William Golding: Nobelpreisträger für Literatur 1983. Sein neuer Roman – die Geschichte einer sonderbaren und verhängni...
36 downloads
863 Views
650KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
William Golding: Nobelpreisträger für Literatur 1983. Sein neuer Roman – die Geschichte einer sonderbaren und verhängnisvollen Beziehung. »Golding hat einen äußerst scharfen Blick und eine spitze Feder für die Macht des Bösen und die Gemeinheit des Menschen.« Neue Züricher Zeitung »Unumstritten die Qualität seiner Epik: die sprachliche Virtuosität und die hohe Plastizität der Schilderungen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung Kein anderer Roman William Goldings ist von so eigener Art, so eigenwillig und voll sarkastischem Witz wie »Papier-Männer«, ein Höhepunkt im literarischen Werk des Autors und wohl auch ein wenig autobiographisch: Wilfred Barclay, ein weltberühmter englischer Schriftsteller, lebt geruhsam mit seiner Frau auf dem Land. Eines Tages besucht ihn der junge Professor Rick L. Tucker, und was Barclay zunächst nur als Störung empfindet, verändert schnell sein ganzes Leben. Tucker will die einzig autorisierte Biographie des großen Dichters schreiben und zu diesem Zweck auch sämtliche unveröffentlichten Arbeiten, Briefe und überhaupt alle vorhandenen Papiere einsehen. Barclay wehrt sich heftig gegen die Schnüffeleien des Professors: Er will sein Leben, seine Papiere für sich behalten, will bestimmte Dinge vergessen, mit dem Vergangenen nicht konfrontiert werden. Barclay flieht aus seinem Haus, nachdem er sich mit seiner Frau entzweit hat, und beginnt eine Reise, die immer wieder eine Flucht vor Tucker ist, um die ganze Welt. Zunächst lebt er längere Zeit mit einer Geliebten in Italien, doch als die ihn verläßt, ist er weiter ruhelos unterwegs: Mit Leihwagen und Flugzeugen reist er von Hotel zu Hotel, weiß oft nicht, wo er sich überhaupt befindet, trinkt mehr und mehr, verliert langsam die Beziehung zur Realität. Doch Tucker bleibt ihm immer auf der Spur. Sein Lebensinhalt ist das Buch über Barclay geworden, er will der Nachlaßverwalter sein, der einzige, der alles über den berühmten Schriftsteller weiß.
William Golding
Papier Männer Roman
Non-profit ebook by tigger, Juli 2003 Kein Verkauf!
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Paper Men« bei Faber and Faber Limited, London Aus dem Englischen von Emil Bastuk
© William Golding 1984 Alle deutschen Rechte bei C. Bertelsmann Verlag GmbH, München 1984 / 5 4 3 2 1 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Printed in Germany • ISBN 3-570-01747-8
Für meinen Freund und Verleger CARLES MONTEITH
KAPITEL I Es war also wieder einmal einer jener Abende gewesen. Der Alkohol verdampfte allmählich aus meinem Kopf und hinterließ einen Bodensatz von Gereiztheit, Unbehagen und sogar Reue. Dabei hatte es sich keineswegs um ein Besäufnis gehandelt, oh, nein. Mit einiger Mühe mochte es mir sogar gelingen, jedermann davon zu überzeugen, daß ich abends nicht mehr getrunken hatte als dem Anlaß angemessen war: Ein englischer Schriftsteller, ich also, hatte einen Professor für englische Literatur zu Gast, der eigens aus den USA angereist war. Auch konnte ich anführen, daß wir meinen fünfzigsten Geburtstag feierten und eine jener ausgedehnten Mittagsmahlzeiten eingenommen hatten, die das Herzstück der europäischen Zivilisation darstellen (letzteres ein Zitat, oder vielleicht auch nicht?). Der unerbittliche Analytiker meines Charakters indessen – ich selber – wollte sich damit nicht abspeisen lassen. Schon beim Mittagessen hatten wir getrunken, und dies war der fatale erste Schritt auf dem Wege in eine ausgedörrte Einöde, die sich notgedrungen über die gesamte Spanne von vier bis sechs Uhr nachmittags erstrecken mußte, weil man seinem Gast vor sechs nicht gut schon wieder einen Drink anbieten kann; gleichwohl fühlte ich mich gedrängt, ja geradezu genötigt, diesen Zeitpunkt um eine Stunde vorzuverlegen, was unausweichlich üble Folgen haben mußte. Daß ich mir um halb vier Uhr in der Frühe zu einem gewissen Grad von Nüchternheit gratulieren durfte, mochte ein winziger Triumph sein, doch die meisten Menschen hätten wohl eine Niederlage darin gesehen. Und zum Frühstück hatte ich überdies mit der Anwesenheit des langweiligen jungen Professors Rick L. Tucker zu rechnen! Bei dem Gedanken an diesen Menschen fuhr ich im Bett hoch, sank aber sogleich ächzend wieder zurück. Es war nur ein 6
geringer Trost, daß er nicht auch noch eine Ehefrau dabei hatte, denn der hätte ich mich womöglich unsittlich genähert, ihr mindestens Zweideutigkeiten ins Ohr geflüstert. Und dann würden wir wieder zu trinken anfangen. Nein, ich würde wieder damit anfangen, weil sich die Gelegenheit bot, aus Langeweile auch, und damit meinen eigenen hochmoralischen Vorsatz ad absurdum führen, nicht mehr zu trinken, den ich doch erst vergangenen Montag gefaßt hatte und der unumstößlich sein sollte. Und noch etwas. Da, wo der gestrige lange Sommerabend in Nacht übergegangen war, klaffte in meiner Erinnerung ein gähnendes schwarzes Loch. Allerdings erkannte ich dessen Ränder jetzt etwas schärfer, denn mir fiel ein, daß ich irgendwann noch eine Flasche heraufgeholt und diese ungeachtet aller Proteste geöffnet hatte. Und danach? Ich prüfte Kehle, Gaumen, Kopf und Magen. Undenkbar, daß ich aus dieser (der fünften!) Flasche noch erhebliche Mengen getrunken hatte, andernfalls wäre mein Kopf … wäre mein Magen … wäre das schwarze Loch … In genau diesem Moment – und wenn ich wollte, könnte ich in dem Wust jener Journale, die ich in kurzem verbrennen werde, nicht nur das Datum, sondern auch die genaue Uhrzeit feststellen –, in diesem Moment also kam mir die Erkenntnis, daß Trinken zum Alkoholismus geworden ist, wenn man jenes schwarze Loch als einen Teil dieser Befindlichkeit begreift. In der schreckenerregenden Nüchternheit der frühen Morgenstunde wurde mir auch klar, daß die Symptome bereits die Unheilbarkeit der Krankheit implizieren. Denn sie ist Teil des geistigen Verfalls, eines Vorgangs, dem jedermann unterworfen ist. Ich richtete mich noch einmal im Bett auf, diesmal behutsamer. Draußen wurde es allmählich hell. Ich legte gleichsam einen anderen Gang ein – womöglich ebenfalls ein Symptom –, betrachtete mit kaltem, realistischem Scharfsinn meine Lage von allen Seiten, setzte eine ganze Heerschar von unbestechli7
chen Spähern ein, die nun ihrerseits womöglich all die unaussprechlichen Schrecken bewirken würden, von denen in allen Berichten über Rauschgiftsucht die Rede ist. Man konnte sich sehr wohl eben diesen düsteren, trockenen Scharfblick selbst als etwas Monströses vorstellen, das noch nicht sichtbar war, und, wie ich mir in einem Anfall von Verzweiflung vornahm, niemals sichtbar werden durfte. Ich würde das schwarze Loch bekämpfen, in Kneipen und Restaurants, zu Lande und in der Luft, im eigenen Haus und sogar in den köstlichen Flaschen selber, in der Hoffnung, endlich zum Genuß zu kommen, ohne dafür zahlen zu müssen, oder aber auch am hellen Tage zu genießen – alles besser als diese kalte, trockene Scharfsicht, die kurzen Prozeß mit mir machte, wie ich mich erinnere, auf eine tiefgreifende, grausame, verachtungsvolle Weise. Nein, nein, wehrte ich mich, so schlimm kann es nicht stehen! Doch dann fielen mir die Worte des Weisen ein: Bedenke, alles, was Menschen zustoßen kann, kann auch dir widerfahren. Ich nahm mich zusammen. Umfassende Garantien gibt es nun mal nicht. Es mochte da ja ein schwarzes Loch klaffen, doch ein reuig ernüchterter Mensch sollte als erstes die Lage prüfen, einen Lichtstrahl hierher und dorthin wandern lassen, bis sich in dessen Schein das Loch als weiter nichts erweist denn als ein Fall von Vergeßlichkeit, die mit zunehmenden Jahren ebenfalls zunimmt. Mein Verstand sagte mir, daß ich zu diesem Zweck ein Werkzeug bei der Hand hatte. Ich brauchte nur nach unten zu gehen, die vier leeren und die teilweise geleerte fünfte Flasche zu inspizieren, mich nach Art von Holmes oder Maigret umsehen und anhand von Beweisen – Gläser, Flaschen, Weinlachen etc. – rekonstruieren, was zwischen Abendessen und Zubettgehen vorgefallen oder, so Gott wollte, nicht vorgefallen war. Gewiß würde ich die fünfte Flasche zwar entkorkt, aber zur Gänze gefüllt vorfinden … In diesem Moment drehte Elizabeth sich im Schlafe seufzend um. Die würde selbstverständlich Bescheid wissen, oh ja! Von 8
ihr würde ich schon alles erfahren, aber weshalb sie jetzt wecken und fragen? Ich konnte die Wahrheit entdecken, wenn ich in Schlafrock und Pantoffeln nach unten schlich, ausgerüstet mit der Taschenlampe, die ich auf dem Nachttisch hatte, weil bei uns hier draußen häufig der Strom ausfällt. Auch durfte ich mich nicht irreleiten lassen durch eigene, auf Trunkenheit zurückzuführende Versuche, Beweismaterial zu unterschlagen. Die Flaschen mußten gewissenhaft überprüft werden. Falls notwendig, müßte ich durch die Hintertür – nein, die Tür vom Wintergarten machte weniger Geräusche – zur Mülltonne schleichen und schlichtweg die leeren Flaschen zählen. Denn um die Wahrheit zu sagen, glaubte ich bereits selber nicht mehr an jene noch gefüllte, wenn auch entkorkte fünfte Flasche. Das wäre ein Wunder gewesen, und obschon Wunder sich ereignen, tun sie mir diesen Gefallen offenbar nie. Indessen war ich bereits so geschwächt – mehr im Geiste als am Körper –, daß der Gedanke, ich könnte Elizabeth unwillentlich wecken, mich ebenso schreckte wie der Gedanke, in kaltes Wasser zu springen. Kaltes Wasser ist mir seit je zuwider. Nun allerdings wurde ich überraschend zu einem Entschluß gezwungen, denn der Deckel der Mülltonne vor der Hintertür fiel herunter. Plötzlich klärte sich die Lage. Ich war nicht mehr der bußfertige Trinker, sondern der empörte Hausbesitzer. Sir, wie lange sollen wir noch die als aufgeklärten Tierschutz verkleidete Belästigung durch diese tolpatschigen Kreaturen ertragen und zugleich Gefahr laufen, von ihnen mit einer Krankheit infiziert zu werden, die schon als ausgestorben gilt? Zwar ist zu bedenken, Sir … Sir … Sir … Verflixte Dachse. Ich entwand mich dem Bette, einerlei, ob Elizabeth erwachte oder nicht. Außer einer uralten, aber durchschlagkräftigen Luftbüchse war keine Schußwaffe im Hause. Mitsamt den dazugehörigen Bleikugeln hatte ich sie unter Begleitumständen erworben, die hier darzulegen zu weit führen würde. Ich sah schon die Schlagzeile: Schriftsteller, nein, 9
bekannter Schriftsteller, ach was, Wilfred Barclay erschießt Dachs. War das durch Gesetz verboten? Durch eines, das womöglich auf König Johann oder noch weiter zurückging? Durfte man etwa auf seinem eigenen Grund und Boden keinen Dachs schießen? Mein Kopf war wunderbar klar, mein Kater wohltuend abgedrängt. Ich fühlte mich begnadigt. Vielleicht dank der Aussicht, etwas töten zu dürfen, was schließlich das ererbte Privileg des Grundbesitzers ist. Ich streifte den Morgenmantel über, fuhr in die Pantoffeln. Dann schlich ich mich nach unten, vorüber an dem Zimmer, in dem unser Gast seinen einsamen Schlummer im letto matrimoniale des überzähligen Schlafzimmers genoß. Aus dem Wandschrank neben dem Kamin im Eßzimmer zog ich die Flinte hervor, spannte und lud. Sodann ging ich auf Zehenspitzen in den wohlig warmen Wintergarten, öffnete die Tür und spähte um die Ecke. Hier allerdings stand ich vor einem Dilemma. Wie soll man einen Dachs erschießen, den man nicht anders wahrnimmt denn als Ausdehnung der Mülltonne? Das Vieh umklammerte den Tonnenrand mit seinen Pfoten, hatte den Kopf hineingesteckt und wühlte ekelerregend, aber eifrig im Abfall. Wahrscheinlich nagte es an alten Speckschwarten, leckte Reste der Pastete auf oder vergnügte sich mit dem Knochen des Vorderschinkens. Ein wildes Tier, möglicherweise von Vergasung bedroht, aber nur durch die zuständigen Behörden. Und noch etwas – lag wirklich trotz der Jahreszeit spürbare Kühle in der Luft? –, waren Dachse nur deshalb gefährlich, weil sie Krankheiten übertrugen, oder auch ihrer Zähne und Krallen wegen? Greift ein angeschossener Dachs den Schützen an? Würde ein verwundeter Dachs, der womöglich gar Junge führte – waren etwa Junge bei ihm? –, mir an die Kehle springen? Meine Lage war also, wie man sieht nicht einfach, und kompliziert wurde sie ferner durch einen ganz albernen Umstand. Ich trug nämlich einen alten Schlafanzug, und die Kordel des Schlafrocks umspannte meinen Leib etwas oberhalb der Stelle, wo der 10
elastische Bund der Schlafanzughose ihn hätte umspannen sollen, der war jedoch zu ausgeleiert, um diesen Zweck zu erfüllen. Die Hose tat also, was sie immer tat, auch unter veränderten Umständen. Hatte ich abgenommen, rutschte sie runter. Hatte ich zugenommen, rutschte sie ebenfalls. Mit der einen Hand hielt ich das geladene Luftgewehr, mit der anderen die Taschenlampe, und die dritte Hand, die die rutschende Schlafanzughose hätte halten sollen, fehlte. Ich bekam die Hose gerade noch mit den zusammengepreßten Knien zu fassen. Vielleicht war dies nicht die richtige Art, einem anstürmenden Dachs entgegenzutreten? Ich erkannte hierin einigermaßen besorgt die Hand meiner ganz persönlichen Nemesis, die mich gern in Possen verwickelt. Am Mülleimer rührte sich was. Ich bewegte mich drauf zu, in einer Hand das Gewehr, mit der anderen in meiner Tasche die Lampe und zugleich den Hosenbund umklammernd. Ein Windstoß ließ die Obstbäume rauschen. Ich erreichte in genau jenem Moment die Mülltonne, als der Dachs, vielleicht durch den Windstoß aufgeschreckt, jede Bewegung einstellte. Zwischen ihm und mir nur die Mülltonne. Der Dachs blickte auf und stieß den einzigen »erstickten Schrei« aus, der mir außerhalb von Büchern je begegnet ist. Daran schloß sich ein Laut, der in den Sprechblasen der Comics meist als Glubb wiedergegeben wird. Über dem jenseitigen Rand der Mülltonne wurde nun das vom morgendlichen Licht schwach erhellte Gesicht von Professor Tucker sichtbar. Eigentlich hätte ich mich für ihn schämen sollen, tat es aber nicht. Er hatte sich aufgedrängt, mich gelangweilt, hatte seine Nase in alles und jedes gesteckt und deutlich zu erkennen gegeben, daß er mich als Opfer seiner Wissenschaft betrachtete. Nun aber hatte ich ihn bei etwas Undenkbarem ertappt. Ich dämpfte keinen Moment die Stimme. Auch wenn die ganze Welt aufwachen sollte, ich sah keinen Grund, die Tatsache zu verheimlichen, daß ich einen leibhaftigen Professor für englische Literatur beim Wühlen in 11
meiner Mülltonne ertappt hatte. »Sie müssen wohl sehr hungrig sein, Tucker. Tut mir leid, daß wir Sie nicht besser gefüttert haben.« Er blieb völlig stumm. Ich sah, daß hinter ihm die Küchentür offenstand. Ich konnte nicht hindeuten, weil ich keine Hand frei hatte. Also schwenkte ich das Luftgewehr in jene Richtung, und die herrische Gebärde bewirkte, daß mein Zeigefinger (an Gewehre einfach nicht mehr gewöhnt) den Abzug berührte. Das Gewehr ging los, mit einem Plopp, das bei Tage nicht mehr Lärm gemacht hätte als ein Korken, den man aus der Flasche zieht, jetzt vor Sonnenaufgang aber klang es wie der erste Schuß bei der Landung in der Normandie. Womöglich entfuhr Tucker ein weiterer erstickter Schrei, doch ich hörte weiter nichts als den Knall, sein Echo und ein Gebrüll, das sich anhörte, als stamme es von den Vögeln aus einem Umkreis von mehreren Meilen. Tucker machte kehrt und taperte tolpatschig wie ein Dachs zur Küche, ich humpelnd hinterdrein. Hier machte ich Licht, schloß die Tür und lehnte das Luftgewehr daneben. Ich ließ mich am Küchentisch auf einem Schemel nieder, und Tucker setzte sich mir gegenüber, als sei ein weiteres Interview oder gar die Fortsetzung des gestrigen unvermeidlich. Mein eigenes possenhaftes Auftreten und meine Tölpelhaftigkeit verwandelten meine Gereiztheit in Wut. »Jetzt hören Sie aber mal, Tucker …!« Auf seiner Wange waren Spuren von Marmelade zu sehen und Teeblätter an seiner Hand. Daran war zu erkennen, wie emsig er gesucht hatte, sogar in den Plastiktüten, die für die Müllmänner – oder Hygienetechniker, wie der Amerikaner Tucker vermutlich gesagt hätte – eigens rausgestellt wurden. In der Rechten hielt er einen kleinen Berg Papier, Papiere, wie ich sah, von denen ich noch vor vierundzwanzig Stunden geglaubt hatte, sie seien spurlos beseitigt. An seinem Schlafrock haftete ein Fetzen, der mit weit ausholenden, kindlichen Schriftzeichen bedeckt war. 12
»Lieber Himmel, Tucker, Sie sind wirklich … Glauben Sie denn, ich schmeiße Zeug weg, das …« Eine unbehagliche Erinnerung meldete sich. So einfach war das leider nicht. »Was Sie da erwischt haben, Tucker, nennt man Fan-Post. Viel bekomme ich nicht, und die Briefe, die ich kriege, sind weniger wert als Klosettpapier. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen eine Rolle.« »Bitte, Wilf …« »Und geschnitten haben Sie sich auch. In der Mülltonne liegen nämlich Flaschenscherben.« Er wiegte sich auf seinem Schemel. »Angeschossen …« Es war, als hörte ich den ersticken Schrei zum erstenmal, als hörte ich das Wort »angeschossen« zum erstenmal. »Herr im Himmel!« Ich sprang auf, machte einen Schritt und hielt mich an der Tischkante fest, um nicht zu fallen. Meine Schlafanzughose war im Nu bis auf die Knöchel gerutscht. Als mir klar wurde, wie schlimm die Lage war, strampelte ich mich frei. Es war eine Peripetie, wie man sie ärger nicht ausdenken konnte. Eben noch ganz empörte Rechtschaffenheit, war ich jetzt ungeheuerlich im Unrecht. »Zeigen Sie mal her.« »Nein, nein, es geht schon.« »Unsinn, Mann! Lassen Sie sehen.« »Es ist bestimmt nicht schlimm …« Ich riß an der Kordel seines Schlafrockes, zerrte ihm das Ding von der Schulter, und zum Vorschein kamen eine dicht behaarte Brust, dann ein schmalerer Streifen, der in die noch dichter behaarte Region seiner Geschlechtsteile führte. »Wo denn nur, um Gottes willen?« Er schwieg, schwankte leicht. Der Schlafrock glitt von seinem stämmigen Oberarm auf einen ebenso stämmigen Unterarm, und ich bereitete mich auf eine klaffende, blutige Wunde 13
vor. Ich streifte den Ärmel ganz ab und gewahrte einen kleinen Bluterguß und einen Kratzer in der Haut. Eine winzige Blutspur zog sich bis zum Handrücken. »Tucker, Sie Narr, Sie sind überhaupt nicht verletzt!« Wie auf ein Stichwort öffnete sich die Küchentür, Bühne links. Elizabeth trat auf, warf einen Blick auf Tuckers behaarte Blöße und meine weggestrampelte Schlafanzughose. »Ich möchte nicht pedantisch erscheinen, aber es ist recht spät, und ich fühle mich im Schlaf gestört. Könntet ihr beiden dabei vielleicht etwas weniger Lärm machen?« »Wobei, Liz?« »Nun, bei dem, was ihr da treibt.« »Aber siehst du nicht? Ich habe ihn angeschossen! Er war an der Mülltonne, Aschentonne, Abfalltonne. Der Dachs – ah, mein Gott, wie soll ich das erklären!« Elizabeth lächelte schaurig süß. »Es wird dir schon gelingen, Wilfred, laß dir nur Zeit.« »Ich habe ihn für den Dachs gehalten und versehentlich mit dem Luftgewehr auf ihn geschossen, verstehst du?« »Ich verstehe sehr gut«, sagte Elizabeth voller Charme, »aber wenn ihr jetzt weitermacht, nehmt etwas Rücksicht.« »Liz!« Sie bückte sich nach einem Fetzen Papier, der Tucker entglitten war, las erst stumm, dann laut: »… sehne mich so sehr nach Dir! Lucinda.« Sie wendete den Fetzen um, schnupperte kennerisch daran. »Und wer, bitte, ist Lucinda?« Dann aber, von einem Moment zum nächsten, war sie wieder die perfekte Gastgeberin. Sie wollte sich davon überzeugen, daß Tuckers nun bedeckte haarige Blöße keinen Schaden genommen hatte. Sie deutete an, daß sie genau diese Art Scherz gewöhnt sei und besonders genieße. Bald schon ließ sie uns am Tisch allein. Mein Kater hatte mich wieder und war nur zu ertragen, weil ich vor Wut fast barst. 14
»Ich wollte, ich hätte Sie wirklich erschossen!« Tucker nickte unterwürfig, durchaus bereit, für die Sache der Wissenschaft den Tod zu erleiden, ja er gestand mir, diesem fabelhaften Autor, das Recht darauf zu. Er gestand mir überhaupt vorbehaltlos zu, über alles in der Welt zu bestimmen, ausgenommen die Wörter, die ich niedergeschrieben oder die man an mich geschrieben hatte, die ihrer Natur nach … oder war es meiner Natur nach …? Doch lassen wir das. Noch jetzt erinnere ich mich daran, wie sehr ich ihn verabscheute, wie ich Liz fürchtete, mich über die unmögliche, törichte Lucinda ärgerte. Man gebe an dieses Gemisch noch eine Prise Wut auf mich selber und rasenden Zorn auf die Unwägbarkeit und die Unerbittlichkeit des Faktischen. Jenseits aller Verwicklungen auf dem Papier, den Manipulationen der Handlung, der Zeichnung der Charaktere, der Verknotung der Handlung und ihrer Auflösung, hier, in der wirklichen Welt der wirklichen Mülltonnen, hatten die absolut unglaubhaften Handlungen der Beteiligten Sachverhalte ans Licht des Tages gebracht, die ich vor den Betroffenen verborgen und endgültig abgetan glaubte. Und bei alledem konnte ich mich nicht einmal damit trösten, einen moralischen Sieg errungen zu haben – ich war als unmoralisch gebrandmarkt. »Tucker.« »Nennen Sie mich doch bitte wieder Rick, Wilf.« »Hören Sie, Tucker. Morgen wollten Sie abreisen, ich meine heute. Und ich will Sie nie mehr sehen. Nie, nie, nie, nie.« »Sie machen mich zutiefst unglücklich, Wilf.« »Scheren Sie sich endlich ins Bett.« Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch, den Kopf in die Handflächen. Ganz plötzlich überkam mich schwärzeste Verzweiflung. »Gehen Sie schlafen, trollen Sie sich, lassen Sie mich allein.« Seine Antwort zeugte von seiner törichten Ehrerbietung. »Ich verstehe, Wilf. Die Bürde lastet schwer auf Ihnen.« 15
Endlich fiel die Küchentür hinter ihm zu. Pures Selbstmitleid trieb mir das Wasser in die Augen. Lucinda, Elizabeth, Tucker, das Buch, mit dem ich nicht vorankam – die Tränen tropften auf meine Handflächen wie das Blut aus Tuckers Unterarm. In den Bäumen begrüßten die Vögel den Sonnenaufgang aus voller Kehle. Endlich öffnete ich die Lider. Ah, ich hätte es wissen müssen. Der Beweis stach mir förmlich in die Augen. Ich ging zur Spüle, ergriff die Flasche, die ich entkorkt und die keiner hatte anrühren wollen. Sie war leer. Daneben stand noch eine geleerte Flasche. Mein Kater überwältigte mich. Ich suchte nach Pillen, irgendwelchen, nahm welche von Liz, die auch früher schon geholfen hatten. Draußen fiel die Mülltonne um. Ich taumelte wutentbrannt hinaus. Ein schwarzweißes Vieh mit gesträubten Nackenhaaren rannte am Fluß entlang in Richtung auf das Mühlenwehr, über das es den Wald am anderen Ufer erreichen konnte. Die Mülltonne war umgekippt. Der Dachs hatte eine Spur aus Abfällen hinter sich hergezogen, Tüten, Flaschen, Fleischreste, Eierschalen, und dazwischen, bekritzelt, bedruckt, maschinebeschrieben, weiß und bunt, Papier, Papier, Papier. Das war zuviel. Sollte die Müllabfuhr sehen, wie sie damit fertig wurde. Ich schlich behutsam, wie mir schien, durchs Haus, betrat ein taghelles Zimmer, und Elizabeth wandte sich mir zu. »Ich schlafe nicht.« »Also, Liz …« »Sehne mich so sehr nach Dir! Lucinda.« Zum Sprechen fühlte ich mich außerstande, also nahm ich die Steppdecke und tastete mich halb blind in jenes Loch, das ich gelegentlich als mein Arbeitszimmer bezeichne. Der Vogellärm war erstorben, und ich wußte, die Geräusche des Montagmorgens würden beginnen, bevor mein Kopf auch nur annähernd in einem erträglichen Zustand wäre. In diesem 16
Moment – besser: zu diesem kritischen Zeitpunkt – erinnerte ich mich nicht eigentlich ruckartig, sondern von Krämpfen geschüttelt: Auch zerrissene Fotos waren in dieser Mülltonne. Warum nur hatte ich in jenen Schachteln gekramt, in der Absicht, beschämende Reliquien (meine Vergangenheit) loszuwerden, und sie in der Mülltonne versenkt, statt sie zu verbrennen? Warum hatte ich Tucker davon erzählt? Warum war er ein so hingebungsvoller, entschlossener, beharrlicher Tropf? Irgendwo unter all diesem verstreuten Müll, zerknittert, eingerissen, mit Fett oder Marmelade beschmiert … kein Mensch konnte wissen, ob jemand aus dem Haus, unsere Putzfrau, die Müllmänner, der Milchmann oder … vielleicht auch im Magen des Dachses oder in seinem Bau … also Tatsache war, daß Rick L. Tucker und ein Dachs dank ihrer Possen vor Morgengrauen mich in die Gefahr gebracht hatten, gleichzeitig Ehefrau und Würde zu verlieren. Die Emsigkeit, die demütige Beharrlichkeit, die anfangs spaßig gewirkt hatten, kamen mir nun bedrohlich vor wie eine Krankheit. Es war, als wäre alles Papier von Natur aus klebrig geworden, so klebrig, daß man nie mehr loswerden konnte, was man ihm anvertraut hatte, sei es nun Fett oder Marmelade, oder Wörter. Es war zum Fliegenpapier geworden und ich zur Fliege. Es war die Dionaea aspergillum, war der Sonnentau, die Fußspuren im Sande der Zeit, die ich, wie mir jetzt aufging, lieber nicht hinterlassen hätte …
17
KAPITEL II »Und wer, bitte, ist Lucinda?« Das war der Anfang vom Ende meiner Ehe mit Liz. Man heirate nie eine um zehn Jahre jüngere Frau. Dank der einschlägigen Gesetze dauerte die Scheidung Jahre. Dabei waren wir, sind wir und werden wir immer sein: zutiefst einander verbunden, nicht in Liebe oder Haß, auch nicht durch einen jener platten Kompromisse wie Haßliebe. Einerlei, wie man es nennen will, unsere Ehe war ein Fakt, mußte genossen, erlitten, bekämpft werden. Wir paßten nicht die Spur zueinander, etwas anderes als Disharmonie zu erzeugen, war uns unmöglich. Bevor Liz erkrankte, war sie ausgewogen und moralisch. Ich hingegen war überzeugt – das sehe ich jetzt –, daß ich nur durch Amoralität ausgewogen bleiben konnte. Diese Amoralität verlangte allerdings, daß manches verborgen bleiben mußte. Aber wer will sagen, was Liz wußte oder argwöhnte? Der beschmutzte Fetzen Papier wirkte als Katalysator. Wäre ich aufmerksamer gewesen, ich hätte darin, daß er aus der Mülltonne zum Vorschein kam, bereits ein Eckchen jenes Schemas erkennen müssen, das mein ganzes Leben bestimmte. Lucinda hatte nämlich vor der Ehe stattgefunden, und als die Mülltonne umfiel, war ich gerade mit einem Mädchen zugange, das ich mit Erfolg verborgen hielt. Ironie? Das Auge der Osiris? Weil ich mit Rick L. Tucker und diesem Fetzen Papier in der Küche ertappt worden war, ließ ich mich dazu verführen, genau das zu tun, was ich ansonsten vermied: Ich legte eine vollständige Beichte ab. Entgegen aller Erwartung (wie sie besonders durch Romane erzeugt wird) zeigte Elizabeth Verständnis, ohne zu verzeihen. Wenn ich jetzt im reifen Alter darüber nachdenke (Greis, in der Sonne sitzend), vermute ich 18
allerdings, daß sie nur einen Vorwand suchte. Unser Gezänk war schlimmer als ein Duell. Wir waren weltgewandt, aber nicht zivilisiert. Ich zog in den schäbigeren der Clubs, denen ich angehörte, nachdem ich ihr eröffnet hatte, sie könne gerne Haus und Garten, Stallungen und Pferde, die Automobile, das Boot und die Gesellschafteranteile haben, ich hielte es so nicht mehr aus. Im Club durfte man nur eine streng begrenzte Zahl von Nächten hintereinander übernachten. Als ich versöhnungsbereit zurückkehrte, stellte sich heraus, daß sie ihrerseits das Haus verlassen hatte. Auf einem Zettel ließ sie mich wissen, ich möge Haus und Garten, Stallungen und Pferde, die Automobile, das Boot und die Gesellschafteranteile behalten, sie halte es so nicht mehr aus. Auch da noch hätten wir womöglich wieder zueinander gefunden und uns gestritten, bis das hohe Alter uns beiden den nötigen Sinn für Humor beschert hatte, wäre nicht dieser Pferdenarr Capstone Bowers am Horizont erschienen. So blieb es denn Julian überlassen, nach und nach alles zu ordnen – Fährnis und Liegenschaften, oder wie das schon heißt –, und die Ehe wurde so gründlich gelöst, wie eine langdauernde Ehe überhaupt je gelöst werden kann. Zu Schaden kam dabei, wie ich glaube, nur unsere bedauernswerte kleine Emily. Humphrey Capstone Bowers begegnete ich nur ein einziges Mal; wir verabredeten uns in jenem schäbigen Club, dem Random. Die Mitglieder – wir – sind ein buntes Gemisch von Papiermenschen, angefangen bei Werbeleuten, über Autoren von Kinderbüchern bis hin zu schlichten Pornographen. Man könnte sagen, gleich nach mir ist Anonymus unser gefeiertstes Mitglied. Capstone Bowers rümpfte die Nase, als er etliche dieser Herren erblickte – er ist wohl der letzte Engländer, der ein Monokel trägt –, und murmelte, einer solchen Gesellschaft sei er nie zuvor begegnet. Als ich ihn drängte, sich genauer auszudrücken, nannte er die Anwesenden Buschmänner. Um sein Bild abzurunden: er schoß in allen Erdteilen Großwild und 19
in Bisley nach der Scheibe. Gegen Ende des kurzen Gespräches, das, wie er sagte, dazu dienen sollte, »alles Nötige zu klären«, bereitete ich mich im stillen darauf vor, meine nicht unwesentliche Redegabe einzusetzen, um ihm zu sagen, was ich von ihm hielt, doch er kam mir zuvor. »Sie sind ein richtiger Scheißkerl, Barclay«, sagte er mit entwaffnender Offenheit. Man sieht daran, was für ein Mensch er war. Nun ja. Mit dreiundfünfzig Jahren frei! Was für ein Blödsinn. Was für ein verdammter Blödsinn! Ich sah mich der Freiheit ausgesetzt. Und ich rate jedem, die Finger davon zu lassen. Sieht man sie kommen, heißt es weglaufen. Verlockt sie zum Weglaufen, gilt es auszuharren. Man glaube es oder nicht, doch hatte ich nichts weiter im Kopf als Sex, Erwartungen, die sich um Frauen drehten, jung genug, meine Töchter, wenn nicht Enkelinnen zu sein. Deshalb wohl machte es mir nicht das geringste aus, als Capstone Bowers zu Liz zog. Das beeinträchtigte keineswegs unsere unzerbrechliche, unerträgliche Bindung. Die arme kleine Emily allerdings litt. Sie lief weg und mußte von der Polizei eingefangen werden. Ich verstand, daß sie fortlief. Ich habe seither erfahren, daß sogar die Pferde Capstone Bowers nicht ausstehen konnten. Ich reiste. Bekannte hatte ich reichlich, Freunde wenige. Ich besuchte einen oder zwei. Einer stellte sogar eine Frau für mich bereit, doch das war eine ernsthafte Akademikerin, noch dazu eine Strukturalistin. Da hätte ich ja auch gleich mit Rick L. Tucker ins Bett gehen können. Ich reiste also nach Italien, und hier ergriff Ironie allsogleich die Zügel, denn ich ließ mich mit einer beinahe gleichaltrigen Italienerin ein. Ich habe sie wohl ganz gut leiden können, doch was mich länger als zwei Jahre bei ihr festhielt, war ein piano nobile, das einem Museum glich, und Dienstboten, die sich nicht erlaubten, spöttisch zu grinsen. Ich weiß noch, daß ich töricht genug war – oh, Barclay, Barclay, was bist du doch für 20
ein Snob! –, Elizabeth anzurufen und sie zu bitten, mir Emily zu schicken. Die verabscheute Italien, das Haus, meine italienische Gespielin und, leider muß es gesagt werden, mich. Also machte sie kehrt, und ich habe sie jahrelang nicht mehr gesehen. Während all dieser Monate schrieb, auch wenn ich kaum darauf achtete, mich höchstens mal leicht irritieren ließ, Professor Tucker Briefe, die Elizabeth nachschickte, weil sie so Gelegenheit hatte, mich wegen meiner Papiere zu drangsalieren. Sie seien überall im Hause verstreut, und täglich würden es mehr, weil immerzu was geschickt würde. Ich kümmerte mich nicht um ihre Briefe. Erst als sie telegrafierte: WAS UM ALLES IN DER WELT SOLL ICH MIT DEINEN PAPIEREN ANFANGEN, WILF? antwortete ich VERBRENN DEN GANZEN MIST. Das tat sie aber nicht. Statt dessen verstaute sie alles in leeren Teekisten, nagelte sie zu und schleppte sie in den Weinkeller. Capstone Bowers war außerhalb von Großwildreservaten und Schießständen ein totaler Ignorant und begriff nie, was diese Papiere eines Tages wert sein würden. Meine italienische Idylle fand nunmehr ein Ende. Tatsache ist, daß meine Gespielin ein Opfer der Religion in Gestalt des Paters Pio wurde. Aus purer Neugier hatten wir eine jener Frühmessen besucht, die damit enden, daß die Gläubigen en masse nach vorne drängen, um einen Blick auf den Stigmatisierten zu werfen, bevor er weggeführt wird. Daß diese kühle, so zivilisierte Frau sich daran beteiligte, war für mich ein kleiner Schock. Endlich kam sie zurück, Tränen in den Augen hinter dem Schleier. Ihre Stimme bebte von einer Art triumphierender Trauer. »Nun, zweifelst du noch?« Das ärgerte mich. »Ich habe bloß gesehen, daß man einen bedauernswerten alten Mann vom Altar weggeschleppt hat.« In der Kirche sagte sie nichts mehr, dafür aber im Wagen auf 21
der Rückfahrt »nach Hause«. Ich weiß jetzt, daß ihre wie meine Reaktion darauf beruhte, daß wir alle beide betroffen waren und deshalb so heftig stritten, wobei mich der brennende Wunsch trieb, es möge kein Wunder gegeben haben. »Das ist doch alles pure Hysterie.« »Und ich sage dir, ich habe die Wundmale gesehen. Der Herr vergebe uns, wir sind nicht wert, dieses Wort auch nur auszusprechen.« »Angenommen, du hast sie wirklich gesehen – was beweist das schon?« »Da ist nichts anzunehmen.« »Man kann sich sehr wohl in solche Sachen hineinsteigern. Denk an Scheinschwangerschaften – alle Symptome, aber kein Kind. Erinnerst du dich an das, was ich aus meiner Zeit als Bankangestellter erzählt habe?« »Du bist widerlich, Wilfred Barclay.« »Und dann das andere, Jahre später. Schau meine Hand an! Man hat mich hypnotisiert, will sagen, ich wurde von einem beruflichen Hypnotiseur hypnotisiert. Das war auf einer Party und meine, meine …« »Ah, immer ich, ich, mein, mein!« »Hörst du jetzt gefälligst zu? Ganz recht, ich bin egoistisch. Ich habe nie für möglich gehalten, daß jemand so was mit mir machen könnte. Und was geschah?« »Ich wünsche, nichts davon zu hören.« »Hier, auf meinem Handrücken, meine eigenen Initialen, wie Narben, wie Brandzeichen …« »Ich will davon nichts hören!« (Aber der Mann wußte es besser. Das war sein Sieg, seine Macht. Er lächelte aufreizend selbstgefällig. Sie sind sehr empfänglich für hypnotische Suggestionen, Sir. Meine Damen und Herren: Applaus für Mr. Barclay!) »Ich verstehe, daß du nicht darüber reden willst, meine Liebe, und ich will dich keinesfalls kränken, doch solche Dinge 22
können durch Suggestion bewirkt werden.« »Da blutet ein Greis für dich, Tag um Tag, Jahr um Jahr. Er gestattet Gott, ihn gleichzeitig an zwei Orten einzusetzen, weil Pater Pios Güte einfach zu groß ist für die Kräfte eines einzigen, armseligen Körpers …« Und damit brach diese ungewöhnliche Frau in Tränen aus. Danach gab es selbstverständlich keinen Streit mehr, eher wohl einen Waffenstillstand, Ich behandelte sie mit verständnislosem, schwerfälligem Takt und ging ihr soweit wie möglich aus dem Wege. Sie ging auf Distanz und verwandelte sich in die perfekte Gastgeberin, ganz wie Liz. Das hat eine fürchterliche Wirkung auf die Umgebung. Lieber wäre mir, Frauen schmissen mit schweren Gegenständen. Trotz allem wäre das womöglich anders ausgegangen, hätte ich meine Aufmerksamkeit nicht anderswohin gerichtet. Ich hatte einen Vortrag zu halten. Höchst komisch, daß jemand, der nach der fünften Klasse die Schule verlassen hat, so häufig in Gelehrtenkreisen verkehrt. Die Wahrheit ist, daß, was anfangs meinem Selbstgefühl schmeichelte, mir mit der Zeit langweilig wurde und schlimmer. Wie gesagt, ich wurde gelegentlich aufgefordert, zum Wohle meines Landes Vorträge zu halten. Das tat ich gehorsam, vor Akademikern. Man kann zwar Wilfred Barclay mit Recht einen ungebildeten Tropf schelten, der kaum Latein und noch weniger Griechisch kann, der gebrochen mehrere lebende Sprachen spricht und in den Niederungen der Literatur mehr zu Hause ist als auf deren Höhen, doch hat er ein gewisses Etwas. Die Akademiker mußten nämlich eingestehen, daß letzten Endes ich zu denen gehörte, denen sie ihre Daseinsberechtigung verdankten. Ich wiederhole: Außer, daß es mir ein wenig schmeichelte und mir das winzige, vielleicht alberne Gefühl vermittelte, das Vaterland brauche mich, sowie dem gelegentlichen Spaß an exotischen Örtlichkeiten, hatte ich nichts von diesen Vorträgen. Es dauerte allerdings lange, bevor der Groschen fiel, und der 23
Groschen war ausgerechnet Rick L. Tucker, der Dachs von der Tonne. Als meine italienische Gespielin sich des Stigmatisierten halber so äußerst vornehm zurückzog, stand ich im Begriffe, eines Vortrags wegen nach Spanien zu reisen. Ich erwog abzufahren, ohne mich von ihr zu verabschieden, kam aber voreilig zu der Überzeugung, dies müsse die Dinge noch verschlimmern. Jetzt wünsche ich mir, ich hätte schweigend und unter Wahrung meiner Würde das Feld geräumt. »Nun, ich werde also reisen.« Sie wandte das Gesicht nicht ganz mir zu, sondern zeigte nur ihr Profil gegen die abgenutzte Tapisserie. »Es ist genug.« »Was ist genug?« »Wir beide.« »Weshalb?« »Es ist eben genug. Nichts weiter.« Ich überlegte, welche Fragen ich noch stellen könnte, erwog einzugestehen, daß ich mich Padre Pio gegenüber ungezogen verhalten hatte, und ihr anzubieten, mich von diesem bedauernswerten Greis bekehren zu lassen, sobald ich zurück sei. Die Zeit, so dachte ich, die Zeit heilt alles. »Das besprechen wir, sobald ich zurück bin.« »Geh! Geh! Geh!« Und als wäre das noch nicht genug, brach sie in einen italienischen Wortschwall aus – Gassenjargon, wie mir vorkam –, von dem ich nur soviel verstand, daß sie an mir, an den Protestanten, an Männern ganz allgemein und im besonderen an Engländern (personifiziert durch mich) einiges auszusetzen hatte. Ich reiste also nach Sevilla, wo die Tagung in jener alten Tabakfabrik stattfinden sollte, in der Carmen, wie Kenner wissen, ehedem mit den Hüften wackelte, wenn auch jetzt nur eine Universität darin untergebracht ist. Meist bleibe ich am Tagungsort der Tagung fern, bis ich am letzten Tag auftreten 24
und den Schriftsteller spielen muß. Doch der Professor, der mich eingeladen hatte, erwiderte auf meine Frage, ob es denn noch die eine oder andere Carmen gebe, »ja, sehr viele sogar«, und deshalb ging ich mit, ohne zu bedenken, daß gerade Semesterferien waren. Und da, auf dem Podium, dem später auch ich die Ehre antun sollte, stand Rick Tucker und trug aus einem dicken Manuskript vor. Eine verschlafene Zuhörerschaft, bestehend aus Professoren, Lektoren und Doktoranden, bemühte sich nach Kräften, wach zu bleiben, und Professor Tucker machte es ihnen unnötig schwer. Ich nahm auf einem Stuhl ganz hinten Platz und bereitete mich aufs Einschlafen vor. Ich fuhr mit einem Ruck hoch, als ich Tucker in seinem quengelnden Amerikanisch meinen Namen aussprechen hörte. Er las mit gesenktem Kopf aus seinem Manuskript vor und verweilte bei meinen Relativsätzen. Die hatte er offenbar nachgezählt, in allen meinen Büchern. Er habe, so sagte er, eine Grafik angefertigt, und falls man im Anhang zu den wertvollen Unterlagen, welche die Tagungsleitung liebenswürdigerweise verteilt habe, die Nr. 27 nachschlagen wolle, so werde man auf die Grafik stoßen und so imstande sein, seine Schlußfolgerungen nachzuvollziehen. Hier und dort nickte jemand ein, riß dann wieder den Kopf hoch. Einige Frauen machten anscheinend Notizen. Vor mir fiel einem Mann der Kopf hintenüber, und man hörte leises Schnarchen. Prof. Tucker kam nun auf den bezeichnenden Unterschied zwischen seiner Kurve und einer von dem japanischen Professor Hiroshige gefertigten zu sprechen; nicht nur hatte Professor Hiroshige (wenn ich richtig verstand) seine Schularbeiten nicht ordentlich gemacht (was uns überraschte), er hatte auch den groben Fehler begangen, meine zusammengesetzten Sätze mit meinen Hauptsätzen zu verwechseln. Professor Hiroshige möge am besten den Mund halten und das Feld einem anerkannten Experten überlassen, der aus des 25
Autors eigenem Munde vernommen habe, daß er (der Autor) eine so weite Auslegung seiner Ikonographie des Absoluten nicht dulden wolle (oder so ähnlich). Ich genoß es, so dazusitzen und mein Ego gestreichelt zu fühlen, als Tucker beim Umblättern einmal aufsah und ins Publikum blickte. Es war wieder wie an der Mülltonne. Glug oder Gulp. Seine Stimme klang nun schwächer, sein Gesicht lief rot an. Da ich aufmerksam zuhörte, kam ich auch dahinter, warum. Er drückte das Kinn fest in den Kragen. Er gehörte nicht zu denen, die imstande sind, sich von ihrem Manuskript zu lösen. Der Strom der getippten Wörter schwemmte ihn unerbittlich mit, bis zu einem Punkt, den er in meinem Beisein gewiß nicht erreichen wollte. Er behauptete fast murmelnd, aufs innigste mit mir befreundet zu sein und (was ein erfahrener Akademiker gewiß für sich behalten hätte, weil er weiß, daß man sich dabei auf unsicherem Grunde bewegt) meine ausdrückliche mündliche Zustimmung zu allem zu haben, was er, Tucker, hier seinen lustlosen Zuhörern vortrug. Dann kam er wohl an eine noch skandalösere Schilderung unserer angeblichen Intimität und suchte verzweifelt, frei weiterzusprechen, wendete zwei Blätter um und ließ dann das ganze Manuskript fallen. Davon erwachten die Zuhörer, und ich benutzte dieses kleine Intermezzo, um zu verschwinden. Als ich tags darauf den Vortrag hielt, für den man mich bezahlte, suchte ich den Saal vergebens nach Tucker ab, in der Absicht, ihm mal vorzuführen, was alles man in freier Rede über einen Mann sagen kann, der behauptete, aufs innigste mit mir befreundet zu sein. Warum war er wohl ferngeblieben? Soviel Zartgefühl sah ihm doch gar nicht ähnlich. Der Vorfall geriet allerdings schnell in Vergessenheit, denn nach Italien zurückgekehrt, begann das denkbar absurdeste Theater, und ich erlebte einen Schock, auf den ich nicht vorbereitet war. Es war eine Mischung aus Wunderlichem, Niederträchtigem und majestätischem Irrsinn. Daß der Wagen mich nicht am Flugha26
fen erwartete, war ich bereit, großmütig zu verzeihen, doch dann fand ich auch das Portal verschlossen und verriegelt. Eine grüne Wagenplane bedeckte einige Koffer, die gleich bei der Einfahrt aufgebaut waren und allesamt sorgsam, ja man könnte sagen liebevoll gepackt, meine persönliche Habe enthielten. Die Dienstboten hatten bestimmt ungeheuer spöttisch gegrinst. Da saß ich in der Taxe, die Mappe mit den Unterlagen der Tagung neben mir, und überlegte, was nun zu tun sei. Gerechte Strafe auf italienisch. Zum Glück wurde Coldharbour gut verkauft, es geht immer noch gut, ebenso wie Alle Meine Schäfchen, Geld also war nicht das Problem. Auch nicht Erfindungsgabe. Beim Durchblättern der Tagungspapiere sah ich, daß ich gar keiner bedurfte. Jetzt nämlich verdichtete sich diese höchst gemischte Episode – meine italienische Liaison, Padre Pio, Stigmata, Rick L. Tucker samt seiner Grafik meiner Relativsätze –, verdichtete sich zu dem, was ich nun als den Mittelstrang meines Lebensgewebes erkenne. Weil ich weiter nichts zu lesen hatte, las ich abends in meinem Hotelzimmer die Tagungsunterlagen. Coldharbour war exzeptionell, doch die folgenden Bücher waren ebenfalls nicht übel. Es gab darin Stellen, seherische Momente, ganze Episoden, die gelodert hatten, geschmerzt, um die ich gelitten hatte – und das war alles verschwendet. Diese Bücher waren für niemand geschrieben als für mich selber, der ich sie nie wieder gelesen hatte. Die Tagung war von bestimmten Glaubenssätzen ausgegangen. Unter anderem glaubte man, Ganzheit verstehen zu können, indem man ein Ganzes zerstükkelte. Ferner glaubte man, es gebe nichts Neues. Beim Lesen eines Buches müsse man fragen: Von welchen anderen Büchern stammt dieses ab? Ich will nicht sagen, daß dies ein blendendes Licht war, das mir aufging – womit sollen Akademiker sich schon beschäftigen? –, aber ich erkannte doch, wie ich mein nächstes Buch mit 27
einem Minimum an Aufwand würde schreiben können. Ich tat es auf der Stelle, am Ufer des Trasimenischen Sees. Ich brauchte nicht zu erfinden, zu tauchen, zu leiden, das aus undurchsichtigen Gründen Notwendige zu erdulden bei der Niederschrift des – Unlesbaren. Die mit den Ausläufern des Appennin verquickte Familiengeschichte meiner Ex-Gespielin machte Erfindungsgabe überflüssig. Raubvögel entstand also im Handumdrehen, ich war mit nicht mehr als fünf Prozent meiner selbst daran beteiligt, und das waren nicht mal die besten fünf Prozent. Ich schickte es meinem Agenten samt etlicher postlagernder Adressen und fuhr in einem Mietwagen davon. Die mittleren Lebensjahre waren dahin, und was ich jetzt näherrücken fühlte, gefiel mir gar nicht. Zum Beispiel funktionierte mein Gedächtnis nicht mehr wie gewohnt, es wies gleichsam kahle Stellen auf, wo es vordem geblüht hatte. Meine Ex-Gespielin war rasch vergessen, das Buch Raubvögel noch rascher. Nahe Freunde verwandelten sich in bloße Bekannte, und da das Briefeschreiben aus der Mode gekommen ist, waren sie bald nicht einmal dies. Also verlegte ich mich aufs Autofahren. Innerhalb zweier Jahre – solange etwa dürfte diese Phase gedauert haben, wenn ich das auch nicht mehr genau weiß, denn zu Zeiten und Daten habe ich ein gestörtes Verhältnis – erfuhr ich (buchstäblich) das Straßennetz Europas und der angrenzender Gebiete, erfuhr Autobahnen und Autostradas, Schnellstraßen und Autoputs von Finnland bis Cadiz. Als das noch möglich war, erfuhr ich die gesamte nordafrikanische Küste und Teile der Westküste. Aber zumeist erfuhr ich Europa. Ich benutzte Mietwagen. Wenn es notwendig wurde, etwas zu schreiben, kaufte ich eine Schreibmaschine. Ich führte handschriftlich Tagebuch, fand das beim Wiederlesen allerdings stinklangweilig, und es ekelte mich förmlich davor. Und doch führte ich es gewissenhaft, wenn auch manchmal nur mit einem einzigen Satz für den Tag. Das 28
war eine Art Zwangshandlung, so wie manche Menschen ängstlich vermeiden, auf die Ritzen zwischen Gehwegplatten zu treten. Das relativ schäbige und doch effiziente Milieu der Fernstraßen aller Länder mit seiner geistigen Öde, der Vortäuschung von Bewegung, während man doch unbeweglich in der Betonwüste verharrt, diese Spielart des Internationalismus also wurde mir zur Gewohnheit, zur Heimat, wenn man so will. Das ganz junge Mädchen, von dem ich lüstern träumte, blieb mir vorenthalten, aber ich empfand das nicht als Verlust. »Kaum bemerkt, verrichtet Zeit ihr staubig Werk.« Früher einmal hatten Frauen mich neugierig angesehen, bevor sie meinen Namen kannten. Wenn ich jetzt, selten genug, mit Menschen zusammenkam, mußten die Frauen erst meinen Namen hören, bevor sie mich ansahen. Es war eine merkwürdige Wiederholung oder sagen wir Variation der Zeitspanne nach Erscheinen meines ersten Buches, Coldharbour, bevor ich Liz kennenlernte. Damals hatte ich zwei Jahre lang die USA durchfahren – Nabokov-Land könnte man sagen –, und auf dem akademischen Karussell Vorträge gehalten. Später dann befuhr ich Lateinamerika – doch lassen wir das. Jetzt also war es Europa samt näherer Umgebung. Nebenbei gesagt, ich habe ein Steckenpferd, eines, von dem ich nicht weiß, wo es eigentlich herstammt, ganz wie ein Buch, nämlich das Aufspüren von bemalten Kirchenfenstern, aus keinem besonderen Grund, außer daß es mir Spaß macht. Ich sehe sie mir nur an, schreibe nichts darüber und bin unterdessen zum Experten geworden, auch wenn niemand das weiß. Das Alter der meisten Fenster kann ich bis aufs Jahrzehnt bestimmen, könnte mindestens mein Urteil begründen, obwohl ich das nie versucht habe. Dieses ausgefallene Vergnügen hat aus mir so etwas wie einen Liebhaber von Kirchen gemacht. Man könnte das in Erinnerung an Padre Pio und seine Kirche wohl anzweifeln, deshalb will ich ganz deutlich sagen, daß mein Interesse an Kirchen, auch wenn ich viele Stunden in, 29
sagen wir, der Kathedrale von Chartres verbracht habe, mit Religion nichts zu schaffen hat. Mich reizte das Kunstvolle daran, wie man das Licht hindert, an einen Ort zu gelangen, wo man es nicht haben möchte. Auch herrscht in Kirchen meist Dämmerung und Kühle, die als angenehm empfunden werden, wenn man einen schweren Kater hat. Ich sollte wohl erwähnen, daß ich hin und wieder stark trank und meist mehr als nur »etwas«. Nach Raubvögel und dem Drehbuch dazu verfaßte ich gelegentlich Reiseberichte, auch etliche Kurzgeschichten, die als Beispiel dafür dienen können, wie man die Leser beschwindelt. Die Kurzgeschichten waren für Magazine bestimmt und lebten im wesentlichen von der Exotik jener Orte, an denen ich mich über die Neuigkeiten unterrichtete, Geldsendungen und Post abholte. Es waren brillante Schilderungen, mit einem Minimum an Handlung und Charakterzeichnung, aber allesamt garniert, wie die Franzosen sagen würden, garniert mit Nationaltrachten, zu einer Zeit, da man diesen nur noch auf Trachtenfesten begegnete. Seit der Trennung von meiner Italienerin bemühte ich mich nicht mehr darum, den Frauen zu gefallen, sondern verlegte mich auf etwas, das man umfassende Gleichgültigkeit nennen könnte. Manchmal verdichteten Gedanken und Empfindungen sich zu einer Welle des Staunens, die mich überschwemmte und zu dem stummen Ausruf bewog, das kannst doch nicht du sein! Aber ich war es; und ich erkenne nun, daß ich kurz vor meinem sechzigsten Jahr mich auf ein Wesen reduziert hatte, das möglichst wenig dachte und fühlte. Ich war nur noch Auge und Appetit. Vor Fragen flog ich davon. Aus dem Auto wurde das Flugzeug. Wußte ich nicht, wohin mich wenden, stieg ich in ein Flugzeug. Wollte jemand ein Interview mit mir, flog ich von dannen. Hatte ich mich, schwer berauscht, an einem Ort daneben benommen, flog ich anderswohin. Langweilte mich die Aussicht von einem Café oder einer Bar, fiel mir ein, daß 30
jemand die Schlucht des Brahmaputra erwähnt hatte, und ich nahm die nächste Maschine nach Kalkutta. Allerdings fand ich ein sonderbares Haar in dieser Suppe; es war, als ob Liz mich auf ganz leise, von sehr weit her kommende Weise an ihre Anwesenheit erinnerte, und jetzt, da ich dies niedergeschrieben habe, wird mir klar, daß es doch ganz anders war. Es läßt sich nur schwer erklären. Ich kann mir nicht den Gedanken aus dem Kopf schlagen, daß ich sie gesehen habe. Dabei bin ich ihr ganz bestimmt erst wieder in England begegnet. Aber wenn ich beispielsweise vor einem Café an einem jener runden weißen Tischchen saß, die ebenso im Nirgendwo angesiedelt sind wie die Fernstraßen, wenn ich einer Touristenschlange zugesehen hatte, die ihrem Führer um die Ecke zu den, sagen wir, Uffizien folgte, war ich, sobald sie verschwunden waren, überzeugt! Eine Geste, ein Kleid, eine Stimme hatte ich erkannt. Ich stand sogar auf, wollte hinterher gehen, doch was sollte das alles, auch wenn es wirklich Liz gewesen wäre? In Brisbane begegnete ich auf der Treppe zu einer Arztpraxis einer Frau, der ich tatsächlich nachging, bis mir Capstone Bowers einfiel und ich kehrtmachte. Manchmal beunruhigte mich das, doch fand ich dafür eine Erklärung, als ich den Bericht eines Mannes las, der allein die Welt umsegelt hatte. Der gefiel mir, ich hielt ihn für vernünftig, denn seine Reise glich der meinen, war ein Versuch, allem aus dem Wege zu gehen. Der also hatte Stimmen aus der Takelage gehört, Stimmen, die er gerade eben nicht verstehen konnte. Auch ich sah Elizabeth in meiner beengten, vorsätzlichen Isoliertheit »gerade eben« nicht. Solange ich mit meiner Italienerin zusammen war – besser: solange sie mit mir zusammengewesen war –, hatten sich diese BeinaheBegegnungen nicht ereignet oder waren überdeckt worden. Nun aber rutschte sie eifrig auf den Knien herum, und ich war allein. Ich glaubte, die Zeit werde mich gesunden lassen. Ha, etcetera. 31
Hier besteht allerdings ein Widerspruch. Meist sprach ich nur mit Kellnern, Zimmermädchen, Hostessen, Empfangsdamen. Gelegentlich speiste ich mit einem Weltreisenden, der ebenso entwurzelt war wie ich. Ich erinnere mich, daß ich einmal – nur geringfügig angetrunken – mit einem Mann, den ich nie wiedersah, darüber stritt, in welchem Lande wir uns gerade befanden, ohne daß wir uns einig werden konnten. Ich weiß auch nicht mehr, wer von uns beiden recht hatte. Wahrscheinlich keiner. Dann wieder geriet ich an den Bars in Unterhaltungen. Und doch, ganz allmählich, überkam es mich: Ich war einsam. Wie verwickelt ist dies alles doch! Als ich damals in Kloten stark angetrunken aus der Maschine stieg, war ich sechzig Jahre alt geworden und brauchte dringend, um es milde auszudrücken, Erholung. Der Flughafenarzt riet mir zu Schwillen am Zürichsee.
