Para-Träume von Timothy Stahl
Der Kampf mußte mit animalischer Wildheit geführt worden sein. Und das Finale, der wahrh...
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Para-Träume von Timothy Stahl
Der Kampf mußte mit animalischer Wildheit geführt worden sein. Und das Finale, der wahrhaft mörderische Höhepunkt, stand unmittelbar bevor. Die Schwarzhaarige war nur noch in Fetzen gekleidet. Ihre verzerrten Züge erinnerten an ein Raubtier. Und wie ein solches mochte sie sich zur Wehr gesetzt haben. Vergebens … Sie war die Unterlegene dieser Auseinandersetzung. Sie lag am Boden, auf dem Rücken, und das heisere Fauchen, das sie dem über ihr Knienden entgegenzischte, war nicht mehr als ein trotziger Versuch, über die eigene Todesangst hinwegzutäuschen. Beeindruckend waren allenfalls die beiden dolchartig gekrümmten Eckzähne, die dabei sichtbar wurden. Aber auch diese Drohgebärde konnte den Mann nicht davon abhalten, es zu Ende zu bringen …
Was bisher geschah Fast dreihundert Jahre lang hat Landru, einer der ältesten Vampire, nach dem Lilienkelch gesucht. Nur mit ihm können die Vampire Nachwuchs zeugen: indem sie Menschenkinder rauben und ihnen das Blut eines Sippenoberhaupts zu trinken geben. Der Lilienkelch spielte eine wichtige Rolle in der Geschichte der Vampire – und er soll sie auch wieder vom Angesicht der Erde tilgen. Gott »impft« ihn mit einer Seuche, die, als Landru den Kelch benutzt, alle Sippenoberhäupter rund um den Globus infiziert. Deren »Kinder« werden von unbändigem Durst nach Blut befallen, den sie nicht zu löschen vermögen und rapide altern. Allein die Oberhäupter sind gegen die Seuche immun. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält den Auftrag, diese letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Ausgenommen von der Seuche ist auch ein künstlicher, genmanipulierter Vampir. Unempfindlich gegen christliche Symbole soll er das Überleben der Blutsauger sichern. Auf einem Tanker Richtung Alaska zeugt er Nachwuchs – aus sich selbst, denn er ist geschlechtslos. Die Besatzung fällt ihm nach und nach zum Opfer, bis der Kapitän das Schiff in eine Feuerhölle verwandelt. Der Blutsauger entkommt ins Eismeer, während seine »Kinder« in den Flammen sterben … In einem Nonnenstift in Maine, USA, wird die junge Ordensschwester Mariah schwanger, obwohl sie nie mit einem Mann zusammen war. Nur 666 Stunden später gebiert sie einen Knaben, dem alle Nonnen verfallen. Kurz darauf kommt ein von der Seuche infizierter Vampir zum Kloster – und wird von dem Kind geheilt! Freudig verbreitet er die Kunde, doch die Vampire, die daraufhin zum Nonnenstift pilgern, werden brutal getäuscht. Der Knabe entzieht ihnen alle Kraft und Erfahrung und wächst dabei um gut drei Jahre. Lilith, die dem Pilgerzug der Blutsauger gefolgt ist, zieht die
falschen Schlüsse und will das Kind retten. Die Schwestern stellen sich gegen sie, und Mariah flieht mit dem Kind. Dieses aber hat in Lilith eine spätere Gegnerin erkannt … Die Vampire sind nicht die einzige Rasse neben den Menschen. Es gibt noch eine weitere, die bei Vollmond ihre Kraft entfaltet: die Werwölfe. Ihre Herkunft und ihr Fluch sind noch ungeklärt. Ein Fluch, den der Weise Chiyoda zu kontrollieren versteht. In einem chinesischen Kloster lehrt der Werwolf seine Schüler die Kunst der Selbstbeherrschung. Dort befindet sich auch Nona, die Landru seit Urzeiten kennt und begehrt, seit sie sein Blut aus dem Lilienkelch trank. Als Chiyoda in seinen Visionen von dem Schicksal erfährt, das über die Vampire kam, bricht Nona allen Warnungen zum Trotz auf, um die Herkunft der Seuche zu ergründen. Und sie glaubt, daß eine Frau dahintersteckt, der Landru schon so manche Niederlage verdankt: Lilith Eden …
Die zurechtgeschnitzte Spitze des hölzernen Pflocks, den er in seinen Fäusten hielt, berührte durch eines der Löcher in der Kleidung die bleiche, nackte Haut der wilden Schönen, kaum zwei Fingerbreit unter ihrem in hastigen Atemzügen wogenden Busen. Er sah ihr noch einmal tief in die Augen, als wollte er sie stumm um Vergebung bitten. Dann warf er sich förmlich mit seinem ganzen Gewicht und all seiner Kraft auf das stumpfe Ende des Pflocks! Der Pfahl bohrte sich tief in die Brust der Schwarzhaarigen und mußte ihr Herz regelrecht aufspießen. Ihr Brüllen war nur im allerersten Moment das einer waidwunden Bestie. Alle Abscheulichkeit floß aus ihren Zügen, und dann war es eine junge und betörend schöne Frau, die ihren Todesschmerz in die Dunkelheit schrie. Vier oder fünf Sekunden lang. Bis ihre Stimmbänder mürbe wurden und ihre Stimme im wahrsten Sinne des Wortes brach … Und wenig später erinnerte kaum noch etwas an das, was eben hier stattgefunden hatte. Von der Vampirin blieb nicht mehr übrig als Asche, die der Wind in den ewig gierigen Schlund der Nacht trieb. Der Mann, der Richter und Henker in einem gewesen war, sah dem verwehenden Staub nach, bis er seinen Blicken entschwand. Dann erst wandte er sich zum Gehen, den Pflock noch immer in Händen. Schwer wie Blut aus einer furchtbar schmerzenden Wunde tropften die Worte von seinen Lippen. »Verzeih mir … Lilith Eden.«
* Tage vorher
Rom, Petersplatz »Wissen Sie eigentlich, wie sehr ich es hasse, Sie zu treffen?« Kardinal Alessandro Caracolli blieb stehen, bevor sein Fuß den Rand des dunklen Schattens übertrat, den der mitten auf dem riesigen Platz stehende Obelisk in der Frühsonne warf. Als hoffte Seine Eminenz, das noch kraftlose Licht des Morgens könnte die Schauder vertreiben, die ohne Unterlaß über seinen Rücken krochen. Wie Spinnen mit eiskalten Beinen, die sich nicht entscheiden konnten, in welche Richtung sie seinen Körper verlassen sollten. Dabei waren es normalerweise die anderen, in denen seine Gegenwart solcherlei Unbehagen weckte. Der Kardinal war ein korpulenter Hüne. Seine Augen lagen wegen der buschigen Brauen stets im Schatten und fielen nur deshalb auf, weil es in ihnen fortwährend blitzte – selten vergnügt, oft energisch und manchmal erzürnt. Autorität umwehte ihn auf Schritt und Tritt, einer Aura gleich, die in anderen schon den bloßen Gedanken an Widerspruch erstickte. Es mochte kaum eine Handvoll Menschen auf der Welt geben, die ihrerseits ein solches Gefühl in Alessandro Caracolli zu schüren imstande waren. Und von dieser möglichen Handvoll war der Kardinal bislang nur zweien tatsächlich begegnet. Einer dieser beiden war Seine Heiligkeit selbst. Dem anderen stand er nun gegenüber. »Ich kann es mir vorstellen. Aber ich hoffe, es hat nicht wirklich etwas mit meiner Person zu tun«, erwiderte dieser andere auf die Frage des Kardinals, obwohl Seine Eminenz vielleicht gar keine Antwort erwartet hatte. »Nein«, sagte Caracolli, seines Zeichens Präfekt der Heiligen Ritenkongregation, »ich nehme an, das hat es nicht.« Wenngleich er sich dessen auch nicht vollkommen sicher war. Obwohl der andere auf den ersten Blick keinen Anlaß bot, ihm mit
Mißtrauen oder gar Vorbehalten gegenüberzutreten – er war einen halben Kopf kleiner als Caracolli, sein Gesicht war Beweis dafür, daß sich in seinen Adern das Blut vieler Völker dieser Erde mengte, und sein gepflegtes Äußeres ließ an einen Geschäftsmann denken, der seinen Erfolg zwar zur Schau trug, dies aber nicht auffällig tat; seine schlanken Hände lagen auf dem Knauf eines unübersehbar wertvollen Gehstocks, und das Alter des Mannes war kaum zu schätzen: er konnte die Vierzig ebenso gut gerade erst überschritten wie die Sechzig beinahe erreicht haben –, war etwas an ihm, daß den Kardinal ein bißchen mehr als nur beunruhigte. Ohne daß er es konkret hätte benennen können. Vielleicht war es etwas, das den anderen unsichtbar umgab; vielleicht war es sein Gebaren – seine Angewohnheit etwa, sich stets im Schatten zu halten; sein rhetorisches Talent, mit vielen Worten wenig zu sagen und mit wenigen Worten Rätselhaftes noch mehr zu verklären; seine Fähigkeit, die eigenen Gesichtszüge wie die einer Wachsmaske modellieren zu können, was es anderen unmöglich machte, hinter die Fassade zu sehen. Und vielleicht war es etwas ganz anderes … Vielleicht das, was die wenigen Menschen, die sich zu dieser frühen Stunde auf dem Petersplatz aufhielten, einen Bogen um die beiden Männer schlagen ließ und sie fremden Blicken offenbar entzog. Der Kardinal war es gewohnt, wegen seiner auffälligen Erscheinung und der Soutane, die Zeichen seines hohen Amtes war, von Besuchern des Heiligen Platzes zumindest mit verhohlener Neugier bedacht zu werden. Doch jetzt, im Beisein des anderen, war es, als gäbe es ihn gar nicht. Im Beisein des anderen … Des anderen … Caracolli kannte nicht einmal seinen Namen. Und auch das mochte einer der Gründe sein, weshalb ihm diese Treffen verhaßt waren. »Sie haben mit dem Chef gesprochen?« fragte der andere aus dem Schatten des Obelisken heraus, und der Kardinal konnte sich des
seltsamen Eindrucks nicht erwehren, daß dieser Schatten den Mann ein kleines bißchen mehr umhüllte, als er es eigentlich hätte tun dürfen. Caracollis Augenbrauen wanderten mit fast hörbarem Knistern aufeinander zu, als er mißbilligend die Stirn furchte. Der despektierliche Umgangston, den der andere bisweilen anschlug, war auch so eine Sache … »Ja, das habe ich«, sagte er dann. »Und ich frage mich einmal mehr, weshalb Sie es nicht selbst tun. Wenn Sie allem Anschein nach doch so vertraut mit Seiner Heiligkeit sind …« Ein freudloses und wie gewohnt künstlich wirkendes Grinsen erschien im schattenhaften Gesicht seines Gegenübers: »Gehen Sie der Einfachheit halber davon aus, daß ich Schwierigkeiten habe, den polnischen Akzent zu verstehen, hm?« Jeder andere hätte das Grollen, das sich Caracollis Brust entrang, als eine unmißverständliche Drohung aufgefaßt. Der andere jedoch quittierte den dumpfen Laut nur mit einer um eine winzige Nuance veränderten Version seines Lächelns und sagte: »Dann haben Sie eine Nachricht für mich?« Er fragte nicht, er stellte fest. Und streckte gleichzeitig die Hand aus; gerade soweit, daß sie den Schatten des Obelisken nicht verließ. Der Kardinal streckte seinerseits die Rechte vor, die er bisher hinter seinem Rücken verborgen gehalten hatte. Der Kommentar, der ihm auf der Zunge lag, erstarb noch hinter seinen Lippen, als seine Hand in den Schatten glitt. Dieses Gefühl … Diese unmögliche Kälte, die wie mit winzigen, aber höllisch scharfen Zähnen in seine Finger biß, kaum daß sie in den Schatten des Obelisken eintauchten … Es mußte Einbildung sein. Es konnte nur Einbildung sein! Und doch löste sich sein Griff wie unter plötzlichem Schmerz, und
er ließ den Umschlag, den er gehalten hatte, mehr in die offene Hand des anderen fallen, als daß er ihn wirklich überreichte … Der andere drehte das unscheinbare Kuvert und brach das päpstliche Lacksiegel, das ihn verschloß. Dann entnahm er dem Umschlag ein nicht minder unscheinbares Blatt Papier, von dem Caracolli nur soviel erkannte, als daß es handschriftlich beschrieben war, mit nicht einmal sonderlich vielen Worten. Die Augen des anderen bewegten sich rasch hin und her, während seine Blicke über die wenigen Zeilen huschten. Sein Mienenspiel gab dabei – natürlich – keinen Aufschluß über das, was er las. Und mit der gleichen Ausdruckslosigkeit in den Zügen holte er dann ein Sturmfeuerzeug aus einer Tasche seines Jacketts, schnippte die Flamme an und hielt sie an das Papier, das er zuvor einmal der Länge nach gefaltet hatte. Das Blatt wurde so schnell vom Feuer verschlungen, daß Caracolli vermutete, es müßte mit einer brennbaren Substanz getränkt sein. Der andere hielt es so lange fest, bis die Flammen schon nach seinen Fingern züngelten. Dann erst ließ er es los, und Ascheflocken wehten wie schwarzer Schnee über den Petersplatz. »Beeindruckend«, konnte der Kardinal sich nicht verkneifen zu sagen, auch wenn nicht einmal halb soviel Spott in dem einen Wort lag, wie er es beabsichtigt hatte. Der andere überging die Bemerkung einfach. »Gehen Sie zu ihm und sagen Sie ihm, daß die Gesandten umgehend losgeschickt werden.« Seine vage Kopfbewegung und die kaum merklich veränderte Blickrichtung seiner Augen galten dem Vatikanischen Palast. Alessandro Caracolli zwang sich, den anderen sekundenlang regelrecht anzustarren. Er spürte, wie etwas ihn dazu bewegen wollte, den Blick abzuwenden, aber er widersetzte sich diesem Drang mit Erfolg. Und dieser kleine Sieg über – was-auch-immer-es-war verlieh seiner Stimme die Festigkeit, die er sich wünschte und die vonnöten war, um seine Worte nicht albern klingen zu lassen – und de-
ren Fehlen seine wahre Beunruhigung verraten hätte. »Ich glaube, ich weiß, warum ich diese Treffen hasse«, meinte er. Die linke Augenbraue des anderen rutschte nach oben. »Ja?« Der Kardinal nickte. »Ja. Es liegt wohl daran, daß ich dabei immer das Gefühl habe, es ginge um ein bißchen mehr als nur um Leben und Tod.« Um die Lippen des anderen legte sich eine neue Abart seines freudlosen Lächelns, doch in seine Züge stahl sich eine Spur von Nachdenklichkeit, von der Caracolli fast überzeugt war, daß sie sich gegen seinen Willen dort einnistete. Und es dauerte eine kleine Weile, bis der andere antwortete. »Ja, Sie haben recht, Eminenz. Es geht um ein bißchen mehr als nur um Leben und Tod«, sagte er leise und fuhr dann in beinahe leutseligem Tonfall fort: »Es geht um den Fortbestand der Welt, wie wir sie kennen.« Und als er daraufhin eine fast schon komische Mischung aus Entsetzen und Verwirrung in Caracollis Gesicht bemerkte, setzte er leichthin dazu: »Aber das muß Sie nicht kümmern, Eminenz. Für diesen Job sind andere zuständig.« Er hatte kaum ausgesprochen, als er auch schon um die Ecke des Obelisken herum verschwand, auf seinen Stock gestützt und das rechte Bein kaum merklich nachziehend. Fast eine Minute lang stand Kardinal Alessandro Caracolli mit halb geöffnetem Mund da, reglos wie die Heiligenfiguren, die die Kolonnaden rings um den Petersplatz krönten. Dann endlich kam wieder Leben in ihn. Doch als er selbst um den Obelisken herumtrat, um nach dem anderen Ausschau zu halten, war der längst verschwunden – vielleicht untergetaucht zwischen den Menschen, die den Platz nun in größerer Zahl bevölkerten, oder eins geworden mit den Schatten der Säulengänge. Caracolli wußte es nicht, und er suchte auch nicht länger nach ei-
ner Erklärung, weil er im Grunde froh war, daß er von der beklemmenden Gegenwart des anderen einmal mehr erlöst war. Aber er wußte eines: Daß er diese Treffen haßte … … lag sehr wohl zum allergrößten Teil an dieser impertinenten Person.
* Doch keinem gab die Natur das Vorrecht der Unsterblichkeit »Macbeth« Wer es auch gewesen sein mochte, der einst den Begriff ›gottverlassen‹ geprägt hatte – er mußte dabei genau diesen Landstrich vor Augen gehabt haben. Nahezu so eben wie ein Brett erstreckte er sich von Horizont zu Horizont, in optischer Endlosigkeit, und es war für jemanden, der hier unterwegs war, schwer vorstellbar, daß sich jenseits der imaginären Grenzlinie zwischen Himmel und Erde diese Einförmigkeit auch nur um einen Deut ändern mochte. Kein Strauch, kein Baum setzte einen grünen Tupfer in das Muster aus allen möglichen Gelb- und Brauntönen, denen die nahende Gewitterfront einen Stich ins Schweflige verlieh. So düster und drohend quollen die bleigrauen Wolken heran, daß man glauben konnte, das Land müßte vergehen, wenn sie ihre Sturmgewalt erst einmal entfesselten. Und vielleicht würde es wirklich so sein. Vielleicht schickte Gott einen Sturm, mächtig genug, diesen Landstrich vom Antlitz der Erde zu waschen, nachdem er ihn einst verlassen und zuvor vergessen hatte, ihn mit wirklichem Leben zu bestücken … Ein Lächeln auf den farblosen Lippen, trat Moses Pray das Gaspe-
dal des altehrwürdigen Ford Kombi ein bißchen tiefer. Bevor dieser Teil der Welt unterging, wollte er noch ein paar Geschäfte machen. Und keine andere Gegend schien ihm geeigneter für seine Art von Geschäften. Denn wo hätte das Wort des Herrn mehr Not getan als in dieser Ecke hier, der Gott vor Urzeiten den Rücken gekehrt zu haben schien? Die Menschen mußten doch förmlich nach der himmlischen Botschaft dürsten. Wenn Moses Pray hier je auf Menschen treffen sollte … Was hinter seiner Stirn als gedanklicher Witz seinen Anfang genommen hatte, schien ihm mit jeder Meile, die er zurücklegte, der Wahrheit und den tatsächlichen Gegebenheiten um genau diese Meile näherzurücken. Das schnurgerade Asphaltband, das unter der Haube des Ford verschwand wie im Maul eines Haifischs, und die Getreidefelder zu beiden Seiten waren die einzigen Anzeichen dafür, daß Menschen hier zumindest irgendwann einmal gewirkt haben mußten. Nach Anzeichen einer Ansiedlung hielt Pray indes vergebens Ausschau. Noch nicht einmal die Spitzen von Dächern einer Farm waren irgendwo auszumachen. Das letzte Fahrzeug war Pray vor über zwei Stunden entgegengekommen, und das Bild im Rückspiegel unterschied sich in nichts von dem, das er vor der Windschutzscheibe sah: gelbschattierte Felder, durch die sich der staubige Highway wie eine alte Narbe zog. Und je länger er hinsah und sich darauf konzentrierte, desto unwirklicher kam Moses Pray alles ringsum vor. Als wäre dies längst nicht mehr die Welt, die er kannte und in der er seit nunmehr 51 Jahren lebte, sondern eine, die sich hinter der bekannten verbarg. Eine, die der Wirklichkeit zwar ähnelte, die sich aber in zwei Punkten gravierend von ihr unterschied: Es gab keine Menschen hier, und was man ›drüben‹ über Entfernungen und Zeit wußte, verlor hier seine Gültigkeit. Hier gab es nur Ewig- und Endlosigkeit. Obwohl der Fahrtwind alles andere denn erfrischend war und im
Grunde nur stickig-schwüle Luft gegen verbrauchte stickig-staubige austauschte, fröstelte Moses Pray mit einemmal. Die Schweißperlen auf seiner Stirn und die klebrigen Rinnsale, die ihm in den Nacken rannen, verwandelten sich in Eis, das sich mit winzigen, aber unglaublich scharfen Zähnchen in seine Haut fraß. Pray dachte an Geschichten, die er in Magazinen wie ›Twilight Zone‹ oder ›Those who know the truth out there‹ gelesen hatte. Geschichten über Leute, die auf unterschiedlichste Weise in Bereiche und Welten hinter der Wirklichkeit gelangt waren. Leute, die dort schreckliche Dinge erlebt hatten. Dinge, die ihr Leben verändert, wenn nicht zerstört hatten. Geschichten … Nur Geschichten? Moses Pray wollte glauben, daß nicht mehr dahintersteckte. Aber etwas in ihm stemmte sich seinem Bemühen, alles als Humbug und Täuschung abzutun, entgegen. Und dieses Etwas war ungleich machtvoller als alles, was er an Vernunft und Logik in die Waagschale werfen konnte. Ohne sich widersetzen zu können, sah er sich mehr und mehr als Hauptfigur in eine solche Geschichte hineinrutschen. Er wünschte, er hätte von seiner ›Rolle‹ als der des Helden sprechen können. Aber er wußte, daß ihm nur die des Opfers vorbehalten war. Für Helden war in Geschichten dieser Art kein Platz. Pray wollte sich selbst einen Narren schelten, und doch konnte er nicht das Geringste dagegen tun, daß ein Teil – der weitaus größere Teil! – seiner Gedanken sich selbständig machte und nach einem Punkt auf dem hinter ihm liegenden Weg suchte, an dem es passiert sein konnte – nach der Stelle, an der er unwissentlich die Abzweigung aus der Wirklichkeit benutzt hatte. Wie konnte sich dieser Moment geäußert haben? Pray überlegte, und er wehrte sich nicht länger dagegen. Vielleicht war dies die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, um über all dem nicht wahnsinnig zu werden – wenn er versuchte, sich nüchternen
Verstandes damit auseinanderzusetzen. Er kramte in seinen Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit, ließ die vergangenen zwei oder drei Stunden noch einmal Revue passieren. War ihm in dieser Zeit irgend etwas Ungewöhnliches widerfahren? War ihm schwindlig geworden? Fehlten ihm Sekunden oder Minuten seiner bewußten Wahrnehmung? Moses Pray stellte sich ein Dutzend solcher Fragen. Und fand auf keine davon eine befriedigende Antwort. Die Fahrt war so eintönig gewesen, und er hatte sich in Gedanken mit so vielen Dingen beschäftigt, um sich abzulenken, daß es ihm im nachhinein nicht möglich war, sich an konkrete Details oder gar bestimmte Momente zu erinnern. Aber auch diese Feststellung paßte nur auf beunruhigende Weise als weiteres Teil in das Mosaik seiner mysteriösen ›Geschichte‹ … »O Herr, laß es nicht zu«, flüsterte Pray. »Laß nicht zu, daß mir das wirklich widerfährt …« Vielleicht wurden seine Worte erhört, vielleicht bedankte sich der Herr auf diese Weise bei Moses Pray dafür, daß er Sein Wort in gedruckter Form unters Volk brachte. Vielleicht war es aber auch nur Zufall. Moses Pray war es egal. Er war einfach nur froh, als es vorbei war und die Wirklichkeit ihn wieder willkommen hieß. Als weit vor ihm, wo das tintige Blauschwarz des Himmels und das schmutzige Gelb der Getreidefelder an einer fast sichtbaren Linie aufeinandertrafen, sich ein Stück rechts der Straße kantige Buckel gegen die brodelnden Wolken abzeichneten. Aber erst nach einer weiteren Meile gestattete sich Moses Pray, erleichtert durchzuatmen. Erst dann nämlich war er sicher, daß es sich bei den dunklen Erhebungen dort vorne auch tatsächlich um das handelte, was er darin vermutet hatte – die Dächer von Häusern. Und nicht etwa um geduckt am Boden kauernde Monstren, die auf bedauernswerte Menschen lauerten, die sich zu ihrem Pech hinter die Wirklichkeit verirrt hatten …
Moses Pray hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als er ihm auch schon furchtbar albern vorkam. Und er schämte sich regelrecht vor sich selbst ob all der Horrorvisionen, die seine Phantasie eben noch vor seinen Augen heraufbeschworen hatte. Wie hatte er sich nur selbst dermaßen zum Idioten machen können? Pray lachte trocken auf und erschrak ein kleines bißchen, als er feststellte, daß der Laut in seinen Ohren unsicher klang. So, als müßte er mit dem Lachen ein leises Stimmchen in sich, das ihm hartnäckig einflüstern wollte, daß es eben noch nicht vorbei wäre, vollends von der Absurdität all der Gedanken über ›unwirkliche Wirklichkeiten‹ überzeugen … Die Ansiedlung dort vorne bestand aus allenfalls vier Handvoll Häusern, und sie lag nicht unmittelbar am Highway. Eine staubige Piste zweigte davon ab und führte zu dem Dorf hin. Pray lenkte den Ford in die Einmündung, an der kein Schild oder sonstiger Hinweis auf die Ortschaft zu entdecken war. Ein solches sah Pray erst, als er das Städtchen, das diese Bezeichnung nicht wirklich verdiente, fast schon erreicht hatte. Auf eine aus unterschiedlich langen Brettern zusammengenagelte Tafel, die schief an einem mannshohen Pfosten neben der Straße hing, hatte jemand den Ortsnamen gepinselt – der Leserlichkeit nach zu urteilen vor 100 oder 150 Jahren: DEADHORSE Darunter hatte irgendwann einmal die Einwohnerzahl gestanden. Doch dieser Hinweis war im Laufe der Zeit so oft durchgestrichen und auf den aktuellen Stand gebracht worden, daß inzwischen keine einzige der Zahlen mehr zu entziffern war. Pray nahm etwas Gas weg und ließ den Wagen fast im Schritttempo an den ersten Häusern vorüberrollen. Und ohne daß er sich wirklich in Deadhorse umgesehen hatte, drängte sich ihm ein Gedanke auf, und fast gleichzeitig kam er ihm über die Lippen. »Eine Geisterstadt …«
Als wäre der Klang seiner eigenen Stimme der Auslöser, spürte Moses Pray, wie sich ihm die Haut im Nacken zusammenzog und dann am ganzen Körper spannte, als wäre sie ihm um mindestens zwei Nummern zu klein geworden. Der tatsächliche Grund dafür mochte allerdings sein, was sein Unterbewußtsein längst registriert hatte und was ihm erst jetzt wirklich auffiel. Da war zum einen die Tatsache, daß, so weit er sehen konnte, keine Menschenseele zu entdecken war. Das konnte man als Zufälligkeit abtun, wenn man die Augen vor allen anderen Auffälligkeiten verschloß. Vor der beispielsweise, daß auch kein Fahrzeug zu sehen war. Oder der, daß sämtliche Fenster ringsum aussahen wie mit Staub regelrecht beklebt. Die Häuser, sie erinnerten in Bauart und Anordnung an eine alte Westernstadt und machten auf Pray allesamt einen unbewohnten Eindruck, ohne daß er zu sagen wußte, woher dieser Eindruck rührte. Kleinigkeiten mochten ihn erwecken – hier eine zersprungene Fensterscheibe, dort eine krumm in den Angeln hängende Tür … Aber auch der gewitterdunkle Himmel trug sein Scherflein zu der unheimlichen Atmosphäre bei. Gierig schien er alles Licht aufzusaugen, um düsteren Schatten Raum zu schaffen, die Deadhorse einnahmen wie eine körperlose Armee. Sie bezogen Posten hinter Ecken und unter Vordächern und starrten zu Moses Pray herüber – aus Augen, die sie nicht haben konnten, deren Blicke er aber aller Vernunft zum Trotz wie die Berührung eisiger Finger auf seiner Haut spürte. Auf halber Strecke zum Ortsende stoppte Pray den Ford Kombi mitten auf der Main Street. Etwas in ihm drängte ihn, weiterzufahren und bloß nicht auszusteigen. Aber im gleichen Maße, wie er vorhin noch vor diesem tonlosen Stimmchen erschrocken war, schaffte er es jetzt, es zu ignorieren. Wie von selbst tasteten seine Finger nach dem Türgriff, und dann stand er auch schon neben dem Wagen. Was er im allerersten Moment noch für kalten Schweiß hielt, der
ihm über das Gesicht lief, waren Regentropfen, die sich aus den tiefhängenden Wolken lösten. Und nur Sekunden später prasselte das Wasser nur so hernieder, als hätte jemand die fetten schwarzen Bäuche dort oben mit einer riesigen Klinge aufgeschlitzt. Binnen kürzester Zeit war Moses Pray naß bis auf die Haut. Doch er registrierte es kaum. Etwas anderes, etwas ganz anderes beanspruchte jedes Quentchen seiner Aufmerksamkeit. Bei seiner Ankunft hatte er Deadhorse für eine ›Geisterstadt‹ gehalten. Und das schien im buchstäblichen Sinne zutreffend zu sein. Denn Moses Pray konnte die Geister – hören! Er hörte sie heulen, jammern und schreien, stöhnen, wie geknechtete Seelen im grausamsten Winkel der Hölle. Einem schaurigen Chor gleich schwang das Konglomerat von Lauten durch die noch immer stickige Luft und übertönte selbst das Rumoren und Grummeln des Sturms. Und dann sah Moses Pray die Geister auch. Sie kamen aus den Schatten. Und sie kamen, um ihn zu holen.
