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Nobelpreisträger für Literatur 1983. Sein neuer Roman – die Geschichte
einer sonderbaren und verhä...
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William Golding:
Nobelpreisträger für Literatur 1983. Sein neuer Roman – die Geschichte
einer sonderbaren und verhängnisvollen Beziehung.
»Golding hat einen äußerst scharfen Blick und eine spitze Feder für die Macht des Bösen und die Gemeinheit des Menschen.« Neue Züricher Zeitung »Unumstritten die Qualität seiner Epik: die sprachliche Virtuosität und die hohe Plastizität der Schilderungen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung Kein anderer Roman William Goldings ist von so eigener Art, so eigenwillig und voll sarkastischem Witz wie »Papier-Männer«, ein Höhepunkt im literarischen Werk des Autors und wohl auch ein wenig autobiographisch: Wilfred Barclay, ein weltberühmter englischer Schriftsteller, lebt geruhsam mit seiner Frau auf dem Land. Eines Tages besucht ihn der junge Professor Rick L. Tucker, und was Barclay zunächst nur als Störung empfindet, verändert schnell sein ganzes Leben. Tucker will die einzig autorisierte Biographie des großen Dichters schreiben und zu diesem Zweck auch sämtliche unveröffentlichten Arbeiten, Briefe und überhaupt alle vorhandenen Papiere einsehen. Barclay wehrt sich heftig gegen die Schnüffeleien des Professors: Er will sein Leben, seine Papiere für sich behalten, will bestimmte Dinge vergessen, mit dem Vergangenen nicht konfrontiert werden. Barclay flieht aus seinem Haus, nachdem er sich mit seiner Frau entzweit hat, und beginnt eine Reise, die immer wieder eine Flucht vor Tucker ist, um die ganze Welt. Zunächst lebt er längere Zeit mit einer Geliebten in Italien, doch als die ihn verläßt, ist er weiter ruhelos unterwegs: Mit Leihwagen und Flugzeugen reist er von Hotel zu Hotel, weiß oft nicht, wo er sich überhaupt befindet, trinkt mehr und mehr, verliert langsam die Beziehung zur Realität. Doch Tucker bleibt ihm immer auf der Spur. Sein Lebensinhalt ist das Buch über Barclay geworden, er will der Nachlaßverwalter sein, der einzige, der alles über den berühmten Schriftsteller weiß.
William Golding
Papier Männer
Roman
Non-profit ebook by tigger, Juli 2003 Kein Verkauf!
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Paper Men«
bei Faber and Faber Limited, London
Aus dem Englischen von Emil Bastuk
© William Golding 1984
Alle deutschen Rechte bei
C. Bertelsmann Verlag GmbH, München 1984 / 5 4 3 2 1
Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh
Printed in Germany • ISBN 3-570-01747-8
Für meinen Freund und Verleger CARLES MONTEITH
KAPITEL I Es war also wieder einmal einer jener Abende gewesen. Der Alkohol verdampfte allmählich aus meinem Kopf und hinter ließ einen Bodensatz von Gereiztheit, Unbehagen und sogar Reue. Dabei hatte es sich keineswegs um ein Besäufnis gehan delt, oh, nein. Mit einiger Mühe mochte es mir sogar gelingen, jedermann davon zu überzeugen, daß ich abends nicht mehr getrunken hatte als dem Anlaß angemessen war: Ein englischer Schriftsteller, ich also, hatte einen Professor für englische Literatur zu Gast, der eigens aus den USA angereist war. Auch konnte ich anführen, daß wir meinen fünfzigsten Geburtstag feierten und eine jener ausgedehnten Mittagsmahlzeiten einge nommen hatten, die das Herzstück der europäischen Zivilisa tion darstellen (letzteres ein Zitat, oder vielleicht auch nicht?). Der unerbittliche Analytiker meines Charakters indessen – ich selber – wollte sich damit nicht abspeisen lassen. Schon beim Mittagessen hatten wir getrunken, und dies war der fatale erste Schritt auf dem Wege in eine ausgedörrte Einöde, die sich notgedrungen über die gesamte Spanne von vier bis sechs Uhr nachmittags erstrecken mußte, weil man seinem Gast vor sechs nicht gut schon wieder einen Drink anbieten kann; gleichwohl fühlte ich mich gedrängt, ja geradezu genötigt, diesen Zeit punkt um eine Stunde vorzuverlegen, was unausweichlich üble Folgen haben mußte. Daß ich mir um halb vier Uhr in der Frühe zu einem gewissen Grad von Nüchternheit gratulieren durfte, mochte ein winziger Triumph sein, doch die meisten Menschen hätten wohl eine Niederlage darin gesehen. Und zum Frühstück hatte ich überdies mit der Anwesenheit des langweiligen jungen Professors Rick L. Tucker zu rechnen! Bei dem Gedanken an diesen Menschen fuhr ich im Bett hoch, sank aber sogleich ächzend wieder zurück. Es war nur ein 6
geringer Trost, daß er nicht auch noch eine Ehefrau dabei hatte, denn der hätte ich mich womöglich unsittlich genähert, ihr mindestens Zweideutigkeiten ins Ohr geflüstert. Und dann würden wir wieder zu trinken anfangen. Nein, ich würde wieder damit anfangen, weil sich die Gelegenheit bot, aus Langeweile auch, und damit meinen eigenen hochmoralischen Vorsatz ad absurdum führen, nicht mehr zu trinken, den ich doch erst vergangenen Montag gefaßt hatte und der unumstöß lich sein sollte. Und noch etwas. Da, wo der gestrige lange Sommerabend in Nacht übergegangen war, klaffte in meiner Erinnerung ein gähnendes schwarzes Loch. Allerdings erkannte ich dessen Ränder jetzt etwas schärfer, denn mir fiel ein, daß ich irgend wann noch eine Flasche heraufgeholt und diese ungeachtet aller Proteste geöffnet hatte. Und danach? Ich prüfte Kehle, Gaumen, Kopf und Magen. Undenkbar, daß ich aus dieser (der fünften!) Flasche noch erhebliche Mengen getrunken hatte, andernfalls wäre mein Kopf … wäre mein Magen … wäre das schwarze Loch … In genau diesem Moment – und wenn ich wollte, könnte ich in dem Wust jener Journale, die ich in kurzem verbrennen werde, nicht nur das Datum, sondern auch die genaue Uhrzeit feststellen –, in diesem Moment also kam mir die Erkenntnis, daß Trinken zum Alkoholismus geworden ist, wenn man jenes schwarze Loch als einen Teil dieser Befindlichkeit begreift. In der schreckenerregenden Nüchternheit der frühen Morgenstun de wurde mir auch klar, daß die Symptome bereits die Unheil barkeit der Krankheit implizieren. Denn sie ist Teil des geisti gen Verfalls, eines Vorgangs, dem jedermann unterworfen ist. Ich richtete mich noch einmal im Bett auf, diesmal behutsamer. Draußen wurde es allmählich hell. Ich legte gleichsam einen anderen Gang ein – womöglich ebenfalls ein Symptom –, betrachtete mit kaltem, realistischem Scharfsinn meine Lage von allen Seiten, setzte eine ganze Heerschar von unbestechli 7
chen Spähern ein, die nun ihrerseits womöglich all die unaus sprechlichen Schrecken bewirken würden, von denen in allen Berichten über Rauschgiftsucht die Rede ist. Man konnte sich sehr wohl eben diesen düsteren, trockenen Scharfblick selbst als etwas Monströses vorstellen, das noch nicht sichtbar war, und, wie ich mir in einem Anfall von Verzweiflung vornahm, niemals sichtbar werden durfte. Ich würde das schwarze Loch bekämpfen, in Kneipen und Restaurants, zu Lande und in der Luft, im eigenen Haus und sogar in den köstlichen Flaschen selber, in der Hoffnung, endlich zum Genuß zu kommen, ohne dafür zahlen zu müssen, oder aber auch am hellen Tage zu genießen – alles besser als diese kalte, trockene Scharfsicht, die kurzen Prozeß mit mir machte, wie ich mich erinnere, auf eine tiefgreifende, grausame, verachtungsvolle Weise. Nein, nein, wehrte ich mich, so schlimm kann es nicht stehen! Doch dann fielen mir die Worte des Weisen ein: Bedenke, alles, was Menschen zustoßen kann, kann auch dir widerfahren. Ich nahm mich zusammen. Umfassende Garantien gibt es nun mal nicht. Es mochte da ja ein schwarzes Loch klaffen, doch ein reuig ernüchterter Mensch sollte als erstes die Lage prüfen, einen Lichtstrahl hierher und dorthin wandern lassen, bis sich in dessen Schein das Loch als weiter nichts erweist denn als ein Fall von Vergeßlichkeit, die mit zunehmenden Jahren ebenfalls zunimmt. Mein Verstand sagte mir, daß ich zu diesem Zweck ein Werkzeug bei der Hand hatte. Ich brauchte nur nach unten zu gehen, die vier leeren und die teilweise geleerte fünfte Flasche zu inspizieren, mich nach Art von Holmes oder Maigret umsehen und anhand von Beweisen – Gläser, Flaschen, Weinlachen etc. – rekonstruieren, was zwischen Abendessen und Zubettgehen vorgefallen oder, so Gott wollte, nicht vorgefallen war. Gewiß würde ich die fünfte Flasche zwar entkorkt, aber zur Gänze gefüllt vorfinden … In diesem Moment drehte Elizabeth sich im Schlafe seufzend um. Die würde selbstverständlich Bescheid wissen, oh ja! Von 8
ihr würde ich schon alles erfahren, aber weshalb sie jetzt wecken und fragen? Ich konnte die Wahrheit entdecken, wenn ich in Schlafrock und Pantoffeln nach unten schlich, ausgerü stet mit der Taschenlampe, die ich auf dem Nachttisch hatte, weil bei uns hier draußen häufig der Strom ausfällt. Auch durfte ich mich nicht irreleiten lassen durch eigene, auf Trun kenheit zurückzuführende Versuche, Beweismaterial zu unter schlagen. Die Flaschen mußten gewissenhaft überprüft werden. Falls notwendig, müßte ich durch die Hintertür – nein, die Tür vom Wintergarten machte weniger Geräusche – zur Mülltonne schleichen und schlichtweg die leeren Flaschen zählen. Denn um die Wahrheit zu sagen, glaubte ich bereits selber nicht mehr an jene noch gefüllte, wenn auch entkorkte fünfte Flasche. Das wäre ein Wunder gewesen, und obschon Wunder sich ereignen, tun sie mir diesen Gefallen offenbar nie. Indessen war ich bereits so geschwächt – mehr im Geiste als am Körper –, daß der Gedanke, ich könnte Elizabeth unwillentlich wecken, mich ebenso schreckte wie der Gedanke, in kaltes Wasser zu sprin gen. Kaltes Wasser ist mir seit je zuwider. Nun allerdings wurde ich überraschend zu einem Entschluß gezwungen, denn der Deckel der Mülltonne vor der Hintertür fiel herunter. Plötzlich klärte sich die Lage. Ich war nicht mehr der bußfertige Trinker, sondern der empörte Hausbesitzer. Sir, wie lange sollen wir noch die als aufgeklärten Tierschutz verkleidete Belästigung durch diese tolpatschigen Kreaturen ertragen und zugleich Gefahr laufen, von ihnen mit einer Krankheit infiziert zu werden, die schon als ausgestorben gilt? Zwar ist zu bedenken, Sir … Sir … Sir … Verflixte Dachse. Ich entwand mich dem Bette, einerlei, ob Elizabeth erwachte oder nicht. Außer einer uralten, aber durch schlagkräftigen Luftbüchse war keine Schußwaffe im Hause. Mitsamt den dazugehörigen Bleikugeln hatte ich sie unter Begleitumständen erworben, die hier darzulegen zu weit führen würde. Ich sah schon die Schlagzeile: Schriftsteller, nein, 9
bekannter Schriftsteller, ach was, Wilfred Barclay erschießt Dachs. War das durch Gesetz verboten? Durch eines, das womöglich auf König Johann oder noch weiter zurückging? Durfte man etwa auf seinem eigenen Grund und Boden keinen Dachs schießen? Mein Kopf war wunderbar klar, mein Kater wohltuend abgedrängt. Ich fühlte mich begnadigt. Vielleicht dank der Aussicht, etwas töten zu dürfen, was schließlich das ererbte Privileg des Grundbesitzers ist. Ich streifte den Mor genmantel über, fuhr in die Pantoffeln. Dann schlich ich mich nach unten, vorüber an dem Zimmer, in dem unser Gast seinen einsamen Schlummer im letto matrimoniale des überzähligen Schlafzimmers genoß. Aus dem Wandschrank neben dem Kamin im Eßzimmer zog ich die Flinte hervor, spannte und lud. Sodann ging ich auf Zehenspitzen in den wohlig warmen Wintergarten, öffnete die Tür und spähte um die Ecke. Hier allerdings stand ich vor einem Dilemma. Wie soll man einen Dachs erschießen, den man nicht anders wahrnimmt denn als Ausdehnung der Mülltonne? Das Vieh umklammerte den Tonnenrand mit seinen Pfoten, hatte den Kopf hineinge steckt und wühlte ekelerregend, aber eifrig im Abfall. Wahr scheinlich nagte es an alten Speckschwarten, leckte Reste der Pastete auf oder vergnügte sich mit dem Knochen des Vorder schinkens. Ein wildes Tier, möglicherweise von Vergasung bedroht, aber nur durch die zuständigen Behörden. Und noch etwas – lag wirklich trotz der Jahreszeit spürbare Kühle in der Luft? –, waren Dachse nur deshalb gefährlich, weil sie Krank heiten übertrugen, oder auch ihrer Zähne und Krallen wegen? Greift ein angeschossener Dachs den Schützen an? Würde ein verwundeter Dachs, der womöglich gar Junge führte – waren etwa Junge bei ihm? –, mir an die Kehle springen? Meine Lage war also, wie man sieht nicht einfach, und kompliziert wurde sie ferner durch einen ganz albernen Umstand. Ich trug nämlich einen alten Schlafanzug, und die Kordel des Schlafrocks umspannte meinen Leib etwas oberhalb der Stelle, wo der 10
elastische Bund der Schlafanzughose ihn hätte umspannen sollen, der war jedoch zu ausgeleiert, um diesen Zweck zu erfüllen. Die Hose tat also, was sie immer tat, auch unter veränderten Umständen. Hatte ich abgenommen, rutschte sie runter. Hatte ich zugenommen, rutschte sie ebenfalls. Mit der einen Hand hielt ich das geladene Luftgewehr, mit der anderen die Taschenlampe, und die dritte Hand, die die rutschende Schlafanzughose hätte halten sollen, fehlte. Ich bekam die Hose gerade noch mit den zusammengepreßten Knien zu fassen. Vielleicht war dies nicht die richtige Art, einem an stürmenden Dachs entgegenzutreten? Ich erkannte hierin einigermaßen besorgt die Hand meiner ganz persönlichen Nemesis, die mich gern in Possen verwickelt. Am Mülleimer rührte sich was. Ich bewegte mich drauf zu, in einer Hand das Gewehr, mit der anderen in meiner Tasche die Lampe und zugleich den Hosenbund umklammernd. Ein Windstoß ließ die Obstbäume rauschen. Ich erreichte in genau jenem Moment die Mülltonne, als der Dachs, vielleicht durch den Windstoß aufgeschreckt, jede Bewegung einstellte. Zwi schen ihm und mir nur die Mülltonne. Der Dachs blickte auf und stieß den einzigen »erstickten Schrei« aus, der mir außer halb von Büchern je begegnet ist. Daran schloß sich ein Laut, der in den Sprechblasen der Comics meist als Glubb wiederge geben wird. Über dem jenseitigen Rand der Mülltonne wurde nun das vom morgendlichen Licht schwach erhellte Gesicht von Professor Tucker sichtbar. Eigentlich hätte ich mich für ihn schämen sollen, tat es aber nicht. Er hatte sich aufgedrängt, mich gelangweilt, hatte seine Nase in alles und jedes gesteckt und deutlich zu erkennen gegeben, daß er mich als Opfer seiner Wissenschaft betrachtete. Nun aber hatte ich ihn bei etwas Undenkbarem ertappt. Ich dämpfte keinen Moment die Stim me. Auch wenn die ganze Welt aufwachen sollte, ich sah keinen Grund, die Tatsache zu verheimlichen, daß ich einen leibhaftigen Professor für englische Literatur beim Wühlen in 11
meiner Mülltonne ertappt hatte. »Sie müssen wohl sehr hungrig sein, Tucker. Tut mir leid, daß wir Sie nicht besser gefüttert haben.« Er blieb völlig stumm. Ich sah, daß hinter ihm die Küchentür offenstand. Ich konnte nicht hindeuten, weil ich keine Hand frei hatte. Also schwenkte ich das Luftgewehr in jene Rich tung, und die herrische Gebärde bewirkte, daß mein Zeigefin ger (an Gewehre einfach nicht mehr gewöhnt) den Abzug berührte. Das Gewehr ging los, mit einem Plopp, das bei Tage nicht mehr Lärm gemacht hätte als ein Korken, den man aus der Flasche zieht, jetzt vor Sonnenaufgang aber klang es wie der erste Schuß bei der Landung in der Normandie. Womöglich entfuhr Tucker ein weiterer erstickter Schrei, doch ich hörte weiter nichts als den Knall, sein Echo und ein Gebrüll, das sich anhörte, als stamme es von den Vögeln aus einem Umkreis von mehreren Meilen. Tucker machte kehrt und taperte tolpatschig wie ein Dachs zur Küche, ich humpelnd hinterdrein. Hier machte ich Licht, schloß die Tür und lehnte das Luftgewehr daneben. Ich ließ mich am Küchentisch auf einem Schemel nieder, und Tucker setzte sich mir gegenüber, als sei ein weiteres Interview oder gar die Fortsetzung des gestrigen unvermeidlich. Mein eigenes possenhaftes Auftreten und meine Tölpelhaftigkeit verwandelten meine Gereiztheit in Wut. »Jetzt hören Sie aber mal, Tucker …!« Auf seiner Wange waren Spuren von Marmelade zu sehen und Teeblätter an seiner Hand. Daran war zu erkennen, wie emsig er gesucht hatte, sogar in den Plastiktüten, die für die Müllmänner – oder Hygienetechniker, wie der Amerikaner Tucker vermutlich gesagt hätte – eigens rausgestellt wurden. In der Rechten hielt er einen kleinen Berg Papier, Papiere, wie ich sah, von denen ich noch vor vierundzwanzig Stunden geglaubt hatte, sie seien spurlos beseitigt. An seinem Schlafrock haftete ein Fetzen, der mit weit ausholenden, kindlichen Schriftzeichen bedeckt war. 12
»Lieber Himmel, Tucker, Sie sind wirklich … Glauben Sie denn, ich schmeiße Zeug weg, das …« Eine unbehagliche Erinnerung meldete sich. So einfach war das leider nicht. »Was Sie da erwischt haben, Tucker, nennt man Fan-Post. Viel bekomme ich nicht, und die Briefe, die ich kriege, sind weniger wert als Klosettpapier. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen eine Rolle.« »Bitte, Wilf …« »Und geschnitten haben Sie sich auch. In der Mülltonne liegen nämlich Flaschenscherben.« Er wiegte sich auf seinem Schemel. »Angeschossen …« Es war, als hörte ich den ersticken Schrei zum erstenmal, als hörte ich das Wort »angeschossen« zum erstenmal. »Herr im Himmel!« Ich sprang auf, machte einen Schritt und hielt mich an der Tischkante fest, um nicht zu fallen. Meine Schlafanzughose war im Nu bis auf die Knöchel gerutscht. Als mir klar wurde, wie schlimm die Lage war, strampelte ich mich frei. Es war eine Peripetie, wie man sie ärger nicht ausdenken konnte. Eben noch ganz empörte Rechtschaffenheit, war ich jetzt ungeheuer lich im Unrecht. »Zeigen Sie mal her.« »Nein, nein, es geht schon.« »Unsinn, Mann! Lassen Sie sehen.« »Es ist bestimmt nicht schlimm …« Ich riß an der Kordel seines Schlafrockes, zerrte ihm das Ding von der Schulter, und zum Vorschein kamen eine dicht behaarte Brust, dann ein schmalerer Streifen, der in die noch dichter behaarte Region seiner Geschlechtsteile führte. »Wo denn nur, um Gottes willen?« Er schwieg, schwankte leicht. Der Schlafrock glitt von sei nem stämmigen Oberarm auf einen ebenso stämmigen Unter arm, und ich bereitete mich auf eine klaffende, blutige Wunde 13
vor. Ich streifte den Ärmel ganz ab und gewahrte einen kleinen Bluterguß und einen Kratzer in der Haut. Eine winzige Blut spur zog sich bis zum Handrücken. »Tucker, Sie Narr, Sie sind überhaupt nicht verletzt!« Wie auf ein Stichwort öffnete sich die Küchentür, Bühne links. Elizabeth trat auf, warf einen Blick auf Tuckers behaarte Blöße und meine weggestrampelte Schlafanzughose. »Ich möchte nicht pedantisch erscheinen, aber es ist recht spät, und ich fühle mich im Schlaf gestört. Könntet ihr beiden dabei vielleicht etwas weniger Lärm machen?« »Wobei, Liz?« »Nun, bei dem, was ihr da treibt.« »Aber siehst du nicht? Ich habe ihn angeschossen! Er war an der Mülltonne, Aschentonne, Abfalltonne. Der Dachs – ah, mein Gott, wie soll ich das erklären!« Elizabeth lächelte schaurig süß. »Es wird dir schon gelingen, Wilfred, laß dir nur Zeit.« »Ich habe ihn für den Dachs gehalten und versehentlich mit dem Luftgewehr auf ihn geschossen, verstehst du?« »Ich verstehe sehr gut«, sagte Elizabeth voller Charme, »aber wenn ihr jetzt weitermacht, nehmt etwas Rücksicht.« »Liz!« Sie bückte sich nach einem Fetzen Papier, der Tucker entglit ten war, las erst stumm, dann laut: »… sehne mich so sehr nach Dir! Lucinda.« Sie wendete den Fetzen um, schnupperte kennerisch daran. »Und wer, bitte, ist Lucinda?« Dann aber, von einem Moment zum nächsten, war sie wieder die perfekte Gastgeberin. Sie wollte sich davon überzeugen, daß Tuckers nun bedeckte haarige Blöße keinen Schaden genommen hatte. Sie deutete an, daß sie genau diese Art Scherz gewöhnt sei und besonders genieße. Bald schon ließ sie uns am Tisch allein. Mein Kater hatte mich wieder und war nur zu ertragen, weil ich vor Wut fast barst. 14
»Ich wollte, ich hätte Sie wirklich erschossen!« Tucker nickte unterwürfig, durchaus bereit, für die Sache der Wissenschaft den Tod zu erleiden, ja er gestand mir, diesem fabelhaften Autor, das Recht darauf zu. Er gestand mir über haupt vorbehaltlos zu, über alles in der Welt zu bestimmen, ausgenommen die Wörter, die ich niedergeschrieben oder die man an mich geschrieben hatte, die ihrer Natur nach … oder war es meiner Natur nach …? Doch lassen wir das. Noch jetzt erinnere ich mich daran, wie sehr ich ihn verabscheute, wie ich Liz fürchtete, mich über die unmögliche, törichte Lucinda ärgerte. Man gebe an dieses Gemisch noch eine Prise Wut auf mich selber und rasenden Zorn auf die Unwägbarkeit und die Unerbittlichkeit des Faktischen. Jenseits aller Verwicklungen auf dem Papier, den Manipulationen der Handlung, der Zeich nung der Charaktere, der Verknotung der Handlung und ihrer Auflösung, hier, in der wirklichen Welt der wirklichen Müll tonnen, hatten die absolut unglaubhaften Handlungen der Beteiligten Sachverhalte ans Licht des Tages gebracht, die ich vor den Betroffenen verborgen und endgültig abgetan glaubte. Und bei alledem konnte ich mich nicht einmal damit trösten, einen moralischen Sieg errungen zu haben – ich war als unmo ralisch gebrandmarkt. »Tucker.« »Nennen Sie mich doch bitte wieder Rick, Wilf.« »Hören Sie, Tucker. Morgen wollten Sie abreisen, ich meine heute. Und ich will Sie nie mehr sehen. Nie, nie, nie, nie.« »Sie machen mich zutiefst unglücklich, Wilf.« »Scheren Sie sich endlich ins Bett.« Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch, den Kopf in die Hand flächen. Ganz plötzlich überkam mich schwärzeste Verzweif lung. »Gehen Sie schlafen, trollen Sie sich, lassen Sie mich allein.« Seine Antwort zeugte von seiner törichten Ehrerbietung. »Ich verstehe, Wilf. Die Bürde lastet schwer auf Ihnen.« 15
Endlich fiel die Küchentür hinter ihm zu. Pures Selbstmitleid trieb mir das Wasser in die Augen. Lucinda, Elizabeth, Tucker, das Buch, mit dem ich nicht vorankam – die Tränen tropften auf meine Handflächen wie das Blut aus Tuckers Unterarm. In den Bäumen begrüßten die Vögel den Sonnenaufgang aus voller Kehle. Endlich öffnete ich die Lider. Ah, ich hätte es wissen müs sen. Der Beweis stach mir förmlich in die Augen. Ich ging zur Spüle, ergriff die Flasche, die ich entkorkt und die keiner hatte anrühren wollen. Sie war leer. Daneben stand noch eine geleer te Flasche. Mein Kater überwältigte mich. Ich suchte nach Pillen, ir gendwelchen, nahm welche von Liz, die auch früher schon geholfen hatten. Draußen fiel die Mülltonne um. Ich taumelte wutentbrannt hinaus. Ein schwarzweißes Vieh mit gesträubten Nackenhaaren rannte am Fluß entlang in Richtung auf das Mühlenwehr, über das es den Wald am anderen Ufer erreichen konnte. Die Mülltonne war umgekippt. Der Dachs hatte eine Spur aus Abfällen hinter sich hergezogen, Tüten, Flaschen, Fleischreste, Eierschalen, und dazwischen, bekritzelt, bedruckt, maschinebeschrieben, weiß und bunt, Papier, Papier, Papier. Das war zuviel. Sollte die Müllabfuhr sehen, wie sie damit fertig wurde. Ich schlich behutsam, wie mir schien, durchs Haus, betrat ein taghelles Zimmer, und Elizabeth wandte sich mir zu. »Ich schlafe nicht.« »Also, Liz …« »Sehne mich so sehr nach Dir! Lucinda.« Zum Sprechen fühlte ich mich außerstande, also nahm ich die Steppdecke und tastete mich halb blind in jenes Loch, das ich gelegentlich als mein Arbeitszimmer bezeichne. Der Vogellärm war erstorben, und ich wußte, die Geräusche des Montagmorgens würden beginnen, bevor mein Kopf auch nur annähernd in einem erträglichen Zustand wäre. In diesem 16
Moment – besser: zu diesem kritischen Zeitpunkt – erinnerte ich mich nicht eigentlich ruckartig, sondern von Krämpfen geschüttelt: Auch zerrissene Fotos waren in dieser Mülltonne. Warum nur hatte ich in jenen Schachteln gekramt, in der Absicht, beschämende Reliquien (meine Vergangenheit) loszuwerden, und sie in der Mülltonne versenkt, statt sie zu verbrennen? Warum hatte ich Tucker davon erzählt? Warum war er ein so hingebungsvoller, entschlossener, beharrlicher Tropf? Irgendwo unter all diesem verstreuten Müll, zerknittert, eingerissen, mit Fett oder Marmelade beschmiert … kein Mensch konnte wissen, ob jemand aus dem Haus, unsere Putzfrau, die Müllmänner, der Milchmann oder … vielleicht auch im Magen des Dachses oder in seinem Bau … also Tatsache war, daß Rick L. Tucker und ein Dachs dank ihrer Possen vor Morgengrauen mich in die Gefahr gebracht hatten, gleichzeitig Ehefrau und Würde zu verlieren. Die Emsigkeit, die demütige Beharrlichkeit, die anfangs spaßig gewirkt hatten, kamen mir nun bedrohlich vor wie eine Krankheit. Es war, als wäre alles Papier von Natur aus klebrig geworden, so klebrig, daß man nie mehr loswerden konnte, was man ihm anvertraut hatte, sei es nun Fett oder Marmelade, oder Wörter. Es war zum Fliegenpapier geworden und ich zur Fliege. Es war die Dionaea aspergillum, war der Sonnentau, die Fußspuren im Sande der Zeit, die ich, wie mir jetzt aufging, lieber nicht hinterlassen hätte …
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KAPITEL II »Und wer, bitte, ist Lucinda?« Das war der Anfang vom Ende meiner Ehe mit Liz. Man heirate nie eine um zehn Jahre jüngere Frau. Dank der ein schlägigen Gesetze dauerte die Scheidung Jahre. Dabei waren wir, sind wir und werden wir immer sein: zutiefst einander verbunden, nicht in Liebe oder Haß, auch nicht durch einen jener platten Kompromisse wie Haßliebe. Einerlei, wie man es nennen will, unsere Ehe war ein Fakt, mußte genossen, erlitten, bekämpft werden. Wir paßten nicht die Spur zueinander, etwas anderes als Disharmonie zu erzeugen, war uns unmöglich. Bevor Liz erkrankte, war sie ausgewogen und moralisch. Ich hingegen war überzeugt – das sehe ich jetzt –, daß ich nur durch Amoralität ausgewogen bleiben konnte. Diese Amorali tät verlangte allerdings, daß manches verborgen bleiben mußte. Aber wer will sagen, was Liz wußte oder argwöhnte? Der beschmutzte Fetzen Papier wirkte als Katalysator. Wäre ich aufmerksamer gewesen, ich hätte darin, daß er aus der Mülltonne zum Vorschein kam, bereits ein Eckchen jenes Schemas erkennen müssen, das mein ganzes Leben bestimmte. Lucinda hatte nämlich vor der Ehe stattgefunden, und als die Mülltonne umfiel, war ich gerade mit einem Mädchen zugange, das ich mit Erfolg verborgen hielt. Ironie? Das Auge der Osiris? Weil ich mit Rick L. Tucker und diesem Fetzen Papier in der Küche ertappt worden war, ließ ich mich dazu verführen, genau das zu tun, was ich ansonsten vermied: Ich legte eine vollständige Beichte ab. Entgegen aller Erwartung (wie sie besonders durch Romane erzeugt wird) zeigte Elizabeth Ver ständnis, ohne zu verzeihen. Wenn ich jetzt im reifen Alter darüber nachdenke (Greis, in der Sonne sitzend), vermute ich 18