32
KAPITEL III Also tat ich einen weiteren Schritt auf dem vorbestimmten Weg meines Lebens. Schwillen mußte es sein, und begegnen sollte ich ihnen dort ebenfalls. Es geschah an meinem ersten Vormittag, ich hatte ein wenig – nicht viel – getrunken und fühlte mich gerade einigermaßen behaglich. Ich erklomm einen kleineren Hügel über dem See, wo ein Denkmal stand, das an irgendwelche Litauer erinnerte. Es gab auch eine Grünanlage, eine Burg und grüngestrichene Stühle, auf denen man sitzen durfte. Also setzte ich mich. Ich erwog, ob es nicht lustig sei, eine örtliche Aristokratie zu erfinden, die ausschließlich nach Käsesorten heißt und umgekehrt. Le gratin, in der Tat. Das Beste vom Besten. Dann merkte ich, daß eine hochgewachsene Gestalt sich zwischen mich und die Sonne geschoben hatte. »Sind Sie nicht Wilfred Barclay, Sir? Sind Sie es?« »Gütiger Gott.« »Dürfte ich vielleicht …« Er war riesig, wirklich riesig. Oder war ich vielleicht unterdessen geschrumpft? »Ich kann Ihnen nicht verbieten, sich zu setzen, wie?« »Ich freue mich ja so sehr, Sie wiederzusehen!« »Mich und meine Relativsätze.« »Lassen Sie mich das bitte erklären, Wilf …« »Machen Sie sich keine Mühe. Halten Sie nur weiter Ihre Vorlesungen.« »Aber ich habe mein vorlesungsfreies Jahr. Alle sieben Jahre.« »Ist das schon so lange her? Mir kommt es vor wie gestern.« »Sieben Jahre, Sir, Wilf.« »Sieben Jahre haben Sie um Leah geworben. Deren Augen dürften unterdessen schlecht geworden sein.« 33
»Nein, Sir, Mary Lou heißt sie. Sie haben sie wohl nie kennengelernt. Dort ist sie.« Ich sah in Richtung seines Blickes. Eine junge Frau betrat gerade den Kiesweg, der zu unserer Bank führte, sehr jung, zwanzig, schätzte ich. Sie war bleich, hatte dunkles wolkiges Haar und war schlank wie eine Zigarette. »Schau mal, wen ich getroffen habe, Mary Lou.« »Mr. Barclay?« »Wilfred Barclay.« »Mary Lou Tucker.« Rick blickte stolz und liebevoll auf sie herunter. »Mary Lou verehrt Sie glühend, Wilf.« »Oh, Mr. Barclay …« »Nennen Sie mich Wilf. Sie sind ja ein ganz geriebener Kunde, Rick.« Vierzig Jahre fielen mit einem Schlage von mir ab. Berichtigung. Mir kam vor, als fielen vierzig Jahre von mir ab. Rick war mein Freund. Beide waren meine Freunde, sie ganz besonders. »Meine Glückwünsche, Mary Lou.« Man sah ihnen an, daß sie jung verheiratet waren, und wenn vielleicht auch nicht ganz jung, dann wirkte sie doch so, ganz Glut und Anmut. Ich umfaßte ihre Schultern und küßte sie. Ich weiß nicht, was sie dachte, als sie roch, daß ich schon am frühen Morgen Wein, Dole, getrunken hatte. Ich hielt sie von mir weg, musterte sie von der nicht sehr hohen, bleichen Stirn bis zur zarten Kehle. Sie war errötet, wurde gleich darauf blaß und errötete wieder. Alles, was in ihr vorging, trat gleich darauf an die Oberfläche, aber dazu gehörte ja auch nicht viel, so zart war sie. »Noch einmal meinen nachträglichen Glückwunsch, Mary Lou. Mann und Weib sind ein Fleisch, und da ich Rick nicht gut küssen kann …« »Nehmen Sie mit ihr vorlieb«, lachte Rick. »Mary Lou, bleib 34
mal so stehen.« Und schon zückte er eine winzige Kamera, blitzschnell wie einen Dolch. Das Foto muß irgendwo sein, in einer Schublade, vielleicht auch in der Bibliothek der Universität Astrakhan in Nebraska. Man wird darauf Mary Lou erkennen, ihre Schönheit verwischt dank der fehlenden Tiefenschärfe, und mich mit dem spärlichen weißblonden Bart, dem weißblonden Haarschopf und dem Lächeln, das die schiefen Zähne sehen läßt. Die Kamera kann unmöglich Mary Lous Wärme und Sanftheit wiedergegeben haben. Man könnte das eine seltsame Begegnung der zweiten Art nennen, nicht mit dem Bild eines Mädchens, sondern mit der geschmeidigen, parfümierten Wirklichkeit – daran war ich nicht gewöhnt und nicht im mindesten darauf vorbereitet. Ich spürte starken Blutandrang im rechten Arm, den ich um ihre Hüfte gelegt hatte, die von einem leichten Kleid bedeckt war. Mein alterndes Herz setzte für einen Schlag aus und pochte dann einige Synkopen. Sie war so vollkommen wie eine Heckenrose. »Sie müßten sich mit Mary Lou prächtig verstehen, Wilf. Schließlich hat sie ihre Diplomarbeit über …« Mary Lou unterbrach. »Das müssen wir doch nicht gerade jetzt …« Er jedoch blickte mich eindringlich an. »Elizabeth ist eine großartige Person, Wilf, und ich habe es aufrichtig bedauert, daß …« »Ach, Mr. Barclay …« »Wilf für Sie. Versuchen Sie’s mal.« »Ich glaube, das kann ich nicht.« »Oh, doch, probieren Sie’s nur. Los.« »Nein, ich … ich kann nicht.« Wir lachten und schwätzten durcheinander. Rick drohte, sie zu verprügeln, falls sie sich weigere, und ich sagte, ich weiß nicht mehr, was, und sie lachte so wunderschön und blieb dabei, nein, es sei unmöglich und … 35
»Was für ein wundersames altes Haus, Mr. Barclay.« Man mag es glauben oder nicht, mir fiel daran nichts auf. Erst später wurde mir klar, daß sie gerade eben erst in diesem wunderhübschen alten Haus gewesen sein mußten. Als wir nach unserem albernen Gelächter verstummten, taten wir das wie in Erwartung eines zweiten Aktes. »Warum setzen wir uns nicht?« Ich setzte mich auf eine Bank zwischen die beiden, Mary Lou behutsam auf Distanz bedacht, zu meiner Rechten. »Ich muß Sie unbedingt etwas fragen, Wilf«, begann Rick gewichtig. »Kein Wort über Bücher, wenn ich bitten darf!« »Nein, nein … irre ich in der Annahme, daß Sie allein hier sind?« »Ich habe keine ständige Begleiterin, wenn Sie das meinen. Auch keine gute Freundin. Man sieht mich nicht ständig in Gesellschaft von. Wissen Sie, daß ich sechzig bin, Mary Lou?« Ich verstummte in der Erwartung, sie werde sich überrascht zeigen. Schließlich war ich selber überrascht. Doch nickte sie nur sehr ernsthaft dazu. »Ich weiß.« Rick lehnte sich zu mir. »Und woran schreiben Sie, Wilf?« Die alte Gereiztheit drohte wiederzukehren. Ich grunzte. Rick nickte. »Also eine Art Trauma?« »Gütiger Himmel, Mann, es ist Jahre und Jahre her … es sei denn, Sie sprechen von meiner italienischen Beziehung.« »Trotzdem …« »Völlig veränderte Lebensweise. Ungebunden. Ich darf mich unbedenklich jeder Frau nähern, und niemand als sie selber hat das Recht, mich daran zu hindern.« Mary Lou rückte ein wenig weiter weg. Schließlich hatte ich ihr meinen Atem ins Gesicht geblasen. Wahrscheinlich hat ihre 36
Mutter sie zeitig vor Männern gewarnt, man dürfe ihnen nicht trauen. Und das darf man ja auch nicht. Rick lachte ein betont männlich-kameradschaftliches Lachen. »Das tun sie aber nicht. Darauf möchte ich wetten.« »Einverstanden.« »Lieber nicht – bei meinem Gehalt, Wilf. Ein Assistenzprofessor …« »Assistenzprofessor? Hatten Sie nicht einen Lehrstuhl?« »Offen gestanden, Wilf …« »Ich habe es doch auf Ihrem Briefkopf gelesen, der Brief muß irgendwo in diesem wundersamen alten Haus sein, eingenagelt in eine Teekiste: Fakultät für Englisch und verwandte Studien der Universität Astrakhan, Nebraska. Ich erinnere mich daran so genau, weil das alles schnurstracks zu jenem scheußlichen Vorfall führte.« »Bitte nicht, Wilf.« Seine Stimme wurde matt, matt wie in Sevilla. Mary Lou saß sehr aufrecht und schaute geradeaus. Sie schluckte, ihr Evasapfel bewegte sich ungemein reizvoll in ihrer Kehle. Sie sprach, ohne den Kopf zu wenden. »Vergiß nicht, Schatz, die Wahrheit ist immer das Beste.« »Aber, Schatz …« »Beichte Mr. Barclay, Schatz, es läßt dir sonst doch keine Ruhe.« »Was redet ihr beide da? Weiß ich davon?« »Mr. Barclay, er war damals noch kein Professor, sondern hatte eben erst sein Diplom gemacht. Seine Mama hat ihm das Reisegeld geborgt, damit er Sie in den Semesterferien besuchen konnte.« »Ich war verzweifelt, Wilf. Sie waren mein … mein …« »Thema, wie?« »Ja. Es war mir ganz offiziell zugeteilt worden.« »Sie müssen aber bedenken, Mr. Barclay, daß sie eine richtig verderbte Person war. Rick hat mir von ihr erzählt.« 37
»Von wem?« »Von Ella. Ich bin froh darüber, daß du ihm gesagt hast, daß du damals noch nicht Professor warst, Schatz.« »Ich bin selber froh darüber, Schatz. Also, nun wissen Sie es, Wilf.« »Von Mary Lou. Eheleute …« Rick allerdings starrte Mary Lou mit einem Blick an, der nicht unbedingt von perfektem Einverständnis zeugte. »Ich bin fest angestellt als Assistenzprofessor und habe ein vorlesungsfreies Jahr.« »Und ich weiß, jetzt geht es dir besser, Schatz. Du kannst jetzt weitermachen, wo du aufgehört hast, Schatz. So ist es immer am besten.« Hinter den Bäumen stand die helle Sonne, die Blätter warfen ihre Schatten auf den Kies. Auf dem See blinkten kleine Wellen. Das alles brachte mich zum Lachen. »Ich habe ganz vergessen, wie es ist, in unserer halbwegs im Atlantik zusammentreffenden Sprache miteinander zu reden.« Ich streckte behutsam den Arm entlang der Rückenlehne aus. »Das also wäre Ricks Geständnis, Mary Lou. Haben Sie vielleicht ebenfalls was zu beichten?« »Nein, nein, ich wüßte nicht, was.« Und wieder rückte sie etwas weiter von mir weg. »Aber Sie brauchen doch noch nicht zu gehen?« »Nein, das nicht, Wilf, sie mag sich aber nicht aufdrängen. Sie weiß, wie großmütig Sie sind, ich hab’ ihr davon erzählt.« »Stimmt«, versetzte ich albern, »was soll es sein, Mary Lou, die Kronjuwelen oder ein Stein vom Mond?« Mary Lou glitt ganz von der Bank, machte das sehr geschickt, erhob sich und strich den dreiviertellangen Rock glatt. »Ich gehe schon mal ins Hotel, Schatz. Ihr beide habt euch doch eine Menge zu erzählen.« Sie entfernte sich rasch, und jetzt blies ein kühler Wind vom Abhang eines hinter uns gelegenen Berges zum See hin und 38
verlieh ihm ein stumpfes Grau wie Zinn. Ich mußte an die Mülltonne denken. »Rick, Sie sind ein Hochstapler und sonst gar nichts. Gratuliere. Wesentlich interessanter jedenfalls als das Leben eines Gelehrten.« »Ich wollte Ihnen alles sagen, Wilf. Ich hatte die Professur doch schon in Aussicht, ganz gewiß.« »Hochstapler haben auch immer Aussichten, reich zu werden.« »Ich wußte es aber!« »Ach was, was ist schon ein Professor? Als ich jung war, habe ich geglaubt, ein Professor stelle was dar. Aber sie sind keine Spur besser als Schriftsteller. Ich verspeise sie zum Frühstück. Sie schmecken etwas anders, aber das ist auch alles.« »Denken Sie an die Kritiker, Wilf, die haben es doch in der Hand …« »Und was war mit John Crowe Ransom? Ihrem Brief war doch zu entnehmen, daß Sie mit ihm dick befreundet sind? Haben Sie dem auch vorgemacht, Sie hätten eine Professur?« Ricks Gesicht war nicht mehr knallrot, sondern färbte sich eher rötlichbraun. Da ich ihn von der Seite ansah, aus einem ungewohnten Winkel, bemerkte ich ein mir bislang entgangenes Detail seiner Körpersprache. Zwar war es mir aufgefallen, als er mich vor Jahren zu Hause heimsuchte, verschämt entschlossen, dem Löwen in seiner Höhle um den Bart zu gehen, auch wenn das angeblich gefährlich war. Dann wieder bemerkte ich es auf jener Tagung in Sevilla, hatte das aber für eine Täuschung gehalten, ich weiß auch nicht, warum eigentlich, jene Angewohnheit nämlich, das Kinn fest an die Brust zu drücken und unter gerunzelten Brauen emporzuschauen. Doch das war keineswegs eine Täuschung, Rick preßte wirklich die untere Gesichtshälfte gegen die Brust, wenn er verlegen wurde, er bot dann seine Stirn dar, die wohl kühn wirken sollte, und 39
spähte unter seinen Brauen her wie ein Krebs unterm Stein. Das tat er auch jetzt, und es galt nicht einmal mir. Er tat es ganz mechanisch und richtete diese Grimasse an den See, so als wollte er sagen, jene zinnfarbige Fläche könne ihn nicht einschüchtern. »Los, Rick, raus damit.« »Das Ganze geht auf ein Versehen in meinem – unserem – Sekretariat zurück. Auf Ella. Ich bekam immer wieder Post, die an Professor Tucker gerichtet war. Die bekamen übrigens alle, Leute, die einem was verkaufen wollen, benutzen gern schmeichelhafte Anreden.« »Sie haben also eine Anleihe bei der Werbebranche gemacht. Bravo.« »Sie werden nie ahnen, was Ihr Werk für mich bedeutet hat.« »Falls irgendwer Ihre Hochstapelei entlarvt, wird man Sie mit Schimpf und Schande von der Universität jagen.« »Dieses verflixte Biest Ella war schuld. Allerdings, um ehrlich zu sein, ich habe es geduldet.« »Immerhin haben Sie was riskiert. Meine Hochachtung.« »Und es hat sich gelohnt. Ellas Versehen hat mir eingebracht, daß ich hier mit Ihnen sitze, im vertrauten Gespräch, Seite an Seite.« »Wie, zum Kuckuck, sollten wir wohl sonst sitzen?« »Diese Ella …« Kinn an die Brust, herausfordernder Blick aufs Wasser, »diese Ella hatte was für mich übrig. Sie glaubte, sie erweise mir einen Gefallen.« »Und John Crowe Ransom?« »Ich weiß es nicht mehr, Wilf, ehrlich, ich habe es vergessen. Begegnet bin ich ihm.« Mir fiel auf, daß das Wasser leblos wirkte. »Es ist ja auch einerlei. Morgen reise ich ab. Dann kann Mary Lou auf dieser Bank sitzen, ohne runterzufallen.« Pause. Dann sagte Rick: »Wir essen doch aber heute miteinander zu Abend?« 40
»Alle drei?« »Gewiß doch.« »Einverstanden. Aber Sie sind meine Gäste. Das Privileg des alten Mannes. Das einzige.« »Mary Lou ist scheu, Wilf. Das war sie schon immer. Aber sie weiß, wie warmherzig Sie unter diesem britischen Äußeren sind.« »Und ich habe mich für international gehalten!« Rick stand auf und ließ einen jener vorbereiteten Sprüche los. »Für uns, Sir, sind Sie immer ein wirklich beispielhafter Vertreter Ihres großen Landes gewesen und haben ihm Ehre gemacht.« Und damit trollte er sich den Hügel hinab, seiner Frau hinterher. Ich blieb feierlich nickend zurück, wie ein Mandarin aus Porzellan, und murmelte vor mich hin: »Bei Marie weiß man nie, unser Rick ist zu dick.« Dann sprach ich laut folgenden scheußlichen Satz: »In diesem Land und in dieser unserer Lage.« Danach kehrte mir der Verstand zurück. Die beiden hatten also das »wundersame alte Haus« besucht. Unser Zusammentreffen hier war daher kein Zufall. Sie hatten meine postlagernden Adressen entweder aus Elizabeth herausgequetscht oder gar aus meinem Agenten. Ich war Ricks »Thema«, war sein Rohmaterial, das Erz in seinem Bergwerk, war seine Farm, seine Hummerreuse. Woher aber hatte er das Geld für die Verfolgung? So was ist kostspielig, das wußte ich von meinem eigenen Versuch, Briefe zurückzubekommen. Ich dachte an die junge Frau, Mary Lou, mit dem durchscheinenden Gesicht, dieser Schönheit, die doch gewiß auch heiligmäßig und weise war. Nicht zu vergleichen mit dem bedauernswerten greisen Padre! »Vielleicht wiedergeboren …« Die Frau, der man alle sieben Jahre – nein, alle vierzehn 41
Jahre einmal begegnet, dann nämlich, wenn es zu spät ist. Ich erkannte meine plötzliche Beschwingtheit als das, was sie war, ein Symptom andrängender Senilität. Ich konnte mir vorstellen, daß mein Atem bereits nach der Morgenration Dole gerochen hatte. Für Rick mochte viel drin sein, für Mary Lou einiges, nämlich die Gelegenheit, jemand angewidert zu bewundern, dessen Bücher sie kannte. Für mich jedoch war nichts drin als Hörigkeit, Frustration, Verrücktheit und Kummer. Ich beschloß, diese zarte Knospe zu knicken, bevor sie erblühen konnte. Sollten die beiden doch jemand anderen verfolgen, schließlich gab es genügend lebende Schriftsteller, sie zählten nach Tausenden, allesamt mit ehernen Stirnen ausgerüstet oder mit einer untadeligen Lebensführung, die ihnen erlaubte, gelassen dem tödlichsten aller Gifte standzuhalten, nämlich der Wahrheit über sich selber. Wohingegen ich … Auf der grüngestrichenen Bank sitzend, ließ ich mich von einem wahren Regen von Schnappschüssen aus meiner Vergangenheit heimsuchen. Schließlich sprang ich auf und eilte ins Hotel. Ich ließ den Direktor wissen, daß ich unbedingt Einsamkeit brauchte. Der empfahl mir sogleich den Weisswald, ein Skigebiet mit langer Sonneneinwirkung, das jetzt außerhalb der Saison gewiß wie leergefegt sei. Ich solle im Hotel ›Felsenblick‹ wohnen. Auch die anderen Hotels seien selbstverständlich sehr reinlich, mehr lasse sich zu ihren Gunsten aber nicht anführen. Ich nickte und nickte zu alledem, bezahlte die Rechnung, packte, gab als neue Adresse das Hotel Bung Ho in Hongkong an und schlich mich davon. Am Fuße des Weisswald stand eine geräumige Garage, und eine Zahnradbahn erklomm den erschreckend steilen Berghang. Ich hielt die Augen während der Fahrt ängstlich geschlossen. Meine Angst vor Höhen ist fast schon krankhaft, und vielleicht deshalb zieht es mich unwiderstehlich hinauf. Überdies wollte ich mir den Ausblick vom Gipfel aufsparen, bis ich wieder ebenen Grund unter den Füßen hätte und den 42
Anblick bewundern könnte, ohne den Drang zu verspüren, mich hinunterzustürzen. Ich folgte dem Dienstmann ins Hotel, den Blick auf meine Füße gerichtet. Hier bot man mir zu einem stark ermäßigten Preis nicht weniger als eine ganze Suite an, deren Balkon über den Abhang ragte. Der Direktor führte mich hinein. »Sehen Sie nur!« Die Vorderseite des Salons bestand aus Fenstertüren, die auf den Balkon führten, und dahinter lagen fünf Meilen leere Luft. Der Direktor öffnete die Türen und forderte mich auf hinauszutreten. Ich hielt mich nahe der Tür. Der Balkon fühlte sich recht solide an. »Unsere beste Suite«, sagte der Mann. »Bei weitem die beste.« Wäre ich fähig gewesen, drei Schritte vorwärts zu machen, ich hätte zweitausend Fuß tief spucken können, hätte ich Spucke gehabt. »Sehr passend für einen Schriftsteller.« »Woher wissen Sie, daß ich Schriftsteller bin?« »Von meinem Bruder. Er ist der Direktor vom ›Schiff‹. Hier bekommen Sie billig eine Suite und einen Ausblick.« Also wurde ich wie ein Schaf von einem Verwandten zum anderen getrieben! Ich betrachtete ängstlich die Schmalspurbahn, die eine halbe Meile unter mir wie für Kinder ausgelegt war, konzentrierte mich aber gleich auf die Blumenkübel auf dem Balkon. Nahebei stand auch der gleiche weißlackierte Eisentisch, an dem ich im ›Schiff‹ gesessen hatte, samt vier weißlackierten Stühlen und einer weißen chaise longue. »Ist mein Wagen da unten sicher? Ich habe ihn nicht abgeschlossen.« »Ihr Wagen, Sir?« »In der Garage.« »Oh, ja, beides ist ganz sicher, verschlossen oder unverschlossen.« 43
Es trat eine Pause ein. Der Ausblick wechselte von Minute zu Minute. Ein weißer Strich teilte weiter unten einen schwarzen Felskegel, der aussah wie eine kilometerhohe glasierte Torte. »Was ist das?« »Was, Sir?« »Da.« »Der Spurli. Ein Wasserfall. Wir haben derzeit wenig Schnee, und er ist kaum mehr als ein Faden. Das Wasser kommt aus einem Hochtal weiter oben, wo wir kürzlich Manöver hatten.« »Da oben? Ausgeschlossen.« »Oh, doch, Sir, ich war selber dabei, wie jedes Jahr. Ich bin Major. Übrigens, darf ich mir einen Rat erlauben? Verhalten Sie sich die ersten Tage über möglichst ruhig.« »Meinen Sie, ich muß mich akklimatisieren? Ich komme doch aus Zürich.« Der Direktor wischte das mit einer lässigen Handbewegung weg, so als wäre der Unterschied zwischen Zürich und dem Ärmelkanal nicht der Rede wert. »Bedenken Sie, Sir, Sie sind nicht mehr ganz jung, und es ist ratsam, einen oder zwei Tage zu ruhen.« »Ich will’s mir merken.« »Wir hoffen sehr, daß die Aussicht Sie zu einem bedeutenden Werk inspiriert, Mr. Barclay. Dies ist die Klingel. Es wird uns ein Vergnügen sein, Ihre Wünsche zu erfüllen.« Damit verbeugte er sich und ging ab. Ich tastete mich ein wenig vorwärts. Über das Balkongeländer schaute ich nicht, das war etwas für Helden, vielmehr schob ich die chaise longue so weit vom Geländer zurück wie möglich, wickelte mich in die Steppdecke vom Bett, streckte mich aus und betrachtete die Aussicht. Die fuhr fort, sich zu verändern, eine phantastische Welt aus Fels und Schnee vorzuführen. Kavernen verwandelten sich in Hänge, der schwarze Fels, über den der Spurli herabfiel, wurde grau, dann braun. Ich forderte die Natur 44
auf, mich in Erstaunen zu versetzen. Und das tat sie, maßvoll wie gewöhnlich. Denn der Direktor irrte selbstverständlich. Ich war schon an allzu vielen Orten gewesen, hatte zu viele ausgefallene Anblicke genossen, und im übrigen sind großartige Anblicke weder der Arbeit von Schriftstellern noch der von Malern förderlich. Sie bieten bloß einen Vorwand dafür, faul zu sein. Eine großartige Aussicht hindert den Schriftsteller an der Arbeit. Sie nimmt die Aufmerksamkeit gefangen. Ich sah zu, wie noch hinter den Gipfeln, die ich am Horizont zu sehen glaubte, weitere Gipfel zum Vorschein kamen, und was ich für eine nahe Bergkuppe gehalten hatte, erwies sich als weiße Wolke. Aber wer kennt nicht den Himalaja, die Anden, die Sahara, Stürme auf See, wolkenlose, mondlose Nächte, unverschandelt von der Lichterglut über den Großstädten; wir haben die Märchenwelt am Grunde des Meeres gesehen und die Regenwälder – ha, etcetera. Ein Schriftsteller braucht eine Backsteinmauer, die den Durchblick in eine Landschaft versperrt, die man dahinter erahnen mag. Ich sah schon, es würde wieder eine verlorene Woche werden. Gleichwohl betrachtete ich dieses Stückchen Schweiz stundenlang, dachte dabei diese Gedanken und trank noch etwas Dole. War ich am Ende doch ein Romantiker? Ich mochte es nicht glauben. Das alles führte zu nichts. Der Genuß war reiner Selbstzweck, erzeugte keine erhabenen Gedanken. Es war höherer Hedonismus, der Betrachter wurde ganz Auge. Am späten Nachmittag taten der Dole und die sauerstoffgesättigte Luft ihre Wirkung, und ich schlief ein. Als ich erwachte, versank die Sonne über der Westseite des Balkons. Trotz der geleerten Flasche spürte ich nichts von dem Dole. Lag das an der Aussicht? Ich spielte mit der kindischen Idee, einen Vers an Shelleys Gedicht anzuhängen, in dem ich die Berge als Kur gegen gueule de bois preisen wollte, wie er die Kathedrale von Chartres. Bei diesem Einfall füllte meine trancegleiche Leere im Angesicht von Mutter Natur sich mit 45
dem Verlangen nach einem Drink. Ich wickelte mich aus der Decke, suchte das Bad auf und machte mich auf den Weg in die Bar, die angenehm nahe lag. Ich wollte mich für den Dole bestrafen und bestellte ein grauenhaftes Gemisch eigener Erfindung, worin unter anderem Alka-Seltzer und Fernet Branca vorkommen. Im Aussehen erinnert es an Durchfall. Sogar der Direktor, der jetzt als Barkeeper fungierte, zeigte sich entsetzt. Er verstand mich auch nicht, als ich sagte, dies sei die Strafe für eine Flasche Dole, doch tat er, wie ihm geheißen. Ich flagellierte also meinen Gaumen mit diesem scheußlichen Gebräu, gratulierte mir zu meiner Fähigkeit, die Schönheit der Natur unmittelbar aufzunehmen, und feierte meine erfolgreiche Flucht vor den Gefahren der Gefühlsseligkeit in einen Zustand friedlicher Beständigkeit, als sich eine hochgewachsene Gestalt neben mich stellte.
46
KAPITEL IV Das war, wie sollte es auch anders sein, Assistenzprofessor Rick L. Tucker von der Universität Astrakhan in Nebraska. Er hatte sich als Tourist verkleidet, in Lederhosen und Kniestrümpfen mit bunter Kante und trug Stiefel, deren Sohlen so dick waren, daß man meinen konnte, das Straßenpflaster hafte daran. Über einem am Halse offenstehenden Hemd trug er einen Pullover mit der eingestrickten Inschrift OLE ASHCAN. Zunächst dachte ich, dies sei eine trotzige Anspielung auf die Mülltonne, in der er vor Jahren gewühlt hatte – sieben lange Jahre war es her. Die Inschrift erwies sich aber als nichts weiter denn ein sorgloser Scherz auf Kosten jener Anstalt, die ihm sein Gehalt zahlte. Die Buchstaben liefen über den ganzen Brustkasten, und der war mächtig. Die prickelnde Höhenluft, die seine Wangen und seine Nasenspitze zum Glühen brachte, ließ ihn breiter und größer wirken denn je. Ich mußte ziemlich hoch zu ihm aufblicken. Als ich das mit einem sichtbaren Anflug von Empörung tat, drückte er das Kinn nur kaum merklich an die Brust. »Hallo, Wilf! Wie ich sehe, hatten Sie den gleichen Einfall wie wir!« »Reden Sie keinen Stuß.« »Schau mal, wer hier ist, Mary Lou.« Ich sah mich um. Mary Lou lächelte bleich aus dem Schoß eines gewaltigen Ohrensessels in einer düsteren Ecke der Bar. »Oh, Mary Lou.« »Mr. Barclay.« »Wilf, bitte.« Darauf sagte sie nichts, sondern schaute abwesend drein. Mir war plötzlich so, als habe sich alle Köstlichkeit des Lebens – nein, das durfte nicht sein, konnte nicht sein! 47
»Dein Saft, Schatz.« »Ich mag nicht einmal Saft, Schatz.« Rick wandte sich wieder an mich. »Mary Lou macht der Höhenunterschied zu schaffen.« »Sie zieht wohl Meereshöhe vor.« Ich wandte mit Absicht den Blick weg. »Was meinst du dazu, Schatz?« Ich drehte mich gegen meinen Willen doch wieder ihr zu. Mary Lou hielt die Hände vor den Mund, die großen Augen wurden riesig, und sie bemühte sich, aus dem Ohrensessel hochzukommen. »Sehen Sie denn nicht, daß sie sich übergeben muß, Sie Tropf!« Das tat sie denn auch auf halbem Wege zur Tür. Rick machte eine Art Dreisprung, erst mit den Gläsern zur Bar, dann zur Tür, durch die Mary Lou verschwand. Der Hoteldirektor betrachtete ungerührt den Schaden, rief etwas durch die geöffnete Tür hinter der Theke, und als habe sie auf dieses Stichwort gewartet, erschien eine dickliche, grauhaarige Person mit Eimer und Mop. Rick folgte Mary Lou pflichtschuldigst auf ihr Zimmer. Ich betrachtete die Kotze mit der Gelassenheit eines Mannes, der dabei ist, noch schlimmeres zu sich zu nehmen. Mit meinem widerwärtigen Mixgetränk in der Hand wanderte ich vors Hotel in den Sonnenuntergang. Runde Eisentische (die, an denen ich immer sitze) waren auf einem kleinen Platz verteilt, dessen eine Seite an den grauenhaften Abgrund grenzte. Ich setzte mich an den Tisch, an dem ich schon in Florenz, in Paris, in St. Louis gesessen hatte. Wo war ich? Unterwegs. Immer unterwegs. Der Kerl im Hotel in Schwülen war schuld. Ich hatte meine Spur nicht genügend verwischt. Nächstes Mal … Ich stand auf, schlenderte den Pfad hinauf, der nach den höhergelegenen Almen führte, und empfand nach einigen Schritten tödliche Mattigkeit. Mit Mühe und Not kehrte ich an 48
meinen Tisch zurück. Zeit verging. Jetzt saß Rick bei mir und redete, ich wußte nicht, wie lange schon. Er entwarf einen Plan für die allernächste Zukunft. Angeblich gab es hier vier großartige Wanderwege. Er wollte alle vier erkunden, während ich mich akklimatisierte. Er habe das selber nicht nötig, er sei zeitlebens Höhenluft gewöhnt gewesen. Einer der Wanderwege arte zu einer Klettertour aus. Ich lehnte mich zurück, nickte zu allem, was er sagte, und mein Kinn sank auf die Brust. Mary Lou kam zwischen blühenden Wiesen den Pfad herunter. Sie erklärte einen geometrischen Lehrsatz anhand des riesigen Zuckerhutes, der hinter ihr aufragte. Jemand blies mitten auf dem Platz ein Alphorn. »Wilf? Sir?« Ich war selber das Alphorn und blies mich mit einem ungeheuerlichen Tuuuuut. »Er schläft.« Dann blinzelte ich in die untergehende Sonne. Die Station der Zahnradbahn sog eine ganze Prozession von schweizerischen, deutschen und österreichischen Wanderern ein. Alle schienen ebenso breit wie lang zu sein. Rick lachte. »Sie haben im Schlaf gesagt, Mary Lou sei Diplommathematikerin, hör doch nur, Mary Lou!« »Ich habe geträumt, ich sei ein Alphorn. Reizendes junges Ding. Gratuliere.« »Mary Lou bewundert Sie.« »Mag Sie mich denn auch gern?« Pause. »Und wie!« »Kann sie Schachspielen?« »Ach wo.« »Dame vielleicht?« »Morgen geht es euch beiden wieder gut. Vielleicht schon heute abend.« 49
»Abendbrot.« »Ganz recht«, versetzte Rick knapp. »Wir möchten, daß Sie uns Gesellschaft leisten.« Das war mir eine Spur peinlich. »Und diesmal auf meine Rechnung.« Wir drei waren anscheinend die einzigen Hotelgäste, es war unter der Woche und außerhalb der Saison. Beim Abendbrot war Mary Lou noch sehr bleich und aß so gut wie nichts. Rick redete für drei. Der Wanderweg, den er erkundet hatte, wies die verblüffendsten Aussichten auf, geradezu inspirierend. Bäche, Bäume, die Baumgrenze, Blumen. Nachdem ich endlich begriffen hatte, daß wir uns morgen auf den Weg machen sollten, hörte ich nicht mehr zu und überließ mich ganz dem Anblick von Mary Lou. Die schien sich auch nur wenig um das zu kümmern, was Rick da erzählte. Sie stand plötzlich auf, und ich bekam sie sonderbarerweise schneller zu fassen als Rick, der gerade von der Schneegrenze redete. Er nahm sie mir weg und führte sie aus dem Speisesaal. Zurückgekehrt, entschuldigte er sich bei mir, was mich sehr belustigte, jedenfalls eine Hälfte meines Gesichtes. »Sie ist bezaubernd, Rick. Ich habe das immer für eine literarische Wendung gehalten, aber wenn ihr übel wird, sieht sie nicht grünlich und alt aus, sondern wirklich nur noch durchscheinender.« »Sie sagt, sie werde uns morgen nicht begleiten.« »Hat sie eigentlich auf nichts Lust? Ich meine …« »Man könnte sagen, Mary Lou ist nicht physisch«, äußerte Rick bedachtsam. »Sie hat nichts übrig für Katzen, Hunde, Pferde?« Er errötete langsam. »Ihr seid dort gewesen. Vor kurzem erst. Alle beide.« »Schließlich haben Sie da lange gelebt, Wilf.« Ich dachte an den Ort, an dem ich lange gelebt hatte. Den einzigen. An das wundersame alte Haus, die Wiesen am Fluß, 50
an Bäume, Hecken, an die baumlosen Hügel, welche das weite Tal von zwei Seiten einschlössen, an die mächtigen Eichen, die Gruppen von Ulmen, von denen Elizabeth behauptete, sie stürben. Ich kam mir losgelöst vor. »Hat es Ihnen gefallen?« »Aber ja doch.« »Warum?« Ich habe nicht geglaubt, so etwas von einem erwachsenen Menschen je zu hören, doch er sprach es aus. »Es ist alles so grün. Und das weiße Pferd am Hügel … alles ist so alt …« »Als ich das letzte Mal da war, fand sonntags neben dem weißen Pferd ein Motocross statt, und die andere Seite des Hügels wurde von Archäologen abgetragen.« »Aber die Menschen dort, die Gebräuche, Wilf!« »Meistens Inzest.« »Sie meinen …« »Oh, doch, ich meine es im Ernst. Und vergessen Sie nicht den Hexensabbat.« »Das kann nicht Ihr Ernst sein, nein, das kann es nicht.« »Das stammt aus gewöhnlich gutunterrichteter Quelle. Wilfred Barclays Stratford-on-Avon.« »Ich glaube das nicht, Sir.« »Wonach haben Sie gesucht? Nach meinen Fingerabdrükken?« »Ich mußte mit ihr sprechen. Über vieles weiß nur sie Bescheid.« »Da hol mich doch der Henker.« »Und die Papiere.« »Jetzt hören Sie mal zu, Rick Tucker. Die Papiere gehören mir, und niemand, ich wiederhole, niemand wird seine Nase hineinstecken.« »Aber …« »Das war eine der Bedingungen. Ihr gehört das Haus, und 51
nach meinem Tode fällt es an Emmy. Aber die Papiere gehören mir.« »Selbstverständlich, Wilf. Sie sagte, alles sei sehr zivilisiert abgewickelt worden.« »Das hat Elizabeth gesagt? Dabei war doch …« Ich unterbrach mich, nicht so sehr einer noch wirksamen Loyalität wegen, sondern aus Vorsicht. Elizabeth hatte den beiden selbstverständlich was vorgespielt. Die Trennung war auf abscheulich verletzende Art abgelaufen, sie hätte mir das Herz gebrochen, hätte ich eines gehabt, und dem, das ich hatte, vermochte einzig Julian so etwas wie juristischen Anstand beizubringen. Ich hatte alles hergegeben, aber nicht aus Großmut, sondern weil ich alles los sein wollte. Julian bewahrte uns davor, den Haß publik zu machen, der uns unzertrennlich machte, in guten wie in schlechten Tagen. Doch vielleicht hatte sie jetzt ihren Haß bis auf einen kleinen Rest verbraucht wie ich und sich mit der Narbe abgefunden? Hatte ich das wirklich? Hatte sie es? »Sie sagte, sie müsse alles aufbewahren, doch habe sie nichts damit im Sinn.« »Meine Papiere?« »Sie haben offenbar nie begriffen, Sir, daß Sie Teil des großen Prachtgemäldes der englischen Literatur sind.« Das sagte er tatsächlich. Es hörte sich an wie die Urteilsverkündung nach einem Mordprozeß. Der Angeklagte wünscht darauf hinzuweisen, daß er Teil des großen Prachtgemäldes der – das klang ja richtig üppig! Angeklagter, Sie werden beschuldigt, in betrügerischer Absicht Teil des Prachtgemäldes … »Blödsinn!« Rick drückte das Kinn gegen die Brust, senkte die Stirn, blinzelte unter seinem Stein hervor. »Raus mit der Sprache, Professor.« »Sie hat sich mir verweigert, Wilf.« 52
»Promiskuös war sie nie, das muß man ihr lassen.« »Ich weiß, Sie scherzen, Sir. Aber ich sehe, wie Sie das schmerzt.« »Was denn noch! Und wie ging es Capstone Bowers?« »Ich nehme an, gut.« »Sehr schön.« »Nicht mal sehen durfte ich die Kisten.« »Prachtvoll, prachtvoll.« »Nicht ohne Erlaubnis von Ihnen, sagte sie. Schriftliche Erlaubnis. So laute die Abmachung, sagte sie. ›Gentlemen’s Agreement‹, sagte sie und lachte. Sie lachen beide ziemlich viel, das müßte ich mal näher untersuchen.« »Vivisektion, was? Sie wissen von meinem Leben nichts. Und Sie werden auch nichts erfahren.« Eine Mokkatasse und ein großer Cognac standen plötzlich vor mir auf dem Tisch. Ich wärmte den Cognac zwischen den Handflächen. »Es ist auch wichtig für mich, Wilf, sehr wichtig. Ich würde alles darum geben, alles. Sie ahnen nicht, wie stark die Konkurrenz ist; und ich hätte dann noch eine Chance. Es gibt da jemand – ich erzähle Ihnen vielleicht eines Tages davon, aber da ist noch etwas.« »Das Schlimme ist, daß ich gestern mit dem Trinken aufgehört habe. Und jetzt sitze ich hier, trinke ohne bewußten Vorsatz Cognac, und ein kleines bißchen, nur ein kleines …« »Und noch etwas …« »Ich bin, wie man sagt, auf einer kleinen Richterrundreise. Der zum Tode Verurteilte verzehrte eine herzhafte Henkersmahlzeit. Wie man sich wohl als reisender Richter vorkommt? Womöglich wie auf den Fernstraßen. Niemand, mit dem man reden kann. Bloß Schnaps und die Prozeßunterlagen für den folgenden Tag. Prost.« »Wilf …« Ich dachte daran, wie wenig ich über Richter wußte. Ich war 53
eben ein Glückspilz. Ein langes Leben voll von unentdeckten Verbrechen. Wer entdeckt wurde, wanderte nach Australien. Die Verbrecher, die daheim blieben, zeugten unseresgleichen. Dazwischen durfte man wählen. Ich merkte, daß Rick unterdessen weitergeredet hatte, und unterbrach ihn. »Ich werde jetzt immer leicht betrunken. Das muß die Höhe sein.« »Bitte, Wilf!« »Professor?« »Es bedeutet doch soviel für mich. Und ich kann nur bitten …« »Sie wollen also ordentlicher Professor werden, vielleicht gar Emeritus?« »Wilf, ich möchte, daß Sie mich zu Ihrem autorisierten Biographen machen.«
54
KAPITEL V Ich schaute zu ihm auf und dann an ihm vorbei in die Vergangenheit. Mein Leben, jenes Leben, jene lange, längerwerdende Spur von – von was? Fußspuren im Sand. Schneckenspur. Beweismaterial für den Ankläger und, vergessen wir das nicht, Beweismaterial auch für den Verteidiger, wenn es überhaupt welches gibt. Der Angeklagte beabsichtigt keineswegs, an die Milde des Gerichtes zu appellieren. Soll er sich ruhig schuldig bekennen, der Sozialarbeiter kann bezeugen, daß er seine alte Mutter und seine Pferde stets gutartig behandelt, daß er mit Geld um sich geworfen hat, häufig in Richtung seiner Freunde, und daß er so manchen Geldschein in die Sammelbüchse steckte. Das alles, Euer Ehren, könnte die schlechte Angewohnheit des Angeklagten aufwiegen, Lügen zu Papier zu bringen, die von Geistesschwachen als Tröstung, Hinweis und Freundschaft mißdeutet wurden, angeblich häufig zum Nachteil der Betroffenen. Darf ich Euer Ehren darauf aufmerksam machen, daß der Hauptzeuge der Anklage, ein gewisser Plato, Ausländer ist. Mr. Smith, der Ankläger, hat sein Material präsentiert. Beschränken Sie sich darauf, über die moralische Haltung des Angeklagten auszusagen. Nun, Euer Ehren, um die Wahrheit zu sagen, er war ein rechter Lump … Diese Erinnerungen, wie sie stechen, brennen, verbrühen! Mit neunzehn war ich Bankangestellter, durfte Spargelder annehmen, Schecks eintragen. In meiner Freizeit sollte ich mich auf weitere Prüfungen im Bankwesen vorbereiten, ha, etcetera, damit ich irgendwann einmal – wer weiß _ Kassierer werden und als Zweigstellenleiter enden könnte. Ich war gerade von der Schule gekommen – einer Schule, die hauptsächlich von Bauernsöhnen besucht wurde, welche die Aufnahmeprüfung für die Oberschule nicht bestanden hatten. 55
Mamas Reitstall, der nicht leben und nicht sterben konnte, war nicht gerade ein Sprungbrett, doch muß sie Beziehungen gehabt haben, Gott weiß, welche. Darum durfte ich hinter dem Schalter stehen, den alten Schulschlips schön sichtbar vorgebunden, durfte strahlend lächeln, wie man sagte, und den Kunden zu Diensten sein, aber nicht unterwürfig. Der Filialleiter mochte mich anfangs gut leiden, weil ich an meinen Mittwoch- und Samstagnachmittagen nichts Besseres anzufangen wußte, als Rugby zu spielen. Ich weiß noch, daß ich benommen war von der Geschwindigkeit, mit der ich nach Mamas Tod in diese Welt bedeutender Männer aufgenommen wurde. (Sie hatte gemeint, aus mir könne mal ein Geistlicher werden, weil ich viel las.) Ich fand sogar die Mitglieder des Rugbyklubs alt, so jung war ich. Samstags nach dem Spiel amüsierten wir uns sehr maßvoll in irgendeinem Lokal. Himmel, war ich naiv! Schon nach dem ersten oder jedenfalls einem der frühesten Spiele wurde in einer Ecke getuschelt. »Wo ist der junge Wilf? Der muß mal eine probieren.« »Eine« war eine Pille, nein, nicht Drogen, wie man sie heute kennt, sondern ein weithin angepriesenes Aphrodisiakum. Nun, wenigstens bin ich in der Lage, über persönliche Erfahrungen auf einem Gebiet zu berichten, auf dem Widerspruch an der Tagesordnung ist und nur wenige Männer willens scheinen, ihre Erlebnisse zu Papier zu bringen. Die Pille wirkte. Mag sein, sie enthielt etwas Spanische Fliege. Mag sein, sie war ein Plazebo. Aber wirken tat sie. Ja, selbstverständlich, beruhigte man mich, wir alle gehen nachher noch zu den Mädchen, wohin denn sonst? Also nahm ich die Pille, sorgsam beobachtet und allgemein beklatscht und neunzehn Jahre alt, ganze neunzehn! Ich sagte doch zu meiner Ex-Gespielin, daß Padre Pios Stigmata von Autosuggestion herrührten, nicht? Experientia docet stultos, wie Zonkers zu sagen pflegte, wenn er uns eine Strafarbeit aufbrummte. Ich blickte ängstlich und libidinös in die allernächste Zukunft. 56
Selbstverständlich geschah außer auf der, sagen wir, physiologischen Ebene nichts. Der Abend klang mit umständlich geleerten Bierkrügen aus, mit Rugbygesängen, schmutzigen Witzen und hin und wieder einer an mich gerichteten Bemerkung. »Fühlst du dich gut, Wilf, mein Junge? Wirklich? Ha, ha.« Wie schon der Hypnotiseur so richtig bemerkte, Gott lasse ihn verfaulen, Sie sind sehr empfänglich für hypnotische Suggestionen, Sir. Nun, heutzutage trifft man solche jungen Dummköpfe nicht mehr, alle wissen über alles Bescheid, wenn sie zehn Jahre alt sind. Ich aber trug eine Dauererektion davon, die scheußlich schmerzte und durch Masturbation nicht zu lindern war. Die ganze Nacht über wand ich mich ächzend im Bette, aber nichts half. Und am nächsten Morgen mußte ich diese Erektion mit in die Bank nehmen. Den ganzen Vormittag stand ich hinter dem Schalter und hinter meinem Schlips, strahlte Bauern, Lehrer, Geistliche, alte Damen und junge an, die die Einnahmen einer ganzen Woche brachten und Lohngelder holten. Den ganzen Tag über scheuerte sich mein Pfeifenkopf wund am Bund meiner Unterhose. »Vielleicht darf ich mitlachen, Wilf?« Er sah mich ernst prüfend an. Vor den Fenstern dämmerte es. »Lachen? Was gibt es da zu lachen? Ich gedachte meiner Zeit als Bankangestellter.« »Davon weiß ich ja nichts!« »Wie T. S. Eliot.« Der Gedanke an T. S. Eliot und den ithyphallischen Bankangestellten machte mich redselig. »Von mir können Sie noch was übers Bankgewerbe lernen, Rick.« »Wollen Sie mir die Daten geben? Nur fürs Protokoll, sozusagen.« »Sitzen Sie still, Mann, rutschen Sie nicht so rum.« Selbstverständlich hatte der Geist der Farce die Hand im 57
Spiel. In gewisser Weise läßt sich mein ganzes Leben beschreiben als Fortschreiten von einem lächerlichen Augenblick zum nächsten. Farce auf der einen oder anderen Ebene, der geborene Komiker, ein Clown mit roter Nase, brandrotem Haar und Hosen, die genau im falschen Moment rutschen. Jawohl, von der Wiege an. Als ich das erste Mal vom Pferd fiel, landete ich in einem Misthaufen. Das war allerdings eine gutmütige Farce. Ich weiß noch, daß mir der Gedanke durch den Kopf schoß: Ach, wärest du je auf etwas Hartem gelandet, etwas, das keine Farce ist … Aber es blieb ja noch Zeit. »So reden Sie doch, Wilf.« Schön, das sollte er haben. Beim Misthaufen konnte er anfangen und sich bis zum Bankangestellten vorarbeiten. Ich hatte nichts dagegen, würde es sogar selber niederschreiben, würde damit im Fernsehen auftreten und einen Skandal entfesseln, falls das überhaupt noch möglich war. Ich merkte zu meiner Überraschung, daß ich nachsichtig, ja mit Zuneigung an den stämmigen jungen Mann im guten Anzug zurückdenken mußte, an sein weißes Hemd und den Schulschlips (womöglich etwas grellbunt, doch die einfachen Farbzusammenstellungen hatten die vornehmen Schulen für sich reklamiert). Mir fiel ein … »Was ist denn so komisch, Wilf?« … wie Wilfred Barclay erwischt wurde, als er der Bank zwei Pence schenkte, um die Kasse auszugleichen, und welchen Krach es mit dem Kassierer gab, weil das nach seiner Ansicht und der Ansicht des Filialleiters der Bank und womöglich auch der Bank von England ethisch betrachtet schlimmer war, als der Bank zwei Pfennige wegzunehmen. Der Kassierer war ehrlich erregt. Er schob mir die beiden Münzen hin. »Keiner verläßt das Gebäude, bis die Kasse auf den letzten Penny stimmt!« 58
Mein Rugbyspiel, das von allen Seiten Anerkennung fand, rettete mich (oder, wie ich jetzt sagen möchte, es schob mein Entkommen hinaus). Als ich Maupassant entdeckte, war es damit allerdings vorbei. Das Ende kam in Gestalt eines schottischen Bankprüfers. Ich zitierte ihn jetzt vor Rick. »Wissen Sie, Mr. Barclay, Sie haben mir ganz neue Einblicke in das Wesen der Zahlen verschafft.« Der Filialleiter bedauerte außerordentlich, daß Bank und Städtchen einen so prächtigen Außenstürmer verlieren sollten. »Aber Sie müssen verstehen, Barclay, es ist eine Herzenssache. Mit dem Herzen gehören Sie eben nicht ganz zu uns.« Danach wurde ich für ein Weilchen Reitknecht, anschließend näherte ich mich dem Theater. In Elstree durfte ich einen Speer tragen. Einige Monate versuchte ich mich als Lokalreporter, hauptsächlich mit Berichten über Jagdrennen. Dann kam der Krieg. Als ich mit einigen Pfund in der Tasche heimkehrte, schrieb sich Coldharbour von selber – ich jedenfalls schrieb es nicht –, Stein & Cowhorn verlegten es, und ab ging die Post. Eine Biographie Wilfred Barclays? Warum eigentlich nicht? War der Plan etwa lächerlicher als das Material, das sie ausbreiten würde? »Und wer ist Lucinda?« Ich schrak zusammen. Da war ich wieder in den Fehler der Greise verfallen, innerlich Selbstgespräche zu führen und laut von anderem zu reden. Rick beobachtete mich scharf. Ah, ja, er war dabeigewesen, getroffen von der Kugel aus dem Luftgewehr, der ganze Auftritt war seinem Gedächtnis ebenso eingeprägt wie meinem eigenen. Ich schüttelte den Kopf und schenkte ihm ein, wie ich hoffte, undurchsichtiges Lächeln. Über das Gesicht des Professors huschte ein Schatten (wie wir in unserer ausgefallenen Art sagen), als er merkte, daß der Laden geschlossen worden war. Lucinda war ein schwierigerer Fall, verworren, angesiedelt an der unscharfen Grenze des Unerlaubten. Das meiste aller59
dings ging weniger auf meine als auf ihre eigenen Einfälle zurück. Was Sex angeht, so war Lucinda ein Genie. Wenn die auf den Gedanken käme, ihre Memoiren zu schreiben! Lieber Gott, Domine defende nos! Das wäre ein Fall für die kühnsten Chronisten des menschlichen Hühnerhofes. Welche Erfindungsgabe! Hier, meine Herrschaften, finden Sie alles, was Sie immer schon gesucht haben, zum Anfassen und Mitnehmen, ein hübsches Geschenk für die Gattin, die lieben Kleinen, die rührenden Alten, in deren zahnlosem Schlund Margarine nicht schmilzt – endlich etwas Neues! Ich glaube, das Ding hieß Jiffy-Kamera, eine Vorläuferin der Polaroid, und Lucinda besaß eine, bevor sie auf den Markt kamen. Das sah ihr ganz ähnlich, sie kannte da jemand. Sogar ihr Auto war ein Vorabmodell. Die Kamera zu gebrauchen, war jedenfalls ihr Einfall, und der Himmel weiß, weshalb das so aufregend war, aber das war es. Sie war zehn Jahre älter als ich, sehr gut erhalten und wohl das letzte Überbleibsel der britischen Faschisten. Gemeinsam, halb oder ganz nackt im Bette liegend, betrachteten wir die Fotos, schattige Bilder, Umrisse ohne Farbe, wo ist oben, wo unten? Und dann rief sie: »Das bin ich«, oder: »Das bist du!« Am meisten lag ihr an den Gesichtern, hauptsächlich an ihrem eigenen, gelegentlich an meinem, die nie gleichzeitig auf den Bildern erschienen, das war ja unmöglich. Ich weiß jetzt, daß ihre Sucht, in solchen Situationen fotografiert zu werden und gleich darauf ihr Gesicht in Farbe zu betrachten, der Ersatz dafür war, sich auf einer belebten Straßenkreuzung bespringen zu lassen und den Verkehr zum Erliegen zu bringen; auch hätte sie es wie jene Kaiserin gern auf offener Bühne mit Erbsen und Enten zum donnernden Applaus der Byzantiner getrieben. Eines Tages bemerkte sie ganz nebenbei, wir müßten eine Weile warten, denn sie habe womöglich einen frischen Tripper. Nie zuvor bin ich so schnell gelaufen, nicht mal auf dem Rugbyfeld. Danach – lange danach 60
habe ich jenen Brief zusammen mit den Fotos, auf denen sie und meist unidentifizierbare Teile von mir zu sehen waren, zerrissen und in die Mülltonne geworfen – Narr, der ich war! –, von wo der Leichenräuber alles wieder ans Licht zerrte. Diese Fotos mit meinem Gesicht darauf hatte sie für sich behalten. Aber das alles geschah vor Elizabeth! Warum also versetzte mich die Erinnerung an Lucinda in dieser permissiven Epoche so sehr in Unruhe? Margaret. Die war das Verbindungsglied. Kaum war mir das eingefallen, zuckte ich innerlich zusammen. Ich hatte mich nach Kräften bemüht, die Sache mit Margaret zu vergessen, und das war mir recht gut gelungen. Nur eben, daß auch Lucinda damit zusammenhing. Ich bat sie um Rat. Ich erzählte ihr von den wahnwitzigen, obszönen Briefen, die ich Margaret geschrieben hatte, der einzigen Frau, die ich begehrte, ohne sie haben zu können; von den Vorwürfen, den Flüchen, mit denen ich ihre Ehe bedachte, diese unsäglich anstößige Ehe – ich muß verrückt gewesen sein, buchstäblich verrückt. Als ich zu mir kam, wollte ich die Briefe mit allen Mitteln an mich bringen – wieder eine Verrücktheit. Lucinda war voller Verachtung. »Das ist doch kinderleicht, nichts einfacher als das. Geh zu einem betrügerischen Advokaten, gib ihm ihre Adresse und hundert Pfund, und einen Monat später wird er dir einen neutralen Umschlag aushändigen. Das geschieht alle Tage. So erledigt man das, mein Kleiner. Und wie klein er ist! Ah, Tausende müßte ich von dir für die Fotos verlangen.« »Es wäre – ungesetzlich.« »Kriminell«, stimmte sie fröhlich zu, »aber das ist Sache des Advokaten. Du verdienst an dem Film doch massenhaft Geld?« »Nicht gerade massenhaft.« »Ein Mann mit Geld sollte sich unbedenklich solche Dienste zunutze machen«, versetzte Lucinda mit der Miene gelassener Vernunft, »wozu ist Geld sonst gut?« 61
»Ich kenne keinen betrügerischen Advokaten, meiner platzt schier vor Rechtschaffenheit.« »Es gibt keine unbetrügerischen Advokaten, nur sind manche weniger betrügerisch als andere.« Hier am Tisch, Rick Tucker gegenüber, hinter dem nun Schnee und Sterne sichtbar waren, überkam mich Erstaunen wie atemberaubend dichtes Schneetreiben. Vor mehr als dreißig Jahren hatte ich wirklich einen betrügerischen Advokaten aufgesucht, auf langen, verschlungenen Pfaden. Ich hatte ihm Geld übergeben, hatte mich zum Mitschuldigen gemacht, und das alles für nichts, für weniger als nichts. Als ich, am Kamin stehend, dessen Flammen ich meine eigenen, ekelhaften, erbärmlichen Briefe übergeben wollte, den Umschlag öffnete, verschlug es mir minutenlang die Sprache. Die Briefe waren mit rosa Bändchen verschnürt. Ich tauchte aus einem Monate währenden, von Trunkenheit eingegebenen Mißverständnis auf. Es waren überhaupt nicht meine Briefe, es waren die ihres Mannes, bombastische, unartikulierte Darbietungen jenes törichten Immobilienhändlers; doch sie liebte ihn, und die Briefe wurden aufbewahrt wie Reliquien. Meine – von übertriebenem Stolz erfüllt, hatte ich nicht im Traum daran gedacht, daß jemand meine Briefe vernichten könnte (verrückt, verrückt, verrückt), aber genau dies hatte sie getan – und das war lieb von ihr, denn sie hätte die Briefe auch der Polizei übergeben können –, sie hatte diese obszönen Dinger gleich nach Eintreffen verbrannt. Oder schlimmer, hatte sie sie etwa aufbewahrt? Geisterten die nun in der Welt umher, der falschen Welt? Falls ja, stellte deren Verschwinden zugleich mit dem Verschwinden der Briefe ihres Mannes einen deutlichen Hinweis dar. Ich würde niemals die Möglichkeit außer acht lassen dürfen, daß dies Folgen haben könnte … »Hoffentlich hat der Kerl die ganze Bude auf den Kopf gestellt.« Jemand stierte mich an. 62
