Oh, du lieber Augustin Version: v1.0
Schlagartig erwachte Lukas. Er fuhr hoch und schaute sich wachsam um. Was hatte i...
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Oh, du lieber Augustin Version: v1.0
Schlagartig erwachte Lukas. Er fuhr hoch und schaute sich wachsam um. Was hatte ihn geweckt? Ein Blick auf die blau leuchtenden Ziffern des Radioweckers verriet, Mittag war gerade vorüber. Hinter den nahtlos verschlossenen Jalousien stand die Sonne hoch am Firmament. Es war viel zu früh, um aufzustehen. Dennoch verließ Lukas sein schmales, hartes Bett und schlüpfte in ein helles Leinenhemd und Bluejeans. Irgendet was stimmte nicht. Er konnte es fühlen, am Randes seines Geistes, wie eine Bewegung knapp außerhalb des Sichtfeldes.
Vielleicht hatte sich ein Tourist auf seiner Wanderung durch das Siebengebirge verirrt und war versehentlich auf seinen Besitz gelangt? Lukas hob den Kopf. Das würde seine Unruhe erklären – aber nicht, warum Bran und Skolawn still blieben. Normaler weise meldeten die Hunde jeden Ankömmling, begrüßten die Freunde und verbellten die Fremden. Er trat aus dem Schlafzimmer, durchquerte den Vorraum und ging den dunkel getäfelten Gang entlang. Immer wenn die Sonne ein Loch in der Wolkendecke fand, fielen ihre Strahlen durch die bunt verglasten Fenster und malten rote, grüne und blaue Flecken auf den Teppich. Der Geruch nach Möbelpolitur und frischem Holz schwebte in der warmen Luft. Draußen rauschte eine sommerliche Brise, als sie sich in den dicht belaubten Kronen der Bäume verfing. Lukas wusste, er würde keine Ruhe finden, ehe er nicht die Ursache für sein Erwachen entdeckt hatte. Kurz versicherte er sich, dass seine gute Freundin Raffaella friedlich in ihrem Bett schlief, dann ging er ins Erdgeschoss hinab. Langsam verdichtete sich das Gefühl, dass jemand seinen Besitz unerlaubt betreten hatte. Nur wer? Und warum? Er erreichte gerade das Ende der breiten Freitreppe, die vom ersten Stock in die Eingangshalle führte, als gedämpfter Lärm die Stille im Schloss störte. Irgendwo zersplitterte Glas, zersprang mit hellem Klirren in tausend Scherben. Lukas rannte los, dem Geräusch hinterher. Wie ein Wind stoß fegte er die Stufen wieder hinauf und nach rechts in den anderen Flur. Er stürmte an Bibliothek und Arbeitszimmer vorbei, hastete die nächste Treppe hinauf, jagte die Galerie entlang, nahm zwei weitere Treppen und bog in einen schmalen Gang mit mehreren Türen.
Abrupt blieb er stehen. Hier im Nordturm befand sich seine Sammlung mechanischer Musikinstrumente – für einen Dieb ein verlockendes Ziel. Lukas bleckte die Zähne. Hinter der Tür am Gangende klapperte ein Fenster. Mit einem Satz war er an der Tür, riss sie auf und sprang in den Raum. Unter seinen Füßen knirschte das Glas einer zerbro chenen Vitrine, während er zum Fenster eilte. Es stand einen Spalt breit offen. Ein Kletterhaken steckte am Rahmen. Lukas lehnte sich aus dem Fenster und schaute an dem Seil entlang, das von dem Haken die Schlosswand hinabführte. Er ignorierte das unangenehme Kribbeln der Sonnenstrahlen, die durch die Wolkendecke gefiltert wurden. Wie erwartet hing an dem Strick eine Gestalt, die sich has tig abwärts bewegte. Sie hatte bereits die Hälfte des Abstiegs hinter sich gebracht. Lukas blieb nicht viel Zeit. Sollte er dem Dieb folgen? Er kniff die Augen zusammen. Die Sonne konnte jeden Moment durch die Wolken brechen, und ihrem Licht setzte er sich nur ungern aus. Aber vielleicht ging es auch anders. »He!«, rief er. »Du da!« Der Dieb sah zu ihm auf. Mit einer ruckartigen Bewegung winkte ihm Lukas, den Rückweg anzutreten, doch der unerwünschte Besucher igno rierte die Aufforderung. Noch schneller als zuvor rutschte er am Seil hinab. »Gib auf!«, befahl Lukas. »Mir entkommst du nicht!« Er packte das Seil und zog es hoch. Obwohl am Tage die meisten seiner vampirischen Fähigkeiten schlummerten, war er immer noch außergewöhnlich schnell und stark. Hand über Hand holte er das Seil mitsamt seiner Last ein.
Das Ende des Stricks schwebte bereits zwei oder drei Meter über dem Erdboden, als der Dieb es erreichte. Für einen Moment zauderte er, dann ließ er los und sprang das letzte Stück. Katzengleich landete er auf allen Vieren und rollte sich ab. »Verdammt!« Ohne zu zögern flankte Lukas über den Fens tersims, die Sonne war vergessen. Er stürzte in die Tiefe. Der Wind rauschte um seine Ohren. Sein Hemd flatterte und knatterte wie ein Segel im Sturm. Der Boden raste auf ihn zu. Die Kiesel auf dem Weg wuchsen von winzigen Murmeln zu beachtlichen Steinen an. Im letz ten Moment richtete sich Lukas auf, sodass er mit beiden Fü ßen gleichzeitig landete. Er ließ sich nach vorne fallen, um die Wucht des Aufpralls abzufangen, und erwischte den Dieb noch im Davonlaufen. Lukas riss den Flüchtenden zu Boden. Im Nu zog er ihm den Rucksack vom Rücken, drehte ihn um und setzte sich auf seine Brust. Die Hände, die nach ihm schlugen, bemerkte er kaum. »Mach dein …«, stieß der Vampir hervor. Verdutzt brach er ab. Der Dieb war kein erwachsener Mann, sondern ein Teenager, ein vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre altes Mädchen. In ihrem herzförmigen Gesicht leuchteten zwei grüne Augen voller Angst, und ihr zierlicher Körper, schmal und sehnig wie der einer Akroba tin, bebte vor Entsetzen. »Bitte beiß mich nicht!«, keuchte sie. »Du weißt also, was ich bin.« Lukas zog die Augenbrauen hoch. Verwunderung und Neugier hielten seine Wut in Schach. »Und trotzdem hast du es gewagt, bei mir einzubre chen?« Die Kleine musste sehr dumm oder sehr verzweifelt
sein. Was hatte sie eigentlich gestohlen? Während er mit der linken Hand beide Mädchenarme fest hielt, öffnete er mit der rechten den Rucksack. Eine Spieluhr kam zum Vorschein: Eine schlanke Tänzerin im scharz weißen Harlekin-Kostüm drehte ihre Pirouetten auf einer hölzernen Musikdose. »Sehr hübsch, aber nicht gerade etwas, für das ich mein Leben riskieren würde«, stellte er fest. »Ich brauche sie!«, schluchzte das Mädchen. »Es war doch gefahrlos … Mitten am Tag … Sie müssten schlafen!« Ihre Augen weiteten sich überrascht. »Und die Sonne …!« »Verbrennt mich nicht.« Lukas hob das Gesicht zur Wolkendecke, die das Tagesgestirn verbarg. Gewöhnliche Vampire hätte es auch jetzt verbrannt. Aber für ihn stellte es kaum eine Gefahr dar. Er war alt – und alles andere als gewöhnlich … Dennoch schmerzte das Sonnenlicht in seinen Augen und stach nadelgleich auf seiner bleichen Haut. Zorn wallte in Lu kas auf. Der dreiste Einbruch machte ihm viel zu viele Sche rereien. Am besten, er schreckte ungebetene Besucher ein für alle Mal ab. Er sprang auf und zog das Mädchen auf die Füße. »Wenn du schon weißt, wer ich bin, solltest du auch wissen, wie ich mit Dieben verfahre.« Sie schrie auf. »Bitte tun Sie mir nichts! Ich werde es auch nie wieder tun!« Mit der Kraft der Verzweiflung versuchte sie, sich aus seinem Griff zu befreien, während er sie über den Schlosshof zerrte. »Ich verspreche es! Bitte! Ich wollte es auch gar nicht. Er hat mich dazu gezwungen!« Lukas hielt inne. »Wer?« »Das … das kann ich nicht sagen!« Blankes Entsetzen
