Juan RULFO Pedro Páramo Roman
08 * 2009
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos...
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Juan RULFO Pedro Páramo Roman
08 * 2009
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos © Juan Rulfo und Juan Rulfo Erben, 2001
Der berühmte Roman Juan Rulfos, ein Klassiker der lateinamerikanischen Literatur, erzählt die Geschichte von Pedro Páramo, dem Großgrundbesitzer von Comala. Comala ist ein wüster Steinhaufen inmitten einer von Dunst überzogenen, sonnenverbrannten Einöde, ein heruntergekommenes Dort’ in einem harten, einsamen Land. Die einen arbeiten sich zu Tode, um überleben zu können, wenn sie nicht vorher von Banditen umgebracht werden, und die anderen, die Großgrundbesitzer, beuten das Volk aus, betrügen, unterdrücken und morden. Wie Pedro Páramo, der Dorftyrann. Er hat in Comala »Ordnung« geschaffen, Friedhofsruhe. Doch die Toten geben keine Ruhe und reden in ihren Gräbern weiter, erzählen flüsternd und seufzend von seinen Untaten. Die Grenzen zwischen lebendig und tot sind verwischt: die Toten reden, als ob sie lebendig wären, und von den Lebenden merken wir lange nicht, dass sie schon tot sind. Ein Augenblick währt ewig in Comala, als sei die Zeit aufgehoben, im Leben und im Tod. Die Regierung ist weit weg und kümmert sich einen Dreck um Wind und Hitze und Armut in Comala. Der Krieg wird weitergehen: zwischen Pedro Páramo und dem Dorf, zwischen Männern und Frauen, zwischen Vätern und Söhnen.
Juan Rulfo wurde 1918 in Mexiko geboren. 1926 wurde sein Vater ermordet, bald danach kam auch seine Mutter ums Leben. Als Fünfzehnjähriger ging er nach Mexiko City, schlug sich als Gelegenheitsarbeiter durch und versuchte, nebenher Jura und Literatur zu studieren. Rulfo arbeitete auch nach seinem großen literarischen Erfolg in verschiedenen Berufen: als Werbefachmann, Verlagslektor und Mitarbeiter am Institut für Indianische Fragen. 1986 starb er in Mexiko City. Pedro Páramo erschien erstmals 1958 bei Hanser, außerdem erschienen: Der Llano in Flammen (Erzählungen, 1964) und Der goldene Hahn (EDITION AKZENTE, 1984),
Juan Rulfo
Pedro Páramo Roman Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz Mit einer Nachbemerkung des Autors und einem Nachwort von Gabriel Garcia Márquez
Carl Hanser Verlag
Die mexikanische Originalausgabe erschien 1955 unter dem Titel Pedro Páramo bei Fondo de Cultura Económica in Mexiko-Stadt. Die Neuübersetzung basiert auf der von José Carlos Gonzalez Boixo herausgegebenen kritischen Ausgabe bei Ediciones Cátedra, Madrid 2005. Das Buch erschien in der Übersetzung von Mariana Frenk 1958 erstmals auf deutsch.
12 3 4 5 12 11 10 09 08 ISBN 978-3-446-23066-8 © Juan Rulfo Erben, 1955 Alle Rechte der deutschen Ausgabe © Carl Hanser Verlag München 2008 © Nachwort: Gabriel Garcia Marquez 1980 Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany
Pedro Páramo Juan Preciado, sein Sohn Dolores (Lola), Juan Preciados Mutter, Pedro Páramos erste Frau Susana San Juan, Jugendfreundin und zweite Frau Pedro Páramos Bartolomé San Juan, Susanas Vater Fulgor Sedano, Verwalter des Gutes Media Luna Miguel, unehelicher Sohn Pedro Páramos Abundio, unehelicher Sohn Pedro Páramos Renteria, der Pfarrer von Comala Ana, seine Nichte Justina, Susanas alte Kinderfrau Dorotea, Damiana, Edvigues, Frauen aus dem Dorf
Ich
bin nach Comala gekommen, weil mir gesagt wurde, dass hier mein Vater lebt, ein gewisser Pedro Páramo. Meine Mutter hat mir das gesagt. Und ich habe ihr versprochen, ihn gleich nach ihrem Tod aufzusuchen. Ich habe ihr die Hände gedrückt, um das zu bekräftigen, denn sie lag im Sterben und ich hätte alles versprochen. »Versäume nicht, ihn zu besuchen«, trug sie mir auf, »er heißt so und so. Ich bin mir sicher, dass es ihn freuen wird, dich kennenzulernen.« Und da konnte ich nicht anders, ich sagte, ja, das würde ich tun, und ich sagte es so oft, dass ich es auch dann noch sagte, als ich meine Hände nur mit Mühe aus ihren toten Händen befreien konnte. Davor hatte sie noch gesagt: »Bettle ihn ja nicht an. Fordere, was uns zusteht. Das, was er mir schuldig war und mir nie gegeben hat … Lass ihn teuer bezahlen, dass er uns im Stich gelassen hat, mein Sohn.« »Das werde ich tun, Mutter.« Aber ich dachte nicht daran, mein Versprechen zu halten. Bis ich auf einmal voller Träume war und die Illusionen mit mir durchgingen. Und so entstand in mir eine Welt rund um diese Hoffnung namens Pedro Páramo, den Mann meiner Mutter. Deshalb bin ich nach Comala gekommen.
Es war die Zeit der Hundstage, wenn der Augustwind heiß
bläst, vergiftet vom fauligen Geruch der Seifenkrautblüten. Der Weg ging auf und ab. „Er steigt auf oder ab, je nachdem ob man kommt oder geht. Für den, der geht, steigt er auf, für den, der kommt, hinab.“ »Wie, sagten Sie, heißt das Dorf, das man dort unten sieht?« »Comala, Señor.«
»Sind Sie sicher, dass das schon Comala ist?« »Ganz sicher, Señor.« »Und warum sieht es so traurig aus?« »Das sind die Zeiten, Señor.« Ich hatte mir vorgestellt, alles durch die Erinnerungen meiner Mutter zu sehen, mit ihrem Heimweh, zwischen Seufzerfetzen. Ihr Leben lang hat sie sich nach Comala, nach der Rückkehr gesehnt. Doch sie kehrte nie zurück. Jetzt komme ich an ihrer Statt. Ich bringe die Augen mit, mit denen sie diese Dinge anschaute, denn sie gab mir ihre Augen, um zu sehen. „Hinter Puerto Colimotes gibt es eine wunderschöne Aussicht auf eine grüne Ebene, gelbgetüpfelt vom reifen Mais. Von dort aus sieht man Comala, weiß liegt es da und beleuchtet die Erde bei Nacht.“ Und ihre Stimme klang heimlich, fast erloschen, als spreche sie mit sich selbst … Meine Mutter. »Und wozu kommen Sie nach Comala, wenn man das wissen darf?« wurde ich gefragt. »Ich will meinen Vater besuchen«, antwortete ich. »Ach!« sagte er. Und wir schwiegen erneut. Wir gingen bergab, hörten den widerhallenden Trott der Esel. Die Augen schwer vor Müdigkeit, in den Hundstagen des August. »Das wird ja ein Fest geben«, hörte ich wieder die Stimme dessen, der neben mir ging. »Es wird ihn freuen, jemanden zu sehen, nachdem so viele Jahre lang niemand vorbeigekommen ist.« Dann fügte er noch hinzu: »Wer auch immer Sie sind, er wird sich freuen, Sie zu sehen.«
In der flirrenden Sonne wirkte die Ebene wie eine durchsichtige Lagune, aufgelöst in Dunstschwaden, durch die ein grauer Horizont zu erahnen war. Und jenseits davon eine Bergkette. Und noch weiter weg die weite Ferne. »Wie ist es um Ihren Vater bestellt, wenn man fragen darf?« »Ich kenne ihn nicht«, sagte ich zu ihm. »Ich weiß nur, dass er Pedro Páramo heißt.« »Ach ja?« »Ja, so soll er heißen, wurde mir gesagt.« Erneut hörte ich das »Ach!« des Viehtreibers. Ich war bei Los Encuentros auf ihn gestoßen. Dort, wo sich mehrere Wege kreuzen, hatte ich gewartet, bis endlich dieser Mann auftauchte. »Wohin gehen Sie?« fragte ich ihn. »Dort hinunter, Señor.« »Kennen Sie einen Ort namens Comala?« »Genau da will ich hin.« Und ich folgte ihm. Ich ging hinter ihm her, versuchte ihn einzuholen, bis er anscheinend merkte, dass ich ihm folgte, und er seinen Schritt verlangsamte. Dann gingen wir so nah nebeneinander, dass sich fast unsere Schultern berührten. »Auch ich bin ein Sohn von Pedro Páramo«, sagte er. Eine Schar Raben kam vorbeigeflogen, kreuzte den leeren Himmel und machte kra, kra, kra. Nachdem wir die Berge hinabgestiegen waren, ging es immer weiter hinunter. Wir hatten den heißen Wind dort oben gelassen und tauchten nun in die reine Hitze, ohne Wind. Es war so, als warteten alle Dinge auf irgend etwas. »Es ist heiß hier«, sagte ich. »Ja, und das ist noch gar nichts«, antwortete mir der
andere. »Warten Sie nur ab. Sie werden die Hitze noch stärker spüren, wenn wir nach Comala kommen. Das liegt auf glühender Erde, geradewegs am Eingang zur Hölle. Wenn ich Ihnen sage, dass von denen, die dort sterben, viele aus der Hölle noch mal zurückkehren, um sich eine Decke zu holen.« »Kennen Sie Pedro Páramo?« fragte ich ihn. Ich wagte es, weil ich in seinen Augen ein Fünkchen Vertrauen sah. »Wer ist er?« fragte ich erneut. »Der wandelnde Groll«, antwortete er. Und ließ die Peitsche gegen die Esel schnalzen, ohne Not, da die Tiere, von der abschüssigen Bahn ermuntert, weit vorausliefen. Ich spürte das Bildnis meiner Mutter, es steckte in meiner Hemdtasche und wärmte mir das Herz, so als schwitze auch sie. Es war ein altes Foto, an den Rändern beschädigt, aber es war das einzige, das ich von ihr kannte. Ich hatte es im Küchenschrank gefunden, in einer Schüssel voller Kräuter: Zitronenmelisse, Gartenraute, Rosenblätter … Seitdem verwahre ich es. Es war das einzige. Meine Mutter mochte sich nicht fotografieren lassen. Sie sagte, Bilder seien Hexenwerk. Und das stimmte wohl auch, denn das ihre war voller kleiner Löcher, wie von einer Nadel, und auf der Höhe des Herzens war ein großes Loch, durch das man leicht den Ringfinger stecken konnte. Es ist das Bild, das ich hier bei mir trage, weil ich dachte, es könnte dabei helfen, dass mein Vater mich anerkennt. »Schauen Sie mal«, sagt der Viehtreiber zu mir und bleibt stehen. »Sehen Sie den Hügel da, der wie eine Schweinsblase aussieht? Nun, genau dahinter liegt das Gut Media Luna. Und jetzt drehen Sie sich nach dort. Sehen Sie
den Kamm dieses Hügels da? Sehen Sie sich den an. Und jetzt drehen Sie sich in die andere Richtung. Sehen Sie dort diesen anderen Kamm, so weit weg, dass er kaum noch zu sehen ist? Gut, da haben Sie die Media Luna von einem Ende zum anderen. Wie man so sagt, das ganze Land, so weit das Auge reicht. Und das alles gehört ihm. Wir sind zwar die Söhne von Pedro Páramo, aber unsere Mütter haben uns nun einmal auf einer Strohmatte geworfen. Und der eigentliche Witz ist, dass er uns aus der Taufe gehoben hat. Bei Ihnen muss das auch so gewesen sein, oder?« »Ich kann mich nicht erinnern.« »Zum Teufel mit ihm!« »Was sagen Sie?« »Dass wir gleich da sind, Señor.« »Ja, das sehe ich. Was ist denn das?« »Ein Kamppieper. So heißen diese Vögel hier.« »Nein, ich meine das Dorf, es sieht so einsam aus, als sei es verlassen. Als ob da niemand wohnte.« »Das sieht nicht nur so aus. Es ist so. Hier lebt niemand.« »Und Pedro Páramo?« »Pedro Páramo ist vor vielen Jahren gestorben.«
Es war die Stunde, in der in allen Dörfern die Kinder auf der
Straße spielen und den späten Nachmittag mit ihrem Geschrei erfüllen. Wenn die schwarzen Mauern noch das gelbe Licht der Sonne zurückstrahlen. So hatte ich es zumindest in Sayula gesehen, gestern noch, zu ebendieser Stunde. Und ich hatte auch gesehen, wie die Wildtauben in ihrem Flug die stille Luft zerteilten, mit den Flügeln schlugen, als schüttelten sie den Tag ab. Sie flogen und fielen auf die Dächer herab, während die Schreie der
Kinder hochflatterten und der Abendhimmel sie blau zu färben schien. Jetzt war ich hier, in diesem geräuschlosen Dorf. Ich hörte meine Schritte auf den mit runden Steinen gepflasterten Straßen. Meine hohlen Schritte, deren Hall die von der Abendsonne gefärbten Mauern zurückgaben. Zu dieser Stunde ging ich die Hauptstraße entlang. Ich betrachtete die leeren Häuser, die zerbrochenen Türen, durch die das Unkraut drang. Wie hatte der Kerl noch gesagt, dass dieses Kraut hieß? „Capitana, Señor. Eine wahre Plage, sie wartet nur darauf, dass die Leute wegziehen, und schon macht sie sich in den Häusern breit. Sie werden es noch sehen.« Als ich eine Straßenmündung kreuzte, sah ich eine Frau, in ihr Umschlagtuch gehüllt, doch dann war sie verschwunden, als habe es sie nie gegeben. Ich setzte mich wieder in Bewegung, und meine Augen spähten weiter in die Hauseingänge hinein. Bis die Frau mit dem Tuch erneut vor mir aufkreuzte. »Guten Abend!« sagte sie zu mir. Ich folgte ihr mit dem Blick. Rief ihr nach: »Wo wohnt Doña Eduviges?« Und sie zeigte mit dem Finger: »Dahinten. Das Haus neben der Brücke.« Ich merkte, dass ihre Stimme von menschlichem Gewebe stammte, dass die Frau Zähne im Mund hatte und eine Zunge, die beim Sprechen anstieß und sich wieder löste, und dass ihre Augen wie die Augen aller Menschen waren, die auf Erden leben. Es war dunkel geworden. Wieder wünschte sie mir einen guten Abend. Und obwohl da keine Kinder spielten, es keine Tauben und keine blauen
Dächer gab, spürte ich, dass das Dorf lebte. Und wenn ich nichts als die Stille hörte, dann nur, weil ich die Stille noch nicht gewöhnt war, weil mein Kopf wohl voller Geräusche und Stimmen war. Voller Stimmen, ja. Und hier, wo die Luft dünn war, hörte man sie besser. Sie blieben in einem drin, wogen schwer. Ich musste an das denken, was mir meine Mutter gesagt hatte: „Dort wirst du mich besser hören. Ich werde dir näher sein. Dir wird die Stimme meiner Erinnerungen näher sein als die Stimme meines Todes, wenn der Tod denn je eine Stimme gehabt hat.’’ Meine Mutter … Als sie noch lebte. Ich hätte ihr gerne gesagt: „Du hast dich im Haus geirrt. Hast mir eine falsche Adresse gegeben. Du hast mich einfach losgeschickt, und ich kann nur fragen, wo ist dies, wo ist das. In einem verlassenen Dorf. Um jemanden zu suchen, den es nicht gibt.’’ Ich hielt mich an das Rauschen des Flusses und kam zu dem Haus an der Brücke. Ich klopfte an die Tür, aber da war nichts. Meine Hand wedelte in der Luft, als hätte der Luftzug bereits die Tür geöffnet. Eine Frau stand dort. Sie sagte zu mir: »Treten Sie ein.« Und ich ging hinein.
Ich
war in Comala geblieben. Der Eseltreiber, der gleich weiterzog, hatte, bevor er sich verabschiedete, noch gesagt: »Ich muss weiter, dorthin, wo die Hügel aneinanderstoßen, da steht mein Haus. Wenn Sie mitgehen wollen, sind Sie willkommen. Wenn Sie aber hierbleiben wollen, dann müssen Sie selbst sehen. Vielleicht ist es ja nicht schlecht, sich einmal im Dorf umzusehen, am Ende finden Sie doch noch einen, der hier lebt.« Und ich blieb. Dazu war ich gekommen.
»Wo finde ich Unterkunft?« rief ich ihm noch nach. »Gehen Sie zu Doña Eduviges, falls die noch lebt. Sagen Sie ihr, Sie kommen von mir.« »Und wie heißen Sie?« »Abundio«, antwortete er. Aber den Nachnamen hörte ich schon nicht mehr.
»Ich bin Eduviges Dyada. Treten Sie ein.« Sie schien auf mich gewartet zu haben. Sie habe alles bereit, wie sie mir sagte, und ich folgte ihr durch eine lange Reihe dunkler Räume, die leer zu sein schienen. Dem war aber nicht so, denn als ich mich an die Dunkelheit und an den schwachen Lichtstreif, der uns folgte, gewöhnt hatte, sah ich zu beiden Seiten Schatten wachsen und nahm wahr, dass wir uns durch eine schmale Schneise zwischen hohen Haufen bewegten. »Was ist das hier?« fragte ich. »Gerümpel«, sagte sie. »Das ganze Haus ist voller Gerümpel. Die Leute, die weggezogen sind, haben sich mein Haus ausgesucht, um ihre Möbel unterzustellen, doch keiner hat sie wieder abgeholt. Aber das Zimmer, das ich für Sie vorgesehen habe, liegt hinten. Es bleibt immer aufgeräumt, für den Fall, dass jemand kommt. Sie sind also ihr Sohn?« »Wessen Sohn?« fragte ich. »Doloritas’ Sohn.« »Ja, aber woher wissen Sie das?« »Sie hat mir Bescheid gegeben, dass Sie kommen würden. Und zwar heute. Dass Sie heute kommen würden.« »Wer? Meine Mutter?« »Ja. Sie.«
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Und sie ließ mir keine Zeit zum Nachdenken. »Das hier ist Ihr Zimmer«, sagte sie zu mir. Es hatte keine Türen, außer der, durch die wir gekommen waren. Sie zündete die Kerze an, und ich sah, es war leer. »Hier gibt’s nichts zum Hinlegen«, sagte ich zu ihr. »Machen Sie sich da keine Sorgen. Sie werden doch wohl müde sein, und für die Müdigkeit ist der Schlaf die beste Matratze. Gleich morgen mache ich Ihnen Ihr Bett zurecht. Sie wissen, es ist nicht leicht, alles so schnell herzurichten. Da muss man vorbereitet sein, und Ihre Mutter hat mir eben erst Bescheid gegeben.« »Meine Mutter«, sagte ich, »meine Mutter ist doch gestorben.« »Ach, deshalb war ihre Stimme nur so schwach zu hören. Als habe sie einen sehr weiten Weg zurücklegen müssen, um hierherzugelangen. Jetzt verstehe ich. Und wann ist sie gestorben?« »Schon vor sieben Tagen.« »Die Arme. Sie muss sich verlassen gefühlt haben. Wir hatten einander versprochen, gemeinsam zu sterben. Zusammen fortzugehen, um einander Mut machen zu können auf dieser anderen Reise, falls man das brauchte, falls es irgendwelche Schwierigkeiten geben sollte. Wir waren sehr gute Freundinnen. Hat sie nie von mir gesprochen?« »Nein. Nie.« »Das ist sonderbar. Klar, wir waren damals noch junge Dinger. Und sie war ganz frisch verheiratet. Aber wir hatten uns sehr lieb. Deine Mutter war so hübsch, so, wie soll man sagen, so zart, dass es eine Freude war, sie liebzuhaben. Dass man sie einfach liebhaben musste. Nun hat sie also
einen Vorsprung, nicht? Aber du kannst dir sicher sein, ich werde sie einholen. Nur ich weiß, wie fern der Himmel uns ist, aber ich verstehe mich darauf, Wege abzukürzen. Es kommt nur darauf an, mit Gottes Beistand dann zu sterben, wenn man selbst es will, und nicht dann, wenn Er es vorsieht. Oder, wenn du so willst, man muss Ihn zwingen, es vor der Zeit vorzusehen. Verzeih mir, wenn ich du zu dir sage, ich betrachte dich eben als meinen Sohn. Ja, das habe ich oft gesagt: ›Der Sohn von Dolores hätte meiner werden sollen.‹ Ich erzähl dir später, warum. Jetzt will ich dir nur eins sagen: Auf einem der Wege zur Ewigkeit hole ich deine Mutter ein.« Ich glaubte, die Frau sei verrückt. Später glaubte ich gar nichts mehr. Ich fühlte mich in einer fremden Welt und ließ mich treiben. Mein Körper war schlaff geworden, er knickte einfach ein, hatte sich aufgegeben, und jeder konnte mit ihm spielen, wie mit einer Lumpenpuppe. »Ich bin müde«, sagte ich. »Komm erst mal und iss einen Happen. Nur eine Kleinigkeit. Irgendwas.« »Ich komme. Ich komme gleich.«
Das Wasser,
das von den Dachziegeln in den Hof tropfte, grub ein Loch in den sandigen Boden. Es klang: Platsch, Platsch und noch mal Platsch, mitten auf ein Lorbeerblatt, das in einer Spalte zwischen den Ziegeln steckte, sich herunterbog und zurückfederte. Das Gewitter war abgezogen. Jetzt rüttelte der Wind hin und wieder an den Zweigen des Granatapfelbaums, dann fiel schwerer Regen aus den Blättern und zeichnete die Erde mit glitzernden Tropfen, die bald ihren Glanz verloren. Die Hühner, zusammengekauert, als schliefen sie, schlugen plötzlich mit den Flügeln und kamen hinaus auf den Hof, pickten hastig
und schnappten sich die Würmer, die der Regen aus der Erde geschwemmt hatte. Als die Wolken wichen, schlug die Sonne Licht aus den Steinen, tauchte alles in schillernde Farben, trank das Wasser von der Erde, spielte mit dem Wind und ließ die Blätter aufglänzen, mit denen der Wind spielte. »Was machst du so lange auf dem Klosett, mein Junge?« »Nichts, Mama.« »Wenn du da noch lange bleibst, kommt am Ende eine Schlange und beißt dich.« »Ja, Mama.« „Ich dachte an dich, Susana. An die grünen Hügel. Wie wir in der windigen Zeit Drachen steigen ließen. Von unten hörten wir den lebendigen Lärm des Dorfes, aber wir standen darüber, oben auf dem Hügel, und der Wind riss die Hanfschnur mit sich. ,Hilf mir, Susana.’ Und weiche Hände umfassten fest meine Hände. ,Lass mehr Leine los.’ Der Wind brachte uns zum Lachen, führte unsere Blicke zueinander, während die Schnur mit dem Wind durch unsere Finger lief, bis sie mit einem leichten Ächzen riss, als habe sie der Flügel eines Vogels zerschnitten. Und dort oben geriet der Papiervogel sinkend ins Trudeln, schleifte seinen Schwanz aus Stoffetzen hinter sich her und verlor sich im Grünen. Deine Lippen waren feucht, als hätte der Tau sie geküsst.’’ »Ich hab dir gesagt, du sollst da rauskommen, Pedro.« »Ja, Mama. Ich komme schon.« „An dich dachte ich. Wie du dort standest und deine Aquamarinaugen mich anschauten.’’ Er hob den Blick und sah seine Mutter in der Tür. »Warum dauert das so lange bei dir? Was tust du da?«
»Ich denke nach.« »Und kannst du das nicht woanders tun? Es ist ungesund, so lange auf dem Klosett zu sitzen. Außerdem solltest du etwas Nützliches tun. Warum hilfst du nicht deiner Großmutter, den Mais zu entkörnen?« »Ich geh schon, Mutter. Ich geh schon.« »Großmutter, ich komme, Ihnen beim Mais zu helfen.« »Damit sind wir fertig; aber jetzt wollen wir Schokolade machen. Wo hast du gesteckt? Wir haben dich das ganze Gewitter über gesucht.« »Ich war im anderen Hof.« »Und was hast du da getan? Gebetet?« »Nein, Großmutter, ich habe nur dem Regen zugesehen.« Die Großmutter blickte ihn mit ihren halb grauen, halb gelben Augen an, die zu erraten schienen, was in einem vorging. »Dann geh mal und mach die Mühle sauber.« „Hunderte von Metern hoch, über allen Wolken, weit jenseits aller Dinge, da bist du verborgen, Susana. Verborgen in der Unendlichkeit Gottes, hinter seiner göttlichen Vorsehung, da, wo ich dich nicht erreichen noch sehen kann und wohin meine Worte nicht gelangen.’’ »Großmutter, die Mühle geht nicht, das Gewinde ist kaputt.« »Da hat die Micaela wohl wieder die kleinen Maiskolben drin gemahlen. Das ist ihr nicht abzugewöhnen. Nun ja, jetzt ist es zu spät.« »Warum kaufen wir nicht eine neue? Die hier war doch sowieso schon so alt, dass sie nichts mehr taugte.« »Du hast recht. Aber wir haben für das Begräbnis deines
Großvaters und den Pfarrzins so viel ausgegeben, dass uns kein Heller geblieben ist. Aber wir werden uns am Riemen reißen und eine neue kaufen. Sei so gut und geh zu Doña Inés Villalplano und bitte sie, dass sie uns das Geld bis Oktober stundet. Nach der Ernte werden wir zahlen.« »Ja, Großmutter.« »Und wenn du schon da bist, erledige gleich alles: Sie soll uns bitte ein Getreidesieb und eine Gartenschere leihen; die Sträucher stehen so hoch, dass sie uns schon fast in den Hintern wachsen. Wenn ich noch mein großes Haus mit den großen Gehegen hätte, würde ich jetzt nicht jammern. Aber dein Großvater hat einen Fehler gemacht, als er hierherzog. Nun ja, Gott hat es so gewollt: Es kommt eben nie so, wie man gerne möchte. Sag Doña Inés, dass wir ihr nach der Ernte alles zahlen, was wir ihr schuldig sind.« »Ja, Großmutter.« Da waren Kolibris. Es war die Zeit. Man hörte das Surren ihrer Flügel zwischen den Blüten des Jasmins, der sich vor lauter Blüten bog. Er ging hinüber zu dem Bord unter dem Herz-Jesu-Bild und fand dort vierundzwanzig Centavos. Er ließ vier Centavos liegen und nahm sich die zwanzig. Als er hinausgehen wollte, hielt seine Mutter ihn auf: »Wo gehst du hin?« »Zu Doña Inés Villalpando, wegen einer neuen Mühle. Unsere ist kaputt.« »Sag ihr, sie soll dir einen Meter schwarzen Taft geben, einen wie diesen«, und sie gab ihm das Muster. »Sie soll es anschreiben.« »Gut, Mama.« »Und kauf mir auf dem Rückweg ein paar Aspirin. In dem Blumentopf im Flur findest du Geld.«
Er fand einen Peso. Er legte die zwanzig Centavos hinein und nahm sich den Peso. »Jetzt habe ich Geld genug für das, was mir unterkommt«, dachte er. »Pedro!« rief man ihm nach. »Pedro!« Aber das hörte er nicht mehr. Er war schon weit weg.