allerdings, daß sie nur einen Vorwand suchte. Unser Gezänk war schlimmer als ein Duell. Wir waren weltgewandt, aber nicht zivilisiert. Ich zog in den schäbigeren der Clubs, denen ich angehörte, nachdem ich ihr eröffnet hatte, sie könne gerne Haus und Garten, Stallungen und Pferde, die Automobile, das Boot und die Gesellschafteranteile haben, ich hielte es so nicht mehr aus. Im Club durfte man nur eine streng begrenzte Zahl von Nächten hintereinander übernachten. Als ich versöhnungs bereit zurückkehrte, stellte sich heraus, daß sie ihrerseits das Haus verlassen hatte. Auf einem Zettel ließ sie mich wissen, ich möge Haus und Garten, Stallungen und Pferde, die Auto mobile, das Boot und die Gesellschafteranteile behalten, sie halte es so nicht mehr aus. Auch da noch hätten wir womöglich wieder zueinander ge funden und uns gestritten, bis das hohe Alter uns beiden den nötigen Sinn für Humor beschert hatte, wäre nicht dieser Pferdenarr Capstone Bowers am Horizont erschienen. So blieb es denn Julian überlassen, nach und nach alles zu ordnen – Fährnis und Liegenschaften, oder wie das schon heißt –, und die Ehe wurde so gründlich gelöst, wie eine langdauernde Ehe überhaupt je gelöst werden kann. Zu Schaden kam dabei, wie ich glaube, nur unsere bedauernswerte kleine Emily. Hum phrey Capstone Bowers begegnete ich nur ein einziges Mal; wir verabredeten uns in jenem schäbigen Club, dem Random. Die Mitglieder – wir – sind ein buntes Gemisch von Papier menschen, angefangen bei Werbeleuten, über Autoren von Kinderbüchern bis hin zu schlichten Pornographen. Man könnte sagen, gleich nach mir ist Anonymus unser gefeiertstes Mitglied. Capstone Bowers rümpfte die Nase, als er etliche dieser Herren erblickte – er ist wohl der letzte Engländer, der ein Monokel trägt –, und murmelte, einer solchen Gesellschaft sei er nie zuvor begegnet. Als ich ihn drängte, sich genauer auszudrücken, nannte er die Anwesenden Buschmänner. Um sein Bild abzurunden: er schoß in allen Erdteilen Großwild und 19
in Bisley nach der Scheibe. Gegen Ende des kurzen Gesprä ches, das, wie er sagte, dazu dienen sollte, »alles Nötige zu klären«, bereitete ich mich im stillen darauf vor, meine nicht unwesentliche Redegabe einzusetzen, um ihm zu sagen, was ich von ihm hielt, doch er kam mir zuvor. »Sie sind ein richti ger Scheißkerl, Barclay«, sagte er mit entwaffnender Offenheit. Man sieht daran, was für ein Mensch er war. Nun ja. Mit dreiundfünfzig Jahren frei! Was für ein Blödsinn. Was für ein verdammter Blödsinn! Ich sah mich der Freiheit ausge setzt. Und ich rate jedem, die Finger davon zu lassen. Sieht man sie kommen, heißt es weglaufen. Verlockt sie zum Weg laufen, gilt es auszuharren. Man glaube es oder nicht, doch hatte ich nichts weiter im Kopf als Sex, Erwartungen, die sich um Frauen drehten, jung genug, meine Töchter, wenn nicht Enkelinnen zu sein. Deshalb wohl machte es mir nicht das geringste aus, als Capstone Bowers zu Liz zog. Das beeinträch tigte keineswegs unsere unzerbrechliche, unerträgliche Bin dung. Die arme kleine Emily allerdings litt. Sie lief weg und mußte von der Polizei eingefangen werden. Ich verstand, daß sie fortlief. Ich habe seither erfahren, daß sogar die Pferde Capstone Bowers nicht ausstehen konnten. Ich reiste. Bekannte hatte ich reichlich, Freunde wenige. Ich besuchte einen oder zwei. Einer stellte sogar eine Frau für mich bereit, doch das war eine ernsthafte Akademikerin, noch dazu eine Strukturalistin. Da hätte ich ja auch gleich mit Rick L. Tucker ins Bett gehen können. Ich reiste also nach Italien, und hier ergriff Ironie allsogleich die Zügel, denn ich ließ mich mit einer beinahe gleichaltrigen Italienerin ein. Ich habe sie wohl ganz gut leiden können, doch was mich länger als zwei Jahre bei ihr festhielt, war ein piano nobile, das einem Museum glich, und Dienstboten, die sich nicht erlaubten, spöttisch zu grinsen. Ich weiß noch, daß ich töricht genug war – oh, Barclay, Barclay, was bist du doch für 20
ein Snob! –, Elizabeth anzurufen und sie zu bitten, mir Emily zu schicken. Die verabscheute Italien, das Haus, meine italieni sche Gespielin und, leider muß es gesagt werden, mich. Also machte sie kehrt, und ich habe sie jahrelang nicht mehr gese hen. Während all dieser Monate schrieb, auch wenn ich kaum darauf achtete, mich höchstens mal leicht irritieren ließ, Profes sor Tucker Briefe, die Elizabeth nachschickte, weil sie so Gelegenheit hatte, mich wegen meiner Papiere zu drangsalie ren. Sie seien überall im Hause verstreut, und täglich würden es mehr, weil immerzu was geschickt würde. Ich kümmerte mich nicht um ihre Briefe. Erst als sie telegrafierte: WAS UM ALLES IN DER WELT SOLL ICH MIT DEINEN PAPIEREN ANFANGEN, WILF? antwortete ich VERBRENN DEN GANZEN MIST. Das tat sie aber nicht. Statt dessen verstaute sie alles in leeren Teekisten, nagelte sie zu und schleppte sie in den Weinkeller. Capstone Bowers war außerhalb von Großwildreservaten und Schieß ständen ein totaler Ignorant und begriff nie, was diese Papiere eines Tages wert sein würden. Meine italienische Idylle fand nunmehr ein Ende. Tatsache ist, daß meine Gespielin ein Opfer der Religion in Gestalt des Paters Pio wurde. Aus purer Neugier hatten wir eine jener Frühmessen besucht, die damit enden, daß die Gläubigen en masse nach vorne drängen, um einen Blick auf den Stigmati sierten zu werfen, bevor er weggeführt wird. Daß diese kühle, so zivilisierte Frau sich daran beteiligte, war für mich ein kleiner Schock. Endlich kam sie zurück, Tränen in den Augen hinter dem Schleier. Ihre Stimme bebte von einer Art trium phierender Trauer. »Nun, zweifelst du noch?« Das ärgerte mich. »Ich habe bloß gesehen, daß man einen bedauernswerten alten Mann vom Altar weggeschleppt hat.« In der Kirche sagte sie nichts mehr, dafür aber im Wagen auf 21
der Rückfahrt »nach Hause«. Ich weiß jetzt, daß ihre wie meine Reaktion darauf beruhte, daß wir alle beide betroffen waren und deshalb so heftig stritten, wobei mich der brennende Wunsch trieb, es möge kein Wunder gegeben haben. »Das ist doch alles pure Hysterie.« »Und ich sage dir, ich habe die Wundmale gesehen. Der Herr vergebe uns, wir sind nicht wert, dieses Wort auch nur auszu sprechen.« »Angenommen, du hast sie wirklich gesehen – was beweist das schon?« »Da ist nichts anzunehmen.« »Man kann sich sehr wohl in solche Sachen hineinsteigern. Denk an Scheinschwangerschaften – alle Symptome, aber kein Kind. Erinnerst du dich an das, was ich aus meiner Zeit als Bankangestellter erzählt habe?« »Du bist widerlich, Wilfred Barclay.« »Und dann das andere, Jahre später. Schau meine Hand an! Man hat mich hypnotisiert, will sagen, ich wurde von einem beruflichen Hypnotiseur hypnotisiert. Das war auf einer Party und meine, meine …« »Ah, immer ich, ich, mein, mein!« »Hörst du jetzt gefälligst zu? Ganz recht, ich bin egoistisch. Ich habe nie für möglich gehalten, daß jemand so was mit mir machen könnte. Und was geschah?« »Ich wünsche, nichts davon zu hören.« »Hier, auf meinem Handrücken, meine eigenen Initialen, wie Narben, wie Brandzeichen …« »Ich will davon nichts hören!« (Aber der Mann wußte es besser. Das war sein Sieg, seine Macht. Er lächelte aufreizend selbstgefällig. Sie sind sehr empfänglich für hypnotische Suggestionen, Sir. Meine Damen und Herren: Applaus für Mr. Barclay!) »Ich verstehe, daß du nicht darüber reden willst, meine Lie be, und ich will dich keinesfalls kränken, doch solche Dinge 22
können durch Suggestion bewirkt werden.« »Da blutet ein Greis für dich, Tag um Tag, Jahr um Jahr. Er gestattet Gott, ihn gleichzeitig an zwei Orten einzusetzen, weil Pater Pios Güte einfach zu groß ist für die Kräfte eines einzi gen, armseligen Körpers …« Und damit brach diese ungewöhnliche Frau in Tränen aus. Danach gab es selbstverständlich keinen Streit mehr, eher wohl einen Waffenstillstand, Ich behandelte sie mit verständnislo sem, schwerfälligem Takt und ging ihr soweit wie möglich aus dem Wege. Sie ging auf Distanz und verwandelte sich in die perfekte Gastgeberin, ganz wie Liz. Das hat eine fürchterliche Wirkung auf die Umgebung. Lieber wäre mir, Frauen schmis sen mit schweren Gegenständen. Trotz allem wäre das womöglich anders ausgegangen, hätte ich meine Aufmerksamkeit nicht anderswohin gerichtet. Ich hatte einen Vortrag zu halten. Höchst komisch, daß jemand, der nach der fünften Klasse die Schule verlassen hat, so häufig in Gelehrtenkreisen verkehrt. Die Wahrheit ist, daß, was anfangs meinem Selbstgefühl schmeichelte, mir mit der Zeit langweilig wurde und schlimmer. Wie gesagt, ich wurde gelegentlich aufgefordert, zum Wohle meines Landes Vorträge zu halten. Das tat ich gehorsam, vor Akademikern. Man kann zwar Wilfred Barclay mit Recht einen ungebildeten Tropf schelten, der kaum Latein und noch weniger Griechisch kann, der gebrochen mehrere lebende Sprachen spricht und in den Niederungen der Literatur mehr zu Hause ist als auf deren Höhen, doch hat er ein gewisses Etwas. Die Akademiker mußten nämlich eingestehen, daß letzten Endes ich zu denen gehörte, denen sie ihre Daseinsberechtigung verdankten. Ich wiederhole: Außer, daß es mir ein wenig schmeichelte und mir das winzige, vielleicht alberne Gefühl vermittelte, das Vater land brauche mich, sowie dem gelegentlichen Spaß an exoti schen Örtlichkeiten, hatte ich nichts von diesen Vorträgen. Es dauerte allerdings lange, bevor der Groschen fiel, und der 23
Groschen war ausgerechnet Rick L. Tucker, der Dachs von der Tonne. Als meine italienische Gespielin sich des Stigmatisierten halber so äußerst vornehm zurückzog, stand ich im Begriffe, eines Vortrags wegen nach Spanien zu reisen. Ich erwog abzufahren, ohne mich von ihr zu verabschieden, kam aber voreilig zu der Überzeugung, dies müsse die Dinge noch verschlimmern. Jetzt wünsche ich mir, ich hätte schweigend und unter Wahrung meiner Würde das Feld geräumt. »Nun, ich werde also reisen.« Sie wandte das Gesicht nicht ganz mir zu, sondern zeigte nur ihr Profil gegen die abgenutzte Tapisserie. »Es ist genug.« »Was ist genug?« »Wir beide.« »Weshalb?« »Es ist eben genug. Nichts weiter.« Ich überlegte, welche Fragen ich noch stellen könnte, erwog einzugestehen, daß ich mich Padre Pio gegenüber ungezogen verhalten hatte, und ihr anzubieten, mich von diesem bedau ernswerten Greis bekehren zu lassen, sobald ich zurück sei. Die Zeit, so dachte ich, die Zeit heilt alles. »Das besprechen wir, sobald ich zurück bin.« »Geh! Geh! Geh!« Und als wäre das noch nicht genug, brach sie in einen italie nischen Wortschwall aus – Gassenjargon, wie mir vorkam –, von dem ich nur soviel verstand, daß sie an mir, an den Prote stanten, an Männern ganz allgemein und im besonderen an Engländern (personifiziert durch mich) einiges auszusetzen hatte. Ich reiste also nach Sevilla, wo die Tagung in jener alten Tabakfabrik stattfinden sollte, in der Carmen, wie Kenner wissen, ehedem mit den Hüften wackelte, wenn auch jetzt nur eine Universität darin untergebracht ist. Meist bleibe ich am Tagungsort der Tagung fern, bis ich am letzten Tag auftreten 24
und den Schriftsteller spielen muß. Doch der Professor, der mich eingeladen hatte, erwiderte auf meine Frage, ob es denn noch die eine oder andere Carmen gebe, »ja, sehr viele sogar«, und deshalb ging ich mit, ohne zu bedenken, daß gerade Semesterferien waren. Und da, auf dem Podium, dem später auch ich die Ehre antun sollte, stand Rick Tucker und trug aus einem dicken Manu skript vor. Eine verschlafene Zuhörerschaft, bestehend aus Professoren, Lektoren und Doktoranden, bemühte sich nach Kräften, wach zu bleiben, und Professor Tucker machte es ihnen unnötig schwer. Ich nahm auf einem Stuhl ganz hinten Platz und bereitete mich aufs Einschlafen vor. Ich fuhr mit einem Ruck hoch, als ich Tucker in seinem quengelnden Amerikanisch meinen Namen aussprechen hörte. Er las mit gesenktem Kopf aus seinem Manuskript vor und verweilte bei meinen Relativsätzen. Die hatte er offenbar nachgezählt, in allen meinen Büchern. Er habe, so sagte er, eine Grafik angefertigt, und falls man im Anhang zu den wertvollen Unterlagen, welche die Tagungsleitung liebenswür digerweise verteilt habe, die Nr. 27 nachschlagen wolle, so werde man auf die Grafik stoßen und so imstande sein, seine Schlußfolgerungen nachzuvollziehen. Hier und dort nickte jemand ein, riß dann wieder den Kopf hoch. Einige Frauen machten anscheinend Notizen. Vor mir fiel einem Mann der Kopf hintenüber, und man hörte leises Schnarchen. Prof. Tucker kam nun auf den bezeichnenden Unterschied zwischen seiner Kurve und einer von dem japani schen Professor Hiroshige gefertigten zu sprechen; nicht nur hatte Professor Hiroshige (wenn ich richtig verstand) seine Schularbeiten nicht ordentlich gemacht (was uns überraschte), er hatte auch den groben Fehler begangen, meine zusammen gesetzten Sätze mit meinen Hauptsätzen zu verwechseln. Professor Hiroshige möge am besten den Mund halten und das Feld einem anerkannten Experten überlassen, der aus des 25
Autors eigenem Munde vernommen habe, daß er (der Autor) eine so weite Auslegung seiner Ikonographie des Absoluten nicht dulden wolle (oder so ähnlich). Ich genoß es, so dazusitzen und mein Ego gestreichelt zu fühlen, als Tucker beim Umblättern einmal aufsah und ins Publikum blickte. Es war wieder wie an der Mülltonne. Glug oder Gulp. Seine Stimme klang nun schwächer, sein Gesicht lief rot an. Da ich aufmerksam zuhörte, kam ich auch dahinter, warum. Er drückte das Kinn fest in den Kragen. Er gehörte nicht zu denen, die imstande sind, sich von ihrem Manuskript zu lösen. Der Strom der getippten Wörter schwemmte ihn unerbittlich mit, bis zu einem Punkt, den er in meinem Beisein gewiß nicht erreichen wollte. Er behauptete fast murmelnd, aufs innigste mit mir befreundet zu sein und (was ein erfahrener Akademiker gewiß für sich behalten hätte, weil er weiß, daß man sich dabei auf unsicherem Grunde bewegt) meine ausdrückliche mündliche Zustimmung zu allem zu haben, was er, Tucker, hier seinen lustlosen Zuhörern vortrug. Dann kam er wohl an eine noch skandalösere Schilde rung unserer angeblichen Intimität und suchte verzweifelt, frei weiterzusprechen, wendete zwei Blätter um und ließ dann das ganze Manuskript fallen. Davon erwachten die Zuhörer, und ich benutzte dieses kleine Intermezzo, um zu verschwinden. Als ich tags darauf den Vortrag hielt, für den man mich be zahlte, suchte ich den Saal vergebens nach Tucker ab, in der Absicht, ihm mal vorzuführen, was alles man in freier Rede über einen Mann sagen kann, der behauptete, aufs innigste mit mir befreundet zu sein. Warum war er wohl ferngeblieben? Soviel Zartgefühl sah ihm doch gar nicht ähnlich. Der Vorfall geriet allerdings schnell in Vergessenheit, denn nach Italien zurückgekehrt, begann das denkbar absurdeste Theater, und ich erlebte einen Schock, auf den ich nicht vorbereitet war. Es war eine Mischung aus Wunderlichem, Niederträchtigem und majestätischem Irrsinn. Daß der Wagen mich nicht am Flugha 26
fen erwartete, war ich bereit, großmütig zu verzeihen, doch dann fand ich auch das Portal verschlossen und verriegelt. Eine grüne Wagenplane bedeckte einige Koffer, die gleich bei der Einfahrt aufgebaut waren und allesamt sorgsam, ja man könnte sagen liebevoll gepackt, meine persönliche Habe enthielten. Die Dienstboten hatten bestimmt ungeheuer spöttisch gegrinst. Da saß ich in der Taxe, die Mappe mit den Unterlagen der Tagung neben mir, und überlegte, was nun zu tun sei. Gerechte Strafe auf italienisch. Zum Glück wurde Coldharbour gut verkauft, es geht immer noch gut, ebenso wie Alle Meine Schäfchen, Geld also war nicht das Problem. Auch nicht Erfindungsgabe. Beim Durch blättern der Tagungspapiere sah ich, daß ich gar keiner bedurf te. Jetzt nämlich verdichtete sich diese höchst gemischte Episode – meine italienische Liaison, Padre Pio, Stigmata, Rick L. Tucker samt seiner Grafik meiner Relativsätze –, verdichtete sich zu dem, was ich nun als den Mittelstrang meines Lebensgewebes erkenne. Weil ich weiter nichts zu lesen hatte, las ich abends in meinem Hotelzimmer die Ta gungsunterlagen. Coldharbour war exzeptionell, doch die folgenden Bücher waren ebenfalls nicht übel. Es gab darin Stellen, seherische Momente, ganze Episoden, die gelodert hatten, geschmerzt, um die ich gelitten hatte – und das war alles verschwendet. Diese Bücher waren für niemand geschrieben als für mich selber, der ich sie nie wieder gelesen hatte. Die Tagung war von bestimm ten Glaubenssätzen ausgegangen. Unter anderem glaubte man, Ganzheit verstehen zu können, indem man ein Ganzes zerstük kelte. Ferner glaubte man, es gebe nichts Neues. Beim Lesen eines Buches müsse man fragen: Von welchen anderen Bü chern stammt dieses ab? Ich will nicht sagen, daß dies ein blendendes Licht war, das mir aufging – womit sollen Akademiker sich schon beschäfti gen? –, aber ich erkannte doch, wie ich mein nächstes Buch mit 27
einem Minimum an Aufwand würde schreiben können. Ich tat es auf der Stelle, am Ufer des Trasimenischen Sees. Ich brauchte nicht zu erfinden, zu tauchen, zu leiden, das aus undurchsichtigen Gründen Notwendige zu erdulden bei der Niederschrift des – Unlesbaren. Die mit den Ausläufern des Appennin verquickte Familiengeschichte meiner Ex-Gespielin machte Erfindungsgabe überflüssig. Raubvögel entstand also im Handumdrehen, ich war mit nicht mehr als fünf Prozent meiner selbst daran beteiligt, und das waren nicht mal die besten fünf Prozent. Ich schickte es meinem Agenten samt etlicher postlagernder Adressen und fuhr in einem Mietwagen davon. Die mittleren Lebensjahre waren dahin, und was ich jetzt näherrücken fühlte, gefiel mir gar nicht. Zum Beispiel funktio nierte mein Gedächtnis nicht mehr wie gewohnt, es wies gleichsam kahle Stellen auf, wo es vordem geblüht hatte. Meine Ex-Gespielin war rasch vergessen, das Buch Raubvögel noch rascher. Nahe Freunde verwandelten sich in bloße Be kannte, und da das Briefeschreiben aus der Mode gekommen ist, waren sie bald nicht einmal dies. Also verlegte ich mich aufs Autofahren. Innerhalb zweier Jahre – solange etwa dürfte diese Phase gedauert haben, wenn ich das auch nicht mehr genau weiß, denn zu Zeiten und Daten habe ich ein gestörtes Verhältnis – erfuhr ich (buchstäblich) das Straßennetz Europas und der angrenzender Gebiete, erfuhr Autobahnen und Autostradas, Schnellstraßen und Autoputs von Finnland bis Cadiz. Als das noch möglich war, erfuhr ich die gesamte nordafrikanische Küste und Teile der Westküste. Aber zumeist erfuhr ich Europa. Ich benutzte Mietwagen. Wenn es notwendig wurde, etwas zu schreiben, kaufte ich eine Schreib maschine. Ich führte handschriftlich Tagebuch, fand das beim Wiederlesen allerdings stinklangweilig, und es ekelte mich förmlich davor. Und doch führte ich es gewissenhaft, wenn auch manchmal nur mit einem einzigen Satz für den Tag. Das 28
war eine Art Zwangshandlung, so wie manche Menschen ängstlich vermeiden, auf die Ritzen zwischen Gehwegplatten zu treten. Das relativ schäbige und doch effiziente Milieu der Fernstraßen aller Länder mit seiner geistigen Öde, der Vortäu schung von Bewegung, während man doch unbeweglich in der Betonwüste verharrt, diese Spielart des Internationalismus also wurde mir zur Gewohnheit, zur Heimat, wenn man so will. Das ganz junge Mädchen, von dem ich lüstern träumte, blieb mir vorenthalten, aber ich empfand das nicht als Verlust. »Kaum bemerkt, verrichtet Zeit ihr staubig Werk.« Früher einmal hatten Frauen mich neugierig angesehen, bevor sie meinen Namen kannten. Wenn ich jetzt, selten genug, mit Menschen zusammenkam, mußten die Frauen erst meinen Namen hören, bevor sie mich ansahen. Es war eine merkwürdige Wiederho lung oder sagen wir Variation der Zeitspanne nach Erscheinen meines ersten Buches, Coldharbour, bevor ich Liz kennenlern te. Damals hatte ich zwei Jahre lang die USA durchfahren – Nabokov-Land könnte man sagen –, und auf dem akademi schen Karussell Vorträge gehalten. Später dann befuhr ich Lateinamerika – doch lassen wir das. Jetzt also war es Europa samt näherer Umgebung. Nebenbei gesagt, ich habe ein Steckenpferd, eines, von dem ich nicht weiß, wo es eigentlich herstammt, ganz wie ein Buch, nämlich das Aufspüren von bemalten Kirchenfenstern, aus keinem besonderen Grund, außer daß es mir Spaß macht. Ich sehe sie mir nur an, schreibe nichts darüber und bin unterdes sen zum Experten geworden, auch wenn niemand das weiß. Das Alter der meisten Fenster kann ich bis aufs Jahrzehnt bestimmen, könnte mindestens mein Urteil begründen, obwohl ich das nie versucht habe. Dieses ausgefallene Vergnügen hat aus mir so etwas wie einen Liebhaber von Kirchen gemacht. Man könnte das in Erinnerung an Padre Pio und seine Kirche wohl anzweifeln, deshalb will ich ganz deutlich sagen, daß mein Interesse an Kirchen, auch wenn ich viele Stunden in, 29
sagen wir, der Kathedrale von Chartres verbracht habe, mit Religion nichts zu schaffen hat. Mich reizte das Kunstvolle daran, wie man das Licht hindert, an einen Ort zu gelangen, wo man es nicht haben möchte. Auch herrscht in Kirchen meist Dämmerung und Kühle, die als angenehm empfunden werden, wenn man einen schweren Kater hat. Ich sollte wohl erwähnen, daß ich hin und wieder stark trank und meist mehr als nur »etwas«. Nach Raubvögel und dem Drehbuch dazu verfaßte ich gele gentlich Reiseberichte, auch etliche Kurzgeschichten, die als Beispiel dafür dienen können, wie man die Leser beschwindelt. Die Kurzgeschichten waren für Magazine bestimmt und lebten im wesentlichen von der Exotik jener Orte, an denen ich mich über die Neuigkeiten unterrichtete, Geldsendungen und Post abholte. Es waren brillante Schilderungen, mit einem Mini mum an Handlung und Charakterzeichnung, aber allesamt garniert, wie die Franzosen sagen würden, garniert mit Natio naltrachten, zu einer Zeit, da man diesen nur noch auf Trach tenfesten begegnete. Seit der Trennung von meiner Italienerin bemühte ich mich nicht mehr darum, den Frauen zu gefallen, sondern verlegte mich auf etwas, das man umfassende Gleichgültigkeit nennen könnte. Manchmal verdichteten Gedanken und Empfindungen sich zu einer Welle des Staunens, die mich überschwemmte und zu dem stummen Ausruf bewog, das kannst doch nicht du sein! Aber ich war es; und ich erkenne nun, daß ich kurz vor meinem sechzigsten Jahr mich auf ein Wesen reduziert hatte, das möglichst wenig dachte und fühlte. Ich war nur noch Auge und Appetit. Vor Fragen flog ich davon. Aus dem Auto wurde das Flugzeug. Wußte ich nicht, wohin mich wenden, stieg ich in ein Flugzeug. Wollte jemand ein Interview mit mir, flog ich von dannen. Hatte ich mich, schwer berauscht, an einem Ort daneben benommen, flog ich anderswohin. Langweilte mich die Aussicht von einem Café oder einer Bar, fiel mir ein, daß 30
jemand die Schlucht des Brahmaputra erwähnt hatte, und ich nahm die nächste Maschine nach Kalkutta. Allerdings fand ich ein sonderbares Haar in dieser Suppe; es war, als ob Liz mich auf ganz leise, von sehr weit her kommende Weise an ihre Anwesenheit erinnerte, und jetzt, da ich dies niedergeschrieben habe, wird mir klar, daß es doch ganz anders war. Es läßt sich nur schwer erklären. Ich kann mir nicht den Ge danken aus dem Kopf schlagen, daß ich sie gesehen habe. Dabei bin ich ihr ganz bestimmt erst wieder in England begeg net. Aber wenn ich beispielsweise vor einem Café an einem jener runden weißen Tischchen saß, die ebenso im Nirgendwo angesiedelt sind wie die Fernstraßen, wenn ich einer Touristen schlange zugesehen hatte, die ihrem Führer um die Ecke zu den, sagen wir, Uffizien folgte, war ich, sobald sie verschwun den waren, überzeugt! Eine Geste, ein Kleid, eine Stimme hatte ich erkannt. Ich stand sogar auf, wollte hinterher gehen, doch was sollte das alles, auch wenn es wirklich Liz gewesen wäre? In Brisbane begegnete ich auf der Treppe zu einer Arztpraxis einer Frau, der ich tatsächlich nachging, bis mir Capstone Bowers einfiel und ich kehrtmachte. Manchmal beunruhigte mich das, doch fand ich dafür eine Erklärung, als ich den Bericht eines Mannes las, der allein die Welt umsegelt hatte. Der gefiel mir, ich hielt ihn für vernünftig, denn seine Reise glich der meinen, war ein Versuch, allem aus dem Wege zu gehen. Der also hatte Stimmen aus der Takelage gehört, Stim men, die er gerade eben nicht verstehen konnte. Auch ich sah Elizabeth in meiner beengten, vorsätzlichen Isoliertheit »gerade eben« nicht. Solange ich mit meiner Italienerin zusammen war – besser: solange sie mit mir zu sammengewesen war –, hatten sich diese BeinaheBegegnungen nicht ereignet oder waren überdeckt worden. Nun aber rutschte sie eifrig auf den Knien herum, und ich war allein. Ich glaubte, die Zeit werde mich gesunden lassen. Ha, etcetera. 31
Hier besteht allerdings ein Widerspruch. Meist sprach ich nur mit Kellnern, Zimmermädchen, Hostessen, Empfangsdamen. Gelegentlich speiste ich mit einem Weltreisenden, der ebenso entwurzelt war wie ich. Ich erinnere mich, daß ich einmal – nur geringfügig angetrunken – mit einem Mann, den ich nie wie dersah, darüber stritt, in welchem Lande wir uns gerade befan den, ohne daß wir uns einig werden konnten. Ich weiß auch nicht mehr, wer von uns beiden recht hatte. Wahrscheinlich keiner. Dann wieder geriet ich an den Bars in Unterhaltungen. Und doch, ganz allmählich, überkam es mich: Ich war einsam. Wie verwickelt ist dies alles doch! Als ich damals in Kloten stark angetrunken aus der Maschine stieg, war ich sechzig Jahre alt geworden und brauchte dringend, um es milde auszu drücken, Erholung. Der Flughafenarzt riet mir zu Schwillen am Zürichsee.
