe man Lust und Leid als ethisch entscheidende Eigenschaften an, würde man also die erste Adäquatheitsbedingung verletzen. Das bereits von Sidgwick formulierte „fundamentale Paradox des Hedonismus“ spricht im Übrigen dagegen, Lust und Leid als grundlegende moralische Eigenschaft aufzufassen: Unmittelbares Streben nach Lust verhindert das Erreichen höchster Lust, sobald es dominant wird.7 Wer etwa beim Hören schöner Musik die Intention auf die Maximierung seiner Lust richtet, wird nicht die höchstmögliche Lust erzielen. Kants Annahme eines „moralischen Gesetzes in mir“,8 auf das der Wille jedes einzelnen Handelnden ausgerichtet sein soll, ist mit zwei Problemen behaftet: Bei der Annahme der Existenz dieses Gesetzes handelt es sich zum einen um eine starke metaphysische Spekulation, die wegen der Dunkelheit des Gesetzesbegriffs und der Zweifelhaftigkeit der individuellen Lokalisierung des Gesetzes kaum allgemein vorausgesetzt werden kann. Aber selbst wenn man ein solches „moralisches Gesetz in mir“ als bestehend ansehen würde, so wäre zum anderen das Resultat eine akteurszentrierte Ethik. Der Akteur müsste nur seinem eigenen moralischen Gesetz in sich folgen, nicht aber die Belange der anderen Individuen als genuinen Ausdruck ihrer Individualität unmittelbar ernst nehmen. Dies widerspricht der ersten Adäquatheitsbedingung der Realisierung des normativen Individualismus. Gefühle sind ohne Zweifel wesentliche psychisch-kausale Bestimmungsfaktoren unserer Bedürfnisse, Wünsche und Ziele. Insofern spielen sie in jeder Beschreibung der Moral eine wichtige Rolle. Aber in letzter normativer Hinsicht sehen wir sie nicht als alleinentscheidend an. Wir fragen etwa, ob sich ein Gefühl zu einem Bedürfnis, einem Wunsch oder einem Ziel entwickelt hat, um über seine moralische Signifikanz zu urteilen. Hat zum Beispiel jemand verwirrte Gefühle, die er bei Befragung nicht als Ziele, Wünsche oder Bedürfnisse artikulieren kann, so dürfen wir uns im moralischen Konflikt nicht allein auf seine Gefühle stützen. Die Gefühle sind ein wesentlicher Ausgangspunkt, nicht aber der Endpunkt des Entscheidungsprozesses eines Individuums im Hinblick auf seine in moralischen Konflikten entscheidenden Eigenschaften. Und für die Moral, das heißt für die Konfliktlösung und die Handlungspflichten der Akteure, ist dieser Endpunkt des Entscheidungsprozesses moralisch wesentlich, denn sonst würden 7 8
Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, S.€48. Immanuel Kant, Kritik der Praktischen Vernunft, A 288, S.€161.
1. Kritik verschiedener Vorschläge
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die von der Handlung betroffenen Individuen in ihrer Individualität bzw. Humanität durch eine Beurteilung des Akteurs auf den Ausgangspunkt ihrer Belange reduziert. Der Begriff der Rechte€ – verstanden in einem subjektiven Sinn€ – ist wichtig, um zentrale Lebensvorstellungen der Menschen zu kennzeichnen. Aber der Begriff ist für die umfassende Bestimmung der ethischen Relation zwischen Individuen aus mehreren Gründen wenig geeignet. Die RechtfertiÂ�gungsrelation bedarf eines norÂ�mativen Transfers von den betroffenen InÂ�diviÂ�duen auf die ethische Entscheidung. Der ethischen EntscheiÂ�dung wird durch diesen Transfer die Unrechtmäßigkeit genommen. Der Begriff des „subjektiven Rechts“ impliziert daÂ�gegen zumindest in einer von vielen angenommenen Interpretation umgekehrt, dass die Individuen eine Handlung oder Unterlassung fordern können, enthält also€ – was in Kapitel€ VII, 4 noch zu diskutieren sein wird€– einen Anspruch.9 ManÂ�che Interessen der Individuen münden sicherlich in einen solchen AnÂ�spruch, so dass sich in derartigen Fällen die Unterscheidung zwischen Interesse und Recht erübrigt. Aber Interessen, deÂ�nen kein sinnvoller, über das Interesse an der Erfüllung hinausgehenÂ�der Anspruch auf das Handeln eines anderen zuzuordnen ist, werden durch den Rechtsbegriff nicht erfasst. Wir haben zum Beispiel ein Interesse, dass alle sich soweit wie möglich bemühen, Tatsachen korrekt zu beschreiben. Aber es erÂ�scheint nicht gerechtfertigt, ein generelles subjektives Recht im Sinne eines subjektiven Anspruchs gegenüber Anderen auf die bestmögliche Beschreibung von Tatsachen zu behaupten. Man kann den Rechtsbegriff natürlich so weit ausÂ�dehnen, dass er nicht mehr einen Anspruch auf ein spezifisches subjektbezügliches Handeln, sondern allgemein die Beachtung aller Interessen des EinÂ�zelnen meint. Dann wären Rechts- und Interessenbegriff synonym. Das würde aber den Rechtsbegriff als spezifischeren Begriff und damit spezifiÂ�scheres Instrument der normativen Ethik und des Rechts entwerten. Diese Strategie ist also wenig überzeugend. Man sollte den Rechtsbegriff deshalb besser für besondere Interessen reservieren, die mit einem Anspruch des Begünstigten verbunden sind, und nicht versuchen, ihn so auszudehnen, dass er zur Bezeichnung der grundlegenden Eigenschaft der betroffenen Individuen tauglich wird. Die Eigenschaft der faktischen Einwilligung bzw. Zustimmung kann sowohl als weit genug und damit dem normativen Individualismus entsprechend als auch als normativ bestimmend anÂ�geÂ�sehen werden. Aber sie wird nur in den seltensten Fällen tatsächlich vorliegen. Und wenn sie vorliegt, bedarf es keiner Moral und damit keiner Ethik. Dies drückt der klassische Grundsatz „volenti non fit iniuria“ aus. Das Erfordernis der faktischen Einwilligung ist ein sehr starkes Erfordernis. Man sollte sich vor Augen führen, dass es viel stärker als die Eigenschaften der Bedürfnisse, Wünsche oder Interessen ist. Die faktische Einwilligung setzt die vollständige Entsprechung voraus. Bedürfnisse, Wünsche oder Interessen kann man dagegen nur zum Teil oder im Extremfall auch gar nicht befriedigen, ohne dass ihre prinzipielle Berücksichtigung aufgehoben würde. Dies entspricht dem Normalfall der Moral und Ethik viel 9
Vgl. Wesley N. Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning (1919), Westport 1978; Judith J. Thomson, The Realm of Rights, Cambridge 1990.
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
eher, weil die Moral ja in der Vermittlung zwischen widerstreitenden Belangen ihr Ziel hat. Und es scheint für eine Rechtfertigung auch zu genügen, weil die Moral keine allgemein organisierte und institutionalisierte Zwangsgewalt darstellt, sondern ein diffuses Netz von Regeln und Wertungen. Allenfalls für die sehr viel speziellere und massiver eingreifende Etablierung einer kollektiven Zwangsgewalt wird man deshalb vielleicht das erheblich stärkere Erfordernis der faktischen Zustimmung verlangen dürfen. Das Problem der Stärke und des fehlenden Bestands der faktischen Einwilligung versucht der Begriff der fiktiven Einwilligung bzw. Zustimmung zu lösen. Dieser Begriff erfüllt zwar das Erfordernis der ersten Adäquatheitsbedingung. Er bedarf jedoch der Konkretisierung. Er muss objektiv handhabbar gemacht werden, um normativ wirksam werden zu können. Das heißt, er muss hinreichend bestimmt werden, um rechtfertigend zu wirken. Manche greifen dazu auf die Vernunft zurück,10 andere auf den idealen Diskurs.11 Auf diese Weise wird aber kaum etwas an zusätzlicher Konkretisierung und damit normativer Bestimmtheit gewonnen. Das Kriterium der fiktiÂ�ven Einwilligung ist deshalb einerseits zu schwach, andererseits zu stark. In manÂ�chen SiÂ�tuationen genügt es nicht, bloß eine „fiktive“ Einwilligung einzuholen, weil der BeÂ�troffene tatsächlich befragt werden kann und muss. Nötig ist dann die tatsächliche Einwilligung, etwa in Form der aufgeklärten Zustimmung bei medizinischen Heilbehandlungen, die nur in seinem Interesse vorgenommen werden und nicht das Ergebnis einer moralischen Interessenabwägung sind. In anderen Fällen finden sich keinerlei Anhaltspunkte für eine tatsächliche Haltung des Betroffenen zu der konkreten Streitfrage. Dann von einer fiktiven Einwilligung auszugehen, wäre eine bloße Verschleierung der externen, objektivierenden Beurteilung im allenfalls mutmaßlichen Interesse der betroffenen Individuen.
c) Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen, Interessen, Präferenzen Damit verbleiben von den oben aufgezählten Vorschlägen noch sechs: die Ziele, die Wünsche, die Bedürfnisse, die Strebungen und die Interessen, die man mit einem deutschstämmigen Wort auch als „Belange“ bezeichnen kann, sowie die Präferenzen. Diese Vorschläge genügen grundsätzlich den beiden oben aufgestellten Adäquatheitsbedingungen für die normativ-ethisch relevante EigenÂ�schaft der Individuen: Sie sind nicht so eng und rein objektivistisch, dass sie das normativ-individualistische Paradigma von vornherein zu sehr einÂ�schränken und keine Rücksicht auf die Selbstbewertung der Individuen nehmen würden. Und sie weisen einen über die bloße Faktizität hinausgehenden, konkret-individuellen normativen Anteil auf. Es handelt sich um faktische Eigenschaften, die aber auch einen Anspruch auf Berücksichtigung und Befriedigung geltend machen. Sie sind also in der Lage, die ethische Relation zwischen den IndiÂ�viÂ�duÂ� en normativ zu bestimmen. 10 Thomas M. Scanlon, What We Owe To Each Other, S.€189â•›ff. 11 Jürgen Habermas, Diskursethik€– Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, S.€53–126, S.€103; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, S.€134.
2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen
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Aber da es sich noch um mehrere Eigenschaften handelt, stellt sich die Frage nach ihrem Verhältnis. Man muss sie zueinander in Beziehung setzen, um bei der Bestimmung der ethisch relevanten Eigenschaften einen Fortschritt zu erzielen. Dabei ist der Begriff des Belangs bzw. Interesses der abstrakteste, das heißt umfassendste. Der Begriff der Präferenz kann, wie noch näher zu erläutern sein wird, zu ihm synonym verstanden werden. Die Begriffe der Ziele, der Wünsche, der Bedürfnisse und der Strebungen sind jeweils konkreter und damit der Realität näher stehend. Sie sollen zunächst erörtert werden, weil man sich mit diesen Eigenschaften im Rahmen der Gesamttheorie der normativen Ethik der faktischen Welt am weitesten annähert. Es handelt sich um tatsächlich bestehende und deshalb auch empirisch wahrnehmbare Eigenschaften der Individuen, die aber zusätzlich eine normative Dimension aufweisen und deshalb im Rahmen ihrer Einbettung in eine Ethik auch normativ relevant werden.
2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen Die soeben genannten, sowohl subjektiv-individualistisch offenen als auch normativ funktionsfähigen Eigenschaften müssen nun näher analysiert und verglichen werden. Was auffällt, ist, dass diese Eigenschaften offenbar ein Kontinuum zwischen Körperlichkeit und Geistigkeit des Menschen abdecken, ein Kontinuum, das dann sekundär auch ein Kontinuum von Passivität und Aktivität ist und eine Systematisierung ermöglicht:
a) Strebungen Strebungen sind rein vegetativ-körperlich fundierte und orientierte, vollständig passivische Eigenschaften, die der Aufrechterhaltung der körperlichen Integrität dienen und auf der Wirkung der physikalischen Grundkräfte aufbauen.12 Sie lassen sich als lokale und zeitweilige Umkehrung der allgemeinen physikalischen EnÂ�tropie kennzeichnen und finden sich nur bei Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren und Menschen, nicht aber bei lebloser Materie, wie Steinen oder Gewässern. Strebungen setzen keine Bewusstheit oder mentale Beeinflussbarkeit voraus. Strebungen des menschlichen Körpers wären zum Beispiel seine Regulation des Temperaturausgleichs sowie seine Abwehr schädigender Mikroorganismen mit Hilfe des Immunsystems. Strebungen der Pflanzen wären zum Beispiel ihre Wasseraufnahme entgegen der Schwerkraft und die Wendung ihrer Blätter ins Sonnenlicht. Strebungen sind nicht normativ iterierbar, das heißt, es kann keine Strebung „über“ eine Strebung geben. Strebungen sind allenfalls schwer, indirekt und partiell mental beeinflussbar. Sie sind deshalb kaum variabel und relativ eindeutig objektiv bestimmbar. 12 Der Begriff wird hier enger als im Alltag verstanden, wo jemand etwa „nach Erfolg streben“ kann, was eher einen Wunsch oder ein Ziel darstellt. Die hier vorgenommene Abgrenzung zu den anderen Eigenschaften soll ein Phänomen beschreiben, enthält aber zum Zweck der Präzisierung unscharfer Begriffsgrenzen auch einen gewissen stipulativen Anteil.
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
b) Bedürfnisse Bedürfnisse haben regelmäßig eine körperliche Basis, sind aber in verschiedener Hinsicht notwendig mental beeinflussbar, wenn auch nur relativ schwach, etwa im HinÂ�blick auf den Zeitpunkt und den Umfang ihrer Befriedigung. Sie setzen also die Möglichkeit eines mentalen Bedürfniszustands voraus und sind nicht mehr vollständig passivisch. Bedürfnisse müssen im Gegensatz zu bloßen Strebungen empfunden werden können. Zweifelhaft ist, ob die mentale Komponente von Bedürfnissen so stark ausgeprägt ist, dass man sie immer als intentional auf ein Objekt gerichtet ansehen kann, wie dies bei Wünschen und Zielen der Fall ist. Bedürfnisse finden sich nur bei Menschen und Tieren, etwa das Bedürfnis nach Nahrung, nach Flüssigkeit, nach Schlaf und Ruhe, nach Ausscheidung, nach Schutz vor den Unbilden des Wetters, nach Freiheit von Schmerz usw. Man kann im Deutschen kaum davon sprechen, dass eine Pflanze ein „Bedürfnis“ hat, allenfalls einen „Bedarf“ im Sinne des Inhalts einer Strebung. Allerdings scheinen sich hier die Begriffsgrenzen des Deutschen und des Englischen zu unterscheiden. Das englische „need“ ist offenbar weiter und setzt nicht die Möglichkeit eines mentalen Bedürfniszustands voraus. Der Ausdruck „need“ würde dann sowohl Bedürfnisse als auch Strebungen umfassen. Bedürfnisse können stark sozial orientiert oder beeinflusst sein, etwas das Bedürfnis nach sozialer Gemeinschaft, nach Kommunikation und nach Anerkennung. Die körperliche Basis kann weitgehend zurückgedrängt werden, ja vielleicht im Extremfall sogar fast ganz verschwinden, wobei man dann auch schon von Wünschen sprechen kann. Bedürfnisse sind wohl wie Strebungen im Regelfall nicht iterierbar. Wir können also normalerweise nicht das Bedürfnis nach einem Bedürfnis haben, weil die mentale Komponente zu schwach ist, um eine intentionale Bezugnahme auf einer sekundären Ebene zu erlauben. Aber die Übergänge zwischen Bedürfnissen und Wünschen sind fließend, so dass sich nicht vollständig ausschließen lässt, dass sich etwa ein Wunsch bezüglich eines Bedürfnisses derart zu einer Obsession verfestigt, dass er bei genügend unabhängiger Intentionalität bedürfnisartige Züge annimmt. Aber in derartigen Extremfällen wird man doch fragen müssen, ob es sich wirklich um ein unabhängiges Bedürfnis nach einem Bedürfnis handelt oder ob die Ebenentrennung in der Realität nicht doch in einem umfassenden Bedürfnis kollabiert. Bedürfnisse können sich im Normalfall auch nicht als Eigenschaften zweiter Stufe auf Strebungen, Wünsche oder Ziele beziehen. Bedürfnisse sind in stärkerem Maße beeinflussbar und damit variabler als Strebungen. Man muss insofern zwischen instrumentellen Bedürfnissen und grundlegenden, kategorischen bzw. absoluten Bedürfnissen unterscheiden.13 Instrumentelle Bedürfnisse sind von kontingenten Zielen abhängig und damit selbst kontingent, etwa das Bedürfnis, sich ein paar Stunden zurückzuziehen, um einen wissenschaftlichen Vortrag vorzubereiten. Dieses instrumentelle Bedürfnis hängt von dem kontingenten Wunsch ab, den 13 Harry Frankfurt, Necessity and Desire, in: ders., The Importance of What We Care About, Cambridge 1988, S.€104–116, S.€108â•›ff.; Garrett Thomson, Needs; David Wiggins, Needs, Values, Truth, 3.€Aufl. Oxford 1998, S.€14.
2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen
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Vortrag vorzubereiten. Daneben gibt es aber auch grundlegende, absolute Bedürfnisse (basic needs), die nicht von kontingenten Zielen abhängen und deshalb normalerweise feststehend und damit zumindest als grundlegendes Faktum objektiv bestimmbar sind, etwa das Bedürfnis jedes Menschen nach Essen und Trinken. Aber selbst derartige normalerweise feststehende Bedürfnisse können der Relativierung unterliegen, etwa im Hinblick auf ein höchstes Ziel, ein andersartiges „gutes“ Leben zu führen. Wenn jemand nicht mehr weiterleben will und beschließt, sich selbst zu töten, also das normale Ziel, am Leben zu bleiben, aufgibt, so kann er auf Essen und Trinken, auf Schlaf und Schutz vor den Unbilden des Wetters verzichten. Es sind also keine wirklich absoluten Bedürfnisse erkennbar, die unseren Wünschen und Zielen notwendig übergeordnet wären. Die Unterscheidung zwischen instrumentellen Bedürfnissen und „absoluten“ Bedürfnissen ist nur eine graduelle. Bedürfnisse werden gelegentlich dadurch definiert, dass ihre Nichtbefriedigung zu einem Schaden führt.14 Das trifft sicher für die grundlegenden körperlichen Bedürfnisse zu, etwa das Bedürfnis nach Essen und Trinken, nach Schlaf und Ruhe, nach Wetterschutz. Es gilt wohl auch für die permanente Nichterfüllung der meisten Bedürfnisse. Aber es ist doch zweifelhaft, ob es notwendig für alle Bedürfnisse zutrifft, etwa für soziale Bedürfnisse. Ob einen eine Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach Kommunikation wirklich schädigt, ist offen. Es kommt wohl alles auf das Maß an. Eine gewisse Gelegenheit zu kommunikationsloser Reflexion€– etwa im Falle einer Krankheit€– mag mancher im Nachhinein sogar als positiv empfinden. Und auch bei einigen körperlichen Bedürfnissen kann die Nichtbefriedigung eher nutzen als schaden, etwa die Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach Süßwaren.
c) Wünsche Wünsche haben häufig auch eine körperliche, im Gegensatz zu Strebungen und Bedürfnissen primär aber eine mentale Komponente.15 Wünsche sind deshalb notwendig intentional, also auf einen Gegenstand oder Zustand gerichtet.16 Und die mentale Komponente kann sich anders als bei Bedürfnissen vollständig sachlich und zeitlich
14 Harry Frankfurt, Necessity and Desire, S.€109; David Wiggins, Needs, Values, Truth, S.€14. 15 Ich verstehe Wünsche hier im engen Sinn des Alltagsverständnisses, nicht in einem in der Literatur häufig anzutreffenden weiten, alle motivational handlungswirksamen Einstellungen wie wollen, beabsichtigen, anstreben, herbeisehnen, erhoffen, befürchten usw. umfassenden Sinne. Vgl. zu diesem weiten Begriff: Holmer Steinfath, Orientierung am Guten, Frankfurt a.â•›M. 2001, S.€ 52â•›ff. Die weite Auffassung, die offenbar auch Strebungen und Bedürfnisse umfassen soll, führt dazu, dass Steinfath dann zwischen passivischen und aktivischen Wünschen unterscheiden muss, wobei diese Unterscheidung weniger differenziert ausfällt als die hier vorgeschlagene zwischen vollständig passivischen Strebungen, weitgehend passivischen Bedürfnissen, partiell aktivischen Wünschen und vollständig aktivischen Zielen. 16 Vgl. David Wiggins, Needs, Values, Truth, S.€6; Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness, and Ethics, S.€53â•›ff., 124.
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
gegenüber der körperlichen Komponente durchsetzen, also die Befriedigung des Wunsches zur Gänze inhaltlich modifizieren oder gar unterdrücken. Wünsche sind schon partiell aktivisch, wenn auch im Gesamtzusammenhang unserer Einstellungen, Haltungen, Wertungen und Gefühle verankert und deshalb nicht immer ad hoc erzeugbar.17 Wünsche finden sich hauptsächlich bei Menschen, möglicherweise auch bei höheren Tieren, etwa der Wunsch nach Geselligkeit, Arbeit, Unterhaltung, neuen Erlebnissen, Gesundheit, Lustmehrung und Leidminderung, Abwechslung und Abenteuer. Die Grenze zwischen Bedürfnissen und Wünschen ist fließend. So ist der Paarungstrieb bei höheren Tieren wohl nur ein Bedürfnis, während man beim Menschen das Bedürfnis nach geschlechtlicher Vereinigung und den Wunsch nach einer liebevollen Partnerschaft unterscheiden kann. Menschen können zölibatär leben, wobei das Bedürfnis nach geschlechtlicher Vereinigung dann bei manchen Menschen latent bestehen bleibt, aber nicht befriedigt wird. Wünsche sind notwendig in Raum und Zeit instanziierte mentale Eigenschaften. Schlafen wir oder sind wir bewusstlos, so haben wir Wünsche nur in einem weiteren Sinn, nicht aber im Sinne einer tatsächlich bewussten, aktualen Zielgerichtetheit. Wünsche sind im Gegensatz zu Bedürfnissen und Strebungen ohne Zweifel und in jedem einzelnen Fall iterierbar, das heißt, wir können uns Wünsche wünschen. Manche sagen etwa: „Ach hätte ich doch nur den Wunsch, weiter mit diesem Menschen zusammenzuleben!“ Wünsche können sich auch anders als Bedürfnisse auf die anderen normativethisch relevanten Eigenschaften beziehen. Wir können also etwa den Wunsch haben, eine Strebung oder ein Bedürfnis zu entwickeln oder zu befriedigen. Wir können sogar den Wunsch haben, Ziele zu fassen und zu erreichen. Wünsche manifestieren sich regelmäßig in aktuellen oder früheren Willensbekundungen. Wünsche sind viel variabler und subjektiver als Bedürfnisse und deshalb ohne konkrete Willensbekundung des jeweils wünschenden Individuums nur schwer objektivierbar.
d) Ziele Ziele (Absichten) sind ausschließlich mentale, genauer intentionale Eigenschaften und nach allem, was wir wissen, im Wesentlichen Menschen vorbehalten. Vielleicht haben aber auch höhere Tiere wie Menschenaffen oder Delphine Ziele. Ziele sind vollständig aktivisch.18 Ziele wären etwa das Erreichen eines Ortes mit der Bahn, das Verfassen eines Buches, das Bestehen eines Examens, das Ansparen eines Vermögens, die Durchführung einer Reise, das Erringen einer gewissen beruflichen Stellung, die Veränderung der Gesellschaft, die Verwirklichung seiner selbst, der Erwerb von Ruhm, die Gewinnung der
17 Holmer Steinfath, Orientierung am Guten, S.€55â•›ff. und passim, spricht deshalb zu Recht von „widerfahrenden“ bzw. „neigungsförmigen“ Wünschen. 18 Vgl. zu ihrer Abgrenzung gegenüber Wünschen: Holmer Steinfath, Orientierung am Guten, S.€69â•›ff.
2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen
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ewigen Seligkeit. Ziele müssen klar von Wünschen unterschieden werden.19 Sie divergieren in wenigstens vierfacher Hinsicht: Während Wünsche als generell oder wenigstens durch den Akteur unerfüllbar angesehen werden können, müssen Ziele erstens vom Akteur für prinzipiell erreichbar gehalten werden. Man kann etwa den Wunsch haben, noch einmal ein Kind zu sein, nicht aber das entsprechende Ziel. Zur Erreichung von Zielen werden regelmäßig Mittel gesucht und eingesetzt. Geschieht dies, so werden die Ziele in der Perspektive ihrer Verbindung mit Mitteln zu Zwecken. Ein Ziel kann man fassen, ohne schon konkrete Mittel zu seiner Erreichung bestimmt zu haben, einen Zweck dagegen nur, sofern man bereits mögliche Mittel gewählt hat. Wünsche stehen dagegen nicht in diesem notwendigen begrifflichen Zusammenhang zu Mitteln ihrer Realisation. Ziele sind zweitens, anders als Wünsche, unabhängig von jeweiligen konkreten mentalen Instanziierungen. Auch von einem momentan Schlafenden oder Bewusstlosen, der gegenwärtig keine Wünsche haben kann, nehmen wir etwa an, dass er weiterhin das Ziel verfolgt, sein Studium zu beenden. Notwendig ist nur, dass er irgendwann einmal die entsprechende Absicht gefasst und seither nicht aufgegeben hat. Ziele sind also anders als Wünsche keine kontinuierlichen mentalen Zustände. Sie setzen nur eine einmalige mentale Initiationsabsicht voraus, die nicht dementiert oder vollständig in Vergessenheit geraten sein darf. Ziele können drittens€– worauf oben schon hingewiesen wurde€– als abhängige Ziele auch Kollektiven wie Unternehmen, Vereinen oder Staaten zugesprochen werden. Für Wünsche ist das dagegen zweifelhaft und für Bedürfnisse sicher unmöglich. Ziele sind viertens anders als Wünsche, fasst man letztere nach dem Alltagsverständnis eng, regelmäßig Teil eines umfassenderen Lebensentwurfs. Wünsche beziehen sich als singuläre mentale Instanziierungen häufig erst einmal nur auf einzelne Tatsachen, also Zustände oder Handlungen, etwa der Wunsch, den Zug zu erreichen, um an das Reiseziel zu gelangen. Ziele sind dagegen regelmäßig zu längerfristigen oder umfangreicheren Plänen und Projekten verbunden. Das Ziel, einen Ort aufzusuchen, ist etwa Teil unseres weitergehenden Ziels, unserer Arbeitsverpflichtung gewissenhaft nachzukommen. Einzelne Ziele sind deshalb in letzter Instanz immer Teil unseres umfassendsten Ziels, ein gutes Leben zu führen.20 Ziele sind wie Wünsche iterierbar, jedoch in einer ganz spezifischen Art und Weise: Ziele können zu anderen Zielen in einem Zweck-Mittel-Verhältnis stehen. Man spricht dann von untergeordneten und übergeordneten Zielen. So dient etwa das untergeordnete Ziel, den Ort zu erreichen, dem übergeordneten Ziel, die Arbeitsleistung zu erbringen. Ziele manifestieren sich wie Wünsche in aktuellen, früheren oder mutmaßlichen
19 Dies tun, wie erwähnt, viele in der Literatur nicht. Vgl. etwa Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness, and Ethics, S.€122. Eine einigermaßen klare Unterscheidung findet sich aber zum Beispiel bei Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€291, Fn.€1. 20 Vgl. zu diesem umfassenden Ziel: Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, 2.€Aufl. München 1995; Wilhelm Vossenkuhl, Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21.€Jahrhundert.
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
Willensbekundungen. Wie Wünsche können auch Ziele Eigenschaften zweiter Ordnung sein. Ziele können sich also auf Strebungen, Bedürfnisse und Wünsche beziehen, wobei in dieser Abfolge die Möglichkeiten der Erzeugung, Beeinflussung und Unterdrückung wegen der abnehmenden Körperbestimmtheit steigen. Ziele sind von allen hier aufgeführten Bestimmungen im interpersonalen Vergleich am variabelsten. Verschiedene Menschen prägen in ihrem Leben die unterschiedlichsten Ziele aus. Der eine will ein kontemplatives Leben führen, der andere ein aktives, der eine will das Tanzen lernen, der andere das Golfspielen, der dritte eine Fremdsprache. Der eine will eine herausgehobene berufliche Stellung erreichen, dem anderen ist das vollständig gleichgültig. Der Unterschied zwischen Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen lässt sich gut an den vorherrschenden sprachlichen Bezeichnungen für ihre Realisation erkennen: Strebungen verwirklichen sich, Bedürfnisse werden befriedigt, Wünsche erfüllt, Ziele schließlich erreicht. Trotz der soeben aufgewiesenen Unterschiede bleiben die Grenzen zwischen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen auf dem Kontinuum Geistigkeitâ•›/â•›Körperlichkeit bzw. Aktivitätâ•›/â•›Passivität fließend. Die Begriffe sind lediglich Analyseinstrumente und implizieren keine raum-zeitliche oder in sonstiger Weise reale Teilung. Für die Ethik besteht auch nicht die Notwendigkeit einer derartigen Teilung und damit einer scharfen Grenzziehung in jedem Einzelfall, weil jede dieser Eigenschaften im Zusammenhang mit den anderen unabhängig von ihrer genauen Kategorisierung die beiden Adäquatheitsbedingungen der subjektiv-individualistischen Sensibilität und der normativen Kraft erfüllt und damit ethisch bzw. moralisch relevant ist. Die Abgrenzung spielt allerdings für das bessere Verständnis der im speziellen Fall moralisch relevanten Eigenschaft, die Abwägung und die Notwendigkeit einer Beurteilung durch Andere, also im Falle des Paternalismus eine Rolle, denn über Strebungen und Bedürfnisse Anderer lassen sich regelmäßig leichter Mutmaßungen anstellen als über deren Wünsche oder gar deren Ziele.
e) Das Verhältnis zwischen diesen Eigenschaften Wie ist nun das Verhältnis zwischen Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen genauer zu bestimmen? Die beiden Einflußfaktoren der Körperlichkeit und der Geistigkeit bzw. Passivität und Aktivität führen zu zwei gegenläufigen Kontinua der Vorrangigkeit. Fragen wir, welche Alternativen der je Betroffene in einem möglichen Konflikt regelmäßig als primär, also aus der Warte seiner Geistigkeit für eine einzelne Handlung und Entscheidung vorrangig einstufen wird, so sind das im Normalfall unsere Ziele. Unseren Zielen ordnen wir im Konflikt häufig, wenn auch nicht immer unsere Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen unter. Haben wir etwa das Ziel, einen Ort mit einem Zug zu erreichen, so verzichten wir regelmäßig auf die Befriedigung des Wunsches, in der Bahnhofsbuchhandlung zu schmökern und unterdrücken das Bedürfnis, noch etwas zu trinken. Das Bedürfnis zu trinken können wir zwar nicht ganz ausschalten, aber seine Befriedigung doch aufschieben, bis wir im Zugrestaurant oder am Ziel der Reise sind.
2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen
63
Selbst die grundlegendsten Bedürfnisse, wie das Bedürfnis zu essen und zu trinken, werden also häufig den höchsten Zielen untergeordnet. Ist es unser Ziel, nicht mehr weiterzuleben, so können wir auf Essen und Trinken verzichten. Dies ist für Moral und Ethik wichtig, denn ordnet jemand sein Ziel zu sterben allen anderen Bedürfnissen über, so darf er von anderen nicht mit dem Verweis auf diese anderen Bedürfnisse zwangsweise am Leben erhalten werden. Im Verhältnis von Wünschen und Bedürfnissen ziehen wir regelmäßig die Wünsche vor. Haben wir etwa den Wunsch, einen Freund zu treffen, oder sind wir sogar zu einem bestimmten Zeitpunkt mit ihm verabredet und haben wir den Wunsch, die Verabredung einzuhalten, so verschieben wir im Normalfall die Befriedigung des Bedürfnisses, sofort etwas zu essen. Alle drei bisher genannten Eigenschaften der Ziele, Wünsche und Bedürfnisse überwiegen schließlich für uns gegenüber den rein körperlichen Strebungen, soweit wir diese wenigstens partiell kontrollieren können. Bei diesem Rangverhältnis handelt es sich allerdings wie gesagt nur um ein regelmäßiges und typisierendes des jeweiligen Trägers dieser Eigenschaften. Wir können natürlich auch anders entscheiden und lieber in der Bahnhofsbuchhandlung schmökern oder auf die Toilette gehen, statt den Zug zu erreichen. Wir können auch eher etwas essen als den Freund zu treffen. Manche propagieren sogar eine Lebensauffassung, die einen regelmäßigen Vorrang der Befriedigung unserer Bedürfnisse gegenüber der Erfüllung unserer Wünsche und der Erreichung unserer Ziele vorschlägt. Das tun etwa Sekten, die ein Leben im Hier und Jetzt undâ•›/â•›oder „aus dem Bauch heraus“ predigen. Eine solche Lebensauffassung mag vielleicht tatsächlich zu einem glücklicheren Leben führen. Aber ob das stimmt, ist eine Frage des guten Lebens und nicht der normativen Ethik im engeren Sinn. Jeder Einzelne muss sie selbst für sich entscheiden. Für die normative Ethik im engeren Sinn als Theorie der Moral und anderer kategorischer Normordnungen kann ein derartiges Ideal des guten Lebens nicht maßgeblich sein, solange es nicht allgemein geteilt wird. Maßgeblich muss vielmehr sein, was die tatsächlich lebenden Menschen in ihrer großen Mehrheit vorziehen. Insofern lässt sich empirisch feststellen, dass die Menschen ihre Ziele regelmäßig ihren Wünschen und ihre Wünsche ihren Bedürfnissen und Strebungen überordnen, zumindest sofern ein Mindestmaß an wesentlichen Bedürfnissen befriedigt ist. Wäre es anders, so könnten etwa keine Schulen und Universitäten existieren. Denn um unser Ziel des Erwerbs von Wissen zu erreichen, ist ein Verzicht auf die sofortige Befriedigung mancher aktueller Wünsche und Bedürfnisse erforderlich. Man erhält also folgendes Kontinuum des typischen, geistig bestimmten Vorrangs seitens des Entscheiders: Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen. Damit ist nicht gesagt, dass diese Reihenfolge auch moralisch wesentlich ist. Dies wird sofort deutlich, wenn wir für den Primat zwischen diesen Eigenschaften nicht die Geistigkeit und damit die vernünftige Wahl auf einer Metaebene entscheidend sein lassen, sondern die Körperlichkeit und damit die schiere Notwendigkeit für unsere Lebensführung. Dann sind Strebungen wie die Erhaltung unserer Körpertemperatur oder unseres Immunsystems absolut essentiell. Grundlegende Bedürfnisse sind auch häufig notwendige Bedingungen für unsere Wünsche und Ziele, etwa das Bedürfnis zu essen und zu trinken. Auf
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
einzelne Wünsche können wir häufig verzichten und fast immer auf bestimmte Ziele. Der Vorrang kehrt sich also gegenüber der geistigen Bewertung um. Wie ist nun zwischen diesen beiden Alternativen des Vorrangs zu entscheiden? Hierbei kann wieder das Prinzip des normativen Individualismus helfen: Soll man die Individuen als Individuen berücksichtigen, so erfordert das, sie auch in der normativethischen Entscheidung über die grundsätzlich brauchbaren Alternativen ernst zu nehmen. Welche der Alternativen normativ relevanter Eigenschaften der Individuen sehen wir also in einem potentiellen Konflikt als maßgeblich an? Dies sind regelmäßig die Ziele. Das Kontinuum zwischen Körperlichkeit und Geistigkeit ist insofern asymmetrisch, als bei höheren Lebewesen und insbesondere beim Menschen die ganz oder stärker körperlichen Eigenschaften der Strebungen und der Bedürfnisse regelmäßig durch die eher geistigen Eigenschaften der Wünsche und der Ziele bewertet und beurteilt werden. Der Mensch gewinnt einen wesentlichen Teil seines je eigenen Selbstverständnisses durch diese Beurteilung. Wir bemühen uns von klein auf, Strebungen, Bedürfnisse und schließlich mit zunehmendem Alter auch Wünsche im Hinblick auf unsere Ziele bzw. Absichten zu bewerten und diesen Zielen anzupassen. Wir lernen etwa, unsere Atmung als Strebung je nach unseren Bedürfnissen, Wünschen und Zielen zu regulieren. Wir verzichten€– wie wir sahen€– regelmäßig auf die Befriedigung des Bedürfnisses, etwas zu trinken oder des Wunsches, noch etwas in der Bahnhofsbuchhandlung zu schmökern, wenn dies unser Ziel, mittels des Zuges einen Ort zu erreichen, vereiteln würde. Ziele und Absichten€– oder handlungsbezogen gesprochen: unser Wille als Ausdruck unserer Selbstbestimmung€ – sind deshalb höchster Ausdruck unseres Selbstverständnisses als menschliche Wesen. Deshalb müssen unsere tatsächlichen Willensbekundungen, oder bei Eingriffen die Einwilligung, im Rahmen der Berücksichtigung der ethisch entscheidenden Eigenschaft im Vordergrund stehen. Allerdings gilt dies natürlich nur, wenn wir sie selbst in den Vordergrund stellen. Will jemand einen Wunsch gegenüber einem Ziel vorrangig erfüllt sehen, so ist das für Andere im Rahmen der moralischen Abwägung verbindlich. Bekundet jemand also das abstrakte Ziel, das Rauchen aufzugeben, äußert er dann aber doch in einer einzelnen Situation den Wunsch nach einer Zigarette, so ist das maßgeblich. Wir dürfen ihm die Zigarette nicht mit Verweis auf das allgemein erklärte Ziel wegnehmen. Ob wir ihm aber eine Zigarette geben sollten, ist eine andere Frage, die von der Abwägung vieler weiterer Faktoren abhängt. Eine ähnliche mögliche Umkehrung des typischen Vorrangs gilt für Bedürfnisse im Verhältnis zu Wünschen und Zielen. Bedürfnisse gewinnen in bestimmten Situationen gegenüber Wünschen und Zielen die Oberhand. Wenn es gar nicht anders geht, dann müssen wir Wünsche und Ziele unerfüllt bzw. unerreicht lassen, um ein dringendes Bedürfnis zu befriedigen. Ziele und Wünsche sind zwar kognitiv-subjektiv in unserer eigenen Bewertung grundsätzlich primär. Die stärkere körperlich-natürliche Basis der Bedürfnisse kann uns aber dazu zwingen, ihnen in bestimmten Situationen den Vorrang einzuräumen. Haben wir etwa ein „dringendes Bedürfnis“, werden wir im Zweifel darauf verzichten müssen, den Zug zu nehmen. Aber dieser Vorrang von Bedürfnissen gilt€– wie wir sahen€– nur für untergeordnete Ziele, wie das Ziel, den Zug zu erreichen, nicht aber für das höchste Ziel, ein gutes Leben zu führen. Dieses Ziel ist aber derart ab-
3. Das Kontinuum zwischen subjektiver Manifestation und objektiver Beurteilung
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strakt und umfassend, dass es ohne weiteres den Vorrang der Befriedigung eines „dringenden Bedürfnisses“ gegenüber der Erreichung konkreterer Ziele einschließt. Für nichtmenschliche Lebewesen, die keine Ziele bzw. Absichten haben, reduziert sich die typische Abfolge der ethisch relevanten Eigenschaften auf Wünsche, Bedürfnisse und schließlich Strebungen. In bestimmten Anwendungsbereichen der Ethik kann es überdies auch für den Menschen nahe liegen, statt von den prinzipiell vorrangigen Zielen von den Wünschen oder sogar den Bedürfnissen auszugehen. So kommt es etwa in der politischen Ethik und der Sozialethik anders als in der Individualethik weniger darauf an, individuelle Ziele und Wünsche zu verwirklichen bzw. zu erfüllen. Vielmehr wird zunächst die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung, Schlaf und Schutz im Vordergrund stehen. Dies gilt zumindest, solange diese Bedürfnisse noch nicht befriedigt sind, etwa in Entwicklungsländern, wo Menschen noch an Unterernährung oder Unterkühlung sterben. Sind die grundlegenden Bedürfnisse allgemein befriedigt, so werden Wünsche und Ziele als Richtschnur politischen Handelns wichtiger werden, etwa der Wunsch nach Arbeit und das Ziel beruflicher Selbstverwirklichung. Die obige graphische Darstellung des ethischen Grundverhältnisses lässt sich nun wie folgt durch unsere normativ-ethisch relevanten Eigenschaften ergänzen: A
(1) Ziele /Absichten
(1) Ziele /Absichten
A
K
(2) Wünsche
(2) Wünsche
N
T
(3) Bedürfnisse
(3) Bedürfnisse
D
E
(4) Strebungen
(4) Strebungen
E
U
R
R
E R
3. Das Kontinuum zwischen subjektiver Manifestation und objektiver Beurteilung Das erste Element des normativen Individualismus führt zu einem weiteren wichtigen Aspekt: Die ethisch relevanten Eigenschaften stehen auch in einem Kontinuum zwischen der eigenen subjektiven Manifestation der Betroffenen und der objektiven Beurteilung durch Andere. Die ethische Verpflichtung des Akteurs zur Berücksichtigung Anderer setzt notwendig dessen Beurteilung der normativ relevanten Eigenschaften dieser Anderen voraus. Nach dem soeben Gesagten ist dies bei Menschen zunächst typischerweise das Ziel, wie es sich in einem aktuellen tatsächlichen Willen manifestiert,
66
II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
es sei denn, der Betroffene ordnet selbst seinen Zielen eigene Wünsche, Bedürfnisse oder Strebungen vor. Aber Ziele setzen keinen permanenten tatsächlichen Willen voraus. Und alltägliche Situationen des Lebens können dazu führen, dass ein tatsächlicher Wille bei Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen nicht immer gebildet wird, erkennbar ist oder berücksichtigt werden kann. So haben Bewusstlose keinen aktuellen Willen. Ist ein von unserem Handeln Betroffener nicht unmittelbar präsent, so können wir seinen aktuellen Willen nicht erkennen. Dies gilt etwa, wenn wir einem Bekannten ein Geschenk schicken wollen und nicht wissen, ob es ihm gefallen wird. Schließlich kann der aktuelle Wille auch zu anderen früheren oder mutmaßlichen Bekundungen des Willens eines Betroffenen in Widerspruch treten. Man denke sich einen Weinliebhaber, der das Weinglas zum Mund führt, ohne zu ahnen, dass jemand Gift hineingeschüttet hat. Der aktuelle konkrete Wille des Weinliebhabers beinhaltet ohne Zweifel, den Inhalt des Glases zu trinken. Aber dieser Wille beruht auf der falschen Überzeugung, dass sich ausschließlich Wein in dem Glas befindet und steht zu dem generellen abstrakten, früheren oder zumindest mutmaßlichen Willen in Widerspruch, nicht vergiftet zu werden. In derartigen Fällen muss statt des aktuellen konkreten Willens eine Kaskade von Substituten berücksichtigt werden: An erster Stelle dieser Kaskade steht ein genereller abstrakter höherrangiger Wille. Ein zweiter Substitutionsschritt wird besonders bei Patienten wichtig, die nicht mehr einwilligungsfähig sind. Haben sie vorher eine Patientenverfügung verfasst, so tritt der frühere tatsächliche Wille, zumindest insofern er eindeutig und fehlerfrei ist, an die Stelle des aktuellen Willens. Da aber auch ein früherer tatsächlicher Wille häufig nicht zu ermitteln ist oder im Widerspruch zu anderen früheren Willensbekundungen stehen kann, wird man als dritten Substitutionsschritt konkrete Mutmaßungen über den tatsächlichen Willen einbeziehen und nach dem mutmaßlichen Willen fahnden müssen. Dabei werden neben früheren Äußerungen über Wertvorstellungen auch die objektiv bewerteten Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen des Betroffenen eine stärkere Rolle spielen. Hilft auch das nicht weiter, ist schließlich auf die abstrakten Strebungen und Bedürfnisse eines relevant ähnlichen Individuums bzw. des typischen Mitglieds einer möglichst konkret vergleichbaren Gruppe zurückzugreifen. Man wird annehmen können, dass diese Berücksichtigung der hypothetischen Strebungen und Bedürfnisse dem generellen Willen der meisten Menschen entspricht. Plausibel erscheint also folgende Kaskade: Erstens ist der aktuelle konkrete Wille entscheidend, zweitens der generelle abstrakte und höherrangige Wille, drittens der frühere tatsächliche Wille, viertens der mutmaßliche Wille und fünftens der hypothetische Wille, wie er mit Bezug auf abstrakte Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen vermutet werden kann. Die beiden erwähnten Kontinua bzw. Abstufungen sind im Hinblick auf die zu berücksichtigende Eigenschaft der Individuen insofern miteinander verkoppelt, als das erste Kontinuum dem zweiten den Ausgangspunkt des aktuellen konkreten Ziels bzw. Willens vorgibt. Im Rahmen der Entfaltung des zweiten Kontinuums muss dann aber auch bei Menschen und höheren Tieren bei der Substituierung immer stärker auf vorhergehende Stufen des ersten Kontinuums zurückgegriffen werden, also auf Wünsche,
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4. Belange bzw. Interessen
Bedürfnisse und schließlich Strebungen. Die folgende Tabelle zeigt den realistischen Schwerpunkt der Berücksichtigung, wenn beide Kontinua verbunden werden. Der Ausgangspunkt ist in der linken oberen Ecke: aktueller, konÂ�kreter Wille
genereller, abstrakter Wille
früherer tatsächlicher Wille
Ziele
X
X
X
Wünsche
X
X
X
X
X
X
X
X
X
Bedürfnisse Strebungen
mutmaßlicher Wille
hypothetischer Wille
4. Belange bzw. Interessen Die Vielgestaltigkeit und Komplexität dieser beiden Kontinua der ethisch zu berücksichtigenden Eigenschaften legt es nahe, zur Vereinfachung der Darstellung nach einem einzigen, abstrakteren und damit zusammenfassenden Terminus bzw. Begriff Ausschau zu halten. Dazu bieten sich die bereits erwähnten synonymen Termini „Belang“ und „Interesse“ an, sofern man sie nicht egoistisch verkürzt. Die Begriffe Belang und Interesse umfassen sowohl Ziele als auch Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen. Sie können subjektiv im Sinne des aktuellen konkreten oder generellen oder früheren tatsächlichen Willens, aber auch ein Stück weit objektivierend im Sinne des mutmaßlichen oder sogar hypothetischen Willens, das heißt der mutmaßlichen oder hypothetischen Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen verstanden werden.21 Sie implizieren dabei allerdings bereits eine eigene interne Abwägung des Interessenträgers zwischen seinen je eigenen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen. Die Ausdrücke „Belang“ bzw. „Interesse“ sind synonym und unterscheiden sich nur in der Etymologie. „Belang“ ist deutschstämmig, „Interesse“ lateinischstämmig. „Interesse“ kommt von lateinisch „intersum“ bzw. „interest“. Neben der eher subÂ�jektiven Bedeutung im Sinne von „für jemand wichtig sein“ gab und gibt es auch eine intersubjektive BedeuÂ�tung im Sinne von „daÂ�zwiÂ�schen liegen“, „sich dazwischen befinden“.22 Diese janusköpfige Bedeutung hat sich in den juristischen Fachtermini für Schaden „subjektives Interesse“ und „objektives Interesse“ erhalten.23 In dieser BeÂ�deuÂ�tungsÂ�vaÂ� 21 Vgl. Günther Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeutung für die Ethik. 22 Vgl. Karl E. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches und deutsch-lateinisches Handwörterbuch, Leipzig 1880, Teil 1, Bd. 2, S.€330â•›ff. 23 Vgl. allgemein zu den römisch-rechtlichen Quellen: Hermann G. Heumannâ•›/â•›Emil Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 9.€ Aufl. 1907, Nachdr. Graz 1971, S.€ 281. Eine umÂ�fassende
68
II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
riante impliziert der Ausdruck somit eine gewisse Form von InterÂ�subÂ�jektiviÂ�tät, die jeweils eigenständige PoÂ�siÂ�tioÂ�nen der Subjekte erÂ�mögÂ�licht und zuÂ�gleich inteÂ�griert. Nimmt man beide Bedeutungsvarianten des Ausdrucks zusammen, so kann man feststellen: Der Begriff ist sowohl subjektiv als auch intersubjektiv, das heißt schwach objekÂ�tiv interpreÂ� tierbar. Er kann auf keine der beiden Möglichkeiten ohne größeren Verlust reduÂ�ziert werden.24 Er enthält überdies soÂ�wohl eine beschreibende als auch eine beÂ�Â�werÂ�tende und eine normaÂ�tive KompoÂ�nente. Man kann „Interesse“ nicht einfach mit „Lust“, „Empfindung“ oder „Glück“ gleichÂ�setzen. InterÂ�essen sind auch nicht notÂ�wendig oder nur reÂ� gelmäßig mit LustÂ�gefühÂ�len verbunden oder auf diese gerichtet. Wichtig ist also, dass der Interessenbegriff als zentrale subjektive und intersubjekÂ�tive RechtÂ�fertiÂ�gungsÂ�kateÂ�gorie nicht hedoÂ�nistisch oder auch nur konÂ�seÂ�quentiaÂ�listisch verengt wird. Viele InÂ�teressen beziehen sich nicht auf Lust und Leid, nicht auf das eigene Wohlergehen und nicht auf die KonseÂ�quenzen von Handlungen einÂ�zelner oder der Tätigkeit von InÂ�stitutionen, sonÂ� dern auf die HandÂ�lung und die TäÂ�tigkeit selbst (vgl. Kapitel€III). Eine egoistiÂ�sche InterÂ�pretation des InteresÂ�senbeÂ�griffs würde ebenfalls eine VerÂ�kürÂ�zung bedeuten. Viele InÂ�dividualÂ�interessen sind altruistiÂ�sch und richten sich auf das Wohlergehen anderer InÂ�dividuen, zum Beispiel das Interesse der Eltern, die Gesundheit ihrer Kinder zu fördern. Schließlich bezieÂ�hen sich eiÂ�nige IndiÂ�viÂ�duÂ�alÂ�inÂ�terÂ�esÂ�sen auch auf verÂ� schieÂ�dene GemeinschaftsforÂ�men, politische (etwa als politische Utopien) und nichtpolitische (etwa als Ziele von Vereinen oder Unternehmen).25 Der InteresÂ�senbegriff umfasst in diesem weiten VerÂ�ständnis also auch Ziele bzw. Werte und Ideale. Man kann im Übrigen terminologisch zwischen den Eigeninteressen des Akteurs und den Anderinteressen des von einer Handlung betroffenen Anderen unterscheiden. Der Begriff des Interesses bzw. Belangs ist zwar stark durch seine Funktion in der Moral geprägt. Er findet aber selbstredend auch in anderen Lebensbereichen Anwendung. So haben wir zum Beispiel ein Interesse an schönem Wetter, ohne dass ein Akteur moralisch verpflichtet wäre, das Wetter positiv zu beeinÂ�flussen. Die Auszeichnung der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen als ethisch relevante Eigenschaften der Individuen und die Zusammenfassung dieser Eigenschaften mit Hilfe des Begriffs des Belangs bzw. Interesses impliziert keine fundamentalistische Ethik in dem Sinne, dass diese Eigenschaften oder die Belange bzw. Interessen das allei-
Geschichte des Interessenbegriffs findet sich in dem ArÂ�tiÂ�kel „InÂ�terÂ�esÂ�se“ von Wolfgang Orth in: Otto Brunnerâ•›/â•›Werner Conzeâ•›/â•›Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 3, Stuttgart 1982, S.€305–365. Nachfolgend wird der Begriff des Interesses nicht in der speziÂ�fischen Form Kants verwendet, der ihn wesentlich psychoÂ�logisch und nicht normativ bestimmt, vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 121, 122, S.€459: „Interesse ist das, wodurch VerÂ�nunft praktisch, d.â•›i. eine den Willen bestimmende Ursache wird. Daher sagt man nur von einem vernünftigen Wesen, daß es woran ein Interesse nehme, vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe.“ Vgl. auch ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 38, S.€413; ders., Kritik der praktischen Vernunft, A 141, S.€79. 24 Vgl. Günther Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeutung für die Ethik, S.€86â•›ff., 90. 25 Vgl. ausführlich: Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, Reinbek 1996, S.€204â•›ff.
5. Interessen und Präferenzen
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nige Fundament oder die alleinige Quelle aller moralischen Normativität wären.26 Sie sind, wie in Kapitel€VI näher erläutert werden wird, nur ein, allerdings unverzichtbares Element der Begründung moralischer Normen. Eine ethische Begründung und damit eine adäquate normative Ethik muss dagegen alle fünf hier entfalteten Elemente umfassen. Derjenige Begriff, welcher dem Begriff des Belangs bzw. Interesses am nächsten steht, ist der Begriff des Willens. Aber es gibt doch Unterschiede, die nicht übersehen werden dürfen, denn nicht jeder, der ein Interesse an etwas hat, hat auch den Willen, die entsprechende Handlung auszuführen. Das hat zwei Gründe: Zum einen schließt der Wille immer ein zumindest rudimentäres Bewusstsein ein. Strebungen können als bewusstlose Phänomene einem Willen somit nicht zugrunde liegen. Der Wille erfordert also anders als ein Belang bzw. Interesse notwendig ein Bedürfnis, einen Wunsch oder ein Ziel. Er kann deshalb nur bei bewusstseinsfähigen Lebewesen bestehen. Aber ein Bedürfnis, ein Wunsch oder ein Ziel genügen anders als beim Belang bzw. Interesse noch nicht, um einen Willen zu bejahen. Die obige Formulierung zeigt das ganz deutlich. Man kann ein Interesse an etwas haben, etwa an einem Zustand, zum Beispiel einem aufgeräumten Schreibtisch, ohne den Willen zu haben, den Schreibtisch aufzuräumen. Der Wille ist immer unmittelbar handlungsbezogen bzw. handlungsleitend, sei es mit Bezug auf eine eigene oder auf eine fremde Handlung, welche zumindest hypothetisch angenommen werden muss. Man kann etwa den Wunsch bilden, dass es regnet. Aber man kann nicht den Willen haben, dass es regnet, weil man dies nicht durch eine eigene oder fremde Handlung bewirken kann. Die Notwendigkeit des Handlungsbezugs des Willens impliziert nicht, dass die Handlung dann auch tatsächlich ausgeführt wird, denn es können noch Hinderungsgründe auftreten. So kann man etwa den Willen haben, etwas zu tun, und dann kommen einem Bedenken oder ein Anderer verhindert die Ausführung. Aber mit dem Willen ist jedenfalls ein mentales Phänomen benannt, das ohne die Notwendigkeit weiterer mentaler Phänomene die kognitive Seite von Handlungen und ihre Realisierung erklärt.
5. Interessen und Präferenzen Insbesondere mathematisch und ökonomisch geprägte Theoretiker sprechen statt von „Belangen“ bzw. „Interessen“ nicht selten von „Präferenzen“.27 Dagegen bestehen keine Bedenken, wenn unter „Präferenzen“ nichts anderes als die Belange bzw. Interessen im soeben erläuterten um- und zusammenfassenden Sinne verstanden werden. Häufig ist dies allerdings nicht der Fall. Unter Präferenzen werden erstens nicht selten nur Ziele und Wünsche im Sinne des ersten, soeben erläuterten Kontinuums, also des Kontinu26 Dies kritisiert mit Recht Julian Nida-Rümelin, Vernunft und Freiheit, im Erscheinen, S.€4, 6. 27 Amartya K. Sen, Collective Choice and Social Welfare, San Francisco 1970; Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values. Vgl. zum Beispiel Christoph Fehigeâ•›/â•›Ulla Wessels (Hg.), Preferences, Berlin 1998.
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
ums von Geistigkeit und Körperlichkeit aufgefasst. Zweitens werden Präferenzen als tatsächlich bestehende Willensbekundungen verstanden (sog. revealed preferences), um Spekulationen über mentale Zustände zu vermeiden, so dass auch das zweite, soeben erläuterte Kontinuum zwischen subjektiver Manifestation und objektiver Beurteilung nicht vollständig entfaltet wird. Drittens werden Präferenzen insbesondere von mathematisch und ökonomisch geprägten Ethikern häufig auf Besser-Schlechter-Bewertungen (ordinale Vergleiche) reduziert, etwa in manchen Varianten des Präferenzutilitarismus. Die Interessen sollen auf diese Weise intra- und interpersonell vergleichbar gemacht oder zumindest einer Vergleichbarkeit angenähert, also wissenschaftlich rationalisiert werden. Damit wird aber die Möglichkeit einer bloßen Bewertung als gut oder schlecht (klassifikatorischer Vergleich) oder einer darüber sogar hinausgehenden Bewertung in Zahlen (kardinaler Vergleich) ausgeblendet. Obwohl das Ziel der wissenschaftlichen Rationalisierung grundsätzlich Unterstützung verdient, kann der Preis für die Erreichung dieses Zieles im Einzelfall doch zu hoch sein. Es ist kaum bestreitbar, dass sich manche Willensbekundungen als Besser-Schlechter-Bewertungen und damit als Präferenzen auffassen lassen, insbesondere ökonomische Kaufentscheidungen. Wir ziehen es etwa normalerweise vor, ein Radio zum niedrigeren Preis zu erwerben, statt zum höheren, wenn alle anderen Parameter wie Service oder Einkaufsweg vergleichbar sind. Die wirklich wichtigen Fragen unseres Lebens lassen sich aber regelmäßig nicht ohne Verkürzung und Missachtung der tatsächlichen Wünsche und Ziele in ein derartiges Präferenzschema pressen. Im Hinblick auf zentrale Belange, wie Familie, Beruf und Ausbildung, können wir häufig nicht sagen, welcher von ihnen uns wichtiger oder weniger wichtig ist. Zentrale Rationalitätspostulate einer derartigen ordinalen Reihung der Interessen sind dann nicht erfüllt, etwa das der Transitivität. Wer Äpfel lieber als Birnen und Birnen lieber als Bananen mag, müsste auch Äpfel gegenüber Bananen vorziehen. In der Realität ist das aber häufig nicht der Fall.28 Der Präferenzbegriff beinhaltet so verstanden also eine Einschränkung des normativindividualistischen Paradigmas. Um sich diese Einschränkung zu verdeutlichen, muss man ihn mit dem Interessenbegriff vergleichen. Der Interessenbegriff kann sowohl klassifikatorisch als auch ordinal und kardinal interpretiert werden. Der Präferenzbegriff ist dagegen in dieser eingeschränkten Form regelmäßig ordinal zu verstehen. Legt man nun statt des Interessenbegriffs mit seinen Differenzierungsmöglichkeiten den Präferenzbegriff zugrunde, so wird von manchen Interessen zu viel verlangt und von manchen zu wenig: Interessen, die sich nur klassifikatorisch einordnen lassen, werden in eine ordinale Relation gezwungen und Interessen, die sogar kardinal bewertbar wären, zum Beispiel monetäre Interessen, werden unterhalb der eigentlichen Möglichkeit ihrer Zusammenfassung behandelt. Das spricht natürlich nicht dagegen, den ordinalen Präferenzbegriff zu verwenden, etwa in der Entscheidungstheorie. Aber für eine umfassende normative Ethik ist die Eigenschaftsreferenz des ordinalen Präferenzbegriffs nicht hinreichend.
28 Vgl. Daniel Kahnemanâ•›/â•›Amos Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, in: Econometrica 47(1979), S.€263–291.
5. Interessen und Präferenzen
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Der Präferenzbegriff schränkt aber, sofern er Teil einer Aggregationstheorie ist, die individuellen Interessen, die moralische Entscheidungen legitimieren können, noch weiter ein. Bei diesen Einschränkungen handelt es sich nicht um inhaltliche, sondern um formale und zwar folgende:29 Es wird (1) von einer endlichen AlternatiÂ�venmenge ausgeÂ�gangen, wobei (2) alle Alternativen voneinander unabhängig sein sollen. Das Individuum muss nun seine Präferenzen in Form von (3) ordinalen Besser-Schlechter- bzw. Indifferenzurteilen über (4) paarweise Alternativen ausdrücken, und zwar (5) vollständig, das heißt, es muss alle möglichen Paarbildungen innerhalb der AlterÂ�nativenmenge bewerten. Alle diese einschränkenden Annahmen€ – zu denen dann noch weitere RationalitätsanfordeÂ�rungen an das Individuum, wie das der Transitivität, treten können30€– werden vorausgesetzt, um die mathematisch-loÂ�gische Zusammenfassung der individuellen EntÂ�scheidungen zu einer kollektiven Wohlfahrtsfunktion zu ermöglichen. Man vergleiche damit die Einfachheit und Voraussetzungslosigkeit des Interessenbegriffs. Das Interesse von Personen richtet sich auf eine beÂ�stimmte gemeinsame Entscheidung, zum Beispiel die Entscheidung, eine Schule zu bauen. Hier spielen weder die AlternatiÂ�venmenge noch die Unabhängigkeit der Alternativen noch eine Präferenzbildung über paarÂ�weise AlterÂ�nativen oder die Vollständigkeit eine Rolle. Trotzdem kann man ohne weiteres durch Zusammenfassung der Interessen die Legitimität der Entscheidung erreichen, zum Beispiel nach dem EinÂ�stimmigkeitsÂ�prinÂ�zip: Wenn alle Betroffenen ein Interesse am Bau der Schule bekunden, ist der Bau gerechtfertigt. Denkbar ist aber auch die AnwenÂ�dung des Mehrheitsprinzips: Wenn eine Mehrheit der betroffenen Personen ein InterÂ�esse am Bau der Schule äußert, wird die Schule gebaut. Man könnte nun einwenden, dass das Präferenzmodell diese einfachere direkte Bezugnahme von Interessen auf EntscheidungsalterÂ�nativen mit enthalte. Man könnte zum Beispiel die jeweiligen klassifikatorischen Interessen, die Schule zu bauen, als ordinale Präferenzen fassen: Jede Person hält es für besser, die Schule zu bauen, als sie nicht zu bauen. Aber was ist mit dieser Formulierung der Frage geÂ�wonnen? Ein Erkenntnisvorteil für die Zusammenfassung der Individualbelange ist nicht erkennbar. Sinnvoll erscheint die Verwendung des Präferenzbegriffs nur, wenn mindestens zwei echte, konträre und nicht nur kontradiktorische Alternativen zur Wahl steÂ�hen. Dann werden die formalen Einschränkungen des Präferenzmodells aber auch proÂ�blematisch. In der Realität werden häufig gerade zenÂ�trale LebensÂ�interesÂ�sen von den Entscheidern nicht in die ordinaÂ�le Präferenzstruktur einer „Besser-SchlechÂ�ter-OrdÂ�nung“ geÂ�bracht oder auch nur als indifferent ausgezeichnet. Warum soll sich ein Mensch entscheiden, ob er lieber heiraten oder einen Beruf ergreifen oder gegenüber beidem indifferent bleiben will? OffenÂ�sichtlich haben viele Menschen an beidem (gleichÂ�zeiÂ�tig) ein InÂ�teresse, das auf der InÂ�dividualÂ�ebene prinzipiell auch zu verwirklichen ist und erst auf der Ebene der Beeinflussung durch Entscheidungen von GemeinÂ�schaften möglicherweise kollidiert bzw. durch entÂ�spreÂ�chenÂ�de Strukturen und Institutionen verhindert wird. Die Ethik ist verÂ�pflichtet, die Interessen in Form ihrer (partiellen) individuellen UnabÂ�hängigkeit oder 29 Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, München 1994, S.€3. 30 Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S.€3â•›ff.
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
kollektiven Abhängigkeit voneinander zu berücksichtigen. Die uniforme Forderung nach Unabhängigkeit der Alternativen idealisiert hier. Aus all dem kann man folgendes Fazit ziehen: Die Zusammenfassung der vier normativ relevanten Eigenschaften, der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, sollte im Rahmen einer umfassenden normativen Ethik durch den Begriff des Belangs bzw. Interesses erfolgen. Der Präferenzbegriff kann dann in speziellen Fällen in klar definierter Form zum Einsatz kommen.
6. Weitere Qualifikationen von Belangen bzw. Interessen Manche Belange erscheinen uns für eine Moral und Ethik schlechterdings inakzeptabel. Einige Autoren meinen deshalb, solche Belange müssten von vornherein ausgeschieden werden. So kann es uninformierte Interessen geben, etwa wenn jemand eine Brücke betreten will, von der er nicht weiß, dass sie einsturzgefährdet ist.31 Es kann irrationale Interessen geben, etwa wenn jemand im vollen Bewusstsein der schädigenden Wirkung raucht. Es kann rein andergerichtete Interessen geben, etwa wenn jemand seinen Nachbarn dazu bringen will, seine Wohnung aufzuräumen. Es kann schließlich fremdschädigende oder sogar verbrecherische Interessen geben, etwa wenn jemand einen anderen verletzen oder gar umbringen will. Im Falle uninformierter Interessen liegt der entscheidende Grund, warum es gerechtfertigt erscheint, den Mann€– sofern wir ihn nicht mehr rechtzeitig warnen können, so dass er selbst entscheiden kann€– vom Betreten der Brücke zurückzuhalten oder im obigen Beispiel das Weinglas mit dem Gift wegzuschlagen, nicht in der mangelnden Information, sondern in der internen Widersprüchlichkeit der Belange oder von Teilaspekten der Belange. In beiden Fällen kollidiert der aktuelle konkrete Wille, die Brücke zu betreten oder den Inhalt des Weinglases zu trinken, mit dem generellen abstrakten Willen, am Leben zu bleiben. Der Grund, warum wir den aktuellen konkreten Willen missachten dürfen, liegt also nicht in der fehlenden Information, sondern im internen Widerspruch der Interessen bzw. Willensmomente. Die fehlende Information ist nur die faktische Ursache, nicht aber der rechtfertigende Grund. Man nehme als Gegenbeispiel ein Nahrungsmittel, das gesundheitsfördernd wirkt. Nimmt jemand dieses Nahrungsmittel ohne KenntÂ�nis der gesundheitsfördernden Wirkung zu sich, so dürfen wir es ihm, anders als das Glas mit dem vergifteten Wein, nicht wegschlagen, obwohl er ebenso wenig informiert ist wie beim Trinken des vergifteten Weins. Der Grund liegt darin, dass hier kein Widerspruch zum generellen abstrakten Willen besteht, weil jeder von uns regelmäßig den Wunsch bzw. das Ziel hat, seine Gesundheit zu fördern. Beim Beispiel der einsturzgefährdeten Brücke kann man den Unterschied deutlich sehen, sofern man die Situation der generellen abstrakten Interessen verändert. Nimmt jemand statt des allgemein anzunehmenden abstrakten Willens, das eigene Leben zu 31 John S.€Mill, On Liberty, S.€95. Vgl. zu einer Diskussion auch James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance, S.€10–17, 24–26.
6. Weitere Qualifikationen von Belangen bzw. Interessen
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erhalten, eine sehr risikofreudige Lebenshaltung ein, die auch das Betreten einsturzgefährdeter Brücken einschließt und keine weiteren Informationen über den Zustand derartiger Brücken erwartet, etwa um den Nervenkitzel zu erhöhen, so dürfen wir ihn nicht vom Betreten der Brücke zurückhalten, auch wenn er nicht weiß, dass gerade diese Brücke, welche er betreten will, einsturzgefährdet ist. Alles hängt also am internen Widerspruch der Interessen und nichts an der fehlenden Information. Die fehlende Information kann allenfalls die Bedingung eines Widerspruchs und damit ein Indiz dafür sein, dass innerhalb der Interessen des Betroffenen ein Widerspruch besteht. Im Übrigen ist es völlig unbestimmt, welcher Grad an Informationsmangel nötig ist, um Interessen eines Anderen nicht zu berücksichtigen. Was ist etwa, wenn der Betroffene ein vages Gerücht über die Baufälligkeit der Brücke gehört hat? Was ist, wenn er als Laie technische Angaben über den Zustand der Brücke nicht verstanden hat? Insgesamt kann eine fehlende Information die Berücksichtigung der Interessen nicht ausschließen, weil nach Maßgabe des normativen Individualismus auch die Haltung des Betroffenen zu seiner eigenen Informiertheit bzw. Uninformiertheit berücksichtigt werden muss. Im Fall irrationaler Interessen besteht kein Widerspruch zwischen den Interessen einer Person, sondern ein Widerspruch zwischen diesen Interessen und einer objektiven Beurteilung des Wohlergehens dieser Person durch Dritte, etwa wenn Dritte die Erhaltung der Gesundheit der Person als erheblich wertvoller einschätzen als deren Freude zu rauchen. Aber dieses Beispiel zeigt schon, dass es hier nicht um einen rein logischen Widerspruch oder ein faktisch widersprüchliches Verhalten gehen kann, sondern nur um einen Wertungswiderspruch. Dann muss aber wiederum zwischen den Interessen der Person und der Beurteilung durch Dritte eine Wertentscheidung getroffen werden. Man muss also entscheiden, was einem wichtiger ist, die eigene Gesundheit oder die Freuden des Rauchens. Und diese Entscheidung ist keineswegs eindeutig. Manch einer wird auch bei voller Information über die Fakten den langjährigen Genuss des Rauchens einer sehr wahrscheinlichen Lebensverlängerung vorziehen. Der normative Individualismus fordert, dass diese Wertentscheidung durch die betroffenen Individuen selbst getroffen wird und nicht durch Dritte. Insofern kann es keine Rechtfertigung geben, irrationale Belange von vornherein auszuschließen. Bei stark andergerichteten Interessen hat man den Eindruck, dass sich jemand um Dinge kümmert, die ihn nichts angehen. Aber unser Leben umfasst nicht zuletzt das Zusammenleben mit anderen und damit auch die Bezugnahme von Interessen auf diese Anderen. Die Grenze zu zweifellos berechtigten Interessen ist insofern schwer zu ziehen. Man wird es klarerweise nicht ausschließen, wenn sich eine Mutter um das Wohl ihres Kindes sorgt. Aber wo hört die berechtigte Sorge auf und wo beginnt die unberechtigte Einmischung? Eine Entscheidung darf hier nicht schon durch Restriktion des Interessenbegriffs, also beim zweiten Element der ethischen Rechtfertigung, getroffen werden, sondern muss beim fünften Element der Abwägung mit den Belangen der betroffenen Anderen erfolgen. Je älter und selbständiger ein Kind ist, desto gewichtiger sind seine Interessen an einer selbständigen Lebensführung. Im obigen Beispiel des Interesses eines Nachbarn, den Anderen dazu zu bringen, seine Wohnung aufzuräumen, ist wenig zweifelhaft, dass das Interesse des Anderen, die Gestaltung seiner eigenen vier Wände selbst
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
zu bestimmen, Vorrang haben wird. Es besteht also kein Grund, auf Andere gerichtete Interessen von vornherein nicht zu berücksichtigen. Bei fremdschädigenden oder verbrecherischen Interessen gilt Vergleichbares. Diese Klasse von Belangen kann nicht von vornherein ausgeschieden werden, weil umstritten ist, welche Belange fremdschädigend oder verbrecherisch sind. Manche dieser Belange sind in der Abwägung doch berechtigt, etwa das Interesse, gegenüber einem Angreifer Notwehr zu üben. Der Ausschluss derartiger Interessen muss also ebenfalls auf der Ebene der Abwägung erfolgen, nicht schon bei der fundamentaleren Anerkennung als moralisch relevante Eigenschaft. Man kann zusammenfassen: Der normative Individualismus fordert, die Individuen mit ihren ethisch relevanten Eigenschaften soweit wie möglich zu berücksichtigen. Sie sollen selbst entscheiden, was ihnen wichtig und was ihnen unwichtig ist. Deshalb kann keine dieser Einschränkungen der moralisch relevanten Belange überzeugen, sofern sich einzelne Belange nicht innerhalb eines einzigen Individuums widersprechen. Nach dieser Erörterung des zweiten Elements einer adäquaten normativen Ethik ist es nun möglich, das Prinzip des normativen Individualismus weiter zu konkretisieren: Alle Handlungen, die Andere betreffen, finden ihre letzte Rechtfertigung ausschließlich in den aktuellen konkreten, generellen abstrakten, früheren, mutmaßlichen oder hypothetischen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen (in dieser Reihenfolge), also den intern widerspruchsfreien Belangen bzw. Interessen aller von der jeweiligen Handlung betroffenen Individuen.
7. Menschenwürde und Autonomie Als moralisch relevante Eigenschaft werden nicht selten auch die Menschenwürde und die Autonomie angesehen. Deshalb muss man sich die Frage stellen, wie ihr Verhältnis zu den bereits bejahten moralisch relevanten Eigenschaften der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, also der Belange bzw. Interessen ist? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, den Begriff der Würde zu analysieren.32
a)€Zufällige und notwendige Würde Zunächst lässt sich eine zufällige (kontingente, externe) von einer notwendigen (inhärenten, internen) Würde unterscheiden.33 In der Literatur wird vergleichbar von „Leistung“ und „Mitgift“ gesprochen.34 Die zufällige (kontingente), auf der Leistung des Würdeinhabers 32 Vgl. zum Folgenden: Verf., Tierwürde nach Analogie der Menschenwürde, in: Michael Brenner (Hg.), Tiere beschreiben, Erlangen 2003, 105–123. 33 Vgl. dazu Philipp Balzerâ•›/â•›Klaus P. Rippeâ•›/â•›Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: BeÂ� griffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, Freiburg 1998, S.€17. 34 Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, Archiv für öffentliches Recht 118 (1993), S.€353–377.
7. Menschenwürde und Autonomie
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beruhende Würde bzw. Anerkennungswürdigkeit ist eine veränderliche Eigenschaft. Sie besteht in dem Ausdruck der Gelassenheit, der inneren Unabhängigkeit, des In-sichselbst-Ruhens gegenüber äußeren Veränderungen und Anfechtungen.35 Dabei ist in unterschiedlichen Situationen verschieden würdevolles Verhalten möglich. Im Laufe eines Lebens kann man eine solche kontingente Anerkennungswürdigkeit erwerben, aber auch wieder verlieren. Daraus folgt praktisch, dass die Eigenschaft der zufälligen Würde ungleich verteilt ist und ungleich ausgeübt wird.36 Die kontingente Würde umfasst einen ästhetischen Teil, etwa die Gravität, Monumentalität und das In-Sich-Ruhen einer Person, einen institutionell-sozialen Teil, etwa die Würde eines Amtes als Minister oder Bischof oder der öffentlichen Stellung (dies war die Urbedeutung von lat. „dignitas“37), und einen expressiven Teil des würdevollen Verhaltens, etwa die Hinnahme einer Niederlage oder eines Verlustes mit Gelassenheit und innerer Unabhängigkeit. Dabei ist allerdings klar zwischen der zufälligen Eigenschaft der kontingenten Würde und der Fassung dieser Würde als ethischem Belang zu unterscheiden. Die kontingente Würde kann als bloße faktische Eigenschaft nicht selbst normative Quelle ethischer Verpflichtungen sein. Man kann die Rolle der bloß faktischen Eigenschaft der kontingenten Würde mit der des Hungers vergleichen. Eine ethische Hilfspflicht besteht gegenüber tatsächlich Hungernden. Der Hunger ist also eine notwendige Bedingung der ethischen Hilfspflicht. Er ist aber nicht selbst die normative Quelle der Verpflichtung. Die kontingente Würde kann in ähnlicher Weise Bedingung und damit Inhalt einer ethischen Verpflichtung sein. Wer etwa in seinem Amt nicht die amtsgemäße Würde wahrt, kann von Anderen nicht verlangen, seine Würde als Amtsinhaber zu achten. Die Verpflichtung zum Respekt gegenüber dem Amtsinhaber resultiert aber nicht aus seinem zufälligen Verhalten. Das kontingente Würdeverhalten als solches kann also nicht Teil der letzten normativ-ethisch relevanten Eigenschaften sein. Die letzten normativ-ethisch relevanten Eigenschaften können€– sieht man von einer transzendent-religiösen Ebene ab€– nur die Belange bzw. Interessen der betroffenen Individuen sein. Diese Belange bzw. Interessen bedürfen eines Inhalts. Und ein möglicher Inhalt ist auch die kontingente Würde. Allerdings ist die veränderliche Eigenschaft der kontingenten Würde nur ein ethischer Inhalt unter vielen und keinesfalls der wichtigste. Vorrangig ist zu verhindern, dass Menschen getötet, verletzt oder geschä-
35 Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Robert Spaemannâ•›/â•›Ernst-Wolfgang BöckenÂ� förde (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen€ – säkulare Â�Gestalt€ – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, S.€295–313, S.€299. Vgl. zu einer prägnanten phänomenalen Analyse: Aurel Kolnai, Dignity, in: Robin S.€Dillon (Hg.), Dignity, Character, and Self-Respect, New York 1995, S.€53–75, S.€66: „Undignified is everything antithetic to distance, discretion, boundaries, articulation, individuation and autonomy.“ 36 Philipp Balzerâ•›/â•›Klaus P. Rippeâ•›/â•›Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, S.€19. Ebenso: Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, S.€304. 37 Vgl. Bernhard Giese, Das Würde-Konzept. Eine normfunktionale Explikation des Begriffs Würde in Art. 1 Abs. 1 GG, Berlin 1975, S.€23â•›ff.
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
digt werden, weil dies wichtigere Belange missachtet. Die veränderliche Eigenschaft der Würde ist also als Interesse ethisch zu berücksichtigen. Sie stellt dann aber regelmäßig nur einen mittelwichtigen Belang unter vielen dar. Diese Einsicht findet eine Parallele in der rechtsphilosophischen und verfassungsrechtlichen Diskussion. Die Qualifikation der Würde als „Leistung“ konnte sich als Interpretation des Würdeschutzes in Art. 1 des Deutschen Grundgesetzes nicht durchsetzen. Sie wird im Wesentlichen nur von Sozialwissenschaftlern vertreten, die jede normative Ethik ablehnen.38
b) Die notwendige Würde Angesichts der Schwäche der kontingenten Würde in der Menge ethischer Belange muss der Schwerpunkt der Frage nach der Menschenwürde auf der anderen Möglichkeit eines Würdeschutzes liegen, auf der notwendigen (inhärenten) Würde bzw. der Würde als „Mitgift“. Damit ist allerdings selbstredend nicht die noch bis ins 18.€Jahrhundert bei Burke und selbst noch an einigen peripheren Stellen bei Kant mit „dignitas“ bezeichnete soziale Würde der Mitglieder höherer Stände gemeint,39 sondern die in der christlichen Tradition, aber auch seit der Renaissance angenommene, allen Menschen zukommende Menschenwürde.40 Dabei lassen sich prinzipiell drei Alternativen unterscheiden: Nach der ersten Alternative findet die ethische Verpflichtung zur Berücksichtigung des Menschen ihre Quelle in der Menschenwürde. Nach der zweiten Alternative ergibt sich mit der inhärenten Menschenwürde quasi ein zusätzlicher Aspekt der ethischen Verpflichtung zur Berücksichtigung des Menschen. Die dritte Auffassung lehnt schließlich die Menschenwürde als eigenständige Quelle oder auch nur eigenständigen Aspekt ethischer Verpflichtung ab. Sie verzichtet dann entweder ganz auf die Berücksichtigung der Menschenwürde in der Ethik oder sie behauptet, dass die ethische Verpflichtung zur Berücksichtigung des Menschen und seiner Menschenwürde identisch sind, womit sich eine eigenständige Berücksichtigung der Menschenwürde ebenfalls erübrigt. Für die Auffassung, dass die Menschenwürde die Quelle ethischer Verpflichtung sei, lassen sich überraschenderweise kaum signifikante Vertreter finden. Im Rahmen religiös inspirierter Ethiken ist die Menschenwürde zwar wichtig. Quelle der ethischen Verpflichtung sind aber göttliche Gebote oder zumindest eine gottgegebene Eigenschaft des Menschen, etwa die Gottesebenbildlichkeit, nicht aber eine rein inhärente Qualität.
38 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin 1965, S.€53â•›ff. 39 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S.€328. Vgl. dazu Michael J. Meyer, Kant’s Concept of Dignity and Modern Political Thought, History of European Ideas 8 (1987), S.€319–332. 40 Vgl. dazu Kurt Bayertz, Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 81 (1995), S.€465–481; ders., Human Dignity: Philosophical Origin and Scientific Erosion of an Idea, in: ders. (Hg.), Sanctity of Life and Human Dignity, Dordrechtâ•›/â•›Bostonâ•›/â•›London 1996, S.€73–90.
7. Menschenwürde und Autonomie
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Deshalb wird die dignitas in der Ethik des Thomas von Aquin zur essentiellen Eigenschaft und spielt eine gewisse, aber keine alles fundierende Rolle.41 Folgerichtig formuliert SpaeÂ�mann: „Weil der Mensch als sittliches Wesen Repräsentation des Absoluten ist, darum und nur darum kommt ihm das zu, was wir ‚menschliche Würde‘ nennen.“42 Die Renaissance hat dann zwar die Würde des Menschen unabhängig von unmittelbaren religiösen Bezugnahmen zu einem wesentlichen Faktor ihrer Anthropologie gemacht. Aber sie hat keine wirkmächtige Ethik auf dieser Grundlage entfaltet. Kant hat schließlich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 die Würde des Menschen betont.43 Dies hat manche Interpreten dazu veranlasst, der Würde des Menschen eine zentrale Rolle in der kantschen Ethik zuzuerkennen.44 Dabei erscheint jedoch schon philosophiehistorisch Vorsicht geboten.45 Zunächst spricht gegen diese zentrale Rolle, dass der Begriff der Würde in Kants Ausarbeitung der Ethik, in der Kritik der praktischen Vernunft von 1788, nicht mehr auftaucht. Er erscheint erst wieder 1798 in der Metaphysik der Sitten und zwar dort ausschließlich im zweiten Teil, in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre. Aber auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wird der Begriff der Würde erst sehr spät eingeführt, nämlich im Rahmen der Entfaltung der dritten Formel des Kategorischen Imperativs. Der Würdebegriff wird zwar nicht selten mit der zweiten Formel des Kategorischen Imperativs „Handle so, dass Du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“46 in Verbindung gebracht.47 Dies geschieht im Übrigen auch in der von vielen akzeptierten Interpretation48 des Menschenwürdegebots in Art. 1 des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht als 41 Thomas von Aquin, Summa Theologica I, qu. 29 a 3; vgl. Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, Tübingen 1997, S.€180–184; Bernhard Giese, Das Würde-Konzept. Eine normfuktionale Explikation des Begriffs Würde in Art. 1 Abs. 1 GG, S.€27; J. Lenz, Die Personwürde des Menschen bei Thomas von Aquin, Philosophisches Jahrbuch 49 (1936), S.€139–166. 42 Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, S.€304. 43 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€434â•›ff. 44 Neil Roughley, Artikel „Würde“, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Bd. 4, Sp-Z, Stuttgartâ•›/â•›Weimar 1996, S.€784–787, S.€784; Josef Santeler, Die Grundlegung der Menschenwürde bei I. Kant, Innsbruck 1962. 45 Vgl. zum Folgenden ausführlich: Verf., Zur Würde des Menschen bei Kant, in: Recht und Sittlichkeit bei Kant, Jahrbuch für Recht und Ethik 14, hg. von Sharon Byrd u.â•›a., Stuttgart 2006, S.€501–517. 46 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€429. 47 Beat Sitter-Liver, „Würde der Kreatur“: Grundlegung, Bedeutung und Funktion eines neuen Verfassungsprinzips, in: Julian Nida-Rümelinâ•›/â•›Dietmar von der Pfordten (Hg.), Ökologische Ethik und Rechtstheorie, 2.€Aufl. Baden-Baden 2002, S.€355–364, S.€359. Auch Norbert Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, Juristische Schulung 23 (1983), S.€93–96, S.€93, setzt ohne Bezug auf die zweite Formel „Würde“ und „Selbstzweckhaftigkeit“ gleich. 48 Urheber ist Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, Archiv des öffentlichen Rechts 81â•›/â•›2 (1956), S.€117–157, S.€128: „Es verstößt gegen die Menschenwürde als solche, wenn der konkrete Mensch zum Objekt eines staatlichen Verfahrens gemacht wird.“; ders., in: Theodor Maunzâ•›/â•›Günter Dürig (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München 2001, Art. 1, Rn 28. Vgl. Tatjana Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff. Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art.€1 Abs.€1 Grundgesetz, Berlin 1990, S.€31â•›ff.
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Verbot der Verobjektivierung des Menschen (sog. Objektformel).49 Aber Kant erwähnt im Rahmen der Entfaltung dieser zweiten Formel des Kategorischen Imperativs den Würdebegriff gar nicht.50 Das kann kein Zufall sein, sondern lässt sich erklären. Die zweite Formel des Kategorischen Imperativs gebietet zwar die Anerkennung Anderer und des Handelnden selbst als Zweck. Aber dies geschieht aus der Perspektive des einzelnen Handelnden. Erst im Rahmen der Betrachtung des Reichs der Zwecke wird die Perspektive eines nicht selbst verpflichteten, gottgleichen Beobachters eingenommen, der nicht explizit Adressat des Kategorischen Imperativs ist. Nur im Rahmen dieser gottgleichen Perspektive, der Kant im Gegensatz zur Kategorie der „Vielheit“ für die zweite Formel die Kategorie der „Allheit“ zuordnet,51 erwähnt er die Würde des Menschen.52 Worin besteht nun aber der Unterschied zwischen Zweckhaftigkeit an sich und Würde des Menschen? Kant bestimmt die Würde als Eigenschaft eines vernünftigen Wesens, „das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“.53 Entscheidend ist also, dass jedes würdebegabte Wesen selbst Autor seiner ethischen Einschränkungen ist. Dies ist mit der Selbstzweckformel noch nicht notwendig ausgesagt, denn die Selbstzweckformel behauptet nur, dass der Handelnde andere nicht zum beliebigen Mittel machen darf. Warum er Andere nicht zum beliebigen Mittel machen darf, aus welcher Quelle also die Verpflichtung zur Berücksichtigung der eigenÂ�ständigen Zwecke Anderer resultiert, ist damit nicht festgelegt. Denn es ist ja nicht notwendig, dass die Pflicht zur Beachtung eigenständiger Zwecke Anderer von dem Anderen als Inhaber dieser Zwecke selbst herrührt. Denkbar wäre etwa auch eine Verpflichtung durch göttliche Gebote. Die Selbstzweckformel als zweite Formel des Kategorischen Imperativs behauptet also nichts anderes als die Notwendigkeit der ethischen Berücksichtigung des Menschen um seiner selbst willen.
49 BVerfGE 5, 85 (204); 7, 198 (205); 27, 1 (6): „Es widerspricht der Menschenwürde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen.“; 28, 386 (391); 45, 187 (228); 50, 166 (175); 56, 37 (43). Vgl. Christian Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, Juristenzeitung 36 (1981), 457–464. 50 Insofern unverständlich bzw. unzutreffend: Philipp Balzerâ•›/â•›Klaus P. Rippeâ•›/â•›Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, S.€23. Die angegebene Stelle BA 79, 80 enthält die zweite Formel gar nicht, sondern den Rest der dritten Formel und eine Zusammenfassung aller Formeln. Im Rahmen der zweiten Formel bei BA 66â•›ff. wird die Würde definitiv nicht erwähnt. 51 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€436. 52 Allerdings erfolgt 14 Jahre später in der Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, eine Identifizierung von Würde und Selbstzweckhaftigkeit: Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, S.€462: „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) blos als Mittel sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt.“ Der Klammerzusatz „die Persönlichkeit“ hinter der Erwähnung der Würde deutet aber an, dass der Würdebegriff hier anders als in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ gebraucht wird. Norbert Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, S.€96, lässt den Klammerzusatz „(die Persönlichkeit)“ bezeichnenderweise weg. 53 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€434.
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Erst die Einordnung des Menschen in das Reich der Zwecke schließt andere normative Quellen aus, etwa die Quelle der ethischen Verpflichtung jenseits des jeweils Betroffenen in Gott. Dies geschieht auf zweifache Weise: Zum einen ermöglicht die Einordnung des einzelnen Menschen in das Reich der Zwecke die Behauptung der Vollständigkeit der zwecksetzenden Wesen. Das Reich der Zwecke stellt ein „Ganzes aller Zwecke“ dar.54 Zum anderen wird in das Reich der Zwecke auch Gott als Möglichkeit integriert. Während sich die Selbstzweckformel eindeutig nur auf die „Menschheit“ bezieht, so besteht nach Kant das „Reich der Zwecke“ nicht nur aus „Gliedern“, die zwar allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen sind, sondern auch aus einem „Oberhaupt“, das als gesetzgebend keinem Willen eines Anderen unterliegt.55 Während in der christlichen Tradition die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott als Quelle der Menschenwürde angesehen worden war,56 konstruiert Kant die Würde des Menschen nunmehr als Gleichheit der Menschen mit Gott als moralische Gesetzgeber in einem gemeinsamen Reich der Zwecke. Allerdings führt diese KonstrukÂ� tion des Reichs der Zwecke zum Postulat, dass nur vernünftige Wesen in ihm gesetzgebend sein können. Da Tiere nicht in diesem anspruchsvollen Sinne vernünftig sind, kann ihnen die Stellung eines gesetzgebenden Gliedes im Reich der Zwecke nicht zugebilligt werden. Sie können also nach Kant nicht wie die Menschen eine inhärente, moralisch relevante Würde in Anspruch nehmen. Für Kant besteht keine direkte ethische Verpflichtung gegenüber Tieren, sondern nur gegenüber Menschen.57 Die Differenz zwischen der Eigenschaft der Selbstzweckhaftigkeit und der Selbstgesetzgebung als Voraussetzung der Würde wird an verschiedenen Stellen deutlich. So schreibt Kant: „das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.â•›i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d.â•›i. Würde.“58 Die Würde wird hier also als „Bedingung“ der Selbstzweckhaftigkeit angesehen. Und an einer anderen Stelle heißt es: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“59 Die Selbstgesetzgebung, die Autonomie des Menschen, ist somit das Fundament der kantschen Ethik. Im Zusammenhang eines Reichs der Zwecke konstituiert diese Selbstgesetzgebung die Würde des Menschen. Sie führt in der einzelnen ethischen Konfliktsituation zur Verpflichtung, die Selbstgesetzgebung des anderen oder seiner selbst als Teil der Menschheit zu achten. Für Kant sind von den Lebewesen nur Menschen um ihrer selbst willen zu berücksichtigen und nur Menschen kommt Würde zu. Aber die Würde ist nicht der letzte Grund der ethischen Verpflichtung. Der letzte Grund 54 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€433. 55 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€433. 56 Vgl. für eine Formulierung dieser Auffassung Josef Santeler, Die Grundlegung der Menschenwürde bei I.€Kant, S.€282. 57 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S.€442. Vgl. Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, S.€42â•›ff. 58 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€435. 59 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€436.
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der ethischen Verpflichtung liegt vielmehr in der Fähigkeit des Menschen zur Selbstgesetzgebung, im „Faktum der Vernunft“60 bzw. im „moralischen Gesetz in mir“61. Die Würde ist ein Resultat dieses letzten Grundes der ethischen Verpflichtung, nämlich der Stellung des Menschen im Reich der Zwecke als gesetzgebend. Die Verpflichtung zum Respekt gegenüber der Selbstzweckhaftigkeit gemäß der zweiten Formel des Kategorischen Imperativs ist dagegen ein Resultat dieses letzten Grundes aus der Perspektive der unmittelbaren Handlungsnormierung im einzelnen Konfliktfall. Diese Auffassung Kants von der Grundlage ethischer Verpflichtung ist aber sachlich zweifelhaft.62 Die Annahme des moralischen Gesetzes im Menschen und damit seiner Autonomie in einem starken Sinne ist hoch metaphysisch und damit problematisch. Der Mensch besitzt zwar im Gegensatz zu Tieren Vernunft. Er allein ist in der Lage, seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele umfassend vernünftig zu relativieren, indem er auf einer zweiten Stufe Ziele und Wünsche bezüglich Bedürfnissen, Wünschen und Zielen der ersten Stufe bildet. Deshalb kann er im Gegensatz zu Tieren moralisch handeln, also ethischer bzw. moralischer Akteur (moral agent) sein, nicht nur ethisch bzw. moralisch Betroffener (moral patient). Er ist nicht nur selbst ethisch bzw. moralisch zu berücksichtigen, sondern muss auch andere Wesen ethisch bzw. moralisch berücksichtigen. Er ist in der Lage, seine Bedürfnisse, Wünsche und Ziele der ersten Stufe zugunsten ethischer Gesichtspunkte zu relativieren. Aber damit ist nicht begründet, warum nur die Interessen auf der zweiten Stufe oder die Inhaber derartiger Interessen zweiter Stufe ethische Berücksichtigung verdienen. Auch die Belange zweiter Stufe sind nur normativ zu berücksichtigende Eigenschaften im moralischen Konflikt wie die Belange erster Stufe. Sie verdienen deshalb ethisch keine alleinige oder auch nur generell bevorzugende Behandlung.
c) Kritik weiterer Konzeptionen Externe bzw. intersubjektive Deutungen der Menschenwürde verringern ihre Gewichtigkeit im Vergleich zu unseren höchstrangigen Belangen wie Leben, Gesundheit sowie geistiger und körperlicher Unversehrtheit. Sie machen die Menschenwürde damit zu einem Interesse, das wie die kontingente Würde stark relativierbar ist. Dies gilt etwa für die Auffassung, die Menschenwürde werde durch die Anerkennung von Seiten Anderer konstituiert63 oder sie bestehe in der äußeren Repräsentation von Selbstrespekt64 60 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 56, S.€31. 61 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 288, S.€161. 62 Vgl. Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, S.€42â•›ff., zu einer Kritik. 63 Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde; Peter Baumann, Menschenwürde und das Bedürfnis nach Respekt, in: Ralf Stoecker (Hg.), Menschenwürde. Annäherung an einen Begriff, Wien 2003, S.€19–34, S.€26–29. 64 Vgl. Avishai Margalit, The Decent Society, Cambridge 1996, S.€ 51â•›ff.; Julian Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005, S.€131â•›ff.
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und führe daher zur Forderung nach nichtdemütigender, die Selbstachtung wahrender Behandlung durch Andere. Niemand wird bestreiten, dass wir ein berechtigtes Interesse haben, von Anderen anerkannt und respektvoll behandelt zu werden. Dieses ohne Frage berechtigte und hochrangige Interesse mit der Menschenwürde zu identifizieren, erscheint aber doch aus drei Gründen problematisch: Zum Ersten kennen wir respektloses Verhalten Anderer, von dem wir nicht annehmen, es verletze unsere Menschenwürde. Stibitzt etwa jemand einem Anderen ohne weiteres etwas vom Teller, so wird man das als respektlos und in bestimmten Fällen demütigend ansehen, ohne ernsthaft eine Verletzung der Menschenwürde annehmen zu können. Oder wenn jemand abfällige Bemerkungen über einen nichtanwesenden Dritten macht, so ist das respektlos, tangiert aber im Normalfall nicht dessen Menschenwürde. Zum Zweiten hat eine derartige externe und intersubjektive Auffassung der Menschenwürde Schwierigkeiten, die Bejahung der Menschenwürde in bestimmten Lebensstufen bzw. Lebensformen zu erklären, etwa bei geistig Schwerstbehinderten, Komatösen und Neugeborenen. Diese Menschen haben kein aktuelles und bewusstes Bedürfnis nach Anerkennung oder Respekt (bei der ersten Gruppe muss das natürlich jeweils im Einzelfall geprüft werden). Zum Dritten steht eine derartige externe bzw. intersubjektive Deutung der Menschenwürde, welche diese zu einem Belang der in Kapitel€V noch zu erläuternden Relativzone unserer Interessen herabstuft, zu unseren Grundannahmen über ihren Status im Gefüge unserer Belange im Widerspruch. Zum einen glauben wir, dass die Menschenwürde in der Wertigkeit zumindest auf einer Ebene mit Leben, Gesundheit und geistiger wie körperlicher Unversehrtheit liegt (was nichts über ihre eventuelle Abwägbarkeit aussagt). Zum anderen stellen alle neueren Verfassungs- bzw. Menschenrechtsordnungen die Menschenwürde entweder über oder zumindest neben diese wichtigsten Belange der Menschen.65 Man muss aus diesen drei Einwänden den Schluss ziehen, dass die Menschenwürde nicht extern bzw. intersubjektiv, sondern intern und individuell zu verstehen ist. Sie ist unseren wichtigsten Belangen wie Leib und Leben wenigstens gleichzustellen. Nach einer anderen Auffassung66 soll die Menschenwürde mit einer Gruppe unabdingbarer Rechte verbunden sein, erstens einer Versorgung mit den zur biologischen Existenz notwendigen Gütern, zweitens einer Freiheit von starken und andauernden Schmerzen, drittens einer minimalen allgemeinen Freiheit, viertens einem minimalen Selbstrespekt. Es dürfte nicht zweifelhaft sein, dass diese Belange bzw. Rechte wesentlich sind und Berücksichtigung verdienen. Aber es ist doch fraglich, warum gerade diese Rechte unter der Bezeichnung „Menschenwürde“ zusammengeführt werden sollen. Das Gemeinsame und gleichzeitig Spezifische der Menschenwürde scheint damit nicht getroffen.67 65 Vgl. Art. 1 I des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ UN-Charta; EUGrundrechtecharta. 66 Dieter Birnbacher, Ambiguities in the Concept of Menschenwürde, in: Kurt Bayertz (Hg.), Sanctity of Life and Human Dignity, Dordrechtâ•›/â•›Bostonâ•›/â•›London 1996, S.€107–121, S.€110â•›ff. 67 Vgl. zu einer Kritik auch Philipp Balzerâ•›/â•›Klaus P. Rippeâ•›/â•›Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, S.€27.
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
Dagegen wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass die Verletzung der Menschenwürde eine besondere Erniedrigung und Herabsetzung erfordert.68 Die Menschenwürde impliziert ein Recht, nicht erniedrigt zu werden. Aber was heißt das genauer? Jemand ist erniedrigt, wenn er sich selbst nicht achten kann. Die Würde eines Menschen besteht also in seiner Selbstachtung. Das erscheint einleuchtend. Allerdings reicht diese Bestimmung nicht hin. Die Selbstachtung ist ja nichts anderes als eine Selbstbewertung. Diese Selbstbewertung kann sich aber auf alles Mögliche beziehen. Jemand kann zum Beispiel seine Selbstachtung verlieren, wenn er ein Examen nicht besteht oder eine Sportart nicht so erfolgreich ausübt, wie er sich das wünscht. In diesen Fällen wird man aber nicht davon sprechen wollen, dass er in seiner Menschenwürde verletzt wurde. Die Erniedrigung und Herabsetzung muss sich deshalb auf eine bestimmte zentrale Eigenschaft des Menschen richten, die bei jedem Menschen einen wesentlichen und unabdingbaren Teil der Selbstachtung ausmacht.
d) Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange Die Antwort auf die Frage nach der Menschenwürde sollte von der ethischen Grundeinsicht des normativen IndiÂ�viÂ�dualisÂ�mus ausgehen: Wenn ausschließlich Individuen die letzte ethisch rechtfertigende Instanz sein können und wenn sie über die rechtfertigenden Eigenschaften im Prinzip autonom entscheiden, dann können und dürfen konkretere typisierte Belange wie Leib, Leben sowie körperliche und geistige Unversehrtheit usw. die Menge der möglichen Belange nicht ausschöpfen. Der erste und wichtigste Belang ist vielmehr auf einer sekundären Ebene das Ziel und der Wunsch bzw. das Interesse, primäre Belange, das heißt Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen zu haben. Der Schlüssel zum Verständnis der notwendigen (inhärenten) Menschenwürde liegt damit in einer wichtigen Einsicht, die schon en passant in Kapitel€II, 2 bei der Frage nach den moralisch relevanten Eigenschaften erwähnt wurde. Dort war festgestellt worden, dass es zwischen den vier moralisch relevanten Eigenschaften, also den Zielen, den Wünschen, den Bedürfnissen und den Strebungen einen fundamentalen Unterschied gibt: Strebungen und Bedürfnisse können sich nicht auf andere Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele beziehen. Es gibt also keine Strebungen nach Strebungen und keine Bedürfnisse nach Strebungen oder Bedürfnissen. Aber es gibt sekundäre Wünsche und Ziele mit Bezug auf primäre Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele. Wir können also etwa den Wunsch entwickeln, häufiger das Bedürfnis nach Sport zu haben oder den Wunsch nach schöner Musik zu entfalten. Und wir können das Ziel ausprägen, unser Bedürfnis nach Schlaf zu verringern, unseren Wunsch nach Süßspeisen einzuschränken und uns ehrgeizigere ökologische Ziele zu stecken. Wünsche und Ziele sind somit im Gegensatz zu Bedürfnissen und Strebungen iterierbar bzw. mögliche Eigenschaften zweiter 68 Philipp Balzerâ•›/â•›Klaus P. Rippeâ•›/â•›Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, S.€29.
7. Menschenwürde und Autonomie
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Ordnung gegenüber anderen moralisch relevanten Eigenschaften. Ein Grund liegt vielleicht darin, dass nur Wünsche und Ziele immer notwendig intentional sind, während die Intentionalität bei Bedürfnissen zweifelhaft bzw. kontingent ist. Nur weil Wünsche und Ziele intentional sind, können sie sich auf andere moralisch relevante Eigenschaften beziehen. Die Intentionalität ist dabei nicht nur eine repräsentierende, sondern auch eine bewertende. Wir haben also mit unseren Wünschen und Zielen die Fähigkeit, uns nicht nur repräsentierend auf die anderen moralisch relevanten Eigenschaften zu beziehen, sondern auch bewertend. Wir können auf diese Weise zwischen unseren moralisch relevanten Eigenschaften eine eigene, subjektive Rangordnung herstellen. Wir können etwa das Ziel, einen Brief zu beenden, dem Bedürfnis, etwas zu essen, überordnen. Die Menschenwürde besteht in der Selbstbestimmtheit und Offenheit der Entscheidung, das heißt dem Verhältnis der Wünsche und Ziele zweiter und gegebenenfalls höherer Ordnung hinsichtlich der eigenen Belange erster bzw. niederer Ordnung.69 Ein wesentlicher Teil unseres Selbstverständnisses und unserer Selbstachtung beruht auf dieser Selbstbestimmtheit und Offenheit unserer Entscheidungen über unsere Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen. Das Bedürfnis nach Anerkennung dieses Selbstverständnisses und dieser Selbstachtung ist dann nur eine sekundäre Folge der solchermaßen verstandenen Menschenwürde, nicht jedoch ihre Grundlage. Die Auffassung der Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange passt sehr gut zur häufigen€– wenn auch textinterpretatorisch für Kant zur Zeit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht gerechtfertigten70€– Identifikation des Menschenwürdebegriffs mit dem Verbot der ausschließlichen Instrumentalisierung des Menschen in Kants zweiter Formel des Kategorischen Imperativs.71 Fragt man sich, was es überhaupt bedeuten kann, den Anderen ausschließlich als Mittel anzusehen, so wird es hierfür nicht genügen, einzelne ethisch relevante Eigenschaften, das heißt Belange erster Stufe zu missachten. Werden dagegen die aktuellen oder wenigstens potentiellen Wünsche und Ziele hinsichtlich eigener Belange, also die ethischen Eigenschaften zweiter Stufe negiert, dann impliziert das auch eine vollständige Missachtung aller Belange erster Stufe, denn wenn jemand nicht einmal mehr über seine Wünsche und Ziele bezüglich seiner eigenen Belange entscheiden darf, dann sind auch alle Belange erster Stufe als eigenständige entwertet. Wer also die Belange zweiter Stufe negiert, verneint auch alle Belange erster Stufe, selbst wenn er dies nicht für jeden einzelnen Belang erster Stufe selbständig und direkt tut. Auf diese Weise wird verständlich, wie ein Anderer vollständig instrumentalisiert werden kann.
69 Harry Frankfurt, Freedom Of the Will and the Concept of a Person, in: ders., The Importance Of What We Care About, Cambridge 1988, S.€11–25, hat für den Begriff der Person Wünsche zweiter Ordnung für kennzeichnend gehalten, die sich auf handlungsmotivierende Wünsche erster Ordnung beziehen, also einen Willen (second-order volitions). 70 Vgl. oben und Verf., Zur Würde des Menschen bei Kant. 71 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€429: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
Die Interpretation der Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange kann auch sehr gut erklären, warum die Menschenwürde in den Normen und Regeln der Moral und des Rechts, etwa den Verfassungen, erst sehr viel später als der Schutz von primären Belangen wie Leben, Leib, Freiheit und Eigentum auftritt. Wie bei allen Metaphänomenen ist auch beim Phänomen der Selbstbestimmung über die eigenen Belange eine abstraktere und damit weiter gehende Reflexion erforderlich, die zunächst die Erkenntnis und den Schutz der konkreteren Belange der ersten Stufe, wie Leben, Leib, Freiheit und Eigentum voraussetzt. Die Würde als die Fähigkeit des Menschen (oder anderer Lebewesen), sich gegenüber den eigenen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen noch einmal auf einer Metaebene vernünftig bzw. potentiell vernünftig bewertend verhalten zu können, ist als wesentliche Grundlage der Selbstachtung eine Fähigkeit des In-Sich-Ruhens und der inneren Unabhängigkeit besonderer Art. Diese Fähigkeit erschöpft sich zwar nicht im Vermögen, moralisch zu handeln, weil die Bedürfnisse, Wünsche und Ziele erster Stufe nicht unbedingt Andere betreffen müssen, sondern sich auch praktisch ausschließlich auf den Akteur beziehen können. Aber sie ist doch eine notwendige Voraussetzung, um moralisch zu agieren, weil jedes genuin moralische Handeln eine derartige Einschränkung eigener Triebe und Neigungen auf einer Metaebene der Bewertung eigener und fremder Wünsche und Interessen voraussetzt. Die Bestimmung der Würde als Bewertungsfähigkeit auf der MetaÂ�ebene gegenüber eigenen und fremden Wünschen und Interessen hat den Vorteil, dass sie keiner starken metaphysischen oder religiösen Annahmen bedarf. Sie kann also auch von metaphysischen Skeptikern und Agnostikern akzeptiert werden. Christen oder anderen Gläubigen wird aber gleichzeitig die Möglichkeit eröffnet, diese Würdebegabung religiös zu interpretieren. Ein wesentlicher Aspekt der spezifischen Gottesebenbildlichkeit bestünde dann in der einzigartigen Fähigkeit des Menschen, Belange auf einer MetaÂ�ebene gegenüber eigenen und fremden Belangen erster Stufe zu entwickeln.
e) Typische Verletzungen: Zwangsernährung, Lügendetektoren, Folter, Sklaverei Fasst man die notwendige, inhärente Würde des Menschen derart als seine aktuelle oder wenigstens potentielle Fähigkeit zum vernünftigen oder wenigstens potentiell vernünftigen Verhalten gegenüber eigenen und fremden Belangen erster Stufe, so lassen sich typische Verletzungen der Würde, wie Zwangsernährung, die Verwendung von LügenÂ� detektoren, die Folter und die Sklaverei erklären. Wenn Häftlinge in Hungerstreik treten, so haben sie eine sehr ungewöhnliche und damit eigenständige Bewertung ihrer Bedürfnisse und Wünsche der ersten Stufe vorgenommen. Sie haben das Höchstbedürfnis der Nahrungsaufnahme zum Lebenserhalt, das normalerweise alle anderen Bedürfnisse überragt, dem sekundären Wunsch nach politischem oder humanitärem Protest untergeordnet. Dies ist ein Akt, der in starkem Maße die Fähigkeit zur Relativierung eigener Bedürfnisse und Wünsche der ersten Stufe
7. Menschenwürde und Autonomie
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auf einer zweiten, übergeordneten Entscheidungsstufe verdeutlicht, also ein Akt, der die eigene Würde, die innere Unabhängigkeit der Gefangenen eminent manifestiert. Die Zwangsernährung unterdrückt diese eigenständige Würdeausübung und Würdemanifestation der Gefangenen und verletzt deshalb deren Menschenwürde€– zumindest solange die Gefangenen bei Bewusstsein sind. Verlieren sie dagegen das Bewusstsein, so verstößt ihre künstliche Ernährung nicht gegen die Menschenwürde, denn dann handelt es sich nicht mehr um eine Zwangsernährung im natürlichen Wortsinn, da kein Zwang mehr ausgeübt werden muss. Allerdings ist auch der einfache Wunsch, selbst im Falle der Bewusstlosigkeit nicht künstlich ernährt zu werden, ethisch, moralisch und rechtlich zu beachten. Vergleichbar wirkt der Einsatz eines Lügendetektors. Wenn Angeklagte lügen, so bewerten sie die eigenen Belange und die Interessen der Anklagebehörde auf einer Metaebene. Sie entscheiden sich gegen die Zusammenarbeit mit der Anklagebehörde und nehmen das Risiko in Kauf, der Unwahrhaftigkeit überführt zu werden. Diese Möglichkeit der Bewertung zweiter Stufe und damit der Ausübung der Menschenwürde wird durch den Lügendetektor abgeschnitten. Deshalb verletzt sein Gebrauch oder der Gebrauch ähnlicher Mittel wie Psychopharmaka die Menschenwürde. Was macht die Folter zu einer Verletzung der Menschenwürde? Sowohl die Zufügung von Leid ohne die Zustimmung des Betroffenen als auch der Zweck der Willensbrechung widersprechen wichtigen Bedürfnissen, Wünschen und Zielen des Betroffenen und sind deshalb schon als solche negativ zu bewerten. Aber es kann bestimmte Situationen geben, in denen eine dieser Formen der negativen Einwirkung auf den einzelnen als gerechtfertigt angesehen werden muss, etwa die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wegen einer Straftat (Zufügung von Leid) oder der unmittelbare Zwang der Polizei zur Gefahrenabwehr (Brechung des Willens). Das Besondere der Folter liegt in der zweckgerichteten Verbindung beider grundsätzlich negativ zu bewertender Arten der Einwirkung, also der instrumentellen Verbindung von physischer oder psychischer Leidzufügung mit der Willensbrechung: Das physische oder psychische Leid wird zugefügt, um den Willen auf einer sekundären Ebene zu brechen. Durch das Leid und den Schmerz drückt der eigene Körper oder die Psyche des Gefolterten dabei nicht wie im Normalfall den eigenen, sondern quasi den fremden Willen des Folterers aus. Der Wille des Gefolterten, nichts preiszugeben, und sein eigener Körper oder seine eigene Psyche, welche das Leid und den Schmerz für den Betroffenen unerträglich machen und so die Preisgabe erzwingen, werden auf diese Weise zueinander in einen für den Betroffenen zerstörerischen Widerspruch gezwungen. Die natürliche Verbindung von Wille und Körper bzw. Psyche wird „auseinandergerissen“. Der Gefolterte erlebt sich durch die Folter in seiner normalen Einheit als freies, willensbestimmtes Geistwesen und als leid- und schmerzempfindliches Körper- und Seelenwesen negiert. Die natürliche Fähigkeit, durch Wünsche und Ziele über die eigenen körperlichen Strebungen und Bedürfnisse zu entscheiden, wird so eliminiert. Im Fall der Sklaverei wird dem Betroffenen jede Möglichkeit genommen, auf einer sekundären Ebene seine primären Belange zu bestimmen.
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
f ) Grenzfälle Man mag an dieser Stelle fragen, ob angesichts dieser Begriffsbestimmung auch Embryonen und Säuglingen sowie geistig Verwirrten inhärente Würde zukommt. Fasst man die Menschenwürde in der soeben erläuterten engen Art und Weise, so kann bei diesen Menschen eine direkte, gegenwärtige Verletzung der tatsächlich bestehenden Fähigkeit zur Bewertung der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen auf einer zweiten Stufe nicht eintreten. Die Belange dieser Menschen sind ethisch zu berücksichtigen, etwa ihr Interesse, am Leben zu bleiben, oder ihr Wunsch nach Freiheit von Schmerzen. Aber sie können nicht in ihrer tatsächlich bestehenden Selbstbestimmung zweiter Stufe beeinträchtigt werden. Allerdings muss man eine Vor- und Nachwirkung der Fähigkeiten zweiter Stufe annehmen. So wie Handlungen, die erst in der Zukunft jemanden schädigen, bereits gegenwärtig moralisch falsch sind, so ist auch bereits bei Embryonen und Säuglingen die künftige Aktualisierung der Fähigkeit zu Bewertungen zweiter Stufe verletzbar, etwa wenn sie konstruiert und selektiert werden. Ebenso wirkt bei geistig Verwirrten und Komatösen die inhärente Würde als Anspruch an andere fort, weil sie ihre Selbstbestimmung jeweils auch auf die Zukunft bis zu ihrem Lebensende und in einigen Aspekten sogar darüber hinaus gerichtet haben. Im Übrigen ist es praktisch nie sicher, dass ein Mensch nicht wieder die Fähigkeit erlangt, seine Selbstbestimmung über seine primären Belange auszuüben. Man muss deshalb annehmen, dass allen Menschen vom Lebensanfang, das heißt auch schon vor der Geburt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, bis zum Lebensende und in einigen Aspekten darüber hinaus eine inhärente Würde zukommt. Die weitergehende Frage, ob die Würde über die Gattung Mensch hinausreicht, wird an anderer Stelle erörtert (Kapitel€XIII, 4).
g) Autonomie Sehr komplex und schwierig ist schließlich der Begriff der Autonomie. Er ist zum einen mit dem Begriff der Menschenwürde verbunden, denn wer die Würde eines Anderen beeinträchtigt, schränkt auch dessen Autonomie ein. Aber der Begriff der Autonomie erschöpft sich nicht in einer Beeinträchtigung der Menschenwürde, denn auch wer einfache Ziele, Wünsche und Bedürfnisse Anderer missachtet, beeinträchtigt deren Autonomie. Anders als der Begriff der Menschenwürde ist der Begriff der Autonomie also nicht auf Belange, das heißt Wünsche und Ziele zweiter Stufe im Verhältnis zu Belangen erster Stufe beschränkt. Er umfasst alle bewussten Belange erster und zweiter Stufe eines Lebewesens. Dies impliziert natürlich auch eine Zusammenfassung und Abwägung zwischen diesen Belangen erster und zweiter Stufe. Jede Beeinträchtigung des Willens ist auch eine solche der Autonomie. Aber hier gilt Vergleichbares wie beim Interessenbegriff. Während man beim Willen wie beim Interesse einen Willen erster und einen Willen zweiter Stufe unterscheiden kann, fasst der Autonomiebegriff beide Stufen zusammen.
8. Die zu berücksichtigenden Eigenschaften und die Handlungsmotivation
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Die bloße Nichtbefriedigung eines Bedürfnisses, die Nichterfüllung eines Wunsches oder die Nichterreichung eines Ziels erster oder zweiter Stufe eines Anderen stellt noch keine Beeinträchtigung seiner Autonomie dar, denn eine solche muss ständig erfolgen, wenn moralisch, rechtlich oder ethisch abgewogen und dann entsprechend gehandelt wird. Wer etwa auf die Einhaltung eines Versprechens verzichten muss, weil der Versprechensgeber einem in Lebensgefahr schwebenden Unfallopfer zu helfen hat, erlebt die Nichterfüllung seines Wunsches, ohne dass seine Autonomie beeinträchtigt wird. Die Beeinträchtigung der Autonomie erfordert also mehr als die bloße inhaltliche Nichterfüllung. Sie setzt die komplette prinzipielle Negation von Bedürfnissen, Wünschen oder Zielen voraus. Wer etwa die Belange eines Anderen bei seinem Handeln nicht einmal berücksichtigt, der schränkt dessen Autonomie ein, weil er diese Belange komplett negiert. Die Autonomie ist schließlich von der Handlungsfreiheit zu unterscheiden. Die Handlungsfreiheit kann auch durch äußere Ereignisse beeinträchtigt werden, etwa durch einen Erdrutsch, der vor einem Autofahrer die Straße blockiert. Der Erdrutsch raubt dem Autofahrer aber nicht seine Autonomie, weil seine Belange nicht komplett formal negiert werden. Er kann etwa wenden und zurückfahren oder aussteigen.
8. Die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften und die Handlungsmotivation Die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften der Individuen, also deren Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen (Belange bzw. Interessen) liefern€– dies muss betont werden€– isoliert noch keinen guten Grund für eine moralische Handlung. Sie können allein noch keinen Akteur zu einer moralischen Handlung motivieren. Die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften der Individuen sind vielmehr zunächst lediglich Teil einer adäquaten ethischen Begründung bzw. Theorie. Nur diese ethische Begründung bzw. Theorie als Ganzes kann sich normativ, das heißt bewertend und verpflichtend, also rechtfertigend und kritisierend, auf die tatsächlich bestehenden Normen, Regeln und Wertungen der Moral beziehen, welche ihrerseits die faktischen Gründe und Motive unserer realen moralischen Einstellungen und unseres realen Handelns bilden. Wenn also beispielsweise Anna ein Versprechen einhält, so tut sie dies häufig, wenn vielleicht auch nicht immer, auch aus Gründen und Motiven der Moral, etwa weil sie der Auffassung ist, dass es moralisch richtig ist, Versprechen einzuhalten (interner Grund), oder weil sie den moralischen Normen ihrer Gesellschaft folgt, die gebieten, Versprechen einzuhalten (externer Grund). Erst wenn sie nach der über das bloße Bestehen einer primären Norm hinausgehenden Verbindlichkeit, das heißt nach der Rechtfertigung oder Kritik ihrer moralischen Auffassung oder der moralischen Normen ihrer Gesellschaft fragt, wird die ethische Begründung bzw. Theorie unmittelbar für ihre Moral und mittelbar für ihre Handlung relevant. Relevant ist dann aber auch die Begründung bzw. ethische Theorie als Ganzes, das heißt alle fünf Elemente als eine Einheit (Einleitung, 3), wovon die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften dann wiederum ein nicht isolierbarer Teil sind. Man darf die normativ zu berücksichtigenden Eigenschaften der Ethik also nicht mit tatsäch-
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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen
lich wirksamen Motiven einer Handlung, seien diese moralische oder nichtmoralische, verwechseln. Erst vermittelt über das kaum bestreitbare Faktum der moralischen Bestimmung menschlicher Handlungen wird die Ethik ihrerseits bestimmend.
9. Eine Bestätigung des normativen Individualismus Am Schluss dieses Kapitels soll eine Reflektion des Zusammenhangs zwischen dem ersten und zweiten Element der hier entfalteten normativen Ethik stehen. Warum können wir nur mit Bezug auf Einzelne fragen, ob eine Handlung wirklich in letzter Instanz gerechtfertigt ist? Ein wesentlicher Grund liegt auch darin, dass Gemeinschaften offensichtlich keine moralisch und ethisch relevanten normativen Eigenschaften wie Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele in einem letzten natürlichen Sinn aufweisen. Niemand würde etwa annehmen, dass ein Unternehmen Strebungen hat, wie etwa ein Mensch, ein Tier oder eine Pflanze. Niemand würde auch behaupten, dass ein Unternehmen als solches Bedürfnisse im natürlichen Sinne hat, so wie wir vom Bedürfnis eines Menschen oder eines Tieres ausgehen. Bedürfnisse sind nun aber ohne Zweifel moralisch relevant (was nicht heißt, dass sie unmittelbar moralische Pflichten erzeugen oder gar allein und ohne weitere Abwägung moralische Tatsachen sind). Und wenn ein Individuum sie oder andere moralisch relevante Eigenschaften nicht aufweist, so kann es selbst nicht moralisch relevant sein. Vergleichbares gilt für Wünsche. Niemand würde annehmen, dass ein Unternehmen eigene letzte Wünsche in einem natürlichen Sinne hat, so wie wir annehmen, dass ein Mensch Wünsche hat. Wünsche setzen immer auch eine konkrete subjektive mentale Verfassung voraus, die wir für Gemeinschaften wie Unternehmen nicht konstatieren können. Das einzige, was man manchen strukturierten und mit Organen versehenen Kollektiven wie Unternehmen, Vereinen, Staaten€ – nicht aber etwa Gesellschaften oder Rassen€– zuschreiben kann, sind Ziele, vermutlich weil Ziele als solche keine körperliche Komponente erfordern. Man spricht etwa von den „Zielen eines Unternehmens“ bzw. den „Unternehmenszielen“. Und Ziele sind nun nach den bisherigen Überlegungen dieses Kapitels durchaus moralisch relevant. Aber bei den Zielen eines derartigen Kollektivs ist es ganz eindeutig, dass sie vollständig von den Zielen der Mitglieder des Kollektivs abhängen, also rein faktisch nicht unabhängig von den Zielen der hinter dem Kollektiv stehenden Individuen sind. Es kann keine „Ziele eines Unternehmens“ geben, die nicht von den Inhabern und Arbeitnehmern des Unternehmens oder in Vertretung dieser Inhaber und Arbeitnehmer von bestimmten Repräsentanten wie der Mitgliederversammlung, dem Aufsichtsrat, dem Vorstand usw. formuliert werden, weil Ziele im eigentlichen Sinne zumindest subjektive mentale Eigenschaften voraussetzen. Die Annahme zugeschriebener, abhängiger Ziele eines Kollektivs kann also die Annahme des normativen Individualismus nicht entkräften, sondern bestätigt sie vielmehr. In letzter Instanz sind nur Einzelne mit ihren unabhängigen Zielen moralisch bzw. ethisch relevant. Die Rede von Belangen bzw. Interessen einer Gemeinschaft, etwa eines Unternehmens oder eines Staates stützt sich also auf abhängige und nicht auf unabhängige Ziele.
9. Eine Bestätigung des normativen Individualismus
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Es handelt sich damit auch nur um abhängige und nicht um unabhängige Belange bzw. Interessen. Der Begriff des Belangs bzw. Interesses leistet schon auf einer begrifflichen Ebene eine Zusammenfassung der natürlichen Eigenschaften auf der primären Ebene. Es ist deshalb nicht überraschend, dass der Zusammenfassungsbegriff des Belangs bzw. Interesses, anders als die stärker natürlichen Eigenschaftsbegriffe Strebung, Bedürfnis oder Wunsch, ohne Weiteres auch auf Gemeinschaften anwendbar ist. Nun könnte man als letzten Ausweg argumentieren, dass Kollektive wie Unternehmen, Vereine oder Staaten zwar weder Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen oder unabhängige Ziele aufweisen, aber andere moralisch relevante Eigenschaften. Aber welche sollten das sein? Ein Unternehmen empfindet weder Lust noch Leid und auch kein Glück. Der Bestand eines Unternehmens ist kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck derjenigen, die es für ihre Zwecke gegründet haben bzw. es weiterführen und unterstützen, also der Aktionäre bzw. Inhaber, der Arbeitnehmer und der regional und überregional betroffenen Bevölkerung. Mit dem Ausschluss dieser möglichen moralisch relevanten Eigenschaften von Kollektiven verschiebt sich die Argumentationslast immer weiter zulasten des normativen Kollektivismus. Es ist auch keine eindeutige und unabhängige ethisch relevante Eigenschaft ersichtlich. Und solange diese nicht aufgewiesen ist, wie dies für Individuen geschah, ist der normative Individualismus nicht widerlegt.
III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen: grundsätzliche Pluralität Hat man die ethisch relevante Eigenschaft der Individuen aufgeklärt, so erhebt sich die weitere Frage, worauf in der moralischen Interaktion sich diese Eigenschaft bezieht. Die Frage stellt sich ähnlich für denjenigen, der eine der anderen diskutierten Eigenschaften wie etwa Lust und Leid für entscheidend hält. Auch diese anderen Eigenschaften müssen nämlich, wenn schon nicht intentional, so doch notwendig zweiwertig relational auf die moralische Interaktion bezogen werden, sollen sie überhaupt ethisch relevant sein. Eine nicht zweiwertig relationale Eigenschaft, die nur im Verhältnis zum fraglichen Individuum steht und keinerlei Bezug auf sonstige Tatsachen in der Welt hat, wäre für eine normativ-ethische Theorie ungeeignet. Auch der klassische Hedonismus muss also etwa fragen: Welche Tatsachen in der Welt erzeugen Lust und Leid? Aber es wird sich erweisen, dass die im vorigen Kapitel€vorgeschlagenen ethisch relevanten Eigenschaften der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen (Belange bzw. Interessen) für die Frage des Bezugs beim dritten Element der Ethik einem ganz bestimmten Ergebnis zum Vorzug verhelfen. Von den Tatsachen der Welt, auf die sich die ethisch relevanten Eigenschaften der Individuen beziehen, kommen für Moral und Ethik nur solche in Betracht, die entweder in menschlichem Handeln bestehen oder durch menschliches Handeln wenigstens irgendwie beeinflussbar sind oder waren, indem sie die beeinflussbaren Bedingungen oder Konsequenzen derartigen Handelns darstellen (bei „waren“ kommen nur Werturteile, keine Verpflichtungen in Frage).1 Die normative Ethik benötigt also einen sehr weiten Handlungsbegriff, der neben dem Handeln im engeren Sinn sowohl die beeinflussbaren Bedingungen als auch die beeinflussbaren Konsequenzen von Handlungen umfasst.2
1
2
Die Handlungstheorie zählt verschiedentlich die tatsächlichen Konsequenzen nicht zur Handlung in einem deskriptiven Sinne. In moralischer Hinsicht sind die beeinflussbaren Konsequenzen aber selbstredend relevant. Deshalb ist es sinnvoll, sie in einen umfassenden ethischen Handlungsbegriff einzubeziehen. Dieser Handlungsbegriff ist vom Begriff des Verhaltens abzugrenzen, der die mentalen Teile der Handlung unberücksichtigt lässt.
1.€Die sieben Teile der Handlung im weiteren Sinn
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1.€Die sieben Teile der Handlung im weiteren Sinn Innerhalb einer ethisch relevanten Handlung im weiteren Sinn lassen sich dann wenigstens sieben mögliche und regelmäßig vorhandene Teile unterscheiden, wobei es natürlich auch einzelne Handlungen gibt, die nicht alle diese Teile umfassen oder bei denen einzelne dieser Teile zusammenfallen: (1) die inneren, äußeren und allgemeinen Bedingungen des Handelns im engeren Sinn, also sein Kontext, das heißt als innere Bedingungen: Werte, Gefühle, Gedanken, Gewohnheiten, Tugenden, Gemütszustände, Strebungen, Bedürfnisse und allgemeine Überzeugungen des Akteurs; als äußere Bedingungen: die Umgebung, in der der Akteur lebt, seine Fähigkeiten, sein Beruf, sein Vermögen, sein bisheriges Verhalten, etwa die Abgabe von Versprechen; als allgemeine Bedingungen: die moralische Lage in der Gesellschaft usw. (2)€die allgemeinen handlungsorientierten Überzeugungen (a) und Wünsche (b) des Akteurs, die im Rahmen eines Überlegungsprozesses zur Fixierung einer handlungsleitenden Absicht bzw. eines Ziels führen, also abstrakter ausgedrückt: der kognitive und der volitive Teil seines Denkens bzw. seiner Seele. Dazu gehören auch externe Vorgänge wie Gespräche und Beratungen. Die entscheidenden Überzeugungen werden regelmäßig evaluativ oder normativ sein. Aber auch deskriptive Überzeugungen sind relevant. (3)€ das spezifische handlungsleitende Ziel bzw. die Absicht (Intention), die der Akteur fasst, wobei mehrstufige Absichten möglich sind. (4)€der Prozess der Suche nach Mitteln zur Realisierung dieser spezifischen Absicht und die Wahl zwischen mehreren möglichen Mitteln, das heißt der Entscheidungsweg zum konkreten Handlungswillen. Eine Rolle spielen hier deskriptive Zweck-Mittel-Annahmen und evaluative Verhältnismäßigkeitsbewertungen,3 die vom handlungsleitenden Ziel mittels Auswahl eines effektiven (geeigneten), effizienten (erforderlichen) und angemessenen (verhältnismäßigen) Mittels zur Bildung des konkreten Handlungswillens führen. Die schon unter (1) erwähnten Bedingungen können hier erneut eine Rolle spielen, zum Beispiel Vorlieben, die einen eher zum einen als zum anderen Mittel greifen lassen. Zum Willensbildungsprozess gehören abermals auch externe Vorgänge wie Gespräche und Beratungen. (5) der aus dem Willensbildungsprozess als Auswahl eines Mittels erwachsende konkrete Handlungswille, der das Handeln unmittelbar steuert. Nicht selten werden sich mehrere
3
Deskriptiv: Mittel und Ziel müssen für sich möglich sowie das Mittel zur Zielerreichung geeignet sein; evaluativ: Das Mittel muss erforderlich, also das beste bzw. mildeste sein; das Mittel darf nicht außer Verhältnis zum Ziel stehen. Vgl. Kapitel€XIV, 4.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
Teilwillen ergeben, weil mehrere Teilhandlungen zur Erreichung des erÂ�strebten Ziels erforderlich sind. (6) das tatsächliche, willentlich gesteuerte Handeln des Akteurs im engsten Sinn als unmittelbares Ergebnis des Überlegungsprozesses, das von diesem verschieden ist, also die innere oder äußere Handlungsausführung bzw. anders ausgedrückt: die Realisierung der Mittel zur Erreichung des Ziels. Das Handeln des Akteurs kann innerlich oder äußerlich sein, also etwa in einem Vergessen oder einer Armbewegung bestehen. Es kann€– wie in Kapitel€III, 11 noch näher zu erläutern sein wird€– ein aktives Tun oder ein passives Unterlassen sein. (7) die Konsequenzen der Handlung oder die Quasikonsequenzen des Unterlassens. Man kann hier innerhalb eines Kontinuums der Bezugnahmen der Teile eins und zwei (Wissen) und der Teile drei und fünf (Wollen im weiteren Sinn) unterscheiden zwischen den a) beabsichtigten, b) den gewollten, c) den vorhergesehenen, d) den vorhersehbaren und e) den unvorhersehbaren Folgen der Handlung.4 Die beabsichtigten Folgen sind solche, auf die sich das Handlungselement drei der Absicht bezieht, die gewollten Folgen solche, auf die sich das Handlungselement fünf des Handlungswillens bezieht, die vorhergesehenen Folgen solche, auf die sich der kognitive Teil der Handlungselemente eins und zwei bezieht, die vorhersehbaren solche, auf die sich nach den tatsächlichen Bedingungen des Handlungselements eins das Handlungselement zwei hätte beziehen können, die unvorhersehbaren schließlich solche, auf die sich nach den tatsächlichen Bedingungen des Handlungselements eins das Handlungselement zwei nicht hätte beziehen können. Diese sieben Teile sind in der regelmäßigen zeitlichen Reihenfolge ihres Auftretens in einer konkreten Handlung geordnet. (1) Aus den Bedingungen des Lebens eines Akteurs erwachsen im RahÂ�men eines Überlegungsprozesses, (2) unter Bildung von Überzeugungen undâ•›/â•›oder Wünschen, (3) bestimmte Ziele bzw. Absichten, zu deren VerÂ�wirklichung der Akteur (4) Zweck-Mittel-Überlegungen und Verhältnismäßigkeitsbewertungen anstellt, die (5) in einem Handlungswillen ihren Abschluss finden, der dann (6) eine Handlungsausführung steuert, also zum Tun oder UnterÂ�lassen führt, woraus sich schließlich (7) Konsequenzen bzw. Quasikonsequenzen ergeben. Dabei kann es aber natürlich auch zu „Rückkopplungseffekten“ kommen. Sieht etwa jemand ein, dass es für ihn keine Mittel zur Realisierung eines Wunsches gibt, so besteht eine mögliche Reaktion darin, den Wunsch aufzugeben.
4
Das deutsche Strafrecht kennt eine vergleichbare Unterscheidung zwischen der Absicht (dolus directus 1.€Grades), dem direkten Vorsatz (dolus directus 2. Grades), dem bedingten Vorsatz (dolus eventualis), der Fahrlässigkeit und der Nichtfahrlässigkeit. Vgl. Kapitel€III, 11.
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1.€Die sieben Teile der Handlung im weiteren Sinn
Teile der Handlung im weiteren Sinne:
1
2
3
4
5
6
7
Bedingungen Überzeugungen Absicht Suche u. Wahl Handlungswille Handeln Konsequenzen (innere: Wünsche Werte, Gefühle, Tugenden; äußere: Gemeinschaft, Beruf; allgemeine: Sozialverhältnisse
Gründe
Ziel/Zweck der Mittel
im eng. Sinn
instrumentelle Gründe
Ein Beispiel für eine allgemeine, zunächst einmal moralisch nicht signifikante Handlung: Weil Peter sich gerne mit Literatur beschäftigt, aber arm ist, bittet er Paula, ihm ein teures Buch zu leihen, damit er es lesen kann. Paula leiht Peter das Buch: (1)
Bedingungen:
Innere: Peter liest gerne. Er hat ein Bedürfnis zu lesen. Er glaubt, dass Lesen bildet. Er nimmt an, dass Paula das Buch hat; äußere: Peter ist arm. Er hat seiner Mutter versprochen, regelmäßig Bücher zu lesen. Er kennt Paula; allgemeine: Es ist üblich, dass Bekannte sich DinÂ�ge des Alltags wie Bücher leihen. (2) a) Überzeugungâ•›/â•› Peter hat die Überzeugung, dass es gut wäre, das b) Wunsch: Buch zu lesen. Und er hat den Wunsch, es zu lesen. (3) Absichtâ•›/â•›Zweckâ•›/â•›Ziel: Peter entwickelt die Absicht, das Buch zu lesen. (4) Suche nach Mittelnâ•›/â•›Wahl Peter glaubt, dass er seine Absicht realisieren kann, eines Mittels: wenn Paula ihm das Buch leiht, und dass sein Vorteil durch die Lektüre größer ist als Paulas Nachteil durch den kurzzeitigen Verzicht auf das Buch. (5) Handlungswille: Peter will das Buch von Paula leihen. (6) Handlungsausführungâ•›/ Peter bittet Paula, ihm das Buch zu geben, Realisation des Mittels: und nimmt es von ihr entgegen. (7) Konsequenzen: Peter liest das Buch (beabsichtigte Konsequenz). Peter hat das Buch von Paula erhalten und ist nun in seinem Besitz (gewollte Konsequenz). Peter benötigt einen Platz für das Buch (vorhergesehene Konsequenz). Peter ist verpflichtet, das Buch zurückzugeben usw. (vorhergesehene Konsequenz). Das Buch
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
wird durch den Gebrauch etwas abgegriffen (vorhersehbare Konsequenz). Zwischen den Zeilen des Buches findet Peter etwas mit Geheimschrift Geschriebenes (im Normalfall unvorhersehbare Konsequenz). Als Beispiel für eine moralische Handlung nehme man den anschließenden Vorgang der versprochenen Rückgabe des Buches. (1) Der Charakter, die Emotionen, die Gedanken, die Tatsache der Versprechensabgabe, die präsumtiven Erwartungen desjenigen, dem das Versprechen gegeben wurde usw. bilden die entscheidenden inneren und äußeren Bedingungen. Aus diesen inneren und äußeren Bedingungen ergibt sich (2) unter Formung bzw. Hinzuziehung von Überzeugungen (Peter ist überzeugt, dass Versprechen gehalten werden müssen) und Wünschen (er will das Versprechen erfüllen) im Wege eines Überlegungsprozesses (3) eine Absicht, das Versprechen einzuhalten; diese Absicht geht (4) in einen Willensbildungsprozess von Zweck-Mittel-Erwägungen ein, der schließlich (5) zum Willen führt, das Buch zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort an Paula zurückzugeben, woran sich (6) die tatsächliche Handlungsausführung der Rückgabe anschließt, die bei Paula und möglicherweise auch bei anderen Personen (7) zu bestimmten Konsequenzen führt: Paula hat das Buch wieder in ihrem Besitz. Sie freut sich. Sie liest das Buch noch einmal. Die Kette von Konsequenzen ist prinzipiell endlos, muss aber im Rahmen ethischer Überlegungen aus praktischen Gründen auf die intendierten, gewollten, vorausgesehenen und voraussehbaren Folgen begrenzt werden. Diese sieben Elemente sind€– so kann man vielleicht annehmen€– in den meisten Handlungen im weitesten Sinne anzutreffen. In manchen Handlungen können allerdings einzelne Elemente auch zusammenfallen, zum Beispiel die Absicht, die ZweckMittel-Erwägung und der Wille, etwa wenn man sich mit jemandem unterhält, ohne damit eine über die Unterhaltung hinausgehende Absicht zu verfolgen. In anderen Handlungen können einzelne Elemente fehlen. Es mag etwa Handlungen, wie das Indie-Luft-Schauen, geben, die keine über das Handeln in signifikanter Form hinausgehenden Folgen haben. Oder es kann vielleicht absichtsloses Handeln geben. Und es gibt möglicherweise ein Handeln ohne Überzeugungen und Wünsche. Trotz dieser Möglichkeiten des Zusammen- und Ausfallens einzelner der Elemente ist es wichtig, die sieben möglichen Teile der Handlung im weiten Sinn so detailliert wie möglich aufzuschlüsseln, um die mögliche Bezugnahme der Belange und Interessen auf die Handlung adäquat zu verstehen.
2. Versuche einer psychologisch-handlungstheoretischen Reduktion
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Man erhält dann folgende Verfeinerung des moralischen Grundverhältnisses: A
(1) Bedingungen
A
K
(2) Überzeugung / Wunsch
N
T
(3) Ziele /Absichten
E
(4) Mittelwahl
E
U
(5) Handlungswille
R
R
(6) Handlungsausführung
E
(7) Konsequenzen
R
Belange / Interessen
D
Man könnte nun natürlich aus handlungstheoretischer Sicht einzelne dieser Elemente genauer diskutieren oder die Differenzierung noch verfeinern und vielleicht auch in Zweifel ziehen. Für die normative Ethik ist eine derartige Detaildiskussion aber€– mit der noch zu erörternden Ausnahme der Handlungsformen des Tuns und Unterlassens€– nicht notwendig. Ihr geht es nicht um eine detaillierte Handlungstheorie als Teil einer umfassenden praktischen Philosophie, sondern nur um eine grundsätzliche Bestimmung des Bezugs der moralisch relevanten Eigenschaft der Belange bzw. Interessen auf die Handlung, und zwar genauer um die Frage, ob generell einem Element oder einzelnen Elementen der Handlung im weiteren Sinn im Rahmen von Moral und Ethik eine besondere Bedeutung zukommt oder ob sie grundsätzlich alle gleich wichtig sind. Ein Versuch, die grundsätzliche Pluralität dieser Handlungselemente zu reduzieren, kann wenigstens auf zwei verschiedenen Ebenen stattfinden. Die erste, grundlegendere Ebene ist eine psychologisch-handlungstheoretische, das heißt motivationale, die zweite, weniger grundlegende Ebene ist eine ethische.
2. Versuche einer psychologisch-handlungstheoretischen Reduktion: Gründe und Motive Als Menschen sind wir ab einem bestimmten Alter und im Gegensatz zu Tieren, Pflanzen und unbelebten Gegenständen in der Lage, in gewissem Umfang einsichtsfähig zu handeln. Dies ist eine der grundlegenden Überzeugungen, die unser Leben bestimmen. Sie mag aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive zweifelhaft, naiv oder verkürzend sein. Solange sich diese grundlegende Überzeugung jedoch nicht wandelt, bleibt sie auf der Sinn-Ebene für alle weiteren Überlegungen einer normativen Ethik elementar. Einsichtsfähiges Handeln bedeutet, dass der Mensch selbst bestimmt, was er tut. Aber wie geschieht das? Die Antwort lautet: mittels Gründen. Die Einsichtsfähigkeit des Handelnden und die Gründe seines Handelns sind wie zwei Seiten einer Medaille. Die eine Seite ist die dem Handelnden, die andere ist die der Handlung zugewandte. Weil
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
der Handelnde einsichtsfähig ist, handelt er aus Gründen, und weil er aus Gründen handelt, ist er einsichtsfähig, das heißt vernünftig. Dann stellt sich die Frage, was Gründe des Handelns sind. Zunächst wird man zwischen realen, tatsächlich im Akteur wirksamen Gründen und idealen, „guten“, nicht tatsächlich wirksamen Gründen unterscheiden müssen. Reale, tatsächlich im Akteur wirksame Gründe sind „motivationale Gründe“ oder kurz „Motive“. Ideale, „gute“ Gründe sind „normative, gedankliche Gründe“. „Gute“ Gründe werden häufig nicht zu Motiven. Verurteilen wir etwa einen Verbrecher, so werfen wir ihm vor, dass er die guten Gründe, die gegen das Verbrechen sprechen, in der einzelnen Situation nicht zu seinen handlungsleitenden Motiven gemacht hat. Welche Phänomene kommen als Gründe, seien es motivierend-reale oder normativideale, in Betracht? Eine Ansicht, die häufig auf David Hume zurückgeführt wird,5 lautet, dass nur Überzeugungen (beliefs) und Wünsche (desires), also interne Gründe, zu Motiven unseres Handelns werden können, wobei die Wünsche dominieren sollen. Das ist die Auffassung einer reduktionistisch-internalistischen Handlungstheorie.6 Die Wünsche des Handelnden sollen gleichsam als kausal-mechanisches Instrument notwendig, aber auch allein entscheidend sein, um die Handlung in Gang zu bringen. Die Kritik wendet sich in verschiedenen Stufen von diesem Modell der Dominanz von Wünschen als Motiven ab. Nach einer Auffassung sind Wünsche zwar regelmäßig trivialerweise zur Motivation erforderlich, aber nicht notwendig dominierend, weil manche Wünsche auf Überzeugungen und damit auf anderen Gründen beruhen.7 Nach einer etwas weiter gehenden Ansicht können auch bloße Überzeugungen ohne eine Beteiligung von Wünschen motivieren.8 Noch weiter geht die Auffassung, dass praktisch ausschließlich Überzeugungen motivieren, nicht aber Wünsche.9 Am radikalsten ist schließlich die antipsychologistische, vollständig externalistische Meinung, dass selbst Überzeugungen nicht motivieren, sondern nur die Tatsachen, die Überzeugungen zugrunde liegen.10 So soll etwa die Not eines Ertrinkenden unsere Rettungshandlung unmittelbar veranlassen, nicht aber unsere Überzeugung hinsichtlich des Notfalls oder unser Wunsch zu helfen. Die soeben verwandten Begriffe des Grundes und des Motivs müssen nun der obigen verfeinerten Analyse der Handlung im weiteren Sinne zugeordnet werden. Dabei 5
David Hume, Enquiries. Enquiry Concerning the Principles of Morals, hg. von L.â•›A. Selby-Bigge, Nachdr. der 2.€Aufl. Oxford 1951, S.€293â•›f.; ders., A Treatise of Human Nature, S.€415, 457. 6 Bernard Williams, Internal and External Reasons, in: ders., Moral Luck, Cambridge 1981, S.€101–113. Auf S.â•›105 definiert Williams Wünsche allerdings in einem weiten Sinn, der auch Wertungsdispositionen, Strukturen emotionaler Reaktionen, persönliche Loyalitäten und verschiedene Projekte, die Verpflichtungen des Akteurs enthalten, umfasst. 7 Thomas Nagel, The Possibility of Altruism, Princeton 1970, S.€30â•›ff. 8 Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart 2001, S.€30â•›ff. 9 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€8, 18, 33â•›ff. 10 Jonathan Dancy, Practical Reality, Oxford 2000, passim; Rüdiger Bittner, Doing Things for Reasons, New York 2001, dt.: Aus Gründen handeln, Berlin 2005.
2. Versuche einer psychologisch-handlungstheoretischen Reduktion
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kommen als fundierende Gründe und Motive die Elemente eins und zwei in Frage, also sowohl die inneren, äußeren und allgemeinen Bedingungen, als auch die auf die einzelne Handlung bezogenen Überzeugungen und Wünsche des Akteurs. Wir können etwa sagen, dass jemand eine Revolution plante, weil die Regierung korrupt war (Element eins), weil er die Überzeugung hatte, dass die Regierung korrupt war, oder weil er den Wunsch hatte, die Regierung zu stürzen (Elemente zwei a und b). Daneben gibt es auch instrumentelle Gründe bzw. Motive im Rahmen der Mittelwahl für ein angestrebtes Ziel, also im Rahmen des Elements vier. Derartige instrumentelle Gründe bzw. Motive sind unbestritten. Sie taugen aber in keinem Fall€ dazu, die Bildung der Handlungsabsicht bzw. des Handlungsziels, also des Elements drei, zu erklären, denn diese muss zumindest in groben Umrissen abgeschlossen sein, bevor wir nach Mitteln zu ihrer Realisation suchen. Im Rahmen dieser Untersuchung zur normativen Ethik ist keine umfassende Diskussion der verschiedenen oben aufgeführten motivationstheoretischen Alternativen erforderlich. Es genügt die Zurückweisung der ersten Alternative, der engen internalistischen Handlungstheorie, die Wünsche immer für notwendige und dominante Motive hält. Denn wären die Wünsche des Akteurs nicht nur beteiligt, sondern stets allein faktisch handlungswirksam, so wäre die Annahme einer anderen Quelle der Normativität sinnlos. Der Akteur würde immer nur gemäß seiner Wünsche handeln. Die Ziele, Bedürfnisse und Strebungen des Anderen könnten nur im Falle einer zufälligen Parallelität mit den Akteurswünschen oder vermittelt durch die Akteurswünsche handlungsrelevant werden. Dies würde ein allgemeines, genuin moralisches Handeln ausschließen, da in vielen Fällen die Wünsche des Akteurs und die Belange des Anderen nicht übereinstimmen werden. Die Zurückweisung der These der engen internalistischen Handlungstheorie könnte prinzipiell auf zwei divergente Weisen erfolgen. Zum einen könnte man diese Auffassung auf einer logischen oder apriorischen Ebene als inkonsistent aufzeigen. Zum anderen könnte man ihre empirisch-phänomenale Überzeugungskraft angreifen. Die erste logische oder apriorische Ebene erscheint kaum erfolgversprechend. Es ist nicht logisch oder apriorisch widersprüchlich, anzunehmen, dass Wesen nur durch ihre Wünsche motiviert werden. Sähe man Wünsche verengend als Direktiven für die Auswahl von Bewegung an und schränkte man die Anforderungen an Intentionen im Rahmen einer Handlung ein, so könnte man glauben, dass ein Roboter nur seinen Wünschen „folgt“, nicht aber anderen Gründen. Es wäre nicht logisch oder apriorisch widersprüchlich, die Menschen als derartige wunschgesteuerte „Roboter“ aufzufassen. Die enge internalistische Interpretation erscheint aber auf einer zweiten, empirischphänomenalen Ebene kaum überzeugend. Sieht man Wünsche nicht in einem sehr weiten und trivialen Sinne als „Pro-Haltungen“ an und setzt man sie auch nicht einfach mit unseren Absichten gleich, so bilden Wünsche zwar eine eigenständige interne Quelle der Handlungsnormativität. Aber die Vorstellung, dass wir allein und ausschließlich gemäß dieser einzelnen, internen Quelle handeln, erscheint bizarr. Fragt man den Revolutionär, warum er den Umsturz plant, so genügt es vollständig, wenn er auf die Korruptheit der bestehenden Regierung oder seine Überzeugung, die bestehende Regierung sei korrupt,
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
verweist. Der Versicherung, er wünsche den Umsturz, würde man in diesem Fall€kaum eine zusätzliche begründende bzw. motivationale Kraft zuerkennen. Noch signifikanter sind aber Fälle des Konflikts zwischen Wünschen und sonstigen, verpflichtenden Gründen. So kümmern wir uns zum Beispiel gelegentlich um Angehörige, obwohl dies unseren Wünschen, die Zeit angenehmer zu verbringen, zuwiderläuft. Der Anhänger eines strikten Internalismus wird an dieser Stelle behaupten, dass wir eben einen dominanten Wunsch hatten, uns um unsere Angehörigen zu kümmern. Dies nimmt aber dem Begriff „Wunsch“ sein spezifisch subjektiv-voluntatives Verständnis, denn hier wäre die Charakterisierung der Motivation als „Überzeugung, eine Pflicht zu haben“ viel angemessener. Der deliberative Anteil dominiert in diesen Fällen den subjektiv-volunÂ�taÂ�tiÂ�ven eindeutig. Ist dies aber der Fall, so ist der Weg für eine unmittelbare Berücksichtigung der Interessen Anderer und damit für einen genuinen Altruismus frei. Manche Handlungen eines Akteurs werden ausschließlich oder weit überwiegend von seinen Wünschen bestimmt, etwa regelmäßig Kaufentscheidungen. Es gibt aber offensichtlich auch Handlungen, bei denen bestimmte Überzeugungen unmittelbar eine Zielabsicht hervorrufen. So führt etwa eine Überzeugung, dass es erforderlich und richtig ist, Prüfungsarbeiten zu bewerten, zu der Absicht, diese Arbeiten zu korrigieren. Fragt man nach den Gründen für diese Absicht, so wird man kaum sagen, dass man den „Wunsch“ hatte, Prüfungsarbeiten zu korrigieren. Es handelt sich vielmehr um eine externe Notwendigkeit, von der man überzeugt ist. Deshalb bildet man eine Zielabsicht und einen Handlungswillen aus. Man braucht keinen Wunsch, die Prüfungsarbeiten zu korrigieren, um einen motivierenden Grund für die Korrektur zu entwickeln. Das bedeutet im Hinblick auf die normative Ethik, dass die Belange Anderer auch ohne Wünsche des Akteurs Teil seiner guten und motivierenden Handlungsgründe werden können. Es genügt, dass diese Belange eines Anderen bestehen, der Akteur von ihrer Existenz überzeugt ist und ihre Berechtigung in einem Prozess der Abwägung mit eigenen Interessen einsieht. Die hier vertretene zentrale These lautet also: Moralische bzw. ethische Verpflichtungen durch Andere unterscheiden sich von allen anderen Handlungsgründen darin, dass sie nicht als bloßer Teil von Bewertungen in einem internen Abwägungsprozess des Akteurs gebildet werden können und so seine Überzeugung formen. Sie können nicht rein intern als besser oder schlechter bestimmt werden. Das bedeutet nicht, dass tatsächliche VerÂ�pflichÂ�tungen durch Andere vom Akteur immer zu befolgen wären. Die Qualifikation als „moralisch“ erfordert einen Abwägungsprozess. Aber dieser Abwägungsprozess unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht fundamental vom internen Abwägungsprozess der Bewertung des guten Lebens oder richtigen Handelns. Zum einen stehen sich nicht Wertungen gegenüber, sondern Belange bzw. Interessen. Zum anderen ist dieser Abwägungsprozess immer notwendig extern, das heißt er bezieht die Belange Anderer und eine angenommene Objektivität der Bewertung dieses Prozesses mit ein. Der Akteur kann keine vollständig eigene und interne Bewertung vornehmen, wie etwa bei der Entscheidung, Beethoven statt Bartók zu hören. Er muss vielmehr eine potentiell objektive, externe Abwägung für sich akzeptieren. Seine Überzeugung von der Richtigkeit der Handlung ergibt sich also unmittelbar als Resultat eines als objektiv oder zumindest objektivierbar aufgefassten Abwägungsprozesses, den
3. Versuche einer ethischen Reduktion
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er subjektiv nachvollzieht, weil das Resultat einen guten normativen Grund für sein Handeln erzeugt. Dazu wird in Kapitel€VI noch mehr zu sagen sein.