* Salem’s Lot, US-Bundesstaat Maine Jennifer Sebree öffnete die Augen nicht einfach, sie riß sie auf. Schlagartig war sie wach. Und doch nahm sie etwas mit herüber aus Schlaf und Traum. Eine Stimme. Worte. »Verzeih mir … Lilith Eden.« »Lilith Eden«, wiederholte Jennifer flüsternd. War dies der Name des Phantoms, das seit Nächten durch ihre
Träume geisterte? »Lilith Eden …« Noch einmal sprach Jennifer ihn aus, und diesmal ließ sie ihn förmlich über die Lippen perlen. In jedem Fall wäre es ein Name, der zu ihr gepaßt hätte. Er klang geheimnisvoll, fast schon mystisch, und er war – schön. Alles Eigenschaften, die auch jene Fremde aus dem Traum in sich vereinte. Auch sie war für Jennifer ein großes Geheimnis, mysteriös, ein wenig unheimlich, und über all dem von einer geradezu betörenden Schönheit. Nicht von der Art Schönheit, die Neid in anderen Frauen weckte, sondern von einer, die jeden, unabhängig vom Geschlecht, in ihren Bann zog. Jennifer war diesem Zauber erlegen. Wie ein Geist hatte sich die Fremde durch ein geheimes Türchen in ihre Träume gestohlen. Und seit jener Nacht war sie nicht nur im Schlaf bei Jennifer, sondern bestimmte darüber hinaus auch das tägliche Tun und Denken der jungen Frau. Aber – würde es so bleiben? Auch jetzt noch, da die andere – Lilith – in Jennifers Traum gestorben war? Nachdem sie mit einem Pfahl hingerichtet worden war? Nun, Jennifer hatte sie zumindest noch nicht vergessen. Die schwarzmähnige Schöne spukte ihr nach wie vor im Kopf umher. Und deshalb würde Jennifer fortfahren mit dem, wodurch sie hoffte, ihre Träume und deren Nachhall, der bis zur jeweils nächsten Nacht nicht verklang, mit der Zeit aufzuarbeiten und schließlich in den Griff zu bekommen. So daß sie nicht länger Sklavin der Nachtmahre wäre, sondern wieder Herrin über ihren Schlaf und ihr Handeln, ihr Leben. Voller Tatendrang schwang Jennifer sich aus dem Bett und huschte nackt hinüber zum Fenster. Weit öffnete sie die beiden Flügel und ließ das Licht und die Kühle des herbstlichen Morgens herein. Tief
atmete sie den würzigen Duft des noch jungen Tages ein, und einmal mehr war die junge Frau überzeugt davon, daß ein Tag nirgends auf der Welt angenehmer beginnen konnte als hier in Salem’s Lot. Danach schlüpfte sie rasch unter die Dusche, und fast meinte sie, sehen zu können, wie die allerletzten Reste von Müdigkeit, die ihr noch in den Gliedern gesteckt haben mochte, mit dem Wasser im Abfluß zu ihren Füßen verschwanden. In Jeans und T-Shirt gekleidet und eine Tasse dampfenden Kaffees in der Hand lief sie wenig später die schmale Treppe hinab ins Erdgeschoß des kleinen Hauses, das sie von ihren Eltern geerbt hatte und nun allein bewohnte. Hier unten hatte Jennifer die meisten Trennwände abreißen lassen, so daß ein großer Raum entstanden war. Ihn nutzte sie nun als Ladengeschäft und Atelier in einem. Wer wollte, konnte ihr durch das große Schaufenster beim Malen über die Schulter sehen. So früh am Morgen jedoch fanden sich draußen noch keine Neugierigen. Von ihrem Kaffee nippend, besah Jennifer sich fast andächtig, was sie in den vergangenen Tagen auf die Leinwand gebracht hatte. Träume. Ihre Träume. Jedes Bild war Zeugnis eines der Träume, die sie seit Nächten heimsuchten und in denen immer wieder jene schwarzhaarige Frau eine Rolle spielte, deren Namen Jennifer nun auch kannte. Die Gemälde faszinierten die Künstlerin selbst. Denn obwohl sie nur eine einzelne Szene des jeweiligen Traumes zeigten, fiel er ihr in seiner Gesamtheit wieder ein und lief vor ihr geistigem Auge von neuem ab, wenn sie das zugehörige Bild nur länger als eine Sekunde betrachtete. »Wunderschön«, flüsterte Jennifer, und sie wußte selbst nicht genau, was sie damit eigentlich meinte: den Traum, das Bild oder nur jene Lilith …
Daß ein anderer, ein unbeteiligter Betrachter ihrer jüngsten Bilder zu einem völlig anderen Urteil gekommen wäre, ahnte Jennifer nicht … Sie mußte sich förmlich zwingen, nicht tiefer und immer tiefer in ihren ›Traumbildern‹ zu versinken. Doch der Gedanke an das Gemälde, an dem sie nun weiterarbeiten wollte, half ihr dabei, sich loszureißen. Denn der Reiz dieses anderen Bildes war noch stärker. Wenn es fertig wäre, würde es den zweiten ihrer ›Traumbesucher‹ zeigen. Und Jennifers Verbindung zu ihm war viel tiefer als die zu jener Lilith Eden. Und von ganz anderer Art … Jennifer spürte ein wohliges Kribbeln durch ihren Körper fließen. Und begann zu malen.
* Etwas früher an diesem Morgen Der alte Mann saß auf den Verandastufen des großen Hauses. So wie er es jeden Morgen tat. Das Haus lag auf einem Hügel, und wie an jedem Morgen genoß der alte Mann die Aussicht auf die Stadt, die ihm dort unten wie zu Füßen lag. Und das hätte sie auch im wörtlichen Sinne getan. Wenn er es nur gewollt hätte. Aber er wollte es nicht. Er fühlte sich zu alt, um noch solcherlei Machtgelüste zu entwickeln. Und er fühlte sich auch zu alt, um noch einmal an einen anderen Ort zu ziehen. ›Einen alten Baum verpflanzt man nicht‹, hieß es im Volksmund. Das mochte für Bäume gelten, für Menschen und für … »Melissa«, seufzte der alte Mann, »ich vermisse dich noch immer.
Nach all den Jahren vermisse ich dich noch immer so sehr, daß mir alles weh tut, wenn ich auch nur an dich denke.« Er hatte Melissa geliebt. Und aus Liebe hat er alles aufgegeben, war ein anderer geworden, hatte Entbehrungen auf sich genommen, von denen er manches Mal geglaubt hatte, sie müßten ihn umbringen. Aber sie hatten es nicht getan. Er hatte sich daran gewöhnt, sich mit dem neugewählten Leben arrangiert. Und schließlich hatte er Melissa überlebt. Natürlich. Sie hatten beide gewußt, daß es so kommen würde. Sie hatten es von dem Augenblick an gewußt, da sie sich entschlossen hatten, die Bürde zu tragen, die ihre Verbindung mit sich bringen mußte. Aber der Abschied von Melissa war schlimmer gewesen, als der alte Mann es sich vorgestellt hatte. Tausendmal schlimmer. Sein träges Herz schien seit jenem Tag mit jedem Schlag ein kleines bißchen müder zu werden. Aber es würde nie so müde werden, daß es ganz zu schlagen aufhörte. Sein Herz würde niemals zu schlagen aufhören. Was andere seiner Art als dunklen Segen empfinden mochten, war für den alten Mann längst zum Fluch geworden. Doch mindestens ebenso sehr litt er unter der Einsamkeit. Manchmal fragte er sich, ob sich Melissa an seiner Seite einsam gefühlt haben mochte. Immerhin war er nahezu ihre einzige Gesellschaft gewesen, weil sie die anderer Menschen meiden mußte. Aber langweilig – nein, langweilig konnte es ihr mit ihm nie geworden sein. Er hatte ihr Geschichten aus einem Fundus erzählen können, der nahezu unerschöpflich war, weil er ihn über eine Zeitspanne angelegt hatte, die den Menschen beinahe als Ewigkeit vorkommen mußte. Und er hätte ihr noch so vieles erzählen können …
Nun war da niemand mehr, mit dem er reden oder auch einfach nur schweigen konnte. Er knüpfte keine Kontakte zu anderen Menschen, galt in der Stadt als Sonderling, und er unternahm nichts, um diesen Ruf zu brechen. Wer weiß, was daraus erwachsen wäre, hätte er es getan … Und dafür, was immer auch die Folgen sein würden, fühlte er sich zu alt … Im Licht des jungen Tages sah die Stadt aus wie ein Gemälde, das ganz in Kupfertönen gehalten war. Still und bewegungslos ruhte sie dort unten, und nicht einmal ein Lüftchen regte sich. Und doch bewegte sich plötzlich etwas. Nicht unten in der Stadt, sondern über dem alten Mann. Ein dunkler Punkt trieb, nicht ganz geradlinig, sondern ein bißchen schwankend, über den fast rostfarbenen Himmel. Flatternd wie – – eine Fledermaus? Ein Lächeln erschien auf den bleichen Lippen des Alten. Und es verschwand und machte einem erschrockenen Zug Platz, als das Tier dort oben plötzlich zuckte und aufkreischte, so schrill, daß nur jemand wie der alte Mann es hören konnte. Für Sekunden kam ihm die Fledermaus wie an den kupferigen Himmel genagelt vor. Dann aber stürzte sie ab, fiel wie ein Stein zu Boden. Er konnte sogar den dumpfen Laut hören, mit dem sie aufschlug. Die Stelle konnte nicht weit entfernt sein. Hastig stand der alte Mann auf und suchte nach dem Tier. Er fand den kleinen Körper in der Nähe des Zaunes, der sein Grundstück säumte. Reglos lag die Fledermaus im taufeuchten Gras, die Flügel ausgebreitet, und im ersten Moment hielt der alte Mann sie für tot. Doch dann bemerkte er das Zucken in der bepelzten Brust. Erleichterung erfüllte ihn. Das Lächeln kehrte auf seine Lippen zu-
rück. Ganz vorsichtig, als fürchtete er, das Tierchen zerbrechen zu können, nahm er es in beide Hände und trug es behutsam ins Haus. Eine kleine Kiste war rasch gefunden, und der alte Mann polsterte sie mit zerrissenem Papier, Holzwolle und alten Tüchern aus, ehe er die Fledermaus hineinbettete. Ganz sanft strich er mit einem Finger über das borstige Fell, unter dem das Herzchen sicht- und spürbar schlug. »Wir müssen doch zusammenhalten, mein Kleines, hm?« sagte er zärtlich und noch immer lächelnd, so glücklich wie seit Jahren nicht mehr. Dann richtete er sich wieder auf und sagte: »So, mein kleiner Freund, ich muß dich kurz alleine lassen. Es wird Zeit für meinen morgendlichen Spaziergang.« Es war eine Angewohnheit, die er seit Melissas Tod pflegte. Zweioder dreimal wöchentlich ging er hinunter in die Stadt, um ein paar Sachen einzukaufen: Lebensmittel, Dinge für den Haushalt. Nicht, daß er all das Zeug wirklich gebraucht hätte. Aber es galt, den Schein zu wahren. In einer kleinen Stadt wie Salem’s Lot kam schnell Gerede auf …
* Im ersten Augenblick hielt Moses Pray die anderen tatsächlich für Geister. In dem Dämmerlicht schienen ihm die Körper gestaltlos und ohne Substanz, wie aus Finsternis geschaffen, wogend und ihre Form mit jedem Schritt, den sie näherkamen, verändernd. Erst als die Distanz auf wenige Schritte zusammengeschrumpft war, konnte Pray Konturen und schließlich auch Details ausmachen. Und im gleichen Moment wünschte er sich, sie wären Geister! Denn die Konfrontation mit ›echten‹ Gespenstern hätte nicht annähernd so schrecklich sein können wie dies hier!
Die Gestalten, die sich mit der Behäbigkeit uralter Greise auf Moses Pray zu bewegten, boten ein Bild des Grauens, das jede zartbesaitete Natur in den Wahnsinn treiben mußte. Und Pray wunderte sich, weshalb er angesichts dieses Schreckens nicht einfach umfiel oder zumindest zu brüllen begann. Dann erst spürte er den Kloß, der wie etwas Glühendes und Stacheliges in seiner Kehle festsaß und der sich als Schrei lösen wollte, aber nicht konnte, weil etwas Prays Lippen regelrecht verschweißte. Geradezu irrsinnige Gedanken rasten schmerzhaft durch seinen Kopf. Daß Deadhorse etwas wie eine Kolonie für Aussätzige sein mußte, war nur einer davon. Zugleich aber auch der, an dem er sich am längsten festklammerte. Weil jede andere – und womöglich wahrscheinlichere – Erklärung ihm unweigerlich den Verstand kosten mußte! Die Menschen (Das sind keine Menschen! brüllte die zuvor noch so leise Stimme in ihm), die den Ring um ihn enger und enger zogen, sahen aus, als wären sie von einer furchtbaren und womöglich namenlosen Krankheit befallen. Einer Krankheit, die ihre Körper schier verwüstete und deren grausamster Aspekt doch etwas völlig anderes war: die Tatsache nämlich, daß sie ihre Opfer nicht mit dem Tod erlöste. Zumindest nicht in diesem Stadium, von dem Pray sich keine Steigerung auch nur vorstellen konnte. Diese Männer und Frauen sahen aus und rochen, als würden sie bei lebendigem Leibe verfaulen. Und es war ein grausames Wunder, daß ihre Leiber sich noch aus eigener Kraft aufrecht hielten. Pray glaubte über dem Rauschen des Regens zu hören, wie ihr schwärendes Fleisch sich mit feuchten Lauten bewegte. Und der Gestank der verwesenden Körper rollte ihnen wellengleich voran, um über Moses Pray zusammenzuschlagen. Vielleicht lag es daran, vielleicht aber weigerte sich sein eigener Körper auch einfach nur, noch länger durchzuhalten – auf jeden Fall sank Pray in die Knie. Er fing seinen Sturz ab, so daß er nicht völlig
in dem Morast landete, in den der Regen die staubige Straße mittlerweile verwandelt hatte. Als Wärme sich über seine Hände breitete, brauchte Pray ein paar Sekunden, ehe er merkte, daß sie von seinem eigenen Erbrochenen herrührte. Die Schritte um ihn her verstummten. Doch das Stöhnen und Ächzen riß nicht ab. Pray versuchte sich zu weigern, den Blick zu heben. Aber er spürte etwas wie eine unsichtbare Hand unter seinem Kinn, deren Druck er sich nicht widersetzen konnte. Die Laute, die sich über seine bebenden Lippen drängten, standen dem ihn umwehenden Chor kaum nach. Er sah auf und blickte in bleiche Gesichter über ausgemergelten Körpern. Er sah Haut, die an uraltes Leder erinnerte und stellenweise zerrissen war, und dunkles Fleisch, das sich von den Knochen schälte. Und er sah – Zähne. Fast fingerlang kamen sie ihm vor und nadelspitz. Wie kleine, aus Elfenbein gefertigte Dolche ragten sie aus beinahe schwarzen Kiefern. Und sie wuchsen! Jedenfalls war es das, was Moses Pray zuallererst glaubte. Bis er merkte, daß sie ›nur‹ näherkamen. Als die anderen sich zu ihm niederbeugten. Die anderen … Pray stieß ein kieksendes Geräusch aus, das, wäre die Situation auch nur ein wenig anders gewesen, komisch geklungen hätte. Die Erkenntnis, daß er es hier mit etwas völlig anderem als Aussätzigen zu tun hatte, hatte sich mit Brachialgewalt Einlaß in sein Bewußtsein verschafft. Für die Frage, ob es möglich war, ob es Wesen wie diese überhaupt geben konnte, war unter diesem Ansturm weder Zeit noch Raum gewesen …
Dann, endlich, löste sich der schmerzende Klumpen aus seiner Kehle. Moses Prays Schreie brachen sich an den Wänden der Häuser ringsum und degradierten das Prasseln des Regens zu etwas sehr Fernem und sehr Leisem. Sie veränderten sich ein kleines bißchen, als neben Entsetzen auch Schmerz zu ihrer Triebkraft wurde. Und sie verebbten schließlich, als nur noch Schmatzen und Schlürfen in Deadhorse zu hören waren. Doch auch diese Laute wurden nach einer Weile von anderen abgelöst. Von würgenden Schreien, von qualgeborenem Ächzen und Stöhnen. Vom selbst intonierten Grabgesang einer sterbenden Rasse …
* Lilith Eden erwachte. Nicht weil es an der Zeit gewesen wäre oder sie sich ausgeruht fühlte. Sondern weil Schmerz sie weckte. Es schien keine Stelle ihres Körpers zu geben, die nicht wehtat. Das Zentrum des Schmerzes konzentrierte sich auf ihre Brust. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr ein glühender Nagel vom Durchmesser eines Kinderarms ins Herz getrieben worden, und automatisch wollte sie danach greifen, um ihn herauszuziehen. Doch sie konnte es nicht. Die Bewegung gelang ihr nicht einmal im Ansatz. Weil – – sie keine Hand besaß! Und der Flügel einer Fledermaus war zum Greifen nun einmal denkbar ungeeignet … Und dann brach die Erinnerung in ihr empor wie Lava aus einem
Vulkan. Sie erinnerte sich an die Ereignisse in jenem Nonnenkloster, zu dem Vampire in Scharen gepilgert waren. Lilith war ihnen gefolgt, und vor Ort hatte sie neben den Schwestern und den Blutsaugern einen Säugling vorgefunden, der, so vermutete sie, Opfer der Vampire hatte werden sollen. Sie hatte ihn retten wollen, doch eine der Nonnen war mit dem Kind verschwunden. Die Vampire, von jener rätselhaften Seuche gezeichnet, die die Alte Rasse befallen hatte, waren daraufhin zu Staub zerfallen. Und auch die übrigen Nonnen waren gestorben.* Lilith hatte dort nichts mehr ausrichten können. Und da sie seit den Ereignissen am Anfang der Zeit sich nicht länger von menschlichem, sondern von vampirischem Blut ernährte, hatte sie sich zwangsläufig auf die Suche nach einem ›Opfer‹ machen müssen. Ohne die Fähigkeit, Angehörige der Alten Rasse erspüren zu können, war ihr nichts übriggeblieben, als zunächst dorthin zurückzukehren, wo sie noch lebende Vampire wußte: nach New York. In ihrer Fledermausgestalt hatte sie sich auf den Weg gemacht und war geflogen, bis … Ja, bis …? Der Schmerz explodierte förmlich in Liliths Brust, als ihre Gedanken diesen Punkt der Erinnerung erreichten! Unter ihr waren im Licht des anbrechenden Tages die Häuser einer kleinen Stadt aufgetaucht, die in der Nähe eines Sees lag. Und dann hatte es sie getroffen! Wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel. Und er hatte sich ihr mitten in die Brust gebohrt. Als wäre sie – gepfählt worden? Grauenhafter konnte auch diese ›klassische‹ Hinrichtung eines Vampirs nicht schmerzen. Selbst das bloße Echo der Qual schien Lilith noch schlimmer als alle Schmerzen, die sie je zuvor hatte ertra-
*siehe VAMPIRA T03: »Die Auserwählte«
gen müssen. Und die waren oft genug schon von furchtbarster Qualität gewesen … Doch was war danach geschehen? Lilith erinnerte sich, daß der Morgen für sie übergangslos wieder zur Nacht geworden war. Und nun war sie hier erwacht. Hier? Wo und was war dieses Hier? Sie zwang ihre Konzentration weg von dem Schmerz, der in ihr loderte, sammelte ihre Gedanken, um die Rückverwandlung in menschliche Gestalt einzuleiten … … und nichts geschah. Was auch immer es war, das ihr die Transformation ermöglichte – sie hatte nie wirklich darüber nachgedacht oder gar versucht, diese Fähigkeit zu ergründen, sondern einfach hingenommen und genutzt. Jetzt funktionierte es nicht. Etwas mußte den ›Mechanismus‹ ge- oder sogar zerstört haben. Und Lilith hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie ihn wieder in Gang setzen konnte. Sie fühlte sich kaum in der Lage, wirklich darüber nachzudenken. Denn der Schmerz in ihr verzehrte nahezu jeden Gedanken, der versuchte, seiner Höllenglut zu entfliehen. Irgendwo in dem Körper, in dem sie gefangen war, fand sie noch einen allerletzten Rest an Kraft. Gerade genug, um sich wenigstens ein bißchen zu bewegen. Mit ihren Fledermaussinnen erforschte sie die unmittelbare Umgebung und stellte schließlich zu ihrem großen Erstaunen fest, daß sie in einer Holzkiste lag, die jemand provisorisch ausgepolstert hatte. Irgendwie brachte sie es fertig, sich mit ihren Flügeln am Rand der Kiste hochzuzerren. Ihre Sinne, die sich doch von denen einer gewöhnlichen Fledermaus unterschieden, verarbeiteten die empfangenen Eindrücke und formten sie zum Bild eines fast antiquarisch eingerichteten Zimmers.
