MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 107
Pariser Albträume von Michael J. Parrish
Es war so finster, dass man die...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 107
Pariser Albträume von Michael J. Parrish
Es war so finster, dass man die Hand nicht vor den Augen
sehen konnte. Der Gestank nach Fäulnis und Exkrementen
erfüllte die Luft, und es war kalt und feucht.
Die junge Frau, die auf dem kahlen Steinboden lag, war
kaum noch am Leben. Ihr nackter blutiger Körper zuckte,
und obwohl rings herum eisiges Schweigen herrschte,
konnte sie sie noch immer hören.
Die Stimmen ihrer Peiniger. Das Grölen der Kerle, die ihr
das angetan hatten.
Ihr heiseres Keuchen, als sie sich auf sie gestürzt hatten wie
wilde Tiere...
WAS BISHER GESCHAH
Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Asiens werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den USPiloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... Körperlose Wesen, die Daa'muren, kamen damals mit dem Kometen zur Erde und veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist. Nach unzähligen Mutationen haben sie ihn nun gefunden: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Um Verbündete zu finden, versorgen Matt und seine Freunde die Bunkermenschen Europas und Russlands mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt. Selbst der Weltrat, skrupelloser Nachfolger der US-Regierung, tritt der Allianz bei. Unterstützt wird Matt von Mr. Black, dem Klon des damaligen US-Präsidenten, dem Cyborg Aiko – Sohn des Androiden Takeo –, der Rebellin »Honeybutt« Hardy, dem Albino Rulfan und seinem Staffelkameraden Dave McKenzie. Bisher weiß man nur wenig über die Pläne der Daa'muren. Besser informiert ist ein Mann, den die Aliens in ihrer Gewalt haben: der irre Professor Dr. Smythe. Er kennt die Herkunft der Daa'muren, einen glutflüssigen Lava-Planeten, und weiß um ihre telepathischen und gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Sie
streben eine Kooperation mit ihm an. Ihrer beider Ziel: die Weltherrschaft! Inzwischen versuchen die Gefährten, die Sippen und Bunker Britanas zu einen. Auf Aiko und Honeybutt müssen sie dabei verzichten: Das Gehirn des Cyborgs wurde geschädigt, und die junge Rebellin begleitet ihn zurück nach Amarillo. In Southampton treffen Matt und Aruula einen alten Bekannten: den Nosfera Navok, der gegen die Sklaverei kämpft. Matt, der nach einer alten Nosfera-Prophezeiung der »Sohn der Finsternis« ist, nimmt Navok gegenüber einer Gruppe Bluttempler, die ihn für das russische Ordensoberhaupt töten soll, in Schutz. In Washington stellt sich Victor Hymes zur Wiederwahl als Präsident des Weltrats. Doch obwohl er keinen Gegenkandidaten hat, verliert er mehr als nur die Wahl: Mit seiner Weigerung, den Androiden Miki Takeo in Los Angeles als Bedrohung anzusehen, die schnellstmöglich beseitigt werden muss, stellt er sich gegen seinen General Arthur Crow – der ihn, »zum Wohle des Landes«, ermordet...
Ihren Körper nahm sie kaum noch wahr. Zuerst hatte sie rasenden Schmerz verspürt – dort, wo ihre groben Pranken sie gepackt, wo ihre Klingen zugestochen hatten. Aber je länger die Qual gedauert hatte, desto mehr war die Frau gegenüber dem Schmerz abgestumpft. Vergeblich hatte sie sich in eine andere Zeit und an einen anderen Ort gewünscht, um ihren Peinigern zu entgehen. Aber sie hatte ihnen nicht entkommen können, war ihrer schmutzigen List und ihren widerwärtigen Trieben schutzlos ausgeliefert gewesen. Eine wehrlose junge Frau inmitten einer Meute reißender Bestien. Ob sie die Augen schloss oder sie offen hielt, machte keinen Unterschied. Es blieb undurchdringlich dunkel. Dennoch konnte sie vor sich noch immer die Gesichter der Männer sehen, ihre gefletschten Zähne, ihre lodernden Augen. Sie erinnerte sich daran, wie man sie gepackt und in dieses dunkle Loch verschleppt hatte. Vergeblich hatte sie geschrien, niemand war ihr zur Hilfe gekommen. Sie hatten sie in die Ecke gedrängt und ihr die Kleider vom Leib gerissen. Irgendwann war sie zusammengebrochen, und ihre Erinnerung wurde lückenhaft. Allzeit gegenwärtig blieb nur der Schmerz. Schmerz, der von ihrem Unterleib auf den ganzen Körper übergegriffen hatte. Der Rest war in Dunkelheit versunken. Dunkelheit, die bis zu diesem Augenblick andauerte und in die sich Furcht und Verzweiflung mischten. Obwohl sie keine Schuld traf, schämte sie sich für das, was geschehen war. Sie hatte nicht mehr das Gefühl, ein menschliches Wesen zu sein. Diese Kerle hatten ihr alles genommen. »Alles«, murmelte sie leise vor sich hin. »Alles.« Sie blieb still liegen und hoffte, dass die Verzweiflung und der Schmerz groß genug sein würden, damit sie wieder das Bewusstsein verlor. Am liebsten wollte sie auf der Stelle sterben, um die Qual und die Erniedrigung nicht länger
ertragen zu müssen. Aber sie blieb am Leben. Wie lange sie so in der Dunkelheit gelegen hatte, wusste sie später nicht mehr zu sagen. Alles woran sie sich erinnerte, war, dass sie Besuch erhalten hatte. Lichtschein drang plötzlich durch ihre geschlossenen Lider, und sie blickte blinzelnd auf. Zu ihrer Verblüffung stand vor ihr eine schlanke Gestalt, die ein helles Kleid trug und deren langes Haar wallend auf ihre Schultern fiel. Woher das Licht stammte, vermochte die junge Frau nicht zu erkennen. Die Besucherin selbst schien auf geheimnisvolle Weise zu leuchten. »W... wer bist du?«, fragte die junge Frau verblüfft. Ihre Stimme hörte sich krächzend und elend an. »Ich bin gekommen, um dir zu helfen«, sagte die Besucherin. Als sie noch ein Stück weiter vortrat, wurden ihre Gesichtszüge sichtbar – und Felia erschrak über das starre, ausdruckslose Antlitz, in das sie blickte. Die Fremde trug eine Maske... »Das tut weh, nicht wahr?«, fragte sie, und ihre Stimme klang dabei unendlich sanft. Die Gepeinigte blickte an sich hinab, sah ihren geschundenen Körper, das Blut auf dem Boden. Langsam nickte sie. »Ich weiß, dass es weh tut«, sagte die Fremde. »Ich kenne deinen Schmerz. Aber du darfst nicht aufgeben, hörst du? Ich weiß, dass du am liebsten sterben würdest, aber das darfst du nicht. Du musst am Leben bleiben, denn du hast eine Mission zu erfüllen.« »Eine... Mission? Was für eine Mission?« »Willst du das Opfer bleiben? Willst du, dass diese Freveltat ungesühnt bleibt? Dass die Kerle, die dir das angetan haben, straflos davonkommen?«
»I-ich weiß nicht...« Die junge Frau, die noch immer am Boden lag, schüttelte den Kopf. Sie war so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie darüber noch nicht nachgedacht hatte. »Keinesfalls«, war die Fremde überzeugt. »Die Männer werden bezahlen für das, was sie dir angetan haben. Denke an den Schmerz, den sie dir zugefügt haben, an ihre hämisch grinsenden Gesichter. Du musst sie hassen, mit der ganzen Kraft deiner Existenz, mit allem, was dir noch geblieben ist. Das wird dir die Kraft geben zu überleben. Weißt du, was ich meine?« »Ich bin mir nicht sicher...« »Verdammt!«, schrie die Besucherin laut. »Willst du mir erzählen, du würdest das alles ungesühnt lassen? Sollen die Kerle einfach so davonkommen? Willst du nicht, dass sie ebenso am Boden liegen wie du? Dass sie sich ebenso erniedrigt fühlen?« Die Gepeinigte überlegte einen Augenblick. Die Fremde brachte sie auf völlig neue Gedanken. Noch vor einem Augenblick waren Gefühle des Schmerzes und der Scham alles gewesen, woran sie hatte denken können. Jetzt schlugen sie in blanke Wut um, die nur noch größer wurden, wenn sie sich an das höhnische Gelächter der Kerle erinnerte. »Willst du, dass sie dafür bezahlen?«, herrschte die Besucherin sie an. »Das will ich!«, bestätigte die Frau mit krächzender, sich überschlagender Stimme. »Ich will, dass sie dafür büßen! Ich will, dass sie selbst empfinden, was sie mir angetan haben!« »Dann bleib am Leben! Ich weiß, was du empfindest, aber du darfst diesem Gefühl nicht nachgeben. Nur wenn du lebst, kannst du dich an deinen Peinigern rächen, hast du mich verstanden?« »Ja.« »Dann steh jetzt auf.«
Die Geschundene nickte und schickte sich an, auf die Beine zu kommen. Es wollte ihr nicht gelingen. Zweimal gaben ihre Beine nach und sie schlug wieder zu Boden. Die Besucherin, die mit verschränkten Armen vor ihr stand, machte keine Anstalten, ihr zu helfen. »Wird's bald?«, fragte sie stattdessen. »Was ist mit dir? Kannst du nicht mehr aufrecht stehen? Nimm dich zusammen! Denk an diese Kerle, an deinen Hass.« Zorn packte die Gepeinigte. Zorn, der so unbändig war, dass er ihr tatsächlich neue Kraft verlieh. Mühsam schleppte sie sich zur gekachelten Wand und stemmte sich dagegen, schaffte es, sich auf diese Weise aufzurichten. Einen Augenblick blieb sie keuchend stehen, dann stieß sie sich von der Wand ab. Irgendwie gelang es ihr, sich auf ihren nackten zitternden Beinen zu halten. »So ist es gut«, lobte die Besucherin. »Und nun folge mir. Ich werde dir zeigen, wie du dich rächen kannst.« »Aber... ich bin noch so schwach...« »Ich will nichts hören von Schwäche! Schwach bist du lange genug gewesen. Dein Hass wird dir die Kraft geben, zu überleben und zurückzuschlagen. Und jetzt komm!« Sie ging los und machte keine Anstalten, auf ihren Schützling zu warten, verließ den Raum durch den schmalen Durchgang. Sich an den seltsam geformten, halbrunden Becken abstützend, die entlang der Wand montiert waren, folgte ihr die Gepeinigte. Nach allem, was geschehen war, war sie kaum noch bei Bewusstsein, aber eiserner Überlebenswille erfüllte sie. »Warte!«, rief sie ihrer Retterin hinterher, aber diese ging einfach weiter. »Wie ist dein Name?«, rief sie in das Halbdunkel, das in dem unterirdischen Gewölbe herrschte. »Nenn mich Kuursa«, kam es zurück. *
Seine Bezeichnung verdankte der EWAT – Earth-WaterAir-Tank – seinen erstaunlichen Fähigkeiten: Das gepanzerte, amphibische Kettenfahrzeug war nicht nur in der Lage, sich zu Lande und zu Wasser fortzubewegen, sondern konnte sich aufgrund seines von Manövrierdüsen unterstützten Magnetkissenantriebs auch in die Lüfte erheben. Manche nannten diese Nutzung der irdischen Magnetfeldlinien etwas missverständlich »Antigrav-Antrieb«, obwohl dabei natürlich nicht die Gravitation aufgehoben wurde. Anfangs hatte Commander Matthew Drax sich über die erstaunlichen technischen Fähigkeiten des EWATs noch gewundert. Inzwischen hatte er gelernt, sie als so selbstverständlich hinzunehmen, wie es zu seiner Zeit Kühlschränke oder Geschirrspülmaschinen gewesen waren. Obwohl der Kometeneinschlag vor rund fünf Jahrhunderten das Antlitz des Planeten grundlegend verändert und die Erde in eine dunkle Zukunft geschleudert hatte, gab es Orte, an denen die Menschheit nicht in Barbarei zurückgefallen war, sondern die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik bewahrt und weiterentwickelt hatte: die Bunkergemeinden, die die Katastrophe überlebt hatten und deren Bewohner sich »Technos« nannten. Indem Matt den Technos von London dabei geholfen hatte, ein Serum zu beschaffen, das ihre Immunschwäche beseitigte, hatte er ihnen ein Leben außerhalb von Glaskuppeln und Schutzanzügen ermöglicht. Die nächste Aufgabe bestand nun darin, auch die anderen Bunkergemeinden Europas mit jenem Serum zu versorgen und auf diese Weise neue Verbündete gegen die unheimliche Bedrohung zu finden, die in Gestalt der außerirdischen Daa'muren heraufgezogen war. Nach der Befreiung Rulfans und Dave McKenzies aus der Sklaverei auf der nördlichsten der Meera-Inseln hatte der nächste reguläre Einsatz Matt und seine Gefährten nach
Südosten geführt. Ihr Ziel war Paris, die einstige Hauptstadt Frankreichs – oder vielmehr das, was noch davon übrig war. Schon einmal hatte Matt Paris – oder Parii, wie es jetzt genannt wurde – einen Besuch abgestattet. Das war vor rund vier Jahren gewesen, nur wenige Wochen nachdem ihn ein rätselhaftes Zeitphänomen in die Zukunft geschleudert hatte. Damals hatte er sich in dieser entarteten Welt kaum zurechtgefunden, hatte noch nichts geahnt von den bestürzenden Entdeckungen, die auf ihn warteten. Matt verband wenig angenehme Erinnerungen mit Parii. Die Stadt an der Seine war zu einer riesigen Ruinenwüste verkommen gewesen, in der zwei verfeindete Volksgruppen lebten – die Parii, die in den oberirdischen Trümmern hausten, und die Me'ro, die von den Oberirdischen in die Schächte des einstigen U-Bahn-Systems vertrieben worden waren und dort ihr unterirdisches Reich errichtet hatten. Mit Hilfe des Avtar, eines gigantischen Monstervogels, hatten die Me'ro jedoch den Spieß herumgedreht und nun ihrerseits die Parii grausam unterdrückt. Zwar war es Matt gelungen, die Gewaltherrschaft der Me'ro zu brechen und den Avtar zu töten, aber der Sieg hatte einen bitteren Beigeschmack: Sein Freund und Staffelkamerad Hank Williams, den es wie ihn in die Zukunft verschlagen hatte, war beim Kampf gegen den Avtar und die Me'ro gefallen. An jenen schaurigen Ort zurückzukehren, kostete Matt daher einige Überwindung. Andererseits hatten Me'ro und Parii am Ende feierlich gelobt, in Zukunft friedlich miteinander auszukommen – und das machte sie zu weiteren potentiellen Verbündeten bei dem Kampf, der der Menschheit bevorstand. Aruula, Matts barbarische Gefährtin, saß neben ihm in einem der Passagiersessel des EWAT und betrachtete ihn von der Seite. Ihre Fähigkeit zu lauschen und die Empfindungen anderer Menschen zu spüren, brauchte sie nicht, um festzustellen, dass er angespannt war.
Sie war damals in Parii dabei gewesen und wusste nur zu gut, was sich dort abgespielt hatte. Fleischfetzen des gesprengten Avtar hatten sie damals infiziert, und sie wäre fast daran gestorben. So war auch sie nicht gerade erpicht darauf, der Stadt einen zweiten Besuch abzustatten, sah aber die Notwendigkeit ein. »Alles in Ordnung, Maddrax?«, erkundigte sie sich mit besorgtem Augenaufschlag. »Na klar«, gab Matt zurück und grinste breit – aber es sah nicht sehr überzeugend aus. »Die Scanner orten eine gewaltige Ansammlung von Schutt und Ruinen«, meldete in diesem Augenblick Aufklärer Andrew Farmer von der Londoner Community. »Das muss Parii sein«, meinte Matt. »Kurskorrektur Null Komma zwei Grad«, meldete Farmer. »Bestätige Null Komma zwei Grad«, erwiderte Lieutenant Peter Shaw, der Pilot der Maschine, und der massige EWAT änderte unmerklich seine Flugrichtung. Draußen dämmerte es bereits. Ein blutig rotes Band zog sich den Horizont entlang, und aus den bewaldeten Senken stieg Dunst auf. Matt erhob sich aus seinem Sitz und trat an das Kanzelglas des EWAT, der mit gleichmäßiger Geschwindigkeit über den Baumwipfeln dahinflog. Schon wurde der Baumbewuchs spärlicher, und die ersten Ausläufer der Stadt wurden sichtbar: Häuserruinen und brüchige, von Pflanzen überwucherte Asphaltbänder, die einst die Verkehrsadern der Metropole gewesen waren. So weit das Auge reichte, erstreckten sich die Ruinen der Vorstädte. Millionen von Menschen hatten einst hier gelebt – jetzt war nur noch eine wüste Trümmerlandschaft übrig. Matt schauderte bei dem Anblick. Er war der Einzige an Bord, der sich daran erinnerte, wie die alte Welt gewesen war. Für Aruula und die EWAT-Besatzung
waren das da draußen nichts als abstrakte Trümmer und antike Ruinen. Matt hingegen versetzte es noch immer einen Stich, wenn er daran dachte, was die Menschheit verloren hatte. Der EWAT ließ die Vorstädte hinter sich und steuerte das Zentrum an. Dank der Pläne, die sich im Londoner Archiv befunden hatten, bereitete die Navigation keine Probleme – auch wenn sich das Luftbild der Stadt in den letzten fünf Jahrhunderten ziemlich verändert hatte. »Reizend«, meinte Captain Selina McDuncan, die Kommandantin des EWAT, mit geringschätzigem Blick. »Ich kann verstehen, dass es sie wieder an diesen lauschigen Ort gezogen hat, Commander.« Matt erwiderte nichts darauf, aber Aruula ließ ein leises Knurren vernehmen. Es war kein Geheimnis, dass Selina und sie nicht gerade Freundinnen waren – vor allem deshalb nicht, weil die selbstbewusste Selina, die sich seit ihrer Befreiung aus dem Kokon des Schutzanzugs mehr und mehr zu einem hübschen Schmetterling entwickelte, ausnehmend gut mit Maddrax harmonierte. Erstens waren sie beide Flieger, und zweitens konnten sie sich über Dinge unterhalten, von denen Aruula keine Ahnung hatte, ja die meisten davon immer noch als eine Art Magie ansah. »Die Gebäude sind offenbar unbewohnt«, meldete Farmer. »Allerdings orte ich eine größere Ansammlung von Menschen im Kern der Stadt.« »Dorthin fliegen wir«, befahl Matt. »Halten Sie es für klug, noch vor Einbruch der Dunkelheit in der Stadt zu landen, Commander?«, fragte Selina. »Möglicherweise wäre es günstiger, zunächst einen Kolk loszuschicken und erst bei Tagesanbruch...« »Ich denke, wir können das Risiko eingehen«, widersprach Matt. »Zum einen haben wir keine Zeit zu verlieren, und zum anderen sollte es dort unten keine Gefahr mehr geben. Die Gewaltherrschaft der Me'ro wurde gebrochen. Wenn es den
Bewohnern von Parii gelungen ist, ihre guten Vorsätze in die Tat umzusetzen, haben wir nichts zu befürchten.« »Wenn«, gab die stets vorsichtige Selina zu bedenken, und Matt musste zugeben, dass sie nicht Unrecht hatte. Immerhin hatten sie die ganze Zeit über nichts von Parii gehört. »Aruula?«, fragte er deshalb. Die Kriegerin konzentrierte sich, lauschte hinaus in die anbrechende Nacht. »Ich kann keine Aggressionen spüren«, sagte sie dann. »Eher das Gegenteil ist der Fall.« »Das Gegenteil?« »Ich fühle große Freude... als würde in Parii ein Fest gefeiert.« »Na ja«, meinte Matt mit schiefem Grinsen, »dann feiern wir eben mit.« Jenseits des Kanzelglases waren jetzt Lichter zu sehen, die in der Dunkelheit funkelten. Feuer. Nicht nur einzelne, sondern tausende. Sie beleuchteten ganze Straßenzüge in jenem Teil der Stadt, der einst das pulsierende Zentrum von Paris beherbergt hatte: die breite Straße, die sich von den Trümmern des Triumphbogens bis hinab zu den Ruinen des Louvre erstreckte und die zu Matts Zeiten als Champs Élysées bekannt gewesen war. Daneben zog sich, in der Dunkelheit glitzernd, das breite Band der Seine hin, die ihren Verlauf in den vergangenen fünf Jahrhunderten geändert hatte und an einigen Stellen über die Ufer getreten war. Auf der anderen Seite des Flusses ragten wie ein riesiger Stumpf aus rostigem Metall die Überreste des Eiffelturms empor, die sich düster gegen den roten Horizont abhoben. Dort oben in luftiger Höhe hatte einst der Avtar sein Nest gehabt – bis Matt ihn mit einer selbst gebauten Bombe in die Luft gejagt hatte. Aruula sandte ihrem Gefährten einen Blick, als wollte sie ihm zu verstehen geben, wie froh sie war, dass all das hinter ihnen lag. Maddrax reagierte nicht darauf. Sein Blick war starr
auf die Häuserzeilen geheftet, denen sich der EWAT näherte, und ein mieses Gefühl setzte sich in seiner Magengegend fest. Hatte er sich durch Selinas Vorsicht anstecken lassen? Oder waren es nur die düsteren Erinnerungen, die Matthew Drax unruhig machten? »Wenn es Ihnen Recht ist, Commander, würde ich vorschlagen, auf der anderen Seite des Flusses runter zu gehen. Die Gegend scheint weniger dicht besiedelt und der EWAT wird dort weniger Aufsehen erregen.« »Natürlich.« Matt nickte. Die Bewohner von Parii standen auf einer Entwicklungsstufe, die bestenfalls als mittelalterlich zu bezeichnen war. Aus den Trümmern der untergegangenen Zivilisation hatten sie sich allerhand nützliche Gerätschaften gebastelt, aber mit ihrer kulturellen Entwicklung war es nicht sehr weit her. »Sehen Sie zu, dass wir kein Aufsehen erregen, Peter«, wies Selina den Piloten an. »Aye, Ma'am«, bestätigte dieser und verzichtete darauf, die Landescheinwerfer einzuschalten. Die Landeautomatik des EWAT ermöglichte es, die Maschine dennoch sicher zu Boden zu bringen. Die Beleuchtung im Cockpit musste er nicht löschen, da die Scheiben nur nach draußen hin durchsichtig waren. Zielsicher steuerte Shaw die Koordinaten an, die der Navigator ihm gab – ein freies Feld auf der anderen Seite des Flusses, das von breiten, trümmerbedeckten Straßen gesäumt wurde. Auf der dem Fluss zugewandten Seite ragte der Eiffelturm auf. »Das Marsfeld«, stellte Matt fest, während der Tank bereits zur Landung ansetzte. »So hat man diesen Ort einst genannt. « »Mars?« Aruula hob die Brauen. »Bei den alten Römern war Mars der Gott des Krieges«, erklärte Matt mit schwachem Lächeln. »Ich könnte mir denken, dass er dir sympathisch gewesen wäre.«
Die Barbarin erwiderte nichts darauf, und sie warteten, bis der EWAT sicher aufgesetzt hatte. Shaw und Farmer führten die Routinen durch und sicherten das Fahrzeug, während Selina McDuncan sich um die Ausrüstung kümmerte. »Nur leichtes Gepäck«, wies Matt sie an. »Falls es Schwierigkeiten geben sollte, müssen wir flexibel sein.« »Sie rechnen mit Problemen?« Selina hob die Brauen. »Das hier ist Parii«, erwiderte Matt schulterzuckend. »Hier sollten sie mit allem rechnen, Captain. Die Zeiten, in denen man im Bistro an der Ecke gemütlich seinen Kaffee schlürfen konnte, sind vorbei.« »Waffen?«, erkundigte sie sich. »Nur Handfeuerwaffen. Wir sollten für alle Fälle gerüstet sein. Die französische Höflichkeit ist nicht mehr das, was sie mal war.« Lieutenant Shaw lachte, obwohl weder er noch die anderen wussten, wovon Matt eigentlich genau sprach. Keiner von ihnen hatte die französische Gastfreundlichkeit jemals wirklich genossen. Alles was sie über die alte Welt wussten, stammte aus Büchern und anderen Aufzeichnungen. Zischend öffnete sich das Schott des EWAT. Matt war der Erste, der hinausging, im Holster den Driller, der ihm inzwischen so vertraut war wie früher seine alte Armeepistole. Inzwischen war es fast vollständig dunkel geworden. Wachsam blickte Matt sich um, konnte auf dem freien Feld, das von Gras und niederen Sträuchern überwuchert war, jedoch weit und breit niemanden sehen. Aruula gesellte sich zu ihm. Die Kriegerin hatte ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengt und starrte hinaus in die Dunkelheit. Ihr Schwert hatte sie blank gezogen, um sich im Fall eines Angriffs sofort verteidigen zu können. Nachdem auch die übrigen Mitglieder der Crew den EWAT verlassen hatten, wurde das Fahrzeug gesichert – selbst wenn
die Bewohner von Parii es entdeckten, würden sie der Panzerung mit ihren primitiven Waffen keinen Schaden zufügen können. »Also los«, meinte Matt und setzte sich in Bewegung. Aruula blieb an seiner Seite, der Rest des Trupps folgte ihm. Als sie den Rand des Feldes erreichten, schloss Selina zu ihnen auf gesellte sich zu Matt. »Wohin gehen wir?«, wollte die Offizierin wissen. »Zu Rennee«, erwiderte Matt wortkarg. »Wer ist das?« »Einer der Parii. Er ist der Sohn des Obersten Lords und war Bürgermeister der Stadt, als wir sie verließen. Wenn sich die Machtverhältnisse nicht geändert haben, ist er unser Mann.« »Denken Sie, er wird sich an Sie erinnern?« »Ganz sicher. Was damals geschehen ist, hat wohl keiner der Beteiligten vergessen.« »Auch Aruula nicht?« »Auch Aruula nicht«, bestätigte die Barbarin düster. Schweigend marschierten sie weiter. Sie verließen das Marsfeld und überquerten die brüchigen Überreste der Straße, erreichten die ersten Häuserreihen. In den dunklen Eingängen der Ruinen, die ihnen wie hungrige Mäuler entgegen starrten, kauerten abgerissene Gestalten, die sich rasch in die Dunkelheit zurückzogen, als sie die Besucher kommen sahen. Selina wies ihre Leute an, wachsam zu sein und die Hände an den Drillern zu behalten. Endlich gelangten sie an den Fluss. Im Anflug hatte Matt gesehen, dass die Parii in seiner Abwesenheit nicht untätig gewesen waren. Auf den brüchigen Pfeilern der alten Pont de l'Alma, die aus dem dunklen Wasser ragten, war aus aneinander gebundenen Stahlträgern eine neue Brücke errichtet worden, die man mit hölzernen Planken beschlagen hatte. Die Konstruktion sah ziemlich abenteuerlich aus, schien aber gute
