Parker setzt »Napoleon« matt Ein Butler-Parker-Krimi mit Hochspannung und Humor von Günter Dönges »Ich will erst gar ni...
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Parker setzt »Napoleon« matt Ein Butler-Parker-Krimi mit Hochspannung und Humor von Günter Dönges »Ich will erst gar nicht wie eine Katze um den heißen Brei herumschleichen, Mylady«, schickte Chief-Superintendent McWarden voraus und wischte mit einem großen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Ich stecke in großen Schwierigkeiten und brauche Ihre Hilfe.« »Nun reißen Sie sich gefälligst zusammen«, forderte die ältere Dame grollend und sah den Yard-Beamten tadelnd an. »Sie werden doch hoffentlich keine Erfrischung nötig haben?« »Darf es ein Sherry sein, Sir?« erkundigte Josuah Parker sich höflich. »Ein Glas Wasser tut es schließlich auch«, vermutete Lady Agatha und maß ihren Butler mit eisigem Blick, der noch kälter wurde, als Parker dem Mann vom Yard ein Glas Sherry servierte. Der rundliche, untersetzte McWarden mit den leicht vorstehenden Augen, der ein wenig an einen Bullterrier erinnerte, griff dankbar nach dem Glas und erfrischte sich. Er übersah die mißbilligenden Blicke der Lady, die wie eine Majestät in einem der hochlehnigen Ledersessel saß. Agatha Simpson war eine stattliche und recht füllige Dame, die die Sechzig überschritten haben mußte. Über ihr wahres und genaues Alter äußerte sie sich schon seit Jahren nicht mehr. Lady Agatha, immens reich, mit dem Blut- und Geldadel der Insel verschwistert und verschwägert, war eine ungewöhnliche Frau mit einem noch ungewöhnlicheren Hobby. In ihrer reichlich bemessenen Freizeit befaßte sie sich mit Kriminalfällen und betätigte sich als Amateurdetektivin. Wenn die energische Dame tätig wurde, erinnerte sie lebhaft an einen Panzer, der kein Hindernis kennt. Sie war eine Frau von ungewöhnlicher Offenheit. Lady Simpson verzichtete fast immer auf vornehme oder höfliche Umschreibungen. Was sie dachte, sagte sie sehr deutlich. Butler Parker war da aus anderem Holz geschnitzt. Vornehme Zurückhaltung und Diskretion zeichneten ihn aus. Er liebte die barocke Umschreibung von Tatsachen und blieb selbst dann noch von ausgesprochener Höflichkeit, wenn die Dinge ihn zwangen, ein wenig nachdrücklich zu werden. Im Lauf der Zeit, die er mit Lady Agatha Simpson verbracht hatte, war er zu ihrem männlichen Schutzengel geworden, ohne daß sie es allerdings auch nur geahnt hätte. Parker mußte immer
wieder eingreifen, um diese Hals über Kopf das Abenteuer suchende Frau vor Schaden zu bewahren. Chief-Superintendent McWarden, der sich gerade gestärkt hatte, wußte dies natürlich. Er war der Chef eines dem Innenministerium direkt unterstellten Sonderdezernates. Wenn er nicht weiterkam, erschien er im Stadthaus der Lady Simpson in Shepherd’s Market und trug seine Sorgen vor. Er mußte es sich dabei immer wieder gefallen lassen, daß die Hausherrin es sichtlich genoß, wenn sie um Hilfe angegangen wurde. »Wollen Sie nicht endlich zur Sache kommen?« fragte sie grollend. »Sie wissen doch, daß Sie keinen Alkohol vertragen.« »Würden Sie das bitte mal lesen, Mylady?« McWarden griff in die Innentasche seines Jacketts und reichte seiner Gesprächspartnerin ein Pergament, das einen schon alten und vergilbten Eindruck machte. Als Lady Agatha es auseinanderfaltete, war ein prächtiges Siegel zu sehen. »Ist es alt, oder sieht es nur so aus?« fragte sie, bevor sie ihre Lorgnette auseinanderklappte, um mit der Stielbrille den Text zu studieren. »Tribunal der Geschichte?« Sie hatte gelesen und reichte das Pergament an Josuah Parker weiter. »Was stelle ich mir denn darunter vor, McWarden?« »Ich weiß es nicht, Mylady«, antwortete der Chief-Superintendent, »ich weiß nur, daß es sich um ein Todesurteil handelt.« »Ausgesprochen über einen gewissen Sir Bannister«, warf Josuah Parker ein, der den Text schnell überflog. »Darf man fragen, Sir, wie dieser Sir Bannister darauf reagierte, falls es ihn überhaupt gab?« »Ich habe keine Ahnung.« McWarden zuckte die Achseln. »Sir Bannister ist nämlich tot.« »Wiederholen Sie das noch mal, McWarden«, forderte die ältere Dame den Chief-Superintendent auf. »Soll das heißen, daß dieses Urteil vollstreckt worden ist?« »Er wurde ermordet«, bestätigte McWarden. »Seine Leiche wurde vor etwa anderthalb Stunden am Themseufer gefunden.« »Und wie wurde er umgebracht?« Lady Simpson interessierte sich bereits sichtlich für diesen neuen Fall. »Etwa Tod durch den Strang, wie in diesem albernen Papier steht?« »Tod durch den Strang, Mylady«, bestätigte der Chief-Superintendent und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. »Und das ist bereits der zweite Fall, in dem dieses Tribunal der Geschichte ein Todesurteil verhängt und vollstreckt hat!« *** »Sir Bannister, Mr. Parker, Sir Bannister? Warten Sie, ich hab's gleich. Nur ein paar Sekunden.«
Josuah Parker hatte das altehrwürdige Haus seiner Herrin verlassen und befand sich im Heeresarchiv Ihrer Britischen Majestät. Er war von einem Mr. John Paul Harding empfangen worden, einem etwas seltsam anmutenden Mann, der etwa sechzig Jahre zählte und an eine Spitzmaus mit Brille erinnerte. Dieser Besuch war nur dank der guten Beziehungen der Lady Simpson ermöglicht worden. Ein normal Sterblicher hatte zu diesem exklusiven Archiv keinen Zutritt. »Sir Ralph Bannister.« Die bebrillte Spitzmaus strahlte den Butler an und nickte. »Natürlich, daß ich nicht sofort darauf gekommen bin, Mr. Parker. Sir Ralph kommandierte seinerzeit eine Brigade und griff in der Schlacht bei Waterloo den großen Korsen bei...« »Er kämpfte also unter dem Oberbefehl Wellingtons gegen Napoleon, Mr. Harding?« »Okay und verlor dabei in einem Teilgefecht die Besoldungskasse seiner Brigade. Wenn Sie Geduld haben, kann ich Ihnen den damaligen Untersuchungsbericht heraussuchen lassen.« »Sie verfügen über mehrere Mitarbeiter?« »Ausgezeichnete Leute, wirklich. Geschichtskenner bis ins Detail. Man kann und muß stolz auf sie sein.« »Ein großer Mitarbeiterstab, wie ich vermuten darf?« »Fünf Personen, Mr. Parker. Lauter Damen, die seit Jahren hier im Archiv arbeiten.« »Darf ich mir erlauben, noch mal auf die Besoldungskasse der Brigade zurückzukommen?« bat Josuah Parker. »Gab es seinerzeit nicht Gerüchte, wonach Sir Ralph dieses Geld in seinen Besitz gebracht haben soll?« »Sie sind ausgezeichnet informiert, Mr. Parker«, lobte John Paul Harding den Butler. »Das stimmt tatsächlich, aber aus dem Untersuchungsbericht geht hervor, daß man Sir Ralph nie eine Schuld nachweisen konnte. Er wurde in Ehren entlassen. »Um welche Summe handelte es sich, oder überfordere ich Sie mit dieser Frage?« »Überhaupt nicht, keineswegs.« Der Archivleiter mit dem phantastischen Gedächtnis lächelte mild. »Es ging damals um dreißigtausend Goldstücke in verschiedener Währung. Sie tauchten nie wieder auf. Möchten Sie hören, wie ich persönlich darüber denke?« »Ich würde mich in der Tat überaus glücklich schätzen.« Parker deutete eine knappe Verbeugung an. »Die erwähnte Truhe mit den Goldstücken ist damals den Franzosen in die Hände gespielt worden.« »Gibt es dafür Beweise?« »Ein britischer Offizier würde nie dreißigtausend Goldstücke vorsätzlich in seinen Besitz bringen, Mr. Parker.« John Paul Harding sah den Butler fast empört
an. »Darf ich weiter daran erinnern, daß die Familie Bannister noch heute zu den angesehensten Familien der Insel gehört?« »Wie die Familie eines Sir Henry Patters, nicht wahr?« »Patters, Patters?« Die bebrillte Spitzmaus schloß halb die Augen und dachte nach. Parker glaubte förmlich zu hören, wie der innere Computer des Mannes arbeitete. Er öffnete plötzlich wieder die Augen und strahlte wie ein beschenktes Kind. »Da haben Sie mich aber herausgefordert«, schickte er voraus. »Henry Patters! Auch dieser Name ist mir geläufig.« »Ich möchte mir erlauben, Sie zu Ihrem phänomenalen Gedächtnis zu beglückwünschen«, sagte Parker. »Kämpfte besagter Sir Henry Patters ebenfalls unter Wellington gegen Napoleon?« »Richtig, Mr. Parker, vollkommen richtig.« Der Chefarchivar nickte. »Er war im erweiterten Stab Wellingtons tätig und brachte einen Teil der Kriegsbeute nach England. Leider ging die Barke unter, und Sir Henry konnte gerade noch sein Leben retten. Sie interessieren sich für die Schlacht bei Waterloo, Mr. Parker?« »Die bewußte Kriegsbeute wurde ein Raub der Fluten, um es mal so auszudrücken?« »Eindeutig, Mr. Parker. Es handelte sich um Tafelgeschirr aus schwerem Gold. Unersetzlich, würde ich sagen.« »Gab es hierzu ebenfalls eine Untersuchung?« »Selbstverständlich, Mr. Parker. Auch diesen Bericht könnte ich Ihnen blitzschnell heraussuchen lassen. Hier im Archiv herrscht mustergültige Ordnung. Wir können jedes Detail belegen.« »Sir Henry Patters wurde ebenfalls in Ehren entlassen, wie ich vermute?« »Eine durch und durch ehrenwerte Familie, die selbst heute noch eine Rolle in der englischen Gesellschaft spielt«, meinte die bebrillte Spitzmaus. »Entschuldigen Sie, Mr. Parker!« Das Telefon auf dem alten Stehpult hatte sich gemeldet. John Paul Harding nahm den Hörer ab, meldete sich und wandte sich dann an den Butler. »Für Sie, Mr. Parker«, sagte er. »Ein Francis Drake wünscht Sie zu sprechen.« »Francis Drake?« Parker nahm den Hörer in seine schwarz behandschuhte Rechte und meldete sich. »Hier spricht das Tribunal der Geschichte«, sagte eine herrische Stimme. »Wir warnen Sie, Mr. Parker! Versuchen Sie nicht, das Rad der Geschichte und der Gerechtigkeit aufzuhalten, sonst könnte man auch Sie zum Tod durch den Strang verurteilen!« *** Unter dem Scheibenwischer von Parkers hochbeinigem Monstrum befand sich ein Stück Pergament.
Der Butler zog es hervor, faltete es auseinander und überflog den Text, der nur aus wenigen Zeilen bestand. Man warnte ihn davor, Handlanger von Verrätern zu werden und riet ihm, sich eine passende Stelle auf dem Land zu suchen. Das rote Siegel unter dem Text war beeindruckend. Parker war im Grund erfreut. Das sogenannte Tribunal der Geschichte fühlte sich bereits gestört und warnte. Besonders starke Nerven schienen die Mitglieder dieses Tribunals nicht zu haben. Sie reagierten schon fast allergisch. Parker setzte sich ans Steuer seines hochbeinigen Wagens. Es handelte sich um ein ehemaliges Londoner Taxi älterer Bauart, das bereits einen asthmatischen, schwächlichen Eindruck machte und rein äußerlich sehr gut zu der konservativen Erscheinung des Butlers paßte. Tatsächlich aber war dieser Wagen nach Parkers Wünschen und Vorstellungen technisch völlig umgestaltet worden. Er war zu einer wahren Trickkiste auf Rädern geworden und konnte es, was seine Leistung anbetraf, mit jedem Tourensportwagen aufnehmen. Während der Fahrt durch die Londoner City schaute Parker wiederholt in den Rückspiegel und hoffte, von Mitgliedern des Tribunals verfolgt zu werden. Er konnte sich gut vorstellen, daß sie eine Art Schreckschuß auf ihn abfeuern würden. Daß er bereits unter Beobachtung stand, war klar, wie hätte sonst das Pergament mit der eindeutigen Drohung unter dem Scheibenwischer seines Wagens stecken können? Woher wußten die Mitglieder dieses sogenannten Geschichtstribunals von der Einschaltung Lady Simpsons in diesen Fall? Reichten die Beziehungen der Täter bis in den Yard? Woher war ihnen bekannt, daß Chief-Superintendent McWarden mit der Klärung des Falles beauftragt worden war? Parker versuchte es mit einem altbewährten Trick. Nachdem er die City hinter sich gelassen hatte, steuerte er seinen Wagen in Richtung Regent’s Park, um hier eine stille, einladende Seitenstraße aufzusuchen. Der Verkehr war wesentlich mäßiger, die Gelegenheit für einen Überfall ausgesprochen günstig. Zu seinem Bedauern tat sich überhaupt nichts. Er wurde zwar von Wagen überholt und sah hinter sich andere Fahrzeuge, doch Parkers innere Alarmanlage sprach nicht an. Sie meldete sich einfach nicht. Das war das sichere Zeichen dafür, daß keine unmittelbare Gefahr in der Luft lag. Die Tribunalmitglieder schienen sich mit der schriftlichen Warnung und Drohung begnügt zu haben. Nun, Josuah Parker tat noch mehr. Er stieg aus seinem hochbeinigen Monstrum, wie der Wagen liebevoll spöttisch, aber auch respektvoll genannt wurde, legte sich den bleigefütterten Bambusgriff seines altväterlich gebundenen Regenschirms über den angewinkelten Unterarm und betrat den Park. Der Butler war in seinem schwarzen Zweireiher und mit dem Eckkragen das Urbild des britischen Dieners an sich. Echter und überzeugender hätte man solch eine Gestalt in keinem noch so aufwendigen Kostümfilm sehen können.
Er lustwandelte hinüber zum Regent's Park Lake und wartete auf einen Angriff, zumal sich plötzlich doch seine innere Alarmanlage meldete. Sie schlug nur leicht an, doch das genügte Josuah Parker bereits, um auf allergrößte Vorsicht umzuschalten. Eine Art elektrischer Spannung brachte seine Nervenbahnen in Vibration. Wenig später sah er zwei Patres in langen Kutten, die ihm entgegenkamen und einen sehr in sich gekehrten Eindruck machten. Die Kutten der beiden Mönche reichten bis zu den Sandalen. Typischer hätten Mönche überhaupt nicht aussehen können. Doch von Frömmigkeit konnte überhaupt keine Rede sein, wie sich wenig später zeigte. Mit blitzschnellen Bewegungen schoben sie ihre Kutten zur Seite und hielten plötzlich Maschinenpistolen in Händen. Sie rissen die Läufe hoch, richteten sie auf den Butler und schossen Dauerfeuer auf ihn.! Butler Parker war daraufhin verständlicherweise ein wenig irritiert. *** Agatha Simpson hatte es natürlich nicht im Haus gehalten. Sie saß am Steuer ihres Land-Rover, den sie sich vor einiger Zeit angeschafft hatte. Die Detektivin hielt dieses schwere, geländegängige Fahrzeug für besonders geeignet, sich durch den dichten Stadtverkehr zu bewegen. Es war erstaunlich, welch eine unsichtbare Aura diesen Wagen umgab. Er war an manchen Stellen zerbeult und lädiert, was deutlich bewies, daß die Besitzerin des Wagens über Schäden an der Karosserie großzügig hinwegsah. Entsprechend vorsichtig wurde das Gefährt auch zur Kenntnis genommen. Die Verkehrsteilnehmer pflegten es zu meiden und hielten auf Abstand. Sie waren nur zu gern bereit, der Fahrerin den Vortritt zu lassen. Kathy Porter litt wieder mal Qualen. Sie war die Gesellschafterin und Sekretärin der älteren Dame und sah auf den ersten Blick aus wie ein ängstliches Reh, wozu ihre kastanienbraunen Haare mit dem leichten Rotstich noch beitrugen. Kathy Porter war fünfundzwanzig, schlank, langbeinig und etwas über mittelgroß. Sie konnte sich jedoch in Sekundenbruchteilen in eine wilde Pantherkatze verwandeln und war beschlagen in fast allen Künsten fernöstlicher Selbstverteidigung. Darüber hinaus war Kathy Porter eine Meisterin der Verwandlung. Mit wenigen Hilfsmitteln war sie in der Lage, sich in eine völlig andere und neue Person zu verwandeln. Nun aber hatte sie einfach Angst. Dies hing mit dem recht eigenwilligen Fahrstil der Lady zusammen, die ihren Land-Rover wieder mal mit einem Räumpanzer verwechselte. Sie pflügte im wahrsten Sinn des Wortes durch den Verkehr und sorgte für Panik auf den Straßen. Die streitbare Dame war im Moment wieder mal der festen Ansicht, die Vorfahrt zu haben. Für sie gab es überhaupt keine Verständigung mit dem Fahrer des
Lasters, der seinerseits an seine Vorfahrt dachte. Der stämmige Mann vertraute darauf, daß sein Wagen größer und stärker war, hielt auf den Land-Rover zu und grinste grimmig in sich hinein. Er wollte es dieser alten Schreckschraube am Steuer gründlich besorgen. Bestimmt würde sie im letzten Augenblick doch noch auf das Bremspedal treten. Darin sah der Truckfahrer sich allerdings getäuscht. Lady Agatha lächelte ebenfalls grimmig und visierte den Kühler des Lastwagens an. Sie minderte keineswegs die Geschwindigkeit des Wagens, sondern gab noch zusätzlich Gas. »My... Mylady«, stotterte Kathy Porter beeindruckt und schloß sicherheitshalber die Augen. »Was ist denn, Kindchen?« wollte die ältere Dame wissen. »Diesem Lümmel werde ich es zeigen, die Verkehrsregeln zu mißachten.« Besagter Lümmel trat im letzten Moment auf das Bremspedal und hatte einige Mühe, den schweren Wagen abzufangen. Da auch Agatha Simpson anhalten mußte, stieg er aus und kam mit einem schaukelnden Gang auf den Land-Rover zu. Der Fahrer schäumte vor Wut. »Zimtzicke«, brüllte er die Lady an. »Schon mal was von Vorfahrt gehört?« »Schon mal was von Höflichkeit gehört?« fragte Agatha Simpson zurück und... verabreichte dem Mann, der sie respektlos Zimtzicke genannt hatte, erst mal eine Ohrfeige. Der Mann fuhr zurück und starrte seine Kontrahentin entgeistert an. »War... War das gerade 'ne Ohrfeige?« fragte er dann sicherheitshalber und massierte die schmerzende Wange. »Gestreichelt werde ich Sie haben, Sie Lümmel!« Die Sechzigjährige hatte ihren perlenbestickten Pompadour vom Handgelenk gelöst und- brachte ihn ins Pendeln. In diesem Handbeutel, wie die Damen der Jahrhundertwende ihn zu tragen pflegten, befand sich Myladys »Glücksbringer«, ein echtes Pferdehufeisen von beachtlicher Größe. Aus Gründen der Humanität hatte Lady Agatha es recht oberflächlich mit dünnem Schaumstoff umwickelt. »Das machen Sie nich' noch mal, Sie Schreckschraube«, brüllte der Fahrer, nachdem er seine Antwort erhalten hatte. »Wie reden Sie denn mit einer alten, hilflosen Dame?« erregte sich Lady Agatha. Der Fahrer wich unwillkürlich zurück. Er hatte durchaus nicht den Eindruck, es mit einer hilflosen Frau zu tun zu haben. »Soll ich Ihnen mal Manieren beibringen?« Der Mann wollte noch etwas sagen, doch er brachte keinen Laut hervor. Seine Augen öffneten sich weit. Er stierte über Lady Simpsons linke Schulter hinweg auf zwei Mönche, die erstaunlicherweise moderne Maschinenpistolen in ihren Händen trugen, deren Läufe auf die ältere Dame und damit auch auf ihn gerichtet waren. Er konnte selbst dann noch nicht schreien, als die ersten Feuerstöße zu hören waren. ***
Parkers Blutdruck hatte sich nach diesem Dauerfeuer leicht erhöht. Seine Verunsicherung war gering und hatte sich bereits gelegt. Ihm war nicht entgangen, daß man mit Platzpatronen auf ihn geschossen hatte. Dennoch, die Schrecksekunde hatte auch er und die reichte den beiden Kuttenträgern, um hinter dichtem Strauchwerk rechts vom Parkweg zu verschwinden. Josuah Parker sah sich verstohlen um. War er beobachtet worden? Hatten Augenzeugen seine verständliche Schwäche bemerkt? Nun, dies war offensichtlich nicht der Fall. Weiter vorn auf dem Weg hatten sich einige Spaziergänger umgewandt, aber sie sahen nur den korrekt gekleideten Butler, den sie mit den Feuerstößen auf keinen Fall in Verbindung bringen wollten und konnten. Butler Parker ging zurück zu seinem hochbeinigen Wagen und stellte fest, daß sein Blutdruck schon wieder Normalwerte erreicht hatte. Er räumte ein, daß die Tribunalmitglieder sehr gekonnt reagiert hatten. Dieser Überfall durch die Kuttenträger war mehr als nur effektvoll gewesen. Es hatte sich um eine eindeutige Warnung gehandelt. Parker hatte sein hochbeiniges Monstrum erreicht und war froh, als er im sicheren Wagen saß. Die Nachwirkungen des gespielten Überfalls stellten sich ein. Ein aufmerksamer Beobachter hätte feststellen können, daß seine Hand leicht vibrierte, als er den Schlüssel ins Zündschloß steckte. Irgendwo in der Nähe mußten sich die beiden Kuttenträger aufhalten, das war dem Butler klar. Wahrscheinlich beobachteten sie ihn und genossen ihren Triumph. Wahrscheinlich würden sie ihn aber auch erneut verfolgen und herauszubekommen versuchen, wohin er jetzt fuhr. Bot sich für ihn, Josuah Parker, jetzt eine Möglichkeit, den Spieß umzudrehen? Natürlich mußte er mit einem zweiten Überfall rechnen und auch damit, daß dann keine Platzpatronen mehr verwendet wurden. Parker hatte sich vor dem Verlassen des Heeresarchivs einige Adressen geben lassen. Er wußte also, wo die Nachkommen des damaligen Sir Ralph Bannister zu finden waren. Nach diesen Informationen wohnten die Bannisters im nahen Mayfair, nicht weit von Shepherd’s Market entfernt. Parker paßte noch genauer auf. Immer wieder sah er in den Rückspiegel seines hochbeinigen Monstrums. Er war sicher, verfolgt zu werden, und wollte herausbekommen, wer diese Verfolger waren. Natürlich trugen sie inzwischen keine Kutten mehr, das stand für ihn fest. In der Höhe der amerikanischen Botschaft entdeckte er sie schließlich. Es handelte sich um einen kleinen Kastenlieferwagen, der zu einer Dachdeckerfirma gehörte. Vorn im Fahrerhaus saßen zwei junge Männer in dunklen Overalls. Sie rauchten Zigaretten, unterhielten sich und machten einen betont harmlosen Eindruck. Der kleine Kastenlieferwagen wurde jäh gebremst, als Parker im letzten Moment nach einer Art Notbremsung links in eine schmale Seitenstraße bog. Die beiden
Dachdecker wollten auf keinen Fall den Anschluß verlieren. Und genau das verriet sie... Parker brauchte nur noch die Falle aufzustellen. Er schwenkte durch einige Straßen, bis er das Haus der jetzigen Bannisters erreicht hatte. Es handelte sich um einen repräsentativen Bau mit einem Porticus über dem Eingang. Im Vorbeifahren entdeckte Parker ein seriöses Bronzeschild, auf dem der Name Bannister stand, und zwar in dreifacher Ausführung. Daraus schloß Parker, daß er es mit einer Anwaltfirma zu tun hatte. Der Kastenlieferwagen hatte aufgeschlossen und hielt, als Parker sein hochbeiniges Monstrum kurz stoppte. Die beiden Insassen ahnten natürlich nicht, daß Parker den Rückwärtsgang einlegte. Sie konnten auch unmöglich sehen, daß seine schwarz behandschuhte Hand nach einem der vielen Kippschalter langte, die zahlreich auf dem Armaturenbrett vertreten waren. Dann startete der Butler seinen Gegenangriff. *** Kathy Porter stand so hinter dem Land-Rover, daß sie von den Maschinenpistolen der beiden Kuttenträger nicht erreicht werden konnte. Sie ließ sich sofort fallen, als sie Schüsse hörte, kroch unter den Wagen und robbte nach vorn zum rechten Vorderrad. Zu ihrer Überraschung standen Mylady und der Lastwagenfahrer trotz der Schußgarben noch sicher auf den Beinen. Kathy Porter wußte sofort, daß mit Platzpatronen auf Lady Agatha geschossen wurde. Das so scheu aussehende Reh verwandelte sich augenblicklich in eine gereizte Pantherkatze. Sie kroch noch vor dem Rad unter dem Land-Rover hervor und... drückte sich kraftvoll ab, flog wie eine riesige Katze durch die Luft und trat mit ihrem linken Fuß nach der Brust eines der beiden Angreifer. Der Mann wurde getroffen, nach hinten geschleudert und schlug haltlos zu Boden. Der zweite Kuttenträger ließ sich etwas einfallen. Er schlug mit dem Kolben der Waffe nach Kathy, doch er traf sie nicht. Die junge Dame hatte sich geschickt zur Seite gerollt und entging so dem fürchterlichen Schlag. Agatha Simpson, die sich von ihrer verständlichen Überraschung erholt hatte, war ebenfalls nicht untätig geblieben. Sie verfügte schließlich auch über eine Waffe, die kräftige Ochsen zu fällen vermochte. Lady Agatha hatte ihren Pompadour auf die Reise geschickt, und der perlenbestickte Handbeutel zischte mit viel Fahrt in Richtung des zweiten Kuttenträgers, der davon überhaupt nichts mitbekam, weil er erneut nach Kathy Porter schlagen wollte. Der »Glücksbringer« leistete ganze Arbeit und landete auf dem Hinterkopf des angeblichen Mönches, dem es die Beine unter der Kutte wegriß. Der sicher nicht fromme Mann vollführte einen halben und dazu noch mißglückten Salto, um dann nach Luft schnappend auf dem Boden liegen zu bleiben.