»Wilf?« Ich löste den Blick von seinem, ließ ihn über die etwas breite, leicht eingedellte Nase gleiten, über die Oberlippe, die etwas hängende Unterlippe. Seine Serviette kam ins Blickfeld, er betupfte damit die Lippen, sie verschwand wieder. Er trug ein weißes Hemd mit breiten braunen Streifen. Als ich in seinem Alter war, galten solche Hemden als ordinär. »Stimmt was nicht?« Selbstverständlich verbrannte ich die Briefe ihres Mannes, zurückschicken konnte ich sie nicht gut. Fortan lebte ich in einem Zustand gräßlicher Nüchternheit und ängstlicher Erwartung. Ich flüchtete mich nach Südamerika, als wäre die Polizei schon hinter mir her. Jahrelang verursachte mir diese Sache Alpträume, auch sonderbare Halbwachträume, bis sie endlich nur noch sehr undeutlich und sehr entfernt war, ich mich ihrer nur erinnerte, wenn ich gezwungen war, in die Vergangenheit zurückzukehren, wie eben jetzt. Seltsam zu denken, daß ohne Lucinda überhaupt nichts passiert wäre. Sie gehörte zu denen, die mit harten Drogen enden, von denen gutartige Menschen sagen, sie sei selber ihr schlimmster Feind gewesen und habe niemand weh getan außer sich selber. Sie wußten oder verstanden nichts von jener unzerreißbaren Kette, mit der das geringere Vergehen am schwereren hängt, Schritt um Schritt darauf hinführt, es sei denn, man stellt sich den Tatsachen, statt vor ihnen wegzulaufen. Wie irrten sie alle doch im Falle Lucinda! Wir sind einer des anderen Kettenglieder. Ha, ha, etcetera. »Ist Ihnen ein Witz eingefallen?« »Ja, es ist wohl einer. Im ganzen gesehen. Ich bin betrunken. Zuviel Cognac.« »Ich glaube, eine Art Schüchternheit hindert Sie daran zu erkennen, daß Ihre Biographie großes Interesse finden dürfte …« Der Bankangestellte mochte ja amüsant sein, die Possen von 63
Luandas Liebhaber (Titel einer Romanze in einsilbigen Wörtern) mochten höhnischen Beifall finden, doch die Briefe, Margaret, mein Verbrechen … »Nur ein kleiner Zettel, Wilf. Nur eine ganz generelle Vereinbarung …« Laufen. Immer wegrennen, ein Außenstürmer, von der panischen Angst beflügelt, daß ein gigantischer Lümmel von der Gegenseite ihn anfallen könnte … »Nur ein winziges Zettelchen, Wilf, von Ihnen unterschrieben, das mir Vollmacht gibt, insbesondere für den Fall Ihres Todes. Schließlich bin ich eine Generation jünger …« Ja, er war wirklich der gigantische Lümmel im Gedränge. »Sie wollen mir die Ehre antun, mich mit Königen, Staatsmännern, Massenmördern, Fernsehstars in einen Topf zu werfen?« Er reagierte auf eine für ihn blitzschnelle Weise. »Auch mit Thomas Wolfe, Hemingway, Hawthorne und …« hier sank seine Stimme zu ehrerbietigem Flüstern, » … mit Melville!« »Ich bin kein Amerikaner. Das ist natürlich ein Mangel. Indessen, wie Elizabeth zu sagen pflegte …« »Ja? Sprechen Sie weiter.« Ihr niederträchtigster Angriff; denn wie alle tief verletzenden ehelichen Breitseiten enthielt auch er eine Wahrheit, die nur Elizabeth bekannt sein konnte. Sie behauptete (mir am gescheuerten Küchentisch gegenüber sitzend, alles sehr heimelig), sie behauptete, ich würde den bedeutenden Mann spielen, böte sich nur die Gelegenheit. Das hast du doch immer schon gewollt, Wilf – als ob ich es nicht wüßte! –, insbesondere gegenüber einem hübschen jungen Ding, das dumm genug wäre, dir zu nahe zu kommen und dich so zu sehen, wie du selber dich siehst, als sacré Ungeheuer, für das die Regeln nicht gelten, als tesoro der Nation, als jemand, dessen Werk die Welt bewahren wird, 64
während das, was du schreibst … »Populär ist.« »Ein verbreiteter Irrtum, Wilf.« »Was – daß meine Bücher populär sind?« »Ach wo, ich meine, daß populär so gut ist wie …« »… minderwertig.« »Ich wollte nicht – ich möchte Elizabeths Auffassung von der Sache kennenlernen.« Ihr Hohn war wie Arbeit mit dem Skalpell. Er gehörte zu den Dingen, vor denen ich davonlief, veranlaßte mich, jenes Angebot abzulehnen, trieb mich dazu, mich mehr und mehr zu verbergen, weil das, abgesehen von anderem, bewies (Wem? Ihr? Mir?), daß ich nicht auf Ruhm aus war, nicht posierte. »Was meinen Sie mit Elizabeths Auffassung?« »Ich verstehe schon, Wilf, Sir. Die Notwendigkeit, frei zu sein. Unter uns gesagt, selbst mit Mary Lou …« »Ihre Auffassung von der Sache.« »Als sie auf die Zeit zu sprechen kam, die Sie in Südamerika ›vertrödelt‹ haben, klang das ziemlich garstig. Damals hatte sie offenbar Kummer mit Emily. Ich weiß nicht mehr, in welchem Teil Südamerikas Sie damals waren. Wann war das überhaupt?« Höchst sonderbar. Ich sah vor mir einen Prozeß. Nicht als intellektuelles Konzept, ich fühlte ihn ebenso, wie ich ihn sah, fürchtete ihn ebenso, wie ich ihn mir zu eigen machte. Er war sehr einfach, geradezu platt. Er war allumfassend. Er bestand darin, daß eines aus dem anderen folgt, genau dies und nicht mehr. Margaret, die Briefe, Lucinda, meine Furcht, mein fortgesetztes Flüchten, eines aus dem anderen … Südamerika. Und ja, in welchem Jahr? Was würde er noch alles ausgraben, stumpfsinnig, aber unermüdlich mit seinen großen Füßen durch meine Vergangenheit trampelnd, die Nase tief auf die längst erkaltete Spur gesenkt? Eine echt moderne Biographie, 65
ohne Zustimmung des Biographierten. Billiger Druck in Singapur, Auflage zehn Millionen, hergestellt von einer Heftchenfabrik in einer Seitengasse von Macao. Keine Abrechnung, überall unter dem Ladentisch zu haben. Wie würde alle Welt über den Wilf Barclay lachen, der sich aus Furcht vor der Polizei und Angst vor den Frauen durch Südamerika masturbierte? Barclays Angst vor dem Tripper war tief verwurzelt und hatte seine Ursache offenbar in Lucindas Vorstellung von einem Stadtbummel: an einer Speicherwand im Stehen von einem Dockarbeiter genommen zu werden und möglichst auch noch von dessen Kumpel. Ferner Barclays Heldentaten während einer Revolution – drei Tage saß er fröstelnd und verschreckt im Keller, bis er von panischer Angst erfüllt sich mit dem Auto in Sicherheit brachte. Auch das würde herauskommen. Tot. Wie genau würde man das nachprüfen? War ich es wert, daß man meinetwegen solches Aufheben machte? Für Rick jedenfalls, denn der fand keinen besseren, niemand, um den die Pseudogelehrten nicht schon Schlange standen, versessen darauf, unsere grauenhafte Vermehrung von Rekonstruiertem noch weiter zu bereichern. Rick würde sich anderer mechanischer Hilfsmittel bedienen können als Boswell, nicht nur des Papiers, nicht nur der Tonbänder, der Videotechnik, der Schallplatte, der Kristalle mit ihrem abscheulichen, erbarmungslosen Gedächtnis, sondern anderer: Schnüffler, Schieler, Rekonstrukteure, mechanische Vorkehrungen, die ohne Zweifel einen Raum abhören und das Echo eines jeden Wortes festhalten, die Schatten aller Bilder, die an den Wänden hängen wie Capstone Bowers’ Jagdgewehr. Tot. Selbstverständlich mußte es in Südamerika, einerlei, wo, auch heute noch einen Untersuchungsbericht geben. Der Indio – vielleicht aber auch nicht. Es war ganz dunkel, und ich fuhr 66
nur mit den Parkleuchten, weil ich auf der Flucht war, und ich hatte mir vorgenommen, falls ich befragt würde, zu sagen, er sei mir direkt in die Scheinwerfer gerannt. Gab es eine Möglichkeit festzustellen, daß ich in meiner schreckerfüllten Vergeßlichkeit jene ungepflasterte Chaussee wie in England auf der linken Seite befahren hatte? Es heißt ja, man darf nicht anhalten, sonst wird man von den anderen Indios umgebracht. Auch dies ein Vorgang, der immer tiefer abgedrängt werden mußte, bis er am Ende kaum glaubhaft war, ja unglaubhaft. Aber niemals vergessen. Doch es geschah ja im Dschungel, es war auch nur ein Indio, und wahrscheinlich oder möglicherweise war er weder tot gewesen noch schwer verletzt, war vielleicht überhaupt ein Tier. Danach hatte ich doch in schnellstem Tempo eine Furt durchfahren, und das Wasser war über dem Wagendach zusammengeschlagen. Wer sollte im Fluß nach Blutspuren suchen? Kann alles Wasser, ha, etcetera. Und im Unterschied zu ihr wußte ich nichts Genaues. Einen Schatten angefahren, ein leichter Stoß, die Straße voller Rinnen, der Schrei, das war wohl ein Vogel oder so was. Sollte es wirklich einen Bericht geben – der und der Indio aufgefunden, na ja, tot –, ich habe nie jemand davon erzählt, nicht mal mir selber, nur später immer und immer wieder alles in Gedanken wiederholt. Wie hätte ich umdrehen können, nachdem ich doch die Furt gequert hatte? Umkehren? Mich irgendwelchen Rüpeln in Uniform ausliefern, nur um zu erklären, ich habe vielleicht, wisse nicht genau – selbstverständlich bot die Sprache die eigentliche Schwierigkeit. Mein Spanisch reichte für so was nicht aus. Ich würde mich am Ende selbst beschuldigen, einfach, weil ich unfähig war, den Konjunktiv korrekt anzuwenden. Fahrerflucht. Das passiert jeden Tag irgendwo, und wie in diesem Fall gewiß unter mildernden Umständen. »… dürfen Sie mir glauben, daß Elizabeth Ihrem Genie Ge67
rechtigkeit widerfahren ließ.« Ich tauchte aus geschmolzenem Blei auf. »Genie?« »Das hat sie gemeint.« »Quatsch. Vergessen Sie nicht, ich kenne Liz – und wie! Sie hat mir Talent zugestanden, Findigkeit. Ich habe das große Los gezogen. Auf irgendwen muß es schließlich fallen.« O Herr, o Herr, o Herr, der Prozeß, Glied um Glied, wir wissen nicht, was aus diesem Samen aufkeimt, welch grausige Blätter und Blüten, aber er keimt, versorgt uns mit immer mehr Samenkörnern, Millionen, bis das ganze Jetzt, das universelle Jetzt nichts ist als ein unabänderliches Ergebnis. »Könnten Sie sich nicht dazu entschließen?« »Das ist sehr, sehr komisch.« »Nur Ihre Unterschrift unter ein, zwei Zeilen, mit denen Sie mich zum literarischen Nachlaßverwalter einsetzen, das schadet doch nichts, ich bin zu allem bereit, das versteht sich von selber.« »Ich bin etwas betrunken. Reden wir morgen weiter.« »Außerdem hätte ich Ihre Erlaubnis, die Papiere zu katalogisieren, die in der Obhut Ihrer geschiedenen Frau sind.« Ich betrachtete sein eifriges, schüchtern-verstocktes Gesicht, das Gesicht des Goldsuchers, der in einer Quarzader den goldenen Schimmer entdeckt hat. Die von mir unterschriebenen Zeilen würden den von ihm abgesteckten Claim legalisieren. Und die Briefe, Manuskripte, Tagebücher, Tagebücher, die bis in die Schulzeit reichten … Jeffers ist ein ganz toller Bursche, und ich wäre gern sein – mit ihm in der zweiten Mannschaft zu spielen, ist wunderbar – Jeffers hat den Ball ganz leicht gefangen, den ich ihm zugeschlagen habe, ich sagte, es sei doch sehr gut gegangen, und er hat offenbar keinen Anstoß daran genommen, daß ich ihn ansprach – Gott sei Dank haben solche lächerlich fehlgeleiteten Gefühle mich nicht bis in mein Erwachsenendasein beglei68
tet, dann wäre alles ja noch verworrener geworden! Rick starrte mich immer noch an. »Falls Sie sich also entschließen könnten …« »Ich habe schon mehr als genug Entschlüsse gefaßt.« Kein Zweifel, wenn ich nicht scharf Obacht gab, würde Ricks Gesicht, seine beiden Gesichter, auseinanderfallen. Weshalb eigentlich nicht? Schließlich hatte er zwei Gesichter. »Selbstverständlich würde alles vertraulich bleiben, was Sie nicht bekannt werden lassen wollen, Wilf.« Mit erheblicher Mühe brachte ich seine beiden Gesichter zur Deckung. Mir kam der irre Einfall, jedes seiner Gesichter könnte eine andere Miene tragen, und daß diese sich gegenseitig aufhöben, wenn man die Gesichter zur Deckung brachte. »Wie bin ich bloß in diesen Zustand geraten, zum Teufel? Soviel getrunken habe ich doch nicht.« »Das ist der Höhenunterschied.« »Früher war es der Hummer. Sie wissen schon, Thingummy.« »Pickwick.« »Alter und Verfall. Nein, Rick, Pflicht und ihre Vernachlässigung führen mich zurück in die Einsamkeit.« »Shelley.« Dafür verdiente er meine Hochachtung, auch wenn mir das nicht paßte, denn dieses Zitat kannte ich nur dank eines unwahrscheinlichen Zufalls. Es findet sich in Shelleys Notizen, nicht in seinen veröffentlichten Werken. Woher zum Teufel …? Aber seit meiner Zeit war wohl alles veröffentlicht worden, gab es eine Shelley-Fabrik wie es eine Boswell-Fabrik gab, kein Blättchen, das nicht umgewendet wurde, einerlei, was der bedauernswerte Autor selber davon halten mochte. Der Tod zahlt alle Schulden. Herr im Himmel! »Ein richtiges Gesellschaftsspiel, wie?« »Wilf, ich könnte hier auf die Speisekarte schreiben. Der Hotelier kann Ihre Unterschrift bezeugen, und alles wäre 69
erledigt.« »Verbrieft und versiegelt. Wir könnten mit dem Fuß des Cognacglases siegeln. S. W. A. L. K. Ach nein, das ist was anderes.« »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Sir.« »Ah! Endlich wissen Sie mal was nicht. Victoria!« »Ich schreibe es hierher. ›Hiermit ermächtige ich Professor Rick L. Tucker von der Universität Astrakhan, Nebraska …‹« »Sie stellen gleich zwei Füße in die Tür, was?« »Da, das wär’s schon, Wilf. Nehmen Sie meinen Kugelschreiber.« Ricks Cognacschwenker war noch ziemlich voll. Ich goß etwas Cognac auf die Rückseite der Speisekarte und drückte den Fuß des Glases hinein. Der Fuß hinterließ so was wie einen Kreis, ein Siegel. »Sie brauchen ja nicht im Nassen zu schreiben, Wilf, schreiben Sie lieber da, wo die Pappe trocken ist.« Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Nicht mal die Zeitpflanze mit ihren Wolken von Samen, auch andere Pflanzen dieser und jener Art, alle eifrig blühend in der Gegenwart, vordringend in meine Zukunft – Taten, noch unbekannt, und doch bestimmt, rekonstruiert zu werden … »Nein, Rick, nein, lieber sterbe ich.« »Bitte, Wilf, bitte – Sie wissen ja nicht, was das für mich bedeutet!« »Oh, doch, das weiß ich, und wie ich das weiß! Und auch, was es für mich bedeuten würde, weiß ich.« Ich malte in Druckbuchstaben ein großes zorniges NEIN auf die Rückseite der Speisekarte und reichte sie ihm. »Ein Memento an ein glückhaftes Ereignis.«
70
KAPITEL VI Ich will hier nicht eine Schilderung meiner Reisen liefern, es geht hauptsächlich um mich und die Tuckers, Mann und Frau. Es geht aber wohl auch noch um anderes, wenngleich ich nicht sagen kann, worum, Wörter können das nicht ausdrücken, selbst ich finde nicht genügend starke Wörter, obwohl sie mir weiß Gott jetzt eigentlich zur Verfügung stehen müßten. Rufen, rufen. Wonach rufen? Rufen ist nutzlos. Eine gemeinsame Sprache haben wir nicht. Oh, es gibt schon so etwas Ähnliches, beispielsweise Vorschriften, die den Transport brennbarer Stoffe in Flugzeugen regeln, oder Anweisungen zur Herstellung von russischem Salat. Doch unsere Wörter gleichen geschlagenen Goldmünzen, die nachträglich mit wertlosem Metall legiert und mit einer unscharfen Prägung versehen worden sind. Nun ja. Ich verfügte mich ins Bett und blieb dort am nächsten Morgen liegen. Wie der Hoteldirektor ganz richtig gesagt hatte, bedurfte es einiger Zeit, sich zu akklimatisieren. Rick klopfte jedoch so beharrlich an die Tür, daß ich ihn schließlich einlassen mußte, obschon ich mich gerade erst dazu aufgerafft hatte, meinen Morgenkaffee zu trinken. Er berichtete, auch Mary Lou nehme ihr Frühstück im Bett ein. Dann lobte er meinen Salon, pries die großartige Aussicht. Aus seinem und Mary Lous Zimmer schaue man direkt auf ein benachbartes Chalet, so nahe gelegen, daß man die Fliegen an der Hausmauer zählen könne. »Mary Lou darf jederzeit meine Aussicht genießen, wenn sie Lust darauf hat.« Rick überlegte einen Moment und meinte dann, man werde 71
vielleicht wirklich Gebrauch machen von diesem Anerbieten. Ob er etwas für mich tun könne? Sich zum Beispiel um einen Mietwagen kümmern solle? Er warf einen gierigen Blick auf mein Tagebuch, das aufgeschlagen auf dem Nachttisch lag. Ich klappte es demonstrativ zu. Rick fragte, ob ich vielleicht diktieren wolle? Seine Schreibmaschine … »Nichts. Wofür halten Sie mich eigentlich? Für einen Schriftsteller etwa?« Er bot sich mir als Sekretär an. »Also dann: Guten Morgen, Rick, ich will Sie nicht aufhalten.« Darauf reagierte er nicht, sagte vielmehr, er wolle den Vormittag benutzen, den Weg zum Hochalpenblick zu erkunden. »Falls es nicht zuviel wird für Sie, können wir den morgen noch einmal gehen.« »Vorausgesetzt, es ist nicht zuviel für Mary Lou.« Er dachte über diese Bemerkung ein Weilchen nach, und ich machte deutlicher, was ich im Sinne hatte. »Falls der Weg zu beschwerlich wird, kann sie Ihnen helfen, mich zu stützen.« »Sie sitzt lieber, Wilf.« »Also kein sportives Mädchen?« »In Wimbledon fühlt sie sich richtig wohl.« »Gott schütze uns.« »Ich werde ihr ausrichten, daß Sie sie für später eingeladen haben.« »Habe ich das?« »Die Aussicht, Wilf, die Aussicht!« »Ah, richtig. Die Aussicht. Mary Lou und ich, wir werden hier nebeneinander sitzen und die Aussicht bewundern. Hoffentlich stürzt sie nicht vom Balkon.« »Es hat wohl keinen Zweck, Sie zu bitten …« »Überhaupt keinen.« Wieder dachte er nach. 72
»Trotzdem«, sagte er schließlich, »ich werde es ihr mitgeben.« Und er zog ab, zuversichtlich nickend. Ich vergaß ihn, kleidete mich an und nahm vor der Aussicht Platz. Deshalb war ich schließlich in dieses Hotel gekommen. Gerade habe ich durchgeblättert, was ich für jenes Jahr in mein Tagebuch eingetragen habe – eines jener Tagebücher, die demnächst in Flammen aufgehen sollen –, und stelle fest, daß unter diesem Datum eine ganze Menge steht. Nichts von der Aussicht, aber viel über den Liebreiz junger Frauen, Nimue und die Shakespeareschen Wahnbilder, Perdita, Miranda. Es findet sich auch der Versuch, Mary Lou zu beschreiben, doch ist der ausgekritzelt, und der Wilfred Barclay dieses Datums befaßt sich mit Helena von Troja! Er merkt an, wie es Homer gelingt, seine Geschichte plausibel zu machen, indem er nicht die Frau selber beschreibt, sondern ihre Wirkung auf andere. Die Greise auf der Stadtmauer sehen sie vorübergehen und sagen: Kein Wunder, daß solch eine Frau soviel Unruhe verbreitet, man sollte sie heimkehren lassen, bevor sie noch mehr Ärger macht. Oder so ähnlich. Ich kenne Homer nur aus Übersetzungen, und so erinnere ich mich daran. Nun ja. Mary Lou machte, daß die Sonne über dem See heraustrat, und als sie ging, ging die Sonne mit ihr. Erbrach sich Mary Lou, empfand man sogleich Mitleid mit ihrem durchscheinenden Gesicht, statt des Ekels, den man empfunden hätte, wäre es, sagen wir, Wilf gewesen, dem das widerfuhr. Ich kann nicht einmal ihre Hände beschreiben, so bleich, so fein, so schmal, konnte es auch damals nicht. Ich sehe, daß ich mich am Ende mit den Greisen auf der Mauer verglich. Oh, ja, Helena soll abreisen, bevor es Ärger gibt. Das alles hatte ich trotz der Aussicht geschrieben, als es klopfte. Ich schritt durch den Korridor der Suite und ließ unsere kleine Helena ein, die auf einem Tablett zwei Portionen Kaffee brachte. 73
»Nur herein, nur herein! Geben Sie mir das Tablett, und setzen Sie sich.« Ich war von einer törichten Verwirrung befallen. Mary Lou ließ sich in einen Sessel sinken und machte jeden Versuch zunichte, sie etwa zu beschreiben. Sie faltete die Hände im Schoß und kreuzte sittsam die Füße. Sodann drehte sie den Kopf ein wenig, um aus dem Fenster zu blicken, was aber den Anschein machte, als verändere sich die Haltung ihres ganzen Körpers. »Die Aussicht ist wirklich phantastisch von hier, Mr. Barclay.« »Bleiben wir doch bei Wilf. Sie haben recht, ich kann kaum anderswo hinsehen.« Von deren Heiligmäßigkeit überwältigt, stellten die mittelalterlichen Kolorierer ihre Gestalten in eine Welt aus Gold. Als dann später der Blick wählerischer wurde, umgaben sie die Köpfe der Heiligen mit einer Aureole. Schönheit wohl auch; die erkannten jene Greise auf der Mauer, beschrieben sie mit dünnen, trockenen Stimmen, die dem Zirpen der Grillen ähnelten. »Wirklich eindrucksvoll.« »Oh, ja, man findet dafür keine Worte.« »Da fällt mir was ein.« Sie zog den Reißverschluß ihrer Handtasche auf, schob das Haar mit einer fließenden Bewegung des Unterarms aus der Stirn und holte einen Umschlag hervor. »Rick sagte, ich solle Ihnen das hier geben.« »Was ist es?« Ihr Gesicht wechselte die Farbe, kaum merklich, aber an ihr war alles mehr Andeutung denn Faktum. Vielleicht gab es sie in Wahrheit gar nicht, war sie das Scheinbild absoluter Schönheit wie die treulose Helena, die soviel Leid verursachte, das sie auf ihrem Weg begleitete. »Rick sagte, ich soll Ihnen das hier geben.« »Darf ich mal sehen?« 74
Der große Umschlag enthielt einen kleineren, um den ein Zettel gefaltet war. Erkunde unseren morgigen Spazierweg. Hoffentlich hat Mary Lou mehr Glück als ich. Rick. Ich schaute Mary Lou an, die den Kopf abgewandt hielt. Selbstverständlich genoß sie die Aussicht; die Hände umklammerten aber die Sessellehnen, was nicht sehr graziös wirkte. Ich öffnete den kleineren Umschlag. Auf einem Blatt des Hotelbriefpapiers las ich, daß ich den Assistenzprofessor Rick L. Tucker von der Universität Astrakhan, Nebraska, zu meinem literarischen Nachlaßverwalter bestimmte und ihm Zugang zu jenen Papieren gestattete, die sich derzeit in der Obhut von Mrs. Elizabeth Capstone Bowers befanden. Darunter mein Name mit Platz für die Unterschrift. Ich schaute Mary Lou wieder an. »Sie wissen nicht, was das hier ist?« Sie erwiderte mit einer Stimme, die man nur als winzig bezeichnen kann. »Rick hat gesagt, ich soll Ihnen das geben.« Armes Kind, geradezu lügen wollte sie nicht. Mag sein, es stimmte. Vermutlich war ich ihr ebenso zuwider wie die ganze Situation. Ihr Abscheu war ungerechtfertigt, schließlich hatte ich mich entziehen wollen und war nach Weisswald verfolgt worden. »Was wünschen Sie sich für Rick, Mary Lou?« Mary Lou dachte nach, besser, sie bemühte sich nachzudenken. Die Anstrengung erzeugte auf ihrer Stirn liebreizende kleine Falten, weiter nichts. »Nun sprechen Sie schon, irgendwas wird Ihnen doch vorschweben?« »Ich wünsche mir für ihn wohl alles, was er sich wünscht.« »Einen Lehrstuhl? Bücher? Auftritte im Fernsehen? Ruhm? Reichtum? Vielleicht etwas in oder von der Kongreßbibliothek, ich weiß nicht, wie das bei Ihnen gehandhabt wird.« »Ich …« 75
»Ja?« »Möchten Sie vielleicht Kaffee, Mr. Barclay? Nehmen Sie Sahne? Zucker?« »Schwarz bitte. Und nennen Sie mich Wilf. Lassen Sie es mich anders ausdrücken. Haben Sie eine Ahnung, warum Rick sich gerade auf mich verlegt hat? Schließlich kriegt man Schriftsteller dutzendweise für einen Groschen. Hunderte sogar. Wenn man bedenkt, daß es auch schreibende Professoren gibt, sind gewiß die Schriftsteller in der Überzahl. Also jetzt mal ohne alle Schmeichelei, ich möchte die nackte Wahrheit erfahren.« »Ich glaube, er bewundert Ihre Bücher.« Ich verneigte mich, doch Mary Lou fuhr mit großer Einfalt fort. »Und ich werde sie gewiß auch bewundern.« Ich brauchte ziemlich viel Zeit und allen Kaffee, um darauf eine Antwort zu finden. »Nun ja, meine Liebe, es ist Lektüre für Erwachsene – ausgenommen Raubvögel selbstverständlich. Damit habe ich mir keinen guten Dienst getan. Condottieri.« Sie nickte weise. »Das sagt auch Rick.« »Ach nein, sagt er das?« »Ja, Sir, er sagt, wahrscheinlich haben Sie es schon als Drehbuch angelegt.« »Das habe ich nicht! Nur, nur – im 14. Jahrhundert waren die Leute wirklich so, wissen Sie, dieses Renommierverhalten war für sie ganz natürlich. Jedenfalls in Italien. Tja. Warum klammert er sich an mich, wenn er so denkt?« »Er sagt, kein anderer beschäftige sich momentan mit Ihnen.« »Das kränkt mich.« »Jedenfalls weiß er keinen. Umgesehen hat er sich, Mr. Barclay, Wilf, ich übrigens auch. Ich habe nämlich bei ihm studiert. Wir haben zusammen an Ihnen gearbeitet, Sir. Rick sagt, 76
wenn man so ein Projekt verfolgt, kann einem jemand um Nasenlänge zuvorkommen. Rick sagt, man muß unbedingt nicht nur genau sein, sondern auch schnell. Rick sagt, wir müßten uns mit dem Projekt ganz vertraut machen.« »Also mit mir.« »Rick sagt, er investiert unser Geld und unsere Zeit in Sie – Wilf –, und wir könnten uns keine Fehler leisten.« »Vielleicht hat er einen großen Fehler gemacht.« »Es war doch das Hinterzimmer im Erdgeschoß?« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« »Felstead Regina.« »Das Häuschen am Ende des Feldweges mit Blick auf den Wald?« »Ja, Sir, Ihr Geburtshaus. Wir haben Fotos davon. Und es war doch das Zimmer?« »Das sagt jedenfalls meine Mutter, und die dürfte es wissen. Lieber Himmel!« »Es hat ein kleines Fenster.« »Oh, Gott.« »Der Mann, der da jetzt wohnt, hatte nichts dagegen. Wir durften rauf gehen.« »Ein Foto von meinem Sterbehaus haben Sie nicht zufällig?« »Sir?« »Oh, Gott.« »Habe ich was Verkehrtes gesagt …?« Ich schenkte mir noch Kaffee ein und nahm einen großen Schluck. »Nein, nein, bitte fahren Sie fort. Sie … Sie helfen Rick damit.« »Nun, da wäre dann Mr. Halliday.« »Ich kenne keinen Mr. Halliday.« »Er ist reich. Ich meine, richtig reich. Der hat Ihre Bücher gelesen, und die gefallen ihm.« »Es ist immer angenehm, von reichen Leuten zu hören, die 77
lesen können.« »Ja, nicht wahr, es ist auch angenehm für sie. Am besten gefiel ihm Ihr zweites Buch, Alle Meine Schäfchen.« »Woher kennen Sie die Titel meiner Bücher, wenn Sie die nicht gelesen haben?« »Mein Diplom habe ich in Blumenarrangieren und Bibliographie gemacht, Sir. Seine Sekretärin, also die von Mr. Halliday, hat ausdrücklich gesagt, Alle Meine Schäfchen hat ihm am besten gefallen. Besonders ein Satz darin.« »Ah.« »Ich will mal sehen, ob ich den noch zusammenbringe. Es ist der Satz, wo Sie zugeben, Gefallen an Sex zu haben, aber unfähig zur Liebe zu sein.« Danach schwiegen wir alle beide eine ganze Weile. Wie lange? Als Romanfigur hätte ich jetzt eine Wanduhr im Blick gehabt, vielleicht wären mir die Ornamente um das Glas aufgefallen, und dann wäre ich überrascht gewesen, als ich sah, daß der große Zeiger von der Zehn auf die Zwölf vorgerückt war. Aber eine Wanduhr war nicht vorhanden. Hm. Ich hätte ja auch Gedanken nachhängen können, aber es geschah weiter nichts, außer daß viel Zeit verging. Mary Lou setzte ihre Tasse ab. »Tja, dann …« »Moment. Gehen Sie noch nicht. Darf ich mal fragen, warum? Warum ausgerechnet Mr. Halliday? Propagiert er etwa Lieblosigkeit? Herr im Himmel!« »Nein, Wilf, Mr. Halliday hat eine Schwäche für Damen.« »Dann verstehe ich nicht, was ich damit zu tun haben soll. Aber lassen wir das für den Augenblick. Vermutlich hat er eine Nadel in ein Nachschlagewerk gesteckt und ist auf meinen Namen gestoßen.« »Nein, hat er nicht! Er hat das Buch gelesen …« »Alle Meine Schäfchen.« »… und daraufhin alle anderen bestellt …« 78
»Großartig!« »Und dann hat er durch seine Sekretärin Erkundigungen angestellt. Erst hat sie den Rektor der Universität gefragt, Mr. Halliday hat nämlich einen ökumenischen Tempel, eine Skischanze, die Schneemaschine und die Tennisplätze gestiftet …« »Ich sehe schon, er hat Einfluß. Dann hat er sich an Rick gewandt?« »Nein, ich sage doch, es war seine Sekretärin, Mr. Barclay. Er selber vermeidet allen Umgang. Wenigstens …« »Ausgenommen seine Damensammlung. So ein alter Schuft!« »Aber er ist überhaupt nicht alt, Mr. Barclay, kein bißchen älter als Sie!« Pause. »Er hat wohl nicht zufällig auch Bestseller geschrieben?« »Ich glaube nicht. Nein. Bestimmt nicht. Aber Sie müssen doch sehen, daß das für Rick eine tolle Chance war. Nachdem er Phonetik studiert hatte, entschloß er sich, sich ganz auf Sie zu verlegen – weil er Ihre Bücher so schön findet, Mr. Barclay, das tut er wirklich. Dann sprach also Mr. Hallidays Sekretärin mit dem Rektor, und der mit Professor Saunders, und das ist alles.« »Aber jemand, der so reich ist, kann sich doch jede Menge Schriftsteller halten – er könnte sie sammeln, wie seine Damen.« Mary Lou nickte. Als ich schon meinte, die tiefste Demütigung erlitten zu haben, überreichte sie mir eine kurze Liste mit den Namen anderer Schriftsteller, für die Mr. Halliday sich interessierte. Ich hatte kein einziges Buch von diesen Leuten gelesen. Ich nahm Ricks Brief auf, sah ihn an, legte ihn wieder hin. Männer ohne Liebe. Da war etwas dran. Mmm. Meinen Vater hatte ich nicht gekannt. Elizabeth. Emily. Zugegeben, der 79
Mann, der in Alle Meine Schäfchen gesteht, nicht lieben zu können, war von mir einzig der Handlung wegen eingeführt worden – sprach er nicht etwa doch für mich? Ich fühlte mich manchmal einsam. Das war aber die Einsamkeit eines Mannes, der gern unter Menschen gewesen wäre, der sich nach einem gewissen Umtrieb sehnte. Nach der Benützung eines weiblichen Körpers stand mir seltener und seltener der Sinn. Selbst daß ich die exquisite Weiblichkeit in Mary Lou wahrnahm, war im Grunde nichts Krasses – was ich empfand, sagte ich mir vor, war väterliches Mitgefühl, beschützenwollend, eher traurig. Sie stand auf. »Also …« »Müssen Sie schon gehen?« Ich hätte eine harmlose, erklärende Geste machen können, etwa ihr die Hand küssen. Ich hätte meine Beredsamkeit nutzen können – Männer ohne Liebe! Und alle diese Gefahren innerhalb von nicht einmal 24 Stunden! Sie aber sagte, ja, sie müsse nun wohl gehen, bedankte sich für den Kaffee, und wir vergaßen beide, daß ja sie ihn mitgebracht hatte. Nachdem ich die Tür hinter ihr zugemacht hatte, blieb ich im Vorraum stehen, starrte meine leeren Koffer an, die auf dem Kofferständer lagen. Es war sinnlos und dumm. Ich mußte fort, fort nicht nur von ihm, sondern auch von ihr. Ich war im Begriff, einer Kindfrau auf den Leim zu gehen, einem jungen Leib, der einem Geist diente, so faszinierend wie ein Stück Bindfaden. Hätte umgekehrt dieser Geist dem Leib gedient – der Leib wäre – gräßlich gewesen. Nein, das war ungerecht. Sie mochte nicht lügen, suchte es zu vermeiden. Sie wollte ihren Kurs halten zwischen dem, was sie als Ricks Wunsch erkannte, und dem, was in ihren Augen recht war – sie war ein moralisches Wesen, und wer war ich, daß ich wagen durfte, sie dafür zu tadeln? Sie mochte mich 80
nicht. Sollte ich sie etwa deshalb schelten? Sie hatte die bedeutenden Werke Wilfred Barclays nicht gelesen. Nun ja, andere Leute ebenfalls nicht. Oh, sie war noch wie in Trance in ihrer Ehe, noch ganz erfüllt von heimlichem Entzücken über das, was sie nun kannte und was vor ihr nie jemand gekannt hatte, dem weiblichen Entzücken des Gebens. Es beglückte sie, sich als Besitztum eines anderen zu fühlen, als Sklavin, sie wußte, daß sie das Geheimnis vor ihrem Mann verborgen halten mußte, gerade wenn es am köstlichsten war. Er sollte glauben, was sie als Kern allen menschlichen Lebens erkannt hatte, sei für sie nur ein Spiel. Die Trägheit des Geistes, ihrer Reaktionen, an der ich ihren Intellekt gemessen hatte, mochte sehr wohl weiter nichts beweisen als Gleichgültigkeit gegenüber einem Mann, dreimal so alt wie sie, den sie aber des Ehemannes wegen höflich behandeln muß, koste es, was es wolle. Zeit, ein Schläfchen vor der gewiß anstrengenden Mahlzeit zu machen. Ich zog mich aus und ging zu Bett. Die alten Männer zirpten wie Grashüpfer auf der Stadtmauer, als sie die junge Frau vorübergehen sahen. Kein Wunder, daß soviel Ärger, soviel Kummer von ihr ausgingen. Kein Wunder, daß junge Männer willens waren, soviel zu wagen, um ihre Liebe zu gewinnen. Trotzdem – sie soll in ihr eigenes Land zurückkehren, bevor sie am Tode weiterer junger Männer schuldig wird. Alte Männer. Alte Possenreißer, alte Lumpenhunde.
81
KAPITEL VII Ich träumte viel, was angeblich gesund sein soll, doch erinnerte ich mich auch an meine Träume, was für mich ungewöhnlich ist, ob gesund oder nicht, ahne ich nicht. Elizabeth behauptete gern, ich hätte kein Unbewußtes, bei mir sei alles immer zugänglich. In ihrer Welt bedeutete dies, ich gliche einem Laden voller unnützer Nippessachen, noch dazu schäbigen. Warum nur mußten wir uns überhaupt begegnen? Ein HinduArzt meiner Bekanntschaft behauptete, wir würden einander immer wieder begegnen, bis wir gelernt hätten. Aber was wir lernen sollten, sagte er nie. Meine Träume handelten vom Weiblichen tout court. Auch träumte ich mich zum Bett hinaus, auf den Balkon. Ich träumte, ich betrachtete den großen Gletscher auf der anderen Talseite, und dank einer ungenauen Erinnerung an irgendeine Äußerung von Elizabeth wurde mir klar, daß das, was ich da sah, mein eigenes Bewußtsein war. Ich begriff, welch mühevolle Arbeit es ist, dieses Glitzern des Geistes, diese tanzende Bewußtheit, woraus ich meine unwahrscheinlichen, aber unterhaltlichen Geschichten konstruiere. Dann aber träumte ich mich in einen Angstzustand hinein, denn der Balkon senkte sich, und bei einer bestimmten Schräglage würde ich abrutschen. Ob nun also bewußt oder unbewußt, mein träumender Geist schlug Purzelbäume, und ich sah mich als einen jener Schmetterlinge, die Mr. Halliday in einem Schaukasten ausstellte; die Nadel, auf die er mich gespießt hatte, verursachte keine Schmerzen, und den lateinischen Namen, der unter mir stand, konnte ich nicht lesen. Ich erwachte in der Furcht, einen schlechten Aufsatz geschrieben zu haben und nichts Gutes vom alten Zonkers erwarten zu dürfen. Die Träume hatten hinterlassen, was die Seelenklempner (und die Schwarzröcke) einen Affekt 82
nennen, und zwar einen erheblichen. Dies heißt weiter nichts, als daß ich schweißgebadet erwachte, glücklich, schon sechzig und überdies in Weisswald zu sein. Die glücklichsten Tage, ha, etcetera. Ein sacré Ungeheuer, wie Liz gesagt hätte. Ich duschte, und da war es denn für den Tee zu spät und nicht mehr zu früh für die Bar. Ich zog mich rasch an und ging hin. Draußen sah ich eine Reihe österreichischer, deutscher und schweizerischer Wanderer in die andere Richtung gehen, das heißt zurück zur Zahnradbahn, allesamt gedrungen und breiter als hoch, Schweißflecken an den Lederhosen und Federn am Hut. Sie machten den Eindruck von Figuren, die zurück in die Schachtel gehören. Ich hatte mich an der Bar niedergelassen, der Hoteldirektor mixte mein abscheuliches Getränk, ohne Ekel zu zeigen, da platzte Professor Tucker herein. »Heda, Wilf, Sie alte Schlafmütze!« »Heda, Sie Assistenzprofessor«, beleidigte ich ihn meinerseits. »Ich habe nie zuvor ähnliches gesehen, nicht mal bei uns daheim.« »Tut mir leid, aber ich beabsichtige nicht zu klettern.« »Brauchen Sie auch nicht. Es gibt da ein kilometerlanges Geländer. Und wie war es mit Mary Lou?« »Sie hat Halliday erwähnt.« Das traf sichtlich. Nach einem Weilchen beschloß er, darüber zu lachen. Man konnte den Prozeß richtig verfolgen. Rick glich einem jener typischen Apparate aus alter Zeit, einer viktorianischen Pumpe etwa, hergestellt mit ungeheurem Arbeitsaufwand, großer Geschicklichkeit und Hingabe, alles grün gestrichen, die Teile geölt, Dampf steigt auf, und das Ganze dreht sich gemächlich wie ein Planet. »Eine wirkliche Type, dieser Halliday.« »Eher unwirklich.« »Ich wollte Ihnen schon von ihm erzählen.« »‘türlich, wie Sie sagen.« 83
»Essen Sie mit uns?« Ich durfte mich ihm nicht verpflichten, das sagte der gesunde Menschenverstand. »Sie müssen beide meine Gäste sein. Nein, nein, ich bestehe darauf. Es ist mir ein Vergnügen.« »Ehrlich?« »Wer ist schon ehrlich.« Rick ging forsch ab – mag sein, etwas nachdenklich, aber immer noch forsch. Ich rief mir sein Gesicht ins Gedächtnis. Die Sonne hier oben hatte aus seiner Nase, seinen Wangen und seiner Stirn Äpfel, Kirschen und Tomaten gemacht. Ich reckte mich hierhin, dann dahin, bis ich mein eigenes Gesicht zwischen den Flaschen vor der unvermeidlichen Spiegelwand der Bar erkannte. Ich war ganz und gar nicht der sprichwörtliche »rotgesichtige Engländer«, meine Haut glich eher einem Stück Leder, das seit Generationen auf dem Dachboden liegt, und die Nase wies hier und dort rote Äderchen auf. Dieses Gesicht kennt keiner, dachte ich. Ein Schriftsteller ist kein Schauspieler, kein Musiker, nicht sein Gesicht macht sein Glück. Eher sein Unglück, oder auch nicht. Sein Glück ist seine Anonymität. Hätte ich wirklich berühmt sein, das heißt auf der Straße erkannt werden wollen, ich hätte mir nur ein Plakat mit der Aufschrift »Autor von Coldharbour« an den Hut stecken müssen. Daß ich darauf nicht im mindesten aus war, beglückte mich und strafte zugleich Elizabeths Beschuldigung Lügen. Ich saß bereits in dem kleinen Restaurant, als Rick mit Mary Lou hereinkam. Er und ich waren salopp gekleidet, Mary Lou hingegen hatte sich, wie ich vage beunruhigt zur Kenntnis nahm, große Mühe gegeben. Ihr Rock war lang und bauschig, doch von der Taille aufwärts lag das Oberteil ganz eng an und war so tief ausgeschnitten, wie es die schweizerischen moeurs gerade noch zulassen; für Touristen bedeutet das: sehr tief. Mir kam der Gedanke, daß sie sich nicht aufreizender hätte kleiden können, sollte sie dabei »an einen älteren Herrn« gedacht 84
haben. Ich schob ihr den Stuhl unter (das kann ich ausgezeichnet) und ließ mir den meinen gerade von dem Hoteldirektor unterschieben, als mich ein Wutanfall überkam. »Wer hat Ihnen erlaubt zu fotografieren, verdammt noch mal!« »Aber Wilf, es ist doch nur fürs Archiv sozu…« »Es wird kein Archiv geben, basta.« »Du hättest vorher um Erlaubnis bitten müssen, Schatz.« »Und ich dachte, Wilf hat nichts dagegen, Schatz.« »Rick.« »Ja, Wilf?« »Machen Sie das nie wieder, Schatz. Sonst verklage ich Sie.« Der Hoteldirektor war mit professionellem Takt entwichen. Wir studierten die Speisekarte, und ich langweilte die beiden mit weitschweifigen Schilderungen von Mahlzeiten, die ich hier und dort zu mir genommen hatte. Nachdem er etwas getrunken hatte, wurde Rick sehr beredt, das lag wohl auch an der Höhenluft. Mary Lou war schweigsam, und es kam mir vor, als befürchte sie, Rick könne sich zum Narren machen. Nach einem weiteren fehlgeschlagenen Versuch meinerseits, ein Lächeln auf dem exquisiten jungen Gesicht hervorzuzaubern, gab sie unvermittelt ihre Enthaltsamkeit auf und verlangte einen großen Wodka, bitte, wofür sie von Rick so sehr gelobt wurde, als habe sie gerade einen Preis verliehen bekommen. Danach wurden die beiden recht lebhaft, und ich kam mir vor wie der einzige, den ich mit meinen Erzählungen gelangweilt hatte. Ich fand mich stumpfsinnig, mißgönnte den beiden ihre Jugend und fragte mich, worauf, zum Kuckuck, ich mich da eingelassen hatte. Rick war jetzt bei der Astronomie angelangt – offenbar war in der Nähe eine Sternwarte – und beklagte den Umstand, daß man von ihrem Zimmer aus so wenig vom Schweizer Nachthimmel sehen könne. Mary Lou wirkte abwesend. Rick sah von mir zu ihr. »War es heute sonnig, Schatz?« 85
»Sonnig, Schatz?« »Ich meine heute nachmittag, in unserem Zimmer, Schatz.« »Nein, ich glaube nicht, Schatz.« »Falls Sie Sonne oder Sterne sehen wollen, steht Ihnen immer mein Balkon zur Verfügung«, sagte ich. »Wir können ja gleich dorthin umziehen. Wie warm ist es denn draußen? Wir könnten vielleicht sogar …« Rick stand schon auf. Mary Lou nahm ihre Handtasche und flüchtete. »Wie nennt sie das, Rick? Den Powder Room? In den Staaten habe ich diese Toiletten mit den scheußlichen Figuren regelrecht gesammelt – mit Königen und Königinnen, Herzögen und Herzoginnen, schweren Jungs und leichten Mädchen, Häuptlingen und Squaws. Aber das ist schon Jahre her. Jetzt vielleicht … allerdings hat sich diese Unsitte inzwischen ausgebreitet. Man trifft sie schon in England. Kulturimperialismus.« »Wir werden mit Vergnügen Ihre Sterne betrachten, Wilf.« »Meine? Wie komme ich zu dieser Ehre? Nehmen Sie noch einen Schluck, bevor – die Flasche ist ohnehin fast leer.« Rick kicherte. Ich verstummte, und wir warteten stehend. Er trommelte unruhig auf der Tischplatte. »Zwei Flaschen für drei Personen deuten übrigens auf beginnenden Alkoholismus, Rick. Mary Lou hat außer dem Wodka nichts getrunken, also – versteht sie übrigens was von Astronomie?« Lange Pause. Schließlich schrak Rick zusammen. »Entschuldigen Sie, Wilf, ich …« »Mary Lou. Astronomie.« »Sie interessiert sich dafür.« »Ich nicht. Oder doch. Wo steckt denn der Weinkellner?« Selbstverständlich erschien der Direktor. Ich bestellte eine Flasche Cognac, die er nach einer Weile brachte. Rick trommelte unaufhörlich weiter. »Mann Gottes, haben Sie noch immer nicht genügend Bewe86
gung gehabt?« »Ich verstehe nicht ganz, Wilf …« Er goß seinen Cognac runter, daß es mich grauste. Selbst tat ich höchst zivilisiert, wärmte den Schwenker mit den Händen, schnupperte daran wie ein Kenner, obschon ich so gut wie keinen Geruchssinn habe. Zeit verging. Mary Lou kam aus dem Powder Room zum Vorschein, bleicher als sie hineingegangen war. Vielleicht hatte sie sich wieder erbrochen. Rick hatte sein Cognacglas neu gefüllt. »Wilf hat wirklich nichts dagegen, daß wir seine Sterne betrachten, Schatz.« Mary Lou sog hörbar die Luft ein. »Das wäre bestimmt schön, Schatz.« »Eintritt gratis, meine Lieben.« Ich ergriff die Cognacflasche. Rick setzte sich in Bewegung, machte aber überraschend halt. »Geht ihr beide schon mal vor, ich muß noch wohin.« Ich ging weiter mit der Flasche in der Hand, hielt Mary Lou die Tür auf und führte sie durch die kleine Diele in den Salon, wo Ricks Briefchen noch auf dem Tisch lag. Ich öffnete die Balkontür, und sie trat raschelnd hinaus, frou, frou. »Geben Sie acht!« Sie stand jetzt unmittelbar am Geländer, stützte sich mit beiden Händen darauf und schaute hinunter. »Um Himmels willen! Entschuldigen Sie bitte, meine Liebe, aber ich werde so leicht schwindlig und fürchte sonderbarerweise mehr um andere als um mich selber. Ich kann tatsächlich leichter näher an einem Abgrund stehen als zusehen, wie andere Leute auch nur in die Nähe kommen. Und runtersehen, meine ich. Ich kann’s nun mal nicht aushalten, ich alter Tropf.« Sie richtete sich auf, gehorsam wie ein kleines Mädchen, und tat einen, zwei Schritte rückwärts. Ich ging zum Schalter. »Jetzt drehe ich das Licht aus.« Ein mit Sternen vollgestopfter Himmel wurde zum Greifen 87
nahe sichtbar. »Wie Diamanten, nicht? Das schönste Geschenk für eine Frau.« Ich stand nahe ihrer Schulter und fragte mich, wie es wohl komme, daß ich, der ich nicht mal das Aroma des Cognac roch, eine Spur von Parfüm in ihrem Haar wahrzunehmen glaubte. Ich rückte noch näher. »Mr. Barclay …« »Weshalb plötzlich so formell?« »Rick ist verzweifelt, wirklich.« »Und weshalb müssen wir jetzt über Rick sprechen?« Ein kitschiger Satz, der genau zu Dei Caitani in Raubvögel paßte. Im Drehbuch steht er wirklich, ist selbstverständlich ironisch gemeint. Mein Arm hob sich, anscheinend ohne mein Zutun, tätschelte die mir abgewandte Schulter und blieb auf der bloßen Haut liegen. Mein Herz machte einen Satz und pochte alsdann wie eine Pauke. In den Ohren hörte ich das Blut singen. Mary Lou tat nichts. Weniger als nichts. Es war seltsam, unmöglich. (Mary Lou ist nicht physisch.) Vielleicht grenzte das an außersinnliche Wahrnehmung. Vielleicht stand sie haarscharf vor einem spirituellen Erlebnis. Solche muß es schließlich in allen Formen und Größen geben, je nach Klima. Was ich von ihr ausgehen fühlte, war Ergebung, eine unnatürliche Reglosigkeit, eine Art Schwere. Ihre – oder sage ich besser die – Schulter also schien weniger belebt als Marmor. Marmor hätte sich irgendwie anders – hätte sich … hätte sich … Diese entblößte Schulter jedenfalls war weniger menschlich als die eines Teddybären, glich der Schulter einer Schaufensterpuppe in ihrer unnatürlichen, unmöglichen Haltung, war nicht anders als Plastik. Es kam mir vor, als werde sie von Sekunde zu Sekunde schwerer; sie war völlig passiv. Von den Fußsohlen aufsteigend, meine leichte Benebelung und alle libidinösen Wunschvorstellungen wegfegend, überkam 88
mich das Gefühl, gedemütigt zu werden, und reine, brennende Wut darüber, daß ich angenommen, ertragen werden sollte, nicht für Geld, wie von einer ehrlichen Hure, sondern für Papier! So standen wir nebeneinander vor den Sternen, taten nichts, sagten nichts. Wir standen so reglos, daß ein Betrachter hätte glauben können, wir seien sternsüchtig. Endlich nahm ich mit einem kleinen Tätscheln meine schwere Hand von ihrer schweren Schulter. »Zu viele Sterne machen mich schwindlig.« Ich machte Licht, auch in der Diele und allen drei Räumen, selbst auf dem Balkon. Man muß im ganzen Tal meine Lichter gesehen haben. »Sie brauchen nicht mehr hinzuschauen, verdammt noch mal, das Stück ist aus.« Sie wandte sich um, den Blick nicht auf mich, sondern auf die Tür gerichtet. »Das stimmt wohl.« »Wenn Rick kommt, werde ich sagen, Sie seien vorzeitig gegangen, die Höhenluft habe Ihnen Kopfschmerzen gemacht.« »Ich? Gegangen?« »Wenn er vom …« Sie errötete stark von der Brust bis in die Stirn, und ich schwöre, ich erkannte erst in diesem Moment das ganze Ausmaß dieses abgekarteten Spiels. Sie hatte jetzt wieder ihre Kleinmädchenstimme. »Nein … ich … es war sehr nett von Ihnen, mich hereinzubitten.« Sie rannte zur Tür, unbeholfen, als sähe sie nicht richtig. Plötzlich empfand ich für sie, was ich vielleicht für Emily hätte empfinden sollen, ohne es je zu tun. »Mary Lou …« Sie verhielt, machte eine halbe Drehung, blutrot. Als wäre sie wieder ein junges Mädchen – was sie erst gestern noch gewe89
sen war –, hob sie den Arm bis in Schulterhöhe und bewegte grüßend die Finger. »Adieu, bis morgen.« Und danach gelang es ihr, ohne Hilfe in die Diele und auf den Hotelkorridor zu kommen – der Teppich da draußen war so dick, daß ich nicht hören konnte, ob sie rannte oder ging oder taumelte. Was hatte er erwartet? Wie sah das angenommene Szenarium aus, wie wir im Jargon sagen? Stellte er sich vor, wir würden ein schelmisches Wortgefecht führen, das sie beendete, indem sie mädchenhaft um den Tisch rannte und rief, nein, Wilf, nicht, bevor du das Papier unterschrieben hast? Oder sollte sie sich odaliskenhaft an mir emporranken und schmollend flehen? Oder nur kaltblütig einwilligen, damit ich anschließend, im Gefühl, verpflichtet zu sein, nur noch fragen würde: Wo soll ich unterschreiben, das wollten Sie doch? Es war sehr nett von Ihnen, mich hereinzubitten. Die rührende Idiotie und die Verletzlichkeit der Kleinen; der krude, beleidigende Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit bei dem Mann! Und doch lag er nicht ganz falsch. Wäre die Haut warm gewesen und hätte auch nur das geringste Signal gegeben, wie anders wäre alles verlaufen! Keiner von uns beiden, weder der Autor noch der Kritiker, verstanden etwas oder jedenfalls nicht genug von den Menschen. Wir verstanden was von Papier, von sonst nichts. Menschlich war von uns dreien nur das bedauernswerte Mädchen. Sie wußte nicht, wie sie es anstellen sollte. Aber wußte ich es denn? Er jedenfalls verstand nicht, es anzubieten. Zuhälter, Freier und Hure, wir brauchten alle drei die Hilfe von Professionellen. Ich stand im hellerleuchteten Salon, hinter mir das dunkle Rechteck der Fensterscheibe mit den erloschenen Sternen. Ich starrte Ricks Papier auf dem Tisch an, dann das an der Türklinke hängende Schild Avis à MM les clients. Ich stellte mir Rick vor, wie er diskret im Bett lag, leise schnarchend vielleicht, so daß die Rückkehr seiner 90
Frau weder wahrgenommen noch kommentiert werden mußte. Sie aber würde ihm das Schnarchen austreiben, ihm versichern, nichts sei vorgefallen, außer daß Mr. Barclay ihr die Hand auf die Schulter gelegt habe, ja, auf die Schulter, er habe sie zwar gewollt, doch nichts unternommen, seine Hand zurückgezogen und kaum gesprochen, und nun möge Rick sie in den Arm nehmen, bitte, bitte, mit ihr schlafen, sie fühle sich so, so beschmutzt, und nie, nie wieder dürfe er so was von ihr verlangen … Dann würden die beiden einschlafen, sein dichtes Brusthaar benetzt von ihren Tränen. Das Stück Papier lag immer noch auf dem Tisch. Hiermit bestimme ich Professor Rick L. Tucker … Ich könnte ihn quälen, ihm morgen auf unserem Spaziergang das unterschriebene Stück Papier übergeben. »Ach, Mary Lou hat das hier gestern vergessen, Rick. Dabei hat sie es sich wirklich verdient!« Unsäglich. Ihr Bild, ihre strahlende Schönheit und ihre kindliche Verletzlichkeit griffen mir an Herz und Kehle, sonst aber nirgendwohin. Ich empfand auch Angst. Ich wußte, ein Finger deutete auf mich, ich war ihr auf den Leim gegangen und würde Mühe haben, mich loszumachen. Diese Veränderung in nur einem Tag – Vormittag, Mittag, Abend. Da war sie, die Falle, der ich hatte ausweichen wollen – und der ich ausweichen würde! –, der bittere Schmerz einer Liebe, die fruchtlos, sinnlos, hoffnungslos, qualvoll und lächerlich ist. Wieder einmal waren dem Clown die Hosen gerutscht. Ich verfluchte mich innerlich selbst, hielt mir dann aber vor, noch sei nicht alles verloren. Noch stand der Cognac auf dem Tisch, der Trost des gereiften Mannes. Dann, Papiermann, der ich war, meldete sich eine Stimme in mir, die sagte: Junge, was für eine tolle Story!
