Roland Messmer Ordnungen der Alltagserfahrung
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Roland Messmer
Ordnungen der Alltagserfahrung Neue Ansät...
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Roland Messmer Ordnungen der Alltagserfahrung
VS RESEARCH
Roland Messmer
Ordnungen der Alltagserfahrung Neue Ansätze zum TheoriePraxisbezug und zur Fallarbeit in der Lehrerbildung
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Habilitationsschrift Universität Oldenburg, 2010
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Verena Metzger | Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17957-5
Karlheinz Scherler gewidmet.
Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................................................................. 11 1
1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4
Einleitung: Professionalisierung von Lehrpersonen durch Fallarbeit.............................................................................................13 Theorie und Praxis – ein missverständlicher Widerspruch? ........................14 Die Differenz von Theorie und Praxis in unterschiedlichen Handlungspraxen ...............................................................................................16 Die Differenz von Theorie und Praxis in unterschiedlichen Wissensformen...................................................................................................21 Fallarbeit als Möglichkeit zur Überwindung der Theorie-PraxisDifferenz.............................................................................................................27 Der Alltagsdiskurs in der Sportpädagogik ......................................................30 Inhaltliche Wende zum Alltag..........................................................................32 Methodische Wende zum Alltag......................................................................34 Pragmatische Wende zum Alltag .....................................................................36 Narrationen und Alltagspraxis .........................................................................39 Erzählungen in der Ethnologie........................................................................42 Erzählungen in der Geschichtswissenschaft ..................................................44 Vom Denken in Konzeptionen zum Denken in Beispielen ........................46
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2
Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht... 53 Narrative Texte als ganze Erzählungen ..........................................................55 Handlungen ........................................................................................................56 Personen..............................................................................................................58 Kontext ...............................................................................................................58 Folgen..................................................................................................................60 Widersprüche im Ganzen .................................................................................61 Narrative Texte als Erzählungen mit einer Zeitstruktur...............................63 Kontinuität..........................................................................................................65 Temporalität .......................................................................................................66 Dramaturgie........................................................................................................66 Kurze Geschichten ............................................................................................68 Narrative Texte als Erzählungen mit Signatur...............................................69 Palimpsest-Geschichten....................................................................................71 Schlüsselsatz .......................................................................................................71
1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3
8
Inhaltsverzeichnis
2.4 2.4.1 2.4.2
Didaktische Texte als narrative Konstrukte ...................................................74 Dramaturgie und narrative Mittel ....................................................................75 Didaktische Texte sind 3-D-Erzählungen......................................................76
3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.4 3.4.1 3.4.2
Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung ............................ 79 Zwei Arten des Denkens ..................................................................................81 Paradigmatisches Denken.................................................................................83 Vom Begriff zum Beispiel ................................................................................85 Von Beispiel zu Beispiel....................................................................................89 Narratives Denken.............................................................................................91 Von Geschichte zu Geschichte........................................................................95 Von Geschichten zum Allgemeinen..............................................................100 Auswirkungen auf die Textform....................................................................103 Argumentieren..................................................................................................107 Erzählen ............................................................................................................109
4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.3.1
Wie ordnen Lehrpersonen unterschiedliche Erfahrungen .............. 117 Fragen und Methoden der empirischen Vergleiche ....................................118 Datenerhebung.................................................................................................121 Dokumentationen............................................................................................125 Interpretationen ...............................................................................................129 Zur Identifikation von Rechtfertigungen (formulierende Interpretation) ..................................................................................................130 4.1.3.2 Zur Selektion narrativer und argumentativer Aussagen (reflektierende Interpretation)........................................................................132 4.1.3.3 Fallbeschreibung und Kritik...........................................................................134 4.2 Vergleich der Interviewaussagen....................................................................136 4.2.1 Paradigmatisch-apagogische Folgerungen....................................................139 4.2.2 Paradigmatisch-epagogische Rechtfertigungsversuche...............................145 4.2.3 Narrativ-epagogische Erklärungssuche.........................................................151 4.2.4 Narrativ-apagogische Begründungen ............................................................160 4.3 Zusammenfassung ...........................................................................................167 5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
Wie ordnen Didaktiker unterschiedliche Erfahrungen? .................173 Fragen und Methoden der narrativen Textanalyse......................................174 Vergleich der didaktischen und narrativen Texte ........................................177 Interpretation von Musterbeispielen (paradigmatisch-apagogisch)...........179 Kritische Interpretation von Fallbeispielen (paradigmatischepagogisch) .......................................................................................................186 Freier Gebrauch von kleinen Geschichten (narrativ-epagogisch).............192 Enger Gebrauch von Parabeln (narrativ-apagogisch).................................203
Inhaltsverzeichnis
9
5.3
Zusammenfassung ...........................................................................................207
6 6.1 6.2
Fazit .................................................................................................. 211 Ordnen Lehrer Erfahrungen anders als Didaktiker?...................................211 Folgen für den Theorie-Praxis-Diskurs in der Lehrerbildung ...................217
Anhang ...........................................................................................................225 Geschichten (Übersicht) .................................................................................225 Literaturverzeichnis .........................................................................................227
Vorwort
»Es gibt keine Wahrheit – nur Geschichten« Jim Harrison (1999, xii)
Gedanken, Wünsche, Meinungen und Überzeugungen sind nach Donald Davidson (2004, 361) Enden von Geschichten, die bei anderen Menschen oder anderen Dingen beginnen. Damit ich in diesem Vorwort in Bezug auf die anschliessenden Ausführungen kohärent bleiben kann, drängt es sich auf, den Anfang dieser »Geschichte« darzustellen. Der Beginn dieser Untersuchung liegt in meinem Forschungsprojekt zu subjektiven Theorien von Lehrerinnen und Lehrern. Aus diesem Projekt entstand 2002 eine Veröffentlichung, deren Zielpublikum Studierende in der Lehrerausbildung waren. Die in den Interviews von Lehrerinnen und Lehrern erzählten Geschichten, aber auch die in den Videos dargestellten Geschichten, die ich als Stücke bezeichnet habe1, haben mein Interesse geweckt. Aus diesem Projekt lässt sich eine zentrale Frage ableiten, die mich in der vorliegenden Untersuchung bewegt: Ich möchte herausfinden, ob die Erzählung als Form für die Didaktik oder für bestimmte, unter Umständen besonders ausgezeichnete Prozesse der Lehrerbildung geltend gemacht werden kann. Nach Davidson stehen am Anfang von Geschichten, die zu Gedanken und Überzeugungen führen, nicht nur Dinge, sondern auch Personen. In diesem Sinne steht zu Beginn dieser Geschichte mein Studienaufenthalt 1992/93 in Hamburg, wo ich mit Matthias Schierz und Karlheinz Scherler zwei Sportpädagogen kennen und schätzen gelernt habe. Ihre gemeinsam formulierte »Interpretative Unterrichtsforschung« sowie die »Narrative Didaktik« von Schierz legen den Zugang zur Repräsentationsform der Geschichte nahe. In der Sportpädagogik sind Darstellungsformen wie Fälle, Unterrichtssituationen oder kleine Geschichten unmittelbar mit den Personen Scherler und Schierz verbunden. An und mit Fällen haben mich Karlheinz Scherler und Matthias Schierz zum didaktischen Denken »angestiftet«. Die Arbeit mit Fällen hat mich fasziniert und nicht mehr losgelassen. Die Repräsentationsform von Unterrichtsereignissen in der Fallarbeit möchte ich zumindest vorläufig als Fallbeispiele oder Fallgeschichten bezeichnen. Dass ich mich unterdessen über
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Messmer, Roland: Didaktik in Stücken. Magglingen 2002.
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Vorwort
den Fallbegriff von Scherler und Schierz hinweggesetzt habe, der zu Beginn der Untersuchung noch eine zentrale Bedeutung hatte, werde ich im Verlauf der Untersuchung erläutern. Kurz – um bei der Begrifflichkeit der Geschichte zu bleiben – von Scherler und Schierz stammt der Plot, aus dem hoffentlich eine gute story entstanden ist. Zu Beginn einer wissenschaftlichen Arbeit stehen Fragen. Deshalb werde ich – über die Aussage von Davidson hinausgehend – die Begriffe erläutern, die am Anfang dieser wissenschaftlichen Geschichte stehen. Auf dem Hintergrund der Theorie von Bruner (1985), wonach das Denken und Handeln beim Unterrichten grundsätzlich auf zwei Modi basiert (narrativer und paradigmatischer Modus), stellt sich die Frage, inwiefern neben den traditionell belegten paradigmatischen Modus auch ein narrativer Modus gestellt werden kann. Bruner differenziert in Bezug auf die Personen zwischen Anti-Fabulisten und Fabulisten. Bezüglich der Form des Fallbeispiels oder der Fallgeschichte führe ich als weitere Differenzierung den Gegensatz von Argumentieren und Erzählen ein. Während ersteres als Topos in der Erziehungswissenschaft auch in Zusammenhang mit Fallbeispielen keiner Rechtfertigung bedarf, ist das Erzählen als Gegenstück kaum etabliert. Dieser Frage gehe ich in meiner Untersuchung grundsätzlich nach und versuche dabei insbesondere auch die Frage nach der Performanz narrativen Denkens und Handelns im Alltag des Unterrichtens zu verfolgen. Wenn Radtke (1992, 341) von den »unerwarteten Folgen der Verbesserung des Argumentierens über Unterricht in der Lehrerausbildung« spricht, so könnte man dem hinzufügen, dass es wahrscheinlich auch unerwartete Folgen des Erzählens über Unterricht gibt. Solch unerwarteten Folgen möchte ich nachgehen und zu zeigen versuchen, dass die Erzählung als Form für den Unterricht oder für bestimmte Denkweisen über den Unterricht geltend zu machen sind. Es geht mir weder um die Romanlektüre noch um den Einsatz von Erzählungen im Unterricht selbst. Ich widme mich der Idee, dass Erzählen und Unterrichten in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen – Erzählen in seiner bipolaren Bedeutung als Denk- und Textform für die Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern. In diesem Sinne ist die Untersuchung keine Epistemologie didaktischen Wissens, sondern eine Archäologie des Denkens unter besonderer Berücksichtigung didaktischen Handelns. Mit Archäologie ist in diesem Sinn eine akribische Auseinandersetzung mit den Ordnungsweisen von Erfahrungen und deren Repräsentation in narrativen Texten sowie den damit korrespondierenden Denkformen gemeint.
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Einleitung: Professionalisierung von Lehrpersonen durch Fallarbeit
I doubt whether we, as educators, keep in mind with sufficient constancy the fact that the problem of training teachers is one species of more generic affair – that of training for professions. Our problem is akin to that of training architects, engineers, doctors, lawyers, etc. Moreover, since (shameful and incredible as it seems) the vocation of teaching is practically the last to recognise the need of specific professional preparation, there is all the more reason for teachers to try to find what they may learn from the more extensive and matured experience of other callings. (Dewey 1977, 250)
Was Dewey hier bereits 1904 – während seiner Lehrtätigkeit in Chicago – schreibt, weist auf einen Professionalisierungsanspruch an die Lehrerbildung hin: Eine Profession, die sich sowohl der Wissenschaft als auch der Berufspraxis verpflichtet fühlt. Ob sich der Vergleich mit anderen – klassischen – Professionen lohnt, sei dahingestellt. Jedenfalls fordert er explizit den Bezug zur Berufspraxis und widerspricht damit der Idee, die unterschiedlichen Ansprüche der wissenschaftlichen Ausbildung und der Berufsausbildung an verschiedenen Orten oder zu verschiedenen Zeitpunkten (Phasen) zu organisieren. Dieser Anspruch, der in der Folge immer wieder formuliert worden ist, provoziert allerdings ein Missverständnis, das wohl ebenso alt ist wie der Anspruch selbst. Sowohl Junglehrer als auch berufserfahrene Lehrer kritisieren die universitäre, resp. wissenschaftliche Ausbildung massiv. Diesem Teil der Ausbildung fehle explizit ein Bezug zur Berufspraxis, wie verschiedene empirische Untersuchungen belegen (Koch-Priewe 2002b, Bohnsack 1999, Rosenbusch 1988). In meinen eigenen Untersuchungen (Messmer 1999) wurde diese Kritik ebenfalls geäussert und zusätzlich zur Ausbildungsphase auch in Bezug zum Ort der Lehrerausbildung gebracht. Auf der gegnerischen Seite wirft die Wissenschaft der Praxis Kopflosigkeit vor und sieht darin die Gründe, weshalb »das Lehrpersonal mit den Schülern immer weniger zurechtkommt, weshalb das burnout-Syndrom sich epidemisch verbreitet, weshalb Lehrer [...] sich kaum noch mit ihrer Schule identifizieren« (Prondczynsky 2001, 396). Im Folgenden werde ich auf diesen Professionalisierungsdiskurs näher eingehen, um daraus die immer wieder daran anknüpfende Idee der Fallarbeit zu erläutern. Darauf folgt eine Darstellung des Alltagsdiskurses in der Sportpädagogik, um mit der Verbindung von Narration und Alltag den disziplinären Diskurs wieder zu verlassen. Beendet wird die Einleitung mit einer Präzisierung der Fragestellung und einer Übersicht zur Gliederung der gesamten Untersuchung.
R. Messmer, Ordnungen der Alltagserfahrung, DOI 10.1007/978-3-531-92782-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Einleitung: Professionalisierung von Lehrpersonen durch Fallarbeit
1.1 Theorie und Praxis – ein missverständlicher Widerspruch? In der Rezeption des Theorie-Praxis-Diskurses sind Lehrerstudenten mit einem Theorie-Praxisproblem konfrontiert, das als bedeutsam eingestuft wird. Die Wahrnehmung des Problems und der Anspruch, dieses zu bearbeiten stehen in deutlichem Gegensatz zur Bewältigung des Problems in den Berufsausbildungen zum Lehrer oder zur Lehrerin. Oelkers formuliert drei Begründungen, weshalb es sich in dieser Standardannahme auch kaum bewältigen lässt (1994, 55). Theorie und Praxis werden als abstrakte Entgegensetzung verstanden, in der immer nur die eine über die andere triumphieren kann (i). Meist wird der Gegensatz personalisiert, indem allegorisch von Theoretikern und Praktikern gesprochen wird. Damit sind aber meist nicht wirkliche Personen gemeint, sondern vielmehr die Vertreter einer diametral unterschiedlichen Lebensform und -praxis (ii). Letztlich werden auch institutionelle Unterscheidungen in den Konflikt eingebracht. Universität resp. Hochschule stehen für Theorie, Schule für Praxis, in der das pädagogisch Wesentliche stattfindet (iii). Mit diesen Standardannahmen sind »populäre Verknüpfungen möglich, die das Problemverständnis fast ausschliesslich bestimmen« (ebd., 55). Einerseits ist nur die eigentliche Praxis für den Unterricht wesentlich, andererseits dürfen Theoretiker keine Praktiker sein, um ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gerecht zu werden. Diese Forderungen und die damit verbundene Diffamierung der jeweils anderen Lebensform führt zu einer Habitualisierung, die einfache Relationen ausschliesst. Weniger versucht diesem Dilemma zu entfliehen, indem er bereits 1929 auf unterschiedliche Grade von Theorien hinweist. Die Theorie ersten Grades ist demnach ein »weltanschauliches Apriori« (Weniger 1975, 38), das sich als gestaltende Kraft auf den Gegenstand und die Aufgabe richtet. Es sind verallgemeinerte Sätze der Wissenschaft, die allerdings ein ethisches Apriori einschliessen. Als Theorie zweiten Grades bezeichnet Weniger alles, »was auf irgendeine Art formuliert im Besitz des Praktikers vorgefunden und von ihm benutzt wird, in Lehrsätzen, in Erfahrungssätzen, in Lebensregeln, in Schlagworten und Sprichwörtern und was es so gibt« (ebd., 39). Damit nimmt Weniger vorweg, was später den Diskurs um den Theorie-Praxisbezug bestimmen wird. Sowohl Theoretiker als auch Praktiker verwenden eine ihnen eigene Form der Theorie, die sich aber graduell unterscheidet. Trotzdem verfällt Weniger einem Kategorienfehler, denn er bezieht seine graduelle Unterscheidung nicht auf unterschiedliche Handlungsfelder, sondern explizit auf Personen. Die bereits angesprochene Allegorisierung von Handlungsfeldern wird fatal, wenn sie – wie bei Weniger – mit einem moralischen Anspruch verbunden wird. »Er [der Theoretiker] muss die Verantwortung der Praxis teilen, ihre Ziele bejahen, von der Verantwortung und von den Zielen aus denken, damit er die Aufgabe überhaupt in den Blick bekommt [...]« (ebd., 43) Weniger spricht deshalb der Theorie der Theoretiker eine Führungsrolle zu, um die Praxis von festgefahrenem Tun zu befreien. Indem Weniger die ausdifferenzierten Theorieformen sowohl
1.1 Theorie und Praxis – ein missverständlicher Widerspruch?
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personifiziert als auch in eine hierarchische Ordnung bringt, fördert er den Konflikt, den er eigentlich auflösen wollte. Gerade die Profession der Lehrer und Lehrerinnen mit ihrem historischen Drang zur »Meisterlehre« wäre darauf angewiesen, die Diskussion um das Verhältnis von Theorie und Praxis von den Personen zu lösen. Das personifizierte Theorie-Praxis-Verhältnis blendet aus, dass Theorie und Praxis als soziale Systeme miteinander kommunizieren, als professionalisierte Systeme sogar auf einen Transfer von Wissen angewiesen sind. Das Wissen von Lehrern und von Wissenschaftlern ist nicht einfach persönlicher Besitz, wie es die Allegorie von »Theoretikern«‹ und »Praktikern« nahelegt. Trotzdem bleibt die Frage, in welcher Relation das Erwerben wissenschaftlichen Wissens zur Aneignung des unterrichtspraktischen Wissens und Könnens steht (Koch-Priewe 2002a, 3). Im aktuellen Diskurs über die Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern dominieren nach wie vor die Dichotomien zwischen Theorie und Praxis. Geändert hat sich lediglich der Sprachgebrauch, indem zwischen wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen, zwischen Reflexionswissen und Handlungswissen oder knowing that und knowing how (Ryle 1969) unterschieden wird. Koch-Priewe spricht von »Diskrepanzen zwischen pädagogischen Theorien und unterrichtsbezogenem Können« (2002b, 2.). Hier setzt die Wissensverwendungsforschung eine entscheidende Wende im Diskurs. Sie kann den empirischen Nachweis erbringen, dass das Wissenschaftswissen vom Wissen der Praktiker kategorial getrennt werden muss. Im Gegensatz zu Weniger wird diese Unterscheidung aber nicht mit einer Wertung verbunden, indem Theorie und Praxis gleichwertig nebeneinander gestellt werden. Auf diesen Aspekt haben u. a. Dewe und Radtke (1992) hingewiesen und damit die vermeintlichen Hoffnungen auf einen Transfer zunichte gemacht. Der fehlende Praxisbezug der Lehrerausbildung untersteht demnach einem Kategorienfehler, der sich kaum durch eine anbiedernde Praxisnähe auflösen lässt. In Anlehnung an Oelkers (1994) kann man von einem Theorie-Praxis-Mythos sprechen, den es zu überwinden gilt und weniger von einer fehlenden Praxisnähe der Theorie2. Einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma zeigt Radtke, der der wissenschaftlichen Ausbildung von Lehrpersonen explizit den Bezug zur Berufspraxis abspricht und die wissenschaftlichen Disziplinen ihrer Eigenlogik überlässt. Demnach muss nicht das in der Ausbildung gelernte Wissen durch eine Transferleistung in ein für die Praxis relevantes Wissen »verwandelt« werden, sondern jedes Praxisfeld verfügt über ein ihm eigenes, unabhängiges Wissen. Lehrerstudent/innen lernen in ihrer Ausbildung weniger in Theorien zu denken als vielmehr mehr mit ihnen (Neuweg, 2002, 23). Bereits Bromme (1992, 142) weist auf diesen Aspekt hin,
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Um den Diskurs ausgeglichen zu halten, muss hier hinzugefügt werden: und einer Theoriefeindlichkeit der Praxis.
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1 Einleitung: Professionalisierung von Lehrpersonen durch Fallarbeit
wenn er das Expertenwissen von Lehrpersonen nicht in einer Linie mit dem »Lehrbuchwissen« der Berufsausbildung sieht. Folglich muss das kritische Verhältnis zwischen Praxis und Theorie nicht nur als Dichotomie von verschiedenen Wissensformen verstanden werden, sondern auch als Dichotomie differenter Handlungspraxen oder -systeme. Grundsätzlich lassen sich somit zwei verschiedene Ebenen ausmachen, die den Theorie-Praxis-Diskurs dominieren. Combe/Kolbe (2004, 837) sprechen von zwei unterschiedlichen theoretischen Zugängen und unterscheiden dabei die Kognitionspsychologie von der Wissensverwendungsforschung. Vereinfachend spreche ich in Bezug auf diese Unterscheidung von Wissensformen und Handlungspraxen. Ich möchte im Folgenden aufzeigen, wie sich sowohl die differenten Wissensformen als auch die unterschiedlichen Praxen insbesondere im Professionalisierungsdiskurs der Lehrpersonen entwickelt haben. Daran anschliessend werde ich am Beispiel der Sportpädagogik darzustellen versuchen, inwiefern die Fallarbeit als Möglichkeit zur Überwindung der Differenz in den Diskurs eingebracht wird. 1.1.1 Die Differenz von Theorie und Praxis in unterschiedlichen Handlungspraxen Wenn im Diskurs über das Theorie-Praxis-Verhältnis von der Praxis die Rede ist, dann ist damit meist selbstredend die Praxis des Unterrichtens oder des pädagogischen Handelns gemeint. Wer sich mit Theorie auseinandersetzt, z.B. an Hochschulen oder Universitäten, unterliegt aber genauso einer Handlungspraxis wie die Praktiker der Schule. Die Praxis der Theoriegewinnung oder -deutung orientiert sich allerdings an anderen Mustern als die Praxis des Unterrichtens. Die Arbeit mit und an Theorien erfolgt selten unter Handlungsdruck, sondern kann sich reversibler Schleifen, wie z.B. des hermeneutischen Zirkels bedienen. Dafür muss sich diese Arbeit konstant in ihrem Tun rechtfertigen, d.h. für andere nachvollziehbar sein. Die Regeln wissenschaftlichen Handelns unterliegen damit dem Primat der Reversibilität und schliessen intuitives Handeln a priori aus. Beim Handeln im Unterricht verhält es sich umgekehrt. Hier steht ein Handeln im Zentrum, das aufgrund dieser restriktiven Regeln nicht möglich wäre. Unterrichtshandlungen unterliegen anderen Regeln, die mehr auf Erfolg ausgerichtet sind. Damit wird dem Handeln im Unterricht nicht eine Zufälligkeit beigemessen, sondern eine kategorial andere Praxis. Der kategoriale Unterschied der beiden Handlungspraxen lässt sich treffend am Konzept des »reflective practitioner« zeigen, das von Schön (1993) und anderen entwickelt worden ist. Die Kritik am Konzept der reflexiven Praxis (vgl. Dick 1996, 110) zeigt, dass die Trennung »Reflexion-in-der-Handlung« von der »Reflexion-über-dieHandlung« eher eine analytische Unterscheidung ist. Die von Schön als technische Rationalität bezeichnete Handlungsform der Unterrichtspraxis lässt sich kaum von der Handlungsform der reflektierten Praxis unterscheiden, weil eine solche Reflexi-
1.1 Theorie und Praxis – ein missverständlicher Widerspruch?
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on in der Praxis ein Hinaustreten aus der unterrichtlichen Situation bedingt. Obwohl ein solches Time-out wünschenswert wäre, verunmöglichen echte Praxissituationen diese Möglichkeit. Die Trennung in eine Reflexion in der Handlung und eine Reflexion nach der Handlung lässt sich somit nicht aufrecht erhalten. Der analytische Versuch weist aber auf die unterschiedlichen Paradigmen des Handelns von Lehrpersonen hin. Die Praxis des Unterrichtens ist von Entscheidungen geprägt, die sofort und mit unmittelbarer Wirkung getätigt werden müssen. Reflexionen nach diesen Entscheidungen, die von McDonald bezeichnenderweise als »reading in the trolley« (1992, 20) beschrieben werden, lassen sich eher mit der Praxis der Wissenschaft vergleichen. Was hier aber die Regel darstellt, ist für die Unterrichtspraxis nicht wesensbestimmend. Schöns Epistemologie der Praxis unterläuft – trotz seiner hohen Affinität zur Berufspraxis der Lehrer – ein Kategorienfehler, der empirisch nicht auflöst werden kann. Wahrscheinlich lässt sich in diesen Bezug zweier unterschiedlicher Praxen auch das von Luhman/Schorr (1982) eingebrachte Technologiedefizit der Pädagogik einordnen. Wenn Luhmann/Schorr von der Pädagogik allgemein sprechen, schliessen sie damit auch die Tätigkeit des Unterrichtens ein. Im Vergleich zu anderen sozialen Praxen, wie z.B. der Psychoanalyse kann sich die Didaktik nicht auf elaborierte Techniken verlassen. Die Praxis der didaktischen Theorie eignet sich kaum als referenzielles System für die didaktische Praxis des Unterrichtens. Keuffer (2005, 84) spricht deshalb von der Differenz von Disziplin und Profession, statt von der Differenz von Theorie und Praxis. Wodurch zeichnet sich diese Differenz zweier Praxen jedoch aus? Mit Bezug auf Luhmann sprechen Combe/Kolbe (2004, 834) von einer doppelten Kontingenz des Handelns mit Bezug auf die pädagogische Praxis. Im Gegensatz zu anderen Konzepten ist ihr Ansatzpunkt nicht die als dyadisch oder intim entworfene LehrerSchüler-Beziehung, sondern eine systemisch vernetzte Kommunikationsstruktur. Dabei muss jeder Kommunikationsteilnehmer »mit der Tatsache umgehen lernen, dass es zu jedem vollzogenen Handeln Alternativen gibt, so dass in einem solch komplexen System wie Unterricht stets in einem Möglichkeitsspielraum operiert wird« (ebd.) Dieses Problem der Auswahlspielräume führt zur Frage der Berufspraxis, wie das Tun der einen mit dem Tun der anderen überhaupt abgestimmt werden kann. Diese grundlegende Kommunikationsstruktur der Unterrichtspraxis macht also eine hohe Wahrscheinlichkeit von Verständigungskrisen sichtbar und zeigt damit die grundlegende Unsicherheit des Systems. Aus Distanz scheint der Bezug zwischen der nach Sicherheit und Gewissheit strebenden Wissenschaft und der auf Unsicherheit beruhenden Praxis des Unterrichtens kaum möglich. Dieser Paradigmenwechsel zwischen der Praxis des Unterrichtens und der Praxis der Theoriebildung geht meist vergessen, wenn z.B. von einem fehlenden Praxisbezug der Ausbildung gesprochen wird. Die praktische Tätigkeit von Lehrpersonen kann nicht den gleichen Regeln folgen, wie die Praxis der theoretischen Ausbildung von Lehrerin-
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1 Einleitung: Professionalisierung von Lehrpersonen durch Fallarbeit
nen und Lehrern. Und vice versa kann sich die Praxis der Theoriegewinnung und reflexion nicht den gleichen Regeln unterwerfen wie die der Unterrichtspraxis. Ein strukturtheoretischer Zugang zum Verhältnis von Theorie und Praxis mit dem Verweis auf die Wissensverwendungsforschung fördert gleichsam eine eigene Art oder Struktur des Erfahrungswissens zu Tage. »Wissen wird als soziales Konstrukt der in der Geschichte der Profession kollektiv erwirtschafteten Lösungsmuster gefasst, das sich Professionelle aneignen – und nicht als allein individuelle Aneignungsleistung, wie es dem Alltagsverständnis entspräche« (Combe/Kolbe 2004, 841). Dies, könnte man hier einwenden, trifft aber ebenfalls für den kollektiven Wissenserwerb der Wissenschaft oder der Theorie zu. Trotzdem muss das Erfahrungswissen der Unterrichtspraxis kategorial vom abstrakten Wissen der Theoriebildung unterschieden werden. Dies betrifft zunächst weniger die unterschiedlichen Wissensformen – auf die später noch explizit eingegangen wird – sondern die Art und Weise der Wissensgenese. »Anstelle von gewussten oder sogar bewussten Handlungsentscheidungen Unterrichtender ist also von abgelagerten Erfahrungen auszugehen, die in einer langwierigen kollektiven Praxis zu Musterlösungen entwickelt und als Routinen im Sinne einer typisierenden Weise des Interpretierens und der Realitätserfassung angeeignet werden« (Combe/Kolbe 2004, 840). Handeln in der Praxis des Unterrichtens fordert somit weniger eine Belegbarkeit als vielmehr eine Wirksamkeit. Diese Differenz äussert sich auch dadurch, dass sich die Wissensgenese in Systemen der Unterrichtspraxis eher selbstreferenziell gestaltet als in wissenschaftlichen Systemen. Bonß konstatiert deshalb zu Recht, dass die Suche nach wissenschaftlichen Bezügen in der Praxis des pädagogischen Handelns wenig sinnvoll ist. Bonß setzt den Praxisdiskurs bei zwei sich ergänzenden Basisannahmen an: »Zum einen gilt das Axiom, dass sich das wissenschaftliche gegenüber dem vorwissenschaftlichen Wissen durch ein prinzipiell grössere Rationalität auszeichne [...], zum anderen wird das Ziel der Praxis in einer wie auch immer gedachten Beseitigung dieses Rationalitätsgefälles gesehen« (Bonß 2001, 92). Diese Perspektive weist ebenfalls auf die Differenz von Disziplin und Profession hin und zeigt, wie wenig sinnvoll es ist, ständig das Verbindende zu suchen. Rationalität als Konstitutiv der Praxis der Wissenschaft widerspricht kategorial den Konstitutiven der Praxis der Profession. Dieser Widerspruch äussert sich allerdings nur idealisierend, die Wirklichkeit zeigt wahrscheinlich viele weitere Facetten. »Statt weiterhin nach Praxisformen zu suchen, die wissenschaftliche Rationalität möglichst ungebrochen wirksam werden lassen, wäre eher nach den Folgen und Möglichkeiten einer Praxis im Rationalitätsbruch zu fragen« (Bonß 2001, 100). Für Bonß zeichnet sich das Theorie-PraxisVerhältnis deshalb vor allem durch eine Differenz der Praxisformen aus. Und genau diese Praxisformen sollten nach ihren je eigenen Praxisfeldern und Praxistypen unterschieden werden, weil die Rede von der Praxis als sehr kontingent erscheint. In einer sich zunehmend als Wissensgesellschaft verstehenden Gesellschaft wird es
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genauso nötig sein, die Praxis der (Erziehungs-)Wissenschaft genauer zu definieren. Dabei geht es weniger darum, das Gemeinsame zu suchen, als vielmehr darum, die Differenz zu bestimmen. Im Zentrum des (wissenschaftlichen) Diskurses von Disziplin und Profession steht aber meist die Praxis des pädagogischen Handelns oder Unterrichtens und weniger die Praxis der Wissenschaft. Diese Auswege aus dem Theorie-Praxisproblem, die hier aus einer mehrheitlich soziologisch orientierten Optik formuliert werden, orientieren sich oft an einer kasuistischen Praxis (vgl. z.B. Radtke 1996, Helsper 2002, Keuffer 2005). Dies scheint zunächst widersprüchlich, denn die Arbeit mit Fällen offenbart sich grundsätzlich an der Subsumption eines Allgemeinen, das wiederum nur mit abstrakten und theoretischen Begriffen möglich ist. Der Ansatz verfolgt deshalb die Idee, die pädagogische Praxis als eigenständige Praxis mit einer ihr eigenen Begriffs- und Wissenslogik und als eine sich an Fällen orientierte Profession zu etablieren. Diese kasuistische Praxis, die sich sowohl empirisch als auch normativ belegen lässt, begründet eine differenziertere Handlungspraxis als die ursprüngliche Idee des Transfers von Wissen von der einen Praxis in die andere. »Die Fallstruktur soll vielmehr etwas Charakteristisches über eine Handlungs- und Lebenspraxis oder ein soziales Phänomen zeigen. Um die innere Struktur des Falles im Sinne der Operationsweise einer Praxis zu erkennen, bedarf es des schöpferischen Vorstellungsvermögens und der Vergleiche mit anderen Fällen, Situationen und Geschichten« Combe/Kolbe (2004, 847). Damit wird eine strukturtheoretische Perspektive eröffnet, die die eigene Art oder Struktur des Erfahrungswissens in der Praxis des Handelns betont. Combe/Kolbe (2004, 840) sprechen in diesem Zusammenhang von der Eigenlogik des professionellen Könnens. Paschen spricht in einem ähnlichen Kontext von Pädagogiken (vgl. Prondczynsky 2001, 399), die es zu untersuchen gilt. Dieser Idee nach einer eigenständigen Praxislogik widerspricht allerdings eine nach wie vor weit verbreiteten Meinung, wonach ein Transfer von Wissen aus dem Praxisfeld der Wissenschaft hin zur Praxis des Unterrichtens möglich ist. Dies belegt Dewe z.B. mit Praktikumsberichten von Studierenden. In der Auswertung dieser Texte konnte Dewe (1997, 230f) eine bestimmte Kodifizierung des TheoriePraxisbezugs nachweisen. Demnach ist Funktion und Bedeutung von Praktika im Studium von Lehrpersonen klar normativ besetzt. Die Erwartungen, die mit dem System Praxis verbunden werden, sind entsprechend hoch. Dewe unterscheidet in der argumentationsanalytischen Rekonstruktion der Berichte drei Varianten im Umgang mit Theorie. (i) Texte, in denen Studierende mit bestimmten und offenbar besonders geeigneten »Theoriestücken« eine angeblich gelungene Vermittlung von Theorie und Praxis vorführen. (ii) Praktikumsberichte, die eigene Erfahrungen als wesentliche Fragestellungen schildern, was vermutlich auf den Mangel von passender Theorie zurückgeführt werden kann. (iii) Texte, die einem emotionslosen Erlebnisbericht ähnlich sind. Bei dieser letzten Variante kommt wahrscheinlich am
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1 Einleitung: Professionalisierung von Lehrpersonen durch Fallarbeit
deutlichsten zum Ausdruck, dass die Verbindung von Theorie und Praxis als Zumutung wahrgenommen wird. Die Praxis des Unterrichtens erscheint dabei als das Wesentliche, die Praxis der Theorie, die von den Studierenden als Studium wahrgenommen wird, als nachrangig. Der Versuch, die selbst erlebte Praxis der Theorie in Bezug zum Praktikum zu setzen, kann dabei nicht als Defizit den Studierenden angelastet werden. Schliesslich haben sie »in der wissenschaftlichen Lehrerausbildung – nicht zuletzt durch die Pflicht zum Praktikum – gelernt, dass Theorie und Praxis zu vermitteln sind« (Dewe 1997, 228). Dieses hier den Studierenden überlassene Transferproblem ist aber, wie bereits erläutert, konstitutiv und kann weder von Individuen noch von Systemen durch einfache Konstrukte überwunden werden. Trotzdem bleibt die Fassung des Theorie-Praxis-Verhältnis als Transferproblem ein wichtiges Legitimationsargument, um die unterschiedlichen Praxen in einem gemeinsamen System aufrechterhalten zu können. Nur so haben beide Praxisfelder in einer Lehrerausbildung ihre Berechtigung. Ohne die normative Kraft, dass die beiden Praxen als Systeme über einen Wissenstransfer miteinander verbunden sind, wird es vor allem für die wissenschaftlichen Fachgebiete schwierig, sich selbst zu rechtfertigen. Aus dieser Perspektive erhält der Theorie-Praxisdiskurs zusätzlich eine hierarchische und auch wertende Dimension. Der Grund für diese normative Aufschlüsselung der beiden Praxen sieht Keuffer (2005, 88) vor allem im historischen Status der Pädagogik als Berufswissenschaft. Die dogmatische Vorstellung, dass die Pädagogik auf das berufliche Handeln vorzubereiten hat, führte zur systematischen Ausklammerung von Theorie und Empirie. Mit diesem Aspekt wird die seit den 60er-Jahren vermehrt empirisch forschende und sozialwissenschaftliche Erziehungswissenschaft nur als »ein historisches Durchgangsstadium auf dem Weg zur Ausdifferenzierung der Disziplin und zur Verwissenschaftlichung der Lehrerbildung konstruiert« (ebd. 89). Deshalb erscheint in dieser bildungshistorischen Betrachtungsweise die Rede von einer Berufswissenschaft eher als Rückschritt denn als Entwicklungsaufgabe. Zusammenfassend lassen sich für das Theorie-Praxis-Verhältnis mit dem Fokus auf die jeweils unterschiedlichen Praxisfelder zwei Schlüsse ziehen. Einerseits konnte festgestellt werden, dass die beiden Praxen normativ besetzt werden und sich deshalb im Diskurs eine normative Differenz entwickelt hat. Zusätzlich verliert das wissenschaftliches Wissen allmählich den Nimbus der Überlegenheit (Bonß 2001, 92). Andererseits ist mit dem Verlust der Transferannahme zwischen den Praxen für die Lehrerbildung eine neue Aufgabe formuliert worden. »Mit dem Zusammenbruch der Transfer- bzw. Transformations-Modelle in ihren verschiedenen Variationen, wie der Aufgabe der Perspektive, Verwendung von Wissenschaft her gegenüber einer dazu noch defizitären ›gesellschaftlichen Praxis‹ zu konzipieren, ergab sich für die Verwendungsforschung das Problem, grundlegende Begriffe neu klären
1.1 Theorie und Praxis – ein missverständlicher Widerspruch?
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zu müssen« (Dewe 1997, 234). Damit ist ein Übergang zur Diskussion der Wissensformen bereits im Diskurs der Praxen selbst angelegt. 1.1.2 Die Differenz von Theorie und Praxis in unterschiedlichen Wissensformen Auf der Diskursebene des Wissens oder der Wissensformen werden in der Regel Ausdifferenzierungen in unterschiedliche Wissensformen von Theorie und Praxis vorgenommen. Als Referenz dient dazu oft eine von Lee S. Shulman eingeführte Differenzierung des Lehrerwissens3. Shulman (1991, 149) unterscheidet vier Arten des Lehrerwissens: Wissen über Fachinhalte (subject matter content knowledge), curriculares Wissen (curricular knowledge), allgemeines pädagogisches Wissen (pedagogical knowledge) und pädagogisches Inhaltswissen (pedagogical content knowledge). Mit ihrem Wissen über Fachinhalte (a) unterscheidet sich eine Lehrperson noch kaum von einem nicht-pädagogischen Fachkollegen. Lehrpersonen müssen jedoch nicht nur wissen, dass etwas so ist, sondern darüber hinaus erklären können, weshalb bestimmte Behauptungen für begründet gehalten werden. Vom Inhaltswissen lässt sich das curriculare Wissen ausdifferenzieren (b). Mit dem curricularen Wissen bezeichnet Shulman die Art des Wissens, das im deutschsprachigen Kontext am ehesten mit didaktischem Wissen umschrieben werden kann. Nicht nur die Auswahl bestimmter Inhalte, sondern auch deren pädagogische Verwendung in unterschiedlichen Zusammenhängen ist von didaktischer Relevanz. Entsprechend sollen Lehrpersonen ihr curriculares Wissen auch auf die Materialien erweitern, mit denen sich ihre Schüler in anderen Fächern und Stufen zu beschäftigen haben. Als pädagogisches Wissen (c) bezeichnet Shulman die Art von Wissen, die relativ unabhängig von Fächern gültig ist. Damit werden auch ethische Aspekte des Unterrichtens eingeschlossen. Mit dem pädagogischen Inhaltswissen (d) beschreibt Shulman ein inhaltliches Wissen über Unterricht. In dieses Wissen fliessen sowohl die Erkenntnisse der Unterrichtsforschung oder Didaktik als auch der Lernforschung und Lernpsychologie. Diese Art des Wissens schliesst »die sinnvollsten Formen der Repräsentation [...] die erklärungskräftigsten Analogien, Illustrationen, Beispiele und Demonstrationen (1991, 151) ein. Bromme (1992, 97 und 2004, 783) fügt diesen vier Kategorien des Lehrerwissens eine fünfte an, die er »Philosophie des Fachinhaltes« nennt. Damit will er das Wissen der Fachdispziplin deutlicher vom Wissen des Schulfaches trennen können. Durch den Begriff »Philosophie« wird hervorgehoben, dass es auch eine bewertende Perspektive auf den Inhalt des Schulfaches zu setzen gilt. Shulman selbst differenziert seine vier Arten des Wissens in einem späteren Aufsatz nochmals aus. Hinzugefügt werden: knowledge of other content, knowledge of learners, knowledge of educational aims (1998, 1134). Die letzte Kategorie
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Vgl. Bromme 1992, 96; Helsper 2002, 71; Combe/Kolbe 2004, 838. Genau genommen diskutiert Shulman in seinem ursprünglichen Aufsatz nur drei Arten. Das
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lässt sich am ehesten mit der Ausdifferenzierung von Bromme vergleichen. Für Helsper (2002, 73) reichen allerdings diese fünf Wissensbestimmungen, wie sie von Shulman und Bromme ausdifferenziert werden, nicht aus, um die auf das Unterrichten zentrierte Tätigkeit von Lehrpersonen zu umschreiben. Für Helsper sind damit die Transformationsleistungen, die das Lehrerwissen ausmachen, unzulänglich beachtet. Er ergänzt deshalb die bestehenden Wissensbestimmungen durch weitere Wissensformen: (i) Rahmenübersetzungswissen, im Sinne von Übersetzungswissen, das Wissen aus unterschiedlichem Kontext in Interaktion zur Situation selbst setzt. (ii) Kasuistisches Wissen, das als hermeneutisch-rekonstruktives Wissen der Erschliessung des Konkreten und Singulären dient. Als Beispiel nennt Helsper hier die hermeneutische Kompetenz, wie sie von Schierz/Thiele (2002) beschrieben worden ist. (iii) »Wissen um die Gestaltung von Arbeitsbündnissen [...], das einer reflexiven Auseinandersetzung mit den Antinomien des pädagogischen Handelns bedarf« (Helsper 2002, 74). Und schliesslich ein (iv) selbstreflexives, selbstbezügliches (berufs)biographisches Wissen. Dieses zuletzt genannte Wissen soll das eigene Handeln in komplexen Unterrichtsinteraktionen reflektieren können. Die von Helsper zusätzlich in die Diskussion eingebrachten Wissensformen erinnern zumindest zum Teil an die bereits in dem oben erwähnten Aufsatz von Shulman (1986/91) unterschiedenen Wissensformen. Shulman spricht bezeichnenderweise in einer ersten Differenzierung nur von Arten des Lehrerwissens (kind of knowledge). In einer weiteren Ausdifferenzierung unterscheidet Shulman zwischen propositionalem, kasuistischem und strategischem Wissen (1991, 153). In Bezug auf diese Unterscheidung spricht auch er explizit von Wissensformen. Alle drei Wissensformen lassen sich zumindest ansatzweise in die von Helsper eingebrachten Wissensformen überführen. Das propositionale Wissen (Shulman) deckt sich mit dem selbstreflexiven Wissen (Helsper), mit dem sowohl bei Helsper als auch bei Shulman eine Form von Wissen bezeichnet wird, das eigene normative Setzungen selbstreflektiv zu hinterfragen weiss. Das strategische Wissen, wie es Shulman bezeichnet, deckt sich ansatzweise mit dem Rahmenübersetzungswissen, wie es Helsper benennt. Bei Helsper geht es u. a. darum, »verschiedene Sprachen, besser verschiedene Sinnentwürfe und Weltdeutungen zueinander in Beziehung zu setzen« (2002, 74), und bei Shulman tritt diese Wissensform dann in Erscheinung, wenn verschiedene »Prinzipien miteinander kollidieren und keine einfache Lösung möglich ist« (1991, 157). Die Darstellung der Wissensformen, wie sie Shulman ausdifferenziert hat und ihre Rezeption bei Bromme und Helsper soll verdeutlichen, wie kontingent sich dieser Zugang über Wissensformen letztlich entwickelt hat. Shulman selbst spricht allgemeine pädagogische Wissen erwähnt er nur in einer Endnote. Dieser Aufsatz erschien im amerikanischen Original bereits 1986 und wurde 1991 ins Deutsche übersetzt (Those who Understand: Knowledge Growth in Teaching. In Educational Researcher 15 (1986) 2, S. 4-14).
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in einem später veröffentlichten Aufsatz bezeichnenderweise von »150 Different Ways of Knowing«5 (Wilson/Shulman/Richert 1987). Die feine Verästelung der Wissensformen in ihrer systematischen Ausdifferenzierung weist aber letztlich nicht aus dem grundsätzlichen Dilemma von Erfahrungswissen und Theoriewissen. Die Fokussierung auf die Wissensformen mündet schliesslich ins gleiche Theorie-PraxisDilemma, wie es Weniger bereits 1929 formuliert hat. So weist z.B. Shulman mit dem Begriff des strategischen Wissens auf die zu Beginn erwähnte einfache Dichotomie von praktischem und theoretischem Wissen hin: »Darüber hinaus aber muss strategisches Wissen gebildet werden, um über Prinzipien hinaus das Verständnis in Richtung auf praktische Klugheit (practical wisdom) zu erweitern« (Shulman 1991, 157). Inwiefern sich eine praktische Klugheit aus einer abstrakten Wissensform ableiten lässt, bleibt hier offen. Vielleicht erliegt auch Shulman der naiven Vorstellung einer blossen Verzahnung von Theorie und Praxis und der Möglichkeit der direkten Umsetzung wissenschaftlichen Wissens in praktisches Handeln. Der kognitionspsychologische Zugang zeigt auch, dass Zusammenschlüsse verschiedener Wissensformen, wie sie oben dargestellt worden sind, zu Prinzipien und Handlungsmaximen dem Konzept des »wisdom of practice« (Shulman 1987, 11) näher kommen als ausdifferenzierte Kategoriensysteme. Im alltäglichen Handeln sind solche Konzepte oder »Philosophien« (Combe/Kolbe 2004, 839) sowohl bei der Situationswahrnehmung als auch bei Handlungsoptionen bedeutsam. Didaktische Entscheidungen zu fällen, scheint sich nicht auf eine einfache rationale Ableitung reduzieren zu lassen. Die Wissensverwendung vollzieht sich hier nicht deduktiv aus bestimmten Wissensformen, sondern unbewusst. »Es handelt sich um einen kognitiven Prozess, der vorbei an bewusster Kontrolle des gedanklichen Operieren situationsinterpretierend und handlungsleitend wirkt« (Combe/Kolbe 2004, 839). Die Idee der Erweiterung (extend) von Wissen zu einer »Klugheit« der Praxis und die Idee eines Zwischentypus stehen allerdings in Kontrast zur Differenzthese, wie sie u.a. von Combe/Kolbe (2004) eingebracht wird. Demnach sollte in Bezug auf die mehrfach unterschiedenen Wissensformen die Differenz zwischen Theorie und Praxis betont werden und weniger das Verbindende. »Das oft berufene Verhältnis zwischen Theorie und Praxis darf offenkundig nicht als Punkt-für-PunktÜbertragung betrachtet werden. Es geht dabei weniger um ›Integration‹ als um das Produktivmachen einer Differenz« (Combe/Kolbe 2004, 837). Tenorth fordert deshalb zu Recht eine Radikalisierung der Differenz, »weil erst die Differenzannahme sensibel macht für die je verschiedenen Funktionsprobleme und weil sie die Schwierigkeiten nicht verwischt, die mit der Relationierung der Praxen im Interesse
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Der Begriff stammt ursprünglich von einem im Forschungsprojekt interviewten Lehrer, der damit »150 different approaches to teach« (1988, 104) bezeichnet. Die Aufnahme der Aussage in den Titel der Publikation verdeutlicht den Anspruch der Autoren, Lehrerwissen als kontingent darzustellen.
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der wechselseitigen Steigerung der je eigenen Funktionsprämissen verbunden sind« (1990, 281). Combe/Kolbe weisen in diesem Zusammenhang auf einen kognitionspsychologischen Zugang hin, der die Differenz zwischen Erfahrungswissen und Reflexionswissen sichtbar zu machen scheint. Demnach liegt beim pädagogischen Handeln nicht ein direktes Umsetzungs- und Anwendungsverhältnis von Wissen vor, wie es andere Professionen kennen. Das Wissens-Anwendungs-Konzept greift in pädagogischen Situationen sichtlich zu kurz, weil Lehrpersonen ihr Handeln nicht ausschliesslich aus Regeln ableiten können oder wollen. Dies mag mit ein Grund sein, weshalb Dewe (1997) für den Theorie-Praxis-Diskurs als Kardinalfrage festhält, zunächst die grundlegenden Begriffe zu klären. Neuere Untersuchungen zur pädagogischen Professionalität verweisen deshalb auch auf die Unsteuerbarkeit, Undurchschaubarkeit und Ungewissheit des beruflichen Handelns (vgl. Combe/Kolbe 2004 und Helsper 2003 und 2004). Nicht das Nicht-Wissen im Unterricht Handelnder stellt sich somit als Problem, sondern die »Nicht-Verzahnung« von Theorie und Praxis. Combe/Kolbe sprechen in diesem Zusammenhang von der Krisenhaftigkeit der Pädagogischen Handlungspraxis: »Erst wenn die Krisenhaftigkeit der Handlungspraxis, die den Umgang mit Lernund Entwicklungsprozessen charakterisiert, als Normalfall akzeptiert wird, können die Bedingungen schärfer in den Blick kommen, die es möglich erscheinen lassen diesen Beruf professionell auszuüben« (2004, 835). Auf den unterschiedlichen Gebrauch und der unterschiedlichen Struktur von Wissen in der Ausbildung und im Beruf weisen bereits Dewe und Radtke hin (1993). Demnach besteht zwischen dem Wissenschaftswissen und dem beruflichen Handlungswissen eine dauerhafte Differenz, die nicht durch eine simplifizierende Transferleistung überwunden werden kann (vgl. Dewe/Ferchhoff/Radtke 1992 70f). Insbesondere Anfänger orientieren sich mehrheitlich an Vorbildern und übernehmen deren kollektiv akzeptierte Lösungsstrategien. Sie passen sich somit mehr pädagogischen Konventionen an, als dass sie sich dem wissenschaftlichen Primat der Kritik aussetzen (Koch-Priewe 2002b). Das in der Ausbildung erworbene »theoretische« Wissen wird deshalb mehr als Rechtfertigungswissen verwendet und weniger handlungsleitend. Diesen Aspekt belegt Miethling schon 1986, indem er empirisch nachweist, dass Junglehrer in ihrer Unterrichtspraxis kaum auf das Ausbildungswissen zurückgreifen. Je höher die Belastung im Handlungsdruck, desto eher fallen Junglehrer auf das verborgene Wissen ihrer eigenen Schulbiografie zurück. Die Wissensverwendungsforschung sieht die Berufspraxis durch Wissen gestaltet, das je nach Autor als knowing how (Ryle 1969), tacit knowledge (Polany 1998), implizites Wissen (Neuweg 1999) oder intuitives Wissen (Dick 1996, Messmer 2002) bezeichnet wird. Um diese kategoriale Differenz des Lehrerwissens zu Wissensformen der Theorie zu belegen, weist die Wissensverwendungsforschung gerne auf empirische Vergleiche zwischen Novizen- und Expertenwissen. Demnach unterscheiden sich erfahrene Lehrer von Novizen nicht durch einen Rekurs auf unter-
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schiedliche Wissensformen, sondern lediglich durch differenziertere Argumente. Eine Untersuchung von Berliner (1987) zeigt, dass Experten, resp. berufserfahrene Lehrer bei der Beobachtung von Unterrichtsszenen (Fotos) versuchten, das Gesehene mit einem allgemeinen Begriff zu bezeichnen. Anfänger hingegen fokussierten ihren Blick eher auf Details und waren demnach nicht in der Lage, die Situation einem allgemeinen Begriff zuzuordnen. Diese empirischen Ergebnisse widersprechen allerdings den Ergebnissen von Radtke (1992, 352ff)6, der an Fallbeispielen zeigt, dass Studenten sehr wohl über ein ausdifferenziertes Deutungswissen verfügen, dieses aber für ihre eigene Handlungspraxis nicht relevant ist. Der unterschiedliche Rekurs auf Wissen deutet auf das unterschiedliche Wissen hin, das Novizen und Experten in ihrer Handlungspraxis verwenden. Eine empirische Evidenz ist damit allerdings nicht gegeben. Die Untersuchung von Berliner deutet aber darauf hin, dass Experten die Komplexität von Unterricht – wohl auch während des Unterrichtens – anders wahrnehmen als Novizen. »The experts found different kinds of information more salient and useful than did potulants or novices« (1987, 67). Während sich Novizen in der Unübersichtlichkeit der Praxis verhaspeln, kann bei Experten ein »Sehen von lösungsdienlichen Strukturen und funktionalen Zusammenhängen« (Bromme 1992, 42) festgestellt werden. Dabei rekurrieren Expertenlehrer nicht auf reine Wissenschaftskategorien. »Sie speichern bedeutungsvolle Situationen, in denen sie selbst gehandelt und die sie dann typisiert haben« (Koch-Priewe 2002b, 316). Der Bezug auf ein Fall-Wissen belegt die These, dass sich das Wissen von Novizen und Experten nicht nur inhaltlich, sondern auch formal unterscheidet. Das bessere Know-how von Experten bezieht sich insbesondere auf ein ausgeprägteres Steuerungswissen, während sich Novizen noch mehrheitlich an ihr Orientierungswissen klammern. Die kategoriale Wahrnehmung von Experten ist somit holistisch und der Sache eher angemessen als das Wissen von Novizen. Dieser formale Unterschied des Wissens von Novizen und Experten weist letztlich auch auf die unterschiedlichen Wissensformen von Theorie und Praxis hin. Das für eine erfolgreiche Praxis notwendige implizite oder intuitive Wissen steht nur bedingt in einem Zusammenhang mit den Wissensformen, wie sie in der theoretischen Ausbildung und Forschung vorherrschen. Statt von einem Transfer von Wissen ist deshalb von einer »Legierung« von Wissen (vgl. Keuffer 2005, 87) auszugehen. Dies zeigt sich z.B. in der Tatsache, dass Experten ihr Wissen nicht explizieren können und in Ausbildungssituationen meist auf Kategorien des Orientierungswissens ausweichen. Beck/Bonß weisen darauf hin, dass es womöglich nicht nur unterschiedliche Wissensformen sind, die den Konflikt verursachen, sondern, bei gleichen Wissensinhalten, der unterschiedliche Gebrauch. »So gesehen erklären
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Ich werde später, in Zusammenhang mit der Form von Narrationen, ausführlich auf diese Fallbeispiele eingehen.
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sich die oft beobachtbaren Missverständnisse und wechselseitigen Irrelevanzklagen zwischen Theorie und Praxis auch aus der Unbekanntheit der Differenz der Regeln, die die Produktion und den Gebrauch des Wissens bestimmen« (Beck/Bonß 1989, 11). Damit ist aber das Theorie-Praxis-Problem nicht wirklich gelöst, sondern lediglich begrifflich ausdifferenziert (was nicht unbedeutend ist). Die Dichotomie von Theorie und Praxis äussert sich demnach auch in Bezug auf ihre unterschiedlichen Wissensformen, die man zusammenfassend als eine epistemologische Differenz von theoretisch-abstraktem Wissen und konkreten Handlungswissen bezeichnen könnte. Neuweg spricht pikanterweise von einem Wissen-Können-Problem und nicht von einem Theorie-Praxis-Problem (2002, 10). Der hier dargestellte Wissensdiskurs unterliegt trotz der systematisch ausdifferenzierten Begrifflichkeit einem Kategorienfehler, den Dewe/Radtke (1993) im Kontext des Theorie-Praxisproblems feststellen. Trotz unterschiedlicher theoretischer Zugänge verfallen alle Konstrukte der Vorstellung von einem Subjekt, das »über mehr oder weniger taugliches Wissen verfügt, dieses zur Analyse einer Situation nutzt, um dann gemäss seinen Zielsetzungen eine Handlungs(abfolge) in Gang zu setzen« (ebd. 144). Die Dichotomien der Wissensform und der Handlungspraxis haben im Theorie-Praxis-Diskurs einen bedeutsamen Platz eingenommen und ihre entsprechenden Konzeptionen waren immer wieder Gegenstand von Untersuchungen. Die strukturelle Differenz und Legierung von Wissen (vgl. Keuffer 2005, 87), aber auch die normative Differenz der Praxen, bei der jeder den jeweils anderen als Störfaktor wahrnimmt (vgl. Prondcznsky 2001, 395), hat letztlich zu einer Aporie vieler Ansätze geführt. Der Theorie-Praxis-Diskurs über Wissensformen scheint deshalb – egal, ob als radikale Differenz oder als Wissenslegierung formuliert – keinen Ausweg aus dem Theorie-Praxis-Problem zu bieten. Sowohl die eloquente Ausdifferenzierung immer neuerer Wissensformen als auch die Entdeckung spezifischer Zwischenformen oder die Radikalisierung der Differenz bringen nicht die auch von den Autoren selbst erwarteten Antworten. Mit der Erkenntnis, dass Praktiker über eine andere Form von Wissen verfügen als Theoretiker, sind die Widersprüche des TheoriePraxis-Diskurs nicht verschwunden. Im Gegenteil, es muss darauf geachtet werden, dass dieses Praxiswissen nun nicht mystifiziert wird. Ein bereits angesprochener Ausweg aus der Differenz wird immer wieder von der Fallarbeit erwartet. So sieht z.B. Helsper eine Lösung der Differenz der Wissensformen in einer Zwischenform von Wissen, das er explizit in Bezug zur Fallarbeit setzt. In einem 2000 veröffentlichten Artikel macht sich Helsper (zusammen mit Bastian) für den Wissenstyp eines kasuistischen, reflexiven Fallwissens stark. »Denn das aus der Fallarbeit, dem Fallverstehen und -erklären gewonnene Wissen wäre einerseits ein erfahrungsnahes Praxiswissen, das andererseits aber – in der Vermittlung mit theoretischem Erklärungswissen – einen reflektierten Zwischentypus zwischen Erfahrungs- und abstraktem Theoriewissen bilden könnte« (Bastian/Helsper
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2000, 182). Bromme spricht in diesem Zusammenhang deshalb bewusst von einer »Verdichtung« von Wissen (1992, 126). Die Hoffnung auf eine professionelle Auflösung der Differenz von Theorie und Praxis durch Fallarbeit lässt sich treffend am disziplinären Diskurs in der Sportpädagogik darstellen. 1.1.3 Fallarbeit als Möglichkeit zur Überwindung der Theorie-Praxis-Differenz Um der grundsätzlichen Differenz von Theorie und Praxis in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung zu entrinnen und dem Anspruch einer professionellen Ausbildung gerecht zu werden, wird gerne auf die Fallarbeit und das forschende Lernen zurückgegriffen. Der Fall aus der Unterrichtspraxis soll die Rolle des Vermittlers übernehmen und damit die Kluft zwischen Ausbildungspraxis und Berufspraxis zu füllen versuchen. So lässt sich gerade am Beispiel der Sportpädagogik dieser Drang zur Arbeit an und mit Fällen als Idee der Überwindung der Differenz anschaulich zeigen. Karlheinz Scherler fordert bereits 1983 eine »exemplarische Unterrichtslehre«, um die Schwächen empirisch-analytischer Unterrichtstheorien zu vermeiden. »In dieser Schwäche empirisch-analytischer Unterrichtstheorien, die vorwiegend am Allgemeinen interessiert sind und ihm das Besondere subordinieren, liegt die Stärke einer exemplarischen, hermeneutischen Unterrichtstheorie« (1983, 60). Damit ist gleichzeitig gesagt, worin die Stärke der Arbeit mit Fällen liegen kann. Weil die Beschreibung von Unterrichtsereignissen das Besondere nicht durchgängig abstrahiert, gibt es kein begrifflich Allgemeines, das es erst in der Anwendung wieder zu konkretisieren gilt. Scherler verwendet 1983 mehrheitlich den Begriff »Unterrichtsereignisse«. Erst später verwendet er explizit den Begriff Fall (2004), während er zwischenzeitlich in der »Elementaren Didaktik« (1989) noch mehrheitlich den Begriff Beispiel verwendet. Die heterogene Verwendungspraxis der Begriffe Fall und Beispiel weist auf die doppeldeutige Wirkungsweise von Fallbeispielen hin. In der gängigen Terminologie von Fall, Fallbeispiel oder Fallarbeit wird – oft ungewollt – eine Subsumptionslogik mitgedacht, die »Fälle nur noch nach Massgabe vorgegebener Regeln rubriziert und quasi ›technologisiert‹« (Schierz/Thiele 2002, 35). Hinter dieser doppelten Verwendungsweise gleicher Begriffe liegt allerdings mehr verborgen als ein lediglich unpräziser Gebrauch kontingenter Begriffe. Während Fälle sich mehr an einem Allgemeinen orientieren, das sich durch den Fall veranschaulichen lässt, weist das Beispiel – oder neutral – die Beschreibung einer Unterrichtssituation auf das Einzelne hin. Dazwischen liegt das Besondere, das sich sowohl als Fall, aber auch als Beispiel bezeichnen lässt. Trotz dieser Differenz der Verwendungsweise der zentralen Begriffe in der Fallarbeit ist beiden Praxen die Hoffnung inhärent, die Lehrerbildung durch Fallarbeit zu professionalisieren. Später ist bei Scherler und Schierz die Rede von Beratung in einer praktischen Unterrichtslehre. »Beratung als Verständigung durch Beispiele heisst im einfachen
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Fall, in gemeinsamer Arbeit von Ratgebenden und Ratsuchenden aus Anlass einer problematischen Situation diese in eine Reihe ähnlicher, schon ausgiebig dargelegter Beispiele einzuordnen, um so Zugänge zu analogen Lösungen zu finden« (1993, 133). Auch diese Definition weist auf die grundsätzliche Absicht hin, durch Arbeit an und mit Fällen die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern zu verbessern und damit zu professionalisieren. Diese Form von Beratung, die sich an Beispielen und Fällen orientiert, ist demnach nicht ausschliesslich an die Institution und Forschungspraxis der Universität gebunden. Sie orientiert sich eher an den »Bedingungen der Selbstverwissenschaftlichung von Praxis als an den Bedingungen von deren Fremdverwissenschaftlichung« (ebd. 137). Unmittelbar mit der wissenschaftlichen Professionalisierung durch Fallarbeit ist damit die Idee des forschenden Lernens verbunden. Meine eigene Hoffnung (Messmer 2001, 2002) verband ebenfalls die Idee des forschenden Lernens und die Möglichkeit, durch Fallarbeit die Kluft zwischen den Praxen und Wissensformen der Theorie und der Unterrichtspraxis zu überwinden. Die Anleitung, narrative Texte professionswirksam zu gestalten, folgte der Absicht, dass die kritische Auseinandersetzung mit eigenen Berufserfahrungen den Ausbildungsprozess nachhaltig beeinflusst. Auch Schierz/Thiele (2002) erwarten von der Fallarbeit hermeneutische Kompetenz und den damit verbundenen Erwerb von didaktischem Interpretationsvermögen. Fallarbeit bietet demnach »eine Variante zur Erprobung des Zustands als-obrationalen Verhaltens« (2002, 42). Hermeneutische Kompetenz verstehen sie deshalb als Versiertheit, unterschiedliche Varianten eines Falles durchdenken zu können. »Fallarbeit, wenn sie denn systematisch zur Anwendung gelangt und nicht einer plumpen Praxisanbiederung dient, kann – so unsere Überzeugung – hier einen wesentlichen Beitrag leisten, weil unter den entschärften Bedingungen simulativer ›Wirklichkeitsbearbeitung‹ normalerweise eher implizit ablaufende Denk- und Entscheidungsprozesse ›nach-vollzogen‹ werden können« (ebd. 42). Damit ist auch hier mit der Fallarbeit eine Hoffnung zur Professionalisierung der Lehrerbildung verbunden, indem das durch Zufälle bestimmte Handeln von Novizen durch Fallarbeit in ein Abwägen von Alternativen überführt wird. Die Möglichkeit, auf verschiedene Versionen zurückgreifen zu können, unterscheidet letztlich das Expertenhandeln vom Handeln eines Anfängers. Schierz/Thiele weisen allerdings auf einen wichtigen Trugschluss der Fallarbeit hin: »Um nicht am Typus des Fallwissens zu wiederholen, was am Regel- und Konzeptwissen nachweislich gescheitert ist, nämlich der lineare Transfer von wissenschaftlichem Wissen in berufliches Können [...]« (2002, 31). Konsequenterweise ist deshalb in dieser Form der Fallarbeit die Rede von einer Klinischen Sportpädagogik (Schierz 2002). Schierz orientiert sich damit an der anfänglich mit Bezug auf Dewey geäusserten Hoffnung, die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern der Ausbildungspraxen anderer Professionen anzugleichen. Auch in dieser Form der Fallarbeit wird deshalb das Potenzial in der Vermittlung zwischen
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wissenschaftlichem Wissen und beruflichem Können vermutet. Um nicht der falschen Idee des linearen Transfers von wisssenschaftlichem Wissen in berufliches Können zu verfallen, soll sich die Fallarbeit sowohl an fremden Fällen orientieren, aber auch durch forschendes Lernen Momente der eigenen Könnenserprobung aufgreifen (ebd. 44). Während Rottländer (2002, 75) eine noch zu entwickelnde Fallmethode im Kontext universitärer Ausbildung fordert, die sich den reflektierenden Praktiker zum Leitbild nimmt, sieht Lüsebrink aufgrund ihrer empirischen Belege, »dass eine pädagogische Kasuistik sowohl für die Forschung als auch für das forschende Lernen von Studierenden ein ergiebiges Vorgehen sein kann [...]« (2006, 178). Schierz/Thiele/Fischer (2006) sehen die Fallarbeit – sowohl mit Lehrpersonen, als auch mit Trainerinnen und Trainer in Sportvereinen – als ein nötiges Vermittlungsprinzip in der Aus- und Fortbildung. In ihrer empirischen Untersuchung machen sie zwar eine »in einigen Facetten durchaus existierende theoretische Auseinandersetzung« mit der Fallarbeit aus, müssen dem aber eine »insgesamt wenig konturierte Ausbildungspraxis« (2006, 62) entgegen stellen. Damit weisen Sie implizit auf die Performanz von Fallarbeit hin. Ihre ausführlichen Vergleiche mit anderen Professionen lassen ebenfalls die Bedeutsamkeit der Fallarbeit in der Professionalisierung von Sportlehrpersonen und Trainern erkennen. Dies im Einzelnen nachzuzeichnen ist hier aber nicht der Ort. Zusammenfassend zeigen somit auch die jüngsten Veröffentlichungen die mit der Fallarbeit verbundene Hoffnung, die Ausbildungspraxis von Lehrerinnen und Lehrern zu professionalisieren. In Anlehnung an Binneberg (1985) und Fatke (1995) lassen sich die mit der Fallarbeit verknüpften Erwartungen in folgenden Thesen zusammenfassen: Fallarbeit bietet eine höhere Anschaulichkeit der pädagogischen Theorien. Die Kasuistik führt – auch in anderen Wissenschaften – zu einer Verschiebung der Interessen und einer Verlagerung der Aspekte. Fallarbeit und Kasuistik bewirken eine stärkere Hinwendung zum Alltag und zur Lebenswelt. Fallarbeit bewirkt eine narrative Orientierung Fallarbeit verlangt eine zunehmende Betonung qualitativer Verfahren. (vgl. Fatke 1995, 676). Auf zwei dieser Aspekte möchte ich in dieser Einleitung näher eingehen und damit einerseits den Blick über die Disziplin hinaus wagen, andererseits den Diskurs in der Disziplin explizit ausführen und damit gleichzeitig einen Blick zurück werfen. Zunächst betrifft dies die hohe Affinität der Fallarbeit zu narrativen Texten, deren Grundlagen wohl in anderen Disziplinen gelegt worden sind, namentlich in der Ethnologie und der Geschichtswissenschaft. Die aufgezeigte Nähe der Kasuistik, resp. der Fallarbeit zum Alltag des Untersuchungsgegenstands lässt sich wiederum gut in der Disziplin der Sportpädagogik darstellen.
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1.2 Der Alltagsdiskurs in der Sportpädagogik In den letzten zwei Jahrzehnten lässt sich in der Sportpädagogik ein Diskurs verfolgen, der sich speziell dem Alltag von Sportlehrerinnen und Sportlehrern zuwendet. Dieser Diskurs ist immer auch als forschungsmethodologischer Diskurs geführt worden. »Mit dem Alltagsthema ist ein besonderes Forschungsprogramm aufgerufen. Ein Programm, das sich in den Sozialwissenschaften und der Erziehungswissenschaft zu Ende der 70er und Beginn der 80er Jahre ausgefaltet hatte. Nach der Zeit der grossen Theoriediskurse und theoretischen Entwürfe war eine verstärkte Hinwendung von Wissenschaft zum Alltag und zur konkreten Alltagspraxis der Menschen zu beobachten« (Lange 1998, 31). Der Ausgangspunkt dieses Diskurses ist deshalb zunächst in der Wissenschaft selbst zu finden. Lange sieht, auch für die Erziehungswissenschaft allgemein, radikale Veränderungen von Kultur und Gesellschaft der 80er Jahre als Ursache für den Alltagsbezug der Sportpädagogik. Diese gesellschaftlichen Veränderungen erfassen letztlich auch die Nische der Sportpädagogik. »Entzauberung von Wissenschaft, Krise der Erziehung, Aufdehnung des Sports. In diesen Verwerfungen haben sich die gesichert geglaubten Referenzpunkte verflüssigt. Sportpädagogik wurde zur Trend-Pädagogik und einer Pädagogik der reduzierten Ansprüche« (ebd. 37). Der pädagogische Trend folgt somit dem Alltag von Sportinszenierungen und der Alltagsdiskurs wird entsprechend durch die Praxis selbst vereinnahmt. Sowohl Schierz (1993) als auch Lange (1998) sprechen in diesem Zusammenhang von der »Verdoppelung des ausserschulischen Sports im Sportunterricht. Diese Ausdehnung des Alltagsdiskurses in die Praxis wird allerdings mit einer kontingenten Verwendung der Begriffe Praxis, Alltag und Wirklichkeit verbunden. Der zunächst akademisch geprägte Diskurs hat sich somit allmählich zu einem Mythos mit einer schillernden Begrifflichkeit verdichtet, der den Diskurs immer deutlicher prägt. Wenn es Mythen des Alltags (Barthes 1964) gibt, muss es wohl auch Mythen der Sonn- und Feiertage geben. In der Didaktik wird deshalb auch etwas zynisch (und in Anlehnung an Ryle) von Feiertagsdidaktik gesprochen7. Mit diesem Schlagwort wird prägnant formuliert, dass Lehrpersonen ihren Unterricht nach ganz anderen Kriterien gestalten, als dies in den Konzeptionen der Didaktik vorgesehen ist. »Konsequent weitergedacht bedeutet dies, dass eine der Prämissen, auch des sportdidaktischen Denkens, fragwürdig geworden ist – die Prämisse, eine Logik der Wissenschaft sei auf die Alltagspraxis einfach zu übertragen« (Lange 1984, 81). Übertragen auf die Welt der Wissenschaft könnte man deshalb auch von den Mythen der Theorie sprechen. Weniger um den Mythos der Theorie, sondern eher, um die Dignität der Theorie zu brechen, wurde Ende der 70 und zu Beginn der 80er mit dem Alltagsbezug ein
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Erstmals bei Hilbert Meyer 1980.
1.2 Der Alltagsdiskurs in der Sportpädagogik
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besonderes Forschungsprogramm initiiert. »Alltag war zu einem relevanten Paradigma wissenschaftlicher Erkenntnis geworden« (Lange 1998, 31). Lange konstatiert allerdings für die diskursive Praxis der Sportpädagogik in den 70er Jahren eine negative Konnotation des Begriffs Praxis. Demnach wird Praxis als »problematisch gedeutet, weil sie sich neueren didaktischen Vorstellungen gegenüber widerständig zeigt« (Lange 1981, 10). Auch für Lehrer, Schüler und Studenten erscheint der Alltag schwierig und oft belastend. Lange plädiert daran anschliessend für eine normative Befreiung des Sportunterrichts und eine Reduzierung pädagogischer Ansprüche an den Sportunterricht. Im Zentrum des Interesses stehen somit nicht mehr normative Konzepte, nach denen Sportunterricht gestaltet werden soll, sondern das Interesse von Ausbildung und Forschung soll sich am Handeln von Lehrpersonen und Schülern orientieren, um diese in ihrer eigenen Handlungslogik zu verbessern. Mit dieser Hinwendung zum Alltag sind ganz unterschiedliche Erwartungen verknüpft. Einige der Exponenten versuchen, den Diskurs über Alltag zu verändern, während andere direkt auf das Handeln im Alltag Einfluss zu nehmen versuchen. Einzelne Exponenten versuchen durch die Hinwendung zum Alltag auch eine Wende zur Empirie zu verwirklichen, die in der Erziehungswissenschaft nur langsam Einzug gefunden hat (vgl. Roth 1967). Wiederum andere möchten das »private« Wissen von Lehrpersonen ermitteln, um dadurch einen Einblick in Entscheidungsprozesse des Alltags zu erhalten. Terhart sieht deshalb sehr heterogene Ansätze hinter den Etiketten der Alltagswende und interpretativer Verfahren (1984, 15). Erschwerend kommt hinzu, dass der inflationäre Gebrauch der Begriffe Alltag und Lebenswelt wenig einheitliche Konturen geschaffen hat (Baur et al. 1989, 18). Trotzdem sind laut Lange (1998, 32) die alltagsorientierten Ansätze in ihrer Unterschiedlichkeit einem gemeinsamen Grundgedanken verpflichtet. Alltag erscheint in diesen Ansätzen als ein leitendes Denk- und Erklärungsmuster. Dies äussert sich in einer skeptisch-kritischen Grundhaltung gegenüber theoretischen Konstruktionen von Schule und lässt sich durch vier Prämissen zusammenfassen: Kontextabhängigkeit, Alltäglichkeit, Alltagslogik und objektive Rekonstruktion. Das Prinzip der Kontextabhängigkeit folgt dem Grundsatz, dass alle Handlungen und Bedeutungen in soziale Kontexte eingewoben sind, während das Prinzip der Alltagslogik besagt, dass alltägliche Handlungen eigenen Regeln folgen. Das Prinzip der Alltäglichkeit bezeichnet Alltag als »ausgezeichnete Wirklichkeit« (ebd., 32, in Anlehnung an Schütz). Das letzte Prinzip, der objektiven Rekonstruktion besagt, dass die »im Selbstverständlichen aufgehobenen Strukturen des Alltäglichen aus den subjektiven Verarbeitungsweisen und Handlungsorientierungen zu rekonstruieren sind (ebd., 32). Insbesondere der letzte Aspekt wird für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung sein. Speziell für die Sportpädagogik konstatiert Lange eine grundsätzliche Tendenz. »Gemeinsames Interesse all dieser Untersuchungen: In der Alltäglichkeit von Schule und Unterricht und der Alltagswirklichkeit von Sport notwendige Ansatzpunkte für
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1 Einleitung: Professionalisierung von Lehrpersonen durch Fallarbeit
eine Verbesserung von Schulsport und Sportunterricht zu finden« (Lange 1998, 33). Die Vorstellung des »gelingenden Alltags« unterliegt allerdings einer normativen Indifferenz (ebd. 32). Der Alltagsdiskurs besitzt keine Möglichkeit, die von ihm aufgedeckten handlungsleitenden Regeln und Normen von sich aus zu diskutieren. Ob im Rückbezug auf theoretische Modelle der Normbezug gleichsam von aussen analysiert werden kann, gilt es in der vorliegenden Untersuchung zu klären8. Ungeachtet dieser Einschränkung wird in der Retrospektive der Alltagsbezug von Lange positiv besetzt und der Paradigmenwechsel, zumindest theoretisch als geglückt bezeichnet. Trotzdem – und hier folge ich Langes (1998, 32) Einschätzung – hat der Alltagsbegriff im gegenwärtigen Diskurs der Sportpädagogik keine nennenswerte Rolle, zumindest wenn man den einschlägigen Publikationen folgt. Das heisst allerdings nicht, dass in den Methoden und Zugängen der Sportpädagogik der Alltagsbezug bedeutungslos geworden wäre. Im Gegenteil, der Alltagsbezug in der Sportpädagogik hat wohl nachhaltig auf die gegenwärtige Untersuchungen in der Sportpädagogik gewirkt. Ohne den Begriff Alltag terminologisch zu strapazieren, möchte ich im Folgenden drei – für meine Fragestellung wichtige – Wendungen im Alltagsdiskurs der Sportpädagogik auflisten und diskutieren. Eine solche Darstellung kann keinesfalls abschliessend und umfassend ausfallen, insbesondere wenn es gilt Veränderungen in der Sportpädagogik zu bestimmen. Hier werden deshalb weniger philosophische und epistemologische Aspekte des Diskurs zur Sprache kommen, sondern vielmehr der pragmatische Bezug zum Untersuchungsgegenstand gesucht. 1.2.1 Inhaltliche Wende zum Alltag Die Idee, sich in der Sportdidaktik am Alltag des Sports resp. am Alltag der Schüler zu orientieren, wurde verhältnismässig früh in den Diskurs eingebracht. Als Abgrenzung und Ablösung von der Leibeserziehung weisen sich z.B. die Konzepte von Ehni (1977) und Kurz (1977) aus. Mit der Idee der Entwicklung von Handlungsfähigkeit für und durch den Sport entscheiden sie sich gegen das Konzept der Leibeserziehung und Körperertüchtigung, resp. stellen dieses historische Konzept als eine Möglichkeit neben andere. Als Mittel, um diese Handlungsfähigkeit zu erreichen, wählen beide die Mehrperspektivität. Ein Konzept, das später mit den Bezeichnungen Sinnperspektive oder Sinnrichtung in der Sportpädagogik Karriere gemacht hat. Damit wird zwar ein erster Paradigmenwechsel vollzogen, aber ob man diese Neuausrichtung bereits als Wende zum Alltag bezeichnen kann, bleibt fraglich. Letztlich sind auch diese Modelle subjektive Konzeptionen, die zwar nach-
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Ich denke hier vor allem an den Zusammenhang von Narrationen und Moral, insbesondere an das durch die Form gegebene Potential, Normen mehr als nur argumentativ auszudrücken.
1.2 Der Alltagsdiskurs in der Sportpädagogik
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haltig auf die Sportpädagogik gewirkt haben, aber nicht als Orientierungen im Alltag, sondern als didaktische Konzepte. Hier scheint mir der empirische Zugriff – seine Wirkung sei vorläufig dahingestellt – wie z.B. von Baur, Bräutigam und Brettschneider (1989) übersichtsmässig dargestellt, doch mehr auf die Alltagsproblematik ausgerichtet. Welchen Sport treiben die Schüler und Schülerinnen in ihrer Freizeit? Nicht der sportdidaktische Sport gilt als Leitidee, sondern die sportbiografischen Bezüge der Jugendlichen gelten als Orientierungspunkte. Eine explizite Anlehnung an die Jugendforschung (Hurrelmann, Zinnecker und andere) wird bewusst gesucht. Hier zeigt sich natürlich das Schicksal aller Alltagsorientierungen. Weil die Sportwirklichkeit von Kindern und Jugendlichen die Konzepte der Sportdidaktik längst ein- und überholt hat9, wirken diese Untersuchungen z.T. als Rechtfertigung neuer Praxis. Trotzdem unterliegen sie natürlich der von Lange (1998) bereits erwähnten normativen Indifferenz. Weshalb soll das bestehende Sporttreiben der Kinder und Jugendlichen im Alltag besser sein als dasjenige in den Konzepten der Sportdidaktiker? Die Kritik muss aber eingeschränkt werden. So zeigen diese Untersuchungen auch Bewegungsdefizite auf, die es unter Umständen durch Sportunterricht zu kompensieren gilt. Ich bezeichne diese Untersuchungen als inhaltliche Wende, weil sie das Augenmerk auf den alltäglichen Sport von Kindern und Jugendlichen richten. Ob sich daraus didaktische Konzepte der Gegen-, Mit- oder Doppelwelt von Sport (Schierz 1993) entwickeln, bleibt allerdings offen. Am Beispiel der Karriere der Erlebnispädagogik in der Sportdidaktik lässt sich die Wende zur Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen treffend darstellen. »Seit rund einem Jahrzehnt lässt sich allerdings eine intensive Auseinandersetzung mit den Begriffen Abenteuer, Erlebnis und Wagnis sowie eine mitunter sogar inflationäre Hinwendung zum sogenannten Erlebnissport, zu Bewegungsabenteuern und zur Wagniserziehung erkennen [...]« (Gissel/Schwier 2003, 7). Dazu haben gemäss den Autoren insbesondere das Trendpotenzial aktueller Extremsportarten und die Renaissance der Erlebnispädagogik beigetragen. Es geht hier weniger um die austauschbaren Sportinszenierungen als vielmehr um Authentizität und Unmittelbarkeit. »Mitunter kann man sich allerdings des Eindrucks kaum erwehren, dass Erlebnis- bzw. Wagnisport ohne hinreichende Kenntnisse über seine Wirkungsweisen naiv zum pädagogischen ›Wundermittel‹ gegen S-Bahn-Surfen, Car-Crashen, Sofahocken oder Jugendgewalt erklärt wird« (Gissel/Schwier 2003, 8). Die inhaltliche Wende zur Erlebniswelt der Jugendlichen wird somit pädagogisch instrumentalisiert und damit inhaltlich austauschbar. Egal, ob als Gegen- oder Mitweltinszenierung, die curricularen Entscheidungen werden von einer intransparenten »Erlebnisgesellschaft« gefällt, die didaktischen Zielsetzungen entsprechend angepasst. Die inhaltli-
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Vgl. dazu Schierz 1993 und 1997, 71 (auch später in dieser Untersuchung).
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1 Einleitung: Professionalisierung von Lehrpersonen durch Fallarbeit
chen Veränderungen zeigen sich auf eindrückliche Weise im Geräteraum der Sporthallen. Während Reck und Barren sowie die Utensilien der »New-Games« immer mehr verstauben, erscheinen in den Regalen der Sporthallen Inlines-Skates und Kletterfinken. Die Frage, ob sich die Zielsetzungen der Erlebnispädagogik ohne Weiteres auf die Sportpädagogik übertragen lassen, ist hingegen mit einer Veränderung des »Inventars« nicht beantwortet. Die Kritik an diesem Parallelisieren von Erlebnispädagogik und Sportpädagogik ist deshalb nicht unberechtigt (vgl. Thiele 1995, Messmer 2003). In diesem Sinne ist die inhaltliche Wende in ihrer zeitlichen Entwicklung mehr als Anpassungsleistung der Sportdidaktik an ohnehin bereits stattgefundene Veränderungen der sportiven Gesellschaft zu verstehen. Die zunächst von Ehni (1977) und anderen formulierten Forderungen an einen zeitgemässen Sportunterricht, der das Subjekt ernst nimmt, entwickeln sich zu einer z.T. unreflektierten Übernahme von ausserschulischen Sportinszenierungen. Zumindest unter diesem Aspekt muss der Alltagsbezug in der Sportpädagogik als gescheitert bezeichnet werden. Vielleicht gelingt es aber der Sportpädagogik mit ihren Forschungsmethoden einen Bezug zum Alltag herzustellen. 1.2.2 Methodische Wende zum Alltag Eine andere Wende in Bezug auf eine Alltagsorientierung betrifft das forschungsmethodische Arbeiten. Obwohl Terhart alle alltagsorientierten Ansätze den interpretativen Forschungsmethoden zuordnet (1984, 15), würde ich die methodischen Zugänge weiter ausdifferenzieren. Wahrscheinlich sind viele interpretative Ansätze als empirisch zu bezeichnen. Aber explizit auf die Handlungen in der Sporthalle mit allen interpretativen Implikationen ausgerichtet sind nur wenige. Hier liegt m. E. auch die Berechtigung des Begriffs „Wende“. Bereits 1983 publiziert Scherler einen Aufsatz mit dem bezeichnenden Untertitel: »Zum Vorhaben einer exemplarischen Unterrichtslehre«10. Im Fokus des didaktischen Interesses stehen hier weniger die Absichten des Lehrers, sondern vielmehr das beobachtbare Geschehen im Sportunterricht. Dabei wird bewusst auf eine subjektive Beschreibung von Unterricht eingegangen. »Das Beschreiben von Unterricht ist mit der Person desjenigen, der beobachtet und beschreibt, und ihrer Subjektivität unauflösbar verbunden« (Scherler 1983, 56). Im Gegensatz zu den normativen Konzepten der Leibeserziehung beruhen diese subjektiven Konstruktionen immer auf »wirklichem« Unterricht, der sinnlich wahrgenommen wird. Durch den bewussten Verzicht auf empirisch-analytische Beobachtungsdaten, aber auch auf die normativen Setzungen der handelnden Personen (insbesondere der Lehrpersonen) nimmt dieser interpretative Zugang zu
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Auch wenn Scherler 2004 (S. 9) dieses Vorhaben als gescheitert erklärt, scheint mir der Ansatz als Wende zu betrachten gerechtfertigt.
1.2 Der Alltagsdiskurs in der Sportpädagogik
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Unterricht eine Zwischenposition ein. In der Folge weisen Scherler – später auch Schierz – immer wieder auch methodisch auf die Form der Beschreibung von Unterricht hin. Im Zentrum der Absichten bleibt ein exemplarischer Zugang zu Unterrichtssituationen, die mal deduktiv, mal induktiv erschlossen werden. Letztlich geht es in diesem forschungsmethodischen Zugang, der in Bezug auf eine didaktische Lehre als Wende bezeichnet werden kann, um »das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen« (Schierz 1999). Im Unterschied zu den Exponenten der inhaltlichen Wende zeigt sich für Scherler/Schierz ein wesentliches Ziel ihrer Forschung darin, nicht nur alltäglichen Unterricht darzustellen, sondern Unterricht zu verbessern (1987, 78). »Sportdidaktiker machen die Schwierigkeiten, die Lehrer beim Unterrichten haben, zum Ausgangspunkt ihrer Forschung und die Bewältigung dieser Schwierigkeiten zum Gegenstand ihrer Lehre« (ebd., 79). Damit versteckt sich hinter dieser methodischen Wende nicht nur ein forschungsmethodischer Wechsel indem Alltag zum Forschungsgegenstand gemacht wird, sondern der Anspruch explizit Einfluss auf diesen Alltag zu nehmen. In diesem Sinne ist es nur logisch, dass dieser Zugang später die Nähe zu modernen ethnographischen Methoden sucht (und auch findet) und in verschiedenen Forschungskonzepten der Sportpädagogik aufgenommen worden ist11. Thiele zeigt 2003 in einer Übersicht zunächst nur marginale ethnografische Bezüge in der Sportwissenschaft auf. Trotzdem kann er bei einzelnen Zugängen eine »implizite ethnographischen Sichtweise« (ebd., 8) feststellen. So zielt z.B. Schwier (2000) auf die Darstellung jugendkultureller Szenen, wobei erwartungsgemäss ein Schwergewicht auf den sportiven Jugendszenen wie den Skatern oder den Streetballern liegt. Schwier ist in seiner Zugangsweise schwierig einzuordnen, trotzdem gilt seine Affinität dem Alltag und der ethnographischen Darstellungsweise, wie sie die Cultural Studies verwenden. Interpretiert wird bei ihm allerdings weniger der Alltag des Unterrichtens als vielmehr der Alltag von Jugendlichen beim Sporttreiben. Damit ist die Verbindung zur inhaltlichen Wende hergestellt, hier allerdings mit dezidiert anderen methodischen Zugängen. Thiele (2006) zeigt anhand einer exemplarischen Studie zur Schulsportentwicklung, wo die Möglichkeiten und Grenzen einer »ethnographischen Forschung« in der Sportpädagogik liegen. »Der Rückgriff auf ein ethnographisches Verfahren erscheint insofern nahe liegend, als die Ethnographie klassischerweise als eines der prädestinierten Verfahren zur Erfassung der Besonderheiten und des Facettenreichtums sozialer Lebenswelten gilt« (Thiele 2006, 30). Auch Schierz et. al. (2006) zeigen mit ihren Schulportraits die inhaltliche und methodische Ausrichtung auf den Sportalltag von Jugendlichen. Im Gegensatz
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Der Hinweis auf die Ethnographie verwischt natürlich die Tatsache, dass im Anschluss an die methodische Wende von Scherler/Schierz eine ganze Reihe von Autoren den Weg der interpretativen Unterrichtsforschung gefolgt sind. In erster Linie zählen dazu die Exponenten der »Hamburger Schule«, wie Petra Wolters, Ilka Lüsebrink und der Schreibende.