Er konnte von Glück sagen, daß Kathy Porter sich um ihn kümmerte und ihn mit einem schnellen Schlag außer Gefecht setzte. So entging dieser Mann einem zweiten Schlag mit dem Pompadour, den Lady Simpson freudig geplant hatte. Der Attackierte streckte die Beine aus, seufzte tief und trat erst mal ab von der Bühne seines Bewußtseins. Der Lastwagenfahrer lehnte bleich gegen den mächtigen Kühler seines Trucks und starrte auf die Szene. Er war völlig geschockt, was mehr als verständlich schien. Immerhin hatte man aus zwei Maschinenpistolen auf ihn geschossen, auch wenn dabei nur Platzpatronen verwendet wurden. »Nun machen Sie mal nicht schlapp, junger Mann«, raunzte die ältere Dame den sicher nicht schwachen Mann an. »Fassen Sie an und stecken Sie die Strolche in den Land-Rover! Beeilung, wenn ich bitten darf! Stehen Sie hier nicht nutzlos herum!« »Ja ... Jawohl, Madam«, stotterte der Fahrer und handelte wie ein Mann, der sich in geistiger Umnachtung befindet. Noch immer unter dem Schock stehend, führte er die Anordnung der resoluten älteren Dame aus und stopfte die beiden Kuttenträger in den Fond des Land-Rovers. »Räumen Sie endlich die Kreuzung!« Lady Agatha sah ihn streng an. »Und beharren Sie in Zukunft nicht auf der Vorfahrt, junger Mann! Sie sehen ja, wohin so etwas führt.« Agatha Simpson setzte sich ans Steuer des Land-Rover und nickte Kathy Porter zu, die zu den beiden Kuttenträgern gestiegen war. Ohne sich weiter um den Menschenauflauf an der Kreuzung zu kümmern, fuhr die Detektivin dann rasant los und ließ ein mittleres Chaos zurück. »Hätte man nicht auf die Polizei warten müssen, Mylady?« fragte Kathy Porter. »Papperlapapp, Kindchen«, entschied ihre Chefin und Gesellschafterin energisch. »Das gibt nur unnötige Verwicklungen.« »Man wird sich das Kennzeichen des Land-Rovers gemerkt haben, Mylady.« »Da merkt man wieder, wie schlecht Sie die Menschen kennen, Kindchen.« Agatha Simpson lachte triumphierend. »Kein Zeuge wird sich erinnern. Und bis die Meldung von dem Vorfall bei McWarden landet, sind die beiden Subjekte längst in Sicherheit.« Lady Simpson verzichtete darauf, nach Sheperd's Market zurück zu fahren. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, unterwegs vielleicht doch von einem Polizeicar entdeckt und angehalten zu werden. Die ältere Dame hatte bereits ihre Wahl getroffen und fuhr nach Kew Gardens, einem freundlichen, an der Themse gelegenen Vorort Londons. Hier besaß sie ein kleines Bootshaus, wie sie es nannte. Dieses kleine Bootshaus war natürlich ein recht beachtlicher Bau, der in einem durch Mauern und Eisengitter begrenzten Park stand. Es gab hier tatsächlich auch ein echtes Bootshaus, und genau vor diesem kleineren Haus, das ganz aus Holz bestand, hielt sie.
Die beiden Kuttenträger waren inzwischen wieder zu sich gekommen, aber blieben schweigsam. Dies hing wahrscheinlich mit der Tatsache zusammen, daß Kathy Porter ihnen die Hände fachgerecht verschnürt hatte. »Raus mit diesen Subjekten«, kommandierte die ältere Dame, worauf die beiden angeblichen Mönche sich erheben durften. Sie musterten die beiden Frauen in einer Mischung aus Wut, Hilflosigkeit und Respekt. Und als sie nicht sofort gehorchten, holte Lady Simpson zu einer ihrer gefürchteten Ohrfeigen aus. Daraufhin entwickelten die Kuttenträger ein erstaunliches Tempo und liefen im Schweinsgalopp ins Bootshaus. »Nun zu uns«, sagte Agatha Simpson und ließ sich auf dem Rumpf eines umgestülpten Kahns nieder. Sie musterte die beiden Männer mit einem prüfenden Blick. »Ich möchte eine gute Geschichte hören, meine Herren. Und gnade Ihnen Gott, sie gefällt mir nicht!« *** Josuah Parker konnte sich auf die Solidität seines hochbeinigen Monstrums verlassen. Das Chassis war so verstärkt, daß es eine Menge aushielt. Er hatte den Rückwärtsgang eingelegt und gab Vollgas. Die Wirkung war beachtlich. Das hochbeinige Monstrum schoß förmlich zurück und rammte mit dem verstärkten Heck und der weit vorstehenden Stoßstange den Kühler des Kastenlieferwagens, der ein gutes Stück zurückhüpfte, sich quer stellte und mit der Rückwand gegen eine hüfthohe Mauer gedrückt wurde. Gleichzeitig entströmte dem Auspuff von Parkers Wagen eine dunkle, rußgeschwängerte Wolke, die jede Sicht nahm. Natürlich erregte dieser Zwischenfall einiges Aufsehen. Das Scheppern von Autoblech war weithin zu hören gewesen. Hinzu kam dann noch die dunkle Rauchwolke, die beide Wagen einhüllte. Menschen liefen zusammen, trauten sich aber nicht in die Dunkelzone zu treten, Autos stoppten, Fahrer hupten. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis aus der sich ausdehnenden Rauchwolke sich langsam ein Londoner Taxi schob, dessen Fahrer eine schwarze Lederkappe trug. Das Taxischild vorn über der Frontscheibe und das Taxameter waren deutlich zu erkennen. Der Taxifahrer kurvte durch die haltende Wagenkolonne, gewann freie Bahn und erhöhte seine Geschwindigkeit. Das Taxi bog in die nächste Seitenstraße, verschwand in der übernächsten und erschien wieder auf der Durchgangsstraße als normales Fahrzeug, jetzt ohne Taxameter und Taxischild. Parker hatte die beiden nützlichen Gegenstände per Knopfdruck auf elektrischem Weg wieder verschwinden lassen. Auf seinem Kopf saß jetzt wieder die schwarze Melone, die ihn als Zivilisten auswies. Im Fond des Wagens lagen auf dem Boden zwei junge Männer in Overalls. Sie fluchten geradezu abscheulich und wären liebend gern aufgestanden, doch
Handschellen hinderten sie daran, Handschellen, die ihre Gelenke mit den fest im Wagenboden eingelassenen Fußstützen verbanden. »Ich möchte Sie höflich ersuchen, sich eines anderen Tones zu befleißigen«, sagte Parker über die Bordsprechanlage nach hinten in den Fahrgastraum. »Sie werden später noch Zeit und Gelegenheit haben, sich zu den Vorfällen gründlich zu äußern.« Butler Parker war zufrieden. Er hatte die beiden Kuttenträger aus dem Regent's Park doch noch fangen können. Im Kofferraum seines hochbeinigen Monstrums lagen die Mönchskutten sowie die beiden Maschinenpistolen. Diese Gegenstände hatte Josuah Parker noch zusätzlich geborgen, nachdem er sie im Kastenaufbau des kleinen Wagens auf Anhieb gefunden hatte. Es galt, die beiden Männer erst mal sicher unterzubringen. Parker hatte gewisse Zweifel und Befürchtungen, nach Shepherd's Market zu fahren. Er neigte im Gegensatz zu Agatha Simpson nicht dazu, Chief-Superintendent McWarden zu unterschätzen. Vielleicht war er inzwischen durch Polizeifunk über diesen seltsamen Zwischenfall informiert worden und hatte daraus richtige Schlüsse gezogen. Parker entschied sich also für Kew Gardens, einem Ausweichquartier, das er in Anbetracht der allgemeinen Lage für passend fand. Dort war eine ungestörte Unterhaltung möglich, und er hatte recht viele Fragen, die er an seine Gäste zu richten gedachte. Ein wenig sorgte er sich natürlich um Lady Simpson und Kathy Porter, die ebenfalls in der Stadt waren. Hoffentlich war ihnen solch ein raffiniert angelegter Überfall erspart geblieben... Als Parker frische Reifenspuren vor dem Parktor entdeckte, wußte er sofort, daß dies nicht der Fall gewesen war. Er wußte aber auch, daß Lady Simpson und Kathy Porter ebenfalls Beute gemacht hatten. *** »Was halten Sie von diesen vier Strolchen, Mr. Parker?« fragte Lady Agatha und musterte die Kuttenbesitzer grimmig. »Ich hätte große Lust, sie in der Themse zu ersäufen.« »Eine Möglichkeit, Mylady, die man vielleicht später diskutieren und in Betracht ziehen sollte«, antwortete Josuah Parker. »Alles ist davon abhängig, wie mitteilsam die Herren sind.« »Aus uns kriegen Sie kein Wort 'raus«, sagte der kleinste der vier Gangster. Er war schmal, hatte ein gerissen aussehendes Gesicht und flinke Rattenaugen. »Wissen Sie eigentlich, was Ebbe und Flut ist?« fragte die Lady und deutete auf die bemoosten, dicken Holzpfähle im Bootshaus, die im Wasser standen. »Mr. Parker, wann ist mit der nächsten Flut zu rechnen?«
Josuah Parker zog eine zwiebelförmig aussehende, sicher uralte Taschenuhr aus einer seiner vielen Westentaschen und ließ den Deckel aufspringen. »Die nächste Flut setzt in etwa fünfundvierzig Minuten ein«, antwortete Parker und ließ die Uhr wieder verschwinden. »Mylady mögen meine bescheidene Wenigkeit nicht auf die Minute genau festlegen.« »Bei Flut steigt das Wasser selbst hier noch recht intensiv«, sagte die Detektivin. »Und dort, wo Sie jetzt sitzen, wird bald alles überflutet sein.« Die vier Kuttenbesitzer saßen auf einer querliegenden Holzbohle, auf die Parker sie festgezurrt hatte. Sie waren nicht in der Lage, aus eigener Kraft aufzustehen. »'nen vierfachen Mord werden Sie nie riskieren«, erwiderte der Schmale und lachte verächtlich. »Was heißt hier Mord?« Lady Agathas Blick wurde rein und unschuldig wie der eines Kleinkindes. »Es wird sich um einen bedauerlichen Unfall handeln.« »Den man dann als tragisch bezeichnen wird«, fügte Josuah Parker hinzu. »Darf ich mir erlauben, in Ihr Gedächtnis zurückzurufen, daß Sie auf Mylady geschossen haben?« »Doch nur mit Platzpatronen«, sagte der Schmale schnell. »Und das wissen Sie verdammt genau.« »Und beim nächsten Mal werden Sie scharfe Munition verwenden«, sagte die ältere Dame. »Diesmal haben Sie nur geprobt.« »An Mord ist überhaupt nie gedacht gewesen«, erwiderte der Schmale und schielte beiläufig nach unten auf den schlammigen Boden, auf dem seine Schuhe standen. »Sie werden natürlich nicht sagen wollen, wer Sie dafür bezahlt hat, auf Mylady zu schießen?« Parker wartete auf keine Antwort. »Möge Ihnen das Schicksal gnädig sein, meine Herren. Hoffentlich schwillt die Flut diesmal nicht so an, wie üblich.« Er verließ zusammen mit Lady Simpson das Bootshaus, blieb aber noch mal kurz in der geöffneten Tür stehen. »Ich könnte mir vorstellen, daß Sie im Chor zu schreien beabsichtigen«, schickte er voraus. »Schonen Sie Ihre Stimmbänder, meine Herren! Ich werde mir erlauben, den Rasen zu mähen.« Aus dem Geräteschuppen neben dem Bootshaus holte Parker tatsächlich einen Rasenmäher und brachte ihn in Gang. Natürlich mähte er nicht den Rasen, ihm ging es einzig und allein darum, etwaige Hilfeschreie zu übertönen. »Nun, Mr. Parker?« Agatha Simpson ging mit dem Butler auf das Haus zu, in dem Kathy Porter sich befand und telefonierte. »Können diese Lümmel wirklich etwas sagen?« »Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht, Mylady«, lautete Parkers Antwort. »Es dürfte sich um Handlanger handeln, die vom sogenannten Tribunal der Geschichte noch nicht mal etwas ahnen. Ausnehmen möchte ich unter Umständen den jungen Mann, der bisher das Wort führte. Er dürfte sich meiner
bescheidenen Ansicht nach Gedanken gemacht haben, was seine Auftraggeber betrifft.« »Das denke ich allerdings auch.« Die ältere Dame nickte. »Wollen wir McWarden verwöhnen und ihm die vier Subjekte schenken?« »Wenn es erlaubt ist, möchte ich mich erkühnen, Mylady spontan zuzustimmen«, gab Josuah Parker gemessen zurück. »Man müßte allerdings dafür sorgen, daß die vier Herren mit einer längeren Untersuchungshaft konfrontiert werden.« »Ich hoffe, Sie können mir entsprechende Vorschläge machen, Mr. Parker.« Die Detektivin sah ihn abwartend an. »Es wäre natürlich schön, wenn die Lümmel von der Polizei bereits gesucht würden.« »Dazu wird Miß Porter möglicherweise etwas sagen können, Mylady.« Sie hatten das Haus erreicht, und Parker öffnete höflich die Tür für seine Herrin. Sie gingen in den großen Wohnraum, in dem Kathy Porter stand und telefonierte. Vor ihr, auf einem kleinen Bridgetisch, lagen die Papiere, die Parker in den Taschen der vier angeblichen Mönche gefunden hatte. Viele waren es leider nicht. »Mit einem Namen läßt sich etwas anfangen«, sagte Kathy und legte auf. »Ich meine diesen schmalen Mann mit den Rattenaugen.« »Was wissen Sie über ihn, Kindchen?« Kathy Porter gegenüber gab Lady Simpson sich stets wohlwollend wie eine ältere Verwandte. »Nach den Papieren heißt er Ray Pounds und ist Inhaber einer Werbeagentur. Er ist der einzige der vier Männer, dessen Papiere vollständig vorhanden sind.« »Haben Sie seine Adresse, Kindchen?« »Er wohnt in South Bank, Mylady. Die übrigen drei Männer ebenfalls, alle gar nicht weit auseinander.« »Diese Werbeagentur werde ich mir mal ansehen«, versprach die ältere Dame erfreut. »Was meinen Sie, Mr. Parker, muß McWarden alle vier Subjekte haben?« »Man kann durchaus unterstellen, Mylady, daß Mr. McWarden auch mit drei Tätern zufrieden sein wird«, gab Parker zurück. »Falls er nicht zu genau nachzählt.« *** Josuah Parker servierte das Dinner. Lady Agatha hielt es immer noch mit ihrer Spezialdiät, um ihre Körperfülle ein wenig zu mindern. Auf der anderen Seite hatte sie natürlich nicht die Absicht, vom Fleisch zu fallen. Der Butler hatte sich darauf eingestellt und legte seiner Herrin nur ein wenig Roastbeef vor, dann gegrillte Würstchen, mit Speck umwickelt, dazu ein wenig Räucherfisch und Lachs, kerniges Brot und gesalzene Butter aus Schottland. Um dies alles abzurunden, versorgte er Lady Agatha noch mit kaltem Huhn und rohem Schinken. Ein herber Weißwein sorgte dafür, daß die Dame keinen Durst litt. »Chief-Superintendent McWarden bittet, seine Aufwartung machen zu dürfen«, meldete Josuah Parker.
»Jetzt?« Lady Agatha sah ihn grollend an. »Woher weiß dieser Mensch eigentlich immer so genau, wann ich esse?« »Mr. McWarden scheint Nachrichten von größter Wichtigkeit überbringen zu wollen.« »Also gut, man muß auch Opfer bringen können, Mr. Parker. Bringen Sie ihn herein! Halt, noch etwas!« »Kein Gedeck für Mr. McWarden, Mylady.« »Richtig, Mr. Parker.« Sie nickte zufrieden. »Ich sehe nicht ein, warum ich den halben Yard durchfüttern soll.« Während Parker das kleine Frühstückszimmer verließ, häufte die Hausherrin sich schleunigst ihren Teller voll. Das Roastbeef verschwand, die beiden letzten Würstchen. Sie hütete ihre Schätze, als der Chief-Superintendent eintrat. »Was für ein Pech für Sie, McWarden«, sagte die Lady, »ich bin gerade mit dem Dinner fertig.« Sie deckte die Warmhaltehaube über das Tablett und sorgte dafür, daß McWarden optisch nicht in Versuchung geführt wurde. »Ich komme in dienstlicher Eigenschaft, Mylady«, sagte McWarden und nickte beiläufig, als Parker ihm ein Glas Wein servierte, was Lady Simpson mit einem gereizten Knurren begleitete. »Mit anderen Worten, Sie wollen mir wieder mal etwas anhängen, nicht wahr?« fragte sie spitz. »Aber das bin ich inzwischen ja gewöhnt. Genieren Sie sich nicht!« »Heute sind in der Stadt recht eigenartige Dinge passiert«, begann der ChiefSuperintendent. »In zwei Fällen wurden je zwei Mönche in Kutten gesehen, die aus Maschinenpistolen Platzpatronen verfeuerten.« »In London ist nichts unmöglich, finden Sie nicht auch?« »Augenzeugen haben den Beamten diejenigen Personen beschrieben, auf die man mit Platzpatronen geschossen hat.« »Augenzeugen sollte man nie trauen, McWarden, aber wem sage ich das!? Sie kennen sich darin ja besser aus als ich.« »Diese Augenzeugen haben genau beschrieben, auf wen geschossen wurde, Lady Simpson.« McWarden trank einen winzigen Schluck. »Die Beschreibungen passen insgesamt auf Sie und Ihren Land-Rover, Mylady.« »Schnickschnack, junger Mann«, erwiderte die Detektivin wegwerfend und brachte den Chief-Superintendent wieder mal in Rage, weil sie »junger Mann« zu ihm gesagt hatte. McWarden war immerhin ein reifer Typ von etwa fünfzig Jahren. »Wurde möglicherweise auch meine bescheidene Person von Augenzeugen beschrieben?« schaltete sich Josuah Parker ein. »Von zwei Männern im Regent's Park.« McWarden lächelte und deutete dann auf Kathy Porter, die gerade das Zimmer betrat. »Miß Porter ebenfalls. Sie muß wie eine Pantherin einen dieser Kuttenträger attackiert haben.« »Meine Anwälte werden die Aussagen dieser angeblich so sicheren Augenzeugen erschüttern«, erwiderte Agatha Simpson. »Aber einmal abgesehen
davon, McWarden, was ist kriminell daran, falls man uns als die Opfer solch eines albernen und makabren Scherzes identifizieren würde?« »Überhaupt nichts, Mylady.« Der Chief-Superintendent lächelte und schüttelte den Kopf. »Aber ich bin mit meiner Geschichte ja auch noch nicht fertig.« »Sie hat eine Fortsetzung?« Die ältere Dame delektierte sich an einer Scheibe Roastbeef. »Sie versetzen meine bescheidene Wenigkeit in den Zustand einer gewissen Erwartung«, räumte Parker ein, während Kathy Porter schwieg. »Drei, Mylady, drei dieser Kuttenträger sind vor knapp einer Stunde von der Polizei verhaftet worden.« »Das glaube ich einfach nicht.« Die Hausherrin schüttelte energisch den Kopf. »So schnell arbeitet die Londoner Polizei nicht.« »Diese drei sogenannten Mönche, Mylady, demonstrierten vor dem Buckingham Palace und zeigten ein Transparent mit einer recht obszönen Beleidigung, die auf Ihre Majestät gemünzt war.« »Scheußlich, was wird meine Freundin Elizabeth dazu sagen?« Agatha Simpson war wirklich mit dem Hochadel der Insel verschwistert und verschwägert. »Was stand denn auf diesem Transparent, McWarden?« »Sie können es natürlich nicht wissen, Mylady.« McWarden sah prüfend seine Gesprächspartnerin an. »Würde ich dann fragen, junger Mann?« Sie schmunzelte genußvoll. »Man empfahl auf diesem Transparent die Notschlachtung der Queen, »Eine eindeutige Majestätsbeleidigung, Sir«, warf Josuah Parker ein. »Warum gerade Notschlachtung?« erkundigte Lady Agatha sich. »Man verglich die Monarchin auf diesem Transparent mit einem alten Gaul, der nur unnötig seinen Hafer, sprich Steuergeld, bekommt, Mylady. Und das alles in einer gereimten Form.« »Sie sprechen immer noch von diesem Transparent, McWarden?« »Es war an die Seitenfläche eines kleinen Kastenlieferwagens geheftet, Mylady. Die Wachen und die Polizei schritten umgehend ein und nahmen die Verhaftungen vor.« »Ist das endlich alles, was Sie zu berichten haben?« »Diese Demonstranten trugen Mönchskutten, Mylady und hatten Maschinenpistolen mit Platzpatronen in ihrem kleinen Wagen.« »Eine sehr mysteriöse Geschichte, McWarden«, urteilte Lady Agatha. »Natürlich hat man Sie beauftragt, diesen Fall zu klären, nicht wahr?« »Das auch, Mylady.« Der Chief-Superintendent nickte. »Aber Sie haben vielleicht nicht richtig zugehört. Drei Mönche wurden verhaftet. Ich frage mich, wo wohl der vierte sein mag? Sie wissen es nicht zufällig?« »Meine Ausbildung als Hellseherin ist noch nicht abgeschlossen«, gab Lady Simpson ironisch zurück. »Fragen Sie in ein paar Wochen noch mal nach, vielleicht kann ich Ihnen dann helfen.«
*** »Ist er etwa noch mal zurückgekommen?« fragte Agatha Simpson unwirsch, als die Türklingel sich meldete. Seit McWardens Weggang waren erst zehn Minuten vergangen. Die ältere Dame hatte ihr Dinner beendet und hielt sich im Salon ihres altehrwürdigen Stadthauses auf. Josuah Parker ging in die große Wohnhalle und öffnete noch vor dem Windfang und Vorflur einen kleinen Wandschrank. Er schaltete das Fernsehauge über der Haustür ein und kontrollierte den Besucher. Auf dem kleinen Monitor im Wandschrank war das nervöse Gesicht eines gepflegten, etwa fünfundfünfzigjährigen Mannes zu sehen. »Darf ich nach Ihrem Namen fragen?« erkundigte Parker sich über die Sprechanlage. »Wie bitte?« Der Mann war zusammengezuckt und schaute sich suchend um. »Äh ja, ich bin James Mitchener, ich möchte Lady Simpson sprechen. Unbedingt!« »Ich werde sofort öffnen, Sir«, antwortete der Butler und betätigte die elektrische Türöffnung. Der nervöse Mann schob sich in den Vorflur und passierte dabei ohne sein Wissen ein weiteres Sicherheitssystem. Es handelte sich um einen Indikator, der auf größere Waffen, bestehend aus Eisen und Stahl ansprach, ein Gerät, wie es neuerdings auf den großen Flughäfen anzutreffen ist. Das Gerät sprach nicht an, demnach trug Sir James mit einiger Sicherheit keine Schußwaffe. Parker öffnete die Tür zur Wohnhalle und deutete dem Eintretenden eine knappe Verbeugung an. »Wenn Sie gestatten, Sir, werde ich Mylady sofort informieren.« Parker kannte den Besucher von Gesellschaften her, ein Zweifel an seiner Person war ausgeschlossen. Wenig später kehrte er zusammen mit Agatha Simpson in die große Wohnhalle zurück. »Mylady«, sagte Sir James und wirkte noch nervöser. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.« »Wünschen Sie mir erst mal einen angenehmen Abend«, schlug die resolute Dame vor. »Und dann nehmen Sie sich gefälligst zusammen! Oder will man Sie etwa umbringen?« »Das . . . Das ist es, Mylady.« Sir James warf dem Butler einen mißtrauischdistanzierten Blick zu. »Könnte ich Sie unter vier Augen sprechen?« »Zieren Sie sich gefälligst wie eine Jungfrau?« fuhr die Hausherrin ihren Besucher an. »Mr. Parker hat mein volles Vertrauen. Natürlich wird er bleiben und sich alles anhören. Ich habe keine Lust, ihm später alles haarklein zu erzählen.« »Darf man davon ausgehen, daß Ihnen, Sir James, eine Anklage des Tribunals der Geschichte zugesandt wurde?« fragte Parker gemessen. »Wo ... Woher wissen Sie das?« Sir James Mitchener war restlos verblüfft. »Wessen klagt man Sie an, Sir?« stellte der Butler seine nächste Frage.