3. Versuche einer ethischen Reduktion Aber nicht nur in der psychologisch-motivationalen Handlungstheorie, sondern auch in der Ethik wurde immer wieder der Versuch unternommen, eines der Handlungselemente grundsätzlich als primär oder gar ausschließlich auszuzeichnen, auf das sich moralische Normen stützen: in der klassischen Tugendethik die Tugenden, im KonÂ� sequenÂ�tiaÂ�lismus die Konsequenzen.11 Und nach Kant soll nichts ohne Einschränkung gut sein als ein guter Wille,12 woraus man schließen kann, dass der Wille grundsätzlich ethisch primär ist. Die Maximen als subjektive Prinzipien des Wollens sollen dem Test der Verallgemeinerung unterworfen werden.13 Die Welt moralischer Normen ist jedoch nicht so einfach strukturiert, wie das zur Konstruktion einer möglichst abstrakten und sparsamen ethischen Theorie wünschenswert wäre. Keiner der Versuche zur Beschränkung moralischer Normen auf einen primären Typus des Handlungsbezugs konnte allgemein und auf Dauer überzeugen.14 Dies gilt in doppelter Hinsicht: faktisch und normativ. Faktisch lässt sich feststellen, dass in den bestehenden Moralsystemen etwa für die moralische Beurteilung einer Handlung Tugenden nicht grundsätzlich weniger wichtig sind als der gute Wille des Handelnden oder die Konsequenzen der Handlung. Normativ-theoretisch konnte nicht begründet werden, warum nur ein Handlungselement moralisch und ethisch primär relevant sein soll, warum sich also eine Ethik vor allem auf die Tugenden, den Willen des Handelnden oder die Konsequenzen der Handlung beschränken soll. Die Tugendethik, der Kantianismus bzw. deontologische Positionen und der Konsequentialismus, die jeweils einen solchen Vorrang implizieren, stehen sich nach wie vor€– neben einigen weiteren Alternativen€– unversöhnlich und ohne erkennbare Verdrängung der anderen Positionen gegenüber. Deutlich wird
11 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, S.€70. „The general tendency of an act is more or less pernicious, according to the sum total of its consequences: that is according to the difference between the sum of such as are good, and the sum of such as are evil.“ Vgl. auch S.€6. J.â•›J.â•›C. Smart, An Outline of a System of Utilitarian Ethics, in: J.â•›J.â•›C. Smart und Bernard Williams, Utilitarianism. For and Against, Cambridge 1973, S.€4: „Roughly speaking act-utilitarianism is the view that the rightness or wrongness of an action depends only on the total goodness or badness of its consequences, […].“ 12 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€393. 13 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€400, Anm.*: „Maxime ist das subjektive Prinzip des Wollens“; S.€ 421: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ 14 Vgl. zu einer Kritik an der Unterscheidung zwischen Deontologie und Teleologie: Verf., Die fünf Strukturmerkmale normativ-ethischer Theorien. Vgl. zu einer umfassenden, wenn auch in verschiedener Hinsicht anders begründeten Kritik des Konsequentialismus: Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
dies etwa in Falltypen wie dem sog. „Jim-Fall“:15 Jim wird in einer südamerikanischen Stadt vom Anführer einer Bande vor folgende Alternative gestellt: Entweder er tötet€– als geehrter Gast€– selbst einen von zwanzig gefangenen Indios oder alle zwanzig werden umgebracht. Während der Konsequentialismus hier eine Tötungsverpflichtung Jims mit Blick auf die Konsequenzen für die zwanzig gefangenen Indios bejaht, wird diese von Anhängern einer deontologischen Ethik zum Beispiel mit dem Argument, dass jeder in erster Linie selbst für das verantwortlich ist, was er tut, also vor allem der eigene Wille zählt, abgelehnt. Beide extremen Lösungen erscheinen aber wenig befriedigend, um alle in diesem Fall€relevanten Gesichtspunkte aller Betroffenen zu erfassen (vgl. zu diesem Fall€ eingehender Kapitel€XII, 4). Gelingt es somit nicht, die Pluralität der Typen moralisch relevanter Handlungselemente zu reduzieren,16 dann besteht ein Ausweg darin, zu erklären, warum diese Pluralität offenbar unhintergehbar ist. Dazu wird man zunächst akzeptieren müssen, dass nicht nur faktisch manchmal einzelne dieser Elemente nicht Teil einer Handlung sind, sondern dass sich auch normativ moralische Wertungen, aber auch moralische Verpflichtungen gelegentlich nur auf eines oder einige dieser sieben Elemente einer voll entfalteten Handlung im weiten Sinne beziehen können. Wir bewerten etwa manchmal nur Charaktereigenschaften einer Person oder deren Wünsche. Oder wir halten bestimmte Handlungen im engeren Sinne für falsch, etwa Folter, ohne überhaupt nach anderen Teilen der Folterhandlung im weiteren Sinn, etwa den der Folter zugrunde liegenden Absichten oder den Konsequenzen der Folterhandlung zu fragen. Zu betonen ist weiterhin, dass der Anfangs- und der Endpunkt der Handlung im weiteren Sinne, also die Bedingungen sowie die Konsequenzen, selbstredend in einem kausalen Verständnis quasi unbestimmt ausgedehnt werden können und in extremster Form viele Teile der vergangenen und zukünftigen Welt umfassen (wobei die Existenz des Handelnden naturgemäß den Anfang begrenzt). Davon kann nur ein kleiner Teil für die Bewertungen und Verpflichtungen von Moral und Ethik relevant sein. So wird man€– wie bereits erwähnt wurde€– bei den Bedingungen und Eigenschaften zunächst prinzipiell nur diejenigen für moralisch relevant ansehen können, die der Handelnde in seinem Leben irgendwann einmal in einem praktischen Sinne beeinflussen konnte. Es mag etwa in einem kausalen Sinne bedeutsam sein, dass ein Akteur in sozial zerrütteten Verhältnissen aufwuchs. Diese äußere Tatsache rechtfertigt aber nur eine negative Bewertung des Handelns der Eltern oder der Erzieher, nicht aber des Akteurs€– jedenfalls solange er seine Situation selbst nicht verbessern konnte. Auf der anderen Seite werden von modernen Versionen des Konsequentialismus alternativ nur die beabsichtigten, vorausgesehenen oder zumindest individuell oder allgemein voraussehbaren Folgen eines 15 Bernard Williams, A Critique of Utilitarianism, in: J.â•›J.â•›C. Smartâ•›/â•›Bernard Williams, Utilitarianism For and Against, Cambridge 1973, S.€98â•›f. 16 Vgl. zu einer leichten Erweiterung des konsequentialistischen Modells: Rainer W. Trapp, „Nicht-klassischer“ Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit, S.€317. Trapp konstatiert, dass auch Handlungen selbst sowie das Gewahrwerden ihrer Umstände unabhängig von den Folgen interessenbefriedigend sein können. Allerdings spricht er auf S.€300 bei der Interpretation des gerechtigkeitsutilitaristischen Prinzips „GU“ wiederum von den „Nutzenniveaus“ der „konsequentiell“ Betroffenen.
4. Die deskriptive Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs
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Handelns berücksichtigt.17 Trotz dieser beiden Einschränkungen lässt sich die grundsätzliche Pluralität des Handlungsbezugs auf zwei Ebenen und folglich mit zwei Erklärungen begründen.
4. Die deskriptive Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs Zunächst gilt deskriptiv: Die Moral, also die tatsächlich in einer Gesellschaft bestehenden Verpflichtungen, Wertungen und Überzeugungen mit den in der Einleitung genannten weiteren Eigenschaften, sind nicht auf eine oder mehrere der soeben analysierten Elemente einer Handlung im weiteren Sinne beschränkt. Man nehme als Beispiel folgende bekannte Episode aus dem Alten Testament: Kain tötet Abel aus Missgunst. In diesem Fall€beurteilen wir sämtliche Aspekte der Handlung moralisch negativ. Wir halten Missgunst für eine schlechte Charaktereigenschaft. Wir verurteilen Kains Wunsch, einen anderen Menschen zu töten, und auch eventuelle weitere Gründe, etwa seinen Bruder loswerden zu wollen. Wir schätzen jede Tötungsabsicht grundsätzlich negativ ein, es sei denn, es bestünden spezielle Umstände, etwa eine Notwehrsituation. Da der Zweck moralisch verwerflich ist, kann die Mittelwahl von vornherein nicht gut sein. Manche glauben zwar€– fehlerhafterweise€– an das jede Mittelbewertung ausschließende Prinzip „Der Zweck heiligt die Mittel“. Aber niemand würde behaupten: „Die Mittel heiligen den Zweck“. Auch der Handlungswille, einen unschuldigen Menschen zu töten, ist moralisch schlecht, ebenso wie die Handlung des Tötens und deren Konsequenz, also in diesem Fall€Kains unnatürlicher Tod ohne spezielle Rechtfertigung, wie sie eine Notwehrsituation darstellt. Um zu einer Untermauerung der ersten deskriptiven Behauptung zu gelangen, dass tatsächlich bestehende Moralsysteme alle Elemente der Handlung im weiteren Sinne bewerten, müsste man selbstredend entsprechende empirische Untersuchungen anstellen. Man kann vermuten, dass sich dabei durchaus kulturell bedingte Wertungsakzentuierungen zwischen stärker tugendorientierten Gesellschaften, etwa den antiken Poleis, stärker deontologisch orientierten Gesellschaften, etwa den Gesellschaften des christlichen Mittelalters, und stärker konsequentialistisch orientierten Gesellschaften, etwa den heutigen materialistisch geprägten Gesellschaften der westlichen Welt, ergeben würden. Aber man wird kaum finden, dass in einer Gesellschaft Tugenden, gute Absichten oder gute Konsequenzen eine ausschließliche oder dezidiert primäre Rolle spielen. Die Feststellung einer tatsächlichen Pluralität der Bezugnahmen der Belange im Konflikt gilt im Übrigen auch für andere primäre Normordnungen. Auch im Recht lässt sich etwa feststellen, dass weder allein die Konsequenzen noch allein der gute Wille entscheidend sind. Die verschiedenen Voraussetzungen einer Bestrafung etwa wegen Körperverletzung, die subjektive TatbestandsÂ�mäßigkeit (Vorsatz, Fahrlässigkeit), objek17 Vgl. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€178â•›ff.; William H. Shaw, Contemporary Ethics. Taking Account of Utilitarianism, Oxford 1999, S.€29.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
tive Tatbestandsmäßigkeit (Verletzungshandlung), Rechtswidrigkeit und Schuld decken praktisch alle der oben genannten sieben Teile der Handlung ab.
5. Die normative Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs Die zweite, normativ-ethische Begründung lautet, dass es auch keinen guten ethischen Grund gibt, den Bezug moralischer Normen und dann in der Konsequenz auch den Bezug ethischer Analysen und Rechtfertigungen grundsätzlich primär oder gar ausschließlich auf eines der oben genannten sieben Handlungselemente zu richten. Um dies zu zeigen, soll zunächst kurz die Unhaltbarkeit verschiedener Reduktionsversuche dargelegt werden. Zum Abschluss wird dann ein positiver Grund genannt, warum alle Reduktionsversuche notwendig scheitern müssen. Tugenden sind zwar ein möglicher Gegenstand moralischer Bewertungen und Verpflichtungen. Aber sie sind nicht deren einziger Gegenstand. Denn Tugenden haben zwar einen Einfluss auf Handlungen. Aber dieser Einfluss ist lediglich ein empirischprobabilistischer. Zwar mag es sein, dass jemand, der tugendhaft ist, häufig auch gut handelt. Aber dies ist nicht notwendig so. Auch der Tugendhafte kann gelegentlich schlecht oder moralisch neutral handeln. Und daraus können sich katastrophale Interessenverletzungen ergeben. So mag derjenige, der einen Verbrecher aus Mitleid oder Menschenliebe früher als geboten aus der Haft entlässt, weitere Verbrechen mit schrecklichen Folgen für die Opfer ermöglichen. Umgekehrt kann ein ansonsten wenig tugendhafter Mensch sich in einer bestimmten Notsituation vorbildlich verhalten, etwa weil gerade diese spezifische Situation ihm einen Anstoß gibt, endlich einmal richtig zu handeln. Kants These, dass nur ein guter Wille ohne Einschränkung gut ist, und die Folgerung, dass nur die subjektiven Prinzipien des Wollens, die Maximen, der Verallgemeinerungsprüfung zu unterwerfen sind, genügt zwar einer ins Extrem gesteigerten ethischen Sicherheitserwartung des Akteurs, weil eine fehlgehende Handlung und insbesondere schlechte Konsequenzen dann nicht auf den Akteur zurückfallen, berücksichtigt aber den je konkreten Anderen, der von einer Handlung betroffen ist, nicht hinreichend (die Verallgemeinerbarkeitsbedingung bezieht dann Andere aber zumindest auch ein). Die Ansprüche dieses Anderen sind zwar nicht allein ausschlaggebend für die Beurteilung einer Handlung. Aber ihre Existenz und normative Kraft machen die Beurteilung der Handlung eines Akteurs erst zu einer umfassenden ethischen. Beurteilt der Akteur sein Handeln in letzter Instanz nur im Hinblick auf sich selbst, seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche oder sein Wollen, so bleiben zentrale Teile von Moral und Ethik in einem gehaltvollen Sinne unerklärt. Man hat dann allenfalls eine erweiterte Rationalitätstheorie, einen strikten ethischen Subjektivismus, wonach etwa altruistisches Handeln lediglich als Handeln aus Angst vor Sanktionen aufzufassen wäre.18 Berücksichtigt man aber auch den 18 Ein solcher ethischer Subjektivismus wird allerdings immer wieder vertreten: Vgl. John L. Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong; Peter Stemmer, Handeln zugunsten anderer. Eine moralphilosophische Un-
5. Die normative Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs
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von der Handlung betroffenen Anderen mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Zielen, so vermag Kants Annahme, dass nur der gute Wille des Akteurs absolut gut ist, nicht zu überzeugen. Denn für den Anderen kann selbst ein guter Wille des Akteurs schlecht sein, das heißt, seine Belange ohne eine faire Abwägung missachten. Man denke an eine Mutter, die zwar das objektiv Beste für ihr Kind will, dabei aber dessen vielleicht sogar irrationale Wünsche vollkommen unberücksichtigt lässt. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Belange des von der Handlung betroffenen Anderen für die ethische Bewertung allein ausschlaggebend sind. Aber sie müssen bei der Bewertung einer Handlung in ihrer tatsächlichen Ausprägung beachtet werden, so dass der bloße gute Wille des Akteurs ohne Berücksichtigung der faktischen Interessen der Anderen in einem moralischen Sinn nicht absolut gut sein kann. Dies gilt selbst dann, wenn man „Wille“ wie Kant nicht in einem psychologischen Sinn versteht, sondern auf das „moralische Gesetz in mir“ bezieht, denn auch dieses muss die realen Belange der betroffenen Anderen mit einbeziehen, wenn wirklich eine adäquate Rechtfertigung moralischer KonÂ�fliktlösungen stattfinden soll. Ein vergleichbares Argument lässt sich auch gegen die Beschränkung des Bezugs moralischer Normen auf die Konsequenzen durch den Konsequentialismus vorbringen. Wird mit der Perspektive des betroffenen Anderen ein externer Standpunkt eingenommen, so ist kein Grund ersichtlich, warum dessen Interessen auf die Konsequenzen der Handlung des Akteurs beschränkt werden sollten.19 Die Konsequenzen einer Handlung mögen für uns in manchen Fällen gravierender sein als der schlechte Wunsch, die schlechte Absicht, die schlechte Zweck-Mittel-Wahl, der schlechte Handlungswille oder die schlechte Handlung im engeren Sinn. Aber in vielen Fällen beurteilen wir bereits unabhängig von den negativen Konsequenzen den Wunsch, die Absicht, die Zweck-MittelVerbindung, den Handlungswillen undâ•›/â•›oder die Handlung im engeren Sinn als negativ. Wenn jemand sich unrechtmäßig bereichern möchte und dazu jemanden hintergehen will und täuscht, so ist das im Normalfall bereits moralisch verwerflich, unabhängig davon, welche Folgen intendiert sind und daraus letztlich resultieren. Daran ändert sich auch nichts, wenn sich im Endeffekt aus dem Betrug, wie beabsichtigt, positive Folgen ergeben, etwa wenn der Betrügende mit dem Erlös eine Hilfsorganisation unterstützt, während wir den durch den Betrug erlangten Betrag sonst für Luxusgüter ausgegeben hätten. Nur in speziellen Fällen führen weit überwiegende positive Folgen dazu, dass schlechte Wünsche, Absichten und Handlungsausführungen im Rahmen einer Gesamtbewertung der Handlung im weiteren Sinn in Kauf genommen werden dürfen. Dies wäre etwa wohl dann der Fall, wenn eine leichte Täuschung dazu dienen soll, ein lebenswichtiges und nicht anders erlangbares Medikament für einen Sterbenskranken von einem Apotheker zu erlangen und der Apotheker mit seiner Weigerung, das Medikament herauszugeben, seiner eigenen Pflicht zur Hilfeleistung nicht nachkommt, also seinerseits unmoralisch handelt (dazu näher Kapitel€XII, 3). tersuchung, Berlin 2000, S.€101, 118â•›f.; ders., Normativität, Berlin 2008. 19 In der Literatur findet sich immer wieder die nicht weiter begründete und sachlich unberechtigte Gleichsetzung der Berücksichtigung von Interessen mit der Beschränkung auf Konsequenzen. Vgl. etwa Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, in: Manfred Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie Bd. II, Freiburg 1974, S.€455–475, S.€474.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
Moderne Utilitaristen haben eine Zwei-Ebenen-Strategie entwickelt, um bestimmten Einwänden, insbesondere dem Einwand der Überforderung, zu begegnen. En passant wird dabei auch die Beschränkung der Berücksichtigung auf die Konsequenzen relativiert. Unter konsequentialistischen Primärprinzipien sollen unmittelbar handlungsregelnde, nichtkonsequentialistische Sekundärprinzipien rangieren. Diese Hierarchisierung wirft aber zwangsläufig die Frage auf: Was soll im Konfliktfall entscheidend sein, die konsequentialistischen Primärprinzipien, wie ein modifizierter Aktkonsequentialismus annimmt,20 oder die Sekundärprinzipien, wie es der Regelkonsequentialismus vertritt?21 Beide Alternativen sind, wie sich in Kapitel€V, 4 noch zeigen wird, unbefriedigend. Beim modifizierten Aktkonsequentialismus sind letztlich doch die Konsequenzen in Form des Primärprinzips entscheidend. Die Sekundärprinzipien sind nur erste allgemeine primafacie-Regeln. Er erlaubt überdies keine verbindliche Ausprägung von Tugenden und habituellen Regelbefolgungen. Beim Regelkonsequentialismus gelten dagegen die Regeln auch im Einzelfall unabhängig von den Konsequenzen der jeweiligen Handlung. Damit liegt aber kein wirklicher Konsequentialismus mehr vor. Man muss sich vielmehr fragen, auf welcher ethischen Grundlage die Einzelfallgeltung der Regeln gerechtfertigt sein soll. Einen interessanten Mittelweg hat in Form eines sog. „indirekten Konsequentialismus“ Dieter Birnbacher vorgeschlagen.22 Danach soll den Sekundärprinzipien eine weitergehende Autorität als beim modifizierten Aktkonsequentialismus zukommen. Diese Autorität ist allerdings nicht unbegrenzt, sondern wird durch eine Generalklausel eingeschränkt, die analog zum rechtfertigenden Notstand im Strafrecht in Situationen eines schwerwiegenden Konflikts mit dem Primärprinzip Ausnahmen zulässt und in Einzelfällen von der Befolgung der Sekundärprinzipien entbindet. Die Sekundärprinzipien sollen auch viel stärker als beim Aktkonsequentialismus emotional im Individuum verankert sein. Sie sollen selbst dann gelten, wenn ihre Begründbarkeit durch das Primärprinzip nicht unmittelbar einsehbar ist. Dieser Kompromissvorschlag hat den Verdienst, sowohl die Berücksichtigung der Konsequenzen als auch der Tugenden und des regelgeleiteten Handelns zu integrieren. Er kommt also einer Pluralität des Handlungsbezugs moralischer Verpflichtungen bereits sehr nahe. Allerdings bleibt der Konsequentialismus als Primärprinzip erhalten. Das Problem liegt in der Entscheidung, wann zwischen Primär- und Sekundärprinzipien ein „schwerwiegender Konflikt“ anzunehmen ist. Und es stellt sich die weitere Frage: Quis judicabit? Wer entscheidet? Im Übrigen sollen sich nach Birnbacher in schwerwiegenden Konflikten letztlich doch die Konsequenzen durchsetzen. Das lässt sich aber mit unseren grundlegenden Überzeugungen nicht in Einklang bringen. Man erinnere sich an bekannte Beispiele, wie dasjenige der Entnahme der Organe eines nur leicht erkrankten Patienten, um mit diesen Organen fünf andere Patienten zu retten. Hier liegt ohne Zweifel ein schwerwiegender Konflikt zwischen dem nichtkonsequentialistischen Sekundärprinzip des Lebensschutzes 20 So Richard M. Hare, Moral Thinking. Its Levels, Method and Point, S.€192. 21 Richard B. Brandt, Toward a Credible Form of Rule-Utilitarianism, in: Hector-Neri Castanedaâ•›/â•›George Nakhnikian (Hg.), Morality and the Language of Conduct, Detroit 1965, S.€107–143. 22 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€213â•›f.
6. Der Grund für das Scheitern der Beschränkung des Bezugs
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Unschuldiger und dem konsequentialistischen Primärprinzip der allgemeinen Leidminimierung vor. Trotzdem würde hier niemand ernsthaft die Superiorität der konsequentialistischen Lösung behaupten. Auch Birnbachers Versuch, den prinzipiellen Vorrang der Konsequenzen gegenüber den anderen Teilen der Handlung zu rechtfertigen, kann also letztlich nicht überzeugen.
6. Der Grund für das Scheitern der Beschränkung des Bezugs Aus welchem Grund scheitert nun aber der Versuch einer Beschränkung des Bezugs ethischer Normen auf ein einziges Element der Handlung im weiteren Sinne? Jede adäquate Ethik setzt notwendig die Berücksichtigung der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen der von der Handlung eines Akteurs betroffenen Anderen voraus, also jedenfalls der betroffenen Menschen, möglicherweise aber auch der Tiere und anderen Lebewesen. Diese Interessen der Anderen beschränken sich nun aber faktisch nicht auf einzelne Aspekte der Handlung des Akteurs. Sie können und werden sich regelmäßig auf alle Elemente der Handlung im weiteren Sinn erstrecken. Für den betroffenen Anderen mögen etwa neben den Konsequenzen einer Handlung auch die Tugenden und sonstigen Eigenschaften des Akteurs, aber auch sein Wille wichtig sein. Es kann mir nicht gleichgültig sein, wenn mein Partner ein habitueller Mörder ist, selbst sofern er aktuell keinen konkreten Handlungswillen oder auch nur eine abstrakte Handlungsmaxime zur Tötung hat. Es kann mir aber auch nicht gleichgültig sein, wenn mein Partner zwar immer das Beste will, seine Handlungen aber meine Belange€– etwa weil sie ungewöhnlich sind€– nicht berücksichtigen oder wegen fahrlässig verursachter Unfähigkeit der Konsequenzbeherrschung regelmäßig oder auch nur einmalig in katastrophalen Konsequenzen für mich enden. Wenn ich die Verwirklichung meiner Belange ernsthaft will, so will ich nicht nur die guten Konsequenzen, sondern im Normalfall alle Vorstufen der Handlung bis zur Realisierung dieser Konsequenzen. Die einzig plausible Schlussfolgerung kann deshalb lauten: Alle Teile der Handlung im weiteren Sinne sind grundsätzlich gleichwertiger Gegenstand moralischer Normen und ethischer Rechtfertigungen, weil sie alle zu dem führen können, was der Ausgangspunkt der Moral ist: zu möglichen Konflikten im weiteren Sinn einer Interessendivergenz. Deshalb werden sich die Belange der einzelnen am Konflikt Beteiligten auf alle möglichen Teile der Handlungen Anderer richten. Keine der oben analysierten sieben Teile der Handlung im weiteren Sinne ist also absolut gut oder schlecht. Alle Teile der Handlung können nur relativ gut oder schlecht im Rahmen einer Gesamtbewertung des moralischen Konflikts sein. Um zu einer adäquaten Beurteilung einer moralischen Konfliktsituation zu gelangen, sind folglich prinzipiell immer alle oben analysierten sieben Teile der Handlung im weiteren Sinne zu berücksichtigen. Wie kann nun das Verhältnis von Teil- und Gesamtbewertung der Handlung aussehen? Sind alle Teile der Handlung im weiteren Sinne entweder als gut, schlecht oder neutral zu bewerten, so ist die Gesamthandlung im weiteren Sinne ebenfalls ohne Weiteres als gut, schlecht oder neutral zu bewerten. Sind einzelne Teile der Handlung im weiteren Sinne einheitlich als gut oder schlecht und andere Teile als neutral zu bewerten,
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
so ist die Gesamthandlung gut oder schlecht, weil neutrale Bewertungen an der guten oder schlechten Bewertung einzelner Handlungselemente und in der Folge auch an der Gesamtbewertung nichts ändern. Problematisch sind die Fälle, bei denen eine Handlung im weiteren Sinne sowohl gute als auch schlechte Teile enthält, also den Interessen der Beteiligten sowohl ent- als auch widerspricht. Man denke also zum Beispiel an Fälle, bei denen die Mutter subjektiv und objektiv gute Absichten für ihr Kind hat, diese aber wegen divergierender Wünsche des Kindes zu schlechten Konsequenzen (Missachtung und Verärgerung des Kindes) und damit zu paternalistischen (oder vielmehr: maternalistischen) Konflikten führen. Man denke umgekehrt an Fälle wie den oben geschilderten Betrug des Apothekers, in denen schlechte Absichten und Handlungen gute Konsequenzen bewirken. In derartigen Fällen muss eine Abwägung zwischen der Bewertung der einzelnen Teile der Handlung im weiteren Sinne stattfinden. Dabei wird ein schlechter Teil nur dann nicht zur Gesamtbewertung der Gesamthandlung als schlecht führen, wenn er durch wenigstens einen guten und gleichzeitig im konkreten Fall€sehr viel gewichtigeren Teil ausgeglichen wird. Für die beiden soeben genannten Beispielfälle führt dies zu folgenden Resultaten: Die subjektiv und objektiv guten Absichten der Mutter rechtfertigen die maternalistische Durchsetzung der Handlung nur dann, wenn die drohenden negativen Konsequenzen für das Kind gewichtiger und die erzeugte Missachtung und Verärgerung des Kindes lediglich marginal und kurzzeitig sind. Das bedeutet: Mit zunehmendem Alter und zunehmender geistiger und voluntativer Eigenständigkeit des Kindes wird der Gesichtspunkt der MissÂ�achtung seiner Wünsche und der Verärgerung immer gewichtiger werden.23 Die maternalistische Durchsetzung des elterlichen Willens wird sich in immer weniger Fällen begründen lassen. Die Täuschung des Apothekers lässt sich nur rechtfertigen, weil die gute Konsequenz der Lebensrettung des Patienten sehr gewichtig und der Apotheker seinerseits zur Hilfeleistung verpflichtet ist. Die Täuschung wäre sicher nicht zu begründen, wenn es nur um die Erlangung eines Kopfschmerzmittels ginge, selbst wenn der Apotheker seinerseits zur Herausgabe des Mittels moralisch oder rechtlich verpflichtet wäre. Im Rahmen der Gesamtbewertung einer Handlung im weiteren Sinn können also nur erheblich gewichtige gute Teile schlechte Teile kompensieren und die Gesamthandlung zu einer guten oder zumindest neutralen werden lassen. Dies entspricht im Übrigen den Regeln des Notstandes, wie sie im deutschen Recht, etwa in den §§ 34 StGB, 228€BGB, niedergelegt sind: Man darf dem Anderen dessen Spazierstock nicht gegen dessen Willen aus der Hand nehmen, um eine lästige Fliege abzuwehren. Aber man darf den Spazierstock an sich reißen, um sich gegen einen tollwütigen Fuchs zu verteidigen, der einen in Lebensgefahr bringt.24
23 Dies entspricht übrigens auch der gesetzlichen Regelung des elterlichen Erziehungsrechts: § 1626 II S.€1 BGB: „Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln.“ 24 § 34 Strafgesetzbuch (StGB): „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden
7. Handlungen und Normen bzw. Regeln
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Divergieren die einzelnen Teile einer Gesamthandlung, so hat das auch Konsequenzen für das Verhältnis zwischen der Bewertung dieser Handlung und der Verpflichtung, sie auszuführen. Während man zu guten Handlungen, sofern weitere Bedingungen wie die Erheblichkeit gegenüber der Autonomiebeschränkung des Verpflichteten erfüllt sind, im Normalfall verpflichtet ist, kann das nicht gelten, wenn eine derartige Handlung nur deswegen insgesamt als gut anzusehen ist, weil schlechte Elemente der Handlung im Rahmen der Gesamtbewertung durch erheblich gewichtigere gute Elemente kompensiert werden. Nur in den seltensten Fällen wird man annehmen können, dass jemand verpflichtet ist, etwas Schlechtes zu wollen oder zu tun, um erheblich gewichtigere gute Konsequenzen zu realisieren. Im Regelfall wird eine derartige Handlung allenfalls erlaubt, nicht aber geboten sein. Nur im Falle einer überragenden Disproportionalität der Bewertung divergierender Teile der Handlung kann sich ein Gebot oder Verbot ergeben.
7. Handlungen und Normen bzw. Regeln Die potentiell widerstreitenden Belange können sich nach den Überlegungen dieses Kapitels gleichermaßen auf alle Teile der Handlung im weiteren Sinne beziehen. Dies gilt dann auch für alle spezielleren Formen von Handlungen. Neben einfachen tatsächlichen Handlungen sind dies etwa sprachliche Handlungen und unter diesen wiederum Normen, also normative Sprechakte. Innerhalb der Normen gilt es weiterhin für allgemeine Normen, also Regeln. Wie eine einzelne einfache Handlung ist also auch eine Regel als Handlung dem potentiellen Widerstreit divergierender Belange ausgesetzt, der sich auf alle ihre Teile erstreckt: ihre Bedingungen, die Wünsche und Überzeugungen, die ihr zugrunde liegen, die Ziele, die Mittelwahl, der Regelungswille, die Regelsetzung und die Konsequenzen. Allerdings kann natürlich der spezifische Charakter von Regeln zu spezifischen Gewichtungen führen. Wenn Regeln etwa eine allgemeine und diffuse Quelle haben, so werden die ihnen zu Grunde liegenden Überzeugungen ebenfalls diffus sein und können deshalb nicht im Zentrum des moralischen Interesses stehen. Dies gilt umso mehr, wenn Regeln, wie etwa Regeln des positiven Rechts, schon sehr lange gelten und ein möglicher personaler Urheber, der sie vielleicht einst aufgestellt hat, nicht mehr existiert. Auch die Absichten werden dann eine beschränkte Rolle spielen. Das bedeutet, dass die Ausführung und die Konsequenzen der Regeln ein stärkeres Gewicht erlangen.
8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt Die Frage nach der Singularität oder Pluralität der ethisch relevanten Handlungsteile hat ihren Niederschlag in verschiedenen Doktrinen, Thesen und Problemen gefunden, von denen einige wesentliche nachfolgend erörtert werden sollen, um die grundlegenInteressen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.“
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
de These der Pluralität des Bezugs auf die verschiedenen Handlungsteile plastischer werden zu lassen. Die älteste dieser Doktrinen ist die Doktrin vom doppelten Effekt.25 Nach ihr soll eine Handlung, die außer guten auch schlechte Folgen hat, zulässig sein, sofern vier Bedingungen erfüllt sind:26 (1) Die Handlung ist moralisch gut oder wenigstens indifferent. (2) Die Handlungsabsicht ist gut, weil sie sich nur auf die guten Folgen richtet. Die schlechten Folgen sind nicht beabsichtigt bzw. bezweckt, sondern allenfalls vorausgesehen. (3) Die schlechten Folgen sind nicht Mittel zum Zweck der Handlung, sondern nur ein möglicher Nebeneffekt. (4) Die schlechten Folgen sind den guten Folgen angemessenâ•›/â•›proportional.27 Eine mögliche Kritik oder Rechtfertigung der Doktrin vom doppelten Effekt lässt sich am besten anhand einzelner Fälle diskutieren:
a)€Einzelne Fälle Fall€1 (Selbstverteidigung gegen den Einbrecher): A ertappt den Einbrecher E auf frischer Tat und schießt auf ihn, um sich zu verteidigen und ihn zu vertreiben. Der Einbrecher wird verletzt, was A nicht beabsichtigt, aber für möglich gehalten hat. A hat die gute Absicht der Selbstverteidigung bzw. Vertreibung des Einbrechers. Die schlechte Folge der Verletzung des Einbrechers ist nicht beabsichtigt, sondern allenfalls vorausgesehen. Die schlechte Folge der Verletzung des Einbrechers ist nicht Mittel zur Erreichung des guten Zwecks seiner Vertreibung, weil der Einbrecher prinzipiell auch ohne diese Verletzung hätte vertrieben werden können, etwa durch das Anschalten des Lichts, das Aufheulen der Alarmanlage oder das Auftauchen der Polizei. Die schlechten Konsequenzen der Verletzung des Einbrechers sind den guten Konsequenzen der Ver25 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II, qu. 64, 7. Ob Thomas das Prinzip hier tatsächlich vertritt, ist umstritten: Joseph T. Mangan, An Historical Analysis of the Principle of Double Effect, Theological Studies 10 (1949), S.€41–61; Thomas A. Cavanaugh, Aquinas’s Account of Double Effect, The Thomist 61 (1977), S.€107–127; Gareth B. Matthews, Saint Thomas and the Principle of Double Effect, in: Scott MacDonaldâ•›/â•›Elonore Stump (Hg.), Aquinas’s Moral Theory, Ithaca 1999, S.€63–78; Gregory M. Reichberg, Aquinas on Defensive Killing: A Case of Double Effect?, The Thomist 69 (2005), S.€341–370; zur allgemeinen Geschichte des Prinzips: Lucius I. Ugorji, The Principle of Double Effect: A Critical Â�Appraisal of its Traditional Understanding and its Modern Reinterpretation, Frankfurt a.â•›M. 1985. 26 Vgl. zur vorliegenden Formulierung: Tom.â•›L. Beauchampâ•›/â•›James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S.€162â•›f., wobei sie „Proportionalität“ im Sinne eines „Überwiegens“ („outweigh“) verstehen. Aber dies ist zweifelhaft, denn dann wäre ein maximierender Konsequentialismus gefordert und das Prinzip vom doppelten Effekt wäre nur seine Verschärfung. 27 Etwas anders formuliert Joseph M. Boyle, Jr., Toward Understanding the Principle of Double Effect, Ethics 90 (1980), S.€527–538, S.€528: „(1) the agent’s end must be morally acceptable (honestus), (2) the cause must be good or at least indifferent, (3) the good effect must be immediate, and (4) there must be a grave reason for positing the cause.“ Der Unterschied betrifft also vor allem das vierte Merkmal.
8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt
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treibung und Sicherung der gefährdeten Güter wohl auch angemessen (das ist umstritten). Nach der Doktrin vom doppelten Effekt wäre die Selbstverteidigung des A also erlaubt (nicht aber wohl die Tötung des Einbrechers). Fall€2 (Strategische Bombardierung der Munitionsfabrik): Im Rahmen eines legitimen Verteidigungskriegs wird eine Munitionsfabrik des angreifenden Landes bombardiert, um den Krieg zu verkürzen. Dabei sterben jedoch, was allgemein vorherzusehen, aber nicht zu vermeiden war, einige in der Nähe wohnende Zivilisten. Die Verkürzung des Kriegs ist ein gutes Ziel einer legitimen Kriegshandlung. Die Zerstörung der Munitionsfabrik ist ein legitimes Zwischenziel bzw. Mittel, sofern der Krieg selbst legitim ist. Die Tötung der Zivilisten ist nicht beabsichtigt, sondern nur vorausgesehen. Sie ist kein Mittel zum Zweck der Zerstörung der Munitionsfabrik, weil diese prinzipiell auch so zerstört werden könnte. Die schlechten Konsequenzen sind den guten nicht unangemessen, sofern der Krieg signifikant verkürzt werden kann und dadurch viele andere Menschen gerettet werden. Nach der Doktrin vom doppelten Effekt darf die Munitionsfabrik somit bombardiert werden. Fall€ 2a (Terroristische Bombardierung Unschuldiger): Wie Fall€ 2, aber es wird keine Munitionsfabrik bombardiert, sondern eine vergleichbare Anzahl nicht kämpfender, also unschuldiger Personen, um die Zivilbevölkerung zu demoralisieren, was den Krieg allerdings wie im Fall€2 verkürzen und viele andere Menschen retten würde. Die Verkürzung des Kriegs ist ein legitimes Ziel. Die Tötung der Zivilisten ist dagegen kein legitimes Ziel. Sie könnte allenfalls als nichtbeabsichtigter Nebeneffekt erlaubt sein. Hier ist aber die Tötung der Zivilisten anders als in Fall€2 nicht nur vorhergesehen, sondern zumindest gewollt, wenn nicht sogar beabsichtigt. Die zweite Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt ist also nicht erfüllt. Die Zivilisten werden im Übrigen als Mittel zur Erreichung des legitimen Ziels der Kriegsverkürzung gebraucht. Ihr Tod könnte nicht hinweggedacht werden, ohne die Erreichung des Ziels zu vereiteln. Auch die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt ist somit nicht gegeben. Die Zivilisten dürfen nicht bombardiert werden. Derartiger Terror ist unzulässig. Fall€3 (Rettung einer Schwangeren durch Entfernung der Gebärmutter): Die schwangere Frau F hat Gebärmutterkrebs. Um ihr Leben zu retten, muss die Gebärmutter entfernt werden, was zum Tod des Kindes führt. Die Rettung der F ist eine gute Handlung und die entsprechende Absicht legitim. Die Tötung des Kindes ist nicht beabsichtigt, sondern nur vorhergesehen. Sie ist auch nicht Mittel, weil die Rettung allein auf der Entfernung der Gebärmutter beruht und deshalb prinzipiell auch ohne Tötung des Kindes geschehen könnte. Die schlechten Konsequenzen sind den guten angemessen. Nach der Doktrin vom doppelten Effekt darf die Gebärmutter entfernt werden.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
Fall€4 (Rettung der Mutter durch Entfernung des im Gebärmutterhals feststeckenden Kindes): Die schwangere Frau G kann nur überleben, wenn das beim Geburtsvorgang im Gebärmutterhals stecken gebliebene Kind getötet wird. Die Rettung der G ist eine legitime Absicht. Die Tötung des Kindes ist nicht beabsichtigt. Sie ist aber Mittel zum beabsichtigten Zweck, weil die Rettung die Tötung des Kindes voraussetzt. Man muss deshalb davon ausgehen, dass sie zumindest gewollt und nicht nur vorhergesehen ist. Die schlechten Konsequenzen sind den guten wohl noch angemessen (bestreitbar). Nach der Doktrin vom doppelten Effekt darf das Kind in diesem Fall€nicht getötet werden, um die Mutter zu retten. Hier stellt sich die Frage, ob der Unterschied zu Fall€3 so gravierend ist, dass er eine abweichende Entscheidung zu rechtfertigen vermag.28 Fall€5 (Indirekte Sterbehilfe): Der sterbenskranke S leidet unter unerträglichen SchmerÂ� zen. Zur Linderung dieser Schmerzen ist die Gabe von Morphium notwendig, was sein Leben allerdings verkürzen kann, also eine sog. indirekte Sterbehilfe darstellen würde. Die Linderung der Schmerzen des S ist ein legitimes Ziel. Die Verkürzung des Lebens ist nicht beabsichtigt, aber vorhergesehen. Sie ist nicht Mittel zum beabsichtigten Zweck der Schmerzlinderung, da diese nicht notwendig davon abhängt. Eine mögliche nicht gravierende Lebensverkürzung erscheint zu diesem Zweck angemessen. Nach der Doktrin vom doppelten Effekt ist die Linderung der Schmerzen zulässig. Fall€6 (Rettung der Höhlenforscher):29 Eine Gruppe von Höhlenforschern kann eine Höhle nicht verlassen, weil ein Mitglied ihrer Gruppe, ein sehr dicker Mann, der als Erster hinaussteigen wollte, den Eingang blockiert. Die Flut steigt und alle drohen zu ertrinken. Die Höhlenforscher sprengen€– was faktisch die einzige Rettungsmöglichkeit darstellt€– den Eingang frei und nehmen den Tod des sehr dicken Mannes in Kauf. Das Rettungsziel der Höhlenforscher ist legitim. Die Tötung des sehr dicken Mannes ist aber€– so wird angenommen€– notwendiges Mittel zur Rettung, so dass das Instrumentalisierungsverbot der dritten Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt nicht beachtet ist. Im Übrigen ist die Tötung des sehr dicken Mannes zwar nicht beabsichtigt, aber zumindest gewollt und nicht nur vorausgesehen, so dass auch die zweite Bedingung nicht erfüllt ist. Angesichts der größeren Anzahl Geretteter kann man die Konsequenzen vielleicht als angemessen ansehen. Trotzdem wäre hier die Tötung nach der Doktrin vom doppelten Effekt nicht zulässig, da der sehr dicke Mann bewusst und gewollt zum 28 Dies ist verschiedentlich bezweifelt worden, etwa von H.â•›L.â•›A. Hart, Intention and Punishment, in: ders., Punishment and Responsibility, Oxford 1968, S.€ 113–135; Tom L. Beauchampâ•›/â•›James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S.€163â•›ff. 29 Dieser Fall€stammt von Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, in: dies., Virtues and Vices and Other Essays in Moral Philosophy, Oxford 1978, S.€19–32, S.€21.
8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt
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Mittel der Rettung gemacht wird. Ohne seine Tötung ist die Rettung nicht möglich. Hier stellt sich die Frage, ob die Rettung der vielen Höhlenforscher nicht den Tod des einen, im Ausgang stecken gebliebenen Höhlenforschers rechtfertigt. Fall€7 (Verurteilung des Unschuldigen): Richter R kann Massenunruhen mit vielen Toten verhindern, wenn er den€– wie ihm bekannt ist€– unschuldigen U verurteilt. Die Verhinderung von Massenunruhen ist eine legitime Absicht. Die Verurteilung des€U wird von R nicht beabsichtigt. Aber sie ist Mittel zur Verhinderung der Massenunruhen und deshalb gewollt und nicht nur vorhergesehen. Selbst wenn man dieses Mittel als angemessen ansehen würde, wäre die Verurteilung des R daher nicht erlaubt, da er instrumentalisiert wird.
b) Einbettung in die allgemeine Theorie Wie lässt sich die Doktrin vom doppelten Effekt in die allgemeine normativ-ethische Theorie einbetten? Die wichtigste Einsicht besteht zunächst darin, dass die Doktrin vom doppelten Effekt zwischen einem strikten Konsequentialismus und einer strikt deontologischen Auffassung angesiedelt ist und damit beide, jeweils eines der Handlungselemente vereinseitiÂ�genden Theorien, ein Stück weit relativiert bzw. transzendiert. Sie nähert sich also zumindest der hier vertretenen These der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs der Belange bzw. Interessen auf die Handlungselemente an und ist deshalb in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse. Für den Konsequentialismus ist die Relativierung leicht zu erkennen. Er würde die ersten drei Bedingungen der Doktrin vom doppelten Effekt weglassen und sich auf die vierte Bedingung der Angemessenheit der Folgen beschränken, dort allerdings€– sofern es sich um die gängige Version der Verbindung von Konsequentialismus und Maximierungsprinzip handelt€– die Angemessenheit bzw. Proportionalität als Überwiegen der guten Konsequenzen interpretieren bzw. fordern. So wäre im Fall€1 die Selbstverteidigung nur zulässig, wenn die möglichen Verletzungen des Einbrechers nicht schwerwiegender wären als der Wert der Sicherung. Im Fall€2 wäre die Bombardierung nur erlaubt, wenn die durch sie herbeigeführte Beschleunigung des Kriegsverlaufs mehr Menschen retten würde, als durch die Bombardierung sterben würden. Für eine strikt deontologische Ethik ist die Relativierung dagegen nicht so leicht zu erkennen. Kants primäre Auszeichnung des guten Willens setzt€ – in einer starken Lesart€– wohl voraus, dass alle Willenselemente in einem weiteren Sinne von „Wille“ gut sind. Die Unterscheidung einer enger verstandenen Absicht der Handlung von einer bloßen Voraussicht weiterer schlechter Nebeneffekte wäre deshalb vermutlich nach Kant unzulässig. Eine strikt deontologische Ethik würde sich also auf die erste und dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt beschränken und insbesondere die zweite und vierte Bedingung als Einschränkung der ersten Bedingung ablehnen. Soweit ersichtlich hat Kant die Doktrin vom doppelten Effekt nie diskutiert. Auch seine Beispiele
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
lassen sich mit ihrer Hilfe nicht in seinem Sinne interpretieren. Im Gegenteil: Hätte er die Doktrin akzeptiert, so hätte er an verschiedenen Stellen anders entscheiden müssen. Dies wird besonders im berühmten Beispiel des Verbots der Lüge zur Rettung eines Verfolgten deutlich:30 Ein Mörder kommt an die Haustüre und fragt, ob sich der verfolgte Freund des Hausherrn in das Haus geflüchtet hat. Selbst in dieser Situation soll der Hausherr nach Kants Überzeugung wahrheitsgemäß Auskunft erteilen, also den Tod des Freundes in Kauf nehmen. Nach der Doktrin vom doppelten Effekt wäre die wahrheitswidrige Auskunft dagegen gerechtfertigt: Die Rettung des Opfers vor dem Mörder ist ein legitimes Ziel. Die Täuschung des Mörders ist nicht beabsichtigt, sondern nur vorhergesehen. Sie ist im Übrigen wohl kein notwendiges Mittel, um die Rettung des Opfers zu erreichen, denn prinzipiell könnte der Mörder auch mit anderen Mitteln von der Tat abgehalten werden, etwa indem der Hausherr einfach nicht aufmacht oder die Polizei ruft. Schließlich ist die Täuschung selbstredend angemessen, um das Opfer vor dem Mord zu retten. Die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt, also die Bedingung des Ausschlusses der Instrumentalisierung, stellt€ – wie sich ergab€ – eine Einschränkung des Konsequentialismus dar. Fraglich ist allerdings, ob diese Einschränkung einer strikt deontologischen Theorie wie derjenigen Kants genügen würde. Das hängt von der Interpretation der Kantischen Theorie ab. Kant fordert bekanntlich in der zweiten Explikationsformel des Kategorischen Imperativs, der sog. Zweck-Mittel-Formel, man solle immer so handeln, dass man die Menschheit sowohl in der eigenen Person als auch in jeder anderen Person niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck „brauche“.31 Lässt man einmal die Tatsache, dass nach Kant nur Maximen dem Verallgemeinerungstest unterworfen werden sollen, außer Betracht, so stellen sich zwei Fragen. Erstens: Lässt sich die Zweck-Mittel-Formel auf einen einzigen Handlungskontext, in dem immer nur eine einzige Instrumentalisierung in Rede stehen kann, beschränken? Nur insofern man dies bejaht, kann die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt das Erfordernis der Zweck-Mittel-Formel erfüllen. Zweitens: Ist das Gebot, den Einzelnen immer auch als Zweck zu „brauchen“, bereits dadurch und immer dann erfüllt, dass und wenn man ihn nicht nur als Mittel benutzt, oder setzt die Zweck-MittelFormel eine zusätzliche Anerkennung als zweckhaftes Wesen voraus?32 Nur im Falle der ersten, schwächeren Lesart der Zweck-Mittel-Formel würde die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt den strikt-deontologischen Anforderungen Kants genügen. Entschiede man sich dagegen für eine stärkere Lesart der Zweck-Mittel-Formel, wonach eine zusätzliche Anerkennung als zweckhaftes Wesen notwendig wäre, so würde
30 Immanuel Kant, Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, Berlin 1912, S.€423â•›ff. 31 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€429. 32 Vgl. zu dieser Differenzierung: Warren S.€Quinn, Actions, Intentions, and Consequences: The Doctrine of Double Effect, in: Philosophy and Public Affairs 18 (1989), S.€334–351, S.€350, Fn.€25. Quinn lehnt ein eventuelles Erfordernis der zusätzlichen Berücksichtigung als Zweck nach der stärkeren Lesart ab.
8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt
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die Doktrin vom doppelten Effekt eine Abschwächung gegenüber dem kantschen Erfordernis der notwendigen Berücksichtigung des Anderen als Zweck bedeuten. Für die hier verfolgten systematischen Zwecke kann die Frage des historisch richtigen Verständnisses der kantschen Zweck-Mittel-Formel allerdings dahinstehen. Jedenfalls zeigt sich in der Doktrin vom doppelten Effekt eine grundsätzliche Pluralität der Bezugnahme auf die sieben oben erwähnten Teile der Handlung im umfassenden Sinne, in dem nun neben der Absicht (Element drei) und den Konsequenzen (Element sieben) auch die Mittelwahl (Element vier) und der Wille zur Mittelausführung (Element fünf ) sowie das Element des tatsächlichen Handelns (Element sechs) Berücksichtigung finden. Dabei wird allerdings ebenfalls deutlich, dass diese Pluralität der Bezugnahme im Rahmen der Doktrin vom doppelten Effekt noch eine eingeschränkte und damit nicht hinreichende ist, und zwar aus zwei Gründen: zum einen, weil statt aller sieben Elemente nur fünf Elemente für relevant erklärt werden, denn die Elemente eins und zwei der inneren und äußeren Bedingungen und der Überzeugungen und Wünsche werden nicht berücksichtigt. Zum anderen, weil die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt, also das Instrumentalisierungsverbot, ihrerseits absolut gesetzt wird. Während das Erfordernis der guten Absicht, wie es sich in der zweiten Bedingung ausdrückt, durch die Erlaubtheit der voraussehbar negativen Konsequenzen, also die Bedingungen zwei und drei und die alleinige Berücksichtigung der Konsequenzen durch die Bedingungen eins bis drei eingeschränkt werden, gilt das Verbot der Instrumentalisierung nach der klassischen Formulierung der Doktrin vom doppelten Effekt absolut. Dieses Verbot wird in vielen Fällen zu Recht den Ausschlag geben, etwa im Fall€ 7 der Verurteilung eines Unschuldigen. Aber es scheinen doch Situationen vorzukommen, in denen das Instrumentalisierungsverbot der Doktrin vom doppelten Effekt durch einen zusätzlichen Gesichtspunkt relativiert werden muss, etwa im Fall€4 des Schwangerschaftsabbruchs zur Rettung des Lebens der Mutter und im Fall€6 der Rettung der Höhlenforscher durch die Opferung des sehr dicken Manns. In beiden Fällen sind Opfer bzw. Instrumentalisierter und Handelnde(r) bzw. Begünstigte(r) zu einer Art Schicksalsgemeinschaft verbunden. Im Fall€ 4 der Schwangerschaft sind sie körperlich eins. Im Fall€ 6 der Höhlenforscher sind sie in einer Situation gemeinsam als Gruppe und gleichermaßen durch eine einzige Gefahr bedroht. Das Verbot der Instrumentalisierung anderer selbständig zu berücksichtigender Individuen durch die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt kann als legitime Konkretisierung der Grundforderung nach Berücksichtigung aller moralisch relevanten Individuen, also als zentrale Doktrin des normativen Individualismus verstanden werden. Diese Konkretisierung des normativen Individualismus zum Verbot der Instrumentalisierung muss allerdings dort ihre Grenze finden, wo spezielle Grundbedingungen der Situation die absolute normative Trennung in zwei sich selbständig gegenüberstehende Individuen nicht zulassen. Dies ist vor allem in den beiden soeben genannten Ausprägungen einer Schicksalsgemeinschaft der Fall, in der speziellen Situation der körperlichen Verschränkung, wie sie im Rahmen einer Schwangerschaft vorliegt, und in der Situation einer gemeinschaftlichen, gleichermaßen drohenden Gefahr. In beiden Fällen führt eine spezifische Bedingung, also das spezifische Handlungselement eins dazu, dass das Instrumentalisierungsverbot mit Bezug auf die Handlungselemente vier und
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
fünf nicht absolut gelten kann. Das Handlungsverbot durch die Doktrin vom doppelten Effekt wird hier also durch zusätzliche Bedingungen relativiert. Umgekehrt können zusätzliche Bedingungen jedoch auch zum Verbot einer nach der Doktrin vom doppelten Effekt erlaubten Handlung führen.33 So kann etwa das Versprechen, kein Morphium zu nehmen oder zu geben, die im Fall€5 nach der Doktrin vom doppelten Effekt an sich erlaubte indirekte Sterbehilfe verbieten. Man kann also festhalten: Die Doktrin vom doppelten Effekt führt gegenüber Theorien, die ein einzelnes Handlungselement absolut oder zumindest primär setzen, wie dem Konsequentialismus und einer strikt deontologischen Ethik, zu einem großen Fortschritt, weil sie mehrere verschiedene Handlungselemente berücksichtigt. Sie geht allerdings zum einen in dieser Pluralisierung des Bezugs auf verschiedene Handlungselemente noch nicht weit genug, denn sie bezieht noch nicht alle Teile der Handlung in die Berücksichtigung der Interessen ein. Zum anderen ist sie zu strikt, weil sie das Instrumentalisierungsverbot absolut setzt. Eine erweiterte Version, welche das Instrumentalisierungsverbot relativiert, würde also etwa lauten: (1) Die Handlung ist moralisch gut oder wenigstens indifferent. (2) Die Handlungsabsicht ist gut, weil sie sich nur auf die guten Folgen richtet. Die schlechten Folgen sind nicht beabsichtigt bzw. bezweckt, sondern allenfalls vorausgesehen. (3) Die schlechten Folgen sind nicht einmal Mittel zum Zweck der Handlung, sondern nur ein möglicher Nebeneffekt, es sei denn, Begünstigter und Benachteiligter befinden sich in einer nicht anders auflösbaren Schicksalsgemeinschaft oder andere spezielle Bedingungen der Situation schließen die Einschränkung aus. (4) Die schlechten Folgen sind den guten Folgen angemessenâ•›/â•›proportional. In den oben erläuterten Fällen ist deutlich geworden, dass man zwischen wenigstens drei mentalen Stufen unterscheiden muss: (1) der Absicht, (2) dem Gewolltsein und (3) dem bloßen Vorhersehen einer Konsequenz. Die Absicht entspricht dem Handlungselement drei des Handlungsziels. Das bloße Gewolltsein entspricht dem Handlungselement fünf des Willens zur Handlungsausführung, also dem Willen zur Verwirklichung des Mittels als subjektivem Ergebnis der Mittelauswahl im Handlungselement vier, um das Ziel zu erreichen. Die zweite Stufe des GewolltÂ�seins wird sowohl in der Formulierung der Doktrin vom doppelten Effekt als auch in der allgemeinen Diskussion regelmäßig vernachlässigt. Dies führt dazu, dass Gegner wie Befürworter der Doktrin vom doppelten Effekt die subjektive Komponente häufig fehlerhaft, nämlich dem Element der Absicht oder dem nur Vorhergesehenen zuordnen. So soll etwa jemand, der wissentlich und willent-
33 Frances M. Kamm, Intricate Ethics, Oxford 2007, S.€21, betont, dass auch andere Gründe als die Doktrin vom doppelten Effekt zum Verbot einer Handlung führen können. Aber mit dieser Einsicht ist nur eine Hälfte der Relativierung der Doktrin vom doppelten Effekt erfasst. Denn es kann auch Elemente geben, die eine eigentlich durch die Doktrin vom doppelten Effekt verbotene Handlung erlaubt machen, wie in der Diskussion der Fälle 4 und 6 deutlich wurde.
8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt
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lich eine Folge hervorbringt, diese auch beabsichtigen.34 Oder eine eindeutig als Mittel zur Erreichung des Ziels eingesetzte Folge soll nicht gewollt, sondern nur vorausgesehen sein. Das moderne Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft sind insofern deutlich differenzierter.35 Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Ethik hinter diese Differenzierung zurückfallen sollte, die abwägungs- und damit konfliktlösungsrelevant ist. In der Sache stellt sich die Frage, wie mit derartigen nicht beabsichtigten, aber doch gewollten Folgen umgegangen werden soll. Die Doktrin vom doppelten Effekt zeigt dies ganz deutlich in ihrer dritten Bedingung. Man muss dabei voraussetzen, dass ein Mittel, das vom Akteur als notwendig für die Erreichung des Ziels erkannt und realisiert wird, auch gewollt wird, nicht jede gewollte Folge aber notwendiges Mittel ist. Sofern die schlechten Folgen Mittel zur Erreichung des Zwecks sind, ist die Handlung grundsätzlich unzulässig, sofern nicht€ – wie oben in den Fällen 4 und 6 der Schicksalsgemeinschaft€– zusätzliche Faktoren hinzutreten.36 Sofern die schlechten Folgen dagegen keine Mittel sind, wäre die Handlung als solche zulässig, wenn der Akteur die Folgen nicht will. Die Gesamthandlung wird also durch die subjektive Haltung des Akteurs schlecht, denn der Betroffene muss es nicht akzeptieren, dass jemand schlechte Folgen, die er zwar an sich um des guten Zwecks willen herbeiführen dürfte, nicht nur toleriert, sondern sogar weiter gehend will.
c) Einwände Gegen die Doktrin vom doppelten Effekt ist eingewandt worden, dass der bloße Unterschied in der Absicht keine unterschiedliche Bewertung der Handlung rechtfertigen könne.37 Rachels versucht dies mit Hilfe des folgenden Falls zu erläutern: Jack und Jill besuchen ihre kranke Großmutter, die bald ihr Testament verfassen wird, Jack weil er sie gern hat, Jill weil sie im Testament berücksichtigt werden will.38 Wenn beide mit dem Besuch ihrer Großmutter eine Freude bereiten, so soll man nach Rachels nicht sagen können, dass die Handlung von Jack richtig war, die von Jill jedoch falsch. Jede Handlung soll gleich bewertet werden. Die Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung ergebe sich aus den Gründen bzw. Konsequenzen, und die Absichten seien nicht Teil der 34 Vgl. Tom L. Beauchampâ•›/â•›James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S.€164, und schon Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S.€20. Vgl. dagegen überzeugend Frances M. Kamm, Intricate Ethics, S.€106. 35 Vgl. § 15 StGB und Peter Cramerâ•›/â•›Detlev Sternberg-Lieben, in: Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar, 27.€Aufl. München 2006, § 15, Rn 64â•›ff.: Es wird zwischen Absicht, Willen im Sinne sicheren Wissens, Eventualwillen und Fahrlässigkeit unterschieden. 36 Anderer Meinung ist Frances M. Kamm, Intricate Ethics, S.€100, 107. Hier soll die Doktrin vom doppelten Effekt anwendbar sein. Aber sie missachtet die Bedingung (3) des Instrumentalisierungsverbots und auch die Korrelation von Mittel und Wollen. 37 Vgl. zu dieser Frage ausführlich: Alec Walen, Intention and Permissibility. Learning from the Failure of the DDE, unveröffentlichtes Manuskript. 38 James Rachels, More Impertinent Distinctions and a Defense of Active Euthanasia, in: Bonnie Steinbockâ•›/â•›Alastair Norcross (Hg.), Killing and Letting Die, 2.€Aufl. New York 1994, S.€139–154, S.€140â•›f.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
Gründe. Aber das ist nach den bisherigen Überlegungen nicht zutreffend. Berücksichtigt man die betroffenen Anderen, dann können und werden sich ihre Belange nicht nur auf die Handlungsausführung im engeren Sinn und die Konsequenzen richten, sondern auch auf die Absichten des Handelnden. Das Beispiel zeigt den Unterschied ganz deutlich: Die Großmutter möchte natürlich im Regelfall aus Zuneigung oder wenigstens verwandtschaftlicher Verbundenheit besucht werden und nicht aus Geldgier. Die gute Absicht macht die Handlung Jacks für sie gut, die schlechte Absicht die Handlung Jills für sie schlecht. Ihr Interesse an den Absichten von Jack und Jill ist zwar nicht allein ausschlaggebend für die Bewertung der Gesamthandlung. Es ist aber im Normalfall, der mangels weiterer Kenntnisse der Situation unsere ethische Bewertung bestimmen muss, ein wesentlicher Faktor, der nicht unberücksichtigt bleiben darf. Man kann insofern die äußere Handlung auch nicht einfach von der mit ihr verfolgten Absicht trennen, weil die Handlung nur als Ganze einschließlich der sie motivierenden Absicht verstehbar und bewertbar ist. Judith J. Thomson verweist auf eine spezifische Variante der Fälle 2 und 2a, also des strategischen und des terroristischen Bombardements, in der ein Kinderkrankenhaus neben der Munitionsfabrik liegt.39 Sie fragt, ob es für die Bewertung denn wirklich darauf ankommen soll, ob der Pilot im einen Fall€die Zerstörung der Munitionsfabrik beabsichtigt und die des Kinderkrankenhauses nur voraussieht und im anderen Fall€die Zerstörung des Kinderkrankenhauses beabsichtigt? Soll der Pilot wirklich entscheiden, indem er in sein Inneres und damit auf seine Absichten sieht, mit denen er die Bomben abwirft? Entscheidend sind nach Thomson nicht die Absichten, sondern die Konsequenzen. Natürlich setzt die Unterscheidung von beabsichtigten und nur vorhergesehenen Effekten voraus, dass die Divergenz in der volitiven Situation des Akteurs auch handlungswirksam werden kann, sofern dies nach den Umständen faktisch möglich ist. Es wird also vorausgesetzt, dass der Pilot im einen Fall€auf die Munitionsfabrik zielt und im anderen Fall€ auf das Kinderkrankenhaus. Kann sich dieses unterschiedliche „Zielen“ auch auswirken, weil der Pilot die Bomben jeweils anders platziert, so dass die Bombardierung des Kinderkrankenhauses mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz oder zum größten Teil vermieden wird, so rechtfertigt dies eine unterschiedliche Bewertung. Der Pilot darf dann die Bombardierung durchführen, wenn er nur auf die Munitionsfabrik zielt und nicht auf das Kinderkrankenhaus. Oder anders ausgedrückt: Er darf nur auf die Munitionsfabrik zielen und nicht auf das Kinderkrankenhaus. Aber was ist, wenn die Größe der Bombe und die Lage von Munitionsfabrik und Kinderkrankenhaus eine Differenzierung des „Zielens“ nicht zulassen, wenn die Bombe also in jedem Fall€für den Piloten klar erkennbar die Munitionsfabrik und das Kinderkrankenhaus gleichermaßen und gleich wahrscheinlich oder fast gleich wahrscheinlich treffen wird? Auch in diesem Fall€würde die unterschiedliche Absicht einen Unterschied bewirken, aber dieser Unterschied würde im Ergebnis nicht entscheidungsrelevant sein,
39 Judith J. Thomson, Self-Defense, Philosophy and Public Affairs 20 (1991), S.€283–310, S.€293.
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem)
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denn die dritte und vor allem die vierte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt wären nicht erfüllt. Die Bombardierung des Kinderkrankenhauses wäre als Mittel unzulässig und in der Abwägung der Folgen unangemessen. Hier liegt der Unterschied zum Fall€3, der Entfernung der Gebärmutter mit der sicheren Folge der Tötung des Fötus. In diesem Fall€kann man€– wie sich oben ergab€– die dritte und vierte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt bejahen, so dass es auf die gute oder schlechte Absicht des Arztes ankommt. Thomsons Gegenbeispiel überzeugt also nicht, weil es nicht klar spezifiziert, ob der Unterschied der Absicht für das Handeln überhaupt relevant werden kann. Kann der Unterschied der Absicht für das Handeln relevant werden, dann vermag er auch eine unterschiedliche ethische Bewertung zu rechtfertigen, kann er dagegen für das Handeln nicht relevant werden, dann schließen schon andere Faktoren die Zulässigkeit der Handlung aus, etwa die Instrumentalisierung der unschuldigen Opfer oder die Unangemessenheit. Man muss somit nicht auf den Vorschlag von FitzPatrick zurückgreifen, wonach es für die moralische Zulässigkeit einer typischen Gesamthandlung nicht auf die tatsächliche und damit zufällige Handlungsabsicht eines tatsächlichen und damit zufälligen Akteurs in einer speziellen Situation ankommt, sondern darauf, ob eine entsprechende Handlung grundsätzlich unter den Bedingungen der Doktrin vom doppelten Effekt rechtfertigbar ist.40 Das Problem dieses Vorschlags liegt darin, dass die tatsächliche, wenn auch in der allgemeinen Diskussion natürlich typisierte Handlungsabsicht für die Beurteilung der Gesamthandlung relevant sein muss, will man die Doktrin vom doppelten Effekt und generell die These der Pluralität der Bezugnahme der Belange auf alle Handlungsteile nicht aufgeben.
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem) Eine stärker intuitionistische, fallorientierte und die erste, zweite und dritte Bedingung der Unterscheidung von Absicht, gewolltem Mittel und bloß vorausgesehenem Effekt weitgehend außer Betracht lassende Renaissance hat die Doktrin vom doppelten Effekt und damit der berechtigte Widerstand gegen die Reduktion des Konsequentialismus und der strikt deontologischen Doktrin mit der neueren Diskussion um das sog. „Straßenbahnproblem“ (runaway-tram-problemâ•›/â•›trolley problem) erfahren.
40 Vgl. die Zurückweisung entsprechender Einwände bei William J. FitzPatrick, Acts, Intentions, and Moral Permissibility. In Defence of the Doctrine of Double Effect, in: Analysis 63 (2003), S.€317–321.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
a)€Der Ausgangsfall Der Ausgangsfall wurde bereits von Philippa Foot formuliert:41 Fall€8 (Ablenkung der Straßenbahn): Eine Straßenbahn rast mit versagenden Bremsen auf eine Gruppe von fünf Gleisarbeitern zu und würde sie bei unveränderter Weiterfahrt töten. Der Fahrer der Straßenbahn könnte die fünf Gleisarbeiter nur retten, wenn er die Bahn auf ein NebenÂ�gleis lenkt. Auf dem Nebengleis steht allerdings ein anderer Gleisarbeiter, der dann getötet würde. In derartigen Fällen soll es nach der Auffassung einiger Autoren unsere Intuition dem Fahrer erlauben, die Straßenbahn auf das Nebengleis zu lenken, oder dies sogar gebieten.42 Um fünf Menschen zu retten, ist es also offenbar erlaubt oder sogar geboten, einen Menschen zu opfern. Dieses Prinzip wird aber durch gegenläufige Überzeugungen in folgenden Fällen relativiert: Fall€ 9 (Organtransplantation):43 Ein Chirurg könnte fünf sterbende Patienten mit sehr seltener Blutgruppe dann und nur dann retten, wenn er ihnen die Organe eines weiteren Patienten mit derselben Blutgruppe, der fast gesund ist und kurz vor der Entlassung aus dem Krankenhaus steht, transplantiert. Keiner der fünf sterbenden Patienten kommt dagegen für eine Organspende in Frage, weil ihre Organe schon zu sehr beeinträchtigt sind. Kaum jemand wird bezweifeln, dass die Tötung des einen Patienten zur Rettung der anderen fünf Patienten ethisch nicht rechtfertigbar ist. Aber worin liegt der relevante Unterschied, der es erlaubt, die Fälle 8 und 9 verschieden zu bewerten, nämlich einmal so zu handeln, dass fünf Menschen überleben und ein Mensch stirbt, und ein andermal so, dass fünf Menschen sterben und ein Mensch überlebt? Der Unterschied liegt sicher nicht im spezifischen Handlungsmodus des Unterlassens oder Tuns, wie Foot annahm,44 dass man also den Gleisarbeiter im Fall€8 sterben lässt, während der Patient im Fall€9 aktiv getötet wird. Ob die Unterscheidung von Tun und Unterlassen ethisch signifikant ist, wird im Abschnitt 11 dieses Kapitels noch zu erörtern sein. Im vorliegenden Fall€kann sie nicht wesentlich sein, weil der Fahrer der Straßenbahn, wenn er diese auf das Nebengleis lenkt, jedenfalls ebenso aktiv tätig wird wie der transplantierende Chirurg.45 41 Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S.€23. Vgl. daran anknüpfend: Judith J. Thomson, Killing, Letting Die, and the Trolley Problem, in: dies., Rights, Restitution and Risk. Essays in Moral Theory, Cambridge 1986, S.€78–93; dies., The Trolley Problem, in: dies., Rights, Restitution and Risk. Essays in Moral Theory, S.€94–116. Vergleichbare Fälle werden bereits lange als sog. „Weichenstellerfälle“ im Strafrecht diskutiert. 42 So Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S.€ 23, und Judith J.€Thomson, The Trolley Problem; Frances M. Kamm, Intricate Ethics, S.€25, 92. 43 Judith J. Thomson, The Trolley Problem, S.€95. 44 Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S.€25â•›ff. 45 Vgl. zu diesem Einwand gegen Foots These: Judith J. Thomson, The Trolley Problem, S.€95â•›ff.
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem)
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Ein Unterschied könnte jedoch darin liegen, dass der eine getötete Gleisarbeiter im Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn nicht als Mittel zur Rettung der fünf anderen Gleisarbeiter eingesetzt wird, während dies bei dem getöteten Patienten im Fall€9 der Transplantation der Fall€ist. Dass der Patient, dessen Organe den anderen fünf Patienten eingesetzt werden, als Mittel zum Zweck der Rettung dieser anderen fünf Patienten gebraucht wird, ist nicht zu bezweifeln, denn seine Körperteile werden unmittelbar zum Ersatz versagender Organe der fünf anderen Patienten benutzt. Seine Tötung ist notwendig, um die anderen fünf Patienten zu retten. Im Fall€der Ablenkung der Straßenbahn ist die Situation bezüglich des einen getöteten Gleisarbeiters zweifelhafter. Das primäre Mittel zur Rettung der fünf Gleisarbeiter ist das Umlenken des sie bedrohenden Zugs auf das andere Gleis. Ob dort noch ein weiterer Gleisarbeiter steht oder nicht, ist für die Verwirklichung des Ziels der Rettung unerheblich. Die Rettung würde auch gelingen, wenn der Gleisarbeiter nicht auf dem anderen Gleis stünde. Seine Existenz kann also ohne Schwierigkeiten hinweggedacht werden, ohne den Rettungserfolg zu gefährden. Auch nach der Doktrin vom doppelten Effekt wäre im Fall€8 der Straßenbahnablenkung die Rettung der fünf Gleisarbeiter somit erlaubt, während die Instrumentalisierung des einen Patienten im Fall€9 der Organtransplantation verboten wäre.
b) Varianten der Instrumentalisierung und die Verbindung zu einer Schicksalsgemeinschaft Aber auch im Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn kann man sich fragen, ob diese Lösung wirklich ethisch überzeugt. Kann es dem einen unschuldigen und an sich nicht bedrohten Gleisarbeiter wirklich zugemutet werden, sich töten zu lassen, um die Rettung der anderen fünf Gleisarbeiter zu ermöglichen? Die klassische deontologische Auffassung, wonach die Tötung Unschuldiger absolut verboten ist, würde dies verneinen. Aber selbst wenn man diese Auffassung nicht als absolutes ethisches Prinzip akzeptieren würde, bliebe ein Zweifel. Kant hätte hier vermutlich eine Instrumentalisierung des Gleisarbeiters behauptet und wäre€– zumindest in der oben erwähnten strikteren Lesart€– über das Standardverständnis der Doktrin vom doppelten Effekt hinausgegangen. Die Opferung des einen Gleisarbeiters zur Rettung der fünf anderen wäre also nicht zulässig. Man kann nämlich auch eine Instrumentalisierung annehmen, wenn eine Handlung zu einem anderen Zweck voraussehbar den sicheren Tod eines individualisierten Menschen verursacht (indirekte Instrumentalisierung). Worin unterscheidet sich dann aber dieser Fall€ von den Fällen 1 (Selbstverteidigung gegenüber dem Einbrecher), 2 (Strategische Bombardierung der Munitionsfabrik), 3 (Rettung der Schwangeren durch Entfernung der Gebärmutter), 4 (Rettung der Schwangeren durch Tötung des im Gebärmutterhals feststeckenden Fötus), 5 (Indirekte Sterbehilfe) und 6 (Rettung der Höhlenforscher), bei denen die Opferung einer Person zur Rettung einer oder mehrerer anderer für zulässig gehalten wurde? Dazu ein weiterer Fall:
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
Fall€10 (Ablenkung der Lawine): Eine Lawine geht zu Tal und rollt gleichzeitig auf eine Gruppe von sechs Bergsteigern zu, fünf am rechten Rand und einen Nachzügler am linken Rand einer Schlucht. Durch schnelles Vorschieben eines Lawinengatters könnte die Lawine von einem weiter oben stehenden siebten und letzten Bergsteiger der Gruppe so nach rechts oder links abgelenkt werden, dass statt aller sechs entweder die fünf Bergsteiger am rechten oder der eine Bergsteiger am linken Rand der Schlucht ums Leben kämen. Angesichts dieser Situation der gleichzeitigen gemeinsamen Bedrohung einer Gruppe durch ein Naturereignis wird man wohl kaum bezweifeln können, dass es zumindest zulässig, wenn nicht sogar geboten ist, die Lawine so abzulenken, dass nicht alle sechs Bergsteiger sterben, sondern nur der eine. Dabei wird der eine Bergsteiger wie im Fall€ 8 der Straßenbahn zwar nicht nach der engeren Interpretation der Doktrin vom doppelten Effekt als Mittel benutzt, also direkt instrumentalisiert, aber nach der strikteren Interpretation der zweiten Explikationsformel des Kategorischen Imperativs, der Zweck-Mittel-Formel, zumindest indirekt instrumentalisiert. Worin liegt der Unterschied zum Straßenbahnfall? Im Lawinenfall 10 sind alle sechs Bergsteiger in gleicher Weise, gemeinsam und gleichzeitig vom identischen Naturereignis bedroht. Sie bilden also das, was man eine „Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten“ nennen könnte. Innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten kann es zumindest dann nicht verboten sein, die Zahl der Opfer zu reduzieren, wenn die Betroffenen nicht direkt zum Mittel gemacht werden, wie etwa im folgenden, anders gelagerten Fall: Fall€11 (Kannibalismus unter Schiffbrüchigen):46 Sechs Schiffbrüchige sind bereits seit Wochen auf hoher See in ihrem Rettungsboot. Sie haben zwar Wasservorräte, werden aber verhungern, wenn sie nicht einen von ihnen töten und verspeisen. Hier besteht eine Schicksalsgemeinschaft wie im Lawinenfall. Innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft ist es nun aber wohl nicht erlaubt€– wenn auch vielleicht moralisch und strafrechtlich entschuldbar€– einen der Schiffbrüchigen zur Sicherung des Überlebens der anderen gegen seinen Willen zu töten und zu essen. Der Grund liegt darin, dass die anderen Todgeweihten ihn in Abweichung vom Lawinenfall direkt instrumentalisieren. Der Unterschied zwischen dem Fall€ 8 der Ablenkung der Straßenbahn und dem Fall€10 der Ablenkung der Lawine besteht also nicht in der Instrumentalisierung, sondern im Charakter der Schicksalsgemeinschaft. Im Fall€10 der Ablenkung der Lawine sind alle sechs durch dasselbe Naturereignis gleichzeitig und gemeinsam dem Tode geweiht, während dies im Fall€ 8 der Ablenkung der Straßenbahn nicht gilt. Greift der Fahrer im Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn nicht ein, so wird die Straßenbahn nur die fünf Arbeiter auf dem einen Gleis erfassen, nicht aber den einen Arbeiter auf dem anderen Gleis. Im Fall€der Lawine ist der eine Bergsteiger am linken Rand selbst 46 Dies ist ein realer Fall, vgl. das Urteil Regina von Dudley & Stephens 14 Q.â•›B. 273 (1884).
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem)
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todgeweiht, im Fall€der Straßenbahn der eine Gleisarbeiter auf dem Nebengleis nicht, sofern das Ereignis sich so wie bisher weiter entwickelt. Der eine Gleisarbeiter auf dem Nebengleis befindet sich nur in Gefahrennähe, ist aber selbst nicht Teil der Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten. Dies wird deutlicher, wenn man den Straßenbahnfall etwas anders formuliert: Fall€8a (Ablenkung der Straßenbahn mit Fernwirkung): Der Fahrer einer Straßenbahn fährt mit versagenden Bremsen auf eine Gruppe von fünf Gleisarbeitern zu und würde sie bei unveränderter Weiterfahrt töten. Er könnte die Bahn jedoch auf ein Nebengleis lenken. Dann würde der Zug allerdings einen Prellbock durchbrechen und in einen kleinen Fluss stürzen. Während der Fahrer sich vorher durch einen Sprung aus dem Zug retten könnte, würde€– was voraussehbar ist€– die durch die herabstürzende Bahn verursachte Flutwelle einen Angler, der mehrere hundert Meter weiter unten am Fluss steht, mitreißen und töten. In dieser Variante ist der Angler eindeutig nicht Teil der Schicksalsgemeinschaft der Gleisarbeiter, sondern ein unbeteiligter Dritter, der durch die Ablenkung der Bahn zwar nicht direkt, aber doch indirekt instrumentalisiert würde, so dass man die Ablenkung nicht für zulässig halten wird. Man kann zusammenfassen: Die Schicksalsgemeinschaft relativiert als äußere Bedingung im Rahmen des Handlungselements eins die durch den normativen Individualismus gebotene individuelle Berücksichtigung der Individuen derart, dass€– wie der Fall€10 der Ablenkung der Lawine zeigt€– beim Handlungselement vier der Mittelwahl eine ansonsten verbotene indirekte Instrumentalisierung zulässig wird. Die direkte Instrumentalisierung ist aber€– wie der Fall€11 des Kannibalismus unter Schiffbrüchigen erkennen lässt€– auch innerhalb der Schicksalsgemeinschaft nicht zulässig. Ohne das Bestehen einer derartigen Schicksalsgemeinschaft, also einer relativierenden Bedingung im Rahmen des Handlungselements eins, ist, wie Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn und noch klarer Fall€8a der Ablenkung der Straßenbahn mit Fernwirkung verdeutlichen, und anders als Thomson und andere meinen, nicht einmal eine indirekte Instrumentalisierung zulässig. Hier setzt sich das an das Handlungselement vier der Mittelauswahl anknüpfende Verbot der Instrumentalisierung mangels einer Relativierung durch eine spezifische Bedingung des Handlungsteils eins durch. Die im Rahmen der Fälle zur Doktrin vom doppelten Effekts diskutierten ethisch gerechtÂ�fertigten Handlungen sind nun alle Handlungen, bei denen auch im Rahmen des Handlungselements eins der Bedingungen der Handlung eine Besonderheit vorliegt, welche die normativ-individualistische Stellung des einzelnen Betroffenen relativiert und damit zumindest eine indirekte, wenn nicht sogar eine direkte Instrumentalisierung gestattet: Im Fall€1 der Verteidigung gegenüber dem Einbrecher hat dieser durch sein verbrecherisches Handeln die Notwehrsituation selbst als äußere Bedingung herbeigeführt, so dass er sich nicht nur eine indirekte, sondern sogar eine direkte Instrumentalisierung gefallen lassen muss.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
Im Fall€2 der strategischen Bombardierung der Munitionsfabrik sind die Zivilisten zwar nicht selbst Angreifer, aber doch Teil des angreifenden Landes. Sie unterstützen durch ihre Arbeitsleistung zumindest indirekt die Kriegsfähigkeit und Kriegsführung des Angreifers. Diese Unterstützung und die dadurch herbeigeführte Gemeinschaft des kriegsführenden Staates relativiert ihre normativ-individualistische Unabhängigkeit und erlaubt zumindest ihre indirekte Instrumentalisierung. Im Fall€3 der Rettung der Schwangeren durch Entfernung der Gebärmutter führt die Schicksalsgemeinschaft der körperlichen Verschränkung von Mutter und Kind im Sinn des Handlungselements eins zur Zulässigkeit von dessen indirekter Instrumentalisierung. Im Fall€ 4 der Rettung der Schwangeren durch Tötung des Fötus im Gebärmutterhals ist über die bloße Schicksalsgemeinschaft hinaus das Leben der Mutter gerade durch den Fötus selbst bedroht. Dies stellt eine besondere Bedingung im Rahmen des Handlungsteils eins dar und rechtÂ�fertigt wie im Fall€1 der Selbstverteidigung gegen den Einbrecher sogar die direkte Instrumentalisierung des Fötus. Im Fall€5 der indirekten Sterbehilfe liegt die besondere Bedingung des Handlungselements eins darin, dass Veranlasser der Handlung und Betroffener identisch und damit per se in so etwas wie einer unauflöslichen Schicksalsgemeinschaft verbunden sind, welche zumindest die Selbstgefährdung des einzelnen durch sich selbst erlaubt. Im Fall€6 der Tötung des feststeckenden Höhlenforschers besteht eine Schicksalsgemeinschaft der Höhlenforscher als Todgeweihter. Dies würde wie im Fall€10 der Ablenkung der Lawine auf jeden Fall€seine indirekte Instrumentalisierung zur Rettung anderer Todgeweihter erlauben. Die Tötung des sehr dicken Höhlenforschers ist nun aber nicht nur eine indirekte, sondern eine direkte Instrumentalisierung. Insofern ähnelt der Fall€nicht dem Lawinenfall 10, sondern€– was die Rettungshandlung anbelangt€– dem Fall€11 des Kannibalismus unter Schiffbrüchigen. Warum würde man hier aber anders als im Fall€11 wohl die Opferung des feststeckenden Höhlenforschers für erlaubt halten können? Der Unterschied in den äußeren Bedingungen des Handlungselements eins besteht darin, dass im Fall€6 der Rettung der Höhlenforscher nicht nur eine Schicksalsgemeinschaft besteht, sondern dass der eine sehr dicke Mann zusätzlich eine spezifische Ursache der Bedrohung darstellt, denn allein er blockiert ja den rettenden Ausgang. Es liegen also kumulativ zwei besondere Bedingungen im Rahmen des Handlungselements eins vor, welche das Handlungselement vier relativieren: die Schicksalsgemeinschaft und die spezifische Bedrohung wie im Fall€1 der Selbstverteidigung gegen den Einbrecher und im Fall€4 der Rettung der Mutter durch Tötung des im Gebärmutterhals feststeckenden Fötus. Wie in diesen Fällen wird man deshalb hier auch die direkte Instrumentalisierung für ethisch zulässig halten müssen.
c) Weitere äußere Bedingungen Weitere äußere Bedingungen im Rahmen des Handlungselements eins können die Entscheidung beeinflussen. Thomson sieht etwa in folgendem Fall€die Ablenkung der Straßenbahn von den fünf Gleisarbeitern auf ein Opfer als nicht gerechtfertigt an:
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem)
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Fall€8b (Ablenkung der Straßenbahn auf Speisende):47 Wie Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn, mit dem Unterschied, dass das Nebengleis ein Abstellgleis ist, das seit zehn Jahren nicht mehr benutzt wurde. Der Bürgermeister des Ortes, der auch für die Straßenbahn verantwortlich ist, hat dort Picknicktische aufstellen lassen und die Genesenden des nahen Krankenhauses zum Essen eingeladen. Er hat ihnen feierlich versprochen und garantiert, dass das Straßenbahngleis auf keinen Fall€befahren wird, weil der Verkehr dort durch die Stadtwerke eingestellt wurde. Der eine Genesende hätte sich niemals an einen Tisch auf dem Gleis gesetzt, wenn der Bürgermeister diese Einladung nicht ausgesprochen und die Garantie nicht abgegeben hätte. Nun ist der Fahrer der Straßenbahn bewusstlos geworden. Darf der Bürgermeister, der an der Weiche steht, die Weiche umstellen und die Straßenbahn auf das Nebengleis lenken, um die fünf Gleisarbeiter zu retten? Selbst wenn man im Fall€8 die Ablenkung der Straßenbahn wie Thomson und andere als zulässig ansieht, wäre es im Fall€8b nicht erlaubt, den Zug abzulenken, weil hier als zusätzliche äußere Bedingung im Rahmen des Handlungselements eins ein feierliches Versprechen seitens des zuständigen Bürgermeisters gegenüber den Betroffenen abgegeben wurde. Ein solches feierliches Versprechen schließt aber die Relativierung durch eine Schicksalsgemeinschaft Todgeweihter aus. Hätte im Fall€10 der Ablenkung der Lawine der oben am Gatter stehende Bergsteiger dem einen Todgeweihten am linken Rand der Schlucht versprochen, seinen Tod unter keinen Umständen zu beeinflussen, so würde dieses Versprechen die Ablenkung der Lawine auf ihn ethisch verbieten. Das ist nicht unproblematisch, weil damit auch die Rettung der anderen Bergsteiger unterbleiben müsste. Damit könnten sich zwei zum Nachteil Anderer einigen. Im Recht gibt es ein Parallelproblem: Das Recht erklärt Verträge mit Verbindlichkeit zulasten Dritter für unzulässig.48 Man fragt sich, warum in der Ethik und Moral eine Einigung bzw. ein Versprechen zum Nachteil Anderer zulässig sein soll. Grundsätzlich gilt natürlich auch in der Ethik und Moral, dass Einigungen nicht zulasten Dritter getroffen werden dürfen. Und wenn sie getroffen werden, dann rechtfertigen sie nicht eine Handlung, die Dritte beschwert. Wenn A dem B verspricht, den C zu beleidigen, macht das die Beleidigung des C durch A nicht weniger verwerflich als ohne das Versprechen. Ein derartiges Versprechen ist im Übrigen€– da auf ein erkennbar verbotenes Handeln gerichtet€– sowieso nicht bindend, denn derjenige, dem das Versprechen gegeben wurde, kann nicht erwarten, dass der Versprechensgeber eine verbotene Handlung ausführt. Im Fall€8b der Ablenkung der Straßenbahn auf Speisende und der Versprechensabgabe im Lawinenfall 10 ist die Situation jedoch eine spezielle: Zum einen wird hier etwas Positives und Erlaubtes versprochen, nämlich der Schutz bzw. die Sicherung des Betroffenen. Zum anderen ist die Tötung eines Unschuldigen zur Rettung Anderer im Prinzip ohnehin unzulässig. Nur die besonderen äußeren Bedingungen der Schicksalsgemeinschaft können dieses Prinzip relativieren. 47 Judith J. Thomson, The Trolley Problem, S.€111â•›f. 48 Umkehrschluss aus § 328 des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs. Vgl. BGH 54, 247; 58, 219; 61, 351; 78, 374â•›f. Grüneberg in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 68.€Aufl. München 2009, Einf. vor § 328, 5c.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
Im Fall€8b der Ablenkung der Straßenbahn besteht nun wie im Ausgangsfall 8 gar keine solche Schicksalsgemeinschaft. Im Fall€10 der Ablenkung der Lawine liegt zwar eine solche Schicksalsgemeinschaft vor, aber auf die durch sie herbeigeführte Relativierung des normativ-individualistischen Status des einzelnen Betroffenen darf der Handelnde als Ergebnis seiner allgemeinen Freiheit zur Lebensgestaltung vor dem unwahrscheinlichen Eintritt einer Notlage auch mit Wirkung gegenüber den Mitgliedern der Schicksalsgemeinschaft verzichten. Der Hilfsanspruch der Anderen geht nicht so weit, dass sie eine derartige individuelle Freiheit des Handelnden bzw. Sicherung eines Betroffenen nicht hinnehmen müssten, sofern sich diese Sicherung nicht direkt und bewusst gegen sie richtet. Die Sicherung durch ein solches Versprechen ist der Vorsorge durch materielle Sicherungsmittel vergleichbar. Jeder darf etwa sein Auto durch eine Wegfahrsperre besonders gegen Diebstahl sichern, selbst wenn dies in sehr seltenen Notfällen dazu führen mag, dass ein Unfallopfer durch Dritte nicht schnell genug ins Krankenhaus gebracht werden kann, weil die Wegfahrsperre die Nutzung des Autos zu diesem Zweck verhindert. Während das Versprechen gegenüber jemandem, ihn nicht zu schädigen, die einschränkende Bedingung der Schicksalsgemeinschaft relativiert, führt der gegenüber diesem Versprechen gegenteilige Akt der Einwilligung, sich im Zweifel zur Rettung Anderer schädigen zu lassen, dazu, dass auch ohne Schicksalsgemeinschaft die Opferung des Einwilligenden erlaubt ist. Hat also im Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn der eine Gleisarbeiter auf dem Nebengleis€– aus welchen Gründen auch immer€– vorher eingewilligt, in vergleichbaren Fällen sein Leben zu opfern, so ist die Ablenkung anders als im Ausgangsfall 8 ethisch erlaubt. Die Einwilligung stellt wie das Versprechen eine äußere Bedingung im Sinne des Handlungsteils eins dar, die das Verbot der Instrumentalisierung relativiert: Wer einwilligt, wird nicht instrumentalisiert.
d) Das Erfordernis der Individualisierung Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn ist von einem scheinbar sehr ähnlichen Fall€abzugrenzen: Fall€12 (Ablenkung eines abstürzenden Flugzeugs): Die Triebwerke eines Verkehrsflugzeugs fallen aus. Es droht in ein belebtes Stadtzentrum zu stürzen. Viele Tote und Verletzte sind zu befürchten. Der Flugzeugführer könnte das Flugzeug allerdings noch in ein Industriegebiet am Stadtrand lenken, in dem nur sehr wenige Menschen leben. Hier scheint die Situation derjenigen der Ablenkung der Straßenbahn im Fall€ 8 zu gleichen: Eine indirekte Instrumentalisierung ist mangels weiterer relativierender Faktoren beim Handlungselement eins wie des Bestehens einer Schicksalsgemeinschaft, einer körperlichen Nähe, einer eigenen Gefahrverursachung oder einer Einwilligung unzulässig. Insbesondere besteht hier keine Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten, denn das abstürzende Flugzeug bedroht ebenso wenig die im Industriegebiet lebenden Menschen, wie im Fall€8 die Straßenbahn den einen Gleisarbeiter auf dem Nebengleis bedroht. Der
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem)
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Flugzeugführer dürfte also die wenigen Menschen im Industriegebiet prinzipiell nicht zugunsten der vielen Menschen im Stadtzentrum opfern. Die meisten würden in einem derartigen Fall€aber doch zumindest eine Erlaubnis des Flugzeugführers annehmen, das Flugzeug in das Industriegebiet zu steuern. Worin liegt der Unterschied zur Ablenkung der Straßenbahn im Fall€8? Der Unterschied liegt darin, dass der Ausschluss einer Rettungshandlung wegen der Instrumentalisierung Dritter die Individualisierung dieser Dritten voraussetzt, also die Möglichkeit, die Nichterfüllung einzelner Belange einigermaßen sicher einzelnen Individuen im sozial bzw. ethisch relevanten Sinn zuzuordnen. Dieser Aspekt der Individualisierung ist eine weitere Konsequenz des Grundprinzips des normativen Individualismus. Sind die Betroffenen für den Handelnden nicht individualisiert oder zumindest nicht ohne Weiteres individualisierbar, so hat ihre Instrumentalisierung in der Abwägung ein geringeres Gewicht, weil es dann ja Beliebige treffen kann. Die Ablenkung ist dann eher eine allgemeine Risikoerhöhung. Eine derartige allgemeine Risikoerhöhung ist aber zulässig, sofern sie der Verminderung des Risikos einer signifikant größeren Anzahl anderer ethisch zu berücksichtigender Individuen dient und sofern das Gewicht der Belange in der Abwägung vergleichbar ist. Der Flugzeugführer darf also das allgemeine Risiko von den vielen Menschen im Stadtzentrum auf die wenigen Menschen im Industriegebiet ablenken, weil hier mangels Individualisierung der wenigen Betroffenen der Aspekt der Instrumentalisierung weit weniger gewichtig ist. Die Handlung des Flugzeugführers gleicht hier der Verwirklichung eines Naturereignisses. So wie jeder einem gewissen Risiko ausgesetzt ist, durch Blitzschlag umzukommen, so ist er auch dem Risiko ausgesetzt, durch Rettungshandlungen Dritter geschädigt zu werden, die der allgemeinen Risikominderung dienen und somit allen ohne Ansehen der einzelnen Person zugutekommen. Man kann dies mit der Einschränkung einiger Verkehrsregeln beim Einsatz des Blaulichts durch Rettungsfahrzeuge vergleichen. Um die Rettungschancen der Unfallopfer signifikant zu erhöhen, nimmt man in Kauf, andere unschuldige, aber nicht individualisierte Verkehrsteilnehmer durch nicht ganz ungefährliche Blaulichtfahrten etwas stärker zu gefährden. Schwierig ist aber folgender Fall€13, der nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 praktisch relevant wurde:49 Fall€13 (Abschuss des gekidnappten Flugzeugs): Terroristen haben ein Verkehrsflugzeug entführt und drohen es mitsamt seinen Passagieren in eine Stadt zu stürzen. Darf der Pilot eines Kampfjets das Verkehrsflugzeug über einem freien Feld abschießen, um die Bewohner der Stadt zu retten? Fraglich ist zunächst, ob diese Konstellation dem Fall€ 10 der Ablenkung der Lawine gleicht. Man könnte argumentieren, dass die Passagiere in dem Verkehrsflugzeug und die Bewohner der Stadt hier eine Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten bilden. Wie 49 In § 14 III des Luftsicherheitsgesetzes wurde der Abschuss von Verkehrsmaschinen zu derartigen Rettungszwecken erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung wegen Verstoß gegen die Menschenwürde nach Art. 1 I GG für verfassungswidrig erklärt: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 115, S.€118â•›f.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
im Fall€10 der Ablenkung der Lawine wäre es dann zulässig, innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft die Zahl der Getöteten zu reduzieren. Die Passagiere des Verkehrsflugzeugs werden nicht direkt instrumentalisiert, weil ihre Tötung als solche nicht für die Rettung der Bewohner der Stadt notwendig ist. Das Verkehrsflugzeug könnte auch leer sein.50 Die indirekte Instrumentalisierung wäre also wie beim Fall€10 der Ablenkung der Lawine aufgrund der Schicksalsgemeinschaft zulässig. Im Fall€13 bestehen aber drei signifikante Unterschiede zum Fall€10, welche die Zulässigkeit des Abschusses fraglich erscheinen lassen. Erstens: Die Bewohner der Stadt sind nicht individualisiert und damit nicht individuell bedroht, sondern nur abstrakt gefährdet. Die Anzahl und Identität der Todgeweihten in der Stadt steht nicht fest. Die Passagiere des Verkehrsflugzeugs sind dagegen zumindest über die Passagierlisten individualisiert und damit individuell bedroht, weil sicher ist, dass alle Passagiere im Flugzeug ums Leben kommen werden. Die Todgeweihten im Flugzeug stehen hinsichtlich Anzahl und Identität fest. Für den Piloten des Kampfflugzeugs ist diese Individualisierung allerdings nicht konkret nachvollziehbar, sondern nur abstrakt, da er ja allenfalls einige Passagiere aus der Ferne am Fenster sehen kann. Fraglich ist, ob zwei so unterschiedliche Gruppen wie die Passagiere und die Bewohner der Stadt eine einzige Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten bilden. Zweitens: Die Bewohner der Stadt sind bloße Opfer, während die Passagiere des Verkehrsflugzeugs zwar unfreiwillig, aber doch faktisch Teil des gefährdenden Objekts sind. Fraglich ist wieder, ob dieser Unterschied der beiden Gruppen die Zusammenfassung zu einer Schicksalsgemeinschaft ausschließt. Drittens: Der Tod der Passagiere in dem Verkehrsflugzeug hängt von menschlichen Handlungen bzw. Entscheidungen ab und ist zwar sehr wahrscheinlich, aber keinesfalls sicher. Während im Fall€ 10 der Lawine das Naturereignis mit naturgesetzlicher Sicherheit seinen Lauf nehmen wird, könnten sich die Flugzeugentführer in der Passagiermaschine aus welchen Gründen auch immer, etwa aus Mitleid mit den Passagieren oder Furcht vor dem eigenen Tod, noch anders entscheiden und darauf verzichten, das Flugzeug zum Absturz zu bringen. Oder sie könnten von den Passagieren in letzter Minute überwältigt werden. Alle drei Aspekte, die eine Schicksalsgemeinschaft zwischen den Passagieren und den Stadtbewohnern fragwürdig erscheinen lassen, wirken überdies kumulativ. Andererseits ist zu bedenken, dass die Passagiere selbst Teil des die Stadtbewohner bedrohenden Objekts als Ganzes sind. Dadurch wird das Verbot der Instrumentalisierung zusätzlich zum Aspekt der eventuellen Schicksalsgemeinschaft relativiert. Insofern besteht eine Parallele zum Fall€ 1 der Selbstverteidigung gegen den Einbrecher, zum Fall€4 der Rettung der Mutter durch Tötung des im Gebärmutterhals feststeckenden Fötus und zum Fall€6 der Rettung der Höhlenforscher. Der Fall€des Abschusses des Verkehrsflugzeugs ist insofern ein echter Grenzfall, bei dem eine Qualifizierung als ethisch erlaubt oder nicht erlaubt schwierig ist. In einer
50 Damit wird hier das Sonderproblem der Piloten und Flugbegleiter des Verkehrsflugzeugs beiseitegelassen.
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem)
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derartigen Pattsituation kann dann die Ethik keine Entscheidung mehr für die eine oder die andere Alternative treffen. Allerdings sollte diese offene allgemeinethische bzw. moralische Bewertung nicht zum voreiligen Schluss auf die Zulässigkeit einer rechtlichen Erlaubnis des Abschusses führen. Wie noch zu erörtern sein wird, hat das Recht spezielle Bedingungen, die es in derartigen Zweifelsfällen nicht rechtfertigen, eine generelle Ermächtigung zur Tötung Unschuldiger auszusprechen.51 Zwischen den klaren Lösungen des Verbots der Ablenkung der Straßenbahn im Fall€ 8 und der Erlaubnis der Ablenkung der Lawine im Fall€ 10 liegt auch folgende Fallkonstellation: Fall€ 14 (Steuerung des Lastwagens): Bei einem Lastwagen versagen auf abschüssiger Straße die Bremsen. Er rast auf eine Weggabelung zu, an welcher der Fahrer entweder nach rechts oder nach links steuern kann. Auf der Straße nach rechts stehen fünf Menschen, auf der Straße nach links stehen fünf Menschen. Sie würden jeweils durch den Lastwagen getötet werden, würde er in diese Straße gelenkt. Fall€14 unterscheidet sich von der Ablenkung der Lawine im Fall€10 dadurch, dass das drohende Ereignis alle involvierten Menschen nicht kumulativ zu Bedrohten macht, sondern nur alternativ. Wer tatsächlich von den alternativ Bedrohten getötet wird, hängt von der Entscheidung und Handlung des Lastwagenfahrers ab. Allerdings sind anders als im Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn alle tatsächlich bedroht, wenn auch eben nur alternativ. Man scheut sich hier im Gegensatz zum Fall€10 der Ablenkung der Lawine von „Todgeweihten“ zu sprechen, weil der Tod hier erst durch die Entscheidung und Handlung des Lastwagenfahrers herbeigeführt wird, der sich aber für die eine oder die andere Straße entscheiden muss. Im Gegensatz zum Straßenbahnfall 8 sind die Betroffenen aber Teil einer Schicksalsgemeinschaft. Sie sind jeweils unter die Notwendigkeit der Entscheidung des Lastwagenfahrers über Leben und Tod gezwungen. Der natürliche Verlauf hat hier keine eindeutige Richtung, so dass er nur die fünf Menschen auf der einen Straße oder der anderen Straße bedroht. Man wird deshalb jede Entscheidung des Lastwagenfahrers für ethisch erlaubt halten.
e) Besteht ein Gebot zur Rettung? Bisher waren vor allem Erlaubnisse Thema. Fraglich ist weiterhin, ob in einigen der erörterten Fälle nicht sogar ein Gebot zur Rettung besteht. Ein solches Gebot zur Rettung wird man in derÂ�artigen Konfliktsituationen allenfalls unter zwei Bedingungen annehmen können: zum einen, wenn es um die Rettung Anderer geht, nicht nur um 51 Zum vergleichbaren Fall€ der Frage nach staatlicher Folter: Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?, in: Wolfgang Lenzen (Hg.), Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Paderborn 2006, S.€149–172.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
die Rettung des Akteurs durch sich selbst. Anders wäre hier nur dann zu entscheiden, wenn man€– was in Kapitel€VIII noch zu erörtern sein wird€– Pflichten gegen sich selbst annähme. Zum anderen, wenn die Abwägung völlig eindeutig ist. Vor diesem Hintergrund erscheint die Verschärfung der Erlaubtheit zur Gebotenheit allenfalls im Fall€10 der Ablenkung der Lawine gerechtfertigt: Wer hier die Anzahl der Todgeweihten nicht reduziert, handelt unethisch (dazu im folgenden Abschnitt mehr). In allen anderen Fällen geht es um mehr als um eine rein interne Reduktion der Anzahl der Todgeweihten. Nicht notwendig Todgeweihte werden entweder indirekt oder sogar direkt zur Rettung Anderer instrumentalisiert. Diese Instrumentalisierung bedeutet in jedem Fall€ einen ethisch problematischen Eingriff in die Lebenssphäre Anderer und kann deshalb von Helfenden nicht ohne Weiteres erwartet werden.
10. Sollen die Zahlen zählen? Folgender Fall€wurde Ausgangspunkt einer Diskussion über die Bedeutung der Anzahl geretteter Personen: Fall€15 (Verteilung eines lebensrettenden Medikaments):52 Ein Arzt könnte mit einer Dosis eines schwer zu beschaffenden Medikaments entweder fünf Patienten mit jeweils einem Fünftel der Dosis oder einen Patienten, der einen fünffachen Bedarf hat, mit der ganzen Dosis retten. Die Rettung der fünf Patienten statt des einen Patienten soll nach Meinung John Taurecks nicht schon aufgrund der größeren Anzahl, also der besseren Konsequenzen, moralisch erlaubt sein.53 Beschränkt man den Fokus in derartigen Fällen€– wie dies in der Diskussion zum Teil geschieht€– auf die größere oder geringere Anzahl, so reduziert man die Fragestellung auf die Konsequenzen, also auf das Handlungselement sieben. Hierfür ist kein Grund ersichtlich. Entscheidend sind vielmehr auch in derartigen Konstellationen die Belange der jeweils Betroffenen, die sich auf alle Handlungselemente beziehen können. Um dies zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, weitere Fälle zu betrachten. Fall€16 (Verteilung des Medikaments an David oder andere Patienten): wie Fall€15, aber der Arzt, der über die Vergabe des Medikaments entscheiden muss, ist mit dem einen Patienten (David) eng befreundet, während die fünf anderen Patienten Unbekannte sind. Fall€17 (Verteilung des Medikaments an sich selbst oder andere): wie Fall€15, aber der eine Patient, der das Medikament benötigt, ist der Arzt selbst. 52 Der Fall€wird ebenfalls schon bei Philippa Foot, Abortion and the Doctrine of Double Effect, S.€24, erwähnt. Bekannt wurde er durch John M. Taureck, Should the Numbers Count?, Philosophy and Public Affairs 6 (1977), S.€293–316, S.€294. Vgl. die Rekonstruktion und Kritik durch Derek Parfit, Innumerate Ethics, Philosophy and Public Affairs 6 (1977), S.€285–301. 53 John M. Taureck, Should the Numbers Count?
10. Sollen die Zahlen zählen?
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Fall€18 (Rettungsschiff ):54 Der Kapitän eines Rettungsschiffs kann entweder eine kleinere Anzahl von Personen auf der Südspitze einer Insel oder eine größere Anzahl von Personen auf der Nordspitze einer Insel vor einem ausbrechenden Vulkan retten. John Taureck gesteht zu, dass der Kapitän im Fall€18 verpflichtet ist, die größere Anzahl von Personen zu retten. Dies folgt aber seiner Meinung nach nicht aus den besseren Konsequenzen der Rettungshandlung, sondern aus der besonderen Pflichtbindung des Kapitäns. Der Kapitän müsse wegen seiner spezifischen Berufspflicht als Führer eines Rettungsschiffs die größere Anzahl retten. Die Grundlage dieser Pflicht liege in der Übereinkunft, durch die er sich bereit erklärt habe, das Schiff zu führen, um Menschen zu retten. Das erscheint überzeugend. Bei der Übereinkunft handelt es sich um eine äußere Bedingung, also das Handlungselement eins. Fraglich ist aber, ob nicht jeder Kapitän jedes beliebigen anderen Schiffes ebenso handeln müsste. Im Fall€ 16 besteht aufgrund der Freundschaft des Arztes zu David eine spezifische Verpflichtung gegenüber dem Freund, also eine spezifische äußere Bedingung als Handlungselement eins. DerÂ�artige spezifische äußere Bedingungen wie Übereinkünfte oder besondere Näheverhältnisse erzeugen besondere Hilfspflichten. Allerdings gelten diese selbstredend nicht absolut. Und sie schließen weder logisch noch praktisch aus, neben den äußeren Bedingungen des HandÂ�lungsÂ�elements eins auch die Konsequenzen einer Handlung, also das Handlungselement sieben zu berücksichtigen. Dabei ist allerdings die Formulierung „Anzahl“ bzw. „Zahl“ irreführend. Die bloße Anzahl von Individuen oder Fakten ist ethisch natürlich irrelevant. Relevant ist allein die Abwägung zwischen den Belangen der Betroffenen, also den Belangen des Akteurs und den Belangen der von der Handlung des Akteurs betroffenen, ethisch zu berücksichtigenden Anderen. Das Interesse der von einer Handlung Betroffenen kann sich nun aber auf alle möglichen Handlungselemente richten. Die Konsequenzen können auch darunter sein. Richtet sich das Interesse nur auf die Konsequenzen, so kann dieses Interesse den Ausschlag geben. Steht jemand vor der Alternative, nichts zu tun oder ohne größere Anstrengung und Gefahr jemand anderem zu helfen, wodurch dessen Tod vermieden wird, so wird das dringende Interesse des Betroffenen, den Tod zu vermeiden, den Ausschlag geben. Was gilt nun aber in den Fällen 15 bis 18? Im Fall€18 des Rettungsschiffs ist der Kapitän in jedem Fall€durch das Interesse der Betroffenen, seine Zusage zu erfüllen, gebunden. Er muss deshalb die größere Anzahl retten. Im Fall€16 der Verteilung des Medikaments an David oder andere ergibt sich aufgrund der engen Freundschaft als äußere Bedingung bzw. Handlungselement eins sowohl beim Arzt als auch bei David ein besonderes Interesse an der Hilfeleistung und damit eine besondere Pflicht des Arztes, David zu helfen. Wäre gleichzeitig nur eine einzige andere unbekannte Person zu retten, der gegenüber lediglich eine allgemeine Hilfspflicht gegenüber Unbekannten bestünde, so wäre die Entscheidung eindeutig: Das Interesse, dem Freund zu helfen, wäre sowohl beim Handelnden als auch beim 54 John M. Taureck, Should the Numbers Count?, S.€310.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
Freund gewichtiger und deshalb auch die Pflicht des Handelnden. Der Arzt müsste den Freund retten und nicht den Fremden. Fraglich ist aber, was gilt, wenn es möglich ist, statt David fünf Unbekannte zu retten? Insofern ist der Grundfall 15 einfacher als der Fall€16, weil im Fall€15 der Verteilung des lebensrettenden Medikaments keine besondere Nähebeziehung zu dem einen Patienten besteht. Der Grundfall 15 soll deshalb zuerst erörtert werden. Die entscheidende Frage lautet dann, ob die Verfünffachung der Anzahl der Personen und damit die Verfünffachung der auf die rettende Hilfe gerichteten Interessen ausschlaggebend sein soll. Dabei ist die pure Anzahl, wie gesagt, per se ethisch irrelevant. Die wesentliche Frage ist auch nicht, ob die Konsequenzen zählen. Sie zählen grundsätzlich als Gegenstand, auf den sich Belange beziehen können, sind aber nicht allein ausschlaggebend, weil sich die Belange auch auf andere Elemente der ethisch problematischen Handlung beziehen können. Die entscheidende Frage lautet vielmehr, auf welche Weise die in der konkreten Situation widerstreitenden Belange hier eine Rolle spielen: Der Arzt ist von Berufs wegen zur Lebensrettung verpflichtet. Die Verabreichung des Medikaments stellt für ihn weder einen großen Aufwand noch ein Risiko dar, so dass seine Belange vernachlässigt werden können. Es stehen sich also die Belange des einen Patienten und die Belange der fünf anderen Patienten gegenüber. Fraglich ist, ob die Tatsache, dass auf der einen Seite fünf Belange von fünf Patienten stehen, ethisch relevant sein kann. Man wird diese Frage nicht beantworten können, ohne zu erwägen, was überhaupt die Grundlage derartiger Hilfeleistungspflichten ist. Die Grundlage derartiger Hilfeleistungspflichten ist€– wie in Kapitel€IX, 2 noch näher zu erläutern sein wird€– unsere Gemeinschaft mit Anderen. Weil wir mit Anderen in Kontakt stehen€– sei dieser auch noch so indirekt, etwa als Teil der Menschheit auf der Erde€– sind wir verpflichtet, uns wechselseitig Hilfe zu gewähren. Die jeweiligen Belange der Anderen werden dann in konkreten Situationen nach erfolgter Abwägung zu berechtigten Belangen. Diese Belange sind nicht einfach addierbar. Andererseits stehen sie aber auch nicht völlig isoliert, sofern eine einzige Handlung bzw. die durch diese Handlung implizierte Unterlassung mehrere dieser Belange betrifft. Die Belange kommen dann zwangsläufig zueinander in eine Situation der Abwägung und Zusammenfassung. Würde man sie nicht zusammenfassen, so würde man die Individuen als Individuen nicht ernst nehmen und nicht berücksichtigen. Zunächst gilt dann, wie sich oben ergab, dass die Belange alle in grundsätzlich gleicher Weise Beachtung verdienen. Das bedeutet: Stehen sich zwei exakt gleichrangige, aber gegenläufige Belange gegenüber, so neutralisieren sie sich in der Abwägung. Deshalb gibt ein zusätzlicher Belang von nicht ganz unerheblichem Gewicht den Ausschlag. Im Fall€15 stehen sich das Interesse des einen Patienten, das Medikament zu erhalten, und das Interesse eines jeden der fünf anderen Patienten, das Medikament zu bekommen, als exakt gleichrangige, aber gegenläufige Belange gegenüber und neutralisieren sich somit wechselseitig. Stünden in der fraglichen Situation keine weiteren Belange in Rede, so könnte der Arzt beliebig wählen, wen er retten will, oder tatsächlich, wie Taureck meint, das Los entscheiden lassen. Im Fall€15 kommen aber zu den beiden sich wechselseitig neutralisierenden, exakt gleichrangigen Belangen die Belange der vier anderen Patienten aus der Gruppe der fünf Patienten hinzu. Würde der Arzt hier frei wählen, wen er retten
10. Sollen die Zahlen zählen?
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will, oder würde er das Los entscheiden lassen, so würde er die Belange der weiteren vier Patienten nicht angemessen berücksichtigen, weil sie neben dem neutralisierten Belang des fünften Patienten nicht zählen würden. Ihre angemessene Berücksichtigung entscheidet damit die Pattsituation als zusätzliche, gewichtige Belange.55 Der Arzt muss deshalb das Medikament an die fünf Patienten geben. Es gibt in derartigen tragischen Situationen auch keinen guten Grund, wie vorgeschlagen wurde,56 eine gewichtete Lotterie entscheiden zu lassen, in welcher der einzelne Patient eine Chance von einem Sechstel und die fünf Patienten eine Chance von fünf Sechsteln haben oder anders ausgedrückt, bei der jeder Patient eine Chance von einem Sechstel hat, denn wenn die Belange der vier zusätzlichen Patienten aus der Gruppe der fünf Patienten zu berücksichtigen sind, dann bedeutet dies, dass es möglich sein muss, dass sie den Ausschlag geben. Wenn sie aber den Ausschlag geben können, dann ist nicht einsehbar, warum ihre Berücksichtigung nur zu einer Chancenerhöhung und nicht zu einer Entscheidung der Pattsituation führen soll.57 Gegen die Zusammenfassung der überwiegenden Belange ist eingewandt worden, dass hier dann doch nicht die Individuen als einzelne zählen, sondern die größere Gruppe.58 Es erfolge eine Aggregation, die ähnlich wie die Maximierung des Utilitarismus die größere Anzahl der Gruppe den Ausschlag geben lasse. Aber dieser Einwand überzeugt nicht, denn man muss klar zwischen der Berücksichtigung der Interessen einer Gruppe, dem Zusammenfassungsprinzip der Maximierung der Konsequenzen und der prinzipiellen Abwägung bzw. Zusammenfassung von Belangen in einer einzigen, nicht anders lösbaren Konfliktsituation unterscheiden. Die Berücksichtigung der Interessen einer Gruppe steht hier gar nicht in Rede, weil die fünf Patienten über die Tatsache hinaus, dass sie alle in einer einzigen Situation ein ähnliches Interesse an einem Fünftel der Dosis haben, nichts verbindet. Sie können etwa alle auf unterschiedlichen Kontinenten leben und nichts voneinander wissen, so dass sie keine Gruppe bilden. Die Berücksichtigung von Interessen einer Gruppe wurde oben in Kapitel€I auch als letzte Rechtfertigung ausgeschlossen. Der normative Individualismus verdient€– wie sich ergab€– vor einem normativen Kollektivismus den Vorzug. Die Forderung, die Belange der fünf Patienten in einer Situation der Entscheidung gleichermaßen zu berücksichtigen, konstituiert auch keine Gruppe und impliziert deshalb keinen normativen Kollektivismus, denn es ist vollkommen arbiträr, dass die unterschiedlichen, eine bestimmte Handlung rechtÂ�fertigenden Belange von mehreren Individuen geltend gemacht werden. Man denke sich folgenden Fall: 55 Vgl. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€232â•›ff., und Rahul Kumar, Contractualism on Saving the Many, Analysis 61 (2001), S.€165–170, zu einer kontraktualistischen Begründung, die zum selben Ergebnis kommt. 56 John Broome, Selecting People Randomly, Ethics 95 (1984), S.€38–55, der die Lösung aber nur erwähnt und nicht vertritt. Für diese Lösung: Jens Timmermann, The Individualist Lottery: How People Count, but not their Numbers, Analysis 64 (2004), S.€106–112, S.€110â•›ff. 57 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€234. 58 Michael Otsuka, Scanlon and the Claims of the Many Versus the One, Analysis 60 (2000), S.€288–293, S.€291, und Jens Timmermann, The Individualist Lottery: How People Count, but not their Numbers, S.€107, 110.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
Fall€19: Ein Arzt kann mit einer Dosis eines seltenen Medikaments entweder A Schmerzen ersparen und B vor einer schweren Erkältung bewahren oder C, der älter und gebrechlicher ist, vergleichbare Schmerzen wie A ersparen, ihn vor einer ähnlichen Erkältung wie B bewahren und schließlich auch noch vor dem fast sicheren Verlust eines wichtigen Körperglieds retten. Obwohl hier auf der einen Seite A und B mit ihren Belangen die größere Anzahl von Personen bilden, ist der Arzt ohne Zweifel verpflichtet, die Dosis dem C als Einzelperson zu geben, weil seine Belange zusammengenommen weit gewichtiger sind als diejenigen von A und B. Die Tatsache, dass die zusammen gewichtigeren Belange im Ausgangsfall 15 von fünf verschiedenen Individuen geltend gemacht werden, ist also für die Abwägung irrelevant. Entscheidend ist nur, dass eine der in Rede stehenden Handlungsalternativen sie gleichermaßen erfüllen kann, was sie in der Abwägung dieser Handlungsalternative mit der anderen Handlungsalternative faktisch und dann auch normativ relevant auf einer Seite der Abwägung positioniert. Mit der kollektiven Berücksichtigung der Träger dieser Belange als Gruppe größerer Anzahl hat diese Positionierung der fünf Belange auf einer Seite der Abwägung nichts zu tun. Die Abwägung zugunsten der fünf Belange der fünf Patienten impliziert auch weder einen Konsequentialismus noch eine Anerkennung des Maximierungsprinzips. Der Konsequentialismus wird durch diese Lösung nicht anerkannt, weil die anderen möglichen Handlungselemente eins bis sechs neben den Konsequenzen relevant bleiben und prinzipiell zu einer anderen Lösung führen könnten, also etwa ein vorheriges Versprechen des Arztes, die Dosis dem einen Patienten zu geben, ein Verzicht der fünf Patienten zugunsten des einen Patienten usw. Im Fall€15 sind derartige weitere Gesichtspunkte nur nicht ersichtlich. Wenn sich aber in einer Situation die relevanten Belange der zu berücksichtigenden Individuen zufällig ausschließlich auf die Konsequenzen einer Handlung, also das Handlungselement sieben richten, so fordert der normative Individualismus, diese Entscheidung der betroffenen Individuen ernst zu nehmen. Dann dürfen auch keine weiteren Handlungselemente außer den Konsequenzen Berücksichtigung finden. Der normative Individualismus postuliert einen grundsätzlichen Pluralismus der zu berücksichtigenden Handlungselemente und schließt den Konsequentialismus als allgemeines Prinzip der Beschränkung des Bezugs der Belange auf die Konsequenzen aus. Aber er fordert auch, dass die Konsequenzen grundsätzlich wie die anderen Handlungselemente zu beachten sind. Das bedeutet: Sind in einer spezifischen Situation die Belange der beteiligten Betroffenen zufällig so ausgestaltet, dass sie sich nur auf die Konsequenzen der fraglichen Handlungsalternativen richten, so verlangt er logischerweise, dass in dieser spezifischen Situation auch nur diese Belange, die sich ausschließlich auf die Konsequenzen beziehen, ausschlaggebend sein sollen. Die Abwägung der gleichartigen Belange im Rahmen der obigen Lösung impliziert im Übrigen keine Anerkennung des Maximierungsprinzips, denn es kommt nicht auf die Maximierung eines hinter den Belangen stehenden Wertes wie Lust, Freude, Wohlbefinden oder ähnliches an. Die Gewichtung und Zusammenfassung der Belange aufgrund der faktisch möglichen Handlungsalternativen stellt keine Maximierung dar.
10. Sollen die Zahlen zählen?
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Allerdings findet eine Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange statt. Wie sich im nächsten und übernächsten Kapitel€noch zeigen wird, ist eine solche Abwägung bzw. Zusammenfassung auch notwendig, wenn Verpflichtungen und Wertungen ethisch gerechtfertigt werden sollen. Sie kann nicht vermieden werden, will man überhaupt zu einer rationalen Ethik gelangen und die einzelnen Individuen mit ihren Belangen gemäß dem Prinzip des normativen Individualismus berücksichtigen. Schließt man€– was alle Autoren tun€– aus, dass der Arzt im Fall€15 gar nichts tun darf, so muss er zu einer Entscheidung kommen, wem er das Medikament gibt. Muss er aber zu einer Entscheidung kommen, wem er das Medikament gibt, so implizieren alle vorgeschlagenen Lösungen eine Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange der in der Situation von der Entscheidung betroffenen Patienten. Wenn John Taureck zugesteht, dass der Arzt das Medikament an den einen Patienten geben müsste, sofern die fünf anderen Patienten nicht da wären, so verändern die zusätzlichen Belange der fünf anderen Patienten die normativen Anforderungen, weil nun, statt das Medikament an den einen zu geben, das Los entscheiden soll. Die Belange der fünf Patienten werden also berücksichtigt und damit im Vergleich zum Belang des einen Patienten zusammengefasst bzw. abgewogen, allerdings in einer bestimmten Art und Weise, die eine Berücksichtigung mehrerer gleichartiger Belange auf der Seite der einen Handlungsalternative ausschließt. Noch deutlicher wird die Zusammenfassung beim Vorschlag der gewichteten Lotterie. Hier wird mit der gewichteten Lotterie ein kompliziertes Verfahren angewandt, um zu einer Zusammenfassung bzw. Abwägung zu kommen. Dieses Verfahren stellt nun zwar tatsächlich neben Taurecks Nichtgewichtung und der vollen Gewichtung eine dritte, im Ergebnis dazwischen liegende Möglichkeit dar. Aber man kann diesen Vorschlag nicht mit der Behauptung rechtÂ�Â�fertigen, hier fände keine Abwägung bzw. Zusammenfassung der Belange statt,59 weil die beiden Handlungsalternativen mit der jeweils möglichen Befriedigung der Belange des einen Patienten auf der einen Seite oder der fünf Patienten auf der anderen Seite ja zu der Lotterie als prozeduralem Abwägungs- und Zusammenfassungsmechanismus führen. Sind aber alle drei denkbaren Lösungen€– die Taurecksche nichtgewichtete Lotterie, die gewichtete Lotterie und die hier favorisierte Neutralisierung gegenläufiger Belange mit der ausschlaggebenden Berücksichtigung zusätzlicher Belange auf der einen Seite€– mögliche Formen der Abwägung bzw. Zusammenfassung, dann muss man sich fragen, worin das besser begründete bzw. begründbare Prinzip der Zusammenfassung liegt. Mit den bereits erwähnten Argumenten kann dies nur das Prinzip der Neutralisierung gleicher gegenläufiger Belange mit dem Ausschlag zusätzlicher einigermaßen gewichtiger Belange auf einer Seite sein, denn nur durch dieses Prinzip werden alle in der Situation betroffenen Individuen mit ihren jeweils in Rede stehenden Belangen gleich berücksichtigt. Im Fall€17 der Verteilung des lebensrettenden Medikaments durch den Arzt an sich selbst oder die fünf Patienten gilt dagegen: Die Belange Anderer verpflichten uns, ihnen zu helfen. Aber sie verpflichten niemanden zur Selbstaufopferung, also zum Verzicht auf 59 So aber Jens Timmermann, The Individualist Lottery: How People Count, but not Their Numbers, S.€111.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
das eigene Weiterleben. Die „Gemeinschaft“, die jeder Einzelne mit sich selbst hat, ist für ihn die wichtigste aller Gemeinschaften. Ohne sie wäre sein Leben als Bedingung alles weiteren Handelns unmöglich. Er ist deshalb€– zumindest wenn man sich auf eine immanente Bewertung beschränkt und religiös-transzendente Gründe ausklammert€– befugt, diese „Gemeinschaft“ mit sich selbst im Fall€eigener gewichtiger Belange in der Abwägung von Rettungspflichten allen Belangen und damit Pflichten gegenüber Anderen überzuordnen. Es gibt also gute Gründe, warum der Einzelne das Medikament nicht an die fünf Anderen herausgeben muss. Niemand muss sein Leben€– beschränkt man sich auf eine immanente Bewertung€– ohne spezifische weiter gehende Gründe für Andere opfern, denn dieses Leben ist die Bedingung aller seiner Handlungen und Belange. Nicht ausgeschlossen wird damit selbstredend die Pflicht, gewisse Gefährdungen des eigenen Lebens im gewichtigen Interesse Anderer in Kauf zu nehmen, etwa Andere zu retten, falls die Rettungshandlung zumutbar ist, oder Andere bzw. das eigene Volk im Krieg zu verteidigen. Am zweifelhaftesten ist Fall€16 der Entscheidung zwischen David und den anderen fünf Patienten. Die enge Freundschaft zwischen dem Arzt und David erzeugt gewichtige Belange auf beiden Seiten. Daraus ergibt sich eine gesteigerte Pflicht zur Hilfeleistung des Arztes gegenüber David. Würde auf der anderen Seite nur ein einziger Fremder stehen, so dürfte€– wie bereits erwähnt€– der Arzt das Medikament auf jeden Fall€an David herausgeben, ja er müsste es aufgrund der gesteigerten Pflicht gegenüber David sogar. Aber welche Folgen hat die Tatsache der zusätzlichen Personen auf der anderen Seite? Ihre Belange müssen jeweils berücksichtigt werden. Aber wie hat die Abwägung zwischen den gesteigerten Belangen unter engen Freunden und den zusätzlichen Belangen Dritter auszusehen? Darf der Arzt seinen Freund David den fünf Unbekannten vorziehen oder muss er deren Belange höher gewichten? Diese Frage ist deshalb so schwer zu beantworten, weil hier Belange mit Bezug auf zwei verschiedene Handlungselemente im Widerstreit stehen: zum einen das Interesse an der Freundschaft als äußere Bedingung bzw. Handlungselement eins bei David, zum anderen das Interesse an den Konsequenzen der Handlung als Handlungselement sieben bei fünf Fremden. Die gesteigerte Pflicht gegenüber David wiegt grundsätzlich viele andere Pflichten gegenüber Dritten auf, weil die spezifische Gemeinschaft zwischen dem Arzt und David zu berücksichtigen ist. Aber die Lebenserhaltung ist für die meisten Menschen der wichtigste Belang und die Pflicht zur Lebenserhaltung€– vorbehaltlich weiterer im übernächsten Kapitel€noch zu erörternder Prinzipien€– eine der wichtigsten Pflichten. Deshalb wird man annehmen müssen, dass das Interesse an der Lebenserhaltung den Vorzug vor der Erhaltung und Förderung der Freundschaft verdient. Die jeweiligen Pflichten der Lebenserhaltung gegenüber den fünf zusätzlichen Patienten sind also wichtiger als die Freundschaftspflicht. Der Arzt muss demnach die fünf Fremden retten. Sollte er sich allerdings für die Rettung Davids entscheiden, dann würde man ihn zwar nicht für gerechtfertigt halten. Aber es bietet sich an, auch in Moral und Ethik ebenso wie im deutschen Strafrecht zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung zu unterscheiden. Im Strafrecht führt die Entschuldigung dazu, dass eine Strafe unterbleibt. In der Moral ist es gerechtfertigt, auf moralische Sanktionen zu verzichten.
11. Handeln als Tun und Unterlassen
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11. Handeln als Tun und Unterlassen Von den sieben Teilen der Handlung im weiteren Sinn soll nun das sechste Element, also das Element der tatsächlichen Handlungsausführung näher untersucht werden.60 Es umfasst zwei, nicht selten für ethisch und moralisch unterschiedlich signifikant gehaltene Teilformen: Tun und Unterlassen. Einen anderen Menschen zu belügen oder zu betrügen, also durch aktives Tun bei ihm einen Irrtum hervorzurufen, wird etwa von vielen für unmoralischer gehalten, als seinen schon bestehenden Irrtum nicht aufzuklären, also durch passives Unterlassen zu perpetuieren, mag der durch die unterlassene Aufklärung erwachsende Schaden auch genauso groß oder sogar größer sein. Im Recht findet man vergleichbare Wertungen: Wer einen Nichtschwimmer in einen See stößt, damit er ertrinkt, wird in Deutschland wegen Totschlags oder Mordes mit Freiheitsentzug bis zu fünfzehn Jahren oder sogar lebenslänglicher Inhaftierung bestraft. Unterlässt er dagegen die Rettung eines schon im See Ertrinkenden, so kann er, sofern keine speziellen Hilfspflichten aus Verwandtschaft, schuldhaftem Vorverhalten oder Vertrag bestehen, allenfalls wegen unterlassener Hilfeleistung mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe belangt werden (§ 323â•›c StGB). Die Bestrafung wegen unterlassener Hilfeleistung setzt überdies voraus, dass die Hilfeleistung zumutbar ist, der Retter also zum Beispiel schwimmen kann und sich nicht selbst in Lebensgefahr bringt. In Österreich ist die unterlassene Hilfeleistung sogar ganz straflos. Die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen ist für tatsächlich bestehende primäre Normordnungen wie Recht und Moral also außerordentlich wichtig. Aber worin liegt der Unterschied?
a)€Die physische oder psychische Veränderung als Kriterium der Unterscheidung Zunächst sollte man sich klarmachen, dass die Zuordnung zu einer der beiden Kategorien in der Wahrnehmung des Alltags verschiedentlich nicht nur mit Rekurs auf eine isolierte natürliche Grundlage, das heißt rein beschreibend erfolgt. Wie jede andere Tatsache ist das Handeln vielmehr Teil umfassender faktischer Zusammenhänge und als umfassender faktischer Zusammenhang umgekehrt auch in Teile zerlegbar. Das Handeln kann folglich auf verschiedenen Abstraktionsstufen unserer Weltbeschreibung verschieden erfasst und verstanden werden. Bewegt etwa ein Unternehmer Daumen und Zeigefinger, kann das als Führen eines Stifts (Tun), Leisten einer Unterschrift (Tun), Abschluss eines Schriftstücks (Tun), Verzicht auf das Einlegen eines Rechtsmittels (Unterlassen), Nichtrealisieren einer vermögenssichernden Handlung (Unterlassen), Zulassen der Insolvenz des eigenen Unternehmens (Tun oder Unterlassen?) und Zerstörung 60 Vgl. grundsätzlich: Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995; Armin Berger, Unterlassungen. Eine philosophische Untersuchung, Paderborn 2004. Berger unterscheidet zwar auch zwischen „Handlung“ und „Handeln“ (S.€22â•›ff.), versteht unter „Handeln“ aber nicht nur die tatsächliche Handlungsausführung im Sinne des Elements sechs, sondern alle mentalen Elemente. „Handeln“ ist für ihn das, was wir unmittelbar tun, „Handlung“ dasjenige, was wir mit dem Tun in der Welt hervorbringen (S.€33).
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
der eigenen ökonomischen Lebensgrundlagen (Tun oder Unterlassen?) interpretiert werden. Vergisst jemand, die Herdplatte abzustellen (Unterlassen), so setzt er damit möglicherweise das Haus in Brand (Tun) und verspielt angesichts der hohen Schadensersatzforderungen seine Zukunft (Tun).61 Die Zuordnung des Alltags scheint sich also nicht nur an natürlich-beschreibenden Kriterien zu orientieren, sondern ist offenbar darauf gerichtet, bestimmte interpretative Aspekte des tatsächlichen Handelns zu berücksichtigen, die funktional und normativ wesentlich sind.62 Trotz dieser wesentlichen Einschränkung kann man davon ausgehen, dass der Differenzierung von Tun und Unterlassen auf den grundlegenderen Stufen der Handlungsbeschreibung zumindest die Überzeugung von einer natürlichen oder wenigstens naturnah interÂ� pretierbaren Unterscheidung zu Grunde liegt. Arthur C. Danto hat sog. „Basishandlungen“ als Ergebnis einer möglichst weit gehenden Analyse komplexerer Handlungen identifiziert: Da wir durch ein „Handeln“ handeln können, etwa grüßen, indem wir die Hand heben, muss es auch atomares Handeln geben, dem kein weiteres Handeln zu Grunde liegt.63 Das lässt sich für die Unterscheidung von Tun und Unterlassen folgendermaßen konkretisieren: Tun erfordert entweder eine äußere KörperÂ�bewegung oder einen inneren mentalen Akt im Sinne einer über Wünsche, Überzeugungen, Absichten, die Mittelwahl und den Handlungswillen hinausgehenden psychischen Veränderung.64 Unterlassen setzt das Fehlen der äußeren Körperbewegung oder der soeben spezifizierten inneren psychischen Veränderung voraus. Dabei sind wie beim Tun alle vorhergehenden Handlungsteile zumindest rudimentär vorhanden, also, lässt man einmal die Fahrlässigkeit als noch zu erörternde Sonderfrage beider Handlungsformen außer Betracht, der Wunsch bzw. die Überzeugung, die Absicht, die Wahl der Mittel zur Realisierung der Absicht und der Handlungswille. Beim Unterlassen wird aber als sechster Teil der Handlungsausführung der Handlungswille, also der Teil fünf, festgehalten bzw. perpetuiert. Der Handlungswille schlägt also anders als beim Tun nicht in eine äußere oder innere Veränderung um. Wer etwa einen Ertrinkenden sieht und dessen Rettung unterlässt, der hat bestimmte Wünsche und Überzeugungen, bildet eine dem Tun vergleichbare Absicht, wählt das Mittel des Nicht-ins-Wasser-Springens und fasst den entsprechenden Willen, nicht ins Wasser zu springen. Dann hält er an diesem Willen bis zum Ende der faktischen Rettungsmöglichkeit, also bis zum Verschwinden des Ertrinkenden oder bis zum Verlassen des Unglücksorts, fest. Im Fall€eines inneren Akts des Unterlassens ist die Feststellung naturgemäß erheblich schwieriger als im Fall€eines äußeren Tuns. Wer den Arm hebt, tut etwas äußerlich, wer 61 Vgl. zu diesem Beispiel Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€27. 62 Vgl. Armin Berger, Unterlassungen, S.€18, 160, 188, 254â•›ff., 302â•›ff., der dann aber Unterlassungen vollständig von Normen abhängig auffasst. 63 Arthur C. Danto, Analytical Philosophy of Action, Cambridge 1973, S.€28â•›ff. 64 Vgl. Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€34â•›ff., wobei Birnbacher zwar im Titel Tun und Unterlassen kontrastiert, hier aber Handeln und Unterlassen. Armin Berger, Unterlassungen, S.€15, 109â•›ff., 212â•›ff., wendet sich zwar gegen die Körperbewegung als Unterscheidungskriterium, berücksichtigt aber innere Akte nicht. Sein eigener Vorschlag der absichtlichen Verwirklichung oder Nichtverwirklichung einer Handlungsmöglichkeit (S.€110â•›ff.) ist zwar anders formuliert, aber in der Sache mit der hier vertretenen Ansicht vergleichbar, denn wenn „(Nicht-)Verwirklichen“ nicht nur das fünfte Element der Mittelwahl meint, dann muss es sich um das sechste Element der Handlungsausführung handeln.
11. Handeln als Tun und Unterlassen
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ihn nicht hebt, unterlässt etwas äußerlich. Wer sich eine Äußerung mit Absicht merkt, tut etwas innerlich, wer sie sich mit Absicht nicht merkt, unterlässt etwas innerlich, nämlich das Merken. Er bildet eine Absicht, wählt das Mittel des Nichtmerkens, fasst den Willen, sich die Äußerung nicht zu merken, und hält dann an diesem Entschluss so lange fest, bis die Verankerung im Gedächtnis nicht mehr möglich ist. Lag etwa in Kants berühmtem, in seinem „Gedächtnisbüchlein“ niedergelegten Entschluss „Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden!“65 ein Tun oder ein Unterlassen, wenn Kant seinen wegen Unbotmäßigkeit entlassenen Diener tatsächlich vergaß? Sein Entschluss, Lampe zu vergessen, war wohl anders als die soeben erwähnte Entscheidung, sich etwas nicht zu merken, ein Tun, denn der bereits fest im Gedächtnis verankerte Name „Lampe“ sollte aus dem Gedächtnis verbannt werden. Die Realisierung dieser Absicht setzte eine zusätzliche psychische Veränderung voraus, nämlich die Aufhebung der Verankerung des Namens „Lampe“ in Kants Gedächtnis. Ob man eine derartige Verankerung bzw. Aufhebung der Verankerung tatsächlich absichtlich bzw. willentlich herbeiführen kann, ist eine empirisch-psychologische Frage, keine philosophische. Kant glaubte offenbar daran. Und auch im Alltag sehen wir es regelmäßig nicht als sinnlos an, wenn man jemanden oder etwas vergessen will, etwa einen ehemaligen Partner oder ein schreckliches Ereignis. „Aus den Augen, aus dem Sinn.“ rät der VolksÂ�mund zur Verwirklichung.
b) Die Bedingung der Möglichkeit Das Unterlassen hat eine weitere Eigenschaft zur Bedingung, die wir für das Tun ohne weiteres als notwendig ansehen. Jedes Tun erfordert seine Möglichkeit, und zwar nicht nur seine logische und physikalische Möglichkeit, sondern weiter gehend auch seine praktische MöglichÂ�keit, also die Fähigkeit und Gelegenheit des Akteurs, das Tun zu realisieren.66 Das Unterlassen verlangt nun nicht nur vergleichbar dem Tun modallogisch die Möglichkeit seiner selbst, also die Möglichkeit des Unterlassens, das heißt des Nicht-Tuns, sondern darüber hinaus auch die logische, physikalische und praktische Möglichkeit des Tuns.67 Ist es jemandem etwa praktisch unmöglich, einen Ertrinkenden zu retten, weil dieser sich unerreichbar auf einem anderen Kontinent befindet, so wäre es€– obwohl ihm zwar das Unterlassen möglich war€– absurd anzunehmen, er hätte die Rettung unterlassen. Nur wenn er selbst am Rande des Sees steht und den Ertrinkenden faktisch retten kann, ihm also auch das Tun möglich ist, kann sein Nichtstun als Unterlassen qualifiziert werden. Was man dann in speziellen Konstellationen noch als möglich oder nicht möglich ansieht, wie strikt man also die praktischen Anforderun65 Vgl. Immanuel Kant, zitiert in Karl Vorländer, Immanuel Kants Leben, neu hg. von Rudolf Malter, Hamburg 1974, S.€ 201. Der in der Akademieausgabe herausgegebene handschriftliche Nachlass verzeichnet die Äußerung dagegen nicht, wohl weil sie im „Gedächtnisbüchlein“ eingetragen war. 66 Vgl. dazu Armin Berger, Unterlassungen, S.€88â•›ff. 67 Dies konstatiert bereits Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II, qu. 79, ad 2; Georg Henrik von Wright, Norm and Action. A Logical Inquiry, 2.€Aufl. London 1971, S.€45; Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€32â•›f.; Walter Stree, in: Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, Vorbem. § 13, Rn. 141â•›ff.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
gen subjektiv und objektiv fasst, überschreitet ab einer gewissen Konkretisierungsstufe allerdings die Grenze der allgemeinen philosophischen Begriffsbildung und ist von den spezifischen Normen- und Bewertungsordnungen abhängig, die eine Normierung und Bewertung des Unterlassens aussprechen.68 Sowohl für das Tun als auch für das Unterlassen gilt also gleichermaßen die Bedingung der Möglichkeit des Tuns, wobei diese Bedingung nur für das Unterlassen eine spezifizierende Wirkung gegenüber weiteren möglichen Veränderungen in der Welt hat, weil die Klassifikation eines Handelns als Tun seine Möglichkeit, wie erwähnt, bereits modallogisch voraussetzt. Da die Möglichkeit des Tuns gleichermaßen für das Tun wie für das Unterlassen notwendig ist, kann diese Bedingung aber nicht zur Differenzierung beider Handlungsformen taugen. Tun und Unterlassen unterscheiden sich also zunächst nur in der äußeren Körperbewegung oder der zusätzlichen inneren mentalen Veränderung, die beim Unterlassen fehlen.
c) Wissen und Wollen des Handelnden Die äußere Körperbewegung oder der innere mentale Akt sind zwar notwendige Bedingungen des Tuns. Sie sind aber bereits auf einer phänomenal-begrifflichen Ebene noch nicht hinreichend, denn die Körperbewegung kann auch ein bloßer Reflex sein oder durch Naturereignisse bzw. andere Menschen herbeigeführt werden, ohne dass der Betroffene handelt. Und der innere mentale Akt kann äußerlich bewirkt werden, wie etwa ein Schreck durch einen Knall. Handeln in den Formen des Tuns und Unterlassens setzt deshalb bereits auf der phänomenal-begrifflichen Ebene ein gewisses Maß an Wissen und Wollen des Handelnden voraus. Mit diesem Erfordernis wird aber das sechste Element der Handlung im umfassenden Sinn überschritten. Das Wissen ist eine innere Bedingung im Sinne der Handlungselemente eins und zwei und das Wollen in seiner konkretisierten Form nichts anderes als das Handlungselement fünf des Handlungswillens und als Absicht bzw. Ziel das Handlungselement drei. Wissen und Wollen sind dabei in ihrer Stärke Kontinua. Und es stellt sich die Frage, wie stark Wissen und Wollen ausgeprägt sein müssen, damit man von einem Handeln sprechen kann. Zu dieser Frage wurde mit den bisherigen Überlegungen schon in abstracto eine Antwort gegeben. Aber die Gründe sollen nun noch etwas eingehender auch unter Berücksichtigung des Rechts und der Rechtswissenschaft, in denen diese Fragen eine wesentliche Rolle spielen und die deshalb eine besondere Sensibilität gegenüber den Phänomenen entwickelt haben, erläutert werden. Das Recht und die Rechtswissenschaft haben zur Frage des Wissens und Wollens beim Handeln einen großen Reichtum an Differenzierungen hervorgebracht. Allerdings 68 Vgl. zur entsprechenden Diskussion im Strafrecht etwa Bernd Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte. Zugleich ein Beitrag zur strafrechtlichen Methodenlehre, Göttingen 1971, S.€20–22, 30â•›ff. Schünemann setzt enger als Birnbacher keine Kenntnis aller relevanten Situationsumstände voraus; Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, Besondere Erscheinungsformen der Straftat, München 2003, § 31 II, Rn 8â•›ff.
11. Handeln als Tun und Unterlassen
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wird dabei der Kontinuitätscharakter beider Eigenschaften häufig missachtet und vor allem auf den Erfolg rekurriert, wodurch die klare Unterscheidung zwischen Handeln, das heißt dem Handlungselement sechs, und den Konsequenzen des Handelns, das heißt dem Handlungselement sieben, verwischt wird. Recht und Rechtswissenschaft unterscheiden zwischen Absicht als direktem Vorsatz 1. Grades, direktem Vorsatz 2. Grades, bedingtem Vorsatz und Fahrlässigkeit.69 Eine Absicht ist gegeben, wenn es dem Täter auf den Erfolg ankommt, sei dies auch nur ein Zwischenziel. Die Absicht entspricht also dem Handlungselement drei. Beim direkten Vorsatz 2. Grades weiß der Täter oder betrachtet es als gesichert, dass er den Tatbestand verwirklichen wird. Da er die Handlung will, will er auch deren sichere Folgen, hat also das Handlungselement fünf vollständig oder fast vollständig realisiert. Beim bedingten Vorsatz herrscht Uneinigkeit. Die deutsche Rechtsprechung folgt weitgehend der sog. „Einwilligungstheorie“. Danach ist kognitiv zunächst erforderlich, dass der Täter den Erfolgseintritt als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt. Das genügt jedoch noch nicht. Voluntativ muss er darüber hinaus den Erfolg auch „billigend in Kauf nehmen“, also seinen Eintritt hinnehmen.70 In der juristischen Literatur wird das voluntative Element dagegen von manchen abgeschwächt. Nötig soll nur sein, dass der Täter dem Erfolgseintritt gleichgültig gegenübersteht (Gleichgültigkeitstheorie).71 Andere Autoren stellen dagegen ausschließlich oder fast ausschließlich auf das kognitive Element ab. In verschiedenen Varianten soll der Täter den Eintritt des Erfolgs entweder für wahrscheinlich72 oder gar nur für möglich73 halten. Fahrlässig handelt der Täter, wenn er zwar den Erfolgseintritt voluntativ nicht will und auch nicht billigend in Kauf nimmt, aber kognitiv voraussehen konnte und sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig verhält.74 Problematisch ist bei diesen Abgrenzungen generell, dass nicht immer klar genug zwischen der Zuordnung von Wissen und Wollen zum Handeln im Sinne des Handlungselements sechs und zu den Konsequenzen des Handelns im Sinne des Handlungselements sieben unterschieden wird. Bei der Fahrlässigkeit will der Akteur zwar den Erfolg, also die Konsequenzen als Handlungselement sieben nicht. Aber ein zumindest minimales Wollen im Sinne eines Akzeptierens des Handelns als Handlungselement sechs ist erforderlich, sonst kann keine Handlung im umfassenden Sinn angenommen werden. Wessen Körperbewegung oder innere Veränderung nicht einmal mit einem Minimum an Wissen und Wollen, also Fahrlässigkeit, erfolgt, der kann nicht als Urheber eines Tuns gelÂ�ten. Das bloße Wissen genügt dabei nicht. Es muss ein mindestens minimales Wollen des Tuns im Sinne eines Akzeptierens des Handelns (nicht jedoch 69 § 15 StGB. Vgl. Peter Cramerâ•›/â•›Detlev Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 64â•›ff.; Tröndle-Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54.€Aufl. München 2007, § 15, Rn. 5â•›ff. 70 BGH Entscheidungen in Strafsachen Bd. 7, S.€363; 21, S.€283; 36, S.€9; 46, S.€35. 71 Vgl. Peter Cramerâ•›/â•›Detlev Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 84. 72 Z.â•›B. Hellmuth Mayer, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Stuttgart 1967, S.€121. 73 Z.â•›B. Rudolf Schmidhäuser, Die Grenze zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Straftat („dolus eventualis“ und „bewußte Fahrlässigkeit“), Juristische Schulung 20 (1980), S.€241–252, S.€242. 74 Peter Cramerâ•›/â•›Detlev Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 118–127.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
des Erfolgs) hinzukommen. Reißt etwa eine Flutwelle dem badenden A den Arm mit seinem klaren Wissen, aber vollständig gegen oder ohne sein Wollen hoch, so kann man weder vorsätzliches noch fahrlässiges Handeln des A annehmen. Dem A geschieht etwas, aber er handelt nicht. Das Handlungselement sechs kann also beim Tun nicht ohne zumindest rudimentäre Wollensformen des Handlungselements fünf realisiert werden. Gilt für das Unterlassen das gleiche Erfordernis des wenigstens minimalen Wissens und Wollens?75 Oder ist ein Unterlassen ohne jegliches Wissen und Wollen der NichtKörperbewegung bzw. der inneren Nichtveränderung möglich? Bedarf es also, wie oben behauptet wurde, der kognitiven und volitiven Pendants zur Nicht-Körperbewegung oder zur inneren Nichtveränderung? Oder genügt beim Unterlassen anders als beim Tun vielleicht wenigstens das bloße Wissen als notwendige Bedingung des Handelns, ohne dass auch ein nur minimales Wollen hinzukommen müsste?76 Angenommen der A schluckt versehentlich ein tödliches Gift, das zunächst nicht zu äußeren Veränderungen führt. Der Arzt B kommt zufällig hinzu und könnte A durch ein Gegengift retten. Aber er weiß nichts von der Vergiftung des A und hat auch keinen Anhaltspunkt für eine Vergiftung, der eine Aufklärung erforderlich machen würde. Er gibt ihm deshalb das Gegengift nicht. Kann man hier behaupten, B habe es unterlassen, den A zu retten? Sicher nicht. Ohne ein handlungsrelevantes Wissen um die Situation oder um Faktoren, die eine Aufklärung erfordern, kann B die Handlungsalternative des Unterlassens nicht verwirklichen. Er hilft A zwar in diesem Fall€nicht. Aber man kann nicht behaupten, er habe es „unterlassen“, ihm zu helfen. Die bloße Negation des aktiven Tuns als Handlung kann neben der Körperbewegung auch das notwendige Wissen und Wollen negieren. Das Unterlassen unterscheidet sich aber von dieser bloßen Negation des aktiven Tuns als Handlung. Dieser Unterschied liegt im Erfordernis einer zumindest minimalen Kenntnis der Situation oder zumindest der situationsrelevanten Faktoren. Man kann zwar einen ganz weiten Unterlassensbegriff ohne ein derartiges Wissen definieren,77 widerspricht damit aber zum einen unserem allgemeinen Verständnis vom Handeln als kognitiv gesteuertem Verhalten und gewinnt zum anderen auch keinen tauglichen Ansatzpunkt für primäre und sekundäre Normen, weil ohne ein wenigstens rudimentäres Wissen über die relevanten Faktoren der Situation und die Handlungsmöglichkeiten keine Normierung des Unterlassens möglich ist. Auch hier gilt der Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“ (Jenseits seines Könnens ist niemand verpflichtet). Das Strafrecht verlangt für die Begehungsweise der Fahrlässigkeit kein unmittelbares Wissen um die konkreten Umstände der Situation. Erforderlich sind aber zumindest ein abstraktes Wissen und ein Wissen um Umstände, die eine Aufklärungshandlung nahe legen.
75 Bejahend für den Vorsatz etwa Peter Cramerâ•›/â•›Detlev Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 98; Michael Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt. Eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung zur Theorie des personalen Handelns, Frankfurt a.â•›M. 2001, S.€268. 76 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€37–42. 77 Georg Henrik von Wright, Norm and Action. A Logical Inquiry, S.€45â•›ff.
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Birnbacher bejaht zwar das Erfordernis des Wissens für den Unterlassensbegriff, sieht in diesem Wissen aber keine selbständige zusätzliche Bedingung, sondern lediglich einen Aspekt der psychischen Handlungsmöglichkeit des Akteurs.78 Man kann sich fragen, ob hier der Begriff der Möglichkeit zum Handeln bzw. der Fähigkeit nicht zu weit gefasst wird. Aber letztlich ist das nur eine Frage der Kategorisierung. Am sachlichen Erfordernis des zumindest rudimentären Wissens für ein Tun wie für ein Unterlassen besteht kein Zweifel. Fraglich ist nun zweitens, ob dieses wenigstens rudimentäre Wissen beim Unterlassen genügt oder ob nicht auch eine zumindest minimale Realisierung des Handlungselements fünf, also ein zumindest minimales Wollen im Sinne eines Akzeptierens hinzukommen muss, um ein Unterlassen zu bejahen. Was ist, wenn der Arzt B im soeben geschilderten Fall€zwar alles in der fraglichen Situation Wesentliche weiß, also weiß, dass A das tödliche Gift geschluckt hat und durch das Gegengift gerettet werden könnte, die Rettung aber trotzdem nicht durchführt, und zwar gegen seinen Willen, wobei dies entweder geschieht, a) weil ihn ein Anderer physisch daran hindert, oder b) weil er von einem Anderen in ein wichtiges Gespräch verwickelt wird? Kann man in diesem Fall annehmen, dass B die Rettung unterlassen hat? Im Fall€a) der physischen Hinderung durch einen Anderen ist schon die oben erwähnte grundsätzliche Bedingung der Möglichkeit des Tuns zu verneinen. Es kommt also gar nicht darauf an, dass die Nichtinjektion des Gegengiftes ohne oder gegen seinen Willen geschieht. In keinem Fall€liegt ein Unterlassen vor. Im Fall€b) hat der Arzt B dagegen die Möglichkeit, dem A das Gegengift zu verabreichen, also das Erforderliche zu tun. Aber er ist so in das wichtige Gespräch vertieft, dass er die Injektion des Gegengifts versäumt, obwohl er€– wie er hinterher beteuert€– A retten wollte. Man kann natürlich fragen, ob der Arzt B A wirklich retten wollte, wenn er die Rettung trotz prinzipieller Möglichkeit wegen eines bloßen Gesprächs mit einem Dritten nicht ausführt. Dies ist besonders zweifelhaft, wenn B weiß, dass die Rettung nur noch kurze Zeit möglich sein wird, also Eile geboten ist. Hat B zwei Handlungsmöglichkeiten, nämlich die Rettung und das Gespräch und wählt er das Gespräch im vollen Bewusstsein der Rettungsmöglichkeit, so ist kaum vorstellbar, dass er das Nicht-Tun der Rettung nicht akzeptiert. Sind also die bisherigen drei spezifischen Anforderungen an das Unterlassen€– das Nicht-Tun, das heißt die Nicht-Körperbewegung bzw. Nicht-Änderung des zusätzlichen inneren Zustands, die Möglichkeit des Unterlassens und Tuns und das wenigstens rudimentäre Wissen um die relevanten Aspekte der Situation€– verwirklicht, so sind kaum realistische Fälle denkbar, in denen man nicht davon ausgehen kann, dass der fragliche Akteur das Nicht-Tun zumindest in einem sehr schwachen Sinn akzeptiert, also zumindest ein rudimentäres Wollen im Sinne des Handlungselements fünf des Handlungsentschlusses hat. Die menschliche Psyche ist jedoch vielfach widerspruchsvoll. Und es ist nicht auszuschließen, dass der Arzt in der geschilderten Situation tatsächlich glaubhaft beteuern kann, dass er den A retten wollte. Man kann nun diese Beteuerung bezweifeln und im Rahmen der strafrechtlichen Bewertung zumindest ein Akzeptieren der Nichtrettung vermuten.