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1 Einleitung: Professionalisierung von Lehrpersonen durch Fallarbeit
zum oben beschriebenen Lebensweltbezug orientieren sich diese Ansätze aber sowohl an der Lebenswelt von Jugendlichen in als auch ausserhalb der Schule. Damit wird wiederum ein Bezug zur inhaltlichen Wende der Lebenswelten hergestellt, die es durch ethnographische Methoden empirisch zu erfassen gilt. Auch auf dieser methodologischen Diskursebene lässt sich ein Bezug zur bereits diskutierten Fallarbeit herstellen. Demnach soll sich die Sportdidaktik nicht ausschliesslich mit ihren eigenen normativen Konzepten auseinandersetzen, sondern sich dem Alltag von Jugendlichen in und ausserhalb von Schulsportanlagen nähern. Dass sich hier ethnographische Methoden wie die teilnehmende Beobachtung aufdrängen, versteht sich von selbst. Die dahinter liegende Idee bleibt aber dieselbe: Die Kluft zwischen Theorie und Praxis lässt sich aus dieser Perspektive nur durch gezielte Feldforschung überwinden, andernfalls werden die Theoreme der Didaktiker keinen Bezug zum Schulalltag mehr finden. In diesem Sinn beschäftigt sich auch die nächste von mir unterschiedene Wende zum Alltag mit Personen und ihren Handlungen. Allerdings sind hier nicht mehr nur die Forscher von Interesse, die Anschluss an den Alltag der Schüler und Lehrer suchen, sondern die am Unterricht selbst beteiligten Personen. 1.2.3 Pragmatische Wende zum Alltag Einen weiteren Ansatz, der aber mit dem gleichen Anspruch an Alltag und Unterrichtspraxis auftritt, bezeichne ich als pragmatische Wende. Diese Wende ist einerseits kognitiv, weil es allgemein um Bewusstsein und im Speziellen um Alltagsbewusstsein geht. »Erleben und Deuten von kritischen Situationen des Unterrichtsalltags durch Sportlehrer zu erkunden, verspricht also auch Aufschlüsse über Strukturen ihres Alltagsbewusstseins zu ergeben« (Miethling 1986, 12). Andererseits betrifft diese Wende explizit auch die Tätigkeiten der in der Praxis handelnden Personen – sowohl Schüler als auch Lehrer. Damit werden die Handlungen der am Sportunterricht selbst beteiligten Personen zum Fokus des Diskurses. Weder die curricularen Anliegen der Sportdidaktiker noch die methodologischen Forschungszugänge stehen hier zur Diskussion, sondern die Bedeutungssysteme der Lehrer und Schüler. Der Zugang zum Alltag auf dieser Diskursebene liegt hauptsächlich im Denken der Sport unterrichtenden Lehrpersonen. Die Wende zum Denken der Sportlehrer unter dem Anspruch, den Alltag zu erforschen, kann zweifach begründet werden. Einerseits liegt die Überzeugung dahinter, dass im Unterschied zum behavioristischen Denken dem Lehrer eine gewisse Eigenständigkeit zugestanden wird. Oder mit den Worten Terharts, dass der Rekurs auf mentale und verbale Prozesse doch wieder »ein bisschen Weisheit zwischen Reiz und Reaktion zulässt« (1984, 17). Dieser forschungsmethodologische Paradigmenwechsel lässt überhaupt erst zu, dass die Aufmerksamkeit auf das Denken der Lehrpersonen gerichtet werden kann. Andererseits ist in diesem Zugang der bereits angesprochene Gegensatz von Alltag
1.2 Der Alltagsdiskurs in der Sportpädagogik
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und Feiertag zu lesen. Der »graue« Alltag wird mit Assoziationen wie Langeweile, Redundanz und Eintönigkeit verbunden. Damit verknüpft sind eher die Schattenseiten von Schule. »Schulalltag ist offenbar zum Inbegriff für die negativen Seiten des Schulbetriebs, für Mühen und Probleme, Unzufriedenheit und auch Frustration geworden« (Lange 1981, 10). Die beiden Aspekte drängen einer Alltagsorientierung gleichsam den Zugang über das Denken der Lehrpersonen auf. Was wollen die Lehrer? Was beschäftigt sie in ihrer Alltagspraxis? Miethling untersucht deshalb bereits 1986 die Belastungssituationen im Selbstverständnis junger Sportlehrer. Für Lange sind es alltägliche Handlungssituationen, die von Handlungsunsicherheit und Belastung geprägt sind (1981, 14). Demnach liegt ein problematischer Aspekt gerade darin, dass pädagogische Ansprüche nur noch untergeordnete Bedeutung haben, weil Alltag eben problembelastet ist. Lehrer brauchen demnach eine didaktische Orientierung, um diese Alltagsprobleme bewältigen zu können. Zehn Jahre später äussert sich dieses von Lange aufgezeigte Problembewusstsein im Alltag in vergleichbarer Weise, wie es bereits Scherler/Schierz formuliert haben und oben im Zusammenhang mit der methodischen Wende diskutiert worden ist. »Notwendig sind erneut Untersuchungen zum Schulalltag und zur Alltagswirklichkeit von Schulsport und Sportunterricht [...] der Bedarf an pädagogisch-didaktischer Orientierung und Beratung der Alltagspraxis – die Frage nach den Neuralgischen Punkten des Alltagsbetriebs, den Handlungsorientierungen der Lehrer und Wirkungen auf die Schüler« (Lange 1998, 45). Was Miethling, Scherler/Schierz und Lange in den 80er Jahren formulieren und Lange später nochmals aufgreift, betrifft demnach nicht nur einen Perspektivenwechsel auf den Alltag von Jugendlichen oder den Alltag von Unterricht. Es wird explizit ein Perspektivenwechsel auf das Denken und Handeln der Lehrenden, aber auch der beteiligten Schülerinnen und Schüler gefordert 12. Balz spricht in diesem Zusammenhang von einer pragmatischen Wende in der Unterrichtsforschung. »Hier stehen die Subjekte (sprich: Schüler und Lehrer) mit ihren jeweiligen Deutungsmustern im Mittelpunkt; an sie tritt man mit offeneren und zugleich weniger standardisierten Forschungsmethoden heran« (1997, 257). Obwohl Balz hier von einer pragmatischen Wende in der Unterrichtsforschung spricht, so bezieht sich das veränderte Interesse nicht nur auf die Methoden der Forschung selbst, sondern ebenso auf die Handlungen der beteiligten Personen. Gegenstand des Diskurses ist demnach nicht nur der Inhalt von alltäglichem Sportunterricht oder die Forschungsmethoden, Sportunterricht in seiner Alltäglichkeit zu erfassen. Aus dieser pragmatischen Perspektive werden die alltäglichen Entscheidungsprozesse und ihre vermeintlichen Ursachen zum Thema.
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Selbstverständlich ergibt sich diese Neuorientierung an Alltagstheorien der Lehrerinnen und Lehrer nicht orginär nur in der Sportdidaktik. Als Beispiele sind zu nennen: Combe/Helsper 1994, Beck/Scholz 1995.
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Als pragmatische Wende zum Alltag lässt sich auch die Schulportraitforschung einordnen, wie sie im Sammelband von Hummel/Schierz (2006) inhaltlich und methodologisch dargestellt ist. Ursprünge für diesen mehr ethnologisch und soziologisch ausgerichteten Zugang zum Sportunterricht lassen sich bereits bei Schierz (1995) aufzeigen. »Was vordringlich gebraucht wird, diese Forderung könnte ein zukünftig wichtiges Feld der Sportpädagogik andeuten, ist die intensive Schulentwicklungsberatung, die der Schulleitung, den Kollegien, Eltern und Schülern dabei hilft, auch mit Blick auf Fächer oder Lernbereiche, grösstmögliche Transparenz bei der Ausbildung eines Schulprofils zu erlangen« (1995, 31). Damit ist hier bereits angelegt, was zehn Jahre später unter dem Slogan der regionalen Schulentwicklung Karriere machen wird (Schierz/Thiele 2003). Der Alltagsbezug mit dem Label »Lebenswelt«, der hier vertreten wird, unterscheidet sich allerdings deutlich vom Lebensweltkonzept, wie es oben unter dem Aspekt der inhaltlichen Wende diskutiert worden ist. Mit Lebenswelt ist hier nicht die curriculare Orientierung an den Trendsportarten der Jugendlichen gemeint, sondern eine grundsätzliche Orientierung an den sportiven Tätigkeiten im Alltag von Kindern und Jugendlichen. Damit rücken die Sport- und Bewegungshandlungen der Jugendlichen und ihre Sinnzuschreibungen ins Zentrum des Interesses. Die vornehmlich ethnographisch durchgeführten Untersuchungen unterstreichen zusätzlich den Anspruch dieser pragmatischen Wende zum Alltag. Mikrostrukturelle Prozesse und systemische Zusammenhänge im Alltag von Schülerinnen und Schülern sollen beobachtet werden und dazu beitragen, den Mangel an Wissen über die »Schwächen und Stärken, Chancen und Risiken im Schulsport« (Hummel/Schierz 2006, 11) reduzieren zu helfen. Damit zeigt sich auch in dieser pragmatischen Wende zum Alltag die Tendenz der Sportpädagogik, sich von den grossen normativen Entwürfen der Leibeserziehung zu verabschieden und sich konkreten, regionalen Problemen zu widmen. Inwiefern diese Wende zum Alltag der »kleinen Handlungen« gelungen ist, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch schlecht abschätzen. Mit der Ethnographie wird auch hier ein Forschungsdesign übernommen, das sich am einzelnen Fall und an Erzählungen aus dem Alltag orientiert. Die bis jetzt diskutierten Ansätze oder Wendestellen des Alltagsbezugs lassen eine – für mich wesentliche – Orientierung ausser Acht. Einerseits werden die Tätigkeiten der Schüler innerhalb und ausserhalb des Sportunterrichts beobachtet oder der Sportunterricht wird forschungsmethodisch anders zu erfassen versucht. Andererseits zeigt der von mir als pragmatische Wende bezeichnete Aspekt eine Fokussierung auf die Lehrpersonen, ohne aber die epistemologische Wirkung der Alltagstheorien zu untersuchen. Hier liegt m.E. ein wesentliches Manko aller alltagstheoretischen Zugänge. Die dargestellten Alltagsorientierungen wenden sich inhaltlich und methodisch dem Alltag zu, vielleicht sogar den Problemen und Nöten der im Alltag handelnden Lehrpersonen (oder sogar Schüler), die Erkenntnisse erscheinen aber nach wie vor in der Form theoretischer Konzepte. Selbstverständlich bemüht sich
1.3 Narrationen und Alltagspraxis
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gerade das Konzept der interpretativen Unterrichtsforschung um eine kasuistische Darstellungsweise und damit um eine praxisnahe Form der Repräsentation. Deren Performanz wird aber nie in Frage gestellt, respektive die Wirkungsweise dieser Darstellungsform wird kaum untersucht. Die Fallarbeit gilt a priori als wirksam, aber ihr erkenntnistheoretischer Wert wird weder empirisch noch analytisch nachgewiesen. »Das Ziel unserer Forschung ist, die Lehrer beim Lösen von alltäglichen Problemen des Sportunterrichts zu beraten. Doch um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir diese Probleme zuerst einmal ermitteln, um dann die Lösungsschwierigkeiten zu erörtern« (Scherler/Schierz 1987, 79). Ermitteln heisst in diesem Sinne vor allem Unterricht in Fällen darstellen und interpretieren. Inwiefern die Lehrpersonen diesen Interpretationen folgen können, bleibt offen. Vergleichbar mit dem TheoriePraxisdiskurs der Erziehungswissenschaft scheint sich auch im Alltagsdiskurs der Sportpädagogik eine Tendenz entwickelt zu haben, die Verbindung der theoretischen Alltagskonzepte und der praktischen Tätigkeit von Lehrpersonen über Falldarstellungen zu finden. Im Mittelpunkt dieses Anspruchs steht die Repräsentation von Unterricht in der Form von Erzählungen. Die literarische Form der Erzählung erhält – nicht nur in der Sportpädagogik – Einzug in die Sozialwissenschaften. Die Form der Erzählung wird dabei sowohl als Mittel zum Zweck (der Forschung) als auch zum Selbstzweck verwendet. »Es geht überhaupt nicht um unmittelbare soziale Wirklichkeit, an der wir als Handelnde teilnehmen – sondern es geht um ›Texte‹« (Terhart 1984, 28). Demnach gilt es als Nächstes zu klären, inwiefern sich die Erzählungen oder ihr performatives Pendant, die Narrationen, überhaupt eignen, um Unterricht darzustellen, resp. über narrative Repräsentationen auf Handelnde im Unterricht wirken zu können. Denn eines scheint festzustehen: Dass die Wende zum Alltag – oder je nach Sprachgebrauch, die Wende zur Praxis des Unterrichtens – in den meisten Konzeptionen mit einem narrative turn verbunden ist. Im nächsten Abschnitt soll deshalb der Blick über die Grenzen der Disziplinen gewagt werden. An ausgewählten Beispielen der Geschichtswissenschaft und der Ethnologie soll überprüft werden, inwiefern der Zusammenhang von Alltagspraxis und Narration dargestellt und untersucht werden kann. 1.3 Narrationen und Alltagspraxis Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Narrationen und dem TheoriePraxisdiskurs ist nicht a priori gegeben. Trotzdem weisen die zahlreichen Versuche, den Alltag des Sportunterrichts mit Erzählungen darzustellen13, auf eine Beziehung
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Als Beispiele: Schierz 1986, Scherler 1989, Scherler/Schierz 1993, Balz/Neumann 1998; aber auch andere Autoren, die nicht explizit von Geschichten sprechen. Ich werde in Kapitel 4 näher auf diese Exponenten eingehen.
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hin. In den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Pädagogik, spricht man in diesem Zusammenhang gerne von einem turn to narrative(vgl. McEwan 1995, vii; mit Bezug auf die Sportpädagogik: Schierz 1998, 43). Die Voraussetzungen, in der Sportpädagogik ebenfalls von einem turn to narrative zu sprechen, scheinen mir nicht gegeben. Trotzdem ist wohl auch der Alltagsdiskurs in der Sportpädagogik durch diese Wende – die sich zeitlich schwer festlegen lässt – beeinflusst worden. Eine der wesentlichsten Verknüpfungen, auf die sich der Alltagsdiskurs mit dem narrative turn einlässt, besteht in der Vereinnahmung des Ästhetischen und der Moral. In jeder Geschichte und in jeder Erzählung steckt eine übergeordnete Aussage, eine Moral. Nach Martinez/Scheffel (1999, 148) besteht eine Narration aus einer Geschichte, die mit einer Moral verbunden wird. Diese kann explizit und beabsichtigt sein, wie in den oft witzig satirischen Fabeln, in denen Tiere handeln, aber Menschen gemeint sind. Die Moral kann sich aber auch in der Geschichte verbergen und implizit nur durch den Leser entdeckt werden. Entsprechend dieser Anlage ist die Moral meist an die Subjektivität des Lesenden gebunden. Eco (1998, 109) verwendet hierfür die Bezeichnung Fabel. Eco will mit dem Begriff Fabel, auch zwischen Moral und Thema (Topic) unterscheiden.14 »Fertige Geschichten sind Explorationen der Grenzen der Legitimität, wie Hayden White gezeigt hat. Sie erweisen sich als lebenswahr, wenn die Störung moralisch erklärt werden kann oder sogar wiedergutgemacht worden ist« (Bruner 1997, 67). Mit Legitimität meint White nicht eine juristische Berechtigung, sondern einen moralischen Anspruch, ob das Geschehene sozial akzeptiert wird oder nicht. Wenn aber die Geschichte unausgewogen und allzu offen bleibt, dann unterlaufen die Erzähler die konventionellen Mittel, mit denen Geschichten ihre Moral vermitteln. »Eine Geschichte zu erzählen heisst, unweigerlich einen moralischen Standpunkt zu beziehen, auch wenn dieser darin besteht, jeden moralischen Standpunkt abzulehnen« (ebd.). Moralfreie Geschichten hinterlassen deshalb beim Leser ein ungutes Gefühl, das damit zusammenhängt, dass die Geschichte nicht in die narrativen Strukturen des Gedächtnisses eingeordnet werden kann. Damit wird eine ästhetische Dimension angesprochen, die für die Repräsentation von Alltagshandlungen durch Erzählungen von entscheidender Bedeutung ist. »Practitioners who work with people usually encode their experiences in narrative form. Often they use case histories and narrative explanations« (Gudmundsdottir 1995, 30). Es ist eine Alltagsmoral oder Volkspsychologie (Folk Psychology) wie sie Bruner (1990, 33) nennt, die den Aspekt der Nützlichkeit mit dem Aspekt der Ästhetik verbindet. Mit der Verbindung von Narrationen mit dem Ästhetischen bei der Repräsentation von Wirklichkeit handelt man sich freilich Probleme ein. Der modernere
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Auf die hier nur kurz eingeführten erzähltheoretischen Begriffe werde ich später noch näher eingehen.
1.3 Narrationen und Alltagspraxis
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Skeptiszismus verhindert Imagination und Ästhetik als Quellen von Wissen und Wahrheit (Alexander 1999, 161). Das Schöne wird den Künsten überlassen, die Suche nach Wissen den Wissenschaften. Es ist gerade das Switchen zwischen den beiden Praxen, wie es Rorty (1996) fordert, das vielen Wissenschaftern Mühe bereitet und die Ästhetik in eine unseriöse Ecke drängt. Orientiert sich der Gegenstand der Erzählung am Alltäglichen oder wie erwähnt an einer Alltagsmoral, gerät dieses Denken wohl definitiv in eine unseriöse und zweifelhafte Position. »Narrative meaning is a cognitive process that organizes human experience into temporally meaningful episodes. Because it is a cognitive process, a mental operation, narrative meaning is not an 'object' available to direct observation« (Polkinghorn 1988, 1). Weil in der Wissenschaft alles klar und deutlich sein muss, finden darin Erzählungen nur schwer ihren Platz. Für viele Wissenschaftsdisziplinen sind deshalb Erzählungen – trotz oder gerade wegen ihres ästhetischen Anspruchs – etwas Schmuddeliges. »Narrative thinking – storying – is a successful method of organizing perception, thought, memory, and action. It is not the only successful method, but within its natural domain of everyday interpersonal experience it is more effective than any other. Nevertheless, narrative thinking is widely disparaged« (Robinson Hawpe 1986 123). Damit wird die Erzählung als Repräsentationsform – aus einer wissenschaftlichen Perspektive – gleich doppelt mangelhaft oder unseriös. Die Ambivalenz dieses Mangels liegt einerseits im Schmuddeligen der Darstellungsform von Alltagsmoral und der ästhetischen Dimension der Darstellung in literarischer Form andererseits. Trotzdem lassen sich in der Wissenschaft einzelne Exponenten finden, die sich explizit der literarischen Form von Erzählungen bedienen, um wissenschaftliche Erkenntnis zu generieren oder darzustellen. Auf zwei dieser Exponenten möchte ich im Folgenden näher eingehen. Sowohl in der Ethnologie als auch in der Geschichtswissenschaft lassen sich Traditionen aufzeigen, die den Gebrauch von Erzählungen in der Wissenschaft zu rechtfertigen versuchen. In der Ethnologie15, war es vor allem Clifford Geertz, der sich für die Narration als Beschreibungspraxis eigener und fremder Kulturen stark gemacht hat. In der Geschichtswissenschaft16 war es insbesondere Hayden White, der auf die Bedeutung der Form als Ergänzung zur inhaltlichen Aussage historischer Dokumente hingewiesen hat. Für beide steht ausser Frage, dass ihre Form der Repräsentation die Welt besser abbilden oder gar der Wahrheit näher kommen kann. Erzählungen sind für sie lediglich eine adäquate Form, Probleme, Handlungen von Personen, Widersprüche, Erfahrungen etc. darzustellen. Beide beziehen sich in ihren Zugängen auf den linguistic turn der analytischen Philosophie. Ebenfalls gemeinsam ist ihre Nähe zur literarischen Repräsentationsform. Ihre Zugänge unterscheiden sich lediglich in den verschiedenen sozialen
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Zur Diskussion des Narrativen in der Ethnologie vgl. Sippel-Süsse/Apsel 2001. Zur Bedeutung der Narration in der Geschichtswissenschaft vgl. Conrad/Kessel 1994.
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Praxen, in denen sie diese spezifische Form der Repräsentation entwickeln. Beide Praxen sind für die Sportpädagogik von besonderem Interesse, weil sie auf ähnliche Handlungsbeschreibungen hinweisen, wie z.B. auf die Beschreibung von Unterricht17. 1.3.1 Erzählungen in der Ethnologie Clifford Geertz geht von einem Bedeutungsbegriff aus, in dem er die Untersuchung von Kultur nicht als experimentelle Wissenschaft, sondern als »eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht« (1987, 9) sieht. Damit scheint so etwas wie objektives Wissen über Kultur in Gefahr zu sein. »Die Ethnologen waren sich nicht immer mit der wünschenswerten Deutlichkeit darüber im klaren, dass es Kultur zwar in den Handelsstationen, Bergforts und auf den Schafweiden gibt, Ethnologie dagegen nur in Büchern, Artikeln, Vorlesungen, in Museumsausstellungen oder heute auch manchmal in Filmen. Sich darüber im klaren zu sein heisst zu realisieren, dass es in der Untersuchung von Kultur ebensowenig wie in der Malerei möglich ist, eine Grenze zwischen Darstellungsweise und zugrundeliegendem Inhalt zu ziehen« (Geertz 1987, 23-24). Für Geertz muss sich deshalb die Ethnologie umfassenden Interpretationen und abstrakteren Analysen durch die intensive Bekanntschaft und mit äusserst kleinen Schritten nähern. Damit macht sich der Ethnologe (oder der Wissenschaftler, der Didaktiker) mit dem Gegenstand Stück für Stück vertraut. Um zu verstehen, wie Geertz dies konkret meint, folgt man am besten seinem eigenen Anspruch, die Praxis der Wissenschaftler selbst in den Fokus zu nehmen. »Will man eine Wissenschaft verstehen, so sollte man nicht in erster Linie ihre Theorien oder Entdeckungen ansehen und keinesfalls das, was ihre Apologeten über sie zu sagen haben, sondern das, was ihre Praktiker tun« (Geertz 1987, 10). Das Beobachten und Repräsentieren von ethnologischen Situationen gleicht demnach einem Springen von einer Seite zur anderen. Man betrachtet das Ganze aus der Perspektive seiner Teile, »die ihm zu Lebendigkeit und Nähe verhelfen, und die Teile aus der Perspektive des Ganzen, aus dem sie verständlich werden« (ebd., 307). Dieses perpetuum mobile erinnert Geertz an die Denkfigur des hermeneutischen Zirkels, der im gleichen Hin und Her versucht, Deutungen zu erzeugen. Deshalb gibt es für ihn keinen Unterschied zwischen der ethnologischen Tätigkeit, dem Verstehen von fremden Völkern und der hermeneutischen Auslegung von literarischen, historischen oder biblischen Deutungen. Ganz sicher – so Geertz weiter – gibt es keinen Unterschied zu Deutungen des common sense, zu nicht formalisierten Kommentaren von Alltagserfahrungen18. Geertz nähert sich Situationen, die es einerseits aus einer fremden,
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Auf das Potential narrativer und ethnografischer Untersuchungsmethoden, wie sie z.B. Geertz beschreibt, haben bereits andere hingewiesen (vgl. insbesondere Schierz 1998). Auch Putnam kritisiert (mit Bezug auf Wittgenstein) die Unterscheidung zwischen einem common-
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andererseits aus einer sehr vertrauten Perspektive zu beschreiben gilt. Wenn er diese Beschreibungen aus der subjektiven Perspektive – dicht am Geschehen – verfasst, folgt er einer Strategie, die auch in der Literaturwissenschaft zu finden ist. Loetscher rät, sich den Situationen als Fremder zu nähern, anschliessend aber aus der Situation heraus als Ich-Erzähler zu berichten (1999, 143). Damit wird die Erzähllage für den Leser bestimmt, die Anschaulichkeit der Situation verbessert und damit auch Verstehen ermöglicht. Es ist das selbe Hin und Her, wie es Geertz von Ethnologen fordert, das Loetscher literarisch in eine Ambivalenz der Sprache übersetzt, nämlich dem Erzählen zwischen Fremdsein und der Ich-Form. Diese allmähliche Annäherung durch Sprache ist aber mit Schwierigkeiten verbunden. Oder wie es Loetscher formuliert: »Beim Erzählen wird notgedrungen alles Nicht-Verbale zu Verbalem. Daraus resultieren Darstellungsprobleme, derentwegen unser Autor sich abquält« (1999, 160). Auch hier zeigt sich die selbe Ambivalenz. Gesprochenes kann halbwegs adäquat wiedergegeben werden, das Nicht-Verbale wird aber aus der Perspektive des Fremden repräsentiert. Für Geertz sind deshalb dichte Beschreibungen immer Fiktion. Es gibt keine Alternative zur dichten Beschreibung, die weniger fiktiv wäre, weshalb Geertz diesbezüglich keinen Unterschied zwischen wissenschaftlichen und literarischen Texten macht. Damit öffnet sich dieser ethnologische Zugang auch als Repräsentationsform für andere Disziplinen. »Die Möglichkeit nach Geertz‘ Vorbild auch Rituale, Fabrikalltag oder archäologische Funde analog zu Texten zu analysieren, hat viele Historiker überzeugt, weil sie ohne linguistischen Rigorismus auskommt« (Conrad/Kessel 1994, 21). Die Gleichstellung von literarischen und wissenschaftlichen Texten scheint gewagt, lässt sich aber mit Bezug auf den fiktionalen Charakter unterschiedlichster Textsorten erklären. Zu einer ähnlichen These gelangt auch Loetscher, wenn er von sich behauptet, dass er z.B. »anhand eines Schlüssels für eine Kollektivwaschküche über die helvetische Seele mindestens soviel sagen kann wie mit einer soziologischen Studie« (1999, 167). Die literarische Repräsentationsform und ihre wirkungsvollen Möglichkeiten, sie zu verstehen, bietet demnach eine interessante Alternative zu standardisierten Darstellungsformen. Mit der dichten Beschreibung will Geertz aber keinesfalls eine Formlosigkeit unterstützen, die in ein anything goes mündet. Denn – so Geertz – ein Ethnologe, der sich auf erfahrungsnahe Begriffe beschränkt, verliert sich in einer Flut von Unmittelbarkeiten. Ein Ethnologe, der sich nur mit erfahrungsfernen Begriffen äussert, scheitert an Abstraktionen und verfällt dem Jargon (Geertz 1987, 291). Es braucht keine grand contraption,
sense und analytischen Begriffen. »Wir wollen doch gar nicht, dass die ›rationale Nachkonstruktion‹ eines Begriffs die gleiche Vagheit aufweist wie der voranalytische Begriff selbst. Bedenken wir allerdings, dass es nicht Wörter wie ›Spiel‹ sind, für die sich Wittgenstein eigentlich interessiert, sondern eben Wörter wie ›Bezugnahme‹, ›Sprache‹, ›Bedeutung‹, dann ändert sich die Lage völlig« (Putnam 1999, 26).
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1 Einleitung: Professionalisierung von Lehrpersonen durch Fallarbeit
sondern »... tableaus, anecdotes, parables, tales: mini-narratives with the narrator in them« (Geertz 1995, 65). Entscheidend für eine wirkungsvolle Repräsentation ist demnach, dass der Erzähler selbst in der Erzählung vorkommt, sei es als Held oder als schweigender Beobachter. 1.3.2 Erzählungen in der Geschichtswissenschaft Eine Affinität zur Literatur lässt sich auch bei Hayden White zeigen, der die Gemeinsamkeiten des wissenschaftlichen (bei ihm historischen) Diskurses mit dem literarischen Diskurs aufdecken will (1991b, 150). Zunächst betont White, dass – in Anlehnung an die Linguistik – die Unterscheidung von Prosa und Dichtung aufzugeben sei. Dies scheint mir insofern wichtig, weil nur dadurch die gemeinsamen Formen sprachlichen Verhaltens identifiziert werden können. Beide Formen konstituieren und spiegeln eine äussere Welt, sie präsentieren und repräsentieren Welt, weshalb eine Unterscheidung obsolet wird. Die Frage, ob Sprache lediglich als Vermittlerin von Bewusstsein und Welt auftritt oder beiden voraus geht, ist spätestens seit dem linguistic turn offen. Deshalb ist Dichtung in der Auffassung von White »nicht eine Tätigkeit, die über der Realität schwebt, sie transzendiert, oder in anderer Weise dem Leben oder der Realität entfremdet bleibt, sondern eine Form von Praxis, die als unmittelbare Grundlage aller kulturellen Tätigkeit [...] sogar der Wissenschaft selbst dient« (1991b, 150). Das Zurückversetzen des dichterischen Moments in seiner Profession der Geschichtsschreibung, führt White auf das krampfhafte Festhalten an vermeintlichen Fakten zurück. Der Fetisch des Begriffs der Tatsachen hat die Historiker zur Idee verführt, dass Fakten miteinander verbunden werden können, »ohne die Hilfe einer grundlegenden und von der Gattung her fiktionalen Matrix« (White 1991b, 150). White unterscheidet deshalb nicht zwischen der Wahrheit von Fakten der Wissenschaft und der Wahrheit der Fiktion in literarischen Texten. »Doch das Bild von Wirklichkeit, das der Romanautor so konstruiert, soll in seinen allgemeinen Zügen einem bestimmten Bereich menschlicher Erfahrung entsprechen, der nicht weniger ›real‹ ist als der, auf den sich der Historiker bezieht. Es handelt sich also nicht um einen Konflikt zwischen zwei Arten von Wahrheit (den die abendländische Voreingenommenheit zugunsten eines Empirismus als dem alleinigen Zugang zur Realität uns aufgebürdet hat), einen Konflikt zwischen der Wahrheit der Korrespondenz einerseits und der Wahrheit der Kohärenz andererseits« (White 1991b, 146)19. 19
Die Thesen, die hier von White vertreten werden sind in der Geschichtswissenschaft nicht unbestritten. Trotzdem teilen viele Vertreter der Disziplin seine Auffassung von Fakten und Fiktion: »Hayden White ist der Autor, der am wirkungsvollsten die Historiker für die sprachliche Verfasstheit ihrer Arbeit sensibilisiert hat, ohne allerdings den Objektivitätsanspruch der herkömmlichen Narrative zu stützen: White betont das fiktionale Element, das jeder Geschichtsschreibung eigne« (Conrad/Kessel 1994, 20).
1.3 Narrationen und Alltagspraxis
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Durch narrative Strukturen wird demnach so etwas wie Gemeinsamkeit zwischen Ereignissen hergestellt, die vielleicht weniger Objektivität, aber zumindest Intersubjektivität herstellt. Narrativität ermöglicht damit Intersubjektivität oder den Diskurs zwischen Subjekten. Der Historiker, so White, findet sein Material in Form von Ereignissen vor. Diese Ereignisse werden zunächst zeitlich geordnet, wie dies z.B. in historischen Chroniken gemacht wurde. Diese Chroniken werden zu Erzählungen transformiert, indem gewisse Ereignisse als Eröffnungsmotive, andere als Überleitungsmotive und wieder andere als Schlussmotive verwendet werden. Whites Gedankengang geht hier jedoch weiter. Die Form der Chronik beantwortet Fragen wie Was geschah als Nächstes?, die Form der Erzählung Fragen wie Warum handeln die Leute so? Die Frage nach dem Sinn der Erzählung bleibt nach White offen. Fragen wie Was soll das Ganze? werden demnach durch die Geschichte selbst nicht beantwortet. »Auch eine formal-strukturell wohlgebildete Geschichte bleibt pragmatisch defizitär, solange sie nicht auch eine Antwort auf die Frage ›Na und?‹ liefert. Der Sinn einer Geschichte ist nicht direkt aus ihrer Handlungsstruktur ableitbar« (Martinez/Scheffel 1999, 156). White nennt drei Möglichkeiten von historischen Erklärungen, um die Sinnfrage zu lösen: Erklärung durch die erzählende Gestaltung der Geschichte zur Handlung (emplotment), Erklärung durch formale Schlussfolgerung und Erklärung durch ideologische Implikation. Ich werde hier nur auf die Erklärung durch emplotment eingehen oder, wie es in der deutschen Übersetzung heisst, durch narrative Modellierung. »Als Erklärung durch Modellierung der Erzählstruktur (Handlung) bezeichne ich ein Verfahren, das einer Fabel [Geschichte, Anm. R.M.] dadurch ›Bedeutung‹ verleiht, dass sie die Art von Geschichte bestimmt, die erzählt worden ist« (1990, 21)20. Den Sinn einer Geschichte zu erkennen, bedeutet, sich der Form eines typischen Handlungsschemas (plot) bewusst zu werden. Das Handlungsschema gibt dem Text demnach nicht nur eine Struktur, sondern nach White auch einen Sinn. Demnach heisst eine Geschichte verstehen auch, sie unter ein archetypisches Handlungsschema (plot) subsumieren zu können. »Wenn der Leser die in einer historischen Narration erzählte Geschichte als eine spezifische GeschichtenGattung, z.B. als Epos, Romanze, Tragödie, Komödie, Farce etc. wieder erkennt, dann kann man sagen, dass er den vom Diskurs produzierten ›Sinn‹ verstanden hat. Dieses Verstehen ist nichts anderes als das Wiedererkennen der ›Form‹ der Erzählung« (White 1990, 60). Die narrative Struktur verleiht demnach einem Text Sinn. Der Text wird nicht nur durch seine inhaltlichen Aussagen verständlich, sondern auch durch seine Anordnung von Ereignissen und seiner Dramaturgie. Trotz dieser Hoffnungen auf die Möglichkeiten von Erzählungen dürfen die Erwartungen an Erzählungen nicht zu
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Die deutsche Übersetzung ist hier verwirrend, weil Kohlhas story einmal mit Geschichte, ein andermal mit Fabel übersetzt.
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1 Einleitung: Professionalisierung von Lehrpersonen durch Fallarbeit
hoch eingeschätzt werden. Denn auch die Sprache, sowohl die gesprochene als auch die geschriebene, zeigt Schwierigkeiten in der Darstellung von Wirklichkeit. Dies zeigt sich insbesondere bei schwierigen Themen. »Sosehr sich gesprochene und geschriebene Sprache in ihrem Auftreten unterscheiden, beide stehen vor der gleichen Herausforderung, etwas Wort bzw. Sprache werden zu lassen. Sosehr die geschriebene Sprache, zumal wenn sie Hoch- und Standardsprache ist, hinter der gesprochenen Sprache herhinkt, hinkt diese ihrerseits hinter der Wirklichkeit her. Das erleben wir mit aller Anschaulichkeit, wenn es gilt Erfahrungsbereiche sprachlich zu fassen, über die bisher im buchstäblichen Sinne nicht gesprochen wurde. Sei es ein Tabu wie die Sexualität zum Beispiel« (Loetscher 1999, 161). Die Begriffe Pädagogik oder Didaktik mögen von mir aus nicht mit einem Tabu behaftet sein wie die Sexualität, aber Lehrerinnen und Lehrer behandeln ihren Unterricht oft als Tabu, wenn es darum geht eigene Probleme darzustellen. Auch die Verbindung von wissenschaftlichen und literarischen Texten ist mit einem Tabu behaftet. Wenn ich hier auf die Literaturwissenschaft verweise und dadurch die schönen Künste ins Spiel bringe, könnte dies auch Abneigung auslösen. Eine Abneigung, wie sie dem zweiten Buch der Poesie von Aristoteles in Der Name der Rose begegnet ist. Sowohl von Geertz als auch von White werden Repräsentationen in der Form von Narrationen als mimetische Prozesse betrachtet, mit dem Anspruch, den Gegenstand nicht nur abzubilden, sondern auch auf seine Gestaltung Einfluss zu nehmen. Vielleicht liegt hier das Potenzial verborgen, den im Diskurs über die Fallarbeit immer wieder eingeklagten fehlenden Bezug zwischen den Praxen herzustellen. Oder Narrationen bilden eine mögliche Brücke zum fehlenden Lebensbezug des Sportunterrichts. Diese attraktiven Verbindungsmöglichkeiten sind allerdings nur spekulativ und beweisen lediglich die hohe Anziehungskraft von Erzählungen für viele der hier aufgeführten Autoren. 1.4 Vom Denken in Konzeptionen zum Denken in Beispielen Die übersichtsartige Darstellung der Narrations- und Alltagsdiskurse innerhalb und ausserhalb der Sportpädagogik hat gezeigt, dass in beiden Diskursen eine hohe Affinität zur Kasuistik und zu narrativen Repräsentationsformen vorhanden ist. Diese narrativen Zugänge belegen jedoch nicht, dass damit eine grössere Nähe zwischen Theorie und Praxis oder bessere Alltagsbezüge hergestellt werden können. Der Zusammenhang zwischen Praxis und Alltag auf der einen und Erzählungen auf der anderen Seite ist nicht a priori gegeben. Die Wirksamkeit von narrativen oder kasuistischen Darstellungsweisen kann nicht durch redundante Absichtserklärungen belegt werden. Trotzdem – dies konnte durch den kurzen Abriss der Diskurse nachgewiesen werden – gelten Narrationen sowohl als Gegenstand als auch als Methode immer wieder als Referenz zur Lösung der in den Diskursen behandelten Probleme. Dahinter steckt natürlich auch eine gewisse Portion Naivität, denn durch
1.4 Vom Denken in Konzeptionen zum Denken in Beispielen
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die Rückbesinnung auf das Besondere (den Fall) lässt man sich genau auf das ein, was Wissenschaft zu verlassen sucht. In diesem Sinne ist der narrative turn, wie er in verschiedenen Disziplinen formuliert worden ist, nicht als Antwort zu verstehen, sondern lediglich als Konzept, um die ausdifferenzierten Fragen beantworten zu können. Erzählungen bilden die Möglichkeit, eigene und fremde Erfahrungen in eine Form zu bringen, deren Anspruch auf Gewissheit näher im Einzelnen als im Allgemeinen liegt. Der Ausschluss von absoluter Gewissheit oder der Ersatz von Wahrheit durch die Suche nach Wahrheit darf aber nicht durch den Ausschluss von Empirie gleich gesetzt werden. Die in den sportdidaktischen Konzeptionen dargestellten Geschichten haben oft einen hohen empirischen Anspruch, sie wollen keine gewünschte Wirklichkeit abbilden, sondern zeigen Realität in der Form von Erzählungen. Ob diese Darstellungsform besser oder schlechter ist als andere Formen, lässt sich nicht grundsätzlich beantworten. Eine Wertung kann lediglich aufgrund der Absicht resp. der Performanz der dargestellten Daten erfolgen. Dass Erzählungen in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern eine hohe Performanz ausweisen, wird zwar immer wieder behauptet (Bastian/Helsper 2000, Combe/Kolbe 2004), belegt ist diese These jedoch nicht. Deshalb soll zunächst nur festgehalten werden, dass die Qualität empirischer Daten nicht von der Methode der Datenerhebung abhängt, sondern von ihrem Anspruch auf Repräsentativität. Dieser Massstab lässt vielleicht mit einer Analogie zu Susan Sontags (2003, 56) Unterscheidung von Gemälden und Fotografien verdeutlichen. Im englischen Sprachgebrauch existiert ein deutlicher Unterschied zwischen Zeichnungen und Gemälden, die gemacht sind und Fotografien, die aufgenommen werden. Erzählungen werden demnach eher gemacht, während quantitative Daten in Form von Zahlen eher aufgenommen werden. Kaum jemand formuliert daraus die Idee, dass es sich bei Gemälden nicht auch um Empirie oder bei Fotos um Fälschungen handeln kann. Der Vergleich will zeigen, dass der gutmütige Glaube an Zahlen oft übertrieben wird, während die Voreingenommenheit gegenüber Erzählungen – dass es sich keinesfalls um die Wirklichkeit handeln kann – gross ist. Die Fiktion steht nie jenseits des faktischen Geschehens. Sie ist auch ein realer Wirkfaktor. Unterrichtsgeschichten sind nebst ihrer empirischen Eingenommenheit auch immer Teil der Subjektivität des Erzählers. Der Erzähler ist somit Teil der Geschichte, auch in der Rolle des objektiven Beobachters. Denn als Forschender bestimmt er, welche Situationen zu Geschichten »verdichtet« werden und welche Situationen sich nicht lohnen, als Geschichte dargestellt zu werden. Der Forscher bestimmt Anfang und Ende der Erzählung. Die Beschreibung von Unterricht bedeutet deshalb nicht, ein Subsumieren unter bestehende Begriffe, sondern ein Verständnis für die Situation oder im weitesten Sinne ein Verstehen der Situation zu entwickeln. Dazu ist eine genaue, wenn nicht sogar akribische und trotzdem subjektive Beschreibung der Situation notwendig. Oder in der Doppeldeutigkeit des Be-
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griffs von Geertz: eine dichte Beschreibung. Die Allgemeinheit, die das Denken möglicherweise erreicht, »verdankt sich der Genauigkeit ihrer Einzelbeschreibungen, nicht dem Höhenflug ihrer Abstraktion«(Geertz 1987, 35). Das Verstehen steht deshalb in einem unmittelbaren Zusammenhang zur Beschreibung von Unterricht. Die Textform ist damit von entscheidender Bedeutung, wenn Unterricht untersucht und unter Umständen auch verändert werden soll. Unterricht zu verstehen heisst demnach, die Absichten der handelnden Personen zu erahnen, die Folgen ihres Handelns zu deuten, jedoch nicht zwingende Kausalitäten herzustellen. »Als sei noch von einer Art Naturwissenschaft menschlichen Verhaltens auszugehen, gewissermassen vom zu konditionierenden Pawlowschen Hund, wird im Bereich des schulischen Unterrichts noch nach dem Modell kalkulierbaren und in seinen Wirkungen berechenbaren Planens verfahren – und dabei die hermeneutisch-kommunikative Logik pädagogischen Handelns verfehlt« (Combe/Helsper 1994, 24). Wer über Unterricht erzählt, will demnach einen Sinn für das Handeln der beteiligten Personen finden und weniger Erklärungen von Verhaltensweisen. Die Sinneinheit kann in Geschichten gesucht werden, die im Kleinen Zusammenhänge zwischen den Beteiligten herzustellen versuchen. Verstehen kann somit als ein hermeneutisch-kreativer Prozess verstanden werden, der sich nicht ausschliesslich auf Handlungen von Lehrpersonen beschränkt, sondern auch Handlungen von Schülerinnen und Schüler einbezieht, kurz, alle Beteiligten in der Wahrnehmung berücksichtigt. Verständlich wird Didaktik damit in kleinen Ausschnitten, die als Geschichten deutbar werden. Konsequenterweise wird in narrativen Konzepten nicht in grossen Entwürfen Sinn gesucht, sondern in überblickbaren Schauplätzen, in didaktischen Geschichten. »Und es sind eben Erzählungen und narrative Interpretationen, auf die die Alltagspsychologie angewiesen ist, um diesen Sinn herzustellen« (Bruner 1997, 68). Trotzdem weisen die im Kontext der Fallarbeit dargestellten Methoden und die hier andeutungsweise dargestellte Wende hin zum Alltag und zur Narration auf einen Paradigmenwechsel hin. Ein Paradigmenwechsel, der sich treffend im Spannungsfeld zwischen Fall und Beispiel (Ehni 2002, 15) festhalten lässt. Hinter diesen beiden harmlosen Begriffen versteckt sich der klassische Professionsmythos des Theorie-Praxisbezugs, den Scherler bereits 1983 als zentrale Fragestellung einer exemplarischen Unterrichtslehre dargestellt hatte. »Und wie kann es – gerade in der wissenschaftlichen Phase der Lehrerausbildung – gelingen, das allseits beklagte Neben- und Gegeneinander von Theorie und Praxis des Unterrichtens zu überwinden?« (Scherler 1983, 52). Zwischen Fall und Beispiel, und dies soll die zu Beginn dargestellte Diskussion um die Fallarbeit aufzeigen, liegt ein Spannungsverhältnis, das nicht nur auf unterschiedliche Textsorten, sondern viel grundsätzlicher auf unterschiedliche Denkformen hinweist. Die Darstellung der disziplinären Diskurse zeigt insbesondere am Beispiel der Fallarbeit den Wechsel vom Denken in Konzeptionen zum Denken in Beispielen. Während eine traditionelle Form der Kasuistik hauptsäch-
1.4 Vom Denken in Konzeptionen zum Denken in Beispielen
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lich um eine Veranschaulichung durch Fälle bemüht war, orientierte sie sich – trotz der narrativen Darstellungsweise – grundsätzlich an Konzeptionen. Dieses Denken in der Konstruktion der Konzeptionen der Didaktiker verlangte ein gleichartiges Denkprinzip in der Rezeption der Konzeptionen durch die Leser oder Lehrer. Diesem Denken in Konzeptionen steht ein Denken in Beispielen gegenüber, das Interpretationsmöglichkeiten offen lässt. Das Denken und die damit verbundenen Ordnungsweisen orientieren sich nicht nur an veranschaulichenden Musterfällen und damit an den dahinter liegenden Konzepten, sondern auch – und wahrscheinlich wesentlicher – an subjektiven und kontingenten Beispielen. Diese unterschiedlichen Denkformen, die von Bruner als paradigmatisch und narrativ bezeichnet werden, verdeutlichen unterschiedliche Systeme, um Erfahrungen zu ordnen. «There are two modes of cognitive functioning, two modes of thought, each provides distinctiv ways of ordering experience, of constructing reality. The two (though complementary) are irreducible to one another» (Bruner 1986, 11). Erfahrung wird deshalb im Kontrast zur akademischen Wahrnehmung nicht nur in paradigmatischen Strukturen geordnet, sondern ebenfalls in narrativen und damit subjektiven Strukturen. Vielleicht liegt in dieser Differenz der Denkmodi und Ordnungsweisen von Erfahrung die Chance verborgen, Anschlüsse zwischen Theorie und Praxis herzustellen, die nicht von der falschen Idee des linearen Transfers von wissenschaftlichem Wissen in berufliches Können ausgeht. Vielleicht liegt in dieser Differenz aber auch die Chance, die naive Vorstellung zu überwinden, dass Fallarbeit a priori zu einem besseren Verhältnis der unterschiedlichen Praxen und Wissensformen in der Lehrerbildung verhelfen kann. Nur weil beide Praxen mit der gleichen Textsorte arbeiten, muss sich der erhoffte Zusammenhang im Denken der Forscher und Praktiker nicht von vornherein einstellen. In diesem Sinn möchte ich den Anspruch von Scherler/Schierz an die Forschung konsequent weiterverfolgen und darzustellen versuchen, inwiefern Unterrichtsbeschreibungen oder Fälle in der Ausbildung von Lehrpersonen wirksam werden können. Von Schulentwicklungsforschung mit ihrer starken Neigung zu ethnografischen Forschungszugängen kann man lernen, inwiefern der Zugang zu Narrationen des Alltags zu finden ist. Die Ethnographie hat seit ihrem Wechsel von einer kulturanthropologischen zu einer sozialwissenschaftlichen Perspektive als methodisches Instrument für die Sportwissenschaft allgemein und für die Sportpädagogik im Speziellen an Attraktivität gewonnen. Nicht selten enden derartige Untersuchungen in der Form von Geschichten, womit auch sportpädagogische Anknüpfungen möglich sind. Ich möchte diesen einleitenden Teil abschliessen, indem ich die Fragen der Untersuchung zusammenfassend präzisiere. Zudem nutze ich die Gelegenheit, um im Detail auf die Gliederung der Arbeit hinzuweisen. In einem ersten analytischen Teil werde ich die Differenz beschreiben, die in Anschluss an die Diskussion um die Fallarbeit erläutert worden ist. Diese Differenz
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ist eine doppelte: Einerseits zeigt sich die Differenz in der Textsorte, die grundsätzlich als narrativ bezeichnet wird. Andererseits zeigt sich diese Differenz auch in der erwähnten Differenz des Denkens und der Ordnungsweise von Erfahrung. In der Untersuchung gilt es deshalb vorerst analytisch und formal zu klären, inwiefern sich Erzählungen in der Didaktik als Repräsentationsformen auszeichnen: Welche Konstitutive lassen sich festlegen, damit in narrativen Texten didaktische Wirklichkeit dargestellt werden kann? Wie gestalten sich narrative didaktische Darstellungen in Bezug auf die Zeitstruktur und in Bezug auf den Erzähler? Gibt es Strukturelemente, die für didaktische narrative Konstrukte zwingend und solche, die nicht notwendig sind? (Kapitel 2). In einem nächsten Schritt werden die von Bruner (1985) ausdifferenzierten Denkformen analysiert und auf die Möglichkeit untersucht, Erfahrungen zu ordnen: Wie lässt sich Bruners Konzeption auf einen didaktischen Kontext übertragen? Wie wirken die beiden Denkmodi in der idealtypischen Unterscheidung? Wie äussern sich diese mentalen Unterschiede in Bezug auf die Ordnungsweise von Erfahrung? (Kapitel 3). Indem in einem ersten Schritt die Strukturdifferenz sowohl in Bezug auf die Textform als auch in Bezug auf die Denkform beschrieben worden ist, gilt es in einem nächsten Teil die Differenz empirisch zu erheben. Dieser Teil wird durch eine Darstellung der Methode und eine Eingrenzung der Fragestellung für die empirische Untersuchung eingeleitet. Eine empirische Untersuchung der Denkformen soll zeigen, inwiefern sich die idealtypischen Unterscheidungen von Bruner im Denken und Erzählen von Lehrerinnen und Lehrern belegen lassen: Wie äussern sich die Denkformen in Reflexionen über Unterricht? Wie unterscheiden sich die beiden Denkmodi in Bezug auf Handlungen und Interpretationen? Wie lassen sich die empirisch differenzierten Denkmodi auf unterschiedliche Textsorten übertragen? (Kapitel 4). Im Anschluss an diese empirische Erhebung soll eine narrative Textanalyse in Erfahrung bringen, wie sich die sowohl empirisch als auch analytisch differenzierten Denkformen auf Texte der Didaktik übertragen lassen. An ausgewählten theoretischen Texten der Sportdidaktik, welche sich Narrationen bedienen, soll untersucht werden, welche Beispiele einem narrativen und welche einem paradigmatischen Denkmuster folgen (Kapitel 5). Der Vergleich der empirischen Erkenntnisse und der Auslegungen der narrativen Vergleichsanalyse soll abschliessend die Differenz im Denken von Lehrern und Didaktikern aufzeigen: Wie unterscheiden sich die Erzähl- und Denkmodi der Didaktiker von den Erzähl- und Denkmodi der in der Praxis handelnden Lehrpersonen? Inwiefern unterscheiden sich ihre Ordnungsstrukturen der Erfahrung? Anschliessend an diese Fragen lässt sich die Differenz diskutieren und der anfänglich dargestellte Theorie-Praxisdiskurs wieder aufgreifen. In diesem Sinn soll das Fazit sowohl die Folgen der Erkenntnisse der Untersuchung für den TheoriePraxisdiskurs als auch ansatzweise für die Lehrerbildung formulieren.
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Damit sind die Fragen der Untersuchung formuliert, aber noch ist keine Eingrenzung auf einen Gegenstand gegeben, noch die Zuordnung auf eine Disziplin konkretisiert, noch die Verwendungspraxis der zentralen Begriffe erläutert worden. Zunächst zur Begriffsdeutung, wie die Disziplin Pädagogik und ihre verwandten Begriffe in der folgenden Analyse verwendet werden. Die pragmatische Theorie definiert Begriffe durch ihren Gebrauch. Für James soll die pragmatische Methode versuchen, Begriffe zu deuten, indem sie ihre jeweiligen praktischen Konsequenzen verfolgt (2001, 68). Ich werde mich an diesen Lösungsvorschlag halten, indem ich vom Gebrauch der Begriffe Gebrauch mache. Damit löse ich – zumindest für die hier vorliegende Untersuchung – auch das Problem der Differenz von Pädagogik und Didaktik. In einem schulischen Kontext wird eher von didaktischem Handeln gesprochen, in einem familiären Kontext eher von pädagogischem Handeln. Dabei unterscheidet sich das Handeln des Vaters, der seiner Tochter die Hausaufgaben erklärt, kaum vom Handeln der Lehrerin, die die Hausaufgabe einem Schüler erklärt. Oder ein weiteres Beispiel: Die Trainerin mahnt ihre Spielerinnen zu mehr Fairness. Geschieht dies aus einer pädagogischen Absicht oder will sie im Spiel lediglich rote Karten vermeiden? Die Beispiele zeigen, dass eine klare Differenzierung aus dem Gebrauch heraus kaum möglich ist, weshalb ich diese beiden zentralen Begriffe oft synonym verwenden werde. Wenn ich den Begriff der Didaktik bevorzugt verwende, so lässt sich dies ebenfalls pragmatisch erklären. Als didaktische Handlungen werden solche bezeichnet, die sich in ihren Folgen mehrheitlich auf Unterricht beziehen. Pädagogisch lassen sich Handlungen bezeichnen, deren Wirkungen oft diffus und in nicht absehbarer Zukunft liegen (z.B. Mündigkeit, Verantwortungsbewusstsein). Die vorliegende Untersuchung verfolgt aber einen explizit performativen Anspruch. Die Folgen pädagogischer Handlungen lassen sich nur selten nachverfolgen, weshalb sie für die Ansprüche der Untersuchung zu unsicher bleiben. Die Referenz von didaktischen Handlungen liegt demgegenüber in einer unmittelbaren Zukunft. Damit werden professionelle Handlungsstrukturen angesprochen, die ich im Folgenden von pädagogischen Glaubenssätzen deutlich unterscheiden möchte. Eine Untersuchung in der Pädagogik oder Didaktik bleibt demnach in Bezug auf ihren Gegenstand immer unvollständig. Ich verwende deshalb einen semiotischen Begriff von Didaktik. Eine deutende Didaktik als eine Wissenschaft, deren Fortschritt sich weniger in einem grösseren Konsens zeigt, sondern mehr »in immer ausgefeilteren Debatten. Was sich entwickelt, ist die Präzision, mit der wir einander ärgern« (Geertz 1987, 42; mit Bezug auf die Ethnologie). Didaktik wird damit zu einer darstellenden und deutenden Wissenschaft, die gleichzeitig in einem hohen Masse auf den Diskurs angewiesen ist. Die dargestellte Verwendung der Begriffe antwortet noch nicht auf die Frage der Zuordnung der Untersuchung zu einer Wissenschaftsdisziplin. Aufgrund der unterschiedlichen Zugänge wird klar, dass sich die vorliegende Untersuchung
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schwer in eine Wissenschaftsdisziplin einordnen lässt. Der theoretische Zugang mit den geäusserten grundsätzlichen pädagogischen Problemen weist auf eine pädagogische, in einem engeren Sinne auf eine didaktische Zuordnung hin. Ein empirischer Zugang hingegen zeigt deutlich auf die Sportpädagogik und Sportwissenschaft. Wahrscheinlich ist eine Trennung in Bezug auf die komplexe Fragestellung ohnehin nicht möglich. Die Fragen werden pädagogisch gestellt und sportdidaktisch beantwortet. Dahinter steckt die Überzeugung, dass Beispiele als solche nicht von einer Allgemeinen Didaktik oder gar Pädagogik formuliert werden können. Der Bedarf nach konkreten Situationen weist immer auf ein einzelnes Unterrichtsfach hin. Dass die Wahl in der Regel auf sportdidaktische Situationen fällt, hat aber auch mit dem speziellen Zeigecharakter von Sport zu tun. Damit will ich dem Sportunterricht keinesfalls eine bevorzugte Stellung einräumen, aber in einer Untersuchung über das Zeigen lässt sich an einem sich offen präsentierenden Fach besser zeigen, was gesagt werden will. Trotzdem könnte die Untersuchung resp. ihre Erkenntnisse wohl ohne Weiteres auch auf andere Praxisfelder des Unterrichtens und Erziehens übertragen werden. Ich denke hier insbesondere an das Training in Vereinen oder an die Ausbildungspraxis in unterschiedlichen Professionen. Die Einschränkung auf Unterricht in der Schule erfolgte lediglich aufgrund des empirischen Materials. Mit dem hier von verschiedenen Disziplinen geforderten und diskutierten narrativen Zugang zum Untersuchungsgegenstand werden Geschichten zur bevorzugten Form der Datenerhebung und zugleich der Darstellung (vgl. Bromme 1995, 113). Trotz der hohen Affinität zu narrativen und kasuistischen Forschungskonstrukten gilt es diese »Doppelbelastung« für die vorliegende Untersuchung zu beachten. Insbesondere dann, wenn Geschichten sowohl Gegenstand der Untersuchung als auch Darstellungsform der Erkenntnisse sind. Dieser letzte Einwand gegen Narrationen als Repräsentationsform von Alltag zeigt, dass kasuistische Texte oder Erzählungen nicht nur als mögliche Lösungen für die dargestellten Probleme auftreten, sondern auch das Problem selbst darstellen. Danach stellt sich in Bezug auf Narrationen immer die Frage: Stellen sie bereits die Lösung dar oder sind sie vielmehr Teil des Problems?
2
Narrative Textformen Unterricht
als
Repräsentationsweisen
von
Die ausführliche Referenz auf Vertreter der Ethnologie und Geschichtswissenschaft, aber auch der Literatur und Poesie sollte aufzeigen, dass die Form von Erzählungen ebenso von Bedeutung ist wie deren Inhalt. Im Folgenden soll deshalb die Form von didaktischen Erzählungen analysiert werden. Auch wenn sich diese Analyse in weiten Teilen allgemeiner Erzähltheorien bedient, differenzieren sich didaktische Texte durch ihnen eigene Merkmale aus. Bruner spricht in diesem Zusammenhang von einer narrative grammar (2002, 33). Man könnte die folgende Analyse entsprechend als Versuch bezeichnen, eine narrative grammar für didaktische Texte oder Unterrichtsgeschichten zu formulieren. Wenn es stimmt, dass die Form von Beschreibungen nicht nur eine ästhetische Bedeutung21, sondern auch eine Bedeutung für Denk- und Lernprozesse hat, dann muss sich der Professionalisierungsdiskurs der Lehrerbildung auch mit Fragen der Form auseinandersetzen. Dass sich der Alltagsdiskurs immer wieder narrativer textueller Strukturen bedient, habe ich zu erläutern versucht. Im Folgenden soll deshalb die Frage nach dem Wie erläutert werden. Wie unterscheiden sich didaktische Narrationen von anderen Narrationen oder wie gestalten sich explizit narrative Texte? Dabei geht es mir im Speziellen um Texte, die Unterricht abbilden und in der Lehre und Forschung des Lehrens Verwendung finden. Ausgeschlossen werden dadurch narrative Texte, die beim Unterrichten selbst eingesetzt werden. Demnach stellt sich die Frage der Form insbesondere für die Repräsentation von Unterricht. Oder anders gefragt: Wie müssen didaktische Repräsentationen gestaltet sein, damit sie den Alltag, respektive die Wirklichkeit »repräsentativ« abbilden? Putnam bringt in diesem Zusammenhang die Metapher des Plätzchenausstechers ins Spiel. »Danach steht der Teig für die Dinge, die unabhängig sind von allen begrifflichen Entscheidungen, während die Gestalt des Plätzchenausstechers für unseren begrifflichen Beitrag steht« (Putnam 1999, 200). Übertragen auf die hier wesentlichen Begriffe Alltag, Wirklichkeit und Unterricht bedeutet dies, dass lediglich die entsprechenden Plätzchenausstecher gewählt werden müssten, um diese (ausgewählte) Welt darzustellen. Für Putnam22 greift die Metapher der Plätzchenausstecher allerdings 21 22
Zumindest behauptet dies Hayden White für die Geschichtsschreibung (1990). Die Frage, ob dies auch für die Pädagogik zutrifft, soll ansatzweise in der vorliegenden Untersuchung beantwortet werden. Auch wenn sich Putnam selbst nicht als Pragmatist bezeichnet, steht er hier in einer pragmatischen Tradition, indem er diese Metapher zurückweist. Putnam bezeichnet sich selbst nicht als Neopragmatist, wird aber von anderen zusammen mit Richard Rorty oft als führender Neopragmatist
R. Messmer, Ordnungen der Alltagserfahrung, DOI 10.1007/978-3-531-92782-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht
zu kurz, weil sie das Phänomen der Begriffsrelativität leugnet, statt es zu erklären. »Was die Metapher des Plätzchenausstechers zu bewahren versucht, ist die naive Vorstellung, dass wenigstens eine Kategorie – und zwar die antike Kategorie des Gegenstandes oder der Substanz – absolut zu interpretieren ist« (ebd., 201). Repräsentation ist demnach nicht durch blosse sprachliche Wiedergabe, respektive durch eine sprachliche Etikettierung möglich. Der Diskurs um die Plätzchenmetapher zeigt, wie kritisch der Formbegriff in Bezug auf Repräsentationen von Wirklichkeit verwendet werden muss. Ohne hier in ein philosophisches Wespennest treten zu wollen, muss trotzdem der Zusammenhang von Signifikant und Signifikat erläutert werden, wenn im Folgenden zentral von einer Repräsentationsform die Rede sein soll. Putnam kritisiert mit seiner Metapher explizit Wittgenstein, der eine solche Position vertritt, die zwischen einem common sense und analytischen Begriffen unterscheidet. »Wir wollen doch gar nicht, dass die ›rationale Nachkonstruktion‹ eines Begriffs die gleiche Vagheit aufweist wie der voranalytische Begriff selbst. Bedenken wir allerdings, dass es nicht Wörter wie ›Spiel‹ sind, für die sich Wittgenstein eigentlich interessiert, sondern eben Wörter wie ›Bezugnahme‹, ›Sprache‹, ›Bedeutung‹, dann ändert sich die Lage völlig« (Putnam 1999, 26). Hier, so stellt Putnam fest, sind die klassischen philosophischen Vorstellungen überfordert, gerade weil sie die Möglichkeit der Porosität der Bezugnahme nicht ernst nehmen. Mit diesem weiteren Begriff von Begriff wendet sich Putnam gegen das aristotelische Bild von Bedeutung, oder von Repräsentation. Sobald wir ein Zeichen (oder Wort) verstehen, verknüpfen wir es nach diesem Schema mit einem Begriff, und dieser Begriff bestimmt, worauf sich das Wort bezieht. Dieses Modell behauptet, dass es sich hier um eine Bedeutungsgleichheit, um eine Identität der Repräsentationen handelt. Zeichen und mentales Abbild können aber nicht identisch sein, was sich später am Begriffspaar Text und Geschichte noch besser zeigen lässt. Putnam ersetzt Begriff (d.h. den Vorgang, der im Geist ausgelöst wird, wenn man den Begriff liest) durch mentale Repräsentation und öffnet damit die Möglichkeit, Bedeutung weiter zu fassen. «Sicher stützen sich die kalkülmässigen Modelle des Geist/Gehirn weitgehend auf die Vorstellung der Verarbeitung von Repräsentationen, doch zu bedenken ist, dass sich die aristotelische Bedeutungstheorie, über die wir seit über zweit Jahrtausenden nicht hinausgekommen sind, nicht mit der Behauptung bescheidet, dass wir mit Hilfe von mentalen Repräsentationen denken» (Putnam 1999, 54). Zeichen und Bedeutung sind aber nicht identisch, weshalb sich mentale Repräsentationen immer auf der Ebene der Zeichen bewegen. Repräsentation erhält damit einen fiktionalen und intentionalen Aspekt. Repräsentation steht
bezeichnet (Raters; Willaschek 2002, 9). Putnams Kritik gilt dabei vor allem den -ismen, weil diese das philosophische Denken einengen.
2.1 Narrative Texte als ganze Erzählungen
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nicht für Abbild oder Mimesis, sondern vielmehr für eine vom denkenden Subjekt ausgelöste Absicht. Inzwischen sollte das Misstrauen offensichtlich geworden sein, dass sich das Denken zwar der Repräsentationsform Sprache bedient, aber nicht mit dieser identisch ist. «Aber keine der uns bekannten Repräsentationsmethoden – Sprechen, Schreiben, Malen, Meisseln usw. – hat die magische Eigenschaft, dass es dabei keine verschiedenen Repräsentationen mit derselben Bedeutung geben kann» (Putnam 1999, 56). Die Beziehung zwischen Bezugsgegenstand und Repräsentation kann nicht inhärent sein und keine dieser Repräsentationsformen kann sich von sich aus auf etwas beziehen, auf das sie im Gebrauch tatsächlich Bezug nehmen. Ich betone dies deshalb so vehement, weil damit die Wahl der Repräsentationsform nicht durch den Bezugsgegenstand gegeben ist, sondern durch deren Gebrauch. Die folgende Analyse der Form von didaktischen Erzählungen gliedert sich in drei Teile: Zunächst werde ich darzustellen versuchen, dass sich narrative Texte23 als ganze Erzählungen auszeichnen (2.1). In einem zweiten Teil werde ich näher auf den zeitlichen Aspekt von didaktischen und narrativen Texten eingehen (2.2). Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal von didaktischen Texten zu »gewöhnlichen« Erzählungen besteht in den offen oder versteckt formulierten Absichten des Autors. Dieser Aspekt soll in einem dritten Teil analysiert werden (2.3). Abschliessend sollen die drei ausdifferenzierten Merkmale einer didaktischen Erzählung in einem Modell zusammengefasst werden (2.4). 2.1 Narrative Texte als ganze Erzählungen Um von einer Erzählung oder einer narrativen Sequenz sprechen zu können, müssen nach Bruner (1997, 67 mit Bezug auf Burke) fünf Elemente vorhanden sein und dargestellt werden: Akteur, Ort, Instrumente, Handlung und Ziel. Er spricht deshalb von einer Pentade (ebd., 94), die als Ganzes eine Erzählung ausmacht. Auch Eco (mit Bezug auf van Dijk, 1998, 135) spricht von einem Zusammenspiel von Requisiten, die eine gute Erzählung bilden. Seine Requisiten sind den Elementen von Bruner sehr ähnlich: Agenten, Zustand (mögliche Welt), Bewegung, geistige Zustände, Gefühle, Umfelder. Für die hier zur Diskussion stehenden didaktischen Texte, könnte man Bruners Elemente Ort und Instrumente zur Komponente Kontext zusammenfassen. Die Komponente, die Eco mit Agenten und Bruner mit Akteur beschreibt, könnte man als Personen bezeichnen. Ebenfalls von Bruner kann man die Komponente Handlung übernehmen, die sich bei Eco am ehesten in der Bewegung ausdrückt. Aus Handlungen ergeben sich Folgen, die so als Komponente neu formuliert werden. Ein didaktischer Text besteht demnach aus Handlung, Personen, Kontext und Folgen. Werden alle diese Komponenten zu einer Erzählung zu-
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Wenn ich im Folgenden von narrativen Texten oder Erzählungen spreche, sind damit immer auch (narrative) didaktische Texte gemeint.
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2 Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht
sammengefügt, so kann von einer Wiedergabe einer besonderen Sequenz als Ganzes gesprochen werden. Ein didaktischer Text muss demnach alle diese Requisiten oder Elemente aufnehmen, um etwas Ganzes darstellen zu können. Hier wird der Versuch unternommen, im Kleinen Sinn zu schaffen, was im Grossen nicht möglich ist. Didaktische Texte versuchen, im Kleinen – in einer abgeschlossenen Einheit – Ordnung und Sinnbezüge herzustellen. Damit unterscheidet sich eine Erzählung von Unterrichtsnotizen. Die einzelnen Komponenten werden zusammengefügt und Zusammenhänge dargestellt. Während man bei Unterrichtsnotizen von einem Sampler sprechen könnte, handelt es sich bei narrativen Texten um eine Ouvertüre. Sie bilden für sich genommen bereits eine Sinneinheit und öffnen die Augen für Neues. Diese Komposition zu einem Ganzen ist notwendig, damit innerhalb dieser Ordnung Widersprüche dargestellt werden können. Durch Widersprüche wird aus einer einfachen Schilderung ein narrativer Text. Diese Widersprüche ergeben sich aus dem Text selbst oder zwischen den einzelnen Komponenten. Sie können erst aufgedeckt werden, wenn sich die Komponenten zu einer Komposition zusammenfügen. Erzählungen schaffen demnach Sinn – oder Verständnis – trotz der im Kleinen dargestellten Widersprüche. Sie versuchen, in kleinen Stücken darzustellen, was in der Komplexität des Alltags nicht dargestellt werden kann. Zu den Komponenten im Einzelnen: 2.1.1 Handlungen Jede Erzählung besteht aus einem Anfang einer Situation, einer Entwicklung oder Veränderung und einem Ende. Damit repräsentiert sie in Worten, was empirisch als Handlung bezeichnet wird. Werden lediglich einzelne Begebenheiten beschrieben, ohne die Veränderungen darzustellen, kann dies nicht als narrativer Text bezeichnet werden. Diese Veränderungen sind wiederum mit Tätigkeiten anderer Menschen verknüpft. Unterrichten und Lehren sind Handlungen, die immer Interaktionen enthalten. Unterricht ist demnach ein komplexes Phänomen, das aus zahlreichen Neben- und Hilfshandlungen besteht. Die Kunst der Dokumentation didaktischer Geschichten liegt darin, aus diesen zahlreichen Handlungen die wesentlichen auszuwählen, sich auf einzelne zu konzentrieren und andere Handlungen weiteren Interpretationen zu überlassen. Hinter diesen Veränderungen steht die Absicht, das Verhalten anderer zu beeinflussen. Lehren geschieht in diesem Sinne also immer absichtsvoll. »Man kann lehren, ohne Erfolg zu haben, aber man kann nicht lehren, ohne es zu intendieren« (Oelkers 1985, 211). Auch wenn die Schüler etwas ganz anderes oder gar nichts lernen, stehen hinter den Handlungen der Lehrpersonen Lernziele, die sie mit den Schülern erreichen wollen. Selbst dann, wenn diese nicht ausdrücklich formuliert werden, leiten die Absichten der Lehrperson das Handeln im Unterricht. Damit unterscheidet sich Lehren auch fundamental von Lernen. Man
2.1 Narrative Texte als ganze Erzählungen
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spricht auch dann von Unterrichten oder Lehren, wenn die Lernenden nicht oder zumindest nicht im Sinne der Absicht auf diese Handlung reagieren. Von Lernen spricht man hingegen erst, wenn jemand etwas gelernt hat. Lehren bezeichnet deshalb eine Aktivität, während Lernen einen Erfolg bedingt. Diese Unterscheidung ist deshalb von Bedeutung, weil Lehrende zwar immer absichtsvoll handeln, aber nie davon ausgehen können, dass diese Absichten Erfolg haben. Für Lehrpersonen oder andere Beobachter ist es oft schwer ersichtlich, ob Schüler das Lehrziel im Sinne der Absicht erreicht haben oder nicht. Für einen Beobachter von fremdem Unterricht ist es meist auch nicht ersichtlich, worin die Intentionen der Lehrperson bestehen. Selbst wenn die Lehrperson im Anschluss an den Unterricht nach ihren Handlungszielen befragt wird, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese den ursprünglichen Intentionen entsprechen. Meist werden nachträglich mehr Rechtfertigungen als die ursprünglichen Intentionen für das Handeln geäussert. Bei der Dokumentation von Unterricht können meist nur die Folgen des Lehrerhandelns festgehalten werden, auf die später noch speziell eingegangen wird. In der Dokumentation von didaktischen Geschichten können Handlungen als Veränderungen von Zuständen dargestellt werden. Es werden nicht gegenwärtige oder vergangene Zustände, sondern mehrere Zustände beschrieben. Die Darstellung der Aktivitäten, der Sprechhandlungen und eventuell auch der Handlungsabsichten muss einem Leser die Möglichkeit geben, sich in die Situation zu versetzen. Leser müssen die beobachtete Handlung mit eigenen oder anderen beobachteten Handlungen vergleichen können. Je genauer eine solche Handlung beschrieben wird, desto eher ist ein solches Miterleben möglich. Attribute erhöhen auch hier die Verständlichkeit und das Potenzial, Unterricht miterleben zu können. Z.B. kann man sich unter der Beschreibung die Lehrerin verlässt das Klassenzimmer ganz Unterschiedliches vorstellen. Verlässt die Lehrerin den Raum im Zorn, geräuschlos, ohne die Kinder zu stören oder wurde sie nach draussen gerufen? Alle diese Attribute verändern die Handlung und geben etwas über eine mögliche Handlungsabsicht preis. Der kritische Leser könnte hier einwenden, dass diese Attribute die reale Situation verfälschen. Dem müsste man zustimmen, wenn in didaktischen Darstellungen eine juristische Genauigkeit angestrebt werden soll. Didaktische Texte haben allerdings eine andere Absicht, hier geht es in der Regel um die lebendige Nacherzählung einer realen Situation. Damit wird bewusst in Kauf genommen, dass die Beschreibung z.T. fiktiv wird. Innerhalb der Komponente Handlungen können Widersprüche auftreten, wenn die Veränderungen nicht dem beabsichtigten oder erwarteten Handlungsablauf entsprechen oder wenn einzelne Handlungen nicht zu anderen Handlungen passen und sich gegenseitig widersprechen. So können die Erwartungen der Lehrperson z.B. den Handlungen der Schüler widersprechen. Aber dies kann auch die Konsequenz des Lehrerhandelns sein, das vielleicht in sich gesehen widersprüchlich ist. Um dies beurteilen zu können, müssen Handlungen präzis formuliert werden. Ohne
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2 Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht
diese Präzisierungen verbleiben narrative Texte in ihrem Status als Unterrichtsnotizen und es besteht wenig Möglichkeit, didaktisches Denken auszulösen. 2.1.2 Personen Bei Unterricht handelt es sich in der Regel um eine Interaktion zwischen verschiedenen Menschen, deren Rollen und Funktionen nicht immer klar gegeben sind. Meist sind die Lehrenden identisch mit den Lehrperson, die Lernenden mit den Schülern. Dies muss aber nicht zwingend so sein und entspricht keinesfalls einem Ideal. In Gruppenarbeiten, in Gruppenpuzzles und anderen Methoden des Tutoring wechseln Lehrer und Schüler ihre Rollen. Solange die beteiligten Personen und ihre Funktionen klar beschrieben werden, ist dieser Rollenwechsel, didaktisch gesehen, bedeutungslos. Unterrichtsbeschreibungen müssen allerdings nicht zwangsweise Interaktionen zwischen einem Lehrenden und einer Gruppe Lernender darstellen. So können z.B. bei Feldbeobachtungen eines einzelnen Schülers unter Umständen nur Handlungen dieses einen Schülers beschrieben sein. Das Lernverhalten des Schülers und seine Reaktionen auf eine Aufgabenstellung finden innerhalb einer Interaktion statt. Für die Repräsentation in einem didaktischen Text kann es von Vorteil sein, nur seine individuelle Lerngeschichte abzubilden. In Bezug auf die Personen stellt sich die Frage, welche Komponente nun in der Darstellung einer didaktischen Situation leitend ist. Soll man sich bei der Entwicklung eines Textes mehr auf die Personen oder mehr auf ihre Handlungen konzentrieren? Für Patricia Highsmith gibt es auf diese Frage keine Antwort. »Ich habe mich immer auf eins von beiden oder auch auf beide konzentriert. Natürlich wird manchmal eine Person voller Schrullen den Plot durch eben diese Schrullen in Gang setzen. In anderen Situationen liegt es auf der Hand, dass eine ungewöhnliche Situation zu einer weiteren ungewöhnlichen Situation führen muss – das heisst also ein Fortschritt in der Handlung, und dann sind die Charaktere nicht so wichtig für den Verlauf des Plots« (Highsmith 1990, 40). Ich denke, dass insbesondere der Sportunterricht nicht nur schrullige Personen hervorbringt, sondern ebenso ungewöhnliche Situationen. Worauf in einem didaktischen Text die Aufmerksamkeit des Lesers gelenkt wird, hängt letztlich vom Zeigeinteresse des Erzählers ab. 2.1.3 Kontext Mit der Komponente Kontext werden Bruners Elemente Ort und Instrumente (1997, 67) zusammengefasst. Bei Unterrichtssituationen können Instrumente nicht immer vom Ort, an welchem sie eingesetzt werden, differenziert werden. In dieser Komponente werden deshalb so unterschiedliche Aspekte wie Material, Arbeitsinstrumente, Lehrmittel, Medien, Ort, Platz, Raum sowie Sozial- und Unterrichtsformen eingebunden. In der Regel ist der Kontext von Unterricht starr gegeben. Un-
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terricht findet in Klassenzimmern oder Spezialräumen statt, die sich erstaunlicherweise auf der ganzen Welt ähneln. Das gilt auch für die Arbeitsinstrumente: Es gibt kaum ein Klassenzimmer, in dem man nicht eine Tafel, Kreiden und einen Schwamm findet. Selbst die Spezialräume weisen bei einer näheren Betrachtung eine sehr ähnliche Ausstattung auf. So sind Sporthallen aufgrund ihrer Zweckgebundenheit meist normiert, d.h. sie haben bestimmte Mindestmasse, damit gewisse Sportspiele überhaupt gespielt werden können. Dadurch wird es einfacher, den Kontext zu beschreiben. Der Erzähler kann davon ausgehen, dass ein Leser weiss, wie ein durchschnittliches Schulzimmer aussieht. Dies ist von van Dijk treffend beschrieben worden: »... so scheint es offensichtlich, dass ich, wenn ich eine Party vorbereite oder eine Geschichte lese, in der eine Party vorkommt, nicht den gesamten Supermarkt aktualisieren muss, nur wegen der simplen Tatsache, dass ich in den Supermarkt gehe, um einige Nüsse für meine Gäste zukaufen« (1976, zit. n. Eco 1998, 109). Jeder Leser hat eine gewisse Vorstellung dessen, was zu einem Supermarkt gehört. Auf diese gemeinsame Erfahrungsmasse kann bei der Formulierung von didaktischen Texten zurückgegriffen werden. Weil aber diese Erfahrungsmasse sehr diffus ist, werden Besonderheiten speziell erwähnt: Eine zu kleine Turnhalle, eine ungewöhnliche Sitzordnung im Klassenzimmer, ein ausserschulischer Unterrichtsort. »Bei der Schilderung eines Raumes ist es nicht nötig, alles darin aufzuführen - es sei denn, der Raum ist voller überraschender Dinge, die nicht zusammenpassen, wie Spinnweben und Hochzeitstorten. Gewöhnlich genügen ein, zwei Hinweise, um ein Zimmer reich, arm, ordentlich, nachlässig, pedantisch, maskulin oder feminin wirken zu lassen« (Highsmith 1990, 66). Widersprüche im Unterricht ergeben sich oft aus unpassenden Lehrmitteln, Arbeitsinstrumenten oder Medien. Falls sie von einer durchschnittlichen Ausstattung eines Schulzimmers oder eines anderen Unterrichtsortes nicht abweichen und eben nicht explizit Thema der Situation sind, kann auf die Beschreibung des Kontextes verzichtet werden. Durch die Komponente Kontext werden Aspekte beschrieben, die nur bedingt veränderbar sind. Es sind situative Bedingungen, die ausschliesslich während längerer Zeit und mit unter Umständen grossem Aufwand umgestaltet werden können. Oft ergibt sich der Kontext auch zwingend aus dem Lerninhalt. Trotz dieser eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten für Lehrpersonen bleiben Spielräume offen, die vielleicht für die Dokumentation von narrativen Texten entscheidend sind. Der Kontext bestimmt die Interaktionen und die Handlungen der beteiligten Personen. Wenn sich z.B. eine Lehrperson über das ständige Schwatzen einzelner Schüler beklagt, so ist die Sitzordnung im Klassenzimmer von entscheidender Bedeutung. Das Sitzen an Gruppentischen begünstigt auch die unerwünschte Kommunikation. Die ausschliessliche Lösung kann hier nicht in der Veränderung der Sitzordnung liegen, aber die Schilderung des Kontexts trägt zur Anschaulichkeit der Situation bei. Damit werden die Attribute bedeutsam, auch wenn keine Widersprüche festgestellt werden können. Die anschauliche Schilderung
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2 Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht
des Kontexts vereinfacht es einem exemplarischen Leser, sich an den Lernort und in die Unterrichtssituation zu versetzen. 2.1.4 Folgen Folgen werden von Handlungszielsetzungen unterschieden, weil sie mit den Handlungsabsichten übereinstimmen können, aber nicht müssen. Dies ist der Grund, weshalb sie hier separat aufgeführt werden. Die Folgen des Handelns können auch der Grund für weitere Handlungen sein. Wenn ein z.B. Schüler eine Erklärung (Handlung) des Lehrers nicht versteht (Folgen), wird der Lehrer wohl nochmals – vielleicht in anderen Worten – versuchen, ein Thema zu erklären. Durch die Reihung von Handlungen und Folgen entstehen Handlungsketten, auf die im nächsten Kapitel näher eingegangen wird. Folgen von Unterrichtshandlungen stehen im Kontrast zu Handlungszielsetzungen. Wer fremden Unterricht beobachtet, weiss oft nichts über die Zielsetzungen der handelnden Personen. Man kann sie sich aufgrund der Handlungen der Personen vielleicht ausmalen. Was jedoch beobachtbar ist, sind die Folgen, die durch dieses Handeln auslöst werden. Die Komponente Folgen soll an einem Beispiel erläutert werden. Volleyball in Gruppen (1) a)
11. Klasse, Sekundarstufe II, 11 Schülerinnen, Thema: Volleyball. Nach einem Aufwärmen und einigen Übungen zu zweit stehen die Schülerinnen am Netz in der Mitte der Halle. Die Lehrerin teilt die Klasse in zwei Gruppen und erklärt die folgende Übung: »Eine Schülerin prellt den Ball so stark auf den Boden, dass eine zweite unter den Ball laufen kann, um einen Pass (oberes Zuspiel) an eine dritte zu spielen, die mit einem Smash über das Netz abschliesst. Die restlichen Schülerinnen sammeln die Bälle ein und legen sie in den Ballwagen. Etwa fünfmal und dann wechseln. Die Idee der Übung ist, dass ihr eher ein Gefühl für die Flugbahn bekommt, wenn ihr es mehrmals macht. Das ist gleich wie im Spiel, die Abnahmen sind meist schlecht und dann muss die Passeuse auch ziemlich rennen, damit sie an den Ball kommt«.
b)
Sie zeigt die Übung vor, indem sie selbst einen Ball prellt, eine Schülerin den Pass und eine weitere den Smash über das Netz spielt. Bei der zweiten Demonstration prellt sie den Ball nicht, sondern macht der Angreiferin gleich ein Zuspiel, damit diese den Smash über das Netz spielen kann.
c)
Beide Gruppen beginnen mit der Übung. Die Lehrerin bleibt bei einer Gruppe und übernimmt die Aufgabe des Prellens. Beide Gruppen üben intensiv. Die Gruppe mit der Lehrerin erhält regelmässig Rückmeldungen und macht die Übung entsprechend der Absicht der Lehrerin. Nicht so die alleine übende Gruppe. Nach ca. drei Minuten üben lassen die Schülerinnen das Prellen weg und üben nur noch zu zweit: Die erste Schülerin wirft sich den Ball selbst zu, um einer zweiten einen Pass zu spielen, den diese über das Netz smasht. Die Lehrerin merkt von dieser Veränderung nichts, weil sie der Gruppe den Rücken zudreht.
Der Text stammt aus einem eigenen Projekt (Messmer 1995, 77). Die Gruppe, die alleine übt, verändert die Aufgabe selbständig. Dadurch verändert die Gruppe aber auch die Zielsetzung der Lehrerin. Nicht mehr das Obere Zuspiel der Passeuse wird trainiert, sondern der Smash über das Netz. Was ursprünglich als Ergänzung und Abschluss der Übung gedacht war, rückt in den Mittelpunkt. Hier werden Folgen des Handelns der Lehrerin beschrieben, die nicht mit ihrer Zielsetzung überein-
2.1 Narrative Texte als ganze Erzählungen
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stimmen. Trotzdem stehen die Handlungen der Schülerinnen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Handlungen der Lehrerin. Während der Demonstration verändert die Lehrerin selbst den Ablauf der Übung (b). Deshalb ist es der Gruppe wahrscheinlich nicht aufgefallen, dass sich durch die Veränderung der Übung auch die Übungszielsetzung verändert. Die Schülerinnen sind sich der Zielverschiebung nicht bewusst. Im Beispiel wird die Zielsetzung explizit geäussert, weshalb auch ein Widerspruch zwischen der ursprünglichen Zielsetzung der Handlung und den Folgen dieser Handlung festgestellt werden kann. Handlungen beschreiben die Tätigkeiten einzelner Personen oder Gruppen, die Folgen, die Reaktion anderer Personen auf diese Handlung. Bei der Beschreibung von Folgen kann die Anschaulichkeit von Attributen genutzt werden, so dass sich ein exemplarischer Leser in die Komplexität der Situation versetzen kann. Hätte man beim oben genannten Beispiel lediglich aufgezeichnet, dass die Schülerinnen die Übung verändern, dann wäre der Erzählung ein wichtiger Widerspruch verloren gegangen. Durch die Verknüpfung von Handlungen, Personen, Kontext und Folgen entstehen somit Widersprüche, die zu einem narrativen Text verdichtet werden können. 2.1.5 Widersprüche im Ganzen Ich habe darzustellen versucht, dass ein narrativer Text durch die Komponenten Handlung, Personen, Kontext und Folgen zu einem Ganzen zusammengefügt wird. Damit können Widersprüche nur aufgedeckt werden, wenn sich diese aus der Komponente selbst ergeben. Meist zeigen sich Widersprüche aber zwischen den einzelnen Komponenten. Die Handlungen passen nicht zu den Personen, zum Kontext oder wie bereits dargestellt zu ihren Folgen. Aber auch zwischen Personen und Kontext oder Folgen und Kontext können Widersprüche entstehen. Diese Unsicherheiten ergeben sich aus dem Text selbst, übersteigen dessen Rahmen nicht und geben Hoffnung, innerhalb der Geschichte aufgelöst werden zu können. Sie sind nicht vergleichbar mit der Ambivalenz, der Unterricht grundsätzlich ausgeliefert und kaum durch didaktische Verfahren zu überwinden ist. Dass die hier angesprochenen Widersprüche im Text selbst und nicht ausserhalb des Textes (also in einem anderen Text) zu finden sind, soll an einem weiteren Beispiel verdeutlicht werden. Steinharte Matten (2) Gymnasium, 12 Mädchen, 12. Schuljahr. Thema: Überschlag rückwärts (Flic-Flac). Spezielles: Der Lehrer ist Praktikant. a)
Nach einem Einlaufen und einer kurzen Dehnungsfolge verkünde ich, welchen Themenbereich wir gemeinsam in der Lektion bearbeiten werden.
b)
Ich demonstriere die erste Übung: Sprung rw. auf die Weichmatte – eine Art Flop ohne aber die Beine nach der Landung nachzuziehen. Schon während der Demonstration merke ich, dass die neuen Matten sehr hart sind und
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2 Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht dass es mir bei der Landung einen ziemlichen Schlag versetzt. Die Schülerinnen führen aber die Übung trotzdem durch, wenn auch mit Widerwillen.
c)
Die zweite Übung: Die Schülerinnen stehen einen Meter von der Wand entfernt. Den Rücken der Wand zugewandt. Mit einer Bewegung lassen sie sich gegen die Wand »fallen«, wobei die Arme die Flic-Flac-Bewegung ausführen, und die Hände sich an der Wand abstützen.
d)
Die dritte Übung: Endform, aber in Zeitlupentempo ausgeführt. Die ausführende Schülerin wird von zwei Helferinnen unterstützt, welche die Bewegung am Rücken und an den Oberschenkeln sichern. Nur mit Mühe finde ich eine Halbfreiwillige, welche sich zum Vorzeigen zur Verfügung stellt. Ich demonstriere die Übung zusammen mit der Schülerin und wende mich anschliessend sofort einer schwächeren Schülerin zu.
e)
Als ich mich wieder den restlichen Schülerinnen zuwende, sitzen alle am Boden und machen nichts. Nun muss ich die Schülerinnen regelrecht zwingen, damit sie die Übung doch noch ausführen. Als Zückerchen stelle ich ihnen ein Spiel in Aussicht, welches nach dem Geräteturnteil folgen soll.