»Irgendeiner meiner Vorfahren soll angeblich Steuerhinterziehungen begangen haben. Und das vor Jahrhunderten! Das muß man sich mal vorstellen: Vor Jahrhunderten!« »Setzen Sie sich und halten Sie sich an Tatsachen«, raunzte die ältere Dame ihren Besucher an. »Wieviel soll Ihr Vorfahre denn unterschlagen haben?« »Fast sechzigtausend Pfund Sterling, Mylady. Zur Zeit, als England gegen Spanien Krieg führte.« »Ist es richtig, Sir, daß Sie diesen Betrag jetzt nachentrichten sollen?« Parker ahnte die Antwort, ließ sich jedoch nichts anmerken. »Auch das stimmt.« Sir James Mitchener nickte. »Sechzigtausend Pfund verlangt man von mir.« »Wurde Ihnen für den Fall einer Nichtzahlung die Todesstrafe angedroht?« fragte nun Lady Simpson fast erfreut. »Auch das ist richtig, Mylady. Man will mich umbringen, wenn ich die Schuld an die Krone nicht umgehend zurückerstatte. Sechzigtausend Pfund! Unerhört! Was habe ich mit angeblichen Steuerhinterziehungen meiner Vorfahren zu tun? Wahnsinn!« »Welche Frist, Sir, setzte Ihnen das Tribunal der Geschichte?« wollte Josuah Parker nun wissen. »Morgen mittag soll ich zahlen.« Sir James Mitchener wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wie die Übergabe zu erfolgen hat, will man mir noch mitteilen. Ich werde selbstverständlich nicht zahlen! Oder doch?« Während dieser Frage sah Sir James Herrin unsicher an. »Sie werden zahlen, Sir James«, riet Agatha Simpson. »Was meinen Sie dazu, Mr. Parker?« »Dies, Mylady, hängt davon ab, wie hoch Sir James sein Leben einschätzt«, gab der Butler zurück. »Sollte Sir James an besagtem Leben hängen, würde auch ich zu einer prompten Zahlung raten. Das Tribunal der Geschichte scheint nach Lage der bisher bekannten Dinge offensichtlich nicht zu spaßen.« *** Es war dunkel geworden. Butler Parker hatte das Stadthaus der Lady verlassen und befand sich auf der Fahrt nach South Bank, jenseits der Themse. Er wollte sich die Werbeagentur des vierten Kuttenträgers mal aus nächster Nähe ansehen und dort nach Spuren suchen. Es war ihm gelungen, seine Herrin zurückzulassen, was wieder mal nicht leicht gewesen war. Normalerweise hätte sie sich solch einen Ausflug nie ausreden lassen, dazu war sie viel zu tatendurstig. Nun rechnete sie aber mit weiteren Besuchern, die Josuah Parker ihr angekündigt hatte. Laut Parker würden sich weitere Mitglieder bekannter Familien bei ihr einfinden und von geforderten Rückzahlungen an die Krone berichten. Mylady
versprach sich von diesen Besuchern interessante Gespräche und bissige Kommentare ihrerseits. Darauf wollte sie auf keinen Fall verzichten. Butler Parker saß in seinem hochbeinigen Monstrum und sorgte dafür, daß etwaige Verfolger nicht abgehängt wurden. Ihm war natürlich klar, daß die Mitglieder des Tribunals, wie er die Gangster stichwortartig nannte, das Verschwinden der vier angeblichen Mönche längst registriert haben mußten. Wie würden die Hintermänner dieser vier darauf reagieren? In South Bank jenseits der Themse näherte sich Parker Waterloo Station und dachte in diesem Zusammenhang an die beiden bereits ermordeten Männer, nämlich Sir Henry Patters und Sir Ralph Bannister. Die Vorfahren dieser beiden Toten hatten genau an der Schlacht gleichen Namens teilgenommen und waren dabei ins Zwielicht geraten. Woher wußten die Mitglieder des Tribunals vom Verschwinden der dreißigtausend Goldstücke und vom goldenen Tafelgeschirr, das mit dem Boot vor Englands Küste angeblich gesunken war? Solche Einzelheiten konnten doch nur aus dem Heeresarchiv stammen. Josuah Parker nahm sich vor, mit der bebrillten Spitzmaus John Paul Harding noch mal gründlich zu sprechen. Dieser Archivleiter wußte mit Sicherheit mehr, als er bisher gesagt hatte. Verfolger machte Butler Parker nicht aus. Hinter seinem hochbeinigen Monstrum nahm er kein verdächtiges Fahrzeug wahr, auch nicht, als er durch einige enge und verwinkelte Straßen slalomte und Verfolger herausforderte, Farbe zu bekennen. Warum ließ man ihn ungeschoren, nachdem er doch immerhin vier Vollstrecker dieses Tribunals außer Gefecht gesetzt hatte, wenn auch mit freundlicher Unterstützung durch Lady Simpson und Kathy Porter. Warum verzichteten die Gangster darauf, mit bedeutend härteren Bandagen zuzuschlagen, nachdem sie doch handfest gedroht hatten? Verfügten sie im Augenblick nicht mehr über Handlanger, oder aber arbeiteten sie nach einer anderen Methode, nach der die Maus automatisch zum Speck oder zum Käse in die Falle kam? Josuah Parker hatte sich noch nie wie eine Maus gefühlt, die von einem Köder magisch angezogen wurde und darüber alle Vorsicht vergaß. Wußten die Mitglieder des Tribunals, daß ihm, Josuah Parker, die Adresse der Werbeagentur bekannt war? Hatte man die Räume dieser Firma inzwischen in eine tödliche Falle verwandelt? Parker arbeitete gern nach dem Verfahren, sich in die Gedankenwelt seiner Gegner zu versetzen. Er ging stets davon aus, was er an ihrer Stelle tun würde. Denkvorgänge dieser und ähnlicher Art hatten ihn in der Vergangenheit schon oft davor bewahrt, in tödliche Fallen zu tappen. In der Nähe des Royal Waterloo Hospitals ließ er seinen hochbeinigen Wagen stehen und ging zu Fuß weiter. Der Prototyp eines englischen Butlers schritt zum nahen Bahnhof hinüber und vergewisserte sich immer wieder, daß keine Verfolger hinter ihm waren. In Waterloo Station angekommen, mischte er sich unter das Volk und verschwand dann in den Toilettenräumen.
Nach etwa drei Minuten tauchte er wieder auf, doch es war nicht mehr der englische Bilderbuch-Butler, der zu sehen war. Nichts erinnerte mehr daran, daß eben noch ein hochherrschaftlicher Butler unterwegs war. In der großen Halle schlenderte jetzt ein bebrillter Gentleman, der einen dunklen Schnurrbart trug und einen dunkelgrauen Mantel. Parker hatte seinen schwarzen Wendemantel nur umzudrehen brauchen, um sich in einen völlig anderen Menschen zu verwandeln, was sein Äußeres betraf. Die schwarze Melone zeigte ein dezentes Hellgrau. Ein passender Überzug über der Wölbung hatte auch die Kopfbedeckung nachhaltig verwandelt. Parker glich einem Geschäftsmann in mittleren Jahren, der am Kiosk eine Abendzeitung kaufte und sich dann auf den Heimweg machte. Er betrachtete sich kurz in der Scheibe einer Auslage. Butler Parker war selbst überrascht, wie gründlich er sich verwandelt hatte! *** Die Werbeagentur des Ray Pounds lag in der Exton Street und machte optisch einen recht seriösen Eindruck. Im Erdgeschoß eines kombinierten Wohn- und Geschäftshauses befanden sich vier normale Wohnungsfenster, die allerdings zugeklebt waren und die Firmenaufschrift der Werbeagentur trugen. Hinter diesen Fenstern brannte kein Licht, was jedoch nichts zu besagen hatte. Parker schritt auf der gegenüberliegenden Straßenseite an diesem Haus vorüber und verschwand in einer Passage, von wo aus er das Haus erst mal gründlich »beschnupperte«. Er sog förmlich die Atmosphäre und Ausstrahlung dieser vier Fenster in sich ein und befragte sein inneres Alarmsystem ... Es rührte sich! Parkers Unterbewußtsein meldete Gefahr. Hinter diesen vier Fenstern lauerte Gefahr. Warteten Mitglieder des Tribunals dort auf sein Erscheinen? Rechneten sie damit, daß er sich für die Werbeagentur dieses Ray Pounds interessieren würde? Sie hatten sich schließlich leicht ausrechnen können, daß der Tascheninhalt der vier Kuttenträger genau überprüft wurde. Der Butler griff in die Innentasche seines Wendemantels und holte seine zusammenlegbare Gabelschleuder hervor. Aus der Westentasche besorgte er sich das passende Geschoß für diese Gelegenheit. Er entschied sich für eine Tonmurmel, die nur oberflächlich gebrannt war und in ihrem Innern einen nicht gerade angenehmen Reizstoff enthielt. Mit wenigen Handgriffen hatte Parker dieses Katapult zusammengesetzt und legte das Geschoß in die Lederschlaufe. Er strammte die beiden Gummistränge, visierte eines der Fenster an und schickte sein Geschoß auf die Reise. Alles ging blitzschnell und verursachte kaum ein Geräusch. Die Tonmurmel war hart genug, das Glas des Fensters zu durchschlagen. Es entstand nur ein feines Klirren, dann war ein handtellergroßes Loch in der Fensterscheibe zu sehen. Die Tonmurmel bröselte auseinander und gab den Reizstoff frei.
Josuah Parker wartete. Er kannte die Wirkung dieses Reizstoffs. Sie erregte eine Übelkeit, die stärker war als jeder Wille, sie zu unterdrücken. Falls sich in den Räumen der Werbeagentur Menschen befanden, würden sie früher oder später auf dem schnellsten Weg draußen auf der Straße erscheinen. Sie erschienen noch schneller, als er erwartet hatte! Zwei Männer stürzten aus der Haustür und lehnten sich mit dem Rücken gegen die Hauswand. Sie würgten, schnappten nach Luft und achteten nicht weiter auf den Gentleman, der ihnen entgegenkam und einen schockierten Eindruck machte. »Ist Ihnen übel?« fragte er die beiden Männer, die recht handfest und stämmig wirkten. »Hau ab«, sagte der erste Mann und krümmte sich. »Soll ich einen Arzt holen?« fragte der Gentleman besorgt weiter. »Kratz die Kurve«, sagte der zweite Stämmige und japste. Er knickte ein wenig in den Knien ein und wäre wohl zu Boden gesunken, wenn Parker ihn nicht abgefangen hätte. »Ich möchte nicht aufdringlich sein«, meinte der Gentleman und ging weiter. Die beiden Stämmigen zeigten kein Interesse für ihn. Sie drückten sich von der Hauswand ab und schleppten sich zu einem Vauxhall, der am Straßenrand parkte. Sie schoben sich langsam und vorsichtig in den Wagen und fuhren los. Es kam dabei zu abenteuerlichen Schlangenlinien, die den Schluß zuließen, daß der Fahrer weder die Kontrolle über sich noch über den Wagen besaß. Mit Mühe und Not bog der Vauxhall in die nächste Straße und entschwand Parkers Blicken, jedoch nicht seiner Kontrolle. *** An Parkers Fingern war eine Brieftasche hängen geblieben. In der bewußten Passage blätterte er sie schnell durch und informierte sich über den Besitzer. Er hieß mit einiger Sicherheit Brett Netway und arbeitete laut Firmenausweis als Verkaufsfahrer in einem Getränkebetrieb. Parker prägte sich alle wichtigen Adressen und Einzelheiten ein, um die Brieftasche dann wieder zurück an die Hauswand zu bringen. Er ließ sie hier geschickt zu Boden fallen und baute sich nicht weit von der Fensterfront in einem Hauseingang auf. Er brauchte nicht lange zu warten. Der Vauxhall kurvte um die Straßenecke und blieb vor der Werbeagentur stehen. Einer der beiden stämmigen Männer stieg aus dem Wagen und näherte sich dem Haus. Er blickte suchend auf den Boden und brauchte nur eine halbe Minute, bis er die Brieftasche gefunden hatte. Er steckte sie ein und machte dem Fahrer des Vauxhall ein beruhigendes Zeichen, in dem er Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis schloß. Das Finden dieser Brieftasche schien für beide Männer mehr als nur
wichtig zu sein. Parker schloß daraus, daß die Angaben zur Person richtig sein mußten. Er hielt es für Zeitverschwendung, sich in den Räumen der Werbeagentur umzusehen. Was dort von Wichtigkeit gewesen war, hatte man sicher längst entfernt. Richtiger war es wohl, sofort umzudisponieren und sich mit Brett Netway zu befassen. Er schien, was die Rangfolge betraf, bereits eine Stufe über Ray Pounds zu stehen. Der Gentleman in Grau schritt zurück zu einem hochbeinigen Wagen und zog sich gemessen den Mantel aus, bevor er sich ans Steuer setzte. Er entfernte den grauen Überzug von der schwarzen Melone und sah nun wieder fast wie Josuah Parker aus. Als dann aber auch noch der Schnurrbart entfernt worden war, präsentierte sich der Butler in seiner ganzen einmaligen Eigenwilligkeit. Josuah Parker fuhr von South Bank nach Lambeth, eine Fahrt, die nur knapp fünfzehn Minuten dauerte. Dabei passierte er automatisch das Kriegsmuseum an der Lambeth Road. In den ausgedehnten Kellergewölben dieses Hauses war er erst vor kurzer Zeit gewesen, als er sich mit der bebrillten Spitzmaus namens John Paul Harding unterhalten hatte. War es wirklich nur ein Zufall, daß dieser Brett Netway in der Nähe dieses Museums wohnte? Parker fand die gesuchte Adresse hinter dem Lambeth Hospital und hatte keine Mühe, hier sein hochbeiniges Monstrum abzustellen. Er schritt die etwa hundert Meter wieder zurück und passierte dabei das Haus, in dem Brett Netway wohnte. Es gab hier einen Torbogen, der in einen Hinterhof führte. Im Licht einiger Lampen sah Parker ein zweistöckiges Lagerhaus mit einer Rampe. Hinter zwei Fenstern oberhalb der Rampe brannte Licht. Josuah Parker zögerte nicht lange. Seinem Gefühl nach hielten sich die beiden Vauxhallfahrer dort auf und warteten auf weitere Einsatzbefehle. Der Butler erreichte die Rampe fast lautlos, schritt über die Steintreppe und blieb neben einem Fenster stehen. Er . schaute vorsichtig in ein regulär eingerichtetes Büro und erkannte sofort die beiden Männer, die aus der Firma Ray Pounds' gestürzt waren, nachdem er ihnen eine kleine Rauchbombe vor die Nasen gesetzt hatte. Sie sprachen leise miteinander und machten einen ungeduldigen Eindruck. Sie warteten offensichtlich auf einen Telefonanruf. Der Apparat stand in Reichweite des Mannes, der laut seinen Papieren Brett Netway war. Die Schiebetür zum Lagerraum war erfreulicherweise nicht geschlossen. Parker konnte sich ohne weiteres in das Lager vortasten und schritt dann zu einem Korridor, der hell beleuchtet war. Er hatte diesen Gang noch nicht erreicht, als er das Läuten des Telefons hörte. Parker durfte sich gratulieren. Die Tür des Büros war ebenfalls nicht geschlossen. Das Abheben des Hörers war deutlich zu vernehmen. »Hier Netway«, meldete sich der Besitzer der Brieftasche, die Parker kontrolliert hatte. »Ja, ich höre! Wie war das? Bitte, wiederholen Sie, Sir! Alles abblasen? Das... Das verstehe ich nicht. Schön, wir hatten eine kleine Panne, aber... Wie war
das? Sonst werden Sie mich zur Rechenschaft ziehen? Sie haben wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank, wie? So können Sie mit Brett Netway nicht umspringen, merken Sie sich das! Stop, bevor Sie auflegen, sollten Sie wissen, daß ich natürlich noch einen Trumpf im Ärmel habe... Wie? Worauf Sie sich verlassen können ... Ich informiere mich stets darüber, wer zahlt. Und ob, mein Lieber! Und ob Sie zahlen werden! Ich erwarte die Moneten morgen mit der Post hier in meinem Büro, sonst können Sie was erleben... Ende!« Der Hörer flog krachend in die Gabel, dann war ein Fluch zu vernehmen. »Was glaubt dieser Idiot, wer ich bin?« schimpfte Brett Netway und schob den Sessel zurück, in dem er gesessen hatte. »Der wird sich noch wundern.« »Weißt du wirklich, wer er ist, Brett?« fragte der zweite Mann. »Nee, aber das werden wir herausbekommen, Harry, darauf kannst du Gift nehmen. Ein Laie verrät sich früher oder später, das is' 'ne uralte Regel. Und die Type hier muß was mit 'nem Museum zu tun haben.« »Wie kommst du denn darauf?« wunderte sich der zweite Mann, der mit Vornamen Harry hieß. »Weil ich Ohren habe und kombinieren kann.« Brett Netway lachte leise. »Als die Type mich anrief, war 'ne Durchsage über Lautsprecher zu hören. Und weißt du, was ich gehört habe? 'ne Aufforderung an alle Besucher, das Museum zu verlassen, da in zehn Minuten geschlossen würde. Wenn das kein Hinweis ist, oder?« »Aber welches Museum, Brett?« wollte Harry wissen. »Die Dinger stehen ja nicht an jeder Straßenecke, Harry.« Brett Netway lachte leise auf. »Wir klappern sämtliche Museen ab, und dann höre ich mir die Durchsagen an, klar? Die Stimme erkenne ich bestimmt wieder.« »Das kann aber Tage dauern, Brett.« »Aber es wird sich lohnen, Harry. Der Typ schmeißt tausend Pfund, die wir morgen haben werden. Und in Zukunft wird er noch mehr abwerfen, darauf kannst du Gift nehmen. Den nehmen wir aus wie 'ne Gans. Immerhin sollten wir diesen Butler kidnappen oder umlegen. Damit haben wir ihn in der Hand.« »Reichen uns tausend Pfund nicht, Brett?« wollte Harry wissen. Er schien ein bescheidener Mensch zu sein. »Wo tausend sind, sind noch mehr«, gab Brett Netway zurück. »Nee, die Museumsquelle bohren wir an. Ich verschenk doch kein Geld.« Josuah Parker hatte genug gehört. Vornehm und diskret zog er sich zurück. Er wollte auf keinen Fall stören. Die Hinweise, die man ihm gerade freiwillig geliefert hatte, waren mehr als interessant. *** Mylady freute sich. Sie befand sich in ihrem Salon und musterte einen gewissen Arthur Gladson wohlwollend. Der beleibte Sechziger, der vor knapp zehn Minuten zu ihr kam,
schien innerlich zu glühen. Schweiß stand auf seiner Stirn, den er sich immer wieder mit einem großen Taschentuch abwischte. »Sie müssen mir helfen, Mylady«, beschwor er die ältere Dame. »Ich werde sonst umgebracht. Das Pergament dort ist praktisch das Todesurteil.« »Und warum haben Sie nicht gezahlt?« Lady Agatha nahm ein zweites Pergament hoch und rollte es auf. »Das Tribunal der Geschichte verlangte von Ihnen die Zahlung von fünfundvierzigtausend Pfund.« »Was habe ich damit zu tun, daß meine Vorfahren die damalige Marine angeblich mit schlechtem Fleisch und Zwieback beliefert haben, Mylady? Das liegt doch Hunderte von Jahren zurück, als dieser Drake auf Kaperfahrten ging. Und ich weiß ja noch nicht mal, ob das überhaupt stimmt.« »Sie wollen es darauf ankommen lassen, umgebracht zu werden?« »Ich weigere mich, auf Erpressungen einzugehen, Mylady.« Arthur Gladson schüttelte den Kopf, daß die Schweißperlen nur so flogen, was die Lady mit grimmigem Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm. »Und wie soll ich Sie gegen dieses Todesurteil schützen, Gladson?« »Sie werden doch immer wieder gerühmt, passende Ideen zu haben, Mylady«, beschwor Gladson die Dame. »Dann riet mir auch Chief-Superintendent McWarden, mich an Sie zu wenden.« »Ihre Vorfahren waren seinerzeit Kaufleute, die die Marine belieferten?« fragte Agatha Simpson. »Doch, das stimmt schon«, räumte Gladson ein. »Das tut unser Handelshaus ja heute noch, Mylady.« »Wann war das mit Francis Drake?« Die Detektivin wandte sich an Kathy Porter, die hinter dem hohen Sessel stand und aufmerksam zuhörte. »Zur Zeit der Queen Elizabeth, Mylady, 1558 bis 1603«, lautete prompt die Antwort. »Sir Francis Drake umsegelte in der Zeit von 1577 bis 1580 die Erde.« »Mit schlechtem Proviant an Bord, den Sie heute bezahlen sollen, Gladson«, sagte die energische Dame lächelnd. »Offen gestanden, ich glaube daß dieses Geschichtstribunal ausgezeichnet informiert ist.« »Meine Marinelieferungen sind erstklassig«, verteidigte sich Arthur Gladson wütend. »Ich kann doch nicht...« »Ich sehe das ein wenig anders.« Lady Agatha schmunzelte zufrieden. »Die damaligen Gewinne sind der Grundstein für Ihren heutigen Wohlstand. Dafür werden Sie jetzt zur Kasse gebeten.« »Sie scheinen sich darüber direkt zu freuen, Mylady«, entrüstete sich Gladson. »Nur indirekt«, antwortete die Lady. »Sie wollen also nicht zahlen?« »Keinen Penny.« »Hoffentlich haben Sie eine hübsche Beerdigung. Falls es sich zeitlich einrichten läßt, werde ich kommen.« »Fünfundvierzigtausend Pfund«, stöhnte Gladson. »Selbst wenn ich zahlen wollte, Mylady, wie setze ich mich mit diesem Tribunal in Verbindung? Der
Zeitpunkt der Geldübergabe ist ja bereits verstrichen? Ich traue mich nicht mehr aus dem Haus. Man kann mich ja auf offener Straße jederzeit niederschießen!« »Ich werde Sie nach Hause bringen, Gladson«, sagte Lady Agatha und erhob sich. »Warten Sie ein paar Minuten!« »Und dann? Wenn ich in meinem Haus bin?« Gladson schnaufte vor Aufregung und Angst. »Oder glauben Sie, daß das Tribunal sich noch mal melden wird?« »Ich möchte es Ihnen wünschen, Gladson.« Agatha Simpson verließ zusammen mit Kathy Porter den Salon und ging in die große Wohnhalle. »Wird man versuchen, ihn umzubringen?« fragte die ältere Dame leise ihre Gesellschafterin? « »Mit Sicherheit, Mylady«, erklärte Kathy Porter. »Denken Sie an die Fälle Patters und Bannister! Man räumte den sogenannten Verurteilten keine zweite Chance mehr ein.« »Sehr schön.« Agatha Simpson nickte zufrieden. »Die Mörder werden mir und diesem Gladson also folgen. Eine bessere Gelegenheit wird sich gar nicht finden, sie zu erwischen. Diesmal hat Mr. Parker sich gründlich verrechnet. Er glaubt, mich auf ein totes Gleis geschoben zu haben, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Diese Affäre werde ich noch in der kommenden Stunde lösen.« »Ich werde selbstverständlich dabei sein, Mylady.« »Das werden Sie hübsch bleiben lassen, Kindchen. Sie warten hier auf Mr. Parker und informieren ihn! Und später möchte ich dann von Ihnen hören, welches Gesicht er gemacht hat, als sie ihm die Sache mit Gladson erzählten.« *** Das Autotelefon meldete sich. Josuah Parker, bereits auf dem Weg nach Shepherd's Market, nahm den Hörer aus der Halterung und meldete sich. Er erkannte sofort Kathy Porters Stimme. Sie teilte ihm direkt und unverschlüsselt mit, Lady Simpson sei auf dem Weg, einen Mr. Arthur Gladson nach Hause zu bringen. »Er hat ein zweites Pergament bekommen«, schloß Kathy Porter die Durchsage. »Ein zweites Pergament, Mr. Parker!« »Ich habe durchaus verstanden, Miß Porter«, gab Josuah Parker zurück. »Ich möchte nicht versäumen, mich für diese Information zu bedanken. Nun brauche ich nur noch die genaue Adresse.« Er erhielt sie selbstverständlich und legte auf. Dann trat er ein wenig tiefer aufs Gaspedal und ließ sein hochbeiniges Monstrum rollen. Nun zeigte sich, was in diesem so altertümlich-skurril aussehenden Wagen steckte. Das ehemalige, aber umfrisierte Londoner Taxi verwandelte sich in Sekunden in einen Tourensportwagen der Sonderklasse. Parker sorgte sich.
Er kannte inzwischen die Brutalität der Gegenseite, aber auch die gewisse Sorglosigkeit seiner Herrin allen Gefahren gegenüber. Sie neigte stets dazu, die Dinge zu unterschätzen. Parker slalomte mit seinem Wagen durch den Verkehr der Millionenstadt und zeigte seine Fähigkeiten am Steuer eines solchen Spezialgefährts. Er ließ Verblüffung, Staunen, irritierte Polizisten und Ratlosigkeit hinter sich. Es kam ihm darauf an, noch vor der Lady in Belgravia anzukommen, wo dieser Arthur Gladson wohnte. Er nahm die südliche Vauxhall Bridge, jagte durch den Stadtteil Pimlico und war wenig später schon in Belgravia. Am Warwich Square angekommen, fuhr er das Taxizeichen und das Taxameter aus und setzte sich die dunkle Ledermütze auf. Sein Wagen glich jetzt bis aufs Detail einem normalen Taxi und fiel nicht weiter auf. Langsam näherte er sich der kleinen Seitenstraße, in der Arthur Gladsons Haus stand. Von einem Land-Rover war weit und breit nichts zu sehen. Parker fühlte sich ein wenig erleichtert, er schien also doch schneller als Lady Simpson gewesen zu sein. Noch bestand also die Möglichkeit, Schaden von ihr abzuwenden. Arthur Gladson besaß einen sechsstöckigen Backsteinbau mit winzigem Vorgarten und einem Kellerabgang seitlich neben dem Eingang. Parker hatte das Wagenfenster heruntergedreht und beobachtete gerade den Kellerabgang, der als Versteck für Gangster bestens geeignet war. Er bedauerte es, sein Nachtsichtgerät nicht dabei zu haben, sonst hätte er sich diesen Abgang noch genauer ansehen können. Sicherheitshalber setzte er die Gabelschleuder zusammen und griff nach einer Pillendose beachtlichen Ausmaßes. Sie enthielt Geschosse der verschiedensten Art und Zusammensetzung. Der Butler entschied sich für eine Tonmurmel, die eine Art chemischer Keulenschlag darstellte. Platzte dieses Geschoß, dann waren diejenigen, die die Chemikalie einatmeten, innerhalb von Sekunden außer Gefecht gesetzt. Sie hatten dann nur noch mit einem quälenden Reizhusten zu tun. Parker beobachtete aber auch die nähere Umgebung. Leider waren beide Straßenseiten kaum einzusehen. Überall standen parkende Wagen, die ideale Verstecke abgaben. In jedem dieser Wagen konnten sich Gangster verborgen halten, die nur darauf warteten, ihr Opfer anzufallen. Ob man auch diesmal wieder den Tod durch den Strang verhängen würde? In den Fällen Patters und Bannister war das so gewesen. Begnügte man sich jetzt mit einem heimtückischen Schuß aus dem Hinterhalt? Oder blieb man sich treu, was die Art des Mordes betraf? Parker spann seine Gedanken nicht weiter. Um die nächste Straßenecke kam ein Wagen, der sich wenig später als ein Land-Rover entpuppte. Er hielt vor Arthur Gladsons Haus, doch die Türen öffneten sich nicht. Mylady schien erst mal die allgemeine Lage zu sondieren. Parker war ein wenig erleichtert. Agatha Simpson marschierte wenigstens nicht zielsicher den Gangstern entgegen, wie es sonst bei ihr der Fall war.