verzerrte das junge Gesicht, als sich das Mädchen zwischen Hammer und Amboss wiederfand. Die Angst vor dem fernen Auftraggeber war so furchtbar wie die unmittelbare Bedro hung durch Lukas. »Wer hat dich gezwungen, bei mir einzubrechen?« Er pack te die Diebin an den Schultern und schüttelte sie. »Dein Herr? Dein Vater? Vormund?« Der Gedanke, sie könne die jämmerliche Dienerin eines anderen Vampirs sein, durch zuckte ihn. »Dein Meister?« »Ich kann nichts sagen! Er bringt mich um!« »Dazu wird er keine Gelegenheit haben.« Kurzerhand warf er sich das Mädchen über die Schulter. Ohne ihr Bitten und Flehen, ihr Zappeln und Zerren zu be achten, trug er sie um das Schloss herum zu einem Anbau. In Inneren – geschützt vor der Sonne – stand ein runder Holz block, umsäumt von Spänen und Sägemehl. An den Wänden stapelten sich Scheite, die im Winter in den Kaminen prasseln sollten. Lukas warf das Mädchen ab, zwang es vor dem Block in die Knie und zog die Axt aus dem Holz. »Ich frage dich ein letz tes Mal: In wessen Diensten stehst du?« Sie starrte ihn an. Todesangst raubte ihrem Gesicht jede Farbe. Ihr Mund bewegte sich, doch kein Laut kam über ihre bleichen Lippen. Erstarrt wie ein Reh im Scheinwerferlicht kniete sie vor ihm, unfähig, ein weiteres Mal einen Fluchtver such zu wagen. »Sterben wirst du eh!« Drohend wog er die Axt in den Händen. »Die Frage ist, ob schnell oder langsam.« Er stieß sie vorwärts, sodass ihre Brust gegen den Block prallte, und drückte ihren rechten Arm auf das zerfürchte Holz. »Also sprich endlich! Für wen wolltest du die Spieluhr stehlen?«
Beinahe hätte er ihre Antwort überhört. Nahezu lautlos flüsterte sie: »Für meine Schwester. Er lässt sie frei, wenn ich ihm die Spieluhr bringe.« »Wer? Sag mir seinen Namen!« »Ich kann nicht!« Er hob die Axt. Das Mädchen röchelte erstickt. Die schimmernde Klinge sauste abwärts. »Halt!«, gellte die Stimme einer Frau. Nur Millimeter von dem schmalen Handgelenk entfernt stoppte die Axt. Lukas drehte sich zu der Person um, die ihn aufgehalten hatte. Im Durchgang zum Schloss stand seine Mitbewohnerin Raffaella. Einhalt gebietend hatte sie die Hand ausgestreckt, doch sie wagte es nicht, näher zu treten. Selbst geschützt durch das Dach des Anbaus waren die Sonnenstrahlen für sie noch gefährlich. Wahrscheinlich litt sie selbst dort Schmerzen. Ihre nackten Beine und Füße blitzten weiß wie Marmor unter einem Herrenhemd hervor, das höchst wahr scheinlich aus Lukas’ Kleiderschrank stammte. »Was tust du da?«, verlangte sie zu wissen. »Eine Diebin bestrafen.« »Eine Diebin? Sie ist fast noch ein Kind. Was hat sie denn gestohlen?« »Eine Spieluhr.« Lukas murmelte einen unterdrückten Fluch, den seit Jahrhunderten kein Ohr mehr vernommen hatte. Er zog das Mädchen auf die Füße und schubste sie in Raffaellas Arme. »Ich hole die Spieluhr. Wir treffen uns in der Eingangshalle.« Er warf einen kurzen Blick zum Himmel, vergewisserte sich, dass die Sonne nicht gerade jetzt zwischen den Wolken
erscheinen würde. Schnell umrundete er einen Augenblick später das Schloss, sammelte den Rucksack ein und kehrte durch die Haupttür ins Innere zurück. In der Eingangshalle erwarteten ihn die beiden Frauen. Raf faella hielt die Hände der kleinen Diebin und versicherte ihr gerade, dass Lukas sie nicht verstümmeln würde,dass er nur geblufft hatte. Wenn sie doch bloß sagen würde, wer ihr Auf traggeber sei! Wieder schüttelte das Mädchen stumm den Kopf. Seufzend blickte Raffaella Lukas an. »Ich befürchte, sie steht unter einem Zauber, sodass sie den Namen ihres Meis ters nicht nennen kann. Sie dient wohl einem Magier.« Lukas fluchte lautlos. »Gehen wir in mein Arbeitszimmer.« Den beiden Frauen voran schritt er die Treppe hinauf in den ersten Stock. Er öffnete eine Tür, die in ein ebenfalls getä feltes Arbeitszimmer führte. Moderne Jalousien schlossen das für Raffaella tödliche Sonnenlicht aus. Geschickt verteilte Wandlampen sorgten für eine sanfte Beleuchtung und erweckten den Eindruck mitternächtlicher Ruhe, als er sie einschaltete. An den Wänden reihten sich Regale mit in Leder ge bundenen Büchern aus mehreren Jahrhunderten. Das eine Ende des Raumes dominierte ein schwerer Schreibtisch. Diesem gegenüber glänzten einige Waffen über dem Kamin, vor dem eine lederne Sitzgruppe zur gemütlichen Runde ein lud. Raffaella ließ sich auf einen Sessel sinken und zog die bloßen Füße auf das rotbraune Polster, während Lukas den Rucksack mit der Spieluhr auf seinem Schreibtisch ablegte. »Wie lautet dein Name?«, fragte er das Mädchen freund lich.
Mitgefühl übernahm die Herrschaft in seinem Herzen. Im Grunde tat ihm die Kleine Leid. Irgendjemand zwang sie, einen Vampir zu bestehlen, indem er ihre Schwester gefangen hielt. Außerdem war sie schrecklich jung, zwar kein Kind mehr, aber noch längst keine Frau. »Ich bin Perdita«, antwortete sie zaghaft. »Das ist Lateinisch und bedeutet ›die Verlorene‹. Und deine Schwester heißt?« »Beate.« »Ebenfalls Lateinisch: ›die Gesegnete‹«, stellte Lukas fest. »Eure Eltern haben eine seltsame Art von Humor.« Er legte Perdita die Hand auf die Schulter und schob sie zu dem Regal, in dem die Nachschlagewerke und Lexika standen. Verwundert und immer noch verängstigt sah die Kleine zu ihm auf. Er lächelte ihr ermunternd zu. »Du kannst mir zwar nicht sagen, unter wessen Bann du stehst, aber ich denke, du kannst es mir auf einem anderen Weg mitteilen. Schau mal nach, ob du nicht einen Eintrag mit dem Namen deines Meis ters findest.« Zögerlich nickte Perdita. Aufmerksam studierte sie die Buchrücken, ehe sie einen schweren Band aus dem Regal zog und durch die Seiten blät terte. Ihre Lippen bewegten sich stumm, während sie die Ein träge überflog. Plötzlich zuckte sie zusammen. Erneut stu dierte sie die Seite, fuhr mit zitternden Fingern die einzelnen Absätze nach, um ja keinen zu übersehen. Am Ende der Spalte wurden ihre Augen groß vor Verzweiflung und Schre cken. »Er steht nicht drin«, flüsterte sie ängstlich, weil sie nicht wusste, was der Vampir nun mit ihr machen würde.
»Vielleicht …« Lukas warf einen Blick auf das Buch und las die Einträge: »Waid … Waiden … Waidhofen …« Er zuckte zusammen. »Du meinst Waidinger? Dein Meister ist Franz Waidinger?« Heiß flammte der Zorn in seinem Herzen auf. Aus seiner Kehle stieg ein wütendes Knurren empor, zu tief für jedes menschliche Organ. Seine Fingernägel verwandelten sich in lange Krallen, seine Eckzähne in tödliche Fänge. Perdita wich vor ihm zurück, das Buch wie einen Schild vor ihre Brust gepresst. Raffaella sprang aus dem Sessel auf und eilte an die Seite des Mädchens. Schützend schob sie sich vor den Teenager. »Waidinger? Wer ist das? Kennst du ihn?« Raffaellas Stimme klang ruhig, doch ihre Schultern verrieten ihre An spannung. Obwohl sie äußerlich gelassen wirkte, war sie be reit, Perdita zu beschützen, sollte Lukas die Kontrolle über sich verlieren. Mit schier übermenschlicher Beherrschung zügelte Lukas seinen Zorn. Er zwang seine zu Klauen verkrampften Finger auseinander und fletschte die Zähne, bis sich seine Fänge zu rückbildeten. Unbewusst rieb er seinen schmerzenden Nacken. »Waidinger ist ein Schwarzmagier und Nekromant«, er klärte er endlich, während er an den Kamin trat und seine Waffen betrachtete. »Seit meinem letzten Besuch in Wien will er meinen Kopf.« Er schnaubte. »Und ich seinen …« »Und warum?« Raffaella nahm Perdita das Buch ab und stellte es in das Regal zurück, ehe sie mit dem Mädchen auf der Ledercouch Platz nahm. Sie zog die Knie unter das Kinn und schlang die Arme um die Beine. »Er hat meine Geliebte getötet.« Lukas ballte die Fäuste. Die
Erinnerung zerschnitt sein Herz, und er spürte die unge weinten Tränen aufsteigen. Doch seine Stimme klang unbe wegt, während er erzählte. »1873 war ich in Wien zur Weltausstellung, wo ich Clara kennen lernte, eine Schülerin von Franz Waidinger. Wir verliebten uns ineinander, und um meinetwillen wollte sie ihren Meister verlassen. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihm schon ihr Leben verpfändet, und er hat die Schuld eingetrieben, bevor wir Wien verlassen konnten.« »Das tut mir Leid.« Schaudernd rieb Raffaella ihre nackten Schienbeine. Lukas griff nach seinem Langschwert und zog es aus der Verankerung über dem Kamin. Prüfend schwenkte er die ur alte Waffe mit der aufwändig verzierten Klinge. Er schlug nach einem imaginären Gegner, und der seit langem schwe lende Hass erhielt Gesellschaft von Streitlust und Vorfreude. »Dass ich 1946 seinen Zirkelbruder Reinhard von Hohen stein erledigt habe, hat unsere Beziehung bestimmt nicht ver bessert«, fügte er trocken hinzu. »Warum hast du diesen Vergeltung für Clara?«
Reinhard
vernichtet?