Dieser Text entstand in einem Kolloquium, in dem die Studierenden Praktikumserfahrungen im Team auswerten mussten. Jeder Studierende brachte seine Erfahrungen in der Form von Unterrichtsnotizen und Selbstbeobachtungen mit, die dann gemeinsam in Kleingruppen diskutiert wurden (vgl. Messmer 2002, 121). Aus der Beschreibung geht nicht klar hervor, wie die Übungen zu verstehen sind. Trotzdem können hier verschiedene Widersprüche ausgemacht werden, die es lohnen, weiter verfolgt zu werden. Die Matten sind steinhart und deshalb für den Zweck, den sie erfüllen sollen, nicht brauchbar. Scherler/Schierz sprechen von der Zweckmässigkeit von Unterrichtshandlungen und -hilfen (1993, 24ff). Hier steht der Kontext (Matten) im Widerspruch zu den Handlungen der Schülerinnen. Dieses Problem lässt sich allerdings einfach beheben. Der Praktikant kann die Matten durch weichere ersetzen, womit das Problem gelöst wäre. Dies führt aber nicht zu einem didaktischen, sondern zu einem organisatorisch-verwaltungspragmatischen Problem. Es ist die Reaktion des Lehrers nach der harten Landung der Schülerinnen, die irritiert. Er lässt die Übung trotz der eigenen Erfahrungen turnen und führt den Unterricht wie geplant weiter. Damit geraten seine Unterrichtshandlungen in einen Widerspruch zu den Folgen, dem Streik der Schülerinnen. Üblicherweise sind die Folgen von Anweisungen von Lehrpersonen, dass Schüler diese durchführen. Hier wird aber offensichtlich gestreikt, was man als Leser aufgrund der Schilderung sogar nachfühlen kann. Es lohnt sich, den Widerspruch zwischen den Handlungen des Lehrers und seinen Folgen weiter zu diskutieren. Weshalb bleibt der Lehrer so stur und reagiert nicht auf seine eigenen (schmerzhaften) Erfahrungen (b)? Warum müssen die Schülerinnen die Übungen trotzdem turnen (c und d)? Weshalb streiken die Schülerinnen (e)? Die Fragen weisen auf einen weiteren Aspekt hin, den der Praktikant erst im Auswertungsgespräch geäussert hat. Er selbst kann den Flic-Flac nicht turnen und damit auch nicht vorzeigen. Dies führt zu seiner Unsicherheit, die sich auf die Schülerinnen überträgt, obwohl er ihnen sein Nicht-Können nicht äussert. Wahrscheinlich liegt hier der wesentliche Widerspruch, der zum Streik der Schülerinnen führt. Dass er den Flic-Flac selbst nicht turnen kann, ist weiter nicht
2.2 Narrative Texte als Erzählungen mit einer Zeitstruktur
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schlimm, aber dies sollte er den Schülerinnen mitteilen. Der Widerspruch entsteht zwischen der Person des Lehrers (indem er sein Nicht-Können nicht äussert) und den Handlungen der Schülerinnen (die etwas turnen sollen, das der Lehrer selbst nicht kann). Damit konnten für diesen narrativen Text drei Widersprüche aufgezeigt werden, die aus einer einfachen Schilderung einen narrativen Text machen. Ein Ungleichgewicht, Schwierigkeiten und Widersprüche zwischen den einzelnen Komponenten sind typisch für Erzählungen, weshalb diese auch als Ganzes dargestellt werden müssen. »Schwierigkeiten ergeben sich aus einem Ungleichgewicht zwischen jedem dieser fünf Elemente: Ein Ziel anstrebende Handlung ist auf einem bestimmten Schauplatz unangemessen, wie etwa Don Quichottes seltsame Manöver, mit denen er seine ritterlichen Ideale verwirklichen will« (Bruner 1997, 67). Deshalb wird in narrativen Texten versucht, etwas Ganzes, Abgeschlossenes darzustellen, das durch einen Widerspruch, durch ein Problem wieder in ein Ungleichgewicht gebracht wird. Damit wird ein wichtiger Aspekt aufgenommen, der einen narrativen Text von Unterrichtsnotizen unterscheidet. Sowohl für Bruner, als auch für Eco ergibt sich durch das Ungleichgewicht zwischen einzelnen dieser Komponenten ein Dramatismus. Das Zusammenspiel der Requisiten muss diffizil sein, die Ereignisse müssen unerwartet, ungewöhnlich oder seltsam sein. Um auf die Metapher der Suppe zurückzugreifen: Personen, Handlung, Kontext und Folgen bilden zusammen die unersetzbaren Zutaten, die – sofern sie nicht zusammenpassen – dem Gericht eine aussergewöhnliche Note verleihen. Diese Widersprüche oder Irritationen sind für narrative Texte konstitutiv und bilden auch die Voraussetzung dafür, dass durch diese Texte didaktisches Denken überhaupt ausgelöst wird. Die Konstruktion eines Textes als ganze Erzählung macht aber eine Beschreibung von Unterricht noch nicht zu einem narrativen Text. Narrative, didaktische Texte repräsentieren eine Entwicklung über eine Zeitspanne. Den Zusammenhang zwischen einer Zeitstruktur und der Handlung habe ich bereits bei der Komponente Handlung dargestellt. Die Staffelung und Verknüpfung mehrerer Ereignisse soll im Folgenden näher erläutert werden. 2.2 Narrative Texte als Erzählungen mit einer Zeitstruktur Didaktische Texte unterstehen in ihrer Zeitstruktur drei Ausdifferenzierungen: Kontinuität, Temporalität und Dramaturgie. Nicht jeder Text und jede Beschreibung von Unterrichtssituationen mit einer Zeitstruktur kann als didaktischer Text bezeichnet werden. Kontinuität bezeichnet die Verbindung von verschiedenen Episoden zu einem Plot. Dadurch werden narrative Texte von Episoden und Chroniken abgegrenzt. Mit Episoden werden Ereignisse bezeichnet, die lediglich eine einzelne Handlung, eine Reaktion oder ein Geschehen umfassen. Werden solche Episoden auf einer Zeitleiste zusammengetragen, dann ergibt sich daraus eine Chronik. Werden in diese Chronik Zeitattribute und Zusammenhänge eingeführt, so entwickelt
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2 Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht
sich aus der Chronik ein narrativer Text. Für die Zeitdimension von narrativen Texten können formal drei unterschiedliche Qualitäten ausdifferenziert werden: Episode, Chronik, Geschichte. Die Episode kann nach van Dijk nochmals unterteilt werden (vgl. Martinez/Scheffel 1999, 148). Eine Episode setzt sich demnach aus Rahmen und Ereignis, das Ereignis aus Komplikation und Auflösung zusammen, während der Plot (hier identisch mit dem narrativen Text) sich aus verschiedenen Episoden zusammensetzt. Durch ihren temporären Charakter grenzen sich narrative Unterrichtsbeschreibungen grundsätzlich von anderen Textsorten ab. In didaktischen Texten werden nur Texte verwendet, die sich unmittelbar auf den Unterricht beziehen, es werden nicht ganze Schülerbiografien oder ganze Schulsysteme beschrieben. Didaktische Texte stellen auch keinen Katalog von Ereignissen dar. Wird die Darstellung um umfassende pädagogische und systemische Beschreibungen erweitert, führt dies zu einer Inflation von Widersprüchen, was die Bedeutung von didaktischen Texten überlasten würde. In diesem Sinn sind didaktische Texte Kurzgeschichten, wie sie als Genre in der Belletristik beschrieben werden. »Die Kurzgeschichte braucht sich mit nur einer Szene zu begnügen und kann sich in fünf Minuten oder noch weniger abspielen. Sie mag auf einer emotionalen Situation oder einem Vorfall basieren: etwa auf der Verfolgung eines geheimnisvollen Tieres, das die ganze Gegend in Angst versetzt, aber nur ein Mann, der Held der Geschichte, hat dem Mut, ihm nachzuspüren. Die Suspense-Kurzgeschichte kann (wie viele Krimis) auf einer ›Masche‹ aufgebaut sein, einem Kniff bei der Flucht (von irgendwo), auf einer Information, die im allgemeinen nur Ärzten, Juristen oder Astronauten bekannt ist und die Laien erstaunt und amüsiert« (Highsmith 1990, 31). Was Patricia Highsmith hier für die Suspense-Kurzgeschichte erläutert, gilt auch für didaktische Texte. Die reale Zeit, in der die didaktische Geschichte spielt, ist kaum entscheidend. Wichtiger scheint die emotionale Betroffenheit oder der eigentliche Vorfall zu sein oder die difficult incidences, wie sie in der Psychologie bezeichnet werden. Damit wird die Zeit als Erzählfaktor um eine qualitative, weniger um eine quantitative Dimension erweitert. Nicht die Zeitdauer als physikalische Grösse entscheidet über die Repräsentationskraft des Textes, sondern die Konstellation von Zeitkomponenten. »Die Suspense-Kurzgeschichte kann im Keim durchaus mit einem ganz nichtigen Faktum, Ereignis oder auch nur einer Möglichkeit einsetzen« (Highsmith 1990, 31). Um diese Analogie weiter zu führen, weisen didaktische Texte eher auf einzelne Widersprüche hin und fokussieren auf Situationen im Unterricht. Ich werde auf diese Abgrenzung später noch genauer eingehen müssen. Zunächst kann festgehalten werden, dass narrative, didaktische Texte sich meist auf einzelne Widersprüche innerhalb eines überschaubaren zeitlichen Rahmens beschränken. Im Gegensatz zu belletristischen Texten haben didaktische Texte aber keinen Selbstzweck und sind demnach auch keine Bildungsromane.
2.2 Narrative Texte als Erzählungen mit einer Zeitstruktur
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2.2.1 Kontinuität Die in Handlungsketten zusammengefassten Handlungen weisen in narrativen Texten untereinander einen Zusammenhang aus. Dieser Bezug ist nicht zwingend wie bei den Folgen, die unmittelbar nach einer Handlung sichtbar werden. Damit erhalten didaktische Texte eine historische Dimension. Jeder didaktischer Text hat also seine eigene Geschichte. Für Martinez/Scheffel ergibt sich die Geschichte eines Textes aus einem inneren Zusammenhang. »Durchläuft ein Subjekt nacheinander mehrere Ereignisse, bilden diese Ereignisse ein Geschehen. Im Geschehen seriell aneinandergereihte Ereignisse ergeben aber erst dann eine zusammenhängende Geschichte, wenn sie nicht nur (chronologisch) aufeinander, sondern auch nach einer Regel der Gesetzmässigkeit auseinander folgen« (1999, 109). Oder mit den Worten von Highsmith: »Der Leser will ja nicht gleich in ein Meer von Informationen getaucht werden und in verwickelte Umstände, die für ihn noch in keiner Beziehung zu den vorkommenden Personen stehen, weil er sie ja noch gar nicht kennengelernt hat« (1990, 63). Einem exemplarischen Leser werden Begründungen für das spätere Handeln gegeben, das aus früheren Episoden erfolgt. Diese Beziehungen sind vergleichbar mit den bereits diskutierten Attributen. Während Attribute die Anschaulichkeit von Situationen erhöhen, verbessern zeitliche Zusammenhänge die Verständlichkeit von chronologischen Abläufen. Damit lässt man sich bewusst auf eine subjektive Schilderung ein. Wenn ich sage: »Der König starb und dann starb die Königin«, ist das eine Chronik von Ereignissen. Wenn ich aber sage: »Der König starb und dann starb die Königin aus Kummer«, gebe ich dem Leser eine Begründung für den Tod der Königin (vgl. Martinez/Scheffel 1999, 109). Diese Begründung ist subjektiv, zumindest nicht empirisch nachweisbar. Auf diese Subjektivität muss man sich bewusst einlassen, weil die Zusammenhänge von einzelnen Episoden zu Widersprüchen führen können. Scherler/Schierz sprechen in diesem Zusammenhang von »folgerichtig handeln«. Demnach besteht jedes Verfahren aus diversen Teilhandlungen, die Paare oder auch komplexe Ketten bilden können. »Treten in der Abfolge von unterrichtlichen Teilhandlungen Auslassungen oder Vertauschungen auf, dann sind sie nicht folgerichtig« (1993, 58f). Folgen die einzelnen Teilhandlungen nicht folgerichtig aufeinander, so können diese zueinander in Widerspruch treten. Werden z.B. in einer methodischen Reihe einzelne entscheidende Übungen ausgelassen, so führt dies zur Stagnation des Lernens und methodischen Schwierigkeiten. In didaktischen Texten kann aber auch Unterricht dargestellt werden, der nicht durch eine fehlende Kontinuität zu Widersprüchen führt, sondern gerade durch eine Kontinuität von widersprüchlichen Situationen. McDonald (1992, 25) nennt solche Texte Velcro-Essays. Sie bringen verschiedene Handlungen miteinander in Beziehung, ohne jedoch eine innere Verbindung abreissen zu lassen. Bezeichnend für Velcro-Texte ist, dass die Situationen, die zwischen den einzelnen Episoden liegen – und nichts mit der Geschichte zu tun haben – weggelassen werden. Dies
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2 Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht
erhöht die Verständlichkeit und ermöglicht es einem Leser, sich besser auf die Situation einzulassen. In Velcro-Texten werden Episoden dargestellt, die für sich genommen alltäglich sind und auch nicht besonders originell wirken. Durch chronologische Darstellung aller Episoden in Form eines Velcro-Essays erhält der Text Substanz. Die genauen Zeitangaben sind dabei nebensächlich, z.B. könnte man sich auch weniger exakt äussern, wie etwas später, gegen Schluss der Stunde etc. Die Narrativität des Textes ergibt sich durch die Häufung ähnlicher Situationen innerhalb einer einzelnen Unterrichtsstunde. Daraus kann man schliessen, dass sich didaktische Texte durch ein besonderes Verhältnis der Dichte der Episode und ihrer zeitlichen Dimension auszeichnen. Die Besonderheit ergibt sich aus den Episoden selbst, der Häufigkeit des Auftretens und den Zeitintervallen zwischen den Episoden. Kann zwischen den einzelnen Ereignissen kein Zusammenhang hergestellt werden, bleiben die Episoden als Chronik stehen. 2.2.2 Temporalität Narrative Texte unterscheiden sich von Chroniken, da sie als Geschichten zeitlich abgeschlossen sind. Dies betrifft sowohl das Früher als auch das Später. In didaktischen Texten können demnach keine weitläufigen Begründungen gegeben werden. Die zeitlichen Zusammenhänge ergeben sich aus der Erzählung selbst. Es werden Episoden verknüpft, die beobachtbar sind und deshalb zeitlich nicht zu weit auseinander liegen. Zu weit ist hier allerdings sehr relativ und kann nicht in Minuten und Stunden ausgedrückt werden. Je nach Text liegen die einzelnen Episoden nur Sekunden auseinander, vielleicht aber auch Tage. Für die Darstellung von didaktischen Situationen ist ein innerer Zusammenhang mit dem Unterricht selbst relevant. Selbstverständlich werden zahlreiche Widersprüche von aussen in den Unterricht getragen oder ergeben sich durch äussere, nicht beeinflussbare Bedingungen. Zentral für die Aufnahme solcher Widersprüche ist allerdings, dass sie Unterricht nachhaltig verändern und man durch unterrichtliche Massnahmen darauf reagieren kann. In Bezug auf die Wirkungsabsichten von didaktischen Texten ist es deshalb von Vorteil, wenn ein fokussiertes Problem, ein einzelner Widerspruch dargestellt wird. Werden ganze Biografien oder ihre psychologischen Pathologien dargestellt, würde ein wesentlicher Reiz von didaktischen Texten verloren gehen, der in einer temporalen Übersichtlichkeit des Textes liegt. In didaktischen Texten kann somit nicht die Komplexität von Tolstois Krieg und Frieden dargestellt werden, insbesondere dann nicht, wenn eine didaktische Lehre auch zeitökonomischen Kriterien folgen sollte. 2.2.3 Dramaturgie Um aus Unterrichtsschilderungen narrative Texte zu entwickeln, bedarf es einer Dramaturgie. Der Begriff (aus dem Griechischen drĆmatşrgía: dramatische Darstellung), heisst eigentlich eine Handlung darstellen. Dramatische Geschichten erhöhen
2.2 Narrative Texte als Erzählungen mit einer Zeitstruktur
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die Wahrscheinlichkeit, dass didaktisches Handlungswissen behalten werden kann, oder schaffen gar erst die Möglichkeit, dieses zu entwickeln. Im zeitlichen Gefüge von narrativen Texten erfolgt eine Dramatisierung des Textes durch die bewusste Verschiebung einzelner Aspekte und Ereignisse nach vorne oder nach hinten. Die Dramaturgie eines Textes kann deshalb auch bewusst gesteuert werden. Pure Empiristen mögen jetzt vielleicht einwenden, dass es bei didaktischen Texten nicht nötig ist, solche Stilmittel einzusetzen, weil es sich bei den Beschreibungen um realistische Situationen handelt. Empirisches Material mit der eigenen Imagination zu verflechten, heisst aber nicht zwangsläufig, sich von der Realität zu entfernen, sondern dass man sich zuweilen auch auf sie zubewegen kann. Wenn man durch eine bewusst gesteuerte Dramaturgie andere Leser zur Reflexion und zum Nachdenken über Unterricht bewegen kann, hat dieses Mittel den Zweck bereits erfüllt. Martinez/Scheffel (1999, 151) nennen drei wesentliche Aspekte der Dramaturgie von Texten oder wie sie es nennen: Affektstrukturen. (i) Ein Überraschungseffekt wird durch das bewusste Weglassen eines wichtigen Details erzielt. »Wenn dieses fehlende Detail am Ende nachgetragen wird, ist der Leser überrascht« (ebd., 152). Damit wird der Informationsstand von Leser und Autor bewusst inkongruent gehalten, um eine Spannung zu erzeugen. (ii) »Um Spannung zu erzeugen, muss die Handlung eines Textes ein Anfangsereignis enthalten, dessen Folgen sich für die Protagonisten besonders gut oder besonders schädlich auswirken können. [...] Während bei einem überraschenden Erzählschema das Schlüsselereignis erst spät enthüllt wird, muss es hier im Gegenteil von vornherein bekannt sein, um im Leser die spannende Frage zu erzeugen (deren Beantwortung durch Hindernisse o.ä. verlängert werden kann), ob, wann und wie die erwarteten Folgen denn nun eintreten werden« (ebd., 152). (iii) Um Neugier zu erzeugen, muss dem Leser ein wichtiges unbekanntes Initialereignis mitgeteilt werden, das ihm aber suggeriert, dass es ein wichtiges Geheimnis gibt. Der Text beginnt mit der Entdeckung der Folgen der Geschichte, während es im Rest der Erzählung darum geht, den Hergang zu enthüllen (ebd., 153). Alle drei Effekte erhöhen die Dramaturgie und betreffen die zeitliche Struktur von Texten, weil sie die einzelnen Episoden unterschiedlich ordnen, um dadurch auch die Dramaturgie von Texten zu erhöhen. Patricia Highsmith äussert sich ähnlich über den Einsatz dramaturgischer Mittel wie Martinez/Scheffel. Auch für sie sind zeitliche Strukturen wesentlich, um die Dramaturgie – und damit die Lust am Lesen – zu fördern. »Ein Stück sollte so nah vor dem Ende seiner Story wie möglich beginnen. Das ist ein altes Gesetz der Dramatik« (1990, 19). Trotzdem liebt sie nach eigener Aussage »langsame Anfänge«. Inwiefern sich didaktische Text solcher Stilmittel bedienen sollen, ist abhängig von ihrem Verwendungszweck. Didaktische Texte, die im Kontext des forschenden Lernens erstellt und interpretiert werden,
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2 Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht
bedürfen wohl weniger dieser dramaturgischen Mittel. Texte, die eine Konzeption erläutern und verständlich machen wollen, benötigen wohl eher diese Facetten, damit sie überhaupt ihre Wirksamkeit entwickeln können. Die hier dargestellten dramaturgischen Mittel und die Abgrenzung gegenüber Temporalität und Kontinuität weisen auf die literarische Form von didaktischen Texten hin. Didaktische Texte beruhen in der Regel auf Kurzgeschichten oder – um sie vom literarischen Kunstbegriff abzugrenzen – auf kurzen Geschichten. 2.2.4 Kurze Geschichten In didaktischen Texten werden explizit Widersprüche dargestellt. Sie sind das Salz in der Geschichtensuppe. Die Dramatik entsteht dadurch, dass diese Widersprüche attraktiv dargestellt werden. Konflikte entstehen durch Widersprüche zwischen den einzelnen Teilen eines didaktischen Texts (Handlung, Personen, Kontext, Folgen) oder zwischen den Dimensionen Dichte und Zeit. Die Dramaturgie eines didaktischen Texts entwickelt sich dadurch, dass einzelne Teile oder Dimensionen nicht zu den anderen passen, d.h. dass ein Widerspruch aufgedeckt werden kann. Damit unterscheiden sich didaktische Texte von Unterrichtsprotokollen, die auch Konflikte darstellen können, dies aber nicht explizit tun. Didaktische Texte konzentrieren sich somit in erster Linie auf einen Konflikt oder auf Unsicherheiten. Vielleicht passt die Handlung nicht zu den Personen in der Geschichte, wenn Schülerinnen eine für ihr Alter zu schwierige Aufgabe erhalten. Oder die Folgen stimmen nicht mit der Zeit überein, wenn z.B. eine Lehrperson mit der Stoffvermittlung weiterfährt, obwohl die meisten Schüler den vorhergehenden Schritt noch nicht verstanden haben. Unter Umständen ergeben sich durch die zeitliche Positionierung der Erzählung Unsicherheiten und Widersprüche. Und nicht zuletzt ergeben sich normative Abweichungen und Probleme durch die subjektive Sicht der Ereignisse. Es sind die kleinen Widersprüche, die dargestellt werden und nicht die grossen Ambivalenzen, die durch die Gesellschaft an die Didaktik herangetragen werden. Menschen be-greifen die Welt durch Geschichten, die in sich stimmig sind. Wenn mit diesen Texten zu didaktischem Denken »angestiftet« werden soll, müssen diese Erzählungen Unstimmigkeiten ausweisen, die es lohnen, aufgelöst zu werden. Dem Leser muss deshalb die Aussicht gegeben werden, den Widerspruch in der Geschichte selbst aufheben zu können. Aufgrund der geschilderten formalen Ansprüche an narrative Texte könnte der Eindruck geweckt werden, dass didaktische Texte den Umfang eines Romans aufweisen. Dem steht gegenüber, dass didaktische Texte versuchen, eine didaktische Unsicherheit oder ein Problem auf den Punkt zu bringen. Sie enthalten deshalb weder überflüssige Beschreibungen noch wollen sie durch eine unübersichtliche Darstellung die Unsicherheit vergrössern. Martinez/Scheffel (1999, 151) betonen, dass es für das »Verstehen einer Geschichte nicht unbedingt voraussetzt, über die
2.3 Narrative Texte als Erzählungen mit Signatur
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genaue kausale Verknüpfung der einzelnen Ereignisse Bescheid zu wissen«. Didaktische Texte entsprechen somit kurzen Geschichten und vielleicht weniger kleinen Geschichten wie Schierz sie im Gegensatz zu den grossen Entwürfen der Didaktik (1997, 43) nennt. Kurze Geschichten geben sowohl dem Leser wie auch dem Autor die Möglichkeit, sich an kleinen Stücken zu orientieren und eine Übersicht zu gewinnen. Damit geben didaktische Texte dem Leser eine Intimität, die in langen Erzählungen verloren geht. Diese Intimität ist notwendig, damit didaktisches Denken überhaupt ausgelöst werden kann. Die Einschränkung auf kurze Geschichten sagt allerdings nichts über die Form der Texte aus. Auch wenn unter Text in der Regel die geschriebene Form verstanden wird, können für die Darstellung von didaktischen Geschichten andere Formen nicht ausgeschlossen werden. Vergleichbar mit der Erscheinungsform von Unterricht in unterschiedlichem Datenmaterial wie Film und Ton kann sich auch die narrative Repräsentation von Unterricht auf unterschiedliche Formen stützen. Narrative Clips24 oder gesprochene Erzählungen fallen deshalb ebenfalls unter die Bezeichnung kurze Geschichten. Mit Text wird lediglich das Gefäss bezeichnet, in dem Unterricht als didaktische Erzählungen dargestellt werden kann. Die Gestaltungsmöglichkeit von narrativen Texten in ihrer Zeitstruktur weist explizit auf den Autor von kurzen Geschichten hin. Bereits mit der Auswahl der Situation aus einem Fluss von Ereignissen gestaltet und interpretiert der Autor den narrativen Text. Deshalb deutet schon der Anfang einer Geschichte auf die Subjektivität des Autors hin. Ich bezeichne diesen unvermeidbaren subjektiven und interpretativen Aspekt als Signatur, weil der Autor damit dem Text gleichsam seine Unterschrift gibt. 2.3 Narrative Texte als Erzählungen mit Signatur Der Auslöser, über etwas nachzudenken oder darüber zu schreiben, kann unterschiedliche Beweggründe haben. Häufig liegt der Anlass zur Reflexion in irritierenden Situationen, die durch Begegnungen mit Menschen entstehen. Anfänge sind deshalb auf Personen bezogen. Ein Individuum beginnt aus einem subjektiven Anlass zu erzählen, während das Allgemeine (noch) aussen vor bleibt. Damit muss sich niemand hinter einer Philosophie zu verstecken versuchen, wenn er über ein Ereignis nachzudenken beginnt. Diese Reflexionen, das Nachdenken und die daraus entstandenen schriftlichen Produkte sind explizit individuelle Anlässe. »In regressiver Perspektive heisst anfangen immer schon angefangen sein; in progressiver Hinsicht bedeutet anfangen jedoch immer schon weitermachen oder, um die unvermeidliche Schleife rückwärts einzubeziehen: angefangenhaben heisst a priori sich fortsetzen.
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Vgl. z.B. Mengisen, Walter; Messmer, Roland: Schlüsselszenen im Sportunterricht. Magglingen 2001.
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2 Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht
An der Fortsetzung verrät sich der Anfang, die Fortsetzung ist der eigentliche Anfang« (Sloterdijk 1988. 64). Und trotzdem gleicht das Anfangen dem Zuspätkommen im Theater. Als ob man durch eine halb geöffnete Tür huscht und dann nicht richtig weiss, wie das Stück begonnen hat. Auch Geertz beschreibt dazu eine eigene Erfahrung, wie er als Ethnologe in Sefrou (Marokko) als aussenstehender Forscher mitten in das Geschehen des Machtwechsels vom charismatischen König an seinen militärischen Sohn platzt. »Wenn man auf diese Weise in einen Zwischenakt gerät, wo alle wirklich entscheidenden Ereignisse anscheinend eben gestern geschehen sind und gleich morgen bevorstehen, dann führt das zu einem unbehaglichen Gefühl, dass man zu spät gekommen und zu früh abgefahren ist...« (Geertz 1997, 11). Eine ethnologische Situation, die sich auf die Situation der Schule übertragen lässt. Die Darstellung von Unterricht verweist auf Alltagssituationen, die Auslegung der Erzählung auf didaktische Probleme. Der Anlass, sich auf etwas einzulassen, sich mit einer Irritation zu beschäftigen, ist an die Person gebunden, die irritiert ist. Erst die Auslegung macht aus einem Text eine didaktische Erzählung, und erst die Auslegung gibt dem Anlass Sinn. Als Schreibender (oder zunächst einfach als DarüberNachdenkender) will man die Situation verstehen. Diese Anfangssituation ist vergleichbar mit dem Zugang zur Forschung, wie sie Dewey in The Quest for Certainty beschreibt. Die Irritation fördert ein Unbehagen, das zu Widersprüchen führt. Irritationen oder Widersprüche wollen aufgelöst werden. Deshalb streben Menschen in solchen Situationen danach, die Situation zunächst zu verstehen und erst später vielleicht auch zu lösen. Der Auftakt zum Verständnis liegt weniger in der Konformität verschiedener Fakten, sondern vielmehr in der Differenz von Fakten und Normen, z.B. im Unterrichtsalltag. Diese Differenz sollte nicht nur Schriftsteller herausfordern, sich darüber Gedanken zu machen. »Sosehr er [der Autor] den Wunsch nach Geborgenem teilt, es ist gerade dieses Nicht-an-seinem-Platz-Stehen, was ihn herausfordert und was er als Schriftsteller zu bestehen und worüber er zu schreiben hat. Und in dieser Welt, in der nicht nur nichts an seinem Platz steht, sondern in der alles in Bewegung ist, findet die Begegnung von einem Ich mit dem anderen und den anderen statt« (Loetscher 1999, 134). Damit wird die Reflexion über Widersprüche, die sich in Erzählungen äussern, zu einem ersten Schritt der Interpretation. Diese Widersprüche sind im Plot der Erzählung verstrickt, lassen sich aber auch als bewusste Moral des Autors (in der Fabel) identifizieren. In welcher Weise also der Autor die Interpretation des Textes beeinflusst, zeigt sich in der Konstruktion des Textes. Nebst der Dichte und der Zeitstruktur ist der persönliche Bezug oder der Zugang des Autors zum Text von entscheidender Bedeutung. Die Absicht, die hinter einem didaktischen Text steckt, kann nicht verborgen werden. Im Gegenteil, sie gehört als wesentlicher Aspekt zur Formulierung von narrativen, didaktischen Texten. Letztlich erlaubt erst die Enthüllung des Zugangs einem empi-
2.3 Narrative Texte als Erzählungen mit Signatur
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rischen Leser, seine eigene didaktische Geschichte zu entdecken. Versteckte Botschaften findet man in Palimpsest-Geschichten, offensichtliche im Schlüsselsatz. 2.3.1 Palimpsest-Geschichten Der Begriff Palimpsest stammt aus der Geschichtswissenschaft und bezeichnet Schriftstücke, die aus Sparsamkeitsgründen mehrmals überschrieben wurden, wobei versucht wurde, den ursprünglichen Text zu löschen. Weil dies nicht immer vollständig gelang, kann man heute die dahinterliegenden, z.T. wertvolleren Texte wieder sichtbar machen. Ich greife auf diesen Begriff zurück, weil das Gleiche metaphorisch auch für didaktische Texte gelten kann. Die versteckten Texte müssen nicht wertvoller sein, aber hinter jedem didaktischen Text verbergen sich immer auch andere Geschichten. Der Grund, weshalb ein Autor diese Geschichte darstellt, liegt meist beim Autor selbst und in seinen eigenen vergangenen Geschichten. Vielleicht hat er eine ähnliche Situation bereits einmal erlebt oder beobachtet. Vielleicht stolpert er beim Handeln im Unterricht über eine Frage oder einen Widerspruch, die ihn schon lange beschäftigen. Ob dieser Widerspruch durch die Handlung aufgelöst oder gar verstärkt wird, spielt hier eine untergeordnete Rolle. Dass eine Unterrichtssequenz überhaupt dokumentiert wird, weist auf den Anlass der Erzählung hin. Die mit neuer Tinte überschriebenen Texte zeigen einen subjektiven Fokus, durch den Unterricht repräsentiert wird. Dieser Fokus kann durch entsprechende Instrumente gesteuert werden, um nicht »unfruchtbare« geschlossene Texte zu erstellen. Deshalb steht hinter jedem narrativen Text immer eine bewusste oder unbewusste Absicht des Autors. In der Hermeneutik wird dieses Phänomen Vorverständnis genannt. Um bei der Metapher zu bleiben: Der Autor kann einen Text nur einmal unterschreiben. Die Gefahr einen Text mit mehreren Signaturen zu überlasten, kann mit der expliziten Formulierung eines Schlüsselsatzes verhindert werden. 2.3.2 Schlüsselsatz Didaktische Texte haben meist ein Thema, das der eigentlichen Handlung übergeordnet ist. Oft liegt das Thema nahe bei der Handlung selbst oder kann als solches nicht genau abgegrenzt werden. Für den Autor von didaktischen Texten ist es notwendig, dass er sich Gedanken über das Thema macht, das er unter den Text legt und dieses dem Leser auch zugänglich macht. » Wir müssen uns also darüber klar werden, wie ein Text, der potentiell unbegrenzt ist, in der Lage sein kann, nur diejenige Interpretation hervorzubringen, die entsprechend seiner Strategie darin angelegt sind« (Eco 1998, 108). Welche Strategien in den Text gelegt werden, entscheidet der Autor selbst. Aufgrund des Topics, wie Eco das Thema auch nennt, entscheidet der Leser, ob er die semantischen Eigenschaften der im Text vorkommenden Aussagen hervorhebt oder narkotisiert. Der Schlüsselsatz und die spezifische Auswahl bestimmen somit die Ebene der interpretativen Kohärenz (vgl. Eco 1998, 114).
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2 Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht
Der Autor zeichnet demnach die Linie vor, nach der der Text gelesen werden soll und gibt damit seine eigene Interpretationsabsicht preis. Diese kann sehr individuell und subjektiv sein. Didaktische Geschichten werden allerdings in der Regel in Bezug auf einen Widerspruch formuliert, den man durch die Nennung eines Schlüsselsatzes präziser bestimmen kann. Ein Beispiel: Ringeturnen (3) Die Turnstunde dauert noch sieben Minuten. Einige Schüler/innen warten hinter den Malstäben, je zwei Schüler/innen turnen an den Ringen. Ein Schüler steht in den Ringen und hält sich an den Seilen fest. Der andere greift mit je einer Hand einen Ring und zieht diese vorsichtig nach hinten. Dann lässt er die Ringe los und gibt seinem Kameraden so etwas Schwung. Dann steht der Helfer sofort neben die Matten. Die Schüler/innen schwingen bis, ich das Kommando zum Stoppen gebe. Die Helfer stehen wieder auf die Matten, strecken die Arme aus und stoppen vorsichtig ihre Partner. Rollenwechsel. Ich stehe bei den Ringen und gebe Tipps und Anweisungen. Die restlichen Schüler absolvieren den Geschicklichkeitsparcours. Die Praktikumsleiterin sitzt beobachtend am Turnhallenrand. Nun ist es fünf Minuten vor Stundenende. Ein langer Pfiff von mir ertönt. a)
Hört zu. Die Stunde ist in fünf Minuten zu Ende, es ist Zeit zum Wegräumen. Versammelt euch bitte alle in euren Gruppen hinter den Malstäben.
b)
Frau Moser, ich bin aber mit dem Parcours noch nicht fertig! Das macht nichts, Du kannst trotzdem aufhören. Das gilt für alle, die noch beim Parcours sind. Legt eure Bälle in den Ballwagen und versammelt euch in euren Gruppen.
c)
Alle ausser Nicolas gehen in ihre Gruppen. Nicolas, leg bitte auch deinen Ball weg und geh zu deiner Gruppe. Er befolgt nun auch die Anweisung.
d)
Ich stehe vor die Gruppen, so dass mich alle sehen und hören können. Hört zu, das Ringeturnen ist beendet. Von jetzt an geht niemand mehr an die Ringe.
e)
Die Vordersten jeder Gruppe räumen ihren Malstab weg. Alle Zweitvordersten holen gemeinsam den Mattenwagen aus dem Geräteraum.
f)
Können wir gleich gehen, ruft Anja. Ja, ihr könnt den Mattenwagen holen. Und die Restlichen der Gruppen räumen jeweils ihre drei Matten weg. Um den Geräteparcours müsst ihr euch nicht kümmern, das mache ich. Also los.
g)
Ich begebe mich an die rechte Seite der Halle, um die Ringe hochzuziehen.
h)
Frau Moser, die Anderen drängeln immer vor beim Wegräumen, höre ich jemanden rufen. Ich drehe mich um und sehe, dass es beim Aufladen ein Durcheinander gibt, weil alle gleichzeitig ihre Matten wegräumen wollen. Ich laufe zum Mattenwagen und gebe genaue Anweisungen, in welcher Reihenfolge die Matten aufgeladen werden.
i)
Raffet, geh sofort von den Ringen runter, schallt es energisch durch die Halle (Ausruf der Praktikumsleiterin).
j)
Ich drehe mich um und sehe, dass Raffet wieder an den Ringen hängt und herumturnt. Zwei Knaben stehen neben ihm.
k)
Raffet, geh sofort von den Ringen weg, rufe ich und eile zu ihm hin.
l)
Warum bist Du noch an den Ringen. Ich habe doch gesagt, dass niemand mehr an die Ringe geht und dass ihr die Matten wegräumen sollt. Keine Antworten.
2.3 Narrative Texte als Erzählungen mit Signatur
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m)
Also, ihr wartet jetzt hier, bis alle ihre Matten weggeräumt haben. Dann bringt ihr eure Matten zurück und stellt den Mattenwagen in den Geräteraum.
n)
Sofort gehe ich nun die Ringe hochziehen. Schlüsselsatz: Raffet, geh sofort von den Ringen runter!
Die Studentin hat hier die Äusserung der Praktikumslehrerin, als Schlüsselsatz der Erzählung bestimmt. Der Text stammt aus einer Lehrveranstaltung mit Lehramtsstudierenden. Die Studierenden hatten die Aufgabe, eine eigene problembehaftete Situation zu beschreiben und zu interpretieren. Offensichtlich löste die Situation bei der Studentin ein Unbehagen aus, sonst hätte sie die Geschichte nicht aufgenommen. Aus diesem Fokus ergibt sich ein besonderes Beobachtungsinteresse und die Wahl des Schlüsselsatzes erklärt sich. Im Text lassen sich auch andere Schwierigkeiten resp. Irritationen finden. Diese könnten ebenfalls als Schlüsselsätze auswählen werden. Mit der expliziten Nennung des didaktischen Themas zeigt die Studentin einem exemplarischen Leser, worum es ihr hier geht. Im Sinne von Eco narkotisiert sie andere Topics, die in der Erzählung geschildert, aber nicht zum Thema gemacht werden. Weshalb z.B. drängeln die Schüler beim Wegräumen der Matten (h)? Oder: Weshalb beendet die Studentin den Parcours, obwohl einige der Schüler noch nicht fertig sind, und deshalb auch intervenieren (b)? Solche und andere Fragen werden durch den Schlüsselsatz zunächst einmal ausgeschlossen. Das heisst allerdings nicht, dass diese in der Interpretation des Textes unbedeutend wären. Der Begriff Schlüsselsatz stammt im didaktischen Zusammenhang von Scherler/Schierz: »Solche Sätze stellen in unseren Augen den Schlüssel zum didaktisch relevanten Verständnis der Beschreibung dar. Auslegung ist der Bewegung nach die Suche eines Schlüsselsatzes, dem Ergebnis nach das Verständnis des Ganzen durch eines seiner Teile« (1993, 24) Wird ein Schlüsselsatz formuliert, so bildet er den Übergang zur Interpretation des Textes. Er stellt den ersten Schritt der Auslegung dar, die – unabhängig von der Verwendungsart des Textes – bewusst durch den Autor gesteuert wird. Im Beispiel geht es um Sicherheit im Unterricht, aber auch um die fehlende Folgsamkeit einzelner Schüler. Nach Ansicht der Autorin liegt der Schlüssel zur Lösung des Problems in mangelhaften und ungenauen Anweisungen zum Abräumen der Turngeräte. (g-h) Anstatt dass ich die Ringe zuerst hochziehe und dann beim Wegräumen helfe, eile ich sofort zum Mattenwagen und lasse die Ringe unten. Oder noch präziser auf die Anweisungen bezogen: (d) Ich sage nur, dass niemand mehr an die Ringe gehen darf, begründe aber nicht weshalb. Diese beiden Aussagen stammen bereits aus der anschliessenden Interpretation der Studentin und sollen aufzeigen, dass sie aufgrund des Schlüsselsatzes die Auslegung des Textes aufnimmt. Mit dem Schlüsselsatz selbst wird aber noch nicht gezeigt, wie der Widerspruch aufgelöst werden kann. Dies ist die Aufgabe der Interpretation des Textes. Der Schlüsselsatz verweist auf Widersprüche und eine mögliche Tendenz,
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2 Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht
diese zu vermeiden. Damit wird gleichsam auch der Weg zur Fabel der Erzählung gezeigt. Mit dem Begriff Fabel wird hier eine übergeordnete und allgemeine, meist auch moralische Aussage bezeichnet. Der Schlüsselsatz wird somit auch zum Schlüssel der Fabel in der Erzählung. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass erst durch die Signatur ein Text zur Erzählung wird. Ein »digitaler« Text ohne subjektive Deutungen kann nicht als narrativer Text bezeichnet werden. In ihm verbirgt sich nur selten das performative Potenzial, um z.B. didaktisches Denken anzuregen. Die Signatur kann sowohl offensichtlich (in Schlüsselsätzen), aber auch versteckt (als Palimpsest) erfolgen. Durch die Nennung eines Schlüsselsatzes wird dem Text ein individueller Zugang zur Auslegung, aber auch zur Fabel gegeben, die hinter jeder Erzählung steckt. Indem narrative Texte mit einer Signatur versehen werden, werden sie durch den Autor bereits explizit interpretiert. Ich habe darzustellen versucht, dass die Repräsentation von Unterricht sich kaum der Subjektivität des Beobachters entziehen kann. Mit der bewussten Darstellung des eigenen Vorverständnisses und der Lenkung der Interpretation durch die Repräsentationsform werden die Texte für den Leser deshalb bereits vorinterpretiert. 2.4 Didaktische Texte als narrative Konstrukte Mit den bis jetzt angesprochenen Aspekten narrativer Texte wurden sowohl Konstitutive als auch Mittel narrativer Konstrukte dargestellt. Als wesentliche Teile narrativer Repräsentationen wurden einzelne Komponenten wie Handlungen, Personen, Kontext und Folgen beschrieben. Ebenfalls als konstitutiv wurden die Aspekte Zeit und Signatur analysiert und begründet. Bei allen wurden narrative Mittel als Instrumente der Narrativierung didaktischer Texte festgestellt. Abschliessend soll nochmals auf diese narrativen Mittel eingegangen werden, bevor in einem Modell die Komplexität narrativer Texte zusammengefasst wird. Durch das Weglassen unnötiger und das Hinzufügen zusätzlicher Informationen erhalten narrative Texte eine analoge Form. Dies äussert sich in einer dramatischen Darstellungsweise, die eine Unterrichtsbeschreibung oder eine Unterrichtsnotiz in der Regel nicht aufweist. Narrative Texte machen es einem exemplarischen Leser möglich, sich in die Handlung zu versetzten, um das eigentliche Geschehen nacherleben zu können. Dabei geht es in erster Linie nicht um die reale Repräsentation einer Unterrichtssituation, sondern um eine anschauliche und authentische Darstellung. Dieser Anspruch kann weder durch eine historische Wahrhaftigkeit noch eine möglichst keimfreie Darstellungsform eingelöst werden. Die Absicht von narrativen Texten liegt vielmehr darin, einem exemplarischen Leser eine Unterrichtssituation möglichst verständlich zu schildern. Deshalb ist der exemplarische Leser, dem man als Schreiber auch ein Lesevergnügen bereiten darf, beim Schreiben von narrativen Texten immer präsent. Umgekehrt verlangt dies vom Leser die Bereitschaft, sich auf
2.4 Didaktische Texte als narrative Konstrukte
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den Text, die Geschichte einzulassen. Martinez/Scheffel meinen dazu, mit Bezug auf Grass’ Blechtrommel: »Wer sich aber in keinerlei Hinsicht die Existenz eines Trommlers namens Oskar und die Echtheit seiner Erzählung vorstellt, kommt nicht ins Spiel und bringt sich selbst um sein Lesevergnügen« (1999, 15). Die Anschaulichkeit und Authentizität eines Textes hängt im Wesentlichen von zwei dramaturgischen oder narrativen Mitteln (vgl. Luginbühl 2004, 39) ab: von den Widersprüchen und den Attributen. 2.4.1 Dramaturgie und narrative Mittel Erst durch Widersprüche wird aus einer Schilderung von Handlungen eine Erzählung. Widersprüche zwischen den eigenen Erwartungen und dem dargestellten Handlungsablauf halten wach, erzeugen beim Leser Interesse an der Geschichte. Widersprüche sind in diesem Sinne Abweichungen von Normen, vom Alltag und von der Routine des Alltags. Auch in der Didaktik interessiert das Spezielle, das Abweichende und die Überraschung. Dies kann in narrativen Texten zum Ausdruck kommen. Erst Widersprüche machen aus einem Protokoll einen Plot mit dem Potenzial, Geschichten zu konstruieren. »Die Verbesserung oder Verdichtung des Plots besteht in der Anhäufung von Komplikationen für den Helden und vielleicht für seine Gegner. Die Komplikationen sind am wirksamsten, wenn sie als überraschende Ereignisse auftreten« (Highsmith 1990, 40). Die Wirksamkeit von didaktischen Texten hängt somit auch von ihrer Gestaltung als »Suspense«-Geschichten ab. Ob sich die Komplikationen aus der Konstellation der beteiligten Personen – oder Helden – ergeben oder auch aus Widersprüchen anderer Erzählkomponenten, habe ich oben darzustellen versucht. Widersprüche und Komplikationen im Text versuchen aber auch, den Leser an den Text zu binden, indem sie das Potenzial für Widersprüche zwischen Leser und Text bilden25. Widersprüche alleine genügen allerdings nicht, um bei einem exemplarischen Leser das Interesse für eine didaktische Situation zu wecken und ihm gleichsam ein Lesevergnügen zu bereiten. Narrative Texte sind zusätzlich auch auf Attribute angewiesen, die einem Protokoll oder auch einer Unterrichtsnotiz ihre Wirklichkeit zurückgeben. Dieser Versuch, einer einfachen Beschreibung durch Attribute die gewünschte Anschaulichkeit zu verschaffen, verlässt zwangsweise den Aspekt der reinen Repräsentation. Damit, so könnte man einwenden, wird die Erzählung bereits interpretiert. Dieser Einwand trifft allerdings nicht ausschliesslich auf narrative Texte zu. In jeder Textsorte verstrickt der Autor sein Subjekt in den Text. Bei der Formulierung von didaktischen Texten würde der Verzicht auf Attribute zu einem Verlust von Anschaulichkeit führen, die für didaktische Texte konstitutiv ist. Hier
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Ich werde auf diesen Aspekt, den man durchaus bereits interpretativen Konzepten zuordnen kann, später genauer untersuchen.
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wird also zugunsten einer möglichst anschaulichen Form bewusst auf ein pasteurisiertes Schema verzichtet. Attribute versetzen einen Text in die Vorstellungskraft des Lesers und machen es erst möglich, dass er sich unter einem Begriff etwas vorstellen kann. Sie tragen aber auch dazu bei, falsche Konnotationen zu vermeiden. Der soziale Schatz eines Lesers wächst aus seinen individuellen Erfahrungen, die wiederum seine Lektüre eines didaktischen Textes beeinflussen. Der Text sollte demnach den exemplarischen Leser von seinen eigenen konkreten Vorstellungen zu lösen versuchen und möglichst nahe an den neuen, ebenfalls konkreten Unterricht führen. Dies gelingt nur durch eine anschauliche Sprache, die Gegenstände, Personen und Handlungen nicht nur auflistet, sondern in ihren Besonderheiten schildert und ihnen Attribute verleiht. Damit bilden Attribute und Widersprüche das Gegenstück zur Signatur. Während mit der Signatur die Ansprüche des Autors zum Ausdruck gebracht werden können, versuchen Attribute und Widersprüche den Leser in den Text einzubringen oder zumindest näher am Geschehen teilhaben zu lassen. Um nochmals die Metapher der Wortsuppe zu beanspruchen: Attribute und Widersprüche geben einer nach Rezeptbuch zusammengestellten Suppe die nötige Schärfe und Eigenheit. »We likened narrative form to a soup. This metaphor is a useful place for us to begin our explorations of narrative form« (Clandinin/Connelly 2000, 155). Die eigentlichen Zutaten, aus welchen didaktische Geschichten zusammengefügt werden, bestehen demnach aus den drei Dimensionen Dichte, Zeit und Signatur und sind in diesem Sinne mehr als nur Gewürze - sie sind für didaktische Geschichten konstitutiv. Ohne die Berücksichtigung dieser drei Komponenten wird kein Text zu einer didaktischen Geschichte geformt und es wird bei der Aufzählung von Begebenheiten bleiben. Clandinin/Connelly (2000, 51 und 89) stellen diese drei Dimensionen in einen dreidimensionalen Raum, weshalb man von didaktischen Texten als 3-D-Erzählungen sprechen kann. 2.4.2 Didaktische Texte sind 3-D-Erzählungen Die Präsentation von narrativen Texten in einem dreidimensionalen Raum ist vergleichbar mit einer Landkarte, auf der die Geschichte eingetragen wird. Einem exemplarischen Leser muss es möglich sein, sich im Text zu orientieren. Deshalb sollen die verschiedenen dargestellten Dimensionen in einem Modell zusammenfassend erläutert werden. Die Dimension der Ganzheit platziert die Erzählung mit ihren Handlungen und Folgen in einen personalen und sozialen Kontext. Die Zeitdimension stellt die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft her und stellt die Gegenwart der Geschichte in einem Ablauf von Ereignissen dar. Die Dimension der Signatur als dritte Dimension versucht das Innen und Aussen einer Geschichte zu klären. Das 3-D-Modell versucht grafisch festzuhalten, wie einem Text eine Struktur gegeben werden kann, um die Ereignisse in ihrer Ganzheit darzustellen.
2.4 Didaktische Texte als narrative Konstrukte
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Der didaktische Text selbst wird durch die Komponenten Handlung, Personen, Kontext und Folgen strukturiert. Hier wird einem exemplarischen Leser die Möglichkeit gegeben, einen narrativen Text als Ganzes zu erfassen. Ich habe zu erläutern versucht, weshalb es wichtig ist, diese Komponenten mit Attributen zu versehen. Der Leser soll sich gedanklich mitten in die Situation, in die Geschichte versetzen können. Fehlen einzelne Komponenten der Erzählung, so wird die Entwicklung der Geschichte mehrheitlich dem Leser selbst überlassen. Soll aber dem Leser die eigene Geschichte erzählt und nicht eine neue entwickelt werden, dann hilft die Signatur einem exemplarischen Leser, sich in die Gedankenwelt des Autors einzulassen.
Abb. 1: 3-D-Modell narrativer didaktischer Texte
Das Vorwärts und Rückwärts einer Erzählung platziert die Geschichte in einem zeitlichen Rahmen. Hier wird dargestellt, wie sich die Geschichte über Zeit entwickelt. Wahrscheinlich ist es für didaktische Texte wichtig darzustellen, was vor und nach der Geschichte geschieht. Der zeitliche Rahmen gibt dem Text aber auch eine zeitliche Struktur und die Möglichkeit Temporalität, Kontinuität und Dramaturgie darzustellen. Hier wurde darzustellen versucht, dass es wichtig ist, einzelne Ereignisse wegzulassen und zu narkotisieren, dafür andere explizit und detailliert zu präsentieren. Damit wird dem Text die vom Autor beabsichtigte Richtung und Lesart gegeben.
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2 Narrative Textformen als Repräsentationsweisen von Unterricht
Das Innen und Aussen einer Erzählung weist auf den Gebrauch der Texte hin. An wen richtet sich der Text, wem soll der Text etwas mitteilen. Das Etwas betrifft das Innen der Geschichte. Ich habe dargestellt, dass didaktische Texte eine Signatur aufweisen, die einem Leser nach Aussen mitteilt, was den Autor beschäftigt. Mit Hilfe des Schlüsselsatzes kann auf das Innen hingewiesen und gleichzeitig die Auslegung des Textes in die gewünschte Richtung gelenkt werden. Auch hier wird einem narrativen Text eine Struktur verliehen, indem explizit geäussert wird, was den Autor beschäftigt (Innen) und wer sich mit gleichen Phänomenen beschäftigen könnte (Aussen). Damit sind die Differenzen in Bezug auf die Textform von Erzählungen beschrieben. Von der Funktion oder Performanz dieser Texte und ihrer mentalen Abbildung als narrativem oder paradigmatischem Denkmodus soll im nächsten Kapitel die Rede sein. Dabei wird die gleiche Differenz zum Tragen kommen, die bereits in diesem Kapitel ansatzweise deutlich gemacht werden konnte. Narrative Texte entwickeln ihre Performanz durch ihre narrative Struktur, die immer auch in der Absicht des Autors verborgen liegt. Auf diesen Aspekt werde ich im Zusammenhang mit der Methode der narrativen Textvergleiche zurückkommen.
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Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung
Eco (2000, 147) definiert Geschichten als »mentale Experimente«, die durch ihre Struktur gedankliche Vergleiche zulassen. Demnach zeigen Geschichten eher eine mentale Struktur auf und im Gegensatz dazu drücken Erzählungen eher eine Textstruktur aus. Narrative Texte stellen didaktische Geschichten in der Form eines Textes dar, die ich als narrative Texte oder didaktische Texte bezeichne. Sie sind deshalb identisch mit der linguistischen Kategorie des Plot. »Der Plot hingegen ist die Geschichte, wie sie tatsächlich erzählt wird, wie sie an der Oberfläche erscheint mit ihren zeitlichen Verschiebungen, Sprüngen, Einblendungen von vorangegangenem und zukünftigen Ereignissen (beziehungsweise Antizipationen und flash-backs), Beschreibungen, Abschweifungen, eingeschobenen Reflexionen. In einem narrativen Text ist der Plot mit den diskursiven Strukturen identisch« (Eco 1998, 128). Im Unterschied dazu weisen Geschichten mehr auf die gedankliche Gliederung, auf die story hin. Die Lektüre eines narrativen Textes gibt dem Leser das Potenzial eine (mentale) Geschichte zu entwickeln oder vice versa erlauben mentale Experimente den Übertrag auf narrative Texte. Damit wechsle ich in diesem Kapitel von der Textform zur Denkform, auch wenn sie laut Eco in einem engen Zusammenhang stehen. Der Fokus richtet sich mehr auf die Wirkung narrativer Texte und damit auf die Interpretation und Auslegung von Erzählungen. Didaktische Texte sind selten Texte, die aus einem literarischen Interesse geschrieben werden. Damit sollen literarische Ansprüche keinesfalls abgeschwächt werden, aber der Zweck didaktischer Texte ist zunächst in ihrer didaktischen Absicht zu suchen und weniger darin, einem Leser eine Freude zu bereiten. Diese didaktische Absicht, die explizit, aber auch implizit in einem Text angelegt ist, hat auch Auswirkungen auf die Diskurse in einer Wissenschaftsdisziplin und damit auf die Diskurse zwischen Didaktiken, wie ich einleitend am Beispiel des Alltagsdiskurses der Sportpädagogik dargestellt habe. Die Frage, die sich jetzt aufdrängt, sucht nach der Funktion oder nach der Performanz26 dieser Darstellungsform. Soll Wirklichkeit nur verstanden oder soll durch diese Repräsentationsform Einfluss auf genau diese Wirklichkeit genommen werden?
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Ich habe den Begriff Performanz gewählt, auch wenn dieser hier nicht ganz unproblematsch verwendet wird. Performanz meint laut Fremdwörterduden, die „konkrete Realisierung von Ausdrücken in einer bestimmten Situation durch einen individuellen Sprecher“ (1982, 578). Wenn ich im Folgenden den Begriff auch für Denkprozesse nutze, will ich damit den mündlichen Sprachcharakter von Erzählungen unterstreichen. Im Sinne von Austin (1989) ist damit nur ein Teil von Performanz gemeint. Es betrifft den perlokutionären Akt, die kürzere oder längere Kette von Wirkungen, welche der Sprechakt auf einen Rezipienten ausübt.
R. Messmer, Ordnungen der Alltagserfahrung, DOI 10.1007/978-3-531-92782-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung
Damit spreche ich einen wesentlichen Aspekt in der Interpretation von narrativen pädagogischen Texten an: die Wirksamkeit, resp. die Performanz für die beteiligten Personen. Didaktik kann sich nicht nur mit der Abbildung von Welt und der Interpretation dieser Abbildungen begnügen, sondern muss auch die Transformation27 von Wissen in Handlungswissen intendieren. Es ist letztlich die Frage nach der Performanz von narrativen Texten in einem pädagogischen Kontext. Diese Frage soll sich aber bewusst keiner Subsumptionslogik einer Fall-von-Didaktik unterwerfen, sondern die Offenheit von narrativen Texten nutzen. Im französischen Begriff der Repräsentation, wie ihn Foucault denkt, steckt neben den deutschen Bedeutungen Vorstellung und Darstellung auch der Begriff Bedeutung und damit eine Performanz. Die Repräsentation von didaktischen Stücken führt zur Veränderung der Wahrnehmung und damit zur Transformation von didaktischem Denken. Wenn die Repräsentation von Unterricht als mimetischer Prozess verstanden wird, so steckt auch ein performativer Anspruch dahinter. «... in der Beziehung des Handelnden auf andere liegt die wesentliche Differenz der Mimesis zu rein kognitiven Erkenntnisweisen. Sie zielt auf Einwirkung, Aneignung, Veränderung, Wiederholung oder Neuinterpretation von vorgegebenen Welten« (Gebauer/Wulf 2003, 26). Ich versuche, diesen performativen Aspekt mit dem narrativen Aspekt der Fabel zu fassen, die es letztlich in jedem Text, zumindest in jedem narrativen Text zu entdecken gilt. Die Fabel zeigt auf, welcher didaktische Anspruch mit einem spezifischen Text in Verbindung gebracht werden kann. Gilt es didaktisches Handlungswissen zu verändern – und damit indirekt auch auf die Handlungen selbst einzuwirken – oder gilt es Handlungswissen, in Form von Handlungsskripts bereitzustellen? Um diese und weitere Fragen zu beantworten, werde ich zunächst die Differenz zwischen dem narrativen Modus des Denkens und dem paradigmatischen Modus des Denkens einander gegenüber stellen (3.1). Sowohl der paradigmatische, als auch der narrative Modus bedienen sich Beispielen, die sie allerdings anders in ihren Denkprozess integrieren. Diese Unterschiede sollen in den Kapiteln 3.2 und 3.3 genauer erläutert werden. An der Differenz zwischen narrativem und paradigmatischem Denken lässt sich eine weitere Differenzierung anknüpfen: Erzählen und Argumentieren. Bruner spricht in diesem Zusammenhang von »antifabulists« und »fabulists« (2002). Diese Unterscheidung zeigt letztlich die Auswirkungen dieser Differenz des Denkens auf die Textform (3.4). Eine Zusammenfassung wird dieses Kapitel abschliessen, die die Performanz und die Form von narrativen Texten in
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Wenn ich hier von Transformation spreche, will ich nicht dem bereits erläuterten Missverständnis von Praxis und Theorie erliegen. Das Verhältnis von Praxis und Theorie zeichnet diesbezüglich weniger durch ein Transformationsproblem aus, sondern durch ein „Verständigungsproblem“. In diesem Sinne soll der Transformationsbegriff die Verständigung von Erfahrung in der Praxis und Erfahrung in der Theorie bezeichnen.
3.1 Zwei Arten des Denkens
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einen Zusammenhang bringen soll und gleichzeitig die Voraussetzung für die Fragestellung des anschliessenden empirischen Teils aufzeigen muss (3.5.). 3.1 Zwei Arten des Denkens Jerome Bruner stellt für das Denken zwei grundsätzliche Modi (Two Modes of Thought) gegenüber. Auf der einen Seite steht das paradigmatische Denken28 (1986, 12f), das er auch als logisch-wissenschaftliches Denken (logico-scientific) bezeichnet. Es versucht das Ideal eines formalen, mathematischen Systems der Beschreibung und Erklärung zu erfüllen. Dieses System arbeitet mit Kategorien, Konzeptionierungen, wobei ihre Begriffe so idealisiert sein müssen, damit sie in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Diese Art und Weise des Denkens, insbesondere auch die Entwicklung dieses Modus ist selbstredend immer wieder Gegenstand der Wissenschaft und Forschung. Bruner (1987) hat nachgewiesen, dass Kinder bereits im frühen Alter versuchen, ihre Erlebnisse in eine paradigmatische DenkHierarchie zu ordnen. Dabei differenzieren sie allmählich immer spezifischere Begriffe aus. In diesem Modus des Denkens werden Erfahrungen in bestehende Strukturen einzuordnen versucht und damit einem Allgemeinen untergeordnet. Interessant sind dabei die Attribute, die Kinder ihren Überbegriffen zuordnen. Während z.B. zunächst alles, was fährt, als Auto bezeichnet wird, differenziert sich schnell ein Unterschied zwischen Schienen- und Strassenfahrzeugen aus (die natürlich nicht so bezeichnet werden). Problematisch werden solche Unterscheidungen erst, wenn z.B. eine Strassenbahn in der Agglomeration nicht mehr auf der Strasse, sondern auf einem Schotterbett fährt (für Kinder wird die Strassenbahn damit paradigmatisch zur Eisenbahn). Weitere Erlebnisse führen zu weiteren Ausdifferenzierungen und implizit auch zu treffenderen Begriffsbildungen. Dass ein solches Finden von Überbegriffen keinesfalls so trivial ist wie das Beispiel vielleicht suggerieren mag, zeigt Eco (2000, 277f) am Beispiel des Schnabeltiers. Ist das Schnabeltier ein Säugetier, weil es Brustwarzen hat, ein Vogel, weil es einen Schnabel hat oder ein Reptil, weil es Eier legt? Diese Kategorisierung verlangt mehr als zoologisches Wissen. Die Eigenschaften der Dinge entscheiden letztlich darüber, ob etwas Spezielles einem Allgemeinen untergeordnet werden kann. Dabei gilt das paradigmatische Denken auch für Tätigkeiten, Emotionen und andere immaterielle Phänomene.
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Ich übernehme hier die Terminologie von Bruner, obwohl der Begriff Paradigma (oder nach Aristoteles Paradeigma) oft doppeldeutig verwendet wird. Einmal als expemlarisches Beispiel für etwas Allgemeines, zweitens aber auch für den analogen Fall, der etwas auf Grund einer Ähnlichkeit klarmacht, ohne das Allgemeine zu dem Besonderen eigens zum Thema zu machen (vgl. Buck 1989, 178). Ich gehe davon aus, dass Bruner den Begriff im engeren Sinn verwendet, d.h. Paradigma steht für etwas Allgemeines. Letztere Bedeutung würde den Begriff ohnehin zu wenig vom narrativen Modus unterscheiden.
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3 Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung
Vom paradigmatischen Modus unterscheidet Bruner (1985) den narrativen Modus. Auch dieser Modus des Denkens entspricht dem Versuch Erfahrungen zu ordnen. Im Gegensatz zum paradigmatischen Modus liegt hier das Ordnungsprinzip nicht in der Subsumption unter allgemeine Begriffe, sondern in einer narrativen Gliederung, durch welche versucht wird, Erfahrung in einer gedanklichen Struktur zu ordnen. Erfahrungen werden in der Form der Erzählung gerahmt, d.h. in eine vorhandene Erzählstruktur gebracht. Bruner sucht deshalb die Nähe zur Literaturwissenschaft, die sich mit der linguistischen Struktur von Erzählungen befasst. Das Instrumentarium des Erzählens stellt eine weitere Besonderheit dar, die es vom paradigmatischlogischen Modus unterscheidet. Die Struktur von Erzählungen liegt näher bei den Erfahrungen des Alltags und bei den Möglichkeiten, diese zu verarbeiten als die Struktur von paradigmatischem Denken. »Es wird also immer klarer, warum das Erzählen ein derart natürliches Vehikel der Alltagspsychologie ist. Es beschäftigt sich mit dem Stoff, aus dem menschliches Handeln und menschliche Intentionalität bestehen« (Bruner 1997, 64). Dies mag letztlich auch der Grund sein, weshalb sich Märchen und Geschichten (wie z.B. Hänsel und Gretel oder Heidi) so lange im Gedächtnis29 und auch in einem kollektiven Gedächtnis halten können. Die strukturelle Nähe von Geschichten zum Alltagsgeschehen veranlasste auch Eco (mit einem ausdrücklichen Verweis auf Bruner) sich mit Geschichten zu behelfen. »Um zu begreifen, wie der gesunde Menschenverstand arbeitet, gibt es nichts Besseres, als sich ›Geschichten‹ auszudenken, in denen die Leute sich so verhalten, wie der gesunde Menschenverstand das fordert. Man entdeckt dabei, dass die Normalität narrativ überraschend ist» (Eco 2000, 14, Hrvh. R.M.). Dass diese zwei ungleichen Modi des Denkens Erfahrungen grundsätzlich anders verarbeiten und behalten, führt nicht zu einem gegenseitigen Ausschluss, sondern zu einer sinnvollen Ergänzung. Trotzdem baut der paradigmatische Modus mehr auf Begründungen, der narrative Modus hingegen mehr auf Sinnbildung auf. Der erste verbindet zwei Ereignisse durch Kausalität, der zweite durch eine zeitliche Abfolge. Damit zeigt sich auch, dass es wenig Sinn macht, die beiden Formen des Denkens von einander abzugrenzen, denn ihre Funktionsweise ist immer abhängig von der Beschaffenheit des Inhalts.
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Da ich mich im Folgenden vor allem auf eine englischsprachige Literatur stütze, ist der deutsche Begriff Gedächtnis nicht einfach mit memory zu übersetzen. Im Begriff Gedächtnis steckt sowohl der Begriff memory, was hier weniger gemeint ist als auch der Begriff mind. Wenn ich mind bevorzuge, geschieht dies in der Absicht, dass auch beim deutschen Begriff Gedächtnis eine Wirkung inbegriffen ist. Auf die Performanz des Begriffs werde ich später näher eingehen.
3.2 Paradigmatisches Denken
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3.2 Paradigmatisches Denken Eco (2000, 263) versucht, den Erkenntnisprozess von der ersten Wahrnehmung bis zur Konstitution von (nicht nur wissenschaftlichem) Wissen mit der Struktur der Benutzeroberfläche eines Computers zu vergleichen. »Files« und »directories« weisen auf die Datenstruktur von Dingen hin. Wir nehmen Dinge als Gesamtheit von Eigenschaften wahr, so hat z.B. ein Hund ein Fell und vier Beine. Vergleichbare Dinge, die gleiche Eigenschaften aufweisen wie z.B. Säugetiere werden zum gleichen directory gezählt. Ergeben sich im Laufe des Erkenntnisprozesses weitere Differenzierungen, so werden subdirectories eingefügt. Der Pfad dieser directories und subdirectories gibt Auskunft über die Eigenschaften des files. Das gleiche gilt für wissenschaftliche Taxonomien, wie sie z.B. in der Botanik, der Zoologie etc. verwendet werden. »Eine wissenschaftliche Taxonomie ist nichts anderes als ein Stammbaum von directories und subdirectories, und beim Übergang von den Taxonomien des 17. zu denen des 19. Jahrhunderts hat man den Stammbaum der directories einfach (einfach?) neu strukturiert« (Eco 2000, 264). Trotz der einleuchtenden Ähnlichkeit liegt in dieser Computeranalogie eine Gefahr. Während files äquivalent mit einem realen Gegenstand oder einem psychischen Phänomen sind, sind directories absolut irreal, d.h. leer. Sie weisen lediglich auf einen Weg hin, der das Einordnen und damit das Verstehen der files vereinfachen soll. Aber gerade darum geht es Bruner beim paradigmatischen Modus. Das Einordnen, Zu- und Unterordnen hilft dem denkenden System, einen neuen Gegenstand oder einen neuen Begriff besser zu verstehen. Ich komme nochmals auf Ecos Beispiel des Schnabeltiers zurück. Eco beschreibt die Geschichte der achtzig Jahre dauernden Diskussionen, in welche Kategorie nun das Schnabeltier einzuordnen sei (2000, 277ff). Das Spannende an dieser Geschichte ist weniger die Dauer, sondern vielmehr die Schwierigkeit, mit welcher die Zoologen zu kämpfen hatten, wichtige Eigenschaften von unwichtigen zu unterscheiden. Die Zuordnungsregeln müssen hierarchisiert werden, damit eine konkrete Zuordnung möglich wird. In Bezug auf das Schnabeltier würde man die Spezies am liebsten mehreren Kategorien zuordnen (Reptil, Vogel, Säugetier). Um in der Metapher der Computersprache zu bleiben, wäre hier eine relationale Datenbank gefragt. Ich denke aber, dass dies nicht nur für die Zoologie nicht opportun ist, sondern auch nicht dem paradigmatischen Denken wie es Bruner formuliert entspricht. Einzelne Eigenschaften werden als bedeutsamer erkannt, andere als sekundär. Eco spricht von unauslöschlichen Eigenschaften (2000, 271) oder essentiellen und typischen Eigenschaften. »Bei der Semiose bemerken wir, dass es uns widerstrebt, einige ›faktische‹ Eigenschaften auszulöschen, die uns als wichtiger und charakteristischer als andere erscheinen. Sehr viele Menschen hätten nichts dagegen, den Wal nicht als SÄUGETIER einzuordnen [...] aber auch jemand, der sehr wenig über Wale weiss, hätte wohl Schwierigkeiten, die Vorstellung, Wale leben auf Bäumen, zu akzeptieren« (Eco 2000, 271). Wie soll man also erklären, dass bestimmte Eigenschaften wichtiger sind als andere? Nach Eco werden vom menschlichen Denken ständig
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3 Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung
willkürliche Kategorien gebildet. Für derartige Kategorien lassen sich in der Geschichte zahlreiche Beispiele finden. Ein besonders einfallsreiches Beispiel einer »chinesischen Enzyklopädie« von Borges findet man in Foucault (1974, 17. vgl. auch Schierz 2000, 60). Die Kategorien sind vergleichbar mit willkürlichen Kategorien, die aus dem Erkennen vor-kategorieller Merkmale konstant entstehen. Eco nennt sie deshalb »wilde Kategorien« (267). Dieses Zuordnen erfolgt aber in einem krassen Gegensatz zu einer wissenschaftlichen Taxonomie. Sie gleicht eher einer Alltagstheorie, oder, wie Eco es nennt, einer folk-Kompetenz30. »Eine folk-Kompetenz sagt uns, dass ein Wal einem Delphin ähnelt, eine runde Schnauze hat, eine dreieckige Rückenflosse (und so weiter über Lebensweise, Gewohnheiten, Intelligenz und Eßbarkeit der Wale). Doch könnte man jedes beliebige Merkmal auch auslöschen« (2000, 269). Im Gegensatz dazu sind die Merkmale einer wissenschaftlichen Taxonomie unauslöschlich, weil sie nach Ober- und Unterbegriffen organisiert sind. Gehört also ein Tier zu den Säugetieren, kann es nicht gleichzeitig zu den Reptilien gehören, sonst würde das System zusammenbrechen. Damit ist eine Ambivalenz des paradigmatischen Denkens angesprochen, die es im wissenschaftlichen Kontext zu beachten gilt. Während systematische, wissenschaftliche Taxonomien keine auslöschbaren Merkmale verwenden, beruht das Denken, aber auch das Handlungswissen oft auf Merkmalen, die in sich genommen stimmig sind, aber einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten, also auslöschbar sind. Mit anderen Worten, Alltagshandlungen verwenden andere Zuordnungsregeln als wissenschaftliche Taxonomien. Beiden gemeinsam ist die Methode der Aneignung von Wissen, hier in Form von Kategorien. Ich werde später nochmals auf die Aneignung von Kategorien im Alltag und deren Rezeption in der Entwicklungspsychologie zurückkommen. Zunächst stellt sich die Frage jedoch in Bezug auf die Genese von Kategorien der Wissenschaft. Für Kuhn hat der Wissenschaftstheoretiker die Freiheit, »Regeln an Stelle der Beispiele zu setzen, und jedenfalls grundsätzlich kann er dabei auf Erfolg hoffen. Bei diesem Vorgehen wird er jedoch das Wissen der Gemeinschaft, dem die Beispiele entnommen waren, verändern« (1997, 410). Der Wissenschaftler wird also versuchen, in der Theoriebildung einheimische Begriffe durch abstraktere Kategorialbegriffe zu ersetzen. Mit einheimisch sind Begriffe gemeint, die aus den Beispielen selbst oder aus einem bestimmten begrifflichen oder sozialen System stammen. Der Ersatz solcher empirischer Begriffe durch abstraktere Begriffe ist sowohl mit Chancen als auch mit Gefahren verbunden. Die Chancen liegen offensichtlich darin, dass der allgemeinere Begriff, die Kategorie von mehr Personen verstanden wird als das Spezifische, resp. der einheimische Begriff. Die Gefahr, wie bereits erwähnt, besteht
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Bruner (1990, 33) spricht von Folk Psychologie.
3.2 Paradigmatisches Denken
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darin, dass das Gegenständliche, Vorstellbare und Nachvollziehbare durch den allgemeinen Begriff verloren geht. Letztlich geht es darum, Analogien zu den eigenen einheimischen Begriffen zu finden, die den Vergleich mit anderen Situationen ermöglichen. Aus einer pragmatischen Perspektive könnte man hier einwenden, dass Begriffe durch ihren Gebrauch definiert werden und deshalb die Suche nach dem Allgemeinen nicht nötig ist, weil ihre Anwendung bereits durch die empirische Situation definiert wird. Es geht hier allerdings weniger um eine Wertung der Begriffe, sondern vielmehr darum, dass durch diese Sprachspiele die Sensibilität für das Geschehen und die Möglichkeit, Allgemeines zu entdecken, erhöht wird. Es scheint sich immer mehr abzuzeichnen, dass auch das paradigmatische Denken auf Beispiele, auf konkrete Fälle, wenn nicht sogar auf Geschichten angewiesen ist. Dieses Einzigartige kann, muss aber nicht in einem narrativen Text dargestellt werden. Oft reichen einzelne Begriffe (Schnabeltier als Spezies der Säugetiere) als Beispiele oder einfache Episoden. Aber vielleicht sind narrative Texte auch nötig, um das Allgemeine zu spezifizieren. Ich werde auf den Unterschied zwischen Geschichte und Beispiel später näher eingehen. Zunächst soll an einzelnen Beispielen gezeigt werden, wie sich das Verhältnis vom Allgemeinen zum Besonderen im paradigmatischen Modus des Denkens gestalten kann. Buck unterscheidet dabei grundsätzlich zwei Denkrichtungen31 (wobei hier Richtung wörtlich gemeint ist): die epagogische und apagogische Form der Analogie. »So lassen sich also zwei Grundformen der Analogie mit prinzipiell gegenläufiger Verstehensrichtung unterscheiden. Die erste geht vom Besonderen zum Allgemeinen, auf dessen Verständnis sie den Adressaten der Verständigung erst bringt. Die andere geht vom Allgemeinen zum Besonderen; sie setzt das Verständnis des Allgemeinen voraus, um das schon Verstandene zusätzlich noch im eigentlichen Sinn des Wortes zu veranschaulichen« (Buck 1989, 230). Der epagogische Vergleich macht einen Begriff überhaupt verständlich, der apagogische Vergleich macht einen begrifflichen Sachverhalt zusätzlich fassbarer. Zunächst zur apagogischen Analogie32. 3.2.1 Vom Begriff zum Beispiel Wenn ich im Folgenden von Begriff spreche, möchte ich damit auf das Verhältnis vom Besonderem zum Allgemeinen hinweisen. Begriff steht synonym für Kategorie, Modell, Konzept oder auch Theorie, sofern damit Subsumptionsregeln gemeint
31 32
Der Begriff Denkrichtung ist vom Begriff Denkstil zu unterscheiden, wie ihn Bromme (1992, 135) für die bestimmte Form des impliziten Wissens von Experten eingeführt hat. Die apagogische Analogie ist nicht zu verwechseln mit dem apagogischen Beweis, bei dem durch das Aufzeigen der Unrichtigkeit des Gegenteils ein indirekter Beweis geführt wird.
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3 Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung
sind. Das Verhältnis von Allgemeinem zum Besonderen ist allerdings historisch belastet. »Mühsam ist dieses Geschäft der Wiederentdeckung des Zusammenhangs von analogisierender Belehrung und Lebenspragmatik deshalb, weil wir es gegen die mächtige Herrschaft einer vorwiegend ‚theoretischen‘ Betrachtung und Methodenreflexion im Gefolge des Wissenschaftsbetriebs des 19. Jahrhunderts betreiben müssen« (Buck 1989, 180). Mit dem Begriff wird auf ein kategoriales Wissen verwiesen, das einen wissenschaftlichen Konsens nachweisen kann. Weniger entscheidend ist dabei die Quelle der Erkenntnisse oder der Zugang zu ihr. Ob die Theorien, Modelle und Prämissen aus quantitativen, qualitativen oder hermeneutischen Forschungen stammen, ist weniger ausschlaggebend als die Relevanz der Aussagen. Für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung ist entscheidender, wie vorhandene Begriffe generalisiert werden oder wie sich die Konstruktion und Genese von Wissen (vgl. Oelkers 2004) gestaltet. Ein Beispiel – in diesem Sinne ein Beispiel für den Vergleich von narrativen Texten mit dem paradigmatischen Modus des Denkens und nicht ein Beispiel für eine Theorie – soll dies verdeutlichen: Snowboarden (4) (a)
Am nächsten Tag bestand meine Aufgabe darin, die Mädchen von 8.00 bis 12.00 Uhr im Snowboardfahren zu unterrichten. Morgens um 8.00 Uhr traf ich meine Gruppe vor dem Sportzentrum. Die Mädchen waren noch müde und es gelang mir nicht so recht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, was mich ein wenig verunsicherte. Anschliessend gingen wir gemeinsam zur Gondel, die uns bis zur Bergstation beförderte. Die Sonne hatte es noch nicht geschafft, den Nebel zu vertreiben und somit waren die Sichtverhältnisse schlechter als am vorderen sonnigen Tag.
(b)
Ich teilte meinen sieben Jugendlichen mit, dass wir in 100 Meter Entfernung von der Gondelstation starten werden. Meine Worte: »Nun stellt euch alle im Kreis auf» wussten sie sofort als Vorbereitung zum Aufwärmen zu interpretieren und riefen im gemeinsamen Chor: «Oh, nein, wir wollen uns aber nicht aufwärmen, das ist blöd!«.
(c)
Ich versuchte, mit Erklärungen das Motivationsbarometer etwas in die Höhe zu treiben, indem ich sagte, dass es sich ja überhaupt nicht ums Aufwärmen handle, sondern um ein Spiel. Doch meine Argumente wurden sofort durchschaut und schon sassen alle sieben im Schnee und liessen die Köpfe hängen.
(d)
Nächster Versuch: »Wir machen jetzt eine gemeinsame imaginäre Reise«. Die beiden jüngsten Mädchen waren die ersten, die sich meiner »Reise« anschlossen und dann kamen auch die anderen fünf, zwar mit Kommentaren und grossem Murren in den Kreis und machten mit. Nach einer weiteren Übung verkürzte ich die Aufwärmphase, da mittlerweile von allen Mädchen die Rufe nach dem Snowboardfahren lauter wurden.
(e)
Startschuss: Jetzt kam die Gruppe richtig in Bewegung, die Snowboards waren rasch angelegt und schon fuhren wir gemeinsam zum nächsten Lift.
(f)
Mit den Fahrübungen auf der Piste sah es ähnlich aus: Nach meinen anfänglichen Versuchen, den Jugendlichen durch Fahrübungen etwas mehr Sicherheit und Technik beizubringen, hörte ich auch damit auf. Es war für mich zu schwierig, mein Programm durchzuziehen, welches nur mit grossem Widerstand und teilweise gar nicht ausgeführt wurde.
(g)
In der letzten Viertelstunde entschied ich mich dazu, den Mädchen freien Lauf, beziehungsweise freie Fahrt zu lassen, das hiess, jedes konnte auf der vereinbarten Piste so viel und so schnell fahren wie es wollte. Ab diesem Zeitpunkt war die Atmosphäre schlagartig viel lockerer. Ich begleitete die Mädchen noch bis zur abgemachten Zeit, um mit ihnen dann abschliessend zum vereinbarten Treffpunkt zu fahren.
3.2 Paradigmatisches Denken
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Das Beispiel stammt aus der Abschlussarbeit eines Studenten. Er kennt die Klasse nicht sehr gut, denn er unterrichtet sie nur als Student in einem Schneesportlager. Sein Interesse an einer didaktischen Reflexion hat die (fehlende) Motivation der Schülerinnen für eine auf den ersten Blick doch sehr motivierende Tätigkeit, nämlich Snowboarden, geweckt: »Oh, nein, wir wollen uns aber nicht aufwärmen, das ist blöd!« (b). Wenn man diesen Satz weiter verfolgt und seine Hintergründe untersuchen will, ergeben sich einige interessante Details. Sieben Mädchen verweigern sich mehr oder weniger dem vorgeschlagenen Aufwärmen und wollen direkt auf die Piste. Erst die Idee des Lehrers, sie mit auf eine »Reise« zu nehmen, bringt die Gruppe wieder in das Handlungsgeschehen der ursprünglichen Absicht zurück, vielleicht hatten sie aber einfach nur Mitleid mit dem Studenten, der sich in einer Lern- und Prüfungssituation befand. Handelt es sich hier lediglich um ein Problem der Motivation oder sind die Gründe für das Scheitern woanders zu suchen? Der Lehrer will die vorbereitete Lektion nach seinem Schema durchführen und scheitert am fehlenden Engagement der Schülerinnen. Wahrscheinlich geht der Student hier von einem verkehrten Unterrichtsverständnis aus. Auch wenn er sich selbst in einer Lernsituation befindet, steht nicht er im Zentrum der Lehrabsicht, sondern die Schülerinnen. Ziel des Unterrichtens ist nicht die Durchführung seines Plans, sondern, dass die Schülerinnen etwas Sinnvolles Lernen. Vielleicht lohnt sich hier, die Flip-Flop-Technik (vgl. Strauss/Corbin 1996, 64f) anzuwenden. Was würde es bedeuten, den Unterricht nicht nach dem Plan des Lehrers, sondern nach den Wünschen der Schüler auszurichten? Schliesslich handelt es sich hier um eine im schulischen Kontext nicht immer anzutreffende Situation: Die Schülerinnen sind interessiert am Unterrichtsinhalt. Sie sind motiviert, Snowboard zu fahren, aber nicht, sich aufzuwärmen, wie es dem Plan des Studenten entsprach. Diese Gedanken führen zum Begriff der Motivation. Auch der Student folgt dieser Fährte und findet sich in seinem Anspruch bestätigt, die Schülerinnen motivieren zu müssen. Er stellt folgende Punkte fest, die eine Demotivation der Schülerinnen ausgelöst haben könnte33: das frühe Aufstehen am Morgen das schlechte Wetter ihre Enttäuschung durch meine Forderung nach Unterricht, anstelle von «freiem Snowboarden» kein Ehrgeiz oder keine Lust zum Lernen die Schülerinnen spürten meine eigene Unsicherheit und schwindende Bestimmtheit Die Interpretation des Lehrers lässt keine Fragen offen, die Schülerinnen sind aufgrund verschiedener Faktoren nicht motiviert, an seinem Snowboard-Unterricht
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Die folgenden Interpretationen des Studenten stammen aus einer Hausarbeit, sind aber nicht vollständig dargestellt.
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teilzunehmen. Dass die fehlende Motivation der Schülerinnen weniger mit seiner Person (spürten meine Unsicherheit) und mehr mit der unglücklichen Situation seiner Planung zu tun haben könnte, wird ihm nicht bewusst. Sein Literaturbezug in der Interpretation bringt ihn deshalb unweigerlich zum Begriffsgegensatz intrinsische – extrinsische Motivation: Ich hatte mir natürlich gewünscht, mit intrinsisch motivierten Schülern zu arbeiten. Meine Enttäuschung war entsprechend gross, als ich feststellen musste, dass dies nicht der Fall war. Mit dem Begriff der Motivation findet der Student die Fabel der Geschichte. Die Fabel hilft ihm, entsprechendes kategoriales Wissen zu finden und gleichzeitig spezifische Fragen an dieses zu richten. In seinem Ausbildungsprozess hilft es, die zur Geschichte gefundenen Theorien und Konzepte narrativ zu memorisieren und die Behaltenssicherheit zu erhöhen. Durch den narrativen Text erhält die Theorie einen Anker, der es ermöglicht, das notwendige Wissen in vergleichbaren Handlungssituation wieder abzurufen. Gleichzeitig wird verhindert, dass sich kategoriales Wissen und Handlungspraxis durch ihre unterschiedlichen Ordnungssysteme gegenseitig blockieren. Ich werde später auf den performativen Aspekt von narrativen Texten zurückkommen. Allerdings wird mit diesem Erkenntnisprozess das übliche Verhältnis von kategorialem Wissen und praktischem Können auf den Kopf gestellt. Nicht die Wissenschaft stellt ein geeignetes Beispiel zur Theorie, sondern das Beispiel sucht gleichsam nach der passenden Theorie. Eine solche Deutung des Beispiels wirft die Frage nach dem Erkenntnisweg auf. Bisher wurde das Beispiel so dargestellt, dass der Student, aufgrund seiner Geschichte nach Begriffen gesucht hat. Denkbar wäre aber auch, dass er – im Sinne Bucks – vom Begriff der Motivation ausgegangen ist und nach einer passenden Geschichte gesucht hat. Manches spricht dafür, dass der Student dem apagogischen Weg des Beispiels gefolgt ist, also aufgrund der Kenntnis der Modelle zur intrinsischen und extrinsischen Motivation auf diese Geschichte gestossen ist und damit die Theorie anschaulicher, konkreter macht. Damit wird der Erkenntnisprozess der Induktion34 zur Abduktion. Ein Text wird einem Begriff untergeordnet. Der narrative Text wird zum exemplarischen Beispiel. Das Denken im narrativ mode wird zum Denken im paradigmatic mode. Diese Umkehrung des Denkens ist nicht unbedeutend. Denn genau betrachtet findet der Student in der Umkehrung des Prozesses, also vom Motivationsmodell zu seiner Geschichte, nicht die Fabel, sondern lediglich deren Topic, der durch die Begriffe »extrinsisch und intrinsisch« gegeben ist. Der
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In Anlehnung an Buck verwende ich den Begriff »Induktion« bewusst nicht forschungstheoretisch, sondern pädagogisch. »Beides, die Verständigung und das Lernen, soll im folgenden auf eine Struktur hin ausgelegt werden, die wir als Induktion zu fassen versuchen. Es ist klar, dass dazu der übliche, wissenschaftstheoretische Begriff der Induktion nicht ausreicht. Es gibt jedoch in der Neuzeit neben dem wissenschaftstheoretischen auch einen pädagogischen Begriff, der Induktion, an den hier zu erinnern ist« (1989, 2).
