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A.B.S. ist das Pseudonym für Astrid Schumacher, Jahrgang 1948, und Bernt Schumacher, Jahrgang 1947. Seit vielen Jahr...
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A.B.S. ist das Pseudonym für Astrid Schumacher, Jahrgang 1948, und Bernt Schumacher, Jahrgang 1947. Seit vielen Jahren schreiben sie gemeinsam Kriminalromane (u.a. "Ole, Dole, Doff", "Double Feature" und "Kalaschnikow") sowie Drehbücher fürs Fernsehen. Für "Nur wer vergessen wird" erhielt Astrid Schumacher den Förderpreis für Literatur der Stadt Hamburg. Von A.B.S. erschien außerdem als Heyne-Taschenbuch Double Feature. Band 02/2199
A.B.S.
OLE, DOLE, DOFF Kriminalroman WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE BLAUE KRIMIS Nr. 02/2213
Herausgegeben Von Bernhard Matt
Copyright © 1985 by A.B.S., Printed in Germany 1987 Umschlagfoto: Argus, Hamburg Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Gesamtherstellung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-00535-X
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1 Dem Polizeibericht nach waren sie am Freitagabend um 17.30 Uhr von Jönköping aus zu einer Spritztour auf dem Vätternsee gestartet. Sie waren zu dritt gewesen. Als das Boot am Sonntagmorgen von der Wasserschutzpolizei etwa 25 km nördlich in der Höhe von Bankeryd treibend aufgebracht wurde, fehlte Lennart Boström. Seine beiden Saufkumpane erklärten lakonisch, sie hätten ihn wohl verloren, irgendwann. Die Suche nach Lennart Boström wurde nach zwei Tagen eingestellt. Besonders das rote Suchflugzeug fand Gefallen bei den kleineren Kindern, die am Strand von Bankeryd Ole, Dole, Doff* spielten. Das Boot der Wasserschutzpolizei ging im allgemeinen Gewirr von Segeljachten, Surfbrettern und Wasserskiläufern unter. Vielleicht sollte noch bemerkt werden, daß die Eigner eines deutschen Motorkreuzers die Suche aus solch höflicher Distanz beobachteten, wie sie sonst gar nicht zu deutschen Touristen paßt. Die christlich angehauchte JÖNKÖPINGS POSTEN sowie andere Lokalblätter aus dem Jerusalem Schwedens verwiesen auf die wahrhaft tödlichen Gefahren des übermäßigen Alkoholgenusses, denn Lennart Boström war ein stadtbekannter Säufer. Andere Berichterstatter gingen dagegen mehr auf Lennarts schwierige soziale Situation ein, doch bald verdrängten die günstigen Erdbeerpreise Lennarts Schicksal von den Schlagzeilen. Daß seine Leiche gerade dann an Land gespült wurde, als man mit dem Abriß des Jönköpinger Bahnhofs begann, mag als Ironie des Schicksals gelten, denn die Herrentoilette des Bahnhofs war Lennarts Lieblingsplatz für einen kleinen Umtrunk gewesen. Sein drei Wochen alter Leichnam konnte zwar nicht mehr Sympathie erwecken, als Boström es jemals zu Lebzeiten vermocht hatte, jedoch zumindest mäßiges Interesse seitens der Polizei. 2 Für seine Nachbarn war er hauptsächlich ein Erbschleicher. Er dagegen gab vor, Polizist zu sein. Seinen Ruf erhielt er dadurch, daß er als Vormund für eine alte Frau eingesetzt wurde. Fräulein Norlen wurde nicht deshalb in ein Altenheim eingewiesen, weil sie zum wiederholten Male ihre Nachbarn zwang, enge, vereiste Waldwege im Rückwärtsgang zurückzulegen. Sie weigerte sich auszuweichen, geschweige denn zu stoppen, fuhr stur geradeaus wie seit ewigen Zeiten und zeigte auch keine Neigung, ihren Fahrstil auf der Reichsstraße den heutigen Verkehrsverhältnissen anzupassen. Erst als ein ARLA-Milchtransporter deshalb von der Fahrbahn abkam, ein Elchschild plattwalzte und kurz vor einer Wurstbude zum Stehen kam, wurden die sozialen Dienste auf Fräulein Norlen aufmerksam. Ljungqvist besuchte sie zunächst wöchentlich, dann vierzehntägig, umhegte sie liebevoll, brachte verschiedene Freundinnen mit, die sie auch liebevoll umhegten, * schwedischer Abzählreim, wie Ene, Mene, Muh 3
tätigte alle Geschäfte für sie, machte Behördengänge, kümmerte sich um das Sommerhaus. Im Laufe der Zeit kümmerte er sich nur noch um das Sommerhaus, fällte Bäume, reparierte den Zaun, baute um und fiel durch seinen unkonventionellen Baustil unangenehm auf. So verlagerten sich die Gespräche der Nachbarn von der unrühmlichen Vormundschaftsgeschichte mehr und mehr auf die eklatanten Probleme von Sommerhausbesitzern. Aber erst, als er bei der Festnahme eines Jugendlichen, der in das Schlafzimmer eines Sommerhauses eingebrochen war, zu Hilfe geholt wurde, konnte er endlich seinen Polizeiausweis zeigen: Kommissar Ljungqvist, Mordkommission Jönköping. Keiner seiner Nachbarn hätte ihm zugetraut, einen Mordfall zu klären. Er war den Leuten suspekt. Er redete zuviel, steckte seine Nase in fremde Angelegenheiten, tauchte mal hier, mal dort auf, stellte Fragen, gab unbestimmte Antworten. Kurz, er erregte schon deswegen Mißtrauen, weil er der letzte war, an den man sich als Nachbarn gewöhnen mußte. Ljungqvist verließ unwillig sein Grundstück. Es war mehr der geplante Abriß des Bahnhofs als die Leiche Boströms, der ihn veranlaßte, nach Jönköping zu fahren. Der Bahnhof stand noch, als Ljungqvist am frühen Vormittag in Jönköping ankam. Es versprach, ein schöner, heißer Sommertag zu werden, und eine größere Menge Schaulustiger hatte sich eingefunden, um dem Abriß der Centralstation zuzusehen. Das - selbst für einen Bahnhof - ungewöhnlich häßliche Gebäude bildete gemeinsam mit der angegliederten Busstation das Kernstück einer umfangreichen Gleis -und Verschiebeanlage, die die Jönköpinger Stadtväter vor ca. 100 Jahren mit dem sicheren Instinkt für landschaftliche Schönheit just an der Stelle hatten errichten lassen, wo ein kiefer- und birkenbewachsenes Ufer sanft zum Vätternsee abfiel. Die Bäume hatten das nicht überlebt, und der ehemals feine, helle Sandstrand der Bucht war unter Schottermassen verschwunden, die zur Stabilisierung der Gleise aufgeschüttet worden waren. Ljungqvist blickte wehmütig auf den ausgeweideten Bahnhof und fuhr dann auf der den Gleisen parallel laufenden Uferstraße weiter bis zu einer Stelle, wo eine lange, aus Beton geschüttete Mole in den See hinausragte. Er stoppte hinter dem Polizeiauto und kletterte über die Gleise. Auf dem hier steinigen Ufer lag unter einer Zeltplane eine unförmige Gestalt, bewacht von einem älteren Polizeiikonstapel. Sein junger Kollege stand abseits und blickte - grüngelb im Gesicht - starr auf den See hinaus. Auf der Mole saßen die beiden Angler, die die Leiche entdeckt hatten. Ljungqvist stolperte gerade steifbeinig über die Ufersteine, als ein weiterer Wagen ankam. Dr. Sjö war groß, rothaarig, kleinnasig und besaß außer einer Unmenge von Sommersprossen eine nie versiegende gute Laune. »Hej, Äke, hast du gesehen, der Bahnhof ist hin!« »Eben, als ich vorbeifuhr, stand er noch.« »Zweimal WAMM, und dann Schutt!«
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»Auch die Halle für Expreßgüter?« fragte Ljungqvist kleinlaut. Er hatte dort vor mehr als 20 Jahren seine erste Verhaftung durchgeführt und hing an seinen Erinnerungen. »Alles platt. Ist nicht schade um den Prachtbau«, antwortete Sjö gefühllos. »Man hätte ihn noch sehr gut renovieren können.« »Was wolltest du denn an der Leichenhalle noch renovieren?« Ljungqvist zeigte Neigung, das Thema zu vertiefen, besann sich dann aber doch, daß sie schließlich nicht hier standen, um die städtebauliche Umgestaltung von Jönköping zu diskutieren, nickte dem schweigend ausharrenden Konstapel zu und beugte sich zur Zeltplane hinab. »Das ist Boström«, bemerkte der Konstapel. »Woher willst du das denn wissen?« Ljungqvist zog die Plane weg. »Bah, wie der aussieht!« »Ich habe ihn siebenmal wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit verhaftet.« »Ach so, na denn.« Boström war schon zu Lebzeiten kein schöner Mann gewesen, und die drei Wochen im Wasser hatten diesen Zustand auch nicht positiv verändern können. Am besten erhalten war seine Unterhose: Gelb auf blauem Grund zeigte sie in vielfacher Ausführung die schwedische Krone. »Vielleicht war er Patriot«, meinte Ljungqvist launig. »Wieso?« fragte Sjö. »Das würde ich nicht sagen«, antwortete der Konstapel todernst. Ljungqvist seufzte. Er erlebte es oft, daß seine Scherze bei seinen Mitmenschen nicht die erwartete Wirkung zeigten. »Was hat er denn?« Er wies auf den jungen Konstapel, der immer noch in Betrachtung der blauen Fluten des Väternsees versunken zu sein schien. »Erik ist übel«, sagte der Konstapel mitfühlend und fügte erklärend hinzu: »Es ist seine erste Wasserleiche.« »Na denn«, und zu Sjö gewandt: »Fang man an, ich red' mal mit den beiden Anglern.« »Das sind Bengt Olofsson und Carl Malm, beide Pensionäre. Die beiden angeln hier immer. Sie haben die Leiche gegen acht Uhr entdeckt. Malm hat hier gewartet, und Olofsson hat uns alarmiert. Sie haben die Leiche angeblich nicht berührt, aber das kann man wohl glauben«, berichtete der Konstapel bedächtig. »Haben sie sich ausgewiesen?« fragte Ljungqvist. »Nein, aber ich kenne die beiden.« »Hast du die auch schon besoffen verhaftet?« »Nein, die beiden trinken nicht, sie sind Pingstvänner* und würden niemals Alkohol anrühren.« Ljungqvist gab auf. »Gibt es noch was, das du schon weißt und ich nicht?« fragte er resigniert. »Nein, Herr Kommissar. Ich habe nur Olofsson und Malm gesagt, sie müßten hier * Sekte, die in Schweden viele Anhänger hat. 5
bis zu Ihrem Eintreffen warten, damit Sie sie verhören können.« »Wozu eigentlich«, murmelte Ljungqvist und humpelte zu den beiden Anglern. In der Tat ergab die Befragung nichts Neues. Beide pflegten oft von der Mole aus zu angeln. Sie hatten die Leiche unmittelbar nach ihrem Eintreffen entdeckt, und Olofsson war gleich zur Polizei gelaufen, während Malm auf der Mole gewartet und die Zeit genutzt hatte, um Kaffee aus einer Thermoskanne zu trinken und die mitgebrachten Brote mit Leberpastete und Gurke zu essen. »Mit Leberpastete?« fragte Ljungqvist ungläubig. Er war im Grunde seiner Seele ein sensibler Mann. Mittlerweile herrschte rege Betriebsamkeit am Ufer. Mehrere Polizisten staksten zwischen den Steinen umher und suchten am Strand nach etwaigen weiteren Hinweisen. Der ältere Konstapel hatte den Arm um die Schulter seines jungen Kollegen gelegt und sprach leise und begütigend auf ihn ein. Dr. Sjö richtete sich mit strahlendem Lächeln neben der Leiche auf. »Nichts zu sehen soweit, paar Hautabschürfungen, aber sonst alles okay. Ist wohl bloß ersoffen.« »Dann könnt ihr ihn ja mitnehmen. Wann kann ich den Bericht haben?« »Schriftlich oder so vorweg?« »Bloß so, erste Übersicht.« »Ich mach' heute nur bis 17 Uhr«, sagte Sjö. »Ich hab' Kerstin versprochen, um 18 Uhr wieder auf dem Land zu sein und die Kinder zu baden. Ihr wird das zu schwer, mit dem Faß, das sie da mit sich rumträgt.« Sjös Frau war hochschwanger, Ljungqvist wagte nicht zu fragen, mit dem wievielten Kind. Er war aber sicher, daß es wieder so ein rotschöpfiges, sommersprossiges, ewig hüpfendes und trällerndes Etwas werden würde wie die schon vorhandenen drei oder vier oder fünf. »Wenn ich bis dann fertig bin, ruf ich dich an.« Sjö entfernte sich, leichtfüßig von Stein zu Stein springend. Ljungqvist wollte auch aufs Land, am liebsten gleich, spätestens heute abend. Er versuchte einen kleinen Hüpfer auf den nächstgrößeren Stein, glitschte ab und landete auf den Knien zwischen spitzen Kieseln. 3 Nachmittags um vier hatten sie Boströms Lebensgeschichte, soweit sie aktenkundig war, fertig zusammengestellt auf dem Schreibtisch liegen. Dieses war hauptsächlich Kriminalassistent Zettermarks Verdienst, der ruhig und überlegt die Informationen vom Vermißtendezernat eingeholt und geordnet hatte, während Ljungqvist - Hektik verbreitend - von Abteilung zu Abteilung gehetzt war. Jetzt saß er an seinem Schreibtisch und starrte blicklos auf das relativ uninteressante Stück verbauter Seelandschaft, das sich als Aussicht aus seinem Fenster bot, und dachte an den Bahnhof. Ab und zu stieß er säuerlich auf. Der Küchenchef der Kantine hatte gerade den heutigen heißen Sommertag als passend 6
befunden, Blutpudding mit angedickten Bohnen und Kartoffelbrei zu servieren, und Ljungqvist hatte den Fehler begangen, den Geschmack des Menüs mit mehreren Tassen gallebitteren Kaffees vertreiben zu wollen. Zettermark hüstelte diskret und riß Ljungqvist aus seinen düsteren Gedanken. Der seufzte, streckte sich, rülpste verhalten und schlug die vorbildlich eingerichtete Akte Boström auf. Boström, Lennart, Sten, Gustav, ledig, wohnhaft in Jönköping/Barnap, Västra Skogsvägen 8, war am 10. April 1942 in Nässjö geboren. Vater Holzarbeiter, Mutter Hausfrau, eine Schwester, Marta Patalainen, geboren 1936, verwitwet, jetzt wohnhaft in Karlstad. In der Schule war Lennart, außer durch sehr bescheidene intellektuelle Leistungsfähigkeit, nicht weiter aufgefallen. Der Vater starb bei einem Unfall, als Lennart 14 Jahre alt war, die Mutter nahm daraufhin eine Arbeit bei der Post an. Vier Jahre später starb auch sie, »ausgelaugt und von Sorgen zermürbt.« »Hast du das geschrieben?« fragte Ljungqvist irritiert. Zettermark schaute ihm über die Schulter. »Nein, das steht so im Bericht des Psychologen aus dem Entziehungsheim, wo Boström damals war.« Nach der Schule hatte Boström wie sein Vater als Waldarbeiter angefangen, wurde aber bald wegen »mangelhafter Arbeitsmoral, zurückzuführen auf fortgesetzten Alkoholmißbrauch« entlassen. Er jobbte dann mal hier, mal da, blieb aber nirgendwo lange und fiel immer wieder durch Trunkenheit auf. Mit 18 Jahren kam er zum ersten Male ins Entziehungsheim. Der Psychologe dort beschrieb Boström als labil, leicht zu beeinflussen und bescheinigte ihm geringes Selbstwertgefühl und eine stark eingeschränkte Frustrationstoleranz. »Was ist das denn?« »Er kann Fehlschläge nicht verkraften«, übersetzte Zettermark. Ljungqvist überlegte, wie hoch seine Frustrationstoleranz anzusetzen war, kam zu keinem Ergebnis und wandte sich wieder dem Bericht zu. Es war im Prinzip die übliche Karriere. Zunächst wechselten Phasen relativ geregelten Lebens mit Zeiten ab, wo Lennart Boström immer wieder durch Trunksucht auffiel. Er wurde oft verhaftet und verhielt sich bei diesen Gelegenheiten stets gutwillig. Schlägereien und ähnliches wurden nicht bekannt. 1976 starb Lennarts Schwager Patalainen. Seine Schwester - durch lange, schwere Ehe mit dem trinkfreudigen Finnen abgehärtet und durch ihren festen Glauben mit dem nötigen moralischen Rüstzeug versehen - sah es ab sofort als ihre Aufgabe an, ihren Bruder zu retten, zumal ihre Ehe kinderlos geblieben war. Zunächst ging auch alles ganz gut. Lennart zog zu Marta nach Karlstad, und sie verschaffte ihm eine Arbeitsstelle in einer Autowerkstatt. Lennart hatte eine Freundin, und Marta übernahm aus Dank für Lennarts Errettung immer mehr ungeliebte Pflichten in der Ge meinde.
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Nach einer zweiwöchigen Spanienreise, die Lennarts Freundin mit einer Kollegin unternahm, kühlte ihr ohnehin nie sehr heißes Liebesverhältnis sozusagen über Nacht ab. Und es schien, daß Lennart augenblicklich wieder zu trinken anfing. »Keine Frustrationstoleranz, ich sag's ja«, bemerkte Ljungqvist fachmännisch. Nach mehreren Verhaftungen, einem weiteren erfolglosen Aufenthalt in einer Entziehungsanstalt und nachdem Boström ihr mehrmals die Küche vollgekotzt hatte, sah sich Marta gezwungen, ihren Errettungsversuch als gescheitert anzusehen und rang sich zu einer unchristlichen Tat durch: Sie setzte Boström vor die Tür. Etwa ein Jahr später tauchte Boström zum ersten Male in Jönköpinger Polizeiakten auf. Er hatte Anschluß an die stadtbekannte Säuferclique gewonnen und wurde mehrmals wegen Trunkenheit verhaftet. Die Akte enthielt noch diverse Originalberichte von Psychologen verschiedener Entzugsanstalten, eine Bescheinigung über Boströms Untauglichkeit zum Wehrdienst wegen einer - allerdings ausgeheilten - Lungentuberkulose und den Bericht über Boströms Verschwinden bei der Bootsfahrt am 20. Juli. Ljungqvist schielte nach seiner Armbanduhr. Angesichts der nachlassenden Konzentration seines Vorgesetzten zog Zettermark es vor, die Protokolle über Boströms Verschwinden mündlich zusammenzufassen, damit Ljungqvist nicht durch allzu viele Fakten verwirrt wurde. Außerdem hatte dieses Verfahren den Vorteil, daß Ljungqvist nicht das Gefühl bekam, furchtbar lange im Büro zu sitzen und überarbeitet zu sein. Es kam seinem Bedürfnis entgegen, den Kleinkram anderen zu überlassen, nur die große Linie weitschweifig zu erläutern, Theorien aufzustellen, Theorien zu verwerfen. Darin zeigte er eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit bestimmten Politikern der staatstragenden Parteien. Zettermark mochte das nicht und hatte im Laufe der Jahre gewisse Taktiken entwickelt, Ljungqvists Arbeitsstil effektiver zu gestalten. Im Augenblick litt er zudem merklich unter Ljungqvists Bewältigung der Kochkunst in der Polizeikantine. Er legte also die Fingerspitzen gegeneinander, räusperte sich und faßte zusammen. Boström war am Freitag, dem 20. Juli, mit einem kleinen Kabinenkreuzer gegen 17.30 Uhr von der Südspitze des Vätternsees gestartet. An Bord befanden sich sein Arbeitskollege Ole Olsson und ein Deutscher namens Karl-Heinz Jorde, der mit beiden lose befreundet war. Das Trio hatte zumindest Freitagnacht und Sams tagvormittag auf dem Vättern verbracht. Samstagnachmittag wurde Boström in Begleitung Jordes im ICA-Supermarkt in Huskvarna, der Zwillingsstadt Jönköpings, gesehen. Sie kauften Würstchen, Jorde fragte nach Schnaps. Man verwies ihn an die staatlichen Alkoholläden, die um diese Zeit allerdings schon geschlossen waren. Diese Maßnahme zur Bekämpfung des übermäßigen Alkoholgenusses brachte Jorde so in Rage, daß er laut pöbelte, sich weigerte, eine Nummer am Fleischstand zu ziehen, und schließlich an der Kasse vordrängelte. Solch undiszipliniertes Verhalten blieb beim Personal haften.
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Das Telefon unterbrach Zettermarks Referat. Er hob ab und reichte nach wenigen Augenblicken den Hörer an Ljungqvist weiter. »Sjö für dich, Äke.« »Hej, Äke«, Sjö war in Eile. »Mit dem Boström bin ich soweit fertig. Tod durch Ertrinken, wie vermutet.« »Keine Anzeichen von Gewalt?« »Nee! Aber er muß ganz schön geladen haben. Und das nicht nur kurz vor seinem Tode. Lange hätte er's sowieso nicht mehr gemacht. Fortgeschrittene Leberzirrhose mit beginnendem Aszites, Nephrose und ...« »Und was heißt das?« »Leber und Nieren waren hin, und auch sonst noch so einiges. Muß mal 'ne Tuberkulose gehabt haben. Wenn du mich fragst, dann ist er besoffen über Bord gegangen.« »Kann aber auch jemand nachgeholfen haben.« »Schon, aber bei dem Alkoholgehalt im Blut war das kaum notwendig. Anzeichen von Gewaltanwendung sind jedenfalls nicht feststellbar. Morgen mittag kannst du den Bericht haben. Ich fahr' jetzt los. Hej, Äke.« »Hej, und danke.« Ljungqvist lehnte sich zufrieden zurück, klatschte darin mit den Handflächen auf den Schreibtisch und erhob sich unternehmungslustig. »Die Sache scheint klar. Boström war voll und ist über Bord gegangen.« »Wir sollten den Bericht zu Ende durchgehen, Äke«, mahnte Zettermark und blieb unbeirrt sitzen. »Ich meine jetzt, wo du alles frisch im Kopf hast und wir ohnehin fast fertig sind.« Ljungqvist ergab sich. »Mach weiter.« Am frühen Abend des Samstags waren die drei im Hafen von Bankeryd aufgetaucht, bekamen jedoch bald Ärger mieden anderen Jachteignern und zogen es vor, wieder auszulaufen. Von diesem Augenblick bis zu dem Moment, wo das Boot mit leerem Tank treibend aufgebracht wurde, existierten keine außenstehenden Zeugen. Olsson und Jorde wurden am Sonntag sofort in eine Ausnüchterungszelle gebracht, nachdem sie gründlich ärztlich untersucht worden waren. Eine eingehende Befragung konnte man sich zunächst schenken; sie waren schlicht vernehmungsunfähig. Jordes Vernehmung konnte sowieso erst am Montag beginnen, da die Dolmetscherin am Wochenende nicht arbeitete. Beide Überlebenden berichteten getrennt und übereinstimmend, daß sie den späten Samstagabend in der Kajüte mit Trinken verbracht hätten. Ihr Abendbrot war ausgefallen, da sie nach dem ungastlichen Benehmen der Jachthafenbenutzer Zitat Jorde (die Dolmetscherin hatte sich etwas schwergetan mit der Übersetzung): »absolut voll keinen Bock darauf hatten«, am Strand die mitgebrachten Würstchen zu grillen. Diese Formulierung mißfiel Zettermark. Ljungqvist merkte sie sich. Falls er noch einmal zum Kaffeetrinken bei seinen Nachbarn eingeladen werden sollte und man 9
ihn wieder nötigte, trockene, staubige Kekse zu essen, würde er so geschickt seine internationalen Sprachkenntnisse ausspielen. Man behielt beide bis zum Donnerstag in Gewahrsam, entließ sie aber dann, da ihre Gedächtnislücken beim besten Willen nicht zu füllen waren. Jorde wurde erlaubt, das Land zu verlassen, da die Polizeibehörde Hamburgs auf eine Anfrage hin nichts Nachteiliges zu berichten hatte. Zettermark atmete tief durch. »Es folgen dann noch Angaben zur Person, diesen Jorde und Olsson betreffend. Olsson arbeitete mit Boström bei seinem Bruder, einem Schrotthändler, OLSSONS BILDE-MONTERINGS AB. Liegt an der Straße nach Mullsjö. Olsson hat Automechaniker gelernt. Jorde hat er angeblich vor drei Jahren bei einem Urlaub auf Mallorca kennengelernt. Hier sind dann noch Fotos vom Boot. Willst du sie sehen?« »Zeig mal her.« Ljungqvist besaß keine Jacht, nur ein Ruderboot zum Angeln draußen am Sommerhaus. »Wieso kann der sich so was leisten?« »Man verdient nicht schlecht beim Schrott«, antwortete Zettermark düster. »Außerdem gehört das Boot dem Bruder. Jedenfalls gab es keine Spuren von gewaltsamen Auseinandersetzungen. Boströms Hose und T-Shirt lagen in der Kabine. Jorde und Olsson schliefen, als die Kollegen sie fanden. Vielleicht wollte Boström Luft schnappen oder ...« »... oder pinkeln oder kotzen.« Ljungqvist hatte sich endgültig erhoben. »Du hast das sehr gut gemacht«, lobte er. »Wenn morgen der Befund von Sjö vorliegt, machen wir den Abschlußbericht und Marta Panta ... äh, Para ...« »Patalainen«, half Zettermark. »Ja, dann kann sie ihren Bruder beerdigen.« 4 Kloess saß in der Sauna, entspannte sich langsam, fühlte sich besser. »Hochhaus Zombie aus Steilshoop wollte Blut.« Die Woche hatte ruhig begonnen und deprimierend geendet, auch ohne die Bemühungen der Boulevard-Presse, den Fall attraktiver zu gestalten. Ein gewöhnlicher Totschlag im Affekt, begangen von einem armen Kerl, arbeitslos, mit Ratenzahlungen eingedeckt. Sie hatten einen Videofilm gesehen, er und seine Frau. Irgendwas mit Liebe, Kloess hatte den Titel vergessen, ein Zombiefilm war es jedenfalls nicht gewesen. Und dann hatte die Frau ihrem Mann eröffnet, sie wolle ihn verlassen, nicht mehr bleiben bei jemandem, der sowieso ein Versager sei, bei dem man nur versauern könne. Der Mann war in die Küche gegangen, hatte ein Messer geholt und zugestoßen, immer wieder. »Wahrscheinlich muß man jetzt neu tapezieren«, hatte Kollege Mertens gemeint, »Blümchentapeten sind sowieso out.« Auch nach bald 15 Jahren bei der Polizei 10
konnte sich Kloess nicht daran gewöhnen, nicht an Mertens' Kaltschnäuzigkeit, nicht an den Geruch von Stumpfsinn und Verzweiflung in den bienenwabenartigen Behausungen des sozialen Wohnungsbaus. Als er nach dem Abitur nicht zur Bundeswehr wollte, auch nicht zum Grenzschutz oder zur Feuerwehr, hatte sein Vater für ihn das Problem gelöst. »Verweigern? Leichen waschen und alten Leuten den Hintern abwischen, das ist nichts für dich! Geh zur Polizei, mein Junge, da hast du nichts auszustehen!« Kloess hatte sich seit damals schon oft gefragt, aus welchen Quellen sein Vater wohl seine Kenntnisse über die Polizeiarbeit geschöpft haben mochte. Kloess betrachtete seinen Körper. Schweißperlen rannen den Hals hinunter, tropften auf seine zu kurz geratenen Beine. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Steilshoop, das war für ihn vor allem die Erinnerung an einen seiner ersten Fälle. Eine dreißigjährige Frau hatte damals ihren etwa gleichaltrigen Mann mit dem Bügeleisen erschlagen. Nachbarn hatten einen lauten Streit in der Wohnung gehört, was sie jedoch nicht weiter beunruhigte, wohl aber die völlige Stille, die dann plötzlich eintrat. Auf Rufen, Klopfen und Klingeln hatte niemand in der Wohnung reagiert, so daß die Beamten vom zuständigen Revier die Tür gewaltsam hatten öffnen müssen. Als Kloess am Tatort eingetroffen war, hatte die Frau apathisch in der Küche gesessen, während eine Beamtin sie zu bewegen versuchte, sich die blutbefleckten Arme zu waschen und die Kleidung zu wechseln. Im Nebenzimmer hatte man zwei fünf- beziehungsweise siebenjährige Kinder angetroffen, die mit weit aufgerissenen Augen in ihren Betten saßen, während ein etwa einjähriges Baby wunderbarerweise ruhig und völlig ungestört in einem Gitterbettchen schlief. Die Kinder, die sich - mit Ausnahme des Babys - heftig wehrten und schreiend am Bett festklammerten, hatten später - in Decken gewickelt - von zwei Sozialfürsorgern mit Gewalt abtransportiert werden müssen. Kloess sah sich wie in einem alten Film. Die Haare noch etwas voller, sein Oberlippenbart noch nicht grau gesträhnt, mit Hornbrille, schlank, fast mager, beim Gehen die Schultern etwas vorgeschoben. Neben ihm die Frau in Begleitung der Polizistin, auf Stöckelschuhen, eine kleine, billige Tasche, in die für sie das Nötigste eingepackt worden war. Die Bäume der Einfachbegrünung paßten in ihren Proportionen damals noch viel weniger als heute zu den grauen Hochhäusern mit schmutzigblauen, grünlichen und orangefarbenen Balkons. Der kaum zu überbietende Zynismus des Bauschilds NEUE HEIMAT war ihm zu jener Zeit allerdings noch nicht so klar bewußt geworden. Schröder hatte damals das Verhör geführt, das heißt eigentlich hatten sie nur schweigend zugehört, während die Frau mit leidenschaftsloser Stimme eine alltägliche Lebensgeschichte erzählte, die über die Stationen einer ereignislosen Kindheit, einer phantasielosen Liebesbeziehung und einer lieblosen Ehe zur Eskalation, zum Totschlag geführt hatte. Kloess seufzte und erhob sich, um zur Dusche zu gehen, drehte erst auf lauwarm, dann langsam immer kälter, brüllte wie ein Stier, als der kälteste Strahl ihn traf. 11
»Hörst du nicht, Herrgott noch mal, Telefon für dich!« vernahm er Kristina, noch ganz benommen von dem Temperaturschock. Mertens war am Telefon ungehalten. »Mein Himmel! Wie lange dauert das denn, bis du ans Telefon kommst?« »Ich war in der Sauna.« »In der Sauna! Und ich frier' mir hier den Arsch ab!« »Was willst du eigentlich?« »Du müßt herkommen, Rainer, tut mir leid für dich!« antwortete Mertens kleinlaut. »Was ist denn überhaupt los?« »Ein Kollege ist in Schwierigkeiten, in großen Schwierigkeiten«, sagte Mertens ungewöhnlich dezent. Kloess begann zu frösteln. Im Wohnzimmer herrschten - gemäß einem mehr oder weniger demokratisch gefaßten Familienbeschluß - 19° Celsius Raumt emperatur. Kloess hatte allerdings seine Frau in Verdacht, dieses Abkommen immer wieder zu unterlaufen, indem sie den Thermostat heimlich höherstellte. »Kannst du dich nicht 'n bißchen klarer ausdrücken?« »Hier sind zwei erschossen worden, von 'ner Verkehrsstreife«, sagte Mertens leise. 5 Die schönen Tage des Herbstes waren vorüber. Man schrieb den 28. Oktober, und ein feiner, kalter Nieselregen ging nieder, als Kloess am Tatort anlangte. Beide Spuren der Schnellstraße waren in Höhe der Tankstelle gesperrt; die Blaulichter zahlreicher Einsatzfahrzeuge der Polizei zuckten wie defekte, überdimensionale Neonreklamen. Rechts unterhalb der Schnellstraße lag das Industriegebiet von Billbrook. Die industrielle Entwicklung des Kapitalismus konnte hier anhand der Bauten gut nachvollzogen werden. Zwischen alten, roten Backsteingebäuden aus der Gründerzeit mit freistehenden Schornsteinen standen eternitverkleidete Flachbauten mit lichteren Fassaden, die eine andere Art von Trostlosigkeit ausstrahlten. Linker Hand lag der Ortskern von Billstedt, der diese Bezeichnung allerdings nicht mehr verdiente. Die Straßenbahnhaltestelle mit Würstchenbude und Tabakladen hatte der neuen Straßenführung ebenso weichen müssen wie die vielen kleinen Einzelhandelsgeschäfte. Geblieben waren die Kneipen, neu waren zwei Hotels, eines davon mit dem schönen Namen PANORAMA, womit vermutlich die Aussicht auf das Industriegebiet gemeint war, ein Parkhochhaus mit Einkaufszentrum sowie einige Geschäfte mit absolut unleserlichen Aufschriften in türkischer Sprache. Die späte Stunde und das Wetter hatten Schaulustige abgehalten, obgleich die Aussicht von der Brücke ideal gewesen wäre. Aber auch ohne sie herrschte ein unbeschreibliches Chaos. Es schien, als hätten sich sämtliche Polizeiwagen Hamburgs eingefunden. Kloess stieg aus , und ging an einem Wagen vorbei, in dem ein junger Polizeibeamter mit enthusiastischer Stimme unablässig Meldungen in sein Funkgerät schrie. Unmittelbar darauf mußte Kloess zur Seite springen, um 12
zwei Notarztwagen auszuweichen, die mit plötzlich einsetzender Sirene den Tatort verließen. Der Wagen, oder was von ihm übriggeblieben war, stand quer zur Fahrbahn; die Scheinwerfer der Einsatzfahrzeuge beleuchteten die völlig zertrümmerte Front, Fahrer- und Beifahrertür standen offen, die Rückscheibe fehlte. Plötzlich stand Mertens neben ihm. »Wir haben den Motor abgestellt, der hat noch wie wahnsinnig gehupt. Und das Radio spielte auch noch. NDR 2«, sagte Mertens zusammenhanglos. Kloess sah sich suchend um und ging dann langsam auf die beiden mit Planen zugedeckten Gestalten zu, die hinter der Leitplanke auf dem Boden lagen. »Carl Wawliczek, 26 Jahre, und Ursula Walkmann, 25 Jahre«, Mertens hielt zwei Personalausweise in der Hand. Kloess kniete nieder und zog die Plane weg. Der Mann war hübsch gewesen, mit dunklen, lockigen Haaren und voluminösem Schnurrbart. In der Stirn hatte er ein großes Loch mit ausgefransten Rändern. Bei dem Mädchen konnte man nicht feststellen, ob sie ebenfalls hübsch gewesen war. Sie hatte kein Gesicht mehr. »War sie nicht angeschnallt?« fragte Kloess. Mertens schüttelte den Kopf: »Nur er.« »Wo ist der Schütze?« »Im Krankenhaus, Rainer, er hat einen Schock. Und der andere, den der hier angefahren hat, der ist auch im Krankenhaus. Wahrscheinlich hat er 'nen Beckenbruch.« Kloess seufzte. Er hätte gern geraucht, trug aber seit längerem grundsätzlich keine Zigaretten bei sich und war deshalb auf freundliche Angebote seitens seiner Kollegen angewiesen. Die Stumpen, die Mertens paffte, hätte er allerdings auch bei stärkeren Entzugserscheinungen nicht angerührt. Er konnte sich den Ärger, der jetzt auf ihn zukommen würde, lebhaft ausmalen. Erst im Sommer hatte ein Zivilfahnder auf einem Parkplatz einen Jugendlichen erschossen. Der Junge war überwacht worden; man hielt ihn für einen Autoknacker, was sich posthum dann als falsch erwies. Während der eine Fahnder im Einsatzfahrzeug sitzengeblieben war, hatte der andere den Jungen gestellt und abgeführt, mit der entsicherten Pistole direkt an dessen Kopf. Der Schuß hatte sich angeblich gelöst, weil der Fahnder plötzlich stolperte und der Druckpunkt seiner neuen, erst kürzlich eingeführten Waffe überaus emp findlich war. Der eigentliche Skandal hatte jedoch erst begonnen, als bekannt wurde, daß der Schütze volle zehn Monate nach dem Unglücksfall zum ersten Male ausführlich vernommen worden war. »Sind Bundschuh und Grabbe benachrichtigt?« »Sie sind schon hier, Rainer, da drüben im Mannschaftswagen. Sie haben mit den Vernehmungen angefangen.« »Na, Gott sei Dank, bloß jetzt keine Schlamperei!« »Schröder kommt auch, den mußte ich von der Verlobung seines Sohnes wegholen. Den hättest du mal hören sollen!« Mertens grinste schadenfroh. Psychisch außerordentlich stabil wie er war, gewann er offensichtlich seine gewohnte Zuversicht und Unbekümmertheit schnell 13