91
KAPITEL VIII Ich erwachte zeitig mit lebhafter Erinnerung an die Vorgänge des Abends und mit einer Art ausgedörrter Distanz zur Wirklichkeit, die Folge von erheblichem Cognacgenuß. Als ich vom Bad kommend den Salon betrat, überraschte es mich nicht, die Cognacflasche halb geleert zu finden. Außer der Dürre merkte ich sonderbarerweise nichts von einem Kater. Den Durst stillte ich mit etwa sechs Glas kalten Gebirgswassers. Es war eigentlich unmoralisch, soviel getrunken zu haben und dafür nicht leiden zu müssen, doch ließ sich nicht bestreiten, daß ich mich körperlich kaum je im Leben wohler gefühlt habe. Wut und Kummer verbrennen den Alkohol. Ich erinnerte mich meiner neuen Versklavung, prüfte sie und rebellierte dagegen. Nicht mehr an sie denken ist immer das beste Rezept. Denn sie war festgelegt, kein Zweifel, hatte eingewilligt, ihr Leben so zu gestalten, daß es sich mit dem seinen zu einem geschlossenen Zauberkreis verband. Das wurde durch jene lächerliche und häßliche Nicht-Transaktion vom vergangenen Abend nur noch unterstrichen. Denk nicht mehr an sie, verdränge um Gottes willen ihr Bild aus deinem Blick, benimm dich nicht deinem Alter entsprechend, da lauert nur der Wahnsinn. Denk statt dessen lieber an ihn und seinen Versuch, mit der Leimrute einen literarischen Gipfel zu fangen … Nun denn. Ich wollte Professor Tucker eine Lektion erteilen, an der er den Rest seines Lebens zu schlucken haben sollte. Ich wollte mich meiner eigenen Waffe bedienen, ihn in einem Buch, einer Story auftreten lassen, so boshaft genau porträtiert, daß selbst Mary Lou seinetwegen würde erröten müssen und Halliday ihn mit Gelächter vernichten würde. Dann allerdings konnte der Romanschriftsteller sich nicht mehr über eine Binsenwahrheit des Gewerbes hinwegsetzen: 92
Es hatte keinen Zweck, den lebenden, wirklichen Rick L. Tucker in einem Buch auftreten zu lassen. Er hatte mit den meisten Menschen gemein, daß er völlig unglaubhaft wirkte. Romanschriftsteller erfinden, was sie Charaktere nennen, die das aber nicht sind. Es sind Konstruktionen, geschnitzt aus beliebigem Holz – einem psychischen Plasma –, zu Figuren, die einander ähneln wie russische Puppen in der Puppe. Ich konnte weiter nichts tun als auswählen, dämpfen, justieren, eine komisch-abstoßende Figur herstellen, identifizierbar und erträglich, »weil das Ganze nur eine Story ist«. Mir ging auf – beim achten Glase Wasser –, daß ich etwas zum erstenmal in meinem Leben würde tun müssen. Keine Erfindung, einzig Auswahl – ich würde tatsächlich einen lebenden Vorwurf studieren müssen. Rick sollte meine Beute werden. Statt ihm auszuweichen, sobald Langeweile oder Gereiztheit auftraten, mußte ich unser Verhältnis zueinander umkehren. Während er glaubte, mir auf die Schliche zu kommen, würde ich auf die seinen kommen. Ich würde die Freuden des Jägers genießen. Hussa und Ho! Während ich frühstückte und mich ankleidete, rekapitulierte ich, was ich von ihm wußte, und das war leider nicht mal soviel, wie die Polizei für eine Beschreibung verlangt. Er war hochgewachsen, sehr groß – aber wie groß? Der große, schlanke junge Mann hinter unserer Mülltonne hatte in jeder Hinsicht zugelegt. Er war breit und stämmig. Ich stellte mir seine behaarte Vorderseite vor, die hatte ich ja gesehen. Kamen hinzu Büschel unter den Achseln, schamhafte Ableger davon in den Nasenlöchern, wahrscheinlich waren auch seine Beine damit bedeckt, und der Bewuchs endete an den Knöcheln wie die Gamaschen eines Droschkengauls. Auf dem Kopf wuchs es dicht und voll, die Brauen waren ebenfalls voll, auch die Wimpern. War der behaarte Ainu über die gefrorene Beringstraße gewandert oder war diese, man könnte fast sagen Abnormität, mit späteren Einwanderern von der anderen Seite 93
über den Atlantik gekommen? Wenn man Professor Tucker nicht verhöhnte, nicht vor ihm weglief, ihn vielmehr genau betrachtete, stellte sich heraus, daß er nicht ohne Interesse war. Wieviel Haar würde man dem Schriftsteller durchgehen lassen? Nicht alles – die Brustbehaarung, das Haupthaar, schwarz und dicht, Brauen und Wimpern waren schon mehr als genug. Der Autor behandelt meist jene Teile seiner Charaktere, die auffallen. Der Rest ist Schweigen – ich meine Kleidung. Reiner Zufall, daß ich wußte, Tucker war zwischen den Beinen struppig wie ein Shetlandpony. Haut. Meist von etwas sonderbarem Weiß; wo Bart und Schnurrbart wachsen könnten, die Wurzeln schwarzer Stoppeln, die zwar mit der Klinge bis zum Grunde abrasiert, aber eben doch noch sichtbar waren, und zusammen mit der weißen, etwas fettigen Haut wirkten wie – wie was? Absurderweise fiel mir dazu weiter nichts ein als ein Zitat von irgendwoher, ein Zitat überdies, das überhaupt nicht zu passen schien – Stille und alte Nacht. Hände breit, gepolstert, weiß, auf den Handrücken unvermeidlich das Tuckersche Haar. Ungemein sauber. Viel zu sauber. Die Nägel eher konvex als – verflixt, welches von beiden meine ich nun? Sie waren gewölbt und konnten Regenwasser auffangen. Selbstverständlich war er kräftig. Eine dieser Hände könnte zudrücken – als Faust zuschlagen – eine Axt schwingen – doch das hatten sie nie. Ihre Waffe war die Schreibmaschine. Die struppigen Geschlechtsteile – nein. Lerne, mein Alter, woran du nicht denken, was du nicht erwähnen darfst, was nichts ist, nichts als Krankheit und Schmerz. Vergiß es, rühr nicht dran. Also dann, auf zum Jagen! Mary Lou? Möglichst vermeiden. Ich wollte mich diesen beiden gemeinsam nur aussetzen, bis ich alle einschlägigen Beobachtungen 94
über meinen Verfolger beisammen hätte. Dabei würde ich ein wenig leiden, aber dann wäre sie ja auch schon fort. Rick und ich trafen uns im Foyer, ich mit recht soliden Stiefeln und einem Anorak ausgerüstet, während Rick, von den fehlenden Schlittschuhen abgesehen, aussah, als wollte er Eishockey spielen. Er wirkte gigantisch. OLE ASHCAN war wieder in Front. Ja, er war gigantisch. »Wie groß sind Sie, Rick?« »Einen Meter …« »Bitte nach alter Manier.« »Sechs Fuß, drei Inches, Sir.« »Und was wiegen Sie – nicht in Kilo, sondern in englischen Pfund?« »Zweihundertfünfundzwanzig.« »Können Sie das durch 14 teilen?« Er konnte. Ich stieß einen bewundernden Pfiff aus. »Und man sieht es Ihnen an, jedes wuchtige Pfund sozusagen. Wie um Himmels willen sind Sie je auf die akademische Laufbahn verfallen?« »Das war mein Traum, Wilf. Ihre Stiefel sind für schwieriges Terrain ungenügend.« »Dafür werden sie auch nicht benötigt.« »Vielleicht nicht heute, aber …« »Haben Sie schon was gemerkt?« »Meinen Sie den Nebel?« »Dafür wird hier keine Reklame gemacht.« »Nein, Sir. Es hat mir übrigens sehr leid getan, daß ich gestern nicht mit Ihnen und Mary Lou die Sterne sehen konnte. Sie sagt, es sei wirklich eindrucksvoll gewesen.« »So? Sagte sie das? Nun ja, heute können wir ganze 20 Meter weit sehen, wir sind wieder auf dem Boden angelangt, Rick.« »Gehe ich zu schnell für Sie, Wilf?« »Nein, aber danke für die Nachfrage.« »Haben Sie sich darüber gewundert, daß ich gestern nicht bei 95
Ihnen erschienen bin?« Im Gedanken an meine neue Rolle als Jäger nickte ich. »Ja. Warum eigentlich nicht?« »Wir biegen hier links ab. O weh, der Nebel wird dichter. Aber keine Sorge, das Geländer geht immer weiter. Auch wenn es noch schlimmer werden sollte, können wir uns mit Hilfe des Geländers am Abhang entlangtasten.« »Großer Gott!« »Ich habe gestern abend nichts davon gesagt, aber der Höhenunterschied hat auch mir zu schaffen gemacht.« »Da gleichen Sie Ihrer Frau, Rick, Sie sind eben auch nicht physisch. Ich bin nie zuvor einem so vergeistigten Ehepaar begegnet. Um aber auf diesen Abhang zu sprechen zu kommen: Ich warne Sie, vor Abgründen wird mir schwindlig. Ich kann nicht mal meinen verdammten Balkon genießen.« »Wonach riecht es hier nur so scheußlich, Wilf?« »Es riecht nicht, es stinkt.« »Nach Dünger.« »Nach Scheiße, Sie Narr. Hier verschwindet die Scheiße nicht auf Nimmerwiedersehen im Klosett, nein, das sind menschliche Abfallprodukte, und die gehören auf die Wiesen. Verschwendet wird hier nichts.« Rick würgte und hielt ein Häufchen Papiertaschentücher vor die Nase. Er galoppierte davon und verschwand vor mir im Nebel. Ich starrte nach oben und sah, daß es rechts heller war als links. Die Sonne stand also vermutlich immer noch am Himmel und bewegte sich Richtung Mittag. Später würde ich vielleicht auch diesen berühmten Abhang zu Gesicht bekommen und entscheiden können, ob ich weitergehen wollte oder nicht. Unterdessen schlenderte ich zwischen übelriechenden, unsichtbaren Wiesen dahin. Ich ließ mir Zeit. Es gibt eben Leute, die Höhe nicht vertragen. Andere wiederum vertragen den Geruch von Scheiße nicht. Chacun etcetera. Zehn Minuten später umfing mich der hygienische Duft von 96
Nadelbäumen, und diese wurden als dunklere Masse im Nebel erkennbar. Rick wartete auf mich. Der Nebel lichtete sich in diesem Moment etwas, so daß ich nicht nur Rick sah, sondern auch die Spitzen der Bäume zu meiner Linken in Augenhöhe, und zu meiner Rechten Baumwurzeln auf einer Böschung. Rick lehnte, wie ich jetzt sah, lässig an einem Geländer linkerhand. »Das Ding ist fest wie Stein, Wilf.« Er richtete sich auf und paßte sich meinem Schritt an. Von vorn kam das Geräusch rauschenden Wassers. Das berührte mich tröstlich, der Himmel weiß, wieso. Ich starrte wieder nach oben und konnte hin und wieder eine silberne Pennymünze durch das intensive Weiß und die Leere da oben dem Zenith entgegenschweben sehen. Nun schaute ich nach unten und um mich her. Die Baumspitzen waren nicht mehr zu sehen, offenbar klaffte zu unserer Linken ein Abgrund. »Sie glauben also, dieser Weg ist begehbar, Rick? Sie haben ihn erkundet? Ein festes Geländer bis ans Ende? Keine bösen Überraschungen?« »Nein, Sir.« Das Geräusch stürzenden Wassers kam näher, und das Wasser selber wurde sichtbar. Ein schmaler Gebirgsbach rauschte von rechts oben aus dem Nebel herab, rann über den Weg und verschwand im Nebel unter uns. Rick blieb hier stehen. Er hob einen Finger, um mir Schweigen zu gebieten. Ich blieb ebenfalls stehen, verhielt mich still. Er hatte im rechten Nasenloch mehr Haare als im linken. Er war also Rechtsnäsler. Außer dem Rauschen des Baches und dem sehr gedämpften Läuten von Kuhglocken war nichts zu hören. Ich setzte mich vor dem Bach auf einen Felsbrocken, schaute Rick unter gerunzelten Brauen her an, und als Antwort deutete er auf den Bach. Wieder horchte ich, bückte mich, tat so, als röche ich das Wasser, hielt einen Finger rein, zog ihn aber rasch zurück, weil 97
ich Frostbeulen davonzutragen fürchtete. »Hören Sie es nicht, Wilf?« »Klar höre ich es.« »Ich meine – finden Sie das Geräusch nicht sehr seltsam?« »Nein.« »Probieren Sie’s noch mal.« Er hatte recht. Der Bach, eine nicht abreißende Wassersträhne, deren Fall nur kurz von unserem Pfad gebrochen wurde, sprach mit zwei Stimmen, nicht nur einer. Er hörte sich lustig, ja frivol an, solange er herabfiel, zugleich aber vernahm man ein dumpfes, nachdenkliches Grummeln, als ob unter dem oberflächlichen, frivolen Plätschern ein tiefes Geheimnis des Berges mitgeteilt würde. »Richtig! Es klingt wie zwei Stimmen!« »Ja. ›Zwei Stimmen sind’s, die eine aus der Tiefe …‹« Ich schaute ihn überrascht, ja gegen meinen Willen respektvoll an. Der gestrige Abend – und nun dies. »Ich habe nie zuvor dem Wasser zugehört, nicht richtig jedenfalls.« »Das kann ich nicht glauben, Wilf.« Im Geiste notierte ich und merkte mir für die spätere Verwendung vor, daß man über das Belauschen natürlicher Geräusche ein längeres Prosastück verfassen könnte – lauschen, ohne dazu etwas anzumerken, ohne etwas vorauszusetzen. »Wie kommt’s, Rick, daß ausgerechnet Sie …?« »Ich verstehe nicht ganz, Wilf.« »Daß ausgerechnet Sie einem Bach lauschen?« »Ich weiß, daß Sie mich für einen zwar ehrlich bemühten, aber doch recht bornierten Akademiker halten.« »Ah, was ist denn das für ein Schwachsinn!« »Es ist mein Ernst, Wilf.« »Offen, ehrlich, unfähig zu …« Rick fuhr aber fort, als wäre etwas in ihm angesprochen worden, wovon ich nichts wußte. 98
»Ich lausche oft, habe immer schon gern gelauscht. Den Vögeln, dem Wind, dem Wasser – den verschiedenen Geräuschen des Wassers. Manchmal glaube ich, man kann im Meer das Salz hören. Ich meine, den Unterschied zwischen Salz- und Süßwasser.« »Ah, die Wunder der Natur.« »Oh, ja. Und manchmal kommt es auch vor, daß man wachliegt und auf gar kein Geräusch lauscht – heutzutage passiert das allerdings selten, aber man kann eben manchmal auch Geräuschlosigkeit belauschen, man strengt sich an, mehr und mehr.« »Naturmystik.« »Nein, gar nicht, Sir. Das ist eben Leben. Und Musik! Lieber Gott! Aber ich war dafür nicht begabt genug.« »Also mußten Sie sich mit der Universität begnügen.« »Ja, das heißt nein, wirklich nicht!« »Gehen wir weiter.« Rick trat auf mich zu, das eingekerbte Kinn jetzt, wo es hingehörte, als wäre Wasser ein Heilmittel für Schüchternheit. Ich hatte einen jener Momente, wo man weniger denkt als blitzschnell reflektiert, den Bruchteil einer Sekunde Möglichkeiten, Alternativen erwägt und verwirft. Ich verwarf. War ein eingekerbtes Kinn ein Zeichen von Schwäche? Nein. Deutete es auf einen gespaltenen Charakter? Unsinn. War es das Ergebnis von verspäteter Härtung der Knochen, eine Andeutung von Fötalismus, wie die Herren Biologen zu sagen pflegten und womöglich immer noch sagen? Er streckte die Hand aus, und es kam mir ganz natürlich vor, daß er mir von dem Felsblock aufhalf. Die umsichtigen Schweizer leiteten das Wasser in ausgehöhlten Stämmen über den Weg, so daß es gerade herunterlaufen konnte, obschon der Weg hier etwas abwärts führte. Ein einziger Schritt reichte aus, es zu überqueren. Wir kamen auf einen Platz, auf dem weiter nichts zu sehen war als das im Nebel fast verschwindende Geländer und rechterhand Baum99
wurzeln. Ich blieb stehen. »Für einen Wanderweg mit Ausblicken ziemlich spektakulär dürftig.« »Es wird aufklaren.« »Wäre die Stille nicht, wir könnten in Regents Park sein. Ich erwarte die tollsten Ausblicke, und alles, was ich sehe, ist Weiß.« »Der Hoteldirektor meint, für diese Jahreszeit sei das ungewöhnlich.« »Alle zweihundert Jahre einmal.« »Sie machen sich über mich lustig.« »Ich war schon an vielen Orten, wo man mir geschworen hat, es sei gerade das schlechteste Wetter der letzten zweihundert Jahre. Immer ausgerechnet zweihundert. Tiflis, Kairo …« »Na, na.« »Lassen Sie sich mal gelegentlich vom höchsten Wasserstand seit zweihundert Jahren erzählen.« »Erzählen Sie vom höchsten Wasserstand seit zweihundert Jahren.« »Ich gehörte mal zur Besatzung einer Jacht. Der höchste Wasserstand seit zweihundert Jahren, und ich setzte den Kahn auf Grund.« Rick lachte, ein echtes, nicht einschmeichelndes, glückliches Lachen. »Wenn der Skipper dabei war, war es seine Schuld.« »Nein, nein, dieses Verdienst behalte ich ausschließlich mir vor. Was für ein elender Nebel!« »Gleich geht es wieder bergauf, und ich nehme an, wir kommen bald raus.« »Zitat: Mutter, die Sonne! Zitat Ende.« »Die Ärzte behaupten, er habe keine medizinischen Kenntnisse gehabt.« »Kenntnisse hat er überhaupt nicht gehabt … Nichts als Ef100
fekthascherei.« Rick ließ ein schockiertes Lachen hören. Er amüsierte sich großartig. Ich sah ihn im Geiste Notizen machen. Immerhin … »Ich weiß, ich weiß!« »Wie Wagner.« Er hörte nicht auf zu lachen. Plötzlich gab es im Nebel vor uns eine befremdlich tumultuöse Bewegung, in der Luft brauste es, links prallte was gegen Holz, und unten im Nebel wummerte es. »Oje.« »Das ist der Berg, Rick«, sagte ich, noch nicht verängstigt genug, um den unerschütterlichen oder wenn man will gefühllosen Engländer hervorzukehren. »Das ist der Berg, alter Knabe. Er wirft mit Steinen nach uns. Wir sollten uns geschmeichelt fühlen. Fühlen Sie sich geschmeichelt?« »Ich will bloß weg hier.« Er wollte weitergehen, doch hielt ich ihn am Ärmel fest. »Ein wahres Geschenk für einen Schriftsteller, Rick. Jetzt kann man doch beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn man von einer Kanonenkugel um Haaresbreite verfehlt wird. Was hätte Tennyson nicht darum gegeben!« »Wir sollten lieber umkehren, Wilf.« »Weshalb so eilig?« »Niemand weiß, was da oben los ist, Wilf. Ich kenne das Gebirge. Ich stamme aus – also es könnte ein Erdrutsch sein, richtig gefährlich.« »Im Augenblick?« »Ja.« »In diesem unseren Moment?« »Ja.« »Der Blitz schlägt nie zweimal an der gleichen Stelle ein. Sehen wir doch mal nach, was da passiert ist.« Vom Nebel davor bewahrt, den grausigen Abgrund wahrzunehmen, noch unbesorgt und beseelt von dem Wunsche, es 101
diesem jungen Mann mal zu zeigen, der sich da so unerwartet große Sorgen um sein Wohlbefinden machte, trat ich ans Geländer. »Ach was, kommen Sie schon, Wilf.« »Ich sehe überhaupt nichts.« Immer noch unbesorgt umfaßte ich das Geländer und lehnte mich vor. Das Geländer ebenfalls. Man kann die nächsten Sekunden mit wenigen oder mit sehr vielen Wörtern schildern. Instinktiv – geschwätzig wie immer – neige ich zu vielen, nicht bloß, weil ich mein Geld damit verdiene, Wörter zu verkaufen, sondern weil diese Sekunden für mich zu sehr wichtigen Sekunden wurden. Die erste war, ich gestehe es, eine Lücke, ein Nichts. Die zweite war eine Zusammenziehung, ein Schock, zu unmittelbar, um als Vermutung oder Vorahnung bezeichnet zu werden. Wenn man will, stellte sich da das Körpergefühl dafür ein, daß ich dem Tode nah war, ihm entgegenstürzte. Die dritte Sekunde hatte schon eher was Menschliches. Als das Geländer sich rascher über den Abgrund hinaus und zugleich abwärts neigte, empfand ich blinden Schrecken; das Bewußtsein von blindem Schrecken; blinden Schrecken, seiner selbst bewußt werdend, und, vermischt mit dem Schrecken, Ungläubigkeit. Sodann übernahm das Tier in mir die Führung, jeden Nerv, jeden Muskel. Das Herz pochte mit äußerster Stärke und Geschwindigkeit, versessen darauf, die Vernichtung abzuwehren. Meine Geistesgegenwart war dahin. Meine Hand, die das Geländer umklammerte und zugleich damit stürzte, war zwar soweit belebt, daß sie das Holz womöglich zerquetscht hätte, doch die Geistesgegenwart, die mich instand gesetzt hätte loszulassen, fehlte. Mit der anderen Hand suchte ich blindlings nach etwas Festem; sie fand und umklammerte etwas, das sich anfühlte wie eine Pflanze, ich schlug einen Purzelbaum und kam mit dem Rücken auf dem Abhang zu liegen, prallte allerdings so hart auf, daß mir die Luft wegblieb. Der Schock brachte es endlich zuwege, daß ich das Geländer losließ. Die 102
zuwege, daß ich das Geländer losließ. Die Geländerhand krallte sich, ohne um Erlaubnis zu fragen, in die Erde. Nun rutschte ich langsam, aber stetig vorwärts, auf dem Rücken, die Füße gegen den Boden gestemmt, die Hände in den Dreck gekrallt. Eine Hand hielt mich im Genick am Kragen fest. Ich rutschte nicht mehr und betrachtete die roten Flecke und Kreise vor meinen Augen. Mehr sah ich nicht. Ich fühlte in jedem Nerv, in jeder Arterie, daß es fünf Haltepunkte zwischen mir und dem Absturz gab. Vier davon waren nur von geringer Wirkung, nämlich Hände und Füße, eingegraben in die lockere Erde, wobei die Linke den Schaft eines saftigen Gewächses umklammert hielt, während die Rechte in nassem Dreck wühlte. Der fünfte Haltepunkt war der Griff um meinen Wildlederkragen, und die Faust, die mich da gepackt hielt, leistete die Hauptarbeit, wenn auch die anderen Haltepunkte von einigem Nutzen sein mochten. Die Faust also hielt mich über dem vernebelten Abgrund. Die Welt, eben noch so still, hallte wider vom Pumpen meines Herzens, dem Dröhnen in meinen Ohren, dem Keuchen, das sich ohne mein Zutun meiner Brust entrang. Schrecken war ebenso ein Element wie Leere. Das Bewußtsein leistete sich nicht den Luxus, darüber zu reflektieren, ob das Leben lebenswert sei oder nicht. Das Tier wußte fraglos, was von allem das Kostbarste war. Bewußt war einzig ein Wunsch, den man nicht eigens zu wünschen brauchte – es möge endlich aufhören, so, wie man das Ende der Bombardierung, des Beschusses, des Jaulens der anfliegenden Granaten herbeigewünscht hatte. Ich rutschte. Hinter mir keuchte es stärker. Ich wagte, ein Bein anzuziehen und den Absatz weiter oben einzugraben, doch die Erde gab nach, und dieser Versuch verringerte den Halt, den ich, wenn auch rutschend, bislang noch gehabt hatte. »Nicht bewegen«, keuchte Rick. Ich rutschte jetzt nicht mehr. »Wurzel über der linken Hand.« 103
Ich riskierte es, den Pflanzenschaft loszulassen, und ließ meine Finger umhertasten. Da war die Wurzel, glitschig, dick, aber dank ihrer Knorren zu packen. »Ziehen!« In der Linken hatte ich ungeahnte Kräfte. Ihre Grenze fanden sie nur an der Festigkeit der Wurzel. Ich hätte mich hinaufziehen können, auch wenn meine Füße mit einem Amboß beschwert gewesen wären. »Auf den Bauch legen – ganz langsam.« Das tat ich, die Faust drehte sich samt meinem Kragen, aber nicht zu weit. Jetzt war auch was zu sehen: ein halber Meter Erde, struppiges Gras, Steinchen, kleine Wurzeln. Der Hang fiel beinahe senkrecht ab. Rick lag der Länge nach auf dem Weg, umklammerte mit der Linken den Pfosten, der das eine Ende des Geländers gehalten hatte. Mit der Rechten hielt er mich am Kragen. Der Pfosten senkte sich allmählich hangwärts, Erde und Steinchen rieselten von seinem Sockel. »Jesus Maria!« »Ich lasse nicht los«, versicherte Rick. Zentimeter um Zentimeter. Ich hoffte jetzt so auf Rettung, daß die Mischung aus Hoffnung und Angst beinahe schlimmer war als der ursprüngliche Schrecken, denn Rick bewegte sich zugleich mit dem Pfosten, der war sein Halt, der und mein Gewicht, das ihn an den Boden drückte. Wir schauten einander ins Gesicht, Auge in Auge, seines unter gerunzelter Stirn. Er wirkte ganz ungewöhnlich ruhig, so als sei dieser idiotische Streich, bei dem wir immerhin ums Leben kommen konnten, nichts weiter als ein Verwaltungsproblem. Zentimeter um Zentimeter. Absatz, Finger, Hand, Faust – nun hatte ich eine Handfläche auf dem Weg, jetzt einen Ellbogen, dann taumelte ich auf ein Knie, und da polterte auch schon der Pfosten im Nebel zu Tal. Auf dem Wege kamen wir uns ins Gehege. Ich kroch auf die andere Seite, kauerte mich an die Wurzeln und den Fels der ansteigenden Böschung. Ich sagte 104
nichts, begann vielmehr zu kriechen, dann zu taumeln, zurück auf dem Weg, immer in Fühlung mit der Böschung wie ein Tramp oder ein Betrunkener, der den Schutz der Mauer sucht. Ich stolperte durch den kleinen Bach und ließ mich auf dem vertrauten Felsblock nieder. Vor mir erkannte ich Ricks Stiefel. Die tiefe Stimme des Wassers hatte die heitere aufgesogen. Es war, als spreche der Berg mit dem gleichen tiefen Grummeln, das vordem hörbar und jetzt im Geist auch sichtbar war rings um diesen Felsbrocken. Ich mußte kichern. »Frösteln und Schaudern. Alfred Lord Tennyson.« »Immer mit der Ruhe, Wilf. Gleich sind Sie wieder in Ordnung.« Der kannte das Zitat natürlich, wozu lehrte er englische Literatur? Fröstelnd und schaudernd entlang der Landstraße, zur Erheiterung der Eingeborenen. Ich glaubte durch meine Fußsohlen die gleichmütige Drohung der Erde zu spüren, die Vulkane, die Erdbeben, die Springfluten, den Schrecken vor dem Faktum Natur, der durch den Weltraum jagenden Kugel. Davon sprach das Wasser, nicht von Gaia Mater, sondern von dem Raumklotz, der so von unterschiedlichen Kräften beeinflußt wurde, daß sich die Schwerkraft mit dieser grausigen Gleichmut darstellte. »Hier.« Hände packten mich unwiderstehlich. Ich wurde aufgerichtet wie von einer Naturgewalt, spürte Wolle und Wärme. An meinen Armen wurde gezogen. Meine Wange wurde gegen Haut gepreßt, gegen Haare, gegen Halsmuskeln. Wir bewegten uns anfangs langsam voran, gleich darauf flott. Ein Pferd, ein Pferd! Diese mächtige Kreatur hatte meinen passiven Leib ergriffen, mich in ihre eigene Aura von Kraft und Wärme gehoben. Am meisten beunruhigte mich diese Wärme, doch schon traf eine andere menschliche Äußerung meine Nase, es stank nach Scheiße, und nun trabte er an, anders kann man es nicht nennen, trabte über die Wiesen und dem Ziel entgegen. 105
Dann wurde ich abgestellt. Ich hörte Stimmen, andere Hände langten nach mir, und gleich darauf lag ich in meinem Bett. Als ich die Augen öffnete, erblickte ich zwei behoste Säulenbeine und, fast in Augenhöhe, die Ausbuchtung des Hosenschlitzes. Gleich klappte ich die Augen wieder zu. Ich hörte ihn umhergehen und wagte zu blinzeln. Er stand jetzt am Fußende des Bettes und schaute auf mich herunter, ein leichtes Lächeln um den Mund. Mir kam es recht freundlich vor, es verbarg aber auch etwas anderes. Das Lächeln wurde breiter. Ich kniff das Auge zu. Kein Zweifel, es war ein Lächeln des Triumphes. »Alles okay?« Neben Rick stand jetzt der Direktor. Sie berieten. Rick sprach von Cognac. Ich unterbrach mit einer Stimme, die in meinen Ohren recht normal klang. »Keinen Cognac, heiße Schokolade.« Wie im Kinderzimmer. Doch der Direktor eilte schon. Als ich mich aufsetzte, schmerzten die Schultern wie auf dem Streckbett. Hin und wieder überkam mich ein Beben. Empfindlicher Typ, dieser Barclay! Ich schloß die Augen, kniff sie zusammen und erduldete die Pein, die mir dieses weitere Glied in einer Kette von Narrenspossen bereitete, dieser unvorhergesehene Zuwachs zu wiederkehrenden Erinnerungen: Als Wilfred Barclay dazumal in den Abgrund fiel und festgehalten wurde von … »Die Hosen habe ich aber nicht verloren, und eine dicke rote Nase, brandrote Haare und ein angemaltes Schielen hatte ich auch nicht.« »Legen Sie sich lieber wieder, Wilf.« »Ausgerechnet das muß passieren, das, was alles wieder umwirft. Wie mache ich das bloß? Was stelle ich an? Ah, Scheiße.« »Legen Sie sich lieber wieder lang.« 106
Der Hoteldirektor kam mit Tasse und Untertasse herein. Rick nahm beides entgegen. Der Direktor eilte von dannen. Auf dem Korridor hörte ich Mary Lou. »Soll ich reinkommen?« »Auf keinen Fall!« schrie ich. Rick setzte die Tasse auf dem kleinen Nachttisch ab, mir wurde schwindlig, und ich ließ mich ins Kissen sinken. Es entstand eine längere Stille, nur unterbrochen von mehrmaligem Schließen und Öffnen der Tür, dann wieder Stille. Neben mir sprach jemand mit stark deutschem Akzent. »Er hat wohl einen Schock erlitten. Die Schokolade war genau das richtige. Der Körper weiß eben, was er braucht.« Ich merkte, daß man meinen Puls fühlte. Wieder wurde die Stimme vernehmlich. »Es ist nicht gar so schlimm. Wie alt? So alt! Nun ja. Trinken Sie Ihre Schokolade, Mr. Barclay. Professor Tucker? Ja. Ruhe ist das wichtigste, glaube ich. Körperlich ist er so gut in Schuß wie ein sehr viel jüngerer Mann.« Ich hörte Rick was murmeln, dann den Arzt antworten. »Ich schicke Ihnen was. Ja, gleich, es ist nur ein paar Schritte. Vergessen Sie nicht, selbst in Weisswald heißt es, im Grünen kommen mehr Menschen zu Schaden als im Schnee.« Unter geschlossenen Lidern hervor streckte ich schreckerfüllte Antennen aus bis zum Rand des Universums. Die Würfel rollten, dreimal die Eins oder dreimal die Sechs. Groß wie Planeten. »Ich warte noch, bis die Medizin kommt, Wilf.« Er war groß wie ein Planet, drang in mein Universum ein, mit seinen Bedürfnissen und seiner Wärme, seinem Lächeln und seinem zierlichen Betthasen, alles der Schwerkraft eines Ehrgeizes folgend, der es nicht wert war, daß man dafür litt. Ich machte die Augen auf, um die rollenden Würfel nicht mehr zu sehen, und da stand er in voller Lebensgröße am Fußende des Bettes und lächelte besorgt. Ich stellte fest, daß ich Hemd 107
und Unterhose anhatte. Ich setzte mich auf, hob Tasse und Untertasse, die scheußlich klirrten, an den Mund. Ansehen mochte ich ihn nicht. »Warten Sie, ich …« »Lassen Sie mich in Ruhe!« Ein undankbarer Kerl, dieser Wilf Barclay, jetzt genoß er auch noch seine Undankbarkeit, so wie er auch seine Grausamkeit genossen hätte, hätte er nur den Mut dazu gehabt. Eine Mischung von Undankbarkeit und Sadismus – welcher Unfug! Aber Professor Tucker stand immer noch da, während die Tasse auf der Untertasse in meinen Händen klirrte, bis ich es endlich fertigbrachte, aus der Tasse zu trinken. Die heiße Schokolade beruhigte mich augenblicklich, denn sie schmeckte nach Kinderzimmer und rief die dazugehörenden Erinnerungen wach. Ich war jetzt imstande, mich zu fassen, wie man sagt. Ich trank die Tasse leer und hielt sie Rick hin. »Mehr.« Das überraschte ihn, und sein Lächeln wurde steif. Trotzdem zog er mit Tasse und Untertasse ab. Ich schlang die schmerzenden Arme um die Knie. Angefangen hatte alles in Schwülen, als ich mich einsam gefühlt hatte, ohne es zu genießen. Ausgerechnet ich, Wilf Barclay, ein Experte der Einsamkeit, wenn es je einen gegeben hat. Ich kaute alle Schritte wider, die mich in diese Lage gebracht hatten, in der ich mich keinesfalls hatte finden wollen. Die Schlafzimmertür stand offen, und ich konnte sehen, daß Ricks billet-doux noch im Salon auf dem Tisch lag, ununterschrieben, an der gleichen Stelle. Mein Zittern und meine Erinnerungen wurden allmählich von einem Gefühl aufgesogen, das mir wenigstens etwas von meiner Persönlichkeit zurückgab. Es war dies eine Flut schierer Wut. Als Rick mit einer vollen Tasse dampfender Schokolade hereinkam, wälzte ich mich auf die andere Seite und weigerte mich, ihn anzusehen. Und dann murmelte ich meine Anklage. »Offenbar haben Sie mir das Leben gerettet.« 108
KAPITEL IX Wut, Haß und Furcht. Mein Ausbruch traf ihn so heftig, daß er sich verdrückte, und da lag ich in Hemd und Unterhosen und bebte wie eine defekte Maschine. Erst seine Frau, und als das mißlang, mein Leben, mein eigenes verdammtes, süßes, geheimes Besitztum, mir zurückgegeben, aber unter Bedingungen, unter denen man eine Stadt übergibt. Und noch etwas gehörte in diese Rechnung – ein körperlicher Widerwille gegen seine Kraft, seine Wärme und seinen Gestank! Die Medizin wurde mir vom Hoteldirektor gebracht, und ich sank in traumlosen Schlummer, in dem ich immer noch Pläne schmiedete, beispielsweise die beiden an einen Abgrund zu locken. Ohne Zweifel war ich durch den Schock sehr mitgenommen. Ich wollte sogar meine Biographie von Tucker schreiben lassen, aber unter so strenger Aufsicht, daß sie auch eine Schilderung der Versuchung von St. Wilfred durch Tuckers liebreizendes Weib enthielt, was dann alle Welt erfahren sollte; auch, daß St. Wilfred der Versuchung auf so sanfte, taktvolle Weise widerstanden hatte, daß er (der Assistenzprofessor Rick L. Tucker) sich auf die Knie warf und einen so fürchterlichen Tritt in die Geschlechtsteile erhielt – mit den Stiefeln, die für schwieriges Terrain nicht geeignet waren –, daß er sogleich ins Kloster ging und seine bildhübsche Frau jenem … Oh, ja, ich war verwirrt, kein Zweifel. Aber die Medizin tat gut, und ich wüßte gern, was es war. Ich erwachte mit schmerzenden Schultern und leergefegtem Bewußtsein. Ich schaute auf die Uhr, und es brauchte einige Zeit, bis ich dahinterkam, daß heute schon morgen war. Im Mund hatte ich einen abscheulich metallischen Geschmack. Ich gurgelte lange mit kaltem Wasser. Meine Beine wollten nicht 109
so recht. Als die Erinnerung an den Vortag sich einstellte, war sie nur in geringem Maße von Wut und Haß begleitet. Statt dessen stellte sich Furcht ein, um nicht zu sagen echte Panik. Als ob die Erholung von dem Schlafmittel zur Folge hatte, daß ich nun wieder auf mich gestellt und voll geschäftsfähig sei, ging mir sogleich auf, welch schlimme Folgen es haben mußte, wenn ich Rick auch nur die kleinste Erlaubnis gab, die beharrliche, unverdrossene Erforschung meiner Vergangenheit zu betreiben, die von unversöhnlichen Erinnerungen strotzte. Die junge Frau – eine Unmöglichkeit für mich, eine große Gefahr, ein schlimmer Kummer! Das Papier lag immer noch auf der staubfreien, polierten Tischplatte. Hatte die fette, grauhaarige Frau drumherum Staub gewischt oder es sorgsam beiseite getan und nach dem Abstauben so gewissenhaft an seinen Platz gelegt wie der Schiedsrichter den Ball zum Strafstoß? Jedenfalls lag es da. Offenbar haben Sie mir das Leben gerettet. Das elektrisierte mich wie ehedem die Schulklingel. Ich schuldete ihm mein Leben, nicht weniger. Genauso wie in irgendeinem Jungenroman. »Du hast mir das Leben gerettet, alter Sportsfreund.« »Nicht der Rede wert, alter Sportsfreund.« »Du hast dir dabei den Arm gebrochen, alter Sportsfreund.« »Aber nicht den rechten, alter Sportsfreund.« Reine Posse, immer mal wieder. Nun ja, das Papier lag dort. Ich ließ es liegen und wandte mich statt dessen mir selber zu. Wilfred Barclay paßte nicht in einen Jungenroman, nur in eine Parodie auf einen, und auch da nicht als der Held oder der jüngere Busenfreund des Helden, sondern höchstens als kleiner Krimineller, der zu beweisen hat, daß Verbrechen sich nicht auszahlen und Tugend triumphiert. Er dürfte mit einer linken Geraden zu Boden geschickt werden. Wilfred Barclay würde davontaumeln, sich den Kiefer halten und übelste Rache schwören. Nie würde er blöde genug sein, 110
so ein Papier zu unterschreiben, vielmehr würde er die Frau nehmen und mit ihr verschwinden. Verschwinden! Die Frau mochte sehen, wo sie blieb. Ehefrauen gab es massenhaft, überall. Hatte ich mich etwa selbst hinters Licht geführt? War sie St. Wilfred je angeboten worden? Obacht! War ich verrückt? War Rick verrückt? Manchmal blickte er so stier, das Weiße in seinen Augen trat so deutlich hervor, daß man glauben konnte, gleich werde er sich auf einen stürzen. Ein interessanter Fall für einen Psychiater. Sollte ihn doch wer anderes unter die Lupe nehmen. Seine Behaarung – widerlich. Ein Rhinozeros zu beobachten wäre weniger gefährlich. Dies war ein Haus für Verrückte, und Wilfred Barclay, St. Wilfred, nicht mehr der Held in einem Jungenroman, würde sich unverweilt mit Levitation und Gravitation befassen. Er würde ohne eine Abschiedsverbeugung verschwinden, mit Hilfe der Zahnradbahn, he, presto! Kaum hatte ich dies beschlossen, pochte mein Herz schon munterer. Ich mußte kichern. Bis dahin hatte ich ja nicht geahnt, wie anstrengend schiere Kumpanei ist. Der Hoteldirektor berichtete, Tuckers hätten eine Wanderung unternommen. Ich erklärte ihm, daß ich nach diesem Unfall unbedingt Ruhe und Alleinsein brauche. Zwar habe ich für eine Woche gemietet, müsse jedoch gleich abreisen. (Zum Ausgleich versprach ich, in einem Roman ihn und sein Hotel zu preisen. Das Versprechen löse ich hiermit ein, wenn auch Jahre später, ich weiß nicht, wie viele. Das Hotel ›Felsenblick‹ in Weisswald in der Schweiz ist behaglich, die Aussicht hinreißend, der Abgrund grausig. Direktor Adolf Kaufmann, damals Major, jetzt General im Ruhestand, ist verschwiegen und taktvoll.) Die fette Person packte meine Sachen und trug sie zur Bergstation, von wo ich den Zug um 15 Uhr nahm. So entkam ich denn unter Hinterlassung meiner neuen Adresse: das Hotel Akureyri, Island. Drei Stunden später saß ich im Flugzeug nach Florenz, 111
wo mich wieder mal ein Mietwagen erwartete. Gegen Abend befuhr ich den Apennin auf der Autostrada, meiner Wahlheimat. Ich war ganz ruhig, sah die reglose Landschaft vorüberziehen. In Blech eingeschlossen, war ich mein eigener Herr. Die Nacht verbrachte ich in einer schäbigen Absteige unweit der Rotonda. Ich weiß noch, mit welcher Freude, welchem Gefühl der Befreiung ich das Fenster aufstieß, den prachtvollen Schatten betrachtete und in Gedanken Mr. und Mrs. Rick folgenden, ihnen nicht gerecht werdenden Dialog führen ließ. »Im Dach ist ein großes Loch, Schatz.« »Wahrscheinlich ein Bombenschaden, Schatz.« Ich war wieder ich selber und schlief fest. Am nächsten Morgen war ich nicht gerade besorgt, aber doch nachdenklich. Schließlich ist La Rotonda ein Platz wie Picadilly Circus oder Times Square, wo man, wie es heißt, jedem begegnet, wenn man nur lange genug wartet. Und das heißt ja weiter nichts, als daß dort viele Leute hinkommen. Sobald Rick und Mary Lou meine Spur verloren hatten – nicht mal Rick war so dumm, mich in Island zu suchen –, stand Rom auf der Liste. Wandere nach Rom! Genau dies würde er tun. Hatte er nicht gesagt, er müsse Mary Lou unbedingt Dublin und Rom zeigen? Der Gedanke an ihre Schönheit benahm mir augenblicksweise den Atem. Allerdings konnte es sein, daß sie Rom schon abgehakt hatte und keine Lust verspürte, es noch mal abzuhaken. Als ich auf der Piazza Navona an einem jener runden, eisernen Tischchen saß oder wieder an demselben, tat mein Herz, wie man sagt, einen Satz, nicht weil ich Mary Lou sah, sondern Rick. Ich sah Rick in der gleichen Weise, wie ich Elizabeth beinahe zu sehen pflegte, vor Jahren, als mir daran noch lag. Das heißt also, ich erblickte Rick nicht wirklich. Ich erwachte aber mit einem Ruck in die Gegenwart und hätte den Kaffee verschüttet, hätte ich ihn nicht gerade ausgetrunken. »Lieber Himmel!« Es war schließlich durchaus möglich. Nach ihrer Wanderung 112
konnten sie sogleich von Zürich nach Rom geflogen und dort noch in der Nacht oder heute früh angekommen sein. Auf meiner Autostrada wäre ich besser aufgehoben gewesen. Ich sah nicht, ich erinnerte mich mit äußerster Genauigkeit. Nur war dies nicht eine jener Erinnerungen, die allmählich ins Bewußtsein treten, sozusagen aus der Tiefe empor, sondern so was wie eine Zeitverschiebung, wie das Klicken, mit dem man Dias im Projektor wechselt oder auch zurücktransportiert. Ich mußte jetzt innehalten und durfte Rick nicht mehr zutrauen als Methodik und Entschlossenheit. Er war schließlich kein Gespenst, leider nicht. Er war auch kein Heiliger, der an zwei Orten zugleich sein kann. Er war wirklich auf der Piazza Navona gewesen, hatte den Brunnen begutachtet, womöglich die Flußgottheiten identifiziert. Er hatte sich weggewandt, seine winzige Kamera im Aufschlag seines rechten Pulloverärmels versorgt. Zwar hatte ich den Pullover nicht von vorn gesehen, aber den Anfang des O von OLE ASHCAN doch wahrgenommen. Mehr noch. Es war keine 48 Stunden her, daß ich die Nase in die ekelhafte Wärme des Pullovers gesteckt hatte, als er mich durch die Wiesen von jenem verflixten Bergpfad ins Hotel trug. Ich kannte diesen Pullover also gut genug, und auch die schweren Stiefel und sein Haar, eine Spur lang, wie es sich für den ernsthaften Akademiker schickt. Er war weg, verschwunden in einer Seitenstraße, dem Café gegenüber. Hätte ich nicht ganz versunken in meinen Traum von der erfolgreichen Flucht vor allen Verwicklungen dagesessen, ich wäre ihm nachgelaufen, hätte ihn bis zu seinem Hotel verfolgt, wo der goldene, glitzernde Traum wohl noch im Bette lag, denn physisch war sie, wie man weiß, nicht. Ich sprang auf, legte Geld neben die Kaffeetasse und enteilte, nicht ohne mich nach allen Seiten argwöhnisch umzuschauen, was es mir ermöglichte, mit anzusehen, wie ein vorüberkommender Hippie mit Blitzesschnelle das Geld vom Tisch nahm, bevor der Kellner es einsammeln konnte. Ich versicherte mir 113
immer wieder, ich könne mich unmöglich geirrt haben, unmöglich geirrt haben. Zu genau erinnerte ich mich der Linie von Ricks Schulter und Arm, der aus den neuesten Abfallstoffen gefertigten Hose, der dicksohligen imperialistischen Botten, dank deren Touristen den Abstand zwischen sich und den Ländern halten, auf die sie trampeln. Wäre ich nicht so mit dem stillen Vergnügen beschäftigt gewesen, das die Gewißheit meiner Anonymität mir verschaffte, ich hätte ihm vielleicht von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. An dieser Stelle sagte ich mir endlich, daß mein Gefühl von Geborgenheit Ricks Verhalten unmöglich beeinflußt haben konnte. Er hatte mich gesehen, einerlei, ob nun ich ihn sah oder nicht. Oder besaß ich bereits die Kräfte eines Chamäleons? Hatte ich ausgesehen wie einer der eisernen Stühle oder ein Stück Mauer? Die Sonnenbrille! Deshalb also stach mir die Morgensonne so ins Auge. Ich hatte sie neben dem Hotel gekauft, bevor ich herkam. Sie verbarg mein Gesicht bis auf den Bart, und Barte gab es in Rom wie Butterblumen auf der Wiese. Ich dürfte so unkenntlich gewesen sein wie nur irgendein Herr, der Beweise für einen Scheidungsprozeß sucht, Spionage treibt oder Ladendiebstahl. Und jetzt, bestimmt weil ich mich an Rick erinnerte, erinnerte ich mich auch daran, sie auf dem üblichen runden Eisentisch vergessen zu haben. Dem runden Eisentisch. Einen Moment lang fand ich es leichtsinnig, der Sonnenbrille wegen auf die Piazza Navona zurückzukehren, doch schlich ich mich ganz professionell an und lugte um eine Ecke. Richtig, die Brille war weg. Ein weiterer Hippie dürfte hier am Werk gewesen sein. Mir war recht verwirrt zumute. Um die Mittagszeit verließ ich das Hotel (Nachsendeadresse Hotel Confederate, Roanoke, Virginia) und fuhr in eine Richtung, in der, wie ich meinte, kein Verfolger mich suchen würde. Ich hielt mich ostwärts, und weil ich Nebenstraßen suchte, bog ich bald ab. Aber wenn 114
es kein Zufall war, wie um alles in der Welt hatte Rick das herausbekommen? Einziger Anhaltspunkt war das Hotel auf Island. Ich selbst hatte niemand eingeweiht. Beim Zoll beachtete man mich weiter nicht, ein junger Mann klappte meinen Paß auf und zu, ohne hineinzusehen – oder war das Absicht gewesen, hatte er Gleichgültigkeit nur vorgetäuscht? Als mir dieser Blödsinn einfiel, verlangsamte ich das Tempo und hielt an einer dazu geeigneten Stelle auf der Landstraße. Wilfred Barclay, sagte ich, du leidest immer noch am Schock. Du hättest ein paar Tage warten sollen. Mary Lou muß Rom und Dublin sehen. Man wird Rom besichtigen, vielleicht gar bedauern, daß der arme alte Wilf auf so unerklärliche Weise verschwunden ist, aber nicht nur ist er Engländer, er ist auch Schriftsteller. Nimm beides zusammen, Mary Lou, und dann weißt du, man kann unmöglich vorhersagen, was sie tun werden. Denk an Shelley und Noel Coward. Nein, Schatz, nicht an beide zusammen! An jeden für sich. Ich weiß, Schatz, du hast dein Diplom in englischer Literatur gemacht, du warst meine Lieblingsschülerin, ah, ich verstehe, du nimmst mich auf den Arm, wie der arme Wilf sagen würde, vielmehr, du näherst dich meiner Person in der Absicht, eine Hebung vorzunehmen. Ha Ha. Ha Ha. Ha Ha. Ha Ha. Aber was wird Mr. Halliday dazu sagen? So gesehen, handelt Wilf wirklich unfreundschaftlich an uns. Wir wollen doch schließlich bloß seine Vergangenheit kennenlernen, insonderheit die saftigen Stücke davon, auch die seltenen Verbrechen, nicht zu reden von den unzähligen Malen, als er sich zum Narren machte, wir möchten ganz einfach wissen, wie er funktioniert. Er hat kein Recht, diese Dinge vor uns zu verbergen, Schatz. Warum nehmen wir ihn uns nicht einfach zur Brust? Und was würde sie dazu sagen? Ich fand mich außerstande, Zeilen für sie zu erfinden. Aber mit Rick war das leicht. Schatz, ich möchte sagen, daß ich dir nie etwas Schlimmes 115
zugedacht habe. Der Höhenunterschied hat mich wirklich erwischt. Mein Urteil war getrübt. Ich wußte aber, daß dir nichts passieren konnte, daß er dich zurückweisen würde. Der gehört zu denen, Schatz. Da ist er fixiert. Meine Vermutung, ja man könnte sagen meine Einsicht, geht dahin, daß er mit Frauen nie was zu tun gehabt hat. Ein Invertierter. Bedenke, Schatz, aufgewachsen ist er bei seiner Mutter, dann hat er eine englische Privatschule besucht, und was das bedeutet, weißt du wohl. Und jetzt wird es Zeit, daß du aus dem Bett kommst, Schatz, wir müssen noch vor eins den Petersdom abhaken. Meine ärmliche Erfindungsgabe amüsierte mich, und mir wurde besser. Ich sagte mir, du machst viel zuviel her von dieser Sache. Von Rom aus werden sie nach Dublin fliegen und den Leidensweg des armen alten Bloom verfolgen. Blieb Halliday, der Milliardär. In ihrer Arglosigkeit bewunderte Mary Lou ihn. Reichtum ist ein sekundäres Geschlechtsmerkmal wie Begabung oder Genius. Ich überlegte, ob ich zurück nach Rom fahren und Halliday in den relevanten Nachschlagewerken suchen sollte, entschied mich aber dagegen. Endlich war ich imstande weiterzurollen, fast unbesorgt und in Sicherheit. Eines allerdings habe ich an mir bemerkt – eine Schwäche. Zwar fürchtete ich, Gegenstand einer Biographie zu werden, war aber zugleich davon geschmeichelt, daß so was beabsichtigt wurde, auch wenn ich mich dagegen wehrte. Immer wenn ich in Gedanken vor einer üblen Wunde zurückschreckte, die die Vergangenheit mir zugefügt hatte, tröstete ich mich damit, daß ich derzeit doch für bedeutend galt. Nahm ich diese Bedeutung unter die Lupe, verglich ich mich mit diesem oder jenem Schriftsteller, blieb mir der Geschmack von etwas Wertvollem, Ungewöhnlichem, Erhabenem zurück. Ich ertappte mich dabei, daß ich durch meine neue Sonnenbrille und unter der Krempe meines Panamas Gruppen englischer Touristen beobachtete und dabei dachte: Wenn ihr nur wüßtet! 116