3.2 Paradigmatisches Denken
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Frage nach einem epagogischem oder apagogischem Erkenntnisgang schliesst sich die Frage an, ob dem Beispiel immer der Begriff folgt oder ob es nicht vielmehr mehrere Beispiele braucht, die als Sammlung zum Begriff, resp. zum Allgemeinen führen. Im Folgenden werde ich auf den epagogischen Vergleich näher eingehen. 3.2.2 Von Beispiel zu Beispiel Die Aneinanderreihung von Beispielen lässt sich als Erkenntnisprozess anschaulich an sprachlichen Verknüpfungen von Kindern aufzeigen: »Worauf bringt mich aber ein Beispiel? Nehmen wir an, ich möchte die Mittel-Zweck-Beziehung, d.h. die umgangssprachliche Bedeutung der Ausdrücke (der sogenannten ›Begriffe‹ ) ›Mittel‹ und ›Zweck‹ einem Kind klarmachen und führe als Beispiel für ›Mittel‹ Bleistift und Schreibpapier und für ›Zweck‹ die Mitteilung einer Nachricht, eines Gedankens, eines Gefühl an einen anderen an. Worauf wird das Kind dadurch gebracht?« (Buck 1989, 203). Könnte man sagen, dass das Kind dadurch auf die Begriffe Mittel und Zweck kommt oder die Mittel-Zweck-Relation versteht? Buck weist hier auf eine entscheidende Schwierigkeit hin: »Denn das Kind antwortet ja spontan nicht mit der Formulierung eines Begriffs, sondern mit neuen Beispielen für dasselbe. Aber eben damit zeigt es, das es das Beispiel durchaus verstanden hat« (ebd.). Das paradigmatische Denken ohne begriffliche Kategorien, scheint ein wesentlicher Aspekt der kognitiven Entwicklung zu sein. Vergleichbar mit den von Piaget dargestellten Denkfehlern von Kindern lässt sich am bereits erwähnten Beispiel der fehlenden Differenzierung zwischen Strassenbahn und Eisenbahn auch zeigen, dass der fehlende kategoriale Begriff nicht der Grund sein kann, dass es zu Kategorienfehlern kommt. Es handelt sich bei Kindern wohl eher um einen Denkfehler im Gang von Beispiel zu Beispiel. Ältere Kinder oder Erwachsene unterliegen diesem Denkfehler nicht weniger, weil sie die korrekten Bezeichnungen resp. Kategorien kennen, sondern weil sie die Beispiele anders attribuieren und verknüpfen. Das wirft die Frage auf, ob dieses Denken nicht auch für Erwachsene als wichtiges Denkmuster denkbar wäre. Kuhn (1997, 389ff) bringt in diesem Zusammenhang ein weiteres Beispiel in die Diskussion ein. Ein Knabe sieht im Park Schwäne, Gänse und Enten. Mit Hilfe der Anweisungen seines Vaters lernt er allmählich, diese Vogelarten zu unterscheiden. Der Prozess ist vergleichbar mit der Kategorisierung von Begriffen, wie ihn auch Eco (2000) beschreibt und den ich oben dargestellt habe. Typische, unauslöschliche Eigenschaften werden von nebensächlichen unwesentlichen Eigenschaften unterschieden. Die Farbe der vorbeifahrenden Fahrzeuge ist weniger entscheidend als deren Fahrgrundlage (Schienen/Strasse). Oder auf Kuhns Beispiel bezogen: Ob die Vögel fliegen können, ist für diese Differenzierung akzidentiell. Unauslöschlich hingegen sind die Eigenschaf-
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3 Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung
ten, die sie zu Vögeln machen35. Was Hänschen – so der Name von Kuhns Protagonist – in diesem Lernprozess an Methodenkompetenz erwirbt, kann für ihn aber auch später in einem anderen Kontext hilfreich sein. »Doch er könnte ja Wissenschaftler werden, und dann wäre die Methode, die er bei seinem Zoobesuch gelernt hat, immer noch brauchbar. Dass er sie tatsächlich anwendet, würde am deutlichsten werden, wenn er Taxonom würde« (Kuhn 1997, 408). Die Unterscheidung zwischen Schwänen und Gänsen zeigt in ihrer Einfachheit die Komplexität der Begriffs, resp. Kategorienbildung. Ein Schwan von einer Gans zu unterscheiden, scheint doch nicht so einfach, wie Erwachsene dies auf den ersten Blick meinen könnten. »Trotz seiner übermässigen Einfachheit dürfte das Beispiel zeigen, warum ich stets behaupte, gemeinsame Beispiele hätten wesentliche Erkenntnisfunktionen, die einer Angabe von Kriterien, bezüglich derer sie Beispiele sind, vorangehen« (Kuhn 1997, 410). Damit kann festgehalten werden, dass auch Erwachsene mit dem Schema von Text zu Text oder von Beispiel zu Beispiel lernen. Die Frage, die sich nach wie vor stellt, lautet aber: Wie kommt man im paradigmatischen Denkmodus zu einem allgemeineren übergeordneten Begriff? Ich habe bereits weiter oben darzustellen versucht, wie im wissenschaftlichen Denken solche Begriffe bestimmt werden. Im Alltag werden diese Begriffe wohl weniger exakt und sicherlich kontingent bestimmt. Oft sind diese Ränder im alltäglichen Gebrauch kontextabhängig und weniger durch Regeln definiert36. Diese begriffliche Unsicherheit bezieht sich allerdings auch auf pädagogische Begriffe und Konzeptionen. »Die von Kuhn anvisierte Sorte von Begriffen, die ihre Bedeutung erst durch Beispiele erhalten, spielt in der sportdidaktischen Verständigung über unterrichtliche Erfahrung eine wesentliche Rolle. Sie umfasst Begriffe, die recht vage und unexakt – aber deshalb keineswegs unnütz sind. Sie sind nicht in der Absicht der Eindeutigkeit wie Begriffe der Mathematik methodisch erzeugt und kontrolliert» (Schierz 2000, 61). Erfahrung wird in diesem Sinn über Beispiele geordnet, resp. mit einem paradigmatischen Anker der Erinnerung zugänglich gemacht. Das Beispiel dient deshalb im Alltagsgebrauch nicht nur der Veranschaulichung, sondern auch der Präzisierung der Begriffe. Die angesprochene Unsicherheit wird im pädagogischen Wissenschaftsbetrieb durch eine historische Unsicherheit verstärkt, weil sich hinter den theoretischen Begriffen oft ganze Wissenschaftsgeschichten37 verstecken. Die hier angesprochenen 35 36
37
Interessant auch die Ergänzung von Schierz (2000, 60), der mit einer Variante zu Kuhns Schwanengeschichte den Begriff »Schlaucher« einführt. Laut einer Untersuchung von Labov (vgl. Edelmann 1996, 269) ist ein wesentlicher Aspekt, ob ein Gefäss als Tasse (cup) oder als Schüssel (bowl) bezeichnet wird, deren Inhalt. Ein Gefäss mit Kaffee wurde eher als Tasse bezeichnet als das gleiche Gefäss gefüllt mit Schnittblumen. Dabei spielte der Henkel eine weitaus weniger bedeutsame Rolle. Die Untersuchung zeigt, dass im Alltag die Begriffe vager und entsprechend unklarer auf Regeln bezogen sind. Vgl. dazu Silvers, Robert B. (Hrsg.): Verborgene Geschichten der Wissenschaft. Berlin 1996.
3.3 Narratives Denken
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pädagogischen Begriffe sind demnach meist auf Geschichten angewiesen, auch im paradigmatischen Denkmuster. Die Verwendung von narrativen Texten im paradigmatischen Denkmuster entspricht letztlich einem klassischen philosophischen Konzept, dem rhetorischen Muster des Argumentierens. Ohne auf diesen Aspekt inhaltlich näher einzugehen38, werde ich später an einem Beispiel das Textmuster darzustellen versuchen, das diesem Denkmodus folgt und auf Geschichten Bezug nimmt (vgl. 3.4). Zunächst jedoch zum zweiten, von Bruner idealtypisch ausdifferenzierten Denkmodus. 3.3 Narratives Denken Im Gegensatz zu Bruner (1985) unterscheidet Jean Mandler weitere Modi von mentalen Strukturen. Den paradigmatischen Modus (kategoriale Strukturen) ergänzt sie durch Formen von Matrizes und Serien. Auch der narrative Modus erfährt eine Ausdifferenzierung und Ergänzung durch ein Ereignisschema und ein Szenenschema. Auf die erste Ausdifferenzierung möchte ich hier nicht weiter eingehen, handelt es sich doch dabei um Strukturen, die insbesondere in Zusammenhang mit dem verbalen Lernen von Kindern ausführlich untersucht worden sind. Anders bei den narrativen Schemata. »Instead of recalling lists of animals, fruits, and furniture, or answering questions about robins, chickens and birds, subjects now recall stories, and tell us about their ›scripts‹ for going to restaurant or their knowledge of familar places. The organization of these kinds of knowledge is not the same as that of taxonomic structures« (Mandler 1984, x). Der narrative Modus, wie ihn Mandler verwendet, scheint insofern interessant, weil sie ihn im Gegensatz zu Bruner nicht nur ausdifferenziert, sondern auch ergänzt. Geschichten enthalten zwar in meinem Verständnis immer eine Szene und ein Ereignis, weshalb sie auch als spezifische Form des story schema bezeichnet werden könnten. Spannend ist allerdings die Unterscheidung in Bezug auf die Qualität und den Umfang des Schemas oder Rahmens, in dem Erfahrungen verarbeitet werden. Ereignisse beziehen sich auf einen kurzen Aspekt und reduzieren damit die Zeitdimension. Szenen reduzieren die verschiedenen Dimensionen, indem sich das Gedächtnis durch die räumliche Orientierung auf eine bildliche Anordnung fixiert. Ein event schema enthält nach Mandler Wissen über das Geschehen in gegebenen Situationen, oft auch, wie sich die beteiligten Personen zu verhalten haben. Ein Ereignisschema ist hierarchisch organisiert und beschreibt allgemeines Wissen über den Ablauf eines Ereignisses. Die hierarchische Struktur erinnert an die Struktur von kategorialem Wissen. Der Unterschied liegt in der Verbindlichkeit der Anordnung. »It differs from a consist of class inclusing relations. A dog is an example of the eating dinner; it is part of eating dinner« (Mandler 1984, 14). Dabei sind die 38
In Bezug auf die Sportdidaktik vgl. dazu ausführlich Scherler/Schierz 1993.
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3 Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung
einzelnen units sowohl horizontal als auch vertikal miteinander verbunden. Als Beispiel nennt Mandler eine Kindergeburtstagsparty. Typischerweise gehört dazu z.B. ein Geburtstagskuchen, auch wenn dieser in einer speziellen Situation einmal nicht gegessen wird. Die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Teilen eines Ereignisses und dem Ganzen sind zwingend. Es ist also nicht der Kuchen, der eine Kindergeburtstagsfeier ausmacht, aber sein Verhältnis zu anderen Teilen (Gegenständen und Handlungen), die sehr rigid aufeinander treffen müssen. Ein scene schema teilt viele seiner Charakteristika mit dem event schema. Es scheint, dass es kein absolutes Schema für Küchen oder Schlafzimmer, Supermärkte oder Bahnhöfe gibt. Aber einzelne Teile der Szene werden durch ihr eigenes Schema kontrolliert. So weiss man, dass sich der Abfalleimer in der Regel unter dem Spülbecken befindet. Oder man erkennt den Billettschalter auch ohne die blauweissen Piktogramme lediglich durch seine räumliche Zuordnung. Auch wenn dies ausnahmsweise nicht der Fall sein sollte, gehört dieses Wissen zum Szenenschema, das sowohl die Orientierung als auch die Erinnerung verbessert. Auch hier kann eine gewisse Rigidität der einzelnen Teile zum Ganzen festgestellt werden, das sich nicht in der Unmittelbarkeit des Einzelnen zeigt, sondern im Verhältnis zum Ganzen. Ähnliches lässt sich für das story schema festhalten. »The contention of all story grammars is that stories have an underlying, or base, structure that remains relatively invariant in spite of gross differences in content from story to story« (Mandler 1984, 22). Dazu gehören einige konstituierende Elemente. Traditionelle Geschichten beginnen mit einem setting, welches die Protagonisten und andere Personen darstellt, oft verbunden mit Angaben über Zeit und Raum. Diesem setting folgen eine oder mehrere Episoden, welche zusammen den plot der Geschichte bilden. Diese Episoden wiederum bestehen aus einem oder mehreren Ereignisse, die ihrerseits über einen Anfang, eine Entwicklung und ein Ende verfügen. Es ist nicht die Anzahl Episoden oder Ereignisse, die eine Geschichte bestimmen, sondern deren strukturelle Anordnung. Man sieht deutlich, wie sich Mandler beim story schema an Märchen und Geschichten orientiert. »In the modern world, filled with magazines and books, stories take on complex and varied structures that are hard to trace to their presumed roots in the folktales of the oral tradition. It is those simpler forms that are the focus here. These are the stories of our childhood, the ones that our parents read to us, and the ones frequently found in school readers« (Mandler 1984, 17). Wie bereits Bruner feststellt, sind Märchen deshalb interessant, weil ihre Geschichtsstruktur (story grammar structure) der Struktur von Alltagstheorien gleicht. Weil Alltagstheorien aber schwierig zu identifizieren sind, bringen Geschichten diese – aufgrund der ähnlichen Struktur – besser in das Bewusstsein. Das Wissen, das unsere Prozesse im Alltag lenkt, ist für eine Introperspektive nicht greifbar. Prozedual- oder Handlungswissen wirkt in diesem Sinne ausserhalb des Bewusstseins. Hier können Geschichten den Zugang schaffen, um dieses verborgene Wissen zu
3.3 Narratives Denken
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identifizieren. Den Grund dafür findet Mandler in der Nähe von Geschichtsstrukturen (story grammar) und dem mentalen Schema, das Alltagsgeschichten abbildet (story schema). »The close connection between a story grammar and a story schema arises from the fact that the story schema is a mental reflection of the regularities that the processor has discovered (or constructed) through interacting with stories« (ebd. 18). Es ist der Zusammenhang grammatikalischer Strukturen von Erzählungen (story grammer) und mentaler Strukturen des Denkens (Geschichten), der hier das Interesse weckt. Sollte es wirklich so sein, dass sich narrative Formen der Erzählung als narrative Denkweisen im Gedächtnis (mind) wiederfinden, dann lässt sich aus Erzählungen auch etwas über das Denken des Autors aussagen. Narrative Strukturen fördern nicht nur die Reflexionsleistung, sondern auch das Verständnis von Ereignissen, Situationen und Handlungen. »Such knowledge is abstract because it is not dependent upon the particular contents of a story. Its abstract character is reminiscent of musical schemas, which are also independent of the particular sequence of notes employed in agiven composition. The abstract character of such schemas means that people cannot always verbalize (Hrvh. R. M.) their knowledge about them; nevertheless, the knowledge can be shown influence the way in which they comprehend and remember a particular production« (ebd. xi). Die Wirksamkeit dieser abstrakten Strukturen zeigt sich sowohl in der unmittelbaren Handlungsrelevanz als auch in der Zunahme der Verständlichkeit. Die Wichtigkeit von narrativen Strukturen für die Sinnbildung zeigt sich besonders in nicht-literaten Gesellschaften. So haben Michelle und Renato Rosaldo (1980) am Beispiel der Ilongots gezeigt, wie Erzählungen nicht nur das individuelle, sondern auch das kulturelle Gedächtnis fördern. Demnach werden wichtige soziale Strukturen und Regeln nicht nur durch soziale Einbettung übertragen, sondern bewusst durch inszenierte Erzählungen. Dieser orale Aspekt von Erzählungen weist auf die Ambivalenz von narrativen Texten hin. Einerseits bestätigt die Mündlichkeit ein Äquivalent in mentalen Strukturen, andererseits macht es in unserer Kultur wenig Sinn, auf eine Schriftlichkeit zu verzichten. Trotzdem ist die Praxis von Alltagshandlungen – aber auch von professionellem Handeln – auf nicht-literates Wissen angewiesen. »Narrative Strukturen sind der Praxis der sozialen Interaktion bereits inhärent, bevor sie sprachlich ausgedrückt werden können« (Bruner 1997, 90). Dies macht es umso notwendiger, in der Repräsentation von Problemen, Handlungen und Prozessen auf narrative Strukturen zu achten. Die Wirksamkeit für das Erinnerungsvermögen ist eng verknüpft mit der Möglichkeit, Verständnis zu schaffen. Auch hier zeigt Mandler, dass narrative Strukturen das Verstehen unterstützen. Einerseits wird niemand behaupten, dass man einen Gegenstand besser versteht, nur weil man ihn in einer hierarischen Struktur einordnen kann. Dieser »level effect« wird aber dem paradigmatischen Denken oft unterstellt. Andererseits kann bereits bei Kindern ein abstraktes Verständnis dafür, was in
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Geschichten passiert, festgestellt werden. »From an early age people develop expectations about the overall form of traditional stories; they learn that these stories involve protagonists who have goals and who engage in attempts to achieve those goals, and that goals and events cause other goals and events in predictable ways« (Mandler 1984, x). Solch abstrakte narrative Strukturen erlauben es, Analogien herzustellen und machen eine neue Situation verständlicher. Oder in Anlehnung an Marquard (1986, 34f): Das Zufällige erhält Sinn, weil es durch den Vergleich mit Ähnlichem verständlicher wird. Mandlers Schematheorie zeichnet sich allerdings nicht nur durch ihre begriffliche Ausdifferenzierung der Dichotomie Bruners aus. Interessant sind auch ihre empirischen Daten, die belegen, dass alles, was nicht narrativ strukturiert wird, dem Gedächtnis eher verloren geht. Mandler dokumentiert in der Studie, dass ihre Versuchspersonen unabhängig vom Inhalt der vorgelegten Geschichten deren Strukturen meist ähnlich einschätzen. Diese Strukturen gleichen erstaunlicherweise meist den grammatikalischen Strukturen, wie sie von den Forschern aufgrund linguistischer Kenntnisse gewonnen wurden (Mandler 1984, 42f). Damit weist Mandler auf eine kanonische Struktur von Alltagsgeschichten hin, die ebenfalls in Märchen und Kindergeschichten zu finden ist. Demnach ist das story schema meist intersubjektiv, und es können keine individuelle Strukturwahrnehmungen ausgemacht werden. Dies betrifft sowohl das Geschlecht, die Schulbildung, das Alter (mit Einschränkungen) als auch den kulturellen Hintergrund. An diese ersten Ergebnisse schliesst sich die Frage an, ob die rekognoszierten Geschichtsstrukturen einen Einfluss auf das Verständnis von Geschichten haben. Auch hier kann Mandler nachweisen, dass die Strukturen von Geschichten das Verstehen einer Geschichte beeinflussen. (1984, 61f). Dabei unterscheidet sie als wesentliches Strukturelement skripts von stories. Skripts haben keine überraschende Wende, ihr Ablauf entspricht den Erwartungen. Übertragen auf den Alltag regeln Skripts den Ablauf vieler Tätigkeiten, wie in ein Restaurant gehen oder eine Physiotherapeutin aufsuchen. Erst die überraschende Wende, das Unerwartete machen ein Skript zur Geschichte. Oder wie Schierz formuliert: Geschichten stellen »durchkreuzte Erwartungen« (1997, 43) dar. Diese Unerwartete, das eine Geschichte ausmacht, heftet die Ereignisse in unserem Gedächtnis fest. »Simple reactions are typically read faster than other statements in stories and are also poorly recalled« Mandler 1984, 72). Man muss beim Lesen offensichtlich über bestimmte Ereignisse stolpern, damit sich diese in der Erinnerung einprägen. Diese empirischen Ergebnisse zeigen sich auch in Alltagserfahrungen. An unerwartete Veränderungen im Tagesablauf kann man sich noch Tage später erinnern, während übliche Ereignisse schnell vergessen gehen. Aber es sind nicht nur nackte Fakten, die das Verständnis und die Handlungsrelevanz verbessern, sondern auch ihre Auschmückung durch passende Attribute. Mandler kann empirisch nachweisen, dass einfache Sätze, die sich auf die wesent-
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lichsten Fakten beschränken, weniger im Gedächtnis haften bleiben als mehr oder weniger umfangreiche Beschreibungen (ebd., 62). Attribute fördern demnach das Verständnis von Geschichten und widersprechen der Ansicht, dass das Erinnerungsvermögen rein quantitativ bestimmt wird. Oder um den die Metapher des Computers ein weiteres Mal zu bemühen: Man kann sich aus dem Grund nicht mehr erinnern, dass die Festplatte voll oder gelöscht wäre, sondern weil der Anker, das directory fehlt. Damit wird eine Mikrostruktur von Geschichten angesprochen, die es nebst der bereits erwähnten Makrostruktur (story grammer) ebenfalls zu beachten gilt. Die Untersuchungen von Mandler decken den Zusammenhang von narrativen mentalen Strukturen und narrativen Strukturen in Erzählungen auf, den selbst radikale Konstruktivisten nicht leugnen (Mancuso 1986, 91). Dieser Aspekt lässt sich auch in der Bedeutung der gesprochenen Sprache in Erzählungen nachweisen. Die Wirksamkeit dieser Strukturen zeigt sich weder durch das Abbild der Realität als mentale identische Repräsentation noch durch eine exakte Wiedergabe der mentalen Strukturen in einem geschriebenen Text. Man könnte sie als strukturelle Ähnlichkeiten bezeichnen, die das Verhältnis von Präsentation als Text und Repräsentation als mentale Funktion bestimmen. »She [Mandler] understands that the four structures encode and store information according to different formats and that the variations in time required to learn and recall information organized by these formats are the result of distinct strategies of organization« (Polkinghorne 1988, 110). Offensichtlich äussert sich die Performanz oder die Wirksamkeit von Erzählungen für das Verständnis von Ereignissen nicht durch eine deckungsgleiche Repräsentation, sondern durch ihre Organisation in narrativen Strukturen. Das erinnert an Theorien in der Literaturwissenschaft, die ebenfalls davon ausgehen, dass für das Verstehen nicht detaillierte Kenntnisse des Geschehens nötig sind, sondern eine Subsumption unter narrative skripts. Martinez/Scheffel: »...dass das ›Verstehen‹ einer Geschichte nicht unbedingt voraussetzt, über die genaue kausale Verknüpfung der einzelnen Ereignisse Bescheid zu wissen. Eine individuelle Geschichte zu verstehen kann auch einfach nur heissen, sie unter ein bestimmtes ›script‹ zu subsumieren (1999, 151). Dieser Subsumptionsmechanismus des Denkens ist vergleichbar mit der Metapher knowledge landscapes, die von Clandinin/Conelly (1995) in den Diskurs eingebracht worden ist. In diesen landscapes werden eigene Geschichten mit anderen – eigenen und fremden – Geschichten verglichen, um damit Analogien zu bilden, die für den weiteren Denkprozess von Bedeutung sind. Vergleichbar zum Erkenntnisprozess im paradigmatischen Denkmodus lassen sich auch im narrativen Modus zwei Erkenntniswege unterscheiden. 3.3.1 Von Geschichte zu Geschichte Aufgrund des bis jetzt Dargestellten könnte man einwenden, dass der Gebrauch von narrativen Texten lediglich der Genese weiterführender Fragen dient. So wie
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radikale Empiristen dem Medium der Erzählung lediglich die Funktion zugestehen, Thesen zu entwickeln, die in einem späteren Verfahren überprüft werden müssen. Narrativen Texten kann aber eine weit grössere Performanz eingeräumt werden als lediglich solche Fragen zu entwickeln. Das im paradigmatischen Modus generierte Wissen kann nicht jederzeit, insbesondere nicht unter dem Druck des Handelns abgerufen werden39. Im Gegensatz dazu greift das Denken im narrativen Modus auf Strukturen von Wissen zurück, das auch im Alltag, resp. im Stress der Handlung greifbar wird. Eine weitaus wichtigere Wirkung des narrativen Modus liegt m.E. deshalb in der Möglichkeit literarischer Erkenntnis. Die literarische Erkenntnis ergibt sich aus dem Vergleich ähnlicher Situationen. Rittelmeyer/Parmentier bezeichnen den Vergleich von unterschiedlichen Texten zum gleichen Thema als komparative Interpretation. »Was ist das Besondere an diesem Text, wodurch hebt er sich von anderen ab, was hat er mit anderen Texten gemeinsam [...]« (Rittelmeyer/Parmentier 2001, 52). Dieser Vergleich kann systematisch erfolgen (vgl. Schierz 1986, 35), aber auch unbewusst. Einzelne Komponenten der Geschichte werden beibehalten, andere ausgewechselt. Die narrative Struktur bleibt erhalten, was den Vergleich überhaupt erst ermöglicht. »In Wirklichkeit wendet man die komparative Interpretation – in der Regel ohne es zu wissen – auf jeden Text an: Wenn man beispielsweise in den Unterhaltungen spielender Kinder bestimmte rhetorische Muster zu entdecken meint, dann erfolgen solche Feststellungen vor dem Hintergrund eines an Texten bereits gewonnenen Vorwissens über ›rhetorische Muster‹. Wird die komparative Interpretation indessen methodisch in den Blickpunkt gerückt, dann geht es tatsächlich um den Vergleich verschiedener Texte, die sich wechselseitig kommentieren und in ihrem Sinngehalt aufhellen« (Rittelmeyer/Parmentier 2001, 57). Die Performanz einzelner Geschichten im Vergleich zu anderen liegt deshalb nicht in der Aneinanderreihung von ähnlichen Episoden, sondern im Vergleich von ungleichem Gleichen. Der Gehalt, resp. die didaktische Aussagekraft, wird nicht nur additiv vergrössert, sondern erst durch den wechselseitigen Kommentar erzeugt. Übertragen auf pädagogische Denkprozesse könnte man hinzufügen, dass die komparative Interpretation die Fabel sichtbarer werden lässt. Abgesehen von einem methodisch bewusst eingesetzten Vergleich von Texten erfolgt die Komparation immer auch in der Interpretation von Texten. Ich bezeichne diesen Zusammenhang versuchsweise als narrative Theorie. Für Buck liegt eine Schwierigkeit solcher Analogien darin, dass man sie nicht genau bezeichnen kann. »Es gibt Ähnlichkeiten, die sich relativ präzise angeben lassen, und andere, die, wie etwa die ›Familienähnlichkeiten‹, eher wie Vexierspiele wirken: Sie existieren, aber man kann nicht sagen, worin sie liegen« (Buck 1989,
39
Vgl. dazu Radtke 1996.
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226). Der Vergleich mit Vexierspielen ist in zweifacher Hinsicht passend. Einerseits besteht bei solchen Bildern immer das Risiko, dass man das Bild nicht sehen kann, andererseits handelt es sich dabei um ein Bild, das man vielleicht erkennen kann, aber gerade nicht den Begriff. Vielleicht lässt sich die Performanz von Geschichten auch in der Metapher des Ornaments darstellen. Das Abstrakte oder Allgemeine von Ornamenten lässt sich nicht in den Details der Verzierungen erkennen, sondern erst in der Repräsentation als Ganzes. Das Ganze kann aber nicht als Begriff erfasst werden, sondern liegt in der Struktur der Ornamente verborgen. Übertragen auf narrative Texte bedeutet dies, dass sie eine Erkenntnis zum Ausdruck bringen können, die sich begrifflich nicht fassen lässt. »[...] das Beispiel nicht etwa deshalb etwas zu verstehen gibt, weil es ein Fall von wäre, sondern deshalb, weil es uns eine Handlung vergegenwärtigt, in der das, was in Frage steht, schon in bestimmter Weise vorverstanden ist, so dass wir nun die Sache ausdrücklich begreifen, indem wir uns ganz einfach an dasjenige erinnern, was wir in irgendeiner Praxis des Lebens oder der Erkenntnis begriffen, zuvor schon immer irgendwie verstanden haben« (Buck 1989, 189). Die Aussage der Geschichte liegt in ihrer Fabel und weniger ihrem Topic. Dadurch, dass das Thema (Topic) gegeben ist, aber durch den Gang von Geschichte zu Geschichte allmählich eine Fabel entwickelt wird, wird aus einem Beispiel eine Mustergeschichte. Den Begriff Mustergeschichte verwende ich hier in Anlehnung an das Musterbeispiel, wie es Scheuerl definiert hat. »Man spricht von Muster als Folge regelmässig wiederkehrender Figuren im Ornament; man spricht von Schnittmuster als Vorlage beim Zuschneiden von Kleidern; man spricht von Muster als Warenprobe in Handel und Industrie, vom sogenannten ›Gebrauchsmuster‹; und man spricht von Musterbetrieben, Musterhöfen, Musterlektionen. Das Wort kommt vom italienischen monstra, in dem noch das lateinische monstrare steckt« (1964, 63). Allerdings liegt im Begriff Muster auch eine normative Starrheit. Das individuelle des Einzelnen kann in Musterbeispielen verloren gehen, weil man sich der Norm des Musters unterordnet. Die Musterschule, der Musterschüler oder die Musterlektion haben einen normativen Anspruch, der keine Variation zulässt40. Im Gegensatz zu den Musterbeispielen, die ich eher dem paradigmatischen Denken zuordne, stehen Mustergeschichten für narrative Aussagen. Das wiederkehrende Muster – vergleichbar mit den Figuren im Ornament – äussert sich in einer narrativen textuellen und mentalen Struktur. Ich versuche diese Performanz von Mustergeschichten an zwei Beispielen zu veranschaulichen.
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Scheuerl bevorzugt allerdings den Begriff Modell. Ich denke, dass sich seit der Erstveröffentlichung 1958 der Sprachgebrauch von Modell und Muster verändert hat. Auch Modelle haben unterdessen eine normative Konnotation, weshalb ich beim ursprünglichen Muster bleibe.
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Widerstand I (5) Die Schülerinnen und Schüler der siebten Klasse versammeln sich zur Frühstunde auf dem Schulhof. Das Schulgelände grenzt direkt an einen Wald. Es ist noch kühl und ein wenig feucht. Der Lehrer kommt im Sportzeug mit dem Fahrrad auf den Hof gefahren. Er schließt es ab und begrüßt die Klasse mit einem Frisbee in der Hand: »Es ist so ein schöner Morgen. Wir werden gleich ein wenig laufen, aber nicht auf Zeit oder so. Heute laufen wir nur, um ein bißchen in der Natur zu sein. Darum wollen wir auch nicht möglichst schnell und anstrengend laufen wie beim Sport, sondern ganz entspannt und aufmerksam. Dann wollen wir ein paar Sinnesübungen machen und wenn noch Zeit ist, können wir ein bißchen Frisbee spielen.« Die Jugendlichen hören der Ankündigung des Lehrers mit fragenden Gesichtern zu. Einige verdrehen die Augen. Aber als der Lehrer losläuft, laufen alle mit. Es geht einen Waldweg entlang, einige Schüler unterhalten sich beim Laufen, andere fragen, ob sie schon vorlaufen dürfen. »Wir wollen heute nicht rennen. Hört doch mal die Vögel überall«, sagt der Lehrer, »und atmet mal richtig tief durch!« Einige Schüler wollen weiterhin vorlaufen, andere unterhalten sich immer noch angeregt. »So, jetzt bleibt bitte einmal alle stehen. Hört ihr das?« Der Lehrer legt seinen Zeigefinger an die Lippen, die Gruppe bleibt stehen, die Gespräche verstummen. Es ist einen Moment still. »Hört ihr das denn nicht?«, fragt der Lehrer erneut. Wieder ein Moment Stille. »Ich glaub, da sind Krokodile im Unterholz«, sagt eine Schülerin. Die Spannung entlädt sich in brüllendem Lachen. »Die blöden Witze kannst du dir schenken, Marianne!« Ohne zu erfahren, was sie hören sollte, läuft die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit betretenem Schweigen und unterdrücktem Kichern weiter. (Schierz 1997, 68f).
Schierz’ narrativer Text weist auf einen Aspekt von Unterricht hin, der sich nur schwer begrifflich fassen lässt. Dies ist auch nicht die Absicht des Autors. Vielmehr möchte er in dekonstruktivistischer Manier, grosse Erzählungen kritisieren und ihnen Konturen verleihen. »Erziehliches Milieu« nennt er diese Erzählung und zeigt mit der Geschichte eine mögliche Gegenwelt. Wird diese Geschichte durch eine andere Geschichte ergänzt, erhält sie eine neue Funktion. Dem Text Widerstand I lässt sich im Gang von Geschichte zu Geschichte ein Text anschliessen, der auf den ersten Blick eine kaum vergleichbare Situation beschreibt (vgl. Messmer 2002, 65). Rauchen im Sportunterricht (6) sporttag: die schüler konnten sich für die verschiedensten sportarten einschreiben. ich selber betreute das klettern. die s. kamen schliesslich aus verschiedenen klassen (eben jene, die sich fürs klettern interessierten) für 21/2 std. zu mir in die kletterhalle. im ganzen waren es 3 "schichten" à ca. 20 s. ich möchte schon mal vorausschicken, dass eigentlich alle s. sehr interessiert und motiviert mitmachten. ich hatte überhaupt mit keinen diszipl. o. ä. problemen zu kämpfen, obwohl die kletterhalle z.t. mit weiteren ca. 30 kindern ziemlich überbelegt war. trotzdem ereignete sich mit der zweiten gruppe ein vorfall, den ich als störend empfand: die s. kletterten am ende der unterrichtseinheit in zweier- und dreierseilschaften verschiedene routen. zwischendurch erlaubten sie sich längere verschnaufspausen um sich (v.a. die unterarme!) zu erholen, was auch absolut von mir gebilligt wurde. jetzt hat es jedoch einen s. gegeben, welcher sich in so einer pause an die theke des in die halle integrierten getränkeausschankbetriebs setzte und sich eine zigarette anzündete. bei diesem s. handelte es sich übrigens um einen, der während der ganzen zeit sehr interessiert mitgemacht hatte. die lektion war fast zu ende und ich wollte daher mit dem eingreifen noch diese 3 min. bis zum offiziellen abschluss zuwarten, um meinen unmut darüber der ganzen klasse auch mitteilen zu können. vor allem als ich bemerkte, dass sich zwei weitere s. zu meinem "schwarzen schaf" gesellten. ich brach in diesem augenblick trotzdem ein wenig verfrüht ab indem ich sagte: "es lohnt sich für euch beide nicht mehr das feuerzeug in die hand zu
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nehmen, denn wir räumen weg und nachher kommt ihr noch schnell zusammen!" der erstgenannte s. hatte seinen glimmstengel in der zwischenzeit trotzdem fast zu ende rauchen können.
In der Verknüpfung dieser beiden Geschichten lässt sich zeigen, was unter dem Erkenntnisgewinn beim Gang von Geschichte zu Geschichte zu verstehen ist. Beide Geschichten haben zunächst wenig Gemeinsamkeiten, ausser, dass sich der Widerstand einmal in der Form von coolen Sprüchen äussert, das andere Mal in der Form von Zigaretten rauchen. Man könnte, wie in zwei nachfolgenden Beispielen, von einem Weltbezug sprechen. Aber darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden. Die beiden Geschichten haben einen Bezug, der sich gerade nicht sprachlich formulieren lässt. Es ist lediglich deshalb für mich ein Problem, weil ich mich für eine sprachliche Repräsentation entschieden habe, die sich an einem paradigmatischen Denken orientiert. Die beiden Texte können, vergleichbar mit der Reihung von Beispiel zu Beispiel, durch weitere Geschichten ergänzt werden. Wenn hier vom Gang von Geschichte zu Geschichte die Rede ist, ist damit nicht ausschliesslich die Reihung von Texten gemeint. Während für das Erkennen des Allgemeinen bei Kuhns Beispiel der Schwäne und Gänse die Reihung nötig war, kann auch bei der Reihung von Geschichten nur im Rückgriff auf eine Geschichte von einem Erkenntnisgewinn gesprochen werden. »Wir lesen Texte stets vermittelt durch andere Texte, Menschen, Obsessionen, Informationen etc. und lassen uns überraschen. [...] Manchmal ist es sogar derart anregend und überzeugend, dass man die Illusion hat, jetzt erst zu erkennen, worum es in bestimmten Texten eigentlich geht« (Rorty 1996, 116). Dies mag der Grund sein, weshalb zwischen narrativen Texten (oder Erzählungen) und Geschichten unterschieden werden sollte. Wenn mit Geschichten das mentale Experiment des Lesers bezeichnet wird, so kann die Reihung auch mental erfolgen. Ein Leser vergleicht den vorliegenden Text aufgrund der narrativ-textuellen Strukturen mit bereits bekannten Geschichten in ihren narrativ-mentalen Strukturen. Wenn solche Vergleiche fruchtbar werden, kann aus einem einzelnen Text eine Mustergeschichte entstehen. Kluge (2003, o.S.) verwendet den Begriff in Bezug auf Inselgeschichten, wie sie z.B. von Robinson oder Odysseus erlebt wurden. Kluge orientiert sich in seinem Text am Muster der Inselgeschichten, wobei er aber eine ganz andere Geschichte schreibt. Die narrativ-textuelle Struktur bleibt aber die Gleiche, obwohl die unterschiedlichen Konstitutive wie Personen, Kontext, Handlung und Folgen verändert werden. Vergleichbar bleibt hingegen die Aussage des Textes, die intentio operis oder, wenn man so will, die Fabel. Mit Mustergeschichten wird die Reihung von Texten überflüssig, weil sich der Leser an anderen mentalen »Texten« orientiert. Vielleicht kann man deshalb auch nicht mehr von einer Reihung sprechen, sondern eher von einer Angleichung der narrativen Strukturen oder dem Übereinanderlegen von narrativen Folien. Der Gang von der Anschauung zum Begriff, vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Bekannten zum Unbekannten wird ersetzt durch den Gang von Ge-
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schichte zu Geschichte. Immer noch werden narrative Texte als Medium verwendet oder als Beispiele dargestellt. Trotz der gleichen oder ähnlichen Terminologie verändert sich aber dieses Medium als Repräsentationsform. Die Funktion – und damit ihre Performanz – wandelt sich im Gang durch die Beispiele. Vielleicht wurden durch die Darstellung des Gangs von Geschichte zu Geschichte die Konturen einer narrativen Theorie – oder einer narrative grammar, wie es Bruner nennt (2002, 33) – allmählich deutlicher. Eventuell ist der Gang von Geschichte zu Geschichte nichts anderes als die Differenz zwischen verschiedenen Signifikanten, deren Analyse allmählich zur systematischen Gestalt des gleichen Signifikats führt (vgl. Sarasin 2003, 67). 3.3.2 Von Geschichten zum Allgemeinen Allmählich zeichnet sich ab, dass im Gegensatz zur klassischen Kasuistik ein Erkenntnisprozess existiert, der sich nicht durch den Gang von Fall zu Fall (Buck 1989), sondern durch den Gang von Geschichte zu Geschichte definiert. Im Folgenden soll deshalb nochmals auf die Verwendung von Geschichten als Fälle eingegangen werden. In der Verwendung von Erzählungen können grundsätzlich zwei Motive unterschieden werden (vgl. Bruner 2002, 11). Auf der einen Seite werden die erzählten Geschichten kontrolliert und geklärt. In der Jurisprudenz z.B. müssen Studierende Präzedenzfälle lernen, damit die Anwendung, aber auch die Grenzen eines Gesetzes verstanden werden können. In der Psychotherapie müssen in den von Patienten erzählten Geschichten allgemeine Gesetzmässigkeiten gefunden werden, damit ihre Geschichte verstanden wird. Auf der anderen Seite werden Erzählungen gebraucht, um die Illusion von Realität zu pflegen, »to ›subjunctivize‹ the self-evident declaratives of everyday life. Its practitioners are literary – critics in all their guises and also creators, even the occasional Peter Brook« (ebd.). Bruner nennt die Vertreter der beiden Motive anti-fabulists und fabulists. Doch die Berührungspunkte sind nach wie vor sehr dürftig. Beide glauben in der Praxis der anderen etwas Schmuddeliges zu erkennen. Trotzdem liegt die Performanz für beide in der illokutionären Möglichkeit, die allen Erzählungen zu Grunde liegt. Beide Praxen lassen sich auch in der Pädagogik nachweisen. Wobei dort die anti-fabulists deutlich dominieren. Fallbeispiele werden in der Pädagogik in der Regel dazu verwendet, menschliche Fehler zu domestizieren, indem man sie in einer Theorie heimisch zu machen versucht. Dies zeigt sich z.B. im Streben vieler didaktischer Lehrbücher, Modelle und Konzepte durch Beispiele zu veranschaulichen. Dabei werden die Beispiele oft derart kurz gehalten, dass man sie meist in die literarische Kategorie der Episode einordnen kann. Als Episoden verlieren diese Beispiele aber ihre illokutionäre Performanz. Im Gegensatz dazu steht eine pädagogische Kasuistik, die Geschichten in der Form von Fällen in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit wahrzu-
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nehmen versucht. Auch wenn Biller (1988, 1) Ende der 80er Jahre noch eine geringe Beachtung der Kasuistik in der Pädagogik feststellen muss, lässt sich m.E. für das pädagogische Denken eine lange Tradition der Arbeit mit Fällen nachweisen. In regelmässigen Abständen liest man z.B. in der Zeitschrift für Pädagogik ein Plädoyer für eine pädagogische Kasuistik (Binneberg 1979, 1985; Fatke 1995). Je nachdem, wie eng man den Begriff der Kasuistik auslegt, weist diese Tradition aber noch weiter zurück. So lassen sich nach Biller bereits bei Herbart und Schleiermacher Tendenzen einer Kasuistik feststellen, durch die »die nicht intendierte Rezepthaftigkeit der pädagogischen Kasuistik überwunden wurde« (1988, 5). Biller unterscheidet dabei drei Ebenen der pädagogischen Kasuistik, eine didaktische, erzieherische und eine theoretische (ebd., 13). Ohne auf diese Differenzierung näher einzugehen, müssen aber auch die Vertreter einer pädagogischen Kasuistik in der Kategorisierung von Bruner als anti-fabulists bezeichnet werden. Durch den turn to narrative erhält die pädagogische Kasuistik eine Wende, die man nur bedingt als narrativ bezeichnen kann, waren doch auch die klassischen pädagogischen Fälle Narrationen. Aber das bedeutend Neue, das hier in die Diskussion eingebracht wird, besteht in der Kritik von grossen Erzählungen und nicht mehr in der ausschliesslichen Bestätigung derselben. Durch diesen dekonstruktivistischen Ansatz wird die Pädagogik in der Diskussion um Fälle um einen zusätzlichen Aspekt reicher41. Fallgeschichten in diesen Konzeptionen sind Auslegungen von Unterricht, die das zur Sprache bringen, »wovon in den grossen Entwürfen in der Regel geschwiegen wird« (Schierz 1997, 19). Der Alltag des Unterrichts soll nicht gegen die Theorien der Pädagogik ausgespielt werden und umgekehrt. Pädagogik und im engeren Sinne Didaktik sollen sich am Alltag, gleichzeitig soll sich Unterricht aber auch an paradigmatischen Konzepten, am Allgemeinen orientieren. Dabei sind »Bestimmen und Auslegen [sind] die Operationen, in denen kleine Geschichten und grosse Entwürfe aneinander vermittelt werden« (ebd., 19). Eine so verstandene Kasuistik stützt sich nach wie vor auf Theorien, auch wenn sie diese durch die Falldiskussion z.T. in Frage stellt. Die Fabeln der diskutierten Erzählungen orientieren sich weiterhin an einem paradigmatischen Denken und verfügen kaum über einen eigenständigen Wert in der Genese und Phänomenologie von Wissen. Demnach muss auch diese Art und Weise, wie Erzählungen in die Wissenschaft eingebracht werden, als anti-fabula bezeichnet werden. Fabulists – um in der Terminologie von Bruner zu bleiben – lassen sich in der Pädagogik nur ansatzweise nachweisen. Die Nähe zur Literatur wird selten gesucht oder bewusst vermieden. Literarischen Texten wird selten ein eigenständiger Wert für die Didaktik oder Pädagogik zugestanden, wie dies in den Anfängen der Päda41
Dieser dekonstruktivistische Zugang unterscheidet sich kategorial von einem eher pragmatischen Zugang, wie er in dieser Untersuchung vertreten wird. Zum Verhältnis von Pragmatismus und Dekonstruktivismus vgl. Mouffe 1997.
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3 Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung
gogik z.T. noch gesucht wurde. So stellt Larcher (1996, 52) Ende der 90er Jahre zwar einen Aufschwung bei Fallgeschichten fest, sieht sie aber keinesfalls als Mainstream erziehungswissenschaftlicher Textproduktion. »Mir scheint, dass sich hier ein Kreis schliesst, dass die Pädagogik damit an ihre grosse Beginnzeit anknüpft, als Rousseau seinen Emile als Roman gestaltete, als Goethe seine Bildungstheorie ebenfalls in eine Romanerzählung, den Wilhelm Meister, kleidete und auch Pestalozzi die Romanform wählte, um seine pädagogischen Theorien unters Volk zu bringen und Johann Peter Hebel, ein didaktischer Meister des Erzählens, mit seinen Kalendergeschichten die Welt und die Weltordnung im wörtlichen und übertragenen Sinn begreifbar machte« (ebd., 53). Larcher kann hier als Beispiel dafür genannt werden, dass es in der Erziehungswissenschaft Tendenzen gibt, die der Literatur ihren ursprünglichen Wert – als Medium für die Genese von Wissen – zurückgeben wollen. Wenn Larcher in seinen Ausführungen Sheherazade bemüht (ebd., 13), hat dies eine doppelte Bedeutung. Einerseits gilt es, die absolute Grenze von Fiktionalem und Objektivem zu durchbrechen, vergleichbar mit Hayden White, der sich auf Klio bezieht. Andererseits erhält die pädagogische Erzählung dadurch ihre eigene Fabel zurück, die sie durch die Verwendung als Fall von an ein paradigmatisches Denken verloren hat. Sheherazade erzählt die Geschichten um der Geschichten willen, auch wenn sie damit vor allem ihr Leben retten will. Die Eigenständigkeit von narrativem Denken ohne den Zwang zur Subsumption wird allerdings meist in Frage gestellt. Bruner selbst sah vor 20 Jahren in Erzählungen lediglich die Möglichkeit, Thesen zu formulieren. Später hat er diese Ansicht deutlich korrigiert. Als er 1962 das Buch On Knowing: Essays for the Left Hand schrieb, glaubte er noch, dass »the scientific method [...] could tame ordinary narrative into testable hypotheses and test them. I think now that my youthful and yearning belief that there were two mutually translatable worlds of mind, the paradigmatic and the narrative, was profoundly mistaken. Yes, a paradigmatic mode of thought relies on the verification of well formed propositions about how things ar. And yes, the narrative one is also directed toward the world, not toward how things are but toward how things might be or might have been. [...] How can we translate from one world of mind to the other?« (2002, 101). Man kann es nicht! So lautet zumindest Bruners Antwort auf seine eigene Frage. Und darunter sollte nicht verstanden werden, dass der narrative Modus damit sekundär wird. »Narrative, we are finally coming to realize, is indeed serious business – wheater in law, in literature, or in life« (Bruner 2002, 107). Dies gilt ebenso in der Pädagogik, lässt sich zweifelsohne hinzufügen. Dem narrativen Denkmodus wird demnach in seiner aktuellen Interpretation nicht nur die Genese von Thesen für die empirische Überprüfung zugestanden, sondern auch als eigenständige Denkform, die die Zuordnung von Erfahrung auf eine andere Weise ermöglicht.
3.4 Auswirkungen auf die Textform
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Das Erzählen als Begründungsmuster folgt demnach nicht nur einem anderen Denkmodus, sondern generiert auch ein anderes Denkmuster, sofern der Leser dies zulässt. 3.4 Auswirkungen auf die Textform Ich habe dargestellt, dass zum Verständnis der Sache sowohl im paradigmatischen Denkmodus als auch im narrativen Modus narrative Texte verwendet werden. Damit lässt sich auch festhalten, dass nicht ausschliesslich der Denkmodus die Textform bestimmt, sondern vice versa die Textform auch den Denkmodus. Ich möchte deshalb nochmals auf die Form von narrativen Texten zurückkommen, nachdem sich dieses Kapitel vornehmlich mit der Funktion und der Wirkung narrativer Texte beschäftigt hat. Begrifflich lassen sich die zwei dargestellten Denkmodi auf die Unterscheidung von Fallbeispielen und Fallgeschichten übertragen. Fallbeispiele lassen sich eher als Episoden oder zumindest als eine beschränkte Häufung von Episoden bezeichnen. Sie versuchen, ihre Aussage einem script unterzuordnen und sind auf Eindeutigkeit ausgerichtet. Sie ordnen die in ihnen dargestellte Erfahrung einem konkreten Begriff zu. Im Unterschied dazu erlauben Fallgeschichten als Plot eine Vieldeutigkeit, auch in Bezug auf ihre Geschichten. Sie versuchen nicht, ihre Geschichte einem skript zuzuordnen, sondern vielmehr neue skripts zu entwickeln. Fallgeschichten ordnen die in ihnen zum Ausdruck kommende Erfahrung vergleichbaren Erfahrungen zu und schaffen damit ein interpretatives Potential. Bei Fallbeispielen wird die Geschichte derart auf den Topic fokussiert, dass er sich mit der Fabel deckt. Damit lassen sie kaum Interpretationsspielraum offen, so dass der Leser keine eigene Fabel finden kann. Im Gegensatz dazu sind Fallgeschichten offene Texte, die sich am Handlungswissen orientieren. Die Unterscheidung von Topic und Fabel scheint mir deshalb bedeutungsvoll, weil daran der Unterschied von Musterbeispiel und Mustergeschichte aufgezeigt werden kann. In Musterbeispielen grosser didaktischer Theorien wird die Performanz des Beispiels bereits durch den Topic geäussert. Die Fabel – wenn aufgrund rudimentärer narrativer Strukturen eine solche überhaupt erkennbar ist – tritt in den Hintergrund. In Mustergeschichten ist der Topic selten vorbestimmt, es bleibt dem Leser überlassen, diesen festzusetzen. Ich werde später auf diese Unterscheidung zurückkommen. Am Beispiel Ringeturnen (3) lassen sich die beiden zentralen Begriffe und ihre Einbettung in andere, bereits dargestellten Begriffe verständlicher darstellen. Als Episode kann man das Schaukeln des Schülers nach dem Schlusspfiff der Lehrerin bezeichnen. Der Plot und damit der didaktische Text ist die Beschreibung der ganzen Geschichte mit dem Titel Ringeturnen (3). Die Geschichte ist das mentale Abbild des Textes im Gedächtnis des Lesers, vergleichbar mit dem narrativen Schema von Mandler. Der Topic ist hier identisch mit dem Schlüsselsatz (Raffet, geh
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3 Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung
sofort von den Ringen runter). Die Begriffe Sicherheit/Ungehorsam werden hier von der Autorin als Topic bestimmt, der Leser hätte sich vielleicht anders entschieden. Die Fabel steht hier in Abhängigkeit zum Topic und könnte mit dem didaktischen Begriff »auf Disziplin achten« umschrieben werden (vgl. dazu Scherler 2004, 132). Didaktische Geschichten und ihre Fabel ordnen sich demnach irgendwo zwischen Parabel und Videoclip ein. Sie haben keinen explizit moralischen Anspruch wie eine Parabel, und trotzdem steht hinter didaktischen Texten im Gegensatz zu vielen Videoclips eine Aussage. Der implizit vorhandene moralische Anspruch ist eher ein Anspruch auf Gewissheit, die sich aber mehr in der Form äussert, als im Inhalt. Didaktische Texte können eine Fabel aufweisen, müssen aber nicht. Die Aussagekraft von didaktischen Geschichten ist demnach weniger zwingend als bei Parabeln, aber gleichzeitig bergen sie mehr innovatives Potenzial zur Interpretation. Im Gegensatz zu Videoclips fällt es leichter, eine Fabel zu finden, gerade weil ihr Interpretationspotenzial teilweise beschränkt ist. Das Ziel der Auslegung von didaktischen Texten lässt sich demnach mit der Suche nach einer didaktischen Fabel bezeichnen. Ich denke, man sollte den Begriff Fall oder Fallbeispiel als allgemeine Bezeichnung für Erzählungen in der Didaktik zu vermeiden versuchen, weil Fälle immer ein Einzelnes einem Allgemeinem unterordnen. Fall von... bedeutet eine Geschichte fallen lassen zu müssen, wenn nichts übergeordnet werden kann. Fälle haben immer einen Bezug und sind immer Fall von etwas. Wenn man dieses Etwas nicht findet, gibt es den Fall nicht mehr, denn es gibt keinen Fall von nichts. Fallbeispiele sind in diesem Sinne geschlossene Texte, deren Fabel gegeben ist. Damit folgen – als Lernprozess – Fallbeispiele eher dem pardigmatic mode, während (literarische) Geschichten dem narrative mode zuzuschreiben sind. Der Vergleich verschiedener Texte im paradigmatic mode erfolgt über Begriffe oder Konzeptionen wie sie Schierz in Anlehnung an Lipp nennt. Im Gang von Beispiel zu Beispiel kann demnach »die Bedeutung einer Konzeption für unterrichtliche Prozesse ausgelegt und beurteilt [werden]« (Schierz 1997, 39). Im Gegensatz dazu werden im narrative mode verschiedene Geschichten nicht durch übergeordnete Begriffe, sondern durch ihre narrative Struktur verglichen. In diesem Denkmodus müssen demnach die Erzählungen nicht fallen gelassen werden, auch wenn kein allgemeiner Begriff dazu gefunden werden kann. Diese kategoriale Veränderung in der Rezeption von narrativen Texten, die sich auch in einer Ausdifferenzierung des Begriffs Beispiel niederschlägt, lässt sich grafisch am besten in einem Kontinuum darstellen (vgl. Abb.2). Der Übergang vom Musterbeispiel auf der einen Seite zur Mustergeschichte auf der anderen Seite gestaltet sich demnach fliessend. In der Mitte steht das Paradigma42, das nach Aristoteles in einem engeren oder in einem weiteren Sinn verstan42
Im Gegensatz zu diesem Sprachgebrauch steht die Begriffsdefinition von Kuhn: »Viele von Ihnen werden schon erraten haben, dass der Ausdruck ›Musterbeispiel‹ (engl. »exemplar«) ein neuer Name für die zweite und grundlegendere Bedeutung von »Paradigma« in meinem Buch ist« (Kuhn
3.4 Auswirkungen auf die Textform
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den werden kann. Im Unterschied zu Buck gestehe ich der Parabel oder der Mustergeschichte auch einen theoretischen Wert zu, ohne dass dafür ein Begriff expliziert werden muss. Für Buck existiert dieser Begriff immer, auch wenn man ihn nicht ausformulieren kann. Die allgemeine Aussagekraft von Mustergeschichten besteht in ihren textuellen Strukturen (narrative grammar), die einen Vergleich ermöglichen, ohne das ein Begriff bestimmt werden muss. Es ist das, was Putnam mit Stereotyp bezeichnet, mit der ganzen Schwierigkeit dieses Begriffs. Hier äussert sich der Stereotyp eines Phänomens als mental-narrative Struktur, die sich mit der textuell-narrativen Struktur deckt. Auch diesen Zusammenhang könnte man als narrative Theorie von Erzählungen bezeichnen, weil damit kategoriales Wissen nicht mehr eine Exklusivität von paradigmatischem Denken ist.
Abb. 2: Das Kontinuum des Beispiels
Im Unterricht oder im Alltag stellt sich die Frage nach einem übergeordneten Begriff ohnehin selten. Wenn Lehrerinnen und Lehrer unterrichten, beziehen sie ihr Können auf Erfahrungen, die sich oft nur mit Mühe in abstrakte Begriffe fassen lassen. »Dass man an Hand von Beispielen Verfahrensweisen lernt, gilt nun aber nicht allein für den Bereich wissenschaftlicher Verständigung. Überhaupt zeigt sich bei unbefangener Prüfung, dass man Beispiele vorzüglich gebraucht, um sich ausserwissenschaftlich zu verständigen« (Buck 1989, 137). Ich denke, dass sich gerade hier die Performanz von narrativen Texten zeigt. Ihr Wirkungsaspekt liegt in der Nähe von narrativen Texten zur Realität. Dies hängt auch mit ihren Repräsentationsstrukturen zusammen. Geschichten oder besser gesagt, die ihnen zugrundeliegenden narrativen Texte weisen eine unmittelbare Beziehung zu den Alltagserfahrungen des Autors und meist auch des Lesers aus. Dies lässt sich dadurch begründen, dass bei narrativen Texten – insbesondere bei Texten von und über Unterricht – kaum wirklich fiktive Texte Verwendung finden. Die Vorstellungskraft des Autors
1997, 393). Wobei Kuhn den Begriff »paradigma« ohnehin in einem breiteren Verständnis gebraucht.
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3 Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung
orientiert sich immer an seinen früheren Erinnerungen. »[...] wenn sich ein Jüngling seine Idealfreundin vorstellt, im Bett vor dem Einschlafen zum Beispiel, dann wird er bald merken, daß er sich eine Frau, die er noch nie gesehen hat, gar nicht vorstellen kann. Wenn er hartnäckig bei seinem Versuch bleibt, nur zu erfinden, wird sie weder schön noch lieb noch angenehm. Schließlich muß er sich doch für eine reale Figur entscheiden. Vielleicht kann er sie sich ein bißchen intelligenter denken, ein bißchen sanfter, ein bißchen schlanker oder ein bißchen verworfener, aber seine Fantasie ist wie alle menschliche Fantasie begrenzt. Ich würde gern sagen, er könnte auch aus drei verschiedenen Frauen eine vierte ideale zusammensetzen; aber ich fürchte, schon das übersteigt die menschliche Fantasie. Seine Idealvorstellung wird er dann doch mit Namen bezeichnen müssen: Monika, Barbara, Marilyn Monroe« (Bichsel 1997, 16f). Ähnliches könnte man auch über eine narrative Theorie sagen. Abstraktes kann man sich nicht vorstellen; nur wenn man es in Bezug zu Konkretem in der Vergangenheit setzt, erweist sich die Theorie als sinnvoll. Kurze Geschichten weisen ihre Performanz aus, indem sie Praxis in die Repräsentation implementieren und gleichzeitig Praxis durch ihre zentrale Position in Handlungsmustern verändern. Deshalb repräsentiert eine Pädagogik in Geschichten ihre Theorie nicht in Musterbeispielen, sondern konstituiert Theorie durch Mustergeschichten. In Bezug auf das dargestellte Kontinuum lässt sich diese mentale Schnittstelle zwischen den Begriffen Parabel und Mustergeschichte aufzeigen. Dieser Anspruch an narrative Texte klingt für einen pädagogischen Kontext vielversprechend. Trotzdem müssen auch die Grenzen dieses performativen Anspruchs beachtet werden. Der hier eingebrachte Begriff der Performanz, mit dem die Wirksamkeit von mentalen narrativen Strukturen, die durch narrative Texte oder Geschichten ausgelöst werden, aufzeigt werden kann, lehnt sich an dem im Theater verwendeten Begriff Performance an. In diesem Sinn kann man zusammenfassend festhalten, erhalten narrative gestaltete Texte ihre Performanz durch die Darstellungsform als (Theater)Stück. Die Performanz von Erzählungen und Geschichten liegt nicht in der Kontemplation von Bedeutungen (Hermeneutik), sondern durch eine direkte Form der Einmischung und den Versuch, die Zeichen in Bewegung zu halten. Performanz meint hier, auf Wirkungen bedacht zu sein, indem sie kritische Effekte zeigt, um die Strukturen immer wieder zum Tanzen zu bringen. In Anlehnung an Wirth (2002, 13) wird sich der Begriff weniger auf das ernsthafte Ausführen von Sprechakten als vielmehr auf das materielle Verkörpern von Botschaften im »Akt des Schreibens« oder auf die Konstitution von Imaginationen im »Akt des Lesens« (2002, 9) beziehen. Gerade weil in Erzählungen das Verbale immer mitgedacht werden muss, ist auch das «inszenierende Aufführen von theatralen oder rituellen Handlungen» (ebd.) mitzuden-
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ken. Genau hier äussert sich der Diskurs von Leser und Autor43, resp. das Potenzial dieses Diskurses. »Doch wenn die Kette der Interpretationen unendlich sein kann, wie uns Peirce gezeigt hat, so tritt der Diskursbereich dazwischen, um das Ausmass der Enzyklopädie zu begrenzen. Ein Text ist nichts anderes als die Strategie, die den Bereich seiner – wenn nicht ›legitimen‹ so doch legitimierbaren – Interpretationen konstituiert. Jede andere Entscheidung zu einem freieren Gebrauch des Textes entspräche einer Erweiterung des Diskursbereiches« (Eco 1998, 73). Idealtypisch lassen sich die beiden ausdifferenzierten Denkformen auf zwei idealtypische Textformen übertragen. Für das paradigmatische Denken steht das Argumentieren oder die Argumentation. Für das narrative Denken die Erzählung. 3.4.1 Argumentieren Das rhetorische Muster des Argumentierens bedient sich Zahlen, Fakten und Daten. Zahlen und nackte Daten sind hier nicht von Belang, und auf den Zusammenhang von Fakten und Fiktion bin ich bereits näher eingegangen. Entscheidender scheint mir die Tatsache zu sein, dass auch narrative Texte als Fakten in Argumentationsmustern verwendet werden können. Sie werden als Beispiele für etwas Allgemeines zur Begründung des Allgemeinen beigezogen und unterscheiden sich letztlich nur quantitativ von Beispielen, die lediglich aus einem Begriff oder einer Bezeichnung bestehen. Das Motiv in diesen Texten liegt darin, mit dem Besonderen des Beispiels das Allgemeine zu verdeutlichen. Das rhetorische Muster des Argumentierens entspricht deshalb dem narrativen Muster von antifabulists-Texten, wie Bruner (2002) diese Textsorte bezeichnet. Das Einzige, was hier zu stören scheint, ist der Schüler oder der Lehrer, kurz die Menschen mit ihren Wünschen, Vorstellungen und Lebenszusammenhängen, ohne die es aber keinen Unterricht gäbe. Auf eine solche »Störung« möchte ich anhand eines Beispiels eingehen, wobei ich dieses Beispiel gleichzeitig als Argument für meine eigene Argumentationsstrategie verwende. Hütchenspiel (7) a)
7. Klasse. Sportunterricht, Thema: Fussball. Der Lehrer erklärt die Übung zum Ballführen. Er schickt jeweils fünf Schüler zu einem Verkehrshütchen, die bereits in der Halle aufgestellt sind. Mit Gesten und Worten verteilt er die Schüler auf ihre Plätze, da offenbar nicht für alle klar ist, wo sie hinstehen sollen. Joel, der bereits auf der richtigen Position steht, nimmt eines dieser Hütchen in die Hände und spielt damit. Der Lehrer reagiert sofort: "Ihr könnt die Hüte stehen lassen, sie sind nicht zum Spielen gedacht, Thomas ebenfalls. Die Hüte können stehen bleiben". Der Lehrer zeigt anschliessend den Übungsablauf mit einer Gruppe vor.
b)
Zwanzig Minuten später. Nach einem intensiven Training mit unterschiedlichen Übungen zum Ballführen und
43
Ich werde später auf diesen nicht unumstrittenen Diskurs zwischen Leser und Text nochmals eingehen (5.1).
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3 Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung Passen versammelt der Lehrer die Schüler in der Mitte der Halle. Einige kommen sofort, andere haben etwas länger. Thomas und zwei andere Knaben, die bereits in der Mitte sind, setzen sich auf den Boden. Der Lehrer reagiert sofort und fordert sie auf wieder aufzustehen: "Ihr könnt stehen bleiben, es geht nicht lange". Nur widerwillig stehen die drei Schüler wieder auf. Der Lehrer sammelt die Resultate der letzten Spielform und erklärt die nächste Übung.
c)
Weitere fünf Minuten später. Die Schüler sind mitten in einer Trainingsform: Ballführen und Ballabgabe aus dem Lauf. Die Hütchen stehen immer noch als Orientierungshilfe in der Halle. Thomas kann es nicht lassen. Während er um ein Hütchen laufen muss, kickt er beiläufig darauf, ohne dass es jedoch umfällt. Der Lehrer ruft Thomas sofort zu sich. "Das ist das dritte Mal, wo ich dich mit dem Hütchen spielen sehe. Ich will jetzt, dass du dich auf das Spiel konzentrierst. Ich weiss, es reizt an die Hütchen zu kicken, aber du sollt dich jetzt auf das Passen konzentrieren. Der Schüler nickt die ganze Zeit mit dem Kopf und murmelt ein Ja, sein Grinsen verrät aber alles andere als Einsicht. (Messmer 2002, 73).
Der Lehrer fühlt sich durch das Verhalten des Schülers irritiert, der statt mit dem Ball mit dem Hütchen spielt. Als Begründung könnte man im Text Ursachen für das Verhalten des Schülers suchen: Vielleicht entsprachen die Übungen nicht dem Niveau des Schülers. Das ist allerdings nur eine Vermutung. Was sich aus dem Text herleiten lässt, ist das Faktum, dass Thomas nach einem intensiven Training mit unterschiedlichen Übungen zum Ballführen und Passen (b) auf ein Hütchen kickt (das Faktum besteht damit aus einer Beschreibung des Beobachters). Vielleicht – und dies wäre eine zu begründende These – kickt Thomas auf das Hütchen, weil er vom intensiven Üben müde und frustriert war oder ihn das lange Üben gelangweilt hat. Argumentativ kann man diese Begründung in einem syllogistischen Schema ordnen (vgl. dazu Scherler/Schierz 1993, 76ff und Toulmin 1996, 86ff). Ein Schüler kickt frustriert auf ein Hütchen (fT)ɒAlle Schüler haben zuvor intensiv mit dem Fussball trainiert ((F)ɇWenn Schüler intensiv und lange trainieren, kann es sein, dass sie auf Hütchen kicken (fR). Damit ist allerdings erst geklärt, weshalb der Schüler auf das Hütchen kickt, aber noch keine Empfehlung an den Lehrer ausgesprochen. Hier könnte ein schlüssiges Argumentationsschema lauten: Weniger trainieren, mehr spielen (nT)ɒSchüler suchen sich selbst ein spannendes Spiel (F)ɇWenn man Schüler intensiv üben lässt, muss man damit rechnen, dass sie sich ein anderes Spiel suchen. Damit wurde eine normative These argumentativ begründet. Der Schluss, dass Schüler sich selbst ein spannenderes Spiel suchen, sollte zu einer Empfehlung an den Lehrer führen. Man könnte das Problem, das der Lehrer mit dem Schüler hat, auf eine einfache Art und Weise lösen. Die Hütchen spielen in dieser Übungsform wohl keine wesentliche Rolle mehr, es wäre also möglich, diese zu entfernen und in den Geräteraum zu stellen. Dies wäre allerdings eine allzu »mechanische« Lösung und würde dem ursprünglichen Problem nicht gerecht. Eine andere Empfehlung könnte deshalb lauten, dass er sich einerseits spannendere Übungen aussuchen muss oder dass er die Schüler mehr mit Spielen statt mit Üben beschäftigen soll. Mit kleinen Spielen zum grossen Spiel würde hier die Empfehlung lauten. Damit wurden in der Auslegung der kurzen Geschichte Argumente schlüssig formuliert und die Episode wurde zu einem Fall von langweiligem Üben gemacht.
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Ob sich der Lehrer mit dieser Analyse zufrieden geben würde, ist fraglich. Im anschliessenden Interview macht er zu seiner Intervention folgende Bemerkung: Also jetzt war zum wiederholten Mal Thomas, der das Hütchen einfach nicht stehen lassen konnte und jetzt musste ich ihm einfach etwas sagen! (Messmer 2002, 73)
Ihn nervt offensichtlich der Ungehorsam des Schülers, und er will das Befolgen seiner Anweisungen durch eine Ermahnung erzwingen. Die Deduktion des Falles unter die allgemeine Regel, dass lange Übungsphasen Schüler langweilen, überzeugt u.U. argumentativ. Der Schluss ist aber nicht zwingend. Vielleicht findet der Lehrer seine Übungen gar nicht langweilig oder er sieht die Ursache für das Fehlverhalten von Thomas bei Thomas selbst. Dass er sich ärgert, weil sich Thomas nicht an die Anweisungen hält, zeigt seine Begründung für die Intervention. Vielleicht stösst hier die kasuistische Auslegung von kurzen Geschichten an Grenzen, da die hier aufgeführte normative Regel mit anderen normativen Regeln in Konkurrenz steht. Ein Werturteil steht gegen ein anderes Werturteil (vgl. Scherler/Schierz 1993, 91). Ein Werturteil, das der Lehrer hier ins Spiel bringt, weist auf diese Argumentation hin. Es wäre natürlich möglich gewesen, bei diesen Übungen jetzt am Schluss die ganze Laufrunde wegzulassen, aber ich möchte, dass sie etwas leisten und etwas machen, neben dem, dass sie die technischen Sachen verbessern, und ich denke, dass dies noch ein Form ist, bei der sie es nicht merken.
Damit wird klar, dass es die Absicht des Lehrers war, die Schüler intensiv üben zu lassen. Dem widerspricht aber die Begründung für das Fehlverhalten von Thomas. Vielleicht liegt der wirksamere Beratungsansatz bei dieser Geschichte weniger in Argumenten als vielmehr im Erzählen einer weiteren Geschichte. Damit wird nach Bruner der Denkmodus gewechselt: Während kasuistisches Argumentieren (also das Ordnen nach Fällen) dem paradigmatischen Modus zuzuschreiben ist, folgt das Erzählen (also das Ordnen nach Geschichten) dem narrativen Modus. 3.4.2 Erzählen Um diesen Aspekt besser erläutern zu können, stelle ich neben das beim Argumentieren dargestellte Textbeispiel Hütchenspiel (7) den Text Widerstand I (5, Schierz 1997, 68f), der bereits beschrieben worden ist. Damit folge ich dem klassischen Argumentationsmuster des Beispiels, das sich allerdings nur auf meine Argumentation, nicht aber auf die inhaltliche Aussage des Beispiels bezieht. Auf den ersten Blick hat diese kleine Geschichte des Widerstandes einzelner Schüler gegen die Idee des Lehrers, einen Waldlauf zu machen kaum etwas mit Thomas’ Hütchenspiel zu tun. Zwar äussern die Schüler in beiden Texten Widerstand gegen den Unterricht. Aber letztlich handelt es sich bei der ersten Geschichte um Fussball, bei der zweiten um einen Waldlauf. Es fällt schwer, beide Geschichten in einem induktiven Schluss einem allgemeinen Begriff oder einer allgemeinen Regel zuzuordnen. Klafkis Forderung nach »Gegenwartsbezug« (1991) wäre einen solchen
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Versuch wert. Aber auch dieser Versuch würde schnell einmal scheitern, und zwar an den unterschiedlichen Ursachen für die letztlich auch unterschiedlichen Formen von Widerstand der Schüler. Die beiden Geschichten können als Beispiele nebeneinander gestellt werden, weil sie ähnliche narrative Strukturen aufweisen. Zwar unterscheiden sich Handlungen, Kontext und Folgen, aber in ihrem Widerspruch und in ihrer Dramaturgie sind sie vergleichbar. Der Widerspruch liegt in den Komponenten Handlung und Folgen. In beiden Geschichten gehen die Lehrer wohl davon aus, dass die Schüler gehorsam ihren Anleitungen folgen. Die Antwort einer Schülerin, dass da wohl Krokodile im Unterholz seien, überrascht nicht nur den Lehrer, sondern auch den Leser, während Thomas’ Reaktion beim Hütchenspiel eher in den Erwartungshorizont des Lesers passt. Beide Geschichten sind dramaturgisch gleich gestaltet: Einer Handlungsanweisung folgt eine mehr oder weniger überraschende Handlung eines Schülers, einer Schülerin und anschliessend die Massregelung des Lehrers. Die Ursache für die gereizte Reaktion beider Lehrer liegt im Nichtbefolgen der Anweisungen. Die tiefer liegende Ursache für das Fehlverhalten der Schüler könnte man psychologisch als fehlende Passung bezeichnen. Aber es ist weder ein Problem der nicht stufengemässen Inhalte noch ein Problem der individuellen Über- oder Unterforderung. Vielleicht könnte man es als fehlende didaktische Passung bezeichnen, aber diesen Begriff gibt es nicht. Das Aneinanderreihen der beiden Geschichten weist damit auf einen Aspekt hin, der begrifflich schwer zu fassen ist. Trotzdem können unter einem didaktischen Blickwinkel nicht beliebige Geschichten hinzugefügt werden. Wahrscheinlich – und didaktisch wirkungsvoll – werden vom Leser in dieser begonnenen Reihung eigene passende Geschichten hinzugefügt. Auf das Beispiel Hütchenspiel (7) bezogen, äussert sich der Lehrer im anschliessenden Interview mit einer weiteren passenden Geschichte. Was mich jetzt gerade stört, wo ich aber noch gerade nicht reagiert habe, ist Thomas, der das Hütchen in der Hand hat. Ich störe mich an solchen Sachen, wenn ich etwas aufstelle und diese dann zum Spielen gebraucht werden, da geht für mich einfach Aufmerksamkeit verloren. Das ist, wie wenn Schüler beim Volleyball mit dem Volleyball Fussball spielen.
Der Lehrer vergleicht die beobachtete Situation mit einer anderen, die er wahrscheinlich vor kurzem auch erlebt hat. Dies deutet auf einen mentalen Aspekt hin, der dem narrativen Modus des Denkens folgt. Die mentale Reihung erfolgt dadurch, dass ähnliche, aber ungleiche Ereignisse miteinander verglichen werden44. Der Vergleich des Hütchenspiels mit dem Widerstand beim Joggen kann paradigmatisch nicht zugeordnet werden, trotzdem decken die Geschichten etwas auf, 44
Argumentationstheoretisch könnte man das Aneinanderreihen von gleichen und zugleich ungleichen Geschichten als Abduktion bezeichnen, da die Reihung einem Aussenstehenden doch eher zufällig erscheint. Der Schluss, resp. die Hypothese wird dann allerdings nicht in Form einer Aussage formuliert, sondern durch die Geschichte und deren Fabel.
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das beiden gemein ist. Diese Reihung könnte man in Anlehnung an das schlüssige Argumentieren als schlüssiges Erzählen bezeichnen. Indem Erzählungen nebeneinander gestellt werden, erhalten sie eine Aussage, die mit den folgerichtigen Begründungen einer schlüssigen Argumentation vergleichbar wird. Der Leser erhält die Möglichkeit, eigene Geschichten an diese vorgelegten Geschichten anzufügen und so selbst Schlüsse zu ziehen. Diese Form des Schlüsseziehens ist vergleichbar mit der Reihung von Gegenständen (einer Kategorie), wie sie oft in Entwicklungstests mit Kindern gemacht wird. Das Kind legt neben die gezeichneten Gegenstände Stuhl, Tisch, Sofa noch einen vierten, einen Schrank. Damit beweist es, dass es die Kategorisierung verstanden hat, auch ohne die kategorialen Begriff Möbel zu kennen. Dieser Vergleich mag etwas banal wirken, aber Alltagshandlungen – und Unterrichten ist eine Alltagshandlung – geschehen sehr oft in solchen narrativen Skripts (vgl. Mandler 1984). Analogien lassen sich demnach durch ähnliche mentale Strukturen herstellen oder, in Anlehnung an Putnam, durch Stereotypen. Weil für Putnam (1990, 64f) die Intension eines Begriffs nicht über seine Bedeutung geklärt werden kann, führt er den zentralen Begriff des Stereotyps ein. Das mit einem Wort – oder hier mit einer Geschichte – verbundene Stereotyp besteht aus Annahmen über die Gegenstände und Handlungen, auf die diese Geschichte zutrifft. Annahmen, die eine Sprachgemeinschaft von den Personen erwartet, die die Bedeutung dieser Geschichte kennen. Dabei verwendet Putnam den Begriff affirmativ. »Im üblichen Sprachgebrauch ist ein Stereotyp eine konventional verwurzelte (häufig übelmeinende und möglicherweise völlig aus der Luft gegriffene Meinung darüber, wie ein X aussehe oder was es tue oder sei. Offenkundig beziehe ich mich auf einige Merkmale des üblichen Sprachgebrauchs. Ich bin nicht mit übelmeinenden Stereotypen befasst (es sei denn, die Sprache selbst ist übelmeinend); aber es geht mir um konventionale und möglicherweise unzutreffende Meinungen» (1990, 68). Letzteres scheint mir für den Vergleich von Geschichten wesentlich. Es kann nicht darum gehen, Geschichten als wahre Begebenheiten miteinander zu vergleichen oder ihre Relevanz an ihrer empirischen Richtigkeit zu messen. Ihre Referenz liegt in vergleichbaren textuellen und mentalen Strukturen. Diese Strukturen lassen sich nicht wie beim Argumentieren begrifflich fassen, trotzdem sind sie konventional verwurzelt. In diesem Sinn steht ein Stereotyp für etwas Vergleichbares, das nicht begrifflich verglichen werden kann. Der Gang von Beispiel zu Beispiel (Buck 1989, 216) in Bezug auf Konzeptionen oder Theorien wird ersetzt durch den Gang von Geschichte zu Geschichte in Bezug auf Stereotypen. In Anlehnung an Aristoteles zeichnet sich der paradigmatische Gang von Beispiel zu Beispiel aus, indem »sich ein Besonderes zu einem anderen Besonderen gesellt und dass gerade so das Allgemeine, dem die Besonderen gehorchen, zustande kommt« (Buck 1989, 224). Die verschiedenen besonderen Paradigmen verschmelzen ihre begriffliche Vorwegnahme zu einer widerspruchsfreien Einheit,
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ohne die Differenz, die ihre Besonderheit ausmacht, aufzugeben. Damit wird das Allgemeine oder die Fabel der beiden zitierten narrativen Texte erst durch ihre Reihung möglich. In der Reihung der beiden Texte lässt sich ein Unterschied zum Begriff des Fallbeispiels oder Typus zeigen, wie ihn z.B. Husserl verwendet. »Die antizipierende Macht eines Typus ist jedoch gegenüber der vergleichsweise spielerischen Wirksamkeit der paradigmatischen Induktion, in der sich alles quasi intern regelt, von erheblicherer dogmatischer Härte« (Buck 1989, 225). Im induktiven Sprachspiel, wie es im Beispiel Snowboarden (4) dargestellt wurde, zeichnet sich durch die Abduktion unter den Begriff der Motivation die Dominanz der Theorie ab. Der zunächst offene Text wird zu einem geschlossenen Text, die Suche nach einer Fabel durch das Setzen eines Topics überflüssig. Dabei spielt es letztlich keine Rolle, ob der Begriff apagogisch oder epagogisch gefunden wurde. Trotzdem gilt es hier eine Unterscheidung einzuführen, die vor Missverständnissen schützt. Das Verhältnis von Beispiel und dem Begriff, wofür es Beispiel ist, einerseits, und das Verhältnis von Fall und Gesetz andererseits, schliessen sich aus. In einem naturwissenschaftlichen Verständnis kann aus einem einzelnen Fall (z.B. einer Messung für das Hebelgesetz) nicht das Allgemeine, die Regel geschlossen werden. Bei der Reihung der Texte Hütchenspiel (7) und Widerstand I (5) reicht eine Aufzählung von Beispielen, mit der auch im Alltag Allgemeines zu erklären versucht wird. Es ist die von Bacon so heftig kritisierte Induktion »per enumerationem simplicem«. Aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive ist Bacons Kritik verständlich, denn empirische Messungen unterscheiden sich nicht in ihrer Aussagekraft. Fälle werden an Fälle gereiht, ohne dass sie sich individuell unterscheiden. Die Beispiele, die im hier dargestellten Fokus stehen, unterscheiden sich. Solche Beispiele entwickeln ihre Performanz nicht in einem willkürlichen Nebeneinander, sondern durch ein bewusstes Nebeneinander. Das Besondere zeichnet sich durch eine spezifische Besonderheit aus, die das Allgemeine erst sichtbar macht. Damit sind aber keine Präzedenzfälle gemeint, die lediglich das Allgemeine besonders intelligent veranschaulichen und nach Bruner den narrativen Erkenntnisgewinn eher ausschliessen. In dieser Unterscheidung zeigt sich die Schwierigkeit des Begriffs Fall, der sich zu sehr an einem naturwissenschaftlichen Denken orientiert und damit eher zu einem Beispiel für eine Regel als für einen Begriff wird. Beispiele in der Pädagogik sollten m.E. aber auch »Anfangsgründe des Verstehens und Überzeugtseins« (Buck 1989, 97) darstellen, so wie die Prämissen des Syllogismus, speziell der Obersatz, Anfangsgründe sind. Der Begriff Beispiel wird aber seit Aristoteles (Paradeigma) für beide Funktionen verwendet, und zwar in durchaus doppeldeutiger Weise. Erstens meint es das Besondere, das etwas Allgemeines, dessen besonderer Fall es ist, klarmachen soll, also das Beispiel im strengen Sinn. Zweitens wird mit Beispiel aber auch der analoge Fall bezeichnet, der etwas auf Grund einer Ähnlichkeit klarmacht,
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also ein Besonderes, das den Lernenden auf ein anderes Besonderes bringt (vgl. Buck 1989, 178). Daraus könnte man schliessen, dass das Allgemeine, das aufgrund einer Reihung von Besonderem entsteht, auf Begriffe verzichten könnte. Buck schliesst diese Möglichkeit aber ausdrücklich aus. »Analogien funktionieren durch richtige Applikation dessen, was man der Erfahrung entnehmen kann, auf einen noch unvertrauten Gegenstand. Und Applikation heisst hier: begriffliche Applikation [...]« (203). Damit bleibt auch dieser Gang von Beispiel zu Beispiel eine Suche nach Begriffen. Auf die beiden Beispiele Hütchenspiel (7) und Widerstand I (5) bezogen, heisst dies, dass durch den Vergleich der beiden Geschichten das Allgemeine entwickelt wird. In Anlehnung an Lipps kann man dieses Allgemeine auch Konzeptionen nennen. »Man sucht hier etwas zu bestimmen. Aber nicht in dem Sinn, als ob man sich deutlich auszumachen suchte, was etwas an seiner Stelle bedeutet. Bestimmung meint hier: etwas auf einen überkommenen, z.B. geradezu gelernten Begriff als seinen Nenner zu bringen, um es dann berechnen zu können« (Lipps 1968, 53). Nach Lipps sind Konzeptionen »gekonnte Griffe« (ebd., 56), mit denen man etwas zu fassen bekommt. Diese Begriffe oder Konzeptionen bedeuten, sich auf etwas verstehen, Bescheid zu wissen. Mit Kritik an Husserl unterscheidet Buck die Alltagserfahrung vom Modell des methodisierten und systematisierten Erfahrungserwerbs. »Nun geht es aber in der Alltagserfahrung viel weniger konsequent und durchschaubar zu, als Husserl es darstellt. Hier ist wirklich ‚Empirie‘ (ƥưƥƩƱiơ), d.h. eine zunächst undurchschaubare Weise der Erkenntnisgewinnung, am Werk: ein relativ unmethodisches, ja sogar unbewusstes Verfahren, wie eines sich zum anderen fügt, dies und jenes probierend akzeptiert oder verworfen wird, bis plötzlich jene Ordnung und Gliederung der Kenntnisse erscheint, die wir auch meinen, wenn wir von der Erfahrung reden, und ohne Zweifel auf die Gewinnung allgemeiner Erkenntnisse hinarbeitet« (Buck 1989, 223). Das Allgemeine ist aber immer noch als Begriff gemeint, auch wenn sich dieser Begriff erst allmählich durch den paradigmatischen Gang der Erfahrung von Beispiel zu Beispiel entwickelt. Für mich wirken dieser Wechsel zur Alltagserfahrung und das gleichzeitige Beharren auf einer Begrifflichkeit des Allgemeinen wenig überzeugend. Ich denke, dass es auch den Gang von Beispiel zu Beispiel ohne den Bezug zum Begriff geben kann. Ich habe diesen Gedankengang als Gang von Geschichte zu Geschichte45 bezeichnet, und vielleicht liegt gerade darin die Performanz und Exklusivität von Erzählungen oder der Reiz von fabulists-Texten.
45
In einer korrekten Terminologie müsste es auch hier von Text zu Text heissen, weil textuelle Strukturen aneinander gereiht werden. Da sich das Gemeinsame, resp. das Allgemeine in dieser Reihung oft erst durch den mentalen Vergleich der Geschichten ergibt, verstärke ich dies bewusst durch den Kategorienwechsel.
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3 Denkformen als Ordnungsweisen der Erfahrung
Narrative oder didaktische Texte können nicht als Ersatz für pädagogische Klassiker verstanden werden, die ihre Fabel in Geschichten und Romane verstecken. Rousseau verkleidete seine Erziehungsideale in einen Roman, der dem Leser keine Wahl zum freien Gebrauch liess. Die Textform war lediglich Mittel zum Zweck und die Beschreibung des Erziehungsalltags von Emile hatte wenig mit dem Erziehungsalltag des 18. Jahrhunderts gemein. Im Gegensatz dazu stehen Mustergeschichten, deren theoretische Aussage offen bleibt und ein Vergleich mit bestehenden Alltagsgeschichten aufgrund ihrer kongruenten narrativ-mentalen Struktur möglich ist. Auf eine Moral, wie man sie auch aus den biblischen Parabeln kennt, wird dabei verzichtet. Nicht verzichtet wird hingegen auf eine allgemeine Aussage in Form einer Fabel, die zu entdecken dem Leser überlassen wird. Ob er sie entdeckt – im Sinne der intentio operis – hängt von seinen vergangenen Geschichten ab. Im Vergleich dieser Geschichten, oder wenn man so will, im Puzzle dieser Stücke, entsteht das Potenzial einer narrativen Theorie, die sich nicht in Begriffen äussert, sondern in ihren narrativen – mentalen und textuellen – Strukturen.
Tab. 1: Übersicht Denkformen
3.4 Auswirkungen auf die Textform
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Zusammenfassend lassen sich die dargestellten Denkformen und Ordnungsweisen von Erfahrung sowohl in Denkmodi als auch in Denkrichtungen ausdifferenzieren. Während Bruner (1985) vor allem zwischen einem narrativen und paradigmatischen Denkmodus unterscheidet, lässt sich die Unterschiedlichkeit der Denkrichtungen auf Buck (1989) zurückführen. Dabei korrespondiert der paradigmatische Denkmodus vorzugsweise mit der apagogischen Denkrichtung und der narrative Denkmodus mit der epagogischen Denkrichtung, wenn auch nicht ausschliesslich. Auch andere Text- und Denkformen lassen sich den beiden Denkmodi zuordnen, auch wenn die Komplexität des Konzeptes selten eine Ausschliesslichkeit zulässt. Die folgende Aufstellung soll die Zuordnung verschiedener, bereits diskutierter Aspekte übersichtsmässig darstellen (vgl. Tab. 1). Damit sind sowohl die disziplinären Diskurse als auch der theoretische Diskurs in ihrer Darstellung abgeschlossen und die Voraussetzung für die empirische Untersuchung ist geschaffen. Die sich aus der Analyse ableitenden Fragen betreffen sowohl die Ordnungsversuche von Erfahrung bei Lehrerinnen und Lehrern als auch diejenigen in didaktischen Texten. Erstere gilt es empirisch zu überprüfen und einen Bezug zu ihrer analytischen Relevanz herzustellen.