zurück. Im Augenblick fragte er jedoch zartfühlend den blassen Kloess: »Fühlst du dich nicht gut, Rainer?« Kloess sah ihn verständnislos an. 6 Es war schon weit nach Mitternacht, als sich endlich alle in Schröders Arbeitszimmer eingefunden hatten. Der jüngste der Gruppe, Manuel Grabbe, und Claus Bundschuh, langjähriger Kollege und persönlicher Freund von Kloess, waren in die Teeküche gegangen, um Kaffee zu kochen. Mertens, der am längsten von allen im Regen gestanden hatte, naß und entsprechend schlecht gelaunt war, bemühte sich, eine große Übersichtsskizze vom Unfallort an einer Pinnwand zu befestigen. Die feuchten Hosenbeine klebten an seinen stämmigen Waden, und er nieste in regelmäßigen Abständen, wobei ihm seine randlose Brille auf die Nasenspitze herabrutschte. Schröder selbst war noch immer im feierlichen Gesellschaftsanzug, hatte zwar die Fliege, nicht aber die Nelke abgelegt, die langsam in seinem Knopfloch verwelkte. Er blätterte mürrisch in einem Wust von Papieren, die unübersichtlich über seinen Schreibtisch verstreut waren. Kloess lehnte im Besuchersessel in seiner typischen Haltung, die Beine weit von sich gestreckt, das Körpergewicht auf einen Punkt irgendwo zwischen Kreuz- und Steißbeinwirbel verlagert, und betrachtete mißmutig Schröders Blume. Dieser blickte auf seine Armbanduhr, ließ die Akte, in der er geblättert hatte, mit einem Klatsch fallen und lehnte sich zurück. »Jetzt sind sie alle abgehauen, bestimmt«, sagte er düster. »Dann kannst du ja auch endlich die verdammte Blume wegschmeißen«, bemerkte Kloess trocken. Schröder nestelte schuldbewußt an seinem Anzug und warf die Nelke in den Papierkorb. Mertens nieste und zog den Naseninhalt hoch. »Hast du kein Taschentuch?« Schröder war gereizt. »Kannst du mir vielleicht mal sagen, mit welcher Hand ich das noch machen soll?« gab Mertens zurück. Kloess seufzte, stand mühsam auf und half dem überforderten Mertens, die Skizze zu befestigen. Dann ging er zu Schröders Schreibtisch, schnappte sich ein Bündel Papiere und hing sich wieder in den Sessel. Mertens nieste abermals. »Wie kann man bei solchem Wetter 'ne Verkehrskontrolle machen?« schniefte er, »da fährt doch eh kein Schwein!« Schröder klopfte auf seine Uhr. »Wie lange brauchen die denn für den Kaffee?« beschwerte er sich. Wie aufs Stichwort erschienen Bundschuh und Grabbe; letzterer trug ein Tablett mit Kanne und Kaffeegeschirr. Bundschuh schwenkte einen Papierstreifen: »Das Auto gehörte nicht dem Fahrer, das ist zugelassen auf einen, warte mal, Dr. 14
Manfred Skobel. Der ist aber im Moment nicht zu erreichen. Die unten versuchen es weiter. Der Vater von Wawliczek sagte ja gleich, sein Sohn hätte kein Auto gehabt. So 'ne Karre hätte der sich wohl auch nicht leisten können als Student!« »Vielleicht hat er es geklaut, so 'n Mercedes ist ja auch 'ne feine Sache«, brummte Mertens. »Und wie geht es dem schießwütigen Kollegen von der Verkehrsstreife?« fragte Kloess anzüglich. Mertens' Gesicht wurde noch röter, als es schon war, und er sah jetzt endgültig nach einer fiebrigen Erkältung aus. »So kannst du das aber nicht sehen, Rainer! Ich möchte wissen, was du gemacht hättest, wenn einer mich über den Haufen fährt«, gab er aufgebracht zurück. Bundschuh sah zweifelnd zu Kloess und dann zu Mertens. »Aber er mußte ihm wohl doch nicht gleich 'nen Kopfschuß verpassen«, gab er zu bedenken. Kloess klopfte mit der Hand auf die Papiere. »Ich verstehe überhaupt nicht, wieso der getroffen hat, bei den bekanntermaßen guten Schießkünsten unserer lieben Kollegen. Ich hätte eher erwartet, er verpaßt seinem Kollegen 'nen Blattschuß.« »Wenn die Herren sich vielleicht setzen möchten!« Schröder erhob seine Stimme. »Und statt dummer Sprüche könntest du uns mal eine Zusammenfassung geben, Rainer!« Alle verstummten, waren damit beschäftigt, Kaffee einzuschenken, umzurühren und sich eine Sitzgelegenheit zu suchen. Claus Bundschuh drehte eine Zigarette, zündete sie an und reichte sie Kloess. »Leg mal los, Rainer«, sagte er ruhig. Kloess wand sich aus dem Sessel und trat an die Pinnwand. »Okay«, sagte er, »die Kollegen von der Verkehrspolizei begannen um genau 21.00 Uhr die linke Spur der B5, Fahrtrichtung Bergedorf, in Höhe der Tankstelle zu sperren. Es handelte sich um eine routinemäßige Kontrolle, und hier«, er klopfte auf die Skizze, »ist ein beliebter Platze dafür. Die Tankstelle hatte schon geschlossen. Man benutzte sie als Parkplatz für die Einsatzfahrzeuge. Normalerweise finden sich dann auch gleich ein paar Taxen ein, aber gestern abend war es so ruhig, daß da weder" Taxifahrer noch Schaulustige rumhingen. Es waren erst einige wenige Fahrzeuge kontrolliert worden, als um ca. 21.30 Uhr mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit das bewußte Auto, ein weißer Mercedes 280 SL, auftauchte. Der Fahrer wurde eingewinkt, drosselte auch gleich das Tempo, und der eine ...« »Polizeimeister Siebert«, half Bundschuh. »Ja, genau, der trat an den Wagen heran. Als er auf etwa drei Meter an das Auto herangekommen war, gab der Fahrer plötzlich Gas, streifte Siebert mit dem linken vorderen Kotflügel und raste an der Absperrung vorbei. Eschke, der auf der anderen Seite des Fahrzeugs, also hier, gestanden hatte, zog sofort seine Pistole und schoß hinter dem Auto her.« »Da hat er aber wirklich Glück gehabt, daß er getroffen hat«, murmelte Mertens anerkennend. Kloess fuhr herum, aber Bundschuh mahnte: »Mach weiter, Rainer.«
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Kloess ging zu Schröders Schreibtisch, drückte die Zigarette aus und kehrte langsam zur Pinnwand zurück. Schröder nahm den Aschenbecher mit spitzen Fingern und stellte ihn zur Seite auf die Fensterbank. »Wie Kollege Mertens eben so schön bemerkte«, fuhr Kloess fort, »kann man nur von Zufall reden, daß Eschke getroffen hat. Die Kugel drang in den Hinterkopf des Fahrers ein, ungefähr hier. Er muß das Steuer noch nach links verrissen haben, jedenfalls fuhr der Wagen auf die Gegenfahrbahn, knallte dort nahezu frontal gegen den Brückenpfeiler, hier, wurde zurückgeschleudert, drehte sich zweimal und blieb quer beziehungsweise mit dem Kühler leicht in Fahrtrichtung Innenstadt stehen. Da war es genau 21.34 Uhr. Der Fahrer und das Mädchen waren beide tot, als die Kollegen ans Auto kamen, das Mädchen mit starken Verletzungen im Gesicht und Brustkorb.« Manuel Grabbe atmete hörbar aus. Kloess drehte sich abrupt um und nahm wieder seine Hängestellung im Sessel ein. »Siebert hat vermutlich einen mehrfachen Beckenbruch«, übernahm Bundschuh. »Als ich mit dem Krankenhaus telefonierte, operierten sie immer noch. Er ist aber nicht in Lebensgefahr. Eschke ist 23 Jahre alt. Er hatte heute eigentlich frei und ist für einen Kollegen eingesprungen, dessen Frau gerade ein Kind bekommt. Siebert war sein direkter Vorgesetzter. Eschke ist mit einem Schock ebenfalls ins Krankenhaus eingeliefert worden und bleibt zur Beobachtung über Nacht da. Mehr konnte ich erst mal nicht erfahren. Aber wir haben wirklich Glück gehabt«, er schielte vorsichtig zu Kloess hinüber, aber der war in dumpfes Brüten versunken und reagierte nicht, »die Presse ist erst sehr spät aufgetaucht und hat nicht viel mitbekommen.« Bundschuh nahm einen Schluck Kaffee und schob die Tasse angeekelt von sich weg. »Kannst du dir keinen besseren Kaffee leisten?« fragte er anklagend in Schröders Richtung. Der ignorierte die Bemerkung. »Was wissen wir über die Insassen des Fahrzeugs?« »Carl Wawliczek, 26 Jahre, Student, und Ursula Walkmann, seine Freundin, 25 Jahre, ebenfalls Studentin«, Mertens trat gewichtig vor. »Autopapiere hatten sie keine bei sich, aber Personalausweis und Führerschein.« »Hat schon jemand die Angehörigen benachrichtigt?« fragte Schröder. »Ja, ich natürlich mal wieder«, brummte Bundschuh. »Das Mädchen hatte so 'nen Zettel dabei mit der Adresse, wer im Falle eines Unfalls benachrichtigt werden sollte. Das waren die Eltern. Wawliczek lebt in 'ner Wohngemeinschaft, aber die hatten auch die Anschrift von den Eltern. Die wohnen in der Seumestraße, Eilbek. Vater Rentner, Mutter wohl Hausfrau. Wawliczek war der einzige Sohn. Der Vater sagte, daß Wawliczek seines Wissens nach kein Auto besessen habe, aber manchmal für irgendeine Firma fahre. Die Freundin kannten die Eltern nicht.« »Was denn für 'ne Firma?« Bundschuh drehte sich langsam zu ihm um. »Ich habe nicht gefragt, Willi. Ich dachte, das hätte wohl erst mal Zeit. Du kannst ja das nächste Mal die Benachrichtigung der Eltern in solchen Fällen übernehmen.« 16
»Und das Mädchen?« »Ursula Walkmanns Eltern wohnen in Reinbek, tolles Haus. Vermutlich wollte Wawliczek sie gerade nach Hause fahren, sie wohnt da noch hin und wieder. Die Eltern gaben gerade 'ne Cocktail-Party oder so was ähnliches. Du kannst dir vorstellen, wie schön es war, da hineinzuplatzen. Aus den Eltern war überhaupt nichts herauszukriegen, aber den Wawliczek, den haben sie nicht gemocht, das wurde schon deutlich.« »Warum hat der bloß so durchgedreht, der Wawliczek meine ich?« fragte Grabbe. Volle fünf Minuten sagte niemand ein Wort. Dann erhob sich Kloess. »Na also, das Wochenende ist im Eimer.« »Ich habe sowieso Bereitschaftsdienst«, sagte Mertens. »Ich aber nicht! Ich wollte was mit den Kindern unternehmen, damit Kristina in Ruhe am Schreibtisch arbeiten kann.« »Am Schreibtisch?« Manuel Grabbe machte runde Augen und sah noch jünger und unschuldiger aus als gewöhnlich. Er war erst vor kurzer Zeit zu Kloess versetzt worden und kannte sich noch nicht in den besonderen Gepflogenheiten von dessen Ehe aus. Kloess' Frau Kristina war Dozentin an der Hamburger Universität, ein Umstand, der in Polizeikreisen als ebenso exotisch wie verdächtig angesehen wurde. »Ja, da hast du wohl recht, Rainer, das Wochenende ist hin«, sagte Schröder und fügte entschlossen hinzu: »Wir haben auch keine Veranlassung, dem Kollegen zehn Monate Bedenkzeit zu geben! Dann wollen wir die Arbeit mal verteilen!« 7 Am Vormittag erhielt Manuel Grabbe endlich Antwort auf seine Frage, warum Wawliczek in offensichtlicher Panik zu fliehen versucht hatte. Das Wochenende hatten alle damit verbracht, die zahlreichen Augenzeugen des Vorfalls zu verhören. Siebert war im Krankenhaus und der vorläufig vom Dienst suspendierte Eschke zu Hause besucht worden. Neue Gesichtspunkte hatten sich nicht ergeben, wenn man von der Tatsache absah, daß Polizeimeister Siebert vermutlich vorzeitig in den schmerzlich erworbenen Ruhestand würde gehen können, nicht ohne vorher noch zum Obermeister befördert zu werden. Der Obduzent steuerte die Erkenntnis bei, daß Wawliczek, abgesehen von dem Hirntrauma, nur geringfügige Verletzungen davongetragen hatte, die es ihm durchaus erlaubt hätten, den Unfall ohne Dauerschäden zu überleben, während das Mädchen mit mehrfachem Schädelbruch und umfangreichen Lungenverletzungen durch gebrochene Rippen keinerlei Chance gehabt hätte. Als Claus Bundschuh an diesem Morgen zum zigsten Male die Nummer von Dr. Skobel wählte, war er fast erschrocken, als nach einmaligem Läuten am anderen Ende der Hörer abgenommen wurde. »Dr. Skobel«, meldete sich eine resolute Männerstimme. Bundschuh überlegte gerade, ob es wohl Sitte sei, sich mit akademischem Titel am Telefon zu melden, als die Stimme ungeduldig fragte: »Hallo, bitte, wer ist denn da?« 17
»Kriminaloberkommissar Bundschuh«, meldete er sich etwas atemlos. Dr. Skobel wurde sofort laut und ärgerlich. »Ja, zum Donnerwetter! Kann die Polizei einen nicht mal am frühen Morgen in Ruhe lassen? Wir haben nichts mehr zu sagen, sprechen Sie mit meinem Anwalt!« »Wie bitte?« fragte Bundschuh entgeistert. »Wir haben jetzt schon dreimal eine Aussage gemacht, das muß doch wohl reichen. Es war ja schließlich kein Kapitalverbrechen«, schnauzte die akademische Stimme aufgebracht. Bundschuh hatte sich noch nicht wieder gefaßt. »Ja, Herr Skobel, sind Sie denn schon benachrichtigt worden?« »Für Sie immer noch Dr. Skobel! Ob ich benachrichtigt worden bin? Ja, Herrgott, die Sache läuft doch schon seit fast zwei Wochen!« Bundschuh hatte seine Verblüffung überwunden. »Dr. Skobel, hier handelt es sich wohl um ein Mißverständnis. Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Ihr Fahrzeug Freitag nacht in einen schweren Unfall verwickelt war. Leider konnten wir Sie nicht früher erreichen. Wir hätten nämlich noch einige Fragen.« Einen Augenblick war es am anderen Ende der Leitung still. Der Schreck, der Schock über den Verlust, dachte Bundschuh schadenfroh. Dann polterte Dr. Skobel los. »Ja, sind Sie denn verrückt geworden? Mein Wagen steht sicher und unbeschädigt in der Garage. Ich bin doch gerade erst von Düsseldorf damit gefahren. Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, junger Mann?« Junger Mann ist nett, dachte Bundschuh. Laut sagte er: »Sind Sie, Herr Dr. Skobel, der Halter des Fahrzeugs mit dem. amtlichen Kennzeichen HH-SM 1047?« »Nein!« schnappte Dr. Skobel, »das bin ich nicht, das war ich, betone war.« »Kennen Sie denn den neuen Besitzer Ihres Wagens?« »Nein! Den kenne ich nicht! Den kann ich auch nicht kennen, weil es ihn nicht gibt! Lesen Sie denn Ihre eigenen Akten nicht? Der Wagen ist Schrott, verstehen Sie, hin! Und das schon seit vierzehn Tagen.« Bundschuh begriff augenblicklich und sagte mit ungewöhnlicher Schärfe: »Ich verstehe sehr gut, Dr. Skobel, daß dies alles sehr lästig für Sie ist. Sie werden jedoch nicht umhin kommen, sich mit mir zu unterhalten. Wo und wann kann ich Sie aufsuchen?« »Kommen Sie um 10.00 Uhr zu mir in die Praxis«, antwortete Dr. Skobel verdrossen, und dann gab er die Anschrift durch. Bundschuh blieb einen Augenblick mit dem Hörer in der Hand stehen und grinste. Dann wählte er erneut und sagte: »Gib mir so schnell wie möglich nach oben, ob wir was über Skobel, Dr. Manfred, haben.«
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8 Die Praxisräume von Dr. Manfred Skobel, Zahnarzt und Kieferorthopäde, lagen in einem der großen, erst kürzlich stilvoll renovierten Kaufmannshäuser am Neuen Wall, einer der feinsten Straßen der Hamburger City. Bundschuh musterte die Hinweistafel in der ganz in weißem Marmor gehaltenen Eingangshalle, stellte fest, daß hier vorzugsweise Rechtsanwälte und Ärzte residierten, und verzichtete auf den Fahrstuhl, da die Zahnarztpraxis im ersten Stock lag. Gegenüber war der Schaukasten eines Haarstudios angebracht mit eindrucksvollen Fotos von Toupetbesitzern: »vorher - nachher«. Eine hochgewachsene Frau unbestimmbaren Alters geleitete ihn vorbei an einem kleinen Wartezimmer, in dem genau die Sessel standen, die Bundschuh gern angeschafft hätte, wenn er in der Lage gewesen wäre, pro Stück den Gegenwert eines gebrauchten Mittelklassewagens anzulegen, führte ihn in eine Art Herrenzimmer und nötigte ihn, Platz zu nehmen. Bundschuh sah sich in dem Raum um. Die einzige Referenz an die zahnmedizinische Tätigkeit des Dr. Skobel bestand in einem etwa 20 cm hohen Backenzahnmodell aus einem silbrigen Metall, welches als Ständer für einen Kugelschreiber der kostspieligen Sorte diente und in der gediegenen Atmosphäre fast unanständig wirkte. Dr. Skobel war von athletischer Statur, und Bundschuh überlegte, daß sicherlich Kraft dahintersäße, wenn dieser Mann seinen Patienten die Zähne zog. Aber vielleicht zog man in seiner Stellung nicht mehr selber, sondern ließ ziehen. Dr. Skobel nickte kurz, bat, doch bitte wieder Platz zu nehmen, und ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. »Wie ich Ihnen schon am Telefon mitteilte«, begann Bundschuh etwas eingeschüchtert, »so gibt es da offenbar einige Probleme mit dem Unfallwagen, dessen Eigner Sie nach unseren Unterlagen zu sein scheinen.« Mein Gott, was für ein Satz, dachte er. Dr. Skobel schien sich nicht an Bundschuhs Diktion zu stören. »Um es kurz zu machen, lieber Herr Kommissar, ich habe einen Wagen mit dem bewußten Kennzeichen besessen, 280 SL, silbergrau. Am 16. Oktober wollte mein Sohn, übrigens mit meinem Einverständnis, mit dem Wagen nach Bremen fahren. Er ist nicht sehr weitgekommen. Kurz hinter den Elbbrücken wurde er aus der Kurve getragen, der Wagen überschlug sich. Selbstverständlich ist er zu schnell gefahren, daran besteht kein Zweifel, das hat er ja auch zugegeben. Meinem Sohn ist, Gott sei Dank, bis auf einige Prellungen nichts passiert, andere kamen auch nicht zu Schaden. Die Reparatur des Wagens hätte sich nicht mehr gelohnt. Ich habe das Auto durch meine Werkstatt abholen und verschrotten lassen.« »Der Unfall Ihres Sohnes ist aktenkundig«, sagte Bundschuh. Oder hätte er lieber sagen sollen; >Ihres Herrn Sohnes »Desgleichen die Tatsache, daß er Alkohol getrunken hatte.«
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Skobel sah auf die Uhr. »Dann wäre ich Ihnen wirklich verbunden, wenn Sie mir eine Erklärung für das neuerliche Interesse der Polizei an dem Unfall geben könnten«, sagte er kühl. Bundschuh seufzte. »Ein Wagen mit Ihrem Kennzeichen, gleiches Modell, allerdings in anderer Farbe, verursachte Freitag nacht einen schweren Unfall auf der B5. Es gab zwei Tote, einen Verletzten.« »Kümmert sich die Kriminalpolizei jetzt um jeden Unfall? Nun ja, das ist Ihre Sache. Jedenfalls, wie ich schon sagte, mein Wagen, mein damaliger Wagen meine ich, war absolut fahruntüchtig nach dem Unfall meines Sohnes, ganz abgesehen von dem Blechschaden«, sagte Dr. Skobel bestimmt. »Das will ich gern glauben«, antwortete Bundschuh. »Das stimmt völlig mit unseren Unterlagen überein. Tatsache ist jedoch, daß das Unfallfahrzeug auf Sie zugelassen ist und keine Löschung dieser Daten stattgefunden hat.« »Das scheint mir ausschließlich Ihr Problem zu sein.« »Gewiß«, gab Bundschuh zu, »darum bin ich hier. Geben Sie mir bitte den Namen Ihrer Werkstatt, die für Sie den Wagen von der Unfallstelle abgeholt hat.« Dr. Skobel langte nach dem Kugelschreiber im Zahn, zog aus einer Onyxdose einen Notizzettel, schrieb schnell etwas darauf und reichte Bundschuh das Blatt. »Damit dürfte sich die Angelegenheit für mich wohl erledigt haben.« Er erhob sich. Bundschuh blieb sitzen. »Haben Sie nachgeprüft, ob Ihr Wagen ordnungsgemäß abgemeldet wurde?« fragte er ruhig. Dr. Skobel sah sich gezwungen, wieder Platz zu nehmen. »Ich pflege mich mit diesen Dingen nicht aufzuhalten. Dafür habe ich schließlich die Werkstatt. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich habe noch viel aufzuarbeiten«, er erhob sich erneut. Bundschuh steckte den Zettel ein und stand ebenfalls auf. »Ich danke Ihnen, Dr. Skobel. Wenn sich noch weitere Fragen ergeben sollten, und ich bin sicher, daß das geschehen wird, so finde ich Sie wohl in Ihrer Praxis. Haben Sie übrigens heute gar keine Patienten?« »Die Praxis ist heute geschlossen«, antwortete Dr. Skobel steif. »Ich war übers Wochenende zu einem Kongreß in Düsseldorf, von dem ich erst heute morgen zurückgekehrt bin. Viele Informationen müssen überdacht, umfangreiches Material gesichtet werden.« Dr. Skobel wurde plötzlich weitschweifig. »Das kenne ich«, sagte Bundschuh fröhlich. »Ich habe auch noch viel zu sichten.« 9 Als Bundschuh sich auf den Weg zu Dr. Skobel gemacht hatte, kochte Grabbe erst mal Kaffee, bedauerte, daß er seine, Kollegen nicht zum Ankauf einer EspressoMaschine hatte überreden können, und machte sich daran, diverse Tageszeitungen mit Akribie zu studieren. Seit seine Kollegen vom Verfassungsschutz die taz quasi zur Pflichtlektüre erklärt hatten, brauchte er kein schlechtes Gewissen mehr bei 20
seiner Lieblingsbeschäftigung zu haben. Zu Hause konnte er dieser Leidenschaft nicht frönen, da Kleinkindergebrüll, die Zubereitung und Verabreichung von Milchfläschchen, Wickeln und Nuckelsuchen ihn ablenkten. Um in Mertens' verfassungstreuen Augen nicht allzu radikal zu erscheinen, kaufte er immer noch zwei Boulevardzeitungen des entgegengesetzten politischen Spektrums mit, die dann Mertens las. Der empfand dabei doppelte Freude; zum einen sparte er das Geld, zum anderen hoffte er, Grabbe käme doch noch auf den Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung zurück. Kloess kannte das Spiel, steckte sich aber nicht dazwischen. Er war andere Formen der politischen Auseinandersetzung aus den Erzählungen seiner Frau gewöhnt. Die taz brachte in ihrem Hamburg-Teil keinen Bericht über den Vorfall auf der B5. Grabbe atmete auf, befürchtete aber zugleich den Artikel in der morgigen Ausgabe, nachdem der Polizeipressesprecher Gelegenheit gehabt haben würde, den Vorfall in seiner geschickten Art zu erläutern. Bevor Mertens kam, schaffte Grabbe noch die Artikel über die Stationierung der Pershing II, die geplanten Aktionen der Friedensbewegung und über CIA-Aktivitäten in Nicaragua. Den Kulturteil über neue deutsche Musik ließ er aus. Auf dem Gebiet war er eher konservativ. Mertens betrat strahlend den Raum. »Weißt du, was ich rausgefunden habe?« »Du?« fragte Grabbe anzüglich. »Na ja, die Kollegen von der Technik. Der Wagen muß geklaut worden sein!« »Wieso?« »Das ist absolut sicher! Die Fahrgestellnummer ist verändert worden. Das steht eindeutig fest!« erklärte Mertens triumphierend. »Und die Autonummer ist eine Doublette«, ergänzte Grabbe und wies auf etliche Schriftstücke auf Bundschuhs Schreibtisch. »Das Fahrzeug dieses Dr. Skobel ist nämlich vor etwa 14 Tagen zu Schrott gefahren worden, und jetzt taucht dasselbe Kennzeichen bei einem fast identischen Wagen wieder auf. Ein beliebtes Spiel aus der Szene zu Zeiten der RAF«, fügte er fachmännisch hinzu. »Terroristische Gewalttäter«, verbesserte Mertens, und mit klammheimlicher Freude: »Dann ist Eschke aus dem Schneider!« »Nun mal langsam, Willi! Nur weil ein Auto geklaut worden ist und ein altes Kennzeichen benutzt wurde, kannst du nicht gleich so was behaupten. Außerdem soll es die RAF gar nicht mehr geben, glaub' ich!« »Beide Insassen waren Studenten«, beharrte Mertens, »beide haben sich einer ordnungsgemäßen Verkehrskontrolle durch Flucht entzogen.« »Das soll ja auch schon andere Ursachen gehabt haben. Wir sollten zuerst rauskriegen, wessen Wagen denn nun geklaut worden ist. Hier sind deine Zeitungen.« Mertens pflanzte sein gewichtiges Hinterteil auf seinen Schreibtischstuhl und betrachtete begeistert die Schlagzeilen in beiden Zeitungen. Die Redaktionen hatten wie immer ihre lückenhaften Informationen -man schrieb von einer 21
Schießerei, zu der es im Zusammenhang mit einer Verkehrskontrolle gekommen war -mit reißerischer Aufmachung getarnt, wenn man nicht davon ausgehen wollte, daß dieses Vorgehen eine besonders geschickte Art der Manipulation und bewußten Fehlinformation war. 10 Den typischen Geruch einer Zahnarztpraxis noch in der Nase, ein leichtes Ziehen im Bereich der linken, unteren Backenzähne verspürend, verließ Bundschuh Dr. Skobel. Er schlenderte durch die Einkaufspassage des Hanse-Viertels, überlegte kurz, ob er einen Chablis am Weinstand trinken sollte, entschloß sich dann aber doch weiterzugehen, als er das Publikum dort näher betrachtete, und fühlte sich heute zum zweiten Male deplaziert. Das kann ja heiter werden, dachte er, ich sollte gleich zu Skobels Werkstatt fahren, dann habe ich bis zum Mittagessen die Laufereien erledigt. Draußen nieselte es immer noch. Es würde wahrscheinlich den ganzen Tag über nicht richtig hell werden. Die Heizung im Auto funktionierte nicht, und der eine Scheibenwischer hinterließ Schlieren auf der Windschutzscheibe. Die Fahrt nach Wandsbek war ermüdend; ewig standen die Ampeln auf rot, andere Fahrzeuge wechselten wie wild die Spur, schnitten ihn. Bundschuh dachte an seinen Urlaub. Das nächste Jahr würde er nach Frankreich fahren, nach Arcachon. Austern essen, leben wie Gott in Frankreich, sich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen, surfen, auch wenn Kloess ihn wieder als Mopedfahrer des Meeres titulieren würde. Er hatte sein Wohnmobil selbst ausgebaut; besonders stolz war er auf seine transportable Dusche, die es ihm ermöglichte, den vermeintlich strengen Geruch von Campern abzulegen. ZIEGLER-SPORTSCAR, ein weißes Gebäude mit Marmorfassade und silberner Schrift, die Werkstatt hinter den Verkaufsräumen am Ende des Hofes gelegen. Im Schaufenster standen vier exklusive Fahrzeuge, die Bundschuh wohl gern besessen hätte, aber die Besoldungsstelle hatte kein Verständnis für seine Wünsche. Man überwies ihm mit konstanter Bosheit ein Gehalt, das gerade für die Auspuffanlage gereicht hätte. Er schüttelte resigniert den Kopf, tröstete sich damit, daß in seiner Altersgruppe hauptsächlich Zuhälter stolze Besitzer solcher Fahrzeuge waren, und betrat den Laden. Der kurze, abschätzende Blick der jungen Frau am Empfang machte ihm klar, daß man ihm keinen Kaffee als potentiellem Kunden anbieten würde. Ihm fehlten wohl die bestimmten Statussymbole einer gewissen Gesellschaftsschicht. Er trug die falsche Uhr, das falsche Hemd, und zu einem goldenen Halskettchen konnte er sich auch nicht durchringen. »Ich möchte bitte Herrn Ziegler sprechen.«
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»Ich werde versuchen, ob Herr Wohlgemuth für Sie Zeit hat. Wen darf ich bitte melden und in welcher Angelegenheit?« Höflich war sie ja! »Mein Name ist Bundschuh, ich hätte doch gern Herrn Ziegler gesprochen.« »Es tut mir leid, Herr Ziegler ist außer Haus. Aber ich glaube, unser Herr Wohlgemuth kann Ihnen bestimmt weiterhelfen. Bitte nehmen Sie einen Augenblick Platz.« Ein Lächeln auf den Lippen, die Hand zum Gruß ausgestreckt, jovial, kam Wohlgemuth nach ein paar Minuten auf ihn zu. Die einstudierte Verkaufsgestik saß perfekt. Bundschuh machte dem Spiel ein Ende. »Bundschuh, Kriminalpolizei, Mordkommission.« Er zeigte seine Ausweispapiere, sein Statussymbol. »Kommen Sie bitte in mein Büro.« Wohlgemuth schaltete schnell. »Vor ca. 14 Tagen ist von Ihrem Haus der 280 SL Ihres Kunden Dr. Skobel verschrottet worden. Totalschaden. Können Sie mir Näheres über diesen Vorgang berichten?« »Einen Augenblick bitte. Jutta, ich hätte gern die Unterlagen Dr. Skobel.« Wohlgemuth blätterte im Hängeordner, blickte auf und sagte dann: »Ja, das stimmt. Wir haben den Wagen verschrotten lassen. Ist etwas nicht in Ordnung?« »Das wissen wir noch nicht genau«, erwiderte Bundschuh ausweichend. »Wir stecken noch mitten in den Ermittlungen und müssen verschiedene Vorfälle klären, und dieser ist einer von vielen. Ich hätte gern gewußt, wer diese Verschrottung vorgenommen hat.« »Einen Moment bitte.« Wohlgemuth bemühte abermals das Mädchen namens Jutta. »Das war unser Herr Jorde.« »Könnte ich Herrn Jorde sprechen?« »Das tut mir leid, Herr Jorde ist zur Zeit im Urlaub.« »Wo lassen Sie die Wagen verschrotten?« »Das gehört nicht zu meinem Aufgabengebiet, ich bin für den Verkauf zuständig. Aber ich könnte mir denken, daß wir nicht nur einen Abnehmer haben, sondern mehrere, je nach Autotyp - schließlich führen wir von Mercedes über Porsche bis Jaguar alle führenden europäischen Sportwagen sowie diverse nicht-europäische.« Hierbei meinte Bundschuh ein leichtes Stirnrunzeln bei Wohlgemuth festzustellen, als ob er sich schämte, außereuropäische Fahrzeuge verkaufen zu müssen. Es konnte aber auch Ausdruck einer gewissen Art von Langeweile sein, die Wohlgemuth nicht länger unterdrücken konnte. »Sie werden mir doch gewiß Ihre Schrotthändler nennen können.« Beinahe hätte Bundschuh auch Abnehmer gesagt. »Fräulein Bachmeyer wird Ihnen weiterhelfen. Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich an. Stets zu Ihren Diensten.«
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11 Kloess schwitzte, als er die Treppenstufen in dem schäbigen Mietshaus emporstieg, in dem Wawliczeks Eltern wohnten. Und das lag weder an seinem dicken, pelzgefütterten Parka noch an dem warmen Mief im Treppenhaus. Er hatte Angst vor dem Gespräch. Kloess gönnte sich einen Aufschub. Die Flurfenster führten auf eine Art Innenhof, der ausgestattet war mit einem spärlichen Rasen, der unvermeidlichen Teppichklopfstange, einigen Wäschepfählen und einer betonumfriedeten Sandkiste, die sicher noch nie Kinder zum Burgenbauen oder Kuchenbacken inspiriert hatte. Wawliczeks wohnten im 3. Stock. Kloess läutete, und die Tür wurde unmittelbar darauf geöffnet. Herr Wawliczek war klein und grau. »Treten Sie bitte ein, Herr Kommissar«, sagte er leise. Kloess wurde in ein Wohnzimmer geleitet; eine typische gute Stube mit überdimensionierter und - soweit er es beurteilen konnte - nahezu leerer Anbauwand in Eiche furniert, Samtpolstergarnitur, Goldprägetapeten, Wolkenstores und farbenfrohem Teppich. Über dem Sofa hing ein Ölstück, das einen Sonnenuntergang in einem südlichen Hafen darstellte. Auf dem Fernsehapparat stand eine Kristallvase mit Plastikforsythien, daneben ein Foto des Sohnes, bereits mit Trauerflor versehen. Kloess nahm unter dem Ölgemälde Platz. »Meine Frau ist noch in der Küche, sie kommt gleich«, murmelte Herr Wawliczek und blieb unschlüssig mitten im Raum stehen. Eine große, dicke Frau mit verweinten Augen, mit einer geblümten Nylonkittelschürze bekleidet, ein großes Tablett mit Kaffeegeschirr balancierend, betrat den Raum. Kloess erhob sich. »Das ist Frau Puscher«, beeilte sich Herr Wawliczek zu erklären, »eine Nachbarin, sie hilft meiner Frau.« Frau Puscher setzte das Tablett ab und kramte aus der Schürze ein Taschentuch hervor, in das sie einige Male heftig hineinschluchzte, bevor sie Kloess die Hand gab. »Es ist so furchtbar«, schniefte sie, »wir alle im Haus hier kennen Karlie ja schon, als er noch ganz klein war. So ein aufgeweckter Junge, so lieb und höflich.« Kloess murmelte Bedauerndes, Mitfühlendes, und Frau Puscher zögerte zunächst, entfernte sich dann aber schluchzend in Richtung Küche. Frau Wawliczek weinte nicht. Sie war klein, zierlich und verblüffend hübsch und sah ihrem Sohn sehr ähnlich mit ihren vollen, schwarzen Haaren. Sie setzte sich steif, schenkte Kaffee ein, schnitt Kuchen auf. »Setz dich«, sagte sie zu ihrem Mann, und dann lehnte sie sich zurück und sah Kloess abwartend an. Kloess seufzte, räusperte sich. »Frau Wawliczek, Herr Wawliczek. Es tut mir leid, was mit Ihrem Sohn passiert ist, glauben Sie mir. Und es ist mir sehr unangenehm, Sie jetzt belästigen zu
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müssen, aber ich bin nun einmal mit der Klärung des Vorfalls betraut und muß noch einige dringende Fragen an Sie richten.« Frau Wawliczek nickte kurz. »Was geschieht mit dem Polizisten, der geschossen hat?« »Er Wurde zunächst einmal vom Dienst suspendiert, bis genau geklärt ist, wie es zu dem bedauerlichen Unfall kam.« »Er hat meinen Sohn erschossen, was gibt es da noch zu klären?« »Frau Wawliczek, wir müssen die Begleitumstände untersuchen, die zu den Schüssen geführt haben. Glauben Sie mir bitte, wenn sich erweisen sollte, daß der Beamte fahrlässig gehandelt hat, so wird er sich dafür zu verantworten haben.« Die Frau stieß einen kleinen, abfällig klingenden Laut aus. »Haben Sie Kinder, Herr Kommissar?« »Ja.« »Wie würden Sie sich fühlen, wenn eines davon niedergeschossen würde, niedergeschossen, weil es angeblich den Anweisungen der Polizei nicht gefolgt ist?« Kloess schwieg. Seine beiden Töchter waren 14 und drei Jahre alt, und wenn er je darüber nachgedacht hatte, was es für ihn bedeuten würde, sie zu verlieren, so war ihm bestimmt niemals ein Tod, wie ihn Wawliczek und seine Freundin ereilt hatte, im Bereich des Möglichen erschienen, Er zuckte hilflos mit den Achseln. Die Frau sah ihn mit starrem Blick an, und dann begann sie plötzlich zu weinen. Der Mann erhob sich und stellte sich neben seine Frau, streichelte ihr unsicher die Schulter. Kloess wartete und schwitzte. Nach einer Weile wurde das Schluchzen der Frau schwächer und versiegte. Sie richtete sich auf. »Was haben Sie für Fragen, Herr Kommissar?« »Ihr Sohn ist einen Wagen gefahren, der ihm nicht gehörte und für den er keine Papiere bei sich hatte.« »Er arbeitete manchmal für eine Firma, die Autos verleiht. Er mußte dann die Wagen wieder abholen, wenn die Kunden sie nicht zurückbringen konnten. Manchmal fuhr er auch als Chauffeur, wenn die Herren, es waren wohl immer Herren, Geschäftsleute, ja, also, wenn die nicht selber fahren wollten oder konnten.« »Wissen Sie, wie diese Firma heißt?« »Nein, Carl erzählte ja nicht viel. Und es hat mich auch nicht so interessiert, wenn er nur sein Auskommen hatte. Er machte das, seit er aus Berlin wieder zurück ist, so ungefähr seit zwei Jahren. Er verdiente sich Geld dazu. Er bekam zwar ein Stipendium, Bafög, aber das reichte natürlich nie. Junge Leute wollen ja auch was vom Leben haben, und wir können, konnten ihm nur wenig geben. Mein Mann ist Frührentner.« Herr Wawliczek blickte schuldbewußt, als trüge er die Verantwortung für das Unglück seines Sohnes.