Gegen
Abend regnete es wieder. Lange horchte er dem Trommeln des Wassers zu; dann musste er eingeschlafen sein, denn als er aufwachte, hörte er nur noch ein leises Rieseln. Die Fensterscheiben waren beschlagen, und draußen glitten die Tropfen wie Tränen in breiten Spuren hinunter. „Ich sah von Blitzen erleuchtet die Tropfen rinnen, und jeder Atemzug war ein Seufzer und jeder Gedanke ein Gedanke an dich, Susana.” Aus dem Regen wurde Wind. Er hörte: »… an die Vergebung der Sünden und die Auferstehung des Fleisches. Amen.« Das war hier drinnen, wo ein paar Frauen den Rosenkranz zu Ende beteten. Sie erhoben sich, trugen die Vögel ins Haus, verriegelten die Tür, löschten das Licht. Es blieb nur das Licht der Nacht, das Zischeln des Regens, das nach zirpenden Grillen klang … »Warum bist du nicht zum Rosenkranzbeten gekommen? Die Novene für deinen Großvater ist noch nicht vorbei.« Dort an der Türschwelle stand seine Mutter, eine Kerze in der Hand. Zur Decke hin verlaufend ihr Schatten, lang, auseinandergezogen. Und die Dachbalken gaben sie in Stücken wieder, zerstückelt. »Ich bin traurig«, sagte sie. Dann drehte sie sich um. Löschte die Kerze. Schloss die
Tür und begann mit ihrem Schluchzen, das, dem Regen untermischt, noch lange zu hören war. Die Kirchenuhr schlug die Stunden, eine nach der anderen, eine nach der anderen, als wäre die Zeit geschrumpft. »Ja doch, um ein Haar wäre ich deine Mutter geworden. Hat sie dir nie etwas davon erzählt?« »Nein, sie erzählte mir nur schöne Sachen. Von Ihnen habe ich erst durch den Eseltreiber erfahren, der mich hierhergebracht hat, ein gewisser Abundio.« »Der gute Abundio. Er hat mich also nicht vergessen? Ich gab ihm immer ein Trinkgeld für jeden Reisenden, den er mir ins Haus schickte. Und es ging uns beiden gut dabei. Leider haben sich die Zeiten geändert, seitdem das Dorf verarmt ist, will keiner mehr zu uns. Er hat dir also geraten, zu mir zu kommen?« »Er hat mir gesagt, ich soll nach Ihnen suchen.« »Da kann ich ihm nur danken. Er war ein guter Kerl und sehr verlässlich. Er brachte uns immer die Post, auch noch, als er schon taub war. Ich erinnere mich an den unseligen Tag, als ihm dieses Unglück widerfuhr. Alle waren wir erschüttert, denn wir alle liebten ihn. Er brachte und holte die Briefe. Er erzählte uns, wie es auf der anderen Seite der Welt zuging, und dort erzählte er sicherlich, wie es uns ging. Er war ein großer Plauderer. Später nicht mehr. Er hörte auf zu sprechen. Er sagte, es habe keinen Sinn, Dinge zu sagen, die er selbst nicht hörte, die ihm nach nichts klangen, nach nichts schmeckten. Es war passiert, als ganz nah an seinem Kopf einer dieser großen Feuerwerkskörper platzte, mit denen wir hier die schweren Gewitter vertreiben. Danach verstummte er, aber stumm war er nicht. Wie auch immer, er blieb ein guter Kerl.« »Der Mann, von dem ich rede, hörte gut.«
»Dann wird er es nicht gewesen sein. Außerdem ist Abundio tot. Er ist bestimmt schon gestorben. Kapierst du? Er kann es nicht gewesen sein.« »Da haben Sie wohl recht.« »Nun gut, um auf deine Mutter zurückzukommen, wie ich dir gerade sagte …« Ich hörte weiter zu und sah mir dabei die Frau an, die vor mir stand. Ich dachte mir, dass sie wohl schwere Jahre hinter sich hatte. Ihr Gesicht war durchsichtig, als sei kein Blut darin, und die Hände waren welk; welk und voller Runzeln. Die Augen waren nicht zu sehen. Sie trug ein weißes Kleid, sehr altmodisch und mit Volants überladen, und von ihrem Hals hing an einer Kordel eine heilige Maria del Refugio mit der Aufschrift: »Zuflucht der Sünder«. »… dieser Kerl, von dem ich dir erzählen will, arbeitete als Zureiter auf der Media Luna und gab an, Inocencio Osorio zu heißen. Aber wir kannten ihn alle nur unter dem Spitznamen Knallerbse, weil er sehr leicht war und gut springen konnte. Mein Gevatter Pedro sagte immer, er sei wie geschaffen dafür, Jungpferde zuzureiten; tatsächlich hatte er jedoch einen anderen Beruf, er war ›Traummacher‹. Das war er eigentlich. Und er hat deine Mutter umgarnt, wie er es mit vielen machte. Auch mit mir. Als ich mich einmal krank fühlte, tauchte er auf und sagte zu mir: ›Ich werde dich jetzt abklopfen, damit es dir bessergeht.‹ Und das bestand darin, dass er einen betatschte, er begann bei den Fingerkuppen, dann rieb er einem die Hände, später die Arme, und schließlich machte er sich an den Beinen zu schaffen, und was kalt war, fieberte nach einer Weile. Und während er da herumfuhrwerkte, sprach er von deiner Zukunft. Er versetzte sich in Trance, rollte die Augen, betete und fluchte und spuckte dich an, wie die Zigeuner es tun. Manchmal zog er sich auch aus, denn das sei, so sagte er,
unser heimlicher Wunsch. Und manchmal traf er es damit; er pickte an so vielen Stellen, dass er irgendwo ein Korn finden musste. Es war jedenfalls so, dass deine Mutter diesen Osorio aufsuchte und er ihr wahrsagte, dass sie in dieser Nacht mit keinem Mann schlafen dürfe, ›denn der Mond ist wild‹. Dolores kam sehr verstört zu mir und sagte, sie könne es nicht tun. Es sei für sie einfach nicht möglich, in dieser Nacht mit Pedro Páramo zu schlafen. Es war ihre Hochzeitsnacht. Und da war ich und redete auf sie ein, sie solle doch dem Osorio nicht glauben, der sei doch ein Schwindler und Betrüger. ›Ich kann nicht‹, sagte sie mir. ›Geh du an meiner Statt. Er wird es nicht merken.‹ Ich war zwar jünger als sie, auch nicht ganz so dunkel, aber das merkt man bei Nacht ja nicht. ›Das geht nicht, Dolores, du musst schon selber hin.‹ ›Tu mir den Gefallen. Ich werde ihn dir oft vergelten^ Deine Mutter war zu jener Zeit ein Mädchen mit sanften Augen. Wenn etwas an deiner Mutter hübsch war, dann waren es die Augen. Und sie wussten zu überzeugen. ›Geh du für mich‹, sagte sie zu mir. Und ich ging. Ich setzte auf die Dunkelheit und auf etwas anderes, davon wusste sie aber nichts: Auch mir hatte es Pedro Páramo angetan. Ich bin zu ihm ins Bett gestiegen, und zwar gerne, voller Lust. Ich habe mich an seinen Leib gepresst, doch er war von dem ganzen Hochzeitsrummel erledigt, so dass er die Nacht schnarchend verbrachte. Nur seine Beine schob er zwischen meine, das war alles.
Vor Morgengrauen bin ich dann aufgestanden und zu Dolores gegangen. Jetzt geh du. Das ist schon ein neuer Tag.‹ ›Was hat er mit dir gemacht?‹ fragte sie. ›Das weiß ich noch nicht‹, habe ich ihr geantwortet. Und im Jahr darauf bist du geboren; aber nicht von mir, obwohl es um ein Haar so gekommen wäre. Vielleicht war es deiner Mutter peinlich, dir das zu erzählen.« ….. Grüne Ebenen. Sehen, wie im Wind, der die Ähren wiegt, der Horizont auf und ab wogt, wie der Nachmittag sich wellt in dreifachen Regenwellen. Die Farbe der Erde, der Duft nach Luzerne und Brot. Ein Dorf, das nach frisch vergossenem Honig riecht …’’ »Sie hat Pedro Páramo immer gehasst. ›Doloritas! Haben Sie mir schon das Frühstück richten lassen?‹ Und deine Mutter stand vor Tagesanbruch auf. Sie zündete den Herd an. Die Katzen wachten vom Geruch des Feuers auf. Und sie lief von hier nach dort, gefolgt von der Katzenschar. ›Doña Doloritas!‹ Wie oft mag deine Mutter diesen Ruf gehört haben? ›Doña Doloritas, das ist ja kalt. Ungenießbare Wie oft? Und obwohl sie einiges gewohnt war, wurden ihre sanften Augen allmählich hart.« „… Keinen anderen Duft schmecken als den der Orangenblüten in lauer Zeit.’’ »Dann begann sie zu seufzen. ›Warum seufzen Sie, Doloritas?‹ Ich war an jenem Nachmittag mit den beiden unterwegs. Wir standen inmitten der Felder und sahen die Drosselschwärme vorbeiziehen. Hoch am Himmel wiegte
sich einsam ein Geier. ›Warum seufzen Sie, Doloritas?‹ ›Ach wär’ ich ein Vogel, dann flög ich zu meiner Schwester.‹ ›Das wäre ja noch schöner, Doña Doloritas. Sie werden sofort zu Ihrer Schwester fahren. Wir kehren jetzt heim. Man soll Ihre Koffer packen. Das wäre ja noch schöner.‹ Und deine Mutter ist gefahren: ›Bis bald, Don Pedro.‹ ›Adiós, Doloritas!‹ Sie verschwand für immer von der Media Luna. Viele Monate später habe ich Pedro Páramo nach ihr gefragt. ›Sie liebte ihre Schwester mehr als mich. Sie wird sich dort wohlfühlen. Im übrigen ging sie mir bereits auf die Nerven. Ich denke nicht daran, ihr nachzuforschen, falls es das ist, was dich umtreibt.‹ ›Aber von was sollen sie leben?‹ ›Gott mag ihnen beistehen.‹« „… lass ihn teuer bezahlen, dass er uns im Stich gelassen hat, mein Sohn.’’ »Und so hörten wir nichts mehr von ihr, bis jetzt, als sie mir Bescheid gab, dass du kommst.« »Was da alles passiert ist«, sagte ich zu ihr. »Wir wohnten in Colima bei der Tante Gertrudis, die uns deutlich spüren ließ, dass wir eine Last waren. ›Warum kehrst du nicht zu deinem Mann zurück?‹ sagte sie zu meiner Mutter. ›Hat er etwa nach mir geschickt? Ich gehe nicht, wenn er mich nicht ruft. Ich wollte dich sehen, deshalb bin ich gekommen. Weil ich dich liebhabe, deshalb.‹ ›Das verstehe ich doch. Aber jetzt wird es langsam Zeit, dass du gehst.‹
›Wenn es auf mich ankäme.‹« Ich hatte gedacht, dass die Frau mir zuhörte, merkte dann aber, dass sie den Kopf abgewandt hatte, als horche sie auf ein fernes Geräusch. Dann sagte sie: »Wann legst du dich schlafen?« „Am Tag, an dem du fortgegangen bist, habe ich begriffen, dass ich dich nie Wiedersehen würde. Du warst in Rot getaucht von der untergehenden Sonne, vom blutigen Abendrot am Himmel. Du hast gelächelt. Das Dorf lag hinter dir, von dem du oft gesagt hattest: ,Ich liebe es deinetwegen; aber ich hasse es wegen alles übrigen, schon deshalb, weil ich hier geboren bin.’ Ich dachte: ,Sie wird niemals heimkehren; sie kommt nie zurück.’ ’’ »Was machst du denn hier? Arbeitest du nicht?“ »Nein, Großmutter. Rogelio will, dass ich auf das Kind aufpasse. Ich trage es ständig herum. Es ist mühsam, sich um beides zu kümmern, um das Kind und den Telegraphen, während er die Zeit mit Biertrinken in der Billardkneipe herumbringt. Außerdem zahlt er mir nichts.« »Du bist nicht da, um Geld zu verdienen, sondern um zu lernen; erst wenn du etwas beherrschst, kannst du Ansprüche stellen. Jetzt bist du nur Lehrling, aber vielleicht wirst du später einmal der Chef. Doch dazu braucht es Geduld und, das vor allem, Bescheidenheit. Wenn sie von dir verlangen, das Kind spazierenzuführen, dann tust du das eben in Gottes Namen. Du musst dich damit abfinden.« »Da sollen sich andere abfinden, Großmutter, ich bin nicht dafür gemacht.« »Du und dein Eigensinn! Ich sehe schwarz für deine Zukunft, Pedro Páramo.«
»Was ist los, Doña Eduviges?« Sie zuckte mit dem Kopf, als wache sie aus einem Traum auf. »Das ist das Pferd von Miguel Páramo, das zur Media Luna galoppiert.« »Dann lebt also doch jemand auf dem Gut?« »Nein, dort lebt niemand.« »Wie das?« »Es ist nur das Pferd, das hin und her läuft. Sie waren unzertrennlich. Es rennt überall herum und sucht ihn und kommt dann immer um diese Zeit zurück. Vielleicht wird das arme Tier von Schuldgefühlen getrieben. Dass selbst Tiere merken, wenn sie ein Verbrechen begehen, seltsam, nicht wahr?« »Ich verstehe nicht. Und ich habe auch kein Geräusch wie von einem Pferd gehört.« »Nein?« »Nein.« »Dann war das mein sechster Sinn. Eine Gottesgabe oder vielleicht auch ein Fluch. Allein ich weiß, wie sehr ich darunter gelitten habe.« Sie schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »Mit Miguel Páramo hat das alles begonnen. In der Nacht als er starb, wusste nur ich, was ihm widerfahren war. Ich lag schon im Bett, da hörte ich sein Pferd zur Media Luna zurückkehren. Ich wunderte mich, weil er nie zu dieser Uhrzeit heimritt. Er kam immer erst im Morgengrauen. Er besuchte seine Verlobte in einem Dorf namens Contla, etwas weiter weg von hier, brach früh auf und kam spät zurück. Doch in jener Nacht kehrte er nicht heim … Hörst du es jetzt? Man hört es deutlich. Es kommt zurück.«
»Ich höre nichts.« »Dann ist das eben nur für mich. Nun gut, wie ich gerade sagte … dass er nicht zurückkam, war nur so dahingesagt. Denn kaum war sein Pferd vorbeigaloppiert, da hörte ich jemand an mein Fenster klopfen. Aber wer weiß, vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. Tatsache ist, dass irgend etwas mich zwang nachzusehen, wer da war. Und da stand er, Miguel Páramo. Ich wunderte mich nicht, ihn zu sehen, schließlich hatte es eine Zeit gegeben, in denen er die Nächte bei mir verbrachte und mit mir schlief, bis er dann dieses Mädchen traf, das ihn um den Verstand brachte. ›Was ist los?‹ sagte ich zu Miguel Páramo. ›Hat sie dir einen Korb gegeben?‹ ›Nein, sie liebt mich nach wie von, sagte er zu mir. ›Aber ich habe sie einfach nicht finden können. Das Dorf ist verschwunden. Da war dichter Nebel oder Rauch oder was weiß ich; aber ganz sicher weiß ich, dass es Contla nicht mehr gibt. Nach meiner Schätzung bin ich sogar ein ganzes Stück weiter geritten, habe aber nichts gefunden. Ich erzähle es dir, weil du mich verstehst. Wenn ich das den anderen in Comala erzähle, sagen die nur, ich bin verrückt, was sie schon immer gesagt haben.‹ ›Nein. Nicht verrückt, Miguel. Du bist wahrscheinlich tot. Denk dran, man hat dir doch einmal gesagt, dass dieses Pferd dich eines Tages umbringen würde. Denk dran, Miguel Páramo. Aber vielleicht hast du auch was Verrücktes gemacht, das ist dann was anderes.‹ ›Ich bin nur über die Mauer gesprungen, die mein Vater vor kurzem hat errichten lassen. Ich habe den Colorado drübersetzen lassen, um mir den langen Umweg zu ersparen, den man jetzt machen muss, um auf die Landstraße zu kommen. Ich weiß, ich bin gesprungen und
dann weitergaloppiert; aber, wie ich schon sagte, da war nur Rauch, Rauch und noch mal Rauch.‹ ›Morgen wird dein Vater sich vor Schmerz winden‹, sagte ich zu ihm. ›Es tut mir leid für ihn. Jetzt geh schon, Miguel, und ruhe in Frieden. Ich dank dir, dass du noch einmal gekommen bist, um dich von mir zu verabschieden.‹ Und ich habe das Fenster geschlossen. Vor Tagesanbruch kam ein Knecht von der Media Luna und richtete aus: ›Don Pedro, der Patrón, fleht Sie an. Der junge Herr Miguel ist gestorben. Er fleht Sie an, zu ihm zu kommen.‹ ›Ich weiß‹, sagte ich. ›Hat man dir aufgetragen zu weinen?‹ Ja, Don Fulgor hat mir gesagt, ich sollte das weinend vorbringen.‹ ›Schon gut. Sag Don Pedro, dass ich komme. Wann haben sie ihn denn gebracht?« ›Das ist noch keine halbe Stunde her. Vielleicht hätte er etwas früher noch gerettet werden können. Obwohl der Doktor, der ihn abgetastet hat, sagt, er sei schon seit längerem kalt. Wir haben es erfahren, weil der Colorado allein zurückgekommen ist und so unruhig war, dass niemand schlafen konnte. Sie wissen, wie sehr er und das Pferd aneinanderhingen, und fast möchte man meinen, dass das Tier mehr leidet als Don Pedro. Es hat nicht gefressen, nicht geschlafen und rennt nur noch herum. Als wisse es Bescheid, wissen Sie? Als sei es innerlich zerrissen und zerfressen.‹ ›Vergiss nicht, die Tür zu schließen, wenn du gehst.‹ Und der Knecht von der Media Luna machte sich auf den Weg.« »Hast du schon mal einen Toten klagen hören?« fragte sie
mich. »Nein, Doña Eduviges.« »Da kannst du von Glück sagen.«
Vom
Steinfilter lösen sich die Tropfen, einer nach dem anderen. Man hört das klare Wasser aus dem Stein in den Krug fallen. Man hört. Hört Geräusche. Füße, die über den Boden schurren, die unterwegs sind, die kommen und gehen. Die Tropfen fallen unaufhörlich. Der Krug läuft über, und Wasser fließt auf den nassen Boden. »Wach auf, Pedro!« sagt man ihm. Er erkennt den Klang der Stimme. Versucht zu erraten, wer es ist; doch sein Körper, vom Gewicht der Müdigkeit niedergedrückt, wird schlaff, fällt in den Schlaf. Hände greifen die Decken, ziehen an ihnen. Und unter ihrer Wärme verbirgt sich der Körper und sucht Frieden. »Wach auf!« sagt man ihm wieder. Die Stimme rüttelt an den Schultern. Macht, dass sich der Körper streckt. Die Augen öffnen sich ein wenig. Man hört die Wassertropfen aus dem Steinfilter in den randvollen Krug fallen. Man hört schleppende Schritte … Und das Weinen. Da hörte er das Weinen. Das weckte ihn: ein leises, dünnes Weinen, das, vielleicht weil es so dünn war, durch das Dickicht des Traums zu dem Ort dringen konnte, wo der Schrecken nistet. Er richtete sich langsam auf und sah das Gesicht einer Frau, die, von der Nacht noch in Dunkelheit getaucht, am Türpfosten lehnte und schluchzte. »Warum weinst du, Mama?« fragte er. Denn sobald er die Füße auf den Boden gestellt hatte, erkannte er das Gesicht
seiner Mutter. »Dein Vater ist gestorben«, sagte sie. Und dann, als hätte sich ihr Kummer von Fesseln gelöst, drehte sie sich um sich selbst, wieder und wieder, wieder und wieder, bis zwei Hände sie an den Schultern fassten und dem Kreiseln ihres Körpers Einhalt geboten. Durch die Tür sah man den Morgen grauen. Es gab keine Sterne. Nur einen grauen, bleiernen Himmel, den das Leuchten der Sonne noch nicht erreicht hatte. Ein fahles Licht, als breche nicht der Tag an, sondern als beginne eben erst die Nacht. Draußen auf dem Hof die Schritte, wie von Menschen, die im Kreis gehen. Stumme Geräusche. Und hier diese Frau, an der Schwelle stehend; ihr Leib ließ es nicht Tag werden. Zwischen ihren Armen Fetzen von Himmel, unter ihren Füßen Ströme von Licht; ein zerfließendes Licht, als sei der Boden unter ihr von Tränen überschwemmt. Und dann das Schluchzen. Wieder das leise, aber durchdringende Weinen und der Schmerz, der ihren Körper krümmte. »Man hat deinen Vater getötet.« »Und wer hat dich getötet, Mutter?« »Da ist Luft und Sonne, da sind Wolken. Dort oben ein blauer Himmel und dahinter vielleicht Lieder, vielleicht schönere Stimmen … Kurzum, da ist Hoffnung. Da ist Hoffnung für uns, ob wir es wollen oder nicht. Aber nicht für dich, Miguel Páramo, der du ohne Vergebung gestorben bist und keinerlei Gnade finden wirst.« Pater Renteria wandte sich ab und beendete die Messe. Er wollte es schnell hinter sich bringen und ging, ohne den Leuten, die die Kirche füllten, den abschließenden Segen zu
erteilen. »Hochwürden, wir wollen, dass Sie ihn segnen!« »Nein!« sagte er und schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht tun. Er war ein schlechter Mensch und wird nicht in den Himmel kommen. Gott würde es mir übelnehmen, wenn ich mich für ihn verwendete.« Er sagte es und versuchte seine Hände zu beherrschen, damit man nicht merkte, dass sie zitterten. Aber er ging zurück. Diese Leiche lastete schwer auf dem Gemüt aller Anwesenden. Sie lag auf einem Podest mitten in der Kirche, umgeben von neuen Kerzen und Blumen. Dahinter stand allein der Vater und wartete auf das Ende der Zeremonie. Pater Renteria ging an Pedro Páramo vorbei und achtete darauf, nicht dessen Schulter zu streifen. Er hob den Weihwedel mit sanfter Gebärde und versprengte das Weihwasser, von oben nach unten, während aus seinem Mund ein Murmeln drang, das ein Gebet sein mochte. Dann kniete er nieder, und alle taten es ihm gleich. »Herr, erbarme dich deines Knechtes.« »Er ruhe in Frieden. Amen«, erwiderten die Stimmen. Und als der Zorn wieder über ihn kam, sah er, wie alle die Kirche verließen und die Leiche von Miguel Páramo hinausgetragen wurde. Pedro Páramo kam heran und kniete neben ihm nieder: »Ich weiß, Sie haben ihn gehasst, Hochwürden. Und mit Recht. Der Mord an Ihrem Bruder, den mein Sohn verübt haben soll; der Fall Ihrer Nichte Anna, die, wie Sie meinen, von ihm vergewaltigt wurde; all die Beleidigungen und seine gelegentliche Respektlosigkeit Ihnen gegenüber, das sind Gründe, die jeder gelten lassen wird. Aber vergessen Sie das jetzt, Hochwürden. Seien Sie milde und vergeben Sie ihm,
wie Gott ihm vielleicht vergeben hat.« Er legte eine Handvoll Goldmünzen auf den Betstuhl und erhob sich: »Nehmen Sie dies als Spende für Ihre Kirche an.« Die Kirche war schon leer. Zwei Männer warteten an der Tür auf Pedro Páramo, der sich ihnen nun anschloss, und gemeinsam folgten sie dem Sarg, der auf den Schultern von vier Vorarbeitern der Media Luna ruhte. Pater Renteria klaubte die Münzen einzeln auf und ging zum Altar. »Sie gehören dir«, sagte er. »Er kann sich das Heil kaufen. Und du wirst wissen, ob das der Kaufpreis ist. Was mich angeht, Herr, so liege ich dir zu Füßen, um das Gerechte oder das Ungerechte zu erflehen, denn bitten darf man um alles … Was mich betrifft, Herr, verdamme ihn.« Und er schloss das Tabernakel. Er betrat die Sakristei, warf sich in einer Ecke nieder, und dort weinte er vor Gram und Trauer, bis er keine Tränen mehr hatte. »Schon gut, Herr, du hast gesiegt«, sagte er dann.