78 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€37╛ff.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
Aber beides, Bs Beteuerung und die strafrechtliche Bewertung des vorsätzlichen Unterlassens zeigen, dass auch das Unterlassen in gleicher Weise wie das Tun ein zumindest rudimentäres Wollen im Sinne eines Akzeptierens des Unterlassens voraussetzt. Auch beim Unterlassen kann also das Handlungselement fünf des Wollens nicht ganz wegfallen. Man kann dieses Ergebnis auch theoretisch rechtfertigen: Die einzelnen Elemente der Handlung können nur dann zur Handlung als Ganzer beitragen, wenn sie nicht vollständig von der Natur oder anderen Menschen bestimmt werden. Ein Verhalten, das reflexhaft oder gänzlich von anderen bestimmt abläuft, ist kein Tun und damit kein tatsächliches Handeln als taugliches Element sechs der Handlung im weiteren Sinn. Für ein Unterlassen ist nicht einsehbar, warum diese Anforderung schwächer ausfallen sollte, warum also ein bloß reflexhaftes oder gänzlich von anderen bestimmtes Nicht-Tun zur Konstitution des Unterlassens als eine Form des Handelns im Sinne des Handlungselements sechs ausreichen sollte. Man könnte nun argumentieren, dass die soeben aufgestellten Bedingungen ja nur für die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen auf der Basisebene des natürlichen Handelns tauglich seien, während auf abstrakteren Ebenen der Handlungskategorisierung die zu Beginn dieses Abschnitts erwähnte normativ geleitete Pluralität der Verständnisse eines Geschehens herrsche. Aber es gibt gute Gründe, auch für die übergeordneten Ebenen eine gewisse Einschränkung der normativen Zuordnung zu den Handlungsalternativen Tun und Unterlassen anzunehmen. Zum Ersten bleibt die soeben erläuterte Differenzierung auf der Basisebene auch nicht ohne Bedeutung für die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen auf abstrakÂ�teren Ebenen, da die Basisebene einschränkend bzw. bestimmend wirkt. Besteht etwa auf der Basisebene ein Tun, so kann nur eine starke Determination auf einer abstrakteren Ebene zur Bewertung als Unterlassen führen. Zum Zweiten liefert die Einbettung des tatsächlichen Handelns als sechstes Element der sieben Handlungselemente Unterscheidungskriterien. Beim obigen Beispiel stellt sich etwa die Frage, ob der Handelnde die Absicht hatte, die eigene Insolvenz herbeizuführen und sein Leben zu ruinieren oder ob er zumindest fahrlässig gehandelt hat, wie also die Handlungselemente drei und fünf verfasst sind. Hat er etwa Frau und Kinder, die er versorgen muss, so sind die beiden abstraktesten Handlungsebenen ethisch und moralisch bedeutsam, sonst nicht. Der Verzicht auf das Rechtsmittel kann auch aus anderen Gründen ethisch relevant sein, etwa wenn er mit AlleinverÂ�tretungsmacht ausgestattet war und dem Mitinhaber seines Unternehmens die Einlegung des Rechtsmittels versprochen hatte. Dann würde die Bedingung des Versprechens, also ein wichtiger Aspekt des Handlungselements eins, zur Relevanz einer bestimmten Beschreibungsebene des Handelns, also des Handlungselements sechs führen, nämlich der Relevanz des Handelns als Unterlassen der Rechtsmittelverfolgung. Zum Dritten sind alle sieben Teile der Handlung im weiten Sinn nur insofern moralisch wesentlich, als sich Belange anderer Betroffener auf sie beziehen. Dies gilt natürlich auch für die verschiedenen möglichen Beschreibungsebenen des Handelns. Für die Frau und die Kinder des Unternehmers ist es moralisch nicht relevant, dass er seinen Daumen und Zeigefinger bewegt oder ein Schriftstück unterzeichnet. Moralisch relevant sind
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für sie die Insolvenz des Unternehmens und damit der Verlust ihrer ökonomischen Lebensgrundlage. Für den Kompagnon ist dagegen der Bruch des Versprechens durch den Rechtsmittelverzicht und die Insolvenz des Unternehmens relevant, nicht aber€– sofern es sich nicht um einen Freund oder Verwandten handelt€– der Verlust der wirtschaftlichen Basis seines Partners als Individualperson. In der strafrechtlichen Literatur ist umstritten, ob nur die Körperbewegung,79 der Energieeinsatz,80 die Kausalität81 oder eine Kombination dieser Aspekte82 bei der Bestimmung der Handlungsmodalität wesentlich sein sollen. Die These der Pluralität der Handlungselemente stützt hier die Berücksichtigung aller möglichen Anknüpfungspunkte und€– auf einer zweiten Stufe und erweitert um normative Gesichtspunkte€– die Auffassung der Rechtsprechung, die zur Abgrenzung bei normativer Betrachtung und unter Berücksichtigung des sozialen Handlungssinns danach fragt, wo der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens liegt.83
d) Das Verhältnis zu den Folgen Zweifelhaft und umstritten sind beim Unterlassen nicht nur das Verhältnis des Handlungselements sechs zu den Handlungselementen eins, zwei sowie drei und fünf, sondern auch das Verhältnis zum Handlungselement sieben, also das Verhältnis zu den Folgen des Handelns. Das Tun erzeugt derartige Folgen im Normalfall kausal.84 Worin kann dann eine Art Kausalität oder Quasikausalität des Unterlassens liegen?85 Für eine Antwort sind zwei Einsichten wesentlich. Einerseits wirkt das Unterlassen mangels äußerer Körperbewegung oder inneren, mentalen Akts auf der Ebene der fundamentalsten Beschreibung tatsächlich nicht in gleicher Weise natürlich-kausal im Sinne einer
79 Karl Heinz Gössel, Zur Lehre vom Unterlassungsdelikt, ZStW 96 (1984), S.€321–335, S.€326â•›ff. 80 Joerg Brammsen, Tun oder Unterlassen? Die Bestimmung der strafrechtlichen Verhaltensformen, Goltdammer’s Archiv (GA) 149 (2002), S.€193–213, S.€200â•›ff.; Karl Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, Tübingen 1931, S.€29â•›ff.; ders., Tun und Unterlassen, in: Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag, hg. von Karl Lackner u.â•›a., Berlin 1973, S.€163–196, S.€170â•›ff. 81 Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31, Rn 78â•›ff.; Erich Samson, Begehung und Unterlassung, in: Festschrift für Hans Welzel, hg. von Günther Stratenwerth u.â•›a., Berlin 1974, S.€579–603, S.€587â•›ff. 82 Gunnar Duttge, in: Münchener-Kommentar zum Strafgesetzbuch, München 2003, § 15, Rn. 207; Rolf D. Herzberg, Die Differenz zwischen Unterlassen und Handeln im Strafrecht, in: Stefan Machura (Hg.), Recht-Gesellschaft-Kommunikation, Festschrift für Klaus F. Röhl, Baden-Baden 2003, S.€ 270–286, S.€282, 284. 83 BGH Entscheidungen in Strafsachen Bd. 6, S.€46, S.€59; 40, S.€257, S.€265â•›f.; BGH, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 1999, S.€607. Kristian F. Stoffers, Die Formel „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen?, Berlin 1992. 84 Es stellt sich aber natürlich die Frage, was darunter zu verstehen ist. Ich lasse probabilistische Deutungen außer Betracht. 85 Vgl. dazu: H.â•›L.â•›A. Hartâ•›/â•›A.â•›M. Honoré, Causation in the Law, 2.€Aufl. Oxford 1985; Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€65â•›ff.; Armin Berger, Unterlassungen, S.€165–188.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
Â� Energiebzw. Bewegungsübertragung wie das Tun.86 Andererseits bewertet die Alltagsauffassung das Unterlassen wie das Tun ohne weitere Zweifel als ursächlich. Die schuldhaft unterlassene Unwetterwarnung wird etwa als ursächlich für das Schiffsunglück angesehen, die unterlassene Aufsicht der Eltern als ursächlich für den Sturz des Kindes vom Balkon. Aber wie kann diese Diskrepanz zwischen natürlich-kausaler Beschreibung und alltäglicher Beurteilung erklärt und gerechtfertigt werden? Birnbacher hat einen erweiterten Kausalitätsbegriff vorgeschlagen, bei dem nicht nur positive Ursachen und Randbedingungen, sondern auch negative Randbedingungen wie das Unterlassen im Rahmen einer für ein Wirkungsereignis w hinreichenden Gesamtursache als notwendig angesehen werden.87 Danach sind Kausalfaktoren alle Komponenten von kausal hinreichenden Gesamtursachen, die für sich genommen für das Wirkungsereignis w nicht kausal hinreichend, aber in dem Sinne nicht-redundant sind, dass sie aus der Gesamtursache nicht herausgekürzt werden können, ohne ihr den kausal hinreichenden Charakter zu nehmen. Das Unterlassen, den Ertrinkenden aus dem See zu ziehen, ist in diesem Sinne im Rahmen der hinreichenden Gesamtursache, die zum Ertrinken führt, eine nicht-redundante Bedingung, denn wenn der Ertrinkende aus dem Wasser gezogen worden wäre, so wäre das Wirkungsereignis w des Ertrinkens nicht eingetreten und die anderen Kausalfaktoren wären im Rahmen des Gesamtgeschehens nicht hinreichend gewesen. Man kann den Kausalitätsbegriff natürlich in diesem weiten Sinn verstehen, muss sich aber klar vor Augen führen, dass derartige nicht-redundante, negative Randbedingungen sich von einer Kausalität im engeren Sinn einer Energie- bzw. Bewegungsübertragung fundamental unterscheiden. Fasst man den Kausalbegriff in einem derart weiten Sinn der nicht-reÂ�dunÂ�danten und zusammen hinreichenden Bedingungen, so bezieht man sich nicht mehr auf eine natürliche Realität, die durch äußere Körperbewegungen und innere mentale Akte zumindest beeinflusst wird, sondern nur noch auf die abstrakten modallogischen Kategorien der notwendigen bzw. hinreichenden Bedingungen. Diese Erweiterung des Kausalbegriffs lässt die Differenz in der enger verstandenen Wirksamkeit von Tun und Unterlassen verblassen. Zur Klarstellung der unterschiedlichen Begriffsverständnisse erscheint es sinnvoll, dann nicht mehr von Kausalität, sondern von „Quasikausalität“ oder von „Zurechnung“ zu sprechen. Für die normativ-ethische Relevanz des Unterlassens ist es sekundär, ob man es im Sinne aller notwendigen Elemente einer hinreichenden Gesamtbedingung für vergleich86 Vgl. Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€ 66â•›ff., zu einer überzeugenden Kritik aller Versuche einer Angleichung. Arthur Kaufmann, Die Bedeutung hypothetischer Erfolgsursachen im Strafrecht, in: Paul Bockelmann (Hg.), Festschrift für Eberhardt Schmidt zum 70. Geburtstag, Göttingen 1961, S.€200–231. 87 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€73–79, v.â•›a. 77â•›f. Das strafrechtliche Pendant zu dieser Auffassung ist die Lehre von der Kausalität als „gesetzmäßiger Bedingung“. Vgl. Karl Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, S.€29â•›ff.; Ingeborg Puppe, Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 92 (1980), S.€863–911, S.€ 895â•›ff., 899â•›ff.; Eric Hilgendorf, Fragen der Kausalität bei Gremienentscheidungen am Beispiel des Lederspray-Urteils, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 14 (1994), S.€561–566, S.€564; Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 V, Rn. 42, S.€640.
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bar kausal hält. Ausreichend für die normativ-ethische Relevanz ist, dass die Verhinderung der Folgen bzw. Zustände für den fraglichen Akteur möglich war und ihm eine Pflicht zur Verhinderung eben dieser Folgen bzw. Zustände oblag. Praktisch bedeutsam ist allerdings, wie hoch die Verhinderungschance des Akteurs gewesen sein muss. Die deutsche Rechtsprechung fordert für das Strafrecht nach wie vor eine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, während für manche Autoren schon eine Risikominderung genügt.88 Birnbacher hat neben den Handlungsformen des Tuns und Unterlassens noch eine komplexere Handlungsform des „Geschehenlassens“ vorgeschlagen.89 Damit sollen Unterlassungen bezeichnet werden, welche die Rolle von Ursachen oder Teilursachen ethisch relevanter Güter oder Übel spielen. Entscheidend sei nicht, dass A es unterlasse, ins Wasser zu springen, sondern dass der Ertrinkende B nicht gerettet werde. Der Begriff des „Geschehenlassens“ lenkt den Blick also vor allem auf die Konsequenzen des Unterlassens. Dabei soll es dann aber auch ein Geschehenlassen durch Handeln geben, etwa das Abstellen des Beatmungsgeräts durch den Arzt. Ein solches Geschehenlassen des A liegt nach Birnbacher immer dann vor, wenn das Handeln eine von A oder einem Anderen initiierte Handlungskette beendet, die ein andernfalls wahrscheinliches Ereignis verhindert, das nicht seinerseits von A verursacht ist, und das Ereignis daraufhin eintritt.90 Dieser Vorschlag begegnet mehreren Bedenken: Das Alltagsverständnis unterscheidet nicht trennscharf oder auch nur vage zwischen den Begriffen des Unterlassens und des Geschehenlassens. Das würde zwar noch nicht dagegen sprechen, eine solche neue Unterscheidung durch die normative Ethik vorzuschlagen. Aber ein Problem liegt darin, dass der Begriff des Geschehenlassens nicht mehr derart natürlich ist wie die Begriffe des Tuns und Unterlassens. Er operiert schon auf einer abstrakt-theoretischen, stärker normativ bestimmten Ebene, suggeriert aber eine faktische Differenzierung auf derselben Ebene wie Tun und Unterlassen. Im Übrigen ist die besondere Beachtung der Folgen bereits Ausfluss einer bestimmten ethischen Theorie, nämlich der Theorie des Konsequentialismus. Der Begriff ist also schon in starkem Maß theoriebestimmt. Lehnt man wie hier den Konsequentialismus ab und hält man eine grundsätzlich gleiche Berücksichtigung der Handlungselemente im Rahmen einer ethischen Theorie für geboten, so entfällt ein wesentlicher Grund, die Einführung dieses konsequentialistischen BeÂ�griffs zu befürworten. Das hindert nicht daran, in bestimmten Fällen, etwa einer unrettbar tödlichen Krankheit, dem natürlichen Ablauf der Ereignisse eine besondere Bedeutung bei der Bewertung zuzubilligen, so dass die Nichteinleitung oder der Abbruch der Behandlung wertungsmäßig kaum von der handlungstheoretischen Alternative Tun oder Unterlassen abhängen (vgl. Kapitel€XIV, 2). Aber diese Wertung sollte als solche deutlich bleiben und nicht durch Einführung einer weiteren, scheinbar ebenso natürlichen Handlungskategorie verschleiert werden.
88 Wilhelm Gallas, Studien zum Unterlassungsdelikt, Heidelberg 1989, S.€24â•›ff.; Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 V, Rn. 46â•›ff., S.€642â•›ff. 89 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€100â•›ff. 90 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€114.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
Neben den erörterten Handlungselementen eins, drei, fünf und sieben sind natürlich alle weiteren Handlungsteile, die beim Tun beteiligt sind, auch beim Unterlassen zu berücksichtigen. Wie dem Tun liegen etwa auch dem Unterlassen regelmäßig bestimmte Wünsche im Sinne des Handlungselements zwei zu Grunde. Und sofern mit dem Handeln ein bestimmtes Ziel verfolgt wird, muss auch beim Unterlassen eine ZweckMittelauswahl im Sinne des Handlungselements vier erfolgen. Dabei können gleichzeitig Formen des Tuns und des Unterlassens als mögliche Mittel zur Erreichung des Ziels in Erwägung gezogen werden. Wer etwa das Ziel hat, seinem Partner zu verdeutlichen, dass er manche seiner Verhaltensweisen missbilligt, kann entweder das Mittel einer deutlichen Erklärung, also eines Tuns, oder das Mittel eines weniger deutlichen Unterlassens einzelner Aufmerksamkeiten wählen. Beide Mittel haben Vor- und Nachteile. Das Tun ist eindeutiger, aber auch verletzender und konfliktträchtiger. Das Unterlassen ist weniger eindeutig, aber auch weniger verletzend und weniger konÂ�fliktträchtig, weil dem Anderen keine expliziten Vorhaltungen gemacht werden. Zusammenfassend wird man also davon ausgehen können, dass wie beim Tun auch beim Unterlassen regelmäßig alle anderen Handlungselemente verwirklicht sind, sofern sie nicht wegen des speziellen Charakters der Handlung aus- oder zusammenfallen. Es ist also irreführend, das Unterlassen als „Nichts“ oder als „Nicht-Tun“ zu charakterisieren.91 Das Unterlassen ist vielmehr prinzipiell eine Handlung im weiteren Sinn mit all den sieben Elementen der normalen Handlung im weiteren Sinn, von denen die Elemente eins bis fünf sowie sieben denen des Tuns grundsätzlich gleichen, während das Element sechs verändert ist, aber im Zusammenhang der Gesamthandlung auch nicht als völlig fehlend angesehen werden kann, da sich die kognitiven Elemente eins, zwei, drei und fünf auf es beziehen. Nicht unerwähnt bleiben soll zum Abschluss dieser Erörterung des Unterlassensbegriffs, dass einzelne Normordnungen weitere Erfordernisse an das Unterlassen statuieren können und das auch faktisch tun. So soll im deutschen Recht etwa eine Handlungserwartung als notwendige Voraussetzung des Unterlassens anzunehmen sein.92 Hierbei handelt es sich aber nicht mehr um allgemeine phänomenologisch-begriffliche Voraussetzungen der jeweiligen Handlungsform, sondern um zusätzliche normative Anforderungen der Interpretation einzelner kontingenter Normensysteme. Diese zusätzlichen Anforderungen können systemintern ethisch gerechtfertigt sein oder auch nicht. Sie stellen aber keine notwendigen Merkmale des allgemeinen Unterlassungsbegriffs dar und müssen deshalb der Erörterung einzelner Bereichsethiken überlassen bleiben.
91 Im zweiten Sinn: Gustav Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, Berlin 1904, S.€140â•›ff.; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, Göttingen 1959, S.€87â•›ff.; Hans Welzel, Das Deutsche Strafrecht. Eine systematische Darstellung, 11.€Aufl. Berlin 1969, S.€203. Dagegen Bernd Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte. Zugleich ein Beitrag zur strafrechtlichen Methodenlehre, S.€ 12. Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 II, Rn. 3, S.€628. 92 Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 I, Rn. 6, S.€629.
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e) Die Frage nach der ethischen Signifikanz der Unterscheidung Nachdem Tun und Unterlassen nun zumindest auf einer Basisebene phänomenal unterschieden wurden, stellt sich die Frage, ob sie auch ethisch und dann auch moralisch und rechtlich grundsätzlich unterschiedlich zu bewerten sind93 oder ob die sog. „Äquivalenzthese von Tun und Unterlassen“ akzeptabel ist, wonach es keine grundsätzliche Rechtfertigung für eine normative Differenzierung gibt. Für den Akteur können die Handlungselemente eins bis drei als Ausdruck seiner Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele, also seiner Belange, in grundsätzlich gleicher Weise zu einem Unterlassen wie zu einem Tun führen. Für den von der Handlung des Akteurs betroffenen Anderen gilt, dass sich seine Belange nicht nur grundsätzlich gleich auf alle sieben Handlungselemente des Akteurs, sondern auch gleichermaßen auf die beiden Alternativen im Rahmen des Elements sechs, also auf Tun und Unterlassen, richten können. Dabei ist die Differenzierung des Bezugs auf Tun und Unterlassen allerdings in einem konkreten Konflikt grundsätzlich nur von partieller Relevanz, weil sich die Belange des Anderen prinzipiell nicht nur auf das Element sechs, sondern auf alle Handlungselemente richten (können). Ein potentielles Opfer will€– wie sich oben ergab€ – nicht nur vermeiden, dass A es aktiv tötet, sondern auch, dass A dies plant, die Mittel dazu auswählt, einen Tötungswillen fasst und dann das Ergebnis des Todes herbeiführt. Ebenso will das potentielle Opfer nicht nur, dass A es aus der Todesgefahr rettet, sondern auch, dass er die Absicht ausprägt, es zu retten, dass er die Mittel dazu auswählt, dass er den konkreten Rettungswillen fasst und schließlich den Erfolg der Rettung herbeiführt. Das bedeutet, dass die Unterscheidung von Tun und Unterlassen allenfalls dort besonders relevant sein kann, wo das Handlungselement sechs in seinen beiden unterschiedlichen Modi selbst besonders relevant ist. Bedeutet dies, dass das Tun gegenüber dem Unterlassen nicht als solches, sondern allenfalls wegen einer faktisch höheren Bedrohungswahrnehmung aufgrund der äußeren Körperbewegung oder der inneren Veränderung eine strengere Bewertung verdient?94 Oder haben die tatsächlich feststellbaren Unterschiede in der äußeren Körperbewegung und im inneren, mentalen Akt, also im Element sechs, und dann als Folge im Element sieben, also der Kausalität im engeren Sinn einer Energie- bzw. Bewegungsübertragung, eine grundsätzliche ethische Signifikanz? Eine solche grundsätzliche ethische Signifikanz ist auf einer sehr fundamentalen Ebene in einer bestimmten nicht ganz marginalen, aber auch nicht sehr prinzipiellen Hinsicht zu konÂ�statieren, ohne als Grundlage für eine alles entscheidende oder auch nur sehr tief greifende Differenzierung der normativen Bewertung zu taugen. Trifft der normative Individualismus zu, dann stehen sich in den potentiellen Konflikten individueller Belange, deren Lösung durch primäre Normen 93 Im Strafrecht wurde dieser Unterschied von einigen Autoren sogar zu einem „Umkehrprinzip“ gesteigert, wonach das Tun das komplette Gegenteil des Unterlassens sein soll. Vgl. Armin Kaufmann, Die Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, S.€87â•›ff.; Hans Welzel, Das Deutsche Strafrecht. Eine systematische Darstellung, S.€203. Die weit überwiegende Auffassung lehnt diese Zuspitzung heute jedoch zu Recht ab. Vgl. etwa Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 I, Rn. 3, S.€628. 94 So Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€127, 200–212, 231â•›ff.
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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen
die Ethik zu beurteilen hat, letztlich zwei oder mehrere Individuen gegenüber. Diese Individuen konstituieren durch ihre Belange mit Wirkung für sich und für alle anderen Räume der Betroffenheit um sich. Die primären und sekundären Normordnungen von Moral und Recht versuchen, faire Grenzen zwischen diesen Räumen der Betroffenheit zu ziehen. Die äußere Körperbewegung des Tuns kann nun im engeren Sinne der Kausalität, also im Sinne einer Energie- bzw. Bewegungsübertragung, diese Grenze der Betroffenheitsräume zwischen den ethisch zu berücksichtigenden Individuen ohne weitere normative Pflichten eher rein faktisch überschreiten, als dies das Unterlassen kann. Für die Überschreitung dieser Grenze zwischen den Betroffenheitsräumen durch Unterlassen muss immer eine Handlungspflicht normiert werden, die von zusätzlichen Bedingungen abhängt und durch unterschiedliche Normensysteme unterschiedlich ausgestaltet werden kann. Wenn Ethik, Moral und Recht das Ziel der Vermittlung zwischen möglichen widerstreitenden Belangen haben, dann wird dieses Ziel durch aktives Tun also tendenziell eher gefährdet als durch Unterlassen. Insofern erscheint das Tun gegenüber dem Unterlassen prinzipiell ethisch gefahrvoller, weil konfliktträchtiger. Entsprechende prinzipielle Differenzierungen im Rahmen der abstrakten Regeln einzelner Normensysteme wie im Strafrecht sind also gerechtfertigt. Diese Differenzierungen beruhen aber lediglich auf einer grundsätzlichen Tendenz. Im konkreten Fall€bzw. in konkretisierten Konflikttypen kann das Unterlassen natürlich einer viel stärkeren Bewertung und Verpflichtung unterliegen als das Tun. Das Gebot, einem Verhungernden Nahrung zu geben, um sein Leben zu retten, ist selbstredend ethisch erheblich gewichtiger als das Verbot, ihn zu beleidigen. Entsprechend ist die schärfere Sanktionierung des Unterlassens, den Verhungernden zu retten, die zumindest Personen mit einer direkten Garantenpflicht€– etwa Verwandte€– trifft, gerechtfertigt. Diese abstrakte Bewertung der ethischen Signifikanz von Tun und Unterlassen bedarf allerdings sofort der Qualifizierung. Man kann feststellen, dass die Unterscheidung von Tun und Unterlassen in Fällen verschiedener sozialer Distanz unterschiedlich bedeutsam ist.95 Im absoluten Nahbereich zwischen Personen, also etwa zwischen Mutter und Kind, und im absoluten Fernbereich, also etwa zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen und Generationen ohne persönliche Bekanntschaft, spielt die Unterscheidung allenfalls eine geringe Rolle. Nur im mittleren Entfernungsbereich des Verhältnisses zwischen Bekannten, Anwesenden sowie Mitgliedern von Gemeinschaften lässt sich eine größere Signifikanz konstatieren. Diese Differenzierung kann gut mit Hilfe der Unterscheidung zwischen den sieben Elementen der Handlung erklärt werden: In Nähebeziehungen spielen ein bestimmter Aspekt des Handlungselements eins, eben die Nähebeziehung als äußere Bedingung, und die Bezugnahme der Belange auf dieses Handlungselement eins eine zentrale Rolle. Alle anderen Bezugnahmen der Belange auf andere Handlungselemente werden dadurch relativiert und zwar offenbar um so stärker, je weiter sie sich in der Abfolge der Handlungselemente eins bis sieben vom alles dominierenden Gesichtspunkt der Nähebeziehung als Teil des HandlungsÂ�elements eins entfernen. 95 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€21, 306, 312â•›ff.
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Für Fernbeziehungen gilt nun genau das Umgekehrte€– allerdings mit vergleichbarer Wirkung für das Handlungselement sechs. In Fernbeziehungen ist praktisch ausschließlich relevant, was an Folgen bei den Betroffenen „ankommt“. Entscheidend ist also der Bezug der Belange auf das Handlungselement sieben der Konsequenzen. Bestimmte Handlungsbedingungen beim Akteur, seine Wünsche und Gründe, seine Absichten, seine Mittelwahl, sein Wollen und schließlich die spezifische Form des Handelns spielen mangels direkter Wahrnehmung der einzelnen Elemente der Handlung durch weit entfernte Betroffene keine wesentliche Rolle. Für die Hungernden in den ärmsten Ländern der Welt ist es zum Beispiel praktisch wenig relevant, ob die Hebung ihres Lebensstandards seitens der Industrieländer durch aktives Tun€ – etwa durch das Einführen von Schutzzöllen€– oder durch passives Unterlassen€– etwa das Versäumen von Hilfslieferungen€– vereitelt wird.
IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange: Vollständigkeit Die drei bisher erörterten Elemente einer adäquaten normativen Ethik haben aus den seienden Dingen dieser Welt diejenigen ausgewählt, die letztlich normativ-ethisch und damit für eine begründete Moral und andere primäre Normordnungen relevant, das heißt normativ bedeutsam sind: Individuen mit ihren Eigenschaften der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen (Belangen bzw. Interessen), die sich auf alle sieben möglichen Teile einer Handlung im weiten Sinn beziehen können: Bedingungen, Wünscheâ•›/â•›Überzeugungen, Ziele, Mittel, Handlungswille, Handlungsausführung, Konsequenzen. Da die Moral, wie in der Einleitung vorausgesetzt, die Aufgabe hat, zwischen potentiell widerstreitenden Belangen zu vermitteln, um unsere Handlungen und Entscheidungen zu bestimmen, muss die normative Ethik nunmehr die Frage beantworten, ob und wie die in einem potentiellen oder aktuellen Konflikt stehenden Belange zusammengefasst bzw. abgewogen werden können. Sind die in einer Situation relevanten Belange vollständig gleichlaufend oder sind sie zwar nicht gleichlaufend, können aber nicht konfligieren, so ist keine Vermittlung durch die Moral nötig und entsprechend auch keine normativ-ethische Kritik bzw. Rechtfertigung dieser Vermittlung. Mit diesem vierten Element einer Verbindung potentiell widerstreitender Belange bzw. Interessen verlässt man das Feld der Eigenschaften und Tatsachen, deren zumindest partiell in Raum oder Zeit lokalisierbare Wirklichkeit mit Bezug auf die tatsächlich bestehenden Individuen und die tatsächlich bestehende Konfliktsituation vorausgesetzt werden kann. Man erreicht nunmehr ein Element menschlicher Findung, das heißt des rekonstruierenden menschlichen Tätigseins. Die in Frage stehende Zusammenfassung bzw. Abwägung ist€– wie schon die Substantivierungen der Tätigkeitsverben zeigen€– keine einfache Eigenschaft eines moralisch relevanten Individuums oder des moralischen Widerstreits, sondern eine Eigenschaft der Lösung dieses Widerstreits. Wir müssen den moralischen Konflikt lösen€– was, wie sich in Kapitel€VI noch zeigen wird, keinesfalls impliziert, dass die von uns gefundene Lösung in Weg oder Ergebnis beliebig wäre. Man denke an die geometrische Teilung eines Kreises in zwei gleich große Hälften. Für die Teilung ist eine geometrische Konstruktion erforderlich. Aber diese Konstruktion und ihre Resultate sind keinesfalls beliebig. Es gibt vielmehr einige eindeutig bestimmbare Wege und nur ein einziges notwendiges Resultat. Hat man anerkannt, dass es sich bei der Verbindung bzw. Abwägung der in Frage stehenden Belange um eine menschliche Findung handelt, so stellt sich die Frage nach deren modalem Status. Fraglich ist also, ob die Verbindung bzw. Abwägung der Belange möglich, wirklich oder sogar notwendig ist.
1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung
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Bei dieser modalen Frage könnte man mit der Untersuchung der Notwendigkeit anfangen. Wäre die Notwendigkeit im Sinne der metaphysisch-ontologischen Notwendigkeit gemeint, so würde dies die Bejahung der schwächeren modalen Alternativen der Wirklichkeit und Möglichkeit implizieren. Weitere Erörterungen zu den anderen beiden Fragen wären dann nicht mehr nötig. Es ist aber offensichtlich, dass man eine metaphysisch-ontologische Notwendigkeit der Abwägung, also ein notwendiges Bestehen einer Zusammenfassung unter allen Umständen prinzipiell nicht zeigen kann. Bei der Abwägung handelt es sich um eine menschliche Findung. Und diese ist zwar in ihrer Ausgestaltung und ihren Ergebnissen nicht beliebig. In ihrer tatsächlichen Durchführung steht sie den Menschen aber frei und ist nicht metaphysisch-ontologisch notwendig. Wir können uns prinzipiell eine Welt vorstellen, in der moralische Belange niemals und von niemandem abgewogen werden, etwa eine Welt der durchgängigen Lösung moralischer Konflikte mittels physischer Gewalt. Eine solche Welt wäre nicht wünschenswert und moralisch wie ethisch verwerflich, aber sie ist metaphysisch-ontologisch nicht unmöglich. Ist dies aber so, dann muss umgekehrt vorgegangen und es müssen zunächst die Möglichkeit und Wirklichkeit der Abwägung gezeigt werden, um danach noch einmal zu fragen, was die Notwendigkeit im vorliegenden Zusammenhang anderes als metaphysisch-ontoÂ�logische Notwendigkeit heißen könnte.
1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung Verschiedentlich bezweifelt wird bereits die Möglichkeit einer Zusammenfassung widerstreitender Belange im Einzelfall oder zumindest die Verallgemeinerung einer solchen Zusammenfassung zu einem abstrakten Prinzip, das als Element einer normativen Ethik tauglich wäre. Eine Begründung für diese Zweifel lautet, dass die Belange bzw. Interessen der Betroffenen grundsätzlich unvergleichbar sind. Sollten die Belange bzw. Interessen der in einem moralischen Konflikt betroffenen Individuen tatsächlich grundsätzlich unvergleichbar sein, so wäre eine rationale moralische bzw. normativ-ethische Zusammenfassung unmöglich.
a) Der Einwand der Unvergleichbarkeit Zur Frage der Unvergleichbarkeit („incommensurability“â•›/â•›„incompaÂ�raÂ�bility“) hat sich eine verzweigte Diskussion entwickelt.1 Dabei fällt auf, dass regelmäßig die Unvergleichbarkeit von „Werten“ oder „Optionen“ in Frage gestellt wird,2 und zwar nicht nur interpersonal in moralischen Konfliktsituationen, sondern auch und vor allem in1 2
Vgl. Ruth Chang (Hg.), Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason, Harvard 1997. Ruth Chang, Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason. Introduction, S.€1╛ff.; Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€ 322╛ff.; James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance, S.€79╛ff.
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IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange
trapersonal im Fall von Entscheidungen des guten Lebens. So wird etwa gefragt, ob es unvergleichbar ist, eine Karriere als Arzt oder als Klarinettist zu wählen. Es dürfte nach den bisherigen Überlegungen zur Berücksichtigung Anderer einleuchtend sein, dass für die Frage der Moral vor allem die interpersonale Unvergleichbarkeit in Rede steht. Ob in Konflikt stehende Interessen jeweils intrapersonal unvergleichbar sind, kann für den moralischen Konflikt nur eine Rolle spielen, wenn man die abzulehnenden Pflichten gegen sich selbst bejaht (vgl. VIII). Im Folgenden wird im Vorgriff auf diese Ablehnung der Pflichten gegen sich selbst vom unbeÂ�streitbaren moralischen Hauptfall potentiell widerstreitender Belange zwischen mehreren Individuen ausgegangen. Dann fällt aber ein wesentlicher Einwand,3 das Problem der mangelnden Transitivität von Interessen innerhalb eines einzigen Interessenträgers, von vornherein weg. Versteht man den moralischen Konflikt letztlich als Widerstreit der betroffenen Individuen mit ihren Belangen und Interessen, so kann es€– dies sollte man sich vorab vergegenwärtigen€– bei der fraglichen Unvergleichbarkeit zumindest im Falle des moralischen Konflikts nicht primär um Werte gehen. Es geht vielmehr um Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, also um Belange bzw. Interessen. Manchmal werden hinter den Zielen und Wünschen zwar auch Wertungen bzw. Werte stehen. Aber für Strebungen ist das auszuschließen und für Bedürfnisse zweifelhaft. Und selbst wenn den Zielen, Wünschen und Bedürfnissen Werte zu Grunde liegen, so müssen diese nicht wie die Interessen konfliÂ�gieren. So mögen etwa zwei Personen gleichermaßen den Wert der Freiheit bejahen und trotzdem im Falle einer Beleidigung über die Grenze zwischen der Freiheit der Rede und der Freiheit der Ehre ganz verschiedener Meinung sein. Und umgekehrt lässt sich das gleiche Interesse an der Freiheit der Rede mit Hilfe unterschiedlicher Werte begründen, etwa den Werten der Freiheit, der Gleichheit, des Friedens usw. Werte bzw. Wertungen sind regelmäßig abstrakter und weit weniger handlungsbezogen, während Belange bzw. Interessen konkreter und handlungsbezogener sind und regelmäßig direkt in einen Widerstreit geraten, sofern sie in einer Situation divergieren. Solange zwei Personen über Werte uneins sind, liegt noch kein moralischer Konflikt vor, sondern eine abstrakte Meinungsverschiedenheit der Weltanschauung. Erst, wenn sich aus den Werten, seien sie nun von beiden geteilt oder nicht, widerstreitende Belange bzw. Interessen ergeben, die handlungsrelevant werden und sich in unterschiedlichen Willensäußerungen ausprägen, setzt der moralische Widerstreit ein. Die moralische Konfliktlösung muss deshalb zunächst bei Belangen bzw. Interessen ihren Ausgangspunkt nehmen, wenn auch bei der Abwägung Werte indirekt eine Rolle spielen können. Man kann zwischen kardinaler und ordinaler Unvergleichbarkeit unterscheiden, also zwischen der Unvergleichbarkeit im Sinne einer quantitativen Skala (sog. „incommensurability“) und Unvergleichbarkeit im Sinne einer Besser-schlechter-Reihung (sog. „incomparability“).4 Ein kardinaler Vergleich von Interessen mag im Einzelfall möglich sein, etwa wenn bei einer Versteigerung ein Bieter €â•›1000 für ein Kunstwerk bietet und der andere €â•›1100, sofern man annimmt, dass diese Gebote jeweils auch das kardinale 3 4
Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€325╛ff. Ruth Chang, Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason. Introduction, S.€1╛ff.
1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung
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Verhältnis der Belange ausdrücken. Und aus Gründen der ExaktÂ�heit und rationalen Nachvollziehbarkeit wird man einen derartigen kardinalen Vergleich auch regelmäßig als wünschenswert ansehen, sofern er erreichbar ist. Aber die Annahme, die kardinale Vergleichbarkeit wäre in moralischen Konflikten immer oder auch nur regelmäßig möglich, ist nicht zu rechtfertigen. Alle Versuche, ein gemeinsames Maß, etwa der Übersetzung in Geldeinheiten, zu finden, sind bisher unbefriedigend geblieben. So sind etwa die Interessen, eine Freundschaft zu erhalten und seine Ehre zu bewahren, niemals in Geldeinheiten übersetzbar, weil sowohl der Belang der Freundschaft als auch der Belang der Ehre jede monetäre Bewertung ausschließen. Wer danach fragt, wie viel ihm jemand zahlen würde, um die Freundschaft zu erhalten oder die Ehre zu bewahren, hat bereits gezeigt, dass genuine Freundschaft bzw. Ehre nicht in Rede steht. Für die moralische Konfliktlösung und die dazu nötige Vergleichbarkeit der Interessen genügt aber eine bloße Besser-schlechter-Reihung der Belange, also ihre ordinale Vergleichbarkeit. Es reicht aus, festzustellen, dass es moralisch besser ist, dass A die B nicht beleidigt, um den moralischen Konflikt zwischen beiden zu lösen. Um wie viel es quantitativ besser ist, spielt für die moralische Konfliktlösung zumindest in derart einfachen Fällen keine Rolle. Im Folgenden wird die Frage der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Vergleichs deshalb in ihrer schwächeren Deutung der Besser-schlechter-Reihung, also der ordinalen Vergleichbarkeit (sog. „comparability“ oder „incomparability“) gestellt. Dabei soll aus den eben erwähnten Gründen nicht versucht werden, Einwände gegen die Vergleichbarkeit zu widerlegen, die sich auf einen Vergleich von Werten beziehen. Es soll vielmehr verdeutlicht werden, wie der Vergleich moralisch relevanter Belange aussehen kann.
b) Der gemeinsame Referenzpunkt Die Tatsache des moralischen Widerstreits führt zunächst anders als bei möglichen Vergleichen des guten Lebens dazu, dass mit dem Gegenstand des Konflikts jedenfalls ein gemeinsamer Vergleichspunkt der widerstreitenden Belange vorhanden ist. Liegen Handelnder und Betroffener in einem moralischen Konflikt€– im sehr weiten Sinn potentiellen Widerstreits€– so muss sich dieser Konflikt auf die gemeinsame Frage des Konflikts beziehen, nämlich die Frage der Gebotenheit, Verbotenheit, Erlaubtheit oder Freistellung der fraglichen Handlung des Akteurs, zum Beispiel der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Beleidigung des Betroffenen. Ohne gemeinsamen KonÂ�fliktpunkt gibt es keinen Widerstreit und damit keine Moral und dann auch kein Problem der interpersonalen moralischen Vergleichbarkeit und der ethischen Begründung. Existiert aber ein gemeinsamer Punkt des Konflikts und damit ein gemeinsamer Relationspunkt, auf den sich die widerstreitenden Belange bzw. Interessen beziehen, so können€– das wird sogleich gezeigt€– die widerstreitenden Interessen nicht vollständig unvergleichbar sein. Der gemeinsame Referenzpunkt des Konflikts ist zunächst ein faktischer, etwa die potentielle Beleidigung des B seitens des A. Jenseits dieses gemeinsamen faktischen Referenzpunkts setzt aber jeder moralische Vergleich auch einen gemeinsamen normativen
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IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange
Referenzpunkt voraus.5 Widerstreitende Belange müssen im Hinblick auf eine gemeinsame Wertung vergleichbar sein. Aber welche kommt dafür in Frage? Die ultimative Wertung des Vergleichs ist die Wichtigkeit bzw. Gewichtigkeit der in Rede stehenden Belange. Ein Widerstreit zwischen zwei Belangen bzw. Interessen wird dadurch zusammengefasst, abgewogen und entschieden, dass begründet behauptet werden kann, dass der eine Belang wichtiger als der andere ist. Unabhängig von der natürlich nicht ganz einfachen, umstrittenen und noch zu erörternden Frage, was unter der „Wichtigkeit“ eines Belangs zu verstehen ist, lassen sich bereits an dieser Stelle einige Unterscheidungen treffen: Zunächst gilt, dass im Hinblick auf die Relation der Wichtigkeit zwischen zwei Belangen A und B genau zwei Typen von Lösungen möglich sind. Beide Belange können entweder (1) gleich wichtig sein oder (2) ein Belang kann wichtiger als der andere sein, wobei sich im letzteren Fall dann wiederum zwei Möglichkeiten ergeben: A kann wichtiger sein als B oder B wichtiger als A. Aber die letztere Unterscheidung ist für die prinzipielle Erörterung irrelevant. Beide Hauptmöglichkeiten sollen nun diskutiert werden, wobei vorausgesetzt wird, dass überhaupt ein moralischer Konflikt besteht, dass also beide Belange nicht gleich laufen oder zugleich voll zu verwirklichen sind: (1) Sind in einem Konflikt beide Belange gleich wichtig, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: (a) Beide Belange sind zugleich realisierbar, aber nur teilweise, das Resultat der Befriedigungshandlung ist also teilbar. Beispiel: Zwei gleich Durstige finden gleichzeitig eine Oase mit einer sehr kleinen Wasserquelle. Dann müssen die Belange beider jeweils zur Hälfte befriedigt werden. Das bedeutet: Beide dürfen je zur Hälfte aus der Quelle trinken, was allerdings ihren Durst nicht vollständig stillen kann (sonst läge ja gar kein moralischer Konflikt vor). (b) Beide Belange sind nicht zugleich realisierbar, das Resultat der Befriedigungshandlung ist also nicht teilbar. Beispiel: A und B benötigen in gleicher Weise eine lebensrettende Notfallbehandlung, die aber nur einmal verfügbar ist. In solchen Fällen kann es keine ethisch begründete Entscheidung geben und man muss entweder eine ethisch unbegründete Entscheidung nach Neigungsgesichtspunkten treffen oder losen. Die Anwendung des Prioritätsprinzips wäre hier auch eine Form der ethisch unbegründeten Entscheidung, denn es ist sachlich irrelevant, wer die Notfallbehandlung zuerst benötigt hat. Das bloße zeitliche Auseinanderfallen der Belange determiniert in diesem Fall nicht ihre Wichtigkeit. Anders ist die Situation, wenn etwa A und B beide die letzte Theaterkarte wollen. Dann wird man das Prioritätsprinzip anwenden und die Karte dem überlassen, der sich früher angestellt hat. Das zeitigere Anstellen ist in diesem Fall ein gewisses Indiz dafür, dass die Interessen doch nicht gleich wichtig sind. Wer sich eher um Karten bemüht, 5
Dies betont Ruth Chang, Incommensurability, Incomparability and Practical Reason. Introduction, S.€6, zu Recht.
1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung
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hat in der Regel einen stärkeren Wunsch, das Theaterstück zu sehen. Es liegt also in Wirklichkeit der andere Fall ungleich wichtiger Belange vor. (2) Sind beide Belange nicht gleich wichtig, dann gibt es wiederum nur zwei Möglichkeiten: (a) Beide Belange sind nicht zugleich realisierbar, das Resultat der Befriedigungshandlung ist also nicht teilbar. Beispiel: A und B benötigen eine Notfallbehandlung, die nur einmal verfügbar ist. Diese Notfallbehandlung ist bei A notwendig, um sein Leben zu retten, bei B, der nicht in Lebensgefahr schwebt, ist sie nur notwendig, um schneller gesund zu werden. In derartigen Konflikten ist eindeutig, dass der wichtigere Belang verwirklicht werden muss, also€– weitere Gesichtspunkte einmal außen vor gelassen€– A die Notfallbehandlung zu erhalten hat. Dies ist bereits begrifflich notwendig, wenn man entschieden hat, welcher Belang wichtiger ist, denn „wichtiger“ impliziert notwendig „prinzipiell bevorzugt zu verwirklichen“. (b) Beide Belange sind zugleich befriedigbar, das Resultat der Befriedigungshandlung ist also teilbar. Beispiel: Zwei unterschiedlich Durstige finden gleichzeitig eine sehr kleine Quelle in einer Oase. Dann muss die unterschiedliche Wichtigkeit der Belange zu ihrer unterschiedlichen Berücksichtigung führen.
c) Der Bewertungsmaßstab der Wichtigkeit Wie lässt sich nun der Bewertungsmaßstab der Wichtigkeit verstehen? Dafür gibt es zwei grundsätzliche Alternativen: eine subjektive und eine objektive. Die subjektive Interpretation sieht für die Wichtigkeit den jeweiligen Träger des zu bewertenden Belangs selbst als entscheidend an, die objektive Interpretation Andere, seien es reale andere Personen oder der Träger des Belangs von einem fiktiven unparteiischen Standpunkt. Das Prinzip des normativen Individualismus scheint es zunächst nahezulegen, nicht nur die primären Interessen, sondern vor allem auch die sekundären Interessen der Betroffenen an diesen primären Interessen, also die jeweils eigene Bewertung der eigenen Belange auf einer sekundären Ebene heranzuziehen. Gegen die Annahme, dass diese subjektive Interpretation der Wichtigkeit der Belange ausschlaggebend sein soll, spricht aber folgendes Argument: Dann könnte sich der Einzelne durch die Entwicklung besonderer sekundärer Interessen an den eigenen primären Interessen einen Sondervorteil in der Abwägung verschaffen. Die Abwägung wäre subjektiv beeinflussbar und würde keine faire Vermittlung zwischen den primären Interessen der Individuen mehr bedeuten. Ließe man zu, dass der Träger eines Interesses selbst bestimmt, wie wichtig dieses Interesse in der Abwägung mit anderen Interessen ist, so könnte jeder die Abwägung beliebig für sich entscheiden und die anderen Betroffenen hätten im Konflikt das Nachsehen, oder€– falls sie ihren Belangen ebenfalls eine besondere Wichtigkeit zuerkennen€– es würde eine Konkurrenz der Bewertungen der jeweils eigenen Belange auf der Metaebene entstehen. Jeder würde den Anderen mit seiner Bewertung
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IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange
zu übertrumpfen suchen. Beide Alternativen führen nicht zu einer akzeptablen Lösung des moralischen Konflikts. Die subjektive Interpretation der Wichtigkeit von Belangen kann also nicht ausschlaggebend sein. Somit muss die objektive Interpretation der Wichtigkeit entscheiden. Im Folgenden wird genauer zu fragen sein, was das heißt. Nicht ausgeschlossen ist damit jedenfalls, dass subjektive Bewertungen der eigenen Belange durch die jeweils Betroffenen eine gewisse, wenn auch beschränkte Rolle spielen können. Denn für diese beschränkte Rolle gibt es ein gewichtiges Argument: Verlangt das Prinzip des normativen Individualismus, dass die Individuen beim zweiten Element der rechtfertigenden Eigenschaft im Prinzip selbst entscheiden, welche Eigenschaften für sie wesentlich sind, ist also ein gewisses Maß an individueller Normativität notwendig, um zu einer ethischen Rechtfertigung zu gelangen, so ist nicht einzusehen, warum zwar die Wünsche auf der ersten Ebene, nicht aber die Wünsche bzw. Bewertungen auf der zweiten Ebene bezüglich der Bedürfnisse, Wünsche und Ziele auf der ersten Ebene eine Rolle spielen sollen. Die Menschenwürde war ja genau derart verstanden worden. Der subjektiven Bewertung eines Belangs als wichtig kommt also eine gewisse, gleich noch näher zu erläuternde Bedeutung der Verstärkung bzw. Abschwächung der grundsätzlich objektiv zu interpretierenden Wichtigkeit zu. Wie kann nun die objektive Bewertung der Wichtigkeit genauer verstanden werden? Die jeweils in einem moralischen Widerstreit befindlichen Betroffenen, im einfachsten Fall ein Akteur und ein Anderer, konstituieren, sieht man von Pflichten gegen sich selbst ab, um sich einen Quasi-Raum ihrer Belange und InÂ�teressen und demgemäß der Betroffenheit: einen Betroffenheitsraum.6 Dieser Quasi-Raum ihrer Interessen maniÂ�festiert sich teilweise tatsächlich räumlich, etwa im eiÂ�genen Zimmer, in der eigenen Wohnung, im eigeÂ�nen Auto, am eigenen ArÂ�beitsplatz. Entscheidend ist dabei nicht das rechtliche EiÂ� genÂ�tum, sondern die KonstituieÂ�rung des je eigenen Belang- bzw. InterÂ�essenbereichs. Sie drückt sich etwa in dem Satz „My home is my castle“ metaphoriÂ�sch aus. Natürlich sind solche Räume auch Sozialräume. Und wir belächeln denjenigen, der dies nicht wahrhaÂ� ben will. Aber im Kern pochen wir auf die Beachtung der Individualzuordnung. Der Vermieter darf etwa die Wohnung des Mieters nicht ohne dessen Zustimmung betreten. Entscheidend ist nun, dass den Belangen bzw. Interessen im Betroffenheitsraum jeweils unterÂ�schiedliche objektive Wichtigkeit zuÂ�gemessen wird. Man kann insofern generalisierend von einer zwiebelartigen Struktur mit einem Kernbereich und verschiedeÂ�nen radialen Schalen sprechen. Den Kern des BeÂ�troffenÂ�heitsÂ�raums bilden regelmäßig Leben und Würde, wobei das Verhältnis dieser Kerninteressen bei verÂ�schiedenen Menschen unterschiedlich ausgeÂ�prägt ist. Eine extreme Persönlichkeit ist in dieser Hinsicht etwa der Selbstmörder. Er verzichtet auf sein Leben. Konstatieren lässt sich darüber hinaus, dass die empirisch-statistisch feststellbaren UnterÂ�schieÂ�Â�de graÂ�duell zunehmen, je weiter die Interessen an den Randbereich des je eigenen BeÂ�troffenÂ�Â�heitsraums rücken. RapmuÂ� sik-Beschallung durch sog. Ghettoblaster auf Straßen und in öffentlichen Verkehrsmitteln empfindet der Eine als exÂ�trem störend und als reine Lärmbelästigung, wähÂ�rend der 6
Vgl. zu den folgenden Überlegungen bereits: Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, S.€221â•›ff.
1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung
157
Andere sie als Ausdruck pulsierender Lebensfreude willkommen heißt. Die Gefährdungen des modernen Straßenverkehrs ängstigt die Eine furchtbar, während die Andere sie als Herausforderung der mobilen Gesellschaft begreift. Das Modell wird weiter verkompliziert, weil sich die individuelÂ�len Betroffenheitsräume an verschiedenen Stellen auch ohne irgendwelche usurpierenden Aktionen scheinbar untrennbar überlappen. Dies ist in jedem Alltagsgespräch der Fall, wenn etwa A etwas sagen möchte, was B nicht hören will. Man sollte derartige Fälle der Überlappung aber nicht überbewerten. Sie stellen nur einen Teil der Interaktionssituationen dar. Und auch bei diesem Teil lässt sich eine zumindest tentative Grenze der Betroffenheitsräume markieren. Man muss Anderen zwar zuhören, wenn sie etwas sagen. Aber es gibt keine grundsätzliche Verpflichtung, Gespräche immer und überall zu führen oder endlos weiterzuführen. Jeder darf ein GeÂ�spräch, das seine Belange mehr als nur marginal beeinträchtigt, (höflich) beenden und damit auch die ÜberÂ�lapÂ�pung der Betroffenheitsräume. Solange jeder Akteur seine Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen zu erreichen bzw. zu befriedigen sucht, ohne in den Betroffenheitsraum des Anderen einzudringen, bleiben die jeÂ�weiÂ�ligen Interessen des Anderen und ihre Verfolgung bloßes Faktum. Man beobachtet, dass der Andere atmet, isst, trinkt, schläft usw. Sobald ein Akteur aber die Grenze zum Betroffenheitsraum des Anderen überschreitet, ergeben sich für beide normative Wirkungen. Solange sich etwa beide Akteure nur aus ihrem eigenen Kühlschrank versorgen, bleibt dies für den je anderen eine bloß äußerliche Tatsache. Sobald ein Akteur aber den Kühlschrank des Anderen leert, zwingt er den Betroffenen durch sein Verhalten zur Duldung. Dieser muss in seiner InteressenÂ�verfolgung zurückstehen. Gleichzeitig sieht sich aber auch der Akteur einer Präskription gegenüber. Die Belange des betroffenen Anderen weisen ihn ab. Eine spezielle Form der Überschreitung der BeÂ�troffenÂ�heitsgrenze der Belange zwischen Akteuren ist die explizite verbale Aufforderung zu einem Tun oder UnterÂ�lassen. Der Andere wird zu einem bestimmten VerÂ�halten verpflichtet und muss auf die entÂ�Â�sprechende Entfaltung seiner eigenen Belange verzichten. In der möglichen normativen Wirkung des Überschreitens der Betroffenheitsgrenze des Anderen durch tatÂ�sächliches Verhalten oder verbale Vorschriften liegt der Grund für die Suche nach normaÂ�tiv-ethischen RechtÂ�fertigungen: Der Betroffene verwehrt die ÜberÂ�schreitung der Betroffenheitsgrenze und sucht dafür€– falls er selbst kognitiv dazu in der Lage ist€– nach Rechtfertigungen. Der Akteur will diese Grenze nicht anerkennen und sucht seinerÂ�seits nach Rechtfertigungen für ihre ÜberÂ�schreitung. Diese Konstitution und Abwägung jeweiliger Betroffenheitsräume ist eine, für die gute Gründe bestehen können und die deshalb objektiv zu beurteilen ist. Es ist nicht ersichtlich, warum es für die relative Wichtigkeit der Belange keine derartigen guten Gründe geben sollte. Wir erkennen derartige gute Gründe täglich an, etwa wenn wir das Interesse am Schutz des Lebens marginalen ökonomischen Vorteilen überordnen. Natürlich mag es in Grenzfällen Meinungsverschiedenheiten geben. Aber sie sind nicht Ausdruck einer grundsätzlichen Unmöglichkeit, die relative Wichtigkeit von Belangen mit guten Gründen zu bewerten, sondern entweder Ergebnis eines vollständigen oder annähernden Patts der Wichtigkeit oder eine Frage der Wahl des richtigen inhaltlichen Abwägungsprinzips, die im nächsten Kapitel€beim fünften Element der normativen Ethik noch zu erörtern sein wird.
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IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange
d) Arrows Unmöglichkeitstheorem Steht der Möglichkeit einer Abwägung der in einer Situation widerstreitenden Belange das von Kenneth Arrow formulierte sog. Unmöglichkeitstheorem entgegen, sofern man es auf das hier vorgeschlagene Modell der Abwägung von Belangen übertragen kann? Nach dem Unmöglichkeitstheorem lassen sich indiviÂ�duelle Präferenzordnungen nicht in eine den logischen Bedingungen der ReÂ�flexivität, Transitivität und VollÂ�ständigkeit genügenden kollektiven Wohlfahrtsfunktion€– also eine Gemeinschaftsentscheidung€– integrieren, wenn drei BeÂ�dingungen erfüllt sind: (1) der Ausschluss der Diktatur, das heißt, es darf kein Individuum geben, dessen sämtliche strikÂ�te PräÂ�feÂ�renÂ�zen die kolÂ�lektiven strikten Präferenzen determinieren; (2) das Paretoprinzip, das heißt, wenn alle Individuen einer Gemeinschaft eine strikte Präferenz haben, so muss sich auch eiÂ�ne gleichlautende kollekÂ�tive strikte Präferenz ergeben; (3) die UnabÂ�hängigÂ�keit von irreÂ�leÂ�Â�vanÂ�ten Alternativen, das heißt, das kollektive Resultat für eine PräfeÂ�renz darf nur von den individuellen Entscheidungen hinÂ�sichtlich dieser spezifischen PräfeÂ�renz abÂ�hängig sein, nicht von anderen Präferenzen.7 Das Unmöglichkeitstheorem von Arrow setzt mindestens drei Entscheidungsbeteiligte und drei Entscheidungsalternativen voraus.8 Bereits diese Voraussetzung verhindert seine Anwendbarkeit auf die meisten moralischen Konflikte der Individualethik, weil entweder nur zwei Personen betroffen sind oder nur zwei Handlungsalternativen in Rede stehen. Nur in Fällen mit drei oder mehr Betroffenen und drei oder mehr Entscheidungsalternativen kann das Unmöglichkeitstheorem also überhaupt zur Anwendung kommen. Dann erfordert es aber des Weiteren die Übernahme des Präferenzbegriffs. Der Präferenzbegriff wurde oben in Kapitel€II, 5 bereits als problematisch kritisiert. Ob das Theorem auch für Belange bzw. Interessen gilt, ist fraglich und müsste detailliert untersucht werden, was hier nicht geleistet werden kann.9 Schließlich verlangt das Unmöglichkeitstheorem, dass die individuellen Präferenzen in Form einer Ordnung vorliegen, also reflexiv, vollständig und transitiv sind. Das ist jedoch für empirisch erfahrbare Präferenzen unrealistisch.10 Aber selbst wenn in einer moralischen Konfliktsituation individuelle Präferenzordnungen gegeben wären, so gälte, dass die dritte Bedingung des Theorems, also die Bedingung der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen, durch die inhaltlich differenzierende Gewichtung der Interessen bzw. Präferenzen seitens einer normativ-ethischen Begründung konterkariert wird. Das fünfte Element der Abwägung bzw. die im nächsten Kapitel€entfaltete normativ-ethische Theorie führt gerade zu einer solchen inhaltlich differenzierenden Gewichtung. Für die politische Ethik und die Rechtsethik wurde das an 7
Vgl. Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values, S.€46â•›ff.; Amartya K. Sen, Collective Choice and Social Welfare, S.€ 37â•›ff.; Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S.€32â•›ff. Arrow hatte das Theorem ursprünglich „possibility theorem“ genannt und war von fünf Bedingungen ausgegangen. Ich folge hier der moderneren Darstellung in Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen. 8 Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S.€27. 9 Vgl. für eine Übertragung auf den, vom Interessenbegriff zu unterscheidenden allgemeinen Nutzenbegriff: John E. Roemer, Theories of Distributive Justice, Cambridge 1996, S.€4, 14â•›ff. und passim. 10 Vgl. die obige Kritik in Kapitel€II, 5.
2. Die Wirklichkeit einer Zusammenfassung
159
anderer Stelle genauer gezeigt.11 Darauf soll hier verwiesen werden. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass das Unmöglichkeitstheorem von Arrow die Zusammenfassung und Abwägung der Belange im Rahmen einer inhaltlich gehaltvollen, die individuellen Belange gewichtenden normativen Ethik nicht generell ausschließt.
2. Die Wirklichkeit einer Zusammenfassung Die Wirklichkeit der Zusammenfassung bzw. Abwägung individueller Belange lässt sich als empirisches Faktum konstatieren. Wir lernen von klein auf, unsere eigenen Belange im Hinblick auf weitere eigene Belange und die Belange Anderer einzuschränken. Wir verzichten etwa darauf, Andere zu gefährden, zu belästigen, zu schädigen usw. Wir machen keinen Lärm, damit kleine Kinder schlafen können. Wir unterstützen Hungernde. Wir helfen Verletzten in Notfällen. In all diesen Situationen stellen wir eigene, weniger wichtige Belange gegenüber den wichtigeren Belangen Anderer zurück. Die Realität derartiger Abwägungen ist also empirisch nicht bestreitbar. Dies impliziert allerdings nicht, dass in allen Situationen, in denen ein moralischer Konflikt besteht, der Akteur dann auch tatsächlich abwägt oder, falls er abwägt, dass er das in gut begründeter Art und Weise tut, denn die Missachtung moralischer Anforderungen ist ubiquitär. Es impliziert auch nicht notwendig, dass jeder einzelne Handelnde wenigstens von Fall zu Fall abwägt. Der vollständige Amoralist ist prinzipiell denkbar, wenn auch praktisch kaum real. Selbst der größte Verbrecher nimmt regelmäßig Rücksicht auf andere Lebewesen.
3. Die Notwendigkeit einer Zusammenfassung Eine metaphysisch-ontologische Notwendigkeit der Zusammenfassung der individuellen Belange ist auszuschließen. Das war das Ergebnis der ersten Abschnitte dieses Kapitels. Was kann dann aber anderes unter der „Notwendigkeit“ einer Zusammenfassung der Belange verstanden werden? Notwendigkeit meint hier praktische Gefordertheit, das heißt normative Notwendigkeit zur Erreichung einer moralischen oder sonstigen primären Konfliktlösung. Wenn erstens die Individuen mit ihren Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen, also ihren Belangen bzw. Interessen, die letzte normative Quelle der Ethik und Moral sind, wie dies der normative Individualismus annimmt, und diese Interessen zweitens im Rahmen eines jeden moralischen Konflikts unabdingbar wenigstens potentiell im Widerstreit stehen, so ist zur KonÂ�fliktlösung für jede Ethik und Moral eine Zusammenfassung der Interessen notwendig, und zwar in jedem Einzelfall, zum Zweck der Rechtfertigung aber auch allgemein. Moral und Ethik bestehen wesentlich und unabdingbar in einer solchen Zusammenfassung. Sie erfordern begrifflich notwendig eine Konfliktlösung. Da die11 Verf., Rechtsethik, S.€503â•›ff.
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IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange
se Konfliktlösung aber nachhaltig und legitim nur mittels der Zusammenfassung der Interessen gelingt, folgt die normative Notwendigkeit einer derartigen Zusammenfassung. Zur Rechtfertigung der Moral und zur Konstruktion der Ethik müssen die konkreten Zusammenfassungen in einzelnen Konflikten zu einem Prinzip der Zusammenfassung vereint werden. Dabei sollte man sich aber darüber im Klaren sein, dass sowohl der tatsächliche Konflikt der konkret betroffenen Individuen als auch die tatsächlichen Belange mit ihrer normativen Kraft nur im konkreten Fall bestehen. Die Normativität der Belange erwächst also ausschließlich aus konÂ�kreten Eigenschaften im Einzelfall. Das Allprinzip des normativen Individualismus entfaltet eine negative Dimension. Es gilt nicht bloß, dass alle Betroffenen zu berücksichtigen sind, sondern auch, dass nur alle Betroffenen zu berücksichtigen sind. Wer von einem moralischen Konflikt nicht betroffen ist, also keine eigenen Belange geltend machen kann, kann nicht erwarten, dass seine bloß abstrakte Meinung zu diesem Konflikt eine Rolle bei der Abwägung spielt. Die Betroffenheit in moralischen Konflikten bleibt nun aber in der Individualmoral€– anders als etwa in der politischen und rechtlichen Moral€– häufig lokal begrenzt. Wenn A die B beleidigt oder körperlich verletzt, so sind zunächst einmal nur A und B in diesem moralischen Konflikt betroffen. Natürlich mag es auch sekundär Betroffene geben, etwa Bs Kinder, Eltern, sonstige Angehörige und Freunde. Wenn B wegen der Verletzung ins Krankenhaus eingeliefert werden muss, so kann sie etwa nicht mehr für ihre Kinder sorgen. Diese sind dann auch tangiert. Sie müssen als sekundär Betroffene€– allerdings regelmäßig schwächer€ – berücksichtigt werden. Es kann aber zum Beispiel keine Rolle spielen, dass C, der zufällig vorbeikommt, der Meinung ist, der schon lange offenbaren Impertinenz der B wäre eine Beleidigung durch A gerade angemessen. Die bloße Meinung eines Dritten, und sei es auch die einer „moralischen Autorität“ oder eines Religionsführers, kann wegen des normativen Individualismus keine Form der Betroffenheit sein und darf somit in der Abwägung keine Rolle spielen, denn sonst würden letztlich nicht die betroffenen Individuen, sondern besonders bevorzugte Personen oder die anonyme Öffentlichkeit derjenigen, die abstrakte Meinungen über das richtige oder falsche Verhalten Anderer entwickeln, entscheiden. Es gibt zwar vor allem von Vertretern des Utilitarismus Versuche, externe Präferenzen, das heißt Präferenzen Dritter hinsichtlich der Präferenzen Betroffener als abwägungsrelevant anzusehen.12 Dies wird deshalb für gerechtfertigt gehalten, weil die Befriedigungszustände entscheidend sein sollen. Auch ein Dritter werde frustriert, wenn seine Meinungen bzw. externen Präferenzen missachtet werden. So seien etwa die externen Präferenzen von nicht selbst als Eltern betroffenen Abtreibungsgegnern relevant, weil sie befriedigt oder nicht befriedigt werden könnten. Auf diese Weise ist es aber jeder beliebigen Person möglich, sich selbst in den Angelegenheiten anderer zum relevanten Mitentscheider zu erheben. Derjenige, der für sich selbst ein besonders hohes Frustrations- oder Befriedigungspotential in Angelegenheiten Dritter aufbaut, müsste dann besonders berücksichtigt werden, während derjenige, der sich nicht in die Angelegenheiten anderer mischt, weil er vor deren persönlichen Lebensentscheidungen Respekt hat, nicht zu berücksichtigen wäre. Man sieht 12 Bernward Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus, Stuttgart 2003, S.€57â•›ff.
3. Die Notwendigkeit einer Zusammenfassung
161
sofort, dass das nicht überzeugen kann, weil es der Willkür Tür und Tor öffnet und die Individualberücksichtigung im konkreten Konflikt der Belange kollektiviert. Moralische Konflikte werden dann durch willkürliche Entscheidungen Dritter, an sich nicht Betroffener entschieden oder zumindest mit entschieden. Daran zeigt sich, dass der Utilitarismus zwar einen normativ-individualistischen Ausgangspunkt hat, bei der Durchführung der Gesamtmaximierung im Ergebnis den normativen Individualismus aber missachtet. Man könnte allerdings weiter argumentieren, jede Form der Interaktion zwischen A und B betreffe alle anderen Menschen oder wenigstens alle anderen Mitglieder der politischen Gemeinschaft, in der beide leben. Wenn A die B beleidige und die Allgemeinheit oder die politische Gemeinschaft das zulasse, so müsse sie es auch im Falle anderer Beleidigungen zulassen. Wir lebten dann in einer Gemeinschaft, in der regelmäßig Beleidigungen stattfänden, was für alle schlecht wäre. Deshalb müsste die Allgemeinheit bzw. politische Gemeinschaft ein Zusammenfassungsprinzip „Beleidigungen Unschuldiger sind verboten!“ annehmen und durchsetzen. Wer so argumentiert, wechselt aber schon von der Individualmoral und Individualethik zur politischen Moral und politischen Ethik. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass zur tatsächlichen Verringerung mancher moralisch inakzeptabler Verhaltensweisen politische und rechtliche Normen sowie Sanktionen notwendig sind. Es mag etwa sein, dass sich A von Beleidigungen gegenüber B nur durch das Risiko einer gerichtlichen Verurteilung und einer staatlichen Strafe abhalten lässt. Aber die sekundäre Frage nach der tatsächlichen Verringerung moralisch inakzeptabler Verhaltensweisen darf die primäre Frage nach dem Inhalt und der Normativität moralischer Konfliktlösungen und ihrer ethischen Rechtfertigung nicht ersetzen. Entscheidend müssen zunächst nach dem Prinzip des normativen Individualismus die vom Konflikt primär Betroffenen sein. Die gesamte Menschheit und die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft sind dann allenfalls ganz peripher und sekundär über die allgemeine Etablierung bestimmter Praxen tangiert. Diese periphere und sekundäre Betroffenheit kann nur in speziellen und gravierenden Ausnahmefällen€– wenn überhaupt€– die Freiheit der Entscheidung der primär Betroffenen und damit die primäre moralische Konfliktlösung im Einzelfall einschränken. Das Verbot der Tötung auf Verlangen oder der sittenwidrigen Körperverletzung sind umstrittene und auf die Höchstinteressen von Leib und Leben beschränkte kollektive Regelungen allgemeiner Praxen gegen den Willen einiger unmittelbar Betroffener. Daraus muss man aber den Umkehrschluss ziehen, dass für die weitaus überwiegende Zahl der moralischen Konflikte die Interessen der primär und konkret Betroffenen entscheidend sein müssen. Sie durch kollektive Regelungen zu überspielen würde dem normativen Individualismus widersprechen und wäre Ausdruck eines normativen Kollektivismus der Menschheit, eines Volkes oder einer sonstigen Gemeinschaft. Man sollte sich im Übrigen vor Augen halten, dass politische und rechtliche Konfliktlösungen aus rein praktischen Gründen immer nur einen sehr kleinen, wenn vielleicht auch wichtigen Teil des moralisch zweifelhaften Verhaltens normieren und sanktionieren können. Es gibt etwa keine Rechtsordnung, die ein allgemeines Lügenverbot erfolgreich normiert und sanktioniert hätte. Viele moralisch problematische Verhaltensweisen des Alltags, etwa Unfreundlichkeit und Unaufmerksamkeit, sind nicht rechtlich normier- und sanktionierbar. Das Strafrecht kann nur einen geringen Teil sehr gravierender Konflikte regeln.
162
IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange
4. Gut, richtig und gerecht als Begriffe der Abwägung bzw. ZusammenÂ�fassung Die Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit der Abwägung bzw. ZusammenÂ� fassung der individuellen Belange wird durch verschiedene bewertende und normativ bestimmende BeÂ�griffe ausgedrückt. Deshalb sollen die wesentlichen dieser Begriffe hier kurz erörtert werden. Dabei gibt es jeweils ein grundlegendes Adjektiv und ein davon abgeleitetes Substantiv, das als sekundäre, von der Alltagsverwendung schon erheblich weiter entfernte und damit künstlichere, nicht selten von Philosophen erfundene SubÂ� stantivierung erheblich problematischer ist als das grundlegende Adjektiv.
a) Gut Der allgemeinste dieser Begriff ist der Begriff „gut“.13 Die Abwägung mit Hilfe des Begriffs „gut“ umfasst dabei nicht nur Fragen der normativen Ethik im engeren Sinn, also Fragen der Moral, sondern auch solche aller anderen möglichen Bewertungen, Normen und Regeln unserer Einstellungen und unseres Handelns, also auch solche der Religion, des Rechts, der Konventionen, der Empfehlungen des guten Lebens usw. (vgl. Einleitung, 1). Man würde etwa eine Handlung nicht in einem umfassenden Sinne als gut bezeichnen, wenn sie zwar moralisch erlaubt und als überpflichtgemäßes Handeln vielleicht sogar moralisch positiv zu bewerten, vom Standpunkt der Religion oder des glücklichen Lebens aber negativ einzuschätzen wäre. Wer sich zum Beispiel eines pflegebedürftigen Angehörigen weit über das normale und erforderliche Maß hinaus annimmt, mit der Folge, dass er sein eigenes Lebensglück vollständig zerstört, dessen Handeln würden wir zwar als moralisch hochstehend bewerten, denn es wäre moralisch überpflichtgemäß. Wir würden also sagen, er handelt „moralisch gut“. Wir würden uns aber scheuen, sein Handeln in einem ganz umfassenden Sinne als „gut“ zu bezeichnen, da dies auch eine Berücksichtigung des guten Lebens erfordert. Bei moralischen Helden wie Mutter Theresa gehen wir regelmäßig davon aus, dass sie in ihrem überpflichtgemäßen moralischen Engagement auch eine mögliche und ihnen angemessene Form der Lebenserfüllung finden, sonst können wir ihr Leben als Ganzes nicht als insgesamt gut qualifizieren. Will man die Bezeichnung der Abwägung mit Hilfe des Begriffs „gut“ auf die Belange der Moral begrenzen, so muss man den weiten Begriff von „gut“ also einschränken und von „moralisch gut“ sprechen. Henry Sidgwick hat „good“ bzw. „ultimate good“ mit „well-being“ gleichgesetzt, und manche sind ihm€– insbesondere auch zur Ermöglichung einer Quantifizierung€– darin gefolgt und sehen das „Wohl“, das „Wohlbefinden“ oder „Wohlergehen“ als moralisch bzw. ethisch umfassendstes Ziel und damit als ethisch entscheidend an.14 Aber das ist 13 Vgl. zur Abwägungsfunktion von „gut“: Verf., Deskription, Evaluation, Präskription, S.€260â•›ff. 14 Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, S.€3, 392; James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance, S.€40â•›ff.; Walter Pfannkuche, Die Moral der Optimierung des Wohls. Be-
4. Gut, richtig und gerecht als Begriffe der Abwägung bzw. ZusammenÂ�fassung
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von vornherein limitierend und deshalb außerordentlich problematisch, denn selbst wenn etwas unser Wohlbefinden steigert oder sogar optimiert, muss es nicht in einem umfassenden Sinne gut sein. Die Steigerung des Wohlbefindens kann etwa zu einer geringer entfalteten, oberflächlichen Persönlichkeit, das heißt zu einem Verlust an Lebenserfahrung, Wahrnehmungsfähigkeit, emotionaler Empfindsamkeit, Religiosität oder Intelligenz führen, den wir nicht wollen und der deshalb nicht unseren reflektierten und grundlegenden Belangen bzw. Interessen entspricht. Es gibt offensichtlich Belange wie die soeben genannten, die jenseits des bloßen Wohlbefindens gut sind. Das Wohlbefinden ist somit nur ein Aspekt des Guten unter mehreren. Weil wir über diese Aspekte in einer normativen Ethik aber nicht von vornherein vom Lehnstuhl aus entscheiden können, ohne gegen das Prinzip des normativen Individualismus zu verstoßen, bleiben nur die Belange bzw. Interessen als ultimative Eigenschaft der zu berücksichtigenden Individuen und damit der moralischen bzw. ethischen Rechtfertigung.
b) Richtig Während sich der Begriff „gut“ auf alle möglichen Gegenstände beziehen kann, also Charakterzüge, Tugenden, Absichten, Zweck-Mittel-Abwägungen, den Willen, Handlungen, Zustände, Konsequenzen, ist der Begriff „richtig“ eher auf das Handeln begrenzt. Man würde wohl kaum von einem „richtigen Zustand“ sprechen, und auch ein „richtiger Charakter“, eine „richtige Tugend“, ein „richtiger Wunsch“ oder eine „richtige Konsequenz“ klingen zumindest ungewöhnlich. Der Grund liegt darin, dass „richtig“ auf die Handlung im engeren Sinn, also die Handlungsausführung fokussiert ist. Nun kann ein sehr weiter Handlungsbegriff€– wie sich in Kapitel€III ergab€– auch die inneren, äußeren und allgemeinen Bedingungen der Handlung, also etwa die Charakterzüge und Tugenden, sowie die Wünsche, die der Handlung zu Grunde liegen, und die Konsequenzen der Handlung umfassen. Man könnte dann einen im Gegenstand weiteren und einen im GegenÂ�stand engeren Begriff von „richtig“ unterscheiden, je nachdem, ob er alle Handlungselemente eins bis sieben einschließt oder auf die Handlungselemente drei bis sechs beschränkt bleibt. Jedenfalls kann man auch von einer Handlung als „richtig“ sprechen, sofern sie jenseits der Moral in einem technischen Sinn zweckmäßig ist. Der Begriff erreicht insofern fast den Umfang von „gut“. Man kann den Begriff dadurch einschränken, dass man nur von „moralisch richtig“ spricht. Dann wäre er allerdings im Gegenstand immer noch enger als „moralisch gut“.
gründung und Anwendung eines modernen Moralprinzips, S.€203–207; John Broome, Weighing Lives, Oxford 2004, S.€2, 12â•›ff.
164
IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange
c) Gerecht bzw. das Gerechte oder die Gerechtigkeit „Gerecht“ können Tugenden, aber auch Handlungen und Konsequenzen sein. Allerdings ist Gerechtigkeit immer nur gegenüber Anderen möglich. Gegenüber einer Lawine kann man sich etwa tapfer oder besonnen verhalten, nicht aber „gerecht“. Und auch gegenüber sich selbst kann man nicht gerecht sein. „Selbstgerechtigkeit“ ist ein Fall falscher Selbstentschuldigung, aber keine begriffliche Form von Gerechtigkeit. Der Begriff der Gerechtigkeit schließt also in jedem Fall Pflichten gegen sich selbst aus. Dabei ist er aber ähnlich wie „gut“ und „richtig“ nicht auf die Moral beschränkt, sondern kann auch alle anderen Arten von primären und unmittelbaren Normen, Regeln und Bewertungen qualifizieren, etwa das Recht, Konventionen usw. In den Kapiteln XIV, 2 und XV, 3 wird der Begriff der Gerechtigkeit noch näher erläutert werden.
V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange: das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. GemeinschaftsÂ�abhängigkeit Das fünfte und letzte Elements einer adäquaten normativen Ethik muss zeigen, wie die Zusammenfassung bzw. Abwägung der ethisch relevanten, das heißt potentiell divergierenden Belange nun tatsächlich inhaltlich vonstattengehen soll. Bevor dazu einzelne Kriterien bzw. Prinzipien diskutiert werden, ist es sinnvoll, den grundsätzlichen Fokus der Zusammenfassung zu klären, also deutlicher herauszuarbeiten, auf welcher Ebene die Abwägung überhaupt stattfindet.
1. Der Fokus der Zusammenfassung Die im Rahmen der Zusammenfassung zu berücksichtigenden Belange des in einer Situation handelnden Akteurs und der betroffenen Anderen beziehen sich notwendig auf die potentielle Handlung dieses Akteurs mit ihren sieben Teilen. Dabei sind die Belange des Akteurs und der betroffenen Anderen selbst Aspekte ihrer eigenen Handlung, genauer der eigenen Handlungsteile eins bis drei, das heißt der inneren Bedingungen (Strebungen und Bedürfnisse, eins), der Wünsche und Überzeugungen (zwei) sowie der Ziele (drei). Bevor die Belange aber überhaupt abgewogen werden können, müssen bestimmte für die Rechtfertigung grundlegende Voraussetzungen erfüllt sein. Man kann insofern wenigstens vier, sich erweiternde Radien im HinÂ�blick auf die Handlung des Akteurs unterscheiden:
a) Interne Handlungskonsistenz Der erste Radius ist der einer internen Konsistenz der Einzelteile der Handlung des Akteurs. Es kommt also zunächst darauf an, dass die Handlung mit ihren Komponenten als solche nicht in sich widersprüchlich ist. Ein Beispiel für einen handlungsinternen Widerspruch wäre, dass der Akteur etwas über seine Handlung denkt oder sagt und gleichzeitig etwas mit diesem Gedachten oder Gesagten Unverträgliches verwirklicht. Der Akteur kann etwa ein nach seiner eigenen Auffassung ungeeignetes Mittel (Element 4) zur Verfolgung seines Ziels (Element 3) wählen, etwa wenn er jemand anderen durch bloße böse Gedanken körperlich verletzen will. Oder er kann den Willen haben, einem Anderen etwas Angenehmes zu tun (Element 5) und ihm gleichzeitig Schmerz zufügen (Element 6). In
166
V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
diesen Fällen handelt er schon auf einer ersten, rein tatsächlichen Ebene der internen Handlungskonsistenz widersprüchlich. Eine derart selbstwidersprüchliche Handlung kann aus logischen Gründen von vornherein keine ethisch und moralisch gerechtÂ�fertigte Handlung sein, so wie ein rundes Quadrat schon aus begrifflich-logischen Gründen unmöglich ist, so dass sich die Frage nach seiner tatsächlichen Existenz gar nicht stellt. Für den Ausschluss derartiger begrifflich-logischer Handlungswidersprüche benötigt man kein Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzip der Belange. Es genügt die Forderung nach interner Konsistenz der Handlung.1 Diese Forderung nach interner Konsistenz bezieht sich auf alle sieben Elemente der im dritten Kapitel€analysierten Handlung im weiteren Sinne, also (1) auf die äußeren, inneren und allgemeinen Bedingungen, (2)€auf die Überzeugungen und Wünsche, (3) auf die Ziele bzw. Absichten, (4)€auf die Zweck-Mittel-Abwägung, (5) auf die Fassung des konkreten Handlungswillens, (6) auf die Handlungsausführung und (7) auf die beabsichtigten, gewollten, vorausgesehenen oder zumindest voraussehbaren Konsequenzen. Eine interne Inkonsistenz der Handlung führt dazu, dass die Handlung nicht als Ganzes bewertet werden kann, sondern regelmäßig nur die einzelnen Teile der Bewertung isoliert unterliegen. So ist das Ziel, anderen Angenehmes zu tun, positiv, das Handeln ihnen Schmerzen zu bereiten dagegen negativ. Die Handlung gelangt mangels interner Konsistenz nicht als Ganzes auf die Ebene der Abwägung mit den Belangen anderer.
b) Interne Kohärenz der Belange des Akteurs Der zweite Radius ist der einer internen Kohärenz der Belange des Akteurs. Belange des Akteurs, die sich auf die in Frage stehende Handlung beziehen oder mit ihr realisiert werden, können einzelnen, über die Handlung hinausgehenden Belangen des Akteurs widersprechen. Dann bestehen gute, akteursinterne Gründe, die Handlung zu unterlassen. Der Akteur kann etwa das Bedürfnis nach einem Gespräch haben, gleichzeitig aber den generellen Wunsch verspüren, mehr für sich selbst zu sein. Es kann nicht strittig sein, dass es in der Realität solche Inkohärenzen der Belange beim Akteur gibt. Strittig ist nur ihre Interpretation. Diese Interpretation fällt auch in den Bereich der sog. Pflichten gegen sich selbst und wird in Kapitel€VIII erörtert. Für die hier in Rede stehende intersubjektive Abwägung zählt von inkohärenten Belangen natürlich hauptsächlich derjenige Belang, der vom Individuum schließlich gewollt wird und sich in der Handlungsausführung realisiert. Im soeben erwähnten Beispiel wäre das also das Bedürfnis nach einem Gespräch, nicht der generelle Wunsch, mehr für sich selbst zu sein. Aber die Pluralität des Bezugs der Interessen Anderer auf alle Handlungsteile eröffnet auch den Bezug dieser Interessen auf nicht handlungsÂ�wirksame Belange.
1
Vgl. für eine detailliertere Aufschlüsselung derartiger Inkonsistenzen rationalen Handelns: Â�Onora O’Neill, Consistency in Action, in: Paul Guyer (Hg.), Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Â�Morals. Critical Essays, Lanham 1998, S.€103–131, S.€114â•›ff.
1. Der Fokus der Zusammenfassung
167
c) Widerspruch des Handlungswillens oder der Handlungsausführung zu sozialen Institutionen oder Konventionen Der dritte Radius ist der eines Widerspruchs des Handlungswillens oder der Handlungsausführung, also der Handlungselemente fünf und sechs eines Akteurs, zu sozialen InÂ� stitutionen oder Konventionen, die der Akteur mit seinem Handeln selbst in Anspruch nimmt, denen er also zumindest implizit zustimmt. Bei diesem Radius handelt es sich etwa um den von Kant als Ausschlusskriterium vorgeschlagenen und noch näher zu diskutierenden Widerspruch der Maxime eines Handelns im Denken.2 Wer in Not ein falsches Versprechen gibt, wohl wissend, dass er es nicht wird halten können, handelt nach Kant selbstwidersprüchlich, weil er mit seinem Versprechen die allgemeine Annahme, dass Versprechen regelmäßig nicht ohne Erfüllungsabsicht gegeben werden, voraussetzt. Es ist aber natürlich rein faktisch möglich, dass sich der Einzelne derart als „Trittbrettfahrer“ einer sozialen Institution wie dem allgemeinen Vertrauen auf die Ernsthaftigkeit eines Versprechens verhält. Der signifikante Widerspruch besteht also zwischen dem äußeren Verlautbarungscharakter des Handelns und dem inneren Willen. Auch hier spielen wie beim ersten Radius daher die Belange des Akteurs und der betroffenen Anderen keine direkte Rolle.3 Nicht die aus Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen, also den Handlungsteilen (1–3) synthetisierten Belange treten direkt zueinander in Widerspruch, sondern der konkrete Handlungswille (5) undâ•›/â•›oder die Handlungsausführung (6) beim Akteur im Verhältnis zur sozialen Institution oder Konvention. Allerdings findet hier zumindest indirekt eine Entscheidung zwischen divergierenden Belangen statt, denn hinter jedem konkreten Handlungswillen und jeder konkreten Handlungsausführung stehen als Rechtfertigung die Belange des Akteurs und jede soziale Institution und Konvention verkörpert ihrerseits eine Lösung der Abwägungsfrage hinsichtlich der Belange aller Beteiligten. Insofern ist es gerechtfertigt, diesen dritten Radius€– wie es nachfolgend geschehen wird€– wenigstens indirekt als eine Form der Abwägung zwischen den Belangen der Betroffenen anzusehen. Wie sich noch erweisen wird, hat Kant auch eine Inkonsistenz der Handlungsziele im Rahmen eines „Widerspruchs im Wollen“ vorgeschlagen. Mit den Zielen ist dann aber bereits ein€ – bzw. bei rationalen Wesen sogar das wichtigste€ – Teilelement der Belange miteinbezogen. Man erreicht damit also schon den vierten Radius, weil sich die Ziele nicht von ihrer Bewertung und Relativierung der Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen ablösen lassen.
2 3
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€421. Vgl. dazu Onora O’Neill, Consistency in Action, S.€103â•›ff.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
d) Divergenz der Belange zweier moralisch relevanter Individuen bezüglich einer Handlung Der vierte Radius betrifft schließlich die Hauptfälle der Ethik und Moral, in denen die Belange zweier oder mehrerer jeweils eigenständig moralisch zu berücksichtigender Individuen direkt bezüglich der Handlung des Akteurs divergieren, also zum Beispiel der Fall der gezielten Tötung, Verletzung oder sonstigen Schädigung eines anderen moralisch zu berücksichtigenden Wesens oder der Hilfeleistung für dieses Wesen.
e) Verschiedene Prinzipien Im Folgenden wird nur die Zusammenfassung der Belange in den letzten beiden Radien als zentrale Frage der Moral bzw. Ethik diskutiert. Beim ersten Radius handelt es sich lediglich um handlungstheoretische Voraussetzungen der moralischen bzw. normativethischen Abwägung, die eher in das Gebiet der Handlungsphilosophie fallen. Auf die Frage nach den Pflichten gegen sich selbst, also den Radius zwei, wird im Kapitel€VIII eingegangen. In Theorien der Ethik sind viele verschiedene Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzipien der Belange bzw. Interessen der Betroffenen vorgeschlagen worden: das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip, das Diskursprinzip, das Verallgemeinerungsprinzip, das Maximierungsprinzip, das GleichheitsÂ�prinzip, das Genügensprinzip (satisficingprinciple), das Paretoprinzip, das Aufopferungsprinzipâ•›/â•›Kaldor-Hicks-Prinzip, das Maximinprinzip (Differenzprinzip), das Utilexprinzip, das Leistungsprinzip, das Prioritätsprinzip usw. Im Folgenden wird die Grundthese vertreten, dass allen diesen ernsthaft vorgeschlagenen Prinzipien eine gewisse partielle Berechtigung zukommt. Aber sie zerfallen in zwei Klassen, deren Mitglieder aus unterschiedlichen Gründen die jeweils an das fünfte Element gestellte Aufgabe der Abwägung bzw. Zusammenfassung der Individualbelange allein nicht adäquat zu erfüllen vermögen: Die Prinzipien sind entweder zu abstrakt und formulieren deshalb mehr oder minder nur alle oder wenigstens die wesentlichen der hier bereits erläuterten und akzeptierten vier Elemente einer adäquaten normativen Ethik. Sie können deshalb die Abwägung nicht inhaltlich und damit konÂ�kret steuern (Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip, Diskursprinzip). Oder sie sind zu konkret und deshalb allenfalls in bestimmten Fallkonstellationen als alleiÂ�niges oder auch nur hauptsächliches Prinzip der Abwägung überzeugend (Verallgemeinerungsprinzip, Maximierungsprinzip, Gleichheitsprinzip, Paretoprinzip, Genügensprinzip, Maximinprinzip, Aufopferungsprinzipâ•›/â•›Kaldor-Hicks-Prinzip, Utilexprinzip, Leistungsprinzip usw.). Diese kritische Grundthese kann hier für die einzelnen erwähnten Prinzipien nur skizziert werden, bevor dann mit dem Prinzip der relativen Individual-, Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Individualbelange ein Metaprinzip vorgeschlagen wird, das als fünftes Element und allgemeines Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzip einer adäquaten normativen Ethik weder zu abstrakt noch zu konkret ist und deshalb die zu
2. Kritik des Vertragsprinzips╛/╛Diskursprinzips
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abstrakten Prinzipien zum einen konkretisieren und die zu konkreten Prinzipien zum anderen bis zu einem gewissen Grade bestimmen kann.
2. Kritik des Vertragsprinzipsâ•›/â•›Diskursprinzips a) Vertragsprinzipâ•›/â•›Zustimmungsprinzip Das Vertragsprinzip bzw. Zustimmungsprinzip war sowohl in seiner klassischen Fassung bei Hobbes, Locke, Rousseau und Kant als auch in seiner modernen Fassung bei Rawls zunächst auf die Rechtfertigung politischer oder gesellschaftlicher Konfliktlösungen beschränkt.4 In neueren Theorien findet sich aber der Versuch, seinen Anwendungsbereich auszuweiten und es zum allgemeinen Abwägungsgrundsatz der normativen Ethik, also zum generellen Prinzip der Lösung aller individuellen und sozialen Konflikte der Moral und anderer primärer Normordnungen zu erheben. Nach einer Version des Vertragsbzw. Zustimmungsprinzips, die Thomas Scanlon vorgeschlagen hat,5 soll eine Handlung genau dann moralisch falsch sein, wenn ihre Durchführung unter den gegebenen Umständen von jeder Menge von Prinzipien zur Regelung des Verhaltens verboten würde, die niemand als Basis informierter, ungezwungener und allgemeiner Zustimmung vernünftigerweise zurückweisen könnte.6 „Vernünftig“ („reasonable“) wird dabei nicht wie bei manchen anderen Theoretikern als „zweckrational“ im Verhältnis zu den Zielen des Akteurs verstanden, sondern setzt beim jeweils zu Berücksichtigenden eine gewisse Menge an Informationen und relevanten Gründen voraus.7 Scanlon gesteht allerdings von vornherein zu, dass das Vertragsprinzip nicht alle primären Normordnungen rechtfertigen kann, sondern nur den Teil, in dem wir anderen etwas „schulden“ („what we owe to each other“), in dem es also um „richtig“ oder „falsch“ geht, nicht um Werte und Lebensideale.8 Im Übrigen entfaltet er das Prinzip zunächst als Prinzip der Motivation,9 erstreckt es dann aber auch auf die normative Rechtfertigung und den Inhalt moralischer Konfliktlösungen.10 Bereits im Rahmen der Diskussion des normativen Individualismus als erstem Element einer adäquaten normativen Ethik wurde darauf hingewiesen, dass das Ver4 5 6
7 8 9 10
Vgl. zu einer Darstellung neuerer Theorien: Peter Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1998. Eine andere erweiterte Version des Vertragsprinzips findet sich bei David Gauthier, Morals by Agreement, Oxford 1986. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€153: „It holds that an act is wrong if its performance under the circumstances would be disallowed by any set of principles for the general regulation of behavior that no one could reasonably reject as a basis for informed, unforced general agreement.“ Vgl. zu einer ersten Version dieser Formulierung des Prinzips: ders., Contractualism and Utilitarianism, in: Amartya K. Senâ•›/â•›Bernard Williams, Utilitarianism and Beyond, Cambridge 1982, S.€103–128, S.€116. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€192. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€6â•›ff., 171â•›ff., 342â•›ff. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€148â•›ff. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€189.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
tragsprinzip, zumindest so wie es von allen wichtigen klassischen und modernen Vertragstheoretikern verstanden wurde, dieses erste Element des normativen Individualismus grundsätzlich enthält.11 Allerdings gilt dies uneingeschränkt nur für das erste Teilprinzip des normativen Individualismus, also das Individualprinzip. Im Hinblick auf das zweite Teilprinzip des normativen Individualismus, also das Allprinzip, fordert das Vertragsprinzip zwei Einschränkungen. Diese resultieren aus der Annahme, dass die mögliche Zustimmung bzw. die unmögliche Zurückweisung durch andere entscheidend sein soll. Zum einen wird von vornherein ausgeschlossen, dass der Akteur und der Andere identisch sind, dass es also Pflichten gegen sich selbst gibt, was mit dem Allprinzip prinzipiell vereinbar wäre. Zum zweiten werden Individuen, die niemals zu einer sprachlich-kommunikativen Zustimmung in der Lage sein werden, also Tiere und Pflanzen, grundsätzlich nicht wie Menschen als selbständige, moralisch relevante Wesen berücksichtigt.12 Das dritte Teilprinzip des normativen Individualismus€– also das Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung€– scheint dagegen wieder im Vertragsprinzip enthalten zu sein. Hinsichtlich des zweiten Elements der moralisch relevanten Eigenschaft wird dagegen eine Vorauswahl getroffen, indem die Eigenschaft der potentiellen Zustimmung als entscheidend angesehen wird, wobei Scanlon aber verschiedentlich auch in einem offenbar weiteren Sinn von „Belastungen“ („burdens“) und „Kosten“ („costs“) spricht.13 Beim dritten Element des Bezugs der Belange auf die Handlung des Akteurs impliziert das Vertragsprinzip grundsätzlich€– wie oben sachlich vorgeschlagen€– keine Bevorzugung eines Handlungselements, weil die potentielle Zustimmung durch die Betroffenen sich ja prinzipiell auf alle möglichen Teile der Handlung des Akteurs erstrecken kann. Scanlon spricht aber wie schon Rawls14 an verschiedenen Stellen ohne weitere Erläuterung von den „Konsequenzen“ bzw. „Effekten“ der Handlung als entscheidend15€ – scheinbar ohne sich zu verdeutlichen, dass diese Beschränkung der potentiellen Zustimmung auf die Konsequenzen vom Vertragsprinzip als solchem nicht gefordert wird. Schließlich impliziert das Vertragsprinzip hinsichtlich des vierten Elements der Modalität der Zusammenfassung wie oben die Annahme der normativen Notwendigkeit, weil es impliziert, dass die im Konflikt stehenden Belange abgewogen werden müssen. Man kann also zusammenfassen, dass das Vertragsprinzip mit den bereits diskutierten und bejahten vier Elementen einer adäquaten normativen Ethik teils übereinstimmt, teils restriktiver ist. Wichtig ist aber nun: Zwar fordert das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip wie die bisher bejahten vier Elemente€– abgesehen von den erwähnten Einschränkungen€– eine Abwägung der individuellen Belange. Es kann aber nicht zeigen, wie diese Abwägung bzw. Zusammenfassung konkret vonstatten gehen soll. Das Vertragsprinzip verlangt also zwar eine Zusammenfassung der individuellen Belange und ist somit gemäß den bisheri11 12 13 14 15
Vgl. Kapitel€II, 2 c). Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€177╛ff. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€195, 208, 205. John Rawls, A Theory of Justice, S.€30. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€203, 213.
2. Kritik des Vertragsprinzips╛/╛Diskursprinzips
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gen Überlegungen€– sieht man von seinen Restriktionen ab€– berechtigt, liefert aber selbst kein konkreteres Prinzip, das eine derartige Zusammenfassung der individuellen Belange steuern oder strukturieren könnte. Es bleibt somit als fünftes Element einer adäquaten normativen Ethik zu abstrakt und damit unterbestimmt. Die Bewertung, dass eine Handlung nur dann falsch sein soll, wenn sie von jeder Menge von Prinzipien verboten würde, die niemand vernünftigerweise zurückweisen könnte, ist mit allen möglichen konkreteren Prinzipien der Zusammenfassung€– die im Fortgang noch näher erläutert werden€– kompatibel, etwa mit dem Maximierungsprinzip des Utilitarismus,16 dem Gleichheitsprinzip, dem Genügensprinzip, dem Paretoprinzip oder dem Maximinprinzip, je nachdem, was man als Grund für eine vernünftige Verneinung eines dieser konkreteren Prinzipien akzeptiert. John Rawls glaubte etwa, dass das Vertragsprinzip im Rahmen der politischen Ethik das Maximinprinzip begründet,17 während Scanlon als Rawls’ Schüler bezeichnenderweise eine Rechtfertigung des Maximinprinzips als allgemeines Prinzip der Ethik ablehnt.18 Dabei kann eine tatsächliche Durchführung des Vertrags- bzw. Übereinstimmungsprozesses, die für konkrete Fälle selbstredend zu eindeutigen Ergebnissen führen könnte, nicht entscheidend sein,19 denn sie ermöglicht zwar eine faktische Lösung des Konflikts im Einzelfall. Sie kann aber diese faktische Lösung des Konflikts im Einzelfall nicht als allgemeines Prinzip der Lösung aller anderen einzelnen Konflikte und damit als allgemeines normativ-ethisches Prinzip rechtfertigen, denn warum sollten andere Individuen durch die zufällige individuelle Standfestigkeit oder Nachgiebigkeit, also das zufällige Verhandlungsgeschick der Vertragspartner normativ-ethisch gebunden sein? Scanlon bewertet die Offenheit des Vertragsprinzips als Vorzug.20 Aber auch wenn man diesen Vorzug anerkennt, bleibt festzuhalten, dass das Prinzip zu abstrakt und damit zu unbeÂ�stimmt ist, um hinsichtlich des fünften Elements der Abwägung zu einer inhaltlichen Bestimmung zu gelangen. Auf eine derartige inhaltliche Bestimmung der Abwägung kann die normative Ethik aber nicht verzichten, soll sie ihre Funktion der Rechtfertigung und Kritik der Moral und anderer primärer Normordnungen erfüllen.
b) Das Diskursprinzip Das Diskursprinzip „D“ lautet nach Jürgen Habermas: „Jede gültige Norm müsste die Zustimmung aller Betroffenen, wenn diese nur an einem praktischen Diskurs teilnehmen würden, finden können.“21 Während Scanlon nur die hypothetische Unmöglich-
16 17 18 19 20 21
Dies gesteht Scanlon selbst zu: Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€189. John Rawls, A Theory of Justice, S.€152â•›ff., 175â•›ff. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€223, 228â•›ff. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€394, Fn.€5, 395, Fn.€18, 168. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€216. Jürgen Habermas, Was macht eine Lebensform rational?, S.€32; vgl. ders., Diskursethik€– Notizen zu einem Begründungsprogramm, S.€103.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
keit der Zurückweisung seitens aller Betroffenen als Kriterium ansieht, fordert Habermas also die hypothetische Zustimmung. Ob dies in der Sache einen Unterschied ergibt, hängt von der Frage ab, ob die hypothetische Zurückweisung und Zustimmung kontradiktorisch oder nur konträr zueinander stehen. Von dieser etwas unterschiedlichen Formulierung abgesehen, ist ein wesentlicher sachlicher Unterschied zum Vertragsprinzip im Hinblick auf die hier interessierende Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsfunktion aber nicht erkennbar.22 Die soeben wiedergegebene Einschätzung des Vertragsprinzips gilt somit in grundsätzlich gleicher Weise auch für das Diskursprinzip. Allerdings führt Habermas noch einen Universalisierungsgrundsatz „U“ als „Argumentationsregel“ ein, der als Ausgangspunkt für die „sparsame Formel“ D dienen soll: „Jede gültige Norm muss der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können.“ Diese Formel ist restriktiver als das Diskursprinzip, weil sie sich auf die „Folgen und Nebenwirkungen“ beschränkt. Eine derartige Beschränkung auf die Konsequenzen wurde im Rahmen der Erörterung des dritten Elements aber bereits kritisiert und abgelehnt. Sie wird sogleich noch einmal beim inhaltlich vergleichbaren „Argument der Verallgemeinerung“ Marcus George Singers erörtert. Sieht man von dieser konsequentialistischen Einschränkung durch den Universalisierungsgrundsatz U ab, so geht die Diskursethik offensichtlich nur in ihrer Forderung nach tatsächlichen Diskursen und Konsensen und nach legitimen Diskursbedingungen über das Vertragsprinzip hinaus. Diese Forderung nach Diskursen und Konsensen lässt sich als praktische Forderung auch durch den normativen Individualismus rechtfertigen, sofern man sie als Konkretisierung der Verpflichtung zur Berücksichtigung aller betroffenen Individuen versteht. Diese Verpflichtung zur Berücksichtigung aller betroffenen Individuen führt zur Pflicht, im konkreten moralischen Konflikt alle kommunikativen Mittel zu ergreifen, um die Belange der Betroffenen zu erkennen, zur GelÂ�tung zu bringen und zu harmonisieren. Damit ist aber die Frage nach einem adäquaten ethischen Abwägungsprinzip noch nicht beantwortet. Die tatsächliche Durchführung eines Diskurses und die tatsächliche Erzielung eines Konsenses können einen moralischen Konflikt zwar faktisch lösen. Dann aber braucht man jenseits des Gebots zur Suche nach faktischen Konfliktlösungen weder Moral noch Ethik. Moral und Ethik werden also überhaupt nur relevant, wenn sich ein moralischer Konflikt nicht durch faktische Prozeduren und einen faktischen Konsens lösen lässt, etwa weil beide Konfliktparteien einfach auf ihrem Standpunkt beharren. Der Konflikt zwischen dem Mörder, der morden will, und dem Opfer, das nicht ermordet werden will, lässt sich nicht durch einen faktischen Diskurs
22
Ein Unterschied liegt allerdings darin, dass Scanlon von „Handlungen“ und „Prinzipien“ spricht, Habermas von „Normen“. Aber „Prinzipien“ sind in diesem Zusammenhang sicherlich „normative Prinzipien“. Und mangels einer eindeutigen Unterscheidung von Moral und Ethik bei Scanlon kann das Vertragsprinzip nicht auf ein bloßes Metaprinzip ethischer Prinzipien beschränkt werden. Die weitere kommunikationstheoretische Einbettung des Diskursprinzips, etwa die Begründung durch das oben erwähnte Prinzip „U“, kann für die hier zu erörternde spezifische Frage der Abwägung unerörtert bleiben.
2. Kritik des Vertragsprinzips╛/╛Diskursprinzips
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oder Konsens lösen, sondern nur durch ein kategorisches moralisches und rechtliches Gebot, außer in Fällen der Notwehr nicht zu töten. Dieses Tötungsverbot kann nun aber seinerseits nicht durch faktischen Diskurs und Konsens gerechtfertigt werden, weil es im Falle eines Konsenses keines kategorischen Verbots bedarf. Somit bleibt nur der hypothetische Diskurs bzw. Konsens als Kriterium der Abwägung. Das Kriterium des hypothetischen Diskurses bzw. Konsenses ist nun aber nichts anderes als das oben erörterte Prinzip der möglichen Zustimmung bzw. Nichtzurückweisung einer Lösung, also das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip. Das bedeutet: Der faktische Diskurs und Konsens kann zwar konkret konfliktlösend wirken, ist aber ethisch und moralisch nicht universell rechtfertigend, der hypothetische Diskurs und Konsens kann zwar prinzipiell universell rechtfertigend sein, ist aber mangels eines spezifischeren Abwägungsprinzips nicht konkret konfliktlösend. Es ist also nicht erstaunlich, dass Habermas sein zu abstraktes Diskursprinzip sofort um das regelkonsequentialistische Prinzip U ergänzen muss, das nun aber wiederum zu speziell ist und dessen Probleme in Kapitel€V, 4 noch erörtert werden. Diese sofortige Ergänzung des zu abstrakten Diskursprinzips durch ein zu konkretes bzw. spezielles Abwägungsprinzip entspricht im Übrigen genau dem Vorgehen Rawls’, der das abstrakte Vertragsprinzip sofort um das Prinzip der Gleichberücksichtigung von Freiheiten und das Maximinprinzip ergänzen muss und große Schwierigkeiten hat, zu begründen, dass diese konkreten Abwägungsprinzipien aus dem abstrakten Vertragsprinzip folgen. All dies zeigt, dass das Zustimmungsprinzip als solches die Aufgabe einer inhaltlichen Abwägung nicht bewältigen kann.
c) Annahme der Zustimmung auf der Basis gemeinsam geteilter Interessen Weitere Versuche der Ergänzung und Konkretisierung des Zustimmungsprinzips finden sich bei einigen Theoretikern, die in der Nachfolge von Hobbes für eine Minimalmoral plädieren.23 Danach soll man eine hypothetische Zustimmung und damit eine ethische Rechtfertigung der Moral nur insofern annehmen können, als sich zeigen lässt, dass die Moral Interessen dient, die so elementar sind, dass sie so gut wie jeder Mensch besitzt, dass sie uns also allen gemeinsam sind. Das soll sich nur für fundamentale Interessen, wie etwa die Interessen, nicht getötet, verletzt, gezwungen, bestohlen, belogen und betrogen zu werden, annehmen lassen. Grundsätzlich verdient diese Konkretisierung des Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzips im Hinblick auf die genannten fundamentalen Interessen Unterstützung. Niemand wird bestreiten, dass ein moralischer Schutz dieser grundlegenden Belange in 23
Vgl. Richard B. Brandt, A Theory of the Good and the Right, S.€219; Norbert Hoerster, Moralbegründung ohne Metaphysik, Erkenntnis 19 (1983), S.€225–238; ders., Ethik und Interesse, Stuttgart 2003, S.€ 162â•›ff.; ders., Was ist Moral? Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2008, S.€ 57â•›ff.; Bernard Gert, Morality. Its Nature and Justification, New Yorkâ•›/â•›Oxford 1998, S.€157â•›ff.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
jedermanns besonderem Interesse liegt. Das Problem dieser Auffassung besteht aber im Ausschluss von Interessen, die nicht alle gemeinsam haben oder die gar nur ein Einzelner aufweist. Man fragt sich: Warum soll es zur Lösung eines konkreten moralischen Konflikts mit konkreten Interessen konkreter Personen entscheidend sein, dass alle anderen Nichtbeteiligten die gleichen Interessen haben? Was berühren die je in einem Widerstreit Betroffenen die Interessen der Nichtbeteiligten? Müssen die Moral und die Rechtfertigung der Ethik nicht auch dazu dienen, gerade in einem Konflikt mit einem ganz einmaligen und singulären Interesse einer einzelnen konkreten Person zu einer Lösung zu gelangen? Verdient etwa das Interesse an einer ungewöhnlichen Lebensführung, das vielleicht nur ein einziger Mensch hat, keine Berücksichtigung, weil es nicht von allen geteilt wird, etwa das offenbar zunehmend verschwindende Interesse, nicht überall vom Geräusch und den Bildern öffentlicher Fernsehübertragungen („Public Viewing“) behelligt zu werden (wobei meine Hoffnung weiterbesteht, dass dieses Interesse noch andere teilen)? Die minimalmoralische Auffassung differenziert nicht hinreichend zwischen der Moral als Ganzer, die natürlich nur gerechtfertigt sein kann, sofern sie ihrem grundsätzlichen, von allen geteilten Ziel der Vermittlung widerstreitender Belange genügt, und der konkreteren RechtÂ�fertigung einzelner Teile bzw. Normen der Moral, die nicht in jedem Fall gemeinsame Interessen voraussetzen kann, soll sie dem Prinzip des normativen Individualismus genügen und nicht in einen normativen Kollektivismus der Beschränkung auf das „gemeinsam Geteilte“ verfallen. Es vermag also nicht zu überzeugen, das Prinzip der notwendigen allgemeinen Zustimmung auf diejenigen Interessen zu beschränken, die uns allen oder auch nur einer großen Mehrheit gemeinsam sind. Im Übrigen ist damit ja selbst für die zu berücksichtigenden gemeinsamen Interessen noch nicht gezeigt, wie nun die Abwägung im Konfliktfall aussehen soll, ob man etwa den Mörder belügen darf, um das Leben des Opfers zu retten. Die abstrakte Beschränkung der Menge der Interessen liefert kein inhaltliches Abwägungsprinzip für die Lösung zwischen konkret konfligierenden Interessen. Die Beschränkung der Moral auf gemeinsam geteilte Interessen scheint aber noch aus einem anderen Grund zu restriktiv. Selbst wenn man den rationalistischen Ausgangspunkt der Notwendigkeit einer konkreten individuellen Zustimmung Einzelner akzeptierte, könnte es für den Einzelnen notwendig sein, um des Schutzes seiner eigenen hochrangigen Interessen willen auch Moralnormen zuzustimmen, welche Interessen dienen, die er selbst nicht teilt. Um etwa Schutz vor der Tötung durch Andere mittels eines moralischen Tötungsverbots zu erlangen, könnten die Anderen prinzipiell etwa auch den Respekt vor spezifischen religiösen Kulthandlungen oder beliebige andere Belange zur Bedingung erheben. Den Einzelnen mag dieses Interesse gleichgültig lassen. Aber es kann für ihn rational sein, neben dem Verzicht auf die Tötung Anderer diese geringe zusätzliche Einschränkung seiner Handlungsfreiheit in Kauf zu nehmen, um den ihm so wichtigen Schutz des eigenen Lebens durch ein allgemeines Tötungsverbot zu erlangen. Ein Grund, warum die Freiheit und das Bestreben der Individuen, alle ihre Belange auch auf diesem Weg so weit als möglich zu realisieren, eingeschränkt werden sollte, ist nicht ersichtlich.
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips
175
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips Um das Verallgemeinerungsprinzip zu kritisieren, muss es zunächst vom Prinzip der Generalisierung abgegrenzt werden.
a) Der Unterschied zwischen dem Prinzip der Verallgemeinerung und dem Prinzip der Generalisierung Das Prinzip bzw. Argument der Verallgemeinerung unterscheidet sich in seinem Anspruch, moralisch und ethisch signifikantes Abwägungskriterium zu sein, von einem logischen oder quasi-logischen und damit für die ethische Abwägung nicht signifikanten Prinzip der Generalisierung, Universalisierung bzw. Gleichheit einzelner Handlungen oder Zustände.24 Das Prinzip der Generalisierung bzw. Universalisierung lautet etwa: „Wenn die Handlung a für A gut ist, so ist sie auch für jede andere ähnliche Person B in ähnlichen Umständen gut.“ Mit Hilfe dieses Prinzips kann die Frage, ob die Handlung a für A gut ist, aber nicht beantwortet werden, denn diese Annahme wird in ihm ja bereits als Bedingung vorausgesetzt. Das Prinzip der Generalisierung ist also als ethisches Abwägungsprinzip divergierender Belange nicht tauglich. Für die ethische Abwägung allein tauglich kann das Prinzip bzw. Argument der Verallgemeinerung sein. Es existiert in vielen Versionen, von denen nachfolgend zwei diskutiert werden sollen:
b) Kants Verallgemeinerungsprinzip Am bekanntesten ist die kantsche Formulierung als Kategorischer Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“25 Dieses Kriterium soll nach Kant im Fall der Unmöglichkeit der Verallgemeinerung eines Tuns zu dessen Verbot und im Fall der Unmöglichkeit der Verallgemeinerung eines Unterlassens zu dessen Gebot führen.26 24
25
26
Vgl. Richard B. Brandt, Ethical Theory, S.€ 19â•›ff.; „Prinzip der Gleichheit“ findet sich bei Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, 2.€Aufl. Freiburg 1977, S.€52, 56â•›ff. Vgl. auch Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, Frankfurt a.â•›M. 1980, S.€231–235; Jörg Schroth, Die Universalisierbarkeit moralischer Urteile, Paderborn 2001, S.€11â•›ff. Die Terminologie ist uneinheitlich. Teilweise wird auch das moralisch signifikante Verallgemeinerungsprinzip „Universalisierungsprinzip“ genannt. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€421. Ich beschränke mich im Folgenden aus Raumgründen auf die allgemeine Formel und die Berücksichtigung der Naturgesetzformel. Die Formeln sollen nach Kant äquivalent sein. Die Möglichkeit der Verallgemeinerung eines Tuns führt also nicht zu seinem Gebot, sondern nur zu seiner Erlaubnis, die Möglichkeit der Verallgemeinerung eines Unterlassens nicht zum Verbot des Tuns, sondern zu seiner Erlaubnis. Es gibt somit auch moralisch indifferente Handlungen, die allenfalls den Regeln der Klugheit unterfallen. Vgl.â•›H.â•›B. Acton, Kant’s Moral Philosophy, London 1970, S.€21; Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, in: Manfred Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie Bd. II, Freiburg 1974, S.€456; Marcus G. Singer,
176
V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Mit der Verallgemeinerung wird dabei nicht direkt die einzelne Handlung oder ein Teil der einzelnen Handlung beurteilt, sondern nur indirekt über eine Prüfung ihrer Maxime als „subjektives Prinzip“.27 Zwischen die einzelne konkrete Handlung sowie den einzelnen konkreten Willen und die abstrakte Verallgemeinerung wird also die mehr oder minder abstrakte Maxime eingeschoben. Fraglich ist nun zunächst, welchem Teil oder welchen Teilen der Handlung im Sinne der im Kapitel€III unterschiedenen sieben Handlungselemente die Maxime entspricht, welchen Teil oder welche Teile der Handlung Kant also überhaupt der Verallgemeinerung und damit der Maximenbildung unterwerfen wollte. Prinzipiell in Frage kommen nach dem oben Gesagten (1) die äußeren, inneren und allgemeinen Bedingungen, (2) die Überzeugungen und Wünsche, (3) die Ziele bzw. Absichten, (4) die Zweck-Mittel-Abwägung, (5) die Fassung des konkreten Handlungswillens, (6) die Handlungsausführung oder (7) die Konsequenzen. Kant beginnt den ersten Abschnitt seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten mit dem Satz „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“28 Er macht anschließend deutlich, dass nur die Beurteilung dieses „guten Willens“ für die Moralität einer Handlung entscheidend sein kann. Die inneren und äußeren Bedingungen einer Handlung, etwa die des inneren Charakters oder die äußerer „Glücksgaben“ wie Macht, Reichtum oder Ehre, also Faktoren, die das Handlungselement eins konstituieren, können zu schlechten Handlungen führen und sind deshalb nicht Teil des „guten Willens“. Ebenso nicht Teil des „guten Willens“ sind die rein tatsächlichen Konsequenzen der Handlung, also das Element sieben, da diese dem Zufall äußerer Einwirkungen unterworfen sind.29 Auch der bloße Wunsch, also das Element zwei, kann nach Kant nicht entscheidend sein. Nötig ist vielmehr „die Aufbietung aller Mittel, sofern sie in unserer Gewalt sind“.30 Damit verbleiben die Elemente drei bis sechs, also das Handlungsziel bzw. die Absicht, die Mittelwahl, der konkrete Handlungswille und die Ausführung der Handlung. Die Ausführung der Handlung ist als äußeres Geschehen vom Handlungswillen als ihrem inneren Antrieb abhängig. Es gibt also keine äußere Handlung ohne einen sie steuernden konkreten Handlungswillen. Kant sagt überdies: „Es kommt bei der Ethik nicht auf die Handlungen, die ich tun soll, sondern das principium an, woraus ich sie tun soll. Maxime.“31 Die tatsächliche
27 28 29
30 31
Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt a.â•›M. 1975, S.€279; Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€139. Ich übergehe hier die historisch-exegetische Frage, ob Kant sein Kriterium wirklich als Testverfahren verstanden wissen wollte. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€420 Fußnote. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€393. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€394. Dies betont auch Otfried Höffe, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, Zeitschrift für philosophische Forschung 1977, S.€354–384, S.€359. Damit sind aber natürlich die beabsichtigten Folgen als Teil des Handlungsziels nicht ausgeschlossen. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€394. Immanuel Kant, Reflexion 119, in: Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie, aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen hg. von Benno Erdmann und Norbert Hinske, Stuttgartâ•›/â•›Bad Cannstatt 1992 (Neudruck der Ausgabe Leipzig 1882â•›/â•›1884).
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips
177
Handlungsausführung kann daher zunächst einmal außer Betracht bleiben. Übrig sind dann die Handlungselemente drei bis fünf, also das Handlungsziel, die Mittelwahl und der konkrete Handlungswille, der zur Ausführung der Handlung führt. Alle drei Elemente lassen sich sprachlich gut unter dem weit verstandenen Terminus des „guten Willens“ fassen, denn das Handlungsziel kann man auch als „Zielabsicht“ bzw. „Zielwillen“ bezeichnen. Wie lässt sich nun zwischen diesen drei Elementen entscheiden? Oder vielleicht muss man das überhaupt nicht, weil Kant alle drei Elemente im Rahmen der Verallgemeinerung berücksichtigen wollte? Zu einer Antwort ist es hilfreich, Kants nachfolgende Unterscheidung zwischen einem Widerspruch im Denken und einem Widerspruch im Wollen, die jeweils zu einer vollkommenen und einer unvollkommenen Pflicht führen sollen, zu berücksichtigen (vgl. zu einer Erläuterung sogleich).32 Soll diese Unterscheidung sinnvoll sein, so kann der zweite Fall des Widerspruchs im Wollen nur ein Unterfall der generell möglichen Inkohärenz des „guten Willens“, also der Elemente drei bis fünf der Handlung im weitesten Sinn sein. Denn wären „guter Wille“ und das Wollen des Widerspruchs im Wollen identisch, dann wäre€– vorausgesetzt der „gute Wille“ umfaßt den ethisch relevanten Bereich€– der Widerspruch im Denken kein eigenständiger Fall. Das bedeutet also, dass der allgemeine „gute Wille“ aus dem ersten Abschnitt der Grundlegung und der Wille, der beim Widerspruch im Wollen geprüft wird, nicht identisch sein können. Der Wille beim Widerspruch im Wollen muss vielmehr ein Teil des allgemeinen „guten Willens“ sein. Aber welcher? Dies lässt sich mit Hilfe der Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten klären. Kant schreibt: „Übrigens verstehe ich hier unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vorteil der Neigung verstattet, […]“33 Bei vollkommenen Pflichten, das heißt bei einem Widerspruch im Denken, kann also die Neigung keine Rolle spielen, während sie bei unvollkommenen Pflichten, also bei einem Widerspruch im Wollen, bedeutsam zu werden vermag. Wo kann die Neigung im Rahmen der Handlungselemente drei bis fünf nun eine Rolle spielen? Die Antwort lautet: bei der Auswahl der Mittel, also beim Handlungselement vier. Ist ein Akteur nur auf ein bestimmtes Handlungsziel (Element drei) moralisch verpflichtet, so steht ihm gemäß seinen Neigungen die Auswahl der Mittel (Element vier) frei, vorausgesetzt die Mittel sind zur Erreichung des Ziels im Wesentlichen gleich gut geeignet. Wer etwa einen Verdurstenden in der Wüste findet, kann ihm von seinen beiden Wasserflaschen entweder die eine oder die andere reichen, er kann also einer Neigung, eine der beiden Wasserflaschen lieber für sich zu behalten, etwa weil sie schöner verziert ist, nachgeben. Ist dagegen der konkrete Handlungswille (Element fünf ) moralisch verpflichtend, so hat der Akteur keinen wesentlichen Spielraum mehr, gemäß seinen 32
33
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€421â•›ff., 424: „Einige Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde.“ Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€421, Fußnote.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Neigungen zwischen verschiedenen möglichen Mitteln zu wählen. Wer etwa verpflichtet ist, kein lügenhaftes Versprechen abzugeben, hat keine Möglichkeit der Mittelwahl beim Handlungselement vier. Damit ist erklärt, auf welches Element der Handlungselemente drei bis fünf sich das Verallgemeinerungskriterium bezieht: Der allgemeine „gute Wille“, der moralisch entscheidend ist, umfasst sowohl den Zielwillen als auch die Mittelwahl und den Handlungswillen. Dabei bezieht sich ein möglicher Widerspruch im Denken, der zu einer vollkommenen Pflicht führt, auf den konkreten Handlungswillen, also das Handlungselement fünf und damit auch notwendig auf die Mittelwahl, also das Handlungselement vier, die im Falle einer pflichtmäßigen Bestimmung des Handlungswillens nicht beliebig sein kann. Ein möglicher Widerspruch im Wollen, der eine unvollkommene Pflicht erzeugt, welche die Auswahl der Mittel zur Berücksichtigung der Neigungen offen lässt, richtet sich dagegen nur auf die Fassung des Handlungsziels, also das Handlungselement drei. Damit ist auch die ZweiÂ�stufigkeit des Verallgemeinerungstests erklärt. Zunächst muss man bei der Prüfung des allgemeinen „guten Willens“ als Steuerungskern einer Handlung auf einer ersten Stufe fragen, ob nicht schon der Handlungswille (Element fünf ) als Konkretisierung der Mittelwahl (Element vier) in seiner durch die Maxime typisierten Form gedanklich widersprüchlich ist, so dass eine vollkommene Pflicht gerechtfertigt wäre. Ist dies nicht der Fall, dann ist auf einer zweiten Stufe zu prüfen, ob nicht wenigstens das hinter dem Handlungswillen und der Mittelwahl stehende Handlungsziel (Element drei) in seiner durch die Maxime typisierten Form, also das verallgemeinerte Handlungsziel, zu einem Widerspruch im Wollen und damit zu einer unvollkommenen Pflicht führt. Der Handlungswille, also das Handlungselement fünf, wäre in Kants Beispielen etwa der Wille des A in der typisierten Situation S, sich selbst zu töten oder ein falsches Versprechen abzugeben, Dieser Wille wird auf seinen Widerspruch im Denken überprüft. Hinter all diesen relativ konkreten Handlungswillen steht aber auch ein Handlungsziel, weil jedes Handeln ein Ziel hat.34 Dieses Ziel ist aber als typisiertes Ziel nur für den möglichen Widerspruch im Wollen, nicht für den möglichen Widerspruch im Denken entscheidend. Kant nennt als Beispiele, seine Talente brachliegen zu lassen und einem anderen in Not nicht zu helfen. Auf der ersten Stufe des Verallgemeinerungstests werden also der Handlungswille und die Mittelwahl als Elemente fünf und vier auf ihren Widerspruch im Denken überprüft, also etwa die Absicht sich selbst zu töten oder ein falsches Versprechen abzugeben. Auf der zweiten Stufe des Verallgemeinerungstests, beim Widerspruch im Wollen, wird dann das hinter dem Handlungswillen stehende ty34
Bereits Aristoteles hat das bekanntlich konstatiert, vgl. Nikomachische Ethik, I 1, und Kant wiederholt es: Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S.€ 385.€ – Christine M. Korsgaard, Kant’s Analysis of Obligation. The Argument of Groundwork I, in: dies., Creating the Kingdom of Ends, Cambridge 1996, S.€43–76, S.€57â•›f., schließt allerdings fälschlich aus der zutreffenden Tatsache, dass ein Handeln ohne Ziel nicht möglich ist, dass das jeweilige Handlungsziel nicht nur immer als solches in die Maximen eingeht, sondern auch immer dem Verallgemeinerungstest unterfällt. Im Übrigen können Handlungsziel und Handlungswille in einigen speziellen Situationen vermutlich auch zusammenfallen, etwa wenn jemand einen Spaziergang macht, ohne damit weitere Ziele€– etwa der Entspannung, Naturerfahrung oder Gesunderhaltung€– zu verbinden, oder wenn jemand tief einatmet, ohne weitere Ziele damit zu verfolgen.
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips
179
pisierte Handlungsziel dem Verallgemeinerungstest unterworfen, also etwa das typisierte Handlungsziel, seine Talente brachliegen zu lassen oder einem anderen in Not nicht zu helfen, ganz gleich welche Mittel zur Erreichung dieses Ziels eingesetzt werden. Wie sieht nun die Maximenbildung als Voraussetzung der Verallgemeinerung genauer aus? Bei der Maximenbildung treten an die Stelle der konkreten Handlung h und der konkreten Situation s der verallgemeinerte Handlungstyp H und der verallgemeinerte Situationstyp S.€Damit wird aber auch der konkrete Handlungswille hw, in der Situation s die Handlung h auszuführen, zum generellen Handlungswillen HW, in der Situation S die Handlung H auszuführen. Die konkrete Mittelwahl mw wird zur generellen Mittelwahl MW. Schließlich wird€– nimmt man an, dass alles Handeln zielgerichtet ist€– auch das konkrete Handlungsziel hz notwendig zum generellen Handlungsziel HZ.35 Dies impliziert, wie sich aus dem soeben Gesagten ergibt, aber nicht, dass der Verallgemeinerungstest immer auch das Handlungsziel HZ umfasst. Maximen haben nach Kant selbst „noch Regeln unter sich“,36 sind also keine bloßen einfachen Vorsätze oder Regeln, sondern letzte, allgemeinste Bestimmungsgründe bzw. eine allgemeine Willensrichtung unseres Handelns und Lebens.37 Lässt man die Fälle von Pflichten gegen sich selbst außer Betracht, so führt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zwei Beispiele für eine moralische Konfliktlösung mit Hilfe eines Verallgemeinerungstests der Maximen durch den Kategorischen Imperativ an:
c) Das Beispiel des lügenhaften Versprechens Beim ersten Beispiel eines Widerspruchs im Denken, der zu einer vollkommenen Pflicht gegenüber Anderen führen soll, sieht sich jemand „durch Noth gedrungen“, Geld mit der Versicherung zu borgen, es zurückzuzahlen, obwohl er weiß, dass er es nicht zurückzahlen kann und deshalb auch nicht zurückzahlen wird. Er gibt also ein lügenhaftes Versprechen ab. Nach Kant wäre die Maxime eines entsprechenden Handlungswillens und folglich einer entsprechenden Handlung nicht verallgemeinerbar, „denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, dass jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, dass ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung als eitles Vorgehen lachen würde“.38
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Maximen enthalten zwar notwendig Ziele bzw. Intentionen, vgl. Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€283â•›f., sind aber keine bloßen Intentionen, wie Singer, S.€287, anzunehmen scheint. Sie sind auch keine bloßen „obersten Zwecksetzungen“, wie Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S.€333, formuliert. Für eine umfassendere Auffassung: Onora O’Neill, Consistency in Action, S.€106â•›f. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S.€19. Otfried Höffe, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, S.€359–362. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S.€423.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Die einzelnen Schritte des Verallgemeinerungstests lassen sich folgendermaßen präzisieren: (1) Willeâ•›/â•›Handlung des lügenhaften Versprechens: A fasst den konkreten Handlungswillen hw (Element fünf ), sich in der konkreten Situation s der Geldnot als Mittel (mw) Geld zu leihen (h, Element sechs), um sich aus dieser Notsituation zu befreien (hz, Element drei), wohl wissend, dass er es nicht zurückzahlen kann. (2) Maxime des lügenhaften Versprechens: A fasst den generellen Handlungswillen HW, sich in typisierten Situationen S der Geldnot als generelles Mittel (MW) Geld zu leihen (H), um sich aus solchen Notsituationen zu befreien (HZ), wohl wissend, dass er es nicht zurückzahlen kann. (3) Hypothetische Verallgemeinerung der Maxime des lügenhaften Versprechens: Jeder fasst den generellen Handlungswillen HW, sich in typisierten Situationen S der Geldnot als Mittel (MW) Geld zu leihen (H), um sich aus solchen Notsituationen zu befreien (HZ), wohl wissend, dass er es nicht zurückzahlen kann. Das allgemeine Vertrauen auf die Ernsthaftigkeit von Versprechen, geliehenes Geld zurückzuzahlen, ist eine tatsächlich bestehende gesellschaftliche Institution. Der Verstoß gegen diese tatsächlich bestehende gesellschaftliche Institution ist dem A weder logisch noch faktisch unmöglich. Jeder Einzelne kann logisch widerspruchsfrei ein derartiges lügenhaftes Versprechen abgeben. Aber das ist nicht entscheidend, weil der Nichtwiderspruch ja nicht in der einzelnen Handlung (1), sondern zwischen der Maxime dieser Handlung (2) und ihrer hypothetischen Verallgemeinerung (3) liegen soll. Im Übrigen ist es auch nicht entscheidend, dass die gesellschaftliche Institution des Vertrauens auf die Ernsthaftigkeit eines Versprechens, geliehenes Geld zurückzuzahlen, durch massenhafte lügenhafte Versprechen erodieren und rein faktisch widerspruchsfrei verschwinden kann.39 Für die Frage der Verallgemeinerungsfähigkeit der Handlung des A ist die Notwendigkeit der im möglichen Widerspruch stehenden gesellschaftlichen Institution irrelevant. Es genügt ihr tatsächliches Bestehen. Die zentrale Frage lautet also, ob die Maxime (2) zur hypothetischen Verallgemeinerung (3) im Widerspruch steht. Nimmt man an, dass die allgemeine Praktik des lügenhaften Versprechens die gesellschaftliche Institution des Vertrauens auf die Ernsthaftigkeit des Versprechens, geliehenes Geld zurückzuzahlen, ausschließen würde,40 so bestünde zwischen Maxime (2) und Verallgemeinerung (3) tatsächlich ein gedanklicher 39 40
Dieser Einwand findet sich bei Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€149. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€147, scheint anzunehmen, dass allgemeines lügenhaftes Versprechen in Notsituationen die gesellschaftliche Institution des Vertrauens auf die Ernsthaftigkeit nicht zerstört. Aber man muss annehmen, dass der Geldgeber die konkrete Situation kennt, also weiß, dass sich der Versprechende in einer Notsituation befindet. Das Vertrauen auf Versprechen in Notsituationen wird dann unweigerlich zerstört. Es ist also für den Verallgemeinerungstest gleichgültig, wie eng oder weit der Situationstyp gefasst wird.
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips
181
Widerspruch.41 Es ist gedanklich unmöglich, dass alle im Falle der Geldnot selbst lügenhafte Versprechen abgeben sowie dies auch von sich und allen anderen wissen und gleichzeitig auf die Ernsthaftigkeit der Versprechen Anderer vertrauen.42 Derartige Versprechen können dann nicht mehr als Versprechen abgegeben werden, denn sie haben keine Aussicht, beim Anderen Vertrauen als notwendige Bedingung für die Bereitschaft, Geld zu verleihen, zu erzeugen. Das bedeutet also, dass die Maxime gedanklich nicht verallgemeinerbar ist.43 Dabei kommt es für den Widerspruch im Denken nicht darauf an, mit welchem Handlungsziel HW (Element drei) A das lügenhafte Versprechen abgegeben hat. Kant erwähnt dieses Handlungsziel zwar zum Zweck der Situationsbeschreibung, nämlich um sich „aus Not zu helfen“.44 Aber entscheidend für den Widerspruch in der Verallgemeinerung ist hier nicht das abstraktere Handlungsziel (Element drei), sondern der typisierte Handlungswille (Element fünf ) und die typisierte Mittelwahl (Element vier) bzw. die durch beide gesteuerte typisierte Handlung (Element sechs). Das Handlungsziel bzw. der Zielwille, also das Element drei, könnten auch ganz andere sein, etwa sich ein schönes Leben zu machen oder andere zu unterstützen. Das würde zwar den Situationstyp ändern, wäre aber für den Widerspruch des verallgemeinerten Handlungswillens des lügenhaften Versprechens im Denken nicht entscheidend.45 41
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Der gedankliche Widerspruch ist kein formallogischer, aber auch kein bloß empirischer. Die Möglichkeit eines derartigen gedanklichen Widerspruchs bleibt bei Korsgaards Unterscheidung zwischen einem logischen, einem teleologischen und einem praktischen Widerspruch unberücksichtigt. Vgl. Christine M. Korsgaard, Kant’s Formula of Universal Law, in: dies., Creating the Kingdom of Ends, S.€77–105, S.€78â•›ff. Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, S.€458â•›ff., geht dagegen von der Suche nach einem logischen Widerspruch aus, nennt aber dann auch einen pragmatischen Widerspruch. Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S.€339, unterscheidet einen logischen und einen transzendentalpragmatischen Widerspruch und bejaht nur letzteren. Einen Widerspruch bejahen auch Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€ 295–299, Günther Patzig, Der Kategorische Imperativ in der Ethik-Diskussion der Gegenwart, S.€156, Otfried Höffe, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, S.€376–378, William K. Frankena, Ethics, S.€31, und Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, S.€465, während Richard B. Brandt, Ethical Theory, S.€32, und Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€149â•›ff., zwar den Widerspruch im Denken ablehnen, den Widerspruch im Wollen aber akzeptieren, der allerdings lediglich zu einer unvollkommenen Pflicht führt. Auch Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S.€347, bejaht nur einen transzendentalpragmatischen Widerspruch im Wollen, der überdies kein Kriterium der Moralität ist. Joachim Aul, Aspekte des Universalisierungspostulats in Kants Ethik, Neue Hefte für Philosophie 22 (1983), S.€ 62–94, S.€ 73, hält dies mit folgendem Argument nur in der empirischen, nicht in jeder möglichen Welt für zutreffend: In einer Welt, deren Bewohner immer wieder vergessen, dass bisher alle ihre Versprechen lügenhaft gewesen sind, würde man Versprechen allgemein Glauben schenken. Aber das allgemeine Glaubenschenken setzt ja die Annahme voraus, dass man sich an die Abgabe der Versprechen erinnern kann. Wie die Bewohner dann immer wieder vergessen sollen, dass die Versprechen lügenhaft waren, ist nicht einsehbar. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€422. Allerdings sieht Kant beim ersten Beispiel einer vollkommenen Pflicht gegen sich selbst, dem Verbot des Suizids aus Selbstliebe, den Widerspruch nicht im Willen zur Tötungshandlung als solcher, sondern in der Selbstwidersprüchlichkeit einer Selbstliebe, die gleichzeitig das Leben befördert und zerstört (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€422). Hier wird die Selbstliebe aber nicht als Handlungsziel bzw. Zielwille relevant, sondern als Faktum der natürlichen Selbsterhaltung, das zum typisierten
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Beim Widerspruch des verallgemeinerten lügenhaften Versprechens kommt es nach Kant auch nicht darauf an, ob wir die soziale Institution des Vertrauens auf die Ernsthaftigkeit von Versprechen, geliehenes Geld zurückzuzahlen, für gut oder schlecht halten, denn sie wird bei der in Rede stehenden Handlung des falschen Versprechens einfach vorausgesetzt. Aber kann das überzeugen? Es ist eingewandt worden, dass der Kategorische Imperativ nicht nur die Erhaltung von wünschenswerten, sondern auch von nicht wünschenswerten Institutionen unterstützt, denn der Wert der Institution ist für den hypothetischen Widerspruch zwischen der Maxime und ihrer Verallgemeinerung irrelevant.46 Daran ist zutreffend, dass der Verallgemeinerungstest die RechtÂ�fertigung der sozialen Institution selbst nicht begründen kann. Insofern ist er nicht in der Lage, eine vollständige Antwort auf die Frage nach der Moralität einer Handlung zu geben. Er sichert zwar die prinzipielle Gleichberücksichtigung aller, setzt aber die Belange, welche die Handlung des Akteurs rechtfertigen, und die Belange, welche die soziale Institution legitimieren, voraus. Beim Verallgemeinerungskriterium des Widerspruchs im Denken liegt ein weiteres Problem in der Nichtberücksichtigung der jeweiligen Ziele jenseits der Situationsbeschreibung. Ihr genuiner moralischer Wert ist damit ohne Bedeutung. So mag man sich fragen, ob das lügenhafte Versprechen oder die Lüge generell nicht vielleicht doch in extremen Notsituationen der Lebensrettung erlaubt sein müssten, wie es ja bereits der Begriff der „Notlüge“ nahelegt. Kant selbst war sicher nicht dieser Auffassung, wie seine strikte Ablehnung der Lüge zur Verhinderung eines Mordes bzw. Totschlags in seinem Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen zeigt. Aber die Verallgemeinerung der Maxime, in Situationen der Irreführung eines Mörders aus Notwehr zu lügen, würde allenfalls ein mögliches Vertrauen von Mördern und anderen Straftätern, keine Notwehr erwarten zu müssen, untergraben. Ob auf diese Weise die Kollision zweier grundsätzlicher moralischer Pflichten, der Pflicht, die Wahrheit zu sagen, und der Pflicht, nicht zur Tötung Unschuldiger beizutragen, in einem Konflikt angemessen gelöst wird, erscheint außerordentlich zweifelhaft. Wie sich in Kapitel€III ergab, ist der vollständige Verzicht auf die Berücksichtigung der voraussehbaren Folgen einer Handlung auch auf der abstrakten Ebene der Bestimmung allgemeiner Prinzipien der Moral ebenso wenig zu rechtfertigen wie die Beschränkung auf die Berücksichtigung dieser Folgen oder deren Primärsetzung durch den Konsequentialismus. Das bedeutet in Kants Beispiel: Das Verallgemeinerungskriterium des Widerspruchs im Denken enthält als Anerkennung der hypothetischen Möglichkeit eines gleichen Handelns aller ein wichtiges Element ethischer Beurteilung und konkretisiert damit das Allprinzip des normativen Individualismus in begründeter Weise. Aber es ist nicht in der Lage, allein die vollständige ethische Rechtfertigung einer Handlung zu garantieren, weil es zum einen die beim möglichen Widerspruch vorausgesetzten sozialen Institu-
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Willen des Suizids in Widerspruch treten soll. Da eine soziale Tatsache hier nicht zur Verfügung steht, muss Kant ein natürliches Faktum im Akteur finden, um einen€– kaum überzeugenden€– Widerspruch annehmen zu können. Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, S.€468; Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€151.
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips
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tionen nicht ihrerseits adäquat bewerten und zum anderen Pflichtenkollisionen nicht immer umfassend und deshalb allgemein lösen kann.
d) Das Beispiel der unterlassenen Hilfe Beim zweiten Beispiel eines Widerspruchs im Wollen und damit einer unvollkommenen Pflicht gegenüber Anderen weigert sich ein Akteur, zum Wohlbefinden eines Anderen oder zu dessen Hilfe in Not beizutragen, obwohl er dies ohne Schwierigkeiten tun könnte, ihm also eine Hilfeleistung zumutbar wäre. Die Erwägung hinter dem Unterlassen der Hilfe lautet: „Mag doch ein jeder so glücklich sein, als es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, …“47 Die entsprechende Maxime, die Hilfeleistung zu unterlassen, würde nach Kant zwar nicht zu einem Widerspruch im Denken, aber zu einem Widerspruch im Wollen führen und wäre deshalb nicht verallgemeinerbar. Kant begründet dies folgendermaßen: „Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche ereignen können, wo er anderer Liebe und Teilnehmung bedarf, und wo er durch ein solches aus seinem eigenen Willen entsprungenes Naturgesetz, sich selbst alle Hoffnung des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde.“48 Man kann die einzelnen Schritte dieses Verallgemeinerungstests folgendermaßen präzisieren: (1) Willeâ•›/â•›Handlung der unterlassenen Hilfe: A fasst den konkreten Handlungswillen hw (Element fünf ), einem Anderen in der konkreten Situation s seiner Not nicht zu helfen (mw, h), obwohl er ohne Weiteres helfen könnte, damit jeder so glücklich ist „als es der Himmel will oder er sich selbst machen kann“ (hz) (Element drei). (2) Maxime der unterlassenen Hilfe: A fasst den generellen Handlungswillen HW, einem Anderen in der typisierten Situation S seiner Not stets nicht zu helfen (MW, H), obwohl er ohne weiteres helfen könnte, damit jeder so glücklich ist „als es der Himmel will oder er sich selbst machen kann“ (HZ). (3) Hypothetische Verallgemeinerung der Maxime der unterlassenen Hilfe: Jeder fasst den generellen Handlungswillen HW, einem Anderen in der typisierten Situation S seiner Not nicht zu helfen (MW, H), obwohl er ohne weiteres helfen könnte, damit jeder so glücklich ist „als es der Himmel will oder er sich selbst machen kann“ (HZ). Anders als beim ersten Beispiel gibt es hier keine soziale Institution, zu der das verallgemeinerte Handeln, also die Maxime bzw. der verallgemeinerte Handlungswille aller in 47 48
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€423. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€423.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Widerspruch treten könnte. Fraglich ist deshalb kein Widerspruch zum Handlungswillen bzw. der Mittelwahl, also zu den Handlungselementen fünf und vier, sondern nur ein Widerspruch, der das Handlungsziel, also das Handlungselement drei betrifft. Das Handlungsziel umfaßt nun aber, dass jeder so glücklich sein soll „als es der Himmel will oder er sich selbst machen kann“.49 Fraglich ist also, ob die verallgemeinerte Maxime dieses Handlungsziels in sich widersprüchlich ist. Dafür wurde ins Feld geführt, dass jemand, der den Willen hat, in der Not ohne Hilfe zu sein, nicht seine eigene Glückseligkeit zum Zweck haben kann und also sein eigenes Unglück will, was unmöglich ist.50 Dies sei eine analytisch-apriorische Wahrheit. Allerdings wird damit zum einen schon wie von Kant die Verfolgung der eigenen Glückseligkeit als notwendiger Wille und damit als naturteleologische Tatsache vorausgesetzt. Zum anderen setzt die Verfolgung der eigenen Glückseligkeit nicht analytisch-apriorisch notwendig die Inanspruchnahme fremder Hilfe voraus. Im Begriff der Glückseligkeit ist die Inanspruchnahme fremder Hilfe nicht bereits begrifflich enthalten, denn man kann folgende Überlegung anstellen: Wer in schwierigen Situationen von vornherein auf die Hilfe Anderer setzt, wird sein Leben sicherlich mit geringerer Aufmerksamkeit auf Risiken führen und verzichtet überdies auf die Kultivierung eigener Fähigkeiten, was ein unglücklicheres Leben nach sich zöge. Insgesamt wären also alle vielleicht glücklicher, wenn auf eine generelle Hilfeleistung in Not verzichtet würde. Das mag angesichts der conditio humana eine wenig realistische Erwägung sein, aber sie ist durch den Glücksbegriff nicht apriorisch-analytisch ausgeschlossen. Weiterhin wurde für Kants Lösung folgendermaßen argumentiert:51 Im Unterschied zum BeÂ�griff des Wünschens rechne es Kant analytisch zum Begriff des Willens, sich nicht bloß Ziele zu setzen, sondern diese Ziele auch mit den erforderlichen und dem Wollenden zu Gebote stehenden Mitteln zu verfolgen. Es gehöre aber zum Begriff der Notlage, dass man gewisse lebenswichtige Ziele wolle und sie gleichwohl nicht aus eigener Kraft realisieren könne. Dann könne es eine Person aber nicht als Naturgesetz wollen, einerseits lebenswichtige Ziele zu wollen und den einzigen Weg der Realisierung in der Hilfe anderer zu sehen, diesen Weg der Realisierung seiner Ziele aber nicht zu wollen. Es dürfte nicht zweifelhaft sein, dass jemand, der im Einzelfall lebenswichtige Ziele will und diese nur mit Hilfe Anderer realisieren kann, allen Grund hat, deren Hilfe zu wollen. Problematisch ist hier aber die Bewertung der Verallgemeinerung. Die Verknüpfung von Zielen und Mitteln ist in einer empirisch-kontingenten Welt immer auch empirisch-kontingent und deshalb subjektiven Einschätzungen und Wertungen unterworfen. Es kann deshalb gute Gründe geben, ein Mittel nicht zu wollen, welches als einziges 49
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Verschiedentlich wird dieses Ziel anders bestimmt. So meint Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€308, allerdings ohne textliche Grundlage, die Gründe, sich so zu entscheiden, seien „ganz klar die, dass er die Unbequemlichkeiten und Opfer vermeiden will, die die Hilfe für andere mit sich bringen würde“. Julius Ebbinghaus, Deutung und Mißdeutung des Kategorischen Imperativs, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, S.€80–96, S.€94. Otfried Höffe, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, S.€382â•›ff. Vgl. zu einer ähnlichen Argumentation: Onora O’Neill, Consistency in Action, S.€123.
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips
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Mittel das gewollte Ziel realisieren könnte. Im Beispielsfall mag zwar die fremde Hilfe das einzige denkbare Mittel in einer konkreten Notlage sein. Aber eine hypothetisch verallgemeinernde Überlegung wird berücksichtigen müssen, dass die generelle Akzeptanz der Hilfe Anderer zur sinkenden Aufmerksamkeit auf Risiken und zur Abnahme der Kultivierung eigener Kräfte führen wird. Ob die allgemeine Inanspruchnahme der Hilfe Anderer unseren Zielen generell besser entspricht oder nicht, ist eine kontingente Frage der Einschätzung und Bewertung. Im Übrigen kann die Prüfung der typisierten Mittelwahl nach dem oben Gesagten allenfalls zu einem Widerspruch im Denken führen, nicht aber zu einem Widerspruch im Wollen, wie er von Kant für diese Beispiel angenommen wird. Mit der Verweigerung der Hilfeleistung setzt sich der Akteur anders als beim falschen Versprechen nicht zu einer selbst in Anspruch genommenen sozialen Praxis in Widerspruch, denn er nimmt damit selbst keine Hilfe in Anspruch. Er kann also ohne Weiteres die Hilfe verweigern und für sich selbst auf Hilfe verzichten. Das wäre sicher sehr unklug. Aber ein prinzipieller Widerspruch wie beim falschen Versprechen liegt darin nicht.52 Ein Widerspruch entstünde allenfalls, sofern man einen von zwei möglichen zusätzlichen Faktoren ins Spiel brächte: Der eine mögliche zusätzliche Faktor wäre die Annahme einer teleologischen Natur des Akteurs, die ihn zur Erhaltung seines Lebens mit allen denkbaren geeigneten und notwendigen Mitteln verpflichtete.53 Da die Inanspruchnahme der Hilfe Anderer wohl ein solches Mittel wäre, würde die Verweigerung der Hilfeleistung für Andere bei grundsätzlicher notwendiger Bereitschaft, selbst Hilfe anzunehmen, einen Widerspruch darstellen. Dieser Widerspruch kann aber nur auf der Grundlage der stark metaphysischen Annahme einer derartigen teleologischen Natur des Menschen zu Stande kommen. Da derartige Annahmen in einer säkular-immanenten Ethik jedoch nicht vorausgesetzt werden können, darf man diesen Faktor in einer derartigen Ethik nicht zur allgemeinverbindlichen Rechtfertigung eines Widerspruchs heranziehen. Der andere mögliche zusätzliche Faktor wäre, die Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen des Akteurs ins Feld zu führen, kurz, seine Belange, die ihn dazu bestimmen, fremde Hilfe zu akzeptieren. Und diese Bestimmung besteht tatsächlich: Die Belange der Menschen sind vielfach auf die eigene Erhaltung und das eigene Lebensglück gerichtet. Sie beziehen sich dann aber auch auf mögliche Mittel zur Realisierung dieser Ziele, also auf das wohl nötige Mittel, die Hilfe Anderer anzunehmen. Aber das Ziel der Selbsterhaltung ist, sofern man es nicht mit der ersten Alternative teleologisch fasst, 52
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Einen Widerspruch verneinen bei diesem Beispiel auch Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, S.€389â•›f.; William K. Frankena, Ethics, S.€33, und Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€153â•›f., bejaht wird er außer von Ebbinghaus und Höffe etwa von Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€ 307–316, Barbara Herman, Mutual Aid and Respect for Persons, in: Paul Guyer (Hg.), Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. Critical Essays, S.€133–164, und Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S.€353â•›ff., allerdings von letzterem nur als transzendentalpragmatischer Widerspruch, der lediglich die fehlende Zweckrationalität, nicht das moralische Verbot erweisen soll. Für eine teleologische Interpretation vgl.â•›H.â•›J. Paton, The Categorical Imperative. A Study in Kant’s Moral Philosophy, 3.€Aufl. London 1958, S.€108â•›ff., 149â•›ff., 261â•›ff., Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S.€336, 355â•›ff.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
bloß ein empirisch-kontingentes. Jeder einzelne Mensch kann sich ohne Weiteres dagegen entscheiden. Der Selbstmörder tut dies per definitionem. Ist dies möglich, so kann er sich aber auch für das Prinzip entscheiden, dass generell keine Hilfe geleistet werden soll. Die eigenen Belange können dieses Prinzip nicht allgemein widersprüchlich machen, sondern führen in einen wenig überzeugenden Relativismus, je nachdem, ob der Einzelne selbst Hilfe wünscht oder nicht.54 Man hat bei diesem Beispiel also nur zwei gleichermaßen unbefriedigende Optionen: starke metaphysische Annahmen oder ein Überschreiten der kantschen Grundvoraussetzungen unter Hinzuziehung empirisch-kontingenter Belange, was aber auch nicht zu einem Widerspruch führt. Kant selbst wählt selbstredend die erste Option. Aber diese Wahl stößt vor dem Hintergrund einer säkular-immanenten normativ-individualistiÂ� schen Ethik auf Bedenken. Die Folge ist, dass das zweite Beispiel als Konkretisierung des Prinzips der Verallgemeinerung nicht überzeugen kann. Es gibt also offenbar Normen wie das Gebot zur Hilfeleistung, die wir allgemein als ethisch gerechtfertigt ansehen, die sich aber nicht mit Hilfe des Verallgemeinerungskriteriums in der kantschen Version begründen lassen.
e) Ist der Verallgemeinerungstest bei vollkommenen Pflichten begründet? Man könnte allerdings vermuten, die Zweifelhaftigkeit des Verallgemeinerungskriteriums entstehe nur für Fälle einer positiven Hilfspflicht. Fraglich ist also, ob das Verallgemeinerungskriterium wie beim Beispiel des lügnerischen Versprechens wenigstens für alle Fälle unzweifelhafter Handlungsverbote bzw. für alle vollkommenen Pflichten zu einer begründeten Abwägung führt. Das allgemeine Tötungsverbot müsste etwa als grundlegendes moralisches Verbot durch einen solchen Widerspruch begründbar sein. Man nehme folgendes Beispiel: Der A überlegt, ob er den B aus Rache für eine Ehrverletzung töten darf. Wille, Maxime und Verallgemeinerung lassen sich dann folgendermaßen präzisieren: (1) Willeâ•›/â•›Handlung der Tötung: A fasst den konkreten Handlungswillen hw, den B in der konkreten Situation s zu töten (mw, h), um sich für eine Ehrverletzung des B zu rächen (hz). (2) Maxime der Tötung: A fasst den generellen Handlungswillen HW, einen anderen X in der typisierten Situation S zu töten (MW, H), um sich für dessen Ehrverletzung zu rächen (HZ). (3) Hypothetische Verallgemeinerung der Maxime der Tötung: Jeder fasst den generellen Handlungswillen HW, einen anderen X in der typisierten Situation S zu töten (MW, H), um sich für dessen Ehrverletzung zu rächen (HZ). 54
Vgl. Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, S.€472╛f.