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»Die Bandscheiben«, erklärte er leise. »Man mußte halt immer schwer tragen und dauernd krumm stehen.« »Mein Mann war Fliesenleger. Er hat vor vier Jahren aufgehört zu arbeiten«, sagte die Frau bestimmt. »Hat Ihr Sohn denn nie erzählt, wo die Firma ist, bei der er arbeitet?« Die Frau überlegte. »Nein«, sagte sie, »das hat er nicht gesagt. Aber in Hamburg war die Firma, da bin ich mir ziemlich sicher. Manchmal, wenn er uns kurz besucht hat, dann sagte er, ich muß jetzt los, ich muß gleich den Wagen abgeben. Er ist nämlich manchmal mit den Autos zu uns gekommen, so zwischendurch. Das waren immer ganz große Modelle, so teure jedenfalls.« Kloess zog ein selten benutztes Notizbuch hervor und machte sich ein paar Aufzeichnungen. »Die Frau Walkmann, Ursula, das war wohl seine Freundin.« Frau Wawliczek machte ein verkniffenes Gesicht. »Das wissen wir nicht. Wir kennen das Mädchen nicht. Carl sah gut aus, viele Frauen waren hinter ihm her. Er wollte sich noch nicht binden, hat er gesagt. In Berlin, da hatte er wohl was Festeres, aber das ging dann leider auseinander.« »Wann war Ihr Sohn in Berlin?« »Das ist jetzt fast genau zwei Jahre her, ja, im Oktober ist er damals nach Hamburg zurückgezogen. Er war ja nur ein knappes Jahr da. Er studiert, studierte Soziologie und sagte damals, Berlin, das wäre wichtig, ohne das hätte man gar nicht richtig studiert. Wir haben das nicht verstanden, und es war uns damals gar nicht recht. Er hat dann ja auch Zeit verloren, für das Studium, meine ich. Aber gefallen hat es ihm wohl gut da.« »Warum ist er zurückgekommen?« Sie sah ihren Mann unsicher an. Der blickte zur Seite. »Also, so genau hat er das nie gesagt, aber ich glaube, wegen des Mädchens, das in Berlin meine ich. Elvira hieß sie, das hat er uns mal geschrieben. Elvira Meineke. Uns hat sie auch mal 'ne Karte geschickt, die hab ich noch. Die Freundschaft ist dann wohl auseinandergegangen, und da wollte er nicht länger in Berlin bleiben. Wir haben auch nicht so nachgefragt. Wir waren ja froh, daß er wieder hier war. Er bekam dann auch bald die Arbeit bei der Autofirma, und es ging ihm gut.« »Kennen Sie eigentlich den Bekanntenkreis Ihres Sohnes?« Beide sahen ihn verständnislos an. »Ich meine, hat er mal Freunde von der Universität mitgebracht oder seine Mitbewohner? Er hatte doch eine gemeinsame Wohnung mit anderen jungen Leuten.« Frau Wawliczek machte ein abweisendes Gesicht. »Nein! Mitgebracht hat er nie jemanden. Früher, als Junge, natürlich, als er noch bei uns wohnte. Aber später, also, so oft konnte er uns nicht besuchen, er war zu beschäftigt. Und seine Wohnung, ich wollte ja mal hin, saubermachen, aufräumen und so. Aber er hat gesagt, Mammi, laß das man, da gefällt's dir sowieso nicht. Ich komm' schon zurecht.« 26
»Die wohnen in so 'ner Kommune«, ließ sich Herr Wawliczek schüchtern vernehmen. Sie drehte sich heftig zu ihrem Mann um. »Ach was! Eine Kommune ist ganz was anderes, das hat Carl mir erklärt. Die haben sich bloß die Miete geteilt. Bestimmt war es auch nicht so schön und ordentlich, wie er es von zu Haus gewohnt war, und das war ihm sicherlich peinlich.« Sie wandte sich wieder Kloess zu. »Ich hab' ihn dann auch nicht weiter bedrängt. Er wäre ja doch bald mit dem Studium fertig gewesen, und dann hätte er sich endlich eine schöne Wohnung leisten können.« »Haben Sie noch die Adresse, wo Ihr Sohn in Berlin gewohnt hat?« »Ja, natürlich, ich habe doch immer geschrieben.« Die Frau erhob sich und verließ das Zimmer. Kloess sah Herrn Wawliczek an, der zusammengesunken im Sessel saß. »Wie oft hat Ihr Sohn Sie im letzten Jahr besucht, Herr Wawliczek?« Der Vater blieb unbewegt sitzen. »Dreimal!« antwortete er, ohne aufzublicken. Die Frau kam mit einem Zettel in der Hand zurück, sah ihren Mann prüfend an und reichte dann Kloess den Zettel. Der erhob sich, steckte Papier und Notizbuch ein. »Es tut mir leid, aber ich muß Ihnen jetzt etwas mitteilen, das Sie möglicherweise sehr beunruhigen wird«, sagte er langsam. »Ihr Sohn fuhr in einem Wagen, der höchstwahrscheinlich gestohlen worden war. Das muß nicht bedeuten, daß Ihr Sohn das Auto entwendet hat, aber er hatte keine Fahrzeugpapiere bei sich, das Kennzeichen war, nun ja, gefälscht, und Ihr Sohn geriet in Panik, als er von der Verkehrskontrolle angehalten wurde, so sehr, daß er einen Polizisten überfuhr und schwerverletzte. Bitte überlegen Sie einmal in Ruhe, ob Ihnen noch etwas einfällt, was uns bei der Klärung des Vorfalls helfen könnte. Ist Ihnen irgend etwas Ungewöhnliches an seinem Verhalten in letzter Zeit aufgefallen? Vielleicht hat Ihr Sohn ja doch Namen oder Adresse der Autofirma erwähnt, bei der er arbeitete. Bitte rufen Sie mich an!« »Mir ist übel«, sagte Kloess und schob seine blaßbraun gedünstete Scheibe Rinderleber angewidert an den Tellerrand. Bundschuh schnitt gerade ein etwa vier mal vier cm großes Stück von seinem Fleisch ab, bugsierte es in den Mund und kaute mit gutem Appetit. »Stell dich doch nicht so an«, sagte er mit vollem Mund, »du bist hier schließlich nicht im Landhaus Scherrer!« Kloess betrachtete ihn mißtrauisch. »Warst du etwa schon mal bei Scherrer?« »Nö, aber du wahrscheinlich.« »Sicher. Aber es gibt noch bessere Lokale.« Grabbe schmeckte das Kantinenessen auch nicht, aber er schaufelte schweigend Mischgemüse, Kartoffeln, Soße und Fleisch in sich hinein, da er sich infolge seiner erst kurzen Zugehörigkeit zu Kloess' Abteilung noch etwas gehemmt fühlte. »Was haben denn Wawliczeks Eltern gesagt?« fragte er eifrig.
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Kloess liebte es gar nicht, beim Essen über die Arbeit zu sprechen. Er spießte eine einzelne Erbse mit der Ga bel auf. »Im Prinzip immer dasselbe. Sie wissen nicht, warum er in dem Wagen gefahren ist, warum er abhauen wollte. Du kannst ja heute nachmittag mitkommen. Ich gehe zu seiner Wohngemeinschaft. Übrigens, Claus«, er griff das Leberthema erneut auf, »wußtest du, daß praktisch alle Rinder mit Leberegeln verseucht sind? Hat mir Kristina mal erzählt. Die sitzen da in den Gallengängen, so groß wie mein Daumennagel etwa. Kristina hat mal einen präpariert.« Bundschuh ließ die Gabel mit dem letzten Bissen wieder sinken. »Mach keinen Scheiß mit mir«, sagte er ungläubig, aber merklich irritiert. »Doch, doch, das ist schon so. Aber Kristina meint, die Leber äße man ja nicht roh, und gebratener Leberegel schadet dem Menschen nicht!« »Ich hol' uns schon mal 'nen Kaffee.« Grabbe stand schnell auf und räumte seinen halbleer gegessenen Teller ab. Kloess sah ihm grinsend nach. »Der Junge ist zu weich für die Mordkommission, würde Mertens sagen.« Bundschuh sah gekränkt aus. »Ich frage Kristina nächstes Mal, ob das wahr ist, da kannst du Gift drauf nehmen!« Kloess lachte. »Tu das, das ist ihr Lieblingsthema. Aber ich weiß gar nicht, warum ihr euch über die harmlosen, kleinen Egel so aufregt. Viel schlimmer ist doch, was da noch alles drin ist: Antibiotika, Hormone, sonstige Medikamente gegen zig verschiedene Krankheiten. Apropos Krankheiten. Wie war's denn bei Dr. Skobel?« Bundschuh berichtete von seiner Vormittagsarbeit. Kloess hörte stirnrunzelnd zu. »Mit anderen Worten, das Auto war geklaut, Skobel weiß angeblich von gar nichts, und der Typ aus der Werkstatt, der Jorde, liegt irgendwo am Strand. Wann ist er denn in Urlaub gefahren?« »Das hab' ich gar nicht gefragt«, sagte Bundschuh schuldbewußt. »Na, das kann man ja noch klären. Was macht eigentlich Mertens?« »Der versucht rauszukriegen, wo das Auto geklaut worden ist«, erklärte Grabbe und stellte den Kaffee auf den Tisch. 13 Das Treppenhaus war schäbig; Linoleumfußboden in einer nicht zu identifizierenden Farbe, der abblätternde Wandanstrich dagegen im zarten Grün einer öffentlichen Bedürfnisanstalt gehalten, teilweise ausgebessert mit einem dunkleren Farbton. Der Lichtschacht wurde in seiner Funktion durch eine Ansammlung kahler Glühbirnen unterstützt, die nur in kurzen Intervallen brannten. Das durchdringend laute, kurze Klicken der automatischen Lichtschalter am Ende einer Leuchtperiode ließ Kloess jedesmal zusammenzucken. Im Halbdunkeln mußte er dann versuchen, einen der rotbeleuchteten Knöpfe zu erreichen, ohne über die Mülltüten zu stolpern, welche sich auf wundersame Weise vermehrten, je höher er stieg. Grabbe folgte keuchend. 28
Im sechsten Stock hatten sie sich an den säuerlichen Müllgeruch gewöhnt und wären ebenfalls nicht auf die Idee gekommen, die Tüten beim Abstieg mitzunehmen. Neben den ursprünglichen Namensschildern Baumann und Wawliczek waren noch zahlreiche weitere, auf Pappe gemalte Namen an der Tür angebracht: Hauke, Burghardt, Brigitte, Rita und Gabi. Kloess war sich nicht genau im klaren, wie viele Mitglieder die Wohngemeinschaft aufwies. Zahlreiche Plaketten dokumentierten dagegen nahzu lückenlos den langen Marsch des Protestes: »Atomkraft? Nein danke!« -»Gorleben soll leben!« - »Volkszählungsboykott!« und schließlich, wie für sie geklebt, Seyfrieds Aufforderung an zwei Berliner Kontaktbereichsbeamte: »Ihr müßt draußenbleiben!« Eine Klingel gab es nicht, also klopfte Kloess mehrmals kräftig an die Tür. Nach einer Weile öffnete ein kleines dünnes Mädchen in lilafarbenen Latzhosen. Für Kloess gab es für ihr elendes Aussehen nur eine Erklärung: Müsli-Schonkost, Grabbe dagegen sah in ihr mehr den lebendigen Beweis für die Auswirkungen der Bafög-Kürzungen. Ihr langes, blondes Haar fiel strähnig auf eine Strickjacke, die für eine andere Körpergröße angefertigt worden war. In der Wohnung war es kalt. Hier erinnerte nichts an die gepflegte Atmosphäre, die Kloess von den Wohngemeinschaften der Kollegen Kristinas aus der Uni gewohnt war, die ihre liebevoll aufgearbeiteten Sperrmüllfundstücke zwischen exklusive Ledermöbel im Bauhaus-Design dekorierten. Wider Erwarten wurden sie von dem Mädchen zu einer Tasse Tee in die chaotische Küche gebeten. Kloess roch mißtrauisch an dem dampfenden Becher, doch es war zu seinem Erstaunen guter schwarzer Tee, nicht - wie befürchtet - Thymian oder Hagebutte. Das Mädchen schlürfte den Tee und sah Kloess über ihren Becherrand hinweg an. Um ihre Augen lagen tiefe Schatten. »Ihr kommt wegen Charlie?« fragte sie undeutlich. Kloess nickte, und Grabbe rutschte verlegen auf seinem Stuhl hin und her. »Ich möchte wissen, was passiert ist«, sagte das Mädchen leise. Kloess war einen Augenblick lang versucht, ihr die vorläufige, offizielle Polizeiversion aufzutischen, entschied sich dann aber schnell anders. Das Mädchen hörte ernst zu, ihr Blick wich nicht eine Sekunde lang von Kloess. »Armer Charlie«, murmelte sie, nachdem Kloess geendet hatte. Sie erhob sich und holte die Teekanne vom Herd, goß die Becher erneut voll, warf Kandis in ihren Tee und rührte ausgiebig um. In der Küche war es völlig still, man hörte nur das leise Knistern der sich langsam auflösenden Kandisbrocken. Kloess wartete. Das Mädchen strich mit einer fahrigen Bewegung die Haare aus der Stirn, die aber sofort wieder in ihre alte Position zurückfielen. Sie wiederholte die Bewegung einige Male ohne nennenswerten Erfolg. »Ich bin Gabi«, sagte sie, und zu Grabbe gewandt, der Notizblock und Kugelschreiber hervorkramte: »Gabi Sauerteig. Okay, was wollt ihr jetzt von mir?« 29
Die Tür wurde aufgestoßen, und zusammen mit einem Schwall kalter Luft kam ein junger Mann in die Küche. Er hatte kurzgeschnittene blonde Haare, Vollbart und war beladen mit zahlreichen Einkaufstüten, die er geräuschvoll auf das mit schmutzigem Geschirr vollgestellte Küchenbuffet ablud. Grabbe erhob sich wie zur Begrüßung, aber der junge Mann warf nur einen kurzen Blick auf das Mädchen, drehte der Runde am Tisch ostentativ den Rücken zu.. und begann, die Tüten auszupacken. Soweit Kloess es von seinem Stuhl aus beurteilen konnte, ernährten sich die Mitglieder der Wohngemeinschaft überwiegend von abgepackten Billigprodukten aus dem Supermarkt. »Das ist Hauke«, erklärte das Mädchen. »Hast du Klopapier mitgebracht?« Anstelle einer Antwort legte Hauke eine Großpackung Einfachklopapier vor das Mädchen hin, die ihre Arme darauf abstützte und Kloess seltsam entrückt ansah. »Charlie war irgendwie sehr lieb. Wir haben Stadtteilarbeit zusammen gemacht, er hatte ja schon viel Erfahrung darin und hat unheimlich viel eingebracht, in unsere theoretische Vorarbeit, meine ich. Ich kann gar nicht begreifen, was da mit ihm passiert ist, das ist unheimlich weit weg für mich. Er war so unheimlich kreativ, ich meine, er hatte irgendwie immer eine Idee, was wir machen könnten. Es war einfach irgendwie immer unheimlich schön mit ihm!« »Was haben Sie denn gemeinsam gemacht?« fragte Kloess und erntete dafür einen vorwurfsvollen Blick von Grabbe. »Wir haben unheimlich viel Flugblätter verteilt und auf dem Wochenmarkt hier um die Ecke 'nen Diskussionsstand gehabt und so. Charlie konnte irgendwie unheimlich gut mit den Leuten reden!« »Charlie war ein unheimlicher Spinner, und in letzter Zeit ist überhaupt nichts mehr gelaufen, da hab'n wir ihn nämlich kaum noch gesehen!« sagte der Mann namens Hauke plötzlich grob und drehte sich zu Kloess um. »Aber deswegen knallt man jemanden ja wohl nicht gleich ab!« »Nein«, sagte Kloess ruhig, »das tut man sicherlich nicht. Aber was meinen Sie damit, daß Sie ihn in letzter Zeit nicht mehr viel gesehen haben?« »Charlie hat sich ausgeklinkt zuletzt. Er war nicht mehr oft hier, nur noch um Sachen zu holen und so. Vielleicht brauchte er was anderes. Er war vielleicht irgendwie in 'ner Krise«, verteidigte ihn das Mädchen. Sie hatte jetzt Tränen in den Augen. »Das stimmt«, bestätigte Hauke. »Er hat nur noch manchmal hier geschlafen. Aber ich glaube nicht, daß man das als Krise bezeichnen kann. Dafür war er zu gut gelaunt, richtig großkotzig, aber das war er eigentlich immer, bloß auf 'ne andere Tour. Er hat immer überall mitgemacht, wenn er glaubte, das würde wirken, egal ob in der Uni oder bei eurer sogenannten Stadtteilarbeit. Fragen Sie Baumann, der kennt ihn schon länger. Ich wohn' hier erst seit 'nem Jahr, und du, Gabi, siehst sowieso in allem bloß Deprivationsfolgen!« »Was?« fragte Grabbe, der mit den Notizen nicht ganz mitkam. »Sie macht Psychologie«, sagte Hauke trocken, so als würde damit alles erklärt.
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»Du siehst ihn nicht ganz richtig«, rechtfertigte sich das Mädchen. »In Berlin ist er sogar mal verhaftet worden wegen seiner politischen Tätigkeit!« Hauke schnaubte verächtlich. »Politische Tätigkeit! Für dich ist es schon eine politische Tat, wenn einer dauernd morgens verpennt, weil er sich dem Zeitterror der Uni nicht fügen will! Und verhaftet ist er auch nicht worden, jedenfalls sagt Baumann, daß er bloß mal befragt worden ist, weil er angeblich einige Hausbesetzer kannte. Aber er war nie dabei, der doch nicht!« »Sie mochten Herrn Wawliczek nicht?« fragte Kloess sachlich. »Wenn er nicht immer stundenlang das Badezimmer blockiert hätte, um sich anzuhübschen, wäre er mir völlig egal gewesen. Aber Gott sei Dank habe ich ihn nicht viel zu sehen gekriegt!« »Hauke ist immer sehr rigide in seinem Urteil«, sagte das Mädchen mit sanftem Vorwurf. »Aber Charlie hat eben sehr viel in seine neue Beziehung investiert.« »Welche neue Beziehung?« fragten Kloess und Grabbe wie aus einem Munde. Das Mädchen machte ein verschlossenes Gesicht und bohrte mit dem Finger kleine Löcher in die Plastikumhüllung der Klorollen. Hauke legte ihr die Hand auf die Schulter. »Sie meint, er hatte 'ne neue Freundin!« »So 'n Pipi-Mädchen, die paßte überhaupt nicht zu Charlie. Ich hätte nie gedacht, daß er auf so eine voll abfährt!« Kloess und Grabbe blickten sich angesichts des plötzlich giftigen Tones des Mädchens vielsagend an. »Sie meinen, Herr Wawliczek hat sich in letzter Zeit in seinem Verhalten geändert, und vermuten, daß das an seiner neuen Freundin gelegen hat?« »Nee«, sagte Hauke brutal. »Er hat sich schon immer beschissen verhalten. Aber seit er das Mädchen hat, wurde das deutlicher. Das muß aber nicht an ihr gelegen haben. Aber wie gesagt, fragen Sie Baumann, der kennt ihn besser!« »Dieser Herr Baumann, können wir den sprechen?« »Da müssen Sie schon in die Uni gehen. Der promo viert und macht bis in die Nacht im Labor rum. Chemie«, erklärte Hauke, der jetzt offensichtlich das Interesse an dem Gespräch verlor, eine Milchpackung aufriß und direkt aus der Tüte trank. Kloess erhob sich. »Frau Sauerteig, wir würden gern das Zimmer von Herrn Wawliczek sehen.« »Ich geh' da nicht rein, das können Sie mir nicht zumuten«, sagte das Mädchen mit zitternder Stimme. Hauke verdrehte die Augen zur Decke. »Kommen Sie mit«, sagte er. Das Zimmer war spärlich möbliert. Außer einem Bett mit nicht sehr sauberer Bettwäsche, einem weißen Küchentisch, der offensichtlich als Arbeitsplatz gedient hatte, einem altmodischen Kleiderschrank und einem selbstgebastelten Bücherregal gab es keine weiteren Möbelstücke. Im Schrank hingen die üblichen Kleidungsstücke: Jeans, T-Shirts, Sweatshirts, Parka. Das Regal enthielt eine bescheidene Anzahl soziologis cher Fachbücher, zahlreiche Comic-Hefte sowie Packen hektografierter Schriftstücke, vermutlich Referate und Vorlesungsskripte. 31
Es gab keinen Teppich, keine Gardinen, nur eine gelbliche Jalousie. An der Innenseite der Zimmertür hing ein verschlissener Bademantel, rot-blau gestreift. Kloess und Grabbe entdeckten sofort, was nicht zur spartanischen Einrichtung des Zimmers paßte. Auf dem Fußboden vor dem Fenster stand eine komplette Revox Hi-Fi-Anlage nebst zahlreichen Kassetten und Langspielplatten. Über dem Bett waren mit Klebestreifen Vergrößerungen von Fotos angebracht, die sicher nicht mit einer Pocket-Kamera aufgenommen worden waren und Landschaftsansichten irgendwo aus dem Norden Europas zeigten. Kloess und Grabbe sahen sich an. »Fang mit dem Kleiderschrank an«, sagte Kloess, und dann begannen sie, das Zimmer systematisch zu durchsuchen. 14 Zu behaupten, daß er seinen Beruf liebte, wäre sicherlich eine Übertreibung gewesen. Das wurde schließlich auch nicht von ihm verlangt; wer tat das schon? Im großen und ganzen aber war Manuel Grabbe zufrieden, empfand seine Tätigkeit als relativ sinnvoll, den Dienst zumeist nicht zu anstrengend und recht abwechslungsreich und die Aufstiegschancen - wenn er den Worten Schröders Glauben schenken durfte - zumindest besser als in manch anderem Beruf. Gerade hatte er seine Freistellung vom Dienst für die Teilnahme an einem Lehrgang beantragt, wobei ihn neben der Verbesserung seiner Karriereaussichten vor allem die Vorstellung gereizt hatte, für einige Wochen dem nächtlichen Gebrüll seines zehn Monate alten Sohnes zu entkommen. Die Augenblicke, in denen er seinen Entschluß, zur Polizei zu gehen, verwünschte, waren also recht selten. Jetzt war so ein Moment! Kloess hatte ihm das Hamburger Branchenfernsprechbuch auf den Schreibtisch gelegt, bevor er sich in seinem Büro verbarrikadierte und nicht gestört werden wollte, was er deutlich hörbar durch Rockmusik aus seinem Recorder dokumentierte. Die Aufgabe schien weder besonders schwierig noch zeitraubend zu sein. Grabbe hatte frohgemut die Melodie des Chapman-Songs, der durch Kloess' geschlossene Tür dröhnte, mitgesummt und begonnen, die im Telefonbuch aufgeführten Autovermietungsunternehmen anzurufen. Die Liste war durchaus überschaubar. Neben den großen, international bekannten Autoverleihern gab es zwar etliche kleinere Unternehmen, aber Grabbe war sicher gewesen, in kurzer Zeit Wawliczeks Arbeitgeber ausfindig gemacht zu haben. letzt schwitzte er. Erst fünf Firmennamen hatte er abhaken können, war aber schon rund zwanzig Male verbunden, umgestellt, abgewürgt, wieder weiterverbunden oder schlicht vergessen worden. Bei der sechsten Firma hatte sich ein Anrufbeantworter gemeldet, der Ihn nach dreimaligem Pfeifton kategorisch aufgefordert hatte: »Sprechen Sie jetzt!«
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»Ob wir Fahrer angestellt haben?« gluckste ein Mädchen ins Telefon und wollte sich schier ausschütten vor lachen. »Nee, ziehen müssen unsere Kunden schon selber!« »Wie bitte?« fragte Grabbe und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Na, wir brauchen doch keine Fahrer, Herr Wachtmeister! INTERCARRENT, das heißt Wohnwagenvermietung oder so ähnlich, von Caravan, verstehen Sie? Ist Englisch! Fahrer!« und sie brach erneut in hemmungsloses Gekicher aus. Alberne Gans, dachte Grabbe, sagte: »Oh, dann verzeihen Sie mir bitte!« und legte den Hörer auf. »Kommst du voran?« Kloess steckte seinen Kopf durch die Tür. »Überhaupt nicht!« gab Grabbe mißmutig zu. »Das Ist noch 'ne ganze Latte; allein mit S, warte mal, sieben Stück, von SATURN AUTOVERLEIH bis SWV SPRORTWAGENVERMIETUNG. Die ich bis jetzt angerufen habe, kennen keinen Wawliczek!« »Ich glaub' sowieso nicht, daß Wawliczek regulär bei so 'ner Firma gearbeitet hat«, gab Kloess ermutigend zurück. »Aber mach weiter, schaden kann's ja nicht. Ich bekomm' hoffentlich gleich 'nen Anruf von Wuttke aus Berlin. Der wollte für mich mal nachsehen, was sie über den Wawliczek haben.« »Schön zu wissen, wie wichtig die Arbeit ist, die man macht«, murmelte Grabbe, wandte sich wieder dem Telefon zu und wählte erneut. »Jaa, der Wawliczek, den kenn' wir, der is' bei uns«, sagte eine tranige Frauenstimme, nachdem er seinen Spruch aufgesagt hatte. »Klein' Moment ma', ich such' das ma' eben raus.« Grabbe zuckte seinen Notizblock und brach vor Aufregung fast den Kugelschreiber ab. »Nee, doch nich'«, ließ sich die Stimme wieder vernehmen. »Unser heißt Wawerzonnek, is' 'n Spätaussiedler von drüben. Tut mir leid, aber hört sich ja fast genauso an, nich'?« Grabbe knirschte mit den Zähnen, dankte, legte auf und zerknüllte wütend den Notizzettel. Kloess schien auch nicht viel besser dran zu sein. Jedenfalls hatte er in den letzten zwei Stunden die Kassette, nicht gewechselt und spielte immer wieder dasselbe Band, so daß Grabbe mühelos den Part von Roger Chapman hätte übernehmen können, theoretisch jedenfalls. Gegen Mittag gab Kloess sein Eremitendasein auf. »Ich geh' auswärts essen«, verkündete er, »und dann nehm' ich mir den Baumann vor.« »Was ist denn mit Berlin?« fragte Grabbe, mehr aus Höflichkeit denn aus Interesse. »Gar nichts! War schon richtig, was uns der Typ in der Wohngemeinschaft erzählt hat. Wawliczek war bei n paar Demos dabei und gab vor, zu so 'ner Kreuzberger Hausbesetzerclique zu gehören. War aber niemals »selbst an Aktionen beteiligt. Flugblätter hat er mal verteilt. Zugang zu der Szene hat er durch ein Mädchen, Elvira Meineke, gekriegt, mit der er im gleichen Seminar war. Aber sie hat sich von Wawliczek getrennt, als dieser bei den Aktivitäten in Kreuzberg nicht mitma33
chen wollte. Wuttke will die noch mal aufsuchen und «sehen, ob sie noch Kontakt zu Wawliczek hatte und was weiß über seine Tätigkeit in Hamburg, aber viel verspricht er sich nicht davon. Ich übrigens auch nicht. Bei den damaligen Vernehmungen hatten die Wawliczek jedenfalls alle überhaupt nicht auf der Rechnung!« »Na, da wird sich Willi aber freuen!« sagte Grabbe gehässig. 15 Auch das noch! dachte Bundschuh, als er der dänischen Dogge Auge in Auge gegenüberstand, nur getrennt durch einen ca. zwei Meter hohen Maschendrahtzaun. Die Dogge machte einen übellaunigen Eindruck. Bundschuhs Vorliebe für Hunde war mindestens jedem zweiten Kriminalbeamten der Stadt bekannt, und die Drohung, ihn zur Hundestaffel zu versetzen, konnte ihm nur noch ein müdes Lächeln entlocken. »Hallo, ist da jemand?« Er konnte auf dem Gelände der AUTOVERWERTUNGS GmbH niemanden entdecken, rief nochmals etwas lauter: »Hallo, hallo?«, ging dann langsam rückwärts zum Auto, den Hund im Blick behaltend. Einerseits war er ärgerlich, umsonst hierher gefahren zu sein, andererseits aber auch froh, nicht ins Innere des Schrottplatzes gehen zu müssen. Soll doch Mertens nächstes Mal seinen Beamtenarsch hinhalten! dachte er gehässig. »Was woll'n Se? Feierabend! Komm'n Se morgen wieder ab sieben!« Aus einem alten Wohnwagen, der als Büro oder Klo diente, schlurfte ein etwa fünfzigjähriger Mann auf ihn zu, mit der einen Hand nach dem Hund schnippend, dem er ein beruhigendes »Is' schon gut, Bismarck« zubrummte. »Kann ich Sie mal einen Augenblick sprechen? Es ist wichtig. Ich komme von der Kriminalpolizei. Bundschuh.« »Was is' denn?« »Können Sie Ihren Hund nicht anleinen? Ich würde mich gern in Ruhe mit Ihnen unterhalten. Sind Sie hier der Besitzer?« Bundschuh sprach immer noch durch den Zaun, und dabei sollte es auch bleiben, denn der Hundehalter im schmutziggrauen Overall machte keine Anstalten, seinen Liebling an die Kandare zu nehmen. »Ja, das bin ich. Um was geht's denn?« »Ich möchte eine Auskunft haben. Es geht um einen Mercedes 280 SL, der hier verschrottet worden sein soll, vor zwei Wochen etwa.« »Kann mich nich' erinnern. Wir krieg'n jeden Tag Autos rein.« »Na, hören Sie mal! Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Sie hier täglich Sportwagen frei Haus geliefert kriegen. Dieser Wagen ist Ihnen von der Firma ZIEGLER-SPORTSCAR übergeben worden.«
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Der Mann gab sich jetzt merklich Mühe, das war an seinem verwüsteten Gesicht abzulesen. Als Ergebnis seiner Gedankenarbeit sagte er, nach einer Weile: »Ach so! Das kann angeh'n, von denen krieg'n wir schon mal was.« »Können Sie sich jetzt an den Wagen erinnern?« fragte Bundschuh hoffnungsfroh. »Nee, so richtig nich'. Was is' denn mit der Karre?« »Die ist wieder aufgetaucht und war in einen Vorfall verwickelt, den wir untersuchen.« »Nee, nee! Die Autos, die wir erst ma' hab'n, die können in keinen Vorfall nich' mehr verwickelt sein«, meinte der Mann grinsend und strich seine Hände am Overall ab, bevor er mit dem Daumen über seine Schulter wies. »Das ist unsere Presse da. Da kommt nichts mehr raus, was fahren kann!« »Ich würde gern mal Ihre Unterlagen sehen.« »So? Dann müss'n Se wiederkommen. Den Schreibkram macht meine Frau.« Bundschuh gab auf. Er hatte am Nachmittag bereits vier Schrotthändler aufgesucht, die von Ziegler Autos bezogen hatten, und alle Gespräche waren ähnlich verlaufen. Niemand konnte sich an den Wagen erinnern, nirgendwo tauchte der Mercedes in den Büchern auf. Es nieselte jetzt stärker, Nebel kam auf, und Bundschuh mußte noch zum Abendbrot einkaufen. Er beschloß, eine Flasche Rum für Grog mitzunehmen. 16 Mertens sollte es am nächsten Tag einfacher haben. Der Hund war weit und breit nicht zu sehen. Die Frau des Schrotthändlers - im aparten Gegensatz zu ihrer Umgebung mit Edelmetallen behangen - konnte sich An den 280 SL gut erinnern. Und nicht nur das; eine erstaunlich korrekte Buchführung, wie geschaffen für unangemeldete Betriebsprüfungen, bewies eindeutig, daß der Mercedes von einem Angestellten der Firma Ziegler zur Verschrottung angeliefert worden war. Das Auto war ausgeschlachtet worden, erste noch verwertbare Einzelteile hatte man bereits verkauft. Mertens war sehr befriedigt und kehrte für den Rest des Tages nicht ins Büro zurück. Es wußte ohnehin niemand genau, was Mertens eigentlich die ganze Zeit über getan hatte. Das war an und für sich nichts Neues, und man war immer wieder erstaunt, daß er überhaupt Resultate vorweisen konnte. Es wurden die tollsten Theorien darüber aufgestellt, woher Mertens seine Informationen bezog. Die einen meinten, es läge daran, daß er die meiste Zeit in der Polizeikantine verbrachte, andere wiederum sahen ihn stundenlang in verschiedenen Abteilungen klönen. Er kannte jeden und verpaßte keine Gelegenheit, bei Ge burtstagen oder ähnlichen Anlässen Zigaretten zu schnorren, Chips zu Sekt mit Orangensaft in sich hineinzustopfen und dabei über seine gescheiterte Ehe zu klagen. Die hohen Unterhaltszahlungen, die er angeblich zu leisten hatte, erweckten nur noch bei Neulingen Mitleid. Die anderen konnten die langatmigen Erzäh-
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lungen über seine Frau, die mit einem jüngeren Mann durchgebrannt war, nicht mehr hören und glaubten, die geschiedene Frau Mertens zu verstehen. Daß Mertens als Vertrauensmann des Beamtenheim-Stättenwerkes während der Dienstzeit Bausparverträge an Kollegen vermittelte und seine Kunden intensiv betreute, hatte Kloess zunächst gestört. Aber bald hatte er erkannt, daß Mertens auf diese Weise einen Kommunikationsfluß zwischen den Abteilungen aufrechterhielt, der mit bürokratischen Mitteln niemals zustande gekommen wäre. Und so war Kloess auch absolut sicher, daß Mertens sich nicht irrte, als er am Mittwochmorgen verkündete: »Rainer, der SL ist garantiert nicht in der Bundesrepublik geklaut worden, das ist hundertprozentig!«, und die Frage: »Hast du beim BKA-Computer nachgefragt?« stellte er nur noch pro forma. Kloess war schlecht gelaunt an diesem Morgen. Der Fall hing ihm allmählich zum Halse heraus. Den gestrigen Nachmittag hatte er damit verbracht, Fritz Baumann, der angeblich Wawliczek so gut gekannt hatte, zu suchen. Nachdem er fast 30 Minuten lang durch Gänge geirrt war, immer wieder verwiesen in andere Stockwerke, hatte er vor einem übelriechenden Labor ein dickliches Mädchen mit muffeligem Gesichtsausdruck angetroffen. »Baumann, nee, kenn' ich nicht. Soll der hier in der OC sein?« hatte sie uninteressiert gefragt und angesichts von Kloess' verständnisloser Miene sich dazu herabgelassen zu erklären: »OC, Organische Chemie, das sind wir hier.« »Fritz Baumann soll hier promovieren.« Kloess hatte diesen Satz in der letzten halben Stunde schon mehrmals von sich gegeben. »Ach so, Doktorand«, hatte das Mädchen geantwortet und sich einen Pickel am Kinn aufgekratzt. »Da müssen Sie mal Dörffler fragen. Das ist der da hinten Im Kittel.« Kloess hatte acht weißbekittelte Rücken in dem Labor ausgemacht, aber bevor er nachfragen konnte, hatte das Mädchen sich umgedreht und war davongeschlurft. »Don't touch me!« stand hinten auf ihrem dunkelblauen Sweatshirt. Kloess hatte die Warnung als überflüssig empfunden, und nach weiteren Irrwegen war es ihm endlich gelungen, Baumann ausfindig zu machen. Das Gespräch war unergiebig gewesen. Kloess hatte lediglich erfahren, daß Wawliczek sich in letzter Zeit kaum noch um sein Studium gekümmert hatte und offensichtlich auch bei Baumann nicht sonderlich beliebt gewesen war. Kloess schmiß die Akten lustlos in den Korb zurück. Bundschuh hatte sich krank gemeldet. Erkältung. Kloess verspürte ebenfalls ein verdächtiges Kratzen im Hals, stand auf, ging zum Waschraum und betrachtete mißtrauisch sein Spiegelbild. Die Augen waren rotgerändert. Das mußte allerdings nicht auf eine beginnende Grippe hindeuten, denn Kristina war heute morgen zu irgendeinem Kongreß gefahren, und sie hatten am vergangenen Abend ausgiebig Abschied gefeiert. »Frag doch bei Ziegler noch mal wegen diesem Jorde an«, störte er Grabbe bei seiner Morgenlektüre, als er
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ins Büro zurückkehrte. »Dann machen wir 'n Bericht und geben die Autogeschichte weiter, das geht uns so wieso nichts mehr an.« Er versorgte sich mit einer großen Tasse Kaffee, ging in sein Zimmer, schloß die Tür fest zu und stellte seinen Kassettenrecorder auf gerade noch vertretbare Lautstärke. 17 Kloess mußte den Fall abgeben, als dieser gerade begann, eine interessante Wendung zu nehmen. Der Hamburger Dom, ein Volksfest, das aus unerfindlichen Gründen Weihnachtsdom hieß, obgleich es regelmäßig wahrend der regnerischsten Novemberwochen stattfand, war eröffnet worden, und gleich am ersten Abend hatte sich ein angeheiterter Vermessungsingenieur aus Lüneburg ausersehen gefühlt, bei einer Schlägerei zwischen zwei Rockern, die sich über die Besitzverhältnisse an einem unansehnlichen Mädchen nicht einig werden konnten, schlichtend dazwischenzutreten. Die beiden Rocker hatten das als ungerechtfertigte Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten empfunden, ihre Kräfte vereint und den Mann niedergeschlagen, der dann noch im Notarztwagen an einer Gehirnblutung verstarb. Die Besatzung des Unfallwagens zog eine Decke über das Gesicht des Mannes und händigte der mitfahrenden Witwe das Lebkuchenherz aus, das der Ingenieur auf der Brust trug und welches mit der Aufschrift »So ein Tag, so wunderschön wie heute« verziert war. Bundschuh war immer noch krank. Seine Erkältung hatte sich zu einer Rippenfellentzündung ausgeweitet, so daß er bei der Abschlußbesprechung in Schröders Zimmer fehlte. Seine Lebensgefährtin, von Mertens hartnäckig als Geliebte bezeichnet, pflegte ihn in jeder Beziehung hingebungsvoll. Kloess kam zu spät. Er hatte einen der 42 Zeugen vernommen, die der Schlägerei auf dem Dom beigewohnt hatten, und bekam auf diese Weise nur noch die Schlußsätze von Mertens ausschweifenden Erläuterungen seiner Theorie über Wawliczeks Verbindungen zum terroristischen Untergrund mit. . »Hör doch auf mit dem Stuß, Willi«, sagte er müde, »den Wawliczek würden sich die doch nicht mal zum Kaffeekochen angeheuert haben.« »Wenn ich deinen Bericht richtig gelesen habe, Rainer«, unterbrach Schröder, »so ist Wawliczek ein Aufschneider gewesen, den keiner ernstgenommen hat, mit Ausnahme der Mutter vermutlich. Und du nimmst an, daß er geklaute Autos aus dem Ausland überführt oder sie dorthin gebracht hat.« »Wir wissen, daß Wawliczek für 'nen Autoverleih als Fahrer arbeitete. Die Firma haben wir noch nicht ausfindig machen können. Vermutlich benutzen sie gefälschte Kennzeichen und Papiere zugelassener Fahrzeuge und haben diesmal Pech gehabt, weil Skobels Wagen Totalschaden machte, bevor sie die Doublette ins Ausland bringen konnten; doppeltes Pech, weil Wawliczek dann auch noch in 'ne Kontrolle geriet. Auf jeden Fall steckt der Jorde von Ziegler mit drin, vielleicht auch die ganze Firma. Jorde sollte den Wagen abmelden, was er nicht gemacht hat. 37
Dafür ist er am Montag überstürzt in Urlaub gefahren für drei Wochen. Abgehauen also, nehme ich mal an.« »Mit dem Jorde ist irgendwas nicht astrein«, ergänzte Mertens. »Da war mal 'ne Anfrage aus Schweden wegen irgend so einer undurchsichtigen Bootsgeschichtc. Wir soll'n noch 'n genauen Bericht kriegen.« »Was sagt denn die Firma Ziegler?« Die meinen, Jorde hätte noch Resturlaub zu beanspruchen gehabt. Daß er so plötzlich in Urlaub gegangen ist, war nichts Besonderes. Das hat er schon häufiger gemacht, allerdings dann meistens nur für'n paar Tage. Seinen Wagen hat er übrigens bei Ziegler stehengelassen. Tolles Ding!« »Die aus dem terroristischen Umfeld haben auch immer schnelle Autos«, brachte Mertens seine Theorie wieder ins Spiel. »Laß dich doch zur GSG 9 versetzen«, schlug Kloess todernst vor. »Das mit Schweden ist schon komisch«, verteidigte sich Mertens gekränkt. »Wann erwartet Ziegler den Jorde denn zurück?« nahm Schröder unbeirrt den Faden wieder auf. »Anfang nächster Woche. Das Weihnachtsgeschäft fängt an!« »Na gut«, sagte Schröder, »und das Mädchen hängt auch mit drin?« »Dafür gibt es keine Anhaltspunkte«, antwortete Kloess. »Ursula Walkmann stammt aus ganz anderen Kreisen als Wawliczek. Vater ist Redakteur beim STERN, ziemlich betucht. Wawliczek wollte bloß Eindruck schinden, als er sie nach Hause gefahren hat. Die Eltern kennen ihn nur flüchtig. Begeistert waren sie wohl nicht von der neuen Liebe ihrer Tochter, aber sie hab'n das auch nicht so ernst genommen.« »Na, dann machen wir die Unterlagen für das Verfahren Eschke fertig. Der wird wohl unter diesen Umständen mit'm blauen Auge davonkommen. Und die andere Sache geben wir weiter an Langenberg«, faßte Schröder zufrieden zusammen. Kloess und Mertens erhoben sich; Grabbe hatte ohnehin die ganze Zeit im Stehen an der Fensterbank lehnend zugebracht. Sie hatten den Raum schon fast verlassen, als Schröder Kloess zurückrief. »Was machst du so ein düsteres Gesicht, Rainer, ist dir irgendwas nicht recht?« Kloess hatte an etwas anderes gedacht, aber das konnte er Schröder schwerlich klarmachen. Seine ältere Tochter Anna hatte kurz nacheinander zwei Fünfen in Mathematik geschrieben, und Kristina war der Überzeugung, daß das seine Schuld sei, da sie lediglich für die Überwachung der sprachlichen Fächer sowie der Biologie- und Chemiekenntnisse zuständig war, während ihm die Verantwortung für Annas sozialpolitische und mathematische Bildung zufiel. Aber Kloess war wie seine Tochter an der sachgemäßen Benutzung der Logarithmentafeln gescheitert. Sein sorgenvolles Ge sicht hatte also eher private Ursachen. Trotzdem wußte er sofort, worauf Schröder hinauswollte. »Na ja, es sieht zwar jetzt so aus, als hätte Eschke einen vertretbaren Grund gehabt zu schießen, aber damit hat er eigentlich nur Glück gehabt. Wawliczek hätte ja genauso gut bloß ein oder zwei Glas Bier zuviel getrunken haben können. Es wäre 38
nicht das erste Mal gewesen, daß einer dann bei 'ner Kontrolle durchdreht. Die sind einfach zu jung, um 'ne Waffe zu tragen!« »Bei der Bundeswehr sind sie noch viel jünger!« »Eben!« sagte Kloess. 18 Die Georgswerder Mülldeponie war im Verlauf einer nicht mehr genau feststellbaren Anzahl von Jahren zu einer stattlichen Erhebung in der sonst platten südelbischen Marschlandschaft angewachsen. Ihr scharfer Gestank vermischte sich mit den Abgasen zahlreicher Industrieanlagen und wurde bei günstigem Wind in Gestalt gelbbrauner Wolken über die Wohngebiete von Wilhelmsburg getragen, nicht ohne vorher das direkt an den Gleisen des Güter- und Verschiebebahnhofs gelegene, nagelneue Berufsschulzentrum einzunebeln. Die Bewohner des betroffenen Stadtteils - zumeist Arbeiterfamilien und Ausländer türkischer Herkunft -hatten keine Lobby, und die Schüler und Lehrer waren mit anderen Problemen befaßt, so daß es vermutlich nie zu einem Protest gekommen wäre, wenn nicht vorher in der italienischen Kleinstadt Seveso eine Giftgaswolke das Vieh auf den Weiden getötet, Kleinkindern die Gesichter verätzt und einen ganzen Landstrich für unabsehbare Zeit unbewohnbar gemacht hätte. Trotz der üblichen Beschwichtigungen und Abwiegelungen seitens der offiziellen Stellen wurde ruchbar, daß besagtes Gift durchaus kein einmaliges, lokales italienisches Problem darstellte, sondern seit geraumer Zeit halblegal auf den meisten Müllkippen abgeladen wurde. Es gab Anhörungen, Fragestunden, Pressekonferenzen; Experten wurden beauftragt, Gutachten zu erstellen, welche dann durch Gegengutachten wieder in Frage gestellt werden konnten. Die Berufsschüler malten in den Politikstunden Protestplakate, die Lehrer nahmen das Problem in seiner ganzen Breite in ihren Unterricht auf. Die Unterrichtseinheit »Katastrophenmedizin in Ballungsgebieten« erfreute sich zunehmender Beliebtheit im Kollegium, die Vereinigung »Ärzte gegen den Gifttod« erhielt ungeahnten Zulauf. Anfang Dezember mußten sich die Behörden angesichts der wachsenden Verunsicherung der Bürger zu einer ersten Maßnahme entschließen. Die ließen die Mülldeponie einzäunen, sehr solide mit Betonpfeilern und einem 2 Meter hohen Maschendrahtzaun. Am 10. Dezember gab es einen für Norddeutschland ungewöhnlich strengen Kälteeinbruch, die Arbeiten mußten unterbrochen werden. Pünktlich vor Weihnachten setzte mildes Wetter mit Nieselregen ein, der Zaun wuchs um einige Meter, insbesondere im gut einsehbaren Bereich an der Autobahn. Dann ging der größte Teil der Arbeiter in den Weihnachtsurlaub. Am 3. Januar herrschte ideales Klima, knapp sechs Grad über Null, keine oder nur unbedeutende Niederschläge, und dem Fortgang der Arbeiten stand nichts mehr im Wege.