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KAPITEL III Also tat ich einen weiteren Schritt auf dem vorbestimmten Weg meines Lebens. Schwillen mußte es sein, und begegnen sollte ich ihnen dort ebenfalls. Es geschah an meinem ersten Vormittag, ich hatte ein wenig – nicht viel – getrunken und fühlte mich gerade einigermaßen behaglich. Ich erklomm einen kleineren Hügel über dem See, wo ein Denkmal stand, das an irgendwelche Litauer erinnerte. Es gab auch eine Grünanlage, eine Burg und grüngestrichene Stühle, auf denen man sitzen durfte. Also setzte ich mich. Ich erwog, ob es nicht lustig sei, eine örtliche Aristokratie zu erfinden, die ausschließlich nach Käsesorten heißt und umgekehrt. Le gratin, in der Tat. Das Beste vom Besten. Dann merkte ich, daß eine hochgewachsene Gestalt sich zwischen mich und die Sonne geschoben hatte. »Sind Sie nicht Wilfred Barclay, Sir? Sind Sie es?« »Gütiger Gott.« »Dürfte ich vielleicht …« Er war riesig, wirklich riesig. Oder war ich vielleicht unter dessen geschrumpft? »Ich kann Ihnen nicht verbieten, sich zu setzen, wie?« »Ich freue mich ja so sehr, Sie wiederzusehen!« »Mich und meine Relativsätze.« »Lassen Sie mich das bitte erklären, Wilf …« »Machen Sie sich keine Mühe. Halten Sie nur weiter Ihre Vorlesungen.« »Aber ich habe mein vorlesungsfreies Jahr. Alle sieben Jah re.« »Ist das schon so lange her? Mir kommt es vor wie gestern.« »Sieben Jahre, Sir, Wilf.« »Sieben Jahre haben Sie um Leah geworben. Deren Augen dürften unterdessen schlecht geworden sein.« 33
»Nein, Sir, Mary Lou heißt sie. Sie haben sie wohl nie ken nengelernt. Dort ist sie.« Ich sah in Richtung seines Blickes. Eine junge Frau betrat gerade den Kiesweg, der zu unserer Bank führte, sehr jung, zwanzig, schätzte ich. Sie war bleich, hatte dunkles wolkiges Haar und war schlank wie eine Zigarette. »Schau mal, wen ich getroffen habe, Mary Lou.«
»Mr. Barclay?«
»Wilfred Barclay.«
»Mary Lou Tucker.«
Rick blickte stolz und liebevoll auf sie herunter.
»Mary Lou verehrt Sie glühend, Wilf.«
»Oh, Mr. Barclay …«
»Nennen Sie mich Wilf. Sie sind ja ein ganz geriebener Kun
de, Rick.« Vierzig Jahre fielen mit einem Schlage von mir ab. Berichti gung. Mir kam vor, als fielen vierzig Jahre von mir ab. Rick war mein Freund. Beide waren meine Freunde, sie ganz beson ders. »Meine Glückwünsche, Mary Lou.« Man sah ihnen an, daß sie jung verheiratet waren, und wenn vielleicht auch nicht ganz jung, dann wirkte sie doch so, ganz Glut und Anmut. Ich umfaßte ihre Schultern und küßte sie. Ich weiß nicht, was sie dachte, als sie roch, daß ich schon am frühen Morgen Wein, Dole, getrunken hatte. Ich hielt sie von mir weg, musterte sie von der nicht sehr hohen, bleichen Stirn bis zur zarten Kehle. Sie war errötet, wurde gleich darauf blaß und errötete wieder. Alles, was in ihr vorging, trat gleich darauf an die Oberfläche, aber dazu gehörte ja auch nicht viel, so zart war sie. »Noch einmal meinen nachträglichen Glückwunsch, Mary Lou. Mann und Weib sind ein Fleisch, und da ich Rick nicht gut küssen kann …« »Nehmen Sie mit ihr vorlieb«, lachte Rick. »Mary Lou, bleib 34
mal so stehen.« Und schon zückte er eine winzige Kamera, blitzschnell wie einen Dolch. Das Foto muß irgendwo sein, in einer Schublade, vielleicht auch in der Bibliothek der Universität Astrakhan in Nebraska. Man wird darauf Mary Lou erkennen, ihre Schönheit verwischt dank der fehlenden Tiefenschärfe, und mich mit dem spärlichen weißblonden Bart, dem weißblonden Haarschopf und dem Lächeln, das die schiefen Zähne sehen läßt. Die Kamera kann unmöglich Mary Lous Wärme und Sanftheit wiedergegeben haben. Man könnte das eine seltsame Begeg nung der zweiten Art nennen, nicht mit dem Bild eines Mäd chens, sondern mit der geschmeidigen, parfümierten Wirklich keit – daran war ich nicht gewöhnt und nicht im mindesten darauf vorbereitet. Ich spürte starken Blutandrang im rechten Arm, den ich um ihre Hüfte gelegt hatte, die von einem leich ten Kleid bedeckt war. Mein alterndes Herz setzte für einen Schlag aus und pochte dann einige Synkopen. Sie war so vollkommen wie eine Heckenrose. »Sie müßten sich mit Mary Lou prächtig verstehen, Wilf. Schließlich hat sie ihre Diplomarbeit über …« Mary Lou unterbrach. »Das müssen wir doch nicht gerade jetzt …« Er jedoch blickte mich eindringlich an. »Elizabeth ist eine großartige Person, Wilf, und ich habe es aufrichtig bedauert, daß …« »Ach, Mr. Barclay …« »Wilf für Sie. Versuchen Sie’s mal.« »Ich glaube, das kann ich nicht.« »Oh, doch, probieren Sie’s nur. Los.« »Nein, ich … ich kann nicht.« Wir lachten und schwätzten durcheinander. Rick drohte, sie zu verprügeln, falls sie sich weigere, und ich sagte, ich weiß nicht mehr, was, und sie lachte so wunderschön und blieb dabei, nein, es sei unmöglich und … 35
»Was für ein wundersames altes Haus, Mr. Barclay.« Man mag es glauben oder nicht, mir fiel daran nichts auf. Erst später wurde mir klar, daß sie gerade eben erst in diesem wunderhübschen alten Haus gewesen sein mußten. Als wir nach unserem albernen Gelächter verstummten, taten wir das wie in Erwartung eines zweiten Aktes. »Warum setzen wir uns nicht?« Ich setzte mich auf eine Bank zwischen die beiden, Mary Lou behutsam auf Distanz bedacht, zu meiner Rechten. »Ich muß Sie unbedingt etwas fragen, Wilf«, begann Rick gewichtig. »Kein Wort über Bücher, wenn ich bitten darf!« »Nein, nein … irre ich in der Annahme, daß Sie allein hier sind?« »Ich habe keine ständige Begleiterin, wenn Sie das meinen. Auch keine gute Freundin. Man sieht mich nicht ständig in Gesellschaft von. Wissen Sie, daß ich sechzig bin, Mary Lou?« Ich verstummte in der Erwartung, sie werde sich überrascht zeigen. Schließlich war ich selber überrascht. Doch nickte sie nur sehr ernsthaft dazu. »Ich weiß.« Rick lehnte sich zu mir. »Und woran schreiben Sie, Wilf?« Die alte Gereiztheit drohte wiederzukehren. Ich grunzte. Rick nickte. »Also eine Art Trauma?« »Gütiger Himmel, Mann, es ist Jahre und Jahre her … es sei denn, Sie sprechen von meiner italienischen Beziehung.« »Trotzdem …« »Völlig veränderte Lebensweise. Ungebunden. Ich darf mich unbedenklich jeder Frau nähern, und niemand als sie selber hat das Recht, mich daran zu hindern.« Mary Lou rückte ein wenig weiter weg. Schließlich hatte ich ihr meinen Atem ins Gesicht geblasen. Wahrscheinlich hat ihre 36
Mutter sie zeitig vor Männern gewarnt, man dürfe ihnen nicht trauen. Und das darf man ja auch nicht. Rick lachte ein betont männlich-kameradschaftliches Lachen. »Das tun sie aber nicht. Darauf möchte ich wetten.« »Einverstanden.« »Lieber nicht – bei meinem Gehalt, Wilf. Ein Assistenzpro fessor …« »Assistenzprofessor? Hatten Sie nicht einen Lehrstuhl?« »Offen gestanden, Wilf …« »Ich habe es doch auf Ihrem Briefkopf gelesen, der Brief muß irgendwo in diesem wundersamen alten Haus sein, einge nagelt in eine Teekiste: Fakultät für Englisch und verwandte Studien der Universität Astrakhan, Nebraska. Ich erinnere mich daran so genau, weil das alles schnurstracks zu jenem scheußli chen Vorfall führte.« »Bitte nicht, Wilf.« Seine Stimme wurde matt, matt wie in Sevilla. Mary Lou saß sehr aufrecht und schaute geradeaus. Sie schluckte, ihr Evasap fel bewegte sich ungemein reizvoll in ihrer Kehle. Sie sprach, ohne den Kopf zu wenden.
»Vergiß nicht, Schatz, die Wahrheit ist immer das Beste.«
»Aber, Schatz …«
»Beichte Mr. Barclay, Schatz, es läßt dir sonst doch keine
Ruhe.« »Was redet ihr beide da? Weiß ich davon?« »Mr. Barclay, er war damals noch kein Professor, sondern hatte eben erst sein Diplom gemacht. Seine Mama hat ihm das Reisegeld geborgt, damit er Sie in den Semesterferien besu chen konnte.« »Ich war verzweifelt, Wilf. Sie waren mein … mein …«
»Thema, wie?«
»Ja. Es war mir ganz offiziell zugeteilt worden.«
»Sie müssen aber bedenken, Mr. Barclay, daß sie eine richtig
verderbte Person war. Rick hat mir von ihr erzählt.« 37
»Von wem?« »Von Ella. Ich bin froh darüber, daß du ihm gesagt hast, daß du damals noch nicht Professor warst, Schatz.« »Ich bin selber froh darüber, Schatz. Also, nun wissen Sie es, Wilf.« »Von Mary Lou. Eheleute …« Rick allerdings starrte Mary Lou mit einem Blick an, der nicht unbedingt von perfektem Einverständnis zeugte. »Ich bin fest angestellt als Assistenzprofessor und habe ein vorlesungsfreies Jahr.« »Und ich weiß, jetzt geht es dir besser, Schatz. Du kannst jetzt weitermachen, wo du aufgehört hast, Schatz. So ist es immer am besten.« Hinter den Bäumen stand die helle Sonne, die Blätter warfen ihre Schatten auf den Kies. Auf dem See blinkten kleine Wellen. Das alles brachte mich zum Lachen. »Ich habe ganz vergessen, wie es ist, in unserer halbwegs im Atlantik zusammentreffenden Sprache miteinander zu reden.« Ich streckte behutsam den Arm entlang der Rückenlehne aus. »Das also wäre Ricks Geständnis, Mary Lou. Haben Sie vielleicht ebenfalls was zu beichten?« »Nein, nein, ich wüßte nicht, was.« Und wieder rückte sie etwas weiter von mir weg. »Aber Sie brauchen doch noch nicht zu gehen?« »Nein, das nicht, Wilf, sie mag sich aber nicht aufdrängen. Sie weiß, wie großmütig Sie sind, ich hab’ ihr davon erzählt.« »Stimmt«, versetzte ich albern, »was soll es sein, Mary Lou, die Kronjuwelen oder ein Stein vom Mond?« Mary Lou glitt ganz von der Bank, machte das sehr ge schickt, erhob sich und strich den dreiviertellangen Rock glatt. »Ich gehe schon mal ins Hotel, Schatz. Ihr beide habt euch doch eine Menge zu erzählen.« Sie entfernte sich rasch, und jetzt blies ein kühler Wind vom Abhang eines hinter uns gelegenen Berges zum See hin und 38
verlieh ihm ein stumpfes Grau wie Zinn. Ich mußte an die Mülltonne denken. »Rick, Sie sind ein Hochstapler und sonst gar nichts. Gratu liere. Wesentlich interessanter jedenfalls als das Leben eines Gelehrten.« »Ich wollte Ihnen alles sagen, Wilf. Ich hatte die Professur doch schon in Aussicht, ganz gewiß.« »Hochstapler haben auch immer Aussichten, reich zu wer den.« »Ich wußte es aber!« »Ach was, was ist schon ein Professor? Als ich jung war, habe ich geglaubt, ein Professor stelle was dar. Aber sie sind keine Spur besser als Schriftsteller. Ich verspeise sie zum Frühstück. Sie schmecken etwas anders, aber das ist auch alles.« »Denken Sie an die Kritiker, Wilf, die haben es doch in der Hand …« »Und was war mit John Crowe Ransom? Ihrem Brief war doch zu entnehmen, daß Sie mit ihm dick befreundet sind? Haben Sie dem auch vorgemacht, Sie hätten eine Professur?« Ricks Gesicht war nicht mehr knallrot, sondern färbte sich eher rötlichbraun. Da ich ihn von der Seite ansah, aus einem ungewohnten Winkel, bemerkte ich ein mir bislang entgange nes Detail seiner Körpersprache. Zwar war es mir aufgefallen, als er mich vor Jahren zu Hause heimsuchte, verschämt ent schlossen, dem Löwen in seiner Höhle um den Bart zu gehen, auch wenn das angeblich gefährlich war. Dann wieder bemerk te ich es auf jener Tagung in Sevilla, hatte das aber für eine Täuschung gehalten, ich weiß auch nicht, warum eigentlich, jene Angewohnheit nämlich, das Kinn fest an die Brust zu drücken und unter gerunzelten Brauen emporzuschauen. Doch das war keineswegs eine Täuschung, Rick preßte wirklich die untere Gesichtshälfte gegen die Brust, wenn er verlegen wurde, er bot dann seine Stirn dar, die wohl kühn wirken sollte, und 39
spähte unter seinen Brauen her wie ein Krebs unterm Stein. Das tat er auch jetzt, und es galt nicht einmal mir. Er tat es ganz mechanisch und richtete diese Grimasse an den See, so als wollte er sagen, jene zinnfarbige Fläche könne ihn nicht einschüchtern. »Los, Rick, raus damit.« »Das Ganze geht auf ein Versehen in meinem – unserem – Sekretariat zurück. Auf Ella. Ich bekam immer wieder Post, die an Professor Tucker gerichtet war. Die bekamen übrigens alle, Leute, die einem was verkaufen wollen, benutzen gern schmei chelhafte Anreden.« »Sie haben also eine Anleihe bei der Werbebranche gemacht. Bravo.« »Sie werden nie ahnen, was Ihr Werk für mich bedeutet hat.« »Falls irgendwer Ihre Hochstapelei entlarvt, wird man Sie mit Schimpf und Schande von der Universität jagen.« »Dieses verflixte Biest Ella war schuld. Allerdings, um ehr lich zu sein, ich habe es geduldet.« »Immerhin haben Sie was riskiert. Meine Hochachtung.« »Und es hat sich gelohnt. Ellas Versehen hat mir eingebracht, daß ich hier mit Ihnen sitze, im vertrauten Gespräch, Seite an Seite.« »Wie, zum Kuckuck, sollten wir wohl sonst sitzen?« »Diese Ella …« Kinn an die Brust, herausfordernder Blick aufs Wasser, »diese Ella hatte was für mich übrig. Sie glaubte, sie erweise mir einen Gefallen.« »Und John Crowe Ransom?« »Ich weiß es nicht mehr, Wilf, ehrlich, ich habe es vergessen. Begegnet bin ich ihm.« Mir fiel auf, daß das Wasser leblos wirkte. »Es ist ja auch einerlei. Morgen reise ich ab. Dann kann Ma ry Lou auf dieser Bank sitzen, ohne runterzufallen.« Pause. Dann sagte Rick: »Wir essen doch aber heute miteinander zu Abend?« 40
»Alle drei?« »Gewiß doch.« »Einverstanden. Aber Sie sind meine Gäste. Das Privileg des alten Mannes. Das einzige.« »Mary Lou ist scheu, Wilf. Das war sie schon immer. Aber sie weiß, wie warmherzig Sie unter diesem britischen Äußeren sind.« »Und ich habe mich für international gehalten!« Rick stand auf und ließ einen jener vorbereiteten Sprüche los. »Für uns, Sir, sind Sie immer ein wirklich beispielhafter Vertreter Ihres großen Landes gewesen und haben ihm Ehre gemacht.« Und damit trollte er sich den Hügel hinab, seiner Frau hinter her. Ich blieb feierlich nickend zurück, wie ein Mandarin aus Porzellan, und murmelte vor mich hin: »Bei Marie weiß man nie, unser Rick ist zu dick.« Dann sprach ich laut folgenden scheußlichen Satz: »In die sem Land und in dieser unserer Lage.« Danach kehrte mir der Verstand zurück. Die beiden hatten also das »wundersame alte Haus« besucht. Unser Zusammen treffen hier war daher kein Zufall. Sie hatten meine postlagern den Adressen entweder aus Elizabeth herausgequetscht oder gar aus meinem Agenten. Ich war Ricks »Thema«, war sein Rohmaterial, das Erz in seinem Bergwerk, war seine Farm, seine Hummerreuse. Woher aber hatte er das Geld für die Verfolgung? So was ist kostspielig, das wußte ich von meinem eigenen Versuch, Briefe zurückzubekommen. Ich dachte an die junge Frau, Mary Lou, mit dem durch scheinenden Gesicht, dieser Schönheit, die doch gewiß auch heiligmäßig und weise war. Nicht zu vergleichen mit dem bedauernswerten greisen Padre! »Vielleicht wiedergeboren …« Die Frau, der man alle sieben Jahre – nein, alle vierzehn 41
Jahre einmal begegnet, dann nämlich, wenn es zu spät ist. Ich erkannte meine plötzliche Beschwingtheit als das, was sie war, ein Symptom andrängender Senilität. Ich konnte mir vorstellen, daß mein Atem bereits nach der Morgenration Dole gerochen hatte. Für Rick mochte viel drin sein, für Mary Lou einiges, nämlich die Gelegenheit, jemand angewidert zu bewundern, dessen Bücher sie kannte. Für mich jedoch war nichts drin als Hörigkeit, Frustration, Verrücktheit und Kummer. Ich be schloß, diese zarte Knospe zu knicken, bevor sie erblühen konnte. Sollten die beiden doch jemand anderen verfolgen, schließlich gab es genügend lebende Schriftsteller, sie zählten nach Tausenden, allesamt mit ehernen Stirnen ausgerüstet oder mit einer untadeligen Lebensführung, die ihnen erlaubte, gelassen dem tödlichsten aller Gifte standzuhalten, nämlich der Wahrheit über sich selber. Wohingegen ich … Auf der grüngestrichenen Bank sitzend, ließ ich mich von einem wahren Regen von Schnappschüssen aus meiner Ver gangenheit heimsuchen. Schließlich sprang ich auf und eilte ins Hotel. Ich ließ den Direktor wissen, daß ich unbedingt Einsam keit brauchte. Der empfahl mir sogleich den Weisswald, ein Skigebiet mit langer Sonneneinwirkung, das jetzt außerhalb der Saison gewiß wie leergefegt sei. Ich solle im Hotel ›Felsen blick‹ wohnen. Auch die anderen Hotels seien selbstverständ lich sehr reinlich, mehr lasse sich zu ihren Gunsten aber nicht anführen. Ich nickte und nickte zu alledem, bezahlte die Rech nung, packte, gab als neue Adresse das Hotel Bung Ho in Hongkong an und schlich mich davon. Am Fuße des Weisswald stand eine geräumige Garage, und eine Zahnradbahn erklomm den erschreckend steilen Berg hang. Ich hielt die Augen während der Fahrt ängstlich ge schlossen. Meine Angst vor Höhen ist fast schon krankhaft, und vielleicht deshalb zieht es mich unwiderstehlich hinauf. Überdies wollte ich mir den Ausblick vom Gipfel aufsparen, bis ich wieder ebenen Grund unter den Füßen hätte und den 42
Anblick bewundern könnte, ohne den Drang zu verspüren, mich hinunterzustürzen. Ich folgte dem Dienstmann ins Hotel, den Blick auf meine Füße gerichtet. Hier bot man mir zu einem stark ermäßigten Preis nicht weniger als eine ganze Suite an, deren Balkon über den Abhang ragte. Der Direktor führte mich hinein. »Sehen Sie nur!« Die Vorderseite des Salons bestand aus Fenstertüren, die auf den Balkon führten, und dahinter lagen fünf Meilen leere Luft. Der Direktor öffnete die Türen und forderte mich auf hinauszu treten. Ich hielt mich nahe der Tür. Der Balkon fühlte sich recht solide an. »Unsere beste Suite«, sagte der Mann. »Bei weitem die be ste.« Wäre ich fähig gewesen, drei Schritte vorwärts zu machen, ich hätte zweitausend Fuß tief spucken können, hätte ich Spucke gehabt. »Sehr passend für einen Schriftsteller.« »Woher wissen Sie, daß ich Schriftsteller bin?« »Von meinem Bruder. Er ist der Direktor vom ›Schiff‹. Hier bekommen Sie billig eine Suite und einen Ausblick.« Also wurde ich wie ein Schaf von einem Verwandten zum anderen getrieben! Ich betrachtete ängstlich die Schmalspur bahn, die eine halbe Meile unter mir wie für Kinder ausgelegt war, konzentrierte mich aber gleich auf die Blumenkübel auf dem Balkon. Nahebei stand auch der gleiche weißlackierte Eisentisch, an dem ich im ›Schiff‹ gesessen hatte, samt vier weißlackierten Stühlen und einer weißen chaise longue. »Ist mein Wagen da unten sicher? Ich habe ihn nicht abge schlossen.« »Ihr Wagen, Sir?« »In der Garage.« »Oh, ja, beides ist ganz sicher, verschlossen oder unver schlossen.« 43
Es trat eine Pause ein. Der Ausblick wechselte von Minute zu Minute. Ein weißer Strich teilte weiter unten einen schwarzen Felskegel, der aussah wie eine kilometerhohe glasierte Torte. »Was ist das?« »Was, Sir?« »Da.« »Der Spurli. Ein Wasserfall. Wir haben derzeit wenig Schnee, und er ist kaum mehr als ein Faden. Das Wasser kommt aus einem Hochtal weiter oben, wo wir kürzlich Manö ver hatten.« »Da oben? Ausgeschlossen.« »Oh, doch, Sir, ich war selber dabei, wie jedes Jahr. Ich bin Major. Übrigens, darf ich mir einen Rat erlauben? Verhalten Sie sich die ersten Tage über möglichst ruhig.« »Meinen Sie, ich muß mich akklimatisieren? Ich komme doch aus Zürich.« Der Direktor wischte das mit einer lässigen Handbewegung weg, so als wäre der Unterschied zwischen Zürich und dem Ärmelkanal nicht der Rede wert. »Bedenken Sie, Sir, Sie sind nicht mehr ganz jung, und es ist ratsam, einen oder zwei Tage zu ruhen.« »Ich will’s mir merken.« »Wir hoffen sehr, daß die Aussicht Sie zu einem bedeutenden Werk inspiriert, Mr. Barclay. Dies ist die Klingel. Es wird uns ein Vergnügen sein, Ihre Wünsche zu erfüllen.« Damit verbeugte er sich und ging ab. Ich tastete mich ein wenig vorwärts. Über das Balkongeländer schaute ich nicht, das war etwas für Helden, vielmehr schob ich die chaise longue so weit vom Geländer zurück wie möglich, wickelte mich in die Steppdecke vom Bett, streckte mich aus und betrachtete die Aussicht. Die fuhr fort, sich zu verändern, eine phantastische Welt aus Fels und Schnee vorzuführen. Kavernen verwandelten sich in Hänge, der schwarze Fels, über den der Spurli herabfiel, wurde grau, dann braun. Ich forderte die Natur 44
auf, mich in Erstaunen zu versetzen. Und das tat sie, maßvoll wie gewöhnlich. Denn der Direktor irrte selbstverständlich. Ich war schon an allzu vielen Orten gewesen, hatte zu viele ausge fallene Anblicke genossen, und im übrigen sind großartige Anblicke weder der Arbeit von Schriftstellern noch der von Malern förderlich. Sie bieten bloß einen Vorwand dafür, faul zu sein. Eine großartige Aussicht hindert den Schriftsteller an der Arbeit. Sie nimmt die Aufmerksamkeit gefangen. Ich sah zu, wie noch hinter den Gipfeln, die ich am Horizont zu sehen glaubte, weitere Gipfel zum Vorschein kamen, und was ich für eine nahe Bergkuppe gehalten hatte, erwies sich als weiße Wolke. Aber wer kennt nicht den Himalaja, die Anden, die Sahara, Stürme auf See, wolkenlose, mondlose Nächte, unver schandelt von der Lichterglut über den Großstädten; wir haben die Märchenwelt am Grunde des Meeres gesehen und die Regenwälder – ha, etcetera. Ein Schriftsteller braucht eine Backsteinmauer, die den Durchblick in eine Landschaft ver sperrt, die man dahinter erahnen mag. Ich sah schon, es würde wieder eine verlorene Woche werden. Gleichwohl betrachtete ich dieses Stückchen Schweiz stun denlang, dachte dabei diese Gedanken und trank noch etwas Dole. War ich am Ende doch ein Romantiker? Ich mochte es nicht glauben. Das alles führte zu nichts. Der Genuß war reiner Selbstzweck, erzeugte keine erhabenen Gedanken. Es war höherer Hedonismus, der Betrachter wurde ganz Auge. Am späten Nachmittag taten der Dole und die sauerstoffgesättigte Luft ihre Wirkung, und ich schlief ein. Als ich erwachte, versank die Sonne über der Westseite des Balkons. Trotz der geleerten Flasche spürte ich nichts von dem Dole. Lag das an der Aussicht? Ich spielte mit der kindischen Idee, einen Vers an Shelleys Gedicht anzuhängen, in dem ich die Berge als Kur gegen gueule de bois preisen wollte, wie er die Kathedrale von Chartres. Bei diesem Einfall füllte meine trancegleiche Leere im Angesicht von Mutter Natur sich mit 45
dem Verlangen nach einem Drink. Ich wickelte mich aus der Decke, suchte das Bad auf und machte mich auf den Weg in die Bar, die angenehm nahe lag. Ich wollte mich für den Dole bestrafen und bestellte ein grauenhaftes Gemisch eigener Erfindung, worin unter anderem Alka-Seltzer und Fernet Branca vorkommen. Im Aussehen erinnert es an Durchfall. Sogar der Direktor, der jetzt als Barkeeper fungierte, zeigte sich entsetzt. Er verstand mich auch nicht, als ich sagte, dies sei die Strafe für eine Flasche Dole, doch tat er, wie ihm geheißen. Ich flagellierte also meinen Gaumen mit diesem scheußlichen Gebräu, gratulierte mir zu meiner Fähigkeit, die Schönheit der Natur unmittelbar aufzunehmen, und feierte meine erfolgreiche Flucht vor den Gefahren der Gefühlsseligkeit in einen Zustand friedlicher Beständigkeit, als sich eine hochgewachsene Gestalt neben mich stellte.