Als
»Nein. Reinhard hatte mich unter seinen Bann gezwungen. Und dafür musste er sterben. Kein Friede seiner Asche.« Lu kas lachte humorlos. Er hängte das Schwert an seinen Platz zurück, ehe er sich Raffaella und Perdita gegenüber auf das zweite Sofa setzte. Gelassen lehnte er sich zurück und streck te die Beine aus. »Die Spieluhr stammt aus Reinhards Nach lass. Ein Teil der Kriegsbeute, sozusagen. Ich habe sie für ein gewöhnliches Spielzeug gehalten, aber offensichtlich ist sie etwas Besonderes. Was weißt du über sie?«, wandte er sich an Perdita.
Instinktiv suchte das Mädchen die Nähe zu Raffaella, die sich zweimal als ihre Beschützerin erwiesen hatte. Furchtsam sagte die kleine Diebin: »Ich weiß gar nichts. Wirklich nicht. Er hat mir nur erklärt, was ich stehlen soll, und dass er meine Schwester töten wird, wenn ich mich weigere … oder versage …« Tränen schimmerten in ihren Augen, als ihr bewusst wurde, dass genau dies geschehen war. Ihre Lippen zitterten verräterisch, und heiser flehte sie: »Bitte, können Sie mich nicht einfach gehen lassen? Ich bedeute Ihnen doch gar nichts. Und Sie wissen jetzt, wer Sie bestehlen wollte. Wenn Sie mich mit der Spieluhr laufen lassen, können Sie über raschend zurückschlagen, wann und wo Sie wollen.« Kein schlechter Vorschlag, überlegte Lukas. Die Kleine hat wirklich Schneid. Er stand auf, ging zum Schreibtisch hinüber und nahm die Spieluhr aus dem Rucksack. In Gedanken versunken zog er die Musikdose auf, und die schwarzweiße Tänzerin begann, ihre Pirouetten zu drehen. Glockenhell klingelte die Melodie von »Oh, du lieber Augustin« durch das Arbeitszimmer. »Jeder Tag war ein Fest, jetzt haben wir die Pest. Nur ein großes Leichennest, das ist der Rest«, sang Lukas die vierte Strophe mit. Nachlässig stellte er die Spieluhr auf dem Schreibtisch ab und lehnte sich gegen die Tischplatte. »Zu rück zu dir, Perdita. Wie bist du hergekommen? Wien liegt ja nicht gerade um die Ecke.« »Wieso Wien?«, unterbrach Raffaella. »Weil Waidinger in Wien sein Unwesen treibt. Würde er hier im Rheinland hausen, unsere Feindschaft hätte längst ein Ende gefunden. Zu meinem oder seinem Schaden.« Er nickte Perdita auffordernd zu. »Erzähl mir von dir! Wie seid ihr in
Waidingers Fänge geraten? Und wer hat dich das Stehlen ge lehrt? Waidinger sicher nicht; er ist Nekromant und kein Fassadenkletterer.« »Ich habe es von meinem Vater gelernt.« Perdita nahm eines der cremefarbenen Kissen und umklammerte es Trost suchend mit beiden Armen. »Er war ein Fassadenkletterer, und zwar der berühmt-berüchtigte Dachfürst. Er und meine Mutter starben vor einem halben Jahr durch einen Auto unfall, und wir kamen zu Tante Agathe nach Köln. Aber ich glaube, sie ist gar nicht unsere Tante.« »Sondern Waidingers Anhängerin«, ergänzte Lukas. Die beiden Schwestern konnten einem Leid tun. Erst verlo ren sie ihre Eltern, und dann fielen sie einem Schwarzmagier in die Hände. Wahrscheinlich war der Tod der Eltern gar kein Unfall, sondern ein geschickt geplanter Mord gewesen, um der Mädchen habhaft zu werden. Nervös kaute Perdita auf ihrer Unterlippe, ehe sie fortfuhr: »Er tauchte vor ungefähr einer Woche auf. Er hat mir gesagt, was ich tun sollte, und als ich mich weigerte, hat er Beate ge schlagen. Er hat sie in den Keller gesperrt und lässt sie erst wieder raus, wenn ich ihm die Spieluhr bringe.« »Wie bist du heute hierher gekommen? Doch nicht etwa mit Bus und Bahn?« »Tante Agathe hat mich gefahren. Sie wartet im Wagen draußen vor dem Eingangstor.« Lukas strich eine rotblonde Strähne aus seiner Stirn. »Deine Tante hat dich also abgesetzt, und du bist über den Zaun ge klettert. Wie bist du an den Hunden vorbeigekommen? Nor malerweise melden sie jeden Fremden.« »Er gab mir einen Köder mit einem Schlafmittel.« Eine eiskalte Hand griff nach Lukas’ Herz. Waidinger war
nicht der Mann, der Hunde schlafen schickte. Eher würde er sie einschläfern. Vor allem, wenn es die Tiere seines Feindes waren. Der Vampir fluchte gotteslästerlich. Innerhalb eines Augen blickes war er aus dem Arbeitszimmer gestürmt. Angetrieben von der Sorge um die Hunde, jagte er über den Flur, hinunter in die Eingangshalle und hinaus in den Wald, der sein Schloss umgab. Dabei verschwendete er keinen Gedanken mehr an die Strahlen der Sonne. Laut rief er nach Bran und Skolawn, doch er erhielt keine Antwort. Es blieb still. Totenstill …
* Vor der Tür zum Arbeitszimmer blieb Lukas stehen. Er strich seine zerzauste rotblonde Mähne glatt und wischte mit dem Handrücken die letzten Tropfen Blut von seinen Lippen. Nachdem er die Hunde tot aufgefunden hatte, hatte ihn ra sender Zorn übermannt. Nur noch trübe erinnerte er sich, wie er sich von einem sonst durchaus attraktiven Menschen in eine abstoßende Bestie mit langen Fangzähnen und Klauen statt Händen verwandelt hatte. Sein alles verschlingender Zorn fand sein Ziel in Agathe, die an der Grenze seines Besitzes Perditas Rückkehr erwartete. Im Nu hatte er die Frau überwältigt, ihre Kehle zerfleischt. Süß war das Blut in seinen Mund geronnen und hatte seine Wut und seinen Durst nach Rache gelindert. Abschließend hatte er die Leiche der Frau in den Koffer raum ihres Wagens verfrachtet und war mit dem schnittigen
Mercedes zurück zum Schloss gefahren. Er öffnete die Tür zum Arbeitszimmer und trat in den abge dunkelten Raum. Wie zuvor saßen die beiden Frauen auf der Ledercouch, allein mit dem Unterschied, dass Perdita nicht mehr vor Todesangst schlotterte. Sie schien ein wenig Zu trauen zu Raffaella gefasst zu haben. Als Lukas eintrat, zuckte sie jedoch erschrocken zusammen. Wieder suchte sie die Nähe von Raffaella, die den Hausherrn aufmerksam musterte. »Was ist mit den Hunden?«, erkundigte sich die Vampirin. Stumm schüttelte er den Kopf. Er befahl Perdita zu sich an den Schreibtisch und griff nach dem Telefon. »Ruf deinen Meister an! Ich will ihn sprechen!« Ihre Hand zitterte, während sie die Nummer wählte. Doch noch bevor das Freizeichen ertönte, nahm ihr Lukas den Hö rer aus der Hand und schickte sie zu Raffaella zurück. Erst nach mehrmaligem Klingeln wurde der Anruf ent gegengenommen. Mit hochmütiger Kühle meldete sich eine Männerstimme: »Waidinger.« »Hallo Franz.«Der Vampir lächelte kalt. »Lukas hier.« Waidinger zögerte kaum merklich, ehe er honigsüß be merkte: »Welch unangenehme Überraschung. Von wem hast du die Nummer?« »Von deiner Kleinen. Sie hat mir verraten, für wen sie arbeitet, und da musste ich dich einfach anrufen. Wegen der alten Zeiten und so.« »Erstaunlich. Ich hatte nicht erwartet, dass du so ein nettes, kleines Mädchen foltern würdest, um meinen Zauber zu bre chen. Ich dachte, die Zeit hätte dich schwach gemacht.« Lukas fletschte die Zähne, eine Geste, die Waidinger zum