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Die zweite Frühstückspause war vorüber, und Bruno Gablenz, genannt Bruni, hatte seinem schweigsamen Kollegen Özan schon zweimal ausführlich erzählt, worüber er mit seiner Frau am Silvesterabend in Streit geraten war und - noch ausführlicher - wie er sich wieder mit ihr vertragen hatte. Anschließend hatte er mit Pflöcken die Stellen markiert, an denen die nächsten Pfosten zu setzen waren und - auf seinen Spaten gestützt - beobachtet, wie Özan grub. »Mensch, ich hab' Kohldampf! Muß gleich Mittag sein«, meinte er versonnen. Özan hatte Schweißperlen auf der Stirn. Mit seiner fiebrigen Erkältung hätte er eigentlich ins Bett oder zumindest nach Hause an den warmen Herd gehört, aber angesichts der bedrohlichen Arbeitsmarktlage hatte er nicht gewagt, sich krankzumelden. Das Loch war jetzt etwa 60 cm tief; bis zur vorgeschriebenen Marke fehlten noch 20 cm. »Laß mich ma'«, sagte Bruni großmütig. Der Boden war weich und locker, es grub sich leicht. »Guck ma'«, ächzte Bruni, »da is' was drin.« Zwischen nassen Erdbrocken schimmerte Metall. Bruni kratzte mit dem Spaten daran herum. Das blanke Metallstück entpuppte sich als Gürtelschnalle in der Form eines Hufeisens. »Was ma' hier so alles findet.« Bruni beugte sich hinab und zog. Die Gürtelschnalle saß fest an einem Lederriemen. Bruni stemmte sich dagegen und zog stärker. Aus der klebrigen Erde löste sich langsam ein blauer Stoff, ein Hemdansatz mit Knöpfen wurde sichtbar. »Scheiße«, sagte Bruni inbrünstig. 19 Kloess verfehlte die richtige Autobahnausfahrt, mußte bis Stillhorn weiterfahren, fluchte, wechselte auf die Überholspur und schnitt einen weißen Golf, dessen Fahrerin ihn hysterisch anhupte. »Du fährst wie 'n Henker«, sagte Bundschuh. »Ich bin müde«, gab Kloess mürrisch zurück. »Lotta hat Schnupfen. Viermal ist sie gekommen heut' nacht. Ich bin völlig kaputt. Immer muß ich aufstehen und sie beruhigen!« Lotta war Kloess' jüngere Tochter, die mit Unternehmungsgeist und bemerkenswerter Willensstärke die ganze Familie in Atem hielt. Die Bulldozer, gelborangefarbene Monster mit riesigen Zähnen, die sonst den Wohlstandsmüll gleichmäßig auf der Deponie verteilten, standen still. Sie waren zur Untätigkeit verurteilt, da man befürchten mußte, daß aus Versehen die hier abgelagerten Giftfässer beschädigt werden könnten. Bundschuh zog sich Gummistiefel an, »damit die Ratten nichts zu knabbern haben.« Kloess sah erst ihn, dann seine Halbschuhe und schließlich die fetten Ratten an, die unbeeindruckt durch ihre Gegenwart zwischen dem Müll umherhuschten. Sie sahen nicht so aus, als benötigten sie Zusatznahrung. 40
Die Leiche war am Rande der Abteilung Sondermüll gefunden und jetzt bereits ins gerichtsmedizinische Institut geschafft worden, wo Kloess und Bundschuh sie sich lieber in gesäubertem Zustand ansehen wollten. »Hier möchte ich nicht begraben sein!« »Das kann dir dann auch egal sein, Claus.« Sie sackten immer wieder im weichen, völlig durchnäßten Boden ein. Der wabbelige Untergrund aus Plastiktüten, Pappschachteln und Spraydosen, die notdürftig mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt worden waren, vermittelte ihnen das Gefühl, als gingen sie auf Pudding. Die Industrieabfälle lagerten in den tieferen Schichten, vermutlich in Fässern verpackt, welche langsam durchrosteten. Niemand wußte genau, welche Substanzen da miteinander neue chemische Verbindungen eingingen. »Schöne Scheiße!« Bundschuh wußte nicht, ob Kloess den Umweltskandal oder seine ehemals weißen Socken meinte, die jetzt langsam die Farbe des Inhalts eines wochenlang nicht geleerten Trockenklos annahmen. Mit Taschentüchern hielten sie sich die Nase zu. Ihre Augen tränten; schräg hinter ihnen wurden Gase abgefackelt. Die Fundstelle war mit Fähnchen markiert, lag aber ansonsten verlassen da. Die Kollegen hatten es vorgezogen, den Ort so schnell wie möglich wieder zu räumen, um in angenehmerer Umgebung Skizzen, Fotos und Protokolle auszuwerten. Von Spuren konnte sowieso kaum eine Rede sein, da die Leiche schon längere Zeit hier vergraben gelegen haben mußte. Ein Mann war es gewesen, soviel stand fest, und er war eines gewaltsamen Todes gestorben, wie die Wunde in der Brust bewies. Alles Weitere würde die Obduktion ergeben. »Das war's«, bemerkte Kloess. »Sieh mal, man kann die Stelle noch ganz gut mit einem normalen PKW erreichen. Weit ist er nicht weggeschafft worden.« »Vielleicht ist er auch hier umgebracht worden.« »Glaub' ich nicht.« Sie stapften den Weg zum Wagen zurück. »Die sollten hier alles mit Gras bedecken.« »Das werden sie tun, darauf kannst du Gift nehmen«, erwiderte Kloess zweideutig. »Dann könnten sie so'n Skihügel anlegen, oder guck mal, da drüben, die Schrebergartensiedlung könnten sie erweitern. Aus den alten Kiesgruben haben sie ja auch gute Segelreviere gemacht.« Bundschuh ließ sich nicht beirren. Kloess schwieg. 20 Mertens strahlte. »Dreimal dürft ihr raten!« Alle sahen Mertens an, keiner wollte raten. »Sag schon, was ist los«, drängte Grabbe, »spann uns nicht auf die Folter!« 41
»Seine Frau ist zurückgekommen«, versuchte es Bundschuh. »Glaub' ich nicht!« Grabbe würgte dieses Thema ab. Mertens' Lächeln erstarb. »Es ist dienstlich«, erklärte er förmlich. »Wir haben die Auswertung der Fingerabdrücke erhalten. War gar nicht so einfach bei der alten Leiche, der Boden hat nicht gerade konservierend gewirkt.« »Wer ist es?« fragte Kloess nüchtern. »Ein alter Bekannter, lieber Rainer.« Man sah Mertens an, daß er seinen Wissensvorsprung genoß. »Jorde, Karl-Heinz Jorde.« »Mein Gott, nein! Nicht schon wieder dieser Scheißfall! Den hat doch Langenberg jetzt am Hals!« Bundschuh stöhnte auf. Er dachte an Dr. Skobel, an Ziegler, den Köter des Schrotthändlers und ahnte Böses. »Wie hat man es herausgefunden?« fragte Grabbe naiv. »Ganz einfach. Ihr wißt, wir hatten im letzten Sommer eine Anfrage aus Schweden betreffs Jorde wegen einer undurchsichtigen Bootsgeschichte.« Mertens konnte auf geniale Weise Behördenschriftdeutsch mit Umgangssprache mischen. »Die Schweden haben uns derzeit die Fingerabdrücke übermittelt, und die haben wir natürlich schön gespeichert«, und mit einem Seitenhieb auf Grabbe: »Das machen wir automatisch, seit eine gewisse Bande unseren Staat stürzen wollte.« Kloess verbiß sich ein »Amen«. »Na, dann hol mal den ganzen Kram wieder her, Willi!« »Schon gemacht«, sagte Mertens nachlässig und klatschte Kloess den Packen Papiere auf den Schreibtisch. 21 Die Schranktüren standen jetzt fast alle offen. Mertens wühlte in den Schubladen. »Ob der schwul war?« Er hielt Grabbe Jordes teure Unterwäsche zur Begutachtung hin. Dieser starrte ihn indigniert an. Der Hausmeister, der einen Nachschlüssel zu dem Apartment in den MundsburgHochhäusern besaß, hatte ihnen Jordes Wohnungstür geöffnet. Mertens war enttäuscht gewesen; jedenfalls konnte sich Grabbe dieses Eindrucks nicht erwehren. Vielleicht wäre es ihm lieber gewesen, wenn die Tür gewaltsam hätte geöffnet werden müssen. »Kannten Sie Herrn Jorde?« »Nee, wir haben in unseren Häusern drei- bis vierhundert Mieter. Würden Sie die alle kennen? Da müssen Sie sich an die Verwaltung wenden, wenn Sie mehr wissen wollen. Kennen! Die ziehen hier aus und ein wie im Taubenschlag, so ist das heute!« Grabbe war beeindruckt. Der Blick aus dem 16. Stockwerk über die Villen am Alsterufer vermittelte ihm an diesem sonnigen Januartag einen Vorgeschmack auf den Sommer, wenn Hunderte 42
von Segelbooten zwischen Alsterdampfern und Tretbooten auf der Alster kreuzen würden. Die Wohnung war protzig eingerichtet. Nahezu alle Einrichtungsgegenstände schienen neu zu sein und wirkten in ihrer Zusammenstellung so, als seien sie direkt aus dem Schaufenster eines exklusiven Möbelgeschäfts in die Wohnung geschafft worden. »Ich glaube, ich hab' was, Willi.« Grabbe saß an einer Art Schreibsekretär und hielt einen weißen Plastikordner mit Kontoauszügen hoch. »Gar nicht übel!« Mertens schielte über den Rand seiner Brille auf die Auszüge und pfiff leise durch die Zähne. »Nimm das mit! Hast du noch mehr im Schreibtisch gefunden?« »'n paar Briefe und Fotos. Sah gar nicht so uneben aus, als er noch am Leben war.« »Pack ein«, entschied Mertens. Sein Blick ruhte auf der gut gefüllten Hausbar. Er drehte die Flaschen hin und her und begutachtete die Etiketts. »Nur vom Feinsten!« Mertens ließ sich in einen der voluminösen Sessel fallen und warf einen abschließenden Blick in die Runde. Es roch muffig, die Grünpflanzen waren vertrocknet. Im Regal stand ein neuer Farbfernseher mit Videogerät; Videokassetten, aufgereiht wie Buchhüllen, Autotest- und Motorsportzeitschriften sowie zahlreiche PLAYBOY-Hefte repräsentierten die intellektuellen Interessen des Verblichenen. An der gegenüberliegenden Wand hing ein 40 mal 40 cm großes Foto im Aluminiumrahmen, das Jorde - nur mit Badehose bekleidet - auf der Kühlerhaube eines Sportwagens sitzend darstellte. »Guck mal hier!« Grabbe kam aufgeregt aus der Küche. »Scheint, daß er immer HAMBURGER ABENDBLATT las, wegen der Autokleinanzeigen vermutlich. In der Küche liegen mindestens 20 Stück davon. Aber hier, vom 30. Oktober, da hat er auch noch BILD und MOPO.« »Na und?« fragte Mertens ungerührt. »30. Oktober, das war der Montag, nachdem Eschke den Wawliczek abgeknallt hat, nach dem Unfall, meine ich.« »Ach so, ja, und da hat Jorde kalte Füße gekriegt und ist abgehauen.« »Er ist aber nicht abgehauen, Willi, sondern umgebracht worden«, erwiderte Grabbe müde. »Komm, wir machen weiter!« Das Schlafzimmer war in einem Stil eingerichtet, den der Besitzer vermutlich für verführerisch oder erotisierend gehalten hatte. Das ovale Bett stand in der Mitte des Raumes und war mit einer Pelzdecke geschmückt. Die Wände zierten Poster von der Art »nacktes junges Paar, von hinten fotografiert, der untergehenden Sonne entgegenschreitend«. Die Vorhänge waren aus weißem Samt, in einer Schublade fand Grabbe neben einigen Softpornos ein unangebrochenes Päckchen Präservative der Marke GALANT. Das luxuriöse Badezimmer, ganz in schwarz und weiß gehalten, war insofern bemerkenswert, als eine ganze Batterie der verschiedensten Duftwässer, die auf
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einem Glasbord aufgereiht standen, bewies, daß Jorde offensichtlich großen Wert darauf gelegt hatte, gut zu riechen. Mertens schnupperte mißtrauisch an verschiedenen Flaschen. Er benutzte Kölnisch Wasser am Wochenende. 22 Man konnte ihn nur als smart bezeichnen, wenn Ziegler auch in keiner Weise dem Unternehmerklischee billiger amerikanischer Seifenopern aus dem Ölmilieu entsprach. Er war der Typ des Geschäftsmannes, von dem man sich gern betrügen ließ. Bundschuh hörte ihm fasziniert zu. »Ja, Herr Jorde ist aus seinem Urlaub nicht zurückgekehrt. Nein, wir können nur Positives über ihn berichten. Er war ein guter Mitarbeiter: Na ja, jeder ist zu ersetzen. Einen aufwendigen Lebensstil soll er geführt haben? Aber ich bitte Sie, was heißt das schon, aufwendiger Lebensstil? Unsere Wirtschaft ist dazu verurteilt, immer mehr Luxusgüter herzustellen und abzusetzen, das ist der Motor für unseren Wohlstand. Anders geht das gar nicht! Nur Konsum sichert Arbeitsplätze!« Bundschuh ließ sich einlullen. Kloess zog die Stirn kraus. Er dachte an Wawliczeks Wohngemeinschaft, zweifelte an Zieglers ökonomischem Sachverstand, sah sich um, zweifelte dann an seinen eigenen Wirtschaftskenntnissen. »Über das Privatleben meiner Angestellten stelle ich keine Nachforschungen an. Aber ja, er war mit einer meiner früheren Sekretärinnen kurze Zeit verlobt gewesen. Nein, Näheres weiß ich nicht. Fräulein Kaiser hieß sie, hat jetzt, glaube ich, geheiratet. Die Adresse wird Ihnen Fräulein Bachmeyer gern geben. Haben Sie noch weitere Fragen?« »Können Sie kurz Jordes Aufgabengebiet in Ihrem Unternehmen umreißen?« »Nun ja, Herr Jorde war Sachbearbeiter in unserem Hause, sehr versiert, ausgesprochen fundierte Kenntnisse, las ja auch alle Fachzeitschriften. Er hatte sowohl gute Kontakte zu unserer - wie soll ich sagen - teilweise etwas problematischen Kundschaft als auch zu unseren Geschäftspartnern. Bei den Mitarbeitern wurde er als Fachmann anerkannt. Ja, auch bei unseren Mechanikern der Werkstatt, übrigens ausgesprochene Fachleute auf ihrem Gebiet, Spitzenkräfte, konnte er mithalten.« Kloess hatte nicht die Absicht, seinen alten Diesel hier zur Inspektion zu geben. »Entschuldigung! Ich habe Ihnen gar keinen Kaffee angeboten. Möchten Sie?« Kloess lehnte ab, Bundschuh nahm dankend an. »Fräulein Bachmeyer, zwei Kaffee bitte!« »Also, wir können das noch gar nicht richtig fassen, so ein junger Mann und so mitten aus dem Leben gerissen, scheußlich! Er war ja auch so mobil, reiste gern. Dänemark, Schweden, skandinavischer Raum haupt-
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sächlich. Hab' ich nie ganz verstanden, da konnte er doch seinen Porsche gar nicht richtig ausfahren. Tempolimit, wo soll das hinführen? Ich bitte Sie, die Ölkrise Ist doch vorbei!« Bundschuh schaute Kloess über seine Kaffeetasse hinweg an. »Wir haben uns zuerst auch keine Gedanken gemacht, als er nicht pünktlich wieder erschien. Ich dachte an Fernreise damals, weil er seinen Wagen auf dem Hof stehengelassen hatte. Kurztrip. Bahamas oder so.« Bundschuh schluckte trocken. »Er muß wohl gut verdient haben?« »Tarif kennen wir nicht. Wir sind nicht bei der Bundesbahn. Wir zahlen nach Leistung, umsatzbezogen natürlich. Er konnte mit unseren Kunden umgehen. Psychologie, erfolgsbezogen, verstehen Sie?« Bundschuh verstand. »Wir würden uns gern Herrn Jordes Arbeitsplatz ansehen.« Der Schreibtisch war perfekt aufgeräumt. Wenn es hier je interessante Hinweise gegeben haben sollte, so waren sie jetzt jedenfalls verschwunden. Sie packten Jordes Telefonregister ein, ohne ein wohlwollendes Nicken von Fräulein Bachmeyer abzuwarten, und gingen. Am Donnerstag lagen endlich der Obduktionsbefund und das Ergebnis der ballistischen Untersuchung vor. Jorde war mit einer Waffe Kaliber .22 erschossen worden. Eine Liste der möglichen Fabrikate lag bei und war erschreckend lang. Das Projektil war neben dem Brustbein zwischen der fünften und sechsten Rippe eingedrungen, hatte die Herzscheidewand zerfetzt, die linke i Herzkammer schräg aufgerissen und war im siebten Brustwirbel steckengeblieben. Die Leiche hatte sich in einem Zustand fortgeschrittener Dekomposition befunden, aber es konnte doch noch festgestellt werden, daß der Schuß aus ziemlicher Nähe abgegeben worden war. Der Tote hatte sich, soweit feststellbar, bis zum Augenblick seiner Ermordung guter Gesundheit erfreut, war Raucher gewesen und hatte kurz vor seinem Ableben eine kleinere Mahlzeit zu sich genommen, die vermutlich aus Thunfisch und Weißbrot bestanden hatte. »Na, wenn er Thunfisch gegessen hat, wär' er ohnehin bald an Quecksilbervergiftung gestorben«, sagte Kloess gutgelaunt. »Apropos Thunfisch, ich hab' Hunger. Woll'n wir essen gehen? Es ist gleich ein Uhr.« »Du hast wirklich Talent, einem den Appetit.zu verderben«, erwiderte Bundschuh gekränkt. »Magst du gern Thunfisch?« fragte Kloess scheinheilig. »Wie lange hat er denn da schon gelegen?« lenkte Grabbe diplomatisch vom Speisethema ab. »Die schreiben: Tot ist er nicht weniger als zwei und nicht länger als drei Monate. Es ist anzunehmen, daß er die ganze Zeit dort vergraben lag, aber mit Sicherheit läßt sich das nicht mehr sagen.«
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»Mit anderen Worten: Er ist damals nach dem Unfall nicht in Urlaub gefahren, sondern um die Ecke gebracht worden.« Bundschuh erhob sich, trat zum Fenster und malte ein Männchen an die beschlagene Scheibe. »Wieso?« fragte Mertens. »Na, du wirst doch wohl nicht annehmen, daß Jorde auf die Bahamas fliegt, dort eins verpaßt kriegt und dann ordnungsgemäß wieder heimwärts transportiert wird, um auf der Müllkippe seine letzte Ruhe zu finden?« »Wieso Bahamas?« »War nur so ne Vermutung von Ziegler«, erklärte Bundschuh müde, versah sein Männchen mit einem langen Strich zwischen den Beinen, begutachtete sein Werk kritisch, erweiterte dann aber dieses anatomische Detail zur Darstellung einer kurzen Hose und malte zur Vervollständigung noch einen Hut mit Feder auf den Kopf. Grabbe beobachtete ihn bewundernd. Mertens brütete dumpf vor sich hin. Kloess stand steifbeinig auf, ging zur Tür und studierte den dort aushängenden Wochenspeiseplan der Kantine, seufzte und hing sich wieder in seinen Stuhl. »Also los«, sagte er sachlich, »was wissen wir über Jorde? Willi, fang mal an!« Mertens suchte einen Augenblick zwischen seinen Papieren. »Die Sache ist folgende«, begann er langatmig. »Am 24. Juli letzten Jahres kam eine Anfrage aus Schweden durch. Die wollten wissen, ob ein gewisser Jorde, Karl-Heinz, bekannt war, also, ob wir den im Computer haben. Hatten wir aber nicht. Jorde war zusammen mit einem Schweden verhaftet worden nach einer Bootsfahrt, bei der ein dritter Mann, auch Schwede, verschwunden war. Aber die haben Jorde offensichtlich wieder laufenlassen. Wär' bei uns nicht drin gewesen, aber die Schweden mit ihren komischen Methoden hab'n ihm wahrscheinlich noch die Fahrkarte nach Hause geschenkt und am Zug mit'm Taschentuch gewinkt.« »Mach es nicht zu ausführlich, Willi«, mahnte Kloess. »Als der Name Jorde im Zusammenhang mit dem Fall Wawliczek bei uns auftauchte, hab' ich mal nachgefragt. Wir haben dann aus Schweden einen Bericht erhalten von einem Kommissar, warte mal, Lungwist oder so. Namen haben die! Der Jorde hat zusammen mit zwei Schweden 'ne Sauftour mit'm Motorboot gemacht. Dabei haben sie den einen verloren. Die Leiche wurde drei Wochen später ans Ufer gespült, zeigte aber keine Verletzungen, und die Sache wurde als Unfall, besoffen über Bord gegangen, zu den Akten gelegt.« »Am 28. Oktober«; übernahm Bundschuh, »dreht der Student Wawliczek bei einer Verkehrskontrolle durch und wird erschossen, versehentlich. Der Wagen, den er fährt, gehört nach unseren Informationen dem Zahnarzt Skobel, der jedoch nachweisen kann, daß sein Fahrzeug mit gleichem Kennzeichen seit 12 Tagen Schrott ist. Jorde, Sachbearbeiter in der Firma Ziegler, war mit der Abmeldung und Verschrottung des Wagens betraut. Verschrottet hat er ihn auch, aber nicht abgemeldet. Jorde kann nicht gehört werden, er ist ganz plötzlich in Urlaub gefahren, und zwar am Montag nach dem Unfall.« »Hat Langenberg die Sache eigentlich weiterverfolgt?« fragte Grabbe. 46
»Nee«, antwortete Kloess. »Autodiebstähle, auch im großen Stil, haben die wie Sand am Meer und sind so mit Arbeit eingedeckt, daß sie wahrscheinlich jeden küssen und umarmen, der ihnen einen Fall abnimmt.« »Die Sache geht über Wawliczek«, orakelte Mertens. »Das ist 'n Linker. Da hängt noch viel mehr mit drin!« Alle stöhnten auf. Bundschuh verwischte sein Männchen. »Willi hat vielleicht gar nicht so unrecht«, sagte Kloess. »Wir wissen von Wawliczek, daß er für irgendeine Firma als Chauffeur arbeitete, und der Wagen, in dem er saß, war 'ne Doublette, eindeutig. Aber es gibt noch mehr Hinweise. Jorde hatte, jedenfalls wenn ich mir die Wohnungsbeschreibung ansehe und an sein Auto denke, einen ziemlich kostspieligen Lebensstil. Er hat zwar gut verdient, aber so viel nun auch wieder nicht. Und Wawliczek muß auch kürzlich zu Geld gekommen sein.« »Wenn du an die Hi-Fi-Anlage denkst, dann finde ich das aber ziemlich weit hergeholt, Rainer«, wandte Grabbe ein. »Ich kenne 'ne Menge Leute, die essen den ganzen Monat nur Pommes, besitzen aber Spitzenanlagen. Das gibt genug solche Verrückten!« Kloess nickte. Er dachte an den Beginn seiner Ehe, als in der leeren Wohnung außer dem Bett auch nur ein Plattenspieler gestanden hatte. »Ist ja auch nicht der Faden, an dem alles hängt«, gab er zu. »Aber wir haben nicht viel, woran wir uns halten können. Auf jeden Fall müssen wir uns die Arbeitskollegen von Jorde vornehmen. Freunde muß er ja auch gehabt haben. Vielleicht sollten wir auch den Skobel noch mal aufsuchen.« »Ich nicht«, sagte Bundschuh sofort. »Ich hab' heute nachmittag 'nen Termin bei der Verlobten, der ehemaligen Verlobten von Jorde.« »Ich schick' 'nen Telex nach Schweden«, erbot sich Mertens. 24 Die junge Frau, vormals Fräulein Kaiser, jetzige verehelichte Hemp, war schwanger, was ihr gar nicht so übel stand. Sie hatte sich offensichtlich zurechtgemacht für dieses Gespräch und bat Bundschuh schüchtern lächelnd in ein übertrieben gepflegtes und aufgeräumtes Wohnzimmer. Bundschuh setzte sich mit seinen nicht mehr ganz frischen Jeans vorsichtig auf einen cremefarbenen Samtveloursessel und bemühte sich, mit seinen Schuhen keine Spuren am Polster zu hinterlassen. Frau Hemp weinte zunächst ein bißchen, besann sich dann aber auf Gastgeberpflichten und bot Kaffee an. »Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen helfen kann«, sagte sie leise. »Ich hab' KarlHeinz ja schon so lange nicht mehr gesehen.« »Wie lange waren Sie mit Herrn Jorde verlobt?« Frau Hemp errötete. »Wissen Sie, eigentlich waren wir nicht richtig verlobt«, sagte sie mit gesenktem Kopf. »Ich hab' das nur so gesagt, in der Firma. Alle fragten mich; Karl-Heinz machte sich ja nichts aus dem Gerede, aber ich war doch die 47
Jüngste da. Ich hab' zu Anfang auch gedacht, das wird was Ernstes. Es war meine erste Stelle nach der Lehre, und Karl-Heinz war so nett zu mir. Die anderen Mädchen waren richtig eifersüchtig. Als es dann auseinanderging, hab' ich die Firma gewechselt, und da hab' ich dann auch meinen Mann kennengelernt.« »Wann haben Sie die Firma Ziegler verlassen?« »Das war im Frühling, letztes Jahr.« »Und seitdem haben Sie Herrn Jorde nicht mehr gesehen?« »Nein.« »Und wie lange waren Sie mit ihm befreundet?« »Acht Monate.« Bundschuh blickte erstaunt von seinen Notizen auf. »Er war mein erster fester Freund, ich hab' auch Tagebuch geschrieben, und deswegen .. .« erklärte sie linkisch. »Was für ein Mensch war Herr Jorde?« Frau Hemp sah ihn verständnislos an. »Versuchen Sie bitte, ihn zu beschreiben, seine Art, seine Hobbys. Was taten Sie, wenn Sie zusammenwaren?« Frau Hemp lief erneut dunkelrot an. »Ich weiß nicht«, sagte sie unsicher. »Er war sehr tüchtig. Er arbeitete viel, auch noch am Wochenende. Kr hatte nicht oft Zeit; wir sind nicht so viel ausgegangen, mal ins Kino oder essen.« »Haben Sie sich nie mit Freunden getroffen, gemeinsam etwas unternommen?« Frau Hemp schüttelte den Kopf. »Ich hatte nur eine Freundin, und die mochte Karl-Heinz nicht. Und seine Freunde, er hat immer gesagt, die Gespräche interessieren dich doch nicht. Die war'n wohl alle auch sehr tüchtig und gebildet. Ich hab' nämlich nur Hauptschule.« Bundschuh fragte sich, was Jorde mit seinen kostspieligen Interessen wohl an diesem naiven und blassen Mädchen gefunden haben mochte. »War Herr Jorde großzügig?« Die Frau blickte Bundschuh mit Kalbsaugen an. Er seufzte. »Hat er Ihnen oft etwas geschenkt, Blumen mitgebracht, war er großzügig mit Geld, meine ich?« »Ich weiß nicht. Karl-Heinz hatte schon immer Geld. Von den Reisen hat er mir mal Parfüm mitgebracht.« »Ist er oft verreist?« »Ja, er mußte manchmal übers Wochenende weg, geschäftlich.« »Wissen Sie, wohin er gefahren ist?« Frau Hemp schüttelte den Kopf. »Aber es muß weit weg gewesen sein«, sagte sie ehrfürchtig. »Was?« Die Frau wurde schon wieder rot. »Einmal, also, ich hatte gedacht, er hat vielleicht 'n anderes Mädchen, weil er am Wochenende immer keine Zeit hatte. Und da hab' ich mir den Kilometerstand ge48
merkt auf seinem Wagen und nachgeguckt, als er wieder aufm Hof stand. Das waren über 2000 km, die er gefahren war. Und so weit fährt man doch nicht wegen einer Frau, nicht?« Sie blickte Bundschuh hoffnungsvoll an. »Nein, wohl nicht«, antwortete er tröstend. »Waren Sie nie gemeinsam in Urlaub mit Herrn Jorde?« Frau Hemp verneinte. »Ich bin in den Ferien immer zu meinen Eltern gefahren. Die wohnen in Hameln.« Bundschuh gingen allmählich die Fragen aus. »Frau Hemp, Herr Jorde ist ermordet worden. Irgend jemand muß es getan haben. Wissen Sie vielleicht, ob er Feinde hatte, war jemand wütend auf ihn, in der Firma Ziegler zum Beispiel, gab es da vielleicht Neider, jemand, den Jorde verdrängt hatte?« Bundschuh fand selber, daß sich seine Frage idiotisch anhörte. Die Frau riß entsetzt die Augen auf. »Aber Sie glauben doch nicht, daß ich ... Ich hab' ihm nie Vorwürfe gemacht, als er Schluß machen wollte, ich ...« »Nein, nein«, beeilte sich Bundschuh zu versichern. »Frau Hemp, wir haben Sie nicht in Verdacht.« Warum eigentlich nicht, dachte er, es wäre nicht das erste Mal, daß so ein verhuschtes Mädchen aus gekränkter Eitelkeit oder verschmähter Liebe solche Wahnsinnstat begeht. Allerdings konnte er sich Frau Hemp nur schlecht vorstellen, wie sie auf der Georgswerder Müllkippe Jordes Leiche vergrub. »Ich dachte eher, Sie als Frau haben doch vielleicht ein feineres Gespür dafür, wenn irgend jemand Jorde nicht wohlgesonnen war.« Herr im Himmel, dachte Bundschuh. Frau Hemp schüttelte energisch den Kopf. »Nein«, sagte sie bestimmt. »Alle mochten Karl-Heinz gern. Seine Freunde kenne ich nicht, und er hat mir auch nicht viel davon erzählt, aber das glaube ich nicht. Der eine hat ihm doch sogar sein Auto geliehen für den Urlaub, im Sommer vor zwei Jahren.« Sie stand auf, eilte zur Wohnzimmerschrankwand und wühlte in einer Schublade, bis sie ein Päckchen Fotos, mit grünem Band zusammengehalten, hervorzog. »Hier«, sagte sie stolz, »das hat er mir mal geschenkt.« Sie schob Bundschuh eine postkartengroße Fotografie hin. »Das ist der Wagen, mit dem durfte er nach Italien fahren.« Das Bild zeigte Jorde halbnackt auf dem Kühler eines Sportwagens sitzend. »Das ist ein Jaguar E-Type«, sagte Bundschuh anerkennend. »Ja, ich weiß. Wir hatten solche auch bei Ziegler. Darf ich das Foto behalten? Es ist das einzige, das ich von Karl-Heinz habe.« »Doch, doch«, Bundschuh schob ihr das Bild hin, das sie sorgfältig wieder verstaute. Er erhob sich. »Frau Hemp, ich danke Ihnen. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, bitte rufen Sie uns an!« Die Frau dachte angestrengt nach. Bundschuh wartete geduldig. »Der das dem Karl-Heinz angetan hat, ich glaube, das muß ein ganz schlechter Mensch sein!« sagte sie schließlich nachdenklich. 49
»Ja, da mögen Sie recht haben. Ich bin Ihnen sehr dankbar für diesen Hinweis«, antwortete Bundschuh mit tiefem Ernst. 25 Am Telefon meldete sich eine verschlafene Männerstimme. »Ja?« »Kloess hier, ich hätte gern Patricia gesprochen.« »Tish ist nicht da, die is' im Studio.« »Im Studio?« fragte Kloess verblüfft. »Was denn für ein Studio?« Der Mann gähnte herzerweichend. Kloess blickte auf die Uhr. Es war fünf Uhr nachmittags. Vielleicht war »ein Gesprächspartner Nachtarbeiter oder Lehrer. »Na, das Fitneßcenter, am Hofweg.« »Ach so, sie treibt Sport.« »Nee«, sagte der Mann. »Der Laden gehört Tish. Sag'n Sie mal, wer sind Sie eigentlich?« »Ein Bekannter«, antwortete Kloess und legte auf. Während Bundschuh mit der schwangeren Frau Hemp plauderte, war Kloess nochmals zu Ziegler gefahren, um die Arbeitskollegen Jordes zu befragen. Es hatte sich gezeigt, daß diese Zieglers Begeisterung zumeist nicht so recht teilen konnten. Zwar hatten sich alle sehr vorsichtig ausgedrückt, getreu der Devise, daß man über einen Toten nichts Schlechtes sagen sollte, doch beschrieben sie Jorde ziemlich übereinstimmend als großkotzig und unkollegial, kurz als jemanden, der nach oben buckelt und nach unten tritt. Immerhin hatte Kloess erfahren, daß die Liaison mit der braven Frau Hemp durchaus nicht Jordes einzige Aktivität auf diesem Gebiet gewesen war. Auch die Telefonistin und die Mädchen in der Verwaltung hatten ein paar Tränen in Erinnerung an schöne Stunden vergossen. Wieder im Büro, hatte Kloess sich daraufhin die Damen in Jordes Telefonregister vorgenommen, die ihm bereits aus der Firma Ziegler bekannten Namen abgehakt und war endlich auf besagte Patricia gestoßen, vor deren Fitneßcenter er jetzt stand. Patricia Krause, Jazztanz, Aerobic, Bodybuilding, Massagen, las er. Vielleicht war der müde Mann am Telefon doch kein Lehrer gewesen; Nachtarbeiter paßte schon besser. »Kommen Sie Ihre Frau abholen?« fragte das Mädchen am Tresen, der gleichzeitig als Bar diente. Sie hatte eine fehlerlose Figur, welche sie geschickt zur Schau stellte. Als Aushängeschild des Unternehmens war sie bestens geeignet. Vielleicht hatte sie aber auch noch verantwortungsvollere Aufgaben wahrzunehmen, in der Sparte Massagen etwa, dachte Kloess schlüpfrig. »Ich möchte Frau Krause sprechen«, sagte er dennoch völlig sachlich und zeigte seinen Ausweis. »Oh, Tish ist beschäftigt, aber gehen Sie ruhig rein. Die sind bald fertig.« Kloess trat durch die Tür, auf welche das Mädchen mit der Renommierfigur wies, und blieb verwirrt stehen. Der Raum war in dämmeriges Licht gehüllt, zarte 50
Klänge tröpfelten aus unsichtbaren Lautsprechern. Auf dem Boden lagen etwa 20 Frauen mit unterschiedlich dicken Bäuchen und entspannten sich, wie Kloess den mit sanfter, suggestiver Stimme vorgetragenen Anweisungen entnahm. Einige Männer waren auch am send, machten tapfere Gesichter und entspannten sich ebenfalls. Gerade als Kloess von einer bleiernen Müdigkeit überfallen wurde, änderte sich die Musik, wurde lauter, abgehackter. Wie auf Kommando wälzten sich alle Frauen auf den Rücken, umfaßten die angewinkelten Knie mit den Händen und produzierten hechelnde Atemgeräusche. Die anwesenden Männer durften bei dieser Übung offensichtlich nicht mitmachen. In dieser Stellung konnte Kloess ohne Schwierigkeiten die einzige nichtschwangere Frau im Raum ausmachen. Tish lag inmitten ihrer Schützlinge und preßte eifrig mit. Mit dem Kommando »Becken lockern« erhob sich Patricia Krause endlich und entdeckte ihn an der Tür. Ohne ihre Anweisungen zu unterbrechen, kam sie lächelnd auf ihn zu. Sie war unnatürlich schlank und sah in ihrem türkisfarbenen Trikot, das im unteren Drittel gestreift und im oberen Drittel tief ausgeschnitten war, sehr mädchenhaft aus. Kloess beschloß, es kurz zu machen und kramte seinen Ausweis hervor. Sie hörte auf zu lächeln, ging zur Tür und rief: »Gitte, übernimmst du mal.!« Aus der Nähe besehen wirkte sie erheblich älter. Patricia Krause legte ein Handtuch um und verdeckte den Ausschnitt, was wirklich nicht notwendig gewesen wäre, da es ohnehin nichts zu sehen gab, und geleitete Kloess in ihr Privatbüro. Hier hörte sie ihm zu, ohne zu unterbrechen, quittierte die Nachricht von Jordes Tod lediglich mit einem leichten Anheben ihrer gepflegten Augenbrauen und wartete im übrigen unbewegt, bis Kloess geendet hatte. »Ich verstehe«, sagte sie dann, »und jetzt wollen Sie von mir wissen, in welcher Beziehung ich zu Karl-Heinz stand und ob ich ein Alibi habe? Das erste ist schnell beantwortet. Karl-Heinz war mein Liebhaber, hin und wieder. Aber was ich an irgendeinem Tag vor Monaten getan habe, das weiß ich wirklich nicht!« Kloess erklärte, daß es weniger um ein Alibi als um Informationen über Jorde gehe, seine Interessen, Freunde, Freizeitbeschäftigungen. »Da muß ich passen.« »Aber Sie werden doch dieses oder jenes von Ihrem Freund gewußt haben«, beharrte Kloess. »Karl-Heinz war mein Liebhaber, nicht mein Freund«, sagte sie mit Nachdruck. »Um gleich Ihren Fragen zuvorzukommen, Herr Kloess: Ich habe mehrere Liebhaber. Manche bleiben weg, andere kommen dazu. Karl-Heinz war einer von ihnen. Wir hatten, außer der einen Sache, absolut keine gemeinsamen Interessen. Ich habe meinen Beruf, meine Freunde, er hatte die seinen. Ich weiß nicht einmal, wo er gearbeitet hat. Er gab vor, Geschäftsführer zu sein, aber dafür war er eigentlich etwas zu jung, hatte auch nicht den Stil.« »Haben Sie Geld von Herrn Jorde bekommen?« 51