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips
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Die Verallgemeinerung (3) wäre sicher dann widersprüchlich, wenn alle getötet würden, denn dann würde auch A getötet und könnte selbst niemanden töten. Aber die hypothetische Verallgemeinerung führt nur dazu, dass jeder in seiner Ehre Verletzte den Ehrverletzer aus Rache tötet. Dies ist aber widerspruchsfrei annehmbar, weil man nicht voraussetzen kann, dass alle in der Ehre Verletzte auch Ehrverletzer sind. Ein Widerspruch im Denken entsteht also nicht.55 Um hinsichtlich der Tötungsmaxime wenigstens einen Widerspruch im Wollen anzunehmen, ist angeführt worden, dass man als rationaler Akteur alles wolle, was notwendig ist, um ein rational Handelnder zu sein. Deshalb wolle man am Leben bleiben. Man könne also nicht widerspruchsfrei zum Willen, am Leben zu bleiben, die verallgemeinerte Maxime wollen, aus Rache zu töten.56 Aber davon einmal abgesehen, dass ein bloßer Widerspruch im Wollen nur zu einer unvollkommenen Pflicht führt, die unseren Annahmen hinsichtÂ�lich der ethischen Bewertung des Tötungsverbots kaum entspräche, kann diese Überlegung aus folgendem Grund nicht überzeugen: Entscheidend ist hier die Bedingung der Ehrverletzung in der Maxime und ihre hypothetische Verallgemeinerung. Nur der andere, der per definitionem Ehrverletzer ist, wird also hypothetisch getötet. Das ist aber ohne Weiteres mit dem Willen jedes rationalen Agenten vereinbar, am Leben zu bleiben, denn er ist ja nicht notwendig oder auch nur wahrscheinlich gezwungen, selbst ein Ehrverletzer zu sein. Auch ein Widerspruch im Wollen ist also nicht ersichtlich. Das Handlungsziel bzw. der Zielwille, Ehrverletzer aus Rache für Ehrverletzungen zu töten, würde zwar zu einer gewalttätigen Gesellschaft führen, ist aber nicht widersprüchlich, sofern man keine teleologischen Zusatzannahmen des notwendigen Strebens nach Selbsterhaltung oder empirisch-kontingenÂ�te Belange einer stärkeren Sicherung gegen Tötungen aus Gründen der Ehrverletzung hinzunimmt. Eine Gesellschaft wechselseitiger privater Tötungen aus Rache für Ehrverletzungen würde zwar grundlegenden Belangen der meisten Mitglieder zuwiderlaufen. Sie ist aber nicht nur im Hinblick auf den Handlungswillen, sondern auch im Hinblick auf das Handlungsziel bzw. den Zielwillen einzelner Tötungen nicht prinzipiell widersprüchlich. Der Verallgemeinerungstest kann also insgesamt das Verbot der Tötung aus Rache für Ehrverletzungen nicht begründen. Onora O’Neill führt verschiedene weitere scheinbar sehr einfache Beispiele der Anwendung des Verallgemeinerungstests an:57 Die Maxime, ein Sklave zu werden, sei nicht verallgemeinerbar, denn wenn jeder ein Sklave würde, so gäbe es niemanden mit Eigentumsrechten, also keine Sklavenhalter, so dass niemand ein Sklave werden könnte. Das gleiche gelte umgekehrt für die Maxime, ein Sklavenhalter zu werden, denn wenn jeder ein Sklavenhalter würde, so gäbe es keine Sklaven, also auch keine Sklavenhalter. Vergleichbares gilt für Maximen des Zwangs, der Täuschung oder der Abhängigmachung der eigenen Urteile von den Urteilen anderer. Wenn alle zwingen, kann niemand ge55 56 57
Selbst Kantianer bzw. Kantianerinnen gestehen dies zu, etwa Marcia W. Baron, Kantian Ethics, S.€73â•›ff.; Christine M. Korsgaard, Kant’s Formula of Universal Law, S.€100. Marcia W. Baron, Kantian Ethics, S.€73â•›ff. Onora O’Neill, Consistency in Action, S.€119â•›ff. Als weiteres Beispiel dieser Art findet sich bei Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€305, das Beispiel eines Vergewaltigten bzw. Vergewaltigers.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
zwungen werden. Wenn alle täuschen, kann niemand getäuscht werden. Und wenn alle ihre Urteile von den Urteilen anderer abhängig machen, dann kann niemand dies tun, weil es dann keine unabhängigen Urteile mehr gibt, von denen er sein Urteil abhängig machen könnte. In all diesen Fällen scheitert die Verallgemeinerung an der Tatsache, dass jeweils asymmetrisch relationale Handlungen vorliegen, die zwei Personen mit unterschiedlichem Status als Relationsglieder voraussetzen. Wenn der Status einer Person, das heißt eines Relationsglieds wie dem Sklaven oder dem Sklavenhalter, universalisiert wird, so schließt das aus, dass noch Personen übrigbleiben, die den Status des anderen Relationsglieds einnehmen können. Die Folge ist, dass die Relation als solche unmöglich wird und damit auch die Verallgemeinerung der Handlung der einzelnen Relationsglieder. Aber es stellt sich die Frage, ob damit dann auch die ethisch bzw. moralisch negative Bewertung der jeweiligen Relation bzw. des Tuns der Relationsglieder erwiesen ist. Man nehme folgendes Beispiel: Arzt A will den B mit dessen Einverständnis unter Narkose operieren. Die Maxime würde dann lauten: A operiert einen Anderen mit dessen Einverständnis unter Narkose. Die Verallgemeinerung der Maxime wäre: Alle operieren einen Anderen mit dessen Einverständnis unter Narkose. Unter der Voraussetzung, dass es unmöglich ist, gleichzeitig einen Anderen mit dessen Einverständnis unter Narkose zu operieren und selbst unter Narkose operiert zu werden, wäre diese Verallgemeinerung unmöglich. Die Folge wäre, dass es Ärzten verboten wäre, Andere mit deren Einverständnis unter Narkose zu operieren€– ein Ergebnis, das niemand im Ernst für akzeptabel halten würde. Wie lässt sich dies erklären? Die bloße Asymmetrie von Handlungen, welche die Verallgemeinerung ausschließt, rechtfertigt für sich allein noch keine ethische Bewertung der Handlung. Denn es handelt sich schlichtweg um die ethisch bzw. moralisch vollkommen neutrale Notwendigkeit des Unterschieds zweier Relationsglieder einer asymmetrischen Relation, weil sonst ein Widerspruch zur Voraussetzung der Asymmetrie auftreten würde. Wendet man nun das Asymmetriekriterium so an, dass alle Relationsglieder wie eines der beiden Relationsglieder sein sollen, so ist der Widerspruch zur Voraussetzung der Asymmetrie unvermeidlich. Das Phänomen zeigt sich aber auch bei einer so ethisch vollkommen insignifikanten Relation wie der Relation zwischen einem größeren und einem kleineren Stein. Es ist unter Annahme dieser faktischen Größer-Kleiner-Relation unmöglich, sich alle Steine als größere oder kleinere oder in der Größe identisch mit dem größeren oder kleineren Stein zu denken. Das zeigt aber, dass eine solche Unmöglichkeit der Verallgemeinerung nicht hinreichend ist, um die ethische Negativität einer Handlung zu erweisen. Nötig ist vielmehr zusätzlich der Widerspruch zu einer sozialen Institution oder weitere, außerhalb des Verallgemeinerungstests liegende Gründe. Man kann zusammenfassen: Das Verallgemeinerungsprinzip des Kategorischen Imperativs eignet sich zum Ausschluss einiger spezieller Handlungen, wie dem lügenhaften Versprechen, die bestimmten sozialen Institutionen zuwiderlaufen.58 Es kann aber selbst 58
Eine andere Handlung, die gegen eine soziale Institution verstößt, sie aber gleichzeitig voraussetzt, ist der DiebÂ�stahl von Eigentum. Man kann es nicht als allgemeines Gesetz wollen, dass jeder beliebig steh-
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips
189
bei diesen Handlungen nicht alle Aspekte der moralischen Beurteilung erfassen, weil die sozialen Institutionen und ihre Bewertung ihrerseits vorausgesetzt werden müssen. Das Verallgemeinerungsprinzip des Kategorischen Imperativs kann aber verschiedene sonstige, allgemein akzeptierte moralische Normen wie das Tötungsverbot aus Rache und das allgemeine Hilfsgebot nicht ethisch rechtfertigen, weil insofern eine Verallgemeinerung möglich ist. Umgekehrt bestehen manche ethisch neutrale oder sogar positive Handlungen den Verallgemeinerungstest nicht. Das Verallgemeinerungsprinzip kann also in einzelnen Fällen zu einer ethischen Bewertung führen. Es ist aber als generelles Prinzip der Zusammenfassung weder hinreichend noch notwendig für die ethische Abwägung. Es eignet sich deshalb nicht als einziges Prinzip zur Lösung aller ethischen bzw. moralischen Konflikte.59 Erforderlich sind vielmehr weitere Prinzipien der Abwägung bzw. Zusammenfassung und ein Metaprinzip, das den jeweiligen Einsatz der verschiedenen konkreteren Prinzipien steuert.
f ) Singers Argument der Verallgemeinerung Marcus George Singer hat folgendes „Argument der Verallgemeinerung“60 vorgeschlagen: „Wenn jeder x tun würde und die Folgen wären negativ, so sollte niemand x tun“. Singers Argument der Verallgemeinerung ist also auf die konsequentialistische Bewertung der Folgen eingeschränkt.61 Akzeptiert man die Kritik am Konsequentialismus in Kapitel€III, so ist das Argument der Verallgemeinerung schon allein deshalb als allgemeines Abwägungsprinzip untauglich. Allenfalls in gewissen Fällen der Beschränkung der relevanten Belange auf die Folgen könnte es zum Einsatz kommen. Gilt es wenigstens in diesen Fällen der Beschränkung auf die Folgenbewertung allgemein? Ein Beispiel: Professor A hat lange gearbeitet und überlegt spät abends, zur Abkürzung des Weges von seinem Büro zur S-Bahn die liebevoll gepflegte und deshalb für die allgemeine Betretung gesperrte Rasenfläche der Universität zu überqueren. Unter der Voraussetzung, dass in der Dunkelheit niemand zur Nachahmung angeregt würde, wären die Folgen dieser Handlung positiv, denn A würde einige Minuten sparen und
59
60 61
len kann, denn dann würde es kein Eigentum mehr geben und ein Diebstahl wäre unmöglich. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass der Zweck des Diebstahls beim Widerspruch im Denken bezüglich des Handlungswillens gleichgültig ist. Vgl. zu einer Bejahung der Unmöglichkeit der Verallgemeinerung des Diebstahls: Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€292. Diese Folgerung lässt sich wohl durchaus als allgemeines Ergebnis der Diskussion der kantschen Theorie in den letzten Jahrzehnten ansehen. Man kann feststellen, dass auch nichtkantianische Theoretiker wie Birnbacher und Frankena Kants Beispiel des lügenhaften Versprechens anerkennen, während selbst Kantianer(innen) wie Baron und Korsgaard einräumen, dass der Verallgemeinerungstest bei Tötungshandlungen aus Rache versagt. Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€86. Singer leitet das Argument der Verallgemeinerung aus dem Prinzip des Handlungsutilitarismus („Prinzip der Folgen“) und dem Prinzip der Gleichheit („Prinzip der Universalisierung“) ab: Marcus G. Â�Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€87â•›ff. Vgl. zu einer sehr detaillierten und überzeugenden Kritik: Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, S.€41–108.
190
V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
der Rasen würde nicht dauerhaft bzw. wesentlich geschädigt, sofern ihn nur eine einzige Person betritt. Aus einer handlungsutilitaristischen Warte wäre es dem A also erlaubt, die gesperrte Rasenfläche zu überqueren. Das Argument der Verallgemeinerung führt dagegen zu einem Verbot, über den Rasen zu gehen, da bei ihm nicht die realen Folgen der einzelnen Handlung, sondern die hypothetischen Folgen der allgemeinen Ausführung dieser einzelnen Handlung entscheidend sein sollen. Diese hypothetischen Folgen der allgemeinen Ausführung wären€– so sei angenommen€– negativ: Der Rasen würde durch das Betreten aller Universitätsangehörigen zerstört, was€– so die Voraussetzung des Beispiels€ – in der Gesamtbilanz schlechter ist als der summierte Zeitgewinn für diejenigen, die den Rasen überqueren. Nun gilt aber selbst in derartigen Fällen der Beschränkung auf die Folgenbewertung die konsequentialistische Version des Verallgemeinerungsprinzips nicht allgemein. Manche Handlungen hätten zwar negative Folgen, wenn alle entsprechend handelten. Haben aber gar nicht alle ein Interesse an der Ausführung der Handlung, muss das berücksichtigt werden. Dann ist nicht ersichtlich, warum die Handlung einigen verwehrt bleiben sollte:62 Wären etwa die Gesamtfolgen negativ, wenn alle Golf spielten, etwa wegen des unverhältnismäßigen Flächenverbrauchs und des Ausfalls an Arbeitsleistung, so würde das nicht rechtÂ�fertigen, einigen das Golfspiel zu untersagen, wenn ohnehin nur wenige spielen wollen und durch deren Spiel keine gravierenden negativen Folgen eintreten. Selbst im eingeschränkten Bereich der Folgenbewertung kann das Prinzip also nur unter der Bedingung gelten, dass die negativen Folgen bereits eintreten, wenn alle, die dies können, die Handlung vermutlich auch ausführen wollen (was natürlich manchmal schwer vorhersagbar ist). Oder allgemeiner formuliert: Das Argument der Verallgemeinerung kann nur in denjenigen Fällen der folgenbeschränkten Unfairness überzeugen, in denen so viele eine Handlung ausführen wollen, dass ihr Handeln negative Folgen hätte. Maßt sich dann jemand eine Ausnahmestellung an und hält er sich auf Kosten der Anderen nicht an die Verpflichtung, um sich einen Vorteil zu sichern, so handelt er unfair, das heißt unethisch.63 Das Beispiel des Verbots, den Rasen zu überqueren, zeigt ganz deutlich, in welchen Fällen das Argument der Verallgemeinerung zu einer begründeten Abwägung führt: in den Fällen der Inanspruchnahme allgemeiner Güter, Einrichtungen oder Institutionen, die für eine größere anonyme Gruppe möglich und gewollt ist, und die allgemein praktiziert diese Güter, Einrichtungen oder Institutionen, deren positiver Wert wie beim kantschen Verallgemeinerungskriterium vorausgesetzt werden muss, schädigen oder erschöpfen würde. In diesen speziellen Fällen kommt es nicht auf eine umfassende Abwägung aller Aspekte der je individuellen Belange an. Es kommt also nicht darauf an festzustellen, warum jemand über den Rasen gehen will oder ob es in der individuellen Abwägung sinnvoll ist, den Rasen zu erhalten, statt kürzere Wege zu ermöglichen. Es genügen die negativen Konsequenzen des hypothetisch verallgemeinerten Handelns, die alle vermeiden wollen, um das Handeln als grundsätzlich unfair zu kennzeichnen. 62 63
Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€157â•›ff. Vgl. Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, S.€111–115.
4. Kritik des Maximierungsprinzips
191
Aber selbst wenn die Konsequenzen des hypothetisch verallgemeinerten Handelns negativ sind, so dass das Argument der Verallgemeinerung Anwendung findet und ein allgemeines Verbot rechtfertigt, kann auch dieser Verallgemeinerungstest nur zu einer partiellen ethischen Beurteilung der Handlung führen. Denn zum einen muss die Folgenbewertung immer vervollständigt werden: Wenn etwa am anderen Ende des Rasens jemand zusammengebrochen ist und dringend erste Hilfe zur Rettung seines Lebens benötigt, so wird das Betretungsverbot ohne Zweifel durch das Hilfsgebot gegenüber dem Verletzten relativiert und man darf den Rasen überqueren. Zum anderen lässt sich die ethische Beurteilung einer Situation€– wie sich in Kapitel€III ergab€– prinzipiell nicht auf die Folgenbewertung begrenzen: Hat man etwa dem Universitätspräsidenten hoch und heilig versprochen, zu einer genau angegebenen Uhrzeit bei ihm zu einem außerordentlich wichtigen Termin zu erscheinen und ist das nur durch Überquerung der gesperrten Rasenfläche möglich, so relativiert das die hypothetische Folgenbewertung durch das Argument der Verallgemeinerung.
g) Zusammenfassung Sowohl die Fälle, in denen die kantsche Form des Verallgemeinerungstests der HandÂ� lungsÂ�maxime eine Handlung als unethisch erweist, als auch die Fälle, in denen das Singersche Argument der Verallgemeinerung eine Handlung wegen der negativen Folgenbilanz ethisch verwirft, ähneln sich: Vorausgesetzt sind soziale Institutionen wie das Vertrauen auf Versprechen oder öffentliche Güter bzw. Einrichtungen wie Rasenflächen, bei denen die individuelle Missachtung oder Inanspruchnahme und die kollektive Erhaltung in einen Widerspruch geraten können. Das Prinzip der Verallgemeinerung kann in derartigen speziellen Fällen unter Beachtung der oben genannten Einschränkungen zu einer begründeten Abwägung der betroffenen Interessen führen. Es genügt aber nicht als einziges allgemeines Abwägungsprinzip der Ethik.
4. Kritik des Maximierungsprinzips Das Maximierungsprinzip fordert, dass der entscheidende Wert oder das entscheidende Gut maximiert wird.64 Das Maximierungsprinzip wird außer vom sog. Perfektionismus65 vor allem vom Utilitarismus vertreten.66 Der Utilitarismus verbindet das MaximierungsÂ� prinzip mit dem Konsequentialismus im engeren Sinn, also der Beschränkung der Maximierung auf die Folgen der Handlung einerseits sowie einer bestimmten Werttheorie 64
65 66
Gelegentlich wird statt von Maximierung auch von „Optimierung“ gesprochen. Aber das ist nicht durchgehend der Fall. Walter Pfannkuche, Die Moral der Optimierung des Wohls, S.€191–202, versteht unter „Optimierung“ etwa ein Prinzip, das nicht dem Maximierungs-, sondern dem Rawlsschen Differenzprinzip entspricht. Thomas Hurka, Perfectionism, Oxford 1993. Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, S.€1â•›ff.
192
V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
(Lust, Glück, Wohlergehen usw.) andererseits.67 Diejenige Handlung soll dann ethisch bzw. moralisch geboten sein, deren Folgen die Summe der fraglichen Werte für alle Betroffenen maximiert, also den positiven Wert bzw. Nutzen möglichst erhöht und den negativen Wert bzw. Schaden möglichst verringert. Wie sich im dritten Kapitel€ergab, ist die Beschränkung der Abwägung auf die Folgen der Handlung zu restriktiv und deshalb nicht zu rechtfertigen. Dies gilt auch dann, wenn man€– wie viele Utilitaristen€– nicht die tatsächlich realisierten, sondern nur die bezweckten Folgen für entscheidend hält, denn außer den bezweckten Folgen können auch die hinter der Zweckwahl stehenden Bedingungen, die Tugenden, die Wünsche, die Absichten, die Mittelwahl und die Handlungsausführung für die in einer moralischen Konfliktsituation Stehenden Bezugspunkt ihrer Belange und damit ethisch relevant sein. Aber da das Maximierungsprinzip nicht begrifflich-analytisch mit der Beschränkung auf die Folgen, das heißt dem Konsequentialismus im engeren Sinn verknüpft ist, sondern auch als Teil einer perfektionistischen oder auf alle Handlungselemente bezogenen Ethik auftreten kann, muss seine Berechtigung als allgemeines Prinzip der Abwägung der Belange unabhängig von den in Kapitel€III erhobenen Einwänden gegen den Konsequentialismus im engeren Sinn geprüft werden. Für die Moral und ihre Ethik kann dabei allerdings nur ein kollektiver Perfektionismus relevant sein, da es der Moral ja€– sofern man die in Kapitel€VIII noch zu kritisierenden Pflichten gegen sich selbst außer Betracht lässt€– ausschließlich um die Lösung intersubjektiver Konflikte geht. Also stellt sich die Frage, ob in allen Fällen der moralischen bzw. ethischen Abwägung der Belange in einem Konflikt deren kollektive Maximierung im Hinblick auf alle ethisch zu berücksichtigenden Individuen zu fordern ist.
a) Widerspruch zum normativen Individualismus Das Maximierungsprinzip nimmt, allgemein angewandt, die von der fraglichen Handlung betroffenen Individuen mit ihren Interessen zwar als Ausgangspunkt, nicht aber als Ziel der Abwägung ernst. Es erlaubt, dass um des größten Gesamtnutzens willen einzelne Individuen im Hinblick auf die je individuelle Befriedigung ihrer Belange stark benachteiligt oder sogar ganz übergangen werden. Es negiert damit die normativ-individualistische Separierung der Individuen, die nur dann hinreichend als Einzelne berücksichtigt werden, wenn sie mehr als nur Faktoren in einer Gesamtrechnung sind.68 Bei Anwendung des Maximierungsprinzips werden die Individuen quasi als bloße einzelne „Gefäße“ des zu maximierenden Gutes angesehen. Diese einzelnen „Gefäße“ können zur Gesamtmaximierung des Inhalts des „Gesamtgefäßes“ quasi beliebig gefüllt oder gelehrt werden. Das Maximierungsprinzip nimmt somit keine Rücksicht auf die interne Verteilung der Güter bzw. die je individuelle Berücksichtigung der Interessen, wenn die 67 68
Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, S.€6, 70. John Rawls, A Theory of Justice, S.€29: „[…] utilitarianism is not individualistic […].“
4. Kritik des Maximierungsprinzips
193
Maximierung nicht von der Verteilung abhängt.69 Als einziges Abwägungskriterium für alle Fälle gerät das Maximierungsprinzip deshalb zum ersten Teil des Grundprinzips des normativen Individualismus in Widerspruch. Die Individuen werden nur im Ausgangspunkt, nicht aber im Ziel einer größtmöglichen individuellen Befriedigung der Belange als letzter Relationspunkt der normativ-ethischen Rechtfertigung beachtet. Die Beispiele, die das illustrieren, in denen das Maximierungsprinzip also zu Ergebnissen führt, welche die Individuen als Individuen mit ihren individuellen Belangen zwar als Ausgangspunkt, nicht aber in hinreichendem Maße als Ziel berücksichtigen, sind zahlreich. Zwei seien hier erwähnt:70 A hat B am Freitag versprochen, am Samstagnachmittag in einem Café mit ihm Schach zu spielen. Am Samstagmorgen bittet C seinen guten Freund A, ihm am Nachmittag beim Umzug zu helfen. A kann B nicht mehr erreichen, um die Schachpartie abzusagen. A würde, so kann man annehmen, durch seine Hilfe beim Umzug des C mehr Gutes tun, nämlich einer Familie Kosten ersparen, als durch sein Schachspiel mit C, das A und B nur etwas Freude bereitet und wenig gewichtige Belange befriedigt. Insbesondere wäre Bs Enttäuschung über As Nichterscheinen durch As Beitrag zum Umzug mehr als aufgewogen. Trotzdem ist A€– so nehmen wir allgemein an€– verpflichtet, seine Verabredung einzuhalten und damit die Interessen des B als Individuum bzw. Versprechensempfänger zu erfüllen, auch wenn dies das Gesamtwohl bzw. die Gesamtfreude nicht maximiert. Versprechen im Interesse anderer Individuen verpflichten unabhängig von einer Maximierung des Gesamtwohls bzw. der Gesamtfreude. Das bedeutet nicht, dass derartige Versprechen und damit die Belange des Versprechensempfängers der Abwägung der Belange in einer Konfliktsituation ganz entzogen wären. B müsste etwa auf die Erfüllung des Versprechens verzichten, wenn ein schwerverletztes Unfallopfer dringend As Hilfe benötigte. Versprechen können also in der Abwägung relativiert, dürfen aber keiner einfachen Maximierung des Gesamtwohls unterworfen werden. Oder man denke an den oben im Kapitel€III, 9 erwähnten Fall 9 einer Organentnahme bei einem fast gesunden Patienten, um fünf andere Patienten zu retten. Selbst wenn man alle externen Effekte unberücksichtigt ließe, also sicherstellen könnte, dass niemand anderes von dieser Handlung erführe und verunsichert würde, bliebe die Maximierung der Folgen durch die „Ausweidung“ des gesunden Patienten grundsätzlich unzulässig. Beim Widerspruch des Maximierungsprinzips zum normativen Individualismus handelt es sich auch nicht nur um eine kognitive Überforderung,71 die durch eine Zweiebenenstrategie, wie sie etwa R.â•›M. Hare mit einer ersten Regel- und einer zweiten Maximierungsebene vorgeschlagen hat,72 vermieden werden könnte. Die kollektive Maximierung der Belange ist vielmehr als einziges Abwägungsprinzip in vielen moralischen 69 70 71 72
William K. Frankena, Ethics, S.€41. Vgl. zu diesem und weiteren Gegenbeispielen: Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, S.€21â•›f. So aber Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€194â•›ff. Richard M. Hare, Moral Thinking. Its Levels, Method and Point.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Konfliktsituationen, in denen kein Grund ersichtlich ist, die Individuen mit ihren je individuellen Belangen der Maximierung unterzuordnen, prinzipiell unethisch. Es gibt etwa Fälle, die€– wie sich noch ergeben wird€– eine grundsätzliche Gleichverteilung verlangen, etwa wenn mehrere in gleicher Weise ein gemeinsames Projekt realisiert haben. Und es gibt Fälle, in denen eine Einschränkung grundlegender Belange bzw. Rechte, wie Leib, Leben, körperliche und psychische Unversehrtheit zum Zweck der Maximierung des Gesamtwohls nicht als gerechtfertigt angesehen werden kann. Warum etwa ein Mensch Leib, Leben oder körperliche und psychische Unversehrtheit hingeben sollte, um mehreren anderen die Verwirklichung individuell weniger wichtiger oder weniger konkretisierter Interessen wie Sicherheit, Komfort oder gar Luxus zu ermöglichen, ist nicht einsehbar.73 Das grundsätzliche Folterverbot ist etwa Ausfluss dieser Einschränkung der kollektiven Maximierung um jeden Preis. Das Maximierungsprinzip erscheint deshalb nur in einem gewissen Bereich ethischer Fragen, und zwar vor allem bei anonymen gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen ohne Verletzung gravierender individueller Höchstbelange, das heißt insbesondere gravierender individueller Rechte und Vertrauenspositionen aus Vereinbarungen oder Versprechen, als einziges oder hauptsächliches Abwägungsprinzip gerechtÂ�fertigt, etwa der Bewerbung einer Stadt um die Olympischen Spiele, der Verbesserung des Schulsystems, des Ausbaus des Straßennetzes, der Finanzplanung der öffentlichen Hand, der Rationalisierung von Verwaltungsabläufen, der vorteilhafteren Gestaltung internationaler Verkehrswege, der für alle günstigeren Bedingungen des globalen Handels usw.
b) Individuelle Überforderung Das Maximierungsprinzip verlangt vom individuellen Akteur bei jeder einzelnen Entscheidung in jeder einzelnen Situation, die Folgen€ – so der Utilitarismus€ – oder die sonst maßgeblichen Werte, Güter oder Belange aller Betroffenen€– so der Perfektionismus€– zu maximieren.74 Diese Pflicht führt dazu, dass sich die Menschen nicht mehr auf eine einfache und vernünftige Führung ihres Lebens konzentrieren können. Sie müssen bei jeder einzelnen Entscheidung das Wohl des gesamten Weltverlaufs berücksichtigen und maximieren. Der einzelne Mensch wird auf diese Weise zum Mittel einer Ideologie der Wertmaximierung der Welt, ohne dass eine ausreichende Begründung für diese extreme Anforderung erkennbar wäre. Der Maximierungsimperativ erlaubt im Übrigen auch keine stabile Verankerung allgemeiner moralischer Prinzipien im Bewusstsein der individuellen Akteure.75 73 74
75
Dies gestehen auch Utilitaristen zu. Vgl. etwa: Bernward Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus, S.€94, 97, der einen „Stachel“ bzw. eine „Schwachstelle“ anerkennt. Paul E. Hurley, Does Consequentialism Make Too Many Demands, or None at All, Ethics 116 (2006), S.€ 680–706, bestreitet dies und behauptet, der Konsequentialismus gebe nur Standards vor, keine Handlungsgründe (S.€686â•›ff.). Aber jede Ethik rechtfertigt per definitionem moralische und sonstige Konfliktlösungen und stellt somit Handlungsgründe bereit. Die Trennung ist künstlich. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€215.
4. Kritik des Maximierungsprinzips
195
Man könnte einwenden: Aber wenn wir handeln, so sind wir doch ethisch bzw. moralisch verpflichtet, gut zu handeln? Und bedeutet „gut“ nicht „möglichst gut“, das heißt „maximierend“? Darauf lässt sich erwidern: Wir sind sicherlich ethisch verpflichtet, in einem moralischen Konflikt in dem Sinne „gut“, das heißt „möglichst gut“ zu handeln, dass wir eine gute, das heißt möglichst gute Abwägung der Belange finden. Aber dieser Forderung nach einer möglichst guten, das heißt besten Lösung des moralischen Konflikts impliziert nicht€– obwohl viele Anhänger des Maximierungsprinzips diesen Übergang mehr oder minder stillschweigend vollziehen€ – die Forderung nach Maximierung eines bestimmten addierbaren Parameters, sei es die Gesamtsumme des Wohls, des Glücks, der Freude, der Folgen usw. Die möglichst gute und damit beste Abwägung der widerstreitenden Belange in einem moralischen Konflikt kann in der Bewahrung von Leib, Leben oder körperlicher Unversehrtheit eines Individuums liegen, auch wenn diese Bewahrung dazu führt, dass mehrere andere Menschen oder Lebewesen ein Quäntchen weniger Wohl empfinden, mit der Konsequenz, dass die Gesamtsumme des Wohls oder der Lust nicht maximiert wird. Dabei soll nicht bestritten werden, dass es moralische Konflikte gibt, in denen ein derartiger Parameter maximiert werden sollte, etwa in den schon erwähnten allgemeinpolitischen Fragen, zum Beispiel im Rahmen der Fernwirkung globaler Infrastrukturentscheidungen ohne direkte Beeinträchtigung individueller Rechte oder Versprechen. Aber es lässt sich nicht zeigen, dass das Maximierungsprinzip für alle ethischen, moralischen und rechtlichen Konflikte als alleiniges Abwägungskriterium gerechtfertigt ist und nicht zu einer Überforderung führt.
c) Missachtung persönlicher Bindungen Das Maximierungsprinzip nimmt keine spezielle, über die Nutzenmaximierung hinausgehende Rücksicht auf persönliche Bindungen, obwohl diese in der Abwägung für uns eine besonders wichtige Rolle spielen. Persönliche Bindungen dürfen nach dem Maximierungsprinzip per definitionem nur insoweit berücksichtigt werden, als sie den zu maximierenden Wert beeinflussen. Sind etwa zwei Kinder verletzt, müsste man nach dem Maximierungsprinzip zunächst demjenigen Kind helfen, dem man mehr Gutes tun kann, selbst wenn der Vorteil nur marginal ist und es sich bei dem anderen Kind um das eigene Kind handelt. Oder angenommen, A eilt zu einem brennenden Flugzeug, in dem sich das eigene Kind und ein weltberühmter Chirurg befinden. Der Chirurg beherrscht als einziger eine bestimmte, für viele lebensrettende Operationstechnik.76 Das Maximierungsprinzip muss zur Rettung des Chirurgen verpflichten, während uns die allgemeine Akzeptanz und mögliche Rechtfertigung der Berücksichtigung persönlicher Bindungen die Rettung des eigenen Kindes zumindest erlauben, wenn nicht sogar gebieten.
76
Vgl. zu dem Beispiel: Bernward Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus, S.€98.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
d) Desintegration der Persönlichkeit Das Maximierungsprinzip führt zu einer Desintegration der handelnden Personen, da diese bei jeder Handlung den Nutzen maximieren müssen, was zur Folge hat, dass sie ihre längerÂ�fristigen Projekte und Verpflichtungen nicht verwirklichen können. Hat jemand sein Leben einem bestimmten legitimen längerfristigen Projekt gewidmet, will er etwa ein vor allem religiöses, familienorientiertes, wissenschaftliches oder sportliches Leben führen, so erscheint es nicht gerechtÂ�fertigt, nur aufgrund der Tatsache, dass die Handlungen Anderer die allgemeine Situation in einer bestimmten Art und Weise bestimmen, eine utilitaristische Fall-zu-Fall-Maximierung zu verlangen, welche die Unmöglichkeit der Verfolgung seines längerfristigen Projekts zur Konsequenz hätte. Es ist nicht denkbar, dass eine Person ihr persönliches Lebensglück erreichen kann, wenn sie gezwungen ist, immer und überall jede Handlungsoption zu ergreifen, welche die gesellschaftliche Summe des Wohlergehens maximiert.77 Die Anderen könnten im Falle einer allgemeinen Verbindlichkeit des Maximierungsprinzips das Leben jedes einzelnen Menschen in beinahe beliebiger Weise determinieren, weil sich seine Lebenspläne im Rahmen der maximierenden Summierung gegenüber der Vielzahl der Lebenspläne anderer grundsätzlich nicht durchsetzen könnten.78
e) Widerspruch zwischen kollektivem Realisationsimperativ und singulären Handlungspflichten Das Maximierungsprinzip fordert die kollektive Maximierung des fraglichen Wertes. Dieser Imperativ der kollektiven Maximierung kann aber zu den singulären Handlungspflichten in einen unüberbrückbaren Widerspruch geraten, denn es kann sein, dass eine maximierende Handlungseinstellung des Akteurs gerade nicht zur kollektiven Maximierung und damit zur Realisierung des Maximierungsprinzips führt, etwa weil sie sein Lebensglück zerstört, ohne dass dies anderen sehr viel hilft.79 Zur kollektiven Realisierung des Maximierungsprinzips wäre dann aber zu fordern, dass die singulären Handlungspflichten nicht die individuelle Maximierung gebieten. Das würde aber wiederum bedeuten, dass um der kollektiven Maximierung willen konträre singuläre Handlungspflichten verbindlich gemacht werden müssten. Das handelnde Individuum würde auf diese Weise verpflichtet, instrumentell eine Einstellung zu wählen, die dem eigentlichen Ziel der Maximierung und damit dem Gesamtziel des fraglichen Kollektivs nicht entspricht. Diese Spaltung zwischen individuellem und kollektivem Ziel wäre nur durch ein umfassendes System der Täuschung bzw. Propaganda aufrechtzuerhalten, das ethisch nicht akzeptabel ist, weil es die Individuen mit ihrem berechtigten Interesse an Wahrheit missachtet. 77 78 79
Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, S.€89â•›ff. Bernard Williams, A Critique of Utilitarianism, S.€116â•›ff. Bernard Williams, A Critique of Utilitarianism, S.€118â•›ff.
4. Kritik des Maximierungsprinzips
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f ) Fundamentaler Widerspruch zu unserem System lange reflektierter Moralvorstellungen Das Maximierungsprinzip würde€ – allgemein angewandt€ – in einen fundamentalen Widerspruch nicht nur zu einigen, sondern zu sehr vielen lange gehegten und vielfach reflektierten moralischen Überzeugungen geraten.80 Natürlich können diese Überzeugungen, da sie ja selbst der ethischen Begründung bedürfen, nicht ihrerseits ethisch begründend wirken. Und die ethische Reflektion kann und muss selbstredend vielfach zur Kritik an bestehenden moralischen Überzeugungen führen. Aber wenn moralische Überzeugungen in einem langen, von ethischer Reflektion begleiteten Prozess entwickelt wurden, dann haben sie die ethische Reflektion dieses Prozesses quasi inkorporiert. In diesem Fall bedarf es gewichtiger Begründungen, warum die gegenwärtigen Überzeugungen und die ihnen zu Grunde liegende lange ethische Reflektion fundamental verfehlt sein sollen. Dies gilt umso mehr, wenn es sich nicht nur um einzelne moralische Überzeugungen handelt, sondern um das gesamte System unserer, nach vielen Jahrhunderten und Jahrtausenden der Kritik und Diskussion als nicht völlig unaufgeklärt anzusehenden moralischen Überzeugungen. Es ist nicht ersichtlich, wie die Anhänger des Maximierungsprinzips diesen fundamentalen Widerspruch erklären könnten.
g) Maximierung der Regeln bzw. der Regelcodes? Da das Maximierungsprinzip wegen der soeben erwähnten Schwächen als allgemeines Abwägungsprinzip nicht zu rechtfertigen ist, wird es von manchen Vertretern des Konsequentialismus und Utilitarismus auf die Maximierung genereller Regeln, seien es solche der Moral, des Rechts, der Politik, der Konventionen, oder sogar eines gesamten moralischen, rechtlichen, politischen oder konventionellen Regelcodes beschränkt.81 In Verbindung mit einer konsequentialistischen oder utilitaristischen Werttheorie ergibt sich dann der Regelkonsequentialismus oder Regelutilitarismus, der einem Akt- bzw. Handlungskonsequentialismus oder Akt- bzw. Handlungsutilitarismus entgegengestellt wird. Zunächst sollte man sich klarmachen, dass es sich bei dieser Beschränkung auf die allgemeinen Regeln bzw. den Regelcode durch den Regelkonsequentialismus bzw. Regelutilitarismus um ein geschicktes Rückzugsmanöver der Vertreter des Maximierungsprinzips handelt. Im Falle allgemeiner Regeln bzw. ganzer Regelordnungen wie der Moral oder des Rechts wirkt der entindividualisierende Effekt des Maximierungsprinzips auf den ersten Blick nicht so stark, weil die individuellen Belange der einzelnen Menschen in konkreten Situationen nicht notwendig um der Gesamtmaximierung willen geopfert werden müssen. Die Berücksichtigung der einzelnen Menschen mit der 80 81
Das gestehen fast alle Vertreter des Konsequentialismus zu. Vgl. etwa Shelly Kagan, The Limits of Morality, Oxford 1989, S.€1╛ff. Richard B. Brandt, A Theory of the Good and the Right, Amherst 1998, S.€200╛ff., 208, 217; Brad Hooker, Ideal Code, Real World. A Rule-Consequentialist Theory of Morality, Oxford 2002.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Bezugnahme ihrer Belange auf die verschiedenen Teile der Handlung des Akteurs ist im Rahmen einer solchen Regelbewertung naturgemäß zu typisieren. Regeln, die Individuen starke Rechte einräumen, lassen sich als allgemein nutzenmaximierend begründen. Nähebeziehungen, persönliche Bindungen und individuelle Versprechen können bei typisierenden Regeln per se keine entscheidende Rolle spielen. Die individuelle Überforderung wird abgeschwächt, weil ja nur die Konformität mit den allgemeinen Regeln bzw. dem allgemeinen Regelcode verlangt wird, nicht aber die Maximierung jeder einzelnen Handlung in jedem moralischen Konflikt, koste es, was es wolle. Deshalb ist auch die Verfolgung längerfristiger Projekte durch die Verpflichteten eher möglich, sofern die Regeln diese Projekte berücksichtigen. Der Regelkonsequentialismus ist also auf den ersten Blick erheblich überzeugender als der Handlungskonsequentialismus. Er entspricht auch den urÂ�sprünglichen Intentionen der klassischen Utilitaristen Jeremy Bentham und John Stuart Mill in viel höherem Maße, denn beiden ging es ja zuvorderst um eine politische Ethik, nicht um eine allgemeine Individualethik. Trotzdem stößt auch die Anwendung des Maximierungsprinzips auf generelle Regeln bzw. einen Regelcode auf grundlegende Bedenken: Bei genauerem Hinsehen zeigt sich zunächst, dass der Regelkonsequentialismus als Abwägungsprinzip in individualethischen Fragen noch viel kollektivistischer ist als der Aktkonsequentialismus. Während beim Aktkonsequentialismus die konkreten Individuen im Einzelfall zumindest im Ausgangspunkt zu berücksichtigen sind, kann der Regelkonsequentialismus im Prinzip beliebige Regeln rechtfertigen, vorausgesetzt, sie maximieren ein kollektives Gut, wie den kollektiven Nutzen usw. Die allgemeine Ersetzung der situativen Handlungsbeurteilung mit Bezug auf wirklich bestehende, konkrete Belange durch die Maximierung abstrakter Regeln mit Bezug auf kollektive Güter gerät somit zum ersten und wichtigsten Prinzip einer gerechtfertigten Ethik, dem Prinzip des normativen Individualismus, in noch stärkeren Widerspruch als der Aktkonsequentialismus. Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Individuen in privaten moralischen Konflikten nicht eine Abwägung ihrer konkreten Interessen (unter Zuhilfenahme typisierender Prinzipien), sondern eine Abwägung aller möglichen Interessen einer großen Gemeinschaft als Grundlage kategorischer Verpflichtungen akzeptieren müssten. Warum sollen abstrakte Regeladressaten und nicht die tatsächlich Betroffenen mit ihren Belangen entscheidend sein? Auf einer fundamentalen Ebene der Problemformulierung ist im Übrigen schon die Entgegensetzung von Akten bzw. Handlungen und Regeln inadäquat. Handlungen sind das Verpflichtungsobjekt primärer Normencodes, also der Moral, des Rechts, der Politik usw., nicht aber unmittelbarer Gegenstand der sekundären Kritik und Rechtfertigung der normativen Ethik. Diese hat€– wie sich in der Einleitung ergab€– die primären Normen, Wertungen, Regeln und Überzeugungen der Moral, des Rechts, der Politik usw. zum Gegenstand. Bei diesen primären Normen handelt es sich nun aber sowohl um konkrete, auf einzelne Handlungen bezogene aktbestimmende Normen, als auch um abstrakte, auf viele Handlungen bezogene Regeln. Die Ethik kommt also keinesfalls umhin, beide Formen der Handlungsbestimmung, Aktnormen und Regeln, zu untersuchen und zu kritisieren, da beide Formen der Handlungsbestimmung faktisch bestehen. Und sie kommt auch nicht umhin, das tatsächliche Verhältnis zwischen diesen beiden Formen der HandlungsÂ�
4. Kritik des Maximierungsprinzips
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bestimmung zu beschreiben und zu kritisieren. Dieses tatsächliche Verhältnis ist durch einen grundsätzlichen Anwendungsimperativ der Regeln gegenüber den Handlungsnormen gekennzeichnet. Regeln fordern eo ipso prinzipiell Vorrang vor einzelnen Handlungsnormen, sonst wären sie keine Regeln. Diese Forderung ist auch grundsätzlich gerechtfertigt, weil sich Einzelnormen im Prinzip deduktiv aus Regeln ableiten lassen, nicht aber umgekehrt Regeln aus Einzelnormen. Allerdings sind die verschiedenen Formen der Realisierung des moralischen Ziels der Konfliktvermittlung kein Selbstzweck, sondern bloßes Mittel zum Zweck einer bestmöglichen Konfliktlösung. Das bedeutet, dass sie als Mittel keine Absolutheit für sich in Anspruch nehmen können. Daraus folgt aber, dass der grundsätzliche Vorrang der Regel gegenüber den Einzelnormen€– entgegen der Auffassung des Regelutilitarismus€– seine RechtÂ�fertigung einbüßt, wenn die Regel zu krass inadäquaten, das heißt sehr ungerechten Ergebnissen der Konfliktlösung im Einzelfall führt. Der Regelkonsequentialismus steht des Weiteren vor dem Dilemma, welche Regeln für die jeweilige Handlung entscheidend sein sollen: die bereits wirklich in einer Gesellschaft bestehenden oder neue, bloß mögliche, das heißt idealische Regeln? Die bereits wirklich in einer Gesellschaft bestehenden Regeln sind mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht immer folgenmaximierend. Sie unterscheiden sich des Weiteren zumindest teilweise von Gesellschaft zu Gesellschaft und ändern sich auch in der Zeit, so dass nicht erkennbar ist, wie sie den Gesamtnutzen auf der Welt maximieren sollen.82 Im Übrigen können die bereits wirklich bestehenden Regeln seitens einer normativen Ethik nicht von vornÂ�herein für endgültig erklärt werden, denn sonst würde diese ihre spezifische Funktion der Kritik und Rechtfertigung tatsächlicher moralischer Konfliktlösungen verfehlen. Alle möglichen bzw. idealischen Regeln stehen dagegen vor der grundsätzlichen Frage, warum man sie für verbindlich halten soll, da ihre generelle Etablierung, das heißt allgemeine Befolgung oder Akzeptanz ja keinesfalls gesichert ist. Der Einzelne steht immer vor der Gefahr, sich als einziger an die idealisch optimale Regel zu halten, mit unter Umständen sehr negativen Folgen für ihn, so dass niemandem eine Verbesserung zuteil wird. Wählen etwa fast alle eine Abkürzung des Weges über einen Rasen und wäre deshalb zur Erhaltung des Rasens die ideale Regel des Betretungsverbots gerechtfertigt, so erscheint es sinnlos, von einem Einzelnen die Befolgung dieser Regel zu fordern, wenn zu erwarten ist, dass fast alle Anderen oder wenigstens die große Mehrheit sie nicht befolgen wird, so dass die Befolgung des Einzelnen im Ergebnis irrelevant bleibt. Im Falle idealischer Regeln stellt sich auch immer die Frage der Möglichkeit und des Aufwands ihrer allgemeinen Realisierung im Verhältnis zu den bereits bestehenden Regeln. Diese Frage ist generell schwer abzuschätzen. Man wird also häufig nicht entscheiden können, ob es nicht besser wäre, bei den bisherigen, vielleicht nicht ganz optimalen Regeln zu bleiben. Beide Versionen des Regelkonsequentialismus müssen schließlich€– wegen des oben geschilderten grundsätzlichen Verhältnisses von Einzelnorm und Regel€– beantworten, was in einem echten Konflikt zwischen direkter Akt- und indirekter Regelmaximierung geschehen soll, wie der Einzelne also handeln soll, wenn die Maximierung im Einzelfall etwas anderes fordert als die allgemeine Regel. Es mag etwa den allgemeinen 82
William K. Frankena, Ethics, S.€40╛ff.
200
V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Nutzen maximieren, wenn eine Regel das Lügen verbietet. Wie soll der Einzelne dann aber handeln, wenn die Lüge im konkreten KonÂ�flikt einem Mörder das Versteck seines Opfers verheimlichen, also den Nutzen maximieren würde? Die Anhänger des Maximierungsprinzips haben hier zwei Möglichkeiten: Entweder sie lassen die Maximierung im Einzelfall, also in unserem Beispiel die Lüge zu, dann handelt es sich um einen einfachen Aktkonsequentialismus, der sich allen oben erwähnten Einwänden ausgesetzt sieht. Oder sie beharren auf der Befolgung der Regel des Lügenverbots um der abstrakten Maximierung durch die allgemeine Regelbefolgung willen. Dann schließen sie die konkrete Maximierung für einzelne Fälle aus und unterwerfen die Individuen einem kollektivistischen Regelregime, das ihre individuellen Belange nur als Faktoren der Gesamtmaximierung eines Regelcodes berücksichtigen kann und das in noch stärkerer Weise als die Maximierung des Aktkonsequentialismus gegen das Grundprinzip des normativen Individualismus verstößt. Um diesem Dilemma zu entgehen, haben die Anhänger des Utilitarismus in den letzten Jahren nach einem dritten Weg zwischen diesen gleichermaßen unattraktiven Alternativen gesucht. Brad Hooker schränkt den Regelutilitarismus etwa durch die Metaregel der „Abwehr von Desastern“ zu Gunsten des Handlungsutilitarismus ein:83 Im Rahmen einzelner Handlungen müssen die allgemeinen Regeln befolgt werden, selbst wenn sich daraus in der konkreten Situation negative Folgen ergeben, es sei denn, es droht ein Desaster. Im Falle eines Desasters ist also die Maximierung im Einzelfall geboten, und es gilt der Handlungskonsequentialismus. In ähnlicher Weise schlägt Dieter Birnbacher einen „indirekten Konsequentialismus“ vor, wonach in Fällen, in denen das von den allgemeinen Regeln Geforderte „in krasser Weise“ von dem nach der Handlungsmaximierung Gebotenen abweicht, der Handlungskonsequentialismus entscheidend sein soll.84 Im Grunde handelt es sich bei beiden Vorschlägen um echte Hybridmodelle zwischen Regel- und Handlungskonsequentialismus. Auch wenn die Bestimmung, wann ein „Desaster“ oder eine „krasse Abweichung“ vorliegt, naturgemäß außerordentlich vage ist und in der Praxis große Interpretationsunsicherheiten erzeugt, stellen diese Hybridmodelle in wenigstens dreifacher Weise einen echten Fortschritt dar: Sie werden erstens dem Faktum gerecht, dass in der Realität primärer Normordnungen immer konkrete Handlungsnormen und allgemeine Regeln nebeneinander existieren und ein Ausgleich zwischen diesen beiden Normtypen gefunden werden muss. Sie nehmen zweitens den oben erwähnten Anwendungsimperativ der Regeln gegenüber den Handlungsnormen auf, der kein absoluter sein kann, weil die Regelungsformen der Handlungsnorm und der Regel ihrerseits nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zur Erreichung des Ziels der Konfliktlösung seitens der Moral sind. Sie kommen damit drittens faktisch bestehenden NotÂ�standsregelungen in Moral und Recht sehr nahe, im Recht etwa Regelungen des strafrechtlichen Notstands, des zivilrechtlichen Notstands oder des staatsrechtlichen
83 84
Brad Hooker, Ideal Code, Real World, S.€86, 98â•›ff., 121, 124, 129â•›ff., 133â•›ff., 146, 165â•›ff., 173. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€213â•›ff.
5. Kritik weiterer Prinzipien
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Notstands in Art. 20 IV Grundgesetz. Auch die im deutschen Recht anerkannte „Radbruchsche Formel“, wonach Rechtsnormen dann nicht gelten bzw. als Recht anzusehen sind, wenn ihr Widerspruch gegenüber der Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreicht oder mit ihnen Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wurde,85 drückt einen vergleichbaren Kompromiss zwischen Regelkonformität und Einzelfallabwägung aus. Das Verhältnis von einzelnen Handlungsnormen und allgemeinen Regeln erscheint durch diese Hybridmodelle einleuchtend erfasst. Allerdings bleiben natürlich die allgemeinen Einwände gegen den Konsequentialismus und das Maximierungsprinzip auch gegenÂ� über diesen Hybridmodellen erhalten, so dass diese letztlich die Abwägungsaufgabe im Rahmen des fünften Elements der Ethik nicht umfassend lösen können. Es besteht im Übrigen keine begriffliche Notwendigkeit, die Beurteilung von Handlungsnormen und Regeln sowie ihres Verhältnisses zueinander auf die Konsequenzen einerseits und die Maximierung andererseits zu beschränken, so dass die einleuchtende Erfassung des Verhältnisses von Handlungsnormen und Regeln auch mit anderen, adäquateren Abwägungsprinzipien verbunden werden kann.
5. Kritik weiterer Prinzipien: Gleichheit, Genügenâ•›/â•›Suffizienz, Pareto, Aufopferungâ•›/â•›Kaldor-Hicks, Maximin, Utilex, Leistung, Priorität Neben den erwähnten Prinzipien gibt es viele weitere, von denen nachfolgend einige wichtige skizziert werden sollen:
a) Das Gleichheitsprinzip Ein wesentlicher Aspekt des Prinzips der Gleichheit bestimmt€ – so das Ergebnis des ersten Kapitels€– als Teil des Grundprinzips des normativen Individualismus Ethik und Moral: Jedes ethisch zu berücksichtigende Individuum muss mit seinen Belangen bzw. Interessen grundsätzlich gleich berücksichtigt werden. Im Rahmen der konkreteren Frage nach dem richtigen Abwägungs- und Zusammenfassungsprinzip dieser Belange steht nun aber nicht diese spezifische Ausprägung der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung jedes ethisch relevanten Individuums in Rede, sondern die weiter gehende Anwendung des Gleichheitsprinzips als Prinzip der Zusammenfassung einzelner Belange. Fraglich ist also, ob die potentiell oder tatsächlich widerstreitenden Belange in jedem einzelnen Fall der Abwägung nicht nur formal grundsätzlich gleich zu berücksichtigen, sondern immer auch inhaltlich gleich zu verwirklichen sind. Zu einer derartigen gleichen
85
BVerfGE 3, S.€119; 3, S.€233; 6, S.€138; 6, S.€414â•›ff.; 23, S.€106; 54, S.€67â•›ff.; 95, S.€135â•›ff.; BGHZ 3, S.€107; 23, S.€181; BGHSt 2, S.€177; 2, S.€238; 3, S.€362â•›ff.; BGHSt 39, S.€15â•›ff.; 39, S.€183â•›ff.; 40, S.€232; 40, S.€244â•›ff. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: ders., Rechtsphilosophie. Studienausgabe, hg. von Ralf Dreier und Stanley L. Paulson, 2., überarb.€ Aufl. Heidelberg 2003, S.€216.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Verwirklichung gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Man kann die Betroffenen entweder gleich behandeln oder gleich stellen. Im Fall der Gleichbehandlung wird ohne Ansehen des Ausgangszustands agiert. Jeder wird tatsächlich inhaltlich gleich behandelt, Güter und Lasten werden etwa gleich verteilt. Im Fall der Gleichstellung wird dagegen der Ausgangszustand berücksichtigt und das Ziel verfolgt, ein inhaltlich gleiches Ergebnis herzustellen, erfordere dies auch eine inhaltliche Ungleichbehandlung bis hin zur Wegnahme einiger Güter von Privilegierten. Zahlt etwa eine Aktiengesellschaft auf jede Aktie mit dem gleichen Nennwert die gleiche Dividende, so erfolgt eine Gleichbehandlung. Bekommen dagegen die Ärmsten mehr, damit sie genauso viel wie alle Anderen haben, so liegt eine Gleichstellung vor. Es gibt sicher Fälle, in denen eine Entscheidung nach dem Gleichheitsprinzip im Sinne der Gleichbehandlung gerechtfertigt ist. Wenn etwa mehrere Personen zusammen etwas erarbeitet oder hervorgebracht haben, dann ist das Ergebnis grundsätzlich gleich zu verteilen. Haben zum Beispiel mehrere Mitglieder einer Familie einen Kuchen gebacken, so können prima facie alle Familienmitglieder Anspruch auf ein gleich großes Stück erheben€ – zumindest gilt dies, wenn alle den gleichen Beitrag geleistet haben. Man kann also formulieren: Das Gleichheitsprinzip im Sinne des Prinzips der Gleichbehandlung ist als Abwägungsprinzip widerstreitender Belange zumindest immer dann gerechtfertigt, wenn mehrere Individuen gleichermaßen zu einem gemeinsamen Projekt beigetragen haben. Es gibt aber auch moralische Konflikte, bei denen diese beiden Bedingungen nicht erfüllt sind. Ein Beispiel ist bereits der umgekehrte Fall, dass ein Einzelner etwas für sich hervorgebracht hat, was Andere wünschen oder benötigen. Man nehme an, jemand habe ein Kunstwerk geschaffen, das er nun besitzt. Ein Anderer will gleich behandelt werden, also vom Künstler ein vergleichbares Kunstwerk erhalten. Es wäre absurd, hier eine Gleichbehandlung zu fordern, denn die Schöpfung eines Kunstwerks ist etwas so Einmaliges und Persönliches, dass kein Grund ersichtlich ist, warum der Urheber es auch einem Anderen in gleicher Weise verschaffen müsste. Aber selbst wenn es sich nicht um ein höchstpersönliches Gut wie ein Kunstwerk, sondern um allgemeine Güter wie Nahrungsmittel handelt, wird man die Gleichbehandlung nicht unmittelbar für geboten halten können. Der Besitzer ist zur Hilfe gegenüber anderen Bedürftigen verpflichtet, aber allenfalls bis zur Grenze des Genügens für diese Anderen, nicht aber in gleichem Maße wie für sich selbst. Kein Sozialsystem der Welt schreibt eine durchgängige und vollständige wechselseitige Gleichbehandlung aller Bürger vor. Die Forderung nach Anwendung des Gleichheitsprinzips durch Gleichstellung ist viel radikaler, weil sie ein unter Umständen extrem gesellschaftsveränderndes Potenzial enthält. So fordern manche Strömungen des Feminismus nicht nur die Gleichbehandlung, sondern die Gleichstellung der Frau. Gleichstellung würde bedeuten, dass alle schlechter Gestellten auf das Niveau der am besten Gestellten gehoben werden oder€– falls das aus faktischen Gründen nicht geht€– den Bessergestellten soviel weggenommen wird, wie nötig ist, um alle gleich zu stellen. Letzteres mag vielleicht in engen familiären oder monastischen Gemeinschaften vollständiger Solidarität gerechtÂ�Â�fertigt sein und viel-
5. Kritik weiterer Prinzipien
203
leicht in gewisser Hinsicht auch im Hinblick auf die Gleichheit der Geschlechter. Aber die konkret-individuelle Wegnahme, das heißt die Schädigung bestimmter Personen, um ein gleiches Durchschnittsniveau zu erreichen ist nicht als generelles, alle moralischen, rechtlichen und ethischen Abwägungen bestimmendes Prinzip zu rechtfertigen.86 Das zeigt wieder das obige Beispiel: Ein Künstler ist nicht verpflichtet, alle anderen Personen auf dasselbe Niveau des Besitzes von Kunstwerken zu heben. Und selbst die allgemeine Sozialhilfe hat nirgendwo das Ziel, alle gleichzustellen, weil dadurch jede Selbstverantwortung für das eigene Leben und somit ein großer Teil der individuellen Freiheit des Menschen aufgehoben würde. Auch die von der UNO proklamierte Entwicklungshilfe der reicheren gegenüber den ärmeren Ländern soll keine Gleichheit herstellen, sondern fordert lediglich, 0,7â•›% des Bruttosozialprodukts zu leisten (was im Übrigen die allermeisten Länder nicht erreichen). Oder man denke sich einen Verhungernden, der von einem Reichen Hilfe benötigt. In diesem Fall steht das Interesse des Verhungernden, Essen zu bekommen, gegen das Interesse des Reichen, sein Vermögen zu behalten. Ein konkretes gemeinsames Projekt mit gleichen Beiträgen, das über das anonyme Zusammenleben in einer Massengesellschaft hinausginge, ist nicht ersichtlich. Trotzdem ist eine Zusammenfassung der divergierenden Belange notwendig. Das adäquate Abwägungsprinzip wird zu der Entscheidung führen, dass hier eine Hilfspflicht besteht. Aber es fordert keine völlige Egalisierung des Vermögens. Eine solche Forderung würde zusätzliche Gründe voraussetzen. Sie ist außer in Fällen gleicher Beiträge zu gemeinsamen Projekten nur auf freiwilliger Basis möglich, etwa im Falle des Eintritts in einen Mönchsorden oder der Vereinbarung einer ehelichen Gütergemeinschaft. Die allgemeine Anwendung des Gleichheitsprinzips ist auch im Fall der Verteilungsabhängigkeit der Summe der zu distribuierenden Güter problematisch. Die Wahl des Abwägungsprinzips kann zu einer Vermehrung oder Verminderung der Gesamtmenge der zu verteilenden Güter führen. Dies ist etwa bei ökonomischen Verteilungen der Fall: Werden gemeinsam erzeugte Güter gleich verteilt, so vermindert sich der Anreiz zu besonderen Anstrengungen, mit dem Ergebnis, dass die Gesamtmenge der zu verteilenden Güter kleiner ausfällt als dies bei Anwendung des Maximierungsprinzips der Fall wäre. Bei einer Güterverteilung, die Ungleichheiten zulässt, können unter Umständen sogar die Schlechtestgestellten besser stehen als bei einer Gleichverteilung, sofern die gemeinsam erzeugte Gesamtmenge der Güter größer als bei der Gleichverteilung ist. Dann wäre das noch zu erörternde Maximin- oder Differenzprinzip dem Gleichheitsprinzip überlegen. Die unabweisbare Folgerung aus dieser Einsicht lautet: Das Gleichheitsprinzip ist in seinen beiden Alternativen der Gleichbehandlung und der Gleichstellung nicht für alle denkbaren Abwägungen ethischer Konflikte adäquat, sondern nur für bestimmte, in denen zusätzliche Gründe eine Gleichbehandlung oder sogar Gleichstellung rechtfertigen können, etwa gemeinsame Beiträge zu Projekten oder ungleiche Startbedingungen.
86
Sog. „leveling down objection“. Vgl. Derek Parfit, Gleichheit und Gerechtigkeit, in: Angelika Krebs (Hg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt a.â•›M. 2000, S.€93.
204
V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
b) Das Genügensprinzipâ•›/â•›Suffizienzprinzip Das Genügensprinzip (Suffizienzprinzip, „satisficing-principle“) stellt eine Abschwächung des Maximierungsprinzips und des Gleichstellungsprinzips und eine Steigerung gegenüber dem Gleichbehandlungsprinzip dar. Danach soll es nicht geboten sein, die Summe des fraglichen Guts zu maximieren oder eine Gleichstellung herbeizuführen. Aber man bleibt auch nicht bloß auf die Gleichbehandlung verpflichtet. Geboten ist vielmehr, ein jeweiliges „Genügen“, eine „Suffizienz“ bei den Schlechtergestellten zu realisieren, das heißt in einer schwächeren Form entweder bessere statt schlechtere Maßnahmen durchzuführen oder, in einer stärkeren und eindeutig konsequentialistischen Form, die schlechter Gestellten möglichst auf einen bestimmten Schwellenwert anzuheben, wobei es dann wieder striktere und weniger strikte Varianten gibt.87 In vielen Fällen ist die Forderung nach Genügen sicherlich gerechtfertigt. So haben wir etwa eine ethische Verpflichtung, unserer Rolle als Vater oder Mutter gegenüber unseren Kindern zu „genügen“. Es besteht hingegen keine Verpflichtung, die Konsequenzen unseres Verhaltens gegenüber unseren Kindern in allen Situationen und unter allen Umständen zu maximieren. Und auch unserer Hilfspflicht gegenÂ�über Anderen müssen wir, wie sich soeben ergab, offensichtlich regelmäßig nur „genügen“, nicht aber deren Wohlergehen unter allen Umständen optimieren. Dies gilt etwa in der gemeinschaftlichen Form der Sozialhilfe. Sie muss den Bedürftigen „genügend“ Hilfe leisten, wobei natürlich umstritten ist, was das bedeutet. In vielen anderen moralischen Konflikten ist dagegen eine über das Genügen hinausgehende Erfüllung möglich und geboten. Wurde etwa ein Versprechen abgegeben und sind keine guten Gründe erkennbar, die gegen seine Einhaltung sprechen, so führt die beste Abwägung zur Verpflichtung, das Versprechen in vollem Umfang einzuhalten. Der Versprechensgeber muss sich nicht auf eine „genügende“ Teilerfüllung beschränken, bei der in vielen Fällen bereits unklar sein wird, worin sie besteht. Der Anspruch einer besten Lösung der Abwägung darf in der Ethik also nicht aufgegeben werden. Wie sich ergab, ist es nicht notwendig, diesen Anspruch immer mit dem Maximierungsprinzip zu verbinden. Das Genügensprinzip kann vielmehr in manchen Fällen eine solche beste Lösung sein. Aber es sind andere moralische Konflikte denkbar, in denen das Genügensprinzips nicht zu einer gut begründeten Abwägung der Belange führt, etwa die bereits erwähnten Fälle, in denen eine Gleichverteilung oder eine Maximierung gefordert ist, also etwa die Fälle gleicher Beiträge zu gemeinsamen Projekten und die Fälle politischer Vorhaben ohne gravierende Beeinträchtigung individueller Belange. Im Fall des gemeinsam gebackenen Kuchens muss sich niemand mit einem „genügenden“ Stück zufriedengeben und im Fall des Neubaus einer Straße darf man nicht nur eine „genügend“ gute Trasse auswählen, sondern muss die entscheidenden Parameter, etwa 87
Michael Slote, Beyond Optimizing. A Study of Rational Choice, Cambridge 1989, S.€ 138â•›ff. (mit einem SchwerÂ�punkt auf der Rationalitätstheorie, nicht auf kategorischen Normordnungen und ihrer ethischen Rechtfertigung und mit einer wenig klaren Beschränkung auf die erste Form); Harry Frankfurt, Equality and Respect, Social Research 64 (1999), S.€3–15; Roger Crisp, Equality, Priority, and Compassion, Ethics 113 (2003), S.€745–763; Paula Casal, Why Sufficiency Is Not Enough, Ethics 117, S.€296–326.
5. Kritik weiterer Prinzipien
205
Baukosten, Lärmbelästigung, Naturbeeinträchtigung etc. optimieren. Jeder Versuch, das Genügensprinzip als alleiniges Prinzip für alle Fragen der Abwägung von Belangen heranzuziehen, scheitert also.
c) Das Paretoprinzip Auch beim Paretoprinzip handelt es sich um eine Abschwächung des Maximierungsprinzips sowie des Gleichstellungsprinzips und eine Steigerung des Gleichbehandlungsprinzips. Nach dem Paretoprinzip ist eine Handlung geboten oder zumindest erlaubt, wenn sie bewirkt, dass wenigstens einer besser und keiner schlechter steht. Die Ungleichbehandlung und Ungleichstellung wird also zugelassen, anders als beim Maximierungsprinzip aber nur, wenn dadurch niemand einen Nachteil erleidet. Das Paretoprinzip kann vor allem Verträge rechtfertigen, bei denen jede der vertragschließenden Parteien annimmt, nach dem Vertragsschluss je individuell besser oder zumindest gleich gut zu stehen wie vor dem Vertragsschluss. Das Pareto-Prinzip kann also nur in sog. „Win-Win“- bzw. Plus-Summen-Situationen zur Anwendung kommen.88 Allerdings können moralische Konflikte auftreten, bei denen sich die „Win-Win“Frage mangels Verbesserungsmöglichkeit gar nicht stellt, die also keine Plus-SummenSituationen sind. In derartigen Situationen muss nur entschieden werden, ob die Belange mehrerer Betroffener gar nicht, zum Teil oder voll verwirklicht werden sollen. Bei jeder Lösung steht notwendig einer der Betroffenen€– relativ zu seinen Interessen€– schlechter. Das Paretoprinzip kann hier keine Entscheidung liefern. Es bleibt somit in seiner Reichweite beschränkt. Sein hauptsächlicher Anwendungsfall ist der freiwillige Austausch ökonomischer Güter innerhalb einer ordnungspolitisch strukturierten Wirtschaftsordnung.
d) Das Kaldor-Hicks-Prinzip bzw. Aufopferungsprinzip Das Kaldor-Hicks-Prinzip oder Kaldor-Hicks-Kriterium ist eine Verbindung aus dem Maximierungsprinzip und dem Paretoprinzip. Das Paretoprinzip wird quasi erweitert. Danach soll die Maximierung und damit die Besserstellung einiger über das Paretoprinzip hinaus auch dann erlaubt bzw. geboten sein, wenn zwar nicht alle gleich gut stehen, weil sie faktisch durch die Veränderung tangiert werden, sich aber zumindest wertmäßig nicht verschlechtern, weil sie für einen Eingriff vollständig, das heißt wertgleich entschädigt werden bzw.€– in einer weiteren Abschwächung€– entschädigt werden könnten. Es handelt sich also um eine Anwendung des Aufopferungsgedankens, der allerdings auf große Wertunterschiede beschränkt bleibt: In bestimmten Fällen muss man im weit überwiegenden Interesse Anderer oder der Allgemeinheit weit weniger wichtige Interessen aufgeben, etwa ein Kleidungsstück oder einen Haushaltsgegenstand 88
Präziser müßte man sagen „Win-No-Loss-Situationen“.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
zur Rettung von Leib oder Leben eines Anderen, hat dann aber Anspruch auf wert- oder sogar sachgleiche Entschädigung. Das Aufopferungsprinzip findet in vielen Normen Anwendung. Um einem Ertrinkenden Hilfe zu leisten, muss der Retter es etwa in Kauf nehmen, dass seine Kleider nass bzw. beschädigt werden, er Zeit verliert oder sich vielleicht sogar erkältet. Er hat aber moralisch und rechtlich Anspruch auf Entschädigung.89 Der Finder ist verpflichtet, die gefundene Sache zu verwahren und zu erhalten sowie die Unannehmlichkeit der Ablieferung auf sich zu nehmen. Dann stehen ihm jedoch ein Ersatz seiner Aufwendungen und der Finderlohn zu.90 Der Anteilseigner einer Aktiengesellschaft, der die weit überwiegende Anzahl der Aktien hält, kann das Unternehmen vollständig übernehmen. Er muss die anderen Eigner jedoch vollständig in Geld entschädigen (sog. „Squeeze Out“).91 Das Sacheigentum darf zum Wohl der Allgemeinheit enteignet werden. Dann muss aber eine vergleichbare Sache beschafft oder eine angemessene Entschädigung gezahlt werden.92 An diesen Beispielen wird allerdings schon die Grenze des Aufopferungsprinzips deutlich. Es kommt vor allem bei weniger wichtigen, ersetzbaren Belangen wie Sacheigentum, Sachbesitz oder kurzzeitigen Handlungen ohne gravierende Gefahr für Leib oder Leben in Betracht. So gibt es etwa keine Befugnis, jemanden zu längerer Zwangsarbeit zu verpflichten, selbst wenn der Vorteil daraus sehr groß wäre.93 Das Aufopferungsprinzip ist nur für einen kleinen Bereich von Fällen positiver Hilfspflichten unter Einsatz weniger wichtiger, ersetzbarer Belange zur Erreichung sehr viel wichtigerer Ziele Anderer gerechtfertigt, taugt aber nicht als allgemeines Abwägungsprinzip in allen moralischen, rechtlichen und ethischen Konflikten mit zum Teil nur geringen Wertunterschieden, wie dies im Kaldor-Hicks-Prinzip ausgeprägt ist.
e) Das Maximinprinzip Das Maximinprinzip (Differenzprinzip) geht in seiner Wirkung für den einzelnen noch stärker über das Paretoprinzip hinaus als das Aufopferungsprinzip. Es sucht nach einem sozialeren Kompromiss zwischen dem Maximierungs- und dem Gleichverteilungsprinzip. Für eine Ungleichverteilung soll es danach anders als beim Paretoprinzip nicht genügen, dass niemand schlechter gestellt wird. Vielmehr ist sie nur dann gerechtfertigt, wenn sich die individuelle Situation der am schlechtesten Gestellten durch die Ungleichverteilung gegenüber der Gleichverteilung soweit wie möglich verbessert.94 Das bedeutet: Nur wenn die zu verteilende Gesamtmenge des fraglichen Guts distributionssensitiv ist, also durch 89 90 91 92 93 94
Vgl. § 683, 670 BGB: Ersatz von Aufwendungen für eine berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag. §§ 970, 971 BGB. §§ 327aâ•›ff. AktG, §§ 39aâ•›ff. Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz. Vgl. Art. 14 III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Vgl. Art. 12 II, III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. John Rawls, A Theory of Justice, S.€152â•›ff.; Thomas Nagel, Equality and Partiality, New York 1991, S.€66; Walter Pfannkuche, Die Moral der Optimierung des Wohls, S.€192â•›ff.
5. Kritik weiterer Prinzipien
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die Ungleichverteilung erhöht werden kann, ist ein Abweichen vom Gleichheitsprinzip grundsätzlich zulässig. Ansonsten bleibt es bei der Gleichverteilung. Eine gewisse Ungleichbehandlung und Ungleichverteilung wird also in Kauf genommen, um das Ergebnis für jeden Einzelnen zu maximieren, sofern dies gerade durch die Wahl des Differenzprinzips möglich ist, das zum einen von der Gleichverteilung abweicht und zum anderen die Schlechtestgestellten besser stellt. Lassen sich die Schlechtestgestellten bei zwei oder mehr Abwägungsprinzipien gleich gut bzw. gleich schlecht stellen, so ist die möglichst weitgehende Verbesserung der Zweitschlechtestgestellten entscheidend, sind auch hier zwei oder mehr gleichwertige Alternativen möglich, die Verbesserung der Drittschlechtestgestellten usw. Da auf diese Weise eine hierarchische Ordnung der Niveauverbesserungen von unten nach oben entsteht, spricht man auch von einer „lexikographischen Ordnung“ bzw. präziser vom „lexikographischen Maximinprinzip“ oder „Leximinprinzip“. Wie das Paretoprinzip kann das Maximinprinzip nur in Situationen der Güterverteilung zur Anwendung kommen, und zwar nur dann, wenn sich gegenüber einer Gleichverteilung die Situation für alle verbessern lässt, wenn es sich also nicht um eine Null-Summen-, sondern eine Plus-Summen- bzw. Win-Win-Situation handelt. Dies ist in einfachen moralischen Konflikten, etwa der Frage, ob man ein Versprechen auch im Falle schwerer Nachteile halten muss, regelmäßig nicht der Fall. In derartigen Konflikten muss entschieden werden, welche Interessen den Vorzug verdienen, ohne dass die Ungleichbehandlung die zur Interessenbefriedigung vorhandenen Güter vermehren könnte. Das Maximinprinzip ist also zwar unter Umständen für gewisse Fälle der vor allem ökonomischen Güterverteilung, nicht aber als umfassendes Abwägungs- und Zusammenfassungsprinzip der Ethik einsetzbar. So kann es etwa kaum bei der Frage helfen, ob ein Versprechen auch unter der Bedingung eines Unfalls gehalten werden soll, wenn der Versprechensempfänger durch die Nichteinhaltung des Versprechens prinzipiell schlechter gestellt wird. Aber auch in Fällen der Güterverteilung kann das reine Maximinprinzip aus wenigstens zwei Gründen nicht als alleiniges Abwägungsprinzip überzeugen: Es berücksichtigt nur die Bedürftigkeit, nicht aber das eigenverantwortliche Vorverhalten der fraglichen Personen, ist also im Ergebnis nicht normativ-individualistisch genug. Und es kann krass ineffizient sein, etwa wenn zum Zweck einer minimalen Verbesserung der Schlechtestgestellten auf eine eminente Verbesserung der Zweitschlechtest- oder Drittschlechtestgestellten verzichtet werden muss.
f ) Das Utilexprinzip Das Utilexprinzip verbindet Maximierungs- und Differenzprinzip.95 Anders als bei der bloßen Maximierung sind danach das bisherige Niveau und die realisierte Verteilung 95
Christoph Lumer, Utilex€– Verteilungsgerechtigkeit auf Empathiebasis, in: P. Kollerâ•›/â•›K. Puhl (Hg.), Current Issues in Political Philosophy: Justice in Society and World Order, Wien 1997, S.€99–110; ders., Rationaler Altruismus, Osnabrück 2000, S.€616â•›ff.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
nicht gleichgültig. Die am schlechtest Gestellten sollen wie beim Differenzprinzip bevorzugt werden. Aber diese Bevorzugung soll nicht so weit gehen, jeweils unter allen Umständen das Niveau der Schlechtestgestellten so weit wie möglich zu maximieren, selbst wenn diese Verbesserung nur minimal und eine viel größere Verbesserung bei weniger schlecht Gestellten möglich wäre. Die Verbesserung der Betroffenen soll vielmehr in Abhängigkeit vom bisherigen Niveau gewichtet werden. So erscheint es etwa geboten, einem Schwerverletzten das Leben zu retten, selbst wenn dadurch einem sicher Sterbenden, also einem noch mehr Geschädigten, die ansonsten mögliche leichte Linderung seines Sterbens vorenthalten werden muss. Das Utilexprinzip ist stärker verteilungssensitiv als das Maximierungsprinzip. Und es vermeidet anders als das Differenzprinzip krasse Ineffizienz. Es verdient also in bestimmten Fällen gegenüber dem reinen Maximierungs- und dem reinen Differenzprinzip den Vorzug. Allerdings vermag es auch nicht allen Einwänden gegen diese Prinzipien zu entgehen. So kann es wie diese nur bei Güterverteilungen in Plus-Summen-Situationen zur Anwendung kommen. Im Übrigen wird wie beim Maximierungsprinzip das eigenverantwortliche Vorverhalten der Personen nicht berücksichtigt. Schließlich kommt beim Utilexprinzip alles auf die Wahl des Gewichtungsfaktors an. Wie dieser begründet und realisiert werden soll, ab welcher Grenze also auf eine kleinere Verbesserung der Schlechtestgestellten zu Gunsten einer größeren Verbesserung Bessergestellter verzichtet werden soll, ist nicht entschieden. Man kommt insofern um eine vorherige Gewichtung der Interessen der Betroffenen nicht herum. Auch das Utilexprinzip kann also nicht für sich in Anspruch nehmen, als umfassendes Prinzip in allen ethischen bzw. moralischen Konflikten allein zu einer gerechtfertigten Abwägung zu führen.
g) Das Leistungsprinzip Das Leistungs- bzw. Beitragsprinzip gebietet, die Abwägung zwischen konfligierenden Belangen nach der Leistung bzw. dem Beitrag der einzelnen Betroffenen vorzunehmen. Wenig mitfühlend sagt der Volksmund: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen!“ Das Leistungsprinzip hat seine partielle Berechtigung bei der Verteilung von gemeinsam erarbeiteten Gütern, wenn die Beiträge unterschiedlich hoch waren, sofern dies nicht nur auf natürliche oder individuell unbeeinflussbare Faktoren zurückzuführen ist, sondern auf die je individuelle Leistung. Wer mehr beiträgt, der darf auch mehr erwarten, das heißt seine Belange sollen in höherem Maße befriedigt werden. Deutlich ist aber, dass die Leistung nur ein Aspekt der Vermittlung in einem moralischen Konflikt sein kann. Stehen etwa wie oben Versprechen und Notfall im Konflikt, vermag das Leistungsprinzip nicht zu einer Lösung zu führen. In anderen Fällen ist die alleinige Berücksichtigung der Leistung ungerecht, denn sie kann etwa auf natürlichen Faktoren wie Schönheit oder Intelligenz beruhen, die einer Person nur aufgrund von Glück in der Geburtslotterie der Natur zugefallen sind und die sie nicht durch persönliche Anstrengung erworben hat. Auch das Leistungsprinzip taugt also nicht als alleiniges Abwägungsprinzip.
5. Kritik weiterer Prinzipien
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h) Das Prioritätsprinzip Nach dem Prioritätsprinzip sollen die Belange nach der Priorität ihres Entstehens oder ihrer Artikulation befriedigt werden.96 Opernkarten erhält etwa derjenige zuerst, der sich als Erster an der Kasse anstellt. An der Ladentheke wird der Erste zuerst bedient. Und auch bei der Transplantation von Organen spielt die Reihenfolge der Anmeldung häufig zumindest eine Rolle. Dabei ist grundsätzlich kein guter Grund ersichtlich, warum der bloße, mehr oder minder zufällige Zeitpunkt der Entstehung oder Artikulation eines Belangs seine bevorzugte Realisierung rechtÂ�fertigen sollte. Bei der Verteilung von Opernkarten nach Priorität mag das frühzeitige Anstehen einen besonders starken Wunsch, die Oper zu sehen, beglaubigen und die Bevorzugung der Ersten in der Reihe sachlich rechtfertigen. Die Zeitpunkte des Anstellens an der Ladentheke und des Entstehens eines Transplantationsbedürfnisses sind dagegen regelmäßig dem puren Zufall geschuldet. Das Prioritätsprinzip kann dann nicht auf einen sachlichen Grund für die Bevorzugung der früher entstandenen oder artikulierten Belange gestützt werden. Es gewinnt seine Legitimität allein aus dem Vorteil, eine geordnet-rationale Beilegung des Verteilungskonflikts zu ermöglichen. Streit und Unsicherheit über die Lösung des Konflikts der Belange werden so vermieden. Jeder weiß, woran er ist, und kann sich darauf einstellen. Damit ist aber auch deutlich, dass sich das Prioritätsprinzip nicht als allgemeines Abwägungsprinzip eignet, weil die soeben erwähnte sekundäre Rechtfertigung der Vermeidung von Streit und Unsicherheit nicht allein ausschlaggebend sein kann, sofern andere inhaltlich entscheidende Gründe für den Vorrang oder Nachrang einzelner Belange sprechen.
i)€Fazit Das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip ist in seiner allgemeinen Form gerechtfertigt, umfasst aber nur die schon in den früheren Kapiteln erörterten Elemente eins bis vier einer adäquaten normativen Ethik, ist also zu abstrakt und leistet deshalb nicht genug für eine notwendige inhaltliche Konkretisierung der Abwägung. Die anderen diskutierten Prinzipien, also das Verallgemeinerungsprinzip, das Maximierungsprinzip, das Gleichheitsprinzip usw., sind nur zur Lösung einzelner Typen ethischer Konflikte gerechtfertigt. Diese Prinzipien sind jeweils zu konkret, um als allgemeines ethisches Abwägungsprinzip akzeptabel zu sein. Nötig ist deshalb ein Prinzip, das einerseits konkreter als das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip und andererseits abstrakter als die anderen erwähnten Prinzipien ist. Es muss in seiner Abstraktionshöhe zwischen diesen beiden Ebenen liegen, um gleichzeitig alle möglichen Konflikte umfassen und als Metaprinzip die Anwendung der konkreteren Prinzipien steuern zu können.
96
Dieses Prinzip ist von dem Prinzip der sog. „priority-view“ als eine Art verbessertem Maximinprinzip zu unterscheiden. Vgl. zu diesem: Derek Parfit, Equality and Priority, Ratio 10 (1997), S.€202–221.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
6. Das Prinzip der relativen Individual- und Anderbzw. GemeinschaftsÂ�abhängigkeit der Belange Ein adäquates ethisches Abwägungsprinzip muss der Vermittlung der potentiell widerstreitenden Belange der Betroffenen im Konflikt dienen. Dann lautet die zentrale Frage: Wie sind diese potentiell widerstreitenden Belange der Betroffenen im Konflikt zu gewichten, das heißt wechselseitig zu bewerten? Die Konfliktvermittlung durch primäre Normordnungen wie Moral, Recht und Politik geschieht vor dem Hintergrund bereits bestehender Akteur-Anderer-Beziehungen bzw. Gemeinschaften im weitesten Sinn, denen die betroffenen Individuen als Akteur und Anderer angehören. Die Bandbreite dieser Gemeinschaften reicht von zwei oder mehr einander vollkommen Fremden, die als Menschen lediglich Teil der relativ schwachen Gemeinschaft der Menschheit als Ganzes sind, bis hin zu den Mitgliedern der engsten Gemeinschaft, die denkbar ist, der Ehe und Familie. Die Konfliktvermittlung dient nicht zuletzt der Ermöglichung und Aufrechterhaltung dieser Gemeinschaften. Die einzelnen Belange, die als normative Eigenschaften für die Konfliktlösung entscheidend sind, hängen nun aber teilweise von diesen faktischen Gemeinschaften ab. Sie sind deshalb für jedes einzelne Individuum in mehr oder minder starkem Maße ein Eigenes oder Fremdes, ein Eigenes seiner selbst oder ein Fremdes der Gemeinschaft der Betroffenen. Dann erscheint es aber gerechtfertigt, dass jeder an einem Konflikt Beteiligte gegenüber den anderen Beteiligten um so stärker die Verwirklichung des im Konflikt stehenden fraglichen Belangs erwarten darf, je stärker dieser Belang sein Eigenes und nicht ein Fremdes der Gemeinschaft ist, je weniger der Belang also von der Gemeinschaft der Beteiligten abhängt. Oder umgekehrt ausgeÂ�drückt: Jeder im Widerstreit der Interessen Stehende muss sich eine umso stärkere Relativierung seines Belangs in der Abwägung gefallen lassen, je stärker dieser Belang von Anderen bzw. der Gemeinschaft abhängt, also bereits faktisch-individuell relativiert ist. Das heißt: Die normative Berechtigung eines Individuums, sich mit seinen eigenen Belangen in einem Konflikt der Interessen gegen die gemeinschaftliche Relativierung der individuellen Belange durchzusetzen, nimmt ab, je weiter gehend diese Belange von der Gemeinschaft selbst abhängen. Dieses allgemeine Prinzip der ethischen Abwägung soll „Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Belange“ heißen. Es lautet präzisiert: Je stärker der Belang eines im Konflikt zu berücksichtigenden Individuums von der Gemeinschaft der Betroffenen abhängt, desto eher muss sich das Individuum eine Relativierung dieses Belangs in der Abwägung gefallen lassen. Zum weiteren Verständnis dieses Prinzips der ethischen Abwägung soll erläutert werden, was „Abhängigkeit von der Gemeinschaft der Betroffenen“ bedeutet. Diese Abhängigkeit kann sich unter allen Aspekten ergeben, die prinzipiell Relationen bestimmen können: Die Abhängigkeit des Belangs von der Gemeinschaft kann etwa aus der kausalen oder quasikausalen Verursachung des Belangs beim Einzelnen herrühren, zum Beispiel weil ein Versprechen beim Empfänger die Erwartung seiner Erfüllung erzeugt hat. Sie
6. Das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. GemeinschaftsÂ�abhängigkeit
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kann aber auch final auf die Realisierung des Belangs in der Gemeinschaft gerichtet sein, etwa der Wunsch nach Anerkennung durch die Anderen in gemeinschaftlich etablierten Formen der Belobigung wie der Gewährung von Leistungsprämien, der Vergabe von Orden oder der Berufung in Ämter. Die Abhängigkeit des Belangs von der Gemeinschaft kann eine der Physis sein, etwa aus der sehr starken physischen Abhängigkeit zwischen Mutter und Kind im Mutterleib erwachsen, oder eine solche der Psyche, etwa den starken Gefühlen zwischen Liebenden entspringen. Die Abhängigkeit des Belangs von der Gemeinschaft kann weiterhin vom Gesichtspunkt der Zeit bestimmt werden: (1)€ historisch und vergangenheitsorientiert, weil eine bestimmte Praxis mit Anderen in einer Gemeinschaft notwendige EntÂ�stehungsbedingung der Ausprägung des Belangs beim Beteiligten war, etwa der Bestand öffentlicher Einrichtungen die notwendige Bedingung positiver Erfahrungen und damit in der Folge die Quelle des Wunsches, diese Einrichtungen beizubehalten; (2)€ gegenwärtig, weil ein Belang im Zusammenhang mit den Belangen Anderer steht, etwa die wechselseitige Erwartung der Aufrichtigkeit; (3)€ zukunftsorientiert, weil ein Belang auch in Zukunft nur in der Praxis mit Anderen oder in einer bestimmten Gemeinschaft mit ihren Einrichtungen realisiert werden kann, etwa das Interesse, auch in Zukunft zusammenzuarbeiten und an den gemeinschaftlichen Einrichtungen der Hilfe und Fürsorge zu partizipieren. Die Abhängigkeit des Belanges von einer Gemeinschaft kann sich aber auch aus dem Gesichtspunkt des Raumes ergeben, etwa weil beide Beteiligte Nachbarn sind und aus dem nachbarschaftlichen Zusammenleben Erwartungen erwachsen. Die Abhängigkeit des Belangs kann eine solche des psychischen Akts selbst sein oder eine solche seines Inhalts. Warum ist das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit als allgemeines Metaprinzip der Abwägung gerechtfertigt? Nach dem Prinzip des normativen Individualismus kann die letzte legitime Quelle für die Rechtfertigung von Normen und Regeln gegenüber Anderen ausschließlich in den betroffenen Individuen selbst liegen. Die Individuen sind€– lässt man religiöse Begründungen einmal außer Betracht€– der letzte Grund, warum das Handeln einzelner Anderer auch ohne deren konkrete Zustimmung, also kategorisch durch Normen, Bewertungen und Regeln der Moral, des Rechts und anderer primärer Normordnungen eingeschränkt werden darf. Dem Prinzip des normativen Individualismus liegt der Gedanke zu Grunde, dass die Interessen der Individuen so weit wie möglich verwirklicht werden sollen. Die Autonomie der Individuen muss bestmöglich realisiert werden. Jede Nichterfüllung der individuellen Belange ist prima facie negativer als ihre auch nur partielle Erfüllung. Dann bedarf aber jede Einschränkung der Interessenverwirklichung der Rechtfertigung. Diese Rechtfertigung muss umso stärker ausfallen, je stärker die jeweiligen Belange im konkreten Konflikt eingeschränkt werden. Dies ist aber umso weniger möglich, je stärker die Belange Eigenes und nicht Fremdes sind. Umgekehrt gelingt die Rechtfertigung der Einschränkung der individuellen Belange umso eher, je weniger diese Belange von den Individuen selbst abhängen, je weniger sie also Eigenes der Individuen und je mehr sie Fremdes, von der Gemeinschaft Kommendes darstellen. Denn dann ist der letzte Grund der Berücksichtigung der Belange der Individuen€– die Individuen selbst mit ihrer Freiheit als ultimativer Quelle berechtigter Normen€– umso weniger faktisch tan-
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
giert und normativ bestimmend. Das hat zur Folge: Die Einschränkung der individuellen Belange darf um so eher stattfinden, je eher ein Belang nicht von dem fraglichen Individuum, sondern von Anderen undâ•›/â•›oder der sozialen Gemeinschaft abhängt. Oder anders ausgedrückt: Je mehr dasjenige, was als Eigenes letzte Quelle von Normativität ist, wirklich Eigenes ist, desto stärker ist man berechtigt, darüber zu verfügen, je weniger es dagegen wirklich Eigenes ist und je mehr vielmehr Fremdes, von der Gemeinschaft Kommendes, desto weniger ist man als Individuum berechtigt, darüber zu bestimmen, und umso mehr darf die Gemeinschaft verfügen, weil „Verfügung“ rein begrifflich nichts anderes bedeutet als „wie Seines zu behandeln“. Hinter dem Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit steht also ein Prinzip der Urheber- bzw. Erhalterlegitimität: „Wer etwas hervorgebracht hat undâ•›/â•›oder erhält, darf darüber entscheiden oder zumindest€– wenn es auch andere hervorgebracht haben undâ•›/â•›oder unterhalten€– mitentscheiden.“ Weshalb darf derjenige, der etwas hervorgebracht hat oder unterhält, darüber entscheiden bzw. mitentscheiden? Wer etwas hervorgebracht hat oder unterhält, steht in enger zeitlicher, räumlicher, kausaler und sonstiger sachlicher Beziehung zu dem Hervorgebrachten bzw. Unterhaltenen. Setzt man voraus, dass die Hervorbringung bzw. Unterhaltung nicht unethisch ist, ist kein Grund ersichtlich, warum der faktische Zusammenhang von Hervorbringungâ•›/â•›Erhaltung und Hervorgebrachtemâ•›/â•›ErhalteÂ�nem durch die Intervention Anderer unterbrochen oder eingeschränkt werden dürfte. Die Intervention Anderer bedarf vielmehr ihrerseits der ethischen RechtÂ�fertigung. Warum jemand befugt sein soll, einen ethisch nicht zu beanstandenden Zustand des faktischen Zusammenhangs von Hervorbringungâ•›/â•›Erhaltung und Hervorgebrachtemâ•›/â•›ErÂ�haltenem zu unterbrechen, ist nicht ersichtlich. Das Prinzip der Urheber- bzw. Erhalterlegitimität ist in vielen alltäglichen Regelungen der Moral und des Rechts wirksam. Wer etwa selber etwas aus anderen Teilen zusammenbaut, erwirbt daran das Eigentum und darf darüber verfügen. Oder wer ein Kunstwerk schafft, hat daran nicht nur das Eigentum, sondern für einen gewissen Zeitraum auch ein Urheberrecht. Wer schließlich eine Erfindung macht und zum Patent anmeldet, darf diese eine gewisse Zeit lang ausschließlich nutzen und verwerten. Das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit und das Prinzip der Urheber- bzw. Erhalterlegitimität sind letztÂ�lich nichts anderes als konkretisierende Antworten des Grundsatzes des normativen Individualismus in seinem ersten Teil, also des Individualprinzips, auf die spezifische Frage nach einem adäquaten Prinzip der Abwägung. Wer das Prinzip des normativen Individualismus akzeptiert, muss auch diese Konkretisierung auf die Abwägung als Prinzip akzeptieren, weil im Vergleich mit den anderen erörterten Prinzipien nur dieses Prinzip die Freiheit der Individuen in Interessenkonflikten bestmöglich wahrt. Man kann sich fragen, ob die Verknüpfung von faktischer Gemeinschaftsabhängigkeit der Belange und normativer Verpflichtung zu ihrer Berücksichtigung durch das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit nicht einen naturalistischen Fehlschluss darstellt. Das wäre nur dann so, wenn das normative Prinzip der Abwägung selbst auf der faktischen Gemeinschaftsabhängigkeit basieren würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Das Prinzip ist vielmehr Ausfluss der Autonomie
6. Das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. GemeinschaftsÂ�abhängigkeit
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der Individuen und des Prinzips des normativen Individualismus in Anwendung auf das Abwägungsproblem. Deshalb bestehen keine Bedenken, die normative Gewichtung der Belange von der faktischen Gemeinschaftsbedingtheit abhängig zu machen. Die relative Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Individualbelange formt ein Kontinuum. An dessen einem Ende stehen Belange, die sehr wenig oder praktisch gar nicht von den jeweils betroffenen Anderen bzw. der konkreten Gemeinschaft der Beteiligten abhängen, sondern durch sie allenfalls indirekt gefördert werden, etwa das Interesse des Einzelnen an seinem physischen Leben, seiner körperlichen Unversehrtheit, seinem Denken und Wollen usw. Diese Belange bestehen in allen Ländern der Erde und in allen Kulturen und Gesellschaften unabhängig von ihrer spezifischen Ausgestaltung durch historisch kontingente Gemeinschaften. Und sie lassen sich in allen Ländern der Erde und in allen Kulturen und Gesellschaften realisieren. Das Interesse, nicht gefoltert zu werden, verbindet zum Beispiel die jeweils kaum gemeinschaftsabhängigen Interessen an der eigenen körperlichen Unversehrtheit und der eigenen Willensentschließung und potenziert damit quasi deren je einzelne starke Individualabhängigkeit. Deshalb muss das Interesse, nicht gefoltert zu werden, in höchÂ� stem Maße frei von relativierenden Abwägungen bleiben.97 Am anderen Ende dieses Kontinuums der Gemeinschaftsabhängigkeit der Individualbelange stehen fast vollständig von Anderen bzw. Gemeinschaften abhängige Belange, wie etwa das Interesse, mit anderen zusammenzuarbeiten, gemeinsam Sport zu treiben, Familienfeste zu feiern, öffentliche Einrichtungen wie Museen oder Verkehrsmittel zu nutzen, das Interesse an sozialer Unterstützung, an der gemeinsamen Wirtschaft, an natürlichen Ressourcen wie sauberer Luft oder Mineralöl. Zwischen beiden Extremen liegen zum Beispiel Belange der respektvollen Behandlung, der Einhaltung von Versprechen, der Aufklärung über persönlich wichtige Tatsachen, der Erwerbstätigkeit, der freien Meinungsäußerung, der Nutzung eigener Güter usw. Da das Kontinuum der Abhängigkeit der Belange der Individuen von Gemeinschaften in der Abwägung praktisch schwer handhabbar ist, erscheint es sinnvoll, zwischen verschiedenen Abschnitten auf diesem Kontinuum zu unterscheiden. Man kann dann idealtypisch drei Arten oder Zonen von Belangen differenzieren, und zwar: (1) die Belange einer Individualzone, die praktisch nicht von bestimmten Anderen abhängen, nämlich Leben, Leib, physische und psychische Unversehrtheit sowie Gesundheit, also Belange, die innerhalb einer symbolischen Prima-facie-Grenze des Körpers des jeweiligen Individuums lokalisierbar sind, (2) die Belange einer Relativzone, die partiell von Anderen oder einer Gemeinschaft abhängen, etwa die allgemeine Freiheit der Handlung, der Respekt durch Andere, die Erwartung der Erfüllung von Versprechen, die Hilfe seitens Anderer in Notlagen, die Freiheit der Meinung, die Freiheit der Religion, die Freiheit des Berufs, (3) die Belange einer Sozialzone, die weitgehend oder fast vollständig von Anderen oder einer Gemeinschaft abhängen, etwa das Interesse an gemeinsamen Aktivitäten der Familie, der Kultur oder des Sports, an einem System der Anerkennung durch Andere, an einer Praxis der Aufrichtigkeit, an der hoch arbeitsteiligen und von 97
Vgl. Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Infrastruktur abhängigen modernen Wirtschaft, an der Schaffung von Verkehrswegen, an der Nutzung natürlicher Ressourcen, an der Gleichheit sozialer Chancen. Zur praktischen Abwägung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen ist es sinnvoll, das abstrakte Grundprinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit mit Hilfe dieser Typisierung in drei Zonen zu konkretisieren. Man muss dazu die potentiell widerstreitenden Interessen der jeweils in einem Konflikt konkret Betroffenen einer der drei idealtypischen Zonen zuordnen. Dann ist entscheidend, ob sich Belange der gleichen Zone oder unterschiedlicher Zonen widerstreiten. Beide Alternativen werden nachfolgend analysiert. Zuvor wird aber die Zuordnung der Belange zu den einzelnen Zonen näher erläutert.
7. Die Belange der Individualzone Einige Individualbelange sind praktisch nicht durch bestimmte Andere oder eiÂ�ne bestimmte GeÂ�meinÂ�schaft bedingt. Dies gilt am deutlichsten für das Interesse des einzelnen an seinem biologischen Leben bzw. an seiner LeÂ�benserhaltung. Wir verdanken unser biologisches LeÂ�ben zwar der Zeugung durch unsere ElÂ�tern€– in neuerer Zeit gelegentlich reproduktionsmedizinisch unterstützt. Aber nach der Geburt hängt es als biologischer Metabolismus nur von unseÂ�rer genetischen AusÂ�stattung und natürlichen StoffÂ�wechÂ� selÂ�vorÂ�gängen wie Atmung und Verdauung ab. Andere und Gemeinschaften bieten zur Sicherung unseres biologischen Lebens zwar Unterstützung, zum Beispiel durch die Nahrungsversorgung, den Bau von Wohnungen usw. Aber diese Sicherung durch eine bestimmte Gemeinschaft ist für unser biologisches Leben nicht notwendige Bedingung, so wie etwa ein bestimmtes Unternehmen oder eine bestimmte Behörde notwendige Bedingung für einen spezifischen Arbeitsplatz ist oder ein bestimmtes System des öffentlichen Nahverkehrs notwendige Bedingung spezifischer Formen von Mobilität. Wir können bestimmte Gemeinschaften jederÂ�zeit verlassen und unser biologisches LeÂ�ben als im Wesentlichen identisches in einer anderen Gemeinschaft oder im Extremfall sogar außerhalb jeglicher Gemeinschaft führen, während wir den Arbeitsplatz nicht in andere Gemeinschaften mitnehmen können und auch nicht unsere Form der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs. Ist aber das biologische Leben nicht durch bestimmte Andere oder eine bestimmte GeÂ�meinÂ�schaft konstituiert oder auch nur wesentlich bedingt und können wir es Letzterer ohne weiteres durch Ortswechsel entziehen, dann ermöglicht dies eine weitgehende Unabhängigkeit des Lebensinteresses. Diese Unabhängigkeit unseres Lebensinteresses von bestimmten Gemeinschaften sehen wir als selbstverständlich an. Besuchen wir etwa fremde Länder, Stämme oder Familien, so gehen wir ohne Weiteres davon aus, dass unser Lebensinteresse in gleichem Maße berücksichtigt wird wie in unserem Heimatland oder unserer Heimatfamilie, anders als etwa bei unserem Interesse an einem Arbeitsplatz oder an der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, die naturgemäß von der Situation in der jeweiligen konkreten Gemeinschaft abhängen, die wir aufsuchen. Wir können etwa nicht erwarten, in jeder fremden Gemeinschaft einen vergleichbaren Arbeitsplatz zu erhalten, denn die Gemeinschaft kann lediglich aus einzelnen selbstän-
7. Die Belange der Individualzone
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digen Bauern bestehen, oder es kann hohe Arbeitslosigkeit herrschen. Und wir können nicht beanspruchen, in jeder fremden Gemeinschaft ein unseren heimischen Ansprüchen in gleichem Maße genügendes System des öffentlichen Nahverkehrs vorzufinden. Ist unser Lebensinteresse nicht von bestimmten Gemeinschaften abhängig, dann dürfen wir erÂ�warten, dass es von allen Anderen und allen Gemeinschaften mit höchster Priorität beachtet wird. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass jeder Einzelne bestimmen dürfte, welche konÂ�kreten äuÂ�ßeren Maßnahmen Andere oder eine Gemeinschaft zum Schutz des biologischen Lebens jedes Einzelnen ergreifen. Das Interesse an spezifiÂ� schen positiven Schutzhandlungen€– und damit an der spezifischen Hilfe anderer Personen€– fällt nicht in die Individualzone, sondern in die Relativzone, weil es in stärkerem Maße von den Gegebenheiten in konkreten Gemeinschaften abhängt. Die relative Unabhängigkeit des biologischen Lebens von bestimmten Anderen und bestimmten Gemeinschaften manifestiert sich auch darin, dass das bloße biologische Leben des einzelnen Mitglieds auf das Leben der Anderen keine direkten Auswirkungen hat. Bestimmte VerÂ�halÂ�tensweisen und Handlungen führen zu konÂ�kreten KonÂ�sequenzen für Andere und eine Gemeinschaft. Aber diese Verhaltensweisen und Handlungen können die Anderen kanalisieren und limitieren, ohne das biologische LeÂ�ben als Bedingung dieser Handlungen zu zerstören oder ihm ihren Schutz zu versagen. Eine scheinbare Ausnahme sind Nothilfehandlungen, die MörÂ�der und GeiÂ�selnehmer verletzen. Aber letztes Abwehrziel gegenüber diesen Angreifern muss und darf nicht die ZerÂ�störung des biologischen Lebens als solches sein,98 sondern nur die Verhinderung ihres verÂ�brecheÂ�riÂ�schen HanÂ� delns. Ihr auf die Durchführung dieses Handelns gerichtetes Interesse fällt nicht in die IndividualÂ�zone, sondern in die Relativzone. ReÂ�präsentanten von Gemeinschaften agieren hier wie private Nothelfer und können im Rahmen einer solchen Verbrechensbekämpfung in äußersten Notfällen auch ein Risiko für das Leben des Täters in Kauf nehmen. Die Tötung des Mörders bzw. Geiselnehmers darf aber nicht ihr letztes Ziel sein, sondern allenfalls ein Mittel zur Rettung des Opfers. Die körperliÂ�che UnverÂ�sehrtheit und die Gesundheit sind als physische Basis des Lebens ebenso von konkreten Gemeinschaften nicht typischerweise wesentlich beeinflusst wie das Leben selbst. Neben dem Interesse am biologischen Leben sind also auch die Interessen an der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit regelmäßig von bestimmten Anderen bzw. einer bestimmten Gemeinschaft kaum bedingt. Zweifelhafter ist dagegen die Einordnung des psychischen Teils des Menschen, also die Qualifikation seiner mentalen Akte, seines DenÂ�kens, seines Wollens, seiner Gefühle, seiner GeÂ�wisÂ�sensbildung und seiner reÂ�ligiösen ÜberzeuÂ�gunÂ�g. Wie Wittgenstein in seinem Privatsprachenargument99 gehen heute manche Theoretiker100 davon aus, dass der Einzelne, zumindest im Hinblick auf seine geistige Existenz, durch die Gesellschaft 98 Deshalb muss auch die Todesstrafe ausgeschlossen sein. Vgl. Kapitel€V, 11 a). 99 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.â•›M. 1977, § 243â•›ff., S.€139â•›ff. 100 Vgl. zum Beispiel John Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S.€222, 277; Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a.â•›M. 1992, S.€640â•›ff.; Michael Walzer, Liberalism and the Art of Speculation, Political Theory 12 (1984), S.€324.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
konstituiert oder doch wenigÂ�stens stark geÂ�prägt („vergesellschaftet“) ist. Aber das widerspricht dem Selbstverständnis des moÂ�dernen MenÂ�schen, das in dem Ruf „Die Gedanken sind frei!“ seinen Ausdruck geÂ�funden hat, mag dieses Selbstverständnis auch zweifelhaft sein. Im Übrigen muss man bei der Frage der Abhängigkeit unserer Psyche von Anderen oder Gemeinschaften klar zwischen dem Inhalt und der Form bzw. der Tatsache des Denkens als geistigem Akt unterscheiden. Mancher Inhalt ist durch Andere und Gemeinschaften geprägt. Aber die Form und damit die Tatsache des geistigen Akts ist unsere je eigene, die von unseren biologischen Körpervorgängen untrennbar ist. Und mit zunehmendem Alter entwickeln wir auch ein Interesse an der Unabhängigkeit unserer psychischen Akte von Anderen. Wir wollen unser Denken, unser Wollen, unsere Gefühle und unser Gewissen nicht von Anderen beeinflussen oder sogar manipulieren lassen. Wir begreifen unsere Gedanken und Gefühle als zentralen Teil unseres Ichs und damit als unser Eigenes im Gegensatz zum Fremden der Gedanken und Gefühle Anderer und der uns umgebenden Gemeinschaften. Wir erwarten wie bei unserem biologischen Leben, unserer körperlichen Unversehrtheit und unserer Gesundheit, dass die Freiheit unserer geistigen Akte auch in fremden Gemeinschaften respektiert wird. Natürlich wird die Unabhängigkeit unserer geistigen Akte von Anderen immer bis zu einem gewissen Grade ein Ideal bleiben. Aber mit zunehmendem Alter wird diese Abhängigkeit von einzelnen Gemeinschaften immer diffuser. Unsere Werte und Überzeugungen sind in unserer Kindheit selbstredend noch stark von unseren Eltern abhängig. Aber Pubertät und Adoleszenz bestehen in hohem Maße in einer Infragestellung und Verwerfung bzw. Selbstaneignung dieser Werte und Überzeugungen. Auch wenn wir eine Wertung irgendwann einmal von jemand anderem gehört oder gelesen haben, so sind wir doch überzeugt, dass der geistige Akt der Übernahme, Verarbeitung, Einbettung und Rechtfertigung dieser Wertung unsere ureigene Angelegenheit ist und uns selbst als Ich mitkonstituiert. Selbst wenn dieses Selbstverständnis ein Stück weit illusionär sein mag, so ist es entscheidend, denn zum einen lässt die Tatsache, dass nicht unsere geistigen Akte wesentlich sind, sondern sekundär das Interesse an unseren geistigen Akten, den Charakter des Selbstverständnisses noch deutlicher hervortreten. Und zum anderen operiert das System der normativen Konfliktlösung ja seinerseits lediglich auf der Sinnebene unseres Selbst- und Fremdverständnisses und nicht auf einer eventuell darunter liegenden realeren Ebene. Auch die Notwendigkeit der Sprache zur Entwicklung und Artikulation höherer Stufen unserer Psyche kann an diesem Befund nichts ändern. Die Sprache ist zwar notwendig, aber nicht konstitutiv, sondern lediglich ein Mittel, dessen wir uns als Individuen immer souveräner bedienen, je weiter unser psychischer Entwicklungsprozess fortgeschritten ist. Jedes Individuum verwendet die Sprache ganz individuell. Es kann mit ihr spielen und sie verändern. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, die Sprache als umfassenden und unhintergehbaren Faktor der Vergesellschaftung des Individuums anzusehen, was immer man an kollektivistischen Vorstellungen unter „Gesellschaft“ haben mag. Nimmt man die Interessen der Individuen an Leben, körperlicher Unversehrtheit, Gesundheit und das mentale und emotioÂ�nale Innenleben des Menschen zusammen, erscheint es sinnvoll, als symbolische Prima-facie-Grenze, welche die InterÂ�essen der
7. Die Belange der Individualzone
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IndividuÂ�alzone von den InteresÂ�sen der RelativÂ�zone trennt, die Grenze des KörÂ�pers jedes einzelnen Menschen anzusehen. Was innerhalb der symbolischen Prima-facie-Körpergrenze besteht oder geschieht, muss das Individuum deshalb nur sehr eingeschränkt der Relativierung durch die Belange Anderer unterwerfen. Erst wenn der einzelne Mensch seine Gedanken und Pläne gegenüber anderen Menschen ausspricht oder in die Tat umsetzt, also mit ihnen und durch sie die symbolische Grenze des je eigenen Körpers überschreitet, gewinnen die Interessen an der Meinungsäußerung und der aktiven Realisierung der Handlung eine andere, stärker gemeinschaftsabhängige und damit der Relativierung unterworfene Qualität. Man mag als Einwand gegen die Auszeichnung der Körpergrenze als symbolische Prima-facie-Grenze zwischen den Interessen der Individual- und den Interessen der Relativzone auf die ProblemaÂ�tik der moralischen und rechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs verweisen. Aber die Körpergrenze ist wie gesagt nur als Prima-facieRegel zu verÂ�stehen. Der Konflikt um die moralische und rechtliche Normierung des Schwangerschaftsabbruchs ist soweit ersichtlich die zentrale Ausnahme und gewinnt seine Härte und Tragik gerade aus der Tatsache, dass in diesem speziellen Fall die Primafacie-Regel der Körpergrenze nicht gilt, weil Mutter und ungeborenes Kind zwar körperlich vereint, nicht aber nur ein einziger Körper sind. Andere problematische Fälle lassen sich konstruieren: Welcher Zone sind etwa die Belange eines Schmugglers zuzurechnen, der mit RauschÂ�gift gefüllte Kondome schluckt? Welcher Zone sind die Belange eines Selbstmordattentäters zuzuordnen, der sich eine Bombe in die Bauchhöhle transplantieren lässt? Welcher Zone gehören die Belange eines Menschen an, der sich eine Beleidigung in die Haut tätowiert? In all diesen Fällen werden andere Menschen erst durch die Überschreitung der Körpergrenze konkret gefährdet bzw. verletzt. Das Rauschgift wird für andere Bürger erst gefährlich, wenn es den Magen wieder verlässt, die Bombe erst tödlich, wenn sie explodiert, die Beleidigung erst ehrverletzend, wenn sie anderen Menschen sichtbar gemacht wird. Auch in diesen Fällen ist die Prima-facie-Grenze des Körpers also nicht aufgehoben. Es besteht lediglich ein pragmatisches Problem, weil die fragliche Person ihren Körper für die Schädigung Anderer jenseits ihrer Körpergrenze nutzt und diese Schädigungen scheinbar kaum anders als durch einen Eingriff in den Körper des Angreifers abgewehrt werden können. Aber eine Abwehr ist möglich. Man kann den Schmuggler, sofern man seiner habhaft geworden ist, so lange inhaftieren, bis das mit Rauschgift gefüllte Kondom den Körper auf natürlichem Wege verlassen hat. Man kann den Selbstmordattentäter so lange isolieren, bis die Bombe ohne Schädigung Anderer explodiert ist (wenn er denn diesen Weg bevorzugt). Man kann schließlich den Beleidiger verpflichten, seine beleidigende Tätowierung zu verhüllen, wenn er sich in die Öffentlichkeit begibt. Welchen Rang nimmt das Interesse an unserer Menschenwürde im Gefüge unserer Belange ein? Dies hängt vom Verständnis der Menschenwürde ab. Externe bzw. intersubjektive Deutungen der Menschenwürde verringern, wie sich in Kapitel€III, 7 ergab, deren Wertigkeit im Vergleich zu unseren höchstrangigen Belangen wie Leben, körperliche Unversehrtheit, Gesundheit und Psyche. Sie machen unser Interesse an der Menschenwürde damit zu einem Belang der Relativzone. Dies gilt etwa für die Auffas-
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
sung, die Menschenwürde werde durch die Anerkennung von Seiten Anderer konstituiert101 oder sie bestehe in der Forderung nach nichtdemütigender, respektvoller Behandlung durch Andere.102 Niemand wird bestreiten, dass wir ein berechtigtes Interesse haben, von anderen anerkannt und nichtdemütigend, das heißt respektvoll behandelt zu werden. Dieses berechtigte Interesse mit der Menschenwürde zu identifizieren, ist aber aus den in Kapitel€III, 7 genannten Gründen zweifelhaft. Die notwendige (inhärente) Menschenwürde ist vielmehr nicht extern bzw. intersubjektiv, sondern intern und individuell zu verstehen. Diese inhärente Menschenwürde besteht, wie sich ergab, im Verhältnis zwischen den sekundären Zielen oder Wünschen geistiger Lebewesen bezüglich primärer Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen. Wie bei primären Zielen und Wünschen handelt es sich auch bei diesen sekundären Zielen und Wünschen um geistige Akte, die wie alle geistigen Akte in die Individualzone fallen. Das Interesse an der inhärenten Menschenwürde ist also wie der gesamte Bereich unserer Psyche der Individualzone zuzuordnen. Anderes gilt dagegen für das Interesse an der zufälligen (kontingenten) Menschenwürde des äußeren, würdevollen Verhaltens und der würdevollen Behandlung durch andere: Sie ist ein Belang unter anderen Belangen der Relativzone, allerdings ein sehr wichtiger. Die erwähnten Belange der Individualzone sind nur Typisierungen. Das bedeutet: Diese Belange können als notwendige Folge der individuellen Autonomie vom jeweils betroffenen Einzelnen selbst im konkreten Fall, sofern dies bewusst und freiwillig geschieht, relativiert und sogar negiert werden, weil sich Pflichten gegen sich selbst auf säkularer Grundlage nicht begründen lassen (vgl. Kapitel€VIII). Das IndiviÂ�duum darf also zum Beispiel auch RespekÂ�t für die eigene LeÂ�bensverneinung verlanÂ�gen. Es ist Anderen deshalb verÂ�wehrt, den einzelnen mit Zwang oder GeÂ�walt am Suizid zu hindern, wenn dieser nicht im Affekt, sondern überlegt, also als sog. „BiÂ�lanzÂ�Â�selbstÂ�mord“ erfolgt. Der bewusst und gewollt handelnde, erwachsene SuiÂ�zident darf deshalb nicht über länÂ� gere Zeit zur SuiÂ�ziÂ�dÂ�Â�verhindeÂ�rung inhaftiert werÂ�den, wie dies verÂ�schieÂ�dentlich geÂ�scheÂ�hen ist,103 es sei denn, er ist psychisch krank, steht unter Schock oder Drogen usw. Allerdings hat das Individuum keinen grundsätzlichen Anspruch auf die Unterstützung seiner Selbstverletzung oder Selbsttötung durch Andere, denn das Interesse an der Hilfe durch Andere liegt als Interesse an einer äußeren Handlung wie das Interesse an der Hilfe zur Lebenserhaltung jenseits der Prima-facie-Körpergrenze. Das Interesse an derartiger Hilfe durch Andere geht deshalb über den SchutzÂ�bereich der Individualzone hinaus. Fraglich ist des Weiteren, ob der Einzelne auf die Beachtung der Interessen seiner eigenen IndividuÂ�alzoÂ�ne verÂ�zichten darf, ob er also der Tötung oder Verletzung durch Andere oder staatliche Organe wirksam zuÂ�stimmen kann. Dies ist prinzipiell zu bejahen, da die SelbstÂ�beÂ�stimÂ�mung des Menschen geÂ�rade den Kern des normativen Individualismus und des Interessenbegriffs bildet. Zu beÂ�denÂ�ken ist aber, dass dieser Verzicht auf die 101 Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde; Peter Baumann, Menschenwürde und das Bedürfnis nach Respekt, S.€26–29. 102 Vgl. Avishai Margalit, The Decent Society. 103 Vgl. das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, Bayerische VerÂ�waltungsÂ�blätter 1989, S.€205, 219.
7. Die Belange der Individualzone
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Beachtung der Interessen seiner eigenen Individualzone nur von Seiten des Individuums die Limitation durch die symÂ�bolische KörperÂ�grenÂ�ze beseitigt, also ein Außerachtlassen dieser symbolischen Körpergrenze durch Andere erÂ�laubt. Für die andere Person oder die staatliche Institution, welche die symbolische Körpergrenze überschreitet, ist diese Überschreitung dagegen nicht Teil des Innenbereichs ihrer symbolischen Körpergrenze, sondern eine äußere HandÂ�lung. Die Interessen an dieser Handlung fallen nicht in die IndiviÂ�dÂ�ual-, sondern in die Relativ- bzw. gelegentlich sogar in die Sozialzone. Das beÂ�deutet: Der Andere und die Gemeinschaft müssen zum einen entscheiden, ob sie das Angebot des Individuums annehmen wollen, die starke Beschränkung durch die Zuordnung der Interessen zur Individualzone und damit die symbolische KörperÂ�grenze zu überschreiten. Die Überschreitung kann dann zum anderen€– wie bei der noch zu erörternden aktiven Euthanasie€– als Interessenaktualisierung der Relativzone weiteren Beschränkungen durch Belange der Relativ- oder Sozialzone Anderer unterliegen. Das Interesse des Verzichtenden vermag also nicht allein den Ausschlag zu geben. Der Verzicht beseitigt nur die Beschränkung in der Sphäre des Verzichtenden, nicht aber weitere Beschränkungen des Handelns aufgrund der Interessen der RelaÂ�tiv- und Sozialzone Anderer. Die Anerkennung einer derartigen Individualzone wenig gemeinschaftsabhängiger Belange enthält eine implizite Kritik an allen relativ kollektivistischeren Theorien des wesentlich vergesellschafteten Individuums, also zum Beispiel den Positionen von Habermas, aber auch Rawls und Scanlon, nach denen die Mitglieder einer Gesellschaft bzw. sonstigen Gemeinschaft über alle Belange oder zumindest über alle Güter der Gemeinschaft unterschiedslos entscheiden dürfen.104 Warum ist die Anerkennung einer derartigen Individualzone wenig gemeinschaftsrelativer Interessen berechtigt? Geht man vom Prinzip des normativen Individualismus aus, wonach ausschließlich die Individuen letzter Fluchtpunkt der ethischen Rechtfertigung sein können, und nimmt man an, dass die Individuen zur Realisation ihrer Belange eine bestmögliche Gestaltung der fraglichen Gemeinschaft wählen werden, so ist nicht einsehbar, warum sie sich einer starken Relativierung ihrer wenig gemeinschaftsabhängigen Belange unterwerfen sollten, warum sie also etwa ihr Interesse an ihrem biologischen Leben einfachen Handlungsfreiheiten Anderer oder gar der allgemeinen Wohlstandsmehrung unterordnen sollten. Theoretiker der Vergesellschaftung schließen fälschlicherweise vom unleugbaren Faktum eines gemeinschaftlichen Lebens der Menschen auf eine Berechtigung der Gesellschaft zur Verteilung aller Güter, ohne die Individuen als einzige Quelle normativer Verpflichtungen wirklich ernst zu nehmen. 104 Im Diskursprinzip: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S.€ 138; ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Moral, Frankfurt a.â•›M. 1996, S.€59; vgl. zu einer Kritik: Verf., Rechtsethische Rechtfertigung€– material oder prozedural? in: Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, hg. von Lorenz Schulz, Stuttgart 2000, S.€17–44.; John Rawls, A Theory of Justice, S.€17â•›ff. Ausdruck findet diese Annahme bei Rawls vor allem in der These, dass die politische Gemeinschaft über alle sozialen Güter entscheiden darf; Thomas M. Scanlon, Contractualism and Utilitarianism, S.€110; vgl. zu Theorien der Vergesellschaftung: Dieter Geulen, Das vergesellschaftete Subjekt. Zur Grundlegung der Sozialisationstheorie, Frankfurt a.â•›M. 1977.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Dem libertären Theoretiker mag dagegen die Ausdehnung der Individualzone nicht weit genug gehen. Er mag fragen: Warum ist nicht auch das Interesse des Einzelnen an äußeren Gütern und insbesondere am Eigentum Teil der Belange der Individualzone? Die Antwort lautet: Versteht man unter Eigentum nicht die Beziehung eines Eigentümers zu seinen eigenen Gütern innerhalb der symbolischen Grenze des Körpers, wie etwa teilweise John Locke,105 sondern nur zu körperexternen Gegenständen, also als Sacheigentum, dann ist für jede Aneignung und jeden Transfer des Eigentums eine Handlung nötig, welche die symbolische Körpergrenze überschreitet. Das Interesse an einer solchen Handlung ist aber regelmäßig relativ gemeinschaftsabhängig, denn es richtet sich auf äußere, normalerweise stärker durch Andere und Gemeinschaften beeinflusste Güter. Da die Menschen regelmäßig in Gemeinschaften leben, ist auch ihre Güterproduktion in vielfältiger Weise gemeinschaftsabhängig. Die nicht nur im deutschen Grundgesetz, sondern auch in vielen anderen Verfassungen und Gesellschaftsordnungen statuierte Sozialpflichtigkeit des Eigentums legt davon beredtes Zeugnis ab.
8. Die Belange der Relativzone Die Relativzone umfasst Belange der Individuen, die partiell individual- und partiell gemeinschaftsabhängig sind. Anders als bei den noch zu erörternden Belangen der Sozialzone ist bei denjenigen der Relativzone eine spezifische ZuordÂ�nung zu einem konkreten Individuum aber noch ohne Weiteres mögÂ�lich und auch signifikant. Zur Relativzone gehören alle InÂ�teressen, die sich auf Lebensumstände des Einzelnen beziehen und die symÂ�boÂ�liÂ�sche Prima-facie-Körpergrenze überschreiÂ�ten, das heißt alle Interessen an individuellen HandÂ�lungen bzw. individuellen Freiheiten zu solchen Handlungen, zum Beispiel das Interesse am Austausch mit Anderen, an der Einhaltung von Versprechen durch Andere, an der Wahrhaftigkeit Anderer, an der Achtung seitens Anderer, an der Wahl eines Partners, an der Freundschaft, an der Freiheit der ReliÂ�giÂ�onsausübung, an der Freiheit des Berufs, an der körperliÂ�chen BeÂ�weÂ�gung, an der freien Wahl des AufentÂ�haltsÂ� orts, an der freien Äußerung der eigenen Meinung, an der BilÂ�dung von VereiÂ�niÂ�gungen und dem Abhalten von VerÂ�sammlungen, an der Kunst, an der WisÂ�senÂ�schaft, an der SelbstÂ�bestimmung über die eigenen Daten, am IndiÂ�viÂ�dualÂ�einÂ�komÂ�Â�men und am PrivatÂ� eigentum (mit EinÂ�Â�Â�schränkungen). Die Reichweite der Belange der Relativzone und damit ihre relative Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit kann stark divergieren, ist also relativ inhomogen. Man kann sich dies am Beispiel der Freiheit der Religionsausübung verdeutlichen. Bereits ganz persönliche Formen der Religionsausübung im privaten oder häuslichen Bereich überschreiten die symbolische Körpergrenze, also etwa das Sprechen eines Gebets, das Lesen in einer religiösen Schrift oder das Tragen religiöser Kleidung. Schon etwas weniger individualgeprägt sind gemeinsame religiöse Andachten. Noch stärker gemeinschaftsabhängig ist die Religionsausübung im halböffentlichen Raum, also in 105 Vgl. John Locke, Two Treatises of Government, The Second Treatise, § 123.
9. Die Belange der Sozialzone
221
Kirchen, Moscheen, Synagogen oder Tempeln. Schließlich wird die Gemeinschaftsabhängigkeit der Interessen relativ stark, wenn sie sich auf Verlautbarungen in der Öffentlichkeit richten, denen regelmäßig niemand ausweichen kann, also etwa das Kirchengeläut, der Ruf des Muezzins usw. Hier erreicht man schon die Grenze zu Interessen der Sozialzone, welche sich etwa auf die Etablierung oder Vermeidung einer Staatskirche oder Staatsreligion richten.
9. Die Belange der Sozialzone Die Sozialzone umfasst Belange der Individuen, die stark oder fast ausschließlich von Anderen bzw. einer Gemeinschaft abhängen oder bei denen dies anders als bei den Belangen der Relativzone zumindest anzunehmen ist, weil die eindeutige, spezifische Zuordnung des Interesses zu einem konkreten Individuum praktisch nicht möglich oder wenig signifikant ist. Drei Typen von Belangen der Sozialzone sind denkbar: a)€Das Interesse an der Verwirklichung gemeinsamer Handlungen, Ziele und Projekte, wenn deren Realisierung nicht ohne weiteres ausschließÂ�lich einem oder mehreren einzelnen Individuen zuzuordnen ist. Hierzu gehören etwa ein allgemeines Einverständnis des Vertrauens in Versprechen, Ordnungen der wechselseitigen Anerkennung, das BilÂ� dungsÂ�Â�system, die gemeinsame Kultur, gemeinsame Riten und Gebräuche sowie eine gemeinsame Religion, in modernen Industriegesellschaften die hochÂ�arÂ�beitsÂ�teilige Volkswirtschaft, die Sozialversicherungen und das Verkehrssystem, in tradiÂ�tionellen Stammesgesellschaften gemeinsame Kulte, TradiÂ�tionen und Religionen, in Familien die Solidarität der Familienmitglieder, Familienfeiern, Familienregeln usw. Nicht notÂ� wendig für die Qualifikation als gemeinsames Projekt ist eine zenÂ�trale Planung. Nicht notwendig ist auch, dass die IndiviÂ�duen die Verwirklichung des geÂ�meinsamen Projekts jeweils einzeln erstreben. Die Etablierung eines institutionellen Rahmens, in dem sich der Mechanismus der „unsichtbaren Hand“ oder anÂ�deÂ�re MeÂ�Â�Â�chaÂ�Â�nismen der Koordination entfalten können, genügt. Von der Tatsache, dass diese Projekte mittlerweile häufig nicht mehr nur einer einzelnen Gemeinschaft oder Gesellschaft zuzurechnen sind, sondern im Rahmen einer weltweiten oder wenigstens kontinentalen ArbeitsÂ�teiÂ�lung entstehen, muss hier aus Gründen der Vereinfachung abgesehen werden. Auf die abstrakte Konstruktion der einfachen Grundrelation IndividualÂ�interesÂ�se-GemeinÂ�schaftsÂ�entscheidung hat diese Globalisierung keinen Einfluss. Sie führt lediglich im RahÂ�men der praktischen Anwendung dieser Konstruktion zu einer Pluralisierung der Gemeinschaften und damit der rechtfertigungsbedürftigen Entscheidungen. b)€Das Interesse an der allgemeinen Erhaltung und Nutzung natürlicher, kultureller und sonstiger gemeinschaftlicher Güter, die keinem bestimmten Individuum bzw. keiÂ�ner Gruppe von Individuen zuzuordnen sind, also die Erhaltung und Nutzung der geÂ� samten nichtindividuellen Natur, des Wassers, der Luft, des BoÂ�dens, des Lichts, der
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Vielfalt der ArÂ�ten, aber auch der Kulturgüter, wie Kunstwerke und Erfindungen, sowie der gemeinschaftlich geschaffenen Güter, wie öffentliche Gebäude, Straßen und sonstige Verkehrswege. Es dürfte klar sein, dass hier mit der Kennzeichnung als natürliche Güter von einem Idealbild ausÂ�gegangen wird. Die NaÂ�tur ist heute in vielfältiger Weise durch menschliÂ�che Eingriffe geÂ�stalÂ�tet. Auf diese Weise sind Mischformen von natürlichen und kulturellen Gütern entstanden. Ein Beispiel sind Agrarflächen. Sind die Eingriffe in die Natur individuell zureÂ�chenÂ�bar€– zum Beispiel im Falle der Melioration eiÂ�nes Feldes durch einen Landwirt€– entsteht ein ZwiÂ�schenÂ�zuÂ�stand zwiÂ�schen Belangen der RelaÂ�tivzone und der Sozialzone, der eine differenzierte Bewertung erforÂ�dert. Das individuelle Interesse des Bauern an der MeÂ�lioration fällt in die Relativzone, das allgemeine Interesse an der Erhaltung des Bodens in die Sozialzone. Das Interesse an der konkret-individuellen Nutzung von Naturgütern, wie der Atemluft, der Beleuchtung, des Trinkwassers sowie der Aneignung wildwachsender Früchte zur Sicherung des bloßen Lebens wird man dagegen nicht den Interessen der Sozialzone, sondern denen der Relativzone zuordnen müssen, weil die Nutzung und Aneignung auch ohne eine entscheidende Mitwirkung einer bestimmten Gemeinschaft erfolgen kann und der Belang regelmäßig relativ unabhängig von bestimmten Gemeinschaften entwickelt wird. c) Situationen mit Gefangenendilemmastruktur, sofern nicht schon von a) oder b) erfasst106 Manche Verhaltensweisen sind eindeutig eiÂ�nem konkreten Menschen zuzuordnen, so dass die IndiviÂ�dÂ�ualÂ�Â�interÂ�essen an ihnen entweder kaum (Individualzone) oder wenig bis mittel (ReÂ�laÂ�tivÂ�zoÂ�ne) gemeinschaftsabhängig sind. In einigen Fällen würde die ausschließliche tatsächliche Verwirklichung des Verhaltens durch den einzelnen Menschen aber wegen bestimmter struktureller BeÂ�dingungen unweiÂ�gerlich für ihn selbst und alle Betroffenen zu einem schlechteren Ergebnis führen, als wenn von vornherein eine gemeinsame Strategie verfolgt würde (sog. Gefangenendilemma). Fahren zum Beispiel in einer Großstadt alle mit dem KraftÂ�fahrzeug zur Arbeit, so führt das zu einer derart hohen Stau- und LuftbeÂ�laÂ�stung, dass die Interessen jedes Einzelnen an guter Luft und flüssigem Verkehr vereitelt werden. Trotzdem wäre es für jeden EinÂ�zelnen nicht rational, zur Verbesserung der Situation mit dem Bus zur Arbeit zu fahren, weil sich die Stau- und LuftÂ�beÂ�laÂ�stung durch den Verzicht einer einzigen Person auf ihr Auto nur margiÂ�nal verrinÂ�gern würde, die KomforteinÂ�bußen für den EinÂ�zelÂ�nen€ – so kann man annehmen€– diese marginalen Vorteile aber weit überwiegen würden. Derartige Einzelverzichte werden also typischerweise selten sein und an der misslichen Gesamtsituation nichts Wesentliches ändern. Sie können deshalb nicht vorausgesetzt werden.107 Regelmäßig vermag hier nur eine gemeinschaftliche Lösung Abhilfe zu schaffen. Die 106 Vgl. dazu: Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S.€201â•›ff. 107 Die Wirkung des „Vorangehens mit gutem Beispiel“ wird hier vernachlässigt. Sie wird in anoÂ�nymen Massengesellschaften oft marginal sein, nicht aber in kleinen, transparenten und reÂ�lativ homogenen Gemeinschaften.
9. Die Belange der Sozialzone
223
Suche nach einer möglichst vollÂ�kommenen Befriedigung der Individualinteressen erfordert dabei den vorausschauenden VerÂ�zicht auf die unmittelÂ�bare Realisierung dieser Interessen. Die Interessen an der besseren Bewältigung solcher Situationen mit Gefangenendilemmastruktur durch Kooperation fallen in die Sozialzone. Situationen mit Gefangenendilemmastruktur können mit kollektiven Projekten oder natürlichen, kulturellen oder gemeinschaftlichen Gütern verbunden sein, also mit den Situationstypen a) und b). In unseÂ�rem BeisÂ�pielfall ist der Stadtverkehr an sich ein kollektives Projekt und die Luft, die unÂ�erÂ�träglich belastet wird, ein natürliches Gut. Die Interessen an der Bewahrung der GroßÂ�stadt vor dem VerkehrsÂ�kollaps werden also durch alle drei SiÂ�tuaÂ�tiÂ�onsÂ�tyÂ�pen der SoÂ�zialzone zugeordnet. Es gibt aber auch Situationen mit der Struktur des GefangenendiÂ�lemmas, die weder kollekÂ�tive Projekte noch natürliche oder kulturelle Güter einschließen, sondern in denen nur die bloße Sicherung eines individuell und kollektiv nützlichen Verhaltens der InÂ�dividuen in Frage steht.108 Ein Beispiel wäre die SituaÂ�tion, die dem GefangenendiÂ� lemma seinen Namen gab: Zwei voneinander isolierte Gefangene könÂ�nen gestehen oder nicht gestehen. Sie würden jeweils die geringste Strafe erhalÂ�Â�ten, falls nur sie selbst gestehen und der Andere nicht (ein Jahr) und eine noch relativ geringe Strafe, falls beide nicht gesteÂ�hen (zwei Jahre). Mangels Kooperationsmöglichkeit werden sie aber jeÂ�Â�weils geÂ�stehen und müssen eine höhere Strafe in Kauf nehmen (vier Jahre), weil es für jeden EinÂ�zelnen besser ist, wenn er gesteht, gleichgültig, ob der Andere gesteht oder nicht gesteht, denn am schlechÂ�testen wäre es, wenn nur der AnÂ�dere gesteht und dann als Kronzeuge gegen einen selbst auftreten kann (sechs Jahre).109 Ein anderes klassiÂ�sches Beispiel ist der Hobbessche NaturÂ�zustand, in dem jeder jeden töten kann. Für alle wäre es besser, wenn sie wechselseitig auf die Möglichkeit, den Anderen zu töten, verzichten würden. NieÂ�mand kann aber aus seinem TöÂ�tungsverzicht den Vorteil der Sicherung vor den Tötungsversuchen Anderer gewinnen, solange er nicht der Tatsache gewiss sein kann, dass auch die Anderen auf Tötungen verzichten. Also müssen gemeinsame Institutionen dies soweit als möglich sicherstellen. In allen drei Situationstypen€– bei gemeinsamen Projekten, natürlichen und kulturellen Gütern und Situationen mit Gefangenendilemmastruktur€– ist eine Zuordnung der Interessen zu einem bestimmten Individuum praktisch nicht möglich und nicht signifikant, weil die Interessen stark gemeinschaftsgeprägt sind. Das hat nicht zur Folge, dass die Individualinteressen bei der Abwägung keine Rolle spielen. Es führt nur dazu, dass kein Interesse eines IndiviÂ�duÂ�ums im Rahmen der Abwägung direkt mit einem bestimmten Individuum verknüpft wird. 108 Für Julian Nida-Rümelin, Der zivile Staat, in: Dissens und Freiheit. Kolloquium Politische Philosophie, hg. von Andreas Luckner, Leipzig 1995, S.€21–32, S.€26, ist sogar jede Kooperation begrifflich mit einer GefangenendiÂ�lemmastruktur verbunden. Nach Peter Koller hat das menschliche Leben zumindest „in wesentlichen Stücken“ die strukturelle Beschaffenheit des Gefangenendilemmas: Peter Koller, Grundlagen der Legitimität und Kritik menschlicher Herrschaft, in: Dieter Grimm (Hg.), Staatsaufgaben, Baden-Baden 1994, S.€739–769, S.€744. 109 Zur entsprechenden Matrix s. Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S.€201.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Nachdem einzelne typisierte Belange typisierten Zonen der relativen Gemeinschaftsabhängigkeit zugeordnet wurden, stellt sich die Frage, wie nun die Abwägung erfolgen soll. Dabei ist grundsätzlich zwischen einem Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone, also zwischen Belangen grundsätzlich vergleichbarer Gemeinschaftsabhängigkeit, und einem Widerstreit zwischen Belangen unterschiedlicher Zonen, also zwischen Belangen grundsätzlich verschiedener Gemeinschaftsabhängigkeit, zu unterscheiden.
10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone Im Fall eines Konflikts zwischen Belangen der gleichen Zone gibt es entsprechend den drei Zonen drei Möglichkeiten: einen Konflikt zwischen Belangen der Individualzone, der Relativzone oder der Sozialzone.
a)€Konflikte zwischen Belangen der Individualzone Stehen sich Belange der Individualzone gegenüber, also etwa Leben gegen Leben oder körperliche Unversehrtheit gegen körperliche Unversehrtheit, so sind die Belange aller Betroffenen grundsätzlich gleich zu bewerten, zumindest sofern man davon ausgeht, dass die Gemeinschaftsabhängigkeit des jeweiligen Lebensinteresses typischerweise nicht divergiert. Es gilt also prinziÂ�piell das Gebot der Gleichbehandlung, das heißt eine nicht auf die Konsequenzen reduzierte Variante des Gleichheitsprinzips. Allerdings sind die Fälle eines Konflikts Leben gegen Leben selten. Im Falle eines Mordes steht etwa das Interesse des Täters an anderen Zielen, wie Raub, Verdeckung, Beutesicherung oder Beseitigung des Opfers, gegen das Interesse des Opfers an seinem Leben. Es liegt also gar kein Konflikt Leben gegen Leben vor, so dass die Abwägung zu Gunsten des Lebensinteresses des Opfers und das Verbot des Mordes nicht fraglich sein können. Selbst wenn der Täter, was selten vorkommt, ein direktes Interesse an der Auslöschung des biologischen Lebens des Opfers hat, handelt es sich nicht um ein Interesse am eigenen Leben seitens des Täters, also ein Interesse der Individualzone, sondern um ein Interesse an der eigenen Handlung der Tötung des Anderen, dessen zentraler Inhalt jenseits der symbolischen Grenze des Körpers des Täters liegt, so dass sein Interesse in die Relativzone fällt und das Verbot des Mordes nicht bezweifelbar ist. Ein genuiner Konflikt Lebensinteresse gegen Lebensinteresse ergibt sich in Notwehrsituationen, wenn also A sein eigenes Lebensinteresse durch Notwehr gegenüber dem B mittels dessen Tötung verteidigen will, was naturgemäß das Interesse des B an seinem eigenen Leben beeinÂ�trächtigt. Fraglich ist dann, ob die Notwehrhandlung des A zulässig ist, ob also A sein Leben über das des B stellen darf. Das grundsätzliche Gebot der Gleichbehandlung der Lebensinteressen führt zunächst dazu, dass A im Rahmen seiner Verteidigung das Leben des B möglichst zu schonen hat, sofern er sich auf andere, vergleichbar wirksame Weise zur Wehr setzen kann. Dies gilt umso mehr, je geringer die Schuld des B ist, etwa weil er betrunken oder minderjährig ist. Aber gesetzt den Fall, A
10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone
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kann sich nur noch durch Tötung des B retten. Dann stellt sich die Frage der Abwägung Lebensinteresse gegen Lebensinteresse in reiner Form. Die Lösung des Konflikts kann wiederum nicht zweifelhaft sein. B muss in einem solchen Fall ein Zurückstehen seines Lebensinteresses als ultima ratio hinnehmen, weil er den Konflikt als Angreifer herbeigeführt hat und den A töten wollte, ohne dass dies gerechtfertigt war. Das Maximierungsprinzip kann dagegen in Fällen des Konflikts Leben gegen Leben nicht zur Anwendung kommen, weil es das Lebensinteresse des Einzelnen als kaum gemeinschaftsabhängiges Interesse in erheblichem Maße zu Gunsten kollektiver Ziele bzw. Güter der Gemeinschaft relativieren würde. Es ist also grundsätzlich nicht erlaubt, einen Menschen zu töten, um mehrere andere zu retten. Nur in ganz speziellen, meist theoretischen Fällen kann€– wie sich in Kapitel€III, 10 ergab€– das Maximierungsprinzip zur Lebensrettung sekundär eine Rolle spielen, nämlich dann, wenn dem Gebot der Gleichbehandlung Genüge getan ist, weil man zu entscheiden hat, wie viele anonymisierte und damit grundsätzlich gleich behandelte Individuen in einer konkreten Unglückssituation aus einer Schicksalsgemeinschaft von Todgeweihten gerettet werden sollen. Hier führt das Maximierungsprinzip auf einer sekundäÂ�ren Ebene zum Gebot, besser mehr als weniger der gemeinsam Todgeweihten zu retten. Allerdings handelt es sich in solchen Fällen eigentlich nicht um reine Konflikte Leben gegen Leben der Individualzone, da die Interessen des Retters an der Rettungshandlung ja solche der Relativzone sind. Aber die Lebensinteressen der jeweils Todgeweihten, die in ihrem Begehr nach Rettung miteinander konkurrieren, sind natürlich Interessen der Individualzone. Es liegt also genau genommen ein Konflikt zwischen verschiedenen Belangen vor: zwischen mehreren Belangen der Individualzone der Todgeweihten an ihrem jeweiligen Leben und einem Belang der Relativzone des Retters an seiner Handlung. Zwischen den einzelnen Belangen der Individualzone gibt es durchaus Unterschiede in der subjektiven Bewertung. So wird der Einzelne sein Leben im Regelfall höher bewerten als seine Gesundheit und seine körperliche Unversehrtheit, weil das Leben die notwendige Bedingung beider ist. Um sein Leben zu retten, wird man im Regelfall auch BeÂ�einträchtigungen seiner Gesundheit und seiner körperlichen Unversehrtheit in Kauf nehmen. So erlauben wir es Ärzten, als ultima ratio ein Glied unseres Körpers zu amputieren, um überleben zu können. Aber diese Unterschiede in der subjektiven Bewertung einzelner Belange der Individualzone schlagen in der für kategorische Normordnungen wie Moral und Recht entscheidenden intersubjektiven Perspektive der Abwägung nicht durch. Niemand muss etwa eine gravierende Schädigung seiner Gesundheit oder seiner körperlichen Unversehrtheit hinnehmen, um das Leben eines Fremden zu retten. Allenfalls marginale, nicht wesentlich ins Gewicht fallende Schädigungen, etwa eine Hautabschürfung oder eine Erkältung, können€ – sofern keine andere Rettung möglich ist€– in sekundärer Anwendung des Pareto- oder Aufopferungsprinzips nicht gegen eine solche Hilfspflicht stehen. Das Strafrecht verlangt in Unglücksfällen entsprechend nur „zumutbare“ Rettungshandlungen (§ 323c StGB). Dies gilt zumindest dann, wenn nicht zusätzliche Faktoren eine besondere Einstandsobliegenheit begründen, etwa eine besondere Nähebeziehung, eine schuldhafte Verursachung des Unglücksfalls durch den
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
möglichen Retter oder eine freiwillige Übernahme von Rettungsaufgaben durch Polizei, Feuerwehr, Technisches Hilfswerk oder Notfallambulanz. Die Menschenwürde soll nach der Auffassung mancher als Belang der Individualzone jeder Relativierung entzogen sein. Das würde bedeuten, dass jegliche Verletzung der Menschenwürde ohne weitere Abwägung untersagt wäre.110 Man muss bei dieser Frage sorgsam zwischen der primären Ebene der Normierung durch Moral, Recht, Politik usw. und der sekundären Ebene der Begründung durch die Ethik unterscheiden (hier zeigt sich im Übrigen, wie wichtig diese, in der Einleitung entfaltete Differenzierung ist). Auf der sekundären Ebene der Ethik stellt sich die grundsätzliche Frage, ob jede Abwägung beim Belang der Menschenwürde entfallen kann und€– falls dies bejaht wird€– entfallen sollte. Auf der primären Ebene der Moral, des Rechts usw. stellt sich die Frage, ob man primäre, einstellungs- und handlungsleitende Normen, Regeln und Bewertungen verwirklichen oder mit Geltungskraft versehen sollte, die eine derartige Abwägung der Menschenwürde ausschließen. Die Ergebnisse können für jede der beiden Ebenen und auf der primären Normierungsebene für jede der einzelnen Normordnungen unterschiedlich ausfallen, ohne dass eine Inkonsistenz eintritt, denn es kann trotz der prinzipiellen Bejahung der ethischen Abwägbarkeit weitere gewichtige, in der Sphäre der spezifischen Normierung und Normverwirklichung liegende Gründe geben, auf moralischer, juridischer, religiöser, erzieherischer oder politischer Ebene die Relativierung der Menschenwürde auszuschließen.111 Hier soll es zunächst nur um die ethische Frage der prinzipiellen Abwägbarkeit gehen. Zu untersuchen ist also, ob es prinzipiell möglich ist, die Menschenwürde der Abwägung bzw. Zusammenfassung der Belange zu entziehen. Dies wäre sicher dann unmöglich, wenn die Interessen zweier unabhängiger Individuen an der Menschenwürde kollidieren könnten. Fraglich ist also, ob derartige Kollisionen denkbar sind, wenn man die Menschenwürde wie in Kapitel€II, 7 als sekundäre Selbstbestimmung über die eigenen primären Belange versteht. Ein denkbares Beispiel wäre der Fall der sog. „Rettungsfolter“: Ein Geiselnehmer hält sein Opfer unter menschenunwürdigen Umständen gefangen, negiert also dessen Selbstbestimmung über die eigenen Belange. Nach Festnahme des Geiselnehmers erweist sich als einziges Mittel zur Befreiung des Opfers die Androhung und dann€– falls diese wirkungslos bleibt€– auch Verwirklichung einer Form von Folter, die Schmerzen hervorruft.112 Überzeugende Gründe sprechen dafür, die staatliche bzw. rechtlich sanktionierte Folter generell zu verbieten
110 So auch zumindest für das Verfassungsrecht die bisher einhellige Meinung zur Interpretation von Art.â•›1â•›I des Deutschen Grundgesetzes. Abweichend in jüngerer Zeit: Winfried Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern? in: Der Staat 35 (1996), S.€67–97; Matthias Herdegen, in: Theodor Maunzâ•›/â•›Günter Dürig (Hg.), Grundgesetz. Kommentar. Ergänzungslieferung, München 2003, Rdnr.€45. 111 Der umgekehrte Fall der Unabwägbarkeit auf ethischer Ebene und der Abwägbarkeit auf der Ebene der primär verpflichtenden Normen ist dagegen zwar begrifflich, logisch und faktisch ebenfalls möglich, normativ aber nicht zu rechtfertigen, denn die Unabwägbarkeit auf der Begründungsebene fordert auch diejenige auf der Ebene primärer Verpflichtungen. 112 Vgl. zu einem solchen Fall: Winfried Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?
10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone
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und die Abwägung der Menschenwürde verfassungsrechtlich auszuschließen.113 Aber auf der ethischen Ebene ist ein Konflikt zwischen der Menschenwürde des Opfers und der Menschenwürde des Geiselnehmers€– so sehr man das bedauern muss€– nicht unmöglich. Derartige Fallkonstellationen sind zwar extrem selten, aber nicht begrifflich, logisch oder faktisch ausgeschlossen. Man wird deshalb auf der Ebene der Ethik€– allerdings nur auf dieser, nicht auf der des Rechts, der Moral usw.€– die Menschenwürde nicht von vornherein jeder Abwägung entziehen können. Für die Abwägung gilt dabei wie bei den anderen Belangen der Individualzone grundsätzlich das Gebot der Gleichbehandlung. Im Übrigen sind auf einer ethischen Ebene auch Konflikte zwischen der Menschenwürde und den anderen überragenden Belangen der Individualzone nicht unmöglich. Man nehme folgenden Fall: Ein Geiselnehmer hält zwei Geiseln unter lebensbedrohenden Umständen gefangen. Eine der Geiseln kann sich befreien. Den Schlüssel zur Befreiung der anderen Geisel kann sie aber nur durch körperverletzende Handlungen gegenüber dem Geiselnehmer erlangen, etwa indem sie ihm den Arm auf den Rücken dreht und so leichte Schmerzen verursacht. Wir würden dies in diesem Fall einer Nothilfe der einen Geisel gegenüber dem Geiselnehmer zu Gunsten von Leben und Freiheit der anderen Geisel kaum ablehnen. Die Rettung des Lebens der Geisel ist wichtiger als eine relativ marginale Einschränkung der Menschenwürde des Geiselnehmers, der seinerseits als Aggressor in die Lebenssphäre der Geisel eingedrungen ist und sich Notwehr- bzw. Nothilfehandlungen deshalb grundsätzlich gefallen lassen muss. Das bedeutet: Es ist nicht von vornherein auszuschließen, dass die Menschenwürde auf einer ethischen Ebene in sehr seltenen Einzelfällen auch gegenüber anderen Belangen der Individualzone wie Leib und Leben relativiert werden muss. Obwohl der Belang der Menschenwürde im Regelfall gewichtiger sein wird, können sich Belange, wie das Interesse an Leib und Leben, in Ausnahmesituationen ethisch auch gegenüber dem Belang der Menschenwürde durchsetzen. Allerdings gibt es, wie gesagt, viele überzeugende Gründe, auf der rechtlichen Ebene des Verfassungsrechts und einfachen Rechts ein absolutes Folterverbot für Angehörige des Staates aufrecht zu erhalten, weil die staatlichen Behörden grundsätzlich institutionell überlegen sowie zu Missbräuchen in der Lage sind und die Form des Rechts extrem hohe bewusstseins- und verhaltensprägende Wirkung für Menschen in Gemeinschaften hat.114 Aus vergleichbaren Gründen lässt sich auch ein absolutes moralisches Folterverbot rechtfertigen, so dass der faktische Gesichtspunkt der Notwendigkeit der Normierung und Normrealisierung in primären Normordnungen die zunächst davon absehende idealische, ethisch-inhaltliche Abwägung nicht praktisch werden lässt. Wie die Abwägung der Belange der Individualzone im Einzelfall weiter vonstattengehen kann, wird noch bei der Diskussion spezifischer moralischer Konflikttypen in Kapitel€XII erörtert werden.