Glück nicht sehen konnte. Mit erzwungener Ruhe sagte er: »Du unterschätzt mich, mein lieber Freund. Obwohl ich Ge walt immer noch für ein adäquates Mittel halte, um meine In teressen durchzusetzen, verfüge ich auch über andere Möglichkeiten.« »Ach ja? Und welche?« Lukas verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. Natür lich würde er Waidinger nicht die Schwäche seines Zaubers verraten. Statt zu antworten zog er die Spieluhr auf und hielt sie an den Hörer. »Ah, der liebe Augustin.« Waidinger fand seine falsche Freundlichkeit wieder. »Bedeutet dein Anruf etwa, dass wir trotz allem ins Geschäft kommen können?« »Hängt davon ab, was du mir für die Spieluhr anbieten kannst«, erwiderte Lukas, obwohl er überzeugt war, dass Waidinger ihm nichts zu bieten hatte. Clara war tot, und Perdita befand sich in seiner Hand. »Wie wäre es mit dem Schwert von Bashar, dem Gelehrten?« Lukas fuhr zusammen wie unter einem Axthieb, der seinen Schild zerschmetterte. Wortlos starrte er in den Raum, wäh rend er versuchte, das Angebot zu verarbeiten. Es kostete ihn seine ganze Selbstbeherrschung, seine Stimme frei von Ge fühlen zu halten, als er antwortete: »Ich wusste gar nicht, dass sich diese Waffe in deinem Besitz befindet.« »Reinhard überließ mir das Schwert als Pfand, als er sich die Augustin-Spieluhr auslieh. Ein kluger Schachzug, be denkt man sein vorzeitiges Ableben durch Mörderhand.« Lukas drehte die Musikdose in seiner Hand, ohne auf die Bemerkung einzugehen. Das Angebot konnte er unmöglich ausschlagen, aber das musste er Waidinger ja nicht gerade
auf die Nase binden. »Die Spieluhr gegen das Schwert von Bashar«, akzeptierte er. »Damit bleibt der Handel der gleiche, auch wenn sich die Beteiligten geändert haben.« Trotz ihrer Feindschaft war er sich sicher, dass Waidinger ihn in dieser Hinsicht weder belog noch betrügen würde. Fraglich war nur, was Waidinger unternehmen mochte, sobald er die Spieluhr besaß. Ohne jeden Zweifel würde er versuchen, Lukas das Schwert wieder abzujagen oder ihn endgültig zu vernichten. Nun ja, Lukas ging es schließlich ähnlich. Er schaute zu Raffaella, die mit heftigen Gesten nach seiner Aufmerksamkeit heischte. Als sie seinen Blick bemerkte, flüsterte sie auf Lateinisch: »Ich will die beiden Schwestern!« Lukas nickte bestätigend. Nach ihren Gründen konnte er sich später erkundigen. Stattdessen fragte er Waidinger: »Warum hast du mir nicht gleich diesen Handel vorge schlagen?« »Wärst du denn darauf eingegangen?« »Vermutlich«, log Lukas. Er hätte den Handel auf jeden Fall akzeptiert. Er hätte sogar mit Freuden draufgezahlt, um das Schwert des Bashar zu erlangen. »Aber stattdessen hast du versucht, mich zu bestehlen. Und meine Hunde ermordet.« Waidingers kalte Stimme wurde eisig. »Das war der Blutzoll für meinen Zirkelbruder Reinhard, den du feige ermordet hast.« »Er hätte mich niemals unter seinen Bann zwingen dürfen!«, schnappte Lukas. »Es war nicht vorgesehen, dass du seinen Bann brichst«, er widerte Waidinger hochnäsig.
Jäh entflammte der Zorn in Lukass Herzen. Mit dem Ge danken an seine ermordete Geliebte Clara fauchte er: »Dann sind wir ja quitt.« Er machte eine kurze Pause, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Es tut mir nicht Leid wegen Agathe.« »Mir auch nicht.« In diesen drei Worten trat Waidingers ge samte Menschenverachtung so klar zu Tage, dass es Lukas wie ein Schlag traf. Vollkommen unberührt nahm der Ne kromant den Tod seiner Anhängerin zur Kenntnis, ja, er wirkte sogar ein wenig erleichtert, als hätte ihm der Vampir eine lästige Aufgabe abgenommen. Lukas krampfte die Hand um den Telefonhörer. Seine Feinde ohne Reue zu töten, war eine Sache, doch selbst ein Sklave sollte seinem Herrn nicht völlig gleichgültig sein. Mit erzwungenem Gleichmut sagte er: »Da Beate und Perdita keine Angehörigen mehr haben, werde ich mich ihrer annehmen.« Die junge Diebin keuchte erschrocken auf, und Raffaella presste ihr die Hand auf den Mund. »Was ist? Gelüstet es dich nach dem süßen Blut unschul diger Kinder?«, fragte Waidinger scheinheilig am anderen Ende der Leitung. »Oder bist du deiner italienischen Schlampe überdrüssig geworden?« Lukas schlucke den nächsten Wutausbruch hinunter. »Die Schwestern und das Schwert des Bashar gegen die Spieluhr, oder der Handel ist geplatzt.« »Der Handel gilt. Treffen wir uns. Heute um Mitternacht.« Sie vereinbarten einen Treffpunkt, und Waidinger beendete das Gespräch. Lukas knallte den Hörer auf die Gabel. Heiß schoss das eben genossene Blut durch seine Adern. Die Wut pulsierte durch seinen Körper und ließ die Temperatur auf
fast menschliche Werte ansteigen. Er sprang auf, machte zwei große Schritte zu Perdita, packte sie hart am Arm und zerrte sie aus dem Raum. »Was haben Sie vor? Wohin bringen Sie mich?«, jammerte das Mädchen. »Ich wusste nicht, dass Waidinger Ihre Hunde vergiften wollte. Ehrlich nicht! Ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen! Nur bitte, tun Sie mir nichts!« Ihre angstgepeinigte Stimme drang durch seinen Zorn. Er verlangsamte seine Schritte, während sie die Freitreppe hin unterstiegen. »Keine Bange, dir passiert schon nichts«, sagte er, zwischen Ärger und Freundlichkeit schwankend. »Aber ich will nicht, dass du in einem unbeobachteten Moment abhaust, und deshalb bleibst du bis heute Abend hier.« Er öffnete die schmale Tür unterhalb der Freitreppe und sperrte Perdita in die dahinter liegende Abstellkammer ein. Nachdenklich kehrte er ins Arbeitszimmer zurück. In sei nem Kopf formten sich mehrere Pläne, ein jeder mit dem Ziel, Waidinger für immer vom Angesicht der Erde zu tilgen. Er setzte sich Raffaella gegenüber, die die Spieluhr in ihren schlanken Händen drehte. Dunkle Ringe umrandeten ihre Augen, und vor dem rotbraunen Leder der Couchbezüge leuchtete ihre blasse Haut fahl wie ein Gespensterlicht. Kein Wunder, dachte Lukas, denn es war helllichter Tag. Normalerweise schlief sie um diese Uhrzeit tief und fest. Und auch er selbst zog es vor, die Sonnenstunden in den Armen des Schlafes zu verbringen. Oder zumindest in seinem Bett. »Soll Waidinger diese Spieluhr wirklich in die Finger kriegen?«, fragte Raffaella unsicher. »Sie wird ein magisches Artefakt sein, vermutlich ein sehr mächtiges, und wer weiß, welchen Schaden er mit ihrer Hilfe anrichten wird.«
»Zweifellos verfügt Waidinger über allerlei magische Objekte. Welche zusätzliche Gefahr birgt schon ein Streich holz in den Händen eines Pyromanen, der eine Feuerzeug fabrik sein Eigen nennt?« »Es kann das Streichholz sein, das dein Haus anzündet.« Lukas zuckte mit den Schultern. »Wenn das der Preis für das Schwert von Bashar ist, bin ich bereit, diesen zu bezah len.« »Warum ist dir dieses Schwert so wichtig?« »Wie der Name schon sagt, gehörte es meinem Freund Bashar, dem Gelehrten. Er verlor es vor Akkon – vielleicht durch meine Schuld –, und ich will verdammt sein, wenn ich nicht die Gelegenheit ergreife, sein Eigentum zurückzuge winnen.« Er blickte zu seinen Waffen über dem Kamin. Für einen Krieger war sein Schwert mehr als ein Besitz, es war ein Teil seiner selbst, ein Stück seiner Seele. Aber konnte Raffaella, die aus einer anderen, einer jüngeren Zeit stammte, das ver stehen? »Wieso willst du die beiden Schwestern haben?«, lenkte er ab. »Weil sie mir Leid tun. Außerdem können wir sie doch nicht wissentlich einem Schwarzmagier überlassen. Wer weiß, was er noch alles mit ihnen anstellt.« »Und du glaubst, bei zwei Vampiren sind sie besser aufge hoben?«, lästerte Lukas. Er stand auf. »Kannst du mich heute Abend begleiten? Ich brauche jemanden, der Agathes Wagen fährt und gleichzeitig ein Auge auf Perdita hat.« »Du willst sie mitnehmen?« »Ja. Vielleicht brauchen wir sie.« Er wusste zwar noch nicht, warum und wozu, aber wenn er Waidinger gegenüber
trat, wollte er gegen alle Eventualitäten gewappnet sein. Er durfte weder an Bewaffnung noch an Schutz oder Rüstung sparen.