Im Kellerabgang rührte sich nichts. Parker sah zu den abgestellten Fahrzeugen hinüber, aber auch dort blieb alles ruhig. Wo mochten die Mörder sich versteckt halten? Befanden sie sich möglicherweise bereits in Gladsons Wohnung? Lauerten sie ihm dort auf, um das Todesurteil des Tribunals zu vollstrecken? Nun, der Land-Rover, dessen Motor nicht aus war, machte plötzlich einen Satz nach vorn und preschte an Parkers Wagen vorbei die Straße hinunter. Lady Agatha schien etwas entdeckt zu haben, was Parkers Aufmerksamkeit bisher entgangen sein mußte. Der Land-Rover jagte zur nächsten Straßenecke, legte sich fast auf zwei Räder und wischte um diese Ecke herum. Parker nickte andeutungsweise und wohlwollend. Das, was seine Herrin da getan hatte, war schon recht annehmbar. Sie spielte möglicherweise wartenden Mördern vor, sie habe etwas ausgemacht und ergreife jetzt Hals-über-Kopf die Flucht. Normalerweise zahlte sich dieser Trick immer wieder aus. Jetzt mußte sich ein Wagen vom Straßenrand lösen und die Verfolgung der Opfer aufnehmen. Leider war das aber nicht der Fall! *** Es kam noch schlimmer. Parker hörte plötzlich neben sich ein feines Geräusch und wußte sofort, daß er sich zu sehr auf Arthur Gladsons Haus konzentriert hatte. Dieser Fehler rächte sich jetzt. »Keine Bewegung«, sagte eine sanfte und höfliche Stimme, hinter der jedoch der Tod stand. »Ich schieße sofort!« Parker blieb steif und unbeweglich sitzen. Eine leere Drohung war das auf keinen Fall... Er riskierte es noch nicht mal, auf den Fußschalter zu drücken, durch den die Seitenfenster sich blitzschnell schlossen. »Das Tribunal hat ein Schnellurteil gefällt«, fuhr die sanfte Stimme höflich fort. »Es wird sofort vollstreckt.« Während die Worte nachhallten, legte sich ein Strick um Parkers Hals, doch der Druck gegen seine Schulter verstärkte sich noch. Es mußte sich um die Mündung einer Schußwaffe handeln, die jede Bewegung unmöglich machte. Dann aber ließ dieser Druck plötzlich nach und... mit einem gewaltigen Ruck wurde die Schlinge um Parkers Hals zugezogen. Dieser Ruck kam derart überraschend und nachdrücklich, daß Parkers Oberkörper gegen die untere Kante des geöffneten Wagenfensters gezerrt wurde. Parker war das alles sehr unangenehm. Normalerweise hätte dieser plötzliche Ruck gereicht, ihm die Besinnung zu rauben, doch erfreulicherweise trat dieser Zustand nicht ein. Parker ließ sich gegen den Rahmen des Wagenfensters ziehen und war ein durchaus williges Opfer. Der gewaltige Druck um seinen Hals verstärkte sich noch, und angestrengtes Keuchen war zu hören. Diejenige Person, die den Strick hielt und die Schlinge weiter zuzerrte, strengte sich sichtlich an und gab ihr negativ Bestes.
Parker hing wie eine lebensgroße Puppe am Wagenfenster und rührte sich nicht. Das Keuchen draußen neben dem Wagen wurde schwächer, der ungemein starke Zug ließ nach. »Genug«, sagte eine sanfte Stimme. »Er hat sich längst das Genick gebrochen.« »Besser ist besser.« Und erneut folgte ein harter, roher Ruck, der Parkers Oberkörper, Hals und Kopf noch mal gegen den unteren Rahmen des Wagenfensters zerrte. Erst dann wurde der Strick losgelassen. »Und jetzt?« fragte eine heisere Stimme, die offensichtlich dem Henker des Tribunals gehörte. »Wir werden drüben im Haus auf Gladson und Lady Agatha warten«, erwiderte die sanfte Stimme. »Sie wird bestimmt zurückkommen. Ich kenne den alten Trick mit der plötzlichen Flucht.« Sie kümmerten sich nicht weiter um Josuah Parker, der sich verständlicherweise nicht rührte. In seiner unnatürlichen Haltung blieb er am Wagenfenster »hängen«, öffnete aber die Augen und sah zwei Gestalten, die gerade die Straße überquerten und auf Gladsons Haus zugingen. Sie blieben nur wenige Augenblicke vor der Haustür stehen, öffneten sie und waren dann auch schon im Haus verschwunden. Der Butler hatte den leichten Schock längst überwunden, zumal er keine Nachwirkungen dieser »Hinrichtung« verspürte. Und das hatte seinen ganz besonderen Grund. Der Henker des Tribunals hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, ihn zu strangulieren, doch gegen die Stahlblecheinlage in Parkers hohem Eckkragen war er natürlich nicht angekommen. Unter dem Weiß des steifen Kragens befand sich eine Art Halskrause aus starkem, verformungsbeständigem Blech. Diesen Blechkragen hatte auch dieser sicher bärenstarke Henker nicht zusammenzwingen können... Parker hatte keine Zeit, sich all die Dinge durch den Kopf gehen zu lassen. Der Land-Rover der Lady erschien auf der anderen Straßenseite und hielt auf das Haus zu. Parker hatte keine Zeit, sich warnend einzuschalten. Diesmal hatte seine Herrin sich für Schnelligkeit entschieden. Sie preschte mit dem Land-Rover heran, fiel förmlich aus dem Wagen und zerrte ihren Schützling auf die Haustür zu. Sie wollte ihn so schnell wie möglich ins Haus und damit auch in Sicherheit bringen. Sie hatte keine Ahnung, daß die Abgesandten des Tribunals darin bereits sehnsüchtig auf sie warteten ... *** »Was soll dieser Unsinn?« fragte Agatha Simpson barsch. Sie hatte Licht in der Halle des Hauses eingeschaltet und sah sich zwei seltsamen Gestalten gegenüber, die wohl aus der Vergangenheit stammten. Durch einen Zeitsprung schienen sie in die Gegenwart gelangt zu sein.
Da war der spanische Philipp II., wie er kostümechter nicht hätte aussehen können. Und neben ihm stand ein Henker, der eine Hanfschlinge in seinen breiten Händen hielt. Arthur Gladson, der bei Lady Simpson stand, stöhnte und rutschte in sich zusammen. Er stierte auf die beiden seltsamen Erscheinungen. »Das Tribunal der Geschichte hat ein Schnellurteil gefällt«, sagte Philipp II. und richtete den Lauf einer langläufigen Pistole auf Lady Simpson. »Sie sind des Verbrechens des Widerstandes angeklagt, Lady Simpson, des Verbrechens des Aufruhrs, der Verschwörung und des Ungehorsams.« »Wie war das?« erkundigte sich die Detektivin verblüfft, doch Philipp II. wandte sich bereits an Arthur Gladson, der sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und glücklicherweise in einen hinter ihm stehenden Sessel rutschte. »Sie, Arthur Gladson, waren nicht bereit, die Sünden Ihrer Väter zu begleichen«, redete der seltsame Philipp weiter. »Verdorbenes Pökelfleisch und Zwieback mit Maden, so sahen damals die Lieferungen aus, die den Grundstock für den Reichtum Ihrer Familie bildeten. Fünfundvierzigtausend Pfund war die Höhe der Buße, die Sie nicht zahlten. Das Todesurteil wurde Ihnen bereits zugestellt. Henker, walte deines Amtes!« »Moment mal«, schaltete Agatha Simpson sich leicht gereizt ein. »Was soll dieser Mummenschanz? Ist das die neue Art von Gangstertum?« »Schweigen Sie«, herrschte Philipp die ältere Dame an. »Einen Dreck werde ich tun«, gab sie zurück. Lady Agatha konnte sehr deutlich sein, wenn es sein mußte, und machte dann jedem sprichwörtlichen Marktweib Konkurrenz. »Glauben Sie, mit dieser neuen Masche bestehen zu können?« \ »Ihr Butler, Mylady, wurde bereits hingerichtet«, sagte der falsche spanische König. »Auch auf ihn trafen die Artikel zu, die ich Ihnen vorlas. Wer sich erfrecht, die Arbeit des Tribunals zu stören, wird sterben.« »Sie ... Sie haben Mr. Parker... hingerichtet?« Lady Agatha sprach nun verdächtig leise. »Er wurde durch den Strang getötet«, erwiderte und bestätigte Philipp. »Er wartete in der Nähe dieses Hauses wohl auch auf Ihr Erscheinen. Ein treuer Vasall fand den Tod durch Dummheit und Ignoranz.« »Mr. Parker soll tot sein?« Nein, Agatha Simpson weigerte sich, das zu glauben. Der perlenbestickte Pompadour an ihrem Handgelenk geriet in Schwingungen. »Soll, Mylady? Er ist es!« Der spanische Philipp nickte knapp. »Und nun zu Mr. Gladson, dessen Vorfahren sich der Verbrechen gegen die Marine schuldig gemacht haben.« »Ich ... Ich zahle ...« krächzte Arthur Gladson und hob abwehrend die Arme. Er starrte wie hypnotisiert auf den Henker, der auf ihn zutrat. Dieser Mann trug einen weiten Mantel, der bis zu den spitzschnabligen Schuhen reichte und hatte eine Art Kapuze über dem Kopf. Das Gesicht wurde von einer roten Maske fast verdeckt.
»Sie hatten Ihre Chance, Gladson«, sagte Philipp II. und schüttelte den Kopf. »Und so wie Sie wird jeder Angeklagte immer nur eine einzige Chance bekommen. Das wird sich schnell herumsprechen.« »Sie haben mit Ihrem Tribunal erst begonnen?« fragte Lady Simpson. Der Pompadour schwang bereits mehr als intensiv, aber darauf achteten weder der spanische Philipp noch der Henker mit der Schlinge. Der Henker war stehen geblieben und schien warten zu wollen, bis der falsche König seine Unterhaltung mit Agatha Simpson beendet hatte. »Das Tribunal hat gerade erst begonnen«, sagte Philipp II. und nickte bestätigend. »Es wird eine Arbeit sein, die Jahre dauert.« »Und wohin fließt das Geld, das eingeht?« wollte die ältere Dame wissen. »Existiert da ein Fonds? Oder wird es tatsächlich an den Staat zurückerstattet?« »Es fließt erstmals in einen Fonds«, entgegnete der seltsame Monarch. »Dann wird entschieden, ob dieser Staat würdig ist, die Gelder zu erhalten.« »Ich werde Ihnen mal was sagen, Philipp«, erwiderte die Lady abfällig. »Ich weiß schon jetzt, daß das Geld nicht verteilt wird. Es wird im Privatbesitz raffinierter Gauner bleiben, aber wem sage ich das!?« »Henker, walte deines Amtes!« kommandierte Philipp II. und hob seine Stimme. Der Mann mit der Hanfschlinge näherte sich Arthur Gladson, der fast regungslos vor Angst schien. Agatha Simpson hingegen wurde sehr aktiv. Sie hatte nicht die geringste Lust, sich von diesen Gangstern hinrichten zu lassen. Sie tat etwas dagegen, und zwar sehr nachdrücklich! *** Der »Glücksbringer« im Pompadour, ein echtes Hufeisen von beachtlicher Größe und Schwere, donnerte gegen die Kinnlade des Henkers, der mit solch einer Blitzreaktion nicht gerechnet hatte. Der Mann wurde trocken erwischt, wie es in der Fachsprache der Boxer heißt. Während sein Oberkörper noch senkrecht stand, bewegten sich die Beine parallel zur Seite. Erst dann gab es eine gewisse Koordination der Bewegung, worauf der Henker der Länge nach auf dem Parkettfußboden liegen blieb. Philipp II. hatte automatisch abgedrückt, doch das Mylady zugedachte Geschoß erwischte den Henker an der Schulter. Bevor der nachgemachte spanische König einen zweiten Schuß abfeuern konnte, segelte ein schwarzes Etwas, das einer fliegenden Miniaturuntertasse glich, auf ihn zu und setzte sich mit kreisendem Rand auf seine Nasenwurzel. Philipp II. blieb wie sein Henker auch nicht mehr länger auf den Beinen. Er schlug nach hinten gegen die Wand und rutschte anschließend auf den Boden. »Mylady mögen eine kleine Verspätung entschuldigen und verzeihen«, sagte Josuah Parker, der eben die Wohnhalle durch eine Nebentür betrat. »Wenn es erlaubt ist, möchte ich die beiden Herren erst mal ihrer Aktionsfreiheit entheben.«
Er besorgte das mit zwei Handschellen und wandte sich dann seiner Herrin zu, die auf Arthur Gladson deutete. »Sein Kreislauf ist zusammengebrochen«, sagte die Detektivin. »Eine kleine Erfrischung könnte nicht schaden.« Butler Parker wußte selbstverständlich Rat. Aus der Innentasche seines schwarzen Zweireihers holte er die Taschenflasche und schraubte den ovalen Verschluß ab, der als Trinkbecher diente. Nachdem er besten französischen Kognak eingefüllt hatte, nahm die Lady ihm den Becher aus der Hand und erfrischte erst mal sich. »Nicht zuviel«, warnte sie, als Parker sich anschließend um Gladson kümmerte. »Alkohol schadet.« Parker brachte den Mann einigermaßen wieder zu sich, doch Gladson wirkte auch nach dieser Erfrischung apathisch und geistesabwesend. Er starrte auf den Spanier und seinen Henker, die noch immer regungslos auf dem Parkett lagen. »Hat man wirklich versucht, Sie zu strangulieren?« wollte Lady Agatha von Parker wissen. »Ein geradezu unverzeihlicher Leichtsinn meiner bescheidenen Wenigkeit förderte das Vorhaben dieser beiden Herren«, räumte der Butler ein. »Typisch für Sie, Mr. Parker, aber damit muß ich wohl leben.« Agatha Simpson erfrischte ihren Kreislauf mit einem zweiten Kognak und deutete dann auf die beiden Angehörigen des Tribunals. »Sie werden auf keinen Fall an McWarden weitergegeben«, sagte sie. »Vielleicht nicht umgehend, Mylady«, schränkte Parker höflich ein, um dann diskret auf Gladson zu deuten. »Sollte man nicht einen Arzt herbeirufen, Mylady. Mr. Gladson bedarf der Fachbehandlung.« »Papperlapapp, Mr. Parker, er hat es gleich überstanden.« Sie winkte ab. »Zeigen Sie mir die Gesichter dieser beiden Subjekte! Ich möchte wissen, mit wem ich es zu tun habe.« Parker entfernte die Maske des Henkers und sah in ein grobgeschnittenes Gesicht. Mit einer Tischdecke, die er mit dem Wasser einer Blumenvase angefeuchtet hatte, wischte er die dicke Kreideschicht aus dem Gesicht des nachgemachten spanischen Königs. Zum Vorschein kam ein schmales, zynisch wirkendes Gesicht, das Parker nicht unbekannt schien. Er wußte, daß er diesen Mann schon mal gesehen hatte. »Kennen wir die beiden Subjekte?« erkundigte sich Lady Agatha. »Dieser Herr in der Maske des spanischen Königs, Mylady, dürfte mit einem gewissen Dan Foulder identisch sein«, antwortete Josuah Parker, der das Gesicht inzwischen einordnen konnte. »Und wer ist Dan Foulder, Mr. Parker?« »Der Manager eines Privatclubs in Soho, Mylady«, gab Parker eine präzise Auskunft. »Falls meine bescheidene Erinnerung mich nicht trügt, war Mr. Foulder vor Jahren mal im sogenannten Showgeschäft tätig und arbeitete als männliches Modell.«
*** »Ich sehe es allerdings nur zähneknirschend ein, Mr. Parker«, sagte Lady Simpson gereizt, nachdem sie sich die Argumente ihres Butlers angehört hatte. »Aber ich verlange von Ihnen, daß Sie im Club auf mich warten.« »Mylady dürfen versichert sein, daß Mylady die eigentliche Befragung durchführen können«, antwortete Parker. Er verließ das Haus Arthur Gladsons und ging hinüber zu seinem hochbeinigen Monstrum. Lady Agatha informierte inzwischen die Polizei und blieb notgedrungen in Gladsons Wohnung. McWarden würde Fragen stellen, und es war damit zu rechnen, daß Gladson immerhin soviel aussagen würde, daß er sich hilfesuchend an die Lady gewandt hatte. Parker wartete solange, bis die Sirenen der Polizeifahrzeuge zu hören waren. Erst danach nahm er Kurs auf Soho. Er hatte vor, dem Privatclub einen Überraschungsbesuch abzustatten, bevor der Chief-Superintendent dort früher oder später erschien. Wie brutal die Gangster waren, hatte sich innerhalb der vergangenen halben Stunde mehr als deutlich gezeigt. Sie hatten nicht nur ihn, sondern auch Agatha Simpson und Arthur Gladson ermorden wollen. Es ging ihnen eindeutig darum, Furcht und Schrecken zu verbreiten. Sie wollten damit den Boden für weitere Raubzüge und sogenannte Rückzahlungen vorbereiten. Natürlich machte Josuah Parker sich Gedanken über die Zusammensetzung des sogenannten Tribunals der Geschichte. Gangster normaler Provenienz besaßen niemals soviel Phantasie, um ihre Raubzüge derart geschickt vorzubereiten, Hinzu kamen die enormen geschichtlichen Kenntnisse, wie sich bisher gezeigt hatte. Woher bezogen die Gangster diese Details? Wie hatte es Brett Netway in der Getränkefirma ausgedrückt? Er war von einem Auftraggeber angerufen worden, der eindeutig in einem Museum beschäftigt sein mußte. Der Gangster Netway hatte genau hingehört und sich mit Gewißheit nicht getäuscht. Wer aber arbeitete in einem Museum und verfügte über die Möglichkeit, geschichtliche Vorgänge detailgenau ans Tageslicht zu befördern? Dafür kam doch eigentlich nur dieser Leiter des Armeearchivs in Betracht, nämlich John Paul Harding! War diesem Mann zuzutrauen, daß er eine Gangsterorganisation aufbaute und leitete? Parker verneinte sofort diese Frage. Mr. Harding besaß einfach nicht das Format dazu. Wer aber mochte ihn »anzapfen« und dazu bringen, bestimmte historische Dinge zur Verfügung zu stellen? Wurde John Paul Harding vielleicht erpreßt? Hatte er überhaupt keine Ahnung, was mit dem geschah, was er an historischen Kenntnissen lieferte? Nun, da waren immerhin noch fünf Damen in seinem Archiv, wie er beiläufig gesagt hatte. War eine dieser Frauen der Schlüssel zu den bisherigen Verbrechen?
Parker wurde von Minute zu Minute immer klarer, daß er bisher nur die Spitze eines Eisberges sah. Er hatte Soho inzwischen erreicht und ließ seinen hochbeinigen Wagen in der Nähe des Privatclubs auf einem kleinen Parkplatz stehen. Er stieg aus, sicherte den Wagen und legte sich seinen Universal-Regenschirm korrekt über den Unken angewinkelten Unterarm. Nachdem er den Sitz der schwarzen Melone geprüft hatte, lustwandelte Parker zum Gebäude, in dem der Privatclub sich befand. Der Butler verzichtete allerdings darauf, offiziell um Einlaß zu begehren, nein, er passierte das Haus und verschwand in einer mehr als schmalen Gasse und blieb vor einer kleinen Eisentür stehen, hinter der das Klirren von Geschirr, Flaschen und Gläsern zu vernehmen war. Mit seinem Spezialbesteck dauerte es noch nicht mal zwanzig Sekunden, bis der Butler das Schloß dazu brachte, sich willig zu öffnen. Parker drückte die Eisenblechtür auf und schob sich in einen kleinen Innenhof, von dem aus man in eine Küche blickte, in der drei Köche arbeiteten. Hin und wieder erschienen Kellner und holten Speisen und Getränke nach vorn in den Club. Im Winkel zwischen dem Küchenanbau und dem Haupthaus gab es einen Eingang. Parker erreichte ihn ohne Risiko. Die drei Köche arbeiteten intensiv und hatten keine Zeit, in den winzig kleinen Hof zu sehen. Die Tür war unverschlossen. Butler Parker schob sich in den Korridorgang, hörte Musik, Stimmen und Gelächter. Er kam an einer Art Vorküche vorbei, wo auf einem langen Anrichtetisch Servierplatten mit Wärmehauben standen. Parker nahm seine Melone ab und ließ sie unter einer Haube verschwinden. Dann hob er gekonnt die schwere Servierplatte und betrat nach wenigen Schritten den hinteren Teil des Privatclubs. Ihm kamen einige Kellner entgegen, doch sie achteten nicht weiter auf ihn, zumal er ja korrekt schwarz gekleidet war und eine Servierplatte trug, deren Haube sein Gesicht bedeckte. Parker passierte eine Art Büronische, blieb stehen und sah sich den Mann darin genau an. Er war mittelgroß, schlank und trug eine schwere Hornbrille, die ihm ein seriöses Aussehen verlieh. Seriös war dieser Mann dennoch nicht, wie Parker sofort wußte. Er kannte nämlich diesen Mann... *** »Sie sehen meine bescheidene Wenigkeit überrascht, Mr. Pritting«, sagte Josuah Parker und betrat die Nische. »Haben Sie neuerdings auch diesen Club übernommen? « Der Mann fuhr herum wie eine gereizte Klapperschlange und wollte gleichzeitig aufspringen. Parker war dagegen und pfropfte ihm die Wärmehaube auf, die immerhin aus einer schweren Metallegierung bestand. Daraufhin setzte sich Oscar Pritting wieder automatisch und litt unter mittelschweren Kopfschmerzen.
»Wir wollen doch tunlichst jeden Skandal vermeiden«, schlug Parker vor und hob die Wärmehaube wieder. »Sind Sie sicher, sich mit meiner unwichtigen Person in aller Ruhe unterhalten zu können?« »Was was wollen Sie?« stotterte Pritting und rieb den Kopf. »Wie sind Sie hier 'reingekommen?« »Auf Umwegen«, entgegnete Parker. »Sie warten sicher auf die Rückkehr Ihres Geschäftsführers Foulder, nicht wahr?« »Er... Er ist nicht mein Geschäftsführer«, widersprach Oscar Pritting. »Und ich hab' den Club hier auch nicht übernommen. Ich bin nur als Gast hier.« »Der auf die Rückkehr Dan Foulders ungeduldig wartet, wenn ich nicht sehr irre, oder?« »Ich ... Ich weiß nur, daß er mal für 'ne halbe Stunde weg mußte, mehr nicht.« »In Sachen Tribunal, Mr. Pritting?« Parker sah dem Mann sofort an, daß er mit dieser Bezeichnung etwas anzufangen wußte, denn Pritting sah ihn ein wenig zu irritiert an. »Philipp und sein Henker werden nicht kommen«, redete Parker höflich weiter. »Sie sind leider verhindert, um es mal so auszudrücken, Mr. Pritting. Lady Simpson war so freundlich, sie in ihre Obhut zu nehmen.« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie die ganze Zeit reden, Mr. Parker.« Oscar Pritting war ein übler Bursche, aber er hütete sich, das »Mr.« vor Parkers Namen wegzulassen. »Ich spreche vom Tribunal der Geschichte, Mr. Pritting«, sagte Parker gemessen. »Sie bauen da eine ungemein lukrative Geldabschöpfung auf, wenn ich es mal so banal ausdrücken darf. Von wem stammt diese Idee? Bestimmt nicht von Ihnen, wie ich unterstellen möchte. Sie sind mehr für die Brutalität zuständig, wenn ich nicht sehr irre.« Oscar Pritting machte erneut den Versuch, plötzlich aufzuspringen. Er ließ es aber sein, als die Warmhaltehaube diesmal sein Gesicht bedeckte und sein Hinterkopf mit der Wand in Kontakt kam. »Auf... Aufhören«, keuchte Pritting unter der Haube. Seine Stimme klang hohl und besaß fast so etwas wie ein kleines Echo. Parker nahm die Warmhaltehaube ab und nickte Pritting zu. »Ich setze von jetzt an auf Ihre Vernunft«, meinte er dann. »Sie sollten es ebenfalls tun. Gehen wir doch mal der Reihe nach vor, würde ich vorschlagen. Mr. Foulder und Sie sind, drücken wir es so aus, die Vertrauten ihrer Chefs, die gewisse Organisationen innerhalb der Unterwelt leiten. Würden Sie es auch so sehen, Mr. Pritting?« »Ich gebe überhaupt nichts zu. Gut, Foulder und ich sind Manager und haben Chefs, aber das alles ist völlig legal. Unsere Chefs betreiben Nachtlokale und...« »Geschenkt«, meinte der Butler ernst. »Die Frage stellt sich, ob Ihre Chefs eigentlich wissen, daß ihre Manager dabei sind, Privatgeschäfte zu betreiben. Das ist des Pudels Kern, wie es in einem Drama so treffend heißt.« »Pri... Privatgeschäfte?« stotterte Oscar Pritting.
»Sind Sie nicht dabei, ansehnliche Gelder einzusammeln, ohne Ihre Chefs daran beteiligen zu wollen?« »Wovon reden Sie denn eigentlich?« Pritting wurde wütend, weil er die tödliche Wahrheit hörte. Tödlich war es nämlich, was er da betrieb. Wenn sein Chef davon erfuhr, hatte er nur noch die eine Chance, die Insel so schnell wie möglich und für immer zu verlassen. »Nun gut, rufen wir Ihren Chef an«, schlug Josuah Parker vor und deutete auf das Telefon auf dem kleinen Tisch. »Genieren Sie sich nicht, Mr. Pritting!« Er genierte sich nicht. Blitzschnell und durchaus gekonnt griff er nach seiner Schußwaffe in der Schulterhalfter. Parker reagierte überhaupt nicht auf diese Bewegung, da er die Waffe längst an sich gebracht hatte, als Pritting unter der Warmhaltehaube gewesen war. »Verdammt«, sagte Pritting, als ihm klar wurde, wer die Waffe inzwischen besaß. »Warum rufen Sie nicht an?« Josuah Parker deutete erneut auf das Telefon. »Oder darf ich mir erlauben, Ihnen diesen Anruf abzunehmen?« »Okay, ich rede«, sagte Pritting hastig. Dicke Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. »Foulder hatte die Idee.« »Welche Idee?« fragte der Butler höflich, doch zu einer Antwort kam es leider nicht mehr, denn im Nachtclub schien eine Bombe detoniert zu sein. Schreie waren zu hören, Tische und Stühle kippten um, Menschen flüchteten, und in all diesem Chaos war plötzlich eine grollende Stimme zu vernehmen, deren Lage an die eines Basses erinnerte. Diese Stimme rief laut und deutlich nach einem gewissen Mr. Parker. Sie verkündete Mr. Parker, er brauche sich nicht zu fürchten, denn Hilfe folge auf dem Fuß. Butler Parker seufzte. Das Auftreten seiner Herrin wirkte mal wieder wie eine Naturkatastrophe. Oscar Pritting setzte jetzt alles auf eine Karte und hechtete aus der Nische, verwickelte sich im Vorhang und rammte dann einen Kellner, der zurück in die Nische flog und den Butler leider nach hinten drückte. So gewann Pritting einen kleinen Vorsprung, den er weiter ausbaute. Er rannte in Richtung Küche, wechselte dann auf eine steile Treppe über, die ins Obergeschoß führte und verschwand dort in der Dunkelheit des Treppenhauses. Agatha Simpson rief erneut nach Mr. Parker und versicherte ihm, daß bald alles in bester Ordnung sei. Josuah Parker verließ die Nische, nachdem er den Keller auf den Sitz gedrückt hatte, der von Pritting gerammt worden war. Parker zog höflich die schwarze Melone in Richtung Lady, die wie eine Rachegöttin vor ihm auftauchte. Der Pompadour in ihrer Hand wirbelte wie ein Propeller und traf dabei leider einen anderen Kellner, der sich der majestätisch aussehenden Dame hatte nähern wollen, um sie zu stoppen.