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Die analysierte Differenz zwischen dem narrativen und dem paradigmatischen Denkmodus weist auf einen entscheidenden Unterschied im Denken und Handeln von Lehrpersonen hin. Paradigmatisches Denken unterliegt einer anderen Ordnungsweise von Erfahrung als narratives Denken. Für die empirische Analyse stellt sich nun grundsätzlich die Frage, ob für die analytisch hergestellten Differenzen eine empirische Evidenz nachgewiesen werden kann. Insbesondere sollten – in Bezug auf die Ausgangsfrage – die Denkformen nach ihrem Alltagsbezug untersucht werden, nachdem dies zumindest analytisch nachgewiesen werden konnte. Die Dichotomie von Argument und Erzählung weist deshalb nicht nur auf unterschiedliche Denkformen hin, sondern auch auf Ordnungen der Erfahrung und damit verbunden auf den unterschiedlichen Gebrauch von Begründungen. Die empirische Analyse von Text, der in irgendeiner Form von Lehrerinnen und Lehrern generiert wurde, muss demnach auch Rückschlüsse auf ihr Denken und damit auf ihre Ordnungsweisen von Erfahrung zulassen. Diese Frage soll im Folgenden untersucht werden, indem Aussagen von Lehrpersonen hinsichtlich ihrer narrativen Mittel analysiert werden. Daran anschliessend kann – sofern man der Wirkungsthese folgt – der Frage nachgegangen werden, inwiefern das Denken von Lehrerinnen und Lehrern in ihren Alltagshandlungen eher dem paradigmatischen oder dem narrativen Denkmodus folgt. Bevor diese Fragen im Detail an empirischem Material untersucht werden, muss zunächst das methodische Vorgehen erläutert werden (4.1). Zuerst sollen die methodologischen Vorüberlegungen dargestellt und damit auch die Form des Feldzugangs beschrieben werden, um in einem ersten Schritt die Datenerhebung (4.1.1) zu präzisieren. Hier soll die Methode geschildert werden, mit welcher versucht wurde, die in den Interviews geäusserten »Gedanken« zu dokumentieren. Dabei orientiere ich mich mehrheitlich an der dokumentarischen Methode, wie sie von Bohnsack und anderen (1999) entwickelt und dargestellt worden ist. Diese Interviews beruhen auf Videoaufnahmen, die es ebenfalls als Text zu dokumentieren gilt. Auch hier wird der Anschluss an verschiedene Verfahren der Datenerhebung gesucht. Grundsätzlich orientiert sich die Datenerhebung der Videosequenzen am Konzept der Rekonstruktion von Unterrichtsereignissen, wie es bereits 1983 von Scherler ansatzweise entwickelt worden ist. Zusätzlich werde ich mich auch auf die narrative inquiry stützen, wie sie von Clandinin und Connelly (2000) formuliert worden ist und die ich als didaktische Adaption weiterentwickelt habe (Messmer 2002). Für die anschliessende Datenaufbereitung und Dokumentation (4.1.2) der Video- und Audiodaten stütze ich mich ebenfalls mehrheitlich auf die dokumentarische Methode. Hier zählt nicht nur die Überzeugung, dass sich eine qualitative Methode für die spezifische FragestelR. Messmer, Ordnungen der Alltagserfahrung, DOI 10.1007/978-3-531-92782-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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lung aufdrängt, sondern auch das spezifische Erkenntnisinteresse, das mit der Untersuchung verbunden ist. Für Bohnsack steht mit der dokumentarischen Methode nicht das Was, sondern das Wie im Erkenntnisinteresse (2001, 227). Er nennt die Methode deshalb auch rekonstruktiv. Mit diesem Attribut verbindet er auch die Vorgehensweise, weil die Methode erst im Prozess der Auswertung endgültig entwickelt werden kann (2001, 228) ist. Dies trifft auch für die vorliegende Untersuchung zu. Nach der Datenerhebung wurde die Interpretationslinie mehrmals an die sich verändernde Fragestellung angepasst. Dieser nur scheinbare Eklektizismus ergab sich durch die intensive qualitative Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial. Bohnsack unterscheidet in einem weiteren Schritt der Datenanalyse die Interpretation (4.1.3) von der Dokumentation. Hier wird vor allem die im analytischen Teil dargestellte Unterscheidung der Denkformen zum Tragen kommen. In 4.2 kommen die ausgewerteten Fallbeschreibungen zur Ergebnisdarstellung und ermöglichen somit die vergleichende Analyse und empirische Auswertung. Für den Vergleich der Fallbeschreibungen bediene ich mich einer Typisierungsmatrix, die ich bereits unter 3. ansatzweise entwickelt habe und die jetzt konkret zur Anwendung kommt. Diese Typologie soll helfen, die dargestellten Fallbeschreibungen besser in den Kontext der Untersuchung zu einzuordnen. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einer kurzen Zusammenfassung der Erkenntnisse (4.3). 4.1 Fragen und Methoden der empirischen Vergleiche Die bisher erarbeiteten Analysen zum Denken im paradigmatischen, resp. narrativen Modus bedürfen einer empirischen Bestätigung, die über die einzelne Nennung von Beispielen hinausgeht. Ausgehend von der grundsätzlichen Fragestellung, die sich am Alltag von Lehrerinnen und Lehrern orientiert, fiel der Entscheid auf einen qualitativen empirischen Zugang zum Feld. »Qualitative Forschung hat eine starke Orientierung am Alltagsgeschehen und/oder am Alltagswissen der Untersuchten« (Flick/Kardoff/Steinke 2005, 23). Nach dieser Entscheidung zugunsten eines Konglomerats von unterschiedlichen Forschungszugängen und gegen eine einzelne Forschungsmethode war ein grundsätzliches Problem des empirischen Zugangs noch nicht gelöst. Die Untersuchung der empirischen Evidenz der analytischen Aussagen ist der kategorialen Differenz von Denken und Handeln ausgesetzt. Wenn sowohl das Handeln als auch das Denken von Lehrerinnen und Lehrern untersucht werden soll, kann das Handeln mehr oder weniger objektiv beobachtet werden. Das Denken bleibt aber immer abhängig vom handelnden Subjekt und damit spekulativ. Über Denken zu schreiben oder Denken zu beschreiben, zwingt zum Wechsel der kategorialen Ebene. Schreiben und Beschreiben sind immer bereits Interpretationen des Geschehens, insbesondere, wenn dieses – wie beim Denken – der direkten Beobachtung verborgen bleibt. Selbst wenn das eigene Denken retrospektiv dokumentiert wird, bleibt es interpretativ. Dieser kategorialen Schwä-
4.1 Fragen und Methoden der empirischen Vergleiche
119
che in einer empirischen Untersuchung kann man durch einen fokussierten Feldzugang begegnen. Nicht die akribische Dokumentation der Forschungsdaten hilft hier weiter, sondern die explizite Datenerhebung Mitten im Feld. Der Differenz zwischen Zugang und Interpretation von Daten ist auch die vorliegende Untersuchung ausgesetzt. Wenn sich die unterschiedlichen Kulturen auch gegenseitig ergänzen sollten, zeichnet sich für die vorliegende Untersuchung zunächst ein Fokus auf die Methode der Datenerhebung ab. »The puzzle for us, and the puzzle we pursue in this book, is the connectedness between teacher’s questions of identity and our own of teacher knowledge. Our sense as we began our project on which this book is based is that teacher’s concerns and our own were intricately related. But how? We know that our language of narrative and story was the connection that allowed us, with comparative ease, to negotiate working relationships with teachers [...]« (Clandinin/Connelly 1999, 4). Wenn es wirklich gilt, die Denkprozesse von Lehrerinnen und Lehrern zu untersuchen und darzustellen, ist dieser Feldzugang nicht unwesentlich. Ich werde deshalb zunächst das methodische Konzept erläutern, mit welchem versucht wurde, den beobachteten Lehrpersonen ihre »wahren Gedanken« zu entlocken. Dabei habe mich für ein Vorgehen entschieden, das in der Literatur als stimulated recall bezeichnet wird (Bromme 1992, 4). Es handelt sich dabei um die Rekonstruktion nachträglicher, videogestützter Erinnerungen an Überlegungen während des Handelns im Unterricht. In Anlehnung an Schütz (1971, 3; im Speziellen für das Handeln 77ff) und Oevermann (1996, 75ff) muss wissenschaftliches Wissen von praktischem Handlungswissen unterschieden werden. Die Strukturdifferenz charakterisiert sich dadurch, dass Handlungswissen einen direkten Fall- oder Situationsbezug hat, während das wissenschaftliche Wissen als Regelwissen erscheint, das universal gültig und somit kontextunabhängig ist. Das Handlungswissen muss in Entscheidungen und Begründungen unterschieden werden. Entscheidungen werden intuitiv und routinemässig gefällt (Können), der implizite Wissensstand bleibt im Verborgenen. »Erst im Augenblick des Scheiterns oder der Krise entsteht auch im Alltag der Zwang zur nachträglichen Begründung. Dann kommt es zur Explikation und damit zur Argumentation, mit der versucht wird, die Handlungsentscheidung zu rechtfertigen« (Radtke 1992, 344). Damit sind Denkprozesse angesprochen, die in der Regel im Verborgenen bleiben. Diese Denkprozesse werden allerdings nicht sichtbar, indem man nachträglich nach Begründungen fragt. Um dieses Dilemma aufzulösen, kann man sich eines psychologischen »Bauernfängers« behelfen. Von Austin stammt die These, dass wir kaum etwas Besseres tun können, als Entschuldigungen zu untersuchen. »Hier haben wir sicherlich genau die Art von Situation, in der die Leute ›nahezu‹ alles sagen werden, weil sie so durcheinander sind oder ihnen viel daran liegt, noch einmal davonzukommen. ›Es war ein Irrtum‹, ›es war ein Zufall‹ – wie rasch kann das als unterschiedslos erscheinen, ja sogar zusammen verwendet werden. Und doch, eine Geschichte oder zwei, und jeder wird nicht nur zugeben,
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dass diese beiden Ausdrücke völlig verschieden sind, sondern auch für sich selbst entdecken können, worin dieser Unterschied besteht und was er bedeutet« (1985, 19)46. Combe/Helsper (1994, 24) sprechen in diesem Zusammenhang von »Erfahrungskrisen«, bei denen es zur »hermeneutischen Rekonstruktion und Vergegenwärtigung« der zurückliegenden Praxis kommen muss, um einen Entwurf zukünftiger Praxis entwickeln zu können. Dieser Entwurf wird gerade durch die Rekonstruktion des Spezifischen der Unterrichtssituationen ermöglicht. Damit ist selbstverständlich noch nicht gewährleistet, dass sich die Lehrpersonen wirklich an die ursprünglichen Denkprozesse erinnern, die zu ihren Entscheidungen geführt haben. Aber der Rechtfertigungsdruck – im Sinne eines »Gestaltschliessungszwangs« – bringt sie wahrscheinlich näher zum Geschehen als andere Zugänge47. Die Unterscheidung von Routine und Entschuldigung verweist auf die zweiphasige Unterteilung von Praxis bei Oevermann (1996, 83). Oevermann unterscheidet eine primäre Phase, in der aktiv-praktische Entscheidungen gefällt werden, die immer auch spontane, reflexartige und intuitive Momente enthalten. Sie folgt der Unausweichlichkeit des Sich-Entscheiden-Müssens. Die zweite Phase besteht in der Rekonstruktion dieses spontanen ersten Entscheidens. Diese zweite Phase ist letztlich eine in sich selbst gesteigerte Praxis. Je mehr sich die beiden Phasen ausdifferenzieren, desto weniger steht in der zweiten Phase die Rechtfertigung für praktisch folgenreiche Entscheidungen im Mittelpunkt. Viel eher wird durch die Rekonstruktion von Praxis eine problematisierende Bearbeitung von Geltungsfragen erfolgen. Für Oevermann wurzelt in dieser eigenständigen Bearbeitung von Geltungsfragen letztlich die Strukturlogik professionalisierten Handelns (vgl. ebd. 85). Damit stellt sich die Frage, wessen Handlungen untersucht werden sollen, wenn durch eine stark ausdifferenzierte zweite Phase von Praxis Rechtfertigungen – die für die folgende Fragestellung zentral bleiben – kaum mehr relevant sind. Diesem Problem kann man durch den Zugriff auf die Praxis von Berufsnovizen begegnen, weil diese noch zu wenig mit standardisierten Rechtfertigungen vertraut sind und auch weniger sozialen Erwartungen genügen müssen. Sie haben zudem weniger Möglichkeiten, sich auf eigene Erfahrungen abzustützen als Berufsroutiniers, was in einer professionalisierten Ausrichtung eher zu Bearbeitungen von Geltungsfragen führen könnte. Eine ähnliche Absicht verfolgt auch Shulman in einer vergleichenden Untersuchung von Jung- und Altlehrern. »In this research we are taking advantage of the kinds of in46
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Auch McEwan sieht dies in ähnlicher Weise. Um die eigentlichen Ziele und Absichten von Lehrpersonen zu erforschen, können wir nicht nach einfachen Antworten suchen. »[...] we need to go beyond the individual psychological states of the teacher and ask how these states of mind arose. The obvious way to do this is to tell a story that explores the teacher’s motives more deeply, explaining the reasoning that preceded the decision to assign the letter-writing activity, and clarifying the teacher’s aims« (McEwan 1995, 172). Die Idee, dass die Differenz von Handlung und Befragung durch Rechtfertigungen aufgelöst werden kann, ist methodologisch umstritten (Dewe/Radtke 1993, 145).
4.1 Fragen und Methoden der empirischen Vergleiche
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sights Piaget provided from his investigations of knowledge growth. He discovered that he could learn a great deal about knowledge and its development from careful observation of the very young – those who were just beginning to develop and organize their intelligence. We are following this lead by studying those just learning to teach. Their development from students to teachers, from a state of expertise as learners through a novitiate as teachers exposes and highlights the complex bodies of knowledge and skill needed to function effectively as a teacher« (1987, S. 4). Damit werden Situationen, in denen Lehrpersonen ihr Handeln rechtfertigen oder mit Hilfe von wissenschaftlichem Wissen zu begründen versuchen, zu Schlüsselsituationen der Interpretation. Nicht deren vordergründige Zielsetzung, wie sie z.B. in einer Unterrichtsplanung formuliert würde, interessiert, sondern die Begründungen für das Handeln in der nachträglichen Interpretation in Bezug auf eine konkrete Situation, meist in Bezug auf Widersprüche (stimulated recall). Selbst erlebte, substantielle Unterrichtsbegebenheiten – im Sinne der »dichten Beschreibung« – helfen zu verhindern, dass die beobachteten Lehrerinnen und Lehrer auf Allgemeinplätze der Praxis oder der Wissenschaft ausweichen. Zum ersten Mal wird stimulated recall als Methode von Benjamin Bloom 1953 erwähnt (vgl. Stough 2001, 3). Populär wurde dieser methodische Zugang aufgrund der technischen Möglichkeiten in den 70er und anfangs der 80er Jahre. »Many of these researchers used stimulated recall as their primary data source for information about teacher cognition« (Stough 2001 3). Da es in der vorliegenden Untersuchung ebenfalls um Kognitionen geht, lässt sich dieser Zugang gut auf die konkrete Fragestellung übertragen. Die auf Video aufgezeichneten Unterrichtsstunden sollen die Interviewpartner veranlassen, sich über ihr Handeln zu äussern. Dass sie sich dabei mit Argumenten und Erzählungen äussern werden, kann erwartet werden. Der Detaillierungszwang (Bohnsack 1999, 109) verleitet die Erzähler zusätzlich dazu, ihre Aussagen durch notwendige Hintergrundinformationen und Zusammenhänge zu stützen. 4.1.1 Datenerhebung Aufgrund des erläuterten Feldzugangs wurden methodische Entscheidungen gefällt und ein methodisches Konzept entwickelt, das sich z.T. auf elaborierte Methoden stützen kann. Bevor die einzelnen Methoden der Dokumentation zur Darstellung kommen, werden zunächst pragmatische Entscheidungen und das Vorgehen im Feld erläutert. In der sozialwissenschaftlichen Forschung kann grob zwischen der Suche nach neuen Erkenntnissen und dem empirischen Beweis von bestehenden Theorien unterschieden werden. Bohnsack unterscheidet diesbezüglich zwischen Hypothesen prüfenden und rekonstruktiven Verfahren (1999, 17ff). Bei der vorliegenden Untersuchung von Unterricht kann es nicht das ausschliessliche Ziel sein, bestehende Ideen, Modelle oder Theorien zu bestätigen. Vielmehr soll durch Beobachtung
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versucht werden, im Untersuchungsfeld Neues zu entdecken. Dies verlangt vom Beobachter Offenheit für das Untersuchungsfeld und Empathie zu den beobachteten Personen. Die Unterrichtsbeobachtungen dienen hier der Rekonstruktion von (narrativem) didaktischem Wissen. Die angesprochenen didaktischen Unterrichtsbeobachtungen haben deshalb – im Gegensatz zu Evaluationen – innovativen Charakter, die vom Beobachter Offenheit für Neues, Irritierendes und von den Erwartungen Abweichendes verlangt. Der Beobachter von Unterricht muss demnach nicht nur Interesse an diesem Unterricht zeigen, sondern auch Interesse an seinen Veränderungen. Es ist, als ob der Beobachter im Unterricht nach Antworten auf Fragen suchen würde, die nicht explizit gestellt werden, aber für die Didaktik evident sein können. Hier wird eine didaktische Einstellung aufgezeigt, deren Bestreben es ist, Unterricht zu verbessern. Mit anderen Worten: Es geht um das Bestreben, in einer gezwungenermassen unvollkommenen Tätigkeit nach professioneller Richtigkeit zu suchen. Damit wird ein Anspruch formuliert, der nicht nur Lehrende zwingt, den eigenen und fremden Unterricht immer wieder zu reflektieren, sondern auch für Forschende einen Habitus prägt, Unterrichtspraxis zu dokumentieren und Lehrer zu beraten48. Didaktisches Forschungsdesign unterscheidet sich somit grundsätzlich von anderen sozialwissenschaftlichen Zugängen. Didaktik erhebt den Anspruch, nicht nur in der Unterrichtspraxis immer wieder nach Verbesserung zu suchen, sondern auch die Forschungspraxis nach ihrem Beratungspotential auszurichten. Wenn lediglich die Bestätigung für eigene analytische Thesen gesucht wird, müssen andere Zugänge gewählt werden. Deshalb müssen Beobachter mitten ins Geschehen, mitten ins Feld gehen und können keine distinguierte, vermeintlich objektive Position einnehmen. Mit Bezug auf das Praxisfeld Schule nennen Clandinin/Connelly diesen Zugang walking into the midst of stories (2000) und verstehen darunter keinesfalls eine falsch verstandene Anbiederung an die Praxis. Mit diesem Anspruch werden distanzierte, zweifelsfrei objektive Unterrichtsbeobachtungen, die die betroffenen Personen lediglich als Probanden wahrnehmen, faktisch ausgeschlossen. Untersuchungen mit einer didaktischen Absicht verlangen eine Intimität zwischen Beobachter und Beobachteten, die auf gegenseitigem Vertrauen aufbaut. Diese (Forschungs-) Empathie entwickelt sich über Zeit, weshalb mehrmalige (Beobachtungs-) Sitzungen zwingend sind. Damit ist eine wesentliche Vorraussetzung für die Auswahl der Unterrichtsstunden, resp. der Lehrpersonen bereits gegeben. Für die Untersuchung ist weniger eine statistische Repräsentativität nötig, sondern vielmehr die Möglichkeit, die untersuchten Personen mehrmals zu beobachten und zu befragen. Trotzdem erfolgte die Auswahl der Sportstunden und Sportlehrpersonen nicht zufällig. Es wurden
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Vgl. dazu Schierz/Hummel 2006, 11.
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unabhängig voneinander unterrichtende Sportlehrkräfte an unterschiedlichen Schulen ausgewählt. Als Kriterium für die Auswahl galt das Prinzip des maximalen Kontrastes. Es wurde versucht, möglichst unterschiedliche Unterrichtsstufen und Unterrichtsniveaus in die Untersuchung aufzunehmen. Alle angefragten Lehrpersonen, die keine Fachausbildung hatten, wollten bei der Untersuchung nicht teilnehmen. Dies führte dazu, dass die Primarschule (1. bis 6. Schuljahr) nicht vertreten ist. Im Weiteren wurde auf ein ausgewogenes Verhältnis in Bezug auf das Geschlecht der Lehrpersonen und der Schüler/innen geachtet. Zur Auswahl kamen letztlich 6 Lehrpersonen (3 Lehrerinnen, 3 Lehrer) auf der Sekundarstufe I (3) und Sekundarstufe II (3). Mehrheitlich wurde in geschlechtsgetrennten Klassen unterrichtet. Auf die Planung der aufgezeichneten Sportstunden wurde kein Einfluss geltend gemacht, mit Ausnahme der Bitte, keine ausschliesslichen Spiel- oder Trainingsstunden durchzuführen. Deshalb konnte das Prinzip des maximalen Kontrastes in Bezug auf den Inhalt nicht eingehalten werden. Zur Auswahl kamen dennoch unterschiedliche Schulsportarten wie Volleyball, Basketball, Fussball, Geräte- und Bodenturnen sowie Unihockey. Ebenfalls zur Auswahl kamen verschiedene schulspezifische Tätigkeiten und Spiele, wie Tupfball, Stafetten oder Völkerball. Aufgrund der Jahreszeit (Frühjahr) und der filmtechnischen Auflage, den Unterricht in der Halle durchzuführen, fehlen Sportarten wie Leichtathletik, Schwimmen oder Waldspiele. Quantitativ wurde je eine Unterrichtsstunde als Pretest (und -interview) durchgeführt, um die technischen Details zu klären und zu verbessern. Aufgrund der bereits sehr guten Datenlage wurden diese Aufnahmen ebenfalls in die Untersuchungsdaten aufgenommen. Die restlichen fünf Unterrichtsstunden wurde nach dem gleichen – unten beschriebenen Konzept – aufgenommen und daran anschliessend wurden die Interviews durchgeführt. Die geringe Anzahl an ausgewerteten Unterrichtsstunden mag erstaunen, ist in Bezug auf die Komplexität der geplanten Auswertungsstrategie jedoch gerechtfertigt. Einerseits wurde die Auswahl durch die empirischen Ergebnisse durchaus bestätigt, andererseits wurde das Projekt durch die eidgenössische Sportkommission ESK in dieser Form bewilligt und unterstützt. Aufgrund der methodischen Annahme, dass die Interviewpartner möglichst zu Rechtfertigungen gedrängt werden sollten, wurden zwei unterschiedliche Kameraeinstellungen gewählt49. Einmal sollte der Unterricht durch eine Übersichtskamera, die in der Regel die ganze Sporthalle im Fokus hatte, aufgezeichnet werden. Diese Einstellung sollte sicherstellen, dass auch eine nachträgliche Rekonstruktion der ganzen Unterrichtssituationen möglich sein würde. Eine zweite Kamera wurde den Lehrpersonen mit Hilfe einer technischen Einrichtung »auf den Kopf gesetzt« und
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Durchgeführt wurden die Aufnahmen von einem professionellen Kamerateam der Eidgenössischen Hochschule für Sport Magglingen (EHSM) unter der Leitung von Peter Battanta.
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sollte ihre subjektive Wahrnehmung wiedergeben. Die zweite Kamera hatte zudem den Vorteil, dass die Gespräche zwischen Lehrperson und Schülern in einer gut hörbaren Qualität aufgenommen werden konnten. Im Anschluss an diese Aufnahmen wurden die Lehrpersonen interviewt. Dabei wurde die oben erwähnte »Rechtfertigungstendenz« zu Hilfe genommen. Während die (subjektive) Aufnahme auf einem Videoplayer lief, hatten die Interviewten die Möglichkeit, den Film zu stoppen und ihr Handeln zu rechtfertigen oder zu begründen. Die daraus entstandenen Interviewaussagen bilden zusammen mit den Videoaufnahmen, das Datenmaterial für die Auswertungen. Die Interviews wurden in einer ruhigen und entspannten Atmosphäre durchgeführt, weshalb die Lehrpersonen nicht unmittelbar nach ihrem Unterricht, sondern ein bis drei Tage später befragt wurden. Damit sollte einerseits sichergestellt werden, dass die Lehrpersonen nicht im Alltagsstress »zwischen zwei Sportstunden« interviewt werden mussten, andererseits sollte das Interview aber auch in einer unkritischen Distanz zum Geschehen erfolgen, damit sich die Lehrpersonen noch an die Handlungssituationen erinnern konnten. Das eigentliche Interview folgte keinem Frage-Antwort-Spiel, vielmehr diente das abgespielte Band quasi als Leitfragenkatalog. »During the stimulated recall procedere, the teacher viewed the videotape along with the investigator. The teacher was instructed to stop the videotape at points when s/he recalled thoughts or feelings that occurred during instructions or consultations« (Stough 2001, 5). Während Stough das Video bereits nach zwei Minuten ohne Kommentar stoppte und bei der Lehrperson nachfragte, warteten wir in der Regel bis zu zehn Minuten. Allerdings war dies selten nötig. Dieses Warten war insofern wichtig, weil das recall procedere nicht nur Argumente sammeln, sondern vor allem erzählgenerierend wirken sollte. Die Gespräche wurden als offene narrative Interviews gestaltet, wobei die Lehrpersonen nur selten direkt befragt wurden, wir liessen sie in der Regel einfach erzählen. Als Genre könnte man das Verfahren auch als »erzählgenerierend« bezeichnen (vgl. Friebertshäuser 1997, 386). Der Interviewer überlässt den Befragten weitgehend die Strukturierung des Gegenstandes und formt das Datenmaterial des Interviews nicht durch Vorgaben, z.B. durch Leitfragen. Die Fragen entsprachen deshalb auch weitest gehend Verständnisnachfragen. Gerade weil das Untersuchungsinteresse nicht ausschliesslich auf den Inhalt abzielte, sondern auch auf die Erzählstruktur, durfte die Struktur des Gesprächs nicht durch den Forscher gesetzt werden. Dies war ebenfalls der Grund, weshalb die Interviews in der Umgangssprache geführt wurden – mit bedeutungsvollen Auswirkungen auf die Transkription. Ebenfalls erschwerend für die Durchführung der Interviews in der Schriftsprache kam hinzu, dass der auf Video dargestellte Unterricht ebenfalls auf Mundart durchgeführt wurde. Ein »Sprachwechsel« erschien uns zu künstlich und einer narrativen Ausdrucksweise hinderlich.
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Wie in qualitativen Untersuchungen üblich, wurde mit diesem Zugang des stimulated recall eine Menge von Daten generiert, die es für das weitere Vorgehen zunächst als Texte zu sichern galt. 4.1.2 Dokumentationen Mit Dokumentation bezeichne ich den Schritt im Forschungsdesign, in welchem aus Felddaten Forschungstexte generiert werden (»from field texts to research texts« Clandinin/Connelly 2000, 119). Mit dieser Phase wird die Subjektivität des Forschers explizit verlassen, um sie für Aussenstehende nachvollziehbar zu gestalten. »There tends to be a rule to the effect that research texts should be written almost as if there were no personal inquirer, no ›I‹ in the progress. Injecting that ›I‹ is not easy« Clandinin/Connelly 2000, 122). Dieser Schwierigkeit der Entpersonalisierung wird meist mit akribischen Transkriptionsregeln begegnet, als ob es die Subjektivität des Forschers durch möglichst viele Regeln zu verwischen gälte. In der vorliegenden Untersuchung wurden ebenfalls Transkriptionsregeln eingeführt, ohne allerdings die Sinnhaftigkeit des Ganzen aus dem Blick zu verlieren. Laut Nohl (2005, 5.2) will die dokumentarische Methode eine Dichotomisierung zwischen subjektivem und objektivem Sinn zu überwinden helfen. »Zwar bleibt das Wissen der Akteure die empirische Basis der dokumentarischen Methode, doch löst sie sich von den Sinnzuschreibungen der Akteure ab« (ebd.). In Bezug auf die vorliegende Untersuchung sollte so etwas wie objektiver Sinn nicht aus dem inhaltlichen Vergleich der Aussagen erfolgen, sondern durch den Vergleich ihrer narrativen Struktur. Damit wurden für die Transkription Prämissen geschaffen, die erst im Verlauf der Transformation von Audiodaten zu schriftlichen Texten erkennbar wurden. Sämtliche Interviews wurden auf Band aufgenommen und anschliessend verschriftet. Die Verschriftlichung der auf Band aufgenommenen Interviewaussagen erfolgte nach einem standardisierten Transkriptionsschema50. Als wesentliches Problem stellte sich dabei heraus, dass die Interviews im Schweizer Dialekt aufgenommen worden waren. Dies geschah allerdings in der begründeten Absicht, dass Erzählsituationen in der Umgangssprache spontaner entstehen als in einer Fremdsprache51. »In der gesprochenen Mundart wird die jeweilige Wortbedeutung durch den Sinnzusammenhang, durch Betonung und durch Lautungen kenntlich. [...] Aus den genannten Gründen sollte der Interviewer keinesfalls eine wörtliche Übertra-
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Zu den verwendeten Transkriptionsregeln vgl. Bohnsack/Marotzki/Meuser 2006, 160. Fremdsprache ist in diesem Kontext wohl übertrieben, aber es handelt sich trotzdem um eine Schriftsprache und nicht um eine gesprochene Sprache. Dürrenmatt spricht in diesem Zusammenhang von »Vatersprache«. Um der Narrativität der Aussagen gerecht zu werden, kann aber die Transkriptionsleistung nicht den Befragten überlassen werden.
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gung versuchen, sondern eine sinngemässe: Es kommt nicht auf den Wortlaut, sondern auf die Wortbedeutung an« (Haller 1997, 347). Deshalb wurde ein Transkriptionsschema gewählt, das nahe bei den Sinnäusserungen der Lehrerinnen und Lehrer lag und weniger bei ihren Lautäusserungen. Weil das Untersuchungsinteresse nicht auf die Individuen fokussiert, sondern auf die von ihnen geäusserten Erzählmuster, spielt es eine untergeordnete Rolle, wie die Aussagen (Ton, Habitus, Pausen) gemacht wurden. Vielmehr stehen die inhaltlichen Aussagen – Rechtfertigungen – und ihre narrative Modulierung im zentralen Interesse der Untersuchung. Trotz dieser sprachbedingten Anpassungen sollte auch in der Transkription der Charakter als Sprechakt beibehalten werden, um die inhaltliche und narrative Relevanz nicht zu verändern. Ein Beispiel für die Transkription der Interviews ist in Tabelle 2 zu finden (weiter hinten). Die Erzählschemata wurden akribisch beibehalten, während Wörter z.T. »eingedeutscht« werden mussten. Die so transkribierten Aussagen der Lehrerinnen und Lehrer bildeten das Datenmaterial für die anschliessende formulierende Interpretation. Zunächst gilt es jedoch, die Regeln und die methodischen Prinzipien zu erläutern, die für die Dokumentation der Unterrichtssituationen von Bedeutung waren. Die Transformation von Audio-Daten (z.B. aus Interviews) in einen Text ist aufgrund ihrer unterschiedlichen Datenstrukturen kaum vergleichbar mit der Transformation von audiovisuellen Daten (z.B. aus Unterrichtsaufnahmen) in einen Text. Während sich – je nach Transkriptionstechnik – die gesprochene Sprache und die geschriebene Sprache nur nuanciert unterscheiden, bleibt bei audiovisuellen Daten der Aspekt der Beschreibung von Bildern. Bilder zu beschreiben, insbesondere laufende Bilder, verlangt eine grössere Integration – und damit Interpretation – des beobachtenden Subjekts. Das Verstehen von Unterricht steht bei rekonstruktiven Verfahren in einem unmittelbaren Zusammenhang zur Beschreibung von Unterricht. Die Textform oder -qualität erhält eine entscheidende Bedeutung. Der Beobachter steht bei seiner Tätigkeit mitten im Feld, wobei dies nicht nur eine Tatsache, sondern auch eine Forderung ist. Die Nähe zum Feld verhindert aber nicht, dass die Beobachtungen durch den Beobachter gemacht werden. Sie sind keine objektiven Darstellungen der Wirklichkeit, sondern abhängig von seinem Blickwinkel, seinen Fokussierungen und seinen Einstellungen. Beck/Scholz (1995, 19) nennen es die Wahrnehmungseinstellung, die eine Beobachtung wesentlich beeinflusst. Das Interesse des Beobachters an bestimmten Problemen, seine emotional-soziale Befindlichkeit, seine eigenen Erfahrungen führen dazu, dass Realität unterschiedlich wahrgenommen und dargestellt wird. Die Qualität von Beobachtungen hängt weitgehend davon ab, ob sich die Beobachter der Vorannahmen, die in die Beobachtung eingehen, bewusst sind. Diese eigenen Geschichten mit ihren Norm- und Wertvorstellungen müssen spätestens in die Reflexion der Beobachtung einfliessen, vielleicht werden sie auch erst durch die
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Reflexion ersichtlich. Einzelne Vorannahmen werden aber bereits durch Entscheidungen vor der eigentlichen Beobachtung transparent. Auf diese Entscheidungsmomente möchte ich im Folgenden eingehen, weil sie die Effekte von Unterrichtsbeobachtungen massgeblich beeinflussen. Einmal betrifft dies den Gegenstand der Beobachtung. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen beeinflusst die Kategorienbildung der Beobachtung. Das gleiche Vorverständnis bestimmt auch die Art und Weise, wie Unterricht beobachtet wird. Trotz der technischen Möglichkeiten, Unterricht strukturiert zu beobachten oder audiovisuell aufzuzeichnen, bleibt der Anspruch auf Nähe zum Geschehen. Einfühlungsvermögen zu entwickeln, bedeutet nicht, seine eigene Subjektivität aufzugeben. Was für andere Völker gilt, sollte auch für Unterricht Gültigkeit haben: »Kurz, man kann Erklärungen der Subjektivität anderer Völker versuchen, ohne dazu übermenschliche Fähigkeiten der Selbstaufgabe und des Einfühlungsvermögens heucheln zu müssen« Geertz 1987, 308). Mit dem Bewusstsein, diese Erfahrung aufzuschreiben, verändert sich die Perspektive, der Prozess bleibt aber der gleiche. Durch das Festhalten von Erlebnissen in Unterrichtsnotizen wird das Erfahrene nochmals erlebt. »Following Dewey, our principal interest in experience is the growth and transformation in the life story that we as researchers and our participants author. Therefore, difficult as it may be to tell a story, the more difficult but important task is the retelling of stories that allow for growth and change. We imagine, therefore, that in the construction of narratives of experience, there is a reflexive relationship between living a life story, telling a life story, retelling a life story and reliving a life story« (Clandinin/Connelly 2000, 71). Damit ist die Zielsetzung der Nähe für das schriftliche Festhalten von Erfahrungen formuliert. Was bleibt, ist die Frage nach der Distanz zum Geschehen. Mit der Nähe zum beobachteten Feld ist gleichzeitig eine Gefahr verbunden: Wer sich selbst immer auf der Bühne befindet, weiss nicht, was sich hinter den Kulissen abspielt. Oder, auf die Beobachtenden bezogen: »They must become fully involved, must ›fall in love‹ with their participants, yet they must also step back and see their own stories in the inquiry, the stories of the participants, as well as the larger landscape on which they all live« (Clandinin/Connelly 2000, 81). Clandinin/Connelly (ebd. 71f) nennen fünf Punkte, die bei der Beobachtung zu befolgen sind, damit eine konstruktive Distanz zum Feld bewahrt werden kann. Als Erstes sind die eigenen Zugänge (i) zum Feld zu prüfen. Weshalb wurde diese Schule, diese Klasse, diese Lehrperson, diese Schülerin für die Beobachtung ausgewählt? Selbstverständlich steht diese Frage in engem Zusammenhang mit den Beobachtungsmotiven. Oft sind die Gründe für die Auswahl aber pragmatisch: kurze Reisewege, persönliche Kontakte, vermeintlich »einfache« Klasse etc. Solche Gründe sind wichtig, damit bei der Untersuchung mit narrativen Texten eine gewisse Ökonomie gewahrt werden kann. Sie sollten aber laut Clandinin/Connelly bei
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der Arbeit im Feld in Bezug auf die Absichten (ii) der Beobachtung konstant reflektiert werden. Auch wenn die Absichten im Verlauf von narrativen Untersuchungen immer wieder ändern können, darf aus Befangenheit im Handlungsdruck des Alltags die eigentliche Absicht nicht vergessen gehen. Weiter sind die Übergänge (iii) bei der Beobachtung zu berücksichtigen. Beginnt oder endet eine Beobachtung, weil der Beobachter im Feld gebraucht wird oder ergeben sich die Übergänge aus der Beobachtung selbst? Aber auch die Übergänge in der Dokumentation von narrativen Texten sind zu beachten. Damit wird ein weiterer – wahrscheinlich der wichtigste Punkt im Verhältnis von Nähe und Distanz – ins Spiel gebracht. Wie zeichnen sich die Beziehungen (iv) zu den beobachteten Personen aus? Die Position des Beobachters und seine Rolle sollten immer wieder Gegenstand der Reflexion sein. Wird der Forscher als Experte oder als Kumpel wahrgenommen? Ist er mehr Kontrolleur oder mehr Berater? Als letzter Aspekt im Netzwerk von Beobachtungen sollten die Beobachtungen immer wieder auf ihre Nützlichkeit (v) überprüft werden. Dieses Zusammenfügen von unterschiedlichen Textsorten ist nicht unbedeutend, wird damit doch die Voraussetzung geschaffen, dass aus Unterrichtsnotizen narrative Texte entwickelt und für die Auslegung verdichtet werden können. »Man muss sich also mit Strudeln, Zusammenflüssen und unbeständigen Verbindungen begnügen; Wolken, die sich auftürmen, Wolken, die sich verziehen. Es gibt keine allgemeine Geschichte, die man erzählen, kein synoptisches Bild, das man gewinnen könnte. [...] Was wir konstruieren können, wenn wir uns Notizen machen und am Leben bleiben, sind nachträglicher Einsicht entstammende Berichte über die Verbundenheit von Dingen, die sich anscheinend ereignet haben: zusammengestückelte Musterbildungen im Nachhinein« (Geertz 1997, 8). Was Geertz hier für die Ethnologie beschreibt, gilt auf für die didaktische Forschung. Zunächst begegnet man lediglich Unterrichts-Fetzen, die erst durch das nachträgliche Ordnen zu einem sinnvollen Ganzen werden. Mit dem Zusammenfügen von Unterrichtsszene und Interviewaussage wurde in der vorliegenden Untersuchung versucht, dieses sinnvolle Ganze zu konstruieren. Deshalb konnten aus Gründen der Verhältnismässigkeit auch nur diejenigen Szenen beschrieben werden, die im dazu gehörenden Interview zur Auswahl kamen. Für die Beschreibung der Unterrichtsszenen, die in die Analyse eingeflossen sind, wurde auf ein technisches Transkriptionsschema verzichtet. Grundsätzlich wurden hier narrative Regeln angewendet, die anderswo bereits ausführlich beschrieben worden sind (Messmer 2002, 57ff). Als Datenbasis konnte dabei sowohl auf die Aufnahme der Gesamtsicht als auch auf eine subjektive Kamera zurückgegriffen werden.
4.1 Fragen und Methoden der empirischen Vergleiche
129
4.1.3 Interpretationen Wie in der Dokumentation bereits dargelegt, müssen schon die Darstellungen von Gesprächen und Unterrichtssituationen als Interpretationen bezeichnet werden. In diesem Sinne kann man die jetzt folgenden Schritte als Interpretationen zweiter Stufe bezeichnen. Mehr noch als die Darstellungsmethoden müssen die Methoden des Auswählens, Ordnens und Auslegens beschrieben und für Dritte nachvollziehbar sein. Ich folge deshalb in dieser Phase der Interpretation mehrheitlich der dokumentarischen Methode, die im Wesentlichen von Bohnsack (1999), mit Verweis auf Mannheim entwickelt worden ist. Dies mag vielleicht erstaunen, wurde die dokumentarische Methode doch vor allem für die Interpretation von Gruppendiskussionen beschrieben. Bohnsack selbst sieht allerdings auch andere Anwendungsgebiete. Er beschreibt die Methode »... als eine Abfolge von Analyseschritten, die nicht nur für Texte aus Gruppendiskussionen, sondern auch unter anderen Vorzeichen, für die Texte aus Alltagskommunikationen oder auch für offene Interviews geeignet sind« (Bohnsack 1989, 343). Nohl (2005, 2006) beschreibt dazu eine Erweiterung der dokumentarischen Methode auf narrative Interviews. Doch scheint auch diese Datengrundlage für die vorliegende Untersuchung nicht treffend. Bei den durch ein stimulation recall generierten Interviews handelt es sich wohl um narrative Texte, aber nicht, wie von Schütze (vgl. Jakob 1997) intendiert, um Texte als biografische Reflexionen. Trotzdem scheint mir die dokumentarische Methode angemessen, kann sie doch in ihrer Abfolge von Analyseschritten sehr gut auf die vorliegenden Daten angewendet werden. Grundsätzlich gliedert sich die Interpretation in der dokumentarischen Methode in vier Phasen. Zunächst in eine formulierende Interpretation: »Grundgerüst der formulierenden Interpretation ist die thematische Gliederung, die Entschlüsselung der thematischen Struktur der Texte« (Bohnsack 1999, 304). Auf diese Phase folgt die reflektierende Interpretation, die im Gegensatz zur formulierenden Interpretation nicht in erster Linie die Wie-Frage beantwortet, sondern nach dem Was? fragt. Die Fallbeschreibung unterscheidet sich insofern von den vorhergehenden Schritten als hier der vermittelnde Aspekt im Zentrum steht und die interpretativen Aspekte in den Hintergrund treten. Dabei werden relevante Textabschnitte aus ihrer Transkription gelöst und für den Leser verständlich dargestellt. Die letzte, auf den vorhergehenden Schritten beruhende Phase wird als Typenbildung bezeichnet. Hier werden Differenzen und Kontraste ausgearbeitet und letztlich einer ganzen Typologie untergeordnet. Die drei ersten Phasen werden im Folgenden dargestellt und in Bezug auf die vorliegende Untersuchung exemplarisch erläutert. Die vierte Phase – gleichsam als Schritt der Darstellung der Untersuchungsergebnisse – wird im folgenden Kapitel separat zur Ausführung kommen.
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4 Wie ordnen Lehrpersonen unterschiedliche Erfahrungen
4.1.3.1
Zur Identifikation von Rechtfertigungen (formulierende Interpretation)
Aufgrund des methodischen Zugangs durch stimulated recalls werden ganz unterschiedliche Äusserungen in einem Interview zusammengefasst. Trotz des Versuchs, die Lehrerinnen und Lehrer zu Rechtfertigungen zu drängen, flossen immer wieder auch Beschreibungen, Erläuterungen und andere nicht argumentative oder narrative Muster in die Antworten ein. Die Aussagen mussten demnach in einem ersten Schritt geordnet und mit »Oberbegriffen, Überschriften oder Themen« (Bohnsack 1999, 149) versehen werden. Damit wird begrifflich und theoretisch expliziert, was implizit im Text vorhanden ist52. Diese erste formulierende Interpretation erfolgte in Bezug auf das Gemeinsame, das es zu interpretieren gilt. Das gemeinsame Thema – oder wenn man so will – die gemeinsame Struktur, die zu deuten ist, liegt in Stellungnahmen und Rechtfertigungen, in narrativen und argumentativen Rekonstruktionen53. Gemeinsam sind demnach Passagen, die auf Widersprüche hinweisen. Es sind Widersprüche, die von den Lehrpersonen selbst als solche aufgedeckt worden sind und die sie zu Rechtfertigungen drängen. Es sind deshalb keine vom Beobachter oder Forschenden identifizierte Widersprüche, sondern Unstimmigkeiten und Irritationen der handelnden Lehrpersonen selbst. Bohnsack wählt in dieser Phase jene Passagen aus, die zum Gegenstand reflektierender Interpretation werden sollen und orientiert sich dabei zum einen an der thematischen Relevanz dieser Passage für die Ausgangsfragestellung »und zum anderen an der thematischen Vergleichbarkeit mit Passagen aus anderen Diskussionen, mit jenen, die in den Vergleich, in die komparative Analyse einbezogen werden, wie sie sowohl der reflektierenden Interpretation als auch der späteren Erstellung der Typologie zugrundeliegt« (1989, 344). In der Auswertung der Interviews wurden entsprechend der Zielsetzung der Untersuchung hauptsächlich Aussagen gesucht und ausgewählt, die längere Rechtfertigungen enthalten und nicht auf einfache Erläuterungen und Beschreibungen zurückgeführt werden können. Dies betrifft sowohl argumentative Textfragmente als auch identifizierbare Erzählmuster. Wie bereits dargestellt, bedienen sich auch Argumentationen narrativer Mittel und müssen entsprechend als Rechtfertigungen eingeordnet werden könnten. Dem gegenüber stehen Beschreibungen und Schilderungen von Situationen und Handlungsabläufen, die mehr der Erläuterung des Gesehenen dienen.
52 53
Diese Phase lässt sich mit dem Kodieren von Daten vergleichen, wie sie in der Grounded Theory von Glaser und Strauss ebenfalls vorgesehen sind (1998, 153). Zum Verhältnis von Grounded Theory und der dokumentarischen Methode vgl. Nohl 2005, 3. Ich folge hier bewusst nicht der Unterscheidung von Schütze zwischen Erzählung und Argumentation (vgl. Nohl 2006, 26). Schütze bezeichnet Erzählungen als Darstellungen von Handlungsabläufen über Zeit und Argumentationen als Stellungnahmen zu Gründen und Bedingungen. In Bezug auf die von Bruner ausdifferenzierten Denkmodi, können aber Erzählungen ebenso als Stellungnahmen funktionieren.
4.1 Fragen und Methoden der empirischen Vergleiche
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Die in den Interviews dargestellten Erzähl- und Argumentationsmuster liessen sich kaum in Bezug auf ihre inhaltlichen Aspekte vergleichen. Es wurden sowohl eigene als auch fremde Handlungen beschrieben, zudem auch situative Aspekte. Ebenfalls betreffen die Antworten in den Interviews ganz unterschiedliche Situationen des Unterrichtens, unterschiedliche Sportarten und unterschiedliche Phasen von Unterricht. Als Schema der Ausdifferenzierung der einzelnen Antworten beziehe ich mich deshalb auf unterschiedliche Argumentations- und Erzählstrategien, die unterschiedliche Nutzungen beinhalten. Explizit markiert wurden somit Passagen, die sich einerseits durch ihre Dichte auszeichnen und andererseits mit Hilfe von gemeinsamen Merkmalen identifiziert werden konnten54. Diese bezeichnen gleichsam das tertium comparationis (Bohnsack 2001, 235), das den Vergleich strukturierende Dritte, das gemeinsame Thema. Hier bezieht sich dieses gemeinsame Dritte auf das Interpretationsschema (Argumentations- bzw. Erzählschema), resp. auf das Repräsentationsschema. Das laute Denken der Lehrerinnen und Lehrer ist in diesen Passagen rechtfertigend, also nicht nur erläuternd. »Hierbei geht es darum, zunächst konsequent innerhalb des Relevanzsystems, des Rahmens der Gruppe zu bleiben. Dieser Rahmen selbst, der ausschlaggebend dafür ist, wie, d. h. in welcher Selektivität das Thema behandelt wird, wird hier nicht transzendiert, wird nicht explizit gemacht« (Bohnsack 1999, 36). Die Identifizierung solcher Passagen zielt selbstverständlich auf die Ausdifferenzierung von narrativen und argumentativen Äusserungen. Dies soll – um hier der dokumentarischen Methode von Bohnsack zu folgen – erst im nächsten Schritt erfolgen. Ein Auszug aus den transkribierten Daten kann diesen Schritt der Interpretation veranschaulichen (vgl, Tab. 2). Der Auszug aus der Transkription zeigt in Passage 17 ein Beispiel für eine erläuternde und die Videosequenz beschreibende Aussage. Die Lehrperson rechtfertigt nicht ihr Handeln, sondern erläutert die eigene Frage sowie die Probleme der Schüler, die wahrscheinlich für einen Aussenstehenden nicht ersichtlich sind. Die Lehrperson sieht eine Situation, auf die sie aufmerksam machen will. Der Indikator und dann deutet auf eine Beschreibung hin, die mehr an eine Aufzählung erinnert als an eine Handlung, die sie rechtfertigen will. Im Gegensatz dazu begründet die Lehrperson in der Passage 17 ihr Handeln. Hier lassen sich aufgrund der Äusserungen Narrationen resp. Argumente ausdifferenzieren. So weist die Phrase und dann auf die Rechtfertigung einer Handlung hin. Die Lehrperson will sich gegenüber dem Interviewer für die Frage, die er seinen Schülern stellt, rechtfertigen. Es wurde versucht, solche Passagen in einem ersten Schritt zu identifizieren und sie anschliessend in Bezug auf ihr Erzählmuster auszudifferenzieren.
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Dieser methodische Schritt ist vergleichbar mit dem bereits besprochenen paradigmatischen Gang von Beispiel zu Beispiel, indem sich etwas Besonderes zu einem anderen Besonderen gesellt (Buck 1989, 224).
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4 Wie ordnen Lehrpersonen unterschiedliche Erfahrungen
Tab. 2: Formulierende Interpretation: Erzählende Passagen und erläuternde Passagen
4.1.3.2 Zur Selektion narrativer und argumentativer Aussagen (reflektierende Interpretation) Im Gegensatz zur formulierenden Interpretation ist hier nicht mehr das fallübergreifende Gemeinsame, sondern das Kontrastierende zwischen den Aussagen entscheidend. »Die Vorstellungen oder Entwürfe des Interpreten, die den Gegenhorizont bilden, können nun entweder gedankenexperimentell den Gegenhorizont bilden, können auf hypothetischen Vorstellungen beruhen, die dann abhängig sind von der
4.1 Fragen und Methoden der empirischen Vergleiche
133
jeweiligen Erfahrungsbasis, dem jeweiligen Erfahrungshintergrund des Interpreten, in den Alltagserfahrungen und theoretische (soziologische) Erfahrungen gleichermassen eingehen können« (Bohnsack 1989, 346). Bei der vorliegenden reflektierenden Interpretation war insbesondere die hypothetische Unterscheidung zwischen narrativem und paradigmatischem Denken entscheidend. Daraus wurde die empirische Differenz zwischen Erzählungen und Argumenten abgeleitet. Es gilt zu unterscheiden, welche Begründungen oder Rechtfertigungen mehr auf das Argumentieren und welche mehr auf das Erzählen hinweisen. Um zu zeigen, bei welchen Handlungen eher argumentativ und wo eher erzählerisch begründet wird, braucht es Kriterien und Indikatoren. Die Erzähl-, resp. Argumentationsanalyse kann sich dabei auf Phrasen stützen, die die gewählte Rechtfertigungsstrategie andeuten. Bohnsack spricht in diesem Zusammenhang von FocussierungsMetaphern: »Jene Orientierungsfigur bzw. die sie konstituierenden Gegenhorizonte, die im Focus des Diskurses stehen und somit den Rahmen konstituieren, kommen am prägnantesten in jenen Passagen zum Ausdruck, die sich durch besondere interaktive und metaphorische Dichte auszeichnen, den sog. Focussierungs-Metaphern« (Bohnsack 1999, 152; vgl. auch 2001, 312). In der vorliegenden Untersuchung wurden Aussagen differenziert, bei denen narrative Muster identifiziert werden konnten. So wurden Texpassagen ausgeschieden, bei denen Narrativierungen oder narrative Mittel identifiziert werden konnten (vgl. Lunginbühl et al. 2004). Solche Textfragmente weisen auf einen narrativen Denkmodus hin. Beim Erzählen, das auf den narrativen Denkmodus hinweist, können Phrasen festgestellt werden, wie »da hab ich mich geärgert, dass...«, »das ist, wie wenn...«, »Ähnliches hatte ich schon einmal..., ich habe die Erfahrung gemacht« und andere mehr. Diese Indikatoren weisen auf weitere Geschichten hin, auch wenn diese nicht immer im Detail erzählt werden. Beim Argumentieren kann man im Gegensatz dazu Phrasen feststellen wie »das ist ein Fall von...«, »in der Regel, mache ich...«, »das ist typisch für...«. Diese Indikatoren weisen auf Regeln, Begriffe oder Kategorien hin, die für eine Argumentation nötig sind. Damit ist aber nicht gesagt, dass diese Argumentation auch schlüssig sein muss. Eine weitere, nachgeordnete idealtypische Unterscheidung lässt sich in Bezug auf die Denkrichtung machen. Inwiefern folgt der Interviewte in seinen Ausführungen einem epagogischen, resp. einen apagogischen Weg der Erläuterungen? Die Unterscheidung lässt sich weniger an Focussierungsmetaphern festhalten als mehr an der Reihung der Analogie. Wenn überhaupt eine Analogie als Rechtfertigung des Widerspruchs eingeführt wird, zeigt sich anhand dieser Reihung, ob der Denkprozess vom Allgemeinen zum Besonderen folgt, oder umgekehrt, vom Besonderen zum Allgemeinen. Buck bezeichnet die epagogisch operierende Analogie als »die eigentlich didaktische Form der Analogie« (1989, 230). Ob sich dies in Bezug auf die Äusserungen der in dieser Untersuchung ausgewählten Lehrpersonen bestätigen lässt, wird sich zeigen. Wird demnach die ausgewählte Unterrichtssequenz von der
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Lehrperson als Beispiel für einen übergeordneten Begriff bezeichnet, so argumentiert, resp. erzählt die Person in der Form einer apagogischen Analogie. Das Beispiel wird gleichsam zum Schlüssel des Verstehens des Allgemeinen. Im entgegengesetzen Sinn wird aus dem dargestellten Beispiel das Allgemeine allmählich entwickelt, ohne dieses Allgemeine bereits vorweg zu schicken. Dieser epagogische Prozess der Rechtfertigung lässt sich durch die induktive Vorgehensweise bei den dargestellten Rechtfertigungen nachweisen. Hier wird keine Bestätigung für das eigene Handeln gesucht, sondern im Gang vom anschaulichen Beispiel zum allgemeinen Begriff wird versucht, das Übergeordnete zu erfassen. In der Phase der reflektierenden Interpretation steht die Selektivität des Themas als Prozess im Zentrum, »d.h. die spezifische Weichen- und Problemstellung bei der Behandlung des Themas und damit der für die Behandlung des Themas ausschlaggebende Rahmen dadurch sichtbar gemacht wird, dass ich Alternativen dagegenhalte, [...] es werden Kontingenzen sichtbar« (Bohnsack 1999, 36). Die dadurch sichtbar gewordenen Differenzen zwischen unterschiedlichen Interviews werden durch eine Typisierung verdichtet, dies erfolgt allerdings erst in einem vierten Schritt. Zuächst werden die immer noch als Transkriptionen bestehenden Texte in Fallbeschreibungen transformiert. 4.1.3.3
Fallbeschreibung und Kritik
In Fallbeschreibungen – oder Diskursbeschreibungen, wie sie Bohnsack in Bezug auf Gruppendiskussionen nennt – werden Interviewaussagen sprachlich verdichtet und als Forschungstexte gestaltet. »Die Fallbeschreibung hat primär die Aufgabe der vermittelnden Darstellung, Zusammenfassung und Verdichtung der Ergebnisse im Zuge ihrer Veröffentlichung« (Bohnsack 1999, 155). Es geht hier weniger um neue Interpretationsleistungen, wie in den vorhergehenden Schritten. Trotzdem gibt der Autor diesen Texten seine Signatur, was letztlich auch eine Interpretation darstellt. »A cold, depersonalized, unsigned, voiceless document adressed in full to an audience has at times in social science research, even now, been seen as good or ideal« (Clandinin/Connelly 2000, 149). Damit ist die Ambivalenz narrativer Fallbeschreibungen angesprochen, die es für die Darstellung der hier vorliegenden Erkenntnisse zu überwinden gilt. Auf der einen Seite existieren aufgrund der Transkription Texte, die vergleichbar mit der Persiflage von Clandinin/Connelly beschrieben worden sind. Auf der anderen Seite gilt es, die Narrativität der Rechtfertigungen auch dramaturgisch so darzustellen, dass sie inhaltlich zur Geltung kommen. »Eine Diskursbeschreibung wird umso runder und dichter, je umfassender es gelingt, die Beschreibung der Orientierungsmuster und Rahmenkomponenten (›Inhalt‹) einerseits und die Beschreibung von Dramaturgie und Diskursorganisation andererseits (›Form‹) in einer Gesamtcharakteristik des Falles verschmelzen zu lassen [...]« (Bohnsack 1989, 370). Die Möglichkeit, aus Beschreibungen narrative Texte zu
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gestalten, wurde bereits ansatzweise unter 4.1.2 beschrieben55. Damit die bereits in den vorhergehenden Phasen der Interpretation ausgewählten Interviewpassagen von einem Leser überhaupt verstanden werden können, müssen sie in den Kontext der Dokumentationen der Unterrichtsbeschreibungen gestellt werden. Damit werden zwei unterschiedliche Textsorten zusammengefügt, die als Ganzes erst einen Sinnzusammenhang ermöglichen. Die Beschreibungen der Unterrichtsszenen entsprechen den Dokumentationen der beiden Filmaufnahmen (je Unterrichtsstunde). Hier wurden lediglich diejenigen Situationen beschrieben, die einerseits im Interview und andererseits in der formulierenden Interpretation zu Auswahl kamen. Teilweise wurden diese Beschreibungen mit Informationen ergänzt, damit die Momentaufnahme in ihrem Kontext einer ganzen Unterrichtsstunde überhaupt verstanden werden kann. Die so als »Doppeldecker« gestalteten Fallbeschreibungen (Interviewaussage und Unterrichtsbeschreibung in einem) kommen im nächsten Kapitel der Ergebnisdarstellung zur Anwendung. Zuvor gilt es jedoch die dargestellte Methoden und Zugänge auch kritisch zu hinterfragen. Gerade weil verschiedene namhafte Forschende aus unterschiedlichen Gründen auch auf Novizen zurückgreifen (Shulman 1991, Koch-Priewe 2002b), könnte dieser Zugang zu einer unglücklichen Häufung gleicher, aber empirisch nicht valider Daten führen. Combe/Kolbe weisen auf diesen Aspekt hin, indem sie die Experten-Novizenforschung als »eine Art Lieblingsthema dieser Forschungsrichtung« (2004, 838) bezeichnen. Diese Kritik ist ernst zu nehmen, werden doch so unter Umständen die immer wieder gleichen Ergebnisse im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wiederholt. Für die vorliegenden Daten ist dem allerdings entgegenzuhalten, dass die so genannten Novizen nicht ausschliesslich »blutige« Anfänger waren. Die interviewten Lehrerinnen und Lehrer verfügten zur Zeit der Aufnahme über einen Erfahrungshintergrund von einem bis sieben Jahren. Im Weiteren wurde aus methodischen Gründen auf »Novizen« zurück gegriffen und nicht, um den Vergleich mit Experten herzuleiten. Damit relativiert sich diese Kritik zum Teil, sie sollte aber trotzdem in die Auswertung miteinbezogen werden. Eine weitere Kritik bezieht sich auf die zu untersuchende Repräsentationsform von Wissen und Erfahrung. Wenn man davon ausgeht, dass das professionelle Wissen von Lehrern selbst eine narrative Form aufweist, aber gleichzeitig in der Forschung als narrativer Text repräsentiert wird, ergibt sich dadurch eine Verdoppelung von Narrationen. Diese Schwierigkeit spricht auch Bromme an, der ebenfalls davon ausgeht, dass sich die Erfahrung von Lehrpersonen z.T. narrativ repräsentiert. »Die letztere Annahme ist im Kern wiederum eine kognitionspsychologische
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Eine umfangreichere Darstellung der Methode narrative Texte zu gestalten, findet man bei Messmer 2002.
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Hypothese [...]. Sie ist aber schwer zu überprüfen, soweit die ›story‹ zugleich die bevorzugte Form der Datenerhebung und Darstellung ist und damit die Modalität der Wissensrepräsentation bei den Probanden mit der der Untersucher konfundiert ist« (Bromme 1995, 113). Diese Zwickmühle lässt sich nicht einfach lösen, da sie eine zentrale Fragestellung der Untersuchung betrifft. Wenn man der These von Bruner (1985) folgt, wonach Erfahrung z.T. narrativ strukturiert im Gedächtnis haften bleibt, so kann dies empirisch kaum anders als in narrativen Repräsentationsformen festgehalten werden. Dem muss insbesondere bei der Interpretation der Daten Beachtung geschenkt werden, weil nicht jede narrative Darstellungsweise selbstverständlich einen narrativen Denkmodus bestätigt. Um diesen Konflikt zu vermeiden, kann man auf eine Unterscheidung von Carter (1993, 7) zurückgreifen. Carter unterscheidet in ihrer Untersuchung zwei grundsätzliche Prämissen: Auf der einen Seite erinnern wir uns an Geschichten (events), auf der anderen Seite erinnern wir uns mit Hilfe von narrativen Strukturen. Beide Aspekte sind in der vorliegenden Untersuchung von Bedeutung, ihre Unterscheidung kann u. U. von methodologischem Nutzen sein. Diese ganz konkret auf das vorliegende Untersuchungsdesign ausgerichtete Kritik liesse sich natürlich durch pauschale Kritik an qualitativen Forschungsmethoden ergänzen. Auf diese möchte ich hier allerdings nicht eingehen. Trotzdem ist die Frage nach der Relevanz der Aussagen für andere Unterrichtssituationen, Unterrichtsfächer oder pädagogische Settings relevant. Ich werde im Fazit auf diese Frage zurückkommen. 4.2 Vergleich der Interviewaussagen Die von Bohnsack als vierter Schritt formulierte Typenbildung lässt sich bedingt auf diese pädagogische Untersuchung übertragen. Während Bohnsack in der Regel durch Gruppendiskussionen eine soziologische Typologie generiert, wird hier eher eine argumentationstheoretische Typenbildung verfolgt. Trotzdem zeigen sich gerade in Bezug auf narrative Interviews Ähnlichkeiten, die auf eine Differenz zu anderen Methoden der qualitativen Sozialforschung hinweisen. Im Gegensatz zu Schütze liegt beim Zugang über stimulated recalls der Bezugspunkt nicht in der Biografie jeder einzelnen Person, sondern bei einzelnen Unterrichtsstunden. »Gerade durch die Priorität des Einzelfalls bleibt bei Schütze der Bezugspunkt jeder Interpretation vornehmlich die (individuelle) Lebensgeschichte; das heißt, Schütze rekonstruiert jede Äußerung in einem narrativen Interview im lebensgeschichtlichen Kontext und sucht die einer Äußerung unterliegende Prozessstruktur zuvorderst im Zusammenhang der Biographie bzw. der Persönlichkeit der untersuchten Person« (Nohl 2005, 3.). Deshalb soll die Prozessstruktur diesem Ansatz widersprechend nicht in der Person, sondern in der Argumentationsstruktur ihrer Äusserungen gesucht werden. Dazu dient insbesondere die formulierende Interpretation, die weniger nach dem
4.2 Vergleich der Interviewaussagen
137
Was?, sondern vielmehr nach dem Wie? fragt. Die vorgebrachten Rechtfertigungen mögen vielleicht biografische Ursprünge aufweisen, diese sind jedoch für die zentrale Fragestellung nicht evident. Während in der Phase der Datenerhebung mehrheitlich die methodische Praxis narrativer Interviews56 zur Anwendung kam, folgt die Auswertungspraxis der typengenerierenden Phase der dokumentarischen Methode nach Bohnsack. Die Typenbildung, wie sie im Folgenden zum Ausdruck kommen soll, orientiert sich analog zur dokumentarischen Methode nicht nur an einem Einzelfall, sondern versucht, mehrperspektivisch verschiedene Aspekte zur Typenbildung beizuziehen. Demzufolge lehnt sich die gewählte Methode trotz des unterschiedlichen Datenmaterials an die dokumentarische Methode an. »Insofern mit der dokumentarischen Methode an einem Fall (im systematischen Vergleich mit anderen Fällen) gleich mehrere Typiken in ihrer Überlappung identifizierbar sind, unterscheidet sie sich von dem Ansatz der Grounded Theory, wie ihn Schütze, Corbin und Strauss präferieren [...]. Diese mehrdimensionale Typenbildung setzt sich fort in einer Generalisierung von Untersuchungsergebnissen, die sich ebenfalls von den Ansätzen Fritz Schützes und der Grounded Theory unterscheidet« (Nohl 2005, 5). Damit werden im Gegensatz zur dokumentarischen Methode nicht biografische Aussagen für die Typenbildung relevant, sondern vielmehr Rechtfertigungen zu eigenen Unterrichtssituationen. In Anlehnung an die dokumentarische Methode werden hingegen Verfahrensregeln der Auswertung und Theoriegenese übernommen. »Der Kontrast in der Gemeinsamkeit, lässt sich somit als Verfahrensregel einer Vorgehensweise rekonstruieren, die sich als typengenerierende versteht, bei der also nicht vorab definierte Typen die Richtung der Interpretation und die Auswahl der Gruppen, also das Sample, bestimmen, sondern die sich sozusagen von Fall zu Fall in ein Feld hineinforscht. Wobei dann auf der Grundlage erster Typengenerierung, erster Ansätze einer Typologie die Auswahl der Fälle immer gezielter vorgenommen werden kann« (Bohnsack 1989, 17). Im Gang von Beispiel zu Beispiel werden kontrastierende Gemeinsamkeiten gesucht und im Sinne einer rekonstruktiven Methode zusammengefasst. Dieser letztlich theoriebildende Prozess erfolgte mehrheitlich induktiv, d.h. zunächst durch ein begriffsloses Sampling. Erst im Verlauf der Analyse entstand eine Begriffsbestimmung, die während des Auswertungsprozesses für einige der Fallbeschreibungen auch deduktiv zur Anwendung kam. Im dokumentierten und bereits teilweise interpretierten Datenmaterial sind argumentative und erzählende Passagen kontrastierend und damit typenbildend. Vergleichbar, aber nicht deckungsgleich sind die Differenzierungen zwischen apagogischen und epagogischen Analogien. Hier sind weniger die Denkmodi als vielmehr die Denkrichtungen kontrastierend. Mit dieser inhaltlichen Ergänzung erfolgt eine
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vgl. Schütze 1977; Jakob 1997.
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4 Wie ordnen Lehrpersonen unterschiedliche Erfahrungen
mehrdimensionale Typenbildung. Werden diese Differenzmuster gekreuzt, ergeben sich vier idealtypische Kategorien in der Form einer Matrix. Deshalb sollen in einem ersten Durchgang durch die Daten die im Feld aufgedeckten Interpretationsmuster dargestellt und gleichzeitig in einem Kategoriensystem geordnet werden. Die sich allmählich in der Interpretation ausdifferenzierenden Kategorien liessen sich nachträglich als folgende vier Typen (Cluster) beschreiben.
Tab. 3: Typisierungsmatrix
Bei diesem Labeling bediene ich mich einerseits der klassischen Differenzierung aus der Argumentationstheorie. In Anlehnung an Völzing (1979) und Ecker (2006) lassen sich diese Kategorien sowohl beim Argumentieren als auch beim Erzählen
4.2 Vergleich der Interviewaussagen
139
nachweisen. Diese Differenzierung soll helfen, die ausgewählten Erzählungen besser einordnen und damit auch besser interpretieren zu können. Andererseits sollen diese Labels das Wesentliche dieser Kategorie zum Ausdruck bringen und gleichzeitig das Gemeinsame der hier subsumierten empirischen Daten aufzeigen. Letztlich sollen die dargestellten und ausdifferenzierten Geschichten und Aussagen als empirische Belege für eine narrative Theorie der Didaktik nützlich sein. 4.2.1 Paradigmatisch-apagogische Folgerungen Apagogische Analogien beziehen sich auf etwas Allgemeines, das sich meist als Begriff oder Regel äussert. Hat man sich auf diesen Begriff einmal festgelegt, kann man daraus Schlüsse für das Handeln ziehen, resp. Folgerungen ableiten. Das Spezifische an Folgerungen ist, dass sie von unstrittigen Voraussetzungen ausgehen (Ecker 2006, 30). Auch in den folgenden Beispielen gehen die Lehrpersonen von einem aus ihrer Perspektive unstrittigen Begriff aus und folgern daraus ihre Unterrichtshandlungen. Dieses Argumentationsmuster lässt sich unschwer als paradigmatisch bezeichnen. Ein erstes Beispiel: Offener Unterricht (8) (S1)57 9. Klasse Mädchen. Die Schülerinnen werden zum Aufbau verschiedener Geräte angeleitet (Reck, Schulstufenbarren, Bodenmatten). Das Aufbauen der Geräte dauert lange, obwohl die Lehrerin selbst mithilft. Die Schülerinnen wissen nicht immer genau, was wo aufgestellt werden soll, es kommt zu vielen Missverständnissen und die Schülerinnen müssen immer wieder nachfragen, was die Lehrerin genau will. (A1) 1 2 3 4 5 6 7
Wir haben jetzt achteinhalb Minuten gebraucht, wir haben wohl nicht gerade bei null-null angefangen, sagen wir mal sechs Minuten, um das aufzustellen, (5.0) es sind wohl nur zehn Mädchen, aber es ist eher träg im ganzen Ablauf, würde ich meinen und jetzt fängt eigentlich das Einlaufen erst an. Bis ich gesagt habe, was aufstellen, vergingen etwa 2 Minuten (--) und jetzt haben sie etwa 6 Minuten vorgeholt, das ist zu lange.
(SK: 8.29; 0.50)
(S2) Nach einem kurzen Aufwärmen (3 Min.) und einer kurzen Anweisung der Lehrerin beginnen die Schülerinnen mit dem freien Üben an den Geräten. Sie arbeiten an einer Art Wochenplan, ihre Aufgabe ist ihnen bereits aus einer vorherigen Stunde bekannt. Sie besteht darin, an den drei Geräten verschiedene Elemente zu üben und sie anschliessend einer Mitschülerin vorzuzeigen. Diese kann daraufhin auf einem Arbeitsblatt das Element als erfüllt ankreuzen. Die Übungsphase erscheint sehr intensiv, auch wenn einzelne Schülerinnen oft Pause machen. Die Lehrerin hilft vor allem beim Reck. Dazwischen werden der Lehrerin immer wieder Verständnisfragen gestellt, wie z.B. Was ist eine Felge rückwärts?
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Um die Darstellung zu vereinfachen, bezeichne ich Situationsbeschreibungen mit (S), Aussagen der Lehrpersonen zu diesen Situationen mit (A). Die dazugehörige Nummer bezeichnet die Nummer der Aussage im Verlauf des Interviews. Die am Schluss in Klammern eingefügten Zahlen bedeuten: Zeit des Unterbruchs während der Filmaufzeichnung; Länge des Interviewausschnitts. Die Initialen weisen auf den Interviewpartner. Zu den verwendeten Transkriptionsregeln vgl. Bohnsack/Marotzki/Meuser 2006, 160.
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4 Wie ordnen Lehrpersonen unterschiedliche Erfahrungen
(A7) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Dadurch dass es sehr offen ist und man keine konkreten Forderungen stellt, ausser eben etwas vorzeigen, ist es eben auch sehr, also wenn man jetzt schaut, z.T. langweilig, sie machen etwas, besprechen aber immer wieder dazwischen ich glaube wenn man es richtig intensiv hätte machen wollen, dann hätte man das ganze viel straffer organisieren müssen. Habe ich das Gefühl. (4.0) Man hätte vielleicht eine Form so offen und dann etwas wo sie alle etwas gleich machen, dass sie etwas auf Trab kommen und dann wieder etwas offen. So ist es für sie vielleicht, also wenn man jetzt schaut, sind sie alles in allem, haben sie etwa drei, sieben mal etwas vorzeigen müssen. Und das sollte eigentlich drinnliegen. Aber auf dieser Stufe ist es schwieriger, bei kleinen, die hätten 7 Sachen gewusst zu machen aber die Neunteler sind viel träger. Aber ich habe das Gefühl, dass sie etwas miteinander reden, und quasi miteinander zu einer Lösung kommen müssen, werde ich ihnen besser gerecht.
(A14) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Im Rückblick würde ich sicher ein etwas strafferes und intensiveres Einlaufen machen, also etwas weniger selbstbestimmt und mehr fremdbestimmt. Ich Rückblick würde ich ebenfalls sagen, dass ich von jeder Schülerin etwas sehen möchte. Also – dass jede Schülerin mir etwas vorturnen muss. Damit jede Schülerin eine Kontrolle hat, auch für mich. (--) Aber ich denke, wenn der Unterricht so offen ist (-) wie er jetzt war (3.0) dass die Schülerinnen auch lockerer sind beim Üben. Ich habe keine schlechte Erfahrung gemacht, wenn sie so für sich selbst üben können. Und deshalb habe ich sie dann auch frei machen lassen. (--) Wenn ich jetzt auf ihre Arbeitsblätter schaue, dann haben sie zwischen vier und sieben mal etwas vorgeturnt. Ich habe das Gefühl, dass es auch eine diesem Alter angepasste Form des Unterrichtens ist. (SK: 45.00; 1.18)
Die Ambivalenz zwischen offenem und fremdbestimmtem Unterricht führt bei dieser Lehrerin zu einem Widerspruch. Einerseits will sie im Rückblick das Aufwärmen straffer und fremdbestimmter organisieren, andererseits findet sie, dass gerade diese Offenheit eine diesem Alter angepasste Form des Unterrichtens ist (A14, 12). Zunächst begründet sie ihr offenes Unterrichtskonzept argumentativ mit dem Alter der Schülerinnen (A17, 11). Trotzdem stört sie sich an der von ihr wahrgenommenen Untätigkeit der Schülerinnen. Diese Untätigkeit lässt sich allerdings von aussen nur beim Aufstellen der Geräte beobachten. Während des freien Übungsbetriebs herrscht eine dem Thema angemessene Intensität. Indirekt wird dies auch von der Lehrerin selbst bestätigt: dann haben sie zwischen vier- und siebenmal etwas vorgeturnt (A14, 11). Aus der Sicht der Lehrerin ist der Hauptteil misslungen, weshalb sie in eine nächste Stunde mehr fremdbestimmt gestalten würde (A14, 2). Obwohl von aussen ein mehrheitlich intensives Üben beobachtet werden kann, stellt die Lehrerin eine Untätigkeit der Schülerinnen fest. Auch bringt es ihre Aufgabenstellung mit sich, dass die Schülerinnen öfters auf den Arbeitsblättern nachschauen müssen, welche Elemente sie turnen könnten. Zudem wird die Lehrerin mit vielen Verständnisfragen konfrontiert, was darauf hinweist, dass für die Schülerinnen die Begriffe des Elementekatalogs nicht geläufig sind (S2). Exakt diese Diskussion will sie aber för-
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dern: dass sie etwas miteinander reden, und quasi miteinander zu einer Lösung kommen müssen, werde ich ihnen besser gerecht (A7, 13-14). Die Lehrerin folgert aus ihrer Entscheidung, offen zu unterrichten (dadurch dass es sehr offen ist und man keine konkreten Forderungen stellt, A7, 1), dass es unter Umständen auch etwas langweilig wirken kann (A7, 3). Sie ordnet somit das Gesehene einem Begriff unter (Offener Unterricht) und kann damit auch die Folgen argumentativ begründen. Damit erkennt man in diesem Argumentationsmuster deutlich einen paradigmatischen Denkmodus. Indem das Unterrichtskonzept einem Begriff zugeordnet wird, schliesst sie vom Allgemeinen auf das in diesem Unterricht Besondere, das sich in ihren Augen als z.T. langweilig, sie machen etwas, besprechen aber immer wieder dazwischen (A7, 3) äussert. Ebenfalls lässt sich ihre Argumentationsweise relativ klar einem apagogischen Erkenntnisgang zuordnen. Den Entschluss, »offen« zu unterrichten, hatte die Lehrerin wohl bereits bei der Planung des Unterrichts gefällt. Damit kann sie in der anschliessenden Deutung ihres Unterrichts die dargestellten Probleme dem Unterrichtskonzept zuordnen. Ob diese Folgerung inhaltlich korrekt ist, spielt für Identifizierung der Denkrichtung keine Rolle. Aus ihrer Perspektive veranschaulicht das aufgedeckte Problem der fehlenden Intensität (A7, 4) ein allgemeines Problem des offenen Unterrichts. Ihre argumentative Folgerung ist aber ambivalent. Einerseits will sie – aufgrund des offenen Unterrichts – den kognitiven Aspekt des Geräteturnens fördern, andererseits stört sich sich an den zahlreichen Besprechungen der Schülerinnen. Obwohl sie eine offene Unterrichtsform als eine den Schülerinnen angepasste Unterrichtsgestaltung bezeichnet (A14, 12), würde sie in einer nächsten Stunde wieder mehr fremdbestimmte Formen wählen. Dieser Widerspruch lässt sich nicht einfach deuten. Auf der einen Seite ist die von ihr als offen bezeichnete Unterrichtsform lediglich in Bezug auf das Üben offen. In Bezug auf den Inhalt bleibt den Schülerinnen wenig Gestaltungsspielraum. Viele und verschiedene Übungen für jedes Gerät zu finden, ist gerade für schwächere Turnerinnen nicht einfach. Dies erklärt zusätzlich, weshalb die Schülerinnen zwischen den einzelnen Turnübungen ihre Aktivitäten immer wieder besprechen müssen. Auf der anderen Seite lässt sich hauptsächlich das Aufstellen der Geräte als wenig intensiv, oder besser, als wenig effektiv beschreiben. Hier liegt wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass die Lehrerin zum Schluss kommt, den Unterricht wieder geschlossener zu gestalten. In der nachträglichen Reflexion über die Unterrichtsstunde beschäftigen sie vor allem die achteinhalb Minuten (A1, 1) die für das Aufstellen der Geräte »verloren« gegangen sind. Diese Vorgeschichte reiht sich an die Interpretation des Hauptteils, von dem sie glaubt, dass er wenig intensiv war (A7, 5). Dass sie dabei die sehr restriktiven Anweisungen des Aufbauens mit dem etwas offeneren Übungsbetrieb verwechselt, fällt ihr nicht auf. Sie interpretiert ihr Handeln als zu offen und will deshalb ein nächstes Mal geschlossener unterrichten. Die Reihung der beiden Geschichten führt
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hier zu einem Fehlschluss, weil sie aus dem allgemeinen Begriff die falschen Folgerungen zieht. Nicht das Konzept des offenen Unterrichts führt zur angeblichen »Langeweile« der Schülerinnen, sondern ihr Wahrnehmungs- und Argumentationsmuster zu dieser Szene. Das dargestellte Erzählmuster begründet ihre ambivalente Interpretation vielleicht besser als ihre eigenen Argumente. Das Beispiel zeigt, dass für ihre zukünftigen Unterrichtsstunden weniger die reale Begebenheit und ihre argumentative Interpretation handlungsrelevant werden. Vielmehr wird sie ihr zukünftiges Handeln (in dieser Klasse oder allgemein) an ihrer mentalen Geschichte ausrichten, die sie im Verlauf der beschriebenen Unterrichtsstunde und in der anschliessenden Reflexion entwickelt hat. Dieses Erzählmuster ist der Grund, weshalb sie von jeder Schülerin etwas sehen möchte (A14, 3) und weniger die vermeintlich misslungene offene Gestaltung des Unterrichts. Der Text Offener Unterricht (8) weist im aufgezeigten paradigmatische Denkmuster (diesem Alter angepasste Form; A14, 12) mehr auf ein reflexives Argument hin und im ebenfalls dargestellten narrativen Denken (ich habe keine schlechte Erfahrung gemacht; A14, 8) mehr auf implizite Erfahrungen, die mental zu einem Gang von Geschichte zu Geschichte führen. Die Lehrerin ist sich dieser Reihung wohl nicht bewusst, ihre Handlungen und auch ihre Handlungsabsichten für folgende Unterrichtsstunden deuten aber darauf hin, dass das narrative Denkmuster hier ebenfalls von Bedeutung ist. Auf ein paradigmatisches Denkmuster weist auch die folgende Geschichte hin. Spannen – Entspannen (9) (S1) Nach verschiedenen Lauf- und Fangspielen stellen sich die Schülerinnen einer 7. Klasse jeweils zu zweit bei einer dünnen Matte auf. In der Halle stehen verschiedene Geräte für das folgende Geräteturnen bereit, die Matten sind jedoch auf die ganze Halle verteilt. Mit einer Schülerin zeigt die Lehrerin die nächste Dehnübung vor. Die Schülerin liegt in Rückenlage auf der Matte und legt einen Fuss in die Hände der Lehrerin (ca. 20 ca. über Boden). Die Lehrerin kniet vor der Schülerin und gibt folgende Anweisung: „Drücke so fest du kannst mit dem gestreckten Bein auf meine Hand“. Nach ca. 10 Sekunden dehnt die Lehrerin das Bein der Schülerin in die entgegengesetzte Richtung nach oben, während das andere Bein und die Hüfte am Boden bleiben (hintere Oberschenkelmuskulatur). (A5) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Aber (--) mit dieser Übung, mit der sie zuerst den Muskel spannen müssen, wird vorerst einmal der Muskel ermüdet, um anschliessend gedehnt zu werden. Wichtig ist, dass er müde ist, dann lässt er sich besser gehen, damit er sich auch besser dehnen lässt. Sobald ein Muskel müde ist (-) dann hat er ja auch nicht mehr diese Spannung drauf, dann kann ich anschliessend mehr. Also die Hände habe ich unter dem Bein und es muss nach unten drücken mit dem Bein, da sind also auch die hinteren Muskelgruppen daran beteiligt (3,0) vom Bein und anschliessend stosse ich mit dem Bein nach hinten und dann dehnt es ja auch das Gesäss, das ganze Bein auf der Rückseite. ((Frage RM: Wieso dehnst du mit diesen Mädchen?)) Absolut nicht immer, und viel, viel weniger als früher. (-) Ich habe ja auch eine andere Übung, bei der sie die Beine hochstrecken. Ich denke dies gibt einfach ein anderes Körpergefühl,
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wenn man einen Muskel dehnt. Ebenfalls ist eine Spannung drin, und diese brauchen sie anschliessend (2,5) für das Handstandabrollen. Gut, das ist sicher nicht die zentrale Absicht, man könnte dazu ja auch Spannungsübungen machen, aber ich wollte dies einfach wieder einmal machen, damit sie ihre Muskeln wieder einmal gedehnt haben. Dies war die eigentliche Absicht. Und sie haben ja zuerst die Muskeln gekräftigt oder gespannt und dann gedehnt. Es ist also beides drinn. Und ist im Grunde genommen schon die Vorbereitung auf das Handstandabrollen, nicht das Rundmachen aber die Spannung und vom Körpergefühl her.
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(FM: 12.55; 2.36)
(S2) Die Schülerinnen beginnen mit der Übung. Sie führen die Übungen selbständig durch, auf Anweisung der Lehrerin wiederholt jede Schülerin das Spannen-Entspannen dreimal. Die Übungen werden sehr konzentriert durchgeführt, aber nicht von allen so wie vorgezeigt. Bei einzelnen sieht man ein angezogenes Knie (beim Beim, das am Boden bleibt), bei anderen bleibt das zu dehnende Bein nicht gestreckt. Die Lehrerin greift bei verschiedenen Paaren korrigierend ein.
Bei dieser Unterrichtsszene überrascht nicht eine Handlung oder Äusserung einer Schülerin, sondern die Intervention der Lehrerin beim Interview. Die Lehrerin kommentiert diese Passage, obwohl keinerlei ersichtliche Widersprüche beim Unterricht zu identifizieren sind. Das aber (A5, 1) deutet auf einen impliziten Widerspruch hin, den den Lehrerin aber nicht explizit äussert. Offensichtlich verschafft ihr das Stretchingprogramm ein Unbehagen. Die Interpretation erfolgt paradigmatisch, indem sie argumentativ erläutert, welche Technik hier zur Anwendung kommt: wird vorerst einmal der Muskel ermüdet, um anschliessend gedehnt zu werden (A1, 2). Diese Erläuterung einer unstrittigen Voraussetzung macht argumentationstheoretisch Sinn. Wenn man sich für Stretching entscheidet, dann muss man dieser Technik folgen. Diese Folgerung deutet auf ein apagogisches Denkmuster hin, das einem paradigmatischen Denkmodus folgt. Der Hinweis auf die zunächst zu erfolgende Ermüdung des Muskels, lässt sich allerdings nicht in der Literatur nachweisen. Von Vorermüdung spricht man eher im Bereich des Krafttrainings58, aber nicht beim AnspannungsEntspannungs-Dehnen. Obwohl auch bei dieser Anwendung unterschiedliche Auffassungen und Techniken vertreten werden, wird niemals von Ermüdung gesprochen, sondern von einer isometrischen Anspannung während ca. zehn Sekunden. Die Anspannung-Entspannungs-Technik versucht durch die Kontraktion des zu dehnenden Muskels, die Eigenhemmung der Sehnenspindeln zu nutzen. Über die Eigenhemmung der Sehnenspindeln kommt es bei starker Kontraktion zu einer Entspannung des Muskels und es kann eine erweiterte Dehnstellung eingenommen werden (vgl. Weineck 2007, 753). Ob dies genau die Absicht der Lehrerin war, lässt sich in Bezug auf die anschliessende Einführung des Handstandüberschlags (A5, 23) 58
Das Prinzip der Vorermüdung basiert auf der Idee, einen Muskel vor einer Grundübung, die mehrere Gelenke miteinbezieht, mit einer Isolationsübung, die den zu trainierenden Muskel isoliert beansprucht, im voraus zu ermüden, so dass er bei der Grundübung noch härter trainiert werden kann .