* Die Bauruine lag einige Kilometer vor Köln, zwischen Rhein und Autobahn. Hier hatte ein Hotel mit Anbindung zum Köln-Bonner Flughafen entstehen sollen, doch das Projekt war noch im Rohbau gescheitert. Jetzt eroberte die Wildnis das Grundstück zurück, schnell wachsende Büsche und Bäu me, niedrige Sträucher und wilde Gräser schützten vor unge betenen Blicken. Lukas lenkte seinen BMW durch das offen stehende Gittertor und parkte auf dem asphaltierten Vorplatz. Er ließ den Motor laufen, falls ein schneller Rückzug vonnöten war, stieg aus und lehnte sich gegen die Motorhaube. Den Ruck sack mit der Spieluhr stellte er vor seinen Füßen ab. Einige Meter vor dem Grundstück wartete Raffaella mit Perdita in Agathes Mercedes. Das ausgedörrte Laub raschelte, entweder bewegt durch ein vorwitziges Nagetier oder durch eine müde Brise, die sich nicht aus dem Schutz des Dickichts lösen wollte. Lukas trug schützende Lederkleidung, denn er rechnete fest mit Schwie rigkeiten. Nur welcher Art sie sein würden, war unklar. Unvermittelt durchfuhr ihn ein kalter Schauer. Das ma gische Amulett, das er unter dem blauen T-Shirt trug, schick te eisige Impulse über seine Haut. Lukas lächelte zufrieden. Das Amulett schützte nicht nur vor Zauberspruch und -bann, es verriet ihm auch die Annäherung eines Magiers. Im letzten Jahrhundert hatte es ihm geholfen, sich an dem Nekromanten
Reinhard zu rächen, heute sicherte es ihn gegen Waidingers Angriffe. Aus der Dunkelheit der Bauruine traten zwei Gestalten. In der größeren erkannte Lukas den Schwarzmagier Waidinger. Der hoch gewachsene, schlanke Wiener mit dem grau melierten Haar trug einen dunklen Maßanzug, der seine aristokratische Erscheinung elegant unterstrich. In der rech ten Hand hielt er einen Spazierstock mit silbernem Knauf, mit dem er seine Begleiterin vorantrieb. Die junge Frau hielt den Kopf gesenkt, sodass ihre langen, braunen Haare ihr Gesicht verdeckten. Fest umschlungen hielt sie ein längliches Paket, in dem sich das Schwert des Bashar befinden musste. Lukas zog seine Jacke gerade und straffte die Schultern. »Guten Abend, Franz.« »Lukas.« Gut zwanzig Schritt entfernt blieb Waidinger stehen. »Es ist mir keine Freude, dich wiederzusehen.« »Danke, gleichfalls.« Waidinger fasste nach seiner Begleiterin. Grob strich er ihr das Haar aus der Stirn, und unwillkürlich hob sie den Kopf. Die Ähnlichkeit mit Perdita war vorhanden, aber nicht sehr ausgeprägt. Mit ihrem runden Gesicht und den vollen Lippen erinnerte Beate an einen schmollenden Mops. Lukas schätzte sie auf siebzehn, achtzehn Jahre, und während ihre jüngere Schwester leicht unterernährt wirkte, bekam die Älte re offensichtlich mehr als genug zu essen. »Du wolltest Beate und das Schwert des Bashar.« Waidinger schlug den Stoff von dem länglichen Paket zu rück. Ein altes syrisches Schwert kam zu Vorschein. Auf der geraden Klinge funkelten verschlungene Schriftzeichen einer längst vergessenen Sprache. Lukas nickte bestätigend. Kein Zweifel, dies war das
Schwert des Bashar. Aus dem Rucksack zog er die Musikdose mit der Tänzerin im Harlekin-Kostüm. »Ich hoffe, deine Die bin hat die richtige Spieluhr erwischt. Zumindest wollte sie sich mit dieser hier davonmachen.« »Sieht ganz so aus.« Waidinger zog mit seinem Stock eine imaginäre Linie zwischen sich und Lukas. »Wenn Beate die Hälfte der Strecke erreicht hat, wirfst du die Spieluhr zu mir herüber.« Er gab dem Mädchen einen Stoß, und es taumelte vorwärts. Als Beate ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, drehte sie sich noch einmal zu Waidinger um, flehentlich, wie Lukas zu erkennen glaubte. Nur zögerlich ging sie weiter auf den Vampir zu. Je stärker sich die Angst in ihrem runden Gesicht zeigte, desto größer wurde ihre Ähnlichkeit mit Perdita. In Gedanken schüttelte Lukas den Kopf. So Furcht erregend sah er doch gar nicht aus. Als Vampir besaß er sogar ein ge wisses Charisma, das ihm das Jagen merklich erleichterte. Aber er wusste ja nicht, was Waidinger den beiden Schwestern über ihn erzählt hatte. Sicherlich nichts Gutes. Auf halber Höhe der Strecke blieb Beate stehen. Schüchtern fragte sie: »Wie geht es meiner Schwester Perdita? Und was haben Sie mit uns vor?« Lukas schaute Waidinger an. »Es kommt drauf an, wie ihr euch benehmt. Aber besser als bei ihm und seiner Metze Agathe wird es euch sicher ergehen. Und jetzt hör auf zu trödeln! Komm her, und steig in den Wagen!« Mit den letzten Worten wurde seine Stimme scharf und befehlend. Beate beeilte sich, der Aufforderung nachzukom men. Lukas warf die Spieluhr. Im hohen Bogen flog sie auf Waidinger zu, der sie geschickt auffing. Doch anstatt zu verschwinden oder einen Zauber
spruch aus dem Ärmel zu schütteln, blieb der Wiener ruhig stehen. Mit einem raschen Blick über die Schulter vergewisserte sich Lukas, dass Beate mit dem Schwert des Bashar auf dem Beifahrersitz saß, ehe er sich an Waidinger wandte. »Sag mal, Franz, was ist das Besondere an dieser Spieluhr? Sehr ma gisch scheint sie mir nicht zu sein.« »Das kommt darauf an, was du unter magisch verstehst.« Der Nekromant zog den Schlüssel aus der Spieluhr und tauschte ihn gegen einen anderen. Gelbliche und weiße Fle cken zogen sich über das rostige Metall des zweiten Schlüssels und gaben ihm ein kränkliches Aussehen. Lukas spannte die Muskeln an. Offensichtlich hatte er den richtigen Zeitpunkt für seinen Abgang versäumt. Waidinger wirkte ruhig und zuversichtlich. Er musste sich seines Planes sehr sicher sein. Aber die Wissbegierde bannte Lukas an sei nen Platz vor der Motorhaube. In seinem Ohr hallte Raffael las Stimme, die ihn mahnte, ein mächtiges Artefakt gehöre nicht in die Hände eines Schwarzmagiers. Was, wenn sie mit ihren Befürchtungen Recht behielt? »Du kennst doch die Geschichte vom lieben Augustin?«, erkundigte sich Waidinger. Er drehte den Schlüssel im Schloss. Ein hässliches Knirschen ertönte. »Sicher.« Lukas erinnerte sich noch gut daran. Man schrieb das Jahr 1679, und in Wien herrschte die Pest. Eines Nachts schlief der Bänkelsänger Augustin auf der Stra ße ein, zu besoffen, den Heimweg zu finden. Die Siechen knechte hielten ihn für ein weiteres Pestopfer, hoben ihn auf ihren Wagen und warfen ihn in die Totengrube. Am Morgen erwachte Augustin in wenig geselliger Runde. Sein Fluchen und Geschrei rief schließlich die Siechenknechte herbei, die
ihn aus der Grube befreiten. Waidinger drehte den Schlüssel ein weiteres Mal. Aus der Spieluhr schallte ein grelles Kratzen, als rissen Nägel tiefe Furchen in eine Schiefertafel. Lukas verzog das Gesicht und unterdrückte den Drang, beide Hände auf die Ohren zu drücken. Lautlos verfluchte er sein empfindliches Gehör, das das Geräusch in schmerzhafter Stärke in seinen Schädel weiterleitete. »Nach dem Abklingen der Epidemie von 1679«, fuhr Waidinger fort, »entwickelte mein Zirkel die These, der Schwarze Tod sei nicht bloß eine Krankheit, sondern die Er scheinungsform eines Dämons.« »Also so eine Art Yakku, ein Krankheitsdämon, der aber statt Indien Europa heimsucht?« Lukas gab sich gelassener, als er sich fühlte. Das Knirschen und Knarzen der Spieluhr, die Waidinger beständig weiter aufzog, schmerzte in seinen Ohren und zerrte an seinen Nerven. Das Amulett auf seiner Brust wurde mit jeder Umdrehung des Schlüssels kälter, bis die unge schützte Haut Erfrierungen erlitt. Der beißende Gestank eines verstopften Abwasserkanals wurde von Sekunde zu Sekunde stärker. Doch Lukas behauptete seine Stellung. Er musste zugeben, Waidinger hatte ihn am Haken der Neugier. Der Wiener lächelte überheblich. »Während der Pestepide mie von 1721 gelang es mir, den Schwarzen Tod aufzuspüren und in einen Leierkasten zu bannen. Als dieser später zer stört wurde, habe ich den Dämon in die Spieluhr transfe riert.« »Nein.« Lukas schüttelte den Kopf. Das konnte er nicht glauben.