Wie um alles in der Welt bin ich hierhergekommen? fragte sich Lilith. Es gab nur eine Erklärung: Jemand mußte sie gefunden haben. Jemand, der offenbar ein Herz für verletzte Fledermäuse hatte … Das war einerseits der glücklichste Zufall, den Lilith sich in ihrer Situation nur wünschen konnte. Andererseits aber würde ihr unbekannter Retter es allem guten Willen zum Trotz nicht schaffen, sie wieder ›hochzupäppeln‹. Denn er würde ihr nicht besorgen können, was sie unbedingt brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen. Das schwarze Blut eines Vampirs.
* An geheimem Ort Eine unsichtbare Faust traf Raphael Baldacci und trieb ihn durch die Dunkelheit. Ein ebenso unsichtbarer Fuß hakte sich um seinen Knöchel und ließ ihn taumeln. Baldacci verwandelte den drohenden Sturz in einen pantherhaften Sprung, setzte als wirbelnder Schatten durch die Finsternis und kam, wie er nicht einfach nur schätzte, sondern wußte, drei Meter entfernt sicher zu stehen. Konzentrieren, ging es ihm durch den Sinn. Muß mich besser konzentrieren, um … Der Gedanke endete wie abgeschnitten, als Baldacci die Spitze kalten Stahls direkt unter seinem Kehlkopf spürte. Ein einzelner Blutstropfen trat aus der winzigen Wunde, und fast glaubte er sehen zu können, wie die dunkle Perle über die Klinge rollte. »Du bist tot.« Licht fiel aus unbestimmbarer Quelle wie Nebel in den Raum ein und löschte die Schwärze nicht einfach aus, sondern trieb sie vielmehr zurück und bannte sie in die Ecken, wo sie sich zu wogenden Schatten ballte.
Der Raum war leer, kahl. Der Boden bestand aus blankem Fels, ebenso die Wände, die jedoch zum Teil mit unbehauenen Natursteinen verstärkt worden waren und an mehreren Stellen Öffnungen aufwiesen, die augenscheinlich nur in tiefste Finsternis führten. Die Decke verlor sich irgendwo hoch über Raphael Baldacci in der Dunkelheit. Wie immer, wenn ihm die Größe dieses Raumes gewahr wurde, fragte er sich, wie Örtlichkeiten diesen Ausmaßes hinter der von draußen so unscheinbaren Fassade Platz finden konnten. Daß der größte Teil der Gänge und Kavernen in die Berge ringsum hineingeschlagen worden waren und ihre steinernen Leiber wie künstliche Eingeweide durchzogen und aushöhlten, mochte ihm als plausible Erklärung kaum genügen. Dies war ein seltsamer Ort, und er würde es immer bleiben. Ein Menschenleben reichte nicht aus, all seine Geheimnisse zu ergründen … Du bist tot … tot … tot … Der Fels um ihn her wisperte noch mit kalter Geisterstimme die Echos der Worte, als könnte Baldacci sie nicht oft genug hören, um die Drohung darin auch wirklich zu verstehen. Der schmerzhafte Druck der Klinge war mit der Finsternis gewichen. Als hätte sich sein Gegner mit ihr zurückgezogen. Doch Baldacci wußte, daß dem nicht so war. Die Klinge, sie war ebenso nicht wirklich existent wie die Fäuste und Füße, die ihn traktiert hatten. Die Angriffe wurden von bloßer Geisteskraft getrieben und geführt. Und eben diese Kraft war das einzige Mittel, mit dem man sich ihrer erwehren konnte. Eine Kraft, die Raphael Baldacci nicht im ausreichenden Maße aufgebracht hatte. Und deshalb wäre er jetzt … … tot … tot … tot …, flüsterte der Fels noch immer. »Ich weiß«, flüsterte Baldacci, während der Blick seiner fast schwarzen Augen zum jenseitigen Ende des gewaltigen Raumes wanderte und die Gestalt traf, die dort stand – reglos, als wäre sie
selbst aus dem Fels herausgemeißelt. Nur an den Schläfen des Mannes war Bewegung auszumachen, wo Adern vor Konzentration fast fingerdick angeschwollen waren und auch jetzt noch, da der Kampf vorüber war, pulsierten. »Dies scheint nicht meine Art des Kampfes zu sein«, fuhr Raphael Baldacci fort und ging auf den anderen zu, der sich zusehends aus seinem tranceartigen Zustand löste. »Ein Gesandter muß viele Wege beschreiten. Und er muß auf jedem bestehen können«, erwiderte der Mann, der in ein schmuckloses, kuttenähnliches Gewand gekleidet war, auf dessen dunklem Stoff in Brusthöhe ein verschlungenes Symbol zu sehen war. »Vielleicht ist der mir bestimmte Weg nicht der eines Gesandten«, sagte Baldacci, und in seinen Worten schwang der Trotz des widerspenstigen Jungen, der er bis vor gar nicht allzu langer Zeit noch gewesen war. »Oh, doch, das ist er.« Im ersten Moment glaubte Raphael Baldacci, sein Lehrer hätte ›geredet‹, ohne die Lippen zu bewegen. Erst dann drang ihm das harte Klicken, das entstand, wenn Metall den Felsboden berührte, ins Bewußtsein, und er hätte sich weder umdrehen noch die Stimme erkennen müssen, um zu wissen, wer da gesprochen hatte. Das Klicken des Gehstocks war so etwas wie das Erkennungszeichen des Mannes, der seiner augenscheinlichen Unauffälligkeit zum Trotz vielleicht der Geheimnisvollste von allen war. Auf den Knauf seines Stocks gestützt stand er in einem der Zugänge zu diesem Raum und taxierte Raphael Baldacci. Amüsement über den Eigensinn des jungen Mannes und sorgenvolle Ernsthaftigkeit worüber auch immer hielten sich in seinen Zügen die Waage. »Aber …«, wandte Baldacci ein. Doch der andere stoppte ihn mit einem kaum merklichen Heben der Hand. »Du wirst diesen Weg gehen.«
»Ich …«, setzte Baldacci von neuem an. Diesmal wurde sein Einwand ohne jede Geste ignoriert. Der andere sprach einfach weiter: »Und dein Weg beginnt –« Er setzte eine winzige Pause, die ihre Wirkung jedoch nicht verfehlte. Jeder Laut schien sich aus dem Felsraum zu verflüchtigen. »– heute.« Sekundenlang herrschte vollkommene Stille. Raphael Baldaccis Lippen bewegten sich, ohne auch nur den geringsten Ton hervorzubringen. Und schließlich war es sein Lehrmeister, der das Schweigen brach. Mit einer Heftigkeit in der Stimme, die Baldacci nie in dem sich stets zurückhaltend und bedächtig äußernden Mann vermutet hätte. »Es ist zu früh, Salvat! Viel zu früh!« Der als Salvat Angesprochene wandte sich dem Kuttenträger zu. Jede Spur stiller Belustigung war aus seinem Gesicht verschwunden und hatte sorgenvollem Ernst Platz gemacht. Und Baldacci, der seit jeher Mühe gehabt hatte, Salvats Alter zu erraten, hätte seine Schätzung in diesem Augenblick ohne zu zögern in den oberen Bereich der Skala zwischen 40 und 60 verlegt. »Im Gegenteil, Adrien, mein Freund«, sagte Salvat leise, »es könnte leicht zu spät und alles verloren sein, wenn ich ihn jetzt nicht als Gesandten losschicke.« Adrien mäßigte die Lautstärke seines Tonfalls und sprach nun beinahe flehend, in jedem Fall aber eindringlich weiter: »Salvat, er ist noch nicht soweit. Wer weiß, was geschieht, wenn …« »Ich weiß, was geschieht, wenn wir ihn nicht auf seinen Weg bringen!« Jetzt war es Salvat, dessen Stimme bebte. Und niemand schien erschrockener über seine Unbeherrschtheit als er selbst. Er gewann zwar das unmittelbar folgende Ringen um Fassung, aber er war unübersehbar überrascht, daß es überhaupt notwendig war. Raphael allerdings schenkte diesem seltenen Erlebnis, Salvat die
Beherrschung verlieren zu sehen, kaum Aufmerksamkeit. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, wütend darüber zu sein, daß über ihn gesprochen wurde, als wäre er gar nicht da. Wie über ein kleines Kind, dessen Eltern diskutierten, um welche Zeit es zu Bett gehen sollte. »Warum fragt ihr mich nicht selbst, ob ich es will? Oder schert euch meine Meinung überhaupt nicht?« Natürlich tat sie das nicht. Baldacci wußte es, noch bevor er den Satz beendet hatte, und er wußte auch, daß sein Aufbegehren an einem Ort wie diesem und in der Gegenwart von Männer wie diesen bestenfalls lächerlich war. Wie er es nicht anders erwartet hatte, ging niemand auch nur mit einer Geste oder einem Blick auf seine Bemerkung ein. Adrien ließ resignierend die Schultern sinken, als wüßte er, ohne daß weiter darüber gesprochen worden wäre, plötzlich alles, was es zu wissen gab; und Salvat wandte sich auf dem Absatz um und glitt zurück in die Schwärze, die hinter der Öffnung in der Felswand lauerte. Über dem klick-klick-klick seines Stocks hörte Raphael seine Stimme. »Folge mir.« Der junge Mann tat, wie ihm geheißen ward. Denn Gehorsam war an diesem Ort seine oberste Pflicht. Und sein einziges Recht.
* Salem’s Lot, Maine Wieder war Jennifer Sebree sich vollkommen bewußt, daß sie träumte. Was nichts daran änderte, daß es real war, auf eine unfaßbare Weise, die zu begreifen der menschliche Verstand nicht geschaffen war.
Aber ein Traum konnte all diese Empfindungen einfach nicht beinhalten: Den Geruch nach brennendem, harzigen Holz. Die Hitze, die vom offenen Feuer heranwaberte und ihre Haut liebkoste. Das helle Knistern der Glut. Die weiche Felldecke, auf der ihr nackter Leib ruhte. Das Knarren im Gebälk, das vom Wind herrühren mußte, der draußen um das Gebäude heulte und den kleinen, rustikalen Raum zu einem Sanktuarium machte, zu einer Oase der Sinnlichkeit und Geborgenheit. Und auch er konnte keine Traumgeburt sein. Sie fühlte seine starken Hände, die über ihren Körper strichen. Seinen Atem, der nach Wildnis roch und den Schweiß auf ihrem Gesicht trocknete. Sie fühlte, wie sein Leib sich an den ihren schmiegte und Gefühle in ihr weckte, die alle Vernunft tilgten. Daß sie trotzdem keinen Moment daran zweifelte, dies alles nur in ihrer Phantasie zu erleben, lag vor allem an seinem Antlitz. Sein Körper war der eines großen, muskulösen Mannes, stark behaart an Brust, Armen und Beinen. Seine Hände waren die eines Liebhabers und Folterknechts zugleich; mal unendlich zärtlich, dann unvermittelt hart und fordernd. Jedoch sein Haupt … Jennifer stöhnte auf, als seine Rechte sich von ihrer Wange löste, nach unten glitt und ihre Beine auseinanderzwang. Er sprach kein Wort. Das hatte er nie, seit er zum erstenmal in ihren Träumen erschienen war. Jennifer war sich nicht einmal sicher, ob sein Mund überhaupt in der Lage war, menschliche Laute zu formen. Aber was sie in seinen Augen las, bedurfte keiner Worte. Seine Finger strichen über ihre Scham. Sie spreizte bereitwillig die Schenkel. Es war ein Traum. Was konnte ihr geschehen? Trotzdem schauderte sie, als sie fühlte, wie sein Geschlecht wuchs und dabei über ihre Haut glitt. Auch in dieser Beziehung war er kaum Mensch, so wie sein Kopf nicht der eines Mannes war, sondern … Mit einem Brüllen kam er über sie. Im erstem Augenblick versteifte Jennifer, als sie ihn in sich spürte,
und ein Hauch ungewisser Angst durchbrach das Traumgebilde und drang in Bereiche ihres Denkens vor, die sich die Realität bewahrt hatten. Aber dieser Moment verging rasch. Es blieben die pure Lust und das Begehren, alle Regeln abzustreifen und sich ihrem Liebhaber ganz und gar hinzugeben. Sein Atem flog. Fasziniert betrachtete sie seine Nüstern, die sich im Rhythmus der Stöße blähten. Schweiß tropfte von seinen behaarten Schultern und netzte ihre Brüste, deren Höfe sich dunkel verfärbt hatten. Mit der linken Hand stützte er sich ab, während die Rechte sich grob auf ihre Haut legte und die Tropfen verrieb. Jennifer stöhnte lustvoll auf, als er die empfindlichen Brustwarzen berührte. Ihr Becken hob sich vom Boden und drängte ihm noch weiter entgegen, obwohl sein Glied sie bis an die Grenzen des Schmerzes ausfüllte. Er beugte den Kopf zu ihr hinab. Sie öffnete den Mund, gewährte seiner Zunge Einlaß. Ihre Lippen trafen auf harte, verhornte Haut. Sie schloß die Augen und gab sich seinem wilden, unbarmherzigen Kuß hin. Daß sie plötzlich Blut schmeckte, konnte die Leidenschaft nicht mindern. Seine leicht vorstehenden Zähne hatten sie am Mundwinkel verletzt, doch er ließ seine breite, fleischige Zunge über die Wunde gleiten und leckte das Blut von ihrer Haut. Gemeinsam erreichten sie den Gipfel der Lust, in einer Intensität, die Jennifer im Wachzustand niemals erlebt hatte. Es war, als würde glühende Lava von ihren Hüften her aufsteigen und jeden Winkel ihres Körpers mit bebender Wollust erfüllen. Heiße Tränen ließen ihren Blick verschwimmen. Wie durch einen Wasserschleier sah sie, daß er sich erhob und seine Hose überstreifte. Es schmerzte, als er seine Hände von ihr nahm, als seine Haut sich von der ihren löste. Aber das war kein körperlicher Schmerz. Es ging viel, viel tiefer. Ein kühler Windhauch fuhr in den Raum, als er die Tür der Hütte öffnete und ins Freie trat. Für Sekunden zeichnete sich seine mächti-
ge Silhouette in dem strahlenden Geviert ab. Mit der Kälte drang heller Sonnenschein herein und ließ Jennifer blinzeln. Eigentlich hätte sie nun wohl frösteln müssen, doch die Hitze, mit der er ihren Leib angefüllt hatte, war machtvoller als jede andere Empfindung. Jennifer Sebree setzte sich auf und strich mit der flachen Hand über Brust und Schamhaar, dort, wo sie ihn am intensivsten gespürt hatte. Eine tiefe Sehnsucht kam über sie. Ein Sehnen, das nur er stillen konnte. Rasch stand sie auf und folgte ihm nach draußen. Er stand etwa zwanzig Schritt von der Hütte entfernt und wandte ihr den Rücken zu. Die Landschaft, auf die er blickte, war so wild und erhaben wie er selbst. In der Ferne ragten die Gipfel schneebedeckter Berge empor, und zu ihrem Fuße breiteten sich fruchtbare grüne Täler aus. Eine dunstig-gelbe Herbstsonne stand am Himmel und tauchte alles in ihr goldenes Licht. Der leichte Wind trug Gerüche von Laub und Erde und dem nahen Winter heran. Jennifer trat neben ihn und sah zu ihm auf. Er wandte nicht den Blick, schaute weiter hinüber zu dem mächtigen Bergmassiv. In Gedanken schien er weit, weit entfernt; nicht nur an einem anderen Ort, sondern … ja, in einer anderen Zeit. Jennifer schmiegte sich an ihn. Nur unterbewußt gewahrte sie, daß die Wunde in ihrem Mundwinkel noch immer blutete. Es war nicht wichtig. Nicht, solange sie bei ihm war … Erst als sie hochschrak, wurde ihr bewußt, daß sie beinahe eingeschlafen war, aufrecht an seiner Seite stehend. Einschlafen? Im Traum? Der Gedanke beschäftigte sie nur den Bruchteil einer Sekunde, so lange, bis ihr bewußt wurde, was sie hatte auffahren lassen. Er sprach!
Seine Stimme war kaum menschlich, unartikuliert und von dunkler Faszination. Es klang, als käme sie nicht aus seinem Mund, sondern aus den Tiefen seiner Kehle, ohne Stimmbänder zu benutzen. Doch was er sagte, ergab keinen Sinn. »Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.« Und auf seltsam unwirkliche Weise hatte Jennifer das Gefühl, als würde er gar nicht zu ihr sprechen …
* Das Erwachen kam abrupt. Jennifer fuhr in die Höhe, als würde sie aus einem Falltraum erwachen; einem dieser Nachmahre, in denen man den Schrecken erlebt, plötzlich ins Bodenlose zu fallen. Sie brauchte fast eine Minute, um überhaupt in die Wirklichkeit zurückzufinden – in die nüchterne Realität ihres Ateliers. Sie mußte während einer Arbeitspause auf der Couch eingenickt sein – aber sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, sich überhaupt hingelegt zu haben. Und dieser Traum … Es war nicht der erste hocherotische Traum gewesen, der Jennifer mit diesem so unheimlichen wie faszinierenden Mann (Wesen!) verband. Aber so intensiv, so real wie diesmal …? Sie erhob sich, ging ein paar Schritte, um die verspannten Muskeln zu lockern, und blieb vor der auf einen Holzrahmen gespannten Leinwand stehen, die ihre momentane Arbeit zeigte. Unwillkürlich schauderte sie, als sie die Szene aus ihrem Traum betrachtete. Unwillkürlich schlug das Bild sie in seinen Bann. Nie zuvor war Jennifer Sebree dermaßen fasziniert von einem ihrer eigenen Gemälde gewesen. Nie zuvor hatte sie mit größerem Eifer gemalt. Und nie perfekter.
Fast fotorealistisch war das Bild, und derart plastisch, daß man glauben konnte, hineingreifen zu können. Hätte sie es gekonnt, hätte Jennifer samtweiche Haut gefühlt. Ihre eigene. Denn sie selbst war die junge Frau, die da in der Rückenansicht auf der Leinwand zu sehen war. Nackt, das dunkle Haar zurückgestrichen und über den Rücken fließend, und um den Hals die Kette, die ihre Mutter immer so gern getragen hatte. Mit geschlossenen Augen lehnte ›Jennifer‹ sich an den halbbekleideten Mann, der sie um Haupteslänge überragen würde … … wenn er erst fertiggemalt war. Jennifer hielt inne, trat einen Schritt zurück und besah sich das unvollendete Werk. Es war beklemmend. Sie hatte sich noch nie selbst in ein Bild eingebracht. Und nun hatte sie es gleich als Akt getan. Was würden die Leute sagen, die das Gemälde sahen? »Es ist wunderschön. Ich möchte es kaufen.« Jennifer glaubte, eine frostige Hand würde ihr in die Brust greifen und sich um ihr Herz schließen. Eine Sekunde lang stand sie völlig starr, dann wirbelte sie herum. Und erschrak noch einmal. »Mister Barlow?« entfuhr es ihr. Der alte Mann lächelte. »Sie kennen mich?« Jennifer nickte verwirrt. »Natürlich. Wer kennt …?« Sie hielt inne und sagte dann nach einer kurzen Pause: »Verzeihen Sie, es ist … unhöflich von mir.« Das Lächeln blieb unverändert in Barlows Gesicht, wie im Gesicht eines Toten. »Nicht doch. Ich weiß, daß … mich jeder in Salem’s Lot kennt«, sagte er. »Obwohl ich mich nicht sehr oft sehen lasse. Nur wenn ich meine Besorgungen mache.« Er hob die Einkaufstüte, die er im Arm hielt, ein bißchen an, als wollte er Jennifer damit deutlich machen, was er meinte.
»Sie waren noch nie hier in meinem Geschäft, nicht wahr?« fragte Jennifer, nur um irgend etwas zu sagen. Sie fürchtete, ihr Unbehagen müßte ihr wie mit Leuchtfarbe auf die Stirn geschrieben sein. Sie kannte Barlow, der droben auf dem Hügel im alten Marstenhaus wohnte. Und sie kannte die Geschichten, die man sich über ihn erzählte. Die meisten davon waren blanker Unsinn; Geschichten, mit denen man allenfalls kleine Kinder erschrecken konnte. Und als kleines Kind hatte Jennifer sie auch gehört – und nie vergessen … Obwohl das Licht der Herbstsonne inzwischen durch das Schaufenster in ihr Atelier fiel und alles in warmgoldenen Schein tauchte, fröstelte die junge Malerin. »Nein, aber ich bin schon oft draußen vorbeigegangen und habe ihre Bilder bewundert«, antwortete der alte Mann, der wie zufällig außerhalb der Lichtfülle stand, die durch die große Scheibe in den Raum ergoß. »Heute morgen bin ich stehengeblieben, und ich beobachte Sie schon eine ganze Weile …« Die bloße Vorstellung ließ Jennifer schaudern. »… und mir gefällt dieses Bild außerordentlich gut.« Barlow wies mit dem Kinn zur Staffelei, an der Jennifer eben noch gearbeitet hatte. »Wie gesagt: Ich möchte es kaufen.« Der Gedanke, daß ein Aktgemälde von ihr selbst im Haus dieses Mannes hängen könnte, verursachte Jennifer Unwohlsein. Sie würde von ihm angestarrt werden, Tag und Nacht, und vielleicht würde sie es am eigenen Leibe spüren, weil sie womöglich immer daran denken würde … »Es ist unverkäuflich«, sagte sie schnell. »Oh«, erwiderte der alte Mann, »ich bitte Sie …« Er sah Jennifer tief in die Augen. Sehr tief. Tiefer als irgend jemand zuvor … Sie nickte. Steif und noch immer ein kleines bißchen gegen ihren Willen, aber sie nickte.
»Gut, Sie bekommen es«, sagte sie und wollte sich gerade über ihre eigenen Worte wundern, als alle Zweifel und Vorbehalte in ihr einfach vergingen. »Könnten Sie es mir liefern, wenn es fertig ist?« fragte der Alte. »Natürlich, gern.« »Fein«, erwiderte er, und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: »Sie wissen ja, wo ich wohne, nehme ich an?« Damit wandte er sich um und ging. Und Jennifer malte weiter. Mit noch größerem Eifer.
* Laß mich, fatale Vision! Du verwundest mich tief! Francesco Cilea: »L’Arlesiana« Der Eindruck von Finsternis wich nach wenigen Schritten, während der Raphael Baldacci sich am Geräusch des gegen den Fels tickenden Gehstocks orientiert hatte. Von irgendwoher kam trübe Helligkeit, die genügte, den Weg zu erkennen, und dann hatte er Salvat eingeholt, hielt sich jedoch respektvoll zwei Schritte hinter ihm. »Wohin gehen wir? Welche Aufgabe hast du für mich vorgesehen?« fragte der Jüngere, nachdem sie schon seit Minuten durch verwinkelte Gänge und leere Räume und Kammern gegangen waren. Salvats Schweigen war Antwort genug. Es bedeutete: Du wirst es erfahren, wenn ich die Zeit für gekommen halte. Trotzdem sie im weiteren nicht miteinander sprachen, war es nie völlig still um sie herum. Stimmen, die nur zu hören, nicht aber zu verstehen waren, erreichten sie aus allen möglichen Richtungen, und dazwischen mengten sich Geräusche, deren Ursprung zumindest Raphael in den allerwenigsten Fällen kannte.