Sie lächelte nachsichtig. »In meinem Alter bekommt man im allgemeinen kein Geld mehr von den Männern, schon gar nicht, wenn sie jünger sind. Mein lieber Kommissar, wenn Sie das hier meinen«, sie machte eine ausgreifende Handbewegung, »das ist mein Laden, ausschließlich. Ich habe von meinem Mann nach der Scheidung eine angemessene Abfindung bekommen und diesen Betrieb hier aufgebaut. Er ist eine Goldgrube! Ich suche mir meine Liebhaber nach anderen Gesichtspunkten aus, das ist nur einer der Vorteile, die eine unabhängige Frau genießen kann. Und, um das Thema abzuschließen, ich pflege meine Männer auch nicht auszuhalten. Wer bleiben will, bleibt, wer nicht, geht eben! Karl-Heinz hatte übrigens selbst genug Geld.« »Hatten Sie das Gefühl, daß Herr Jorde wohlhabend war?« »Wohlhabend ist nicht der richtige Ausdruck. Er hatte immer Geld, aber er benahm sich so, als hätte er es noch nicht lange. Wir sind zwei-, dreimal essen gegangen zusammen, und er bestand darauf zu zahlen. Er gab zuviel Trinkgeld, bestellte auch immer das Teuerste, nicht, weil es ihm schmeckte, sondern weil er es bezahlen konnte. Wir sind dann später nicht mehr ausgegangen.« »Warum nicht?« »Ein gutes Essen dauert mindestens zwei Stunden. Wir hatten uns nichts zu sagen; die Zeit war mir zu lang«, erklärte sie nüchtern. »Außerdem hatte er keine Manieren«, setzte sie noch hinzu. »Wie oft haben Sie sich mit ihm getroffen?« »Karl-Heinz kam zu mir. In seiner Wohnung bin ich nie gewesen. Er rief meistens an, so zweimal im Monat. Manchmal paßte es mir, oft auch nicht. Also, ich würde sagen, so einmal im Monat haben wir uns gesehen.« »Wann war das letzte Mal?« Frau Krause zog einen Kalender zu Rate, der auf ihrem Schreibtisch lag. »Angerufen hat er mich noch mal im Oktober, Ende Oktober. Daran erinnere ich mich, weil er ziemlich impertinent wurde. Er wollte mich unbedingt sehen, aber ich hatte an dem Wochenende Besuch aus Jamaica.« Sie sagte das so, als spräche sie von Pinneberg oder allenfalls Bad Kreuznach. »Davor hatten wir uns am 30. August gesehen. Ich weiß das so genau, weil ich zwei Tage später auf die Malediven geflogen bin.« Sie hielt Kloess den Kalender hin, auf dem sie ihren Abflugtermin notiert hatte. »Dieser letzte Anruf, könnte das am 30. oder 31. Oktober gewesen sein?« Patricia Krause überlegte. »Schon möglich, aber sicher weiß ich es nicht. Ich kann aber meinen Bekannten fragen, er wird schon genau sagen können, wann er in Hamburg war. Das wird allerdings etwas dauern. Die Telefonverbindung nach Jamaica ist oft sehr schlecht!« »Sie sagten, Herr Jorde wäre impertinent gewesen. Wie genau ist das Gespräch verlaufen?« Sie sah zum ersten Male während des Gesprächs auf die Uhr. »Ich habe in 15 Minuten einen Kursus und muß mich noch warm machen. Das Gespräch mit Karl52
Heinz war kurz. Er wollte mich unbedingt sehen. Ich sagte ihm, das ginge nicht. Darauf wurde er sehr aufgeregt und meinte, er hätte mir etwas Wichtiges zu erzählen. Dann war ich nun wirklich nicht interessiert, und das sagte ich ihm auch. Er begann, mich zu beschimpfen. Möchten Sie daß ich das auch wiederhole? Jedenfalls legte ich auf und dachte, na, das war's denn wohl. Und so war es dann auch, allerdings anders, als ich gedacht hatte.« Kloess erhob sich. »Frau Krause, Sie waren sehr offen. Ich danke Ihnen dafür!« »Das ist nicht notwendig«, gab sie zurück, »das bin ich immer!« 26 Die Schreie und Hilferufe wurden dringlicher. Kloess hastete den Berg hinauf, versank jedoch immer wieder bis zu den Kniekehlen im Müll. Er sah sich hilfesuchend nach Claus Bundschuh um, aber der stand am Fuße des Müllberges und machte Gymnastik. Die Schreie steigerten sich zu einem hohen Diskant. »Verdammt noch mal, so hilf mir doch!« wollte Kloess schreien; aus seiner Kehle kam nur ein unartikulierte Krächzen. In diesem Moment bog ein silbergraue Sportcoupé um die Ecke und hielt neben Bundschuh. Mertens stieg ungewöhnlich behende aus, zog seine Waffe, zielte auf Kloess und schoß. Bevor er den Knall des Schusses hören konnte, wachte Kloess auf. Kristina neben ihm bewegte sich unruhig. Das klägliche Jammern kam aus dem Kinderzimmer. Kloess wartete ein paar Minuten, ob Kristina aufstehen würde, seufzte dann und wälzte sich mühsam aus dem Bett. Im Flur begegnete ihm Anna. »Sie hat durchgepiescht«, erklärte sie verschlafen und verschwand schnell in ihrem Zimmer, bevor ihr Vater sie zu irgendeiner Art von Mithilfe auffordern konnte. Kloess pellte die schluchzende Lotta aus dem nassen Schlafanzug, suchte im Schrank herum, zog ihr frische Wäsche und einen neuen Pyjama an, nahm das Laken ab und legte über die feuchte Stelle auf der Matratze ein Handtuch. Lotta krabbelte ins Bett, rollte sich auf dem Badelaken zusammen wie ein kleiner Hund und war schon wieder eingeschlafen, bevor Kloess sie zudeckte, die nasse Seite des Deckbettes nach außen. Kloess sammelte die Wäsche und das Laken zusammen, warf alles im Badezimmer auf den Boden und war hellwach. Leise ging er nach unten in die Küche, entkorkte eine Flasche Wein und trank ein Glas im Stehen. Es war halb vier. Eine Weile suchte er nach Kristinas Tabak, nahm dann den Wein und das Glas, setzte sich an seinen Schreibtisch und begann zu lesen. Jorde, Karl-Heinz, geboren 10. 4. 1958 in Mönchengladbach, zwei ältere Brüder, Vater selbständig, kleines Tabak- und Zeitschriftengeschäft. Realschulabschluß auf der Handelsschule, Automechanikerlehre, 1979 Umzug nach Hamburg, Beschäftigung als Mechaniker, später auch Verkäufer bei OPEL UDE in Eilbek, ab 1980 bei Ziegler. 53
Kloess blätterte in den Aussagen der Eltern und Brüder, in denen die Worte »fassungslos« allein fünfmal und »unverständlich« siebenmal vorkamen, die darüber hinaus aber keine weiteren Informationen lieferten. Jorde schien der Star der Familie gewesen zu sein. Kloess schenkte sich noch ein Glas Wein ein und las grinsend das Protokoll der Vernehmung von Frau Hemp. Verständlich, daß Jorde sich zum Ausgleich der grenzenlosen Bewunderung dieses Schäfchens versichert hatte. Patricia Krause war auf die Dauer sicher nicht sehr aufbauend für sein Selbstbewußtsein gewesen. Es folgte die Liste der überprüften Telefonnummern aus Jordes Verzeichnis. Mertens hatte sie in seiner pingeligen, akkuraten Schrift erstellt. Die aufgeführten Namen waren in drei verschiedenen Farben unterstrichen. Unten auf dem Bogen hatte er die Bedeutung erklärt: rot = haben wir schon, u. U. von Interesse, grün = uninteressant, bringt nichts, gelb = müssen wir noch mal. Die meisten Namen waren grün unterstrichen; überwiegend Autowerkstätten, Ersatzteilhändler, Autovermietungen, Schrottplätze. Patricia hatte einen gelben Strich. Kloess holte Lineal und Kugelschreiber aus der Schublade, setzte den Nachnamen Krause dazu und unterstrich beides sorgfältig mit rot. Einen Augenblick betrachtete er sein Werk nachdenklich, dann warf er verärgert Kugelschreiber und Lineal hin und trank sein Weinglas leer. Immerhin war in dem Telefonverzeichnis auch die Nummer von Wawliczeks Wohngemeinschaft aufgetaucht, der erste wirkliche Beweis für einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen, wenn sich auch niemand von Wawliczeks Mitbewohnern an einen Jorde oder Karl-Heinz erinnern konnte. Aber das mußte nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen. Kloess spielte einen Moment mit dem Gedanken an eine Verbindung zur Terrorszene, ließ die Idee aber sogleich wieder fallen. Mertens' Einfluß war doch stärker, als er vermutet hatte. Plötzlich verspürte er Hunger und ging in die Küche, um sich ein Käsebrot zu machen. Draußen hatte es gefroren. Die Straße war mit einer glitzernden Eisschicht überzogen. Kloess bekam kalte Füße auf dem Fliesenfußboden und wanderte wieder zurück in sein Arbeitszimmer. Die Dame im Fitneßcenter hatte recht gehabt. Geldsorgen schien Jorde wirklich nicht gehabt zu haben. Sein Bankguthaben war beträchtlich, allerdings auch wieder nicht so hoch, daß es nicht mehr mit rechten Dingen zugehen konnte. Bei dem Gehalt! Wenn er ansonsten sparsam lebte! Aber gerade das hatte er nicht getan! Kloess verglich die Kontoauszüge: regelmäßige Gehaltsüberweisungen, seltene, meist kleinere Barabhebungen, ein paar Schecks. Seinen protzigen Lebensstil konnte er nicht mit dem Geld von diesem Konto finanziert haben, das stand für Kloess fest. Weiter brachte ihn diese Erkenntnis aber auch nicht! Der Wein tat seine Wirkung, Kloess wurde müde. Das Gespräch mit Langenberg war auch nicht dazu angetan gewesen, große Hoffnungen zu wecken und hemmu ngslosen Optimismus zu verbreiten. Zu den bekannten Kunden hatte Jorde jedenfalls nicht gehört. Der Handel mit gestohlenen Autos, vor allem mit Luxuswagen, war kein Ein-Mann-Unternehmen. Eine perfekte Organisation sorgte 54
dafür, daß die Fahrzeuge schnellstens Deutschland verließen und an ihre Bestimmungsorte - zumeist Italien und der Nahe Osten, manchmal auch die USA gelangten. Jorde paßte da höchstens als Mann für ganz untergeordnete Aufgaben Ins Bild. »Von da bis zu den Hintermännern ist es ein weiter Weg«, hatte Langenberg gesagt. Kloess kroch vorsichtig unter die Decke, ohne Kristina mit seinen kalten Füßen zu berühren, und schlief sofort ein. Es war fünf Uhr zehn. Um sechs würde der Wecker klingeln. Anna mußte zur Schule. 27 Über Nacht hatte es geschneit. Dicke, schwere Flocken machten innerhalb weniger Stunden alle Wege unpassierbar. Einzige Orientierungspunkte waren die rotweiß gestreiften Stangen gewesen, die bereits im Herbst von der Wegewacht zur Fahrbahnmarkierung aufgestellt worden waren. Doch ein kurzer, heftiger Wind im Morgengrauen hatte an den Stellen, wo der Wald lichter wurde und die steinigen Felder begannen, meterhohe Schneeverwehungen aufgetürmt. Das metallische Rattern der Schneeketten wurde langsam lauter, bis es das Hörspiel im Autoradio übertönte. Ljungqvist atmete auf und stellte das Radio ab. Es war sowieso eine Wiederholung aus der letzten Woche gewesen. Trotz des an sich leichtverständlichen Inhalts hatte Ljungqvist anscheinend wieder die Pointe nicht erfaßt: Ein junger Waldarbeiter, Vegetarier, war bei der Elchjagd erschossen worden. Man hatte ihn vermutlich mit dem Tier verwechselt, wie auch immer. Der Elch blieb zunächst am Leben, starb aber später an einer Pilzvergiftung. Die Frau des Waldarbeiters tröstete sich mit dem Schützen, der gleichzeitig Bruder und Schwager ihres verstorbenen Gatten war. Die Schwägerin konnte ihrer Schwester nicht verzeihen und versuchte, ihr Problem psychoanalytisch in den Griff zu bekommen. Warum hatte sie nur den Elch vergiftet? »Hej, Äke!« Rotnasig, mit einem roten Overall mit Leuchtstreifen bekleidet, kletterte Johansson von seinem Trecker. Seine Schadenfreude konnte und wollte er nicht verhehlen. »Wie hast du das denn gemacht? Oi, joi!! War das Fräulein Norlén?« Ohne Ljungqvists Antwort abzuwarten, legte er die Stahlkette um die Anhängerkupplung seines Traktors. Das andere Ende befestigte er an der Vorderachse von Ljungqvists Saab 96, der im Graben das Aussehen eines verirrten Maulwurfs hatte. Behäbig stieg er zurück ins Führerhaus, grinste, zog seine Arbeitshandschuhe wieder aus, legte den zweiten Gang ein und gab Gas. Ein kurzer Ruck, ein unangenehmes Knirschen, und der Saab landete in seiner ursprünglichen Spur. Für einen Augenblick beschloß Ljungqvist, Johansson zu vergeben. Kein Gedanke mehr daran, daß Johansson im Sommer den für seinen Garten bestimmten Humus just vor der Toilettentür abgeladen hatte. Dadurch war Ljungqvist zwei volle Tage 55
davon abgehalten worden, die Fotos der königlichen Familie zu würdigen, die Fräulein Norlén dereinst anläßlich von Hochzeiten, Geburten oder ähnlichen historischen Ereignissen auf dem Klo deponiert hatte. Im Büro wurde er schon sehnlichst erwartet. Ljungqvist verzichtete darauf, weitschweifige Erklärungen über die Ursache seines desolaten Bekleidungszustandes zu geben, obwohl ihn Zettermarks Blick fast dazu veranlaßt hätte. »Ich hab' 'ne Überraschung für dich, Äke. Guck mal auf deinen Schreibtisch!« »Muß das sein?« »Ich kann nichts dafür«, entschuldigte sich Zettermark. »Das Telex ist heute morgen aus Hamburg gekommen. Wir haben es gleich übersetzen lassen.« »Das war nicht nötig. Ich kann Deutsch, Stig!« antwortete Ljungqvist beleidigt und machte es sich hinter seinem Schreibtisch bequem. Er kippelte mit seinem Schreibtischstuhl, verlor die Balance und stieß mit dem Hinterkopf gegen die Wand. »Jorde, Jorde? Das war doch .. .« ».. . der Fall Boström«, ergänzte Zettermark. »Sag' ich doch! Die Geschichte mit den beiden Anglern, am Vätternsee!« »Die Wasserleiche am Vättern«, berichtigte Kriminalassistent Zettermark. »Das ist ja 'n Ding! Erst Boström, jetzt der Jorde. Da war doch noch einer, wart' mal, nicht sagen. Ja, richtig, Olsson. Hab' ich recht?« »Ja, es waren drei auf dem Boot, und zwei sind jetzt tot!« bestätigte Zettermark. »Olsson lebt noch«, murmelte Ljungqvist nachdenklich. »Dann war da vielleicht doch mehr dran. Den will ich mir noch mal vornehmen. Gibt es sonst noch was Neues?« »Sjös Frau ist wieder schwanger!« 28 Die Straße nach Mullsjö war nur stellenweise vereist, aber besonders an Steigungen schlingerte der Wagen trotz der Spikes. Zettermark hielt sich krampfhaft mit der rechten Hand am Türgriff fest. »Keine Sorge, Stig, wir sind gleich da«, sagte Ljungqvist beruhigend, »nur noch ein bis zwei Meilen.« Stig Zettermark haßte Autofahrten, noch mehr haßte er Autofahrten bei Glatteis. Aber wenn Ljungqvist am Steuer saß, bekam er kleine Schweißperlen im Gesicht, die sich am Kragenrand sammelten, einen trockenen Mund und weiße Knöchel, die aus der geballten Faust heraustraten, während sich gleichzeitig die Fingernägel Ins Fleisch der Handflächen bohrten. Nur. der Sicherheitsgurt verhinderte, daß er noch weiter im Sitz herunter rutschte. Linker Hand lag mooriges Gebiet, wo Torf gestochen wurde, am Rande ein Bruchwald aus Birken, Krüppelkiefern und zerrupften Wacholderbüschen. An
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Sommermorgen waberte hier immer ein leichter Nebelschleier; jetzt war alles unter einer hohen Schneedecke versteckt. Der Feldweg war geräumt worden. An den Seiten häufte sich schmutziger Schnee. Olssons Unternehmen war in einem Holzschuppen untergebracht, rot gestrichen mit fallenden Paneelen. Vor, hinter und neben dem Schuppen standen zahlreiche Autos der unterschiedlichsten Fabrikate, alle mehr oder weniger im Zustand der Auflösung begriffen. Durch die Fenster der Werkstatt konnten Ljungqvist und Zettermark zwei Männer an einem Fahrzeug schweißen sehen. Es mußten die Gebrüder Olsson sein, ihre Ähnlichkeit war frappierend. Der ältere von beiden stellte sein Schweißgerät aus; ein kurzer Knall verhallte. Mit seiner Schutzbrille hatte der Mann das Aussehen eines glupschäugigen Frosches. »Kommissar Ljungqvist, Kriminalassistent Zettermark. Sind Sie Herr Ole Olsson?« eröffnete Ljungqvist das Gespräch. »Nee, ich bin Bosse. Das ist mein Bruder Ole.« Der jüngere Mann hielt immer noch das Ersatzteil, an dem sie gearbeitet hatten, mit zwei Eisenzangen fest. Er hatte den Mund leicht geöffnet und machte auch keine Anstalten, ihn in der nächsten Zeit wieder zu schließen. Gut, daß er eine Schirmmütze mit blaugelbem Aufdruck »Sverige är fantastiskt«* trug, denn sonst hätte man sehen können, daß ihm die Haare zu Berge standen. »Was wollen Sie hier?« »Herr Olsson, wir müssen mit Ihrem Bruder sprechen.« »So, müssen Sie, wir haben zu arbeiten!« »Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?« »Mein Bruder hat keine Geheimnisse. Sie können hier reden!« »Gut«, lenkte Ljungqvist ein, »wir haben noch einige Fragen zu dem Bootsunfall vom letzten Sommer.« Zettermark holte einen Notizblock heraus, bemerkte den kurzen, schnellen Blick, den Bosse seinem Bruder Ole zuwarf, und schickte sich an zu protokollieren. »Es geht um Herrn Jorde aus Hamburg; wie gut kannten Sie ihn?« Ole fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Wir ham 'ne Sauftour gemacht. Ich kenn' ihn bloß aus'm Urlaub. War schon 'n paarmal hier.« »Wie oft ist 'n paarmal?« »Na ja, so drei-, vier-, vielleicht fünfmal hab' ich ihn getroffen, weiß nich' so genau«, wich Olsson aus. »Herr Olsson, so kommen wir nicht weiter. Sie sollten der Polizei wirklich etwas mehr behilflich sein. Wir werden Sie sonst vorladen«, begann Ljungqvist zu drohen. »Aber ich hab' doch alles schon im Sommer gesagt! Was woll'n Sie denn noch? Das war 'n Unfall! Hat die Polizei doch selbst gesagt. Lassen Sie mich doch in Ruhe!« * Schweden ist phantastisch
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Ole Olsson sah jetzt unverkennbar verzweifelt aus. Er blickte fortwährend seinen Bruder an, als wollte er sich vor einer höheren Instanz als der Mordkommis sion rechtfertigen. »Sie hör'n ja, mein Bruder hat alles gesagt«, mischte »Ich Bosse ein, »was woll'n Sie eigentlich hier?« »Wir haben da ein Problem, meine Herren«, Ljungqvist wurde süffisant, »nur ein kleines Problem. Waren Sie übrigens in den letzten, sagen wir drei oder vier Monaten im Ausland?« »Wir? Nee!« sagten beide wie aus einem Munde. »Haben Sie Herrn Jorde seit dem Sommer wiedergesehen?« »Nee!« »Na, dann kann ich Ihnen vielleicht 'ne Neuigkeit mitteilen. Herr Jorde ist verstorben, genauer gesagt, er mordet worden, erschossen!« Ljungqvist genoß die Überraschung. Bosses Augen wurden schmal. Ole hantierte nervös mit den Eisenzangen, bis sein Bruder ihm schließlich das Spielzeug wegnahm und es auf den Boden warf. »Das tut uns leid«, sagte Bosse ausdruckslos. »Wir erwarten Sie morgen vormittag auf dem Kommissariat, damit Sie das Protokoll unterschreiben und gegebenenfalls ergänzen können«, verabschiedete sich Zettermark höflich. Der Streit zwischen den Brüdern mußte kurz und heftig gewesen sein. Die Pöbelei und die Schläge waren unüberhörbar gewesen. Nach kurzer Zeit rannten beide aus dem Schuppen. Ole schnappte sich einen Vorschlaghammer und hieb auf die erstbeste Karosse ein, bis er erschöpft den Hammer sinken ließ und auf das Trittbrett eines Abschleppwagens niedersank. Das »Hjälp«* der Lasteraufschrift gab seinen Seelenzustand wieder. Bosse verließ das Grundstück mit Vollgas; Schnee und Matsch spritzten zur Seite. Ljungqvist versuchte zu folgen, Zettermark schloß die Augen. Hinter dem LJUNGA Motel verloren sie Olssons Wagen. Zettermark griff trotz einer aufkommenden Übelkeit zum Sprechfunkgerät, um die Fahndung durchzugehen. Kurz darauf wurde das Fahrzeug nördlich von Jönköping von einer Verkehrsstreife gesehen. Es fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit in Richtung Bymarken, einem Villenviertel, bevorzugter Wohnort von Ge schäftsleuten, Architekten und Ärzten, die die Creme der Kleinstadtgesellschaft bildeten. Hier ging alles noch eine Spur gesitteter und langweiliger zu als im übrigen Jönköping. Am Wochenende fuhr man aufs Land oder ging ins Hotel PORTALEN zum Tanztee - je nach Jahreszeit. Die Frauen besuchten den Französisch-Kursus der Volkshochschule, um die Überschriften in den Kochbüchern zu verstehen oder die Autoren von Boulevard-Stücken richtig auszusprechen. Olsson gehörte nicht hierher; sein auf der Straße geparkter Wagen fiel auf. Ljungqvist fuhr eine Querstraße weiter, und Zettermark stieg dankbar aus. Von Olsson war nichts zu sehen. Sein Wagen stand direkt vor einem * Hilfe 58
eindrucksvollen Gartentor. An dem gemauerten Pfosten, der von einem steinernen Löwen gekrönt wurde und eine Gegensprechanlage enthielt, war ein kleines, verschnörkeltes Messingschild angebracht: Dr. Assari. »Na, denn woll'n wir mal sehen, ob wir über Assari was wissen«, sagte Ljungqvist zufrieden, nachdem Zetlermark unter Todesverachtung wieder ins Auto eingestiegen war. »Olsson lassen wir überwachen, und wir beobachten das Haus erst mal. Das kannst du machen. Ich lass' dir den Wagen, ich geh' zu Fuß.« »Und wie lange?« »Guck mal, was sich tut. Ich lass' dich später ablösen«, versicherte Ljungqvist tröstend. Ljungqvist dachte zwar an die Ablösung, jedoch erst nach mehreren Stunden, als Zettermark bereits zu der Überzeugung gelangt war, wenn schon nicht zu erfrieren, so doch an Langeweile zu sterben. Olsson hatte das Haus von Assari nach einer knappen halben Stunde wieder verlassen, und seitdem war absolut nichts passiert, das man als verdächtig hätte bezeichnen können. Zweimal waren in Pelz gehüllte Frauen vorbeigegangen, die ihre Hunde ausführten, von denen der eine versucht hatte, an den Reifen des Polizeiwagens zu pinkeln. Zettermark hatte schon gehofft, eingreifen zu können, aber die Frau hatte den Hund schnell weitergezerrt. Etwa eine Stunde später waren zwei Schulkinder mit Skiern den Hügel heraufgekommen und in dem gegenüberliegenden Haus verschwunden. Den Kollegen, die Olsson überwachten, ging es nicht besser. Bosse war von Dr. Assari unmittelbar zu seiner Werkstatt zurückgefahren und hatte diese bislang nicht wieder verlassen. Am frühen Nachmittag saß Zettermark endlich verfroren und restlos frustriert wieder im Büro und mußte zu seinem Erstaunen feststellen, daß Ljungqvist bereits tätig gewesen war und einiges über Dr. Assari in Erfahrung hatte bringen können. Der wohlhabende Doktor war Libanese, lebte seit 1971 in Schweden, war mit einer Schwedin verheiratet und hatte zwei Kinder. Seine Firma, die SCAN-ARABIAEXPO AB, hatte ihren Hauptsitz in Stockholm, weitere Niederlassungen befanden sich in Jönköping, Malmö und Göteborg. »Der lebt auf großem Fuß, Stig! Hat die Villa in Bymarken, 'ne Wohnung in Stockholm, außerdem noch ein Sommerhaus an der Westküste auf Smögen. Fährt zwei ausländische Luxuswagen und hat natürlich 'ne Segeljacht, die entweder im Jachthafen von Bankeryd oder vor Smögen liegt.« Die Informationen waren nicht dazu angetan, Zettermarks Stimmung zu heben. Ljungqvist aber war richtig in Fahrt. »Von der Einwanderungsbehörde weiß ich, daß Assari in den 6oer Jahren in Deutschland studiert hat, Ökonomie, erst in München, dann Hamburg. 1970/71 war er für einige Monate im Libanon.« »Und gegen den liegt nichts vor? Nicht mal was von der Steuerbehörde?« fragte Zettermark mißgünstig. »Absolut nichts!« Zettermark nieste. 59
»Wahrscheinlich hast du dich erkältet«, sagte Ljungqvist fröhlich. Zettermark gab keine Antwort und nieste statt dessen noch viermal, vorwurfsvoll sozusagen. »Ich frag' mich bloß, was der Olsson bei Assari wollte. Vielleicht hat er ja auch 'n Verhältnis mit seiner Frau«, sinnierte Ljungqvist. »Für 'ne halbe Stunde?« fragte Zettermark ungläubig. Ljungqvist schaute ihn befremdet an. 29 »Bitte Füße saubermachen!« Das Mädchen war sehr jung, dunkelhaarig, drall und auf eine bäuerische Art hübsch. Im Moment sah es sorgenvoll auf Ljungqvists verdreckte Schuhe, zuckte resigniert mit den Achseln und ließ ihn in der Halle stehen. »Ich Doktor holen, bitte warten!« Ljungqvist sah sich staunend um. Bunt verglaste Wandlampen warfen ein vielfarbiges Licht auf die Samttapete und den riesigen Orientteppich, auf dem er unsicher stand. Auf eine solche Umgebung war er nicht gefaßt gewesen. Er trat an einen der zahlreichen geschwungenen Spiegel, die die Wände der Halle zierten, stellte fest, daß er eine rote Nase hatte und auf den Wangen schlecht rasiert war und sah sich suchend nach einem Platz für seine nasse Pelzmütze um. Unter den Spiegeln standen hochbeinige Tischchen, beladen mit Nippes. Vorsichtig schob Ljungqvist seine Mütze zwischen ein Windlicht aus getriebenem Metall mit orientalischen Ornamenten und einen fetten, grinsenden Buddha, als Dr. Assari durch eine mit Brokatportieren verhängte Tür trat. »Mein lieber Herr Kommissar, ich muß mich entschuldigen! Das Mädchen ist noch neu. Sie kennen das sicher, Ausländerin, aus Jugoslawien, sehr fleißig, sehr gewissenhaft, aber keine Lebensart!« Dr. Assari nahm Ljungqvist höchstselbst den Mantel ab und geleitete ihn mit raumgreifenden Gesten in eine Art Salon, dessen Fenster, das über die ganze Breite des Raumes ging, einen atemberaubenden Ausblick auf den Vätternsee bot. Der Hausherr war offensichtlich nicht kleinlich, was die Mischung von Stilrichtungen und Herkunftsländern seiner Einrichtungsgegenstände anging. Und er mußte ein weitgereister Mann sein. Davon zeugten unier anderem Tempeltänzerinnen balinesischer Herkunft, Kupferkannen aus dem Allgäu, mittelamerikanische Keramik, eine arabische Wasserpfeife und elfen-beinerne Lampenfüße, für die vermutlich südostasiatische Elefanten ihr Leben oder zumindest ihre Zähne hatten lassen müssen. Ljungqvist bewegte sich vorsichtig, ständig in Angst, irgend etwas Kostbares oder Seltenes umzustoßen. Auf . einem zierlichen Sofa nahm er unbequem Platz. Dr. Assari war von kleiner Statur. Die hohen Blockabsätze seiner Schuhe und ein fülliges Toupet konnten daran nichts ändern. Er hatte weiche Gesichtszüge, eine gelbbraune Hautfarbe und war mit ausgesuchter Eleganz gekleidet. Sein Händedruck aber erwies sich wieder Erwarten als fest und angenehm. 60
»Was verschafft mir die Ehre, Herr Kommissar?« Eine leise, kultivierte Stimme, ein fast akzentfreies schwedisch. Dr. Assari legte Rauchutensilien auf einem Marmortischchen zurecht. »Herr Dr. Assari, wir möchten Sie um Ihre Mithilfe bei der Klärung eines Falles bitten«, begann Ljungqvist. behutsam. Er änderte seine Sitzposition ein wenig, um nicht ständig den indischen Wandbehang betrachten zu müssen, der ein Paar darstellte, das in einen komplizierten Liebesakt verstrickt war. »Aber gern, womit kann ich dienen?« »Im letzten Sommer hat es auf dem Vättern einen bedauerlichen Unglücksfall gegeben. Ein Mann ist dabei ertrunken. Wir hatten die Untersuchung bereits abgeschlossen, aber jetzt sehen wir uns gezwungen, erneut zu ermitteln. Kennen Sie einen Olsson, Bosse Olsson?« Dr. Assari schlug die Beine übereinander, blickte unverändert höflich interessiert und antwortete ruhig: »Ja, gewiß, den kenne ich. Er besorgt mir zuweilen schwer zu beschaffende Ersatzteile für meine Wagen.« »Pflegt er Sie privat aufzusuchen?« Dr. Assari runzelte die Stirn, die erste sichtbare Ge fühlsregung. »Wie darf ich Ihre Frage verstehen?« »Herr Olsson hat Sie gestern besucht. Er blieb etwa eine halbe Stunde.«' Dr. Assari zuckte nicht mit der Wimper. »Ich bat ihn zu kommen. Er sollte sich etwas an meinem Wagen ansehen. Herr Olsson ist stets sehr hilfsbereit.«, Ljungqvist rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. Sein Rücken tat ihm weh, die Hose kniff im Schritt. | »Kennen Sie auch den Bruder, Ole Olsson?« »Nein, bedaure.« Ljungqvist sah sich um. »Hübsch!« »Bitte?« »Hübsch haben Sie es hier. Sie fahren oft ins Aus land?« »Die üblichen Geschäftsreisen, hin und wieder nach Hause. Meine Eltern leben noch in Beirut.« »Sie haben in Deutschland studiert, Herr Dr. Assari. Haben Sie noch Kontakte aus dieser Zeit?« Dr. Assari wechselte seine Beinhaltung. »Sie sind gut über mich informiert, Herr Kommissar. Ich nehme an, Sie werden noch erklären, woher Ihr Interesse an meiner Person rührt. Ja, ich habe noch Kontakte nach Deutschland. Bei allen meinen Reisen mache ich, sofern es sich einrichten läßt, Zwischenstation in Hamburg, um meine alte Zimmerwirtin aus der Studienzeit aufzusuchen. Ich vermute, Sie möchten das nachprüfen, lassen. Hergenrötter, Frau Hergenrötter in Hamburg, Hartungstraße 12. Eine ganz reizende Dame!« Ljungqvist streckte vorsichtig sein eingeschlafenes linkes Bein aus, um das unangenehme Kribbeln zu bekämpfen. 61
»Kennen Sie einen jungen Deutschen, Jorde, Karl-Heinz Jorde?« »Nein! Sollte ich das?« »Herr Jorde ist ein Freund der Olssons.« »Der Bekanntenkreis der Brüder Olsson ist mir unbekannt!« Ljungqvist faßte Dr. Assari fest ins Auge, bevor er seinen Trumpf ausspielte. »Der Deutsche Jorde war letzten Sommer mit Ole Olsson dabei, als ein dritter Mann, Boström, ertrank. Wir haben nun Nachricht von der Hamburger Polizei erhalten, daß dieser Jorde ermordet worden ist.« Dr. Assari formulierte gedämpftes Bedauern. »Ich verstehe jetzt, Herr Kommissar, daß Sie Nachforschungen anstellen müssen. Aber leider sind mir sowohl dieser Herr Jorde als auch der bedauernswerte Ertrunkene völlig unbekannt. Sie haben sich den Weg zu mir somit umsonst gemacht. Wenn ich jedoch...« »Wann waren Sie zuletzt in Hamburg?« unterbrach Ljungqvist ihn schroff. Dr. Assari erhob sich und verschwand durch die Tür. Ljungqvist überlegte verdattert, ob das ein Fluchtversuch wäre, aber da erschien Assari schon wieder mit einem kleinen Buch in der Hand. »Ich war Ende Juli in der Schweiz und habe auf dem Rückflug Anfang August einmal in Hamburg übernachtet, genauer gesagt am 2. August. Gegen Abend habe ich Frau Hergenrötter aufgesucht. Am 3. August bin ich mit der 11-Uhr-Maschine nach Stockholm geflogen. Ich nehme an, das beantwortet Ihre Frage!« 30 Bundschuh roch die Frau, ehe er sie sah. Eine schwere, süße Duftwolke drang durch die Ritzen der geschlossenen Wohnungstür. Bundschuh vernahm ein schnarrendes Geräusch und stellte sich so, daß er durch das Guckloch in der Tür gut beobachtet werden konnte. Dann zog er seinen Ausweis aus der Tasche und hielt Ihn hoch. Er hörte das Geklapper einer Türkette, zwei Schlösser wurden betätigt, und Frau Hergenrötter öffnete endlich vorsichtig die Tür einen Spaltbreit. »Oberkommissar Bundschuh von der Kriminalpolizei. Wir haben telefoniert.« Frau Hergenrötter seufzte erleichtert, kicherte mädchenhaft und ließ Bundschuh eintreten. »Sie müssen entschuldigen, aber als alleinstehende Frau kann man nicht vorsichtig genug sein. Wenn ein Mann im Haus ist, dann ist das ja ganz was anderes, da würde man sich viel sicherer fühlen, nicht wahr?« Bundschuh nickte verdutzt und betrachtete fasziniert die kleine, zierliche Frau, der er gegenüberstand. Frau Hergenrötter mochte etwa 70 Jahre alt sein. Sie war stark, aber nicht ungeschickt geschminkt, trug ein Kleid in verschiedenen Rosatönen mit Puffärmeln und Volant am Saum, und Bundschuh wunderte sich, wieviel Schmuck an so einer kleinen Person unterzubringen war.