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KAPITEL IV Das war, wie sollte es auch anders sein, Assistenzprofessor Rick L. Tucker von der Universität Astrakhan in Nebraska. Er hatte sich als Tourist verkleidet, in Lederhosen und Kniestrümpfen mit bunter Kante und trug Stiefel, deren Sohlen so dick waren, daß man meinen konnte, das Straßenpflaster hafte daran. Über einem am Halse offenstehenden Hemd trug er einen Pullover mit der eingestrickten Inschrift OLE ASH CAN. Zunächst dachte ich, dies sei eine trotzige Anspielung auf die Mülltonne, in der er vor Jahren gewühlt hatte – sieben lange Jahre war es her. Die Inschrift erwies sich aber als nichts weiter denn ein sorgloser Scherz auf Kosten jener Anstalt, die ihm sein Gehalt zahlte. Die Buchstaben liefen über den ganzen Brustkasten, und der war mächtig. Die prickelnde Höhenluft, die seine Wangen und seine Nasenspitze zum Glühen brachte, ließ ihn breiter und größer wirken denn je. Ich mußte ziemlich hoch zu ihm aufblicken. Als ich das mit einem sichtbaren Anflug von Empörung tat, drückte er das Kinn nur kaum merklich an die Brust. »Hallo, Wilf! Wie ich sehe, hatten Sie den gleichen Einfall wie wir!« »Reden Sie keinen Stuß.« »Schau mal, wer hier ist, Mary Lou.« Ich sah mich um. Mary Lou lächelte bleich aus dem Schoß eines gewaltigen Ohrensessels in einer düsteren Ecke der Bar. »Oh, Mary Lou.« »Mr. Barclay.« »Wilf, bitte.« Darauf sagte sie nichts, sondern schaute abwesend drein. Mir war plötzlich so, als habe sich alle Köstlichkeit des Lebens – nein, das durfte nicht sein, konnte nicht sein! 47
»Dein Saft, Schatz.« »Ich mag nicht einmal Saft, Schatz.« Rick wandte sich wieder an mich. »Mary Lou macht der Höhenunterschied zu schaffen.« »Sie zieht wohl Meereshöhe vor.« Ich wandte mit Absicht den Blick weg. »Was meinst du dazu, Schatz?« Ich drehte mich gegen meinen Willen doch wieder ihr zu. Mary Lou hielt die Hände vor den Mund, die großen Augen wurden riesig, und sie bemühte sich, aus dem Ohrensessel hochzukommen. »Sehen Sie denn nicht, daß sie sich übergeben muß, Sie Tropf!« Das tat sie denn auch auf halbem Wege zur Tür. Rick machte eine Art Dreisprung, erst mit den Gläsern zur Bar, dann zur Tür, durch die Mary Lou verschwand. Der Hoteldirektor betrachtete ungerührt den Schaden, rief etwas durch die geöff nete Tür hinter der Theke, und als habe sie auf dieses Stichwort gewartet, erschien eine dickliche, grauhaarige Person mit Eimer und Mop. Rick folgte Mary Lou pflichtschuldigst auf ihr Zimmer. Ich betrachtete die Kotze mit der Gelassenheit eines Mannes, der dabei ist, noch schlimmeres zu sich zu nehmen. Mit meinem widerwärtigen Mixgetränk in der Hand wanderte ich vors Hotel in den Sonnenuntergang. Runde Eisentische (die, an denen ich immer sitze) waren auf einem kleinen Platz verteilt, dessen eine Seite an den grauenhaften Abgrund grenz te. Ich setzte mich an den Tisch, an dem ich schon in Florenz, in Paris, in St. Louis gesessen hatte. Wo war ich? Unterwegs. Immer unterwegs. Der Kerl im Hotel in Schwülen war schuld. Ich hatte meine Spur nicht genügend verwischt. Nächstes Mal … Ich stand auf, schlenderte den Pfad hinauf, der nach den hö hergelegenen Almen führte, und empfand nach einigen Schrit ten tödliche Mattigkeit. Mit Mühe und Not kehrte ich an 48
meinen Tisch zurück. Zeit verging. Jetzt saß Rick bei mir und redete, ich wußte nicht, wie lange schon. Er entwarf einen Plan für die allernächste Zukunft. Angeblich gab es hier vier großartige Wanderwege. Er wollte alle vier erkunden, während ich mich akklimatisierte. Er habe das selber nicht nötig, er sei zeitlebens Höhenluft gewöhnt gewesen. Einer der Wanderwege arte zu einer Klettertour aus. Ich lehnte mich zurück, nickte zu allem, was er sagte, und mein Kinn sank auf die Brust. Mary Lou kam zwischen blühenden Wiesen den Pfad herun ter. Sie erklärte einen geometrischen Lehrsatz anhand des riesigen Zuckerhutes, der hinter ihr aufragte. Jemand blies mitten auf dem Platz ein Alphorn. »Wilf? Sir?« Ich war selber das Alphorn und blies mich mit einem unge heuerlichen Tuuuuut. »Er schläft.« Dann blinzelte ich in die untergehende Sonne. Die Station der Zahnradbahn sog eine ganze Prozession von schweizeri schen, deutschen und österreichischen Wanderern ein. Alle schienen ebenso breit wie lang zu sein. Rick lachte. »Sie haben im Schlaf gesagt, Mary Lou sei Diplommathema tikerin, hör doch nur, Mary Lou!« »Ich habe geträumt, ich sei ein Alphorn. Reizendes junges Ding. Gratuliere.« »Mary Lou bewundert Sie.« »Mag Sie mich denn auch gern?« Pause. »Und wie!« »Kann sie Schachspielen?« »Ach wo.« »Dame vielleicht?« »Morgen geht es euch beiden wieder gut. Vielleicht schon heute abend.« 49
»Abendbrot.« »Ganz recht«, versetzte Rick knapp. »Wir möchten, daß Sie uns Gesellschaft leisten.« Das war mir eine Spur peinlich. »Und diesmal auf meine Rechnung.« Wir drei waren anscheinend die einzigen Hotelgäste, es war unter der Woche und außerhalb der Saison. Beim Abendbrot war Mary Lou noch sehr bleich und aß so gut wie nichts. Rick redete für drei. Der Wanderweg, den er erkundet hatte, wies die verblüffendsten Aussichten auf, geradezu inspirierend. Bäche, Bäume, die Baumgrenze, Blumen. Nachdem ich endlich begriffen hatte, daß wir uns morgen auf den Weg machen sollten, hörte ich nicht mehr zu und überließ mich ganz dem Anblick von Mary Lou. Die schien sich auch nur wenig um das zu kümmern, was Rick da erzählte. Sie stand plötzlich auf, und ich bekam sie sonderbarerweise schneller zu fassen als Rick, der gerade von der Schneegrenze redete. Er nahm sie mir weg und führte sie aus dem Speisesaal. Zurück gekehrt, entschuldigte er sich bei mir, was mich sehr belustigte, jedenfalls eine Hälfte meines Gesichtes. »Sie ist bezaubernd, Rick. Ich habe das immer für eine litera rische Wendung gehalten, aber wenn ihr übel wird, sieht sie nicht grünlich und alt aus, sondern wirklich nur noch durch scheinender.« »Sie sagt, sie werde uns morgen nicht begleiten.« »Hat sie eigentlich auf nichts Lust? Ich meine …« »Man könnte sagen, Mary Lou ist nicht physisch«, äußerte Rick bedachtsam. »Sie hat nichts übrig für Katzen, Hunde, Pferde?« Er errötete langsam. »Ihr seid dort gewesen. Vor kurzem erst. Alle beide.« »Schließlich haben Sie da lange gelebt, Wilf.« Ich dachte an den Ort, an dem ich lange gelebt hatte. Den einzigen. An das wundersame alte Haus, die Wiesen am Fluß, 50
an Bäume, Hecken, an die baumlosen Hügel, welche das weite Tal von zwei Seiten einschlössen, an die mächtigen Eichen, die Gruppen von Ulmen, von denen Elizabeth behauptete, sie stürben. Ich kam mir losgelöst vor. »Hat es Ihnen gefallen?«
»Aber ja doch.«
»Warum?«
Ich habe nicht geglaubt, so etwas von einem erwachsenen
Menschen je zu hören, doch er sprach es aus. »Es ist alles so grün. Und das weiße Pferd am Hügel … alles ist so alt …« »Als ich das letzte Mal da war, fand sonntags neben dem weißen Pferd ein Motocross statt, und die andere Seite des Hügels wurde von Archäologen abgetragen.« »Aber die Menschen dort, die Gebräuche, Wilf!«
»Meistens Inzest.«
»Sie meinen …«
»Oh, doch, ich meine es im Ernst. Und vergessen Sie nicht
den Hexensabbat.« »Das kann nicht Ihr Ernst sein, nein, das kann es nicht.« »Das stammt aus gewöhnlich gutunterrichteter Quelle. Wil fred Barclays Stratford-on-Avon.« »Ich glaube das nicht, Sir.« »Wonach haben Sie gesucht? Nach meinen Fingerabdrük ken?« »Ich mußte mit ihr sprechen. Über vieles weiß nur sie Be scheid.« »Da hol mich doch der Henker.« »Und die Papiere.« »Jetzt hören Sie mal zu, Rick Tucker. Die Papiere gehören mir, und niemand, ich wiederhole, niemand wird seine Nase hineinstecken.« »Aber …« »Das war eine der Bedingungen. Ihr gehört das Haus, und 51
nach meinem Tode fällt es an Emmy. Aber die Papiere gehören mir.« »Selbstverständlich, Wilf. Sie sagte, alles sei sehr zivilisiert abgewickelt worden.« »Das hat Elizabeth gesagt? Dabei war doch …« Ich unterbrach mich, nicht so sehr einer noch wirksamen Loyalität wegen, sondern aus Vorsicht. Elizabeth hatte den beiden selbstverständlich was vorgespielt. Die Trennung war auf abscheulich verletzende Art abgelaufen, sie hätte mir das Herz gebrochen, hätte ich eines gehabt, und dem, das ich hatte, vermochte einzig Julian so etwas wie juristischen Anstand beizubringen. Ich hatte alles hergegeben, aber nicht aus Groß mut, sondern weil ich alles los sein wollte. Julian bewahrte uns davor, den Haß publik zu machen, der uns unzertrennlich machte, in guten wie in schlechten Tagen. Doch vielleicht hatte sie jetzt ihren Haß bis auf einen kleinen Rest verbraucht wie ich und sich mit der Narbe abgefunden? Hatte ich das wirklich? Hatte sie es? »Sie sagte, sie müsse alles aufbewahren, doch habe sie nichts damit im Sinn.« »Meine Papiere?« »Sie haben offenbar nie begriffen, Sir, daß Sie Teil des gro ßen Prachtgemäldes der englischen Literatur sind.« Das sagte er tatsächlich. Es hörte sich an wie die Urteilsver kündung nach einem Mordprozeß. Der Angeklagte wünscht darauf hinzuweisen, daß er Teil des großen Prachtgemäldes der – das klang ja richtig üppig! Angeklagter, Sie werden beschuldigt, in betrügerischer Absicht Teil des Prachtgemäldes … »Blödsinn!« Rick drückte das Kinn gegen die Brust, senkte die Stirn, blinzelte unter seinem Stein hervor. »Raus mit der Sprache, Professor.« »Sie hat sich mir verweigert, Wilf.« 52
»Promiskuös war sie nie, das muß man ihr lassen.« »Ich weiß, Sie scherzen, Sir. Aber ich sehe, wie Sie das schmerzt.« »Was denn noch! Und wie ging es Capstone Bowers?« »Ich nehme an, gut.« »Sehr schön.« »Nicht mal sehen durfte ich die Kisten.« »Prachtvoll, prachtvoll.« »Nicht ohne Erlaubnis von Ihnen, sagte sie. Schriftliche Er laubnis. So laute die Abmachung, sagte sie. ›Gentlemen’s Agreement‹, sagte sie und lachte. Sie lachen beide ziemlich viel, das müßte ich mal näher untersuchen.« »Vivisektion, was? Sie wissen von meinem Leben nichts. Und Sie werden auch nichts erfahren.« Eine Mokkatasse und ein großer Cognac standen plötzlich vor mir auf dem Tisch. Ich wärmte den Cognac zwischen den Handflächen. »Es ist auch wichtig für mich, Wilf, sehr wichtig. Ich würde alles darum geben, alles. Sie ahnen nicht, wie stark die Kon kurrenz ist; und ich hätte dann noch eine Chance. Es gibt da jemand – ich erzähle Ihnen vielleicht eines Tages davon, aber da ist noch etwas.« »Das Schlimme ist, daß ich gestern mit dem Trinken aufge hört habe. Und jetzt sitze ich hier, trinke ohne bewußten Vorsatz Cognac, und ein kleines bißchen, nur ein kleines …« »Und noch etwas …« »Ich bin, wie man sagt, auf einer kleinen Richterrundreise. Der zum Tode Verurteilte verzehrte eine herzhafte Henkers mahlzeit. Wie man sich wohl als reisender Richter vorkommt? Womöglich wie auf den Fernstraßen. Niemand, mit dem man reden kann. Bloß Schnaps und die Prozeßunterlagen für den folgenden Tag. Prost.« »Wilf …« Ich dachte daran, wie wenig ich über Richter wußte. Ich war 53
eben ein Glückspilz. Ein langes Leben voll von unentdeckten Verbrechen. Wer entdeckt wurde, wanderte nach Australien. Die Verbrecher, die daheim blieben, zeugten unseresgleichen. Dazwischen durfte man wählen. Ich merkte, daß Rick unterdessen weitergeredet hatte, und unterbrach ihn. »Ich werde jetzt immer leicht betrunken. Das muß die Höhe sein.« »Bitte, Wilf!« »Professor?« »Es bedeutet doch soviel für mich. Und ich kann nur bitten …« »Sie wollen also ordentlicher Professor werden, vielleicht gar Emeritus?« »Wilf, ich möchte, daß Sie mich zu Ihrem autorisierten Bio graphen machen.«
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KAPITEL V Ich schaute zu ihm auf und dann an ihm vorbei in die Vergan genheit. Mein Leben, jenes Leben, jene lange, längerwerdende Spur von – von was? Fußspuren im Sand. Schneckenspur. Beweismaterial für den Ankläger und, vergessen wir das nicht, Beweismaterial auch für den Verteidiger, wenn es überhaupt welches gibt. Der Angeklagte beabsichtigt keineswegs, an die Milde des Gerichtes zu appellieren. Soll er sich ruhig schuldig bekennen, der Sozialarbeiter kann bezeugen, daß er seine alte Mutter und seine Pferde stets gutartig behandelt, daß er mit Geld um sich geworfen hat, häufig in Richtung seiner Freunde, und daß er so manchen Geldschein in die Sammelbüchse steckte. Das alles, Euer Ehren, könnte die schlechte Ange wohnheit des Angeklagten aufwiegen, Lügen zu Papier zu bringen, die von Geistesschwachen als Tröstung, Hinweis und Freundschaft mißdeutet wurden, angeblich häufig zum Nach teil der Betroffenen. Darf ich Euer Ehren darauf aufmerksam machen, daß der Hauptzeuge der Anklage, ein gewisser Plato, Ausländer ist. Mr. Smith, der Ankläger, hat sein Material präsentiert. Beschränken Sie sich darauf, über die moralische Haltung des Angeklagten auszusagen. Nun, Euer Ehren, um die Wahrheit zu sagen, er war ein rechter Lump … Diese Erinnerungen, wie sie stechen, brennen, verbrühen! Mit neunzehn war ich Bankangestellter, durfte Spargelder annehmen, Schecks eintragen. In meiner Freizeit sollte ich mich auf weitere Prüfungen im Bankwesen vorbereiten, ha, etcetera, damit ich irgendwann einmal – wer weiß _ Kassierer werden und als Zweigstellenleiter enden könnte. Ich war gerade von der Schule gekommen – einer Schule, die haupt sächlich von Bauernsöhnen besucht wurde, welche die Auf nahmeprüfung für die Oberschule nicht bestanden hatten. 55
Mamas Reitstall, der nicht leben und nicht sterben konnte, war nicht gerade ein Sprungbrett, doch muß sie Beziehungen gehabt haben, Gott weiß, welche. Darum durfte ich hinter dem Schalter stehen, den alten Schulschlips schön sichtbar vorge bunden, durfte strahlend lächeln, wie man sagte, und den Kunden zu Diensten sein, aber nicht unterwürfig. Der Filiallei ter mochte mich anfangs gut leiden, weil ich an meinen Mitt woch- und Samstagnachmittagen nichts Besseres anzufangen wußte, als Rugby zu spielen. Ich weiß noch, daß ich benom men war von der Geschwindigkeit, mit der ich nach Mamas Tod in diese Welt bedeutender Männer aufgenommen wurde. (Sie hatte gemeint, aus mir könne mal ein Geistlicher werden, weil ich viel las.) Ich fand sogar die Mitglieder des Rugbyklubs alt, so jung war ich. Samstags nach dem Spiel amüsierten wir uns sehr maßvoll in irgendeinem Lokal. Himmel, war ich naiv! Schon nach dem ersten oder jedenfalls einem der frühesten Spiele wurde in einer Ecke getuschelt. »Wo ist der junge Wilf? Der muß mal eine probieren.« »Eine« war eine Pille, nein, nicht Drogen, wie man sie heute kennt, sondern ein weithin angepriesenes Aphrodisiakum. Nun, wenigstens bin ich in der Lage, über persönliche Erfahrungen auf einem Gebiet zu berichten, auf dem Widerspruch an der Tagesordnung ist und nur wenige Männer willens scheinen, ihre Erlebnisse zu Papier zu bringen. Die Pille wirkte. Mag sein, sie enthielt etwas Spanische Fliege. Mag sein, sie war ein Plazebo. Aber wirken tat sie. Ja, selbstverständlich, beruhigte man mich, wir alle gehen nachher noch zu den Mädchen, wohin denn sonst? Also nahm ich die Pille, sorgsam beobachtet und allgemein beklatscht und neunzehn Jahre alt, ganze neunzehn! Ich sagte doch zu meiner Ex-Gespielin, daß Padre Pios Stigmata von Autosuggestion herrührten, nicht? Experientia docet stultos, wie Zonkers zu sagen pflegte, wenn er uns eine Strafarbeit aufbrummte. Ich blickte ängstlich und libidinös in die allernächste Zukunft. 56
Selbstverständlich geschah außer auf der, sagen wir, physiolo gischen Ebene nichts. Der Abend klang mit umständlich geleerten Bierkrügen aus, mit Rugbygesängen, schmutzigen Witzen und hin und wieder einer an mich gerichteten Bemer kung. »Fühlst du dich gut, Wilf, mein Junge? Wirklich? Ha, ha.« Wie schon der Hypnotiseur so richtig bemerkte, Gott lasse ihn verfaulen, Sie sind sehr empfänglich für hypnotische Suggestionen, Sir. Nun, heutzutage trifft man solche jungen Dummköpfe nicht mehr, alle wissen über alles Bescheid, wenn sie zehn Jahre alt sind. Ich aber trug eine Dauererektion davon, die scheußlich schmerzte und durch Masturbation nicht zu lindern war. Die ganze Nacht über wand ich mich ächzend im Bette, aber nichts half. Und am nächsten Morgen mußte ich diese Erektion mit in die Bank nehmen. Den ganzen Vormittag stand ich hinter dem Schalter und hinter meinem Schlips, strahlte Bauern, Lehrer, Geistliche, alte Damen und junge an, die die Einnahmen einer ganzen Woche brachten und Lohngel der holten. Den ganzen Tag über scheuerte sich mein Pfeifen kopf wund am Bund meiner Unterhose. »Vielleicht darf ich mitlachen, Wilf?« Er sah mich ernst prüfend an. Vor den Fenstern dämmerte es. »Lachen? Was gibt es da zu lachen? Ich gedachte meiner Zeit als Bankangestellter.« »Davon weiß ich ja nichts!« »Wie T. S. Eliot.« Der Gedanke an T. S. Eliot und den ithyphallischen Bankan gestellten machte mich redselig. »Von mir können Sie noch was übers Bankgewerbe lernen, Rick.« »Wollen Sie mir die Daten geben? Nur fürs Protokoll, sozu sagen.« »Sitzen Sie still, Mann, rutschen Sie nicht so rum.« Selbstverständlich hatte der Geist der Farce die Hand im 57
Spiel. In gewisser Weise läßt sich mein ganzes Leben be schreiben als Fortschreiten von einem lächerlichen Augenblick zum nächsten. Farce auf der einen oder anderen Ebene, der geborene Komiker, ein Clown mit roter Nase, brandrotem Haar und Hosen, die genau im falschen Moment rutschen. Jawohl, von der Wiege an. Als ich das erste Mal vom Pferd fiel, landete ich in einem Misthaufen. Das war allerdings eine gutmütige Farce. Ich weiß noch, daß mir der Gedanke durch den Kopf schoß: Ach, wärest du je auf etwas Hartem gelandet, etwas, das keine Farce ist … Aber es blieb ja noch Zeit. »So reden Sie doch, Wilf.« Schön, das sollte er haben. Beim Misthaufen konnte er an fangen und sich bis zum Bankangestellten vorarbeiten. Ich hatte nichts dagegen, würde es sogar selber niederschreiben, würde damit im Fernsehen auftreten und einen Skandal entfes seln, falls das überhaupt noch möglich war. Ich merkte zu meiner Überraschung, daß ich nachsichtig, ja mit Zuneigung an den stämmigen jungen Mann im guten Anzug zurückdenken mußte, an sein weißes Hemd und den Schulschlips (womöglich etwas grellbunt, doch die einfachen Farbzusammenstellungen hatten die vornehmen Schulen für sich reklamiert). Mir fiel ein … »Was ist denn so komisch, Wilf?« … wie Wilfred Barclay erwischt wurde, als er der Bank zwei Pence schenkte, um die Kasse auszugleichen, und welchen Krach es mit dem Kassierer gab, weil das nach seiner Ansicht und der Ansicht des Filialleiters der Bank und womöglich auch der Bank von England ethisch betrachtet schlimmer war, als der Bank zwei Pfennige wegzunehmen. Der Kassierer war ehrlich erregt. Er schob mir die beiden Münzen hin. »Keiner verläßt das Gebäude, bis die Kasse auf den letzten Penny stimmt!« 58