113 Vgl. Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt? 114 Vgl. Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
b) Konflikte zwischen Belangen der Relativzone Im Falle eines Konflikts zwischen Belangen der Relativzone gilt wegen deren vergleichbarer Gemeinschaftsabhängigkeit ebenfalls grundsätzlich das Gebot der Gleichbehandlung. Es ist etwa nicht ersichtlich, warum die Meinungsäußerung des A prinzipiell besser oder wichtiger als die Meinungsäußerung des B sein soll. Und es ist nicht ersichtlich, warum das Versprechen des A gegenüber B mehr wert sein soll als das Versprechen des A gegenüber C. Allerdings treten auch unterschiedliche Wertungen auf. So kommt etwa dem Belang eines Menschen A an der freien Äußerung seiner Meinung prima facie ein stärkeres Gewicht zu als jedem Einzelbelang seiner Mitbürger B, C, D und E, die Meinungsäußerung des A zu beschränken, denn für den A ist sein eigenes Interesse an der eigenen Meinungsfreiheit nur relativ schwach gemeinschaftsabhängig, weil gegenüber beliebigen Anderen bestehend, während umgekehrt das Interesse von B, C, D und E, die Äußerung gerade des A als Anderem zu beschränken, sehr viel stärker gemeinschaftsÂ� abhängig ist, nämlich gerade aus der Gemeinschaft mit A erwachsend und notwendig auf dessen spezifische, vielleicht anstößige oder beleidigende Äußerung bezogen. Das bedeutet, dass das Interesse des A an seiner Meinungsfreiheit im Regelfall in der Abwägung höheres Gewicht haben wird, etwa im Falle einer nicht sehr gravierenden Anstößigkeit seiner Meinungsäußerung, es sei denn, sie verletzt andere zentrale Belange von B, C, D und E, etwa deren Anspruch, nicht durch Beleidigungen mehr als marginal in ihrer Ehre missachtet zu werden. Für die Bestimmung des Maßes des UngleichÂ�gewichts, mit dem die Interessen der Relativzone zu berücksichtigen sind, muss man sich vor Augen führen, dass die Relativzone€– wie bereits erwähnt€– anÂ�ders als die IndiviÂ�dualÂ�zone und die Sozialzone als Formulierung der beiden extremen Alternativen der Unabhängigkeit und der Abhängigkeit der jeweiligen Interessen von den Anderen bzw. der Gemeinschaft weniger homogen ist. Sie reicht von IndiÂ�vidualÂ�interesÂ�sen mit relativ schwacher GeÂ�meinÂ�schaftsÂ�bedingtheit bis zu Interessen, die stark geÂ�meinÂ�schaftsbedingt sind, bei denen also der IndiviÂ�dualanteil geringer als der Gemeinschaftsanteil ist. Die Freiheit der Religionsausübung erstreckt sich etwa vom häuslichen Gebet über das Tragen religiöser Kleidung auf der Straße, den Bau von Kirchen, die Abhaltung öffentlicher Gottesdienste bis hin zum Läuten von Glocken oder dem Ruf des Muezzins. Es dürfte einleuchÂ�tend sein, dass die GeÂ�meinÂ� schaftsabhängigkeit der Belange im ersten Fall des häuslichen Gebets erÂ�heblich geringer ist als im letzten Fall des Glockengeläuts. Diese Inhomogenität der Individualbelange in der Relativzone muss bei der Abwägung berücksichtigt werden. Das bedeutet: Für die Abwägung der Belange ist die Aufstellung ordinaler Reihen der zunehmenden GemeinschaftsÂ�abhängigkeit der typisierten Interessen entÂ�scheiÂ�dend. Dann wird jeweils derjenige Belang den Vorzug oder zumindest eine stärkere Berücksichtigung verdienen, der weniger gemeinschaftsabhängig ist. Das individuelle Gebet Andersgläubiger darf etwa durch den Ruf des Muezzins nicht unmöglich gemacht werden. Im Konflikt von Interessen der Relativzone sind anders als bei Interessen der Individualzone viele weitere Gesichtspunkte der Gewichtung zu beachten. So findet etwa das Genügensprinzip Anwendung, wonach jedenfalls eine genügende Befriedigung der
10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone
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Belange für jeden Betroffenen erreicht werden muss. Für den Bereich des privaten Austauschs von Gütern gilt etwa das Paretoprinzip. Niemand darf ohne sein Einverständnis schlechter gestellt werden, aber andere dürfen sich verbessern. Für den Bereich des Interesses an ökonomischen Gütern wird man in modernen Industriegesellschaften bereits eine stärkere Gemeinschaftsprägung annehmen müssen, da die Güter im Rahmen eines stark gemeinschaftsabhängigen Wirtschaftssystems erzeugt wurden. Das führt nicht zu einer vollständigen oder sehr starken Abhängigkeit der Interessen der Individuen an den erwirtschafteten Gütern, aber zu einer signifikanten. Diese rechtfertigt, dass bei derartigen gemeinschaftlich erzeugten ökonomischen Gütern unter bestimmten Voraussetzungen von dem Prinzip einer gleichen Freiheit des individuellen Erwerbs zu effizienteren sowie sozialeren und damit stärker umverteilenden Prinzipien übergegangen werden muss, etwa dem Genügensprinzip, dem Paretoprinzip und dem Maximinprinzip (Differenzprinzip), gegebenenfalls unter Abschwächung durch das Utilexprinzip. Allerdings ist in jedem Fall eine Relativierung dieser Prinzipien durch das Leistungsprinzip notwendig, da der Erfolg der gemeinÂ�schaftlichen Schaffung von Gütern von der Leistung jedes Einzelnen abhängt. Auch das Aufopferungsprinzip findet Anwendung: Wenn der Unterschied in der Wertigkeit der Belange sehr groß ist oder wenn Güter wie das Sacheigentum einerseits stark gemeinschaftsÂ�geprägt und andererseits regelmäßig relativ leicht ersetzbar sind, so muss ein Betroffener unter Umständen sogar eine Beeinträchtigung seines Status quo zu Gunsten Anderer in Kauf nehmen, vorausgesetzt, er wird angemessen entschädigt, das heißt die Verschlechterung wird hinreichend wertmäßig ausgeglichen. Das Interesse an ökonomischen Gütern steht in hocharbeitsteiligen VolksÂ�wirtschaften schon auf der Grenze zu den Belangen der Sozialzone. Die Zuordnung hängt von der Perspektive ab: Stellt man eher das individuelle Bedürfnis der Lebenssicherung und den Ausgleich für den individuellen Beitrag in den Vordergrund, dann handelt es sich um Belange der Relativzone. Insofern muss man also zum Beispiel fragen, was zur Lebensführung notwendig und welcher Lohn für die geleistete Arbeit gerecht ist.115 Stellt man dagegen den Anteil am gemeinsamen Projekt der hocharbeitsteiligen Volkswirtschaft in den Vordergrund, so muss man die Belange als solche der Sozialzone kategorisieren. Dieser Aspekt wird sogleich noch ausführlicher erörtert werden. Im Falle sehr ungleichartiger Interessen der Relativzone ist die Abwägung naturgemäß schwierig. Wie soll man etwa entscheiden, wenn A den B beleidigt, also das Interesse des A an der freien Rede mit dem Interesse des B auf Achtung kollidiert? Hier hängt viel von den konkreten Umständen ab, etwa wie gravierend das Unwerturteil des A ausfällt, wie empfindlich B normalerweise reagiert, wie die Gepflogenheiten in den jeweiligen Kreisen ausfallen. Was in manchen Kreisen als schwerste Beleidigung angesehen wird, gilt in anderen als normaler Umgangston. Schwierig sind auch Abwägungen, bei denen drei oder mehr Personen beteiligt sind: Wie schwer muss etwa ein Unglücksfall sein und wie gewichtig die sich ergeben115 Vgl. dazu zum Beispiel: Walter Pfannkuche, Wer verdient schon, was er verdient? Fünf Gespräche über Markt und Moral, Stuttgart 2003.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
de Hilfspflicht des A gegenüber dem verunglückten C, damit A das dem B gegebene Versprechen eines Besuchs hintanstellen darf? Hat sich C bei einem Sturz nur die Hose zerrissen oder das Fahrrad demoliert, wird sein Interesse nicht gewichtig genug sein. Anders dagegen im Falle nicht nur marginaler Verletzungen des Körpers, die eine rasche Wundversorgung erfordern.
c) Konflikte zwischen den Belangen der Sozialzone Auch im Falle eines Konflikts zwischen den Interessen der Sozialzone gilt wegen der vergleichbaren Gemeinschaftsabhängigkeit der jeweiligen Belange grundsätzlich das Gebot der Gleichheit. Was heißt nun aber „Gleichheit“? Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, auf die im Kapitel€III dargestellten sieben Elemente der Handlung zurückzugreifen: (1) die inneren, äußeren und allgemeinen Bedingungen der Handlung, (2)€die konkreten handlungsorientierten Überzeugungen und Wünsche des Akteurs, (3)€das handlungsleitende Ziel bzw. die Absicht (Intention, Zielwille), die der Akteur fasst, (4)€den Prozess der Suche nach Mitteln zur Realisierung dieser Absicht und die Wahl zwischen mehreren möglichen Mitteln, (5) den aus dem Willensbildungsprozess als Auswahl eines Mittels erwachsende konkrete Handlungswillen, der das Handeln unmittelbar steuert, (6) das tatsächliche, intentional gesteuerte Handeln des Akteurs bzw. anders ausgedrückt, die Realisierung der Mittel zur Erreichung des Ziels, (7) die Konsequenzen der Handlung oder die Quasikonsequenzen des Unterlassens. Die Mitglieder der fraglichen Gemeinschaft müssen in all diesen Elementen gleich berücksichtigt werden. Dabei kann man die drei intentionalen und damit eher individuellen Elemente zwei, drei und fünf zur Vereinfachung weglassen, denn sie werden trotz möglicher leichter Beeinflussungen durch gemeinschaftliche Entscheidungen von den Individuen weitgehend selbst geprägt und fallen€– wie sich ergab€– in die Individualzone. Man erhält also vier Elemente der äußeren Situation der Mitglieder, auf die sich die Gleichheit oder Ungleichheit einer EntÂ�scheidung der Gemeinschaft auswirken kann: (1)€die Bedingungen des Mitglieds, also sein Ausgangszustand, (2)€die Beteiligung des Mitglieds am kollektiven Entscheidungsverfahren, (3)€das Handeln des Mitglieds, also sein Beitrag zum gemeinschaftlichen Handeln, (4)€die Konsequenzen, die das kollektive Handeln für das einzelne Mitglied hat, also das Ergebnis. Wendet man das Gleichheitsprinzip auf diese vier Elemente an, so ergeben sich folgende grundsätzlichen Abwägungsergebnisse:
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(1)€Gleichbleibender Ausgangszustand, wenn man von der Abnahme durch den eigenen Beitrag (3) und der Veränderung durch das Ergebnis (4) der Zusammenarbeit absieht: Niemand würde sich an einem gemeinsamen Projekt bzw. einer Gemeinschaft beteiligen, die seinen AusÂ�gangsÂ�zuÂ�stand signifikant verschlechtert. Positive Ergebnisse (4) verÂ�bessern naÂ�türÂ�lich im RegelÂ�fall sukÂ�zesÂ�sive den Ausgangszustand. Aber es ist sinnÂ� voll, diese VerbesÂ�seÂ�runÂ�gen zunächst getrennt zu berücksichtigen, weil sie zum einen mit Teilen des AusÂ�gangsÂ�zuÂ�stands karÂ�dinal oder sogar ordinal unÂ�vergleichbar sein können und zum anderen von den TeilÂ�nehÂ�mern eher zur VerÂ�besserung des Ergebnises riskiert werden. (2)€ Einstimmigkeit des Entscheidungsverfahrens: Entscheidungen im Rahmen eines gemeinsamen Projekts der Sozialzone werden zunächst einmal grundsätzlich von alÂ�len Mitgliedern (also plebiszitär) einstimmig getroffen. Jedes Mitglied kann durch diese Vetoposition seine Interessen schützen. Die Anwendung des Mehrheitsprinzips würde die Mitglieder ungleich behandeln, weil sich die Meinung der Minderheit nicht durchsetzen könnte. (3)€Gleicher Beitrag: Jedes Mitglied muss grundsätzlich den gleichen Beitrag leisten, sei dies zur Ausführung des gemeinschaftlichen Projekts, zur Schaffung oder Bewahrung der natürlÂ�iÂ�chen oder kulturellen Güter oder zur Überwindung der für alle nachteiligen Struktur des GefangenenÂ�dilemÂ�maÂ�s. (4)€Gleiche Ergebnisverteilung: Jedes Mitglied erhält den gleichen Anteil am Ergebnis der ZuÂ�sammenarbeit. Ein ProÂ�blem kann allerdings entstehen, sofern die gleiche Ergebnisverteilung, also eine Gleichbehandlung, aus faktischen Gründen unmöglich ist, wie zum Beispiel bei der Pflege eines Kranken. Als Lösung bietet sich eine temporäre Gleichbehandlung an. Jeder kommt nur für eine gewisse Zeit in den Genuss des knappen Ergebnisses der Zusammenarbeit. Ist auch das nicht möglich oder praktisch wenig sinnvoll, müssen Lösungen gesucht werden, die dem Gedanken der Gleichverteilung€– nämlich nieÂ�manden zu bevorzugen€– möglichst nahe kommen, also zum Beispiel eine EntÂ�scheidung durch Priorität oder Lotterie. Die Notwendigkeit, aus pragmatischen Gründen auf weniger befriedigende LöÂ�Â�sungen als das Gleichheitsprinzip auszuweichen, ändert aber an seiner normativen VerbindlichÂ�keit nichts. Ist das Ergebnis des gemeinschaftlichen Projekts kein Zuwachs, sondern ein Verlust, so muss auch dieser gleich verteilt werden. Das Prinzip der Gleichverteilung der Ergebnisse führt zur Rechtfertigung der Forderung nach Gleichberechtigung vor den Normen, nicht aber von vornherein und damit ohne zusätzliche Gründe nach einem Ausgleich von Ungleichheiten im Ausgangszustand, also nach einer vollständigen Gleichstellung. Diese vierfache Konkretisierung des Gleichheitsprinzips zur Regelung der Abwägung der Belange in Gemeinschaften würde eine erste, einigermaßen faire Lösung ermöglichen. Allerdings wird kaum eine Gemeinschaft ihre Entscheidungen vollständig am Gleichheitsprinzip orientieren können, denn die Interessen der Individuen sind reÂ� gelmäßig auf ihre mögÂ�lichst umfassende VerÂ�wirkÂ�lichung gerichtet. Dem wird die soeben skizzierte reine Anwendung des Gleichheitsprinzips nur parÂ�tiell genügen können. Sie birgt zwei gravierende Nachteile in sich: Sie ist ineffektiv und unsozial.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Die Ineffektivität zeigt sich in verschiedenen Aspekten. Die Annahme eines gleichen Ausgangszustands geht nicht auf unterschiedliche Bedürfnislagen ein. Das Erfordernis der Einstimmigkeit der Entscheidungen wird einen großen Teil der Entscheidungen blockieren. Das Prinzip des gleichen Beitrags hält überdurchschnittlich leistungsfähige Bürger davon ab, mehr für die Gemeinschaft zu tun als der Durchschnitt. Schließlich verhindert das Prinzip einer gleichen Ergebnisverteilung eine Optimierung der indiÂ�viÂ�duellen Anteile am Gesamtergebnis. Im Rahmen einer solchen Verwirklichung des GleichÂ�Â� heitsprinzips werden die Individualinteressen zwar formal bestmöglich beÂ�Â�Â�rücksichtigt, weil die GeÂ�meinÂ�schaftsÂ�entÂ�scheidung sie ohne Abstriche integriert, nicht aber inhaltlich. Eine Effizienzsteigerung wird zu einer bestmöglichen Abwägung und Befriedigung der Belange der Individuen in Plus-Summen-Situationen notwendig. Man muss zu effizienteren Prinzipien übergehen, das heißt das Gebot der Gleichbehandlung durch ein Effizienzprinzip ergänzen. Auch die mangelnde Sozialität liegt auf der Hand: Das blanke Prinzip der Gleichheit ist adäquat, wenn unabhängige Geschäftsleute sich treffen, um ein Unternehmen zu gründen und zu betreiben. Dann werden sie€ – von den soeben erörterten Effizienznachteilen abgesehen€ – von einem gleichen Ausgangszustand, gleichen Beiträgen, gleichem Stimmrecht und gleichen Ergebnisanteilen ausgehen. Aber ein wirtschaftliches Unternehmen ist nur ein sehr spezieller Typ einer Gemeinschaft mit einem sehr eingeschränkten Ziel in einem engen Rahmen der allgemeinen Wirtschaftsordnung. Viele Gemeinschaften sind dagegen Lebensgemeinschaften und dienen nicht oder nicht primär ökonomischen Zielen: Familien, Freundschaften, Kirchen, Clubs, Staaten und andere politische Gemeinschaften. Derartige Lebensgemeinschaften erzeugen Abhängigkeiten und stillschweigende Versprechen. Aus diesen Abhängigkeiten und stillschweigenden Versprechen erwachsen soziale Pflichten der Hilfe und Fürsorge. Sie machen Abweichungen vom bloßen Gleichheitsprinzip erforderlich, etwa Schritte, ursprüngliche Ungleichheiten des Ausgangszustands zu verringern, die Beiträge Benachteiligter zu senken und den Ergebnisanteil speziellen Bedürfnissen anzupassen etc., also Schritte zur Gleichstellung zu unternehmen. Behinderte und die Opfer von Rassen-, Klassen- und Geschlechterdiskriminierung verdienen zum Beispiel eine spezielle Förderung. Deshalb muss das Gleichheitsprinzip durch ein Sozialprinzip ergänzt werden, das weiter gehende Ziele der Gleichstellung realisiert. Das Effizienzprinzip und das Sozialprinzip werden verschiedentlich entgegengesetzte Abweichungen vom Gleichheitsprinzip fordern. Aber es bestehen auch Übereinstimmungen. Eine effiziente Gemeinschaft kann sozialer sein als eine ineffiziente. Allerdings gibt es keine empirische Notwendigkeit, dass eine reichere, effizientere Gemeinschaft in der Realität auch wirklich sozialer ist. Das Gegenteil kann etwa der Fall sein, wenn die höhere Effizienz zu einem größeren Egoismus ihrer Mitglieder und einer größeren Ungleichheit führt. Die im Kapitel€V, 4 und V, 5 diskutierten Abwägungsprinzipien lassen sich als Abweichungen vom Gleichheitsprinzip im Sinne des Gleichbehandlungsprinzips verstehen. Sie versuchen, die beiden soeben erläuterten Nachteile des Gleichheitsprinzips€– Ineffizienz und Unsozialität€ – auszugleichen. Einige Prinzipien machen das Gleichheits-
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prinzip effektiver, etwa das Paretoprinzip und das MaximierungsÂ�prinÂ�zip, andere machen es sozialer, wie das Gleichstellungsprinzip und das Genügensprinzip, aber auch das Marxsche Prinzip: „Jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (soweit es realisierbar ist) oder der Vorschlag, die Freiheiten und Fähigkeiten jedes Einzelnen zu verbessern.116 Das Maximinprinzip bzw. Differenzprinzip versucht beiden Forderungen zu genügen. Die kollektive Steigerung der Effizienz kommt in jedem Fall auch den schlechtest Gestellten zugute. Das macht das Maximinprinzip so attraktiv. In Kapitel€V, 5 ergab sich aber, dass es trotzdem als alleiniges Abwägungsprinzip auf einige Einwände stößt. Man muss also fragen, welche Abweichungen vom GleichheitsÂ�prinzip sowohl dem Effizienzprinzip als auch dem Sozialprinzip genügen können. Dazu empfiehlt es sich, zuerst einmal ohne Bewertung darzustellen, welche Veränderungen der Verteilung nach dem Gleichheitsprinzip grundsätzlich bei den vier oben erwähnten Elementen der Gleichverwirklichung von Interessen der Sozialzone möglich sind. Diese proÂ�gressiven VerändeÂ�rungen lassen sich€– ohne Anspruch auf Vollständigkeit€– folgenderÂ�maÂ�ßen skizzieren, wobei die Abweichungen im Ausgangszustand (1) und im Beitrag (3) im Wesentlichen der Erhöhung der Sozialität, die Abweichungen im Entscheidungsverfahren (2) und im Ergebnis (4) im Wesentlichen der Erhöhung der Effizienz dienen. Die Pfeile („→“) markieren die Stufe um Stufe zunehmende Abweichung vom Gleichheitsprinzip beim jeweiligen Handlungselement. (1)€ Ausgangszustand: Keine Änderung des Ausgangszustands (wenn von der Abnahme durch den Beitrag (3) und der Veränderung durch das Ergebnis (4) abÂ�geÂ�sehen wird) →⃙ (a) Bevorzugung Benachteiligter aus dem allgemeinen ZuÂ�wachs (4) →⃙ (b)€Bevorzugung Benachteiligter aus dem allgemeinen ZuÂ�wachs (4) mit dem weiter gehenden Ziel eiÂ�ner Gleichstellung (2) Entscheidungsverfahren: Einstimmigkeit →⃙ (a)€qualifizierte plebiszitäre Mehrheit (AbÂ�stuÂ�fung 100–51â•›%) →⃙ (b)€qualifizierte plebiszitäre Mehrheit der Abstimmenden →⃙ (c) einfache plebiszitäre Mehrheit, mehr als 50â•›%117 →⃙ (d) einfache plebiszitäre Mehrheit der AbÂ�Â�stimÂ�menden, mehr als 50% →⃙ (e) Einstimmigkeit der Repräsentanten →⃙ (f )€qualifizierte MehrÂ�Â�heit der Repräsentanten, etwa 2â•›/â•›3 →⃙ (g) qualiÂ�fizierte Mehrheit der abstimmenden ReÂ�präÂ�senÂ�tanÂ�ten, etwa 2â•›/â•›3 →⃙ (h) einfache Mehrheit der RepräsentanÂ�ten, mehr als 50â•›% →⃙ (i) einfache Mehrheit der abÂ�stimÂ�menÂ�den RepräÂ�sentanten, mehr als 50â•›% →⃙ (j) MinderheitsentÂ�scheidung durch eine ausgewählte Gruppe →⃙ (k) EntscheiÂ�dung durch eine Person (zum Beispiel den Leiter)
116 €Amartya K. Sen, Inequality Reexamined, 3.€Aufl. New York 1995, S.€39â•›ff. 117 Die Reihenfolge zwischen den Abweichungsalternativen (b) und (c) lässt sich anzweifeln. Man muss sich entscheiden, ob man die Mehrheit oder die Menge der Abstimmenden als wichtiger ansieht.
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
(3)€Beitrag: Gleicher Beitrag von jedem →⃙ (a) proportionaler Beitrag von jedem →⃙ (b)€niedrigerer Beitrag einiger, unterproportional zur SchlechterÂ�stellÂ�ung in der Ausgangslage (1) oder im Ergebniszuwachs (4aâ•›ff.) →⃙ (c)€niedrigerer Beitrag einiger, proportional zur SchlechterÂ�stellÂ�ung in der Ausgangslage (1) oder im Ergebniszuwachs (4aâ•›ff.) →⃙ (d)€niedrigerer Beitrag einiger, überproportional zur SchlechterÂ�stellÂ�ung in der Ausgangslage (1) oder im Ergebniszuwachs (4aâ•›ff.) →⃙ (e)€kein Beitrag der Schlechtergestellten in der Ausgangslage (1) oder dem Ergebniszuwachs (4aâ•›ff.), bis eine Gleichstellung erreicht ist (4) Ergebnis: Gleicher Ergebniszuwachs aller in jeder Periode (Gleichheitsprinzip, GP) →⃙ (a) ↜ungleicher Zuwachs in einer PeÂ�riode, wenn alle im Ergebnis gegenüber der bloßen Gleichverteilung soweit wie möglich besser stehen und die VerÂ�besserung derjeniger, die auf diese Weise am wenigsten gewinnen, nicht mehr als um 100€–€xâ•›% (x€<€100) vom Zuwachs der Bestgestellten abweicht (limitiertes Maximinprinzip) →⃙ (b)€ ungleicher Zuwachs in einer PeriÂ�ode, wenn alle im ErÂ�gebnis gegenüber der Gleichverteilung besser stehen (MaximinprinÂ�zip) →⃙ (c)€ungleicher Zuwachs in einer Periode, wenn 100€–€xâ•›% (x€<€100) einen Vorteil von yâ•›% gegenüber der Gleichverteilung haben und niemand einen Nachteil hat (qualifiziertes Paretoprinzip) →⃙ (d)€ungleicher Zuwachs in einer Periode, wenn keiner gegenüÂ�ber der Gleichverteilung schlechter und minÂ�deÂ�stens einer besser gestellt ist (Paretoprinzip) →⃙ (e) ungleicher Zuwachs in einer Periode, auch wenn einige in der lauÂ�fenden PeriÂ� ode weniger Zuwachs haben als bei der GleichÂ�verÂ�teiÂ�lung, sofern die Gesamtzuwachssumme aller höher als bei (4d) ist (zeit- und ungleichheitslimitiertes Maximierungsprinzip) →⃙ (f )€ungleicher Zuwachs in einer Periode, selbst wenn einige in dieser Periode gar nichts bekommen, sofern die Summe des Gesamtzuwachses aller höher als bei (4e) ist (zeitÂ�limitiertes Maximierungsprinzip) →⃙ (g)€ungleicher Zuwachs in einer Periode, selbst wenn einige in dieser Periode gar nichts bekommen und sogar ihr Zuwachs aus vorheriÂ�gen Perioden aufgezehrt wird, sofern die Gesamtzuwachssumme aller höher als bei (4f ) ist (gewinnÂ�liÂ�miÂ� tierÂ�tes Maximierungsprinzip) →⃙ (h)€ungleicher ZuÂ�wachs, selbst wenn bei einigen absolute Abnahme des AusÂ�gangszuÂ� stands (1) eintritt, sofern die Summe des GeÂ�samtÂ�zuÂ�wachses höher als bei (4g) ist (Maximierungsprinzip) Für Verluste kann das gesamte Abweichungsschema der Ergebnisse (4) entsprechend angewandt werden. Es stellt sich nun die Frage, welche der jeweiligen Abweichungen von den vier Elementen in der Abwägung als ethisch legitim anzusehen sind, das heißt vom Effizienz-
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prinzip und Sozialprinzip gefordert und gleichzeitig mit dem jeweils anderen Prinzip vereinbar sind. Dazu sind wenigstens vier Gesichtspunkte zu bedenken: Erstens: Die verschiedenen Abweichungen vom Anfangspunkt der Gleichverwirklichung bei den einzelnen Elementen müssen faktisch nicht parallel verlaufen. Man nehme als Beispiel die Entscheidung durch den Leiter eines Vereins. Im Rahmen des Entscheidungsverfahrens (2) ist man damit auf die letzte Stufe der Entscheidung durch eine Person (2k) übergegangen. Eine Veränderung der Beiträge (3) oder Ergebnisse (4) ist mit diesem Übergang zur Stufe (2k) aber nicht verbunden€– etwa eine Erhöhung der Vereinsbeiträge oder eine Verbesserung der Trainingsmöglichkeiten. Allerdings sind die Abweichungen vom Anfangspunkt der Gleichheit zwar faktisch prinzipiell voneinander unabhängig, normativ-ethisch aber verbunden. Das heißt: Man muss alle vier Elemente im Rahmen jeder einzelnen Abweichung in eine faire Balance der Abwägung bringen (wobei sie ein unterschiedliches Gewicht haben können). Man muss wie ein Jongleur mit vier Bällen gleichzeitig spielen, um eine adäquate Abwägung der Interessen der Sozialzone zu erreichen. Zweitens: Zur Entscheidung der Frage, wie weit eine Abweichung gehen darf, müssen zusätzliche empirische Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige dieser Gesichtspunkte aufgezählt: die Lebensbedingungen der Menschen in einer Gemeinschaft, denn besser gestellte Menschen können es sich eher erlauben, Risiken einzugehen; die tatsächliche Bereitschaft der Menschen in einer bestimmten Gemeinschaft, Risiken einzugehen; die Geschichte der Gemeinschaft, denn es ist besonders für das Sozialprinzip bedeutsam, ob der Lebenszusammenhang schon seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden besteht oder sich aus neuen Gründern zusammensetzt. Im letzten Fall sind die sozialen Bindungen geringer, und damit ist die Berechtigung sozialer Forderungen nach Unterstützung weniger ausgeprägt; das unabhängig von derartigen historischen Faktoren tatsächlich bestehende Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Menschen in einer Gemeinschaft; das Maß der Arbeits- und Aufgabenteilung bei der Verwirklichung des Projekts; die internationale Verflechtung mit anderen Gemeinschaften; die Konkurrenz durch andere Gemeinschaften. Drittens: Es ist kein Grund ersichtlich, warum man nicht für verschiedene Lebensbereiche einer einzigen Gemeinschaft zu unterschiedlichen Abweichungen komÂ�men sollte. Viertens: Weicht man bei den vier Elementen vom Ausgangspunkt der Gleichverwirklichung ab, so sind die sozialen Resultate nicht ohne Weiteres vorhersehbar. Man wird deshalb mit der Methode von Versuch und Irrtum arbeiten und die Abweichungen im Rahmen der einzelnen Elemente immer wieder veränderten tatsächlichen Situationen anpassen müssen. Abstraktion und Konkretion, Universalität und Kontingenz sind keine strikt dualistischen Alternativen, sondern nur Extrempunkte eines Kontinuums. Die empirischen und damit kontingenten Elemente nehmen in einer normativen Ethik kontinuierlich zu. Auf einer sehr abstrakten Ebene spielen sie noch keine entscheidende Rolle und können vernachlässigt werden. Aber mit zunehmender Konkretion werden sie immer stärker. Ab einer gewissen Stärke kann die Theorie dann nicht mehr konkreter werden, ohne empirische Beobachtungen und praktische Entscheidungen in großem Umfang einzubeziehen. Die Theorie kann dann nur noch sehr beschränkt Vorschläge machen, die im
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Rahmen einer praktischen Entscheidung zu berücksichtigen sind. Die Überlegungen zur Abwägung von Interessen der Sozialzone scheinen nunmehr an diesem Punkt angelangt zu sein, an dem die massive Einbeziehung empirischer Erkenntnisse und der Übergang zu praktischen Entscheidungen angezeigt wäre. Die abstrakte Struktur der normativindiviÂ�dualistiÂ�schen Ethik, wie sie bis hierher entwickelt wurde, scheint in hohem Maße einen universellen Anspruch erheben zu können. Aber die genaue Festlegung, welche Abweichung von den vier Elementen in einer bestimmten Gemeinschaft jeweils die bestmögliche Abwägung darstellt, bedarf wegen der soeben aufgeführten empirischen Elemente einer derart starken Berücksichtigung der tatsächlich bestehenden Verhältnisse, dass sie nicht mehr vom Schreibtisch des Theoretikers aus unternommen werden kann. Die abstrakte philoÂ�soÂ�phiÂ�sche Betrachtung unter Einschluss eines zumindest minimalen UniversalisierungsanÂ�spruchs kommt hier an das Ende ihrer Möglichkeiten. Das bedeutet allerdings nicht, dass man die normative Ethik nicht für einzelne AnwendungsÂ�komplexe, etwa konkrete ökonomische Verteilungen, weiter ausarbeiten könnte, sofern man die Spezifika dieses Komplexes berücksichtigt. Es ist nur nicht möglich, für alle Abwägungen zu einer gleichzeitig generellen und konkreten Lösung im Hinblick auf die Abweichung vom Prinzip der Gleichverwirklichung bei den vier Elementen zu gelangen. Das bedeutet schließlich auch nicht, dass es keine guten ArÂ�guÂ�menÂ�te für den Übergang zwischen den einzelnen AbweichungsstuÂ�fen der vier Elemente gäbe. Aber man nähert sich nunmehr den Kontingenzen praktischer KomÂ�proÂ�missÂ�bildung. AngeÂ�sichts dieser Tatsache soll hier nur noch eine kurze Skizze einzelner PrinÂ�zipien zur Steuerung der Abweichung von der ursprünglichen Gleichheit der vier Elemente folgen: (1)€Sozialprinzip: Wie erwähnt, fordert dieses Prinzip, den Ausgangszustand (1) zu egalisieren, den Beitrag (3) der Bedürftigsten zu senken und die Ergebnisse (4) so zu strukturieren, dass spezifische Interessen berücksichÂ�tigt werden, etwa die Interessen Behinderter an einer speziellen medizinischen Versorgung. Begründet wird das Sozialprinzip durch die Hilfs- und Fürsorgepflicht, die aus dem tatsächlichen Zusammenleben der Menschen in einer Gemeinschaft erwächst. (2)€ProportioÂ�nalÂ�pÂ�rinzip: Beitrag (3) und Ergebnis (4) dürfen proportional ungleich verteilt werÂ�den, soÂ�fern der Betroffene dem zustimmt. Ein Beispiel wäre der Übergang zur Teilzeitarbeit. Die Realisierung dieses Veränderungsprinzips kann sozial problemaÂ�tisch sein, weil sie zu stark ungleichen Einkommensverteilungen führt. Aber die Zulassung einer proportionalen Ungleichverteilung erhöht etwa im Fall von Arbeit und Verdienst die Freiheit der Menschen, zwischen Einkommen und Muße zu wählen, und erscheint deshalb als Ausfluss des Prinzips des normativen Individualismus gerechtfertigt. (3)€ Verbesserungsprinzip: Viele Gemeinschaften nehmen für ihr räumliches oder sachliches Gebiet ein Monopol der Macht und des Zwanges in Anspruch. Die Folge ist, dass praktisch niemand mehr außerhalb einer Gemeinschaft leben kann. Zur Kompensation muss jedem Mitglied ein Austrittsrecht zugestanden werden, um in eine andere Gemeinschaft überwechseln oder anarchistisch leben zu können. Das Austrittsrecht ermöglicht es dem Einzelnen, die KoopeÂ�ration abzubreÂ�chen, wenn sie sich für ihn nachteilig auswirkt, also vor allem, wenn ein Element zu seinen Ungunsten verändert wird. Er muss allenfalls eine Art „KündiÂ�gungsÂ�frist“ in Kauf nehmen, um die anderen
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GemeinschaftsmitÂ�glieder, die im Hinblick auf seine Beteiligung an der Gemeinschaft DispositioÂ�nen getroffen haben, nicht zu schädiÂ�gen. Allerdings ist die Ausübung des Austrittsrechts in der Realität stark eingeschränkt, weil es für die Mitglieder häufig mit Nachteilen verbunden ist. Andere Gemeinschaften nehmen überdies vielfach keine neuen Mitglieder auf. Im Übrigen ist eine völlige Ablösung von der heimatlichen Umgebung und dem FaÂ�milienÂ�kreis kaum zuÂ�mutbar. Diese ErÂ�schwerung bzw. praktische Unmöglichkeit der AusÂ�tritts müssen die Gemeinschaften kompenÂ�sieÂ�ren: Alle GemeinÂ�schaftsÂ�mitglieder sind innerhalb der GemeinÂ�schaft besser zu stellen, als wenn sie völlig autark leben würden. Das heißt, ein völliger Ergebnisausfall muss in Lebensgemeinschaften unter allen Umständen verÂ�mieden werden. Damit scheiden im Regelfall das strikte MaximierungsÂ�prinÂ�zip und das gewinnlimitierte Maximierungsprinzip (4h und 4g) als extremste Veränderungsschritte in der Ergebnisverteilung gegenüber dem Ausgangsprinzip der Gleichverwirklichung aus. Nur Lotterien als reine Spiel- und Risikoprojekte sind insofern eine Ausnahme. (4)€Kompensationsprinzip: Jede Gemeinschaft muss im Interesse ihrer Mitglieder bestrebt sein, die Effizienz ihres Handelns zu erhöhen. Dies geschieht durch eine VerÂ�Â�einÂ� faÂ�chung des Entscheidungsverfahrens und eine Verbesserung der Ergebnisse, das heißt eine Veränderung der Elemente (2) und (4). Eine derartige Veränderung kann aber ohne eine Â�Besserstellung der SchlechterÂ�gestellten im Ausgangszustand (1) und im Beitrag (3) nicht als gerecht angesehen werden. Die bloße Erhöhung des individuellen Ergebnisses entschädigt nicht für die dadurch entstehende Ungleichheit. Dazu ein Beispiel: Wenn sich eine GemeinÂ�schaft entschließt, von einer bäuerlichen Landwirtschaft zur industriellen Produktion überzuÂ�gehen, so schafft sie ungleiche Zuwächse. Ein BeÂ�hinÂ�derÂ�ter kann zum Beispiel die neuen MoÂ�bilitäts-, Bildungs- und Vergnügungsmöglichkeiten nur unterÂ�durchschnittlich nutzen. Er wird€– mit Recht€– auf einer Kompensation beim Ausgangszustand (1) und beim Beitrag (3) bestehen. Er wird neben einem unterproportional niedrigen Beitrag zum Beispiel fiÂ�nanzielle Entschädigungen und den Bau von BehindertenÂ�einÂ�richÂ�tunÂ�gen fordern. (5)€RückholÂ�barÂ�keitsprinzip: Es ist nicht anzunehmen, dass jemand willens ist, auf die Einstimmigkeit beim Entscheidungsverfahren (2) zu verzichten, ohne dass eine Rückholbarkeit dieses Verzichts möglich bleibt. Oder anders ausgedrückt: Eine Gemeinschaft kann vom EinstimmigÂ�keitsprinzip abgehen. Aber dann muss ein ZweiÂ�- oder MehrebeÂ�nenÂ� modell der Entscheidungsfindung etabliert werden. Während auf der primären Ebene die Notwendigkeit eines KonÂ�senses verÂ�bleibt, werden auf der sekundären EbeÂ�ne (bzw. weiteren EbeÂ�nen) die Anforderungen an das EntÂ�scheiÂ�dungsverfahren (2) gesenkt. Diese zusätzlichen Ebenen dürfen die primäre Ebene aber nie vollÂ�Â�ständig verdrängen. Würde man auf jegliche Rückholbarkeit verzichÂ�ten, wäre die EinÂ�stimmigÂ�keit endgültig aufgegeben und das Prinzip des normaÂ�tiÂ�ven Individualismus verletzt. Es ist kein Grund ersichtlich, warum sich jeÂ�mand einem derarÂ�tigen Risiko einer „Tyrannei der Mehrheit“ ausÂ�setzen sollÂ�te. Im Übrigen gilt: Es darf kein praktisch unÂ�überwindbar hohes Quorum für die RückÂ�holung verlangt werden. Herrschaft muss immer bedingt und befristet sein. (6)€Kontrollprinzip: Selbst im Falle eines ÜberÂ�Â�gangs auf schwächere Entscheidungsverfahren (2) muss als Ausfluss des normativen Individualismus bei jedem einzelnen
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Mitglied der Gemeinschaft ein KonÂ�trollrecht verÂ�bleiben. Ausfluss dieses Kontrollprinzips ist die Forderung nach Öffentlichkeit und Transparenz der EntscheiÂ�dungen. (7)€ Balanceprinzip: Das Entscheidungsverfahren (2) und das Ergebnis (4) dürfen nicht kumulativ weitgehend verändert werden. Wenn man beim EntÂ�scheiÂ�dungsÂ�Â� verfahren zur qualifizierten Mehrheit der Repräsentanten (2f ) oder den folÂ�Â�Â�genÂ�den Schritten (2g–2k) übergeht, dürfen nicht einzelne oder fast alle Mitglieder von einem positiven Ergebnis ausgeschlossen werden. Ein Übergang zum zeitÂ�limitierten oder strikten Maximierungsprinzip (4f ff.) ist also ausgeschlossen. Ansonsten bestünde eine große GeÂ�fahr des Missbrauchs. Die Entscheidenden könnten sich selbst ungerechtÂ�fertigte Vorteile verschafÂ�fen. Damit wäre den Forderungen des normativen Individualismus nicht mehr genügt. Ein AlleinentscheiÂ�der (2k) darf im Übrigen nicht ausschließlich sich selbst besser stellen, selbst wenn sonst niemand schlechter gestellt wird (4d, ParetoÂ� prinzip), denn eine gemeinschaftliche Entscheidung muss als Repräsentationsentscheidung immer auch anderen dienen. Schließlich gilt: Der Minderheitenschutz ist verfahÂ� rensrechtlich abzusichern. (8)€ Sektoralprinzip: In bestimmten Sektoren einer GeÂ�meinÂ�schaft ist der Übergang von (4) zu (4a ff.), das heißt von der Gleichverteilung des Ergebnisses zur ErgebnisÂ�verÂ� besserung, nicht zulässig. So darf der Anspruch auf GleichÂ�heit vor den Normen oder die GleichÂ�heit der Wahl nicht aufÂ�gegeben werden. Auch die Chancengleichheit bei der Vergabe von Funktionen, Posten, Subventionen etc. muss gewahrt bleiben. Die Kernelemente der Mitgliederbeteiligung und -beÂ�rücksichtigung stehen in unmittelbarem Zusammenhang zu Interessen der Individual- und Relativzone und dienen deren Sicherung. Dies schließt eine kollektive Effektivierung um den Preis der Ungleichbehandlung aus. In manchen Sektoren erscheint nur eine sehr moderate Abweichung beim Ergebnis (4) zulässig. So wäÂ�re etwa eine sehr weit aufgespreizte und starre Hierarchie€– selbst bei moneÂ�tärer KomÂ�pensation€– nicht zur Ermöglichung des Paretoprinzips (4d) und wohl auch kaum des qualifizierten Paretoprinzips (4c) zulässig. Man käme hierbei unweigerÂ� lich mit dem Prinzip des normativen Individualismus in Konflikt. (9)€Prinzip der Relevanz des Ausgangszustands: Je höher der durchÂ�Â�schnittliche Ausgangszustand ist, desto eher erscheint es gerechtfertigt, ein größeres Risiko zu wagen und beim Ergebnis (4) zu efÂ�fektiÂ�veÂ�ren Abwägungen überzugehen. Ein anschauliches Beispiel für die interdependent abhängige Veränderung der vier GeÂ�rechtigÂ�keitselemente bietet gegenwärtig die europäische Einigung, wenn man die einÂ�zelnen Staaten als Quasiindividuen ansieht. Der gemeinsame Markt ist ein gemeinsaÂ� mes Projekt und soll allen Beteiligten Vorteile bringen (VerÂ�besÂ�seÂ�rungsÂ�prinzip 3). Dabei ist der Ausgangszustand sehr unterschiedÂ�lich. Dementsprechend unterÂ�schiedlich sind BeiÂ�trag und Ergebnis (ProÂ�porÂ�tionalprinzip 2). Aber ein ökonomisch starkes und exportoriÂ�entiertes Land wie die BunÂ�desrepublik hat nicht nur absolut und proportional zum Pro-Kopf-EinÂ�kommen aller, sondern häufig sogar überproportional hohe Vorteile gegenüber anderen Ländern. Es ergibt sich also die Situation (4a). Deshalb streiten die wirtschaftlich schwächeren Länder um einen unterproportionalen Beitrag, also (3b), und eine zusätzÂ�liche VerbesseÂ�rung ihres AusÂ�gangszustands (1a, 1b) durch verschiedene UmverÂ�teilungsÂ�maßÂ�nahÂ�Â�Â�men (Sozialfonds, KohäÂ�sionsfonds, Subventionierung der
11. Der Widerstreit zwischen Belangen verschiedener Zonen
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Landwirtschaft, RegioÂ�nalÂ�fonds etc.). Die wirtschaftlich schwächeren Länder streben an, einen Teil des ungleiÂ�chen ZuÂ�wachÂ�ses zu erhalten, und wollen auf diese Weise eine Egalisierung (1b) erreichen. Die wirtÂ�schaftlich stärkeren Länder sind bereit, einen Teil ihres Überschusses abzugeben, aber nicht so viel, dass es im Verhältnis zu den schwächeren Ländern am Ende zu einer Egalisierung kommt. Das Entscheidungsprinzip im Ministerrat ist für nichtfundamentale Entscheidungen vom Einstimmigkeits- zum Mehrheitsprinzip verändert worden.
11. Der Widerstreit zwischen Belangen verschiedener Zonen Ein Widerstreit zwischen Belangen verschiedener Zonen kommt in zwei Vorrangverhältnissen vor, einem absoluten Vorrang der Belange der Individualzone gegenüber solchen der Relativ- und Sozialzone und einem relativen Vorrang der Belange der Relativzone gegenüber solchen der Sozialzone:
a)€Absoluter Vorrang der Belange der Individualzone Grundsätzlich gilt, dass die Belange der Individualzone vor solchen der Relativ- und der Sozialzone einen absoluten Vorrang genießen. Einzelnen Betroffenen ist regelmäßig keine Einschränkung ihrer kaum von bestimmten Anderen oder der Gemeinschaft abhängigen Interessen zur Realisierung sehr viel stärker gemeinschaftsabhängiger Interessen zumutbar. Weder das Gleichheitsprinzip noch das Maximierungsprinzip oder eines der anderen erörterten Prinzipien können hier zur Anwendung kommen. Man darf etwa Andere nicht um religiöser Handlungen oder materieller Güter willen töten. Man darf ihnen nicht das Leben nehmen, um sich vor ihren künftigen verbrecherischen Handlungen zu schützen, was die Todesstrafe ausschließt. Man darf sie nicht zwangsÂ�weise sterilisieren, um weitere Sexualdelikte zu verhindern. Man darf sie nicht gegen ihren Willen durch eine Magensonde ernähren. Man darf ihnen nicht zwangsweise Blut oder Liquor entnehmen, um sie einer Straftat zu überführen. Man darf ihnen nicht gegen ihren Willen Brechmittel verabreichen, um das Erbrechen von Beuteln mit Rauschgift herbeizuführen. Man darf sie nicht um politischer Ziele willen foltern. Man darf sie nicht zwangsweise an einen Lügendetektor anschließen, um die Wahrheit ihrer Aussagen zu überprüfen. Ihre Gedanken und Gefühle dürfen nicht gegen ihren Willen unterdrückt oder manipuliert werden, um ihr Verhalten zu ändern. Jenseits derartiger direkter Beeinträchtigungen ist fraglich, welche Risikoerhöhung der Einzelne für Belange seiner InÂ�dividualzone in Kauf nehmen muss. Eine Begründung, warum er unfreiwillig eine über das allgemeine LeÂ�bensrisiko erheblich hinausgehende Gefahr für Leben, Leib oder Psyche akzeptieren sollte, ist nicht ersichtlich. Moral und Recht verbieten also etwa mit gutem Grund, dass Kraftfahrzeuge mit abÂ�gefahrenen Reifen oder defekten Bremsen benutzt werÂ�den oder dass jemand alkoholisiert fährt, denn Andere werden dadurch an Leib und Leben gefährdet. Die Nutzung der Kern-
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
energie zur Stromerzeugung ist jedenfalls dann problematisch, wenn die dadurch herbeigeführten Risiken nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit für die gegenwärtig Lebenden und künftige Generationen ausgeschlossen werden können. Die allgemeine Wehrpflicht ist als Erhöhung des Lebensrisikos allenfalls zur Verteidigung der Bürger des Heimatlandes vor feindlichen Angriffen auf Leib und Leben und damit als gemeinschaftliche Notwehr gerechtfertigt, sofern eine Berufsarmee nicht ebenso zu diesem Zweck tauglich ist. Zu Auslandseinsätzen in fernen Krisenregionen aus allgemein- und weltpolitischen Gründen der Bündnistreue und der Staatsraison dürfen jedenfalls nur Berufssoldaten verpflichtet werden. Was rechtfertigt den über die bloß höhere Gewichtung noch hinausgehenden absoluten Vorrang der Belange der Individualzone vor solchen der anderen beiden Zonen? Die Rechtfertigung liegt offenbar darin, dass die Güter innerhalb der symbolischen Körpergrenze, auf die sich die Belange der Individualzone beziehen, das eigene Ich des betroffenen Individuums konstituieren. Der Unterschied wird in folgender fundamentalen sprachlichen Differenz deutlich: Man sagt etwa: „Ich wurde verletzt“, aber „Mein Fahrrad wurde gestohlen“. Bereits bei Platon findet sich die Differenzierung zwischen der Sorge um sich selbst und dem Tun des Seinigen.118 Das Ich mit seinen Teilen ist für eine normativ-individualistische Ethik, deren letzte verpflichtende Quelle im Individuum liegt, so fundamental, dass grundsätzlich keine Relativierung durch stärker gemeinschaftsabhängige Interessen erlaubt sein kann. Die einzige Ausnahme von der absoluten Sperrwirkung der Interessen der Individualzone scheint die Befugnis zur Notwehr zu sein. Darf man sich des Diebes nicht auch mit Waffengewalt erwehren und dessen Verletzung in Kauf nehmen? Darf man also im Rahmen der Notwehr den Schutz des Sacheigentums als Belang der Relativzone den Belangen von Leib und Leben des Diebes als Interessen der Individualzone überordnen? Für das deutsche Recht statuiert die Notwehrregel des § 32 Strafgesetzbuch,119 dass alles getan werden darf, was zur Abwehr des Angriffs erforderlich ist. Nur wenn zwischen Art und Umfang der aus dem Angriff drohenden Beeinträchtigung und der Gefährdung oder Verletzung des Angreifers durch die Notwehr ein grobes Missverhältnis liegt, ist Letztere nicht erlaubt.120 Trotz dieser Einschränkung soll nach der herrschenden Meinung in der deutschen Rechtsprechung und Literatur eine Verteidigung des Sacheigentums mit Waffengewalt, die zur Verletzung des Angreifers führen kann, zulässig sein. Auf den fliehenden Dieb darf also im Prinzip sogar geschossen werden, sofern der gestohlene Gegenstand nicht von unbedeutendem Wert ist, die Verteidigung nicht mehr oder weniger sicher zum Tod des Angreifers führen würde oder der Angreifer nicht schuldlos handelt, also etwa ein Kind ist. Vermutlich weichen auch die allgemeinen moralischen Überzeugungen in der Bevölkerung nicht signifikant von dieser Rechtslage ab. 118 Platon, Alkibiades I, 127e1â•›ff.; Politeia 433a1â•›ff. 119 § 32 StGB: (1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. (2)€Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. 120 Lencknerâ•›/â•›Perron in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar, § 32, Rn. 50.
11. Der Widerstreit zwischen Belangen verschiedener Zonen
241
Die normative Ethik könnte diese rechtliche und moralische Auffassung natürlich als unbegründet in Zweifel ziehen und eine Änderung fordern. Man wird sich aber zunächst fragen müssen, ob es sich wirklich um eine Ausnahme handelt? Dies lässt sich mit folgender Erwägung verneinen: Jeder erhebliche Angriff auf einen Unschuldigen impliziert dessen kaum kalkulierbare weitere Gefährdung an Leib und Leben. Der Einbrecher wird im Falle seiner Entdeckung möglicherweise körperliche Gewalt anwenden. Und der fliehende Dieb wird vielleicht stehenbleiben, eine Pistole ziehen und auf den Verfolger schießen. Selbst wenn sich der Angriff zunächst scheinbar auf Sacheigentum beschränkt, erzeugt der Angreifer wegen der starken kriminellen Energie, die er manifestiert, regelmäßig eine weit über dem allgemeinen Lebensrisiko liegende Gefahr für Leib und Leben des Angegriffenen. Dann kann die Abwägung den Angegriffenen aber nicht darauf verpflichten, sich auf eine erheblich risikoreichere und weit weniger erfolgversprechende Abwehr zu beschränken, sofern die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt bleibt. Der Bestohlene muss also im Regelfall dem Dieb nicht nachlaufen und das erhebliche Risiko einer Schussverletzung, eines Messerstichs oder eines möglicherweise tödlichen Faustschlags im Verlauf eines Handgemenges in Kauf nehmen. Bewirken Angreifer für Unschuldige mit Absicht derartige erhebliche Erhöhungen des Risikos, dann relativieren sie selbst den absoluten Vorrang ihrer Interessen der Individualzone.
b) Vorrang der Belange der Relativzone Den Belangen der Relativzone kommt gegenüber den Interessen der Sozialzone ebenfalls ein grundsätzlicher Vorrang zu. Dem individuellen Interesse, eine bestimmte Handlung auszuführen, etwa sich von einem Ort zu einem andern zu bewegen, wird man einen prinzipiellen Primat vor allen gemeinsamen Projekten zuerkennen müssen. Der einzelne darf zum Beispiel nicht gezwungen werden, im Interesse des Familienwohlstands oder der Familienehre an einem bestimmten Ort zu leben, einen bestimmen Partner zu wählen, einen bestimmten Beruf zu ergreifen, eine bestimmte Meinung zu äußern oder sein Leben vollständig oder auch nur zum großen Teil der Familie zu opfern. Aber der Vorrang der Belange der Relativzone wird regelmäßig nur als ein relativer anzusehen sein. Das heißt, bei sehr wichtigen Belangen der Sozialzone und weniger wichtigen Belangen der Relativzone kann es im Einzelfall dazu kommen, dass die Belange der Relativzone zurücktreten müssen. Dabei werden die Interessen der Relativzone umso geringer wiegen, je stärker sie von der Gemeinschaft abhängen. Die Interessen der Sozialzone werden dagegen ein umÂ�so größeres Gewicht gewinnen, je weitgehender sie ihrerseits von den Individuen bestimmt sind. Die Einschränkung der Interessen der Relativzone durch solche der Sozialzone ist der Fall, der von einer normativ-individualistischen, das heißt in bestimmtem Sinn liberalen Warte aus am problematischsten ist. Lässt man eiÂ�ne derartige Einschränkung zu, ist Mills libeÂ�rales „Schadensprinzip“ (harm princiÂ�ple), nach dem Freiheitslimitationen nur dem Schutz Anderer vor SchäÂ�digungen dieÂ�nen dürÂ�fen, verletzt. Fraglich ist also, ob bestimmte kollektive Projekte in einer Gemeinschaft die Belange der ReÂ�laÂ�tivzone einÂ�schränÂ� ken dürfen, ohne dem Schutz einzelner Menschen vor Schädigung bzw. deren individueller
242
V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
Freiheit zu dienen, also ihrerseits wenigstens in einem weiteren Sinn durch Interessen der Relativzone Anderer gerechtfertigt zu sein. Beispiele solcher Regelungen der Sozialzone, die Freiheiten der Relativzone limitieren, wären der Schutz des allgemeinen Vertrauens auf Versprechen durch ein institutionelles System, die Restriktion von Nacktheit und Sexualität in der Öffentlichkeit durch Ordnungsnormen, der Zwang zum Schulbesuch durch die allgemeine Schulpflicht, die generelle SonnÂ�tags- und FeiertagsÂ�ruhe, die RegleÂ�menÂ�tieÂ�rung der Ladenöffnungszeiten, der Ausschluss der Tötung auf Verlangen sowie Bauvorschriften, die ästhetische oder landÂ�schaftsÂ�schützende Ideale verfolgen. Zur Lösung ist zunächst daran zu erinnern, dass sämtliche legitimen Belange, die in die Sozialzone fallen, IndividualÂ�belange sind. Diese Belange sind zwar im Regelfall nicht so offensichtlich bestimmten Individuen zuzuÂ�rechnen wie die Belange der Relativzone. Aber sie müssen letztlich notwendig auf Individuen mit ihren Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen rückÂ�Â�führÂ�bar sein, wenn sie dem Prinzip des normativen Individualismus genügen sollen. Hinter einem System des allgemeinen Vertrauens auf Versprechen steht etwa das grundsätzliche Streben, verlässlich disponieren zu können, hinter der Restriktion von Nacktheit und Sexualität in der Öffentlichkeit das Bedürfnis, in intimen Angelegenheiten nicht verletzlich zu sein und keine Anreize zu sexuellen Übergriffen zu bieten, hinter der allgeÂ�meinen Schulpflicht etwa der Wunsch, in einer GeÂ�sellÂ�schaft gebildeter und beÂ�ruflich qualifizierter Menschen zu leben, hinter der SonnÂ�tagsruÂ�he das Ziel, KonÂ�templation zu ermöglichen, hinter den eingeschränkten LadenÂ�Â�öffnungszeiten der Belang, nicht das ganze Leben von ökonomischen Transaktionen vereinnahmen zu lassen und auch den Verkaufsangestellten eine gemeinsame Erholung mit ihren Familien zu ermöglichen, hinter dem allgemeinen Ausschluss der Tötung auf Verlangen der Wunsch, eine ubiquitäre Tötungspraxis durch Private mit entsprechenden Missbrauchsund Brutalisierungsrisiken zu verhindern, hinÂ�ter ästhetischen und landschaftsschützenden BauÂ�vorschrifÂ�ten das Interesse an einem Leben mit anÂ�spreÂ�chenÂ�den BauÂ�ten und in unbeÂ�rührter Natur. Diese Belange können regelmäßig nur im Rahmen einer GeÂ�meinÂ� schaft verwirklicht werden. Es handelt sich um InÂ�teressen, die sich auf ein gutes Leben in einer bestimmÂ�ten GeÂ�sellschaft richten, nicht um liberale FreiÂ�heitsinÂ�teressen. Geht man vom zweiten Teil des Prinzips des normativen Individualismus aus, also dem Allprinzip, dass alle jeweils betroffenen InÂ�diÂ�viÂ�duen mit ihren InterÂ�essen BeÂ�rücksichtigung verÂ�dieÂ� nen, müssen auch Interessen der Individuen an einem guten, gemeinschaftlichen Leben prinzipiell in der Abwägung mit Interessen der Relativzone berücksichtigt werden. Die typischerweise weniger starke Gemeinschaftsprägung der Belange der Relativzone rechtfertigt ihre stärkere Gewichtung, nicht aber ihren absoluten Vorrang vor Belangen der Sozialzone. Sehr gewichtige oder zahlenmäßig große Interessen der Sozialzone können sich gegenüber Belangen der Relativzone durchsetzen. Allerdings ist im Falle eines Vorrangs von Belangen der Sozialzone gegenüber solchen der Relativzone bei einer kategorischen Verpflichtung eines Mitglieds der Gemeinschaft notwendig das EinstimmigÂ�keitsprinzip nicht erfüllt, sonst bestünde kein Konflikt. Das heißt, die Konstitution der Belange der Sozialzone unterfällt in jedem Fall bestimmten, vom normativen Individualismus geforderten Restriktionen. Aus diesem Grund wird man annehmen müssen, dass sich nur wenig graÂ�vieÂ�rende und sehr sektorale Beschränkungen
12. Die Hierarchie der Prinzipien
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der Belange der Relativzone durch Belange der Sozialzone rechtfertigen lassen, und zwar nur solche, bei denen die VerbesÂ�seÂ�rung für die GeÂ�meinÂ�schaft erheblich ist und die Betroffenen zumutbare MöglichÂ�keiten des Ausweichens behalten. Dabei spielen für die BeurÂ� teiÂ�lung der Frage, welche EinÂ�schränkungen gravierend sind, die empirisch feststellbaren Gewohnheiten und LeÂ�bensÂ�formen in einer bestimmten Gemeinschaft eine nicht unerhebliche Rolle. Die soeben anÂ�geführten Beispiele genügen meiner Ansicht nach prinzipiell diesen ErÂ�forÂ�derÂ�Â�nisÂ�sen, was allerdings natürlich jeweils näher zu begründen wäre. Nicht legitim wäre dagegen die Einschränkung von Belangen der Relativzone durch die gemeinschaftliche Entscheidung für eine totalitaristische Lebensform, die AndersÂ�denkende in allen möglichen Lebensbereichen massiv restringiert, zum Beispiel privat, kulturell, religiös, beruflich, ökonomisch, medial usw. Die moralistische, religiöse, miliÂ�taÂ�ristiÂ�sche, aber auch ökonomistische, masÂ�senmediale oder automobilistische EinÂ�heitsgesellschaft ist ohne die freie Zustimmung aller ihrer Mitglieder nicht zu rechtfertigen. EigentÂ�lich problematisch sind die Zwischenformen zwischen zulässigen, lediglich periÂ� pheÂ�Â�renâ•›/â•›sektoralen und unzulässigen totalitären Gemeinschaftskonzeptionen. Hier müsÂ�Â�sen die MehrÂ�heitsverhältnisse bei der Abwägung berücksichtigt werden. Eine MinÂ�derÂ�Â�Â�heit oder kleine MehrÂ�heit darf Andersdenkenden keine bestimmte Lebensform aufÂ�zwingen, die einigermaßen geÂ�wichtige Individualinteressen der Relativzone abÂ�schneiÂ�Â�det. Je gravierender die Beschränkung, desto größer muss die Mehrheit sein. Die EtaÂ�Â�bÂ�lierung etwa einer gemäßigt religiösen Gemeinschaft bedarf deshalb der Zustimmung mit großer qualiÂ�Â�fizierter Mehrheit. Dabei wird man wenigstens die Erfüllung folgender sechs Bedingungen erwarten müssen: (1) Absoluter Schutz der Belange der IndiÂ�vidualzone, (2) keine vollständige AufheÂ�bung der Belange AnÂ�dersdenkender in der RelativÂ�zone, (3) nur Zulassung unabdingbar notÂ�wendiger Einschränkungen, (4) vollständiger Ausschluss physischen Zwangs, (5) praktisch keine Limitation der Handlungen in privaten RäuÂ�men, (6) Bewahrung von Bereichen, in denen man auch andere Lebensformen praktizieren kann, also zum Beispiel Orte ohne Missionierung, Autoverkehr, mediale Beeinflussung, etwa „Public Viewing“. Zum Abschluss dieses Kapitels soll die Frage gestellt werden, warum die Sperrwirkung der Interessen der Individualzone und der Relativzone unterschiedlich ausfällt. Warum entfalten also die Belange der Individualzone gegenüber den Belangen der anderen Zonen in der Abwägung eine absolute Sperrwirkung, während dies bei Belangen der Relativzone gegenÂ�über solchen der Sozialzone nicht der Fall ist? Die Antwort wurde oben schon vorformuliert: Leben, Leib, Geist und Psyche des Menschen konstituieren sein Ich als Individuum, während alle Belange jenseits der symbolischen Körpergrenze nur mehr oder minder wichtige Aspekte seines äußeren Handelns darstellen.
12. Die Hierarchie der Prinzipien Die Hierarchie der diskutierten Prinzipien lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Als abstraktestes, wenn auch im Wesentlichen nur die Elemente 1–4 der normativen Ethik wiedergebendes und damit für die inhaltliche Abwägung nicht signifikantes Prinzip hatte sich im Abschnitt 1. das Zustimmungs- bzw. Vertragsprinzip ergeben. Als zen-
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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange
trales Prinzip der inhaltlichen Abwägung erwies sich dagegen das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Individualbelange. Noch konkreter und für spezifischere Interessenwiderstreite in bestimmten Konstellationen einschlägig zeigten sich dann die weiteren diskutierten Prinzipien, also das Verallgemeinerungsprinzip, das Maximierungsprinzip, das Gleichheitsprinzip, das Genügensprinzip, das Paretoprinzip usw. Keines der Prinzipien auf den beiden konkreteren Hierarchieebenen lässt sich strikt deduktiv aus einem der beiden höherrangigen Prinzipien ableiten. Sie müssen sich vielmehr auch selbständig als gerechtfertigte Konkretionen des Grundprinzips des normativen Individualismus und der weiteren Elemente einer adäquaten normativen Ethik erweisen. Aber durch jedes der abstrakteren Prinzipien wird der Raum für die Konkretisierung der bestimmteren Prinzipien verengt und strukturiert: Prinzip des normativen Individualismus
Zustimmungs- / Vertragsprinzip
Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Belange
Verallgemeinerung Maximierung Gleichheit Genügen Pareto Aufopferung Maximin Utilex
VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz Soll die „Metaethik“ wirklich Metaethik, also die auf einer sekundären Reflexionsebene angesiedelte Untersuchung der ontologischen, erkenntnistheoretischen und sprachlichen Eigenschaften der Ethik und ihrer Erkenntnisobjekte sein, so muss sie diesen Gegenstand ernst nehmen. Sie darf also ihre basalen Fragen nicht unabhängig von diesem Gegenstand zu klären versuchen, sondern muss sich sorgfältig auf ihn beziehen.1 Dabei wird im Folgenden nur der allerdings wohl wichtigere Teil der Metaethik thematisiert, das heißt derjenige, der sich auf die normative Ethik im engeren Sinn des Objektbezugs richtet, also auf die normative Ethik der kategorischen primären Normordnungen, somit der Moral, des Rechts, der Religion, der Erziehung und der Politik, nicht aber der bloß hypothetischen Normordnungen wie der Technik, der Medizin, der Konventionen und der Ratschläge des guten Lebens. Die grundlegende Frage der Metaethik lautet, ob die normative Ethik bezüglich dieser kategorischen primären Normordnungen wahrheits- oder zumindest richtigkeitsfähig sein kann, das heißt, ob sie Überzeugungen bzw. (Wert-)Urteile formulieren kann, welche diese primären Normordnungen objektiv bewerten und kritisieren bzw. rechtfertigen (Kognitivismus, Objektivismus) oder nicht (Nichtkognitivismus, Subjektivismus mit den Alternativen des Expressivismus, Emotivismus und Evokationismus). Bejaht man die Möglichkeit objektiver normativer Überzeugungen bzw. Urteile in der Ethik, so erhebt sich die weitere Frage, ob sich diese normativen Überzeugungen umfassend sowie normativ-entscheidend auf Tatsachen beziehen (Realismus) oder nicht (Nichtrealismus).2 Folgt man der ersten Alternative und glaubt man an die Möglichkeit eines umfassenden sowie entscheidenden Bezugs normativ-ethischer Überzeugungen bzw. (Wert-)Urteile auf Tatsachen, so ergibt sich das Problem der Art dieser Tatsachen, ob es sich also um natürliche Tatsachen handelt (Naturalismus) oder nichtnatürliche, besondere moralische bzw. ethische 1
2
Moores Methode einer abstrakten Analyse des Worts bzw. Begriffs „gut“ (George E. Moore, Principia Ethica, Cambridge 1903) erscheint vor diesem Hintergrund fragwürdig. „Gut“ kann als umfassendste Bewertung in allen möglichen, also auch nichtethischen Kontexten verwendet werden (vgl. Kapitel€IV, 4). Sein Wortsinn hängt von der Einbettung des Sprechakts ab. Gelegentlich werden Kognitivismusâ•›/â•›Objektivismus und Realismus gleichgesetzt, so etwa bei Christoph Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, S.€196â•›ff., 201â•›ff. (Er spricht von einem „minimalen Realismus“.) Aber das ist zweifelhaft, denn auf diese Weise werden epistemologische und ontologische Fragen nicht klar getrennt und grundsätzlich unterschiedliche Positionen unter einer Kategorie gefasst. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, warum eine Kategorie zwei Namen haben soll. Halbig selbst will dann auf den S.€207–212 im Widerspruch zu seinen vorigen Aussagen den Begriff des Realismus auf moralische Tatsachen beschränken.
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VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz
Tatsachen (NichtÂ�naturaÂ�lisÂ�mus). Im Rahmen eines eventuellen Naturalismus lässt sich dann weiter dahingehend differenzieren, ob sich die Tatsachen auf natürliche Tatsachen reduzieren lassen (Reduktionismus) oder nicht reduzieren lassen (Nichtreduktionismus).3 Hält man normativ-ethische Urteile für objektiv, vertritt man also einen Objektivismus bzw. Kognitivismus, glaubt man aber nicht an die Möglichkeit eines umfassenden sowie entscheidenden Bezugs normativ-ethischer Überzeugungen bzw. Urteile auf Tatsachen, so stellt sich die Frage, wie die Objektivität der normativ-ethischen Urteile ohne einen Tatsachenbezug erzeugt bzw. gesichert werden kann. Denkbar ist insofern eine Stützung auf abstrakte Prinzipien (Rationalismus im engeren Sinn), konkrete Intuitionen (Intuitionismus) oder die Einpassung in unser Netz allgemeiner Überzeugungen (Kohärentismus). Normative Ethik (wahrheitsbzw. richtigkeitsfähig?)
Kognitivismus / Objek-
Nichtkognitivismus /
tivismus (ja, warum?)
Subjektivismus (nein)
Realismus (Bezug auf
Emotivismus
Tatsachen, welche?)
Expressivismus
Evokationismus
Naturalismus
Nicht-
Nichtrealismus
(natürliche T.)
naturalismus
(aus anderen Gründen)
Reduktionis-
Nichtre-
Kohären-
Rationalis-
Intuitionis-
mus
duktionismus
tismus
mus i. e. S.
mus
Jede dieser Entscheidungen hängt selbstredend wesentlich vom Verständnis der jeweils zur Differenzierung herangezogenen Begriffe ab, also von den Begriffen der Wahrheit bzw. Richtigkeit und Objektivität, der Tatsache, des Natürlichen und der Reduktion. Dabei fällt auf, dass die Klarheit und Eindeutigkeit dieser Begriffe in dieser Abfolge zunimmt. 3
Vgl. zum Beispiel Alexander Miller, An Introduction to Contemporary Metaethics, Oxford 2003, S.€8 und passim; Mark Timmons, Morality without Foundations. A Defence of Ethical Contextualism, S.€3╛ff.
VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz
247
Während man die Reduktion als Möglichkeit einer Identifizierung noch einigermaßen bestimmen kann, wird dies bei der Natürlichkeit schon viel schwieriger. Man mag sie aber immerhin noch als Fähigkeit zur kausalen Verursachung oder als sinnliche Erkennbarkeit verstehen.4 Was nun aber eine Tatsache und was gar Wahrheit bzw. Objektivität ist, ist sowohl im Alltagsverständnis als auch in der Philosophie vollkommen unklar und umstritten.5 Die Begriffe sind so abstrakt und damit kontext- bzw. theorieabhängig, dass es wenig aussichtsreich erscheint, sie von vornherein klar abzugrenzen. Hier kann nur ein kurzer tentativer Präzisierungsvorschlag folgen: Tatsachen lassen sich zum einen als Verbindung von Dingen und Eigenschaften bzw. Relationen verstehen. Tatsachen sind zum anderen nicht nur möglich, sondern im Gegensatz zu bloßen Sachverhalten immer auch wirklich. Beide Voraussetzungen bestehen nicht alternativ, sondern kumulativ.6 Wahrheit kann sowohl in der Korrespondenz von Überzeugung bzw. Urteil und Realität als auch in der Kohärenz mehrerer Überzeugungen liegen. Bei komplexeren Überzeugungen wie etwa ganzen Theorien oder sogar Weltbildern wird man jenseits der Logik und Mathematik annehmen müssen, dass beide Aspekte wenigstens bis zu einem gewissen Grade verwirklicht sein müssen, um sie als wahr ansehen zu können. Überzeugungen können sich auch auf das Nichtbestehen und die bloße Möglichkeit von Tatsachen beziehen. Sie setzen also anders als Tatsachen keine Wirklichkeit voraus. Richtigkeit erfordert keine Korrespondenz zwischen Überzeugungen und einer Realität, sei es in Form des Bestehens, des Nichtbestehens oder der Möglichkeit von Tatsachen. Die Lösung einer mathematischen Gleichung kann man etwa als richtig ansehen, ohne damit ein Urteil über die Korrespondenz dieser Lösung mit einer Realität auszusprechen (diese Einschätzung hängt selbstredend von der Philosophie der Mathematik ab). Die Richtigkeit beschränkt sich also auf die Kohärenz mehrerer Überzeugungen. Wie die Wahrheit setzt aber auch die Richtigkeit voraus, dass diese Kohärenz nicht beliebig, das heißt kontingent ist. Wie sind nun die metaethischen Fragen an die normative Ethik zu beantworten? Zunächst gilt, dass, wie in der Einleitung vorgeschlagen, zwischen dem Gegenstand der normativen Ethik im vorläufigen und im endgültigen Sinn differenziert werden muss. Gegenstand der Ethik im vorläufigen Sinn waren zunächst einmal die primären Normordnungen der Moral, des Rechts, der Religion, der Erziehung, der Politik usw. Bei diesen Gegenständen handelt es sich ohne Zweifel um Tatsachen, die mittels wahrheitsfähiger Urteile erfasst werden können. Wir beschreiben etwa die Moral, das Recht oder die Politik in einer Gesellschaft und wir gehen davon aus, dass diese Beschreibungen wahr oder falsch sein können. Insofern besteht im Hinblick auf eine deskriptive Ethik kein Zweifel, dass sie als kognitive und realistische möglich ist. Für die normative Ethik galt aber nicht 4
5 6
Alexander Miller, An Introduction to Contemporary Metaethics, S.€11, verbindet ohne weitere Diskussion oder Begründung beide Möglichkeiten. Er versucht allerdings nirgendwo zu bestimmen, was eine Tatsache oder Wahrheit sein kann. Vgl. zur Frage der Wahrheit: Wolfgang Künne, Conceptions of Truth, Oxford 2003. Vgl. zum Begriff der Tatsache: Wilhelm Halbfassâ•›/â•›Peter Simons, Artikel „Tatsache“, in: Joachim Ritterâ•›/â•›KarlÂ� fried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Darmstadt 1998, Sp.€910–916.
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VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz
der vorläufige Gegenstandsbegriff, der sich auf die primären Normordnungen beschränkte, sondern der endgültige Gegenstandsbegriff, der auch die Relation zwischen primären NorÂ�menÂ�ordnungen und ihrer Bewertung sowie Kritik und Rechtfertigung umfasste. Nun ist eine Bewertung sowie eine Kritik und Rechtfertigung als Sprechakt natürlich auch eine Tatsache. Und sofern sie sich als Tatsache auf die primären Normordnungen bezieht, ist sie wiederum Gegenstand der deskriptiven Ethik. Die deskriptive Ethik kann etwa die tatsächliche Kritik an der herrschenden Moral in einer Gesellschaft beschreiben, zum Beispiel die Kritik des Schriftstellers Karl Kraus an der herrschenden Moral zu Beginn des 20.€Jahrhunderts. Die normative Ethik ist dagegen dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht nur deskriptiv auf die Tatsache der Bewertung und Verpflichtung sowie Kritik und Rechtfertigung an den primären Normordnungen bezieht, sondern normativ, das heißt sie bewertet und verpflichtet, rechtfertigt und kritisiert die primären Normordnungen selbst. Damit erhebt sich für die Metaethik bezüglich der normativen Ethik die Frage, ob diese Bewertung und Verpflichtung sowie Kritik und Rechtfertigung seitens der normativen Ethik gegenüber den primären Normordnungen ihrerseits objektiv bzw. realistisch sein kann.
1. Eine Analyse der fünf Elemente normativer Ethik Die normative Ethik als Gegenstand der Metaethik ernst zu nehmen bedeutet, sie im HinÂ�blick auf ihre normative Rechtfertigung und Kritik differenziert zu untersuchen. Dies soll zunächst im Hinblick auf die hier vorgeschlagene Ethik des normativen Individualismus bzw. der fünf Elemente geschehen. Man denke sich dazu folgendes Beispiel: B überlegt, ob er C töten darf, um sein Geld zu rauben. A äußert gegenüber B: „Du darfst den C nicht töten!“ oder „Man darf andere Menschen nicht töten, außer in Notwehr oder Nothilfe!“ Ersteres ist eine singuläre kategorische Norm der Moral, Zweiteres eine allgemeine kategorische Norm bzw. Regel der Moral, und zwar jeweils eine heteronome Norm bzw. Regel. Denkbar wäre auch die autonome Fassung. B würde sich dann sagen: „Ich darf den C nicht töten!“ oder „Man darf andere Menschen nicht töten, außer in Notwehr oder Nothilfe!“ B kann dann entweder an A oder an sich selbst mit Bezug auf all diese Verbote die Frage stellen: „Warum darf ich das nicht?“ Sofern die Antwort ein gewisses Maß an Vernünftigkeit und damit Begründungskraft erreicht, handelt es sich um eine solche der normativen Ethik. Die in dieser Untersuchung vertretene Auffassung lautet: Die beste Antwort und damit die beste normative Ethik muss zu einer Begründung der Norm „Du darfst den C nicht töten!“ oder „Man darf andere Menschen nicht töten, außer in Notwehr oder Nothilfe!“ fünf Elemente enthalten, die man wie folgt formulieren kann: „…, weil: (1) C wie Du ein Individuum ist und (2) C wie Du Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, das heißt Belange bzw. Interessen hat, also moralisch zu berücksichtigen ist, und den konkreten Wunsch erkennen lässt, nicht getötet zu werden,
1. Eine Analyse der fünf Elemente normativer Ethik
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(3) wobei sich dieser Wunsch des C auf alle sieben Aspekte Deiner in Frage stehenden Handlung im weiteren Sinn richten kann, also Deinen Charakter, Deine Wünsche und Überzeugungen, Deine Ziele, Deine Mittelwahl, Deinen konkreten Handlungswillen, die Ausführung Deiner Handlung und deren Konsequenzen, und in concreto auch richtet, (4) sich Deine hinter der geplanten Tötungshandlung stehenden konkreten Belange sowie die konkreten Belange des C widersprechen, also eine Abwägung notwendig ist, (5) welche nach dem Prinzip der relativen Individual-, Ander- und GemeinschaftsabÂ� hänÂ�gigÂ�keit Eurer beider Belange den Belang des C, sein Leben zu erhalten, als sehr wichtigen Belang der Individualzone höher gewichtet als Deinen allenfalls an der Peripherie der Relativzone angesiedelten, relativ unwichtigen Belang, Cs Geld zu erhalten und ihn dazu zu töten.“ Man kann nun bei jedem dieser fünf Begründungsschritte, das heißt Elementen der ethischen Begründung nach seiner Qualifikation im Sinne der obigen Kategorien der Metaethik fragen: (1) Bei der Qualifikation der konkret beteiligten Wesen B und C als Individuen handelt es sich um eine kognitiv beurteilbare Tatsache, die sinnlich wahrnehmbar und kausal wirksam ist, also um eine natürliche Tatsache. Wir können empirisch feststellen, ob etwas im biologischen Sinn ein Individuum oder ein Kollektiv ist. Dies gilt mit gewissen Einschränkungen hinsichtlich der Natürlichkeit auch für den oben herangezogenen sozialen Begriff des Individuums. (2) Bei der Qualifikation der konkret beteiligten Individuen B und C als Träger der Eigenschaften von Zielen, Wünschen, Belangen und Strebungen und der konkreten Bestimmung dieser Belange handelt es sich ebenfalls um eine kognitiv beurteilbare Tatsache, die sinnlich wahrnehmbar und kausal wirksam ist, also um eine natürliche Tatsache. Im Falle von Zielen und Wünschen haben diese Eigenschaften aber zusätzlich eine sinnhafte Komponente, die adäquat nur durch eine Form des sinnhaften, das heißt geistigen Verstehens wahrnehmbar ist. Dies schließt die Natürlichkeit der Belange aber nicht aus, sondern ist nur eine zusätzliche Möglichkeit, komplexere, mental bestimmte Belange jenseits bloßer Strebungen und Bedürfnisse zu erkennen. Es ist möglich, dass Wünsche und Ziele von natürlichen mentalen Eigenschaften abhängen. (3) Bei der Qualifikation, worauf sich die Belange des C richten, handelt es sich schließlich ebenfalls um eine kognitiv beurteilbare Tatsache, die sinnlich wahrnehmbar und kausal wirksam ist, also eine natürliche Tatsache. Die Ziele und Wünsche sind darüber hinaus aber nur adäquat durch sinnhaftes Verstehen wahrnehmbar. Wie beim Element (2) schließt das aber die Natürlichkeit der Belange nicht aus, sondern stellt nur eine zusätzliche Möglichkeit der Erkenntnis dar. (4) Bei der Bestimmung eines Widerspruchs zwischen den in Rede stehenden Belangen, der eine Abwägung notwendig macht, handelt es sich um ein kognitives Urteil, das wahrheitsfähig ist, weil sich derartige wahrheitsfähige Urteile auch auf die Modalkategorien und das Nichtbestehen von Tatsachen beziehen können. Aber fraglich ist, ob darin auch eine Tatsache liegt, und wenn ja, ob diese natürlich ist.
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VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz
(5) Bei der Abwägung bzw. Zusammenfassung der im Widerspruch stehenden Belange ist schon fraglich, ob es sich um ein kognitives Urteil handelt, das wahrheits- oder zumindest richtigkeitsfähig ist. Noch zweifelhafter ist die Qualifikation dieser Abwägung als Tatsache bzw., falls diese bejaht wird, ihre Natürlichkeit. Die Zweifel betreffen also die Elemente (4) und (5) der normativen Ethik, vor allem das Element (5). Sie sollen nun detaillierter erörtert werden: Bei der Bestimmung eines Widerspruchs zwischen den in Rede stehenden Belangen, der eine Abwägung notwendig macht, handelt es sich€ – so hatte sich ergeben€ – um ein kognitives Urteil, das wahrheitsfähig ist, weil sich derartige wahrheitsfähige Urteile auch auf die Modalkategorien und das Nichtbestehen von Tatsachen beziehen können (Element (4)). Fraglich ist nun, ob darin auch eine Tatsachenbehauptung liegt. Tatsachen sind€– so wurde angenommen€– zum einen nicht bloß möglich, sondern wirklich. Sie bestehen zum anderen aus Dingen und Eigenschaften bzw. Relationen. Beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen. Fraglich ist, ob dies beim Element (4) bejaht werden kann. Ein Tatsachenurteil wäre sicher zu bejahen, wenn der angenommene Status der Notwendigkeit ein solcher der Notwendigkeit im herkömmlichen modalen Sinne wäre, denn dann würde diese Notwendigkeit auch die Wirklichkeit implizieren. Dies wurde oben bei der Diskussion des Elements (4) verneint. Die Notwendigkeit ist vielmehr keine modale im ontologisch-logischen Sinn, sondern nur eine praktische. Diese praktische Notwendigkeit impliziert keine Wirklichkeit. Sie setzt vielmehr sogar eine noch nicht bestehende Wirklichkeit voraus. Denn ist eine Abwägung zwischen den potentiell widerstreitenden Belangen bereits wirklich, so ist keine praktische Notwendigkeit im Sinne einer normativen Ethik mehr erforderlich. Damit kann der ethischen Abwägung abgesehen von der praktischen Notwendigkeit nur der modale Status der Möglichkeit zukommen. Dieser genügt aber nicht, um sie als Tatsache zu qualifizieren. Fraglich ist weiterhin, ob das Element (4) aus Dingen und Eigenschaften bzw. Relationen besteht. Das Bestehen eines bestimmten Belangs bei einem betroffenen Individuum ist eine Tatsache. Diese Tatsache kann als Quasi-Ding durch Relationen mit anderen Tatsachen zu Tatsachen höherer Stufe verbunden sein. Ein möglicher Widerstreit der Belange wäre eine solche Relation. Allerdings handelt es sich nur um eine Möglichkeitsrelation, da der Widerstreit ja nur möglich sein muss. Wegen des ersten Erfordernisses, dass Tatsachen immer wirklich zu sein haben, wird man derartige Möglichkeitsrelationen aber nicht als ausreichend ansehen können. Das Gesamtergebnis zum Element (4) lautet also, dass es sich bei seinem Bezug nicht um eine Tatsache handelt, sondern lediglich um den Inhalt einer kognitiven Überzeugung, der sich nur auf eine Möglichkeit und eine praktische Notwendigkeit bezieht. Hier zeigt sich bereits der in der Einleitung postulierte Möglichkeitscharakter bzw. idealische Charakter der Ethik. Ein Realismus kann beim Element (4) also nicht angenommen werden. Bei der Abwägung selbst bzw. ihrem Inhalt, also dem Element (5) der hier vorgeschlagenen normativen Ethik, ist schließlich schon fraglich, ob es sich überhaupt um einen möglichen Inhalt einer kognitiven Überzeugung oder eines kognitiven Urteils handelt.
1. Eine Analyse der fünf Elemente normativer Ethik
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Wird hier Wahrheit bzw. Richtigkeit, das heißt Objektivität behauptet? Fest steht, dass wir im Rahmen unserer Alltagsüberzeugung davon ausgehen, dass wir mit Behauptungen wie der des A „B darf den C nicht töten, weil Bs Leben wichtiger als Geld ist“ zumindest eine richtigkeitsfähige, wenn nicht sogar eine wahrheitsfähige Überzeugung aussprechen. B könnte etwa entgegnen: „Ich darf den C aber töten, wenn er mich angreift und ich mich in Notwehr nicht anders zu wehren vermag.“ A würde sich dann in den meisten Fällen überzeugen lassen, dass unter der speziellen Bedingung der Notwehr die Tötung des C als ultima ratio zulässig ist. Aber was macht hier die Richtigkeit bzw. Wahrheit einer entsprechenden Überzeugung bzw. eines entsprechenden Urteils wie „Ich darf den C töten, wenn er mich angreift und ich mich in Notwehr nicht anders zu wehren vermag“ aus? Wie lässt sich diese von uns allen regelmäßig im Alltag angenommene Richtigkeit ethischer Begründungen verstehen? Da der erste Teil dieses Satzes die begründungsbedürftige moralische Erlaubnis behauptet, kann er nicht dafür verantwortlich sein. Allenfalls der zweite Teil der Begründung kommt dafür in Frage. Diese Begründung enthält zwar einen Verweis auf eine empirische Tatsache („wenn er mich angreift“), aber der Kern der Begründung liegt ohne Zweifel in der wertenden bzw. abwägenden Annahme, dass die zur Verteidigung erforderliche Notwehr die Tötung rechtfertigt. Die Gesamtbegründung bezieht sich somit nicht auf eine empirische Tatsache. Es handelt sich also nicht um eine empirische Wahrheit. Auch eine logische oder mathematische Tatsache liegt nicht vor. Damit scheidet ein Realismus aus, will man nicht ad hoc und dogmatisch die Existenz „moralischer Tatsachen“ behaupten. Übrig bleibt nach der obigen Einteilung somit nur ein nichtrealistischer Kognitivismus mit seinen Alternativen des Intuitionismus, Rationalismus und Kohärentismus. Eine apriorisch-intuitive Wahrheit praktischer Tatsachen ist nicht ersichtlich. Der Intuitionismus ist als metaethische Theorie zweifelhaft, weil es keine isolierten (normativen) Überzeugungen gibt, die nicht in bestimmten Situationen zu anderen (normativen) Überzeugungen in Widerspruch geraten können.7 In einzelnen Äußerungskontexten werden verschiedene normative Überzeugungen simultan relevant, geraten in Konflikt oder ergänzen sich, wobei die eine als ein Spezialfall der anderen erscheint. Beide lassen sich unter eine dritte (allgemeinere) normative Überzeugung (eine Regel, eine Gesetzmäßigkeit) subsumieren. Die Bewertung bzw. Abwägung der Notwehr folgt auch nicht deduktiv-analytisch aus einer anderen Bewertung oder Abwägung, die als Axiom zu akzeptieren wäre. Der Rationalismus scheitert am Problem der Letztbegründung: Jede Begründung erfordert wieder eine Begründung mit den drei gleichermaßen problematischen Alternativen des dogmatischen Abbruchs, der Zirkularität oder der Fortsetzung ad infinitum.8 Worin kann eine mögliche Wahrheit bzw. Objektivität der Überzeugung bzw. des Urteils dann bestehen? Gibt es neben der realistischen, der apriorisch-intuitiven und der rationalistisch-deduktiven Wahrheit bzw. Richtigkeit noch eine andere Form der Wahrheit bzw. Richtigkeit? Übrig bleibt nach dem bisher Gesagten ein Kohärentismus, nach 7 8
Vgl. zu diesem Argument: Julian Nida-Rümelin, Vernunft und Freiheit, § 3, im Erscheinen. Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 2.€Aufl. Tübingen 1969, S.€13â•›ff.
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VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz
dem durch die Einfügung in unser Netz von Überzeugungen eine Begründung erfolgt. Aber wie hat man sich das vorzustellen?
2. Eine Metaethik der individualistisch-objektivistischen Kohärenz Dies soll zunächst mit Hilfe einer Analogie zu vier nichtethischen Phänomenen der Lösung von Relationierungsproblemen erläutert werden:9 (1) Man kann zwei Geraden im zweidimensionalen euklidischen Raum zufällig anordnen. Sind sie nicht parallel, so schneiden sie sich trotz der zufälligen Anordnung an einem bestimmten, sicher ermittelbaren Punkt. Obwohl die Positionierung der Geraden also subjektiv und damit beliebig war, ist als Folge dieser Positionierung im zweidimensionalen Raum ihr Verhältnis nicht beliebig. Es gibt nur eine objektive Antwort auf die Frage nach dem Schnittpunkt beider Geraden. (2) Man stelle sich die Züge zweier Spieler auf einem Schachbrett vor. Diese Züge sind ganz beliebig und unvorhersehbar. Trotzdem ergibt sich durch jeden Zug aufs Neue eine Stellung, bei der durch Analyse der noch vorhandenen Figuren und der Spielsituation eine relativ objektive Bewertung des Spielstands jedes Spielers ermittelt werden kann. Die relative Objektivität dieser Spielstandsanalyse wird von kaum einem Schachspieler in Zweifel gezogen. (3) Man denke sich einen Werkzeugkasten, der Schrauben und Muttern verschiedener Stärke enthält. Verschiedene Schrauben und Muttern können zufällig bzw. beliebig aus diesem Werkzeugkasten geholt werden. Hat man aber einmal eine Schraube herausgenommen, dann gibt es nur eine bestimmte und damit objektive Größe für eine zu der Schraube passende Mutter. Und es gibt nur eine Art und Weise, Schraube und Mutter zu verbinden. Auch wenn die Auswahl der Schrauben und Muttern also subjektiv ist, ist doch ihre Passung und Zusammenfügung objektiv. (4) Man denke sich den Organisator eines Skirennens, der die Tore am Abfahrtshang beliebig steckt. Trotz dieser Beliebigkeit der Platzierung der Tore kann man danach unter Berücksichtigung ihrer Abstände, des Gefälles des Hangs, der Schneeverhältnisse etc. eine sog. „Ideallinie“ der bestmöglichen Abfahrt bestimmen. Diese Ideallinie ist nicht mehr subjektiv und beliebig, sondern wird als relativ objektiv angesehen, mag sie auch vielleicht in Details Anlass zu Meinungsverschiedenheiten geben. Ähnliches gilt nun in der normativen Ethik. Es mag sein, dass die Belange bzw. Interessen der einzelnen in einer Situation betroffenen Individuen relativ subjektiv und beliebig 9
Vgl. zu ersten Ansätzen bzw. Formulierungen dieses metaethischen Vorschlags: Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, S.€ 204–211; Verf., Rechtsethische Rechtfertigung€– material oder prozedural? in: Lorenz Schulz (Hg.), Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, Stuttgart 2000, S.€17–44; Verf., Rechtsethik, S.€25–31; Verf., Für eine Kohärenz normativer Überzeugungen ohne Fundierung in Konventionen, im Erscheinen. Am nächsten steht der hier vertreten Position vielleicht die von Thomas Nagel, The View from Nowhere, Oxford 1986, S.€240â•›ff.
2. Eine Metaethik der individualistisch-objektivistischen Kohärenz
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ausfallen, wenn auch zumindest solche zentralen Interessen, wie Menschenwürde, Leben, Leib, Gesundheit, psychische Unversehrtheit sehr einheitlich, das heißt überzeitlich und übergesellschaftlich sind. Geraten diese Belange aber in einen potentiellen oder aktuellen Konflikt zu anderen Belangen, dann gibt es wegen der Quasibeschränkung des ethischen Raumes nur eine richtige, das heißt kohärenteste bzw. beste Lösung. Das bedeutet nicht, dass diese beste Lösung keine Abwägung verlangt und damit keinen Unschärfebereich enthält. Und es bedeutet auch nicht, dass diese beste Lösung nicht aus zwei oder mehreren gleichwertigen Lösungsalternativen bestehen kann. Soll man etwa einen Ertrinkenden retten, so mag die Rettung per Boot oder per Rettungsring bei Abwägung aller Chancen und Risiken gleich erfolgversprechend und somit die Wahl zwischen diesen Alternativen erlaubt sein. Aber es bleibt dabei, dass es eine oder mehrere relativ beste Lösungen für das Problem der Relationierung der im Konflikt stehenden Belange bzw. Interessen gibt. Die Rettung per Boot oder RettungsÂ�ring ist in jedem Fall eine bessere Abwägungslösung als das Nichtstun. Es besteht also eine objektiv richtige Abwägung. Warum ist das so? Der Grund ist ein dreifacher: Zum Ersten bestehen als Begrenzung zwei€– bzw. bei mehreren Personen mehrere€– Extreme, nämlich die vollständige Befriedigung der Belange des einen Betroffenen oder die vollständige Befriedigung der Belange des anderen Betroffenen, welche die Menge der möglichen Lösungen limitieren, nämlich auf diese beiden Extreme und alle dazwischen liegenden Lösungen. Zum Zweiten ist das Ziel der bestmöglichen Lösung des Widerstreits vorgegeben. Zum Dritten bestehen weitere Leitlinien für das Finden der richtigen Lösung. Welche Leitlinien dies genauer sind, ist nicht mehr eine Frage der Metaethik, sondern eine Frage der normativen Ethik, wie sie in den ersten fünf Kapiteln dieses Buches entwickelt wurde. Man kann überlegen, ob die beste Lösung des Problems der Relationierung widerstreitender Belange eine bloß erkannte oder eine konstruierte ist, ob sie also eher einem epistemologischen Kognitivismus oder einem Konstruktivismus folgt. Im Falle normativethischer Lösungen erscheint keine dieser beiden extremen Alternativen befriedigend. Die beste Lösung wird weder bloß erkannt im Sinne einer sinnlichen Wahrnehmung, wie wir eine empirische Tatsache erkennen, etwa den Stand der Sonne sehen, Musik hören oder die Temperatur der Luft fühlen, noch wird die beste Lösung bloß konstruiert, so wie wir ab ovo eine neue Maschine zu beliebigen, frei gewählten Zwecken konstruieren. Die Lösung wird vielmehr in notwendiger Verfolgung des vorgegebenen Ziels der Vermittlung zwischen den jeweils konfligierenden Belangen nach bestimmten determinierenden Regeln in die vorhandene Struktur der konkreten Situation eingepasst, so wie ein Zahnarzt einen künstlichen Zahn in die Reihe der vorhandenen Zähne einpasst oder wie ein Bobfahrer seinen Bob mit möglichst geringen Abweichungen auf der Ideallinie zwischen den Banden der Bobbahn hält. Oder man kann auch sagen, die Lösung wird „eingesehen“, „herausgefunden“ oder „gefunden“. Das Einpassen, Einsehen, Herausfinden bzw. Finden ist freier als ein bloß rezeptives Erkennen, aber weniger frei als ein beliebig-produktives Konstruieren. Es vereint kognitiv-rezeptive und konstruktivproÂ�dukÂ�tive Elemente zu einer Art einpassendem Vorgang, der begrenzenden Extremen, einem vorgegebenen Ziel und klaren Regeln der Lösung unterliegt. Das bedeutet, dass es sich um eine Form nicht-beliebiger Kohärenzherstellung handelt, also eine Form der
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VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz
Richtigkeit ethischer Überzeugungen. Insofern ist ein Kognitivismus bzw. Objektivismus unserer ethischen Maßstäbe zu bejahen. Woher resultiert dann die Normativität dieses objektivistischen Einpassens einer relativ besten Lösung in den moralischen Widerstreit? Oder anders ausgedrückt: Warum wird der Akteur durch die objektiv beste Lösung des moralischen Konflikts ethisch verpflichtet? Warum soll er die moralische Norm als ethisch gerechtfertigt akzeptieren? Die Normativität resultiert nach meiner Auffassung aus zwei Quellen, die sich nicht voneinander trennen oder auf eine der beiden Quellen reduzieren lassen. Die erste Quelle sind die tatsächlichen normativen Anforderungen, die alle anderen Betroffenen der Handlung eines Akteurs entgegensetzen. Dies geschieht in Form von Zielen, Wünschen, Bedürfnissen oder Strebungen, das heißt in begrifflicher Zusammenfassung, von Belangen bzw. Interessen.10 Wir sind also in unserem Handeln moralisch bzw. rechtlich usw. limitiert, unter der Bedingung, dass Andere uns ihr Verlangen nach Beschränkung bzw. zumindest Rechtfertigung unseres Handelns faktisch entgegenhalten.11 Dabei ist es nicht notwendig, dass dieses Entgegenhalten verbal oder auch nur kommunikativ geschieht. Es genügt, dass Andere ihre eigenen Belange als eigene verfolgen und diese Belange zu den Belangen des Handelnden in einen möglichen Widerspruch geraten können, um dem Handelnden die Beschränkung aufzuerlegen. Folglich können uns auch höhere Tiere und vielleicht auch andere Lebewesen durch ihre Belange in unserem Handeln limitieren. Verfällt diese notwendige Berücksichtigung der Belange der Betroffenen der einleuchtenden Kritik am Humeschen Fundamentalismus, wonach Wünsche im Zusammenhang mit Überzeugungen die einzige Quelle normativer Gründe sind?12 Dies ist aus mehreren Gründen nicht der Fall: Erstens sind€– wie sich in Kapitel€II ergab€– nicht allein Wünsche die Grundlagen der zu berücksichtigenden Belange bzw. Interessen, sondern auch Ziele, Bedürfnisse und Strebungen. Zweitens ist keines dieser vier Elemente, die Belange bzw. Interessen als abstraktere zusammenfassende Kategorie konstituieren, notwendig eigenorientiert. Wir haben selbstverständlich altruistische und gemeinschaftsorientierte Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, die im Rahmen der ethischen Abwägung in gleicher Weise wie eigenorientierte Belange zu berücksichtigen sind. Drittens setzt die hier angenommene Notwendigkeit der Berücksichtigung der Belange und damit der Wünsche als einer Form von Belangen nicht voraus, dass wir nicht auch Gründe für diese Belange bzw. Wünsche haben bzw. haben können. Der Verweis auf die Begründung von Wünschen stellt ein zentrales Gegenargument gegen 10 Zu Details dieser Kaskade vgl. Kapitel€II. Die Notwendigkeit einer Berücksichtigung der Belange mahnt auch Uwe Czaniera an, in Kohärentistische Begründung der Moral. Eine neue Parallele zur Wissenschaft und ihre Probleme, Zeitschrift für philosophische Forschung 54 (2000), S.€67–85, S.€80, 82, 84. Vorher findet sich diese Forderung auch bei subjektivistischen Theoretikern wie etwa John L. Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong. 11 Im Rahmen einer säkular-immanenten Ethik schließt dies die Annahme genuiner Pflichten gegen sich selbst aus. Vgl. Kapitel€VIII. 12 Vgl. Julian Nida-Rümelin, Was ist ein praktischer Grund?, in: ders., Ethische Essays, Frankfurt a.M. 2002, S.€79–95.
2. Eine Metaethik der individualistisch-objektivistischen Kohärenz
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den Humeschen Fundamentalismus der Wünsche dar.13 Offensichtlich haben wir für manche Wünsche Gründe, für andere nicht, übrigens anders als bei Bedürfnissen und Strebungen, für die es merkwürdig wäre, nach Gründen zu fragen. So haben wir etwa Gründe für den Wunsch, dass jemand bestraft wird. Wir haben aber keinen Grund für den Wunsch, jetzt ein Stück Schokolade zu essen, sondern eben nur den einfachen Wunsch, der als Grund ausreicht, um eine Tafel Schokolode zu kaufen. Wichtig ist nun aber Folgendes: Die Gründe, die wir für Wünsche haben, sind häufig intrasubjektivpraktische, aber keine intersubjektiv-moraÂ�liÂ�schen bzw. -ethischen, das heißt auf die Lösung einer intersubjektiven Konfliktsituation bezogenen Gründe. Das aber hat zur Folge, dass die Tatsache, dass wir praktische Gründe für diese Wünsche haben, nicht ausschließt, die Berücksichtigung dieser Wünsche und damit auch diese praktischen Gründe zu einer wesentlichen Bedingung für die intersubjektiv-ethische Begründung ethischer Konfliktlösungen zu machen. Wenn ich etwa wünsche, dass mein Sohn nicht zu laut tobt, habe ich dafür einen intrasubjektiv-praktischen Grund, nämlich das Bedürfnis, ungestört zu arbeiten. Dieser Grund ist aber per se noch kein intersubjektivethischer, konfliktlösender Grund, weil die Belange meines Sohnes bei ihm noch nicht berücksichtigt sind. Die Konfliktlösung und damit ein intersubjektiv-ethischer Grund ergeben sich erst dann, wenn auch der Wunsch meines Sohnes, zu toben, der seinem altersgemäßen Bewegungsdrang entspringt, berücksichtigt wird. Die ethische Konfliktlösung und daraus resultierend ein ethischer Grund für beiderseitiges Handeln besteht dann darin, uns beiden die Verfolgung unserer Bedürfnisse zu ermöglichen, indem wir etwa beide unsere Zimmertüren schließen, so dass er in seinem Zimmer toben und ich in meinem Zimmer arbeiten kann, oder€– sofern das nicht geht€– wir unseren Bedürfnissen bzw. Wünschen jeweils zu unterschiedlichen Zeiten Rechnung tragen. Nun mag es aber auch Wünsche geben, deren Begründung tatsächlich in einem intersubjektiv-ethischen Grund liegt oder zumindest liegen kann. Julian Nida-Rümelin gibt für das Beispiel des Wunsches, dass eine bestimmte Person bestraft wird, etwa folgenden Grund an: Dies gebiete die Gerechtigkeit.14 Schließt dieser intersubjektivethische Grund die Annahme aus, dass Wünsche Anteil an der Begründung normativer Überzeugungen haben? Nein, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen sind solche Begründungen offenbar relativ selten, da es sich vor allem um Wünsche handelt, die auf das Handeln Anderer gegenüber Dritten gerichtet sind und deshalb quasi implizit bereits eine ethische Konfliktlösung im Verhältnis zu diesen Dritten vorschlagen. Zum anderen kann jeder spezifische Wunsch als subjektive Manifestation der Haltung einer spezifischen Person in einer bestimmten Konfliktsituation für eine andere Frage der Ethik relevant werden. So mag etwa die Staatsanwaltschaft im vorliegenden Fall aus Gründen der Billigkeit wegen geringer Schuld eine Einstellung des Verfahrens erwägen. Der Wunsch nach Bestrafung wird hier für die Staatsanwaltschaft trotz der ethischen Begründung mit Rekurs auf die Gerechtigkeit für die Abwägung mit dem Gesichtspunkt 13 So der zentrale Einwand Julian Nida-Rümelins gegen die humeanische Theorie. Vgl. Was ist ein praktischer Grund?, S.€82; ders., Strukturelle Rationalität, S.€24â•›ff. 14 Ebenda.
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VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz
der Billigkeit relevant sein, etwa wenn der Wünschende selbst Opfer der Straftat war. Die Tatsache, dass Wünsche durch dieselbe allgemeine Kategorie der ethischen Gründe gerechtfertigt werden können, schließt also nicht aus, sie als wesentliche Bedingung für einzelne ethische Konfliktlösungen anzusehen. Dies gilt zumindest, sofern es in dem Konflikt nicht genau um die Frage geht, welche die konkrete Begründung des Wunsches beantwortet. Lediglich wenn nicht die Billigkeit der Bestrafung im Konflikt steht, sondern die Gerechtigkeit von Strafe schlechthin, kann in unserem Beispiel die Berufung auf die Gerechtigkeit natürlich kein guter Grund für den Wunsch nach Bestrafung sein. Aber dieser Spezialfall der Identität von Begründung und Konfliktgegenstand ist nur ein singuläres argumentatives Hindernis, schließt die generelle Kompatibilität der Begründung von Wünschen mit ihrer normativ-ethischen Signifikanz jedoch nicht aus. Die Entgegensetzung der Belange Anderer erzeugt für den Handelnden eine Form von Normativität.15 Aber diese Normativität ist natürlich zunächst nur eine subjektive, die allein noch nicht zu einer inhaltlich-objektiven, ethischen Normativität zur Lösung des moralischen Konflikts führt, denn bei den Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen des Anderen kann es sich ja um ganz verwerfliche handeln. Geht zum Beispiel jemand spazieren und ein Räuber überfällt ihn, um ihn auszurauben, so sind die Ziele bzw. Wünsche des Räubers für den Spaziergänger zwar subjektiv-faktisch limitierend, natürlich aber nicht objektiv-ethisch verpflichtend. Die Belange bzw. Interessen des Anderen können aus ihrer subjektiven Normativität nur zu einer objektiven und damit für den Handelnden ethisch und dann auch moralisch bzw. rechtlich verbindlichen Normativität erwachsen, wenn sie als ein Element der Relationierung bzw. Abwägung mit den Belangen des Handelnden in Ausgleich gebracht wurden. Darin liegt der soeben als Einpassung beschriebene Vorgang der Relationierung bzw. Abwägung. Er ist die zweite notwendige und von der ersten untrennbare Quelle objektiver Normativität. Wie die Einpassung, das heißt die Relationierung bzw. Abwägung konkret vonstattenzugehen hat, ist keine Frage der Metaethik mehr, sondern eine solche der Konfliktlösung im Alltag einerseits und der normativen Ethik als deren rechtfertigender Rationalisierung andererseits. Worin unterscheidet sich die hier vorgeschlagene metaethische Position von einer subjektivistischen Metaethik? Sie unterscheidet sich darin, dass die Belange bzw. InterÂ� essen zwar eine notwendige Bedingung für die objektive ethische Lösung darstellen, diese Lösung sich aber nicht in den Belangen erschöpft oder auch nur auf diese Belange logisch oder quasilogisch rückführbar ist. Die Belange bzw. Interessen liefern zwar eine notwendige inhaltliche Determination und einen notwendigen Ausgangspunkt subjektiv-faktischer Normativität, über denen die Abwägungslösung superveniert. Aber aus dieser inhaltlichen Determination und dieser subjektiv-faktischen Normativität allein kann mit Rekurs auf den je einzelnen Belang weder direkt noch im Wege eines faktischen oder hypothetischen Vertrags oder im Rahmen der Durchführung eines Diskurses die ethisch beste Lösung des Konflikts abgeleitet oder begründet werden. Wir müssen 15 Dies bestreitet entgegen aller natürlichen Wahrnehmung in der Realität: Peter Stemmer, Normativität. Eine ontologische Untersuchung, Berlin 2008.
2. Eine Metaethik der individualistisch-objektivistischen Kohärenz
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vielmehr eine vernünftige Relationierung bzw. Abwägung in den Konflikt einpassen, die ihrerseits bestimmten Beschränkungen, Zielen und Prinzipien, vor allem dem Prinzip des normativen Individualismus gehorcht. Wird damit eine „prozeduralistische“ Ethik vorgeschlagen? Nein, denn die wesentlichen Konstitutionsbedingungen für die Lösung sind mit den widerstreitenden Belangen, dem notwendigen Ziel und den Regeln zur Lösungsfindung nicht Teil oder Ergebnis einer Prozedur. Das „Einpassen“ ist eine Handlung, die zwar über ein bloßes Erkennen im Sinne eines „Sehens“ hinausgeht, aber schon als „Einsehen“ oder „Finden“ richtig charakterisiert ist. Dafür können natürlich Prozeduren als Mittel wichtig und nützlich sein, etwa das Befragen und Anhören des Anderen durch den Akteur oder des Anderen und des Akteurs durch einen Mediator oder auch die Diskussion über eine beste Lösung. Aber diese Prozeduren haben nur instrumentellen Charakter. Mit der These der notwendigen Berücksichtigung Anderer mit ihren Belangen in Moral, Recht und Ethik sind sowohl ein psychologischer als auch ein ethischer Egoismus und damit zwei Formen des ethischen Skeptizismus ausgeschlossen. Ausgeschlossen ist aber auch eine Reduktion der allgemeinen Ethik auf eine libertäre Vertragstheorie rationaler Individuen à la Hobbes, Nozick oder Gauthier. Diese Theorien entsprechen von vornherein nicht unserem Verständnis von Moral und Recht als tatsächlich bestehenden, Andere nicht nur rein instrumentell behandelnden, sondern zwar kategorisch verpflichtenden, aber in ihrer Autonomie als letzte RechtÂ�fertigungsÂ�quelle achtenden Normordnungen. Jedes Kind lernt schon sehr früh den objektivierenden Vorgang der Abwägung bzw. Relationierung widerstreitender Belange, zumindest dann, wenn seine eigenen Belange nicht immer vollkommen missachtet oder immer vollkommen verwirklicht werden. Die Fähigkeit der Abwägung ist im Übrigen für alle politischen und rechtlichen Instanzen wesentlich, etwa die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtsprechung. Mit dem objektiven Einpassen der besten Lösung in den moralischen Konflikt ist auch eine Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung der kategorischen Verpflichtung durch Normordnungen wie Moral, Recht, Politik, Religion und Erziehung gegeben. Die objektiv beste Lösung ist in ihrer Objektivität nicht von der Zustimmung des Handelnden abhängig. Droht nun aber die Gefahr eines nicht nur marginalen Konflikts, so muss eine Lösung gefunden werden. Da keine Lösung besser begründbar ist als die objektiv beste Lösung, muss sich der Handelnde die kategorische Verpflichtung gefallen lassen, sofern eine Mindestschwelle der Erheblichkeit überschritten ist, welche es in der Abwägung rechtfertigt, die positiv zu bewertende Autonomie seiner Entscheidung gegenüber der objektiven Konfliktlösung zurückstehen zu lassen. Mit dem objektiven Einpassen der besten Lösung in den moralischen Konflikt ist schließlich auch eine Antwort auf die Frage nach der Motivation zur tatsächlichen Ausführung dieser besten Lösung gefunden. Der Versuch der Reduktion jeder möglichen Motivation auf einen internen Impetus durch den Internalismus ist nicht überzeugend, weil schlicht der Realität vielfältigster Motivationen im Alltag widersprechend. Man kann empirisch feststellen, dass wir uns durch alle möglichen Dinge motivieren lassen, nicht nur durch Wünsche. Die Einsicht in die beste Lösung ist zugleich ein wesentliches
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VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz
Motiv. Die Einsicht in die beste Lösung ist allerdings nicht immer das einzige Motiv und kann deshalb€ – ebenso wie übrigens jeder interne Impetus€ – nicht garantieren, dass der solcherart Motivierte dann auch wirklich im Sinne der besten Lösung handelt. Wäre dies der Fall, dann wäre das ubiquitäre Phänomen der Nichtverwirklichung bester Lösungen moralischer Konflikte nicht zu erklären. Und es wäre auch nicht zu erklären, dass tatsächlich etablierte Normensysteme in Form von Sanktionen vielfach zusätzliche Maßnahmen zur Motivation der Handelnden aktivieren, um die Verwirklichung der besten Lösung moralischer, rechtlicher und sonstiger Konflikte widerstreitender Belange zu sichern. Als erstes Ergebnis lässt sich somit festhalten, dass das Element (5) relativ objektivistisch zu interpretieren ist. Daran schließt sich die weitere Frage an, ob beim Element (5) auch eine Tatsache bejaht werden muss, ob also darüber hinausgehend auch eine realistische Interpretation zutrifft. Wird die Abwägung faktisch vorgenommen, so stellt das rein begrifflich ein Faktum, also eine Tatsache dar. Überdenkt also B im obigen Beispiel aufgrund der Intervention des A seine beabsichtigte Tötung des C tatsächlich unter Berücksichtigung ethischer Gründe, so liegt darin eine Tatsache. Allerdings ist dies eine kontingente Realisierung der Ethik. Das Prinzip der Abwägung der betroffenen Belange bedarf als Möglichkeit der Ethik€– wie wir in der Einleitung sahen€– nicht dieser Realisierung im konkreten Einzelfall, um als normatives Ideal wirken zu können. Das Prinzip der Abwägung hat als Teil der normativen Ethik nicht den Status der Wirklichkeit, sondern nur der Möglichkeit und der praktischen Notwendigkeit. Im Übrigen werden mit seiner Hilfe keine Dinge und Eigenschaften zueinander in Beziehung gesetzt, sondern zwei bzw. mehrere Eigenschaften: die Belange der im moralischen Konflikt zu berücksichtigenden betroffenen Individuen. Das Ergebnis lautet also, dass auch Element (5) nicht als Tatsache anzusehen ist bzw. genauer nicht auf eine Tatsache verweist. Da nun aber weder Element (4) noch Element (5) der normativen Ethik notwendig Tatsachen darstellen, ist auch die gesamte ethische Rechtfertigung nicht notwendig auf Tatsachen bezogen. Die Metaethik kommt also zu dem Ergebnis, dass die ethische Rechtfertigung der Moral zwar kognitivistisch bzw. objektivistisch, nicht aber realistisch ist. Dies entspricht unseren Alltagsüberzeugungen. Wir glauben, dass ethische Einsichten und Urteile wahrheitsfähig in einem weiteren Sinne, das heißt richtigkeitsfähig bzw. schwach objektiv bei der Findung einer vernünftigen Lösung von Konflikten sind, nicht aber, dass sie Tatsachen beschreiben.
VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände Jede Ethik benötigt bestimmte gedankliche und sprachliche Realisationsformen. Diese Realisationsformen sind wie fast alle Instrumente, die der Mensch sich im Laufe seiner Kulturgeschichte geschaffen hat, grundsätzlich bloßes Mittel zum Zweck und außerordentlich variabel.1 Sie sind auch nicht spezifisch für die Ethik, sondern finden sich in allen möglichen Denk- und Sprachzusammenhängen, etwa in primären Normordnungen, also den zu rechtfertigenden und kritisierenden Gegenständen der Ethik, das heißt der Moral, dem Recht, der Politik, der Religion, der Erziehung usw. Es sind multifunktional anwendbare Denk- und Sprachwerkzeuge, die sich den jeweiligen konkreteren Zielen und Ergebnissen der Konfliktvermittlung anpassen. Dabei muss man zwischen einem sehr kleinen, begrifflich notwendigen und damit relativ invariablen Kern, der sich in allen Ausprägungen dieser Realisationsformen findet, und vielen zusätzlichen spezifischen Eigenschaften, die dann jeweils nur in der Ethik, der Moral, dem Recht, der Politik usw. anzutreffen sind und in ihrer Gestaltung von diesen jeweiligen Normordnungen abhängen, unterÂ�scheiÂ�den. Im Folgenden wird es zunächst nur um den kleinen, relativ invariablen und nicht material bestimmten Kern gehen.
1. Bewertung, Norm und Regel Die wesentlichen Denk- und Sprachformen der normativen Ethik sowie der primären, handlungsbestimmenden praktischen Tatsachen sind Beschreibungen, Bewertungen, Normen und Regeln.2 Beschreibungen dienen der Repräsentation von Sachverhalten. Sie finden sich in allen Bereichen unseres Denkens und unserer Sprache, so dass sie als Gegenstand der allgemeinen Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft hier keiner näheren Erläuterung bedürfen. 1
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Es ist also nicht möglich, materiale Wertungen oder Normen aus diesen gedanklichen und sprachlichen Formen zu gewinnen, wie es etwa Richard M. Hare in The Language of Morals, Oxford 1952, und in Freedom and Reason, versucht hat. Vgl. zu einer Kritik derartiger Versuche: Richard B. Brandt, A Theory of The Good and the Right, S.€2â•›ff.; Uwe Czaniera, Gibt es moralisches Wissen?, Paderborn 2001, S.€204â•›ff. In der Einleitung wurden auch noch „Überzeugungen“ genannt. Diese lassen sich als Denkform schwer einordnen. Sie scheinen eine Verbindung aus Beschreibungen und Wertungen zu sein und folgen dann deren jeweiligen Regeln in entsprechenden Anteilen.
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VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände
Bewertungen bzw. Wertungen drücken als axiologische Qualifikationen die Stellungnahme des Bewertenden aus. Sie lassen sich in positive und negative Bewertungen unterteilen. Der Grundbegriff der positiven Bewertung ist „gut“, der Grundbegriff der negativen Bewertung „schlecht“.3 Schließlich kann es noch eine Bewertung als „neutral“ geben.4 Im Folgenden wird nicht immer signifikant zwischen Wertungen und Werten unterschieden. Während die Existenz von Wertungen im Sinne von stellungnehmenden Denk- bzw. Sprachformen unstrittig ist, setzen nicht mit Wertungen identische oder von diesen abhängige Werte starke ontologisch-metaphysische Annahmen voraus. Da die hier vorgelegte Ethik ohne derartige Werte auskommt, besteht keine Veranlassung zu einer näheren Auseinandersetzung mit der Annahme solcher ontologisch anspruchsvoll verstandener Werte. Normen und Regeln statuieren gedankliche und sprachliche Relationen, die einen Norm- bzw. Regelgeber oder -ursprung und einen Norm- bzw. Regelempfänger voraussetzen, also nichtsymmetrisch sind. Normen und Regeln sind als deontische Qualifikationen handlungsleitend. Normen umfassen dabei im Gegensatz zu Regeln nicht nur allgemeine Handlungsleitungen, sondern richten sich auch an einzelne Personen in singulären Situationen, sind also im Ziel begrifflich umfangreicher als Regeln.5 Normen erfordern allerdings, zumindest im Zusammenhang primärer Normordnungen, eine reale, raum-zeitlich konkretisierte Normsetzung bzw. Normierung. Sie sind deshalb im Ursprung begrifflich weniger umfangreich als Regeln, die als bloße Regelhaftigkeiten auch aus Gewohnheiten ohne bewussten Willensakt entstehen können. Beide Begriffsbedeutungen bilden also eine nichtleere Schnittmenge, ohne Teilmenge der jeweils anderen zu sein.6 Normen und Regeln umfassen die normlogischen Kategorien der Pflichten (Gebote, Verbote) sowie der Pflichtfreiheiten bzw. Freiheiten (Erlaubnisse, Freistellungen). Der Normbegriff wird hier relativ weit verstanden, im Gegensatz zu engeren Normbegriffen, die etwa eine Berechtigung undâ•›/â•›oder Autorität verlangen7 oder sich nur auf Pflichten beschränken und Pflichtfreiheiten nicht umfassen.8 Als explizite Sprechakte sind Normen und Regeln nicht mit Wertungen identisch, implizieren diese aber regelmäßig, sofern die Normen und Regeln autonom gesetzt sind. Wertungen können menschliches Handeln lediglich empfehlen, leiten es aber nicht wie Normen und Regeln. Je nachdem, ob diese Denk- und Sprachformen als Mittel der Ethik oder ihrer Gegenstände Verwendung finden, nehmen sie deren notwendige Merkmale auf. Im Rahmen
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Vgl. zu einer differenzierten Logik der Bewertungen: A.â•›A. Iwin, Grundlagen der Logik von Wertungen, Berlin 1975. Manche sprechen hier auch von „indifferent“. Hier soll der Ausdruck etwas enger verstanden werden und nur pflichtfreie und wertneutrale Handlungen bezeichnen. Vgl. Kapitel€X, 3. Für manche, etwa Peter Stemmer, Normativität. Eine ontologische Untersuchung, S.€157, müssen Normen dagegen allgemein sein. Vgl. dagegen zu einem noch umfassenderen Normbegriff, der Regeln, Vorschriften usw. umfasst: Georg Henrik von Wright, Norm and Action. A Logical Inquiry, S.€1â•›ff. Vgl. Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979, S.€21. Armin Berger, Unterlassungen, S.€62â•›ff.
2. Pflicht (Verbot, Gebot) und Pflichtfreiheit (Erlaubnis, Freistellung)
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der Moral, des Rechts oder der Politik müssen sie etwa tatsächlich als Sprechakte realisiert sein, also als faktische Regelungen, während man in der Ethik auch ohne tatsächliche Realisierung von Wertungen und Normen als Teilen des ethischen Ideals sprechen kann.
2. Pflicht (Verbot, Gebot) und Pflichtfreiheit (Erlaubnis, Freistellung) a) Normen und Regeln umfassen einerseits Pflichten, also Verbote (V) und Gebote (G), andererseits die Freiheit von Pflichten,9 also Erlaubnisse (Nicht-Verbote, E) und Freistellungen (Nicht-Gebote, F). Pflichten und Pflichtfreiheiten sind als Konkretisierungen der handlungsleitenden Denk- und Sprachformen der Normen und Regeln relationale Eigenschaften, die handlungsbestimmend wirken, also eine Notwendigkeit des Handelns und deren Negation statuieren. Pflichten bestimmen Handlungen als notwendig, Pflichtfreiheiten als nichtnotwendig. Fraglich ist, was „Notwendigkeit“ als zentrales Element des Pflichtbegriffs bedeutet. Ausgeschlossen werden können insofern nur Formen der Notwendigkeit, die im Widerspruch zum Handlungsbegriff stehen, also rein kausal-physikalisch wirkende Notwendigkeiten. Wer kausal-physikalisch in seiner körperlichen Positionierung verändert wird, also etwa durch eine Lawine auf einen Anderen geschleudert wird, handelt nicht. Eine solche Notwendigkeit kann keine Pflicht enthalten. Die Notwendigkeit muss also praktisch sein. Wie sie aber näher ausgestaltet ist und wo sie ihren Ursprung nimmt, ist schon nicht mehr invariabler Kern des Pflichtbegriffs, sondern bereits Ergebnis der je spezifischen Normen, Regeln und normativ-ethischen Theorien. So sind etwa Kants Hinzufügung der „Achtung fürs Gesetz“ einerseits und der „Objektivität“ und „Verbindlichkeit“ andererseits in seinen Definitionen der Pflicht bereits Ausfluss einer bestimmten normativ-ethischen Theorie, die sich nicht auf den Pflichtbegriff anderer normativ-ethischer Theorien oder der Moral, des Rechts usw. übertragen lassen.10 Was die Notwendigkeit der Pflicht genauer ist, muss sich aus den jeweiligen primären und sekundären Normordnungen ergeben und kann nicht unabhängig davon, das heißt rein begrifflich festgestellt werden. InsÂ�besondere kann die Notwendigkeit auch nicht bereits auf der begrifflichen oder ontologischen Ebene als eine bloß eigene des Akteurs angesehen werden (Internalismus, Instrumentalismus) oder als eine bloß durch Andere herbeigeführte (Externalismus). Beide Alternativen sind begrifflich möglich und in der Wirklichkeit anzutreffen. A sagt etwa „Ich habe die Pflichtâ•›/â•›bin verpflichtet …“, aber auch „B hat mir die Pflicht auferlegtâ•›/â•›mich verpflichtet …“. Keine dieser Möglichkeiten ist also begrifflich notwendig.
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Manche sprechen hier von „Indifferenz“. Aber diese Bezeichnung ist irreführend, denn sie suggeriert, dass die entsprechende Handlung keiner Wertung unterliegt. Wie sich noch zeigen wird, ist dies aber nicht der Fall. Auch eine nicht gebotene oder nicht verbotene Handlung kann als gut oder schlecht bewertet werden. 10 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€400: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“; ebd.â•›S.€439: „Die objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht.“
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VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände
b) Die vier Typen von einstellungs- und handlungsbestimmenden Denk- und Sprachformen sind nach den Standardregeln der deontischen Logik folgendermaßen voneinander abhängig, wobei „h“ für die Handlung steht: (a) Was verboten ist, ist nicht geboten, nicht erlaubt und freigestellt vom Gebot der Durchführung: V (h) → ¬ G (h) V (h) → ¬ E (h) V (h) → F (h) (b) Was geboten ist, ist nicht verboten, erlaubt, aber nicht freigestellt vom Gebot der Durchführung: G (h) → ¬ V (h) G (h) → E (h) G (h) → ¬ F (h) (c) Was erlaubt ist, ist nicht verboten: E (h) → ¬ V (h) (d) Was freigestellt ist, ist nicht geboten: F (h) → ¬ G (h) Man kann diese Beziehungen in folgendem deontologischen Viereck zusammen stellen:11
G (h)
V (h)
E (h)
F (h)
= Implikation;
= Exklusion;
= Disjunktion;
= Kontravalenz
11 Vgl. dazu und zu differenzierteren und komplizierteren Darstellungen wie einem deontischen Sechseck und Zehneck sowie weiterer Literatur: Jan Joerden, Logik im Recht, Berlin 2005, S.€199╛ff.
3. Zum Verhältnis zwischen Wertungen sowie Normen und Regeln
263
3. Zum Verhältnis zwischen Wertungen sowie Normen und Regeln Sowohl Wertungen als auch Normen und Regeln sind ihrer Form nach bloße Denk- und Sprachgebilde. Sie sind deshalb in ihrem Einsatz und ihrer Gestaltung wesentlich von den zu Grunde liegenden widerstreitenden Belangen sowie der objektiven Abwägung zwischen diesen Belangen abhängig. Ihre spezifische Denk- und Sprachform gewinnt also jenseits der soeben aufgewiesenen minimalen begrifflichen und logischen Notwendigkeiten innerhalb der normativen Ethik keinen eigenen Begründungsstatus. Daraus ergibt sich, dass zum einen alle, zumeist von Anhängern des Konsequentialismus vorgeschlagenen Versuche abzulehnen sind, Werte oder eine bestimmte „Handlungsbewertung“ bzw. „Werttheorie“ als grundlegend für Pflichten bzw. die gesamte normativ-ethische Begründung anzusehen.12 Wer die Belange der Betroffenen und die Vermittlung zwischen diesen Belangen als Grundlage von normativer Ethik und Moral ernst nimmt, der kann die bloße gedankliche und sprachliche Realisationsform der Wertung nicht als fundamental oder in sich begründend ansehen. Vertreter des Konsequentialismus bevorzugen Wertungen bzw. Werte gegenüber Pflichten, weil sich die ihrer Meinung nach entscheidenden Konsequenzen auch als Welt- oder Wohlergehenszustände begreifen lassen, die dann als besser oder schlechter bewertet werden können, und zwar entweder komparativ oder sogar quantitativ. Auf diese Weise werden trotz teilweiser gegenteiliger Beteuerungen die Konsequenzen bzw. Welt- oder Wohlergehenszustände quasi automatisch zum Fundament der Ethik. Damit sind zum anderen aber auch alle, zumeist von Anhängern einer deontologischen Ethik vorgeschlagenen Versuche abzulehnen, Pflichten oder eine bestimmte „Pflichttheorie“ als grundlegend für Wertungen und die gesamte Ethik auszuzeichnen. Wer die Individuen, die Belange der Betroffenen und die Vermittlung zwischen diesen Belangen als Grundlage der Ethik ernst nimmt, der kann die bloße gedankliche und sprachliche Realisationsform der Pflicht nicht als fundamental oder in sich begründend ansehen. Anhänger einer deontologischen Ethik bevorzugen Pflichten gegenüber Werten, weil sich die Pflichten häufig direkt auf Absichten und Handlungen beziehen. Auf diese Weise werden die Konsequenzen von Handlungen dann im Rahmen der ethischen Beurteilung schon auf der Ebene der begrifflichen bzw. sprachlichen Formen minimiert oder sogar ganz ausgeblendet. Noch problematischer, weil noch weiter von den tatsächlich verwendeten Denk- und Sprachformen und den moralisch relevanten Belangen und Konfliktlösungen entfernt, sind Versuche mancher Philosophen, im Ausgang von den in Kapitel€IV, 4 erläuterten, sinnvollen Adjektiven „gut“ und „recht“ bestimmte sekundäre Substantivierungen wie „das Gute“ (was immer das sein mag) oder „das Rechte“ (was immer das sein mag) als fundamental bzw. primär auszuzeichnen und zueinander in ein Rangverhältnis zu bringen. Diese von Henry Sidgwick vor einem konsequentialistischen Theoriehintergrund 12 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€194â•›ff., S.€229â•›ff.; John Broome, Weighing Goods. Equality, Uncertainty and Time, Oxford 1991; ders., Weighing Lives, Oxford 2004; Ulla Wessels, Die gute Samariterin. Zur Struktur der Supererogation, Berlin 2002, S.€6â•›ff.
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VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände
eingeführte und danach etwa von W.â•›D. Ross und John Rawls übernommene Entgegensetzung zweier außerordentlich vager Nominalisierungen sprachlicher und begrifflicher Realisationsformen ist ein rein philosophisches Kunstprodukt und nicht zuletzt wegen seiner Unbestimmtheit ohne erkennbaren phänomenal erklärenden oder begründenden Wert.13 DisÂ�kussionen über einen eventuellen „Vorrang“ des mit einer dieser beiden vagen Nominalisierungen bezeichneten „Bereichs“ (was immer das sein mag) bleiben regelmäßig unfruchtÂ�bar und führen weder zu einem erkennbaren beschreibenden noch zu einem rechtfertigenden Erkenntnisgewinn für die Ethik.
4. Rechte Neben Pflichten und Erlaubnissen bzw. Freistellungen enthalten die primären Normordnungen und die Ethik auch Rechte im subjektiven Sinn. Derartige subjektive Rechte spielen sowohl in der modernen Moral und im modernen Recht als auch in der Ethik des normativen Individualismus eine herausÂ�ragende Rolle. Dies lässt sich als eine unmittelbare Folge der besonderen Berücksichtigung der Anderen als Individuen erklären. Subjektive Rechte konkretisieren und sichern den ethischen, moralischen und rechtlichen Status der Anderen, aber auch des Akteurs als Individuen. Das schließt nicht aus, dass Rechten weitere Funktionen zukommen können, und zwar sowohl in der Moral als auch im positiven Recht. In der Moral können Kollektiven zum Zweck der Interessensicherung der sie bildenden Individuen neben Interessen auch Rechte zuerkannt werden. Man spricht etwa vom „Selbstbestimmungsrecht des Volkes“. Die einzelnen Menschen eines Volkes haben ein Recht auf Selbstbestimmung ihres Lebens und deshalb haben sie dieses Recht auch als Mitglieder ihres Volkes. Man kann also abgekürzt sagen, dass das Volk ein Recht hat, nicht durch fremde Völker unterdrückt bzw. fremdbestimmt zu werden. Im positiven Recht können juridische Rechte von Individuen oder Kollektiven statuiert werden. Entscheidend ist aber nun die Frage: Was ist mit Rechten im subjektiven Sinn gemeint?
a)€Die Mindestbedingungen von subjektiven Rechten Ein Recht im subjektiven Sinn setzt zunächst zumindest Pflichtfreiheit voraus. Notwendige Bedingung eines jeden Rechts ist also, dass keine Pflicht zum Handeln besteht, also weder ein Verbot, noch ein Gebot, das heißt eine Erlaubnis und Freistellung des Rechteinhabers. Der Akteur hat aber noch kein Recht, wenn bloß keine Pflicht zum Handeln existiert, denn andernfalls könnte man sich mit dem Begriff der Pflichtfreiheit begnügen und bräuchte den Begriff des Rechts nicht. Der Begriff des Rechts muss also neben der Pflichtfreiheit weitere Bedingungen enthalten.
13 Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, Book 1, Chap. I, IX; W.╛D. Ross, The Right and the Good, Oxford 1930; John Rawls, A Theory of Justice, S.€446╛ff.
4. Rechte
265
Eine zweite, auch noch sehr schwache Bedingung liegt in der Möglichkeit, eine Handlung zu fordern. Rechte eröffnen die Möglichkeit, eine Handlung zu fordern, wobei die Geltendmachung nicht faktisch-persönlich durch den Rechteinhaber erfolgen muss. Ein Kleinkind kann also Rechte haben, auch wenn es sie mangels Vernunft und Sprache nicht selber geltend machen kann und dazu eines Vertreters bedarf. Ein Recht im subjektiven Sinn setzt drittens eine Relation zwischen mindestens zwei unabhängigen normativ relevanten Wesen voraus. Man mag zwar€– was im Kapitel€VIII noch zu diskutieren sein wird€– Pflichten gegen sich selbst erwägen. Sicherlich gibt es aber keine Rechte gegen sich selbst, weil Rechte, wie im vorherigen Absatz deutlich wurde, immer die Möglichkeit einer Forderung implizieren. Weil aber eine Forderung nur gegenüber Anderen sinnvoll ist, richten sich Rechte immer gegen Andere (Bedingung der Interrelationalität zu anderen normativ relevanten Wesen).14 Der Andere muss dabei aber zunächst nicht konkretisiert sein. Und auch die geforderte Handlung des Anderen muss nicht konkretisiert sein. Der A kann etwa ein Lebensrecht haben, das gegenüber allen möglichen Anderen wirkt. Aus der Bedingung der Interrelationalität ergibt sich, dass Rechte relationale Eigenschaften sind.15 Die Bedingung der Interrelationalität zu anderen normativ relevanten Wesen schließt im übrigen nicht aus, dass Rechte neben dem Forderungscharakter auch eine Relation zu Sachen aufweisen, also sog. „Sachenrechte“ sind, etwa das Recht des Eigentums an einer Sache. Es wird auch nicht behauptet, dass sich diese Sachrelation auf die Forderungsrelation reduzieren ließe. Fraglich und umstritten ist nun aber, welche Relation zwischen dem Berechtigten und dem Anderen genau besteht. Diese Relation und damit eine weitere, vierte notwendige Bedingung für den Begriff des Rechts sehen manche darin, dass der Andere eine Pflicht hat (Bedingung der Pflicht).16 Damit A also etwa ein Recht auf die Handlung h des B hat, muss B€– so diese Auffassung€– eine Pflicht zu h haben. Das Recht des A impliziert demnach die Pflicht des B zu h. Gegenüber der Bedingung der Interrelationalität setzt diese Bedingung zunächst zwei Konkretisierungen voraus. Der Verpflichtete muss zum einen als individuelle Person konkretisiert werden. Und die Handlung, die von ihm erwartet wird, muss zum anderen als singuläre Handlung konkretisiert werden, also etwa als das Unterlassen, den A zu töten, oder das Tun, den A aus einer Todesgefahr zu retten. Es gibt nun sicher Normordnungen oder Teile von Normordnungen, für deren Rechtsbegriff eine derartige Implikation von Pflichten aus Rechten gilt, etwa das Recht der unerlaubten Handlung als Teil des deutschen Zivilrechts. Jede Entschädigungspflicht gibt dort dem Geschädigten grundsätzlich ein Recht zur Einforderung einer 14 Joseph Raz, Ethics in the Public Domain, S.€33; Marcus G. Singer, On Duties to Oneself, Ethics 69 (1959), S.€202–205, S.€202; ders., Duties and Duties to Oneself, Ethics 73 (1963), S.€133–142, S.€133, 137. 15 Vgl. Markus S.€Stephanians, Rights as Relational Properties. In Defense of Rightâ•›/â•›Duty-Correlativity, Saarbrücken 2005, Manuskript, S.€134â•›ff. 16 Vgl. schon Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S.€239; Wesley N. Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning, S.€36, für das geltende, positive Recht. Es ist nicht klar, ob Hohfeld dies auch für alle möglichen nichtpositiven Rechte behaupten wollte. Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€170; Markus S.€Stephanians, Rights as Relational Properties, S.€194â•›ff.
266
VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände
konkretisierten Handlung gegenüber individuell konkretisierten Personen. Aber eine allgemein notwendige Bedingung des Rechtsbegriffs kann darin nicht gesehen werden, denn etwa in den Menschenrechtskatalogen fehlt regelmäßig die dazu notwendige Konkretisierung auf einen Verpflichteten. Das Menschenrecht auf Leben hat A gegenüber allen möglichen Adressaten und im Hinblick auf alle möglichen Handlungen. Insofern impliziert das Menschenrecht auf Leben keine spezifisch konkretisierte Pflicht eines konkretisierten Verpflichteten. Es gilt gegenüber öffentlichen Stellen und Privaten, gegenüber Inländern und Ausländern, gegenüber Schuldigen und Unschuldigen usw. Und wenn Außerirdische auftauchten, würde es auch diesen gegenüber bestehen. Es erfordert zunächst einmal nur seine Anerkennung ohne einen spezifischen Adressaten und eine spezifische Konkretisierung auf eine Handlung, die man dann einer konkreten Pflicht unterwerfen könnte.17 Das bedeutet aber natürlich nicht, dass man das Menschenrecht auf Leben nicht konkretisieren könnte oder konkretisieren sollte. Dafür ist jedoch eine zusätzliche Gestaltung notwendig. Aber was kann es dann noch für einen Sinn haben, von einem Recht bzw. Lebensrecht zu sprechen, wenn ein solches Recht nicht notwendig eine Pflicht impliziert? Man könnte sich darauf beschränken, das Interesse des A an seinem Leben festzustellen. Aber das genügt offenbar nicht, denn sonst würde man ja kein Lebensrecht statuieren, das über die bloße Feststellung von Interessen hinausgeht. Das Interesse wird vielmehr als berechtigtes und damit zu beachtendes behauptet, das heißt es wird sekundär bewertet bzw. normiert. Das kann ein taugliches Mittel zur Sicherung dieses Interesses sein. Es kann aber auch deutlich machen, dass es sich um ein besonders wichtiges Interesse handelt, das sich regelmäßig gegenüber vielen anderen Interessen durchsetzt. Weiterhin kann es sich um eine Rechtfertigung von Pflichten handeln. Das Recht wird damit zur ethischen Quelle von Pflichten. Nach anderen Auffassungen muss mit dem InterÂ� esse auch eine besondere faktische Durchsetzungsmacht des Rechtsträgers verbunden sein, sei es eine eigene oder durch andere verliehene, etwa durch eine sekundäre Norm. Schließlich setzen manche einen Anspruch oder sogar einen qualifizierten (gerechtfertigten, gültigen) Anspruch voraus,18 wobei es sich je nach dem Kontext der Normenordnung, in die das subjektive Recht eingebettet ist, um einen moralischen, rechtlichen, ethischen usw. Anspruch handeln soll. Alle diese zusätzlichen Bedeutungen sind zwar möglich, aber keine notwendigen Merkmale des Rechtsbegriffs. Notwendig ist nur, dass eines dieser zusätzlichen Merkmale besteht, sofern dem Recht nicht gemäß der konkreten Normenordnung eine Pflicht korrespondiert. Korrespondiert dem Recht dagegen eine Pflicht, ist keines dieser 17 Vgl. Herbert J. McCloskey, Rights, Philosophical Quarterly 15 (1965), S.€115–127; ders., Rights€– Some Conceptual Issues, Australian Journal of Philosophy 54 (1976), S.€ 99–115; Neil MacCormick, Children’s Rights: a Test-Case for Theories of Rights, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 62 (1976), S.€305–316; ders., Rights in Legislation, in: P.â•›M.â•›S.€Hackerâ•›/â•›Joseph Raz (Hg.), Law, Morality and Society€– Essays in Honor of H.â•›L.â•›A. Hart, Oxford 1977, S.€189–209; ders., Rights, Claims and Remedies, Law and Philosophy 1 (1982), S.€337–357. 18 Vgl. Joel Feinberg, The Nature and Value of Rights, in: ders., Rights, Justice and the Bounds of Liberty€– Essays in Social Philosophy, Princeton 1980, S.€143–158, S.€152.
4. Rechte
267
weiteren Merkmale erforderlich. Es bedarf nicht einmal eines Interesses des Rechtsinhabers. So bestehen also wenigstens folgende Möglichkeiten, den Begriff des subjektiven Rechts zu verstehen: (1) „Recht 1“ des A: Pflichtfreiheit des A + Möglichkeit, eine Handlung zu fordern Interrelationalität + berechtigtes Interesse des A (2) „Recht 2“ des A: Pflichtfreiheit des A + Möglichkeit, eine Handlung zu fordern Interrelationalität + wichtiges Interesse des A (3) „Recht 3“ des A: Pflichtfreiheit des A + Möglichkeit, eine Handlung zu fordern Interrelationalität + Interesse des A, das Pflichten rechtfertigt (4) „Recht 4“ des A: Pflichtfreiheit des A + Möglichkeit, eine Handlung zu fordern Interrelationalität + Durchsetzungsmacht (sog. Willens- oder Kontrolltheorie)19 (5) „Recht 5“ des A: Pflichtfreiheit des A + Möglichkeit, eine Handlung zu fordern Interrelationalität + Anspruch des A (6) „Recht 6“ des A: Pflichtfreiheit des A + Möglichkeit, eine Handlung zu fordern Interrelationalität + Pflicht des B
+ + + + + +
Zwischen den ersten drei Alternativen einer Interessen- oder Begünstigtentheorie20 und der vierten Alternative einer Willens- und Kontrolltheorie bestand bzw. besteht grundsätzlicher Streit.21 Eine Interessentheorie kommt zu einem relativ weiten Rechtsbegriff, hat aber Schwierigkeiten zu zeigen, wozu man dann neben Pflichten überhaupt noch Rechte braucht. Die Willens- und Kontrolltheorie kommt zu einem relativ engen Rechtsbegriff, hat aber Probleme, die Rechte von Kindern und Geisteskranken sowie moralische Rechte und Menschenrechte zu erklären. Die zusätzlichen Erfordernisse beider Theorien sind aber nicht widersprüchlich. Sie können jeweils für bestimmte Typen von Rechten bzw. Normordnungen alternativ oder sogar kumulativ bestehen.22 Man kann gleichzeitig vorpositive Menschenrechte ohne Kontrollmöglichkeit und zivilrechtliche Rechte mit Kontrollmöglichkeit finden. Keiner dieser beiden Auffassungen ist es bisher gelungen zu zeigen, dass nur sie die richtige ist, das heißt, dass nur die Interessen oder der Wille bzw. die Kontrolle notwendige Elemente des Rechtsbegriffs sind. Die unterschiedlichen Erfordernisse lassen sich auf den Gegensatz von Positivität und Überpositivität zurückführen und können so lange nicht als exklusiv behauptet werden, 19 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S.€ 239; H.â•›L.â•›A. Hart, Legal Rights, in: ders., Essays on Bentham. Studies in Jurisprudence and Political Theory, Oxford 1982, S.€162–193, S.€181â•›ff. 20 Vgl. etwa Jeremy Bentham, General View of a Complete Code of Law, The Works of Jeremy Bentham, hg. von J. Bowring, Vol. III, S.€159; David Lyons, Rights, Claimants, and Beneficiaries, American Philosophical Quarterly 6 (1969), S.€173–185. 21 Vgl. etwa Jeremy Waldron, Einleitung zu: ders., Theories of Rights, Oxford 1984, S.€ 9â•›ff.; James E. Penner, The Analysis of Rights, Ratio Juris 10 (1997), S.€300–315; Markus S.€Stephanians, Rights as Relational Properties. In Defense of Rightâ•›/â•›Duty-Correlativity, passim. 22 Es scheint für die Konkretisierung des Rechtsbegriffs also ein Fall von Wittgensteins These der Familienähnlichkeit vorzuliegen, vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 67.
268
VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände
so lange man die Existenz von Rechten in beiden Realisationsformen von Normen anerkennt, eine Anerkennung, die etwa die grundlegende Unterscheidung zwischen primären tatsächlichen und sekundären idealen Normordnungen, also von Moral, Recht, Erziehung, Religion, Politik usw. auf der einen Seite und Ethik auf der anderen Seite enthält. Hier zeigt sich wieder, wie wichtig die in der Einleitung betonte klare Unterscheidung von Moral und Ethik ist.
b) Implikation des Rechts aus der Pflicht Verschiedentlich wird angenommen, dass umgekehrt eine Pflicht ein Recht impliziert. Wenn B also eine Pflicht gegenüber A zur Handlung h hat, so hätte A ein Recht gegenüber B auf h.23 Ohne Zweifel können Normordnungen statuieren, dass mit einer Pflicht immer auch ein Recht einhergeht. Man spricht dann traditionell von vollkommenen Pflichten.24 Aber beileibe nicht alle Normordnungen korrelieren Pflicht und Recht immer auf diese Weise. Im deutschen Zivilrecht gibt es zum Beispiel sog. Naturalobligationen, das heißt es besteht eine Pflicht zur Leistung, ohne dass der Begünstigte die Leistung verlangen kann, also ein Recht hat, die Leistung vom Verpflichteten zu fordern.25 Das ist regelmäßig die Ausnahme, aber als tatsächlich bestehende Ausnahme weder logisch noch begrifflich unmöglich. Und in der Moral gibt es sog. unvollkommene Pflichten.26 Die Pflicht zur Wohltätigkeit ist etwa eine solche Pflicht. Alle haben eine derartige Pflicht, ohne dass einem einzelnen Anderen daraus ein Recht auf eine bestimmte Wohltätigkeit durch einen bestimmten Wohltäter zustünde. Denkbar ist auch, dass die Pflicht des B gegenüber A von einem Dritten, etwa dem Staat statuiert wird, ohne dass A ein Recht erwirbt. So können etwa bestimmte Normen des Umweltrechts gegenüber B vom Staat zum Schutz des A festgelegt werden, ohne dass A ein Recht erwirbt bzw. erwerben soll, die Einhaltung dieser Normen von B zu fordern. Die verwaltungsgerichtliche Klagbarkeit gegen Verwaltungsakte setzt etwa voraus, dass eine subjektive Rechtsverletzung möglich ist und nicht nur die begünstigende Wirkung einer Norm geltend gemacht wird, welche andere verpflichtet.27
23 Vgl. zu einer neueren Verteidigung dieser Auffassung: Markus S.€Stephanians, Rights as Relational Properties. In Defense of Rightâ•›/â•›Duty-Correlativity, S.€ 35â•›ff. Dagegen: Joel Feinberg, Duties, Rights and Claims, American Philosophical Quarterly 3 (1966), S.€255–269; David Lyons, Rights, Claimants, and Beneficieries. 24 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 53, 54, S.€421â•›ff.; Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€131. 25 Im deutschen Recht wären das etwa nicht notariell beurkundete Schenkungen nach den §§ 516, 518 BGB. 26 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 53, 54, S.€421â•›ff.; Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€131. 27 Vgl. § 42 der Deutschen Verwaltungsgerichtsordnung.
269
4. Rechte
c) Korrelation von Rechten und Pflichten In manchen Fällen einer Verwendung des Begriffs des subjektiven Rechts und damit in manchen Normordnungen besteht nun sogar eine Korrelation von Rechten und Pflichten. Das heißt, zwischen Rechten und Pflichten bestehen beide Implikationsbeziehungen: Immer wenn eine Pflicht existiert, so besteht auch ein Recht und immer wenn ein Recht existiert, so besteht auch eine Pflicht. Dann stellt sich die Frage, wie weit man die korrelativen Begriffe des Rechts und der Pflicht verstehen will. Man kann den Rechtsbegriff weit verstehen, so dass er auch die Freiheit des eigenen Handelns vor den Verpflichtungen Anderer, also Privilegien, die eigene Macht zur RechtsÂ�gestaltung und die Immunität vor der Rechtsgestaltung Anderer einschließt.28 Wesley Newcomb Hohfeld hat dagegen€– allerdings unter Anerkennung einer vielfach anzutreffenden abweichenden Praxis€– vorgeschlagen, den Rechtsbegriff sehr eng und nur im Sinne eines Anspruchsrechts (claim-right) hinsichtlich des Tuns Anderer aufzufassen.29 Auch der Begriff der Pflicht wird eng im Sinne des eigenen Handelns eines Akteurs bestimmt. Nach Hohfeld lässt sich dann folgendes Schema von Korrelationen zwischen A und B aufstellen: A
Recht (right)
B
Pflicht (duty)
|
Privileg (privilege)
|
Nicht-Recht (no-right)
Machtâ•›/â•›Fähigkeit (power)
Immunität (immunity)
Bindung (liability)
Unfähigkeit (disability)
|
|
Daraus ergeben sich folgende Gegensätze: Recht (right)
|
Nicht-Recht (no-right)
Privileg (privilege)
|
Pflicht (duty)
Machtâ•›/â•›Fähigkeit (power)
Immunität (immunity)
Unfähigkeit (disability)
Bindung (liability)
|
|
Die einzelnen Begriffe lassen sich nach Hohfeld wie folgt bestimmen: Recht des Aâ•›/â•›Pflicht des B: Anspruch des A gegenüber B, dass B h tut, zum Beispiel Anspruch des A gegenüber B, dass B das Land des A nicht betritt, oder Anspruch des A gegenüber B, dass B A hilft (Anspruchsrecht).
28 Judith J. Thomson, The Realm of Rights, S.€52, 54, 59; Helle Kangerâ•›/â•›Stig Kanger, Rights and Parliamentarism, Theoria 32 (1966), S.€85–115, S.€86â•›ff.; Frances M. Kamm, Rights, in: Jules Colemanâ•›/â•›Scott Shapiro, The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, Oxford 2002, S.€476–513, S.€480. 29 Wesley N. Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning, S.€38.
270
VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände
Privileg des Aâ•›/â•›Nicht-Recht des B: Freiheitâ•›/â•›Möglichkeit des A gegenüber B, dass A h tut, zum Beispiel Freiheitâ•›/â•›Möglichkeit des A gegenüber B, dass A selbst sein eigenes Land betritt, oder Freiheit des A gegenüber B, dass B ihn nicht schädigt (Freiheitsrecht). Macht des Aâ•›/â•›Bindung des B: Fähigkeit des A gegenüber B, durch sein Tun h seitens A eine normative Wirkung auch für B herbeizuführen, zum Beispiel Fähigkeit des A gegenüber B, durch seine Akzeptanz ein Vertragsangebot des B anzunehmen und den B somit durch einen wirksamen Vertrag zu verpflichten. Oder die Fähigkeit des Eigentümers A, sein Eigentum mit Wirkung gegenüber B (und allen Anderen) an C zu übertragen (Gestaltungsrecht). Immunität des Aâ•›/â•›Unfähigkeit des B: Freiheit des A gegenüber B, dass B durch ein Tun keine normative Wirkung für A herbeiführen kann, zum Beispiel die Freiheit des A, durch bloße Erklärung des B nicht vertraglich verpflichtet zu werden, die Freiheit des Eigentümers A, durch B in seiner Eigentümerstellung nicht einseitig tangiert zu werden, oder die Freiheit des A gegenüber der Auferlegung von Steuern seitens des Staates (Immunitätsrecht). Diese Korrelation von acht Grundbegriffen ist sicherlich eine mögliche und sinnvolle Präzisierung des Rechtsbegriffs, sofern man im Gedächtnis behält, dass damit keine notwendigen begrifflichen Bedingungen statuiert sind, sondern nur mögliche Festlegungen einzelner wirklicher Norm- bzw. Moral-, Rechts- oder Politikordnungen usw. Das Hohfeldsche System ist dann vor allem von Stig und Hille Kanger weiter formalisiert worden.30 Dabei wurde die Unterscheidung zwischen Handeln und Herbeiführen einer rechtlichen Folge als Herbeiführen eines Zustands S zwischen X und Y vereinheitlicht (S (X,Y)). Daraus ergeben sich folgende Interpretationen: (1) Rechtâ•›/â•›Anspruch: (2) Privilegâ•›/â•›Freiheit: (3) Macht: (4) Immunität: (5) Nicht-Recht: (6) Nicht-Freiheit: (7) Nicht-Macht: (8) Nicht-Immunität:
Es soll sein, dass Y herbeiführt S (X,Y). Nicht: Es soll sein, dass X herbeiführt nicht-S (X,Y). Nicht: Es soll nicht sein, dass X herbeiführt S (X,Y). Es soll nicht sein, dass Y herbeiführt nicht-S (X,Y). Nicht: Es soll sein, dass Y herbeiführt S (X,Y). Es soll sein, dass X herbeiführt S (X,Y). Es soll sein nicht, dass X herbeiführt S (X,Y). Nicht: Es soll nicht sein, dass Y herbeiführt nicht-S (X,Y).
In der Realität enthalten subjektive Rechte wie etwa das zivilrechtliche Eigentumsrecht oftmals mehrere dieser Bestimmungen. Von den 256 Möglichkeiten haben Stig und
30 Helle Kangerâ•›/â•›Stig Kanger, Rights and Parliamentarism. Helle Kanger hat diese Analyse dann in Human Rights and Their Realisation, Uppsala 1981, auf die Menschenrechte angewandt. Vgl. Edgar Morscher (Hg.), Was heißt es, ein Recht auf etwas zu haben? Stig und Helle Kangers Analyse der Menschenrechte, Sankt Augustin 2004.
4. Rechte
271
Helle Kanger 26 Kombinationen identifiziert, die konsistent sind.31 Da es in der vorliegenden Untersuchung nicht um Details dieser Sprach- und Realisationsformen geht, sei auf deren Analyse verwiesen. Die einzelnen Interpretationen der acht Grundbegriffe lassen sich mit Hilfe der Standardnotation der deontischen Logik folgendermaßen formalisieren. Ausgangspunkt ist dabei der Gebotsoperator der deontischen Logik: „Op“. Das Verbot ist dann „O¬p“ und die Negation des Gebots die Freistellung „¬Op“ sowie die Negation des Verbots die Erlaubnis „¬O¬p“. Rechte beziehen sich immer auf einen Rechtsinhaber (x) und einen Rechtsadressaten (y). Des Weiteren muss bei der Verpflichtung zwischen Handlung (H) und Handlungserfolg (p) unterschieden werden. Man erhält auf diese Weise acht einfache Rechtstypen:32 (1) Anspruch:
Es ist geboten, dass y so handelt, dass p.
OyHp
(2) Freiheit:
Es ist nicht geboten, dass x so handelt, dass nicht p.
¬OxH¬p
(3) Macht:
Es ist erlaubt, dass x so handelt, dass p.
¬O¬xHp
(4) Immunität:
Es ist verboten, dass y so handelt, dass nicht p.
O¬yH¬p
(5) Nicht-Anspruch:
Es ist geboten, dass y so handelt, dass nicht p.
OyH¬p
(6) Nicht-Freiheit:
Es ist nicht geboten, dass x so handelt, dass p.