Dienste zu leisten. Farmer wurde als Aufklärer voraus geschickt, um die Lage auf der anderen Seite zu sondieren. Dann folgte der Rest des Trupps. Auf der anderen Seite der Seine erstreckte sich das eigentliche Herz von Parii – ein Ruinenmeer, das weiter reichte, als das Auge blicken konnte. Häuser, von denen nur noch die Fassaden standen, ragten zu beiden Seiten der Straßen auf, überall lagen Schutt und Unrat und die ausgeschlachteten Wracks von Fahrzeugen. Anders als rechts der Seine gab es auf dieser Seite des Flusses Licht; Feuer waren entlang des Ufers entzündet worden, um die Männer und Frauen in lumpiger Kleidung saßen. Sie schienen so miteinander beschäftigt zu sein, dass sie sich nicht um die Besucher scherten. Je näher Matt und seine Gefährten den Champs Élysées kamen, desto heller wurde es. Nicht nur die Straßen waren von Feuern und Fackeln beleuchtet, sondern auch viele der Häuser, die mit notdürftigen Mitteln wieder bewohnbar gemacht worden waren. Eine Stadtmauer oder Umgrenzung schien es nicht zu geben; weder mussten Matt und seine Gefährten ein Tor passieren noch gab es Wächter, die sie aufhielten und ihnen irgendwelche Fragen stellten. Zumindest ihre Weltoffenheit, dachte Matt, hatten die Bürger der Stadt sich bewahrt. Mit jeder Kreuzung, die die Besucher passierten, wurden die Straßen belebter. Menschen in mittelalterlich anmutender Kleidung bevölkerten die Ruinen, Händler boten an Ständen ihre Waren feil. Die Sprache, in der sie sich unterhielten, war ein Mix aus Vulgärfranzösisch und dem Idiom der Wandernden Völker. Seinerzeit hatte Matt gelernt, sich recht gut darin zu verständigen – dank der Translatorentechnik der russischen Technos war dies aber nun nicht mehr nötig. Matt sah sowohl schlanke Parii als auch die eher gedrungenen Me'ro – die beiden Bevölkerungsgruppen
schienen sich also tatsächlich miteinander ausgesöhnt zu haben und die Stadt nun gemeinsam zu bewohnen. Wieso aber, fragte er sich, blieb das miese Gefühl in seiner Magengegend? Er warf Aruula einen prüfenden Seitenblick zu. Auch die Barbarin blieb wachsam, obwohl ihre Sinne nichts Alarmierendes zu erlauschen schienen. Endlich erreichten sie das Ende der Straße und den Rand der Champs Élysées. Hier war im wahrsten Sinn des Wortes die Hölle los... * Große Feuer waren in der Mitte der breiten Straße entzündet worden und tauchten die Fassaden in flackernden Schein. Viele der Gebäude hatte man mit notdürftigen Mitteln restauriert. Aus ihrem Inneren drangen Musik und das laute Gegröle von Betrunkenen. Davor hatte man Buden und Zelte errichtet. Händler boten Waren an, Gaukler in bunten Gewändern führten Kunststücke auf. Schaulustige standen in großen Trauben dabei und gafften, und überall auf der Straße waren Menschen unterwegs. Viele von ihnen grölten und sangen, andere torkelten und konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. »Alk«, sagte Aruula voller Missbilligung. Als Angehörige eines Naturvolks konnte sie Drogen jeder Art nichts abgewinnen. »Tja«, versetzte Matt, »die Jungs hier scheinen zu wissen, wie man 'ne ordentliche Party schmeißt.« Sie setzten ihren Weg fort, und je weiter sie die Champs Élysées hinab gingen, desto deutlicher wurde, welcher Art die Feier war, die hier vor sich ging. Auf einem Podest am Straßenrand bot ein fettgesichtiger Me'ro lebende Ware zum Kauf – junge Frauen, die nichts als durchsichtige Schleier am Leib trugen. Die Kerle, die das
Podest umstanden und um die Wette boten, hatten ein lüsternes Lodern in ihren Augen. »Sklavinnen!«, rief der Me'ro lauthals. »Willige Sklavinnen! Bezahlt nur einmal, und sie werden euch jeden Wunsch von den Augen ablesen. Und ich meine wirklich jeden Wunsch, Männer...« Auf der anderen Straßenseite standen junge Frauen, die jedem, der an ihnen vorüber ging, aufreizende Blicke zuwarfen. Einige von ihnen trugen nur eine Art Lendenschurz, andere waren völlig nackt. Wieder andere hatten sich einen Umhang um ihre Schultern gelegt, den sie öffneten, wenn sich ein potentieller Kunde näherte. »Wie wär's mit uns, Großer?«, erkundigte sich eine dralle Rothaarige bei Matt und ließ ihre Reize sehen. Aruula stieß ein zorniges Fauchen aus, worauf die Dirne sich rasch wieder verhüllte. Ein Stück weiter lag der Eingang eines Lokals, der von kräftigen Parii-Burschen bewacht wurde. Nicht jeder schien Zutritt zu haben zu diesem Etablissement, aus dessen Innerem aufpeitschende Musik und lautes Stöhnen drangen. Was dort vor sich ging, wollte sich Matt gar nicht ausmalen. Aus einer Reihe weiterer Lokale war heiseres Geschrei zu hören. »Das Spiel des Glücks, Leute!«, verkündete ein Marktschreier lauthals. »Fordert das Schicksal heraus und seht, ob es euch freundlich gesonnen ist. Werdet reich noch in dieser Nacht und kauft alles, was euer Herz begehrt!« Neben ihm torkelte ein junger Mann aus dem Lokal, der nicht nur betrunken war, sondern beim Glücksspiel auch so ziemlich alles eingebüßt zu haben schien, was er besessen hatte. Der Fetzen, den er noch am Leib trug, war schwerlich als Kleidung zu bezeichnen, und in seinem Gesicht lag ein verzweifelter Ausdruck. »Bitte«, rief er, »lasst es mich noch mal versuchen!« »Hast du noch was, das du versetzen kannst?«, entgegnete
eine raue Stimme von drinnen. »Nein.« »Dann verschwinde!« »Aber ich...« Der Junge wollte zurück ins Lokal, doch der Marktschreier hielt ihn zurück. Daraufhin erschienen zwei Rausschmeißer, die den Jungen packten und ihn in hohem Bogen auf die Straße warfen. Dass er reglos liegen blieb, schien niemanden zu interessieren – am allerwenigsten die Männer, die am Fuß einer eingestürzten Mauer kauerten. Sie hatten glückselig ausdruckslose Gesichter, aus ihren Augen war jeder Glanz gewichen. Es war offensichtlich, dass sie unter Drogen standen – offenbar waren Alkohol, Glücksspiel und Frauen nicht die einzigen Laster, denen in Parii gefrönt wurde. Ein dunkelhäutiger Typ, der einen Kapuzenumhang aus Wolle trug, trat unvermittelt auf die Besucher zu. »Kann ich euch etwas anbieten?«, raunte er Shaw und Farmer zu. »Gebt mir eins eurer Weiber, und ich verschaffe euch eine Reise, die ihr nicht vergessen werdet.« »Verschwinde«, zischte Selina. Sie stieß den Dealer grob zur Seite und schaute Matt fragend an. »Können Sie mir sagen, was das alles soll, Commander?« »Das wüsste ich auch gerne«, gab Matt achselzuckend zurück und ließ seinen Blick über das wogende Chaos schweifen. Geschrei und Betrunkene allenthalben, dazwischen Gaukler, die mit Schwertern jonglierten und Feuer schluckten. Das Glücksspiel florierte, Junkies lungerten in dunklen Ecken und junge Frauen verkauften ihre Körper. Er erinnerte sich, dass Aruula bei den Bewohnern von Parii eine ausgelassene Stimmung gefühlt hatte. Das war wohl leicht untertrieben gewesen... »Hey!«, rief Matt einem Mann an, der sich gerade an ihnen vorbei drücken und eins der Spielkasinos aufsuchen wollte. »Was ist hier los?«
»Was meinst du?«, fragte der Angesprochene mit blödem Grinsen. »Was für ein Fest wird hier gefeiert?«, erkundigte sich Matt. »Hier wird gar kein Fest gefeiert.« Der Parii zuckte mit den Schultern. »Soll das heißen, dass es hier immer so abgeht?« »Woher kommt ihr? Aus dem Umland?« Der Parii kicherte. »Ich hab schon gehört, dass ihr Leute vom Land keine Ahnung habt, wie man sich richtig amüsiert. Willkommen in Parii, der Stadt des Lasters und der Sünde! Willkommen in der Hauptstadt des Vergnügens!« Damit verfiel er in schnatterndes Gelächter und verschwand in der Menge. Matt staunte nicht schlecht. Die gute Nachricht war, dass Parii und Me'ro sich tatsächlich ausgesöhnt zu haben schienen. Dafür war die Stadt zu einer Art modernem Sodom verkommen – zu einem Ort, an dem man gegen entsprechende Bezahlung jedem erdenklichen Laster frönen konnte. Und dabei schien es weder Moral noch Tabus zu geben. Verblüfft setzten die fünf Besucher ihren Marsch fort und sahen Dinge, die sie noch vor einer Stunde für unmöglich gehalten hätten. Auf einer Bühne schlugen mit Schwertern bewaffnete Männer aufeinander ein. Sie alle bluteten aus zahlreichen Wunden, während Buchmacher lauthals schrien und Wetten darauf annahmen, wer das Gemetzel überlebte und wer nicht. Einen Block weiter hatte man aus Eisenstäben einen Pferch errichtet, in dem ein Rudel Taratzen gefangen war. Die menschengroßen Ratten waren völlig außer sich. Angestachelt von den Schaulustigen, die den Käfig umstanden und lauthals grölten, fielen sie übereinander her. Geifer troff aus ihren zähnestarrenden Mäulern, und ihre Augen loderten, während sie sich gegenseitig zerfleischten. Dicht über ihren Köpfen hingen Käfige, in denen junge
Frauen hockten. Sie waren mit Taratzenblut besudelt und schrien laut vor Angst. Aber die Zuschauer lachten nur. Aruula zuckte bei dem Anblick zusammen. »Das ist widerlich«, sagte sie, und Matt konnte ihr nur beipflichten. Er brannte darauf, Rennee aufzusuchen und ihn zu fragen, was verdammt noch mal hier vor sich ging. Zielstrebig führte er seine Leute an Tavernen und weiteren Spielhöllen vorbei die Straße hinab auf das große Eckgebäude zu. Dort hatte sich zuletzt der Sitz des Stadtoberhaupts befunden, und mit etwas Glück würden sie gleich erfahren, was... »Das gibt's doch nicht!« Verblüfft blieb Matt stehen, als er sah, dass das Regierungsgebäude nur noch eine baufällige Ruine war. Zuerst glaubte er, sich in der Adresse geirrt zu haben, aber es war ohne jeden Zweifel das richtige Haus. Allerdings war es augenscheinlich nicht mehr der Sitz des Bürgermeisters. Nur noch die Rückseite und die Seitenwände waren erhalten. Die Front war eingerissen worden, ebenso die einzelnen Etagen. Die Überreste hatte man durch Leitern miteinander verbunden, sodass provisorische Zuschauerränge entstanden waren, auf denen sich Hunderte von Schaulustigen drängten. Da es weder ein Geländer noch sonstige Sicherheitsvorkehrungen gab, stürzte ab und zu ein Zuschauer, der sich zu weit vorgewagt hatte, in die Tiefe. Aber es scherte sich niemand darum – aller Augen waren auf die Mitte der bizarren Arena geheftet, wo sich splitternackte junge Frauen in einem mit Schlamm gefüllten Pfuhl wälzten und mit bloßen Händen auf Leben und Tod kämpften. Angefeuert vom heiseren Geschrei der Menge, das von den hohen Wänden widerhallte, fielen sie übereinander her und würgten sich, schlugen mit bloßen Fäusten aufeinander ein. Fassungslos über so viel Rohheit blickte Matt an den
Zuschauerrängen empor, von denen gerade wieder ein Schaulustiger in die Tiefe stürzte, ohne dass es jemanden interessiert hätte. Ohnmächtige Wut begann in Matt zu brodeln. Was in aller Welt war geschehen, dass die Moral an diesem Ort so verkommen war? »Ihr da!« Ein Parii in Matts Alter, der einen weiten, mit glitzernden Steinen besetzten Umhang trug, kam auf sie zu. Zwei junge Männer, die mit Speeren bewaffnet waren, begleiteten ihn, offenbar seine Leibwächter. »Wenn ihr zusehen wollt, müsst ihr bezahlen«, verlangte der Parii streng. »Stehplätze kosten ein Bronzestück. Wenn ihr eine der Logen haben wollt, kostet das ein Stück Gold. Für die Weiber bekommt ihr alle vier ein Jahresabonnement. Ist das etwa nichts?« »Ein verlockendes Angebot«, log Matt bitter – der Typ hatte allen Ernstes vor, Aruula und Selina zu kaufen! »Nicht wahr?« Der Parii, offenbar der Besitzer der Schlammarena, nickte begeistert. »Wann kann ich mit der Ware rechnen?« »Gar nicht«, erwiderte Aruula postwendend. »Verzieh dich, du Stück Taratzenscheiße, ehe ich mich vergesse.« »Du hast die Schwester gehört«, fügte Selina hinzu und trat an Aruulas Seite – solche Einigkeit hatte Matt selten bei den beiden erlebt. »Ist ja schon gut.« Der Parii errötete und hob beschwichtigend die Hände. »Haltet ihr es für gut, die Weiber solche Reden führen zu lassen?«, fragte er Matt tadelnd. »Was sollte ich stattdessen tun?« »Sie verkaufen, wie es sich gehört. Frauen sind nichts wert und nur dazu da, uns zu dienen. Die Barbarin da«, – er deutete auf Aruula –, »würde eine gute Schlammkämpferin abgeben. Sie ist hübsch und sie hat Feuer. Genau das brauchen wir in der Arena. Ich würde gut für sie bezahlen.« »Bist du schwer von Begriff?«, fragte Aruula, die ihren
Zorn nicht mehr länger zurückhalten konnte. Kurzerhand trat sie vor und packte den Parii am Kragen. Seine Leibwächter hoben daraufhin ihre Speere und wollten angreifen. Selina und ihre Leute zückten die Driller und hielten sie den Parii unter die Nase. Verunsichert blieben die Leibwächter stehen. »Worauf wartet ihr?«, fuhr der Parii sie an. »Macht das Weib nieder! Sie hat gewagt, mich zu berühren!« »Wenn ihr das tut, seid ihr tot«, sagte Selina, und es klang so eindringlich, dass die beiden Leibwächter sich nicht rührten. »Wir wollen keinen Streit«, versicherte Matt, »aber ihr solltet nicht den Fehler begehen, euch mit uns anzulegen.« »W-wer seid Ihr?«, presste der Parii hervor, den Aruula noch immer umklammert hielt. »Besucher von außerhalb«, erwiderte Matt, »und ich kann nicht behaupten, dass mir gefällt, was ich hier sehe. Was ist hier los?« »Wieso? Was meinst du?« »Weshalb hat sich hier alles so verändert? Was ist mit diesem Gebäude geschehen? Und wo ist Rennee?« »Der Bürgermeister?« Matt atmete innerlich auf – immerhin war wenigstens der Name dem Parii ein Begriff. »Genau der«, bestätigte er. »Rennee hat in der Stadt nichts mehr zu sagen.« »Seit wann?« »Seit das Phantom die Macht übernommen hat.« »Das Phantom?« Matt und Aruula tauschten einen verblüfften Blick. »Das Phantom herrscht über die Stadt. Es hat die Macht, und es...« Vom Schlammpfuhl drang wildes Geschrei herüber, begleitet vom heiseren Grölen der Menge. Der Parii wollte den Kopf drehen, um einen Blick auf die Arena zu erheischen, aber Aruulas Klammergriff ließ es nicht zu.
»Bitte«, flehte er. »Lass mich los. Ich muss sehen, was vor sich geht.« »Was soll schon vor sich gehen?«, fragte Selina angewidert. »Nackte Frauen gehen sich an die Gurgel und geifernde Kerle sehen ihnen dabei zu.« »Heute wird die Meisterschaft ausgetragen«, erklärte der Parii. »Ich habe zahlreiche Wetten laufen. Wenn ich mich nicht um meine Geschäfte kümmere...« »Deine Geschäfte werden bald deine geringste Sorge sein«, beschied ihm Aruula mit freudlosem Grinsen und hob ihr Schwert so, dass es genau zwischen seine Beine zeigte. »Noch ein Mucks und...« »Nein, bitte nicht!«, flehte der Parii. »Lasst mich laufen, ich habe euch nichts getan.« »Sag uns, wo wir Rennee finden, und du bist frei«, versprach Matt. »Ich sagte es schon: Rennee hat in der Stadt nichts mehr zu sagen.« »Wir wollen ihn trotzdem sehen. Wo ist er?« »Das... das weiß ich nicht«, erwiderte der Parii, worauf Aruula den Druck hinter der Klinge ein wenig verstärkte. »Ich weiß es wirklich nicht!«, versicherte der Parii, und Tränen schossen ihm in die Augen. »Bitte, lasst mich gehen. Ich sage die Wahrheit, ich schwör's!« Matt schürzte die Lippen. Der Kerl war eine Schmeißfliege, ein skrupelloser Geschäftemacher, dem jedes Gefühl für Moral und Anstand abhanden gekommen war. Aber was Rennee betraf, schien er die Wahrheit zu sagen. Matt bedeutet Aruula, den Gefangenen loszulassen. Die Barbarin zögerte noch einen Moment und ließ es sich nicht nehmen, den Parii mit einem feindseligen Knurren zu bedenken. Dann stieß sie ihn von sich, sodass er seinen Leibwächtern entgegen taumelte und sie von den Beinen riss. Rasch rafften sich die drei Männer wieder auf und stürzten
Hals über Kopf davon. »Und jetzt?«, fragte Selina. »Für uns hat sich nichts geändert«, meinte Matt. »Wir müssen nach wie vor Rennee finden.« »Haben Sie nicht zugehört, Commander?«, fragte Andrew Farmer. »Dieser Rennee hat nichts mehr zu sagen.« »Mag sein, aber er ist der einzige Ansprechpartner, den wir in der Stadt haben. Er wird uns sagen können, was hier passiert ist, und vielleicht kann er uns auch zu dem geheimnisvollen ›Phantom‹ führen, dass jetzt über die Stadt herrschen soll.« »Schön«, knurrte Aruula. »Und wie finden wir ihn? Ebenso gut könnten wir nach einer Nadel im Andronenbau suchen.« »Wir werden uns in zwei Trupps aufteilen und die Stadt systematisch absuchen«, antwortete Matt. »Aber erst morgen früh. Für meinen Geschmack treibt sich zu viel Gesindel herum.« »Ganz meine Meinung«, pflichtete Selina bei. »Wir werden zum EWAT zurückkehren und dort den Rest der Nacht verbringen. Morgen früh sieht vielleicht schon alles anders aus.« * Matt hatte sich bemüht, optimistisch zu klingen. Wenn er aber ehrlich zu sich selbst war, musste er zugeben, dass ihre Chancen, Rennee zu finden, nicht gerade aussichtsreich waren. Der Vergleich mit einer Nadel, den Aruula gebraucht hatte, hinkte kein bisschen. Wenn Rennee nicht mehr Bürgermeister war, würden sie große Probleme haben, ihn in diesem Chaos ausfindig zu machen. Aber die Suche nach dem ehemaligen Oberhaupt der Stadt war es noch nicht einmal, was Matt am meisten verstörte. Es war Parii selbst. Matt hatte die Trümmerstadt an der Seine in denkbar
schlechter Erinnerung gehabt und sich überwinden müssen, hierher zurückzukehren. Immerhin trug er die Hoffnung in sich, dass manches sich zum Besseren geändert hatte. Nun, geändert hatten sich die Verhältnisse in Parii tatsächlich. Aber zum Besseren? Wohl kaum. Ernüchtert traten die fünf Besucher den Rückweg zum EWAT an. Die Champs Élysées – die Parii nannten sie kurz »Schankely« – hatten sich in der Zwischenzeit mit noch mehr Menschen gefüllt. Musik war überall, und der heisere Gesang von Betrunkenen. Dazwischen die Rufe der Zuhälter, die ihre lebende Ware anpriesen, und die entsetzten Schreie unglücklicher Frauen. Wohin Matt auch blickte – überall sah er nur Männer, die sich in den Straßen amüsierten. Die Rolle der Frau schien in Parii darauf beschränkt, sich in Schlammlöchern zu wälzen und den »Herren der Schöpfung« willfährig zu sein. »Ich mag diesen Ort nicht«, sagte Aruula, was Matt nicht weiter wunderte. Immer wieder kam es vor, dass betrunkene oder geile Kerle auf ihre Brüste starrten. Obwohl Selina ihre Uniformkombi trug, hatte auch sie das Gefühl, von lüsternen Blicken verschlungen zu werden. Frauen schienen in Parii als Freiwild zu gelten. Als Ware, über die man bestimmen und die man nach Belieben verschachern konnte. Matts einzige Hoffnung war, dass sich mit Tagesanbruch die Verhältnisse ändern und die Kreaturen der Nacht in den Löchern verschwinden würden, aus denen sie gekrochen waren. Bis dahin war es sicherer, wenn sie im EWAT blieben. Durch das dichte Gewühl der Vergnügungssüchtigen suchten sie den Weg zurück zur Brücke. Mehrmals verloren sie einander fast aus den Augen, und Matt ermahnte seine Leute, dicht beisammen zu bleiben. Endlich hatten sie das schlimmste Gedränge hinter sich gelassen und erreichten die von brüchigen Fassaden gesäumte
Nebenstraße, die zur Brücke führte. Plötzlich trat ihnen aus den Schatten eine gedrungene Gestalt entgegen. Es war ein dicklicher Me'ro mit angegrautem Haar, der mit schmutzigem Grinsen auf Aruula deutete. »He, du!«, rief er. »Ja, du mit der Tätowierung ! Was kostet eine Nacht mit dir? Ich wette, du kannst einem Mann seine geheimsten Wünsche erfüllen. So ein Barbarenweib war schon immer mein Traum!« Aruula handelte schneller, als Matt reagieren konnte. Mit einem Satz sprang sie vor und packte den Mann, den sie um fast zwei Köpfe überragte, am Unterarm. »Irrtum«, raunte sie ihm zu, »ich bin dein schlimmster Albtraum« – und damit drehte sie den Arm des Mannes herum, bis es hässlich knackte. Jammernd sank der vorlaute Möchtegern-Freier zu Boden, und Aruula würdigte ihn keines Blickes mehr. Da stieß Selina McDuncan einen entsetzten Schrei aus. »Hey! Was zum...?« Von einem Augenblick zum anderen war die Dunkelheit ringsum lebendig geworden, und aus den flackernden Schatten waren finstere Gestalten getreten. Um sich zu tarnen, trugen sie schwarze Kleider und Tücher vor den Gesichtern. Bewaffnet waren sie mit Dolchen und Schlagstöcken aus Eisen, und sie bewegten sich so rasch und geschickt wie Insekten. Noch ehe ein Angehöriger der EWAT-Besatzung begriff, was vor sich ging, waren die Angreifer bereits heran und hatten Selina gepackt. Aruula stieß einen Schrei aus, fuhr herum und ließ ihr Schwert sprechen. Die Klinge stieß herab und drang in die Brust eines der Vermummten. Leblos sank der Mann nieder, während seine Kumpane die sich heftig wehrende Selina davon schleppten. Matt und die anderen hatten ihre Driller gezückt, wagten jedoch nicht zu schießen aus Sorge, sie zu treffen.
Im nächsten Moment war der Spuk vorbei. So schnell, wie die vermummten Angreifer aufgetaucht waren, waren sie auch wieder verschwunden. Sie verschmolzen mit den Schatten der Nacht, und mit ihnen verschwand auch Selina. Einen Augenblick hörten Matt und seine Gefährten die Offizierin noch schreien, dann brachen ihre Rufe abrupt ab. »Captain McDuncan!«, brüllte Andrew Farmer, der eine geheime Schwäche für seine Vorgesetzte hegte. »Selina!« Es kam keine Antwort mehr. »Verdammt«, knurrte Matt und sprintete los, seinen Driller im Anschlag. Farmer und Shaw folgten ihm. Im Laufschritt folgten sie den Entführern. In einer Hausfassade klaffte ein Riss, groß genug, dass man durchschlüpfen konnte. Ohne Zögern passierte Matt die Öffnung, griff gleichzeitig nach seiner Taschenlampe und schaltete sie ein. Der Lichtkegel schnitt in die Dunkelheit und erfasste einen rechteckigen, von Unrat und Schutt übersäten Raum. Die Rückseite des Hauses fehlte, und der Hinterhof bildete eine unüberschaubare Landschaft aus Trümmern. Hier gab es eine Unzahl von Schlupfwinkeln und Verstecken. Selinas Entführer konnten sich praktisch überall verkrochen haben. Matt stieß eine Verwünschung aus und durchquerte das baufällige Gebäude, trat hinaus auf das Trümmerfeld. Farmer und Shaw blieben bei ihm und sicherten die Flanken. Ratlos blieben die drei Männer stehen. Von den Vermummten war weit und breit nichts mehr zu sehen. Weder gab es Spuren noch Geräusche, durch die sie sich verraten hätten. Ein Stück weit drangen Matt und seine Begleiter in das Trümmerfeld vor. Schon nach wenigen Metern war jedoch klar, dass es ein aussichtsloses Unterfangen war. Entweder waren Selinas Entführer bereits über alle Berge, oder sie lauerten dort irgendwo in der Dunkelheit und warteten nur
darauf, dass Matt und seine Gefährten ihnen in die Falle gingen. Auf Distanz waren die Driller wirkungsvolle Waffen, bei einem Handgemenge jedoch waren sie eher hinderlich als nützlich. Was also sollten sie tun? Zähneknirschend gestand sich Matt ein, dass ihnen im Augenblick nur eine Möglichkeit blieb. »Wir kehren um«, sagte er leise. »Was?«, brauste Farmer auf. »Das ist doch nicht Ihr Ernst!« »Haben Sie einen besseren Vorschlag? Wir haben keine Ahnung, wo Selina steckt, und in der Dunkelheit haben ihre Entführer alle Vorteile auf ihrer Seite.« »Aber... aber...« Farmer rang nach Worten, doch ihm fiel nichts ein. Natürlich wusste er, dass Matt Recht hatte, aber er wollte auch nicht einfach umkehren und Selina ihrem Schicksal überlassen. »Ich weiß, dass Sie sich um Captain McDuncan sorgen, Corporal«, versicherte Matt, »und Sie können mir glauben, dass es mir ebenso geht. Aber ich kann nicht wegen eines Crewmitglieds die ganze Mission gefährden. Auch Selina würde das nicht wollen.« Farmer zögerte noch immer. Dann nickte er resignierend. »Was schlagen Sie vor?« »Wir werden wie geplant zum EWAT zurückkehren und dort bis Tagesanbruch warten. Danach werden Mr. Shaw und Sie die Suche nach Captain McDuncan aufnehmen, während Aruula und ich uns um Rennee kümmern.« Damit verließen sie das Trümmerfeld und kehrten zurück auf die Straße, wo Aruula wartete. Matt hatte sich schon gewundert, weshalb seine Gefährtin sich nicht an der Verfolgung von Selinas Entführern beteiligt hatte. Jetzt sah er den Grund dafür. Aruula widmete sich dem Me'ro, dem sie den Arm gebrochen hatte. Während er jammernd vor ihr auf dem Boden kauerte, sprach die Kriegerin Tacheles mit ihm.