Zum
Abendessen trank er wie jeden Abend seine Schokolade. Er fühlte sich ruhig und gelassen. »Hör mal, Anita, weißt du, wen sie heute begraben haben?« »Nein, Onkel.« »Erinnerst du dich an Miguel Páramo?« »Ja, Onkel.« »Nun, eben den.« Ana senkte den Kopf.
»Du bist dir doch sicher, dass er es war?« »Sicher nicht, Onkel. Ich habe sein Gesicht nicht gesehen. Er hat mich nachts und im Dunkeln erwischt.« »Wie wusstest du dann, dass es Miguel Páramo war?« »Weil er es mir selbst gesagt hat. ›Ich bin Miguel Páramo, Ana. Hab keine Angst.‹ Das hat er zu mir gesagt.« »Aber du wusstest, dass er der Mörder deines Vaters war?« »Ja, Onkel.« »Und was hast du dann getan, um ihn loszuwerden?« »Ich habe nichts getan.« Die beiden schwiegen eine Weile. Die laue Luft raschelte in den Blättern des Arrayán. »Er sagte mir, dass er gerade deswegen komme: um mich um Verzeihung zu bitten und damit ich ihm vergebe. Ich blieb liegen und sagte: ›Das Fenster ist offen.‹ Und er kam herein und umarmte mich, als sei das die Form, sich für das zu entschuldigen, was er getan hatte. Und ich habe ihn angelächelt. Ich dachte an das, was Sie mich gelehrt haben, dass man niemals jemanden hassen soll. Ich habe ihn angelächelt, um ihm das zu sagen. Aber dann dachte ich, dass er mein Lächeln ja nicht sehen konnte, weil ich ihn auch nicht sehen konnte in dieser schwarzen Nacht. Ich spürte ihn nur auf mir und wie er anfing, schlimme Sachen mit mir zu machen. Ich dachte, er würde mich umbringen. Das habe ich gedacht, Onkel. Und hörte sogar auf zu denken, wollte sterben, bevor er mich tötete. Aber er hat sich wohl nicht getraut, das zu tun. Das wusste ich, als ich die Augen aufmachte und das Morgenlicht durch das offene Fenster kommen sah. Davor war mir so, als ob es mich nicht mehr gebe.«
»Aber du musst doch irgendeine Gewissheit haben. Die Stimme. Hast du ihn nicht an seiner Stimme erkannt?« »Ich kannte ihn ja gar nicht. Ich wusste nur, dass er meinen Vater getötet hatte. Ich hatte ihn nie gesehen, und später habe ich ihn nicht sehen wollen. Das hätte ich nicht über mich gebracht.« »Aber du wusstest, wer er war.« »Ja. Und auch, was für ein Mensch er war. Ich weiß, dass er jetzt tief unten in der Hölle schmoren muss, denn darum habe ich alle Heiligen inbrünstig angefleht.« »Sei dir da nicht so sicher, mein Kind. Wer weiß, wie viele jetzt für ihn beten. Du bist allein. Ein Gebet gegen Tausende. Und darunter einige viel inniger als das deine, das seines Vaters etwa.« Er wollte ihr noch sagen: »Auch ich habe ihm übrigens verziehen.« Aber das dachte er nur. Er wollte nicht die verletzte Seele des Mädchens quälen. Statt dessen nahm er es am Arm und sagte: »Lass uns Gott dem Herrn dafür danken, dass Er ihn von dieser Erde geholt hat, wo er so viel Böses angerichtet hat, da macht es auch nichts, wenn Er ihn jetzt bei sich im Himmel hat.«
An
der Kreuzung der Landstraße und des Wegs nach Contla galoppierte ein Pferd vorbei. Keiner sah es. Eine Frau jedoch, die außerhalb des Dorfs wartete, erzählte, sie habe das Pferd mit eingeknickten Beinen laufen sehen, als werde es gleich stürzen. Sie erkannte den Fuchs von Miguel Páramo und dachte noch: »Das Tier bricht sich gleich das Genick.« Dann sah sie, wie es den Körper wieder aufrichtete und,
ohne den Lauf zu verlangsamen, den Hals rückwärts wandte, als jage ihm etwas Angst ein, was es dort hinter sich gelassen hatte. Solche Gerüchte drangen in der Nacht der Beerdigung auf die Media Luna, während die Männer sich von der langen Wanderung zum Friedhof erholten. Sie unterhielten sich, wie man sich überall vor dem Schlafengehen unterhält. »Dieser Tote hat mir sehr weh getan«, sagte Torencio Lubianes. »Mir tun immer noch die Schultern weh.« »Und mir erst«, sagte sein Bruder Ubillado. »Sogar meine Ballen sind geschwollen. Nur weil der Patrón wollte, dass wir alle in Schuhen kämen. Als wär’s ein Feiertag, stimmt’s, Toribio?« »Was soll ich euch sagen, ich meine, er ist gerade zur rechten Zeit gestorben.« Nach einer Weile kamen weitere Gerüchte aus Contla. Das letzte Fuhrwerk hatte sie mitgebracht. »Es heißt, sein Geist geht dort um. Man hat gesehen, wie er bei irgendeiner Kleinen ans Fenster klopfte. Sah ganz genauso aus, mit ledernem Beinschutz und allem.« »Ja, meinen Sie denn, dass Don Pedro, bei seinem Jähzorn, erlauben würde, dass sein Sohn es weiter mit den Weibern treibt? Ich kann mir genau vorstellen, was er täte, wenn er es wüsste: ›Alles was recht ist‹, würde er sagen, ›du bist jetzt tot, also bleib gefälligst ruhig in deinem Grab und überlass dieses Geschäft uns.‹ Und falls der Alte ihn dabei erwischen würde, dann wette ich, dass er ihn zurück auf den Friedhof schickt.« »Recht hast du, Isaias. Der Alte fackelt nicht lange.« Der Fuhrmann machte sich auf den Weg. »Wie ich’s höre, geb ich’s weiter.«
Da waren Sternschnuppen. Sie stürzten herab, als ob es Licht vom Himmel regnete. »Schaut nur, was da oben los ist«, sagte Terencio. »Na, da feiern sie Miguelitos Auftritt«, mischte sich Jesus ein. »Ist das vielleicht ein schlechtes Zeichen?« »Für wen? »Vielleicht hat deine Schwester Sehnsucht nach ihm.« »Zu wem sprichst du?« »Zu dir.« »Jungs, lasst uns lieber gehen. Wir haben einen langen Marsch hinter uns, und morgen müssen wir früh raus.« Und sie lösten sich wie Schatten auf.
Es gab Sternschnuppen. Die Lichter in Comala gingen aus. Dann nahm der Himmel die Nacht in Besitz. Pater Renteria wälzte sich in seinem Bett und konnte nicht schlafen. »An allem, was hier geschieht, bin ich schuld«, sagte er sich. »Die Angst, es mit jenen zu verderben, die mich erhalten. Denn das ist die Wahrheit: Sie ernähren mich. Von den Armen bekomme ich nichts. Und Gebete füllen nicht den Magen. Das war so und ist so. Und dies sind die Folgen. Meine Schuld. Ich habe diejenigen verraten, die mich lieben und an mich glauben und die zu mir kommen, damit ich bei Gott ein gutes Wort für sie einlege. Aber was haben sie mit ihrem Glauben erreicht? Das Himmelreich? Die Läuterung ihrer Seelen? Und wozu sollen sie ihre Seele läutern, wenn im letzten Augenblick … Ich sehe noch den Blick von Maria Dyada, die mich anflehte, ihre Schwester Eduviges zu retten:
›Sie hat immer ihren Nächsten gedient. Hat ihnen alles gegeben, was sie hatte. Sie hat ihnen allen sogar ein Kind geschenkt. Hat es ihnen hingehalten, damit einer es als das seine anerkenne. Aber das wollte keiner tun. Da hat sie gesagt: Dann bin ich eben auch sein Vater, obwohl ich zufällig seine Mutter bin. Man hat ihre Gastfreundschaft ausgenützt, weil sie ein so gutes Herz hatte und keinen vor den Kopf stoßen oder vergrämen mochte.‹ ›Aber sie hat sich das Leben genommen, hat sich gegen Gott aufgelehnt.‹ ›Es blieb ihr kein anderer Ausweg, und auch dazu trieb sie ihr gutes Herz.‹ ›Ganz zuletzt hat sie gefehlt‹, das habe ich ihr gesagt. ›Im letzten Augenblick! So viele gute Werke hatte sie für ihr Seelenheil getan und dann mit einem Schlag alles verloren! ‹ ›Aber da ist doch nichts verloren. Sie ist unter großen Schmerzen gestorben. Und der Schmerz… Sie haben uns einmal etwas über den Schmerz erzählt, an das ich mich nicht mehr genau erinnere. Dieser Schmerz hat sie begleitet. Sie starb ganz verkrümmt von all dem Blut, das sie erstickte. Ich sehe heute noch ihre Grimassen, und ihre Grimassen waren die traurigsten, die je ein Mensch gemacht hat.‹ ›Vielleicht wenn man viel betet.‹ ›Wir beten schon sehr viel, Hochwürden.‹ ›Ich meine, wer weiß, vielleicht mit gregorianischen Messen; aber da brauchen wir Unterstützung, müssen noch andere Priester kommen lassen, und das kostet Geld.‹ Da, vor meinen Augen, war dieser Blick von Maria Dyada, einer armen Frau mit einem Haufen Kindern. ›Ich habe kein Geld, Hochwürden. Das wissen Sie.‹ ›Dann lassen wir alles, wie es ist, und hoffen auf Gott.‹
›Ja, Hochwürden.‹ Warum wurde dieser Blick tapfer angesichts der Vergeblichkeit? Was hätte es ihn, Pater Renteria, denn gekostet, die Absolution zu erteilen, es war doch so leicht, ein, zwei Worte zu sagen oder auch hundert, wenn das für die Rettung einer Seele erforderlich war? Was wusste er schon von Himmel und Hölle? Und dennoch wusste er, verloren in einem namenlosen Dorf, wer sich den Himmel verdient hatte. Es gab da ein Verzeichnis. Er begann die Heiligen des katholischen Kalenders aufzuzählen, fing bei denen des Tages an: »Heilige Nunilona, Jungfrau und Märtyrerin; Anercio, Bischof; heilige Salome, Witwe; Alodia oder Elodia und Nulina, Jungfrauen; Cordula und Doñato.« Und so machte er weiter. Fast hatte ihn schon der Schlaf übermannt, als er sich im Bett aufsetzte: »Ich sage die Namen der Heiligen auf, als würde ich Schäfchen zählen.« Er ging hinaus und schaute zum Himmel. Es regnete Sternschnuppen. Das bedauerte er, hätte er doch lieber einen ruhigen Himmel gesehen. Er hörte die Hähne krähen. Er spürte den Mantel der Nacht, der die Erde umhüllte. Die Erde, „dieses Tal der Tränen’’. »Um so besser für dich, mein Sohn. Um so besser«, sagte Eduviges Dyada zu mir. Es war schon spät in der Nacht. Die Lampe, die in einer Ecke brannte, leuchtete immer schwächer. Dann begann das Licht zu flackern und erlosch schließlich. Ich hörte, wie die Frau aufstand, und dachte mir, sie hole ein neues Licht. Ich hörte ihre Schritte sich immer weiter entfernen. Ich wartete. Nach einer Weile, als mir klar war, dass sie nicht zurückkam, stand auch ich auf. Ich machte kleine Schritte,
tastete mich in der Dunkelheit voran, bis ich zu meinem Zimmer kam. Dort setzte ich mich auf den Boden und wartete auf den Schlaf. Ich schlief mit Unterbrechungen. Als ich gerade mal nicht schlief, hörte ich den Schrei. Es war ein langgezogener Schrei, wie das Johlen eines Betrunkenen: »Scheißleben, du hast mich nicht verdient!« Ich setzte mich schnell auf, denn ich hatte das ganz nah an meinem Ohr gehört; möglich, dass es auf der Straße war, aber ich hatte es hier gehört, als dringe es aus den Wänden meines Zimmers. Als ich aufwachte, war alles still. Nur das Raspeln des Holzwurms und das Rauschen der Stille. Nein, es war unmöglich, die Tiefe des Schweigens zu ermessen, die jener Schrei schuf. Als wäre alle Luft von der Erde entwichen. Nicht ein Geräusch; kein Atemzug, kein Herzklopfen; als sei sogar das Bewusstsein verstummt. Und als die Pause vorüber und ich mich wieder beruhigt hatte, kam erneut der Schrei und war eine ganze Weile lang zu hören. »Lasst mir wenigstens das Recht zu strampeln, das jeder Erhängte hat!« Daraufhin ging die Tür weit auf. »Sind Sie das, Doña Eduviges?« fragte ich. »Was geht da vor? Hatten Sie Angst?« »Ich heiße nicht Eduviges. Ich bin Damiana. Ich wusste, dass du hier bist, und wollte dich sehen. Ich möchte dich einladen, bei mir zu übernachten. Da hast du dann auch etwas zum Hinlegen.« »Damiana Cisneros? Gehören Sie nicht zu denen, die auf der Media Luna gewohnt haben?« »Da wohne ich noch. Deshalb hat es gedauert, bis ich hier ankam.« »Meine Mutter hat mir von einer gewissen Damiana
erzählt, die nach meiner Geburt auf mich aufpasste. Sind Sie das etwa?« »Ja, das bin ich. Ich kenne dich, seitdem du das Licht der Welt erblickt hast.« »Ich komme gerne zu Ihnen. Hier lassen einem die Schreie keine Ruhe. Haben Sie nicht gehört, was hier los war? Als würde da jemand umgebracht. Haben Sie das gerade gehört?« »Das ist womöglich ein Echo, das hier eingesperrt ist. In diesem Raum ist vor langer Zeit Toribio Aldrete erhängt worden. Dann haben sie die Türe verrammelt, er sollte verdorren, damit sein Körper keine Ruhe fände. Ich weiß nicht, wie du hier hineingelangt bist, es gibt doch keinen Schlüssel für diese Tür.« »Doña Eduviges hat aufgeschlossen. Sie sagte mir, dies sei das einzige Zimmer, das sie zur Verfügung habe.« »Eduviges Dyada?« »Ebendie.« »Die arme Eduviges. Sie geistert also noch immer herum.« »Ich, Fulgor Sedano, 54 Jahre alt, unverheiratet, von Beruf Verwalter, berechtigt, Prozesse anzustrengen und zu führen, klage als Bevollmächtigter und in eigener Sache und erkläre dazu … « Das hatte er zu Protokoll gegeben, als er Klage gegen das Vorgehen von Toribio Aldrete erhob. Und zum Schluss hieß es: »Hiermit stelle ich Strafantrag wegen Nießbrauch.« »Sie sind wirklich ein ganzer Kerl, das bestreitet keiner, Don Fulgor. Sie ziehen das durch. Und nicht wegen der Macht, die hinter Ihnen steht, sondern ganz aus eigener Kraft.«
Er erinnerte sich. Das war das erste, was Aldrete zu ihm gesagt hatte, nachdem sie sich gemeinsam besoffen hatten, gewissermaßen um das Schriftstück zu feiern: »Mit diesem Papier werden wir uns beide den Arsch abwischen, Don Fulgor, denn für was anderes taugt es nicht. Und das wissen Sie. Nun ja, was Sie angeht, so haben Sie das erledigt, was man Ihnen aufgetragen hat, und ich kann wieder ruhig schlafen; denn ich hatte mir doch Sorgen gemacht, was da auf mich zukommt. Jetzt weiß ich, worum es geht, und kann nur drüber lachen. ›Nießbrauch‹ also. Ihr Herr sollte sich schämen, so unwissend zu sein.« Er erinnerte sich. Sie waren im Gasthaus von Eduviges. Und er hatte sie gefragt: »Hör mal, Viges, kannst du mir das hintere Eckzimmer geben?« »Welches immer Sie möchten, Don Fulgor. Wenn Sie wollen, können Sie alle haben. Werden Ihre Männer hier übernachten?« »Nein, nur einer. Geh schlafen, du musst dich nicht um uns kümmern. Lass uns nur den Schlüssel da.« »Wie ich Ihnen schon sagte, Don Fulgor«, sagte Toribio Aldrete zu ihm. »Sie sind ein ganzer Kerl, das stellt niemand in Frage. Aber dieser Hurensohn, Ihr Patrón, der geht mir auf den Sack.« Er erinnerte sich. Das war das letzte, was er ihn bei vollem Bewusstsein sagen hörte. Später hatte er sich wie ein Feigling benommen und gebrüllt. »So, so, die Macht, die hinter mir steht. Von wegen!«
Er
klopfte mit dem Peitschenknauf an Pedro Páramos Haustür. Er dachte daran, wie er das zum erstenmal getan hatte, vor zwei Wochen. Er wartete eine ganze Weile, wie er auch damals hatte warten müssen. Er schaute, wie auch
damals, auf die schwarzen Trauerschleifen, die vom Türrahmen hingen. Aber er dachte nicht mehr: So was! Die haben sie übereinandergehängt. Die erste ist schon ganz ausgeblichen, die letzte leuchtet wie Seide, dabei ist es nur ein gefärbter Lumpen. Das erstemal hatte er so lange gewartet, dass er sich schließlich sagte, das Haus sei wohl unbewohnt. Und war schon im Gehen begriffen, als die Gestalt von Pedro Páramo auftauchte. »Komm rein, Fulgor.« Es war das zweitemal, dass sie sich sahen. Das erstemal hatte nur er ihn gesehen, denn Pedrito war damals gerade erst geboren. Und dann dieses Mal. Man konnte es fast das erstemal nennen. Und er stellte fest, dass Pedro zu ihm wie zu einem Ebenbürtigen sprach. So was! Er folgte ihm mit großen Schritten, schlug sich dabei mit der Peitsche gegen die Beine: Bald wird er wissen, mit wem er es zu tun hat. Er wird es erfahren. Und weshalb ich komme. »Setz dich, Fulgor. Hier können wir ungestört sprechen.« Sie standen im Stall. Pedro Páramo machte es sich auf einer Krippe bequem und wartete ab. »Warum setzt du dich nicht?« »Ich stehe lieber, Pedro.« »Wie du willst. Aber vergiss mir nicht den ›Don‹.« Was erlaubte sich dieser Bursche, dass er so mit ihm sprach? Nicht einmal sein Vater, Don Lucas Páramo, hatte das gewagt. Und auf einmal kommt so ein Knabe, der sich auf der Media Luna nie hat sehen lassen und die Arbeit nicht einmal vom Hörensagen kennt, und behandelt ihn wie einen Tagelöhner. So was! »Wie stehen die Dinge?« Fulgor fühlte, der Moment war gekommen. »Jetzt bin ich
dran«, dachte er. »Schlecht. Alles ist weg. Wir haben das letzte Stück Vieh verkauft.« Er begann die Papiere herauszuholen, um ihm mitzuteilen, wie hoch die Schulden waren. Und er wollte schon sagen: »Wir schulden soundso viel«, als er hörte: »Wem schulden wir? Mich interessiert nicht, wieviel, sondern, wem.« Fulgor las ihm eine Liste mit Namen vor. Und schloss: »Es gibt nichts, womit wir zahlen könnten. Das ist das Problem.« »Und warum?« »Weil Ihre Familie alles verbraucht hat. Es wurde ständig Geld gefordert und nichts zurückgezahlt. Das kommt teuer zu stehen. Ich hab’s schon immer gesagt: irgendwann ist alles weg.‹ Nun ja, jetzt ist es soweit. Es gibt da allerdings jemanden, der Land kaufen würde. Und gut dafür zahlt. Man könnte die Schulden begleichen, und es würde immer noch etwas Land übrigbleiben. Nicht sehr viel allerdings.« »Der Jemand bist nicht etwa du?« »Wie können Sie so etwas glauben!« »Ich glaube sogar das Vaterunser. Morgen gehen wir die Sache an. Wir beginnen bei den Preciados. Du sagst, wir schulden diesen Frauen am meisten?« »Ja. Und wir haben ihnen am wenigsten gezahlt. Ihr Vater hat sie immer hintangestellt. Soviel ich weiß, ist eine von ihnen, Matilde, in die Stadt gezogen. Ich weiß nicht, ob nach Guadalajara oder nach Colima. Und jetzt gehört alles der Lola, ich meine Doña Dolores. Sie wissen: das Gut Enmedio. Ihr müssen wir zahlen.« »Morgen wirst du um Lolas Hand anhalten.«
»Warum sollte sie mich wollen, ich bin doch schon alt.« »Du wirst in meinem Namen um sie anhalten. Sie ist ja nicht ganz reizlos. Du sagst ihr, dass ich sehr in sie verliebt bin. Und ob sie einverstanden ist. Und geh bei Pater Renteria vorbei, er soll sich um die Formalitäten kümmern. Wieviel Geld hast du übrig?« »Gar keins, Don Pedro.« »Dann versprich ihm was. Sag ihm, sobald wir etwas haben, wird er bezahlt. Ich bin mir fast sicher, dass er keine Schwierigkeiten machen wird. Tu das gleich morgen.« »Und das mit Aldrete?« »Was ist mit Aldrete? Du hast die Preciados, die Fregosos und die Guzmanes erwähnt. Was taucht jetzt plötzlich Aldrete auf?« »Es geht um Grenzen. Er hat sein Land schon einfrieden lassen, und jetzt will er, dass wir die restliche Mauer errichten, damit die Grundstücke endgültig getrennt sind.« »Lass das für später. Kümmre dich nicht um Mauern. Es wird keine geben. Das Land kennt keine Grenzen. Überleg dir was, Fulgor, aber lass es ihn nicht merken. Regle erst das mit der Lola. Willst du dich nicht setzen?« »Ich setze mich, Don Pedro. Ehrlich gesagt, mit Ihnen zu arbeiten macht Spaß.« »Du sagst der Lola dies und das und dass ich sie liebe. Das ist wichtig. Ich liebe sie wirklich. Wegen ihrer schönen Augen, weißt du. Das machst du morgen ganz früh. Deine Arbeit als Verwalter kannst du zurückstellen. Vergiss die Media Luna.« »Woher, zum Teufel, hat der Junge plötzlich dieses Händchen«, fragte sich Fulgor Sedano auf dem Rückweg zur
Media Luna. »Ich habe nichts von ihm erwartet. ›Er ist ein nutzloser Kerl‹, sagte mein verstorbener Herr, Don Luca, über ihn. ›Ein Faulpelz erster Güte.‹« Ich gab ihm recht. ›Wenn ich mal sterbe, können Sie sich eine andere Arbeit suchen, Fulgor.‹ ›Ja, Don Lucas.‹ ›Denken Sie nur, Fulgor, ich wollte ihn sogar aufs Priesterseminar schicken, in der Hoffnung, dass er sich und seine Mutter damit ernähren könnte, wenn ich einmal nicht mehr bin, aber selbst dazu kann er sich nicht aufraffen.› ›Sie haben das nicht verdient, Don Lucas.‹ ›Man kann sich überhaupt nicht auf ihn verlassen, er wird mir nicht mal eine Stütze im Alter sein. Er ist mir missraten, was will man da machen, Fulgor.‹ ›Es ist wirklich ein Jammer, Don Lucas.‹« Und jetzt das. Hätte er nicht so an der Media Luna gehangen, hätte er Pedro Páramo nicht einmal aufgesucht. Er hätte sich abgesetzt, ohne ihm Bescheid zu geben. Aber er mochte diese Erde; diese kahlen, so oft bestellten Hügel, die noch immer den Pflug erduldeten und jedesmal mehr Ertrag gaben … Die geliebte Media Luna … Und die Zugaben: »Kommt schon her, ihr Felder von Enmedio.« Er sah sie kommen. Als seien sie schon da. Was eine Frau doch letztlich bedeuten kann. »Aber ja doch!« sagte er und ließ die Reitpeitsche gegen seine Beine schnalzen, als er das große Tor der Hazienda durchschritt.