Aber er wußte, daß er nicht der einzige ›Schüler‹ hier war. Er wußte auch, daß die meisten Prüfungen und Lektionen weit weniger harmlos waren als das, was sein Lehrmeister vorhin mit ihm praktiziert hatte. Und aufgrund dieses Wissens konnte er zumindest ein paar Quellen der Laute, die ihn erreichten, erahnen … Nach weiteren drei Minuten veränderte sich die Klangkulisse. Stimmen und Geräusche blieben hinter den beiden Männern zurück, und an deren Stelle wurde etwas laut, das Raphael beinahe zum Stehenbleiben veranlaßt hätte. Musik. Gesang. »Il lamento di Federico« … Baldacci kannte das Stück aus Francesco Cileas »L’Arlesiana«, mit der damals Enrico Caruso zum ersten großen Opernstar avanciert war. Und es schien ihm sogar Carusos Stimme zu sein, die hier »Die Klage des Federico« intonierte. So klar und deutlich und von so grandioser Akustik, als sänge der legendäre Tenor tatsächlich und leibhaftig in einer der nahegelegenen Kavernen … Raphael fand jedoch kaum Muße, sich an dem wundersamen Musikgenuß zu laben. Denn schon wenig später begriff er, daß der Gesang nur einem Zweck diente: Er sollte etwas anderes überlagern. Etwas auf furchtbarste Weise Kakophonisches. Schreie. Die schrecklichsten Schreie, die Raphael Baldacci je gehört hatte. Und er wagte sich nicht einmal vorzustellen, was einen Menschen zu solchem Brüllen veranlassen könnte. Denn daß es ein Mensch war, der da schrie, daran zweifelte er nicht. Er wünschte, er hätte es gekonnt. Vielleicht wäre das Gebrüll dadurch ein bißchen leichter zu ertragen gewesen … Mit jedem Schritt, den sie weitergingen, wurde Carusos Gesang
leiser – oder auch nur von den Schreien erstickt. »Hast du je etwas vom ›Träumer‹ gehört?« Salvats Frage kam so unvermittelt, daß Baldacci zusammenzuckte. Dann nickte er. »Ja«, sagte er und fuhr fort: »Wie man erzählt, soll er eine Art Medium sein, das auf ungewöhnliche Schwingungen des Machtnetzes reagiert.« Raphael Baldacci war noch nicht sehr lange, aber immerhin lange genug an diesem Ort, um zumindest von einigen Mysterien, die hier gehütet wurden, gehört zu haben. Wenn er es recht bedachte, war er ja selbst eines davon … Salvat nickte. »Ja, so ist es. Doch der Träumer kann noch ein bißchen mehr. Er empfängt Hinweise, bisweilen sogar Bilder, wenn etwas die Strukturen der Macht durcheinanderbringt.« Er verstummte kurz und fügte dann lächelnd und mit einer vagen Kopfbewegung, die den Gesang hinter ihnen meinte, hinzu: »Sein wahrer Name ist übrigens Federico.« »Il lamento di Federico« … Baldacci erschauerte unwillkürlich, als ihm der zynische Zusammenhang bewußt wurde: Hinter ihnen besang Enrico Caruso stimmgewaltig die ›Klage des Federico‹ – nur um die wahre Klage des echten Federico zu übertönen! Denn er, den sie den ›Träumer‹ nannten, war es, der sich ein Stück entfernt fürchterlichstes Leid aus dem Leibe brüllte … »Und genau das ist geschehen?« kam Raphael auf den Kern ihrer Unterhaltung zurück; zum einen aus echtem Interesse, zum anderen jedoch, um sich wenigstens ein bißchen von den Schreien abzulenken. »Die Strukturen der Macht sind durcheinandergeraten?« »Wir wissen es nicht mit Bestimmtheit«, antwortete Salvat und bog in einen schmaleren Seitengang ab. »Aber es scheinen Dinge in Gang geraten zu sein, die dem Wort ›weltbewegend‹ eine neue Bedeutung geben könnten.«
»Und diese Dinge gilt es zu verhindern?« »Das ist eine Entscheidung, die erst zu fällen ist, wenn wir diese Dinge wirklich kennen. Und wir können mehr darüber erfahren, wenn wir den Spuren und Hinweisen folgen, die uns der Träumer geben kann.« Salvat blieb vor einer niedrigen Öffnung in der Felswand stehen und wies mit einladender Geste darauf. »Darf ich vorstellen? Der Träumer.« Raphael trat vor, sah in den hinter dem Loch liegenden Raum – und erstarrte. Weil das Geschrei geradezu ohrenbetäubende Qualität erlangte. Und weil der Anblick schlichtweg entsetzlich war. In der Mitte der Felskammer befand sich ein fast runder Steinblock mit ebener Oberfläche. Und darauf krümmte und wand sich wie in Krämpfen – der Träumer. Eine dürre Gestalt, die aus kaum mehr als Haut und Knochen zu bestehen schien. Unweigerlich fragte Raphael sich, aus welchen verborgenen Winkeln seines ausgemergelten Körpers dieser Federico noch die Kraft nahm, in dieser Lautstärke zu schreien. Er wollte es nicht, und doch gab es nichts, was er dagegen hätte tun können: Schritt um Schritt trat Baldacci näher an den altarähnlichen Block heran, und es hätte nicht einmal Salvats Hand bedurft, die er im Rücken spürte und die ihn mit sanftem Druck vorschob. Wie von selbst bewegten sich seine Beine, bis er neben der Liegestatt des Träumers stand und auf ihn hinabsehen konnte. Federicos Haut war weiß; nicht nur bleich, sondern weiß wie frisch gefallener Schnee. Und als Raphael sie ohne sein bewußtes Zutun vorsichtig berührte, spürte er, daß sie rauh und spröde und hart wie Ton war. Die Augen des Träumers lagen so tief in den Höhlen, daß nur Schwärze sie zu füllen schien. Und doch, obwohl dieser Mann einem Toten ähnelte, ging eine geradezu elektrisierende Vitalität von ihm aus, von der Baldacci fast glaubte, sie würde die Luft im
Raum knistern lassen. »Warum lebt er noch?« fragte Raphael mit belegter Stimme. »Wie ist es möglich …« »Er lebt, solange er träumt. Und er träumt, solange er lebt«, erwiderte Salvat. Die dunklen, scheinbar leeren Augenhöhlen richteten sich auf Baldacci, und obwohl er meinte, daß sie blind sein müßten, spürte er sich von Blicken regelrecht berührt und abgetastet. »Was soll nun geschehen?« wollte er wissen. Selbst seine Stimme schien zu frösteln. »Du bist der letzte Gesandte, den wir ausschicken, um die letzte der Fährten aufzunehmen.« »Warum ich?« wandte Raphael von neuem ein. »Adrien sagte, ich wäre noch nicht soweit, und ich …« »Es gab so viele Hinweise und Spuren, denen wir nachgehen mußten, daß alle Gesandten schon auf dem Weg sind. Du bist der einzige, der weit genug fortgeschritten ist, daß ich es zu wagen bereit bin, dich auszusenden«, erklärte Salvat, und ein Funke der Zuversicht in seinen Worten sprang auf Baldacci über. Er fühlte mit einemmal etwas in sich; etwas, das Kräfte weckte, die seit jeher in ihm gewesen waren, doch bislang brachgelegen hatten. Er hatte sie eigentlich langsam und Stück für Stück mobilisieren sollen, um nach und nach zu lernen, sie zu beherrschen. Doch jetzt standen sie unmittelbar davor, vollends und auf einmal zu erwachen. »Wie erfahre ich, was zu tun ist? Wie finde ich meinen Weg?« fragte er, nicht länger zaudernd, sondern entschlossen. »Lies in ihm.« Salvat wies mit einer fast beiläufigen Geste auf den Träumer, und Raphael Baldacci schauderte, als er begriff, was der andere ihm hieß. Er sollte eintauchen, eins werden mit dem Geist dieses menschlichen Wracks, in dem doch nichts anderes sein konnte als – Wahn-
sinn … Ein im Irrsinn tobender Dämon, der jeden angreifen würde wie ein tollwütiger Hund, wenn er sich ihm näherte. Und er, Raphael Baldacci, sollte sich ihm stellen, ohne daß er auch nur annähernd Vergleichbares je zuvor versucht hätte … Salvat entging sein Zögern nicht. »Tu es«, forderte er ihn auf. »Dies ist der Moment, da sich weisen wird, ob meine Hoffnung in dich berechtigt ist.« Und wenn nicht? Raphael stellte die Frage nicht laut. Weil er die Antwort fürchtete. Die Antwort, die ihm nur seine Vermutung bestätigen würde, daß Salvat ein Menschenleben wenig galt, wenn es nur der Sache diente. Er streckte die Hände vor, verharrte noch eine Sekunde dicht über dem Gesicht des Träumers – und dann setzte er seine Finger in jenem Griff an, den Adrien ihn gelehrt hatte. Eigentlich war dabei vorgesehen, daß die Mittelfinger die geschlossenen Lider des anderen berührten. Doch hier – versanken sie ein kleines Stück in der Schwärze der Augenhöhlen und stießen selbst dann noch nicht auf Widerstand! Nur auf Kälte … Raphael gebot dem neuerlichen Schauer, der ihm über den Rücken kriechen wollte, mit eisernem Willen Einhalt. Er spürte, daß seine Adern nicht länger nur Blut transportierten, daß etwas unglaublich Mächtiges diese Bahnen nutzte. Und dann galt all seine Konzentration nur noch dem Fluß der Kraft, dem Bewegen von unsichtbaren Dingen, die in und aus ihm wuchsen, die zunächst ungezielt um sich tasteten und die er kraft seiner Gedanken schließlich auf einen Punkt zuzwang. Auf einen Punkt im Geist des Träumers – der den Wahnsinn schärfer bewachte, als Raphael es für möglich gehalten hätte. Die ›Gliedmaßen‹ seines eigenen Geistes fochten Kämpfe mit dem Fremden, die jede Beschreibung verharmlosen mußte, weil es die wahren Worte dafür nicht gab. Raphael ließ sie Hindernisse niederringen, deren bloße Abartigkeit allein schon genügen konnte, fremden Willen auf ewig zu brechen.
Federicos wahnverseuchter Geist gebar Monstren, die sich dem Eindringenden entgegenwarfen, und Raphael schlug wahre Schlachten, zu gleicher Zeit an vielen Fronten. Und dann, nach einer Ewigkeit, brach er durch zu seinem Ziel … Schließlich sah Raphael Baldacci wieder mit eigenen Augen. Die Felskammer drehte sich um ihn, oben und unten verkehrten sich ins Gegenteil, der Boden schlug Wellen, und Raphael ließ sich fallen. Nach einer Weile tauchte ein Gesicht über ihm auf, und nach weiteren endlosen Sekunden hörte es endlich auf, seine Größe fortwährend zu verändern. »Und?« fragte Salvat. Baldacci atmete tief durch, ehe er antwortete: »Ich kenne jetzt meinen Weg.« Salvat nickte freudlos lächelnd. »Dann geh hin …« Er sah dem jungen Mann fest in die Augen, und sein Lächeln glitt eine Spur ins Zufriedene. »… Gesandter.« Und Raphael Baldacci machte sich auf den Weg. Auf seinen Weg.
* Salem’s Lot »Geht es dir besser, mein kleiner Freund?« Die Stimme erreichte Lilith wie aus großer Entfernung, obwohl sie auf einer anderen Ebene ihres Denkens spürte, daß sie ganz nah war. Der Klang der Worte übte etwas wie eine magnetische Anziehung auf ihr Bewußtsein aus. Es tauchte, unendlich langsam und unter neuen Schmerzen, aus dem Loch auf, in das es versunken war, und dieser imaginäre Kraftakt zehrte weiter an ihren fast schon aufge-
brauchten Reserven. Etwas Großes, Bleiches hing über ihr wie ein Ballon, und ein dunkler Halbmond schwebte darin, darüber zwei nachtschwarze Sterne. Liliths Sinne brauchten eine ganze Weile, bis sie das Etwas als Gesicht erkennbar werden ließen. Das Gesicht eines alten Mannes, der lächelnd auf sie herabsah und sie mit seinem Blick wärmte. Doch dieses bißchen Wärme war lange nicht genug, um sie wirklich zu kräftigen. Kräftigen konnte Lilith nur eines: Das dunkle Elixier, das nie unerreichbarer gewesen war als jetzt und an dem sie sich vielleicht nie wieder würde laben können. Sie fühlte eine zärtliche Berührung an der Brust, in der sie immer noch den glühenden Dorn zu spüren meinte. Der alte Mann hatte seinen Arm heruntergestreckt und streichelte sanft ihren Pelz. Plötzlich stockte er. »Was hast du denn hier?« fragte er und stieß mit dem Finger gegen einen breiten schwarzen Ring, den sie um den pelzigen Hals trug: Der Symbiont, der sich wie stets während ihrer Metamorphose auf sein kleinstes Volumen reduziert hatte, um ihren Flug nicht zu beeinflussen. Früher, vor den Geschehnissen im Garten Eden, hätte sie ihm befehlen können, ihr beizustehen. Doch das Symbiontenstück, das ihr geblieben war, war zu nichts anderem mehr zu gebrauchen denn als gestaltwandlerisches Kleidungsstück. Der Finger tippte noch einmal gegen den ›Ring‹. »Wer hat dir denn dieses Ding angelegt?« fragte der Alte kopfschüttelnd. »Ich habe noch nie gehört, daß sich jemand eine Fledermaus als Haustier gehalten hätte.« Er schien sich aber nicht weiter mit dieser Frage befassen zu wollen, denn sein Finger zog sich zurück, und er richtete sich auf. »Bist du hungrig?« vernahm sie wieder seine Stimme, und auch
diese Wahrnehmung war ganz anders als gewohntes Hören mit menschlichen Ohren … »Du mußt hungrig sein«, fuhr der alte Mann fort. »Warte, ich mache uns Frühstück, ja?« Sein Gesicht verschwand aus Liliths Blickfeld. Sie hörte seine leiser werdenden Schritte, die schließlich ganz verstummten. Nach einer Weile, deren Länge sie nicht zu schätzen imstande war, die jedoch lange genug andauerte, um ihr Bewußtsein fast wieder einzuschläfern, kam er zurück. Er lächelte. »So, ich habe dir etwas mitgebracht. Aber laß erst mich einen Happen zu mir nehmen.« Er hob die rechte Hand. Lilith sah, daß er etwas darin hielt. Etwas Dunkles. Etwas Zappelndes … Eine – Ratte? Ja, es war eine Ratte. Sie versuchte sich aus dem Griff des alten Mannes zu winden. Und sie quiekte, als er seine Zähne in ihren pelzigen Leib schlug!
* Nebraska, USA Provincial Highway 2 »Ah, Mister Pray! Gut geschlafen?« Moses Pray knurrte etwas, das unverständlich auf halbem Wege zwischen einem Morgengruß und einer Drohung hängenblieb, während er Kreditkarte und Zimmerschlüssel gleichzeitig über den altersschwachen Tresen des Motelbüros schob. »Sie wundern sich vielleicht, daß ich Ihren Namen weiß«, fuhr der junge Bursche hinter dem Tresen fort und begann gleichzeitig damit, den Rechnungsvordruck auszufüllen, »aber damit verbringe ich
die Nächte hier, wissen Sie? Ich lerne das Gästebuch auswendig. Ich weiß genau, wer in welchem Zimmer übernachtet. Ich könnte Ihnen die Gäste der vergangenen drei Wochen aufzählen, wenn Sie möchten!« »Wovor der Allmächtige mich bewahren möge«, grunzte Pray. Dabei versuchte er sich mit den Fingern die Spuren dieser fürchterlichen Nacht aus dem Gesicht zu massieren. »Oh, Mister Pray, es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen … aber Sie sehen verdammt nicht so aus, als hätten Sie gut geschlafen. Lag es am Zimmer? Am Bett? Sagen Sie es ruhig. Es ist mein Job, alles abzustellen, was den Gästen in Kate’s Motel nicht zusagen könnte.« Dann stell dich endlich selbst ab, du Schwätzer, dachte Moses Pray, ohne es jedoch auszusprechen. Statt dessen sagte er: »Ja … nein … ich weiß es nicht.« »Schlecht geträumt?« hakte der junge Portier nach. Die Rechnung schien er in seiner Sorge um Prays Wohlbefinden völlig vergessen zu haben. Inzwischen kaute er nachdenklich an seinem Stift, während er sein Gegenüber mit fast schon wissenschaftlichem Interesse musterte. »Möglicherweise, ja«, seufzte Moses Pray und zeigte auf das Quittungsformular. »Wenn Sie vielleicht so nett wären …« »Oh! Ja, natürlich. Entschuldigen Sie, Mister Pray«, sagte der Junge erschrocken und schrieb weiter. Jedoch nur, um gleich wieder innezuhalten. »Darf ich fragen, in welcher Profession Sie unterwegs sind, Mister Pray?« »Ich verkaufe Bibeln«, erwiderte er. »Kansas Bible Company. Bibeln für Ihre Lieben.« Und damit zog er mit geübter Geste eine Visitenkarte aus der Innentasche seines Jacketts und legte sie auf den Tresen. Der Junge nahm das Kärtchen und las es aufmerksam.
»Bibeln …«, murmelte er. »Das ist … großartig.« »Haben Sie denn keine?« fragte Pray. »Was?« »Eine Bibel.« »Äh … ich weiß nicht …« »Gottes gedrucktes Wort sollte in keinem Haushalt fehlen«, meinte Moses Pray, und wie hingezaubert hielt er plötzlich ein Bestellformular mit zwei angehefteten Durchschlägen in der Hand. »Sie sollten eine haben«, fuhr er dann fort, während er auch schon den Stift über das Papier wirbeln ließ. »Wie war gleich Ihr Name.?« »Äh, Mickey … also Michael … aber …« »Ah ja, Michael G. Wolf«, las Pray den vollständigen Namen von einem Schildchen auf dem Tresen ab. »Ihr Name wird in goldenen Lettern auf die erste Seite Ihrer ganz persönlichen Bibel gedruckt. Und dazu einen Vers? Kostet kaum extra. Ich such’ Ihnen einen hübschen aus, ja?« »Kaum extra …?« »Fast nichts«, meinte Pray beruhigend. »Sie müssen nur noch hier unterschrieben.« Es fehlte nicht viel, und er hätte dem völlig verdatterten Jungen die Hand zur Unterschrift geführt. »Wenn wir schon dabei sind, Mister Wolf … Oder darf ich Sie Mickey nennen? Gut, Mickey, also: Eine Bibel ist auch ein sehr hübsches Geschenk und von immer bleibendem Wert. Wie heißt Ihre Frau Mutter?« »Meine Mutter? Äh … oh, verzeihen Sie, Mister Pray, Sie warten auf Ihre Rechnung.« Plötzlich hatte Mickey es sehr eilig, den Vordruck auszufüllen. Dieser Moses Pray brachte es noch fertig, ihm Bibeln für die Hälfte der Bevölkerung Nebraskas anzudrehen! Hastig legte er die Rechnung und Prays Kreditkarte in das kleine Tischgerät, und mit der gleichen Eile geleitete er den Gast dann zur
Tür. Pray saß noch nicht in seinem Ford Kombi, dessen Ladefläche mit Kisten voller Bibeln beladen war, als er aus dem Motel einen Schrei hörte. »Siebzig Dollar? Siebzig Dollar?« Pray stieg ein und grinste. »Junge, goldene Lettern haben nun mal ihren Preis.« Dann fuhr er los und lenkte den Ford hinaus auf den Provincial Highway 2 in Richtung Westen. Das kleine Geschäft mit Mickey hatte ihn für ein paar Minuten vergessen lassen, daß er sich eigentlich hundeelend fühlte. Und das nicht erst seit heute morgen, sondern schon seit Tagen. Und es schien ihm weniger ein physisches als vielmehr ein psychisches Problem zu sein. So, als würde nachts jemand seine Sorgen auf Moses Pray übertragen, der sich dann anderntags damit herumplagen mußte. Er kurbelte das Seitenfenster herunter, in der Hoffnung, daß der Fahrtwind ihn ein bißchen erfrischen würde. Aber was da schwer und dunkel auf seiner Seele lastete und von dem Pray nicht einmal wußte, was es war, das konnte der Wind nicht davontragen. Meile um Meile fraß sich der betagte Ford den kaum frequentierten Highway entlang. Die Hauptlast des Verkehrs trug der südlicher durch Nebraska führende Interstate Highway 80. Diese Straße hier führte im Grunde nur ins Nirgendwo, und dorthin zog es nur die allerwenigsten. Links und rechts des Asphaltbandes lagen allerdings, wenn auch weit voneinander entfernt, ein paar kleine Ortschaften, die Moses Pray für sein Geschäft für geeignet hielt. Hinterwäldler, die sich bestimmt leicht beschwatzen ließen. Mit Mickey Wolf, dem Jungen aus dem Motel, hatte er die Generalprobe ja schon durchgezogen. Und wenn diese Leute einem Mann namens Moses Pray keine Bibel abkauften, wem dann?
Wieder tröstete ihn sein eigenes Grinsen ein wenig über seine schlechte Verfassung hinweg, während er durch die Windschutzscheibe Ausschau nach Anzeichen eines Dorfes oder Städtchens hielt … Wer es auch gewesen sein mochte, der einst den Begriff ›gottverlassen‹ geprägt hatte – er mußte dabei genau diesen Landstrich vor Augen gehabt haben. Nahezu eben wie ein Brett erstreckte er sich von Horizont zu Horizont, in optischer Endlosigkeit, und es war schwer vorstellbar, daß sich jenseits der imaginären Grenzlinie zwischen Himmel und Erde diese Einförmigkeit auch nur um einen Deut ändern mochte. Kein Strauch, kein Baum setzte einen grünen Tupfer in das Muster aus allen möglichen Gelb- und Brauntönen … Unbewußt wechselte Prays Fuß zur Bremse. Der Ford wurde langsamer. Was war das? Diese Gedanken … sie kamen ihm … vertraut vor. Gerade so, als hätte er sie schon einmal gedacht. Unwirsch schüttelte Pray den Kopf. Gut möglich, daß sie ihm schon einmal durch den Kopf gegangen waren. Gestern vielleicht, als er nach Nebraska gekommen war. Die Landschaft entlang der Strecke zu Kate’s Motel hatte sich kaum von der, durch die er jetzt fuhr, unterschieden. Und langweilig wie sie war, hatte er sie womöglich für sich mit genau den gleichen Worten beschrieben. Er ließ den Ford wieder schneller werden und suchte im Radio nach einem Sender, um sich mit Musik abzulenken. Denn völlig ließ ihn das eben erlebte Déjà-vu doch nicht los … Mehr als statisches Rauschen, unterbrochen von Fragmenten völlig verschiedener Songs, bekam er jedoch nicht herein, und so schaltete er das Radio aus, um sich statt dessen der Karte zuzuwenden. Er breitete sie, so gut es ging, auf dem Beifahrersitz aus und suchte nach der Ortschaft, die er als nächstes erreichen mußte. »Whitman«, murmelte er schließlich, nachdem er der rosafarbenen Linie auf der Karte mit dem Finger gefolgt war. Er schätzte, wie vie-
le Meilen er inzwischen etwa gefahren sein mochte, und kam zu dem Ergebnis, daß jenes Städtchen namens Whitman eigentlich bald vor ihm auftauchen mußte. Und tatsächlich – am Horizont zeichneten sich kantige Buckel, die Pray sofort als die Dächer von Häusern identifizierte, gegen den morgenblauen Himmel ab … Die Ansiedlung dort vorne bestand aus allenfalls vier Handvoll Häusern, und sie lag nicht unmittelbar am Highway. Eine staubige Piste zweigte davon ab und führte zu dem Dorf hin. Pray lenkte den Ford in die Einmündung, an der kein Schild oder sonstiger Hinweis auf die Ortschaft zu entdecken war. Ein solches sah Pray erst, als er das Städtchen, das diese Bezeichnung nicht wirklich verdiente, fast schon erreicht hatte. Auf eine aus unterschiedlich langen Brettern zusammengenagelte Tafel, die schief an einem mannshohen Pfosten neben der Straße hing, hatte jemand den Ortsnamen gepinselt – der Leserlichkeit nach zu urteilen vor 100 oder 150 Jahren: DEADHORSE Darunter hatte irgendwann einmal die Einwohnerzahl gestanden. Doch dieser Hinweis war im Laufe der Zeit so oft durchgestrichen und auf den aktuellen Stand gebracht worden, daß inzwischen keine einzige der Zahlen mehr zu entziffern war. Moses Pray erwachte wie aus einem tiefen Traum. Traum …? Vielleicht … Er las noch einmal den Ortsnamen. Deadhorse? Hatte er denn nicht nach Whitman gewollt? Er konnte sich kaum daran erinnern, hierher gefahren zu sein, und doch war da auf einer anderen Ebene seines Denkens wieder jenes merkwürdige Gefühl von Vertrautheit. Etwas wie das Echo einer Erinnerung …
Aber diesmal mengte sich noch etwas anderes in diese Empfindung. Unbehagen. Ein bißchen mehr sogar. Fast schon … Angst? Zumindest Furcht war es, was er da in sich spürte – in sich wachsen spürte. Und sie nährte sich nicht allein von dem Schrecken, der ihn wegen des gerade erst Erlebten befallen hatte. Sie fand Nahrung in längst Vergangenem und fast schon vergessenen Erinnerungen. Erinnerungen an Erlebnisse, die diesem hier auf seltsame Weise ähnelten. Moses Pray entsann sich, daß er solche Momente, in denen ihm war, als hätte er all das schon einmal mitgemacht und durchlebt, kannte. Manchmal hatte es sich dabei um Banales gehandelt, einige Male aber auch um schlimme Dinge. Damals zum Beispiel, als die Polizei bei ihm geklingelt hatte … da hatte er die Tür aufgemacht und schon vorher gewußt, was ihm die Cops sagen würden. Daß Eve, seine Eve, einem grauenhaften Verbrechen zum Opfer gefallen war … Es war mehr als nur eine Ahnung gewesen; er hatte die Szene, die ganze furchtbare, alptraumhafte Szene schon gekannt, weil er sie genau so schon – geträumt hatte? Vielleicht … Gab es denn eine andere Erklärung? Moses Pray fiel zumindest keine ein. Und ebensowenig konnte er sich eine ganze Reihe zwar nicht annähernd so schrecklicher, aber doch sehr ähnlicher Erlebnisse erklären. Erlebnisse wie jenes, in dem er gerade mittendrin steckte … Pray nahm etwas Gas weg und ließ den Wagen fast im Schrittempo an den ersten Häusern vorüberrollen. Und ohne daß er sich wirklich in Deadhorse umgesehen hatte, drängte sich ihm ein Gedanke auf, und fast gleichzeitig kam er ihm über die Lippen.