»Rede endlich!«, hörte Matt sie schon von weitem brüllen. »Es war kein Zufall. dass du uns angesprochen hast, oder?« »Ich weiß nicht, was du meinst, Weib!«, erwiderte der Me'ro jammernd. »Alles was ich wollte, war ein wenig Spaß!« »Den wirst du haben, wenn ich dich aufspieße wie eine räudige Taratze«, versicherte Aruula und griff nach ihrem Schwert. »Entweder du sagst jetzt die Wahrheit, oder du kannst zusehen, wie deine Gedärme aus dir hervorquellen. Hast du verstanden?« Matt kannte Aruula gut genug, um davon auszugehen, dass sie solche Drohungen nicht Ernst meinte. Andererseits konnte man bei ihr nie ganz sicher sein... Die Drohung zeigte Wirkung. Das Gesicht des Me'ro nahm einen weinerlichen Ausdruck an, und er begann wie ein Kind zu jammern. »Gnade«, flehte er. »Ich musste es tun. Ich brauchte das Geld.« »Wie viel haben sie dir bezahlt?« »Acht Bronzestücke. Dafür, dass sich euch anspreche und ablenke. Sie folgen euch schon eine ganze Weile. Eigentlich hatten sie es auf dich abgesehen, aber das andere Weib schien ihnen wohl ein leichteres Opfer zu sein.« »Wohin haben sie sie gebracht?«, wollte Matt wissen. »Das weiß ich nicht.« »Lügner«, zischte Aruula und setzte ihr Schwert an. »Nein, ich schwöre es! Ich weiß nicht, wohin sie das Weib gebracht haben. Sie sind die Schassafamm.« »Was heißt das?«, fragte Shaw. Der Translator hatte das letzte Wort nicht übersetzt, weil es eine Art Eigenname zu sein schien. »Frauenjäger«, reimte sich Matt die Bedeutung des Wortes aus dem wenigen Französisch zusammen, das er beherrschte. Der Me'ro nickte. »Sie suchen nach schönen Weibern und nehmen sie gefangen, um sie weiterzuverkaufen. Ein überaus einträgliches Geschäft, müsst ihr wissen. Eine wie diese da«, –
er deutete auf Aruula –, »könnte auf dem Markt gut und gern fünfzig Goldstücke bringen.« In Aruulas Augen zuckte es, und Matt hielt es für besser, dazwischen zu gehen, ehe sie ihrer Wut freien Lauf ließ. »Wo finden wir diese Schassafamm?«, wollte er wissen. »Das weiß ich nicht. Sie sind wie der Wind. Stets wechseln sie ihren Aufenthaltsort und sind immer dort, wo es Beute zu holen gibt.« »Verstehe. Und wohin werden sie unsere Kameradin deiner Meinung nach bringen?« Der Me'ro verzog das Gesicht. »Sie ist attraktiv, also werden sie sie an einen der Clubs verkaufen. Jedenfalls würde ich dort zuerst nach ihr suchen.« »Na schön.« Matt nickte und wies Aruula an, den Mann laufen zu lassen, was die Barbarin widerstrebend tat. Danach traten sie den Rückmarsch zum EWAT an, jetzt mit gezückten Drillern und noch wachsamer als zuvor. So hatte Matthew Drax sich seine Rückkehr nach Parii ganz bestimmt nicht vorgestellt... * Keiner von der EWAT-Besatzung fand in dieser Nacht Schlaf. Matt saß vorn in der Kanzel und starrte hinaus in die Dunkelheit, während er düsteren Gedanken nachhing. Vieles ging ihm durch den Kopf. Erinnerungen an früher, an die alte Erde und die Zeit, die er mit seinen Staffelkameraden Hank, Jenny und Chester verbracht hatte. Sie waren die besten Freunde gewesen und hatten angenommen, dass nichts und niemand sie jemals trennen könnte. Ein Irrtum, wie sich herausgestellt hatte. Vieles in der alten Welt war ein Irrtum gewesen. Auch die von manchen Wissenschaftlern geäußerte Annahme, dass der
Himmelskörper, dem zwei Hobbyastronomen den Namen »Christopher-Floyd« gegeben hatte, die Erde verfehlen würde... So vieles hatte sich geändert. Nicht nur in den fünf Jahrhunderten, die Matt durch eine temporäre Anomalie überbrückt hatte. Sondern auch in den vier Jahren seit Hanks Tod. Die dramatische Überfahrt nach Amerika, der Weltrat, die Expedition zum Kratersee... Matt war neuen Freunden und Verbündeten begegnet, hatte zahllosen Gefahren getrotzt. Er konnte kaum glauben, dass er nun wieder hier war. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Aber wie damals hatte es nicht lange gedauert, bis es Ärger gegeben hatte. Ein Mitglied seiner Besatzung war entführt worden, und Matt gab sich die Schuld daran. Hätte er auf Selina gehört und zunächst einen Kolk losgeschickt, wäre nichts passiert. Aber er hatte sich anders entschieden, und nun musste er mit dieser Entscheidung leben. Aruula, die neben ihm saß, konnte seinen inneren Kampf wohl spüren. Tröstend legte sie ihm die Hand auf die Schulter, und er war dankbar für ihre Nähe. Farmer und Shaw hatten nichts gesagt, aber er hatte den unausgesprochenen Vorwurf spüren können. Verdammt, er hoffte nur, dass Selina noch am Leben war und es ihr gut ging. In den letzten Wochen und Monaten war die Kommandantin der Explorer zu einer verlässlichen Kameradin und Gefährtin geworden, und Matt wollte nicht noch einen Freund an diese verdammte Stadt verlieren. Nicht noch einmal... Immer wieder richtete er seinen Blick auf den Horizont und sehnte den Anbruch des neuen Tages herbei. Und dann, endlich, glaubte er einen fahlen Schimmer im Osten zu erkennen. Er wartete noch ein paar Minuten, dann rief er Farmer und Shaw zum Briefing ins Cockpit. »Okay«, meinte Matt, »ihr beide werdet in die Stadt
zurückkehren und euch auf die Suche nach Captain McDuncan machen. Aber seht euch vor. Ihr wisst jetzt, was für ein heißes Pflaster Parii sein kann. Nehmt an Bewaffnung mit, was ihr für notwendig haltet, aber hütet euch davor aufzufallen. Wenn dieser Me'ro die Wahrheit gesagt hat, solltet ihr eure Suche nach dem Captain in den Clubs beginnen.« »Was sollen wir tun, wenn wir sie gefunden haben?«, erkundigte sich Farmer. »Ihr holt sie da raus«, sagte Matt entschlossen. »Wenn ihre Entführer nicht mit sich reden lassen, setzt Waffengewalt ein. Wir werden ihnen Selina keinesfalls überlassen, verstanden?« »Verstanden«, erklärten die beiden Technos wie aus einem Munde. »Aruula und ich werden in der Zwischenzeit versuchen, Kontakt zu Rennee aufzunehmen. Je eher wir ihn finden, desto besser. Ich habe keine Lust, länger als nötig in dieser verdammten Stadt rumzuhängen, aber ich will wissen, was hier los ist. Und ich möchte mit diesem geheimnisvollen Phantom sprechen.« »Ein Phantom«, meinte Shaw nachdenklich. »Wissen Sie, Commander, wenn Sie mich fragen, hört sich das nur nach noch mehr Ärger an.« »Damit haben Sie wahrscheinlich Recht.« Matt nickte. »Aber wir sind nun mal nicht hier, um Ferien zu machen, sondern um nach neuen Verbündeten Ausschau zu halten, und das werden wir auch tun. Gibt es noch Fragen?« Die beiden schüttelten die Köpfe, und Matt griff nach den beiden Funkgeräten, die er auf Normal-Modus gestellt hatte. Auf so kurze Entfernungen brauchten sie den ISS-Link nicht. Eins davon reichte er Shaw, das andere steckte er selbst ein. »Hiermit bleiben wir in Verbindung«, erklärte er. »Sagt Bescheid, wenn Ihr den Captain gefunden habt.« »Verstanden, Commander.« »Dann los. Ich wünsche euch viel Glück, Männer.«
Die Vorbereitungen zum Abmarsch wurden getroffen, die Proviantvorräte und die Medikits ergänzt. Als zusätzliche Bewaffnung nahmen Farmer und Shaw zwei Lasergewehre mit. Der Rettungstrupp brach zuerst auf, während Matt und Aruula zurückblieben, um den EWAT zu sichern. Dann verließen auch sie den Flugpanzer und machten sich auf in Richtung Stadt. * Wenn Matt gedacht hatte, das Parii des Tages würde sich von dem der Nacht unterscheiden, hatte er sich gründlich geirrt. Zwar wirkten die brüchigen Fassaden, die sich entlang der alten Champs Élysées aneinander reihten, im fahlen Sonnenlicht nicht mehr ganz so düster und unheimlich, aber es hatte sich nichts geändert. Erbärmlicher Gestank lag noch immer in den Straßen, und noch immer waren sie voller Vergnügungssüchtiger, die bei Straßenmädchen und Glücksspiel Zerstreuung suchten. Alkoholleichen lagen überall, aber man kümmerte sich nicht um sie und stieg einfach darüber hinweg. Aruula schwieg, aber das angewiderte Grunzen, das sie vernehmen ließ, sagte mehr als tausend Worte. Das Laster schien in Parii keine Pause zu kennen. Die Moral war der Stadt völlig abhanden gekommen – eine Folge der Durchmischung von Parii und Me'ro? Hatte möglicherweise er selbst diese Dinge in Gang gesetzt? Der Gedanke ließ ihn schaudern. Wie in Trance gingen Aruula und er die Straße hinab. Sie wurden Zeuge einer Schlägerei, die in einem Hinterhof stattfand. Anderswo wurde ein Mann auf offener Straße niedergestochen und ausgeraubt. Ein Passant, der die Tat beobachtete, lachte nur schadenfroh. Natürlich, auch zu Matts Zeiten hatte es Orte gegeben, an denen Moralbegriffe fremd gewesen waren und die Menschen
nur das Vergnügen gesucht hatten. Aber Parii unterbot alles, was er jemals gesehen hatte. Sie passierten einen Pferch mit Tieren, und Matt wollte sich gar nicht ausmalen, wozu sie wohl gehalten wurden. Auf der anderen Straßenseite gab es eine von Schlinggewächsen überwucherte Hausruine, in der Dutzende von Junkies lungerten, die sinnloses Zeug quasselten. Matt schaute sich nach Shaw und Farmer um, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Er funkte sie kurz an und erfuhr, dass sie am anderen Ende der Straße mit ihrer Suche begonnen hatten. Da sie keinen konkreten Hinweis hatten, blieb ihnen nichts übrig, als die Clubs einen nach dem anderen zu durchsuchen. Matt und Aruula erreichten die Schlammarena, bei der sie am Vorabend umgekehrt waren. Am Ende der breiten Straße zeichneten sich schemenhaft die Ruinen des Louvre ab – »Luva« nannten die Bewohner von Parii ihn jetzt. Auch hier gab es Schaubühnen und Zelte, wurde Alkohol ausgeschenkt und Mädchen verschachert. Ein Gebäude, das auf der rechten Straßenseite lag und vergleichsweise gut erhalten war, hatte rote Vorhänge von den Fenstern. An den Außenmauern hingen Bilder von unbekleideten Frauen – Aktgemälde, die aus den Beständen des Louvre geplündert worden waren. Dass ihre Werke einst auf diese Weise Verwendung finden würden, hatten die alten Meister wohl nie geahnt. Über dem Eingang des Gebäudes war eine Tafel angebracht, auf der »Massonamur« stand – das »Haus der Liebe«. Davor standen junge Frauen, die mit Schmuck und teuren Kleidern herausgeputzt waren. Im Gegensatz zu den Mädchen im unteren Teil der Straße, die ihre Körper zum Spottpreis verkauften, schienen die Dirnen des Massonamur einer wohlhabenden Kundschaft vorbehalten zu sein. Eine dicke Puffmutter stand im Eingang und musterte
jeden, der vorbeiging. Als ihr Blick auf Matt und Aruula fiel, schoss ihr die Zornesröte ins feiste Gesicht. »Das ist doch die Höhe!«, keifte sie, dass ihre Stimme sich überschlug. »Wer hat dir erlaubt, mit mir zu konkurrieren?« »Was?«, fragte Matt verblüfft – bis ihm dämmerte, dass die Frau nicht mit ihm sprach, sondern mit Aruula. »Das könnte euch Barbarenweibern so passen, wie? Einfach in die Stadt kommen und mit euren primitiven Methoden unser Geschäft kaputtmachen! Ich weiß, dass die Kerle auf so was stehen, aber denk nicht, dass ich dich ungeschoren davonkommen lasse!« Und damit rauschte sie auch schon auf Aruula zu, ihre wurstigen Arme entrüstet in die Hüften gestemmt. Matt konnte nur vermuten, was der Auftritt bezwecken sollte. Offenbar hielt die Bordellbetreiberin Aruula für eine Konkurrentin und war wild entschlossen, um jeden Kunden zu kämpfen. »Komm zu uns, Messiö«, wandte sie sich an Matt. »Was willst du mit einem Barbarenweib, das nur aus Sehnen und Knochen besteht und es nötig hat, seine Reize freizulegen? Meine Mädchen sind wohlgenährt und verstehen es, dir schöne Stunden zu bereiten.« »Danke«, versicherte Matt. »Ich habe kein Interesse.« »Ach so ist das? Die Barbarin hat dir wohl schon den Kopf verdreht. In diesem Fall muss ich ihr wohl eine Lektion erteilen. Denn ich mag es nicht, wenn man mir und meinen Mädchen das Geschäft vermiest.« Damit zog sie unter ihrem unförmigen Kleid einen Totschläger aus rostigem Eisen hervor, den sie wie eine Keule schwang. Wild entschlossen, ihre Konkurrentin damit zu erledigen, stach sie auf Aruula zu. Die Puffmutter bewegte sich mit einer Behändigkeit, die einer Frau ihrer Statur kaum zuzutrauen war. Der Totschläger pfiff durch die Luft. Aruula musste blitzschnell reagieren, um
der Waffe auszuweichen. Im nächsten Moment hatte sie ihr Schwert in der Hand, und als die Keule erneut herab zuckte, blockte sie den Hieb. Matt wollte dazwischen gehen. Als er jedoch den Ausdruck in den Gesichtern der beiden Frauen sah, wurde ihm klar, dass das ein tödlicher Fehler gewesen wäre. Mit roher Körperkraft stieß die Puffmutter Aruula von sich und setzte nach. Wieder sang ihr Totschläger sein hässliches Lied. Die Hiebe waren mit solcher Wucht geführt, dass Aruula sie nicht parieren konnte, sondern ausweichen musste – ein Treffer, und sie wäre erledigt gewesen. Mit ihrem Schwert führte Aruula einige halbherzige Gegenattacken aus. Noch legte sie es nicht darauf an, ihre Kontrahentin zu töten, konnte ebenso wenig wie Matt glauben, dass dieser Kampf wirklich ernst gemeint war. Der nächste Angriff beseitigte jedoch alle Zweifel. Mit einem gellenden Schrei sprang die Puffmutter vor und schlug zu, täuschte dabei eine Finte an, die Aruula austrickste. Blitzschnell änderte die wütende Angreiferin die Stoßrichtung, und obwohl es Aruula noch gelang, sich zur Seite zu drehen, erwischte sie der Hieb an der Schulter und streckte sie nieder. Ihr Schwert entglitt sich ihrem Griff und fiel zu Boden. Sofort nahm ihre Gegnerin es an sich. Aruula stürzte hart, Blut rann über ihre nackte Brust. Matt wollte ihr zur Hilfe kommen, aber die Kriegerin hob abwehrend die Hand, während sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengten. Für sie war jetzt Schluss mit lustig... »Siehst du, Barbarin?«, fragte die Puffmutter und baute sich triumphierend vor ihr auf. Zahlreiche Schaulustige waren stehen geblieben und hatten einen Kreis um die beiden Kämpferinnen gebildet. Die Bordellmutter schien es zu genießen, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. »Das«, sagte sie und holte mit dem Schwert aus, um Aruula den Rest zu geben, »wird dich lehren, nicht mehr die Wege von
Roccara zu kreuzen, du billiges Flittchen!« Skrupellos wollte sie zustechen, aber Aruula ließ es nicht dazu kommen. Die Kriegerin explodierte in einer blitzschnellen Bewegung und warf sich zur Seite. Mit katzenhafter Geschmeidigkeit rollte sie sich ab und stand im nächsten Moment wieder auf den Beinen. Roccaras Schwertstreich ging ins Leere. Die Puffmutter gab ein verärgertes Grunzen von sich, fuhr herum und holte zu einem weiteren Hieb aus. Diesmal jedoch war Aruula darauf vorbereitet und handelte. Mit den Beinen voraus katapultierte sie sich durch die Luft und trat die Puffmutter vor deren mächtige Brust. Roccara geriet ins Taumeln und prallte gegen den Kordon der Schaulustigen. Die Männer schrien und lachten vor Vergnügen und stießen die beleibte Frau zurück auf den Kampfplatz, wo Aruula bereits auf sie wartete. Wie ein Efrantenbulle stürmte die Puffmutter heran und schwenkte Aruulas Klinge, um ihre unliebsame Konkurrentin damit zu enthaupten. Die Schaulustigen feuerten sie dabei an, wollten noch mehr Blut fließen sehen. Mit unbändiger Wucht führte Roccara den tödlichen Streich – aber Aruula war schon nicht mehr da. Geschmeidig hatte sie sich zu Boden geworfen und abgerollt, hatte die Attacke ihrer Gegnerin damit unterlaufen. Jetzt war sie in ihrem Rücken. Gewandt fuhr Aruula herum und trat Roccara in ihren gut gepolsterten Allerwertesten. Die Puffmutter schrie wütend auf. Durch die Wucht, die sie in ihren Angriff gelegt hatte, verlor sie das Gleichgewicht und stürzte nach vorn. Aruula setzte nach, packte den Saum ihres Kleides und stülpte ihn kurzerhand nach oben. Nicht nur, dass im nächsten Moment Rocarras unverhüllte Kehrseite den Schaulustigen entgegen blickte – der Rock sorgte auch dafür, dass die heftig um sich schlagende Puffmutter sich in dem weiten Stoff
verfing und damit kampfunfähig war. Die Menge brach in schallendes Gelächter aus, während Roccara sich in einer Kanonade wüster Beschimpfungen erging. Mit einem Fausthieb machte Aruula dem Lamento ein Ende und schickte ihre Gegnerin ins Reich der Träume. Dann nahm sie ihr das Schwert wieder ab und kehrte zu Matt zurück, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. »Gehen wir«, verlangte die Kriegerin, »ehe noch so eine Verrückte auf die Idee kommt, dass ich und du...« »Aruula? Maddrax?« Sie fuhren beide herum, als in der Menge plötzlich ihre Namen gerufen wurden. Als die Traube der Schaulustigen sich auflöste, entdeckten Matt und Aruula unter ihnen eine junge Frau, die sie sofort erkannten, auch wenn seit ihrer letzten Begegnung rund vier Jahre vergangen waren. »Felia!«, rief Matt erfreut. »Bist du das wirklich?« »Natürlich«, gab die junge Frau zurück, deren hübsches Gesicht von dunkelblondem Haar umrahmt wurde. Sie trug ein schlichtes Kleid, das hoffen ließ, dass wenigstens sie ihr Geld nicht auf der Straße verdiente. Matt freute sich ehrlich über dieses unverhoffte Wiedersehen, auch wenn es viele Erinnerungen weckte. Felia war eine junge Parii, die in die Gefangenschaft der Me'ro geraten war und dem Avtar hatte geopfert werden sollen. Matt hatte sie einst aus dem Nest des Monstervogels befreit, und es war ihm nicht entgangen, dass Felia sich heimlich in Hank verliebt hatte. Sein Tod war auch für sie ein schmerzlicher Verlust gewesen. »Du bist zurückgekehrt, Maddrax«, stellte Felia lächelnd fest. »So wie du es versprochen hast.« Sie hatte sich verändert in den letzten vier Jahren; ihre Gesichtszüge waren erwachsener und markanter geworden, und der Blick ihrer Augen verriet, dass sie viel Schreckliches gesehen haben musste. Ihre Stimme klang nervös und gehetzt.
»Wir sollten gehen«, schlug sie vor, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Wenn Roccara zu sich kommt, wird ihr Zorn maßlos sein. Sie wird alles daran setzen, sich an Aruula zu rächen.« »Soll sie nur kommen«, meinte die Barbarin. »Ich habe keine Angst vor ihr.« »Ihr kennt sie nicht. Sie ist die einzige Frau, die ein Bordell betreibt, und das aus gutem Grund. Sie schreckt vor keiner Untat zurück, und es gibt sogar einige Männer, die sich vor ihr fürchten.« »Was ist überhaupt hier los?«, fragte Matt. »Parii ist kaum wiederzuerkennen. Es hat sich viel geändert seit unserem letzten Besuch.« »Das stimmt.« Felia nickte. »Die Kreaturen der Nacht herrschen über die Stadt. Sie haben jetzt die Macht.« »Die Kreaturen der Nacht?« Matt hob die Brauen. »Du meinst die Me'ro?« »Nein. Die Herrschaft der Me'ro verschwand mit dem Avtar. Du hast sie selbst beendet, Maddrax. Aber aus den Wirren, die danach entstanden, sind neue Machthaber hervorgegangen.« »Das Phantom«, riet Matt. »Du weißt von ihm?« »Allerdings. Aber mir ist nicht klar, wie alles zusammenhängt.« »Dann komm mit mir. Ich werde dich zu Rennee bringen. Er kann dir alles erzählen.« »Du weißt, wo er sich aufhält?« Matt atmete innerlich auf. »Natürlich. Aber er hat nichts mehr zu sagen. Das Phantom hat jetzt die Macht in der Stadt. Ihm gehört alles.« »Ist das Phantom auch für dieses... Chaos verantwortlich?«, fragte Matt. »Rennee wird dir alles erzählen«, erwiderte Felia ausweichend. »Kommt mit, ich bringe euch zu ihm.«
Matt war einverstanden, und sie folgten Felia in eine Seitenstraße, die von den Champs Élysées abzweigte. Er konnte sein Glück kaum fassen, sie inmitten der unüberschaubaren Menschenmenge getroffen zu haben. Noch vor ein paar Minuten war es fast unmöglich erschienen, Rennee zu finden. Jetzt stellte es kein Problem mehr dar. Sie konnten nur hoffen, dass Shaw und Farmer ebenfalls so schnell fündig werden würden – und dass Selina McDuncan nichts zugestoßen war... * Als Selina die Augen aufschlug, fühlte sie sich hundeelend. Sie erinnerte sich an lauwarme, bittere Flüssigkeit, die sie geschluckt hatte, und ihr wurde noch übler. Ein Würgen kroch in ihrem Hals empor und sie wollte sich übergeben, aber ihr Magen war leer. Sie lag am Boden. Ihre Glieder schmerzten und sie konnte die Augen kaum offen halten. Die Flüssigkeit musste ein Betäubungsmittel gewesen sein, vielleicht auch eine Droge. Nur mit Mühe konnte sich die Techno-Frau erinnern, was geschehen war. Wie aus Scherben rekonstruierte sie die jüngste Vergangenheit: Ihren Vorstoß nach Parii und was sie dort gesehen hatten, den Hinterhalt, in den sie geraten waren. Sie erinnerte sich daran, dass grobe Pranken sie gepackt und fortgeschleppt hatten. Sie hatte noch gehört, dass Drax und die anderen nach ihr riefen – dann hatte sie ein harter Gegenstand an der Schläfe getroffen und sie war bewusstlos geworden. Irgendwann war sie wieder zu sich gekommen, und man hatte ihr einen schlauchartigen Gegenstand in den Schlund gesteckt. Gleichzeitig hielt man ihr die Nase zu, sodass sie hatte schlucken müssen, was man ihr einflößte.