¬OxHp
(7) Nicht-Macht:
Es ist erlaubt, dass x so handelt, dass nicht p.
(8) NichtImmunität:
Es ist verboten, dass y so handelt, dass p.
¬O¬xH¬p O¬yHp
Für die hier verfolgten Zwecke einer allgemeinen normativen Ethik ist diese kurze Darstellung der Realisationsformen von Pflichten, Werten und Rechten ausreichend. Weitere Einzelheiten und die Diskussion von Zweifeln müssen einer Detailerörterung vorbehalten bleiben.
31 Helle Kangerâ•›/â•›Stig Kanger, Rights and Parliamentarism, S.€93â•›f. 32 Vgl. Heinrich Ganthaler, Das Recht auf Leben in der Medizin. Eine moralphilosophische Untersuchung, Egelsbach 2001, S.€29. Hierzu: Verf., Logik und das Recht auf Leben in der Medizin, in: Grazer philosophische Studien 64 (2002), S.€209–224 (Rezension zu: Heinrich Ganthaler, Das Recht auf Leben in der Medizin).
VIII. Pflichten gegen sich selbst? Von allen möglichen Realisationsformen der Ethik und Moral ist die Pflicht die praktisch wichtigste, weil sie unmittelbar handlungsbestimmend und damit konfliktlösend wirkt. Deshalb wird in den nächsten Kapiteln der Pflichtbegriff näher analysiert. Pflichten sind zunächst einmal Relationen. Dann stellt sich die Frage nach den möglichen Relata. Pflichten stehen, wie bereits im letzten Kapitel€ festgestellt wurde, unabdingbar in Relation zu Handlungen. Pflichten sind Notwendigkeiten des Handelns.1 Wer eine Pflicht hat, soll handeln, wobei „Handeln“ die Alternativen des Tuns und des Unterlassens umfasst. Soll die Notwendigkeit des Handelns mehr als eine bloß kausale sein, so müssen weitere Wesen als Relata der Pflicht angenommen werden. Fraglich ist etwa, von wem Pflichten ausgehen und gegen wen sie sich richten können. Als ein Aspekt dieser Frage soll zunächst erörtert werden, ob sich Pflichten nur gegen Andere oder auch gegen den Handelnden selbst richten.2
1. Die fünf möglichen Relationspole einer Pflicht Entscheidend für die Frage nach Pflichten gegen sich selbst ist, wer oder was neben Handlungen die weiteren Relata bzw. Relationspole einer Pflicht sein können, denn nur so lässt sich bestimmen, was „gegen sich selbst“ bedeutet. Abgesehen von der fraglichen Handlung lassen sich fünf Relationspole unterscheiden: (1) Jede Pflicht hat einen Adressaten. Adressat der Pflicht ist per definitionem der Handelnde, denn für ihn besteht ja die Notwendigkeit des Handelns. (2) Jede Pflicht hat einen Ursprung bzw. Urheber. Wer oder was kann dann der Ursprung bzw. Urheber der Pflicht sein? Dazu gibt es viele grundsätzliche Möglichkeiten einerseits und Annahmen andererseits: Gott, der Andere, ein Vertrag, ein Versprechen, eine Gemeinschaft, das moralische Gesetz im Handelnden, der Handelnde selbst, das Naturgesetz, Werte usw. Vom Standpunkt des normativen Individualismus sind in
1
2
Vgl. zu diesem weiten Pflichtbegriff auch Cicero, De Officiis, und Lorenz Kähler, Die vergessenen Pflichten gegen sich selbst, unveröffentlichte Magisterarbeit, Göttingen 2007, S.€11, der dieses weite Verständnis dann aber wieder einschränkt, wenn er von einer Aufforderung aus „ethischer Sicht“ spricht. Dabei wird ein selbstredend mögliches, instrumentelles Verständnis von Pflichten gegen sich selbst zur Erfüllung von Pflichten gegen Andere ausgeklammert. Vgl. dazu: Otto Neumeier, Why Are We Morally Responsible for Ourselves?, in: Logos and Language. Essays in Honour of Julius Moravcsik, hg. von Dagfinn Føllesdal und John Woods, London 2008, S.€61, 63.
1. Die fünf möglichen Relationspole einer Pflicht
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säkular-immanenter und normativ-ethischer Perspektive nur Individuen als Ursprung einer Pflicht gerechtfertigt. (3) Bei einer Pflicht kann es als dritten Relationspol einen Berechtigten geben, der die Ausführung der pflichtgemäßen Handlung fordern darf.3 Der Berechtigte kann der Urheber der Pflicht sein, wenn die Pflicht als Verpflichtung statuiert wird. Er kann aber auch eine Person sein, die vom Ursprung bzw. Urheber verschieden ist, etwa ein Begünstigter. Da der Berechtigte eine Person sein muss, ist er immer dann vom Ursprung verschieden, wenn die Pflicht ihren Ursprung nicht in einer Person hat. Berechtigte können nur zwei Typen von Personen sein: der Adressat bzw. Handelnde oder Andere (einschließlich Gott). Dass Andere Berechtigte von Pflichten sein können, steht außer Zweifel, wobei noch zu erörtern sein wird, welche Individuen dafür letztlich in Frage kommen. Zweifelhaft ist aber, ob auch der Adressat der Pflicht, also der Handelnde ihr Berechtigter sein kann. Das ist sicher zu verneinen, wenn es sich um eine Pflicht gegen sich selbst handelt, denn dann wäre dies gleichzeitig ein Recht gegen sich selbst (was in Kapitel€VII, 4 a) ausgeschlossen wurde). Anders ist die Lage bei einer Pflicht durch einen Anderen. Dann würde ein Recht des Handelnden und Adressaten der Pflicht gegen einen Anderen auf die Pflicht gegen sich bestehen. Das ist möglich, weil die Pflicht ja im Interesse des Handelnden liegen kann. So kann jemand etwa ein Recht gegenüber seinem persönlichen Fitnesstrainer aus dem Trainingsvertrag haben, ihn zu bestimmten Übungen zu verpflichten. Diese Pflichten können sogar kategorisch, das heißt konkret zustimmungsunabhängig sein. Die dritte Bedingung des Rechtsbegriffs, die Intersubjektivität, schließt es nur dann aus, den Adressaten der Pflicht auch als deren Berechtigten anzusehen, wenn Adressat und Urheber der Pflicht identisch sind, denn dann würden Recht und Pflicht in einer Person zusammenfallen und eine Intersubjektivität wäre unmöglich.4 (4) Eine Pflicht kann schließlich als vierten Relationspol einen Begünstigten oder Belasteten haben. Zu fragen ist also, zu wessen Gunsten oder Lasten die Pflicht besteht, das heißt, wer als Begünstigter oder Belasteter in ihr intendiert oder genannt ist.5 Eine Pflicht wird häufig zugunsten ihres Urhebers undâ•›/â•›oder Berechtigten statuiert. Aber als Begünstigter kann auch€ – wie sich soeben ergab€ – der Verpflichtete oder ein Dritter intendiert oder genannt sein. A kann etwa seinen Sohn zur Anfertigung von dessen Schularbeiten verpflichten, was diesen begünstigt, oder er kann den B zugunsten des C 3 4
5
Da, wie sich im vorigen Kapitel€ergab, nicht begrifflich notwendig jeder Pflicht ein Recht korrespondiert, gibt es nicht zu jeder Pflicht notwendig einen Berechtigten. Joseph Raz, Ethics in the Public Domain, S.€33; Marcus G. Singer, On Duties to Oneself, S.€202; ders., Duties and Duties to Oneself, S.€133, 137. Lorenz Kähler, Die vergessenen Pflichten gegen sich selbst, S.€27, ist dagegen der Auffassung, dass Verpflichteter und Berechtigter identisch sein können: Wie eine Pflicht könne auch ein Recht als eine Art von ethischen Gründen verstanden werden. Das überzeugt jedoch nicht, weil die Eigenschaft, guter Grund zu sein, zwar beiden Phänomenen zukommt, aber nur als schwache notwendige Bedingung. Die restlichen, spezifizierenden Merkmale können dagegen zu einem Ausschluss führen. Dies ist beim Recht der Fall, das die Möglichkeit, etwas zu fordern, enthält. Lorenz Kähler, Die vergessenen Pflichten gegen sich selbst, S.€15â•›ff., spricht hier von „Rücksicht auf eine andere Person“, welche die Erfüllung von B verlangen kann. Damit wird aber der klare Unterschied zwischen dem Berechtigten und dem Begünstigten nicht hinreichend akzentuiert.
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VIII. Pflichten gegen sich selbst?
verpflichten, etwa dem B vom Ufer zurufen, den neben ihm im Wasser ertrinkenden C zu retten. Dann ist Urheber der Pflicht der A und Adressat der Pflicht der B, Begünstigter aber ausschließlich der C. Wer in diesem Fall Berechtigter der Pflicht sein soll, hängt von ihrer Ausgestaltung ab. Entweder der A oder der C oder beide oder keiner von beiden oder sogar ein Vierter können Berechtigte sein. (5) Schließlich kann es auch noch einen fünften Relationspol einer Pflicht geben: den oder die von ihr oder ihrer Ausführung Betroffenen. Während der Begünstigte oder Belastete durch die Statuierung der Pflicht intendiert sein muss, gilt dies für die weiteren Betroffenen nicht. Wenn etwa im obigen Beispiel A den B dazu verpflichtet, den Begünstigten C vor dem Ertrinken zu retten, so können D, E und F davon betroffen sein, etwa weil sie von C weiterhin Waren kaufen können, was für sie positiv ist, oder weil sie weiterhin Cs Marktkonkurrenz ausgesetzt sind, was für sie negativ ist. Während die Begünstigung immer positiv ist und die Belastung immer negativ, kann die Betroffenheit also entweder positiv oder negativ sein oder beides zugleich.
2. Worauf bezieht sich das „gegen“ bei den Pflichten gegen sich selbst? Fraglich ist nun, welcher dieser fünf Relationspole einer Pflicht in der Rede von „Pflichten gegen sich selbst“ gemeint sein kann? Was heißt also „gegen“ genauer? „Gegen“ kann erstens nicht bedeuten, dass der Handelnde auch Adressat der Pflicht ist, denn das ist er€– wie sich soeben ergab€– per definitionem. Würde das „gegen“ also auf den Handelnden als Adressaten der Pflicht verweisen, so wäre es redundant. Das „gegen“ kann zweitens unzweifelhaft bedeuten, dass der Handelnde bzw. Adressat der Pflicht auch deren Urheber ist. Fraglich ist drittens, ob das „gegen“ auch bedeuten kann, dass der Adressat der Pflicht auch deren Berechtigter ist. Das erscheint begrifflich ausgeschlossen, denn ein Recht besteht immer „für“ und nicht „gegen“ jemanden. Das „gegen“ könnte viertens ohne Zweifel bedeuten, dass der Adressat der Pflicht und ihr Begünstigter bzw. Belasteter ein und dieselbe Person sind. Das „gegen“ kann fünftens nicht bedeuten, dass die Pflicht gegenüber einem bloß Betroffenen besteht, denn dessen Betroffenheit ist nicht intendiert, kann also nicht notwendiger Teil eines bestimmten Pflichttyps sein. Der Handelnde kann im Übrigen immer auch von Pflichten gegenüber Anderen betroffen sein. Hat B zum Beispiel eine Pflicht, dem C zu helfen, so kann das bei ihm selbst positive oder negative Folgen auslösen, etwa Freude oder Ärger erzeugen. Umgekehrt kann eine Pflicht des Handelnden gegen sich selbst nach der zweiten oder vierten Alternative auch bei Anderen als Betroffene bestimmte positive und negative Wirkungen hervorrufen. Nähme man etwa eine Pflicht des Handelnden an, sich nicht selbst zu töten, so wären davon seine Familienmitglieder positiv und mögliche Konkurrenten negativ betroffen. Das Ergebnis dieser Systematisierung lautet: Pflichten gegen sich selbst können sich also entweder „gegen“ den Urheber oder den Begünstigten richten. Möglich sind somit
3. Die Pflichten gegen sich selbst in traditionellen Ethiken und bei Kant
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die Alternativen zwei und vier. Möglich wäre aber natürlich auch eine Kombination der Alternativen zwei und vier, nämlich, dass der Adressat der Pflicht, der Urheber und der Begünstigte ein und dieselbe Person sind. Für die Bedeutung des Ausdrucks „Pflichten gegen sich selbst“ gibt es also wenigstens drei Alternativen: (1) Adressat und Urheber der Pflicht sind identisch, (2) Adressat und Begünstigter der Pflicht sind identisch, (3) Adressat, Urheber und Begünstigter der Pflicht sind identisch. Welche dieser drei Alternativen gemeint und gewollt ist, hängt von der jeweiligen Normenordnung bzw. ethischen Theorie ab, in der Pflichten gegen sich selbst vorkommen sollen.
3. Die Pflichten gegen sich selbst in traditionellen Ethiken und bei Kant In traditionellen Ethiken wurden als Urheber bzw. Ursprung ethischer, moralischer sowie religiöser und gelegentlich auch rechtlicher Pflichten Gott oder das Naturrecht angenommen. Ein derartiger metaphysisch-transzendenter Urheber bzw. Ursprung schließt den Handelnden als gleichÂ�berechtigten Urheber aus, denn man kann nicht annehmen, dass ein Mensch mit Gott oder dem Naturrecht auf gleicher Stufe steht und Urheber der Ethik ist. Das hat zur Folge, dass sich das „gegen“ im Rahmen des Ausdrucks „Pflichten gegen sich selbst“ nicht auf den Handelnden als Urheber der Pflicht, sondern nur als Begünstigten der Pflicht beziehen kann. Diese Annahme ist nicht nur begrifflich unproblematisch, sondern auch normativ-ethisch gut rechtfertigbar. Es ist nicht einzusehen, warum Gott oder das Naturrecht einem Handelnden nur Pflichten auferlegen könnte bzw. sollte, die Andere begünstigen und nicht ihn selbst. Allerdings setzt eine derartige Begründung von Pflichten gegen sich selbst die Annahme Gottes bzw. eines Naturrechtes voraus, die nur auf religiöser oder stark metaphysischer Grundlage möglich ist. Einer philosophischen, das heißt in der letzten Begründung säkular-immanenten Ethik stehen diese Annahmen nicht zur Verfügung. Kant hat als Ursprung der ethischen und moralischen Verpflichtung den einzelnen Menschen angenommen. Das „moralische Gesetz in mir“ ist für ihn die letzte Quelle aller ethischen und moralischen Pflichten. Damit ist der Teil des Menschen gemeint, den er im Gegensatz zum homo phaenomenon als homo noumenon bezeichnet.6 Damit sind bei allen ethischen und moralischen Pflichten per definitionem Handelnder bzw. Adressat und Urheber der Pflicht ein und dieselbe Person, da man den Gesamtmenschen als Verbindung von homo phaenomenon und homo noumenon verstehen muss. Danach wären dann aber, legte man das obige zweite Verständnis des „gegen“ zu Grunde, alle ethischen Pflichten per se solche gegen sich selbst. Dies erklärt, warum Kant die Pflichten gegen sich selbst als Grundlage und Bedingung aller Pflichten bezeichnet hat.7 6 7
Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 206, S.€114. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S.€ 417â•›f. Vgl. zu verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten: Jens Timmermann, Kantian Duties to the Self, Explained and Defended, Philosophy 81 (2006), S.€505–530, S.€510â•›ff.
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VIII. Pflichten gegen sich selbst?
Da Kant den Ausdruck „Pflichten gegen sich selbst“ aber wie die traditionelle Auffassung auch in Abgrenzung zu „Pflichten gegen Andere“ verwendet,8 kann er das „gegen“ nicht nur auf den Urheber im Sinne des homo noumenon beziehen. Er muss damit auch den Begünstigten bzw. Belasteten meinen, also den Relationspol gemäß dem obigen vierten Verständnis. Auch für Kant sind Pflichten gegen sich selbst somit solche gegen den Begünstigtenâ•›/â•›Belasteten, wobei offen bleibt, welcher Teil des Menschen der Begünstigteâ•›/â•›Belastete ist, der homo noumenon oder der homo phaenomenon. Insofern ändert sich nichts gegenüber der traditionellen Auffassung. Wie bei der traditionellen Auffassung von Gott oder dem Naturrecht als Urheber ethischer Pflichten ist es auch für Kant begrifflich ganz unproblematisch, Pflichten gegen sich selbst anzunehmen. Ob derartige Pflichten sachlich aus der kantschen Ethik folgen, hängt von den Spezifika dieser Ethik ab. Wesentliche ihrer Bestimmungsgründe wie die Annahme des objektiven Gesetzes des Wollens, des Kategorischen Imperativs und der Universalisierung sprechen jedenfalls nicht dagegen. Wenn das zentrale Kriterium der ethischen Normativität die Möglichkeit der Verallgemeinerung der Maxime im Denken und Wollen ist, so erscheint es vielmehr gut begründet, nicht zwischen dem Handelnden und Anderen als Begünstigten zu unterscheiden. Kants Annahme von Pflichten gegen sich selbst ist also im Rahmen seiner ethischen Theorie einleuchtend.9 Wie bei der traditionellen Auffassung kommt nun aber wieder alles darauf an, ob man das moralische Gesetz im Einzelnen als Urheber aller ethischen und moralischen Pflichten, als „Faktum der Vernunft“10 akzeptiert. Für eine metaphysisch möglichst sparsame Ethik ist das problematisch. Und in Kapitel€V ergab sich, dass die Universalisierung nicht als allgemeines Abwägungsprinzip widerstreitender Belange akzeptabel ist, sondern nur in den speziellen Fällen sozialer Institutionen und Einrichtungen.
4. Die Pflichten gegen sich selbst nach der hier entfalteten Ethik Wie sind die Pflichten gegen sich selbst vor dem Hintergrund der hier entfalteten metaphysisch sparsameren Ethik der fünf Elemente bzw. des normativen Individualismus zu beurteilen? Zu einer Antwort muss man sich zunächst fragen, welches denn der Ursprung bzw. Urheber dieser Ethik ist. Das ist eine metaethische Frage. In Kapitel€VI wurden dazu einige Gedanken skizziert. Die hier vorgeschlagene Ethik fußt auf einer objektiven Vernunftlösung der Vermittlung zwischen den potentiellen Widersprüchen von Belangen der jeweils in einer Konfliktsituation Betroffenen. Diese objektive Vernunftlösung wird sich im Regelfall auf die Belange verschiedener Individuen stützen. Aber die Individuen bzw. deren Belange sind nicht der Urheber bzw. Ursprung der ethischen Verpflichtung. Der Ursprung ist vielmehr die objektive Vernunftlösung selbst. 8 9
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 53, 54, S.€421. Kantianer bejahen deshalb auch regelmäßig Pflichten gegen sich selbst. Vgl. etwa Jens Timmermann, Kantian Duties to the Self, Explained and Defended. 10 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 56, S.€31.
4. Die Pflichten gegen sich selbst nach der hier entfalteten Ethik
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„Gegen“ diese Vernunftlösung der potentiell widerstreitenden Belange verschiedener Personen kann man aber natürlich keine Pflichten haben, denn diese Vernunftlösung ist selbst kein Individuum und damit kein Relationspol, dem eigene ethische Berücksichtigungswürdigkeit oder eigener ethischer Wert zukommen könnte. Denkbar ist aber, dass die potentiell widerstreitenden Belange nur in einer einzigen Person bestehen. Dann ist auch die Vernunftlösung eine solche dieser einzelnen Person, allerdings nicht im Sinne einer Willkürentscheidung, sondern im Sinne einer prinzipiell objektiven Lösung. Urheber der Vernunftlösung ist dann der einzelne Handelnde. Fraglich ist in diesem Fall aber, was es heißen soll, dass eine „Pflicht“, das heißt eine „Notwendigkeit des Handelns“ besteht. Diese Notwendigkeit geht keinen Millimeter über die Objektivität der Vernunftlösung hinaus. Ob der Handelnde die Vernunftlösung des Widerstreits seiner eigenen Belange wirklich handlungswirksam werden lässt, hängt allein von ihm selbst ab. Dann ist aber nicht ersichtlich, welches Phänomen eine solche zusätzliche „Notwendigkeit des Handelns“ jenseits der Objektivität der Vernunftlösung bezeichnen sollte. Der Ausdruck „Pflicht gegen sich selbst“ ist insofern sinnlos. Aber vielleicht gibt es doch einen Sinn? Da sich diese Frage für die zweite Alternative der Interpretation vergleichbar stellt, wird sie bei deren Diskussion erörtert. Denkbar bleibt also die zweite Möglichkeit des Verständnisses von „Pflicht gegen sich selbst“, also die Möglichkeit, die Pflichten gegen sich selbst so zu interpretieren, dass Handelnder und Begünstigter bzw. Belasteter identisch sind. Dies ist, wie sich ergab, möglich und kommt gelegentlich vor. Es treten Situationen auf, in denen mehrere divergierende Belange des Handelnden im möglichen oder tatsächlichen Widerstreit stehen, so dass nur er der Begünstigteâ•›/â•›Belastete der objektiven Vernunftlösung ist. Es mag etwa sein, dass der Handelnde hinsichtlich seiner, nur von ihm selbst zu entscheidenden Abendgestaltung zwischen einem Trinkgelage und einer Bildungsveranstaltung zu wählen hat. Die Bildungsveranstaltung wird dann unter Umständen seinen ernsthaft abgewogenen Belangen besser entsprechen als das Trinkgelage. Die Vernunftlösung spricht hier also für die Bildungsveranstaltung. Fraglich ist nun allerdings, ob der Handelnde eine Pflicht zur Wahl dieser Vernunftlösung hat? Die Beantwortung der Frage nach Pflichten gegen sich selbst hängt an dieser Stelle nicht nur von der Zuordnung zu einem der Relationspole ab, sondern vom näheren Verständnis des PflichtbeÂ�griffs, also der Frage, was „Notwendigkeit“ in der Definition der Pflicht als „Notwendigkeit der Handlung“ genauer bedeutet. In einer sehr schwachen Lesart könnte „Notwendigkeit“ lediglich bedeuten, dass es gute Gründe für das fragliche Handeln im Handelnden selbst gibt. Würde man diese sehr schwache Lesart des Pflichtbegriffs akzeptieren, wäre gegenüber Pflichten gegen sich selbst nichts einzuwenden. Für das Handeln eines Akteurs kann es in ihm selbst gute Gründe geben, einen Belang einem anderen Belang vorzuziehen. Der Wunsch eines Handelnden, am Leben zu bleiben, ist etwa ein guter Grund, nicht der Lust am Abenteuer zu frönen und eine sehr gefährliche Klettertour zu unternehmen. Nach diesem Verständnis hat er eine Pflicht gegen sich selbst, die Tour nicht zu wagen. Aber dann wären alle Handlungen, die aus bloßen Gründen der Klugheit angeraten sind, auch durch Pflichten gegen sich selbst geboten. Es bestünde zum Beispiel eine Pflicht
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VIII. Pflichten gegen sich selbst?
gegen sich selbst, preisgünstig statt teuer einzukaufen, oder sich von der Sonne wärmen zu lassen, weil es angenehmer ist als zu frieren und somit ein guter Grund besteht. Der allergrößte Teil unserer Handlungen geschieht aus derartigen guten Gründen, ja für manche sogar alles Handeln. Aber wir gehen erheblich seltener von einer praktischen Notwendigkeit und damit einer Pflicht aus, Handlungen zu vollziehen. Niemand glaubt etwa, dass eine Pflicht gegen sich selbst besteht, preisgünstig statt teuer einzukaufen oder sich von der Sonne wärmen zu lassen, statt zu frieren. Die praktische Notwendigkeit, welche einer Pflicht zu Grunde liegt, muss also mehr sein als das bloße Bestehen guter Gründe, die für ein kluges Verhalten sprechen. Fraglich ist aber, worin dieses „Mehr“ liegt und woher es kommt. Ist eine externe, nicht mit dem Akteur identische Instanz wie Gott oder das Naturrecht Ursprung bzw. Urheber dieser Notwendigkeit, dann lässt sich die Frage nach dem „Mehr“ der praktischen Notwendigkeit leicht beantworten. Diese Instanz legt dem Handelnden die Notwendigkeit auf, weil sie sein Handeln tatsächlich fordert. Kann dagegen eine derartige externe Instanz€– wie in einer säkular-immanenten Ethik€– nicht vorausgesetzt werden, so ist es schwer, eine Quelle dieser zusätzlichen, praktischen Notwendigkeit jenseits anderer immanenter Individuen, deren Pflichten immer solche „gegen Andere“ sind, zu finden. Die jeweiligen Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, das heißt die Belange, sind es, die beim Handelnden zu einem möglichen Konflikt führen. Aber es ist nicht erklärbar, wie sie ihm gegenüber dieses „Mehr“ der zusätzlichen, praktischen Notwendigkeit jenseits bloß guter Gründen erzeugen sollten. Es handelt sich nur um seine je eigenen Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen. Und sie können ihn zwar€– zumindest bei den Strebungen, Bedürfnissen und Wünschen€– ganz oder wenigstens teilweise faktisch-biologisch nötigen. Aber sie können bei ihm keine praktische Notwendigkeit erzeugen, die über diese faktisch-biologische Nötigung sowie die damit geschaffenen guten Gründe hinausgeht, denn er kann sich€– wie sich in Kapitel€II, 2 ergab€– jenseits dieser faktisch-biologischen Notwendigkeit beliebig gegenüber diesen eigenen Eigenschaften verhalten. Er kann etwa die Befriedigung seiner Bedürfnisse hinauszögern und seine Wünsche und Ziele ganz aufgeben. Das bedeutet aber, dass er, sofern ein Konflikt zu anderen Belangen auftritt, diesen Konflikt immer durch eigene Disposition über die konfligierenden Belange lösen kann. Jenseits bloßer guter Gründe, die eigenen, bestehenden Belange zu realisieren, kann dann aber kein „Mehr“ an praktischer Notwendigkeit angenommen werden. Eine Pflicht ist dagegen jenseits bloßer guter Gründe eine solche Form der praktischen Notwendigkeit, die ihre Unaufhebbarkeit durch beliebige Entscheidung des Verpflichteten über seine Belange in der konkreten Situation voraussetzt. Würde man Pflichten gegen sich selbst annehmen, so könnte der Handelnde als Begünstigter diese Pflicht€ – vorausgesetzt, man lokalisiert sie nicht in Gott, dem Naturrecht oder dem moralischen Gesetz€– selbst jederzeit durch Veränderung seiner Belange aufheben. Das ist jedoch mit einem gehaltvollen Pflichtbegriff im Sinne praktischer Notwendigkeit nicht vereinbar. Worin besteht also die Differenz in der Notwendigkeit zu Pflichten gegen Andere? Die Differenz besteht in der Möglichkeit, über die Belange und damit über den mög-
4. Die Pflichten gegen sich selbst nach der hier entfalteten Ethik
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lichen Konflikt zwischen den Belangen zu disponieren. Während der Handelnde über seine eigenen Belange disponieren kann (mit Einschränkungen bei den Strebungen), ist ihm dies per definitionem hinsichtlich der Belange anderer Betroffener nicht möglich, sonst wären es nicht die Belange Anderer, sondern seine eigenen. Andere Betroffene stellen ihm vielmehr ihre Belange aus ihrer Eigenständigkeit entgegen. Das bedeutet aber, dass andere Betroffene eine ethische bzw. moralische Abwägungssituation erzwingen können, ohne dass der Handelnde dies wie bei den eigenen Belangen durch Disposition über diese Belange zu ändern vermöchte. Die Tatsache der Nichtdisponibilität wesentlicher konfliktkonstituierender Belange erzeugt eine Notwendigkeit, die jenseits der bloßen, sehr schwachen Notwendigkeit guter Gründe stärkere Kraft gegenüber dem Handelnden entfaltet. Es ist eine Notwendigkeit, die ihre Verpflichtungsmacht aus der in den Belangen der Anderen enthaltenen Normativität schöpft. Diese verpflichtende Kraft muss sich€– wie sich im Kapitel€VI zur Metaethik ergab€– zwar der Objektivierung durch eine Vernunftlösung unterwerfen. Ist dies aber geschehen und ist somit eine Verbindung der Verpflichtung durch Andere und der objektiven Vernunftlösung des Konflikts entstanden, so erzeugt diese Kombination eine Kraft der praktischen Notwendigkeit, die der Handelnde durch vernünftige Entscheidung zwischen seinen eigenen konfligierenden Belangen nie erreichen kann. Nur diese praktische Notwendigkeit kann außer den Forderungen Anderer vernünftigerweise als Pflicht angesehen werden, nicht aber bereits alle guten Gründe im Handelnden, zwischen verschiedenen Belangen auszuwählen. Aber wie erklären sich dann die typischen Handlungen, für welche die Befürworter von Pflichten gegen sich selbst solche Pflichten regelmäßig annehmen, etwa die Verhinderung der Selbstversklavung oder der Selbsterniedrigung? Unterscheiden sich derartige Handlungen nicht doch kategorial von trivialen Klugheitsentscheidungen des Alltags, wie preiswert statt teuer einzukaufen? Der Unterschied zu derart trivialen Klugheitsentscheidungen liegt bei Handlungen wie der Selbstversklavung und der Selbsterniedrigung wenigstens in vier Aspekten: Zum Ersten verletzen derartige Handlungen regelmäßig auch Pflichten gegen Andere. Denn derjenige, der sich selbst versklavt oder erniedrigt, missachtet ja auch eine Pflicht gegenüber dem Versklaver und Erniedriger, weil er es ihm ermöglicht, sich durch derartige Handlungen selbst zu schädigen. Der Versklaver und Erniedriger handelt durch die Versklavung und Erniedrigung gegen seine eigenen Belange, weil er sich zu einem unethisch instrumentalisierenden und damit bösen Menschen macht. Den Handelnden trifft in jedem Fall auch eine Pflicht, nicht bei derartigen Selbstschädigungen des Versklavers mitzuwirken. Angesichts der Schädigung des Versklavten mag die Selbstschädigung des Versklavers geringer wiegen. Aber sie ist nicht vollkommen neutral. Zum Zweiten verstoßen derartige Handlungen in besonders starkem Maß gegen außerordentlich wichtige Belange des Handelnden. Wer sich versklavt, beraubt sich für die Zukunft der Möglichkeit, eigene Bedürfnisse, Wünsche und Ziele zu verwirklichen und verletzt damit das grundsätzliche, auf einer Metaebene angesiedelte Interesse, seine eigenen Belange zu realisieren, also seine eigene Menschenwürde. Es sprechen somit überragende Gründe der Klugheit gegen derartige Handlungen.
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VIII. Pflichten gegen sich selbst?
Zum Dritten entsteht durch Handlungen wie die Versklavung und Erniedrigung auch generell großer sozialer und politischer Schaden für alle. Da es aber auch ethische Pflichten gegenüber den Anderen im Rahmen der jeweiligen Gemeinschaft gibt, ist ein ethisches wie moralisches und rechtliches Verbot derartiger Praktiken leicht zu erklären und zu rechtfertigen. Zum Vierten gefährden Selbstversklavung und Selbsterniedrigung die Realisation des ethischen Grundprinzips des normativen Individualismus, weil derjenige, der sich selbst versklavt oder erniedrigt, quasi das Niveau der eigenen Betroffenheit durch die Handlungen Anderer gegen seine eigenen grundsätzlichen Interessen herabdrückt, also die normativ-ethische Abwägung praktisch einschränkt. Im Ergebnis besteht also auch im Fall dieser Beispiele der Selbstversklavung oder Selbsterniedrigung kein praktisches Bedürfnis, Pflichten gegen sich selbst anzunehmen, weil gegen derartige Handlungen sowohl Pflichten gegen Andere und die Gemeinschaft als auch überragende Gründe der Klugheit im Verhältnis zu sich selbst sprechen.
IX. Typen von Pflichten Die Pflichten, welche die Ethik rechtfertigt und kritisiert, lassen sich in verschiedener Weise weiter typisieren. Mit Bezug auf die grundlegende Vermittlungssituation gegenüber Anderen kann man drei Typen unterscheiden, je nachdem, ob der jeweilige Akteur verpflichtet ist, (1) die Grenze des BetroffenheitsÂ�raums, der durch die Manifestation seiner Belange vom Anderen geÂ�zoÂ�Â�gen wird, nicht gegen dessen WilÂ�len zu überschreiten, also in einem stärkeren normativen Sinn etwas zu unterlassen, (2) dem Anderen unter ÜberÂ�schreiÂ�tung dieser Grenze Hilfe zu leisten, also in einem stärkeren normativen Sinn etwas zu tun, (3) in einer Gemeinschaft mit dem Anderen bestimmte Handlungen vorzunehmen. Typ (1) forÂ�muliert das Verbot einer InÂ�Â�Â�terÂ�essenbeeinträchtigung durch Überschreitung der gedachten Grenze zwischen den Interessenräumen, also das Gebot des Unterlassens von Verletzungen, Schädigungen und Beeinträchtigungen, Typ (2) das Gebot der Hilfe und des Handelns für den Anderen,1 Typ (3) die Verpflichtung zum Tun und Unterlassen in und aufgrund von Gemeinschaften.
1. Unterlassenspflichten Zum Verständnis des ersten Typs von Pflichten, des Gebots, Verletzungen, Schädigungen usw. zu unterlassen, wird zunächst noch etwas genauer untersucht, was geschieht, wenn ein Akteur die Grenze des Betroffenheitsraums eines Anderen gegen oder ohne dessen Einverständnis überschreitet. Zunächst wird man feststellen müssen, dass darin eine Art faktischer Verpflichtung liegt, weil der Andere zur Duldung der InteressenbeeinÂ� trächtigung gezwungen wird. Da aber die Ableitung zwiÂ�schen den unterschiedlichen Sprechakttypen der Beschreibung, Bewertung und Verpflichtung keine logisch gültige ist,2 ist ein derartiges Verhalten bereits im rein intrapersonalen Akteursmodell nicht logisch rechtfertigbar. Möglich ist ledigÂ�lich eine schwaÂ�che Form der Plausibilisierung durch AufÂ�bau eines möglichst kohärenten horiÂ�zontalen und vertikalen RechtfertiÂ� gungsnetzes. Dieses Netz weist grundÂ�sätzlich eine TenÂ�Â�denz zur Anbindung an die je eigenen vegetativen LeÂ�bensfunktionen, also die eigenen Strebungen auf. Leidet man 1
2
In der englischsprachigen Literatur wird hier häufig von „negative“ und „positive duty“ gesprochen. Mir erscheint das weniger plastisch als die hier vorgeschlagenen Ausdrücke. Damit soll aber kein Unterschied in der Sache behauptet werden. Vgl. Verf., Deskription, Evaluation, Präskription, S.€280â•›ff. Gerhard Ernst, Die Objektivität der Moral, Paderborn 2008, S.€41â•›ff., nimmt eine Ableitung von Verpflichtungen aus Wertungen an, ohne die unterschiedlichen Typen von Sprechakten zu beachten.
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IX. Typen von Pflichten
Hunger, ist dies ein guter Grund zu essen. Langweilt man sich, so begründet dies intrapersonal eine schwache RechtÂ�fertigung, sich nach einer TätigÂ�keit oder einem Ereignis umzusehen, welches einem die Langeweile vertreibt. Fraglich ist im Rahmen der interpersonalen Erweiterung des Modells aber nun, ob Hunger auch einen BrotÂ�diebstahl und Langeweile ein Anpöbeln Anderer rechtÂ� fertigen. Voraussetzung dafür wäre zunächst, dass man seine Interessen nicht anderÂ� weiÂ�tig befriedigen kann. Diese Anforderung ergibt sich schon aus dem intraÂ�personalen RechtÂ�fertiÂ�gungsÂ�beÂ�dürfÂ�nis. Nur wenn man keine eigenen Lebensmittel hat, ist der Brotdiebstahl€– der ja einen gewissen Aufwand erfordert und ein gewisses Risiko mit sich bringt€– erwägenswert. Nur wenn kein besseres Mittel zur Vertreibung der LanÂ�geweile zur Verfügung steht, kann das Anpöbeln eines AnÂ�deren überhaupt aus der reduzierten Sicht des Akteurs in Frage kommen. Ist diese intrapersonale Voraussetzung des Fehlens einer besseren Alternative erfüllt, gilt für die Frage der interÂ�personalen Rechtfertigung: Der jeweils betroffene Andere braucht die schwache intrapersonale RechtfertiÂ�gung, die dem Akteur als tatsächlicher oder vielleicht sogar als guter Grund für sein Verhalten erscheint, nicht anzuerkenÂ�nen. Nur spezielle ZuÂ�satzannahmen, wie etwa eine vorherige VerpflichÂ�tung, für den Unterhalt des Anderen zu sorgen, oder eine geÂ�meinÂ�schaftÂ�Â�liche Güterproduktion in einer VolksÂ�wirtschaft, können dieses Ergebnis ändern. Darauf und auf das Beispiel des Brotdiebstahls wird zurückzukommen sein. Für das Beispiel des Anpöbelns zum Zeitvertreib ist die Situation aber klar. Die einzige mögliche schwache Rechtfertigung im Rechtfertigungsnetz des Akteurs ist seine eigene LanÂ�geweile. Irgendwelche kulturellen Bräuche oder geÂ�meinÂ�schaftÂ�lichen Aktionen, die zu einer Rechtfertigung führen würden, sind in unseren Breiten nicht bekannt. Da die eigene schwache Begründung keine interÂ� subjektive Gültigkeit beanspruchen kann, oder anders ausgedrückt, da ein entsprechender Belang der Relativzone, die eigene Langeweile zu überwinden, schwächer wiegt als der Belang des Anderen, nicht beleidigt und psychisch verletzt zu werden, ist das Anpöbeln des Anderen deshalb grundsätzlich nicht gerechtÂ�fertigt. Im Rahmen des Minimalmodells der je eigenen Interessenräume ist kein Grund erÂ�sichtÂ�lich, warum der andere Betroffene die je eigene schwache Rechtfertigung des Täters mit dem Verweis auf dessen eigenes intrapersonales Rechtfertigungsnetz als rechtfertigend anerkennen müsste. Er mag zwar vielÂ�leicht zuÂ�zugestehen haben, dass er das entsprechende Rechtfertigungsnetz des Akteurs in seiner Lage auch als schwaÂ�che Rechtfertigung akzeptieren würde, wenn er sich in die Situation des Akteurs hineinÂ�versetzen würde. Aber auch wenn er dieses hypothetische Gedankenexperiment durchführen könnte, ist kein Grund ersichtlich, warum ihn dies zur tatÂ�sächlichen AnerÂ�kennung dieser hypothetischen Rechtfertigung und zur Duldung verpflichten sollte. Der AkÂ�teur mag für sich wegen seiner Langeweile ein plausibles Interesse entwickelt haben, andere anzupöbeln. Dies begründet aber für den potentiell Betroffenen keine VerÂ�pflichÂ�tung, sich anpöbeln zu lassen. Die hypothetische Möglichkeit des gedanklichen PerÂ�spektiÂ�venÂ� wechsels rechtfertigt keine reale Verpflichtung. Selbst wenn ihm das Anpöbeln nicht viel ausmachen würde, während für den Akteur damit ein großer Lustgewinn verÂ�Â�bunden wäre, gälte nichts anderes. Es ist keine RechtÂ�fertiÂ�gung zu erkennen, warum der Betrof-
1. Unterlassenspflichten
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fene eine BeÂ�einträchtigung seiner Belange in Kauf nehmen müsste, um dem abstrakten utilitaristischen Glückskalkül zu genügen. InsÂ�gesamt ist also kein Grund ersichtlich, warum der Betroffene im jeweiligen EinzelÂ�fall eine nicht konsentierte Überschreitung der Grenze seines BetroffenheitsÂ�raums akzeptieren sollÂ�te. Die Beachtung der Interessen des Anderen ist somit in der jeweiligen Situation durch den spezifischen Aufbau je individuelÂ�ler Interessenräume quasi ex negativo deshalb geboten, weil dem Akteur ein interpersonal zwingender Grund zur ÜberschreiÂ�tung des Betroffenheitsraums des Anderen fehlt. Er kann jenseits der Grenze des eigenen BetroffenheitsÂ�raums der schwach intrapersonal geÂ�rechtÂ�ferÂ�tigten Normativität des Interessenraums des Anderen nichts entÂ�gegensetzen. Da es aber der Akteur ist, der die Grenze überschreitet, müsste er zur Legitimation dieser ÜberÂ�schreitung plausible interpersonal überzeugende Gründe haben. Diese können nicht nur in dem je eigenen intrapersoÂ�naÂ� len RechtÂ�fertigungsnetz liegen, weil dieses als schwache Rechtfertigung lediglich zur je eigenen intraÂ�persoÂ�naÂ�len Plausibilisierung des Akteursverhaltens und zum Aufbau eines je eigenen InterÂ�essenraums dienen kann. Mit seiner Überschreitung der Betroffenheitsgrenze des Anderen nimmt der Eindringling für sich in Anspruch, auf Grund seiner schwachen intrapersonalen Rechtfertigung auch eine interpersonale Rechtfertigung herstellen zu können. Sein Verhalten impliziert, dass der eigene Betroffenheitsraum auch ohne Einwilligung des Anderen und ohne dass dieser aus sonstigen interpersonalen GrünÂ�den zur Duldung verpflichtet wäre, ausÂ�gedehnt werden darf. Dann darf der Akteur sich aber nicht beklagen, wenn der Betroffene ihn seinerseits in einem Akt der Notwehr am EinÂ�dringen in seinen eigenen Betroffenheitsraum hindert oder ihn daraus wieder zurückdrängt, denn dies geÂ�schieht dann ebenfalls im RahÂ�men der je eigenen intraperÂ�sonalen Interessenwahrung. Die Tragfähigkeit des hier skizzierten interpersonalen Modells der Verpflichtung zur Beachtung der Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele des Anderen manifestiert sich deshalb in der Anerkennung eines Notwehrrechts des BeÂ�troffenen, dessen Interessenraum tangiert wird. Das Notwehrrecht muss dabei weit interpretiert werden. Es beschränkt sich nicht auf einen juristiÂ�schen Rechtfertigungsgrund, sondern ist auch für die Moral und die anderen primären Normordnungen zentral. Es stellt quasi die berechtigende Ergänzung der Verpflichtung zur Berücksichtigung der Belange des Anderen und zur Unterlassung von Belangverletzungen dar. Das Notwehrrecht des Betroffenen und die Pflicht zur BeÂ�achÂ�tung der Belange des Anderen durch den Akteur sind zwei Seiten einer Medaille. Der Betroffene darf die Überschreitung der Grenze seines Betroffenheitsraums mit Hilfe der Notwehr zuÂ�rückÂ�Â� weisen, weil der Akteur keine Rechtfertigung für das Eindringen in den BeÂ�troffenÂ�heitsÂ�raum des Anderen hat. Der Antagonismus von Beeinträchtigung und ZuÂ�rückweisung erwächst aus dem Antagonismus von Akteur und Betroffenem. Das ethisch begründete Notwehrrecht umfasst insbesondere auch verbale Verpflichtungen. Denn gegenüber der faktischen Notwehrreaktion des Betroffenen zur Abwehr desjenigen, der in seinen InteressenÂ�raum einÂ� dringt, ist die verbale Zurückweisung regelmäßig das mildere Mittel, solange sie sich darauf beÂ�schränkt, eine Verletzung des eigenen Interessenraums zu verÂ�Â�hinÂ�dern. Der Akteur muss ein solches verbales Abwehrgebot der Form „Unterlasse eine VerÂ�letzung meiner Belange!“ hinnehmen, denn solange er die BetroffenheitsÂ�grenze des anderen nicht überschreitet, wird
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IX. Typen von Pflichten
er durch das Gebot nicht tangiert. Sobald er die BetroffenheitsgrenÂ�ze aber überschreitet, akÂ�tualisiert sich gleichsam in derselben logischen Sekunde die BerechtiÂ�gung, den EindringÂ� ling auf diesem Wege zurückzuweisen. Zwei Beobachtungen mögen die basale Stellung der Notwehr auch im RahÂ�Â�men einer ethischen Begründung verdeutlichen. Der moderne Staat beansprucht zwar ein umfassendes Gewaltmonopol für sich. Er verÂ�zichÂ�Â�tet aber an zentraler Stelle darauf. Den Bürgern ist zur Abwehr von Angriffen AnÂ�Â�derer ein NotwehrÂ�recht eingeÂ�räumt.3 Angriffe auf ihren Interessenraum müssen die BürÂ�ger nicht dulden. Die Abwehr kann dabei in extremen Fällen bis zur Tötung des Angreifers gehen. Verzichtet der Staat trotz der Gefahr von Notwehrexzessen auf die vollständige Durchsetzung seines GewaltÂ�moÂ�noÂ�pols, kann dahinter nur die Anerkennung einer sehr grundlegenden ethiÂ�schen PosiÂ�tion stehen. Interessant, aber wenig beachtet ist, dass Hobbes im Naturzustand und damit also vor jeder Konstitution staatlicher Institutionen unabhängig von seinem vertragstheoÂ� retischen KalÂ�kül zur Einsetzung des „Leviathan“ ein natürliches Recht auf Notwehr anerkannt hat.4 Man kann sich fragen, warum Hobbes dann nicht auch zur Anerkennung einer korrespondierenden Verpflichtung zur Beachtung des Betroffenheitsraums der Anderen gekommen ist. Die Antwort dürfte in seiner naturalistischen Willens- und Freiheitstheorie liegen. Hobbes postuliert als „natürliches Recht“ (jus naturale) die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignete Mittel ansieht.5 Hobbes folgert daraus, dass im Naturzustand des Krieges aller gegen alle ein jeder ein Recht auf alles hat, selbst auf den Körper des Anderen. Hobbes sieht aber nicht, dass beides im Widerspruch zueinander steht, das Recht eines jeden auf alles und das Notwehrrecht der Betroffenen. Er missachtet, dass eine naturalistische Rechtfertigung der je eigenen Interessenverfolgung des Akteurs zwar für den intrapersoÂ�nalen Bereich adäquat ist, nicht aber für den interÂ�personalen. Hier wird das „natürliche Recht“ eines jeden von vornherein durch die Interessensphäre der betroffenen Anderen und deren Notwehrrecht beschränkt, weil sich kein Übergriff interpersonal rechtfertigen, nur allenfalls (schwach) naturalistisch mit Verweis auf die je eigene intrapersonale Situation erklären lässt.
3
4 5
§§ 32–35 StGB, 227–231 BGB, 904 BGB. Neben der Notwehr im eigentlichen Sinne (also der AbÂ�wehr eines menschlichen Angriffs) sind hier auch der sog. „Notstand“ und die „Selbsthilfe“ geregelt. Sie setzen keinen menschlichen Angriff, sondern nur eine Gefahr für Rechtsgüter des Betroffenen voraus. Insofern haben diese Normen aber eine notwehrähnliche Struktur. Es handelt sich quasi um die Abwehr eines Angriffs ohne direkten Angreifer, also etwa durch eine Naturkatastrophe, ein Unglück usw. Unschuldige Dritte dürfen aber bei dieser Abwehr nur unter bestimmten eingeschränkten Bedingungen tangiert werden.€– Es gibt im deutschen Recht noch wenigstens zwei weitere Ausnahmen vom Gewaltmonopol des Staates. § 127 Strafprozessordnung gibt jedem Bürger ein FestnahÂ�merecht, wenn jemand auf frischer Tat bei einer Straftat ertappt wird. Der Bürger wird hier also als Hilfspolizei des Staates tätig. Art. 20 IV Grundgesetz eröffnet ein Widerstandsrecht gegen den, der es unternimmt, die verfasÂ�sungsmäßige Ordnung zu beseitigen. Hier leistet der einzelne quasi dem Staat Nothilfe, der dazu nicht in der Lage ist. Thomas Hobbes, Leviathan, S.€92. Thomas Hobbes, Leviathan, S.€91.
2. Tuns- bzw. Hilfeleistungspflichten
285
Angemerkt sei noch, dass die hier skizzierte Verpflichtung zur Berücksichtigung der Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele des Anderen nur für die jeweilige Situation mit echter normativer Kraft gilt. Die VerÂ�pflichÂ�tung zur BeÂ�achtung des Anderen bezieht ihre NormativiÂ�tät aus der KonstiÂ�tuierung des Interessenraums durch den Anderen. Man kann zwar im Wege der praktischen Induktion aus der jeweiligen BeÂ�rechtigung der einzelnen BetroffeÂ�nen in den jeweiligen Situationen die allgeÂ�meine Prima-facie-Regel zur Berücksichtigung des Anderen gewinnen. Diese induktive Verallgemeinerung führt aber nicht zu einem universellen praktiÂ�schen Prinzip mit gleich starker normativer Kraft für den EinzelÂ�fall€– wie einzelne Naturbeobachtungen kein Naturgesetz rechtfertigen können, das nicht im EinÂ�zelfall falsifizierbar wäre.
2. Tuns- bzw. Hilfeleistungspflichten Für den zweiten Pflichttyp, also die Verpflichtung des Anderen zur aktiven HilfeleiÂ�stung bzw. zum Handeln unter Überschreitung der Grenze des eigenen Betroffenheitsraums, gibt das soeben skizÂ�zierte Rechtfertigungsmodell keine Begründung. Im Rahmen des einfachen MoÂ�dells der Betroffenheitsräume als Abwehrräume kann die Forderung nach HilfeÂ�leistung nicht durch Aufbau eines adäquaÂ�ten, intersubjektiv verpflichtenden RechtÂ�Â�Â� ferÂ�tigungsÂ�netzes begründet werden. Es bedarf anderer RechtÂ�fertigungsÂ�geÂ�sichtsÂ�punkte, die das soeben skizzierte Modell in speziellen Fällen überlagern. Sie setzen ein vorheriges, spezifisches Verhältnis zwischen Akteur und Anderem voraus und sind deshalb grundsätzlich schwächer als Unterlassenspflichten, was sich aber natürlich im Einzelfall unter zusätzlichen Bedingungen umkehren kann. Ein solches spezifisches Verhältnis besteht etwa, wenn durch ein vorÂ�heriges Verhalten Belange des Anderen hervorgeruÂ�fen wurden. ZenÂ�Â�trales Beispiel sind die Pflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern. Wer einen anderen Menschen in die Welt setzt oder adoptiert, ist auch für die aktive Berücksichtigung seiner Belange verantwortlich, solange sich diese in eiÂ�nem normalen und vorausÂ�sehÂ�baren Rahmen halten und der Andere sich nicht selbst helfen kann. Anders als etwa Hans Jonas meint,6 erzeugt also nicht nur die Faktizität der Eltern-Kind-SituaÂ�tion eine normative Verpflichtung zur Verantwortung, sondern auch das vorhergehende Verhalten der ElÂ�tern. Ein zweiter, das Grundmodell überlagernder Gesichtspunkt besteht in gegenseitigen Vereinbarungen oder Versprechen, wobei diese auch faktisch oder stillschweigend geschlossen bzw. gegeben werden können. Das SozialÂ�verÂ�halten der Menschen in einer Gruppe, in einer räumlichen oder zeitlichen Nähebeziehung, in einem Staat oder auch in einer Freundschaft erzeugt eine Fülle solcher geÂ�genÂ�seitiger Verpflichtungen zu HilfeÂ� leistung und kooperativem Verhalten. Man kann zwar theoretische Fälle der Begegnung zwischen FremÂ�den konstruieren, in denen keine solche Verpflichtung besteht. Treffen sich etwa ein Mensch und ein Außerirdischer, die vorher nie miteinander direkt oder indirekt Kontakt hatten, so besteht 6
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a.M. 1984, S.€189.
286
IX. Typen von Pflichten
zwar eine negative Pflicht, die Belange des je Anderen nicht zu beeinträchtigen, also ihn nicht zu töten, zu verletzen, zu schädiÂ�gen usw., nicht aber eine positive Pflicht, ihm durch ein Tun zu helfen. Man mag im Falle der VerweigeÂ�rung einer solÂ�chen Hilfe den Akteur als schlechten und kaltherzigen Menschen ansehen und ihn des Verrats an einem Humanitätsideal zeihen. Man mag ihm entgegenhalten, er habe einem geÂ�nerellen oder konÂ� kreten aufgeklärten Eigeninteresse zuÂ�widerÂ�gehandelt, weil er bald selbst hilfsÂ�bedürftig sein könnte. Man kann ihm aber nicht vorwerfen, er habe eine positive moralische Pflicht zur Hilfeleistung missachtet. Realiter ist eine vergleichbare Situation naÂ�türÂ�lich heute zwischen Menschen nicht mehr denkbar. Mittlerweile bestehen aufÂ�grund der weltÂ� umspannenden Medien das Bewusstsein globaler InterÂ�depenÂ�denz und Solidarität und die ErÂ�warÂ�tung der Hilfeleistung in Notsituationen. Wer sich heute zu einer ExÂ�peÂ�diÂ�tion aufÂ�macht, der erwartet, dass ihm in Notsituationen geholfen wird oder er AnÂ�deÂ�ren helfen muss. Und er kann dies im Urteil aller auch erwarten. Dies genügt, um eine Pflicht zur Hilfeleistung zu erzeugen, allerdings nur eine reÂ�laÂ�tiv schwache Pflicht. Der Helfer muss etwa nicht sein Leben aufs Spiel setzen. Ein dritter Gesichtspunkt, der Handlungspflichten erzeugt, besteht in der freiÂ� willigen Begründung und Fortführung gemeinsamer Projekte, zu denen jeder einen BeiÂ�trag leistet und von denen alle profitieren. Verzichten die Mitglieder einer Gesellschaft im InterÂ�esse aller auf ihre Existenzsicherung als subsistenÂ�zÂ�wirtschafÂ�tende Bauern und ein Leben in Großfamilien, so impliziert dies die positive Verpflichtung der GesellÂ�schaft und jedes EinÂ�zelÂ�nen zur Sicherung und Hilfe in Notlagen, wie Krankheit und Arbeitslosigkeit. Im obigen Fall desjenigen, der Hunger leidet und deshalb Brot stiehlt, gilt also: In einer Gesellschaft wie der deutschen, die im Interesse aller eine stark arÂ�beitsteilige und hochindustrialisierte WirtÂ�schaftsÂ�ordÂ�nung etabliert hat, erwirbt der einzelne BetroffeÂ�ne einen Anspruch auf die Versorgung mit NahrungsÂ�mitteln und dem Nötigen zum Leben gegenüber der GeÂ�meinschaft und jedem einÂ�zelnen Mitglied. Besteht eine gemeinschaftliche Institutionalisierung der LeiÂ�stungen der Gesellschaft, wie zum Beispiel bei der Sozialhilfe, und liegt kein akuter Notfall vor, so ist allerdings eine Subsidiarität der individuellen Hilfeleistung geÂ�rechtÂ�Â�ferÂ�tigt, um ungleiche Belastungen zu vermeiden. Der Brotdiebstahl wäre demnach dann nicht gerechtfertigt, wenn der HungÂ�rige ohne größere Schwierigkeiten Hilfe vom Sozialamt oder karitativen Einrichtungen erlangen könnte. Wäre dagegen die Alternative BrotÂ�diebÂ�stahl oder VerÂ�hunÂ�gern, so hätte der Bestohlene in einer Gesellschaft wie der deutschen eine VerÂ�pflichÂ�Â�tung zur Hilfe gegenÂ�über dem Verhungernden. Der BrotdiebÂ�stahl wäre ethisch und moralisch gerechtÂ�ferÂ�tigt. Er wäre im Übrigen auch nicht strafbar, denn es läge nach § 34 StGB ein rechtÂ�ferÂ�tiÂ�genÂ�der NotÂ�stand vor.
3. Gemeinschaftspflichten Besteht über die bloße Interaktion hinaus eine stärkere Bindung zwischen Akteur und Anderem, die beide als Gemeinschaft in einem engeren Sinn ansehen, etwa eine Ehe, Familie, Freundschaft usw., so erwachsen spezifische Pflichten der Aufrechterhaltung
3. Gemeinschaftspflichten
287
und Förderung der Gemeinschaft. Gemeinschaften werden dergestalt als ein zeitlich, räumlich, geistig, körperlich, emotional, wirtschaftlich usw. enger bindendes Verhältnis konstituiert, so dass die Nichtweiterführung der Gemeinschaft als eine negative Form von Auflösung begriffen wird. Es gibt zwei Arten von Gemeinschaften: natürlich-faktische und gewollte Gemeinschaften. Natürlich-faktische Gemeinschaften entstehen durch das faktische Zusammenleben. Dabei können Verwandtschaftsbeziehungen eine Rolle spielen, zum Beispiel Eltern und Kinder, Geschwister, die zusammenleben, usw. sie sind aber nicht allein ausschlaggebend. Gewollte Gemeinschaften entstehen durch Entschluss der Mitglieder, zum Beispiel Ehe, Liebesbeziehung, enge Freundschaften, Staat, Gemeinde, Verein, Kirche, Orden, Unternehmen, Gewerkschaft, Verband. Viele Gemeinschaften sind Mischformen. Das heißt, sie haben sowohl eine natürlich-faktische als auch eine gewollte Komponente. Man kann somit systematisierend drei Näheformen unterscheiden: (1) Vollkommen Fremde€– kein Verhältnis (Differenz): Akteur und Anderer hatten nie vorher Kontakt und stehen auch nicht in einer durch Dritte vermittelten Relation zueinander. Beispiel: Menschen treffen auf Außerirdische. Mit dem ersten Kontakt entsteht aber bereits eine Form des Verhältnisses. In der globalisierten Welt sind heute alle Menschen über Handel und Kommunikation miteinander verbunden, so dass diese Verhältnisform zwischen Menschen nicht mehr vorkommt. (2) Beziehungâ•›/â•›Bekanntschaft€– Verhältnis (Relation): Zwischen Akteur und Anderem besteht eine Beziehung, die entweder direkt ist wie beispielsweise bei Bekanntschaften, Freundschaften, Geschäftsbeziehungen, Handelsbeziehungen, funktionalen Alltagsbeziehungen, etwa zwischen Richter und Angeklagtem, oder indirekt, beispielsweise vermittelt durch gemeinsame Institutionen, Siedlungsräume, Handels- und Kommunikationsbeziehungen. Diese Gruppe von Relationen ist nicht homogen, denn derartige Beziehungen können sehr unterschiedlich intensiv sein, zum Beispiel ist die Beziehung zwischen Bewohnern eines Dorfes naturgemäß enger als zwischen den Bewohnern eines Landes, und diese ist wiederum enger als die Beziehung zwischen allen Menschen auf der Erde. (3) Gemeinschaft als solche (Identität): Es besteht eine Beziehung zwischen Akteur und Anderem, die beide über die bloße Interaktion hinaus als Gemeinschaft ansehen. Gemeinschaften werden dergestalt als ein zeitlich, räumlich, geistig, emotional, körperlich, wirtschaftlich usw. identitäres Verhältnis interpretiert, so dass die Nichtweiterführung der Gemeinschaft als eine Form von Auflösung begriffen wird. Als erstes grundlegendes Prinzip zur fairen Abwägung der Interessen im Konflikt ergab sich in Kapitel€ V, 6 das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Individualbelange. Das führt zu einer Proportionalität zwischen Nähe des Verhältnisses und Ausmaß der Verpflichtung. Je enger und dauerhafter das
288
IX. Typen von Pflichten
Verhältnis zwischen Akteur und Anderem ist, desto mehr dürfen sie wechselseitig voneinander verlangen. Das hat zwei zentrale Konsequenzen. Es entscheidet zum einen darüber, welche Art von Belangen des Anderen zu berücksichtigen sind: Unterlassungsinteressen, Hilfeleistungsinteressen oder auch Gemeinschaftsinteressen. Es entscheidet zum anderen über die wechselseitige Verschränkung der Lebens- und Interessenräume. Je intensiver das Verhältnis zwischen Akteur und Anderem ist, desto tiefer dürfen sie mit ihren Forderungen und Verpflichtungen sowie Handlungen in den Lebens- und Interessenraum des Anderen eindringen. Das führt zu einem Kontinuum mit drei Abschnittspunkten:
4. Pflichten zwischen Fremden Zwischen vollkommen Fremden, wenn also keinerlei Beziehung besteht, wird man nur fordern können, dass der Akteur Eingriffe in den Lebens- und Interessenraum des Anderen unterlässt. Der Andere hat also einen Abwehranspruch. Er darf vom Akteur nicht getötet, verletzt, geschädigt, missachtet oder sonst negativ behandelt werden. Der Akteur darf eine gleiche bzw. faire Grenze der beiderseitigen Interessenräume nicht überschreiten. A
A
K
N
T
D
E
E
U
R
R
E R
Das Fehlen einer vorherigen Beziehung zwischen Akteur und Anderem impliziert weiterhin, dass der Andere vom Akteur vor allem verlangen kann, dass dieser ihn in seinen äußerlich manifest werdenden Handlungen und Handlungskonsequenzen berücksichtigt. Zentral sind hier also für die Interessenkoordination beim Akteur von den Handlungsteilen die Handlungsdurchführung (sechs) und die Konsequenzen (sieben). Der Handlungswille (Element fünf ) gehört untrennbar zur Handlung. Die Zweck-MittelAbwägung (vier) und die Absicht des Akteurs (drei) sind eng mit der Handlung verbunden, so dass sie sekundär und schwächer auch noch zu berücksichtigen sind. Der Andere kann aber vom Akteur im Regelfall nicht verlangen, dass der Akteur seine Wünsche, Überzeugungen (zwei) und innere und äußere Bedingungen wie Tugenden, Gefühle, Beruf, Lebenssituation (eins) verändert. Umgekehrt kann der Andere aber im Regelfall
289
5. Pflichten zwischen Bekannten
auch nicht verlangen, dass seine inneren und äußeren Bedingungen wie Tugenden, Gefühle und die allgemeine Lebenssituation berücksichtigt werden, sofern er sie nicht zum Gegenstand äußerlich manifester Belange macht. A
(1) Bedingungen
(1) Wille / Ziel / Absicht
A
K
(2) Wunsch / Überzeugung
(2) Wunsch / Überzeugung
N
T
(3) Ziel
(3) Bedürfnisse
D
E
(4) Zweck-Mittel-Abw.
(4) Strebungen
E
U
R
(5) Wille
R
(6) Handlung
E
(7) Konsequenzen
R
5. Pflichten zwischen Bekannten Besteht dagegen eine vorherige Beziehung gleich welcher Art zwischen Akteur und Anderem, so erfolgt eine wechselseitige Verschränkung der Lebens- und Interessenräume. Und zwar geschieht dies proportional zur Intensität der Beziehung. Das bedeutet: Je intensiver die Beziehung zwischen Akteur und Anderem ist, desto enger wird die Verschränkung der Lebens- und Interessenräume. Dies hat zunächst zur Folge, dass der Andere vom Akteur nicht nur das Unterlassen von Eingriffen, sondern auch aktive Hilfe verlangen kann. Der Andere hat also gegenüber dem Akteur nicht nur einen Abwehr-, sondern einen Hilfsanspruch. Diese Pflicht zur Hilfe ist umso intensiver, je enger das Verhältnis von Akteur und Anderem ist (dies zeigen die verlängerten Pfeile). A
A
K
N
T
D
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290
IX. Typen von Pflichten
Die engere Beziehung zwischen Akteur und Anderem hat aber auch zur Folge, dass bei beiden nunmehr sowohl beim Abwehr- als auch beim HilfsÂ�anspruch zusätzlich die inneren und äußeren Bedingungen, beim Akteur einschließlich der Wünsche und Überzeugungen, zu berücksichtigen sind. Das bedeutet: Der Akteur kann verpflichtet sein, auch seine Wünsche, Überzeugungen, Charaktereigenschaften, Tugenden, Gefühle, Lebensbedingungen usw. zur Realisation des Abwehr- und des Hilfeleistungsanspruchs des Anderen zu verändern. Dabei nimmt allerdings die Notwendigkeit der Berücksichtigung vom Handlungselement sieben bis zum Element eins ab und richtet sich nach der Intensität und Dauerhaftigkeit der Beziehung. A K T E U R
(1) Bedingungen (2) Wunsch / Überzeugung (3) Ziel (4) Zweck-Mittel-Abw.
(1) Wille / Ziel / Absicht
A
(2) Wunsch / Überzeugung
N
(3) Bedürfnisse
D
(4) Strebungen
E
(5) Wille
R
(6) Handlung
E
(7) Konsequenzen
R
6. Pflichten in Gemeinschaften In Gemeinschaften im engeren Sinn tritt zur Pflicht zum Unterlassen und zur Hilfe schließlich noch eine Pflicht zur Aufrechterhaltung und Förderung der Gemeinschaft. Diese Pflicht ist umso stärker, je enger die Gemeinschaft ist und je intensiver sich der Akteur faktisch oder explizit gebunden hat. Im Extremfall kann sie bis zur ethischen Verpflichtung reichen, die Gemeinschaft nicht aufzukündigen. Dieses Verbot der Aufkündigung ist aber€– auf der bloßen Grundlage einer säkular-immanenten Ethik, anders aber unter Umständen in religiösen Ethiken€– kein absolutes, sondern kann durch verschiedene andere Gesichtspunkte relativiert werden. Die Pflicht zur Förderung und Erhaltung der Gemeinschaft wird umso schwächer, je weniger das Schädigungsverbot und das allgemeine Hilfsgebot vom Anderen eingehalten werden. Ein Ehemann etwa, der seine Frau schlägt und ihr nicht hilft, hat keinen oder allenfalls einen geringen Anspruch auf Aufrechterhaltung der ehelichen Gemeinschaft.
291
6. Pflichten in Gemeinschaften
A
A
K
N
T
D
E
E
U
R
R
E R
Die noch engere Beziehung zwischen Akteur und Anderem hat aber auch zur Folge, dass bei beiden nunmehr sowohl beim Anspruch auf Abwehr, auf HilfeÂ� und auf Gemeinschaft die inneren und äußeren Bedingungen sowie die Wünsche und Überzeugungen noch stärker zu berücksichtigen sind. Das bedeutet: Der Akteur ist in stärkerem Maße verpflichtet, seine Wünsche, Überzeugungen, Charaktereigenschaften, Tugenden, Gefühle, Lebensbedingungen usw. zur Realisation der berechtigten Interessen des Anderen zu verändern.
A
A
(1) Bedingungen
(1) Wille / Ziel / Absicht
K
(2) Wunsch / Überzeugung
(2) Wunsch / Überzeugung N
T
(3) Ziel
(3) Bedürfnisse
D
E
(4) Zweck-Mittel-Abw.
(4) Strebungen
E
U
(5) Wille
R
R
(6) Handlung
E
(7) Konsequenzen
R
292
IX. Typen von Pflichten
Ein Ehepartner kann zum Beispiel vom anderen erwarten, dass dieser gravierende Laster, negative Emotionen und Gewohnheiten, wenn nicht aufgibt, so doch zumindest sozialverträglich gestaltet. Trinkt etwa jemand, ohne dass dies zu negativem Verhalten gegenüber dem Ehepartner führt, so ist das€– von Langzeitschäden einmal abgesehen€– weitgehend seine Sache. Anders ist die Situation, wenn ein Ehepartner den Anderen im Rausch regelmäßig beleidigt oder gar schlägt. Dann kann der beleidigte oder geschlagene Ehepartner nicht nur verlangen, dass die verbal und körperlich schädigenden Handlungen aufhören, sondern auch, dass der Andere seine Trinkgewohnheiten ändert, die zur Enthemmung führen.
7. Tugendpflichten Im Rahmen solcher engeren Gemeinschaften spielen auch die sog. Tugendpflichten eine herausragende Rolle. Das heißt, die aus einer immer wieder stattfindenden Abwägung der Belange erwachsenden Pflichten beziehen sich nicht nur auf äußeres Handeln, sondern auch auf die diesem Handeln vielfach zu Grunde liegenden Tugenden, das heißt die relevanten Charaktereigenschaften. Jeder ist somit verpflichtet, Tugenden wie Hilfsbereitschaft, Wohlwollen, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Solidarität, VersöhnungsÂ� bereitschaft usw. zu entwickeln. Mitleids- und Tugendethiker könnten gegen das hier skizÂ�zierÂ�te Modell einwenden, kein Mensch könne in eiÂ�ner solch kalten GesellÂ�schaft isoÂ�lierter, prinÂ�zipiell für sich selbst verantÂ�wortlicher Individuen leben, die nur verÂ�langen könÂ�nen, dass ihre jeweiligen Belange im Rahmen ihrer Betroffenheitsräume nicht aktiv beÂ�einÂ�trächÂ�tigt werÂ�den. Diese Kritik verkennt aber, dass die Beschränkung auf die Forderung nach Nichtintervention in den Betroffenheitsraum nur solange gilt, bis sich nicht durch zuÂ�Â�nehmende Kontakte zwischen den Personen VerÂ�antÂ�wortÂ�lichÂ�keiÂ�ten und gemeinsame Projekte aufgeÂ�baut haben, die eine Vielzahl von posiÂ�tiÂ�ven Pflichten erzeugen. Die Beschränkung auf die Nichtintervention gälte also in ihrer Reinform nur beim ersten Kontakt zweier völlig fremder Wesen und müsste danach immer weiÂ�ter einÂ�geschränkt werden, je stärker sich die Interaktion entwickelt. Aber die Grundforderung nach Nichtintervention in den Betroffenheitsraum des Anderen bleibt als ultimative Limitation auch im Rahmen sehr enger Gemeinschaften bestehen. Auch Eheleute dürfen sich etwa nicht wechselseitig verletzen oder gar töten. Das Modell betrifft im Übrigen nur das, was tatÂ�sächlich an Beachtung des Anderen normativ gefordert werden kann. Überpflichtgemäßes VerÂ�halten ist€– wie sich im nächsten Kapitel€ noch zeigen wird€ – nicht ausgeschlossen, sofern dabei nicht Belange des Anderen missachtet werÂ�den. Wer einen AnÂ�deren zum Beispiel mit Geschenken überhäuft, muss sich schon einmal fragen, ob der Andere alle diese Dinge haben will und ob er mit einer entsprechenden GegenÂ�seiÂ�tigÂ�keitsÂ�pflicht sowie Kompensationserwartungen belastet werden möchte. Natürlich braucht jeder Mensch zum Leben mehr als die kühle Beachtung seines BeÂ�troffenÂ�Â�heitsÂ�raums. Er braucht Geborgenheit, Zuneigung, Vertrauen usw. Aber von jedem Fremden darf er dies nicht fordern. Es liegt jenseits der Moral.
7. Tugendpflichten
293
FreundschafÂ�ten und Paarbeziehungen lassen sich auf dieser MiniÂ�malbasis einer normativ-ethischen Theorie nicht errichten, aber diese engeren Gemeinschaften können eben auch nicht kategorisch verpflichtend sein. Im Übrigen eröffnet das Modell der Gemeinschaft die Möglichkeit der pädagogischen und institutionellen SiÂ�cherung der Berücksichtigung Anderer. Damit ist eine gewisse Habitualisierung durch Erziehung zu Tugendhaftigkeit und Mitleid gerechtfertigt. Gerechtfertigt ist auch die FörÂ�deÂ�rung von Gemeinwohlorientierung und positivem Sozialverhalten. Aber die BeÂ�gründungsÂ�reihenÂ�folge ist klar: Nicht Mitleid, Tugenden und GemeinÂ�wohlorientieÂ�rung rechtfertigen die Pflicht zur Berücksichtigung Anderer, sondern die Pflicht zur Berücksichtigung Anderer rechtÂ�Â�Â�fertigt umgekehrt Mitleid, Tugenden und Gemeinwohlorientierung. Für Mitleid und Tugend bedeutet dies, dass sie (partiell) durch die Pflicht zur Berücksichtigung Anderer bestimmt und begrenzt werden. Niemand darf etwa mit Berufung auf seine eiÂ�geÂ�nen Gefühle für den Anderen dessen wirkliche Belange missachten. Tugenden, die nur der eigenen GemeinÂ�schaft dienen, aber die Belange von NichtÂ� mitÂ�glieÂ�dern der Gemeinschaft unberücksichtigt lassen, wie unbeschränkte Gruppensolidarität und militärische TapferÂ�keit, sind allerdings zu Recht in VerÂ�ruf geraten, weil sie normativ-ethisch zu berücksichtigende Individuen außerhalb der eigenen Gemeinschaft missachten. Schließlich kann auch eine Erziehung zu überÂ�mäßiger SelbstÂ�aufopferung auf dieser säkular-immanenten Grundlage nicht gerechtfertigt werÂ�den.
X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln (Super- und Supraerogation) sowie Indifferenz Die Ethik rechtfertigt Pflichten, die ein Handeln fordern. Aber wie ist ein Handeln jenseits dieser Pflichten zu verstehen und zu beurteilen, also ein sog. überpflichtgemäßes (supereroÂ�gaÂ�toriÂ�sches), unterpflichtgemäßes (supraerogatorisches) und inÂ�differenÂ�tes HanÂ�deln? Wie stellt sich die Ethik etwa zum Handeln des guten Samariters, der einen Mann, der unter die Räuber gefallen ist, nicht nur von der Straße aufliest, seine Wunden reinigt und ihn in eine Herberge bringt€– das fordert die allgemeine Hilfspflicht zwischen Menschen –, sondern dem Wirt jenseits dieser Hilfspflicht auch zwei Denare bezahlt und ihn bittet „Trag Sorge für ihn, und was du darüber noch aufwendest, werde ich dir auf dem Rückweg zahlen.“?1 Und wie wäre es, wenn der gute Samariter dem Beraubten sogar all seine Kleidung und sein Hab und Gut schenkte, was zur Folge hätte, dass er selbst erfriert oder verelendet? Derart überpflichtgemäßes Handeln liegt jenseits der idealen Abwägung der in Rede stehenden Interessen der Beteiligten und ist normativ bzw. deontisch betrachtet zunächst einmal pflichtfrei, denn nach den obigen Annahmen unterfällt alles Handeln, zu dem keine Pflicht, also kein Gebot oder Verbot besteht, der Pflichtfreiheit, das heißt der Erlaubnis oder Freistellung. Aber mit dieser Qualifikation als normativ pflichtfrei ist das letzte Wort zur ethischen Qualifikation derartigen Handelns noch nicht gesprochen, denn es besteht des Weiteren die Möglichkeit zur axiologischen Bewertung als gut, schlecht oder wertneutral. Diese zusätzliche axiologische Bewertung wird nachfolgend für supererogatorisches, supraerogatorisches und indifferentes Handeln erörtert.2
1. Überpflichtgemäßes Handeln Wir bezeichnen das überpflichtgemäße Handeln des Samariters nicht nur als pflichtfrei, also als erlaubt und freigestellt, sondern darüber hinaus auch als ethisch gut. Superero-
1 2
Neues Testament, Lukas 10, 30–35. Das unterpflichtgemäße bzw. supraerogatorische Handeln wird in der Literatur nicht selten unter dem Stichwort „offence“ behandelt. Vgl. Roderick M. Chisholm, Supererogation and Offence. A Conceptual Scheme for Ethics, in: Ratio V (1963), S.€1â•›f., 14; Gregory Mellema, Beyond the Call of Duty. Supererogation, Obligation, and Offence, New York 1991, S.€181–209.
1. Überpflichtgemäßes Handeln
295
gatorisches Handeln setzt also zwei voneinander unabhängige Merkmale voraus, ein deontisches und ein axiologisches. Es ist:3 (1) ethisch pflichtfrei = ethisch nicht geboten und nicht verboten, (2) ethisch gut. Dabei muss für die allgemeine Begriffsbestimmung hinsichtlich des zweiten Merkmals natürlich offen bleiben, auf welcher Grundlage die Handlung als ethisch gut bewertet wird. Man darf sie nicht von vornherein mit den guten Konsequenzen oder den guten Absichten identifizieren, sonst würde man bereits in die allgemeine Begriffsdefinition eine umstrittene Theorie der materialen Ethik schmuggeln.4 Auch kann man nicht annehmen, dass beim zweiten Merkmal schon eine relativ bessere als die schlechteste erlaubte Handlung genügt,5 denn diese Handlung kann ja immer noch absolut betrachtet schlecht sein. Das ist dann kein supererogatorisches, sondern ein supraerogatorisches Handeln. In der Literatur werden außer den beiden genannten Merkmalen gelegentlich weitere vorgeschlagen, etwa: (3) dass die Unterlassung der Handlung nicht moralisch falsch bzw. verurteilenswert ist,6 (4) dass niemand sonst von einem die Handlung verlangen und einem die Unterlassung vorwerfen kann und man selbst dies auch nicht gegenüber anderen tun kann,7 (5) dass die Handlung intentional für das Gute eines anderen getan wird und deshalb verdienstvoll ist.8 3
4 5 6 7 8
Es ist wohl nicht notwendig, den Begriff auf eine bestimmte primäre Normenordnung wie die Moral, das Recht oder die Politik zu beziehen, obwohl dies sehr häufig mit Rekurs auf die Moral behauptet wird, vgl. etwa David Heyd, Supererogation. Its Status in Ethical Theory, Cambridge 1982, S.€134. Allerdings muss die primäre Ordnung notwendig sowohl Normen oder Regeln als auch Wertungen enthalten, so dass bloße Konventionen, Moden und Ratschläge des guten Lebens oder der Zweckmäßigkeit nicht in Frage kommen. Hauptanwendungsfeld supererogatorischen Handelns ist zweifellos die Moral. Ulla Wessels, Die gute Samariterin, Berlin 2002, S.€1â•›ff., lässt vor dem Hintergrund der Annahme eines Bewertungsprimats für den Begriff der Supererogation ein Gut- und Nichtgebotensein genügen. Aber das ist zu schwach, denn unabhängig von jeder Theorie über das Verhältnis von Werten und Pflichten erfordert der Begriff der Supererogation, dass die Handlung nicht verboten ist. Ansonsten unterfällt sie ja einer Pflicht. Im Übrigen wird supererogatorisches Handeln von Wessels von vornherein in der Form quantitativer Besser-Schlechter-Bewertungen von Weltzuständen und Aufwänden formuliert, was trotz ihrer gegenteiligen Annahme nur mit einer konsequentialistischen Ethik vereinbar ist und deshalb nach dem hier entfalteten pluralistischen Verständnis des dritten RechtÂ�fertigungselements die Ethik zu sehr einschränkt. Dies missachtet David Heyd, Supererogation. Its Status in Ethical Theory, S.€132, wenn er die Auffassung vertritt, dass die axiologische Bedingung einen konsequentialistischen Wert fordert. So lässt sich Thomas Nagels Auffassung von Supererogation in The View from Nowhere, S.€204, verstehen. David Heyd, Supererogation. Its Status in Ethical Theory, S.€115â•›ff., Gregory Mellema, Beyond the Call of Duty. Supererogation, Obligation, and Offence, S.€1â•›ff. J.â•›O. Urmson, Saints and Heroes, in: A.â•›I. Melden, Essays in Moral Philosophy, Washington 1958, S.€198–216, S.€204. David Heyd, Supererogation. Its Status in Ethical Theory, S.€115â•›ff.
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X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln sowie Indifferenz
Vorschlag (3), dass die Unterlassung der Handlung nicht moralisch falsch bzw. verurteilenswert ist, zieht neben den grundlegenden handlungsverpflichtenden und bewertenden Denk- und Sprachformen der Pflicht und des Guten die weiteren Denk- und Sprachformen des Falschen und Verurteilenswerten heran. Diese scheinen aber nicht auf derselben fundamentalen Ebene wie diejenigen der Normierung und der Bewertung angesiedelt zu sein. Sie sind deshalb von diesen abhängig. David Heyd gesteht denn auch zu, dass aus einer deontischen Perspektive zwischen (1) und (3) kein relevanter Unterschied besteht, sondern nur in der Betonung, wobei (3) dann von (2) abhängen soll. Aber das ist schon eine materiale, über bloße Begriffsnotwendigkeiten hinausweisende Auffassung. Es erscheint also vorzugswürdig, für eine allgemeine begriffliche Bestimmung der Supererogation bei den beiden deontischen und axiologischen Grundmerkmalen zu bleiben. Bedingung (4), dass niemand sonst von einem die Handlung verlangen oder einem die Unterlassung vorwerfen kann und man selbst dies auch nicht gegenüber Anderen tun kann, scheint nur eine praktische Folgerung aus den Bedingungen (1) und (3) zu sein. Während es ohne Zweifel unschädlich ist, dass sich der Handelnde hinsichtlich der Bedingung (1) der Überpflichtgemäßheit fälschlich für verpflichtet hält, soll dies nach Heyd durch die Bedingung (5) der Intentionalität hinsichtlich der Bedingung (3) der Güte anders sein. Der Handelnde muss danach, damit sein Handeln als supererogatorisch qualifiziert werden kann, das Gute auch intentional erstreben und insofern verdienstlich handeln. Das mag vielleicht zutreffen, wobei sich dann immer das Problem stellt, wie weit man den Begriff der Intention zieht, ob also auch der einfache Wille oder das bloße InKauf-Nehmen genügen. Fraglich ist aber, ob beide Erfordernisse nicht schon in der Bedingung (2) stecken. Heyd interpretiert die Bedingung (2) des guten Handelns eng und konsequentialistisch; sie bedarf deshalb bei ihm der Ergänzung durch die gute Absicht. Aber wenn man Bedingung (2) nicht konsequentialistisch einschränkt, dann enthält das Erfordernis, die Handlung als ethisch gut zu qualifizieren, bereits die Notwendigkeit, auch die gute Absicht zu berücksichtigen. Mehr kann nicht verlangt werden. Nach der Definition des Begriffs der Supererogation gilt: Die gesollte Handlung ist nicht mit der guten Handlung identisch. Wie ist das möglich? Um dies zu verstehen, muss die hier in den ersten fünf Kapiteln entwickelte normative Ethik interpretiert werden. Die gesollte Handlung ist nach dieser Ethik diejenige Handlung, die einer gleich berücksichtigenden, richtigen und besten Vermittlung potentiell widerstreitender Belange und damit der Konfliktvermeidung dient. Das bedeutet: Handelt der gute Samariter überpflichtgemäß und bezahlt er dem unter die Räuber gefallenen Mann unter Inkaufnahme von Schulden auch noch seine Übernachtungskosten, so stellt er seine eigenen Belange gegenüber den Belangen des Beraubten in stärkerem Maß hintan, als dies eine gleichberücksichtigende Vermittlung der in Rede stehenden und sich widerstreitenden Interessen und damit eine ethische Abwägung fordern kann. Er weicht also von der gleichen und richtigen Vermittlungslösung ab, die etwa nur erwarten lässt, dass er den Beraubten mitnimmt, seine Wunden versorgt und zu einer Herberge, also in Sicherheit bringt. Im Übrigen läge die richtig vermittelnde und damit auch verpflichtende Lösung wohl darin, dass der Wirt der Herberge dem Beraubten so lange Kredit gewähren müsste, bis der Beraubte
1. Überpflichtgemäßes Handeln
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selbst aus seinen Ersparnissen, ein anderer Unterhaltspflichtiger oder in letzter Instanz die politische Gemeinschaft die Übernachtungskosten übernehmen könnte.9 Was bedeutet es dann aber, wenn wir das Handeln des guten Samariters trotz seiner Abweichung von der richtigen Vermittlungslösung und damit trotz seiner Überpflichtgemäßheit und Nichtgesolltheit als ethisch gut qualifizieren? Warum kann die ethische Bewertung von der ethischen Verpflichtung abweichen? Dies ist in letzter Instanz deshalb möglich, weil€– wie sich oben ergab€– Verpflichtung und Bewertung nur instrumentelle, gedankliche und sprachliche Realisationsformen sind. Sie können also vor dem Hintergrund des eigentlich fundamentalen Ziels der adäquaten Vermittlung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen beliebig eingesetzt werden. Sie haben keinen Selbstzweck und können sich deshalb nicht grundsätzlich gegenüber der anderen Realisationsform durchsetzen. Nicht nur für die Verpflichtung, sondern auch für die Bewertung gilt das Ziel, das die Ethik aufgrund ihrer Normativität und Evaluativität mit den primären Normordnungen verbindet, das heißt das Ziel der Rechtfertigung und Kritik der Vermittlung potentiell widerstreitender Belange. Aber während die Normierung ein bestimmtes Handeln leitet, statuiert die Bewertung lediglich eine Stellungnahme. Sie ist also nicht handlungsleitend, sondern allenfalls indirekt handlungsfördernd bzw. empfehlend. Sie kann deshalb Gesichtspunkte aufnehmen, deren Berücksichtigung der handlungsleitenden Normierung, die immer auch belastend ist, verwehrt bleiben muss, so dass zwar keine vollständige, aber doch eine gewisse Differenz zwischen Bewertung und Verpflichtung möglich ist, die aus ihrem unterschiedlichen Mittelcharakter erwächst. Folgende Gesichtspunkte können etwa zu einer solchen Differenz führen:10 (1) Das Ergebnis der objektiven ethischen Vernunftlösung ist nicht selten unsicher und kontrovers. Daher muss es im Hinblick auf das letzte Ziel der Vermittlung widerstreitender Belange und der Konfliktvermeidung aus einer sekundären Perspektive prinzipiell als positiv bewertet werden, wenn jemand über das von ihm eigentlich Erwartbare hinaus die Belange der Anderen befriedigt. So können Zweifel und Streit bequem und sicher vermieden werden. Der Wirt könnte etwa im Fall des guten Samariters argumentieren, dass die Begleichung der Beherbergungskosten durch den Beraubten, seine Verwandten oder die politische Gemeinschaft sehr riskant sei. Während der Samariter die Beraubungssituation vor Ort verifizieren konnte, sei es für ihn nicht auszuschließen, dass der Bericht von der Beraubung nur ein Trick sei, um ihn um die Zeche zu prellen. Dem Samariter sei es deshalb nicht nur erlaubt, sondern ethisch geboten, durch eine Anzahlung die Begleichung der Beherbergungskosten zu sichern. Derartige Zweifel und 9
Diese Beurteilung hängt von einigen Annahmen ab, die hier nicht weiter erörtert werden sollen, da der Fall nur als Beispiel dient. Sollte der Beraubte keinerlei sonstige Hilfe der erwähnten Art erlangen und sich auch nicht selbst helfen können, und sollte der Wirt ihn€– entgegen seiner eigenen Hilfspflicht€– sofort wieder auf die Straße werfen, wäre der Samariter vielleicht auch noch zu einem gewissen Einsatz seiner finanziellen Mittel zur Begleichung der Übernachtungskosten verpflichtet. 10 Vgl. zu weiteren möglichen Gesichtspunkten: J.â•›O. Urmson, Saints and Heroes, S.€211â•›ff.; Thomas Nagel, The View from Nowhere, S.€200, 204â•›ff.: Die Supererogation soll die menschliche Natur berücksichtigen. Aber das scheint ein Faktor zu sein, der bereits bei der objektiven Vermittlung zwischen den Belangen eine Rolle spielen muss.
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X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln sowie Indifferenz
damit Unsicherheiten für den Beraubten und Hilfsbedürftigen schließt der gute Samariter aus, wenn er die Zeche überpflichtgemäß bezahlt. (2) Die ethische Vernunftlösung, die zu Handlungsgeboten führt, muss von den bestehenden Belangen der Betroffenen ausgehen. Aber jeder Betroffene kann auf die Berücksichtigung seiner Belange teilweise oder ganz verzichten. Auch wenn dieser Verzicht nicht gefordert werden kann, so ist er doch aus einer sekundären Perspektive im Hinblick auf das letzte Ziel der Vermittlung und Konfliktvermeidung verdienstlich. Wir bewerten es als positiv, wenn der „Klügere nachgibt“, das heißt auf die letzte Durchsetzung seiner Belange verzichtet, weil dadurch der Konflikt sicherer vermieden wird, wenn die gleichberücksichtigende Vermittlungslösung umstritten ist. Die Bewertung kann also auch eine Situation möglicherweise zurückgenommener Belange berücksichtigen, was der Verpflichtung verwehrt ist, da sie per definitionem von den tatsächlich bestehenden Belangen ausgehen muss. (3) Wir brauchen Vorbilder zur Entwicklung unseres Charakters. Deshalb ist es im Rahmen des weiter gehenden Ziels der Charakterbildung für die Ethik und Moral sinnvoll, ein bestimmtes Verhalten als vorbildlich auszuzeichnen. Dabei kann es hilfreich sein, sehr altruistisches Handeln als besonders lobenswert hinzustellen, um durch das gute Beispiel einen starken Anreiz zu setzen. Heilige sind deutlichere Vorbilder als Normalbürger mit ihren alltäglichen Nöten und Schwächen. Im Rahmen eines handlungsleitenden Gebots kann dieser Anreizgedanke nicht berücksichtigt werden, weil hier die konkret geforderte Handlung klar bezeichnet werden muss. Im Rahmen einer bloß empfehlenden, nicht unmittelbar handlungsleitenden Wertung ist dies aber möglich. (4) Jede extern an uns herangetragene Forderung nach einem bestimmten Handeln ist vor dem Hintergrund des normativ-individualistischen Ideals eines autonomen Lebens prima facie negativ zu bewerten, denn sie nötigt den Betroffenen, etwas zu tun oder zu unterlassen, was er zunächst nicht will. Das bedeutet, dass jede derartige Forderung nur gerechtfertigt sein kann, wenn das ihr zu Grunde liegende Bedürfnis der Vermittlung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen eine gewisse ErheblichÂ�keitsÂ� schwelle übersteigt. Sind die in Rede stehenden Belange marginal oder der Widerstreit unwahrscheinlich, dann kann die Ethik moralische Pflichten weder allgemein noch in einzelnen Situationen rechtfertigen. Viele Erwartungen der Höflichkeit liegen unterhalb dieser Erheblichkeitsschwelle einer expliziten Forderung durch Andere. Man kann etwa erwarten, begrüßt zu werden, aber das Grüßen durch Händedruck wird in unserer Gesellschaft nicht mehr allgemein gefordert. Pflichtgemäß ist also die Begrüßung, aber der Händedruck ist überpflichtgemäß, wenn auch€– als besonderer Akt der Freundlichkeit€– im Regelfall gut. Eine explizite Forderung nach einem Händedruck würden wir aber wohl nicht mehr als gerechtÂ�fertigt ansehen. Allerdings würden wir es angesichts der Marginalität auch nicht als gerechtÂ�fertigt ansehen, wenn jemand den geforderten Händedruck verweigert und damit den Anderen, der ungerechtfertigt gehandelt hat, brüskiert. Neben dem prinzipiellen Negativum der Autonomiebeschränkung können auch andere Gründe zur negativen Bewertung der externen Auferlegung einer Pflicht führen, etwa wenn eine Verpflichtung wahrscheinlich aus sozialen oder persönlichen Gründen
1. Überpflichtgemäßes Handeln
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zum genauen Gegenteil des Intendierten führen würde. Während der Handelnde ohne externe Verpflichtung vielleicht zur Ausführung der Handlung geneigt wäre, mag etwa eine externe Verpflichtung bei ihm eine phobische Panik auslösen. Ist die externe Verpflichtung solcherart ausgeschlossen, kann die Ausführung der Handlung durch den Phobiker als supererogatorisch angesehen werden. Das prinzipielle Negativum einer Pflicht gilt aber natürlich nur für externe Forderungen durch Andere, denn nur diese greifen ja in die Autonomie des Handelnden ein. Es gilt nicht für den Handelnden selbst, der seine eigene Autonomie durch die Annahme von Pflichten gegenüber Anderen nicht wie ein Fordernder einschränken kann. Man wird im soeben erwähnten Beispiel der Begrüßung durch Händedruck also behaupten können, dass jemand für sich selbst immer noch die Pflicht zu einem Händedruck annehmen und sich im Fall des Unterlassens auch berechtigte Vorwürfe machen kann. Die autonomieeinschränkende oder auf sonstige Weise kontraproduktive Wirkung externer Verpflichtungen bewirkt insofern eine gewisse Spaltung der Pflichtperspektiven und damit auch des Supererogatorischen. Für Andere ist der Bereich des Supererogatorischen größer als für den Handelnden selbst, der durch die Selbstauferlegung einer Pflicht nicht in seiner eigenen Autonomie tangiert oder auf sonstige Weise beeinträchtigt wird.11 Die soeben aufgeführten vier Gesichtspunkte, welche der Supererogation einen Spielraum eröffnen, rechtfertigen jedoch nur eine gewisse Überschreitung des ethisch Gebotenen. Es gibt Grenzen der positiven Auszeichnung supererogatorischen Handelns, etwa im Falle der Selbstverleugnung, der Selbstaufgabe oder der Selbstzerstörung.12 Wir würden es zum Beispiel nicht mehr als ethisch gut ansehen, wenn der Samariter dem Beraubten, wie eingangs als Alternative formuliert, all seine Kleider und sein Hab und Gut schenken und selbst erfrieren oder verelenden würde. Er würde dann ein Opfer bringen, das im Ergebnis so weit von einer vernünftigen Abwägung der Belange und damit vom ethisch Gebotenen abweicht wie die Beraubung. Und wir sehen es auch nicht mehr als ethisch gut an, wenn eine Mutter die an sich wünschenswerte liebevolle Sorge um ihr Kind ohne Not bis zur völligen Selbstaufopferung steigert€ – vielleicht sogar mit kontraproduktiven Folgen für die Psyche und die Selbständigkeit des Kindes. Die Erfüllung der Belange des Anderen, die der Verzicht auf die Verwirklichung der eigenen Belange ermöglicht, kann also vom Ergebnis einer ethisch vernünftigen Abwägung so weit abweichen, dass das überpflichtgemäße Handeln nicht mehr als gut zu bezeichnen ist. Es besteht somit eine Schwelle der völligen Selbstaufopferung, jenseits derer man nicht mehr von gutem supererogatorischen Handeln, sondern nur von schlechter, weil unverhältnismäßiger Selbstzerstörung sprechen kann. 11 Vgl. zu einer Unterscheidung zwischen externer und interner Verpflichtung auch Walter Pfannkuche, Â�Supererogation als Element moralischer Verantwortung, in: Georg Meggle (Hg.), Analyomen 2, Â�Proceedings of the 2nd Conference „Perspectives in Analytical Philosophy“, Vol. III, Berlin 1997, S.€300. Pfannkuche verwischt mit der Qualifikation „moralisch richtig“ aber wie Heyd die klare Grenze zwischen dem pflichtgemäßen und bloß guten Handeln und schränkt deshalb den Bereich des Supererogatorischen zu stark ein. 12 Die Grenze verläuft vielleicht etwa dort, wo überragende selbstbezogene Gründe gegen die Handlung sprechen, also dort, wo Anhänger der Pflichten gegen sich selbst solche annehmen.
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X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln sowie Indifferenz
Allerdings werden säkular-immanente und religiös-transzendente Bewertungen hinsichtlich der Lokalisierung dieser Schwelle naturgemäß stark divergieren. Führt der Verzicht auf die Erfüllung der eigenen Belange zur ewigen Glückseligkeit oder trägt er wenigstens in erhöhtem Maße zu ihr bei, ist eine solche Schwelle der Unverhältnismäßigkeit wohl praktisch ausgeschlossen. Aber auch ohne religiös-transzendente Bewertung kann der Verzicht auf unsere höchsten Belange zur Erfüllung der höchsten Belange Anderer gerechtfertigt sein. Wir sehen etwa das Handeln von Pater Maximilian Kolbe, der sein Leben im Konzentrationslager Auschwitz hingab, um einen Familienvater zu retten, auch aus der Perspektive einer säkular-immanenten Beurteilung als ethisch gut an. Und wir rühmen den Soldaten, der sich auf eine heruntergefallene Handgranate wirft, um das Leben seiner Kameraden zu retten.13 Erfordert es das Leben ihrer Kinder wirklich unabdingbar, dann halten wir schließlich auch die völlige Selbstaufopferung der Mutter für gut. Es gibt also keine absolute Schwelle der Supererogation mit Bezug auf bestimmte höchste Belange, Güter oder Werte, sondern nur eine relative Schwelle in Abwägung dieser Belange mit den Belangen Anderer. Diese Schwelle ist nicht leicht zu ermitteln, wird aber am besten mit dem noch zu erläuternden Begriff der „Unverhältnismäßigkeit“ umschrieben. Ein größeres Opfer im Vergleich zum angestrebten Ziel wird noch als gut angesehen, nicht aber ein völlig disproportionales, eben unverhältnismäßiges Opfer. Gäbe der Soldat sein Leben nicht hin, um das Leben seiner Kameraden zu retten, sondern um die Zerstörung ihrer Uniformen zu vermeiden, so wäre das unverhältnismäßig, also ethisch nicht mehr als gut zu bewerten und somit kein supererogatorischer Akt, sondern schlichte Selbstzerstörung. Supererogatorisches Handeln liegt in seiner Qualifizierung also zwischen zwei Schwellen, der unteren Schwelle des pflichtgemäßen, die Belange gemäß einer fairen Vermittlung realisierenden Handelns und der oberen Schwelle einer unverhältnismäßigen Selbstaufopferung. Die meisten Autoren gehen davon aus, dass alles Handeln zwischen diesen beiden Schwellen gut und damit supererogatorisch ist. Demgegenüber wird die These vertreten, dass es auch innerhalb dieses Bereichs sog. „Supererogationslöcher“ gibt, so dass das Schwellenmodell inadäquat sei.14 Man nehme als Â�Beispiel die Â�Managerin eines Hotels, die eine vielköpfige Familie spätabends nach einer Autopanne auf Kosten des Hauses unterbringen muss. Sie ist zu dieser Hilfeleistung ethisch verpflichtet, nach allgemeiner Überzeugung aber sicher nicht dazu, der Familie das schönste Zimmer zu geben und das aufwendigste Abendessen zu servieren, um ihr Wohlergehen zu maximieren. Wird nun angenommen, dass es die Managerin nichts kosten würde, das beste Zimmer zu vergeben und das schmackhafteste Abendessen zu servieren und dass dies das Wohlergehen der Familie erheblich steigern würde, weil deren Lebenstraum in Erfüllung ginge, einmal in der schönsten Suite eines Luxushotels zu übernachten und fürstlich zu tafeln, dann soll es ethisch falsch sein, nicht das schönste Zimmer bereitzustellen und das aufwendigste Abendessen zu kredenzen. 13 Vgl. zu dem Beispiel: J.â•›O. Urmson, Saints and Heroes, S.€202. 14 Ulla Wessels, Die gute Samariterin, S.€20â•›ff. Das Beispiel stammt ursprünglich von Michael Slote.
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1. Überpflichtgemäßes Handeln
Das Beispiel leidet an zwei Mängeln, einem behebbaren und einem unbehebbaren. Zum einen wird in dem Beispiel die Aufwandsgleichheit nicht realistisch geschildert. Die Bereitstellung eines objektiv schöneren Zimmers und eines objektiv leckereren Essens kostet per definitionem mehr, weil sich dafür unter Marktbedingungen ein höherer Preis erzielen lässt, auf den das Hotel verzichtet. Aber man kann das Beispiel so fassen, dass der Aufwand tatsächlich gleich ist und wirklich nur das subjektive Wohlergehen gesteigert wird. Man denke sich also etwa zwei ansonsten exakt identische Hotelzimmer, die sich nur in der Farbe unterscheiden. Eines ist rot, das andere grün. Die Familie mag nun keine roten Zimmer und kann in ihnen nicht gut schlafen, liebt aber grüne und schläft in diesen sehr gut, während am Markt die Vorlieben gleich verteilt sind. Mit dieser Abwandlung des Beispiels ist sichergestellt, dass das Hotel in jedem Fall keinen höheren Aufwand hat. Man wird dann in der Tat sagen können: Es besteht nicht nur eine abstrakte ethische Hilfspflicht, der Familie irgendein Zimmer zu geben, sondern diese Hilfspflicht konkretisiert sich auf die Pflicht, ihr das grüne Zimmer zu geben. Ist es für den Helfenden völlig belanglos, ob er durch die Handlung p oder die Handlung q hilft, für den Betroffenen aber von einigermaßen erheblichem Belang, dass p eintritt, so wird man eine entsprechende Konkretisierung der Hilfspflicht zugunsten des Betroffenen annehmen müssen, p zu realisieren, sofern die Befriedigung der Belange des Anderen die geringe Einbuße an Autonomie beim Handelnden durch die Konkretisierung der Handlungspflicht, die man nicht ganz vernachlässigen darf, aufwiegt. Damit ist aber€– und dies ist der unbehebbare Mangel des Beispiels€– noch nicht gezeigt, dass es Supererogationslöcher gibt, denn die Pflicht, die abends gestrandete Familie einzuquartieren, ist ja nicht supererogatorisch, sondern schlicht gebietend. Die Konkretisierung dieser Hilfspflicht auf das grüne Zimmer bewegt sich also wie die Hilfspflicht selbst unterhalb des Bereichs supererogatorischen und noch im Bereich des verpflichtenden Handelns. Sie kann deshalb die Existenz von Supererogationslöchern jenseits dieser Schwelle nicht beweisen. Besser geeignet erscheint dazu ein zweites Beispiel:15 Angenommen, eine Spende von 50â•›€ für die Welthungerhilfe kann einen Verhungernden retten, eine Spende von 5.000â•›€ hundert Verhungernde, eine Spende von 10.000â•›€ einhunderteins Verhungernde und eine Spende von 10.050â•›€ zweihundert Verhungernde. Die Korrelation von Aufwand und Hilfe ist also nicht proportional, sondern bei 10.000â•›€ erheblich unterproportional und bei 10.050â•›€ erheblich überproportional: Handlung des A
Aufwand
Anzahl der Geretteten
50â•›€
1
fi+1
5.000â•›€
100
supererogatorisch
fi+2
10.000â•›€
101
?
fi+3
10.050â•›€
200
?
fi
15 Ulla Wessels, Die gute Samariterin, S.€26╛ff.
Bewertung geboten
302
X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln sowie Indifferenz
Das Beispiel ist nicht sehr realistisch, weil normalerweise mit mehr Geld auch proportional mehr Essen erworben werden kann. Aber man könnte es vielleicht durch die Annahme völlig willkürlicher Mengenrabatte bei lebensrettenden Impfstoffen realistisch gestalten. Man nehme nun an, eine nicht sehr wohlhabende Person A sei ethisch und dann auch moralisch verpflichtet, 50â•›€ zu spenden, die Spende höherer Geldbeträge sei für sie dagegen supererogatorisch. A ist aber ein großer Philanthrop und spendet freiwillig 10.000â•›€. Nun könnte er aber mit zusätzlichen 50â•›€ neunundneunzig weitere Menschen retten. Hält man ihn also im Ausgangsfall für verpflichtet, 50â•›€ für die Rettung eines Menschen zu spenden, so erst recht, weitere 50â•›€ über die 10.000â•›€ hinaus für die Rettung weiterer neunundneunzig Menschen. Das soll nun aber bedeuten, dass die Spende von lediglich 10.000â•›€ nicht supererogatorisch ist, weil A ja verpflichtet ist, 10.050â•›€ zu spenden, wenn er sich entschließt, 10.000â•›€ zu spenden. Damit bestehe bei der Spende von 10.000â•›€ ein Supererogationsloch. Sei aber erst einmal ein solches Supererogationsloch anerkannt, so könnten derartige Löcher grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden. Das Schwellenmodell sei damit durchlöchert und deshalb inadäquat. Kann diese Argumentation überzeugen? Zunächst ist festzuhalten, dass in diesem Beispiel anders als im Hotelbeispiel, wo man sich noch im Pflichtbereich bewegt, tatsächlich zwei unzweifelhaft supererogatorische Handlungen der Bewertung unterliegen, die Spende von 10.000â•›€ einerseits und die Spende von 10.050â•›€ andererseits. Nimmt man als Ausgangspunkt den Moment, in dem A zu Hause ist, noch nichts gespendet hat und sich überlegt, ob und wie viel er spenden soll, ist die Bewertung eindeutig: A ist es lediglich geboten, 50â•›€ zu spenden, also die Handlung fi zu vollziehen. Es ist ihm weder geboten, 5.000â•›€ zu spenden, noch 10.000â•›€, noch 10.050â•›€. Alle diese Handlungen sind im Zeitpunkt der Entscheidung zu Hause ohne Zweifel supereroÂ� gatorisch. A geht nun zur Bank und fasst dort plötzlich den philanthropischen Entschluss, 10.000â•›€ zu spenden.16 Er füllt den Überweisungsträger mit „10.000â•›€“ aus und ist gerade dabei, ihn dem Bankbeamten zu übergeben. Ein zufällig anwesender Mitarbeiter der Welthungerhilfe dankt A herzlich für seine Wohltätigkeit, macht ihn aber freundlich darauf aufmerksam, dass er mit nur 50â•›€ mehr statt nur einhunderteins sogar zweihundert Menschen retten könnte. Ist A ethisch verpflichtet, nun noch weitere 50â•›€ zu spenden? Die Antwort hängt von der grundsätzlichen Einschätzung der Situation ab. Dazu gibt es nur zwei Möglichkeiten: (1) Hält man die Situation in den relevanten Eigenschaften immer noch für dieselbe wie zu Hause, das heißt, geht man davon aus, dass A noch nichts gespendet hat und sich noch im Prozess des Spendens befindet, so gilt nach wie vor die Einschätzung für die Ausgangsituation: A ist verpflichtet, 50â•›€ zu spenden. So lange er nicht endgültig gehandelt hat, also mit endgültiger Wirkung gespendet hat, ändert sich daran nichts. Bei dieser Beurteilung der Lage lässt sich also kein Supererogationsloch feststellen. (2) Glaubt man dagegen, dass sich mit dem Entschluss
16 Diese Konkretisierung des Beispiels stammt nicht von Ulla Wessels, sondern wird hier vorgeschlagen.
1. Überpflichtgemäßes Handeln
303
des A, 10.000â•›€ zu spenden, und mit der Ausfüllung des Überweisungsträgers die Situation, welche Grundlage der ethischen Bewertung war, bereits geändert hat, so gilt: Mit nur 50â•›€ mehr als der Spende von 10.000â•›€ könnte A neunundneunzig Menschen retten. Wenn er ursprünglich verpflichtet war, mit 50â•›€ einen Menschen zu retten, so ist er nun erst recht verpflichtet, mit demselben Betrag neunundneunzig Menschen zu retten€– allerdings natürlich nur, sofern er nach Spende der 10.000â•›€ noch dazu in der Lage ist. Also besteht, das ist bei dieser zweiten möglichen Einschätzung der Situation zuzugestehen, für A eine€– durch die ursprüngliche Spende bedingte€– ethische Pflicht, die Überweisung um 50â•›€ zu erhöhen. Allerdings gibt es nun auch für diese ethische Pflicht zur Erhöhung der Spende wieder eine Schwelle der Verpflichtung. A wäre also sicher nicht ethisch verpflichtet, seine Spende um noch 5.000â•›€ oder 10.000â•›€ zu erhöhen, ganz gleich ob er damit hundert oder tausend weitere Menschen retten könnte. Es gibt also auch bei dieser Betrachtung der Situation eine eindeutige Supererogationsschwelle, die man, dies sei einmal vorausgesetzt, irgendwo jenseits der 50â•›€ ansetzen muss, zu deren Spende er ja ethisch verpflichtet ist. Jenseits dieser nunmehr bestehenden Supererogationsschwelle bestehen aber keine Löcher, weil es keinen Grund gibt, anzunehmen, dass A mehr als 50â•›€ spenden muss. Das bedeutet aber: Im Fall beider alternativer Betrachtungsweisen, für die man sicher Gründe und Gegengründe anführen kann, besteht eine klare Supererogationsschwelle der richtigen Abwägung widerstreitender Interessen, und es sind keine ethischen Pflichten jenseits dieser Schwelle erkennbar. Man kommt nur zu einer anderen Bewertung, wenn man beide Möglichkeiten der Situationsbeurteilung derart kombiniert, dass man für die Annahme einer Pflicht zur Zahlung weiterer 50â•›€ die zweite Situationseinschätzung wählt, dann aber für die Frage, wo die Supererogationsschwelle verläuft und ob es jenseits dieser Schwelle ethische Pflichten gibt, die erste Situationseinschätzung zugrunde legt. Aber diese Vermischung zweier Beurteilungen der Situation ist nicht gerechtfertigt. Man darf zur Feststellung einer ethischen Pflicht bzw. supererogatorischen Bewertung nicht zwei unterschiedliche Situationseinschätzungen koppeln. Auch das zweite Beispiel kann demnach die Existenz von Supererogationslöchern nicht zeigen.17 Es bleibt damit bei der Ausgangsannahme eines bestimmten Bereichs der supererogatorischen Bewertung zwischen zwei Schwellen, der unteren Schwelle des Pflichtgemäßen und der oberen Schwelle des Unverhältnismäßigen.
17 Ulla Wessels, Die gute Samariterin, S.€36â•›ff., führt den zweiten Teil des hier vorgebrachten Einwands mit Verweis auf Kritiker selbst an. Sie antwortet, dass es Situationen geben könnte, die sich nicht in der vorgeschlagenen Weise aufteilen lassen, weil man nur genau einmal die Möglichkeit habe, einen bestimmten Betrag zu spenden. Das kann es natürlich aus faktischen Gründen geben, etwa wenn es nur ein Überweisungsformular in der Bank gäbe und A ein- und für allemal entscheiden müsste, welchen Betrag er einsetzt. Aber dann gilt ohne Zweifel die erste Situationseinschätzung, dass eine Spende von 50â•›€ ethisch geboten ist, alle Beträge jenseits dieser Grenze aber supererogatorisch sind. Es ist nicht ersichtlich, wie dann Supererogationslöcher angenommen werden können.
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X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln sowie Indifferenz
2. Unterpflichtgemäßes Handeln Unterpflichtgemäßes Handeln lässt sich analog zum überpflichtgemäßen Handeln durch zwei voneinander unabhängige Merkmale definieren: (1) ethisch pflichtfrei = ethisch nicht geboten und nicht verboten (2) ethisch schlecht Fraglich ist, ob es derart unterpflichtgemäßes Handeln gibt, das einerseits nicht geboten oder verboten, also pflichtfrei, andererseits aber als schlecht zu bewerten ist. Im Bereich der Höflichkeit sind derartige Situationen durchaus denkbar: Tritt etwa jemand zu zwei Gesprächspartnern hinzu, von denen er nur einen kennt, so entspricht es gutem Benehmen, wenn derjenige, der beide kennt, die einander bisher Unbekannten wechselseitig vorstellt. Versäumt er diese wechselseitige Vorstellung, sähe man es aber nicht als gerechtfertigt an, wenn einer der einander Unbekannten explizit die Forderung erheben würde, dem anderen vorgestellt zu werden, denn dadurch würde in nicht unerheblichem Maße in die Autonomie desjenigen eingegriffen, der die wechselseitige Vorstellung unterlassen hat. Er würde gegenüber dem Dritten als pflichtvergessen hingestellt und desavouiert. Sich selbst vorzustellen ist deshalb in derartigen Situationen einer leichten Unhöflichkeit durch den Nichtvorstellenden die angemessene Reaktion. Während die Ethik hier also vielleicht ein allgemeines moralisches Vorstellungsgebot rechtÂ�fertigen kann, ist es der Moral im Einzelfall sicher nicht zuzugestehen, die tatsächliche Forderung Anderer nach einer Vorstellung zu erheben. Es liegt ein moralisch pflichtfreies, aber schlechtes und damit unterpflichtgemäßes Handeln desjenigen vor, der die Vorstellung versäumt. Der Bereich des unterpflichtgemäßen Handeln ist aber erheblich schmaler als der des überpflichtgemäßen Handelns, denn anders als das überpflichtgemäße Handeln verringert das unterpflichtgemäße Handeln das Risiko von Konflikten nicht, sondern erhöht dieses Risiko. Es widerspricht also dem generellen Ziel von Ethik und Moral, Konflikte zu vermeiden, so dass diese allenfalls einen sehr schmalen Bereich des unterpflichtgemäßen Handelns dulden können. Es handelt sich um denjenigen schmalen Bereich, in dem der Einsatz des formal negativen, weil die Autonomie einschränkenden Mittels der externen Verpflichtung in der Abwägung als negativer und damit konfliktträchtiger einzuschätzen ist, als die minimal konflikthafte Situation, die vermieden oder geändert werden soll. Spiegelbildlich zur erwähnten Diskrepanz zwischen der externen und der internen Perspektive beim supererogatorischen Handeln gibt es auch beim supraerogatorischen Handeln eine derartige Diskrepanz. Während der Andere die Vorstellung im gerade erörterten Beispiel nicht fordern darf, wird man es durchaus als gerechtfertigt ansehen, dass derjenige, der beide Personen kennt, sich verpflichtet fühlt, die einander noch Unbekannten wechselseitig vorzustellen und sich im Falle des Unterlassens Vorwürfe macht. Das bedeutet aber, dass im internen Verhältnis des Handelnden zu sich selbst auch noch das schmale Band des supraerogatorischen Handelns verschwindet, weil der
3. Indifferenz
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Handelnde sich selbst ja nicht in seiner Autonomie verletzen kann. Supraerogatorisches Handeln gibt es also nur gegenüber den Forderungen Anderer.
3. Indifferenz Da die Denk- und Sprachform der Wertung drei mögliche Ausprägungen kennt, gut, schlecht und wertneutral, ist schließlich noch eine dritte Alternative pflichtfreier Handlungen möglich: die Indifferenz. Sie lässt sich definieren als Handeln mit folgenden Merkmalen: (1) ethisch pflichtfrei = ethisch nicht geboten und nicht verboten (2) ethisch wertneutral Viele unserer Handlungen sind solchermaßen ethisch indifferent, etwa rein ästhetische Werturteile, zum Beispiel dass man gotische gegenüber barocken Kathedralen bevorzugt.
4. Weitere deontisch-axiologische Kombinationen? Bisher wurde nur pflichtfreies Handeln untersucht. Zum Abschluss soll die Frage gestellt werden, ob auch andere Kombinationen deontischer Normierung und axiologischer Bewertung möglich sind, ob also auch ethisch pflichtiges Handeln beliebig mit den Wertungen gut, schlecht oder wertneutral qualifiziert werden kann. Fraglich ist also, ob es möglich ist, gebotenes Handeln nicht als gut, sondern als wertneutral oder gar schlecht zu bewerten? Und umgekehrt ist es fraglich, ob es möglich ist, verbotenes Handeln nicht als schlecht, sondern als wertneutral oder gar gut zu bewerten? Dabei soll nicht nach der bloß syntaktischen Möglichkeit der sprachlichen Kombination gefragt werden, denn so wie wir syntaktisch die Wortverbindung „rundes Quadrat“ bilden können, so können wir natürlich auch vergleichbare, rein sprachlich-syntaktische Kombinationen deontischer Normierung und axiologischer Bewertung bilden. Es dürfte auch deutlich sein, dass diese Kombinationen nicht nur syntaktisch, sondern auch praktisch möglich sind, sofern primäre moralische, rechtliche oder sonstige Normierung und sekundäre ethische Bewertung unterschiedlichen Ursprungs verbunden werden, die Quellen der Normierung auf der einen Seite und der Bewertung auf der anderen Seite also in zwei unterschiedlichen Norm- bzw. Bewertungsordnungen liegen. Ein Handeln kann etwa von einer Moralnorm verboten, ethisch aber als wertneutral oder sogar gut zu bewerten sein. Die Ethik wird dann eine Abschaffung des moralischen Verbots fordern. Aber wie sieht es mit der doppelten ethischen Qualifikation aus? Sieht man die deontischen und axiologischen Ausdrücke nicht als Selbstzweck der Ethik an, sondern nur als Realisationsformen im Dienst der Rechtfertigung bzw. Kritik an der Vermitt-
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X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln sowie Indifferenz
lung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen, so erfordert das Erreichen dieses Ziels auch eine einheitliche Qualifikation der fraglichen Handlung. Es mag also zwar möglich sein, bei gebotenem Handeln Teilaspekte als wertneutral oder schlecht und bei verbotenem Handeln Teilaspekte als wertneutral oder gut zu bewerten. Aber nimmt man die axiologische Bewertung als Gesamtqualifikation einer Handlung in den Blick, so darf sie der deontischen Gesamtqualifikation derselben Handlung nicht widersprechen, sonst kann das Ziel der Rechtfertigung und Kritik an der Vermittlung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen nicht erreicht werden. Eine einzige Vermittlungslösung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen kann nicht gleichzeitig geboten und schlecht bzw. wertneutral oder verboten und gut bzw. wertneutral sein. Erfolgt die deontische Pflicht-Qualifikation autonom, so impliziert sie deshalb die jeweils entsprechende, dem Gebot oder dem Verbot parallel laufende axiologische Bewertung, weil beide als bloße Mittel zum Zweck der Ethik dem einheitlichen Ziel der Rechtfertigung und Kritik der Vermittlung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen dienen. Wie lässt sich dann die Asymmetrie erklären, dass sich die deontische Qualifikation als pflichtfrei mit allen möglichen axiologischen Bewertungen verbinden kann, die axiologische Bewertung als wertneutral aber nicht mit den beiden möglichen deontischen Alternativen des Gebots und des Verbots? Die Asymmetrie lässt sich mit dem unterschiedlichen Instrumentcharakter der deontischen Verpflichtung und der axiologischen Bewertung erklären. Beide dienen zwar demselben notwendigen Ziel der Vermittlung potentiell widerstreitender Belange. Aber nur die deontische Verpflichtung tut dies in Form des stärkeren Mittels der direkten Handlungsleitung, während die axiologische Bewertung nicht direkt handlungsleitend, sondern allenfalls indirekt handlungsfördernd bzw. empfehlend wirkt. Erfolgt demnach mit Bezug auf eine bestimmte Handlung keine direkte deontische Handlungsleitung, ist sie also pflichtfrei, so ist die Möglichkeit für unterschiedliche axiologische Bewertungen dieser Handlung als gut, wertneutral oder schlecht eröffnet. Erfolgt dagegen mit Bezug auf eine bestimmte Handlung eine direkte deontische Handlungsleitung, so ist die Möglichkeit für unterschiedliche axiologische Bewertungen der Handlung durch denselben Urheber als gut, wertneutral oder schlecht nicht eröffnet. Deontische Verpflichtung und axiologische Bewertung unterscheiden sich im Hinblick auf die Handlungsleitung.
XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus) Die Frage nach dem Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen, also die Frage nach Begriff und Zulässigkeit des Paternalismus, ist keine periphere Anwendungsfrage der Ethik.1 Sie erweist sich vielmehr als wichtige Konkretisierung der Ethik als Ganzes, weil sie auf den zentralen Elementen einer normativen Ethik aufruht, etwa der Frage nach den von einer Handlung betroffenen Wesen und der Frage nach den moralisch entscheidenden Eigenschaften dieser Wesen, also etwa den Elementen eins und zwei der hier entfalteten Ethik. Wie bei manchen anderen Fragen der Ethik, etwa der Frage nach dem Bezug der Belange auf die einzelnen Teile der Handlung, gilt: Die Paternalismusfrage kann nur im Rahmen einer allgemeinen normativen Ethik sinnvoll erörtert werden. Nach einer explikativen Definition geschieht dies nachfolgend in drei, sich zunehmend konkretisierenden Thesen.
1. Der Begriff des Paternalismus Was heißt es genauer, paternalistisch zu handeln? Es bedeutet Handeln bzw. Entscheiden zum Schutz Anderer ohne oder gegen sie selbst,2 umfasst somit drei Elemente: (1) Handeln bzw. Entscheiden, das Andere betrifft, (2)€ in deren alleinigem oder wenigstens deren Hauptinteresse (Strebung, Bedürfnis, Wunsch, Ziel bzw. Gut, Wohl, Glück usw.) (3) ohne oder gegen deren aktuellen Willen. Die notwendige und sehr grundlegende Bedingung paternalistischen Handelns bzw. Entscheidens ist die mögliche Beeinträchtigung Anderer als Betroffener.3 Ist eine Relevanz für Andere von vornÂ�herein nicht denkbar, kann ein Handeln nicht paternalistisch sein. 1 2 3
Vgl. zum Folgenden: Verf., Paternalismus und die Berücksichtigung des Anderen, in: Michael Anderheiden u.â•›a. (Hg.), Paternalismus und Recht, Tübingen 2006, S.€93–107. Vgl. zu einer ähnlich weiten Bestimmung: H.â•›L.â•›A. Hart, Law, Liberty and Morality, S.€31: „[…] designed to protect individuals against themselves.“; John Kleinig, Paternalism, Manchester 1983, S.€13. Der Erste, der dies deutlich ausgesprochen hat, war John S.€Mill, On Liberty, S.€9, 10, 78, 79, 82, 83, passim.
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XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)
Zum Zweck der Bestimmung des Paternalismusbegriffs wird hier der Begriff des Hauptinteresses im Element (2) anders als der spezifische normativ-individualistische Interessenbegriff in Kapitel€II sehr weit verstanden. Er umfasst also nicht nur die dort in normativ-ethischer Hinsicht gerechtÂ�fertigten Eigenschaften der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, sondern auch ein von Anderen zugeschriebenes „objektives“ Gut, Wohl oder Glück. Paternalistisches Handeln erfordert schließlich eine Differenz zwischen den nicht unmittelbar handlungsbezogenen Interessen in diesem weiten Sinn (Element 2) und dem unmittelbar handlungsbezogenen aktuellen Willen des betroffenen Anderen (Element 3). Will der betroffene Andere die Handlung selbst und aktuell, so kann sie nicht als paternalistisch qualifiziert werden. Der Akteur handelt dann vielmehr als Vertreter bzw. Repräsentant des Anderen. Als „Andere“, zugunsten derer paternalistisch gehandelt werden kann, kommen alle ethisch zu berücksichtigenden Wesen in Betracht, nicht ausschließlich Menschen. Notwendig ist allerdings die grundsätzliche Möglichkeit, „für“ diese Anderen zu handeln. Eventuelle Wesen auf fernen Planeten scheiden deshalb als Seiende, gegenüber denen wir paternalistisch handeln können, ebenso aus wie göttliche Wesen, weil wir nicht „für“ diese handeln können, solange sie uns unbekannt oder nicht erreichbar sind. Paternalistisches Handeln muss nicht mit Zwang oder auch nur einer Beschränkung der Handlungsfreiheit Anderer verbunden sein. Man denke sich etwa eine im Sterben liegende alte Frau, der die Ärzte nicht mitteilen, dass ihr Sohn tödlich verunglückt ist.4 Hier betrifft das Unterlassen der Mitteilung die Sterbende, enthält aber keinen Zwang und schränkt ihre Handlungsfreiheit auch nicht ein. Paternalistisches Handeln muss auch nicht der Beeinflussung Anderer in ihrem Handeln dienen.5 Dies zeigt das soeben erwähnte Beispiel, denn hier soll nur eine Änderung des kognitiven Zustands der alten Frau, nämlich die Kenntnis des Todes ihres Sohns verhindert werden, ohne dem Zweck zu dienen, ihr weiteres Handeln zu beeinflussen, weil sie auf dem Sterbebett kaum zu weiterem Handeln in der Lage sein wird. Paternalistisches Handeln muss sich schließlich nicht auf die Bewahrung vor Schäden beschränken, sondern kann auch der Förderung von Interessen im weiten Sinn dienen, so etwa die allgemeine Schulpflicht, die den Kindern den Erwerb schulischer Bildung und damit ein besseres Leben ermöglicht. Die von Mill und anderen verwandten Begriffe des „Schadens“ (harm) und „Wohlbefindens“ (beneficence, wellbeing) sind regelmäßig utilitaristisch oder zumindest konsequentialistisch verengt und können deshalb im Rahmen einer allgemeinen, nicht schon durch eine utilitaristische oder konsequentialistische Ethik geprägten Begriffsdefinition des Paternalismus keine Verwendung finden. In einem neueren Definitionsversuch wurde vorgeschlagen, auf das Element (3) des Handelns gegen oder ohne den Willen Anderer zu verzichten und dafür neben dem bereits kritisierten Ziel der Handlungsbeeinflussung lediglich die Anwendung eines 4 5
Vgl. John Kleinig, Paternalism, S.€5╛ff. So aber zu eng: Danny Scoccia, In Defense of Hard Paternalism, Law and Philosophy 27 (2008), S.€352.
1. Der Begriff des Paternalismus
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anderen Mittels als desjenigen der vernünftigen Überzeugung zu verlangen.6 Es soll etwa paternalistisch sein, wenn der Vater dem Sohn eine finanzielle Belohnung für gute Schulnoten verspricht. Die Verwirklichung des Versprechens sei dabei nur mit Einverständnis des Sohns zu erzielen, so dass nicht gegen oder ohne den Willen des Begünstigten gehandelt werde. Aber zum einen kommt es hier auf die Abgabe und nicht auf die Erfüllung des Versprechens durch den Vater an. Die Abgabe des Versprechens geschieht aber zunächst ohne den Willen des Sohns und kann insofern nach der obigen Definition ohne Weiteres paternalistisch sein. Würde das Versprechen dagegen mit dem Willen des Sohns abgegeben, wäre es nicht paternalistisch. Fraglich ist bei einem Versprechen zum anderen schon, ob es ein Handeln „für Andere“ darstellt. Das Beispiel ist im Übrigen insofern problematisch, als unsere Intuition das Handeln des Vaters in diesem Fall bereits aufgrund zweier übergeordneter und sehr ausgeprägt paternalistischer Institutionen als paternalistisch qualifiziert. Die Schule ist eine stark paternalistische Einrichtung, und das Eltern-Kind-Verhältnis ist eo ipso€– „Paternalismus“ als Bezeichnung kommt daher€– ausgeprägt paternalistisch. Die Eltern sind immer und überall moralisch und rechtlich verpflichtet, die Belange ihrer Kinder auch ohne und gegen deren aktuellen Willen zu fördern, also gegebenenfalls auch paternalistisch zu handeln. Das Angebot einer finanziellen Belohnung für gute Schulnoten ist Teil dieser notwendig paternalistischen Grundsituation der Eltern-Kind-Beziehung. Das Angebot verstärkt außerdem den Paternalismus des schulischen Zwangs. Aus diesen beiden Gründen erscheint es unserer Intuition in jedem Fall als paternalistisch. Man muss vielmehr an einem neutraleren, nicht in paternalistische Institutionen eingebetteten Beispiel untersuchen, ob der Verzicht auf das Erfordernis des Handelns gegen oder ohne den aktuellen Willen des Betroffenen gerechtÂ�fertigt ist. Man denke sich etwa einen Ehemann, der seine Ehefrau bei sinkenden Außentemperaturen im Laufe des Herbstes dazu veranlassen will, immer wenn sie das Haus verlässt, ihren Mantel anzuziehen, um ihren sonst sehr häufigen Erkältungskrankheiten als Folge zu leichter Bekleidung vorzubeugen. Zu diesem Zweck nimmt er ihren Mantel aus dem Schrank und hängt ihn gut sicht- und leicht greifbar an die Garderobe, damit die Ehefrau das Überziehen des Mantels nicht wie sonst häufig vergisst. Dies geschieht nicht gegen und auch nicht ohne, sondern mit dem aktuellen Willen der Ehefrau, die zusieht, wie der Mann den Mantel aus dem Schrank nimmt, zustimmend nickt und sich über die fürsorgliche Handlung ihres Gatten freut. In diesem Fall sind alle Voraussetzungen der abgeschwächten Paternalismusdefinition erfüllt: Die Handlung des Ehemanns soll die Frau zu einem Verhalten veranlassen, sie dient dem Interesse der Ehefrau und sie benutzt andere Mittel als die vernünftige Überzeugung, nämlich das Mittel, den Mantel in Sichtweite an die Garderobe zu hängen. Trotzdem würden wir das Handeln des Ehemanns nicht als paternalistisch ansehen. Warum? Weil es mit dem aktuellen Willen der Ehefrau geschieht. Nur wenn es gegen oder zumindest ohne ihren aktuellen Willen stattfände, wäre es paternalistisch. Die abgeschwächten Voraussetzungen ohne Ausschluss 6
Danny Scoccia, In Defense of Hard Paternalism, S.€352╛f.
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XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)
der Übereinstimmung mit dem aktuellen Willen des Betroffenen sind deshalb nicht hinreichend für die Qualifikation eines Handelns als paternalistisch. Ein Handeln gemäß dem aktuellen Willen des Betroffenen ist ihm gegenüber nach dem Grundsatz volenti non fit iniuria regelmäßig gerechtfertigt und stellt nur eine Vertretung bzw. Repräsentation des Anderen dar. In bestimmten Fällen kann es notwendig sein, durch die Handlung auch Dritte einzuschränken. Die betroffenen „Anderen“ im Element (1) einerseits sowie die begünstigten „Anderen“ im Element (2) andererseits müssen also nicht identisch sein. Man unterscheidet insofern zwischen „indirektem“ und „direktem“ Paternalismus.7 Das Verbot der Werbung für Zigaretten, das die Hersteller, Werbeagenturen und Medien um der Gesundheit der Raucher willen einschränkt, ist ein Beispiel für einen derartigen indirekten Paternalismus, das Verbot der Tötung auf Verlangen gemäß § 216 des deutschen Strafgesetzbuchs, das außer den Getöteten auch den Arzt bzw. andere aktiv Tötende im Interesse des Getöteten limitiert, hat wohl ebenfalls einen indirekt paternalistischen Anteil. Die wesentliche, rechtfertigungsrelevante Unterscheidung im Rahmen paternalistischen Handelns ist diejenige zwischen einem weichen und einem harten Paternalismus. Weich paternalistisches Handeln ist dadurch gekennzeichnet, dass es in irgendeiner Form mit Zielen, Wünschen, Bedürfnissen oder Strebungen des Betroffenen übereinstimmt, während dies bei hart paternalistischem Handeln nicht der Fall ist.8 Für den weichen Paternalismus genügt also beim Element (2) der Definition der bloße Schutz eines objektiven Gutes, Wohls oder Glücks nicht zur Rechtfertigung. Nur wenn einem „Interesse“ im engeren Sinn des Kapitels II gedient werden soll, ist das paternalistische Handeln legitim. Im Folgenden wird die Frage der Rechtfertigung paternalistischen Handelns in drei Thesen entfaltet:
2. Normativer Individualismus Erste These: Nur wenn man den normativen Individualismus anerkennt, kann paternalistisches Handeln letztlich legitim sein. Im Sinne der obigen Definition des Paternalismus könnten „Andere“ prinzipiell auch Kollektive wie Unternehmen, Vereine, Familien oder Staaten sein. Viele Liberale, wie H.â•›L.â•›A. Hart oder Joel Feinberg, würden in einem derartigen Fall allerdings gar nicht von „Paternalismus“ sprechen, weil es bei einem derartigen normativen Kollektivismus der Förderung von Gemeinschaften nicht primär darum geht, den Interessen jedes einzelnen Anderen zu dienen, das Element (2) der Definition nach diesem engeren, individualistischen Verständnis also nicht erfüllt wäre.9 7 8 9
John Kleinig, Paternalism, S.€ 11. Gerald Dworkin, Paternalism, in: Rolf Sartorius (Hg.), Paternalism, Minneapolis 1983, S.€19–34, spricht von einem „unreinen“ und einem „reinen“ Paternalismus. Vgl. für einen anderen Versuch, die Unterscheidung mit Bezug auf die Mittel zu definieren: Danny Scoccia, In Defense of Hard Paternalism, S.€357â•›ff. Hart paternalistisch ist dann der Einsatz von Zwang. Joel Feinberg, Harm to Self, S.€4â•›ff.
3. Keine Verwirklichung von Pflichten gegen sich selbst
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Aber selbst wenn man den Begriff des Paternalismus nicht so eng fassen will, gilt: Kollektive und ihre Werte und Güter können nach dem im Kapitel€I entfalteten Prinzip des normativen Individualismus keine letzte ethische Rechtfertigung liefern. Das heißt, die Interessen von Staaten, Nationen, Völkern, Ethnien, Klassen, Unternehmen, Vereinen, Nachbarschaften, Sippen, Familien, Ehen, Freundschaften usw. sind zwar ethisch und moralisch zu berücksichtigen. Diese Kollektive können insofern auch legitime Begünstigte paternalistischen Handelns sein. Aber in letzter Instanz kommen im Konflikt nur die hinter diesen Kollektiven stehenden Individuen und ihre Belange als normativethische Quelle der Begründung in Betracht. Damit kann ein Handeln für ein Kollektiv aus Gründen des kollektiven Interesses ohne eindeutige Rückführung dieses kollektiven Interesses auf individuelle Interessen, also das, was man einen „superharten Paternalismus“ nennen könnte, letztlich nicht ethisch legitim sein. Will die Regierung eines Landes etwa ein Unternehmen vor dem Konkurs retten, so ist das ethisch nur rechtÂ�Â�Â� fertigbar, wenn es auch im Interesse der Betroffenen, also der Arbeitnehmer, Anteilseigner und Steuerzahler liegt. Würde der Konkurs nur verschleppt und das Handeln der Regierung zu einem größeren Verlust von Arbeitsplätzen und einem geringeren Wert der Unternehmensanteile führen, so kann es nicht als ethisch legitim angesehen werden, auch wenn insofern ein abstraktes Interesse des Unternehmens an seinem Fortbestand realisiert würde. Selbst wenn man zugunsten von Kollektiven handeln will, stellt sich somit immer die Frage nach den dahinter stehenden betroffenen Individuen. Dies mag dazu geführt haben, dass der Paternalismus überhaupt nur im Kontext einer normativ-indiviÂ�duaÂ�listiÂ�Â�schen Ethik bedeutsam wurde, etwa bei Liberalen wie John Stuart Mill, H.â•›L.â•›A. Hart, Gerald Dworkin und Joel Feinberg.10 Nur weil etwa Mill die legitime Machtausübung des Staates auf die Verhinderung der Schädigung anderer Individuen beschränkte (sog. harm principle),11 war für ihn die Restriktion der Selbstschädigung durch die politische Gemeinschaft problematisch. Und er erlaubte sie nur in zwei eng begrenzten Ausnahmefällen: der Unkenntnis von Fakten, die den eigenen Wünschen zugrunde liegen, etwa der nicht erkannten Einsturzgefahr einer Brücke, die man betreten will, und der Selbstversklavung.12
3. Keine Verwirklichung von Pflichten gegen sich selbst Zweite These: Der Paternalismus kann nicht als Exekution von Pflichten gegen sich selbst durch Andere legitim sein. Akzeptiert man die Ablehnung von Pflichten gegen sich selbst in Kapitel€VIII, so kann der Paternalismus nicht als Verwirklichung derartiger Pflichten gegen sich selbst ethisch,
10 John S.€Mill, On Liberty; H.╛L.╛A. Hart, Law, Liberty and Morality; Gerald Dworkin, Paternalism; Joel Feinberg, Harm to Self. 11 John S.€Mill, On Liberty, S.€9. 12 John S.€Mill, On Liberty, S.€95, 101.
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XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)
moralisch oder rechtlich zu rechtÂ�fertigen sein. Insofern ist eine grundsätzliche liberale Skepsis gegenüber dem Paternalismus, wie sie etwa Mill artikuliert hat, berechtigt.
4. Die entscheidenden Eigenschaften Dritte These: Weil die ethisch entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden anderen Individuen ausschließlich deren Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen sind, zusammengefasst, ihre nicht egoistisch verstandenen Belange bzw. Interessen im engeren Sinn, ist nur ein weicher Paternalismus gerechtfertigt. Erkennt man den normativen Individualismus an, dann stellt sich€– im zweiten Kapitel€wurde dies gezeigt€– die Frage, welche Eigenschaften der Individuen ethisch rechtfertigend sein können. Die Frage nach den normativ entscheidenden Eigenschaften ist der Schritt der ethischen Begründung, bei dem sich klärt, ob paternalistisches Handeln ethisch berechtigt sein kann. Wollte man ausschließlich den gegenwärtigen, wirklichen, das heißt den aktuellen Willen der Individuen ethisch entscheidend sein lassen, so wäre jeglicher Paternalismus illegitim.13 Es könnte dann kein gerechtfertigtes Handeln im Interesse Anderer ohne oder gegen deren aktuellen Willen geben, denn dieser aktuelle Wille wäre verbindlich. Der Betroffene müsste immer selbst über die Konkretisierung der hinter diesem aktuellen Willen stehenden Interessen entscheiden. Hinter der Auffassung, dass nur der aktuelle Wille ethisch maßgeblich sein soll, steckt ein normativ-individualistischer und damit anerkennenswerter Beweggrund. Der Sicherheit des Betroffenen hinsichtlich der handlungsbezogenen Konkretisierung seiner Interessen wird auf diese Weise höchste Priorität eingeräumt. Allerdings muss man berücksichtigen, dass die Individuen bezüglich einer bestimmten Handlung entweder gar keinen Willen bilden (können) oder eine Vielzahl von aktuellen und potentiellen, kurzoder längerfristigen, manifesten und latenten Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen haben. Diese können€– wie sich bereits in Kapitel€II ergab€– zueinander in Konflikt geraten und sich in unterschiedlichen Willensmomenten ausprägen. Die erste Möglichkeit legitimen weich paternalistischen Handelns liegt im Fall des Fehlens eines aktuellen Willens vor, also des Handelns ohne aktuellen Willen, etwa bei Bewusstlosen, Komatösen oder kleinen Kindern. Allerdings darf hier nur gemäß dem früheren Willen, dem zukünftigen mutmaßlichen Willen oder€ – falls beide nicht zu ermitteln sind€– den hinter dem mutmaßlichen Willen stehenden hypothetischen subjektiven Belangen der Betroffenen gehandelt werden, also gemäß deren mutmaßlichen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen oder Strebungen.14 Ohne jeden Anhaltspunkt in den subjektiv verstandenen Belangen ist ein Handeln, das andere betrifft und damit in irgendeiner Form einschränkt, nicht zu rechtÂ�fertigen. 13 Dies konstatiert auch James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance, S.€10. 14 Vgl. zur Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Interessen: Günther Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeutung für die Ethik.
4. Die entscheidenden Eigenschaften
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Man denke sich für die zweite Möglichkeit des Handelns gegen den Willen des Betroffenen folgendes Beispiel: In einem Weinglas, von dem ein Weinliebhaber trinken will, ist Gift, und er weiß nichts davon. In diesem Fall besteht ein Widerspruch zwischen dem aktuellen und konkreten, aber auf falschen Tatsachenannahmen beruhenden Willen, den Wein zu trinken, und dem generellen Willen, am Leben zu bleiben und deshalb kein Gift zu sich zu nehmen, also ein Widerspruch zwischen zwei Willensmomenten und den dahinter stehenden Wünschen des Weintrinkers. Genau an dieser Diskrepanz zwischen fehlerhaftem Willensmoment bzw. Belang und fehlerfreiem Willensmoment bzw. Belang setzt die zweite Möglichkeit der Berechtigung des weichen Paternalismus an, und man muss hinzufügen, die normativ-individualistisch begründete Berechtigung. Um den fehlerfreien Willensmomenten und den diesen zu Grunde liegenden Belangen der Individuen GelÂ�tung zu verschaffen, dürfen fehlerhafte Willensmomente und damit irregeleitete Belange der Betroffenen hintangestellt werden. Somit ist ein weicher Paternalismus normativ-individuaÂ�listisch legitim. Es ist also legitim, auf falschen Tatsachenannahmen beruhendes selbstschädigendes Verhalten einzuschränken, wenn keine Aufklärung erfolgen kann, etwa im Fall des vergifteten Weines das Glas wegzuschlagen, sofern keine Zeit mehr bleibt, den Weinliebhaber zu warnen. Voraussetzung ist, dass als sehr wahrscheinlich angenommen werden kann, dass er im Falle der Aufklärung den Wein nicht getrunken hätte. Neben diesen beiden Fällen eines legitimen weichen Paternalismus, dem völligen Fehlen eines aktuellen Willens und dem fehlerhaften aktuellen Willen, dem falsche Tatsachenannahmen zugrunde liegen (wobei ein gegenläufiger genereller Wille oder ein gegenläufiges generelles Interesse besteht), gibt es aber mindestens zwei weitere Fälle, bei denen die Legitimität des Paternalismus in Frage steht: Im einen Fall nimmt der Betroffene bei korrekter und vollständiger Tatsacheninformation eine von einem heute erreichten rationalen Standpunkt falsche zusammenfassende Bewertung bzw. Abwägung seiner Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele vor, wenn sich etwa ein Raucher trotz klarer Kenntnis der hohen Risiken lieber für das Rauchen entscheidet oder ein Autofahrer trotz klarer Einsicht in die hohen Gefahren dafür, sich nicht anzuschnallen. Auch wenn in derartigen Fällen die Bewertung bzw. Abwägung falsch sein mag, so gebietet der normative Individualismus doch den Respekt vor der individuellen Entscheidung des Anderen und damit die Anerkennung dieser Bewertung bzw. Abwägung, die sich als zusammenfassender Belang bzw. Interesse manifestiert. Bewertungsfragen sind nie vollständig objektivierbar und immer mit individuellen Ansichten und Vorlieben verbunden. So mag etwa das Anlegen eines Sicherheitsgurts für einen extrem sensiblen Menschen eine ungeheure Beklemmung und damit eine sehr gravierende Einschränkung bedeuten, die aus der objektivierenden Perspektive eines Anderen nicht nachvollziehbar ist. In derartigen Fällen einer aus der Sicht des paternalistisch Handelnden falschen, dem Interesse im Sinne eines objektiven Wohls widersprechenden Bewertung der eigenen Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele liegt aber anders als in den soeben erörterten Fällen kein Widerspruch zwischen verschiedenen subjektiven Belangen bzw. Willensmomenten vor. Der Betroffene hat etwa den klaren Wunsch und Willen, zu rauchen oder ohne
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XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)
Sicherheitsgurt zu fahren. Das Handeln, das ihn zu seinem vermeintlich objektiven Wohl bringen will, ist also kein weich paternalistisches. Es ist mangels entsprechender subjektiver Interessen ethisch illegitim, wenn nicht€– wie sich noch zeigen wird€– in den spezielleren Normordnungen von Politik und Recht weitere, spezifischere Gesichtspunkte hinzutreten. Im anderen Fall hat jemand zutreffende Tatsachenannahmen, wägt richtig ab, kommt also zu einer aus der Sicht des paternalistisch Handelnden zutreffenden Bewertung seiner Belange und bildet auch einen entsprechenden generellen Willen. Aus Willensschwäche ist er aber nicht in der Lage, im Anschluss an diesen generellen Willen einen konkreten Willen zu fassen und entsprechend zu handeln. Ein Beispiel ist der Raucher, der ausdrücklich und generell geäußert hat, nicht mehr rauchen zu wollen, in bestimmten, konkreten Situationen aber nicht in der Lage ist, sein Suchtverhalten zu kontrollieren und doch raucht. Man könnte argumentieren, dass in derartigen Fällen eine Intervention gar nicht paternalistisch ist, weil sie ja gemäß dem Willen des Betroffenen erfolgt und nicht ohne oder gegen dessen Willen. Würde es sich bei dem durch das paternalistische Handeln realisierten Willen um den tatsächlichen, konkreten Willen handeln, so wäre dieser Einwand zutreffend. Fordert uns ein Raucher auf, ihm hier und jetzt seine Zigaretten wegzunehmen, so dürfen wir das tun. Wir handeln nicht ohne oder gegen, sondern mit dem Willen des Betroffenen. Anders ist die Situation allerdings bei einer generellen Willensäußerung, etwa dem generell geäußerten Willen des Rauchers, ihm die Zigaretten in Zukunft jedes Mal wegzunehmen, sobald er sie aus der Tasche holt. Hier kann sich in jeder konkreten Situation ein anderer aktueller Wille ergeben. Und es ist nicht eindeutig, ob sich im Einzelfall der generell entgegenstehende Wille wirklich durchsetzen soll, ob also das Rauchen tatsächlich auf Willensschwäche oder auf dem Willen, in manchen Situationen ausnahmsweise doch zu rauchen, beruht. Der Raucher kann den Konflikt zwischen seinem generellen Willen und seinem aktuellen Willen durch eine Metaentscheidung auf zwei Arten lösen. Er kann entweder festlegen, dass sich der generelle Wille immer durchsetzen soll. Oder er kann festlegen, dass der generelle Wille zwar gilt und konkrete Willensbildungen beeinflussen soll, sich im Einzelfall aber doch der konkrete Wille realisieren kann, etwa weil das Rauchen in einer extremen Stresssituation die beste Methode der Beruhigung ist. Diese Metaentscheidung darf aber ein paternalistisch Handelnder dem betroffenen Raucher nicht gegen dessen Metainteresse bzw. Metawillen abnehmen, ohne das Prinzip des normativen Individualismus zu verletzen. In derartigen Fällen der Willensschwäche darf er also nicht ohne den expliziten und konkreten Willen des Rauchers eingreifen. Allein die Willensschwäche rechtfertigt somit paternalistisches Handeln nicht. Allerdings wird man es aus Gründen des normativen Individualismus und damit im mutmaßlichen Metainteresse des Betroffenen in beiden erwähnten Fällen eines illegitimen paternalistischen Handelns zumindest für zulässig halten dürfen, dann einen Aufschub herbeizuführen, wenn sehr gravierende, irreversible Schäden drohen. Dies gilt sicher nicht für das Rauchen einer einzelnen Zigarette. Aber der Selbstmord darf auch gegen den aktuellen Willen des Suizidenten aufgehalten werden, allerdings nur konkret situativ und nicht permanent. Niemand darf etwa längere Zeit zur Vereitelung seines nicht durch eine gravierende
5. Spezifik der Sozialethik, politischen Ethik und Rechtsethik
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psychische Erkrankung verursachten Suizids festgehalten werden, wie es etwa deutsche Gerichte für zulässig erklärt haben.15 Grundsätzlich nicht rechtfertigbar ist es somit vor dem Hintergrund einer normativindiÂ�viÂ�duaÂ�listischen Ethik, das objektive Wohl des Betroffenen auch gegen dessen aufgeklärte tatsächliche, frühere, mutmaßliche oder hypothetische Willensbekundungen, das heißt letztlich gegen dessen subjektive Interessen durchzusetzen, also jemandem, der einsichtsfähig ist und weiß, dass und wie er sich gefährdet, dazu zu verpflichten, einen Gurt anzulegen, einen Helm aufzusetzen, mit dem Rauchen aufzuhören, eine Extremsportart aufzugeben oder sich als Zeuge Jehovas einer Bluttransfusion zu unterziehen. Nicht zu rechtfertigen ist es etwa, eine frühere Willensäußerung in Form einer Patientenverfügung zu missachten, sofern sie frei und aufgeklärt verfasst wurde, die fragliche Behandlung hinreichend konkret anspricht und ein Irrtum oder eine Änderung des früheren Willens nicht erkennbar ist. Das objektive Wohl darf nicht an die Stelle der informierten und freien Willensbekundung des Betroffenen gesetzt werden, solange sich kein entsprechender zukünftiger mutmaßlicher Wille oder ein mutmaßliches subjektives Interesse vermuten lässt. Das bloße hypothetische Interesse des Betroffenen kann nur eine letzte hilfs- und ausnahmsÂ�weise Instanz zur Herbeiführung einer Entscheidung sein, wenn die Berücksichtigung der dreifachen Kaskade des aktuellen, früheren und mutmaßlichen, aufgeklärten Willens nicht zu einem Ergebnis führt. Eine Begründung, warum darüber hinaus auch noch ein objektives Wohl zu berücksichtigen sein soll, ist nicht erkennbar. Die rechtfertigungsbestimmende Eigenschaft der ethisch zu berücksichtigenden Individuen sind, wie sich ergab, die subjektiven Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele des Betroffenen, das heißt seine Interessen im subjektiven Sinne, wie sie sich unmittelbar handlungsbezogen im Willen ausprägen, nicht sein objektives Wohl. Jede vollständig utilitaristisch- oder konsequentialistisch-objektive Begründung des Paternalismus verlässt den normativen Individualismus.16 Ein harter Paternalismus ist somit vor dem Hintergrund einer normativ-individualistischen Ethik nicht zu rechtfertigen. Das gilt sowohl für die Individualethik als auch für die politische Ethik und die Rechtsethik. Allerdings gelten bei Letzteren Weiterungen in der Konkretisierung, denen zum Schluss dieses Kapitels nachgegangen wird.
5. Spezifik der Sozialethik, politischen Ethik und Rechtsethik Die Sozialethik und die politische Ethik€– welche in Kapitel€XV, 1 noch genauer bestimmt werden€– sind durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet. Und bei der RechtsÂ� ethik tritt noch eine weitere hinzu. Dies führt zu Weiterungen in der Konkretisierung des auch hier allein ethisch zu rechtfertigenden weichen Paternalismus.
15 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1989, S.€1790. 16 Vgl. zur näheren Darstellung und Kritik konsequentialistischer Rechtfertigungen: John Kleinig, Paternalism, S.€48â•›ff.
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XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)
In der Sozialethik und politischen Ethik geht es im Hinblick auf das Handeln der fraglichen Gemeinschaft zum einen in höherem Maß als in der Individualethik um gemeinschaftliche Belange. Das bedeutet, dass die Berücksichtigung nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar Betroffener und ihrer Interessen eine gewichtigere Rolle spielt, also etwa bei der Helm- und Gurtpflicht die Berücksichtigung der weiteren Angehörigen, Freunde und Mitarbeiter des Verletzten, die von einem Unfall betroffen wären, aber auch die Berücksichtigung der Beitragszahler der Krankenkassen, die als Teil der Solidargemeinschaft für Schwerverletzte aufkommen müssen. Die Verpflichtung wird somit nicht wegen des Schutzes des Betroffenen, sondern wegen des Schutzes Dritter erweitert und ist deshalb nicht genuin paternalistisch.17 Wegen des gemeinschaftlichen Charakters politischen Handelns wird zum anderen in der politischen Ethik die individualethisch klare Grenze zwischen Fragen, die nur den Handelnden betreffen, also Fragen des guten Lebens, und Fragen, die auch Andere betreffen, also Fragen der Moral, des Rechts und der Ethik im objektbezogen engeren Sinn unscharf. Politisches Handeln dient fast immer nicht nur der Durchsetzung individueller moralischer, rechtlicher und ethischer Ansprüche, sondern auch der Gestaltung eines gemeinsamen guten Lebens, etwa bei der Planung von Wohngebieten und Verkehrswegen, der ordnungspolitischen Sicherung des Wirtschaftens oder der Kulturförderung. Das bedeutet nicht, dass in der politischen Ethik das Prinzip des normativen Individualismus verlassen würde. Aber es rücken individuelle Belange ins Blickfeld, die sich auch auf die Gemeinschaft und ein gemeinschaftliches Leben richten und nicht mehr als moralisch und rechtlich bzw. ethisch im engen Verständnis zu qualifizieren sind, etwa das allgemeine Interesse, die politischen Institutionen funktionsfähig zu halten und unnötige finanzielle Aufwendungen der politischen Gemeinschaft zu vermeiden. Zu diesen beiden Besonderheiten sozialen und politischen Handelns treten nun beim Recht weitere Spezifika hinzu, die deren Wirkungen verstärken. Das Recht ist nicht nur in weiten Teilen kategorisch gebietend, sondern auch formal sowie in seinen modernen Ausprägungen allgemein, öffentlich und häufig mit Sanktionen verbunden.18 Seine Entscheidungen haben eine sehr starke generelle Orientierungskraft für das Verhalten der einzelnen Bürger. Das Recht wirkt aufgrund dieser Eigenschaften in weit höherem Maße repräsentierend und gesellschaftsprägend als moralische und sonstige politische Entscheidungen. Die Moral erhebt zwar auch einen gewissen Allgemeinheitsanspruch. Aber verschiedene partielle Moralsysteme können faktisch nebeneinander 17 Eine meist nicht intendierte Nebenfolge liegt gelegentlich auch im Schutz vor Anderen: Die Gurtpflicht entlastet etwa den Mitfahrer davon, erklären zu müssen, warum er einen Gurt anlegt und damit den Lenkfähigkeiten des Fahrers scheinbar misstraut. 18 Zur Allgemeinheit und Öffentlichkeit des Rechts: zum Beispiel Lon L. Fuller, The Morality of Law, 2., rev.€Aufl. New Havenâ•›/â•›London 1969, S.€39, 46â•›ff. Zur Formalität des Rechts: Robert Summers, How Law is Formal and Why it Matters, Cornell Law Review 82 (1997), S.€1165–1229. Zur häufigen Sanktionierung des Rechts: Bernd Rüthers, Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, 2.€Aufl. München 2005, Rdnr. 58, S.€45; noch weiter gehend im Sinne eines notwendigen Elements des Rechts: Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2.€ Aufl. Wien 1960, S.€ 34â•›ff. Vgl. zu einer Kritik dieser Annahme, dass Sanktionen ein notwendiges Element des Rechtsbegriffs sind: H.â•›L.â•›A. Hart, The Concept of Law, 2.€Aufl. Oxford 1997, S.€18â•›ff.