»Eine Geisterstadt …« Als wäre der Klang seiner eigenen Stimme der Auslöser, spürte Moses Pray, wie sich ihm die Haut im Nacken zusammenzog und dann am ganzen Körper spannte, als wäre sie ihm um mindestens zwei Nummern zu klein geworden. Der tatsächliche Grund dafür mochte allerdings sein, was sein Unterbewußtsein längst registriert hatte und was ihm erst jetzt wirklich auffiel. Da war zum einen die Tatsache, daß, so weit er sehen konnte, keine Menschenseele zu entdecken war. Das konnte man als Zufälligkeit abtun, wenn man die Augen vor allen anderen Auffälligkeiten verschloß. Vor der beispielsweise, daß auch kein Fahrzeug zu sehen war. Oder der, daß sämtliche Fenster ringsum aussahen wie mit Staub regelrecht beklebt. Die Häuser, sie erinnerten in Bauart und Anordnung an eine alte Westernstadt und machten auf Pray allesamt einen unbewohnten Eindruck, ohne daß er zu sagen wußte, woher dieser Eindruck rührte. Kleinigkeiten mochten ihn erwecken – hier eine zersprungene Fensterscheibe, dort eine krumm in den Angeln hängende Tür … Aber auch der gewitterdunkle Himmel trug sein Scherflein zu der unheimlichen Atmosphäre bei. Gierig schien er alles Licht aufzusaugen, um düsteren Schatten Raum zu schaffen, die Deadhorse einnahmen wie eine körperlose Armee. Sie bezogen Posten hinter Ecken und unter Vordächern und starrten zu Moses Pray herüber – aus Augen, die sie nicht haben konnten, deren Blicke er aber aller Vernunft zum Trotz wie die Berührung eisiger Finger auf seiner Haut spürte. Auf halber Strecke zum Ortsende stoppte Pray den Ford Kombi mitten auf der Main Street … Wieder war da dieses erinnerungsähnliche Empfinden, doch inzwischen erschreckte es Moses Pray nicht mehr. Er stellte nur fest, daß sich diese Erfahrung von all den früheren ein bißchen unterschied. Darin nämlich, daß er nicht wußte, was als nächstes geschehen würde. Die Pseudo-Erinnerung reichte in diesem Fall nur immer bis zu genau dem Punkt, an dem er gerade anlangte. Er verließ den Wagen, und nach Sekunden, in denen er nur da-
stand, merkte er, daß die ›Geschichte‹ plötzlich in eine andere Richtung lief. Er wußte nicht, woher dieser Eindruck rührte. Er war einfach da. Und er wußte auch nicht, weshalb er sich gerade jetzt gedankenverloren den Hals rieb, als versuchte er, gegen den Juckreiz eines Moskitobisses anzugehen … Ziellos entfernte sich Moses Pray ein paar Schritte von seinem Fahrzeug. Das Wissen darum, was beim ›letzten Mal‹ an dieser Stelle des Ereignisses geschehen war, befand sich zweifelsfrei in seinem Gedächtnis. Aber er konnte es nicht nutzen. Weil es verschlossen war, wie in einer Kassette, deren Schlüssel er verloren hatte. Was war hier, an diesem Punkt, passiert? Und vielmehr beschäftigte ihn die Frage: Wollte er überhaupt, daß es sich wiederholte? »Nein.« Die Antwort auf seine unausgesprochene Frage rutschte ihm förmlich heraus. Möglicherweise hatte sein Unterbewußtsein sie ihm über die Lippen gedrängt, als wollte es ihn … warnen? Warnen wovor? Noch länger hierzubleiben? Sich gründlicher umzusehen? Nun, wenn es sich um eine Warnung handelte, dann scherte Moses Pray sich nicht darum. Er blieb noch in Deadhorse. Und er sah sich um. Mit der Überlegung, welches der umliegenden Häuser er betreten sollte, hielt er sich nicht lange auf. Er schritt kurzerhand auf das nächstgelegene zu und stieg die drei Stufen zur Veranda hinauf. Das morsche Holz ächzte unter seinem Gewicht. Und dieses Ächzen … … öffnete für einen winzigen Moment jenes Kästchen, in dem das Wissen um jene ›andere Version‹ dieser Geschichte lag. Viel zu kurz allerdings, als daß Pray etwas davon hätte erkennen können. Und einen Lidschlag später interessierte es ihn schon nicht mehr wirk-
lich. Sein Interesse galt vielmehr dem Haus, das sich von seinem Zustand her kaum von den umliegenden unterschied. Es war uralt, es war schäbig, und es sah trostlos aus. Und doch – irgend etwas war da, unsichtbar und unfaßbar, das Moses Pray verriet, daß etwas in Deadhorse lebte … … oder bis vor kurzem gelebt hatte? Er versuchte zu ergründen, woher dieser Eindruck kam, ließ den Blick schweifen. Lag es daran, daß die Gebäude links und rechts der Straße auf schwer zu beschreibende Weise eben doch nicht aussahen, als wären sie seit Jahrzehnten sich selbst überlassen und dem Verfall preisgegeben? Sondern vielmehr so, als hätte jemand sie in all den Jahren vor dem völligen Einsturz bewahrt? Vorsichtig, weil er fürchtete, die Bretter der Veranda könnten durchbrechen, ging Moses Pray auf die Tür zu, drückte die rostige Klinke nieder und öffnete sie. Jenseits der Schwelle herrschte graues Zwielicht, weil die Sonnenstrahlen es kaum schafften, die Schmutzschicht auf den Fensterscheiben zu durchdringen. In den trüben Lanzen, die sich trotzdem einen Weg hindurch bahnten, tanzten Staubpartikel wie glimmende Käferchen. Staub lag auch über der Einrichtung, die Pray vermuten ließ, eine Wohnküche zu betreten. Aber – die Staubschicht war nicht so dick, wie sie es hätte sein müssen, wenn das Haus wirklich seit langer Zeit verlassen gewesen wäre. Es wirkte trotz des heruntergekommenen Zustandes – bewohnt? Moses Pray machte einen weiteren Schritt in den Raum hinein. Es hätte ihn nicht allzu sehr gewundert, wenn er einen gedeckten Tisch vorgefunden hätte, auf dem es noch aus einer Suppenterrine dampfte. Aber so augenfällig waren die Hinweise denn doch nicht. Und doch gab es sie. Einen zumindest. Einen, der Moses Pray regelrecht entsetzte!
Eine Hand, die aus dem toten Winkel hinter der Tür vorschnellte und sich auf seine Schulter legte! Pray wirbelte wie von selbst herum. Und vielleicht war es die Heftigkeit dieser Bewegung. Vielleicht hatte aber auch schon der Druck genügt, mit dem die Finger sich um seine Schulter schlossen … … auf jeden Fall wurde die Hand in genau diesem Moment – zu Staub. Pray blieb kaum mehr als eine Sekunde, um den Anblick der dazugehörenden Gestalt aufzunehmen, die ihm hinter der Tür aufgelauert hatte. Sie schien ihm auf abstoßende Weise verkrüppelt, kaum mehr menschlich in ihrer Form, und er wunderte sich, daß ihm der bestialische Gestank nicht schon beim Betreten des Hauses aufgefallen war. Die Haut des anderen war trocken, rissig und rauh, erinnerte an hartgebackenen Sand – und sie zerbröselte, als sich der Auflösungsprozeß der Hand über den Arm hin fortsetzte. Schließlich sank die ganze Gestalt in sich zusammen. Nur die Kleidung blieb unversehrt und lag im Staub, zu dem das schauderhafte Wesen geworden war, wie achtlos hingeworfen. Erst jetzt wurde Moses Pray auf die anderen Kleiderbündel aufmerksam, die im Raum verteilt lagen und über die sich ebenfalls flockiges Grau gebreitet hatte. Vier davon zählte er nach einem kurzen Rundblick. Doch mehr noch beschäftigte ihn die Gestalt, die eben nach ihm gegriffen hatte. Ihr Anblick rührte an etwas, das – ebenfalls wie von Staub bedeckt – am Grund seines Gedächtnisses lag. Etwas, das sich zu regen begann, als hätte es nur auf den entscheidenden Impuls gewartet … … und das übergangslos wieder erstarrte, als Moses Pray von neuem zusammenzuckte! »Das war der letzte.«
* Salem’s Lot Blut spritzte aus dem zuckenden Leib der Ratte, bis die Lippen des alten Mannes die Bißwunde völlig umschlossen. Lilith hörte ihn schlürfen, und sie sah, daß seine Finger sich fester um den dunklen Körper schlossen, als wollten sie ihn förmlich auspressen. Sie wußte nicht, wieviel Blut in den Adern einer Ratte war, aber es konnte nicht sehr viel sein. Nach weniger als einer Minute ließ der alte Mann das tote Tier los und warf es fast beiläufig zur Seite. Mit dem Ärmel seiner Jacke wischte er sich die dunkelroten Spuren von Kinn und Lippen, mit der Zunge fuhr er sich beinahe genießerisch über die vorstehenden Eckzähne. »Man lernt Bescheidenheit, wenn man ein Leben der anderen Art gewählt hat«, sagte er. Lilith verstand nicht, was er damit meinte. Aber es interessierte sie auch nicht wirklich. In ihrem gepeinigtem Denken hatte nur ein Gedanke Platz. Der alte Mann war ein Vampir! Unter seiner bleichen Haut floß, was sie so dringend brauchte! Und was sie doch nicht bekommen würde. Weil es unerreichbar für sie war. Weil sie eingesperrt war in diesem kleinen Körper, in dem kaum noch genug Kraft war für ein Zucken der ledrigen Schwingen. Daran, auf diesen Flügeln emporzusteigen, um den Hals des Vampirs zu erreichen, war gar nicht zu denken. Geschweige denn an die Anstrengung, die nadelfeinen Zähne in seine Ader zu schlagen … »So, nun bist du an der Reihe, mein kleiner Freund«, sagte der Alte. Er hob die linke Hand, die er zur Faust geballt hatte. Mit der Rech-
ten klaubte er etwas zwischen den geschlossenen Fingern hervor, das Lilith erst erkannte, als er es direkt vor ihr kleines Maul hielt. Eine Fliege. Er wollte sie mit dem füttern, wovon Fledermäuse sich für gewöhnlich nährten. Lilith stülpte sich der kleine Magen um, als sie nur daran dachte, ein Insekt verschlingen zu müssen … Sie wand ihr Köpfchen ein wenig zur Seite. »Du mußt fressen, kleiner Freund«, sagte der Vampir tadelnd. »Wir wollen doch, daß du wieder gesund wirst.« Seine Finger folgten der Bewegung ihres Kopfes, und schließlich hielt er ihn mit der rechten Hand fest und schob ihr die fette Fliege regelrecht ins Maul. Vorbei an ihren winzigen, aber höllisch spitzen Zähnen … »Aua!« Die Hand des Alten zuckte zurück. »Du bist mir ja einer«, sagte er und lächelte. Lilith sah etwas Dunkles auf der Spitze seines Zeigefingers glänzen; etwas wie eine kleine schwarze Perle. Und im gleichen Moment spürte sie, wie etwas über ihre kleine Zunge lief und in ihrem engen Schlund verschwand. Etwas Wohlschmeckendes. Vitalisierendes … Die kleine Wunde am Finger des Vampirs schloß sich, den Blutstropfen schnippte er davon, und Lilith war fast versucht, danach zu schnappen. Noch immer lächelnd sagte der Alte: »Nun gut, vielleicht möchtest du später fressen, hm?« Lilith sah aus ihren kleinen, schwarzen Augen zu ihm hoch. Nein, nicht fressen – aber trinken werde ich, dachte sie. Aus dir, mein großer Freund … Dann versank ihr Bewußtsein in erholsamer Finsternis.
* Deadhorse Die Gestalt war riesig. Sie füllte den Rahmen der offenstehenden Tür fast aus, groß und breitschultrig wie sie war, und im Gegenlicht zeichnete sie sich ab wie ein Scherenschnitt. Und doch erschien Moses Pray etwas daran … falsch. Etwas fehlte. Aber was? Er ging der Frage nicht länger als eine Sekunde nach, weil er seine Konzentration ganz darauf verwenden mußte, seinen Herzschlag in halbwegs normalen Rhythmus zurückzuzwingen. Der Fremde trat einen Schritt vor, und Pray fühlte ein leichtes Vibrieren des Bodens. Jetzt, da der andere in das im Raum herrschende Dämmerlicht eintauchte, konnte er ihn auch endlich deutlicher erkennen. Und für einen sehr langen Augenblick war Moses Pray fast zu hundert Prozent davon überzeugt, einem lebenden Toten gegenüberzustehen. Einem Toten jedoch, der die Jahre im Grab nahezu unversehrt überstanden hatte. Denn der hünenhafte Mann, dem er sich gegenübersah, erinnerte ihn auf unheimliche Weise an John Wayne, den legendären Helden zahlloser Western. Sogar das Outfit stimmte: Jeans, Leinenhemd, Lederweste, Stetson, alles staubig wie nach einem langen Ritt, und um die Hüfte trug der Mann einen patronenbestückten Revolvergurt, in dessen Holster ein Colt steckte. Erst auf den zweiten Blick entdeckte Pray dann den metallenen Stern an der Weste seines Gegenübers, dessen Gravur vor Schmutz allerdings nicht erkennbar war. Endlich fand Moses Pray seine Stimme wieder, wenn er auch nichts von Sinn hervorbrachte.
»Wer … was …«, stammelte er, und sein Blick glitt ohne Unterlaß zwischen dem Fremden und den umherliegenden Kleiderbündeln hin und her. Der Mann mit dem Stetson sah sich ebenfalls um, allerdings weder verwundert noch entsetzt, sondern nur – bedauernd? Dann wandte er sich ab und trat hinaus auf die im Schatten eines Vordachs liegende Veranda. Moses Pray folgte ihm. Nach einer Weile. Als er sich soweit beruhigt hatte, daß seine Beine ihn wieder anstandslos und ohne zu zittern trugen. Er trat neben den Mann in der Westernkluft und suchte nebenher mit Blicken nach dem Fahrzeug, mit dem der andere gekommen sein mußte. Er hätte sich auch nicht gewundert, wenn er ein angeleintes Pferd entdeckt hätte. Nicht sehr zumindest … Aber er sah weder das eine noch das andere. »Sind Sie … sind Sie der Sheriff dieses Countys?« fragte Pray dann endlich. »Deadhorse ist meine Stadt«, erwiderte der Duke-Verschnitt mit knarzender Stimme, während er seinen Blick über die umliegenden Gebäude wandern ließ. »Dann sind Sie der Sheriff von Deadhorse?« hakte Pray ungläubig nach. »Sie … leben hier?« Moses Pray hatte kaum einen Zweifel, daß er es mit einem zumindest latent Verrückten zu tun hatte. Jemand, der diese Stadt als die seine bezeichnete, konnte nicht richtig ticken. Und schon gar nicht, wenn er es in solch einem Aufzug tat! Wo war er da nur hineingeraten? »Was … was war das für ein Wesen da drin? Gab es noch mehr von der Art?« fragte er weiter, das Beben in seiner Stimme mühsam unterdrückend. »Es wird einsam werden ohne sie«, sagte der andere rauh. »Einsam? Ohne sie? Wer sind … oder wer waren sie?« Endlich wandte sich der Hüne um. Sein Blick begegnete dem
Prays, und fast übergangslos hatte der Bibelverkäufer den Eindruck, die Temperatur würde um ein paar Grad fallen, ohne daß sich jedoch ein Lüftchen regte oder eine Wolke die Sonne verdunkelte. Es geschah einfach, als der andere ihn ansah. »Wer sie waren?« echote er. »Sie waren – meine Kinder.« »Ihre Kinder?« kam es lahm über Moses Prays Lippen. Seine Zunge schien ihm kaum noch gehorchen zu wollen. Wie auch der Rest seines Körpers. Er stellte es fest, als er einen Schritt zurücktreten wollte und es nicht konnte. »Etwas hat sie mir genommen. Ein schrecklicher Fluch …« Wieder ließ der andere den Blick schweifen, und Pray folgte ihm, wenn auch nur aus den Augenwinkeln, weil er seinen Kopf nicht mehr willentlich drehen konnte. Und er sah überall entlang der Main Street und auf den hölzernen Sidewalks weitere Kleiderbündel liegen, von denen ein kaum spürbarer Luftzug flockigen Staub wehte und ins Nichts trug. »Es wird einsam werden in Deadhorse. Ich muß mich wohl nach neuer Gesellschaft umtun«, meinte der Hüne. Er grinste breit – und Moses Pray wäre wohl in die Knie gebrochen, wenn er nur noch ein bißchen Herr seines Körpers gewesen wäre. Denn der Anblick der beiden spitzen Augzähne, die sich unter der Oberlippe seines Gegenübers hervorschoben, riß alle Schleier, unter denen vorhandenes Wissen in Moses Pray bisher verhüllt gelegen hatte, entzwei. Und eine wahre Flut von Bildern und Eindrücken ergoß sich in sein Bewußtsein, mit solcher Macht, daß er sich lange Sekunden nichts anderes wünschte, als darunter zusammenbrechen zu dürfen. Die Erinnerung an etwas, das nicht wirklich passiert war, geißelte ihn mit Schmerz, mit Panik; mit dem Gefühl, daß das Leben förmlich aus ihm herausströmte – aus ihm herausgesogen wurde …! Und diese Zähne, diese langen spitzen Zähne … sie waren Moses Pray Zeichen dafür, daß er all dies, allen Schrecken, den er bislang
nur geträumt hatte, gleich wirklich erleben würde! Als Gefangener in seinem eigenen Körper, der unter dem Blick des Vampirs zu einem Käfig aus Fleisch und Blut erstarrt war. Fleisch und Blut … Bald nur noch Fleisch. Blutleeres, ausgezehrtes Fleisch … Und dann? Was würde dann mit ihm geschehen? Würde er auch zu einem Blutsauger werden? Um dem anderen Gesellschaft zu leisten bis in alle Ewigkeit? Moses Pray verfluchte, was auch immer seine Gedanken in grausamer Bewegung hielt. Jeder einzelne davon bereitete ihm Qual, und nichts stoppte den rotierenden Apparat zwischen seinen Schläfen, der das einzige an und in ihm war, das sich noch rührte. Und es hörte auch nicht auf, als das zerfurchte Gesicht des Vampirs näherkam und dann aus Prays starrem Blickfeld verschwand, als der andere den Kopf neigte und sich ein wenig vorbeugte. Irgendwie brachte Moses Pray den Kraftakt zustande, die Lider zu schließen. Wenn er schon dazu verdammt war, das Ende dieses Lebens spüren zu müssen, so wollte er es wenigstens nicht sehen.
* Salem’s Lot Diesmal mußte Liliths Bewußtsein sich nicht mühsam hochzerren aus dem dunklen Schlund, in den es gesunken war. Der Akt war zwar noch immer mit Qualen verbunden, aber er lief immerhin mehr oder weniger von selbst ab. Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Aber es war noch hell im Zimmer; sie konnte wohl höchstens ein paar Stunden geschlafen haben. Und sie war noch immer Lichtjahre davon entfernt, sich ausgeruht oder gar wohl zu fühlen.
Aber sie war in der Lage, wieder etwas anderes als nur Schmerzen zu empfinden. Sie war sich ihres Körpers wieder bewußt, und sie konnte ihn bewegen, ohne lautlos aufschreien zu müssen. Sich zu sammeln, die frisch erwachten Kräfte in sich zu bündeln und zu leiten, bereitete ihr mehr Mühe, als sie befürchtet hatte. Die Energie – oder was immer es auch war, dessen sie sich da bediente – floß spürbar träge und zäh durch imaginäre Kanäle, die irgendwo in ihrem Fleisch zwischen Adern und Nerven hindurchführen mußten; zu einem Ziel, das sie nicht wirklich kannte. Aber sie erreichte es. Sowohl die Verwandlung von menschlicher in die Gestalt einer Fledermaus wie auch die umgekehrte waren bislang stets rasch und ohne eine besondere Empfindung vonstatten gegangen. Diesmal tat es weh. Höllisch weh! Lilith spürte und hörte, wie ihre Knochen sich verformten, wie Fleisch und Haut sich veränderten – wie ihr Körper ein anderer wurde. Zugleich stieg eine irreale Furcht in ihr auf daß ihre Kräfte sie mitten in der Metamorphose verlassen könnten. Nur zu gut erinnerte sie sich an die Vampirin Fee, der genau dieses Schicksal – wenn auch aus anderem Grund – widerfahren war und die anstatt Armen Fledermausflügel trug. In diesen fürchterlichen Momenten wäre Lilith bereit gewesen, jeden Eid zu schwören, daß sie sich nie, nie wieder verwandeln würde … Etwas brach knirschend, und Lilith glaubte, das Geräusch wäre noch Teil der Transformation. Dann erst merkte sie, daß es das Holz der Kiste war, das entzwei gegangen war, weil das Behältnis natürlich viel zu klein für einen Menschen war. Lilith stürzte von dem Tisch, auf dem ihr ›Bettchen‹ gestanden hatte, und stemmte sich ächzend auf Hände und Knie hoch. Mit einem Gedanken veranlaßte sie den Symbionten, der noch immer als breiter schwarzer Reif um ihren Hals lag, sie ›einzukleiden‹. Die
Schwärze floß über ihren nackten Körper und formte sich zu einem Kostüm von schlichtem, fast unscheinbarem Zuschnitt. Natürlich liegt die Definition von ›unscheinbar‹ an der Trägerin eines Kleides, und Lilith hätte selbst in einem Kartoffelsack noch aufregend gewirkt. Dann erhob sich und verharrte sekundenlang, lauschte nach Geräuschen, nach Anzeichen dafür, daß der Vampir zurückkehrte. Aber alles blieb still. Eigentlich war Lilith versucht, den Alten zu suchen. Doch sie entschied sich dagegen. Denn sie war kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Den Vampir aufzustöbern, wenn er überhaupt im Haus war, und dann noch gegen ihn anzugehen, um ihn schließlich zur Ader zu lassen, das würde ihre kaum regenerierten Kräfte mit Sicherheit bei weitem übersteigen. Mochte der Blutsauger auch durch Blutentzug und die Ernährung aus Tieren geschwächt und sichtlich alt sein – in ihrer miserablen Verfassung mußte er Lilith dennoch haushoch überlegen sein. Nein, sie mußte erst noch weiter zu Kräften kommen. Zwar würde sie ohne schwarzes Blut zu trinken niemals zu alter Form zurückfinden, aber Ruhe und Schlaf würden sie zumindest soweit erstarken lassen, daß sie es mit dem Vampir aufnehmen konnte. Sie mußte nur einen sicheren Ort finden, an dem sie sich erholen konnte. Gerade noch rechtzeitig ertappte Lilith sich bei dem fast unbewußten Versuch, sich verwandeln zu wollen, um auf dem Luftweg aus dem Haus des Vampirs zu verschwinden. »Oh, nein«, sagte sie flüsternd zu sich selbst, »das tu ich mir jetzt nicht noch einmal an.« Statt dessen schlich sie sich auf Zehenspitzen hinaus.