Mein Rugbyspiel, das von allen Seiten Anerkennung fand, rettete mich (oder, wie ich jetzt sagen möchte, es schob mein Entkommen hinaus). Als ich Maupassant entdeckte, war es damit allerdings vorbei. Das Ende kam in Gestalt eines schotti schen Bankprüfers. Ich zitierte ihn jetzt vor Rick. »Wissen Sie, Mr. Barclay, Sie haben mir ganz neue Einblicke in das Wesen der Zahlen verschafft.« Der Filialleiter bedauerte außerordentlich, daß Bank und Städtchen einen so prächtigen Außenstürmer verlieren sollten. »Aber Sie müssen verstehen, Barclay, es ist eine Herzenssa che. Mit dem Herzen gehören Sie eben nicht ganz zu uns.« Danach wurde ich für ein Weilchen Reitknecht, anschließend näherte ich mich dem Theater. In Elstree durfte ich einen Speer tragen. Einige Monate versuchte ich mich als Lokalreporter, hauptsächlich mit Berichten über Jagdrennen. Dann kam der Krieg. Als ich mit einigen Pfund in der Tasche heimkehrte, schrieb sich Coldharbour von selber – ich jedenfalls schrieb es nicht –, Stein & Cowhorn verlegten es, und ab ging die Post. Eine Biographie Wilfred Barclays? Warum eigentlich nicht? War der Plan etwa lächerlicher als das Material, das sie aus breiten würde? »Und wer ist Lucinda?« Ich schrak zusammen. Da war ich wieder in den Fehler der Greise verfallen, innerlich Selbstgespräche zu führen und laut von anderem zu reden. Rick beobachtete mich scharf. Ah, ja, er war dabeigewesen, getroffen von der Kugel aus dem Luftge wehr, der ganze Auftritt war seinem Gedächtnis ebenso einge prägt wie meinem eigenen. Ich schüttelte den Kopf und schenkte ihm ein, wie ich hoffte, undurchsichtiges Lächeln. Über das Gesicht des Professors huschte ein Schatten (wie wir in unserer ausgefallenen Art sagen), als er merkte, daß der Laden geschlossen worden war. Lucinda war ein schwierigerer Fall, verworren, angesiedelt an der unscharfen Grenze des Unerlaubten. Das meiste aller 59
dings ging weniger auf meine als auf ihre eigenen Einfälle zurück. Was Sex angeht, so war Lucinda ein Genie. Wenn die auf den Gedanken käme, ihre Memoiren zu schreiben! Lieber Gott, Domine defende nos! Das wäre ein Fall für die kühnsten Chronisten des menschlichen Hühnerhofes. Welche Erfin dungsgabe! Hier, meine Herrschaften, finden Sie alles, was Sie immer schon gesucht haben, zum Anfassen und Mitnehmen, ein hübsches Geschenk für die Gattin, die lieben Kleinen, die rührenden Alten, in deren zahnlosem Schlund Margarine nicht schmilzt – endlich etwas Neues! Ich glaube, das Ding hieß Jiffy-Kamera, eine Vorläuferin der Polaroid, und Lucinda besaß eine, bevor sie auf den Markt kamen. Das sah ihr ganz ähnlich, sie kannte da jemand. Sogar ihr Auto war ein Vorabmodell. Die Kamera zu gebrauchen, war jedenfalls ihr Einfall, und der Himmel weiß, weshalb das so aufregend war, aber das war es. Sie war zehn Jahre älter als ich, sehr gut erhalten und wohl das letzte Überbleibsel der britischen Faschisten. Gemeinsam, halb oder ganz nackt im Bette liegend, betrachteten wir die Fotos, schattige Bilder, Umrisse ohne Farbe, wo ist oben, wo unten? Und dann rief sie: »Das bin ich«, oder: »Das bist du!« Am meisten lag ihr an den Gesichtern, hauptsächlich an ihrem eigenen, gelegentlich an meinem, die nie gleichzeitig auf den Bildern erschienen, das war ja unmöglich. Ich weiß jetzt, daß ihre Sucht, in solchen Situationen fotogra fiert zu werden und gleich darauf ihr Gesicht in Farbe zu betrachten, der Ersatz dafür war, sich auf einer belebten Stra ßenkreuzung bespringen zu lassen und den Verkehr zum Erliegen zu bringen; auch hätte sie es wie jene Kaiserin gern auf offener Bühne mit Erbsen und Enten zum donnernden Applaus der Byzantiner getrieben. Eines Tages bemerkte sie ganz nebenbei, wir müßten eine Weile warten, denn sie habe womöglich einen frischen Tripper. Nie zuvor bin ich so schnell gelaufen, nicht mal auf dem Rugbyfeld. Danach – lange danach 60
habe ich jenen Brief zusammen mit den Fotos, auf denen sie und meist unidentifizierbare Teile von mir zu sehen waren, zerrissen und in die Mülltonne geworfen – Narr, der ich war! –, von wo der Leichenräuber alles wieder ans Licht zerrte. Diese Fotos mit meinem Gesicht darauf hatte sie für sich behalten. Aber das alles geschah vor Elizabeth! Warum also versetzte mich die Erinnerung an Lucinda in dieser permissiven Epoche so sehr in Unruhe? Margaret. Die war das Verbindungsglied. Kaum war mir das eingefallen, zuckte ich innerlich zusammen. Ich hatte mich nach Kräften bemüht, die Sache mit Margaret zu vergessen, und das war mir recht gut gelungen. Nur eben, daß auch Lucinda damit zusammenhing. Ich bat sie um Rat. Ich erzählte ihr von den wahnwitzigen, obszönen Briefen, die ich Margaret geschrieben hatte, der einzigen Frau, die ich begehrte, ohne sie haben zu können; von den Vorwürfen, den Flüchen, mit denen ich ihre Ehe bedachte, diese unsäglich anstößige Ehe – ich muß verrückt gewesen sein, buchstäblich verrückt. Als ich zu mir kam, wollte ich die Briefe mit allen Mitteln an mich bringen – wieder eine Verrücktheit. Lucinda war voller Verachtung. »Das ist doch kinderleicht, nichts einfacher als das. Geh zu einem betrügerischen Advokaten, gib ihm ihre Adresse und hundert Pfund, und einen Monat später wird er dir einen neutralen Umschlag aushändigen. Das geschieht alle Tage. So erledigt man das, mein Kleiner. Und wie klein er ist! Ah, Tausende müßte ich von dir für die Fotos verlangen.« »Es wäre – ungesetzlich.« »Kriminell«, stimmte sie fröhlich zu, »aber das ist Sache des Advokaten. Du verdienst an dem Film doch massenhaft Geld?« »Nicht gerade massenhaft.« »Ein Mann mit Geld sollte sich unbedenklich solche Dienste zunutze machen«, versetzte Lucinda mit der Miene gelassener Vernunft, »wozu ist Geld sonst gut?« 61
»Ich kenne keinen betrügerischen Advokaten, meiner platzt schier vor Rechtschaffenheit.« »Es gibt keine unbetrügerischen Advokaten, nur sind manche weniger betrügerisch als andere.« Hier am Tisch, Rick Tucker gegenüber, hinter dem nun Schnee und Sterne sichtbar waren, überkam mich Erstaunen wie atemberaubend dichtes Schneetreiben. Vor mehr als dreißig Jahren hatte ich wirklich einen betrügerischen Advoka ten aufgesucht, auf langen, verschlungenen Pfaden. Ich hatte ihm Geld übergeben, hatte mich zum Mitschuldigen gemacht, und das alles für nichts, für weniger als nichts. Als ich, am Kamin stehend, dessen Flammen ich meine eigenen, ekelhaf ten, erbärmlichen Briefe übergeben wollte, den Umschlag öffnete, verschlug es mir minutenlang die Sprache. Die Briefe waren mit rosa Bändchen verschnürt. Ich tauchte aus einem Monate währenden, von Trunkenheit eingegebenen Mißver ständnis auf. Es waren überhaupt nicht meine Briefe, es waren die ihres Mannes, bombastische, unartikulierte Darbietungen jenes törichten Immobilienhändlers; doch sie liebte ihn, und die Briefe wurden aufbewahrt wie Reliquien. Meine – von über triebenem Stolz erfüllt, hatte ich nicht im Traum daran gedacht, daß jemand meine Briefe vernichten könnte (verrückt, verrückt, verrückt), aber genau dies hatte sie getan – und das war lieb von ihr, denn sie hätte die Briefe auch der Polizei übergeben können –, sie hatte diese obszönen Dinger gleich nach Eintref fen verbrannt. Oder schlimmer, hatte sie sie etwa aufbewahrt? Geisterten die nun in der Welt umher, der falschen Welt? Falls ja, stellte deren Verschwinden zugleich mit dem Verschwinden der Briefe ihres Mannes einen deutlichen Hinweis dar. Ich würde niemals die Möglichkeit außer acht lassen dürfen, daß dies Folgen haben könnte … »Hoffentlich hat der Kerl die ganze Bude auf den Kopf ge stellt.« Jemand stierte mich an. 62
»Wilf?« Ich löste den Blick von seinem, ließ ihn über die etwas breite, leicht eingedellte Nase gleiten, über die Oberlippe, die etwas hängende Unterlippe. Seine Serviette kam ins Blickfeld, er betupfte damit die Lippen, sie verschwand wieder. Er trug ein weißes Hemd mit breiten braunen Streifen. Als ich in seinem Alter war, galten solche Hemden als ordinär. »Stimmt was nicht?« Selbstverständlich verbrannte ich die Briefe ihres Mannes, zurückschicken konnte ich sie nicht gut. Fortan lebte ich in einem Zustand gräßlicher Nüchternheit und ängstlicher Erwartung. Ich flüchtete mich nach Südameri ka, als wäre die Polizei schon hinter mir her. Jahrelang verur sachte mir diese Sache Alpträume, auch sonderbare Halb wachträume, bis sie endlich nur noch sehr undeutlich und sehr entfernt war, ich mich ihrer nur erinnerte, wenn ich gezwungen war, in die Vergangenheit zurückzukehren, wie eben jetzt. Seltsam zu denken, daß ohne Lucinda überhaupt nichts pas siert wäre. Sie gehörte zu denen, die mit harten Drogen enden, von denen gutartige Menschen sagen, sie sei selber ihr schlimmster Feind gewesen und habe niemand weh getan außer sich selber. Sie wußten oder verstanden nichts von jener unzerreißbaren Kette, mit der das geringere Vergehen am schwereren hängt, Schritt um Schritt darauf hinführt, es sei denn, man stellt sich den Tatsachen, statt vor ihnen wegzulau fen. Wie irrten sie alle doch im Falle Lucinda! Wir sind einer des anderen Kettenglieder. Ha, ha, etcetera. »Ist Ihnen ein Witz eingefallen?« »Ja, es ist wohl einer. Im ganzen gesehen. Ich bin betrunken. Zuviel Cognac.« »Ich glaube, eine Art Schüchternheit hindert Sie daran zu erkennen, daß Ihre Biographie großes Interesse finden dürfte …« Der Bankangestellte mochte ja amüsant sein, die Possen von 63
Luandas Liebhaber (Titel einer Romanze in einsilbigen Wör tern) mochten höhnischen Beifall finden, doch die Briefe, Margaret, mein Verbrechen … »Nur ein kleiner Zettel, Wilf. Nur eine ganz generelle Ver einbarung …« Laufen. Immer wegrennen, ein Außenstürmer, von der pani schen Angst beflügelt, daß ein gigantischer Lümmel von der Gegenseite ihn anfallen könnte … »Nur ein winziges Zettelchen, Wilf, von Ihnen unterschrie ben, das mir Vollmacht gibt, insbesondere für den Fall Ihres Todes. Schließlich bin ich eine Generation jünger …« Ja, er war wirklich der gigantische Lümmel im Gedränge. »Sie wollen mir die Ehre antun, mich mit Königen, Staats männern, Massenmördern, Fernsehstars in einen Topf zu werfen?« Er reagierte auf eine für ihn blitzschnelle Weise. »Auch mit Thomas Wolfe, Hemingway, Hawthorne und …« hier sank seine Stimme zu ehrerbietigem Flüstern, » … mit Melville!« »Ich bin kein Amerikaner. Das ist natürlich ein Mangel. In dessen, wie Elizabeth zu sagen pflegte …« »Ja? Sprechen Sie weiter.« Ihr niederträchtigster Angriff; denn wie alle tief verletzenden ehelichen Breitseiten enthielt auch er eine Wahrheit, die nur Elizabeth bekannt sein konnte. Sie behauptete (mir am ge scheuerten Küchentisch gegenüber sitzend, alles sehr heime lig), sie behauptete, ich würde den bedeutenden Mann spielen, böte sich nur die Gelegenheit. Das hast du doch immer schon gewollt, Wilf – als ob ich es nicht wüßte! –, insbesondere gegenüber einem hübschen jungen Ding, das dumm genug wäre, dir zu nahe zu kommen und dich so zu sehen, wie du selber dich siehst, als sacré Ungeheuer, für das die Regeln nicht gelten, als tesoro der Nation, als jemand, dessen Werk die Welt bewahren wird, 64
während das, was du schreibst … »Populär ist.«
»Ein verbreiteter Irrtum, Wilf.«
»Was – daß meine Bücher populär sind?«
»Ach wo, ich meine, daß populär so gut ist wie …«
»… minderwertig.«
»Ich wollte nicht – ich möchte Elizabeths Auffassung von
der Sache kennenlernen.« Ihr Hohn war wie Arbeit mit dem Skalpell. Er gehörte zu den Dingen, vor denen ich davonlief, veranlaßte mich, jenes Ange bot abzulehnen, trieb mich dazu, mich mehr und mehr zu verbergen, weil das, abgesehen von anderem, bewies (Wem? Ihr? Mir?), daß ich nicht auf Ruhm aus war, nicht posierte. »Was meinen Sie mit Elizabeths Auffassung?«
»Ich verstehe schon, Wilf, Sir. Die Notwendigkeit, frei zu
sein. Unter uns gesagt, selbst mit Mary Lou …« »Ihre Auffassung von der Sache.« »Als sie auf die Zeit zu sprechen kam, die Sie in Südamerika ›vertrödelt‹ haben, klang das ziemlich garstig. Damals hatte sie offenbar Kummer mit Emily. Ich weiß nicht mehr, in welchem Teil Südamerikas Sie damals waren. Wann war das über haupt?« Höchst sonderbar. Ich sah vor mir einen Prozeß. Nicht als intellektuelles Konzept, ich fühlte ihn ebenso, wie ich ihn sah, fürchtete ihn ebenso, wie ich ihn mir zu eigen machte. Er war sehr einfach, geradezu platt. Er war allumfassend. Er bestand darin, daß eines aus dem anderen folgt, genau dies und nicht mehr. Margaret, die Briefe, Lucinda, meine Furcht, mein fortgesetztes Flüchten, eines aus dem anderen … Südamerika. Und ja, in welchem Jahr? Was würde er noch alles ausgra ben, stumpfsinnig, aber unermüdlich mit seinen großen Füßen durch meine Vergangenheit trampelnd, die Nase tief auf die längst erkaltete Spur gesenkt? Eine echt moderne Biographie, 65
ohne Zustimmung des Biographierten. Billiger Druck in Singapur, Auflage zehn Millionen, hergestellt von einer Heft chenfabrik in einer Seitengasse von Macao. Keine Abrech nung, überall unter dem Ladentisch zu haben. Wie würde alle Welt über den Wilf Barclay lachen, der sich aus Furcht vor der Polizei und Angst vor den Frauen durch Südamerika mastur bierte? Barclays Angst vor dem Tripper war tief verwurzelt und hatte seine Ursache offenbar in Lucindas Vorstellung von einem Stadtbummel: an einer Speicherwand im Stehen von einem Dockarbeiter genommen zu werden und möglichst auch noch von dessen Kumpel. Ferner Barclays Heldentaten wäh rend einer Revolution – drei Tage saß er fröstelnd und ver schreckt im Keller, bis er von panischer Angst erfüllt sich mit dem Auto in Sicherheit brachte. Auch das würde herauskom men. Tot. Wie genau würde man das nachprüfen? War ich es wert, daß man meinetwegen solches Aufheben machte? Für Rick jeden falls, denn der fand keinen besseren, niemand, um den die Pseudogelehrten nicht schon Schlange standen, versessen darauf, unsere grauenhafte Vermehrung von Rekonstruiertem noch weiter zu bereichern. Rick würde sich anderer mechani scher Hilfsmittel bedienen können als Boswell, nicht nur des Papiers, nicht nur der Tonbänder, der Videotechnik, der Schallplatte, der Kristalle mit ihrem abscheulichen, erbar mungslosen Gedächtnis, sondern anderer: Schnüffler, Schieler, Rekonstrukteure, mechanische Vorkehrungen, die ohne Zwei fel einen Raum abhören und das Echo eines jeden Wortes festhalten, die Schatten aller Bilder, die an den Wänden hängen wie Capstone Bowers’ Jagdgewehr. Tot. Selbstverständlich mußte es in Südamerika, einerlei, wo, auch heute noch einen Untersuchungsbericht geben. Der Indio – vielleicht aber auch nicht. Es war ganz dunkel, und ich fuhr 66
nur mit den Parkleuchten, weil ich auf der Flucht war, und ich hatte mir vorgenommen, falls ich befragt würde, zu sagen, er sei mir direkt in die Scheinwerfer gerannt. Gab es eine Mög lichkeit festzustellen, daß ich in meiner schreckerfüllten Ver geßlichkeit jene ungepflasterte Chaussee wie in England auf der linken Seite befahren hatte? Es heißt ja, man darf nicht anhalten, sonst wird man von den anderen Indios umgebracht. Auch dies ein Vorgang, der immer tiefer abgedrängt werden mußte, bis er am Ende kaum glaubhaft war, ja unglaubhaft. Aber niemals vergessen. Doch es geschah ja im Dschungel, es war auch nur ein Indio, und wahrscheinlich oder möglicher weise war er weder tot gewesen noch schwer verletzt, war vielleicht überhaupt ein Tier. Danach hatte ich doch in schnell stem Tempo eine Furt durchfahren, und das Wasser war über dem Wagendach zusammengeschlagen. Wer sollte im Fluß nach Blutspuren suchen? Kann alles Wasser, ha, etcetera. Und im Unterschied zu ihr wußte ich nichts Genaues. Einen Schat ten angefahren, ein leichter Stoß, die Straße voller Rinnen, der Schrei, das war wohl ein Vogel oder so was. Sollte es wirklich einen Bericht geben – der und der Indio aufgefunden, na ja, tot –, ich habe nie jemand davon erzählt, nicht mal mir selber, nur später immer und immer wieder alles in Gedanken wiederholt. Wie hätte ich umdrehen können, nachdem ich doch die Furt gequert hatte? Umkehren? Mich irgendwelchen Rüpeln in Uniform ausliefern, nur um zu erklären, ich habe vielleicht, wisse nicht genau – selbstverständlich bot die Sprache die eigentliche Schwierigkeit. Mein Spanisch reichte für so was nicht aus. Ich würde mich am Ende selbst beschuldigen, einfach, weil ich unfähig war, den Konjunktiv korrekt anzu wenden. Fahrerflucht. Das passiert jeden Tag irgendwo, und wie in diesem Fall gewiß unter mildernden Umständen. »… dürfen Sie mir glauben, daß Elizabeth Ihrem Genie Ge 67
rechtigkeit widerfahren ließ.« Ich tauchte aus geschmolzenem Blei auf. »Genie?« »Das hat sie gemeint.« »Quatsch. Vergessen Sie nicht, ich kenne Liz – und wie! Sie hat mir Talent zugestanden, Findigkeit. Ich habe das große Los gezogen. Auf irgendwen muß es schließlich fallen.« O Herr, o Herr, o Herr, der Prozeß, Glied um Glied, wir wis sen nicht, was aus diesem Samen aufkeimt, welch grausige Blätter und Blüten, aber er keimt, versorgt uns mit immer mehr Samenkörnern, Millionen, bis das ganze Jetzt, das universelle Jetzt nichts ist als ein unabänderliches Ergebnis. »Könnten Sie sich nicht dazu entschließen?« »Das ist sehr, sehr komisch.« »Nur Ihre Unterschrift unter ein, zwei Zeilen, mit denen Sie mich zum literarischen Nachlaßverwalter einsetzen, das scha det doch nichts, ich bin zu allem bereit, das versteht sich von selber.« »Ich bin etwas betrunken. Reden wir morgen weiter.« »Außerdem hätte ich Ihre Erlaubnis, die Papiere zu katalogi sieren, die in der Obhut Ihrer geschiedenen Frau sind.« Ich betrachtete sein eifriges, schüchtern-verstocktes Gesicht, das Gesicht des Goldsuchers, der in einer Quarzader den goldenen Schimmer entdeckt hat. Die von mir unterschriebe nen Zeilen würden den von ihm abgesteckten Claim legalisie ren. Und die Briefe, Manuskripte, Tagebücher, Tagebücher, die bis in die Schulzeit reichten … Jeffers ist ein ganz toller Bursche, und ich wäre gern sein – mit ihm in der zweiten Mannschaft zu spielen, ist wunderbar – Jeffers hat den Ball ganz leicht gefangen, den ich ihm zuge schlagen habe, ich sagte, es sei doch sehr gut gegangen, und er hat offenbar keinen Anstoß daran genommen, daß ich ihn ansprach – Gott sei Dank haben solche lächerlich fehlgeleite ten Gefühle mich nicht bis in mein Erwachsenendasein beglei 68
tet, dann wäre alles ja noch verworrener geworden! Rick starrte mich immer noch an. »Falls Sie sich also entschließen könnten …« »Ich habe schon mehr als genug Entschlüsse gefaßt.« Kein Zweifel, wenn ich nicht scharf Obacht gab, würde Ricks Gesicht, seine beiden Gesichter, auseinanderfallen. Weshalb eigentlich nicht? Schließlich hatte er zwei Gesichter. »Selbstverständlich würde alles vertraulich bleiben, was Sie nicht bekannt werden lassen wollen, Wilf.« Mit erheblicher Mühe brachte ich seine beiden Gesichter zur Deckung. Mir kam der irre Einfall, jedes seiner Gesichter könnte eine andere Miene tragen, und daß diese sich gegensei tig aufhöben, wenn man die Gesichter zur Deckung brachte. »Wie bin ich bloß in diesen Zustand geraten, zum Teufel? Soviel getrunken habe ich doch nicht.« »Das ist der Höhenunterschied.« »Früher war es der Hummer. Sie wissen schon, Thingum my.« »Pickwick.« »Alter und Verfall. Nein, Rick, Pflicht und ihre Vernachläs sigung führen mich zurück in die Einsamkeit.« »Shelley.« Dafür verdiente er meine Hochachtung, auch wenn mir das nicht paßte, denn dieses Zitat kannte ich nur dank eines un wahrscheinlichen Zufalls. Es findet sich in Shelleys Notizen, nicht in seinen veröffentlichten Werken. Woher zum Teufel …? Aber seit meiner Zeit war wohl alles veröffentlicht worden, gab es eine Shelley-Fabrik wie es eine Boswell-Fabrik gab, kein Blättchen, das nicht umgewendet wurde, einerlei, was der bedauernswerte Autor selber davon halten mochte. Der Tod zahlt alle Schulden. Herr im Himmel! »Ein richtiges Gesellschaftsspiel, wie?« »Wilf, ich könnte hier auf die Speisekarte schreiben. Der Hotelier kann Ihre Unterschrift bezeugen, und alles wäre 69