5. Spezifik der Sozialethik, politischen Ethik und Rechtsethik
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existieren, etwa gestützt durch unterschiedliche religiöse Überzeugungen. Das gilt in begrenzterem Maße auch für einzelne Elemente der Politik. Beim heutigen Recht politischer Gemeinschaften ist das anders. Seine grundlegenden Entscheidungen müssen allgemein sein, um die „Einheit der Rechtsordnung“ zu wahren.19 Alle diese, das Recht zusätzlich kennzeichnenden Merkmale, lassen bei ihm die gesellschafts- und bewusstseinsprägende Wirkung einer Normierung noch erheblich stärker ins Gewicht fallen als bei Moral und Politik. Rechtliche Regeln, und hier wieder besonders solche des Strafrechts, wie die Strafbarkeit oder Straflosigkeit der Tötung auf Verlangen, wirken in besonderem Maße gemeinschaftsprägend. Diese Spezifika von Politik und Recht machen es erforderlich, die Folgerungen aus der Legitimitätsgrenze des weichen Paternalismus, welche auch für die Sozialethik, die politische Ethik und die Rechtsethik die Grundlage bleiben muss, wenigstens in zwei Fallgruppen zu ergänzen: Die eine Fallgruppe umfasst spezifische starke Gefährdungen des Einzelnen durch die gemeinschaftlich entwickelte und zum Nutzen aller etablierte Verkehrs- und Industriegesellschaft, sofern die Einschränkungen für den Einzelnen nicht sehr gravierend sind. Dies betrifft etwa die Helmpflicht und die Gurtpflicht beim Betrieb von Kraftfahrzeugen, aber auch spezifische Sicherheitsvorschriften in Industriebetrieben oder der öffentlichen Verwaltung. Das gemeinschaftliche Interesse, zu verhindern, dass der kollektiv organisierte und zu verantwortende Verkehr und die industrielle Produktionsweise den Einzelnen und damit in vielfältiger, direkter und indirekter Weise auch andere Mitglieder des Gemeinwesens schädigt, rechtfertigt wenig gravierende Einschränkungen wie die Helmpflicht und die Gurtpflicht beim Betrieb von Kraftfahrzeugen oder Maschinen. Anders stellt sich die Lage bei gefährlichen Sportarten in der Freizeit, dem Rauchen oder Alkoholgenuss sowie der Bluttransfusion dar. Hier sind die Gefährdungen zum einen eher privater Natur und nicht Ausfluss eines gemeinschaftlichen Verkehrs oder einer gemeinschaftlichen Produktionsweise, zum anderen würden die Einschränkungen im Unterschied zur Gurt- und Helmpflicht nicht nur eine gewisse Lästigkeit auferlegen, sondern für viele ein Handeln, das eine ganze Lebensform prägt, zum Beispiel als Sportler, Intellektueller, Lebemann bzw. Lebefrau oder Gläubiger, vollständig verhindern. Die gegenwärtig in fast allen westlichen Ländern geltende Regelung, das Helm- und Gurttragen beim Betrieb von Kraftfahrzeugen zu gebieten, das Rauchen, den Alkoholgenuss sowie gefährliche Sportarten jedoch nicht zu verbieten und Bluttransfusionen oder generell medizinische Behandlungen nicht zu gebieten, erscheint also als eine gut begründete Grenzziehung des in seinen Folgerungen in dieser Fallgruppe leicht erweiterten weichen Paternalismus in einem normativ-individuaÂ� listischen bzw. liberalen Gemeinwesen. Sofern das Rauchen in geschlossenen Räumen wie Behörden oder Gaststätten untersagt wird, kann die ethische Begründung also keine
19 Vgl. Manfred Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, Berlin 1995. Föderale Systeme eröffnen allerdings die Möglichkeit, auf der Ebene von Gesamtstaat und Gliedstaaten zu partiell unterschiedlichen, jedoch jeweils ihrerseits für die jeweilige politische Gemeinschaft einheitlichen Regelungen zu gelangen.
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XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)
paternalistische gegenüber dem Raucher selbst sein, sondern nur eine allgemeinethische des Schutzes der Nichtraucher. Die andere Fallgruppe betrifft Einschränkungen des Verhaltens des Einzelnen, die zwar nicht durch Gefährdungen der gemeinschaftlich entwickelten und akzeptierten Verkehrs- und IndusÂ�triegesellschaft zu rechtfertigen, aber doch, wie die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen sowie das Verbot bestimmter lebensgefährlicher Drogen, durch einige Spezifika gekennzeichnet sind, und zwar folgende: Zum Ersten handelt es sich um Belange der Individualzone, also um Höchstgüter des Einzelnen, wie Leben, Leib und Gesundheit. Zum Zweiten geht es nicht nur um eine Gefährdung, wie bei der Helm- und Gurtpflicht, sondern um die tatsächliche, einigermaßen wahrscheinliche Zerstörung oder Schädigung dieser Belange der Individualzone bzw. dieser Höchstgüter. Aber das allein würde nicht ausreichen, denn die passive und indirekte Euthanasie sowie die Beihilfe zum Suizid sind zu Recht im Interesse der Betroffenen und im Sinne eines weichen Paternalismus straflos20 (Letztere in der Schweiz allerdings nur bei nicht selbstsüchtigen Motiven21). Die generelle Zulassung der Tötung auf Verlangen vereitelt aber zum einen die Interessen aller an einer gemeinsamen, humanistischen Lebensform des Ausschlusses der Tötung oder schweren Verletzung Unschuldiger durch Andere. Zum anderen erscheinen bei der Tötung auf Verlangen die Gefährdungen Vieler durch Missbräuche und Pressionen so groß, dass die Rechtsgemeinschaft den Schutz im Interesse aller Menschen durch ein Verbot gewährleisten darf. Die eigene Ausführung des Suizids beglaubigt die Freiheit und Ernsthaftigkeit seines Verlangens. Das letzte Argument ist allerdings kein paternalistisches mehr, sondern ein ganz normales Argument des Schutzes Anderer, so dass man die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen auch nichtpaternalistisch begründen kann, weil nicht nur der Schutz derjenigen, die eine Tötung begehren, sondern auch der Schutz derjenigen, die keine Tötung begehren, gewährleistet werden muss. Hier zeigt sich, wie stark paternalistische und nichtpaternalistische Begründungen insbesondere in der politischen Ethik und der RechtsÂ�ethik ineinander übergehen und wie schwierig derartige Abwägungen und Entscheidungen deshalb sind. Eine sehr spezifische Form der Tötung auf Verlangen, die aktive Euthanasie, das heißt die Tötung auf Verlangen unheilbar kranker, in absehbarer Zeit sterbender Menschen, wird im letzten Kapitel€noch erörtert.
20 BGHSt 40, 257 (passive Euthanasie); BGHSt 42, 305 (indirekte Sterbehilfe), BGHSt 46, 279 (Beihilfe zum Suizid). 21 § 115 des Schweizerischen StGB: „Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt wurde, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft.“
XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte Im Folgenden werden einzelne typische moralische Konflikte analysiert.1 Dies geschieht im Wesentlichen unter Beschränkung auf moralische Normen und Werte. Nur am Schluss des Kapitels wird kurz auf einen Konflikt zwischen Moral und Recht eingegangen. Ziel ist es, zu zeigen, wie sich die Ethik des normativen Individualismus angesichts dieser typischen moralischen Konflikte bewährt. Manche bezeichnen moralische Konfliktsituationen auch als „Dilemmata“.2 „Dilemmata“ klingt nach Ausweglosigkeit. Das erfordert eine Entscheidung, ob „Konflikte“ im Sinne von „Dilemmata“ verstanden werden sollen oder nicht. Man sollte sich zur Klärung dieser Frage noch einmal vergegenwärtigen, dass Konflikte in einem umfassenden Verständnis eines wenigstens potentiellen Widerstreits von Belangen keine Ausnahme bilden. Sie sind vielmehr die notwendige Voraussetzung jeder Moral und Ethik im engeren Sinn. Ist kein Widerstreit im Sinn einer Interessenkollision zu erwarten, so können die Beteiligten ihren individuellen Vorstellungen vom guten Leben und glücklichen Handeln frei folgen. Sie brauchen keine Moral und auch keine Ethik der Rechtfertigung der Moral bzw. anderer kategorischer Normordnungen wie Recht, Religion, Erziehung oder Politik. Werden aber Moral, Recht usw. erst durch das Ziel der Lösung intersubjektiver Konflikte konstituiert, so würde die Annahme einer generellen Ausweglosigkeit implizieren, dass sie ihren Zweck prinzipiell verfehlen würden. Dies wäre mit unserer empirischen Wahrnehmung dieser gesellschaftlichen Phänomene unvereinbar. Warum sollten sich die Menschen über Jahrtausende die Mühe mit sozialen Gestaltungen geben, die prinzipiell nicht funktionieren? Niemand wird das ernsthaft annehmen können. Die Frage, ob die Ethik generell ausweglos ist, wurde oben im Kapitel€VI schon im Zusammenhang mit dem Vorschlag einer objektivistischen Metaethik negativ beantwortet. In Frage kommt also allenfalls eine partielle Ausweglosigkeit. Versucht man sich klarzumachen, welche Typen von Konflikten hierfür in Frage kommen, so kann man an gegensätzliche, gleich starke Pflichten einer Person in einem bestimmten Konflikt denken. Diese gegensätzlichen, gleich starken Pflichten führen aber, wie sich in den Kapiteln VII und X ergab, nicht in die Ausweglosigkeit, sondern zur deontischen Alternative der Indifferenz, also der Erlaubnis bzw. Freistellung. Sie eröffnen damit den Raum für die Bewertung von Handlungen als supererogatorisch. 1 2
Vgl. zu praktischen Konflikten im Allgemeinen: Peter Baumannâ•›/â•›Monika Betzler (Hg.), Practical Conflicts. New Philosophical Essays, Cambridge 2004. Häufig wird die Verwendung des Ausdrucks „Dilemma“ auf den Konflikt von zwei Pflichten beschränkt. Die in der metaethischen Literatur diskutierte Frage, ob im Falle eines Dilemmas wirklich zwei Pflichten bestehen oder nur eine einzige als Ergebnis, scheint nicht mehr als ein Streit um Worte zu sein.
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XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte
Sind die gegensätzlichen Pflichten dagegen nicht gleich stark, so manifestiert sich hierin eben ein Gewichtsunterschied in der Abwägung der im jeweiligen Konflikt stehenden Belange, welcher für jede ethische Abwägung kennzeichnend ist und welcher zur alltäglichen Lösung führt, dass der stärkeren Pflicht entsprochen werden muss. Sieht man Pflichten nicht als Fundament der Ethik an, sondern nur als Realisationsformen der InterÂ� essen in der Abwägung bzw. der Abwägung selbst, so ist es nicht problematisch, derartige gegensätzliche Pflichten anzuerkennen. Was „Ausweglosigkeit“ bzw. „Dilemma“ darüber hinaus noch bezeichnen soll, ist fraglich. Es erscheint jedenfalls für eine normative Ethik als nicht besonders bedeutsam und soll deshalb hier nicht weiter diskutiert werden. Folgende Typen moralischer Konflikte lassen sich unterscheiden: 1. Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Akteurshandlung: eine Pflicht gegenüber einem Anderen 1.a) Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Beeinträchtigung durch den Akteur: eine Unterlassenspflicht 1.b) Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Hilfe durch den Akteur: eine Hilfspflicht 1.c) Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen an einer Gemeinschaft: eine Gemeinschaftspflicht 2. Zwei Pflichten gegenüber einem Anderen3 2.a) Zwei Unterlassenspflichten gegenüber einem Anderen 2.b) Zwei Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber einem Anderen 2.c) Eine Hilfs- bzw. Handlungs- und eine Unterlassenspflicht gegenüber einem Anderen 2.d) Eine Gemeinschaftspflicht und eine andere Pflicht gegenüber einem Anderen 3. Zwei Pflichten gegenüber zwei Anderen 3.a) Zwei Unterlassenspflichten gegenüber zwei Anderen 3.b) Zwei Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber zwei Anderen 3.c) Eine Unterlassens- und eine Hilfs- bzw. Handlungspflicht gegenüber zwei Anderen 3.d) Eine Unterlassenspflicht und eine Hilfserlaubnis gegenüber zwei Anderen 3.e) Eine Gemeinschaftspflicht und eine andere Pflicht gegenüber zwei Anderen 4. Mehrere Pflichten gegenüber drei und mehr Anderen 4.a) Unterlassenspflichten gegenüber drei und mehr Anderen 4.b) Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber drei und mehr Anderen 4.c) Unterlassens- und Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber drei und mehr Anderen 4.d) Eine Gemeinschaftspflicht und eine weitere Pflicht gegenüber drei und mehr Anderen 5. Kollision zwischen moralischen und rechtlichen Pflichten 3
Bei diesen Fällen wird angenommen, dass die Interessen des Akteurs nur eine untergeordnete Rolle spielen.
1. Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Akteurshandlung 321
1. Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Akteurshandlung a) Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Beeinträchtigung durch den Akteur: eine Unterlassenspflicht Fall 1.a): A zündet sich im Beisein von B eine Zigarette an. B verträgt den Rauch nicht und weist A darauf hin. Muss A seine Zigarette auslöschen? Es handelt sich um einen Konflikt zwischen einem Belang des Akteurs und einem Belang des Anderen bezüglich einer Beeinträchtigung durch den Akteur, also um einen Konflikt des Typs 1.a). Fraglich ist eine Unterlassenspflicht des Akteurs. Durch das Anzünden der Zigarette in Gegenwart des B überschreitet A die Grenze seines Interessenraums und dringt in den Interessenraum des Anderen ein. Mit der Gesundheit wird dabei ein Interesse der Individualzone des B tangiert, während A für seine Handlung nur ein Interesse der Relativzone ins Feld führen kann. Ob As Lustgewinn aus dem Rauchen größer ist als die Beeinträchtigung des B, ist folglich gleichgültig. B kann von A das Unterlassen des Rauchens verlangen, es sei denn, sie befinden sich in einem Raum, der ausdrücklich als Raucherbereich gekennzeichnet ist, oder sie sind im Freien und B kann sich ohne Weiteres entfernen, um dem Rauch zu entgehen.
b) Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Hilfe durch den Akteur: eine Hilfspflicht Fall 1.b): B droht im Fluss zu ertrinken. Muss A in den Fluss springen, um B zu retten? Es handelt sich um einen Konflikt zwischen einem Belang des Akteurs und einem Belang des Anderen bezüglich einer Hilfe durch den Akteur, also einen Konflikt des Typs 1.b). Fraglich ist, ob für den Akteur eine Hilfspflicht besteht. Sind sich A und B nicht bekannt, so hat A eine allgemeine Hilfspflicht gegenüber anderen Menschen, die sich aus der menschlichen Gemeinschaft ergibt. Das bedeutet: Er muss in den Fluss springen und Bs Leben als Belang der Individualzone retten, wenn ihm dies zumutbar ist.4 Er muss also eigene Belange der Relativzone zurückstellen. Er muss etwa nasse Kleider, den Zeitaufwand und auch eine gewisse marginale Gefahr für seine Gesundheit, die sein Interesse der Individualzone noch nicht wesentlich tangiert, in Kauf nehmen. A ist aber nicht dazu verpflichtet, sich in einen reißenden Fluss mit starker Strömung zu werfen, wenn das mit hohem Risiko für sein Leben verbunden ist. Wir würden dies allenfalls als supererogatorisch gut bewerten. Sind A und B dagegen verwandt, befreundet oder ist der A dem B aus anderen Gründen stärker verpflichtet (zum Beispiel als Erzieher, Mitglied der Wasserwacht, Verursacher des Unglücks usw.), so steigt die Grenze des
4
Jenseits der Ethik findet sich ein Erfordernis der Zumutbarkeit auch in § 323c Strafgesetzbuch: Unterlassene Hilfeleistung.
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XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte
Erforderlichen an. A muss eine größere Belastung und Gefahr in Kauf nehmen, um B zu retten, unter Umständen bis hin zu einer gravierenden Lebensgefahr.
c) Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen an einer Gemeinschaft: eine Gemeinschaftspflicht Fall 1.c): Die A will die Verlobung mit dem B auflösen. Darf sie das und was muss sie dabei beachten? Es handelt sich um einen Konflikt zwischen einem Belang des Akteurs und einem Interesse des Anderen an einer Gemeinschaft, also einen Konflikt des Typs 1.c). Aus der Verlobung als Gemeinschaft zwischen A und B erwachsen wechselseitige Pflichten, die Gemeinschaft zu fördern. Allerdings ist eine Verlobung von vornherein noch nicht auf unbegrenzte Dauer angelegt. Das ist der zentrale Unterschied zur Heirat. Beide Verlobten wissen das. A hat also zwar die Pflicht, eine Weiterführung der Gemeinschaft mit B ernsthaft zu prüfen, also die beiderseitigen Interessen der Relativzone an einem Zusammenleben zu bedenken. Sie darf sich aber aus der Verlobung lösen, wenn ihr das nach reiflicher Überlegung für sich selbst und beide der bessere Weg zu sein scheint. Dabei muss sie jedoch eine generelle Sorgfaltspflicht gegenüber dem Verlobten beachten, die sich in verschiedener Weise konkretisiert: Sie darf den Verlobten nicht unnötig verletzen, ihn nicht gegenüber Dritten abwerten, keine persönlichen Details weitererzählen, seine Sachen nicht behalten usw.
2. Zwei Pflichten gegenüber einem Anderen a) Zwei Unterlassenspflichten gegenüber einem Anderen Fall 2.a): Jemand steht vor der Alternative, einen Anderen zu belügen oder ihm eine sehr schmerzliche Mitteilung zu machen, mit der außerordentlich wahrscheinlichen Folge, dass dieser einen schweren Schock erleidet. Es handelt sich um einen Widerstreit zwischen zwei Unterlassenspflichten gegenÂ�über einer Person, also um einen Konflikt des Typs 2.a). Man ist sowohl verpflichtet, Andere nicht zu belügen, als auch, sie nicht gesundheitlich zu schädigen. Wenn den Anderen die Wahrheit persönlich betrifft€– etwa der Tod eines nahen Angehörigen –, so muss er sie erfahren. Er hat insofern ein Interesse der Relativzone. Allerdings gibt es keine Pflicht, Wahrheiten sofort auszusprechen. Ein gewisser Aufschub kann im Interesse der Individualzone des Betroffenen liegen, wenn seine Gesundheit gefährdet wird. Man muss einen günstigen Augenblick finden, ihn schonend darauf vorbereiten sowie psychologische und medizinische Hilfe bereithalten, um die Gesundheitsgefährdung auszuschließen. Betrifft den Anderen die Wahrheit nicht persönlich€– etwa bei einer Katastrophe in einem fernen Land –, so besteht keine Notwendigkeit, dass er sie erfährt. Man darf ihn zwar nicht belügen. Aber man darf jede Auskunft mit Verweis auf seine Gesundheitsge-
2. Zwei Pflichten gegenüber einem Anderen
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fährdung verweigern. Mag er sich die Information anderweitig beschaffen, wenn er sie trotz der Gefahr einer Selbstschädigung bekommen will.
b) Zwei Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber einem Anderen Fall 2.b): Ein Vater überlegt, ob er seinen volljährigen Sohn weiter finanziell unterstützen soll. Dies würde dazu führen, dass dieser sich auch in Zukunft nicht um den Aufbau einer eigenen Existenz bemühen wird. Es handelt sich um einen Konflikt zwischen zwei Hilfspflichten gegenüber einer Person, also einen Konflikt des Typs 2.b). Der Vater ist wegen seiner Verwandtschaft zu seinem Sohn zum einen verpflichtet, ihn finanziell zu unterstützen. Er ist aber zum anderen auch verpflichtet, den Aufbau einer eigenständigen Existenz des Sohnes zu fördern, um ihm ein selbständiges Leben zu ermöglichen. Beide Pflichten sind solche der Relativzone. Der Wille des Sohnes, weiter finanziell unterstützt zu werden, ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Dieser Gesichtspunkt kann aber nicht allein ausschlaggebend sein. Die Förderung eines selbständigen Lebens ist langfristig wichtiger als die Bequemlichkeit des Sohns. Man wird hier also die Pflicht zur Förderung des Aufbaus einer eigenen Existenz des Sohnes für vorrangig halten müssen. Der Vater sollte die weitere finanzielle Unterstützung zeitlich begrenzen und mit der Bedingung eigener Anstrengungen zur Sicherung des Lebensunterhalts verbinden. Er sollte dem Sohn Möglichkeiten bzw. Mittel zur Übernahme eigener Verantwortung zur Verfügung stellen, etwa in Form der Unterstützung einer Ausbildung, einer Tätigkeit im elterlichen Betrieb oder als Startkapital zur Gründung eines eigenen Unternehmens. Es kann allerdings natürlich Fallkonstellationen geben, bei denen die Selbständigkeit keine Priorität haben kann. So mag es in einer konstitutionellen Monarchie für die Kinder des Monarchen auch im Interesse der Bevölkerung wichtiger sein, ihre politisch-repräÂ�senÂ�tativen Aufgaben zu erfüllen und die wirtschaftliche Unselbständigkeit in Kauf zu nehmen.
c) Eine Hilfs- bzw. Handlungs- und eine Unterlassenspflicht gegenüber einem Anderen Fall 2.c): Ein Haus steht in Flammen. Der einzige Feuerwehrmann, der das Haus noch betreten konnte, ist nicht in der Lage, den stark übergewichtigen Bewohner zu tragen und so vor den Flammen zu retten. Er könnte ihn nur noch aus dem Fenster werfen. Verletzungen wären die unausweichliche Folge, weil kein Sprungtuch zur Verfügung steht. Hier besteht ein Konflikt zwischen einer Hilfs- und einer Unterlassenspflicht gegenüber einer Person, also ein Konflikt des Typs 2.c). Der Feuerwehrmann ist wegen seiner beruflichen Übernahme der Brandbekämpfung in besonderem Maße zur Hilfeleistung gegenüber dem durch Feuer Eingeschlossenen verpflichtet. Andererseits hat er aber auch eine Pflicht, Schädigungen Anderer zu vermeiden. Ein entscheidender Gesichtspunkt wird hier der Wille des Eingeschlossenen sein. Der Feuerwehrmann darf ihn nicht ge-
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XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte
gen seinen aktuellen Willen verletzen. Eine Hilfeleistung gegen den aktuellen Willen des Betroffenen ist nur in den im vorherigen Kapitel€dargestellten Grenzen des weichen Paternalismus zulässig. Allerdings darf er ihm natürlich gut zureden, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Ist der Eingeschlossene bewusstlos, so muss der Feuerwehrmann den früheren (was häufig kaum möglich sein wird) oder mutmaßlichen Willen des Betroffenen im Einzelfall ermitteln. Im Normalfall wird die Pflicht zur Hilfeleistung überwiegen, solange die Verletzung durch den Sturz aus dem Fenster nur leicht oder mittelschwer sein wird. Der Feuerwehrmann kann davon ausgehen, dass der Eingeschlossene einen entsprechenden mutmaßlichen Willen hat, wenn keine gegenteiligen Anhaltspunkte erkennbar sind. Würde der Sturz aus dem Fenster dagegen zu einer schweren Verletzung mit der hohen Wahrscheinlichkeit des Todes führen, so dass die Todeswahrscheinlichkeit annähernd gleich groß wie beim Verzicht auf die Rettung ist, gilt: Zwei gleichrangige Interessen der Individualzone stehen im Widerstreit. Die Pflicht zur Hilfeleistung und zum Unterlassen neutralisieren sich. Der Feuerwehrmann hat die Erlaubnis, eine der beiden Alternativen zu wählen.
d) Eine Gemeinschaftspflicht und eine weitere Pflicht gegenüber einem Anderen Fall 2.d): Ein untreuer Ehemann überlegt, ob er seiner Frau den Ehebruch gestehen soll, was sehr wahrscheinlich zum Ende der Ehe führen würde. Hier handelt es sich um einen Konflikt zwischen einer Unterlassens- und einer Gemeinschaftspflicht gegenüber einer Person, also einen Widerstreit des Typs 2.d) von zwei Belangen der Relativzone. Der Ehemann ist gegenüber seiner Frau grundsätzlich zur Wahrheit verpflichtet, da die Untreue seine Frau persönlich betrifft. Aber er ist im Interesse beider auch zur Förderung der Gemeinschaft angehalten. Deshalb mag es vielleicht Konstellationen geben, bei denen der starke Wille der Ehefrau, die Ehe fortzuführen, zu einem Überwiegen der Gemeinschaftspflicht führt, wenn es sich nur um einen einmaligen Fehltritt gehandelt hat, der die Ehe nicht in ihrer Substanz in Frage stellt.
3. Pflichten gegenüber zwei Anderen a) Zwei Unterlassenspflichten gegenüber zwei verschiedenen Anderen Fall 3.a): Bei einem Zug versagen die Bremsen und er rast ins Tal.5 Der Zugführer hat nur die Möglichkeit, den Zug durch Weichenstellung auf eines von zwei Gleisen zu 5
Hierbei handelt es sich um eine Variante der schon in Kapitel€ III, 9 in anderer Hinsicht diskutierten „Trolley Fälle“. Vgl. dort und Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S.€23; Judith J. Thomson, Killing, Letting Die, and the Trolley Problem; dies., The Trolley Problem.
3. Pflichten gegenüber zwei Anderen
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lenken. Auf beiden Gleisen befinden sich Personen, und zwar aa) in der ersten Variante jeweils eine fremde Person A auf dem einen und eine fremde Person B auf dem anderen Gleis, die jeweils getötet würden, bb) in der zweiten Variante jeweils eine fremde Person A auf dem einen und eine fremde Person B auf dem anderen Gleis, von denen die eine getötet, die andere lediglich verletzt würde, cc) in der dritten Variante jeweils eine fremde Person A auf dem einen und die eigene Tochter T auf dem anderen Gleis, die beide getötet würden, dd) in der vierten Variante jeweils eine fremde Person A auf dem einen und die eigene Tochter T auf dem anderen Gleis, von denen die fremde Person getötet, die eigene Tochter aber nur verletzt würde. Derartige Dreipersonenfälle erfordern zunächst eine sorgfältige Analyse der ethischen Grundverhältnisse und der verschiedenen, von den möglichen Handlungen betroffenen Interessen und Pflichten. Es besteht ein Konflikt zwischen Pflichten gegenüber zwei verschiedenen Personen, wobei mit dem Leben jeweils Belange der Individualzone in Frage stehen. Etwas zweifelhaft ist, ob man jeweils von Unterlassens- oder Hilfspflichten ausgehen muss. Da der Akteur als Lokführer für den potentiell schädigenden Zug verantwortlich ist und seinen Lauf auch noch umsteuern kann, wird man hier keine klare Trennung zwischen der Gefährdung bzw. Schädigung und der Hilfeleistung annehmen können, wie sie oben in den Fällen 1.b) und 2.b), der Rettung aus dem Fluss oder dem brennenden Haus, möglich war. Dann wird man davon ausgehen müssen, dass es sich im Kern um Unterlassenspflichten handelt. Folglich besteht ein Konflikt des Typs 3.a). Zwei Unterlassenspflichten gegenüber zwei verschiedenen Personen konkurrieren. Die Tatsache, dass der Zugführer im einen Fall dem Geschehen nur seinen Lauf lassen und im anderen Fall die Weiche verstellen, also aktiv tätig werden muss, kann angesichts der Gesamtkonstellation der drohenden Schädigung durch den Zug nicht von Bedeutung sein. In der Variante aa) sind beide Unterlassenspflichten bzw. Schädigungsverbote gleich stark, da in beiden Fällen die Lebensrettung in Frage steht. Die Pflichten neutralisieren sich somit wechselseitig. Der Zugführer hat die Erlaubnis, die Weiche umzustellen oder nicht und so die Schädigung des A oder des B zu vermeiden. In der Variante bb) macht die überwiegende Schwere der Beeinträchtigung der Interessen der Individualzone die Lebensrettung des A zur Pflicht. In der Variante cc) kommt zur Unterlassenspflicht gegenüber beiden Personen noch eine zusätzliche spezifische Verpflichtung gegenüber der Tochter T aus dem engen Verwandtschaftsverhältnis hinzu. Der Zugführer ist seiner Tochter stärker verpflichtet als dem fremden A. Im Normalfall gilt allerdings, dass bei Unterlassenspflichten gegenüber Anderen spezifische Nähebeziehungen zwischen Personen nicht zum Nachteil einzelner Betroffener wirken dürfen. In der Moral darf es wie im Recht keine Vereinbarungen zulasten Dritter ohne deren Zustimmung geben. Jeder Mensch muss ungeachtet spezifischer Verhältnisse zwischen dem Akteur und Dritten in gleicher Weise vor Schädigungen durch den Akteur bewahrt werden. Die Rechtfertigung liegt darin, dass Unterlassenspflichten anders als Hilfspflichten nicht durch Näheverhältnisse begründet werden. Sie bestehen aufgrund der fairen Abgrenzung der Interessenräume der Betroffenen. Diese Regel wird allerdings in der vorliegenden speziellen Variante cc) nicht ausschlaggebend, denn unabhängig von der Nähebeziehung sind für den Zugführer die Pflichten zur Le-
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XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte
bensrettung gegenüber A und T gleichrangig. Hat der Zugführer aber unabhängig von der Nähebeziehung die Erlaubnis, entweder A oder T nicht zu schädigen, dann darf er die Nähebeziehung zu T berücksichtigen und muss es im Innenverhältnis gegenüber seiner Tochter sogar. Er muss also seine Tochter T retten. In der Variante dd) sind nun die Unterlassenspflichten wie bei Variante bb) nicht gleich stark. Die Interessen gehören zwar jeweils zur Individualzone. Aber das Interesse an der Lebenserhaltung hat wegen der Endgültigkeit des Todes im Regelfall Vorrang. Dies gilt zwar, wie wir sahen, nicht bei eigener Beteiligung, das heißt niemand muss schwere Verletzungen zur Rettung des Lebens Anderer auf sich nehmen. Aber es gilt durchaus, wenn ein Anderer ohne eigene Gefährdung handelt. Der Zugführer ist also grundsätzlich dazu verpflichtet, den fremden A nicht zu töten. Die Nähebeziehung zu seiner Tochter T darf bei Unterlassenspflichten nicht zulasten des fremden Dritten wirken, wenn die grundlegende Verpflichtung gegenüber ihm stärker ist.
b) Zwei Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber zwei verschiedenen Anderen Fall 3.b): Ein Haus steht in Flammen. Jemand kann von zwei Personen nur eine retten. In dem Haus befinden sich aa) zwei Fremde A und B, bb) ein Fremder A und ein Freund F, cc) ein Fremder A und ein Freund F, wobei die Rettungschance für den A besser ist als für den bereits bewusstlosen F, dd) ein Fremder A und ein Freund F, wobei A vor dem Tod gerettet würde, während F sich nicht in Lebensgefahr befindet, aber vor Verletzungen bewahrt würde. Es handelt sich um einen Widerstreit der Belange vom Typ 3.b). Zwei Hilfspflichten gegenüber verschiedenen Personen im Hinblick auf Belange der Individualzone konkurrieren. In der Variante aa) sind beide Hilfspflichten gleich stark und neutralisieren sich. Dem Akteur ist es erlaubt zu wählen, ob er A oder B retten will. Die Variante bb) ähnelt der Variante cc) des vorigen Falls 3.b), allerdings mit dem Unterschied, dass es sich nicht um Unterlassungs-, sondern um Hilfspflichten handelt. Hier stellt sich die Frage, ob wie bei Unterlassenspflichten auch bei Hilfspflichten die spezifische Nähebeziehung unbeachtlich bleiben muss. Dies ist deshalb nicht der Fall, weil die Hilfspflichten anders als die Unterlassenspflichten nicht nur aus der gleichen Berücksichtigung der Individuen in abgegrenzten Interessenräume erwachsen, sondern zusätzlich tatsächlich bestehende Näheverhältnisse zwischen Akteur und Anderem zur Voraussetzung haben. Der Akteur darf bzw. muss Personen, die ihm näher stehen, regelmäßig in stärkerem Maße helfen als Fremden. Das bedeutet: Die Hilfspflicht des engeren Verhältnisses zu dem Freund F ist stärker. In Variante bb) besteht also nicht nur eine Berechtigung, sondern sogar eine Verpflichtung, den Freund F zu retten. Dabei gibt es allerdings eine Grenze der Abwägung. Der Retter müsste A retten, wenn dessen Rettung aussichtsreich wäre, während die des Freundes F praktisch kaum Aussicht auf Erfolg hätte. Die Nähebeziehung ist also ein zusätzlicher Gewichtungsfaktor in der Abwägung. Sie ist aber nicht allein entscheidend. Das zeigt sich in Variante cc). Hier neu-
3. Pflichten gegenüber zwei Anderen
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tralisiert die höhere Rettungschance für A die stärkere Rettungsverpflichtung gegenüber F, so dass die Situation wieder offen ist. Der Retter darf wählen, wen er retten will. Wenn Lebensrettung gegen Hilfe vor Verletzung steht, so kommt der Lebensrettung durch Dritte eine höhere Bedeutung zu. Der Handelnde muss also in Variante dd) den A retten. Die Nähebeziehung kann hier die unterschiedliche Stärke der Hilfspflichten nicht aufheben.
c)€Eine Unterlassens- und eine Hilfs- bzw. Handlungspflicht gegenüber zwei verschiedenen Anderen Fall 3.c) aa): Kants Lügenbeispiel:6 Ein Mörder klopft an die Tür und fragt den Hauseigentümer, ob sich sein prospektives Opfer im Haus befindet. Muss der Hauseigentümer die Wahrheit sagen, mit der Folge, dass der Mörder sein Opfer im Haus töten wird? Kant hat dies mit Verweis auf die Absolutheit des Lügenverbots bejaht. Eine sorgfältige Analyse der Situation zeigt, dass es sich um einen Konflikt zwischen einer Unterlassenspflicht gegenüber einer Person, und einer Hilfspflicht gegenüber einer anderen Person, also einen Widerstreit des Typs 3.c) handelt. Der Hauseigentümer ist dem Mörder zur Wahrheit, also zum Unterlassen der Lüge verpflichtet, wobei es sich um einen Belang der Relativzone handelt. Er ist aber gleichzeitig auch dem Opfer im Haus zur Hilfe gegenüber der Lebensgefährdung durch den Mörder verpflichtet, also hinsichtlich eines Belangs der Individualzone. Wer einem Mörder den Aufenthaltsort seines Opfers offenbart, missachtet seine Hilfspflicht gegenüber dem Opfer. Unabhängig vom Konflikt der Pflichten ist in dem Beispiel schon fraglich, ob man hier wirklich eine Auskunftspflicht gegenüber dem Mörder annehmen soll. Warum muss man einer fremden Person, die an der Haustür klingelt, mitteilen, wer im Haus ist? Das geht ihn im Normalfall nichts an. Darüber hinaus gilt: Die Frage des Mörders müsste allenfalls wahrheitsgemäß beantwortet werden, wenn man sich trotz fehlender Verpflichtung zu einer Antwort entschließt und sie nicht unter der Drohung stünde, sich gewaltsam Zugang zum Haus zu verschaffen. Niemand ist verpflichtet, eine Frage zu beantworten oder gar wahrheitsgemäß zu beantworten, die mit einer moralisch verwerflichen Drohung gestellt wird. Die Verbindung einer Frage mit einer moralisch verwerflichen Drohung hebt regelmäßig den Anspruch auf Auskunft und auf Wahrheit auf, denn der Drohende dringt ungerechtfertigt in den Interessenraum des Anderen ein. Als Akte der Notwehr sind dann das Schweigen oder sogar das Sagen der Unwahrheit gerechtfertigt. Wer also etwas gefragt wird und bei einer positiven Antwort mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine ethisch bzw. moralisch höchst verwerfliche Reaktion in Form eines Hausfriedensbruchs oder gar Mordes zu erwarten hat, darf die Antwort aus Gründen der Notwehr verweigern oder die Unwahrheit sagen, soweit er der Drohung nicht anders ausweichen kann. Dem steht auch das Verallgemeinerungsprinzip nicht entgegen, weil die soziale Institution des Vertrauens auf die Aussagen An6
Immanuel Kant, Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen.
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XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte
derer nicht dadurch zerstört wird, dass man gegenüber Drohungen Notwehr übt, indem man schweigt oder die Unwahrheit sagt. Das Verschweigen der Wahrheit ist hier somit schon unabhängig von der Hilfspflicht gegenüber dem Opfer im Verhältnis Hauseigentümer€– Mörder gerechtfertigt. Betrachtet man nun den Konflikt zwischen der Unterlassenspflicht gegenüber dem Mörder und der Hilfspflicht gegenüber dem Opfer, so gilt: Grundsätzlich sind Unterlassenspflichten vorrangig, wenn es sich um Interessen mit vergleichbarem Gewicht handelt (vgl. oben Kapitel€IX, 2). Man darf also keinen Unschuldigen töten, um einen Anderen vor dem Tod zu bewahren. Das im vorliegenden Fall periphere Interesse, nicht belogen zu werden, wiegt allerdings als relativ schwaches Interesse der Relativzone selbstredend viel geringer als das Interesse der Individualzone des Opfers, am Leben zu bleiben. Der Hauseigentümer hat hier somit nicht nur die Erlaubnis, sondern sogar die Pflicht, das Leben des Opfers vor dem Mörder zu schützen. Er muss die Antwort verweigern oder€– falls das sehr wahrscheinlich zum Eindringen des Mörders in das Haus führen würde€– die Unwahrheit sagen. Bei diesem Ergebnis handelt es sich nicht um eine konsequentialistische Maximierung, sondern um eine Abwägung der Belange der jeweils Betroffenen im Rahmen der normativ-individualistischen Ethik. Fall 3.c) bb):7 Heinz’ Frau ist lebensbedrohlich erkrankt. Der einzige Apotheker am Ort ist aus einem bestimmten Grund nicht bereit, das lebensrettende Medikament herauszugeben (mangelnde Bezahlung, fehlendes Rezept usw.). Heinz könnte seiner kranken Frau nur helfen, indem er in die Apotheke einbricht und das Medikament stiehlt. Darf er das? Eine Analyse der Konstellation ergibt, dass ein ethisches Grundverhältnis zwischen Heinz und der Frau und zwischen Heinz und dem Apotheker sowie dem Apotheker und der Frau besteht. Dabei handelt es sich um einen Konflikt zwischen einer Hilfsund einer Unterlassenspflicht gegenüber zwei verschiedenen Personen, einen Konflikt des Typs 3.c). Heinz ist seiner Frau aufgrund ihres engen Näheverhältnisses zur Hilfe im Rahmen ihrer Krankheit verpflichtet. Er muss seine Frau mit allen möglichen Mitteln am Leben erhalten, also ihr Interesse der Individualzone erfüllen. Heinz ist aber auch dem Apotheker zum Unterlassen des Einbruchs verpflichtet. Das Eigentum des Apothekers als Belang der Relativzone darf nicht verletzt werden. Der Konflikt besteht also darin, dass Heinz gleichzeitig verpflichtet ist, seiner Frau zu helfen und den Apotheker nicht zu schädigen. Grundsätzlich genießt die Unterlassenspflicht gegenüber einer Person Vorrang vor der Hilfspflicht gegenüber einer anderen Person. Niemand muss sich zum Mittel machen lassen, um einem Dritten zu helfen. Aber dieser Grundsatz gilt nicht uneingeschränkt. Der zentrale Gesichtspunkt zur Lösung ist hier neben der Zugehörigkeit der in Rede stehenden Belange zu unterschiedlichen Zonen, dass ja zwischen dem Apotheker und der kranken Frau ein weiteres ethisches Grundverhältnis mit einer Hilfspflicht besteht. Der Apotheker ist selbst der kranken Frau zur Hilfe mittels des Medikaments verpflichtet. Würde die Frau statt ihres Mannes zur Apotheke gehen, so 7
Vgl. zu einer ausführlicheren Fassung dieses Dilemmas: Lawrence Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a.M. 1996, S.€495.
3. Pflichten gegenüber zwei Anderen
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müsste er ihr das Medikament auch ohne Rezept oder Bezahlung aushändigen, wenn keine rasche und wirksame Hilfe zur Lebensrettung auf eine andere Weise möglich wäre. Diese Pflicht ist zwar anders als bei der Pflicht von Heinz gegenüber seiner Frau nicht durch ein enges Näheverhältnis geprägt. Aber im Vergleich zur allgemeinen Hilfspflicht gegenüber Fremden ist sie dadurch gesteigert, dass der Apotheker durch die Ausübung seines Berufs für die Allgemeinheit die Funktion der helfenden Versorgung mit Medikamenten übernommen hat. Um das Leben der Frau zu retten, müsste der Apotheker deshalb sogar bestimmte Schäden an eigenen GegenÂ�ständen in Kauf nehmen, etwa einen Schrank, in dem sich das Medikament befindet und zu dem der Schlüssel fehlt, aufbrechen. Muss aber der Apotheker selbst der kranken Frau helfen und sogar Beschädigungen an eigenen Gegenständen in Kauf nehmen, dann wird man auch Heinz eine vergleichbare Hilfe zu erlauben haben, sofern eine Lebensrettung nicht anders möglich ist. Die Unterlassenspflicht gegenüber dem Apotheker ist für Heinz nicht stärker als die Hilfspflicht gegenüber seiner Frau. Heinz darf also seiner Frau durch den Diebstahl des lebensrettenden Medikaments helfen. Die weitergehende Frage lautet: Muss er dies auch? Ist er also sogar verpflichtet, einen Einbruch zu begehen, um seiner Frau zu helfen? Zur Antwort ist zu überlegen, wie hoch man die Freiheit des Einzelnen einzuschätzen hat, nicht zu grundsätzlich moralisch mißbilligenswerten Handlungen wie einem Einbruch verpflichtet zu werden. Diese Freiheit wird man sicher sehr hoch einschätzen müssen. Heinz wäre also nicht zu einem Einbruch verpflichtet, um ein lediglich gesundheitsförderndes oder schmerzlinderndes Medikament zu beschaffen. Aber ist die Freiheit, nichts moralisch an sich Mißbilligenswertes zu tun, also ein Belang der Relativzone, höher einzuschätzen als die Pflicht zur Rettung des Lebens einer nahestehenden Person, also zur Erfüllung eines gewichtigen Belangs der Individualzone? Wohl kaum. Heinz ist hier also sogar verpflichtet, das lebensrettende Medikament auch durch Einbruch zu beschaffen. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist dabei in moralischer Hinsicht, dass Heinz keine strafrechtliche Verurteilung zu erwarten hat, weil seine Tat aufgrund der Regeln des Notstands gemäß § 34 StGB strafrechtlich gerechtfertigt wäre.
d) Eine Unterlassenspflicht und eine Hilfserlaubnis gegenüber zwei verschiedenen Anderen Fall 3.d): Aus Mark Twains Roman Tom Sawyer und Huckleberry Finn“8: Becky und Tom sind Schüler in einem kleinen Städtchen in den amerikanischen Südstaaten. Becky hat verbotenerweise in der Pause ein Pult des Lehrers geöffnet und in dessen Buch geblättert. Als Tom überraschend in das Klassenzimmer stürzt, reißt sie vor Schreck versehentlich eine Seite des Buches ein. In der folgenden Schulstunde bemerkt der Lehrer die Beschädigung. Er fragt jedes Kind einzeln, ob es die Seite eingerissen hat. Den Schuldigen bzw. die Schuldige erwartet eine Tracht Prügel, ohne dass man annehmen 8
Mark Twain, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, München 1976, S.€143â•›ff.
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XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte
kann, dass der Lehrer bei der Beurteilung der Tat zwischen Vorsatz, Fahrlässigkeit und Versehen unterscheiden wird. Als der Lehrer Becky zu fragen beginnt, steht Tom auf und sagt: „Ich war’s“. Er erhält daraufhin die Tracht Prügel. Das Motiv für seine Lüge wird nicht ganz deutlich. Es besteht wohl aus einer Mischung von Mitleid, Hilfsbereitschaft und Geltungsbedürfnis. Beckys Vater, der Friedensrichter, lobt Toms Tat. In diesem Fall bestehen drei ethische Grundverhältnisse, das Verhältnis Becky-Lehrer, Tom-Lehrer und Tom-Becky. Zu einer Bewertung muss man die einzelnen Verhältnisse sorgfältig analysieren. Zum Verhältnis Becky-Lehrer: Das Öffnen des Pults und das Lesen des Buches waren moralisch falsch, aber keine sehr schwerwiegenden Verfehlungen, sondern allenfalls periphere Beeinträchtigungen von Belangen der Relativzone. Das Einreißen der Seite war dagegen nur eine fahrlässige Sachbeschädigung.9 Fraglich ist bereits, ob eine derartige fahrlässige Sachbeschädigung an einem geringwertigen Gut moralisch sehr verwerflich ist und eine strenge Bestrafung rechtfertigt. Das wird man verneinen müssen. Fraglich ist weiterhin, ob Lehrer ihre Schüler schlagen dürfen. Das wird man ebenfalls verneinen müssen, weil hier Belange der Individualzone missachtet werden. In jedem Fall wäre es aber ungerechtfertigt, Becky zu schlagen, ohne sie vorher anzuhören und ihre bloße Unachtsamkeit mildernd zu berücksichtigen. Daraus folgt: Da das Verschweigen der Wahrheit das einzige Mittel war, um die moralisch ungerechtfertigte Bestrafung durch den Lehrer abzuwenden, wäre sie als Mittel der Notwehr gegen die drohende Körperverletzung erlaubt gewesen. Zum Verhältnis Tom-Becky: Die Störung Beckys fand im Klassenzimmer als öffentlichem Raum statt und war darum moralisch nicht falsch. Aus moralisch zu missbilligendem Vorverhalten erwächst Tom also keine gesteigerte Hilfspflicht gegenüber Becky, die über die allgemeine Hilfspflicht gegenüber einer Klassenkameradin hinausginge. Immerhin war die Störung aber das äußere Ereignis, das Beckys Beschädigung des Buches kausal mit herbeigeführt hat. Damit stellt sich die Frage, ob man aus einem nicht verwerflichen, aber zumindest kausal mitentscheidenden Vorverhalten stärker zur Hilfe verpflichtet ist. Hat der Autofahrer, dessen Reifen ohne eigenes Verschulden platzt und der deshalb einen Unfall verursacht, dem verletzten Anderen in gesteigerter Weise zu helfen? Man wird das wohl bis zu einem gewissen Grade bejahen müssen. Durch die Schädigung des Anderen wurde zwar nicht vorsätzlich oder fahrlässig und damit schuldhaft in dessen Betroffenheitsraum eingegriffen. Der Eingreifer ist also nicht im Sinne eines Schuldigen verantwortlich. Aber es liegt immerhin ein tatsächlicher Übergriff in die Interessensphäre des Anderen vor. Das allgemeine Lebensrisiko des Anderen aktualisiert sich gerade durch das Verhalten des Akteurs. Dann wird man annehmen müssen, dass der Akteur in gesteigertem Maße zur Hilfeleistung verpflichtet ist. Diese Steigerung der Hilfspflicht erreicht nicht das Maß, das sich bei schuldhaftem Vorverhalten oder der Übernahme spezifischer Verantwortung durch Beruf oder Näheverhältnis ergäbe. Aber eine gewisse Erhöhung ist zu bejahen. 9
Nach den §§ 303, 15 StGB, ist die fahrlässige Sachbeschädigung von einfachen Gütern im Gegensatz zur vorsätzlichen nicht strafbar.
3. Pflichten gegenüber zwei Anderen
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Diese leicht gesteigerte Hilfspflicht geht jedoch in keinem Fall soweit, selbst die ungerechte Bestrafung durch den Lehrer auf sich zu nehmen. Eine derartige Verpflichtung wäre nur anzunehmen, wenn der Schaden durch die Tracht Prügel für Becky und für Tom völlig divergieren würde, wenn die Tracht Prügel für Tom zum Beispiel nur eine kleine Unannehmlichkeit bedeuten würde, für Becky wegen ihrer sehr schwachen Konstitution aber lebensbedrohlich wäre. Stimmt Becky zu, ist es Tom aber natürlich erlaubt, die Bestrafung auf sich zu nehmen. Er handelt insofern in Nothilfe. Es bestand also eine Hilfserlaubnis. Die Übernahme der Prügel durch Tom ist eine supererogatorische Handlung. Zum Verhältnis Tom-Lehrer: Tom ist gegenüber dem Lehrer verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Aber gleichzeitig darf er Becky gegenüber der überzogenen körperlichen Bestrafung durch den Lehrer helfen. Es handelt sich also um einen Konflikt des Typs 3.d) zwischen einer Unterlassenspflicht der Relativzone und einer Hilfserlaubnis der Individualzone. Grundsätzlich geht die Unterlassenspflicht vor. Das gilt aber nicht, wenn die Hilfspflicht Belange der Individualzone betrifft, während sich die Unterlassenspflicht nur auf Belange der Relativzone richtet. Und es gilt auch dann nicht, wenn derjenige, der Anspruch auf das Unterlassen hat, sich seinerseits moralisch falsch verhält und nur durch die Hilfe daran gehindert werden kann. Wenn also eine Vermeidung der ungerechtfertigten Bestrafung durch den Lehrer nur möglich ist, indem Tom an Stelle von Becky die Unwahrheit sagt, so darf er das, wenn Becky ihrerseits die Unwahrheit sagen durfte. Toms Nothilfe für Becky war also nicht nur mutig und selbstlos, sondern als überpflichtgemäßes Handeln auch moralisch erlaubt und lobenswert. Das Lob des Friedensrichters war somit berechtigt.
e) Eine Gemeinschaftspflicht und eine andere Pflicht gegenüber zwei verschiedenen Anderen Fall 3.e): Ein Sohn lebt bei seiner kranken Mutter, die er pflegen muss. Er verspricht aber auch seiner Geliebten, sie zu heiraten und zu ihr zu ziehen. Es handelt sich um einen Konflikt zwischen der Gemeinschaftspflicht gegenüber seiner Mutter und der Pflicht, das Versprechen gegenüber seiner Geliebten zu erfüllen (eine Art Hilfspflicht), also um einen Widerstreit des Typs 3.e) zwischen zwei etwa gleich starken Pflichten der Relativzone. Der Sohn ist zwar aufgrund verwandtschaftlicher Nähe verpflichtet, die Gemeinschaft mit seiner Mutter zu fördern. Er ist aber nicht verpflichtet, die Wohngemeinschaft mit ihr unbefristet aufrechtzuerhalten. Er darf die gemeinsame Wohnung mit seiner Mutter vielmehr aufgeben. Aus der Gemeinschaft mit seiner Mutter ergibt sich allerdings die Pflicht, dies in möglichst schonender Art und Weise zu tun und auch einen gewissen Aufschub in Kauf zu nehmen. Er muss überdies die weitere Pflege seiner Mutter sicherstellen. Wenn sich keine andere Lösung findet, wird er die Mutter zu sich nehmen oder von seiner neuen Wohnung aus pflegen müssen. Der Sohn ist des Weiteren verpflichtet, sein Eheversprechen gegenüber seiner Geliebten einzuhalten. Das Eheversprechen geht hier wohl, allerdings abhängig von der
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XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte
konkreten Ausgestaltung des Falls, der Gemeinschaftspflicht gegenüber seiner Mutter vor, wobei die soeben genannten Einschränkungen gelten. Allerdings ist klar, dass es kein absolut bindendes Eheversprechen geben kann. Sollte sich herausstellen, dass die beiden Partner doch nicht zueinander passen, darf er sein Eheversprechen lösen.
4. Pflichten gegenüber drei und mehr Anderen a) Unterlassenspflichten gegenüber drei und mehr Anderen Fall 4.a): Wie bei Fall 3.a) versagen bei einem Zug die Bremsen und er rast ins Tal. Der Zugführer hat nur die Möglichkeit, die Weiche umzustellen und den Zug auf ein anderes Gleis zu lenken. Auf beiden Gleisen befinden sich Personen und zwar aa) mehrere Personen auf dem einen Gleis und eine Person auf dem anderen Gleis, die jeweils getötet würden, bb) zwei Personen auf dem einen Gleis und die eigene Tochter auf dem anderen Gleis, die jeweils getötet würden. Hier handelt es sich um einen Konflikt zwischen Unterlassenspflichten gegenüber mehreren Personen, also einen Konflikt des Typs 4.a). In der Variante aa) stehen sich jeweils gleich starke und damit gleichrangige Unterlassenspflichten bezüglich Interessen der Individualzone gegenüber. In einem solchen Fall muss die Anzahl der Pflichten€– wie sich oben in Kapitel€III, 10 ergab€– den Ausschlag geben. Der Zugführer ist verpflichtet, die mehreren Personen auf dem einen Gleis zu retten. In der Variante bb) stellt sich wiederum die Frage, ob das Verwandtschaftsverhältnis zur Tochter ein anderes Handeln erlaubt oder sogar gebietet. Wie oben im Fall 3.a) dürfen auch hier bei Unterlassenspflichten persönliche Näheverhältnisse nur bei wechselseitiger Neutralisierung der gleichrangigen Pflichten durchschlagen. Eine solche wechselseitige Neutralisierung besteht im vorliegenden Beispiel aber wegen der überwiegenden Anzahl der Pflichten gegenüber der Mehrzahl der Personen auf dem einen Gleis nicht. Der Zugführer ist auch in der Variante bb) verpflichtet, die mehreren Personen auf dem einen Gleis zu retten.
b) Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber drei und mehr Anderen Fall 4.b): Wie bei Fall 3.b) steht ein Haus in Flammen. Jemand kann entweder eine Person aus einem Zimmer retten oder mehrere andere Personen aus einem anderen Zimmer. Es handelt sich aa) im anderen Zimmer um zwei Personen, wobei alle Personen Fremde sind, bb) bei der einen Person um die eigene Tochter, bei den anderen Personen um zwei Fremde, cc) bei der einen Person um die eigene Tochter, bei den anderen Personen um mehrere hundert Fremde in einem Großraumbüro. In diesem Fall besteht ein Konflikt des Typs 4.b). Mehrere Hilfspflichten gegenüber verschiedenen Personen hinsichtlich Belangen der Individualzone konkurrieren.
4. Pflichten gegenüber drei und mehr Anderen
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Neutralisieren sich Hilfspflichten wegen gleicher Gewichtigkeit, dann ist die Anzahl der Pflichten im Hinblick auf die Mehrzahl der Betroffenen zu berücksichtigen. In der Variante aa) sind also die beiden Personen zu retten. In der Variante bb) darf das persönliche Näheverhältnis zur Tochter dagegen den Ausschlag geben, da es sich nur um eine Konkurrenz von Hilfspflichten, nicht wie im obigen Zugbeispiel um einen Konflikt von Unterlassenspflichten handelt. Der Mann darf also seine Tochter retten und die zwei Fremden umkommen lassen. Allerdings wird man keine Verpflichtung zur Rettung der Tochter annehmen können, weil die Mehrzahl der Pflichten gegenüber den mehreren Personen in dem anderen Zimmer die stärkere Hilfspflicht gegenüber der Tochter neutralisiert. Der Handelnde hat also eine Erlaubnis, aber keine Pflicht zur Rettung seiner Tochter. In der Variante cc) wird dagegen die Vielzahl der schwächeren Hilfsgebote gegenüber den Fremden in der Summe gewichtiger sein als das stärkere Hilfsgebot gegenüber der Tochter. Der Handelnde muss die mehreren hundert Menschen in dem Großraumbüro retten. Wo aber genau die Grenze verläuft, ab der die Mehrzahl der schwächeren Hilfsgebote gegenüber den Fremden gewichtiger ist als das stärkere Hilfsgebot gegenüber der Tochter, ist fraglich.
c)€Unterlassens- und Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber drei und mehr Anderen Fall 4.c) aa): Bernard Williams’ Pedro-Beispiel:10 Jim kommt in eine Stadt in Südamerika. Auf dem Hauptplatz will Hauptmann Pedro mit seinen Soldaten zwanzig Indianer zum Zweck der willkürlichen Maßregelung erschießen. Jim wird als Gast eine besondere Ehre zuteil. Hauptmann Pedro bietet ihm das Privileg an, selbst einen Indianer zu töten. Die restlichen würden dann zur Feier des Tages freigelassen. Jim steht also vor der Alternative, eigenhändig einen der Indianer zu töten und dadurch die neunzehn anderen zu retten oder dem Geschehen, also der Tötung der zwanzig Indianer durch Pedro, seinen Lauf zu lassen. Was soll er tun? Jim befindet sich in einem Konflikt zwischen einer Hilfs- und einer Unterlassenspflicht der Individualzone gegenüber mehreren Personen, also einem Konflikt des Typs 4.c). Jim ist gegenüber dem einen Indianer, den er töten müsste, also dem Opfer, zur Unterlassung der Tötung verpflichtet. Er ist aber gleichzeitig gegenüber allen Indianern zur Hilfe vor der ungerechtfertigten Ermordung durch Pedro genötigt. Hier ist wiederum eine sorgfältige Situationsanalyse erforderlich. Diese verlangt eine Aufspaltung in die verschiedenen ethischen Grundverhältnisse. Diese Grundverhältnisse sind: Jim-Opfer, Jim-zwanzig Indianer, Jim-Pedro, Pedro-zwanzig Indianer, Opferandere neunzehn Indianer. Zum Verhältnis Jim-Opfer: Gegenüber dem Opfer besteht ein Tötungsverbot.
10 Bernard Williams, A Critique of Utilitarianism, S.€98╛f.
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XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte
Zum Verhältnis Jim-zwanzig Indianer: Die Indianer sind für Jim Fremde. Das bedeutet: Er hat ihnen gegenüber eine schwache allgemeine Hilfspflicht zur Rettung. Zum Verhältnis Pedro-zwanzig Indianer: Es besteht ein Tötungsverbot. Zum Verhältnis Jim-Pedro: Gibt es eine Verpflichtung, Pedro von seinem Handeln abzuhalten? Eine solche Verpflichtung besteht kaum gegenüber Pedro, sondern nur gegenüber den zwanzig Indianern. Zum Verhältnis Opfer-andere neunzehn Indianer: Zwischen den Indianern bestand vorher eine Gemeinschaft. Jetzt befinden sie sich angesichts von Pedros Drohung in einer Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten. Dann erhebt sich die Frage: Ist einer der Indianer selbst verpflichtet, sich für die anderen zu opfern? Die Antwort lautet: Nein. Niemand muss sein Leben für andere opfern (sondern allenfalls wie Polizisten und Soldaten unter bestimmten Voraussetzungen eine Gefährdung in Kauf nehmen). Keine Hilfspflicht und auch keine Gemeinschaftspflicht gehen so weit. Ist es den anderen Indianern aber erlaubt, einen aus ihren Reihen zu ihrer eigenen Rettung zu opfern, wenn sonst alle umkämen? Dieser Konflikt ähnelt den oben in Kapitel€ III, 9 bereits diskutierten Lawinen- und Seenotfällen. Im Lawinenfall war die Ablenkung der Lawine zur Reduzierung der Opferzahl innerhalb der Schicksalsgemeinschaft durch einen Dritten als zulässig angesehen worden, da es sich nur um eine indirekte Instrumentalisierung der Mitglieder einer einzigen Schicksalsgemeinschaft handelt. Im Seenotfall war dagegen das Verspeisen eines Passagiers zur Rettung der restlichen Besatzung als direkte Instrumentalisierung nicht für gerechtfertigt gehalten worden, weil hier eine direkte Instrumentalisierung vorliegt. Allerdings ist in unverschuldeten Notsituationen die Überschreitung des Betroffenheitsraums zur Rettung der vielen entschuldigt, sofern alle todgeweiht sind. Fraglich muss im Pedro-Fall nun sein, ob die Drohung durch einen Dritten eine den Rettungsboots- und Lawinenfällen vergleichbare Situation darstellt, weil es sich ja nicht um einen unabwendbaren Unglücksfall, sondern um ein bewusstes verwerfliches Tun seitens dieses Dritten handelt. Trotzdem wird man den Fall der glaubwürdigen Drohung des Dritten bei ähnlicher Wahrscheinlichkeit wohl diesen Fällen zunächst gleichstellen müssen, auch wenn im Falle des zukünftigen Handelns eines Menschen eine ähnliche Wahrscheinlichkeit wie bei naturgesetzlich bestimmten Unglücksfällen nicht besteht. Jim befindet sich in folgendem Konflikt: Er darf den einen Indianer nicht töten, muss aber gleichzeitig den anderen Indianern helfen. Dies geht nur durch die Tötung des einen Opfers. Da aber der eine Indianer nicht selbst gezwungen ist, sich zur Rettung der Anderen zu opfern, ist Jim seinerseits nicht dazu verpflichtet, dieses Opfer zu erzwingen. Ist es Jim aber wenigstens erlaubt, das Opfer quasi zu verpflichten, die anderen Indianer zu retten? Fraglich ist, ob die Situation eher dem Lawinenfall der indirekten oder dem Rettungsbootfall der direkten Instrumentalisierung ähnelt. Davon hängt ab, ob die Indianer selbst einen von ihnen opfern dürften oder nicht. Meiner Ansicht nach ähnelt der Fall eher dem Rettungsbootfall der direkten Instrumentalisierung, weil es gerade auf den einen, individuell ausgewählten Indianer ankommt, um Pedros Blutdurst zu stillen. Würde Pedro die Gruppe selbst vor die Alternative stellen, sich alle töten zu lassen oder selbst einen der Ihren zu töten, so dürften sie also nicht einen von
4. Pflichten gegenüber drei und mehr Anderen
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sich opfern. Dann steht diese Befugnis aber auch keinem Außenstehenden zu. Dazu kommt aber noch, dass ein Dritter verantwortlich ist. Die Verantwortlichkeit Pedros für die Tötungen bildet eine grundsätzliche Sperre gegenüber Jims Hilfspflichten, mögen diese auch in der Anzahl überwiegen. Jim darf also das Angebot von Pedro nicht annehmen.11 Fall 4.c) bb): Ein Arzt könnte fünf Patienten mit einer seltenen Blutgruppe, deren Organe versagt haben, retten, wenn er einen gesunden Patienten, der gerade zu einer Routineuntersuchung im Krankenhaus ist, töten und seine Organe transplantieren würde. Hier handelt es sich wiederum um einen Konflikt vom Typ 4.c) bezüglich Belangen der Individualzone. Eine Unterlassenspflicht gegenüber dem einen gesunden Patienten konkurriert mit fünf Hilfspflichten gegenüber den Kranken, welche die Organe benötigen. Da der eine gesunde Patient selbst nicht verpflichtet ist, den Kranken unter Hingabe seines Lebens zu helfen und auch kein unabwendbares Ereignis vorliegt, das alle gemeinsam zu Todgeweihten oder Gefährdeten einer gemeinschaftlichen Notlage macht, ist die Unterlassenspflicht gegenüber der Hilfspflicht vorrangig. Hieran würde sich auch nichts ändern, wenn der Arzt mehrere hundert oder tausend Patienten durch Tötung des einen Gesunden retten könnte. Die entscheidende Differenz zwischen Unterlassens- und Hilfspflicht kann anders als bei der Konkurrenz von Hilfspflichten in Fall 4.b) auch durch die größere Zahl der Pflichten nicht verdrängt werden. Fall 4.c) cc): Ein Terrorist bedroht Millionen von Menschen mit einer Bombe. Das Foltern seines unschuldigen Kindes wäre das einzige Mittel, ihn dazu zu bewegen, das Versteck der Bombe preiszugeben. Darf das Kind als unschuldiges Opfer gefoltert werden? Darf dem Terroristen wenigstens mit der Folterung des Kindes gedroht werden? Hier handelt es sich wieder um einen Konflikt vom Typ 4.c). Einer Unterlassenspflicht gegenüber dem Kind stehen die Hilfspflichten gegenüber den vielen Opfern entgegen. Die erste Frage lautet: Müsste das Kind sich selbst opfern? Nein, sicher nicht. Niemand muss sein Leben, seine Würde oder seine Gesundheit als Belange der Individualzone für Andere hingeben. Dann darf es aber auch nicht von Anderen geopfert werden. Ein Unschuldiger darf nicht zum Mittel für die Rettung Anderer gemacht werden, sofern er nicht Mitglied einer Gruppe von gemeinsam Todgeweihten oder vergleichbar Gefährdeten ist. Zur Abwandlung: Darf mit der Folterung des Kindes gedroht werden? Hier ist das Kind selbst von der Drohung gegenüber seinem Vater nicht unmittelbar betroffen. Der Konflikt verschiebt sich also in den Grundverhältnissen. Nunmehr handelt es sich um einen Konflikt zwischen den Hilfspflichten gegenüber den Opfern der Bombe als Pflichten der Individualzone und einer Unterlassenspflicht gegenüber dem Terroristen, ihn nicht zu täuschen, als Pflicht der Relativzone. Der Terrorist ist überdies anders als
11 Eine interessante weitere Frage wäre, was Jim machen müsste, wenn die Indianer selbst, etwa per Los, ein Opfer bestimmt hätten.
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XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte
sein Kind nicht unschuldig, sondern will Millionen von Menschen mit seiner Bombe töten. Er droht mit seinem Handeln verbrecherisch in den Betroffenheitsraum vieler Menschen einzudringen, so dass gegen dieses verbrecherische Handeln Notwehr und Nothilfe gerechtfertigt sind. Angesichts der Lebensgefahr für viele ist die Täuschung des Terroristen somit erlaubt. Man sollte allerdings beachten, dass es sich hierbei um eine singuläre moralische Erlaubnis in einem absoluten Ausnahmefall handelt. Eine allgemeine Legalisierung der systematischen Durchführung solcher Täuschungen ist aufgrund derartiger Erwägungen nicht gerechtfertigt, da diese wegen der hohen generellen Orientierungswirkung des Rechts verschiedene sehr negative Auswirkungen hätte, etwa die Gefahr von Missbräuchen, die Abstumpfung gegenüber Folter und Gewalt, die Angst aller vor den Staatsorganen usw.12
d) Eine Gemeinschaftspflicht und eine weitere Pflicht gegenüber drei und mehr Anderen. Fall 4.d): Sartres Beispiel für den Existentialismus:13 Ein Franzose überlegt während der deutschen NS-Okkupation in Frankreich in den Jahren 1940–1944, ob er bei seiner Mutter bleiben oder sich dem Widerstand gegen die Deutschen anschließen soll. Seine Mutter würde dadurch schwer betroffen werden. Es handelt sich um einen Konflikt zwischen einer Gemeinschaftspflicht gegenüber der Mutter und einer Hilfs- und Gemeinschaftspflicht gegenüber dem französischen Volk, also einen Konflikt des Typs 4.d). Die Beurteilung dieses Konflikts ist in abstracto kaum möglich. Man müsste vielmehr verschiedene weitere Faktoren berücksichtigen, etwa den Grad der Betroffenheit der Mutter, die Effizienz des Widerstands im Allgemeinen, die individuelle Nützlichkeit des Handelnden für den Widerstand, die Wahrscheinlichkeit, im Widerstand getötet zu werden, die Wahrscheinlichkeit, die Besatzer auch ohne den Widerstand in absehbarer Zeit abzuschütteln, die Stärke der eigenen Gefühle für die Mutter einerseits und für das französische Volk andererseits usw. Der Konflikt eignet sich so gut für Sartres Zweck der Illustrierung der Notwendigkeit einer existentiellen, nicht weiter objektivierbaren Entscheidung jedes einzelnen Betroffenen, weil er ohne diese Konkretisierungen nicht entscheidbar ist, also eine relativ irrationale Lösung erforderlich macht.
12 Vgl. dazu detailliert: Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt? 13 Jean-Paul Sartre, L’existentialisme est un humanisme, Paris 1946.
5. Kollision zwischen moralischen und rechtlichen Pflichten
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5. Kollision zwischen moralischen und rechtlichen Pflichten Fall 5: Sophokles’ Drama „Antigone“: Antigone verstößt gegen den Befehl des Königs Kreon und folgt der moralischen Pflicht, ihren Bruder zu bestatten. Es handelt sich um einen Konflikt des Typs 5. Die moralische Hilfspflicht gegenüber dem Bruder kollidiert mit der Pflicht, juridische Normen der politischen Gemeinschaft zu befolgen. Dabei kann die Frage wiederum auf zwei Ebenen diskutiert werden: auf der moralisch-ethischen und der juridisch-ethischen. Die juridisch-ethische Ebene kann hier mangels näherer Informationen über das damals geltende Recht nicht erörtert werden. Die moralisch-ethische Beurteilung setzt ebenfalls weitere Informationen voraus. Wäre der Befehl Kreons ein bloßer Akt der Willkür oder der Rache und unter keinem einigermaßen vernünftigen Gesichtspunkt gerechtfertigt, würde also der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreichen oder Gerechtigkeit von Kreon überhaupt nicht erstrebt werden, so wäre etwa nach der von deutschen Gerichten nach dem Zweiten Weltkrieg herangezogenen sog. Radbruchschen Formel14 für Antigone die moralische Pflicht zur Bestattung ihres Bruders vorrangig.
14 Vgl. zu diesen beiden Elementen der sog. Radbruchschen Formel zur Lösung derartiger Konflikte: Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: ders., Rechtsphilosophie. Studienausgabe, hg. von Ralf Dreier und Stanley L. Paulson, 2., überarb.€Aufl. Heidelberg 2003, S.€216. Vgl. zur Analyse und Berechtigung dieser Formel: Verf., Rechtsethik, S.€186â•›ff., mit weiteren Nachweisen zur Diskussion; ders., Was ist Recht? Ziele und Mittel.
XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen? Zur weiteren Aufklärung der möglichen Relationsglieder von Pflichten primärer und sekundärer Normordnungen und zur Bestimmung der Reichweite der hier entfalteten Ethik des normativen Individualismus muss nun die bisher zurückgestellte Frage erörtert werden, welche Lebewesen, Dinge oder allgemein Seiende ethisch zu berücksichtigen sind.1 Die selbständige ethische Berücksichtigung eines Anderen setzt voraus, dass er eigene Belange, also Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele entfaltet. Der Andere muss mehr sein und tun als leblose Materie, die nur physikalischen Kräften oder sonstigen externen Beeinflussungen unterliegt. Ein Stein verdient keine ethische Berücksichtigung, weil er in seiner Existenz und seinen Veränderungen bloß kausales Ergebnis physikalischer Kräfte ist. Eine Maschine verdient keine ethische Berücksichtigung, weil sie nicht nur von anderen hergestellt, sondern auch in allen strebungsähnlichen Abläufen durch ihren Konstrukteur bestimmt wird. Was von anderen hergestellt und in all seinen Prozessen von uns Menschen determiniert ist, dem können wir keine eigenständige Fähigkeit zuerkennen, unsere Handlungen ethisch, das heißt jenseits der bloßen Naturgesetze einzuschränken. Denn wir hätten die Maschine auch anders konstruieren und bestimmen können, ohne dass dagegen von einem ethischen Standpunkt etwas einzuwenden gewesen wäre. Der Gedanke, dass derjenige, der etwas vollständig oder praktisch vollständig herstellt und damit in seiner Existenz determiniert, auch darüber verfügen kann, spielt in vielen ArgumentationsÂ�zuÂ�sammenhängen eine Rolle, zum Beispiel in der Eigentumstheorie John Lockes.2 Danach erwirbt derjenige an einem GegenÂ� stand Eigentum, der ihn bearbeitet oder herstellt und damit bestimmt. Die Entwicklung von Computern begann wie die von anderen Werkzeugen unter dem Signum einer vollständigen Instrumentalisierung durch den Menschen. Diese vollständige Instrumentalisierung schließt ihre eigenständige ethische Berücksichtigungswürdigkeit aus. Auch wenn Computer partiell Selbststeuerungselemente erzeugen, so bleiben diese doch im Rahmen menschlicher Zwecksetzungen. Avancierte Computer können mittlerweile primitive Programmierungsschritte ausführen. Dies geschieht aber nur als Erfüllung menschÂ�licher ProÂ�grammvorgaben höherer Ordnung. Selbst die primitivste Pflanze entwickelt sich dagegen gemäß ihrem genetischen Programm selbst und wird allenfalls im Rahmen dieser Entwicklung von Menschen instrumentalisiert. Es ist aber nicht zu leugnen, dass sich beide Klassen von Individuen in ihrer ethischen Signi1
2
Vgl. zu den folgenden Überlegungen: Verf., Eine Ökologische Ethik der Berücksichtigung anderer Lebewesen, in: Konrad Ottâ•›/â•›Martin Gorke (Hg.), Spektrum der Umweltethik, Marburg 2000, S.€41–65; ders., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, S.€237â•›ff. John Locke, Two Treatises of Government, The Second Treatise, § 25â•›ff.
1. Sind nur empfindungsfähige Lebewesen zu berücksichtigen?
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fikanz mit der zunehmenden Selbststeuerung von Computern und der zunehmenden Genmanipulation von Pflanzen anzunähern beginnen. Da Computer aber von vornherein für menschliche Zwecke konstruiert wurden, wird man von einem Überschreiten der Grenze zur ethischen Berücksichtigungswürdigkeit trotz steigender Selbststeuerungsanteile erst ausgehen können, sobald sie einen eindeutigen Bruch mit der menschlichen Vorgabe der Instrumentalisierung vollziehen, also Strebungen entfalten, die signifikant von diesen menschÂ�lichen Vorgaben abweichen, das heißt, falls sie zum Beispiel selbständig aus den menschlichen Verwertungszusammenhängen ausbrächen, etwa sich als Roboter „in die Wälder schlagen“ und eine eigenständige Existenz führen würden.
1. Sind nur empfindungsfähige Lebewesen zu berücksichtigen? Viele Ethiker sind der Auffassung, dass nur empfindungsfähige, das heißt bewusstseinsfähige Lebewesen, also höhere Tiere mit Nervensystem und Menschen ethisch zu berücksichtigen sind. Man bezeichnet diese Auffassung als „pathozentrisch“. Gegen die pathozentrische Auffassung und für eine „biozentrische“ Haltung, wonach alle Lebewesen, also auch Tiere ohne Nervensystem, Pflanzen und Mikroorganismen, prinzipiell ethische Berücksichtigung verdienen, sprechen wenigstens die folgenden vier Argumente: Konsequente Vertreter der pathozentrischen These müssen erstens jede moralische Berücksichtigung irreÂ�Â�versibel komatöser Menschen um ihrer selbst willen ausschließen. Nur die Belange der Angehörigen dieser Menschen oder deren frühere Belange im bewussten Zustand können als ethisch und moralisch berücksichtiÂ�gungswürdig angesehen werden. Dies dürfte mit den allgemeinen Überzeugungen, die hinter der gegenwärtig akzeptierten Praxis der monate- und jahrelangen, aufwendigen Pflege irreversibel komatöser Patienten steht, kaum vereinbar sein. Der Pathozentriker müsste also einen allgemeinen Irrtum der gegenwärtigen moralischen Auffassungen behaupten und erklären. Zweitens haben auch bewusstseinsfähige Lebewesen Strebungen, die ihnen selbst niemals bewusst werden und deren Missachtung trotzdem ethisch unerlaubt ist. Die Schädigung des Immunsystems des Menschen war sicherlich bereits ethisch verwerflich, bevor die Medizin das Immunsystem entdeckte. Sie ist ethisch verwerflich, auch wenn ein Kind nichts von seinem Immunsystem weiß. Wenn es aber nicht nötig ist, dass sich das Bewusstsein eines Individuums auf die ethisch relevante Funktion bzw. Strebung seines Körpers bezieht, so ist kaum einsichtig, warum eine vergleichbare Funktion bzw. Strebung bei anderen Lebewesen ohne Bewusstsein ethisch irrelevant sein soll. Auch Pflanzen haben zum Beispiel ein Immunsystem, das zwar primitiver, aber demjenigen von Tieren und Menschen in seiner Strebungsstruktur zum Zweck der Selbsterhaltung jenseits bloßer physikalischer Gesetze vergleichbar ist. Sieht man das Bewusstsein einerseits als conditio sine qua non für die Anerkennung von Belangen eines Individuums an, lässt man aber andererseits die Berücksichtigung einzelner Interessen ohne Bewusstseinssteuerung zu, so führt das zu wenig plausiblen Konsequenzen. Man gelangt auf diese Weise zu einer Ethik, die uns bei der Wahl eines anderen Kriteriums ganz absurd erschiene. Niemand würde etwa zugestehen, dass es zulässig wäre, die Menge
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XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?
der ethisch relevanten Betroffenen nach einem abstrakten Maßstab und vollständig unabhängig von den Kriterien für konkrete Interessenverletzungen zu bestimmen, etwa indem man allgemein festlegte, ausschließlich Weiße seien ethisch zu berücksichtigen, und dann erst fragt, welche einzelnen Strebungen bzw. Belange dieser willkürlich eingeschränkten Klasse von Individuen Berücksichtigung verdienen. Mit der Hypostasierung des Bewusstseinskriteriums als Schibboleth für die Träger von Belangen werden also€– zumindest auf einer ersten Stufe€– nicht die tatsächlich bestehenden Strebungen als ethisch relevant angesehen, sondern eine zusätzliche Eigenschaft ihrer Träger. Dies ist in zweifacher Hinsicht unbefriedigend: Ungelöst bleibt damit zum einen, was dann als Kriterium für das Bestehen einzelner Interessen fungieren soll. Wenig einleuchtend erscheint es zum anderen, die wesentliche norÂ�maÂ�tive Begründungslast nicht in der eigentlich normativ-ethisch signifikanten Eigenschaft der Strebung, sondern in der kognitiven Trägereigenschaft der Bewusstseinsfähigkeit zu lokalisieren. Man begeht damit einen naturalistischen Fehlschluss, denn man knüpft eine Wertung als ethisch zu berücksichtigendes Individuum nicht an eine ihrerseits normative Tatsache wie die Strebung, sondern an eine nichtnormative Tatsache wie das Bewusstsein. Drittens wirft die Koppelung des Interessenbegriffs an die Begriffe Bewusstsein und Empfindung noch ein tiefer liegendes Problem auf. Die Begriffe des Bewusstseins und der Empfindung sind zunächst rein empirische Begriffe. Sie finden ihre Anwendung in verÂ�schiedenen empirischen Wissenschaften, etwa der Psychologie, der Biologie und der Medizin. Sie werden dort ausschließlich deskriptiv gebraucht. Eine wertende Komponente wie bei anderen Begriffen der Ethik, etwa „gut“ oder „gerecht“, ist nicht erkennbar. Der Begriff „Belang“ bzw. „Interesse“ erfüllt dagegen€– zumindest im Zusammenhang einer normativ-ethischen Rechtfertigung€– eine praktisch-begründende Funktion. Er stellt eine rechtfertigende Brücke zwischen Deskriptionen und moralischen bzw. ethischen Präskriptionen her und ist kein rein deskriptiver Begriff. Versucht man nun, den solchermaßen praktischen Belang- bzw. Interessenbegriff durch einen rein deskriptiven Begriff, wie Bewusstsein oder Empfindung, zu konkretisieren, ohne die gesamte ethische Rechtfertigung mit ihrer Verbindung von Tatsachen und Normen in den Blick zu nehmen, so bleibt diese Konkretisierung zwangsläufig eine bloße Dezision, ohne wirklich rechtfertigen zu können. Man kann hier auch ein beliebiges engeres oder weiteres Kriterium wählen, etwa Sprachfähigkeit oder die Qualität, ein Lebewesen zu sein. Wenn man ein Resultat aus der Diskussion um das Sein-Sollen-Problem und den naturalistischen Fehlschluss ziehen kann, so ist es das Verbot jeder rein naturalistischdeskriptiven Lösung der Qualifikation ethisch zu berücksichtigender Individuen. Der Interessenbegriff bedarf natürlich einer Konkretisierung durch stärker deskriptive Begriffe wie Strebung, Bedürfnis, Wunsch und Ziel, sonst kann er seine Vermittlungsfunktion zwischen Tatsachen und Normen nicht erfüllen. Aber der Einbau deskriptiver Begriffe muss seinerseits unter Berücksichtigung der spezifischen RechtÂ�fertigungsfunktion des Interessenbegriffs im Rahmen einer praktischen Begründung erfolgen. Andernfalls kann die ethische Rechtfertigung keine normative Begründungskraft gewinnen. Die normative Begründungskraft der Strebungen ergibt sich daraus, dass sie€– wie sich in Kapitel€II, 2 zeigte€– nicht nur einfache Tatsachen sind, sondern eine Form des
2. Sind Naturkollektive wie Arten oder Ökosysteme zu berücksichtigen?
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Selbstbezugs und des Selbsterhaltungsstrebens aufweisen. Um einen Anderen als ethisch berücksichtigungswürdig anzuerkennen, ist ein solcher irgend gearteter Selbstbezug, ein solches eigenes selbstbezogenes Streben jenseits rein physikalischer Kräfte nötig. Strebungen sind wenigstens biologisch, gehen also über rein physikalische Kräfte hinaus und können deshalb der Voraussetzung eines solchen Selbstbezugs genügen. Dazu kommt ein weiterer wichtiger Aspekt: Moral und Ethik schränken die Handlungen des Akteurs im Interesse Anderer ein. Das impliziert aber, dass nicht der einzuschränkende Akteur entscheiden darf, wodurch er eingeschränkt wird. Teil der Selbstzuschreibung der ethisch zu berücksichtigenden Anderen muss demnach auch die Art und Weise ihres Selbstbezugs sein. Als rationales, sprachbegabtes und empfindungsfähiges Wesen darf der Mensch deshalb nicht einfach Rationalität, Sprachbegabung oder Empfindungsfähigkeit zum notwendigen Kriterium des Interessenbegriffs für andere, von ihm ethisch zu berücksichtigende Wesen erklären. Denn dann wären nicht der Selbstbezug der betroffenen Individuen und damit der ethisch zu berücksichtigende Andere entscheidend, sondern eine Kategorie, die der Akteur bestimmt, dessen Handlungen gerade durch die Belange des betroffenen Anderen eingeschränkt werden sollen. Viertens: Der Vertreter einer pathozentrischen Position könnte sich durch diese Argumente noch nicht überzeugt zeigen und einwenden, dass es für die Berücksichtigung der Strebungen von Lebewesen ohne Empfindungsfähigkeit keine besseren Gründe als für die Beschränkung auf die Berücksichtigung der Strebungen von Lebewesen mit Empfindungsfähigkeit gebe. Hier stellt sich die Frage der Beweislastverteilung. Schließt man€– wie oben€– rein physikalische Einwirkungen auf den Menschen als Grundlage für eine ethische Berücksichtigung aus, dann verbleibt die Menge der Wesen mit biologischen Strebungen und als weitere Teilmenge die Menge der Wesen mit bewussten Strebungen, also mit Bedürfnissen, Wünschen und Zielen. Erkennt der Mensch die biologischen Strebungen anderer Wesen, so ergibt sich€– wenn er überhaupt bereit ist, moralisch bzw. ethisch und nicht nur eigenorientiert zu handeln –, dass alle diese Strebungen in ihrem normativen Status gleich sind. Das Fluchtverhalten eines Insekts erkennt er als prinzipiell genauso eigenbezogen wie das Fluchtverhalten eines empfindungsfähigen höheren Wirbeltiers. Um nun nur das Fluchtverhalten des höheren Wirbeltiers als ethisch berücksichtigenswert anzusehen, bedürfte der Akteur einer Rechtfertigung. Die Argumentationslast für seine eingeschränkte Berücksichtigung liegt also auf der Seite der pathozentrischen, nicht aber auf der Seite der biozentrischen Position. Da eine Rechtfertigung für die pathozentrische Einschränkung nicht ersichtlich ist, muss es bei der biozentrischen Position bleiben. Alle Lebewesen verdienen demnach ethische Berücksichtigung.
2. Sind Naturkollektive wie Arten oder Ökosysteme zu berücksichtigen? An dieses biozentrische Ergebnis schließen sich zwei Fragen an: Zunächst ist zu fragen, was unter „Lebewesen“ zu verstehen ist. Es dürfte unzweifelhaft sein, dass dazu Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen als Individuen gehören. Aber fallen darunter auch Na-
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XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?
turkollektive wie Arten, Ökosysteme, die Biosphäre oder sogar das Universum, weil ihr Selbstbezug demjenigen eines Lebewesens entspricht? Sollen wir Arten, Ökosysteme, die Biosphäre oder sogar das gesamte Universum um ihrer selbst willen schützen und nicht nur aus menschlichen Interessen? Die Überlegungen sind hier an einem Punkt angelangt, wo die Sachkompetenz der Biologen gefragt wäre. Nach meiner Einschätzung kann man bei Arten nicht von einem selbstbezogenen Gleichgewichtszustand eines offenen Systems ausgehen. Die Mitglieder von Arten ähneln sich, aber das tun sie nur als Individuen. Sie interagieren, aber das tun sie nur als Individuen. Arten weisen keinen Selbstbezug auf wie eine Zelle. Dies zeigt die biologische Definition des „Artbegriffs“. Es handelt sich um eine „reproduktiv isolierte Gruppe von Populationen, die sich miteinander kreuzen können, weil sie dieselben Isolationsmechanismen haben“.3 Ökosysteme und die Biosphäre werden dagegen von manchen immerhin in einem gewissen selbstregulierenden Gleichgewichtszustand gesehen. Bei ihnen läge im Falle des Zutreffens dieser Annahme die Parallele zu Lebewesen näher. Allerdings wird dieser Gleichgewichtszustand ausschließlich durch das Verhalten der Individuen und durch physikalische Faktoren herbeigeführt und aufrecht erhalten. In einem Ökosystem gibt es€– soweit ersichtlich€– nichts, was dem Selbstschutz durch ein Immunsystem bei Lebewesen oder dem Fluchtverhalten bei Tieren entsprechen würde. Die biologische Definition des Begriffs „Ökosystem“ unterstützt diese Zweifel: Als Ökosystem gilt demnach „jede Einheit, die alle Organismen in einem gegebenen Areal umfasst und die mit der physikalischen und chemischen Umwelt in Austausch steht, so dass ein Energiefluss klar definierte Nahrungsketten, Mannigfaltigkeit der biologischen Beziehungen und Stoffkreisläufe schafft“.4 Auch für Ökosysteme wird man deshalb die ethische Berücksichtigung um ihrer selbst willen ablehnen müssen. Gegen diese Argumentation wurde geltend gemacht,5 dass nicht nur Arten und Ökosysteme und deren Regulationsmechanismen unter streng reduktionistisch-mechaÂ� nistischer (kybernetisch-systemtheoretischer) Perspektive betrachtet werden können, sondern auch Organismen einschließlich des Menschen und deren Zwecke. Moderne Theorien der Selbstorganisation gingen grundsätzlich davon aus, dass sich die zielgerichteten Verhaltensweisen von Lebewesen ausschließlich kausal erklären lassen. Dagegen wird man einwenden müssen, dass eine rein kausale Erklärung alles Tuns und Handelns auch jede Ethik aufhebt. Die ethische Einschränkung von Handlungen und die ethische Reflexion finden sowieso auf einer Ebene statt, die nicht kausal-systemtheoretisch und damit kybernetisch-reduktionistisch erklärbar ist. Das heißt, für die Berücksichtigung Anderer im Rahmen einer ethischen Theorie muss man in jedem Fall die bloße Kausalgesetzlichkeit überschreiten. Dann bietet sich aber eine Stufenfolge in der Komplexität des Selbstbezugs als relevantes Kriterium an. Das Immunsystem einer Pflanze mag partiell kausal erklärbar sein, aber die Kausalität ist die Binnenkausalität dieser Pflanze, die von der allgemeinen physikalischen Kausalität ein Stück weit als biologische Strebung emergent abgekoppelt 3 4 5
Ernst Mayr, Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens, Heidelberg 1998, S.€401. Eugene P. Odum, Grundlagen der Ökologie Band 1, 2.€Aufl. Stuttgart 1983, S.€10. Martin Gorke, Artensterben. Von der Ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur, S.€272.
3. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich zu berücksichtigen?
343
und in sich geschlossen ist. Diese Abkopplung und Selbstschließung unterscheidet sich nicht prinzipiell, sondern nur graduell von menschlichen Belangen. Deshalb gibt es keinen Grund, sie im Rahmen einer Ethik nicht zu berücksichtigen. In einem Ökosystem mögen etwa Populationen voneinander abhängig sein und in ein Gleichgewicht gelangen. Aber es gibt keine manifest gewordene, für die Erhaltung des Ganzen zuständige Einrichtung, wie etwa ein Immunsystem oder das Fluchtverhalten eines Tieres. Die Ablehnung einer eigenständigen ethischen Berücksichtigungswürdigkeit von Arten, Ökosystemen und der Biosphäre bedeutet natürlich nicht, dass ihre Zerstörung ethisch erlaubt wäre. Allerdings liegt der Grund für die starke Verpflichtung, sie zu bewahren, nicht in ihrem Eigenwert als Ganzes, sondern in den Belangen der von ihrer Zerstörung betroffenen Lebewesen, also den Belangen der betroffenen Menschen, Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen.
3. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich zu berücksichtigen? Eine zweite wesentliche Frage lautet, ob die ethisch zu berücksichtigenden Lebewesen alle gleichwertig oder aber hierarchisch gegliedert zu berücksichtigen sind. Es gibt offensichtlich keinen guten Grund, gleichartige Strebungen oder Bedürfnisse unterschiedlich zu behandeln, nur weil sie von unterschiedlichen Arten von Lebewesen stammen. Allerdings werden auch bei gleichartigen Lebewesen verschiedenartige Belange unterschiedlich stark gewichtet. Es gibt Belange, die einer intensiveren, komplexeren und damit eigenständigeren, das heißt stärker von den physikalischen Kräften entkoppelten Selbstzuschreibung entspringen. Dies muss auch über Artgrenzen hinweg ein Kriterium sein. Empfindungsfähigkeit, Rationalität und Sprachfähigkeit können daher die ethische Berücksichtigung von nichtempfindungsfähigen Wesen nicht ausschließen. Aber sie markieren eine intensivere, komplexere und damit eigenständigere Selbstzuschreibung von Belangen. Sie sind also nicht für das „Ob?“ einer Interessenzuerkennung entscheidend, wohl aber für das „Wie stark?“. Plausibel erscheint also eine nichtegalitäre und somit hierarchische biozentrische Position im Hinblick auf die jeweiligen Belange. Alle singulären Lebewesen verdienen ethische Berücksichtigung. Aber je komplexer und intensiver ihre Belange werden, desto stärkeres Gewicht verdienen diese Belange in der ethischen Abwägung. Das bedeutet nicht, dass die Belange niederer Lebewesen zwangsläufig denen höherer Lebewesen zu weichen hätten, sondern erfordert nur eine stärkere Berücksichtigung in der Abwägung. Die zentralen Leidens- und ÜberlebensinterÂ�essen von Tieren verdienen etwa wohl grundsätzlich gegenüber den Gaumenfreuden der Menschen Vorrang, soweit diese sich ohne größere Schwierigkeiten vegetarisch ernähren können. Pflanzen sind viel weniger komplex als Menschen. Deshalb sind die Belange von Pflanzen so schwach, dass sie in den weitaus meisten Fällen gegenüber denen des Menschen zurückzustehen haben. Aber es gibt doch Fälle, in denen die Kumulation einer Vielzahl von tierischen und pflanzlichen Belangen den Ausschlag geben wird, wenn die Vorteile der Menschen nur gering sind, vor allem bei Großprojekten zum Beispiel Stau-
344
XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?
dämmen oder Kanälen, sofern deren wirtschaftÂ�licher Nutzen zweifelhaft oder marginal ist. Hier wird sich auch in der Praxis ein großer Unterschied, insbesondere zu pathozentrisch-utilitaristischen Positionen ergeben, auch wenn manchmal versucht wird, diese praktische Differenz nicht allzu groß erscheinen zu lassen. Fest steht, dass die utilitaristische Doktrin, die weite Teile unseres traditionellen Denkens gerade in der Politik mitbestimmt hat, für die massive Ausbeutung der Natur mitverantwortlich ist. Man wird deshalb nicht zu einem verbesserten Naturschutz kommen können, wenn man den Utilitarismus als umfassende ethische Leitlinie nicht aufgibt. Man kann versuchen, die relative Höherwertigkeit der Belange der einzelnen Arten von Individuen genauer zueinander in Beziehung zu setzen, indem man die zentrale Vokabel des Selbstbezugs im Hinblick auf die Grundkategorie der Zeit aufspaltet. Man erhält dann die Aspekte der Selbstentstehung, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung. Jedes Wesen wird jedes dieser Elemente zuÂ�minÂ�dest in Rudimenten entwickeln müssen, um ethisch beÂ�rückÂ�sichÂ�tiÂ�gungsÂ�Â�würÂ�digÂ�zu sein. Für einzelne Typen von Wesen ergeben sich dann folÂ�gende tentativen Einschätzungen ihres Selbstbezugs, wobei „x“ das bloße Vorhandensein des MerkÂ�mals meint und mehrere „x“ eine eigenständigere Ausprägung. Nicht imÂ�pliziert ist darin eine interpersonale Austauschbarkeit in Form eines NutzenÂ�summenÂ�kalküls. VaÂ�riabilitäten durch menschliche Manipulationen sind durch Klammern gekennzeichnet und können sich durch zunehmende technische Möglichkeiten natürlich vergrößern:
Selbstbezug einzelner Arten von Wesen Selbstent�stehung
Selbstentfaltung
Selbsterhal� tung
Belange
Mensch
xxxxxx(x)
xxxxxxx
xxxxxxx
Ja
höh. Wildtier
xxxxxxx
xxxxx
xxxxx
Ja
höh. Nutztier
xxxxx(xx)
xxx(xx)
xxx(xx)
Ja
Wildtier
xxxxxxx
xxx
xxx
Ja
Nutztier
xxxx(xxx)
x(xx)
x(xx)
Ja
Wildpflanze
xxxxxxx
xx
xx
Ja
Nutzpflanze
xxxx(xxx)
x(x)
x(x)
Ja
Mikroorganismus
xxxxxxx
x
x
Ja
Nutzorganismus
xx(xxxxx)
x)
x)
Ja
Steinâ•›/â•›Fluss
–
–
–
Ja
Art
–
–
–
Nein
345
3. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich zu berücksichtigen? SelbstentÂ�stehung
Selbstentfaltung
Selbsterhal� tung
Belange
Ökosystem
?
?
–
Nein
Biosphäre
?
?
–
Nein
Computer
–
x)
x)
Nein
Erläuterung: Höheres Wildtier: Selbstentstehung wie beim Menschen durch Erbgutverschmelzung, SelbstÂ�entfaltung und Selbsterhaltung ebenfalls, aber mangels Rationalität und entwickelter Sprache nicht so elaboriert. Höheres Nutztier: Selbstentstehung wie beim Menschen durch Erbgutverschmelzung, aber partiell durch Züchtung und auch schon durch Genmanipulation eingeÂ� schränkt, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ebenfalls durch HalÂ�tung eingeschränkt und mangels Rationalität und entwickelter Sprache nicht so elaboriert. Wildtier: Selbstentstehung gegeben, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung vorhanden, aber nicht so elaÂ�boriert wie bei höheren Wildtieren, zum Beispiel mangelnde EmpÂ� findungsÂ�fähigkeit usw. Nutztier: Selbstentstehung durch Züchtung und Genmanipulation eingeschränkt, ebenso die Selbstentfaltung und Selbsterhaltung. Wildpflanze: Selbstentstehung gegeben, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ebenfalls, aber mangels Rationalität, Sprache, Empfindungsfähigkeit, sehr hoch entwickeltem Immunsystem usw. nicht so elaboriert wie bei Menschen und Tieren. Nutzpflanze: Selbstentstehung gegeben, aber durch Züchtung und mittlerweile auch genetische Eingriffe extrem eingeschränkt, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ebenÂ� falls vorhanden, aber mangels Rationalität, Sprache, EmpfindungsfäÂ�higkeit, sehr hoch entwickeltem Immunsystem usw. nicht so elaboriert und durch Anbau und Kultivierung stark einÂ�geschränkt. Mikroorganismus: Selbstentstehung gegeben, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung noch beschränkter als bei Pflanzen. Nutzorganismus: Selbstentstehung mittlerweile durch Züchtung und Gentechnik stark eingeschränkt, ebenso die Selbstentfaltung und Selbsterhaltung. Steinâ•›/â•›Fluss: Entstehung, Entfaltung und Erhaltung nur durch äußere physiÂ�kaliÂ�sche und chemische Faktoren. Art: Entstehung, Entfaltung und Erhaltung vollständig auf individuelle (Mutation) und exÂ�terne physikalische Faktoren (Selektion) rückführbar. ÖkoÂ�system und Biosphäre: Selbstentstehung und SelbstentfalÂ�tung zweifelhaft, SelbstÂ� erÂ�haltung jeweils vollständig auf externe physikalische Faktoren oder das VerÂ�halÂ�ten von EinzelindiviÂ�duen rückführÂ�bar. Computer: Keine Selbstentstehung, da Konstruktion durch den Menschen, aber bei den am weitesten entÂ�wickelten Modellen Ansätze zu Selbstentfaltung und SelbstÂ�erÂ� haltung (autoÂ�geÂ�ne FunktionskonÂ�trolle usw.).
346
XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?
Insgesamt ergibt sich damit folgendes Bild: Berücksichtigung von Wesen um ihrer selbst willen Zunehmende Berücksichtigungswürdigkeit
Tiere Pflanzen Mikroorganismen Arten
Ökosysteme
Biosphäre
verschiedene Wesen
Berücksichtigt man dagegen nur menschliche Interessen, dann ergibt sich folgendes Bild: Berücksichtigung von Wesen um des Menschen willen Zunehmende Berücksichtigungswürdigkeit Arten
Ökosysteme
Biosphäre Mikroorganismen Pflanzen Tiere
verschiedene Wesen
347
4. Wie weit reicht die Würde?
Bringt man beide Gesichtspunkte zusammen, so erhält man folgendes Bild: Kombination der Berücksichtigung der Wesen um ihrer selbst und um des Menschen willen, was zu einer vergleichbaren Berücksichtigungswürdigkeit führt. Zunehmende Berücksichtigungswürdigkeit
Tiere Pflanzen Mikroorganismen Arten Ökosysteme Biosphäre
verschiedene Wesen
4. Wie weit reicht die Würde? Tiere sind um ihrer selbst willen ethisch zu berücksichtigen. Das ergaben die vorigen Überlegungen. Man kann nun weiterfragen: Besteht so etwas wie eine Tierwürde entsprechend der Menschenwürde?6 Zunächst sei an die obige (Kapitel€III, 7) Unterscheidung zwischen zufälliger (kontingenter) und notwendiger (inhärenter) Würde erinnert. Die zufällige (kontingente), auf der „Leistung“ des Würdeinhabers beruhende Würde ist eine veränderliche Eigenschaft. Sie besteht in dem Ausdruck der Gelassenheit, der inneren Unabhängigkeit, des In-sich-selbst-Ruhens gegenüber äußeren Veränderungen und Anfechtungen. Sie umfasst einen ästhetischen Teil, etwa die Gravität, Monumentalität und das In-Sich-Ruhen einer Person, einen institutionell-sozialen Teil, etwa bei Menschen die Würde eines Amtes als Minister oder Bischof oder der öffentlichen Stellung und einen expressiven Teil des würdevollen Verhaltens, etwa die Hinnahme einer Niederlage oder eines Verlusts mit Gelassenheit und innerer Unabhängigkeit. Die veränderliche Eigenschaft der kontingenten Würde können wir auch bei Tieren beobachten, etwa die ästhetische Würde eines Elefanten in seiner Monumentalität, die
6
Vgl. zum Folgenden und zu rechtsethischen und rechtspolitischen Konsequenzen: Verf., Tierwürde nach Analogie der Menschenwürde?
348
XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?
institutionelle Würde des Gorillamännchens als Anführer seiner Sippe oder die Â�expressive Würde des unterlegenen Hirschs im Zweikampf mit einem Rivalen. In diesem Sinne einer veränderlichen Eigenschaft bzw. „Leistung“ der Würde haben Tiere ohne Zweifel eine Würde.7 Dabei kann allenfalls fraglich sein, ob und wie die Tiere diese Würde selbst wahrnehmen. Unabhängig von einer derartigen Selbstwahrnehmung8 verdient auch diese Würde, wie jedes andere Lebensinteresse von Tieren, ethische Berücksichtigung. Wie wir Tiere nicht ängstigen oder ihnen keinen Schmerz zufügen dürfen, so dürfen wir auch ihre ästhetische, institutionelle und expressive Würde nicht einschränken, sofern gute Gründe uns nicht dazu nötigen. Wir dürfen Elefanten nicht unnötig einpferchen, Gorillamännchen nicht von ihrer Sippe trennen und Hirsche nicht an Unterwerfungsgesten hindern. Die Hühnerhaltung in Legebatterien und Schlachtviehtransporte über weite Strecken verbieten sich also bereits aufgrund der Missachtung der kontingenten Würde der Tiere, selbst wenn deren Wohlbefinden nicht eingeschränkt wäre. Dabei ist allerdings klar zwischen der empirischen Eigenschaft der kontingenten Würde und der Fassung dieser Würde als ethischem Belang zu unterscheiden. Die kontingente Würde von Tieren kann als empirische Eigenschaft nicht selbst normative Quelle ethischer Verpflichtungen sein. Man kann die Rolle der bloß empirischen Eigenschaft der kontingenten Würde mit der des Hungers vergleichen. Eine ethische Hilfspflicht besteht nur gegenüber tatsächlich Hungernden. Der Hunger ist also eine notwendige Bedingung der ethischen Hilfspflicht. Er ist aber nicht selbst die normative Quelle der Verpflichtung. Die kontingente Würde kann in ähnlicher Weise Bedingung und damit Inhalt einer ethischen Verpflichtung sein. Letzte normative Quelle ethischer Verpflichtung sind€– sieht man von einer transzendent-religiösen Ebene ab€– nur die abgewogenen Belange bzw. Interessen der betroffenen Individuen. Diese Belange bzw. Interessen bedürfen eines Inhalts. Und ein möglicher Inhalt ist auch die kontingente Würde von Tieren. Allerdings ist die veränderliche Eigenschaft der kontingenten Würde nur ein ethischer Belang unter vielen, keinesfalls der wichtigste. Vorrangig ist zu verhindern, dass Tiere getötet, verletzt, geängstigt oder dass ihnen Schmerzen zugefügt werden, weil mit derartigen Verhaltensweisen elementarere Belange der Tiere missachtet werden. Die veränderliche Eigenschaft der Würde von Tieren ist also ethisch zu berücksichtigen€– wenn sie auch nur einen weniger wichtigen Belang unter vielen darstellt. Angesichts der Schwäche des Belangs der kontingenten Würde im Vergleich mit anderen ethischen Belangen muss der Schwerpunkt der Frage nach einer Tierwürde in Analogie zur Menschenwürde auf die andere Alternative der Menschenwürde bezogen werden, auf die notwendige (inhärente) Würde bzw. die Würde als „Mitgift“. Kommt Tieren eine solche zu?
7 8
Ebenso: Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde. Anders Josef Santeler, Die Grundlegung der Menschenwürde bei I. Kant, S.€16. Aber selbst wenn man eine derartige Selbstempfindung verneinen würde, wären unbewusste Strebungen ethisch relevant. So sind wir wie erwähnt verpflichtet, das Immunsystem eines Menschen nicht zu schädigen, auch wenn er selbst von diesem Immunsystem nichts weiß.
4. Wie weit reicht die Würde?
349
Befürworter verweisen darauf, dass Tiere um ihrer selbst willen ethisch zu berücksichtigen seien. Folglich käme auch Tieren neben der veränderlichen Würde eine notwendige Würde zu.9 Vertreter dieser Position gehen dabei regelmäßig folgendermaßen vor: Sie identifizieren in der Interpretation Kants die Würde mit der zweiten Formel des Kategorischen Imperativs, der Selbstzweckformel, also der bloßen Berücksichtigungswürdigkeit des Menschen, statt richtigerweise, wie in Kapitel€II, 7 erläutert wurde, klar zwischen Selbstzweckformel und Würdezuschreibung im Reich der Zwecke zu unterscheiden. Wird dann Kants Einschränkung der Selbstzweckformel auf vernünftige Lebewesen, also praktisch auf Menschen, mit einleuchtenden Argumenten kritisiert, dann folgt die Würdezuerkennung quasi automatisch mit der Ausdehnung des Kreises der ethisch zu berücksichtigenden Wesen. Das ist aber in zweifacher Hinsicht problematisch, zum einen weil Kant Selbstzweckformel und Würde nicht ohne weiteres verbindet,10 und zum anderen weil man selbstredend untersuchen müsste, ob die Würde tatsächlich der Ausweitung der ethischen Berücksichtigungswürdigkeit der kantschen Selbstzweckformel auf nichtmenschliche Wesen folgt. Ein anderer Versuch der Ausweitung des Würdegedankens auf nichtmenschliche Lebewesen lautet so:11 Komme dem Menschen Würde zu, so schulde er sie letztlich der Natur als seinem Herkunftsort. Dann könne man aber „versuchen“, auch jenem Grund, aus welchem menschliche Würde fließe, Würde zuzusprechen. Nichtmenschliche Lebewesen „hätten als Manifestationen der Natur“ Würde.12 Aber wenn etwas eine notwendige, aber vielleicht nicht hinreichende Bedingung von etwas anderem Bedingten ist, so darf man nicht ohne weiteres jedes Prädikat von dem Bedingten auf die Bedingung übertragen. Wasserstoff ist eine notwendige Bedingung von Wasser. Trotzdem hat Wasser spezifische Eigenschaften, die Wasserstoff nicht hat. Die Natur ist zwar eine notwendige Bedingung des Menschen und seiner inhärenten Würde. Aber die inhärente Würde kann ja eine Eigenschaft sein, die sich nur und erst beim Menschen bildet€– und nach der Vorstellung Kants ist das selbstredend der Fall. Dann darf aber die inhärente Würde des Menschen nicht auf die Natur als notwendige Bedingung übertragen werden. Gegen die Ausweitung der inhärenten Würde auf alle ethisch zu berücksichtigenden Lebewesen lassen sich im Übrigen vier Gründe anführen: Erstens spricht dagegen das Prinzip begrifflicher Sparsamkeit, das heißt das Prinzip, keinen BeÂ�griff einzuführen, der nicht notwendig ist, um etwas Eigenständiges zu bezeichnen. Wenn aber die Annahme der Würde nicht über die Annahme der ethischen
9
Vgl. Beat Sitter-Liver, „Würde der Kreatur“; Peter Saladin, „Würde der Kreatur“ als Rechtsbegriff, in: Julian Nida-Rümelinâ•›/â•›Dietmar von der Pfordten (Hg.), Ökologische Ethik und Rechtstheorie, 2.€Aufl. Baden-Baden 2002, S.€ 365–369; Gotthard M. Teutsch, Die „Würde“ der Kreatur. Erläuterungen zu einem neuen Verfassungsbegriff am Beispiel des Tieres, Bern 1995, S.€ 40; Josef Römelt, Jenseits von Pragmatismus und Resignation. Perspektiven christlicher Verantwortung für Umwelt, Frieden und soziale Gerechtigkeit, Regensburg 1999, S.€116. 10 Vgl. Verf., Zur Würde des Menschen bei Kant. 11 Beat Sitter-Liver, „Würde der Kreatur“, S.€359â•›ff. 12 Zustimmend zu diesem Argument: Gotthard M. Teutsch, Die „Würde“ der Kreatur, S.€37.
350
XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?
Berücksichtigungswürdigkeit hinausgeht und damit praktisch mit Belangen bzw. InterÂ� essen der ersten Stufe parallel läuft, dann bezeichnet der Würdebegriff nichts jenseits dieser Belange bzw. der daraus resultierenden ethischen Berücksichtigungswürdigkeit. Dies dürfte auch der Grund sein, warum in der utilitaristischen Tradition der Begriff der Würde kaum verwandt wurde. Die einzige bekannte Ausnahme ist John Stuart Mill. Mill nennt im Rahmen seines qualitativen Hedonismus den Unwillen eines Menschen, auf eine seiner Ansicht nach niedere Stufe der Existenz herabzusinken, sei damit auch eine höhere Summe an Lust verbunden, „sense of dignity“.13 Dieser „sense of dignity“ ist aber nicht mit ethischer Berücksichtigungswürdigkeit gleichzusetzen. Er bezeichnet gerade die Einsicht des Menschen in seine Differenz gegenüber anderen Lebewesen im Hinblick auf seine Fähigkeit zu Wünschen und Zielen zweiter Stufe. Gegen eine weite Fassung des Würdebegriffs im Sinne bloßer ethischer Berücksichtigungswürdigkeit spricht aber zweitens auch die Begriffstradition. Die christliche Überlieferung des Würdebegriffs hat ihn mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen verbunden. Seit der römischen Antike, insbesondere aber seit der Renaissance, bezieht sich der Begriff der inhärenten Würde im Übrigen auf die Fähigkeit des Menschen, sich über die unmittelbaren Lebenstriebe und Alltagsbedürfnisse zu erheben,14 also die zweite Stufe des reflektierten Bewertens der eigenen Belange einzunehmen. Kant setzt diese Tradition mit seiner Interpretation der Würde als Selbstgesetzgebung fort. Diese Begriffstradition aufzubrechen, erscheint wenig sinnvoll. Die spezifische Fähigkeit des Menschen, sich über die unmittelbaren Lebensstrebungen und Alltagsbedürfnisse zu erheben und sie auf einer zweiten Ebene zu bewerten, wäre drittens ohne eigene, klar abgrenzende Bezeichnung, wenn man den Würdebegriff derart ausdehnen und mit der ethischen Berücksichtigungswürdigkeit im Allgemeinen gleichsetzen würde. Schließlich ist viertens zu bedenken, dass der Impuls zur Wiederbelebung des Würdebegriffs im 20.€Jahrhundert von Recht und Politik ausging. Nachdem der Terminus 1919 in der Weimarer Reichsverfassung und 1937 in der irischen Verfassung auftauchte, waren es insbesondere die Charta der Vereinten Nationen von 1945, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und das deutsche Grundgesetz von 1949, welche die Menschenwürde proklamiert und ihr damit besondere Bedeutung verschafft haben. Viele Verfassungen und Menschenrechtspakte folgten.15 In diesen verfassungsund völkerrechtlichen Normierungen wird aber eindeutig nicht jeglicher ethische oder rechtliche Anspruch von der Menschenwürde erfasst. Die Menschenwürde wird vielmehr nur auf einen engen Kernbereich menschlicher Belange bezogen, sonst wären die übrigen Menschen- bzw. Grundrechte überflüssig.16 Die ethische Begriffsbildung kann 13 John S.€Mill, Utilitarianism, S.€9. 14 Vgl. Maximilian Forschner, Zwischen Natur und Technik. Zum Begriff der Würde des Menschen, in: ders., Über das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen ethischer Verständigung, Darmstadt 1998, S.€91–119, S.€96. 15 Vgl. Christian Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, S.€457. 16 Vgl. Dieter Birnbacher, Ambiguities in the Concept of Menschenwürde, S.€113.
4. Wie weit reicht die Würde?
351
sich über diese Weiterführung der engen Tradition des Begriffs der Menschenwürde durch Recht und Politik nicht ohne Weiteres hinwegsetzen. Was folgt daraus? Es erscheint nur aussichtsreich, den Begriff der Würde aufrechtzuerhalten und zu schärfen, wenn man ihm einen eigenen, nicht mit der ethischen Berücksichtigungswürdigkeit identischen und nicht anders erfassten Gegenstand zuordnet.17 Angesichts der Notwendigkeit, mit dem Begriff der Menschenwürde eine zentrale und für ihn selbst wesentliche Eigenschaft des Menschen zu erfassen, und angesichts der Begriffsprägung in der Tradition von der römischen Antike bis zu Kant und in den Menschenrechtserklärungen und Verfassungen muss man€– wie sich oben in Kapitel€II, 7 ergab€– die notwendige, inhärente Würde des Menschen in der spezifischen Eigenschaft der Selbststeuerung bzw. Selbstgesetzgebung des Menschen, das heißt der Wünsche bzw. Ziele zweiter Stufe gegenüber eigenen und fremden Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen erster Stufe lokalisieren. Da nun aber Tiere, soweit wir wissen, mangels Vernunft niemals die Fähigkeit erwerben können, sich zu ihren Strebungen und Bedürfnissen auf einer zweiten Stufe vernünftig bewertend zu verhalten, kommt ihnen jenseits der einfachen Strebungen und Bedürfnisse erster Stufe, welche die ethische Berücksichtigungswürdigkeit ihrer Belange auslösen, keine inhärente Tierwürde in Analogie zur Menschenwürde zu. Tiere können also zwar eine veränderliche, kontingente ästhetische, institutionelle oder expressive Würde entfalten, die auch ethisch zu berücksichtigen ist, nicht aber wie der Mensch eine in diesem Sinne eng verstandene notwendige, inhärente Würde der Ziele und Wünsche zweiter Stufe bezüglich der eigenen Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen erster Stufe.
17 Dass dies möglich ist, wird entgegen Norbert Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, S.€96, durch die Problematik der Selbstzweckformel nicht ausgeschlossen.
XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit Die primären Normordnungen und die ethische Tradition haben verschiedene Begriffe bzw. Kategorien geprägt, um spezifische ethische Phänomene zu charakterisieren, zu bewerten und zu regeln. Vier wichtige Begriffe sollen im Folgenden kurz erläutert werden. Ziel ist, die Ethik des normativen Individualismus in Auseinandersetzung mit diesen Begriffen weiter zu entfalten.
1. Schuld Der Begriff der Schuld hat zwei ganz verschiedene Bedeutungen, die von vornherein klar unterschieden werden müssen, wiewohl sie in der Realität in einem bestimmten, gleich noch zu erläuternden Zusammenhang stehen:1 Die erste Bedeutung (Schuld1) ist gemeint, wenn wir von Schuld zu etwas gegenüber jemandem sprechen, also etwa der Hilfe, die wir den Eltern schulden, der Gefälligkeit, die wir einem Freund schulden, oder der Rückzahlung des Darlehens, die wir einem Gläubiger schulden. Der Begriff der Schuld bezeichnet hier die Pflicht bzw. Verpflichtung. Die zweite Bedeutung (Schuld2) ist gemeint, wenn wir von Schuld wegen der Nichterfüllung einer Pflicht sprechen, wenn wir uns also etwas zu Schulden haben kommen lassen bzw. schuldig geworden sind, etwa weil wir den Eltern die nötige Hilfe, dem Freund die Gefälligkeit oder dem Gläubiger die Rückzahlung des Darlehens vorenthalten haben. Der Begriff der Schuld bezeichnet hier die Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit. Die beiden ganz verschiedenen Bedeutungen des Schuldbegriffs hängen in der Realität in Form einer asymmetrischen Relation zusammen: Die primäre Schuld als Pflicht
1
Vgl. zur Historie des Schuldbegriffs: Joachim Ritterâ•›/â•›Karlfried Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992, Sp. 1442–1472. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 15.€Aufl. Tübingen 1979, § 58, S.€280â•›ff., hat versucht, den Schuldbegriff jenseits jeder Pflicht nur im Sein bzw. Dasein zu verankern. Schuldigsein soll danach „Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein“, das heißt „Grundsein einer Nichtigkeit“ sein (S.€283). Das Dasein soll als solches schuldig sein, weil die Sorge als Sein des Daseins in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt sein soll (S.€285). „Seiendes, dessen Sein Sorge ist, kann sich nicht nur mit faktischer Schuld beladen, sondern ist im Grunde seines Seins schuldig, welches Schuldigsein allererst die ontologische Bedingung dafür gibt, daß das Dasein faktisch existierend schuldig werden kann. Dieses wesenhafte Schuldigsein ist gleichursprünglich die existenziale Bedingung der Möglichkeit für das ‚moralisch‘ Gute und Böse, […].“ Diese Interpretation impliziert eine extreme, von einer bestimmten ontologischen Theorie abhängige Ausweitung des Schuldbegriffs.
1. Schuld
353
eröffnet genau zwei Handlungsalternativen: ihre Erfüllung und ihre Nichterfüllung. Die sekundäre Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit setzt nun zwar notwendig eine Pflicht im Sinne der ersten Bedeutung der Schuld voraus, knüpft aber nur an eine dieser beiden Handlungsalternativen der primären Schuld als Pflicht an, die Nichterfüllung der Pflicht. Die Schuld als Pflicht, also die erste Bedeutungsalternative, kann ihren Ursprung in allem Möglichen haben: Gott, Moral, Freundschaft, Recht, Vertrag. Innerhalb der Schuld als Pflicht gibt es aber eine spezielle Art, die ihren Ursprung gerade in einer Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit, also der zweiten Bedeutungsalternative, hat. Man kann insofern von einer Schuld als Pflicht aufgrund einer Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit sprechen. Wenngleich ebenfalls von der Art einer Pflicht ist diese tertiäre, aus einer Pflichtwidrigkeit erwachsende Schuld von der primären Pflicht, welche Voraussetzung der sekundären Pflichtwidrigkeit ist, in der Realität strikt zu unterscheiden. Es ergeben sich also folgende asymmetrische Relationen: Pflicht 1 (Schuld1) → Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit 1 (Schuld2) → Pflicht€2 (Schuld1) Bei der tertiären Schuld als Pflicht aufgrund einer Pflichtwidrigkeit stellt sich nun natürlich wieder die Frage der Erfüllung oder Nichterfüllung mit der einen Möglichkeit der Nichterfüllung als quartärer Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit. Und so lässt sich diese Kette der Relationen von Pflichten und Verantwortlichkeiten für eine Pflichtwidrigkeit bzw. Schuld in der ersten Bedeutung als Pflicht und in der zweiten Bedeutung als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit grundsätzlich endlos verlängern: Pflicht╯1 (Schuld1) → Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit 1(Schuld2) → Pflicht╯2 (Schuld1) → Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit 2 (Schuld2) → Pflicht╯3 (Schuld1) → Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit 3 (Schuld2) → Pflicht╯4 (Schuld1) → … In der Praxis finden derartige Pflicht-Pflichtwidrigkeitsketten natürlich irgendwann ein Ende. Ein Beispiel: Jemand schuldet seinem Freund eine Gefälligkeit, etwa eine Einladung (1). Beide vereinbaren ein Abendessen in einem Restaurant. Erfüllt er seine Pflicht nicht, handelt er also pflichtwidrig (1), so schuldet er seinem Freund neben einer Entschuldigung die Nachholung der Gefälligkeit, also eine Einladung zum Essen zu einem anderen Zeitpunkt (2). Beide vereinbaren einen anderen Abend: Erfüllt er seine Pflicht wieder nicht, handelt er also zum zweiten Mal pflichtwidrig (2), so schuldet er seinem Freund neben einer weiteren Entschuldigung die Nachholung der Gefälligkeit, also eine Einladung zum Essen zu einem dritten Zeitpunkt (3). Und wieder kann er pflichtwidrig handeln und das Treffen platzen lassen (3). Das könnte prinzipiell bis zum Tod eines der beiden so weitergehen, wiewohl der Eingeladene in der Realität sicher irgendwann von seinem unzuverlässigen Kumpan genug haben und auf weitere Einladungen ohne verlässlichen Realisierungswillen beim Anderen verzichten wird.
354
XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit
Es gibt also drei, nun näher zu erläuternde Möglichkeiten der Schuld: die Schuld als Pflicht, die Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit und die Schuld als Pflicht aufgrund einer Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit.
a)€Schuld als Pflicht Der Pflichtbegriff wurde schon in den Kapiteln VII, 2 und VIII, 1 näher charakterisiert. Wie erwähnt kann sich eine Pflicht und damit eine Schuld als Pflicht, also eine Schuld in der ersten Bedeutung des Begriffs, aus allen möglichen Ursachen ergeben: Moral, Recht, Politik, Religion, Ethik. Bei bloß instrumentellen und von unserer Zustimmung abhängigen Normordnungen, wie den Konventionen, der Technik, der Medizin und den Ratschlägen des guten bzw. glücklichen Lebens gehen wir dagegen regelmäßig nicht davon aus, dass wir jemandem etwas „schulden“. Der Schuldbegriff umfasst also nicht alle Pflichten, sondern offenbar nur kategorische, die€– sind sie einmal mit oder ohne unsere Einwilligung entstanden€– in der Forderung nach Erfüllung nicht von unserer Zustimmung abhängen. Das legt auch der Zusammenhang zur zweiten Bedeutung des Schuldbegriffs als Pflichtwidrigkeit nahe, denn nur wenn wir kategorisch verpflichtet sind, kann unsere Nichterfüllung der Pflicht negativ bewertet werden. Bei nichtkategorischen Pflichten kann die Nichtzustimmung in der Nichterfüllung der Pflicht liegen oder es kann eine eigene, explizite Nichtzustimmungserklärung notwendig sein.
b) Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit Fraglich ist bei der Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit zunächst, ob die Nichterfüllung der Pflicht auch ohne Zutun, also Beteiligung bzw. Handlung eines Menschen eintreten kann oder nur mit Zutun, also Beteiligung bzw. Handlung eines Menschen. Im zweiten Fall stellt sich die weitere Frage, ob Handelnder und Schuldiger verschiedene Personen sein können, ob es also eine Schuld durch das Handeln Anderer geben kann, oder ob Beteiligter und Schuldiger identisch sein müssen. Die Schuld ohne Zutunâ•›/â•›Beteiligungâ•›/â•›Handlung eines Menschen findet sich allenfalls in archaischen Vorstellungen eines Schuldigwerdens durch das bloße Dasein oder das Schicksal und wird weder in der christlichen Religion oder anderen Weltreligionen noch im modernen Recht anerkannt, bleibt aber als Möglichkeit im Rahmen des Schuldbegriffs. Eine Schuld mit Zutunâ•›/â•›Beteiligungâ•›/â•›Handlung von Menschen, aber ohne Identität zwischen Handelnden und Schuldigem wird etwa durch die christliche Lehre von der Erbsünde im Alten Testament im Hinblick auf das Handeln durch Adam und Eva angenommen, wobei aber nach der allgemeinen Sündenlehre nur derjenige schuldig werden kann, der eine Handlung begangen hat. Die These von einer Kollektivschuld oder Sippenschuld für die Verbrechen eines Volkes oder einer Sippe ist eine politischsäkulare Ausprägung dieser Variante einer Schuld ohne Identität zwischen Handelndem
1. Schuld
355
und Schuldigem. Eine Erbsünde oder Kollektiv- bzw. Sippenschuld lässt sich nur religiös-transzendent begründen. Nimmt man dagegen eine säkular-immanente Perspektive ein, so schließt der normative Individualismus eine Schuld ohne Identität zwischen Handelndem und Schuldigem aus. Sind die Individuen letzter Ursprung der ethischen Rechtfertigung bzw. Kritik, dann muss es für die Beurteilung der Pflichtwidrigkeit gerade auf das Handeln desjenigen Individuums ankommen, das schuldig oder unschuldig sein soll. In den säkular-immanenten Normordnungen, also in der Moral, in der Politik, im Recht, in der Erziehung und in der nicht auf die Religion bezogenen Ethik, lässt sich somit eine Kollektiv- oder Sippenschuld nicht rechtfertigen. Das moderne Recht ist durch das Schuldprinzip im weiteren Sinn gekennzeichnet, wonach nur derjenige schuldig ist bzw. zur Verantwortung gezogen werden kann, dessen Handlung die Pflichtwidrigkeit (mit-)herÂ�beiÂ�geÂ�führt hat. Es gilt also die dritte Alternative, wonach die Schuld grundsätzlich nur mit Zutunâ•›/â•›Beteiligungâ•›/â•›Handlung des Schuldigen eintreten kann. Dabei ist des Weiteren fraglich, was unter Zutunâ•›/â•›BeteiliÂ�gungâ•›/â•›HandÂ�lung des Schuldigen zu verstehen ist. In manchen Bereichen des Zivilrechts genügt dafür im Rahmen einer sog. Gefährdungshaftung die bloße Eröffnung einer Gefahr für andere, etwa durch Kraftfahrzeuge, Flugzeuge oder Atomkraftwerke, und die kausale Verursachung bzw. das pflichtwidrige Unterlassen der Verhinderung. Für das allgemeine Schadensrecht und das Strafrecht wird dagegen Vorsatz oder Fahrlässigkeit erwartet.2 Auch für die Moral gilt dies, denn der notwendige Bezug der Moral auf innere Überzeugungen macht es erforderlich, das handlungsleitende Ziel bzw. die Absicht als drittes und wesentliches Element der Handlung im weiteren Sinn (Kapitel€III, 1) zu berücksichtigen. Die Schuld durch Pflichtwidrigkeit kann durch Rechtfertigungsgründe, etwa Notwehr, oder Entschuldigungsgründe, etwa Schuldunfähigkeit wegen Volltrunkenheit, ausgeschlossen werden.
c) Schuld als Pflicht aufgrund einer Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit Ist eine Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit eingetreten, begründet dies neue Pflichten und damit eine Schuld im Sinne der ersten Begriffsbedeutung. In Betracht kommen etwa: (1) eine Pflicht zur nachträglichen Erfüllung der ursprünglichen Pflicht, (2) eine Pflicht zur Wiedergutmachung, das heißt zu Rückgabe, Ersetzung oder Schadensersatz, (3) eine Pflicht zur Entschuldigung. Den spezifischen ethischen Überlegungen der Schuldbewältigung bzw. der jeweiligen Normenordnung bleibt es überlassen, welche dieser tertiären Pflichten in welcher Reihenfolge und Ausgestaltung sie an die Pflichtwidrigkeit knüpft.3 2 3
Vgl. § 15 Strafgesetzbuch: Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht. Vgl. etwa zu einem wichtigen Teilaspekt: Lukas Meyer, Historische Gerechtigkeit, Berlin 2005.
356
XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit
2. Gerechtigkeit Wir gehen davon aus, dass Charaktere, Handlungen, Normen und Institutionen von Menschen gerecht oder ungerecht sein können. Gerechtigkeit ist demnach eine Eigenschaft menschlicher Charaktere, Handlungen, Normen und Institutionen, einschließlich beabsichtigter und fahrlässig bewirkter Folgen.4 Aber was unterscheidet dann die Gerechtigkeit von anderen Eigenschaften etwa des Charakters bzw. der Handlungen wie Klugheit, Mäßigkeit, Tapferkeit, Rationalität, Zweckmäßigkeit oder Wohlwollen? Die anderen Eigenschaften des menschlichen Charakters sowie menschlicher Handlungen, Normen und Institutionen können vollständig ohne jeden Bezug zu Anderen verstanden werden. Wir können etwa in Situationen, die grundsätzlich erst einmal nur uns selbst betreffen, zum Beispiel im Fall eigener Schmerzen, klug, besonnen oder tapfer, nicht aber gerecht handeln. Man kann sich angesichts einer Lawine klug, besonnen oder tapfer verhalten, nicht aber gerecht. Und wir können ein funktionsunfähiges Werkzeug rational und effizient reparieren, nicht aber gerecht. Selbst das Wohlwollen, das sich im Regelfall auf Andere richtet, können wir ausschließlich auf uns selbst beziehen. Wir wollen dann unser eigenes Wohl. Die Gerechtigkeit ist dagegen im normalen Verständnis des Begriffs€– dies ist entscheidend, und Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin haben es bereits festgestellt5€– immer auf Andere bezogen, das heißt auf andere Wesen, die moralische und ethische Berücksichtigung verdienen.6 Die Gerechtigkeit ist deshalb immer eine Tugend oder Eigenschaft einer Handlung oder Norm im Verhältnis zu Anderen, also eine relationale Eigenschaft. Institutionen als kollektive Handlungen implizieren notwendig eine solche oder vergleichbare relationale Eigenschaft. Ist das Merkmal des notwendigen Bezugs auf Andere für die Gerechtigkeit spezifisch, dann erscheint es zum Verständnis der Gerechtigkeit zuallererst notwendig, dieses Merkmal, das heißt die grundlegenden Relationen zu Anderen aufzuklären. Relationen sind nun aber wesentlich, wenn auch nicht ausschließlich, durch ihre Relata charakterisiert. Deshalb wird man auch für die Gerechtigkeit zunächst die möglichen Relata bestimmen müssen. Lässt man einmal im Rahmen einer säkularen Ethik Gott und aus Gründen der Vereinfachung auch nichtmenschliche Lebewesen außer Betracht, so bleiben nur die menschlichen Lebewesen als Relata des relationalen Aspekts der Gerechtigkeit übrig. Die grundlegendste Relation lautet dann: A hat Charaktereigenschaften, führt Handlungen aus oder setzt Normen, die im Verhältnis zu B als gerecht zu bewer4
5 6
Vgl. zum Folgenden: Verf., On the Structures of Justice and Its Application to Global Justice, in: Hans G. Ulrichâ•›/â•›Stefan Heuser (Hg.), Political Practices and International Order, Münster 2008, S.€168–183. Die metaphysische Frage, ob nichtmenschliche Seiende wie Gott€– sofern sie bestehen€– als gerecht oder ungerecht angesehen werden können, wird hier beiseite gelassen. Platon, Eutyphron 12e6–8; Gorgias 507a10; Aristoteles, Nikomachische Ethik V 3, 1129b25â•›ff.; V, 15, 1138a4â•›ff., Thomas von Aquin, Summa Theologica II–II, qu. 57, 1, 58, 2. Die ethische Frage, welche Wesen neben Menschen moralische und ethische Berücksichtigung verdienen, wurde im vorigen Kapitel€erörtert. Es ist nicht vollkommen ausgeschlossen, dass neben der Gerechtigkeit auch andere menschliche Charaktereigenschaften notwendig auf Andere bezogen sind, etwa das Mitleid.
357
2. Gerechtigkeit
ten sind. Für B gilt das Gleiche gegenüber A, so dass man wechselseitige relationale Eigenschaften feststellen kann:7
A
B
Die Tradition spricht insofern von „iustitia generalis“ oder „iustitia universalis“.8 Die Frage nach der Gerechtigkeit ist bis hierher der allgemeinen Frage nach der Berücksichtigung Anderer in der normativen Ethik äquivalent, allerdings mit vier Beschränkungen: Die Kennzeichnung als „gerecht“ ist erstens eine Wertung und keine Normierung. Wie bei den anderen Wertungen der Ethik kann aus der Wertung nicht ohne Weiteres auf die Normierung geschlossen werden.9 Wird also etwa eine Situation als ungerecht bewertet, so impliziert das noch nicht logisch oder auch nur faktisch notwendig die Pflicht zu ihrer Veränderung, weil vielleicht eine Herbeiführung der Veränderung nicht möglich, nicht verhältnismäßig oder ein Verpflichteter nicht bestimmbar ist. Die Gerechtigkeit umfasst zweitens keine bloßen Fragen des guten Lebens, des Ethos. Fragen des guten Lebens betreffen Andere nicht in moralischer Hinsicht und können nicht zu kategorischen Normen führen. Eine Frage des guten Lebens wäre etwa, ob jemand mit seinem Freund am Nachmittag Tennis spielen will. Das kann kein Problem der Gerechtigkeit sein, jedenfalls sofern aus der Freundschaft keine solche Pflicht zu einer Gefälligkeit entstanden ist. Die Gerechtigkeit schließt drittens keine Pflichten gegen sich selbst ein. Auch wenn man also entgegen der Ergebnisse des Kapitels VIII derartige Pflichten gegen sich selbst annehmen würde, wären sie in jedem Fall nicht Teil der Gerechtigkeit.10 Die Gerechtigkeit umfasst schließlich viertens keine supererogatorischen Handlungen. Supererogatorische Handlungen mögen moralisch und ethisch gut sein. Sie lassen sich aber nicht als gerecht bezeichnen. Vermutlich wegen dieser Beschränkungen gewinnt der Begriff der Gerechtigkeit im einfachen, individualethischen Verhältnis keine besondere Bedeutung. Verletzt etwa A den B ohne Grund, so kann man zwar sagen, A habe B ungerecht behandelt. Aber man wird doch eher von einem moralisch schlechten, unmoralischen oder unethischen Ver7
Man könnte das berühmte Fragment des Anaximander, das von Simplicius überliefert wurde, als erste Erwähnung der intersubjektiven Gerechtigkeit ansehen. Vgl.â•›G.â•›S.€Kirkâ•›/â•›J.â•›E. Ravenâ•›/â•›M. Schofield, The Presocratic Philosophers, 2.€Aufl. Cambridge 1983, S.€117–119. Allerdings beschränkt sich das Fragment nicht auf Individuen und hat nicht nur einen ethischen, sondern einen weiter gehenden metaphysischen und ontologischen Sinn. Klare Erwähnungen sind Platon, Eutyphron 11e5â•›ff.; ders., Politeia 331c2â•›ff. 8 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1130b6â•›ff.; Thomas von Aquin, Summa Theologica II–II, qu. 58, 6, 7: „iustitia generalis“. Thomas von Aquin, Commentary on Aristotle’s Nicomachean Ethics, übersetzt von C.â•›I. Litzinger, Indiana 1993, S.€284â•›ff. 9 Vgl. ausführlich dazu: Verf., Deskription, Evaluation, Präskription, S.€280â•›ff. 10 Es gibt zwar im Deutschen den Ausdruck der „Selbstgerechtigkeit“. Aber dieser Ausdruck bezieht sich zum einen auf Andere und hat zum anderen nur eine übertragene Bedeutung, richtet sich also nicht auf die Gerechtigkeit im genuinen Sinn. Der vergleichbare englische Terminus „self-righteous“ zeigt dies deutlicher.
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XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit
halten oder eben von einer „Verletzung“ sprechen. Stärkere Bedeutung erlangt der Gerechtigkeitsbegriff erst in einem engeren Verständnis, also als Gerechtigkeit im engeren Sinn, und zwar wenn das Ideal der Gleichheit hinzutritt.11 Dafür sind zwei prinzipielle Alternativen denkbar: (1) Die jeweiligen Relationen zwischen A und B können miteinander verglichen werden. Man kann also nicht nur isoliert fragen, ob A den B und ob B den A richtig behandelt hat, sondern auch, ob die wechselseitigen Behandlungen von A und B dem Ideal der Gleichheit genügen. Dabei können die jeweils isolierten Behandlungen des B durch A und umgekehrt moralisch und ethisch einwandfrei sein, während sie im Vergleich zueinander als ungerecht bewertet würden. A kann B etwa außerordentlich zuvorkommend behandeln, während B A nur normal behandelt. Das Handeln beider gegenüber dem jeweils Anderen ist isoliert moralisch und ethisch erlaubt. A handelt hier supererogatorisch, während B das Pflichtgemäße tut. Aber die Relation zwischen beiden Handlungen kann im Hinblick auf das Ideal der Gleichheit als ungerecht angesehen werden. B hat durch die außerÂ�ordentlich zuvorkommende Handlung des A einen Vorteil erlangt. Nun wird man diesen Vorteil noch nicht als ungerecht ansehen, wenn beide Handlungen nicht aufeinander bezogen sind. Es steht A frei, den B nur normal zuvorkommend zu behandeln und nichts Überpflichtgemäßes zu tun. Sind aber beide Handlungen aufeinander bezogen, so entsteht ein wechselseitiges Austauschverhältnis. A handelt, weil B handelt, und umgekehrt. Ist dies der Fall, dann ergibt sich die Erwartung der Gleichheit, denn niemand hat eine Rechtfertigung, ohne weiteren Grund einen Vorteil aus diesem Tauschverhältnis zu ziehen. Tauschen also A und B bewusst Höflichkeiten aus, so werden sie die berechtigte Erwartung der Gleichbehandlung entwickeln, wenn kein weiterer Grund vorliegt. Der Tausch kann sich dabei auf alle möglichen Handlungen und Güter beziehen. Diese elementare Form der Gerechtigkeit im engeren Sinn zwischen zwei Personen ist diejenige der wechselseitigen Tauschgerechtigkeit.12 Sie ist nicht auf den Tausch von Gütern beschränkt:13
A
B
11 Die zentrale Bestimmung der Gerechtigkeit im engeren Sinn durch das Ideal der Gleichheit ist immer wieder betont worden. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 1129a26â•›ff., und Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, S.€108â•›ff. 12 Peter Koller, Internationale Ordnung und globale Gerechtigkeit, in: Information Philosophie März 2009, S.€8â•›ff., plädiert für vier Arten der Gerechtigkeit, die er ohne Hierarchisierung in folgender Reihenfolge aufführt: Tauschgerechtigkeit, Politische Gerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Korrektive Gerechtigkeit. 13 Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, S.€85â•›ff., sieht dagegen die Verteilungsgerechtigkeit als primär an. Die Tauschgerechtigkeit sei nur sekundär und diene lediglich der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung eines Zustandes, dessen anfängliche Herstellung ein Gebot des Prinzips der Verteilungsgerechtigkeit war. Aber unser Beispiel zeigt, dass dies allenfalls für die spezifische Situation einer Güterverteilung innerhalb einer Gesellschaft gelten kann, nicht aber allgemein für Handlungen und nicht für Mitglieder unterschiedlicher Gesellschaften.
359
2. Gerechtigkeit
Um die Darstellung zu vereinfachen, wird diese Verbindung der beiden wechselseitigen Relationen zwischen A und B in einem Tauschverhältnis mit einem Doppelpfeil gekennzeichnet:
A
B
(2) Zu den zwei Personen A und B kann aber auch noch ein dritter, handlungs- und berücksichtigungsrelevanter Pol hinzutreten. Dafür gibt es wiederum zwei Möglichkeiten. Es kann sich bei diesem dritten Pol zum einen um eine dritte Person C und zum andern um die schon beteiligten A und B in Form einer Gemeinschaft handeln. A + B oder C
A
B
Allerdings genügt in dieser zweiten Alternative das bloße Hinzutreten des dritten Pols noch nicht. Die Gerechtigkeit im engeren Sinn steht vielmehr nur in Rede, wenn ein Gesichtspunkt ins Blickfeld rückt, der sich nur in derartigen Drei- und Mehrpersonenverhältnissen überhaupt ausprägen kann: die Frage der Gleichheit oder Ungleichheit mit Bezug auf eine der drei Personen, die man als Gerechtigkeitspol bezeichnen kann, also C (oder A oder B) oder die Gemeinschaft von A und B. Der Gesichtspunkt der Gleichheit bzw. der Ungleichheit führt dazu, dass die Relationen von A und B im Verhältnis zum Gerechtigkeitspol C oder A+B eine spezifische Gerechtigkeitsdimension gewinnen, dass also ein Aspekt der Gleichheit zur normalen moralischen bzw. ethischen Relation und der Relation der Tauschgerechtigkeit hinzutritt: A+B/C
(2)
(2)
A
B (1)
360
XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit
Möglich ist dabei die Gleich- oder Ungleichheit zum Ersten im Hinblick auf die Berücksichtigung, also die Gleich- oder Ungleichberücksichtigung, zum Zweiten mit Bezug auf die Handlung, also die Gleich- oder Ungleichbehandlung, und drittens mit Bezug auf die Betroffenen und das Ergebnis der Handlung, also die Gleich- oder Ungleichstellung. Dabei ist der spezifische Aspekt der Gerechtigkeit in derartigen individualethischen Verhältnissen nicht permanent auf C gegenüber A und B festgelegt, sondern kann natürlich in anderen Situationen auch bei A gegenüber B und C oder bei B gegenüber A und C liegen. Ein Beispiel: Laden A, B und C einander wechselseitig zu selbstgemachtem Kuchen ein, so stellt sich reihum für den jeweiligen Gastgeber neben den normalen Verpflichtungen zur moralischen und ethischen Behandlung der Anderen die Frage der Gleich- oder Ungleichverteilung der Kuchenstücke. Die Tatsache, dass einem Pol, in unserem Beispiel A+B oder C, als Gerechtigkeitspol eine besondere Bedeutung zukommt, führt zu einer weiteren wichtigen Konsequenz: Die Relationen zwischen dem Gerechtigkeitspol A+B oder C und den anderen Personen A und B sind asymmetrisch. A und B können etwa ganz unterschiedlich zu ihrer Gemeinschaft A+B beitragen oder dem C ganz divergente Geschenke mitbringen und ihn insofern ungleich bzw. ungerecht behandeln. Das ist die beitragende Gerechtigkeit oder Beitragsgerechtigkeit (2). Diese Verpflichtung kann aber auch die umgekehrte Richtung annehmen. A+B bzw. C sind etwa aufgefordert, A und B gleich zu behandeln. Das ist die verteilende Gerechtigkeit oder Verteilungsgerechtigkeit (3). Man muss die jeweils bestehende Asymmetrie zum Gerechtigkeitspol je nach der in Frage stehenden Handlungsrichtung dann auch graphisch aufspalten: A+B/C
(2)
(3)
(3)
A
(2)
B (1)
In einem speziellen Fall erfordert die mögliche Vereinigung der beiden Relationen von A+B bzw. C zu A und von A+B bzw. C zu B aber noch eine besondere Beachtung: wenn sich das Handeln von A+B bzw. C direkt auf das Tauschverhältnis (1) zwischen A und B bezieht. Diese Bezugnahme beschränkt sich nun nicht nur auf das Verhältnis zwischen A und B im Sinne der Gerechtigkeit im engeren Sinn der Tauschgerechtigkeit, sondern kann sich auf alles Handeln beziehen, also auch Handeln im Sinne der Gerechtigkeit im weiteren Sinn, das heißt die einzelnen wechselseitigen Relationen zwischen A und B,
361
2. Gerechtigkeit
bevor sie unter dem Gesichtspunkt der Tauschgerechtigkeit zusammengefasst werden. Man spricht insofern von korrigierender Gerechtigkeit oder Korrekturgerechtigkeit (4): A+B/C
(2)
(3)
(3)
(2)
(4) A
B (1)
In Anlehnung an Platon und Aristoteles kann man diese Relationen der Gerechtigkeit im engeren Sinn, die allerdings regelmäßig mit Bezug auf Gemeinschaften als Gerechtigkeitspol entfaltet wurden, wie folgt systematisieren:14 (1) Hinsichtlich der Austauschrelation bzw. der Tauschgerechtigkeit spricht die Tradition von der „iustitia commutativa“. (2) Die Relationen der einzelnen Menschen A und B zum Gerechtigkeitspol A+B oder C finden sich€– mit Bezug auf die politische Gemeinschaft€– bereits bei Platon.15 Sie wurden im Mittelalter „iustitia legalis“ genannt.16 Besser erscheint wie gerade erwähnt „beitragende Gerechtigkeit“ oder „Beitragsgerechtigkeit“, weil nicht nur die Befolgung von Gesetzen verlangt wird, sondern ein Beitrag. (3) Die Relation des Gerechtigkeitspols A+B bzw. C zu den einzelnen Menschen A und B, die nicht als Gerechtigkeitspol angesehen werden, wird ebenfalls bereits bei Platon erwähnt,17 wurde aber vor allem von Aristoteles sorgfältig entwickelt.18 Sie wurde traditionell „iustitia distributiva“ genannt.19 Die deutsche Übersetzung lautet „verteilende Gerechtigkeit“ oder „Verteilungsgerechtigkeit“. 14 Dabei kann keine als vorrangig gekennzeichnet werden. Otfried Höffe, Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln. Philosophische Versuche zur Rechts- und Staatsethik, Stuttgart 1988, S.€56, und ders., Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt a.â•›M. 1987, S.€382â•›ff., plädiert dagegen für einen Vorrang der Tauschgerechtigkeit. 15 Platon, Charmides 161b5â•›ff.; Politeia 370a4; 433a1â•›ff.; Neunter Brief; Alkibiades I 127a14â•›ff.; Aristoteles, Nikomachische Ethik, V 2, 1129a33â•›ff. 16 Thomas von Aquin, Summa Theologica II–II, qu. 58, 6, 9 ad tertium; ders., Commentary on Aristotle’s Nicomachean Ethics, S.€293â•›ff. 17 Platon, Politeia 433e12â•›ff. 18 Aristoteles, Nikomachische Ethik V 5, 1130b33â•›ff. 19 Thomas von Aquin, Summa Theologica II–II, qu. 61, 1â•›ff.; ders., Commentary on Aristotle’s Â�Nicomachean Ethics, S. 284â•›ff.
362
XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit
(4) Die Relation des Gerechtigkeitspols zu der Beziehung zwischen mindestens zwei einzelnen Menschen wurde „iustitia correctiva“ oder „iustitia commutativa“ genannt. Der weitere Name „iustitia correctiva“ (korrigierende Gerechtigkeit oder Korrekturgerechtigkeit) verdient den Vorzug, weil zum einen nicht immer ein Tausch stattfindet, da sich die Korrektur auch auf einfache Handlungen der Gerechtigkeit im weiteren Sinn beziehen kann und zum anderen sonst die Gefahr der Verwechslung mit der Tauschgerechtigkeit im Verhältnis (1) besteht. Name
Handelnder-Betroffener
Erste Erwähnungen bei:
(1)
kommutative Ge�rechtig� keit, Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa)
Mensch A ←→ Mensch B
Anaximander, Sokrates, Platon, Aristoteles
(2)
beitragende Gerechtigkeit, Beitragsgerechtigkeit (iustitia legalis)
Menschen A, B → Gerechtigkeitspol A+Bâ•›/â•›C
Platon,€(Aristoteles), Thomas von Aquin
(3)
verteilende Gerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva)
Gerechtigkeitspol A+Bâ•›/â•›C → Menschen A und B
(Platon), Aristoteles
(4)
korri�gierende Gerechtigkeit, Korrekturgerechtigkeit (iustitia correctiva), (auch: iustitia commu�� tativa)
Gerechtigkeitspol A+Bâ•›/â•›C → Mensch A€– Mensch B
(Platon), Aristoteles
Mit Bezug auf jede dieser vier Strukturbestimmungen der Gerechtigkeit muss dann für konkrete Konflikte entschieden werden, wie die Abwägung der Belange der Betroffenen gemäß den oben entfalteten fünf Elementen der normativ-individualistischen Ethik erfolgen soll. Das heißt, die hier dargestellten formalen Gerechtigkeitsrelationen müssen material konkretisiert werden. Für die Gerechtigkeit in Gemeinschaften erfolgt eine weitere formale Konkretisierung in Kapitel€XV, 3. Für politische Gemeinschaften kann man noch eine spezifische fünfte Form der politischen Gerechtigkeit der Herrschaftsverhältnisse hinzufügen, etwa im Hinblick auf das Verfolgen legitimer Zwecke und die Unparteilichkeit der Herrscher.20
20 Peter Koller, Internationale Ordnung und globale Gerechtigkeit, S.€10.
3. Verantwortung
363
3. Verantwortung Der Begriff der Verantwortung hat wenigstens zwei wesentliche Bedeutungen:21 Nach einer weiteren Bedeutung umfasst er die Gesamtmenge der ethischen und sonstigen primären Pflichten.22 Die Frage nach der Verantwortung wäre danach nichts anderes als die allgemeine Frage der normativen Ethik, wie sie etwa in diesem Buch behandelt wurde. Nach einer engeren Bedeutung ist dagegen mit dem Begriff der Verantwortung nur eine Teilmenge nicht abstrakt konkretisierbarer oder konkretisierter Pflichten aus dieser Gesamtmenge der ethischen und sonstigen primären Pflichten gemeint.23 Die Verwendung des Verantwortungsbegriffs im Alltag scheint eher der zweiten Alternative zuzuneigen. Wir unterscheiden etwa genau, ob wir einem Lehrer konkrete Pflichten oder die allgemeine Verantwortung gegenüber seinen Schülern zuschreiben. Im Übrigen erscheint ein synonymer Begriff für den allgemeinen Begriff der Pflicht nicht erforderlich. Deshalb wird hier der engere Verantwortungsbegriff im Sinn einer Teilmenge des weiteren Verantwortungsbegriffs zugrunde gelegt. Verantwortung in diesem engeren Sinn meint also Pflichten, die nicht abstrakt konkretisiert oder konkretisierbar sind. Die VerantwortungsÂ�zuschreibung ist eine dreistellige Relation zwischen erstens einem Verantwortlichen bzw. Verantwortungssubjekt, also einem einsichtsfähig, ethisch bzw. primär-normativ Handelnden, zweitens einer Verantwortungsinstanz, also nach der normativ-individualistischen Ethik letztlich einem anderen ethisch zu berücksichtigenden Individuum, und drittens einem Verantwortungsobjekt, also einem seienden Ding, einem Individuum, einer Handlung oder einem Zustand, für welche der Verantwortliche die Verantwortung trägt.24 Verantwortungsinstanz und Verantwortungsobjekt können ein und dasselbe Individuum sein. Der Verantwortliche kann zur Übernahme der Verantwortung verpflichtet sein, etwa die Eltern für ihre Kinder, oder sie freiwillig übernehmen, etwa der Wachmann durch Unterzeichnung des Arbeitsvertrags für die Sicherheit des Werksgeländes. Was ist mit der Übernahme von Verantwortung genauer gemeint? Die Formulierung konkreter Handlungspflichten kann in bestimmten Fällen unmöglich oder zumindest unzweckmäßig sein. So ist es oft faktisch unmöglich, konkrete Zwecke anzugeben, oder zwar konkrete Zwecke, nicht aber konkrete Mittel für eine Handlung, etwa im Verhältnis zu anonymen Anderen, zum Beispiel der Weltbevölkerung oder zukünftigen Generationen. Auch der spezifische Normtyp der abstrakten Regelung kann verhindern, dass konkrete Handlungen bzw. Zwecke oder Mittel normiert werden können. Es ist etwa 21 Weitere Bedeutungen wären eine retrospektive Schuldzuweisung, wenn jemand wegen seines Handelns „zur Verantwortung gezogen wird“ und die Beschränkung auf eine konsequentialistische Ethik, wenn der „Gesinnungsethik“ die „Verantwortungsethik“ entgegengestellt wird. 22 Vgl. zu einem solchen Verständnis: Otto Neumeier, Moralische Verantwortung. Beiträge zur Analyse eines ethischen Begriffs, Paderborn u.â•›a. 2008, S.€104, 172, 105–172. 23 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.â•›M. 1984, S.€56â•›ff., verbindet damit eine Beschränkung auf die Wirkungen, also eine konsequentialistische Ethik. 24 Vgl. zu dieser dreifachen Relationalität mit etwas anderen Bezeichnungen: Otto Neumeier, Moralische Verantwortung, S.€175â•›ff.