Erwischt von dem »Glücksbringer« im Handbeutel, setzte der an sich nicht gerade schmächtige Mann zu einem unfreiwilligen Flug an und landete jäh auf einem Tisch, der unter ihm zusammenbrach. Lady Agatha hatte für solche Kleinigkeiten keinen Blick. Sie sah Parker zufrieden an und hätte ihn um ein Haar an ihren wogenden Busen gezogen. Der Butler konnte im letzten Moment noch hastig zurückweichen. »Was wären Sie ohne mich, Mr. Parker?« fragte sie dann und nickte nachdrücklich. »Ich bin wohl gerade im richtigen Moment gekommen, nicht wahr?« »In des Wortes wahrster Bedeutung, Mylady.« Parkers Gesicht blieb ausdruckslos wie das eines Pokerspielers. »Schicken Sie die aufgeregten Leute nach draußen«, verlangte die Detektivin und deutete auf das Chaos, das sie angerichtet hatte. »Falls Sie sich aber nicht wohlfühlen, werde ich das übernehmen.« »Besser nicht, Mylady.« Parker schob sich an seiner Herrin vorbei, um weiteres Unheil zu verhindern. *** »Ein schöner Tag, Kindchen«, sagte Lady Agatha, als man sich wieder im altehrwürdigen Haus in Shepherd's Market befand. »Sie haben einiges versäumt.« »Sie waren erfolgreich, Mylady?« erkundigte Kathy Porter sich. »Auf der ganzen Linie! Der Fall ist eigentlich bis auf ein paar unwichtige Kleinigkeiten bereits geklärt, nicht wahr, Mr. Parker?« »In der Tat, Mylady«, sagte Parker, und Kathy Porter wußte sofort, daß dies nicht der Fall war. »Ich habe mir zwei dieser Tribunalmitglieder gekauft und sie dann an McWarden weitergeleitet«, berichtete die ältere Dame, die sich in Hochstimmung befand. »Gladson kann von Glück sagen, daß ich ihn begleitete, sonst würde er längst nicht mehr leben.« »Sind die beiden Gangster der Polizei übergeben worden, Mylady?« fragte Kathy Porter. »Unwichtige Gangster«, erwiderte Lady Simpson. »Es handelt sich um einen gewissen Dan Foulder, der als Philipp II. erschien. Und wissen Sie, wen er sich mitgebracht hatte? Einen Henker! Ja, da staunen Sie, Kindchen,, nicht wahr? Um ein Haar wäre auch Mr. Parker hingerichtet worden, wenn ich nicht eingeschritten wäre ...« Die von sich überzeugte Dame erzählte sehr pauschal, aber Butler Parker sah keinen Anlaß, diese Darstellung zu korrigieren. Wenn seine Herrin mal in Schwung war, gerieten ihr häufig Dichtung und Wahrheit durcheinander. »Dan Foulder?« Kathy sah Parker fragend an. »Er leitet einen privaten Nachtclub in Soho, Miß Porter«, erklärte der Butler. »Mylady befreiten mich übrigens aus diesem Club, wie ich hinzufügen möchte.«
»Stellen Sie sich das mal vor, Kindchen«, begann die ältere Dame wieder begeistert, »man wollte mich nicht einlassen! Mich, Lady Simpson, wollte man aussperren! Wissen Sie, was ich daraufhin gemacht habe?« »Ich ahne es, Mylady.« Kathy Porter lächelte. »Ich habe die Tür mit meinem Land-Rover geöffnet«, erzählte Lady Agatha munter weiter. »Gut, es gab etwas Kleinholz, aber die Tür ging auf. Es war wirklich sehr unterhaltend.« »Sie befanden sich dort in Gefahr, Mr. Parker?« wollte Kathy Porter wissen. »Sie deutete sich bereits an«, gab der Butler ausweichend zur Antwort. »Ohne mich wären Sie dort auseinandergenommen worden, Mr. Parker«, behauptete die Detektivin. »Nein, war das ein anregender Abend! Ich habe richtig Appetit bekommen. Ob ich noch eine Kleinigkeit zu mir nehmen sollte, Mr. Parker?« »Könnten Mylady sich für einige Sandwiches erwärmen?« erkundigte sich Parker. »Nein, nein, ich möchte mir nicht den Magen überladen«, winkte sie ab. »Haben wir nicht noch etwas kaltes Huhn, Roastbeef und Schinken?« »Ich werde sofort eine entsprechende Platte richten, Mylady.« »Und ich werde es mir bequem machen. In zehn Minuten im Salon, Mr. Parker!« Sie ging in die große Wohnhalle und dann über die Treppe nach oben. »Es muß sehr aufregend gewesen sein, Mr. Parker, wie?« fragte Kathy Porter und schmunzelte. »Leider erschien Mylady ein wenig zu früh im Nachtclub«, bedauerte der Butler, »aber ich möchte doch annehmen, daß mein Gesprächspartner sich noch melden wird.« »Von wem sprechen Sie jetzt, Mr. Parker?« »Von einem Oscar Pritting, Miß Porter, der zusammen mit Dan Foulder ein Privatgeschäft betreiben wollte.« »Ist das der Foulder, von dem Lady Simpson eben gesprochen hat?« »Richtig, Miß Porter. Übrigens wird auch sein Chef sich wohl bald hier melden, zumindest per Telefon, wenn ich nicht sehr irre.« »Sie meinen, nachdem Mylady den Nachtclub demontiert hat?« Kathy Porter lachte. »Gewiß, Miß Porter.« Parker deutete durch Nicken des Kopfes eine Zustimmung an. »Ein Taifun hätte nicht effektiver sein können, wenn ich es so ausdrücken darf. Mr. Mondy wird verständlicherweise äußerst ungehalten sein.« »Mondy, Mr. Parker?« »Serge Mondy«, antwortete der Butler, »der Chef dieses Dan Foulder. Ich darf Ihnen sagen, daß besagter Serge Mondy ein überaus harter Unternehmer sein soll. Vielleicht beläßt er es auch nicht bei einem Telefonanruf, sondern denkt sich eine andere Möglichkeit aus, seinem Ärger Luft zu verschaffen.« ***
»Hier Mondy, Serge Mondy«, meldete sich eine kühle Stimme, der man sofort anhörte, daß sie Höflichkeiten als überflüssig betrachtete. »Sind Sie es, Parker?« »Mr. Parker, wenn ich darauf aufmerksam machen darf«, korrigierte der Butler in seinem anders gearteten Naturell. »Schön, wegen mir auch Mr. Parker.« Mondy räusperte sich. »Sie wissen, warum ich anrufe?« »Ich möchte Ihren Begründungen auf keinen Fall vorgreifen, Mr. Mondy«, lautete Parkers Antwort. »Ich könnte mir allerdings vorstellen, daß Sie ein wenig verärgert sind.« Parker hatte bereits das Mitschneidegerät eingeschaltet, um das Gespräch auf Tonband festzuhalten. »Verärgert, Mr. Parker? Ich bin gereizt bis aufs Blut! Wie kommen Sie dazu, meinen Nachtclub in Soho so zu demolieren? Genauer gesagt, was hat Ihre verdammte Lady gegen mich?« »In der Wahl Ihrer Beifügungen sollten Sie vielleicht ein wenig vorsichtiger sein, Mr. Mondy«, schlug Parker vor. »Ihre Lady wird mir alles ersetzen, bis auf den letzten Penny, sagen Sie ihr das, oder...« »Sie deuten eine Alternative an, Mr. Mondy?« »Sie kann sonst was erleben, und das wird für sie nicht angenehm sein. Dann ist da noch etwas! Wieso ist mein Manager Foulder wie vom Erdboden verschwunden?« »Nun, er hat vielleicht anderweitig zu tun, Mr. Mondy. Könnten Sie sich vorstellen, daß er dem Tribunal der Geschichte angehört?« »Tribunal der Geschichte? Was ist denn das für ein Unsinn, Mr. Parker? Nie von gehört.« »Sie sind vollkommen sicher, Mr. Mondy?« »Natürlich. Tribunal der Geschichte! Komische Sache... Was hat Dan Foulder damit zu tun?« »Eine Gegenfrage, Mr. Mondy, Ihnen ist doch ein gewisser Oscar Pritting bekannt, nicht wahr?« »Kann sein, daß ich diesen Namen schon mal gehört habe.« Mondy wollte sich selbstverständlich nicht festlegen. »Er ist der Manager eines Ihrer Kollegen, Mr. Mondy. Sollte Ihnen auch der Name Desmond Lake nichts sagen?« »Natürlich kenne ich Desmond Lake.« Serge Mondy konnte das ohne weiteres zugeben, denn auch Desmond Lake betrieb seine Unterweltgeschäfte unter dem Deckmantel eines Clubbesitzers. »Nun, besagter Oscar Pritting, Mr. Mondy, der Manager Ihres Freundes Desmond Lake, scheint ebenfalls diesem Geschichtstribunal anzugehören.«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Mr. Parker? Was soll der Unsinn mit diesem Geschichtstribunal? Es stammt weder von mir noch von meinem Freund Desmond Lake.« »So etwas erlaubte ich mir bereits zu denken«, entgegnete der Butler gemessen. »Diese Art der Geldeintreibung würde Ihrem gemeinsamen Stil auch nicht entsprechen.« »Werden Sie bloß nicht unverschämt, Mr. Parker! Bisher sind Sie mir aus dem Weg gegangen, aber das kann sich ändern.« »Darf ich es so formulieren? Sie tangierten bisher weder Mylady noch meine bescheidene Wenigkeit. Nach Lage der Dinge könnte hier bald eine entscheidende Änderung eintreten.« »Ist das 'ne Kampfansage, Mr. Parker?« Schneidend schien Mondys Stimme. »Möchten Sie es so verstanden wissen, Mr. Mondy?« fragte Butler Parker in seiner höflichen Art. »Eine genauere Definition wäre jetzt hilfreich.« »Moment mal, wir wollen die Dinge doch nicht auf die Spitze treiben«, sagte Serge Mondy hastig und lenkte ein. »Sie haben mich da mißverstanden, Mr. Parker. Vergessen Sie das mit dem Schadenersatz, ja? Man sagt so manches in der ersten Aufregung. Ich setze das alles von der Steuer ab, Schwamm drüber. Aber sagen Sie mir, was das ist, dieses Tribunal der Geschichte? Das interessiert mich mächtig. Hat Dan Foulder hinter meinem Rücken ein Ding auf eigene Rechnung aufgezogen?« »Dies entzieht sich meiner Kenntnis, Mr. Mondy.« »Hat er mit Pritting zusammengearbeitet?« »Könnten Sie diese Frage nicht an die Herren Foulder und Pritting richten, Mr. Mondy?« »An Foulder? Der ist... nun ja, warum soll ich's nicht sagen, der ist verschwunden. Und was Pitting betrifft, so werde ich mich mit meinem Geschäftsfreund Desmond Lake unterhalten. Übrigens, Sie wissen nicht zufällig, wo Foulder sein könnte?« »Zufällig kann ich Ihnen mit einer präzisen Auskunft dienen«, antwortete der Butler. »Chief-Superintendent McWarden dürfte ihn zur Zeit eingehend verhören. Wo Mr. Pritting sich hingegen befindet, entzieht sich meiner momentanen Kenntnis.« »Und das alles wegen dieser Geschichte mit dem Tribunal?« Serge Mondy, der Chef von Dan Foulder, war nachdenklich geworden, wie Parker deutlich hörte. »Was, zum Teufel, ist dieses Tribunal?« »Vielleicht sollten Sie die Morgenzeitungen gründlich studieren, Mr. Mondy«, schlug Parker vor. »Meiner bescheidenen Ansicht nach, werden sie in großer Aufmachung darüber berichten, falls ich das Tribunal richtig einschätze.« *** Parkers Vermutung stimmte.
Während er für Lady Simpson das Frühstück servierte, überreichte er ihr einige wichtige Morgenblätter. Die Schlagzeilen waren nicht zu übersehen. Sie alle beschäftigten sich mit dem Tribunal der Geschichte und berichteten in großer Aufmachung von den Morden an Henry Patters und Ralph Bannister. »Muß ich das ganze Zeug unbedingt lesen?« fragte die ältere Dame wegwerfend. Sie wollte sich lieber auf ihr frugales Diätfrühstück konzentrieren und musterte skeptisch das, was Josuah Parker reichte. Es handelte sich um Eier mit Speck, einige Bratwürstchen, etwas Lachs, Ardennenschinken und gegrillte Tomanten. »Wenn Mylady erlauben, werde ich eine Zusammenfassung vortragen«, schlug Parker vor. »Das Tribunal der Geschichte wird in allen Berichten als eine Art Nachfolgerin des legendären Robin Hood dargestellt, das Gelder eintreibt, die im Lauf der Geschichte unrechtmäßig zusammengestohlen und zusammengerafft wurden.« »Von wem stammen die Informationen?« »Meiner bescheidenen Ansicht nach von den Mitgliedern des Tribunals«, erläuterte Josuah Parker weiter. »Damit sind die erforderlichen Vorarbeiten getätigt worden, wenn ich es so interpretieren darf. Den nächsten Zahlungsaufforderungen wird man schnell und präzise nachkommen.« »Was werden wir heute tun, Mr. Parker?« erkundigte sich die Hausherrin. »Wären Mylady mit dem Besuch des Armeemuseums einverstanden? Man sollte sich noch mal gründlich mit Mr. John Paul Harding, dem Leiter, unterhalten. « »Genau das wollte ich gerade vorschlagen.« Sie nickte. »Diesem Herrn würde ich mal gründlich auf die Finger schauen, Mr. Parker. Was glauben Sie, haben die beiden Bandenbosse Serge Mondy und Desmond Lake etwas mit diesem Geschichtstribunal zu tun?« »Mit letzter Sicherheit, Mylady, läßt sich diese Frage leider nicht beantworten«, schickte Parker voraus, »jedoch nach Lage der Dinge möchte ich die Frage verneinen. Die beiden Manager der eben erwähnten Herren dürften hier tatsächlich eine Art Nebengeschäft betreiben oder betrieben haben.« »Sie denken jetzt an Foulder und Pritting?« »In der Tat, Mylady!« Parker war froh, daß Agatha Simpson die Zusammenhänge klar und deutlich erfaßt hatte. So war wenigstens damit zu rechnen, daß sie sich nicht mit den beiden mächtigen und gefährlichen Organisationen anlegte. Das konnte man seiner Ansicht nach zu einem späteren Zeitpunkt immer noch tun. Das Telefon meldete sich. Parker hob den Hörer ab, gleichzeitig schaltete er den Verstärker und das Überspielgerät ein. Er erkannte sofort die Stimme von Oscar Pritting. Der Mann war aufgeregt. »Ich... Ich muß Sie unbedingt sprechen«, sagte Pritting. »Sie haben mich in Teufels Küche gebracht.« »Läßt Mr. Desmond Lake nach Ihnen suchen?« fragte Josuah Parker. »So ungefähr«, lautete Prittings Antwort, »aber das ist gar nicht so wichtig. Wissen Sie, was passiert ist?«
»Darf ich mir erlauben zu raten?« »Sie ahnen es, Mr. Parker?« »Das Tribunal hat Ihnen ein Todesurteil zugestellt, nicht wahr?« »Genau das, Mr. Parker, aber jetzt packe ich aus. Haben Sie Lust an einer verrückten Geschichte?« »Die Sie mir wahrscheinlich an einem verschwiegenen, neutralen Ort erzählen möchten, wie ich vermute?« »Genau, Mr. Parker! Und für diese Geschichte verlange ich fünftausend Pfund in kleinen Scheinen. Ich habe nämlich die Absicht, jetzt erst mal Urlaub zu machen.« »Bestimmen Sie Zeit und Ort, Mr. Pritting.« »In einer Stunde, einverstanden? Fahren Sie 'raus nach Lambeth, okay? In der Nähe des Hospitals finden Sie eine Getränkefirma, die einem Brett Netway gehört. Ich erwarte Sie dort im Lager.« »Könnte ich die genaue Adresse bekommen?« Parker tat ahnungslos, obwohl er die Getränkefirma schließlich kannte. »Wincott Street«, erwiderte Pritting. »Die Nummer kenne ich nicht, aber Sie werden die Firma bestimmt finden.« »Ich freue mich bereits jetzt auf eine anregende Unterhaltung«, versicherte Parker, bevor er auflegte. *** »Natürlich wird er kommen«, sagte Oscar Pritting, als er den Hörer aufgelegt hatte. »Ich kenne doch Parker und diese verrückte Lady. Wetten, daß die sich bereits in ihren Wagen werfen?» Pritting, der Manager des Gangsterchefs Desmond Lake, befand sich im Büro von Brett Netway und gab sich sehr überlegen. Er hatte Netway verpflichtet, für sich zu arbeiten und ihm verschwiegen, daß Gangsterboß Desmond Lake nichts davon wußte. Brett Netway mußte annehmen, daß der große Lake sich für ihn interessierte, was seiner Eitelkeit schmeichelte, Netway war kein großer Gangster, sondern im Grund ein gerissener kleiner Gauner, der jedoch auf seine Chance gewartet hatte, eines Tages groß zu werden. Dieser Zeitpunkt schien gekommen. In den Räumen seiner kleinen Getränkefirma sollten Butler Parker und Lady Simpson hochgenommen werden. Damit war der Aufstieg in die größeren Geschäfte gesichert, wie er glaubte. »Rechnen die nicht mit 'ner Falle?« fragte er jedoch und wandte sich an Pritting. »Natürlich rechnen die damit.« Pritting lächelte. »Aber das wird die beiden komischen Typen nicht daran hindern, hier zu erscheinen. Dazu sind sie viel zu ehrgeizig.« »Und was machen wir, wenn wir sie haben?« wollte Brett Netway weiter wissen. »Ich werde sie wegschaffen, alles weitere entscheidet der Chef«, entgegnete Pritting, der nach wie vor so tat, als sei er Desmond Lakes verlängerter Arm.
»Wie denkt der Chef jetzt über mich? Kann man dazu mal was hören?« tippte Brett Netway an. »Er hält Sie für einen erstklassigen Mann, Brett«, schwindelte Pritting drauflos. »Gut, daß Sie sich an mich gewandt haben, als die Tribunalsache in Gang kam.« »Ich war selbst überrascht, als ich angerufen wurde«, erinnerte Brett Netway und fühlte sich sehr wohl in seiner Haut. »Aber wieso dieser Mann ausgerechnet mich angerufen hat, ist mir immer noch ein Rätsel.« »Aber das liegt doch auf der Hand, Brett.« Pritting zeigte sich überlegen. »Dieser Mann, der das Tribunal spielt, muß irgendwie an Ihren Namen gekommen sein und hat damit gerechnet, daß Sie sich an 'ne große Organisation wenden würden. So einfach ist das.« »Von Parker und dieser Lady hab' ich eigentlich noch nie gehört.« Brett Netway wechselte das Thema. »Was sind das für Leute? Doch reine Amateure, oder?« »Aber mit erstklassigen Beziehungen«, räumte Pritting ein. »Darum sollen sie jetzt auch aus dem Verkehr gezogen werden. Sicher ist eben sicher, meint der Boß.« »Ich bekomm auch noch 'raus, wer der Kerl ist, der sich da als Tribunal aufspielt«, redete Brett Netway weiter. »Ist ja 'ne verdammt raffinierte Masche, wie?« »Kann man wohl sagen.« Pritting nickte. »Auf sowas muß man erst mal kommen. Sie haben wirklich keine Ahnung, Brett, wer Sie damals angerufen hat? Der Tribunalbursche muß Sie doch von irgendwoher kennen.« »Ich hab' keine Ahnung, ehrlich.« Brett Netway zuckte die Achseln. »Ich hab' höchstens 'nen Verdacht.« »Und der sieht wie aus, Brett?« »Der Typ muß hier irgendwo in der Nähe wohnen oder arbeiten«, erklärte Brett Netway. »Er muß mich kennen, so aus der Entfernung, verstehen Sie? Wie hätte er mich sonst anrufen können? Er muß irgendwie wissen oder erfahren haben, daß ich neben den Getränken noch anderes Geld verdiene.« »Irgendwann werden wir ihn schon aufspüren«, meinte Pritting. Er war schrecklich nervös, doch er zeigte es nicht. Ihm war klar, daß er inzwischen von seinem Chef Desmond Lake gejagt wurde. Er konnte Lake nur dann wieder versöhnen, wenn er ihm Lady Simpson und Butler Parker fertig verschnürt auf den Tisch legte, wenn er Lake die Tribunalgeschichte zusätzlich noch verkaufen konnte. Pritting war keineswegs versessen darauf, die Insel zu verlassen. Hier wollte er weiter Karriere machen und eines Tages vielleicht die Organisation von Desmond Lake übernehmen. Er brauchte keinen Chef, um an das große Geld heranzukommen. Wer hatte die Organisation denn bisher geführt, wenn nicht er? Für Desmond Lake hatte er doch alle Pläne ausgearbeitet und die Einsätze bis ins Detail geplant... »Und wenn dieser verrückte Butler die Polizei verständigt?« fragte Brett Netway plötzlich.
»Polizei? Ausgeschlossen! Die beiden Amateure sind ehrgeizig und tun alles, um den Bullen ein Schnippchen zu schlagen«, erwiderte Pritting abwinkend. »Nee, Polizei ist das letzte, woran sie denken. Moment mal, Brett, da kommen sie ja schon. Das läuft ja wie geschmiert ... Das da, das ist der Butler!« Pritting deutete auf ein Londoner Taxi älterer Bauart. Aus diesem Wagen stieg ein untersetzter, ein wenig stämmig aussehender Mann, der eine schwarze Melone und einen etwas zu langen, schwarzen Mantel trug. Er schritt langsam zur Rampe der Getränkefirma. »Und ... Und wo is' die Lady?« »Mensch, sehen Sie sich die Fregatte an!« Pritting lachte leise. Er stand neben dem Fenster und deutete verstohlen auf die ältere Dame, die aus dem Fond des Wagens stieg. Sie war füllig, groß und trug einen langen, altmodisch aussehenden Staubmantel, der fast bis zu den derben Schuhen reichte. Auf ihrem Kopf saß ein Topfhut. »Und jetzt?« wollte Brett Netway wissen. »Wir lassen sie 'reinkommen und nehmen sie zwischen den Getränkekästen hoch«, sagte Pritting. »Wo steckt Ihr Mann, Brett?« »Harry ist bereits im Lager, gleich hinter der Schiebetür.« »Dann kann ja nichts passieren.« Pritting griff nach einer kurzläufigen Maschinenpistole und überprüfte sie. Der Schalldämpfer vorn war fast länger als der Lauf. Brett Netway kontrollierte den Sitz eines ähnlichen Schalldämpfers auf seinem Revolver. Dann gingen die beiden Gangster ins Lager und winkten Netways Mitarbeiter Harry, der hinter Getränkekisten neben dem Eingang Stellung bezogen hatte. »Nur im Notfall schießen«, rief Pritting leise. Er triumphierte, denn seine Rechnung ging nun auf. Er hatte die Möglichkeit, seinem Chef Desmond Lake zu beweisen, daß er nie vorhatte, auf eigene Rechnung zu arbeiten. Parker und die schrullige Lady waren schließlich Beweis genug dafür. Wenn er die beiden präsentierte, würde Desmond Lake keine Fragen mehr stellen, sondern die ganze Tribunalgeschichte wie selbstverständlich an sich reißen. *** In dem Mini-Cooper auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß eine streng dienstlich aussehende Frau, die auch ein wenig angestaubt wirkte. Sie trug eine dunkel gefaßte Hornbrille, die ihr das Aussehen einer Eule verlieh. Sie stieg aus dem Wagen und zeigte so ihren praktischen, aber sehr altmodischen Mantel, Die amtlich aussehende Person weiblichen Geschlechts war Kathy Porter, die mit einfachen Hilfsmitteln wieder mal Maske gemacht hatte. Sie war kurz vor Eintreffen des Londoner Taxi in der Wincott Street erschienen und hatte keinen einzigen Blick auf dieses Taxi geworfen, das durch die Toreinfahrt zum Lager der Getränkefirma gefahren war.