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nicht nachvollziehen. Trotzdem versucht sie die Übungsauswahl durch eine paradigmatische Regel zu bestätigen: Wichtig ist, dass er müde ist, dann lässt er sich besser gehen (A5, 3). Diese Aussage erläutert aber nur die Methode der Durchführung und bestätigt weder den Entscheid für die Spannungs-Entspannungstechnik noch die Tatsache, dass sie sich für Dehnungsübungen entschieden hat. Diese apagogisch eingeführte Regel wird für sie zum Schlüssel, weshalb sie mit ihren Schülerinnen am Ende des Aufwärmens diese Form von Dehnungsübungen durchführt. Die Subsumption unter die Regel der Durchführung ersetzt die Bestätigung, dass es zu diesem Zeitpunkt und mit diesen Schülerinnen sinnvoll ist zu dehnen. Trotzdem scheint es für die Lehrerin in ihrem paradigmatischen Denkmodus zunächst eine schlüssige Argumentation zu sein. Sie äussert sich zumindest zu Beginn der Passage überzeugt, auch wenn der Anlass eher auf eine Unsicherheit der Auswahl hindeutet. Ihre ausführlichen Ausführungen zu Technik des Anspannen-Entspannen-Dehnens (A5, 7-10) deuten ebenfalls auf eine für sie schlüssige Argumentation hin. Erst auf die Frage nach dem Sinn des Dehnens mit diesen Mädchen in dieser Stunde wechselt ihre Argumentation hin zu einer epagogischen Analogie. Jetzt liegt der Schwerpunkt bei der Spannungsübung als Vorbereitung für das anschliessende Geräteturnen und nicht, wie zunächst (A5, 3-5) ausführlich erläutert, als unmittelbare Vorbereitung für das Dehnen des Muskels. Man könnte dazu ja auch Spannungsübungen machen, aber ich wollte dies einfach wieder einmal machen, damit sie ihre Muskeln wieder einmal gedehnt haben. Dies war die eigentliche Absicht (A5, 18-20). Offensichtlich wird ihr erst hier bewusst, dass Dehnungsübungen für ein darauf folgendes Geräteprogramm, bei dem es hauptsächlich um möglichst hohe Spannung geht (Handstandüberschlag) eher kontraproduktiv sind. Sie versucht deshalb durch die epagogische Erläuterung des Handlungsablaufs die Übungsauswahl mit der Schwerpunktverschiebung auf die Spannungsübungen zu rechtfertigen. Diese nachträgliche Veränderung der Zielsetzung deutet auf ihre ursprüngliche Unsicherheit hin, weshalb sie diese Passage überhaupt als erläuterungswürdig auswählt. Für die Argumentations- und Erzählanalyse ist aber ihr spontanes Argumentationsmuster entscheidend. Die Lehrerin bestätigt ihre Übungsauswahl durch eine »starke« methodische Regel, ohne sich des Paradigmenwechsels bewusst zu sein. Dieser Kategorienfehler deutet auf ein paradigmatisches Denkmuster hin, auch wenn sie – argumentativ – ihren Entscheid einem falschen Paradigma unterordnet. Diese Argumentationslogik zeigt augenfällig, dass auch falsche Regeln handlungsleitend sein können. Auf diese Unterrichtssituation bezogen, zeigt das Interview zusätzlich, wie auch falsche Regeln zu einer hohen Handlungssicherheit im Unterricht beitragen können und entsprechend handlungswirksam werden. Damit lässt sich für beide Unterrichtssituationen dieser Kategorie festhalten, dass die von den Lehrerinnen ausgewählten Aussagen zunächst völlig unstrittige Voraussetzungen oder Konzepte betreffen. Die aufgrund dieser unbestrittenen Aussagen abgeleiteten Folgerungen lassen sich als paradigmatisch-apagogische
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Denkmuster einordnen. Eine weiterführende Argumentations- und Narrationsanalyse deckt aber auf, weshalb die Aussagen von den Lehrerinnen in den Interviews trotzdem als widersprüchlich wahrgenommen worden sind. Offensichtlich sind hier nicht die widerspruchsfreien, deduktiven Folgerungen handlungsrelevant, sondern versteckte Ereignisketten, die in ihrer Reihung zu diesen Handlungsentscheidungen führen. Bei der ersten Unterrichtsbeschreibung (Offener Unterricht, 8) deutet vieles auf einen narrativen Denkmodus hin, während beim zweiten Text (Spannen – Entspannen, 9) vieles auf eine epagogische Analogie im Denken der Lehrerin hinweist. Es sind allerdings nur Vermutungen, dass die Unterrichtsszenen von den Lehrerinnen deshalb als erläuterungswürdig ausgewählt worden sind. Die empirisch feststellbaren Argumentationsstrukturen weisen zunächst auf paradigmatischapagogische Folgerungen hin. 4.2.2 Paradigmatisch-epagogische Rechtfertigungsversuche Rechtfertigungen beziehen sich laut Ecker (2006, 28) auf Handlungen und Verhaltensweisen; dabei ist allerdings die Grenze zu Erklärungen oft nicht deutlich zu ziehen. Dies macht die epagogischen Rechtfertigungen in dieser Kategorisierung zu einem Spezialfall von Rechtfertigungen, wie sie von Austin in den Diskurs eingebracht worden sind (1985, 19). Austins Rechtfertigungen beinhalten auch Folgerungen, Erklärungen und Begründungen, da sie sich nicht ausschliesslich auf Handlungen und Verhaltensweisen beziehen. Die hier ausdifferenzierte Kategorie will allerdings zwischen praktischen Handlungen einerseits und Behauptungen, Meinungen und Einschätzungen andererseits unterscheiden. In Bezug auf unterrichtliches Handeln sind solche Rechtfertigungen die Regel, die die Richtigkeit des Handelns im Unterricht zu bestätigen versuchen. Dabei bedienen sich Lehrerinnen und Lehrer oft einem paradigmatischen Denkmuster, das sie im Gang von Beispiel zu Beispiel entwickeln. Im folgenden Beispiel rechtfertigt der Lehrer sein Handeln zunächst argumentativ, was auf ein paradigmatisches Denkmuster hinweist. Üben und Wettkämpfen (10) (S1) Die Schüler einer siebten Klasse üben das Ballführen. Pro Gruppe stehen vier Schüler auf der einen Hallenseite, einer mit gegrätschten Beinen auf der anderen Seite vis-à-vis. Von den vier Schülern dribbelt einer auf die andere Seite, umkreist den dort stehenden Schüler und spielt den Ball von hinten zwischen den Beinen durch. Dieser nimmt den Ball und dribbelt zurück zur anderen Hallenseite. Der erste Spieler nimmt nun dessen Position ein. Diese Stafettenform (ohne Wettkampf) könnte so endlos weiterlaufen. (A8) 1 2 3 4 5 6
Diese Übung, (--) mit zwischen den Beinen hindurch spielen, (---) ist kaum spielgerecht. Mir ging es effektiv darum, ein Ballgefühl zu erarbeiten. Und einem Partner den Ball von hinten zwischen den Beinen durchzuspielen ist nicht so einfach, weil man muss erstens den Ball einmal unter Kontrolle haben und man muss den Pass, der dann von hinten kommt, so spielen, dass er nicht zu weit, aber auch nicht zu kurz ist, das ist nicht so einfach. (4.0)
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4 Wie ordnen Lehrpersonen unterschiedliche Erfahrungen 7 8 9 10 11 12 13
((Frage RM:)) Was soll trainiert werden: Die Ballabnahme oder die Ballannahme? Der, der steht, das ist für mich einfach eine Regelung, dass der Ablösevorgang gut funktioniert. Ich will nicht, dass sie von weit einen Pass spielen können und dann steht der schon weit vorne, also das ist eigentlich eine klare Regelung, (--) wo der Ball gespielt werden muss und es ist einfach zu kontrollieren, wenn er von hinten kommt und hier zwischen den Beinen durchgespielt werden muss. (PB: 17.28; 1.15)
(S2) Die Aufstellung wird etwas verändert. Der einzelne Schüler steht nun näher bei den anderen (ca. 10 Meter) und erhält die Rolle eines Goali. Er spielt den Ball locker und flach zu seinem Gegenüber, dieser nimmt den Ball und spielt ihn hoch zurück, damit ihn der Goali fassen kann. Der Spieler läuft um den Goali herum und schliesst sich hinten wieder an. Der Goali bleibt die ganze Zeit an seinem Platz, wenn er den Ball fassen kann, erhält die Gruppe einen Punkt. (A13) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26
Hier könnte man sich theoretisch fragen, wieso ich diese Übung mache? Weil, es hat weder etwas mit Passen zu tun, noch mit Ballführen und Ballfassen gehört eigentlich nicht als Hauptthema zum Fussball. Meine Überlegung hier war einfach: ich wollte einen Wettkampf drin, und etwas anderes als vorhin. Wir hatten vorhin die gleiche Aufstellung, die habe ich jetzt zwar auch hier, aber die Übung ein wenig anders und ich habe mir davon erhofft, dass sie dadurch einen Moment abschalten können und anschliessend auch wieder bereit sind für das Passen, das anschliessend kommt. ((Frage RM:)) Was wird hier technisch gelernt? Wenn man es gut macht spielt man den Ball mit der Innenseite, ich glaube, ich habe nachher dies noch angesprochen (--) und mit der Innenseite, also mit dem Innenrist den Pass spielen, ist sowohl beim Passen, also auch beim Führen etwas Wichtiges und eben auch beim Schuss. (3.0) Aber wie gesagt es, ist mir hier nicht speziell darum gegangen, das Ball führen und Passen zu verbessern ((Frage RM:)) Wieso Wettkampf? Bei der letzten Übung konnte ich nicht gut einen Wettkampf machen. Aber hier, dadurch dass er den Ball aus der Luft fassen muss, habe ich eine klare Regelung, und man kann fast nicht schummeln. Man könnte schummeln, wenn man etwas nach vorne kommt, das stimmt. Hingegen, wenn ich es nur mit Passen gemacht hätte, was mehr zum Thema gepasst hätte, dann würde immer die Frage im Raum stehen, was ist ein guter Pass, wo kommt er an und hier habe ich einfach eine klare Abmachung, wenn ich den Ball aus der Luft fassen kann, dann ist es gut.
(PB: 29.33; 2.17)
Die beiden Situationen decken, unabhängig von ihrem Inhalt, eine Unsicherheit des Lehrers auf. Bei der ersten Situation verlangt er von den Schülern, dass sie nach dem Dribbling um den Mitspieler herumgehen und einen Pass zwischen den Beinen durchspielen (S1). Er rechtfertigt diesen eher spielfremden Teil argumentativ damit, dass das Dribbling nicht verkürzt werden kann (A8, 10). Bei der anschliessenden Übung, die er als Wettkampf gestaltet, wird ein halbhoher Pass zu einem Mitspieler gespielt, der den Ball halten muss (S2). Auch diese Übung ist eher spielfremd und der Nutzen – als Training für den Fussball – kann als gering bezeichnet werden. Auch hier rechtfertigt er sein Handeln zunächst mit inhaltlichen Argumenten. Er
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will eine Abwechslung in den Unterricht bringen und wählt deshalb eine Wettkampfform (A13, 4). Diese Wettkampfform zwingt ihn, klare Regeln zu formulieren, damit nicht geschummelt werden kann. Er rechtfertigt seinen Entscheid für den Wettkampf epagogisch, indem er sein methodisches Vorgehen erläutert: ich wollte einen Wettkampf drin, / und etwas anderes als vorhin. Wir hatten vorhin die gleiche Aufstellung, / die habe ich jetzt zwar auch hier, aber die Übung ein wenig anders / und ich habe mir davon erhofft, dass sie dadurch einen Moment abschalten können / und anschliessend auch wieder bereit sind für das Passen, das anschliessend kommt (A13, 4-8). Mit dieser Aneinanderreihung von Argumenten und Fakten wählt der Lehrer als Argumentationsstrategie die epagogische Analogie, indem er von einzelnen Aspekten auf das Allgemeine schliesst. Er versucht somit seinen Entscheid für den Wettkampf und für klare Regelungen zu rechtfertigen. Argumentativ lässt sich dieser Drang zu klaren Regelungen auch mit dem Alter der Schüler rechtfertigen. Schüler in diesem Alter neigen dazu, die Regeln zu ihren Gunsten zu verändern, obgleich die Zielsetzung der Übung damit vernachlässigt wird. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die Übung mit einem Wettkampf verbunden ist. Der Lehrer ist sich bewusst, dass er damit spielfremde Elemente in die Übungen einbaut und dass nur Teile davon zweckmässig auf das Fussballspiel vorbereiten. Diese Argumentation, dass Schüler in diesem Alter zu »bequemen« Handlungsumsetzungen neigen, äussert der Lehrer allerdings nicht. Er will einmal (S1), dass der Ablösevorgang gut funktioniert und dass nicht geschummelt wird. Dies rechtfertigt allerdings nur die Handlungsanweisungen im Speziellen, aber weniger die Übungsauswahl. Wie der Lehrer selbst feststellt (A13, 1), bleibt damit aber die Frage offen, wieso er genau diese beiden Übungen (Wettkampfformen) wählt. Wahrscheinlich ist der handlungsrelevante Grund für seine Übungsauswahl eher in einer Reihung von Geschichten zu finden als in einer Reihung von Argumenten. Die Geschichte, die diesen Unterrichtssituationen vorangestellt werden kann, ist bereits im Hütchenspiel (7) formuliert worden. Es handelt sich in beiden Texten um die gleiche Klasse und denselben Lehrer. Die Schüler dieser Klasse neigen – vielleicht aufgrund des intensiven Trainings, das eher an ein Vereinstraining erinnert – zur kreativen Umgestaltung der Übungsanleitungen. Nicht nur Thomas, sondern auch andere Schüler entgleiten konstant den Handlungsanweisungen des Lehrers. Solche Ereignisse, die der Lehrer mit strengen Anweisungen (A13, 20) zu unterbinden versucht, werden für ihn handlungsleitend. Man kann davon ausgehen, dass auch in vorhergegangenen Stunden die fehlende Aufmerksamkeit und Disziplin der Schüler den Lehrer immer wieder zu verbalen Ermahnungen gezwungen haben. Diese Erfahrungen reihen sich zu den hier dargestellten Unterrichtssituationen und verleiten den Lehrer unbewusst dazu, dass er sich bereits in der Planung des Unterrichts für klare Regelungen entscheidet. Auch wenn dies – wie er selbst zugibt – zu teils spielfremden Übungen führt (A13, 1-3).
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Das Beispiel zeigt zudem, dass hier nicht nur sportinhärente Argumente, wie z.B. möglichst spielnahe Übungen zu gestalten, handlungsleitend sind. Vielmehr werden – in einer epagogischen Analogie – sportfremde Erfahrungen anderer Stunden aneinander gereiht und handlungsentscheidend. Damit führt die Zielsetzung der einzelnen Übungen, die den Lehrer aufgrund seiner Erfahrungen zu klaren Regelungen zwingen, zur Differenz von Üben und Wettkämpfen. Zum Wettkampf neigt der Lehrer nicht etwa, weil es zum Spiel gehört, sondern weil sich Wettkämpfe besser regeln lassen. Dies rechtfertigt er aber nicht aufgrund spieltheoretischer Ansichten, sondern aufgrund seiner Erfahrungen mit genau diesen Schülern (A13, 19). Der Lehrer lässt sich deshalb bei seiner Planung, aber auch bei seinen Handlungsentscheidungen im Unterricht eher von vorangegangenen Geschichten als von inhaltlichen Argumenten leiten. Dies deutet auf einen narrativen Denkmodus, auch wenn seine Argumentationen zunächst auf einen paradigmatischen Denkprozess verweisen. Das Beispiel zeigt, wie stark handlungswirksam vergangene eigene Erfahrungen sein können, ohne dass sich die Lehrpersonen dieser Erfahrungen bewusst sind. Die Rechtfertigungen des Lehrers erfolgen ausschliesslich in einem engen Bezug zu seinen Handlungsanweisungen und in der Form von Argumenten. Dies bestätigt, dass die Reflexionen im Anschluss an die Stunde einem paradigmatischen Denkmodus zuzuordnen sind. Die Interpretation der Aussagen lässt aber auch einen anderen Schluss zu. Die Handlungen selbst – inmitten der Unterrichtstätigkeit, aber auch bei der Unterrichtsvorbereitung – beschreiben eher einen narrativen Denkmodus. Damit wird der narrative Denkmodus für diese Situation performativ, der paradigmatische Denkmodus eher reflexiv. Das nächste Beispiel zeigt ebenfalls eine argumentative Rechtfertigung, die sich bei einer repetitiven59 Interpretation allerdings nicht vorbehaltlos bestätigen lässt. Kollision (11) (S1) Die Schüler (nur Knaben) einer 8. Klasse (8. Schuljahr) dribbeln individuell mit dem Fussball durch die Halle. Auf Zuruf (Zahl) des Lehrers lösen sie eine (motorische) Aufgabe, wie z.B. Feldwechsel oder Dribbling mit Ball um 360°. Nach diesem Aufwärmen mit Ball versammelt der Lehrer die Schüler in der Mitte der Halle. Die Schüler legen ihre Bälle in den bereits stehenden Ballwagen. Als alle Schüler in der Mitte stehen, eröffnet er ein Unterrichtsgespräch mit der Frage: »Was denkt ihr, was wollte ich mit dieser Übung erreichen?« Viele der Schüler melden sich mit einem Handzeichen, der Lehrer wählt einen davon aus. »Zu schauen!«, ist seine Antwort. Der Lehrer fragt nach: »Was zu schauen?«. »Auf die Anderen«. Auf die Nachfrage des Lehrers, warum dies so wichtig sei, antwortet ein anderer Schüler: »Um das gegenseitige Zusammenstossen zu verhindern«. Der Lehrer fragt weiter: »Was denkt ihr, worum ging es auch noch?«. Ein weiterer Schüler meldet sich: »Um das Ballführen«. Auch diese Antwort bestätigt der Lehrer.
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Im Sinne eines zweiten Durchgangs, im hermeneutischen Zirkel (vgl. Messmer 2002, 95).
4.2 Vergleich der Interviewaussagen (A5) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
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(3,5) Das Zusammennehmen in dieser Phase ist für mich wichtig, dass ich sie einfach nochmals sensibilisieren kann, was ich eigentlich mit ihnen gemacht habe, ich denke dass sie es nachher vor allem in der zweiten Phase bewusster wahrnehmen und auch das ich nochmals ganz klar sage was meine Ziele für diese Lektion sind. (--) Ja es geht mir effektiv um das Ballführen und das Passen und damit auch mit ihnen erarbeitet habe, was dabei wichtig ist. ((Frage RM:)) Wieso müssen sie die Ziele wissen? Ich denke, dass sie dann einfach auch zielstrebiger arbeiten können, sie wissen worauf es hinausläuft und ohne Ziel fehlt einfach der Sinn des Ganzen und Sinn sollte es schon haben. ((Frage RM)) Gibt es eine übergeordnete Zielsetzung? Ja das ganze Ballgefühl zu erhalten, und nachher im Spiel nicht mehr darauf achten zu müssen, dass ich also die Voraussetzungen schaffe für ein gutes Spiel. Dass ich eben die Ballkontrolle habe und dann auch einmal einen Pass spielen kann. Dass nicht das Spiel nachher auseinander fällt, weil die technischen Sachen fehlen. (PB: 11.00; 1.56)
Der Lehrer interveniert an dieser Stelle, um sein Unterrichtsgespräch zu rechtfertigen. Weshalb diese Unterrichtsform einer Rechtfertigung bedarf, wird aus dem Text nicht ersichtlich. Im Weiteren zeigt auch das Gespräch keine Widersprüche auf, die Schüler antworten sehr fleissig und auch kompetent (S1). Trotzdem irritiert der Erklärungsbedarf des Lehrers. Argumentativ versucht er, die Diskussion mit dem anschliessenden Lektionsteil zu begründen. Weil die Schüler mit dem Bewusstsein der Lektionsziele zielstrebiger arbeiten können (A5, 10), will er sie einfach nochmals sensibilisieren (A5, 2). Worauf er sie genau sensibilisieren will, wird aus seinen Aussagen nicht ganz klar. Denn die Antworten der Schüler betreffen alle die Handlungsebene der einzelnen Übungen, aber nicht die konkrete Übungszielsetzung. Selbst die korrekte Antwort eines Schülers, dass es bei diesem Aufwärmen unter anderem um das Ballführen ging, weist immer noch nicht über die Handlungszielsetzung hinaus. Trotzdem will der Lehrer hier eine Sinnfrage ansprechen. ... sie wissen, worauf es hinausläuft und ohne Ziel fehlt einfach der Sinn des Ganzen und Sinn sollte es schon haben (A5, 11-12). Der Lehrer versucht demnach mit seinen Fragen, die Schüler auf den Sinn des Aufwärmens, resp. der ganzen Stunde aufmerksam zu machen. Ob ihm dies mit diesem Frage-Antwort-Spiel gelingt, sei dahingestellt. Die Antworten der Schüler weisen in ihrer pragmatischen Aussagekraft nicht darauf hin. »Zu schauen« (S1) bedeutet in diesem Kontext nichts anderes, als zu schauen, dass man nicht mit den anderen Schülern kollidiert. Diesen Aspekt erkennen die Schüler zweifelsohne. Der Lehrer beabsichtigt mit dieser Übung – und dies meint er wohl mit der Sinnfrage – dass der Spieler beim Dribbling nicht auf den Ball schaut, sondern die Mitspieler und den Gegner beobachtet. Das individuelle Dribbling fördert zwar diese technische Fähigkeit, aber steht keinesfalls im Zusammenhang mit dem eigentlichen Fussballspiel.
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Dem Lehrer unterläuft dieser Argumentationssprung, weil er in diesem Rechtfertigungsversuch von den Handlungszielen unmittelbar auf die Unterrichtsziele schliesst. Seine Frage nach dem Sinn des Ganzen (A5, 12) lässt die Vermutung zu, dass er diesen Unterrichtsteil einem Begriff unterordnen will, dessen er sich explizit nicht bewusst ist. In den eidgenössischen Lehrmitteln für Sport ist die Rede von Sinnrichtungen60, an denen sich Sportunterricht zu orientieren hat (ESK 1997, Bd. 1/Bro. 1/S. 6). Es ist davon auszugehen, dass sich der Lehrer aus seiner Ausbildungszeit an diesen Begriff erinnert, weshalb er wohl unbewusst in der Rechtfertigung für das Unterrichtsgespräch die Sinnfrage anspricht. Er versucht damit in einer epagogischen Analogie die Unterrichtssequenz einem allgemeinen Konzept unterzuordnen. Das Konzept der Sinnrichtungen erlaubt ihm in einem paradigmatischen Denkmodus die Subsumption unter einen Begriff, der hier nicht explizit geäussert wird. Trotzdem kann davon ausgegangen werden, dass sich der Lehrer in seinem Argumentationsmuster am Begriff der Sinnrichtungen orientiert. Inwiefern dieser paradigmatische Denkmodus auch für seine Handlungen relevant ist, kann damit aber nicht bewiesen werden. Handlungswirksam in Bezug auf das Unterrichtsgespräch waren wohl eher die Präsenz einer Kamera und mehrerer Forschender. Zumindest entspricht seine nachträgliche Rechtfertigung nicht den alltagstheoretischen Konzeptionen, wonach der Rationalitätsbruch zwischen Theorie und Praxis kaum im Handlungsdruck der Praxis selbst aufgelöst werden kann. Es scheint folglich ein Argumentationsschema vorzuliegen, das der interviewte Lehrer erst im nachträglichen Betrachten der Videosequenz allmählich entwickelt hat. Handlungswirksam waren wohl andere Gründe. Beide Beispiele zeigen, dass sich hier eine Schere zwischen den ganz konkret auf das Handeln bezogenen Argumenten und dem wirklich handlungswirksamen Denken der Lehrpersonen öffnet. Der dargestellte Typus des Rechtfertigens, der sich explizit auf vergangene und beobachtete Handlungen bezieht, verweist damit auf eine alltägliche Situation des Argumentierens und Erzählens über Sportunterricht. Wenn subjektive und spontane Entscheidungen getroffen werden, versuchen die Betroffenen diese mit »guten« Argumenten zu rechtfertigen. Ob diese Argumente lediglich die Argumentation selbst stützen oder auch die konkrete Handlung, bleibt offen. Wie diese beiden Beispiele zeigen, scheint das induktive Denkmuster im paradigmatischen Denkmodus nicht überzeugend zu wirken. Und so überrascht es nicht, dass sich in beiden Beispielen die Deutung aufdrängt, dass letztlich nicht paradigmatisches Denken handlungswirksam ist, sondern dass die dargestellten induktiven Argumentationsmuster verborgene Geschichten aufdecken. Diese verborgenen Geschichten weisen allerdings auf einen narrativen Denkmodus hin.
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Kurz (1979) spricht von Sinnperspektiven. Man kann davon ausgehen, dass dem Lehrer nur der Begriff Sinnrichtunen bekannt ist.
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Offensichtlich tendieren Lehrpersonen bei Rechtfertigungen ihres Handelns zu einem paradigmatischen Denkmodus, auch wenn die Interpretation der Situationen auf einen narrativen Denkmodus hinweisen. Die Lehrpersonen versuchen demnach, die Richtigkeit ihres Handelns argumentativ zu rechtfertigen, weil der Verweis auf frühere Erfahrungen oder vergleichbare Situationen als Argument wenig überzeugend ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die in der Rechtfertigung eingebrachten Argumente auch für das dargestellte und spätere Handeln wirksam sind. 4.2.3 Narrativ-epagogische Erklärungssuche Als Erklärungen können Versuche bezeichnet werden, Warum-Fragen zu beantworten. Dabei ist der Ausgangspunkt der Frage unbestritten, die Erklärung will lediglich die Tatsache verständlich machen (vgl. Ecker 2006, 29). Beim Unterrichten können immer Tatsachen beobachtet werden, die als solche nicht in Frage gestellt werden, weil sie als Fakten beobachtbar sind. Trotzdem lösen sie u. U. das Bedürfnis aus, zu klären, weshalb es so ist oder weshalb die Lehrpersonen so handeln. Damit entsteht bei Erklärungen nicht unbedingt ein Widerspruch zur Interpretation, sondern Widersprüche ergeben sich erst durch widersprüchliche Erklärungen. Von einem Positionsfehler beim Volleyball handelt der folgende Text. Dabei rechtfertigt der Lehrer nicht den Positionsfehler einer Schülerin, sondern ihre verbale Reaktion auf diesen offensichtlichen Fehler. Positionsfehler (12) (S1) Die Schülerinnen einer 11. Gymnasialklasse spielen Volleyball. Der Lehrer coacht beide Teams, indem er ihnen zuruft, aber sie auch kritisiert. Eine Verteidigerin (Romana) bleibt, nach einer Abnahme im vorderen Spielfeld (Soutien), beim Netz stehen. Eine gegnerische Angreiferin nutzt diese Situation aus und spielt mit einem einfachen Pass in die von Romana verursachte Lücke. Romana hat keine Chance den Ball noch zu erreichen. Der Lehrer lobt die Angreiferin und bemerkt zu Romana ironisch, dass sie ihre Sache auch gut gemacht hätte. (A39) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Das ist jetzt so ein Spruch, den man total falsch verstehen könnte. (3,0) Wir können es sehr gut zusammen, sie ist auch Volleyballerin, sie kommt öfters auch zum Fragen, und wir probieren, wenn wir gegeneinander spielen, uns auch ein wenig zu linken. Also stichle ich sie ab und zu und sie hat ungemein Freude, (-) wenn sie mir einen Ball auf den Boden knallen kann. Diese Art hier, denke ich, ist überhaupt kein Problem. Bei einer anderen Schülerin fände ich diesen Spruch (--) eh Romana, hä war gut eh (-) deplatziert. (2,5) Aber weil ich weiss, dass sie sich wie verrückt freut, wenn sie mir einen solchen setzten kann, hatte ich einfach Freude, dass sie das selbst mal erlebt. Aber ich denke, dass solche Aussagen gefährlich sind. (DG: 41.23; 0.49)
(S2) Der Lehrer doppelt etwas hämisch lachend nach: »Es ist gut, dass es dich erwischt hat, Romana«. (A40) 1 2
Das ist jetzt etwas, das ich an das anhängen kann, was ich vorhin gesagt habe. »Gut, dass es dich erwischt hat«. (---)
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Das ist natürlich ein Satz, den man total falsch verstehen kann. Und es würde mich interessieren, was sie dazu sagt oder ob sie es wirklich so versteht wie ich es meine. Aber ich denke schon, dass es für sie kein Problem ist. (Oder) wenn ich das zu Claudia ȧeine sehr schwache Schülerinȧ sagen würde, wäre das wohl jenseits von Gut und Böse.
(DG: 41.32; 0.26)
Romanas Positionsfehler ist nicht grundsätzlich als Lerndefizit zu verstehen, sondern wohl eher eine Folge von Unaufmerksamkeit. Trotzdem hänselt sie der Lehrer für diesen Fehler. Dass er sie aber zweimal auslacht, stimmt ihn in der nachträglichen Beobachtung am Video doch etwas kritisch. Er rechtfertigt seine Sprüche argumentativ in Bezug auf die Rolle, die Romana für ihn einnimmt. Romana ist Volleyballspielerin und beherrscht das Spiel offensichtlich gut. Für andere Schülerinnen gilt diese Regel nicht, im Gegenteil, hier findet er sie sogar gefährlich Bei einer anderen Schülerin fände ich diesen Spruch [...] deplatziert, A39, 8-9). Das Argument ist wenig stichhaltig, denn auch Leistungsträger können unter Umständen sehr sensibel auf ungerechtfertigte, resp. unsachlich geäusserte Kritik reagieren. Obwohl seine Kritik inhaltlich korrekt ist – Romana hätte nach der Verteidigungsgeste unmittelbar wieder ihre Grundposition einnehmen sollen – ist es schwer nachvollziehbar, weshalb die Kritik derart ironisch erfolgt ist. Handlungsleitend für seine Sprüche ist wohl eher eine vorangegangene Geschichte, bei der die Rollen getauscht waren. ... und sie hat ungemein Freude, wenn sie mir einen auf den Boden spielen kann. (A39,6). Diese verständliche Freude einer Schülerin, wenn sie gegen den Lehrer spielt und gegen ihn einen Punkt erzielen kann, ist wohl die wahre Ursache für seinen ironischen Spruch. Unbewusst will er ihr damit die erlittene Niederlage heimzahlen. Die argumentative Rechtfertigung, dass dies unter Volleyballern angebracht sei, erfolgt eher aus einem schlechten Gewissen, denn als unmittelbarer Auslöser für seine Sprüche. Das schlechte Gewissen ist sicherlich auch der Grund dafür, dass er sich in Bezug auf den zweiten Spruch nochmals rechtfertigt. Dieser Spruch folgte unmittelbar auf die erste ironische Bemerkung (S1) und hätte nicht unbedingt eine zweite Erläuterung gebraucht. Viel wahrscheinlicher als seine argumentative Rechtfertigung ist, dass sein narratives Gedächtnis ihn in der Situation des Handelns dazu verführt hat, Romana etwas heimzuzahlen. Er reiht mental zwei Geschichten aneinander, die ihn dazu verleiten, Romanas Fehler ironisch zu kommentieren. Ob dies in dieser Situation gerechtfertigt war oder die Schülerin sich durch die Sprüche verletzt fühlte, lässt sich in der nachträglichen Rekonstruktion nicht nachweisen. Die Aussage des Lehrers, dass solche Sprüche gefährlich sein können, ist aber angebracht. Wahrscheinlich ist es ihm nachträglich auch nicht mehr so wohl bei der Sache, sonst würde ihn die Meinung der Schülerin nicht explizit interessieren. Der Lehrer versucht aus seinem Spruch eh Romana, hä war gut eh (A39, 9) eine allgemeine Regel zu entwickeln. Diese Regel äussert er nicht explizit, weshalb ich diese Erklärung als epagogische Analogie deute. Die Regel, die sich hier implizit
4.2 Vergleich der Interviewaussagen
153
andeutet, äussert der Lehrer nur indirekt: oder ob sie es wirklich so versteht wie ich es meine (A40, 5). Sicherlich meint er diese Aussage als Aufmunterung für Romana, besser zu stehen, oder als Motivation, sich auf dem Spielfeld besser zu orientieren. Diese Motivationhilfe kann als Regel verstanden werden, indem gute Schülerinnen durch spöttische Sprüche zum besseren Mitmachen motiviert werden. Mit dieser – so nicht geäusserten – Regel erklärt der Lehrer implizit, weshalb er so emotional auf den Positionsfehler von Ramona reagiert hat. Dieser narrative-epagogische Erklärungsversuch zeigt, dass sich Lehrpersonen durch die Reihung unmittelbarer Geschichten in ihrem Handeln leiten lassen. Sein narrativer Denkmodus weist auf eine eine Palimpsest-Geschichte hin, eine unter der aktuell kommentierten Situation liegende Erfahrung, an die er sich bewusst oder unbewusst erinnern kann. Die argumentativen Rechtfertigungen des Lehrers sind eher nachträgliche Konstruktionen, die in der unmittelbaren Handlungssituation nicht performativ waren. Wahrscheinlich ist auch nicht die unmittelbare zeitliche Nähe von Relevanz, sondern vielmehr die subjektive Betroffenheit des Lehrers bei der vorangehenden Geschichte oder Episode für sein Handeln massgebend. Sein narrativer Denkmodus erinnert ihn im Moment der Sprechhandlung an diese vergangene Episode, was zu den dargestellten Äusserungen führt. Die Rechtfertigung für sein Handeln erfolgt also argumentativ, die wahrscheinlichere Erklärung für sein Handeln lässt sich aber in seinem narrativen Gedächtnis nachweisen. Das Beispiel zeigt, wie wenig sich Lehrpersonen im Rechtfertigungsdruck auf ihre narrative Gedächtnisspur verlassen und argumentativ ihr Handeln zu rechtfertigen versuchen. Der Lehrer erinnert sich im Interview zwar an die Hänseleien der Schülerin, argumentiert aber mit seiner Fähigkeit zur Differenzierung zwischen starken und schwächeren Spielerinnen. Ob er bei einer schwächeren Schülerin in der gleichen Ausgangslage unterschiedlich reagiert hätte, lässt sich empirisch nicht nachweisen. Interpretativ bleibt eine andere Handlungsweise – aufgrund der gleichen narrativen Denkweise – unrealistisch. Die erläuterte narrative Erklärungsweise des Lehrers ist somit naheliegender. Auch die nächste Situation handelt von versteckten Erklärungsversuchen. Mitturnen (13) (S)
Die Schülerinnen (Gymnasium, 12. Schuljahr) betreten die Turnhalle, der Lehrer begrüsst sie an der Türe. Die meisten Schülerinnen spielen bereits in kleinen Gruppen mit dem Basketball, als Sara in Strassenbekleidung und mit einem Schulbuch in der Hand in die Halle kommt. Der Lehrer fragt sie, ob sie nicht turnen könne. Sara zeigt ihren mit Tape eingebundenen kleinen Finger und verneint mit einem Lächeln die Frage. Der Lehrer reagiert mit einem schwachen »gut« und geht nicht weiter darauf ein. Er beginnt die Stunde mit dem Austeilen von Spielbändern. Die Schülerin setzt sich gleich neben der Türe auf den Boden und liest in einem Lehrbuch. Unterdessen haben schon die meisten der Schülerinnen einen Basketball in der Hand und spielen mit dem Ball.
(A3) 1 2 3
Was mir hier auffällt ist schon, nicht nur auf diese Sequenz bezogen (--) auch schon vorher, ich würde von mir verlangen, dass ich die Person da das ist Sara, die nicht turnen kann, im roten Pullover [L zeigt auf Schülerin]
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(A38) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
dass ich sie früher ansprechen würde da merke ich dass ich oft noch etwas Mühe habe (-) grad so, weil ich so im Zwiespalt bin (--) Pole sind so: sie kann nicht turnen oder ist es so (---) ich traue ihr nicht ganz, ob sie wirklich nicht kann ob sie sich nicht etwas drücken will und deshalb habe ich eher etwas Mühe gleich hinzugehen und zu fragen: du Sara, was ist los, und so weiter. einfach dort merke ich bei mir so eine Unsicherheit und deshalb fällt mir hier auch auf, (---) dass ich sie bis jetzt noch nicht angesprochen habe, ich weiss nicht ob es dann noch passiert. Es ist interessant, ich hatte jetzt genau den gleichen Gedanken, den ich wahrscheinlich auch dann hatte, wo ich (--) und Sara gesehen habe. die habe ich einmal in der Stadt gesehen mit hohen stiefeln und so richtig für den Ausgang bereit gemacht ((Grinsen)) Und sie hat mir erzählt, als notabene sechszehnjährige, ja sie habe verschlafen, weil sie beim Freund übernachtet habe und jetzt sei sie zu spät und da merke ich auch, dass es für mich auch hinderlich ist. Ich kann z.T. nicht, mehr auf Situationen reagieren (-) weil ich zu viel im Hintergrund weiss, wo ich denke eigentlich ist das das was ich ihr auch noch sagen will. Und sie soll vielleicht etwas aufpassen, für mich ist sie in ihrem Verhalten vielleicht 5 Jahre weiter, als sie an und für sich innerlich ist. (--) Und das ist das was ich am Anfang angesprochen habe (---) ich weiss jeweils nicht so recht, drückt sie sich oder ist es ernst, sie ist so langsam das Baby, das nicht mehr so richtig will, oder das ist genau der Blick, wo ich denke der Gedanke kommt hier.
(DG: 3.09; 0.59)
(DG: 40.15; 1.21)
Sara kann offensichtlich nicht am Sportunterricht teilnehmen. Dies scheint zunächst nicht zu stören. Wenn Schülerinnen nicht mitturnen können, müssen sie bei diesem Lehrer trotzdem in den Unterricht kommen. Der Lehrer äussert offen seine Unsicherheit. Er ist sich nicht sicher, ob die Schülerin wirklich verletzt ist oder ob sie die Verletzung nur vortäuscht. Zunächst begründet er seine Unsicherheit mit dem Argument, dass er ihr misstraut (A3, 8). Erst später bezieht er diese Unsicherheit auf ein weiteres Erlebnis (A38, 4). Der Zusammenhang zwischen einer ausserschulischen Begegnung in der Stadt und dem Nicht-Turnen im Sportunterricht scheint zunächst belanglos. Der Lehrer stellt diese beiden Geschichten aber nebeneinander und verleiht ihnen damit Bedeutung. Sein Handeln, respektive sein Nicht-Reagieren lässt sich letztlich auf diesen Gang von Geschichte zu Geschichte und die damit verbundene Stigmatisierung der Schülerin begründen. Die in der zweiten Aussage (A38, 14) formulierten Bedenken äussert er erst im Verlauf der Stunde (nachdem er kurz seinen Blick auf Sara gerichtet hat). Die Situation beschäftigt ihn während der ganzen Stunde, so dass er sich mit den in A3, 10 geäusserten Argumenten nicht zufrieden geben kann. Erst durch die Reihung mit einer vorhergegangenen Geschichte wird ihm bewusst, woher seine Unsicherheit kommt. Die Nennung dieser
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Geschichte hätte auch nicht erfolgen können und trotzdem wäre sie handlungsrelevant gewesen. Dass er sich daran erinnert, begründet lediglich sein Handeln, respektive sein Nicht-Agieren, als die Schülerin in die Halle kommt. Diese Erzählstrategie des Lehrers deutet auf den narrativen Denkmodus hin. Der Lehrer verwendet sein Wissen über die Schülerin nicht im Sinne eines Falls von, sondern reiht die Episode mit dem Treffen in der Stadt neben das aktuelle Ereignis im Unterricht. Damit erhält der Text eine narrative Dichte, die wohl zur beschriebenen Handlungsgestaltung führt. Die Gestaltung des Unterrichts – mit Bezug auf Sara – folgt einem narrativen Skript: Zunächst zögert der Lehrer, auf Saras Verletzung näher einzugehen. Sein intuitives Wissen, das er erst in der nachträglichen Interpretation formulieren kann, verhindert eine klare Stellungnahme. Er kommentiert die Verletzung mit einem schwachen »gut« und überlässt die Interpretation dieser Aussage der Schülerin. Seine Unsicherheit, hier klar Stellung zu beziehen, lässt sich mit seinem narrativen Denkmodus begründen. Könnte er ihre vermeintliche Verletzung argumentativ klar zuordnen, wäre seine Stellungnahme deutlicher ausgefallen. Das narrative mentale Skript, das zu diesen Handlungen führt, unterscheidet sich deshalb von einem paradigmatischen Denken, das zumindest während der Stunde zu anderen Äusserungen geführt hätte. Die nachträglichen Erklärungsversuche im stimulated recall weisen deutlich auf einen narrativen Denkmodus in der Handlungssituation hin, auch wenn der Lehrer im Interview die Palimpsest-Geschichte »mit den hohen Stiefeln« argumentativ einbringt. Im Interview soll sie sein Handeln rechtfertigen, während sie im Unterricht handlungsleitend war. Offen bleibt die Frage, ob seine Nicht-Intervention didaktisch gesehen korrekt oder eher ungeschickt war. Für die Schülerin ist seine unpräzise Stellungnahme zunächst eher unbedeutend, sie scheint sich mehr für ihr Buch zu interessieren als für den Sportunterricht. Damit konnotiert der Lehrer aber unbewusst seinen Unterricht, insbesondere auch deshalb, weil er die Schülerin während des ganzen Unterrichts nicht mehr explizit anspricht. Aus der Sicht der Schülerin ist es offensichtlich nicht von Bedeutung, dass sie zumindest mental am Unterricht teilnimmt. Ihre Anwesenheit wird so zur Farce und zu einer administrativen Präsenzpflicht. Damit erhalten der Unterricht und das Fach eine Abwertung. Das Lesen in einem Lehrbuch eines anderen Faches ist somit auch für den Sportlehrer von grösserer Bedeutung als das Lernen für den Sport. Eine Integration der Schülerin z.B. als Helferin bei den Trainingsübungen oder als Schiedsrichterin beim anschliessenden Volleyballspiel hätte eine solche negative Konnotiation zumindest abgeschwächt. Die Frage nach der Angemessenheit der Handlung (oder Nicht-Handlung) des Lehrers zeigt vielleicht auch auf, warum der Lehrer diese Situation überhaupt kommentiert. Der Lehrer entwickelt aus der Situation mit Sara ein narratives Muster »Sara«, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dieses narrative Deutungsmuster wird ihm in zukünftigen vergleichbaren Situationen vielleicht helfen, so zu reagieren, wie er es nachträglich von sich verlangt: dass ich sie früher ansprechen würde (A3, 4). Diese
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Vermutung lässt sich natürlich nicht empirisch bestätigen. Das narrative Muster, das sich in diesem narrativ-epagogischen Erklärungsversuch des Lehrers gebildet hat, deutet sich aber in den dargestellten Interviewpassagen an. Auch im nächsten Text geht es um eine verbale Intervention während des Unterrichts. Hier handelt die Lehrerin allerdings explizit. Sie begründet ihre Intervention ebenfalls mit einer anderen Geschichte. Abpfiff (14) (S)
Die Schülerinnen einer elften Klasse spielen in zwei Gruppen Volleyball (Netz quer zur Halle). Die Lehrerin kündigt das Ende der Stunde an: »Das ist bereits die letzte Minute des Spiels«. Die Spielerinnen spielen ohne sichtbare Veränderung weiter. Es scheint, als ob die Schülerinnen die Ankündigung gar nicht wahrgenommen hätten. Es zeigt sich keine Veränderung des Spiels. Eine Minute später beendet die Lehrerin die Stunde mit den Worten: »Die Stunde ist fertig«.
(A42) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Ich habe mich schon oft gefragt, weshalb ich das Bedürfnis habe, irgendwie ein Ende anzukündigen. Das mache ich immer, ich sage immer irgendwie, noch soviel Bälle oder (4.0) noch eine Minute oder irgendetwas. Ich weiss auch von mir, dass ich z.T. Mühe habe Spiele oder eine Übung abzubrechen. Was ist es von der Information her, was hat es für eine Bedeutung? Oder ist es für die Schülerinnen nochmals ein Anstoss, nochmals Alles zu geben. (--) Das gibt es manchmal auch, dass ich Situationen habe, wo ich sage: »Das Spiel geht noch fünf Minuten, jetzt geben wir nochmals Gas wie verrückt!« Aber das war hier nicht der Fall. Es ist mir hier wirklich um die Information gegangen, dass das Spiel jetzt noch eine Minute dauert. (---) Vielleicht will ich etwas vorbereiten, dass es dann nicht heisst »oh, wir müssen aufhören« oder ich weiss jetzt auch nicht was. Oder, dass sie nochmals die Konzentration erhöhen, so jetzt geht es nur noch eine Minute. (LR: 42.18; 1.34)
Die Lehrerin macht hier keine offensichtlichen Fehler, und man kann in ihren Handlungen keinen Widerspruch entdecken. Trotzdem sucht sie nach einer Erklärung für ihre Ankündigung (A42, 1). Mögliche Argumente für ihre Ankündigung gibt sie gleich selbst: Einen Anstoss geben, nochmals alles zu geben oder die Schülerinnen auf das Ende vorzubereiten. Sie bringt hier aber das Argument ein, dass dies in diesem Beispiel nicht der Fall sei (42,10). Nicht nur sprachlich fällt auf, dass sie in ihrer Interpretation immer wieder das Subjekt wechselt. Einmal spricht sie von den Schülerinnen, ein andermal von sich selbst: Ich weiss auch von mir, dass ich z.T. Mühe habe, Spiele oder eine Übung abzubrechen (A42,5). Der Hinweis auf ihre eigenen Erfahrungen weist auf ein Deutungsmuster hin, das hier als Erklärung dienen kann. Ihre eigenen Erfahrungen als Sportlerin wirken sich unbewusst und narrativ auf ihren Unterricht aus. Jeder Spieler weiss, wie wichtig eine solche Ankündigung sein kann. Und jedem Fernsehzuschauer wird spätestens nach der Einblendung des Countdowns in einem Fussballspiel bewusst, dass die letzten Minuten oft die spannendsten sind. Diese subjektiven Erfahrungen, mental gerahmt in Geschichten von Niederlage und Sieg, sind hier die schlüssige Erklärung dafür, dass die Lehrerin das
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Ende regelmässig ankündigt. Als Erzählungen sind sind solche Erfahrungen oft handlungswirksam, womit auch das Bedürfnis der Lehrerin erklärt werden kann, ohne objektiven Grund den Abpfiff eines Spiels anzukündigen. Deshalb wird dieses Denkmuster – oder diese mentale Geschichte – für sie handlungsleitend. Im nachträglichen stimulated recall sucht sie epagogisch nach einer Erklärung oder nach einer Regel, weshalb sie den Unterricht auf diese Weise abschliesst. Dabei dient ihr die epagogische Reihung von Beispielen als Erklärung des Grundsätzlichen, das sie so nicht in Frage stellt: Oder ist es für die Schülerinnen nochmals ein Anstoss, nochmals alles zu geben. / Das gibt es manchmal auch, dass ich Situationen habe, wo ich sage: / »Das Spiel geht noch fünf Minuten (A42, 7-9). Den narrativen Aspekt der Erklärung bringt sie durch den subjektiven Bezug ihres Handelns ein. Unbestimmte, aber individuelle Erlebnisse (Ich weiss auch von mir, dass ich z.T. Mühe habe Spiele oder eine Übung abzubrechen, A42, 5) bilden die narrative Verankerung in ihrem Gedächtnis, die sie hier auch explizit äussert. Weil sich hier epagogisch eingebrachte Beispiele mit narrativen Erinnerungen verbinden, wird diese Interpretation zu einer narrativepagogischen Erklärungssuche. Ich denke, diese Erklärungsuche zeigt einen typischen Aspekt von Sportunterricht auf. Sport als Praxisfeld gibt sehr viele, nicht hinterfragte Prämissen vor, die unreflektiert in den Sportunterricht einfliessen. So dauert ein Fussballspiel immer zweimal 45 Minuten. Dies könnte im Sinne von Schierz (1997) als »grosse Erzählung« gedeutet werden. Das Beispiel zeigt aber, dass die individuellen Erfahrungen der Sportlehrkräfte im sozialen System Sport – mental verankert als Geschichten – ebenso handlungsrelevant sind wie das System Sport selbst. Aus einer didaktischen Perspektive verdichtet sich dieser Gegensatz noch einmal. Die sportiven Erfahrungen der Lehrpersonen stehen u. U. in einem Gegensatz zu den didaktischen oder pädagogischen Forderungen, die die Lehrperson an sich selbst stellt oder die an sie herangetragen werden. Diesen Gegensatz zwischen paradigmatischen Wünschen der Theorie und den narrativ strukturierten Erfahrungen der eigenen Sportpraxis zeigt auch das nächste Unterrichtsbeispiel auf. Wegräumen (15) (A12) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
((Frage RM:)) Hast du das Gefühl, dass es welche hat die nicht so geturnt haben, wie sie eigentlich könnten? Ja, da hat es sicher eine, sagen wir mal, die den Grätschumschwung machen wollte und (--) ich habe sie zuwenig gesehen und sie ist auch nicht zu mir gekommen, um zu fragen und ich habe einfach bei denen die fragten geholfen. Und habe in diesem Sinne nicht forciert. Und eine habe ich gesehen, die nicht so viel gemacht hat. Die ist aber auch nicht so gut, eben die drückt sich noch gerne im Geräteturnen, wenn sie nicht muss, oder.
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Und andere hat es aber wo ich denke die haben intensiv geübt und haben neue Elemente gelernt ((Frage RM:)) Und bei diesen, die sich etwas drücken, sagst du nichts? Also ich habe in dieser Stunde nichts gesagt, aber ich nehme sie dann schon zu mir und sage dann dort solltest du noch ein wenig und so. Aber meistens sagen sie dann ohnehin ich kann kein neues Element mehr und ich bin mit einer viereinhalb oder so zufrieden. Gerade die Angesprochene,((zeigt mit dem Finger auf eine Schülerin)) der ist das egal. Die andere, die könnte sicher, aber die ist, ich würde vielleicht so sagen, die ist jetzt nach vier Wochen wieder ins Turnen gekommen, verletztungsbedingt, oder drei wochen, es hat sie überschlagen mit dem Snowboard und sie hat das Steissbein gestaucht und das Handgelenk und hat auch dadurch nicht sehr viel gemacht. würde ich jetzt sagen, weil sie sonst noch so eine Geräteturnerin ist, die eine Herausforderung sucht. (SK: 41.45; 2.00)
(S1) Zum Ende der Stunde fordert die Lehrerin die Schülerinnen auf, die Geräte wegzuräumen: »Achtung, es ist Zeit, wir müssen wegräumen. Steffi, bitte räum die dicke grosse Matte weg, die anderen zunächst die dünnen!«. Während die Lehrerin erklärt, welche Geräte wohin weggeräumt werden sollen, turnen mehrere Mädchen ihre Übung zu Ende, resp. turnen an den Geräten weiter. Eines der Mädchen schafft gerade – wohl zum ersten Mal – den Felgumschung vorwärts am Reck. Die Lehrerin unterbricht sofort ihre Anweisungen und lobt die Schülerin überschwenglich: »He, bravo, – probiers gleich noch einmal!«. (S2) Nachdem der Schülerin die Felge vorwärts nochmals geglückt ist, fährt die Lehrerin mit ihren Anweisungen fort. Einzelne Schülerinnen turnen noch immer an den Geräten, andere sind bereits mit dem Wegstellen der dünnen Matten beschäftigt. Man sieht aber keine Schülerinnen, die sich vor dem Wegräumen drücken. Die Lehrerin selbst hilft beim Wegräumen der kleinen Matten mit. (A13) 1 2 3 4 5 6 7
Ich musste viermal sagen, was zu tun ist. Das ist typisch, wenn es stressig ist. Es ist sicher auch so, dass die Situation stresst weil man nämlich will, dass es schneller geht. Sie machen es schon, auch wenn man nichts sagt. Die Zeit drängte und ich dachte – so jetzt macht endlich mal vorwärts. – und dadurch habe ich es mehrmals wiederholt. SK: 42.38; .20)
Die Lehrerin äussert sich hier (A13) nur kurz zu einer Situation, die als Situation nicht widersprüchlich erscheint. Die Schülerinnen zeigen keine Widerstände, die Matten und Geräte in den Geräteraum zu stellen. Die Sportstunde erscheint zu diesem Zeitpunkt keinesfalls aussergewöhnlich oder widersprüchlich (S1). Trotzdem identifiziert die Lehrerin diese Stelle im Interview als interpretationsbedürftig. Vielleicht wählt die Lehrerin im stimulated recall diese Situation aus, weil sie sich über die Redundanz ihrer Anweisungen ärgert. Diese Verärgerung alleine reicht allerdings nicht aus, um aus dieser gewöhnlichen Situation eine besondere – erklärungswürdige – Unterrichtssituation zu machen. Hinter der vordergründigen Rechtfertigung scheint sich ein Widerspruch zu verstecken, den die Lehrerin nicht explizit anspricht. Zunächst jedoch verstrickt sie sich selbst in Widersprüche, indem sie den Schülerinnen eine gewisse Selbstständigkeit zugesteht: Sie machen es schon, auch wenn
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man nichts sagt (A13, 5). Trotzdem will sie die Schülerinnen durch ihre Anweisungen ein bisschen antreiben, damit sie schneller wegräumen (A13, 6). Wären die Schülerinnen wirklich so gehorsam, wie die Lehrerin dies wohl erwartet, dann müssten sie in dieser Situation stillstehen und zuhören. Die Lehrerin würde mit ihren redundanten Anweisungen die benötigte Zeit für das Wegräumen zusätzlich verlängern. So jedoch trägt der »Ungehorsam« der Schülerinnen dazu bei, dass sich die Stunde nicht zusätzlich verlängert. Dass sich die Lehrerin durch eine Schülerin ablenken lässt, weil diese ein Element erfolgreich zu Ende turnt, ist ein weiteres Indiz, dass es ihr hier nicht wirklich so eilt. Der hier aufgedeckte Widerspruch zwischen den Argumenten und dem beobachteten Unterricht verändert allerdings das Argumentationsschema nicht, dessen sich die Lehrerin bei ihren Erklärungen bedient. Zunächst ordnet sie in Anwendung eines klassischen Syllogismus ihre Sprechhandlung der aus ihrer Perspektive stressigen Situation unter. Die Situation ist stressbelastet, sie wiederholt redundant ihre Anweisungen. Es ist tatsächlich so, dass im Stress Anweisungen redundant wiederholt werden. Dieses Argumentationsschema deutet auf einen paradigmatischen Denkmodus hin, der epagogisch eine Analogie herzustellen versucht. Die besondere Situation wird dem Allgemeinen zugeordnet, das sich hier als typisch stressig (A13, 2) äussert. Damit versucht die Lehrerin paradigmatisch und argumentativ, ihr Handeln zu rechtfertigen, wenn auch für einen unabhängigen Beobachter die Szene keinerlei Widersprüche aufzeigt. Diese Argumentationsstrategie scheint allerdings gerade in ihrer Widersprüchlichkeit zu einfach. Die Lehrerin kann ihre Redseligkeit nicht durch die Situation selbst begründen, hier müssen andere Ursachen handlungswirksam zu sein. Vordergründig will die Lehrerin durch ihre Anweisungen den Abbau der Geräte beschleunigen. Sie selbst hilft dabei sogar mit (S2) weil man nämlich will, dass es schneller geht (A13, 4). Sie bemerkt aber selbst, dass ihre Aufforderungen kaum wahrgenommen werden und sich das Tempo beim Wegräumen dadurch auch nicht massgeblich beschleunigt (A13, 5). Dass sie sich bei dieser keinesfalls aussergewöhnlichen Situation des Wegräumens von Geräten zu diesen wiederholten Aufforderungen verleiten lässt, weist auf die kurz zuvor geäusserte Interviewaussage (A12) hin. Auf die Frage des Interviewers, ob es auch Drückeberger gebe (A12,1), muss die Lehrerin eingestehen, dass sie nicht alle Schülerinnen beobachtet hat (A12, 5). Auf die Nachfrage, wie sie auf diese Schülerinnen reagiere (A12, 14), antwortet sie: Also ich habe in dieser Stunde nichts gesagt, aber ich nehme sie dann schon zu mir und sage dann dort solltest du noch ein wenig und so (A12, 16-18). Diese Antwort nimmt ihre Erklärung für die gleich anschliessend erfolgte Situation des Wegräumens vorweg (S1). Während sie sich im freien Riegenbetrieb ausschliesslich um einige wenige Turnerinnen kümmert, will sie sich zumindest verbal beim Abschluss des Unterrichts nochmals an alle wenden. Dies kommt einem pädagogischen und höchstwahrscheinlich auch einem narrativen Denkmuster gleich, alle Schülerinnen gleich zu
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behandeln. Es ist dieser pädagogische Anspruch, der sie zum Unterbruch ihrer Anweisungen veranlasst, weil eine der Schülerinnen die Felge vorwärts turnt (S1). Diese Schülerin gehörte während des ganzen Riegenbetriebs ebenfalls zu den von der Lehrerin wenig beachteten Schülerinnen. Das vermeintlich schlechte Gewissen führt sie handlungsleitend zur redundanten Aufforderung an alle die dünnen Matten wegzuräumen (S1) und weniger die Sorge um den rechtzeitigen Abschluss der Stunde. In der nachträglichen Betrachtung fällt ihr allerdings nur dieses mehrmalige Drängen zum Wegräumen auf, der Zusammenhang zur vorherigen Situation ist ihr nicht bewusst. Damit reihen sich hier ohne Absicht, aber handlungsleitend zwei Situationen (oder Geschichten) aneinander, die für sich genommen wenig kritisch wirken. Erst in der Reihung wird klar, wo die Ursache für die verbalen Wiederholungen der Lehrerin liegen könnte. Handlungswirksam ist somit nicht die vermeintlich stressige Situation (A13, 3), sondern vielmehr das Geschehen unmittelbar vor dem Wegräumen der Geräte. In dieser Interpretation wird aus einem apagogischparadigmatischen Erklärungsmuster ein narrativ-epagogisches Denkmuster, das sich erst durch die Erzählweise im Interview aufdecken lässt. Die Lehrerin reiht unbewusst zwei Episoden aneinander und erhält damit die Erklärung für ihre Handlungsmuster. Die drei dargestellten Erklärungsmuster präzisieren, dass narrative Denkmuster nicht nur didaktische Geschichten in einen Zusammenhang bringen, sondern dass auch ausserschulische Erfahrungen in didaktische Entscheidungsprozesse einfliessen. Dazu sind sportive Erfahrungen – wie in der Unterrichtsbeschreibung Abpfiff (14) dargestellt – mit ihrer hohen Handlungsdichte dazu prädestiniert, auch in didaktischen Erfahrungsfeldern wirksam zu werden. Im Vergleich zu den eher kognitiv geprägten Erfahrungen der didaktischen Ausbildung wirken sportive Erfahrungen umso effektiver. Aber auch pädagogische Ansprüche, wie sie in der letzten Geschichte (Wegräumen, 15) implizit geäussert werden, können den Unterrichtsverlauf nachhaltig beeinflussen. Inwiefern also auch individuelle sportliche und pädagogische Erfahrungen in die didaktische Lehre einfliessen müssten, soll später analysiert werden. Zunächst gilt es, als empirischen Befund festzuhalten, dass nichtunterrichtliche Erfahrungen tendenziell sportdidaktische Entscheidungen im Unterricht beeinflussen. 4.2.4 Narrativ-apagogische Begründungen Als Begründungen werden Beweisführungen bezeichnet, die sich auf strittige Einschätzungen, Meinungen oder Behauptungen beziehen. Die Begründung bezieht sich dabei meistens auf eine kognitive Vorstellung und weniger auf konkrete Handlungen. Im Folgenden kommen Begründungen zur Darstellung, die von den Lehrkräften geäussert wurden und dabei Rückgriff auf andere Geschichten nehmen.
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Argumentativ könnten hier auch Begründungen dargestellt werden, die in ein Argumentationsschema eingeordnet werden könnten. Begründungen in einem Erzählschema greifen auf Geschichten zurück, die hier zentral dargestellt werden. Der erste Text beschreibt das Abseitsstehen einer Schülerin. Abseitsstehen (16) (S1) Die Schülerinnen (9. Klasse) spielen 4 gegen 3 Tupfball. (Auf einem anderen Spielfeld spielen weitere 4 gegen 4 Schülerinnen). Das angreifende Team darf den Ball einander zuspielen, aber mit dem Ball nicht laufen. Es gilt in 2 Minuten möglichst viele Tupfer zu erzielen. In der 4er Gruppe (Gelb) fällt ein Mädchen auf, das kaum am Spielgeschehen teilnimmt. Das Mädchen (Claudia) ist übergewichtig und entsprechend ungeschickt in den Bewegungen, aber auch mit dem Ball. Beim Überzahlspiel der Angreiferinnen (Gelb) entwickelt sich ein ausgeglichenes Spiel, wobei Claudia kaum am Spiel partizipiert. Sie steht in der Regel am Rand des Spielfeldes und bekommt vielleicht zwei, dreimal den Ball, den sie sofort wieder abgibt. Anders beim Unterzahlspiel der Angreiferinnen. Die Weissen konzentrieren sich sofort auf Claudia, weil sie dadurch schnell zu Punkten kommen. Nach ca. 5 Treffern, wechseln sie ihre Taktik und lassen Claudia in Ruhe. Ob das aus Nachsicht oder weil das Spiel damit langweilig wird, geschieht, ist nicht ersichtlich. Nach dem Spiel ruft der Lehrer die Schülerinnen in die Mitte der Halle und erklärt die nächste Übung. Die Schülerinnen stehen in einem Halbkreis um den Lehrer, wobei Claudia mit einer Distanz von ca. 2 Metern gleichsam in der zweiten Reihe steht. Es scheint fast so, als ob sie sich hinter den anderen Schülerinnen verstecken wollte. Deutlich wird dies bei der Aufforderung des Lehrers, wieder in den Gruppen zu üben. Als ob sie dem Blickkontakt des Lehrers ausweichen wollte, macht sie kurz vor dieser Aufforderung nochmals zwei kleine Schritte hinter eine Schülerinnengruppe. (A13) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Es ist auffällig, es wird immer die gleiche Person abgetupft, Claudia, die die eben übergewichtig ist. Sie ist hier sehr abseits, (-) das ist sehr auffällig, dass sie sich viel so ein wenig in diese Ecke drückt. Ich denke das ist normal, immerhin ist sie ein wenig integriert, hilft mit, (2.0) in der vorderen Sequenz hatte sie schon öfters mal Ballkontakt gehabt, aber sie ist immer wieder abseits. Als ich sie zusammenrufe, ist es fast wie ein Ring. Die sind einfach dort hingestanden, weil sie gerade in dieser Region waren, und wir den Platz gebraucht haben. Aber bei Claudia ist es schon auffällig, sie ist einfach gerade noch ein Stückchen weiter weg, sie hat gar nicht die Möglichkeit alle zu sehen, sie sieht diese Gruppe hier gar nicht. Interessant ist natürlich auch, dass ich das beim Unterrichten gar nicht merke, ich nehme das gar nicht wahr. Auch wenn es jetzt sonnenklar ist, ich weiss auch warum. Sie ist gerne die, die sich zurückzieht, oder ein wenig weniger macht, mit ihren Problemen, die sie halt hat. Aber im Unterricht das so scharf zu sehen, da müsste ich mich schon darauf konzentrieren, gut das wäre evt. möglich. Jetzt bin ich mir dessen mehr bewusst. (DG: 11.06; 0.39)
(S2) Der Lehrer will eine weitere Übung vorzeigen. Die Schülerinnen trainieren jetzt in 4er Gruppen. Er geht zur Gruppe mit Claudia und weist sie neben das Spielfeld: »Claudia, könntest du schnell auf die Seite stehen, und du Tina kommst hinter mich!« Er ersetzt Claudia durch sich selbst, damit er die Übung vorzeigen kann und erklärt mit dieser Gruppe die nächste Aufgabe, indem er sie gleichzeitig vorzeigt.
Der Lehrer ist sich nach der Betrachtung des Videos bewusst, dass er Claudia mehr Aufmerksamkeit schuldet, aber nur in Bezug auf ihre unglückliche Position beim Erklären (S1). Er erklärt ihr Abseitsstehen argumentativ mit ihren »Problemen«: Sie
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4 Wie ordnen Lehrpersonen unterschiedliche Erfahrungen
ist gerne die, die sich zurückzieht oder ein wenig weniger macht mit ihren Problemen, die sie halt hat (A13, 14-15). Dass Claudia übergewichtig ist, ist unbestritten. Aber dies kann nicht als Faktum in einer schlüssigen Argumentation verwendet werden, um ihr Abseitsstehen zu erklären. Nicht bewusst ist ihm das Abseitsstehen beim beim Vorzeigen der nächsten Übung (S2). Selbstverständlich macht es wenig Sinn, eine komplexe Übung mit einer schwachen Spielerin vorzuzeigen, schliesslich sollte beim Vorzeigen allen anderen der Ablauf der Übung klar gemacht werden. Allerdings könnte er die Blossstellung von Claudia unauffällig umgehen, indem er die Übung mit einer anderen Gruppe vorzeigt. Obwohl das Vorzeigen des Lehrers (S2) chronologisch nach der Situation mit dem Tupfball (S1) stattfindet, kann man es als Indiz für eine narrative Begründung für das Abseitsstehen von Claudia betrachten. Wenn man davon ausgeht, dass solche Situationen des Abseitsstehens nicht die Ausnahme sind, dann erklärt das Handeln des Lehrers das Verhalten von Claudia. Sie wird vom Lehrer »zur Seite gestellt« und prägt sich diese Situation unbewusst ein. Für sie wird dies zum narrativen Muster (oder Szenen-Skript), nach dem sie auch in anderen Situationen, wie z.B. beim Tupfball handelt. Sie stellt sich im Spiel in die Ecke, um möglichst wenig aufzufallen. Der Lehrer interpretiert dies argumentativ mit ihrem Handicap des Übergewichts, aber letztlich antizipiert sie lediglich ein Handlungsmuster, das er ihr vorgegeben hat. Als sie dann zum dankbaren Opfer der Gegnerinnen wird, eskaliert die Situation. Jetzt wird sie zwar ins Spiel integriert, aber wiederum in einer negativen Konnotation. Hier beweisen die Schülerinnen allerdings mehr Feingefühl als der Lehrer, indem sie sie nach fünf Treffern in Ruhe lassen. Auch mit dem Abseitsstehen bei seinen Erläuterungen nimmt sie nur vorweg, wozu sie später explizit aufgefordert wird: »Claudia könntest du schnell auf die Seite stehen!« (S2) Mit seiner Forderung, die sicherlich nicht böse gemeint ist, lässt er Claudia ihre Aussenseiterrolle deutlich erfahren. Damit wird für sie eine Erzählung handlungsrelevant, die wohl auch in folgenden Unterrichtsstunden von Bedeutung ist. Diese nachfolgende Geschichte, die im dargestellten Handlungsmuster zur Vorgeschichte und zur Repräsentation einer Palimpsest-Geschichte wird, beeinflusst nicht die Handlung des Lehrers, sondern einer Schülerin. Damit kann auch gezeigt werden, dass der Gang von Geschichte nicht nur für Lehrende, sondern für auch für Schülerinnen und Schüler von Bedeutung ist. Die gute Absicht des Lehrers, in Zukunft Claudia mehr Aufmerksamkeit zu schenken, ist gegenüber solchen narrativ geprägten Handlungsmustern ziemlich wirkungslos. Doch das Handeln des Lehrers (resp. seine despektierliche Äusserung) weist auf ein narratives Denkmuster hin. Argumentativ und damit im Rahmen eines paradigmatischen Denkens weist er auf sein pädagogisches Unvermögen hin (A13, 18). Er entschuldigt sich allerdings damit, dass er sich dessen in der Unmittelbarkeit des Unterrichtens kaum bewusst ist. Diese Erklärung ist ein Indiz für einen narrativen Denkmodus, der sein Handeln besser erklären lässt. Das leichte Abseitsstehen
4.2 Vergleich der Interviewaussagen
163
Claudias (A13, 3) wird zur apagogischen Begründung des Lehrers, weshalb sie von ihm, aber auch von den Schülerinnen als Aussenseiterin behandelt wird. Weil sie sich viel so ein wenig in diese Ecke drückt (A13, 3), wird Claudia zum Schlüssel oder zur allgemeinen Regel, das Besondere (hier das Handeln des Lehrers) zu begründen. Dieses Allgemeine versteckt sich in vorausgehenden Geschichten, die immer wieder bestätigt werden, wie es sich in der zweiten Situation (S2) zeigt. Als weitere narrative Begründung gesellt sich die eigene sportive Erfahrung des Lehrers zum Abseitsstehen von Claudia. Aufgrund seiner Erfahrungen kann er sich nicht dem Risiko aussetzen, die Übung inkorrekt vorzeigen zu lassen. Einerseits weiss er von sich selbst, dass er die Übung motorisch korrekt vorzeigen kann. Andererseits weiss er, dass in wichtigen Spielen (»dann, wenn es drauf ankommt«) die Leistungsträger auf dem Spielfeld stehen und die Schwächeren auf der Ersatzbank sitzen. Das Vorzeigen einer Übung ist zwar kein Entscheidungsmatch, aber didaktisch relevant. Von dieser Anleitung hängt es ab, ob die anderen Schülerinnen die Aufgabe begreifen und sie auch entsprechend durchführen können. Weil sich der Lehrer dieser didaktischen Implikationen bewusst ist und er auch keine »Niederlage« riskieren will, verweist er Claudia kurzerhand auf die »Ersatzbank« und stellt sich selbst auf. Seine individuelle Erfahrung aus dem Kontext des Sports überträgt er in dieser didaktisch relevanten Situation unmittelbar auf eine didaktische Entscheidung, auch wenn er sie argumentativ anders begründet (ich nehme das gar nicht wahr, A13, 13). Dieses vermeintliche Unvermögen, in der Situation des Handelns anders zu reagieren, bestätigt den narrativen Denkmodus, der hier offensichtlich handlungsrelevant wurde. Auch im folgenden Text stehen zunächst argumentative Begründungsmuster im Vordergrund, die in der Interpretation allmählich ein narratives Denkmuster aufdecken lassen. Abrollen rückwärts (17) (S)
Die Schülerinnen einer 7. Klasse turnen an verschiedenen Geräten im freien Riegenbetrieb. Den Schülerinnen ist es selbst überlassen die Geräte zu wählen und sie stehen sich auch mehrheitlich selbst Hilfe. Während die Lehrerin bei einer Station zur Vorbereitung des Handstandüberschlags hilft, bemerkt sie zwei Schülerinnen, die etwas unbeholfen zwischen zwei Geräten stehen. Eine der Schülerinnen ist verhältnismässig gross und überragt die anderen bei weitem. Sie fordert die Schülerinnen auf sich an eine weitere Station zu begeben, die ebenfalls zur Vorbereitung des Handstandüberschlags dient (ein Kastenoberteil liegt am Boden). Die Schülerinnen müssen – mit Hilfe – aus dem Handstand rückwärts abrollen. Die beiden Schülerinnen gehen anstandslos zu dieser Station, bleiben aber auch dort einfach stehen. Dieses Verhalten scheint allerdings nicht aussergewöhnlich, denn auch andere Schülerinnen stehen immer wieder tatenlos herum, ohne dass sie von der Lehrerin angesprochen werden. Trotzdem weckt der Unterricht keinesfalls den Eindruck, dass nicht geübt wird.
(A8) 1 2 3 4 5
Aha, das waren die Schwächeren. Wir haben ja vorhin gesehen, sie haben den Handstand gemacht an der dicken Matte an der Wand, und das sind die, die Angst haben es alleine zumachen, und die sind dann dort einfach so herumgestanden (--) und ich habe sie gesehen und sie haben sich auch nicht getraut,
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(S)
dass (---) zwei von ihnen Hilfe steht und eines geht auf den Kasten hoch. Die brauchen mich immer noch und ich weiss nicht ob sie vielleicht wegen dem Helm nicht gekommen sind sonst, weil ich die Kamera hatte. die brauchen mich immer noch, oder die sind nur ganz sicher (-) auch wenn ich noch dabei bin. Und darum habe ich ihnen gerufen, sie sollen zu mir kommen.
(FM: 28.48; 0.45)
Die Lehrerin wechselt zur Station, an der auf einem einzelnen Kastenoberteil der Handstandüberschlag geübt werden soll. Die beiden Schülerinnen stehen immer noch tatenlos dort und warten auf die Lehrerin.
(A11) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Ja, ich habe einfach das Gefühl, gerade bei solchen Sachen, wo es um Mut geht, ist es wichtig dass ich ihnen den Rhythmus gebe oder dass ich sage, dass ich sie motiviere oder auch mit der Stimme sie vielleicht unterstützte. Und ich sage nicht bei allen gleichviel und jemand der selbst den Mumm und Pepp hat dieser Schülerin sage ich nichts, oder du musst (---) selbst entscheiden ob du dreimal wippen willst oder nur einmal bevor du dann kommst. und eine die nicht richtig wippt, der helfe ich mit. mit der Stimme. Und gehe auch schon mit den Armen weiter runter, für ihr zu zeigen, dass ich dich nehme wenn du kommst ich halte dich schon. Ich denke schon von der Körpersprache, dort kannst du schon sehr (--) viel mitteilen. Gerade Kinder die Respekt haben. Ich weiss, dass die Schülerin im Geräteturnen einfach Angst hat ((zeigt mit dem Finger auf und eine Schülerin)) Sie ist sehr gross und die muss ich immer wieder holen und auf die achte ich mich einfach und deshalb weiss ich, die ist noch nicht gekommen. Ich hatte schon einmal eine solche grosse und schlaksige Schülerin Diese war genauso ängstlich und in ihrem Verhalten genauso zurückhaltend Da hab ich sie immer wieder aufgefordert mitzumachen (---) plötzlich gehörte sie zu den besten.
(FM: 34.03; 1.48)
Die Lehrerin interveniert bei diesen beiden, obwohl es auch bei anderen Schülerinnen Anlass zur Aufmunterung gäbe. Die beiden Schülerinnen fallen im regen Riegenbetrieb nicht aussergewöhnlich auf. Weshalb sie genau diese beiden auswählt, begründet sie argumentativ mit ihrem Gefühl, dass zumindest eine der beiden Angst vor den Übungen hat. Der Schülerin fehlt – nach ihrer Einschätzung – der Mut alleine, respektive mit Hilfe von Mitschülerinnen, die Übungen zu turnen (A8, 3). Lediglich eine Vermutung der Lehrerin ist, dass sich die Schülerin nicht wagt, die Übungen selbst zu turnen und nicht aus Langeweile oder aus einem anderen Grund nicht turnen will. Die Begründung für diese Annahme äussert sie nicht argumentativ, sondern mit dem Hinweis auf eine andere Schülerin, die ebenso gross und schlaksig war (A11, 16). Dieser Begründungszusammenhang verweist auf eine andere Geschichte, die im Interview nur ansatzweise formuliert wird. Offensichtlich hatte die Lehrerin mit ihrer Strategie, die Schülerin immer wieder zum Mitmachen zu animieren, damals Erfolg. Diesen Erfolg nimmt sie deshalb unbewusst zum Anlass, die Schülerin auch im beobachteten Unterricht immer wieder mit Worten zu unterstützen. Die zurückliegende Erfahrung mit grossen und schlaksigen Schülerinnen wird somit zum Allgemeinen, das das Besondere begründet. Diese apagogische Ana-
4.2 Vergleich der Interviewaussagen
165
logie muss argumentativ nicht schlüssig sein, wirkt aber in ihrem narrativen Korsett auf die Handlungsentscheidungen der Lehrerin. Ob der damalige Erfolg wirklich auf ihre verbalen Interventionen zurückzuführen ist oder ob alle grossen und schlaksigen Mädchen mutlos sind, lässt sich empirisch nicht nachweisen. Dass Jugendliche bedingt durch ihren zweiten Längenwachstumsschub motorische Schwierigkeiten erhalten, kann eine argumentative Begründung sein. Dies muss aber nicht auf alle grossen und schlaksigen Schülerinnen zutreffen. Der Rückgriff der Lehrerin auf eine Palimpsest-Geschichte kann diesbezüglich keine bessere Begründung liefern. Aber ihre Handlungen werden dadurch unabhängig von ihrer Stichhaltigkeit gelenkt. Offensichtlich hat ihr narratives mentales Skript hier eine höhere Handlungsrelevanz als andere Denkformen. Ihre Erzählung weist auf den narrativen Modus des Denkens hin und zeigt auch, dass hier Gegenargumente – im paradigmatischen Modus des Denkens – kaum Wirkung zeigen würden. Aus einer didaktischen Perspektive fördert ihr narrativer Denkmodus eine Handlungsstrategie, die für die Schülerinnen zu einer »gelernten Hilflosigkeit« führen könnte. Jedenfalls weist das tatenlose Herumstehen (S2) darauf hin, dass die beiden Schülerinnen auf weitere Interventionen der Lehrerin warten. Während andere ohne Einwirkung der Lehrerin fleissig trainieren, üben die beiden angesprochenen Schülerinnen nur, wenn sie dazu explizit aufgefordert werden. Mag sein, dass diese »Hilflosigkeit« nicht auf eine einzelne Intervention der Lehrerin zurückzuführen und ihre Ursache auch in anderen Lernerfahrungen zu finden ist. Die Intervention der Lehrerin – und ihre narrative Begründung – fördern allerdings diese Unselbständigkeit in einem hohen Masse. Die Lehrerin müsste sich demnach gut überlegen, weshalb sie einzelne Schülerinnen betreut und andere nicht. Bei den Betroffenen löst sie mit dieser Selektion eine Passivität aus, die sich narrativ begründen lässt, aber didaktisch fragwürdig ist. Als Begründung und als Unterrichtsstrategie mit nachhaltiger Wirkung kann auch die folgende Unterrichtssituation eingeordnet werden. Passen und Annehmen (18) (S)
Die Knaben einer 8. Klasse sind mit Übungsformen zum Passen und Annehmen im Fussball beschäftigt. Sie spielen in Gruppen, wobei jeder Gruppe zwei Verkehrshüte zugeteilt sind, im Abstand von ca. 10 Metern. Die Schüler müssen den Ball von einem Hut aus zu einem anderen Schüler spielen, der beim zweiten Hut den Ball annimmt und weiterspielt. Nach dem Schuss muss man dem Ball nachlaufen. Die Schüler trainieren intensiv, wobei es vereinzelt vorkommt, dass die Pässe nicht immer präzis gelingen. Der Übungsbetrieb läuft relativ problemlos und die Schüler üben intensiv. Trotzdem unterbricht der Lehrer nach kurzer Zeit den Übungsbetrieb mit einem Pfiff. Die Schüler bleiben an ihren Übungsstationen stehen. »Moment, bitte zuhören. Das war jetzt sehr unkonzentriert, das ist schlecht so! Bitte nehmt den Ball wieder an und spielt ihn sauber weiter. Das ist jetzt eine schwierige Übung! Und denkt daran mit dem Innenrist zu spielen. Okay, weiterspielen«.
(A17) 1 2 3 4
Manchmal braucht es einfach, das ist meine Meinung, manchmal braucht es einfach Unterbrüche, um ihnen zu sagen, jetzt müsst ihr euch konzentrieren. (---) Vor allem wenn man über längere Zeit solche Übungen macht,
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die sich auch nicht gross verändern, dann ist es für mich einfach wichtig. Mir geht es weniger darum, dass sie eine Pause haben, sondern ihnen zu sagen, jetzt müsst ihr euch wieder konzentrieren, und da reicht ein kurzer Satz von mir, um sie wieder nach vorne zu holen. (--) Einfach um zu sagen: im Moment bin ich nicht zufrieden, konzentriert euch wieder und dann kann ich auch gleich wieder weiterlaufen lassen. Mich hat vorhin gestört, dass die Laufrunden nicht mehr fertig gelaufen wurden z.B. vorhin glaube ich Renato gesehen zu haben. (---) Und dann habe ich gerade eine Anhäufung von Bällen gesehen, die nicht angekommen sind. Und dann hatte ich einfach das Gefühl ich muss etwas sagen. (3,0) Eigentlich ähnlich wie in einer Rede, wenn man diese bestimmten Pausen einlegt, um dann etwas nochmals zu betonen. Vielleicht etwa in diesem Sinn PB: 34.09; 1.37)
Der Lehrer unterbricht das Üben der Schüler aufgrund verschiedener Beobachtungen. Renato läuft die Runden nicht zu Ende, und die Pässe werden direkt, statt indirekt gespielt. Seine Intervention begründet der Lehrer aber nicht mit dem Hinweis, dass die Schüler einfach seinen Anweisungen folgen müssen. Er weist sie in dieser kurzen Unterbrechung auch nicht darauf hin, sondern fordert sie auf, sich besser zu konzentrieren. Er begründet die Unterbrechung argumentativ, weil damit die Konzentration erhöht werden könne. Dass solche Aufforderungen kaum wirksam sind, merkt er wohl in der nachträglichen Betrachtung des Unterrichts selbst. Trotzdem verteidigt er seine Unterbrechung. ... sondern ihnen zu sagen, jetzt müsst ihr euch wieder konzentrieren, und da reicht ein kurzer Satz von mir (A17, 7). Er ist überzeugt, dass es letztlich nicht auf den Inhalt der kurzen Unterbrechung ankommt, sondern dass die Unterbrechung als solche zu einer erhöhten Konzentration führt. Deshalb bleibt er bei seiner Meinung und begründet dies mit einer apagogischen Analogie zur Rhetorik. Kurze Sprechpausen sollen zu einer verbesserten Konzentration bei Zuhörern führen. Die apagogische Begründung mit Verweis auf die Redekunst ist wohl kaum mit einer allgemeinen Theorie zu belegen. Vielmehr reiht der Lehrer seine Handlungen beim Fussballtraining an zurückliegende Erfahrungen (als Redner: A17, 15), die er nicht explizit erläutert. Damit versteckt sich das handlungsleitende Allgemeine in zurückliegenden Vorgeschichten, in denen sich die Regel – kurze Sätze tragen zur Beruhigung des Unterrichts bei – allmählich im Gedächtnis des Lehrers festgesetzt hat. Dass er diese Palimpsest-Geschichten hier ins Gegenteil dreht, bemerkt er wahrscheinlich nicht. Kurze gesprochene Sätze sollen zu einer höheren Konzentration bei den Schülern führen, während laut seiner »Theorie« kurze sprachfreie Pausen bei Zuhörern die Aufmerksamkeit fördern. Diese Reihung von Geschichten zeigt einen Unterschied zu Argumentationsmustern auf. In Argumentationen muss die Reihung von Sätzen schlüssig sein, damit sie überzeugt. Beim Gang von Geschichte zu Geschichte spielt die inhaltliche Übereinstimmung eine untergeordnete Rolle, weil das narrative Schema den Vergleich unterschiedlicher Geschichten ermöglicht. So können, wie das Beispiel zeigt, auch gegensätzliche Aussagen als Analogien verwendet werden und damit handlungswirksam sein. Das Beispiel zeigt auch, dass selbst widersprüchliche Aussagen, in der Reihung als Ge-
4.3 Zusammenfassung
167
schichten sinnvoll sind, zumindest für diejenigen, die die Reihung vornehmen. Der Lehrer begründet sein Handeln nachträglich mit der Analogie zur Rhetorik. Einem Aussenstehenden mag dies seltsam vorkommen, für ihn war es trotzdem handlungsrelevant. Kurze Pausen führen zu einer Verbesserung der Konzentration, egal, wer eigentlich die Pause macht. Sein narratives Denkmuster führt letztlich zu einem Unterbruch, der für einen Aussenstehenden kaum nachvollziehbar ist. Didaktisch lässt sich sein narratives Skript ebenfalls nicht begründen. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb der Lehrer diese Situation im stimulated reall kommentiert. In der nachträglichen Reflexion wirkt dieser Sprechakt etwas befremdlich. Von aussen betrachtet wird der Lehrer zum Störfaktor des Unterrichts. Seine Unterbrechung stört den Übungsbetrieb ohne eine positive Wirkung auf das Training der Schüler zu zeigen. Jedenfalls scheinen die Schüler nach der Pause weder besser noch schlechter konzentriert mit dem Ball zu trainieren als vorher. Die Unterbrechung verliert damit allerdings ihre didaktische Berechtigung, auch wenn der Lehrer versucht, diese mit einer narrativen Analogie zu begründen. Die drei dargestellten Unterrichtssituationen weisen darauf hin, dass Lehrerinnen und Lehrer ihre Handlungen auch mit weiteren Erzählungen zu begründen versuchen. Was sich in der formulierten Rechtfertigung zunächst als Argument aufzeigen lässt, wird im Verlauf der Erläuterung oft zu einer Reihung von Geschichten. Zumindest weisen die drei Begründungen auf diese Tendenz hin und decken auf, dass vergangene Geschichten in ihrer Reihung mehr zur Performanz der Handlungen führen als die zunächst geäusserten Argumente. Damit werden Erzählungen und narrative Skripts selbst für apagogische Begründungen relevant, bei denen noch am ehesten ein Argumentationsschema hätte erwartet werden können. Das eigene Handeln zu begründen, bedeutet demnach in der Praxis des Unterrichtens, sich nicht ausschliesslich einer Subsumptionslogik zu unterwerfen, sondern sich auch anderer, fremder und eigener Geschichten zu bedienen. Der narrative Denkmodus wird hier handlungsrelevant, wo der paradigmatische Modus erwartet wird. Inwiefern sich die didaktische Lehre dieser Erkenntnis bedienen kann, soll später dargestellt werden. Aus der empirischen Analyse der dargestellten Unterrichtsbeschreibungen lassen sich einige Schlüsse ziehen, die hier abschliessend dargestellt werden sollen. 4.3 Zusammenfassung Einige der analysierten Unterrichtsbeschreibungen zeigen evident, dass nicht das bessere Argumentieren zu Veränderungen im Unterrichten führt, wie dies Radtke (1992, 341) festhält, sondern das bessere Erzählen. Bei vielen der dargestellten Unterrichtsbeschreibungen und ihren Erläuterungen durch die Lehrpersonen zeigt sich zunächst ein Argumentationsmuster, das auf einen paradigmatischen Denkmodus hinweist. Erst in der repetitiven Interpretation der dokumentarischen Analyse lassen
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sich narrative Denkmodi nachweisen. Dieser allmähliche Wechsel in der Interpretationsstrategie lässt den Schluss zu, dass Lehrpersonen in Rechtfertigungen zunächst zu einem paradigmatischen Denkmodus neigen und erst in vertieften oder erzwungenen Erläuterungen einen narrativen Denkmodus aufdecken. Die Ordnungsweise ihrer Erfahrungen deutet somit auf paradigmatische und auch auf narrative Strukturen hin. Die hier dargestellten Kategorien lassen aber noch weiter analytische und allgemeine Schlüsse zu. Aus dem Text Offener Unterricht (8) lässt sich z.B. schliessen, dass die Lehrerin ihre Einschätzung zum offenen Unterricht wohl revidieren würde, wäre sie sich ihrer Erzählung – und damit des narrativen Denkmodus – über das Aufwärmen bewusst. Der Text zeigt auch, dass sich handlungsleitende Normen von Lehrpersonen weniger aus paradigmatischen Konzepten (offener Unterricht) ableiten lassen, sondern vielmehr aus ihren selbst konstruierten Unterrichtsgeschichten. Auch wenn sich die Lehrerin in ihrer Argumentation immer wieder auf das Konzept des offenen Unterrichts bezieht, lässt sich letztlich nachweisen, dass für ihr Handeln ihre eigene narrative Denkstruktur evident ist. Ebenfalls nachweisen lässt sich die Wirksamkeit von Erzählmustern, die sich im Handlungskontext entscheidend von Argumentationsmustern unterscheiden. Der Text Abrollen rückwärts (17) belegt, dass die Argumente der Lehrerin als Allgemeinplätze zu verstehen sind. Mit ihren konkreten Handlungen haben sie wenig gemein. Auch hier sind es ältere Geschichten, die sie dazu bewegen, gerade diese Schülerin speziell zu unterstützen, während andere genauso auf ihre Hilfe angewiesen wären. Die narrative Reihung unterschiedlicher Geschichten drängt sie zu dieser intuitiven Unterrichtsentscheidung. Das Gleiche gilt für den Text Passen und Annehmen (18), auch wenn sich hier die Vorgeschichte auf eine ausserschulische Begebenheit bezieht. Der Gang von Geschichte zu Geschichte, so lässt sich zeigen, ist meist hoch handlungsrelevant, auch wenn sich die Palimpsest-Geschichten von den Betroffenen selbst kaum rekonstruieren lassen. Der Text Üben und Wettkämpfen (10) dokumentiert, dass sich der Lehrer der kaum spielrelevanten Übungen bewusst ist. Er versucht, seine Übungsauswahl paradigmatisch mit allgemeinen Regeln zu rechtfertigen, obwohl diese Argumente nur wenig schlüssig sind. Die gleiche Wirkung lässt sich zeigen, wenn Lehrpersonen eine Vorgeschichte rekonstruieren können. Der Text Mitturnen (13) weist darauf hin, dass sich der Lehrer aufgrund einer zufälligen Begegnung in der Stadt der Stigmatisierung der Schülerin bewusst ist. Er begründet sein Misstrauen deshalb mit dieser Vorgeschichte. Damit wird sein narrativer Denkmodus explizit. Beim Text Positionsfehler (12) lässt sich das gleiche narrative Muster identifizieren, hier kann der Lehrer die vorausgegangenen Geschichten, aber nicht in einen Zusammenhang mit seinen Unterrichtshandlungen bringen. Im Gegensatz dazu lassen sich handlungswirksame Geschichten auch im Unterricht selbst entdecken, auch wenn dies von den betroffenen Lehrpersonen nicht
4.3 Zusammenfassung
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wahrgenommen wird. Das Beispiel Abseitsstehen (16) belegt, wie der Lehrer für die angesprochene Schülerin eine solche Geschichte generiert, ohne dass er sich – selbst in der nachträglichen Interpretation – dessen bewusst ist. Auch hier folgt der Lehrer in der Interpretation allgemeinen Argumentationen, trotz der subjektiven Betroffenheit, die er explizit äussert. Oft sind auch eigene Geschichten der Lehrpersonen handlungsleitend, ohne dass die Lehrerpersonen sich dessen bewusst sind. Der Text Abpfiff (14) zeigt, dass die Sportsozialisation der Lehrerin zu Unterrichtshandlungen führen kann, die sie sich selbst kaum erklären kann. Daraus lässt sich schliessen, dass die eigenen (Sport) Biografien der Lehrpersonen und die damit verbundenen Geschichten für das Handeln im Unterricht von grösserer Bedeutung sind, als gemeinhin wahrgenommen wird. Die mentale narrative Rekonstruktion dieser Sporterfahrungen wird für didaktische Entscheidungsprozesse relevant, auch wenn die gereihten Geschichten nicht in einem unmittelbaren didaktischen Zusammenhang stehen. Vielmehr verleiten hier explizit nicht-didaktische Erfahrungen (Abpfiff) zu konkreten didaktischen Handlungen. Die Analyse der Texte zeigt weiter, dass das Bewusstsein von Fehlern wenig nützt, wenn diese quasi als Geschichten konditioniert worden sind. Hier bestätigt sich die These von Radtke (1992, 352), dass das vermeintliche Verstehen von Untericht keinen oder wenig Einfluss auf das Handeln im Unterricht hat. So zeigt der Text Abseitsstehen (16), dass der Lehrer die Ausschlusssituation von Claudia erkennt, sich aber nicht bewusst ist, dass sein eigenes Handeln zu dieser Situation massgeblich beiträgt. Offensichtlich nützt das Erkennen von paradigmatischen Regeln wenig, wenn im Handlungskontext nicht auf das narrative Denkmuster Rückgriff genommen wird. Der Lehrer erkennt seinen Fehler, erläutert ihn aber argumentativ, also in einem paradigmatischen Denkmodus. Ob hier das Bewusstmachen in einem narrativen Denkmuster zu einem anderen Unterrichtshandeln geführt hätte, lässt sich nachträglich nicht belegen. Die dargestellten Unterrichtssituationen, in denen die Begründungen, Rechtfertigungen, Erklärungen und Folgerungen über die Reihung von Geschichten erfolgen, weisen allerdings darauf hin, dass narrative Denkmuster in Handlungssituationen bedeutungsvoller sind als paradigmatische. Insbesondere weisen die empirischen Daten auf eine hohe Performanz von narrativen Denkmustern in didaktischen Situationen hin. Zusammenfassend zeigt die Analyse der ausgewählten Interviewpassagen und der dazugehörigen Texten eine hohe Handlungswirksamkeit narrativer Denkmodi und narrativer Ordnungsweisen von Erfahrung. Dies scheint nicht zu überraschen, konnte doch dieser Zusammenhang bereits theoretisch nachgewiesen werden. Ebenfalls wenig überraschend ist die empirische Feststellung, dass sich der narrative Denkmodus mehrheitlich epagogischer Vergleiche bedient, während sich der paradigmatische Modus mehrheitlich auf apagogische Analogien beruft. Auch diese Aussage wurde bereits theoretisch erläutert. Der empirische Beleg für diese Aussa-
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gen zeigt sich in der Auswertung der Daten allerdings etwas differenzierter als dies die theoretisch-analytische These suggeriert. Grundsätzlich liessen sich auch narrativ-apagogische einerseits und paradigmatisch-epagogische Denkmuster andererseits nachweisen. Bei den paradigmatisch-epagogischen ausdifferenzierten Beispielen hätte man eines der beiden (Üben und Wettkämpfen, 10) ebenso als narrativepagogisch einordnen können. Die Reihung mit anderen Geschichten (Hütchenspiel, 7) deutet darauf hin, dass dieser Text ebenfalls einem narrativen Denkmodus zugeordnet werden kann. Jedenfalls konnte das Denkmuster des Lehrers bei dieser Unterrichtsbeschreibung nicht eindeutig identifiziert werden, was die empirische Beweiskraft reduziert. Anders sieht es beim Text Kollision (11) aus. Hier konnte das Denken des Lehrers relativ klar einem paradigmatischen Denkmodus zugewiesen werden. Jedenfalls deutet keine seiner Aussagen zu diesen Unterrichtsszenen auf einen anderen Denkmodus hin. Die vom Lehrer hergestellte Analogie weist aber auf eine epagogische Denkrichtung hin, was wiederum eher einem narrativen Denkmodus zuzuschreiben ist. Der nicht explizit geäusserte allgemeine Überbegriff der Sinnperspektive wird vom Lehrer – gerade weil er nicht explizit geäussert wird – allmählich von der Anschauung durch das Beispiel zum Allgemeinen des Besonderen entwickelt. Damit bildet diese Unterrichtsbeschreibung eine Ausnahme und differenziert die theoretische Feststellung empirisch aus. Weitere Ausnahmen lassen sich auch für den narrativen Denkmodus feststellen. Rein quantitativ (was in dieser qualitativen Untersuchung aber kaum relevant sein kann) überwiegen die narrativepagogischen Beispiele. Für die drei ausdifferenzierten narrativ-apagogischen Beispiele lassen sich wiederum unterschiedliche Tendenzen in der Denkweise der Lehrpersonen feststellen. So deutet der Text Abseitsstehen (16) in einer ersten Interpretation auf einen paradigmatischen Denkmodus hin. Der Lehrer ordnet sein Handeln dem Übergewicht der Schülerin unter. Erst in der repetitiven Analyse weisen seine Aussagen auf weitere Geschichten hin, was einen paradigmatischen Denkmodus ausschliesst. Ebenfalls deutet das Unterrichtsbeispiel Passen und Annehmen (18) zunächst auf einen paradigmatischen Denkmodus hin, der besser zur apagogischen Analogie passen würde. Erst die Feststellung, dass seine Argumentation keinesfalls schlüssig ist, sondern eher das Gegenteil beweist, führt in der Interpretation auf einen narrativen Denkmodus, der sein Handeln besser begründen kann. Einzig für den Text Abrollen rückwärts (17) lässt sich keine andere Interpretationsstrategie entwickeln. Diese Ausnahme zeigt idealtypisch, wie sich auch in einer apagogischen Analogie ein narrativer Denkmodus abbilden kann. Die Lehrerin entwickelt ihren allgemeinen Begriff (grosse, schlaksige Schülerinnen) aus einer konkreten Geschichte, die sie selbst erlebt hat. Damit weist diese Unterrichtsbeschreibung auch auf das Potenzial hin, dass im narrativen Modus des Denkens deduktiv von einem Allgemeinen auf das Besondere geschlossen werden kann und vice versa. Das Allgemeine äussert sich – und dies bestätigt dieses Beispiel – in der Form einer Geschichte. Dies ist ein Beleg
4.3 Zusammenfassung
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für eine narrative Theorie in der Didaktik, weil sich das Allgemeine offensichtlich nicht nur in Begriffen, sondern auch in Geschichten abbilden kann. Alle anderen Beispiele die in ihrer idealtypischen Kategorisierung auf einen narrativen Denkmodus hinweisen, bestätigen aber letztlich, dass auch empirisch ein enger Zusammenhang von narrativen Denkstrukturen und unterrichtlichem Handeln im Alltag nachgewiesen werden kann. In der Häufigkeit, in der die Beispiele des paradigmatischen Denkens ebenfalls auf einen narrativen Modus hindeuten, bestätigen sie die These, dass sich alltägliche Unterrichtshandlungen mehrheitlich auf einen narrativen Denkmodus beziehen. Die Unterrichtsbeschreibungen und ihre dokumentarische Interpretation bestätigen auch die narrative Alltagsthese von Bruner und anderen für Handlungen im Unterricht (Bruner 1997, 64; Gudmundsdottir 1995, 30). Demnach verschlüsseln Praktiker, die mit Leuten arbeiten, gewöhnlich ihre Erfahrung in eine narrative Form. Dass sich aus dieser Erkenntnis auch Forderungen an die Didaktik ableiten lassen, werde ich später erläutern. Abschliessen möchte ich diese Zusammenfassung mit einer Bemerkung in »eigener Sache«. Die hier in den Fallbeschreibungen dargelegte Typisierung erfolgte argumentativ im Modus der apagogischen Analogie. Die Analyse versuchte, die empirischen Unterrichtsbeschreibungen paradigmatisch einem Allgemeinen zuzuordnen. Entsprechend der dokumentarischen Methode entstanden diese allmählich im Wechsel zwischen den theoretisch entwickelten Kategorien und den empirisch festgelegten Fakten. Dass sich in der impliziten didaktischen Interpretation auch meine eigenen Unterrichtsgeschichten eingeschlichen haben, lässt sich aufgrund des Untersuchungsgegenstandes nicht leugnen. Diese Tatsache soll die dargestellten Erkenntnisse nicht abschwächen, sie muss aber im Sinn der Untersuchung transparent gemacht werden. Ich habe deshalb in der Interpretation immer wieder versucht, zwischen prospektiven didaktischen Schlüssen und empirischen Folgerungen zu unterscheiden. Auch wenn diese Unterscheidung in der bewusst gewählten narrativen Dichte der Unterrichtsgeschichten schwierig ist, gilt es doch auf diese analytische Differenz hinzuweisen.