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Rosa schien die Lieblingsfarbe der Dame zu sein, denn Bundschuh wurde in ein überladenes Wohnzimmer geleitet, das ganz in Weiß und Rosé gehalten war. Heim Eintreten stieß er sich den Kopf an einer Samtschabracke über dem Türrahmen. Frau Hergenrötter war entzückt. »Ja, für so einen großen Mann ist das hier nicht gemacht. Ich bin ja leider nicht so hochgewachsen, klein, aber oho, das haben immer alle gesagt!« Bundschuh warf einen mitfühlenden Blick auf ihre mindestens zehn cm hohen Absätze, auf denen sie nicht sehr sicher vor ihm her schritt. »Darf ich Ihnen etwas anbieten? Ich selbst trinke ja nichts, aber wenn man Gäste hat, nicht wahr, ist es schön, wenn etwas da ist!« Bundschuh lehnte dankend ab und nutzte Frau Hergenrötters Atempause. »Wie ich schon am Telefon sagte, bearbeiten wir einen Fall, bei dem der Name Assari aufgetaucht ist. Herr Dr. Assari, der uns übrigens selbst an Sie verwiesen hat, war Ihr Untermieter?« »Ach, Anwar Assari, ja, der hat fast während seines ganzen Studiums hier gewohnt. So ein reizender Mensch! Sie sind meine zweite Mutter, hat er immer gesagt. Aus gutem Hause, schwerreiche Eltern im Libanon. Und anhänglich! Immer besucht er mich, wenn er es einrichten kann. Bringt Blumen mit und sagt, Frau Hergenrötter, Sie verändern sich gar nicht! Das ist natürlich geschmeichelt, an niemandem gehen die Jahre vorbei. Aber ich achte natürlich auch auf mich, vor allem auf die Figur, nicht wahr?« »Ja, wunderbar, tadellos«, antwortete Bundschuh überwältigt. »Früher sah ich natürlich besser aus. Goldblond war ich. Meine Schwester hat goldblondes Haar, hat mein Bruder immer gesagt. Das ist jetzt natürlich getönt. Grau macht ja so alt. Für wie alt halten Sie mich, schätzen Sie ruhig mal!« »Keinen Tag älter als 60«, sagte Bundschuh galant. Offensichtlich war es die falsche Antwort gewesen. Das Gespräch bekam eine sachlichere Wendung. »Was möchten Sie über Dr. Assari wissen?« »Nun, alles, was Sie mir erzählen können. Vor allem, mit welchen Leuten er verkehrte, was er in seiner Freizeit tat.« »Da kann ich Ihnen kaum weiterhelfen. Sein Privatleben ging mich nichts an. Da war er auch sehr diskret. Er war immer höflich und zuvorkommend, hatte wohl eine Menge Freundinnen, er sieht ja sehr gut aus, aber er hat nie eine hierhergebracht. Das hätte ich auch nicht geduldet!« »Dr. Assari hat doch mehrere Jahre bei Ihnen gewohnt. Da hat er nie Besuch von Freunden bekommen?« »Ich sagte Freundinnen! Freunde hat er wohl nicht so viele gehabt. Einmal war sein Bruder hier. Sonst kann Ich mich nur noch an einen erinnern, der war auch ganz reizend, brachte auch immer Blumen mit.« »Auch ein Libanese?« »Nein, das war ein Deutscher.« 63
»Wissen Sie noch, wie er hieß?« »Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Er hat sich natürlich vorgestellt, aber der Name? Ich glaube, Jürgen oder Jochen oder so was. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Aber er muß auch vermögend gewesen sein, er fuhr immer sehr teure Autos, Sportwagen. Dr. Assari hatte ja auch so einen kleinen. Ich bin mal mitgefahren, fand ihn ziemlich unbequem, sehr schwer beim Aus- und Einsteigen, eben mehr was für junge Leute. Mein Mann fuhr nur Mercedes. Seit er tot ist, bin ich ja wie angebunden, so ohne Wagen!« »Frau Hergenrötter, wann war Herr Dr. Assari das letzte Mal hier bei Ihnen?« »Ja, also, das war, bevor ich zur Kur fuhr, wegen der Beine. Im August, Anfang August. Vorher war er im März hier. Er kommt immer so zweimal im Jahr.« »Später, sagen wir Oktober oder November, war er nicht hier?« »Nein, nicht bei mir! Und er besucht mich immer, wenn er über Hamburg reist. Verdächtigen Sie Dr. Assari etwa wegen irgend etwas? Ich kann Ihnen versichern, er ist ein ganz korrekter Mensch. Er hat seine Miete immer pünktlich gezahlt, auch wenn der Scheck von seinen Eltern mal etwas später kam. Er hat mich nie warten lassen. Und fleißig war er! Nächtelang hat er mit seinen Büchern gearbeitet. Ich hab' schon immer gesagt, Anwar, ich muß Ihnen die Miete erhöhen, Sie brauchen zuviel Strom. Im Scherz, natürlich, das hätte ich nie getan, so einen netten Mieter bekommt man so leicht nicht wieder. Später habe ich auch keinen neuen genommen.« Bundschuh griff das Stichwort dankbar auf. »Apropos neu! Ich danke Ihnen, Frau Hergenrötter. Sie haben mir sehr geholfen. Wenn Ihnen noch etwas Neues einfällt, rufen Sie mich bitte an!« Jederzeit, hatte er noch sagen wollen, unterließ es dann aber lieber doch. Er hatte die Wohnung schon fast verlassen, als er das Foto in seiner Tasche spürte und sich daran erinnerte, daß er etwas vergessen hatte. Er zeigte Frau Hergenrötter Jordes Konterfei, aber sie war ganz sicher, daß sie diesen jungen Mann noch niemals zusammen mit Dr. Assari gesehen hatte. 31 Sie urinierten gemeinsam. Den ganzen Spätnachmittag hatten sie die Akten noch einmal durchgearbeitet und dabei Unmengen von Kaffee getrunken. Die Ausbeute ihrer Ermittlungen war mager gewesen. Angefangen hatte der Tag gut. Mertens war bestens gelaunt gewesen. Der HSV hatte ein Nachholspiel verloren, ein erneuter Beweis für Mertens, daß diese jungen Schnösel zuviel Geld verdienten. Grabbe sollte auf einen Lehrgang. Dieses war ihm trotz der vom Senat beschlossenen Sparmaßnahmen bewilligt worden. Ge radezu euphorisch wurde die Stimmung, als Grabbe eine Notiz aus seinem Leibund Magenblatt vorlas: »Hamburger Zahnärzte im Goldrausch!«
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Bundschuh feixte. Was war geschehen? Die Krankenkassen hatten bei Überprüfungen der zahnärztlichen Abrechnungen festgestellt, daß ihnen fingierte Material- und Laborkosten in Rechnung gestellt worden waren. Als auch der Name Skobel fiel, schlug Bundschuh sich vor Wonne auf die Schenkel. Seine gestrige Vernehmung der Frau Hergenrötter konnte er anschließend in gelockerter Stimmung wiedergeben. Kloess sah ins Urinal, starrte dann an die Wand, vermißte die üblichen Klosprüche und hörte eine Wasser Spülung ununterbrochen rauschen. Warum kamen sie bloß nicht weiter? Jede Spur, die sie verfolgten, verlief im Sande, wenn überhaupt von Spuren die Rede sein konnte. Langsam verblaßte die gelbliche Färbung der Flüssigkeit im Spülstein; es stank nach Ammoniak. Gut, die Geschichte begann vermutlich viel früher, vielleicht im letzten Sommer in Schweden. »Was hat bloß dieser Lennart Boström damit zu tun?« Bundschuh schaute ihn irritiert an. Gott sei Dank drehte er sich nicht auch noch um! »Wie kommst du denn ausgerechnet jetzt auf den? Hat das nicht bis morgen Zeit? Ich hab' wirklich die Nase voll!« Bundschuh wusch sich die Hände. »Kommst du?« »Ich bleib' hier.« »Hier?« »Nein, natürlich im Büro! Ich werd' die Unterlagen alle noch mal durchgehen!« »Na, wenn's der Wahrheitsfindung dient, Rainer. Dann leiste ich dir in Gottes Namen Gesellschaft!« Ihre Schreibtische waren bis zum Rande bedeckt mit Papieren und Fotos. Dazwischen standen etliche halbvolle Pappbecher mit Kaffee, Milchpulverdosen, Zucker und Süßstoff. Kloess haßte Pappbecher, hatte sich aber mit dieser Regelung abgefunden, damit das leidige Abwaschthema nicht täglich erneut diskutiert werden mußte. »Hör mal zu, Claus, was hier die Schweden schreiben. Die Schwester von dem Boström sagt aus, daß ihr Bruder in letzter Zeit so komische Andeutungen gemacht haben soll, daß er noch ganz groß rauskommt!« »Säufergeschwätz!« »Ja, vermutlich. Die Schwester hat sich nur gewundert, weil er sonst immer den armen Mann markiert hat und sie um Geld anging. Aber er war ganz obenauf und prahlte, daß er 'ne ganz große Sache in petto hätte.« »Na gut, nehmen wir an, Boström hat was gewußt von Jorde oder diesem anderen Schweden, das er zu Geld machen wollte, und die beiden haben ihn absichtlich ins Wasser fallen lassen. Das müßte doch eigentlich über diesen Olsson herauszukriegen sein. Aber was bleibt uns? Eine Verkehrskontrolle, ein toter Student, der als Chauffeur arbeitete, ein toter Jorde, bester Mann bei ZIEGLERSPORTSCAR.«
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»Jorde ist die Schlüsselfigur, der war in Schweden und hier dabei. Aber das nützt uns nichts. Und was haben wir noch, Claus?« »Einen kriminellen Zahnarzt«, sagte Bundschuh hoffnungsvoll. »Ach, vergiß den mal! Wir sollten uns darauf konzentrieren, daß wir es mit Autoschiebereien zu tun haben, und zwar mit Fahrzeugen, die ein gutes Stück oberhalb der Mittelklasse liegen.« Kloess ging zum Fenster und sah auf die abendliche Rush-hour. Alle Straßen schienen verstopft zu sein. In diesem Augenblick genoß er seine Überstunden. »Zwei Ermordete für einfaches Autoklauen?« »Claus, du vergißt, daß jeder Wagen mindestens so seine 20 bis 30 Mille bringt, steuerfrei. Das Geschäft lohnt sich.« Kloess blätterte lustlos in den Papieren. »Verdammt viele Sportwagen in diesem Fall. Mercedes, Jaguar...« »Was?« »Ich sagte, viele Sportwagen in diesem Scheißfall »Jaguar! Sag mal, der Jorde, das Foto, der saß doch auf so 'm Ding. Seine Verlobte hat mir noch erzählt, den hätte er geliehen bekommen vom Freund. Was für n Wagen fährt Assari?« Kloess suchte. »Jaguar Mark 10 und Jaguar E-Type«, antwortete er schließlich. »Laß die Fotos holen, das aus seiner Wohnung und das von seiner Verlobten!« 32 Mertens zog den Bauch ein, versuchte erfolglos, sein Jackett zuzuknöpfen, und zog statt dessen seine Hose ein Stück höher, so daß man seine grau-oliv gestreiften Socken besser sah. Die unwillkürliche Bewegung zum Schlipsknoten und ein leicht dümmliches Grinsen vervollständigten seine Vorstellung. »Darf ich bekannt machen, Willi Mertens, Doris Küchler. Frau Küchler wird uns in der Zeit, während Grabbe seinen Lehrgang absolviert, assistieren.« Bundschuh genoß Mertens' Verunsicherung. »Hm, ja, Tag, mein Name ist, wie gesagt, Mertens. Angenehm.« Er wußte nicht, ob er die Hand reichen sollte oder nicht. »Ich hab' die Fotos. War gar nicht so einfach, die Kleine wollte ihr's nicht rausrücken.« Mertens versuchte, sein Zuspätkommen zu kaschieren. »Und dann mußte ich zuerst den Hausmeister bei Jorde suchen. Hast du schon mal einen Hausmeister gesucht? In einem Hochhaus? Und die Hemp war natürlich zum Einkaufen, stundenlang. Wahrscheinlich irgendwo getratscht. Diese Hausfrauen, den ganzen Tag . . .« »Ich freue mich, Kollege Mertens, daß Sie auch dafür sind, daß Frauen berufstätig sein sollten. Auf gute Zusammenarbeit!« Doris Küchler streckte Mertens ihre Hand entgegen. Bundschuh grinste und griff nach den Fotos. Kloess beugte sich seitlich über ihn. »Na, Claus?« »Dacht' ich's mir doch! Dasselbe Foto, nur in Farbe. Aber fällt dir etwas auf?« 66
»Hm! Es kann nicht Assaris Wagen sein! Ist 'n Hamburger Kennzeichen, den Rest kann man allerdings nicht erkennen. Mußte sich der Jorde denn so blöde aufbauen!« »Nun sei mal zufrieden! Auf jeden Fall wissen wir, daß das Fahrzeug silbergrau ist, eine Dachantenne hat und...« Bundschuh zögerte einen Augenblick, »... das Modell 2/2 ist.« Kloess zog die Augenbrauen hoch. »Ich kenn' mich da jetzt aus, Rainer, Außendienst bildet!« »Und die Speichenräder?« »Sind beim E-Type obligatorisch«, erläuterte Bundschuh. »Was meinst du, wie viele Fahrzeughalter in Frage kommen?« »Ich frag' bei der Zulassungsstelle nach und erstell' 'ne Liste von sämtlichen Besitzern der letzten zwei Jahre«, erbot sich Mertens eilfertig. »Übrigens, Fräulein Küchler, ich bin hier der Vertrauensmann fürs BHW. Sollten Sie einmal Fragen in bezug auf Bausparverträge haben, ich mein', jetzt, wo das Vermögensbildungsgesetz geändert worden ist. Ich berat' Sie gern fachmännisch, jederzeit. Die Materie ist ja nicht so einfach, und für eine Frau .. .« Doris Küchler lächelte ihn an. »Willi, ich hab' vergessen, dir zu sagen, daß Frau Küchler vom Dezernat für Wirtschaftskriminalität zu uns gekommen ist«, sagte Kloess trocken. Mertens schluckte, öffnete langsam den Mund, vergaß, ihn wieder zu schließen, und lief vom Hals aufwärts rot an. »Na, dann geh man los wegen des Kennzeichens«, sagte Bundschuh mitleidig. »Wir geben inzwischen Frau Küchler 'ne Zusammenfassung.« 33 In Ermangelung einer besseren Idee war Kloess wild entschlossen, sämtliche in dem Fall aufgetauchten Personen nochmals befragen zu lassen. Doris Küchler hatte er zu den Eltern der verunglückten Studentin Ursula Walkmann geschickt. Bundschuh, fasziniert von seiner Idee einer Verwicklung Skobels in den Fall, hatte mittlerweile seine Kenntnisse über die Goldbetrügereien derartig vervollständigt, daß es praktisch unmöglich war, mit ihm über etwas anderes als über Zahnärzte zu sprechen. Mertens war vor geraumer Zeit abgezogen und noch nicht wiederaufgetaucht. Draußen herrschte Hamburger Schmuddelwetter. Der Januar nahm und nahm kein Ende. Schröder hatte kurz hereingeguckt, etwas von schleppender Bearbeitung eines an sich simplen Falles gemurmelt und sich wieder zu seinen höheren Aufgaben zurückgezogen. Kloess überdachte, was er von Langenberg über Autoschiebereien erfahren hatte. Allein im letzten Jahr waren rund 13.000 Autos verschwunden, von denen nur die Hälfte wiederaufgetaucht war. Die meisten Wagen gingen ins Ausland, ein riesiger 67
grauer Markt, der in keine Handelsbilanz einging. Die Chancen, die Drahtzieher dieses Geschäftes dingfest zu machen, waren ausgesprochen gering. »Die meisten werden bloß durch Zufall geschnappt«, hatte Langenberg selbstkritisch geäußert. Zufälle, so wie die Verkehrskontrolle zum Beispiel! »Wo bleibt denn Mertens, verdammt noch mal? Das kann doch nicht so kompliziert sein, die Fahrzeughalter herauszufinden. Wieso ist er überhaupt abgehauen, hat er noch nie etwas von einem Telefon gehört?« Kloess war schlecht gelaunt. Außerdem hatte er sich mit Kristina gestritten, weil diese sich weigerte, die ab gerissenen Knöpfe seiner Hemden wieder anzunähen. Er schlug die losen Zipfel übereinander, stopfte sie in seine Hose, stand auf und stellte den Kassettenrecorder an. »Mußt du deinen Disco-Scheiß so laut stellen?« beklagte sich Bundschuh, der gerade ausrechnete, wieviel Gewinn ein Zahnarzt bei der Versorgung eines Patienten mit partiellem Zahnersatz machen konnte. »Das ist kein Disco, du Ignorant, das ist Bruce Springsteen«, antwortete Kloess gekränkt und stellte die Musik unwesentlich leiser. Bevor er das Thema vertiefen konnte, erschien Doris Küchler. Sie hatte gerötete Wangen, schüttelte ihren nassen Mantel aus und war unverschämt gut gelaunt. »So, das hätten wir! Ich tipp' das eben.« Sie setzte sich an die Maschine und begann, mit erstaunlicher Ge schwindigkeit zu schreiben. »Woher können Sie denn so gut tippen?« fragte Kloess mißtrauisch. »Ach, damit hab' ich mir schon in der Schulzeit während der Ferien Geld verdient«, antwortete sie leichthin, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Erzähl doch erst mal, Mädchen, schreiben können Sie das doch nachher«, schlug Bundschuh vor. Doris Küchler überhörte das »Mädchen« und drehte sich um. »Mensch, das war vielleicht ein tolles Haus! Nur die Mutter war da, aber die war ganz gesprächig. Komisch, wenn ich meine einzige Tochter verloren hätte, ginge es mir schlechter. Die Ursula Walkmann war wohl 'n ganz ordentliches Mädchen, bißchen Jet-set, aber nicht zu schlimm. Wollte Lehrerin werden, natürlich, wie alle! Wollt' ich auch mal. Mit dem Wawliczek war sie erst ganz kurz zusammen. Die Mutter gab sich ganz modern, so von wegen umsehen, Erfahrungen machen, aber von dem Wawliczek war sie nicht begeistert. >Arbeiterkind<, hat sie gesagt. Sie meint, das wäre 'ne Trotzreaktion ihrer Tochter gewesen, nachdem sie sich mit ihrem alten Freund verkracht hatte. Aber sie nahm an, Ursula und der Baumann wären doch wieder zusammengekommen.« »Wer?« Kloess war auf einmal ganz interessiert, stellte sogar den Recorder ab. »Na, ihr alter Freund Baumann. Mit dem war sie über zwei Jahre zusammen, sagt die Mutter. Was ist denn los, haben Sie das nicht gewußt?« »Ich Idiot! Der Baumann! Claus, such mal die Aussage von dem raus! Was hat er zu der Walkmann gesagt?«
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»Augenblick«, Bundschuh suchte. »Du hast gefragt: > Kennen Sie auch die am Unfall beteiligte Frau Ursula Walkmann?< Und er hat geantwortet: >Ja, das war Carls Freundin.< Mehr steht hier nicht dazu.« »Hat das denn was zu bedeuten?« fragte Doris Küchler skeptisch. »Vielleicht nicht! Aber belogen hat er mich, der kleine Doktorand!« »Sie haben ihn ja auch gar nicht weiter dazu befragt«, Doris Küchler zu bedenken. »Nee, hab' ich nicht«, mußte Kloess zugeben, »aber das werd' ich jetzt machen!« »Vielleicht könnte ich, ich meine, weil ich doch bei den Eltern der Walkmann war?« »Laß sie mal, Rainer! Vielleicht ist das 'ne Frauensache«, griente Bundschuh. 34 Fritz Baumann öffnete selbst, nachdem Doris Küchler einige Male kräftig an die Tür geklopft hatte. »Mein Gott, sind Sie pünktlich!« sagte er unfreundlich und ließ sie eintreten. Im Flur blieben sie unschlüssig stehen. Baumann musterte sie unverhohlen. Aus einem der Räume, die vom Korridor abgingen, konnte man laute, aufgebrachte Stimmen hören. »Die diskutieren über den Neuen, der Wawliczeks Zimmer gekriegt hat.« Baumann wies mit dem Kopf nach der Tür. Er sah gar nicht übel aus, fand Doris Küchler. Bißchen vierschrötig, später würde er wahrscheinlich Bauch ansetzen. Im Augenblick war davon jedoch noch nichts zu bemerken. Ein mageres, kantiges Gesicht, strubbelige, mittelblonde Haare. Baumann steckte in der üblichen Uniform, bestehend aus Jeans und kratzigem Dritte-Welt-Pullover. »Sagen Sie mal, haben Sie was dagegen, wenn wir hier abhauen? Ich hab' den ganzen Tag noch nichts gegessen. Zwei Straßen weiter ist 'ne Kneipe.« Doris Küchler nickte und wandte sich zum Gehen. »Nö, durchaus nicht. Ich hab' auch Hunger.« Die Kneipe war brechend voll. Soweit sie das in der verräucherten Luft erkennen konnte, verkehrten ausschließlich jüngere Leute hier, vermutlich überwiegend Studenten. Baumann schien gut bekannt zu sein, wechselte mit mehreren Anwesenden beiderlei Geschlechts die üblichen, nichtssagenden Umarmungen und küßte ein abgehetzt wirkendes, verschwitztes Mädchen, das offensichtlich die einzige Kellnerin war, auf die Wange. Die Musik und die lauten Stimmen vermischten sich zu ohrenbetäubendem Lärm. »Kommen Sie mit«, brüllte Baumann Doris Küchler ins Ohr, »hinten ist noch ein Raum, da ist es ruhiger.« Sie fanden zwei Sitzplätze an einem langen Holztisch, an dem sich eine Gruppe ernster, junger Männer mit Hingabe einem ihr unbekannten Würfelspiel widmete. Baumann bestellte Maissalat, Croque Monsieur und Edelzwicker, Doris Küchler ebenfalls ein Croque und einen halben Liter Bier.