Bald war sie in tiefen, traumlosen Schlaf gefallen. Wie lange das zurücklag, konnte Selina nicht sagen. Sie hatte jedes Gefühl für Zeit verloren, wusste ja nicht einmal, wo sie sich befand. Mit Mühe gelang es ihr, sich aufzurichten und zur Wand zu schleppen, um sich daran zu lehnen. Der Raum, in den man sie gesperrt hatte, maß zwei Meter im Quadrat. Es gab keine Fenster, nur einen schmalen Schlitz unterhalb der Decke, durch den flackernder Fackelschein fiel. Die kreisrunde metallene Tür war verschlossen. Der Boden war mit Stroh bedeckt, beißender Gestank lag in der Luft. Vergeblich versuchte die Offizierin sich aufzurichten. Ihre Beine gehorchten ihr nicht; das Betäubungsmittel zeigte noch immer Wirkung. In ihrer Not wollte sie um Hilfe rufen, aber mehr als ein heiseres Krächzen, das noch dazu höllisch schmerzte, brachte sie nicht zustande. Ihr Rachen war entzündet von dem Schlauch, den man ihr in den Schlund gesteckt hatte, und ihr Magen kam nicht zur Ruhe. In ihrem Zustand war an Flucht nicht zu denken. Wer waren die Kerle, die sie entführt hatten? Ihre Gesichter waren allesamt vermummt gewesen. Andererseits legte sie gar keinen großen Wert darauf, es zu erfahren. Gleichgültigkeit machte sich in ihr breit. Das Zeug, das sie ihr eingetrichtert hatten, ließ sie erneut schläfrig werden. Ohne dass sie es wollte, sank sie an der Wand herab und fiel erneut in tiefen Schlaf. Irgendwann öffnete sich die Tür und zwei Männer betraten die Zelle. Weder merkte Selina McDuncan, wie man ihr die Kleidung vom Leib zerrte, noch bekam sie mit, wie sich die Männer über ihren Preis unterhielten. Man wurde sich handelseinig, und fünfzig Goldstücke wechselten den Besitzer. Dann packten sie Selina McDuncan und trugen sie nach draußen. Ihre Kleider blieben in der Zelle zurück.
* Schon das Wiedersehen mit Felia hatte bei Matt viele Erinnerungen geweckt. Nun auch noch Rennee wieder zu begegnen, dem Sohn des Obersten Lords Schack, ließ die Vergangenheit vollends lebendig werden. Matt musste daran denken, wie sowohl Schack, der Anführer der Parii, als auch Domm Perr, das wahnsinnige Oberhaupt der Me'ro, dem Avtar zum Opfer gefallen waren. Ein Menschenleben war in Parii schon damals wenig wert gewesen, und daran schien sich bis heute nichts geändert zu haben. Felia führte Matt und Aruula in eine weniger belebte Gegend der Ruinenstadt. Hier, abseits der lärmenden Hauptstraße, fristeten die Bewohner der Stadt ein klägliches Dasein. Betroffen registrierte Matt, dass in den letzten vier Jahren kaum etwas repariert oder instandgesetzt worden war. Die Parii hausten noch immer in baufälligen Ruinen, und die Straßen sahen noch immer aus, als hätte der furchtbare Sturm, der dem Kometeneinschlag gefolgt war, eben erst gewütet. Die Männer schienen ihre ganze Aufmerksamkeit auf die sündigen Meilen zu verwenden, die sich vom Triumphbogen bis zu den Ruinen des Louvre erstreckten. Rennee lebte in einem schmalen Stadthaus, das als eines der wenigen noch ein Dach besaß. Eine schmale Treppe führte hinauf zu der Wohnung, die er zusammen mit Felia bewohnte – offenbar war aus den beiden in der Zwischenzeit ein Paar geworden. Zwei Parii, in denen Matt ehemalige Getreue von Rennees Vater erkannte, bewachten den Eingang. Ansonsten erinnerte an der schäbigen Behausung nichts daran, dass hier der einstige Bürgermeister lebte. Das Wiedersehen mit Rennee verlief weniger herzlich als das mit Felia. Matt und Rennees Vater waren nicht gerade
Freunde gewesen und es gab auf beiden Seiten Vorbehalte. Dennoch hatte Matt das Gefühl, dass der Sohn des Obersten Lords ganz froh war, sie beide zu sehen. Er wies Felia an, eine Mahlzeit zuzubereiten, und lud sie in den Wohnraum seines Hauses ein, der mit einer ramponierten Polstergarnitur aus alter Zeit ausgestattet war. »Setzt euch«, forderte Rennee Matt und Aruula auf. »Es tut gut, euch wiederzusehen nach all der Zeit. Wie ist es euch ergangen?« »Ganz gut«, antwortete Matt, hütete sich aber, schon jetzt von seinen Erlebnissen in Meeraka und seiner Reise um die Welt zu erzählen. »Hier scheinen die Dinge allerdings etwas aus dem Ruder gelaufen zu sein.« »Was meinst du, Maddrax?«, gab sich Rennee unwissend und strich nervös über seinen blonden Kinnbart. »Wie ich höre, bist du nicht mehr der Bürgermeister?« »Natürlich bin ich noch Bürgermeister«, widersprach Rennee voll Überzeugung, um etwas leiser hinzuzufügen: »Aber ich habe keine Macht mehr. Das Phantom hat sie mir genommen.« »Ich habe davon gehört«, bestätigte Matt. »Wer ist dieses Phantom?« »Das weiß niemand. Keiner hat es je gesehen.« »Wie kann es dann über eine ganze Stadt herrschen?«, wandte Aruula ein. »Es hat eine Sprecherin, die dem Phantom treu ergeben ist und dem Volk seine Wünsche mitteilt. Sie verwaltet die Stadt an seiner Stelle.« »Eine Frau?« Matt hob die Brauen. Nach allem, was er gesehen hatte, hätte er nicht gedacht, dass eine Frau einen so mächtigen Posten in Parii bekleiden könnte. Rennee nickte. »Ihr Name ist Kuursa. Sie ist das schönste Weib auf Erden, aber sie gehört allein dem Phantom.« »Ist das Phantom auch dafür verantwortlich, was sich
draußen auf dem Schankely abspielt?«, wollte Matt wissen. Wieder nickte der entmachtete Bürgermeister. »Das Phantom hat die Kreaturen der Nacht entfesselt, die nun auch am Tag das Sagen haben. Sie haben unsere Stadt zu einem Ort der Liebe und des Spiels gemacht, zu einem Hort des Vergnügens.« »So kann man es auch nennen«, versetzte Matt trocken. »Die Stadt ist ein stinkendes Taratzennest«, drückte Aruula es weniger diplomatisch aus. »Mörder und Menschenhändler treiben ihr Unwesen.« »Das ist wahr«, stimmte Felia zu, während sie einen Teller mit großen Stücken Pökelfleisch auf den Tisch stellte. »Obwohl wir das Phantom mehrfach gebeten haben, etwas dagegen zu unternehmen, hört es nicht auf unsere Bitten. Dabei wird es immer schlimmer. Man ist auf den Straßen seines Lebens nicht mehr sicher, und wir Frauen können uns nur noch am Tag nach draußen wagen wegen der Schassafamm.« Matt horchte auf. »Ich habe von ihnen gehört«, sagte er. »Wer sind diese Kerle?« »Menschenjäger. Sie sind nachts unterwegs und entführen junge Frauen, um sie an die Bordelle zu verkaufen. Sie maskieren sich, und niemand weiß, wer sie sind, aber es gibt Stimmen, die behaupten...« »Felia!«, sagte Rennee scharf und blickte sich um, als befürchtete er heimliche Lauscher. »Es gibt Stimmen, die behaupten, dass die Schassafamm mit dem Phantom im Bunde stehen und in seinem Auftrag handeln«, fuhr Felia bedeutend leiser fort. »Das ist nicht bewiesen«, stellte Rennee klar. »Jedenfalls unternimmt das Phantom nichts dagegen, ihrem Treiben ein Ende zumachen.« »Und diese Clubs entlang der Hauptstraße?«, fragte Matt. »All diese Bordelle und Spielcasinos hat es bei meinem letzten Besuch noch nicht gegeben.«
»Sie gehören dem Phantom«, erklärte Felia. »Die Betreiber müssen ihm dafür einen Tribut entrichten. Auch Roccara, die Frau, mit der Aruula gekämpft hat.« »Und die Mädchen?«, fragte Matt. »Kommen von überall her. Manche von ihnen verkaufen sich, um ihre Familien zu ernähren. Andere sind Sklavinnen. Wieder andere wurden verschleppt und sprechen nicht einmal unsere Sprache. Den Freiern ist es egal, woher die Huren kommen, solange sie ihnen nur jeden Wunsch erfüllen.« »Ich verstehe«, sagte Matt gepresst – dass ein Mitglied seiner Besatzung von den Schassafamm entführt wurde, behielt er absichtlich für sich, und auch Aruula verlor kein Wort darüber. »Also hat ein Despot die Macht in Parii übernommen und die Stadt zu einem Sündenpfuhl gemacht.« »So einfach lässt sich das nicht sagen«, widersprach Rennee. »Nachdem ihr damals gegangen wart, gab es in der Stadt kein Gesetz. Parii und Me'ro schlossen sich zu Banden zusammen und zogen plündernd durch die Stadt. Bis das Phantom kam. Es fing damit an, Clubs und Bordelle zu eröffnen, und schon bald drehte sich alles in Parii nur noch um Wein und um Weiber. So begann es.« »Und keiner von euch hat dieses Phantom je zu Gesicht bekommen?« »Nein. Nur Kuursa, die seine Dienerin ist und uns seinen Willen mitteilt.« »Wo finde ich diese Frau?«, fragte Matt. »Du willst zu Kuursa gehen?« Rennee und Felia tauschten einen undeutbaren Blick. »Das muss ich. Es gibt einige Nachrichten, die ich dem Oberhaupt der Stadt überbringen muss, und nachdem du entmachtet bist, bleibt mir nichts anderes übrig, als die neuen Herren der Stadt aufzusuchen.« »Stell dir das nicht zu einfach vor, Maddrax. Kuursa ist nicht nur schön, sondern auch gefährlich. Das Reich, das sie
zusammen mit dem Phantom bewohnt, liegt unter der Stadt. Dort wo früher die Me'ro hausten.« Matt nickte. Das ehemalige Metrosystem der Stadt – dem die Me'ro ihren Namen verdankten – hatte eine Vielzahl von Tunnel und unterirdischen Räumen hinterlassen, die als Schlupfwinkel ideal waren. Er schauderte bei dem Gedanken, was sich dort unten abgespielt hatte, aber wenn es sich nicht vermeiden ließ, würde er die düsteren Gewölbe auch ein zweites Mal aufsuchen. »Wo?«, fragte er nur. »Ich werde euch zum Eingang ihres Reiches führen«, sagte Felia und blickte dabei zu Boden. Irgendwie hatte Matt das Gefühl, dass sie ihm etwas verheimlichte. »Mehr kann ich leider nicht für euch tun.« »Das genügt vollkommen«, versicherte Matthew. »Ich will euch nicht in Gefahr bringen, aber ich habe einen wichtigen Auftrag zu erfüllen.« »Wir werden dir helfen, so gut wir können«, versicherte Rennee. »Aber jetzt seid ihr zunächst meine Gäste. Nehmt euch vom Fleisch und esst, meine Freunde. Wir müssen eure Rückkehr gebührend feiern.« »Danke«, erwiderte Matt – obwohl ihm ganz und gar nicht nach Feiern zumute war. * »Kaum zu glauben«, meinte Peter Shaw, während er das Funkgerät wieder einsteckte. »Drax hat es tatsächlich geschafft, diesen Rennee zu finden.« »Ich wünschte, wir hätten ebenso viel Glück.« Andrew Farmer, der neben ihm ging, schürzte die Lippen. »Aber bislang sieht es leider nicht danach aus.« Seit vier Stunden durchforsteten die beiden Männer nun schon die Lokale der Stadt. Ganz oben hatten sie mit ihrer
Suche begonnen, nahe des Trümmerfelds, der einst der Place de la Concorde gewesen war. Von dort aus hatten sie systematisch jeder Taverne, jedem Casino und jedem Bordell einen Besuch abgestattet, ganz gleich, ob es sich um ein Gebäude aus Stein, um eine Holzhütte oder nur um ein Zelt gehandelt hatte. Sie hatten so getan, als wären sie auf der Suche nach einem ganz bestimmten Typ Frau und hatten einen Ausdruck von Selinas Personalfoto aus der Datenbank herum gezeigt. Bislang ohne jeden Erfolg. »Verdammt«, sagte Farmer und ließ sich resignierend auf einem Schutthaufen nieder. An den Anblick der Betrunkenen, die überall umher lagen und ihren Rausch ausschliefen, hatten sie sich gewöhnt. »Wenn das so weitergeht, finden wir Selina nie. Wer weiß, wohin diese Mistkerle sie gebracht haben?« »Ruhig, Andy«, sprach Shaw dem Corporal zu. »Der Captain ist zäh. Ich bin sicher, dass diese Kerle wenig Freude an ihr haben werden.« »Ich weiß. Es ist nur... « Farmer unterbrach sich und raufte sich das stoppelige Haar, das erst seit kurzem auf seinem Kopf wuchs. »Schon gut, Andy«, beschwichtigte Shaw. »Mir ist klar, dass Sie in Captain McDuncan mehr sehen als nur eine Vorgesetzte.« »Sie... Sie wissen es?« »Man müsste blind sein, um es nicht zu sehen. Ich weiß zwar nicht, ob der Captain Ihre Gefühle erwidert, aber ich verspreche Ihnen, dass wir alles daran setzen werden, sie zu finden.« Farmer blickte auf, und das Lächeln, das der Pilot ihm schenkte, machte ihm ein wenig Mut. Entschlossen setzten sie ihre Suche nach Selina McDuncan fort. Schon tauchte das nächste Lokal am Straßenrand auf – eine üble Spelunke, aus der wüste Schreie drangen. Unter den
Wollumhängen, die sie zwei Alkoholleichen abgenommen hatten, um sich zu tarnen, griffen die beiden Männer nach ihren Waffen. In dieser Stadt musste man auf Überraschungen stets gefasst sein... * »Hier ist es.« Felia deutete auf die Treppe, die steil in die Tiefe führte und sich in der Dunkelheit verlor. Wie ein offener Schlund gähnte der Eingang zum alten Metro-System Matt und Aruula entgegen. Es war schwer vorstellbar, dass einst Millionen Menschen hier verkehrt hatten. Jetzt waren die alten Metro-Tunnel zu einer finsteren Unterwelt verkommen, und erbärmlicher, fauliger Gestank stieg daraus auf. »Danke für deine Hilfe, Felia«, wandte sich Matt an die Freundin, die sich immer wieder unruhig umblickte. »Du kannst jetzt gehen.« Felia nickte, blieb aber stehen. »Wie wollt ihr Kuursa finden?«, fragte sie. »Wenn sie nicht entdeckt werden will, werdet ihr sie niemals zu Gesicht bekommen. Vergesst nicht, dass sie dem Phantom dient.« »Was schlägst du vor?« »Ich könnte euch führen«, bot Felia sich kleinlaut an. »Ich kenne Kuursa.« »Was?« »Ich kenne sie«, wiederholte die Parii. »Sie hat mich einst gerettet, als ich im Kerker gefangen war. Sie ist zu mir gekommen und hat mir einen Weg gezeigt, von dort zu fliehen. Ich verdanke ihr mein Leben.« »Das wusste ich nicht«, meinte Matt. »Niemand sonst weiß es, außer Rennee. Ich kann euch den Weg zu Kuursa zeigen, wenn ihr wollt. Aber ich muss euch
warnen. Sie ist sehr gefährlich.« »Mag sein, aber wir müssen unbedingt mit ihr sprechen. Es geht um eine Bedrohung, die alles übersteigt, was du dir vorstellen kannst. Euer Leben könnte davon abhängen.« »Ein... ein neuer Avtar?«, fragte Felia erschrocken. »Nein.« Matt schüttelte den Kopf. »Etwas, das noch tausendmal schrecklicher und gefährlicher ist als der Avtar.« Entsetzen zeigte sich auf Felias Zügen, und für einen Augenblick schien sie mit sich selbst zu ringen. »In Ordnung«, sagte sie schließlich, »dann werde ich euch zu ihr führen. Folgt mir.« Und damit ging sie den beiden voraus die Treppe hinab. »Aruula?«, fragte Matt flüsternd, dem Felias Verhalten seltsam vorkam. »Sie hat Angst, aber ich kann bei ihr keine Arglist fühlen. Sie will uns tatsächlich helfen.« »Na dann los«, meinte Matt. »So wie die Dinge liegen, müssen wir für jede Hilfe dankbar sein...« * Als Selina diesmal zu sich kam, fühlte sie sich schon besser – allerdings nur für einen kurzen Augenblick. Zwar war ihr längst nicht mehr so übel und ihre Müdigkeit war verflogen. Als sie jedoch feststellte, wo sie sich befand, packte sie blankes Entsetzen. Sie war fast nackt. Man hatte ihr den Overall genommen und sie in ein Kostüm gesteckt, das aus dünnen Lederriemen bestand und mehr sehen ließ, als es verhüllte. Aber das war noch nicht das Schlimmste: Mit Unbehagen stellte Selina fest, dass sie sich in einem Käfig befand! Rostige Eisengitter waren so zusammenschweißt worden, dass sie einen Würfel bildeten. Sehen konnte Selina nichts, weil die Gitter des Käfigs von außen mit rotem Stoff verhüllt waren – aber sie konnte hören, was um sie herum geschah. Und was sie hörte, erfüllte sie nur noch mehr mit
Entsetzen. Sie vernahm dumpfes Gemurmel wie aus Hunderten von Kehlen, dazu Gegröle und heiseres Geschrei. Wo, in aller Welt, war sie? Wohin hatte man sie gebracht? Außerhalb des Käfigs erklang plötzlich eine laute Stimme, die in einer Sprache redete, die Selina nicht verstand. Mit dem Overall war ihr auch der Translator abhanden gekommen, sodass die Sprache der Parii für sie nur noch ein sinnentleertes Kauderwelsch war. Die Stimme sagte einige Worte, worauf sich ringsum unbeschreiblicher Beifall erhob. Bange fragte sich Selina, was außerhalb des Käfigs sein mochte – und im nächsten Moment wurde ihre Frage beantwortet. Der Stoff, der den Käfig verhüllt hatte, fiel herab, und Selina erkannte, wo sie sich befand. Sie hing unter der Kuppel eines großen Zeltes – unmittelbar über den Köpfen einer geifernden Schar von Männern, die sich wie Tiere gebärdeten... * »Und?« Aruula schaute Matt fragend an. »Fehlanzeige«, erwiderte Matt und steckte das Funkgerät wieder ein. »Bislang noch keine Spur von Selina.« »Verdammt«, sagte die Barbarin nur. Matt hatte die Gelegenheit noch genutzt, um einen letzten Funkspruch an Shaw und Farmer abzusetzen, ehe sie noch weiter in die Unterwelt von Parii hinunter stiegen und die Geräte nicht mehr funktionierten. Felia, die ihnen stets ein Stück voraus lief, war stehen geblieben, um auf sie zu warten. »Mit wem hast du gesprochen, Maddrax?«, wollte sie wissen. Über das Funkgerät selbst schien sie sich nicht zu wundern – sie wusste aus Erfahrung, dass Maddrax seltsame
Gegenstände sein Eigen nannte. »Mit Freunden, die sich ebenfalls in der Stadt aufhalten«, gab Matt zurück. »Du wirst sie später kennen lernen.« Damit schien die Parii zufrieden zu sein. Sie nickte und ging erneut voraus, begleitet vom Schein der Taschenlampen. Mit jedem Meter, den sie weiter in das Ungewisse Dunkel vordrangen, wuchs Matts innere Unruhe. Vielleicht waren es die düsteren Erinnerungen, die er an diesen Ort hatte, vielleicht aber auch mehr eine Ahnung von bevorstehender Gefahr. Immer wieder griff Matt an den Driller im Holster. Aruula spürte seine Nervosität. Allerdings war sie nicht das Einzige, was die Kriegerin erlauschte. Auch von Felia gingen starke Emotionen aus: Furcht, die sich mit jedem Schritt zu steigern schien. Sie durchquerten einen breiten Korridor, der von dunklen Nischen mit zerbrochenen Glasscheiben gesäumt war. Dies war einst eine Shopping-Arkade gewesen – jetzt hausten hier nur noch Insekten und Ungeziefer. Über eine seit Jahrhunderten stillstehende Rolltreppe ging es weiter in die Tiefe, und Matt merkte, dass Felia ihren Schritt verlangsamte. Nach dem Grund brauchte er nicht zu fragen. Es war überdeutlich zu spüren, dass die junge Frau Angst hatte. Sie gelangten in einen alten U-Bahnhof, dessen Decke sich über ihnen wölbte. Die Kacheln waren heruntergefallen und übersäten den Boden. Auf einem der Gleise standen ausgeschlachtete Waggons. Jeder Schritt, den sie machten, wirbelte Staub auf und trübte das Licht der Lampen. Es war eine unheimliche Szenerie, und auch auf Aruulas Zügen zeigte sich jetzt Besorgnis. Plötzlich glaubte Matt, in einem der alten Waggons eine Bewegung wahrzunehmen. Abrupt blieb er stehen und leuchtete in die entsprechende Richtung – aber es war wohl nur ein Schatten gewesen, der ihn für einen Moment getäuscht hatte.
Sie setzten ihren Weg fort und beschritten einen der Tunnel. Felia schien den Weg tatsächlich genau zu kennen, aber sie wurde immer langsamer. Zudem begann sie leise vor sich hin zu murmeln. »Ist alles in Ordnung, Felia?«, erkundigte sich Matt besorgt. Sie nickte nur und ging weiter, während ein Kopfschütteln Aruulas verriet, dass ganz und gar nichts in Ordnung war. Felias Angst wuchs allmählich zur Panik an. Lange würde sie das nicht mehr ertragen. Plötzlich – das Ende des Tunnels war ein Stück voraus bereits zu sehen – blieb Felia stehen. »Ich kann nicht«, sagte sie leise. »Ich kann nicht weitergehen.« »Weshalb nicht?« »Kuursa... ich fürchte ihren Zorn. Sie wird es mir übel nehmen, wenn ich Fremde zu ihr bringe.« »Aber Aruula und ich sind keine Fremden in dieser Stadt. Und wir haben einen guten Grund, mit Kuursa zu sprechen.« »Mag sein... habe trotzdem Angst... will lieber umkehren...« Felia zitterte plötzlich am ganzen Körper. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, und sie war nicht mehr in der Lage, in ganzen Sätzen zu sprechen. Matt schaute Aruula fragend an. Die Kriegerin nickte unmerklich. Es hatte keinen Zweck, Felia weiter mitzunehmen. Ihre Angst war nicht vorgetäuscht, sie war echt. Und sie war dabei, existentielle Ausmaße anzunehmen. »Bitte«, hauchte Felia, während ihre Blicke gehetzt zwischen Matt und Aruula hin und her zuckten. »Umkehren... nicht gut, weiterzugehen... Kuursas Zorn...« »Warum plötzlich diese Bedenken?«, fragte Matt. »Nicht fragen... bitte nicht fragen«, flüsterte Felia und wich vor ihm zurück. »Schnell gehen...« »Tut mir Leid, Felia, aber das kann ich nicht. Ich habe einen Auftrag zu erfüllen. Ich muss mit dem Phantom reden, ob es
Kuursa gefällt oder nicht. Ich hätte dich gern dabei gehabt, aber es ist nicht unbedingt notwendig. Du brauchst uns nicht zu begleiten, wenn du nicht willst.« »Will nicht«, presste Felia hervor, am ganzen Körper bebend. »Will nicht...« »Dann nimm das hier«, sagte Matt und gab ihr seine Taschenlampe. »Kehre an die Oberfläche zurück und warte dort auf uns.« »U-und ihr?« »Wir werden weitergehen. Die Richtung kennen wir ja jetzt.« »Nicht gut«, wiederholte Felia mit schreckgeweiteten Augen. Im nächsten Augenblick wandte sie sich um und stürzte Hals über Kopf davon. Matt blickte ihr nach und hatte kein gutes Gefühl dabei. Irgendetwas musste Felias plötzlichen Stimmungswandel veranlasst haben – aber was? Gab es hier unten etwas, das ihre Angst rechtfertigte? »Kannst du etwas erlauschen, Aruula?«, fragte Matt. »Nichts außer ihrer Angst«, erwiderte die Kriegerin. »Sie überdeckt alles andere. – Ich mag diese unterirdischen Gänge nicht.« »Ich auch nicht«, gestand Matt, »aber es scheint der einzige Weg zu sein, mit dem geheimnisvollen Phantom zu sprechen. Nun werden wir eben allein sehen müssen, wie wir zurechtkommen.« »Damit habe ich kein Problem«, entgegnete Aruula, und vorsichtig setzten sie ihren Marsch fort. * Die rohen Kerle schrien, ebenso wie Selina McDuncan – Letztere allerdings nicht aus Begeisterung, sondern aus Panik, Scham und Todesangst.
Tränen schossen der EWAT-Kommandantin in die Augen. Sie sprang auf und rüttelte an den Stäben des Käfigs, in dem sie gefangen war, unmittelbar über den Köpfen der gaffenden Menge. Die Kerle, die dort unten an langen Tischen saßen und Gerstensaft in sich hinein schütteten, lachten lauthals. Sie deuteten mit dem Finger auf sie und riefen Dinge, die Selina nicht verstand. Dabei verschlangen sie sie mit ihren Blicken. Die wenige Kleidung, die man ihr gelassen hatte, vermochte Selina weder vor den lüsternen Blicken zu schützen noch vor den Gegenständen, mit denen sie beworfen wurde. Essensreste flogen zu ihr herauf und gläserne Krüge, die am Gitter zersprangen. Glassplitter und stinkendes Bier trafen Selina, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte. In ihrer Wut gebärdete sie sich wie wild und begann ihre Peiniger in ihrer eigenen Sprache wüst zu beschimpfen – bis sie begriff, dass das ihre schmutzige Lust nur noch mehr anstachelte. Selina war nicht die einzige Frau, die über den Köpfen der Kerle baumelte. Ringsum hingen noch weitere Zwinger vom Zeltdach, in die man junge Frauen gesteckt hatte, als wären sie wilde Tiere. Auch ihnen hatte man die Kleidung genommen, und man bewarf und schikanierte sie. Einige versuchten hilflos, sich zur Wehr zu setzen, andere brachen vor Angst in Tränen aus. Es war ein erniedrigendes Schauspiel, das Selina auch dann angewidert hätte, wenn sie nicht selbst eine der Leidtragenden gewesen wäre. Deswegen also hatte man sie entführt – um sie wie ein Tier zur Schau zu stellen, als Lustobjekt für eine Horde hirnloser Barbaren. Was hatte sich Matthew Drax nur dabei gedacht, diese Kreaturen als Verbündete in Betracht zu ziehen? Da jeder ihrer Wutausbrüche die Kerle nur noch mehr anzustacheln schien, beschloss sie, nichts mehr zu tun. Zur allgemeinen Enttäuschung verschränkte sie die Arme und zog sich in den hintersten Winkel ihres Käfigs zurück.