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Wie ordnen Didaktiker unterschiedliche Erfahrungen?
Die oben dargestellte Differenzierung zwischen Denkform und Textform lässt sich im konkreten Fall nur selten idealtypisch aufrechterhalten. Letztlich bedingen sich Textform und Denkform oft gegenseitig. Die Textform – und nicht nur ihr Inhalt – bestimmt die Denkform des Lesers, und umgekehrt bedingt die Denkform das Schreiben des Autors. Damit ist eine Wirkungsthese von narrativen Texten sowohl im narrativen als auch im paradigmatischen Denkmodus formuliert. Dieser Wirkungsthese soll im folgenden komparierenden Teil der Untersuchung nachgegangen werden. Inwiefern vom Text auf die Denkform des Autors geschlossen werden kann, liess sich analytisch aufzeigen. Dass sich Text- und Denkform implizit beeinflussen, konnte durch die Analyse unterstrichen werden. Die Wirkung narrativer Texte im pädagogischen Kontext wird deshalb durch den Gebrauch in unterschiedlichem Kontext bestimmt. Ihre Wirkung oder perlokutionäre Performanz entsteht erst durch den Diskurs zwischen Leser und Text, d.h. mit dem Denkmodus, dem der Text zugeordnet werden kann. »Das Funktionieren von Texten (inklusive der nichtverbalen) kann erklärt werden, indem man nicht nur ihre generierende Kraft in Betracht zieht, sondern auch (und einige radikale Theorien tun dies ausschliesslich) die Rolle, die der Adressat spielt, sowie (zumeist) die Art und Weise, in der der Text diese Art interpretativer Zusammenarbeit vorsieht und lenkt« (Eco 2005, 50). Die narrative Analyse von Texten, die in irgendeiner Form von Didaktikern oder Sportpädagogen generiert wurden, muss demnach auch Rückschlüsse auf ihr Denken und damit auf ihre Ordnungsweisen von Erfahrung zulassen. Genau diese Frage soll im Folgenden untersucht werden, indem Texte von Sportwissenschaftlern in Bezug auf ihre narrativen Mittel analysiert werden. Daran anknüpfend kann, sofern man der Wirkungsthese folgt, der Frage nachgegangen werden, ob das Denken von Didaktikern in ihren Texten eher dem paradigmatischen oder dem narrativen Denkmodus folgt. Bevor diese Fragen im Detail am Textmaterial untersucht werden, soll zunächst das methodische Vorgehen erläutert werden (5.1). Grundsätzlich wurde zum methodischen Vorgehen bereits in der Analyse der Textform (2.) vieles dargestellt, was in diesem forschungsmethodologischen Kontext von Bedeutung ist. Ich werde deshalb zunächst nur auf den Diskurs zwischen Leser und Text eingehen und anschliessend die Methode der narrativen Textanalyse erläutern. In 5.2 kommen die ausgewählten Texte zur Darstellung, die die vergleichende Analyse und narrative Auswertung ermöglichen. Für den Vergleich der narrativen Texte bediene ich mich einer Typisierungsmatrix, die sich im Wesentlichen an der bereits in der empirischen Untersuchung dargestellten Logik orientiert. Diese Typologie soll helfen, die dargestellten Texte besser in den Kontext der Untersuchung zu R. Messmer, Ordnungen der Alltagserfahrung, DOI 10.1007/978-3-531-92782-4_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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ordnen und den Vergleich zu den empirischen Daten herzustellen. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einer kurzen Zusammenfassung der Erkenntnisse aus dieser narrativen Vergleichsanalyse (5.3). 5.1 Fragen und Methoden der narrativen Textanalyse Vergleichbar mit dem Methodenbeschrieb für den empirischen Teil gilt es, auch für den analytischen Teil die verwendeten Methoden und die dem Untersuchungsmaterial angepasste Fragestellung zu erläutern. Meine Untersuchungsmethode kann als vergleichende narrative Textanalyse bezeichnet werden, die im Wesentlichen auf einer narrativen Grammatik beruht, die bereits in der Analyse der Textform beschrieben worden ist. Im Vergleich verschiedener Texte gehe ich von bestimmten Alltagsphänomenen des Unterrichts in narrativ vermittelten Texten aus und analysiere sie hinsichtlich ihrer didaktische Wirksamkeit. Grundsätzlich ist dies eine absurde Strategie, lässt sich doch aus einer rein sprachlich geformten Wirklichkeit keine Wirksamkeit ableiten. Mein Anspruch ist entsprechend bescheidener. In der Analyse der potenziellen und fiktiven Diskurse zwischen den Texten der Didaktiker und dem Leser lässt sich analytisch ein Wirkungsanspruch ableiten, der sich hauptsächlich in der Form der Texte äussert. Grundsätzlich werden dabei zwei Ebenen des Diskurses unterschieden. Zum einen steht der primäre Diskurs zwischen Leser und Text zur Diskussion, zum anderen der sekundäre Diskurs über Sportunterricht. Dabei handelt es sich um zwei verschiedene Formen des Diskurses. Der Diskurs zwischen Leser und Text unterscheidet sich kategorial vom Diskurs zwischen Repräsentationsformen und Konzepten, wie er z.B. in der Sportpädagogik geführt wird. Beim ersten kann man sogar bezweifeln, ob es sich um einen eigentlichen Diskurs handelt61. Beiden Diskursen ist jedoch die Fokussierung auf das Narrative gemeinsam. Deshalb soll in dieser Analyse der bereits diskutierte Alltagsdiskurs in der Sportpädagogik fortgesetzt werden, allerdings in Bezug auf narrative Texte und in Anschluss an die empirische Untersuchung. Wenn in narrativen Texten das Potenzial für mentale didaktische Geschichten gelegt wird, fordern sie zur Interpretation auf. Im Zentrum dieser Auslegung steht das Verhältnis von Autor und Leser, Text und Leser, aber auch Text und Autor. Letztlich geht es um die Frage, wie durch den Text Anschluss an eine weitere Wirklichkeit, die im Text nicht dargestellt ist, gefunden werden kann. Oder wie es Schapp formuliert: «[...] dass wir irgendwie Anschluss an diese Welt, wie sie nun einmal für den Leser da ist, finden müssen» (2004, 7). Damit wird der Diskurs zwi-
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Im Gegensatz zu Link (2005), der in Anlehnung an Foucault einen Diskurs zwischen PersonenSubjekten ablehnt, teile ich die Auffassung von Eco, dass ein Diskurs – mit Betonung auf auch – zwischen Leser und Text und damit ein Diskurs zwischen Personen ausgehandelt werden kann.
5.1 Fragen und Methoden der narrativen Textanalyse
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schen Leser und Autor angesprochen, den man auch als Diskurs in einem engeren Sinn verstehen kann. »Literarische Werke laden uns ein, sie frei zu interpretieren, insofern sie uns einen Diskurs mit mehr als einer Lesart vorsetzen und uns mit den Mehrdeutigkeiten sowohl der Sprache als auch des Lebens konfrontieren« (Eco 2006, 13). Auch wenn der Leser üblicherweise vom Autor nicht direkt zu einer Replik aufgefordert wird, liegt es doch im Ermessen des Autors, die Mitarbeit im Denken zu fördern oder in geschlossenen Texten auszuschliessen. Sowohl die inhaltliche als auch die methodische Wahl gilt es zunächst zu begründen. Die Wahl der Alltagsorientierung als Diskursbeispiel, das untersucht werden soll, lässt sich zusammenfassend mehrfach begründen. Eine narrative Textanalyse lediglich über den Begriff der Sportpädagogik wäre wohl wenig überzeugend, zumindest was ihren antizipierten Ertrag betrifft. Deshalb steht im Folgenden die Alltagsorientierung in narrativen Texten ausgewählter Autoren zur Diskussion. Zudem scheint mir der Diskurs um eine Alltagsorientierung in der Sportpädagogik zunehmend im Zerfall begriffen. In Zeiten, als Sport sich als Unterrichtsfach hauptsächlich um seine Legitimierung kümmern muss und andere Fächer sich mehrheitlich an standardisierten Leistungsmessungen orientieren, bleibt der Alltag aussen vor. »Dabei entfalten Narrative und Figuren ihre epistemologische Kraft oftmals gerade in jenen Zonen, in denen ein Diskurs auseinander zu brechen droht oder gar aussetzt [...]« (Moser 2006, 12). Die folgende Textanalyse will somit zwei Diskursebenen gleichzeitig untersuchen. Einmal stehen einzelne narrative Texte ausgewählter Autoren zur Diskussion. Hier soll in einer textstrukturellen Analyse der Signifikant untersucht und interpretiert werden. Diese »Narrationsanalyse« lässt sich nur bedingt von einer inhaltlichen Interpretation der Texte trennen. Die zweite Diskursebene betrifft das über eine inhaltliche Interpretation der Texte hinausgehende Signifikat des Diskurses und lässt sich, wie bereits begründet, mit dem Begriff des Alltagsbezugs bezeichnen. Vielleicht ist die zweite Diskursebene in ihrer inhaltlichen Dimension von sekundärer Bedeutung, lässt sich doch bereits aus den Narrativen selbst einen Alltagsbezug ableiten. In diesem Sinne können die beiden Diskursebenen analytisch auch kaum getrennt werden, weil im Signifikant selbst bereits der inhaltliche Diskurs festgemacht ist. Das Signifikat erhält damit eine nachrangige Bedeutung, zentral geht es um die Narrative und ihre Anschlüsse zum Alltag. Der narrativen Textanalyse liegt die Methode der »Narrative Inquiry« zugrunde, die von Clandinin/Connelly (2000) beschrieben worden ist. Diese Methode steht in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus und dessen Adaptation in der Erziehungwissenschaft. Clandinin/Connelly beziehen sich zusätzlich auf die bereits geschilderten narrativen Strömungen in der Ethnologie (Geertz). Die Narrative Inquiry bietet sich für die vorliegende Untersuchung als attraktive Alternative zu linguistischen Methoden der Narrationsanalyse an, da sie ihren Forschungsfokus auf pädagogische Themen und weniger auf eine textinterpretative Linguistik legt.
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Einzelne Schritte und die wesentlichen Aspekte dieser Forschungsmethode wurden bereits im zweiten Kapitel ausführlich beschrieben. Grundsätzlich geht es in diesem Teil der Untersuchung allerdings weniger um die Konstruktion narrativer Texte als vielmehr um narrative Parameter und Indikatoren, die sich in den ausgewählten Texten nachweisen lassen. Aufgrund dieser Indikatoren lassen sich Schlüsse auf die intendierte Lesart des Textes, die wahrscheinliche Denkform der Autoren und entsprechend auf die Ordnungsweise der im Text dargestellten Erfahrung ziehen. Die Auswahl der Texte und der Konzepte lässt sich empirisch nicht begründen, hermeneutisch stehen sie m.E. aber repräsentativ für unterschiedliche Tendenzen, wenn nicht sogar »Pädagogiken« in der Sportpädagogik. Die Auswahl erfolgte insbesondere in Bezug auf das Textmaterial, das zumindest zwei Kriterien entsprechen musste. Ein Kriterium betrifft die Form, die mindestens ansatzweise einer Narration entsprechen musste. Das zweite Kriterium bezieht sich auf das Signifkat, das ebenfalls in Grundzügen mit Sportunterricht zu tun haben musste. Allen Autoren gemeinsam ist die Idee, dass sie Sportunterricht narrativ beschreibend zu verstehen suchen. Als methodische Hilfen lassen sich hinsichtlich der bereits im empirischen Teil ermittelten Differenzstrukturen des Denkens Analogien zur Textstruktur herleiten. So deutet die Textstruktur explizit auf den Denkmodus hin. Offene Texte (Fabula) weisen eher auf einen narrativen Modus des Denkens hin, geschlossene Texte (Antifabula) auf einen paradigmatischen Modus. Mit Denkmodus ist hier allerdings nicht der Denkmodus des Autors gemeint, sondern das Potential des Textes, diesen Denkmodus dem Leser anzubieten, wenn nicht sogar aufzudrängen. Dieser Denkmodus wird durch mögliche Lesarten angezeigt, durch die der Leser dazu veranlasst wird, einem Text das zu entnehmen, was der Autor ihm zu sagen gewillt ist. Die Textgenese – sofern überhaupt ersichtlich – und die Interpretation deuten eher auf die Denkrichtung und Art der kognitiven Analogie hin, die der Text (apagogisch resp. epagogisch) zulässt. Auch hier bildet der Text vielleicht die Denkmuster des Autors ab. Für die Analyse wesentlicher erscheinen allerdings die Möglichkeiten, die der Text einem empirischen Leser anbietet, eigene Erfahrungen einzuordnen und zu verändern. In diesem Sinn lassen sich die bereits im empirischen Teil entwickelten Typisierungen auch auf diese abschliessende Analyse übertragen. Während im empirischen Teil Denkformen differenziert wurden, gilt der Vergleich hier den unterschiedlichen Lesarten. Damit sind die Differenzindikatoren weniger an inhaltliche Aussagen oder Textbausteine gebunden als vielmehr an textstrukturelle Unterschiede. Der Vergleich soll wiederum in einer Matrix veranschaulicht werden.
5.2 Vergleich der didaktischen und narrativen Texte
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Tab. 4: Typisierungsmatrix 2
5.2 Vergleich der didaktischen und narrativen Texte Der Gang von Geschichte zu Geschichte, der mit den empirischen Daten belegt werden konnte, erinnert an die von Eco eingebrachte Differenz zwischen Interpretation und freiem Gebrauch von Texten. »Wir müssen also den freien Gebrauch eines Textes, der als imaginärer Stimulus aufzufassen ist, von der Interpretation eines offenen Textes unterscheiden« (Eco 1998, 72). Die Unterscheidung von freiem Gebrauch und kritischer Interpretation von Texten, die Umberto Eco vertritt, ist umstritten. So
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plädiert Rorty dafür, die Unterscheidung ganz fallen zu lassen. »Doch was uns anregt und überzeugt, hängt von jeweiligen Absichten und Bedürfnissen ab. Insofern plädiere ich dafür, die Distinktion zwischen Gebrauchen und Interpretieren einfach fallenzulassen, um nur zwischen den Nutzungsmöglichkeiten für verschiedene Menschen mit abweichenden Motiven zu unterscheiden« (Rorty 1996, 116). Der Einwand des Neopragmatisten Rorty ist nicht von der Hand zu weisen und trotzdem möchte ich an dieser Unterscheidung für den folgenden Teil der Untersuchung festhalten62. Ob ein Text für den freien Gebrauch oder lediglich zur Interpretation genutzt werden kann, wird wesentlich vom Autor bestimmt. Die Absicht pädagogischer Texte lässt es nicht zu, die intentio auctoris fallen zu lassen und sich lediglich auf die intentio lectoris zu konzentrieren. Aus einer ästhetischen Perspektive kann diese Nicht-Unterscheidung durchaus Sinn machen. Pädagogische Texte werden aber in erster Linie nicht aus einer ästhetischen Motivation geschrieben. Als Unterrichtsbeschreibungen verfolgen sie die Absicht, Unterricht zu verändern und zum didaktischen Denken anzuregen. Dabei kann der Text so gestaltet sein, dass es für den Leser keine Offenheit gibt, eine eigene Fabel zu entdecken. Der Text kann dem Leser aber auch den notwendigen Spielraum zur Verfügung stellen, damit er eine eigene intentio lectoris entdecken kann. Dieser Gebrauch müsste allerdings vom Leser in erster Linie am Text selbst zu demonstrieren sein. Ob man als Leser deshalb wieder auf die intentio auctoris zurückgreift, ist jedem selbst überlassen63. In diesem Sinne erweisen sich geschlossene Texte als resistenter für einen freien Gebrauch, da sie »für einen genau bestimmten Modell-Leser und in der Absicht geschaffen worden sind, dessen Mitarbeit repressiv zu lenken und zu überwachen [...]« (ebd. 74). So kann man zwar ein Kursbuch als Krimi gebrauchen, aber der Nutzen wäre wohl bescheiden. Deshalb sind exemplarische Beispiele oft als geschlossene Texte angelegt, die nur eine (legitime) Interpretation in Bezug auf das Konzept oder auf den Begriff offen lassen. Im Gegensatz dazu stehen Erzählungen als offene Texte, deren Interpretation weder durch den Autor noch durch den Text selbst vorgegeben ist und für den Leser als Option offen gelassen werden. Für Eco ist damit auch die Performanz solcher Texte gegeben. »Ist der Text weniger träge und ist seine Aufforderung zur Mitarbeit weniger liberal, als er glauben machen will? Ähnelt er eher einer Schachtel mit Spielzeug aus vorgefertigten Elementen – wie zum Beispiel das sogenannte ›Playmobil‹ –, welche denjenigen, der damit spielt, dazu anhält, ein ganz bestimmtes Endprodukt herzustellen, ohne dabei irgendwelche Irrtümer oder Abweichungen zu gestatten, oder aber entspricht er dem ›Lego‹,
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Man kann Ecos Unterscheidung zwischen Gebrauch und Interpretation natürlich auch als Begriffsklauberei bezeichnen (vgl. Müller 2000, 140). Für die vorliegende Untersuchung scheint mir aber die Differenzierung von entscheidender Bedeutung. Zum schwierigen Verhältnis der intentio auctoris und der intentio operis in der Rezension von Umberto Eco vgl. Hans-Harald Müller 2000.
5.2 Vergleich der didaktischen und narrativen Texte
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mit dem beliebig viele und verschiedene Formen gebaut werden können?« (Eco 1998, 68). Je offener ein Text formuliert ist, desto grösser wird die Chance, die Nutzungsmöglichkeiten des Textes zu erweitern. Der empirische Leser übernimmt natürlich auch eine »philologische Verpflichtung«, um sich als Modell-Leser zu verwirklichen. Wenn der Leser aber durch die Textstruktur derart in die Pflicht genommen wird, dass für seinen eigenen Gebrauch des Textes kein Spielraum offen gelassen wird, dann muss man korrekterweise auch bei Beispielen im narrativen Modus von Interpretieren sprechen. Vergleichbar mit den Beispielen im paradigmatischen Denkmodus wird der Text einer allgemeinen Aussage untergeordnet, die dem Leser lediglich eine einzige Interpretation offen lässt. Vielleicht würde man in diesem Fall besser von kritischem Gebrauch statt von kritischer Interpretation sprechen. Im Gang von Geschichte zu Geschichte schränkt die narrative Struktur der Beispiele den freien Gebrauch zwar ein, lässt aber dem Leser durch das autonome Aneinanderreihen von Beispielen mehr offen, als lediglich kritisch zu interpretieren. Die folgende Analyse will demnach nicht ausgewählte narrative und didaktische Texte interpretieren, um einem hermeneutischen Zugang gerecht zu werden, sondern vielmehr ihre Lesarten darzustellen versuchen. Lesarten der Narrative, die in der Pädagogik allgemein und in der Sportpädagogik im Speziellen aus didaktischen, aber auch anderen Anlässen publiziert werden. In Anlehnung an Paschen (2002) kann man auch von »Pädagogiken« sprechen, die sich narrativ repräsentieren. Der Untersuchungsgegenstand in diesem analytischen Teil konstituiert sich deshalb einerseits narrativ, andererseits aber nicht als Text, sondern als Fabel. Die folgenden Unterkapitel (5.2.1 bis 5.2.4) richten sich in der Gliederung, resp. der Typisierung am empirischen Teil aus. Dies soll insbesondere den direkten Vergleich zwischen dem Denken der Lehrer und dem Schreiben der Didaktiker vereinfachen. Dabei wird in diesen Narrationsanalysen mehr die Differenz von Antifabulisten und Fabulisten zum Tragen kommen und weniger die Differenz zwischen den Denkformen. Es handelt sich in diesem Sinn nicht um die unterschiedlichen Denkrichtungen der Autoren, sondern um unterschiedliche Lesarten von Narrativen, die die Texte zulassen. Dass aus diesen Texten auf die unterschiedlichen Denkmodi geschlossen werden kann, versteht sich von selbst. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einer Zusammenfassung der textanalytischen Erkenntnisse (5.3) 5.2.1 Interpretation von Musterbeispielen (paradigmatisch-apagogisch) Die Textstruktur verweist indirekt auf die mögliche Lesart in einem paradigmatischen oder narrativen Denkmodus. In diesem Sinn bietet sich die folgende Geschichte für einen paradigmatischen Denkstil an, weil sie sich in ihrer narrativen
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Konstruktion nur für eine relativ enge Interpretation eignet. Als Beispiel habe ich einen Text von Eckart Balz gewählt. Balz’ Bemühungen um Schulsport-Geschichten beginnen nach eigenen Angaben (1998, 9) mit Schilderungen aus dem Bewegungsleben in Schullandheimen. Damit stehen seine Geschichten sowohl inhaltlich als auch historisch in einer reformpädagogischen Tradition. Diese Geschichten erzählen vom Anderen, vom Aussergewöhnlichen, ohne das Alltägliche in Frage zu stellen. Schullandheime wurden mit der Absicht gegründet, dass nebst dem Normalbetrieb zumindest einmal pro Jahr das Aussergewöhnliche stattfinden konnte. Reformpädagogische Berichte aus diesen Heimen oder Internaten erhalten deshalb die Funktion, dieses Spezielle exemplarisch zu beschreiben, damit es u.U. auf die Regelschule in den Regelklassen wirken kann. Damit bedient sich Balz eines Genres, das seit Beginn der Reformpädagogik bis heute von unterschiedlichsten Autoren64 benutzt worden ist. Diese Geschichten handeln von Unterricht, der durch eine aussergewöhnliche Leistung oder ein aussergewöhnliches Ereignis geprägt ist. So auch das folgende Beispiel. Das Laufabzeichen (19) In den zurückliegenden Stunden waren Ausdauerlaufen und Vorbereitungen auf das Laufabzeichen unser Thema. Für viele Schülerinnen und Schüler ist das reizvoll gewesen, für manche eher etwas langweilig, für B. ganz offensichtlich vollkommen sinnlos. Entweder stellte er sich abseits, um seinen Widerwillen der Sache gegenüber zu bekunden, oder er versuchte heimlich, andere Dinge zu treiben. Manchmal trottete er auch bloß so mit, weil sein Freund M. mitlief. Keine der Einladungen und Aufforderungen konnte ihm die Sache jedoch schmackhaft machen. Die heutige Doppelstunde ist nun dem Erwerb des Laufabzeichens vorbehalten. Nach dem Laufen besteht die Möglichkeit, Badminton oder Tischtennis zu spielen. Einige Schüler nehmen sich deshalb nur 15 Minuten Laufzeit vor, für die meisten ist die Herausforderung jedoch so groß, dass sie eine längere Zeit (ohne Laufunterbrechung) schaffen wollen. Wir besprechen und notieren, welche Stufe des Laufabzeichens sie bereits absolviert haben und was sie sich für diesmal vornehmen. Viele Schüler erhöhen von 15 auf 30 Minuten oder sogar von 30 auf 60. Als die Frage an B. geht, der bisher noch keine Laufzeit stehen hat, sagt er lapidar (ohne aufzuschauen und die Verwunderung in unseren Gesichtern abzulesen): »Zwei Stunden.« Ob er sich das auch richtig überlegt habe, wollen wir wissen. »Ja - natürlich!«, lautet prompt die Antwort. Fünf Minuten später geht es los. Wir haben eine Rundstrecke von etwas mehr als zwei Kilometern gewählt, die auf Feld- und Gehwegen in weitem Bogen um die Schule herumführt. In gemächlichem Tempo laufen alle Schülerinnen und Schüler die erste Runde gemeinsam. Danach hören diejenigen auf, die ihr Ziel erreicht haben; für die anderen geht es weiter. Auch B. ist während der nächsten Runden dabei, trabt neben M. hinter der ständig kleiner werdenden Läufergruppe her.
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Als Beispiele sind zu nennen: Célestin Freinet, Janusz Korczak, Alexander Neill und moderner: Wullf Wallrabenstein oder Hartmut von Hentig, auf den sich Balz explizit beruft.
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Nach einer knappen Stunde merkt man ihm die zunehmende Erschöpfung an. Zwischendurch trinkt B. ein wenig und legt am Erdbeerfeld eine kleine Verschnaufpause ein ... Dann rappelt er sich wieder auf und läuft weiter. Kurze Zeit später steigt M. aus, allerdings ohne B. überreden zu können, jetzt auch Schluss zu machen. B.läuft und läuft; er fällt zwar zwischendurch noch das eine oder andere Mal ins Gehen zurück, aber nach zwei Stunden hat er es tatsächlich geschafft. Wortlos begibt sich B. zur Umkleidekabine. In seinem flüchtig zugeworfenen Blick sind Freude und Selbstgewissheit zu erkennen. (Balz 1998, 10)
Balz’ Geschichte fällt auf, weil sie zwar eine irritierende Situation schildert, sich aber in ihrem Plot positiv wendet. Im Gegensatz zu Scherler und Schierz beschreibt er einen Glücksfall und keine Unglückssituation. Das Geschehen ändert sich, zumindest aus der Perspektive des Sportpädagogen, zum Guten. Damit lässt sich im Vergleich zu anderen Texten ein wesentlicher Unterschied festhalten. Zunächst zur inhaltlichen Analyse des narrativen Textes. Als Personen treten implizit die Schüler einer 6. Gesamtschulklasse auf, explizit der Lehrer und die Schüler M. und B. Schüler B. ist der eigentliche Held der Geschichte, weil er unerwartet zwei Stunden läuft und dafür ein silbernes Laufabzeichen erhält. Die Handlungen des Schülers (Laufen) sind klar, weniger deutlich dargestellt sind hingegen die Handlungen des Lehrers. Der Kontext wird nur marginal erwähnt, offenbar haben sich die Schüler mit Ausdauertraining auf den Erwerb des Laufabzeichens (DLV) vorbereitet. Einiges bleibt offen, so ist z.B. unklar, wie ein Schüler in einer Doppelstunde von 90 Minuten, zwei Stunden (120 Min.) laufen kann. Hier wurde die ordentliche Unterrichtszeit ganz klar überschritten oder die Schule kennt andere, unübliche Lektionszeiten. Zumindest unterlässt er es, dem Leser eine entscheidende akzidentielle Information mitzuteilen. Der eigentliche Widerspruch, der auch durch den Text explizit angelegt ist, betrifft die überraschende Ausdauerleistung von B. Auf widerwilliges Training in den vorangegangenen Unterrichtsstunden folgt die unerhörte Ankündigung von B, dass er zwei Stunden laufen wolle. Dass er dies auch schafft, fördert die Dramaturgie des Textes. Der Handlungsspielraum der handelnden Personen ist beschränkt, und der Text wirkt relativ geschlossen. Balz überlässt es dem Leser, zu spekulieren, weshalb die Handlungen des Lehrers zum überraschenden Effort des Schülers führen. Der Text als solches lässt deshalb einen freien Gebrauch aus sich selbst heraus nicht zu. Aufgrund des Plots lässt sich vielleicht die Absicht des Autors erahnen. Wir besprechen und notieren, welche Stufe des Laufabzeichens sie bereits absolviert haben und was sie sich für diesmal vornehmen. Viele Schüler erhöhen von 15 auf 30 Minuten oder sogar von 30 auf 60. Der Lehrer ist damit der heimliche Held der Geschichte, denn auch andere erhöhen aufgrund des Gesprächs ihre Lauflimite. Wahrscheinlich will Balz dem Leser zeigen, dass ein guter Lehrer unmotivierte Schüler dazu bewegen kann, an einem Dauerlauf teilzunehmen. Trotzdem bleibt Balz dem Leser schuldig, zu erläutern, was genau der Lehrer in dieser »Besprechung« äussert und stellt lediglich die Folgen dar. Damit verschlüsselt der Text mehr als er preisgibt, und für die Interpretation verschiebt
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sich die Fragestellung auf das Zeigeinteresse des Autors. Selbstverständlich könnte man nach Ursachen und möglichen Äusserungen des Lehrers suchen, aber eine solche Interpretationsstrategie wäre rein spekulativ. Handlungen, die zum Effort führen, wären lediglich Vermutungen, können aber nicht aus dem Text geschlossen werden. Der Text gibt keinerlei Hinweise darauf, inwiefern es dem Lehrer gelungen ist, die Limitenerhöhungen zu bewirken. Dieses erwartet aber der Leser, weil er vom Autor wissen will, was man in vergleichbaren Situationen machen soll, damit es zu einer ähnlich überraschenden Wende kommt. In Bezug auf die Zeitstruktur ist der Text ist als Chronik angelegt, d.h. das Geschehen wird in der effektiven Zeitfolge dargestellt, auf Rückblenden wird verzichtet. Das Vorher wird ansatzweise geschildert, indem auf den Widerwillen einiger Schüler gegenüber dem Ausdauertraining hingewiesen wird. Das Nachher wird bruchstückhaft und höchst spekulativ aufgegriffen. Wortlos begibt sich B. zur Umkleidekabine. In seinem flüchtig zugeworfenen Blick sind Freude und Selbstgewissheit zu erkennen.Wie kann man aus einem Blick Freude und Selbstgewissheit erkennen? Das auf das eigentliche Ereignis Folgende betrifft demnach weniger die Konsequenzen des Tuns, sondern beinhaltet bereits eine Interpretation des Autors. Vielleicht war es auch Spott oder Genugtuung, es dem Lehrer »gezeigt« zu haben, was im Blick des Schülers zu erkennen war. Diese Interpretation ist wiederum spekulativ und lässt sich nicht aus dem Text erschliessen. Die Erzählung kann demnach als geschlossener Text bezeichnet werden, weil wesentliche inhaltliche Konstitutive fehlen. Deutungen des Lesers bleiben spekulativ und können nicht mit der intentio operis begründet werden. Es werden nur die Personen, der Kontext und die Folgen beschrieben. Im Gegensatz zu Molli und Trixi (25) fehlt im Text Laufabzeichen (19) ein wichtiges narratives Konstitutiv, weshalb man ihn auch als Episode bezeichnen kann. Die Handlungen des Lehrers werden nur angedeutet und ein Zusammenhang zu den Folgen ist nicht ersichtlich. Damit kann der äusserlich narrativen Form ein wesentliches Defizit zugeschrieben werden, das sich auch auf die argumentative und inhaltliche Ebene überträgt. Als geschlossener Text wird die Geschichte für den freien Gebrauch resistent, zumindest für den Leser, weniger für die Absichten des Autors. Die vielen Lücken überraschen, weil der Text offensichtlich als PalimpsestGeschichte angelegt ist. Balz ist sowohl Lehrer als auch Autor. Ähnlich wie bei Funke werden positive eigene Erfahrungen in eine vermeintlich fiktive Erzählung gelegt, um dem Leser eine Fabel mitzuteilen. Balz wüsste eigentlich, was er gesagt hat, vermeidet aber die direkte Rede, weil seine intentio auctoris eine andere ist. Die Palimpsest-Geschichte deutet damit auf eine apagogische Analogie mit der eigenen Geschichte hin, die der Text anbietet. In seiner episodenhaften und geschlossenen Darstellung kann der Text als Musterbeispiel oder als Exemplarisches Beispiel bezeichnet werden. Der Text steht gleichwohl für den Autor exemplarisch, wenn auch nicht im Buck’schen Sinn. Balz
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sieht im Blick des Schülers Freude und Selbstgewissheit. Nimmt man diese Aussage als Schlüsselsatz, so zeigt der Satz offensichtlich die intentio auctoris, und damit die Fabel der Geschichte. Balz will auf die handlungsorientierende Bedeutung dieser Geschichte hinweisen (1998, 13) ohne gleich eine Handlungsanleitung zu liefern. Mit diesem und anderen narrativen Texten berichtet Balz nicht über kritische, sondern – aus seiner Perspektive – bedeutsame Situationen. »Es geht um eine handlungsorientierte, subjektive Erkenntnisweise und eine lebendige, narrative Mitteilungsart« (1987, 134). Balz weist auf Möglichkeiten des Unterrichtens hin, ohne ihren Entstehungszusammenhang darzustellen. Weil die eigentlichen Handlungen des Lehrers nicht geschildert werden, bleiben die Handlungen des Schülers, die mit »handlungsorientiert« gemeint sein können. Aber was will Balz mit dem Text mitteilen? Wo liegt die Fabel der Geschichte? Hier lohnt es sich, den Text in seinem Plot zu verändern65. Damit wird die Aussage unter Umständen gedreht, aber gerade dadurch kann die Absicht des Autors vielleicht deutlicher aufgezeigt werden. Schüler B. läuft zwei Stunden und erhält das silberne Laufabzeichen. Ich ersetze Schüler B. durch Schüler C., der gar nicht läuft, sondern nach kurzer Zeit aufgibt. In gemächlichem Tempo laufen alle Schülerinnen und Schüler die erste Runde gemeinsam. Ausser C., der nach ca. 500 Metern die »Abkürzung« durch das Erdbeerfeld wählt, die direkt zur Schule zurückführt. In dieser Version führen die gleichen Anweisungen des Lehrers zu einem anderen Ende. Ich denke, dass diese Version keinesfalls unwahrscheinlicher ist als Balz’ Version. Sie zeigt eine weitere, nicht unerwartete, aber trotzdem überraschende Folge der Handlungen des Lehrer. Was zeigen diese beiden Varianten im Vergleich? Wenn die Handlungen des Lehrers narrativ in keiner Kausalität zu den Folgen stehen – und genau dies zeigt die zweite Version, die genauso plausibel ist – so handelt es sich bei diesem Teil der Erzählung um Makulatur. Die Anweisungen und Handlungen des Lehrers sind nicht von entscheidender Bedeutung. Die eigentliche Fabel steckt lediglich in den Folgen, namentlich im 2-Stunden-Lauf des Schülers B. Balz zeigt dem Leser mit dieser Geschichte zwar keine Feiertagsbegriffe, aber eine eigentliche Feiertagsgeschichte. Der Alltag von Sportunterricht bleibt aussen vor. Diese inhaltliche Deutung weist auf ein paradigmatisches Denken hin, das dem Leser durch die Lektüre des Textes aufgedrängt wird. Damit scheint auch geklärt, ob Balz’ Text in seiner Lesart eher als Fabula oder als Anti-Fabula zu charakterisieren ist. Obwohl die Geschichte literarisch als gelungen bezeichnet werden kann, ist der Text für einen narrativen Erkenntnisgewinn ungeeignet. Der Text schafft lediglich den normativen Druck, dass Lauftraining auch mit unmotivierten Schülern gelingen kann. Selbst der didaktische Zeigecharakter des Textes ist gering. Die Lesart im Sinne Bruners als anti-fabulist-Text zu be-
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Die Grounded Theorie würde von Flip-Flop-Technik sprechen (Strauss/Corbin 1996, 64f).
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zeichnen, fällt allerdings auch schwer. Der Text lässt sich keiner Regel unterordnen, ist auch kaum geeignet, um apagogisch den Beweis zu erbringen, dass eine allgemeine Aussage auch im Einzelnen Sinn macht. Dazu fehlt dem Leser die allgemeine Aussage oder sie muss zu spekulativ in den Text interpretiert werden. Die Fabel enthält lediglich die normative Aussage des Richtigen. Trotzdem fördert der Text einen paradigmatischen Denkmodus, weil er auf Balz’ eigenen guten Unterricht hinweist. Der narrative Text lässt sich somit einem normativen Paradigma zuordnen, das man als »guten Unterricht« bezeichnen kann. Für dieses Argument spricht auch die Tatsache, dass es sich beim Laufabzeichen (19) um ein subjektives Erlebnis von Balz handelt. Die Subsumption einer eigenen Geschichte unter einen didaktischen narrativen Text deutet auf einen apagogischen Denkprozess hin, der sich auch einem empirischen Leser anbietet. Balz ordnet seine eigene Geschichte Laufabzeichen (19) einem Allgemeinen zu, das sich hier beschreibend nur als »guter Unterricht« bezeichnen lässt. Um dieses Normativ als Allgemeines zu darzustellen, drängt sich eine narrative Darstellungsweise auf, auch wenn diese textanalytisch als Antifabula bezeichnet werden kann. Denn sowohl formal als auch inhaltlich fehlen dem Text wesentliche Aspekte, um sie in dieser Lesart den fabulist-Texten zuzuordnen. Hier werden subjektive didaktische Fragen aufgegriffen, aber keine Fragen beantwortet. Relevante Fragen in Bezug auf den Alltag, die aus einem offenen narrativen Text generiert werden könnten. Damit ist zumindest textstrukturell kein Alltagsbezug hergestellt. Der Text steht offensichtlich für eine normative Botschaft (Fabel), deren Aussage sich mit dem Slogan Handlungsfähigkeit für und durch Sport zusammenfassen lässt. »Der geschilderte Handlungsverlauf ermöglicht die Auseinandersetzung mit Handlungsalternativen, kann auch eine gewisse Orientierung für das eigene Handeln geben; er wird aber keinesfalls eine direkt handlungsleitende Funktion einnehmen, da pädagogische Situationen und Erfahrungen nicht einfach auf andere Fälle übertragbar sind« (Balz, 1998, 13). Das klingt ein wenig nach Ausrede, denn die Begründung, weshalb Schüler B. plötzlich dazu kommt, zwei Stunden zu joggen, bleibt Balz dem Leser schuldig. Vielleicht lässt sich dies auch nur schwer ermitteln, aber die narrative Analyse weist deutlich auf den Lehrer hin. Dessen Handlungen und Äusserungen sollen dazu beigetragen haben, dass B. nun plötzlich läuft. Dies will uns die Geschichte wohl auch zeigen. Der Autor gibt nicht wirklich Ratschläge, wie man in vergleichbaren Situationen handeln könnte und verweist auf die Singularität pädagogischer Situationen. Trotzdem bleibt für den Leser die Illusion des Richtigen. »Weil aber die Moral zu stimmen scheint, sind Ratgeber im Kern immun gegenüber abweichenden Erfahrungen und so erstaunlich überlebensfähig. Sie geben nicht wirklich ›Rat‹, nämlich eine praktikable Begründung, wie zwischen verschiedenen Alternativen die beste gewählt werden kann, aber sie offerieren die Illusion des Richtigen« (Oelkers 1995, 131). Der Text vermittelt die Illusion des Richtigen, ohne
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zu zeigen, wie es dazu kommt. Exemplarisch steht der Text für das normative Paradigma des richtigen Sportunterrichts, ohne Anspruch auf dessen Anleitung. Mit der Handlungsorientierung äussert sich Balz’ Alltagsbezug, der – vergleichbar mit Miethling – mit der Schülerorientierung auf einen von drei wesentlichen Aspekten der Alltagsorientierung (Lange 1998, 33) eingeht. Damit wird durch die Form der Texte kein expliziter Alltagsbezug hergestellt, aber vielleicht ergibt sich eine Alltagsorientierung durch die Argumente. In einem 1987 veröffentlichten Text führt Balz drei unterschiedliche Texte ein. Einer dieser Texte ist explizit ein literarischer (Spoerl: Die Feuerzangenbowle), während die anderen beiden aus der Feder von Sportpädagogen stammen (Funke, Balz). Die literarische Episode zeigt einen kaum mustergültigen Sportunterricht und die dramaturgische Wende lässt sich kaum auf die Handlungen des Lehrers zurückführen. Die beiden anderen Beispiele zeigen eher einen musterhaften Unterricht und diese schildern auch – nicht unerwartet – den Lehrer als didaktischen Helden. Diese beiden Schulsportgeschichten sollen demnach auch Schulsportwirklichkeit von heute darstellen (1987, 132) und »dem Leser [wird] ein subjektives, pointiertes Bild von Wirklichkeit« geben. Hier liegt m.E. ein bereits erwähnter kategorialer Unterschied zu anderen narrativen Texten. Die Texte schildern exemplarisch, wie Sportunterricht aussehen könnte und weniger, wie er in Wirklichkeit ist. Alltag ist in den seltesten Fällen widerspruchsfrei und kaum vergleichbar mit der Aneinanderreihung von Musterbeispielen. Trotzdem will Balz gerade dies mit Schulsportgeschichten ausdrücken. »In diesem Sinne hat erzählender Sportunterricht innerhalb der sportpädagogischen Diskussion einen wichtigen Stellenwert für das Verständnis von Schulsport und die Kommunikation darüber, wie er eigentlich ist und wie er sein könnte« (Balz 1987, 133. Hrvh. R.M.). Für Balz haben Geschichten eine handlungsorientierende Bedeutung. Auf das Beispiel bezogen: »Welche Zumutungen wären für die unmotivierten Schüler in meiner Klasse eine Herausforderung, wie will oder würde ich damit umgehen?« (Balz 1998, 13). Bewusst verzichtet Balz auf handlungsanleitende Angaben, aber ob sich sein Anspruch auf Orientierung für das eigene Lehrerhandeln mit dieser affirmativen Geschichte auflöst, ist fraglich. Denn der normative Anspruch, nicht zu scheitern, wenn Schüler unmotiviert in den Unterricht kommen, wird durch den Text enorm gross. Vielleicht liegt hier ein kritisches Moment, wenn durch narrative Texte didaktische Ansprüche gestellt werden. Unglücksfälle fordern wohl eher dazu auf, es besser zu machen, als Glücksmomente und sie folgen eher einem narrativen Denkschema. Balz’ Geschichten sind somit auch in ihrer Lesart für einen narrativen oder paradigmatichen Denkmodus schwierig einzuordnen. Sie drängen den Leser vordergründig eher dazu, seine Erfahrungen paradigmatisch einzuordnen. Aber worin das Paradigma besteht, bleibt unklar: Handlungsorientierung für wen? Wirklichkeitsbeschreibung von welcher Wirklichkeit? Aufgrund der geschlossenen Textanlage bleiben die didaktischen Interpretationsmöglichkeiten relativ bescheiden, eine didakti-
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sche Performanz ist nicht wirklich ersichtlich. Balz zeigt Möglichkeiten didaktischen Handelns auf, wobei er sich aber eher auf die Folgen konzentriert. Diese wiederum sind stark normativ besetzt und weisen damit auf richtigen Unterricht und einen paradigmatischen Denkmodus hin. Dem Leser bleibt als einzige Alternative, sein eigenes Handeln als Scheitern zu werten. Zusammenfassend könnte man die Repräsentation von Unterricht in der Formulierung von Balz als Möglichkeitsdidaktik bezeichnen. 5.2.2 Kritische Interpretation von Fallbeispielen (paradigmatisch-epagogisch) Inwiefern die aufgezeigte Möglichkeit der epagogischen Analogie bei narrativen Texten didaktisch wirksam gemacht werden kann, zeigt sich bei den zahlreichen Textbeispielen von Karlheinz Scherler. Dabei drängen diese Texte ebenfalls zu einem paradigmatischen Denkmodus. Scherler selbst bezeichnet seine Arbeitsweise als kasuistisch. »Kasuistik ist die Kunst, eine Fallbeobachtung in eine Falldarstellung zu überführen und sie mit einer Fallanalyse zu verbinden. Pädagogische Kasuistik ist ein ursprüngliches Stück Pädagogik, ja sie ist, historisch und systematisch gesehen, Anfang und Ursprung jeder pädagogischen Theorie« (Binneberg 1997, 9). Folgt man der Definition von Binneberg, so erfüllt Scherler in seiner neusten Publikation »Unterricht auswerten« (2004) ziemlich präzis diese Forderungen. Scherlers Texte beruhen explizit auf Beobachtungen (2004, 23), die als Fakten darzustellen sind. Für die Repräsentationsform dieser Fakten wählt Scherler den Begriff »Episoden, da er die Zeitlichkeit und Flüchtigkeit des Geschehens stärker hervorhebt als Situationen« (ebd.). Und schliesslich werden alle Episoden (auch in anderen Publikationen) analysiert, was in seinem Fall bedeutet, dass sie didaktisch ausgewertet werden. Dabei gilt es – kasuistisch gedacht – das Einzelne einem Allgemeinen unterzuordnen. Scherler will das Besondere explizit ausschliessen, da »das Besondere die Aufhebung des Gegensatzes von Einzelnem und Allgemeinen ist« (2004, 22). Damit lassen sich Scherlers Episoden weder als Mustergeschichten noch als Musterbeispiele bezeichnen. Sie sind im oben dargestellten Kontinuum vielmehr als Fallbeispiele einzuordnen. Der Begriff des Falls ist nach Scherler ohnehin theoretischer Natur, denn die Subsumption unter einen allgemeinen Begriff erfolgt erst nach der Beobachtung in einer bewussten Konstruktion, d.h. sie ist das Ergebnis einer Beobachtung (2004, 22). Damit folgt Scherler einem apagogischen Erkenntnisweg, setzt also die Kenntnis des Allgemeinen der Erfahrung des Einzelnen voraus. »Man beschreibt etwas, um es besser zu verstehen; man muss es aber schon etwas verstanden haben, um es beschreiben zu können« (2004, 24). Der Ausschluss des Besonderen weist auf eine mögliche Funktion der Texte hin, die den freien Gebrauch zwar zulassen – also das Einzelne auch als Einzelnes belassen – aber nicht dafür konzipiert sind. In Anlehung an Ryles Unterscheidung von Feiertags- und Alltagsbegriffen (1969, 325) favorisiert Scherler Alltagsbegriffe, auch in der Subsumption der Episoden unter
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Normen. Seine Normen sind nicht etwas Gegebenes, sondern durch die kasuistische Methode Ermitteltes. Deshalb denke ich, weisen seine Episoden auf eine epagogischen Denkrichtung hin, die das Allgemeine aus dem Einzelnen entwickelt. Für ihn bedeutet das Fallen der Fallbeispiele eine Subsumption unter ein Allgemeines: »Norm, Prinzip, Regel, Gesetz« (2004, 22), ohne die es kein Allgemeines gibt. Diese Deutung der Fallbeispiele drängt eine paradigmatisch-epagogische Lesart auf. Ich möchte diese Analyse an einem konkreten Beispiel erläutern66. »Soll genug sein!« (20) Sportunterricht in einer achten Klasse. Lehrer: «Ich möchte mit euch heute Ballschulung machen. Ihr sollt ein Gefühl für Bälle verschiedener Größe bekommen (zeigt auf einen Karton mit Tennis-, Gymnastik-, Hand- und Volleybällen). Ziel soll es sein, dass ihr lernt, mit diesen Bällen (zeigt auf die Tennisbälle) zu jonglieren.» «Am Anfang mit einem Ball. Den Ball von der Wurfhand in die andere Hand werfen bzw. mit derselben Hand wieder auffangen.» Die Schüler üben ca. zwei Minuten lang einhändiges Werfen und Fangen. «So, wenn er nicht mehr runterfällt, dann holt ihr euch bitte 'nen zweiten dazu!» (...) Der Lehrer macht es kurz vor, die Schüler versuchen es nachzumachen. Die meisten Schüler haben damit aber noch große Schwierigkeiten und murren, als er nach ca. 4 Minuten die nächste Übung ansagt. «So, jetzt wird's schwierig. Wenn ich drei Bälle habe, dann muss ein Ball immer in der Luft sein, und aussehen soll das ungefähr so (macht es kurz vor). Also, ein Ball muss immer in der Luft bleiben!» Die Schüler üben eifrig, dennoch fallen viele Bälle noch zu Boden. Nach weiteren 4 Minuten beendet der Lehrer das Üben mit den Worten «OK. Soll genug sein. Jetzt machen wir Zielwürfe (zeigt auf die Gymnastik- und Handbälle) auf die Wand.» (Scherler 2004, 75)
»Soll genug sein!«, diese empirische Aussage weist auf die Fabel des Textes hin. Der Titel bezeichnet nicht den Topic des Textes, sondern zeigt explizit auf das hin, was Scherler mit dem Text aussagen will67. Inhaltlich geht es um Ballschulung insbesondere um das Jonglieren von (Tennis-) Bällen. »Soll genug sein« deutet auf einen Fehler in der Unterrichtsdurchführung und der mangelhaften Zeiteinteilung hin. Diesem Label wird die Geschichte auch zugeordnet: Zeit einteilen. Der narrative Text zeigt am Einzelnen, worauf bei der Zeiteinteilung zu achten ist. »Ob die Schüler ›genug geübt‹ haben oder nicht, hängt davon ab, was mit dem Üben erreicht werden will. Wenn dies wirklich die Verbesserung eines allgemeinen Ballgefühls gewesen sein sollte, dann wäre es besser gewesen, das Fangen und Werfen verschiedener Bälle unter gleichen Bedingungen zu üben, zum Beispiel erst mit Tennisbällen und dann mit Gymnastikbällen auf Ziele zu werfen. Aber ob dieses diffuse Thema überhaupt zu Schülern dieses Alters passt, wäre die wichtigste Frage« (ebd. 76). Damit
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An einem Beispiel, von dem ich annehme, dass es unter das Allgemeine – hier die narrativapagogische Lesart von narrativen Texten – fällt. Dies ist explizit auch seine Absicht: »Die Textüberschriften enthalten Faktenangaben [...] und sind Schlüsselsätze der nachfolgenden Auswertung« (Scherler 2004, 24).
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formuliert Scherler nicht eine eigentliche Frage, sondern Regeln: Das Thema muss dem Alter der Schüler entsprechen. Oder weiter vorne, konkreter auf den Fall bezogen: mit verschiedenen Bälle unter gleichen Bedingungen zu üben. Aber auch dieser Ratschlag enthält letztlich eine Regel, der die Episode untergeordnet wird: Balldifferenzierung kommt vor Bedingungsdifferenzierung. Die Liste könnte fortgesetzt werden, auch in Bezug auf andere Texte. Die relativ offene Subsumption unter verschiedene Regeln lässt die Vermutung zu, dass Scherler seine Texte zum freien Gebrauch konzipiert. Die Subsumption der Beispiele unter verschiedene Regeln erklären die Regeln allerdings nicht, noch bilden sie einen schlüssigen Beweis dafür. Dies weist zunächst auf einen apagogischen Vergleich hin, denn durch das Beispiel wird eine allgemeine Regel (z.B. altersgerechter Unterricht) fasslicher gemacht. Allerdings werden die Regeln, die Scherler in einem paradigmatischen Vergleich zeigt, epagogisch entwickelt. Sie könnten als Alltagsregeln bezeichnet werden, oder, wie es Bruner bezeichnet, als folk psychology (1990, 33). Sie entstammen weder einer elaborierten Theorie noch einem akademischen Modell. Vielmehr lassen sie sich in ihrer konkreten, auf den Fall bezogenen Aussagekraft einem landscape knowledge zuordnen, wie ich es oben ausformuliert habe. Es sind Rezepte, denen Lange (1981, 12) eine zentrale Rolle im Alltagshandeln von Lehrerinnen und Lehrern zuschreibt. Trotzdem scheint es schwer, die Texte in ihrer Schlichtheit dem Paradigma der fabulists zuzuordnen. Aus der Rekonstruktion von Unterricht erfolgt kein Erkenntnisgewinn, das Denken der Leser und wohl auch des Autors folgt dem paradigmatischen Modus. Anders könnte die Interpretation lauten, wenn man die Reihung verschiedener Texte analysieren und wenn man nicht das Fallbeispiel als solches, sondern den Gang von Beispiel zu Beispiel betrachten würde. Dazu wird es notwendig, einen weiteren Text Scherlers zu zitieren: Der Übungsbetrieb beginnt 20' nach dem Läuten der Stunde (21) Leichtathletik in einer 10. Klasse: Vorbereitung auf die Bundesjugendspiele bei sonnigem Sommerwetter. Die Schüler (ca. 20) treffen sich an der Sporthalle, ziehen sich um und erhalten von den beiden Lehrenden die benötigten Geräte (Startblöcke, Stoppuhren, Harke und Bandmaß). Am nahen Sportplatz angekommen, sind gut 10 Minuten der Unterrichtszeit vorbei. Nach Vorstellung der Unterrichtsplanung (Sprint und Weitsprung) wird Warmlaufen angesagt: zwei Runden, aber nicht zu schnell. Einige Schüler murren, ein Mädchen sagt laut: ,Mir ist doch schon warm!" Einer der Lehrenden läuft mit, der andere bringt die Blöcke zum Start und harkt die Sprunggrube. Schon nach einer halben Runde zieht sich das Läuferfeld weit auseinander. An der Spitze veranstalten einige Jungen einen Wettlauf: am Ende bummeln einige Mädchen fast gehend hinterher. Der Lehrende läuft beim Großteil der Schüler in der Mitte. Als die ersten Schüler nach zwei Runden ausgepumpt im Ziel sind, haben die letzten gerade ihre zweite Runde begonnen. Als sie, von dem mitlaufenden Lehrenden angetrieben, endlich im Ziel sind, werden sie auf die zwei Stationen verteilt und der Übungsbetrieb beginnt - 20 Minuten nach dem Läuten zur Stunde. (Scherler 2004, 74).
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Diesen narrativen Text findet man im Kapitel mit dem Titel Die Zeit einteilen. Die Frage, die sich aus der Reihung der Beispiele stellt, lautet: Kommt das Allgemeine durch die Reihung der Beispiele zustande? Scherlers Interpretation deutet nicht darauf hin. Bereits im Titel der Episode findet man eine Norm, die nicht mit den vorherigen Beispiel zusammengeht. Wenn Scherler die 20 Minuten, die die Lektion zu spät beginnt, zum Thema macht, so versteckt er darin bereits eine Norm, namentlich, dass Sportstunden mit ihrem eigentlichen Inhalt nicht erst 20 Minuten nach dem Läuten beginnen sollten. Der Fall wird also dieser Norm untergeordnet und keinesfalls einer Regel wie diejenige, die im Text »Soll genug sein!« (20) dargestellt worden ist. Der Hinweis auf ähnliche Probleme, nämlich Zeitprobleme kann für eine übergeordnete Fabel, resp. Regel nicht gelten. Mit der Kategorie Zeit einteilen wird lediglich eine Bedingung angesprochen, die es zu organisieren gilt. Beide Texte beziehen sich auf Unglücksfälle, es werden keine exemplarischen Fälle dargestellt. Scherler begründet diese »negative« Auswahl. »Das Misslingen hat eine Logik, die leichter rekonstruiert werden kann als die des Gelinges« (ebd. 22). Hier unterscheiden sich Scherlers Fälle von Fällen anderer Professionen, wie z.B. der Jurisprudenz. Präzendenzfälle sind sowohl Fälle, in denen vorhandes Recht angewendet werden kann als auch Fälle, in denen vorhandenes Recht nicht ausreichend ist. Der Präzendenzfall zeigt im Besonderen, wie das Allgemeine ausgelegt werden kann, »dass gerade so das Allgemeine, dem die Besonderen gehorchen, zustande kommt« (Buck 1989, 224). In diesem Sinne ist Scherlers Bestimmung seiner Texte als etwas Einzelnes und nicht Besonderes konsequent. Seine Texte können – im Gegensatz zu juristischen Fällen – das Allgemeine nicht im Besonderen aufheben. Selbst in der Reihung von Beispiel zu Beispiel wird nicht klar, wo das Allgemeine zu fassen ist. Wenn also die Reihung zu keiner kategorialen Ausdifferenzierung führt, dann verbleiben die Episoden als Fallbeispiele für die erwähnten Rezepte. Lässt sich Scherler nun den fabulists oder eher den anti-fabulists zuordnen? Im Sinne Bruners (2002, 11) braucht Scherler die Texte, um die Illusion von Realität zu pflegen. Auswertung von Unterricht ist auf Empirie angewiesen, sonst wird die Interpretation obsolet. Seine Interpretationen deuten auf offene Texte hin. Trotzdem irritiert die Kürze der Texte, und man wagt sich kaum, Scherler als fabulist zu bezeichnen, beschränken sich seine Texte doch meist auf einen Umfang von 15 bis 20 Zeilen. Eine Analyse der oben erwähnten Episoden in Bezug auf ihre story grammar kann diese Unsicherheit vielleicht ausräumen. Der Kontext wird nach Scherlers eigenen Angaben (2004, 10) bewusst kurz gehalten. Dies bestätigen auch die beiden Beispiele. Vorbereitung auf die Bundesjugendspiele bei sonnigem Sommerwetter. Die Schüler (ca. 20) treffen sich an der Sporthalle, ziehen sich um und erhalten von den beiden Lehrenden die benötigten Geräte (Startblöcke, Stoppuhren, Harke und Bandmaß). Wahrscheinlich braucht der Leser für das Verständnis der Episode keine weiteren Informationen. Dasselbe lässt sich auch für die beteiligten Personen sagen. Als Handlungen werden lediglich
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die Anweisungen der Lehrenden und die sich daraus abzeichnenden Folgen beschrieben. Was in beiden Episoden auffällt, ist ihr abruptes Ende. Jetzt machen wir Zielwürfe auf die Wand. Irgendwie stolpert man hier über das Ende der Geschichte und würde gerne mehr lesen. Die Dramaturgie wird vernachlässigt, ein wirkliches Ende behält der Text dem Leser vor. Im Sinne von Martinez/Scheffel (1999, 151) kann das Schlüsselereignis zu Beginn formuliert werden (»Soll genug sein!«), um im Leser die spannende Frage zu erzeugen, ob, wann und wie die erwarteten Folgen denn nun eintreten werden. Der auf den Titel folgende Text kann aber diese Spannung nicht aufbauen, er gleicht einer protokollartigen Beschreibung von Unterricht. Die Textsorte erlaubt kaum, eine intentio operis zu entwickeln, denn die intentio auctoris, als Schlüsselsatz formuliert, bleibt zu dominant. Vielleicht ist es auch nicht die Absicht des Autors, mit diesen Texten eine perlokutionäre Performanz zu ermöglichen. Vielmehr sollen wohl die erläuterten Regeln durch eine Episode erläutert werden. Damit fallen Scherlers Episoden aber eindeutig in die Kategorie der antifabulists, auch wenn die Textanlage (offene Texte), zunächst auf das Gegenteil deutet. Die Lesart seiner Texte fördert eindeutig den paradigmatischen Denkstil. Dies zeigt auch sein Hinweis auf seine Arbeitsweise, die er mit dem Forschungsdesign von Piaget vergleicht. »... und war beeindruckt, wie er [Piaget] aus vielen Beschreibungen kindlichen Verhaltens und wenigen allgemeinen Begriffen eine umfassende Entwicklungstheorie konstruiert« (Scherler 2004, 10). Diese Begeisterung veranlasste ihn, nicht mehr über, sondern wie Piaget zu arbeiten. Scherlers Absicht liegt wohl darin, aus Unterrichtsbeschreibungen mit wenigen allgemeinen Begriffen eine Didaktik zu konstruieren. Die Entwicklung von Begriffen steht im Zentrum des Zeigeinteresses, das sich bei den beiden Beispielen im Begriff Zeit einteilen äussert. Gerade hier zeigt sich aber die Schwierigkeit des Vergleichs. Piaget war Entwicklungspsychologe, weniger Didaktiker und nicht umsonst hat er seine Termini meist der Biologie entlehnt. Die Didaktik – auch in der Ausprägung von Scherler – greift hingegen meist auf Alltagsbegriffe zurück. Der Alltag und seine Begrifflichkeit sind auf eine Dramaturgie angewiesen, damit ein Erkenntnisgewinn möglich wird. Sollten Scherlers Texte also eine höher didaktische Performanz aufweisen, dann müssten sie deutlicher in diese Richtung hin (fabulists) formuliert werden. Zusammenfassend lassen sich Scherlers narrative Texte, die er selbst als Episoden bezeichnet, als Fallbeispiele bezeichnen. Fallbeispiele, die sich als relativ geschlossene Texte Alltagsregeln unterordnen und somit die Regel nicht beweisen, aber für den Leser fassbar machen lassen. Scherler fördert in seinen Texten einen paradigmatischen Denkmodus, den er wohl auch für sich selbst antizipiert. Trotzdem weisen seine Arbeitsweise und die Reihung der Texte auf einen epagogischen Vergleich von Erfahrung hin, die er auch für den Leser als Lesart offen lässt. Die epagogische Analogie zwischen den Texten, kann dem Leser u. U. sogar einen narrativen Denkprozess anbieten, auch wenn sich das Allgemeine eher paradigmatisch äussert.
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Der Praxisbezug bei Karlheinz Scherler äussert sich in seiner expliziten Hinwendung zur Auswertungspraxis. Dass diese kasuistisch zu erfolgen hat, ist nur konsequent. Selbst die kritisierte Kürze der Darstellung der Episoden scheint den Wirklichkeitsbezug nur zu fördern, dies weniger in Bezug auf ihre Wirkung für spätere Handlungen, aber mehr in Bezug auf ihre Authentizität. Die von Scherler eingebrachte Wirklichkeit äussert sich in absolut »realistischen« Darstellungen von Sportunterricht. Es werden weder normativ aufgeladene »Feiertagsstunden« noch pathologische Unglücksfälle gezeigt. Ausgewertet werden Unterrichtsstunden, die sowohl Gewöhnliches als auch Aussergewöhnliches zeigen. Gewöhnlich, weil sie Unterricht repräsentieren, der jederzeit auch in anderen Schulen, mit anderen Lehrpersonen stattfinden könnte. Aussergewöhnlich, weil der Autor mit der Darstellung einer spezifischen Unterrichtssituation eine Episode mit Zeigeinteresse auswählt. Scherler will mit den narrativen Texten auf etwas hinweisen, das seiner paradigmatischen Logik entspricht. Damit wird diese einzelne Episode zu etwas Ausserordentlichem. Der Alltagsbezug liegt demnach mehr in der Repräsentation von Alltag und weniger in der Wirkung auf Handlungen im Alltag. Die Wirkung der dargestellten Episoden auf einen exemplarischen Leser kann aufgrund der von Scherler gewählten Darstellungsweise als Fälle kaum abgeschätzt werden. Einerseits stiften die kurzen Texte kaum zum Denken in einem narrative mode of thought an – das eher auf Alltagshandlungen ausgerichtet ist. Andererseits weisen die Alltagsregeln, die aus der Interpretation heraus entwickelt werden, auf narrative Skripts hin, denen sicherlich eine »Alltagstauglichkeit« zugestanden werden kann. Damit teile ich jedoch die Kritik von Köppe nicht (1998, 108), der Scherler und auch Schierz vorwirft, die Lehrerperspektive in Form kognitiver Strukturen auszuklammern. Scherler verfolgt explizit einen »klinischen Blick« (Meier 2006, 107) und stellt nicht die Personen ins Zentrum der Texte, wie dies z.B. bei Balz geschieht. Seine Repräsentationen von Unterricht fokussieren auf die Handlungen der Beteiligten, ihre Folgen und explizit auf die Zuordnung zu einem übergeordneten Begriff. Für einen Leser der Episoden und deren Interpretation ist es irrelevant, welche subjektiven Theorien der Lehrpersonen zu ihrem Handeln geführt haben. In Bezug auf die formulierte Wirkungsthese, dass narrative Texte das Denken und Handeln von Lesern beeinflussen können, steht vielmehr die Frage im Zentrum, ob narrative Texte die subjektiven Theorien von exemplarischen Lesern verändern können. Ich denke, dass dies auch der Absicht von Scherler entspricht. »Sportunterricht auswerten« wendet sich an alle, die Sport unterrichten, Sportunterricht planen und auswerten und weniger an die selbst von der Episode betroffenen Lehrpersonen. Damit bestätigt sich die anfangs geäusserte Einschätzung, dass Scherlers Texte als kasuistische Texte zu bezeichnen sind.
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5.2.3 Freier Gebrauch von kleinen Geschichten (narrativ-epagogisch) Schierz will mit seiner narrativen Didaktik grosse Entwürfe der Sportpädagogik mit kleinen Geschichten des Schulsports konfrontieren (1997, 20). Dabei wird »ein Leitbegriff des Entwurfs, eine ›Konzeption‹ des Konzepts, differenziert und durch Beispiele in Form ›kleiner Geschichten‹ in ihrem Bedeutungsgehalt ausgelegt« (ebd.)68. Seine Intention des Gebrauchs von Geschichten ist somit klar dargelegt: Sie sollen grosse Entwürfe deuten. Ob in kritischer Distanz oder in affirmativer Bestätigung, ist in dieser Zielsetzung noch unklar. Ich ordne seine Texte der Praxis der Dekonstruktion zu, weil ein Leitbegriff seiner Analysen die Differenz ist. Er führt sportpädagogische Konzepte ein, um sich dann sogleich darauf zu konzentrieren, was diese alles nicht behaupten, auslassen und verneinen. Sein Fokus richtet sich demnach auf das Nichtgesagte. Dies soll durch kleine Geschichten gezeigt werden, so dass der »Fussabdruck« der Aussage deutlich wird. Ein Beispiel soll die effektive Wirkung seines Gebrauchs von Geschichten zeigen. Widerstand II (22) (Fortsetzung von Teil I, Widerstand I, (siehe 5) An einer Lichtung bleibt der Lehrer stehen und deutet auf eine taubedeckte Wiese. »So, ich hoffe, ihr seid jetzt bei der Sache. Wir wollen hier einige Übungen machen.« Bevor er weitersprechen kann, unterbricht ihn ein Schüler: »Da geh ich nicht rein. Die ist ja klitschnaß. Da renn ich den ganzen Tag mit nassen Sachen rum.« Lehrer: »Wir wollen da auch barfuß rein und nicht mit Schuhen.« Schüler: »Ohne mich, da hol ich mir ja eine Erkältung.« Einige Schülerinnen und Schüler beginnen ungeachtet des Dialogs, ihre Schuhe und Socken auszuziehen und laufen in die Wiese. Ohne sich weiter um diejenigen zu kümmern, die keine Anstalten zeigen, ihre Schuhe auszuziehen und die Wiese zu betreten, folgt ihnen der Lehrer ebenfalls barfuß. »Schließt jetzt einmal die Augen und spürt, wie sich eure Füße tastend den Weg im weichen Gras suchen«, lautet sein erster Auftrag. Er schließt die Augen und geht bedächtig und betont vorsichtig los. Einige der Schülerinnen und Schüler schauen ihm dabei amüsiert zu, andere imitieren ihn, einige waten mit geschlossenen Augen durch das Gras. Lehrer: »Na, was habt ihr gespürt?« Schüler: »Nasses Gras.« Lehrer: »Nein, ich meine, wie hat es sich angefühlt? Kalt oder warm, weich oder hart?« Schüler, etwas ratlos: »Gras eben.« Lehrer: »So, jetzt einmal mit dem Partner. Ich schließe die Augen und mein Partner führt mich durch die Wiese. Achtet noch einmal auf eure Füße.« Die außen stehenden Schüler spielen inzwischen mit dem vom Lehrer beiseite gelegten Frisbee. »Wirf mal her«, sagt der Lehrer. Die Sinnesübungen sind beendet, das Frisbee fliegt von einem zum anderen. Beim Versuch, das Frisbee zu fangen, rutscht eine Schülerin im nassen Gras aus und fällt hart auf den Rücken. »Ist 'n echt tolles Feeling«, ruft sie zum Lehrer und geht mit nasser Hose und nassem Sweatshirt aus der Wiese.
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Diese These trifft natürlich nicht für alle narrativen Texte von Schierz zu, wie ein vorher bereits interpretiertes Beispiel zeigt (Weltensprung I).
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Auf dem Rückweg schaut der Lehrer auf die Uhr: »Nun müssen wir uns doch etwas beeilen.« Einige Schüler laufen mit Socken in der Hand voraus. »Ist 'n echt tolles Feeling« (Schierz 1997, 68f).
Im Text werden alle fünf ausdifferenzierten Komponenten einer Erzählung dargestellt. Die beteiligten Personen werden aufgeführt, auch wenn man nicht genau weiss, wie viele Schüler und Schülerinnen an diesem Waldlauf teilnehmen. Ihre Rollenzuschreibungen sind hingegen klar. Der Lehrer wird entsprechend der Textfunktion als Antiheld eingeführt. Weil der Text als Beispiel für eine Unterrichtskonzeption der Gegenwelt und als Gegenbeispiel für eine Konzeption der Mitwelt steht, muss der Lehrer in seinem Handeln scheitern. Einzelne Schülerinnen werden hingegen als Heldinnen dargestellt, weil sie durch ihr Verhalten das geplante Konzept des Lehrers in Frage stellen. Damit bringen die Heldinnen durch ihren Widerstand den für einen narrativen Text notwendigen Widerspruch ins Spiel. Im Beispiel ist der Kontext ausführlich beschrieben, denn darauf will der Autor die Interpretation lenken. Die Stunde muss im Freien stattfinden, sonst lässt sich der Plot nicht erzählen. Sogar die Tageszeit ist von Bedeutung. Die beschriebenen Handlungen sind mehrheitlich Sprechhandlungen, d.h. die Dialoge sind für die Fabel der Geschichte von zentraler Bedeutung. Der Lehrer will auf das Vogelgezwitscher am frühen Morgen aufmerksam machen und die Schüler folgen ihm in dieser didaktischen Absicht nicht. Die Folge – die Antwort einer Schülerin – entspricht nicht seinen Erwartungen und auch nicht den Erwartungen des Lesers. Der Widerspruch lässt sich damit zwischen der Handlung des Lehrers und den nicht antizipierten Folgen ausmachen. Der Lehrer will das Laufen einmal anders inszenieren, will statt des zu erwartenden Waldlaufs auf Zeit mit den Schülern andere, unerwartete Sinnperspektive ansprechen. Schierz fragt deshalb, ob »sich der Anspruch so weit von den Erfahrungen, Einstellungen und Erwartungen der Schülerinnen und Schüler mit, zu und an Sport und Sportunterricht entfernen, dass er ihnen einfach überstülpt wird? Ist die gegenweltliche Inszenierung des Unterrichts nicht allzu künstlich und aufgesetzt?« (1997, 70). Der dargestellte Plot entspricht in seiner Komplexität und Offenheit eher einer Mustergeschichte als einem Musterbeispiel. Der narrative Text steht auch nicht als Beispiel für ein Modell oder eine Theorie, sondern als Gegenbeispiel für ein Unterrichtskonzept, das Schierz mit »Erziehliches Milieu« zu umschreiben versucht. Die entscheidende Frage, die sich in der Analyse dieser Geschichte stellt, ist wohl die Frage nach der Differenz von anti-fabulists und fabulists. Ich würde den Text als offenen Text beschreiben; es drängt sich deshalb die Zuordnung der Lesart als fabulist-Text auf. Schierz aber interpretiert den Text ausschliesslich im Sinne Ecos . Dem Leser wird ein Gegenbeispiel zum zu kritisierenden Konzept gegeben, bei diesem Beispiel das Körperkonzept von Funke. Die kleine Geschichte steht als
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Gegenbeispiel explizit in Zusammenhang mit einem »grossen Entwurf« und will diesen mit dem konfrontieren, von dem diese Konzepte schweigen (Schierz 1999, 19). Damit steht der Text als Beispiel für etwas, auch wenn die Erzählung in ihrem Plot für einen freien Gebrauch angelegt ist. Aber können solche Texte als Musterbeispiele gelten, obwohl sie so etwas wie ein Anti-Muster darstellen? Ich neige dazu, Schierz in diesem Zusammenhang als anti-fabulist einzuordnen, obwohl die Textsorte einen anderen Schluss aufdrängt. Schierz nimmt mit seinen Gegenbeispielen explizit Bezug auf Konzepte, obwohl die Geschichten nicht für, aber doch in Zusammenhang zu einem Konzept stehen und damit auch zu einem allgemeinen Begriff. »Auslegende Erzählungen geben jedem Unterricht seine Komplexität zuallererst zurück, bevor sie ihn idealtypisch auf deskriptive und normative Modelle mit scharfen Konturen reduzieren« (Schierz 1999, 43). Damit wird auch die Denkrichtung offensichtlich, die durch den Text angelegt ist: vom Allgemeinen zum Besonderen. Zunächst steht das Allgemeine in der Form von Konzepten und erst dann wird diesem Konzept die Komplexität von Unterricht zurückgegeben. In Anlehnung an Buck wird diese Beweisführung als apagogisch bezeichnet. Die von Schierz verfolgte Absicht, durch Erzählungen jedem Unterricht seine Komplexität zurückzugeben, verwirrt allerdings. Wenn auslegende Erzählungen Unterricht idealtypisch auf normative Modelle reduzieren, dann gleicht dieser Prozess eher der epagogischen Form der Analogie. Wahrscheinlich ist dieses Pendeln zwischen Allgemeinem und Besonderem auch bezeichnend für die Lesart von fabulist-Texten. Das ausgewählte Beispiel Widerstand steht nicht alleine in diesem Textabschnitt, sondern neben einer anderen Erzählung, Molli und Trixi (25), die zwar nicht explizit zitiert, aber ansatzweise paraphrasiert wird. Hier wählt Schierz offensichtlich die epagogische Analogieform und damit den Erkenntnisweg von Geschichte zu Geschichte, der wiederum als typisch für fabulists bezeichnet werden kann. Aufgrund dieses Sowohl-als-auch lassen sich die narrativen Texte von Schierz dem narrative mode of thought zuordnen, zumindest braucht der Leser diesen Denkmodus, um die Unterschiede zwischen den beiden Erzählungen zu erkennen. Durch den Vergleich der beiden Geschichten wird beim Leser Handlungswissen generiert und literarische Erkenntnis zugelassen. Dies steht allerdings im Widerspruch zu seinem Hauptanliegen, nämlich, die Leitbegriffe verschiedener sportpädagogischer Konzepte mit Hilfe von kleinen Geschichten auszulegen. Im Vergleich zu anderen Kapiteln steht Molli und Trixi (25) allein, bei anderen Konzepten stehen die einzelnen Geschichten lediglich als dekonstruktivistisches Beispiel gegen ein allgemeines Konzept, es werden keine anderen narrativen Texte parallel daneben gestellt. Die Analyse von Schierz’ narrativen Texten deckt ein Differenzierungsproblem der narrativen Textanalyse in der Pädagogik auf. In diesem Fall ist die kombinierte Verwendung der Texte, sowohl als Musterbeispiele als auch als Mustergeschichten typisch. Oder in der Terminologie von Eco: Die Texte sind sowohl für
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den Gebrauch als auch für die Interpretation bestimmt. Ich werde später auf dieses Problem zurückkommen. Vielleicht lassen sich die Texte einfacher zuordnen, wenn man im Detail auf das Allgemeine eingeht, das in den Beispielen veranschaulicht werden soll. Das im Text Widerstand präsentierte und kritisierte Konzept bezeichnet Schierz als Gegenwelt. Das darauf folgende Modell der Eigenwelt wird ebenfalls mit einer Unterrichtsbeschreibung konkretisiert. Als gegenweltliches Konzept bezeichnet Schierz die Absicht des Lehrers, die Schüler mit nackten Füssen durchs taufrische Gras laufen zu lassen. Die wenigsten der teilnehmenden Schüler haben diese Erfahrung schon gemacht und die wenigsten werden in ihrer Sportbiografie nochmals darauf zurückkommen. Der Text steht für das Konzept der Gegenwelt, aber was ist damit allgemein gedacht? Die Geschichte repräsentiert ein Stück Welt, das für das Gegenweltliche steht. Das nasse Gras steht aber nicht exemplarisch für einen Unterricht, der zeigt, wie man es machen sollte, sondern es stellt vielmehr die Intentionen des Lehrers zur Diskussion. Schierz fordert den Leser zum Diskurs über guten Unterricht auf, interpretiert aber gleichzeitig seine Vorstellung von gutem Unterricht in den Text, weil er in seiner Repräsentation von Unterricht den Unterricht scheitern lässt. Damit lässt sich eine Fabel aus dem Plot herausschälen. Im Schlüsselsatz kommt diese Absicht noch besser zum Ausdruck »Ist ’n echt tolles Feeling« (Schierz 1997, 69). Die Aussage der Schülerin ist sicherlich ironisch gemeint. Sie kritisiert das Körperkonzept des Lehrers und damit im Konkreten das Allgemeine, hier das sportpädagogische Konzept der Körpererfahrung. Das Beispiel steht neben dem Musterbeispiel von Molli und Trixi, (25) das für das Gegenteil steht. Bei Molli und Trixi wird durch das Beispiel das Allgemeine bestätigt, beim Text Widerstand wird das Allgemeine in Frage gestellt. Trotzdem steht der Text für etwas Allgemeines und fordert den Leser zum paradigmatischen Denken auf. Der dekonstruktivistische Ansatz von Schierz verläuft damit in ähnlichen Denkmustern wie bei konventionellen Fallbeispielen. In diesem Kontext, kann kein Unterschied zu anderen narrativen Texten wie z.B. bei Scherler festgestellt werden. Der Text steht nicht für, aber gegen etwas Allgemeines und ist damit ebenso auf die Begrifflichkeit des Allgemeinen im paradigmatischen Modus angewiesen. Damit wird das Nachher der Geschichte und ihre Lenkung durch den Schlüsselsatz von entscheidender Bedeutung. Man könnte die Geschichte ohne Weiteres auch anders auslegen. Vertreter des Konzeptes Körpererfahrung würden Gründe für das Scheitern im fehlenden Aufbau der Stunde oder in der fehlenden Sensibilisierung der Schüler vor dem Unterricht suchen. Diese Interpretationslinie würde aber die Aussage verändern und die Absicht unterlaufen, das Konzept in Frage zu stellen. Schierz konstruiert in diesem Text ein Beispiel für Unterricht als Gegenwelt (Intentionen des Lehrers, soweit diese sichtbar werden), aber auch ein reales Gegenbeispiel für die zunächst eher fiktionale Konzeption der Körpererfahrung.
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Der ausgewählte Text von Schierz kann somit vordergründig kaum den Dichotomien zugeordnet werden, die ich ausdifferenziert habe. Indem er das Allgemeine nicht durch das Besondere fassbar macht, sondern in Frage stellt, folgt er einem dekonstruktivistischen Zugang, dreht aber die Form der Analogie von einer apagogischen in eine epagogische. Er untersucht, was das Konzept auslässt und verneint und richtet den Fokus auf das Nichtgesagte, in diesem Fall auf das Gegenweltliche. Diesen Teil des Allgemeinen, also die Kritik am Konzept der Körpererfahrung, wird mit einer Mustergeschichte repräsentiert. Der gleiche narrative Text wird aber zum Musterbeispiel, wenn es darum geht, seinen Begriff der Gegenwelt zu verdeutlichen, resp. das Allgemeine im Besondern zu zeigen. Schierz’ kleine Geschichten wollen also den Konzepten die Komplexität von Unterricht zurückgeben. Damit, so könnte man meinen, ist auch ein Alltagsbezug hergestellt. Schierz’ Geschichten repräsentieren in ihrem Kontext realitätsnahen Sportunterricht, auch wenn sie in ihrer radikalen Widersprüchlichkeit kaum alltäglichen Sportunterricht darstellen. Dies ist aufgrund der Erzählstrategie kein Widerspruch, sondern entspricht der Absicht des Autors. Doch obwohl sich Alltag in der Regel komplex gestaltet und sich Narrationen als Repräsentationsform aufdrängen, ist ein Alltagsbezug damit noch nicht gesichert. Schierz’ dekonstruktivistischer Ansatz gibt zwar Schulsportwirklichkeit wieder, aber zur Diskussion stehen eher grosse Erzählungen und ihre abstrakten Normen. Hinsichtlich ihrer expliziten Funktion haben die dargestellten Unterrichtssituationen einen geringen Alltagsbezug. Trotzdem lässt sich den narrativen Texten aufgrund der narrativen Analyse eine Alltagsorientierung zuschreiben, denn ihre Funktion könnte auch ganz anders gedeutet werden. Obwohl Schierz’ »Narrative Didaktik« im Gegensatz zu Scherlers »Sportunterricht auswerten« nicht als Unterrichtslehre angelegt ist, versprechen seine Texte im Sinne meiner Wirkungsthese eine hohe Performanz. Das Genre, das er mit der »Antimustergeschichte« wählt, weist deutlich auf einen narrative mode of thought hin. Die Frage, die sich stellt, ist allerdings, in welcher Funktion nun dieses Denken steht. Überblickt man im Inhaltsverzeichnis die kritisierten Autoren und deren Konzepte, so fällt auf, dass diese auch für Mythen des Sportunterrichts69 stehen. Ich möchte auf diese nicht im Einzelnen eingehen und mich lediglich auf das oben erwähnte erziehliche Milieu des Sportunterrichts einlassen. Der Text Widerstand (5, 24) stellt die oft als nicht hinterfragbar dargestellte These des Unterrichtens durch Sport in Frage. Damit wird keine unmittelbare Handlungsrelevanz hergestellt, auch wenn die von Schierz eingebrachten Argumente und insbesondere die Fabel der Erzählung
69
Neben dem erziehlichen Milieu und dem Mythos, dass Sportunterricht erziehen soll, der vor allem von Jürgen Funke repräsentiert wird, werden weitere Mythen des Sportunterrichts zur Diskussion gestellt: der Verschulungsmythos (Volkamer), Sport als Spiel (Digel), Sportunterricht und Handlungsfähigkeit (Kurz).