Wenig später aber wurde sie dennoch abgelenkt. Aus einigen zivil aussehenden Wagen stiegen etwa insgesamt acht Männer in langen Regenmänteln. Sie hasteten auf den Torbogen zu und verschwanden in Richtung Getränkefirma. Irgendwie machten sie alle einen straffen und sportlich geschulten Eindruck. Die streng und amtlich aussehende Dame hatte inzwischen ihre Karteiblätter sortiert und ging ein Stück die Straße hinunter. Sie blieb in einem Hauseingang stehen und suchte aufmerksam nach einem Namen. Dabei wurde sie abgelenkt, was übrigens nicht weiter verwunderlich war. Im Torweg erschien so etwas wie eine Prozession, die von einem Mann geführt wurde, der wie ein Butler aussah. Hinter ihm führten die sportlichen jungen Leute drei Männer ab, die Handschellen trugen und sich dennoch wütend wehrten. Die füllige Dame hinter dem Butler rauchte erstaunlicherweise ungeniert eine Zigarette. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Prozession sich aufgelöst hatte. Die Männer und die drei Handschellenträger nahmen in diversen Wagen Platz und fuhren davon. Damit hatte die amtlich aussehende Dame jedes Interesse an ihrem Auftrag verloren. Sie trug ihre Aktentasche zum Mini-Cooper zurück, setzte sich ans Steuer und verließ ebenfalls die Wincott Street. Weit fuhr sie nicht. Auf dem Parkplatz vor dem Armee-Museum hielt sie und stieg aus. Während dieser an sich kurzen Fahrt war eine erstaunliche Verwandlung mit der amtlichen Person vor sich gegangen. Aus dem Mini-Cooper stieg jetzt eine junge, etwa fünfundzwanzig Jahre alte Frau, die einer gewissen Kathy Porter aufs Haar glich. Sie ging ins Museum, orientierte sich kurz in der Halle und nahm dann die breite Treppe, die in die Kellerräume führte. Nach wenigen Minuten erreichte sie den Vorraum des Museums und stieß hier auf Parker und die Lady, die sich mit dem Leiter dieser Museumsabteilung unterhielten. »Hallo, Kindchen?« Agatha Simpson nickte ihrer Sekretärin und Gesellschafterin erfreut zu. »Haben Sie alles erledigt?« »Zur vollsten Zufriedenheit, Mylady«, erwiderte Kathy Porter. »Die Bestellung ist abgeholt worden.« »Hat es keinen Ärger gegeben?« »Man sträubte sich zuerst gegen den Austausch«, berichtete Kathy Porter weiter, »aber die Argumente überzeugten schließlich.« »Miß Porter«, stellte Parker vor und deutete dann auf den Museumsleiter, »Mr. John Paul Harding, eine profunde Kapazität seines Fachbereiches.« »Jetzt übertreiben Sie aber«, wehrte John Paul Harding verlegen ab.»Ich brauche noch viele Jahre, bis ich wenigstens die Hauptdaten im Kopf habe.« »Mr. Harding wußte immerhin auf Anhieb etwas mit dem Namen Gladson anzufangen«, redete Josuah Parker weiter. »Es existiert hier im Archiv tatsächlich ein Untersuchungsbericht über mangelhafte Fleisch- und Zwiebacklieferungen an die Schiffe des Sir Drake.«
»Gibt es da vielleicht ein Spezialarchiv, Sir?« wandte Kathy Porter sich an John Paul Harding. »Ich meine, ein Archiv, in dem Gerichts- und Untersuchungsprotokolle zusammengefaßt worden sind?« »Diese Frage konnte ich Mr. Parker bereits positiv beantworten«, erklärte John Paul Harding. »Diese Protokolle sind im Komplex Militärjustiz zusammengefaßt.« »Unglaublich, was da alles zu sehen ist«, schaltete Agatha Simpson sich ein. »Eine wahre Fundgrube.« »Die komplett vorhanden ist, Mylady?« erkundigte Kathy Porter sich weiter. »Komplett, Kindchen«, erwiderte die ältere Dame. »Aber es soll ja bekanntlich so etwas wie Mikrofotografie geben, nicht wahr?« *** »Ich mußte mich einfach bedanken«, sagte der untersetzte Mann, der wie ein Butler aussah. »Die Sache hat wunderbar funktioniert, Mylady. Brett Netway, Oscar Pritting und ein Bursche namens Harry sind festgenommen worden.« »Und sind wann wieder frei?« wollte die Detektivin gereizt wissen. »Vorerst bestimmt nicht. Sie haben immerhin geschossen«, berichtete der Mann weiter, der andeutungsweise an einen Butler erinnerte. »Wurden schon gewisse Aussagen gemacht, Sir?« Parker hatte seine Frage an die schlechte Kopie gerichtet, die sich jetzt deutlich als Chief-Superintendent McWarden zu erkennen gab. »Die Burschen schweigen sich zuerst ja immer aus«, antwortete McWarden wegwerfend, »aber das ändert sich nach einigen Tagen. Dan Foulder weiß inzwischen, daß sein Partner Pritting sitzt, dafür habe ich gesorgt, das wird die Zungen der beiden Unterweltmanager schnell lockern.« »Und man ist auf Ihre schlechte Maske hereingefallen?« wunderte sich Lady Agatha kopfschüttelnd. »Sie sehen ja wie das Zerrbild eines Butlers aus.« »Da hätten Sie erst mal Ihre Kopie sehen sollen, Mylady.« McWarden lachte, was selten bei ihm der Fall war. »Einer meiner Mitarbeiter hatte sich entsprechend ausstaffiert. Urkomisch, sage ich Ihnen, äh, was nicht heißen soll, daß Sie, Mylady ...« »Sie halten mich also für urkomisch?« erkundigte sich Lady Agatha grollend. »Die Kopie, Mylady, nur die Kopie«, korrigierte der Chief-Superintendent noch einmal. »Wir trugen natürlich kugelsichere Westen und Körperschützer, sonst wäre die Sache peinlich geworden. « »Damit wäre das Fußvolk des Tribunals erst mal aus dem Weg geräumt, McWarden«, meinte Lady Simpson. »Oder glauben Sie, daß die Chefs dieser beiden Jungmanager Foulder und Pritting Bescheid wußten?« »Das möchte ich doch annehmen, Mylady.« McWarden nickte nachdrücklich. Dann schaute er den Butler an. »Wie denken Sie darüber, Mr. Parker?« »Solch eine Möglichkeit sollte man auf keinen Fall ausschließen«, erwiderte Parker neutral. Er hatte nichts dagegen, wenn der Chief-Superintendent sich mit
Serge Mondy und Desmond Lake befaßte. Das beschäftigte den Yard-Beamten nur und nahm ihm die Zeit für wichtigere Dinge. »Bleibt immer noch dieser vierte Kuttenträger.« McWarden sah zuerst Agatha Simpson, dann den Butler an. »Er ist noch nicht aufgetaucht, wie? Ich meine, er hat sich vielleicht nicht bei Ihnen gemeldet?« »Mr. Parker, was wissen wir über diesen vierten Mann?« wollte die ältere Dame von ihrem Butler wissen. »Leider so gut wie nichts, Mylady«, bedauerte Josuah Parker. »Sollte er sich melden, wird Mr. Parker Sie verständigen.« Lady Agatha nickte McWarden ungeduldig zu. »Denken Sie jetzt nicht an diesen vierten Mönch, sondern freuen Sie sich, McWarden! Ihre Vorgesetzten werden strahlen...« »Diese drei Männer haben bisher kein Wort über ihren vierten Kumpan gesagt«, redete McWarden hartnäckig weiter. »Der scheint demnach sehr wichtig zu sein.« »Bekommen Sie denn nie den Hals voll?« Lady Agatha sah den Yard-Beamten vorwurfsvoll an. »Was habe ich Ihnen bisher nicht alles an Schuften und Gangstern frei Haus geliefert, McWarden? Sie sollten mir auf den Knien danken!« »Mache ich bestimmt noch, Mylady«, versprach der Chief-Superintendent von Scotland Yard und lächelte flüchtig, »aber diese Hilfstruppen bringen mich leider nicht näher an das Tribunal heran, verstehen Sie? Das macht mich im Grund nervös.« »Nun, etwas müssen Sie schon selbst zur Lösung beitragen, McWarden«, entrüstete sich Agatha Simpson. »Oder verlangen Sie, daß ich Ihnen mal wieder einen geklärten Fall auf den Schreibtisch lege? Sie sind sehr verwöhnt worden, das ist es.« »Das Telefon!« Parker deutete eine knappe Verbeugung an und ging hinüber zum Apparat. Er schaltete den Übertragungsverstärker selbstverständlich nicht ein, als er den Hörer abhob und sich meldete. Er hörte einen Moment zu und wandte sich dann an den Chief-Superintendent. »Für Sie, Sir«, sagte er. Er sorgte dafür, daß die Tonbandaufzeichnung erfolgte, als er diskret und höflich die Nähe des Telefons verließ. McWarden hörte ebenfalls nur kurz zu, nickte dann und legte auf. »Eine erfreuliche Nachricht oder eine Hiobsbotschaft?« erkundigte sich Lady Simpson. »Gladson hat eben meine Dienststelle angerufen«, erwiderte McWarden, »das Tribunal der Geschichte hat ihm eine Fristverlängerung zugebilligt. Er kann die verlangte Nachzahlung von fünfundvierzigtausend Pfund bis heute gegen 22.00 Uhr vornehmen. Was er übrigens tun will. Er möchte es nicht noch, mal mit so einer Art Philipp II. zu tun bekommen, sein Bedarf ist gedeckt.« »Und wo soll diese Geldübergabe stattfinden?« Agatha Simpson fragte rundheraus und direkt. »Keine Ahnung«, schwindelte McWarden, der allerdings auch nicht wußte, daß seine Information mitgeschnitten worden war. »Ich denke, man sollte sich auch gar
nicht einschalten, Mylady. Wir wissen doch inzwischen, wie grausam und brutal dieses Tribunal ist!« *** Es war Nachmittag geworden. Nach der Tonbandaufzeichnung wollte Arthur Gladson sich um vier Uhr vor dem Tower of London einfinden, um hier die sogenannte Rückzahlung an das Tribunal vorzunehmen. Der Platz war natürlich äußerst geschickt gewählt worden: Erfahrungsgemäß wälzte sich um diese Zeit ein Strom von in- und ausländischen Besuchern durch die historische Anlage, um unter anderem auch den dort ausgestellten Kronschatz zu besichtigen. Busse aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und aus dem Landes-innern der Insel sorgten stets für einen Massenandrang, der kaum zu überblicken, geschweige denn zu kontrollieren war. Parker hatte darauf verzichtet, sich an Arthur Gladson zu hängen. Er wollte diesen Mann auf keinen Fall gefährden und ging davon aus, daß Chief-Superintendent McWarden seine speziellen Maßnahmen getroffen hatte. Der Mann vom Yard verfügte über ausreichend Mitarbeiter, um eine lückenlose und mehr oder weniger diskrete Überwachung durchzuführen. Mit Sicherheit hatte der Beamte sich noch zusätzliche Hilfe aus anderen Ressorts besorgt. Nein, Butler Parker beobachtete ein völlig anderes Objekt. Er wußte natürlich längst, wo der Archivleiter John Paul Harding zu Hause war. In der Hampton Street bewohnte dieser Mann, der an eine bebrillte Spitzmaus erinnerte, das Dachgeschoß eines dreistöckigen, unauffälligen und gepflegten Hauses. Weit bis zu seinem Armeearchiv hatte er es nicht. Er brauchte nur das Lambeth Hospital zu passieren und war dann schon im Hamsworth Park, in dem das Kriegsmuseum sich befand. Parker hatte Maske gemacht. Es war wieder mal verblüffend, wie er sich verändert hatte. Er sah aus wie ein Rentner mit schmalem Einkommen, der versessen darauf war, die Tauben im Park zu füttern. Parker trug einen sauberen, abgetragenen Stoffmantel, derbe Schuhe und eine schottisch karierte Mütze. Er benutzte einen Stock, da er offensichtlich Schwierigkeiten mit den Beinen hatte. Er trug eine Brille, wie sie vom staatlichen Gesundheitsdienst verordnet wurde. Mit zögernden Schritten ging er die Dante Road hinunter und ließ sich wenig später bereits von John Paul Harding überholen. Die bebrillte Spitzmaus machte einen ausgeglichenen Eindruck und sah wirklich nicht danach aus, als habe sie dieses schreckliche Geschichtstribunal erfunden. Parker in seiner Rolle als Rentner fand in der Nähe des Hauses eine passende Teestube und nahm darin in der Nähe des Fensters Platz. Von hier aus konnte er das Haus gut kontrollieren. Er war gespannt, ob John Paul Harding Besuch bekam.
Würden ihm die fünfundvierzigtausend Pfund überbracht werden? Der Zeitpunkt der Übergabe war bereits seit zwanzig Minuten verstrichen ... Er brauchte erfreulicherweise nicht lange zu warten. Ein Taxi erschien vor dem Haus, und eine etwas angejahrte Dame stieg aus, die etwa fünfzig Jahre zählte. Parker wußte sofort, um wen es sich handelte. Er hatte es mit Norma Centa zu tun, einer der fünf Mitarbeiterinnen von John Paul Harding. Sie trug eine Plastiktasche in der linken Hand, die gut gefüllt war. Nachdem sie den Taxifahrer bezahlt hatte, läutete sie und betrat dann das Haus. Für Parker stand es fest, daß sie zu Harding wollte. Es kam noch besser. Als das Taxi abgefahren war, erschien ein unauffällig aussehender VW-Käfer, der seine besten Jahre mit Sicherheit bereits hinter sich hatte. Auf den Vordersitzen saßen zwei Männer, die eindeutig zur Detektiv-Abteilung des Yard gehörten, wie Parker gleich erkannte. Sie stiegen aus und machten einen eifrigen Eindruck. Sie schienen sich auf einer sehr heißen Spur zu befinden ... *** Lady Agatha hatte ebenfalls Maske gemacht. Die Stattliche, die sonst durchaus majestätisch wirkte, genoß ihre Rolle sichtlich. Sie trug einen kleinen, abgewetzten Koffer aus billigem Kunststoff und bot an Haustüren Bürsten, Wischlappen, Hemdknöpfe und Gummiband an. Ladylike sah die Dame wirklich nicht aus. Sie trug einen uralten Mantel, einen kleinen Hut, der schon wesentlich bessere Tage gesehen hatte und gestrickte Handschuhe. Diese Türklinkenlieferantin verstand ihr Geschäft, wie sich zeigte. Sie arbeitete in der Kennington Lane, einer breiten Durchgangsstraße in der Nähe des Lambeth Hospitals. Dort hatte sie ihre Arbeit in der Nähe eines Pensionshotels aufgenommen, von wo aus sie den Eingang zu diesem alten Backsteinbau gut unter Sicht hatte. In diesem Hotel, das als Pension umgestaltet war, wohnten die beiden Archivangestellten Jane Hoxton und Bette Sclater. Lady Simpson war im Verlauf der letzten Viertelstunde ein wenig in Verlegenheit geraten. Sie hatte ihre Ware fast restlos verkauft. In ihrem Angebotsköfferchen befanden sich nur noch geringe Bestände. Deshalb konnte sie sich endlich ihrer eigentlichen Arbeit zuwenden. Ein Taxi erschien vor dem Haus, in dem die beiden Damen des Archivs wohnten. Jane Hoxton und Bette Sclater stiegen aus und trugen je eine gut gefüllte Plastiktasche. Die beiden Frauen, etwa um die fünfzig, hatten es eilig, in dem Gebäude zu verschwinden. Agatha Simpson interessierte sich brennend für den Inhalt der beiden Plastiktaschen und mußte sich zusammennehmen, um den Archivdamen nicht sofort zu folgen. Zudem taten das bereits zwei Männer, die aus einem Morris stiegen, der ebenfalls vor dem kleinen Hotel angekommen: war und hielt.
Daß es sich um zwei Kriminalbeamte handelte, sah die Detektivin auf den ersten Blick. Sie verschwanden im Haus, um den beiden Frauen keine Gelegenheit zu geben, den Inhalt der Einkaufstaschen beiseite zu schaffen. Sie blieben nicht lange. Nach etwa zehn Minuten tauchten die beiden Männer wieder vor der Hotelpension auf und machten einen enttäuschten Eindruck. Sie setzten sich wieder in ihren Morris und fuhren davon. Die Lady brachte den Rest der Ware unter das Volk und brauchte nur fünf Minuten, bis sie das geschafft hatte. Allein ihr Auftreten schien zu genügen, daß man ihr die Bürsten, Hemdknöpfe, Wischlappen und Gummibänder förmlich aus der Hand riß. Nachdem sie restlos ausverkauft war, ging sie zur nächsten Straßenecke, um von hier aus noch mal einen Blick auf die Hotelpension zu werfen. Und genau dieser Blick sollte sich lohnen! Die beiden Damen traten gerade aus dem Gebäude, diesmal jedoch ohne Plastiktaschen. Schweigend kamen sie auf Lady Simpson zu und hatten es eilig. Sie überquerten die Straße und steuerten eine Telefonzelle an. Warum, so fragte die ältere Dame sich nicht zu unrecht, telefonierten die Frauen nicht von der Hotelpension aus? Warum diese Heimlichkeiten? Hatten sie etwas zu verbergen? Fürchteten sie, abgehört zu werden? Agatha Simpson setzte auf ihre Maske. Auch sie mußte plötzlich dringend telefonieren, überquerte die Straße und baute sich ungeniert vor der Telefonzelle auf, in der die beiden Frauen sich um Platz bemühten. Sie waren nicht gerade dünn und füllten die Zelle aus. Sie schauten Agatha Simpson mißbilligend an, doch sie ließen sich nicht vertreiben. «... von der Polizei befragt«, sagte Jane Hoxton gerade, bemüht, ihre Stimme zu dämpfen, was ihr jedoch nur recht unvollkommen gelang. »Wonach sie fragten? Doch, nach unseren Plastiktaschen. Bei dir auch, Kate? Ob sie verwechselt worden seien, ja, das fragten sie. Komische Geschichte, nicht wahr?« Jane Hoxton hörte einen Moment zu und nickte dann. »Richtig, das sollten wir Mr. Harding melden, das finde ich auch, Kate. Das ist doch sehr rätselhaft, nicht wahr?« Der Name dieser Frau Kate konnte nur Packers sein, wie Agatha Simpson sofort vermutete. Ihr waren alle Namen der fünf Archivdamen bekannt. Wieso waren auch bei dieser Kate Packers Detektivbeamte gewesen? Was wurde da gespielt? Kathy Porter wußte mit Sicherheit mehr. Sie war auf diese Kate Packers und auf die fünfte Archivdame namens Rose Tanner angesetzt. Die beiden Damen verließen die Telefonzelle und maßen Lady Simpson mit einem herablassenden, eisigen Blick. Dann begaben sie sich zurück zur Hotelpension. Agatha Simpson betrachtete ihre Arbeit als beendet. Sie ging allerdings erst noch mal in die Telefonzelle und tat so, als rufe sie an. Sie wollte den Schein wahren, falls die beiden Damen Hoxton und. Sclater sie beobachteten.
Als sie den Hörer abhob, erschienen vor der Telefonzelle zwei junge Männer, die sich angeregt unterhielten und sich so aufbauten, daß nur Lady Agatha die Läufe ihrer Handfeuerwaffen erkennen konnte... *** Kathy Porter wußte nicht mehr als ihre Chefin oder Butler Parker. Sie war tatsächlich auf die beiden Archivdamen Kate Packers und Rose Tanner angesetzt worden und hatte ebenfalls Maske gemacht. Die Sekretärin und Gesellschafterin der Lady war jetzt eine etwas müde und abgearbeitet aussehende Hausfrau, deren Haushaltsgeld nicht besonders groß sein konnte. Sie trug einfache, unmodische Schuhe, einen billigen Plastikmantel und hatte sich ein Kopftuch umgebunden. Das Einkaufsnetz an ihrer linken Hand war mit Gemüse gefüllt. Kathy Porter bewegte sich in der Dante Road, die Parker bereits durchschritten hatte. Vor ihr gingen die beiden Archivangestellten Kate Packers und Rose Tanner. Erstaunlicherweise trugen auch sie je eine wohlgefüllte Plastiktasche. Die beiden Frauen bewohnten gemeinsam eine kleine Wohnung in der Dante Road. Sie befand sich im Erdgeschoß eines schmalbrüstigen, zweistöckigen Hauses, das einen abweisenden Eindruck machte. Die Archivdamen redeten intensiv miteinander und merkten nicht, daß sie verfolgt wurden. Sie hatten inzwischen ihr Haus und ihre Wohnung betreten und dachten nicht daran, die Vorhänge vor den Fenstern zu schließen. Kathy Porter ging gelassen weiter, als vor diesem Haus ein Toyota erschien, dem zwei Männer entstiegen. Sie machten einen sehr amtlichen Eindruck. Kathy Porter sah ihnen sofort an, daß sie zur Polizei gehörten. Sie läuteten an der Tür, wiesen sich aus und betraten dann die Wohnung. Erst jetzt wurden die Vorhänge zugezogen und versperrten jede, Sicht. Kathy Porter sah sich die Auslagen einiger Geschäfte an und brauchte nicht lange zu warten, bis die Männer wieder aus dem Haus kamen mit enttäuschten Gesichtern. Offenbar hatten sie nicht gefunden, wonach sie suchten. Natürlich blieb Kathy Porter in der Nähe der Wohnung. Sie wollte die weiteren Reaktionen der Frauen abwarten. Blieben sie in ihrer Wohnung, oder würden sie sie bald Hals über Kopf verlassen? Nach etwa fünf Minuten traten Kate Packers und Rose Tanner aus dem Haus. Sie hatten kein Taxi bestellt, wollten also nicht weit weg, hatten aber wieder ihre Plastiktaschen dabei und schritten schnell aus. Kathy hatte sich nicht getäuscht. Nach zehn Minuten befanden die beiden Frauen sich bereits in der nahen Hampton Street und verschwanden in einem dreistöckigen Haus. Kathy Porter wurde von einem älteren Rentner unabsichtlich angerempelt. Sie wollte schon weitergehen, als sie plötzlich ihren Namen hörte, allerdings nur leise. Sie ließ sich natürlich nichts anmerken und blieb vor der Auslage eines Geschäftes stehen. Der Rentner interessierte sich ebenfalls für die feilgebotenen Waren.
»Sie sind alle oben in Mr. Hardings Wohnung«, sagte der Mann, »Norma Genta, Jane Hoxton, Bette Sclater, Kate Packers und Rose Tanner.« »Haben Sie Mylady gesehen?« fragte Kathy Porter besorgt. »Ich muß leider bedauern«, erwiderte Parker. »Mylady scheint den Anschluß verpaßt zu haben.« »Hoffentlich nur das, Mr. Parker. Sollten wir nicht in die Kennington Lane gehen? Irgendwie habe ich plötzlich ein ungutes Gefühl. Ich kann mir nicht anders helfen.« »Sie drücken genau das aus, Miß Porter, was meine bescheidene Wenigkeit bedrückt«, erwiderte der angebliche Rentner. »Ich denke, man sollte auf weitere Tarnung verzichten und den Weg gemeinsam zurücklegen.« *** »Was soll dieser Unsinn?« fragte Lady Simpson gereizt, als sie aussteigen mußte. Die Fahrt in dem Morris hatte etwa fünfzehn Minuten gedauert und man war noch jenseits der Themse geblieben. Der Morris stand jetzt in einer fast leeren Halle, deren Torflügel gerade von einem dritten Mann geschlossen wurden. Lady Agatha fand, daß er recht interessant aussah. Er trug die Uniform eines Marinesoldaten aus der Zeit Nelsons und sah darin sehr echt aus. »Ob Unsinn oder nicht, werden Sie noch rechtzeitig begreifen«, sagte einer der beiden jungen Männer, die sie gebracht hatten. Er blieb in achtungsvoller Entfernung von Lady Simpson stehen und richtete den Lauf seiner Waffe auf sie. »Das Tribunal erwartet Sie, Mylady!« Einkaufsnetz an ihrer linken Hand war Detektivin verdutzt. »Sie sind nicht zu verkennen«, sagte der zweite junge Mann und lächelte dünn. »Ihre Maske ist zwar gut, aber sie reicht nicht aus, uns Sand in die Augen zu streuen.« »Ich soll vor dieses komische Tribunal gestellt werden?« »Sie sind bereits einmal gewarnt worden«, meinte der erste junge Mann. »Sie haben ja nicht begreifen wollen, daß das hier kein Spiel ist. Jetzt werden Sie mit einer Anklage und Verurteilung rechnen müssen.« Agatha Simpson hatte größte Lust, mit ihrem kleinen Handkoffer zuzuschlagen, doch ihr Verstand war dagegen. Gegen die Schußwaffen der beiden Gangster hatte sie keine Chance. Gut, man würde sie sicher nicht sofort töten, aber die resolute Sechzigerin war nicht erpicht darauf, angeschossen zu werden. »Und wer leitet das Tribunal?« fragte sie, auf diese Bezeichnung eingehend. »Da entscheidet immer das Los, Mylady«, sagte der zweite Mann. »Kommen Sie jetzt, gehen Sie voraus, da drüben führt 'ne Treppe nach unten! Die wartet auf Sie!« Agatha Simpson war gereizt und verärgert. Man hatte ihre Maske durchschaut, das allein brachte sie in Rage. Darüber hinaus hatte man sie wie eine blutige Anfängerin abgefangen. Das schmerzte tief und verletzte ihre Eitelkeit.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als dem Befehl zu folgen. Sie stieg über die Betontreppe hinunter in einen Vorkeller und wurde von einem Mann in Empfang genommen, der wie ein schwedischer Reiter aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges gekleidet war. Er trug oberschenkelhohe Stulpenstiefel aus Leder, ein derbes Wams und hielt einen Spieß in Händen, dessen Spitze auf sie gerichtet war. Die Lady mußte weiter gehen durch eine bereits geöffnete Tür und landete in einem fensterlosen, großen Keller, der fast einem Saal glich. Die Wände bestanden aus nacktem Mauerwerk, vor dem an der Stirnseite ein langer Eichentisch stand, der auf jeder Auktion für Antiquitäten einen guten Preis geholt hätte. So echt und alt war er. Vor diesem Tisch stand ein Armsessel, ebenfalls alt und dunkel. Agatha Simpson durfte darauf Platz nehmen und hatte sich in Geduld zu fassen. Die beiden jungen Männer hinter ihr drückten die Mündungen ihrer Waffen gegen die Schulterblätter der älteren Dame und erstickten so jede Aktivität im Keim. »Mr. Parker und Miß Porter haben Sie wohl nicht erwischt, wie?« erkundigte Lady Simpson sich und nahm ohne Bedenken den Kopf herum. Angst war ihr nicht anzusehen. »Sie werden freiwillig kommen«, sagte der schwedische Reiter, der neben dem langen Eichentisch Aufstellung genommen hatte. »Gott, sind Sie eingebildet«, raunzte die ältere Dame. »Wer hat diesen verrückten Zauber eigentlich aufgezogen? Ist es dieser Archivleiter Harding?« »Stellen Sie jede Frage, die Ihnen in den Sinn kommt, Lady, eine Antwort werden Sie nicht erhalten!« Der schwedische Reiter lächelte ironisch und strich sich den Schnauzbart, der wohl nicht ganz echt war, sondern nur mit Mastix angeklebt. »Sie glauben doch nicht im Ernst daran, daß Sie die Tribunalmasche durchziehen können, oder?« fragte die kaum einzuschüchternde Dame gereizt weiter. »Okay, der Trick ist nicht schlecht, das räume ich ein, aber die Polizei ist auch nicht gerade schlecht!« Der schwedische Reiter antwortete nicht, denn er wandte sich ab und nickte einem Römer zu, der in einer weißen Toga erschien und Lady Simpson übersah. Die beiden Männer flüsterten miteinander. »Die ersten Schwierigkeiten, wie?« höhnte die ältere Dame und ... stöhnte plötzlich. Es handelte sich um ein Geräusch, das in Röcheln überging. Die Lady brach nach vorn und schien einen Herzfanfall zu haben. Die beiden jungen Männer hinter ihr benahmen sich relativ hilfsbereit und kümmerten sich um die ältere Dame. Doch das hätten sie besser nicht getan, denn Lady Agatha befand sich wieder mal in Höchstform. *** »Nein, noch keine Nachricht«, sagte Josuah Parker, als er den Chief-Superintendent ins Haus ließ und dann in den Salon führte. »Miß Porter und meine
bescheidene Wenigkeit warten verzweifelt, wenn ich es so umreißen darf, auf einen Telefonanruf.« »Sie dürfte von diesen Tribunalgangstern erwischt worden sein«, antwortete McWarden. »Davon muß man leider ausgehen, Sir.« »Man wird sie natürlich nicht sofort umbringen«, tröstete der Chief-Superintendent den Butler. »Aber Lady Agatha wird wohl als Druckmittel eingesetzt.« »Dies entspricht der Hoffnung, die zu hegen ich mir erlaube«, entgegnete Josuah Parker. »Die Gangster lassen sich allerdings erstaunlich viel Zeit. Seit Myladys Verschwinden sind inzwischen zwei Stunden verstrichen.« »Man will Sie weich kochen, Mr. Parker.« »Ich muß einräumen und gestehen, Sir, daß meine Person sich diesem Aggregatzustand schon sehr genähert hat«, meinte Parker. »Werden Mr. Harding und die fünf Damen noch überwacht?« »Sie hocken alle in Hardings Wohnung. Immer noch. Was sie dort treiben, weiß ich natürlich nicht.« »Könnten sie das Haus vielleicht heimlich verlassen haben, Sir?« »Falls ja, dann nur durch einen unterirdischen Gang«, meinte McWarden. »Ich habe nämlich den ganzen Block umstellen lassen. Glauben Sie, daß Harding der Haupttäter ist?« »Ich möchte diese Frage rundheraus verneinen, Sir. Mr. Harding hat nicht das Format, mit Gangstern umzugehen.« »Sie könnten ihn inzwischen längst kalt gestellt und unter Druck gesetzt haben.« »Ein Mr. Harding, Sir, ein Archivleiter seines Zuschnitts, würde kaum darauf kommen, sein umfangreiches Wissen verbrecherisch zu nutzen.« »Und wenn man ihn erpreßt?« »Selbst dann würde Mr. Harding sich umgehend an die zuständigen Behörden wenden«, erklärte Parker mit Nachdruck. »Darf ich übrigens fragen, was die Damen in ihren Plastiktaschen hatten?« »Hunde- und Katzenfutter, Mr. Parker. Ja, sehen Sie mich nicht so ungläubig an!« »Darf ich noch mal wiederholen, Sir: Hunde- und Katzenfutter?« »Richtig, Mr. Parker!« McWarden nickte. »Alle fünf Frauen wurden telefonisch zum Tower bestellt und trafen dort ein, als ein paar ausländische Busse ihre Touristen ausspuckten. Sie wissen ja, wie es dann dort zugeht, ein schrecklicher Betrieb, ein scheußliches Durcheinander.« »Unter welchem Vorwand wurden die Damen Centa, Hoxton, Sclater, Packers und Tanner zum Tower bestellt, Sir? Ließ sich darüber etwas in Erfahrung bringen?« »Doch, natürlich, Mr. Parker. Der jeweilige Anrufer behauptete, Mr. John Paul Harding würde bedroht und befinde sich in Gefahr.« »Und daraufhin fuhren die fünf Frauen so ohne weiteres zum Tower?« Kathy Porter, die sich ebenfalls im Salon befand, schüttelte verwundert den Kopf.