Also rollte ich dahin, oder ich saß an meinem runden Eisentisch und trank. Mir war so, als könne ein solcher Mann es Halliday und Rick Tucker zeigen – dies war in einem Hotel bei Aquila, wohin die Italiener vor der Hitze fliehen –, ein solcher Mann sei in Wahrheit bedeutender, als er selber geglaubt hat – vielen Dank, Professor Tucker! Moment mal. Ich erinnere mich, bei einer sehr anständigen Flasche Wein dem Sonnenuntergang Richtung Rom zugesehen und mir vorgesagt zu haben, ich sei ganz mit mir einverstanden, weil ich genau wußte, wie mein nächstes Buch aussehen sollte. Es würde Barclays Reichweite vergrößern. Es würde von schlichten Menschen handeln, ewigen Dingen, von Jugend und Unschuld, von Reinheit und Liebe. Sogleich erwarb ich eine Schreibmaschine. Das Hotel war ruhig. Niemand redete mich an, ausgenommen was die Höflichkeit unbedingt erforderte. Genießt Sex, ist aber unfähig zu lieben? Was denn noch! Völlig gelassen, ja geradezu erhaben, komponierte ich mein Buch. Da ritten denn also Helen Davenant und der junge Ivo Clark durch Englands grüne Wiesen, an die ich mich kaum mehr erinnerte. Nicht, daß dies etwas ausmacht, Pferde an der Quelle ist ebensosehr eine Pastorale wie Daphnis und Chloe oder eine von Vergils Eklogen. Ich weiß noch, daß ich selber davon zutiefst ergriffen war. Helen ähnelt Mary Lou, eine Art tolpatschige Göttin, gewissenhaft und unwissend, von vollkommener Unschuld. Ivo, das gebe ich gerne zu, ist jener Reitknecht, der ehedem Bankangestellter gewesen war, und den mußte ich gründlich säubern. Das Schreiben ging so leicht vonstatten und war so genußreich! Ich weiß unterdessen, daß die Kritiker negativ urteilten (sie behaupteten, es stinke!), aber so schlimm war es gewiß nicht. Für mich war es ein angenehm friedlicher Zeitvertreib. Mit mäßigen Triumphgefühlen und einigem Bedauern schickte ich das Typoskript an meinen Agenten. Ich gab als Nachsendeadresse ein Postlagernd in Jugoslawien und erwartete seine Antwort in Titograd, wo es 117
keine Touristen gibt. Die Folge war, daß ich hier von einer wahren Flut englischer Sendungen überschwemmt wurde. Vorab kam ein Telegramm von Liz NOCHMAL WAS SOLL ICH MIT DEINEN BESCHISSENEN PAPIEREN ANFANGEN FRAGEZEICHEN TÄGLICH WERDEN ES MEHR HUMPH DULDET ES NICHT LÄNGER HOFFE ES GEHT DIR SO GUT WIE MIR EMMY LÄSST GRÜSSEN LIZ Als nächster telegrafierte mein Agent; er war begeistert, gratulierte und ließ mein Typoskript abschreiben. Diese Neuigkeit gefiel mir, und ich stieg sehr in meiner Achtung. Sex genießen, aber zur Liebe unfähig sein? Ha! Etcetera. Danach kam etwa ein Sack Post. Ich hatte es satt, Dingac zu trinken, der mehr dick macht als jeder andere Wein und ekelhaft süß schmeckt. Ich nahm den Sack also mit nach Italien und sah mir die Bescherung an. Interessant war einzig ein betont vernünftiger Brief von Liz, kein Telegramm (der Brief war schon vorher geschrieben worden). Ich möge ihr Tuckers vom Halse schaffen. Rick stehe offenbar im Solde der Pinkertons. Es sei ihr gleich, daß Humphrey sich an Mary Lou heranmache, sie habe sich mit der Natur der Männer abgefunden und erwarte nicht zu sehen, daß der Leopard seine Flecken verliere. Sie fürchte jedoch, daß Rick sich in London mit Emmy verabredet habe. Ob ich noch wisse, wer das sei? (Dick aufgetragener Sarkasmus.) Emmy habe genug erduldet, sie sei, rundheraus gesprochen, nicht der Typ, den Männer anziehend fänden, und sie fürchte, Rick benutze sie als trojanisches Pferd oder als eine jener »Wildkanzeln«, von denen Humph dauernd spreche, und die es erlaube, mich im Auge zu behalten oder ihre Erinnerungen an mich, den Vater, auszubeuten. Rick habe ein Projekt, und sie müsse mir sagen, die Krönung seines Lebenswerkes solle meine Biographie sein – armer Wilf –, doch zuvor arbeite er an einem Buch »Wilfred Barclay – Quellennachweis«. Es sei doch sehr zu bedauern, daß dieser Halliday keinen besseren Verwendungszweck für sein Geld kenne, aber Macht korrum118
piere eben und so weiter. Sie hoffe, einerlei, wo ich sei, ich möge glücklich sein, jedenfalls (und dies war typisch Liz) habe ich ja genügend Zeit, Geld und Menschen meiner Jagd nach dem Glück geopfert. Nachdem ihre Bitterkeit abgeklungen sei, habe sie erkannt, wie großzügig es von mir gewesen sei, ihr den Gesellschafteranteil zu lassen, denn ohne den hätten sie und Humph, von Emmy zu schweigen, nicht aus noch ein gewußt. H. rühre keine Hand, er sei ein richtiger Mann. PS. Kestrel habe erschossen werden müssen, sie hoffe, ich sei glücklich mit meiner derzeitigen Partnerin, ihr gehe es gesundheitlich nicht gut. Ich las diesen Brief immer wieder, weil soviel darin stand, das meiste nur angedeutet. Gesundheitlich nicht gut? Wem konnte es schon gutgehen, der sich mit diesem Mistkerl einließ? Kein Zweifel, Frauen muß vorgeschrieben werden, wen sie heiraten dürfen – lieber Himmel, man sehe sich doch an, welchen Lumpenhunden sie beseligt nachlaufen! Sie – ich dachte früher, es geschieht ihr recht, ihm recht, meine ich, aber nachdem ich mir jahrelang überhaupt nichts aus ihr gemacht hatte, tat sie mir jetzt aufrichtig leid. Indessen, genug ist genug. Wichtiger war schon Rick. Pinkerton? Ah. Das jagte mir einen solchen Schrecken ein, auch wenn ich mir sagte, Liz übertreibe maßlos, daß ich an nichts anderes denken konnte. Da ich im Moment an keinem Buch arbeitete und angesichts dieses Briefes von Liz, fand ich es an der Zeit, weiterzureisen. Auch wollte ich mich über Halliday informieren, denn der steckte ja wohl hinter diesem ganzen Unternehmen. Daß er Macht besitzen sollte, bereitete mir Unbehagen. Er verursachte mir Alpträume, nicht gerade sehr schlimme, aber doch besorgniserregende. Will sagen, im Traum reagiert man gedämpfter auf Ereignisse, die einen im wirklichen Leben mit Schrecken erfüllen; träumte ich, daß ich gehängt werden solle, würde mich das im Traum mit Besorgnis erfüllen, im Leben jedoch mit Entsetzen. Bedenkt man, daß ich normalerweise nicht 119
träume (kein Unbewußtes, wie Liz sagte), war das immerhin bemerkenswert. Das mit Kestrel und Emmy tat mir leid. Ich packte meine Sachen, schaffte mir die Ladung Post vom Halse, die ich aus Titograd mitgebracht hatte, und fuhr nach Rom, die Sonnenbrille auf der Nase. Dort suchte ich in den einschlägigen Handbüchern nach Halliday, konnte ihn aber nicht finden. Zugegeben, ich schlug im Who’s Who nach, statt im Who’s Who in America, doch hatte auch die englische Ausgabe einen Haufen amerikanischer Diplomaten, Minister, Fulbrights usw. anzubieten, nur eben keinen Halliday. Mir kamen Zweifel, und ich wäre noch länger in Rom geblieben, hätte sich nicht der Gedanke in mir festgesetzt, daß Halliday entweder zu unbedeutend war oder aber zu bedeutend, um zusammen mit uns gewöhnlichem Riffraff in einem Handbuch zu erscheinen. Auch quälte mich ein Alptraum, der mich mit Schrecken erfüllte. Ich träumte, ich sei in Rom, wo ich ja wirklich war, und sah im Traum einen jener Handzettel, wie Zeitungsausträger sie bei sich haben, und auf denen man GUERRA? liest oder von einer Nonne, die im Lotto gewonnen hat, SBALIO! Auf diesem aber lautete die Balkenüberschrift Dov’ È BARCLAY? Im Traum eilte ich weiter, kehrte aber um, wie ich es auch im »wirklichen Leben« getan hätte, um mich zu überzeugen, daß ich mich nicht geirrt hatte, konnte aber den Handzettel nirgends mehr sehen und erwachte schweißgebadet. Dann machte ich eine Weltreise. Das haben wohl andere auch schon getan – ich meine, eine Weltreise gemacht, weil man sich fürchtet –, doch kam ich mir vor, als sei ich der erste. Dieser Scheißkerl, wenn er denn einer war, war allgegenwärtig, mindestens sein Einfluß, seine Frauen und Männer, sein Reichtum. Als ich in Hawaii an einer Bar saß, hörte ich einen Mann am anderen Ende ganz deutlich sagen, die Hälfte der Insel gehöre Halliday. Da es dort drinnen schummrig war, ich übrigens meine Sonnenbrille trug, wagte ich es, hinüberzurutschen und ihn zu fragen, welche Hälfte? Er antwortete lachend, 120
die bessere. In meinem Hotelzimmer kamen mir dann Zweifel, ob wirklich von Halliday die Rede gewesen war. Der Name schien vor meinen Augen zu flimmern, doch leider ist es ja so, daß Leute, die vor Angst eine Weltreise unternehmen, meist auch eine Menge trinken. Kreditkarten sind ein wahrer Segen, nur muß man auf die Daten achten. Das unterließ ich und geriet in Schwierigkeiten, bloß weil ich die internationalen Zeitzonen querte, ob man das nun glaubt oder nicht. Ich verstehe es übrigens jetzt noch nicht, aber wer außer einem Flugkapitän versteht sich schon auf diese Zeitverschiebungen? Ich entsinne mich, daß ich alles nur noch schlimmer machte, indem ich Halliday an allem die Schuld gab. Dieser unangenehme Zwischenfall war von Übel, denn dadurch wurde ich enttarnt. Sogar im Radio wurde eine Meldung darüber gebracht. Übrigens war ich auch im Fernsehen zu sehen, wenn auch nur von hinten, wie ich um eine Straßenecke entschwand, den Hut tief in die Stirn gezogen. Schlimmer war, daß ich zwei Tage später in einem sehr viel kälteren Klima – ich weiß nicht mehr, wo – beim Spaziergang durch ein Dorf zwischen aufgehängter Wäsche einen Pullover mit der Aufschrift OLE ASHCAN erblickte. Das versetzte mir wirklich einen Schock. Ich begriff, daß der mit meiner, wenn auch nur vorübergehenden, Verhaftung verbundene Schrecken mich um mein inneres Gleichgewicht gebracht hatte. Auch trank ich, wie schon gesagt, mehr als gewöhnlich, so daß bis auf die letzten beiden Tage vor dem Dorfspaziergang die zurückliegende Zeit in Nebel gehüllt war. Ich muß sagen, daß dieser neuerliche Schrecken, der des Pullovers nämlich, mich wieder aus der Bahn warf, insofern ich erneut zu trinken begann, nachdem ich während der 48 Stunden meiner Inhaftierung so gut wie nichts mehr zu mir genommen hatte. Ich erinnere mich also nicht mehr an das nun Folgende, außer daran, daß ein reizender, nicht die Spur neugieriger junger Mann von unserer Gesandtschaft mich rausholte. Er verstand voll und ganz, daß ich mich vor Mr. Halliday 121
und Rick versteckt halten mußte, er nahm einen Scheck entgegen, mit dem ich bezahlte, was ich offenbar schuldig war – die Einzelheiten sind mir entfallen –, und brachte mich ans Flugzeug.
122
KAPITEL X Nachdem ich zweimal das Flugzeug gewechselt hatte – der junge Mann meinte, ich solle lieber eine Weile kein Automobil steuern –, befand ich mich auf einer griechischen Insel, wo es damals noch abgelegene Orte gab, fast ohne sanitäre Einrichtungen, woran ich keinen Anstoß mehr nahm, ich zog das sogar der Perfektion aus Marmor und Plastik und Keramikkacheln vor, wo man so vielen Menschen begegnet. Ich meine damit, in den sogenannten guten Hotels sind die Männerklos heutzutage eine Art Klub, und man weiß nie, wer da neben einem pißt. Die Insel hieß – ich sage mir, daß es jetzt überflüssig ist, ein Geheimnis daraus zu machen – Lesbos oder Lesvos, je nachdem, ob man in der Schule Griechisch gelernt hat oder nicht. Ich glaubte, Einsamkeit und ein schöner Strand wären genau das richtige, mir über die erlittene Haft und all den Alkohol hinwegzuhelfen, ließ mich also quer durch die Insel zu einem ziemlich schäbigen Hotel an einer großen Bucht fahren. (Die Straße war unbeschreiblich: Teils trockenes Flußbett, teils faustgroße Kiesel, zu weiter nichts gut, als sie nach Krähen zu werfen.) Ein Gutes hat Griechenland: der übliche Wein ist nicht trinkbar. Ich war früher schon längere Zeit im Lande gewesen, wie alle Welt. Ich hatte getrunken, bis ich mir einreden konnte, der Retsina sei wohlschmeckend, dann hatte ich mich aus dieser Selbsttäuschung wieder herausgetrunken. Jetzt also wurde ich sozusagen vor mir selber bewahrt, genauer, ich wurde auf einen sanften, ungeharzten kretischen Rotwein verwiesen – Minos hieß er, glaube ich –, den man in galonia kauft, das sind umflochtene irdene Krüge, von denen man leicht einen oder mehrere bei sich tragen kann. Ich ließ mich also auf dem Wasser treiben, lag gelegentlich mit geschlossenen Augen auf dem Rücken in der Sonne und genoß es, nicht 123
zu wissen, was über Pferde an der Quelle gesagt und geschrieben wurde, daß niemand wußte, wo ich war, mich das also auch nicht wissen lassen konnte, und daß Mr. Halliday und Rick unterdessen genötigt waren, ihre Klauen in andere Objekte zu schlagen. Über die Reaktion auf Pferde an der Quelle hatte ich leise Zweifel, denn der Irrtum lag nahe, es handele von wahrer Liebe, und darauf beißen die Leute nicht an; ich konnte ja nicht gut erklären, daß ich es geschrieben hatte, um Halliday fernzuhalten. Doch sagt man zu Recht, daß die Unwissenden selig sind, mindestens haben sie ihre Ruhe. Ganze Tage verbrachte ich auf dem Bauche in seichtem Wasser, eine Maske vor dem Gesicht, einen Schnorchel am Ohr, und beobachtete die liebreizenden, namenlosen, gleichgültigen Geschöpfe mit ihren Farben, ihrer Reglosigkeit und den überraschenden, ruckhaften Bewegungen, die sich zwischen den Mahlzeiten so gesellig betragen. Ich kam zu dem Schluß (mein einziger Ausflug auf das Gebiet der Unterwasserarchäologie), daß ehedem an einem Ende der Bucht ein Hafen gewesen sein müsse, und der ist immer noch knapp unter der Wasseroberfläche sichtbar. In der geruhsamen geologischen Perspektive betrachtet, geht die Insel auf und nieder wie ein Jo-Jo. Der Hafen wird von harmlosen kleinen Fischen bewohnt, klein, weil alles, was größer ist als klein, schon von den Fischern aufgegessen worden ist, die nun meilenweit aufs Meer hinaus müssen, um überhaupt was zu fischen. Dieser versunkene Hafen – ich nenne ihn meinen Hafen – ist weniger exotisch und aufregend als das Great Barrier Reef oder Eilat am Roten Meer, die ich beide aus eigener Anschauung kenne, aber er ist sanfter, falls das nicht ein zu albernes Wort ist Auch beherbergt das schäbige Hotel nur etwa drei Touristen pro Jahr und wird im übrigen hin und wieder von griechischen Vertretern besucht, die womöglich jene unglaublichen Gemälde an den Mann zu bringen suchen, auf denen jungen Frauen ein Ständchen aus der Gondel gebracht wird. Manche handeln auch mit 124
Gott weiß was. Nun wohl. Als ich nach zeitloser Weile geruhsam von der Mole meines versunkenen Hafens sanft flippernd dem Ufer zustrebte, füllte meine Maske sich mit Wasser. So etwas widerfährt uns Bartträgern leicht, weil man den Bart nicht mit soviel Spucke benetzen kann, daß die Maske wasserdicht wird. Aus irgendeinem Grunde kniete ich hin – ich war in seichtem Wasser – und streifte die Maske ungeduldig ab, und ein Mann, der gerade im Begriff war, die eigene Maske anzulegen, schob diese in die Stirne und fing wahr und wahrhaftig zu quieken an. »Das kann nicht sein! Doch, Sie sind – hallo da, was bin ich für ein Glückspilz. Du bist das Ungeheuer von Loch Ness, und ich kriege die ausgesetzte Belohnung!« »Verschwinde, Johnny, verschwinde. Du irrst dich. Gottverdammich.« »Diesen Gabelbart würde ich überall erkennen. Er wird immer spärlicher, mein Lieber. Du wirst ein Toupet am Untergesicht befestigen müssen. Das wird dann bald in sein.« Ich setzte mich hin, Maske und Schnorchel in der Hand. Dies war wohl das Ende der Schulferien. Ich zog die Knie an die Brust und musterte ihn mißmutig. »Nützt es was, wenn ich dich bitte, den Mund zu halten?« Johnny streckte sich in seiner ganzen erheblichen Länge im Wasser aus und schaute mich von dorther an. »Nun, das kommt darauf an, Wilf. Zufällig habe ich so drängende Geldsorgen, daß ich an nichts anderes denken kann – verzweifelte Sorgen. Vielleicht könnten wir …« »Ich verstehe. So wie letztes Mal.« »Sehr anständig von dir. Ich muß schon sagen, Wilf.« »Spar dir das.« »Na ja, wenn du keinen Dank hören willst – was treibst du hier eigentlich?« »Das könnte ich ja auch dich fragen.« »Tit für Tat. Wenn du nichts sagst, sage ich auch nichts. Aber 125
nun mal im Ernst, Wilf, dein letztes Produkt, Pferde an der Quelle …« »Ich will davon nichts hören. Warum zum Teufel kann man darauf wetten, schlechte Neuigkeiten unfehlbar zugetragen zu bekommen, und sei es mitten in der Wüste?« »Aber es ist so bewegend, Lieber, so, Zitat, menschlich, Zitatende. Diese jungen Dinger und der komische alte Assby. Der könnte wohl nicht zufällig in unwesentlichen Teilen mir nachgebildet sein? Woher sollst du sonst deine Kenntnisse haben, Wilf? Du hast dich doch niemals für einen von uns gehalten, oder? Ein Mischtyp selbstverständlich, ein Einzelgänger, und in früher Jugend zu … sagen wir ein ganz winziges bißchen zu Experimenten aufgelegt …?« »Ich will von diesem beschissenen Buch nichts mehr hören.« Johnny drehte sich auf den Bauch. »Hm«, machte er, konnte sich dann einen kleinen Seitenhieb aber nicht verkneifen, »nach einer Weile wirst du doch davon hören wollen.« Auch ich leide an Zwängen. »Wie schlecht ist es denn wirklich?« »Aber wer sagt denn, daß es schlecht ist? Du mußt mir glauben, ich meine es ganz ehrlich: Als die Quelle überlief und die beiden wortlos erkennen, daß sie zueinander in Liebe entbrannt sind, traten mir Tränen in die Augen. Ich schwöre es.« Er kicherte. Ich wartete noch ein Weilchen, dann erhob ich mich auf die Knie. Johnny merkte, daß ihm etwas entgehen könnte, und er schrie auf. »Du darfst jetzt nicht einfach abhauen, Wilf! Vor morgen kann dich kein Wagen abholen, und das ist nicht nur der Sabbath, sondern auch das Fest des hiesigen Heiligen, das wirst du doch nicht verpassen wollen. Die Litanei ist himmlisch – ›Gott schütze uns, Gott schütze alle anderen, und zur Hölle mit den Türken‹. Das Buch wurde allgemein nicht übel aufgenommen, das versichere ich dir. Wir kennen selbstverständlich 126
die Kritiker mit dem Hackebeil, Lilian und die Gebrüder Henry. Der junge Mensch in der Glotze nannte es warmherzig, etwas, das er nie in dir vermutet hätte. Damit habe ich doch wohl den Tag für dich gerettet, wie?« »So schlimm steht es also? Na ja, wen kümmert es, solange das Geld reinkommt …« »Dich offenbar nicht, Lieber. Auch nicht, daß Lilian schrieb, wenn du einen deiner Charaktere mit Herzenswärme schilderst, läuft die über wie kochende Milch.« Was konnte ich darauf erwidern? Ich glaube fast, ich bemühte mich, ehrlich zu sein. »Man muß schließlich auch mal schlechte Bücher schreiben, wenn man gute schreiben will.« »So ist es richtig, Wilf, das muß nur noch etwas poliert werden. Im Moment klingt es wie eine schlechte Übersetzung aus dem Französischen … Immerhin hast du die Billigung von Emmys jungem Mann.« »Welche Emmy?« »Deine Emmy. Deine und Liz’. Und der junge Mann, mit dem sie eine Weile herumzog, dieser wirklich gigantische Amerikaner …« »Tucker! Ist der immer noch in Europa?« »Ich hatte ein richtiges tendre für ihn – eine Woche lang oder so. Er ist hünenhaft, nicht wahr? Glaubst du, man könnte ihn dazu verleiten, grausam zu sein? Aber das Schlimme an diesen großen Amerikanern ist ja, daß sie unentwegt duschen und partout asexuelle Deodorante verwenden wollen, ganz anders als die hiesigen Fischer – hast du mal in Lee von einem gesessen? Allein davon kann man schon einen Orgasmus kriegen.« »Und was hat der mit Emmy angestellt? Woher hat er überhaupt Geld? Er ist verheiratet mit … Erst vor vier Jahren hat er ein vorlesungsfreies Jahr gehabt. Ist er vielleicht rausgeflogen? Das wäre ja eine gute Neuigkeit.« »Weißt du denn nicht?« 127
»Was?« »Diese hübsche Kleine …« »Helen, ich meine Mary Lou …« »Stimmt. Also daher rührt die Herzenswärme in Pferde an der Quelle! Oh, ja, sie hat was, eigentlich ist es unfair. Jedenfalls ist sie wieder in Amerika. Tucker hat einen philanthropischen Milliardär an der Angel, und bei dem hat sie einen Job, als Sekretärin, als Forschungsassistentin oder so.« »Halliday!« »Das ist sein Name, ja.« Und ich fühlte mich wieder nach Weisswald versetzt, betrachtete mit Mary Lou die Aussicht, die sehr eindrucksvolle Aussicht. Nein, Wilf, Mr. Halliday hat eine Schwäche für Damen. Milliarden. Billionen. Mary Lou interessiert sich für Astronomie. Trillionen. Genug Geld, um den großen Knall auszulösen. Imstande, Mary Lou zu kaufen, auch ohne wie Paris auszusehen. Die Frau, der man zu spät begegnet. Die Frau, die man vergessen hat. Die einem rausoperiert worden ist, ein seltenes Exemplar. Imstande, Wilf zu kaufen, ihn zu finden, nach ihm zu schicken. Ob man wegrennt oder am Ort bleibt, finden wird er einen. Er sitzt daheim und wartet, bis man kommt. Käufliche Reinheit, Heiligkeit, unvergleichliche Schönheit. Oh, trauere um sie. Der Zauberkreis, den sie mit Rick bilden wollte, um ihn unverletzlich zu machen, ist zerbrechlich, nein, unwiderruflich zerbrochen … »Wilf?« »Wenn der Kreis aufgebrochen und sie nicht mehr darin ist, dann kann sie nach draußen sehen und jemand anderen wahrnehmen, und dann ist sie vielleicht eine ganz andere – mag sein, eine faszinierende Gesprächspartnerin, nicht mehr schwer, unter dem Einfluß seiner Schwerkraft, sondern leicht wie Luft, zum Flirt aufgelegt …« »Du bist ja gar nicht mehr bei dir!« 128
»Halliday.« »Ich muß schon sagen, Wilf … in der Sonne ist es sehr heiß, vielleicht …« »Was weißt du von Halliday?« »Wir müssen unbedingt weg aus der Sonne.« Vermutlich hatte Rick ihm ein Papier auf den fußballplatzgroßen Schreibtisch gelegt: Für die im folgenden aufgeführten Dienste meiner Ehefrau Mary Lou Tucker erlaube ich mir zu berechnen … »Eine glatte Milliarde, möchte ich annehmen.« »Komm, Wilf, wir wollen doch nicht, daß dir was zustößt.« Mit einer solchen Summe konnte Rick sich erlauben, CIA und FBI samt unseren unbrauchbaren Agenten, nicht zu reden vom KGB, auf meine Fährte zu setzen. Das erklärte, weshalb ich mich überall so unbehaglich gefühlt hatte, mir meines Passes wegen Sorgen machte und so weiter. »Runter mit den süßen Flossen, Wilf, ja, so ist es brav.« »Fick dich ins Knie, Johnny, wenn du kannst.« »Das war aber mal gemein.« »Es ist mir ernst.« »Wirklich, Wilf, abgesehen von meiner unnatürlichen Zuneigung zu dir faszinierst du mich auch. Warum ein Mann, der sich so demonstrativ gleichgültig gegen die Gesellschaft verhält, sich so vor der Meinung der Kritiker fürchtet …?« »Du bist doch Kritiker, also warum wundert dich das?« »Du Böser!« Halliday war offenkundig viel gefährlicher als Rick. Bei seinen Informationsquellen brauchte er nicht mal Vermutungen anzustellen. Er kannte meine Biographie genau und brauchte das Material nur an diesen behaarten Schmierfink Tucker weiterzugeben. »Wer kennt deine Biographie?« Johnny stand auf der Treppe zum Hotel. Er zerrte mich nicht mehr am Handgelenk, hatte aber auch noch nicht losgelassen 129
und starrte mich an. Ich schüttelte ihn ab. »Ich muß duschen.« »Das Wasser läuft jetzt noch nicht, das weißt du doch sehr gut.« »Ich muß mich hinlegen.« Johnny nickte ernsthaft. »So ist’s recht. Natur verweist auf diesen zweiten Weg. Macbeth, siehe dort.« »Ha, etcetera.« Johnny nickte immer noch vor sich hin, als ich mich endlich von ihm freimachte. Das Schwimmen hatte mich müde gemacht, und was ich auch anzöge, alles würde von Schweiß und Salz kleben. Ich setzte mich auf den Bettrand und nahm mir vor, nichts zu tun. Ich regte mich nicht, atmete kaum, fühlte nichts, dachte nichts. Ich versetzte mich mit aller Kraft des Willens in einen NichtZustand, versank vorsätzlich in Katatonie wie eine Napfschnecke im Watt. Aus diesem Zustand kehrte ich mit einem gequälten »Klick« zurück, das vielleicht sogar hörbar war, wie von einer Jalousie, die sich aufrollt und grausames Tageslicht einläßt. Ich erinnerte mich an Prescott. Ich kannte ihn nicht persönlich, nur seine Briefe und das Manuskript, mit dem er mich anödete. Es war schlecht, hoffnungslos schlecht, allerdings lag ihm ein guter Einfall zugrunde. Ich ließ ihn das alles wissen, und doch quälte er mich jahrelang mit immer neuen Bitten und Vorschlägen. Schließlich mußte ich mich totstellen. Jetzt plötzlich sah ich, daß der Haupteinfall meines vierten Romans genau der gute Einfall war, der Prescotts Manuskript zugrunde lag! Selbstverständlich hatte ich ihn bearbeitet und so weiter, aber trotzdem! Ich schwöre, bei der Niederschrift von Grenzenlose Ebene und auch nachher habe ich keinen Moment an Prescott und sein Manuskript gedacht, war mir des Verdrängungsprozesses nicht bewußt, den jeder Schriftsteller nur allzu gut kennt, sobald er sich dem Lesepublikum präsentiert hat. 130
Hatte ich nicht doch daran gedacht? War es ganz und gar das Werk des Unterbewußten, von dem Liz meint, ich hätte daran nicht zu leiden, oder hatte ich den Einfall vorsätzlich irgendwann gestohlen? Soweit mir bekannt, hatte Prescott es nicht geschafft, dieses Manuskript einem Verlag zu verkaufen, obschon er unterdessen ebenso viele Bücher herausgebracht hatte wie ich und wohl ebenso bekannt war. Würde ihm das auffallen, und würde er darüber öffentlich sprechen? Während der Nachmittag allmählich in den etwas kühleren Abend überging, wollte mir scheinen, als käme jede einzelne absurde, demütigende oder quasi-kriminelle Handlung, die ich je im Leben ausgeführt hatte, zu mir zurück, um mich zu stechen und zu versengen. Als ich dann nach unten ging, erwartete mich Johnny, was mich nicht wundernahm, weil es hier nur dieses eine Hotel gab. »Nimm einen Ouzo, Wilf, man sieht dir an, daß du es nötig hast.« »Gott behüte. Ich habe hier meine eigene galoni in der Bar, einen trinkbaren Minos.« »Wirklich, mein Lieber, es muß wohl an deinen berühmten rastlosen Wanderungen liegen, daß du noch deine Figur hast – so wie du dich der Flasche widmest.« »Berühmt?« »Du und Ambrose Bierce. Ich zitiere: Wo befindet sich Wilfred Barclay, dessen jüngst erschienenes Buch Pferde an der Quelle und so weiter.« »Ah, sei schon still. Was hast du derzeit übrigens selbst in Arbeit?« »Ich? Ein riesengroßes Bilderbuch, selbstverständlich über Sappho. Ich weiß noch nicht, wie ich’s nennen soll, Ladies von Lesvos oder Brennende Sappho. Wenn doch nur wirklich jemand diese gräßliche Person verbrannt hätte! Man weiß nichts über sie, buchstäblich nichts. Außerdem gehört sie angeblich zur Weltgeschichte, und mir ist im Moment nicht 131
sehr schöpferisch zumute.« »Dein bislang bester Einzeiler.« »Ja, ob nun zum Lachen oder nicht, immer wenn ich versuche, damit anzufangen, werde ich wütend.« »Du bist kein Klassiker, Johnny.« »Ich bin Erotiker. Du würdest nicht glauben, was alles ich aus meinen intimen Freundinnen an Informationen herausgeholt habe, von weiterreichenden Vermutungen nicht zu reden. Ich weiß, du wirst mir diese Idee nicht stehlen: Wozu, glaubst du, haben die Damen in der Jungsteinzeit diese hübschen kleinen Statuen der Erdmutter verwendet? Ich habe mich sogar zum Philologen aufgeworfen und behauptet, ›Lesbos‹ schreibe sich von ›Olisbos‹ her, was Altgriechisch ist für das, was man heute in Anzeigen als Sex-Hilfe angepriesen sieht. Und was hast du bei deinen Reisen gelernt, Wilf? Bevorzugst du immer noch die Missionarsstellung?« »Und du?« »Nun, nichts ist von Dauer.« Er verstummte, und ich verfiel in trübsinniges Brüten, aus dem ich erst aufschrak, als Johnny weitersprach. »Weshalb ist dir von alledem sterbenselend?« Er war wieder ganz bei der Sache und suchte die sichtbaren Partien meines Gesichtes nach Informationen ab. Mir fiel ein, daß sein nächster Schritt womöglich sein könnte, Rick meinen Aufenthaltsort zu verraten. Ebensogut konnte er diese Neuigkeit aber auch an die Zeitungen und überhaupt an all die beschissenen Medien verkaufen. »Wo steckt er jetzt?« »Wer?« »Mein … mein Möchtegernbiograph.« »Nein, wirst du nicht vom Glück förmlich verfolgt? Darfst dich vor aller Welt entblößen! Kein Mensch hat sich je erboten, meine Biographie zu schreiben, leider. Ich werde es wohl selber tun müssen, und das ist eine undankbare Sache, eine Art 132
literarischer Masturbation, die, da kannst du sagen, was du willst …« »In meinem Fall …« »Ja, ja, schon gut. Du wirst dich als ausschließlich Heterosexueller anpreisen, ganz wie der alberne junge Keats. Erinnerst du dich? Ich glaube, es steht in ›Lamia‹. Ach, Wilf, du Guter! Das sollte als Epigraph deine gesammelten Werke schmücken. Moment mal … ah, ja. Von süßen Elfen, Peris, Göttinnen Mögen irre Dichter schwärmen; von allen, die in Höhlen, Weihern, Wasserfällen hausen reicht keine an das echte Weib heran. Wie vulgär! Kein Wunder, daß man diese Leute die ›CockneySchule‹ genannt hat.« Meine galoni wurde gebracht, und ich begann zu trinken. Die Erinnerungen waren wie Würmer, die sich ins Fleisch bohren, Rick, der mich verfolgte, Würmer, die mich fraßen, und über allem brütete der monströse Halliday. Ich meinte, womöglich steige meine innere Unruhe fortwährend, weil ich nicht mehr schrieb, und ich müsse auf der Stelle ein neues Buch beginnen. Nun war mein Kopf ganz und gar von diesen Einfällen besetzt, die mir John St. John John suggerierte, der unaufhörlich weiterredete, ob ich nun zuhörte oder nicht. »Hüte dich vor dem Wurm …« Ich erschrak fürchterlich. Das hatte er gesagt, nicht ich. Seither ist mir klargeworden, daß ich nicht, wie ich meinte, schweigend vor mich hin brütete, sondern brummelnd Selbstgespräche führte und darin auch die Würmer erwähnte. Damals allerdings jagte mir das einen gehörigen Schreck ein, es grenzte schon an Geisterbeschwörung. Mir kam es so vor, als könne alle Welt sehen, ich ausgenommen, als habe jedermann Zugang und nur ich sei in mich selber eingesperrt, unwissend, in 133
meiner eigenen Haut gefangen, ohne die Antennen, die alle anderen besaßen, die ich hätte ausstrecken und damit mein geheimes Selbst ertasten können. »Von welchem Wurm redest du?« »… der Wurm, er fliegt bei Nacht im heulenden Sturm _ ist Brüten nicht göttlich gescheit? Ich beneide die Komponisten, du nicht? Sie gleichen Mathematikern, um Politik und solche Sachen brauchen sie sich nicht zu kümmern, die sitzen einfach da oben auf ihrer Wolke.« »Was ist das für ein Wurm?« »Mein lieber Junge, die Würmer fressen dich bei lebendigem Leib. Soll ich dir mal eine umfassende Diagnose stellen?« »Nein.« »Du hast, was die Biologen ein äußeres Skelett nennen. Die meisten Menschen haben ein inneres Skelett, aber du, mein Junge, hast dein Leben damit verbracht, ein äußeres Skelett zu entwickeln. So wie Krebse und Hummer. Das ist deshalb so schlimm, weil die Würmer sich einnisten und da drinnen machen, was sie wollen. Mein Rat, den ich dir gratis erteile, weil du mir Geld vorstrecken wirst, lautet, weg mit der Rüstung, dem äußeren Skelett, dem Rückenschild, bevor es zu spät ist.« »Und wie soll ich das machen?« »Du könntest es, ah, laß mich mal überlegen … mit Religion versuchen, mit Sex, Adoption, guten Werken … aber Sex ist, glaube ich, derzeit die beste Medizin für dich. Schließlich treiben es sogar Hummer miteinander, obwohl ich nicht recht weiß, wie sie’s machen, das gebe ich zu. Vermutlich mittels außergewöhnlicher Onanie, die der da oben nicht mit dem Blitzstrahl bedroht, weil sie unter Wasser stattfindet.« »Wie Lachse und ähnliche Viecher.« »Ganz recht. Du hast vielleicht die Zeilen gelesen, die ich darüber im Times Literary Supplement geschrieben habe? ›Denn der Mensch ist ein ulkiger Fisch, nichts als ein Fisch, 134
doch ein sonderbarer Fisch, ein heiliger, molliger Fisch, der sehr darauf achtet, wo er seine Milch (das sonderbarste Fleisch des Fisches) verspritzt.‹ Und so fort. Findest du das nicht gut?« »Nein.« »Sei verflucht! Ein jeu d’esprit, selbstverständlich. Du hast kein rhythmisches Empfinden, das habe ich schon immer gedacht.« »Ich bin müde.« »Wie schon gesagt, du brauchst eine Gefährtin. Du mußt nämlich wissen, Lieber, daß ich mich in manchen Dingen ganz gut auskenne. In deiner kategorisierenden Art ordnest du mich als alternden Schwulen ein, was ich ja auch bin, wenn auch nur unter anderem. Die Schneckensuppe werde ich nicht nehmen, es muß wohl wieder Moussaka sein. Ist die griechische Küche nicht abscheulich? Wenn ich nicht wegen dieser blöden Sappho hier sein müßte … Also, eine Frau ist das mindeste, was du brauchst. Oder gehörst du zu den Typen, die im Alter ihre wahren Neigungen entdecken und sich wegen eines hübschen Knaben zum Narren machen?« »Halt um Gottes willen endlich den Mund!« »Das alles mußt du abgestoßen haben, weit, weit weg. Ja. Du brauchst eine Frau.« »Denkst du an eine bestimmte?« »Du weißt, was Apoll gesagt hat? Selbstverständlich weißt du es. Erkenne dich selbst! Vielleicht hast du dein jetziges Alter erreicht, ohne dich selber zu erkennen. Du brauchst einen Gefährten. Fang ganz unten an. Kauf dir einen Hund.« »Hunde mag ich nicht.« »Würmer unterm Rückenschild sind keine Ausgeburt des menschlichen Sadismus, sie sind ein Höhepunkt der Kunst. Einzig der da oben hat sich so was einfallen lassen können.« »Ich will nichts mehr von Halliday hören.« »Nun gut. Für Poesie hast du noch nie was übrig gehabt, wie?« 135
»Wenn sie witzig ist, schon.« »Und wo ist dein gefeierter zynischer Humor geblieben, je me demande?« »Ich bin alt, ich gehe schneller und schneller …« »Wohin?« Ich habe wohl gebrüllt. »Wo wir alle hingehen, du verdammter Narr!« Ich glaube, ich erinnere mich wörtlich an das, was er dann sagte, denn ich sehe noch sein Gesicht, das sich mir über dem kleinen Tisch näherte, bis ich wahrnahm, daß er die Brauen nachgezogen hatte. »Mein lieber Wilf, noch einmal, ein Gegendienst für deine Anleihe. Geh zu einem Priester oder einem Kopfschrumpfer. Tust du das nicht, so hüte dich zumindest vor Ärzten, die paarweise auftreten, denn die verfrachten dich in die Klapsmühle, bevor du auch nur ›Schwipso-Schizo‹ aussprechen kannst.«
136
KAPITEL XI Dies ist keine Biographie. Was genau es ist, kann ich nicht sagen, denn es gibt riesige Lücken, die in meinem Gedächtnis klaffen, und weiße Flecken, die dadurch entstanden sind, daß gar nichts geschah. Um alles noch schlimmer zu machen, kann ich mich an die Monate nach Johnny und Lesvos nur bruchstückhaft erinnern, meines Zustandes wegen. Ich weiß noch, wie mir in der Nacht, nachdem Johnny seine alberne Diagnose gestellt hatte, sonnenklar wurde, daß ich weg mußte, koste es, was es wolle. Statt dessen aber verging ein Tag nach dem anderen in einem vom Minos erzeugten feuchten Nebel; Johnny, zu dessen Lastern exzessives Trinken nicht gehört, sah ich nur selten. Endlich ermannte ich mich soweit, daß ich mich zum Flugplatz fahren ließ und davonflog. (Nachsendeadresse Rinderpest, Bloemfontain, Südafrika.) Gott sei gedankt für das Flugzeug! Flugzeuge können einem im Handumdrehen die Perspektive verändern, ganz wie die Trompete des Jüngsten Gerichtes. Ich erinnere mich, daß ich neben einem Mann saß, einem Kanadier, glaube ich, dem ich vorschwärmte, wie herrlich ich das Fliegen fände, weil wer oft genug fliege, irgendeinmal abstürze, und der Absturz im Jet bedeute den augenblicklichen Tod, aufs innigste zu wünschen, Julius Caesar, siehe dort. Dieser Kanadier war, was Johnny eine feige Memme genannt haben würde; er wollte nicht daran erinnert werden, daß wir nur dank der Anwendung irgendwelcher irrsinniger aerodynamischer Gesetze über sehr viel Wasser schwebten. Er suchte sich einen anderen Platz. Nun ja. Mir war klar, daß es um diese Zeit in Athen von meinen Landsleuten und von Amerikanern nur so wimmeln würde, folglich stieg ich in eine Maschine nach Südafrika um, nicht bedenkend, daß ich in Lesvos als Reiseziel Südafrika hinterlassen hatte. Das fiel 137
mir erst unterwegs ein, und ich nahm mir vor, die nächste Maschine zurück zu nehmen. Indessen – und hier klaffen ebenfalls Lücken –, ich fand mich in einem Sanatorium wieder. Es war zu einem stürmischen Treffen mit den rotglühenden Würmern unter meinem Rückenschild gekommen, und eine liebenswürdige Ärztin befreite mich von ihnen, indem sie mir an einem lebenden Hummer vom Fischmarkt demonstrierte, wie man die Tierchen entfernen kann; manchmal meine ich, ich habe das alles nur geträumt. Die innere Hitze blieb selbstverständlich zurück, ich glaubte aber, damit fertig zu werden. So empfahl sich denn der Wechsel in ein milderes Klima, das die Hitze erträglicher machen würde, doch hatte ich unterdessen so viele Nachsendeadressen hinterlassen, daß es fast keine Länder mehr gab, die ich nicht schon angegeben hätte. Ich flog daher nach Rom (Nachsendeadresse Shangri La, Katmandu, Nepal), und kaum waren wir dort gelandet, fiel mir Rick auf der Piazza Navona ein. Also schlug ich einen Haken vermittels eines Inlandfluges und eines Mietwagens am Bestimmungsort. Ich fuhr von dort sehr behutsam weiter, denn ich hatte das Ding, das man da unterschreiben muß, nicht unleserlich genug unterschrieben. Ich werde jetzt von einer Insel erzählen, obschon ich das nicht möchte, denn ich kriege immer noch das Zittern, wenn ich daran denke. Es muß aber sein, denn das ist die erste Hälfte. Die zweite Hälfte schreibe ich später nieder. Tatsache ist, ich habe mich schon seit einiger Zeit für diesen Moment gestählt, denn in nüchternem Zustand schaffe ich es nicht, das ist die Wahrheit. Oh, ja, ich weiß: Morgen früh werde ich in die Küche schleichen und die leeren Flaschen zählen, ohne daß Liz hereinschweben wird wie ein Mannequin aus Vogue. Es wird auch kein Rick den Mülleimer durchwühlen, die OLE ASHCAN. Vermutlich wandert er irgendwo da draußen umher und läßt mich nicht aus den Augen. Seit Liz die Eschen hat fällen lassen, kann ich von meinem Tisch aus über den Rasen 138
hinweg den Wald jenseits des Flusses sehen, sähe ihn jedenfalls, wenn ich könnte, was ich aber nicht kann, weil es drei Uhr früh ist. Von dort kommen die Dachse, um mich zu bedachsen und Rick ebenfalls. Also. Ich setzte auf einer Fähre über und gelangte in ein Städtchen, wo vor meinen sehenden Augen der örtliche Polizeichef auf der Hauptstraße niedergeschossen wurde. Das war selbstverständlich die Mafia, und mir war ganz so, als habe Halliday die auf mich angesetzt, also nahm ich eine andere Fähre. Und nicht etwa eine, die mich zurückbrachte, sondern weiter, immer weiter, bis ich samt meinem Wagen auf einem Kai stand, auf den lauter Gassen mündeten, die so eng waren, daß man sie nicht befahren konnte. Weil mir nun der Anblick von kombiniertem Slum, Hütte, Bar und Puff, der sich Hotel Marina nannte, nicht behagte, machte ich mich zu Fuß auf, etwas Größeres, Besseres zu finden, mit einer anständigen Bar, statt einer Planke, die von zwei uralten Schlampen gehalten wurde. Ich gelangte an ein Tor, öffnete es und näherte mich einigen Häusern, von denen ich annahm, sie könnten eine jener italienischen Villen verbergen, die unweigerlich zu Hotels umgebaut werden. Es hätte mir auffallen müssen, daß diese Häuser keine Fenster hatten. Das war dumm von mir. Ich betrat einen langen Korridor, und wie zu vermuten, standen entlang den Wänden lauter angekleidete, uralte Leichname, schließlich kann man ja nicht erwarten, daß sie von allein stehen, Unterstützung brauchen sie schon. Sizilianische Bestattungsriten, siehe dort. Ich bebte am ganzen Leibe, als ich da wieder rauskam, nur hörte das Beben nicht auf, als es hätte aufhören sollen. Ich blieb vor den fensterlosen Gemäuern stehen und schrie. »Die Insel bebt!« Und so war es. Den Lebenden oder Toten auf jener Insel mitteilen, daß die Insel bebte, hieß jedoch Eulen nach Athen tragen. Ich fand schließlich ein Hotel mit Fenstern ohne sichtbare Leichname, ausgenommen den Barmann, der 139
seit Jahren nicht mehr benutzt worden war. Man holte mein Gepäck aus dem Wagen, und ich saß die ganze Nacht auf der Bettkante in der Hoffnung, das Beben werde aufhören, was es aber nicht tat. Ich muß geschlafen haben, nur hatte ich unterdessen leider ein Unbewußtes entwickelt, oder ich habe schon immer eins gehabt, egal, was Liz darüber dachte, und ich träumte. Lieber Himmel, wie habe ich geträumt! Ich habe wohl auch gefrühstückt, denn danach bin ich umhergewandert und sah, daß die Insel aus puderförmigem Bims bestand, aus dem messerscharfes schwarzes Glas stach wie lauter Kirchtürme. Für normale Menschen ein recht interessanter Ort, aber nicht für jemand, dessen Scharniere quietschen. Ich nehme an, das war wirklich dort. Oh, ja, es war dort, das beweist, was später kam. Irgendwann beschloß ich, nur noch Kaffee zu trinken, und trank ihn den ganzen Vormittag eimerweise. Um nüchtern zu bleiben, entschloß ich mich zu einem Spaziergang, wobei ich dem centre ville auswich. Ich machte mich also auf den Weg, bedächtig, immer den Mauern entlang. Es gab hier einen großen Hügel, an den schlich ich mich nun an. Oh, ja, ich weiß, das klingt verrückt, aber das war es ja auch. Ich näherte mich, wie der Alte selber, will sagen der mit mir Gleichaltrige, Mary Lou hatte gesagt, der ist doch nicht älter als Sie! Was ist sie doch für eine Lügnerin. Ich habe mich in ihr getäuscht. Er ist älter als die Kirche, auf die er scheißt. Die Gassen waren selbst für diese Weltgegend reichlich dreckig, das kann ich versichern. Ich erkannte bald, daß das Gebäude auf dem Hügel, das jetzt sichtbar wurde, eine Kirche war, womöglich eine Kathedrale, und meiner inneren Hitze wegen kam ich auf den Gedanken, dort in dem kühlen Bauwerk nach Glasfenstern zu suchen, obwohl kaum Aussicht bestand, etwas anderes zu finden als minderwertiges Zeug, um 1900 von der Mafia gestiftet. Nach einer Weile mußte ich stehenbleiben, um zu verschnaufen, aber das änderte 140
nichts daran, daß ich die äußere Hitze ebenso fühlte wie die innere, denn der Tag war heiß. Das Licht war anders als sonst, es war weißglühend, kein Sonnenlicht, mehr Luft, die von innen erhellt war. Anfangs dachte ich, dies sei dem Alkohol zuzuschreiben, begriff dann aber, daß, wenn ich überhaupt zu denken vermochte, ich nicht so schwer mitgenommen sein konnte, wie ich dachte, aber das andere, ich meine, daß ich mich verfolgt und beobachtet fühlte, das beeinträchtigte mein Urteil ein bißchen. Einen Kater hatte ich nicht, auch nicht den kleinsten, und das ist ein schlechtes Zeichen. Selbst das Meer rings um die Insel sah sonderbar aus, wie Messing. Von oben kam mir ein Inselbewohner entgegen und bekreuzte sich unablässig wie eine mechanische Puppe. Dann sah ich die Bescherung und verstand, weshalb die Insel sich wie im Fieber schüttelte. Am Horizont, Gott weiß in welcher Himmelsrichtung, stand ein schwarzer Rauchpilz wie von einer Megatonne. Man mag sagen, was man will, wenn die Erde bebt, ist das schlimmer, als wenn man von Angst geschüttelt wird. Der Mensch wird des letzten bißchens Sicherheit beraubt, ich meine der Gewißheit, daß, wenn es zum schlimmsten kommt, man doch immer noch festen Boden unter den Füßen hat. Wenn die Erde bebt, ruft sie einem jedoch in Erinnerung, daß man auf einer verrückten Kugel durch den Weltraum fliegt, was, wenn man sich das ausmalen will oder mit der Nase drauf gestoßen wird, nicht nur an einen Skandal grenzt, sondern mehr ist als das. Wer jetzt allerdings eine Beschreibung der Schrecken eines Erdbebens oder Vulkanausbruchs erwartet, wird enttäuscht werden, denn ich weiß nun, daß ich schon viel zu weit gediehen war, um darin etwas anderes zu sehen als eine persönliche Beleidigung oder auch einen mir zukommenden Tribut, und überdies hörte das Beben schon auf. Als ich von da oben herunterkam, wäre es mir übrigens auch ganz einerlei gewesen, wenn die ganze Insel samt gläsernen Messern und Bims im Meer versunken wäre. 141
Ich kam an eine mächtige Treppe, mächtig nicht nur der Länge – sie schien unmittelbar an den Himmel zu reißen –, sondern auch der Breite nach. Man hätte eine ganze Kompanie in Linie hinaufmarschieren lassen können, gar kein übler Gedanke, denn es war eine Eselstreppe, die Stufen niedrig, aber sehr breit, oder ist es architektonisch korrekter zu sagen: tief? Stöhnend, obschon ich doch diese wunderbaren Stufen steigen durfte, erreichte ich den freien Platz vor dem Hauptportal. Es war das Westportal, und ich nehme an, was danach passierte, hätte nirgendwo anders passieren können, aber wer weiß das schon? Vor der mittleren der drei Türen saß eine Greisin auf einem geflochtenen Stuhl und spann einen feinen Faden. Nein, sie war keine Parze, sie war weiter nichts als eine alte Frau, beauftragt, darauf zu achten, daß keiner der Touristen, die etwa alle zehn Jahre einmal die Kathedrale besichtigten, einen Fotoapparat bei sich führte. Warum nicht? Weil die Leute dort nicht dulden wollen, daß man Bilder knipst, und damit haben sie durchaus recht. Endlich einmal war ich auf Menschen gestoßen, die ebensogut wußten wie ich, daß Fotos, die von einem gemacht werden, einem etwas wegnehmen. Darum redete ich die Alte in meinem besten gebrochenen Italienisch an, versicherte, ich gehöre nicht zu den Menschen, die eine machina photographica mit sich rumschleppen. Sie verstand aber augenscheinlich kein Wort, sprach nur, was dort auf der Insel gesprochen wird. Um meinen guten Willen zu beweisen, deutete ich auf den Rauchpilz am Horizont und hob die Brauen, worauf sie sich bekreuzte und zu spinnen aufhörte. »Volcano!« Dieses Wort war ihr also bekannt. Nun ja, wenigstens nicht die Bombe. Reizende Gegend, in die man dich da gelockt hat, dachte ich bei mir, nichts als ab auf die Autostrada, Wilf, sobald die Fähre wieder anlegt, und Rick samt Halliday und seiner Mafia sollen dir gestohlen bleiben. 142