Es war nicht schwer, die Dolores herumzubekommen. Ihre Augen leuchteten sogar auf, die Züge entglitten ihr. »Verzeihen Sie, dass ich rot werde, Don Fulgor. Ich ahnte nicht, dass Don Pedro ein Auge auf mich geworfen hatte.« »Er kann nicht mehr schlafen, denkt nur an Sie.« »Aber er kann doch wählen. Es gibt so viele hübsche Mädchen in Comala. Was werden die sagen, wenn sie davon
hören?« »Seine Gedanken sind nur bei Ihnen, Dolores. Bei sonst keiner.« »Don Fulgor, da wird mir ja heiß und kalt bei dem, was Sie erzählen. Ich wäre nie drauf gekommen.« »Er ist eben ein sehr zurückhaltender Mensch. Don Lucas Páramo, er ruhe in Frieden, hat ihm einmal gesagt, Sie seien seiner nicht würdig. Aus purem Gehorsam hat er den Mund gehalten. Doch jetzt, wo der Vater tot ist, steht nichts mehr im Wege. Es war sein erster Entschluss. Ich war nur so beschäftigt, dass ich ihn nicht gleich ausführen konnte. Lassen Sie uns die Hochzeit auf übermorgen ansetzen. Was meinen Sie?« »Ist das nicht etwas schnell? Ich habe nichts vorbereitet. Ich muss die Sachen für die Aussteuer bestellen. Ich werde meiner Schwester schreiben. Oder nein, ich schicke ihr lieber einen Boten. Aber wie auch immer, vor dem achten April schaffe ich das nicht. Heute ist der erste April. Ja, frühestens am achten. Sagen Sie ihm, er soll so lieb sein und die paar Tage warten.« »Er hätte die Hochzeit lieber heute als morgen. Wenn es wegen dem Hochzeitskleid ist, das bekommen Sie von uns. Nach Wunsch von Don Pedros verstorbener Mutter sollen Sie ihre Kleider tragen. Das ist in der Familie Tradition.« »Aber da ist noch etwas anderes in diesen Tagen. Eine Frauensache, Sie verstehen. Oh, wie peinlich, Ihnen das sagen zu müssen, Don Fulgor. Mir wird ganz anders. Ich bekomme meine Tage. Oh, wie peinlich.« »Ja und? Die Ehe ist doch keine Frage von Tagen. Hauptsache, man liebt sich. Und wenn das gegeben ist, ist alles andere nebensächlich.«
»Aber Sie verstehen mich nicht, Don Fulgor.« »Ich verstehe. Übermorgen ist Hochzeit.« Und er ließ sie stehen, die Arme flehend ausgestreckt: acht Tage, acht Tage nur. »Ich darf nicht vergessen, Don Pedro zu sagen – ein schlaues Bürschlein, dieser Don Pedro! –, er soll nicht vergessen, dem Richter zu sagen, dass es keine Gütertrennung gibt. Denk dran, Fulgor, ihm das gleich morgen zu sagen.« Dolores indes rannte mit einem Krug in die Küche, um Wasser aufzusetzen. »Ich mach was, damit das schneller kommt. Noch heute nacht soll es kommen. Aber so oder so wird es drei Tage dauern. Da ist nichts zu machen. Was für ein Glück! Ach, was ist das nur für ein Glück! Danke, lieber Gott, dass du mir Don Pedro schenkst!« Und sie fügte hinzu: »Selbst wenn er mich später einmal nicht mehr ausstehen kann.« »Der Antrag ist gemacht, und sie ist ganz einverstanden. Der Priester verlangt sechzig Pesos dafür, dass er das Aufgebot umgeht. Ich hab ihm gesagt, er bekommt sie zur gegebenen Zeit. Er sagt, er braucht etwas, um den Altar zu richten, und sein Esstisch sei schon ganz abgestoßen. Ich hab ihm versprochen, einen neuen Tisch zu schicken. Er sagt, dass Sie nie zur Messe kommen. Ich hab ihm versprochen, dass Sie demnächst kämen. Und dass er seit dem Tod Ihrer Großmutter keinen Pfarrzins mehr bekommen hat. Ich hab ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen. Er ist einverstanden.« »Hast du Dolores nicht um einen kleinen Vorschuss gebeten?« »Nein, Herr. Ich hab mich nicht getraut. Das ist die
Wahrheit. Sie war so froh, dass ich ihr die Stimmung nicht verderben wollte.« »Du bist ein Kind.« »Aber, aber! Ich ein Kind. Mit fünfundfünfzig Jahren auf dem Buckel. Sie fangen Ihr Leben gerade erst an, und ich stehe ein paar Schritte vor dem Grab. Ich wollte ihre Freude nicht zerstören.« »Trotz allem, du bist ein Kind.« »Schon gut, Patrón.« »Kommende Woche gehst du zu Aldrete. Du sagst ihm, er soll die Mauer versetzen. Er ist in das Gebiet der Media Luna eingedrungen.« »Er hat die Messungen ordentlich gemacht. Das weiß ich.« »Du sagst ihm, er habe sich geirrt. Das sei falsch berechnet. Wenn nötig, reißt du die Mauer ein.« »Und die Gesetze?« »Welche Gesetze, Fulgor? Von jetzt ab machen wir das Gesetz. Hast du unter den Arbeitern auf der Media Luna einen schlagkräftigen Kerl?« »Ja, den einen oder anderen.« »Dann schick eine Abordnung zu Aldrete. Du erhebst Anklage gegen ihn, wegen Nießbrauch oder was dir sonst einfällt. Und erinnere ihn daran, dass Lucas Páramo tot ist. Dass man mit mir neu verhandeln muss.« Der Himmel war noch blau. Es gab kaum Wolken. Dort oben wehte der Wind, hier unten aber wurde er zu Glut.
Er
klopfte wieder mit dem Peitschenstiel an die Tür, nur aus Beharrlichkeit, denn er wusste, man würde erst öffnen, wenn es Pedro Páramo passte. Er schaute auf den Türstock und sagte: »Hübsch, diese schwarzen Schleifen, jedem die
Seine.« In dem Augenblick wurde geöffnet, und er trat ein. »Komm rein, Fulgor. Ist die Sache mit Toribio Aldrete geregelt?« »Aus der Welt geschafft, Patrón.« »Dann bleibt uns noch die Geschichte mit den Fregosos. Lass das für später. Jetzt bin ich erst mal mit meinen ›Flitterwochen‹ beschäftigt.« »Dieses Dorf ist voller Echos. Es ist, als seien sie in den Hohlräumen der Mauern oder unter den Steinen eingesperrt. Wenn du gehst, spürst du, dass sie dir auf den Hacken sind. Hörst es knirschen. Gelächter. Schon recht altes Gelächter, als wäre es müde vom Lachen. Und Stimmen, die vom vielen Gebrauch abgenutzt sind. All das hörst du. Ich glaube, der Tag wird kommen, an dem diese Geräusche verstummen.« Das erzählte mir Damiana Cisneros auf dem Weg durchs Dorf. »Es gab eine Zeit, da hörte ich viele Nächte lang den Lärm eines Festes. Der drang bis zur Media Luna herüber. Ich machte mich auf, um mir den Rummel anzusehen, und sah das, was wir jetzt hier sehen. Nichts. Niemanden. Die Straßen so verlassen wie jetzt. Später dann hörte ich nichts mehr. Feiern macht eben müde. Deshalb wunderte es mich nicht, dass es damit ein Ende nahm.« »Ja«, sagte Damiana Cisneros weiter. »Dieses Dorf ist voller Echos. Mich schrecken sie nicht mehr. Ich höre die Hunde heulen und lass sie heulen. Und an windigen Tagen sieht man, wie der Wind Blätter herumwirbelt, obwohl es hier, wie du siehst, gar keine Bäume gibt. Es muss einmal
welche gegeben haben, woher kämen sonst die Blätter? Und das Schlimmste ist, wenn du die Menschen reden hörst. Als kämen die Stimmen aus irgendeiner Ritze, aber doch so klar, dass du sie erkennst. Gerade eben bin ich auf meinem Weg einem Trauerzug begegnet. Ich bin stehengeblieben und habe ein Vaterunser gebetet. Da kam eine Frau aus dem Gefolge auf mich zu und sagte: ›Damiana! Bete für mich, Damiana!‹ Dann ließ sie das Umschlagtuch auf die Schultern fallen, und ich erkannte das Gesicht meiner Schwester Sixtina. ›Was machst du hier?‹ fragte ich sie. Da lief sie weg und versteckte sich hinter den anderen Frauen. Meine Schwester Sixtina, musst du wissen, ist gestorben, als ich zwölf war. Sie war die Älteste. Und wir waren sechzehn Kinder, also kannst du dir ausrechnen, wie lange sie schon tot ist. Aber denk nur, sie irrt immer noch durch diese Welt. Erschrick also nicht, wenn du jüngere Echos hörst, Juan Preciado.« »Hat auch Ihnen meine Mutter Bescheid gegeben, dass ich kommen würde?« »Nein. Wie geht es übrigens deiner Mutter?« »Sie ist gestorben«, sagte ich. »Schon gestorben? An was denn?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht vor Kummer. Sie seufzte so oft.« »Das ist schlecht. Jeder Seufzer ist ein Hauch Leben, den man abgibt. Sie ist also gestorben?« »Ja. Eigentlich hätten Sie das wissen müssen.« »Woher hätte ich es wissen sollen? Ich erfahre schon seit Jahren nichts mehr.«
»Wie sind Sie dann auf mich gestoßen?« »… « »Sind Sie überhaupt lebendig, Damiana? Damiana! Sagen Sie es mir!« Und plötzlich war ich allein in diesen leeren Straßen. Aus den Fenstern der zum Himmel hin offenen Häuser schauten die zähen Gerten des Unkrauts. Die bröckelnden Mauern zeigten ihre ausgewaschenen Lehmziegel. »Damiana!« schrie ich. »Damiana Cisnerosl« Das Echo antwortete mir: »… ana … neros! … ana … neros!«
Ich hörte die Hunde bellen, als hätte ich sie geweckt. Ich sah einen Mann die Straße überqueren. »He, du!« rief ich. »He, du!« antwortete mir meine eigene Stimme. Und als stünden sie gleich um die Ecke, hörte ich ein paar Frauen sprechen: »Schaut mal, wer da kommt. Ist das nicht Filoteo Aréchiga?« »Das ist er. Setz ein gleichgültiges Gesicht auf.« »Lass uns lieber gehen. Wenn er hinter uns herkommt, dann liebt er wirklich eine von uns beiden. Was glaubst du, wem folgt er?« »Sicher dir.« »Nein, ich glaube, dir.« »Hör schon auf zu laufen. Er ist an der Ecke stehengeblieben.« »Also keiner von beiden, siehst du?« »Aber wenn nun herausgekommen wäre, dass er einer von uns nachsteigt. Was dann?« »Mach dir keine Hoffnungen.«
»Vielleicht ist es auch besser so. Es heißt, dass er Don Pedro die Mädchen zuführt. Da sind wir ja noch mal heil davongekommen. « »Ach ja? Mit dem alten Kerl will ich nichts zu tun haben.« »Lass uns besser gehen.« »Du hast recht. Lass uns weggehen.«
Die
Nacht. Weit nach Mitternacht. Und die Stimmen: »… Ich sag dir doch, wenn der Mais dieses Jahr gut gerät, kann ich dich bezahlen. Wenn er mir aber verdirbt, dann musst du dich damit abfinden.« »Ich dränge dich nicht. Du weißt, ich habe immer Rücksicht gezeigt. Aber das Land gehört nicht dir. Du hast ein fremdes Feld bestellt. Woher willst du das Geld nehmen, um mich zu bezahlen?« »Wer sagt denn, dass das Land nicht mir gehört?« »Es heißt, du hast es Pedro Páramo verkauft.« »Ich habe mit diesem Herrn nicht einmal gesprochen. Das Land gehört immer noch mir.« »Das sagst du. Aber die Leute sagen, dass alles ihm gehört.« »Das sollen sie mir ins Gesicht sagen.« »Schau mal, Galileo, im Vertrauen, ich schätze dich. Schließlich bist du der Mann meiner Schwester. Und du behandelst sie gut, kein Zweifel. Aber du kannst mir gegenüber doch nicht abstreiten, dass du das Land verkauft hast.« »Ich sage dir, ich habe es keinem verkauft.« »Nun ja, es gehört aber Pedro Páramo. Er hat es wohl so entschieden. War denn Don Fulgor nicht bei dir?« »Nein.«
»Dann kommt er morgen, du wirst schon sehen. Und wenn nicht morgen, an irgendeinem anderen Tag.« »Dann muss er mich töten oder kommt selbst um. Aber seinen Willen wird er nicht durchsetzen.« »Requiescat in pace, Amen, Schwager. Für alle Fälle.« »Du siehst mich wieder, du wirst schon sehen. Um mich mach dir mal keine Sorgen. Meine Mutter hat mir ordentlich die Haut gegerbt, damit sie zäh wird.« »Dann bis morgen. Sag Félicitas, dass ich nicht zum Abendessen komme. Ich möchte später nicht erzählen: ›Ich war noch am Abend mit ihm zusammen.‹« »Wir lassen dir was übrig, falls du dich im letzten Augenblick doch noch anders entschließt.« Man hörte das laute Stampfen der Schritte, die sich sporenklirrend entfernten. »… Morgen bei Tagesanbruch kommst du mit mir, Chona. Ich habe die Tiere schon gesattelt.« »Und wenn mein Vater vor Zorn stirbt? Er ist doch schon so alt. Ich würde mir nie verzeihen, wenn ihm wegen mir etwas zustößt. Ich bin der einzige Mensch, der für ihn sorgt. Sonst gibt es keinen. Was hast du es so eilig, mich zu entführen? Beherrsch dich noch ein wenig. Er stirbt bestimmt bald.« »Dasselbe hast du mir schon vor einem Jahr gesagt. Und hast mir sogar meinen Mangel an Wagemut vorgeworfen, da du angeblich alles satt hattest. Ich habe die Maultiere beschafft, und sie stehen bereit. Kommst du mit mir?« »Lass mich drüber nachdenken.« »Chona! Du weißt nicht, wie sehr du mir gefällst. Ich halte es nicht mehr aus. Also, entweder du kommst oder du
kommst.« »Lass mich drüber nachdenken. Versteh doch. Wir müssen warten, bis er gestorben ist. Da fehlt nicht mehr viel. Dann geh ich mit dir, und du brauchst mich nicht zu entführen.« »Das hast du mir auch schon vor einem Jahr gesagt.« »Ja und?« »Ich habe die Maultiere mieten müssen. Jetzt habe ich sie. Die warten nur auf dich. Lass ihn doch allein zurechtkommen! Du bist hübsch. Du bist jung. Es wird schon irgendeine Alte geben, die ihn versorgen kommt. An barmherzigen Seelen herrscht hier kein Mangel.« »Ich kann nicht.« »Natürlich kannst du.« »Ich kann nicht. Er tut mir leid, weißt du. Er ist schließlich mein Vater.« »Dann lassen wir das. Ich geh zu Juliana, die verzehrt sich nach mir.« »Gut. Ich sage nichts.« »Willst du mich morgen nicht sehen?« »Nein. Ich will dich nie Wiedersehen.«
Geräusche. Stimmen. Gewisper. Ferne Lieder: Mein Mädchen gab mir ein Taschentuch mit einem Tränensaum… Im Falsett. Als wären es Frauen, die da sangen.
Ich sah die Karren vorbeifahren. Die Ochsen bewegten sich langsam voran. Das Knirschen der Steine unter den Rädern. Als ob sie schliefen, die Männer.