Sicher suchten ihre Kameraden bereits nach ihr – hoffentlich fanden sie sie, ehe es zu spät war. Wer wusste zu sagen, was diese Barbaren noch mit ihr vorhatten? * Shaw und Farmer hatten ihre Suche unermüdlich fortgesetzt. Von einer Spelunke gingen sie in die nächste, zeigten überall das Bild von Selina McDuncan her, ohne dass auch nur einer der Wirte und Zuhälter ihnen hätte weiterhelfen können. Bars, Clubs, Bordelle – beim fünfzehnten Etablissement, das die Männer aufsuchten, hörten sie auf zu zählen. Ohnehin sah eine der Spelunken aus wie die andere: Überall gab es schlechte Luft, schummrige Beleuchtung, billigen Schnaps und viel nackte Haut. »Verdammt«, stöhnte Farmer, als sie auf das nächste Lokal zugingen, das auf der linken Straßenseite lag. »Das alles hat keinen Sinn! Auf diese Weise werden wir Selina niemals finden.« »Wir haben keine andere Wahl«, entgegnete Shaw. »Oder haben Sie einen besseren Vorschlag?« »Nein. Aber wir hätten niemals herkommen dürfen. Wenn Drax dem Rat des Captains gefolgt wäre und einen Kolk losgeschickt hätte, wäre das alles nicht passiert.« »Es steht Ihnen nicht zu, darüber zu urteilen. Mit der Vergangenheit zu hadern, hilft dem Captain nicht weiter.« »Ich weiß. Aber diese verdammte Sucherei auch nicht. Bis jetzt haben wir nicht den geringsten Hinweis gefunden.« »Das ist richtig. Aber solange wir keine bessere Idee haben, werden wir damit weitermachen, ist das klar?« »Ja, Lieutenant«, erwiderte der Unteroffizier zähneknirschend. Sie näherten sich dem nächsten Lokal, einer heruntergekommenen Bar, vor deren Eingang ein hünenhafter
Parii Wache hielt. »Was wollt ihr?«, fragte er die beiden Besucher. »Spaß«, erwiderte Shaw mit unschuldigem Grinsen, während er sich alle Mühe gab, die Waffen unter seinem Umhang zu verbergen. Der Wächter musterte sie beide kritisch, als ahnte er, das sie nicht wirklich zur Schar der Vergnügungssüchtigen gehörten, die lärmend und grölend durch die Straße zog. Schließlich trat er aber zur Seite und gab den Weg frei, und Shaw und Farmer traten ein. Die Luft in der Bar nahm ihnen fast den Atem. Es stank nach allen möglichen Körpersäften, dazu lag ein süßlicher Geruch in der Luft, der die Sinne benebelte. Farmer musste husten, und Shaw wedelte mit der Hand, als könnte er den Gestank damit vertreiben. Das Lokal war in einer großen Halle untergebracht, die früher ein Bank- oder Verwaltungsgebäude gewesen sein mochte. Entlang der Säulen, die die hohe Decke trugen, waren Tische aufgestellt, an denen Männer saßen und sich betranken. Auf den Tischen tanzten nackte Mädchen in wilden Verrenkungen. Einige von ihnen hatten dunkle Haut. Zielstrebig arbeiteten sich Shaw und Farmer zum Tresen vor, wo ein Me'ro mit vor Schweiß glänzendem Gesicht billigen Fusel ausschenkte. In den ersten Lokalen, die sie besucht hatten, hatten die beiden Technos noch etwas bestellt, freilich ohne es zu trinken. Inzwischen verzichteten sie auf solche Floskeln – alles was sie wollten, war eine Information... »He du«, sprach Shaw den Wirt an. »Komm mal her!« Mit breitem Grinsen wankte der Me'ro auf sie zu. »Was darf's sein, Messiö? Wie ich sehe, seid ihr Reisende. Ihr kommt wohl von weit her? Dann darf ich euch beglückwünschen, dass ihr mein Lokal ausgewählt habt. Hier bekommt ihr den besten Schnaps und die schönsten Frauen, die euch jeden Wunsch –« »Halt die Luft an«, fiel Farmer ihm barsch ins Wort. »Wir
sind nur an einer einzigen Frau interessiert, und zwar an dieser da.« Er schob dem Me'ro den Ausdruck hin. »Hast du sie schon mal gesehen?« In den Augen des Wirts blitzte es kurz, aber unübersehbar. Dann schüttelte er entschieden den Kopf. »Nein«, behauptete er, »dieses Weib hab ich noch nie gesehen« – aber weder Shaw noch Farmer waren in der Stimmung, sich belügen zu lassen. »Bist du ganz sicher?«, fragte Shaw und schaute dem Me'ro so prüfend ins Gesicht, dass dessen Züge noch mehr zu glänzen begannen. »N-natürlich«, stammelte er. »Wenn ich sie schon gesehen hätte, würde ich mich sicher erinnern.« »Weißt du was?«, hakte Farmer nach, der spürte, wie das Adrenalin durch seine Adern zu pumpen begann. »Ich glaube, dass du uns belügst!« »A-aber nein!« Der Wirt schüttelte krampfhaft den Kopf. »Warum muss es ausgerechnet diese eine Frau sein? Ich habe unzählige Schönheiten zu bieten, Weiber mit dunkler Haut aus Afraa und...« »Wir sind an deinen Weibern nicht interessiert«, zischte Farmer. »Wir suchen nur die Frau auf dem Bild. Sie ist unsere Kommandantin, und wir wollen sie verdammt noch mal zurück haben, hast du mich verstanden?« »K-Kommandantin?« Das Gesicht des Me'ro zeigte deutlich, dass er rein gar nichts verstand. »Ich hab dieses Weib noch nie gesehen, ich schwör's!« »Na schön«, knurrte Shaw und öffnete seinen Umhang – darunter war deutlich das Lasergewehr zu sehen. »Pass auf, Mann. Wenn du uns jetzt nicht augenblicklich sagst, was du weißt, dann werden wir in deinem Lokal ein kleines Grillfest veranstalten. Danach wird hier kein Stein mehr auf dem anderen stehen, hast du mich verstanden?« » J-ja«, ächzte der Wirt kleinlaut.
Wahrscheinlich hatte er sein Leben lang noch keinen Laser in Aktion erlebt, aber die Waffe sah gefährlich genug aus, um ihn einzuschüchtern. Einige Sekunden lang schien er zu überlegen, ob er eine Chance hatte, wenn er seine Rausschmeißer zur Hilfe rief. Offenbar kam er jedoch zu dem Schluss, dass es besser war, sich nicht mit den beiden Fremden anzulegen, denn er sagte: »Also schön. Ja, ich hab dieses Weib gesehen.« »Wann?« »Letzte Woche.« »Falsche Antwort.« Farmer zückte seinen Driller und richtete ihn auf den Me'ro. Die Gäste scherten sich nicht darum. Zum einen waren Streitigkeiten an der Tagesordnung, zum anderen hatten die Männer ohnehin nur Augen für die Tänzerinnen auf den Tischen. »Du hast noch einen Versuch«, knurrte Farmer. »Verschenke ihn nicht.« Der Wirt schluckte sichtbar. Dann nickte er und kam hinter seinem Tresen hervor. »Kommt mit«, raunte er den beiden Besuchern zu. »Ich will euch etwas zeigen. Aber macht kein Aufsehen, in Ordnung?« Mit schnellen Blicken mahnten sich Shaw und Farmer gegenseitig zur Vorsicht. Dann folgten sie dem Me'ro zu einer Tür aus rostigem Metall, vor der ein weiterer Wächter stand. Der Wirt zog den Riegel beiseite und öffnete die Tür, trat in die Dunkelheit, die auf der anderen Seite herrschte. Shaw und Farmer blieben ihm auf den Fersen. Als die Tür hinter ihnen zufiel, konnten sie sekundenlang nichts sehen. Ihre Augen gewöhnten sich jedoch rasch an das spärliche Licht, und sie folgten dem Me'ro die Stufen hinunter, die sich vor ihnen erstreckten. Aus der Tiefe leuchtete ihnen flackernder Fackelschein entgegen. Gespannt fragten sich die Technos, wohin der Wirt sie führen mochte. Ihre Waffen hatten sie schussbereit in den
Händen – für den Fall, dass der Kerl sie aufs Kreuz zu legen versuchte. Endlich erreichten sie das Ende der Treppe. Vor ihnen lag ein Gang, der von Metallgittern unterteilt wurde. Auf beiden Seiten gab es Türen, kreisrund und aus dickem Stahl. »Tresore«, raunte Shaw Farmer zu. »Ich hatte Recht mit meiner Vermutung. Das hier ist mal eine Bank gewesen. Ich habe in alten Aufzeichnungen davon gelesen.« »Wo ist Selina?«, fragte der Corporal, dem alles andere gleichgültig war. »Sie ist nicht mehr hier«, erwiderte der Me'ro. »Aber sie war hier. Noch heute Morgen. Da drin.« Er deutete in einen der Tresorräume. Farmer trat vor, um einen Blick hinein zu werfen, und gab einen Schrei von sich, als er Selinas Overall entdeckte. Er griff danach und holte ihn ans Licht. »Kein Zweifel«, stellte Shaw fest, »das ist Captain McDuncans Anzug. Was ist mit ihr geschehen?« »Was immer geschieht, wenn die Schassafamm ein Weib gefangen nehmen. Es wurde verkauft.« »An wen?« »Das darf ich nicht sagen.« »Du verdammter Mistkerl!« Jetzt riss Farmer endgültig der Geduldsfaden. Er packte den Me'ro am Kragen seiner Jacke und schleuderte ihn mit Wucht gegen die Wand. »Du wirst mir augenblicklich sagen, wohin Selina gebracht wurde.« »I-ich kann nicht«, erklärte der Wirt stammelnd. »Ich bin nur ein Mittelsmann. Die Schassafamm werden mich töten, wenn ich es euch sage.« »Und wenn du es uns nicht sagst«, versetzte Shaw und legte die Mündung des Drillers an die Schläfe des Me'ro, »werden wir dich töten. Also entscheide dich.« Der Wirt brauchte nicht lange zu überlegen. »Also schön«, jammerte er, »ich werd es euch sagen. Aber ihr dürft
niemandem verraten, dass ihr es von mir wisst.« »Verdammter Barbar!«, zischte Farmer. »Du kannst froh sein, wenn wir deinen Laden nicht in Schutt und Asche legen! Wo ist sie?« »Sie wurde an Maxim verkauft, den Besitzer des Carnodroom.« »Was ist das?« »Der größte Club diesseits der Straße. Ihr könnt ihn nicht verfehlen. Dort werden – wie soll ich es sagen? – besondere Spezialitäten geboten.« »Was immer das heißen mag«, knurrte Farmer und stieß den Me'ro angewidert von sich. Ohnmächtige Wut ließ seine Hände zittern und seine Stimme beben. Aber immerhin wussten sie jetzt, wo sich Selina McDuncan befand. * »Maddrax?« Unvermittelt zog Aruula ihr Schwert, das sie bislang auf dem Rücken getragen hatte. »Was ist?«, fragte Matt. Ein leises Echo wisperte durch die Tunnelröhre. »Da ist etwas«, antwortete Aruula. »Ich kann es nur undeutlich fühlen, aber ich denke, wir sind nicht mehr allein.« Das genügte, um auch Matt seine Waffe zücken zu lassen. Im Licht der verbliebenen Lampe schauten sie sich in der dunklen Röhre um, konnten jedoch nichts Auffälliges entdecken. Vorsichtig setzten sie ihren Weg fort. Der Tunnel, durch den sie marschierten, mündete in einen weiteren Bahnhof, auf dessen Gleisen das ausgebrannte Wrack eines Triebwagens stand. Das Gewölbe war von Schimmel überzogen, und von der Decke hing ein uraltes Schild, das nur noch mit Mühe zu lesen war. »Montmartre« stand darauf geschrieben...
Ihre Waffen im Anschlag, gingen Matt und Aruula weiter. In dem U-Bahnhof war es nicht völlig dunkel. Durch Schächte, die bis hinauf zur Oberfläche reichten, drang etwas Licht, das die Szenerie jedoch nur noch unheimlicher erscheinen ließ. Vom Gleisbett kletterten sie hinauf auf den Bahnsteig und setzten ihren Marsch fort, ohne dass sie genau wussten, was ihr Ziel war. Plötzlich hörten sie hinter sich ein Geräusch. Mit einem spitzen Schrei fuhr Aruula herum und hielt ihr Schwert abwehrend hoch. Auch Matt riss seine Waffe in den Anschlag und drehte sich um – aber dort war niemand. Im schummrigen Licht waren nur das Gleisbett und die Schienen zu sehen, die sich in der Schwärze der Tunnelröhre verloren. Da erklang erneut ein Geräusch in ihrem Rücken. Wieder wirbelten Matt und Aruula herum – um sich einem Dutzend gefährlich aussehender Gestalten gegenüber zu sehen, die unvermittelt aus dem Dunkel aufgetaucht waren. Es waren Männer, Parii und Me'ro, die derbe Rüstungen aus Leder trugen. Bewaffnet waren sie mit Gegenständen, von denen manche Matt nur zu bekannt vorkamen. Er sah Äxte aus Notfallkästen, Dolche aus Glasscherben und Speere aus rostigem Metall. Die Kopfbedeckungen, die die Kerle trugen, waren besonders bizarr – es waren die kantigen Mützen der Gendarmen, die einst in Paris für Recht und Ordnung gesorgt hatten. Vor langer, langer Zeit... »Wer seid ihr?«, fragte Matt laut. Seine Stimme geisterte unheimlich durch den alten Bahnhof. Die kriegerischen Gestalten antworteten nicht. Noch mehr von ihnen huschten aus dem Tunnel, und auch in dem ausgebrannten Wrack hatten sich einige verschanzt, die jetzt hervor kamen. »Das ist nicht gut«, sagte Aruula überflüssigerweise, während sie sich instinktiv ein paar Schritte zurückzogen. Plötzlich jedoch tauchten auch in ihrem Rücken feindliche Krieger auf, die sie mit Dolchen und rostigen Speeren
bedrohten und ihnen den Weg abschnitten. Mit Unbehagen erkannte Matt, dass sie umzingelt waren. Wenn es zum Kampf kam, würden Aruula und er den Kürzeren ziehen. Der Driller mochte den primitiven Waffen der Krieger überlegen sein, aber er würde sie ihnen nicht alle gleichzeitig vom Hals halten können. Matt beschloss, es anders zu versuchen. Demonstrativ ließ er seine Waffe sinken. »Wir kommen in Frieden«, erklärte er. Die Krieger schauten einander fragend an. Dann bleckten sie ihre gelben Zähne zu einem breiten Grinsen, und schließlich brachen sie in spöttisches Gelächter aus. »Ihr kommt also in Frieden?«, fragte einer von ihnen. »So ist es. Wir sind von weit her gekommen, um das Phantom zu sprechen.« »Mit dem Phantom wollt ihr sprechen?« Die Krieger lachten noch lauter. »Wisst ihr denn nicht, dass das Phantom für niemanden zu sprechen ist außer für Kuursa?« »Dann wollen wir mit Kuursa sprechen«, verlangte Matt bestimmt. »Bringt uns zu ihr!« »Du vergreifst dich im Ton, Fremder. Wir sind die Wächter von Kuursas Reich. Befehle nehmen wir nur von ihr entgegen, und sie hat uns nicht gesagt, dass sie Besuch erwartet.« »Sie wusste nicht, dass wir kommen würden«, entgegnete Matt. »Aber wir haben eine dringende Nachricht, die sie unbedingt erhalten muss.« »Hättest du Recht, wüsste Kuursa von eurem Besuch. Denn sie weiß alles, was in Parii vor sich geht. Sie ist dem Phantom Auge, Ohr und Stimme. Und du, Fremder, bist ein Lügner!« Die Wächter zogen den Kreis um Matt und Aruula enger. »Wir werden dich töten«, kündigte ihr Anführer an, »und deine Begleiterin verkaufen wir. Ein Barbarenweib wird auf dem Markt einen guten Preis erzielen.« »Dazu musst du mich erst einmal kriegen, Taratzengesicht«,
knurrte Aruula. »Komm her und ich öffne deinen Körper so weit, dass deine Leute deine verkommenen Innereien betrachten können.« »Ich bin schon unterwegs«, versicherte der Wächter grinsend, und zusammen mit seinen Kumpanen setzte er sich in Bewegung. Matt und Aruula standen Rücken an Rücken, mit erhobenen Waffen. Die Verhandlungen – wenn man den Wortwechsel überhaupt so nennen konnte – waren gescheitert. Fliehen konnten sie nicht, also blieb ihnen nur der Kampf. »Ich übernehme das Großmaul und seine Schergen«, raunte Matt Aruula zu. »Halte du uns den Rücken frei.« »Verstanden.« Gefasst blickten sie ihren Gegnern entgegen, in deren Augen nackte Mordlust glänzte. Matt hasste es, kämpfen zu müssen, aber diese Hohlköpfe ließen ihm keine Chance. Ein halbes Dutzend von ihnen würde er mit dem Driller erledigen können. Was danach passierte, wollte er sich lieber nicht ausmalen... »Halt!«, befahl plötzlich eine dumpfe Stimme, die durch den U-Bahnhof hallte. Sowohl die Wächter als auch Matt und Aruula blickten in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Unvermittelt war dort eine unheimliche Gestalt aufgetaucht. Es war eine schlanke Frau in einem schlichten hellen Kleid und mit langem Haar, das im Dämmerlicht stumpf und aschfarben wirkte. Vor dem Gesicht trug sie eine starre Maske, die ihrem Auftritt etwas Unheimliches verlieh. Als die Wächter sie erblickten, warfen sie sich sofort zu Boden und senkten den Blick. Sie schienen die Frau geradezu religiös zu verehren. »Was geht hier vor?«, wollte die Vermummte wissen. Ihre Stimme klang eigenartig dumpf durch die Maske. »Ich grüße dich, Kuursa, Gefährtin des Phantoms und
Herrscherin der Unterwelt!«, rief der Anführer der Wächter ihr entgegen. »Dies sind Eindringlinge, die wir gefasst haben. Mit deiner Erlaubnis werden wir den Mann töten und das Weib verkaufen, wie es Sitte ist.« Matt hielt den Atem an. Das also war Kuursa. Die Frau, die über Parii herrschte und vor der Felia solche Angst gehabt hatte – und in deren Gewalt sie sich nun befanden... Der Blick des maskierten Gesichts richtete sich auf Matt und Aruula. »Wer seid ihr?«, wollte Kuursa wissen. Ihre Stimme klang matt und müde. »Commander Matthew Drax«, stellte Matt sich vor. »Meine Gefährtin Aruula und ich sind von weit her gekommen, um dich vor einer großen Gefahr zu warnen.« »Wir fürchten keine Gefahr, das Phantom beschützt uns.« »Vor der Gefahr, die ich meine, kann auch das Phantom euch nicht bewahren. Es bedarf der Anstrengung vieler, um sich davor zu schützen. Deshalb sind wir hier. Um euch als Verbündete zu gewinnen.« Kuursa stand unbewegt, und es war unmöglich zu sagen, was hinter der Maske vor sich ging. »Aruula?«, flüsterte Matt. »Nichts.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich fühle nur Verwirrung – und Wut.« »Herrin!«, rief der Wächter. »Gib nichts auf das Geschwätz dieser Leute. Sie wollen dich nur täuschen. Lass uns mit ihnen so verfahren, wie es die Sitte verlangt. Sie haben das Reich des Phantoms widerrechtlich betreten und verdienen Strafe!« »Nein«, sagte Kuursa. »Ich will mir anhören, was der Fremde zu sagen hat.« »Was? Aber...« »Schweig!«, fuhr sie ihn an, dass ihre Stimme von der Decke widerhallte. »Es steht dir nicht zu, meine Entscheidungen in Frage zu stellen, du Wurm!« »Natürlich nicht«, versicherte der Wächter eingeschüchtert
und warf sich ganz zu Boden. »Bitte zürne mir nicht, Kuursa.« »Sprich, Commander Matthew Drax«, sagte Kuursa. »Aber wage nicht, mich zu täuschen. Ich würde jeden Versuch sofort durchschauen.« »Keine Sorge«, versicherte Matt. »Ich danke dir für dein Vertrauen.« »Von Vertrauen kann keine Rede sein«, erwiderte Kuursa hart. »Ihr seid nicht meine Gäste, sondern meine Gefangenen. Führt sie ab!« * Der Barbesitzer hatte nicht übertrieben. Das Carnodroom war tatsächlich der größte Laden an der Straße. Eine klassizistische Fassade mit mächtigen Säulen bildete den Eingang. Das Gebäude selbst fehlte, dafür war ein riesiges Zelt errichtet worden, zu dem die Fassade das Portal bildete. Lautes Geschrei drang aus dem Inneren. Auf den Stufen lagen Alkoholleichen, die ihren Rausch ausschliefen. Anders als bei den übrigen Lokalen standen die Männer Schlange, um hineinzukommen. Das Carnodroom schien tatsächlich besondere Attraktionen zu bieten... Shaw und Farmer reihten sich nicht in die Schlange ein, sondern versuchten sich daran vorbei zu mogeln. Daraufhin brach unter den Wartenden allerdings solcher Tumult aus, dass sie nicht umhin kamen, sich ebenfalls anzustellen – schließlich wollten sie kein unnötiges Aufsehen erregen. »Möchte wissen, was es da drin zu sehen gibt«, murmelte Andrew Farmer missbilligend. »Diese rohen Kerle sind ja völlig außer Rand und Band.« »Was auch immer es ist«, versetzte Shaw mit bitterem Grinsen, »der Captain scheint sich das beste Lokal am Platz
ausgesucht zu haben.« Es dauerte lange, bis sie eintreten durften. Das Zelt platzte aus allen Nähten, und nur wenn Gäste es verließen, wurden neue eingelassen. Endlich waren auch Farmer und Shaw an der Reihe. Durch das steinerne Portal betraten sie einen mit bunten Tüchern verhangenen Korridor, in dem Gaukler Kunststücke aufführten und barbusige junge Frauen sie willkommen hießen. Dann kamen sie in das eigentliche Carnodroom – ein riesiges Rund, das sich unter der Kuppel des Zeltdachs erstreckte. Hunderte von Betrunkenen saßen an den dicht stehenden Tischen und soffen, fraßen und grölten, während junge Frauen auf riesigen Tabletts dampfende Speisen servierten, die einen strengen Geruch verströmten. Über ihnen, an den rostigen Stahlträgern, die das Zeltdach hielten, hingen Käfige. Und in diesen Käfige saßen Frauen, die man zur allgemeinen Belustigung dort eingesperrt hatte. »Das darf nicht wahr sein«, stöhnte Peter Shaw und nahm Farmer damit die Worte aus dem Mund. Fassungslos sahen die beiden Männer zu, wie die Gäste ihren Spaß mit den gefangenen Frauen trieben. Sie wurden schikaniert und mit Gegenständen beworfen, und hier und dort wurde mit langen Holzstangen nach ihnen gestochert. Am Leib trugen sie nichts als ein paar Lederschnüre. Andrew Farmer traf fast der Schlag, als er in einem der Käfige Selina McDuncan erblickte. Sie war ebenso spärlich bekleidet wie die anderen Frauen, und es war das erste Mal, dass Farmer sie so sah. Ihre sonnenentwöhnte Haut schimmerte hell wie Alabaster und unterschied sie von den anderen Frauen. Das war wohl der Grund, weshalb die Gäste ihr besondere Aufmerksamkeit schenkten. Einer der Betrunkenen war von seinem Tisch zum Käfig hinauf gesprungen und krallte sich daran fest, schaukelte hin und her, dass Selina hin und her geworfen wurde.