Ich trat ein, und es war sehr, sehr düster da drinnen, selbst für eine Kirche. Erst da fiel mir ein, daß ich ja noch meine übergroße Sonnenbrille trug. Daraus wiederum schloß ich, daß ich sie in all den Tagen, da ich auf der Bettkante saß oder vielleicht träumte, nicht abgenommen hatte. Und das hieß wohl auch, so überlegte ich, in jenem Holzverschlag zwischen Portal und Innentür stehend, daß ich mich geraume Zeit nicht mehr gewaschen hatte. Ich nahm die Brille ab, stieß die innere Tür auf und schob mich hinein. Es war wirklich eine Kathedrale, ich erkannte den Bischofsstuhl. Nach einigen Schritten und einem flüchtigen Rundblick wußte ich, daß das Glas keine Aufmerksamkeit verdiente. Beim Weitergehen fiel mir auf, daß der beste Teil des Gebäudes wohl das Dach war, denn die Spandrillen waren mit sehr frühen Mosaiken ausgekleidet. Mosaik ist wie Glas – je älter, desto besser. Ich machte noch ein paar Schritte in der Absicht, hier rasch alles zu sehen und mich sodann an die wenigen guten Sachen zu halten, da fiel, vom letzten Nachbeben gelokkert, ein Stück Mosaik vor mir auf den Boden. Nun der Reihe nach. Ich hatte zögernd Schritt vor Schritt gesetzt, und das winzige Stück schmutzig-blauen Steins fiel etwa einen Meter vor mir auf den Boden. Ich stand auf dem rechten Fuß, im Begriff, den linken vorzusetzen, tat es aber nicht, sondern verharrte in dieser Haltung und betrachtete den Stein. Der war etwa so groß wie mein kleiner Fingernagel und lag, wie gesagt, unmittelbar vor mir. Berge schießen mit Kanonenkugeln nach mir, Kirchen lassen Steinchen auf mich fallen. Ich wußte noch ganz gut, was geschehen war, weil ich die Warnung des Berges nicht beachtet hatte, und sagte mir deshalb: Obacht jetzt, du willst doch nicht über den Rand fallen. Diese Kathedrale hatte irgend etwas Besonderes, eine Atmosphäre. Es war hier, das merkte ich jetzt erst ohne Sonnenbrille, viel dunkler, als es hätte sein dürfen, schließlich 143
knallte die Sonne draußen messingfarben, und die meisten Fenster waren aus blankem Glas. Man hätte sagen können, hier war der sanfte, milde Jesus völlig abwesend. Mir gefiel das gar nicht, und ich war schon halb entschlossen umzudrehen, doch dann sagte ich mir, ich würde doch nur in einen endlosen Zeitstrom eintauchen, und nichts könnte mir helfen, zu vergessen. Also ging ich weiter. Wie lange das alles wohl gedauert hat? Ich setzte mich auf die Umrandung einer Säule und empfand stark die innere Hitze im Gegensatz zu der mich hier umgebenden Kühle. In der Brust entstand ein Ziehen, wie man es spürt, wenn man auf den Zehenspitzen stehen muß, und dieses Ziehen ließ es ganz sinnlos scheinen, sich zu setzen und auszuruhen. Daher ging ich weiter, obwohl das Stückchen Mosaik vor mich hingefallen war. Sie stand im nördlichen Querschiff, von mir getrennt durch dessen ganze Breite, eine massive Silberstatue des Christus, doch das Silber wirkte mehr wie Stahl, es wies diesen angsterregenden bläulichen Schimmer auf. Sie war größer als ich, breitschultrig und schritt weit aus wie eine archaische griechische Statue. Sie trug eine Krone, und die Augen bestanden aus Rubinen oder Granat oder Karbunkeln oder aus billigem roten Glas, das loderte wie die Hitze in meiner Brust. Vielleicht war es Christus. Vielleicht war es auch ein Erbstück, man hatte es bloß umbenannt, und in Wahrheit war es Pluto, Gott der Unterwelt, des Hades, der da heranschritt. Ich stand da mit offenem Mund und fühlte, wie es mich am ganzen Leibe kribbelte. In einem einzigen vernichtenden Augenblick wurde mir bewußt, daß ich als Erwachsener nie aufgehört hatte, an Gott zu glauben, und dieses Bewußtsein war wie eine Gottesvision. Furcht kroch mir bis ins Mark. Umringt, überwältigt, beschämt und fast vernichtet, dahintreibend im allumfassenden Strom der Unduldsamkeit, offenen Mundes, bepißt und beschissen, erkannte ich meinen Schöpfer, tat einen Schrei und 144
fiel um. Ich glaube, die dicke Person, die da draußen spann, hat mich gefunden. Mein Geschrei dürfte sie nicht bemerkt haben, nicht an diesem Ort, sie hätte nicht hingehört, weil sie nur auf das unterirdische Grollen von der anderen Insel achtete. Aber irgendwann wird sie einen Rundgang gemacht, nachgesehen haben, ob vielleicht jemand mit dem Altargerät durchgegangen war. Und dabei hat sie mich gewiß gefunden. Ich kam jedenfalls in einem Hospital zu mir und brauchte mein Gedächtnis nicht zu bemühen, denn die Erinnerung wurde zugleich mit mir munter. Eine Nonne bewachte mich und betete ihren Rosenkranz in der gleichen Art, wie jene alte Frau gesponnen hatte. Ich weiß nicht, ob es üblich ist, von einer Nonne bewacht zu werden. Mag sein, man fühlte eine besondere Verantwortung für mich, weil ich schließlich in einer Kathedrale zu Schaden gekommen war, aber ich weiß es nicht, und es ist ja auch einerlei. Das Krankenhaus war, glaube ich, nicht besonders gut. Ich lag da ziemlich lange. Viele Dinge sah ich nun sehr klar, so als habe mich das Licht des vergangenen Tages – wenn es denn der vergangene Tag gewesen war – mit seiner schrecklichen Grelle erleuchtet. Ich konnte nichts sehen und nichts denken, was nicht Wahrheit gewesen wäre. Ich erkannte, daß ich von Anfang an geplant gewesen war. Ich hatte den mir zukommenden Platz. Was ich tat oder unterließ, war ohne Bedeutung. Ich war von jener gräßlichen Unduldsamkeit nach ihrem eigenen Bilde geschaffen worden. Der Leser versteht vielleicht, wovon ich spreche, doch wäre es besser für ihn, er verstünde es nicht. Ich begriff, daß ich ein, vielleicht der einzige vorherbestimmte Verdammte war. Ich empfand dies heiß und grell. In der Hölle hat man keine Augenlider. Ein Priester erschien, murmelte etwas, und ich lachte laut, was ihn ärgerte und die Nonne bewog, wie von Dampf getrieben das Kreuz zu schlagen. Der Witz, der mich zum Lachen 145
brachte, war, daß der Priester überhaupt keiner war, denn alle echten Priester der Unduldsamkeit sind seit Tausenden von Jahren tot, und er gehörte höchstens auf eine Bühne. Er ging, vielleicht, um sich abzuschminken. Nach dem Priester kam der Arzt, und der war schon weniger schlimm. Er ergriff meine Hände, drückte sie und nickte dazu. Ich verstand, daß ich den Druck erwidern müsse, und tat es. Er untersuchte mich gründlich und sagte stirnrunzelnd ein einzelnes Wort. Als er merkte, daß ich ihn nicht verstand, benutzte er ein anderes. »Colpo. Colpo?« Mea maxima culpa. Ha, etcetera. Ich glaubte ihn zu verstehen und gab mir Mühe zu sprechen. »Si, massima colpa.« Nur brachte ich es nicht heraus, meine Zunge war zu schwer. Er lächelte breit, nickte und tätschelte mich, dann ging er. Als er abends wiederkam, brachte er andere Wörter mit. »Piccolo colpo.« Da mußte ich wieder lachen, weil mich das an den Großen Dreschflegel erinnerte, der Arzt fuhr jedoch fort zu nicken und zu lächeln, meine Reflexe zu prüfen und mir zu versichern, alles deute auf einen winzig kleinen Schlaganfall, obschon ich ihm hätte sagen können, daß Alkoholiker wie ich nicht vom Schlag getroffen, sondern von Schrecken der einen oder anderen Art heimgesucht werden, und hin und wieder an ein ganz erstklassiges Exemplar geraten, wie Prädestination und Verdammung oder die göttliche Gerechtigkeit ohne Erbarmen. In vino veritas, auch so eines von meinen Etiketten. Die Erinnerung an alles dies setzt mir immer noch zu. Morgens um halb vier grüble ich stocknüchtern darüber nach, es ist Kontemplation im technischen Sinne, also das Ins-AugeFassen einer gültigen Wirklichkeit. Angeblich – ach was, wie ich aus eigener Anschauung nur zu gut weiß, bewirkt so mancher piccolo colpo, daß man dieses Wort spricht, aber jenes meint. Es heißt auch, solche Wörter haben nichts miteinander zu tun, zwischen ihnen bestehe keinerlei Beziehung, 146
außer daß sie vom selben Hirn hervorgebracht werden, doch weiß ich das besser. Wilfred Barclay, der gesuchte Konsiliarius. Von der stahlharten Faktizität der Unduldsamkeit einmal abgesehen, überzeugt mich schon dieser Umstand davon, daß ich nicht von einem piccolo colpo getroffen worden war, und falls doch, dann nur dank eines Zufalls. Kommt es überhaupt darauf an? Auf jenem harten Bett liegend, unbenonnt, wohltuend unbeachtet, nicht daran gehindert, über das Wesen vorbestimmter Insekten zu grübeln oder auch – eine Stufe höher – über Hummer, Krabben und andere Krustentiere zu sinnieren; auf der Suche nach dem Uranfang des Willens, unseres Willens meine ich, ohne ihn zu finden, überzeugt, daß wir uns nicht, ich wiederhole, nicht selber erfunden haben und daß uns in unserer ewigen Zwangslage nicht hilft, was wir tun, sondern daß es nur darauf ankommt, was wir sind, und daß wir nicht beeinflussen können, was wir sind; so lag ich da, ein Verdammter, überheblich, weil er nichts mehr zu verlieren und deshalb nicht nötig hat, den sinnlosen Versuch zu machen, die göttliche Unduldsamkeit, den stählernen Hades, der dahergeschritten kommt, gnädig zu stimmen, indem er ihm in den Hintern kriecht. Während ich so dalag, komponierte ich entweder mit Hilfe der durch den piccolo colpo durcheinandergeratenen Wörter oder der mir angeborenen Sprache sehr spontan eine Anzahl Psalmen oder auch Anti-Psalmen, wenn man will, mit denen ich die condition humaine lästerte; ja, dies ist die Hölle, und ich bin mittendrin, Marlowe, siehe dort. Das glich der reflexartig unternommenen Anstrengung, mit der bestimmte Wespen ihre Eier in einer bestimmten Raupenart ablegen, das hat alles seinen guten Sinn, etwas anderes ist nicht zu erwarten. Welche Ironie, daß dies so vernünftig erscheint, so plausibel ist. Damals muß ich total irre gewirkt haben dank meiner verworrenen Reden, die ich in einer Sprache führte, die nicht einmal englisch war, sondern die mir angeborene Sprache. 147
Indessen, ich überlebte dieses Stadium und machte mich daran, eine Fremdsprache von neuem zu lernen, die nämlich, deren ich mich jetzt bediene. Eine Weile beschränkte ich mich auf einsilbige Wörter, und das war recht fesselnd oder wäre es doch gewesen, hätte ich in mir nicht immer noch dieses Ziehen verspürt, das mich, wie mir vorkam, stimmte wie eine Violinsaite. Ich wünschte mir sehr, wirklich aus Katzendarm zu bestehen, dann würde ich doch reißen, und alles wäre aus. So etwa dachte ich, denn schon in jungen Jahren hatte ich begriffen, daß neunundneunzig Prozent dieser Sprache aus Metaphern besteht, und jetzt begann ich auch noch an dem restlichen einen Prozent zu zweifeln. Wie dem auch sei, ich übte mich in dieser fremden Sprache, die ich anstelle meines Gemurmels benutzen wollte. Das war schwierig, es war, als bewege man jede Silbe einzeln von hier nach dort, nein, das reicht nicht, es war, als müsse man mühsam eine Statue restaurieren, ein kompliziertes Bild malen, man durfte nicht mit dem Mund »Alkohol« sagen, wenn man »Sonnenaufgang« meinte. Ich überflog die Hausordnung des Hospitals in einem Zustand, sinnverwandt – ja, das ist das passende Wort! – mit Wahnsinn oder delirierenden Hirngespinsten, die seither wird die gesamte Ladung von religiösem Material mit einem Knall oder mehreren, also jetzt habe ich den Faden verloren. Zu irgendeinem Zeitpunkt war ich wieder im Hotel, dann im Mietwagen, dann auf der Fähre, jede dieser Phasen ganz getrennt von den vorangehenden wie eingerahmte Bilder, und auch ganz unwichtig, verglichen mit der Violinsaite, die mehr und mehr gespannt wurde, so daß die Note schriller und schriller klang, und der alte Nobodaddy allüberall. Trotzdem übte ich weiter meine einsilbigen Wörter. Auf der Fähre (ich beobachtete einen italienischen Musikdampfer und glaube, die Italiener sagten, es sei die ›Christofero Colombo‹, damit kannst du für unsere Biographie, ich meine meine Biographie, Ort und Zeit exakt bestimmen), auf der Fähre also versuchte ich das 148
Wort »Schluß« zu denken. Ich sprach es aus, doch aus meinem Mund kam das Wort »Schuld«, da mußte ich etwas verkniffen lachen, weil ich die Relation zwischen diesem neuen Wort und der inneren Hitze, der Stahlsaite der Vision, und all dessen bedachte, was eine Biographie zutage fördern mußte und was ich mit unserem Ballett zu verbergen getrachtet hatte. Oh, ja, ich mußte darüber lachen. Immerhin besaß ich jetzt als Stein der Weisen ein einzelnes Wort und konnte weitere hinzufügen. Es war, als gehe man auf dünnem Eis. »Ich – Schuld.« Das brachte ich ganz gut heraus. Aber selbstverständlich war es das vorsätzliche Versehen der alten Unduldsamkeit, dem zu danken ist, daß so vieles in einer Katastrophe endet. Und weil ich ihr nicht aufsitzen wollte, machte ich einen neuen Versuch. »Nicht. Schuld. Ich. Bin. Schuld.«
149
KAPITEL XII Ich habe nicht den Mut, das alles noch mal zu lesen. Es war eine schlimme Zeit, und die bloße Erinnerung daran führt mich in Versuchung zu trinken, was ich möglichst vermeiden will. Man betrachte den zerlumpten Greis auf seinen ziellosen Wanderungen, immer in dem Bewußtsein, daß der, Sie wissen schon wer, ein Auge auf ihn hat. Das Wandern als solches war mir weiter nicht zuwider, denn ich hatte nichts anderes zu tun. Ich kann das nicht näher erklären, man muß es nehmen, wie es da steht. Es gab nichts zu tun. Bitte, verstehen Sie diesen Witz! Hier war Wilfred Barclay, und die Welt (ein kleiner Teil davon) war erpicht darauf, an seine Tür zu klopfen (niemand zu Hause). Hier war der alte Wilf, im Besitze dessen, wonach junge Männer sich verzehren – Geld, soviel er ausgeben wollte und mehr, selbstverständlich alternd, aber noch nicht so, daß es weh tat, unvermählt und wahrscheinlich ein heiratbarer Gegenstand, wäre er nur lange genug an einem Ort geblieben, imstande, Auto zu fahren, zu fliegen, zu schweben, zu sitzen, stehen, gehen, gesund an Geist und Körper, so unwahrscheinlich das klingt, die Welt zu seinen Füßen. Hier, sage ich, war Wilf im Zustand der vollkommenen Freiheit. Davor sollte man warnen, Freiheit sollte nur mit einer behördlichen Warnung versehen in Umlauf gebracht werden dürfen, so wie Zigaretten. Man lehre das in den Schulen, verkünde es von den Kanzeln, beantrage es im Parlament; auf keinen Fall darf man der Freiheit trauen, ihr sanften Mädchen. Will ich das eigentlich sagen? Hm. Also, es gibt Freiheit und Freiheit. Nachdem ich, wie beschrieben, wieder an die Oberfläche gekommen war, zerlegte ich mich in mehrere Portionen, die von der stählernen Violinsaite zugleich zusammengehalten, aber auch bedroht wurden. 150
Zunächst versuchte ich es mit Katatonie. Dabei erlitt der Barclaysche Stolz allerdings eine furchtbare Niederlage, denn ich konnte nicht durchhalten. Konnte nicht einmal so tun. Schon wegen des Klosetts. Adepten der Katatonie können sich darüber hinwegsetzen und lassen sich von gehorsamen Sklaven in Windeln wickeln. Das brachte ich einfach nicht fertig, weiter nichts. Obwohl ich mir das genaue Gegenteil wünschte (und man sieht schon, wie die fernen Gestade der Freiheit weiter und weiter gegen den Horizont hin verschwinden), mußte ich aufs Klosett gehen. Ich mußte sogar essen und trinken (keinen Alkohol, sondern Wasser, Kaffee, Tee, Limonade, Nasses eben). Nicht mal die Idee, daß Frauen interessant sind, konnte ich unterdrücken. Nun ja, interessant eigentlich nicht, aber anders. Ich entdeckte, daß mir Homosexualität zutiefst zuwider war. Als ich endlich einsehen mußte, daß Katatonie für mich nicht in Frage kam, versuchte ich es mit Kurzweil. Kurzweil. Jedenfalls glaubte ich das. Benimm dich deinem Alter entsprechend, redete ich mir zu, schließlich bist du erst Anfang Sechzig, noch kannst du deine Jugendlichkeit ertragen, brauchst nur hin und wieder hinter dich zu sehen. Binde dich. Geh aus, alter Mann, und binde dich. Binde dich von neuem. Da es nichts zu tun gibt, kannst du geradesogut was tun. Amüsier dich, Schatz! Das brachte mich auf die Idee, nach der festesten Bindung zu suchen, die ich finden konnte. Man könnte nun glauben, daß ich, der ich ja ein echt christliches Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts bin, meine Kurzweil bei Frauen oder Kindern gesucht hätte, aber nein. Diese Bindung. Damals lachte ich darüber, jetzt allerdings nicht mehr, nicht nach dem, was geschehen ist, und nicht, seit ich bin, wo ich bin. Über dem Wald jenseits des Flusses zeigt sich erste schwache Helligkeit. Bald werden die Vögel den nahenden Sonnenaufgang begrüßen, obschon ich davon wenig hören werde, weil diese elende Maschine soviel Krach macht. Ich sollte mir eine lautlose besorgen, habe hier und da mal 151
welche stehengelassen, weil es einfacher war, eine neue zu kaufen, als eine mit mir rumzuschleppen. Hm. Diese Bindung also. Ich gelangte zu dem Ergebnis, daß es mit meiner jüngst entdeckten Wesensart am meisten im Einklang stünde, wenn ich Johnnys Hund umbrächte. Hm. Oder wenn Sie wollen, meinen Hund. (Ja, ich weiß schon, Sie haben Johnnys Hund derweil vergessen. Sehen Sie gefälligst nach.) Ich fuhr fort zu überlegen. Ein glatter Mord wäre eine Kinderei, unser beider unwert, unwert des Originals und seines Abbildes. Gefordert wurde etwas philosophisch oder besser theologisch Witziges. Ich zerbrach mir darüber so lange und so angestrengt den Kopf, daß ich dabei fast in echte Katatonie gefallen wäre. Die Lösung konnte ja nicht eine langweilige, umständliche Deduktion sein wie jene, die zu sogenannten wissenschaftlichen Entdeckungen führen, die weiter nichts sind als angewandte Statistik. Nein. Es mußte eine Offenbarung sein. Und sie fand statt. Die Aussichten, die sie mir eröffnete, waren so überwältigend, daß mir vor Entzücken der Atem wegblieb wie einer Nonne. Wordsworth, siehe dort. Rick aufzuspüren war sehr schwierig. Ich war, glaube ich, in Portugal und erledigte alles telefonisch. Rick hatte sich bei meinem Agenten und meinen Verlegern nach mir erkundigt, aber keiner wußte, wo er zu finden war, nur, wo er sich kürzlich aufgehalten hatte. Wir haben mit unseren Telefonaten wahrscheinlich mehrere Satelliten verstopft. Das überraschte mich, denn ich hatte geglaubt, Rick sei mit mindestens einem Bein an seine Universität gekettet, aber das war nicht der Fall. Mein Agent meinte, Rick könne sich nach Belieben bewegen, jemand bezahle seine Forschungsarbeiten, und mir brauchte man nicht erst zu sagen, daß das Geld von Halliday stammte und ich das Forschungsobjekt war. Ich gab meinem Agenten eine postlagernde Adresse in Rom an, fuhr dorthin, nicht mehr in der Absicht, Rick auszuweichen, sondern ihn vielmehr zu 152
erwischen, weil ich endlich die Dinge zu Ende bringen wollte. Man hat wohl auch in England nach ihm gesucht, denn ich bekam unwahrscheinliche Mengen Post von meinen Verlegern, meinem Agenten, von Liz; und eine Ladung Kehricht, ich weiß nicht, von wem. Mit dem Taxi brachte ich alles in das schäbige Hotel bei der Rotonda. Näher ansehen konnte ich es nicht, dazu war es zuviel, also verstreute ich es im Zimmer und gab meinem Agenten doch wirklich Telefonnummer und Adresse meines Hotels! Es war mir jetzt einerlei, daß ich aus der Deckung kam. Innerhalb einer Stunde ließ er mich wissen, meine Verleger wüßten jetzt, wo Rick sei – er halte Vorträge an der Universität Hamburg, und worüber wohl? Meine Pläne waren gemacht, ich fuhr also gleich los Richtung Schweiz. Ein gutes Stück hinter Rom rief ich Rick aus einem Minimarkt bei einer Tankstelle an und hatte ihn schon nach 10 Sekunden am Apparat, was selbst in unseren Tagen des verbreiteten Instant-Unwesens bemerkenswert ist. Jahrelang war ich ihm immer wieder entwischt, wenn gelegentlich auch nur knapp. Als ich bedachte, wie oft ich ihn gesehen habe oder mich erinnerte, ihn gesehen zu haben, wie er mit gesenkter Nase meine Spur verfolgte, mußte ich laut lachen bei der Vorstellung, meine Stimme treffe ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. »Wo sind Sie, Wilf? Wo stecken Sie? Legen Sie nicht auf, bitte nicht!« »Das will ich auch nicht.« »Aber das tun Sie jetzt schon seit Jahren!« »Reden Sie kein Blech.« »Wo sind Sie?« »Sagen wir, auf einer Fernverkehrsstraße.« »In Europa oder in Amerika?« »Auf einer Fernstraße. Jetzt hören Sie mal zu, Rick, alter Freund, ich möchte Sie treffen.« »Aber ja doch, jederzeit. Gütiger Himmel, sind Sie es wirk153
lich?« »Ich schlage Ihnen einen Ort vor, der uns beiden bekannt ist.« »Jederzeit, an jedem Ort, Wilf!« »Im Hotel in Weisswald.« Darauf trat eine lange, lange Stille ein. Sogar das Mädchen an der Kasse glaubte, das Gespräch sei zu Ende, und sah mich fragend an. Hatte ich etwa was verkehrt gemacht? »Ich warte, Rick.« »Ja …« Ich fand es an der Zeit, einen Köder aufzustecken. »Ich habe über die Biographie nachgedacht, Rick.« »Oh, Gott, ich fühle mich wie ein Boxer, den der Gong rettet, Wilf. Sieben Jahre hat er mir zugestanden, und …« »Am Donnerstag werde ich dort sein. Lassen Sie sich gleich von Halliday die Flugkarte besorgen.« »Ach was, Weisswald ist nicht weit, das schaffe ich auch so.« »Und wie geht es Mary Lou, Rick?« Wieder eine Pause. Im Geiste sah ich ihn das Kinn an die Brust drücken. Seine Stimme klang leise und abwehrend. »Die beiden haben ein ganz wunderbares Verhältnis, Wilf.« »So wie wir beide?« Er blieb stumm, und ich sprach weiter. »Am Donnerstag werde ich dort sein, aber ich will Sie erst am Samstag sehen. Ich muß mich akklimatisieren.« Damit legte ich auf. Anders als Rick, kann ich am Telefon fest bleiben, jedenfalls leichter als im Gespräch von Mann zu Mann. Es ist, als wäre meine gesichtslose Stimme jemand anderer, und ich kann sie in der gleichen Weise benutzen, wie manche Leute ihre Schmutzarbeit von einem Advokaten besorgen lassen. So fuhr ich denn weiter, die straff gespannte Drahtsaite in der Brust, weiter und weiter. Eine Nacht verbrachte ich in einem gigantischen Motel, von dem ich nicht 154
weiß, wo es eigentlich liegt, dann ging es übers Gebirge und hin zum lieben, vertrauten Weisswald. Diesmal machte mir die Fahrt mit der Zahnradbahn weniger Angst, und das fand ich sonderbar. Im Hotel erwartete mich nicht Herr Adolf Kaufmann, den ich dem geehrten Publikum irgendwo in diesen Blättern ans Herz gelegt habe, sondern sein Neffe, ein ganz andersgearteter Adolf Kaufmann, der in den Unterlagen des Hotels nachgesehen hatte und mich wie einen alten Freund begrüßte, mir die vertraute Suite offerierte und auch schon eine offene Flasche Dole auf den Tisch hatte stellen lassen. Und da sagen die Leute noch, heute sei alles schlechter als früher! Mir kam es allerdings etwas komisch vor, mit einem so viel jüngeren Direktor zu tun zu haben. Die fette Person war verstorben, die Bar anders dekoriert, aber sonst hatte sich nichts geändert. Ich betrachtete mich daraufhin im Badezimmerspiegel, zum erstenmal seit Jahren. Lieber Himmel! Wer nicht auf seine Frisur achtet, weil die Haare ohnedies ausfallen, und sich auch nicht rasiert, sollte lieber nicht in den Spiegel schauen. Ja, die Zeit hatte sich in die sichtbaren Partien eingefressen, und ich nahm mir vor, mich wieder regelmäßig zu waschen. Ich fühlte mich sogar getrieben, auf der Stelle zu duschen. Da mein Gepäck keinerlei Unterwäsche enthielt, ließ ich welche kommen. Sie traf prompt ein. Ich habe ganz vergessen zu sagen, daß in der Bar ein Foto hing, das ich anfangs recht uninteressiert betrachtete. Es glich denen, die man in den Klatschspalten der Magazine sieht, versehen mit einer Bildunterschrift etwa folgender Art: Commander W. F. »Gutsy« Hunkelberry-Fawcett mit einer jungen Freundin auf dem Ball nach dem Jagdrennen in Fartmouth … Dann erkannte ich in dem abgebildeten Kellner den verstorbenen Onkel des Direktors, den alten Kaufmann. Dies veranlaßte mich, den bärtigen Affen näher zu betrachten, der am Tisch saß und die gegenübersitzende Weibsperson clownhaft angrinste. Selbstverständlich holen alle unsere Sünden uns ein, 155
der da oben hat Notizbuch und Kamera immer zur Hand, erlaubt uns nicht, eine Pose einzunehmen, sondern knipst nach Belieben drauflos, insbesondere wenn uns das zum Nachteil gereicht. Es war Wilfred Barclay, der berühmte Wilf, dessen Anwesenheit in der Bar als so große Ehre betrachtet wurde, daß man ihn da aufgehängt hatte – geknipst in dem Moment, als er nicht betrunken umfallen konnte, weil er schon auf einem Stuhl saß; geknipst von seinem alten Kumpan Rick L. Tucker, dem behaarten Ainu, dem starken Mann mit seiner Wärme, seinem Deodorant und dem prall gefüllten Hosenschlitz – warum hing da kein Foto von dem? Das würde doch jedem Etablissement zur Ehre gereichen, ein Foto seines Hosenschlitzes, meine ich. Und die junge Frau. Ja, die junge Frau. Es ist nun mal die Eigentümlichkeit von Blitzlichtaufnahmen, daß sie Leben und Farbe, einerlei, wie liebreizend, aus einem Gesicht verscheuchen, und das hier war also weniger die Mary Lou, die ihren großen, starken Mann anbetete und sich nach Kräften bemühte, den magischen Kreis zu schließen, weit gefehlt! Dies war die Puppe, das Mannequin, die Plastikimitation einer jungen Frau, weißen Gesichtes, das Haar schwarz, sein Gewölk steifgefroren, aller Sanftheit beraubt, zerstört. Und da heißt es noch, die Kamera sage nicht die Wahrheit! Da waren wir alle beide, Wilf der Clown, noch immer libidinös, obschon er es seit einer halben Generation nicht mehr sein sollte, und die junge Frau, Lippenstift schwarz wie das Haar, das törichte, platte Gesicht ein Spiegel jenes Geistes, so fesselnd wie ein Stück Bindfaden! Ich klappte die Lider zu, denn länger ansehen konnte ich das Ding nicht. Indessen, der Affe auf dem Foto war weniger abstoßend als das, was ich zuvor im Spiegel gesehen hatte. Das hätte vielleicht ein Foto gegeben! Und Mary Lou, was hatten die Jahre einer mißratenen Ehe, die Jahre mit Halliday ihr angetan? Rick müßte uns wieder einmal fotografieren, vorher und nachher, 156
aber das war natürlich die gleiche Geschichte wie mit Lucinda, es gibt Umstände, die nicht zulassen, daß man die beiden Gesichter, die man zusammen ablichten will, auf das gleiche Bild bringt, auf keine denkbare Weise. Ich ging also in meinen Salon, zog frische Unterwäsche an, ließ mir noch mal bestätigen, daß man in Weisswald keinen Anzug von der Stange kaufen konnte, riß die Balkontür »meines« Salons auf, warf einen Blick auf den Spurli, holte tief Luft, trat festen Schrittes ans Geländer, packte es mit beiden Händen, beugte mich darüber und schaute hinunter. Etwa fünf Sekunden lang war es das, was man so gern »die Hölle« nennt. Sodann wurde es weiter nichts als eine bestimmte Menge leerer Raum mit einem Aufprallplatz am Ende, und das war sogar eine Spur tröstlich. Jedenfalls sagte ich mir das vor. »Jetzt bist du erwachsen.« Und das wurde ja auch Zeit, wie man zugeben wird. Ich ging zurück in den Salon, machte die Tür zu. Der in der Mitte stehende Tisch war immer noch so blank, als wäre das Gespenst der fetten Frau am Werk gewesen, aber vermutlich war es die Arbeit einer anderen fetten Frau. Auf der Platte lag kein Stück Papier außer der Speisekarte neben der geöffneten Doleflasche. Ich betrachtete sie wachsam. Es wäre nicht gut, würde Rick mich betrunken und vom Delirium gebeutelt vorfinden. Wenn ich Sieger bleiben wollte, würde ich alle Festigkeit aufbieten müssen, über die ich verfügte. Ich starrte die Flasche an, bis sie wegsah – gar nicht so einfach, wie es sich anhört –, dann machte ich mich auf die Suche nach warmer Kleidung. Der Direktor rüstete mich mit Pullover und Anorak aus, die von Gästen zurückgelassen worden waren. Erstaunlich, was die betrunkenen Lümmel, die fürs Apres-Ski leben, nicht alles hinterlassen. Auf meinem Pullover stand zu lesen PROBIERS MAL MIT MIR, so wie OLE ASHCAN auf dem von Rick. Ich machte mich behutsam auf den Weg im 157
Gedanken daran, daß man sich akklimatisieren muß, weil ich irgendwie die Zeit hinbringen wollte, bis ich mir einen Drink genehmigen konnte. Alkohol beschwichtigt ein wenig das Ziehen in der Brust, erzeugt aber, wie schon gesagt, oder vom Leser erahnt, andere Probleme. Man kann sich da nicht auf die Erfahrung verlassen, die Probleme werden im Alter nicht leichter, sondern schwieriger. Hätte ich nur einen jungen Kopf auf meinen alten Schultern, ha, etcetera. Ich ging einen langsam steigenden kalten Pfad hinan, von dem der Schnee erst kürzlich getaut war, eben jenen, den Rick und ich vor Jahren begangen und den er mich zurückgeschleppt hatte. Daß ich ihn bei all dem Schnee ringsumher erkannte, lag an der Richtung. Das meiste, was ich zu sehen bekam, war mir damals des Nebels wegen verborgen gewesen, jetzt hingegen war es so klar wie im Weltraum. Immerhin stimmt es, daß meine alte Schwäche, die Notwendigkeit, mich zu akklimatisieren, mich einholte. Ich ging langsamer und langsamer und blieb am Ende stehen. Umgesehen habe ich mich weiter nicht, sondern setzte mich auf einen bequem zur Hand liegenden Felsbrocken und wartete darauf, daß mein Herz und meine Atemnot sich beruhigten. Dann hörte ich Wasser, es sprach mit nur einer Stimme, nämlich der hohen, geschwätzigen. Ich machte die Augen auf und erkannte den Felsbrocken, auf dem ich saß, ob man’s nun glaubt oder nicht. Und da, weiter vorn, war das Geländer. Und ich sah auch den Bach, verändert selbstverständlich, viel breiter und aus einer Eishöhle in der beschneiten Böschung hervortretend. Von dieser Höhle wurde das Wasser so eingeengt, daß es nur mit seiner hohen Stimme sprach. Ich schaute mich um, und das Kinn dürfte mir auf die Brust gefallen sein. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Ich sah die ausgehöhlten Stämme, die das Wasser über den Weg führten. Mein Felsbrocken war der unumstößliche Beweis. Zu schwer, um von der Stelle gedrückt zu werden, außer mit Dynamit oder technischem Gerät. Er ragte aus dem Hang, und das tat er seit 158
undenklicher Zeit, dessen war ich gewiß. Und richtig, als ich letztes Mal hier war, hatte ich ebenfalls Kuhglocken im Nebel gehört, war nur zu blöd zu erkennen, was die bedeuteten. Der alte Quixote auf dem hölzernen Pferd. Wer, so dachte ich, hat sich erst in jüngster Zeit vorgenommen, etwas theologisch Witziges auszudenken? Keine zehn Sekunden später war ich vor Demütigung und Wut fast blind. Nicht sofort vor Wut auf Rick, denn schließlich handelte es sich nur um wieder einen meiner vorbestimmten possenhaften Augenblicke, wie der Sturz vom Pferd in den Misthaufen oder die aus der Mülltonne gefischte Lucinda. Etwa alle zehn Jahre einmal ereignet sich im Leben des geborenen Clowns ein passender Zirkusakt. Nun also kam dieser hinzu, womöglich der beste von allen: Am Abhang klebend, eingenebelt, aus tödlicher Gefahr erlöst von meinem Biographen – gerettet, passenderweise, um später in schlaflosen Stunden mit glühenden Wangen zu vergessen, wie komisch die Natur sein kann, aber deren direkter Erfüllungsgehilfe, der umgängliche Rick, das Opfer Rick, der bescheuerte Rick … Da, gerade unterhalb der Stelle, wo ich im Nebel gehangen hatte, erstreckte sich eine Wiese mit Kühen drauf. Klingeling, klonk. Ich stand zitternd da, die Hände geballt. Dann ging ich bedachtsam zurück zum Hotel, bedachtsam, weil ich vermeiden wollte, daß dem alten Herzen in dieser Höhe was zustieß, und weil ich am Leben bleiben wollte, bis Rick eintraf. Ich mußte Atemübungen machen, um die Fassung zurückzugewinnen, so außer mir war ich vor Wut. In meinen Ohren summte es, und mein Herz pochte in der Kehle. Ich erinnere mich weder an den Rückweg noch daran, wie ich ins Hotel kam, weiß aber noch, daß ich die Doleflasche ansah und sie bewußt stehenließ. Der neuen, fetten jungen Frau, die während einer oder zwei Generationen hinter der Bar bedienen und dann sterben wird, sagte ich, ich müsse mich akklimatisieren, und das Treffen mit Rick werde Punkt Zehn stattfinden. Dies waren meine Worte, und 159
sie verstand kein einziges. Ich hängte »Bitte nicht stören« an die Türklinke, nahm eine Handvoll Tabletten, etliche zuviel, und schlief von Donnerstagnachmittag bis Freitagmittag durch. Nach einem leichten Lunch, bestehend aus so viel Dole, wie ich mir zutraute, erprobte ich mich noch einmal auf dem bekannten Weg, und wirklich hatte ich mich akklimatisiert, denn ich langte nach kurzem bei dem Felsbrocken an, setzte mich drauf und nährte meinen Zorn wie andere Leute ein Holzfeuer. Wie lange das dauerte, weiß ich nicht mehr. Schließlich schob ich die Glut zusammen und kehrte ins Hotel zurück. Im Salon ging ich auf und ab, in Erwartung Ricks. Daß Freitag nicht Samstag ist, war mir entfallen, ich mußte das in meinem Tagebuch nachschlagen, aber das machte einen recht konfusen Eindruck, folglich nahm ich wieder einige Pillen und fiel ins Bett. Der Samstagmorgen hätte besser sein können. Nein, fort mit der typisch britischen Untertreibung. Der Samstagmorgen war schlichtweg beschissen. Die Stahlsaite in meiner Brust war so straff gespannt, daß ich glaubte, die übrigen Gäste – drei waren es, aber ich konnte sie ignorieren – müßten mich kommen hören. Ich bat den Neffen des Direktors – vielmehr den Direktor –, mir seine Schreibmaschine zu überlassen, denn in Weisswald kann man keine kaufen, und schrieb ein sorgfältig formuliertes Dokument nieder. Dies legte ich mitten auf die polierte Tischplatte. Da nahm es sich sehr hübsch aus, und sein Anblick ließ die Zeit vergehen, also saß ich davor, mit dem Rücken zur Balkontür, die Augenpartie von der Sonnenbrille verdeckt, und nahm hin und wieder einen Schluck Dole, aber nicht viel, denn ich mußte nüchtern bleiben. Im Laufe des Nachmittags wurde angeklopft, kein sehr entschlossenes Klopfen. Die Tür war offen, ich wollte ihm nicht die geringste Höflichkeit erweisen. »Herein.« Ja, es war Rick, nicht, daß ich mich erinnerte, doch wußte 160
ich, daß er damals hier gewesen war. Er kam vorsichtig herein, stieß mit dem Kopf fast an den Türrahmen, immer noch so massiv, aber doch verändert aussehend. Sein Brustkasten wirkte vielleicht weniger mächtig. Er blieb unter der Tür stehen und blinzelte ins Licht. Dann sah er sich aufmerksam um, als erwarte er einen Hinterhalt, und blickte mich dann über den Tisch hinweg an. »Sind Sie es wirklich, Wilf?« »Ja.« Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln und ließen massenhaft amerikanische Zähne sehen. »Ich hoffe, Sie hatten Zeit, sich zu akklimatisieren, Wilfred – Sir?« »Ja.« Er erblickte das Papier, und seine Augen wurden fast so groß wie der Mund. Man hätte denken können, er habe keine Lider, wären nicht – ah, die Beobachtungsgabe des Erzählers! – die Wimpern gewesen. Ein hübsches Trumm, unser Rick. »Ich kann Ihre Unterschrift sehen, Wilf.« »Ja.« Seine Augen konnte er nicht weiter aufreißen, darum quollen sie jetzt vor. Ich nickte ihm zu. »Sehen Sie es sich gut an, Junge. Ich gehe Ihnen nicht mehr aus dem Wege wie auf der Piazza Navona.« Sein Blick verschleierte sich. Ich sah, daß er die Querfalten auf der Stirn, soweit sie zu sehen war, noch vertiefte. Habe ich schon von seinen Haaren gesprochen? Nein. Also Professor R. L. Tucker hatte Halblang mit Afro vertauscht. Wirklich. Sein Haar war kraus und viel heller als ehedem, und nun fiel mir auch anderes auf, was nur der geschulte Beobachter bemerkt, zum Beispiel seine Kleidung. Seine weißen langen Hosen waren unten ausgestellt, die Zwickel mit Ziermünzen benäht. Ich hatte mich an seinen Augen so erbaut, daß ich alles andere übersehen hatte, und nun fiel mir auf, daß sein Hemd bis zum 161
Nabel klaffte oder bis dahin, wo sein Nabel zu sehen gewesen wäre, hätte ihn nicht das Dickicht, das Gestrüpp der Tuckerschen Behaarung verborgen. Nun ja, wer Haare auf der Brust hat, soll sie ruhig zeigen. Seine hochmoderne Ausrüstung allerdings bewirkte, daß ich sogleich ganz zum Engländer wurde. »Möchten Sie nicht Platz nehmen, Professor?« Er versank mir gegenüber in einen Sessel, den ich ächzen hörte. »Wie hat Rom Ihnen gefallen, Professor?« »Sie haben mich früher Rick genannt, Wilf, Sir. Wie lange mag das her sein?« »Aber hören Sie mal! Gleich nachdem ich hier letztes Mal weggefahren bin, das war vor etwa hundert Jahren, sind Sie mir nach Rom gefolgt. Das war sehr schlau. Natürlich war auch Glück dabei.« Doch Rick hörte nicht zu. Er stierte wieder das Stück Papier auf dem Tisch an, so, als erwarte er jeden Moment, es wegfliegen zu sehen. Um die Lage noch deutlicher zu machen, nahm ich es in die Hand. »Sie haben überhaupt keinen Grund, das zu tun, Sir, ich versichere Sie.« »Sie sprechen schon wie ein richtiger Engländer, Rick. Sie müssen ja ganze Jahre dort verbracht haben.« »Und Sie? Wie sprechen Sie? Ihre Stimme klingt viel nasaler.« »Lassen wir die Geographie beiseite, Rick, verraten Sie mir nur, was Sie damals in Evora zu tun hatten.« Er blinzelte, die Augen quollen nicht mehr so stark vor. »Und wo ist Evora, Wilf?« »Seien Sie nicht kindisch. Ich will ja nur wissen, was Sie da verloren hatten. Nun, ich sehe, Sie wollen es nicht verraten. Warum auch? Es wird Sie vielleicht interessieren zu erfahren, daß ich mich akklimatisiert habe. Ich bin zweimal an der Stelle 162
gewesen. Sie haben es gewußt, nicht wahr? Als ich da im Nebel überm Abgrund hing und Todesangst ausstand, weil ich dachte, ich falle ins Bodenlose, wußten Sie genau, daß keinen Meter unter mir eine schöne große Wiese war, eine Alp, wie man hier sagt. Wäre ich abgerutscht, ich wäre einen Meter tief gefallen, und hätte ich abstürzen wollen, ich hätte über die Wiese traben und mich am andern Ende hinunterstürzen müssen. Schütteln Sie nicht so den Kopf. Sie haben es gewußt. Nur einen Tag vorher waren Sie dort, haben die Gegend ausgekundschaftet und mich dann dorthin geführt – zugegeben, den Steinschlag haben Sie wohl nicht arrangiert, aber Sie hatten eben Glück, der Nebel, der schwere Stein, der das Geländer durchschlug, und ich habe mich auch noch darübergelehnt! Sie sind ein schneller Denker, Professor, alles, was recht ist, Sie haben mich hinters Licht geführt, Sie Lump …« »Nein, Sir, bestimmt nicht, auf gar keine Weise.« »Zitat: Offenbar haben Sir mir das Leben gerettet, Zitatende.« »Aber das haben Sie gesagt, Sir, nicht ich und …« »Selbstverständlich hat das alte Insekt dabei geholfen, die Eier unter meinem Rückenschild abzulegen, aber bei Gott! Sie waren auf Seiten der Schöpfung, stimmt’s?« »Ich …« »Hätte ich nicht die gesunde, feige Vernunft besessen, auf der Stelle zu flüchten, wer weiß, was noch passiert wäre.« »Aber hören Sie mich doch an, Wilf. Ich bin den ganzen Weg bis zum Hochalpenblick gegangen, aber nur einmal, und bei Tageslicht. Mit Ihnen war ich im Nebel. Ich konnte den Weg einfach nicht Meter um Meter kennen und wissen, was sich da im Nebel verbarg. Ich müßte ja ein Computer sein.« »Sie haben’s gewußt.« »Okay. Also hab’ ich’s gewußt. Aber was ich wußte, war nicht mehr als eine Vermutung, sicher war ich nicht. Glauben Sie mir, Wilf, ich meinte, da draußen Ihretwegen den Hals zu 163
riskieren, ich schwöre es.« »Bei Ihrer Pfadfinderehre.« »Sie tun mir weh, Wilf.« »Dann weinen Sie sich aus. Wenn Sie damit fertig sind, nehmen wir uns den Hund vor.« Es ist merkwürdig, doch meine Erinnerung zeigt einen Rick, in dessen Augen wirklich Tränen standen, und wie um das zu unterstreichen, fuhr er mit einem Papiertüchlein darüber, das er von irgendwo zum Vorschein brachte. »Nach all diesen Jahren, Wilf …« »Mund halten, Mann. Wollen Sie nicht das Stück Papier da?« Das verschlug ihm vorübergehend die Sprache, er schniefte und wischte die Augen. Dann sprach er mit kleinerer Stimme. »Doch, Wilf, das möchte ich.« »Hussa und hei. Prachtvoll, Tucker.« »Sie nannten mich doch …« »Weiß ich, Tucker, weiß ich alles. Erzählen Sie jetzt von Halliday. Nichts auslassen. Sie können mich nicht ängstigen. Ich wünsche alle faszinierenden Details zu hören.« Diesmal brauchte Rick ziemlich viel Zeit, um sich zu fassen. »Er ist ein wunderbarer … also, wer ihn kennt …« »Mary Lou.« »Sie wissen, Sir, daß sie ihr Diplom im Blumenarrangieren und in Bibliografie gemacht hat, und deshalb ist sie in seiner Sammlung genau am rechten Platz.« »Er hat also Mary Lou gesammelt.« »Nein, Sir, Handschriften.« »Ha, etcetera.« »Ich weiß, an Literaturgeschichte sind Sie nicht interessiert, Wilf, schließlich sind Sie selber …« »Ich interessiere mich nicht für Geschichte. Punktum. Die sollte wie eine Schriftrolle aufgerollt werden. Halliday will ich! Mehr Halliday!« »Für das Papier da würde er eine Menge zahlen.« 164
Er langte nach dem Dokument, das ich aufgesetzt hatte. Ich gab ihm einen Klaps und zog es näher an mich. »Unartiger Junge!« »Aber Wilf …« »Und wenn wir schon mal beim Thema sind, warum ziehen Sie sich an wie eine Zirkusnummer?« Rick schaute an sich herab und betrachtete nachdenklich das wenige, was er jenseits des Haarwaldes von seinen Sachen sehen konnte. Mary Lou hatte dieses Dickicht mit ihren Tränen benetzt – oder doch nicht? War das ein Fakt oder meine Phantasie? Ich stellte überrascht fest, daß ich zwischen beiden nicht unterscheiden konnte. »Was gefällt Ihnen an meinen Sachen nicht? Als wir uns zuletzt gesehen haben, hab’ ich das doch auch getragen, und noch dazu meine Kette. Die habe ich abgenommen, weil ich dachte, Weisswald ist nicht der richtige Ort dafür.« »Reden Sie kein Blech.« »Das ist es wirklich nicht.« »Das meine ich nicht. Als ich Sie das letzte Mal sah, waren Sie so konventionell angezogen wie die Beatles. Also reden Sie vernünftig, Rick, ich weiß alles.« »Erinnern Sie sich doch, Sir. Sie haben mir mit dem Papier zugewinkt.« »Wann? Wo?« »In Marrakesch. Wissen Sie das nicht mehr?« »Rick …« »Das war nun wirklich nicht nett von Ihnen, Wilf. Aber ich bin immer der Meinung gewesen, Sie und die wenigen Menschen, die ebenso bedeutend sind wie Sie, haben gewisse Vorrechte.« Ich sah seine Augen prüfend an. Sie glichen denen eines Politikers, der sich mehr exponiert hat, als er verkraften kann, sie zeugten von Besorgtheit, Ehrgeiz, Kompromißbereitschaft, Ungewißheit. Das Weiß um die Iris war deutlich abgesetzt. Das 165
ist kein untrügliches Zeichen, doch deutet es auf Belastung, auf Erlebnisse, die ich als höllisch bezeichnet habe. Es kann auch von Schmerz zeugen oder von Angst. Und warum auch nicht? Mann beißt Hund. »Erzählen Sie mal von Marrakesch, Rick.« »Muß ich? Meinetwegen. Es passierte vor dem Hotel de France. Lieber Himmel, Wilf, es wird doch irgendwas in Ihrem Tagebuch darüber stehen, Sie brauchen bloß nachzusehen.« »Nur weiter, los, mehr Einzelheiten.« Rick warf die Arme in die Höhe, was ihm so wenig ähnlich sah, daß ich wußte, er war verzweifelt. »Sie standen auf dem Balkon links vom Haupteingang im ersten Stock. Sie erkannten mich. Sie schwenkten lachend das Papier. Dann verschwanden Sie im Hotel. Für Sie muß das ein echter Spaß gewesen sein. Ich kann durchaus Spaß verstehen, Wilf.« »Und woher wollen Sie wissen, daß dieses Stück Papier das war, womit ich Sie zu meinem literarischen Nachlaßverwalter einsetzte?« »Was soll es denn sonst gewesen sein? Gegen einen Scherz habe ich ja nichts, Wilf, nur – ich habe mich dann an der Rezeption erkundigt nach Ihnen, aber es hieß, Sie wohnten nicht im Hotel. Ich sagte mir dann, daß Sie hier irgendwen besuchten, ging im ersten Stock von Tür zu Tür, klopfte und horchte.« »Damit haben Sie sich gewiß sehr beliebt gemacht.« »Sie hätten mir wirklich helfen können. Ein Scherz ist ein Scherz, wie gesagt, aber daß man mich dann hinauswarf, mich, einen Amerikaner! Das hat mich sehr gekränkt, Wilf.« »Rick.« »Ja?« »Wann soll das gewesen sein?« Er dachte mit gerunzelter Stirn nach. »Vor sechs – nein, vor sieben Monaten.« 166