„… Immer bei Tagesanbruch erzittert das Dorf beim Vorbeifahren der Ochsenkarren. Sie kommen von überall her, beladen mit Salpeter, Maiskolben, mit Futtergras. Die Räder knarren, lassen die Fenster erbeben, wecken die Menschen auf. Es ist die Stunde, zu der auch die Backöfen geöffnet werden und es nach frischem Brot riecht. Und plötzlich kann der Himmel donnern, Regen fallen. Plötzlich kann der Frühling kommen. Dort wirst du dich an Plötzliches gewöhnen, mein Junge.“ Leere Karren zermalmen die Stille der Straßen. Sie verlieren sich auf dem dunklen Weg der Nacht. Und die Schatten. Das Echo der Schatten. Ich wollte zurück. Ich spürte dort oben die Spur, auf der ich gekommen war, wie eine offene Wunde in der Schwärze der Berge. Da berührte jemand meine Schulter. »Was machen Sie hier?« »Ich suche …« und wollte schon sagen, wen, als ich innehielt: »Ich suche meinen Vater.« »Und warum kommen Sie nicht herein?« Ich ging hinein. Es war ein Haus, dessen Dach zur Hälfte eingebrochen war. Die Ziegel auf dem Boden. Das Dach auf dem Boden. Und in der anderen Hälfte ein Mann und eine Frau. »Seid ihr nicht tot?« fragte ich. Und die Frau lächelte. Der Mann sah mich ernst an. »Er ist betrunken«, sagte der Mann. »Er ist nur verängstigt«, sagte die Frau. Da war eine Petroleumlampe. Ein geflochtenes Bett und ein Sessel aus Leder und Rohr, auf dem ihre Kleider lagen. Denn sie war nackt, wie Gott sie geschaffen hatte. Der Mann
auch. »Wir hörten jemanden klagen und mit dem Kopf gegen unsere Tür schlagen. Und da standen Sie. Was ist Ihnen widerfahren?« »Mir ist so viel widerfahren, dass ich jetzt lieber schlafen würde.« »Wir schliefen schon.« »Dann lasst uns schlafen.«
Das
Morgengrauen löschte langsam meine Erinnerungen
aus. Dann und wann hörte ich den Klang von Worten und bemerkte den Unterschied. Denn die Worte, die ich bis dahin gehört hatte, das merkte ich erst jetzt, waren lautlos gewesen, klangen nicht; man nahm sie wahr, aber ohne Klang, wie jene, die man in Träumen hört. »Wer mag das sein?« fragte die Frau. »Wer weiß«, antwortete der Mann. »Wie er wohl hierhergeraten ist?« »Wer weiß.« »Mir war, als hätte ich ihn etwas von seinem Vater sagen hören.« »Das habe ich auch gehört.« »Ob er sich verirrt hat? Weißt du noch, da sind doch einmal Leute hier aufgetaucht, die sagten, sie hätten sich verirrt. Sie suchten einen Ort namens Los Confines, und du hast ihnen gesagt, du wüsstest nicht, wo der liegt.« »Ja, ich erinnere mich. Aber lass mich schlafen. Es ist noch nicht Tag.« »Aber bald. Ich rede doch mit dir, damit du aufwachst. Ich
sollte dich vor Tagesanbruch wecken. Und das tue ich. Steh auf!« »Und wozu soll ich aufstehen?« »Ich weiß nicht, wozu. Du hast mir gestern abend gesagt, ich soll dich wecken. Wozu, das hast du nicht gesagt.« »Dann lass mich schlafen. Hast du nicht gehört, was der da gesagt hat, als er ankam? Wir sollten ihn schlafen lassen. Das war alles, was er gesagt hat.« Als ob die Stimmen entschwänden. Als verlöre sich ihr Lärm. Als erstickten sie. Jetzt sagt keiner mehr was. Das ist der Schlaf. Und nach einer Weile erneut: »Er hat sich gerade bewegt. Womöglich wacht er jetzt auf. Und wenn er uns hier sieht, wird er Fragen stellen.« »Was kann er fragen?« »Na ja. Etwas wird er wohl zu sagen haben, nicht?« »Lass ihn. Er muss sehr müde sein.« »Glaubst du wirklich?« »Jetzt schweig schon, Frau.« »Schau mal, er bewegt sich. Siehst du, wie er sich hin und her wälzt? Als würde er innerlich geschüttelt. Ich weiß das, weil es mir selbst passiert ist.« »Was ist dir passiert?« »Ebendas.« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« »Ich würde nicht sprechen, wenn ich bei seinem Anblick, wie er sich so herumwälzt, nicht daran denken müsste, wie es mir ergangen ist, als du es das erstemal gemacht hast. Wie weh es getan hat und wie sehr ich es bereut habe.« »Es? Was denn?«
»Wie ich mich fühlte, als du das mit mir gemacht hast, denn auch wenn du das nicht hören willst, ich wusste, dass es nicht richtig war.« »Kommst du mir immer noch mit der Geschichte? Schlaf doch endlich und lass mich schlafen.« »Du hast mich gebeten, dich zu wecken. Das tue ich. Mein Gott, ich tue doch nur, worum du mich gebeten hast. Mach schon! Es wird Zeit, dass du aufstehst.« »Lass mich in Frieden, Frau.« Der Mann schien zu schlafen. Die Frau jammerte weiter, aber ganz leise. »Jetzt muss es Tag sein, denn da ist Licht. Ich kann diesen Mann von hier aus sehen, und wenn ich ihn sehe, dann nur, weil genug Licht ist, um ihn zu sehen. Bald geht die Sonne auf. Klar, das ist keine Frage. Womöglich ist der da ein Verbrecher. Und wir haben ihm Schutz gewährt. Auch wenn es nur für diese Nacht war. Aber wir haben ihn versteckt. Und das wird uns irgendwann ins Unglück stürzen … Schau mal, wie er sich bewegt, als finde er keine Ruhe. Womöglich treibt es ihn um.« Es wurde hell. Der Tag vertreibt die Schatten. Löst sie auf. Der Raum fühlte sich warm an von der Wärme der schlafenden Leiber. Durch meine Augenlider drang die Helle des anbrechenden Tages. Ich spürte das Licht. Ich hörte: »Er wälzt sich herum wie ein Verdammter. Und alles an ihm verrät den schlechten Menschen. Steh auf, Donis! Sieh ihn dir an. Er reibt sich am Boden, windet sich. Er geifert. Der Kerl hat wahrscheinlich viele Tote auf dem Gewissen. Und du hast das nicht erkannt.« »Ein armer Kerl wird es sein. Schlaf und lass uns schlafen!« »Warum soll ich schlafen, wenn ich nicht müde bin?« »Steh auf und verdrück dich irgendwohin, wo du nicht
störst.« »Das werde ich tun. Ich mache jetzt Feuer. Und auf dem Weg dahin sage ich dem Kerl, er soll sich hier zu dir legen, auf den Platz, den ich ihm räume.« »Sag’s ihm.« »Ob ich das schaffe? Er macht mir angst.« »Dann tu, was du zu tun hast, und lass uns in Frieden.« »Das werde ich tun.« »Und worauf wartest du?« »Ich geh schon.« Ich merkte, dass die Frau vom Bett aufstand. Ihre nackten Füße tappten über den Boden und stiegen über meinen Kopf hinweg. Ich öffnete die Augen und schloss sie wieder. Als ich aufwachte, schien die Mittagssonne. Neben mir stand ein Becher Kaffee. Ich versuchte davon zu trinken. Ich nahm ein paar Schlucke. »Wir haben nicht mehr. Verzeihen Sie, dass es so wenig ist. Wir sind so knapp an allem, so knapp …« Es war eine Frauenstimme. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen«, sagte ich zu ihr. »Keine Sorge. Ich bin das gewohnt. Wie kommt man von hier weg?« »Wohin?« »Wohin auch immer.« »Es gibt eine Menge Wege. Es gibt einen, der führt nach Contla, einen anderen, der von dort kommt. Ein anderer läuft gerade auf die Berge zu. Der da, den man von hier aus sieht, das weiß ich nicht, wohin er geht.« Und sie zeigte mit den Fingern auf das Loch im Dach, dort, wo es eingebrochen war. »Dann ist da noch der Weg, der an der Media Luna vorbeiführt. Und dann gibt es noch
einen quer über das ganze Land, und der führt am weitesten weg.« »Vielleicht bin ich auf dem gekommen.« »Wo führt der hin?« »Nach Sayula.« »Nein, so was! Und ich dachte immer, Sayula läge auf dieser Seite. Ich wollte es immer gerne kennenlernen. Es soll dort viele Leute geben, nicht?« »So wie überall.« »Ach wirklich? Und wir sind hier so allein. Sehnen uns danach, wenigstens ein kleines bisschen vom Leben mitzubekommen. « »Wo ist Ihr Mann hingegangen?« »Das ist nicht mein Mann. Das ist mein Bruder, aber er will nicht, dass es bekannt wird. Wo er hin ist? Er sucht ein Kalb, das ausgerissen ist und herumstreunt. Das hat er wenigstens gesagt.« »Seit wann leben Sie beide hier?« »Schon immer. Wir sind hier geboren.« »Dann werden Sie sicher Dolores Preciado gekannt haben.« »Vielleicht Donis. Ich weiß so wenig über die Leute. Ich gehe nie aus dem Haus. Hier, wo Sie mich jetzt sehn, war ich schon immer und ewig … Na ja, nicht wirklich immer. Erst seitdem er mich zu seiner Frau gemacht hat. Seitdem verkrieche ich mich im Haus, weil ich Angst habe, dass man mich sieht. Er will es nicht wahrhaben, aber ich sehe doch zum Fürchten aus, oder?« Und sie rückte dorthin, wo die Sonne auf sie fiel. »Schauen Sie sich mein Gesicht an!« Es war ein ganz gewöhnliches Gesicht.
»Was soll ich mir anschauen?« »Sehen Sie mir nicht die Sünde an? Sehen Sie nicht diese bläulichen Flecken, wie Ausschlag? Ich bin damit von Kopf bis Fuß übersät. Und das ist nur von außen, innerlich bin ich ein einziger fauliger Sumpf.« »Wer soll Sie schon sehen, hier gibt es doch niemanden. Ich bin durch das ganze Dorf gegangen und habe keinen gesehen.« »Das glauben Sie! Aber ein paar gibt es noch. Sie wollen mir doch nicht etwa sagen, dass Filomeno nicht lebt, Dorotea, Melquíades, der alte Prudencio, Sóstenes, die alle sollen nicht mehr leben? Sie verkriechen sich nur. Was sie tagsüber tun, weiß ich nicht, aber nachts hocken sie in ihren Häusern. Das sind hier Stunden voller Grauen. Sie sollten einmal sehen, was dann auf der Straße los ist, da laufen haufenweise unerlöste Seelen herum. Sobald es dunkel wird, kommen sie heraus. Und keiner sieht sie gern. Sie sind so viele und wir so wenige, dass wir es aufgegeben haben, dafür zu beten, dass sie Ruhe finden. Unsere Gebete würden einfach nicht für sie alle reichen. Es käme gerade einmal ein Stück Vaterunser auf jeden. Und das nützt ihnen gar nichts. Und dann sind da noch unsere Sünden. Keiner von uns, die wir noch leben, ist im Stand der Gnade. Niemand kann ohne Scham seine Augen zum Himmel heben, denn alle fühlen sich schmutzig. Und Scham hilft nichts. Das hat mir zumindest der Bischof gesagt, der vor einiger Zeit hier zur Firmung vorbeigekommen ist. Ich habe mich vor ihn hingestellt und ihm alles gebeichtet. ›Dafür gibt es keine Vergebung.‹ ›Ich schäme mich sehr.‹ ›Damit ist es nicht getan.‹ ›Vermählen Sie uns!‹
›Weichen Sie von mir!‹ Ich wollte ihm sagen, dass das Leben uns zusammengetan, zusammengepfercht hatte, ihn und mich. Dass wir hier so allein waren, dass es nur uns beide gab. Und dass man das Dorf ja irgendwie bevölkern musste. Vielleicht gab es dann ja schon jemanden zu firmen, wenn er wiederkam. ›Trennt euch. Das ist das einzige, was ihr tun könnt.‹ ›Aber wie sollen wir dann leben?‹ ›Wie Menschen.‹ Und er ist weggeritten auf seinem Maulesel, mit hartem Gesicht, hat nicht zurückgeschaut, als lasse er das Inbild der Verdammnis hinter sich. Er ist nie wiedergekommen. Und ebendeshalb wimmelt es hier vor unerlösten Seelen, da irren lauter Leute herum, die ohne Vergebung gestorben sind und sie auch auf keine Weise erlangen können, am wenigsten durch unsere Fürbitte. Da kommt er. Hören Sie ihn?« »Ja, ich höre ihn.« »Das ist er.« Die Tür ging auf. »Was ist mit dem Kalb?« fragte sie. »Das hat sich nicht zeigen wollen. Aber ich bin seiner Spur gefolgt und weiß jetzt ungefähr, wo es sich herumtreibt. Heute nacht erwisch ich es.« »Willst du mich nachts allein lassen?« »Schon möglich.« »Das ertrage ich nicht. Ich muss dich bei mir haben. Das ist die einzige Zeit, in der ich ruhig sein kann. Nachts.« »Heute nacht hole ich das Kalb.« »Ich habe gerade erfahren«, unterbrach ich, »dass Sie beide Geschwister sind.« »Das haben Sie gerade erfahren. Ich weiß das schon viel
länger als Sie. Also mischen Sie sich lieber nicht ein. Wir mögen es nicht, wenn über uns geredet wird.« »Ich wollte nur Verständnis ausdrücken. Nichts anderes.« »Was verstehen Sie?« Sie stellte sich neben ihn, stützte sich auf seine Schulter und sagte ebenfalls: »Was verstehen Sie?« »Nichts«, sagte ich. »Ich verstehe jedesmal weniger.« Und ich fügte hinzu: »Ich würde gern wieder dorthin zurück, von wo ich gekommen bin. Ich werde noch das bisschen Tageslicht nützen.« »Es ist besser, wenn Sie das aufschieben«, sagte er. »Warten Sie bis morgen. Es wird bald dunkel, und alle Wege sind mit Gestrüpp halb zugewachsen. Sie könnten sich verirren. Morgen bringe ich Sie auf den Weg.« »Gut.«
Durch das zum Himmel offene Dach sah ich Schwärme von
Drosseln vorbeiziehen, diese Vögel, die am Abend fliegen, bevor die Dunkelheit ihnen die Wege versperrt. Sodann ein paar Wolken, schon zerzupft vom Wind, der den Tag holen kommt. Dann ging der Abendstern auf und wenig später der Mond. Der Mann und die Frau waren nicht bei mir. Sie waren durch die Hoftür hinausgegangen, und als sie zurückkamen, war es schon Nacht. Also wussten sie nicht, was geschehen war, als sie draußen waren. Und das ist geschehen: Von der Straße trat eine Frau ins Zimmer. Sie war sehr alt und sehr dünn, als hätte man ihre Haut schrumpfen lassen. Sie kam herein und ließ ihre runden Augen durch das Zimmer wandern. Vielleicht hat sie mich sogar gesehen.
Vielleicht glaubte sie, dass ich schliefe. Sie ging direkt auf das Bett zu und zog eine Ledertasche darunter hervor. Sie kramte darin herum, klemmte sich ein paar Laken unter den Arm und ging auf Zehenspitzen hinaus, wie um mich nicht zu wecken. Ich rührte mich nicht, hielt den Atem an, versuchte, woanders hinzuschauen. Bis es mir schließlich gelang, den Kopf zu drehen und dorthin zu sehen, wo sich Abendstern und Mond gefunden hatten. »Trinken Sie das hier!« hörte ich. Ich wagte es nicht, den Kopf zu wenden. »Trinken Sie! Es wird Ihnen guttun. Das ist Orangenblütenwasser. Ich weiß, dass Sie sich fürchten, Sie zittern ja. Davon geht die Angst weg.« Ich erkannte die Hände, und als ich den Kopf hob, erkannte ich das Gesicht. Der Mann, der hinter ihr stand, fragte: »Fühlen Sie sich schlecht?« »Ich weiß nicht. Ich sehe Dinge und Menschen, wo ihr vielleicht nichts seht. Eben war eine Frau hier. Ihr müsst gesehen haben, wie sie hinausging.« »Komm«, sagte er zur Frau. »Lass ihn allein. Das ist wohl so ein Erleuchteter.« »Wir müssen ihn ins Bett legen. Schau doch, wie er zittert, sicher hat er Fieber.« »Kümmere dich nicht um ihn. Diese Kerle versetzen sich in so einen Zustand, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ich bin auf der Media Luna einem begegnet, der sich als Hellseher ausgab. Was er aber nicht voraussah, war, dass er sterben würde, sobald der Patrón hellsichtig den Betrug durchschaute. So eine Sorte von Erleuchtetem wird das sein. Die ziehen ihr Lebtag durch die Dörfer und warten darauf, was die Vorsehung ihnen beschert; aber hier wird er nicht
mal einen finden, der ihm etwas zu essen gibt. Siehst du, schon hat er aufgehört zu zittern. Er hört uns nämlich zu.«
Als
wäre die Zeit rückwärts gelaufen. Wieder sah ich den Stern neben dem Mond. Die zerfasernden Wolken. Die Drosselschwärme. Und gleich darauf den noch mit Licht erfüllten Nachmittag. Die Mauern warfen das Licht der nachmittäglichen Sonne zurück. Auf dem Pflaster meine hallenden Schritte. Der Viehtreiber, der mir zurief: ›Fragen Sie nach Doña Eduviges, falls die noch lebt!‹ Dann ein dunkles Zimmer. Neben mir eine schnarchende Frau. Mir fiel auf, dass sie unregelmäßig atmete, wie zwischen zwei Träumen, oder eher, als schlafe sie nicht und mache nur die Schlafgeräusche nach. Das Bett war aus Bambus und mit Säcken bedeckt, die nach Urin rochen, als wären sie nie an der Sonne gewesen; und das Kopfkissen war aus einem groben Stoff, gefüllt mit Kapok oder Wolle, die so fest oder durchgeschwitzt war, dass sie sich hart wie Holz anfühlte. An meinen Knien spürte ich die nackten Beine der Frau und an meinem Gesicht ihren Atem. Ich setzte mich im Bett auf, stützte mich auf dieses lehmartige Kopfkissen. »Schlafen Sie nicht?« fragte sie mich. »Ich bin nicht müde. Ich habe den ganzen Tag geschlafen. Wo ist denn Ihr Bruder?« »Er ist in diese Richtung gegangen. Sie haben ja schon gehört, wohin er musste. Vielleicht kommt er diese Nacht nicht heim.« »Also ist er doch weggegangen? Gegen Ihren Willen?« »Ja. Und vielleicht kommt er gar nicht mehr zurück. So hat es mit allen angefangen. Ich gehe hierhin, ich gehe
dorthin. Bis sie so weit weg waren, dass sie lieber nicht zurückkamen. Er wollte schon immer weg, und ich glaube, jetzt ist er an der Reihe. Ich bin nicht drauf gekommen, aber vielleicht hat er mich bei Ihnen zurückgelassen, damit Sie für mich sorgen. Er hat seine Chance gewittert. Das mit dem entlaufenen Kalb war nur ein Vorwand. Sie werden schon sehen, er kommt nicht zurück.« Ich wollte ihr sagen: »Ich geh ein wenig Luft schnappen, mir ist übel«, aber ich sagte: »Keine Sorge. Er kommt wieder.« Als ich aufstand, sagte sie zu mir: »Ich habe in der Küche etwas auf der Glut gelassen. Es ist sehr wenig, aber es kann Ihren Hunger lindern.« Ich fand ein Stück Dörrfleisch und auf der Glut ein paar Maisfladen. »Das habe ich für Sie besorgen können«, hörte ich sie von nebenan sagen. »Ich habe es bei meiner Schwester gegen zwei saubere Bettücher eingetauscht, die ich noch von meiner Mutter hatte. Meine Schwester wird gekommen sein, sie zu holen. Ich wollte das vor Donis nicht sagen, aber sie war die Frau, die Sie gesehen haben und die Ihnen so einen Schrecken eingejagt hat.« Der Himmel schwarz, voller Sterne. Und neben dem Mond der größte aller Sterne. »Hörst du mich nicht?« fragte ich leise. Und ihre Stimme antwortete mir: »Wo bist du?« »Ich bin hier, in deinem Dorf. Bei deinen Leuten. Siehst du mich nicht?« »Nein, mein Sohn, ich sehe dich nicht.« Ihre Stimme schien alles zu umfassen. Ihr Klang verlor
sich jenseits der Erde. »Ich sehe dich nicht.«
Ich
kehrte unter das halbe Dach zurück, wo diese Frau schlief, und sagte zu ihr: »Ich bleibe hier in meiner Ecke. Das Bett ist schließlich genauso hart wie der Boden. Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie mir Bescheid.« Sie sagte zu mir: »Donis kommt nicht zurück. Ich habe es in seinen Augen gesehen. Er hat darauf gewartet, dass jemand kommt, um wegzugehen. Jetzt wirst du für mich sorgen. Oder willst du etwa nicht für mich sorgen? Komm her und schlaf bei mir.« »Ich bin hier zufrieden.« »Leg dich lieber ins Bett. Dort unten werden dich die Zecken fressen.« Da stand ich auf und legte mich zu ihr.