5.2 Vergleich der didaktischen und narrativen Texte
197
einleuchtend sind. Im Gegensatz zu Scherlers Texten, die mit Hilfe von narrativen Skripts und Regeln das Unterrichtshandeln u.U. vereinfachen, stellen Schierz’ kleine Geschichten nicht nur die didaktischen Konzepte in Frage, sondern auch Alltagsmythen. Ob jetzt Sportunterricht zum oder durch Sport erzieht, soll hier nicht erläutert werden. Aber die nicht hinterfragte Prämisse, dass Sportunterricht erzieht, die von den meisten Sport unterrichtenden Lehrpersonen in den Sportunterricht gelegt wird, wird mit der Geschichte Molli und Trixi (25) zur Diskussion gestellt. Dies entspricht wohl auch der intentio auctoris. Beim Leser löst sie u.U. aber auch ein In-Frage-stellen eigener Handlungen aus. Hier liegt m.E. ein Alltagsbezug vor, der mir relevanter erscheint als die vermeintliche Tatsache, dass die Texte Wirklichkeit abbilden. Vielleicht ist auch dies die Absicht von Schierz, wenn er den kleinen Geschichten zuschreibt, dass sie Orientierungsgeschichten sind. »Sie stellen ein Wissen bereit, das den Lehrenden die Kompetenzen vermitteln soll, mit Widersprüchlichkeit und Komplexität so umzugehen, dass Sinnfragen normative Ansprüche und handwerkliches Können nicht im Alltagsgerangel dem ›Durchwursteln‹ geopfert werden« (Schierz 1997, 43). Der Lehrer im oben zitierten Waldlauf opfert die grundsätzliche Frage nach dem Sinn des Tuns (seiner Schüler) dem »Durchwursteln« seiner Stunde. In der Konfrontation des Geschehens mit eigenen Erfahrungen des Lesers wird dieser Text handlungsrelevant und damit auch alltagsbezüglich. Die Narrative Didaktik konfrontiert damit nicht nur grosse Entwürfe, sondern auch eigene Erfahrungen mit kleinen Geschichten. In der Reihung solcher Texte entsteht das Potenzial einer narrativen Theorie. Trotzdem lässt sich die Kritik an White auch auf Schierz übertragen. »Wirkt so verstandene Geschichtsschreibung nicht trotzdem eher als Versicherung [Hrvh. R.M.] des bereits dominanten Gedächtnisses anstatt als Verunsicherung oder Erweiterung?« (Conrad/Kessel 1994, 21). Die Deutung des narrativen Textes Widerstand (5,24) könnte auch in eine Kritik des Handelns des Lehrers münden. Dieser vermag die Schüler nicht zu motivieren oder kann die Schüleräusserungen (...da sind Krokodile im Unterholz) nicht konstruktiv aufnehmen. So oder ähnlich könnte eine Rechtfertigungsstrategie lauten, damit die normative Botschaft des Konzepts nicht in Frage gestellt werden muss. Zusammenfassend lassen sich Matthias Schierz‘ Texte als dekonstruktivistische Geschichten bezeichnen, die das Allgemeine konterkarierend zu veranschaulichen versuchen. Vielleicht fällt die Zuordnung der narrativ-epagogischen Lesart an einem explizit nicht-didaktischen Text leichter, weil sich dabei nie die Frage nach dem didaktischen Paradigma stellt. Als Beispiel sollen Interviewausschnitte von WolfDietrich Miethling dienen. Mit dem psychologischen Begriff critical incident kann man die Zugangsweise von Wolf-Dietrich Miethling zu umschreiben versuchen. Seien es »Belastungssituationen im Selbstverständnis junger Sportlehrer« (1986), Verständigungsschwierigkeiten zwischen Sportlehrern und Forscher« (1984) oder »Zur Rekonstruktion kriti-
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scher Situationen und Themen im Sportunterricht aus Schülersicht« (1998), immer stehen kritische Unterrichtssituationen im Fokus. Miethling versteht darunter ausdrücklich nicht nur negativ konnotierte Situationen, sondern auch solche, die als subjektiv bedeutsam wahrgenommen werden (Klumpp/Miethling 1998, 71). Damit wählt Miethling keinen explizit narrativen Zugang. Wer aber critical incidents untersucht, wird unweigerlich in die Situation versetzt, diese zu beschreiben. Dass diese Beschreibungen sehr schnell die Form von narrativen Texten einnehmen, liegt in der Natur der Sache. Narrative Texte zeichnen sich insbesondere durch einen Widerspruch aus, der hier durch den Beschrieb einer kritischen Situation bereits gegeben ist. Die Texte sind m.E. also narrativ strukturiert, auch wenn dies von Miethling nicht ausdrücklich erwähnt wird. Ein etwas älteres Beispiel soll dies verdeutlichen. Stundenbeginn (23) (a)
Also ich hab neulich in der 8., von der ich vorhin schon sprach, hab' ich folgendes erlebt: Wir haben 'ne Sportstunde in der Turnhalle gemacht. Und die waren aus irgendeinem Grunde völlig aufgedreht. Also ich merkte schon so beim Umziehen im Umkleideraum, die Türen wurden immer zugeschlagen, es war ein Mordsradau. Dann flog ein voller Papierkorb die Treppe herunter. Dann lag das ganze Papier da, und ach, noch so ein paar Sachen. Dann kamen die also in die Turnhalle, und dann schrie einer: »Was machen wir heute?« Und der andere schrie ins andere Ohr: »Wir machen aber heute Fußball!« Und da war also mords viel los. Dann hab ich gesagt, jetzt setzt euch erstmal alle hin, und haltet den Mund. Das dauerte sehr lange, aber irgendwann saßen sie dann alle, und dann hab ich gesagt, - da war ich auch irgendwie stinksauer' -, und hab gesagt, wenn ihr jetzt nicht endlich euch vernünftig benehmt und das Papier aufhebt und euch nachher auch nicht wieder vernünftig umzieht, und jetzt weiterhin Quatsch macht, dann zieht ihr euch um, und wir gehen in die Klasse. Und dann haben zwei oder drei gesagt: »Ja ist gut!« Da habe ich dann gesagt, okay, ab in die Klasse.
(b)
Ja, und dann haben wir ..., dann ist also passiert, daß die anderen, die nicht daran beteiligt waren, ziemlichen Druck auf die drei, vier ausgeübt haben, die dann also gesagt haben, also gut. Die haben dann gesagt, ihr seid jetzt schuld, daß wir keinen Sport haben und uns umziehen müssen und so.
(c)
Ja, das ist etwa so eine Situation, in der habe ich mich natürlich auch nicht wohlgefühlt. Aber das ist in ähnlicher Weise auch schon mal eingetreten. Also so eine Situation, wo ich dann drohe mit irgendwas, und wo dann eine Kleinigkeit genügt, daß ich die Drohung auch in die Tat umsetze. (Miethling 1986, 108)70
Die Aufzeichnung eines Gesprächs kann in dieser Form nicht als Erzählung bezeichnet werden. Der Text gleicht eher einem Protokoll oder einer Chronik, wie ich es in Anlehnung an historische Textsorten formuliert habe. Die Lehrerin rekonstruiert aus dem Gedächtnis eine Unterrichtssituation, verfasst also ein eigentliches Gedächtnisprotokoll. Interessanterweise enthält die Schilderung aber bereits zahlreiche Attribute, wenn nicht sogar Konstitutive einer Erzählung. Dies lässt sich wohl auf verschiedene Zwänge zurückführen, denen narrative Interviews unterliegen 70
Ob es sich bei Miethlings Texten um didaktische Texte handelt, kann natürlich bestritten werden. Ich verwende die Texte trotzdem in dieser Kategorie, weil die narrativen Interviews und ihre Transkriptionen in einem freien Gebrauch sehr wohl didaktisch eingesetzt werden könnten.
5.2 Vergleich der didaktischen und narrativen Texte
199
(vgl. Friebertshäuser 1997, 387, Bohnsack 1999, 109). Diese Zwänge führen in der Regel zu Strukturen, die der narrative grammar sehr nahe kommen. Trotzdem gilt es, einige Differenzen aufzuzeigen. Bis zu (b) kann der narrative Text ohne Interpretation gelesen werden. Die geschilderten Zwänge lassen im Text so etwas wie eine Dramaturgie entstehen. Jedenfalls ist das Vorwärts der Geschichte deutlich erkennbar. Die Schilderung führt dann in (c) zu einer expliziten Interpretation und Stellungnahme, die man aber ohne Weiteres auch als Schlüsselsatz stehen lassen könnte. Die vielen »Dann« weisen hingegen eher auf eine Transkription hin. Trotzdem würde ich den Text, zumindest bis zu (b) als offenen Text bezeichnen, der einen freien Gebrauch zulässt. Die Textanlage lässt dem Leser verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen, was z.T. daran liegt, dass einige Fakten nicht erwähnt werden. Und die waren aus irgendeinem Grunde völlig aufgedreht. Weshalb war die Klasse so aufgedreht? Die Lehrerin bleibt dem Leser mögliche Begründungen schuldig. Aber selbst wenn diese oder andere Begründungen erwähnt würden, bleibt die Textstruktur offen. Könnte man deshalb Miethlings Text als fabulist-Text bezeichnen? Formal lässt sich ein solcher Schluss begründen. Trotzdem tendiere ich dazu, Miethlings Text zunächst in der Dichotomie von Bruner als anti-fabulist-Text zu charakterisieren, denn die Lesart weist auf paradigmatische Strukturen hin. Dass der sich anbietende Denkstil einem paradigmatic mode zuzuordnen ist, zeigt sich nicht unmittelbar aus dem narrativen Text, aber aus dem Kontext, dem die Schilderung entnommen ist. Zunächst sollte mit dem Text ein Beispiel für eine kritische Unterrichtserfahrung gegeben werden. Anschliessend werden die Aussagen der interviewten Lehrkräfte vier »Orientierungen« zugeordnet (Institutionelle-, Schüler-, Selbst-, Sportorientierung, 1986, 122). Diese Zuordnungen erfolgen argumentativ und keineswegs systematisch. Orientierungspunkte bleiben Belastungssituationen junger Sportlehrer. Genau hier trifft man auf einen kritischen Punkt bei Miethlings Texten, denn verschiedene spätere Veröffentlichungen setzen sich explizit mit der Kategorisierungsproblematik solcher Fundstücke auseinander. So fragt er 1998 noch nach den Themen in der Rekonstruktion kritischer Situationen, 2002 ist er auf der Suche nach der Kernkategorie und im gleichen Jahr findet er die Lösung in der Grounded Theory. Damit soll dieser Zugang keineswegs kritisiert werden, aber seiner Fragestellungen äussert sich deutlich das Bedürfnis nach kategorialer Erkenntnis, obwohl der Zugang meist narrativ gewählt wird. Den narrativen Text jetzt als exemplarisches Beispiel, als Fallbeispiel oder gar als Musterbeispiel zu bezeichnen, wäre jedoch verfehlt. Zwar werden im oben erwähnten Projekt REKRISIS im Gang von Interviewaussage zu Interviewaussage einzelne Facetten ausdifferenziert, aber seine Interpretationen bleiben als Einzelaussagen stehen und werden nicht zur Verdeutlichung der Facetten eingesetzt. Der Erkenntnisgang folgt somit einem epagogischen Weg, ohne die Facette als allgemeine Regel eigenständig werden zu lassen. Die Widersprüchlichkeit bleibt bestehen: Einerseits zeichnen sich Miethlings Texte als fabulists-Texte aus, andererseits scheint
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5 Wie ordnen Didaktiker unterschiedliche Erfahrungen?
sein Bestreben der Suche nach deutlichen Kategorien zu gelten. So zeigt folgendes Beispiel das Lehrerengagement unter dem Aspekt des Habitus. Guido (24) »Guido: ›In der fünften und sechsten Klasse hatten wir einen Lehrer, der hatte einen Bauch für drei. Der hat uns nie etwas vorgemacht. Man hatte den Eindruck, der versteht gar nichts vom Sport. Er sah ziemlich unsportlich aus« (Klumpp/Miethling 1998, 81).
In Anlehnung an Bourdieus Konzept des Habitus (1987), versuchen Klumpp/Miethling die Interpretationen der Schüler inhaltlich zu analysieren. Daraus folgern sie, dass Schüler das Engagement nicht nur aufgrund der äusserlichen Attribute (einen Bauch für drei), sondern auch aufgrund von Implikationen wie Vorlieben, Neigungen und innere Einstellungen des Lehrers beurteilen. »Das (von den Schülern wahrgenommene) Lehrerengagement mit dem Konzept des Habitus zu betrachten, scheint also aufschlussreich zu sein und bisweilen brisante An- und Einsichten zutage zu fördern« (Klumpp/Miethling 1998, 81). Trotz dieser affirmativen Zuwendung zu Bourdieus Habitustheorie wird Guidos Aussage kaum in Beziehung zur Theorie gesetzt und diese auch nur ansatzweise aufgegriffen. Es bleibt bei der Etikette, die dem Text angeheftet wird. Miethlings Texte konfrontieren aber nicht grosse Erzählungen der Sportpädagogik mit dem Alltag des Unterrichtens (wie bei Schierz), sondern verwenden grosse Erzählungen, wie z.B. das Habituskonzept von Bourdieu, als Referenz, um das Einzelne konzeptionell einzuordnen. Im Gegensatz zu Scherler entwickelt er aus den Einzelbeispielen aber auch keine neue Kategorie, resp. ein neues sportpädagogisches Konzept71. Seine Auswahl beschränkt sich auf einzelne Episoden, die z.T. unabhängig voneinander aneinander gefügt werden. Letztlich folgt Miethling nicht dem Gang von Beispiel zu Beispiel, obwohl seine Texte sich formal für diese Genese von Wissen aufdrängen würden. Seine narrativen Texte sind kategorial als Paradigma zu bezeichnen, dem Sowohl-als-auch verpflichtet. Einerseits versucht er, sie zu Fällen zu machen, also einem Allgemeinen unterzuordnen. Andererseits zeigt das Forschungsdesign in aller Deutlichkeit, dass Miethling den epagogischen Weg vom Einzelnen zum Allgemeinen sucht. Aus der Perspektive des Zeitaspektes sind sie meist Chroniken, wie das oben dargestellte Beispiel zeigt. Auch dies überrascht nicht, bleiben die Rekonstruktionen der Ereignisse doch meist als Interviewauszüge stehen. Auf eine weitere Ausformulierung verzichtet er bewusst. Hier muss man natürlich auch einwenden, dass Miethlings Texte nicht als Lehrtexte angelegt sind. Als Forschungstexte sind sie einer hohen Authentizität und
71
Zumindest was die zitierten Texte betrifft. Kategoriale – aber noch keine konzeptionellen – Entscheidungen trifft er 2002, in Anlehnung an die Grounded Theory.
5.2 Vergleich der didaktischen und narrativen Texte
201
weniger einer guten Lesbarkeit verpflichtet. Der Zweck, nämlich die Rekonstruktion von Alltagswirklichkeit, bleibt aber derselbe. Zusammenfassend zeigt sich in diesen Texten, dass es Miethling mit der offenen Anlage der Texte ernst meint. Er will dem Leser durch den narrativen Text keinesfalls eine vorgegebene Fabel vermitteln. Dass seine normativen Bezüge relativ bescheiden wirken, ist wohl für eine Forschungsdokumentation unumgänglich, aber seine konstante Suche nach diesen Bezügen wirkt vordergründig widersprüchlich. Vielleicht zeigt sich die didaktische Lesart, die ich hier anwende, deutlicher im Verhältnis der Texte zum Alltag. Ein klarer Praxisbezug zeigt sich in der Zugangsweise von Miethling. In Anlehnung an Clandinin/Connelly (2000, 63) kann man dies als Forschen inmitten von Geschichten bezeichnen. Durch die narrativen Interviews mit den direkt betroffenen Personen wird eine Innenperspektive übernommen, die sich auch im Schlüsselsatz der Lehrerin äussert. Nicht der Didaktiker, sondern die Betroffene selbst bestimmt die Interpretationsrichtung, die intentio auctoris wird explizit. Der Text ist vergleichbar mit den Aufzeichnungen eines Reading on the Trolley (McDonald 1992, 20). Der Autor versetzt sich mitten ins Geschehen und die Interpretation der didaktischen Konsequenz wird zumindest im Zugang den Betroffenen überlassen. Miethlings Praxisbezug äussert sich vor allem in seiner Hinwendung zu kritischen Unterrichtserfahrungen: »Unter ›kritischer Unterrichtssituation‹ verstehen wir nicht im umgangssprachlichen Sinne eine rein negativ getönte Situation, sondern all jene Situationen, die als subjektiv bedeutsam, im positiven wie negativen Sinne als herausfordernd von den Schülern wahrgenommen werden‹ (Klumpp/Miethling 1998, 71)72. Diesen Anspruch löst er, wie bereits erwähnt, durch ein sehr offen angelegtes, narratives Untersuchungsdesign ein. Unterliegt damit aber lediglich der Gegenstand einer Alltagsorientierung oder wird auch der weitere Verarbeitungsprozess dieser Orientierung untergeordnet? In einem Aufsatz zur kommunikativen Validierung (1984, 128) kommt Miethling zum Schluss, dass zwischen dem Forscher und dem Lehrer eine inhaltliche Asymmetrie vorherrscht. Demnach wollen Forscher das Alltagswissen der Erforschten erweitern und relativieren. Auf der anderen Seite sollen Lehrer das wissenschaftliche Wissen korrigieren und ergänzen. Auch wenn diese Unterscheidung den beiden Erkenntniswegen von Buck sehr ähnlich ist (apagogisch und epagogisch), so erscheint mir die von Miethling vorgenommene Dichotomie problematisch. Praxisbezug bedeutet m.E., diese Dichotomie aufzulösen und in anderen Kategorien zu denken. Wo liegt die Differenz von
72
Weil sich der Textausschnitt auf das Projekt REKRISIS (Zur Rekonstruktion kritischer Situationen und Themen im Sportunterricht aus Schülersicht) bezieht, sind die kritischen Situationen aus einer Schülerperspektive dargestellt. In einem anderen Projekt könnte man die kritischen Situationen in der Definition von Miethling ohne Weiteres auch auf die Lehrer oder auf eine Aussenperspektive beziehen.
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Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen übertragen auf Narrationen? Offensichtlich folgt Miethling hier dem Konzept von Lange (1981), wonach die Bedeutung von Schulalltag wesentlich subjektiv bestimmt wird. Wird dieser Schulalltag jedoch narrativ repräsentiert, wie dies Miethling ansatzweise macht, so kann der Gegensatz von subjektiv und objektiv nicht mehr aufrecht erhalten werden. Im Gegensatz zu Scherler gebraucht Miethling die Texte nicht kritisch, sondern versucht, sie kritisch zu interpretieren, um sie dann z.T. fallen zu lassen oder als Fälle für die Veranschaulichung einzelner Kategorien zu verwenden. Damit wechselt die kritische Interpretation zu einem freien Gebrauch, insbesondere, weil die elaborierten Codes seines Erachtens einer objektiveren Logik entsprechen. Diese Zugangsweise zur Wirklichkeit des Alltags fordert auch bei Forschern ein narratives Denken, wenn nicht sogar dieser Denkmodus (umgekehrt gedacht) zu dieser Zugangsweise geführt hat. Der Alltag mit seinen explizit narrativen Strukturen findet somit in den Untersuchungen von Miethling seinen eigenen Platz. Alltag als Begriff wird als Ausgangspunkt für die Forschung gewählt. »Wir forschen deshalb nach jenen Bedingungen, Herausforderungen und Bewältigungsweisen, die den alltäglichen Sportunterricht in den Augen der Schüler und Schülerinnen bestimmen« (Klumpp/Miethling 1998, 71). Die aus diesem Zugang entstandenen Texte weisen deshalb auch auf die Denkweise der Schüler, resp. der Lehrer hin. Der inhaltliche Wechsel von der Lehrer- zur Schülerperspektive unterstreicht diesen Anspruch nach Alltagsbezug nochmals. Während Miethling in den 80er Jahren einen Alltagsbezug über kognitive Strukturen der Lehrpersonen herzustellen versucht, wird der Alltagsbezug in den 90ern über das Denken und Sprechen von Schülern bestimmt. Mit diesem inhaltlichen Wechsel soll nicht mehr das Alltagswissen von Lehrpersonen untersucht werden, das für die Handlungen im Unterricht u. U. entscheidend ist, sondern die Einstellungen von Schülern. Die Interviews sollen schrittweise ausdifferenziert und verdichtet werden, »um so das ›Wesentliche‹, den Kern der Schüleraussagen herauszuarbeiten« (Klumpp/Miethling 1998, 75). Miethling geht es darum, sich möglichst rasch in die einzelnen Interviewtexte hineinzudenken. Damit lässt er sich explizit auf eine intentio auctoris ein und versucht weniger, den Text strukturell zu deuten. Obwohl Lange als Erfahrungswert die Unmöglichkeit von Schülermitbestimmung beklagt (»die wollen doch nur spielen«, 1981, 12), bringt Miethling genau diesen Ansatz als wesentlichen Aspekt der Alltagsorientierung in Spiel. Alltag findet nach Miethling demnach vor allem im Denken von Lehrern und Schülern statt. Die Folgen ihres Denkens und vielleicht auch Handelns bleiben dabei unbeachtet. Mit dieser nur scheinbaren Lücke decken Miethlings Texte eine exemplarische Lesart des Narrativ-Epagogischen auf, das einen narrativen Denkmodus und eine narrative Ordnungsweise von Erfahrung explizit anbietet. Weil sich Alltag am Ungewöhnlichen orientiert, oder weil das Unbehagen der Lehrpersonen
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zum Thema gemacht wird, trifft auch die anfänglich geäusserte Zuordnung seiner Texte auf critical incidents zu. 5.2.4 Enger Gebrauch von Parabeln (narrativ-apagogisch) Ich habe darauf hingewiesen, dass pädagogische Klassiker, z.B. die Bildungsromane von Rousseau oder Keller73 , trotz ihrer kongruenten Form als Erzählungen nicht mit den hier diskutierten narrativen Texten verglichen werden können. Trotzdem erscheint mir eine Analogie zu den Unterrichtsgeschichten von Jürgen Funke nicht unpassend. Funke setzt eine pädagogische Tradition fort, deren Absicht darin besteht, eigene normative Überzeugungen möglichst attraktiv zu »verkaufen«. Ein typisches Beispiel für einen solchen Text betrifft die beiden Mädchen Molli und Trixi. Molli und Trixi (25) (-)
Oben an unserer Turnhalle führt ein Weg vorbei. Da gehen und stehen die Leute wie auf einer offenen Galerie und schauen hinunter. Sobald sie in die Nähe der Halle kommen, können sie dort öfter schon ein regelmäßiges helles Quietschen hören, wie von Bettfedern. Wenn sie dann noch dichter herankommen, sehen sie so etwas wie einen großen Tisch, über den ist ein Federtuch gespannt. Matten aus Schaumstoff rahmen ihn ringsum ein. Da springen welche Trampolin. Vielleicht Molli und Trixi.
(-)
Molli und Trixi sind Herzensbusenfreundinnen. Die hängen immer so zusammen, dass man eigentlich Molliundtrixi schreiben muss, um ihren Namen richtig zu nennen. Die sind ganz lieb. Aber ihren eigenen Willen haben sie auch.
(-)
Zum Sportunterricht kommen sie fein angezogen. (...) Die anderen sagen, "die sind etepetete" oder "Muttis Lieblinge". Aber ein bisschen neidisch sind sie auch. Und die wissen auch, dass das nicht nur von den Eltern kommt, sondern dass die das selber wollen. Früher kam Trixi nämlich immer nur mit ihren normalen Sachen und ohne Turnschuhe und sagte, sie hätte alles vergessen. Dann sagen Molliundtrixi zu ihrem Sportlehrer: "Wir machen heute Trampolin! Und wenn nicht, dann weigern wir uns!" Dabei sehen sie ganz selbstbewusst aus, und ein bisschen lachen müssen sie auch. Sie gehen jetzt in die 7. Klasse. Da gibt es schon welche, die haben einen festen Freund. Molli und Trixi noch nicht. Die haben ja erst mal sich. Der Sportlehrer ist natürlich verzweifelt, wenn die sich weigern. Oder? Oft gibt er ihnen dann nach. Nicht zuletzt, weil in seinem grünen Buch steht, dass die Kinder durch seinen Unterricht "zum selbstständigen und selbstbestimmten Umgang mit den Sportgelegenheiten finden sollen". Und einige andere Sätze, die sich darauf reimen, stehen dort auch noch. Da kann er ja nun nicht einfach drüberweg.
(-)
Nun holt er mit ihnen das Gerät herbei. Sie klappen es auf, verstreben es, sichern es ab. Hell schlagen die Streben in die Halteringe. Die elastischen Federn quietschen ein bisschen und der Abdeckrand fällt mit einem kurzen Zischen auf die Rahmenrohre. Die beiden Mädchen rollen die herausnehmbaren Fahrgestelle in den Geräteraum zurück, und die frei beweglichen Lenkrollen spielen ihnen dabei einen Streich. Sie wollen nicht so, wie sie das wollen. Aber das ist ja das Gute. (...)
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Der grüne Heinrich
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Molliundtrixi sagen zu ihrem Sportlehrer: »Wir können eine Kür! Du musst mal zuschauen.« Die Kür ist ein Gewebe aus Lösen und Halten, Stehen und Sitzen, Drehen und Wenden. Manchmal berühren sie sich nur mit den Zehenspitzen. Sie tauschen die Plätze und kehren zurück. Trixiundmolli und Molliundtrixi. Es ist wie ein Tanz. Sie springen nicht hoch. Sie halten ihren ebenmäßigen, angenehmen Schwung und wiegen und drehen sich. Zum Schluss liegen sie beide flach auf dem Tuch und lassen sich ausschaukeln.
(-)
Das alles und mehr bringen die beiden miteinander fertig. Dieses 7. Schuljahr ist ihr Jahr. Später ist es anders. Natürlich lernen sie die Salti. Wie denn auch nicht, wo sie sich so heimisch gemacht haben auf dem schwankenden Tuch. Ihre Freundschaft bekommt Lücken. So welche zum Durchgucken. Fürs Schreiben ihrer Namen ist das ganz nützlich und für die andern um sie herum auch. Besonders für die Jungs. Ihre gemeinsame Kunst verfliegt. Sie ist nicht mehr zu sehen, wird nicht erneuert. Nur ihr Lehrer erinnert sich. Über das Fach, das er studiert hat, hat er viel gelernt mit Molli und Trixi. (Funke 1998, 104ff).
Der Text ist nicht in seiner vollen Länge wiedergegeben. Trotzdem denke ich, wird die intentio auctoris ersichtlich. Der Text kann interpretiert werden, bleibt aber in seiner Aussage unanfechtbar. Hier liegt die Grenze des Gebrauchs von narrativen Texten, weil der Text »selbst als Korrekturinstanz von Interpretationen dienen soll« (Müller 2000, 146). Der Text lässt sich deshalb eher als Parabel bezeichnen denn als Mustergeschichte. Die Fabel wird mehrmals offensichtlich geäussert, so z.B. wenn der Autor vom »grünen Buch« spricht. Nicht zuletzt, weil in seinem grünen Buch steht, dass die Kinder durch seinen Unterricht »zum selbstständigen und selbstbestimmten Umgang mit den Sportgelegenheiten finden sollen«. Dies soll nicht als Kritik am Text verstanden werden, aber als didaktische Textsorte lässt diese Geschichte keinen absolut freien Gebrauch zu. Der Gebrauch wird vom Autor implizit durch die Fabel eingeengt. Damit wird die Entwicklung mentaler narrativer Strukturen gestört, obwohl sich im Text keine offensichtliche paradigmatische Kategorie finden lässt. Das Allgemeine oder die Fabel des Textes versteckt sich als Norm im Text selbst. »Den Schritt zu Erzählungen in Form kleiner Geschichten ist jedoch konsequent und gekonnt nur Funke gegangen. Allerdings sind seine Geschichten eher geeignet, das im Konzept Gemeinte zu veranschaulichen, als es argumentativ und mit Gewinn qualitativer Unterscheidungen auszulegen« (Schierz 1997, 41). Ich gehe mit Schierz einig, dass in diesem Text ein narrativer Anspruch konsequent verfolgt wird. Es fehlt jedoch eine narrative Offenheit oder die Möglichkeit, den Text mit anderen, eigenen Geschichten zu vergleichen. Dies deutet auf eine apagogische Lesart des Textes hin, weil er das im Konzept Normierte zu veranschaulichen sucht. In seiner Konzeption ist der Text mit sämtlichen narrativen Attributen ausgestattet. Mehrere Personen nehmen am Geschehen teil, auch wenn nur Molli und Trixi namentlich erwähnt werden. Diese sind zugleich auch die Heldinnen der Geschichte. Zumindest erscheint dies auf der Ebene des Topics so. Je mehr man sich aber der Fabel des Textes nähert, desto eher scheint der unbekannte Lehrer diese Rolle einzunehmen. Weil er es zulässt, dass die beiden Schülerinnen »ihren« Unterricht turnen, werden die »Heldentaten« der beiden Schülerinnen erst möglich. Damit sind allerdings die Handlungen des Lehrers nicht beschrieben, sondern lediglich
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deren Folgen. Und diese Folgen führen zu einer idealisierten Schilderung der beiden Mädchen, die erst ganz am Schluss auf Brüche hinweist. Ihre Freundschaft bekommt Lücken. Diese Darstellungsweise der beteiligten Personen erinnert an Erziehungsratgeber, die ein sehr ähnliches Argumentationsmuster aufweisen: »Ratgeber betrachten demgegenüber lieber das Kind an sich, vorzugsweise in idealisierten Posen und mit faktoriellen Zuschreibungen, die den Eindruck erwecken, Eltern oder überhaupt Erwachsene könnten sie unmittelbar und durch einfache Übernahme beherrschen« (Oelkers 1995, 126). Andere Konstitutive der Geschichte sind weniger wichtig und werden entsprechend marginal dargestellt. Als Kontext wählt Funke eine Turnhalle, in die der Leser, dies wird dramaturgisch perfekt dargestellt, durch die Aussenfenster wie auf einer offenen Galerie hineinschauen kann. Auch andere dramaturgische Mittel wie die effektvolle Beschreibung der Handlung wählt Funke geschickt: Es ist wie ein Tanz. Sie springen nicht hoch. Sie halten ihren ebenmäßigen, angenehmen Schwung und wiegen und drehen sich. Funkes Text als Fabula oder Anti-Fabula zu bestimmen, ist nicht offensichtlich. Einerseits fördert der Text aufgrund der Meta-Textanalyse einen narrativen Denkmodus. Die Fabel lässt allerdings kaum Interpretationen zu, und die moralische Äusserung ist klar: Wenn man Kinder sich ihren eigenen Wünschen und Intentionen überlässt, so kann Unterricht gelingen. Trotzdem lässt sich sein Text aufgrund seiner inhaltlichen textuellen Offenheit im Sinne Ecos auch gebrauchen. Dieser Aspekt weist auf einen fabulist-Text hin, auch wenn dies kaum Funkes Absicht entspricht. Dafür ist sein Text zu klar auf ein spezifisches Modell hin formuliert. Der Gang von Geschichte zu Geschichte lässt sich aber gewinnbringend durch die Konfrontation mit Texten anderer Autoren machen, wie ich dies am Beispiel Widerstand (5, 22) dargestellt habe. Funkes Texte zu vergleichen führt zu einer mehrfachen Bestätigung seiner Fabel, kann aber kaum zur Entwicklung neuer narrativer Strukturen beitragen. Der Text Molli und Trixi (25) erhält seine Aussage analog zu Bildungsromanen. Die moralische Botschaft ist offensichtlich und dem Leser bleibt lediglich, diese zu akzeptieren oder abzulehnen. Im Gegensatz zu den Texten Widerstand (5, 24) oder Rauchen im Sportunterricht (6) lässt der Text Molli und Trixi (25) trotz seiner offenen Textstrukturen nur einen engen Gebrauch zu und ist in seiner Aussagekraft unveränderlich. Funkes Alltags- resp. Praxisbezug lässt sich nicht alleine aus dem narrativen Text erschliessen. Dafür ist die Sportpraxis von Molli und Trixi zu idealisiert dargestellt und erinnert mehr an eine Feiertagsdidaktik als an den Alltagsbetrieb. Der Text erschien 1989 in einer Zweitveröffentlichung als Kastentext in einem Artikel mit dem Titel »Die Bedeutung der Sportpädagogik für die Sportpraxis«. Damit ist seine Funktion offen gelegt. Der Text soll die aufgeführten Argumente für die Sportpädagogik rechtfertigen, aber nicht unbedingt veranschaulichen. Im Gegensatz zu den anderen hier aufgeführten Autoren will Funke aber nicht Praxis abbilden,
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sondern »Praxis herstellen« (1989, 10). Selbstverständlich sind Repräsentationen von Unterricht immer individuelle Konstrukte und nicht die wahrheitsgetreue Abbildung von Realität. Funkes Anspruch geht aber weiter. »Molli und Trixi sporteln so nicht irgendwo und rein zufällig, sondern dass sie auf diese Weise zu sich selbst kommen dürfen, verdankt sich ausdrücklicher sportpädagogischer Anstrengung« (Funke 1989, 10). Die Sportpädagogik stellt also Sportpraxis als Gegen- oder Eigenwelt her, wie dies Schierz (1997) erläutert hat. Die Geschichte von Molli und Trixi orientiert sich nicht am Alltag, sondern stellt eine eigene Wirklichkeit von Sport her. Damit wird der Alltag von Sportunterricht normativ besetzt und stark idealisiert, auch wenn sich Funke in seiner Interpretation widerspricht. Im Text spricht er davon, dass die das selber wollen, während in seiner Interpretation dieser Verdienst der sportpädagogischen Anstrengung zugeschrieben wird. Vielleicht liegt in diesem scheinbar vernachlässigbaren Widerspruch der eigentliche Alltagsbezug von Funke. Der narrative Text vermittelt ein naturalistisches Bild von Kindheit à la mode de Rousseau: Kinder müssen sich selbst, respektive der naturgemässen Entwicklung überlassen werden, damit sich sich zum Guten entwickeln. Die Interpretation des Autors stellt im Gegensatz dazu die Machbarkeit von Erziehung in Aussicht. In sensualistischer Manier müssen sich Pädagogen nur entsprechend anstrengen, damit sich Kinder, wie z.B. Molli und Trixi, entwickeln können. Damit wird ein hoher moralischer Anspruch formuliert, der an die Fleissansprüche von Sportlehrern erinnert: Nur wer fleissig trainiert, hat auch Anspruch auf Erfolg. Hier unterscheidet sich die intentio auctoris deutlich von der intentio lectoris. Aus dem Text selbst resultiert lediglich die Hoffnung, dass Kinder, wenn man sie machen lässt, sich für eine gelungene Sportinszenierung entscheiden können. Die Interpretation hingegen suggeriert eine andere Wirkung. »Seine [des Sportpädagogen] Absicht geht – wohlgemerkt – nicht auf sportliche Entwicklungsförderung, sondern auf menschliche Entwicklungsförderung. Genau dieser Begriff in seinem Blick lässt nun den Sportpädagogen diese Geschichte entdecken [...]« (Funke 1989, 10). Der Sportpädagoge wählt die Geschichte bewusst aus, um eine absichtsvolle Inszenierung von Sport durch den Sporterzieher zu zeigen. Dies weckt Machbarkeitsgelüste und setzt den Leser einem enormen Erfolgsdruck aus. Narrative Texte haben eine grosse Wirkung auf Alltagshandlungen, insbesondere wenn sie narrativ geschickt formuliert sind. Wie bereits dargestellt, sind Alltagshandlungen auf narrative Strukturen angewiesen, und diese werden mit der Erzählung von Funke attraktiv zur Verfügung gestellt. Hier sehe ich den Alltagsbezug von Funke, der keine empirische, sondern eine normative Alltagsorientierung herstellt. Einem exemplarischen Leser wird in aller Deutlichkeit mitgeteilt, dass es von der Anstrengung des Sportpädagogen abhängt, ob Kinder und Jugendliche sich in ihrer Sportentwicklung für einen menschlichen Sport entscheiden. Ich denke, dass diese Fabel auf die Alltagspraxis von Sportlehrern eine hohe perlokutionäre Performanz ausübt. Die Wirkung ist vielleicht gerade deshalb gross, weil die Fabel so nahe an einer Alltagsmoral liegt, die sich z.B. im Spruch »ohne Fleiss kein
5.3 Zusammenfassung
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Preis« äussert. Narrative Texte decken sich in ihren Strukturen derart mit Denkstrukturen des Alltags, dass sie sich bestens als Träger moralischer Botschaften eignen. Der Leser wird gleichsam dazu gezwungen, seine eigenen Erfahrungen dieser Geschichte narrativ unterzuordnen. Dies lässt sich zusammenfassend für Funke als Alltagsorientierung nachweisen. Funkes Text zeigt kaum einen empirischen Bezug zum Alltag von Sportunterricht auf, dafür ist er zu stark als Feiertagsgeschichte angelegt. In seiner moralischen Wirkung kann hingegen sehr wohl ein Alltagsbezug festgestellt werden. Auch wenn ein Sportlehrer diesen moralischen Anspruch inhaltlich nicht teilt, muss er damit rechnen, dass er für seine Unterrichtshandlungen wirksam wird. Unabhängig davon, ob dem empirischen Leser die Schreibweise von Funke gefällt, oder ob er sie als zu kitschig ablehnt, als Genre ist der Text deshalb in seiner Wirkungsweise mit dem klassischen Bildungsroman zu vergleichen. 5.3 Zusammenfassung Die strukturelle und inhaltliche Analyse der ausgewählten Texte ermöglicht, vergleichbar mit der empirischen Analyse der narrativen Interviews, sie einzelnen Lesarten zuordnen. Die unterschiedlichen Lesarten, die sich dem Leser anbieten, lassen sich dabei vor allem aufgrund von unterschiedlichen narrativen Textstrukturen herleiten. Dass sich die Lesarten der narrativen Texte mit den empirisch ermittelten Denkformen der Interviews decken, lässt sich einerseits analytisch begründen, ist aber anderseits auch ein bewusstes Unterfangen. Grundsätzlich weisen auch die unterschiedlichen Lesarten der Texte auf unterschiedliche Ordnungsweisen der Erfahrung hin, hier allerdings an die Person des Autors geknüpft und nicht an die Akteure der narrativen Texte. Der Text von Eckart Balz kann strukturell einer epagogisch-paradigmatischen Lesart zugeordnet werden. Dies entspricht weitgehend dem Interpretieren von Texten, das Eco vom freien Gebrauch von Texten unterscheidet. Vordergründig widerspricht diese Lesart der eher wie offene Texte zu lesenden narrativen Textsorte. Für Eckart Balz – und dies lässt sich strukturell nachweisen – gilt es jedoch vor allem, die Norm des »guten Unterrichts« darzustellen, und dazu eignen sich narrative Texte besonders gut. Hinzu kommt, dass der ausgewählte Text wesentliche Konstitutive von narrativen Texten nicht angemessen wiedergibt, was einen freien Gebrauch ebenfalls verhindert. Damit werden Deutungen der Leser rein spekulativ und können nicht mit der intentio operis begründet werden. In diesem Sinn handelt es sich bei Balz um einen geschlossenen Text, der dem Leser kaum eigenen Interpretationsspielraum lässt. Da es sich beim ausgewählten Text um eine PalimpsestGeschichte handelt, ordnet Balz seine eigene Erfahrung einem Allgemeinen unter. Den gleichen deduktiven Denkprozess bietet sich auch dem Leser an, indem er
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5 Wie ordnen Didaktiker unterschiedliche Erfahrungen?
seine eigenen Erfahrungen dem Beispiel zuordnen kann. Diese Form der Analogie deutet auf eine epagogische Lesart des Textes hin. Karlheinz Scherler bezeichnet seine narrativen Texte selbst als Episoden. Strukturell lassen sie sich am ehesten als Fallbeispiele bezeichnen, die sich als relativ geschlossene Texte einem Allgemeinen zuordnen lassen. Sein Zugang zu diesem Allgemeinen lässt sich epagogisch deuten. Dieser subjektive Erkenntnisweg lässt sich aber aufgrund der Textstruktur und seinen Ordnungen sehr gut auf die Lesart der Texte und damit auf den Leser übertragen. Trotzdem fördert Scherler in seinen Texten einen paradigmatischen Denkmodus, der nicht direkt mit der epagogischen Analogie korrespondiert. Die Texte stehen als »kasuistische« Texte aber immer für etwas Allgemeines, das sich bei Scherler in der Form von Regeln oder kategorialen Begriffen äussert. In diesem Sinn lenken diese Texte den Leser weniger auf eine moralische Pflicht hin wie bei Balz, sondern mehr auf ein paradigmatisches Wissen und damit zu einer paradigmatischen Lesart der Texte. Diese epagogische Lesart und die nicht ganz geschlossene Struktur der Texte lassen eine beschränkte Mitarbeit des Lesers in der Interpretation zu. Ich bezeichne diese Lesart, für die der Text von Scherler exemplarisch steht, als kritische Interpretation. Die offene Textstruktur verbunden mit dem dekonstruktivistischen Zugang zu den Texten bei Matthias Schierz macht eine vordergründige Zuordnung der Lesart schwierig. In ihrer Konstruktion als Fabula weisen die Texte allerdings auf einen freien Gebrauch hin und damit auf eine narrative Lesart für den Leser. Die Reihung seines Textes mit einem Text von Jürgen Funke weist auf eine epagogische Lesart hin, insbesondere, weil mit diesem Vergleich sein Text nicht einem Allgemeinen untergeordnet wird, sondern in dieser Analogie als Gegenbeispiel steht. Dieser Denkprozess wird in seiner narrativen Dichte auch vom Leser verlangt, weshalb ich diese Form der Lesart als freien Gebrauch von narrativen Texten bezeichnet habe. Einschränkend wirkt hier natürlich die Bedeutung der narrativen Texte in ihrem Kontext. Schierz sucht mit seinen kleinen Geschichten die Konfrontation mit »grossen Erzählungen«, weshalb in dieser Lesart die Texte zu einem apagogischen Denken anleiten. Die epagogische Zugangsweise kommt bei Wolf-Dietrich Miethling besser zur Geltung. Er strebt zwar ebenfalls in der Analogie der Texte zu einem allgemeinen Begriff. Im seinem eher forschungsorientierten Kontext bildet das Allgemeine allerdings immer den Abschluss der Bemühungen und nicht den Ausgangspunkt. In diesem Sinne lassen sich seine narrativen Interviews als offene Texte bezeichnen, die den freien Gebrauch und die epagogische Analogie als Lesart anbieten, wenn nicht sogar aufdrängen. Jürgen Funkes Text lässt sich in seiner Textstruktur als offener Text bestimmen. Damit wäre der Text zum freien Gebrauch prädestiniert. Seine in den Text gelegte Fabel lässt allerdings diesem Gebrauch kaum Möglichkeiten offen. Trotzdem weist der Text in seiner offenen Struktur auf eine narrative Lesart hin, die dem
5.3 Zusammenfassung
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Leser einen narrativen Denkmodus ermöglicht. Im Gegensatz dazu steht der Gebrauch des Textes in seinem Kontext. Funke wählt den Text bewusst aus, um dem Leser seine Vorstellung von Sportunterricht zu veranschaulichen. Damit werden die Geschichte als Schlüssel zum Allgemeinen und der Gebrauch des Textes stark eingeschränkt. Ich spreche deshalb von einem engen Gebrauch von Parabeln. Die starke Präsenz der Fabel lässt einem empirischen Leser nur eine apagogische Lesart offen. Um dieses Normativ als Besonderes darzustellen, drängt sich eine narrative Repräsentationsform auf, insbesondere, weil damit die moralische Bedeutung besser zum Tragen kommt. Der in den Text gelegte und dem Leser präsente narrative Denkmodus entfaltet seine Wirksamkeit nicht in Bezug auf eine eigene Deutung des Texts, sondern in ihrer Performanz der Erinnerung und des Vergleichs. Der Leser kann sich an diese Inszenierungsform erinnern, weil dieser Unterricht als Mustergeschichte für eigene Erfahrungen steht. Der Vergleich der verschiedenen Lesarten zeigt, dass narrative Texte dem exemplarischen Leser nicht nur in ihrem Inhalt, sondern auch über ihre narrative Struktur Bedeutsames mitteilen. Der Vergleich zeigt deshalb ebenso die verschiedenen Bedeutungsmuster, die mit unterschiedlichen narrativen Textsorten korrespondieren. Inwiefern diese Bedeutungsmuster in einem Bezug zu den ausdifferenzierten Denkformen der Lehrpersonen stehen, soll im abschliessenden Kapitel diskutiert werden.
6
Fazit
Eine zentrale Frage, die mich während dieser Untersuchung umtrieb, betrifft das Verhältnis des Denkens und Handelns von Lehrpersonen einerseits und dem Schreiben und der Wirkungsweise von Didaktikern andererseits. Oder, um es entsprechend Bruners These (1986) zu formulieren: Ordnen Lehrer ihre Erfahrungen anders als Didaktiker? Deshalb drängt sich der Vergleich der Resultate aus der empirischen Untersuchung und der Erkenntnisse aus der narrativen Textanalyse auf. In diesem Vergleich lassen sich zwei grundsätzliche und gegenläufige Tendenzen aufzeigen. Das Denken und das Handeln der Lehrpersonen tendiert gemäss der Auswertung der Daten von einem paradigmatischen zu einem narrativen Denkmodus. Im Gegensatz dazu lenken die analysierten Texte der Didaktiker von einer narrativen zu einer paradigmatischen Lesart. Damit lässt sich einerseits die Hoffnung nicht bestätigen, dass mit narrativen Texten die Praxis der Lehrer besser erreicht werden kann, andererseits wird die These belegt, dass sich allein aus einer narrativen Textsorte noch kein besserer Praxisbezug ableiten lässt. Narrative Texte vereinfachen zwar die Zuordnungsmöglichkeit eigener Erfahrung im Gang von Geschichte zu Geschichte, verhindern aber oft aufgrund ihrer inhärenten Fabel eine normative Offenheit. Im Detail zeigen sich allerdings einige interessante Annäherungen zwischen den Texten der Theoretiker und den Rechtfertigungen der Lehrpersonen. Im Fazit sollen zunächst die direkten Erkenntnisse aus dem Vergleich der empirischen Untersuchung und der Textanalyse dargestellt und diskutiert werden (6.1). Aus diesen Erkenntnissen lassen sich Folgerungen für den zu Beginn angesprochenen Theorie-Praxisdiskurs formulieren, aufgrund dessen sich für die Fallarbeit in der Lehrerbildung vielleicht neue Perspektiven eröffnen lassen (6.2). 6.1 Ordnen Lehrer Erfahrungen anders als Didaktiker? In der empirischen Kategorie der paradigmatisch-apagogischen Folgerungen konnten Denkmuster ermittelt werden, die sich pauschal mit der Textkategorie Interpretation von Musterbeispielen decken. Der narrative Text von Balz lässt dem Leser einen derart kleinen Spielraum zur individuellen Deutung, dass er zu einer didaktischen Denkweise im paradigmatisch-apagogischen Modus anleitet. Im Vergleich dazu stehen exemplarisch die Denkweisen der Lehrpersonen in den Unterrichtsgeschichten Offener Unterricht (8) und Spannen – Entspannen (9). In der ersten Unterrichtsgeschichte wird »offener Unterricht« für die Lehrerin zu einem normativen Paradigma, das sie kaum zu durchbrechen weiss. Dieses Paradigma ist vergleichbar mit dem im Text von Balz identifizierten Code des »guten Unterrichts«. Der eigene Unterricht kann dieser Kategorie lediglich untergeordnet werden, alles andere deckt sich dann R. Messmer, Ordnungen der Alltagserfahrung, DOI 10.1007/978-3-531-92782-4_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Fazit
mit den Attributen von »schlechtem« Unterricht. Dem entsprechend muss die Lehrerin alles daran setzen, damit ihr Unterricht dem Anspruch von »offenem Unterricht« entspricht. Dabei folgt sie weniger ausformulierten Regeln als vielmehr der Vorstellung eines offenen Unterrichts, die sich nur in ihrer narrativen Erinnerung abbilden lässt. Dieses handlungswirksame Skript deckt sich mit der im Text von Balz (Das Laufabzeichen, 19) identifizierten Fabel von gutem Unterricht. Damit verweist selbst dieser Vergleich im paradigmatischen Denkmodus auf die Wirksamkeit von narrativen Skripts, die sich u. U. durch geschlossene, aber narrative Texte verstärken lassen. Die zweite Unterrichtsgeschichte verweist idealtypisch nicht auf eine Geschichte, sondern auf eine sportphysiologische Regel. Die Wirksamkeit dieser Regel lässt sich durch die Rechtfertigungen der Lehrerin belegen. Hier kann kaum auf ein narratives Skript verwiesen werden, aber ihre falsche Auslegung deutet darauf hin, dass selbst naturwissenschaftliche Regeln einer Kontextualisierung bedürfen. Die widersprüchliche Verschiebung einer Regel des Krafttrainings zu einer Regel des Stretchings zeigt, wie willkürlich auch vermeintlich klare Grundsätze in ihrer Anwendung verstanden werden können. Eine narrative Rahmung der Regel in der Form eines geschlossenen Textes, wie er z.B. von Balz formuliert wird, könnte diese Fehlinterpretation wahrscheinlich verhindern. Gerade weil die Lesart von geschlossenen Texten keinen Deutungsspielraum offenlässt, würde damit eine performative Sicherheit gewährleistet. Die damit korrespondierende Denk- und Lesart der apagogischen Analogie zwingt sowohl den Leser als auch den Autor zu einer Deduktion, die auch in der Unterrichtshandlung zur »richtigen« Interpretation führen würde. Der empirischen Kategorie der paradigmatisch-apagogischen Folgerungen steht idealtypisch die Kategorie der narrativ-epagogischen Erklärungssuche gegenüber. Für diese Denkweise konnte empirisch eine grosse Relevanz nachgewiesen werden. So deuten nicht nur die hier vorgestellten Beispiele auf dieses Denkmuster hin, sondern in ihrer Tendenz der Auslegung auch viele der anderen Unterrichtsgeschichten. Der mit dieser Denkweise übereinstimmende freie Gebrauch von kleinen Geschichten lässt sich allerdings nur schwer als Lesart in didaktischen Texten finden. Damit bestätigt sich die bereits in der Darstellung des Theorie-Praxisdiskurses formulierten These, dass die Theorie nur selten Anschlüsse an die Denkweise der handelnden Lehrpersonen bietet. Die vier in dieser Kategorie ausdifferenzierten Unterrichtsgeschichten (Positionsfehler, 12; Mitturnen, 13; Abpfiff, 14; Wegräumen, 15) weisen trotz ihrer erheblichen Unterschiede auf eine entscheidende Wirkungsweise hin. Lehrerinnen und Lehrer versuchen ihre Unterrichtshandlungen oft durch andere »Geschichten« zu erklären. Egal, ob als offen formulierte Reihung verschiedener Episoden oder als PalimpsestGeschichten, die Wirkung beruht meist auf Geschichten der eigenen (Sport)Biografie oder auf Erlebnissen mit beteiligten Schülern. So lassen die beiden Unterrichtsgeschichten Positionsfehler (12) und Abpfiff (14) erkennen, dass die Entscheidun-
6.1 Ordnen Lehrer Erfahrungen anders als Didaktiker?
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gen im Unterricht aufgrund eigener Sporterfahrungen des Lehrers gefällt werden. Die Geschichte Mitturnen (13) weist auf eine Erfahrung des Lehrers mit der betroffenen Schülerin im ausserschulischen Kontext hin. Einzig der Text Wegräumen (15) entspricht in seiner epagogischen Analogie einer Episode im beobachteten Unterricht selbst. Bei allen vier Texten zeigt die Analyse der Erklärungsversuche der Lehrpersonen einen narrativen Denkmodus auf. Wird dieser Denkmodus – wie dies in allen vier Geschichten der Fall ist – in einer epagogischen Reihung mit anderen eigenen Geschichten verbunden, lässt sich eine hohe Performanz in der Praxis nachweisen. In den dadurch entstandenen narrativen mentalen Skripts lassen sich die Lehrpersonen selbst durch eigene widersprüchliche Argumente nicht von ihren Handlungsmustern abbringen. Die vier zu dieser Denkkategorie gehörenden Unterrichtsgeschichten belegen demnach die im theoretischen Diskurs formulierte Wirkungsthese eines narrativen Denkmodus und einer narrativen Ordnungsweise in der Unterrichtspraxis. Interessanterweise lässt sich bei den untersuchten didaktischen Texten nur ansatzweise eine narrativ-epagogische Lesart nachweisen. Das mit diesem Denkmuster idealerweise zusammenhängende Deutungsmuster des freien Gebrauchs lässt sich zwar auf den Text Widerstand (5/22), aber nur bedingt auf die Interpretation des Autors selbst übertragen. Als offener Text ist die Unterrichtsgeschichte zum freien Gebrauch angelegt, in der expliziten Verwendungsweise von Schierz drängt sich aber eher eine apagogische Lesart auf. Im Vergleich zu eigenen Geschichten bleibt dem Leser die Möglichkeit, eigene Erfahrungen dieser Geschichte zuzuordnen. Trotz der dekonstruktivistischen Lesart des Textes wird der Text in Bezug zu einem Allgemeinen gebracht, um dieses in Frage zu stellen. Eine andere, subjektivere Lesart ist ausdrücklich nicht vorgesehen. Die explizit offene Textgestaltung lässt allerdings auch einen didaktischen Gebrauch zu, der über diesen engen Verwendungszweck hinausgeht. Die kleine Geschichte kann den Leser dazu auffordern, eigenen Unterricht zu hinterfragen und vergleichbare Fragen des Autors an den eigenen Unterricht zu stellen. Dies entspricht ebenfalls der Absicht von Schierz, auch wenn er diesen Gebrauch eher allgemein für kleine Geschichten und weniger in seiner eigenen Interpretation des narrativen Textes Widerstand (5, 22) fordert. Damit hat diese Geschichte zumindest das Potenzial, in der Lektüre des Textes narrative Skripts zu bilden, die in einem anderen Kontext handlungsrelevant werden können. Ob zu diesem Zeitpunkt die Mitwirkungsleistung des Autors noch von Bedeutung ist, muss bezweifelt werden. Der Text zeigt lediglich auf, wie man sich in vergleichbaren Situationen nicht verhalten soll. Die performative Möglichkeit konkreter Handlungsweisen, die in Bezug auf die Schüler Erfolg versprechen, ist durch diesen narrativen Text nicht gegeben. Den freien Gebrauch von narrativen Texten zeigt ausgerechnet ein Forschungstext, der explizit nicht für einen didaktischen Verwendungszweck geschrieben worden ist. Obwohl auch im Text Stundenbeginn (23) die Fabel des Autors zum
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6 Fazit
Ausdruck kommt, lässt der Text die mentale Mitarbeit des Lesers zu. Dies ermöglicht es einem Leser, seine eigene epagogische Reihung von Geschichten zu gestalten, womit der Geschichte nachdrücklich eine Performanz zugeordnet werden kann. In der Reihung mit eigenen Geschichten erhält diese fremde Geschichte eine Relevanz für das Handeln im Unterricht. Indem der Lehrer sich über sein eigenes Handeln kritisch äussert, zeigt er einem exemplarischen Leser mögliche Handlungsweisen für den eigenen Unterricht auf. Im Gegensatz zu anderen diskutierten Texten ist ein didaktischer Gebrauch der Geschichte bereits im Text selbst angelegt. Durch die Rahmung in einem narrativen Text wird diese Fabel u.U. zu einer didaktischen Handlungsstrategie führen. Der Vergleich der epagogisch-narrativen Lesart mit dem analogen Denkmuster zeigt eine kategoriale Kluft zwischen dem Schreiben der Didaktiker und dem Denken der Lehrpersonen auf. Während die Lehrer in ihren Rechtfertigungen mehrheitlich zu einem narrativen Denkmodus neigen, bietet sich aus den analysierten Geschichten nur selten eine narrative Lesart im Sinne von offenen Texten an. Dieser empirische Befund lässt sich allerdings auch phänomenologisch deuten. Die interviewten Lehrpersonen beziehen ihre Unterrichtsgeschichten mehrheitlich auf die eigene biografische Erfahrung, die einer dem Allgemeinen verpflichteten Didaktik verborgen bleiben. Dies verweist ein weiteres Mal – und auch in Bezug auf die Denkmodi – auf den kategorialen Unterschied von Theorie und Praxis. Trotzdem sollte die Didaktik diese entscheidende Anschlussmöglichkeit insbesondere in der individuellen Wissensgenese explizit berücksichtigen. Nicht die allgemeinen Paradigmen der Theorie sind im Unterricht handlungsleitend, sondern die subjektiven Narrative der betroffenen Lehrpersonen. Nebst diesen beiden idealtypischen Analogien der Denk- und Lesarten lassen sich noch zwei weitere Denkmuster ausdifferenzieren. Die narrativ-apagogischen Begründungen zeigen hier Vergleichsmöglichkeiten zu einem engen Gebrauch von Parabeln. Die von den Lehrpersonen vorgebrachten Begründungen für ihr Handeln sind einem Allgemeinen verpflichtet, dessen sie sich z.T. nicht bewusst waren. So äussert der Lehrer im Text Abseitsstehen (16), dass er sich seiner Schuld für das Abseitsstehen der betroffenen Schülerin in der Unterrichtssituation nicht bewusst gewesen ist. Im Text Passen und Annehmen (18) begründet der Lehrer seine Sprechpause mit einem Argument, ist sich aber ebenfalls nicht bewusst, dass nur eine Umkehrung des Arguments schlüssig wäre. Einzig in der Unterrichtsgeschichte Abrollen rückwärts (17) äussert sich die Lehrerin direkt zur ausgewählten Episode, aber auch sie ist sich der apagogischen Reihung der Geschichte mit einer Palimpsest-Geschichte nicht bewusst. Die drei Geschichten zeigen, wie wirksam narrative Skripts im Unterricht sein können, obwohl sich die betroffenen Lehrpersonen der Analogie zu anderen Geschichten kaum bewusst sind. Das Besondere in dieser Kategorie liegt darin, dass sich das narrative Skript nicht durch eine epagogische Reihung von Geschichten ergibt, sondern durch einen narrativ-deduktiven Prozess. Durch eine vergangene
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Erfahrung wird eine Regel gebildet, der sich zukünftige Handlungen unterordnen. Indem sich diese Regel narrativ formt, ergibt sich für die Alltagspraxis eine hohe Wirksamkeit. In der narrativen Textanalyse konnte diese Lesart von Texten der Unterrichtsgeschichte Molli und Trixi (25) zugeordnet werden. Bereits in der Analyse der Textsorte wurde die Vermutung geäussert, dass die Verbindung einer allgemeinen Regel oder Norm mit einer narrativen Repräsentationsform über eine hohe Performanz verfügen könnte. Vergleicht man diese Textsorte mit den bereits ausdifferenzierten und vergleichbaren Denkmustern aus den Interviews, bestätigt sich diese Vermutung. Die Norm, die sich als Fabel narrativ in einen Text einbetten lässt, wird, bewusst oder unbewusst, in der Unterrichtshandlung wirksam. Obwohl sich der Autor auch in diesem Text nicht explizit über das Allgemeine dieser apagogischen Analogie äussert, kann die normative Botschaft von »gutem Unterricht« performativ werden. Allein die narrative Formung lässt die Fabel für einen exemplarischen Leser wirksam werden. Damit bestätigt sich die in der Darstellung der Denkformen von Bruner und anderen geäusserte These, dass narrativ repräsentierte Normen und Regeln in Alltagshandlungen präsenter und damit wirksamer sind als paradigmatische Muster. Ob sich Funke dieser Wirksamkeit bewusst ist, kann hier nicht festgestellt werden. Seiner Geschichte Molli und Trixi (25) kann diese Wirksamkeit aufgrund ihrer grosszügigen narrativen Ausstattung zugesprochen werden. Im Unterschied dazu zeigt sich der Vergleich der Lesart von Fallbeispielen mit der analogen paradigmatisch-epagogischen Denkform. In den beiden Texten, die dieser Kategorie zugeordnet worden sind, versuchen die Lehrpersonen, ihre Unterrichtshandlung in einer epagogischen Analogie einem allgemeinen Konzept unterzuordnen. In der Geschichte Üben und Wettkämpfen (10) will der Lehrer durch klare Regeln ein Mogeln der Schüler verhindern. Unbewusst verbindet er damit eine PalimpsestGeschichte (Hütchenspiel, 7) in einer epagogischen Analogie. Trotz dieser Reihung von zwei Geschichten zeigt sich beim Lehrer ein paradigmatischer Denkmodus, der ihm vor allem zur Rechtfertigung seiner Handlung dient und weniger als Ursache für die Entscheidungen im Unterricht selbst. Im Text Kollision (11) ordnet der Lehrer seine Handlungen dem Konzept der Sinnperspektiven unter. Auch hier weist das Argumentationsmuster auf Rechtfertigungen seiner Handlungen hin. Für den konkreten Unterrichtsverlauf lassen sich andere Ursachen ableiten, vielleicht war sogar die Anwesenheit der Kameraleute ein mitentscheidender Faktor. Die zu diesem Denkmuster passende Lesart der kritischen Interpretation von Fallbeispielen lässt sich in der Fallgeschichte »Soll genug sein!« (20) identifizieren. Auch hier führt die Lesart des Textes in einer epagogischen Analogie zu einem paradigmatischen Denkmodus. Die Schlichtheit der Texte verdeutlicht diesen paradigmatischen Anspruch. Durch das Fallbeispiel soll das Paradigma veranschaulicht, aber nicht in Frage gestellt werden. Die einfache narrative Form der Texte deutet nur vermeintlich auf eine didaktische Konstruktion hin. Der Vergleich mit den
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analogen Interviewaussagen zeigt, dass Äusserungen in diesem Denkmodus mehr auf Rechtfertigungen des Handelns und weniger auf die eigentliche Handlung hindeuten. Damit äussert diese Textsorte, die durch die Beispiele »Soll genug sein!« (20) und Der Übungsbetrieb... (21) exemplarisch dargestellt worden ist, ihre Wirksamkeit vor allem für nachträgliche Reflexionen. In der epagogischen Reihung werden solche Fallbeispiele vielleicht auch für die konkrete Unterrichtshandlung relevant, in ihrem Paradigma aber hauptsächlich für die Rechtfertigung des Handelns. Damit lässt sich für die Lesart dieser Texte eine widersprüchliche Wirkungsweise ableiten. In einem didaktischen und epagogischen Gebrauch, wie er z.B. bei Scherler angelegt ist, lassen sich durch die Reihung von Fallbeispielen narrative Skripts bilden, die für eine Alltagspraxis nachweislich wirksam sind. In einer unkritischen isolierten Interpretation fördert diese Textsorte hingegen einen paradigmatischen Denkmodus, dem hier didaktisch eine geringere Wirksamkeit zugesprochen werden muss. Zusammenfassend zeigt der Vergleich zwischen den empirischen Befunden und der analytischen Resultaten, dass sich narrative Texte in der Form von Parabeln wirksamer gestalten als Texte in der Form von Fallbeispielen (20). Ebenfalls zeigen sich narrative Texte in der Form von kleinen Geschichten in ihrer didaktischen Performanz wirksamer als Texte in der Form von Musterbeispielen. Kleine Geschichten entwickeln ihre Wirksamkeit insbesondere durch den epagogischen Vergleich mit Geschichten der eigenen Erfahrung, was ihre didaktische Bedeutsamkeit wiederum einengt. In ihrer narrativ-epagogischen Konstruktion sind sie wenig geeignet, eine allgemeine Erkenntnis der Wissenschaft für die Praxis fassbar zu machen. In diesen Texten liegt das Potenzial, eigene verborgene Geschichten der Lehrpersonen sichtbar und wirksam werden zu lassen. Sowohl kleine Geschichten, wie z.B. Widerstand (5, 22), als auch Parabeln, wie z.B. Molli und Trixi (25) entwickeln ihre didaktische Performanz dadurch, dass sie auf narratives Denken angelegt sind. Dies sagt nichts über die inhaltliche Aussage der Texte aus, sondern lässt sich lediglich aufgrund ihrer narrativen Form erklären. Die didaktische Relevanz einer kritischen Interpretation von Fallbeispielen kann unter Umständen von viel grösserer Bedeutung sein als der enge Gebrauch von Parabeln, wie es an den beiden Beispielen dargestellt worden ist. In Bezug auf ihre Alltagsbedeutung nimmt allerdings die Form eine grössere Performanz ein als die inhaltliche Aussage. Dies mag aus einer reflexiven Distanz zum Geschehen bedauernswert sein, für die Handlungswirksamkeit in der Alltagspraxis ist diese inhaltliche Differenz jedoch bedeutungslos. Die vergleichende Textanalyse zeigt, dass durch narrative Texte eine normative Botschaft vermittelt werden kann, die sich mehr über die Textstrukturen festlegen lässt. Ob dies mit Absicht geschieht, entzieht sich der Ergebnissen der Analyse. Ob absichtsvoll oder nicht, die Autoren können sich der normativen Wirksamkeit narrativer Texte sicher sein, dies bestätigt die empirische Analyse. Lehrer bedienen sich in ihrem Handeln normativer narrativer Skripts, die sie in der Reflexion selbst kaum wahrnehmen. Sie ordnen ihre eigenen Erfahrungen diesen normativen Narrativen
6.2 Folgen für den Theorie-Praxis-Diskurs in der Lehrerbildung
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zu. Damit werden auch wenig schlüssige und vielleicht widersprüchliche Normen ausgesprochen handlungsrelevant. Der Vergleich der empirischen Untersuchung mit der narrativen Textanalyse weist in seinen konkreten und singulären Befunden über den Diskurs in der Sportpädagogik hinaus. Wenn es also stimmt, dass Lehrer und Didaktiker ihre Erfahrungen in unterschiedlichen Denkmodi ordnen, so muss der Theorie-Praxisdiskurs um eine weitere Dimension, nämlich um die Differenz der Denkformen ergänzt werden. Die Differenz der Denkformen könnte – so meine Vermutung aufgrund der Untersuchung – nicht nur Unterschiede zwischen den beiden Praxen aufzeigen, sondern auch Anschlussmöglichkeiten zwischen Theorie und Praxis anbieten. 6.2 Folgen für den Theorie-Praxis-Diskurs in der Lehrerbildung Der Theorie-Praxis-Diskurs, der in der Erziehungswissenschaft allgemein und in der Sportpädagogik im Speziellen geführt wird, lässt sich, wie zu Beginn dargestellt, auf zwei grundsätzliche Widersprüche reduzieren. Einer dieser Widersprüche steht für die Differenz der Praxen veräusserlicht durch die Forschungspraxis einerseits und der Unterrichtspraxis andererseits. Ein weiterer Widerspruch lässt sich an der im Diskurs untersuchten Differenz der Wissensformen ausmachen. Der langatmige Theorie-Praxisdiskurs aber hat in seinen unterschiedlichen Facetten vor allem deutlich gezeigt, dass das Theorie-Praxis-Problem nach über 20 Jahren zwar diskutiert, aber nicht gelöst worden ist (Oelkers 1984, 19). In diesem Sinn ist es vermessen, die von mir neu in die Diskussion eingebrachte Differenz der Denkformen als Lösung des Problems zu sehen. Die in der Untersuchung dargestellten Unterschiede der Denk- und Ordnungsweisen der Erfahrung weisen allerdings auf attraktive Anschlussmöglichkeiten hin, die über eine simplifizierende Transferidee hinausgehen. Im deutschsprachigen Theorie-Praxis-Diskurs ist diese Differenz bisher kaum diskutiert worden. Anders im angelsächsischen Raum, wie z.B. in der Untersuchung von Berliner (1987), die gerne und oft auch im hiesigen Diskurs rezipiert wird. In dieser Untersuchung steht zwar generell der Begriff des Wissens zur Diskussion (vgl. Koch-Priewe 2002b). Berliners Vergleich zwischen Routiniers und Novizen im Lehrerberuf weist aber ebenso auf die Differenzen im Denken hin. »As research grows in the two related areas [...] – (a) the role of experience on the thought and actions of teachers, and (b) the nature of the skills possessed by expert teachers – we will greatly expand our knowledge base about teachers and teaching« (Berliner 1987, 81). Damit zeigt diese Studie – trotz der Rezeption im Diskurs über differente Wissensformen – auch den Aspekt des Denkens und der Denkformen. Für Berliner sollen deshalb zukünftige Forschungsprojekte auch den Zusammenhang von Denken und Erfahrung als wesentliche Differenz zwischen Anfängern und Könnern untersuchen (ebd. 80). Gleichzeitig weist seine Studie aber nicht nur auf die
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Differenz des Denkens hin, sondern findet gerade hier die wesentlichen Gemeinsamkeiten von Theorie und Praxis. »This kind of overlap in ways of thinking by some postulants, novices, and experts provides us with the reason for questioning [...] the statement that experience is the best teacher« (Berliner 1987, 77). Mit den als Leitdifferenz eingebrachten Denkmodi von Bruner (1985) wird diese Diskussion aufgegriffen und empirisch auszuwerten versucht. Die ausführlich untersuchten Denkformen des paradigmatischen und narrativen Denkens sind meines Wissens im deutschsprachigen Raum noch nie in Bezug zum Theorie-PraxisProblem der Lehrerbildung gesetzt worden74. Die Differenz der Denkform folgt hier einer didaktischen Tradition, die sich weniger an der Form des Wissens, sondern vielmehr an der Genese von Wissen und an der Ordnungsweise von Erfahrungen orientiert75. Beide Denkformen konstruieren auf ihre Art eine Weltsicht. Die Dichotomie zwischen den beiden Formen entsteht dadurch, dass zwischen der Welt der Wissenschaft und der Denkform des Narrativen keine Bezüge hergestellt werden. »There is nothing in science and logic that corresponds to narrative or poetic license« (ebd.). Vielleicht ist hier einfach eine weitere Ursache des fehlenden Praxisbezugs der Lehrerausbildung zu finden. Nicht nur unterschiedliche Praxen und unterschiedliche Wissensformen führen zu einem »unüberbrückbaren« Graben zwischen Theorie und Praxis in der Lehrerausbildung, sondern ebenso die unterschiedlichen Denkformen, der in den beiden Praxen handelnden Personen. Bei beiden Denkformen lassen sich sehr spezifische Eigenschaften und Funktionsprinzipien ausdifferenzieren, die dem jeweils anderen Modus explizit widersprechen oder ihn ausschliessen. »Efforts to reduce one mode to the other or to ignore one at the expense of the other inevitably fail to capture the rich ways in which people ›know‹ and describe events around them« (Bruner 1985, 97). Damit wären Anschlussmöglichkeiten zunächst ausgeschlossen und das Theorie-Praxis-Problem als solches lediglich weiter ausdifferenziert. Die begriffliche und inhaltliche Unterscheidung zwischen Wissens- und Denkformen scheint mir allerdings für den Theorie-Praxis-Diskurs der Lehrerausbildung entscheidend. Während Wissensformen mehr auf Erkenntnisse und Ergebnisse hinweisen, weisen Denkformen auf die Genese von Wissen und Ordnungsweisen von Erfahrung hin. Wird der Diskurs personifiziert – wie zu Beginn historisch dargestellt – kann diese Unterscheidung zu unglücklichen Bewertungen führen. Das Denken des »Theoretikers« ist demnach a priori besser, weil es analytisch und objektiv nachvollzogen werden kann. Im Gegensatz dazu ist das Denken der Praktiker
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Als einzige Ausnahme sei hier Dick (1996) vermerkt, allerdings nur ansatzweise und nicht in diesem Kontext. Carter (1993, 6) spricht zwar (explizit mit Bezug auf Bruner) von paradigmatic knowledge und story knowledge. Meines Wissens verwendet Bruner diesen Term hingegen nie. Er bezeichnet die beiden Formen immer als mode of thought.
6.2 Folgen für den Theorie-Praxis-Diskurs in der Lehrerbildung
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einfacher, weil es sich auf Muster bezieht, die nicht immer klar sind. Deshalb erstaunt es nicht, dass die Theorie in der Lehrerbildung eine Umformung erfährt und als »moralische Sätze, unkorrigierbare Gesinnungen oder riskante Verallgemeinerungen« (Oelkers 1994, 62) auftritt. Ohne diese vereinfachende Personifizierung weist die Differenzierung der Denkmodi allerdings auf eine entscheidende Kategorie im Theorie-Praxis-Diskurs hin: Wesentlich sind weder unterschiedliche Praxen noch vielfältige Wissensformen, sondern unterschiedliche Denkweisen, die auf das Handeln in sich widersprechenden Praxen hinweisen. Diese Differenz scheint mir deshalb von Bedeutung, weil hier die oft beklagte fehlende Performanz der Lehrerbildung vermutet werden kann. Die Performanz der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern beruht weniger auf den verwendeten Wissensformen und den damit verbundenen unterschiedlichen Paradigmen der Veräusserlichung. Vieles deutet darauf hin, dass die performativen Unterschiede in den Denkformen der in dieser Ausbildungspraxis handelnden Personen zu suchen sind. Diese Meinung vertritt auch Calderhead, indem er der bestehenden Lehrer-Forschung eine zu enge Ausrichtung attestiert. »It is argued here that much of the debate about wheater and how research on teaching might be of use in teacher education rests on narrow, stereotyped assumption both about the nature of research and the nature of practice. Depending upon the assumption one cares to make one could argue either for or against the contribution that research on teachers’ thinking might provide« (Calderhead 1993, 15). Lehrer-Können basiert demnach auf Hierarchien von Denkstrukturen, die diese Form des Könnens auszeichnet. Bromme (1992, 135) bezeichnet dies als Denkstil, den vor allem Experten auszeichnet. Er interpretiert diesen Begriff jedoch weniger als prozedurales Wissen denn als Logik des gekonnten Handelns. In diesem Sinn sind die von Bromme unterschiedenen Denkstile ebenfalls ein Konstrukt sozialen Handelns. »Es werden grössere Einheiten von Regeln gebildet und situationssowie zielbezogene Elemente in die Regeln integriert« (Bromme 1992, 137). Damit unterscheidet sich aber der Begriff des Denkstils, den Bromme einführt vom Begriff des Denkmodus, der in dieser Untersuchung zur Anwendung kommt. Insbesondere beim narrativen Modus des Denkens werden weniger Regeln subsumiert, sondern es wird versucht, Analogien herzustellen. Diese Form des Denkens baut auf Ähnlichkeiten auf, zumindest wird kognitiv versucht, Erfahrungen zu vergleichen. Ähnlichkeit wird aber als dem wissenschaftlichen Denken unangemessen ausgeschlossen (vgl. Combe/Kolbe 2004, 845). Im Gegensatz zu Paradigmen beruht narratives Denken auf Ähnlichkeiten. Clandinin/Connelly sehen diese Form von Analogien oder diese Denkstrukturen in ihrem Begriff »Professional Knowledge Landscapes« (1995) abgebildet. Sie bezeichnen damit gerade nicht die wissenschaftliche Form des Wissens, das es durch geeignete Massnahmen zu transformieren gilt, sondern Ähnlichkeiten des Denkens, die allerdings nur phänomenologisch zu erfassen sind. Dabei differenzie-
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6 Fazit
ren sie sowohl bei der Erschliessung als auch bei der Verwendung von eigenen und fremden Erfahrungen narrative Strukturen aus. Die vorliegende Untersuchung will einen Beitrag leisten, an diesen Diskurs der Analogie anzuknüpfen. Es scheint mir zu einfach, wenn mit Verweis auf die unauflösbare Differenz der Wissensformen von Theorie und Praxis der theoretischen Ausbildung lediglich der reflexive Umgang mit Theorie zugestanden wird (Dewe 1997, 242). Vergleichbar mit dem personifizierten Theorie-Praxis-Verhältnis blendet der Diskurs um differente Wissensformen aus, dass Theorie und Praxis als soziale Systeme miteinander kommunizieren müssen. Als sich gegenseitig bedingende Systeme sind sie auf den Diskurs angewiesen und können sich nicht hinter den ihnen eigenen Wissensformen verstecken. »Die Personen [Theoretiker und Praktiker] sind Teil öffentlicher Lernsysteme, an deren Kommunikation sie sich anschliessen müssen, wenn sie überhaupt verwendbares Wissen erlangen wollen. Berufliche Handlungen, wie sie Lehrpersonen vollziehen, sind nicht einfach private Entscheidungen, sondern sie unterliegen Wissensformen und Reflexionsstandards, die überhaupt erst ein professionelles Feld schaffen« (Oelkers 1994, 59). Deshalb bleibt der normative Anspruch bestehen, dass in der Professionalisierung von Lehrpersonen zwischen Theorie und Praxis Anschlüsse hergestellt werden müssen. Denn als unterschiedliche Systeme der Wissensgenese sind Theorie und Praxis der Lehrerbildung aufeinander angewiesen und können sich in einem professionellen Kontext nicht dem Diskurs verweigern. Aus dieser Professionalisierungsperspektive scheint eine gegenseitige Referenz notwendig, auch wenn sich die Bezüge nur schwer herstellen lassen. Ich beurteile es auch kritisch, die Differenz von Theorie und Praxis in eine Differenz von Wissen und Können zu wandeln, wie dies z.B. von Neuweg (1999) und Koch-Priewe (2002b) eingebracht worden ist. Wissen und Können entspringen einem jeweils anderen Kategoriensystem und lassen sich analytisch nicht auf vergleichbare Paradigmata zurückführen. Selbstverständlich bezieht ein Professional sein Können aus seinem Expertenwissen, wenn auch nicht ausschliesslich. Können umfasst aber weit mehr Kompetenzen und kann nicht auf das Repertoire von implizitem Wissen reduziert werden. Für Shulman ist diese Perspektive schlicht zu trivial. »In this manner, I would argue, teaching is trivialized, its complexities ignored, and its demands diminished. Teachers themselves have difficulty in articulating what they know and how they know it« (Shulman 1987, 6). In diesem Sinn hat die Wissensverwendungsforschung zu Recht auf den kategorialen Unterschied der beiden Wissensformen hingewiesen. Aber diese Erkenntnis sollte nicht dazu führen, dass – durch die Akzeptanz der Dignität beider Wissensformen – der Diskurs nicht mehr gesucht wird. »Denn eine solche Umakzentuierung bedeutet nicht das Ende, sondern den Anfang von Verwendungsforschung – zumindest einer solchen, welche die immanenten Widersprüche und Verstiegenheiten der alten Debatten überwindet« (Beck/Bonß 1989, 27).
6.2 Folgen für den Theorie-Praxis-Diskurs in der Lehrerbildung
221
Weder die Praxis der Theorie, resp. die Praxis des Unterrichtens lassen sich grundsätzlich verändern, ohne dass sie ihre Identität verraten. Dasselbe gilt für die Wissensformen, die man nicht durch einen simplen Transfer aufeinander beziehen kann. Im Gegensatz dazu weist der Fokus auf die unterschiedlichen Denkformen nicht auf einen unlösbaren Wissenstransfer hin, sondern öffnet die Möglichkeit zur Transformation. Erkenntnisse der wissenschaftlichen Praxis müssen der differenten Denkform der Unterrichtspraxis angepasst und damit transformiert werden. Wenn man über den Theorie-Praxis-Diskurs neu nachdenkt, dann darf man »einerseits nicht hinter die Erkenntnisse der Verwendungsforschung zurückfallen, aber auch nicht in deren Aporien münden« (Helsper 2002, 67). Damit wird das TheoriePraxis-Problem weder obsolet noch durch eine simple Begriffsverschiebung verharmlost, sondern es zeigt das Potenzial gegenseitiger Lernprozesse. Vielleicht liegt darin eine Chance, die beiden Systeme besser miteinander in Bezug zu bringen, indem die jeweils andere Denkform zunächst explizit gemacht wird, um dann in der Ausbildungspraxis wirksam werden zu können. Mit der Unterscheidung zwischen paradigmatischen und narrativen Denken wird eine kognitive Differenz eingeführt, aber gleichzeitig auch ein Transformationsangebot geschaffen. Oder mit den Worten von Oelkers: Mit der Unterscheidung von Denkformen lässt sich vielleicht »das Theorie-Praxisproblem ohne Theorie-Praxisproblem« aushandeln (1994, 55). Konkret lässt sich deshalb aus der Untersuchung ein dialektisches Fazit ziehen. Die Untersuchung zeigt, dass die kategoriale Differenz von Theorie und Praxis durch narrative Texte nicht grundsätzlich überbrückt werden kann, auch wenn narrative Texte attraktive Anschlüsse suggerieren. Der Vergleich zwischen dem Denken der Lehrer und dem Schreiben der Didaktiker zeigt ein dialektisches Ungleichgewicht auf. Während die Lehrer mehrheitlich einem narrativen Denkmodus folgen, der sich insbesondere für ihre Handlungen hoch relevant zeigt, beschreiben Didaktiker »ihren« Unterricht meist paradigmatisch. Dies äussert sich z.B. bei den explizit didaktischen Texten von Scherler, die gerade dadurch, dass sie »didaktisiert« werden, ihre narrative Performanz verlieren. Im Gegensatz dazu werden z.B. die Forschungstexte von Miethling, die explizit nicht als didaktische Texte angelegt sind, narrativ und didaktisch wirksam, weil sie die Mitarbeit des Lesers bei der Lektüre durch ihre Form aktivieren. Aus der Analyse der Denkmuster der Lehrerinnen und Lehrer lässt sich der Schluss ziehen, dass für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern die Aufarbeitung oder die Arbeit mit der eigenen Biografie von zentraler Bedeutung ist. In Bezug auf auszubildende Sportlehrpersonen hat die Analyse gezeigt, dass insbesondere die eigene Sportkarriere von sportdidaktischer Relevanz ist. Somit sollen Sportlehrerstudenten in ihrer Ausbildung nicht nur ihre eigenen Sportfertigkeiten trainieren, sondern diese explizit auch didaktisch aufarbeiten. Inwiefern eine Ausbildung diese Forderung umsetzen kann, lässt sich hier nicht abschliessend beurteilen. Für die Professionalisierung von Sportlehrpersonen ist dieser Diskurs aber unausweichlich.
222
6 Fazit
Grundsätzlich zeigen die Analysen der Denkmuster, dass ein narrativer Denkmodus handlungwirksamer ist als ein paradigmatischer. Der Zusammenhang zwischen Alltagshandlungen und narrativem Denken konnte auch empirisch belegt werden. Inwiefern sich diese Erkenntnis auf die didaktische Lehre übertragen lässt, ist im Prinzip einfach zu beantworten. Die empirische Praxis von Unterricht lässt sich vorzugsweise in der Form von Narrationen repräsentieren. Werden diese Repräsentationsformen in ihrer narrativen Form behalten und nicht vermeintlich »didaktisiert«, besteht die Chance, dass diese auch in der Lehre eine Performanz entwickeln. Damit wird der narrative Denkmodus in Texten der Wissenschaft handlungsrelevant, wo eigentlich der paradigmatische Modus erwartet wird. Die Gefahr, die sich aus einer solchen Umsetzung ergibt, zeigt sich in einem engen Gebrauch von narrativen Texten. Das erwünschte und auch – im Sinne von handlungswirksamen narrativen Skripts – geforderte local knowledge, das aus solchen narrativen Texten entwickelt werden kann, lässt sich normativ beliebig »formen«, was wiederum einer wissenschaftlichen Ethik widerspricht. In diesem Sinn ist die Fallarbeit oder die Arbeit mit narrativen Texten dialektisch angelegt. Der grossen Chance einer wirksamen Transformation von wissenschaftlichem Wissen in praxisrelevante Handlungen steht die Gefahr eines tendenziösen normativen Gebrauchs gegenüber. Zukünftige Konzepte und Methoden der Fallarbeit müssten sich demnach weniger auf die formalen Schritte der Textarbeit konzentrieren, sondern vielmehr darauf, welche Denkmodi und Ordnungsweisen in welchen Textformen konstruiert und definiert werden. Auch Combe/Kolbe (2004, 842) verweisen bei ihren Zugängen, das Können von Lehrpersonen zu erfassen, auf die Auseinandersetzung mit Fällen hin. Entscheidend ist aber – und dies zeigen die vorliegenden Ergebnisse sehr deutlich – dass sich die Fallarbeit in der Lehrerbildung insbesondere mit der normativen Interpretation der Fabel auseinandersetzen muss. Ohne diese interpretative Arbeit, entfalten Fallbeispiele ihre performative Wirkung lediglich als Gedächtnisstützen und weniger in einer professionellen Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Wertungen. Hier zeigt sich die Differenz zu anderen Professionen wohl am deutlichsten, die in ihrer Ausbildungspraxis ebenfalls mit Fällen arbeiten, sich aber auf »sichere« naturwissenschaftliche oder juristische Werte stützen können. Die Auswertung der narrativen Textanalyse zeigt zudem, dass sich der Alltagsdiskurs in der Sportpädagogik nicht nur inhaltlich dem Alltag zuwenden sollte, sondern auch den Denkprozessen der im Alltag handelnden Personen. Alltäglicher Sportunterricht findet demnach vor allem in den Köpfen der Lehrpersonen und nicht in den Texten der Didaktiker statt – auch wenn sich diese explizit um einen Alltagsbezug bemühen. Ein ähnliches Fazit lässt sich auch für den Theorie-PraxisDiskurs ziehen. Um die teilweise missverständlichen Widersprüche zwischen Theorie und Praxis abzubauen, reicht es nicht aus, die unterschiedlichen Wissens- und Praxisformen zu differenzieren. Auch hier findet der Alltag der Praxis im Denken
6.2 Folgen für den Theorie-Praxis-Diskurs in der Lehrerbildung
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der handelnden Personen statt, die es durch geeignete (Text-) Formen zu erreichen gilt. Wissenschaft muss sich demnach der Praxis auch über ihre differenten Denkformen zu nähern versuchen – wenn sie diesem normativen Anspruch überhaupt folgen will. In diesem Sinn bestätigt die Untersuchung auch die von Bromme eingebrachte These, dass sich Wissenschaftler und Praktiker in Bezug auf ihren Denkzwang ähneln. »Beider Leistung besteht auch in der Konstruktion oder der Definition des Problems, das sie bearbeiten, und nicht nur in der Lösung von vorgegebenen Problemen« (1992, 136). Ohne dass Bromme auf die hier ausdifferenzierten Ordnungsweisen von Erfahrung Bezug nimmt, weist er auf einen bedeutsamen Erkenntnisgewinn dieser Untersuchung hin. Die Denkformen von Wissenschaftlern und Praktikern sind in Bezug auf die Einordnung von Problemen nicht so different, wie dies allgemein im Theorie-Praxisdiskurs wahrgenommen wird. Hier liegt der entscheidende Ansatzpunkt, um die beiden Praxen miteinander zu versöhnen.
Anhang
Geschichten (Übersicht)
1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9: 10: 11: 12: 13: 14: 15: 16: 17: 18: 19: 20: 21: 22: 23: 24: 25:
Volleyball in Gruppen .................................................................................................................60 Steinharte Matten .........................................................................................................................61 Ringeturnen ...................................................................................................................................72 Snowboarden ................................................................................................................................86 Widerstand I ..................................................................................................................................98 Rauchen im Sportunterricht ........................................................................................................98 Hütchenspiel ...............................................................................................................................107 Offener Unterricht .....................................................................................................................139 Spannen – Entspannen .............................................................................................................142 Üben und Wettkämpfen ...........................................................................................................145 Kollision ......................................................................................................................................148 Positionsfehler ............................................................................................................................151 Mitturnen .....................................................................................................................................153 Abpfiff .........................................................................................................................................156 Wegräumen .................................................................................................................................157 Abseitsstehen ...............................................................................................................................161 Abrollen rückwärts......................................................................................................................163 Passen und Annehmen...............................................................................................................165 Das Laufabzeichen .....................................................................................................................180 Soll genug sein .............................................................................................................................187 Der Übungsbetrieb beginnt 20' nach dem Läuten der Stunde ............................................188 Widerstand II ...............................................................................................................................192 Stundenbeginn ............................................................................................................................198 Guido ...........................................................................................................................................200 Molli und Trixi ............................................................................................................................203
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