»Sie scheinen Harding zu mögen«, entgegnete McWarden lächelnd. »Sie dürfen nicht vergessen, daß er Junggeselle ist. Die fünf Damen rechnen sich bei ihm vielleicht irgendwelche Chancen aus.« »Und ließen sich dann am Tower die Plastiktüten in die Hand drücken?« Kathy Porter schüttelte erneut den Kopf. »Und zwar von wem, wenn ich diese Frage gleich anschließen darf«, warf Josuah Parker ein. »Die Aussagen stimmen überein.« Der Chief-Superintendent hob hilflos die Schultern. »Jede der fünf Frauen wurde ganz kurz von einem Mann angesprochen, der ihnen die Plastiktüten in die Hand drückte und sagte, in den Packungen würden sich Akten befinden, die unbedingt zurück ins Archiv müßten, wenn Harding nichts passieren solle. Alle fünf Frauen erzählten übereinstimmend diese verrückte Geschichte.« »An der natürlich nichts stimmt, oder?« fragte Kathy Porter sicherheitshalber. »Nichts, aber auch gar nichts«, bestätigte McWarden. »Wie gesagt, Packungen mit Hunde- und Katzenfutter. Das ganze war ein raffiniertes Ablenkungsmanöver, um die fünfundvierzigtausend Pfund in aller Ruhe von Gladson einstreichen zu können. Ich gebe es offen zu, wir sind aufs Kreuz gelegt worden. Die Tribunalgangster haben darauf gesetzt, daß wir die fünf Archivdamen beobachten würden.« »Und wo, wenn man fragen darf, Sir, hielt Mr. Harding sich zu dieser Zeit der Geldübergabe auf?« erkundigte sich Parker. »Er war ins Kriegsministerium beordert worden, wo man natürlich von nichts wußte. Harding wurde auf Schritt und Tritt beobachtet. Ein Irrtum ist da ausgeschlossen.« »Könnten die beiden Gangsterchefs Serge Mondy und Desmond Lake sich nicht doch eingeschaltet haben?« meinte Kathy Porter nun. »Oder haben sie von Beginn an diese ganze Sache aufgezogen und Harding als Zulieferer von Geschichtsunterlagen benutzt?« »Sie können sich darauf verlassen, Miß Porter, daß ich dieser Frage gründlich nachgehen werde«, versprach McWarden und nickte grimmig. »Im Gegensatz zu Ihnen, Mr. Parker, halte ich Harding nämlich gar nicht für so unschuldig, wie Sie es anzunehmen scheinen. Vielleicht haben wir es mit einem raffinierten und ausgekochten Burschen zu tun.« *** Das Köfferchen enthielt zwar keinen »Glücksbringer«, dafür aber wies es scharfe Kanten auf. Lady Agatha tätigte mit diesem Transportgerät eine Art Rundumschlag und erwischte hart die beiden unvorbereiteten jungen Männer. Sie stöhnten und beschäftigten sich mit ihren Schrammen und Platzwunden. Der erste junge Mann
litt an Nasenbluten und an einer gewissen Deformation seines Riechorgans, der zweite hatte Ärger mit einem leicht verrenkten Unterkiefer. Der Marinesoldat aus der Zeit Nelsons zog einen Säbel und lief damit auf Lady Simpson zu, was sie jedoch überhaupt nicht beeindruckte. Die ältere Dame, eine geübte Golfspielerin und Bogenschützin, verfügte über Augenmaß, Timing und Kraft. Sie warf dem Marinesoldaten den schweren Armsessel im richtigen Moment vor die Kniescheiben, was diese recht übel nahmen. Der Mann der Vergangenheit brüllte auf und ließ seinen Säbel fallen. Er befaßte sich mit den Kniescheiben und machte einen tiefen, respektvollen Bückling vor Lady Simpson, der allerdings nicht aus Höflichkeit geboren war. Es war der stechende Schmerz in jener Zone seiner Anatomie, der ihn dazu veranlaßte. Der schwedische Reiter und der Mann in der römischen Toga machten einen leicht verwirrten Eindruck. Mit diesem Totaleinsatz der älteren Dame hatten sie auf keinen Fall gerechnet. Doch sie ahnten nicht, wie sehr sie sich noch wundern würden. Lady Agatha hatte nämlich keineswegs die Absicht, ihre Aktivitäten jetzt einzuschränken. Mit erstaunlicher Schnelligkeit bückte sie sich nach dem Säbel des Marinesoldaten und nutzte ihn für ihre Zwecke. Mit der flachen Klinge drosch sie auf den Seemann ein und traf dessen Genick. Der Mann tat einen tiefen Schnaufer und legte sich flach auf den Boden. Anschließend schwang die Lady den Säbel und drang auf den schwedischen Reiter ein, der ebenfalls ein Hieb- und Stichinstrument trug. Es handelte sich um einen langen Stoßdegen sehr solider Konstruktion, den er allerdings nicht so schnell aus der Scheide bekam, wie es notwendig gewesen wäre. Agatha Simpson hatte ihn bereits erreicht und schlug ihm mit dem Säbel auf den zerrenden Oberarm. Der Mann brüllte auf und verzichtete auf weitere Versuche, an seinen Stoßdegen zu kommen, zumal sein Wams sich blutig färbte. Der Römer raffte seine Toga hoch, um schneller die Flucht ergreifen zu können. Er hatte nicht die mindeste Absicht, sich mit dieser rasenden Frau anzulegen. Sein einziges Bestreben war es, sich möglichst schnell abzusetzen. Er übersah dabei den schweren Zinnleuchter, der immerhin über drei Arme verfügte. Die Lady hingegen übersah ihn keineswegs. Sie hielt ihn bereits in der linken Hand und holte zum Wurf aus. Ihre trainierten Armmuskeln wurden mit diesem schweren Gegenstand ohne weiteres fertig. Er schien für sie aus Kunststoff zu bestehen. Der flüchtende Römer hatte schon fast die rettende Tür erreicht, als der schwere Kerzenleuchter ihn erreichte. Er landete auf der Körperzone, die aus Genick und Schulterblättern gebildet wird. Die Wucht glich einem soliden Ko- Schlag. Der Römer wurde gegen die linke Wand geschleudert und schrammte mit der Nase an ihr herunter. Wenig später blieb er betäubt auf dem Boden hocken und merkte nicht, daß eine der brennenden Kerzen seine Toga in Flammen setzte.
Als er es merkte, wurde er unglaublich schnell. Er richtete sich auf, geriet in Panik und rannte wieder in den großen, saalartigen Keller zurück. Dabei kam er ungewollt in die Nähe der älteren Dame, die ihn freudig in Empfang nahm. Sie benutzte den Knauf des Säbels als eine Art Schlagring und setzte ihn auf die linke Wange des Mannes, der daraufhin auf dem langen Eichentisch landete und ein gutes Stück über die Platte rutschte. Dabei entwickelte er einiges Glück, denn die Flammen wurden förmlich ausgewischt. Lady Agatha warf einen Blick in die Runde, nickte zufrieden und ging dann zur Tür. Sie langweilte sich bereits und hatte die Absicht, Mr. Parker zu verständigen. Mit Kleinigkeiten gab sie sich grundsätzlich nicht ab. Es war Mr. Parkers Aufgabe, diese Subjekte in Gewahrsam zu nehmen. Die Detektivin schloß die Tür hinter sich, entdeckte den Schlüssel im Schloß, sperrte ab und schritt dann weiter nach oben. Sie war mit dem Erfolg des Nachmittags durchaus zufrieden. *** Chief-Superintendent McWarden strahlte. Er hatte an der Tür des altehrwürdigen Hauses in Shepherd's Market geläutet und stand jetzt Parker gegenüber. »Es ist nicht zu glauben«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Sie hätten das sehen sollen, Mr. Parker! Mit fünf ausgewachsenen Männern hat sie es aufgenommen, das muß man sich mal vorstellen. Mit fünf Männern! Und wie sie die zugerichtet hat!« »Mylady kann fürchterlich sein«, antwortete Josuah Parker. »Konnten schon erste Aussagen gewonnen werden?« »Nichts, und das ist die Wahrheit.« McWarden schüttelte den Kopf. »Die fünf Männer stehen alle noch unter einem schweren Schock. Und ich kann's sogar verstehen ...« »Wenn ich Sie jetzt zu Mylady führen darf, Sir?« Parker schritt voraus und meldete McWarden an. Agatha Simpson befand sich im Salon und nahm eine Zwischenmahlzeit zu sich. Nach den Anstrengungen im Keller des Geschichtstribunals brauchte sie eine kleine Ergänzung ihres Energievorrats. »Nun, mein Lieber?« fragte sie McWarden und gab sich überraschend freundlich. »Ich hoffe, Sie hatten keine Schwierigkeiten, diese Lümmel hinter Schloß und Riegel zu bringen.« »Nicht die Spur, Mylady«, antwortete McWarden. »Nach der ärztlichen Versorgung sitzen die fünf Gangster in Untersuchungshaft. « »Und haben inzwischen ein Geständnis abgelegt?« »Dazu sind sie noch nicht in der Lage, Mylady«, entgegnete der Chief-Superintendent. »Darf ich Ihnen gratulieren? Sie haben wunderbare Arbeit geleistet.«
»Im Gegensatz zu Ihnen, lieber McWarden«, antwortete Lady Agatha. »Warum nehmen Sie sich nicht diesen Archivleiter Harding vor? Warum setzen Sie diese fünf Frauen nicht unter Druck?« »Die gesetzlichen Handhaben, Mylady.« McWarden hob die Schultern. »Darf ich darauf aufmerksam machen, daß die eben erwähnten Personen ein Alibi für die Zeit haben, als man Sie in diesem ehemaligen Garagenkeller festhielt?« »Das besagt doch überhaupt nichts«, raunzte die ältere Dame, die schon nicht mehr freundlich war. »Dieser John Paul Harding läßt natürlich gewisse Kreaturen für sich arbeiten.« »Konnte die Identität der fünf Gangster wenigstens festgestellt werden?« schaltete Josuah Parker sich ein. Er meinte die Tribunalmitglieder. »Die Namen sind sicher nicht interessant«, erwiderte der Chief-Superintendent, »aber wir wissen, wer sie sind. Es handelt sich um fünf kleine Gauner, ich würde sagen, sie gehören zur bescheidenen Mittelklasse der Unterwelt.« »Die doch mit einiger Gewißheit einen Vordenker haben, Sir«, fragte Parker weiter. »Sie arbeiten, oder besser gesagt, sie arbeiteten für einen Ray Pounds, Mr. Parker«, sagte McWarden. »Ein Mann, der zwar vorbestraft ist, dem man aber seit geraumer Zeit nichts mehr nachweisen kann.« »Ray Pounds?« wiederholte Lady Agatha diesen Namen und schaute ihren Butler an. Sie tat völlig ahnungslos. »Kennen wir ein Individuum solchen Namens, Mr. Parker?« »Dieser Name erinnert mich im Augenblick nur an eine Währungseinheit, Mylady«, erwiderte Parker ausweichend. Er wie auch Agatha Simpson wußten selbstverständlich genau, wer dieser Ray Pounds war. Er hatte zu den vier Kuttenträgern gehört, die Gäste im Bootshaus der Lady gewesen waren. »Ray Pounds, das wissen wir inzwischen, ist der Chef einer kleinen Werbeagentur in South Bank«, redete McWarden genußvoll weiter. »Leider ist er wie vom Erdboden verschwunden, oder sollte er sich inzwischen rein zufällig bei Ihnen gemeldet haben?« »Ist uns davon etwas bekannt?« Lady Simpson sah ihren Butler fragend an. »Wurde erwähnter Mr. Pounds bereits erkennungsdienstlich behandelt, Sir?« Parker reagierte mit einer Gegenfrage und sah nun seinerseits den ChiefSuperintendent an. »Ein paar kleine Vorstrafen in der Vergangenheit. Betrug, Nötigung und in zwei Fällen leichte Körperverletzungen, aber wie gesagt, Pounds ist seit gut anderthalb Jahren völlig astrein und sauber.« »Eine kleine Werbeagentur also hat er«, wiederholte die ältere Dame und tat ehrlich überrascht. »Kleine Werbeagentur! Wieso kann er wenigstens fünf Mitarbeiter bezahlen? Wovon lebt diese kleine Werbeagentur?« »Ray Pounds' Agentur vertreibt Koch- und Bastelbücher«, entgegnete der ChiefSuperintendent. »Darüber hinaus verkaufen seine Werber Abonnements für Magazine und Zeitungen.«
»Mehr konnte über Mr. Pounds nicht in Erfahrung gebracht werden?« wollte Parker genau wissen. Er konnte sich gut vorstellen, daß McWardens Polizeiapparat inzwischen wesentlich mehr an Details festgestellt hatte. »Er hat eine Schwester, Mr. Parker. Sie heißt Shirley und ist mit einem Mann namens Dale Pocock verheiratet.« »Und welchem Beruf geht besagter Mr. Pocock nach?« Parker spürte, daß der Chief-Superintendent diesen Hinweis nicht ohne Grund geliefert hatte. »Kaum der Rede wert, sich darüber Gedanken zu machen«, wehrte McWarden gespielt desinteressiert ab. »Pocock ist so eine Art Einkaufsleiter für staatliche Kantinen. Um's gleich vorwegzunehmen, gegen ihn lag und liegt überhaupt nichts vor. Mr. Dale Pocock hat sicher nur rein zufällig mit der Getränkefirma Brett Netway zu tun gehabt, denn von irgendwoher muß Pocock ja schließlich Mineralwasser und Fruchtsaftgetränke bekommen, oder?« Der Chief-Superintendent erhob und verabschiedete sich von Lady Simpson. Nachdem Parker ihn an die Tür gebracht hatte, blieb McWarden noch einen Moment im Vorflur stehen. »Sollte Pounds sich melden, Mr. Parker«, bat er lächelnd, »dann informieren Sie mich doch möglichst umgehend, ja? Sie haben hoffentlich mitbekommen, daß ich an einer Kooperation nach wie vor interessiert bin. Was ich Ihnen da über Shirley Pounds und ihren Ehemann Pocock erzählt habe, ist eigentlich amtsintern. Vergessen Sie möglichst schnell, daß diese Informationen von mir stammen!« *** »Du liebe Zeit, wie lange wollen Sie meine Gastfreundschaft denn noch strapazieren?« fragte Lady Simpson, als sie das »Gästezimmer« betreten hatte. Es befand sich noch unterhalb der uralten Gewölbe, die einst zu einer Abtei gehört hatten. Das altehrwürdige Fachwerkhaus in Shepherd's Market stand auf diesen Gewölben, die manches Geheimnis bargen. Ein noch größeres Geheimnis aber waren die »Gästezimmer« darunter, die nur auf raffiniert-geheimnisvollen Wegen zu erreichen waren. Josuah Parker hatte seinerzeit für den Ausbau der Räume gesorgt. Die betreffenden Bauarbeiter aus Sizilien lebten längst wieder auf ihrer sonnigen Insel und waren der festen Ansicht, diese Arbeiten für einen privaten Atombunker ausgeführt zu haben. Der Butler hatte diese Bauspezialisten partieweise einfliegen lassen und dafür gesorgt, daß sie stets nur Teilbauten durchführten. Sie wußten also überhaupt nicht, wie das Gesamtbild dieser Anlage wirklich aussah. Der Gast, den Lady Simpson ein wenig unfreundlich angefahren hatte, hieß Ray Pounds und gehörte zu den vier Schein-Mönchen, die sich mit Schußwaffen unbeliebt gemacht hatten. Drei von ihnen saßen inzwischen in Untersuchungshaft und warteten auf eine Anklage wegen akuter Majestätsbeleidigung. Der Vierte, eben Ray Pounds, war in das Haus der älteren Dame eingeladen worden und bewohnte nun diesen fensterlosen, aber freundlich eingerichteten Raum, in dem es
ihm an nichts fehlte. Ray Pounds verfügte sogar über ein modern eingerichtetes Badezimmer und hatte alle Möglichkeiten, seinen Körper zu pflegen. Er saß auf dem Rand seines Bettes und starrte Lady Simpson wütend an. Von Gastfreundschaft konnte seiner Ansicht nach überhaupt keine Rede sein, denn er fühlte sich hier gegen seinen Willen festgehalten. »Sie werden mit 'ner saftigen Anzeige rechnen müssen«, sagte er wütend. »Was Sie hier mit mir treiben, ist Kidnapping und Freiheitsberaubung.« »Dagegen möchte ich aus grundsätzlichen Erwägungen Einspruch erheben«, erwiderte Josuah Parker, der Lady Agatha begleitet hatte. »Aus irgendwelchen biologischen Gründen haben Sie das gehalten, was man einen Tief- und Dauerschlaf nennt, Mr. Pounds. Sie waren überhaupt nicht ansprechbar.« »Weil man mir was in den Kaffee gegeben hat«, brauste Ray Pounds auf. »Ich weiß doch, wie man sowas ... Äh, kann ich jetzt also gehen?« »Sie werden noch heute exmittiert werden, Mr. Pounds«, erwiderte der Butler förmlich. »Hoffentlich wird Ihre Schwester sich über Ihre Rückkehr freuen.« »Meine Schwester?« reagierte - Ray Pounds vorsichtig. »Mrs. Shirley Pocock«, präzisierte Parker. »Sie werden doch hoffentlich nicht Ihr Gedächtnis verloren haben, Mr. Pounds? Dies würde meine bescheidene Wenigkeit doch sehr betrüben. Sie ist, wenn ich erinnern darf, mit dem Leiter der Einkaufszentrale für Staatliche Einrichtungen verheiratet. Mr. Dale Pocock! Sollte dieser Name Ihnen tatsächlich entfallen sein?« »Mann, strengen Sie sich mal ein bißchen an«, ermunterte die resolute Dame den Mann, der auf totale Vorsicht geschaltet hatte. »Dale Pocock! Er ist mit Ihrer Schwester Shirley verheiratet. Nun, endlich ein Licht aufgegangen? Pocock ließ sich auch von einem gewissen Brett Netway mit Getränken beliefern, aber vielleicht ist das unwichtig für Sie.« »Brett Netway?« Ray Pounds hüstelte leicht. Er hütete sich, mehr dazu zu sagen. »Er und sein Mitarbeiter Harry sitzen längst in Untersuchungshaft«, zählte Agatha Simpson genußvoll weiter auf. »Wer noch, Mr. Parker? Da sind doch etliche Männer zusammengekommen, nicht wahr?« »Die Herren Dan Foulder und Oscar Pritting«, erinnerte Butler Parker höflich. »Sie arbeiteten als Sekretäre oder Assistenten der Herren Serge Mondy und Desmond Lake.« »Von anderem Fußvolk ganz zu schweigen«, meinte die Lady wegwerfend, »man kann sich ja nicht- die Namen unbedeutender Kleingangster noch merken, wo käme man denn da hin!« »Das Tribunal der Geschichte, falls Sie je davon gehört haben sollten, Mr. Pounds, ist ziemlich dezimiert worden«, meinte Butler Parker gemessen. »Jetzt wird nur noch nach dem Mann gesucht, der das alles initiiert hat, wenn ich es so pauschal umschreiben darf.« »Tribunal der Geschichte? Kommen Sie mir bloß nicht wieder mit diesem Unsinn! Ich kenne sowas überhaupt nicht.«
»Etwas mehr und bessere Manieren«, drohte die ältere Dame und betrachtete sich angelegentlich ihre rechte Handfläche. »Oder möchten Sie von mir geohrfeigt werden? Nicht? Schade, junger Mann! Nun, Sie sind also zu Ihrem Vergnügen als Mönch verkleidet in der Stadt herumgelaufen, nicht wahr?« »Aus mir bekommen Sie kein Wort heraus.« Ray Pounds schüttelte den Kopf. »Weiß das auch der Gerichtsvorsitzende?« schaltete sich Josuah Parker interessiert ein. »Könnte er Sie unter Umständen für einen Verräter halten, Mr. Pounds, wenn man sich plötzlich mit ihm beschäftigt? Da Sie bisher nicht aufgetaucht sind, muß er doch fast als sicher unterstellen, daß Sie die Fronten gewechselt haben, um Ihre Haut zu retten.« »Sie wollen mich nur bluffen. Wer sollte von mir so denken?« Ray Pounds hüstelte wieder nervös. Er hatte die Andeutungen des Butlers gut verstanden. »Nun, wie wäre es mit Mr. John Paul Harding?« sagte die Detektivin. »Berührt mich nicht, wer soll das sein?« »Oder vielleicht Ihr Schwager Pocock?« tippte Josuah Parker an. »Wie würde er reagieren, wenn wir beiläufig einstreuen, Sie hätten sich als sehr aussagefreundlich gezeigt, junger Mann?« bluffte Lady Agatha. »Jeder, der mich auch nur einigermaßen kennt, weiß verdammt genau, daß ich nie singen würde«, antwortete Ray Pounds. »Da mache ich mir keine Sorgen.« »Gut, lassen wir es darauf ankommen, Mr. Parker. Jetzt brauchen wir uns keine Vorwürfe machen, falls ihm etwas zustößt. Fahren wir zu diesem Pocock und erzählen wir ihm, warum und wieso das Tribunal derart dezimiert werden konnte. Unser Gast hier hat ja nichts zu befürchten, wie er gerade sagte.« *** »Hier spricht der Vorsitzende des Tribunals«, sagte eine herrische, dennoch undeutliche Stimme, als Josuah Parker abgehoben hatte. Man befand sich wieder im Salon des Hauses und wollte sich auf den Weg machen, Mr. Dale Pocock einen Besuch abzustatten. »Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie ein wenig verärgert sind?« erkundigte sich Parker höflich. »Ihr Todesurteil und das Lady Simpsons sind verhängt worden«, sagte die herrische Stimme, der trotz der Undeutlichkeit eine gewisse Gereiztheit anzuhören war. »Diese beiden Urteile werden umgehend vollstreckt.« »Verfügen Sie denn noch über weitere Mitarbeiter und Gerichtsbeisitzer?« fragte der Butler und tat überrascht. »Sie ahnen nicht, wie gut wir noch besetzt sind«, erwiderte der GerichtsVorsitzende des Tribunals und gab sich optimistisch. »Okay, ich räume ein, daß Sie bisher erfolgreich waren. Ich habe Lady Simpson und Sie unterschätzt.« »Überschätzen Sie hingegen sich nicht ein wenig?« »Das lassen Sie meine Sorge sein, Mr. Parker.«
»Wie Sie meinen, Mr. Pocock«, entgegnete Parker. »Oder sollte ich mit Mr. Harding sprechen?« »Pocock... Harding? Unwichtige Leute!« Der Gerichtsvorsitzende des Geschichtstribunals lachte spöttisch. »Sie scheinen ja auf einer völlig falschen Spur zu sein.« »Die meiner bescheidenen Wenigkeit von Mr. Ray Pounds vorgegeben wurde«, bluffte Parker weiter, während die Lady neugierig zuhörte. Über den eingeschalteten Verstärker bekam sie jedes Wort mit. »Mr. Pounds war so freundlich, seine Kooperation anzubieten.« »Und wird Sie nach Strich und Faden beschwindeln. Er weiß doch überhaupt nicht, was gespielt wird. Suchen Sie nur weiter, Mr. Parker, viel Zeit haben Sie ohnehin nicht mehr!« »Mr. Pounds dürfte das sein, was man eine Schlüsselfigur nennt«, widersprach Parker. »Darf ich daran erinnern, daß seine Firmenwerber als verkleidete Mönche Angst und Schrecken verbreiten wollten? Darf ich an fünf weitere Herren seiner Firma erinnern, die inzwischen in Untersuchungshaft sitzen? Diese Herren hatten sich als Marinesoldat, schwedischer Reiter, Römer und moderne Gangster Lady Simpson widmen wollen. Sie kamen nicht mehr dazu, ihre Absichten in die Tat umzusetzen. Ray Pounds' Werbeagentur dürfte das Rückgrat Ihres Tribunals gewesen sein. Dagegen sind die Herren Brett Netway, Dan Foulders und Oscar Pritting nur noch als Mitläufer einzustufen, von anderem Fußvolk ganz zu schweigen, Mr. Pocock.« »Okay, halten Sie sich an diesen Pocock und machen Sie ihm das Leben sauer.« Der Gerichtsvorsitzende am anderen Ende der Leitung lachte. »Wo steckt denn Ihr Informant, Mr. Parker? Warum traut er sich nicht, seine angeblichen Aussagen vor der Polizei zu machen?« »Mr. Pounds zieht es vor, etwas für seine Sicherheit zu tun«, entgegnete Josuah Parker gemessen, wie es seiner Art entsprach. »Er fühlt sich als Myladys Gast äußerst wohl, wie ich ohne Übertreibung behaupten möchte.« »Sie halten ihn fest, nicht wahr?« fragte der Gerichtsvorsitzende des selbsternannten Tribunals. »Nicht mehr«, schloß Parker. »Auf seinen Wunsch hin wird Mr. Ray Pounds noch innerhalb der kommenden halben Stunde zurück in seine Werbeagentur fahren, wo er ja auch seine Wohnung hat, wie Sie wissen.« Parker legte auf und sah fragend seine Herrin an. »Er weiß doch, daß das ein Bluff ist, oder?« fragte sie. »In der Tat, Mylady«, antwortete Josuah Parker, »dennoch muß er sich auf irgendeine Art und Weise darauf einrichten, daß Mr. Pounds tatsächlich seine Freiheit wieder gewinnt. Ich möchte geradezu behaupten, daß der Gerichtsvorsitzende sich in Zugzwang befindet.« »Dann habe ich ja noch einen recht netten Abend vor mir«, freute sich die ältere Dame. »Mr. Parker, treffen Sie alle erforderlichen Vorbereitungen, ich brauche etwas Bewegung!«
*** Butler Parker brauchte etwa zehn Minuten, bis Ray Pounds seinen Vorstellungen entsprach. Der Inhaber der Werbeagentur und Schwager des Mr. Dale Pocock war zwar nur eine Art Kleiderpuppe, aber sie sah dem Original verblüffend ähnlich. Parker hatte seinen Kostümfundus gesichtet und sich die entsprechenden Stücke herausgesucht. Die Kleiderpuppe stand auf einem schmalen Rollbrett und wurde von einer soliden Eisenstange gehalten. Parker hatte diesen Dummy, wie es in der Fachsprache heißt, keineswegs aus dem Moment heraus geschaffen. Die Schaufensterpuppe hatte ihm in der Vergangenheit schon manch wertvollen Dienst erwiesen. Und als leidenschaftlicher Bastler und Erfinder waren ihm noch einige bemerkenswerte Verbesserungen eingefallen. So ließen die Beine sich derart bewegen, als schritte die Puppe aus wie eine lebende Person. Ein sinnvoller Mechanismus sorgte für die richtigen Bewegungen. Parker hatte die Puppe in den kleinen Vorflur geschoben und ging dann zurück zum Wandschrank, um mittels Fernsehkamera über dem Eingang die nähere Umgebung in Augenschein zu nehmen. Das Bild auf dem Monitor war klar und deutlich. Das Licht des schon recht späten Nachmittages reichte aus, um Einzelheiten zu erkennen. Der rechteckige Platz, ebenfalls von Fachwerkhäusern umstanden, war leer, doch das hatte nichts zu besagen. Der Platz endete vor einer Durchgangsstraße, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es einen kleinen Park, dessen Eisengitter dicht mit Sträuchern bestanden war. Wenn sich dort ein Scharfschütze postierte, konnte er leicht und fast risikolos einen heimtückisch-tödlichen Schuß abfeuern. Josuah Parker öffnete die Haustür, sie sah ein wenig angejährt aus, doch es handelte sich tatsächlich fast um eine Art Tresortür, die selbst mit einer starken Sprengladung nicht zu knacken war. Sie öffnete sich, und Parker ließ die Puppe hinausrollen. Es kam genau so, wie er sich das vorgestellt hatte. Das >Plopp< klang unaufdringlich und harmlos und war noch leiser als das geschickte öffnen einer Sektflasche, doch das Geschoß war von tödlicher Wirkung. Es klatschte in die Brust der Puppe, die von der Wucht des Einschlages zurückgeschleudert wurde und dabei ihre Beine hoch in die Luft warf. Der Butler zog die tödlich getroffene Puppe zurück ins Haus und schloß wieder die Tür. »Damit dürfte Mr. Pounds erledigt sein«, sagte er und richtete die Puppe wieder auf. Er nickte seiner Herrin andeutungsweise zu. Agatha Simpson wandte sich um und musterte den wirklichen Ray Pounds spöttisch.