Mit den Füßen trat die Offizierin so lange auf den Händen des Kerls herum, bis dieser jaulend losließ. Die anderen Typen betrachteten das aber nur als Aufforderung, selbst ihr Glück zu versuchen. »Nur zu, Leute!«, rief ein glatzköpfiger Ansager, der in der Mitte des Zelts auf einem Podium stand. »Ihr kennt die Regeln! Nur wer es schafft, auf den Käfig zu klettern und sich dort zu halten, darf auch hinein! Was er dann macht, ist mir egal – Hauptsache, wir können dabei zusehen!« Dröhnendes Gelächter erscholl, und Andrew Farmer schoss die Zornesröte ins Gesicht. Seine Erleichterung darüber, Selina lebend und unversehrt zu finden, schlug in blanke Wut um. »Holen wir sie da raus«, zischte er Shaw zu und ging los, ohne auf die Antwort seines Vorgesetzten zu warten. Dem Piloten blieb nichts übrig, als ihm zu folgen. Durch die tobende Masse arbeiteten sie sich zu Selinas Käfig vor. Dabei waren sie so beschäftigt, sich einen Weg durch das Heer der Betrunkenen zu bahnen, dass sie gar nicht darauf achteten, was die Kerle an den Tischen aßen. Hätten sie es getan, wäre ihnen vielleicht manches erspart geblieben. Rücksichtslos boxte sich Farmer zu der Stelle durch, wo Selinas Käfig über einem der Tische baumelte. Ein ganzer Haufen grobschlächtiger Kerle balgte sich darum, wer als nächstes sein Glück versuchen durfte, auf den Käfig zu klettern. Als der Corporal ihre verzerrten Mienen und das lüsterne Funkeln in ihren Augen sah, brannten bei ihm endgültig die Sicherungen durch. »Zurück!«, brüllte er aus Leibeskräften und holte das Lasergewehr unter seinem Umhang hervor. »Verschwindet, ihr elender Abschaum!« » Farmer! Nicht!«, zischte Shaw – aber es war zu spät. Die aufgebrachte Meute war auf Farmer aufmerksam geworden. Da die wenigsten von ihnen schon mal ein Lasergewehr gesehen hatte, nahmen sie es nicht als Bedrohung wahr. Einige
lachten, weil sie glaubten, Farmer hätte den Verstand verloren. Ein anderer nutzte den Umstand, dass seine Konkurrenten für einen Moment abgelenkt waren, sprang hinauf zum Käfig und kletterte daran empor. Seine Hand schoss zwischen den Gitterstäben hindurch und packte Selina, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Er zog sie an sich heran. Farmer überlegte nicht lange. Die Waffe hochzureißen und den Parii anzuvisieren, dauerte nur einen Augenblick. Dann sengte ein greller Strahl aus der Mündung des Gewehrs und traf den Unhold in den Rücken. Der Parii stieß einen gellenden Schrei aus, als der Strahl sich durch seinen Körper fraß. Er ließ los und stürzte in die Tiefe, landete unter seinen Kameraden. Manche lachten, andere wandten sich entsetzt zu Andrew Farmer um, wieder andere waren zu besoffen, um überhaupt mitzubekommen, was geschehen war. Selina blickte nach unten und entdeckte Farmer. Hoffnung flackerte in ihren Augen auf, aber nicht für lange. Denn im nächsten Moment stürzten sich die Kumpane des erschossenen Parii auf den Techno. Farmer zog ein zweites Mal den Abzug des Lasers durch, und der vernichtende Strahl fraß sich durch zwei Angreifer gleichzeitig. In den strengen Geruch, der ohnehin schon im Zelt herrschte, mischte sich der Gestank von Ozon und versengtem Fleisch. Und im nächsten Moment entbrannte ein wildes Handgemenge. Peter Shaw sprang Farmer bei. Zwar war er mit dessen eigenmächtigem Handeln nicht einverstanden, aber nach solchen Feinheiten fragte niemand mehr. Im Nu sahen sich die beiden Technos von gefletschten Zähnen und glühenden Augen umringt, und die Meute fiel über sie her. Farmer feuerte noch einmal und schickte einen weiteren Angreifer ins Jenseits, ehe ihm das Gewehr aus der Hand
gerissen wurde. Shaw, der seinen Driller gezückt hatte, kam nicht mehr dazu, die Waffe abzufeuern. Jemand schlug ihm einen Stock auf die Hand, worauf er den Driller fallen ließ. Im nächsten Moment prasselten von allen Seiten Fäuste, Stockhiebe und Messerstiche auf die beiden Männer ein. »Peter! Andrew!«, brüllte Selina verzweifelt, die ihre beiden Retter erkannt hatte und sie jetzt im Gemenge verschwinden sah. Die beiden Technos, die Rücken an Rücken standen und sich mit bloßen Händen verteidigten, hatten alle Not, sich wenigstens die Messer vom Leib zu halten. Stöcke und Fäuste schlugen ungehindert auf sie ein. Schon hatte Farmer eine Platzwunde an der Stirn. Blut floss ihm in die Augen und schränkte sein Sichtfeld ein. Die hammerharte Gerade, die auf ihn zuflog, sah er nicht rechtzeitig. Sie explodierte mitten in seinem Gesicht und zerquetschte ihm die Nase. Benommen ging Farmer nieder, dicht gefolgt von Shaw, der der Meute alleine nicht mehr standhalten konnte. Grobe Hände packten die beiden und zerrten sie wieder empor, und erneut hörten sie die großtuerische Stimme des Glatzkopfs. »Wen haben wir denn da?«, rief er aus. »Zwei Spielverderber, die sich nicht an die Regel halten wollen, dass außer Messern und Stöcken keine Waffen im Carnodroom erlaubt sind!« Ein Pfeifkonzert setzte ein, mit dem die übrigen Gäste lautstark ihren Unmut äußerten. Manche stiegen auf die Tische und sprangen auf und ab, gebärdeten sich wie wild gewordene Primaten. »Ich bin Maxim«, brüllte der Glatzkopf weiter, »und ihr alle wisst, dass ich zu meinem Wort stehe. Was geschieht mit jenen, die die Regeln missachten? Wohin kommen sie, meine Freunde?«
Die Antwort scholl ihm aus Hunderten heiserer Kehlen entgegen: »Ins Carnodroom! Ins Carnodroom!« »So ist es, meine Freunde«, bestätigte der Besitzer des Clubs mit sadistischem Grinsen. »Sie kommen ins Carnodroom...« * Der Marsch führte noch tiefer in die düsteren Katakomben, die sich unter den Ruinen von Parii erstreckten. Kuursa ging der eigentümlichen Prozession voraus. Ihr folgte der Anführer der Wächter. Matt und Aruula marschierten inmitten eines Kordons Bewaffneter, ein weiterer Trupp Krieger bildete die Nachhut. Es ging durch Tunnel und Querverbindungen, die nicht zum ursprünglichen Metro-Netz gehörten, sondern erst später von den Me'ro angelegt worden waren. Überall lagen Gerumpel und Unrat umher, manches noch aus alter Zeit, anderes aus der Ära, in der die Me'ro hier unten geherrscht hatten. Anfangs versuchte Matt noch, sich den Weg zu merken, um ihn im Fall einer Flucht wiederzufinden. Schon nach kurzer Zeit hatte er im Labyrinth der unterirdischen Tunnel jedoch die Orientierung verloren. Ob es ihm gefiel oder nicht – Aruula und er befanden sich in Kuursas Gewalt, einer Frau, von der sie noch nicht einmal das Gesicht gesehen hatten. »Wir sind da!«, verkündete Kuursa, als sie einen weiteren verlassenen U-Bahnhof erreichten, wo aus entgleisten Waggons eine Art Barriere errichtet worden war. Bewaffnete Wächter hatten darauf Posten bezogen. Mit ehrerbietig gesenkten Häuptern ließen sie Kuursa passieren, und man führte Matt und Aruula in einen Raum, in dem in einem alten Reparaturschacht, der jetzt als Kamin diente, ein Feuer flackerte. Große Fleischstücke wurden
darüber gebraten, und auf den grob gezimmerten Holzbänken saßen Krieger, die Matt und Aruula neugierig musterten. Offenbar eine Art Wachlokal, dachte Matt. »Das Weib bleibt hier«, ordnete Kuursa an. »Commander Matthew Drax kommt mit mir.« »Nein«, widersprach Matt, dem der Gedanke nicht gefiel, Aruula in der Obhut dieser Galgenvögel zurückzulassen. Ihre Waffen hatte man ihnen abgenommen, sodass sie sich nicht einmal wehren konnte. »Was soll das heißen?« »Das heißt, dass ich mich nicht von meiner Gefährtin trennen werde«, stellte Matt klar. »Sie gehört zu mir.« Kuursa gab ein leises Geräusch von sich, das wie das Knurren einer Raubkatze klang. »Du scheinst noch immer nicht begriffen zu haben, mit wem du es zu tun hast, Commander Matthew Drax. Entweder du fügst dich meinen Anordnungen, oder ich werde meinen Leuten den Befehl geben, euch beide augenblicklich zu töten.« In den Visagen der Wachen flackerte Vorfreude auf – zu gerne hätten sie die Drohung ihrer Herrin wahr gemacht. »Es ist gut«, raunte Aruula Matt zu. »Geh nur. Ich komme mit diesem Taratzenpack schon zurecht.« »Bist du sicher?« Die Barbarin lächelte selbstsicher. »Ganz sicher.« »Na schön.« Matt nickte. »Ich beuge mich der Gewalt«, wandte er sich an Kuursa. »Aber ich verlange, dass meiner Gefährtin kein Haar gekrümmt wird.« »Ich verspreche es dir bei meinem Leben« , erwiderte Kuursa – und auf die Gesichter der Wachen kehrte die Enttäuschung zurück. Sie würden sich damit begnügen müssen, die gefangene Barbarin mit begehrlichen Blicken zu bombardieren. Gegen den Willen ihrer Herrin zu handeln würde keiner der Männer wagen. Matt folgte Kuursa durch das Wachlokal und den Gang, der
sich auf der anderen Seite anschloss. Der Fackelschein war spärlich, und so konnte Matt nur erahnen, wohin sie ihn führte. Wer war diese geheimnisvolle Frau? Sie hatte keine Wachen mitgenommen, und sie ging Matt voraus, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Offenbar machte sie sich keine Sorgen, dass er sie angreifen könnte. Sie kamen an einen Vorhang aus dunklem Stoff, den Kuursa beiseite schob. Mit einem Nicken bedeutete sie Matt, ihr zu folgen, und sie gelangten in einen Raum, der mit Tüchern ausgeschlagen war und von Fackelschein beleuchtet wurde. In der Mitte des Raumes stand ein Bett – wenn man es so nennen wollte. Zu Matts Zeiten hätte man es wohl eher eine Spielwiese genannt. »Sprich«, forderte ihn Kuursa auf, während sie sich auf das Bett sinken ließ. »Warum bist du nach Parii gekommen?« »Ich bin nicht zum ersten Mal hier«, eröffnete ihr Matt. »Bereits vor vier Jahren bin ich in der Stadt gewesen. Damals herrschten die Me'ro in diesen Tunnel und der Avtar bedrohte die Stadt.« »Das ist lange her.« »Allerdings. Ich habe damals geholfen, den Avtar zu besiegen und die Unterdrückung durch die Me'ro zu beenden. Ich bin also kein Fremder in der Stadt.« »Offensichtlich«, sagte die Maskierte unbeeindruckt. »Ich bitte dich darum, mir zu vertrauen bei allem, was ich dir zu sagen habe. Ich bin nicht dein Feind, Kuursa, auch wenn ich vieles von dem, was in dieser Stadt vor sich geht, nicht verstehe.« »Was gibt es da nicht zu verstehen?«, fragte sie. »Seit meinem letzten Besuch hat sich viel verändert. Die Lokale, der Alkohol, die Prostitution...« »Jede Stadt bekommt das, was sie verdient«, erwiderte die maskierte Frau rätselhaft und erhob sich wieder vom Bett, kam langsam auf Matt zu. »Oder hast du etwas gegen Vergnügen?
Gegen Schönheit? Gegen das Laster?« »Kommt drauf an«, erwiderte Matt, der sich alle Mühe gab, sich nicht von ihren wiegenden Hüften ablenken zu lassen. »Wo ich herkomme, gab es ein Sprichwort: Allzu viel ist ungesund.« »Und das glaubst du?«, fragte sie – und zu Matts Bestürzung begann sie die Verschnürung ihres Kleides an den Schultern zu lösen. »Nun ja, ich...« Er kam sich vor wie ein Trottel. So sehr er sich dagegen wehrte, Kuursa übte eine eigenartige Faszination auf ihn aus. Ihr Gesicht verbarg sie vor seinem Blick, ihren Körper hingegen stellte sie ungeniert zur Schau. Langsam ließ sie den Stoff des Kleides hinab gleiten und enthüllte ihre Brüste. »Gefällt dir nicht, was du siehst?«, fragte sie. »Ich, äh...« »Alle Männer finden Gefallen daran, Commander Matthew Drax. Du bist keine Ausnahme. Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, musst du dir eingestehen, dass du es dir wünschst. Vom ersten Augenblick an, in dem du mich gesehen hast.« Matt war verblüfft. Was für eine Art Unterredung sollte das werden? Hatte er irgendetwas falsch verstanden? »Hör zu, Kuursa«, begann er, »ich kenne die Gebräuche in eurer Stadt nicht. Aber wo ich herkomme, ist es nicht üblich, Verhandlungen auf diese Weise zu führen.« »Bei Verhandlungen«, erwiderte Kuursa, »geht es darum, etwas zu bieten und etwas anderes dafür zu erhalten. Nichts anderes tust du, Commander Matthew Drax. So werden in dieser Stadt Schulden bezahlt. Der Körper ist die Währung in dieser sündigen Stadt. So wollte es das Phantom, weil es den Willen der Männer durchschaut hat. Oder willst du behaupten, dass du mich nicht willst?« Das Kleid fiel vollends, und Kuursa stand so vor Matt, wie Gott – oder Wudan – sie geschaffen hatte... bis auf die Maske,
die nach wie vor ihre Züge verhüllte. »Ich weiß, dass du mich willst«, hauchte sie, während sie weiter auf ihn zu kam. »Ich weiß es, hörst du...?« * »Verdammt, lasst mich los! Ihr primitiven Halbaffen, lasst mich los!« Andrew Farmer protestierte lautstark, als die Meute Shaw und ihn davon schleppte. Unter allgemeinem Gelächter trug man die beiden Technos durch das Zelt und hinaus ins Freie, wo es einen von meterhohem Gitterzaun umgebenen Pferch gab. Dort hinein steckte man sie, nachdem man ihnen ihre Umhänge und Waffen abgenommen hatte. Das Funkgerät, das die Barbaren ebenfalls für eine Waffe hielten, nahmen sie auch mit. Zumindest blieben ihnen die Translatoren. »Carnodroom! Carnodroom!«, skandierte die Menge im Zelt und brach dann in dröhnendes, schadenfrohes Gelächter aus, das wie eine Welle über Shaw und Farmer zusammenschlug. Während Shaw, der eine Stichwunde am linken Oberarm erlitten hatte, erschöpft am Gitter niedersank, gebärdete sich Farmer wie von Sinnen. »Ihr feiges Pack!«, schrie er den Parii hinterher. »Ihr widerlichen Barbaren! Das wird euch noch Leid tun! Wenn wir nicht zurückkehren, wird eine ganze EWAT-Schwadron auftauchen und diesen verdammten Sündenpfuhl in Schutt und Asche legen! Habt ihr mich verstanden?!« »Lassen Sie's gut sein, Andy«, sagte Shaw resignierend. »Was denn? Diese Wilden haben Captain McDuncan gefangen und dieser Meute ausgesetzt. Und wir sind jetzt ebenfalls in ihrer Gewalt. Haben Sie eine Vorstellung, wie wir hier jemals wieder raus kommen sollen?« »Nein«, gab der Pilot zu, »aber wir sollten Ruhe bewahren.
Das Funkgerät würde uns im Augenblick ohnehin nichts nützen. Drax und Aruula sind unter Tage und damit für uns unerreichbar. Wir sind also auf uns gestellt.« »Was Sie nicht sagen.« Farmer schnaubte. »Und was schlagen Sie vor?« »Wie ich schon sagte: Vor allem müssen wir Ruhe bewahren. Es muss einen Weg geben, von hier zu entkommen.« »Ach ja?« Wenig hoffnungsvoll blickte sich Farmer um. Der Pferch, in dem sie sich befanden, war kreisrund und hatte an die fünfzehn Meter Durchmesser. Der Gitterzaun war etwa drei Meter hoch und damit nicht ohne weiteres zu überwinden. Außerdem standen draußen bewaffnete Posten. Die beiden Technos waren nicht die einzigen Gefangenen. Ein halbes Dutzend elend aussehender Gestalten war mit ihnen eingesperrt – Männer, die Lumpen und Fußfesseln aus Eisen trugen. Sie hatten langes verfilztes Haar, Bärte wucherten in ihren Gesichtern. Verstohlen blickten sie zu den Neuzugängen herüber. »Wenigstens sind wir in guter Gesellschaft«, versetzte Farmer mit beißender Ironie. »Sie sollten nicht so arrogant sein, Corporal. In unserer Lage müssen wir für jeden Verbündeten dankbar sein. Vielleicht gelingt uns gemeinsam der Ausbruch.« »Gemeinsam? Mit diesen Kreaturen?« Farmer schaute seinen Vorgesetzten ungläubig an, folgte ihm aber, als dieser sich auf die Beine raffte und zu den anderen Gefangenen ging, die ihm argwöhnisch entgegen blickten. »Hallo«, begrüßte Shaw die Männer. »Sieht so aus, als teilten wir dasselbe Schicksal.« Die zerlumpten Kerle antworteten nicht, sondern schauten ihn nur fragend an. »Habt ihr auch gegen die Regeln gespielt und Waffen ins Zelt geschmuggelt?«, wollte Shaw wissen.
Die Gefangenen ließen sich mit der Antwort Zeit. »Nein«, sagte einer von ihnen schließlich, »wir wurden gekauft.« »Gekauft?« Farmer horchte auf. »Ihr seid Sklaven?« »Nein.« Der Mann schüttelte seine Mähne und machte ein beleidigtes Gesicht. »Wir sind freie Männer. Aber wir sind Strafgefangene. Diebe, die auf frischer Tat ertappt und verurteilt wurden.« »Und – man hat euch gekauft?« »Man ließ uns die Wahl zwischen lebenslanger Haft und dem Carnodroom«, gab der Gefangene schulterzuckend zurück. »Wir haben uns für das Carnodroom entschieden, weil unsere Familien so die zwanzig Bronzestücke bekommen werden, die man für jeden von uns bezahlt hat. Und weil es dann bald vorbei sein wird.« »Vorbei sein?«, hakte Farmer nach. »Was wird bald vorbei sein?« Der Gefangene machte einen fast amüsierten Eindruck. »Wisst ihr denn nicht, wo ihr seid?«, fragte er. »Im Carnodroom«, antwortete Shaw, und zum ersten Mal machte er sich darüber Gedanken, dass der Übersetzer das Wort in der Originalsprache belassen hatte. Offenbar gab es keine Entsprechung dafür... »So ist es«, sagte der Gefangene düster, »und ins Carnodroom, mein Freund, führt der Weg nur hinein, aber niemals hinaus.« »Was soll das heißen? Was bedeutet das?« Die Häftlinge tauschten ungläubige Blicke, konnten offenbar nicht glauben, dass die beiden Neulinge nicht wussten, was sie erwartete. »Seht ihr das Gebäude dort drüben?«, fragte der Gefangene und zeigte durch die Gitterstäbe auf die andere Seite des Platzes, wo eine baufällige Hütte stand, deren Wände aus rostigem Blech bestanden. In der Mitte erhob sich ein großer Kamin, der aus Trümmersteinen gemauert war. Dunkler Rauch
stieg daraus in den fahlen Himmel. »Das ist die Küche«, fuhr der Gefangene mit freudlosem Grinsen fort. »Dorthin werden wir alle gehen – und nicht mehr zurückkommen.« Shaw und Farmer schauten sich an, und ganz langsam sickerte in ihr Bewusstsein, was der Gefangene ihnen damit sagen wollte. »Es ist die Wahrheit«, versicherte der Mann. »Wir alle, die wir hier sitzen, werden schon bald in den Mägen derer enden, die genügend Goldstücke besitzen, um sich die größte Attraktion des Carnodroom leisten zu können.« Farmer und Shaw wechselten einen betroffenen Blick. Obwohl sie sich beide dagegen sträubten, begann ihnen zu dämmern, was diese größte Attraktion war, von der ihr Mitgefangener gesprochen hatte. Menschenfleisch... * Matthew Drax spürte, wie sein Mund trocken wurde. Langsam wich er vor der jungen Frau zurück, die in aufreizender Nacktheit auf ihn zukam, die Maske noch immer vor dem Gesicht. Er konnte nicht leugnen, dass Kuursa ihn faszinierte. Weniger ihres makellosen Körpers wegen, den sie ihm unverhüllt präsentierte, sondern vielmehr wegen der Aura, die sie ausstrahlte. Eine solch aggressive, wilde Anziehungskraft hatte Matt noch nie erlebt, nicht einmal bei Aruula. Für Kuursa schien ihr Körper eine Selbstverständlichkeit zu sein, ein Mittel zum Zweck, und allmählich begann Matt zu begreifen, wieso sich Parii derart verändert hatte... »Du fürchtest dich vor mir?«, stellte sie fest. »Nein«, gab er zurück. »Aber ich muss gestehen, dass ich ein wenig verwirrt bin.«
»Weshalb?« »Weil ich nicht deines Körpers wegen gekommen bin. Sondern weil ich dich um deine Hilfe bitten möchte. Dich und das Phantom.« »Was willst du von uns?«, fragte sie. Matt musste sich zwingen, seinen Blick von ihrer bebenden Brust zu wenden, auf der sich kleine Schweißperlen gebildet hatten. »I-ich bin gekommen, um euch vor einer... einer großen Gefahr zu warnen«, stammelte er, »einer Gefahr, die nicht nur euch droht, sondern allen Menschen. Wenn wir nichts unternehmen, werden wir alle einer fremden Macht unterworfen.« »Wir sind einer fremden Macht unterworfen, Commander Matthew Drax«, sagte Kuursa. Sie war jetzt so nahe heran, dass sie ihre schlanken Arme um seinen Hals legen konnte. »Oder willst du leugnen, dass sie auch dich in ihrer Gewalt hat?« Matt war klar, worauf sie anspielte. Sie meinte die Macht der Triebe und der Sexualität, der Urinstinkte des Menschen. Zumindest was seine Instinkte betraf, musste Matt zugeben, dass sie auf Kuursa ansprachen... »Nur zu«, forderte sie ihn auf. »Leiste nicht länger Widerstand. Ich kann fühlen, dass du es willst. Nimm es dir, worauf wartest du?« »Wenn der Feind erst hier ist«, erklärte Matt weiter, während sich ihr straffer, jugendlicher Körper verlangend an ihn drängte, »wird er auch vor Parii nicht Halt machen. Alles, was ihr euch aufgebaut habt, wird zerstört werden. Wollt ihr das riskieren?« »Es ist bereits zerstört«, erwiderte sie rätselhaft. »Es liegt in Schutt und Asche und wird sich nie wieder daraus erheben.« Durch die Sehschlitze ihrer Maske sah er ihre Augen. Ihr Blick war seltsam entrückt und übte eine unwiderstehliche Anziehung auf Matt aus. Er merkte, wie sein Widerstand schmolz. Er war von ihrer Schönheit und ihrer Ausstrahlung
wie betäubt. »Maddrax«, hauchte sie ihm ins Ohr – und in seinem Kopf begannen sämtliche Alarmglocken zu schrillen. Er hatte sich Kuursa nicht als Maddrax vorgestellt...! In einem Reflex stieß er sie von sich und hielt sie auf Distanz. »Woher kennst du diesen Namen?«, fragte er. »Du selbst hast ihn mir genannt.« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Woher also kennst du ihn?« Jetzt war es Kuursa, die zurückwich. »Ich... ich weiß es nicht«, stammelte sie. »Blödsinn. Was für ein Spiel treibst du mit mir? Was soll das alles? Was geht in Parii vor sich?« Sie stieß gegen das Bett und fiel darauf nieder, begann leise zu schluchzen. »Geh weg«, bat sie flehend. »Geh, solange noch Zeit ist!« »Ich soll gehen?«, fragte Matt verblüfft. »Ja, Maddrax. Dies ist kein Ort für dich. Hier ist alles verloren, hörst du?« Matt wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, und er brauchte auch nichts zu sagen – denn Kuursa selbst gab sich die Antwort. »Unsinn!«, blaffte sie«. »Er ist ein Mann wie jeder andere. Warum sollte er einen Unterschied machen? Er verdient dieselbe Strafe... Nein, nein! Er ist anders, ich schwöre es... Das ist Unsinn, und du weißt es. Sie sind alle gleich. Keiner von ihnen meint es gut mit dir, nicht ein einziger. Sie alle wollen dich nur quälen und erniedrigen. Es sei denn, du kommst ihnen zuvor...« Fassungslos sah Matt, wie Kuursa sich auf dem Bett hin und her warf und dabei gestikulierte, als würde sie einen Kampf mit einem unsichtbaren Gegner führen. Tatsächlich hätte man den Eindruck haben können, dass es zwei verschiedene Frauen waren, die miteinander stritten, wären nicht alle Worte unter
der einen Maske hervor gedrungen, die Kuursa trug. Wenn man allerdings genauer hinhörte, konnte man feststellen, dass es zwei verschiedene Stimmen waren, die miteinander stritten. Eine weinerlich und weich, die andere hart und unnachgiebig. Als ob zwei Personen in einem einzigen Körper steckten... »Lass ihn gehen!« »Nein, er soll bleiben. Er soll das gleiche Schicksal erfahren wie alle anderen.« »Nein! Lass ihn gehen, Kuursa, bitte...« Entsetzt wurde Matt klar, dass er die sanfte, nachgiebige Stimme kannte... und plötzlich ging ein Licht auf. Mit einem Satz sprang er zum Bett und riss Kuursa die Maske vom Gesicht. Es waren Felias Züge, in die er blickte. * Matt prallte zurück. Nicht nur, weil er die freundliche und stets hilfsbereite Parii am allerwenigsten unter der Maske der erbarmungslosen Kuursa erwartet hätte. Sondern auch, weil sich Felia verändert hatte. Ihre Gesichtszüge waren verzerrt und wirkten um Jahre gealtert. Im einen Moment schaute sie ihn noch mit Felias verängstigten Augen an – um ihm eine Sekunde später einen eiskalten Blick zu schenken, der ihn bis ins Mark erschaudern ließ. »Felia?« »Hier ist keine Felia«, gab sie keifend zurück und suchte nach der Maske, die zu Boden gefallen war. Als sie sie nicht finden konnte, schlug sie stattdessen die Hände vors Gesicht. Ihre Nacktheit hingegen schien sie nicht einmal wahrzunehmen. »Was hast du getan, Elender? Du hast mein
Geheimnis zerstört!« »Felia?«, fragte Matt noch einmal, der einfach nicht fassen konnte, was sich vor seinen Augen abspielte. Ganz offenbar hatte Felia den Verstand verloren. Die Ereignisse von damals, an die auch er selbst sich nur mit Schaudern erinnerte, waren wohl zu viel für sie gewesen. Ihre Persönlichkeit hatte sich gespalten – in die sanftmütige Felia und in die kaltherzige Kuursa... »Felia ist nicht hier!«, schrie sie ihn an. »Hier ist nur Kuursa, und Kuursa gibt den Befehl, dich töten zu lassen. Du hast gesehen, was niemand sehen darf, mein wahres Gesicht! Dafür wirst du sterben! Wachen...!« »Felia ist hier«, beharrte Matt. »Für einen Moment ist sie hier gewesen, und ich will noch einmal mit ihr sprechen, hörst du? Ich will Felia sprachen! Jetzt sofort!« Einen Augenblick schien sie mit sich selbst zu ringen, dann nahm sie die Hände vom Gesicht. »Maddrax?«, fragte sie und schaute sich verwirrt um, während von draußen schon das Stampfen der Wachen zu hören war, die den Gang herauf kamen. Felias Züge entzerrten sich, und sie wurde sich ihrer Nacktheit bewusst. »W-wo bin ich hier?«, fragte sie verunsichert. Gerade wollte Matt antworten, als sich der Ausdruck in ihrem Gesicht wieder änderte. »Du hast hier nichts zu suchen«, blaffte sie. »Undankbares Ding! Hast du vergessen, dass ich es war, die dich befreit hat? Mir musst du vertrauen und nicht diesem Fremden, der genau wie alle anderen Männer ist.« »Das ist nicht wahr!« »Es ist wahr, ich werde es dir beweisen.« »Nein, Kuursa! Nicht dieses Mal!« Und zu Matts Entsetzen legte Felia/Kuursa ihre eigenen Hände an ihren Hals und begann sich zu würgen – während die Wachen immer näher kamen. In ein paar Augenblicken würden
sie hier sein. Plötzlich erschlaffte der Körper der jungen Frau, und sie fiel zurück, blieb reglos auf dem Bett liegen. Der Kampf der beiden Persönlichkeiten in ihrem Inneren hatte sie so viel Kraft gekostet, dass sie das Bewusstsein verloren hatte. Einen Herzschlag später stürmte ein halbes Dutzend bis an die Zähne bewaffneter Krieger in das Schlafgemach... * Es war unfassbar. Zu Glücksspiel, Drogen und Prostitution, die das Leben in Parii bestimmten, hatte sich noch ein anderes Laster gesellt, das so verwerflich war, dass es die Bewohner der Stadt endgültig zu Tieren degradierte, die nur noch ihren niedrigsten Trieben gehorchten. In ihrer Zügellosigkeit und der Suche nach immer neuen Vergnügungen hatten einige von ihnen das letzte Tabu gebrochen: Sie waren zu Kannibalen verkommen. Andrew Farmer hatte sich übergeben, als ihm die grässliche Wahrheit ganz zu Bewusstsein gekommen war. Auch Peter Shaw war blass geworden, konnte seine Furcht und seine Abscheu jedoch besser verbergen. »Was ist mit Flucht?«, fragte er die anderen Gefangenen. Seinen Plan, sie als Verbündete zu gewinnen, hatte er noch nicht aufgegeben. »Habt ihr nie daran gedacht?« Ihre Mithäftlinge schüttelten die behaarten Köpfe. »Wir haben einen Vertrag unterzeichnet, mit dem wir uns selbst verpflichtet haben, ins Carnodroom zu gehen. Wenn wir fliehen, wird unseren Familien das Geld wieder abgenommen. So wird es für einen Monat ihre Mägen füllen.« »Ihr... ihr lasst euch aufessen, um eure Familien zu ernähren?«, fragte Farmer fassungslos. »So ist es. Maxim hat uns sein Wort darauf gegeben, dass
sie das Geld erhalten.« »Auf das Wort dieses Glatzkopfs würde ich nichts geben«, sagte Shaw. »Wer ohne Skrupel Menschen tötet, um sie an ihresgleichen zu verfüttern, hat euer Vertrauen nicht verdient.« »Denkst du?« »Ganz sicher. Maxim hat euch betrogen. Eure Familie werden nicht ein Bronzestück sehen, da bin ich mir sicher.« »Wie auch immer.« Der Gefangene zuckte mit den Schultern. »Es ist zu spät, um sich darüber Gedanken zu machen.« »Zu spät? Wieso?« »Weil sie bereits kommen, um uns zu holen. Sieh!« Er deutete durch die Stäbe nach draußen, und zu ihrem Entsetzen sahen Shaw und Farmer, wie sich ein Trupp von Männern näherte. Sie trugen schartige Messer und Beile bei sich und hatten Schürzen an, die mit Blut besudelt waren. »Menschenschlächter«, flüsterte Farmer schaudernd. Der Pferch wurde geöffnet und die Schlächter kamen herein. Als würden sie Vieh aus einer Herde auswählen, deuteten sie bald auf diesen, bald auf jenen Gefangenen. Auch Shaw und Farmer waren für kurze Zeit im Gespräch. Dann fiel ihre Entscheidung – auf einen jungen Mann, der sich starr vor Angst an die Gitterstäbe klammerte, und auf den Häftling, mit dem Shaw und Farmer gesprochen hatten. »Lebt wohl«, raunte er ihnen zum Abschied zu. »Mögen wir uns in einer Welt wieder begegnen, die besser ist als diese.« Mit zusammengebissenen Zähnen sahen die beiden Technos zu, wie die Gefangenen von ihren Mördern abgeführt wurden. Am liebsten hätten sie sich mit bloßen Händen auf die Schlächter gestürzt, aber sie wussten, dass das reiner Selbstmord gewesen wäre. Es blieb ihnen nichts, als abzuwarten – und sich zu fragen, wie die Menschheit an diesem Ort nur so tief hatte sinken können.