Die Hitze hat mich kurz vor Mitternacht geweckt. Und der
Schweiß. Der Körper dieser Frau, aus Lehm gemacht, von Erdkrusten umgeben, löste sich auf, als zerfließe er zu einer Lehmpfütze. Ich meinte, im Schweiß, der von ihr troff, zu schwimmen, und mir fehlte die Luft zum Atmen. Also stand ich auf. Die Frau schlief. Aus ihrem Mund kam ein blubberndes Geräusch, einem Röcheln sehr ähnlich. Ich ging auf die Straße, um Luft zu schnappen. Aber die Hitze verfolgte mich, und ich wurde sie nicht los. Es gab einfach keine Luft, nur die lahme, reglose Nacht, aufgeheizt von der Glut des Augusts. Es gab keine Luft. Ich musste die Luft wieder einsaugen, die aus meinem Mund kam, hielt sie mit den Händen auf, bevor sie sich verflüchtigte. Ich spürte sie kommen und gehen, und es war jedesmal weniger. Bis sie so dünn war,
dass sie meinen Fingern für immer entschlüpfte. Ich sage, für immer. Ich erinnere mich daran, so etwas wie schaumige Wolken gesehen zu haben, die über meinem Kopf wirbelten, und wie mich dann der Schaum umspülte und ich mich in diesem Gewölk verlor. Das war das letzte, was ich sah. »Willst du mir weismachen, dass du erstickt bist, Juan Preciado? Ich hab dich auf der Plaza gefunden, weit weg von Donis’ Haus, und er war auch dabei und sagte, du stellst dich nur tot. Zu zweit haben wir dich in den Schatten der Arkaden geschleift, du warst schon ziemlich steif, verkrampft wie die Menschen, die in Todesangst sterben. Hätte es in jener Nacht, von der du sprichst, keine Luft zum Atmen gegeben, dann hätten wir beide nicht die Kraft gehabt, dich wegzuschleppen, und erst recht nicht, dich zu begraben. Und du siehst ja, wir haben dich begraben.« »Du hast recht, Doroteo. Du hast doch gesagt, dass du Doroteo heißt?« »Das ist egal. Mein Name ist zwar Dorotea, aber das ist egal.« »Es stimmt, Dorotea. Mich hat das Geflüster umgebracht.« „Dort wirst du mein Zuhause finden. Den Ort, den ich geliebt habe. Wo ich vor lauter Träumen mager wurde. Mein Dorf, mitten in der Ebene erbaut. Mit Bäumen und Blättern gefüllt, wie ein Schatzkästlein, in dem wir unsere Erinnerungen aufbewahren. Du wirst spüren, dass man dort bis in alle Ewigkeit leben möchte. Der Sonnenaufgang, der Morgen, der Mittag und die Nacht, sie bleiben sich immer gleich, nur die Luft ist anders. Dort, wo die Luft die Farbe der Dinge verändert, wo das Leben hindurchstreicht, als wäre es nur ein Flüstern, als wäre es nichts als ein Flüstern vom
Leben …“ »Ja, Dorotea, das Geflüster hat mich umgebracht. Aber die Angst trug ich schon lange in mir. Sie war langsam gewachsen, bis ich sie nicht mehr ertragen konnte. Und dieses Geflüster hat mir den Rest gegeben. Ich kam bis zur Plaza, da hast du recht. Der Lärm hatte mich dorthin geführt, und ich glaubte, dass dort wirklich Menschen wären. Ich war schon nicht mehr ganz bei mir; ich weiß noch, ich stützte mich an den Hausmauern ab, als ginge ich auf den Händen. Und aus den Mauern schien das Flüstern zu kommen, es drang durch Ritzen und Risse. Ich hörte es. Es waren Menschenstimmen, doch keine deutlichen Stimmen, sondern heimliche, als flüsterten sie mir im Vorbeigehen etwas zu oder als summten sie in meine Ohren. Ich bin dann von den Mauern abgerückt, in der Mitte der Straße gegangen, aber ich hörte die Stimmen dennoch, als wären sie mitgekommen, vor oder hinter mir. Es war mir nicht heiß, wie ich vorhin sagte. Eher im Gegenteil, es war mir kalt. Seit ich aus dem Haus der Frau gegangen war, die mich in ihr Bett gelassen hatte, und, ich hab’s dir schon erzählt, gesehen hatte, wie sie sich in ihrem Schweiß auflöste, seitdem fror ich. Und während ich ging, nahm die Kälte immer mehr zu, bis es mich schauderte. Ich wollte zurück, weil ich dachte, dass ich dort die Hitze wiederfinden könnte, der ich gerade entflohen war, doch ich merkte nach ein paar Schritten, dass die Kälte aus mir selbst kam, aus meinem eigenen Blut. Da wurde mir klar, es war das Entsetzen. Ich hörte den Lärm auf der Plaza und glaubte, dass zwischen all den Menschen meine Angst verfliegen würde. Deshalb habt ihr mich auf der Plaza gefunden. Donis ist also doch zurückgekommen? Die Frau war sich sicher, ihn nie wiederzusehen.« »Es war schon gegen Morgen, als wir dich gefunden
haben. Er kam von wer weiß woher. Ich hab ihn nicht gefragt.« »Also, ich kam auf die Plaza. Ich lehnte mich an einen Pfeiler der Arkaden. Ich sah, es war niemand da, aber das Stimmengewirr hörte ich immer noch, es war wie an einem Markttag. Ein gleichmäßiges Rauschen, ton- und klanglos, wie wenn der Wind nachts durch die Zweige eines Baumes fährt und man weder Baum noch Zweige sieht, nur ein Raunen hört. Genau so. Ich habe keinen Schritt mehr getan. Ich spürte, wie es sich mir allmählich näherte und mich umkreiste, ein Summen wie von einem dichten Bienenschwarm; bis es mir gelang, ein paar fast lautlose Wörter zu unterscheiden: ›Bitte für uns.‹ Das sagten sie zu mir. Da erstarrte mein Herz. Darum habt ihr mich tot aufgefunden.« »Du hättest dein Dorf besser nicht verlassen. Was wolltest du hier?« »Das habe ich dir doch gleich am Anfang gesagt. Ich kam, um Pedro Páramo zu suchen, der anscheinend mein Vater war. Die Hoffnung hat mich hergeführt.« »Die Hoffnung? Die muss man teuer bezahlen. Ich musste länger als nötig leben. Damit habe ich die Schuld bezahlt, dass ich meinen Sohn fand, was sozusagen auch nur eine Hoffnung, eine Illusion war, denn ich habe nie ein Kind bekommen. Jetzt, wo ich tot bin, habe ich mir die Zeit genommen, über alles nachzudenken und alles zu begreifen. Nicht einmal ein Nest für ihn hat mir Gott geschenkt, nur dieses lange, armselige Leben, ich habe meine traurigen Augen von hier nach dort getragen und immer misstrauisch aus den Augenwinkeln geschaut, als suchte ich etwas hinter den Leuten, als habe jemand mein Kind versteckt. Und schuld daran war nur ein verdammter Traum. Ich habe zwei Träume gehabt: den einen nenne ich den ›gesegneten‹, den
anderen den ›verdammten‹. Im ersten träumte ich, dass ich ein Kind bekommen hatte. Und solange ich lebte, habe ich immer geglaubt, es wäre wahr; denn ich hatte es in meinem Arm gespürt, weich, lauter Mund und Augen und Händchen; lange noch habe ich auf meinen Fingern die Spur seiner schlafenden Augen und seines pochenden Herzens bewahrt. Wie sollte ich da nicht glauben, dass es wahr sei? Ich trug es in meinem Tuch immer bei mir, wohin ich auch ging, und plötzlich hatte ich es verloren. Im Himmel haben sie mir gesagt, dass ihnen bei mir ein Fehler unterlaufen sei. Sie hätten mir das Herz einer Mutter gegeben, aber den Schoß einer Dirne. Das war mein anderer Traum. Ich kam in den Himmel und schaute mich zwischen den Engeln um, suchte das Gesicht meines Kindes. Nichts. Alle Gesichter waren gleich, in derselben Backform gemacht. Da habe ich nachgefragt. Einer dieser Heiligen kam zu mir, sagte nichts, fuhr nur mit einer Hand in meinen Bauch hinein, als tauche er sie in einen Haufen Wachs. Als er sie wieder herauszog, zeigte er mir so etwas wie eine Nussschale: ›Das beweist, was es dir zeigt.‹ Du weißt, wie seltsam die da oben reden. Aber man versteht sie doch. Ich wollte ihnen sagen, das sei nur mein Magen, der vom vielen Hungern und dem wenigen Essen eingeschrumpft sei; doch ein anderer dieser Heiligen nahm mich bei den Schultern und zeigte mir das Ausgangstor: ›Ruh dich noch ein wenig auf der Erde aus, Tochter, und versuche brav zu sein, damit du nicht so lange ins Fegefeuer kommst.‹ Das war der ›verdammte Traum‹, aus dem ich den Schluss zog, dass ich nie ein Kind gehabt hatte. Das erfuhr ich erst sehr spät, als mein Leib verkümmert war, als mein Rückgrat sich über den Kopf schob, als ich nicht mehr gehen konnte. Und dann begann sich auch noch das Dorf zu leeren, alle machten sich davon, in andere Gegenden, und mit ihnen
verschwand auch die Barmherzigkeit, von der ich gelebt hatte. Ich setzte mich nieder und wartete auf den Tod. Nachdem wir dich gefunden hatten, beschlossen meine Knochen, sich nicht mehr zu rühren. ›Niemand wird auf mich achten‹, dachte ich. Ich bin etwas, was keinen stört. Du siehst ja, ich nehme nicht mal der Erde Platz weg. Sie haben mich in deinem Grab beerdigt, und ich passte gut in die Höhle zwischen deinen Armen. Hier, in diesen Winkel, in dem du mich jetzt siehst. Nur meine ich, dass eigentlich ich dich in meinen Armen halten müsste. Hörst du? Dort draußen regnet es. Spürst du nicht den Regen fallen?« »Es fühlt sich an, als ob jemand auf uns herumginge.« »Vergiss jetzt deine Ängste. Du brauchst vor keinem mehr Angst zu haben. Versuche lieber, an angenehme Dinge zu denken, denn wir werden sehr lange in der Erde liegen.«
Als es Tag wurde, fielen dicke Regentropfen auf die Erde. Es
klang hohl, wenn sie sich in den weichen, losen Staub der Furchen bohrten. Eine Spottdrossel flog vorbei, dicht über dem Boden, und ahmte das Wimmern eines Kindes nach. Weiter weg brachte sie ein müdes Stöhnen hervor und noch weiter weg, dort, wo sich der Horizont öffnete, war ein Rülpser zu hören, dann ein großes Gelächter, und dann wimmerte sie wieder. Fulgor Sedano nahm den Geruch der Erde wahr, schaute hinaus und beobachtete, wie der Regen in die Furchen drang. Seine kleinen Augen freuten sich. In drei tiefen Zügen atmete er die würzige Luft ein und lächelte, so dass man seine Zähne sah. »Sieh an!« sagte er. »Da kommt wieder ein gutes Jahr auf uns zu.« Und er fügte hinzu: »Komm schon, Wässerchen, komm.
Fall nur, bis du müde wirst! Und dann zieh weiter, denk dran, wir haben das ganze Land gepflügt, nur damit du deinen Spaß hast.« Und er lachte laut. Die Spottdrossel, die von ihrem Ausflug über die Felder zurückkam, flog dicht an ihm vorbei und wimmerte herzzerreißend. Der Regen fiel heftiger, und dann zog sich dort, wo es zu tagen begonnen hatte, der Himmel zu, und es sah so aus, als kehrte die Dunkelheit, die doch gerade weichen wollte, zurück. Das große Tor der Media Luna, regennass vom Wind, quietschte, als es sich öffnete. Erst zwei, dann noch einmal zwei und noch einmal zwei und so weiter, insgesamt zweihundert Mann ritten hinaus und verteilten sich auf den verregneten Feldern. »Treibt das Vieh von Enmedio über das ehemalige Estagua hinaus und das von Estagua die Hügel von Vilmayo hoch«, befahl ihnen Fulgor Sedano, während sie herausgeritten kamen. »Und beeilt euch, das Wasser holt uns ein.« Er sagte es so oft, dass die letzten nur noch hörten: »Von hier nach dort und von dort noch weiter weg.« Sie alle tippten mit der Hand an den Hut, als Zeichen, dass sie verstanden hatten. Kaum war der letzte Mann draußen, ritt Miguel Páramo in wildem Galopp hinein, sprang, ohne den Lauf zu stoppen, unmittelbar vor Fulgor Sedanos Nase ab und ließ das Pferd allein die Krippe suchen. »Na, junger Mann, woher kommst du denn zu dieser Uhrzeit?« »Vom Melken.« »Wen?«
»Errätst du das nicht?« »Es wird Dorotea Hinkebein sein. Das ist die einzige, die Babys mag.« »Du bist ein Schwachkopf, Fulgor, aber du kannst nichts dafür.« Und er verschwand, ohne die Sporen abzuschnallen, um sein Frühstück zu bekommen. In der Küche stellte ihm Damiana Cisneros die gleiche Frage: »Wo kommst du denn her, Miguel?« »Von wo auch immer, vom Besuch bei den Mütterlein.« »Ich will dich doch nicht ärgern. Lass es dir nicht anmerken. Wie willst du deine Eier haben?« »So, wie du sie magst.« »Ich rede ganz freundlich mit dir, Miguel.« »Aber ja, Damiana. Mach dir keine Gedanken. Hör mal, kennst du eine gewisse Dorotea, die den Spitznamen Hinkebein hat?« »Ja. Wenn du sie sehen willst, da draußen steht sie. Sie ist immer früh auf den Beinen, um hier ihr Frühstück zu bekommen. Das ist die Frau, die ein Lumpenbündel in ihrem Umschlagtuch trägt, sie wiegt es und behauptet, das sei ihr Kind. Es ist ihr früher wohl mal ein Unglück widerfahren, da sie aber nie redet, weiß niemand, was passiert ist. Sie lebt von Almosen.« »Verfluchter Alter! Dem werde ich noch mal eins auswischen, dass ihm die Augen übergehen.« Dann verfiel er ins Grübeln, womöglich konnte diese Frau ihm irgendwie nützlich sein. Und ohne weitere Bedenken ging er zum hinteren Küchenausgang und rief nach Dorotea: »Komm mal her, ich schlag dir einen Handel vor«, sagte er zu ihr.
Und wer weiß, was er ihr da für Vorschläge gemacht hat, er rieb sich jedenfalls die Hände, als er wieder hereinkam: »Her mit den Eiern!« rief er Damiana zu. Und fügte hinzu: »Von heute an gibst du dieser Frau das gleiche zu essen wie mir, und ja nicht knauserig sein!« Inzwischen war Fulgor Sedano zu den Scheunen gegangen, um die Maisvorräte zu überprüfen. Er machte sich Sorgen wegen des Verbrauchs, da es bis zur Ernte noch dauerte. Um die Wahrheit zu sagen, es war gerade erst ausgesät worden. »Mal sehen, ob uns das reicht.« Dann sagte er zu sich: »Dieser Junge! Ganz der Papa. Aber er hat zu früh angefangen. Wer weiß, ob bei diesem Tempo was aus ihm werden kann. Ich hab ganz vergessen, ihm das mit den Leuten zu sagen, die gestern da waren und ihn beschuldigten, er hätte einen umgebracht. Wenn der so weitermacht …« Er seufzte und überlegte, wo die Viehhirten jetzt sein mochten. Doch er wurde von Miguel Páramos jungem Fuchs abgelenkt, der sich das Maul am Zaun rieb. »Er hat ihn nicht einmal abgesattelt«, dachte er. »Und wird es auch nicht tun. Don Pedro ist immerhin rücksichtsvoller und manchmal auch gut zu haben. Aber er verwöhnt Miguel zu sehr. Gestern habe ich ihm gemeldet, was sein Sohn angestellt hat, und er erwiderte nur: ›Geh davon aus, dass ich es gewesen bin, Fulgor. Er ist gar nicht fähig, so etwas zu tun: Er hat noch nicht die Kraft, jemanden zu töten. Dafür braucht man solche Dinger.‹ Und zeigte mit den Händen das Maß eines Kürbisses an. ›Gib mir die Schuld an allem, was er tut.‹ ›Miguel wird Ihnen noch viel Kopfschmerzen bereiten, Don Pedro. Er sucht Streit.‹ ›Lass ihn sich die Hörner abstoßen. Er ist doch fast noch ein Kind. Wie alt ist er geworden? Siebzehn, Fulgor, oder?‹
›Mag sein. Ich erinnere mich, wie sie ihn hergebracht haben, als sei es gestern gewesen. Aber er ist so wild und lebt so hastig, dass es mir manchmal vorkommt, als renne er gegen die Zeit an. Er wird das Rennen verlieren, Sie werden sehen.‹ ›Er ist noch ein Kind, Fulgor.‹ ›Wie Sie meinen, Don Pedro. Aber diese Frau, die gestern weinend hier ankam und behauptete, dass Ihr Sohn ihren Mann getötet hat, die war restlos verzweifelt. Ich kann Verzweiflung einschätzen, Don Pedro. Und diese Frau trug zentnerschwer daran. Ich habe ihr fünfzig Hektoliter Mais angeboten, damit sie die Angelegenheit vergisst, aber das wollte sie nicht. Dann habe ich ihr versprochen, wir würden den Schaden irgendwie wiedergutmachen. Darauf ging sie nicht ein.‹ ›Was waren das für Leute?‹ ›Ich kenne sie nicht.‹ ›Dann brauchst du dich nicht aufzuregen, Fulgor. Diese Leute existieren nicht.‹« Fulgor ging in die Scheune und spürte, wie warm der Mais war. Er nahm eine Handvoll, um zu sehen, ob er von Kornwurm befallen war. Er schätzte die Höhe des Vorrats ab: »Das wird ausreichen«, sagte er. »Sobald das Gras wächst, werden wir dem Vieh nichts mehr zufüttern müssen. Es ist mehr als genug da.« Auf dem Rückweg sah er in den Himmel voller Wolken: »Wir werden noch lange Wasser haben.« Und vergaß alles übrige. »Dort draußen scheint das Wetter umzuschlagen. Meine Mutter sagte immer, dass alles voll von Licht und dem grünen Duft der Triebe war, sobald es anfing zu regnen. Sie
erzählte mir, wie es war, wenn die Wolkenflut heranzog, auf die Erde herunterbrach, sie auflöste und die Farben veränderte … Meine Mutter, die doch ihre Kindheit und ihre besten Jahre in diesem Dorf verlebt hat und nicht einmal zum Sterben zurückkehren durfte. Sogar dazu hat sie mich an ihrer Statt hergeschickt. Es ist seltsam, Dorotea, dass ich nicht einmal den Himmel zu sehen bekommen habe. Der zumindest dürfte doch derselbe sein, den sie gesehen hat.« »Das weiß ich nicht, Juan Preciado. Ich habe seit so vielen Jahren nicht mehr den Kopf gehoben, dass ich den Himmel vergessen habe. Und auch wenn ich es getan hätte, was hätte ich gewonnen? Der Himmel ist so hoch und meine Augen so ohne Blick, dass ich schon zufrieden war zu wissen, wo die Erde ist. Außerdem habe ich alles Interesse am Himmel verloren, seitdem mir Pater Renteria versichert hat, dass ich nie und nimmer hineinkommen würde. Dass ich das Himmelreich nicht einmal aus der Ferne zu sehen bekäme… Wegen meiner Sünden nämlich, aber er hätte es mir nicht sagen dürfen. Das Leben ist schon so mühsam genug. Das einzige, was einen noch auf den Beinen hält, ist die Hoffnung, dass man nach dem Tod an einen anderen Ort gebracht wird; wenn einem dann aber die eine Tür verschlossen wird und nur noch die zur Hölle offensteht, dann wäre man besser erst gar nicht geboren … Für mich, Juan Preciado, ist der Himmel hier, wo ich jetzt bin.« »Und deine Seele? Wohin, glaubst du, ist die gegangen?« »Die muss auf der Erde herumirren, wie so viele andere, und Lebende suchen, die für sie beten. Vielleicht hasst sie mich, weil ich sie schlecht behandelt habe; aber das kümmert mich nicht mehr. Ich hab jetzt Ruhe vor ihren ewigen Vorhaltungen. Sie vergällte mir sogar das wenige, was ich aß, und machte mir die Nächte unerträglich, füllte sie mit ruhelosen Gedanken und den Bildern von
Verdammten und ähnlichem Zeug. Als ich mich zum Sterben niedersetzte, flehte sie mich an, aufzustehen und das Leben weiter zu buckeln, als hoffe sie noch auf irgendein Wunder, das mich von aller Schuld reinwaschen könnte. Ich machte nicht einmal den Versuch: ›Hier endet der Weg«, sagte ich zu ihr. ›Ich habe keine Kraft mehr.‹ Und ich öffnete den Mund, damit sie davonkönne. Und sie ging davon. Ich spürte, wie der kleine Faden Blut, der sie an mein Herz gebunden hatte, auf meine Hände fiel.«
Es klopfte an seiner Tür, aber er antwortete nicht. Er hörte,
dass man an alle Türen klopfte, um die Leute aufzuwecken. Fulgor – er erkannte ihn an seinem Schritt lief zum Eingangstor, hielt jedoch einen Augenblick inne, als wolle er noch einmal klopfen. Dann lief er weiter. Stimmengewirr. Das Schlurfen langsamer Schritte, als werde da etwas Schweres geschleppt. Unbestimmte Geräusche. Er musste an den Tod seines Vaters denken. Das war auch in der Morgendämmerung gewesen, allerdings stand damals die Tür offen und ließ das Grau des Himmels ein, ein trauriger Himmel und wie aus Asche gemacht, so war das damals. Und an der Tür lehnte eine Frau und unterdrückte das Weinen. Eine Mutter, die er schon vergessen, immer wieder vergessen hatte und die zu ihm sagte: »Sie haben deinen Vater umgebracht!« Mit einer gebrochenen, aufgelösten Stimme, die nur noch der Faden des Schluchzens zusammenhielt. Er hatte diese Erinnerung nie wachrufen wollen, denn sie zog andere nach, so als steche er in einen prallen Getreidesack und wolle dann die Körner aufhalten. Der Tod seines Vaters, ein Tod, der andere Tode im Schlepptau
führte, und jeder trug das Bild des zerfetzten Gesichts in sich, das eine Auge war zerstört, das andere verlangte Rache. Und noch ein Tod und noch ein weiterer, bis er das Bild aus seinem Gedächtnis löschen konnte, weil es keinen mehr gab, der ihn daran erinnerte. »Legt ihn da hin! Nein, nicht so. Mit dem Kopf nach hinten. He, du! Worauf wartest du?« Alles ganz leise. »Und er?« »Er schläft. Weckt ihn nicht auf. Macht keinen Lärm.« Da stand er, riesig, und schaute zu, wie ein in alte Säcke wie in ein Leichentuch gewickeltes und mit Sisalstricken verschnürtes Etwas hereingewuchtet wurde. »Wer ist das?« fragte er. »Das ist Miguel, Don Pedro.« »Was hat man ihm getan?« schrie er. Er ahnte die Antwort: »Man hat ihn umgebracht.« Und schon ballte sich sein Groll zum Wutausbruch, als er die sanften Worte von Fulgor Sedano hörte: »Keiner hat ihm etwas getan. Er hat ganz allein den Tod gefunden.« Petroleumlampen erhellten die Nacht. »… das Pferd hat ihn getötet«, sagte einer beflissen. Sie legten ihn auf sein Bett, nachdem sie die Matratze heruntergeworfen hatten, so dass nur die nackten Bretter übrigblieben, darauf betteten sie die Leiche, schon von den Stricken befreit, an denen sie ihn hergeschleppt hatten. Sie legten ihm die Hände auf die Brust und bedeckten sein Gesicht mit einem schwarzen Tuch. »Er sieht älter aus, als er war«, sagte Fulgor Sedano für sich. Pedro Páramo zeigte keinerlei Regung, er war wie nicht ganz bei sich. Über ihn hinweg jagte ein Gedanke den