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Als sie das Glas nach dem ersten langen Schluck absetzte, sah Baumann sie anerkennend an. »Sie sind ja richtig menschlich«, sagte er, jetzt schon etwas freundlicher. »Dürfen Sie das denn, oder sind Sie im Augenblick nicht im Dienst?« »Ein Polizist ist immer im Dienst und kann seine Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe, deren Aufgabe die Bespitzelung und Unterdrückung der Bürger ist, nie verleugnen. Das Bier trinke ich nur, um mich in Ihr Vertrauen einzuschleichen!« Baumann sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, dann legte er den Kopf zurück und lachte lauthals Die ernste Spielrunde am Tisch blickte indigniert hoch »Sie sind ja gut! Na, dann lassen Sie mal die Katze aus dem Sack! Es geht immer noch um Charlie, nicht wahr? Also, was wollen Sie?« Doris Küchler nahm noch einen Schluck Bier und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Ich hab' mit Ursula Walkmanns Eltern gesprochen«, sagte sie ohne besondere Betonung. Baumann war sofort wieder mißtrauisch. »Ja, und?« »Warum haben Sie bei Ihrem ersten Gespräch mit uns nicht angegeben, daß Sie mit Frau Walkmann ziemlich lange, genauer gesagt, über zwei Jahre fest befreundet waren?« »Der Typ hat mich nicht danach gefragt.« »Der Typ«, stellte Doris Küchler klar, »war Hauptkommissar Kloess. Er hat Sie aber doch gefragt, ob Sie Ursula Walkmann kennen. Warum haben Sie ihm denn nichts von Ihrer Beziehung erzählt? Sie mußten doch wohl ziemlich betroffen sein!« Das Essen kam. Baumann beschäftigte sich mit seinem Salat. Doris Küchler biß in ihr Croque. Es war nicht besonders. Der Käse war nicht richtig geschmolzen, Knoblauch fehlte. Sie wartete. Baumann spuckte Olivenkerne in den Aschenbecher. »Schmeckt's Ihnen nicht? Hier, Sie können ruhig was vom Salat nehmen, der ist gut.« Doris Küchler nahm die hingehaltene Gabel und probierte. Der Salat war wirklich besser. Baumann beobachtete sie. »Niemand gibt so gerne zu, daß ihm die Freundin ausgespannt worden ist«, begann er schließlich. »Vor allem nicht, wenn das so 'n Kerl wie Charlie macht. Dabei hab' ich die beiden noch selbst zusammengebracht!« Doris Küchler sagte nichts, stocherte weiter im Salat. »Ich hab' viel zu tun gehabt im letzten Jahr. Na ja, und da dachte ich, der Charlie kann sich 'n bißchen um sie kümmern, damit sie nicht so rumhängt und wieder mit ihren Zeitungsfritzen anfängt. Ihr Vater ist nämlich irgendwas Besseres beim STERN und schleppte immer jede Menge vielversprechender Schreiberlinge und Werbeheinis an. Ich hab' mir überhaupt nichts dabei gedacht, bin nie auf die Idee gekommen, daß sie was an Charlie finden könnte. So 'n Sprüchemacher! Aber Frauen haben eben 'nen komischen Geschmack!« 70
Doris Küchler sah hoch. »Na, etwa nicht?« bekräftigte Baumann in aggressivem Ton. Sie zuckte die Achseln. »Ich hab' nur Bilder gesehen von Carl Wawliczek, ich kann dazu nichts sagen.« »Aussehen tat er gut, wenn man darauf abfährt, so 'n richtiger Frauentyp«, gab Baumann zu. »Na ja, und dann hat er sie in die Scheiße gerissen!« »Wieso?« fragte Doris Küchler schnell. Zu schnell. Baumann sah sie wachsam an. »Na, den sogenannten Unfall meine ich.« »Aber das war doch nicht Wawliczeks Schuld, nicht allein jedenfalls!« Baumann grinste. »Machen Sie sich nicht lustig über mich! Ich weiß genau, daß Charlie mit Ursula in einem geklauten Wagen gesessen hat. Das hat mir Ihr Typ schon letztes Jahr erzählt.« »Aber Sie wissen nicht, wie er zu dem geklauten Wagen gekommen ist, nicht wahr?« »Nein, das weiß ich nicht! Damals nicht und heute auch nicht! Ich weiß überhaupt nicht, was Charlie gemacht hat in letzter Zeit. Wir haben nicht mehr so viel miteinander geredet, wie Sie sich vielleicht vorstellen können!« Doris Küchler gab ihm die Gabel zurück und biß in ihr inzwischen kalt gewordenes Croque. Baumann schien keinen Appetit mehr zu haben. Er drehte eine Zigarette, winkte der Kellnerin und bestellte noch einen Wein. »Woll'n Sie noch was?« fragte er versöhnlich. Doris Küchler schüttelte den Kopf, aß schweigend weiter. »Sagen Sie mal«, begann Baumann nach einer Weile erneut. »Sie können mir doch nicht weismachen, daß Sie sich mit mir verabredet haben, in Ihrer Freizeit, bloß um mir mitzuteilen, daß Sie das mit Ursula wissen. Das gibt doch nun wirklich nichts her. Wenn auch«, er grinste wieder, »die Polizei traditionellerweise sehr an Bettgeschichten interessiert ist.« »Bei zwei Jahren muß es wohl schon 'n bißchen mehr gewesen sein als 'ne Bettgeschichte«, gab sie zurück. »Aber Sie haben recht, das war's nicht allein.« Sie lehnte sich zurück und blickte ihn offen an. »Wir ermitteln in einem Mordfall. Wawliczek stand höchstwahrscheinlich in irgendeiner Verbindung zu einem Mann, den wir auf der Georgswerder Müllkippe gefunden haben. Erschossen. Hatte da schon etwas länger gelegen, vermutlich seit dem Wochenende, an dem Wawliczek und Ihre Freundin gestorben sind. War auch ein, wie haben Sie erst gesagt, Frauentyp. Vielleicht haben Sie seinen Namen schon mal gehört, von Wawliczek meine ich. Jorde hieß er, Karl-Heinz Jorde.« Baumann blickte sie aus schmalen Augen unverwandt an. »Nein«, sagte er ruhig, »noch nie gehört. Pfui Teufel, auf der Müllkippe.« 35 Bevor er das Dezernat verließ, hatte er die Luft in den Räumen durch seine billigen Stumpen so stark verpestet, daß selbst stundenlanges Lüften d en spezifischen 71
Gestank nicht vertreiben konnte. Böse Zungen behaupteten, daß sein Einsatz in der Mordkommission ein Zeichen kluger Personalpolitik und ein Beitrag zur Humanisierung der Arbeitswelt sei, weil sich Leichen gegen die Auswirkungen seines Lasters nicht wehren konnten, durch sie aber auch nicht mehr geschädigt wurden. Davon abgesehen sollte es schon vorgekommen sein, daß hartnäckig leugnende Täter lieber reuig gestanden, als längere Zeit mit ihm in geschlossenen Räumen zuzubringen. Nur Doris Küchler zog noch die Nase kraus, die anderen Kollegen klärten sie resigniert auf:,»Mertens!« Die Liste mit den in Frage kommenden Besitzern von Fahrzeugen des Typs Jaguar E war schnell erstellt gewesen. Mertens hatte gleich alle Cabriolets und diejenigen Coupes aussortiert, die nicht dem Modell 2/2, entsprachen. Schließlich waren vier Fahrzeughalter übriggeblieben, die in den letzten zwei Jahren das gesuchte Modell besessen hatten oder heute noch besaßen. Als weitere Kriterien zur Auffindung des Fahrzeuges dienten die silbergraue Farbe und die Dachantenne. »Nein, wir haben den Wagen in die Staaten verkauft. Ja, vor gut einem Jahr. Die Farbe? Dunkelgrün, nein, er war immer dunkelgrün. Warum? Warum wir den verkauft haben? Na, hören Sie! Von denen müssen Sie schon zwei haben, einer steht immer in der Werkstatt! Und dann die Ersatzteile! England! England, die streiken doch immer! Können den Hals nicht vollkriegen, die Arbeiter!« Mertens nickte und brachte langsam eine gewisse Sympathie für die vollbusige Unternehmergattin auf, die ihn in den Wintergarten gelockt hatte, um ihn zwischen üppigen Grünpflanzen mit einem Wortschwall zu überschütten, zutiefst dankbar dafür, daß sie einen Zuhörer gefunden hatte, der Interesse an ihren Äußerungen bekundete, wenn er auch leider Angehöriger einer Gesellschaftsschicht war, die von den Nöten des freien Unternehmertums ein vollkommen falsches Bild besaß. Den klebrig aussehenden, gelbgrünen Likör hatte Mertens - bemüht, den Anschein einer guten Kinderstube zu erwecken - dankend abgelehnt, statt dessen inbrünstig nach einem kühlen Bier gefragt, um die Schwüle zu ertragen, die in dem Raum lag. Sein Anzug verlor hier den Rest der Fasson. In Anbetracht der Möglichkeit, ein zweites Bier eingeschenkt zu bekommen, wäre er wohl schwer zu bewegen gewesen, ins Naßkalte hinauszugehen, wenn nicht noch andere Termine auf seinem Programm gestanden hätten. Er erhob sich also artig aus dem Rattansessel, nicht ohne seine fundierten Kenntnisse über die Ursachen des Tiefs in der Baukonjunktur zum besten zu geben, was ihm sogleich ein wohlwollendes Nicken seitens seiner Gastgeberin einbrachte, welche Tage später anläßlich eines kalten Büffets im Tennisclub ihre staunende Freundin informieren konnte, daß »auch so einfache Menschen im Grunde ihres Herzens den Sozialismus nicht wollen und doch erstaunlicherweise ein gutes Maß an Verständnis aufbringen.« Die zweite Adresse war nicht leicht zu finden gewesen. Mertens war eine endlos lange Privatstraße entlanggefahren. Die Baumreihen der Allee begrenzten die Felder, die links und rechts im Nebel lagen. Ein gutes Stück abseits vom Herrenhaus
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standen die Wirtschaftsgebäude. Dort, wo früher die Pferdeställe untergebracht waren, hatte man Garagen errichtet. »Dieses Fahrzeug, junger Mann, ist noch nie verliehen worden! Und es wird auch nie verliehen werden!« Mertens glaubte dem hageren Männchen, das eher aussah wie der Gärtner oder allenfalls der Chauffeur, enttäuschenderweise aber doch der gesuchte Freiherr war, und traute seinen Augen nicht. In den Garagen standen etliche Fahrzeuge, die er aus seiner Kindheit und Jugend kannte, die heute noch manchmal in alten Wochenschauaufnahmen und Filmen zu sehen waren, blankgewienert und konserviert für die Nachwelt. »Bugatti, Duesenberg, Mercedes SSK, das waren doch Autos! Nicht solche Plastik-Sardinenbüchsen, die man heute baut und an denen man Schilder anbringen muß, damit man sie unterscheiden kann!« Der Freiherr im Tweed-Jackett und mit Schirmmütze zeigte voller Stolz seine Sammlung. Mertens konnte das Gefühl nachempfinden. Er hatte eine elektrische Eisenbahn, Minispur. »Kommen Sie vom königlichen Automobilclub? Nein? Sind Sie wegen der Ausstellung hier? Veteranen-Rallye?« Mertens konnte nur noch verneinen und gehen. Im ersten Augenblick dachte Mertens, er hätte sich verwählt. »Ja?« meldete sich eine einschmeichelnde Stimme. »Michelle hier.« Doch beim zweiten Anlauf dämmerte es ihm. Das französische Modell, nach eigener Aussage dunkelhaarig, blutjung, war Sieglinde Maue, Fahrzeughalterin eines E-Types. »Welcher Termin wäre recht?« »Ja, äh,...«, Mertens zupfte an seiner Krawatte, »... am liebsten gleich.« »So dringend, Schätzchen? Oh!« Mertens notierte sich die Anschrift und machte sich gleich wieder auf den Weg, obwohl er eigentlich für heute vormittag genug getan hatte. Der Wagen stand direkt vor dem Apartmenthaus am Klosterstern. Mertens beäugte ihn, verglich sorgfältig mit dem Foto und kam zu dem Schluß: Eindeutig Fehlanzeige! Damit blieb nur noch diese Autovermietung übrig. Na gut! Einen Moment überlegte er noch, ob er den Termin mit Michelle wahrnehmen sollte, interessehalber, entschied sich aber dagegen und fuhr ins Büro zurück. 36 Bundschuh mühte sich durch den Innenstadtverkehr. »Wir hätten zu Fuß gehen sollen«, brummte er. Mertens reagierte nicht, er war in Gedanken versunken und brütete stumm vor sich hin. Gestern nachmittag war Personalversammlung gewesen. Auf der Tagesordnung hatten die Themen Beförderungsstau, neue Polizeiwaffen und die geplante Verschärfung des Demonstrationsrechts gestanden. Schröder, aktiver Gewerkschaftler und alter SPD-Mann, ein Umstand, dem viele seine Karriere bei 73
der Hamburger Polizei zuschrieben, hatte zum x-ten Male ein sozialdemokratisches Grundsatzreferat zur letztgenannten Thematik gehalten. Bundschuh war nur gekommen, weil er hier mit absoluter Gewißheit Mertens antreffen konnte. »Die SWV GmbH & Co KG«, hatte Mertens geflüstert. »Was?« »Die SWV GmbH & Co KG ist der besagte Fahrzeughalter.« »Kannst du dich vielleicht mal deutlich ausdrücken, mehr verlangt man ja gar nicht!« SWV heißt Sportwagenvermietung«, hatte Mertens erklärt. »Geschäftsführer ist ein Jürgen Postel. Die sitzen hier in der City, gleich hinterm Hauptbahnhof. Du weißt schon, gegenüber vom Parkhochhaus hinter der Spitalerstraße.« »'ne Autovermietung, so 'n Scheiß! Rainer wird begeistert sein! Wie, sagtest du, heißt der Geschäftsführer?« »Pst!« Mertens hatte sich vorgebeugt und die Ohren gespitzt. »Der Beförderungsstau im öffentlichen Dienst!« Daraufhin hatte Bundschuh den Saal verlassen. Das Gebiet um den Hauptbahnhof war eine einzige Baustelle. Bundschuh geriet in die Schlange gereizter und entnervter Autofahrer und mußte warten. Er drehte die Fensterscheibe herunter. Mertens roch intensiv nach Kölnisch Wasser und hatte außerdem seit Wochen zum ersten Male einen neuen Schlips umgebunden. Bundschuh stellte Mutmaßungen an: Beseitigung des Beförderungsstaus, Rückkehr seiner Frau, die neue Kollegin in der Abteilung? Er musterte ihn verstohlen, ob vielleicht auch die Hosenträger gegen einen Gürtel ausgetauscht worden waren. »Ist was, Claus?« »Da drüben muß es sein. Laß uns erst mal die Wagen ansehen.« Im zweiten Stock des Parkhochhauses waren mehrere Stellplätze für die SWV reserviert, gut bewacht durch zwei Kameras, die oben an die Betonpfeiler montiert waren. Der gesuchte Jaguar stand neben anderen, ähnlich kostspieligen Fahrzeugen. Mertens notierte die Kennzeichen. »Renn nicht ins Überwachungsfeld der Kameras, Willi!« mahnte Bundschuh. »Was kosten die wohl an Miete?« »Ich schätze, drei- bis vierhundert Mark.« »Pro Woche?« »Nee, pro Tag, Willi!« »Wer kann das denn bezahlen?« »Privatdetektive!« »Mach keinen Quatsch, Claus!« Aber man konnte Mertens ansehen, daß er Hoffnung schöpfte. Die beiden Monitore standen unterhalb des Tresens. Zwei Mädchen in äußerst adretten Uniformen lächelten Bundschuh zuvorkommend an. Die hübschere von beiden trat vor. »Was kann ich für Sie tun?« 74
»Ich möchte einen Wagen mieten.« , »Gewiß!« Das Mädchen lächelte - wenn möglich - noch strahlender und griff nach einem Packen Formu lare. »Haben Sie einen besonderen Wunsch?« »Ich habe mir Ihre Fahrzeuge schon mal angesehen. Den Jaguar hätte ich gern. Ist der noch frei?« »Oh, das tut mir leid! Der Jaguar ist für die Ge schäftsleitung reserviert.« Sie hatte zu lächeln aufgehört und drückte statt dessen tiefste Zerknirschung aus. »Aber wenn Sie sich für ein anderes Fahrzeug interessieren. Wir können auch höchsten Ansprüchen gerecht werden!« Mertens betrat den Raum. »Kriminalpolizei, Mordkommission. Wir möchten bitte Herrn Postel sprechen!« Das Mädchen legte den einstudierten Gesichtsausdruck ab und sah plötzlich gar nicht mehr so hübsch aus. Ihre Kollegin faßte sich schneller: »Wenn Sie mir bitte folgen wollen!« und geleitete sie poposchwenkend über eine Wendeltreppe zu Postels Büro, wobei sowohl Mertens als auch Bundschuh einen ausgiebigen Blick auf ihre Beine werfen konnten. Bundschuh hatte noch nie einen so glattrasierten Mann gesehen; bei ihm blieben immer Bartstoppeln an Hals und Kinn stehen, sehr zum Leidwesen seiner Freundin. Postels ganze Erscheinung wirkte distinguiert, korrekt. Er war modisch, aber nicht zu modisch in Hellgrau gekleidet, das blaßblonde, nicht sehr volle Haar exakt gescheitelt, und sprach mit leiser, spröder Stimme. Man machte sich bekannt. Postel wies mit schmalgliedriger, perfekt manikürter Hand auf eine Sitzgruppe. »Wenn Sie ablegen wollen.« Mertens behielt seinen etwas zu engen Wollmantel an, kramte in seiner Tasche und eröffnete das Ge spräch, indem er ein Foto Jordes über den Tisch schob. »Wir ermitteln in einem Mordfall. Kennen Sie diesen Mann?« Postel beugte sich steif nach vorn, betrachtete das Foto kurz und schnippte es dann mit den Fingerspitzen Mertens zu. »Nein, das tut mir leid! Den Mann kenne ich nicht«, sagte er, sich langsam wieder aufrichtend. Mertens warf Bundschuh einen verschwörerischen Blick zu und zog ein weiteres Foto hervor. »Wenn Sie sich dieses Foto bitte noch einmal genau anschauen wollen!« Postel wiederholte die Prozedur, ließ das Bild aber dieses Mal vor sich auf dem Tisch liegen. »Nein, bedaure!« Er begann, an den Fingern seiner linken Hand zu ziehen, bis es knackte, ließ dann den malträtierten Finger los und wechselte zum nächsten. Bundschuh sträubten sich die Nackenhaare. »Vielleicht ist es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, daß Herr Jorde auf Ihrem Wagen sitzt«, sagte er scheinheilig.
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»Das sehe ich, Herr Kommissar! Aber ich leite ein Unternehmen, das Autos vermietet. Ich kann unmöglich alle unsere Kunden kennen!« »Uns wurde aber mitgeteilt, daß dieser Jaguar nur von Ihnen gefahren wird«, mischte sich Mertens ein. Postel war jetzt mit den Fingern der linken Hand fertig und nahm sich die andere Hand vor. »Ich weiß nicht, wie alt das Foto ist, aber ich vermute, es ist älteren Datums, denn früher habe ich in der Tat den Jaguar vermietet. Aber diese Fahrzeuge gewinnen ja praktisch an Wert, je älter sie werden. Reine Liebhaberstücke, aber natürlich nicht mehr für den Einsatz als Mietwagen geeignet.« Mertens atmete ein und wollte etwas erwidern, aber Bundschuh kam ihm zuvor. »Das leuchtet mir ein, Herr Postel, aber sicherlich ist aus Ihren Unterlagen zu ersehen, ob und wann Herr Jorde das Fahrzeug entliehen hat.« Postel sah ihn ausdruckslos mit wasserhellen Augen an. Er zog immer noch an seinen Fingern, im Wechsel beidhändig. »Selbstverständlich, wenn dieser Mann den Wagen gemietet hat, so ist das verzeichnet. Natürlich kann das Foto auch entstanden sein, ohne daß er Kunde meines Unternehmens gewesen sein muß.« Bundschuh erhob sich. »Sie gestatten, daß wir Ihre Unterlagen ansehen?« Postel erhob keinen Einwand. Man ging in ein Nebenzimmer, wo zwei weitere Angestellte die Buchführung des Unternehmens erledigten. »Herr Wrage, würden Sie bitte die Vermietungsunterlagen für den Jaguar heraussuchen! Die Herren sind von der Polizei.« Der Hängeordner war schnell durchgesehen. Der Jaguar war seit über zwei Jahren nicht mehr vermietet worden. Auch in den älteren Aufzeichnungen tauchte der Name Jorde nicht auf. »Sie haben doch sicher eine Kundenkartei. Können Sie nicht mal nachsehen, ob Jorde dort verzeichnet ist«, schlug Mertens vor. Die Suche verlief erfolglos. »Ja, dann tut es mir leid, meine Herren.« Postel knackte noch immer mit den Fingern. Auch die beiden Damen, die ihnen zwar eingeschüchtert, aber doch deutlich sensationslüstern entgegenblickten, als sie die Wendeltreppe wieder hinabstiegen, hatten Jorde noch nie gesehen. »Und was machen wir nun?« fragte Mertens, als sie wieder im Auto saßen. »Warum hast du ihn denn nicht noch mal nach Wawliczek gefragt, da war doch was faul an dem Laden!« Bundschuh schüttelte den Kopf. »Der Postel war ganz schön nervös, fand'st du nicht auch? Wegen Wawliczek hat damals schon Grabbe angerufen und nichts erreicht. Meinst du, der hätte jetzt was anderes ausgesagt? Das mit dem Jaguar ist doch komisch. Die Hemp hat ausgesagt, daß Jorde mit dem Wagen nach Italien
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gefahren ist. Soweit ich das eben so schnell sehen konnte, wurde der Wagen aber immer nur für wenige Tage vermietet.« »Vielleicht hat der Postel den Wagen auch schwarz verliehen. Kleines Geschäft nebenbei, bißchen Steuerhinterziehung«, schlug Mertens vor. Er rückte seinen Schlipsknoten zurecht und fuhr fort: »Da kann doch die Küchler mal nachhaken. Die versteht doch was von Wirtschaftssachen.« 37 Der erste Versuch schlug fehl. Dabei hatten sie sich alles genau überlegt. Larsson war kein Neuling in diesem Geschäft. Er besaß einschlägige praktische Erfahrungen und hatte bereits mehrmals Gelegenheit gehabt, diese in regen Diskussionen mit seinen Zellengenossen im Distriktsgefängnis von Tidaholm theoretisch aufzuarbeiten. Der gewählte Ort war an sich ideal, denn der Parkplatz am Fähranleger Helsingborg wurde nicht bewacht. Viele Schweden ließen hier ihre Fahrzeuge stehen, wenn sie zu einem Einkaufsbummel nach Dänemark fuhren, um dort billig Fleisch, frische Backwaren und bestimmte Obstsorten zu besorgen, die in Schweden erst langsam als eßbar angesehen wurden. Ihren besonderen Reiz erhielt die Überfahrt ins dänische Helsingör aber erst durch das umfangreiche und preisgünstige Schnapsangebot im Selbstbedienungsrestaurant der Fährschiffe, welches manchen Reisenden dazu verführte, lieber einen ausgedehnten Pendelverkehr auf den überfüllten Booten zu ertragen als das Gewühl in den dänischen Feinkostgeschäften der hafennahen Einkaufsstraßen. Das Personal der Fährschiffe ertrug den steigenden Alkoholpegel mancher Passagiere mit stoischer Ruhe und reichte in gleichbleibender Unfreundlichkeit Getränke und belegte Brote über den Tresen. Die neuen Kennzeichen hatte Ole Olsson in einer FREELIFE-STYLE-Tasche mitgebracht; Larssons Aktenmappe enthielt sein Arbeitswerkzeug: Draht, Plastikplättchen, Schlüsselgarnituren und verschiedene Schraubenzieher. Sie beobachteten in aller Ruhe, wie der Besitzer eines dunkelblauen Saab Turbo seinen Wagen abstellte, zum Fähranleger ging, ein Billett löste, sich noch einmal umschaute und dann die Fähre betrat. Olsson hatte ihn ein Stück des Weges in gebührendem Abstand begleitet. Als die Fähre ablegte, hob er den Arm, um dem auslaufenden Schiff nachzuwinken. Mehrere Passagiere, die trotz des eiskalten Windes an der Reling standen, erwiderten seinen Gruß enthusiastisch. Larsson erblickte Olssons erhobenen Arm und machte sich augenblicklich an die Arbeit. Es dauerte dann auch höchstens ein oder zwei Minuten, bis Ols son die Alarmanlage hörte, die sich schrill in den Chor der Schiffssirenen auf dem Sund einfügte. Larsson war für den Rest des Tages nicht mehr zu gebrauchen. Er gab Ole noch ein paar wohlmeinende Tips und verabschiedete sich bedauernd, um nach Jönköping zurückzufahren. 77
Olsson war zunächst unschlüssig. Er wanderte ziellos durch die FreitagNachmittags-Hektik, nahm bei DOMUS ein preiswertes und nahezu völlig geschmackfreies Essen ein und versuchte nachzudenken. Letzteres war für ihn eine ungewohnte Beschäftigung und fiel ihm infolgedessen schwer. Gegen Abend hatten Angst und eine dumpfe Wut wieder Oberhand gewonnen. Er war es endgültig leid, sich herumschubsen zu lassen und immer nur die Drecksarbeiten zugewiesen zu bekommen. Olsson suchte sich in Bahnhofsnähe ein billiges Hotelzimmer, ging ins Kino und anschließend in ein Tanzlokal wo er ein kleines Bier trank und ein verschlafen aussehendes, semmelblondes Mädchen kennenlernte. Die Blonde teilte ihm mit, daß sie Eva hieße, und zeigte sich durchaus willig, aber Ols son dachte an sein Vorhaben und verließ das Lokal, ohne auf ihre günstigen Angebote eingegangen zu sein. Am Samstagmorgen stand er für seine Verhältnisse in aller Herrgottsfrühe auf, verließ das Hotel, ohne zu frühstücken, und besorgte sich am Bahnhofskiosk mehrere Tageszeitungen. Im Warteraum setzte er sich gleich neben die Telefonzelle und begann, die Kleinanzeigen zu studieren. Er hatte bald etwas gefunden, das ihm zusagte. Nach mehrmaligem Läuten erhielt er Kontakt mit einer schlaftrunkenen Stimme, bestieg daraufhin sofort ein Taxi und ließ sich in die Vorstadt von Helsingborg fahren. Er war absichtlich viel zu früh erschienen. Mit äußerst interessierter Miene begutachtete er den zum Verkauf stehenden Sportwagen, der in der Einfahrt des Einfamilienhauses parkte, und spürte genau, daß er beobachtet wurde. Seine Spekulation ging auf. Der Hausherr, noch im dezenten dunkelblauen Morgenmantel über gestreiftem Pyjama, ein halbgegessenes Toastbrot in der Hand, erschien und begrüßte ihn als potentiellen Käufer. Olsson zitterte vor Aufregung - dieses wurde vom Hausherrn fälschlicherweise als starkes Kaufinteresse gedeutet -, sprach ein paar anerkennende Worte, lehnte die Einladung zum Frühstück dankend ab, wunderte sich über sein bislang unentdecktes schauspielerisches Talent und bestand auf einer sofortigen Probefahrt. Der Fahrzeugbesitzer zögerte kurz, ging dann aber ins Haus und kehrte gleich darauf mit den Wagenschlüsseln zurück. Außerdem hatte er sich, nicht ohne gewissen Chic, einen farblich passenden Wollschal umgebunden, denn immerhin betrug die Temperatur einige Grade unter Null. Ihre Fahrt führte sie nach Norden auf der E4/E6, dann weiter in Richtung Stockholm auf Nebenstraßen. Beide genossen das satte Motorengeräusch des Porsches, fühlten sich glücklich in Erwartung eines guten Geschäfts, fachsimpelten über Autos. Kurz nachdem sie die weiten Flächen des Schwemmlandes rund um Helsingborg verlassen hatten, bremste der Eigentümer und wendete das Fahrzeug in einem Waldweg. Fahrerwechsel. Beide stiegen aus. Olsson stieg schneller wieder ein, brauchte nur zu kuppeln, den Gang einzulegen und Gas zu geben. Im Rückspiegel sah er zuerst ein maßlos verblüfftes Gesicht. Dann, immer kleiner werdend, eine auf- und 78
niederspringende Gestalt, die in hilflosem Zorn verharschte Schneebrocken dem aufheulenden Wagen hinterherwarf. Es dauerte eine geraume Weile, bis sich endlich jemand des am Straßenrand im Pyjama stehenden Mannes erbarmte und anhielt. Daß er seinen blauen Morgenmantel als Flagge benutzte, um Aufmerksamkeit zu erregen, hatte nicht gerade vertrauenerweckend auf die wenigen Familienväter gewirkt, die zu früher Stunde zu einem Skiausflug nach Norden unterwegs waren. Etwa dreiviertel Stunden später nahm eine aus Helsingborg herantelefonierte Polizeistreife die aufgebrachte und zusammenhanglose Aussage des Ex-PorscheBesitzers auf, der sich nahezu ununterbrochen seine blaugefrorenen Zehen rieb. Die Gucci-Slipper hatten sich nicht als das geeignete Schuhwerk für den Ausflug erwiesen. Seine Frau weigerte sich zunächst, ihn im Polizeioverall und Gummistiefeln ins Schlafzimmer zu lassen: »Was soll das denn, Arne? Laß den Quatsch!«, schloß ihn dann aber doch in ihre Arme. Die beiden Streifenpolizisten entfernten sich diskret und verständnisvoll, nicht ohne ihre Reservekleidung mitzunehmen. Als gegen Mittag endlich die Fahndungsmeldung nach dem Wagen hinausging, hatte Olsson Schweden längst verlassen. 38 Doris Küchler hatte die Ergebnisse ihrer Recherchen zusammengestellt, bereits getippt und für jeden eine Kopie bereitgestellt. Sogar Schröder war zu der Besprechung erschienen, um zu sehen, »ob die Sache endlich in Gang kommt«, desgleichen Langenberg, der als einziger konzentriert in den Unterlagen las. Mertens, der ganz gegen seine Gewohnheit das Jackett anbehalten hatte, blätterte ziellos in seinem Memorandum, während Kloess, völlig frei von dieser Art Rücksichtnahme, im schlechtgebügelten Hemd auf dem Schreibtisch saß und versonnen Doris Küchlers dicke, rote Haare betrachtete. Kloess liebte rote Haare. Die neue Kollegin war sowieso erfreulich anzuschauen. Vielleicht etwa zu voll in den Hüften für seinen Geschmack, aber da. verstand sie gut zu kaschieren. Doris Küchler strich besagte rote Haare aus dem Ge sicht. »Woll'n wir?« fragte sie. »Wo ist Bundschuh?« beschwerte sich Schröder. »Der organisiert die Observation von Postel«, erklärte Kloess. »Vielleicht macht er auch gleich selber mit, solche Aufträge liebt er ja!« »Und setzt meine Leute ein«, sagte Langenberg verkniffen. Schröder zuckte verständnislos mit den Achseln. Diese Art von Einsatzfreudigkeit konnte er eigentlich nicht billigen; die Laufarbeit sollten die jüngeren Beamten erledigen. Aber dann besann er sich, daß er erst kürzlich in einem Artikel für das polizeiinterne Gewerkschaftsblatt den bedauerlichen Verlust an praktischer Erfahrung mancher Kollegen aufgrund einer Überhäufung mit Verwaltungsarbeiten beklagt hatte, und nickte Doris Küchler aufmunternd zu.
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»Also«, begann diese, »auf der ersten Seite habe ich die persönlichen Daten von Postel zusammengestellt. Übrigens, Kollege Mertens , vielen Dank für Ihre Hilfe dabei. Ja, Postel, geboren 1942 in Hamburg, einziges Kind, Studium der Betriebswirtschaftslehre, auch in Hamburg, Examen 1968. Arbeitete seitdem in der Firma seines Vaters, kleine Autovermietung, die er 1972 erbte. Seit 1973 verheiratet, geschieden 1978, eine Tochter, lebt bei der Frau. Ach ja, Postel wohnt in Blankenese, Witts Allee, Eigentumswohnung. Das ist zwar nicht die allerfeinste Ecke, aber schon recht gut.« »Im März 1972 hatten wir mal was mit ihm zu tun, das heißt eigentlich noch mit seinem Vater«, ergänzte Langenberg. »Da war eins von deren Autos nicht zurückgebracht worden. Konnte aber nicht aufgeklärt werden, der vorgelegte Führerschein war natürlich falsch gewesen, und die Karre ist nie wiederaufgetaucht.« »Ja, das kommt auf der letzten Seite«, bestätigte Doris Küchler ruhig. »Da hab' ich Postels, sagen wir mal, Kontakte mit der Polizei zusammengestellt. Das waren nämlich noch mehr.« Schröder blickte Langenberg mißbilligend an. »Wir sollten die Kollegin nicht unterbrechen«, rügte er. An sich hielt er grundsätzlich überhaupt nichts von Frauen in der aktiven Polizeiarbeit, bemühte sich aber gerade deshalb um absolut korrektes Verhalten, etwas verkrampft, wie Kloess fand. Langenberg zeigte sich von der Zurechtweisung nicht sonderlich beeindruckt, und Doris Küchler fuhr fort: »Seite zwei, die Geschäftsverflechtungen. Hier muß ich gleich vorausschicken, daß das eventuell noch nicht vollständig ist. Ich bin erst mal nach dem Handelsregister gegangen beziehungsweise nach dem, was ich von der Handelskammer und den Banken erfahren konnte. Postel hat nämlich ordentlich was gemacht aus dem kleinen Unternehmen seines Vaters. Die SWV GmbH & Co KG ist nur eine von mehreren Firmen, an denen Postel beteiligt ist. So ist da noch ...«, Doris Küchler schaute auf ihre Notizen,»... die AUTOLEASING GmbH, die die Fahrzeuge beschafft und sie der SWV zur Verfügung stellt, laut Handelsregister.« Mertens sah sie bewundernd an. Vielleicht dachte er an eine Partnerschaft im Bauspargeschäft. »Gesellschafter«, fuhr sie fort, »ist unter anderem ein Dr. Assari!« Kloess atmete hörbar ein, pfiff dann leise durch die Zähne und nickte mit dem Kopf. »Der höfliche Freund Jürgen mit den Blumen und den tollen Autos! Darauf hatte Claus schon getippt. So, so, der Dr. Assari, jetzt wird's interessant!« »Es wird gleich noch interessanter, wenn ich an Wawliczek denke, denn weiterhin haben wir noch ei nen Chauffeur-Dienst für exklusive Kunden, die entweder zu faul oder zu .. .« »... blöde sind«, ergänzte Mertens. »Natürlich wieder als Gesellschaftsform ...«, wollte Doris Küchler fortfahren.
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Das Telefon klingelte. Kloess hob ab und schnauzte in den Hörer: »Ich hatte gesagt, keine Telefongespräche! Wir wollen nicht gestört werden!« und knallte den Hörer wieder auf. »Was ist eigentlich eine GmbH & Co KG?« wollte Mertens wissen. Die Tür öffnete sich und ein pedantisch aussehender junger Mann mit einer Liste und einer Blechdose in den Händen trat zaghaft ein. »Verzeihung, ich sammel' für die Hochzeit von Siegfried in K4«, erläuterte er. »Wollt ihr nicht auch was dazugeben? Wir hatten an einen Eierkocher gedacht, so 'n elektrischen.« »Raus!« brüllte Kloess, und Schröder setzte, völlig überflüssigerweise, da der junge Mann den Raum bereits verlassen hatte, noch hinzu: »Ja, bitte, Sie stören! Schau'n Sie doch nachher noch mal rein.« »Wer ist denn Siegfried?« erkundigte sich Langenberg. Mertens wollte schon zu einer Erklärung ansetzen, sah aber Kloess' Blick und schwieg. »Das mit den Geschenken nimmt überhand«, nörgelte Schröder, »wir müssen das mal auf breiter Ebene diskutieren!« »Doris, mach weiter!« ordnete Kloess kategorisch an. Doris Küchler sah erstaunt hoch, da er sie zum ersten Male mit dem Vornamen anredete, wandte sich aber Mertens zu und erklärte: »Eine GmbH & Co KG ist eine KG, also eine Kommanditgesellschaft, wobei der Vollhafter die GmbH ist, das heißt, der Vollhafter haftet auch nur mit dem Kapital. Kurz, die beste Möglichkeit, bei einer Pleite nicht zur Kasse gebeten zu werden, kombiniert mit steuerlichen Vorteilen. Wir sind dann auch fast durch. Auf der letzten Seite dann, wie gesagt, Postels Bekanntschaften mit der Polizei. Das erste hat Kollege Langenberg ja schon vorgetragen. Ferner hat Grabbe damals nach dem Wawliczek-Unfall unter anderem auch bei der SWV angefragt, als er auf der Suche nach Wawliczeks Arbeitgeber war. Die SWV kannte ihn angeblich aber nicht. Dann ist da noch 'ne eigenartige Sache. Am 20. Dezember 1978 wurden Beamte zur Wohnung der geschiedenen Frau Postel gerufen, und zwar von ihrer Mutter, die im selben Haus wohnte. Angeblich versuchte Postel, seine frischgeschiedene Frau umzubringen. Als die Kollegen ankamen, hatte Frau Postel ein blaues Auge und 'ne aufgeschlagene Lippe, und Postel sah auch etwas ramponiert aus, aber die Dame wollte keine Anzeige erstatten. Damit verlief die Sache im Sande.« »Das hätte ich dem gar nicht zugetraut«, bemerkte Mertens anerkennend. Das Telefon klingelte erneut. Doris Küchler griff schnell zum Hörer. »Was? Wie bitte? Ach so, ja, Augenblick«, sie reichte Kloess den Hörer. »Für dich aus Schweden, Rainer!« sagte sie anzüglich. Kloess hörte einen Augenblick schweigend zu, dann sprang er wie von der Tarantel gestochen vom Schreibtisch. »Was? Das ist ja toll, wunderbar! Am deutschen Zoll? Nicht zu fassen! Danke, ja, ich lasse von mir hören, einfach fantastisch!« 81
Bundschuh betrat den Raum. »Was brüllst du denn so?« fragte er irritiert. »Das war dieser Kommissar mit dem komischen Namen aus Schweden!« »Aha! So wie du geschrieen hast, hättest du das Telefon aber eigentlich nicht gebraucht!« »Weißt du, was passiert ist? Sie haben den einen, den Olsson, in Puttgarden geschnappt, mit 'nem geklauten Porsche!« Langenberg seufzte abgrundtief. 39 Bis jetzt war die Observation Postels reine Routine gewesen. Bundschuh hatte mit nachträglicher Billigung Langenbergs - drei Teams eingesetzt, die sich bei der Beobachtung rund um die Uhr ablösen sollten. Die Einsatzfahrzeuge wurden täglich gewechselt Man vermied sorgfältig den direkten, persönlichen Kontakt, verzichtete auf dunkle Sonnenbrillen und aus gebeulte Regenmäntel, gab sich unbetont unauffällig. Genauso unauffällig verhielt sich Postel. Gemäß dem Hamburger Wahlspruch »Wer vor neun auf den Straßen ist, taugt nichts!«, parkte Postel seinen Wagen jeweils kurz vor zehn im Parkhochhaus, warf auf seinem Weg zum Büro einen kurzen Blick auf die Auslagen eines Herrenausstatters, der dadurch bekanntgeworden war, daß er neben Grau auch diverse Blautöne gesellschaftsfähig gemacht hatte, um dann seine Geschäfts räume zu betreten. Die beiden uniformierten Mädchen wurden von ihm durch ein knappes Kopfnicken begrüßt. Ob Postel sich darüber hinaus zu weiteren Höflichkeiten herabließ konnten die Beamten durch die abgetönten Schaufensterscheiben nicht erkennen. Postel verschwand so dann im ersten Stock, kehrte aber pünktlich um elf Uhr ins Erdgeschoß zurück, um sich die Post abzuholen. Zum Mittagessen fuhr Postel mit seinem Wagen zur Grillbar eines Hotels an der Außenals ter. Dort speiste er eine dreiviertel Stunde, à la carte, las Bundschuh später neidvoll in dem Bericht. Bis zum Geschäftsschluß um 18 Uhr blieb Postel dann in seinem Arbeitszimmer. Außer zwei Herren in mittleren Jahren, die die Wendeltreppe zu seinem Büro hinaufgegangen waren und beim Verlassen des Gebäudes mit einem Teleobjektiv fotografiert wurden, hatte Postel in der Zeit seit Beginn der Observation keinen Besuch erhalten. Wie schon in den vergangenen Tagen war es auch heute ausgesprochen langweilig gewesen. Die beiden Beamten vertrieben sich die Zeit mit Spielen wie »Schiffe versenken« oder »Ich seh' etwas, was du nicht siehst«. Zwischendurch aßen sie Erdnußflips, wischten die beschlagenen Scheiben frei, kauften Lakritz und machten abwechselnd kurze Besorgungen, besuchten auch mal das Herrenklo des nächsten Kaufhauses. Ungefähr um fünf Uhr tauchte Bundschuh auf, stieg in das Auto und ließ sich berichten.