erledigt.« »Verbrieft und versiegelt. Wir könnten mit dem Fuß des Cognacglases siegeln. S. W. A. L. K. Ach nein, das ist was anderes.« »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Sir.« »Ah! Endlich wissen Sie mal was nicht. Victoria!« »Ich schreibe es hierher. ›Hiermit ermächtige ich Professor Rick L. Tucker von der Universität Astrakhan, Nebraska …‹« »Sie stellen gleich zwei Füße in die Tür, was?« »Da, das wär’s schon, Wilf. Nehmen Sie meinen Kugel schreiber.« Ricks Cognacschwenker war noch ziemlich voll. Ich goß etwas Cognac auf die Rückseite der Speisekarte und drückte den Fuß des Glases hinein. Der Fuß hinterließ so was wie einen Kreis, ein Siegel. »Sie brauchen ja nicht im Nassen zu schreiben, Wilf, schrei ben Sie lieber da, wo die Pappe trocken ist.« Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Nicht mal die Zeitpflanze mit ihren Wolken von Samen, auch andere Pflanzen dieser und jener Art, alle eifrig blühend in der Ge genwart, vordringend in meine Zukunft – Taten, noch unbe kannt, und doch bestimmt, rekonstruiert zu werden … »Nein, Rick, nein, lieber sterbe ich.« »Bitte, Wilf, bitte – Sie wissen ja nicht, was das für mich bedeutet!« »Oh, doch, das weiß ich, und wie ich das weiß! Und auch, was es für mich bedeuten würde, weiß ich.« Ich malte in Druckbuchstaben ein großes zorniges NEIN auf die Rückseite der Speisekarte und reichte sie ihm. »Ein Memento an ein glückhaftes Ereignis.«
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KAPITEL VI Ich will hier nicht eine Schilderung meiner Reisen liefern, es geht hauptsächlich um mich und die Tuckers, Mann und Frau. Es geht aber wohl auch noch um anderes, wenngleich ich nicht sagen kann, worum, Wörter können das nicht ausdrücken, selbst ich finde nicht genügend starke Wörter, obwohl sie mir weiß Gott jetzt eigentlich zur Verfügung stehen müßten. Rufen, rufen. Wonach rufen? Rufen ist nutzlos. Eine gemeinsame Sprache haben wir nicht. Oh, es gibt schon so etwas Ähnliches, beispielsweise Vor schriften, die den Transport brennbarer Stoffe in Flugzeugen regeln, oder Anweisungen zur Herstellung von russischem Salat. Doch unsere Wörter gleichen geschlagenen Goldmün zen, die nachträglich mit wertlosem Metall legiert und mit einer unscharfen Prägung versehen worden sind. Nun ja. Ich verfügte mich ins Bett und blieb dort am nächsten Mor gen liegen. Wie der Hoteldirektor ganz richtig gesagt hatte, bedurfte es einiger Zeit, sich zu akklimatisieren. Rick klopfte jedoch so beharrlich an die Tür, daß ich ihn schließlich einlas sen mußte, obschon ich mich gerade erst dazu aufgerafft hatte, meinen Morgenkaffee zu trinken. Er berichtete, auch Mary Lou nehme ihr Frühstück im Bett ein. Dann lobte er meinen Salon, pries die großartige Aussicht. Aus seinem und Mary Lous Zimmer schaue man direkt auf ein benachbartes Chalet, so nahe gelegen, daß man die Fliegen an der Hausmauer zählen könne. »Mary Lou darf jederzeit meine Aussicht genießen, wenn sie Lust darauf hat.« Rick überlegte einen Moment und meinte dann, man werde 71
vielleicht wirklich Gebrauch machen von diesem Anerbieten. Ob er etwas für mich tun könne? Sich zum Beispiel um einen Mietwagen kümmern solle? Er warf einen gierigen Blick auf mein Tagebuch, das aufgeschlagen auf dem Nachttisch lag. Ich klappte es demonstrativ zu. Rick fragte, ob ich vielleicht diktieren wolle? Seine Schreibmaschine … »Nichts. Wofür halten Sie mich eigentlich? Für einen Schriftsteller etwa?« Er bot sich mir als Sekretär an. »Also dann: Guten Morgen, Rick, ich will Sie nicht aufhal ten.« Darauf reagierte er nicht, sagte vielmehr, er wolle den Vor mittag benutzen, den Weg zum Hochalpenblick zu erkunden. »Falls es nicht zuviel wird für Sie, können wir den morgen noch einmal gehen.« »Vorausgesetzt, es ist nicht zuviel für Mary Lou.« Er dachte über diese Bemerkung ein Weilchen nach, und ich machte deutlicher, was ich im Sinne hatte. »Falls der Weg zu beschwerlich wird, kann sie Ihnen helfen, mich zu stützen.« »Sie sitzt lieber, Wilf.« »Also kein sportives Mädchen?« »In Wimbledon fühlt sie sich richtig wohl.« »Gott schütze uns.« »Ich werde ihr ausrichten, daß Sie sie für später eingeladen haben.« »Habe ich das?« »Die Aussicht, Wilf, die Aussicht!« »Ah, richtig. Die Aussicht. Mary Lou und ich, wir werden hier nebeneinander sitzen und die Aussicht bewundern. Hof fentlich stürzt sie nicht vom Balkon.« »Es hat wohl keinen Zweck, Sie zu bitten …« »Überhaupt keinen.« Wieder dachte er nach. 72
»Trotzdem«, sagte er schließlich, »ich werde es ihr mitge ben.« Und er zog ab, zuversichtlich nickend. Ich vergaß ihn, kleide te mich an und nahm vor der Aussicht Platz. Deshalb war ich schließlich in dieses Hotel gekommen. Gerade habe ich durch geblättert, was ich für jenes Jahr in mein Tagebuch eingetragen habe – eines jener Tagebücher, die demnächst in Flammen aufgehen sollen –, und stelle fest, daß unter diesem Datum eine ganze Menge steht. Nichts von der Aussicht, aber viel über den Liebreiz junger Frauen, Nimue und die Shakespeareschen Wahnbilder, Perdita, Miranda. Es findet sich auch der Versuch, Mary Lou zu beschreiben, doch ist der ausgekritzelt, und der Wilfred Barclay dieses Datums befaßt sich mit Helena von Troja! Er merkt an, wie es Homer gelingt, seine Geschichte plausibel zu machen, indem er nicht die Frau selber beschreibt, sondern ihre Wirkung auf andere. Die Greise auf der Stadt mauer sehen sie vorübergehen und sagen: Kein Wunder, daß solch eine Frau soviel Unruhe verbreitet, man sollte sie heim kehren lassen, bevor sie noch mehr Ärger macht. Oder so ähnlich. Ich kenne Homer nur aus Übersetzungen, und so erinnere ich mich daran. Nun ja. Mary Lou machte, daß die Sonne über dem See heraustrat, und als sie ging, ging die Sonne mit ihr. Erbrach sich Mary Lou, empfand man sogleich Mitleid mit ihrem durchscheinen den Gesicht, statt des Ekels, den man empfunden hätte, wäre es, sagen wir, Wilf gewesen, dem das widerfuhr. Ich kann nicht einmal ihre Hände beschreiben, so bleich, so fein, so schmal, konnte es auch damals nicht. Ich sehe, daß ich mich am Ende mit den Greisen auf der Mauer verglich. Oh, ja, Helena soll abreisen, bevor es Ärger gibt. Das alles hatte ich trotz der Aussicht geschrieben, als es klopfte. Ich schritt durch den Korridor der Suite und ließ unsere kleine Helena ein, die auf einem Tablett zwei Portionen Kaffee brachte. 73
»Nur herein, nur herein! Geben Sie mir das Tablett, und set zen Sie sich.« Ich war von einer törichten Verwirrung befallen. Mary Lou ließ sich in einen Sessel sinken und machte jeden Versuch zunichte, sie etwa zu beschreiben. Sie faltete die Hände im Schoß und kreuzte sittsam die Füße. Sodann drehte sie den Kopf ein wenig, um aus dem Fenster zu blicken, was aber den Anschein machte, als verändere sich die Haltung ihres ganzen Körpers. »Die Aussicht ist wirklich phantastisch von hier, Mr. Bar clay.« »Bleiben wir doch bei Wilf. Sie haben recht, ich kann kaum anderswo hinsehen.« Von deren Heiligmäßigkeit überwältigt, stellten die mittelal terlichen Kolorierer ihre Gestalten in eine Welt aus Gold. Als dann später der Blick wählerischer wurde, umgaben sie die Köpfe der Heiligen mit einer Aureole. Schönheit wohl auch; die erkannten jene Greise auf der Mauer, beschrieben sie mit dünnen, trockenen Stimmen, die dem Zirpen der Grillen ähnelten. »Wirklich eindrucksvoll.« »Oh, ja, man findet dafür keine Worte.« »Da fällt mir was ein.« Sie zog den Reißverschluß ihrer Handtasche auf, schob das Haar mit einer fließenden Bewe gung des Unterarms aus der Stirn und holte einen Umschlag hervor. »Rick sagte, ich solle Ihnen das hier geben.« »Was ist es?« Ihr Gesicht wechselte die Farbe, kaum merklich, aber an ihr war alles mehr Andeutung denn Faktum. Vielleicht gab es sie in Wahrheit gar nicht, war sie das Scheinbild absoluter Schön heit wie die treulose Helena, die soviel Leid verursachte, das sie auf ihrem Weg begleitete. »Rick sagte, ich soll Ihnen das hier geben.« »Darf ich mal sehen?« 74
Der große Umschlag enthielt einen kleineren, um den ein Zettel gefaltet war. Erkunde unseren morgigen Spazierweg. Hoffentlich hat Mary Lou mehr Glück als ich. Rick. Ich schaute Mary Lou an, die den Kopf abgewandt hielt. Selbstverständlich genoß sie die Aussicht; die Hände um klammerten aber die Sessellehnen, was nicht sehr graziös wirkte. Ich öffnete den kleineren Umschlag. Auf einem Blatt des Hotelbriefpapiers las ich, daß ich den Assistenzprofessor Rick L. Tucker von der Universität Astrakhan, Nebraska, zu meinem literarischen Nachlaßverwalter bestimmte und ihm Zugang zu jenen Papieren gestattete, die sich derzeit in der Obhut von Mrs. Elizabeth Capstone Bowers befanden. Darun ter mein Name mit Platz für die Unterschrift. Ich schaute Mary Lou wieder an. »Sie wissen nicht, was das hier ist?« Sie erwiderte mit einer Stimme, die man nur als winzig be zeichnen kann. »Rick hat gesagt, ich soll Ihnen das geben.« Armes Kind, geradezu lügen wollte sie nicht. Mag sein, es stimmte. Vermutlich war ich ihr ebenso zuwider wie die ganze Situation. Ihr Abscheu war ungerechtfertigt, schließlich hatte ich mich entziehen wollen und war nach Weisswald verfolgt worden. »Was wünschen Sie sich für Rick, Mary Lou?« Mary Lou dachte nach, besser, sie bemühte sich nachzuden ken. Die Anstrengung erzeugte auf ihrer Stirn liebreizende kleine Falten, weiter nichts. »Nun sprechen Sie schon, irgendwas wird Ihnen doch vor schweben?« »Ich wünsche mir für ihn wohl alles, was er sich wünscht.« »Einen Lehrstuhl? Bücher? Auftritte im Fernsehen? Ruhm? Reichtum? Vielleicht etwas in oder von der Kongreßbibliothek, ich weiß nicht, wie das bei Ihnen gehandhabt wird.« »Ich …« 75
»Ja?« »Möchten Sie vielleicht Kaffee, Mr. Barclay? Nehmen Sie Sahne? Zucker?« »Schwarz bitte. Und nennen Sie mich Wilf. Lassen Sie es mich anders ausdrücken. Haben Sie eine Ahnung, warum Rick sich gerade auf mich verlegt hat? Schließlich kriegt man Schriftsteller dutzendweise für einen Groschen. Hunderte sogar. Wenn man bedenkt, daß es auch schreibende Professo ren gibt, sind gewiß die Schriftsteller in der Überzahl. Also jetzt mal ohne alle Schmeichelei, ich möchte die nackte Wahr heit erfahren.« »Ich glaube, er bewundert Ihre Bücher.« Ich verneigte mich, doch Mary Lou fuhr mit großer Einfalt fort. »Und ich werde sie gewiß auch bewundern.« Ich brauchte ziemlich viel Zeit und allen Kaffee, um darauf eine Antwort zu finden. »Nun ja, meine Liebe, es ist Lektüre für Erwachsene – aus genommen Raubvögel selbstverständlich. Damit habe ich mir keinen guten Dienst getan. Condottieri.« Sie nickte weise. »Das sagt auch Rick.« »Ach nein, sagt er das?« »Ja, Sir, er sagt, wahrscheinlich haben Sie es schon als Dreh buch angelegt.« »Das habe ich nicht! Nur, nur – im 14. Jahrhundert waren die Leute wirklich so, wissen Sie, dieses Renommierverhalten war für sie ganz natürlich. Jedenfalls in Italien. Tja. Warum klam mert er sich an mich, wenn er so denkt?« »Er sagt, kein anderer beschäftige sich momentan mit Ih nen.« »Das kränkt mich.« »Jedenfalls weiß er keinen. Umgesehen hat er sich, Mr. Bar clay, Wilf, ich übrigens auch. Ich habe nämlich bei ihm stu diert. Wir haben zusammen an Ihnen gearbeitet, Sir. Rick sagt, 76
wenn man so ein Projekt verfolgt, kann einem jemand um Nasenlänge zuvorkommen. Rick sagt, man muß unbedingt nicht nur genau sein, sondern auch schnell. Rick sagt, wir müßten uns mit dem Projekt ganz vertraut machen.« »Also mit mir.« »Rick sagt, er investiert unser Geld und unsere Zeit in Sie – Wilf –, und wir könnten uns keine Fehler leisten.« »Vielleicht hat er einen großen Fehler gemacht.« »Es war doch das Hinterzimmer im Erdgeschoß?« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« »Felstead Regina.« »Das Häuschen am Ende des Feldweges mit Blick auf den Wald?« »Ja, Sir, Ihr Geburtshaus. Wir haben Fotos davon. Und es war doch das Zimmer?« »Das sagt jedenfalls meine Mutter, und die dürfte es wissen. Lieber Himmel!« »Es hat ein kleines Fenster.« »Oh, Gott.« »Der Mann, der da jetzt wohnt, hatte nichts dagegen. Wir durften rauf gehen.« »Ein Foto von meinem Sterbehaus haben Sie nicht zufällig?« »Sir?« »Oh, Gott.« »Habe ich was Verkehrtes gesagt …?« Ich schenkte mir noch Kaffee ein und nahm einen großen Schluck. »Nein, nein, bitte fahren Sie fort. Sie … Sie helfen Rick da mit.« »Nun, da wäre dann Mr. Halliday.« »Ich kenne keinen Mr. Halliday.« »Er ist reich. Ich meine, richtig reich. Der hat Ihre Bücher gelesen, und die gefallen ihm.« »Es ist immer angenehm, von reichen Leuten zu hören, die 77
lesen können.« »Ja, nicht wahr, es ist auch angenehm für sie. Am besten gefiel ihm Ihr zweites Buch, Alle Meine Schäfchen.« »Woher kennen Sie die Titel meiner Bücher, wenn Sie die nicht gelesen haben?« »Mein Diplom habe ich in Blumenarrangieren und Biblio graphie gemacht, Sir. Seine Sekretärin, also die von Mr. Halliday, hat ausdrücklich gesagt, Alle Meine Schäfchen hat ihm am besten gefallen. Besonders ein Satz darin.« »Ah.« »Ich will mal sehen, ob ich den noch zusammenbringe. Es ist der Satz, wo Sie zugeben, Gefallen an Sex zu haben, aber unfähig zur Liebe zu sein.« Danach schwiegen wir alle beide eine ganze Weile. Wie lange? Als Romanfigur hätte ich jetzt eine Wanduhr im Blick gehabt, vielleicht wären mir die Ornamente um das Glas aufgefallen, und dann wäre ich überrascht gewesen, als ich sah, daß der große Zeiger von der Zehn auf die Zwölf vorgerückt war. Aber eine Wanduhr war nicht vorhanden. Hm. Ich hätte ja auch Gedanken nachhängen können, aber es geschah weiter nichts, außer daß viel Zeit verging. Mary Lou setzte ihre Tasse ab. »Tja, dann …« »Moment. Gehen Sie noch nicht. Darf ich mal fragen, war um? Warum ausgerechnet Mr. Halliday? Propagiert er etwa Lieblosigkeit? Herr im Himmel!« »Nein, Wilf, Mr. Halliday hat eine Schwäche für Damen.« »Dann verstehe ich nicht, was ich damit zu tun haben soll. Aber lassen wir das für den Augenblick. Vermutlich hat er eine Nadel in ein Nachschlagewerk gesteckt und ist auf meinen Namen gestoßen.« »Nein, hat er nicht! Er hat das Buch gelesen …« »Alle Meine Schäfchen.« »… und daraufhin alle anderen bestellt …« 78
»Großartig!« »Und dann hat er durch seine Sekretärin Erkundigungen angestellt. Erst hat sie den Rektor der Universität gefragt, Mr. Halliday hat nämlich einen ökumenischen Tempel, eine Ski schanze, die Schneemaschine und die Tennisplätze gestiftet …« »Ich sehe schon, er hat Einfluß. Dann hat er sich an Rick gewandt?« »Nein, ich sage doch, es war seine Sekretärin, Mr. Barclay. Er selber vermeidet allen Umgang. Wenigstens …« »Ausgenommen seine Damensammlung. So ein alter Schuft!« »Aber er ist überhaupt nicht alt, Mr. Barclay, kein bißchen älter als Sie!« Pause. »Er hat wohl nicht zufällig auch Bestseller geschrieben?« »Ich glaube nicht. Nein. Bestimmt nicht. Aber Sie müssen doch sehen, daß das für Rick eine tolle Chance war. Nachdem er Phonetik studiert hatte, entschloß er sich, sich ganz auf Sie zu verlegen – weil er Ihre Bücher so schön findet, Mr. Barclay, das tut er wirklich. Dann sprach also Mr. Hallidays Sekretärin mit dem Rektor, und der mit Professor Saunders, und das ist alles.« »Aber jemand, der so reich ist, kann sich doch jede Menge Schriftsteller halten – er könnte sie sammeln, wie seine Da men.« Mary Lou nickte. Als ich schon meinte, die tiefste Demüti gung erlitten zu haben, überreichte sie mir eine kurze Liste mit den Namen anderer Schriftsteller, für die Mr. Halliday sich interessierte. Ich hatte kein einziges Buch von diesen Leuten gelesen. Ich nahm Ricks Brief auf, sah ihn an, legte ihn wieder hin. Männer ohne Liebe. Da war etwas dran. Mmm. Meinen Vater hatte ich nicht gekannt. Elizabeth. Emily. Zugegeben, der 79
Mann, der in Alle Meine Schäfchen gesteht, nicht lieben zu können, war von mir einzig der Handlung wegen eingeführt worden – sprach er nicht etwa doch für mich? Ich fühlte mich manchmal einsam. Das war aber die Einsamkeit eines Mannes, der gern unter Menschen gewesen wäre, der sich nach einem gewissen Umtrieb sehnte. Nach der Benützung eines weibli chen Körpers stand mir seltener und seltener der Sinn. Selbst daß ich die exquisite Weiblichkeit in Mary Lou wahrnahm, war im Grunde nichts Krasses – was ich empfand, sagte ich mir vor, war väterliches Mitgefühl, beschützenwollend, eher traurig. Sie stand auf. »Also …« »Müssen Sie schon gehen?« Ich hätte eine harmlose, erklärende Geste machen können, etwa ihr die Hand küssen. Ich hätte meine Beredsamkeit nutzen können – Männer ohne Liebe! Und alle diese Gefahren inner halb von nicht einmal 24 Stunden! Sie aber sagte, ja, sie müsse nun wohl gehen, bedankte sich für den Kaffee, und wir vergaßen beide, daß ja sie ihn mitge bracht hatte. Nachdem ich die Tür hinter ihr zugemacht hatte, blieb ich im Vorraum stehen, starrte meine leeren Koffer an, die auf dem Kofferständer lagen. Es war sinnlos und dumm. Ich mußte fort, fort nicht nur von ihm, sondern auch von ihr. Ich war im Begriff, einer Kindfrau auf den Leim zu gehen, einem jungen Leib, der einem Geist diente, so faszinierend wie ein Stück Bindfaden. Hätte umgekehrt dieser Geist dem Leib gedient – der Leib wäre – gräßlich gewesen. Nein, das war ungerecht. Sie mochte nicht lügen, suchte es zu vermeiden. Sie wollte ihren Kurs halten zwischen dem, was sie als Ricks Wunsch erkannte, und dem, was in ihren Augen recht war – sie war ein moralisches Wesen, und wer war ich, daß ich wagen durfte, sie dafür zu tadeln? Sie mochte mich 80
nicht. Sollte ich sie etwa deshalb schelten? Sie hatte die bedeu tenden Werke Wilfred Barclays nicht gelesen. Nun ja, andere Leute ebenfalls nicht. Oh, sie war noch wie in Trance in ihrer Ehe, noch ganz erfüllt von heimlichem Entzücken über das, was sie nun kannte und was vor ihr nie jemand gekannt hatte, dem weiblichen Entzücken des Gebens. Es beglückte sie, sich als Besitztum eines anderen zu fühlen, als Sklavin, sie wußte, daß sie das Geheimnis vor ihrem Mann verborgen halten mußte, gerade wenn es am köstlichsten war. Er sollte glauben, was sie als Kern allen menschlichen Lebens erkannt hatte, sei für sie nur ein Spiel. Die Trägheit des Geistes, ihrer Reaktio nen, an der ich ihren Intellekt gemessen hatte, mochte sehr wohl weiter nichts beweisen als Gleichgültigkeit gegenüber einem Mann, dreimal so alt wie sie, den sie aber des Eheman nes wegen höflich behandeln muß, koste es, was es wolle. Zeit, ein Schläfchen vor der gewiß anstrengenden Mahlzeit zu machen. Ich zog mich aus und ging zu Bett. Die alten Männer zirpten wie Grashüpfer auf der Stadtmauer, als sie die junge Frau vorübergehen sahen. Kein Wunder, daß soviel Ärger, soviel Kummer von ihr ausgingen. Kein Wunder, daß junge Männer willens waren, soviel zu wagen, um ihre Liebe zu gewinnen. Trotzdem – sie soll in ihr eigenes Land zurück kehren, bevor sie am Tode weiterer junger Männer schuldig wird. Alte Männer. Alte Possenreißer, alte Lumpenhunde.