*
Ein Volk ist tot, wenn seine Götter tot sind. Stefan George Moses Pray fragte sich, ob der dunkle Bann, mit dem der Vampir ihn belegt hatte, womöglich auch sein Schmerzempfinden lähmte. Denn der Blutsauger mußte ihm doch längst die Zähne in den Hals geschlagen haben – und doch spürte er nichts. Weder den heißen Schmerz noch das grauenhafte Saugen, was er ja beides schon aus seinem unheimlichen Traum kannte. Dafür – hörte er etwas. Geräusche, die jedoch nichts mit dem zu tun haben konnten, was der Vampir mit ihm anstellte. Geräusche – eines Kampfes? Moses Pray riß die Augen auf, und er registrierte, daß ihm diese Bewegung um ein Vielfaches leichter fiel als die vorhin noch das Schließen der Lider. Zugleich schien die Taubheit regelrecht aus seinen Gliedern zu fließen. Kribbelnd kehrte das Gefühl in ihn zurück. Und als er endlich dorthin sah, woher die Geräusche kamen, war es schon fast vorüber. Der Vampir kämpfte. Um sein Leben. Seinen Gegner nahm Pray im ersten Moment nur als wirbelnden Schatten wahr. Erst als die dunkel gekleidete Gestalt mit einem Sprung Distanz zwischen sich und den hünenhaften Blutsauger brachte, konnte Moses Pray sie deutlicher sehen – und als Frau identifizieren! Er schätzte sie auf knappe Dreißig. Ihr Gesicht war unübersehbar das einer Asiatin. Und sie war schön. Daran änderte auch die schwarze Klappe, die ihr rechtes Auge verbarg, nichts … Reglos stand sie da und rührte sich auch dann nicht, als der Vam-
pir mit leicht abgespreizten Armen und breitbeinig auf sie zustürmte. Sie paßte genau den Moment ab, da der andere sich mit vollem Gewicht auf sie stürzen wollte. Sie sprang aus dem Stand und mit einer Kraft, die man ihrem eher zierlichen Körper niemals zugetraut hätte, hoch, streckte noch in der Bewegung die Beine vor und schlang sie dem Vampir um den Hals. Die ruckende Bewegung ihrer Schenkel war kaum zu sehen, und der dabei entstehende Laut klang ein bißchen wie das weit entfernte Brechen eines morschen Astes. Beinahe lauter war da schon das dumpfe Geräusch des Aufpralls, mit dem die Körper der Kämpfenden zu Boden schlugen. Doch während die Asiatin mit katzenhafter Gewandtheit wieder auf die Beine kam, blieb der Vampir bewegungslos liegen. Und wenig später war von ihm nur ein weiteres Kleiderbündel übrig, aus dem der Wind graue Asche blies. Moses Pray hatte der kurzen, aber eindrucksvollen Auseinandersetzung ebenso reg- wie sprachlos zugesehen. Und er blieb auch dann noch statuenhaft stehen, als die Frau auf ihn zukam. Jede ihrer geschmeidigen Bewegungen ließ das Leder ihres Overalls leise knirschen, und Prays Blick verlor sich fast in dem Tal ihrer Brüste, die wegen des bis zum Nabel geöffneten Reißverschlusses kaum verhüllt waren. »Wer …«, setzte er dann an, als die Schöne vor ihm stehenblieb und ihn mit ihrem unversehrten Auge seltsam teilnahmslos musterte. »Wer sind Sie?« »Eine Gesandte.« Ihre Stimme klang spröde und stand in krassem Gegensatz zu ihrem rassigen Äußeren. Was indes nicht verhinderte, daß Moses Prays Phantasie wilde Kapriolen schlug. »Eine Gesandte?« wiederholte er. »Folgen Sie mir«, verlangte die Asiatin leidenschaftslos und doch
in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Gerne, bis ans Ende der Welt, wenn es sein muß, hätte Moses Pray seiner Retterin am liebsten geantwortet, tatsächlich aber sagte er: »Ich … ich kann nicht … ich …« »Sie müssen mitkommen«, behauptete die Schöne. »Sie … Sie können mich doch nicht zwingen …«, erwiderte Pray verwirrt. Aber er irrte sich. Sie konnte. Und sie tat es.
* Salem’s Lot Lilith wußte im Grunde nicht recht, weshalb sie es getan hatte. Aber sie wünschte sich, sie hätte es nicht getan. Sie saß im Dell’s, einer Kneipe, in der die Luft vom Zigarettenrauch so dick war, daß man sie in Würfel hätte schneiden und zur Tür hinausschieben können. Doch das war es nicht, was Lilith störte. Viel unangenehmer waren ihr die Blicke aus fast zwei Dutzend Augenpaaren. Von ebenso vielen schweißfeuchten Händen auf der nackten Haut betatscht zu werden, konnte nicht sehr viel schlimmer sein. Vielleicht hatte sie gehofft, etwas mehr über das Haus auf dem Hügel und dessen unheimlichen Bewohner zu erfahren, nachdem sie in einem leerstehenden Schuppen am Stadtrand bis vorhin geruht hatte und sich nun zumindest halbwegs fit fühlte, wenn sie auch von ihrer Normalform noch Meilen entfernt war. Sie benötigte die Informationen nicht für das, was sie vorhatte. Nach dem Tod des Vampirs wäre es eh ohne Belang. Aber sie war eben zur Hälfte Mensch und als solcher neugierig. Und in einer
Kneipe, so hatte sie angenommen, mußte am ehesten etwas in Erfahrung zu bringen sein. Doch mit ihrem Betreten des Dell’s waren erst einmal sämtliche Gespräche verstummt, und seither hatten die Gäste, von denen einige neben ihr am Tresen und die meisten an den kleinen Tischen ringsum saßen, kaum mehr als zehn Worte miteinander gewechselt, und auch das nur so leise, daß Lilith nichts verstanden hatte. Beim Keeper, der seit Minuten nichts anderes tat, als die Theke neben und vor Lilith auf Hochglanz zu polieren, hatte sie ein Bier bestellt, von dem sie hin und wieder nippte. Nicht um ihren Durst zu löschen, das konnte sie nur mit anderem ›Stoff‹, sondern nur, um ihre Hände zu beschäftigen. Normalerweise kannte Lilith Probleme dieser Art nicht. Ihr vampirisches Erbe beinhaltete unter anderem die Fähigkeit der Hypnose. Eigentlich hätte es für sie keine besondere Mühe bedeutet, die Männer im Dell’s auf diese Weise in ihren Bann zu schlagen, um sie sich gefügig zu machen und ihnen zu entlocken, was für sie von Interesse war. Aber mit ihren Kräften war es ohnehin schlecht bestellt. Sie konnte es nicht riskieren, sie an diese Menschen zu verschwenden. Und einen einzelnen von ihnen zu hypnotisieren, war nicht weniger riskant. Seine Kumpane würden Verdacht schöpfen, wenn er ihr plötzlich wie ein Schoßhündchen folgte. Ein müdes Lächeln wehte über Liliths rassiges Gesicht. Sie wünschte sich geradezu, die Kerle allesamt unter ihre Kontrolle bringen zu können. Allein für die Art und Weise, wie sie sie anstarrten, hätte sie ein paar von ihnen mit herabgelassenen Hosen auf dem Tresen Can-Can tanzen lassen … Vielleicht war es das flüchtige Verziehen ihrer Lippen; vielleicht hatte sie sich aber auch nur ›falsch‹ bewegt – auf jeden Fall setzten sich zwei der Typen, die seit Minuten am Billardtisch gestanden hatten, ohne auch nur die Kugeln anzusehen, plötzlich in Bewegung und kamen steifbeinig näher. Die Arme hatten sie ein bißchen abge-
spreizt, als trügen sie Rasierklingen in den Achselhöhlen. Die beiden blieben einen Moment lang neben ihr stehen, und Lilith bekam aus den Augenwinkeln mit, daß sich die Blicke aller anderen veränderten. Spannung lag mit einemmal fast greifbar in der Luft. Keiner der beiden Burschen war sehr viel älter als zwanzig, schätzte Lilith. Und keiner von beiden sah so aus, daß sie ihm auch nur mehr als einen angewiderten Blick hätte widmen wollen. Ihr Bieratem umwehte sie wie eine Wolke. »So allein?« fragte der Größere. Lilith schwieg. »Das könnten wir ändern«, meinte der andere, der eine nach hinten gedrehte Baseballmütze trug. »Kein Bedarf«, sagte Lilith, ohne sie anzusehen. »Aber danke fürs Angebot.« »Hey, Lady, wir sind’s nich gewöhnt, daß man unsere Angebote ausschlägt, stimmt’s nich, Bud?« behauptete der Größere, was Lilith sich jedoch beim allerbesten Willen nicht vorstellen konnte. So wie die Jungs aussahen, mußten sie in ihrem noch jungen Leben schon so viele Körbe gesammelt haben, daß sie jeden größeren Flechtwarenstand drunten in Bar Harbor bestücken konnten. »Hast recht, Al«, erwiderte Bud. Und legte seine Kleinkinderhand wie zufällig auf Liliths Knie. Lilith wollte nach unten greifen, um Buds Hand wegzuschieben. Aber das erübrigte sich. Denn in diesem Moment fing Bud sich einen Hieb ein, der ihn fast die ganze Distanz zurück zum Billardtisch fliegend zurücklegen und schließlich auf dem Tisch landen ließ. Nur – – es stand niemand nahe genug, der den Burschen geschlagen haben konnte! Die Billardkugeln, die unter Buds Aufprall regelrecht davongesprengt wurden, rollten klackend in alle Richtungen über den Bo-
den, während der Junge sich hochmühte. »Ah, verdammich, Puppe!« keifte Al. »Wie haste das gemacht? Du bist schnell, was?« Lilith war selbst ein bißchen von der Rolle. Sie verstand nicht, was geschehen war, und schon gar nicht, wie. »Ich …«, setzte sie an. Doch Al ließ ihr keine Zeit für Erklärungen. Er faßte sie hart an den Schultern – – und dann teilte er auch schon das Schicksal seines Kumpels! Wie von einem Dampfhammer genau unters Kinn getroffen, so hob es Al aus, und dann schlug er auch schon schwer zu Boden. Doch so schnell gab Al nicht auf, und Bud wollte ihm beistehen. Das waren die letzten Fehlentscheidungen, die die beiden zumindest für die nächste Stunde getroffen hatten. Denn der kostenlose Flugunterricht ging jetzt erst richtig los. Scheinbar von Hieben aus dem Nichts getroffen, wurden Al und Bud kreuz und quer durch das Lokal getrieben. Mobiliar ging zu Bruch, Gläser zersprangen klirrend am Boden, und mit jedem weiteren Schlag, den Al oder Bud einstecken mußten, verließ mindestens einer der anderen Gäste schleunigst den Laden. Keiner wußte, was hier eigentlich vorging, aber es hatte auch niemand Lust, es am eigenen Leibe zu erfahren. Irgendwann, nach einer ganzen Weile, war es Al, der als erster nicht mehr aufstand. Und Bud zeigte sich nach dem nächsten Treffer solidarisch mit seinem Kumpel und verzichtete ebenfalls darauf, noch einmal auf die Beine zu kommen. Lilith saß auf dem Barhocker wie vom Donner gerührt, reg- und sprachlos, unfähig, auch nur einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Doch wozu auch? Mit Vernunft konnte das hier nichts zu tun haben … Sie sah es nicht, aber irgendwie bekam sie doch mit, daß hinter ihr am Tresen Bewegung entstand. Der Wirt tauchte offenbar aus der
Versenkung auf, und vermutlich würde er gleich den Sheriff alarmieren. Dann jedenfalls, wenn seine zitternden Hände sich soweit beruhigt hatte, daß er die Tasten des Telefons halbwegs traf … Lilith verschwendete nur einen halben Gedanken daran. Denn etwas anderes lenkte sie ab. Wenn sie gedacht hatte, daß alle Gäste des Dell’s das Weite gesucht hatten, sah sie sich getäuscht. Aus dem Hintergrund des Ladens, wo sie bis eben außer Dunkelheit nichts vermutet hätte, wurden Schritte laut. Langsam kamen sie näher, doch erst als sie neben ihr verstummten, wandte Lilith den Blick. Sie sah einen hochgewachsenen jungen Mann, dessen Züge ihr eindeutig südeuropäisch vorkamen. Dunkles, leicht gewelltes Haar reichte ihm bis über die Schultern. Von seiner Statur war unter dem schwarzen Staubmantel, der ihn ein bißchen in die Richtung ›einsamer Held‹ rückte, kaum etwas zu erkennen; nur soviel, daß sie sportlich, aber nicht übermäßig muskulös sein mußte. Er schenkte Lilith ein kleines Lächeln, das mit einem Blick aus seinen glutvollen Augen etwas in ihr entfachte, das keiner Worte bedurft hätte. Und als er sprach, leise und fast melodiös, wurde das Etwas in ihr noch eine Nuance hitziger. »Der Knabe hatte nicht ganz unrecht«, klang seine Stimme auf. »Eine Lady wie Sie sollte nicht allein sein. Zumindest nicht an einem Ort wie diesem.« »Dann sollten wir den Ort vielleicht wechseln«, schlug Lilith vor. »Keine schlechte Idee«, erwiderte er. »Verzeihen Sie, ich vergaß mich vorzustellen. Mein Name ist Raphael Baldacci. Raphael für Sie.« »Lilith Eden«, sagte sie. »Für Sie natürlich Lilith.« »Angenehm.« Sein Tonfall ließ offen, was er damit genau meinte.
Er lächelte, nahm sie bei der Hand und entführte sie in die Nacht.
* »Ich fürchte, man wird dich morgen aus dieser Pension werfen.« Liliths Kinn ruhte auf Raphaels nackter Brust, während sie sprach, und ihre Finger zeichneten sanft die weichen Linien seines Gesichtes nach. »Ich hoffe, daß ich dieses Zimmer morgen Nacht nicht mehr brauchen werde«, erwiderte er. Und mit einem leicht verwegenen Lächeln fügte er hinzu: »Also können wir den Rauswurf ruhig noch einmal riskieren.« Er mochte rein vom Äußeren her zwar nicht ganz dem Klischeebild des Latin Lovers entsprechen, dazu waren seine Züge ein klein wenig zu schön und vielleicht auch zu feminin. Aber was seine Kondition anging, hielt er diesen Erwartungen durchaus stand, wie Lilith bemerkte, als ihre Hand wie zufällig unter dem Laken auf Wanderschaft ging. Obgleich sie sich erst vor kaum zehn Minuten mit einem synchronen Lustschrei voneinander gelöst hatten und zumindest für den Moment ermattet auf das Bett gesunken waren … Seine Hände dirigierten Lilith behutsam, aber doch mit spürbarer Kraft auf den Rücken. Seine weichen Lippen fuhren sanft und warm wie eine Frühlingsbrise über ihr Gesicht, ihrer beider Atem wurde für Sekunden eins, und dann spürte Lilith den seinen an ihrem Hals vorüberwehen und tiefer streifen. Bevor der süße Schwindel sie von neuem erfassen konnte, hielt sie Raphael noch einmal zurück. »Was ist?« fragte er, ein bißchen verwirrt. »Möchtest du nicht …?« Lilith lächelte und nickte. »Doch, natürlich. Aber verrate mir vorher, was das vorhin in der Kneipe war. Wie hast du es getan?« Er erwiderte ihr Lächeln, und die Verwunderung darin war fast
überzeugend. »Was getan? Wie kommst du darauf, daß ich irgend etwas getan hätte?« Und dann: »Wie kommt es, daß du glaubst, irgend jemand könnte so etwas tun?« »Ich habe meine kleinen Geheimnisse und hüte sie«, erklärte Lilith. »Dito.« Er blinzelte ihr frech zu und fuhr fort, Liliths herrlichen Körper mit allen Sinnen ein weiteres Mal zu entdecken. Sie revanchierte sich auf gleiche Weise, entlockte ihm wohlige Laute, lauschte ihnen aufmerksam, um in ihrem Tun innezuhalten, wenn sie zu Schreien zu werden drohten. Und schließlich – endlich! – wurden sie ganz eins und blieben es, solange sie beide die Lust im Zaum halten konnten. Wieder und wieder verharrten sie, kurz bevor sie gemeinsam den Höhepunkt aller Leidenschaft erlangten – stumm, ohne Absprache, sich allein mit Sinnen verständigend, wie es nur zwei Menschen konnten, die pure Harmonie waren. Und irgendwann, spät, sehr spät in dieser Nacht, wehte ein weiteres Mal ein Schrei aus zwei Kehlen durch die kleine Pension. Und wer ihn hörte, mußte fürchten, daß er nie enden würde. Dann, nach einer Weile, in der nur sich langsam beruhigende Atemzüge zu hören waren, versuchte Lilith noch einmal, eine Antwort auf ihre Frage zu bekommen. »Nicht heute, Liebes«, flüsterte Raphael Baldacci, die Augen noch geschlossen. »Morgen ist auch noch ein Tag, hm?« Lilith nickte. Schweigend. Ja, morgen war auch noch ein Tag. Aber sie würden ihn nicht gemeinsam erleben …
* Wie goldener Dampf sickerte das Licht des Morgens durch die dün-
nen Vorhänge und breitete sich über das leere Bett. Raphael Baldacci zog seinen dunklen Mantel über. Sekundenlang blieb er dann stehen und sah hinab auf die zerwühlten Laken, und er sah noch immer, wie sie sie zerwühlt hatten. Er und Lilith. Lilith, die verschwunden gewesen war, als er aufwachte. Seine Hand hatte ihre warme Haut gesucht und nur Leere gefunden. Und minutenlang hatte Raphael überlegt, ob er nicht alles nur geträumt hatte. Bis er Liliths Duft wahrgenommen hatte, der noch immer – auch jetzt noch – im Zimmer lag. Nein, es war kein Traum gewesen. Leider … Es wäre so viel einfacher gewesen, wenn er die Wunder dieser Nacht nur geträumt hätte. Raphael seufzte, und jetzt zwang er sich, an einen Traum zu glauben. Denn in Träume konnte man sich nicht wirklich verlieben … Fast gewaltsam riß Raphael Baldacci sich von dem Anblick des leeren Bettes los und wandte sich um. Sein eigenes Denken und Fühlen mußten hintanstehen. Er war nicht um seinetwillen in Salem’s Lot; andere Dinge hatten ihn hierher geführt. Andere Dinge standen auf dem Spiel, und nur sie hatten sein Tun zu bestimmen. Er war ein Gesandter, und als solcher hatte er einzig und allein im Interesse jener Macht zu handeln, die ihn entsandt hatte – die sein Leben war … Raphael verließ die kleine Pension, ohne zu frühstücken. Draußen blieb er stehen und atmete tief durch. Die würzige Morgenluft half ihm, Klarheit zu erlangen. Ein bißchen wenigstens. Denn der ›Traum‹ hielt sich in seinen Gedanken, weil sie sich längst in diesem Gespinst verfangen hatten … Wohin mochte es verschwunden sein, dieses traumhafte Geschöpf, für das er auf den ersten Blick etwas empfunden hatte, das er sich selbst besser verboten hätte? Und vor allem: Warum hatte Lilith ihn
ohne ein Wort verlassen? Es war müßig, sich diese Fragen zu stellen. Denn alle Macht, die in ihm war, konnte ihm nicht helfen bei der Suche nach den Antworten darauf. Und überdies gab es genügend andere Fragen, die zu klären ihm wichtiger sein mußte. Ach, wäre es doch nur so einfach gewesen, Lilith zu vergessen … Baldacci straffte die Schultern. Besinne dich! mahnte er sich, und er sammelte seine Konzentration und lenkte sie zu dem hin, weswegen er nach Salem’s Lot gereist war. Zu dem, was er im Geist des Träumers gefunden hatte. Es war nicht sehr viel, aber erschreckend gewesen. Eindrücke, die von Grauen und Chaos kündeten, von Dingen, die die Welt verändern und vielleicht in den Untergang stürzen konnten. Es waren nicht wirkliche Bilder gewesen, sondern etwas wie ›bildhafte Empfindungen‹. Raphael hätte sie nicht beschreiben können, und doch entsetzten sie ihn, wenn er nur daran dachte, wie er sie gefunden hatte. Der Träumer hatte ihm den Weg gewiesen. Den Weg hierher, nach Salem’s Lot. Aber nichts in den Visionen, die Federico empfangen hatte, war ein Zeichen dafür gewesen, wie er, Raphael, hier auf die Quelle der Warnungen stoßen konnte. Sie zu finden war allein seine Aufgabe. Und erst ihre Bewältigung würde beweisen, daß Raphael Baldacci des Amtes eines Gesandten würdig war. Nur – ihm fehlte die Erfahrung, wie er eine solche Aufgabe angehen mußte. Niemand hatte ihm gesagt, wie Spuren zu finden und zu deuten waren. Aber er bezweifelte auch, daß man es ihm jemals gesagt hätte, selbst wenn seine Ausbildung abgeschlossen war. Das Wissen darum mußte seit jeher in ihm sein. Sonst hätten sie ihn nicht zu sich geholt. Sonst hätte er weiterhin das Leben führen dürfen, daß er bis zu jenem Zeitpunkt gelebt hatte … Baldacci sah die Straße in beide Richtungen entlang. Das Bild, das sich ihm bot, war der Inbegriff amerikanischen Kleinstadttums. Schmucke Einfamilienhäuser zu beiden Seiten, gepflegte Vorgärten,
und ein Stück entfernt waren zwei Frauen gerade damit beschäftigt, vollbepackte Einkaufstüten aus ihren Kombis zu laden … Der Gesandte wandte sich nach links, ohne zu überlegen, weshalb gerade in diese Richtung. Es schien ihm die richtige zu sein. Nach einer Weile erreichte er die Brock Street, eine der beiden Hauptstraßen des knapp 1400 Seelen zählenden Städtchens. Die Brock Street traf sich in der Mitte von Salem’s Lot im rechten Winkel mit der Jointer Avenue und teilte den Ort somit in vier Sektoren. Der nordwestliche lag etwas höher als die anderen, wenn Raphael Baldacci ihn auch nicht wirklich als hochgelegen bezeichnet hätte. In seiner Heimat begannen selbst bloße Hügel erst ab einer anderen Höhe. Oben auf dieser Erhebung thronte ein großes Haus, und Baldacci fühlte sich bei dem Anblick ein bißchen an eines der Schlösser seiner Heimat erinnert, um die herum im Laufe der Zeit Siedlungen entstanden waren. Allerdings konnte er sich kaum vorstellen, daß es sich mit diesem Haus dort und Salem’s Lot ähnlich verhalten hatte. Niemand konnte freiwillig im Schatten dieses dunklen Klotzes ansässig geworden sein. Es hockte dort oben wie eine fette Spinne, und fast konnte man den Eindruck haben, seine dunklen Fenster würden auf die Stadt herabstarren, und nichts würde ihnen entgehen. Vielleicht, überlegte Baldacci und blieb unwillkürlich stehen, sollte er dem Haus einen Besuch abstatten. Vielleicht würde er dort etwas finden. Daß seine Gedanken sich so stark damit befaßten, konnte ein Hinweis sein … Doch es war anders. Es wurde ihm bewußt, als er weitergehen wollte und dabei nur zufällig zur Seite sah. Sein Blick streifte das Schaufenster eines Geschäftes, das sich im Erdgeschoß des kleinen Hauses hinter Baldacci befand. Wie angenagelt blieb er stehen. Und erst nach Sekunden tappte Raphael fast schwerfällig näher darauf zu. Durch das Schaufenster hindurch fiel sein Blick auf eine ganze Rei-
he von Gemälden. Bilder, die so ungewöhnlich … Daß jemand neben ihm stehengeblieben war, registrierte Baldacci erst, als der andere sprach. »Mein Gott, wie furchtbar! Der Stadtrat sollte verbieten, daß so etwas öffentlich ausgestellt wird!« sagte der ältere Mann angewidert. »Sie ist wunderschön«, hörte Raphael sich wie einen Fremden flüstern. Obwohl auch sein Magen fast revoltierte angesichts dessen, was er sah. Wenn nur sie nicht auf jedem der Bilder zu sehen gewesen wäre! »Sie … sind ja verrückt«, sagte der andere beinahe erschrocken. »Wie kann man so etwas nur schön finden?« Dann hörte Raphael, ohne den Blick zu wenden, wie sich die Schritte des älteren Mannes rasch entfernten. Als könnte er nicht nur die Bilder nicht länger ansehen, sondern als wäre es ihm unangenehm, neben jemandem zu stehen, der auch noch daran Gefallen zu finden schien … Blut, Tod und Schrecken waren zentrales Thema eines jeden der Gemälde. Und jedes übertraf das nächststehende noch an Grauen. Sie zeigten Szenarien, von denen man kaum glauben mochte, daß ein gesunder Geist sie ersinnen konnte. Und diese Darstellungen allein fand Baldacci schon entsetzlich. Was ihn aber wirklich tief und mit eisiger Hand berührte, war die Person, die auf die eine oder andere Weise im Mittelpunkt jedes der Bilder stand. »Lilith …« Baldacci spürte, wie etwas in ihm in Bewegung geriet. Wie eine Apparatur, die lange, vielleicht noch nie in Gang gesetzt worden war, die aber funktionierte, als würde sie regelmäßig und sorgfältig gewartet. Diese Motive – oder vielmehr das, was sie ausdrückten –, deckten sich auf undefinierbare Weise mit dem, was er in Federico gefunden hatte. Diese Bilder waren die Spur, nach der er gesucht hatte. Und war Lilith Eden – das Ziel seines Weges?