Die Pest war eine Krankheit, ausgelöst durch ein Bakteri um, das vom Rattenfloh auf Menschen übertragen wurde. Mit dem Siegeszug der Hygiene und dem Rückgang der Nagetierpopulation war die Plage in Europa verebbt und die Epidemien ausgeblieben. »Ich bitte dich, Franz. Ein Dämon, der von Medikamenten besiegt wird?«, spottete Lukas. »Und wenn der Schwarze Tod wirklich ein böser Geist ist, wieso sterben heute noch Menschen an der Pest, obwohl du ihn angeblich gebannt hast?« »Die Pest ist eine bakterielle Krankheit«, gab Waidinger zu. »Aber der Schwarze Tod ist ein Dämon, der diese Krankheit mit sich bringt. Oder was meinst du, ist dies hier?« Mit einem letzten Knirschen erreichte der Schlüssel die ma ximale Federspannung. Die Melodie vom lieben Augustin er tönte, doch nicht mit glockenhellem Klang wie zuvor, son dern rau, verzerrt und holprig, wie aus einer entzündeten Kehle gesungen. Die Tänzerin kippte zur Seite, als der Deckel der Spieluhr aufklappte. Weißer Dunst stieg empor. Der üble Geruch, der die milde Nachtluft vergiftete, wurde stärker. Lukas würgte trocken. Der Gestank nach Verwesung, nach Erbrochenem und Fäkalien betäubte seine Nase. Ihm wurde schwindelig. Aus der Musikdose quoll unaufhörlich der Nebel, der sich rasch verdichtete. Die weißen Schleier verdunkelten sich zu einem schwefeligen Gelb, wurden braunrot wie geronnenes Blut und schließlich schwarz wie eine Höllennacht. Der wolkenartige Schemen formte sich zu einer menschlichen Gestalt, zu einem kalkweißen Skelett, gewandet in einen Mantel aus Finsternis. Hier und da hingen dunkelrote Haut fetzen und gelbliche Fleischstücke von den Gliedern.
Der Schwarze Tod, der Millionen Menschenleben gefordert, der ganze Landstriche entvölkert und mehrere Zeitalter in Angst und Schrecken versetzt hatte, nahm feste Form an. In den leeren Augenhöhlen glomm ein gelblicher Funke auf, als der Dämon den Kopf wandte und Lukas anblickte. »Zeit zu gehen«, murmelte der Vampir. Er wollte loseilen, blitzschnell in seinem Wagen verschwinden und durchstarten – doch seine Gegner waren schneller. Der BMW setzte zurück. Überrumpelt verlor Lukas das Gleichgewicht. Er stürzte zu Boden und schlug mit dem Hin terkopf gegen die Stoßstange. Knurrend fuhr er wieder hoch, drehte sich halb herum, sodass er einen Blick auf Beate erhaschte. Das Mädchen saß hinter dem Steuer seines Wagens. Ein ir res Grinsen entstellte ihr Gesicht. Sie trat auf das Gaspedal. Der BMW sprang vorwärts wie ein hungriges Tier. Überrascht reagierte Lukas zu spät. Ein Schlag traf seine Schulter. Die Wucht zerriss die Muskeln, ließ die Adern auf platzen. Er wurde zurückgeschleudert. Hart schlug er auf den Asphalt. Höllenfeuer schoss durch seine Brust, seine Sei te. Er schrie auf, warf sich zur Seite. Doch wieder war er zu langsam. Sein eigener BMW über rollte ihn. Seine Rippen zerknackten unter dem Gewicht. Schmerz explodierte in seinem Körper – und dolchartige Fangzähne wuchsen aus seinem Kiefer, die Hände wurden zu Krallen, als er dem Monster in sich nachgab. Mit verzweifelter Kraft hechtete er aus dem Weg, ehe das Mördermädchen zurücksetzen und ihn zum zweiten Mal überfahren konnte. Unbeholfen rollte er über die Schulter ab. Erneut jagten Höllenqualen durch seinen geschundenen Kör
per. Seine Muskeln gaben nach, und er sackte zu Boden. Eine Sekunde lang presste er die Augen zusammen. Er spürte, wie sein untoter Körper heilte, die letzten Bluts tropfen aufsog wie ein nasser Schwamm. Der Durst erwach te. Da stieg ihm der Gestank intensiver als je zuvor in die Na se. Lukas blickte auf. Über ihm stand der Schwarze Tod. Der fleischlose Schädel grinste spöttisch. Mit skelettierten Fingern packte der Dämon den Vampir, riss ihn hoch und schleuderte ihn durch die Luft. Rücklings knallte Lukas gegen einen Pfeiler der Bauruine. Der Rohbau knirschte bedenklich. Staub und kleine Steine regneten auf Lukas nieder, der kraftlos zu Boden sank. Der Schmerz lähm te seine Glieder, benebelte seinen Verstand. Sein getrübter Blick fiel auf seine Jacke. Und was er sah, erschreckte ihn zu tiefst. Wo der Schwarze Tod das Leder berührt hatte, löste es sich langsam auf. Das dunkle Material färbte sich schimmeligweiß und tropfte schleimig zu Boden, wie Eiter, der aus einer entzündeten Wunde quoll. Und die Infektion breitete sich aus, die kranken Stellen wurden größer und größer. Fluchend riss sich Lukas die Jacke vom Leib und warf sie von sich. Eiskalt pulsierte die Angst durch seinen Körper. Er stand einem übermächtigen Feind gegenüber, und er wusste nicht, ob und wie er ihn besiegen konnte. Doch Flucht kam nicht in Frage. Er würde die im Mercedes wartende Raffaella nur unnötig in Gefahr bringen. Und war ein Dämon einmal auf jemanden angesetzt, gab es seines Wissens keine Rettung. Er musste den Schwarzen Tod vernichten – oder sterben … Eine Welle aus Zorn und Wut schwemmte über ihn hin
weg, fegte den Schmerz zur Seite und stachelte seinen Blut durst an. Entschlossen kämpfte er sich auf die Beine. Aus sei ner Kehle drang ein Knurren, wild und gefährlich wie von einem tollwütigen Wolf. Lukas stürzte sich auf den Schwarzen Tod. Schneller, als das menschliche Auge zu folgen vermochte, wirbelten seine Fäuste, prügelten mit übernatürlicher Stärke auf den Dämon ein. Die offen liegenden Knochen zerbrachen, zerbröselten zu feinem Staub. Schleimige Hautfetzen und Brocken schwam migen Fleisches flogen durch die Luft. Doch welche Schäden er auch anrichtete, die Essenz des Schwarze Todes blieb unversehrt. Innerhalb eines Augen blicks erneuerte sich seine physische Erscheinung, als wäre er ein körperloses Trugbild. Dann drang die Qual durch Lukas’ Raserei, und er zuckte zurück. Flammender Schmerz zog seine Hände herauf. Er fühlte, wie er die Kontrolle über seine Arme verlor. An allen Gelenken blähten sich dunkle Beulen auf und zerplatzten. Stinkender Eiter floss über die rot verfärbte Haut. Der Dämon lachte heiser. Mit einem Faustschlag schickte er den Vampir zu Boden. Lukas brüllte auf wie ein verwundetes Tier, während der Dämon zerfloss, sich in gelblichweißen Nebel verwandelte und seinen niedergestreckten Gegner wie ein Leichentuch umfing. Der Vampir ächzte entsetzt. Er spürte, wie eine unfassbar ekelhafte Präsenz von ihm Besitz ergriff. Als habe er das Blut eines Pestkranken getrunken, durchdrang dieses verseuchte Etwas seine Haut, sein Fleisch, seine Eingeweide. Krankhafte Hitze jagte durch seinen Körper, dicht gefolgt von eisiger Kälte. Seine Muskeln zuckten unkontrolliert, seine Zähne