»Ich habe Sie zuletzt vor mehr als einem Jahr gesehen, Rick, Sie gingen in Evora den Kreuzgang entlang, trugen einen hellgrauen Anzug und kehrten mir den Rücken zu, deshalb haben Sie mich nicht gesehen. Ich mußte damals sofort abreisen.« »Ich bin nie …« »Schon gut. Wenn ich nun sage, ich spreche die reine Wahrheit, wenn ich bei allem, woran ich glaube, schwöre, bei Hitze, Licht, Geräuschen, Unduldsamkeit und Notwendigkeit, würden Sie mir dann glauben?« »Ja, Sir, ja, das würde ich.« »Ich sage also jetzt mit allem mir zur Verfügung stehenden Nachdruck und aller Gewissenhaftigkeit, daß ich nie im Leben in Marrakesch gewesen bin.« Pause. Seine Augen traten mit einem Ruck aus den Höhlen. Das meine ich wörtlich. Das Weiß um die Iris vergrößerte sich, wurde gleich darauf kleiner. Ich atmete hörbar aus und legte beide Hände auf die Tischplatte. Dann gab er seinen Augen die normale Ellipsenform, welche die Iris teilweise verdeckte. Er schien weniger zu schrumpfen als vielmehr seine wahren Proportionen anzunehmen, nachdem er sich zuvor aufgeblasen hatte, um imponierend zu wirken. Dann lächelte er und nickte unaufhörlich. »Selbstverständlich war es so, Wilf, ich begreife das jetzt. Es war eine Verwechslung. Ich hatte so oft an Sie gedacht, daran, daß ich unbedingt Ihre Biographie schreiben müsse, weil Mr. Halliday mir keine Ruhe ließ. Und als ich dann jemand sah, der Ihnen ähnelte …« »Der Jäger und seine Beute.« »Sie tragen einen Bart, Wilf, und diese Araber trugen auch alle Barte.« Ich nickte im Gleichtakt mit ihm. Zwei Mandarine aus Porzellan. Ich lächelte ihn aufmunternd an. 167
»Vermutlich haben Sie in die Sonne gesehen?« »Stimmt, das könnte sein. Ja, ja, nach Südwesten, gleich nach der Siesta, die Sonne stand direkt über dem Hotel, wo der Mann lachend das Papier schwenkte.« »Sehen Sie? Es ist ganz einfach.« »Aber im Moment weiß ich zum Glück, wo Sie sind.« »Sie wissen es nicht. Niemand weiß, wo ich bin.« »Aber Sir, es ist gewiß nicht nötig – wir können doch jetzt in Verbindung bleiben, und Sie sind schließlich …« »Sie wissen überhaupt nicht, wer ich bin! Niemand weiß, wer ich bin.« »Nein, nein, selbstverständlich nicht. Okay, Sir, sollten wir nicht lieber …« »Außer Halliday. Der weiß es. Niemand sonst.« »Sollten wir nicht …« »Sagen Sie jap, jap.« »Ich verstehe nicht. Ist das ein Spiel?« »Stimmt genau, Professor. Sagen Sie jap, jap.« »Jap, jap.« Ich atmete erleichtert auf und lehnte mich zurück, entfaltete das Dokument und las es durch. Ich fand es soweit gut, doch fiel mir plötzlich ein, daß ich es vorher noch einem Anwalt zeigen müßte. Es ärgerte mich, daß ich soviel Zeit und Mühe daran gewendet hatte, aber schließlich gab es in Zürich genügend Anwälte. Trotzdem grollte ich mir ein wenig und verfiel ins Grübeln. »Jetzt sind Sie dran, Wilf.« »Dran?« »Bei dem Spiel. Sie wissen schon. Jap, jap.« »Ach, das! Nein, ich sage nichts.« »Ich begreife nicht.« »Alles wird Ihnen zur rechten Zeit enthüllt werden.« »Das Papier, Wilf …« »Das bekommen Sie ebenfalls nicht. Nun regen Sie sich nicht 168
so auf, Mann, sonst schmeißen mein Freund, der Hoteldirektor, und die neue fette Frau Sie raus. Ich will bloß sagen, Sie bekommen dieses Exemplar nicht. Aber wenn Sie ein braver Junge sind, bekommen Sie ein schönes Papier, unterschrieben und gesiegelt.« »Wilf, Sir, ich weiß nicht, wie …« »… wann und wo. Indessen. Gewisse Anstalten müssen zunächst getroffen werden.« »Alles, was Sie wollen! Ich habe keine zwei Jahre mehr zur Verfügung, Wilf, Sie ahnen ja nicht …« »So schlimm steht es?« »Ja, Sir. Ich bin mit allem einverstanden.« »Nun denn, wir waren uns darüber einig, daß ich genau erfahre, was Sie mit Sie wissen schon wem ausgekocht haben.« »Mit Mr. Halliday?« Ich neigte feierlich bejahend den Kopf. Rick kratzte sich an der Nase und schaute begriffsstutzig drein. Allerdings war er jetzt gelockert, wirkte geradezu glücklich. »Das ist ganz einfach. Er hat es mir ermöglicht, mich sieben Jahre völlig …« »Und wie lange überlassen Sie ihm dafür Mary Lou?« »Mary Lou bedeutet mir nichts mehr, Sir.« »Dürfen Sie sie nicht mal mehr gelegentlich benutzen?« Lange Pause. Ich fuhr nach einer Weile aufmunternd fort. »Ein strenger Zuchtmeister, dieser Halliday. Falls es Ihnen nicht gelingt, mich in sieben Jahren zur Strecke zu bringen und meine autorisierte Biographie zu verfassen – selbstverständlich unvollständig, denn noch bin ich bis zu einem gewissen Grade aktionsfähig –, dann gibt es Heulen und das Klappern Ihrer wunderschönen Zähne.« »Dann gibt er keine Forschungsmittel mehr. Aber ich wäre immer noch nicht hilflos, Sir, ich kann auch anderswo …« »Reden Sie kein Blech. Es gibt nur einen Halliday. Vor Jahren glaubte ich, es könnte sich um Fulbreight oder Guggenheim 169
oder ein anderes Stipendium handeln, aber so ist es nicht. Mary Lou ist bestimmt nicht nur des Geldes wegen gegangen, Rick, und ich wäre nicht total verwirrt an der Nase herumgeführt worden und Sie dazu. Sie versuchen ihm und mir gleichzeitig zu dienen, wie Gott und Mammon. Raten Sie mal, wer wer ist.« »Sie haben mir das Papier versprochen oder ein anderes! Sie dürfen nicht wortbrüchig werden, Sir!« »Das werde ich auch nicht. Aber Sie ließen mir ja keine Zeit, die Bedingungen festzulegen.« »Ich weiß nicht mehr. Oh, das ist entsetzlich.« »Ich gebe Ihnen dies Papier noch nicht, und ich gebe es Ihnen nicht hier. Erst müssen Sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen.« »Alles, was Sie wollen …« »Ich gestatte Ihnen, die autorisierte Biographie von Wilfred Barclay zu schreiben, Sie glücklicher, glücklicher Mensch. Ich gebe Ihnen alle einschlägigen Informationen. Sie bekommen alles mich betreffende Material zu treuen Händen.« »Ich schwöre …« »Ich werde die Biographie Wort für Wort beaufsichtigen.« »Gewiß, gewiß!« »Wir werden uns an einem von mir bestimmten Tag und Ort treffen.« Da ging ihm wieder die Luft aus. »Aber Sir, Wilf, Ihre Gesundheit …« »Sie meinen, ich könnte echt sterben?« »Nein, Sir, aber Ihr Erinnerungsvermögen ist nicht, was es sein könnte. Schriftsteller sind notorisch zerstreut, das wissen Sie doch selber, Wilf.« »Nicht so zerstreut jedenfalls, daß ich alle Spielmarken auf eine Karte setze, wie Sie das offenbar gemacht haben. Sie sehen ein, daß ich Sie bei den Ohren habe. Ich gestatte. Weiter nichts. Sie bekommen Erlaubnis. Sie verpflichten sich. Das ist 170
alles.« »Sir.« »Morgen früh reise ich ab. Ich möchte hier nie wieder herkommen. Ich setze mich mit Ihnen in Verbindung. Wenn Sie mir heimlich folgen, platzt die ganze Sache. Irgendwann einmal dürfen Sie mich mit Halliday bekannt machen.« »Das ist sehr schwierig.« »Aber Sie, Sie wunderbarer Mensch, Sie schaffen das schon. Sie haben entrée.« »Nein, Sir, das hat bei Mr. Halliday niemand, es sei denn, sie wäre ungewöhnlich hübsch.« »Keine Jünglinge? Kein unerlaubter Verkehr? Nichts richtig Aufregendes wie Folter und Mord? Wofür hat er denn seine Milliarden, etwa nur für das ewig Weibliche oder wie sich das schon nennt? Tja. Sie wissen doch, Rick, daß wir wirklich weltbefahrenen Leute uns aus Gesundheitsgründen wieder den Primitiven nähern. Eines der … Mein lieber Rick, ich fühle, daß mich die Lust ankommt, einen Vortrag zu halten.« »Dann warten Sie doch bitte einen Moment, bis ich mein Bandgerät aufstelle.« Er holte die Kamera aus der Manschette. »Das da?« »Klar. Es macht auch Bilder. Ich bin nie mit Ihnen beisammen gewesen, ohne das Ding anzustellen, aber durch die Manschette geht manches verloren, und deshalb stelle ich es lieber auf den Tisch.« »Sie haben mich doch nicht wirklich aufgenommen!« »Immer, Sir. Auch bei unserem ersten gemeinsamen Abendessen bei Ihnen in England. Ich bedaure nur, daß ich es nicht bei mir hatte, als wir uns damals in der Nacht begegnet sind.« »Ich glaube kein Wort.« »Und vorher habe ich Sie auch schon aufgenommen, Sir. Selbstverständlich nicht mit diesem Gerät. Ich war damals noch Student. Ich schwöre, daß Ihre Aussprache sich seither 171
verändert hat.« »Reden Sie nicht mehr Blech als unbedingt nötig. Meine Aussprache ist akzentlos und war es immer.« »Nein, Sir.« »Und was heißt früher? Bevor Sie Liz und mich besucht haben?« »Als Sie in den USA waren. Ich spiele Ihnen das gern einmal vor.« »Nein, das lassen Sie gefälligst. Sie löschen alles, oder wir sind geschiedene Leute.« »Die Bänder gehören mir nicht, Sir.« Lange Pause, während ich das verdaute. Ah, ja. Halliday hatte sie wahrscheinlich für die Barclay-Stiftung gekauft. Die Bänder und Mary Lou gehörten zum Kaufpreis. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, verflucht sei sein Name, egal, welchen er sich zulegt. Wer kennt schon seinen Aufenthaltsort? Wer kann ihn beleidigen, ihm standhalten, ihn angreifen und überwinden? Uns bleibt nichts, als seine Gesalbten mit einem Stein auf den Kopf zu schlagen und zu hoffen, daß ihm das Eindruck macht. »Wilf, Sie wollten einen Vortrag halten.« »Ah, richtig. Er handelt von rites de passage. Sie wissen, was das ist, Rick. Zum Beispiel, wenn jemand in allen möglichen Gefäßen – Aschenbecher, Nippes auf dem Kaminsims, Mamas Untertasse, einem Hostienteller – nach Reißzwecken sucht und erkennt, daß er ja eine ganze Schachtel voll im Laden kaufen kann. Dann weiß er, wie es geht, und wird zum Haushaltsvorstand. Ein anderer Fall tritt ein, wenn man vorsätzlich tötet. Einen Hund womöglich. Dabei fällt mir ein: Was möchten Sie trinken?« »Es ist mir einerlei.« »Bourbon? Angeblich ist der ja wieder sehr beliebt. Wodka? Whisky? Ich bleibe bei Wein.« »Dann trinke ich auch welchen, Wilf.« 172
»Wenn man den allumfassenden Zorn spürt, Rick, die Unduldsamkeit, ah, bah, das ist keine Vision, wie man sie hier und dort gemalt sieht, in Italien zum Beispiel, das ist eher einem Fels vergleichbar, und man weiß, der ist für die Ewigkeit, wie Brillanten, die man seiner Frau schenkt. Das nenne ich rite de passage.« »Ja, Wilf.« »Läuft das Band?« »Ich nehme es doch an.« »Was für ein gescheites kleines Ding! Ich hätte Lust auf Kaffee. Könnten Sie mir welchen holen, Rick? Damit die Maschine bezeugt, wie Sie dem alten Mann zu Diensten sind?« Er eilte von dannen, eifrig wie ein Kind, dem man versichert, daß die Sonne wieder scheint, nachdem man es zuvor gescholten hat. Ich starrte das Gerät an, traktierte es mit ulkigen Geräuschen, weil es im Moment keine Bilder machte. Rick erschien mit einem kleinen Tablett und Kaffee für zwei. »Zuerst trinken wir Wein, alter Freund.« »Wie Sie wollen, Wilf.« »Gießen Sie etwas auf eine der Untertassen.« »Sir?« »Ja, was glauben Sie denn, weshalb ich Kaffee bestellt habe? Etwa um ihn zu trinken? Na ja, Tee hätte es auch getan.« Rick stellte das Tablett auf den Tisch. Seine Augen quollen wieder vor. Er ließ sich mir gegenüber auf dem Sessel nieder. »Dies ist also ein Ritus, junger Mann. Nach Vollzug eines Ritus ist nichts mehr, wie es vorher war. Sie können zu Bett gehen, aufstehen und das wiederholen, bis Sie blau sind im Gesicht, und doch ändert sich nichts. Dies hier ist anders. Moment, wo waren wir doch gleich? Sie werden von mir autorisiert, wie ich schon gesagt habe. Aber wer garantiert mir, daß Sie Ihren Teil der Abmachung einhalten? Sie sagen, Sie sind zu allem bereit? Nun, das sollen Sie mir in aller Freundschaft beweisen. Gießen Sie etwas Wein in die Untertasse.« 173
Ich wartete interessiert. Er tat nichts. »Nur zu, Junge. Sie haben mich verfolgt, haben mich auf Band genommen, haben sich aufgedrängt, haben mich, jawohl, in Versuchung geführt, mich gepiesackt, mich gekauft und verkauft, und das alles nur für diese jämmerliche Literatur. Wollen Sie jetzt versagen? Denken Sie doch mal an das Kapitel über Wilfs Akzent!« Er keuchte. »Ja.« »Was heißt hier ›ja‹?« »Ihr Tommy-Akzent.« »Das ist viel, viel zu krude, Rick. Ich sage doch, ich spreche akzentfrei.« »Ich meine ja auch nicht jetzt, Sir, sondern früher.« »Da wissen Sie schon was Rechtes.« »Ich habe das Ohr dafür. Hatte vielmehr. Deshalb habe ich ja auch Phonetik studiert. Ich war richtig gut. Bin es übrigens noch. Aber das Fach hat keine Zukunft. Hm. Mein Professor gab mir den Auftrag, Sie für sein Archiv auf Band zu nehmen. Ich war damals Werkstudent und konnte Ihren Vortrag nicht selber hören. Ein guter Bekannter hat dann für mich unter dem Besuchersessel im Fakultätszimmer ein Mikro angebracht. Als ich das Band später hörte, konnte ich es nicht fassen. Ihre Diphthonge! Und die Betonung – beinahe chinesisch.« »Man hörte mir schweigend und achtungsvoll zu.« »Nicht, was Sie sagten, meine ich, Sir, sondern wie Sie es sagten. Später allerdings auch, was Sie sagten.« Er stand jetzt, umklammerte die Tischkante und beugte sich vor. »Dieses Tonband wurde später als eine Art Juxnummer vorgespielt. Als ich meinen Dr. phil. feierte, wurde es auch bei dieser Gelegenheit abgespielt. Nein, Sir, daran war ich nicht schuld, ich habe das nicht veranlaßt. Ich berichte nur, Sir. Tatsächlich hörte ich bei dieser Gelegenheit zum erstenmal nicht darauf, wie Sie sprachen, sondern darauf, was Sie sagten, 174
statt auf Phoneme zu achten. Damals standen mir Phoneme schon bis zum Hals.« Ich merkte, daß ich ebenfalls stand, und ließ mich schwer in den Sessel fallen. »Das ist Bosheit, reine Bosheit.« »Nein, Sir. Abgesehen von der Aussprache wäre es weiter nicht lustig gewesen, hätte nicht der Zufall nachgeholfen. Sie hoben das britische Gesellschaftssystem in den Himmel, nannten die Briten Griechen und die Amerikaner Römer. Sie priesen die ›spartanische Unkorrumpierbarkeit‹ des Civil Service, gaben Beispiele für dessen perfekte Loyalität, so etwa, daß die traditionell konservativ eingestellten Beamten die Sozialisierung der Industrie im Auftrage der Labour-Regierung anstandslos organisiert hätten. Nur, als das Band auf meiner Feier abgespielt wurde, war gerade bekanntgeworden, daß Ihr herrlicher Civil Service von Typen wie Philby und Genossen nur so wimmelt. Die Anwesenden lachten wie verrückt, viele waren auch empört. Ihr hochgelobter Civil Service hatte nicht nur England in die Scheiße geritten, sondern auch uns. Uns! Sie und Ihr Tommy-Akzent!« Zu meiner Überraschung merkte ich, daß ich meine Tischkante ebenso krampfhaft umklammerte wie er die seine. »Das war sehr unklug von Ihnen, Rick, wenn Sie mir diese umständliche Tommy-Anmerkung gestatten wollen. Sie haben sich für einmal gehenlassen, und nun wissen wir, woran wir miteinander sind, wie?« Das Feuer in ihm erstarb. Er verlor Luft, er kehrte zu jenem Verhalten zurück, das, wie ich jetzt erkannte, nicht auf Leere, Ignoranz oder Servilität beruhte, sondern auf Unergründlichkeit. Wir lernten beide dazu. »Sie haben Ihren Pfeil verschossen, Junge. Wein in die Untertasse, wenn Sie so freundlich sein wollen.« Er tat immer noch nichts. Tucker. Tucker der Fucker. 175
»Kein Wein in die Untertasse, keine autorisierte Biographie. Keine Briefe von MacNeice, Charley Snow, Pamela, nichts aus dieser Schatzkiste. Abweichende Fassungen. Das Originalskript von Alle Meine Schäfchen, ganz anders als die gedruckte Fassung. Fotos, Tagebücher bis in Wilfs Schulzeit zurückreichend, die schönsten Tage Ihres Lebens, Tucker, werden das, wenn Sie nur Ihre Klauen hineinschlagen können. Und Halliday wäre zufriedengestellt. Endlich dürfen Sie sich von den Knien erheben. Die zwölf Himmelstüren werden Ihnen offenstehen. Bescheidener Ruhm.« »Mein Ruf als Wissenschaftler …« »Blödsinn.« Er streckte schwerfällig die Hand nach der Flasche aus, goß mühsam Dole in die Untertasse. »Setzen Sie sie auf den Boden.« Zum ersten Mal im Leben beobachtete ich, daß Augen wirklich mit Blut unterlaufen können. Die Äderchen in den Augenwinkeln füllten sich, und ich glaubte schon, sie würden platzen. Dann stieß er ein Lachen hervor wie einen Knall, und ich stimmte ein. Ich rief »jap, jap« und er jappte zurück, und wir lachten, und er stellte die Untertasse lachend auf den Boden, ließ sich auf die Knie nieder, denn jetzt wußte er, was gewünscht wurde, und ich hörte, wie er den Wein aufschlabberte. »Braver Hund, Rick, braver Hund.« Er sprang auf, warf die Untertasse nach mir, verfehlte aber meinen Kopf, weil ich wußte, wer ich war, das Ding traf den Vorhang und fiel zu Boden. Der Teppich war so dick, daß die Untertasse nicht mal zerbrach, sondern in immer engeren Kreisen trudelte und endlich auf die richtige Seite fiel. Rick brach auf dem Stuhl zusammen. Er verlor mehr Luft als je zuvor, es sah aus, als liefe er an den Rändern ein, so daß schließlich seine Klamotten an ihm hingen wie Segel in der Flaute. Das Gesicht bedeckte er mit beiden Händen, und erst jetzt sah ich, daß es ihn schüttelte wie nach einem schweren 176
Schock. Ein Hund. Da saß er, vorgelehnt, das Gesicht in den Händen, Ellbogen auf der polierten Platte. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die Unduldsamkeit und erfrechte mich, eine Frage zu stellen. Na, wie war das? Zwischen seinen Fingern trat Wasser aus. Manchmal tropfenweise auf die Tischplatte, manchmal aber auch von Schluchzen begleitet von dem zuckenden Kopf weggeschleudert, bis halb zu mir herüber. Sein Schluchzen wurde immer lauter. Nie habe ich etwas aus größerer Tiefe kommen hören, mit größter Mühe hervorgeholt, und es klang, als brächen Knochen. Es nahm seinem Körper den Willen, so daß er krumm über dem Tisch lag, die Ellbogen rutschten von der Platte, eine Wange preßte sich flach gegen den Tisch. »Können Sie mich da drinnen verstehen?« Nun rutschten auch seine Hände von der Platte, ich stellte mir vor, daß seine Arme herabhingen, die Knöchel streiften vielleicht den Boden wie die eines Affen. »Ich sagte ›Können Sie mich da drinnen verstehen?‹« »Ich verstehe Sie.« »Schön. Dann kommen wir jetzt zum geschäftlichen Teil.« Er richtete sich etwas auf, saß aber noch ziemlich zusammengesunken da und schaute mich nicht an. Aber ich hatte ihn gut im Blick. Sein Gesicht war tränenüberströmt, die Augen immer noch rot, aber nicht mehr blutunterlaufen, sie sahen eher verschmiert aus. »Muß das jetzt sein? Ich würde lieber schlafen.« »Trinken Sie noch was.« Ihn schauderte. »Nein, nein!« Ich betrachtete wieder das Papier. »Ich bestimme Sie also zu meinem literarischen Nachlaßverwalter, wahrscheinlich gemeinsam mit meinem Agenten oder auch mit Liz oder Emmy-Emmy. Ich autorisiere Sie, meine Biographie zu schreiben, solange ich noch am Leben 177
bin, allerdings mit gewissen Einschränkungen, die ich im einzelnen noch nicht festgelegt habe.« Rick gähnte. Wirklich! »Aufgemerkt, Jungchen.« »Entschuldigen Sie.« »Sobald ich mich über die Form, in welcher diese von Ihnen zu unterzeichnende Vereinbarung abzufassen ist, mit einem Anwalt beraten habe, lasse ich Sie wissen, wann und wo wir uns treffen. Ist das klar?« Er nickte. »Das wäre dann wohl alles. Grüßen Sie Helen von mir, wenn und falls Sie sie sehen. Eine Empfehlung auch an Halliday, gewissermaßen von einem Banker zum anderen. Ich nehme an, er besitzt eine Bank?« »Mehrere.« »Nun, richten Sie ihm aus, er möge mit den guten Werken fortfahren. Ihr Mr. Halliday ist ein richtiger Witzbold. Oder habe ich das schon gesagt?« »Ja, Sir.« »Das perfekte Gedächtnis. Das wäre dann also alles, es sei denn, Sie haben noch Fragen?« »Eine, Sir. Wie lange glauben Sie, daß dies in Anspruch nehmen wird? Die Zeit ist …« »… kostbar. Meine aber nicht. In Ihrem Fall allerdings – nun, es kann eine Woche dauern oder auch zwei, einen Monat oder zwei. Länger nicht. Was kann Ihnen das auch schon ausmachen? Sie haben ja keine feste Anstellung, Sie Ex-Professor.« »Und die Einschränkungen, die Sie erwähnten, Wilf ?« »Richtig. Die beziehen sich nur auf die Biographie. Machen Sie sich derenthalben keine Gedanken.« Er schaute mich an, elend und wachsam. »Trotzdem wüßte ich gern Näheres, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Nein, das ist verständlich, Rick, und ich dachte mir schon, 178
daß Sie Bescheid wissen wollen, bevor Sie sich verpflichten. Ich nenne Ihnen die wesentliche, damit Sie es sich überlegen können. Ich beabsichtige, Ihnen eine vollständige und zutreffende Darstellung meines bisherigen Lebens zu geben, und dieses Material können Sie nach Gutdünken verwenden. Sie hinwiederum werden wahrheitsgemäß schildern, wie Sie mir Mary Lou angeboten haben und nachher diesem Halliday, und wie er Ihr Angebot annahm. Die Biographie soll nämlich ein Duett werden, Rick. Wir wollen der Welt zeigen, wer wir sind – Papiermänner könnte man uns nennen. Wie wäre das als Titel? Denken Sie an all die Menschen, die Läuse im Haar haben wie Sie, die ausspioniert werden, denen man nachspürt, über die man Lügen verbreitet, all die Menschen, die man der Öffentlichkeit zum Fraß vorwirft – für die werden wir Rache nehmen, ich werde Rache nehmen, ha, etcetera. Hier, in diesem Salon, Rick, Mary Lou und ich, und Sie schon in Ihrem Bettchen, soll sie doch den alten Säufer verführen! ›Rick Tucker, mit dem Sie sich gewiß gern unterhalten werden‹, haben Sie das auch gefälscht, dieses Empfehlungsschreiben des alten Lyrikers, dem Sie doch wohl die Stiefel geleckt haben, bloß um sagen zu können, Sie seien mit ihm bekannt? Dies, mein Sohn, ist ein Handel, ich gegen Sie, mein Leben gegen das Ihre. Und sagen Sie nicht, darauf gehen Sie nicht ein. Sie müssen es, Sie müssen den Napf auslecken, so wie vorhin die Untertasse, die fliegende Untertasse, Mann, Sie können nicht mal werfen! Also, Sie wissen Bescheid. Trollen Sie sich jetzt und kommen Sie, wenn ich Sie rufe. Ich werde nach Ihnen pfeifen.« Danach schwiegen wir. Ich hatte Zeit zu bedenken, daß ein wirklich männlicher Mann von Ricks Körperbau mich am Schlafittchen nehmen und übers Geländer vom Balkon schmeißen würde. Aber Rick war ein Papiermann, ohne Kraft. Ich war nicht gefährdet, nur irregeführt worden. Er war weder stark noch heiß oder auch nur warm. Er war kein Mörder, bestenfalls ein Selbstmörder, aber nicht einmal das glaubte ich. 179
Selbstmord resultiert aus einem Kranksein bei gesundem Leibe, und Rick war nicht krank. Das war seine einzige – nein, er hatte wohl doch einen Knacks. Marrakesch. Aber nun stand er auf, ich sah, wie er sich aufblies. Würde er, wie Johnny sich ausdrückte, sadistisch sein und mir ein Leid zufügen? Überrascht merkte ich, daß mir das egal war. Ich sah ihm in die Augen und dachte dabei: vielleicht zum letztenmal. Ich bannte ihn mit der Kraft, mit der das Menschenauge ein Tier bändigt. Und er schlug denn auch die Augen nieder und ging zur Tür. Als er dort anlangte, ging er nicht hinaus, wie ich vermutet hatte, sondern machte plötzlich kehrt, schwoll auf, ballte die Hände und brüllte mich an. »Sie mutterfickender Lumpenhund!« Dann war er weg. Sieh an, sieh an, dachte ich. Manchmal überraschen uns sogar unsere Schoßtierchen. Manchmal werden sie geradezu menschlich. Man könnte schwören, sie verstünden jedes Wort. Herziger Fido! Beißen werden sie selbstverständlich nie, sie knurren nur im Spaß, schnappen nach der Hand des Herrn, ohne ihn aber zu verletzen. Und man ist doch nicht allein. Ich lehnte mich zurück und ließ die Blicke durch den Salon wandern, wo wir unser Turnier mit Papierlanzen, schlimmstenfalls mit altmodischen Kugelschreibern ausgetragen hatten. Die Untertasse lag noch auf dem Teppich. Ich ließ sie liegen, in dem Gefühl, sie sei unterdessen mehr als nur eine Untertasse geworden. Sie glich nun allen jenen Objekten, denen Mana, Macht, verliehen worden ist. Womöglich war sie wirklich eine fliegende Untertasse auf Besuch. Na, wenn schon. Und die Wassertropfen auf der Tischplatte? Einige waren verschmiert, wie ich sah, andere getrocknet und hatten einen feinen Rand aus Salz abgesetzt. Für Magier mochten solche Tropfen großen Wert besitzen. Jungfräuliche Tränen? Findest du die Tränen eines Mannes, mein Sohn, sammle sie bei Vollmond ein; sie schützen vor Langeweile, Blähungen, Weltekel, auch wischt 180
man damit der alten Unduldsamkeit eins aus, zahlt ihr mit gleicher Münze heim. Ich goß mir etwas Dole ein, betrachtete ihn und hatte plötzlich keine Lust darauf, was doch albern war. Seit er weg war, meldete sich der stählerne Ring um meine Brust wieder, jetzt nicht nur stramm, sondern einschneidend. Ich dachte nicht mehr an Rick, nur noch an die Stahlsaite, die jetzt auf magische Weise aufhörte, lang, aber sehr dünn zu sein, sondern sich erst zu einem Band verbreiterte, dann zu einem Riemen. Mir war, als schnüre er mich überall, selbst am Kopf, am Kopf. Dann schüttelte es mich, ich schrie und fummelte am Hosenschlitz, wie ein Kind im Kindergarten.
181
KAPITEL XIII Diese Partie bleibt außer allem Zusammenhang. Ich kann nicht, kann einfach nicht den Ablauf der Ereignisse rekapitulieren, die auf unsere zweite Begegnung in Weisswald folgten. Der Draht wurde zu eng, zu stramm. Ich muß mich wie an Filmstreifen erinnern, die große Lücken aufweisen. Eine Szene spielt in Zürich, wo ich einen Anwalt auftrieb, wie, weiß ich nicht mehr. Es war eine Anwältin, und als sie meinen Entwurf gelesen hatte, sah sie mich an, als wolle sie mich lieber kaufen als mir zu Diensten sein. Sie war zierlich und runzlig, eine jener Frauen, die äußerste Häßlichkeit mit einem ungewöhnlich hohen Grad von Weiblichkeit verbinden. Ich meine nicht eine jolie laide. Dieser Ausdruck versetzt die so Bezeichnete sogleich in einen sexuellen Zusammenhang, den es nicht gibt und nicht gab. Sie strahlte eine Selbstsicherheit aus, die wohl darauf zurückzuführen war, daß, wer sie besitzt, recht gut ohne einige unserer weniger erfreulichen Eigenschaften auskommt, dem Drang sich zu rächen etwa, erfolgreicher sein zu wollen als andere Menschen, Schutzbedürfnis, Gleichgültigkeit gegenüber anderen. Ich weiß noch, daß ich dachte: wie gut, daß du nicht gerade ein weiteres wunderhübsches Buch von Wilfred Barclay schreibst, denn sie war ebenfalls ein wirklicher Mensch und deshalb unbrauchbar für den Schriftsteller, weil der unfähig ist, solche zu beschreiben, und weil solche sich nicht damit aufhalten, sich selber zu beschreiben, denn sie leben mehr in ihrem Schweigen als in ihren Worten. Ich weiß immer noch nicht, wie sie es fertigbrachte, mir klarzumachen, daß ich ein Dokument überhaupt nicht brauchte, vielmehr die ganze Angelegenheit vorerst ruhen lassen solle, weil ich nicht die Absicht hatte, Rick zu treffen, solange die Stahlsaite so spannte. Ich weiß noch, daß ich sie anschließend erbittert 182
beneidete. Was diese Frau alles nicht nötig hatte! Ein weiterer Film, den ich von Zürich habe, spielt auf einem Friedhof. Es gab dort einen Grabstein mit nichts als dem Geburtsdatum drauf. Später fiel mir ein, daß es mein eigenes war. Es kann kein Zweifel daran sein. Ich saß in einem jener Plastikhotels, die in Großstädten vorkommen, sah im Geiste den Grabstein vor mir und las das Datum Zahl für Zahl ab. Es war noch Platz für das übrige. Also machte ich mich wieder in einem Mietwagen auf den Weg. Ich dürfte ziemlich weit raufgefahren sein ins Gebirge, weil ich mich von einem Leichenwagen verfolgt fühlte. Vor dem flüchtete ich mich auf einen Nebenweg, wie sie für den Forstverkehr angelegt werden. Jetzt kommen Lücken, dann sehe ich mich auf der italienischen Seite hinunterfahren, von oberhalb der Baumgrenze. Wo ich unterdessen war, weiß der Himmel. Dann hielt ich an, weil ich zu sehen vermeinte, daß der Boden sich bewegte. Erde konnte man das nicht nennen, es war schlichter Matsch. Der Weg war mit Steinen und Kies beworfen, rechts und links führte er gelegentlich an bösen Abgründen entlang und über gewachsenen Stein, was dem Wagen nicht gut bekam. Ich saß also hinterm Steuer, sah altes Wurzelwerk, Teile von Stämmen und Äste seitlich und oberhalb von mir, und das Besondere daran war, daß alles in Bewegung war. Ich begriff dann, daß überhaupt alles in Bewegung war, der Schlamm riß auf, die Risse wurden aber gleich wieder verkleistert, Äste wanden sich wie vor Schmerz oder als winkten sie jemand um Hilfe, nur war selbstverständlich niemand da. Auf den Gedanken, es könne auch Schlammlawinen geben, war ich noch nicht verfallen, aber dies war eine, und sie verfehlte zwar meinen Wagen, nicht aber den Weg, auf dem hinterher nicht mal ein Panzer hätte fahren können. Ich mußte rutschen und gleiten und Wettern und kriechen. Unten angekommen, traf ich auf italienische Straßenarbeiter, und als ich denen sagte, ich hätte meinen Wagen da oben stehenlassen müssen, wurde ich ausge183
lacht. Ich wurde überhaupt ziemlich viel ausgelacht und hatte manchen Ärger. Dann habe ich die Filmrolle von mir in dem schon erwähnten gigantischen Motel, und dort träumte ich immer und immer wieder den gleichen Traum. Ich muß Wochen da verbracht haben, es war völlig unpersönlich. Das Motel, meine ich. Aufragender Beton in einer Betonwüste. Ich träumte, ich sei in Marrakesch, wo ich nie gewesen bin, und auf der Flucht vor Rick, der mich in einem Leichenwagen verfolgte. Mir blieb nichts übrig, als von der Straße weg in die Sahara zu laufen, damit er mich nicht einhole. Den Rest des Traumes verbrachte ich dort. Von Traum zu Traum wurde der Anfang kürzer, reduziert auf bloße Andeutungen, bis ich endlich nur noch träumte, ich sei in der Wüste. Wüste überall, und der Aufenthalt darin das Unbehagen an sich. Ich war wohl immer nackt, denn ich erinnere mich nicht, Kleidung an meinem Körper gesehen zu haben. Ich stand unter Zwang, nicht unter dem in Träumen und Alpträumen üblichen unbeschreibbaren, wurzellosen, sinnlosen Zwang, sondern einem logischen, der eine Ursache hatte. Man kennt die Bohlenwege, die im heißen Klima zum Strand führen, weil der Sand beinahe glühend ist. Nun, solche Wege gab es hier nicht, nur Sand, der heiß war, oh, sehr heiß, glühend heiß. Einen Himmel sah ich über dieser Wüste nicht, falls es einen gab, merkte ich nichts davon, weil ich mich ganz auf den Sand konzentrierte. Man sieht das Logische des Zwanges? Ich mußte mich fortgesetzt bewegen, mußte tanzen, springen, auf und nieder hüpfen. In der Luft – falls es welche über dem Sand gab – war es besser, einen Fuß aus dem Sand zu ziehen, bedeutete die einzig mögliche Erleichterung, denn nicht einmal im Traum bin ich imstande, die Gesetze der Schwerkraft aufzuheben. Unter Anwendung meiner mächtigen Traumintelligenz gelang es mir immerhin, einen Kompromiß zu erarbeiten, der, ausreichend Zeit vorausgesetzt, die Lösung hätte sein können. Ich bückte mich, ertrug 184
den glühenden Sand lange genug, um mit den Händen ein Loch zu wühlen. Es kam mir damals nur logisch vor, daß dieses Loch übelkeiterregend tief und schwarz werden müsse wie ein Loch im Weltall, immerhin bestünde es aber nicht aus glühendem Sand. Wühlte ich genügend Löcher, hatte ich Platz, erst einen, dann den anderen Fuß zu setzen und dem Brennen zu entkommen, doch wachte ich auf, bevor dies gelang. Wenn ich im Sande grub, merkte ich manchmal, daß ich dabei in einer mir unbekannten Sprache schrieb oder Bilder zeichnete, und dann hatte ich Platz für zwei Füße und wachte auf. Wirklich schlimm aber wurde es erst, als ich mich mit Pillen einschläferte, was bedeutete, daß ich nicht träumte, was aber der Zweck der Übung war, und die Träume warteten einfach, bis ich aufwachte, und plagten mich in der Bar oder bei meinen Irrgängen in der Betonwüste, in die ich mit den Händen kein Loch machen konnte, beim besten Willen nicht, ich brachte weiter nichts zuwege, als ungute Aufmerksamkeit zu erregen. Ich muß wohl weitergefahren sein, die Träume kamen aber mit. Gewiß gibt es Telepathie, anders ist nicht zu erklären, daß der nächste Film spielte, wo er spielte, nämlich dort, wo Liz und ich ein Jahr vor unserer Heirat Flitterwochen verbrachten. Seit der Scheidung hatte ich einen Bogen darum gemacht. Ich bin nicht sentimental, und wäre ich es, würde ich auf keinen Fall hingehen, wo das alles angefangen hat. Aber irgendwie fand ich mich doch da. Dank der Gästeregister wußte man bald, wer ich war, und irgendwer hatte wunderbarerweise eine Kreditkarte in meinen Paß gesteckt, der abgesehen von einem anderen Mietwagen das einzige war, was ich bei mir führte. Da war ich denn also in diesem Hotel und ließ mir aus dem schäbigen Hotel meine hinterlassenen Postsäcke kommen. Beide Wege machte ich zu Fuß. Ich habe noch nicht gesagt, daß dieser Streifen in Rom läuft, nicht im Rom der Kirchen, sondern im Rom der Hotels. Von der Piazza mit dem Springbrunnen in dem kleinen Kahn geht 185
man zur Treppe, die Treppe rauf, und oben steht das Hotel. Es steht auch eine Kirche da, aber deren Fenster sind scheußlich, und das Hotel ist weit, weit vorzuziehen. Es ist ein verständnisvolles Hotel. Man brachte meinen Wagen für mich zurück, gab mir das Zimmer, das ich gern haben wollte, eins mit Balkon, denn wer über gewisse Dinge nicht nachdenken mag, kann den Ausblick genießen und das Standbild von Viktor Emmanuel verachten, wie es Mode ist, obschon es besser ist als die übliche zerbröselte römische Architektur, wie man sieht, habe ich keinen Geschmack. Und meine Wüste verstellte mir ohnehin den Ausblick. Ich komme jetzt auf ein bemerkenswertes Phänomen zu sprechen, vergleichbar dem des Padre Pio und des Bankangestellten Wilfred Barclay. Es ist alles im Kopf. Tatsache ist, daß meine Füße zu schmerzen begannen und auch meine Hand, selbst wenn ich wach und nüchtern war. In meinen Träumen benutzte ich also zum Schreiben oder Zeichnen die andere Hand, was aber nur bewirkte, daß jetzt beide schmerzten. Ich verbrachte darum viel Zeit im Bad, saß auf dem Rand der Wanne, ließ das kalte Wasser laufen, badete die Füße drin und hielt die Hände abwechselnd unter den Wasserhahn. Bis zu einem gewissen Grade half das. Ich muß die Aufmerksamkeit des Lesers noch auf einen anderen ulkigen Vorfall lenken, wie er Wilfred zuzustoßen pflegt: Er wurde mit Stigmata ausgezeichnet wie der hl. Franz, nur in umgekehrter Reihenfolge, weil er, wie mein bester Freund sagen würde, ein mutterfickender Lumpenhund ist, und nicht als Belohnung für gutes Betragen. Ich mache jetzt einen Witz daraus, was überflüssig ist, denn es war schon einer, aber man darf mir glauben, ein Spaß war es nicht. Die Lage war völlig unbeherrschbar geworden. Eines Abends – nein, das ist schon wieder ein anderer Streifen. Als eines Abends meine Hände und Füße erträglich schmerzten und die Skyline von Rom sichtbar war, saß ich auf dem Balkon, bemüht, Ordnung zu schaffen. Am Vormittag war ich 186
in der Stadt umhergewandert in der Absicht, Halliday im Who’s Who in America nachzuschlagen, und hatte dabei endlich die Treppe wiedergefunden. Es wimmelte da von Dropouts, Hippies, Junkies, Drabs, Punks, Lesben und kessen Vätern und Studenten, ganz wie üblich, und alle hatten Gitarren, manche spielten auch darauf, oder wollten das Blechzeug, das sie um sich ausgelegt hatten, als Halskette, Ring, Ohrring oder Nasenring verkaufen. Künstliche Blumen waren zu Teppichen angeordnet und so fort. Es war schwer, sich da durchzudrängen, aber niemand nahm an mir Anstoß oder suchte mir was zu verkaufen, was gewiß der Fall gewesen wäre, hätte ich ausgesehen, als könnte ich bezahlen. Aber als ich sie ansah, wurde mir klar, wie fürchterlich ich selber aussehen mußte, und ich setzte mich auf meinen Balkon und versuchte nachzudenken. Ich wollte versuchen, die Lage anhand meines Tagebuches zu klären, doch fiel mir ein, daß ich ja keines hatte. Ich sah mich (Filmstreifen) hier und dort in der Schweiz und in Italien meine täglichen Eintragungen pflichtbewußt auf Telefonbücher, Hauswände, Windschutzscheiben oder Klosettpapier kritzeln und nach getaner Arbeit weiterwandern. Ich sah mich auch am Vormittag dieses Tages im Who’s Who in America blättern – warum nur hatte ich das bedrohliche Vorzeichen nicht erkannt? Die Seite, auf der Hallidays Name hätte stehen müssen, war leer, leer, leer, nichts als unbedrucktes weißes Papier. Oh, nun schrak ich zusammen, erhob mich, Füße hin oder her, blickte hinüber zu der Kirche mit den scheußlichen Fenstern, und da stand er, lieber Himmel, er stand auf dem Dach. Ich schaffte es mit Mühe vom Balkon ins Schlafzimmer, saß auf dem Bett, glühend und zitternd. Dann schüttelte es mich förmlich. Ich sagte mir: du mußt wach bleiben, denn wenn du einschläfst, kommt er einfach von seinem Dach herunter und holt dich. Auch an Alkohol und Tabletten zusammen oder getrennt war nicht zu denken, denn beide würden mich wehrlos machen, ich könnte ihm nicht 187
widerstehen, falls er herüberkäme. Diese Überlegung vervollständigte die Klemme, in der ich saß. Wie lange ich mich da wachhielt und zitterte, weiß ich nicht. Eine Frau kam herein, das Bett zu machen, doch weil ich draufsaß und es ohnehin noch gemacht war, ging sie wieder. Dann kam ein Mann, aber nicht vom Dach da drüben, sondern vom Hotelpersonal, also hatte ich keine Angst und beachtete ihn weiter nicht. Im Krieg hatte ich mal ein Furunkel, ein fürchterliches Furunkel, weil ich verwundet war, das wurde größer und größer, und eine Zeitlang – vielleicht eine halbe Stunde lang – trieb mein Herz den Eiter so schmerzhaft gegen die Haut, daß man davon ohnmächtig werden konnte. Ich weiß noch, daß ich glaubte, der Schmerz könne nicht mehr schlimmer werden, aber er wurde immer schlimmer. Nun, jetzt wurde die Einschnürung immer schlimmer, und ich nehme an, ich schlief oder geriet in einen Zustand, in dem ich nicht ganz wach und auch nicht völlig verrückt war. Man könnte sagen, ich träumte. Im Traum also stand ich nebenan auf dem Kirchendach, wo Halliday gestanden hatte, und blickte hinab auf die Treppe. Alles war in Sonnenlicht getaucht, nicht in das schwere römische Licht, sondern in ein Strahlen, als wäre die Sonne überall. Früher war mir das nie aufgefallen, doch als ich jetzt auf die Treppe hinuntersah, erkannte ich, daß sie zwei symmetrische Bögen beschrieb, die sie einem Musikinstrument ähnlich machten, einer Gitarre, einem Cello, einer Geige. Diese harmonische Form war nun überall unterbrochen und verziert von Menschen und Blumen und glitzerndem Schmuck, der auf den Stufen verstreut lag. Alle diese Menschen waren jung und glichen Blumen. Ich merkte, daß er neben mir stand, nun doch auf dem Dach seines Hauses, und wir stiegen miteinander hinab, standen zwischen den Menschen und dem Schmuck und den Bergen von Blumen, die von den Strahlen innen und außen wie Flammen loderten. Dann machten die Menschen Musik auf 188
der Treppe, sie hielten sich bei den Händen und bewegten sich, und diese Bewegung war Musik. Ich sah, daß sie weder männlich noch weiblich waren, vielleicht waren sie beides zugleich, und wichtig war es ohnedies nicht. Wichtig war nur die Musik, die sie machten. Männlich oder weiblich, sagte er, sei für mich unwichtig, nahm mich bei der Hand und zog mich auf die Seite. Hier führten Stufen abwärts, schmale Stufen bis zu einer Pforte mit einem Gangspillkopf. Wir gingen hindurch, und mir ist so, als wäre dahinter ein ruhiges dunkles Meer gewesen, denn ich habe nichts als Bilder, um mich auszudrücken. Auch waren in diesem Meer Geschöpfe, die sangen. Dafür, wie sie sangen, und für den Gesang selber habe ich überhaupt keine Worte. Ich erwachte nicht singend, sondern weinend. Ich weinte und konnte nicht aufhören. Auch wenn man es nicht glaubt, ich erwachte trunkener, als ich eingeschlafen war, und die Tränen flossen so sehr, daß ich nachsah, ob ich mich vielleicht bepißt hätte, als ich endlich wußte, wo ich war. Das hatte ich aber nicht. Überdecke und Kissen waren tränenfeucht wie im Roman. Das Furunkel war aufgebrochen, Schmerz und Druck waren gewichen, denn ich wußte jetzt, wohin ich unterwegs war, kannte, besser gesagt, die Richtung, in die ich blickte, und wußte, es ist nicht mehr notwendig davonzulaufen. Ich konnte ruhigen Schrittes gehen, der Rest der Reise würde sich von selber ergeben. Es klopfte, eine Frau brachte Kaffee, Croissants und eine Flasche Wein. Als sie eintrat, lachte ich gerade, was sie erschreckte, ich konnte ihr aber nicht erklären, weshalb ich lachte. Sie hätte es nicht geglaubt. Es ist jedoch Tatsache, daß meine Hände und Füße nicht mehr unerträglich schmerzten. Sie taten zwar noch weh, aber so, als wären sie von einem Arzt mit lindernder Salbe bestrichen worden und heilten nun. Ich glaube nicht, daß es dafür eine wissenschaftliche Erklärung gibt, obschon ein Wissenschaftler bestimmt eine zurechtbasteln 189
könnte, und wer noch religiös ist, könnte wohl ebenfalls eine finden, aber ich befasse mich hier nicht mit einfältigen Abstraktionen wie Religion und Wissenschaft, sondern mit dem Leben und dem Sosein, damit, wie es ist, ein Mensch zu sein, wenn schon nichts als ein Fisch, so doch ein ulkiger Fisch, um Johnny zu zitieren. Dies auch, weil der Schmerz in Händen und Füßen vergleichbar war dem, den man empfindet, wenn man den Ellbogen hart aufstößt. Es war also, als hätte ich vier Ellbogen. Ich verbrachte diesen Tag in Schlafanzug und Morgenrock, was ich mir beides kommen ließ, nachdem ich festgestellt hatte, daß ich überhaupt kein Gepäck besaß. In den folgenden Tagen ließ ich mich im Hotel von Schneidern, Hutmachern und ähnlichen Handwerkern neu einkleiden. Auch nahm ich mir die Postsäcke vor, und der erste Brief, den ich öffnete, kam von Liz. Ich gebe hier den Inhalt verkürzt wieder. Im wesentlichen lautete er: Capstone Bowers hat sich verdrückt, warum also kommst Du nicht zurück? Ich habe diese Sachen endgültig hinter mir & vermute, Du ebenfalls. Kaum hatte ich das gelesen, telegrafierte ich ja, aber ich brauche noch ein paar Tage, um meine Garderobe zu vervollständigen. Da saß ich denn auf dem Rand der Badewanne, die Füße im Wasser, die Hände unterm Hahn und unterhielt mich über das Leben und verwandte Gegenstände mit einem Schneider, der derweil auf dem Klosett Platz genommen hatte. Tatsache ist, daß ich Tage und Tage brauchte, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß ich glücklich war. Gewöhnen muß man sich nämlich, andernfalls schmeißt einen das glatt um. Ich unterhielt mich also mit Schneidern und Hemdenmachern, Juwelieren und Hutmachern, lauter reizenden Leuten. Auch ließ ich ein neues Tagebuch kommen, doch als ich versuchte, meine Eintragungen in jener luziden Prosa zu machen, die der Leser in den meisten meiner Bücher findet, begann meine Hand zu schmerzen wie der Teufel, und ich mußte aufhören. Da erst sah ich, wie alles 190
ineinandergriff. Ich verstand, daß die Unduldsamkeit noch keineswegs fertig war mit mir, und daß entweder ich oder jemand anderer noch ein Buch würde schreiben müssen, nicht ein Tagebuch, sondern etwas eher Episodisches, Sprunghaftes. Wie schon jener Hypnotiseur vor Jahren gesagt hat, bin ich Suggestionen leicht zugänglich. Ich begriff, daß meine Bücher, besonders Raubvögel und Pferde an der Quelle, von Suggestionen beeinflußt worden waren. Ich weinte viel, und weil das ungewöhnlich war für mich, schämte ich mich dessen. Selbstverständlich trank ich auch Wein, weil ich meinte, ein plötzlicher Entzug sei gefährlich, beschränkte mich aber mehr oder weniger auf eine Flasche täglich. Sodann überlegte ich, was ich mit meinem Hund anfangen sollte. Es schien nicht ratsam, ihn ins Haus zu bringen, bevor ich wußte, wie er zu Liz und Emmy stand. Am besten wäre es wohl, mich mit ihm in dem schäbigsten meiner Klubs zu treffen, im Random. Und daß ich vorher mit Liz über Rick spräche. Ich stellte mir vor, daß wir einander am Küchentisch gegenübersäßen, wo wir uns nicht nur gezankt, sondern auch miteinander gelacht hatten. Es war eine sonderbare Zeit in jenem Hotel! Auf dem Balkon sitzend, die schmutzfarbene Stadt vor Augen, halb so alt wie die Zeit, suchte ich zu verstehen, weshalb mein Traum mehr gewesen war als ein Traum und mehr auch als Wachsein. Ich machte Pläne für das zu schreibende Buch, schälte eine Story aus einem höllischen Durcheinander. Als ich bedachte, wem es gewidmet sein würde, kam mir die Überzeugung, meine Hände und Füße würden zu schmerzen aufhören, sobald ich das Buch niedergeschrieben hätte. Dann wieder hockte ich auf der Badewanne, neben mir eine Weinflasche. Da saß dann wohl ein Schuhmacher mir gegenüber auf der Klosettbrille, das Glas in der Hand, und erzählte fesselnd von seinen Kunden. Ich merkte mir alles für den späteren Gebrauch, nicht bedenkend, daß ich ja keine Verwendung mehr dafür hatte. Immer wieder 191
grübelte ich über den Traum nach. Ich ging ein wenig aus und ließ mir den Traum in naturwissenschaftlichen, psychiatrischen, religiösen und Sosein-Wendungen auslegen (letzteres vom Hemdenmacher), die sich allesamt gegenseitig ausschlössen, jedenfalls kam es mir so vor. Am häufigsten sann ich über das Sosein nach. Weshalb gerade darüber, wird man fragen, sind Sie vielleicht übergeschnappt? Reicht Ihnen denn die »Realität« nicht aus? Nun, die Antwort darauf gibt der Genius der Sprache. Es ging nicht um Realität, die ein philosophisches Konzept ist, sondern um das »Sosein«, ein Wort aus den trüberen Bereichen der Sprache, das den unfreiwilligen Akt des Bewußtmachens bezeichnet. Ich habe es selber erfunden, denn der Traum widerfuhr nicht einem Philosophen, sondern mir. Religion, Naturwissenschaften, Psychiatrie und Philosophie mochten sehen, wo sie blieben. Eh voilà! Non, void.