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KAPITEL VII Ich träumte viel, was angeblich gesund sein soll, doch erinnerte ich mich auch an meine Träume, was für mich ungewöhnlich ist, ob gesund oder nicht, ahne ich nicht. Elizabeth behauptete gern, ich hätte kein Unbewußtes, bei mir sei alles immer zugänglich. In ihrer Welt bedeutete dies, ich gliche einem Laden voller unnützer Nippessachen, noch dazu schäbigen. Warum nur mußten wir uns überhaupt begegnen? Ein HinduArzt meiner Bekanntschaft behauptete, wir würden einander immer wieder begegnen, bis wir gelernt hätten. Aber was wir lernen sollten, sagte er nie. Meine Träume handelten vom Weiblichen tout court. Auch träumte ich mich zum Bett hinaus, auf den Balkon. Ich träumte, ich betrachtete den großen Gletscher auf der anderen Talseite, und dank einer ungenauen Erinnerung an irgendeine Äußerung von Elizabeth wurde mir klar, daß das, was ich da sah, mein eigenes Bewußtsein war. Ich begriff, welch mühevolle Arbeit es ist, dieses Glitzern des Geistes, diese tanzende Bewußtheit, woraus ich meine unwahrscheinlichen, aber unterhaltlichen Geschichten konstruiere. Dann aber träumte ich mich in einen Angstzustand hinein, denn der Balkon senkte sich, und bei einer bestimmten Schräglage würde ich abrutschen. Ob nun also bewußt oder unbewußt, mein träumender Geist schlug Purzelbäume, und ich sah mich als einen jener Schmetterlinge, die Mr. Halliday in einem Schaukasten ausstellte; die Nadel, auf die er mich gespießt hatte, verursachte keine Schmerzen, und den lateinischen Namen, der unter mir stand, konnte ich nicht lesen. Ich erwachte in der Furcht, einen schlechten Aufsatz geschrieben zu haben und nichts Gutes vom alten Zonkers erwarten zu dürfen. Die Träume hatten hinterlassen, was die Seelenklempner (und die Schwarzröcke) einen Affekt 82
nennen, und zwar einen erheblichen. Dies heißt weiter nichts, als daß ich schweißgebadet erwachte, glücklich, schon sechzig und überdies in Weisswald zu sein. Die glücklichsten Tage, ha, etcetera. Ein sacré Ungeheuer, wie Liz gesagt hätte. Ich duschte, und da war es denn für den Tee zu spät und nicht mehr zu früh für die Bar. Ich zog mich rasch an und ging hin. Draußen sah ich eine Reihe österreichischer, deutscher und schweizerischer Wanderer in die andere Richtung gehen, das heißt zurück zur Zahnradbahn, allesamt gedrungen und breiter als hoch, Schweißflecken an den Lederhosen und Federn am Hut. Sie machten den Eindruck von Figuren, die zurück in die Schachtel gehören. Ich hatte mich an der Bar niedergelassen, der Hoteldirektor mixte mein abscheuliches Getränk, ohne Ekel zu zeigen, da platzte Professor Tucker herein. »Heda, Wilf, Sie alte Schlafmütze!« »Heda, Sie Assistenzprofessor«, beleidigte ich ihn meiner seits. »Ich habe nie zuvor ähnliches gesehen, nicht mal bei uns daheim.« »Tut mir leid, aber ich beabsichtige nicht zu klettern.« »Brauchen Sie auch nicht. Es gibt da ein kilometerlanges Geländer. Und wie war es mit Mary Lou?« »Sie hat Halliday erwähnt.« Das traf sichtlich. Nach einem Weilchen beschloß er, darüber zu lachen. Man konnte den Prozeß richtig verfolgen. Rick glich einem jener typischen Apparate aus alter Zeit, einer viktoriani schen Pumpe etwa, hergestellt mit ungeheurem Arbeitsauf wand, großer Geschicklichkeit und Hingabe, alles grün gestri chen, die Teile geölt, Dampf steigt auf, und das Ganze dreht sich gemächlich wie ein Planet. »Eine wirkliche Type, dieser Halliday.« »Eher unwirklich.« »Ich wollte Ihnen schon von ihm erzählen.« »‘türlich, wie Sie sagen.« 83
»Essen Sie mit uns?« Ich durfte mich ihm nicht verpflichten, das sagte der gesunde Menschenverstand. »Sie müssen beide meine Gäste sein. Nein, nein, ich bestehe darauf. Es ist mir ein Vergnügen.« »Ehrlich?« »Wer ist schon ehrlich.« Rick ging forsch ab – mag sein, etwas nachdenklich, aber immer noch forsch. Ich rief mir sein Gesicht ins Gedächtnis. Die Sonne hier oben hatte aus seiner Nase, seinen Wangen und seiner Stirn Äpfel, Kirschen und Tomaten gemacht. Ich reckte mich hierhin, dann dahin, bis ich mein eigenes Gesicht zwi schen den Flaschen vor der unvermeidlichen Spiegelwand der Bar erkannte. Ich war ganz und gar nicht der sprichwörtliche »rotgesichtige Engländer«, meine Haut glich eher einem Stück Leder, das seit Generationen auf dem Dachboden liegt, und die Nase wies hier und dort rote Äderchen auf. Dieses Gesicht kennt keiner, dachte ich. Ein Schriftsteller ist kein Schauspie ler, kein Musiker, nicht sein Gesicht macht sein Glück. Eher sein Unglück, oder auch nicht. Sein Glück ist seine Anonymi tät. Hätte ich wirklich berühmt sein, das heißt auf der Straße erkannt werden wollen, ich hätte mir nur ein Plakat mit der Aufschrift »Autor von Coldharbour« an den Hut stecken müssen. Daß ich darauf nicht im mindesten aus war, beglückte mich und strafte zugleich Elizabeths Beschuldigung Lügen. Ich saß bereits in dem kleinen Restaurant, als Rick mit Mary Lou hereinkam. Er und ich waren salopp gekleidet, Mary Lou hingegen hatte sich, wie ich vage beunruhigt zur Kenntnis nahm, große Mühe gegeben. Ihr Rock war lang und bauschig, doch von der Taille aufwärts lag das Oberteil ganz eng an und war so tief ausgeschnitten, wie es die schweizerischen moeurs gerade noch zulassen; für Touristen bedeutet das: sehr tief. Mir kam der Gedanke, daß sie sich nicht aufreizender hätte kleiden können, sollte sie dabei »an einen älteren Herrn« gedacht 84
haben. Ich schob ihr den Stuhl unter (das kann ich ausgezeich net) und ließ mir den meinen gerade von dem Hoteldirektor unterschieben, als mich ein Wutanfall überkam. »Wer hat Ihnen erlaubt zu fotografieren, verdammt noch mal!« »Aber Wilf, es ist doch nur fürs Archiv sozu…« »Es wird kein Archiv geben, basta.« »Du hättest vorher um Erlaubnis bitten müssen, Schatz.« »Und ich dachte, Wilf hat nichts dagegen, Schatz.« »Rick.« »Ja, Wilf?« »Machen Sie das nie wieder, Schatz. Sonst verklage ich Sie.« Der Hoteldirektor war mit professionellem Takt entwichen. Wir studierten die Speisekarte, und ich langweilte die beiden mit weitschweifigen Schilderungen von Mahlzeiten, die ich hier und dort zu mir genommen hatte. Nachdem er etwas getrunken hatte, wurde Rick sehr beredt, das lag wohl auch an der Höhenluft. Mary Lou war schweigsam, und es kam mir vor, als befürchte sie, Rick könne sich zum Narren machen. Nach einem weiteren fehlgeschlagenen Versuch meinerseits, ein Lächeln auf dem exquisiten jungen Gesicht hervorzuzau bern, gab sie unvermittelt ihre Enthaltsamkeit auf und verlang te einen großen Wodka, bitte, wofür sie von Rick so sehr gelobt wurde, als habe sie gerade einen Preis verliehen be kommen. Danach wurden die beiden recht lebhaft, und ich kam mir vor wie der einzige, den ich mit meinen Erzählungen gelangweilt hatte. Ich fand mich stumpfsinnig, mißgönnte den beiden ihre Jugend und fragte mich, worauf, zum Kuckuck, ich mich da eingelassen hatte. Rick war jetzt bei der Astronomie angelangt – offenbar war in der Nähe eine Sternwarte – und beklagte den Umstand, daß man von ihrem Zimmer aus so wenig vom Schweizer Nachthimmel sehen könne. Mary Lou wirkte abwesend. Rick sah von mir zu ihr. »War es heute sonnig, Schatz?« 85
»Sonnig, Schatz?« »Ich meine heute nachmittag, in unserem Zimmer, Schatz.« »Nein, ich glaube nicht, Schatz.« »Falls Sie Sonne oder Sterne sehen wollen, steht Ihnen im mer mein Balkon zur Verfügung«, sagte ich. »Wir können ja gleich dorthin umziehen. Wie warm ist es denn draußen? Wir könnten vielleicht sogar …« Rick stand schon auf. Mary Lou nahm ihre Handtasche und flüchtete. »Wie nennt sie das, Rick? Den Powder Room? In den Staaten habe ich diese Toiletten mit den scheußlichen Figuren regel recht gesammelt – mit Königen und Königinnen, Herzögen und Herzoginnen, schweren Jungs und leichten Mädchen, Häupt lingen und Squaws. Aber das ist schon Jahre her. Jetzt viel leicht … allerdings hat sich diese Unsitte inzwischen ausge breitet. Man trifft sie schon in England. Kulturimperialismus.« »Wir werden mit Vergnügen Ihre Sterne betrachten, Wilf.« »Meine? Wie komme ich zu dieser Ehre? Nehmen Sie noch einen Schluck, bevor – die Flasche ist ohnehin fast leer.« Rick kicherte. Ich verstummte, und wir warteten stehend. Er trommelte unruhig auf der Tischplatte. »Zwei Flaschen für drei Personen deuten übrigens auf begin nenden Alkoholismus, Rick. Mary Lou hat außer dem Wodka nichts getrunken, also – versteht sie übrigens was von Astro nomie?« Lange Pause. Schließlich schrak Rick zusammen. »Entschuldigen Sie, Wilf, ich …« »Mary Lou. Astronomie.« »Sie interessiert sich dafür.« »Ich nicht. Oder doch. Wo steckt denn der Weinkellner?« Selbstverständlich erschien der Direktor. Ich bestellte eine Flasche Cognac, die er nach einer Weile brachte. Rick trom melte unaufhörlich weiter. »Mann Gottes, haben Sie noch immer nicht genügend Bewe 86
gung gehabt?« »Ich verstehe nicht ganz, Wilf …« Er goß seinen Cognac runter, daß es mich grauste. Selbst tat ich höchst zivilisiert, wärmte den Schwenker mit den Händen, schnupperte daran wie ein Kenner, obschon ich so gut wie keinen Geruchssinn habe. Zeit verging. Mary Lou kam aus dem Powder Room zum Vorschein, blei cher als sie hineingegangen war. Vielleicht hatte sie sich wieder erbrochen. Rick hatte sein Cognacglas neu gefüllt. »Wilf hat wirklich nichts dagegen, daß wir seine Sterne be trachten, Schatz.« Mary Lou sog hörbar die Luft ein. »Das wäre bestimmt schön, Schatz.« »Eintritt gratis, meine Lieben.« Ich ergriff die Cognacflasche. Rick setzte sich in Bewegung, machte aber überraschend halt. »Geht ihr beide schon mal vor, ich muß noch wohin.« Ich ging weiter mit der Flasche in der Hand, hielt Mary Lou die Tür auf und führte sie durch die kleine Diele in den Salon, wo Ricks Briefchen noch auf dem Tisch lag. Ich öffnete die Balkontür, und sie trat raschelnd hinaus, frou, frou. »Geben Sie acht!« Sie stand jetzt unmittelbar am Geländer, stützte sich mit bei den Händen darauf und schaute hinunter. »Um Himmels willen! Entschuldigen Sie bitte, meine Liebe, aber ich werde so leicht schwindlig und fürchte sonderbarer weise mehr um andere als um mich selber. Ich kann tatsächlich leichter näher an einem Abgrund stehen als zusehen, wie andere Leute auch nur in die Nähe kommen. Und runtersehen, meine ich. Ich kann’s nun mal nicht aushalten, ich alter Tropf.« Sie richtete sich auf, gehorsam wie ein kleines Mädchen, und tat einen, zwei Schritte rückwärts. Ich ging zum Schalter. »Jetzt drehe ich das Licht aus.« Ein mit Sternen vollgestopfter Himmel wurde zum Greifen 87
nahe sichtbar. »Wie Diamanten, nicht? Das schönste Geschenk für eine Frau.« Ich stand nahe ihrer Schulter und fragte mich, wie es wohl komme, daß ich, der ich nicht mal das Aroma des Cognac roch, eine Spur von Parfüm in ihrem Haar wahrzunehmen glaubte. Ich rückte noch näher. »Mr. Barclay …« »Weshalb plötzlich so formell?« »Rick ist verzweifelt, wirklich.« »Und weshalb müssen wir jetzt über Rick sprechen?« Ein kitschiger Satz, der genau zu Dei Caitani in Raubvögel paßte. Im Drehbuch steht er wirklich, ist selbstverständlich ironisch gemeint. Mein Arm hob sich, anscheinend ohne mein Zutun, tätschelte die mir abgewandte Schulter und blieb auf der bloßen Haut liegen. Mein Herz machte einen Satz und pochte alsdann wie eine Pauke. In den Ohren hörte ich das Blut singen. Mary Lou tat nichts. Weniger als nichts. Es war seltsam, unmöglich. (Mary Lou ist nicht physisch.) Vielleicht grenzte das an außersinnliche Wahrnehmung. Vielleicht stand sie haarscharf vor einem spirituellen Erlebnis. Solche muß es schließlich in allen Formen und Größen geben, je nach Klima. Was ich von ihr ausgehen fühlte, war Ergebung, eine unnatür liche Reglosigkeit, eine Art Schwere. Ihre – oder sage ich besser die – Schulter also schien weniger belebt als Marmor. Marmor hätte sich irgendwie anders – hätte sich … hätte sich … Diese entblößte Schulter jedenfalls war weniger menschlich als die eines Teddybären, glich der Schulter einer Schaufen sterpuppe in ihrer unnatürlichen, unmöglichen Haltung, war nicht anders als Plastik. Es kam mir vor, als werde sie von Sekunde zu Sekunde schwerer; sie war völlig passiv. Von den Fußsohlen aufsteigend, meine leichte Benebelung und alle libidinösen Wunschvorstellungen wegfegend, überkam 88
mich das Gefühl, gedemütigt zu werden, und reine, brennende Wut darüber, daß ich angenommen, ertragen werden sollte, nicht für Geld, wie von einer ehrlichen Hure, sondern für Papier! So standen wir nebeneinander vor den Sternen, taten nichts, sagten nichts. Wir standen so reglos, daß ein Betrachter hätte glauben können, wir seien sternsüchtig. Endlich nahm ich mit einem kleinen Tätscheln meine schwe re Hand von ihrer schweren Schulter. »Zu viele Sterne machen mich schwindlig.« Ich machte Licht, auch in der Diele und allen drei Räumen, selbst auf dem Balkon. Man muß im ganzen Tal meine Lichter gesehen haben. »Sie brauchen nicht mehr hinzuschauen, verdammt noch mal, das Stück ist aus.« Sie wandte sich um, den Blick nicht auf mich, sondern auf die Tür gerichtet. »Das stimmt wohl.« »Wenn Rick kommt, werde ich sagen, Sie seien vorzeitig gegangen, die Höhenluft habe Ihnen Kopfschmerzen gemacht.« »Ich? Gegangen?« »Wenn er vom …« Sie errötete stark von der Brust bis in die Stirn, und ich schwöre, ich erkannte erst in diesem Moment das ganze Aus maß dieses abgekarteten Spiels. Sie hatte jetzt wieder ihre Kleinmädchenstimme. »Nein … ich … es war sehr nett von Ihnen, mich hereinzubitten.« Sie rannte zur Tür, unbeholfen, als sähe sie nicht richtig. Plötzlich empfand ich für sie, was ich vielleicht für Emily hätte empfinden sollen, ohne es je zu tun. »Mary Lou …« Sie verhielt, machte eine halbe Drehung, blutrot. Als wäre sie wieder ein junges Mädchen – was sie erst gestern noch gewe 89
sen war –, hob sie den Arm bis in Schulterhöhe und bewegte grüßend die Finger. »Adieu, bis morgen.« Und danach gelang es ihr, ohne Hilfe in die Diele und auf den Hotelkorridor zu kommen – der Teppich da draußen war so dick, daß ich nicht hören konnte, ob sie rannte oder ging oder taumelte. Was hatte er erwartet? Wie sah das angenommene Szenarium aus, wie wir im Jargon sagen? Stellte er sich vor, wir würden ein schelmisches Wortgefecht führen, das sie beendete, indem sie mädchenhaft um den Tisch rannte und rief, nein, Wilf, nicht, bevor du das Papier unterschrieben hast? Oder sollte sie sich odaliskenhaft an mir emporranken und schmollend flehen? Oder nur kaltblütig einwilligen, damit ich anschließend, im Gefühl, verpflichtet zu sein, nur noch fragen würde: Wo soll ich unterschreiben, das wollten Sie doch? Es war sehr nett von Ihnen, mich hereinzubitten. Die rühren de Idiotie und die Verletzlichkeit der Kleinen; der krude, beleidigende Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit bei dem Mann! Und doch lag er nicht ganz falsch. Wäre die Haut warm gewesen und hätte auch nur das geringste Signal gegeben, wie anders wäre alles verlaufen! Keiner von uns beiden, weder der Autor noch der Kritiker, verstanden etwas oder jedenfalls nicht genug von den Menschen. Wir verstanden was von Papier, von sonst nichts. Menschlich war von uns dreien nur das bedau ernswerte Mädchen. Sie wußte nicht, wie sie es anstellen sollte. Aber wußte ich es denn? Er jedenfalls verstand nicht, es anzubieten. Zuhälter, Freier und Hure, wir brauchten alle drei die Hilfe von Professionellen. Ich stand im hellerleuchteten Salon, hinter mir das dunkle Rechteck der Fensterscheibe mit den erloschenen Sternen. Ich starrte Ricks Papier auf dem Tisch an, dann das an der Türklinke hängende Schild Avis à MM les clients. Ich stellte mir Rick vor, wie er diskret im Bett lag, leise schnarchend vielleicht, so daß die Rückkehr seiner 90
Frau weder wahrgenommen noch kommentiert werden mußte. Sie aber würde ihm das Schnarchen austreiben, ihm versichern, nichts sei vorgefallen, außer daß Mr. Barclay ihr die Hand auf die Schulter gelegt habe, ja, auf die Schulter, er habe sie zwar gewollt, doch nichts unternommen, seine Hand zurückgezogen und kaum gesprochen, und nun möge Rick sie in den Arm nehmen, bitte, bitte, mit ihr schlafen, sie fühle sich so, so beschmutzt, und nie, nie wieder dürfe er so was von ihr verlan gen … Dann würden die beiden einschlafen, sein dichtes Brusthaar benetzt von ihren Tränen. Das Stück Papier lag immer noch auf dem Tisch. Hiermit bestimme ich Professor Rick L. Tucker … Ich könnte ihn quälen, ihm morgen auf unserem Spaziergang das unterschriebene Stück Papier übergeben. »Ach, Mary Lou hat das hier gestern vergessen, Rick. Dabei hat sie es sich wirklich verdient!« Unsäglich. Ihr Bild, ihre strahlende Schönheit und ihre kind liche Verletzlichkeit griffen mir an Herz und Kehle, sonst aber nirgendwohin. Ich empfand auch Angst. Ich wußte, ein Finger deutete auf mich, ich war ihr auf den Leim gegangen und würde Mühe haben, mich loszumachen. Diese Veränderung in nur einem Tag – Vormittag, Mittag, Abend. Da war sie, die Falle, der ich hatte ausweichen wollen – und der ich auswei chen würde! –, der bittere Schmerz einer Liebe, die fruchtlos, sinnlos, hoffnungslos, qualvoll und lächerlich ist. Wieder einmal waren dem Clown die Hosen gerutscht. Ich verfluchte mich innerlich selbst, hielt mir dann aber vor, noch sei nicht alles verloren. Noch stand der Cognac auf dem Tisch, der Trost des gereiften Mannes. Dann, Papiermann, der ich war, meldete sich eine Stimme in mir, die sagte: Junge, was für eine tolle Story!
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KAPITEL VIII Ich erwachte zeitig mit lebhafter Erinnerung an die Vorgänge des Abends und mit einer Art ausgedörrter Distanz zur Wirk lichkeit, die Folge von erheblichem Cognacgenuß. Als ich vom Bad kommend den Salon betrat, überraschte es mich nicht, die Cognacflasche halb geleert zu finden. Außer der Dürre merkte ich sonderbarerweise nichts von einem Kater. Den Durst stillte ich mit etwa sechs Glas kalten Gebirgswassers. Es war eigent lich unmoralisch, soviel getrunken zu haben und dafür nicht leiden zu müssen, doch ließ sich nicht bestreiten, daß ich mich körperlich kaum je im Leben wohler gefühlt habe. Wut und Kummer verbrennen den Alkohol. Ich erinnerte mich meiner neuen Versklavung, prüfte sie und rebellierte dagegen. Nicht mehr an sie denken ist immer das beste Rezept. Denn sie war festgelegt, kein Zweifel, hatte eingewilligt, ihr Leben so zu gestalten, daß es sich mit dem seinen zu einem geschlossenen Zauberkreis verband. Das wurde durch jene lächerliche und häßliche Nicht-Transaktion vom vergangenen Abend nur noch unterstrichen. Denk nicht mehr an sie, verdränge um Gottes willen ihr Bild aus deinem Blick, benimm dich nicht deinem Alter entsprechend, da lauert nur der Wahnsinn. Denk statt dessen lieber an ihn und seinen Versuch, mit der Leimrute einen literarischen Gipfel zu fangen … Nun denn. Ich wollte Professor Tucker eine Lektion erteilen, an der er den Rest seines Lebens zu schlucken haben sollte. Ich wollte mich meiner eigenen Waffe bedienen, ihn in einem Buch, einer Story auftreten lassen, so boshaft genau porträtiert, daß selbst Mary Lou seinetwegen würde erröten müssen und Halliday ihn mit Gelächter vernichten würde. Dann allerdings konnte der Romanschriftsteller sich nicht mehr über eine Binsenwahrheit des Gewerbes hinwegsetzen: 92
Es hatte keinen Zweck, den lebenden, wirklichen Rick L. Tucker in einem Buch auftreten zu lassen. Er hatte mit den meisten Menschen gemein, daß er völlig unglaubhaft wirkte. Romanschriftsteller erfinden, was sie Charaktere nennen, die das aber nicht sind. Es sind Konstruktionen, geschnitzt aus beliebigem Holz – einem psychischen Plasma –, zu Figuren, die einander ähneln wie russische Puppen in der Puppe. Ich konnte weiter nichts tun als auswählen, dämpfen, justieren, eine komisch-abstoßende Figur herstellen, identifizierbar und erträglich, »weil das Ganze nur eine Story ist«. Mir ging auf – beim achten Glase Wasser –, daß ich etwas zum erstenmal in meinem Leben würde tun müssen. Keine Erfindung, einzig Auswahl – ich würde tatsächlich einen lebenden Vorwurf studieren müssen. Rick sollte meine Beute werden. Statt ihm auszuweichen, sobald Langeweile oder Gereiztheit auftraten, mußte ich unser Verhältnis zueinander umkehren. Während er glaubte, mir auf die Schliche zu kom men, würde ich auf die seinen kommen. Ich würde die Freuden des Jägers genießen. Hussa und Ho! Während ich frühstückte und mich ankleidete, rekapitulierte ich, was ich von ihm wußte, und das war leider nicht mal soviel, wie die Polizei für eine Beschreibung verlangt. Er war hochgewachsen, sehr groß – aber wie groß? Der große, schlan ke junge Mann hinter unserer Mülltonne hatte in jeder Hinsicht zugelegt. Er war breit und stämmig. Ich stellte mir seine behaarte Vorderseite vor, die hatte ich ja gesehen. Kamen hinzu Büschel unter den Achseln, schamhafte Ableger davon in den Nasenlöchern, wahrscheinlich waren auch seine Beine damit bedeckt, und der Bewuchs endete an den Knöcheln wie die Gamaschen eines Droschkengauls. Auf dem Kopf wuchs es dicht und voll, die Brauen waren ebenfalls voll, auch die Wimpern. War der behaarte Ainu über die gefrorene Bering straße gewandert oder war diese, man könnte fast sagen Ab normität, mit späteren Einwanderern von der anderen Seite 93
über den Atlantik gekommen? Wenn man Professor Tucker nicht verhöhnte, nicht vor ihm weglief, ihn vielmehr genau betrachtete, stellte sich heraus, daß er nicht ohne Interesse war. Wieviel Haar würde man dem Schriftsteller durchgehen lassen? Nicht alles – die Brustbehaa rung, das Haupthaar, schwarz und dicht, Brauen und Wimpern waren schon mehr als genug. Der Autor behandelt meist jene Teile seiner Charaktere, die auffallen. Der Rest ist Schweigen – ich meine Kleidung. Reiner Zufall, daß ich wußte, Tucker war zwischen den Beinen struppig wie ein Shetlandpony. Haut. Meist von etwas sonderbarem Weiß; wo Bart und Schnurrbart wachsen könnten, die Wurzeln schwarzer Stop peln, die zwar mit der Klinge bis zum Grunde abrasiert, aber eben doch noch sichtbar waren, und zusammen mit der weißen, etwas fettigen Haut wirkten wie – wie was? Absurderweise fiel mir dazu weiter nichts ein als ein Zitat von irgendwoher, ein Zitat überdies, das überhaupt nicht zu passen schien – Stille und alte Nacht. Hände breit, gepolstert, weiß, auf den Handrücken unver meidlich das Tuckersche Haar. Ungemein sauber. Viel zu sauber. Die Nägel eher konvex als – verflixt, welches von beiden meine ich nun? Sie waren gewölbt und konnten Regen wasser auffangen. Selbstverständlich war er kräftig. Eine dieser Hände könnte zudrücken – als Faust zuschlagen – eine Axt schwingen – doch das hatten sie nie. Ihre Waffe war die Schreibmaschine. Die struppigen Geschlechtsteile – nein. Lerne, mein Alter, woran du nicht denken, was du nicht erwähnen darfst, was nichts ist, nichts als Krankheit und Schmerz. Vergiß es, rühr nicht dran. Also dann, auf zum Jagen! Mary Lou? Möglichst vermeiden. Ich wollte mich diesen beiden gemein sam nur aussetzen, bis ich alle einschlägigen Beobachtungen 94