War er nur deshalb in der vergangenen Nacht auf sie getroffen, und hatte er nur deshalb den Kontakt zu ihr aufgenommen? Etwa nicht, weil er sie anziehend fand (und sich in sie verliebt hatte?), sondern nur, weil sie der Grund seines Hierseins war? Raphael ging zu der Tür, die in das Geschäft führte, und fand sie verschlossen. Dann erst sah er das Schild, das hinter dem Glas hing: Komme gleich wieder! Darüber stand in selbstgepinselten Buchstaben der eigenwillige Name des Ladens: Jennifer paints. Jennifer malt … Dann war also diese Jennifer die Malerin der Bilder, die Baldacci eher einem Hieronymus Bosch zugeordnet hätte … Jennifer war vielleicht eine weitere Spur. Sie konnte ihn womöglich zu Lilith führen, deren Verschwinden plötzlich ein bißchen Sinn zu ergeben schien. Baldacci drückte das Gesicht gegen das Glas der Tür und sah sich so in dem Geschäft um. An der Wand unmittelbar neben der Tür sah er ein Pinboard, und darauf entdeckte er eine Reihe von Zeitungsausschnitten. Auf den Fotos war neben wechselnden Personen immer ein- und dieselbe junge Frau zu sehen. Sie hatte langes dunkles Haar, war hübsch, und ein klein wenig erinnerte sie ihn sogar an Lilith … … und sie fuhr in eben diesem Moment auf einem Fahrrad hinter ihm vorüber! Raphael erkannte sie in einer Reflexion auf der Scheibe und wirbelte herum. Doch da hatte sie sich schon einige Meter von ihm entfernt. Sie fuhr in Richtung des nordwestlichen Sektors der Stadt, und auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads befand sich in einer speziellen Halterung etwas Großes, Rechteckiges, das in Papier eingeschlagen war. Ein Bild, wie Baldacci vermutete, das sie wohl an einen Kunden liefern würde. In leichten Trab fallend, nahm er die Verfolgung auf.
* Jennifer Sebree legte den Pinsel zur Seite, und während sie sich die Finger mit einem terpentingetränkten Lappen säuberte, besah sie sich ihr jüngstes Werk. Ihr bisher vielleicht gelungenstes, auch wenn es sich vom Motiv her völlig von denen unterschied, die sie für gewöhnlich malte – Landschaftsausschnitte der Gegend ringsum, romantisch verklärt. Bilder eben, die sich verkaufen ließen. Aber dieses hier war tausendmal schöner. Und es wäre nirgends besser aufgehoben als im Haus des alten Barlow … Etwas wollte in Jennifer hochdrängen, etwas wie Empörung, die diesen Gedanken zunichte machen wollte. Doch etwas anderes, etwas Stärkeres und etwas, das ihre Hand in den vergangenen Stunden geführt und sie mit regelrechter Besessenheit hatte arbeiten lassen, erstickte dieses Andere, noch lange, bevor es tatsächlich in Jennifers Bewußtsein treten konnte. Sie empfand nichts Unangenehmes mehr bei dem Gedanken daran, daß der alte Mann ein Aktgemälde von ihr kaufen würde. Er würde sich nicht an ihrer Nacktheit ergötzen, ihm gefiel das Bild als solches. Aber es konnte ihm nicht in der Weise gefallen, wie es Jennifer gefiel – denn Barlow konnte nicht die Beziehung zu der anderen Figur auf dem Gemälde haben, wie Jennifer sie hatte. Der Widderköpfige war ein stummer Zeuge ihrer Träume, und er war es, der ihr in den vergangenen Tagen Inspiration und Kraft in einem gewesen war. Ohne ihn hätte sie nicht all jene wundervollen Bilder schaffen können, die sie voller Stolz im Schaufenster ausstellte. Bilder, die ausdrückten, was sie in ihren Träumen gesehen hatte. Und ihr war auf eigenartige Weise, als hätte das wunderbare Wesen,
dem sie dieses jüngste Werk gewidmet hatte, ihr diese Träume gebracht. Und nun hatte sie in diesem Bild endlich zum Ausdruck gebracht, was sie für ihn empfand. Er war ihre Erfüllung und ihr Halt, und sie fühlte sich sicher und beschützt an seiner Seite … Während die Farbe trocknete, räumte Jennifer die Malutensilien beiseite und säuberte die Pinsel. Dann packte sie das Bild in Papier und befestigte es auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades, das hinter dem Haus stand. Mister Barlow würde hocherfreut sein, wenn sie ihm das Gemälde schon heute vorbeibrachte. Sie fuhr die Brock Street hinauf, die immer steiler werdend den Marstenhügel emporführte. Schweiß lief Jennifer in feinen Rinnsalen von der hohen Stirn, als sie endlich am Tor des Zaunes anlangte, der das weitläufige Grundstück des alten Hauses umfriedete. Es stand einen Spaltweit offen, und sie fuhr hindurch. Und dann, auf halbem Weg zum Haus hin, blieb sie plötzlich stehen. Was tue ich hier eigentlich? Die Frage tauchte wie aus Nebeln in ihr auf. Und zugleich spürte sie sich ergriffen von der alten Furcht, die sie immer schon verspürt hatte, wenn sie an diesem Haus vorbeigekommen war. Wie immer kam es ihr auch jetzt viel weniger wie ein altes Gebäude vor, das dringend der Renovierung bedurfte, sondern mehr wie etwas Lebendes, das von einer finsteren Seele erfüllt war. Etwas, das durch die Risse des Verputzes stinkenden Atem ausstieß, der einen vergiften konnte, wenn man dem Haus auch nur nahekam. Und die ewig dunklen Fenster, sie schienen Augen zu sein, durch die nicht jemand herausstarrte, sondern die selbst starrten … Jennifer legte den Rest der Strecke zurück. Die Furcht verschwand. Versank wie ein Stein in dem, was Jennifers Denken wieder überflutete. Am Haus angelangt, nahm sie das eingepackte Bild und trat in die Schatten, die zu jeder Zeit des Tages die Veranda des Hauses mit Zwielicht füllten.
Barlow mußte ihr Kommen längst bemerkt haben, denn er öffnete die Tür, noch bevor sie den schweren Messingring gegen das Holz geschlagen hatte. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Jennifer. Treten Sie ein.« Der alte Mann wies mit einladender Geste in die Dunkelheit, die jenseits der Tür wie eine feste Substanz lag und erst dann ein Sehen erlaubte, als Jennifer sie betreten hatte. Sie fröstelte, als sie sich von den Schatten verschlungen fühlte, doch auch diese Empfindung verlor augenblicklich alle Bedeutung. »Ich sehe, Sie haben mein Bild mitgebracht«, sagte Barlow, während er seinen Gast durch den Korridor und schließlich ins Wohnzimmer geleitete. »Ja, ich wollte Sie nicht länger warten lassen als unbedingt notwendig«, erwiderte Jennifer lahm. Für einen Unbeteiligten mußten ihre Worte widerwillig klingen. Sie selbst jedoch dachte nicht einmal wirklich über ihren Sinn nach. »Ich weiß«, sagte Barlow, und sein Lächeln war das eines einsamen alten Mannes, der sich über unerwartete Gesellschaft freut. »Darf ich es mir ansehen?« fragte er. »Natürlich.« Er nahm es und packte es aus. Dann stellte er es gegen eine freie Stelle der Wand und trat drei Schritte zurück. »Es ist noch schöner, als ich es erwartet hatte«, meinte er dann voll ehrlicher Bewunderung. »Sie sind eine große Künstlerin.« Jennifer lächelte starr. »Danke, Mister Barlow. Sie beschämen mich.« Ihr Fuß berührte etwas Weiches. Sie senkte den Blick und sah eine tote Ratte, deren graues Fell dunkel verkrustet war. »Oh, verzeihen Sie«, sagte Barlow erschrocken. Er bückte sich, hob den Kadaver auf und warf ihn in einen Papierkorb. »Das macht doch nichts«, meinte Jennifer leichthin, während ihr etwas heiß und ätzend vom Magen her in der Kehle hochstieg und
ihren Mund mit gallebitterem Geschmack füllte. »Ich würde Ihnen gerne etwas anbieten«, sagte der alte Mann. »Das ist nicht nötig, Mister Barlow.« Jennifer winkte ab. »Erlauben Sie, daß ich etwas trinke?« fragte er. »Natürlich.« Wie ein Schatten war der alte Mann auf sie zu geglitten. Er stand so dicht vor ihr, daß Jennifer seinen plötzlich heftigen Atem im Gesicht spüren konnte. Und in der nächsten Sekunde an ihrem Hals.
* Lilith vernahm die Echos der Nacht in sich. Und sie fühlte sich furchtbar und elend dabei. Wie eine Diebin hatte sie sich davongeschlichen, und noch einmal sah sie im Geiste Raphael Baldacci schlafend daliegen. Das Bild hatte sich ihr regelrecht eingebrannt, und es schmerzte. Wieder einmal war sie jemandem begegnet, für den sie etwas empfunden hatte. Und sie wußte, daß diese Empfindung für diesen Jemand einem Todesurteil gleichkommen konnte … Denn die meisten derjenigen, die ihr seit ihrem Erwachen in Sydney vor nunmehr über zwei Jahren etwas bedeutet hatten, lebten nicht mehr. Ihre Verbindung zu Lilith hatte sie in Gefahr gebracht und schließlich das Leben gekostet. Und daran würde sich nichts ändern, auch nicht, nachdem sie ihre ursprüngliche Bestimmung erfüllt hatte. Denn ihr war eine neue Aufgabe gestellt worden, und die würde nicht minder gefährlich sein. Sie hieß Tod allen Vampiren!, und wer immer sich an Liliths Seite befände, würde es mit ihren Gegnern zu tun bekommen – und diese Begegnung nicht überleben. Doch das war nicht der alleinige Grund, aus dem Lilith sich verbot, eine Beziehung einzugehen.
Sie selbst würde angreifbarer und verletzlicher werden, als sie, die nur zur Hälfte Vampir war, es ohnehin schon war. Wem immer sie ihre Zuneigung schenkte, er würde für die Blutsauger leicht zu einem Druckmittel gegen Lilith werden. Und sie wußte, daß sie auf jede solche Forderung eingehen würde – dafür würde schon das Menschliche in ihr sorgen … Und so hatte sie Raphael Baldacci verlassen. Wie gerne hätte sie mehr über ihn erfahren, ihn besser kennengelernt … Doch womöglich wäre ihnen nicht einmal die Zeit geblieben, einander wirklich näherzukommen, nicht nur im Körperlichen. Vielleicht wäre ihnen diese Zeit auf brutale Weise genommen worden. Auf eine Weise, die Lilith schon viel zu oft hatte erfahren müssen … Nein, es war der im Moment schmerzlichere, aber auf längere Sicht hin doch bessere, ja, einzig richtige Weg gewesen, den Lilith mit ihrer Entscheidung eingeschlagen hatte. Und es war auch richtig gewesen, es heimlich zu tun. Denn jedes Wort der Erklärung, das sie Raphael hätte geben können, hätte den Entschluß vielleicht nur ins Wanken gebracht. Aus der Deckung eines dichten Gesträuchs, welches das alte Haus auf dem Hügel von dem dahinter beginnenden Wäldchen abgrenzte, beobachtete Lilith das Gebäude schon seit geraumer Zeit. Nichts regte sich dort hinter den dunklen Fenstern, und schließlich schlich sie näher, jeden Busch als Deckung nutzend. Sie erreichte eine schmale Hintertür, fand sie unverschlossen und schlüpfte hindurch. Noch immer fühlte sie sich nicht wirklich kräftig. Aber doch kräftig genug, um sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Vampir einzulassen. Vielleicht ruhte er ja gerade, und sie konnte ihn möglicherweise im Schlaf überraschen … Auf dem Weg hierher und während des Beobachters hatte sie sich natürlich Gedanken über den Alten gemacht. Er war offenbar ausgenommen von jener mysteriösen Seuche, die die Vampire, denen sie in den vergangenen Tagen und Wochen begegnet war, befallen hatte. Sie alle waren aus irgendeinem Grund dem Tode geweiht, und
nur die Führer der Sippen schienen gegen diesen tödlichen Keim immun. War der Alte, der sie am gestrigen Morgen als Fledermaus gefunden und zu sich genommen hatte, ein solches Sippenoberhaupt und deshalb von der Seuche verschont geblieben? Ohne sagen zu können, weshalb, glaubte Lilith das nicht so recht. Irgendwie fehlten dem Alten die Ausstrahlung und das Wesen eines Führers. Er schien ihr vielmehr – nun, sonderbar eben. Er kam ihr vor wie ein Einzelgänger, der sich von seiner Sippe getrennt haben mochte, aus welchem Grund auch immer. Lilith zwang sich dazu, nicht weiter darüber nachzudenken. Sie durfte den Vampir einzig als Opfer sehen. Wer er war, sein Leben – was zählte das für sie? Sie schauderte bei dem Gedanken, sein schwarzes Blut trinken zu müssen. Obschon es lebensnotwendig für sie war, würde sie sich nie daran gewöhnen, und sie würde das dunkle Elixier vor allem nie mit Genuß zu sich nehmen. Der Akt würde immer mit Ekel behaftet bleiben, und er würde nie zu dem werden, was es ihr früher bedeutet hatte, menschliches Blut trinken zu dürfen. Heute graute ihr auch vor diesem Gedanken, aber sie erinnerte sich zumindest an das Wohlgefühl, das es ihr einst bereitet hatte … Selbst nur ein Schemen, huschte Lilith durch die Schatten, die das Haus wie stumme Wesen bevölkerten. Sie verhielt sich absolut still und lauschte nur auf fremde Geräusche, während sie durch die Räume des Hauses schlich, die zum größten Teil aussahen, als hätte sie seit ewig langer Zeit niemand mehr betreten. Nicht etwa unbewohnt, sondern so, als hätte jemand sie irgendwann nur kurz verlassen wollen, um dann aber nie mehr wiederzukehren. Lilith wußte nicht, wie nahe sie der Wahrheit damit kam. Sie ließ sich Zeit mit ihrer Suche nach dem Vampir, und sie ließ Vorsicht walten. Wenn sie das Überraschungsmoment nicht auf ihrer Seite hatte, mußte es in ihrer Verfassung selbst jenem alten Vampir ein Leichtes sein, sie zu überwältigen.
Lilith ließ erst dann alle Vorsicht fahren, als sie die Stimmen hörte. Und als sie die Worte schließlich auch verstand, schien es schon zu spät, um noch irgend etwas tun zu können!
* Lilith brauchte weniger als eine Sekunde, um die Situation zu überblicken und zu begreifen. Und doch kam ihr diese winzige Spanne wie eine Ewigkeit vor. Eine Ewigkeit, die Leben und Tod bedeuten konnte für die junge Frau, die dort, nur wenige Schritte entfernt, in der Mitte des Zimmers stand. Mit zurückgelegtem Kopf, so daß die Haut ihres Halses sich straff den Blicken des Vampirs darbot. Seinen Blicken – und seinen Zähnen, deren Spitzen sie schon berührten und gleich durchdringen mußten! Etwas in Lilith schien zu explodieren! Ein dunkles Etwas, das augenblicklich die Kontrolle über ihren Geist und Körper an sich riß. Das Vampirische in ihr jagte das Menschliche hinab in jene Winkel ihres Seins, in denen es selbst bis dahin genistet hatte. Im Sprung gestreckt prallte Lilith gegen den Alten und stieß ihn von seinem Opfer weg. Haltlos taumelte der Vampir gegen die Wand, und als er sich faßte und umdrehte, sah Lilith in seinen Zügen, was auch ihre eigenen verzerren mußte. Wut, Haß – Bösartigkeit … Wie im Zeitraffer veränderte sich das Aussehen des Alten. Seine Gestalt straffte sich, als schlafende Kräfte erwachten und ihn durchflossen. Er duckte sich wie zum Angriff und starrte Lilith mit aufgerissenem Maul entgegen. Aber es war noch etwas anderes im Ausdruck seines monströs verzerrten Gesichtes. Unverständnis. Weil ein Vampir, ein Angehöriger seines eigenen
Volkes, sich ihm entgegenstellte. Denn der Kodex der Alten Rasse verbot, daß Vampire untereinander sich bekämpften. Doch seine Verwirrung wich in dem Moment, als Lilith sich ihm von neuem entgegenwarf. Sie wollte ihn packen, um ihn gleich richtig in den Griff zu bekommen, denn einen langen Kampf traute sie sich nicht zu. Aber der andere entwand sich mit unvermuteter Geschmeidigkeit ihren Armen und wich zur Seite. Lilith folgte der Bewegung, setzte ihm nach und brachte den Vampir zu Fall. Mit einem Aufschrei stürzte er, kam auf dem Tisch zu liegen, der knirschend unter seinem Gewicht nachgab. In den Trümmern drehte sich der Alte auf den Rücken, und da war Lilith auch, schon über ihm. Wie das Raubtier, das sie im Augenblick fast war, fauchte sie ihm ihren heißen Atem ins Gesicht, während sie ihn so zu halten bekam, daß er fast reglos liegenbleiben mußte. »Warum?« preßte er hervor. Wie resignierend veränderten sich seine Züge, und er wurde wieder zu jenem alten Mann, als den ihn die Menschen in Salem’s Lot kennen mochten. Ein letztes Mal … Denn da stieß Liliths Mund auch schon seiner Kehle entgegen!
* Raphael Baldaccis Atem ging kaum schneller, als er das Haus auf dem Hügel über der Stadt erreichte. Konditionsfördernde Lektionen waren Teil seiner Ausbildung gewesen, und überdies vermochte er kraft seines Geistes mit seinen körperlichen Kräften hauszuhalten und sie aus Quellen zu regenerieren, die zwar jeder Mensch in sich trug, aus denen sich aber nicht so ohne weiteres schöpfen ließ. Als ihm klargeworden war, daß dieses Haus das Ziel der jungen Malerin war, hatte er gewußt, daß er auf der richtigen Spur war. Immerhin war ihm das Haus schon zuvor auf sonderbare Weise aufge-
fallen, und nun schien ein Kreis sich zu schließen, auch wenn Baldacci noch nicht wußte, was er in diesem Kreis finden würde. Die junge Frau hatte das Haus betreten, nachdem sie von einem alten Mann hineingebeten worden war. Eine ganze Weile beschränkte Baldacci sich auf das Beobachten, doch schließlich faßte er den Entschluß, selbst dort vorstellig zu werden. Wieder war es nur eine Art Instinkt, der ihn dazu verleitete, aber er erkannte, daß es dieser Instinkt war, dem er vertrauen mußte, wenn er seinen Weg mit Erfolg beschreiten wollte. Er ging durch den Garten zur Haustür und klopfte. Nichts regte sich. Auch nach dem zweiten Klopfen nicht. So drückte er die Klinke, und die Tür schwang auf. Mit einem raschen Schritt, als fürchtete er, er könnte es sich noch anders überlegen, trat Baldacci über die Schwelle – und die Atmosphäre des Hauses schlug wie die Wellen eines sturmgepeitschten Meeres über ihm zusammen! Fast hätte er sich unter diesem Ansturm gekrümmt. Schmerz und Empfindungen, die er bisher nie erlebt hatte, wüteten plötzlich in ihm. Doch er schaffte es, sie zurückzudrängen, als er Geräusche vernahm – – die ihn sofort an Kampf denken ließen! Baldacci rannte den Flur hinab, betrat den Raum, aus dem die Geräusche drangen – und erstarrte! Was er sah, konnte, durfte nicht sein! Aber das Bild war keine Täuschung, war ebensowenig ein Traum, wie es die vergangene Nacht gewesen war. Und so stürzte Raphael Baldacci sich mit einem Schrei auf die Frau, in die er sich verliebt zu haben glaubte. Um sie zu töten. Lilith fühlte sich wie von einem Vorschlaghammer getroffen. Etwas Hartes drosch geradezu gegen ihre Rippen und trieb sie zur Seite, weg von dem Vampir.
Brüllend hob sie den Blick – und verstummte, als sie Raphael Baldacci erkannte. Mit hängenden Armen, aber doch sichtbar angespannt stand er vor ihr und blickte auf sie herab. Sein Gesicht war eine Maske unterschiedlichster Emotionen. Eine aber überlagerte alle anderen fast: Bedauern. »Warum?« fragte er. »Warum nur?« Lilith spürte, wie ihre Züge sich veränderten. Das Monströse wich daraus, als das Dunkle sich zurückzog und das Menschliche wieder an seine Stelle trat. »Du verstehst nicht …«, begann sie. »Oh, doch, das tue ich«, erwiderte Raphael. »Leider …« »Nein, ich …« »Du bist eine Vampirin«, sagte er, und er wunderte sich selbst darüber, wie leicht ihm die Worte von den Lippen gingen. »Und du stehst gegen das, dem ich mich verschworen habe.« »Was?« fragte Lilith. »Dies ist weder der Ort noch die Zeit für Erklärungen«, fuhr er fort. »Mehr noch, Erklärungen würden nur schwerer machen, was ohnehin schon schwer genug ist.« »Was hast du vor?« entfuhr es Lilith. Die Ahnung, die in ihr hochbrodelte, war zu erschreckend, als daß sie sie einfach akzeptiert hätte. Aber sie sah sich auch kaum in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. So schnell, daß ihr Blick die Bewegung kaum nachverfolgen konnte, hatte Raphael sich vorgebeugt, und fast wie hingezaubert hielt er plötzlich etwas in der Hand. Ein abgesplittertes Bein des zerbrochenen Tisches. Und das vielzackige Ende des behelfsmäßigen Pflocks wies nicht wie zufällig auf Lilith. Ihr Blick hing wie gebannt daran und löste sich auch dann nicht,
als sie den Mann ansprach, mit dem sie vor wenigen Stunden erst den Himmel auf Erden und ein bißchen mehr erlebt hatte. »Raphael, das kannst du nicht …«, kam es über ihre bebenden Lippen. »Ich muß«, sagte er. »Verzeih mir … Lilith Eden.« Und damit stürzte er auf die Halbvampirin zu!
* Jennifer Sebree träumte. Jedenfalls war es wie in einem der Träume, die seit Nächten ihren Schlaf beherrschten. Um sie herum waren nur noch Gewalt und drohender Tod. Aber ihre Aufmerksamkeit galt etwas anderem. Jemand anderem. Ihm. Verzückt war sie von ihm, und ihr Blick saugte sich fest an seinem Bildnis, das noch immer an der Wand lehnte. Doch er war nicht länger starr und gefangen in der Position, wie sie selbst ihn auf die Leinwand gemalt hatte. Er bewegte sich. Und er sprach. Sein Widderkopf wandte sich, ohne an dreidimensionaler Substanz zu gewinnen, ihr zu. Der Blick seiner bernsteinfarbenen und mit einemmal menschlichen Augen traf den ihren, und sie hörte seine Stimme in ihren Gedanken. Du darfst es nicht zulassen, sagte er. Was? erwiderte sie auf gleiche Weise. Daß er sie tötet. Nicht bevor ich alles über sie weiß. Wer sie ist und was der Sinn ihres Seins ist. Was soll ich tun? fragte Jennifer. Und der Widderköpfige sagte es ihr.