364
XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit
notwendig, die Eltern zur allgemeinen Förderung des Kindeswohls zu verpflichten, also eine umfassende Verantwortung für das Kind zu statuieren. Angesichts der Komplexität des Eltern-Kind-Verhältnisses wäre es aber unmöglich, alle spezifischen Pflichten zur Konkretisierung dieser Verantwortung im Einzelnen zu spezifizieren. Häufig ist es auch einfach besser, einem Handelnden nur abstrakte Ziele zugunsten eines Verantwortungsobjekts vorzugeben, ihm aber die Wahl der konkreten Zwecke und Mittel zur Erreichung dieser Ziele zu überlassen. Zum einen kann dies effizienter sein, weil der Verpflichtete die erforderlichen konkreten Zwecke und Mittel besser kennt. Zum anderen kommt ein derartiger Verzicht auf die Normierung konkreter Zwecke und Mittel der Autonomie des Verpflichteten eher entgegen und ist deshalb auch ethisch gefordert. Die bloße Verpflichtung zur Verantwortung ist also „autonomie-schonender“ als die Verpflichtung zu konkreten Handlungen. Der normative Individualismus fordert deshalb, dort, wo es möglich ist, nur zu abstrakten Zielen, nicht aber zu konkreten Zwecken und Mitteln zu verpflichten. Ein wesentlicher Aspekt des Verantwortungsbegriffs setzt also an der grundsätzlichen handlungsÂ�theoreÂ�tiÂ�schen Unterscheidung von abstrakten Zielen, konkreten Zwecken und Mitteln an. Während Pflichten, sollen sie erfolgreich zu Handlungen anleiten, im Regelfall auch konkrete Zwecke und Mittel benennen müssen, kann die Zuschreibung von Verantwortung darauf verzichten und sich auf die Angabe abstrakter Ziele beschränken oder sogar mit der bloßen Pflicht zur Verantwortung gegenÂ�über einem Individuum, einer Handlung oder einem Zustand nur ein einziges abstraktes Ziel setzen: die Förderung dieses Individuums, dieser Handlung oder dieses Zustands.
4. Verhältnismäßigkeit Ebenfalls an der handlungstheoretisch grundlegenden Unterscheidung von Zielen und Mitteln setzt eine Verpflichtung an, die als Konkretisierung der Pflicht zur Abwägung aller Belange insbesondere im Recht mit seinen vielen sehr abstrakten Regelungen eine große Rolle spielt: das Gebot der Verhältnismäßigkeit.25 Eine Handlung kann nur ethisch, moralisch und rechtlich zulässig sein, wenn sie erstens ein legitimes Ziel verfolgt, zweitens das Mittel zur Erreichung dieses Ziels geeignet sowie drittens erforderlich ist, das heißt für alle Betroffenen das mildeste unter den gleichermaßen geeigneten Mitteln, und viertens zum angestrebten Ziel nicht außer Verhältnis steht, also nicht unangemessen bzw. unverhältnismäßig im engeren Sinne ist. Wann ein Ziel legitim, ein Mittel erforderlich sowie angemessen ist, sind selbstredend Wertungen. Diese Wertungen stellen Konkretisierungen der allgemeinen ethischen bzw. moralischen und rechtlichen Abwägung dar. So wäre etwa ein Mittel dann ohne Zweifel unangemessen, wenn es ein Interesse der Individualzone, also etwa Leib und Leben, zur Sicherung eines Interesses der Relativzone, also etwa eines Sachguts, opferte. 25 Vgl. in der Literatur grundlegend: Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht. Zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit, Köln 1961; Lothar Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Göttingen 1981; Rainer Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, München 1989.
XV. Individualethik und Sozialethik Eine zentrale Unterscheidung in der Ethik, die schon den Übergang zur Angewandten Ethik markiert, ist diejenige zwischen der Individualethik und der Sozialethik. Sie beruht auf einer Eigenschaft des Handelnden. Die Individualethik bezieht sich auf die Normierung von Handlungen und Entscheidungen des Akteurs für sich selbst, das heißt im eigenen Namen die Sozialethik auf die Normierung von Handlungen und Entscheidungen des Akteurs in Vertretung einer Gemeinschaft. Der Unterschied zwischen Individualethik und Sozialethik liegt also nicht darin, dass einer oder mehrere Akteure handeln. Das können sie sowohl für sich selbst als auch für eine Gemeinschaft. Der Unterschied liegt vielmehr in der Zuschreibung der Handlung zu einem bestimmten Urheber, also darin, ob der einzelne Akteur bzw. die Mehrzahl von Akteuren im einzelnen Fall für sich selbst handeln oder mit ihrem Handeln eine Gemeinschaft repräsentieren. Die Sozialethik umfasst die Ethik politischer Gemeinschaften, also die Ethik der Nationen, Staaten, Länder, Kommunen und internationalen Beziehungen (politische Ethik), und die Ethik nichtÂ�politischer Gemeinschaften, also die Ethik der Familien, Vereine, Kirchen, Unternehmen, Verbände (Sozialethik im engeren Sinn). Da die Unterscheidung zwischen Individualethik und Sozialethik auf einer Eigenschaft der Handelnden beruht, ist sie im Prinzip von der in der Einleitung erwähnten, auf Eigenschaften des Regelungstyps fußenden Unterscheidung zwischen Moral, Recht, Religion, Erziehung usw. unabhängig. Allerdings bevorzugen viele Gemeinschaften heute in der Praxis für ihre wichtigsten Entscheidungen den Regelungstyp des Rechts, so dass die Rechtsethik einen großen Teil der Normierungen der politischen und nichtÂ�Â�politischen Gemeinschaften umfasst. Die Schnittmenge zwischen Sozialethik und Rechtsethik ist also groß. Politische Gemeinschaften unterscheiden sich von anderen Gemeinschaften dadurch, dass sie für sich eine Kompetenz der Letztentscheidung mit relativer Aussicht auf Erfolg in Anspruch nehmen. Das bedeutet nicht, dass politische Gemeinschaften immer und in allen Fragen die letzte Entscheidung treffen. Aber sie beanspruchen die Möglichkeit, jede Entscheidung an sich zu ziehen. So überlassen etwa moderne marktwirtschaftliche Staaten die Entscheidung, welche Güter importiert und exportiert werden, im Wesentlichen ihren Bürgern und Unternehmen. Aber sie behalten sich vor, aus Gründen des Gemeinwohls den Import oder Export bestimmter Güter zu unterbinden, etwa in Deutschland den Import gefährdeter Tierarten oder den Export von Waffen.
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XV. Individualethik und Sozialethik
1. Der zentrale Unterschied: Gemeinschaft und Repräsentation Liegt der Unterschied zwischen Individualethik und Sozialethik nicht darin, dass einer oder mehrere Akteure handeln, sondern in der Zuschreibung der Handlung zu einem bestimmten Urheber, also darin, ob der einzelne Akteur bzw. die Mehrzahl von Akteuren im einzelnen Fall für sich selbst handeln oder mit ihrem Handeln eine Gemeinschaft vertreten, so stellt sich die Frage, was Vertretung (Repräsentation) genauer heißt. Natürlicherweise wird die Handlung eines Akteurs als Handlung für sich selbst angesehen. Hebt etwa jemand die Hand, so will er im Normalfall nach etwas greifen, sich strecken oder jemanden grüßen. Die Handlung ist aus einer natürlichen Perspektive seine eigene, denn er ist es, der etwas greift, sich streckt oder jemanden grüßt. Entsprechend wird die sie bestimmende Normierung oder Überzeugung von der Individualethik beurteilt. Das Heben der Hand wird nur dann zum Votum der Mitglieder im Vorstand eines Vereins oder zum Abstimmungsakt des Regierungschefs eines Staates auf einer Konferenz, wenn bestimmte Zuschreibungen es dazu erklären. Sie regeln etwa die Wahl einer Person zum Vorstandsmitglied oder Regierungschef und normieren dann, wann sein Handeln als Handeln der Gemeinschaft gilt. Jenseits einfacher, aus lose interagierenden Individuen bestehender Gemeinschaften wie Gesprächskreisen, Bands oder Fahrgemeinschaften stoßen wir also auf Gemeinschaften mit kollektiver Handlungsfähigkeit. Die Voraussetzung dieser kollektiven Handlungsfähigkeit ist eine Form von Vertretung der einzelnen Mitglieder, wobei „Vertretung“ weit zu verstehen ist, also „Vertretung im Handeln“ und damit auch „Vertretung im Wollen“ meint, nicht aber „Vertretung in den Belangen und Interessen“: Wir gehen davon aus, dass repräsentierendes Handeln der Gemeinschaft die Entscheidungen der Mitglieder der Gemeinschaft bewusst und gewollt ersetzt. Repräsentation soll hier also verstanden werden als die sozial zugerechnete Ersetzung unserer Handlungen als individuell handelnder Individuen durch die Gemeinschaft. Der Begriff der Repräsentation enthält zwei Momente, ein faktisch-naÂ�türÂ�liÂ�ches und ein sozial-konstruktives: die faktische Handlungs- bzw. Entscheidungsersetzung und die soziale Zurechnung. Letztere findet sich bereits bei Max Weber.1 Allerdings erhebt Weber die Repräsentation zum einen nicht zum notwendigen Merkmal von Gemeinschaften wie der politischen Gemeinschaft. Er spricht zum anderen nur von einer möglichen Repräsentation der bereits etablierten Gemeinschaft durch organschaftliche Repräsentanten wie den Monarchen oder das Parlament. Dies lenkt den Blick auf das Neuartige des soeben vorgestellten Repräsentationsbegriffs. Es soll zunächst zum besseren Verständnis am Spezialfall der politischen Gemeinschaft verdeutlicht werden: Repräsentation meint zunächst und vor allem die primäre Repräsentation der Bürger durch die politische Gemeinschaft. Die Vertretung der durch
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Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5.€ Aufl. Tübingen 1985, I, § 11, S.€25; III, § 21, S.€171â•›ff.
1. Der zentrale Unterschied: Gemeinschaft und Repräsentation
367
die primäre Repräsentation konstituierten politischen Gemeinschaft durch bestimmte einzelne Organe ist davon als bloß sekundäre Repräsentation strikt zu unterscheiden. Das konstitutive Moment der kollektiv handlungsfähigen Gemeinschaft liegt in der primären Repräsentation. Die sekundäre Repräsentation ist dann nur eine bestimmte Art und Weise, diese Handlungsfähigkeit praktisch werden zu lassen. Das bedeutet: Die sekundäre Repräsentation der Gemeinschaft durch ihre Organe setzt die primäre Repräsentation der Mitglieder durch die Gemeinschaft voraus, nicht aber umgekehrt, denn es kann ja direkt-demokratische Systeme geben. Die Repräsentation der politischen Gemeinschaft durch einzelne Organe oder Â�Politiker ist also nur Repräsentation in einem sekundären Sinne. Der Begriff der „Repräsentation“ wird hier demnach nicht wie in der weithin üblichen Unterscheidung in direkte und repräsentative Demokratie verstanden. Im Rahmen dieser Unterscheidung schrumpft der Repräsentationsbegriff zum bloßen Alternativmechanismus demokratischer Willensbildung. Dies birgt die Gefahr, die GrundÂ�struktur des Phänomens Politik zu verschleiern. Denn nicht nur die repräsentative Demokratie ist repräsentativ. Auch die direkte Demokratie ist es€– ja jede Form politischer Herrschaft, selbst die Diktatur. Auch ein Diktator bezieht sich im Rahmen der sekundären Repräsentation seines Volkes bzw. seiner politischen Gemeinschaft auf die primäre Repräsentation der einzelnen Menschen durch die politische Gemeinschaft. Er repräsentiert als sekundärer Repräsentant der Gruppe von Menschen, die er beherrscht, auch in einem primären Sinne die einzelnen Menschen, weil er ihre Entscheidungen ersetzt, einschränkt oder ergänzt. Hitlers Entscheidungen muss man deshalb€– auch wenn sich alles in einem dagegen sträubt€– aus einer deskriptiv-interÂ�preÂ�tatorischen Perspektive als politische Repräsentation der Deutschen jener Zeit ansehen. Hitler wollte das deutsche Volk und damit jeden einzelnen Deutschen repräsentieren. Eine Mehrheit hat dies wohl zumindest für einen gewissen Zeitraum akzeptiert. Allerdings ist mit dieser faktischen Repräsentation im Handeln und Wollen natürlich keine legitime, normativ-rechtfertigende Repräsentation in den Belangen und Interessen impliziert. Jegliche faktische ReÂ�präsentation muss klar von einer etwaigen legalen oder gar ethisch legitimen Repräsentation unterschieden werden. Das bedeutet: Auch wenn man zugestehen muss, dass die Entscheidung eines Diktators wie Hitler die ihm unterÂ�worÂ�feÂ�nen Menschen faktisch in doppelter Form sekundär und mittelbar dann auch primär repräsentiert hat, war diese Repräsentation deshalb noch lange nicht legal,2 das heißt den Gesetzen gehorchend, oder gar ethisch legitim, das heißt gerecht und damit gerechtfertigt. Ein großer Teil der politischen Entscheidungen in GeÂ�schichte und Gegenwart war illegal und illegitim. Trotzdem wird man nicht umhin können, ihren repräsentativen Charakter anzuerkennen. Man muss vielmehr noch einen Schritt weitergehen: Man muss sich verdeutlichen, dass erst die Qualifikation einer Entscheidung als faktisch repräsentierend die Frage nach
2
Vgl. zur zweifelhaften Legalität der Machtergreifung Hitlers: Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 2.€Aufl. München 2001, S.€481.
368
XV. Individualethik und Sozialethik
ihrer normativen Legalität und Legitimität in einer gehaltvollen, nichttrivialen Weise als sozialethische Frage auslöst. Denn gerade die Ersetzung der eigenen Handlung und des eigenen Wollens durch die Repräsentation macht die Repräsentation gegenüber dem Repräsentierten nicht nur individual- sondern auch sozialethisch rechtfertigungsbedürftig. Aber was wäre mit einer idealen direkten Demokratie, also einer Demokratie, in der alle Entscheidungen immer direkt von allen betroffenen Bürgern gefällt werden? Wäre auch sie als repräsentativ in dem hier erläuterten weiteren Sinn zu qualifizieren? Man sollte sich klarmachen, dass real existierende direkte Demokratien in Geschichte und Gegenwart weit hinter dem Idealbild einer permanenten und vollständigen direkten Demokratie zurückgeblieben sind und zurückbleiben. Auch in der attischen Demokratie wurde nur ein Teil der politischen Entscheidungen von „allen“ Bürgern getroffen, wobei es sich nur um die männliche Bevölkerung unter Ausschluss bestimmter Bewohner wie der Metöken handelte. Die Ausführung lag in den Händen von sekundär repräsentierenden politischen Organen. Ähnliches gilt in der Gegenwart für die Schweiz. Aber selbst wenn eine permanente und vollständige direkte Demokratie realisierbar wäre, hätte die politische Entscheidung aller versammelten Bürger ebenfalls repräsentativen Charakter in einem primären Sinne. Auch wenn im Rahmen einer derartigen Versammlung jeder Einzelne immer an allen Entscheidungen beteiligt wäre, wären die Entscheidungen doch andere, als wenn er selbst entschiede. Denn wenn alle beteiligt sind, kann er nicht wie bei einer einzelnen Entscheidung in jedem Fall seinen Willen verwirklichen. Die Anderen haben entweder ein Vetorecht oder müssen dem Einzelnen zumindest die alleinige Entscheidungsgewalt übertragen. Das bedeutet: Jede kollektive Entscheidung mit Zukunftswirkung repräsentiert die jeweiligen Teilnehmer in ihren möglichen Einzelentscheidungen. Auch eine fiktive permanente und vollständige direkte Demokratie wäre demnach in diesem Sinne immer und notwendig primär repräsentativ, sofern die Entscheidung in irgendeiner Weise normativ fortwirkt, das heißt eine zeitliche Dimension in die Zukunft hat und damit individuelles Entscheiden ersetzt. Politische Organe, welche die politische Gemeinschaft in einem engeren sekundäÂ� ren Sinne repräsentieren, tun dies in doppelter Weise. Sie repräsentieren zum einen die politische Gemeinschaft direkt als Ganze (sekundäre Repräsentation) und zum anderen indirekt deren Repräsentation des Handelns des Einzelnen (primäre Repräsentation). In der politischen Philosophie gab es häufig Versuche, den repräsentativen Charakter politischer Entscheidungen zu überwinden und eine Identität zwischen politischem Entscheider und Volk zu konstruieren, etwa bei Rousseau oder Carl Schmitt.3 Volk und Herrscher sollten im Idealfall identisch werden. In der reinen Demokratie soll es nur die Identität des anwesenden Volkes mit sich selbst, aber keine Repräsentation geben. Das Programm einer derartigen Identität des Volkes mit sich selbst oder von Volk und Herrscher ist häufig als utopisch qualifiziert worden. Aber diese Qualifikation
3
Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social; Carl Schmitt, Verfassungslehre, 8.€Aufl. Berlin 1993, S.€235╛f.
2. Mitglieder und Nichtmitglieder
369
ist zu schwach, weil sie die Grundstruktur des Politischen und jeder Gemeinschaftsbildung missachtet. Die Identität des Volks mit sich selbst oder mit dem Herrscher ist nicht utopisch im Sinne eines „Nichtortes“ der möglichen Realisierung aufgrund äußerer Umstände. Sie ist selbstwidersprüchlich und deshalb „unpolitisch“, weil sie die Bedingungsstruktur des Politischen aufhebt. Identisch kann allenfalls der Einzelne mit sich selbst sein (und selbst dies wird heute in der Philosophie des Geistes bezweifelt). Wird er Teil einer kollektiv handelnden und zukunftsbestimmenden Gruppe, so impliziert das notwendig eine strukturelle Nichtidentität der Gruppe mit ihm selbst und seinen Entscheidungen als Einzelner und damit eine unaufhebbare Repräsentation im primären Sinn. Nimmt man dann noch einen repräsentierenden Vertreter hinzu, so kann dieser wiederum nicht identisch mit den einzelnen Bürgern oder der Gemeinschaft sein. Die Identitätslehre leugnet demnach zwei unaufhebbare Repräsentations- und damit Ersetzungsbeziehungen: die primäre Repräsentation der Mitglieder durch die Gemeinschaft und die sekundäre Repräsentation der Gemeinschaft durch ihre Organe.
2. Mitglieder und Nichtmitglieder Wird eine Gemeinschaft durch das Handeln ihrer Organe repräsentiert, so führt das unter der Annahme, dass nicht alle ethisch zu berücksichtigenden Wesen Mitglieder dieser Gemeinschaft sind, bei den von diesem Handeln Betroffenen zu einer wesentlichen Differenzierung. Bei den Betroffenen kann es sich einerseits um Mitglieder oder andererseits um Nichtmitglieder der Gemeinschaft handeln. Man spricht auch von einem „Innenverhältnis“ und einem „Außenverhältnis“ oder von „Teilnehmern“ und „Nichtteilnehmern“. Bei einem Verein gibt es etwa Vereinsmitglieder und Nichtmitglieder, bei einem Staat Staatsbürger und Nichtstaatsbürger, wobei diejenigen, die in dem Staat leben, ohne Staatsbürger zu sein, eine dritte, besonders zu berücksichtigende Gruppe darstellen. Handelt schließlich die Menschheit als Ganze, etwa wenn sie große Umweltveränderungen bewirkt, so bleiben immer noch die nichtmenschlichen Lebewesen, die Tiere und Pflanzen, als von diesem Handeln der Menschheit betroffene Nichtmitglieder. Die Spaltung der Betroffenen jedes repräsentativen Handelns für eine Gemeinschaft in Mitglieder und Nichtmitglieder hat eine zentrale Konsequenz: Man muss bei der ethischen Beurteilung einer Handlung klar zwischen beiden Gruppen unterscheiden. Die Bewertung der Beeinträchtigung der Nichtmitglieder (seien es Individuen oder Kollektive), also die Bewertung des Handelns im Außenverhältnis, kann sich dabei nicht prinzipiell von derjenigen der individuellen Handlung eines Einzelnen unterscheiden. Für die Beurteilung einer Handlung ist es zum Beispiel nicht wesentlich, ob jemand von einer einzelnen Person als Privatperson oder als vertretungsberechtigtes Vorstandsmitglied eines Vereins betrogen wird. Und es ist nicht entscheidend, ob jemand von einer einzelnen Person als Privater oder von der Armee eines Staates getötet wird. Die oben entfalteten Normen der Ethik der Berücksichtigung Anderer gelten insofern prinzipiell in gleicher Weise, also die Bewertung der Interessen als solche der Individual-, Relativ-
370
XV. Individualethik und Sozialethik
und Sozialzone, die Unterlassens-, Hilfs- und Gemeinschaftspflichten usw. Die einzige zentrale Differenz besteht in der Frage der Verantwortlichkeit. Steht hinter dem Handeln eines Einzelnen eine repräsentierte Gemeinschaft, so sind prinzipiell auch diese Gemeinschaft und die sie konstituierenden Mitglieder verantwortlich, etwa wenn es um Schadensersatz für erlittenes Unrecht geht. Ob Gemeinschaften auch wie Einzelpersonen bestraft werden können, ist international umstritten. In Deutschland werden nur die handelnden Menschen bestraft, nicht die Gemeinschaft, also etwa nur die Manager, welche die Umweltverseuchung oder den Betrug begangen haben, nicht aber das Unternehmen, für das sie tätig waren. Der Grund liegt in der Annahme, dass die Strafe als gesteigertes Unwerturteil anders als die bloße Geldbuße eine Schuld erfordert. Schuld setzt aber einsichtsfähiges Handeln voraus. Und nur Menschen können einsichtsfähig handeln, nicht aber Gemeinschaften, die immer nur durch reÂ�präsentierende Menschen fiktiv handlungs- und damit einsichtsfähig sind. Die Bewertung der Beeinträchtigung der Mitglieder einer Gemeinschaft, also die Bewertung des Handelns im Innenverhältnis, ist dagegen komplizierter, weil die einzelnen betroffenen Individuen als Mitglieder immer beides zugleich sind: Urheber der Handlung, also Akteur, und Betroffene der Handlung, also Anderer. Sie sind Urheber der Handlung, weil die Zuschreibung der Repräsentation ja gerade den Sinn hat, das Handeln des einzelnen Repräsentierenden nicht ihm selbst, sondern der Gemeinschaft und damit deren Mitgliedern zuzurechnen. Sie sind aber auch Betroffene der Handlung, weil die Vertretung eine völlige Identität von Repräsentant und Repräsentiertem ausschließt. Jede Vertretung impliziert vielmehr eine Differenz zwischen Vertreter und Vertretenem. Das bedeutet aber auch, dass zwischen den vom Vertreter repräsentierten Interessen der Gemeinschaft und den Interessen jedes einzelnen Vertretenen eine Differenz auftritt. Das Interesse bzw. das Handeln der Gemeinschaft kann dann aber nur legitim sein, wenn es sich aus den Interessen der einzelnen Vertretenen ergibt. Aber wie hat das zu geschehen? Ein erster Schritt zur Beantwortung dieser Frage besteht in einer Analyse des Begriffs der Gerechtigkeit in Gemeinschaften, und zwar zunächst seiner Strukturen:
3. Strukturen der Gerechtigkeit in Gemeinschaften Ethisches Handeln in Gemeinschaften von mehr als zwei Personen ist im Wesentlichen eine Frage der Gerechtigkeit, weil es sich immer auf Andere bezieht und immer auch die Frage nach Gleichheit und Ungleichheit berührt. Die oben in Kapitel€XIV, 2 entfalteten allgemeinen Grundstrukturen der Gerechtigkeit können deshalb als Ausgangspunkt dienen:
371
3. Strukturen der Gerechtigkeit in Gemeinschaften
Gemeinschaft A + B
(2)
(3)
(3)
(2)
(4) A
B
(1)
Für jede Gemeinschaft muss zunächst entschieden werden, welche Materien von der intersubjektiven Relation (1) auf die Gemeinschaftsrelationen (2–4) übertragen werden. In der Realität und dort insbesondere in der Politik gibt es eine Vielzahl von Gemeinschaften. Diese Gemeinschaften können in zwei fundamental verschiedenen Weisen miteinander verbunden sein: 1) in einfachen Relationen wie Individuen oder 2) als Teil einer größeren Gemeinschaft. Die Differenz führt zur iterativen Anwendung entweder bloß der Gerechtigkeitsrelation (1) zwischen Individuen (5) oder der Gerechtigkeitsrelationen Â�(1–4) zwischen Individuen und Gemeinschaft (5–8), also entweder einer horizontalen oder einer vertikalen Extension. Horizontal erweitertes Modell Gemeinschaft A + B
Gemeinschaft C + D (5)
(2)
(3)
(3)
(2)
(2)
(4) A
(3)
(2)
(4) B
(1)
(3)
C
D (1)
372
XV. Individualethik und Sozialethik
Vertikal erweitertes Model Gemeinschaft E zweiter Ordnung
(6)
(7)
(7)
(6)
(8)
Gemeinschaft A + B
Gemeinschaft C + D (5)
(2)
(3)
(3)
(2)
(4)
A
B (1)
Name
Handelnder-Betroffener
Erste Erwähnungen bei:
(5)
Tauschgerechtigkeit zwischen Gemeinschaften
Gemeinschaft A+B → Â�Gemeinschaft C+D
Grotius, Kant, Rawls
(6)
beitragende Gerechtigkeit einer Gemeinschaft zu einer Gemeinschaft zweiter Ordnung
Gemeinschaft A+B → Â�Gemeinschaft zweiter Ordnung E
(7)
distributive Gerechtigkeit einer Gemeinschaft zweiter Ordnung im VerÂ�hältnis zu einer Gemeinschaft erster Ordnung
Gemeinschaft E zweiter Ordnung → Gemeinschaft A+B
(8)
korrigierende GerechtigÂ�keit einer Gemeinschaft zweiter Ordnung zum Verhältnis mehrerer Gemeinschaften erster Ordnung.
Gemeinschaft E zweiter Ordnung → Gemeinschaft A+B€–GemeinÂ�schaft C+D
Beitz, Pogge, Höffe
373
3. Strukturen der Gerechtigkeit in Gemeinschaften
Die Verbindung von Gemeinschaften kann theoretisch ohne Grenzen iteriert werden. Möglich ist so eine ganze Kaskade von Gemeinschaften. Sie findet sich zum Beispiel in modernen politischen Gemeinschaften. Wir beobachten etwa die Entwicklung zunehmend komplizierter werdender Mehrebenensysteme von Städten und Gemeinden, Landkreisen, Ländern und Bundesstaaten. Aber sie findet sich auch auf der internationalen und globalen Ebene. Dieses Bild ist bereits ziemlich kompliziert. Aber die Realität ist noch komplizierter, weil die unterschiedlichen Gemeinschaftsebenen nicht impermeabel, das heißt nicht undurchdringlich sind. Die Individuen stehen also nicht nur zur Gemeinschaft erster Ordnung, sondern auch zur Gemeinschaft zweiter Ordnung in direkter Beziehung. Und das Gleiche gilt für Gemeinschaften im Verhältnis zu Gemeinschaften höherer Ordnung. Für ein Zweiebenenmodell ergibt sich dann folgendes Bild: Zusätzlich erweitertes Model Gemeinschaft E zweiter Ordnung
(9)
(10)
(6)
(7)
(8) (10)
Gemeinschaft A + B (11) (2)
(3)
(3)
(1)
(7)
(6)
Gemeinschaft C + D (5)
(2)
(4)
A
(9)
B
374
XV. Individualethik und Sozialethik
Name
Handelnder-Betroffener
(9)
beitragende Gerechtigkeit eines Individuums gegenüber einer Gemeinschaft zweiter Ordnung
Individuum → Gemeinschaft zweiter Ordnung
(10)
distributive Gerechtigkeit der Gemeinschaft zweiter Ordnung im Verhältnis zum Individuum
Gemeinschaft zweiter Â�Ordnung → Individuum
(11)
korrigierende Gerechtigkeit der Gemeinschaft zweiter Ordnung im Verhältnis zu mehreren Individuen sowie der Gemeinschaft erster Ordnung und deren GerechtigkeitsÂ�reÂ�laÂ�tioÂ�nen (1–4).
Gemeinschaft zweiter Â�Ordnung → mehrere Â�Individuuen und Gemeinschaft erster Ordnung
Erste Erwähnungen bei:
Beide wichtigen Phänomene des Aufbaus komplexerer Ordnungen von Gemeinschaften€– die Iteration und die Permeabilität€– führen zu einer entscheidenden Konsequenz für die inhaltliche Frage nach der Gerechtigkeit. Wir müssen uns nicht nur über die materiale Ausfüllung der Relationen zwischen den Relata Gedanken machen, sondern auch fragen, wie wir die Iteration und Permeabilität auf höheren Ebenen ausgestalten wollen, welche dieser Relationen also überhaupt erst geschaffen werden sollen. Wendet man diese Einsicht etwa auf das Problem der globalen Gerechtigkeit an, so ergeben sich wenigstens folgende Alternativen: (1)€ein bloßer Pluralismus der Nationalstaaten (Hegel, Morgenthau, sog. „Realismus“), Relation (5).4 (2)€eine Entwicklung der Vereinten Nationen und anderer globaler Einrichtungen, um zu wirksamen Institutionen zu werden, also zu Gemeinschaften zweiter Ordnung, die auch die Relationen (6–8) umfassen. (3)€eine Weiterentwicklung der Vereinten Nationen und anderer globaler Einrichtungen, um zu entwickelten Gemeinschaften zweiter Ordnung zu werden, die nicht nur die Verhältnisse zwischen den Staaten regeln, sondern auch die Relationen zwischen den einzelnen Staaten und ihren Bürgern (Relationen 9–11).
4
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke 7, Frankfurt a.â•›M. 1986, §§ 321â•›ff.; Henry Morgenthau, In Defense of the National Interest, New York 1951; ders., Politics among Nations. The Struggle for Power and Peace, 5.€Aufl. New York 1977.
3. Strukturen der Gerechtigkeit in Gemeinschaften
375
Auf der globalen Ebene können wir heute einige Aspekte der Ebene zwei feststellen und auch erste Anzeichen für einen Übergang zur Ebene drei, etwa die humanitäre Intervention, um die Menschenrechte der Individuen zu schützen, und die Institutionalisierung des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court, ICC) in Den Haag. Hier kann keine umfassende materiale Theorie der Gerechtigkeit für Gemeinschaften erarbeitet werden. Nur einige Andeutungen sind möglich: Nimmt man den normativen Individualismus und die restlichen oben entfalteten vier Elemente als Ausgangspunkt ernst, so ergeben sich in Gemeinschaften folgende Ziele individueller Belange: Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Rechte, Gemeinwohl, Effizienz. In den verschiedenen Gerechtigkeitsrelationen scheinen diese Ziele nun unterschiedliches Gewicht zu haben: Relation╯(1): Freiheit, Gleichheit als Vertragsgleichheit (do ut des), Solidarität als Verbot schädigenden Handelns, Verpflichtung zur Hilfe, Wiedergutmachung von Unrecht. Relation╯(2):€ Freiheit, Gleichheit als Beitragsgleichheit, Solidarität, Effizienz, Gemeinwohlorientierung, jeder soll das Seine tun. Relation╯(3): Gleichheit, Effizienz, Solidarität, jedem das Seine. Relation╯(4):€ Bedingungen von Gemeinschaftshandlungen, materiale Gleichheit, Fairness, Rechte. Relation (5): Freiheit, Gleichheit als Vertragsgleichheit der Gemeinschaft (do ut des), Solidarität als Verbot schädigenden Handelns, Verpflichtung zur Hilfe, Wiedergutmachung von Unrecht. Relation (6): Freiheit, Gleichheit als Beitragsgleichheit der Gemeinschaft, Solidarität, Effizienz, Gemeinwohlorientierung, jede Gemeinschaft soll das Ihre tun. Relation (7): Gleichheit, Effizienz, Solidarität, jeder Gemeinschaft das Ihre. Relation (8): Bedingungen von Gemeinschaftshandlungen, materiale Gleichheit, Fairness, kollektive Rechte der Gemeinschaften. Relation (9):€ Freiheit, Gleichheit als Beitragsgleichheit, Solidarität, Effizienz, Gemeinwohlorientierung, jeder soll das Seine tun. Relation (10): Gleichheit, Effizienz, Solidarität, jedem das Seine. Relation (11):€Bedingungen von Gemeinschaftshandlungen, materiale Gleichheit, Fairness, Rechte. Wenn die internationalen Beziehungen von der Ebene eins, das heißt bloßen zwischenstaatlichen Beziehungen (Relation 5), zu den Ebenen zwei (Relationen 6–8) und drei (Relationen 9–11) übergehen, können wir einen entsprechenden Wandel in den materialen Prinzipien feststellen bzw. rechtfertigen. Wir sehen etwa einen Wechsel von den Zielen der Freiheit und der Gleichheit als Vertragsgleichheit mit den Verpflichtungen zur Schadensvermeidung und zur Hilfe bzw. zur Wiedergutmachung hin zum Schutz materialer Gleichheit, zu Fairness und Rechten. Dieser Wandel erfasst nicht nur die Staaten, sondern auch die Individuen, wenn die Ebene drei erreicht wird.
376
XV. Individualethik und Sozialethik
Die wesentliche inhaltliche Frage hinsichtlich der Entwicklung von Ebene zwei zu Ebene drei ist in der Perspektive des normativen Individualismus die folgende: Werden die Individuen mit ihren Belangen besser geschützt, wenn man auch Kompetenzen des innerstaatlichen Handelns von globalen Entscheidungen abhängig macht? Diese Frage kann nicht einheitlich beantwortet werden. Man muss sich vielmehr die verschiedenen Bereiche der Politik gesondert ansehen: Fragen der Umwelt und des Naturschutzes haben zum Beispiel in vielerlei Hinsicht globalen Charakter, etwa das Problem des Treibhauseffekts, während kulturelle Fragen im Wesentlichen nationalen oder sogar regionalen oder kommunalen Charakter haben und auch behalten sollten, will man keine flache kulturelle Uniformität herbeiführen (Prinzip der Subsidiarität). Fragen der Sicherheit scheinen zwischen diesen beiden Alternativen zu liegen. Wir erfahren globale Bedrohungen der Sicherheit wie den internationalen Terrorismus, der global bekämpft werden muss, und gleichzeitig lokale Herausforderungen wie alltäglichen Rassismus, dem lokal entgegenzutreten ist. In der Debatte über die globale Gerechtigkeit gibt es Ansätze, die (1) ganz auf der Ebene 1 (Relation 5) verbleiben und nur positive Hilfspflichten annehmen,5 (2) hauptsächlich auf der Ebene 1 (Relation 5) operieren, aber negative Pflichten zur Schadensvermeidung und zur Wiedergutmachung hinzufügen,6 (3) auch auf den Ebenen 2 (Relationen 6–8) oder sogar 3 (Relationen 9–11) mit Pflichten der disÂ�tributiven und korrektiven Gerechtigkeit angesiedelt sind.7 Positive internationale Hilfspflichten auf der Ebene eins bzw. der Relation 5 sind unbezweifelbar und auch nicht kontrovers. Negative Pflichten und Pflichten zur Wiedergutmachung bestehen dann, wenn tatsächlich Schädigungen erfolgen oder erfolgt sind und noch Auswirkungen haben. Dies ist eine empirische Frage, die eine sorgfältige Untersuchung erfordert.8 Eine globale Gerechtigkeit der Verteilung und Korrektur auf den Ebenen zwei und drei hängt von der Entwicklung einer globalen Gemeinschaft ab.9 Die Frage einer globalen Gemeinschaft ist zum einen eine der Überschreitung einer bestimmten Schwelle und dann jenseits dieser Schwelle eine graduelle der zunehmenden Vertiefung. Die entscheidende Frage ist also, ob bereits eine derartige globale Gemeinschaft existiert.
5 6 7 8 9
John Rawls, The Law of Peoples, Cambridgeâ•›/â•›London 1999. Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights. Wilfried Hinsch, Global Distributive Justice, in: Thomas Pogge (Hg.), Global Justice, Oxford 2001, S.€55–75. Vgl. Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, S.€112, 199. Vgl. Andreas L. Paulus, Die Internationale Gemeinschaft im Völkerrecht. Eine Untersuchung zur Entwicklung des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung, München 2001, S.€9â•›ff.
4. Gemeinwohl
377
Die Europäische Union ist wohl bereits eine Gemeinschaft in diesem Sinne, die allerdings noch nicht sehr weit jenseits der Schwelle liegt. Für die gesamte Welt wird man den Gemeinschaftscharakter, der dann auch eine distributive und korrektive globale Gerechtigkeit erfordert, derzeit dagegen wohl noch bezweifeln müssen. Es gibt zwar globale Kommunikation und globalen Handel sowie erste Ansätze globaler Produktionsstrukturen. Und mit den Vereinten Nationen besteht eine Institution des globalen Konfliktmanagements sowie mit der WTO eine Welthandelsorganisation. Es gibt auch weitere globale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank. Aber bisher haben wir aus der Perspektive der Staaten und der Individuen keine klare Übereinstimmung über eine stärkere wechselseitige Verpflichtung und ein gemeinschaftliches Interesse sowie die Teilung von Risiken. Und es gibt im globalen Maßstab immer noch Kriege und gewaltsame Konflikte, welche die Annahme einer globalen Gemeinschaft ausschließen. Selbst Befürworter der globalen Gerechtigkeit sprechen nicht von einer globalen Gemeinschaft, sondern von „dichter ökonomischer Kooperation“.10 Das Ergebnis lautet also: Wir haben starke Pflichten, unsere Hilfe für andere Nationen auszuweiten und Schädigungen zu vermeiden bzw. wiedergutzumachen. Aber es besteht gegenwärtig noch keine globale Gemeinschaft, die ein System der Umverteilung wie im nationalen Maßstab oder auf der Ebene der Europäischen Union rechtfertigt. Vieles spricht jedoch dafür, eine solche Gemeinschaft anzustreben. Und es ist voraussehbar, dass sie sich in näherer oder fernerer Zukunft entwickeln wird. Eine wesentliche Bedingung ist allerdings der wirksame und dauerhafte Ausschluss von Krieg und globaler Gewalt.
4. Gemeinwohl Für Gemeinschaften ist neben dem Begriff der Gerechtigkeit vor allem der Begriff des Gemeinwohls entscheidend.11 Wie alle Begriffe lässt sich auch der Begriff des Gemeinwohls aus verschiedenen Perspektiven analysieren, etwa aus einer rechtsdogmatischen, einer politikwissenschaftlichen, einer soziologischen oder einer philosophischen PerspekÂ�tive. Da für die normative Ethik vor allem die letztere Perspektive wichtig ist und zu den ersten drei Perspektiven bereits Untersuchungen existieren,12 wird sich der folgende Abschnitt auf eine kurze philosophische Analyse beschränken.
10 Wilfried Hinsch, Global Distributive Justice, S.€71. 11 Vgl. zum Folgenden ausführlicher: Verf., Über den Begriff des Gemeinwohls, in: Martin Morlok, Gemeinwohl und politische Parteien, Baden-Baden 2008, S.€22–37. 12 Vgl.â•›z.â•›B. Winfried Bruggerâ•›/â•›Stephan Kirsteâ•›/â•›Michael Anderheiden, Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002; Gunnar Folke Schuppertâ•›/â•›Friedhelm Neidhardt (Hg.), Gemeinwohl€– auf der Suche nach Substanz, Berlin 2002; Herfried Münklerâ•›/â•›Karsten Fischer (Hg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht. Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen, Berlin 2002; Hans Herbert von Arnimâ•›/â•›Karl-Peter Sommermann (Hg.), Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, Berlin 2004; Michael Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, Tübingen 2006.
378
XV. Individualethik und Sozialethik
Um eine Einsicht in den Begriff des Gemeinwohls zu realisieren, dürfen wir den Begriff bzw. das Ideal des Gemeinwohls nicht isolieren, sondern müssen ihn im Zusammenhang mit dem abÂ�strakteren und gleichzeitig normativ-indiÂ�viÂ�duaÂ�listisch gefassten Begriff des guten Lebens, das heißt konkreter: der Gerechtigkeit, aber auch des Glücks bestimmen. Die Pervertierung des Gemeinwohlbegriffs durch die NS-Machthaber im Dritten Reich13 war nur möglich, weil es ihnen gelang, den Gemeinwohlbegriff vollständig von diesen notwendig abstrakteren und damit gemeinwohlbestimmenden BeÂ� griffen abzulösen. Was ist nun das gute Leben? Das gute Leben ist in immanenter Perspektive und in der Konkretisierung durch den normativen Individualismus ein Leben, das den Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen der Menschen und aller anderen Lebewesen entspricht. Gerechtigkeit ist im Rahmen dieses umfassenden guten Lebens das gute Handeln mit einem notwendigen Bezug auf andere Individuen. Glück ist das gute Handeln ohne die von vornherein erforderliche Berücksichtigung eines derartigen notwendigen Bezugs auf andere Individuen. Der Gemeinwohlbegriff ist nun jeweils eine Konkretisierung der Gerechtigkeit und des Glücks mit Bezug auf eine Gemeinschaft. Im Hinblick auf eine Gemeinschaft werden das gute Leben in Form des Glücks und das gute Leben in Form der Gerechtigkeit zum Gemeinwohl zusammengeführt. das gute Leben
Glück
Gerechtigkeit
Gemeinwohl
Der Begriff des Gemeinwohls hat also gegenüber den Begriffen der Gerechtigkeit und des Glücks zwei Spezifika: (1) Er ist immer auf eine Gemeinschaft bezogen. (2) Er führt die Begriffe des Glücks und der Gerechtigkeit als Konkretisierungen des Begriffs des guten Lebens wieder in einem Begriff zusammen. Der Gemeinwohlbegriff lässt sich somit im Wege der Abstraktion bestimmen als das gute, das heißt glücksorientierte und gerechte Handeln in und für eine bestimmte Gemeinschaft. Das hat folgende Konsequenz: Nur über eine Konkretisierung des guten Lebens bzw. des Glücksfördernden und des
13 Vgl. Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, München 1974.
4. Gemeinwohl
379
Gerechten lässt sich das Gemeinwohl bestimmter angeben. Eine wesentliche Konkretisierung sind dabei etwa die Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität.14 Peter Koller hat dafür plädiert, den Gemeinwohlbegriff auf den sozialpragmatischen Aspekt des gemeinschaftlichen glücklichen Lebens zu beschränken und Fragen der Gerechtigkeit auszuÂ�klammern.15 Diesem Vorschlag liegt das unterstützenswerte Bestreben zu Grunde, zwischen beiden Aspekten menschlichen Handelns, dem glücklichen Leben und der Gerechtigkeit, klar zu unterscheiden. Allerdings muss Koller selbst einräumen, dass sein Vorschlag auf eine engere als die gemeinhin übliche Interpretation hinausläuft.16 Für das Intendierte steht mit dem gemeinschaftlichen glücklichen Leben auch bereits ein BeÂ�griff zur Verfügung, so dass die Einengung des Gemeinwohlbegriffs nicht notwendig erscheint. Im Übrigen ist die untrennbare Verschränkung von Zielen des glücklichen Lebens und der Gerechtigkeit gerade das Spezifikum des Gemeinwohlbegriffs. Während sich beim individuellen Handeln beides in manchen Fragen faktisch trennen lässt, ist gemeinschaftliches Handeln mit dem Ziel des glücklichen Lebens notwendig auch Fragen der Gerechtigkeit unterworfen, weil ja immer gegenüber Anderen und für Andere gehandelt wird. Der Gemeinwohlbegriff drückt diese notwendige Verbindung aus. Schließlich würde der Gemeinwohlbegriff, folgte man der vorgeschlagenen Beschränkung, einen Aspekt seines Gegensatzcharakters zum Individualinteresse verlieren.17 Das Gemeinwohl ist also das Ziel guten Handelns für eine Gemeinschaft, das heißt eines gerechten und auf das glückliche Leben aller gerichteten Handelns, welches in der Abwägung der Belange aller Betroffenen besteht. Die notwendige Verbindung von Gemeinwohl und Gerechtigkeit soll am Beispiel der Staatsverschuldung verdeutlicht werden. Das Problem der rapide zunehmenden langfristigen Staatsverschuldung ist ein solches der intergenerationellen Gerechtigkeit. Es ist ungerecht, zukünftig lebende Individuen mit langfristigen Schulden zu belasten, also Geld durch die Individuen einer Generation zu verbrauchen und von den Individuen der nächsten zurückzahlen zu lassen. Dies gilt aus zwei Gründen auch für Schulden zur Finanzierung von Investitionen, die nach Art. 115 I S.€2 des Grundge-
14 Weitere mögliche Formen der Konkretisierung in Anlehnung an die drei Ziele der Zweckmäßigkeit, der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit finden sich bei Winfried Brugger, Gemeinwohl als Integrationskonzept von Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit, in: Winfried Bruggerâ•›/â•›Stephan Kirsteâ•›/â•›Michael Anderheiden, Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, S.€17–40. Hans Herbert von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, S.€21â•›ff., unterscheidet: Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit, Frieden, Wohlstand. 15 Peter Koller, Das Konzept des Gemeinwohls. Versuch einer Begriffsexplikation, in: Winfried Bruggerâ•›/â•› Stephan Kirsteâ•›/â•›Michael Anderheiden, Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, S.€41–70, S.€48, 52. 16 Peter Koller, Das Konzept des Gemeinwohls. Versuch einer Begriffsexplikation, S.€55. 17 Vgl. zu einer etwas anders argumentierenden Kritik auch Bernd Ladwig, Gemeinwohl und Eigensinn. Eine Auseinandersetzung mit Winfried Brugger und Peter Koller, in: Winfried Bruggerâ•›/â•›Stephan Kirsteâ•›/â•› Michael Anderheiden, Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, S.€71–101, S.€82â•›ff.
380
XV. Individualethik und Sozialethik
setzes erlaubt sind und die viele für zulässig halten:18 Erstens sind die Investitionen des Staates wie Investitionen in Verwaltungsgebäude, Schulen oder Hochschulen in weit überwiegendem Maße keine echten Renditeinvestitionen wie privatwirtschaftliche Investitionen. Und auch bei der Bahn oder den Autobahnen war dies bisher nicht der Fall. Die Investitionen erwirtschaften also keine direkte Rendite, mit der die Zinsen der Schulden bezahlt werden könnten. Zweitens kann man es von einem normativindividualistischen Standpunkt nicht als zulässig ansehen, auf Kosten anderer ohne deren Einwilligung längerfristige Schulden zu machen. Die immer weiter zunehmende Staatsverschuldung verstößt also gegen die intergenerationelle Gerechtigkeit und damit gegen das Gemeinwohl.
18 Roman Herzog, Pluralistische Gesellschaft und staatliche Gemeinwohlsorge, in: Hans Herbert von Arnimâ•›/â•›Karl-Peter SommerÂ�mann (Hg.), Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, Berlin 2004, S.€31.
XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik Zum Schluss sollen beispielhaft drei Fragen der „Angewandten“ Ethik, genauer der Medizinethik, skizziert werden.1 „Anwendung“ kann dabei nicht „Ableitung“, also nicht bloß logische Deduktion aus den hier vorgeschlagenen fünf Elementen einer adäquaten normativ-ethischen Theorie bedeuten. Erforderlich ist vielmehr eine wertende Konkretisierung unter induktiver Berücksichtigung spezifischer ethischer, aber auch moralischer und sonstiger normativer Einsichten. Im Rahmen dieser wertenden Konkretisierung können Gesichtspunkte übersehen oder falsch gewichtet werden. Jede Anwendung muss sich deshalb ihre eigene Kritik gefallen lassen.
1.€Arzt und Patient Die Arzt-Patienten-Beziehung kommt durch das freiwillige Hilfeersuchen des Patienten und die freiwillige Übernahme professioneller Verantwortung seitens des Arztes zustande. Sie ist wegen des notwendig höchstpersönlichen Charakters der ärztlichen Untersuchung und Behandlung eine Nähebeziehung, die jenseits normaler zwischenmenschlicher Pflichten zur Hilfeleistung weitergehende Unterlassens- und Hilfspflichten vor allem des Arztes impliziert. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist wesentlich durch eine gravierende Einschränkung bzw. Veränderung der Symmetrie des ethischen Grundverhältnisses geprägt.2 Während es beim Patienten um Gesundheit, Leib oder Leben, also um Höchstbelange der Individualzone geht, stehen beim Arzt normalerweise nur Handlungsbelange seiner Relativzone in Rede. Das bedeutet, dass die Belange des Patienten im Hinblick auf die materiale Abwägung grundsätzlich Vorrang genießen. Der Arzt darf deshalb gegenüber dem Patienten immer nur mit dessen aufgeklärter Zustimmung („informed consent“) handeln. Für die Realisierung dieser materialen Abwägung der Belange gilt aber: Der Arzt besitzt weit überlegenes Wissen im Hinblick auf die medizinische Diagnose und Therapie. Er kann die Situation der Interaktion in hohem Maße definie1
2
Zu Anwendungen auf Fragen der Rechtsethik und der Ökologischen Ethik vgl. Verf., Rechtsethik, und ders., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur. Zu anderen Bereichen der Angewandten Ethik: Julian Nida-Rümelin (Hg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch, 2.€Aufl. Stuttgart 2005. Diese Asymmetrie wird verschiedentlich konstatiert: Vgl. Urban Wiesing, Zur Verantwortung des Arztes, Stuttgart 1995, S.€ 39, 88; Constanze Giese, Die Patientenautonomie zwischen Paternalismus und Wirtschaftlichkeit. Das Modell des „Informed Consent“ in der Diskussion, Münster u.â•›a. 2002, S.€84.
382
XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik
ren und lenken. Der Arzt ist überdies der Handelnde, während der Patient, zumindest im unmittelbaren Arzt-PatienÂ�ten-Verhältnis, regelmäßig nur der passiv Betroffene ist. Oder in soziologischen Begriffen ausgedrückt: Der Arzt hat Experten-, Definitionsund Handlungsmacht.3 Nur in drei, allerdings nicht unwesentlichen Hinsichten ist das behandlungsrelevante Wissen des Patienten demjenigen des Arztes überlegen: Nur der Patient spürt den Schmerz. Nur der Patient weiß subjektiv um seinen eigenen Krankheitszustand. Und nur der Patient erfährt schließlich die unmittelbaren Konsequenzen der ärztlichen Untersuchung und Behandlung am eigenen Leib. Diese mehrfache Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung macht sie schwieriger als alltägliche ethische Beziehungen zwischen erwachsenen Menschen. Sie erzeugt vor allem spezifische Hilfs- bzw. Fürsorgepflichten des Arztes. Der Arzt ist dem Patienten außer zur bestmöglichen Diagnose und Behandlung auch zur schonenden Wahrhaftigkeit, zur Verschwiegenheit, zur Verlässlichkeit und zum Schutz der Privatsphäre verpflichtet.4 Diese spezifischen Hilfs- bzw. Fürsorgepflichten sind der rechtfertigbare Kern der alten Vorstellung eines paternalistischen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient.5 Diese Vorstellung eines paternalistischen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient ist in den letzten Jahrzehnten zu Recht immer stärker kritisiert worden.6 Denn nimmt man den Terminus wörtlich im Sinne des lateinischen „pater“ als „Vater“ und setzt die Arzt-PatientenBeziehung mit einer Vater-Kind-Beziehung gleich, so erweist sich die Kennzeichnung als außerordentlich problematisch. Die Vater-Kind-Beziehung ist in noch viel stärkerem Maße asymmetrisch als die Arzt-Patienten-Beziehung. Sie ist eine zeitlich und sachlich umfassende Relation, wirkt also lebenslang und erstreckt sich zumindest bei kleinen Kindern auf alle Lebensbereiche, also Geist, Körper, Glaube, Bildung, Nahrung, Kleidung usw. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist dagegen viel weniger umfassend. Allenfalls zum Hausarzt ist sie von einer gewissen Dauer, beim Facharzt nur gelegentlich. Und selbst die Hausarzt-Beziehung ist keine notwendige und unaufhebbare. Die Beziehung ist auch sachlich beschränkt. Zwar ist es natürlich wünschenswert, dass der Arzt über die rein physischen Symptome hinaus auch die psychische und soziale Situation des Patienten berücksichtigt. Aber das kann nur im Hinblick auf die Förderung des Heilprozesses, nicht auf die Lebensführung als solche geschehen. Der Arzt ist im Normalfall weder in der Lage noch berufen, wie ein Vater in allen möglichen Lebenslagen und auf Dauer für seinen Patienten zu sorgen. Ist dem aber so, dann würde die Kennzeichnung der Arzt-Patienten-Beziehung als „paternalistisch“ die Beziehung umfassender charakterisieren als sie es in Wirklichkeit ist und sein soll. Sie würde auf diese Weise die Asymmetrie zwischen Arzt und Patient 3 4 5 6
Johannes Siegrist, Medizinische Soziologie, 5.€Aufl. München 1995, S.€244â•›f. Tom L. Beauchampâ•›/â•›James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S.€288–331. Vgl. dazu: Heta Häyry, Paternalism, in: Encyclopedia of Applied Ethics, hg. von Ruth Chadwick, San Diego u.â•›a. 1998, Vol. 3, S.€449–457. Vgl. zu einer Beschreibung der Wandlung: Alasdair MacIntyre, Patients as Agents, in: Stuart F. Spickerâ•›/ â•›H. Tristram Engelhardt, Jr. (Hg.), Philosophical Medical Ethics. Its Nature and Significance, Dordrecht 1977, S.€197–212; Bettina Schöne-Seifert, Medizinethik, in: Julian Nida-Rümelin (Hg.), Angewandte Ethik, S.€690–802.
1.€Arzt und Patient
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eher verschärfen als verringern. Der normative Individualismus als ethisches Prinzip und der Höchstwert, den die meisten Menschen ihrer Selbstbestimmung zumessen, rechtfertigen es dagegen, dass auch im Arzt-Patienten-Verhältnis die Asymmetrie möglichst weitgehend reduziert werden sollte.7 Das bedeutet: Der Arzt muss dem Patienten die letzte Entscheidung über die Behandlung unter allen Umständen und in allen relevanten Einzelheiten überlassen. Er darf ihn nicht bevormunden, sondern muss ihn als gleichberechtigten Partner im Hinblick auf das gemeinschaftliche Ziel der Gesundung anerkennen.8 Er muss ihn möglichst umfassend aufklären und die eigenen überlegenen Kenntnisse so weit wie möglich auch dem Patienten zukommen lassen, also eine Gleichheit des Wissens herstellen. Nur unter den beiden oben in Kapitel€XI erläuterten engen Voraussetzungen darf der Arzt in speziellen Situationen ohne oder gegen den aktuellen Willen des Patienten in dessen alleinigem oder wenigstens Hauptinteresse handeln: Erstens im Fall des Fehlens eines aktuellen Willens, also bei Bewusstlosen, Komatösen, kleinen Kindern und sonstiger fehlender Einsichtsfähigkeit. Allerdings darf hier nur gemäß dem früheren Willen, dem zukünftigen mutmaßlichen Willen oder€– falls beide nicht zu ermitteln sind€ – den hinter dem mutmaßlichen Willen stehenden mutmaßlichen subjektiven Belangen der Betroffenen gehandelt werden, also gemäß den mutmaßlichen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen oder Strebungen. Ohne jeden Anhaltspunkt in den subjektiv verstandenen Belangen bzw. Interessen ist ein Handeln, das andere betrifft und damit in irgendeiner Form einschränkt, nicht zu rÂ�echtÂ�fertigen. Zweitens, um den fehlerfreien Willensmomenten und den diesen zugrunde liegenden Belangen der Individuen gegenüber fehlerhaften Willensmomenten und damit irregeleiteten Belangen der Betroffenen Geltung zu verschaffen. Auf einer grundlegenden Ebene ist die normativ-individualistische Selbstbestimmung des Patienten also letztes autoritatives Prinzip. Das führt aber, richtig verstanden, dazu, dass auf einer konkreteren Anwendungsebene bestimmte Regeln, wie die der umfassenden Aufklärung und des aufgeklärten Einverständnisses, nicht schematisch angewandt werden dürfen, sondern den spezifischen expliziten oder impliziten Belangen des Patienten Rechnung getragen werden muss. Der Arzt hat also aufzuklären, aber er sollte die Reichweite seiner Aufklärung den Bedürfnissen, Wünschen und Zielen des Patienten anpassen, etwa nur allgemein Auskunft geben, wenn ein Patient ausdrücklich oder deutlich erkennbar keine Einzelheiten zu wissen wünscht.9 Der Arzt kann 7
8
9
Bettina Schöne-Seifert, Medizinethik, S.€575, führt für den Primat der Selbstbestimmung weiterhin an, dass sonst möglicherweise Entscheidungen getroffen würden, die nicht zum Besten des Patienten sind, und dass das Gefühl von Selbstbestimmung, von ärztlicher Ehrlichkeit und persönlichem Vorbereitetsein zum relativen Wohlbefinden eines Patienten beiträgt. Für ein partnerschaftliches Verhältnis auch Erwin Deutschâ•›/â•›Andreas Spickhoff, Medizinrecht: Arztrecht, Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht und Transfusionsrecht, 5.€Aufl. Berlin 2003, S.€11; Constanze Giese, Die Patientenautonomie zwischen Paternalismus und Wirtschaftlichkeit, S.€88, konstatiert, dass die Realität nach wie vor anders aussieht: „Das Arzt-Patientenverhältnis ist demnach auch wegen der ärztlichen Definitionsmacht als nicht partnerschaftlich anzusehen. Die traditionelle Beziehung, die durch klare Über- bzw. Unterordnung gekennzeichnet war, kann nicht als Relikt vergangener Tage angesehen werden. Sie ist€– auch hinsichtlich bestimmter ärztlicher Aufgaben€– noch aktuell.“ Hans P. Wolff, Arzt und Patient, Bochum 1989, S.€13.
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XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik
dem Patienten ein gewisses Maß an Empathie vermitteln, aber nur, wenn der Patient Einverständnis signalisiert, denn es gibt auch Patienten, die keine übergroße Empathie wollen. Der Arzt darf im Austausch mit dem Patienten keine reine Fachsprache mit lateinischen Vokabeln verwenden, die der Patient im Normalfall nicht versteht und die bei ihm nur Unsicherheit und falsche Ehrfurcht auslöst. Er sollte sich der tendenziellen atmosphärischen Inhumanität der Zweckrationalität und Technizität der modernen Apparatemedizin bewusst sein und diese auf das absolut Notwendige beschränken sowie dafür Sorge tragen, dass genügend Zeit und Raum für den Aufbau einer persönlicheren Beziehung bleibt. Nicht jeder marginale Effizienzgewinn im Verfahrensablauf rechtfertigt zum Beispiel die Aufteilung der Untersuchung oder Behandlung auf mehrere Personen. Und man wird auch fragen können, ob die Entwicklung moderner Großkliniken zu riesenhaften fabrikähnlichen Komplexen, die kaum jemand gerne betritt, wirklich in allen Fällen und in jeder Hinsicht notwendig und sinnvoll war bzw. ist. Der gute, verantwortungsbewusste Arzt wird sich der Problematik seiner asymmetrischen Stellung bewusst sein. Er wird seine Macht nur als fördernde Autorität handhaben, die bestimmte Fürsorgepflichten erzeugt. Er wird die ihm zwangsläufig zufallende Erkenntnis- und Entscheidungsüberlegenheit strikt im Sinne der Selbstbestimmung des Patienten einsetzen und somit begrenzen. Und er wird sich, wie etwa auch der Lehrer, Professor, Politiker und überhaupt jeder Mensch, der Macht ausübt, bewusst sein, dass die Asymmetrie der eigenen Überlegenheit eine zeitlich und sachlich begrenzte ist und nicht zu einer allgemeinen Asymmetrie der persönlichen Wertschätzung, des Umgangs, der Höflichkeit usw. führen darf. Der gute Arzt sollte im Gegenteil symbolisch und kommunikativ deutlich machen, dass Arzt und Patient, von der nun einmal in der Arzt-Patienten-Beziehung unvermeidlichen fachlichen Asymmetrie abgesehen, in allgemeinmenschlicher, moralischer, kognitiver und emotionaler Hinsicht gleich sind und dass diese fundamentale und unaufhebbare Gleichheit für die Gesamtgestaltung der Arzt-Patienten-Beziehung entscheidend ist, nicht die segmentär-zweckrationale Überlegenheit des Arztes im Hinblick auf Diagnose und Therapie. Am Lebensende des Patienten besteht die sachlich unvermeidliche Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung grundsätzlich fort. Aber sie verändert sich. Sie verstärkt sich einerseits und schwächt sich andererseits ab. Sie verstärkt sich einerseits, weil der Patient zunehmend physisch und damit oder auch unabhängig davon psychisch hilflos wird. Der Patient ist im Regelfall nicht nur leicht und lokal eingeschränkt krank, sondern schwer und umfassend. Der Patient verliert dadurch häufig einen großen Teil seiner faktischen Selbstbestimmung. Er ist geistig nicht mehr so leistungsfähig wie früher. Er ist den Notwendigkeiten und Routinen des Krankenhauses in besonderem Maße unterworfen. Der Patient nähert sich dem Tod als der neben der Geburt existentiellsten Situation seines Lebens. Er ist verzweifelt, ratlos, traurig und depressiv. Und das überlegene Wissen des Patienten um die eigene Situation wird besonders entscheidend, denn im Gegensatz zu einigermaßen gut objektiv vorhersehbaren Krankheits- und Therapieverläufen ist die Haltung zum Tod außerordentlich subjektiv. Nur der Patient kann also dem Arzt wirklich sagen, wie er das Sterben erlebt und wie er es erleben will. Aus all diesen Gründen ist das Arzt-Patienten-Verhältnis am Ende des Lebens in besonderem
2. Sterbehilfe
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Maße asymmetrisch. Deshalb ist der Patient stärker auf die Fürsorge des Arztes und anderer Menschen in seiner Umgebung angewiesen. Der Arzt ist in besonderem Maße aufgerufen, die sachlich nicht zu vermeidende Asymmetrie zu begrenzen und sie symbolisch und kommunikativ auszugleichen, wobei allerdings der Patient zu seinem eigenen Wohl auch mitwirken und seine Empfindungen offenbaren sollte. Die sachlich unvermeidliche Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung schwächt sich andererseits am Ende des Lebens in entscheidender Hinsicht ab: Das wesentliche Ziel, weswegen der Patient die Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung überhaupt auf sich genommen hat, die Heilung, ist nicht mehr erreichbar. Damit verliert das überlegene Wissen sowie die Definitions- und Handlungsmacht des Arztes an Bedeutung. Angesichts ihrer beider Sterblichkeit sind Arzt und Patient in der für beide Leben wesentlichen Dimension des Todes gleich, nur dass der Erstere vermutlich länger leben wird. Das Zurücktreten des diagnostischen und therapeutischen Ziels und der damit einhergehenden Asymmetrie schafft die Chance, aber auch die Notwendigkeit zu einer Verstärkung der allgemein-menschÂ�lichen Seite des Arzt-PatienÂ�ten-Verhältnisses. Das Technisch-Zweckrationale, das zur Erreichung des Heilungserfolgs seine beschränkte Berechtigung hatte, kann und muss nun zurückgedrängt werden. Der Arzt ist verpflichtet, die Alternative eines Sterbens zu Hause oder in einem Hospiz zu ermöglichen, wenn es nur irgendwie geht. Sofern der Patient im Krankenhaus stirbt, kann der Arzt sicher nicht spezifischer Sterbebegleiter, Geistlicher oder naher Angehöriger sein bzw. diese ersetzen. Aber er entscheidet mit über die Umgebung, in welcher der Patient die letzten Tage und Stunden seines Lebens verbringt. Insofern kommt ihm eine besondere natürliche Verantwortung zu, zumal er eine spezifische Kompetenz hat. Er hat im Regelfall eine generelle, durch viele erlebte Sterbefälle gesättigte Erfahrung mit dem Sterben und dem Tod anderer Menschen.
2. Sterbehilfe Ein wesentlicher Aspekt des Arzt-Patienten-Verhältnisses am Ende des Lebens ist die Frage nach der Sterbehilfe. Sieht man den normativen Individualismus bzw. die Selbstbestimmung des Patienten als vorrangig gegenüber der Leidvermeidung an, so bedeutet dies: Auch bei der Frage der Sterbehilfe muss die Selbstbestimmung im Vordergrund stehen. Daraus folgt zunächst, dass das ernsthafte und aufgeklärte Verlangen des Patienten nach Nichtbehandlung oder Behandlungsabbruch, also Behandlungsverzicht, den Arzt ohne Wenn und Aber bindet, wie es etwa auch das deutsche Strafrecht und die Richtlinien zur ärztlichen Sterbebegleitung der deutschen Bundesärztekammer fordern.10
10 BGHSt 32, S.€ 367â•›ff., 378. Vgl. auch Adolf Laufsâ•›/â•›Wilhelm Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3.€Aufl. München 2002, S.€1381; Richtlinien der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, in: Urban Wiesing, Zur Verantwortung des Arztes, Stuttgart 1995, S.€203â•›ff.; Erwin Deutschâ•›/â•›Andreas Spickhoff, Medizinrecht: Arztrecht, Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht und Transfusionsrecht, S.€336â•›ff.
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XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik
Verlangt der Patient die Nichtbehandlung oder den Behandlungsabbruch und tritt der Tod durch den natürlichen Krankheitsverlauf ein, so spricht man von passiver Euthanasie. Dabei zeigen die beiden Alternativen der Nichtbehandlung und des Behandlungsabbruchs, dass für die passive Euthanasie die Qualifikation der Handlung als Tun oder Unterlassen nicht entscheidend ist. Es ist also nicht entscheidend, ob der Arzt zum Beispiel das Beatmungsgerät nicht anschaltet oder wieder abschaltet. Entscheidend ist auch nicht die Absicht von Patient oder Arzt. Entscheidend ist vielmehr, dass die Kausalursache für den Tod in der Krankheit liegt und der Patient verlangt, nicht behandelt zu werden, also folgende drei Elemente: (1)€Verlangen des Patienten nach einem Behandlungsverzicht (2)€Behandlungsverzicht durch den Arzt (3)€Eintritt des Todes des Patienten durch den natürlichen Krankheitsverlauf Die passive Euthanasie ist ethisch wie moralisch sowie rechtlich für den Arzt nicht nur erlaubt, sondern geboten. Die Ablehnung eines Eingriffs in den eigenen Körper ist ein zentraler Belang der Individualzone des Patienten. Ein Eingriff lässt sich ohne aufgeklärte Zustimmung des Betroffenen oder das Ziel des Schutzes anderer Belange der Individualzone nicht rechtfertigen. Ein Arzt, der ohne aufgeklärte Zustimmung des Patienten behandelt oder weiterbehandelt, also einen Belang der Individualzone des Patienten nicht befriedigt, agiert somit unethisch und macht sich im Übrigen wegen Körperverletzung strafbar. Dabei wird man den Begriff der Behandlung zum Schutz der Selbstbestimmung des Patienten weit auffassen müssen. Der Begriff umfasst alle Eingriffe in den Körper, also auch die künstliche Ernährung und Beatmung, weil sie den Ausfall normaler Körperfunktionen kompensieren und mit Eingriffen in den Körper, etwa dem Legen einer Magensonde oder eines Beatmungsschlauchs verbunden sind. Will der Patient also keine künstliche Ernährung und Beatmung, so muss der Arzt dies respektieren. Das gilt im Prinzip auch, wenn der Patient selbst keinen aktuellen Willen mehr äußern kann, für seinen früheren und mutmaßlichen Willen, der dann allerdings durch eine Patientenverfügung oder einen Vertreter aktualisiert werden muss, wobei sich aber natürlich schwierige Fragen der Einsichtsfähigkeit, der Freiwilligkeit, des Fortwirkens eines früheren Willens usw. stellen. Die sog. indirekte Euthanasie ähnelt der passiven Euthanasie darin, dass auch hier der natürliche Krankheitsverlauf zum Tod des Patienten führt, also etwa die Krebserkrankung den Tod durch Herzstillstand bewirkt. Allerdings ist kein Behandlungsverzicht erforderlich und entsprechend auch kein Verlangen des Patienten danach. Kennzeichnend für die indirekte Euthanasie ist vielmehr eine Schmerzbekämpfung durch den Arzt mit aufgeklärter Zustimmung des Patienten unter Inkaufnahme einer möglichen Verkürzung des natürlichen, krankheitsbedingten SterbeproÂ�zesses. Bekommt etwa ein Patient in der Sterbephase Morphium zur Schmerzlinderung, so ändert das nichts an der natürlich-kausalen Herbeiführung des Todes in Form des Herzstillstands durch die Krebserkrankung. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die Gabe von Morphium in einer für einen Gesunden ungefährlichen Dosis die Lebensfunktionen des Sterbenden
2. Sterbehilfe
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in den letzten Stunden derart beeinflusst, dass der Tod früher eintritt. Die indirekte Euthanasie ist also durch folgende Merkmale gekennzeichnet:11 (1)€Verabreichung eines Schmerzmittels an einen sterbenskranken Patienten durch den Arzt (2)€Aufgeklärte Zustimmung des Patienten zu dieser Verabreichung (3)€Eintritt des Todes des Patienten durch den natürlichen Krankheitsverlauf Die Schmerzbekämpfung ist ein wesentlicher Belang des Patienten. Kann sie nicht anders erfolgen, so wird man es nicht als unethisch ansehen können, sie auch durch Inkaufnahme einer möglichen Verkürzung des Sterbeprozesses durchzuführen.12 Wir nehmen viele Lebensrisiken in Kauf, um weniger wichtige Belange zu befriedigen. Der Arzt muss also den Wunsch des Patienten, die Schmerzen zu lindern, respektieren. Die grundsätzliche moralische wie rechtliche Verantwortung des Arztes, das Leben des Patienten zu verlängern, kann an dieser Verpflichtung nichts ändern, da der eindeutige Wille des Patienten entscheidend ist. Die indirekte Sterbehilfe ist in Deutschland straflos.13 Der Wille des Patienten gilt dabei auch nach dessen Bewusstlosigkeit weiter.14 Von der passiven und der indirekten Sterbehilfe ist der Suizid des Patienten zu unterscheiden. Bei ihm führt nicht der natürliche Krankheitsverlauf, sondern ein vom Patienten bewusst und gewollt in Gang gesetzter, zusätzlicher und künstlicher Kausalverlauf zu seinem Tod. Der Arzt kann dazu wie jede andere Person Beihilfe leisten. Folgende Merkmale sind dafür kennzeichnend: (1)€Ingangsetzung eines zusätzlichen, künstlichen Kausalverlaufs durch den Patienten, der zum Tod führt. (2)€Wille des Patienten, diesen zusätzlichen Kausalverlauf in Gang zu setzen (3)€Beihilfe des Arztes zur Ingangsetzung dieses zusätzlichen Kausalverlaufs
11 Manche Befürworter der aktiven Sterbehilfe versuchen ihre Argumentation durch eine Annäherung der indirekten Sterbehilfe an die aktive Sterbehilfe zu stützen. Sie unterschlagen dabei aber den zentralen Unterschied im Todeseintritt durch den natürlichen Krankheitsverlauf und die bloß mögliche Beschleunigung des Sterbeprozesses bei der indirekten Sterbehilfe, etwa Norbert Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt a.â•›M. 1998, S.€41â•›ff. 12 Erwin Deutschâ•›/â•›Andreas Spickhoff, Medizinrecht: Arztrecht, Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht und Transfusionsrecht, S.€334. 13 BGHSt 42, S.€301â•›ff., 305 = MedR 1997, S.€271, 273. Vgl. auch Adolf Laufsâ•›/â•›Wilhelm Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 2002, S.€1380. 14 Vgl. OLG München, Juristische Arbeitsblätter (JA) 1987, S.€579, 583â•›f. mwN, und unter der Annahme, dass der Bundesgerichtshof in BGHSt 32, S.€367â•›ff., 378, zur Frage der Entlassung des Arztes aus der Garantenstellung keine Stellung genommen hat. Vgl. auch Adolf Laufsâ•›/â•›Wilhelm Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, S.€1384. In BGHSt 32, S.€367â•›ff., war der Arzt nicht von der Patientin aus der Garantenstellung entlassen worden. Die bloße Tatsache des Suizids kann man allerdings€– insofern verdient die Entscheidung des BGH Zustimmung€– nicht als derartige Entlassung des Arztes aus seiner Garantenpflicht werten, sonst dürfte kein Arzt einem Suizidenten mehr helfen.
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XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik
Die Selbstbestimmung des Patienten ist aus einer säkularen Perspektive auch in diesem Fall ethisch und moralisch maßgeblich. Tötet der Patient sich selbst unter Ingangsetzung einer jenseits der Krankheit liegenden Ursache und unterstützt ihn der Arzt dabei, leistet er also Beihilfe zum Suizid, so mag dies eine religiöse Ethik verbieten, etwa weil Patient und Arzt hier selbstherrlich über Gottes Schöpfung entscheiden. Auf der Grundlage einer säkularen Ethik können der Suizid und die Beihilfe dazu jenseits weich paternalistischer Gründe aber nicht moralisch verboten werden. Etwas anderes gilt Â�wegen ihrer in Kapitel€XI, 5 erläuterten speziellen Funktion allerdings für Politik und Recht. Hier mag es weitere Gründe geben, eine Institutionalisierung zu verhindern und die Beihilfe für strafbar zu erklären, wie dies anders als in der Bundesrepublik Deutschland in einigen Ländern geschehen ist. Die aktive Euthanasie ähnelt dem Suizid und der Beihilfe zum Suizid darin, dass nicht der natürliche Krankheitsverlauf den Tod herbeiführt wie bei der passiven und indirekten Euthanasie, sondern eine zusätzliche, künstliche Ursache. Allerdings gibt es auch einen fundamentalen Unterschied: Anders als beim Suizid und der Beihilfe zum Suizid wird diese zusätzliche, künstliche Ursache nicht durch den Patienten gesetzt, sondern durch einen Anderen, etwa den Arzt€– allerdings mit Willen des sterbenskranken Patienten, sonst würde es sich um eine einfache Tötung handeln: (1)€Ingangsetzung eines zusätzlichen, künstlichen Kausalverlaufs durch einen Dritten, der zum Tod führt (2)€Wille des sterbenskranken Patienten, diesen zusätzlichen Kausalverlauf in Gang zu setzen Dabei ist es wie bei den anderen Formen der Euthanasie nicht wesentlich, ob der Andere durch ein Tun oder ein Unterlassen handelt. Das Handeln des Arztes ist etwa als aktive Sterbehilfe zu qualifizieren, gleichgültig, ob er dem sterbenskranken Patienten Gift injiziert oder einen Brand in seinem Krankenzimmer nicht löscht. Im Übrigen ist es zweifelhaft, wann ein Patient als „sterbenskrank“ anzusehen ist. Man kann hier entweder verlangen, dass der unmittelbare Prozess des Sterbens schon eingesetzt hat, also der Tod nach aller Erfahrung in wenigen Stunden oder Tagen zu erwarten ist, oder auch eine länger dauernde Erkrankung, die erst in einigen Tagen, Wochen oder wenigen Monaten zum Tode führen wird, als ausreichend ansehen, etwa eine Krebserkrankung im fortgeschritten-irreversiblen Stadium. Andere lassen sogar eine schwere, aber nicht tödliche Krankheit genügen, etwa eine weitgehende körperliche Lähmung, ebnen damit aber den Unterschied zwischen der aktiven Euthanasie und der Tötung auf Verlangen ein (vgl. zu letzterer Kapitel€XI, 5). Schließlich findet sich sogar die Ansicht, aktive Sterbehilfe sei jede „gezielte Herbeiführung des Todes durch Handeln“.15 Aber dann wäre jede Tötung auf Verlangen aktive Sterbehilfe und die Begriffsdifferenzierung sinnlos. Die zweite Auffassung einer Erkrankung, die vermutlich im Verlauf von Tagen, Wochen oder wenigen Monaten zum Tod führen wird, scheint 15 Norbert Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S.€11.
2. Sterbehilfe
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dem Begriff am ehesten zu entsprechen. Ansonsten wäre die Abgrenzung zur allgemeinen Tötung auf Verlangen nicht mehr möglich. Die aktive Euthanasie ist in Deutschland nach wie vor strafbar und auch durch die ärztlichen Standesrichtlinien untersagt.16 Der Wunsch des Patienten nach aktiver Euthanasie ist allerdings, wenn man legitime, aber in einer pluralistischen Gesellschaft nicht allgemein verbindlich zu machende christlich-religiöse Positionen einer Heiligkeit des Lebens außer Betracht lässt, als Ausdruck seiner Selbstbestimmung nicht verwerflich und menschlich verständlich. Jedoch wird man selbstredend keine ethische Verpflichtung des Arztes annehmen können, aktiv lebensÂ�beendend tätig zu werden. Zwar sind die Interessen und Belange Anderer generell zu berücksichtigen, aber, wie sich in Kapitel€V ergab, nur im Rahmen einer Abwägung mit eigenen und allgemeinen Belangen. Das Interesse, von einem anderen aktiv getötet zu werden, ist kein Interesse der Individualzone, sondern ein Interesse der Relativzone an einer externen Handlung und muss mit dem Interesse der Relativzone des Arztes, keine unschuldigen Menschen zu töten, abgewogen werden. Die aktive Euthanasie stellt einen massiven Eingriff in die innerste Lebenssphäre eines Menschen dar, widerspricht der traditionellen ärztlichen Rolle des Helfens und Heilens in hohem Maße und ist als gesellschaftliche Praxis außerordentlich problematisch. Sie kann deshalb nicht generell als Konkretisierung der allgemeinen Hilfspflicht von Anderen gefordert werden. Ob die Etablierung der aktiven Euthanasie tatsächlich das Arzt-Patienten-Verhältnis schwer belasten oder gar zerstören würde, wie verschiedentlich vermutet wird,17 ist schwer allgemein vorherzusagen. Kennt der Patient den Arzt gut und glaubt er, ihm vertrauen zu können, so wird er auch annehmen dürfen, dass der Arzt ihn nicht falsch berät oder drängt. Allerdings wird bei kürzeren, weniger gewachsenen und technischzweckrationaleren Arzt-PatienÂ�ten-BeÂ�zieÂ�hungen im Krankenhaus ein solches Vertrauensverhältnis regelmäßig nicht gegeben sein, so dass die bloße Möglichkeit eventueller Beeinflussungen des Verlangens nach Sterbehilfe das Verhältnis zwischen Arzt und Patient vermutlich allgemein belasten wird. Da mittlerweile der Tod im Krankenhaus der Normalfall ist, kann man deshalb zu der Annahme neigen, dass in derartigen Fällen die Gefahr eines Missbrauchs der aktiven Sterbehilfe das Arzt-Patienten-Verhältnis tatsächlich ungünstig beeinflussen könnte. Der kaum zu leugnenden Erweiterung der Selbstbestimmung einiger Patienten durch die Ermöglichung der aktiven Euthanasie steht die erhebliche Gefahr einer Einschränkung der Selbstbestimmung vieler Älterer und Kranker durch äußeren Druck und Beeinflussung seitens der Angehörigen, des Arztes, der Pflegenden und generell der Gesellschaft gegenüber. Diese Gefahr wiegt aus zwei Gründen schwer. Zum einen ist der Patient am Ende des Lebens in seiner Entscheidungsautonomie durch Abnahme der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit geschwächt und zum anderen ist der Tod als Konsequenz der Sterbehilfe irreversibel. 16 § 216 StGB; BGHSt 37, 376â•›ff. 17 Hanns-Gotthard Lasch, Der Arzt und das Sterben, in: Odo Marquardâ•›/â•›Hans-Jürgen Staudinger (Hg.), Anfang und Ende des menschlichen Lebens. Medizinethische Probleme, o.â•›O. 1987, S.€47–59, S.€58.
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XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik
Die Frage, wie hoch tatsächlich die Gefahr des Missbrauchs eingeschätzt werden muss, ist eine empirische Frage, die man nicht theoretisch entscheiden kann. Angesichts der Tatsache, dass sich die Niederlande in dieser Frage quasi einem kollektiven Selbstversuch unterworfen haben, erscheint es vernünftig, ja sogar ethisch geboten, den Ausgang dieses Selbstversuchs in Ruhe, das heißt über einige weitere Jahre oder Jahrzehnte, abzuwarten€ – so wie man bei neuen Medikamenten auch zuerst größere Wirkungsstudien abwartet. Der Ausgang dieses Selbstversuchs kann durchaus zeigen, wie der Selbstbestimmung des Patienten besser gedient wird, durch die allgemeine Ermöglichung oder durch die allgemeine Verhinderung der aktiven Sterbehilfe. Aber was ist, wenn das Ergebnis nicht eindeutig ist, wenn sich die Freiheitsgewinne durch die Zulassung der aktiven Sterbehilfe und die Freiheitsverluste durch Gefahren und Missbräuche ungefähr die Waage halten?€– ein Ergebnis, das aus zwei Gründen gar nicht so unwahrscheinlich erscheint: zum einen, weil sich bei Annahme eines einheitlichen normativen Prinzips Unsicherheit und Streit ja über einen längeren Zeitraum immer nur dann perpetuieren, wenn die Fakten nicht eindeutig sind, zum anderen, weil die Abwägung zwischen individuell-konkreter und individuell-abstrakter Selbstbestimmung nur schwer vorzunehmen ist. Dann wird wieder auf die Diskrepanz zwischen individueller moralischer und ethischer Bewertung und der notwendig allgemeinen Regelung durch Politik und Recht zu verweisen sein. Wenn allein die kollektive Gefährdung Unschuldiger gegen die Euthanasie spricht, so ist aus einer nichtÂ�religiösen Perspektive ein moralisches Unwerturteil gegenüber Privaten schwieriger als ein politisches und rechtliches Verbot. Die Beurteilung des politischen und rechtlichen Verbots der aktiven Sterbehilfe wird sich danach richten müssen, ob die politische Gemeinschaft, die zu entscheiden hat, eine derartige Praxis eher für freiheitssteigernd hält, weil dem Sterbenden eine Wahl eröffnend, oder für freiheitsverringernd, weil eine inhumane, bedrängende Praxis etablierend. Man wird sich fragen müssen, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Diese Frage ist€– so überraschend das erscheinen mag€ – dann ab einem gewissen Punkt und in säkularer Perspektive keine moralische Frage mehr, sondern eine Frage des guten Lebens. Wenn sich ethische Erwägungen zur Rechtfertigung oder Kritik politischer oder rechtlicher Normen die Waage halten, dann schlagen sie nicht mehr durch, und die politische Gemeinschaft muss entscheiden, wie sie dem Gemeinwohl und damit dem guten bzw. glücklichen Leben und der Gerechtigkeit der Einzelnen am besten dienen kann. Das hat dann zur Folge, dass auch religiöse Rechtfertigungen der Heiligkeit des Lebens ebenso wie säkulare Überzeugungen in der Gesamtentscheidung berücksichtigt werden müssen. Sie dürfen nicht wie bei der säkularen Begründung kategorischer Pflichten wegen ihres Mangels an allgemeiner Begründungskraft ausgeschlossen werden, denn schließlich sind auch säkulare Meinungen hinsichtlich bestimmter Modelle des guten Lebens nicht verallgemeinerbar. Die christliche Tradition muss in Deutschland und anderen christlich geprägten Ländern also eine Rolle spielen dürfen, ebenso wie andere religiöse Überzeugungen und der säkulare Menschenrechtsschutz durch die Verfassung. Zu berücksichtigen ist in der Argumentation weiterhin, dass die Zahl derjenigen Sterbewilligen, für welche die passive und indirekte Euthanasie sowie die Beihilfe zum
3. Gentechnik beim Menschen
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Suizid nicht zu erlangen ist und eine palliativmedizinische Behandlung, deren Angebote ausgebaut werden müssen, nicht zur Verfügung steht, nicht sehr groß sein wird. Eine Gesellschaft, in der die aktive Tötung außer in Notwehr prinzipiell ausgeschlossen ist und die eine Wertschätzung aller Älteren und Sterbenden ausdrückt, indem sie diese vor Druck und möglichen Beeinflussungen schützt, erscheint mir bei der Abwägung des Für und Wider letztlich humaner als eine Gesellschaft, in der die Sterbehilfe eine allgegenwärtige und vermutlich von vielen als bedrohlich empfundene Wirklichkeit darstellt. Die Einschränkung der aktiven Sterbehilfe auf Ärzte kann diese Gefahr abschwächen, nicht aber wirklich beseitigen.
3. Gentechnik beim Menschen Was für Konsequenzen ergeben sich aus der hier entfalteten Ethik des normativen Individualismus für die Beurteilung der Gentechnik beim Menschen? Hält man€ – wie oben in Kapitel€VI geschehen€ – den Realismus auf einer metaethischen Ebene nicht für überzeugend und verzichtet man deshalb auf ein rein faktisches, gegenüber den Beteiligten der ethischen Konfliktlage vollkommen externes Fundament€ – seien dies materiale Werte, ein Sittengesetz usw. –, bleiben, wie wir gesehen haben, nur die Belange bzw. Interessen der Betroffenen als entscheidende normative Eigenschaften für eine objektivistische Konfliktlösung seitens der Ethik übrig.18 Das bedeutet aber: Damit jemand überhaupt als ethisch zu berücksichtigendes Wesen anzuerkennen ist, muss er mindestens eigenständige Strebungen entfalten. Er muss auf diese Weise eine Form der Selbstbezugnahme entwickelt haben. Ohne eigenständige, selbstbezogene Strebungen, die der Andere den Handlungen des Akteurs entgegenstellen kann, bricht das in den ersten sechs Kapiteln skizzierte Modell des normativen Individualismus bzw. des individualistisch-objektiven Kohärentismus der Ethik zusammen. Dabei wird „SelbstÂ�bezug“€– wie sich in den Kapiteln II und XIII gezeigt hat€– nicht eng im Sinne „vernünftiger Zielgerichtetheit“ verstanden. Das heißt: Die ethische Verpflichtung zur Berücksichtigung geht über vernunftfähige Menschen hinaus und schließt auch Embryonen, Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen ein. Man kann sich das gut verdeutlichen, indem man sich von Menschen gefertigte Gegenstände vorstellt. Wir würden kaum auf die Idee kommen, einem Automobil ethische Berücksichtigungswürdigkeit zuzuschreiben. Der Grund liegt darin, dass das AutoÂ� mobil von uns hergestellt und damit in seiner Funktion vollständig determiniert wurde, so dass es keine eigenständigen Belange entwickeln kann. Wir hätten die Herstellung auch unterlassen oder das Automobil anders bauen können. Was wir nicht oder anders hätten herstellen können, kann keine eigene ethische Verpflichtungskraft gegenüber uns begründen. Wir können es benutzen wie wir wollen. Wir können es zerstören, wann wir wollen. Es entfaltet keine eigenÂ�ständigen Strebungen bzw. Belange, die Bedingung für 18 Vgl. zum folgenden Argument: Verf., Klonierung als Manipulation, in: Johann S.€Achâ•›/â•›Gerd Brudermüllerâ•›/â•› Christa Runtenberg (Hg.), Hello Dolly? Über das Klonen, Frankfurt a.â•›M. 1998, S.€213–219.
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eine ethische Einschränkung unseres Handelns durch Andere sind. Der Andere muss mehr sein und tun als leblose Materie, die nur physikalischen Kräften oder externen Beeinflussungen unterworfen ist. Eine Maschine verdient keine ethische Berücksichtigung, weil sie in strebungsähnlichen Abläufen durch ihren Konstrukteur determiniert ist. Was in seinen Abläufen von uns Menschen determiniert ist, dem können wir keine eigenständige Fähigkeit zuerkennen, unsere Handlungen ethisch einzuschränken. Das Prinzip, dass derjenige, der etwas vollständig oder fast vollständig schafft bzw. herstellt, auch darüber verfügen kann, spielt in vielen Rechtfertigungen eine Rolle, zum Beispiel in der Schöpfungstheologie, aber auch in säkularen Ethiken. Man könnte dagegen geltend machen, dass moderne Computer auch schon einen gewissen Grad an Selbststeuerung aufweisen, der den Strebungen von Tieren oder gar von Menschen ähnelt, etwa wenn sie sich selbst programmieren oder wenn sie im Falle eines Stromausfalls ein Notstromaggregat einschalten. Diese Art der Selbststeuerung mag in ihrer Komplexität noch nicht mit derjenigen von Menschen oder Tieren zu vergleichen sein, aber Weiterentwicklungen bis hin zum sog. biologischen Computer sind absehbar. Ab einem gewissen Punkt wird die Grenze zwischen Supercomputern und organischen Wesen vielleicht nur noch im Hinblick auf die synthetisierten chemischen Elemente und Moleküle, nicht mehr aber im Hinblick auf die Selbständigkeit des Synthesevorgangs und die Komplexität der Syntheseprodukte erkennbar bleiben. Dieser Einwand ist ernst zu nehmen. Aber man denke daran, dass es sich bei der Frage nach der ethischen Berücksichtigungswürdigkeit nicht um eine empirische, sondern um eine normative Frage handelt. Empirisch-gegenwärtig vorfindbare Eigenschaften spielen eine gewisse Rolle bei der tatsächlichen Abgrenzung zwischen einzelnen Gruppen von Individuen. Aber sie können die Normativität der ethischen Rechtfertigung nicht allein bestimmen. Ein wesentlicher zusätzlicher Gesichtspunkt für die ethische Berücksichtigung Anderer liegt darin, dass es sich um „Andere“ handelt, das heißt nicht um bloße Instrumente des Menschen. Während sich Computer als Maschinen mit ihrer Höherentwicklung der menschlichen Instrumentalisierung möglicherweise allmählich entziehen und vielleicht eines Tages zu Wesen werden, die ethisch zu berücksichtigen sind, verläuft die biomedizinische Entwicklung umgekehrt: Die Erzeugung des Menschen wird zunehmend technisch gesteuert und der Mensch auf diese Weise bestimmt. Dies geschieht in einem Schritt-für-Schritt-Prozess. Während bei der Insemination gegenüber dem natürlichen Zeugungsakt nur der Gebrauch einer Spritze hinzutritt, führt die In-vitro-Fertilisation schon zu einer fast vollständigen Technisierung der Befruchtung. Die Entstehung des zukünftigen Menschen wird auf diese Weise eindeutig instrumentalisiert. Aber diese Instrumentalisierung beschränkt sich noch auf den Zeugungsakt. Solange nicht in die Erbsubstanz eingegriffen wird, kann sich das Kind wie ein normaler Embryo entwickeln und damit eigenständige Strebungen entfalten. Einen Schritt weiter gehen würden dann aber Eingriffe in die Keimbahn des Menschen, sei es zum Zwecke der Klonierung oder zur Manipulation einzelner Gene. In diesem Fall wird die natürliche Basis eigenständiger Strebungen und damit Interessen verändert. Der Mensch wird zwar noch nicht zum vollständigen Produkt, einer von ihm
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selbst verfertigten Maschine vergleichbar. Aber er wird doch zumindest zum Teilprodukt. Fraglich ist, ob ein auf diese Weise entstandener Mensch ethisch wie ein sich selbst entfaltender Mensch mit eigenen, selbstbestimmten Belangen oder wie eine hergestellte Maschine ohne derartige eigene Belange zu behandeln ist. Die Basis für eigene Belange und damit die eigene Selbstbestimmung wird jedenfalls tangiert. Dies hat zumindest eine Gefährdung der gleichberechtigten ethischen Stellung als ethisch zu berücksichtigender Anderer zur Folge. Selbst wenn sich nicht leicht angeben lässt, ab welchem Punkt durch gentechnische Eingriffe die ethische Selbständigkeit des Menschen massiv untergraben wird, genügt€– abgesehen von dem sehr hohen technischen Risiko einer solchen Veränderung19€– schon diese Gefährdung der ethischen Stellung des Menschen, um gentechnische Manipulationen der Keimbahn als ethisch außerordentlich problematisch zu qualifizieren, zumal es bei der Keimbahntherapie ja immer um ein Individuum geht, dessen tatsächliche Einwilligung man nicht erlangen kann. In Fällen fehlender tatsächlicher Einwilligung des Betroffenen gebietet aber der normative Individualismus, die mangelnde Einwilligung nur unter äußerster Sorgfalt und Vorsicht mit Rekurs auf ein sicher zu ermittelndes mutmaßliches Interesse des Betroffenen zu ersetzen. Ansonsten agiert man hart paternalistisch und bevormundet den Anderen ungerechtfertigt. Dagegen ließe sich einwenden, dass die Strebungen bzw. Belange des Menschen zwar auf seiner natürlichen Disposition, das heißt auf seiner Körperlichkeit aufruhen, aber in ihrer konkreten Ausprägung doch unabhängig davon sind. Man kann etwa annehmen, dass menschliche Interessen stark sozial bedingt sind oder individuell entwickelt werden. An diesem Punkt der Argumentation gerät man in metaphysische Sphären, denn zur Beantwortung dieser Frage kommt es darauf an, ob man ein monistisches oder ein dualistisches Menschenbild vertritt, ob man also Geist und Körper als getrennt oder nicht getrennt ansieht. Für den Anhänger eines strikten Dualismus von Geist und Körper€– etwa Descartes€– kann die Manipulation der biologischen Basis des Menschen keine sehr gravierenden Auswirkungen auf dessen wesentliche Belange haben. Die genetische Veränderung vermag die Stellung des Menschen als moralisches und ethisches Subjekt nicht zu gefährden. Aber man kann diesen Dualismus auch abschwächen und Einwirkungen des Körpers auf den Geist annehmen. Für den Anhänger eines naturalistischen Monismus von Geist und Körper wird die Manipulation der biologischen Basis dagegen in jedem Fall wesentlichen Einfluss auf die Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele des Menschen haben. Allerdings gelangt der naturalistische Monismus trotzdem kaum zu einer ethischen Einschränkung gentechnischer Keimbahninterventionen, denn wenn man die biologische oder gar physikalische Basis des Menschen als allein entscheidend ansieht, lässt sich die Möglichkeit eines Akteurs, ethischen Einsichten frei zu folgen, sowieso kaum mehr plausibel machen. Dann kollabiert jede Ethik. Hier soll von einem gemäßigten Dualismus in der Frage des Verhältnisses von Geist und Körper ausgegangen werden, das heißt, menschliche Strebungen, Bedürfnisse usw. werden vom Körper des Menschen abhängig, nicht aber auf diesen reduzierbar angese19 Vgl. Jörg Hacker u.â•›a., Biomedizinische Eingriffe am Menschen. Ein Stufenmodell zur ethischen Bewertung von Gen- und Zelltherapie, Berlin 2009, S.€96â•›f.
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hen. Für einen derart gemäßigten Dualismus spricht, dass weder ein strikter Monismus noch ein strikter Dualismus bisher wissenschaftlich begründet werden konnte. Dann wird man aber die alltägliche Selbstwahrnehmung der Menschen als gemäßigt dualistisch nicht mit guten Gründen bestreiten können. Das bedeutet: Die menschlichen Belange sind€– zumindest beim erwachsenen, vernunftbegabten Menschen€– kein direktes und ausschließliches Derivat seiner natürlichen Basis. Aber man kann eine starke Beeinflussung annehmen. Ein Mensch, der groß ist, hat partiell andere Interessen als ein Mensch, der klein ist. Ein Mensch, der gesund ist, hat zum Teil andere Belange als ein Mensch, der krank ist. Das würde bedeuten, dass eine totale Neukonstruktion der biologischen Basis des Menschen massive Auswirkungen auf seine Stellung als selbstbestimmtes Wesen hätte. Er wäre über die Veränderung seines Körpers in all seinen Interessen von seinem Konstrukteur abhängig. Die Symmetrie der ethischen Grundsituation würde sich in eine Asymmetrie verwandeln. Nun soll versucht werden, diesen wesentlichen Gesichtspunkt der Gefahr einer Ausschaltung der ethischen Selbstbestimmung des Menschen fruchtbar zu machen, um einige konkretere ethische Fragen der Gentechnik am Menschen zu beurteilen.20 Dabei sollte man sich vor Augen führen, dass der Gesichtspunkt der Gefährdung der ethischen Stellung des Menschen jeweils von einer sonstigen allgemeinen Interessenabwägung zu trennen ist. Er tritt zu einer derartigen Abwägung hinzu, die selbstverständlich zunächst positiv ausfallen müsste, um gentechnische Manipulationen überhaupt in Betracht zu ziehen. (1) Eine vollständige Neukonstruktion des Menschen durch andere Menschen kann wegen der soeben skizzierten Ausschaltung der ethischen Selbstbestimmung des Betroffenen unter keinen Umständen ethisch zulässig sein. Hier kann keine Nutzenabwägung stattfinden und zu einer anderen Antwort führen, denn der Mensch würde durch eine derartige vollständige Neukonstruktion als Artefakt seiner Stellung als ethisch zu berücksichtigendes Wesen beraubt. Dies gilt nicht nur gegenüber dem unmittelbaren Konstrukteur, also dem Arzt oder Biologen, sondern auch gegenüber Dritten. Wie bei einer Maschine sind Dritte nur dem Konstrukteur oder Eigentümer gegenüber verpflichtet, nicht der Maschine. (2) Wie sind nun aber Fälle zu beurteilen, in denen in die Keimbahn eingegriffen, der Mensch aber nicht vollständig neu konstruiert wird, sondern nur einige Gene der Keimbahn verändert werden, Fälle also, auf die die Entwicklung der Gentechnik im Moment zusteuert und deren Entscheidung wir wohl in fernerer Zukunft gegenüberstehen werden? Man denke sich als Beispiel die Manipulation einzelner menschlicher Gene in den ersten Phasen der Zellteilung zur Verhinderung bestimmter Erbkrankheiten wie der 20 Vgl. zu den Anwendungsmöglichkeiten der Gentechnik: Bundesminister für Forschung und Technologie (Hg.), Die Erforschung des menschlichen Genoms. Ethische und soziale Aspekte, Frankfurt a.â•›M. 1991; Michael J. Reissâ•›/â•›Roger Straughan, Improving Nature? The Science and Ethics of Genetic Engineering, Cambridge 1996; Ernst-Ludwig Winnacker, Gentechnik. Eingriffe am Menschen. Ein Eskalationsmodell zur ethischen Bewertung, München 1997; Jörg Hacker u.â•›a., Biomedizinische Eingriffe am Menschen.
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Sichelzellenanämie oder der Mucoviszidose. Soll man auch hier wie beim ersten Fall der vollständigen Neukonstruktion des Menschen jegliche Nutzenabwägung mit dem Verweis auf die Untergrabung seiner ethischen Stellung als selbstbestimmtes Wesen zurückweisen? Auf diese Frage erscheint eine klare Antwort schwierig.21 Man sollte sich die Konfliktsituation deutlich vor Augen führen: Normalerweise wäre eine Zustimmung des Betroffenen zum Eingriff in seine Sphäre nötig. Da diese Zustimmung durch eine Zygote aber nicht gegeben werden kann, wird man eine schwach paternalistische Interessenabwägung vornehmen müssen. Man wird also fragen müssen, ob es im mutmaßlichen Interesse des zukünftigen Menschen liegen kann, dass ein bestimmtes Gen verändert und auf diese Weise eine Krankheit beseitigt wird, so wie sich der Arzt fragen muss, ob er im Interesse eines Patienten handelt, wenn er eine Therapie beginnt. Schon im Hinblick auf die Nutzenabwägung der genetischen Keimbahntherapie, die Ausgangspunkt der paternalistischen Entscheidung sein muss, wird man zunächst mit großen Unsicherheiten rechnen müssen. Man wird nur sehr schwer vorhersagen können, welche Manipulation an welchen Genen welche Krankheit mit welcher Wahrscheinlichkeit verhindern kann, zumal Merkmale des Phänotyps sich regelmäßig auf verschiedene Gene stützen, deren Zusammenspiel noch nicht bekannt ist. Es wird also vermutlich noch sehr lange dauern, bis eine einfache Nutzenabwägung zu einem positiven Resultat für einen derartigen Eingriff führen wird, bis also mit großer Wahrscheinlichkeit ein positives Resultat des Eingriffs vorausgesehen und herbeigeführt werden kann, sofern das überhaupt jemals gelingt.22 Aber selbst wenn diese einfache Nutzenabwägung mit positivem Resultat eines Tages möglich sein sollte, ist zu bedenken, dass jeder, der die Keimbahn manipuliert, paternalistisch handelt. Wird im Rahmen eines derartigen paternalistischen Handelns ohne Zustimmung des Betroffenen in natürliche, nicht krisenhafte Abläufe eingegriffen, so genügt ein einfaches Überwiegen in der Nutzenabwägung nicht, da ja zusätzlich der Aspekt der Autonomieüberschreitung zu berücksichtigen ist. Will jemand Gegenstände eines Anderen ohne dessen Einverständnis retten, so muss dessen mutmaßliches Interesse sehr groß sein, damit das paternalistische Handeln ethisch gerechtÂ�Â�Â�fertigt ist. Im Falle eines paternalistischen Eingreifens muss man also viel mehr als bloß eine positive Nutzenabwägung fordern. Man muss verlangen, dass die Nutzenabwägung unter Berücksichtigung des Risikos des Eingriffs stark positiv ausfällt und der Betroffene mit 21 Ablehnend: Walther Ch. Zimmerli, Dürfen wir, was wir können? Zum Verhältnis von Recht und Moral in der Gentechnologie, in: Stephan Wehowsky, Schöpfer Mensch? Gen-Technik, Verantwortung und unsere Zukunft, Gütersloh 1985, S.€42–68, S.€53â•›ff.; Günter Altner, Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dargestellt an Medizinethik, Gentechnologie und Behinderung, in: Eduard Zwierlein (Hg.), Gen-Ethik. Zur ethischen Herausforderung der Humangenetik, Idstein 1993, S.€ 95–104, S.€ 99, mit Verweis auf die Irreversibilität des Eingriffs und die Unverfügbarkeit des Menschen; Günter Hirschâ•›/â•›Wolfram Eberbach, Auf dem Weg zum künstlichen Leben: Retortenkinder, Leihmütter, programmierte Gene, Basel 1987, S.€241â•›ff. Vorsichtig befürwortend: Kurt Bayertz, GenEthik, Reinbek 1987, S.€290â•›ff.; Michael J. Reissâ•›/â•›Roger Straughan, Improving Nature? The Science and Ethics of Genetic Engineering, Cambridge 1996, S.€223. 22 Jörg Hacker u.â•›a., Biomedizinische Eingriffe am Menschen, S.€96â•›f.
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größter Wahrscheinlichkeit zustimmen würde, wenn er selbst entscheiden könnte. Dies wird man wohl nur bei schweren Erbkrankheiten in Erwägung ziehen können. Es wurde zu Recht betont, dass ein Eingriff in die Keimbahn den Betroffenen nicht in seinen Möglichkeiten einschränken und quasi auf ein bestimmtes Gleis festlegen darf. Erfolgt keine derartige Einschränkung und fällt die Nutzenabwägung positiv aus, so sollen nach der Auffassung mancher keine weiteren Hindernisse für den Eingriff bestehen.23 Damit wird aber die spezifische Struktur eines paternalistischen Eingriffs in natürliche Abläufe übersehen. Wegen der notwendigen Autonomieverletzung wird man vielmehr ein stark positives Resultat in der Interessenabwägung fordern müssen. Aber selbst wenn sich in dieser Frage der paternalistischen Interessenabwägung die Waage massiv zur Seite des Eingriffs gesenkt haben sollte, müsste zusätzlich das Problem der Paralyse der ethischen Stellung des zukünftigen Menschen berücksichtigt werden.24 Und es ist natürlich wiederum eine Frage, wie stark dies zu geschehen hat. Man wird hier das doppelte ethische Problem im Auge haben müssen: Der Eingriff geschieht zum einen ohne Zustimmung des Betroffenen, also paternalistisch, und untergräbt zum anderen gleichzeitig dessen Stellung als ethisch zu berücksichtigendes, also zustimmungsfähiges Wesen. Diese doppelte ethische Problematik des Eingriffs scheint angesichts wohl kaum zu vermeidender Risiken eher gegen seine ethische Zulässigkeit zu sprechen. (3) Wo aber nicht einmal ein therapeutischer Zweck der Heilung von schweren Krankheiten verfolgt wird, sondern nur eine Verbesserung der genetischen Ausstattung, verdichtet sich diese Argumentation meines Erachtens zur relativ gewissen Überzeugung: Der bloße Eingriff zur nichttherapeutischen Verbesserung des zukünftigen Menschen, also zur Steigerung seiner Intelligenz, Körpergröße, Schönheit, Arbeitskraft usw. ist ethisch problematisch.25 Die paternalistische Autonomieverletzung und die Aushöhlung der ethischen Selbstbestimmung kann kaum aufgewogen werden, zumal die gesellschaftlichen Auswirkungen derartiger Maßnahmen der Menschenzüchtung unübersehbar sind. Die Spirale der Leistungsgesellschaft würde sich immer schneller drehen und irgendwann in einen Antihumanismus umschlagen. Jeder, der in einer derart menschenzüchtenden Gesellschaft auf verbessernde Maßnahmen verzichtete, würde der Abwertung und Ausgrenzung anheimfallen. Man würde vermutlich nurmehr normierten Supermenschen begegnen. Die Vielfalt menschlicher Völker und Kulturen würde verarmen. 23 Vgl. Kurt Bayertz, GenEthik, S.€289â•›f. 24 Diesen Aspekt unterschätzt Bayertz in seiner positiven Einschätzung. Walther Ch. Zimmerli, Dürfen wir, was wir können?, S.€54, führt hier im Wege eines Gedankenexperiments den Widerspruch an, der sich ergäbe, wenn die Veränderung eines Gens möglich wäre, das für die Moralität des Menschen verantwortlich ist. Aber dieser Gedanke könnte allenfalls die Veränderung dieses einen Gens verbieten, nicht die Veränderung anderer Gene. 25 Ebenso: Colin Tudge, Wir Herren der Schöpfung. Gen-Technik und Gen-Ethik, Heidelberg 1994, S.€ 436â•›ff.; Jörg Hacker u.â•›a., Biomedizinische Eingriffe am Menschen, S.╯107â•›ff.; Bayertz, GenEthik, S.€290, lehnt nur prädeterminierende Züchtung ab, die den Betroffenen zum Beispiel einem guten Fußballspieler oder einer bekannten Schauspielerin nachformen soll, nicht aber die Verbesserung allgemeiner Merkmale des Betroffenen, wie Krankheitsresistenz, Ausdauer, Erinnerungsvermögen oder Kommunikationsfähigkeit.
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Abweichungen von der biologischen Norm, die häufig zu außerordentlichen wissenschaftlichen, künstlerischen und sportlichen Leistungen beigetragen haben, gäbe es nicht mehr. Im Übrigen würde sich in einer derartigen Gesellschaft der Menschenzüchtung die gegenwärtig immer weiter zunehmende Tendenz zur Höherbewertung des Körpers gegenüber dem Geist bzw. der Seele€– man denke an die Inflationierung von Schönheitsoperationen, „Body-Shops“ und Fitnessmagazinen€– weiter verstärken. Denn körperliche Merkmale würden sich wahrscheinlich leichter züchterisch beeinflussen lassen als Intelligenz und Persönlichkeit, die stark von der individuellen Entwicklung abhängen, also nicht in vergleichbarem Maße genetisch bedingt sind. Man braucht keine prophetische Gabe, um sich eine Gesellschaft von gezüchteten Menschen als Herde flacher, dimensionsloser Normwesen vorzustellen. (4) Als ähnlich zweifelhaft wird man das Klonen von Menschen einschätzen müssen.26 Der klonierte Mensch wird Opfer einer totalen Instrumentalisierung. Wesentliche Interessen des Klons, als Klon gezeugt zu werden, wie sie vielleicht im Falle der Therapie von schweren Erbkrankheiten bestehen mögen, lassen sich nicht erkennen. Interessen der Wissenschaft oder schon lebender Menschen werden den Verlust an ethischer Selbstbestimmung des Klons kaum aufwiegen können. Will ein Mensch ein Abbild seiner selbst oder eines verlorenen anderen€– etwa eines gestorbenen Kindes€– erzeugen, so kann dieses relativ periphere Interesse keine Abwertung des ethischen Status des neuen Menschen rechtfertigen. Das im Embryonenschutzgesetz statuierte Verbot der Klonierung darf also in keinem Fall aufgehoben werden.27 Dies gilt in jedem Fall für das sog. reproduktive Klonen. Beim sog. therapeutischen Klonen muss man zugestehen, dass einige Gegenargumente entfallen, weil sich der klonierte Embryo nicht zum geborenen Menschen entwickelt, er also kein Leben als von Anderen erzeugtes Wesen führen muss. Erkennt man aber€– als Folge der Argumentation in Kapitel€XIII€– bereits den Embryo mit seinen Strebungen grundsätzlich als ethisch zu berücksichtigenden Anderen an, so bleibt das zentrale Gegenargument bestehen. Er wird Opfer einer totalen Instrumentalisierung, die abzulehnen ist. Dieser Instrumentalisierungscharakter ist gegenüber dem reproduktiv klonierten Menschen sogar noch verstärkt, weil dieser wenigstens um seines eigenständigen Lebens willen, das dann auch Belange impliziert, erzeugt wird, während der sog. therapeutische Klon ausschließlich als eine Art ErsatzteilÂ�lager zum Zweck der Vernichtung hergestellt wird. Die Situation ähnelt dem oben in Kapitel€III, 9a) erwähnten Fall der Organtransplantation zur Rettung fünf anderer Patienten. (5) Dagegen sind gentherapeutische Maßnahmen, die nicht in die Keimbahn des Menschen eingreifen, im Hinblick auf die Gefährdung seiner Selbstbestimmung als ethisch zu
26 Vgl. Verf., Klonierung als Manipulation; Jörg Hacker u.â•›a., Biomedizinische Eingriffe am Menschen, S.€109â•›ff. 27 Vgl. § 6 Embryonenschutzgesetz.
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berücksichtigendes Wesen weniger problematisch.28 Derartige Maßnahmen verändern nicht die gesamte genetische Basis, sondern nur einzelne Körperzellen, so dass der wesentliche Teil der Strebungen der Betroffenen im Normalfall ganz unbeeinflusst bleiben dürfte. Im Fall eines erwachsenen Menschen wird auch die zukünftige Entwicklung nicht wesentlich determiniert. Die zentralen Strebungen haben sich schon entfaltet. Diese Unbedenklichkeit gilt besonders dann, wenn der Betroffene informiert wurde und in Ruhe entscheiden konnte. In diesem Fall sprechen keine nennenswerten Einschränkungen der ethischen Stellung des Betroffenen als selbstbestimmtes Wesen gegen den Eingriff. Es kommt also auf eine positive Risiko-Nutzen-Bilanz an. (6) Bereits praktiziert wird in einigen Ländern die Präimplantationsdiagnostik, also die Untersuchung des zum Zweck der In-vitro-Fertilisation im Reagenzglas hergestellten Embryos nach dem Achtzellenstadium29 auf genetische Defekte. Die Untersuchung dient dem Ziel einer Auslese vor der Implementation in den Uterus der Frau.30 Die Präimplantationsdiagnostik stellt gegenüber der In-vitro-Fertilisation einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Instrumentalisierung des Zeugungsvorgangs und des Embryos dar. Wird eine Zelle des Embryos entnommen und ohne seinen Willen analysiert, so wird er paternalistisch behandelt. Die Präimplantationsdiagnostik teilt damit das Autonomieproblem aller paternalistischen Maßnahmen. Aber sie weist eine Besonderheit auf: Die Zellentnahme dient€– zumindest solange keine Therapie möglich ist€– nicht den Interessen des Embryos, dem die Zelle entnommen wird, sondern nur seiner möglichen Vernichtung und damit den Interessen Anderer. Denn man kann kaum annehmen, dass Behinderte generell lieber nicht gelebt hätten. Deshalb können nur sehr schwerwiegende Interessen Anderer, vor allem der Eltern, die Diagnostik und den anschließenden Verzicht auf die Implementation des Embryos in den Uterus der Frau rechtfertigen. Dabei hängen die Interessen der Eltern nicht zuletzt bis zu einem gewissen Grade davon ab, wie Behinderte in einer Gesellschaft behandelt werden. Zu bedenken ist auch, dass man mit einem gänzlichen Verbot der Präimplantationsdiagnostik in einen Wertungswiderspruch geriete,31 wenn man die Abtreibung aus eugenischen Gründen erlaubte. Der Embryo wäre zu implantieren, dürfte dann aber abgetrieben werden. Der Diskussionsentwurf zu einer RichtÂ�linie der Bundesärztekammer,32 welche die Präimplantationsdiagnostik nur bei Eltern erlaubt, „für deren Nachkommen ein hohes Risiko für eine bekannte und schwerwiegende, genetisch bedingte Erkran-
28 Vgl. auch Jörg Hacker u.â•›a., Biomedizinische Eingriffe am Menschen, S.€63â•›ff. 29 Nach diesem Stadium sollen die Zellen des Embryos nicht mehr totipotent sein. 30 Vgl. Peter Caesar (Hg.), Präimplantationsdiagnostik. Thesen zu den medizinischen, rechtlichen und ethischen Problemstellungen. Bericht der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz vom 20. Juni 1999, Mainz 1999; Hartmut Kress, Personwürde am Lebensbeginn: Gegenwärtige Problemstellungen im Umgang mit Embryonen, Zeitschrift für Evangelische Ethik 43 (1999), S.€36–53, S.€43; Regine Kollek, Präimplantationsdiagnostik, Embryonenselektion, weibliche Autonomie und Recht, Tübingen 2000. 31 Dies betont auch Hartmut Kress, Personwürde am Lebensbeginn, S.€43â•›ff. 32 Vgl. http:â•›//www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.7.45.3274.3277 (Zugriff: 11.10.2009).
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kung besteht“,33 erscheint deshalb gerade noch vertretbar, sofern man „schwerwiegend“ sehr eng versteht. Nur schwerste Erbkrankheiten kommen als Rechtfertigung der Präimplantationsdiagnostik in Frage. Sie sollten in der Richtlinie beispielhaft genannt werden, damit der Begriff „schwerwiegend“ näher bestimmt wird. (7) Die Entnahme von Stammzellen aus Embryonen, die nicht ihrem eigenen Nutzen dient, sondern dem Nutzen der Wissenschaft, das heißt Anderen, wird man dagegen als nicht vertretbar ansehen können, da hier die Konfliktlage einer Schwangerschaft, die den Interessen der Eltern ein großes Gewicht verleiht, nicht besteht. Akzeptabel erscheint allenfalls die Entnahme bei Embryonen, die nicht zu diesem Zweck erzeugt wurden und sowieso der Vernichtung anheimfallen würden, wobei man allerdings zugestehen muss, dass die Haltung zu diesen Fragen stark von der Bewertung der ethischen Stellung des Embryos abhängt, die näher zu diskutieren wäre.34 Zum Abschluss sei ein Gesichtspunkt erwähnt, der alle gentechnischen Eingriffe betrifft: Die neuen Techniken zur Veränderung des Erbguts sind nicht nur normativ-ethisch, also im engeren Sinn einer Ethik des normativen Individualismus problematisch, sondern auch aus der Perspektive eines guten bzw. glücklichen Lebens der Individuen, also aus der Perspektive eines normativen Individualismus im weiteren Sinn, denn sie führen nicht nur zu einer Manipulation und Instrumentalisierung des Menschen als Objekt bzw. Anderer. Sie verändern auch den manipulierenden und instrumentalisierenden Akteur als Subjekt. Durch das zunehmende Manipulieren und Instrumentalisieren werden wir immer mehr zu Manipulateuren und Instrumentalisierern. Diese Tendenz ist allumfassend. Sie beherrscht alle Lebensbereiche. Man denke etwa an die Veränderung der natürlichen Mitwelt, der Nahrungsmittel, der natürlichen Lebensgewohnheiten (zum Beispiel des Aufstehens und Zubettgehens). Man denke an die Verspätung der Fortpflanzung, die Einebnung lokaler kultureller Besonderheiten durch die Industrialisierung und Globalisierung, die Technisierung der Arbeit und der Fortbewegung, die Schönheitschirurgie, das sog. „human enhancement“ usw. Man wird sich unablässig fragen müssen, ob diese zunehmende Selbstveränderung des Menschen durch Instrumentalisierung und Manipulation der Welt seinem Glück und seiner Lebenszufriedenheit dient. Ab einem gewissen Punkt wird der Grenznutzen 33 Ebd. unter der Rubrik: Indikationsgrundlage. Der Terminus „hohes Risiko“ ist aber viel zu vage. Die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz hat eine ähnliche Position wie die Bundesärztekammer eingenommen. Vgl. Peter Caesar, Präimplantationsdiagnostik, S.€ 19, 77. Allerdings ist hier die Eingrenzung erheblich präziser, S.€78: „Die PGD ist nur dann ethisch zu vertreten, wenn nach einer kompetenten molekulargenetischen Diagnostik bei einem ‚Hochrisikopaar‘ die Wahrscheinlichkeit der Weitergabe einer unheilbaren schweren genetischen Krankheit festgestellt wird. Unter einem ‚Hochrisikopaar‘ versteht man Paare, die meist schon ein von einer genetischen Erkrankung betroffenes Kind bekommen haben, Träger einer bestimmten Mutation sind und rechnerisch ein ‚Wiederholungsrisiko‘ für jedes zukünftige gemeinsame Kind je Erbgang von 25% bzw. 50% tragen. Die Zulässigkeit der PGD muß sich nach der Schwere der Krankheit richten, die durch den Verzicht auf Implantation aufgrund von PGD ausgeschlossen werden soll.“ 34 Vgl. zu einem ersten Versuch: Verf., Gibt es Argumente für ein Lebensrecht des Nasciturus?, in: Archiv für Rechtsâ•‚ und Sozialphilosophie (ARSP) 76 (1990), S.€69â•‚82.
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der Manipulation und Instrumentalisierung nur noch marginal sein, während die Probleme der Selbstveränderung sich akkumulieren. An diesem Punkt erscheint ein Verzicht auf weitere Manipulationen geboten. Wann dieser Punkt erreicht sein wird, lässt sich nur schwer vorhersagen. Aber die Aufmerksamkeit der Menschen sollte geschärft sein, damit jede politische Gemeinschaft für sich entscheiden kann, wann und wie sie der immer weiter zunehmenden Manipulation und Instrumentalisierung des Menschen entgegentritt, welche der grundlegenden Überzeugung einer Ethik des normativen Individualismus widerspricht.
Danksagung Für außerordentlich wertvolle Hilfe beim Verfassen dieses Buches danke ich einigen Freunden und Mitarbeitern ganz herzlich, unter anderen Tobias Fischer-Trageser, Â�Johann-Friedrich Fleisch, Holger Gutschmidt, Lorenz Kähler, Georgios Â�Karageorgoudis, Anna Lutz-Bachmann, Otto Neumeier, Sebastian Rose, Ruth Sandforth, Astrid Strack, Friederike Wapler, Regina Wenninger und Sebastian Zapf.
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Index Abhängigkeit des Belangs von der Â�Gemeinschaft 210 Ablenkung der Lawine 120 Ablenkung der Straßenbahn 118, 127 Abschuss des Verkehrsflugzeugs 126 Absicht 65, 91, 93, 114, 139 Absichten des Handelnden 116 absoluter ontologischer Holismus 48 absoluter ontologischer Kollektivismus 48 absoluter ontologischer Nihilismus 48 absoluter Vorrang der Belange der Â�Individualzone vor solchen der Â�Relativzone 239 Abwägung 130, 150, 170, 226, 326, 328 Abwägung divergierender Belange 165 Abwägungskriterium 193 Abwägung zwischen der Bewertung der einzelnen Teile der Handlung im weiteren Sinne 106 Achtzellenstadium 398 Adäquatheitsbedingungen 51 Adressaten 272 aktive Euthanasie 388 aktive Sterbehilfe 387, 390 Aktkonsequentialismus 104, 198 aktueller Wille 312, 324 Alkoholgenuss 317 allgemeine Güter 190 allgemeine Risikoerhöhung 125 Allgemeinverbindlichkeit 12 Allprinzip 23, 46, 160, 170 analytisch-synthetisch 16 andergerichtete Interessen 73 Anderinteressen 68 Anerkennung 81 Angemessenheit 111 Angewandte Ethik 7, 381
Anspruch 267 Anspruch auf Letztentscheidung 11 Anspruch auf Rechtfertigung 12, 13 Anspruchsrecht 269 Antigone 337 Anzahl 129 Äquivalenzthese von Tun und Â�Unterlassen 147 Arrows Unmöglichkeitstheorem 158 Arten 342, 343, 344, 346, 347 Arzt 381 ärztliche Sterbebegleitung 385 Arzt-Patienten-Beziehung 381, 382, 384 asymmetrisch relationale Handlungen 188 Aufenthaltsfreiheit 220 aufgeklärte Zustimmung 381, 386 Auflösung von Kollektiven 41 Aufopferungsprinzip 168, 205, 229 Ausgangszustand 230, 233 Außenverhältnis 369 äußere Körperbewegung 136 Autonomie 30, 31, 43, 44, 50, 74, 79, 86, 298, 299, 304, 395, 396 Autonomieverletzung 396 axiologische Qualifikationen 260 Balanceprinzip 238 Basishandlungen 136 Bedeutung der Anzahl geretteter Â�Personen 128 bedingter Vorsatz 139 Bedingung der Interrelationalität zu anderen normativ relevanten Wesen 265 Bedingungen 90, 93, 95, 100 Bedingungen des Handelns 91 Bedürfnisse 18, 50, 54, 56, 57, 58, 59, 62, 63, 65, 66, 67, 83, 88, 89, 278, 338
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Index
Begründung von Wünschen 254 Begünstigter 273, 277 Behandlungsabbruch 385 Behandlungsverzicht 385 Beihilfe 387 Beihilfe zum Suizid 388, 390 Beitrag 231, 234 Beitragsgerechtigkeit 360, 361, 372, 374 Beitragsgleichheit 375 Beitragsprinzip 208 Bekanntschaft 287, 289 Belange 18, 56, 67, 89, 130, 151, 154, 165, 168, 210, 239, 278, 338, 340 Belange der Relativzone 241 Belasteter 273, 277 Berechtigter 273 Bereichsethiken 7 Berufsfreiheit 220 Beschreibungen 259 Betroffenheit 25, 160, 274 Betroffenheit Anderer 20 Betroffenheitsraum 156, 283 Bewertung 8, 260 Bewertung der Handlung 105, 107 Bewertungsmaßstab der Wichtigkeit 155 Bewusstsein 339 Bildung von Versammlungen 220 Biosphäre 342, 343, 345, 346, 347 biozentrisch 339, 341, 343 Bluttransfusion 315, 317 care ethics 28, 30 Computer 338, 345, 392 Deduktivismus der Abstraktion 14 Demokratie 367, 368 Denk- und Sprachformen 262 deontische Logik 262, 271 deontische Qualifikationen 260 Deontologie 15 deontologische Ethik 14, 111, 263 deontologisches Viereck 262 Desintegration der Persönlichkeit 196 deskriptive Ethik 8, 9, 247 deskriptiver Kollektivismus 32 Diagnose 381 Differenzprinzip 168, 206, 207, 229, 233
Diktator 367 Dilemmata 319 direkte Demokratie 367, 368 direkte Instrumentalisierung 121, 334 direkter Vorsatz 139 Disjunktion 262 Diskursethik 15 Diskursprinzip 168, 169, 171 distributive Gerechtigkeit 372, 374 disziplinärer Rationalismus 14 Divergenz der Belange zweier moralisch relevanter Individuen bezüglich einer Handlung 168 Doktrin vom doppelten Effekt 107, 108, 110, 111, 112, 113, 115, 117 do ut des 375 Dreipersonenfälle 325 dualistisches Menschenbild 393 Durchsetzungsmacht 267 Effizienz 375 Effizienzprinzip 232, 234 Egoismus 33, 257 Eigeninteressen 68 Eigentum 328 Einsichten des guten Lebens (Ethos) 1 Einstellungen und Wertungen 7 Einstimmigkeit 231 Einstimmigkeitsprinzip 71, 242 Einwilligung 124 Einwilligungsfiktion 56 Elemente der äußeren Situation 230 Elemente der ethischen Begründung 249 Embryonen 86 Embryonenschutzgesetz 397 Emotivismus 245, 246 empfindungsfähige Lebewesen 339 Entscheidung 83 Entscheidungsautonomie 389 Entscheidungstheorie 7 Entscheidungsverfahren 230, 233 Entschuldigungsgründe 355 Entwicklung 50 Ergebnis 234 Ergebnisverteilung 231 Erkenntnisobjekt 1, 6 Erkenntnissuche 1, 6
Index
Erkenntnisziel 8 Erlaubnis 127, 261 Erniedrigung 82 Ersetzbarkeit 42 Erziehung 1, 3, 11 Ethik 1, 2, 3, 4, 5, 6, 8, 250, 319, 320 Ethik der Erziehung 7 Ethik der Konventionen 7 Ethik der Rechtfertigung der Moral 319 Ethik der Religion 7 Ethik der Sorge 15, 30 Ethik des guten bzw. glücklichen Lebens 7 ethische Selbstbestimmung 396 ethisches Grundverhältnis 23, 35, 45, 328 e¯thos 5 éthos 5 evaluative 8 Euthanasie 386, 388, 390 Evokationismus 245, 246 Existentialismus 336 Exklusion 262 Experten 42 Expressivismus 245, 246 Externalismus 261 externe Präferenzen 160 Fahrlässig 139 Fairness 375 faktische Einwilligung 50, 55 faktische Repräsentation 367 falsches Versprechen 185 feierliches Versprechen 123 Fluss 344, 345 Folgen 108, 143 Folgenbewertung 189 Folter 85, 100, 355 Folterverbot 11 formale Pfadabhängigkeit 17 Freiheit 30, 50, 53, 375 Freiheitsrecht 270 Freistellung 261 fremdschädigende oder verbrecherische Interessen 72, 74 früherer Wille 324, 383 Fundament der Ethik 320
421
fünf Elemente bzw. Prinzipien der Â�normativen Ethik 17, 21 Funktionen und Fähigkeiten 50, 53 Gebot der Gleichbehandlung 224, 227, 228 Gebot der Gleichheit 230 Gebote 10, 261 Gebot zur Rettung 127 Gefangenendilemma 222 Gefühle 50, 54 Gegenstand der Ethik 1, 247, 248 Gegenstand moralischer Normen und ethischer Rechtfertigungen 105 Geiselnehmer 226 Gelassenheit 75 Geltungsbedürfnis 330 gemeinsame Projekte 221, 286 gemeinsamer Referenzpunkt des Â�Konflikts der Belange 153 Gemeinschaft 286, 287, 290, 291, 292, 366, 370, 373 Gemeinschaftspflicht 286, 320, 322, 324, 331, 334, 336 Gemeinwohl 377, 378 Gemeinwohlorientierung 375 Gene 394 genetischer oder faktischer Â�Kollektivismus 33 Gentechnik 391, 394 Genügensprinzip 168, 204, 228, 229, 244 Gerechtigkeit 29, 162, 164, 292, 356, 360, 361, 362, 370, 375, 377, 378, 379 Gerechtigkeitspol 359 Geschädigtsein 50 Geschehenlassen 145 gesellschaftliche Institution 180 Gestaltungsrecht 270 Gesundheit 215, 216 Gewichtigkeit 154 gewinnlimitiertes Maximierungsprinzip 234 Gewolltsein 114 Gleichbehandlung 47, 202, 224, 227, 228
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Index
Gleichberücksichtigung 23, 24, 26, 47, 49, 201 Gleichheit 47, 175, 201, 203, 230, 358, 370, 375, 384 Gleichheit als Beitragsgleichheit der Gemeinschaft 375 Gleichheitsprinzip 168, 201, 202, 209, 230, 231, 234, 244 Gleichstellung 47, 202 Gleichverteilungsprinzip 206 globale Gerechtigkeit 375, 376 globale Gemeinschaft 376 Glück 50, 53, 378 Gottesebenbildlichkeit des Menschen 350 Grenze der Abwägung 326 Grenze des Körpers 217 Gründe 93, 95, 96, 97 Gründe des Handelns 96 Grundsatz des normativen Â�Individualismus 23, 212 gut 99, 102, 103, 105, 106, 162 gute Gründe 277 guter Samariter 294, 296, 297 guter Wille 102, 176 gutes Leben 1, 3, 378 Handeln für Andere 307 Handeln im engen Sinn 91, 92, 93, 135 Handlung im weiten Sinn 90, 91, 93, 107, 108 Handlungsabsicht 108 Handlungsausführung 40, 93, 95, 177 Handlungsbegriff 90 Handlungsinteresse 41 Handlungskonsequentialismus 198, 200 Handlungskonsistenz 166 Handlungspflichten 323, 326, 327, 332, 333 Handlungstheorie 7 Handlungsutilitarismus 200 Handlungswille 40, 91, 93, 95, 176 harm principle 241, 311 harter Paternalismus 310 Hedonismus 50, 54, 350 Helm- und Gurtpflicht 315, 317, 318 Herabsetzung 82
Herrschaftsverhältnisse 362 Hilfe 375 Hilfsbereitschaft 292, 330 Hilfserlaubnis 329, 331 Hilfsgebot 11 Hilfspflicht 129, 320, 321, 323, 326, 327, 328, 329, 330, 332, 333, 334, 335, 336 homo noumenon 276 homo phaenomenon 276 Humanismus 23, 30 humanitäre Intervention 375 Humescher Fundamentalismus 254 Ideal 2 idealischer Charakter der Ethik 250 Immunitätsrecht 270 Immunsystem 339 Implementation in den Uterus der Frau 398 Inanspruchnahme allgemeiner Güter 190 incommensurability 151, 152 incomparability 151, 152 Indifferenz 294, 305, 319 indirekte Euthanasie 386, 390 indirekte Instrumentalisierung 119, 122, 124, 334 indirekter Konsequentialismus 104, 200 indirekte Sterbehilfe 110 Individualbelange 214 Individualeinkommen 220 Individualethik 161 Individualisierung 125 Individualismus 23, 30, 36, 37 individualistische Sozialontologie 48 individualistisch-objektivistische Â�Kohärenz 252 Individualität 30, 44 Individualmoral 161 Individualprinzip 23, 27, 38, 170 Individualzone 213, 214, 215, 218, 224, 227, 239, 321, 322, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 331, 332, 335, 381, 386, 389 individuelle Überforderung 194 Individuum 24, 25, 369
Index
Ineffektivität 232 inhärente Menschenwürde 218 inhärente Würde 350 innere psychische Veränderung 136 innere Unabhängigkeit 75 Insemination 392 In-sich-selbst-Ruhen 75 Instrumentalisierung 119, 120, 121, 122, 334, 392, 397 Instrumentalisierungsverbot 112, 113 Instrumentalismus 261 instrumentelle Gründe 93 Intentionalität 83 Interessen 18, 33, 40, 50, 56, 67, 69, 72, 73, 74, 321, 340 Interessen- oder Begünstigtentheorie 267 intergenerationelle Gerechtigkeit 379 Internalismus 261 internationale Beziehungen 365, 375 interne Kohärenz der Belange des Â�Akteurs 166 interne Konsistenz der Einzelteile der Handlung des Akteurs 165 Intersubjektivität 273 Intuitionismus 246, 251 In-vitro-Fertilisation 392 irrationale Interessen 72, 73 irreversibel komatöse Menschen 339 iustitia commutativa 362 iustitia distributiva 362 iustitia generalis 357 iustitia legalis 362 iustitia universalis 357 jedem das Seine 375 jeder soll das Seine tun 375 Kaldor-Hicks-Prinzip 168, 205 Kannibalismus unter Schiffbrüchigen 120 Kantianismus 14, 28, 99 kardinaler Vergleich der Belange 152 kardinale Unvergleichbarkeit der Belange 152 kategorisch 8, 10, 20, 273 kategorische primäre Normordnung 245 Kategorischer Imperativ 28, 78, 112,
423
175, 276, 349 Kategorizität 10, 12 Kausalität oder Quasikausalität des Â�Unterlassens 143 Keimbahn des Menschen 392 Keimbahntherapie 395 klassischer Utilitarismus 28 Klonen 392, 397 Klugheitsethik 15, 30 Kognitivismus 245, 246, 253, 254 Kohärentismus 246, 251 Kollektive 25, 39, 89, 311, 369 kollektive Wohlfahrtsfunktion 158 kollektive Ziele 35 Kollektivismus 25, 32, 33, 48 komatöse Menschen 339 Kollektivschuld 354 Kommunen 365 Kommunitarismus 35 Kompensationsprinzip 237 Konflikt von Unterlassenspflichten 333 Konkurrenz von Hilfspflichten 333 Konsequentialismus 14, 99, 103, 104, 108, 111, 145, 191, 197, 198, 199, 200, 263 konsequentialistische Maximierung 328 Konsequenzen 15, 90, 92, 93, 95, 99, 100, 103, 114, 145, 170, 230 Konstruktivismus 253 kontingente Menschenwürde 218 Kontravalenz 262 Kontrollprinzip 237 Konventionen 1, 3, 11 Kooperation 30 Körpergrenze 217 körperliche Unversehrtheit 215, 216 korrektiv 376 Korrekturgerechtigkeit 361, 362, 372, 374 Korrelation von Rechten und Pflichten 269 kultisch-religiöse Praxis 11 Kunst 220 Lastwagenfall 127 Lawinenfall 120, 334 Leben 156, 214, 216, 224
424 Lebensentwurf 61 Lebenserhaltung 214 Lebensinteresse 215, 224 legale Repräsentation 367 legitimatorischer Individualismus 30 legitime Repräsentation 367 Leid 50, 54 Leistungsprinzip 168, 208, 229 Letztentscheidung 365 lexikographische Ordnung 207 lexikographisches Maximinprinzip 207 Leximinprinzip 207 Liberalismus 30, 31 libertäre Theorien 34 libertäre Vertragstheorie 257 limitiertes Maximinprinzip 234 Losentscheid 130 Lüge 182 Lügenbeispiel 327 Lügendetektor 85 lügenhaftes Versprechen 179, 182 Lügenverbot 11 Lüge zur Rettung eines Verfolgten 112 Lust 50, 54 Maschine 338 Mäßigkeit 292 materiale Gleichheit 375 materiale Werte 391 Maxime 102, 176 Maximierungsprinzip 15, 168, 171, 191, 192, 194, 196, 204, 207, 209, 225, 234, 244 Maximinprinzip 168, 206, 207, 229, 233, 234 Medizin 1, 3 Medizinethik 7, 15 Meinungsäußerungsfreiheit 220 Mehrheitsprinzip 71, 231 Menschenbild 393 Menschenrechte 375 Menschenwürde 74, 76, 77, 79, 80, 81, 83, 85, 86, 217, 218, 226, 227 Menschenzüchtung 396, 397 mentale Eigenschaften 60 Metaethik 3, 13, 245, 252, 256 Metaphysik 5
Index
metaphysische Sphären 393 methodologischer Individualismus 36, 37 Mikroorganismus 344, 345, 346, 347 Minimalmoral 173 Minimalontologie 48 Missachtung persönlicher Bindungen 195 Mitglieder 369 Mitleid 50, 330 Mitleidsethik 15, 30 Mittel 91, 93 Mittelsuche 93 Mittelwahl 95 Mittel zum Zweck 108 modaler Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange 150 Möglichkeit des Tuns 137 Möglichkeit einer Zusammenfassung der Belange 151 Monismus der Theoriewahl 15 Moral 1, 2, 3, 4, 5, 6, 9, 10, 11, 19, 101, 161, 319 moral agents 49 moralische Konflikte 319 moralische Objekte 49 moralische Pflichten 337 moralisches Gesetz in mir 54, 103 moralische Subjekte 49 moralisch gut 162, 163 moralisch richtig 163 morality 6 moral patients 49 Moralphilosophie 7 moral(s) 6 Motivation 87, 257 Motive 87, 95, 96, 97 Mucoviszidose 395 mutmaßlicher Wille 312, 324, 383 mutmaßliche subjektive Belange 383 Nähebeziehung 326 Näheformen 287 Näheverhältnis 328, 329 Nationen 365 Naturalismus 245, 246 Naturalistische Rechtfertigung 26
Index
naturalistischer Fehlschluss 22, 212, 340 Naturalobligationen 268 Naturgüter 222 Naturrecht 275, 276 Naturschutz 376 negative Dimension des Allprinzips 160 Nichtbehandlung 385 nichtkategorische Normen 20 Nichtkognitivismus 245, 246 Nichtmitglieder 369 Nichtnaturalismus 246 nicht notwendig kategorisch Â�verpflichtende Normordnungen 8 Nichtrealismus 245, 246 nichtrealistischer Kognitivismus 251 Nichtreduktionismus 246 nómos 5 normative Ethik 9, 17, 19, 21, 55, 248 normativer Individualismus 23, 27, 30, 31, 32, 88, 132, 169, 310, 311, 376 normativer Kollektivismus 25, 27, 310 normativ-ethisches Grundverhältnis 45 normativ-inhaltliche Pfadabhängigkeit 18 Normen 1, 2, 107, 260 Nothilfe 331, 336 Notstand 329 Notwehr 224, 240, 283, 327, 330, 336, 355 notwendige (inhärente) Würde 74, 76, 347, 348 notwendig kategorisch verpflichtende Normordnungen 8 Notwendigkeit der Zusammenfassung der Belange 159 Nutzenbefriedigung 50 Nutzorganismus 344, 345 Nutzpflanze 344, 345 Nutztier 344, 345 Objektformel 78 objektive ethische Vernunftlösung 297 objektive Interpretation der Belange 155 objektive Normativität 256 objektives Gesetz des Wollens 276 Objektivismus 245, 254 Objektivität 4, 21, 247, 251
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Objektivität der Konfliktlösung 52 Offenheit der Entscheidung 83 Ökosystem 341, 342, 343, 345, 346, 347 ontologische Voraussetzung 48 ordinale Unvergleichbarkeit 152 Ordnung 158 Organtransplantation 118 Orientierungswirkung des Rechts 336 Paradox des Hedonismus 54 Paretoprinzip 158, 168, 205, 229, 234, 244 Partikularismus der Theoriewahl 16 passive Euthanasie 386, 390 Paternalismus 307, 310, 312, 313, 317, 324 paternalistisches Handeln 310 paternalistisches Verhältnis 382 pathozentrisch 339, 341 Patienten 381, 383 Pedro-Beispiel 333 Perfektionismus 191 Permeabilität 374 Person 30, 31 persönliches Näheverhältnis 195, 333 Pflanzen 57, 343, 346, 347 Pflichten 10, 39, 177, 178, 183, 186, 261, 265, 267, 272, 281, 286, 319, 320, 352 Pflichten gegen sich selbst 272, 274, 275, 311 Pflichten zur Gleichbehandlung 47 Pflichten zur Gleichstellung 47 Pflichtfreiheit 261, 264, 294 Pflichtwidrigkeit 353, 354, 355 Pflicht zur Gleichberücksichtigung bzw. Gleichbeachtung 47 Pluralität des Bezugs 101, 113 Plus-Summe 207 Politik 1, 3, 11 politische Ethik 7, 161, 315, 316, 317, 365 politische Gemeinschaft 367, 373 politische Gerechtigkeit 362 politische Moral 161 politische Philosophie 28 positives Recht 11 Präferenzbegriff 71, 158
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Index
Präferenzen 28, 50, 56, 69, 70, 72, 160 Präferenzutilitarismus 28, 70 Präimplantationsdiagnostik 398 Praktische Ethik 7 praktische Philosophie 7 praktische Tatsachen 1 präskriptive Ethik 8 Prima-facie-Körpergrenze 217 primäre Repräsentation 368 primäre Wertungen 2 Prinzip der fundamentalen Gleichheit der Berücksichtigung 23, 24, 46 Prinzip der Generalisierung 175 Prinzip der Gleichheit 175 Prinzip der Gleichheit der Interessenbefriedigung 47 Prinzip der Individualität 44 Prinzip der modalen Vollständigkeit 18 Prinzip der relativen Individual- und Â�Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Individualbelange 18, 210, 212, 244 Prinzip der Relevanz des AusgangsÂ� zustands 238 Prinzip der Subsidiarität 376 Prinzip der Universalisierung 175 Prinzip der Urheber- bzw. Â�Erhalterlegitimität 212 Prinzip des Handlungsuniversalismus 18 Prinzip des normativen Individualismus 18, 23, 211, 237, 242, 257 Prioritätsprinzip 168, 209 Privateigentum 220 Privatsprachenargument 215 Projekte 61 Proportionalität 111 Proportionalprinzip 236 prozedurale Verpflichtungen 25 prozeduralistische Ethik 257 Prudentialismus 28, 30 Psyche 216 psychologischer oder sonstiger Egoismus 33 Quasikausalität des Unterlassens 143
Rationalismus 14, 246, 251 Rationalismus im engeren Sinn 246 Rauchen 314, 315, 317 Realismus 245, 246, 251 Recht 1, 3, 11, 101, 265, 316, 319 Rechte 50, 55, 264, 375 Rechte-basierte Ethik 43 Rechte im subjektiven Sinn 264 Rechtfertigung 2, 8 Rechtfertigung der Einschränkung der individuellen Belange 211 Rechtfertigung der kategorischen Â�Verpflichtung 257 Rechtfertigungsfiktion 50 Rechtfertigungsgründe 355 Rechtfertigungsverlangen 41 rechtliche Pflichten 337 Rechtsethik 7, 315, 317, 365 Reduktionismus 246 Reflexivität 158 Regelkonsequentialismus 104, 198, 199 Regeln 1, 2, 107, 260 rein andergerichtete Interessen 72 Relativismus der Theoriewahl 15 Relativzone 81, 213, 215, 220, 222, 224, 228, 229, 239, 241, 321, 322, 323, 324, 327, 328, 329, 330, 331, 335, 381, 389 Religion 1, 3, 11 religiöse Rechtfertigung 26 Repräsentation 366, 367, 368, 370 repräsentative Demokratie 367 Respekt 81 Rettung der Höhlenforscher 110 Rettung der Mutter durch Â�Entfernung des im Gebärmutterhals Â�feststeckenden Kindes 110 Rettung einer Schwangeren durch Â�Entfernung der Gebärmutter 109 Rettungsfolter 226 Rettungsschiff 129 richtig 162, 163 Richtigkeit 247, 251, 254 Risikoerhöhung 125 Rückholbarkeitsprinzip 237
Radbruchsche Formel 337
Sachbeschädigung 330
Index
Sachenrechte 265 satisficing-principle 168 Säuglinge 86 Schadensprinzip 241 Schädigung 53 Schicksalsgemeinschaft 120, 122, 123, 124, 125, 334 Schmerzbekämpfung 386 Schmerzmittel 387 Schuld 352, 354, 355 Schuldunfähigkeit 355 Schwangerschaftsabbruch 217 Seenotfall 334 Sein-Sollen-Dichotomie 22 Sektoralprinzip 238 sekundär Betroffene 160 sekundäre Repräsentation 368 Selbstaufgabe 299 Selbstaufopferung 299 Selbstbestimmtheit 83 Selbstbestimmung 30, 31, 32, 82, 83, 220, 384, 385, 397 Selbstbestimmungsrecht des Volkes 264 Selbstbestimmung über eigene Daten 220 Selbstbezug 341 Selbstentfaltung 344 Selbstentstehung 344 Selbsterhaltung 50, 52, 185, 341, 344 Selbsterniedrigung 279 Selbstgesetzgebung 79, 350 Selbsttötung 186, 218, 315, 387 Selbstverletzung 218 Selbstverleugnung 299 Selbstversklavung 279 Selbstverteidigung gegen den Einbrecher 108 Selbstzerstörung 299 Selbstzweckformel 78, 349 Selbstzweckhaftigkeit 79 Sichelzellenanämie 395 Sicherheit 376 Sippenschuld 354 Sitte 10 Sittengesetz 391 Skeptizismus 15, 257 Skeptizismus der Theoriewahl 16
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Sklaverei 84, 85 Solidarität 292, 375 soziale Institutionen 189, 191 Sozialethik 315, 317 Sozialität 232 Sozialprinzip 235, 236 Sozialzone 213, 221, 222, 224, 230, 239, 241 Staaten 365 Staatskirche 221 Staatsreligion 221 Stein 338, 344, 345 Sterbehilfe 110, 385, 387, 390 Steuerung des Lastwagens 127 Straßenbahnproblem (runaway-tram problem/trolley problem) 117, 118, 119, 127 Strategische Bombardierung der Â�Munitionsfabrik 109 Strebungen 18, 50, 56, 57, 62, 63, 65, 66, 67, 83, 88, 89, 278, 338 strikt deontologische Ethik 111 subjektive Normativität 256 subjektives Recht 55 Subjektivismus 30, 31, 245, 246 Suffizienzprinzip 204 Suizid 218, 315, 387 Supererogation 294, 296 Supererogationsschwelle 303 supererogatorisches Handeln 294, 300, 331 Supraerogation 294 Symmetrie 49 Tatsachen 247, 249, 258 Tatsachenbehauptung 250 tatsächliche Handlungsausführung 135 Tauschgerechtigkeit 358, 361, 372 Technik 1, 3 Technikethik 7 teleologische Ethik 14 teleologische Natur des Akteurs 185 Terroristische Bombardierung Â�Unschuldiger 109 Theorie der Gefühle 7 Therapie 381 Tiere 58, 343, 346, 347
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Index
Tod 384 Tötung auf Verlangen 318, 388 Tötung aus Rache für eine Ehrverletung 186 Tötungsverbot 11, 333, 334 Transitivität 158 Treibhauseffekt 376 Trittbrettfahrer 167 Tugenden 99, 102, 293 Tugendethik 14, 15, 29, 30, 99 Tugendpflichten 292 Tun 135, 136, 140, 144, 147, 386 Tunspflichten 285 überpflichtgemäßes Handeln 294 Überpflichtgemäßheit 296 Überzeugungen 1, 2, 91, 93, 95, 96 Ultraminimalstaat 34 Umwelt 376 unabdingbare Rechte 81 Unabhängigkeit von irrelevanten Â�Alternativen 158 unabwendbares Ereignis 335 Ungleichheit 370 uninformierte Interessen 72 Universalisierung 172, 175, 276 Universalismus 24 Universum 342 Unmöglichkeitstheorem 158 Unterlassen 135, 136, 140, 142, 143, 144, 146, 147, 386 Unterlassen: spezifische Anforderungen 141 unterlassene Hilfeleistung 135, 183, 321 Unterlassenspflichten 281, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 327, 332, 333, 335 unterpflichtgemäßes Handeln 294, 304 Unvergleichbarkeit 151 Unverhältnismäßigkeit 300 unvollkommene Pflichten 177, 178, 183, 268 Urheber 272, 276 Ursprung 272, 276 Utilexprinzip 168, 207, 229 Utilitarismus 14, 15, 28, 70, 160, 171, 191, 197, 344
utilitaristisch 344, 350 Verallgemeinerung 179 Verallgemeinerungsprinzip 168, 175, 182, 186, 189, 191, 209, 244, 327 Verallgemeinerungstest 99, 102, 178, 180, 183, 186, 187, 191 Verantwortlichkeit 370 Verantwortung 352, 363 Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit 353 Verantwortungsinstanz 363 Verantwortungsobjekt 363 Verantwortungssubjekt 363 Verbesserungsprinzip 236 Verbindung potentiell widerstreitender Belange bzw. Interessen 150 Verbote 10, 113, 261 verbrecherische Interessen 72 Vereinbarungen 285 Vereinbarungen zulasten Dritter 325 Vereinte Nationen 377 Verhältnismäßigkeit 364 Verletzungsverbot 11 Verleumdungsverbot 11 vernünftige Überzeugung 309 Verpflichtung 8, 107, 352 Verpflichtungs- und Â�Handlungsrelationen 45 Versammlungen 220 Versöhnungsbereitschaft 292 Versprechen 123, 179, 182, 221, 285, 331 Verteilung eines lebensrettenden Â�Medikaments 128 Verteilungsgerechtigkeit 360, 361 Vertragsethik 28 Vertragsgleichheit (do ut des) 375 Vertragsprinzip 168, 169, 170, 171, 173, 209, 243 Vertragstheorie 14, 15, 28, 34 Vertrauen 327 Vertreter 11 Vertretung 366 Verurteilung des Unschuldigen 111 Verwandtschaftsverhältnis 325, 332 volenti non fit iniuria 55
Index
vollkommene Pflichten 177, 178, 179, 186, 286 Vollständigkeit 18, 158 Volltrunkenheit 355 Vorbilder 298 Vorsatz 139 Wahl eines Mittels 93 Wahlfreiheit 43 Wahrheit 247, 251 weicher Paternalismus 310, 312, 313, 317, 324 Wert des Einzelnen 30 Wertobjektivistische Rechtfertigung 26 Wertungen 1, 2, 260 Wertungs-, Normen-, Regel- und Â�Überzeugungsordnungen 2 Wichtigkeit der Belange 154, 155 Widerspruch des Handlungswillens oder der Handlungsausführung 167 Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit 337 Widerspruch im Denken 177, 178, 182 Widerspruch im Wollen 177, 178, 183, 185, 187 Widerstand 336 widerstreitende Belange 151 Wiedergutmachung 375 Wildpflanze 344, 345 Wildtier 344, 345 Wille 50, 69, 102, 176, 312, 323, 324, 383 Willensbegriff 52 Willensbildungsprozess 94 Willens- oder Kontrolltheorie 267 Willensschwäche 314 Willens- und Freiheitstheorie 284 Willens- und Handlungsfreiheit 44 Willkür 50 Win-Win-Situation 207 Wissenschaft 220 wissenschaftliche Ethik 4 Wissen und Wollen des Handelnden 138 Wohl 162 Wohlbefinden 162 Wohlergehen 11, 50, 53, 162 Wohlfahrt 50, 53
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Wohlfahrtsfunktion 71 Wohlwollen 292 Wünsche 18, 50, 54, 56, 57, 59, 60, 62, 63, 65, 66, 67, 83, 88, 89, 91, 93, 96, 97, 254, 278, 338 Würde 74, 76, 86, 156, 347, 348, 350 Würde des Menschen 74, 76, 77, 79, 80, 81, 83, 85, 217, 218, 226, 227 zeit- und ungleichheitslimitiertes Â�Maximierungsprinzip 234 Ziele 18, 54, 56, 57, 60, 61, 62, 63, 65, 66, 67, 83, 88, 91, 93, 95, 278, 338 zufällige (kontingente, externe) Würde 74, 347 zukünftiger mutmaßlicher Wille 383 Zumutbarkeit 321 Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange 133, 150, 151, 159, 165 Zuschreibung 365 Zustimmung 381, 386 Zustimmungsfiktion 50, 56 Zustimmungsprinzip 168, 169, 170, 171, 173, 209, 243 Zwangsernährung 84 Zweck 93 Zweck-Mittel-Formel 112 Zweiebenenstrategie 193 Zweistufigkeit des Verallgemeinerungstests 178 Zygote 395