über meinen Verfolger beisammen hätte. Dabei würde ich ein wenig leiden, aber dann wäre sie ja auch schon fort. Rick und ich trafen uns im Foyer, ich mit recht soliden Stie feln und einem Anorak ausgerüstet, während Rick, von den fehlenden Schlittschuhen abgesehen, aussah, als wollte er Eishockey spielen. Er wirkte gigantisch. OLE ASHCAN war wieder in Front. Ja, er war gigantisch. »Wie groß sind Sie, Rick?« »Einen Meter …« »Bitte nach alter Manier.« »Sechs Fuß, drei Inches, Sir.« »Und was wiegen Sie – nicht in Kilo, sondern in englischen Pfund?« »Zweihundertfünfundzwanzig.« »Können Sie das durch 14 teilen?« Er konnte. Ich stieß einen bewundernden Pfiff aus. »Und man sieht es Ihnen an, jedes wuchtige Pfund sozusa gen. Wie um Himmels willen sind Sie je auf die akademische Laufbahn verfallen?« »Das war mein Traum, Wilf. Ihre Stiefel sind für schwieriges Terrain ungenügend.« »Dafür werden sie auch nicht benötigt.« »Vielleicht nicht heute, aber …« »Haben Sie schon was gemerkt?« »Meinen Sie den Nebel?« »Dafür wird hier keine Reklame gemacht.« »Nein, Sir. Es hat mir übrigens sehr leid getan, daß ich ge stern nicht mit Ihnen und Mary Lou die Sterne sehen konnte. Sie sagt, es sei wirklich eindrucksvoll gewesen.« »So? Sagte sie das? Nun ja, heute können wir ganze 20 Meter weit sehen, wir sind wieder auf dem Boden angelangt, Rick.« »Gehe ich zu schnell für Sie, Wilf?« »Nein, aber danke für die Nachfrage.« »Haben Sie sich darüber gewundert, daß ich gestern nicht bei 95
Ihnen erschienen bin?« Im Gedanken an meine neue Rolle als Jäger nickte ich. »Ja. Warum eigentlich nicht?« »Wir biegen hier links ab. O weh, der Nebel wird dichter. Aber keine Sorge, das Geländer geht immer weiter. Auch wenn es noch schlimmer werden sollte, können wir uns mit Hilfe des Geländers am Abhang entlangtasten.« »Großer Gott!« »Ich habe gestern abend nichts davon gesagt, aber der Hö henunterschied hat auch mir zu schaffen gemacht.« »Da gleichen Sie Ihrer Frau, Rick, Sie sind eben auch nicht physisch. Ich bin nie zuvor einem so vergeistigten Ehepaar begegnet. Um aber auf diesen Abhang zu sprechen zu kom men: Ich warne Sie, vor Abgründen wird mir schwindlig. Ich kann nicht mal meinen verdammten Balkon genießen.« »Wonach riecht es hier nur so scheußlich, Wilf?« »Es riecht nicht, es stinkt.« »Nach Dünger.« »Nach Scheiße, Sie Narr. Hier verschwindet die Scheiße nicht auf Nimmerwiedersehen im Klosett, nein, das sind menschliche Abfallprodukte, und die gehören auf die Wiesen. Verschwendet wird hier nichts.« Rick würgte und hielt ein Häufchen Papiertaschentücher vor die Nase. Er galoppierte davon und verschwand vor mir im Nebel. Ich starrte nach oben und sah, daß es rechts heller war als links. Die Sonne stand also vermutlich immer noch am Himmel und bewegte sich Richtung Mittag. Später würde ich vielleicht auch diesen berühmten Abhang zu Gesicht bekom men und entscheiden können, ob ich weitergehen wollte oder nicht. Unterdessen schlenderte ich zwischen übelriechenden, unsichtbaren Wiesen dahin. Ich ließ mir Zeit. Es gibt eben Leute, die Höhe nicht vertragen. Andere wiederum vertragen den Geruch von Scheiße nicht. Chacun etcetera. Zehn Minuten später umfing mich der hygienische Duft von 96
Nadelbäumen, und diese wurden als dunklere Masse im Nebel erkennbar. Rick wartete auf mich. Der Nebel lichtete sich in diesem Moment etwas, so daß ich nicht nur Rick sah, sondern auch die Spitzen der Bäume zu meiner Linken in Augenhöhe, und zu meiner Rechten Baumwurzeln auf einer Böschung. Rick lehnte, wie ich jetzt sah, lässig an einem Geländer lin kerhand. »Das Ding ist fest wie Stein, Wilf.« Er richtete sich auf und paßte sich meinem Schritt an. Von vorn kam das Geräusch rauschenden Wassers. Das berührte mich tröstlich, der Himmel weiß, wieso. Ich starrte wieder nach oben und konnte hin und wieder eine silberne Pennymünze durch das intensive Weiß und die Leere da oben dem Zenith entgegenschweben sehen. Nun schaute ich nach unten und um mich her. Die Baumspitzen waren nicht mehr zu sehen, offen bar klaffte zu unserer Linken ein Abgrund. »Sie glauben also, dieser Weg ist begehbar, Rick? Sie haben ihn erkundet? Ein festes Geländer bis ans Ende? Keine bösen Überraschungen?« »Nein, Sir.« Das Geräusch stürzenden Wassers kam näher, und das Was ser selber wurde sichtbar. Ein schmaler Gebirgsbach rauschte von rechts oben aus dem Nebel herab, rann über den Weg und verschwand im Nebel unter uns. Rick blieb hier stehen. Er hob einen Finger, um mir Schweigen zu gebieten. Ich blieb ebenfalls stehen, verhielt mich still. Er hatte im rechten Nasenloch mehr Haare als im linken. Er war also Rechtsnäsler. Außer dem Rauschen des Baches und dem sehr gedämpften Läuten von Kuhglocken war nichts zu hören. Ich setzte mich vor dem Bach auf einen Felsbrocken, schaute Rick unter gerunzelten Brauen her an, und als Antwort deutete er auf den Bach. Wieder horchte ich, bückte mich, tat so, als röche ich das Wasser, hielt einen Finger rein, zog ihn aber rasch zurück, weil 97
ich Frostbeulen davonzutragen fürchtete. »Hören Sie es nicht, Wilf?« »Klar höre ich es.« »Ich meine – finden Sie das Geräusch nicht sehr seltsam?« »Nein.« »Probieren Sie’s noch mal.« Er hatte recht. Der Bach, eine nicht abreißende Wassersträh ne, deren Fall nur kurz von unserem Pfad gebrochen wurde, sprach mit zwei Stimmen, nicht nur einer. Er hörte sich lustig, ja frivol an, solange er herabfiel, zugleich aber vernahm man ein dumpfes, nachdenkliches Grummeln, als ob unter dem oberflächlichen, frivolen Plätschern ein tiefes Geheimnis des Berges mitgeteilt würde. »Richtig! Es klingt wie zwei Stimmen!«
»Ja. ›Zwei Stimmen sind’s, die eine aus der Tiefe …‹«
Ich schaute ihn überrascht, ja gegen meinen Willen respekt
voll an. Der gestrige Abend – und nun dies. »Ich habe nie zuvor dem Wasser zugehört, nicht richtig je denfalls.« »Das kann ich nicht glauben, Wilf.« Im Geiste notierte ich und merkte mir für die spätere Ver wendung vor, daß man über das Belauschen natürlicher Geräu sche ein längeres Prosastück verfassen könnte – lauschen, ohne dazu etwas anzumerken, ohne etwas vorauszusetzen. »Wie kommt’s, Rick, daß ausgerechnet Sie …?«
»Ich verstehe nicht ganz, Wilf.«
»Daß ausgerechnet Sie einem Bach lauschen?«
»Ich weiß, daß Sie mich für einen zwar ehrlich bemühten,
aber doch recht bornierten Akademiker halten.« »Ah, was ist denn das für ein Schwachsinn!« »Es ist mein Ernst, Wilf.« »Offen, ehrlich, unfähig zu …« Rick fuhr aber fort, als wäre etwas in ihm angesprochen wor den, wovon ich nichts wußte. 98
»Ich lausche oft, habe immer schon gern gelauscht. Den Vögeln, dem Wind, dem Wasser – den verschiedenen Geräu schen des Wassers. Manchmal glaube ich, man kann im Meer das Salz hören. Ich meine, den Unterschied zwischen Salz- und Süßwasser.« »Ah, die Wunder der Natur.« »Oh, ja. Und manchmal kommt es auch vor, daß man wach liegt und auf gar kein Geräusch lauscht – heutzutage passiert das allerdings selten, aber man kann eben manchmal auch Geräuschlosigkeit belauschen, man strengt sich an, mehr und mehr.« »Naturmystik.« »Nein, gar nicht, Sir. Das ist eben Leben. Und Musik! Lieber Gott! Aber ich war dafür nicht begabt genug.« »Also mußten Sie sich mit der Universität begnügen.« »Ja, das heißt nein, wirklich nicht!« »Gehen wir weiter.« Rick trat auf mich zu, das eingekerbte Kinn jetzt, wo es hin gehörte, als wäre Wasser ein Heilmittel für Schüchternheit. Ich hatte einen jener Momente, wo man weniger denkt als blitz schnell reflektiert, den Bruchteil einer Sekunde Möglichkeiten, Alternativen erwägt und verwirft. Ich verwarf. War ein einge kerbtes Kinn ein Zeichen von Schwäche? Nein. Deutete es auf einen gespaltenen Charakter? Unsinn. War es das Ergebnis von verspäteter Härtung der Knochen, eine Andeutung von Föta lismus, wie die Herren Biologen zu sagen pflegten und wo möglich immer noch sagen? Er streckte die Hand aus, und es kam mir ganz natürlich vor, daß er mir von dem Felsblock aufhalf. Die umsichtigen Schweizer leiteten das Wasser in ausgehöhlten Stämmen über den Weg, so daß es gerade herun terlaufen konnte, obschon der Weg hier etwas abwärts führte. Ein einziger Schritt reichte aus, es zu überqueren. Wir kamen auf einen Platz, auf dem weiter nichts zu sehen war als das im Nebel fast verschwindende Geländer und rechterhand Baum 99
wurzeln. Ich blieb stehen. »Für einen Wanderweg mit Ausblicken ziemlich spektakulär dürftig.« »Es wird aufklaren.« »Wäre die Stille nicht, wir könnten in Regents Park sein. Ich erwarte die tollsten Ausblicke, und alles, was ich sehe, ist Weiß.« »Der Hoteldirektor meint, für diese Jahreszeit sei das unge wöhnlich.« »Alle zweihundert Jahre einmal.« »Sie machen sich über mich lustig.« »Ich war schon an vielen Orten, wo man mir geschworen hat, es sei gerade das schlechteste Wetter der letzten zweihundert Jahre. Immer ausgerechnet zweihundert. Tiflis, Kairo …« »Na, na.« »Lassen Sie sich mal gelegentlich vom höchsten Wasserstand seit zweihundert Jahren erzählen.« »Erzählen Sie vom höchsten Wasserstand seit zweihundert Jahren.« »Ich gehörte mal zur Besatzung einer Jacht. Der höchste Wasserstand seit zweihundert Jahren, und ich setzte den Kahn auf Grund.« Rick lachte, ein echtes, nicht einschmeichelndes, glückliches Lachen. »Wenn der Skipper dabei war, war es seine Schuld.« »Nein, nein, dieses Verdienst behalte ich ausschließlich mir vor. Was für ein elender Nebel!« »Gleich geht es wieder bergauf, und ich nehme an, wir kom men bald raus.« »Zitat: Mutter, die Sonne! Zitat Ende.« »Die Ärzte behaupten, er habe keine medizinischen Kennt nisse gehabt.« »Kenntnisse hat er überhaupt nicht gehabt … Nichts als Ef 100
fekthascherei.« Rick ließ ein schockiertes Lachen hören. Er amüsierte sich großartig. Ich sah ihn im Geiste Notizen machen. Immerhin … »Ich weiß, ich weiß!« »Wie Wagner.« Er hörte nicht auf zu lachen. Plötzlich gab es im Nebel vor uns eine befremdlich tumultuöse Bewegung, in der Luft brau ste es, links prallte was gegen Holz, und unten im Nebel wummerte es. »Oje.« »Das ist der Berg, Rick«, sagte ich, noch nicht verängstigt genug, um den unerschütterlichen oder wenn man will gefühl losen Engländer hervorzukehren. »Das ist der Berg, alter Knabe. Er wirft mit Steinen nach uns. Wir sollten uns ge schmeichelt fühlen. Fühlen Sie sich geschmeichelt?« »Ich will bloß weg hier.« Er wollte weitergehen, doch hielt ich ihn am Ärmel fest. »Ein wahres Geschenk für einen Schriftsteller, Rick. Jetzt kann man doch beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn man von einer Kanonenkugel um Haaresbreite verfehlt wird. Was hätte Tennyson nicht darum gegeben!« »Wir sollten lieber umkehren, Wilf.« »Weshalb so eilig?« »Niemand weiß, was da oben los ist, Wilf. Ich kenne das Gebirge. Ich stamme aus – also es könnte ein Erdrutsch sein, richtig gefährlich.« »Im Augenblick?« »Ja.« »In diesem unseren Moment?« »Ja.« »Der Blitz schlägt nie zweimal an der gleichen Stelle ein. Sehen wir doch mal nach, was da passiert ist.« Vom Nebel davor bewahrt, den grausigen Abgrund wahrzu nehmen, noch unbesorgt und beseelt von dem Wunsche, es 101
diesem jungen Mann mal zu zeigen, der sich da so unerwartet große Sorgen um sein Wohlbefinden machte, trat ich ans Geländer. »Ach was, kommen Sie schon, Wilf.«
»Ich sehe überhaupt nichts.«
Immer noch unbesorgt umfaßte ich das Geländer und lehnte
mich vor. Das Geländer ebenfalls. Man kann die nächsten Sekunden mit wenigen oder mit sehr vielen Wörtern schildern. Instinktiv – geschwätzig wie immer – neige ich zu vielen, nicht bloß, weil ich mein Geld damit verdiene, Wörter zu verkaufen, sondern weil diese Sekunden für mich zu sehr wichtigen Sekunden wurden. Die erste war, ich gestehe es, eine Lücke, ein Nichts. Die zweite war eine Zusammenziehung, ein Schock, zu unmittelbar, um als Vermu tung oder Vorahnung bezeichnet zu werden. Wenn man will, stellte sich da das Körpergefühl dafür ein, daß ich dem Tode nah war, ihm entgegenstürzte. Die dritte Sekunde hatte schon eher was Menschliches. Als das Geländer sich rascher über den Abgrund hinaus und zugleich abwärts neigte, empfand ich blinden Schrecken; das Bewußtsein von blindem Schrecken; blinden Schrecken, seiner selbst bewußt werdend, und, ver mischt mit dem Schrecken, Ungläubigkeit. Sodann übernahm das Tier in mir die Führung, jeden Nerv, jeden Muskel. Das Herz pochte mit äußerster Stärke und Geschwindigkeit, verses sen darauf, die Vernichtung abzuwehren. Meine Geistesge genwart war dahin. Meine Hand, die das Geländer umklammerte und zugleich damit stürzte, war zwar soweit belebt, daß sie das Holz womöglich zerquetscht hätte, doch die Geistesgegenwart, die mich instand gesetzt hätte loszulassen, fehlte. Mit der anderen Hand suchte ich blindlings nach etwas Festem; sie fand und umklammerte etwas, das sich anfühlte wie eine Pflanze, ich schlug einen Purzelbaum und kam mit dem Rücken auf dem Abhang zu liegen, prallte allerdings so hart auf, daß mir die Luft wegblieb. Der Schock brachte es endlich zuwege, daß ich das Geländer losließ. Die 102
zuwege, daß ich das Geländer losließ. Die Geländerhand krallte sich, ohne um Erlaubnis zu fragen, in die Erde. Nun rutschte ich langsam, aber stetig vorwärts, auf dem Rücken, die Füße gegen den Boden gestemmt, die Hände in den Dreck gekrallt. Eine Hand hielt mich im Genick am Kragen fest. Ich rutschte nicht mehr und betrachtete die roten Flecke und Kreise vor meinen Augen. Mehr sah ich nicht. Ich fühlte in jedem Nerv, in jeder Arterie, daß es fünf Haltepunkte zwischen mir und dem Absturz gab. Vier davon waren nur von geringer Wirkung, nämlich Hände und Füße, eingegraben in die lockere Erde, wobei die Linke den Schaft eines saftigen Gewächses um klammert hielt, während die Rechte in nassem Dreck wühlte. Der fünfte Haltepunkt war der Griff um meinen Wildlederkra gen, und die Faust, die mich da gepackt hielt, leistete die Hauptarbeit, wenn auch die anderen Haltepunkte von einigem Nutzen sein mochten. Die Faust also hielt mich über dem vernebelten Abgrund. Die Welt, eben noch so still, hallte wider vom Pumpen meines Herzens, dem Dröhnen in meinen Ohren, dem Keuchen, das sich ohne mein Zutun meiner Brust entrang. Schrecken war ebenso ein Element wie Leere. Das Bewußtsein leistete sich nicht den Luxus, darüber zu reflektieren, ob das Leben lebenswert sei oder nicht. Das Tier wußte fraglos, was von allem das Kostbarste war. Bewußt war einzig ein Wunsch, den man nicht eigens zu wünschen brauchte – es möge endlich aufhören, so, wie man das Ende der Bombardierung, des Beschusses, des Jaulens der anfliegenden Granaten herbeige wünscht hatte. Ich rutschte. Hinter mir keuchte es stärker. Ich wagte, ein Bein anzuziehen und den Absatz weiter oben einzugraben, doch die Erde gab nach, und dieser Versuch verringerte den Halt, den ich, wenn auch rutschend, bislang noch gehabt hatte. »Nicht bewegen«, keuchte Rick. Ich rutschte jetzt nicht mehr. »Wurzel über der linken Hand.« 103
Ich riskierte es, den Pflanzenschaft loszulassen, und ließ meine Finger umhertasten. Da war die Wurzel, glitschig, dick, aber dank ihrer Knorren zu packen. »Ziehen!« In der Linken hatte ich ungeahnte Kräfte. Ihre Grenze fanden sie nur an der Festigkeit der Wurzel. Ich hätte mich hinaufzie hen können, auch wenn meine Füße mit einem Amboß be schwert gewesen wären. »Auf den Bauch legen – ganz langsam.« Das tat ich, die Faust drehte sich samt meinem Kragen, aber nicht zu weit. Jetzt war auch was zu sehen: ein halber Meter Erde, struppiges Gras, Steinchen, kleine Wurzeln. Der Hang fiel beinahe senkrecht ab. Rick lag der Länge nach auf dem Weg, umklammerte mit der Linken den Pfosten, der das eine Ende des Geländers gehalten hatte. Mit der Rechten hielt er mich am Kragen. Der Pfosten senkte sich allmählich hang wärts, Erde und Steinchen rieselten von seinem Sockel. »Jesus Maria!« »Ich lasse nicht los«, versicherte Rick. Zentimeter um Zentimeter. Ich hoffte jetzt so auf Rettung, daß die Mischung aus Hoffnung und Angst beinahe schlimmer war als der ursprüngliche Schrecken, denn Rick bewegte sich zugleich mit dem Pfosten, der war sein Halt, der und mein Gewicht, das ihn an den Boden drückte. Wir schauten einander ins Gesicht, Auge in Auge, seines unter gerunzelter Stirn. Er wirkte ganz ungewöhnlich ruhig, so als sei dieser idiotische Streich, bei dem wir immerhin ums Leben kommen konnten, nichts weiter als ein Verwaltungsproblem. Zentimeter um Zentimeter. Absatz, Finger, Hand, Faust – nun hatte ich eine Handfläche auf dem Weg, jetzt einen Ellbo gen, dann taumelte ich auf ein Knie, und da polterte auch schon der Pfosten im Nebel zu Tal. Auf dem Wege kamen wir uns ins Gehege. Ich kroch auf die andere Seite, kauerte mich an die Wurzeln und den Fels der ansteigenden Böschung. Ich sagte 104
nichts, begann vielmehr zu kriechen, dann zu taumeln, zurück auf dem Weg, immer in Fühlung mit der Böschung wie ein Tramp oder ein Betrunkener, der den Schutz der Mauer sucht. Ich stolperte durch den kleinen Bach und ließ mich auf dem vertrauten Felsblock nieder. Vor mir erkannte ich Ricks Stiefel. Die tiefe Stimme des Wassers hatte die heitere aufgesogen. Es war, als spreche der Berg mit dem gleichen tiefen Grummeln, das vordem hörbar und jetzt im Geist auch sichtbar war rings um diesen Felsbrocken. Ich mußte kichern. »Frösteln und Schaudern. Alfred Lord Tennyson.« »Immer mit der Ruhe, Wilf. Gleich sind Sie wieder in Ord nung.« Der kannte das Zitat natürlich, wozu lehrte er englische Lite ratur? Fröstelnd und schaudernd entlang der Landstraße, zur Erheiterung der Eingeborenen. Ich glaubte durch meine Fußsohlen die gleichmütige Dro hung der Erde zu spüren, die Vulkane, die Erdbeben, die Springfluten, den Schrecken vor dem Faktum Natur, der durch den Weltraum jagenden Kugel. Davon sprach das Wasser, nicht von Gaia Mater, sondern von dem Raumklotz, der so von unterschiedlichen Kräften beeinflußt wurde, daß sich die Schwerkraft mit dieser grausigen Gleichmut darstellte. »Hier.« Hände packten mich unwiderstehlich. Ich wurde aufgerichtet wie von einer Naturgewalt, spürte Wolle und Wärme. An meinen Armen wurde gezogen. Meine Wange wurde gegen Haut gepreßt, gegen Haare, gegen Halsmuskeln. Wir bewegten uns anfangs langsam voran, gleich darauf flott. Ein Pferd, ein Pferd! Diese mächtige Kreatur hatte meinen passiven Leib ergriffen, mich in ihre eigene Aura von Kraft und Wärme gehoben. Am meisten beunruhigte mich diese Wärme, doch schon traf eine andere menschliche Äußerung meine Nase, es stank nach Scheiße, und nun trabte er an, anders kann man es nicht nennen, trabte über die Wiesen und dem Ziel entgegen. 105
Dann wurde ich abgestellt. Ich hörte Stimmen, andere Hände langten nach mir, und gleich darauf lag ich in meinem Bett. Als ich die Augen öffnete, erblickte ich zwei behoste Säulenbeine und, fast in Augenhöhe, die Ausbuchtung des Hosenschlitzes. Gleich klappte ich die Augen wieder zu. Ich hörte ihn umher gehen und wagte zu blinzeln. Er stand jetzt am Fußende des Bettes und schaute auf mich herunter, ein leichtes Lächeln um den Mund. Mir kam es recht freundlich vor, es verbarg aber auch etwas anderes. Das Lächeln wurde breiter. Ich kniff das Auge zu. Kein Zweifel, es war ein Lächeln des Triumphes. »Alles okay?« Neben Rick stand jetzt der Direktor. Sie berieten. Rick sprach von Cognac. Ich unterbrach mit einer Stimme, die in meinen Ohren recht normal klang. »Keinen Cognac, heiße Schokolade.« Wie im Kinderzimmer. Doch der Direktor eilte schon. Als ich mich aufsetzte, schmerzten die Schultern wie auf dem Streckbett. Hin und wieder überkam mich ein Beben. Empfind licher Typ, dieser Barclay! Ich schloß die Augen, kniff sie zusammen und erduldete die Pein, die mir dieses weitere Glied in einer Kette von Narrenspossen bereitete, dieser unvorherge sehene Zuwachs zu wiederkehrenden Erinnerungen: Als Wilfred Barclay dazumal in den Abgrund fiel und festgehalten wurde von … »Die Hosen habe ich aber nicht verloren, und eine dicke rote Nase, brandrote Haare und ein angemaltes Schielen hatte ich auch nicht.« »Legen Sie sich lieber wieder, Wilf.« »Ausgerechnet das muß passieren, das, was alles wieder umwirft. Wie mache ich das bloß? Was stelle ich an? Ah, Scheiße.« »Legen Sie sich lieber wieder lang.« 106
Der Hoteldirektor kam mit Tasse und Untertasse herein. Rick nahm beides entgegen. Der Direktor eilte von dannen. Auf dem Korridor hörte ich Mary Lou. »Soll ich reinkommen?« »Auf keinen Fall!« schrie ich. Rick setzte die Tasse auf dem kleinen Nachttisch ab, mir wurde schwindlig, und ich ließ mich ins Kissen sinken. Es entstand eine längere Stille, nur unterbrochen von mehrmali gem Schließen und Öffnen der Tür, dann wieder Stille. Neben mir sprach jemand mit stark deutschem Akzent. »Er hat wohl einen Schock erlitten. Die Schokolade war genau das richtige. Der Körper weiß eben, was er braucht.« Ich merkte, daß man meinen Puls fühlte. Wieder wurde die Stimme vernehmlich. »Es ist nicht gar so schlimm. Wie alt? So alt! Nun ja. Trinken Sie Ihre Schokolade, Mr. Barclay. Professor Tucker? Ja. Ruhe ist das wichtigste, glaube ich. Körperlich ist er so gut in Schuß wie ein sehr viel jüngerer Mann.« Ich hörte Rick was murmeln, dann den Arzt antworten. »Ich schicke Ihnen was. Ja, gleich, es ist nur ein paar Schrit te. Vergessen Sie nicht, selbst in Weisswald heißt es, im Grünen kommen mehr Menschen zu Schaden als im Schnee.« Unter geschlossenen Lidern hervor streckte ich schreckerfüll te Antennen aus bis zum Rand des Universums. Die Würfel rollten, dreimal die Eins oder dreimal die Sechs. Groß wie Planeten. »Ich warte noch, bis die Medizin kommt, Wilf.« Er war groß wie ein Planet, drang in mein Universum ein, mit seinen Bedürfnissen und seiner Wärme, seinem Lächeln und seinem zierlichen Betthasen, alles der Schwerkraft eines Ehrgeizes folgend, der es nicht wert war, daß man dafür litt. Ich machte die Augen auf, um die rollenden Würfel nicht mehr zu sehen, und da stand er in voller Lebensgröße am Fußende des Bettes und lächelte besorgt. Ich stellte fest, daß ich Hemd 107
und Unterhose anhatte. Ich setzte mich auf, hob Tasse und Untertasse, die scheußlich klirrten, an den Mund. Ansehen mochte ich ihn nicht. »Warten Sie, ich …« »Lassen Sie mich in Ruhe!« Ein undankbarer Kerl, dieser Wilf Barclay, jetzt genoß er auch noch seine Undankbarkeit, so wie er auch seine Grausam keit genossen hätte, hätte er nur den Mut dazu gehabt. Eine Mischung von Undankbarkeit und Sadismus – welcher Unfug! Aber Professor Tucker stand immer noch da, während die Tasse auf der Untertasse in meinen Händen klirrte, bis ich es endlich fertigbrachte, aus der Tasse zu trinken. Die heiße Schokolade beruhigte mich augenblicklich, denn sie schmeckte nach Kinderzimmer und rief die dazugehörenden Erinnerungen wach. Ich war jetzt imstande, mich zu fassen, wie man sagt. Ich trank die Tasse leer und hielt sie Rick hin. »Mehr.« Das überraschte ihn, und sein Lächeln wurde steif. Trotzdem zog er mit Tasse und Untertasse ab. Ich schlang die schmer zenden Arme um die Knie. Angefangen hatte alles in Schwü len, als ich mich einsam gefühlt hatte, ohne es zu genießen. Ausgerechnet ich, Wilf Barclay, ein Experte der Einsamkeit, wenn es je einen gegeben hat. Ich kaute alle Schritte wider, die mich in diese Lage gebracht hatten, in der ich mich keinesfalls hatte finden wollen. Die Schlafzimmertür stand offen, und ich konnte sehen, daß Ricks billet-doux noch im Salon auf dem Tisch lag, ununterschrieben, an der gleichen Stelle. Mein Zittern und meine Erinnerungen wurden allmählich von einem Gefühl aufgesogen, das mir wenigstens etwas von meiner Persönlichkeit zurückgab. Es war dies eine Flut schierer Wut. Als Rick mit einer vollen Tasse dampfender Schokolade hereinkam, wälzte ich mich auf die andere Seite und weigerte mich, ihn anzusehen. Und dann murmelte ich meine Anklage. »Offenbar haben Sie mir das Leben gerettet.« 108
KAPITEL IX Wut, Haß und Furcht. Mein Ausbruch traf ihn so heftig, daß er sich verdrückte, und da lag ich in Hemd und Unterhosen und bebte wie eine defekte Maschine. Erst seine Frau, und als das mißlang, mein Leben, mein eigenes verdammtes, süßes, ge heimes Besitztum, mir zurückgegeben, aber unter Bedingun gen, unter denen man eine Stadt übergibt. Und noch etwas gehörte in diese Rechnung – ein körperlicher Widerwille gegen seine Kraft, seine Wärme und seinen Gestank! Die Medizin wurde mir vom Hoteldirektor gebracht, und ich