* »Keinen Schritt weiter!« Die Wachen, die von Kuursas Ruf alarmiert herbeigeeilt waren, blieben wie angewurzelt stehen. In seiner Not hatte sich Matt nicht anders zu helfen gewusst. als die bewusstlose Felia in den Arm zu nehmen und so zu tun, als bedrohe er ihr Leben. Ein entsetztes Raunen ging durch die Reihen der Wächter. »Du hast sie getötet!«, rief ihr Anführer entsetzt. »Noch nicht«, erwiderte Matt hart, »sie ist nur ohnmächtig. Aber ich werde sie töten, wenn ihr nicht genau das tut, was ich euch sage!« »Was verlangst du?«, fragte der Anführer der Wachen zähneknirschend. Es war ihm anzusehen, dass er Matt lieber mit bloßen Händen erwürgt hätte. »Meine Gefährtin«, sagte Matt rundheraus. »Ich verlange, dass ihr sie herbringt, sofort. Zusammen mit unseren Waffen.« »Das hättest du wohl gerne!« »Du hast gar keine andere Wahl«, erwiderte Matt. »Wenn du nicht tust, was ich sage, wird Kuursa sterben.« »Nein!«, rief der Wächter entsetzt. »Dann lass Aruula frei. Sofort!« »Holt das Barbarenweib!«, ordnete der Anführer an. »Los, worauf wartet ihr? Wenn Kuursa etwas zustößt, wird das Phantom uns alle töten. Also beeilt euch!« Die Wächter verließen das Schlafgemach. Sanft legte Matt, der natürlich keinen Augenblick daran gedacht hatte, Felia auch nur ein Haar zu krümmen, die junge Frau zurück auf das Bett und zog ihr das Kleid über. »Wie ich sehe, komme ich gerade rechtzeitig«, sagte Aruula spitz, die in diesem Moment den Raum betrat. »Es ist nicht das, wonach es aussieht«, erwiderte Matt grinsend, froh darüber, dass sein Bluff so gut funktioniert hatte.
Kuursas Schergen hatten nicht nur Aruula freigelassen, sondern ihr tatsächlich auch Schwert und Driller zurückgegeben. Als Aruula sah, wer sich hinter Kuursas Maske verbarg, staunte sie nicht schlecht. In knappen Worten schilderte Matt, was sich zugetragen hatte. Dabei begann Felia sich bereits wieder zu regen. Während Aruula am Eingang Wache hielt, setzte Matt sich auf die Bettkante und wartete, bis die junge Frau wieder zu sich kam. Blinzelnd schlug sie die Augen auf und blickte Matt fragend an. Dann schien sie sich zu erinnern, was geschehen war. »Maddrax«, flüsterte sie. »Ist... ist sie weg?« Matt war erleichtert darüber, dass Felia und nicht Kuursa aus der Ohnmacht erwacht war. »Ich denke schon«, meinte er lächelnd. »Manchmal ist sie fort, und dann ist sie plötzlich wieder da. Ich werde sie einfach nicht los.« Felias Blick fiel auf die Maske, die herrenlos am Boden lag. Sie griff danach und presste sie an sich wie einen Schatz. »Kuursa ist ein Teil von mir«, sagte sie. »Sie ist stark. Viel stärker, als ich es jemals sein könnte.« »Ich weiß«, versicherte Matt. »Aber woher kommt sie? Wie konnte sie so stark werden?« »Ich weiß es nicht.« Felia blinzelte unsicher, als fürchtete sie, Kuursa könnte jeden Augenblick zurückkehren. »Sie war plötzlich da. Als ich sie am meisten brauchte.« »Wann war das?« Felia überlegte, und ihr Blick schien dabei in weite Ferne zu reichen. »Es war in einer Vollmondnacht«, begann sie dann zu berichten. »Ich war auf dem Weg zu Rennee, als eine Bande mir auflauerte. Sie nahmen mir alles, was ich bei mir hatte, aber das war ihnen nicht genug. Also schleppten sie mich in ihr Versteck und...« Sie brach ab und überließ es Matt, sich den Rest selbst zu
denken. Ihre Augen füllten sich dabei mit Tränen. »Ich weiß nicht, wie lange es so ging. Tage, Wochen... immer wieder kamen sie zu mir, immer wieder. Ich war verzweifelt und wollte nur noch sterben, aber der Tod kam nicht. Dafür kam Kuursa.« »Sie kam zu dir?« »Sie stand plötzlich in meiner Zelle«, berichtete Felia flüsternd. »Sie sagte mir, dass ich nicht aufgeben darf und am Leben bleiben muss. Und sie zeigte mir, wie ich entkommen konnte.« »Wie?«, wollte Matt wissen. »Es war ganz leicht. Ich machte meinem Bewacher etwas vor. Ich redete ihm ein, dass ich etwas für ihn empfand, mehr als für die anderen. Schon bald kam es zum Streit. Er schlug den anderen mit seiner Keule die Schädel ein. Als er dann zu mir kam, erstach ich ihn mit seinem eigenen Messer. So bin ich entkommen. Kuursa hat mir den Weg gezeigt.« »Ich verstehe«, sagte Matt. Obwohl sie wusste, dass Kuursa ein Teil von ihr war, schien Felia sie für eine eigenständige Person zu halten. Dabei war es vielmehr so, dass Felias Bewusstsein im Angesicht des Todes eine zweite Persönlichkeit geschaffen hatte, die hart genug war, um zu überleben und Felias Reize gezielt als Waffe einzusetzen. Damals schon... »Bist du Kuursa jemals wieder begegnet?«, wollte Matt wissen. »Nur in meinen Träumen. Ich hörte davon, dass sie im Auftrag des Phantoms begann, die Banden gegeneinander aufzuhetzen. Kein Mann konnte sich ihren Reizen entziehen, und so schaffte sie es, sich zur Herrin der Stadt aufzuschwingen. Ihre Krieger sind ihr treu ergeben, weil jeder von ihnen sich nach ihr sehnt. Das ist das Geheimnis ihrer Macht.« Wie eine Bienenkönigin und ihre Drohnen, dachte Matt
unwillkürlich. Er hatte am eigenen Leib erfahren, wie stark die Anziehung war, die Kuursa auf das männliche Geschlecht ausübte... »Eins verstehe ich trotzdem nicht«, meinte er. »Wenn Kuursa in der Stadt die Macht hat, weshalb geschehen all diese hässlichen Dinge dort draußen? Warum sind Frauen Freiwild und werden gejagt und erniedrigt, wenn...« Felia lachte laut und schallend – und an ihrem Blick konnte Matt erkennen, dass die andere Seite in ihr erneut die Oberhand gewonnen hatte. Jetzt war es Kuursa, die vor ihm auf dem Bett lag und ihn mit unverhohlenem Spott anblickte. »Ich wusste, dass dieses schwache Weib Felia dich überschätzt. Du bist ebenso dumm wie alle anderen Männer. Deshalb verdienst du es auch, wie sie behandelt zu werden.« »Was soll das heißen?« »Ganz einfach. Was glaubst du wohl, welchem Zweck all diese Bars und Clubs, die Bordelle und Casinos dienen?« »Um dich und das Phantom reich zu machen«, vermutete Matt. Manche Dinge änderten sich eben auch in fünfhundert Jahren nicht. »Glaubst du das wirklich?« Erneut lachte sie, dass ihre Stimme sich überschlug, und in ihren Augen glänzte unverhohlener Wahnsinn. »Du weißt nichts, nichts weißt du! Du bist genauso ahnungslos wie all die anderen Männer, die dort oben ihrem Vergnügen nachgehen und nicht merken, was mit ihnen geschieht.« »Wieso? Was geschieht mit ihnen?« »An jenem Tag«, fuhr Kuursa flüsternd fort, »als ich Felia dort unten liegen sah, halb tot und eingekerkert in einem schmutzigen Loch, da schwor ich mir, die Schmach zu rächen, die man ihr angetan hatte. Ich wollte nicht nur die Kerle töten, die ihr das angetan hatten – ich wollte alle Männer bestrafen. Ich wollte, dass sie eine Lektion erhalten.« »Was für eine Lektion?«
»Sie sollten am eigenen Leib erfahren, wie es ist, am Boden zu liegen, kein Mensch mehr zu sein, sondern nur noch ein wildes Tier. Reduziert auf die Instinkte, auf die niedersten Triebe. Nichts anderes geht dort oben vor sich, Commander Matthew Drax. Diese Einfaltspinsel glauben in Parii Glück und Zerstreuung zu finden. Zu Tausenden kommen sie in die Stadt, weil sie sich hier jeden Wunsch erfüllen können, so entartet er auch sein mag – und dabei merken sie nicht, wie sie selbst zu den niedersten Kreaturen verkommen. Sie amüsieren sich zu Tode«, fügte Kuursa hinzu, und dann begann sie so kreischend zu lachen, dass es Matt eisig den Rücken hinunter lief. Also das war es. So fügte sich alles zusammen. Unwillkürlich musste Matt an die Geschichte von Pinocchio denken. Nachdem der hölzerne Bengel von zu Hause ausgebüxt war, landete er auf einer Insel, wo sich Jungs den ganzen Tag mit all den Dingen vergnügen durften, die sonst verboten waren. Das Ende vom Lied war, dass sie sich alle in Esel verwandelten. Reduziert auf ihre niedersten Triebe... Das war der Plan, den Kuursa verfolgte – und der auf schräge Art auch noch Sinn ergab. Die Kerle, die Matt und Aruula dort oben auf den Champs Élysées gesehen hatten, hatten mit menschlichen Wesen tatsächlich nur noch wenig gemein. Erschöpft fiel Kuursa auf die Decke zurück. Ihr Pulsschlag beruhigte sich ein wenig, und ihre Brust hob und senkte sich nicht mehr so heftig wie zuvor. Aruula schickte Matt ein Kopfschütteln, das wohl bedeuten sollte, das Kuursas Emotionen ein einziges Chaos waren. Sie war dem Wahnsinn verfallen. Aber vielleicht, dachte Matt, gab es ja noch Hoffnung für Felia. Immerhin war Kuursa geschaffen worden, um Felia zu retten ... »Felia?«, fragte Matt leise. »J-ja?« Der Glanz aus ihren Augen war verschwunden, sie
schien jetzt wieder bei sich zu sein. »Ist Kuursa hier gewesen?«, fragte sie ängstlich. »Ja. Sie hat mir alles erzählt.« »Dann kennst du jetzt das Geheimnis? Und du weißt, wer das Phantom ist?« »Das Phantom existiert wirklich?« Matt war erstaunt. Nach allem, was er gehört hatte, hatte er das Phantom für eine weitere Ausgeburt von Kuursas krankem Verstand gehalten. »Natürlich existiert es.« »Hast du es schon einmal gesehen?« »Noch niemals.« »Und Kuursa?« »Sie ist die Dienerin des Phantoms. Natürlich kennt sie es, genau wie du.« »Was habe ich damit zu tun?« »Das weißt du nicht?« Felia lächelte, als würde sie über Selbstverständliches sprechen. »Das Phantom war einst dein Freund.« »Mein Freund?« Matt überlegte. Wen konnte Felia damit meinen? Immerhin lagen die Ereignisse von Parii schon geraume Zeit zurück, und er konnte sich nicht mehr an jede Einzelheit erinnern. Andererseits war die Zahl seiner Feinde damals sehr viel größer gewesen als die seiner Freunde... »Weiß Kuursa, wo sich das Phantom aufhält, Felia?«, fragte er vorsichtig. Er legte keinen Wert darauf, Kuursa erneut zu begegnen, aber er musste wissen, was es mit dem Phantom auf sich hatte. Vorher würde das Rätsel um Parii nicht gelöst sein. Felia zögerte und schien einen Moment in sich hinein zu horchen. Dann nickte sie. »Kannst du sie bitten, dir den Weg zu zeigen?« Erneut ein Nicken. »Dann los«, forderte Matt. »Ich kann es kaum erwarten, dieses Phantom endlich kennen zu lernen...«
* Wie eine Raubkatze tigerte Selina in ihrem Käfig hin und her, die Zähne gefletscht und die Hände zu Krallen geformt. Sie waren die einzigen Waffen, die ihr geblieben waren. Gerade hatte sie einem jungen Kerl, der versucht hatte, den Käfig zu erklimmen, das Gesicht zerkratzt. Daraufhin hatte er den Halt verloren und war abgestürzt. Der Mann rührte sich nicht mehr, was seine Kumpane abzuschrecken schien und Selina ein wenig Luft verschaffte. Inzwischen kannte sie die Regeln dieses grausamen Spiels, auch wenn sich niemand die Zeit genommen hatte, sie ihr zu erklären: Die Frauen in den Käfigen waren nicht nur als Dekoration gedacht. Die Kerle machten sich einen Sport daraus, die Käfige zu erklimmen. Wer es schaffte, der durfte hinein klettern und mit der bedauernswerten Insassin anstellen, was ihm beliebte, während der Rest der Meute gaffend zusah. Selina hatte gesehen, was den Frauen in den anderen Käfigen widerfahren war. Sie war die Einzige, die bislang noch jeden Angriff hatte abwehren können – aber wie lange würde es dauern, bis sie zu müde und erschöpft war, um sich noch zu verteidigen? Ihre größte Sorge aber galt ihren Kameraden. Shaw und Farmer hatten versucht sie heraus zu hauen und waren dabei selbst gefangen genommen worden. Selina hatte noch mitbekommen, wie man sie abgeführt hatte. Das war vor einigen Stunden gewesen. Seither hatte sie die beiden nicht mehr gesehen. Bange fragte sich die Offizierin, was diese Bestien in Menschengestalt wohl mit ihren männlichen Gefangenen anstellen würden, als ihr Blick auf etwas fiel, das sie mit maßlosem Entsetzen erfüllte und ihr den Magen umstülpte. Da es im Augenblick niemanden gab, der sein Glück bei ihr
versuchen wollte, hatte sie zum ersten Mal Zeit, auf die Tische hinunter zu blicken, an denen die grölende Meute saß und sich zügellos betrank und mit Essen voll stopfte. Und plötzlich – sie traute ihren Augen nicht – sah sie, was die Männer da eigentlich aßen. Einer der Kerle nagte an einer menschlichen Hand... * »Dort hinein«, sagte Felia. Mit den Händen hatte sie ein rostiges Stellrad betätigt, worauf in der Wand des U-Bahn-Tunnels ein metallenes Schott zur Seite geglitten war. Es öffnete den Zugang zu einem alten Wartungstunnel, den nur Felia zu kennen schien – oder Kuursa? »Folgt mir«, wies sie Matt und Aruula an, und die beiden betraten den Gang, der schräg in die Tiefe führte. »Ist das der Weg zum Phantom?«, fragte Matt ungläubig, bekam jedoch keine Antwort. Felia/Kuursa schien mit sich selbst beschäftigt zu sein. Leise murmelte sie vor sich hin, während sie die beiden immer tiefer in den Schacht führte. Dann, unvermittelt, endete der Gang. Er mündete in einem schmalen hohen Raum, an dessen Wänden rostige Metallkästen hingen, mit Kabeln vollgestopft. »Ihr wolltet das Phantom sehen«, sagte Felia mit entrücktem Lächeln und deutete in die dunkle Tiefe des Raumes. »Dort ist es.« Matt nickte und hob die Lampe, leuchtete damit den alten Wartungsraum ab – und stieß einen Schrei aus. Aus alten Möbeln und anderem Gerumpel war ein bizarrer Thron errichtet worden. Und auf diesem Thron saß ein mumifizierter Leichnam. Matts Grauen war grenzenlos, als er in den knochigen, eingefallenen Gesichtszügen der Mumie die seines Freundes
und Staffelkameraden Hank Williams erkannte, der vor vier Jahren in Parii gestorben war. »Bei Krahac«, flüsterte Aruula, der das blanke Entsetzen ebenfalls ins Gesicht geschrieben war. Es dauerte Sekunden, bis Matt seine Sprache wieder fand. Sekunden, in denen er sich immer wieder fragte, ob all das wirklich passierte, oder ob es nicht vielmehr nur ein schrecklicher Albtraum war. Aber es war die Wirklichkeit, auch wenn sie unfassbar schien. Hank war das geheimnisvolle Phantom, vor dem die ganze Stadt zitterte... »Felia«, hauchte Matt voller Entsetzen. »Was hast du getan?« »Freust du dich, deinen Freund nach all den Jahren wiederzusehen?«, fragte sie. Ihr schien nicht einmal bewusst zu sein, wie abartig sie sich benahm. »Hank jedenfalls freut sich sehr, dich zu sehen, Maddrax. Er sagt, es hätte viel zu lange gedauert.« »Du... du kannst hören, was er sagt?« Matt hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. »Natürlich. Er ist das Phantom, Maddrax. Die ganze Stadt kann hören, was er sagt.« »Ja«, bestätigte Matt bitter. Er merkte, wie das Blut durch seine Adern pulste, und er hatte das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. »Die Stadt kann es hören, weil du es ihr sagst, Felia«, sagte er heiser. »Hank ist tot! Er ist vor vier Jahren gestorben, weißt du nicht mehr? Du selbst bist das Phantom. Du hast es erfunden, genau wie Kuursa!« »Nein!« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das ist nicht wahr!« »Du weißt, dass es wahr ist! Erinnere dich, was damals geschehen ist, Felia. Hank ist tot, der junge Avtar hat ihn getötet.«
»Nein!«, rief sie trotzig und hielt sich die Ohren zu. »Er lebt! Kuursa hat es mir gesagt.« »Du bist Kuursa, Felia! Sie ist ein Teil von dir, so wie du ein Teil von ihr bist!« »Ich will das nicht hören!«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. »Du bist krank, Felia.« Matt wollte auf sie zu treten. »Du brauchst Hilfe, hörst du?« »Neeein!«, brüllte sie – und damit fuhr sie herum und rannte durch den dunklen Gang davon. * Wie vom Schlag gerührt sank Selina nieder. Sie musste sich an den Gitterstäben festhalten, um nicht zu stürzen. Sie war unter Kannibalen geraten! Die Stimmung im Zelt war ausgelassen, eine rauschende Feier war im Gang. Jetzt sah Selina die mit Fleisch beladenen Teller, die überall herumgereicht wurden, mit anderen Augen. Wäre noch etwas in ihrem Magen gewesen, hätte sie sich übergeben. So kauerte sie nur in sich zusammengesunken da, unfähig jeder Bewegung – was wiederum die Meute, die sich unterhalb des Käfigs versammelt hatte, zu neuen Versuchen ermutigte. Sollen sie, dachte Selina. Inzwischen war ihr gleichgültig, was mit ihr geschah. In einer Welt wie dieser wollte sie nicht leben... * »Felia!« Mit ausgreifenden Schritten waren Matt und Aruula der jungen Frau nachgelaufen. Dort, wo der Versorgungstunnel in den U-Bahn-Schacht überging und Felia stehen bleiben musste,
um das Schott zu öffnen, holten sie sie ein. Matt packte sie und hielt sie fest, und in ihrer Verzweiflung und Angst begann sie wie von Sinnen auf ihn einzuschlagen. Matt jedoch dachte nicht daran, sie loszulassen, und nach kurzer Zeit ermatteten ihre Schläge. Schluchzend sank sie in seine Arme. »Hilf mir, Maddrax«, hauchte sie. »Hilf mir...« Die Konfrontation mit der Wahrheit schien dafür gesorgt zu haben, dass Felia und Kuursa wieder zu einer Person verschmolzen waren – aber gleichzeitig hatte die junge Parii wohl auch erkannt, wie es um sie bestellt war. Erneut drohten ihr die Sinne zu schwinden, und Matt lud sie sich kurzerhand auf die Arme. »Wir müssen hier raus«, stellte er fest. »Hier entlang«, sagte Aruula und deutete den Schacht hinab. »In der anderen Richtung spüre ich Zorn und Aggression.« Wie um ihre Worte zu bestätigen, war plötzlich Fackelschein am anderen Ende des Tunnels zu sehen, und stampfende Schritte klangen herauf. Kuursas Wächter... »Da sind sie!«, hörte Matt den Anführer brüllen. »Sie haben Kuursa noch immer in ihrer Gewalt!« »Bleibt zurück!«, schrie Matt durch den Tunnel – aber dieses Mal ließen sich die Wachen davon nicht mehr aufhalten. Mit kriegerischem Gebrüll stürmten sie über die Gleise. »Verdammt«, knurrte Matt. Er griff nach seinem Driller und warf ihn Aruula zu. Dann wandte er sich zur Flucht, Felia auf den Armen. Sie rannten so schnell sie konnten. Schon zuckten die Speere der Wächter durch das Halbdunkel, verfehlten jedoch ihr Ziel. Aruula wandte sich um und gab zwei Schüsse mit dem Driller ab. Eines der Explosivgeschosse bohrte sich in die Tunneldecke und sprengte einige Brocken aus dem Beton, die auf die Verfolger herab regneten. Das zweite traf einen der Krieger,
der in vorderster Reihe stürmte, und zerfetzte seine Brust. Die Wächter schrien zornig auf. Die Hoffnung, dass die Geschosse sie so einschüchtern würden, dass sie die Verfolgung aufgaben, war allerdings vergeblich. Noch wütender schwenkten sie ihre Waffen und beschleunigten ihre Schritte – und sie holten auf. Aruula blieb stehen. Ihr Schwert in der einen, den Driller in der anderen Hand, wollte sie sich dem Gegner stellen und den Rückzug ihrer Freunde decken. »Kommt nicht in Frage.« Matt schüttelte den Kopf. »Gegen die Übermacht hast du keine Chance. Wir kommen entweder alle hier raus oder keiner!« Sie rannten weiter. Vor ihnen beschrieb der Tunnel eine Biegung, die sie den Blicken ihrer Verfolger entzog. Nur noch der Lichtschein ihrer Fackeln war zu sehen, aber er kam immer näher. Wenn sie einfach nur weiter liefen, würden die Wächter sie bald eingeholt haben. Sie mussten verschwinden, das war Matt klar – aber wohin? Plötzlich fiel der Lichtschein der Lampe auf ein Gitter, das in die Tunnelwand eingelassen war. Die Aufschrift auf dem rostigen Schild war kaum noch zu lesen, aber aus den wenigen Buchstaben rekonstruierte Matt, dass sie einst »sortie de secours« gelautet haben musste. Notausgang... »Aruula!«, zischte er und deutete mit dem Kinn auf das Gitter. Die Barbarin begriff sofort. Die rostige Kette, die das Gitter sicherte, zerbrach fast von selbst, als Aruula daran zerrte. Ächzend schwang das Gitter auf, und sie flüchteten sich in den dunklen Schacht, der dahinter lag, schalteten die Lampe ab und warteten. Wenige Sekunden später waren die Wächter heran. Atemlos beobachteten Matt und Aruula, wie sie im
Laufschritt vorüber rannten, mit vor Zorn verzerrten Gesichtern und blanken Waffen. In ihrer Wut merkten die Kerle nicht, dass ihre Gegner nicht mehr vor ihnen waren. Sie rannten blindlings weiter. Ihre Schritte verhallten – und die Gefahr war gebannt. Matthew wandte sich zu Aruula um. Er konnte sie sehen, obwohl er die Lampe noch nicht angeschaltet hatte. Spärliches Licht fiel von oben herab. Natürlich – sie befanden sich in einem Notausstieg! »Ich kann die Sterne sehen«, flüsterte Aruula. Sie waren so lange in der Unterwelt von Parii gewesen, dass es draußen inzwischen zu dämmern begonnen hatte. »Dann nichts wie nach oben«, meinte Matt. »Ich habe endgültig die Schnauze voll von diesen Tunneln.« Aruula murmelte eine Zustimmung, dann begann sie an der alten, von glitschigem Moos überzogenen Leiter empor zu klettern. Matt folgte ihr, was alles andere als einfach war, da er sich nur mit einer Hand an der Leiter einklammern konnte und mit der anderen die bewusstlose Felia hielt. Mit jeder Sprosse, die sie erklommen, besserte sich die Luft, und mit ihr schöpften sie neue Hoffnung. Endlich langten sie oben an, und es gelang ihnen, den Gullideckel aus der Versenkung zu hebeln. Rasch kletterten sie ins Freie. Ihre Freude endete jäh, als sie ihre Umgebung betrachteten. Sie mussten sich irgendwo in der Nähe der Champs Élysées befinden. Musik und das Grölen von Betrunkenen drangen herüber, dazu der Lichtschein flackernder Feuer. Was Matt und Aruula in diesem Licht sahen, gefiel ihnen ganz und gar nicht. Es waren Knochen. Nicht nur ein paar, sondern ein ganzer Berg davon, der sich vor ihnen häufte. Und anhand der Schädel, die darunter waren, erkannte Matt, dass es sich um die Gebeine von Menschen handelte! Hunderte.