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Man hatte den Wagen noch nicht gewechselt, sich aber seelisch bereits darauf eingestellt, Postel wieder durch den Feierabendverkehr nach Blankenese folgen zu müssen, als dieser plötzlich aus der Tür trat, nicht wie gewohnt seinen Wagen abholte, sondern statt des sen zu Fuß in Richtung Mönckebergstraße ging, und das, obwohl es in Strömen goß. »Los, hinterher!« blaffte Bundschuh den jüngeren der beiden Beamten an, wühlte sich über Einkaufstüten hinweg, griff in warme Lakritzbonbons, die an seinen Fingern klebenblieben, stieß dem Fahrer seine Pommes frites mit Ketchup über die Hose, trat knirschend in Chips und konnte endlich die Verfolgung aufnehmen. Bundschuh hüpfte von einem Dachunterstand zum nächsten, reckte den Hals und achtete nicht auf seinen jungen Begleiter, der ihn bewundernd beobachtete und dabei mit einer dicken Frau zusammenstieß, was dazu l führte, daß sich anschließend ein ungleiches Paar in einer Pfütze sitzend gegenseitig beschimpfte. Die Frau verlieh ihren Argumenten mit einer vollgestopften Einkaufstüte Nachdruck. Mehrere Passanten blieben stehen und äußerten ebenfalls ihre Meinung, aber mittlerweile konnte niemand mehr verstehen, was der andere sagte, da sich von rechts ein Demonstrationszug näherte und unter Sprechchören in Richtung Hauptbahnhof bewegte. »Weg mit dem Vermummungsverbot!« Noch sah Bundschuh, wie Postel sich mit seinem Regenschirm auf die Mönckebergstraße zu bewegte, doch dann wurde er von Teilnehmern des Zuges eingekreist, die ihm ein Flugblatt aufdrängen wollten. Er wehrte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen, sah Postels Schirm verschwinden, ergab sich in sein Schicksal um steckte das völlig durchnäßte Flugblatt in seine Hosentasche, wo es dann augenblicklich seine Unterhose durchweichte. Bundschuh befand sich jetzt mitten unter den Demonstranten, die ihn durchaus freundlich aufnahmen Wahrscheinlich waren sie dankbar, daß auch ein älterer Mitbürger aktiv für die Liberalisierung des Demonstrationsrechts eintrat. Zwei Mädchen nahmen seine Arme hakten sich bei ihm ein. Bundschuh blickte sich hilfesuchend um, konnte aber weder seinen jungen Kollegen entdecken, noch nahm die Polizeieskorte mit ihren Videokameras irgendeine Notiz von ihm. Plötzlich sah er Postel auf der anderen Straßenseite der sich mit einem Mann unterhielt. Er versuchte, sich zu befreien, aber die Mädchen hielten ihn eisern fest. Sein Zurren und Ziehen faßten sie als Signal auf, in einen leichten Laufschritt überzuwechseln. Die gesamte Kette fiel in den Rhythmus ein. Bundschuh sah sich im Rennen nach Postel um. Die nachfolgenden Demonstranten begriffen das als Aufforderung, aufzuschließen, so daß bald alle Teilnehmer zügig vorantrabten. In der Höhe des Hauptbahnhofs zogen die Demonstranten plötzlich Pappmasken hervor, die allesamt das edle Antlitz des Innenministers zeigten. Bundschuh sah sich hundertfach von der Grimasse des obersten Dienstherrn aller Bundesbeamten umgeben, der ihn über unterschiedlichsten Kleidungsstücken, doch mit immer derselben Fratze beäugte, der schüttere Haaransatz, die dünne, chromumrandete Brille, kleine, zwinkernde Augenlöcher, der schmale Mund überall zum gleichen 83
Grinsen verzogen. Bundschuh hatte das unbestimmte Gefühl, einen bösen Traum zu durchleben. Der Einsatz des Wasserwerfers seitens der Kollegen von der Bereitschaftspolizei erwies sich trotz der aktuellen Großwetterlage als voller Erfolg; Chaos brach aus. Die Abbilder des Innenministers liefen wild durcheinander, duckten sich vor dem Strahl, bildeten kleine Inseln von Personen, die sich gegenseitig zu stützen und halten versuchten, um nicht weggeschwemmt zu werden. Dazwischen trieb Bundschuh, schon völlig durchnäßt, und schrie mit den anderen: »Weg mit dem Vermummungsverbot! Weg mit dem Vermummungsverbot!« 40 Daß Olssons Reise in die Selbständigkeit an der Paß- und Zollkontrolle Puttgarden endete, durfte nicht als Triumph der raschen Datenübermittlung zwischen den europäischen Staaten gewertet werden. Zwar waren sowohl Kennzeichen als auch genaue Beschreibung des gestohlenen Wagens an alle in Frage kommenden Grenzstationen durchgegeben worden, doch scheiterte Olsson an der Gründlichkeit des deutschen Zolls, genauer gesagt an Zollinspektor Kruse, der infolge seiner langen Diensttätigkeit und dank der Psychologiestudien, die er hobbyweise als Abonnent einer einschlägigen Fachzeitschrift betrieb, Olsson sofort als potentiellen Schnapsschmuggler identifiziert und zur Kontrolle herausgewinkt hatte. Kruse wurde dann auch schnell fündig. Nur der Ordnung halber fragte er noch nach den Autopapieren. Endpunkt der Geschichte war, daß Kruse, immer noch verdutzt angesichts der Lawine, die er in Gang gesetzt hatte, betroffen die auf seinem Schreibtisch stehenden, widerrechtlich zollfrei eingeführten vier Literflaschen Gordon's Dry Gin betrachtete, während Olsson im Hinterzimmer von einem nervösen Ortspolizisten aus Landkirchen bewacht wurde und sich immer wieder fragte, warum er, ausgerechnet er von diesem Blödmann kontrolliert worden war. Drei Tage später war er durch die Warterei, die ungewohnte deutsche Hausmannskost und nicht zuletzt durch den Transport nach Hamburg körperlich und seelisch dermaßen zerrüttet, daß er dem freundlichen Kommissar und seiner reizenden Dolmetscherin alles offenbarte, was sein bescheidenes Wissen ausmachte. Kloess schickte daraufhin ein ausführliches Telex nach Schweden, ließ einen Haftbefehl ausstellen und begab sich höchst zufrieden nach Hause, wo er zwei Flaschen Kupferberg Gold kaltstellte, die Sauna in Betrieb setzte und einen in jeder Beziehung gelungenen Abend verbrachte, in dessen Verlauf er mit Kristina auch zu einer Einigung, die abgerissenen Hemdenknöpfe betreffend, kam. Am nächsten Morgen fuhr er bester Stimmung ins Büro, wo er und Doris Küchler die ausführliche Leidensgeschichte von Bundschuh genießen durften, der mit allen Anzeichen einer starken Erkältung am Schreibtisch hockte, noch immer völlig konsterniert. 84
»Stell dir vor«, sagte er heiser und schlürfte seinen heißen Tee, der ein verdächtiges Rumaroma verströmte, »bis fast vors Präsidium haben die mich geschleppt. Wenn mich bloß keiner gesehen hat!« »Hattest du denn keine Maske auf?« erkundigte sich Kloess boshaft. »Aber er ist doch gegen das Vermummungsverbot!« kicherte Doris Küchler. Bundschuh sah sie gekränkt an. »Das war richtige Massenhysterie! Ich war nicht mehr Herr meiner selbst«, verteidigte er sich gereizt. »Also, wenn ich dich richtig verstanden habe, hast du doch versucht, eine friedliche Demonstration in Randale umzufunktionieren, was dir ja auch bestens gelungen ist«, bohrte Kloess weiter. Doris Küchler lachte prustend. »Das war nicht ich, das waren diese Idioten mit ihren Wasserwerfern.« Bundschuh hustete hohl und schwindsüchtig. »Bestimmt bekomm' ich wieder 'ne Rippenfellentzündung«, prophezeite er düster. »Wieso bist du eigentlich so unverschämt gut gelaunt?« »Na, dann vergiß mal 'nen Augenblick deine Gebrechen und hör zu! Vielleicht kann ich dich aufheitern!« Kloess berichtete, was er über die Festnahme Olssons erfahren hatte. »Zuerst dachte er, wir hätten ihn nur wegen des gestohlenen Wagens beim Kragen. Eine heiße Geschichte übrigens, solltest du dir merken, Claus, falls deine Karriere bei der Polizei durch deinen selbstlosen und, ich möchte sagen, bahnbrechenden Einsatz für das Demonstrationsrecht einen jähen Abbruch erleidet. Aber zu Olsson! Als ich ihn auf die Geschichte mit dem angeblichen Bootsunglück ansprach, wurde er zunächst aufmüpfig, aber dann habe ich ihm ein bißchen gedroht mit Mordverdacht, und da bekam er das heulende Elend und hat so schnell ausgepackt, daß die Dolmetscherin beinahe nicht mitkam mit der Übersetzung!« »War das 'ne Schwedin?« fragte Bundschuh interessiert. Doris Küchler kicherte schon wieder. »Was? Äh, nein, glaub' ich nicht. Die war bestimmt schon über 40«, antwortete Kloess unlogisch. »Jedenfalls hat sich der Olsson fürchterlich beklagt. Er scheint so 'ne Art Underdog des ganzen Unternehmens gewesen zu sein. Die Sache mit Boström schiebt er auf Jorde, der hätte das geplant mit der gemeinsamen Bootsfahrt und hätte ihn dann vielleicht auch über Bord gehen lassen. Olsson behauptet, er hätte nichts gesehen, er wäre zu besoffen gewesen und hätte unten in der Kabine geschlafen.« »Das würde ich an Olssons Stelle auch sagen! Wenn er schlau ist!« warf Doris Küchler ein. »Schlau ist der bestimmt nicht! Nachprüfen kannst du das sowieso nicht mehr, aber ich glaub's irgendwie auch nicht, daß Olsson einen Mord plant und ausführt. Dafür war das, wenn es wirklich Mord war, zu raffiniert, und Olsson wirkt eher beschränkt. Der Boström hatte nämlich als Aushilfe bei den Olssons gearbeitet, und Ole, also unser Typ hier, hat wohl gequatscht, wollte sich großtun. Na, und bei einem Säufer, der sehen muß, woher er das Geld für die nächste Flasche
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herbekommt, ist ein Geheimnis nicht gerade gut aufgehoben. Also mußte Boström weg!« Mertens betrat den Raum. »Wie riecht's denn hier? Wie in 'ner Kneipe?« fragte er argwöhnisch. »Claus bekämpft seine Erkältung, die er sich im selbstlosen Einsatz geholt hat.« »Was denn für 'n Geheimnis?« lenkte Bundschuh ab. »Wie?« »Na, du hast doch eben gesagt, bei einem Säufer ist ein Geheimnis nicht gut aufgehoben. Was denn nun?« Ein älterer Beamter steckte den Kopf durch die Tür. »Wir wär'n soweit, Herr Kommissar«, sagte er respektvoll. »Klein' Moment noch, ich komme gleich.« Kloess wandte sich wieder seinen Zuhörern zu. »Das Geheimnis, ja. Nachdem Olsson Jorde den Mord oder Unfall in die Schuhe geschoben hatte, zog er gegen seinen Bruder vom Leder. Der hat sich nämlich einen netten kleinen Nebenverdienst aufgebaut, indem er gestohlene Wagen umfrisiert. So, und jetzt kommt's! Die Auto wurden in Schweden gestohlen, bekamen aber bei Olsson deutsche Kennzeichen und Papiere. Und nun ratet mal, wer die Nummern und Fahrzeugbriefe in Schweden ablieferte und die Autos nach Deutschland über führte!« »Jorde?« »Ja, der auch, aber ganz selten. Meist war das der uns so gut bekannte Wawliczek. Olsson kannte ihn nur als Charlie, hat ihn aber auf dem Foto sofort erkannt und war richtig glücklich darüber. Seine gute Stimmung verflog allerdings augenblicklich, als ich ihm mitteilte daß Wawliczek tot sei. Er dachte, der wäre auch ermordet worden, und ich hab' ihn auch in dem Glauben gelassen.« »Gestapomethoden!« rügte Bundschuh. »Dann war Wawliczek der Fahrer und Jorde der Boß«, überlegte Mertens zweifelnd. »Wer hat dann aber Jorde um die Ecke gebracht?« »Sehr gut, Willi!« lobte Kloess. »Jorde kann es wohl nicht selber gewesen sein. Aber der größte Hammer kommt noch. Wawliczek ist erst seit gut einem Jahr in Geschäft. Vorher wurden die Fahrzeuge von jemand anderem abgeholt, und den wollte Olsson auch mit sei nem geklauten Porsche aufsuchen, weil er den für den Boß hält.« »Nun mach's doch nicht so spannend«, klagte Bundschuh und befühlte mißtrauisch seine gerötete Stirn. »Unser Doktorand, Fritz Baumann!« »Nein!« sagte Doris Küchler enttäuscht. »Ich hab's doch gleich gesagt, alles linke Studenten«, freute sich Mertens. Langenberg betrat den Raum. »Hat einer von euch Lust, ins Kino zu gehen? Wir haben ein sehr unterhaltsames Videoprogramm von der gestrigen Demo.« »O Gott«, stöhnte Bundschuh und nieste, »ich komme.« Und zu Kloess gewandt, fügte er pessimistisch hinzu: »Ja und? Baumann ist vermutlich längst abgehauen und liegt irgendwo am Strand!« 86
»Nee, der sitzt nebenan und wartet auf sein Verhör!« 41 Die Beschatter Postels aus Langenbergs Abteilung hatten bereits stundenlang unzählige Meter Videomaterial der gestrigen Demonstration gesichtet und ausgewertet, welches von den Kollegen der Politischen Polizei - im Volksmund gemeinerweise PoPo genannt - mit mehreren Videokameras aufgezeichnet worden war. Da es zur speziellen Art dieser Abteilung gehörte, ihre Arbeit stets mit einer Aura der Geheimniskrämerei zu umgeben, übrigens ohne daß jemand genau sagen konnte, warum sie das taten, hatten sie sich auch dieses Mal reichlich geziert, Langenbergs Leuten das Material zu überlassen, und eine höhere Interessenlage vorgeschoben, dabei unentwegt »Staatsschutz« gemurmelt und noch weitere unkooperative Argumente vorgetäuscht. Langenberg ließ sich nicht auf Kompetenzstreitigkeiten ein, vermied beim zweiten Anlauf den offiziellen Dienstweg und trug seine Vermutungen Schröder so überzeugend vor, daß dieser mit seinen Beziehungen dafür sorgte, daß man schnell an das gewünschte Material kam. Als Langenberg dann endlich die entscheidenden Szenen zum ersten Male sah und sich seine Hoffnungen erfüllten, ließ er triumphierend seine Goldzähne blinken, ein untrügliches Zeichen für Zufriedenheit. Doris Küchler begleitete Bundschuh in den Videoraum, ihren Worten zufolge als moralische Stütze in seiner schweren Stunde. Kloess gewann jedoch eher den Eindruck, daß sie schlicht neugierig, wenn nicht sogar sensationslüstern war. Das Videomaterial war schon teilweise bearbeitet worden. Man hatte bestimmte, bekannte Akteure der Demonstration mit kleinen elektronischen Zahlen belegt, um sie so besser kennenzulernen und erfassen zu können. Genauso war man mit solchen Demonstranten verfahren, die sich dadurch hervortaten, daß sie Flugblätter verteilten, Transparente trugen oder durch andere eindeutige Aktivitäten auffielen. Die Standorte der Kameras waren professionell gewählt worden, so daß der ganze Demonstrationszug gut ins Bild kam. Einzelne, prekäre Szenen waren mit Hilfe des Zooms in Großaufnahme zu sehen. Der Kommentar des Kameramannes begleitete die Aufnahmen. »Paßt auf, gleich kommt's«, meldete sich Langenberg. Postel bahnte sich eine Gasse durch den Demonstrationszug, wehrte alle Versuche ab, sich in die Reihen eingliedern zu lassen, versuchte, die andere Straßenseite zu erreichen. »Wir haben ihn am Regenschirm erkannt, das heißt später seht ihr ihn in Großaufnahme, und wir haben den Film dann ein Stück rückwärts laufen lassen, um ihn wiederzufinden«, erläuterte Langenberg. Postel verschwand aus dem Blickwinkel der Kameras. Statt dessen tauchte Bundschuh auf, wurde immer größer, Mittelpunkt der Demonstration. »Wiegelt auf, kam von außen«, war als Kommentar zu hören.
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Bundschuh rutschte tiefer in seinen Sessel und sah aus dem Augenwinkel kurz Gold aufblitzen. »Du kommst sehr gut raus!« flüsterte Doris Küchler anerkennend. Die Szene wechselte. »Das hier haben wir von einer anderen Kassette. Die hatten natürlich auch auf der anderen Straßenseite Kameras installiert«, erklärte Langenberg. Ein Häuflein Demonstranten breitete ein nasses Transparent vor einer Gruppe offensichtlich desinteressierter Passanten mit vollen Einkaufstüten aus. Postel stand d irekt neben den Demonstranten unter einem Vordach im Eingang eines Textilwarenhauses, klappte seinen Schirm zu und schaute sich suchend um. Von der nebenstehenden Würstchenbude trat ein junger Mann auf ihn zu. Beide unterhielten sich kurz. Postel knöpfte seinen Mantel auf, faßte sich in die Innenseite seines Jacketts und gab dem jungen Mann ein Päckchen oder einen Briefumschlag; genaueres war nicht zu erkennen. Der Mann entfernte sich, reihte sich in den Demonstrationszug ein, schaute sich noch einmal nach Postel um. Jetzt war sein Gesicht zum ersten Male deutlich zu erkennen. »Baumann, das ist Baumann«, schrie Doris Küchler ganz aufgeregt. »Anhalten, Rücklauf, die Szene noch mal, bitte!« befahl Langenberg. Abermals die Demonstranten mit ihrem Transparent, Postel, Baumann, Übergabe. Baumann sah sich nach Postel um, griff in die Tasche seines Parkas, verstaute etwas und zog dann eine Maske hervor, die er sich aufsetzte. »Wollt ihr noch mehr sehen?« fragte Langenberg. »Postel und der andere sind nicht mehr drauf, das haben wir schon überprüft. Du hast allerdings noch mal 'ne starke Einstellung, Claus!« »Was hat der dem Baumann denn da gegeben?« überlegte Doris Küchler. »Du kannst ihn ja fragen. Oder du versuchst es mal mit den Überwachungskameras des Warenhauses und deren Kassetten«, schlug Bundschuh bissig vor. »Hoffentlich bist du da nicht auch noch drauf!« konterte Langenberg. 42 Nach genau einer Stunde und sieben Minuten gab Kloess entnervt auf, stellte das Tonbandgerät ab, knüllte seinen Pappbecher zusammen und zielte damit nach dem Papierkorb, den er prompt verfehlte. Baumann betrachtete ihn amüsiert. Er hatte in der letzten Stunde überwiegend schweigend dagesessen, den angebotenen Kaffee getrunken, den Mertens unermüdlich heranschleppte, unzählige Zigaretten geraucht - keine eigenen, wohlgemerkt, sondern die Beruhigungszigaretten, die Bundschuh für geständige Delinquenten in seinem Schreibtisch bereithielt - und Kloess' Fragen und Anschuldigungen mit spöttischem Lächeln quittiert. »Aber Herr Hauptkommissar«, sagte er jetzt in duldsamem Tonfall, etwa so wie ein antiautoritär eingestellter Lehrer, der zum siebten Male versucht, einem beschränkten Schüler die Anfangsgründe der Bruchrechnung nahezubringen, »Sie 88
können doch nicht alles für bare Münze nehmen, was Ihnen irgend so ein schwedischer Döskopp erzählt. Das arme Schwein wollte doch auch bloß seinen Kopf aus der Schlinge ziehen!« »Der Döskopp hat Ihren Namen genannt, ohne daß wir ihn danach gefragt hätten! Und Ihre Adresse hatte er auch!« »Das wird er von Charlie haben, das ist doch logisch!« »Ich verstehe diese Art von Logik überhaupt nicht! Warum sollte Wawliczek so etwas tun?« »Er wollte mich wohl reinlegen«, gab Baumann leichthin zurück. »Oder er hat wieder mal rumgetönt, daß er mit dem Boß zusammen wohnt oder so. Das sähe ihm ähnlich! Was weiß ich, was Charlie in Schweden erzählt hat!« Kloess schwieg. Das Argument hatte zumindest einiges für sich. »Bei einer Gegenüberstellung können wir dann ja klären, ob der Schwede Sie wiedererkennt oder nicht«, ließ sich Mertens zum ersten Male vernehmen. Kloess sah erstaunt hoch; Mertens hatte natürlich recht. »Ich geh' aufs Klo«, verkündete Kloess gereizt. Baumann mußte auch mal, Mertens ging mit. Die Tatsache, daß er nicht einmal allein pinkeln gehen durfte, schien Baumann etwas zu ernüchtern/jedenfalls hörte er endlich auf, überlegen zu lächeln. Die beiden hatten gerade den Raum verlassen, als Bundschuh, Doris Küchler und Langenberg hereinplatzten. Bundschuh sah sich wild um. »Hast du ihn etwa gehenlassen?« fragte er erregt. »Wen?« »Baumann natürlich!« »Nee, der ist pinkeln, und das mach' ich jetzt auch!« »Wer hat dir denn in'n Kaffee gespuckt?« »Das ist ein smartes Kerlchen! An dem werden wir noch unsere Freude haben!« »Nun erzähl's ihm schon, Claus!« forderte Doris Küchler auf. Bundschuh berichtete. »O Mann, und ich fing schon an, ihm zu glauben«, sagte Kloess, als Bundschuh fertig war. »Ja, er kann sehr überzeugend sein«, bestätigte Doris Küchler mitfühlend. Baumann tauchte wieder auf mit Mertens im Schlepptau. »Oh, Sie haben Verstärkung kommen lassen«, sagte er anzüglich, entdeckte Doris Küchler, grinste breit und bemerkte - wobei er mit dem Daumen auf Kloess wies vertraulich: »Der Typ ist nicht halb so gut wie Sie!« Doris Küchler wurde rot, Bundschuh ebenfalls, aber vor Empörung. Kloess war perplex, und Mertens pumpte sich gerade zu einer Zurechtweisung von Amts wegen auf, als Langenberg Baumann mit einer beruhigenden Geste auf den Stuhl drückte. »Nun mach man nicht so große Sprüche, mein Junge«, sagte er väterlich. Kloess setzte sich ebenfalls und stellte das Tonbandgerät wieder an. »Herr Baumann«, begann er, »Sie unterhalten sich jetzt zum dritten Male mit uns, und ich hoffe wirklich, daß das heute das letzte Mal sein wird.« Baumann nickte zustimmend. 89
»Das meiste, was Sie uns bei den vergangenen Ge sprächen aufgetischt haben, sollten wir mal für einen Augenblick vergessen. Da Sie nichts erzählen wollten, möchte ich Ihnen meine Version der Story vortragen, und Sie können mich dann gern berichtigen, wenn ich falsch liegen sollte.« Kloess stand auf, trat ans Fenster und sah eine Weile hinaus. »Mein Gott, gibt es viele Autos«, meinte er versonnen. »Sehen Sie nur, jeder sitzt in so 'ner Blechkiste. Die meisten sind wirklich nur Blechkisten, fantasieloses Design, schlechte Verarbeitung, überteuert! Massenware, Wegwerfprodukte! Aber es gibt zum Glück auch die Modelle für gehobene Ansprüche, sehr teuer leider, aber begehrt. So begehrt, daß man schon auf die Idee kommen könnte, das Geschäft mit der Begehrlichkeit nicht allein den Herstellern und Händlern zu überlassen. Aber das Risiko, das Risiko ist wie bei jedem guten Geschäft doch recht erheblich. Ein intelligenter Mann hingegen wird damit fertig, nicht wahr?« Baumann blickte jetzt Kloess, der immer noch aus dem Fenster sah, unverkennbar interessiert an und nickte erneut. »Das Risiko«, fuhr Kloess im Erzählton fort, »kann verringert werden, wenn man die, sagen wir mal, auf unkonventionelle Weise erworbenen Fahrzeuge schnell außer Landes schafft beziehungsweise die Nachfrage auf dem deutschen Markt durch Wagen aus dem Ausland befriedigt. Man benötigt dann allerdings Helfer, Werkstätten zum Beispiel, die kleine, aber entscheidende Veränderungen vornehmen, man benötigt Fachleute für die Papiere und«, Kloess drehte sich abrupt zu Baumann um, »man benötigt Fahrer!« »Sehr spannend, wie Sie das erzählen!« sagte Baumann anerkennend und lehnte sich lässig zurück. »Ja gewiß, es ist auch eine schöne Geschichte«, bestätigte Kloess. »Als Fahrer kommt unser Carl Wawliczek ins Bild. Eine der verschwiegenen, hilfreichen Werkstätten sind die Gebrüder Olsson gewesen. Jorde, den zu kennen Sie ja angeblich nicht das Vergnügen hatten, Jorde hatte Zugang zu den Papieren begehrter Luxuswagen. Natürlich fehlen mir da noch einige Beteiligte, etwa jene, die die Papiere fälschten, und die, welche die Fahrzeuge besorgten. Kleine Fische letztlich, Nebentäter. Uns interessiert der Kopf, der Planer des Unternehmens. Eine Persönlichkeit mit erheblichen Fähigkeiten, Übersicht, Erfindungsgabe, guten Nerven. Wawliczek? Nein, das werden Sie bestätigen, das entspricht nicht dem Bild, daß wir von ihm gewonnen haben. Die beiden schwedischen Brüder? Nun, ich kenne nur den einen, den Döskopp, wie Sie - übrigens nicht ganz unberechtigt sagten, aber das glaube ich auch nicht. Auch der Ihnen unbekannte Jorde hatte wohl nicht das Format. Aber Sie, mit Ihren Fähigkeiten, Ihrer Selbstbeherrschung, von der Sie uns ja schon so manche Probe gegeben haben, Sie hätten durchaus das Format!« Bundschuh sah grenzenlos verblüfft aus, Doris Küchler richtig gequält, Mertens hatte seinen Mund offen, und Langenberg zeigte seine Goldzähne. Baumann fuhr hoch. »Sie sind ja verrückt!« stieß er hervor.
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»Sie sollen ein fleißiger Student und ein brillanter Doktorand sein«, fuhr Kloess unbeirrt fort. »Ihre Doktorarbeit steht kurz vor dem Abschluß, ich habe mich da erkundigt. Alle sind des Lobes voll. Ich habe mich gefragt, wie Sie neben Ihrer wissenschaftlichen Arbeit noch die Zeit aufbringen, so ein aufreibendes Geschäft zu betreiben, und bin zu der Überzeugung gelangt, daß das nicht zu leisten ist. Der gute Olsson lag falsch, Sie sind nicht unser Mann!« Baumann atmete hörbar aus. »Na, sehen Sie«, seufzte er befriedigt und lehnte sich wieder zurück. »Woher kennen Sie Herrn Postel?« fragte Kloess sehr laut. Baumann zuckte zusammen.»Wen?« »Sie haben sich am Rande der Demonstration vom Dienstag mit Herrn Postel getroffen, hatten ein kurzes Gespräch, erhielten von ihm einen Briefumschlag oder etwas Ähnliches und haben sich dann der Demo angeschlossen.« »Wie kommen Sie denn auf so was Idiotisches?« »Wir haben Videofilme!« sagte Langenberg ruhig. »Video! Natürlich, der Überwachungsstaat funktioniert!« Baumann schlug sich mit der Handfläche an die Stirn und blieb mit dem Kopf in der Hand aufgestützt sitzen. Es war eine Weile sehr still im Raum, bis Bundschuh die Ruhe mit einem Hustenanfall unterbrach. Baumann sah irritiert hoch. »Scheiße!« sagte er leise. »Entschuldigung!« murmelte Bundschuh. Kloess wartete, wechselte das Tonband, holte sich Kaffee. »Okay!« sagte Baumann plötzlich. »Dann fangen Sie mal an!« »Für wen hat Carl Wawliczek gearbeitet?« »Für Postel. Der hat so 'n Chauffeurdienst für seine Mietwagen. Es gibt genug abgefuckte Typen, die einmal durchs Hamburger Nachtleben ziehen wollen, natürlich immer in 'ner Staatskarosse. Man holt die in irgendeinem Hotel ab und karrt sie dann in die verschiedenen Bars, Stripteaselokale und Bumsschuppen und bringt sie morgens stinkbesoffen wieder ins Hotel. Wenn man Glück hat, kotzen sie einem den Wagen nachher nicht voll. Ich hab' das auch gemacht während des Studiums. Bringt ordentlich Kohle, einmal von der Firma und dann noch Trinkgeld von den angeturnten Typen.« »Das war aber nicht Ihre einzige Beschäftigung bei Postel?« Baumann überlegte. Er wirkte jetzt wieder ruhiger, gefaßter. »Nein, am Anfang schon. Aber dann kam Postel und fragte, ob ich für ihn so 'n Schlitten nach Italien bringen könnte. Der Kunde wollte angeblich den Wagen noch am Wochenende haben. Na ja, das kam mir schon komisch vor. Ich hatte gar nicht gewußt, daß Postel auch Autos verkauft. Aber beim ersten Mal hab' ich mir noch nicht viel gedacht dabei. Später hab' ich das dann häufiger gemacht, immer nach Italien Wagen überführen oder aus Schweden abholen.« »Da wußten Sie aber, was es mit den Fahrten auf sich hat?« »Nicht gewußt! Vielleicht hatte ich 'nen Verdacht!« »Und Wawliczek?« fragte Mertens gespannt.
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»Hat der hier auch noch was zu sagen? Wer fragt denn nun eigentlich?« wollte Baumann in sehr pampigem Ton wissen. Kloess sah Mertens bedeutungsvoll an. »Nun lassen Sie uns mal weitermachen! Was war denn nun mit Wawliczek?« »Als Charlie bei uns einzog, suchte er Arbeit, war völlig blank. Und ich wollte sowieso kürzer treten, wegen der Promotion. Ich hab' Charlie vermittelt, und er war auch gleich ganz high. Quatschte dauernd was von Wohlstandsgesellschaft, die mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden müßte. Als dann die praktischen Arbeiten im Labor anfingen, hab' ich ganz aufgehört.« »Und Jorde, kannten Sie den nun oder nicht?« Baumann überlegte wieder lange. Der packt nur aus, was wir ihm ohnehin mit Hilfe von Zeugen nachweisen können, dachte Kloess. »Ja«, gab Baumann schließlich zu, »nicht gut, nur so vom Ansehen. Man traf sich vor den Fahrten. Jorde brachte die Papiere und, nun ja, die Kennzeichen. Nach Schweden bin ich dann meist mit der Bahn hochgefahren. Manchmal, wenn mehr Zeit war, auch per Anhalter. Ich kenn' da so einige Fernfahrer, die regelmäßig nach Stockholm fahren. Da hab' ich das Fahrgeld gespart.« Und deinen Arbeitgeber angeschissen, dachte Kloess und sagte: »Gut, zu diesen Gesichtspunkten werden Sie sich noch mal ausführlich mit Herrn Langenberg hier unterhalten müssen. Mich interessiert jetzt das Wochenende von Wawliczeks Tod, der 28. und 29. Oktober also, und Montag, der 30. Wo waren Sie da?« »Na, zu Hause beziehungsweise in der Uni! Das können Sie nachprüfen. Wieso?» »Ja, das werden wir, nachprüfen! Erzählen Sie bitte, was an diesem Wochenende geschah!« Baumann wurde zusehends nervöser. »Was geschah, was geschah! Gar nichts, abgesehen davon, daß Charlie und Ursula abgeknallt wurden!« sagte er aggressiv. »Was haben Sie von Postel bekommen, bei der Demo, meine ich?« »Ich hatte noch Geld von Postel zu kriegen! Außenstände !« Bundschuh platzte der Kragen. »Ja, zum Donnerwetter, hören Sie endlich auf, uns für dumm zu verkaufen! Sie haben eben noch angegeben, seit fast zwei Jahren nicht mehr für Postel zu arbeiten, und wollen jetzt noch Geld gekriegt haben! Entweder sind Sie immer noch im Geschäft oder Sie haben das Geld für was anderes gekriegt. Vielleicht dafür, daß Sie den Mund halten, viel-. leicht aber auch als kleine Extraprämie dafür, daß Sie Jorde beseitigt haben.« Bundschuh begann zu husten, wurde dann krebsrot im Gesicht, bekam fast keine Luft mehr. Doris Küchler klopfte ihm hilfreich auf den Rücken, was den Hustenanfall noch verstärkte. »Claus, nun echauffiere dich doch nicht so!« mahnte Kloess. »Kinder, Kinder!« brummte Langenberg kopfschüttelnd. Baumann war im Stuhl hochgefahren, ziemlich blaß im Gesicht. »Der ist ja meschugge, der spinnt doch! Glauben Sie das etwa auch? Bin ich deswegen hier, weil Sie mir einen Mord in die Schuhe schieben wollen?« »Sie gehören zu unseren Verdächtigen«, sagte Kloess ausweichend. 92
»Warum sollte ich das denn tun? Der Typ war mir doch ganz egal, den hatte ich doch seit Jahren nicht mehr gesehen! Ich hatte doch gar nichts mit dem!« »Nun, vielleicht wollte Jorde Sie zwingen, wieder zu fahren, nachdem Wawliczek ja ausgefallen war«, gab Doris Küchler zu bedenken. »Ich werd' verrückt! Jetzt fangen Sie auch noch an!« Baumann hatte seine anerkannt gute Selbstbeherrschung jetzt endgültig verloren. Er schwitzte und sprach mit sich überschlagender Stimme. »Und ich knall' ihn deswegen ab und verbuddle' ihn im Müll?« »Woher wissen Sie denn, wo Jorde begraben lag?« fragte Bundschuh hitzig. »Das hat die mir doch erzählt!« erwiderte Baumann anklagend. »Jorde! Der wollte doch selber aussteigen! Der hat mich noch Montag vollkommen aufgelöst angerufen. Der war ganz fertig wegen Wawliczek, der wollte doch abhauen!« »Wann genau haben Sie mit Jorde telefoniert?« »Na abends, so gegen sieben. Ich war gerade aus der Uni gekommen. Wie ein Verrückter hat er gebrüllt!« »Und was wollte er von Ihnen?« »Warnen wollte er mich! Und dann soll ich ihn erschossen haben!« »Hat Jorde Ihnen denn erzählt, was er vorhatte?« »Bloß weg wollte der! Der hat sich ja nicht mal zur Arbeit oder zur Bank getraut!« »Hat er Sie um Geld gebeten?« »Nee, da war ich ja wohl auch die falsche Adresse!« »Welches wäre denn Ihrer Meinung nach die bessere Adresse gewesen?« »Ich weiß es nicht, Postel wahrscheinlich!« »Und Sie haben die ganze Zeit geglaubt, er wäre , wirklich geflohen?« Baumann wirkte jetzt erschöpft. »Ja, natürlich, was sollte ich denn sonst glauben. Bis Sie Ihre nette Kollegin auf mich losgelassen haben. Da hab' ich erst von Jordes Tod gehört. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, völlig gelähmt!« »Aber immerhin nicht so gelähmt, daß Sie sich nicht die ganze Geschichte zusammengereimt haben und dann zu Postel gegangen sind, um ihn zu erpressen«, sagte Kloess unbeeindruckt. »Nicht zu ihm gegangen«, antwortete Baumann heiser. »Ich hab' ihn zu Hause angerufen. War so 'n Versuchsballon. Aber er ist drauf eingegangen, ziemlich schnell. Na ja, und da hab' ich das Treffen bei der Demo ausgemacht. Da waren so viele Leute, auch viele, die mich kannten. Da war ich ziemlich sicher, dachte ich!« »Sicher vor der Entdeckung?« »Nein, sicher vor Postel«, gab Baumann leise zu. Die Tür öffnete sich, jemand sah unsicher ins Zimmer. »Ach nee, wollen Sie schon wieder für 'ne Hochzeit sammeln?« fragte Langenberg ungehalten. Der Jüngling wand sich. »Hier ist 'n Telex aus Schweden. Ich dachte, es ist vielleicht wichtig, weil Willi gesagt hat ...« »Gib her«, sagte Mertens barsch und stieß die Tür mit dem Fuß zu.
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»Bosse Olsson ist verschwunden, und Assari ist laut Auskunft des Hausmädchens mit seiner Familie zum Skifahren in die Schweiz«, verkündete er mit Grabesstimme. 43 Die Zeugenaussagen widersprachen sich hinterher, wie immer! Es war ein ereignisreicher Tag des Winterschlußverkaufs gewesen. Der Handel verzeichnete trotz anhaltender Rezession Rekordumsätze. Kampferprobte Frauen, die mitsamt ihren erschöpften Kindern, welche ohne reelle Chance einer ernsthaften Verweigerung in kratzende, aber preiswerte Pullover gesteckt worden waren, stolz von gewonnenen Schlachten an den Grabbeltischen heimkehrten, nahmen - noch unter den Nachwirkungen des Kaufrausches stehend - die Vorkommnisse im Parkhaus nicht voll wahr. Der Parkhauswächter hatte zunächst die Schüsse fachmännisch als Fehlzündungen identifiziert und sich weiter konzentriert seinem Horoskop gewidmet, welches ihm für den heutigen Tag Glück in Geld- und Herzensdingen versprach, ihn aber gleichzeitig warnte, berufliche Entscheidungen zu übereilen, nicht ahnend, daß er am nächsten Tag im Mittelpunkt des Presseinteresses stehen sollte. Erst auf Anweisung eines älteren Mannes, der widerlich stinkende Stumpen qualmte, ließ er die Schranken des Parkhauses herunter. Der Herr im hellgrauen Zweireiher lag mit dem Ge sicht nach unten neben der geöffneten Tür eines Jaguar E-Types, den Arm weit ausgestreckt, als versuchte er, die kleinkalibrige Waffe zu erreichen, die halb unter den Wagen gerutscht war. Das Loch in seinem wohlfrisierten, säuberlich gescheitelten Haar fiel kaum auf. Unter seinem Gesicht breitete sich träge fließend eine relativ kleine Blutlache aus. Um den Toten herum herrschte emsige Geschäftigkeit. Die Kugeln, die in mehreren parkenden Fahrzeugen steckten, wurden vorsichtig entfernt und in kleine Plastiktüten verstaut, nachdem die Einschlagstellen markiert worden waren. Zwei Fotografen verrichteten ihre Arbeit, andere waren mit Maßbändern und Kreide beschäftigt, ein Arzt verband einem jüngeren Polizisten, der die Prozedur bleich, aber gefaßt über sich ergehen ließ, den Arm. Abseits davon standen zwei Männer. Der eine war furchtbar erkältet und redete unter Niesen und Röcheln auf den zweiten ein, der immer noch seine Dienstwaffe in der Hand hielt, ungläubig auf den Toten starrte, sich dann abrupt umdrehte und mit leicht vorgeschobenen Schultern die Szene verließ. Die zwei adrett uniformierten Mädchen, die das Ge schehen auf ihren Monitoren verfolgt hatten, beschlossen, sich am nächsten Tag nach einem neuen Arbeitgeber umzusehen.
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44 Die Diskussion um den Ankauf einer teuren, chromblitzenden, italienischen Espresso-Maschine war abgeschlossen. Mertens Argument: »Die wird uns bloß geklaut«, überzeugte alle. Zwischenzeitlich hatte man Bundschuhs Vorschlag, auf einen Kaffeeautomaten mit Thermoskanne auszuweichen, ernsthaft erwogen. Der Kompromiß, mit der Anschaffung bis nach der Zahlung der Urlaubsgeldes zu warten, wurde jedoch von Doris Küchler unterlaufen, die endgültig in Kloess' Abteilung versetzt worden war und als Einstand eine Espresso-Maschine mit sechs passenden Tassen von TCHIBO mitbrachte. Man saß zusammen, genoß die warme Aprilsonne, die durch die Fenster schien, und weihte das Mitbringsel ein. Mertens paffte zufrieden vor sich hin, Kloess verzehrte das halbe Stück Torte, das Doris Küchler mit Rücksicht auf ihre Hüften übriggelassen hatte, und Bundschuh studierte mit Hingabe die Prospekte, die er auf seinem Schreibtisch verteilt hatte. In Gedanken an einen neuen, roten Surfanzug verpaßte er den Anfang des Zeitungsartikels, den Grabbe vorlas. »...hat ein Raketenanschlag auf dem internationalen Flugplatz von Beirut für einige Aufregung gesorgt. Ein blutiger Dollar-Regen ging auf die entsetzten Passanten vor dem Flughafengelände nieder. Die Rakete hatte ein Taxi getroffen, dessen Insassen samt Gepäck zerfetzt und in die Luft geschleudert wurden. Da es sich kaum um die Tageseinnahmen des Chauffeurs gehandelt haben dürfte, gehörten die Millionen vermutlich dem Fahrgast, einem schwedischen Staatsbürger, Dr. Assari, der ...«
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