anderen, doch sie erreichten sich nicht, fügten sich nicht aneinander. Schließlich sagte er: »Jetzt geht’s ans Zahlen. Doch früh begonnen, ist halb gewonnen.« Er fühlte keinen Schmerz. Als er sich an die im Hof versammelten Menschen wandte und ihnen für die Teilnahme dankte, seine Stimme über das Gewimmer der Frauen erhob, da ging sein Atem ruhig, und er redete ohne zu stocken. In jener Nacht war dann nur noch das Scharren von Miguel Páramos jungem Fuchs zu hören. »Morgen lässt du das Pferd töten, damit es nicht länger leidet«, befahl er Fulgor Sedano. »Gut, Don Pedro. Ich sehe es ein. Das arme Tier muss verzweifelt sein.« »Das sehe ich auch so, Fulgor. Und sag noch diesen Frauen, sie sollen nicht so einen Radau veranstalten, das ist mir zuviel Lärm um meinen Toten. Wäre es einer von ihnen, würden sie nicht so lustvoll weinen.«
Pater
Renteria sollte sich viele Jahre später an die Nacht erinnern, in der sein hartes Bett ihn wach hielt und dann ins Freie trieb. Es war die Nacht, in der Miguel Páramo starb. Er ging durch die einsamen Straßen von Comala, und seine Schritte scheuchten die Hunde auf, die im Abfall schnüffelten. Er kam zum Fluss und betrachtete im stillen Wasser das Spiegelbild der vom Himmel fallenden Sterne. Mehrere Stunden lang kämpfte er dort mit seinen Gedanken, warf sie in das schwarze Wasser des Flusses. »Die Geschichte fing damit an«, dachte er, »dass Pedro Páramo, der aus dem Nichts kam, sich zu Höherem aufschwang. Er wuchs wie Unkraut. Schlimm daran ist, dass ich ihm dabei Vorschub geleistet habe. ›Ich bezichtige mich,
Hochwürden, gestern mit Pedro Páramo geschlafen zu haben.‹ ›Ich bezichtige mich, Hochwürden, einen Sohn von Pedro Páramo bekommen zu haben.‹ ›Dass ich meine Tochter Pedro Páramo überlassen habe.‹ Ich wartete immer darauf, dass er käme, um irgend etwas zu beichten. Doch er kam nie. Und mit diesem Sohn, der ihm geboren wurde, wuchs die Reichweite seiner Schlechtigkeit. Nur Gott weiß, warum er ihn überhaupt anerkannt hat. Ich aber weiß, dass ich ihm dieses Werkzeug in die Hand gegeben habe.« Er erinnerte sich genau an den Tag, an dem er ihm das gerade geborene Kind gebracht hatte. Er hatte zu ihm gesagt: »Don Pedro, die Mutter ist bei der Geburt gestorben. Sie sagte, er sei von Ihnen. Hier haben Sie ihn.« Und er hatte es nicht einmal angezweifelt, nur gefragt: »Warum behalten Sie ihn nicht, Hochwürden? Machen Sie einen Priester aus ihm.« »Bei dem Blut, das in seinen Adern fließt, möchte ich diese Verantwortung nicht übernehmen.« »Glauben Sie wirklich, dass ich böses Blut habe?« »Ehrlich gesagt, ja, Don Pedro.« »Ich werde Ihnen beweisen, dass das nicht stimmt. Lassen Sie ihn mir da. Es gibt hier genügend Leute, die ihn versorgen können.« »Eben daran hatte ich gedacht. Bei Ihnen wird es ihm wenigstens nicht an Nahrung fehlen.« Der Kleine wand sich, so winzig er war, wie eine Schlange. »Damiana! Kümmere dich um das Ding hier. Es ist mein Sohn.« Dann hatte er die Flasche geöffnet: »Ich trinke dieses Glas auf die Verstorbene und auf Sie.«
»Und auf ihn?« »Auch auf ihn, warum nicht.« Er schenkte noch ein Glas ein, und beide tranken auf die Zukunft des Kindes. So war es gewesen. Die ersten Fuhrwerke kamen in Richtung Media Luna vorbei. Er kauerte sich nieder, versteckte sich hinter der Ufermauer am Fluss. »Vor wem versteckst du dich?« fragte er sich selbst. »Gott zum Gruß, Hochwürden!« hörte er jemanden rufen. Er stand auf und erwiderte: »Gott zum Gruß! Der Herr segne dich.« Die Lichter im Dorf gingen allmählich aus. Der Fluss tauchte sein Wasser in leuchtende Farben. »Hochwürden, ist das Morgenläuten schon vorbei?« fragte ein anderer. »Es muss schon viel später sein«, antwortete er. Und ging in entgegengesetzter Richtung davon, um nicht aufgehalten zu werden. »Wohin so früh, Hochwürden?« »Wo ist der Sterbende, Hochwürden?« »Ist in Contla jemand gestorben, Hochwürden?« Er hätte ihnen gerne geantwortet: »Ich. Ich bin der Tote.« Doch er begnügte sich mit einem Lächeln. Als er das Dorf hinter sich gelassen hatte, beschleunigte er seine Schritte. Spät am Vormittag kehrte er heim. »Wo waren Sie denn, Onkel?« fragte ihn seine Nichte Ana. »Es haben viele Frauen nach Ihnen gefragt. Sie wollten beichten, weil morgen doch Herz Jesu, der erste Freitag im
Monat, ist.« »Sie sollen abends wiederkommen.« Erschöpft setzte er sich auf eine Bank im Flur und schwieg eine Weile. »Wie kühl heute die Luft ist, nicht wahr, Ana?« »Es ist heiß, Onkel.« »Ich spüre es nicht.« Er wollte einfach nicht daran denken, dass er zur Generalbeichte bei dem Priester in Contla gewesen war und dass dieser ihm, trotz aller Bitten, die Absolution verweigert hatte: »Dieser Mann, dessen Namen du nicht erwähnen willst, hat deine Gemeinde zerstört, und du hast es ihm erlaubt. Was kann man von dir noch erwarten? Was hast du aus Gottes Kraft gemacht? Ich will gerne glauben, dass du ein guter Mensch bist und dort von allen geschätzt wirst. Aber es reicht nicht aus, gut zu sein. Die Sünde ist nicht gut. Will man sie ausmerzen, muss man hart und unbarmherzig sein. Ich will glauben, dass dort alle immer noch fromm sind, aber nicht du erhältst ihren Glauben aufrecht, dafür sorgen Aberglaube und Angst. Ich will auch zu dir stehen in deiner Armut und in den Mühen und Sorgen, mit denen du Tag für Tag deiner Pflicht nachkommst. Ich weiß, wie schwierig unsere Aufgabe in diesen armen Dörfern ist, in die wir verschickt werden; aber genau das gibt mir das Recht, dir zu sagen, dass wir unser Amt nicht zugunsten von ein paar Leuten ausüben dürfen, die dir im Tausch für deine Seele ein wenig Geld geben. Denn ist deine Seele erst einmal in ihren Händen, was kannst du dann noch tun, um besser zu sein als jene, die besser sind als du? Nein, Bruder, meine Hände sind nicht rein genug, um dir die Absolution zu erteilen. Die musst du dir woanders suchen.«
»Wollen Sie mir damit sagen, Herr Pfarrer, dass ich woanders zur Beichte gehen soll?« »Du musst es tun. Du kannst nicht die Messe zelebrieren, wenn du selbst in Sünde lebst.« »Und wenn sie mich meines Amts entheben?« »Das glaube ich nicht, auch wenn du es vielleicht verdient hättest. Es bleibt deren Urteil überlassen.« »Könnten Sie nicht …? Provisorisch, gewissermaßen … Ich muss die Letzte Ölung erteilen … die Kommunion. In meinem Dorf sterben so viele Menschen.« »Lass Gott über die Toten richten, Bruder.« »Es geht also nicht?« Und der Pfarrer aus Contla hatte nein gesagt. Danach waren die beiden durch die von Azaleen beschatteten Hofgänge der Pfarrei gewandelt und hatten sich dann in eine Laube gesetzt, an der die Trauben reiften. »Die sind sauer, Bruder«, kam der Priester seiner Frage zuvor. »Wir leben in einer Gegend, in der Gott alles wachsen lässt; aber alles ist sauer. Wir sind dazu verdammt.« »Da haben Sie recht, Herr Pfarrer. In Comala habe ich versucht, Reben zu ziehen. Sie gedeihen nicht. Es wachsen nur Myrten und Orangen. Bittere Orangen und bittere Myrten. Ich habe vergessen, wie süße Dinge schmecken. Erinnern Sie sich an die kleinen Guaven, die wir im Priesterseminar hatten? Die Pfirsiche, die Mandarinen, die man nur ein wenig zu drücken brauchte, und schon ging die Schale ab? Ich habe Samen von dort mitgebracht. Wenige, gerade mal ein Säckchen … Später habe ich dann gedacht, ich hätte sie lieber dort lassen sollen, wo sie keimen konnten, denn hierher habe ich sie nur zum Sterben gebracht.«
»Dabei heißt es doch, das Land von Comala sei fruchtbar. Schade, dass es in der Hand eines einzigen Mannes ist. Pedro Páramo ist doch noch der Besitzer, oder?« »Gott hat es so gewollt.« »Ich glaube kaum, dass da Gottes Wille im Spiel ist. Meinst du nicht auch, Bruder?« »Ich hatte mitunter Zweifel. Aber die Leute dort gehen davon aus.« »Und du schließt dich ihnen an?« »Ich bin ein armer Mann, bereit, mich zu demütigen, wenn ich mich dazu getrieben fühle.« Dann hatten sie sich verabschiedet. Er hatte dabei die Hände des Priesters genommen und sie geküsst. Wie auch immer, jetzt war er hier, zurück in der Wirklichkeit, und wollte nicht mehr an diesen Morgen in Contla denken. Er stand auf und ging zur Tür. »Wo gehen Sie hin, Onkel?« Seine Nichte Ana, immer gegenwärtig, immer in seiner Nähe, als suche sie in seinem Schatten Schutz vor dem Leben. »Ich will ein wenig gehen, Ana. Mal sehen, ob es mich zerreißt.« »Fühlen Sie sich schlecht?« »Nein, nicht schlecht. Böse. Ein böser Mensch. So fühle ich mich.« Er ging bis zur Media Luna und drückte Pedro Páramo sein Beileid aus. Erneut hörte er die Entschuldigungen für all das, wessen man seinen Sohn beschuldigt hatte. Er ließ ihn reden. Schließlich war das nun alles nicht mehr wichtig. Die Einladung, mit ihm zu essen, schlug er jedoch aus: »Ich kann nicht, Don Pedro, ich muss rechtzeitig in der
Kirche sein, da wartet ein Haufen Frauen am Beichtstuhl auf mich. Ein andermal gerne.« Er machte sich auf den Weg, und als es Abend wurde, ging er direkt in die Kirche, so wie er war, voller Staub und Elend. Er setzte sich in den Beichtstuhl. Als erste kam die alte Dorotea, die immer schon darauf wartete, dass die Kirchentüren geöffnet wurden. Er nahm ihre Alkoholfahne wahr. »Was, jetzt betrinkst du dich schon? Seit wann?« »Ich war auf der Totenwache für Miguelito, Hoch würden. Und da hab ich über die Stränge geschlagen. Man hat mir so viel zu trinken gegeben, dass ich mich wie eine Närrin aufgeführt habe.« »Du bist nie etwas anderes gewesen, Dorotea.« »Aber jetzt habe ich Sünden auf dem Buckel. Und zwar reichlich.« Er hatte ihr schon mehrmals gesagt: »Komm nicht zur Beichte, Dorotea, du stiehlst mir nur die Zeit. Du kannst keine Sünde mehr begehen, selbst wenn du es dir vornimmst. Überlass das Feld den anderen.« »Jetzt stimmt es aber, Hochwürden.« »Sag schon.« »Da ich ihm nicht mehr schaden kann, sag ich Ihnen, dass ich es war, die dem verstorbenen Miguelito Páramo die Mädchen besorgte.« Pater Renteria, der sich seinen Gedanken überlassen wollte, fuhr wie aus Träumen auf und fragte fast aus Gewohnheit: »Seit wann?« »Seitdem aus ihm ein junger Mann wurde. Seitdem er Hummeln in der Hose hatte.« »Wiederhol, was du eben gesagt hast, Dorotea.«
»Dass ich es war, die dem Miguelito die Mädchen besorgte.« »Du hast sie ihm gebracht?« »Ja, manchmal. Manchmal habe ich sie auch irgendwohin bestellt. Und bei anderen habe ich ihm nur einen Wink gegeben. Sie wissen schon: Wann sie allein waren und er sie überrumpeln konnte.« »Sind das viele gewesen?« Er hatte das nicht sagen wollen, aber die Frage schlüpfte ihm aus Gewohnheit heraus. »Da habe ich die Übersicht verloren. Ganz, ganz viele.« »Was soll ich mit dir machen, Dorotea? Fälle selbst dein Urteil. Sieh, ob du dir vergeben kannst.« »Ich kann das nicht, Hochwürden. Aber Sie können. Deshalb komme ich ja zu Ihnen.« »Wie oft bist du hergekommen und hast darum gefleht, ich möge dich in den Himmel schicken, wenn du stirbst? Du wolltest dort nach deinem Kind suchen, nicht wahr, Dorotea? Nun, in den Himmel kommst du nicht mehr. Aber möge Gott dir vergeben.« »Danke, Hochwürden.« »Ja, auch ich vergebe dir in seinem Namen. Du kannst gehen.« »Legen Sie mir keine Buße auf?« »Du hast keine nötig, Dorotea.« »Danke, Hochwürden.« »Geh mit Gott.« Er klopfte mit den Fingerknöcheln an das Fensterchen des Beichtstuhls, um die nächste Frau heranzurufen. Und während er das Sündenbekenntnis hörte, sackte sein Kopf hinunter, als könne er ihn nicht mehr aufrecht halten. Dann
kam dieser Schwindel, die Verwirrung, als löse er sich in zähflüssigem Wasser auf. Und das Kreisen der Lichter. Das ganze Licht des Tages geriet durcheinander und zersplitterte. »Ich bekenne vor Gott dem Allmächtigen« war nun lauter zu hören, wieder und wieder, und am Ende dann: »Von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen«, »Von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen«, »Von Ewigkeit –« »Schweig jetzt«, sagte er. »Wann hast du zuletzt gebeichtet?« »Vor zwei Tagen, Hochwürden.« Da war es wieder. Als ob das Unglück ihn einkreise. »Was machst du eigentlich hier?« fragte er sich selbst. »Ruh dich aus. Geh und ruh dich aus. Du bist sehr müde.« Er stand aus dem Beichtstuhl auf und ging geradewegs zur Sakristei. Ohne den Kopf zu wenden, sagte er zu den Menschen, die auf ihn warteten: »Alle, die sich frei von Sünde fühlen, können morgen zum Abendmahl kommen.« Hinter ihm war nur ein Gemurmel zu hören. Ich liege auf demselben Bett, auf dem meine Mutter vor vielen Jahren gestorben ist, auf derselben Matratze, unter derselben schwarzen Decke, in die wir uns beide zum Schlafen wickelten. Damals schlief ich bei ihr, sie hatte ein Plätzchen für mich unter ihren Armen. Ich meine noch immer den gleichmäßigen Takt ihres Atems zu spüren; das Pochen und die Seufzer, mit denen sie mich in den Schlaf lullte … Ich meine, den Schmerz, als sie starb, zu fühlen … Aber das stimmt nicht. Ich liege hier, auf dem Rücken, und denke an jene Zeit, um meine Einsamkeit zu vergessen. Denn ich liege hier nicht nur für ein Weilchen. Auch nicht im Bett meiner
Mutter, sondern in einer schwarzen Kiste, so einer Kiste, in der man Tote begräbt. Denn ich bin tot. Ich spüre den Ort, an dem ich bin und denke … Ich denke daran, wie die Zitronen reiften. An den Februarwind, der die Stengel der Farne knickte, bevor sie dann verdorrten, weil man sich nicht um sie kümmerte. An die reifen Zitronen, die mit ihrem Duft den alten Patio erfüllten. Im Februar wehte der Wind morgens von den Bergen herab. Und die Wolken blieben dort droben, warteten darauf, dass das gute Wetter sie hinab ins Tal brachte. Bis dahin ließen sie den blauen Himmel leer, erlaubten dem Licht, auf das Spiel des Windes zu fallen, wenn er Staub aufwirbelnd auf der Erde Kreise zog und in die Zweige der Orangenbäume fuhr. Und die Spatzen lachten; sie pickten an den Blättern, die der Wind herunterwehte, und lachten; sie ließen Federn an den dornigen Zweigen und verfolgten die Schmetterlinge und lachten. Das war die Jahreszeit. Im Februar, wenn der Morgen voller Wind, Spatzen und blauem Licht ist. Ich erinnere mich. Damals starb meine Mutter. Ich hätte schreien sollen, meine Hände hätte ich in Verzweiflung ringen und wund reiben sollen. So hättest du es gern gehabt. Aber war dieser Morgen denn nicht fröhlich? Durch die offene Tür drang der Wind herein, brach die Ranken des Efeus. An meinen Beinen begann zwischen den Adern der Flaum zu sprießen, und da war ein laues Beben, wenn ich meine Brüste berührte. Die Spatzen tollten herum. Auf den Hügeln wiegten sich die Ähren. Es tat mir leid, dass sie nie mehr das Spiel des Windes im Jasmin sehen würde, dass sie ihre Augen vor dem Licht der Tage schloss. Aber warum sollte ich weinen?
Erinnerst du dich, Justina? Du hast die Stühle im Gang aufgereiht, damit die Leute, die sie sehen wollten, dort warten konnten, bis sie an der Reihe waren. Die Stühle blieben leer. Und meine Mutter lag allein zwischen den Kerzen; ihr bleiches Gesicht, ihre weißen Zähne, die ein klein wenig zwischen den blauen, vom blauschwarzen Tod hart gewordenen Lippen hervorschauten. Ihre Wimpern hielten jetzt still, still war auch ihr Herz. Wir beide dort, in endlose Gebete vertieft, und sie hörte nichts, du und ich hörten nichts, alles verlor sich im Rauschen des Windes unter dem Nachthimmel. Du hast ihr schwarzes Kleid gebügelt, hast Kragen und Manschetten gestärkt, damit ihre auf der Brust gefalteten Hände wie neu aussahen, gefaltet auf ihrer toten Brust. Ihre alte, zärtliche Brust, auf der ich einst schlief und die mich nährte, die pochte, um meine Träume zu wiegen. Niemand kam zu ihr. Es war besser so. Der Tod wird nicht aufgeteilt wie ein Erbe. Keinen drängt es zur Trauer. Der Türklopfer erklang. Du gingst hinaus. »Geh du«, sagte ich zu dir. »Mir verschwimmen die Gesichter der Leute. Und mach, dass sie wieder gehen. Sie kommen wegen des Geldes für die gregorianischen Messen? Sie hat kein Geld hinterlassen. Sag es ihnen, Justina. Dass sie nicht aus dem Fegefeuer kommt, wenn diese Messen nicht gelesen werden? Wer sind die denn, dass sie sich als Richter aufspielen? Du meinst, ich bin verrückt? Schon gut.« Und deine Stühle blieben leer, bis wir die Mutter mit Hilfe dieser gemieteten Männern begruben, die unter einer fremden Last schwitzten und denen jedes Leid fern war. Sie schütteten das Grab mit feuchtem Sand zu, sie ließen den Sarg langsam hinunter, mit der Geduld, die ihr Beruf erforderte, im frischen Wind, der ihre Mühen linderte. Kalt
und gleichgültig ihre Augen. Sie sagten: »Das macht soundso viel.« Und du hast sie bezahlt, wie jemand, der etwas kauft, hast dein tränenfeuchtes, wieder und wieder ausgewrungenes Taschentuch aufgeknotet, das nun das Geld für das Begräbnis barg … Und als sie gegangen waren, knietest du an der Stelle nieder, wo ihr Kopf lag, und du hast die Erde geküsst und hättest wohl wieder ein Loch gegraben, wenn ich nicht gesagt hätte: »Lass uns gehen, Justina, sie ist anderswo, hier liegt nur noch ein totes Ding.« »Du hast das alles gesagt, Dorotea?« »Wer, ich? Ich bin kurz eingeschlafen. Machen sie dir immer noch angst?« »Ich habe jemanden sprechen hören. Eine Frauenstimme. Ich dachte, das wärst du.« »Eine Frauenstimme? Du hast gemeint, ich wäre das? Das muss die sein, die Selbstgespräche führt. Die aus dem großen Grab. Doña Susanita. Die liegt hier neben uns begraben. Wenn Feuchtigkeit zu ihr dringt, wälzt sie sich im Schlaf.« »Und wer ist das?« »Die letzte Ehefrau von Pedro Páramo. Manche sagen, sie war verrückt. Andere, sie war es nicht. Wahr ist, dass sie schon zu Lebzeiten Selbstgespräche führte.« »Sie muss schon lange tot sein.« »O ja, schon sehr lange. Was hast du sie sagen hören?« »Etwas über ihre Mutter.« »Aber sie hat doch gar keine Mutter gehabt …« »Sie hat von ihr gesprochen.«
»… oder zumindest war die nicht dabei, als sie herkam. Nein, warte, jetzt fällt mir ein, sie ist hier geboren, aber die Familie ist ganz bald weggezogen. Ja, und ihre Mutter ist an Schwindsucht gestorben. Das war eine sonderbare Frau, immer krank, und nie hat sie jemanden besucht.« »Das sagt sie. Dass keiner zu ihr gekommen ist, als ihre Mutter starb.« »Von was für Zeiten spricht sie denn? Natürlich ist keiner zu ihr ins Haus, schon aus Angst, sich die Schwindsucht zu holen. Das hat sie wohl vergessen, diese nichtswürdige Person.« »Sie sprach davon.« »Wenn du sie wieder hörst, sag Bescheid, ich würde gerne wissen, was sie sagt.« »Hör mal! Sie scheint wieder was zu sagen. Ich höre ein Flüstern.« »Nein, das ist sie nicht. Das ist weiter weg, kommt aus der anderen Richtung. Und es ist eine Männerstimme. Das ist nun einmal so bei diesen alten Toten, sie fangen an, sich hin und her zu wälzen, sobald die Feuchtigkeit zu ihnen dringt. Und dann wachen sie auf.« »Der Himmel ist groß. Gott war in jener Nacht bei mir. Wer weiß, was sonst geschehen wäre. Denn es war schon Nacht, als ich wieder zum Leben erwachte…« »Hörst du ihn jetzt deutlicher?« »Ja.« »Überall am Körper hatte ich Blut. Und als ich mich aufstützen wollte, patschte ich mit den Händen ins Blut, das auf die Steine geflossen war. Und es war mein Blut. Unmengen von Blut. Aber ich war nicht tot. Das habe ich gemerkt. Und Don Pedro hatte gar nicht die Absicht, mich zu töten, wie ich erfuhr. Er wollte mir nur einen Schreck
einjagen. Er wollte herausbekommen, ob ich vor zwei Monaten in Vilmayo war. Am Sankt-Christophs-Tag. Auf der Hochzeit. Auf welcher Hochzeit? An welchem Sankt Christoph? Ich patschte in meinem Blut und fragte ihn: ›Auf welcher Hochzeit, Don Pedro?‹ Nein, nein, Don Pedro, da war ich nicht. Allenfalls bin ich dort vorbeigekommen. Aber rein zufällig… Er hatte nicht die Absicht, mich zu töten. Seitdem hinke ich, wie ihr seht, und der eine Arm ist verstümmelt, wenn ihr so wollt. Aber er hat mich nicht getötet. Es heißt, seitdem schielt mein eines Auge, seit der schrecklichen Erfahrung. Tatsächlich hat mich das erst richtig zum Mann gemacht. Der Himmel ist groß. Wer will daran zweifeln.« »Wer ist das?« »Wer soll das wissen. Einer von vielen. Pedro Páramo hat nach dem Mord an seinem Vater für viele Tote gesorgt, es heißt, er habe mit fast allen Gästen der Hochzeit aufgeräumt, bei der Don Lucas Páramo als Trauzeuge auftreten sollte. Und dabei hat den nur ein Querschläger getroffen, man hatte es angeblich auf den Bräutigam abgesehen. Und weil nie geklärt wurde, woher die Kugel kam, hat Pedro Páramo reinen Tisch gemacht. Das war dort oben auf dem Hügel von Vilmayo, da standen ein paar Höfe, von denen ist keine Spur geblieben … Horch mal, jetzt scheint sie es wirklich zu sein. Du mit deinen jungen Ohren, pass auf. Dann kannst du mir erzählen, was sie sagt.« »Man versteht sie nicht. Sie scheint nicht zu sprechen, nur zu jammern.« »Und worüber jammert sie?« »Wer weiß das schon.« »Da wird schon irgendwas sein. Niemand jammert über nichts. Spitz die Ohren.« »Sie jammert, sonst nichts. Vielleicht hat Pedro Páramo