Tausende. »Verdammt«, stieß er hervor, »was ist das hier?« Nahmen die Schrecken an diesem Ort denn gar kein Ende? Sie umrundeten den Knochenberg. Hinter einem Mauervorsprung suchten sie Deckung, und Matt Drax stellte fest, dass sie sich in der Nähe der Champs Élysées befanden, im Zentrum der Stadt. Vor ihnen lag ein freier, von Schuttbergen umrahmter Platz. Von der Straße getrennt wurde er durch ein riesiges Zelt, das Matt an einen Zirkus erinnerte. Lautes Geschrei und Gelächter drangen daraus hervor; es schien zum Bersten gefüllt zusein.. Unweit des Knochenhaufens stand eine schäbige Hütte aus rostigem Wellblech, aus deren gemauertem Kamin dichter Rauch in den Himmel stieg. Als Matt und Aruula sahen, wie große Tabletts mit dampfendem Fleisch aus der Hütte getragen wurden, wurde ihnen jäh klar, was die Knochen bedeuteten. »Sie... sie essen Menschenfleisch!«, flüsterte Matt fassungslos. »Nur Taratzen fressen ihresgleichen«, knurrte Aruula verächtlich. »Kuursas Plan ist aufgegangen. Diese Leute sind wirklich ganz unten angekommen. Aber jetzt, wo das Geheimnis um das Phantom gelüftet ist, werden sich die Verhältnisse ändern.« Entschlossen griff Matt zu seinem Funkgerät, um Shaw und Farmer zu rufen – hoffentlich waren sie in der Zwischenzeit erfolgreich gewesen. Aruula hielt ihn jedoch zurück. »Was ist?«, wollte er wissen. »Da drüben«, sagte sie nur und deutete auf die andere Seite des Platzes, wo ein von Gittern umzäunter Pferch aufragte. Darin waren mehrere Männer gefangen. Gestalten in blutbesudelten Kitteln und mit Schlachtermessern in den Händen hatten den Pferch gerade betreten und waren dabei, zwei Männer daraus hervor zu
zerren, die sich erbittert zur Wehr setzten. Zweifellos ihre nächsten Opfer, dachte Matt schaudernd. Im nächsten Moment kamen die Männer ins Licht der Fackeln – und schockiert erkannte er, dass es Shaw und Farmer waren... * »Verdammt, lasst mich los! Hört ihr nicht? Ihr sollt mich loslassen...!« Andrew Farmer schrie aus Leibeskräften, während die Männer in den blutigen Schürzen ihn davon schleppten. Er wand und wehrte sich in ihrem Griff, hatte aber keine Chance. Peter Shaw erging es nicht besser. Auch ihn hatten zwei der Schlächter gepackt und zerrten ihn aus dem Pferch. In der Hütte wartete ein schreckliches Schicksal auf sie. Ein Tod, wie Shaw ihn selbst seinem ärgsten Feind nicht gewünscht hätte. Die Schlächter erwiderten nichts. Ihre tumben, groben Mienen verrieten keine Regung. Wahrscheinlich hatte ihre grässliche Arbeit sie längst abstumpfen lassen. Sie näherten sich der Hütte, von deren Schlot rot glühender Rauch in den dämmrigen Himmel stieg. Durch die offene Tür, die Shaw wie der Schlund der Hölle vorkam, konnte man flackerndes Feuer sehen, das unter einem großen Rost geschürt wurde. »Ihr da!« Eine helle, autoritäre Stimme ließ die Schlächter aufhorchen. Eine schlanke Frau mit langem dunklen Haar, die eine Maske vor dem Gesicht trug, kam auf sie zu. Als die Kerle sie sahen, zuckten sie zusammen. »Kuursa«, flüsterten der eine. »Lasst die Gefangenen frei!«, befahl die Frau scharf. »Was? Aber...?« »Habt ihr nicht gehört? Lasst sie frei! Ich, Kuursa, befehle
es euch im Namen des Phantoms!« Sie klang so einschüchternd, dass die Schlächter keinen Widerspruch wagten. Und zu Shaws und Farmers unendlicher Erleichterung ließ man sie im nächsten Moment los. »Folgt mir«, befahl die Frau mit gebietender Stimme, und unter den verunsicherten Blicken der Schlächter schlossen sich Shaw und Farmer ihr bereitwillig an. Was immer sie mit ihnen vorhatte – alles war besser, als im Carnodroom zu enden. Hinter der Hütte erhob sich ein Berg menschlicher Knochen, den die Frau halb umrundete. Erst als sie sicher sein konnte, dass niemand sie mehr sehen konnte, wandte sie sich zu den beiden Technos um und nahm die Maske ab. »Aruula?«, machte Andrew Farmer verblüfft, als die Züge der Barbarin darunter zum Vorschein kamen. »Überraschung!«, grinste die Barbarin. »Aber... wie ist das möglich?« »Der ist eine lange Geschichte«, sagte Matthew Drax, der hinter einem Mauervorsprung hervor trat, »und ich fürchte, wir haben jetzt keine Zeit, sie zu erzählen.« »Allerdings nicht«, pflichtete ihm Corporal Farmer bei. »Wir müssen Captain McDuncan befreien.« »Wo ist sie?« »Dort in dem Zelt. Diese Mistkerle haben sie in einen Käfig gesteckt wie ein wildes Tier. Wer als erster auf den Käfig klettert, kann mit ihr anstellen, was er will.« Matt nickte. »Okay, ihr beide bringt Felia zum EWAT. Ich versuche den Captain da rauszuholen.« »Allein? Das kommt nicht in Frage!«, fuhr Aruula auf. »Es geht nicht anders«, gab Matt zurück. »Wenn mein Plan funktioniert, braucht es keinen weiteren Mann, der sich in Gefahr bringt. Und du kannst nicht mitkommen.« »Und warum nicht?« Aruula stemmte die Fäuste in die Seiten.
»Weil Frauen da drinnen Freiwild sind. Bei dieser Übermacht würdest du schneller in einem Käfig landen, als du ›Orguudoo‹ sagen kannst.« Aruula verzog das Gesicht. »Damit macht man keine Scherze!«, rügte sie. »Und wenn ich noch einmal als Kuursa auftrete?« »Zu riskant«, sagte Matt. »Bei den Schlächtern hat es funktioniert, aber bei einer Horde Lüstlinge, die sich den Verstand aus dem Kopf gesoffen haben...? Nein, ich gehe allein.« * Im Inneren des großen Zeltes herrschte unbeschreibliches Chaos. Überall auf den Bänken und an den Tischen saßen Männer, die benebelt waren von Drogen und vom Alkohol. Sie grölten und schrien, stampften mit dem Füßen zum Takt aufpeitschender Musik. In der Mitte des Zeltes hingen mehrere Käfige. Sie waren leer bis auf einen – und in diesem Käfig erblickte Matt Selina McDuncan. Gleich mehrere Kerle gleichzeitig versuchten den Käfig zu erklimmen, und ihre Kumpane feuerten sie dabei an. Matt wusste: Wenn er die Offizierin retten wollte, musste er das brutale Spiel mitmachen – und gewinnen. Das war sein Plan – einfach, aber effektiv. Falls ihm niemand zuvorkam. Mit Fäusten und Ellbogen bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Der Käfig pendelte heftig hin und her. Selina kratzte und biss und trat um sich, um die aufdringlichen Kerle loszuwerden, aber es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Kräfte erlahmen würden. Entschlossen legte Matt den Rest des Wegs zurück und sprang mit einem Satz auf den Tisch unter dem Käfig. Einen ersten Gegner schubste er einfach zur Seite, den nächsten fällte
er mit einem eisenharten Magenschwinger. Sein Vorteil war seine Nüchternheit. Seine Rivalen waren viel zu betrunken, um schnell und koordiniert zu reagieren. Ein grobschlächtiger Hüne stand plötzlich vor Matt. »Damne, nepa!«, lallte er und breitete seine Arme aus, um Matt mit riesigen Pranken zu zerquetschen. Matt trat zu – und traf den Hünen genau in die Leibesmitte. Der Mann gab einen quietschenden Laut von sich und stand einen Augenblick lang wie versteinert, ehe er in sich zusammensank wie ein Ballon, dem die Luft ausging. Zwei Kerle hingen noch unter Selinas Käfig und rissen und zerrten daran, während es ein dritter schon bis hinauf geschafft hatte und sich an die Gitterstäbe klammerte. Mit aller Kraft schlug die Offizierin auf seine Hände ein, aber er ließ einfach nicht los. Dem ersten Gegner zog Matt – eher unbeabsichtigt, als er sich an ihm festkrallte – die Hose herunter. Als der Mann seine Blöße mit den Händen bedecken wollte, merkte er zu spät, dass er sie anderweitig in Gebrauch hatte. Den zweiten Kerl benutzte Matt kurzerhand als Leiter – er kletterte wieselflink an ihm hoch. Kaum hatte er am Käfig Halt gefunden, bedankte er sich mit einem harten Stiefeltritt. Auch dieser Kontrahent schlug drei Meter tiefer zu Boden. Die Meute ringsum tobte, laute Anfeuerungsrufe wurden laut. Matt achtete nicht darauf. Nur noch ein Gegner war übrig – der jetzt bereits dabei war, die Oberseite des Käfig zu erklimmen. Die Menge skandierte wildes, rhythmisches Geschrei, das sich orgiastisch steigerte. Schon hatte der Kerl die Klappe geöffnet und griff hinein, um sich Selina zu holen. »Sie gehört mir, du Stinkmaul!« Matts Ruf lenkte den Parii für einen Augenblick ab – lange genug, um Matt Zeit zu geben, den Käfig ebenfalls zu erklimmen. »Commander!«, rief Selina freudig, als sie ihn erkannte.
»Hallo, Captain«, grüßte Matt mit verwegenem Grinsen. In gebückter Haltung, um das Gleichgewicht zu wahren, standen sich Matt und sein Gegner auf dem Käfig gegenüber, und ein glatzköpfiger Ansager auf einem Podium gab seinen Senf dazu. In den Augen des Parii blitzte es auf, dann kam er breitbeinig auf Matt zu, ein Messer in der Hand. Schon zuckte die Hand des Mannes nach vorn, zielte nach seinem Hals – als Matt sich zur Seite warf und nach der Kette griff, an der der Käfig hing. Den Schwung ausnutzend, kreiselte Matt an der Kette im Halbkreis um seinen Gegner herum. Dass sein Feind nicht mehr da war, wo er eben noch gestanden hatte, begriff der Messermann zu spät. Abrupt wollte er herumfahren – zu spät. Matts Tritt ließ ihn in die Tiefe stürzen, wo er reglos liegen blieb. Die Menge jubelte. Schwer atmend öffnete Matt das Fallgitter und streckte seinen Arm hinein. »Taxi gefällig?«, fragte er grinsend. Selina ergriff seine Hand, und er zog sie nach oben. Sie blutete und war von Kopf bis Fuß mit Blessuren übersät, doch die Erleichterung ließ sie alle Schmerzen vergessen. Als die Meute mitbekam, dass Matt nicht über Selina herfallen würde, schlug die Stimmung im Zelt rasch um. Eben noch hatte man ihn wegen seiner Kühnheit bejubelt – jetzt wurden zornige Rufe laut, und der Ansager begann mit wüsten Schimpftiraden. »Wir sollten zusehen, dass wir verschwinden«, meinte Matt. »Offenbar hat man hier etwas gegen Spielverderber.« »Noch nicht. Wir müssen uns um Shaw und Farmer kümmern, sie...« »Schon erledigt«, versicherte Matt, während sich die Meute unter ihnen zusammen rottete. Fäuste wurden geballt und Messer gezückt. »Ich stelle diese Frage nur ungern«, sagte Selina, »aber
haben Sie sich auch überlegt, wie wir hier wieder rauskommen?« »Auf diese Frage hab ich gewartet«, erwiderte Matt grinsend. Dabei sah er, wie die Kerle unten Tische herantrugen und sie als behelfsmäßige Leiter übereinander stellten. »Können Sie klettern?«, fragte Matt und deutete an der Kette empor, an der der Käfig hing. »Ich denke schon, aber...« Matt ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken. »Dann los!«, drängte er. »Sie zuerst !« Selina umklammerte die Kette mit Armen und Beinen und begann sich daran empor zu ziehen. Matt ließ ihr ein wenig Vorsprung, dann kletterte er ihr hinterher. Stück für Stück arbeiteten sie sich nach oben. Ihre Verfolger hatten den Käfig jetzt erklommen – der Rückweg war damit abgeschnitten. »Wohin soll das führen?«, ächzte Selina. »Dort oben ist Endstation!« »Los, weiter!«, herrschte Matt sie an. »Egal was passiert!« Einige der Verfolger begannen jetzt ebenfalls an der Kette hochzuklettern, Messer zwischen den Zähnen. Pure Mordlust funkelte in ihren Augen. Selina mobilisierte ihre letzten Kraftreserven. Immer weiter zog sie sich empor, bis sie schließlich den rostigen Stahlträger erreichte, an dem die Kette mit einem Splint befestigt war. Darüber spannte sich das Dach des Zeltes. Erschöpft klammerte sich Selina an dem Träger ein. Sie vermied es, nach unten zu blicken, und wartete, bis Commander Drax zu ihr aufgeschlossen hatte. Dieser griff kurzerhand nach seinem Messer und stieß es in das Zeltdach, schnitt eine Öffnung hinein. »Raus aufs Dach!«, keuchte er und half Selina dabei, sich durch die Öffnung zu zwängen. Dann sah er sich nach den Verfolgern um. Der oberste war nur noch wenige Meter
entfernt. Als Matt nach dem Splint griff, der die Kette sicherte, erstarrte der Parii. Matthew Drax war kein eiskalter Mörder. Er blickte dem Mann starr in die Augen und begann in der Sprache der Wandernden Völker laut zu zählen: »Fünf... vier... drei...« Viel schneller als sie heraufgeklettert waren, ließen sich die Verfolger wieder an der Kette hinab. Sie waren gerade beim Käfig angelangt, als Matt den Splint mit einem Ruck heraus zog. Während unten der Käfig zerschellte, enterte Matt neben Selina das straff gespannte Zeltdach. »So weit, so gut«, stieß sie hervor. »Und jetzt? Die werden nicht lange brauchen, um uns zu...« Sie verstummte, als plötzlich ein Brausen die Luft erfüllte. Fast gleichzeitig erfasste sie grelles Scheinwerferlicht. Der EWAT schwebte über ihnen am nächtlichen Himmel. Matt grinste. »Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert!« * Sie brachten den EWAT außerhalb der Stadt zur Landung und warteten dort auf den Anbruch des neuen Tages. Während Andrew Farmer sich um die medizinische Versorgung von Selina McDuncan kümmerte, wurde Felia von Matt und Aruula versorgt. Mit Hilfe eines der Psychopharmaka, die zur medizinischen Ausstattung des EWAT gehörten, gelang es Matt, die junge Frau so weit ruhig zu stellen, dass die andere, aggressive Seite in ihr verstummte. Befreit von Kuursas einschüchternder Präsenz berichtete Felia, wie sich alles zugetragen hatte, und betroffen hörten Matt und Aruula zu. »Es war ganz leicht«, sagte Felia leise. »Kuursa zeigte mir
den Weg, und ich brauchte ihn nur noch zu gehen. Für sie war alles einfach. Sie wusste, wie sie es anstellen musste, um Männer genau das tun zu lassen, was sie wollte.« »Offensichtlich«, murmelte Matt – eine kleine Kostprobe von Kuursas Überredungskünsten hatte er am eigenen Leibe erlebt. »Aber ich wusste nicht, was sie wirklich tat«, fuhr Felia fort. »All diese Dinge, die geschehen sind... es ist so schrecklich! Und es ist meine Schuld! Ich habe Parii zu dem gemacht, was es ist! Zu einem Ort des Bösen...« »Das warst nicht wirklich du«, versuchte Aruula sie zu trösten. »Es war Kuursa.« »Aber Kuursa... bin ich, oder nicht? Sie ist ein Teil von mir. Alles was sie getan hat, war in mir. Ihr Hass, ihre Aggression, ihre Rachsucht...« Betroffen blickte Felia zu Boden. »Ich hätte niemals gedacht, dass so etwas in mir steckt.« »Es steckt in jedem von uns«, sagte Matt. »Aber normalerweise kommt es nicht zum Vorschein. Nur wenn sehr, sehr schlimme Dinge passieren. Diese Männer haben dich bis aufs Blut gequält, Felia. Wenn überhaupt jemand, dann tragen sie die Schuld an dem, was geschehen ist. Sie haben ihren eigenen Untergang heraufbeschworen.« »Und Hank... der arme Hank...« Sie schluchzte, und bittere Tränen rannen ihr über die Wangen. »Wir werden dafür sorgen, dass er ein ordentliches Begräbnis bekommt«, sagte Matt mit belegter Stimme. Der Anblick des mumifizierten Leichnams verfolgte ihn noch immer. »Willst du uns dabei helfen?« Felia nickte, und dann begann sie hemmungslos zu weinen. Matt nahm sie in seine Arme, und sie weinte sich an seiner Schulter aus. Eine endlos scheinende Weile saßen sie so, dann beruhigte sich Felia wieder. Sie löste sich aus Matts Umarmung und stand auf, trat an das Cockpitfenster und blickte hinaus. Die
Sonne ging eben über der Ruinenstadt auf. Ein neuer Tag begann. »Kuursa ist verstummt«, sagte Felia leise. »Ich kann sie nicht mehr hören.« »Das liegt an der Medizin, die wir dir gegeben haben«, erklärte Matt. »Wird sie fort bleiben?« »Kaum. Wahrscheinlich kehrt sie zurück, sobald die Medizin aufhört zu wirken.« »Ich will nicht, dass sie wiederkommt.« »Dann werden wir dir genügend Medizin verschaffen, dass Kuursa dich für immer in Ruhe lässt«, versprach Matt. »Ich muss diese Medizin also für immer nehmen? Für den Rest meines Lebens?« »Es wäre möglich.« Felia nickte, und wieder stand sie nur da und schaute hinaus. Dann geschah es – so plötzlich, dass niemand damit rechnen oder es verhindern konnte. In einer blitzschnellen Bewegung drehte sich Felia zu Peter Shaw um, der im Pilotensessel saß und einige Checks durchführte. Noch ehe der Offizier reagieren konnte, hatte sie nach der Laserpistole in seinem Holster gegriffen und riss die Waffe heraus, richtete sie auf sich selbst. »Nein!«, brüllte Matt. Aber es war zu spät. Ein sengender Energiestrahl brach aus dem Emitter der Waffe und traf Felia in die Brust. Noch einen Augenblick hielt sie sich auf den Beinen, warf Matt und Aruula einen bedauernden Blick zu. Dann brach sie zusammen. Sofort war Matt bei ihr, konnte jedoch nur noch ihren Tod feststellen. Felia hatte es vorgezogen, sich selbst zu richten, anstatt weiter mit den Stimmen zu leben, die sie in ihrem Kopf hörte – und mit dem Wissen, solch schreckliche Dinge verschuldet zu haben.
Traurig presste Matt ihren leblosen Körper an sich, und in Gedanken verwünschte er die Stadt an der Seine. Zu viele Freunde hatte er hier verloren. * Nicht ein, sondern zwei Gräber wurden auf dem Marsfeld ausgehoben, unweit der Stelle, wo Matt Felia vor fast vier Jahren vor dem Avtar gerettet hatte. Sowohl Felia als auch Hank wurden nach dem Ritual der Parii beigesetzt, das Rennee vornahm. Zur Begräbnisfeier hatten sich einige Parii versammelt, die Felia gekannt hatten – sowohl Männer als auch Frauen, die sich nun wieder auf die Straßen wagen konnten. Die Tage des Phantoms und seiner Komplizin, der Schassafamm und des Carnodroom waren vorüber. Nachdem das Phantom als mumifizierte Leiche enttarnt und Kuursa augenscheinlich spurlos verschwunden war, hatte man Rennee als Bürgermeister der Stadt wieder eingesetzt. Die Londoner Community hatte zugestimmt, den Parii beim Wiederaufbau ihrer Stadt sowie bei der Ausbildung einer Polizeitruppe zu helfen, die fortan für Ordnung und Sicherheit sorgen sollte. Schon jetzt war das Geschäft an den Champs Élysées im Niedergang begriffen. Sobald Kuursas Betrug bekannt geworden war, war unter den Zuhältern und Barbesitzern ein regelrechter Krieg ausgebrochen. Die Vergnügungssüchtigen flohen aus der Stadt. Es war, als würde Parii langsam aus dem Rausch erwachen, in den es sich gesteigert hatte. Nicht mehr lange, und die sündigen Meilen würden der Vergangenheit angehören. »Ich danke dir, Maddrax«, sagte Rennee zum Abschied. »Nun hast du unsere Stadt schon zum zweiten Mal gerettet.« »Ich übergebe sie euch in der Hoffnung, dass diesmal alles besser wird«, erwiderte Matt.
»Ganz sicher. Wir haben jetzt neue Freunde, die uns helfen werden, Parii wieder aufzubauen und zu einem lebenswerten Ort zu machen. Und im Gegenzug werden wir euch unterstützen, wenn es zum Kampf gegen jenen Feind kommen sollte, von dem du uns berichtet hast.« »Die Schlacht wird kommen«, kündigte Matt an. »Vielleicht nicht heute oder morgen. Aber sie wird kommen.« Er verabschiedete sich von Rennee und kehrte dann zum EWAT zurück, wo Aruula und die anderen bereits warteten. So froh Matt darüber war, diesem Ort den Rücken zu kehren, so traurig war er auch. Er musste an Hank Williams denken und an Felia, zwei Freunde, die er hier verloren hatte. Er spürte Feuchtigkeit in seine Augenwinkel steigen und hob den Blick kurz zum Himmel. Gerade wollte er ihn wieder senken, als er eine leuchtende Spur entdeckte, die sich quer über das Firmament zog und nach Osten wies. Für eine Sekunde war Matt wie vor den Kopf gestoßen. Was war das? Ein Kondensstreifen? Unmöglich. Es gab keine Flugzeuge mehr in dieser Zeit. Und nicht einmal die Magnetgleiter der Unsterblichen von Amarillo flogen so hoch. Eine Raketenspur? Genauso unsinnig. Es musste ein Gesteinsbrocken aus dem All sein, groß genug, um beim Eintritt in die Atmosphäre auch am Tage eine Spur zu hinterlassen. Matt erinnerte sich an den alten Brauch, sich beim Anblick einer Sternschnuppe etwas zu wünschen. Und während er in den EWAT stieg und das Schott hinter sich schloss, wünschte er sich, dass Hank und Felia Frieden fanden – wo immer ihre Seelen auch sein mochten. ENDE
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Rising Star von Stephanie Seidel Ihr Name klang nach Hoffnung. Aber die Welt, aus der sie kam, existierte nicht mehr, und die wenigen Mitwissenden um das Geheimprojekt Rising Star waren längst zu Staub zerfallen. Japan hatte die mächtige Atomrakete einst dem nahenden Kometen »Christopher-Floyd« entgegen geschickt. Der verzweifelte Rettungsversuch scheiterte. Die Rising Star verschwand in den Tiefen des Alls. Nun brachte ihr Kurs die Rakete zurück – einen nuklearen Sprengsatz von ungeahnter Zerstörungskraft an Bord. Und ihr Ziel war noch immer »Christopher-Floyd«...