192
KAPITEL XIV Endlich war ich im Besitz einer kompletten Garderobe, bestieg aber immer noch kein Flugzeug. Nicht, daß ich mich nicht hätte bewegen können, das konnte ich, wenn auch wie ein alter Mann. Damit meine ich wirklich alt, nicht Ende Sechzig. Was mich hinderte, war Angst. Ich wollte »heimkehren«, oh, ja, und wie! Doch fürchtete ich England und den Frühling. Ich fürchtete, loszuplärren wie ein junges Mädchen, und das wäre doch recht unpassend gewesen. Es war ein Schwächezustand, und ich meinte, es wäre gut, noch die Post durchzusehen, was einige Tage in Anspruch nehmen würde. Als ich aber einen oder zwei Briefe gelesen hatte, fand ich, das werde denn doch zuviel für mich. Ich ließ also den Rest unter meiner Aufsicht im Hotel verbrennen und fühlte mich gleich erleichtert. Fragte ich jemand vom Personal, ob es mir guttun würde, das Trinken gänzlich zu lassen, war die Antwort unweigerlich, ja, es täte mir bestimmt gut. Was sie damit wirklich meinten, wußten sie wohl selber nicht, sie hielten das einfach für eine gute Sache. Aber wenn man jemand fragt, ob er es für gut halte, daß man den Alkohol aufgibt, wird das ohnehin jeder bejahen, ausgenommen Leute, die das nicht können und dafür Vorwände erfinden. Ich selber bin durchaus imstande, das Trinken aufzugeben, wenn das Verlangen danach auch in unregelmäßigen Abständen zurückkehrt und das große Vorhaben, endlich ganz aufzuhören, zunichte macht. Aber die Absicht ist lobenswert, und ich habe sie länger als ein Vierteljahrhundert gehegt. Aber diesmal! Jawohl, ich gab es endgültig auf, und gleich wurde das Dasein langweilig. Ich war nüchtern und glücklich, und Glücklichsein erwies sich nach kurzer Zeit als langweilig, aber man soll sich nicht über ein schlichtes Butterbrot beklagen, sondern es aufessen, in der Erwartung, daß es später auch 193
mal Kuchen gibt. Die Zeit wurde mir endlos, es wollte nicht Nacht werden, und jeder Tag dehnte sich länger, denn ich lag stundenlang schlaflos und erwachte früh. Ich träumte nicht. Über die Rückreise ist nichts zu sagen, außer daß ich, in Heathrow gelandet, mich nicht traute, gleich nach Hause zu fahren, sondern zunächst einmal meine Clubs aufsuchte. Ich betrat den Athenaeum und machte gleich wieder kehrt. Der Club erinnerte mich an jene Insel, obschon das Gebäude reichlich mit Fenstern versehen ist. Von dort ging ich schnurstracks zum Random und fand es da mehr oder weniger erträglich. Wie das Leben so spielt, war der erste, dem ich begegnete, Johnny. Er sah sehr elegant aus und trug sein Toupet. »Wilf! Irgendwer muß doch eine Kerze für dich ins Fenster gestellt haben!« »Ha, etcetera. Gütiger Gott, du siehst ja richtig wohlhabend aus.« »Du etwa nicht? Darf ich mal?« Er befingerte den Aufschlag meiner Jacke. »Ah, Lieber, da kann einem ja ganz schwindlig werden. Wie teuer?« »Weiß ich nicht. Laß das, Johnny, die Kellnerin schaut schon her.« »Gut, trinken wir etwas, Wilf. Ich weiß schon, die Klubregeln verbieten den Mitgliedern, einander freizuhalten. Zwei Campari, bitte.« »Für mich Limonade.« »Wilf! Fühlst du dich nicht wohl?« »Ich habe das Trinken vorderhand aufgegeben. Aber sag doch, was ist dir zugestoßen? Ist der reiche Onkel endlich gestorben?« »Du wirst es nicht glauben, Wilf, aber ich bin ein berühmter Mann.« »Red kein Blech.« »Ich bin es wirklich.« 194
»Und was ist es diesmal?« »Du erinnerst dich an meinen Freund bei der BBC?« »An welchen?« »An den, der da das meiste zu sagen hat. Rudesby.« »Ha.« »Tja … ich glaubte, wir seien für immer auseinander, aber er hat mich wohl doch empfohlen …« »Ehemaliger Mitschüler, wie?« »Das könnte geholfen haben, jedenfalls haben sie mich hier und dort ausprobiert, woraus sich aber nichts ergab, bis ich durch puren Zufall in so eine Frage-und-Antwort-Sendung kam. Und da war ich umwerfend! Kaum nämlich hat die Öffentlichkeit sich zu einer etwas milderen Haltung gegenüber uns gertenschlanken jungen Dingern durchgerungen, da trete ich auf, bereit und willens – also ich schwöre dir, ich kriege mehr Post als du, und wenn ich dir sage, was mir eine Sherryfirma geboten hat, wenn ich für sie Fernsehreklame mache, wirst du es nicht glauben. Aber damit muß man sehr, sehr vorsichtig sein.« »Und wie heißt dein Programm?« Johnny blickte zum erstenmal, seit ich ihn kannte, ausgesprochen verschämt drein, errötete sogar eine Spur, wandte aber die Augen nicht weg und kicherte. »Der Lauscher an der Wand.« Nun kicherte auch ich, und eine Weile taten wir nichts anderes. Die Kellnerin beobachtete uns so abschätzend, als frage sie sich, wie schmutzig wohl der Witz sei, über den wir da lachten. Endlich schob ich Johnny weg und wischte mir die Lachtränen ab. »Kein Wunder, daß du so elend aussiehst. Ausgerechnet du, Johnny, der du früher jeden Verstoß gegen die Grammatik für eine Sünde wider den Heiligen Geist hieltest!« »Wie Wilfred Barclay zu sagen pflegte, solange nur das Geld reinkommt.« 195
»Wie ist denn Brennende Sappho gegangen?« »Desaströs.« »Wirklich?« Johnny flüsterte mir ins Ohr. »Du wirst das doch nicht weitererzählen?« »Selbstverständlich nicht.« »Das Luder wurde praktisch verramscht, bevor es überhaupt erschien. Oh, unanständ’ge Hast, mit solcher Schnelligkeit …« »Wirklich Pech.« »Und du? Hast du dir damals einen Hund zugelegt?« »Ich weiß nicht recht, wovon du sprichst?« »Nun, erinnere dich – wovon war die Rede bei unserem letzten Treffen in diesem ganz und gar paläolithischen Hotel?« »Sag’s mir.« »Ich riet dir, dich jemandem zuzuwenden und mit einem Hund anzufangen.« »Ah …« »Hast du dir einen gesucht? Du bist nämlich so verändert. Ich brenne vor Wißbegier, also raus mit der Sprache, Wilf.« »Ah.« »Tu nicht so geheimnisvoll und versteck dich nicht hinter deinem Bart.« »Jap, jap.« »Wilfred Barclay führt also einen Pudel aus?« »Ja, ich habe einen gefunden.« Johnnys Gesicht näherte sich dem meinen, eifrig, neugierig. Neuigkeiten, Neuigkeiten! »Und …?« »Ich hab’ ihn totgemacht.« Johnny nahm einen Schluck und dachte über mich nach. Er schaute hinaus in den kleinen Garten, wo sich Narzissen und blau blühende Blumen sonnten, Veilchen waren das, glaube ich. Dann schaute er mich ernst an. »Das ist schlimm, sehr, sehr schlimm.« 196
Irgendwo wurde zum Abendessen gegongt. »Ich gehe jetzt an meinen Napf, jap, jap.« Johnny erwiderte nichts. Oben ging ich ganz mechanisch auf den Stuhl zu, den ich immer noch als meinen betrachtete. Er war unbesetzt, stand vor dem Tisch unter Psyche, wo ich mit meinem Agenten, mit meinem Verleger und einmal mit Captain Bowers gesessen hatte. Psyche war selbstverständlich noch da. Sie ist unser einziger wertvoller Kunstgegenstand, frühviktorianisch, aus weißem Marmor auf einem Malachitsockel und recht gut. Eigentlich sollte sie auf Cupido herabsehen und ihre Lampe hochhalten, um sein Gesicht zu erkennen, ich habe aber immer das Gefühl, sie schaue auf die Speisekarte oder die Weinkarte und überlege, welcher Wein zu welchen Speisen paßt. Das würde ein geeigneter Platz für meine Besprechung mit Rick sein. Psyche flüsterte mir ins Ohr, eine Karaffe unseres Burgunders könne mir nicht schaden, und es hielt schwer, ihr zu widerstehen. Indessen, Tugend triumphierte. Es war mir so selbstverständlich geworden, einen Wagen zu mieten, daß ich es ohne nachzudenken tat. Ich rief zu Hause an. Emmy antwortete und tönte, wie sie es zu tun pflegte, wenn ich ihren Geburtstag vergessen hatte. Nein, Liz sei nicht zu sprechen, Liz habe sich hingelegt und dürfe nicht gestört werden. Na ja, dachte ich, ganz so leicht fällt es ihr offenbar nicht, auf die Rückkehr des geschiedenen Gatten zu warten. Schließlich hast auch du auf alle Weise diese Begegnung hinausgezögert. Also ermanne dich, mein Sohn! Die neue Schnellstraße, die ich benutzte, machte die Landschaft oder das, was davon übrig war, unkenntlich. Wo außer Beton noch was zu sehen war, blühten Narzissen, offenbar das derzeit einzige englische Produkt. Welch ein glücklicher, erwartungsvoller Hund war ich doch, jap, jap, der ich da durch England fuhr, die Hände kaum das Steuerrad berührend. Meine Füße taten nicht mehr weh, und ich dachte: Das war zu erwar197
ten, schließlich kehrst du heim. Emmy erwartete mich. Sie sah noch untersetzter und trübseliger aus, als mir im Gedächtnis war. Ich küßte sie auf eine teilnahmslose Wange und sah, daß sie geweint hatte. »Wo ist sie?« »Im großen Zimmer.« Sie ließ mich meinen Weg allein gehen mit der Miene eines Menschen, der mit einer Angelegenheit nichts zu tun haben will, die er für aussichtslos hält. Das große Zimmer ist in Wahrheit zwei Zimmer; die trennende Wand ist entfernt worden. Liz stand am anderen Ende, da, wo es am dunkelsten ist. Dort muß sie hingelaufen sein, als sie den Wagen hörte. Sie hielt die Hände vors Gesicht. Ich näherte mich ihr, und sie sagte schroff: »Nein!« Ich protestierte. »Ich will dir doch nur meinen Anzug vorführen. St. John John wäre beinahe in Ohnmacht gefallen vor Neid.« »Du bist, wie du immer warst. Unzerstörbar. Das ist ungerecht.« »Ja, was hast denn du dir gewünscht? Einen Rollstuhlfahrer?« »Sieh mich an.« Sie ließ die Hände sinken und kam näher. Sie war es nicht. Das heißt, ich hätte sie nicht erkannt, wären nicht ihre Stimme und die bekannte Schroffheit gewesen. Vor mir stand eine abgemagerte alte Hexe. Ihr berühmtes Haar wirkte leblos, es hing ihr in dünnen Strähnen vom Kopf. Sie hatte sich angewöhnt, die Stirn zu runzeln, und tat es auch jetzt, obwohl es keinen Anlaß dazu gab. Die Wangen waren so hohl, daß es schien, sie habe Schatten aus der dunklen Ecke darin mitgebracht. Am schlimmsten waren die Augenhöhlen, dunkelbraun und tief, so daß der Kopf wie ein Totenschädel wirkte, mit einem makabren schreienden Lippenstiftstrich quer durch. Sie hob eine Hand an die rechte Wange, als wolle sie sich vom 198
Schlimmsten überzeugen, und ich sah, daß sie auch jetzt noch die Nägel lackierte, ein grelles Rot, das dem des Lippenstiftes entsprach. »Ja, was hast denn du erwartet, Wilf, Mary Lou vielleicht?« »Er ist also noch in Verbindung mit dir?« »Der ist, glaube ich, von allen der Schlimmste. Weil er dich so ernst nimmt. Es ist zum Lachen.« »Ja, ja, das stimmt wohl.« »Wußtest du – nein, das weißt du nicht. Er und Humph haben sich alle beide an Emmy rangemacht. Humph, weil er Humph ist, und Rick deinethalben. Ich hätte nie geglaubt, daß das Leben so sein kann. Als ich versuchte, Humph rauszuwerfen, trollte er sich bloß ins Gastzimmer. Der wußte, wo er es gut hatte. Wenn du willst, kannst du da wohnen.« »Ist er wirklich weg?« »Verdrückt hat er sich. Das ist kaum zu glauben.« Sie deutete auf ihren Körper. »Als das hier anfing zu galoppieren, ist er abgehauen. Hat alles stehen- und liegengelassen und ist weggelaufen. Nicht einmal sein Jagdgewehr und seine Bücher über Großwild hat er mitgenommen. Wenn du mal drankommst, Wilf, bitte die Ärzte nicht, dir die Wahrheit zu sagen – die tun das nämlich.« »Davon wußte ich nichts.« »Du bist keinen Tag älter. Du säufst, du hurst, du amüsierst dich …« »Saufen ja, aber auch das …« »Ah, sei doch still. Das andere kommt auch wieder. Aber jetzt geht es darum, daß ich wen brauche. So steht es nun mal, und ich will Emmy nicht damit bestrafen, nicht länger jedenfalls. Du verstehst mich? Nein, das tust du nicht.« »Nein, nicht ganz.« »Dann kam mir dieser tolle Einfall. Ich zog Thomas deine postlagernde Adresse aus der Nase, weil ich dachte: Ich will Wilf herholen, wenn das nur irgend möglich ist. Er 199
kümmert sich zwar nicht um seine Mitmenschen, aber er hat nicht die Charakterstärke, einfach wegzulaufen. Reine Erpressung, wie du siehst.« »Das hatten wir doch schon mal, nur umgekehrt, wie? Mehr oder weniger. Schlimmer vielleicht.« »So ist es.« Wir verstummten beide. Man konnte die Vögel im Obstgarten hören, und am Ende der Koppel wieherte ein Pferd. Elizabeth verfiel jetzt in einen abwegig konventionellen Ton. »Möchtest du dich nicht setzen?« »Gern, wenn ich darf.« Da saßen wir also, die Füße auf dem warmen Boden, einander gegenüber am leeren Kamin. »Es tut mir leid, Wilf, es sollte nicht … ich weiß auch nicht, was es nicht sollte …« »Sobald es dir bessergeht …« »… Ha, etcetera, wie du immer sagst. Wilfred Barclay, der berühmte Konsiliarius.« »Es muß doch was geben …« »… alles, was du brauchst, findest du im Gästezimmer. Benutz das Badezimmer dort, ich nehme das andere, habe alle meine Sachen da. Mrs. Wilson kocht. Oder du gehst ins Restaurant. Man bekommt jetzt in allen Lokalen einigermaßen genießbares Essen. Ich selber habe einen Widerwillen gegen’s Kochen.« »Wir füttern dich raus.« »Ich esse nichts.« »Solltest du aber.« »Weißt du denn gar nichts? Hast du nichts gesehen?« »Im Krieg …« »Ah, welche Ungerechtigkeit! Du säufst und hurst, lügst und betrügst, beutest aus und gerierst dich wie – zu Bett hab’ ich dich gebracht, für dich gelogen, dich gedeckt –, und da kriege ausgerechnet ich den Krebs, als hätte ich alle Jahre meines 200
Lebens durchgesoffen!« Darauf gab es nichts zu sagen. Die Schatten des Abends hatten sich im Zimmer gelagert, und ich sah mich einem undeutlichen braunen Fleck und schwarzen Augenhöhlen gegenüber. »Aufs Schweigen hast du dich schon immer verstanden, nicht wahr, Wilf?« »Man könnte eher sagen, du hast mir wenig Gelegenheit gegeben zu sprechen.« »Das ist ja die Höhe! Das bestätigt mich in meinem Glauben an deine Verderbtheit. Na ja. Bald genug kannst du reden, ohne unterbrochen zu werden. Glücklich?« Ich sagte nichts, tat nichts. Wie so oft war es auch diesmal untunlich, die Wahrheit zu sagen, denn ich war wirklich glücklich, war seit meinem Traum glücklich gewesen, daran konnte niemand etwas ändern, auch die arme Liz nicht. Die Wahrheit war beschämend, und es war zu spät, Mitleid zu lernen oder noch einen Hund anzuschaffen. Endlich brach ich das lange Schweigen. »Ich bleibe. Weiter ist dazu nichts zu sagen.« »Du bist wohl von der Religion gebissen worden? Leistest einer Kranken Gesellschaft! Du bringst es nur nicht fertig, dich zu verdrücken, nicht wahr? Was würden deine Biographen dazu sagen? Eine todkranke Frau, die dir ein Kind geboren hat. Du mußt also aushalten, Wilf, bis zum Ende. Ein Stück wirkliches Leben. Kein Schriftsteller sollte darauf verzichten.« »Schon gut.« »Robert Farquharson vom Schlüsselloch weiß Bescheid, und Rick Tucker ebenfalls.« »Jap, jap.« »Das hat Tucker neulich auch immerzu gesagt. Ich dachte schon, das ist so eine neue Redensart aus einem Fernsehprogramm, aber ich bin derzeit nicht au fait, schaue nicht mal mehr in die Glotze.« Sie fingerte in der Dose auf dem Tisch nach einer Zigarette, 201
setzte sie in Brand und bekam sogleich einen Hustenanfall. Sie warf die Zigarette auf den Kaminrost, griff aber nach der nächsten, kaum daß der Husten sich gelegt hatte. »Du rauchst immer noch nicht, Wilf? Ah, Männer! Sogar Humph hatte Angst vor …« »… dieser Krankheit.« »Vor Krebs!« »Laß mich dir’s erklären, Liz. Dies alles kommt für mich völlig überraschend. Ich möchte helfen, ich bin es nur nicht gewöhnt.« »Das kannst du zweimal sagen. Also, was ist los mit dir? Bist du erlöst worden? Hast du Offenbarungen gehabt?« »Du hast dir das bis jetzt aufgespart. Mach nur weiter, kotz alles aus. Wenn du damit fertig bist, will ich versuchen, dir zu erklären …« »Und das wird dir auch gelingen. Eins muß man dir lassen, Wilfred Barclay, wenn du mal anfängst zu reden, dann kommt zwar nicht unbedingt was Bedeutendes oder Tiefsinniges heraus, aber an Zungenfertigkeit übertrifft dich so leicht keiner.« »Magst du mir zuhören oder nicht? Du brauchst es nur zu sagen. Wenn nicht, halte ich den Mund.« Sie hustete wieder und warf die Zigarette weg. »Also gut.« Nun berichtete ich, versuchte es wenigstens, angefangen von meinem Erwachen im Rausch, der keiner war, bis zu der Gewißheit, wirklich glücklich zu sein. Ich suchte ihr die Unmittelbarkeit des Traumes nahezubringen, mit dem verglichen alles übrige nur wie eine Art Luftspiegelung war. Je länger ich in dem Bemühen fortfuhr, das Unbeschreibbare zu beschreiben, desto alberner klang es. »… es hat mich verwandelt. Bis dahin hatte ich mich schreiend an die Zeit geklammert, als ließe sich der ganze Vorgang aufhalten, aber der Traum hat mich verwandelt, und ich sah 202
ein, daß ich dem Tod entgegengehe wie jedermann, daß der Tod richtig und gesund und stimmig – was ist denn los?« Ich stand auf und beugte mich über sie, weil ich dachte, sie habe einen Anfall oder etwas Ähnliches, sah dann aber, daß sie lachte. »Du elender, elender Mistkerl! Du Clown! Du, du …« »Hör mal, Liz …« »Da redest du von Glücksgefühlen. Oh, ja, du hast ja auch noch viele Jahre vor dir!« »So meine ich das doch nicht, ich will dir nur erklären, daß es richtig ist so!« Sie lachte und hustete gleichzeitig. »Du wirst zum religiösen Spinner …« Jetzt unterbrach ich sie schreiend. »Ich habe erkannt, daß ich Teil des Universums bin, weiter nichts!« Ihr Lachen wurde unheimlich. »Nicht Teil, du alter Säufer, du bist das ganze, das ganze verfluchte Welttheater. Ich hingegen …« Und sie brach in Tränen aus. In diesem Moment kam unser Hausarzt. Mag sein, sie erwartete ihn, ich weiß nicht. Henry jedenfalls war ein Muster an Takt. Er begrüßte mich – meine Anwesenheit hatte sich wohl schon rumgesprochen –, als hätte ich das Wochenende in London und nicht viele Jahre außer Landes verbracht. Liz sagte er guten Tag, ohne von ihrem Wutausbruch oder dem tränennassen Gesicht Kenntnis zu nehmen. Es ging eine Munterkeit von ihm aus, die auf der Überzeugung zu beruhen schien, daß Liz trotz aller Beweise, welche die Anklage führen konnte, trotz allen Leidens, trotz Dunkelheit und Tod einsehen müsse, daß dies alles nur ein Spiel sei und wir alle aufhören würden mit dieser Tragikomödie, die wir da veranstalteten, und zu einer dauerhaften, vernunftbestimmten Bewußtheit zurückfinden würden. 203
Ich brachte meine Sachen ins Gastzimmer und schaute mich da um. Ehedem hatte Rick hier allein übernachtet, später mit Mary Lou, jetzt wieder allein. Ziemlich viele Leute hatten hier irgendwann einmal übernachtet. Das Zimmer ähnelte einem Gartenhaus, der Kamin funktionierte gut, und man sah den Fluß und Foxy’s Island. Waren die Blätter gefallen oder knospten von neuem, wie jetzt, war der Mühlendamm zu sehen. Auch wenn Liz es nicht eigens gesagt hätte, wäre mir nicht entgangen, daß Capstone Bowers hier gewohnt hatte, entweder seit Liz’ Krankheit akut geworden war oder seit sie mit dem zum Bruch führenden Streit begonnen hatten. Auf dem Kaminsims standen seine Bücher. Die Elefantenflinte, Jagdgewehre, Muniton und Schießen mit der Büchse, Bisley, Geschichte und Archive, Menschenfressende Raubtiere in Dekhan. Darüber zeichnete sich auf der verblichenen Tapete der Umriß seiner »Bisley«-Büchse ab. Ich blätterte in seinen Büchern, wartete darauf, daß der Arzt gehe. Es waren prachtvolle Bilder darin, man konnte sehen, wo der Tiger getroffen werden muß – hinter der Schulter oder den Anus aufwärts, jedenfalls nie in den Kopf, falls man Wert darauf legt, die Trophäe auszustopfen. Sprichwörter. Wie verfolgt man ein angeschossenes Tier. Schießen zwecks Fleischbeschaffung. Lieber Gott, die arme Liz! Ich bedauerte sie dafür, daß sie Jahre mit einem solchen Ungeheuer verbracht hatte. Ich ließ meine Koffer da und ging wieder nach unten. Weil Mrs. Wilson in der Küche mit den Ketten rasselte, schloß ich, daß Henry weg war, andernfalls wäre sie auf Zehenspitzen gegangen und hätte nur sehr gedämpft mit dem Geschirr hantiert. Liz war nicht zu finden, statt dessen traf ich Emmy im großen Zimmer. »Du bist also wiedergekommen, um bei Mama zu bleiben? Was für ein Narr.« »Du bist doch auch hier.« »Das ist was anderes.« 204
Sie wanderte in die Küche, während ich mitten im Zimmer stand, als erwarte ich die Gastgeberin. Nun ja, das stimmte. Keine Rede von Versöhnung oder auch nur einer gütlichen Einigung – wo war nur der dicke, warmherzige und endgültige Roman von Barclay, den ich seit dem Traum hin und wieder vor Augen gehabt hatte? Wir gingen etwa so warmherzig miteinander um wie Skorpione. Liz kam aus ihrem Zimmer, beherrscht und gedämpft. Henry hatte ihr etwas gegeben. »Tut mir leid wegen vorhin. Möchtest du dich nicht setzen?« »Jetzt nicht, ich muß noch mal weg.« »Ja.« »Nicht so. Ich komme wieder. Ich habe Tucker versprochen …« »Ja.« »Wir treffen uns im Random. Er bekommt die Papiere nicht, diese jedenfalls nicht.« »Weißt du, daß er verrückt ist?« »Ja.« »Das wird ihm nicht gefallen.« »Wenn schon.« Wir schwiegen ein Weilchen. Liz griff nach einer Zigarette, überlegte es sich anders, wollte sie in die Dose zurücklegen, warf sie statt dessen aber zu den anderen auf dem Kaminrost. »Sonderbar, Wilf.« »Ja. Wir hätten nie heiraten dürfen. Verwandt hätten wir miteinander sein können, Geschwister oder so, lebenslang, immer verbunden miteinander, einerlei, was passiert.« »Ich meinte nicht uns. Ich meinte dich und ihn. Neulich las ich Hemingways Biographie, geschrieben von seiner Frau. ›Aldous wurde gesund, Ernest nicht.‹ Als ich das las, mußte ich an dich denken. Sie schreibt nichts über Kritiker. Weißt du was? Du und Rick, ihr habt einander zerstört.«
205
KAPITEL XV Ich fuhr für drei Tage nach London, wäre auch länger geblieben, doch war die Zahl der erlaubten Übernachtungen im Club reduziert worden. Im Athenaeum zwischen lauter Bischöfen und stellvertretenden Schatzkanzlern sah ich mich nun mal nicht. Man mag gegen den Random Club sagen, was man will, einen Bischof trifft man dort nicht. Man trifft übrigens auch kaum noch einen Schriftsteller. An meinem ersten Abend sah ich kein einziges bekanntes Gesicht, also rief ich meinen Agenten an, aber der war selbstverständlich nicht mehr im Büro, er lebt auf dem Lande, und erst jetzt merkte ich, daß er seine Privatadresse vor mir verborgen gehalten hatte, der listige Knabe! Auf eine Frau hatte ich keine rechte Lust, fühlte mich zu alt, war zu ängstlich oder einfach zu vernünftig. Als ich nachsah, was es im Theater oder Kino gab, wurde mir klar, daß mich weder das eine noch das andere wirklich reizte. Ich sah den Menschen in Piccadilly zu, wie sie ihren abendlichen Zerstreuungen entgegeneilten, und sagte mir, Liz habe ganz recht. Ich war insofern zerstört, als ich nicht mehr zu diesen Menschen gehörte, sondern unter Gespenster und die Erinnerungen an Menschen. Ich hatte meinen Traum, und mit dem verglichen war das harte Pflaster unter meinen Sohlen unwirklich. Die Violinsaite war entweder schlaff geworden oder gerissen. Die Unduldsamkeit hatte sich zurückgezogen und war, obwohl noch vorhanden, mir so gleichgültig wie Kirchengestühl. Gegenwärtig war mir das Singen im Traum, das kein Singen war, und das Singen beginnt, wo Wörter aufhören, wo also konnte mein Platz sein? Auge in Auge mit dem Unbeschreibbaren, dem Unerklärlichen, dem Sosein, wo man eben anfängt. Also schlenderte ich zurück in den Club und trank etwas, um 206
die Zeit zu vertreiben. Ich fühlte mich in meinem Sessel so friedlich (es war niemand da, bis auf zwei Fremde, die an der Bar ein ernstes Gespräch führten), daß ich ein Glas trank und dann noch eins und noch eins und so fort. Ich bin wirklich ein bißchen ausgerutscht. Tags darauf ging ich zu meinem Agenten ins Büro und nickte zu allem. Er fragte, ob ich an was arbeite, und ich sagte ja, ich wolle aber nicht gerne darüber sprechen, denn das könnte eine unerwünschte Verfestigung noch Undefinierter Pläne zur Folge haben – den üblichen Schmus also –, und er nickte ebenfalls, und ich sah ihm an, daß er mich loswerden wollte. Von Wilfred Barclay ist nicht mehr viel zu erwarten. Der ist erledigt, lebt von seinen Tantiemen. Uninteressiert ist er. Es könnte an der Zeit sein, eine Gesamtausgabe herauszubringen. Den Rest des Tages verbrachte ich im Club in meinem Bett, friedlich schlafend wie ein Baby, wie man so gern und so unzutreffend sagt. Gegen Abend stand ich auf und setzte mich in die Schlangengrube. Gleich darauf meldete Jonquil einen Professor Tucker. Es wunderte mich, daß sie ihn nicht hereingeleitet hatte, begriff das aber, als ich ihn sah. Er hockte auf allen vieren vor der alten Standuhr in der Halle, das Hemd aufgeknöpft bis zum Nabel, wenn man den im Dickicht seiner Behaarung hätte erkennen können, durch die sich jetzt eine goldene Kette wand, an der alles mögliche baumelte – ein Lothringer Kreuz, das Auge der Osiris, ein korrektes Hakenkreuz, das Henkelkreuz, das Pentagramm und ein Dutzend anderer Symbole, die ich nicht identifizieren konnte. Rick streckte mir die Zunge entgegen, grinste und bellte. Ich fürchtete bereits, er sei total durchgedreht, was zwar auf die Länge betrachtet nur gut sein konnte, mir im Moment aber Ärger gemacht hätte. Nach seinem Begrüßungsgebell jedoch stand er auf und wischte den Staub von der Hose. »Sie sehen ja blendend aus, Wilf, Sir.« »Inwiefern bitte?« 207
»Einfach blendend.« Er lachte aufgeregt wie ein Junge, dem man versprochen hat, jawohl, heute machen wir ganz bestimmt einen Ausflug. Er war so jung. Sah so jugendlich aus. Vierzig, vielleicht fünfundvierzig. »Auch Sie sehen prachtvoll aus, Rick. Kommen Sie.« Ich führte ihn an die Bar, und er folgte mir, melodiös klingelnd wie eine kostbare Equipagenuhr. »Erst trinken wir etwas, dann essen wir zu Abend. Sie haben nichts dagegen, hier zu essen? Es ist nicht übel, und die Getränke sind hervorragend.« Rick blickte aufmerksam um sich, vermerkte im Geiste jedes Schriftstellerporträt an den Wänden. Er identifizierte einen nach dem anderen und stieß jedesmal einen kleinen Siegesschrei aus. »Aber Sie sehe ich nirgendwo, Sir?« »Noch bin ich nicht tot. Lassen Sie mir Zeit.« Wir begaben uns mit unseren Gläsern in die Schlangengrube. »Das Papier, Wilf. Unsere Abmachung.« »Nach dem Essen, Rick, so ist es brav.« »Es hat schon so lange gedauert – kann ich von hier aus telefonieren?« »Selbstverständlich.« »Mir liegt daran, Mr. Halliday die gute Nachricht so schnell wie möglich zukommen zu lassen. Er wird entzückt sein. Gefällt Ihnen meine Kette? Der schreibe ich zu, daß das Glück sich in jüngster Zeit gewendet hat.« »Oh, ja, Ihre Kette gefällt mir sehr. Hängt sie nie in die Suppe?« »Letztes Mal hatte ich sie im Koffer, Wilf, Sir, ich muß aufrichtig um Verzeihung bitten. Ich war nicht bei mir. Ich habe vor Angst den Kopf verloren, aber ich sehe es wirklich als meine Lebensarbeit oder auch als meine Pflicht an, mit größter Gewissenhaftigkeit …« 208
»Ich weiß, ich weiß. Nach dem Essen.« »… und ich bitte für meine Worte um Entschuldigung.« »Weil Sie mich einen mutterfickenden Lumpenhund genannt haben?« Hinter uns wurde entzückt gekräht. Johnny St. John John und Gabriel Clayton näherten sich. »Das haben doch nicht etwa Sie arrangiert, Tucker?« »Na, wen haben wir denn da?« »Gabriel, Johnny, Rick – ihr kennt euch wohl alle?« Neben dem langen, schlaksigen Johnny wirkte Gabriel eher klein, doch war er das nicht. Er war mittelgroß und untersetzt, wie es sich für einen Bildhauer schickt, außerdem etwas rundschultrig, was ihm, ihm Verein mit seiner Gewohnheit, den Kopf gesenkt zu halten, eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Bullen verlieh. Das wußte er und war darüber nicht betrübt. Jetzt grüßte er mit der Faust an der Stirn, wie er sich vorstellte, daß ein Künstler den anderen grüße. »Mutterficken«, nahm er meine Worte auf, »das müßte eine Gruppe werden. Bronze. Man könnte sie der Psyche gegenüber dort in die Nische plazieren. Wilf zahlt dafür. Das ist jedenfalls eleganter, als abgemalt zwischen all diesen öden Belletristen an der Wand zu hängen.« »Mach uns doch bitte gleich einen Entwurf, Gabriel, Lieber. Wilf steht Modell.« »Das wird er nicht.« »Ich habe dich seit Portugal nicht mehr gesehen, Wilf.« »Ich habe dich nie in Portugal getroffen.« »Er redet immer so, Rick.« »Ja, Sir, ich weiß es nur allzu gut. Höchst sonderbar.« »Ich hab’ dich dort zu Bett gebracht, Wilf. Du schuldest mir dafür eine Mahlzeit. Heute abend kassiere ich.« »Gütiger Gott.« »Ich ebenfalls, Wilf. Du schuldest mir noch für die absolut penetrante Analyse, die ich dir dort am Strande von …« 209
»Johnny St. John John wird gleich eine Probe seiner Penetrationskünste ablegen, meine Herrschaften.« »Auch eine Gruppe, Gabriel, und in Anbetracht des keuschen Sujets vielleicht in weißem Marmor?« »Ha, etcetera.« »Du bist äußerst penetrabel, Wilf. Du würdest dir meine kleinen Strafpredigten mit Vergnügen anhören, wenn ich dich mit chér maître titulierte, statt mit alter Halunke. Wir haben schließlich alle unseren Ehrgeiz – möchtest du nicht insgeheim vielleicht geadelt werden? Nein? Keine Gelüste mehr?« »Dein Mundwerk wird dir noch mal das Genick brechen.« Gabriel kam von der Bar, zwei entkorkte Burgunderflaschen am Halse fassend. »Sehr großzügig von dir, Wilf.« »Das sehe ich.« »Johnny, Gläser!« »Ich gehe ja schon, auf Flügeln etcetera.« »Sie sind also Rick?« »Ja, Sir.« »Sind Sie reich?« »Nein, Sir.« »Ich fürchte, die Tage der reichen Amerikaner sind vorbei.« »Oh, nein, Sir, durchaus nicht.« »Ich bin auf der Suche nach einem reichen Amerikaner. Araber kaufen keine Skulpturen, außer als Geldanlage.« »Er ist nicht reich, Gabriel, er ist ein bettelarmer Weißer, wie wir übrigen auch.« »Dieser Mensch hält sich also für arm, Rick. Dabei hat er mehr als dreißig Jahre lang sich selber und seine Freunde mit Wein und kostenlosen Reisen traktiert, von allem übrigen zu schweigen. Er braucht bloß anzukündigen, daß er was zu verkaufen hat, schon drehen sich die Druckerpressen, Banken offerieren ihm Kredite, und die Kritiker spitzen den Bleistift.« »Eher schon den Dolch. Jetzt laßt uns bitte allein, Freunde, 210
Rick und ich haben nach dem Essen geschäftlich zu verhandeln.« »Lieber, du darfst in diesem Club nicht geschäftlich verhandeln, das verstößt gegen die Regeln, wie du weißt. Erlaubt sind Drogen und Verführung, Transvestiten, Bodmerei und Barratrie, gelegentlich eine Orgie …« »Laß die Dummheiten, Johnny.« »… und ›nach dem Essen‹ ist noch lange hin. Ich selber kann mich nicht erinnern, daß ein Glas Wein die Geschäfte nicht befördert hätte – vorausgesetzt, es handelt sich wirklich um welche und nicht um ganz was anderes …« »Johnny, du redest zuviel. Trinken wir erst mal diese Flaschen aus, und zwar gleich. Es ist wirklich sehr, sehr gütig von dir, Wilf.« Ich fühlte mich erschöpft und sagte das auch, doch hatte das keine Wirkung. Rick trank mit Vorsatz, was ich an ihm nie zuvor beobachtet hatte. Nicht gerade so schwer wie Gabriel, eher fieberhaft, und er redete mehr als sonst, als wir zum Essen hinaufgingen. Er sprach jetzt seinen heimatlichen Dialekt, allerdings konnte ich den nicht lokalisieren. Es klang wie Mittlerer Westen. Alle drei stachelten sich wechselseitig an. Manches, was da gesagt wurde, vor allem von Gabriel, war gut. Ich selber blieb stumpf und als einziger nüchtern. Ausgerechnet ich! Der Wendepunkt wurde erreicht, als ich Rick warnte: trinke er noch mehr, werde er außerstande sein zu verstehen, was ich ihm erklären wolle. Eher weinerlich als streitsüchtig, ließ er uns wissen, an Erläuterungen habe er kein Interesse mehr, er wolle einzig die Vereinbarung. Um ihn sanft vorzubereiten, ihn behutsam an die Wahrheit heranzuführen, bevor ich sie ihm offenbarte, sagte ich, es habe sich nie um etwas anderes gehandelt als um eine Vereinbarung unter Gentlemen, was bei Johnny zu einem Lachanfall führte. Das reizte mich etwas. Gabriel, der es gut versteht, eine Situation anzuheizen, schlug vor, er und Johnny könnten doch die Unterschriften bezeugen. 211
Bevor ich darauf reagieren konnte, erklärte Rick den beiden alles, inklusive Mary Lou. Da mußte ich denn brutal eingreifen. »Es wird keine Vereinbarung geben.« Rick klappte den Mund auf und wieder zu, ohne etwas herauszulassen, außer einem kleinen Rinnsal Wein. »Tut mir leid, Rick, aber so ist es.« »Das können Sie nicht!« Er nahm einen großen Schluck Wein und schüttelte sich. »Das dürfen Sie nicht, nachdem Sie es mir noch in Weisswald versprochen haben. Nicht mal Sie dürfen das.« »Hören Sie mich an, Rick, alter Freund …« »Ich wiederhole, das dürfen Sie nicht! Sie wissen nicht, was Sie damit anrichten. Jeden Pfennig habe ich darangewendet, Sir. Es kann nicht Ihr Ernst sein, Sir, ich verstehe ja Spaß, aber …« »Das ist kein Spaß.« »Ich warne Sie, Wilf Barclay. Ich schreibe die Biographie, egal, ob … Glauben Sie mir, Sir, ich würde zum Bettler werden! Alles habe ich aufgegeben. Mr. St. John John, Mr. Clayton, Sie sind meine Zeugen …« »Erzählen Sie uns mehr, Rick, schließlich sind wir unter Freunden.« »Ich habe meine Karriere aufs Spiel gesetzt, wie ich schon sagte, und ich habe ihm das Leben gerettet …« »Das haben Sie nicht!« »Doch, habe ich! Damals, im Nebel …« »Ihre Frau haben Sie mir aufgedrängt, Sie haben mir nachspioniert, mich verfolgt. Machen Sie mich jetzt nicht wütend!« »Sie wütend? Allmächtiger Gott. Wissen Sie, wozu er mich verleitet hat, meine Herren? Ich habe Sie nie verfolgt, und wenn schon, warum nicht? Wir leben in einem freien Land, und Sie haben sich einen Spaß daraus gemacht, mir damals im Taxi vor der Nase wegzufahren, Sie sind mit dem Rheindamp212
fer in die Gegenrichtung gefahren, haben mich in Marrakesch verhöhnt. Wenn Sie so weitermachen – ich hatte mir vorgenommen, allen Ihren Wünschen zu entsprechen …« »Wollen Sie gefälligst mal zuhören?« »Ich warne Sie, ich bin nicht wehrlos!« »Ha, verdammt noch mal!« »Ich verwende das Material, das ich von Ihrer Frau habe. Und von Ihrer Tochter.« »Was für Material?« »Die haben mir manches erzählt.« »Ah, meine Lieben, welch dénouement!« »Hören Sie mir gut zu, Rick. Sie sind angetrunken und vielleicht – aber einerlei, Sie werden diese spezielle Biographie nicht schreiben, weil ich sie selber schreiben werde.« Rick stieß ein Geheul aus, desgleichen ich zuvor nie vernommen hatte. Vielleicht ähnelte es dem Heulen des Wolfes oder des Coyoten oder dem eines anderen exotischen wilden Tieres. Danach entstand erheblicher Wirrwarr. Will sagen, er kniete sich hin, besser, er warf sich auf die Knie. Und er biß mich ins Bein. Einen Moment lang glaubte ich, es wieder mit jener massigen, männlichen Kraft zu tun zu bekommen, aber gleich darauf saß er mir praktisch auf dem Schoß und griff nach meinem Kopf. Er packte mein rechtes Ohr und krallte sich in meine linke Wange, und ich glaube, er wollte mit den übrigen Fingern und Daumen auf meine Augen losgehen. Johnny suchte uns zu trennen, und Gabriel, der wohl den von Gläsern bestandenen Tisch retten wollte, geriet mit zwei Männern am Nachbartisch aneinander, die sich unbedacht einmischten. Seither ist mir zu Ohren gekommen, daß alle Anwesenden von einer Welle der Hysterie ergriffen wurden und die meisten dieser nüchtern gekleideten Geschäftsleute sich am Kampf beteiligten. Tische fielen um, Tränen wurden vergossen, Menschen stürzten, Speisekarten, Weinkarten, Rechnungen, Auftragsbücher und Manuskriptblätter wirbelten 213
durch die Luft und sanken hernieder wie Schnee. Es gab Verletzungen durch Glasscherben, aber schweren Schaden erlitt niemand. Selbst wenn wir es mal versuchen, ist unsereins in solchen Sachen nicht besonders tüchtig. Wie Mary Lou, wenn auch in keiner anderen Weise ihr vergleichbar, sind wir nicht physisch. Ich nehme an, es gab ein paar Kratzer, vereinzelt auch eine Bißwunde, doch kaum mehr. Ich selber verlor Teile meines Bartes, und mein rechtes Ohr glühte, das war aber schon alles. Was aus meinem »Gast« wurde, weiß ich nicht. Ich schlief in dieser Nacht ausgezeichnet. Am folgenden Morgen erwartete mich der Sekretär des Clubs schon an der Treppe. Er blickte streng drein, was mich nicht überraschte. Meinen Namen hakte er auf einer Liste ab. »Mr. Barclay, wollen Sie bitte schildern, was gestern abend im Speisesaal vorgegangen ist.« »Damit kann ich mich jetzt nicht befassen, tut mir leid.« »Ich muß aber dem Komitee darüber berichten.« »Falls man mich auffordern will, meine Mitgliedskarte zurückzugeben, bin ich damit einverstanden.« »Ich kann noch gar nicht abschätzen, was es kosten wird, unsere Psyche zu reparieren.« »Sehr gut ausgedrückt, Colonel, ausgezeichnet sogar.« Er blickte noch finsterer drein. »Erklären Sie sich verantwortlich dafür? In diesem Fall …« »Ah, hol’s der Kuckuck. Wahrscheinlich bin ich’s.« Ich ging ins Frühstückszimmer, wo niemand war, bis auf eine Kellnerin und Mrs. Stoney, die hinter der Theke saß und deren Miene ihrem Namen alle Ehre machte. Ich begnügte mich mit Kaffee. Als ich bezahlte, schwoll Mrs. Stoney etwas an. »Nun, was halten Sie davon, Mrs. Stoney?« »Es ist nicht meine Sache, etwas dazu zu sagen, Sir.« »Nun, nun, wir sehen uns vermutlich nicht wieder, denn man wird mich wohl rausschmeißen. Also heraus mit der Sprache, Mrs. Stoney, was halten Sie davon?« 214
»Hier ist Ihr Wechselgeld. Vielen Dank, Sir.« »Jungen sind nun mal Jungen, Mrs. Stoney. Leben Sie wohl.« Und damit zog ich ab, versehen mit einem weiteren Schatten, wie mir schien, noch etwas aus meiner Vergangenheit, woran ich mich möglichst nicht erinnern wollte. Denn trotz meines stillen Glücksgefühls kam ich mir angesichts dieser unergiebigen gestrigen Prügelei etwas gedemütigt vor. In Büchern wird immer zuviel hergemacht von dem, was man Gesichtern ablesen kann, aber an das von Mrs. Stoney möchte ich nicht denken. In manchen Gesichtern läßt sich nämlich doch lesen, insbesondere wenn sie Verachtung und Abneigung wie in Großbuchstaben zeigen.
215
KAPITEL XVI Ich fragte mich, ob ich es jetzt zu Hause ertragen würde, doch die Straße entrollte sich vor mir, als wäre alles wie gewöhnlich. Das war, wie sich bald herausstellte, pure Ironie. Ich bedachte, daß Liz mich eigentlich ziemlich hart behandelt hatte. Rechtlich gesehen, konnte sie schließlich keine Ansprüche an mich stellen, und Emmy war längst volljährig. Was mich nach Hause zog, war denn auch hauptsächlich das Skript, das Sie jetzt lesen, ferner die Notwendigkeit, jene angehäuften Papiere daraufhin durchzusehen, ob ich darunter noch etwas Brauchbares fände, bevor ich mich davon trennte. Trotzdem hatte ich ein ungutes Gefühl. Und dann empfing Emmy mich an der Tür, die Augen rotgeweint. »Sie ist nicht mehr da.« »Wer?« »Mummy.« »Wo ist sie denn hin?« »Du … du … tot ist sie!« »Wann ist sie gestorben?« »Vorhin, heute vormittag. Du bist wieder mal unbehelligt geblieben, weil du dich gedrückt hast.« Dicke Tränen liefen über die heruntergezogenen Mundwinkel. »Ich war doch jahrelang nicht hier, Emmy.« »Oh, Gott.« Ein Vater hätte ihr jetzt vermutlich den Arm um die Schulter gelegt, besser noch, sie tröstend an sich gezogen und sie sich ausweinen lassen. Aber ich war eben kein Vater, sondern ein Fremder und fühlte mich abgestoßen von dem, was da aus ihren Augen und ihrer Nase troff. Sie wollte etwas sagen, 216
brachte aber kaum ein Wort heraus. »Ich … ich … ich kann nicht …« Ihr Mund stand offen, und die Natur bot mir den Anblick eines menschlichen Gesichtes und eines Körpers, die zu einem gellenden Schrei geronnen waren. Nun streckte ich ihr die Hand hin, doch entweder bemerkte sie das nicht oder achtete nicht darauf. Sie wandte sich taumelnd ab, eine wenig einnehmende, stämmige junge Frau, und flüchtete zum Fluß, wo sie sich als Kind zu verstecken pflegte, wenn sie die Welt unerträglich fand. Ich ging ins Haus, setzte meinen Koffer ab und erklomm die Treppe. Tür und Fenster »unseres« Schlafzimmers standen offen. Die Vorhänge bauschten sich leicht im Windzug, die Primeln in der Schale dufteten süß, als wollten sie eine allumfassende Gleichgültigkeit demonstrieren. Gesegnet sei die Gleichgültigkeit! Henry trat ins Zimmer, eher munterer als gewöhnlich, wenngleich er mich im Flüsterton ansprach. »Sie hat keine Schmerzen gelitten. Die Leber hat versagt.« Glückliche, glückliche Elizabeth! Von allen Todesursachen gerade mit dieser belohnt zu werden! Was zu tun war, war bereits erledigt. Die Pflegerin oder Henry oder alle beide hatten rasch und gut gearbeitet. Auf dem Nachttisch lagen ihre Uhr und der Ring ihrer Mutter. Sie wirkte erstaunlich groß unter dem weißen Laken. Henry trat ans Bett und winkte mir wortlos zu. Sklave eines mit dem Tode zusammenhängenden Rituals, stellte ich mich neben ihn. Er zog das Laken bis auf ihre Brust herab und hielt es da fest. Elizabeth sah sich erstaunlich und entnervend ähnlich. Jemand hatte die rote Wunde des Lippenstiftes entfernt, und ihr Gesicht wirkte bedrohlich. Warum nur hatte ich mich auf Veränderungen gefaßt gemacht? Es war nichts als das Fallen eines welken Blattes. Ihre Lider klappten auf und starrten mich an. Vor meinen Augen drehte sich alles, und Nebel waberten. 217
Henry machte beschwichtigende Geräusche, beugte sich über sie und wandte einen branchenüblichen Kunstgriff an. Dann deckte er sie mit dem Laken zu. Ich fand meine Stimme wieder. »Pfennigstücke. Drachmen. Obolus.« Henry ergriff mich am Ellbogen und zog mich weg. Zusammen schritten wir hinaus und die Treppe hinab. Aus dem richtigen Regal holte ich für uns beide nicht Wein, sondern Whisky, bot Henry davon gedankenlos an, doch er schüttelte lächelnd den Kopf. Ich nahm einen kräftigen Schluck, der mir leider in die Luftröhre geriet. Schock und Hustenreiz machten mich fast krank. Henry klopfte mir auf den Rücken. Was kann die Wissenschaft nicht alles! Als ich mich endlich aufrichtete, strahlte er mich an. »Besser?« Ich prüfte mich. Von »besser« konnte wohl nicht die Rede sein. »Ja, ich denke schon.« Henry war entzückt. »Ich kümmere mich um alles Notwendige, Wilf.« »Das ist nett, herzlichen Dank, Henry.« »Dann will ich mal.« Und immer noch strahlend zog er ab. Ich ging in den Garten und drängte mich durchs Gebüsch. Emmy saß auf der Steinbank und blinzelte zum Wald jenseits des Flusses. Ich blieb hinter ihr stehen. »Kann ich etwas für dich tun?« »Ich weiß nicht. Zeit gelassen hast du dir damit ja reichlich. Nein, ich glaube nicht.« »Man muß wohl die Verwandten und Bekannten benachrichtigen.« »Auch den Vikar. Sie war Protestantin, jedenfalls gelegentlich.« 218
»Ist das der junge Mann, der Jeans trägt, einen zerlöcherten Pullover und die Andeutung eines Pastorenkragens?« »Ja. Douglas heißt er und ist sehr brauchbar. Als sie mich letzte Woche vor irgendwelchen Leuten beschimpfte, hat er mir hinterher gesagt: ›Nicht alle Menschen werden vom Leid geläutert.‹« »Offenbar ein nüchterner Mann. Es fällt dir also nichts ein, was ich für dich tun könnte?« »Wie du richtig gesagt hast, es ist viel Zeit vergangen.« »Das kommt mir auch so vor. Wenn es dich tröstet: du erbst eine ganze Menge. Erst von ihr, später von mir.« Wie Rick einmal richtig anmerkte, lachten wir häufig, Liz und ich. Jetzt hätte er auch Emmy mit einschließen können. Alles wickelte sich reibungslos ab. Verwandte tauchten in großer Zahl zum Begräbnis auf, hielten sich aber an Emmy und gingen mir aus dem Weg. Nicht etwa, weil sie scheu gewesen wären. Rick nahm an dem Gottesdienst teil, auf dem Emmy bestanden hatte, und an der anschließenden Einäscherung. Er saß ganz hinten, schluchzte laut und verschwand, bevor alles vorüber war. Als die Trauergäste sich anschließend höflich um geräucherten Lachs und Moselwein rauften, wurde ich förmlich geschnitten. Einzig ein Mann, wohl ein Verwandter von Liz und möglicherweise im Auftrag von Capstone Bowers hier, tat so, als wolle er sich mir nähern. Er war unverkennbar Berufsoffizier, groß, von kräftiger Statur und mit stark gerötetem Gesicht. Ich hätte mich ohne weiteres mit ihm unterhalten, ihm sogar einen Drink angeboten, doch stierte er mich nur empört an und klappte lautlos den Mund auf und zu wie ein Goldfisch. Er überlegte es sich dann anders und tauchte in der Menge unter. Mir fiel meine italienische Gespielin ein und die wohlverdiente Strafe, die sie mir verpaßt hatte. Die jetzige war typisch englisch und bestärkte mich sehr in meiner Überzeugung, daß es sich anderswo angenehmer lebt. »Wie man sich in der Ferne die Heimat vorstellt, ha, ha.« Ich 219
war ärgerlich. Der junge Douglas ging hastig auf mich zu, wohl um Öl auf die Wogen zu gießen und ein gesellschaftliches Mißgeschick gutzumachen. Er trug irgendwas aus schwarzer Seide, und der Pastorenkragen war sichtbarer als sonst. Sein Eifer erinnerte mich an Rick Tucker, als der noch wirklich schüchtern gewesen war. Ich war immer noch verärgert. »Ah, Sie sind Douglas, nicht wahr? Wie geht’s denn der Kirche dieser Tage?« »Sie hat zu kämpfen, Mr. Barclay. Sie braucht Unterstützung.« »Ah, also Geld.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Nicht in erster Linie.« »Falls Sie geistlichen Zuspruch brauchen, sind Sie bei mir an den Richtigen gekommen.« »Wirklich?« »Sie werden es nicht glauben, aber ich leide an Stigmata. An vier der Wunden Christi. Eine fehlt noch. Nein, sehen können Sie die nicht, nicht wie bei dem bedauernswerten Padre Pio, aber ich versichere Ihnen, meine Hände und Füße schmerzen wie die Hölle – oder müßte ich sagen der Himmel?« »Ich glaube nicht …« »Sie glauben nicht, daß Leute wie ich sich solcher Auszeichnungen rühmen sollten?« Er blickte sich besorgt um, als suche er einen empfehlenswerten Kopfschrumpfer. Ich dachte: Vielleicht gibt er dir die Adresse seines eigenen. »Finden Sie das nicht auch bemerkenswert, Vikar?« »Sprechen Sie im Ernst?« »Falls nicht, wollen Sie sich wohl gleich wieder den Zöllnern und Pharisäern zuwenden?« »Nein, nein – aber meinen Sie das wirklich ernst?« »Und wie! Zeitweise schmerzt es wie die Hölle.« 220
Er näherte sein Gesicht dem meinen. »Sie müssen sehr stolz darauf sein.« Das verschlug mir die Sprache. Um der Deutlichkeit willen fuhr er lächelnd, ganz unklerikale Zähne entblößend fort: »Schließlich haben dort drei Kreuze gestanden.« Ich sah jetzt alles wie in einem Film – die Verwandten verabschiedeten sich von Emmy, auch Douglas, Hände wurden geschüttelt, und man war sich darin einig, daß man heutzutage nur noch auf Beerdigungen zusammenkommt. Und mir war eine so bedeutsame Einsicht zuteil geworden! Drei Kreuze – das ganze Spektrum – nicht mir war aufgetragen, gut zu sein, nicht ich hatte mich vor den Schrecken des Heiligmäßigen zu fürchten! Reg- und tatenlos stand ich da, während alle weggingen. Emmy kam zu mir und sagte etwas, das ich nicht mitbekam, auch war mir nicht bewußt, daß ich mich unterdessen gesetzt hatte. Mrs. Wilson muß aufgeräumt haben, doch auch die nahm ich nicht wahr. Es war eine Art Katatonie. Tags darauf eröffnete Emmy mir, sie werde das Haus verkaufen, sobald ich mich, wie sie sich ausdrückte, »verpißt« hätte. Anschließend begab sie sich wieder an ihre Sozialarbeit in einem Mittelstandsslum und ließ mich allein, damit ich mein Zeug wegschaffen könne. Außer den Papieren, die Liz und Capstone Bowers so geärgert hatten, war kaum etwas von mir da. Mir kam der Gedanke, daß ich, ohne weiter darüber nachzudenken, wohl beabsichtigt haben könnte, die beiden damit zu ärgern. Wir kennen unser derzeitiges Selbst nicht besonders gut, wie? Rick kam, flehte, verfluchte mich, jappte. Ich verbot ihm das Haus, was, genau betrachtet, ein Witz war. Er ließ sich aber nicht vertreiben, schlief, ich weiß nicht wo, spionierte mir nach, linste um die Ecken. Seit meinem Traum weiß ich so gewiß, wie ein durchschnittlich geistig Gesunder nur wissen kann, wann jemand anwesend ist und wann nicht. Rick, daran 221
ist kein Zweifel, ist anwesend und spioniert mir nach. Er ahnt nicht, daß ich die Macht und, wichtiger noch, die Absicht habe, ihn zu heilen. Ich werde seinen Traum wahr machen. Wilfred Barclay, der berühmte Konsiliarius. Capstone Bowers rief an. Auf der Beerdigung war er nicht gewesen, besaß jetzt aber die Frechheit, seine Bücher und seine Flinte zu verlangen. Ich legte einfach auf. Hinzufügen sollte ich, daß er den ehemals mir gehörenden, prachtvollen Weinkeller geplündert hatte, ohne auch nur eine Flasche zu ergänzen. Seit Emmy fort ist, habe ich mir die Papiere aus den Teekisten vorgenommen. Die meiste Zeit allerdings verbringe ich damit, über diesem Typoskript zu grübeln. Gestern habe ich alles von Anfang bis Ende durchgelesen, von Rick an der Mülltonne bis zu Douglas auf der Beerdigung. Und dem Leichenschmaus. Ha, etcetera. Sieht man von Wiederholungen, Weitschweifigkeiten und Auslassungen ab, so ist hier getreulich wiedergegeben, wie oft der Clown die Hosen verloren hat. Ich bin jetzt so alt, daß mir das nicht mehr oft passieren kann. Die beste, die theologische Clownsnummer war gewiß die Verleihung der Stigmata für Feigheit vor dem Feind. Der hl. Franz und all die anderen suggestiblen Typen erhielten sie nicht nur an Händen und Füßen, sondern auch den Lanzenstich in die Seite, an dem Christus starb oder mit dem sein Tod festgestellt wurde. Der fehlt mir, und ich sehe kaum mehr Zeit oder Gelegenheit, so etwas noch durch einen Bühnentrick zu erlangen. Ich beabsichtige nämlich, erneut zu verschwinden. Vielleicht in einem Wohnbus, in dem man schlafen kann? Soll ich mit einer Bettelschale unter einem indischen Baum sitzen? Denk realistisch, Wilf, dafür ist es zu spät. Ich werde im Luxus und in der Geborgenheit verschwinden. Und damit wären wir beim heutigen Tag. Ich habe alle Papiere aus den Teekisten beim Fluß aufgeschichtet. Sehe ich von der Schreibmaschine auf, erblicke ich diesen wirklich enormen 222
Stoß meist weißen Papiers, ein richtiger Berg, der mich da erwartet. Er hebt sich grellweiß vom dunklen Wald am anderen Ufer ab. Sobald ich mit diesem Typoskript fertig bin, gieße ich eine Kanne Petroleum darüber und zünde alles an – ein rite de passage, der mit dem Schutt, den abgeschnittenen Fingernägeln, den Locken, der abgenutzten Zeit, der überflüssigen Korrespondenz, den Kritiken, den Thesen, Bankauszügen, Manuskripten, Übersetzungen, Korrekturfahnen, der papierenen Last eines ganzen Lebens aufräumt. Sodann werde ich Rick suchen und ihm dieses Häufchen beschriebenen Papiers geben, alles, was benötigt wird, alles, was ich hinterlasse, alles, womit sich die Lügengeschichten widerlegen lassen, die bruchstückhaften Tagebücher und das übrige. Es wird eine Art Sterben sein. Freiheit fürwahr, Freiheit in der Tat. Ich bin glücklich, es ist ein stilles Glück. Wie ich das gemacht habe? Manchmal erlebe ich es wie einen Edelstein, funkelnd, köstlich, ohne Worte. Manchmal ist es gelassen und in dieser vollkommenen Gelassenheit jenseits allen sonstigen Erlebens. Ich bin glücklich. Das ist nicht einzusehen, aber es ist Tatsache. Entweder bin ich der Unduldsamkeit entkommen, was ausgeschlossen ist, oder sie hat mich gehen lassen, was ebenfalls ausgeschlossen ist. Wie konnte ich mich ändern? Denn verändert bin ich. Nehmen wir das Trinken. Nach mehr als einem Vierteljahrhundert vergeblicher Bemühungen habe ich das Trinken jetzt aufgegeben, ohne die geringste Anstrengung. Bedenkt man, wie oft der Clown die Hosen verloren hat, ist es vielleicht nicht ungefährlich, so was hinzuschreiben, doch weiß ich mit absoluter innerer Gewißheit, daß ich mein letztes Glas geleert habe. Wer weiß? Seit die Unduldsamkeit sich aus dem Rampenlicht zurückgezogen hat, ist jetzt womöglich Platz für eine nicht auf Abmachungen basierende Barmherzigkeit wie jene, die mich drängt, Rick diese Papiere zu schenken: eine Barm223
herzigkeit, welche jene unbefriedigenden Erscheinungen Wilfred Townsend Barclay und Richard Linbergh Tucker vielleicht für immer auslöscht. Ist es dies, was mich so glücklich sein läßt? Rick ist gute hundert Schritt entfernt jenseits des Flusses; er springt von Baum zu Baum, als spiele er Indianer. Er soll Zuschauer sein bei meinem Ritual. Jetzt lehnt er an einem Baumstamm und späht durch einen Gegenstand nach mir, den ich nicht recht erkenne. Wo, zum Kuckuck, findet denn jemand wie Rick L. Tucker so ohne weiteres ein Gew
224