schlugen schmerzhaft aufeinander. Ein Schmied hämmerte in seinem Kopf und beraubte ihn jeglicher bewusster Wahrneh mung. Die Welt vor seinen Augen verschwamm. Aus weiter, weiter Ferne klangen leise die letzten Töne der Spieluhr an sein Ohr und verstummten schließlich. Lukas’ Magen rebellierte. Instinktiv drehte er sich auf die Seite und übergab sich keuchend und würgend. Bitterer, dunkelroter Schleim schoss aus seinen Mund. Höllenfeuer wühlte in seinen Eingeweiden, als würde man sein Innerstes mit glühenden Zangen aus ihm herausreißen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Je weiter sein Bewusstsein schwand, desto weniger spürte er die Qualen seines Körpers. Er fühlte sein Ende nahen. Jen seits aller Not und Pein wurde ihm klar: Er lag im Sterben. Die Pest, um ein tausendfaches verstärkt, verwandelte seinen Körper in einen Haufen morscher Knochen und fauligen Fleisches, aus dem langsam, aber beständig das untote Leben wich. So sicher, als würde man seinen Kopf von den Schultern trennen, so sicher war er dem Untergang geweiht. Gedämpft drangen Geräusche durch den Nebel seines schwindenden Bewusstseins. Waren es die vergnügten Schreie der Ratten, die sich an ihm laben wollten? Ein schriller Ruf schien seine Annahme zu bestätigen. Die kleinen Nager würden sich an seinem faulenden Leibe gütlich tun, sich mit der Pest anstecken und die Seuche im ganzen Rhein land verbreiten. Nässe spritzte Lukas ins Gesicht. Feuchtigkeit auf seinen Lippen schrie nach seiner Aufmerksamkeit. Berauschend, be lebend sickerte frisches, köstliches Blut in seinen Mund und entfachte seinen Überlebenswillen. Nur noch Bestie, nicht mehr Mensch, fuhr er hoch und schnappte nach dem Hals,
aus dem sich der nährende Saft ergoss. Seine Fänge bohrten sich in weiches, zartes Fleisch. Im reichen, vollen Schwalle strömte Blut seine Kehle hinunter. Neue Kraft erfüllte seinen Körper und fegte die Pest hinfort …
* Mit lautem Knall schlug Raffaella den Deckel zu. Nachdem sie schon auf dem Hinweg Agathes sterbliche Reste Vater Rhein anvertraut hatten, fand nun Perditas erkaltender Kör per Platz im Kofferraum des Mercedes. Am Abend des nächsten Tages würde das Mädchen zu neuem Leben, einem Leben als Vampirin erwachen – es sei denn, Lukas und Raf faella schenkten ihr den endgültigen Tod. Die Italienerin seufzte leise. »Arme Kleine.« Das hatte sie nicht gewollt, aber hätte sie ihren Freund sterben lassen sollen? Lukas drückte mitfühlend ihre Schulter. Auch er bedauerte das Mädchen, das unschuldig zwischen die Fronten zweier Unsterblicher geraten war, weil sie ihre Schwester be schützen wollte. Schuldig an ihrem Tod fühlte er sich allerdings nicht, denn er war ein Vampir, der sich vom Blut anderer ernährte. Aber viel zu früh hatte sie ihr sterbliches Leben verloren, und er trug nun die Verantwortung für ihr weiteres Schicksal. Er setzte sich in den Mercedes, in dem Raffaella auf seine Rückkehr gewartet hatte. Erst nachdem Waidinger in seinem Maybach und Beate mit Lukas’ BMW davongefahren waren, hatte sie nach ihm gesucht. Nur wenig später und es wäre
aus mit ihm gewesen. Aus dem Handschuhfach zog er die Autopapiere, in denen Agathes Adresse vermerkt war. »Wäre es nicht besser, Waidinger für heute ziehen zu lassen?« Raffaella nahm hinter dem Lenkrad Platz und starte te den Wagen. Über einen kurzen Schotterweg erreichten sie die Landstraße nach Köln. »Es wäre nicht das erste Mal, dass du erst später Rache nimmst.« »Das hatte ich auch vor. Aber jetzt …« Lukas brach ab, als die Erinnerung an den Schwarzen Tod mit neuer Kraft zurückkehrte. Wieder spürte er die Pest an seinen Eingeweiden nagen, sein Fleisch zersetzen und seinen Geist verseuchen. Er schlang die Arme um die Brust und biss die Zähne zusammen. Zögerlich versuchte er eine Erklärung. »Du erinnerst dich an die schreckliche Epidemie, die 1896 in China begann? Sie hat weltweit zwölf Millionen Opfer gefordert und endete nach fünf Dekaden genau in dem Jahr, in dem ich Reinhard getötet und die Spieluhr an mich genommen habe.« Raffaellas Augen weiteten sich entsetzt. »Du meinst doch nicht, Reinhard hätte …?« »Waidinger hat behauptet, den Schwarzen Tod gebannt zu haben – und zwar bereits im achtzehnten Jahrhundert. Wenn der Krankheitsdämon für die Epidemien verantwortlich ist, hat Reinhard ihn Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von der Leine gelassen.« Er zupfte an seiner löchrigen Lederhose, die ebenfalls unter der Pestattacke gelitten hatte. »Ich muss die Spieluhr zurückholen. Ich darf nicht riskieren, dass Waidinger in einem Anfall von Wahn eine weitere Seuche auslöst. Wir brauchen die Menschen, und nicht nur um ihres Blutes willen.« Er musste es Raffaella nicht erklären. Ihren eigenen Nach
wuchs schöpften sie aus den Reihen der Menschen, und sie profitierten von ihren Erfindungen und ihrer Kultur. Er ergänzte: »Außerdem will ich Beate aus seiner Gewalt befreien.« »Obwohl sie dich überfahren hat? Mit deinem eigenen Wagen!« »Ich bin sicher, sie steht unter Waidingers Bann. Sobald er vernichtet ist, wird sie frei von ihm sein.« »Wie du meinst.« Lukas musterte Raffaella, die mit ruhiger Hand den Wagen auf die Autobahn lenkte. Ihr Gesicht war verschlossen, ihre Augen blickten ernst. Sichtlich lastete das Geschehen auf ihr. »Danke, dass du mich gerettet hast«, sagte er schlicht. »Ehrensache.« Raffaella beschleunigte und schaltete in den fünften Gang. »Sie … sie wird weiterleben, wenn auch anders als bislang. Wir werden uns um sie kümmern und …« Sie verstummte. Lukas nickte verstehend. Seine Freundin hatte noch nie leichtfertig getötet. Umso dankbarer war er ihr, dass sie es in diesem Fall getan hatte. Sie brausten über die leere Autobahn, überquerten den Rhein und erreichten das Kreuz Köln Süd, wo sie auf den Bonner Kreisel abbogen. Agathes Anwesen lag versteckt in dem ausgedehnten Grüngürtel, der sich am Stadtrand von Köln erstreckte. Beinahe wäre Raffaella an der Zufahrt vorbeigeschossen. Sie trat auf die Bremse, setzte in einem gewagten Manöver zurück und hielt vor dem alten Torhaus an. »Ich komme mit.« Ihre Stimme duldete keinen Wider spruch.
Lukas nickte zustimmend. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er gelernt hatte, dass Raffaella sich sehr wohl ihrer Haut zu erwehren verstand, und das nicht nur aufgrund ihrer vampi rischen Fähigkeiten. Immer wieder war sie in die Macht kämpfe der italienischen Fürstenhäuser verstrickt worden, hatte für ihre Heimat spioniert und intrigiert, hatte mal mit den Waffen einer Frau, mal mit den Waffen eines Vampirs ihre Interessen durchgesetzt und ihre Siege errungen. Problemlos knackte die ehemalige Spionin das Schloss an dem eisernen Gitter, und sie schlüpften durch das Tor. Die Zufahrt wurde von Platanen gesäumt, in deren Schatten sie unbemerkt die Villa erreichten. Noch herrschten nächtliche Stille und Dunkelheit über dem Anwesen, aber Lukas spürte schon den Morgen nahen. Bald würden die ersten Vögel erwachen und mit ihrem Gezwitscher die aufgehende Sonne begrüßen. Vor der Villa parkte sein BMW neben Waidingers May bach. Lukas schlich zum Kofferraum. Ein vorsichtiger Ver such ergab, sein Wagen war nicht verschlossen. Waidinger musste sich sehr sicher fühlen. Er hatte nicht einmal das Waffenarsenal aus dem Kofferraum geborgen. Lukas lächelte kalt. Sein Feind hatte einen Fehler gemacht, einen schweren Fehler. Er hängte sein altes Langschwert an den Gürtel und steckte eine Pistole ein. Gegen einen Dämon vermochten die Waffen nur wenig auszurichten, aber sie verbesserten seine Laune beträchtlich. Und manchmal war die Einstellung ent scheidend, vor allem, wenn man gegen einen übermächtigen Gegner ins Feld zog. Lukas bleckte die Zähne. Die Angst vor einer weiteren Be gegnung mit dem Pestdämon nagte an seinen Eingeweiden.