Dem Inhaber der Werbeagentur standen dicke Schweißperlen auf der Stirn. Er starrte auf die Puppe und dann auf das Loch in ihrer Brust, das mehr sagte als alle Hinweise und Erklärungen. »Sie können nun selbstverständlich unterstellen, Mr. Pounds, dieser Schuß sei von einem Mitarbeiter Myladys abgefeuert worden«, sagte Josuah Parker in seiner unnachahmlich höflichen Art. »Ein Mann Ihres Zuschnitts rechnet natürlicherweise mit einer Falle. Aber Sie können die Probe aufs Exempel machen, Mr. Pounds. Verlassen Sie das Haus ganz nach Belieben! Sie gehen hoffentlich davon aus, daß ein etwaiger Mitarbeiter Myladys nie scharf auf Sie schießen würde.« Während der Butler noch sprach, deutete er auf den Vorflur und die Haustür. Ray Pounds schien überhaupt nicht zugehört zu haben. Er starrte noch immer auf die Puppe. »Man hält Sie bereits für einen Verräter, junger Mann«, schaltete die ältere Dame sich ein. »Sie scheinen doch erheblich mehr zu wissen, als Sie zugeben wollen. Oder etwa nicht? Gehen Sie, gehen Sie endlich! Man soll mir nicht nachsagen, ich hätte Sie gegen Ihren Willen hier im Haus festgehalten.« Parker hatte den Inhaber der Werbeagentur ohne große Schwierigkeiten aus dem »Gästezimmer« hinauf ins Haus geholt. Er hatte dabei eine Kapuze über den Kopf des Mannes gestülpt, die Pounds jede Sicht genommen hatte. Nach einem Rundmarsch durch das Haus, die Treppen hinauf und wieder hinunter hatte Pounds jede Orientierung verloren und war nicht mehr in der Verfassung, die Lage dieses »Gästezimmers« zu bestimmen. »Mr. Parker, setzen Sie dieses lästige Individuum an die frische Luft«, ordnete die resolute Dame jetzt an. Sie benutzte damit einen alten Bluff, der in der Vergangenheit schon häufig Wirkung gezeigt hatte. »Wie Mylady befehlen.« Parker ging auf Pounds zu, der hochfuhr und dann entsetzt den Kopf schüttelte. »Nein, nicht«, stammelte er und hielt sich an den Lehnen des Sessels fest. »Mich bekommen keine zehn Pferde hier 'raus. Nie! Fassen Sie mich nicht an!« »Es gehört zu meinen Pflichten und Obliegenheiten als Butler dieses Hauses, Myladys Wünsche zu erfüllen«, entgegnete Josuah Parker. »Wenn ich also noch mal sehr höflich bitten darf, Mr. Pounds? Zwingen Sie meine bescheidene Wenigkeit nicht, Gewalt anzuwenden! Dies wäre mir Ungemein peinlich, wie ich Ihnen versichern darf . . .« *** Kathy Porter war unterwegs. Sie hatte das Haus der Lady bereits vor einer Stunde verlassen, etwa ein paar Minuten nach der Verabschiedung des Chief-Superintendent. Myladys Gesellschafterin und Sekretärin hatte Posten vor dem Kriegsmuseum bezogen und natürlich Maske gemacht. Sie war jetzt eindeutig eine schwedische Touristin, wie ihr aschblondes Haar und ihre Kleidung bewiesen. Sie schien auf
einen Bekannten zu warten, denn sie sah wiederholt auf die Armbanduhr, schlenderte auf dem Nebenweg auf und ab und war auch wohl ein wenig ärgerlich. Sie war übrigens nicht allein, denn auf dem Brook Drive stand ein großer Reisebus mit schwedischer Aufschrift, in dem bereits einige Touristen saßen, die sich inzwischen schon zur Weiterfahrt eingefunden hatten. Vor diesem Reisebus standen weitere Touristen, die sich unterhielten, lachten und Bier aus Dosen tranken. Sie alle schienen ein wenig angeheitert, was jedoch nicht aufdringlich oder unsympathisch wirkte. Kathy Porter machte auf einem schmalen Wirtschaftsweg schräg hinter dem Museum einen Personenwagen aus, der zielsicher auf das Basement des Museums zuhielt, um dann hinter einem Vorsprung zu verschwinden. Sie schlenderte über den wunderbar gepflegten Rasen näher an das Museum heran und interessierte sich sehr für diesen Wagen. Als sie den Vorsprung hinter sich gebracht hatte, entdeckte sie zwei Personen, die den Ford verließen. Sie hatten es eilig, in das Museum zukommen, das um diese Zeit bereits für Besucher geschlossen war. Leider schaffte sie es nicht mehr, die beiden Personen zu identifizieren, doch sie bekam noch mit, daß es sich um eine Frau und um einen Mann handelte. Der Wagen stand derart ungünstig, daß sie auch nicht das Kennzeichen ausmachen konnte. Sie mußte notgedrungen noch näher an den Wagen heran und passierte dabei eine Seitentür im Basement, auf die sie leider nicht sonderlich achtete. »Stehen bleiben!« sagte eine nervös klingende Männerstimme. »Ich schieße mit Schalldämpfer, wenn Sie nicht parieren! Schieben Sie sich rückwärts an die Tür 'ran, aber machen Sie keinen Unsinn!« Kathy Porter blieb nichts anderes übrig, als dieser Aufforderung nachzukommen. Sie tat, was die Stimme von ihr verlangte und ... sackte Sekunden später unter einem harten Schlag in sich zusammen. Bevor sie jedoch zu Boden fallen konnte, griffen starke Arme nach ihr und zerrten sie durch die Pforte, die sich unmittelbar darauf wieder schloß. Als sie wieder zu sich kam, achtete sie weniger auf die Schmerzen im Nacken. Sie ärgerte sich nämlich maßlos über ihren Leichtsinn. Zu schnell und zu unvorsichtig hatte sie die Tür im Basement passiert und dabei die üblichen Vorsichtsmaßnahmen außer acht gelassen. Die Quittung war auf dem Fuß gefolgt. Sie saß gefesselt auf einem Hocker und sah sich einem langen Tisch gegenüber, der gut zu einem Tribunal paßte, das allerdings noch nicht zu sehen war. Kathy drehte sich vorsichtig um. Zwei Männer in Kutten standen hinter ihr und hielten langläufige Pistolen in ihren Händen. »Gleich ist es soweit«, sagte der erste Mönch mit eindeutig verstellter Stimme. »Napoleon hat heute den Vorsitz«, fügte der zweite Mönch hinzu. »Seine Urteile fallen immer hart aus.« Auch die Stimme des zweiten Mönches war verstellt, wie Kathy Porter zu ihrer Überraschung heraushörte. Warum taten die beiden das? Was bezweckten sie damit?
Kathy erhielt einen Stoß gegen den Rücken, als Schritte zu hören waren. »Das Tribunal der Geschichte«, sagte der erste Mönch, dessen Stimme vor Aufregung fast schrill klang. »Erheben Sie sich!« Kathy stand auf. Sie kam sich vor wie in einem Panoptikum oder auf einem Kostümfest. Angeführt von Napoleon traten ein Pirat mit Augenklappe und ein spanischer Grande ein. Sie taten das feierlich und gravitätisch. Kathy konnte dennoch nicht lächeln, auch dann nicht, als die beiden Mönche um sie herumkamen und hinter dem Tisch Aufstellung nahmen. Die langläufigen Pistolen in ihren Händen redeten schließlich eine mörderisch-deutliche Sprache! *** »Sie sind zwar nur eine Kreatur Lady Simpsons und Parkers«, sagte Napoleon mit einer erstaunlich hohen, fast weiblichen Stimme, »doch Sie haben sich kritiklos vor den Wagen dieser beiden Täter spannen lassen. Das werden Sie zu verantworten haben.« Kathy Porter war es inzwischen wie Schuppen von den Augen gefallen. Zuerst hatte sie sich von den historischen Kostümen täuschen lassen und auch von dem Make-up dieser geschichtlichen Figuren. Nun aber wußte sie, wer dieser Tribunalvorsitzende war. Napoleon war ihr nicht mehr länger unbekannt. Es handelte sich um John Paul Harding, daran bestand jetzt überhaupt kein Zweifel mehr. Der Leiter des Archivs hatte sich große Mühe gegeben, in die Maske des Korsen zu schlüpfen. Er schien sich in der Uniform Napoleons sehr wohl zu fühlen. »Mr. John Paul Harding?« erkundigte sich Kathy Porter und tat nichts, um ihre Verblüffung zu verbergen. »Napoleon«, widersprach Harding streng. »Sie bekennen sich schuldig, Miß Porter?« »Ich möchte erst mal bekennen, wie überrascht und verblüfft ich bin«, antwortete Kathy Porter. »Das hätte ich Ihnen nie zugetraut, Mr. Harding.« »Napoleon«, schaltete sich der Pirat mit der Augenklappe ein. »Finden Sie sich mit den Tatsachen gefälligst ab, Miß Porter!« »Sie kenne ich nicht«, sagte Kathy Porter und beugte sich ein wenig vor. »Ich bin Henry Morgan«, sagte der Pirat mit der Augenklappe, und Kathy hörte heraus, daß sie es mit einer Frau zu tun hatte. »Jetzt vielleicht.« Kathy Porter zuckte die Achseln. »Und wie heißen Sie im Alltagsleben?« »Shirley Pounds«, sagte Henry Morgan fast widerwillig. »Aber das spielt hier keine Rolle. »Sie bekennen sich schuldig?« »Überhaupt nicht.« Kathy Porter schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich? Und wer sind Sie?« Sie deutete auf den spanischen Grande. »Das ist Miß Centa«, warf Napoleon ein.
»Miß Norma Centa?« Kathys Verblüffung war echt. »Sie sind doch eine der fünf Damen aus dem Archiv, oder?« »Richtig, aber auch das steht hier nicht zur Debatte, Miß Porter. Sie wollen also kein Schuldbekenntnis ablegen?« »Nun lassen Sie mir doch etwas Zeit«, bat Kathy Porter und brauchte sich noch nicht mal anzustrengen, betroffen und verwirrt zu erscheinen. »Was ist mit den beiden >Mönchen< dort? Stammen sie auch aus dem Archiv?« »Sie erkennen Sie nicht?« erkundigte Napoleon sich und zeigte ein dünnes Lächeln. »Das sind im Alltagsleben die Damen Jane Hoxton und Bette Sclater.« »Ich glaub's einfach nicht!« Kathy Porter schnappte hörbar nach Luft. Sie sah »Napoleon» an und schüttelte erneut den Kopf. »Wie haben Sie es geschafft, Mr. Harding, so etwas aufzuziehen? Das traut Ihnen doch kein Mensch zu.« »Ich habe nichts dagegen«, erwiderte »Napoleon». »Aber lassen Sie es sich gesagt sein, daß es mein Gerechtigkeitsgefühl ist, das mich veranlaßte, das Tribunal der Geschichte zu gründen und die seinerzeit veruntreuten Gelder einzuziehen.« »Majestät«, erinnerte Henry Morgan. »Das Urteil!« »Richtig, richtig«, sagte John Paul Harding in seiner Rolle als Napoleon. »Tod durch den Strang«, forderte der spanische Grande, der in Wirklichkeit die Dame Norma Centa war. »Und anschließend werden wir über Lady Simpson und Butler Parker zu Gericht sitzen.« »Einen Moment noch«, bat Kathy Porter, während Jane Hoxton und Bette Sclater bereits um den langen Tisch herumkamen. »Ich möchte nur noch wissen, von wem diese Idee eigentlich stammt, das Tribunal der Geschichte zu gründen?« »Mr. Harding«, warf Shirley Pounds ein und nickte Napoleon zu, der Henry Morgan steif zulächelte. »Und jetzt die Vollstreckung des Urteils, wenn ich bitten darf. Es gibt noch viel zu tun, Majestät!« *** »In der Tat«, sagte Josuah Parker und stand plötzlich in dem an sich kahlen Kellerraum. Er lüftete seine schwarze Melone höflich in Richtung Tribunal. »Majestät mögen die Störung entschuldigen, aber sie läßt sich leider nicht umgehen.« Die beiden weiblichen »Mönche« hatten ihre Schußwaffen hochgerissen und machten einen entschlossenen Eindruck, sie auch unbedingt zu benutzen. Nun, die beiden »Mönche« ließen ihre Schußwaffen plötzlich wieder sinken und machten einen betretenen Eindruck. Kathy Porter wandte sich um und lächelte. Die schwedischen Touristen standen hinter Parker. Auch sie waren nicht schlecht bewaffnet.
»Beenden wir diese makabre Komödie«, schlug Josuah Parker vor. »Mr. Harding, Ihr Spiel ist aus, wie es in solchen Situationen zu heißen pflegt! Ich hoffe sehr, daß Sie sich mit den Tatsachen abfinden.« »Wo ... Woher wußten Sie ... Ich meine...« »Napoleon« war irritiert. »Mr. Ray Pounds war so freundlich, die erforderlichen Informationen zu liefern«, antwortete Parker. »Sie hätten ihn nicht erschießen lassen dürfen, Mr. Harding.« Dann wandte er sich an Henry Morgan. »Erstaunlich, Mrs. Shirley Pounds, oder Pocock, ganz wie Sie wollen, daß es Ihnen nichts ausmachte, als man Ihren Bruder hinrichten lassen wollte. Ihre schwesterlichen Gefühle scheinen nicht sonderlich ausgeprägt zu sein.« »Wie war das? Mein Bruder sollte ... ist erschossen worden?« Shirley Pounds, die Frau Dale Pococks, sah »Napoleon« überrascht an. »Die Staatsraison, meine Liebe«, sagte der und zuckte die Schultern. Dann ruckte er mit dem Kopf, denn Henry Morgan, eben Mrs. Shirley Pounds-Pocock, zog ihm ihre Fingernägel durchs Gesicht. Es entstand einige Verwirrung, doch die schwedischen Touristen brauchten nur wenige Minuten, um die Ordnung wieder herzustellen. »Wo befindet sich Lady Simpson?« fragte Kathy Porter und sah Josuah Parker neugierig an. »Ich kann mir kaum vorstellen, daß sie sich das hier freiwillig entgehen ließ.« »Sie verhört Ray Pounds«, antwortete Parker. »Sie möchte ein wenig schneller erfahren als der Chief-Superintendent, wie die Dinge zusammenhängen. Ich hielt es für angebracht, Mylady in ihrem Wunsch zu bestärken.« »Und woher stammen die schwedischen Touristen, Mr. Parker?« Kathy Porter lächelte. »Ein Originalbus, Miß Porter, besetzt mit Beamten des Chief-Superintendent«, erwiderte Parker gemessen. »Nach einem ersten Geständnis Mr. Ray Pounds' hielt ich es für angebracht, Mr. McWarden zu informieren. Ich kann nicht umhin zu sagen, daß Mr. McWarden erstaunlich schnell und unbürokratisch reagierte.« »Jetzt bin ich auf die ganze Hintergrundgeschichte gespannt«, meinte Kathy Porter. »War Harding wirklich der Mann, der sich diese Tribunalgeschichte ausgedacht hat? Ich kann's kaum glauben.« *** »Es war John Paul Harding, der Leiter des Archivs«, sagte Josuah Parker knapp eine Stunde später. Er befand sich zusammen mit Lady Simpson, Kathy Porter und McWarden im Salon des altehrwürdigen Hauses in Shepherd's Market und hatte gerade zum Mißfallen der älteren Dame noch älteren Sherry gereicht. »Als intimer Kenner der Akten, in denen alte Gerichtsprozesse und Urteile verzeichnet sind, steigerte Mr. Harding sich immer mehr in die Vorstellung hinein, daß Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu fordern seien. Diese neurotische Zwangsvorstellung wurde erkannt und ausgenutzt.«
»Von den Geschwistern Pounds, nicht wahr?« warf Agatha Simpson ein. »In der Tat, Mylady«, faßte Parker weiter zusammen. »Shirley Pounds, mit dem Inhaber der Getränkefirma, Dale Pocock verheiratet, hörte von Hardings Zwangsneurose und informierte ihren Bruder. Er setzte sich nacheinander mit den Archivdamen Norma Centa, Jane Hoxton und Bette Sclater zusammen, die in einem ereignislosen und grauen Alltag der Langeweile lebten. Sie waren an Geld überraschend schnell interessiert und konnten für die Tribunalpläne gewonnen werden. Das war deshalb nicht schwer, weil diese gerade erwähnten Damen Mr. John Paul Harding auf ihre Weise verehrten. Als Harding dann das Tribunal gründete, waren sie entschlossen, ebenfalls Gerechtigkeit zu üben.« »Von wem wurde denn John Paul Harding überredet?« wollte Kathy Porter wissen. »Von Miß Norma Centa, mit der er sich besonders gut verstand. Sie hatte kaum Schwierigkeiten, ihn zum Vorsitzenden des Tribunals zu machen. Ich möchte hinzufügen, daß Harding wahrscheinlich in die Obhut eines Psychiaters gehört, denn er dürfte die wahren Tatbestände überhaupt nicht begriffen haben.« »Sie können sich vorstellen, Mylady«, sagte nun McWarden, »daß Ray Pounds seine Unterwelterfahrung voll ausspielte. Er beschäftigte ja eine Menge Mitarbeiter, die alle vorbestraft sind. Darüber hinaus suchte er noch den Kontakt zu Brett Netway, der die bewußte Getränkefirma leitet. Und jetzt wird es gefährlich interessant: Netway witterte ein Geschäft allergrößten Stils und setzte sich mit Dan Foulders und Oscar Pritting in Verbindung. Netway träumte von Erpressungen und brauchte dazu ausgekochte Fachleute. Nun, die beiden Assistenten der Bandenchefs waren diese Fachleute. Wir können von Glück sagen, daß sie keine Zeit hatten, so richtig tätig zu werden.« »Und wem haben Sie das mal wieder zu verdanken, McWarden?« fragte Agatha Simpson genußvoll. »Muß ich noch deutlicher werden? Wer hat Ihnen diese Bandenmitglieder fertig verschnürt frei Haus geliefert?« »Ohne Sie, Mylady, wäre der Fall sicher noch nicht abgeschlossen«, räumte McWarden schnell ein. »Daran besteht überhaupt kein Zweifel!« »Gut, daß Sie es so sehen«, raunzte die ältere Dame. »Wir wollen doch immer hübsch bei der Wahrheit und bei den Tatsachen bleiben.« »Und was ist mit Mr. Dale Pocock?« erkundigte sich Kathy Porter, bevor die Lady weiter auf ihre Verdienste hinweisen konnte. »Ist er etwa unschuldig?« »Er hat auf Ray Pounds geschossen, das heißt, präziser ausgedrückt, auf die präparierte Puppe«, erklärte Josuah Parker. »Sehe ich das so richtig, Sir?« »Vollkommen«, antwortete McWarden. »Sie hatten mich ja rechtzeitig angerufen. Als Sie die Pounds-Puppe vor die Tür stellten, standen meine Leute schon bereit und konnten Pocock dann anschließend drüben im Park abfangen.« »Schade, daß dieser Fall von mir bereits gelöst ist«, bedauerte Agatha Simpson. »Der Abend wird langweilig werden.«
»Mylady, ich bin davon überzeugt, daß der nächste Fall bereits auf Sie wartet«, seufzte der Chief-Superintendent. »Ich bin heilfroh, daß >Napoleon< erst mal matt gesetzt werden konnte* »Wie ist es mit diesen beiden Gangsterchefs, Mr. Parker?« Lady Agatha sorgte sich noch immer und fürchtete einen langweiligen Abend. »Wie waren noch die Namen?« »Serge Mondy, Mylady, und ein gewisser Desmond Lake. Beides Nachtclubbesitzer.« »Und gefährlich wie gezündete Dynamitladungen«, warnte McWarden hastig. »Wie wäre es denn mit einer kleinen Ausfahrt, Mr. Parker?« fragte die ältere Dame unternehmungslustig. »Ich bin schon lange nicht mehr in einem netten Nachtclub gewesen.« »Mylady, Sie wollen sich doch nicht etwa mit diesen beiden Gangsterbossen anlegen?« entsetzte McWarden sich. »Für Ihre Sicherheit kann ich da aber wirklich nicht garantieren.« »Wann konnten Sie das schon, junger Mann?« gab sie wegwerfend zurück und schaute wieder ihren Butler an. »Welchen Nachtclub schlagen Sie vor, Mr. Parker?« »Darf ich daran erinnern, daß Mylady bereits einen Nachtclub des Mr. Serge Mondy mit dem Land-Rover besuchten?« »Richtig, Mr. Parker.« Sie lächelte. »Demnach dürfte dieser Mondy gereizt reagieren, wenn ich mir seinen nächsten Club ansehe, nicht wahr?« »Er könnte dies durchaus als einen unfreundlichen Akt betrachten, Mylady«, antwortete Parker steif und gemessen. »Sehr schön.« Mylady stand auf und wurde bereits ungeduldig. »Sorgen wir also dafür, daß Mr. McWarden etwas entlastet wird. Dieser Abend wird wohl doch nicht langweilig werden.« Davon war Butler Parker fest überzeugt, doch er sagte nichts. Sein Gesicht blieb unbeweglich wie das eines professionellen Pokerspielers. Lady Agathas Entscheidungen glichen Naturereignissen, die man stoisch über sich ergehen lassen mußte. Und im Grund liebte Butler Parker ja solche Ereignisse, denn er war gewissen Abwechslungen ebenfalls nicht abhold. ENDE
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Günter Dönges schrieb für Sie wieder einen Butler Parker Nr. 187:
PARKER bremst die Ufos ab Lady Agatha war wie elektrisiert, als sie von Ufos hörte, die in der Gegend von Worcester gesehen wurden. Diesmal dachte sie eigentlich nicht an einen Kriminalfall, während Josuah Parker skeptisch war. Seiner bescheidenen Ansicht nach glaubte er an irgendwelche raffinierten Tricks und kam wenig später voll auf seine Kosten, als er die ersten außerirdischen Wesen entdeckte, die recht handfest zum Angriff übergingen und seine Herrin und ihn unbedingt aus dem Weg räumen wollten. Parker sah jedoch tatsächlich einige Ufos und Raumfahrer, doch sie rechneten nicht mit seiner wohlgefüllten Trickkiste, in die er wieder mal tief hineingriff... Günter Dönges legt einen neuen PARKER-Krimi vor, in dem Humor, Hochspannung und außerirdische Phänomene gut gemischt sind. Diesen Krimi sollten Sie schmunzelnd genießen, weil er nicht nach dem üblichen Schema geschrieben ist, sondern sich als etwas ganz eigenes entpuppt. Sie kennen ihn ja - den echten PARKER! Im anderen Fall sollten Sie ihn kennenlernen!