* Lilith schrie auf. ihre Reflexe wollten ihr nicht gehorchen. Sie schaffte es nicht, sich zur Seite zu rollen, um dem todbringenden Pfahl auszuweichen. Sie glaubte schon, den Druck und den Schmerz, mit dem das Holz ihr in die Brust fahren mußte, zu spüren. Doch beides blieb aus. Schwer stürzte Raphael auf sie. Der Pfahl war aus der Richtung geraten, traf den Boden neben ihr und rutschte aus kraftlos gewordenen Fingern. Lilith begriff nicht, was geschehen war. Erst als sie den Blick hob, der sekundenlang zwischen Raphael, der die Augen geschlossen hielt, und dem Pfahl hin- und herging, sah sie die junge Frau dort, wo eben noch er gestanden hatte. Auch sie hielt ein Stück Holz in Händen, und als Lilith das Blut in Raphaels Nacken bemerkte, wußte sie, daß die Dunkelhaarige ihr das Leben gerettet hatte, indem sie ihn niedergeschlagen hatte. »Danke«, brachte sie hervor, während sie Raphael auch schon von sich schob. Mit raschem Blick stellte sie fest, daß er nur bewußtlos und die Wunde an seinem Hinterkopf nicht so schlimm war, daß er ärztliche Hilfe gebraucht hätte. Dann schaltete etwas in ihr wieder um. Sie wurde erneut zur Jägerin. Der Vampir hatte sich abgesetzt, aber sie nahm die Fährte auf. Wie ein Bluthund. Und sie fand ihre Beute. Im Keller des Hauses. Kniend neben einer mumifizierten Leiche.
*
Barlow wehrte sich nicht. Er schien Lilith sogar erwartet zu haben. Als sie den Kellerraum betrat, wandte er ihr den Blick zu, und sie wartete vergebens darauf, daß seine Züge sich bei ihrem Anblick wieder veränderten, wie es ihrem Stiefvolk in solchen Momenten zueigen war. »Wer bist du?« fragte er rauh und mit … tränenerstickter Stimme? »Mein Name ist Lilith Eden.« »Aber – wer bist du?« fragte er noch einmal. Ohne sich dessen zu Beginn wirklich bewußt zu sein, erzählte sie ihm von sich. Erklärte in möglichst einfachen Worten und auf möglichst kurze Weise, wer sie war, woher sie kam – und weshalb sie hierhergekommen war. »Vielleicht wurdest du mir von einem gnädigen Schicksal gesandt«, meinte er nach einer Weile, in der nur Schweigen im Raum gelegen hatte. Und dann sprach er. Von sich, von seinem Leben. Und Lilith erkannte, wenn auch vage, Parallelen. Ähnlichkeiten zwischen dem Leben ihrer eigenen Eltern und dem des Vampirs, der sich Barlow nannte – und seiner Ehefrau Melissa. Liliths Mutter war eine Vampirin namens Creanna gewesen, ihr Vater ein Mensch, Sean Lancaster. Wahre Liebe hatte die beiden verbunden und dazu geführt, daß Creanna von ihrem Volk verstoßen wurde. Und nur wegen dieser tiefen Bindung zueinander hatten sie Lilith überhaupt zeugen können. Was Creanna das Leben gekostet hatte, denn ein ungeschriebenes Gesetz besagte, daß Leben nur dann aus dem Leib einer Vampirin geboren werden konnte, wenn sie ihre Existenz dafür hingab. Auch Barlow war von der Alten Rasse geächtet worden, als er sich entgegen aller vampirischer Natur verliebt hatte. Mit Melissa hatte er ein Leben geführt, das ihm, obwohl es gegen sein wahres Wesen war, nie eine Last geworden war. Und wie tief mußte die Liebe einer Menschenfrau erst sein, die bereit war, ihr Leben mit einem Vampir
zu teilen? Zum Fluch war Barlow sein Leben erst geworden, als Melissa starb. Um wenigstens ihrem Körper nahe zu sein, hatte er ihren Leichnam hier im Keller seines Hauses aufgebahrt und so behandelt, daß er nicht vollends zerfiel. Doch den Schmerz über den Verlust hatte dies kaum lindern, die Einsamkeit nicht vertreiben können. Es gab nur einen Weg … »Also tu es, Lilith Eden«, sagte er schließlich. »Trinke mein Blut und nimm mir mein Leben. Und möge der Tod mich wieder mit ihr vereinen.« Zärtlich strich er über den mumifizierten Leichnam, neben dem er immer noch hockte. Doch es lag keine Trauer in dieser Geste. Nur Hoffnung. Lilith trat vor und kniete vor dem Vampir nieder. Er drehte den Kopf ein wenig und bot ihr seine Schlagader zum Biß dar. Trotz allem zögernd, näherte Lilith ihren Mund seinem Hals. Noch einmal sah Barlow sie an. »Glaubst du, der Gott der Menschen wird mir verzeihen und mich zu ihr lassen?« fragte er, und der Tonfall des alten Mannes war anrührend wie der eines kleinen Kindes. »Ich wünsche es dir«, antwortete Lilith. »Seine Gnade ist groß.« Sie wußte, wovon sie sprach. Und sie hatte Tränen in den Augen, als ihre Zähne sich in den faltigen Hals des alten Mannes senkten.
* Jennifer träumte. Den letzten dieser Träume. Der Widderköpfige sah noch immer zu ihr hin, und sie erwiderte seinen Blick, glaubte darin zu ertrinken, und sie wünschte sich, es zu können.
Wohl getan, lobte er sie. Ich wußte, daß meine Wahl die rechte war, als sie auf dich fiel. Wofür hast du mich erwählt? fragte sie stumm zurück. Meinen Weg zu begleiten. Es gibt nichts, was ich lieber täte, flüsterte Jennifer in Gedanken. So komm denn zu mir. Er reichte ihr die Hand. Und Jennifer ergriff sie.
* Minutenlang blieb Lilith Eden neben dem Leichnam der Toten und dem Häufchen Asche, zu dem der Vampir geworden war, nachdem sie ihm das Genick gebrochen hatte, sitzen. Als würde sie erwarten, daß etwas dem Staub entstieg, um einzugehen in die Ewigkeit … Irgendwann verließ sie den Keller und stieg nach oben, zurück in jenen Raum, in dem Raphael Baldacci noch immer bewegungslos am Boden lag – – und aus dem die junge Frau, die ihn niedergeschlagen hatte, verschwunden war. Liliths Blick fiel auf das Gemälde, das an der Wand lehnte, und sie spürte förmlich, daß es nicht zufällig geschah, sondern daß etwas sie lenkte. Oder rief. Sie hatte dem Bild zuvor in dem Durcheinander nur einen sehr flüchtigen Blick gewidmet. Aber trotzdem sah sie, daß es sich verändert hatte. Auf schwer zu benennende Weise. Es schien ihr plötzlich – wirklicher. Als wäre es nicht länger ein Bild, sondern ein Fenster zu einem anderen Ort. Und sie glaubte fast, daß sie hineingreifen und die beiden Gestalten berühren könnte, die junge Frau ebenso wie den Widderköpfigen, von dem etwas beinahe Vertrautes ausging, das sie sich nicht erklären konnte …
Erst als der Tierkopf sich ein bißchen drehte und zu ihr hinsah, fand Lilith etwas wie eine Erklärung. Als sie sich angestarrt fühlte von den Augen eines – – Kindes? Es war unmöglich. Es mußte Einbildung sein. Und vielleicht war es das auch. Eine ebensolche Einbildung, wie sie die Existenz des Bildes gewesen sein mochte. Denn es verschwand von einem Lidschlag zum nächsten … Bevor Lilith ging, beugte sie sich noch zu Raphael Baldacci hinab. Ihre Finger strichen über seine Wange, und für ein paar Sekunden genoß sie die Wärme, die durch ihren fröstelnden Körper strömte. »Raphael, ich wünsche dir, daß wir uns nie mehr begegnen.« Sie erhob sich, und ihre Seele war schwer von so vielen Wünschen für die Zukunft. Wünsche, von denen sie wußte, daß sie nicht in Erfüllung gehen würden. Und als sie das Haus und Salem’s Lot verließ, war ihr Verschwinden einmal mehr nur Flucht.
* Epilog Moses Pray erwachte. Und glaubte doch zu träumen. Hoch über ihm wölbte sich, im kaum vorhandenen Licht fast nicht zu sehen, eine Decke aus nacktem Fels. Und auch unter ihm schien nichts anderes als rauher Stein zu sein. Er drehte den Kopf, und die Mattigkeit in jeder Faser seines Körpers ließ die an sich kaum nennenswerte Bewegung zum Kraftakt geraten. So weit sein Blick zu beiden Seiten hin reichte, sah er – Schlafende.
Menschen, die er nie zuvor gesehen hatte, die aber unverkennbar nicht nur Amerikaner waren. Sie alle lagen auf steinernen Sockeln wie auf den Altären einer uralten Kultur, manche reglos, andere wälzten sich unruhig hin und her, und einige wenige wimmerten und stöhnten im Schlaf, als würden sie von Alpträumen geplagt. Moses Pray wußte nicht, wie er hierhergekommen war. Und er erfuhr es auch nicht. Ein Schatten fiel über ihn, als jemand neben ihn trat und etwas mit ihm tat. Und dann versank auch Moses Pray wieder in fürchterlichen Alpträumen.
* Salvat trat von der Liegestatt zurück und wandte sich wieder Raphael Baldacci zu. Dessen Blick wanderte noch immer von einem der Schlafenden zum anderen, und seinem Gesicht war unschwer anzusehen, wie unwohl er sich in diesem Saal fühlte, den unsichtbar etwas füllte, das mit den Schläfern Einzug gehalten hatte. »Ich verstehe noch immer nicht wirklich, weshalb diese Menschen aus aller Welt hierher gebracht wurden«, sagte er nach einer Weile. »Sie werden uns helfen, die Zeichen zu deuten«, sagte Salvat geduldig. »Aber so viele«, meinte Raphael. »Warum mußten so viele ihrem wahren Leben entrissen werden?« »Weil vielleicht nur einer darunter ist, dessen Träume uns wirklich weiterhelfen können.« Er setzte eine Pause, und fuhr genau in dem Moment fort, da das Schweigen unangenehm zu werden begann. »Vielleicht wäre es jene gewesen, die du uns nicht zu bringen imstande warst.«
Es war weder Tadel noch etwas ähnliches in seiner Stimme. Aber Raphael zuckte trotzdem unter seinen Worten, als wäre er geschlagen worden. »Deshalb habe ich um eine Unterredung mit dir gebeten«, sagte der junge Gesandte dann. »Du mußt dich kein weiteres Mal für dein Versagen entschuldigen«, erwiderte Salvat. »Vielleicht trifft dich nicht einmal wirkliche Schuld. Ich muß sie wohl auf mich nehmen …« »Nein«, wandte Raphael ein. »Nein, ich bin nicht hier, um dich um Vergebung zu bitten. Aber ich habe eine Bitte.« Diesmal war er es, der nicht gleich weitersprach, und es verschaffte ihm wenigstens einen Anflug von Befriedigung, als Salvat zumindest einen Anschein von Unruhe zeigte und fragte: »Welcher Art ist dein Begehren?« »Ich bitte dich, mich noch einmal zu entsenden«, antwortete Raphael. »Ich weiß nicht, ob das eine kluge Entscheidung wäre …«, meinte Salvat. »Sinnvoller erschiene es mir, du würdest deine Ausbildung beenden …« »Salvat«, erwiderte der junge Mann in fast flehendem Ton, »ich habe da draußen gespürt, daß ich längst soweit bin. Es war nur die Situation, die gegen mich war. Das wird nicht wieder passieren. Ich bin meinen Weg schon einmal gegangen, und es war der richtige. Ich weiß es. Laß ihn mich bis zum Ende gehen. Darum bitte ich dich.« Salvat schwieg. Lange, und mit einem Blick, der nirgendwohin gerichtet und auch nicht nach innen gekehrt war. Dann sah er Raphael an, und auch dies tat er noch immer schweigend. Fast eine Minute lang. Raphael war versucht, etwas Aufforderndes in seinen Blick zu legen, oder gar, etwas zu sagen. Aber er tat es nicht. Er verstand Salvats Verhalten als die Prüfung, die es war. Und schließlich sagte er: »Nun gut. Geh deinen Weg. Bis zu sei-
nem Ende …« Salvat gebot dem jungen Gesandten mit einer Geste zu schweigen, als dieser etwas erwidern wollte, und ergänzte dann: »… das auch dein Ende sein könnte.« »Das wird es nicht«, entgegnete Raphael Baldacci fest. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und ging. In das Wispern der Schlafenden um ihn her mischte sich eine weitere Stimme, die er erst nach einer Weile als seine eigene erkannte. »Wir sehen uns wieder«, flüsterte sie. »Das verspreche ich dir, Lilith Eden …« ENDE
Lebenslänglich Leserstory von Phil Gabler In dieser Gegend war ich noch nie auf Nahrungssuche, aber ich war der Meinung, daß ein Vampir sein Jagdrevier oft wechseln sollte. Ich flog in meiner Fledermausgestalt durch die dunkle Sommernacht über ein dünnbesiedeltes Gebiet, auf der Suche nach leichter Beute. Ich hatte schon Dutzende von Feldern und auch zwei oder drei Gehöfte überflogen, als ich plötzlich den Geruch von jungem warmen Blut wahrnahm. Ich folgte der Fährte. Sie endete bei einer jungen Frau, die verletzt in der Mitte eines großen Kornfeldes lag. Ich landete neben ihr und nahm wieder meine menschliche Gestalt an. Ihr Herz schlug noch schwach; ich konnte fühlen, wie das Blut in ihren Adern rauschte. Der Geruch wurde so stark, daß ich die Beherrschung verlor und mich auf sie stürzte. Ich wollte gerade mit meinen Hauern in ihre Blutbahn eindringen, als plötzlich der Boden unter mir nachgab. Ich fiel drei Meter tief, landete mit einem dumpfen Aufprall und brauchte einige Sekunden, um mich zu orientieren. Ich befand mich in einer Art Gefängniszelle – und zu meinem Entsetzen hatte sich ein Gitter über das Loch in der Decke geschoben! Auch die Wände der Zelle bestanden aus Eisenstäben. Hinter einem der Gitter erschien nun ein Mann. »Willkommen in meinem kleinen Zoo der Schattenwesen!« begrüßte er mich. »Ich bin für die nächsten Jahre dein Wärter … Ah, Richter Morrisson!« Ein zweiter Mann erschien. »Endlich haben wir einen!« sagte er. »Also war das freiwillige Opfer nicht umsonst.« Er funkelte mich aus stechenden Augen an. »Kraft meines Amtes verurteile ich dich zu lebenslänglicher Haft, Blutsauger!«
Das war vor etwa fünfzig Jahren. Inzwischen habe ich eine ungefähre Vorstellung, was »lebenslänglich« für einen Vampir bedeutet. ENDE (© 1996 Phil Gabler. Mühlenstr. 31, 29664 Walsrode)
Glossar Arche, Dunkle – Die Geschichte von Noahs Arche ist hinlänglich bekannt; Als Gott eine Sintflut schickte, um das Menschengeschlecht vom Antlitz der Erde zu tilgen, sollten allein Noah und dessen Familie überleben. Die Vampire dieser Zeit, die Kinder der Ur-Lilith, erfuhren davon und erbauten gleichzeitig eine »Dunkle Arche«, auf der auch sie überlebten. Sieben Menschenkinder, die während der Fahrt geboren wurden, bildeten den Grundstock zu einer Menschheit, in der auch das Böse wieder seinen Platz hatte. Dom, Dunkler – Als die Dunkle Arche (>) am Berg Ararat in der Türkei strandete, verschmolz sie mit dem Fels und bildete zusammen mit einer ausgedehnten Höhle den Dunklen Dom. Hier ruhten die sumerischen Vampire, bis sie als Kelchhüter (>) erwachen sollten. Kelchhüter – Die sumerischen Vampire überstanden zwar die Sintflut, konnten sich aber untereinander nicht fortpflanzen. Daher schuf die Ur-Lilith den Lilienkelch, der aus Menschen neue Vampire formen konnte. Nur jeweils eines ihrer Kinder erwachte aus dem Stasis-Schlaf und wandelte für tausend Jahre inkognito als Hüter des Kelches über die Erde. Der letzte legitime Kelchhüter war Landru, bevor die Ur-Lilith ein weiteres ihrer Kinder, Felidae, vorzeitig erweckte, um ihre Versöhnung mit Gott vorzubereiten. Metamorphose – Von »Geburt« an können Vampire die Gestalt einer Fiedermaus annehmen; die Verwandlung in einen Wolf gelingt nach einer gewissen Reife und wird lediglich von alten Vampiren beherrscht. Auch Lilith gelingt dies (noch) nicht. Bei der Umwandlung wird die Kleidung der Vampire auf magischem Wege zu Pelz. Das trifft nicht auf Liliths Symbionten
zu; er muß sich auf ein Minimum reduzieren und sich an ihren Fledermauskörper schmiegen. Die Metamorphose der Werwölfe weist Unterschiede auf: Sie können sich nur in den Tagen um den vollen Mond verwandeln und ihre Kleidung bleibt bestehen. Opferschlange – Ein Artefakt der sumerischen Vampire, mit dem sie auf der Dunklen Arche (>) rituell Nahrung zu sich nahmen. Es hat die Form einer leicht gewundenen Schlange mit aufgerissenem Maul. Dringen ihre Zähne ins Fleisch ein, bilden sie feine Drähte aus, die sich tief in den Körper bohren und einen Blutrausch erwecken, zusammen mit dem Verlangen, dem Opfer das Herz aus der Brust zu reißen. Mit der Opferschlange tötete Landru die Ur-Lilith.
Vampire von Dietrich Haubold 4. Teil Vampir-Legenden gibt es in aller Welt. Was die Vorstellungen von den nächtlichen Blutsaugern zunächst geprägt hat, war der europäische Vampir, der Untote aus den Volkserzählungen Süd- und Südosteuropas: Menschen aus dem bäuerlichen Umfeld, die als Wiedergänger ihre Familien und die Bewohner ihrer Dörfer in den Tod zogen. Traditionell sind auch die Mittel gegen diese Plage: Knoblauch, Weihwasser, Kruzifixe, der Pfahl durchs Herz, das reinigende Feuer. Die verschiedenen Erscheinungsformen der Vampire sind gut dokumentiert, ebenso die auf die Untoten zurückgeführten Epidemien. Bis ins 19. Jahrhundert hinein waren sie zwar meist nicht erklärbar – das gelang erst nach Entdeckung der Krankheitserreger zum Beispiel von Tuberkulose oder Milzbrand –, aber die Symptome wurden akribisch festgehalten, ebenso wie die Mittel, die verängstigte Dorfbewohner, weltliche und geistliche Autoritäten gegen das unerklärliche Sterben einsetzten. Beim Übergang von der Folklore in die Literatur erfuhr das Bild des Vampirs Ausschmückungen, Erweiterungen. Die seelenlose Kreatur, getrieben vom immerwährenden Blutdurst, schlüpfte aus der bäuerlichen Arbeitskleidung in vornehme Gewänder, sie bekam Titel, Bildung, bewohnte alte, verfallende Schlösser und Burgen. Der Vampir war zwar immer noch eine Figur des Schreckens – Murnaus kahlköpfiger »Nosferatu« mit seinen spitzen Ohren, den großen Hauern und den überlangen Krallen ist ein gutes Beispiel dafür –, doch stammte er nicht mehr aus der Unterschicht. Die Untoten wurden geadelt – vielleicht lebte in diesen neuen Vampirgestalten ja
auch die Erinnerung an Figuren wie Blaubart fort, denen Reichtum und Adelstitel Deckmantel waren für ihre unvorstellbaren Grausamkeiten. Gleichzeitig wurden den Untoten neue Fähigkeiten zugeschrieben – der hypnotische Blick zum Beispiel, die Macht über das Wetter. Daneben begann im Verhältnis von Mensch und Vampir die Sexualität eine Rolle zu spielen. Die Lebenden waren für die Untoten nicht mehr nur Nahrungsmittel, Lieferanten von frischem Blut, sondern Frauen unterlagen den Verführungskünsten der geheimnisvollen Nachtgestalten und Männer ließen sich freudig von weiblichen Vampiren zerfleischen. Ging es vorher nur um, salopp gesagt, Fressen und Gefressen werden, so entwickelten sich jetzt die Begegnungen zwischen den Vampiren und ihren Opfern zur Tragödie. Klaus Kinski als Nosferatu – er ist der europäische Vampir letzter Verfeinerung, sowohl vom Aussehen als auch von seiner Handlungsweise her. Bela Lugosi dagegen ist das Urbild des amerikanischen, des Hollywood-Vampirs: Gutaussehend, mit dem Charme der alten Welt, ein Herzensbrecher, die Synthese europäischer Mythen und amerikanischer Träume von Schönheit, Unwiderstehlichkeit und Unsterblichkeit. Keiner dieser Vampire ist völlig böse, völlig häßlich – mag er auch unter dem Einfluß von Weihwasser oder des Pfahls durchs Herz zur Karikatur seiner selbst schrumpfen. Der amerikanische Vampir ist – bei aller Gefährlichkeit, bei all dem in ihm verkörperten subtilen Horror – ein begehrenswertes, schönes Nachtgeschöpf, ein echtes Kind des »Lands der unbegrenzten Möglichkeiten«. Gleichzeitig wandelt sich der Vampir zu einer fast positiven Gestalt. Dies Schicksal teilt er mit den Monstern, die ja heutzutage nicht einmal mehr ein Kleinkind erschrecken können. Den wahren Horror findet der Mensch jetzt in den Tiefen der eigenen Seele, im anderen Menschen (um Sartre zu zitieren: »Die Hölle, das sind die anderen.«). Die Schreckensbilder früherer Zeiten sind gezähmt und zu Kuscheltieren degradiert. Zwar hat sich der Vampir diesen Zähmungsversuchen bislang weitgehend widersetzt – sieht man einmal
ab von solchen Entartungen wie den Ketchup-Vampiren, dem kleinen Vampir oder »Vampy« – doch hat er seine Schrecken fast vollständig verloren. Was ist auch schon ein Untoter angesichts von Völkermord und Kriegsgreueln, angesichts des täglichen Massensterbens in unserer »schönen neuen Welt«. Vampire sind die neuen Stars, sie sind – etwa bei Anne Rice – schön und schrecklich, kennen keine Moralgesetze, sind auf ihren Vorteil bedacht, faszinieren Männer wie Frauen – und sind damit ein Spiegelbild alles dessen, was unsere Zeit ausmacht. Der Blutsauger als neues Idol … Graf Dracula würde sich ausschütten vor Lachen. QUELLENANGABEN: DER SPIEGEL. Ausgabe 49/94 vom 5.12.95. Titelgeschichte »Vampire – Lust am Grauen«: Die Wiederkehr des Vampirs-Gruselspektakel aus Hollywood, Interview mit dem Regisseur Neil Jordan über den Hang zu Vampiren Saarländisches Kultur-Journal 2/94 (März/April): Uraufführung im Studio-Theater, Carmilla – Und es gibt sie doch! Schauspiel nach Motiven der gleichnamigen Erzählung von Sheridan LeFanu Montague Summers. The Vampire, Senate. London 1995 (First published in 1928 by Kegan Paul, Trench, Trubner & Co. Ltd. London) Gottfried Kirchner (Hrsg.), Terra X – Expeditionen ins Unbekannte: Schatzsucher. Ritter und Vampire. Wilhelm Heyne Verlag München 1995, darin: Martin Papirowski und Luise Wagner. Draculas Schatten – Fahndung im Reich der Finsternis James Dickie (ed.). The Undead. Vampire Masterpieces, Pan Books, London 1971 (introduction to this anthology) Material der newsgroup »alt.vampyres« im Internet, vor allem Andy Rose’s »Is There A True ›American Vampire‹ Myth?«, Copyright 1984 Bram Stoker’s Dracula, Der Film und die Legende, Das Buch von Francis Ford Coppola und James V. Hart, ins Deutsche übertragen
von Barbara Föst (Drehbuch) und Barbara Heidkamp, Katharina Wolcke und Stefan Bauer, Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1993
Der Atem Manitous von Adrian Doyle Die Prophezeiung sprach von Tod. Vom Sturz des Adlers. Als die Zeit gekommen war, traf Makootemane eine Entscheidung. Er wählte die Einsamkeit, um sein Volk zu retten. Und als der Atem Manitous ihn traf und seinen greisen Leib vergiftete, war niemand bei ihm, den er ins Verderben hätte reißen können. Sein Volk bestand fort, so wie der Stamm, von dem es sich ernährte. Bis sie kam, die allen Vampiren den Tod geschworen hatte. Lilith Eden hatte nie an ihrer Bestimmung gezweifelt. Bis heute …