Doch er ließ es nicht zu, dass sie sein Denken überwältigte. Er musste einen klaren Kopf bewahren, wenn er Beate, die Spieluhr und Bashars Schwert aus Waidingers Klauen befrei en wollte. Er eilte an Raffaellas Seite, die gerade ein Fenster neben der Haustür öffnete. Die Italienerin schwang sich über die Fens terbank ins Innere und verschwand in der Dunkelheit des Hauses. Flüsternd drang ihre Stimme zu Lukas. »Die Luft ist rein!« Er folgte ihr in eine halbrunde Eingangshalle. Durch die ho hen Fenster drang genügend Helligkeit für die Augen eines Vampirs. Lukas erkannte eine breite Freitreppe, die zu einer Galerie im ersten Stock führte. Und dort oben erwartete ihn Waidinger! »Du lebst!«, schrie der Wiener wütend. »Das kann nicht sein! Wie hast du das vollbracht?« »Mit ein wenig Hilfe von meinen Freunden.« Lukas legte die Hand um den Griff seines Schwertes; ein Anachronismus in der modernen Welt der Schusswaffen und des einge schränkten Waffenbesitzes, aber für ihn eine vertraute Geste aus Lebzeiten. »Was hat dir meine Ankunft verraten? Ein stiller Alarm?« »Ein Schutzzauber.« Waidinger fand seine überhebliche Ge lassenheit wieder. »Wie üblich schätzt du meine Fähigkeiten falsch ein, Lukas. Du hättest dich aus dem Staub machen sollen, als du noch die Gelegenheit dazu hattest.« Das Schutzamulett strahlte eine ruhige Kälte aus zum Zei chen, dass Waidinger keinen heimlichen Zauber wob. Doch was immer der Nekromant plante, Lukas würde ihm zuvor kommen. »Einmal hast du mich überrascht, das passiert nicht …« Er
zog seine Pistole und feuerte. Wirkungslos prallten die Kugeln an einem magischen Schutzschild ab. Der Nekromant wirbelte herum und jagte blitzschnell über die Galerie. Im nächsten Moment schlug eine hölzerne Tür hinter ihm zu. Lukas nahm die Verfolgung auf. Er rannte los und sprang mit einem Satz auf die Galerie hinauf. Unter sich hörte er Raf faella Beates Namen rufen. Eine schmale Gestalt schoss aus der Dunkelheit und stürzte sich auf die Italienerin. Lukas wandte sich ab. Mit Beate musste Raffaella allein fertig werden. Mit einem Tritt sprengte er die Tür zum Arbeitszimmer auf. Wie erwartet und befürchtet stand Waidinger in der Mitte des Raumes, eine Spieluhr in der Hand. Auf der runden Dose stand eine Tänzerin im roten Trikot mit einem schwarz ge punkteten Umhang. Triumphierend drehte Waidinger den Schlüssel ein letztes Mal. Ein Klicken – wie eine leere Trom mel im Revolver – tickerte durch die anspannte Stille. Eine Melodie erklang – Maikäfer flieg. »Der Vater ist im Krieg.« Lukas spuckte auf den Boden. Die Angst vor dem Schwarzen Tod wich von ihm. Waidinger wollte ihn also mit einem anderen Dämon besiegen, doch er hatte sich für den falschen Geist entschieden. Aus der Spieluhr quoll rötlicher Nebel und formierte sich zu einer Gestalt in rostiger Rüstung. Schmale Klingen fun kelten auf dem eisernen Panzer, als hätte man einen Braten mit Rasierklingen gespickt. Das Gesicht unter dem blutroten Helm wurde von einem Visier versteckt. Lange Scharten be deckten das schwere Schwert in der gepanzerten Faust. Der vertraute Geruch von Pulver und Blut kroch in Lukas’ Nase. »Zum Angriff!« Lukas stürmte vor und zog sein Schwert.
Die Klinge glitt aus der Scheide und in seine Hand, lange bevor er seinen Gegner erreichte. Im vollen Lauf attackierte er den Dämon namens Krieg, der die angreifende Klinge mit seinem schartigen Schwert abfing. Stahl prallte auf Stahl wie Donnerhall. Funken sprühten. Die Wucht des Schlages jagte Lukas’ Arm hinauf, doch hartes Training hatte ihn darauf vorbereitet. Seit frühster Jugend übte er sich im Schwertkampf, und in den vergangenen sechzehn Jahrhunderten war er von einem Schlachtfeld zum nächsten gezogen. Welche Gräuel und Tücken Krieg auch bot, er kannte sie alle. Leichtfüßig umtänzelte er seinen Gegner. Wie zwei Wölfe umkreisten sie sich, suchten nach den Stärken, lauerten nach den Schwächen des anderen. Plötzlich griff der Dämon an. Lukas parierte und konterte. Späne flogen, als Krieg einen Tisch zerschmetterte. Fenster scheiben zersprangen, und Scherben regneten zu Boden. Das Arbeitszimmer verwandelte sich in ein Schlachtfeld, in einen Trümmerhaufen aus zerstörten Möbeln, Büchern und Zierrat. »Du kannst mich nicht besiegen, alter Freund«, rief Lukas wild lachend. Schlangenschnell griff er an. Seine Klinge verwandelte sich in einen Wirbelsturm aus Stahl. Je weniger Angst er verspür te, desto mehr Freude fand er an dem Kampf mit einem eben bürtigen Gegner. Die Wunden, die Krieg ihm schlug, verheil ten, ehe er den Schmerz fühlte. Er wusste, er würde ge winnen. Denn die Spieluhr lief unerbittlich ab. Die Musik verstummte. In diesem Moment warf Lukas sein Schwert fort, stürzte sich auf den Dämon und riss ihn zu Boden. Die winzigen Klingen der Rüstung bohrten sich durch seine Haut,
zerschnitten sein Fleisch und zertrennten seine Muskeln und Sehnen. Wie bereits zuvor ergriff ein Dämon Besitz von ihm. Doch diesmal war da kein Ekel, kein Verwesen, kein Zerfall. Lukas spürte den Blutrausch, die Lust am Töten und die Freude am Zerstören – alles Momente seiner Existenz als Vampir. Es waren seine ureigensten Wesenszüge, die ihn stärkten, anstatt ihn zu schwächen, und die ihn gegen die Kräfte des Dämons bestehen ließen. Der böse Geist löste sich von seinem Körper, und die Hei lung setzte ein. Roter Nebel verschwand in der Spieluhr, als wenn er aufgesaugt wurde. Lukas hatte es geschafft. Der Dämon war besiegt. Doch plötzlich strömte eisige Kälte aus seinem Schutzamu lett. Der Vampir blickte auf. Über ihm erschien Waidinger, sein Langschwert und das Schwert des Bashar in den Händen. »Niemand soll sagen, ich würde einen Handel nicht einhal ten«, wisperte der Wiener. Plötzlich schrie er: »Nimm, was dir zusteht!« Die Schwerter sausten herab, gruben sich tief in Lukas’ Brust und nagelten ihn an den Boden. Er schrie auf. Blind vor Schmerz und Wut umklammerte er die Klingen, ungeachtet der scharfen Schneiden, die seine Hände zerschnitten. Hilflos war er Waidinger ausgeliefert, aufgespießt wie eine Fliege im Schaukasten. Das war sein Ende. Jetzt konnte der Nekromant seinen Kopf von den Schultern trennen und ihn damit für immer vernichten! Doch Waidinger ließ seine Chance ungenutzt verstreichen. Aus den Trümmern des Arbeitszimmers suchte er die beiden Spieluhren. Die Maikäfer-Dose steckte er in eine Ledertasche. Die andere zog er auf.
»Du bist erledigt, Lukas«, höhnte er, ehe er aus dem Arbeitszimmer verschwand. Draußen in der Eingangshalle erklang das Lied vom lieben Augustin. »Nein!« Von übermenschlichem Zorn beflügelt zerrte Lukas an den Schwertern, die ihn am Boden hielten. Der Stahl glitt aus sei nem Fleisch, die Wunden schlossen sich. Der Durst nach Blut und Rache beflügelte seine Bewe gungen. Innerhalb eines Augenblickes stand er auf der Gale rie. Er sah, wie hinter Waidinger die Tür ins Schloss fiel. Nur Sekunden später dröhnte ein Motor auf. Mit quietschenden Reifen brauste ein Wagen davon. Lukas erstarrte. Halt suchend umklammerte er das Ge länder der Galerie. Wo Raffaella mit Beate gekämpft hatte, wallte gelblicher Nebel über das Parkett. Pestgestank erfüllte die Halle, Schimmelpilze breiteten sich aus. Langsam, als müsse er gegen einen immensen Druck an kämpfen, stieg er die Treppe hinunter. Jedes Gefühl von Erleichterung, von Triumph oder Niederlage wurde von Angst und Entsetzen verdrängt. Die Nebelschwaden lichte ten sich, wurden von seinen Schritten in die Ecken vertrieben, wo sich die letzten hellen Schleier auflösten. »Raffaella«, krächzte Lukas. Der Schwarze Tod hatte die Italienerin ereilt und ihren Kör per vollständig vernichtet. Nur noch ein schwammiger Haufen verwesendes Gewebes, das allmählich zu Staub ver fiel, zeugte von der Vampirin. Lukas brach in die Knie. Er fühlte sich leer und ausgebrannt wie eine geplünderte Burg. Er hatte auf ganzer Linie versagt. Weder hatte er Perdita oder Raffaella beschützen, noch die
Spieluhr oder Beate an sich bringen können. Er sehnte sich nach der Ruhe und Sicherheit seines Schlosses, um dort seine Wunden zu lecken und Raffaellas Tod zu betrauern. Für die nächsten hundert Jahre wollte er sich verkriechen wie der sprichwörtliche geprügelte Hund. Doch das durfte er nicht! Lukas ballte die Fäuste. Er musste Waidinger finden und vernichten. Denn mit Krieg und Pestilenz besaß der Ne kromant Macht über zwei der vier Reiter der Apokalypse. Und Waidinger würde nicht ruhen, bis Hunger und Tod ebenfalls unter seinem Bann standen und er den Weltun tergang beschwören konnte … ENDE des ersten Teils