sie gequält.« »Glaub das nicht. Er liebte sie. Fast möchte ich sagen, er hat keine Frau so geliebt wie diese. Als er sie bekam, war sie schon leidend, vielleicht sogar verrückt. So sehr hat er sie geliebt, dass er seine restlichen Jahre niedergeschlagen auf einem Rohrsessel verbrachte, den Blick starr auf den Weg gerichtet, auf dem man sie zum Friedhof getragen hatte. Nichts interessierte ihn mehr. Er ließ die Hütten räumen und alle Gerätschaften verbrennen. Die einen sagen, weil er schon müde war, die anderen, weil ihn die Enttäuschung im Griff hatte; fest steht, dass er seine Leute rauswarf und sich in seinen Sessel setzte, mit Blick auf den Weg. Von da an lag das Land brach und wie eine Ruine da. Es machte einen traurig zu sehen, wie es, sich selbst überlassen, von allerlei Plagen überzogen wurde und verkam. Dort und dann auch hier begannen die Leute zu verschwinden. Die Männer zogen los und suchten andere Futterkrippen. Ich erinnere mich an Tage, in denen Comala ein einziges Lebewohl war, und uns war sogar fröhlich zumute, wenn wir die Fortziehenden verabschiedeten. Sie gingen ja fort, um wiederzukommen. Bis dahin sollten wir auf ihre Sachen und ihre Familien aufpassen. Später schickten manche nach ihrer Familie, aber nicht nach ihren Sachen, und schließlich schienen sie das Dorf und uns vergessen zu haben, sogar ihre Habseligkeiten. Ich bin geblieben, weil ich nicht wusste, wohin. Andere blieben und warteten auf Pedro Páramos Tod, weil er angeblich versprochen hatte, ihnen sein Hab und Gut zu vermachen, und in dieser Hoffnung lebten einige weiter hier. Aber es verging Jahr um Jahr, und er lebte immer noch, saß stets wie eine Vogelscheuche vor den Feldern der Media Luna. Und als er schon kurz vorm Sterben war, da gab es den Aufstand der Cristeros, und das Militär griff die wenigen
Männer auf, die noch da waren. Damals habe ich angefangen, vor Hunger zu sterben, und habe mich nie wieder erholt. Und all das wegen Don Pedros fixen Ideen, wegen seiner Seelenqualen. Nur weil ihm seine Frau gestorben war, diese Susanita. Da kannst du dir vorstellen, wie sehr er sie geliebt hat.« Es war Fulgor Sedano, der zu ihm sagte: »Patrón, wissen Sie, wer im Land ist?« »Wer?« »Bartolomé San Juan.« »Wieso das?« »Genau das frage ich mich. Was hat er hier vor?« »Bist du dem nicht nachgegangen?« »Nein. Das muss ich zugeben. Er hat sich nämlich keine Unterkunft gesucht. Er ist direkt zu Ihrem alten Haus geritten. Dort ist er abgestiegen und hat seine Taschen abgeladen, als hätten Sie ihm das Haus bereits vermietet. So sicher wirkte er jedenfalls auf mich.« »Und was ist mit dir los, Fulgor, dass du der Sache nicht nachgehst? Dafür bist du doch da.« »Ich bin ein wenig unsicher geworden wegen dem, was ich gerade erzählt habe. Aber ich kläre das morgen, wenn Sie es für nötig halten.« »Was morgen angeht, überlass das mir. Ich werde mich um sie kümmern. Es sind doch beide gekommen?« »Ja, er und seine Frau. Aber woher wissen Sie das?« »Ist das nicht vielleicht die Tochter?« »So, wie er mit ihr umgeht, scheint es eher seine Frau zu sein.«
»Geh schlafen, Fulgor.« »Wenn Sie erlauben.« »Dreißig Jahre habe ich auf deine Rückkehr gewartet, Susana. Ich habe darauf gewartet, alles zu haben. Nicht nur etwas, sondern alles, was zu haben war, auf dass uns kein Wunsch mehr offenbliebe, nur dein Wunsch, der Wunsch nach dir. Wie oft habe ich deinen Vater aufgefordert, wieder herzuziehen, weil ich ihn brauchte? Ich habe es sogar mit Lügen versucht. Ich habe ihm gesagt, ich würde ihn zum Verwalter machen, alles nur, um dich wiederzusehen. Und was hat er geantwortet? ›Es gibt keine Antwort, sagte jedesmal der Bote. ›Wenn ich Don Bartolomé Ihre Briefe gebe, zerreißt er sie gleiche Durch den Jungen erfuhr ich aber, dass du geheiratet hattest, und bald darauf, dass du verwitwet warst und wieder bei deinem Vater wohntest. Dann das Schweigen. Der Bote kam und ging und sagte jedesmal, wenn er zurückkam: ›Ich finde sie einfach nicht, Don Pedro. Es heißt, dass sie Mascota verlassen haben. Und die einen sagen nach da, und die anderen nach dort.‹ Und ich: ›Scheu keine Kosten, such sie. Die Erde kann sie ja nicht verschluckt haben.‹ Bis er eines Tages kam und mir sagte: ›Ich habe das ganze Bergland nach dem Schlupfwinkel von Bartolomé San Juan abgesucht, bis ich weit weg, in einem Bergeinschnitt, auf ihn gestoßen bin, dort lebt er in einer ärmlichen Blockhütte, gleich bei den verlassenen Minen von La Andromeda.‹ Zu jener Zeit wehte schon ein seltsamer Wind. Von einem bewaffneten Aufstand war die Rede. Gerüchte drangen zu
uns. Das hat deinen Vater hergetrieben. Nicht um seiner selbst willen, wie er mir in seinem Brief schrieb, sondern wegen deiner Sicherheit, er wollte dich an einen Ort bringen, wo Leben war. Mir war, als täte sich der Himmel auf. Als müsste ich dir entgegenrennen. Dich mit lauter Freude umgeben. Weinen. Und ich habe geweint, Susana, als ich erfuhr, dass du endlich zurückkamst.« »Es gibt Dörfer die schmecken nach Unglück. Man erkennt sie, wenn man nur ein wenig von ihrer alten, abgestandenen Luft schluckt, die arm und dünn wie alles Alte ist. Das hier ist so ein Dorf, Susana. Da, wo wir gerade herkommen, mein Kind, hattest du wenigstens deine Freude am Werden der Dinge, konntest den Wolken zuschauen, den Vögeln, dem Moos, weißt du noch? Hier dagegen wirst du nichts haben als diesen gelben, säuerlichen Geruch, der allem zu entströmen scheint. Es ist eben ein unglückliches Dorf, ganz und gar mit Unglück beschmiert. Er hat uns gebeten zurückzukommen. Er hat uns sein Haus überlassen. Er hat uns alles gegeben, was wir brauchen könnten. Aber wir müssen ihm nicht dankbar sein. Es ist unser Pech, hier zu sein, denn hier gibt es für uns keine Rettung. Das spüre ich. Weißt du, worum Pedro Páramo mich gebeten hat? Mir war schon klar, dass es das alles nicht umsonst geben würde. Und ich war bereit, es mit meiner Arbeit abzuzahlen, denn zahlen mussten wir ja auf irgendeine Weise. Ich hab ihm in allen Einzelheiten von La Andromeda erzählt und ihm dargestellt, dass aus der Mine was zu holen ist, wenn man die Arbeit methodisch angeht. Und weißt du,
was er geantwortet hat? ›Mich interessiert Ihre Mine nicht, Bartolomé San Juan. Das einzige, was ich von Ihnen will, ist Ihre Tochter. Das ist Ihre beste Arbeit.‹ Also will er dich, Susana. Er sagt, ihr hättet als Kinder miteinander gespielt, dass er dich schon kennt, dass ihr sogar zusammen im Fluss gebadet habt, als ihr klein wart. Das wusste ich nicht, hätte ich es gewusst, ich hätte dich mit meinem Gürtel totgeschlagen.« »Zweifellos.« »Hast du das wirklich gesagt: Zweifellos?« »Das habe ich gesagt.« »Du bist also bereit, mit ihm zu schlafen?« »Ja, Bartolomé.« »Weißt du nicht, dass er verheiratet ist und unzählige Frauen gehabt hat?« »Ja, Bartolomé.« »Nenn mich nicht Bartolomé. Ich bin dein Vater!« Bartolomé San Juan, ein toter Bergmann. Susana San Juan, Tochter eines Bergmanns, der in der Mine La Andromeda den Tod fand. Er sah es klar vor sich. »Ich werde zum Sterben dorthin müssen«, dachte er. Dann sagte er: »Ich habe ihm gesagt, dass du, obgleich Witwe, noch mit deinem Mann zusammenlebst oder dich zumindest so verhältst. Ich habe versucht, ihn davon abzubringen, aber sein Blick wird finster, wenn ich mit ihm rede, und sobald dein Name fällt, schließt er die Augen. Soviel ich weiß, ist er durch und durch böse. Das ist Pedro Páramo.« »Und was bin ich?« »Du bist meine Tochter. Gehörst zu mir. Bartolomé San Juans Tochter.« In Susanas Kopf kamen die Gedanken in Gang, erst
langsam, dann stockten sie wieder, um dann davonzustürmen, so dass sie nur gerade noch sagen konnte: »Das stimmt nicht. Das stimmt nicht.« »Was ist das für eine Welt, die einen von allen Seiten bedrängt, in Stücke bricht, unseren Staub mit vollen Händen hier und dort verstreut, als wolle sie die Erde mit unserem Blut begießen. Was haben wir getan? Warum ist unsere Seele verfault? Deine Mutter sagte immer, eins kann uns nicht genommen werden, und das ist Gottes Barmherzigkeit. Und du verleugnest sie, Susana. Warum verleugnest du mich als deinen Vater? Bist du verrückt?« »Wusstest du das nicht?« »Bist du verrückt?« »Aber natürlich, Bartolomé. Wusstest du das nicht?« »Wusstest du, Fulgor, dass sie die schönste Frau ist, die je auf Erden gelebt hat? Ich glaubte schon, ich hätte sie für immer verloren. Aber jetzt will ich sie nicht noch einmal verlieren. Verstehst du mich, Fulgor? Sag ihrem Vater, er soll weiter in seinen Minen arbeiten. Und dort… in diesem Gebiet, wo nie einer hinkommt, wird es wohl ein leichtes sein, den Alten verschwinden zu lassen. Meinst du nicht?« »Kann sein.« »Es soll sein. Sie muss ein Waisenkind werden. Es ist doch unsere Pflicht, so jemanden zu beschützen. Meinst du nicht auch?« »Ich sehe keine Schwierigkeiten.« »Dann also los, Fulgor, los.« »Und wenn sie es erfährt?« »Wer soll es ihr sagen. Sag schon, hier unter vier Augen, wer sollte es ihr sagen?«
»Sicherlich keiner.« »Lass das ›Sicherlich‹ weg. Lass es ab jetzt einfach weg, und du wirst sehen, alles geht gut. Erinnere dich, wie schwer es war, La Andromeda zu finden. Schick ihn hin, damit er weiter dort arbeitet. Er soll mal hier, mal dort sein. Und dass ihm nicht etwa einfällt, die Tochter hin und her zu karren. Für die sorgen wir hier. Dort wird seine Arbeit sein und hier sein Haus, wo er nach dem Rechten sieht. Sag es ihm so, Fulgor.« »Das macht mir wieder Spaß, wie Sie das anpacken, Patrón, geradezu mit neuem jugendlichen Schwung.«
Auf die
Felder im Tal von Comala fällt Regen. Ein dünner Regen, ungewöhnlich für diesen Landstrich, der nur Platzregen kennt. Es ist Sonntag. Die Indios sind von Apango heruntergekommen mit ihren Kränzen aus Kamillen, dem Rosmarin, den Thymianbündeln. Sie haben keine Fichtenspäne für die Fackeln dabei, weil die Fichten nass sind, und keinen Steineichenhumus, weil auch der vom vielen Regen nass ist. Unter den Arkadenbögen breiten sie ihre Kräuter auf dem Boden aus und warten. Der Regen fällt auf die Pfützen. In den Furchen, zwischen dem sprießenden Mais, strömt das Wasser in Bächen. Die Bauern sind heute nicht zum Markt gekommen, weil sie damit zu tun haben, die Furchen zu ebnen, damit sich das Wasser andere Wege sucht und die zarten Pflänzchen nicht mit sich reißt. In Gruppen bewegen sie sich im Regen vorwärts, waten durch das überschwemmte Land, zerteilen mit ihren Schaufeln die weichen Erdbrocken, drücken mit den Händen die Maispflänzchen fest, damit sie geschützt und mühelos wachsen können.
Die Indios warten. Sie spüren, es ist ein schlechter Tag. Vielleicht zittern sie deshalb unter ihren durchnässten Strohjacken, nicht vor Kälte, sondern vor Sorge. Und sie schauen auf den zerfaserten Regen und auf den Himmel, der seine Wolken nicht loslässt. Keiner kommt. Das Dorf scheint verlassen zu sein. Die Frau hat ihnen aufgetragen, etwas Stopfgarn und ein wenig Zucker mitzubringen, und wenn möglich und vorhanden ein Sieb, um den Maistrunk durchzuseihen. Die feuchte Strohjacke wird ihnen schwer, dieweil der Mittag naht. Sie schwatzen, erzählen sich Witze und lachen laut. Die taubenetzten Kamillenkränze glitzern. Sie denken: »Hätten wir wenigstens ein klein wenig Pulque mitgebracht, war das alles egal; aber die Agaventriebe schwimmen im Wasser. Nun ja, nichts zu machen.« Dann kam Justina Diaz unter ihrem Schirm auf der geraden Straße von der Media Luna daher, wich dem Wasser aus, das auf den Gehweg sprudelte. Sie schlug das Kreuz, als sie an der Tür der Pfarrkirche vorbeikam. Sie betrat die Arkaden. Die Indios wandten sich ihr zu. Sie sah all die forschenden Blicke. Beim ersten Stand blieb sie stehen, kaufte für zehn Centavos Rosmarin und kehrte um, gefolgt von den aufgereihten Blicken der vielen Indios. »Wie teuer jetzt alles ist«, sagte sie, als sie wieder den Weg zur Media Luna einschlug. »Dieses traurige Büschel Rosmarin für zehn Centavos. Das reicht noch nicht einmal für ein wenig Duft.« Die Indios packten ihre Auslagen zusammen, als es dunkel wurde. Die schweren Bündel auf dem Rücken, traten sie in den Regen. Sie gingen in die Kirche, um zur Jungfrau zu beten, und ließen ihr ein Sträußchen Thymian als Opfergabe da. Dann machten sie sich nach Apango auf, von wo sie gekommen waren. »Ein andermal«, sagten sie. Und
auf dem Weg erzählten sie sich Witze und lachten. Justina Diaz trat in das Schlafzimmer von Susana San Juan und legte den Rosmarin auf das Bord. Die geschlossenen Vorhänge ließen kein Licht herein, also sah sie im Dunkel nur Schatten, konnte die Dinge nur erahnen. Sie nahm an, dass Susana San Juan schlief. Sie hätte sich gewünscht, dass sie immer schliefe. Jetzt schlief sie anscheinend, und Justina freute sich. Doch dann hörte sie einen Seufzer, der aus einem fernen Winkel des dunklen Zimmers zu kommen schien. »Justina!« rief es. Sie wandte den Kopf. Sah niemanden. Aber sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und den Atem in ihren Ohren. Eine gedämpfte Stimme: »Geh jetzt, Justina. Pack deine Sachen und geh. Wir brauchen dich nicht mehr.« »Sie aber braucht mich«, sagte sie und reckte sich. »Sie ist krank und braucht mich.« »Nicht mehr, Justina. Ich bleibe hier, um sie zu versorgen.« »Sind Sie das, Don Bartolomé?“ Und sie wartete nicht auf die Antwort, stieß einen Schrei aus, der bis zu den Männern und Frauen drang, die von den Feldern zurückkamen. Sie sagten: »Da scheint ein Mensch zu schreien, aber menschlich klingt das nicht.« Der Regen dämpft die Geräusche. Man hört ihn aber trotzdem, wie er sich zu Tropfen verdickt, den Lebensfaden spinnt. »Was ist los, Justina? Warum schreist du?« fragte Susana San Juan. »Ich habe nicht geschrien, Susana. Du wirst geträumt haben.« »Ich hab dir doch gesagt, dass ich nie träume. Du nimmst
keine Rücksicht auf mich. Ich bin wie gerädert. Du hast gestern die Katze nicht rausgesetzt, und die hat mich nicht schlafen lassen.« »Sie hat bei mir geschlafen, zwischen meinen Beinen. Sie war ganz nass geworden, und da tat sie mir leid und ich habe sie zu mir ins Bett gelassen. Aber sie hat keinen Krach gemacht.« »Nein, keinen Krach. Sie hat nur die ganze Zeit Zirkus gespielt, ist von meinen Füßen zu meinem Kopf gesprungen und hat leise gemaunzt, als ob sie hungrig wäre.« »Ich hab ihr reichlich zu fressen gegeben, und sie hat sich die ganze Nacht nicht von mir fortbewegt. Du träumst mal wieder Lügen, Susana.« »Ich sag dir, sie hat mich die ganze Nacht mit ihren Sprüngen erschreckt. Deine Katze ist zwar ein liebes Tier, aber wenn ich schlafe, will ich sie nicht hier haben.« »Du siehst Hirngespinste, Susana. Das ist es. Wenn Pedro Páramo kommt, sag ich ihm, dass ich dich nicht mehr ertrage. Ich sag ihm, dass ich gehe. Es werden sich schon anständige Menschen finden, die mir Arbeit geben. Nicht alle sind so hysterisch wie du und machen einem das Leben schwer. Morgen gehe ich, die Katze nehme ich mit, und dann hast du deine Ruhe.« »Du gehst nicht, du böse, verfluchte Justina. Du gehst nirgendwohin, weil du nirgends jemanden finden wirst, der dich so liebt wie ich.« »Nein, nein, ich gehe schon nicht, Susana. Ich geh nicht weg. Du weißt ja, ich bin hier, um für dich zu sorgen. Auch wenn du mich zur Verzweiflung treibst, ich werde immer für dich sorgen.« Seitdem sie auf der Welt war, hatte sie für Susana gesorgt. Hatte sie in ihren Armen gehalten. Hatte sie gehen gelehrt,
diese Schrittchen zu tun, von denen jedes ihr eine Ewigkeit zu dauern schien. Sie hatte ihren Mund und ihre Augen wachsen sehen, »wie Bonbons«. »Pfefferminzbonbons sind blau. Gelb und blau. Grün und blau. Ein Gemisch aus Pfefferminz und wilder Minze.« Sie biss ihr in die Beinchen. Lenkte sie ab, ließ sie an ihren Brüsten saugen, die leer waren, ein Spielzeug nur. »Spiel«, sagte sie zu ihr, »spiel mit deinem kleinen Spielzeug.« Sie hätte sie zerdrücken und zerstückeln mögen. Draußen hörte man den Regen auf die Bananenblätter prasseln, und in den Pfützen schien das Wasser zu brodeln. Die Bettlaken waren kalt vor Feuchtigkeit. In den Regenrinnen gurgelte und schäumte es, sie waren müde, den ganzen Tag, die Nacht lang und wieder den Tag lang zu arbeiten. Das Wasser strömte unablässig, eine blasenwerfende Sintflut.
Es
war Mitternacht, und draußen löschte der Lärm des Wassers alle anderen Laute. Susana San Juan richtete sich langsam auf. Sie erhob sich vom Bett. Da war wieder dieses Schweregefühl in den Füßen, es kroch an ihrem Körper hoch, wollte ihr Gesicht erreichen: »Bist du das, Bartolomé?« fragte sie. Sie glaubte die Tür quietschen zu hören, so als käme oder ginge jemand. Und dann nur der Regen, kurz aussetzend, kalt, glitt er von den Bananenblättern, brodelte dann im eigenen Sud. Sie schlief ein und erwachte erst, als das graue Licht eines neuen Tages auf die roten, taunassen Ziegel fiel. »Justina!« rief sie. Und sofort, als sei sie schon dagewesen, war sie, in ihre Decke gewickelt, zur Stelle.
»Was willst du, Susana?« »Die Katze. Sie war wieder da.« »Ach, du armes Ding.« Sie warf sich ihr an die Brust, umarmte sie, bis es Susana schließlich gelang, Justinas Kopf anzuheben und zu fragen: »Warum weinst du? Ich werde Pedro Páramo sagen, dass du lieb zu mir bist. Ich werde ihm nicht erzählen, dass deine Katze mir immer einen Schrecken einjagt. Jetzt sei doch nicht traurig, Justina.« »Dein Vater ist gestorben, Susana, vorgestern nacht ist er gestorben, und heute sind sie gekommen und haben gesagt, da sei nichts mehr zu machen, sie hätten ihn schon begraben. Der Weg sei zu weit gewesen, um ihn herzubringen. Du bist jetzt allein, Susana.« »Dann ist er das gewesen.« Und sie lächelte. »Du kamst, um von mir Abschied zu nehmen«, sagte sie und lächelte.
Viele Jahre zuvor, als sie noch ein Kind war, hatte er einmal
zu ihr gesagt: »Lass dich hinunter, Susana, und sag mir, was du siehst.« Sie hing an diesem Strick, der ihr in den Bauch einschnitt, ihre Hände blutig schürfte, den sie aber nicht loslassen wollte: Es war gewissermaßen der letzte Faden, der sie mit der Außenwelt verband. »Ich sehe nichts, Papa.« »Suche genau, Susana. Sieh, dass du was findest.« Und er hatte sie mit seiner Lampe angeleuchtet. »Ich sehe nichts, Papa.« »Ich werde dich noch weiter hinunterlassen. Gib Bescheid, wenn du am Boden angelangt bist.«
Sie war durch ein kleines, zwischen den Brettern geöffnetes Loch hineingekommen. Davor war sie über alte, morsche Bohlen gegangen, die geborsten und voll klebriger Erde waren: »Noch weiter hinunter, Susana, du wirst das schon finden, was ich meine.« Und sie sackte weiter und weiter hinab, wie auf einer Schaukel, wiegte sich in der Tiefe, ihre Füße baumelten im Da-ist-nichts-worauf-ich-die-Füße-stellen-könnte. »Weiter hinunter, Susana. Weiter hinunter. Sag mir, ob du etwas siehst.« Und als ihre Füße Halt gefunden hatten, rührte sie sich nicht, sagte nichts, denn sie war vor Angst verstummt. Die Lampe kreiste, und das Licht strich an ihr vorbei. Und der Ruf von dort oben ließ sie erschauern: »Reich mir, was da liegt, Susana!« Und sie nahm den Schädel in die Hände, aber als das Licht darauf schien, ließ sie ihn fallen. »Das ist ein Totenschädel«, sagte sie. »Daneben muss noch etwas sein. Gib mir alles, was du findest.« Das Skelett zerfiel in einzelne Knochen; die Kinnlade löste sich, als sei sie aus Zucker. Sie reichte ihm Stück für Stück, Gelenk für Gelenk, bis hin zu den Zehen. Als erstes jedoch den Schädel, diese runde Kugel, die ihr in den Händen zerfiel. »Such weiter, Susana. Nach Geld. Runde, goldene Taler. Such schon, Susana.« Da schwanden ihr die Sinne, erst viele Tage später kam sie im Eis wieder zu sich, unter dem eisigen Blick ihres Vaters. Deshalb lachte sie jetzt.
»Ich wusste, dass du es warst, Bartolomé.« Und die arme Justina, die weinend an ihrem Herzen lag, schreckte hoch, als sie merkte, dass Susana lachte, dass ihr Lachen zum Gelächter anschwoll. Draußen regnete es weiter. Die Indios waren verschwunden. Es war Montag, und das Tal von Comala ertrank immer noch im Regen.
Der Wind wehte
noch tagelang. Der Wind, der den Regen gebracht hatte. Der Regen war abgezogen, aber der Wind blieb. Draußen auf den Feldern streckte der Mais die jungen Blättchen in die Luft und schmiegte sich an die Furchen, um sich vor dem Wind zu schützen. Tagsüber war er erträglich, er verbog die Efeuranken und ließ die Ziegel auf den Dächern knarren; aber nachts heulte er, heulte unaufhörlich. Wolkenfahnen zogen still über den Himmel, streiften auf ihrem Weg fast die Erde. Susana San Juan hört den Wind gegen das geschlossene Fenster schlagen. Sie liegt da, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und denkt nach, hört auf die Geräusche der Nacht; wie die Nacht von ruhelosen Windstößen hin und her gerissen wird. Das plötzliche Innehalten. Man hat die Tür geöffnet. Ein Luftzug löscht die Lampe. Sie sieht ins Dunkle und hört auf zu denken. Sie nimmt leises Flüstern wahr. Sogleich hört sie ihr Herz unregelmäßig klopfen. Durch die geschlossenen Lider sieht sie die Flamme der Kerze. Sie öffnet die Augen nicht. Das Haar ist über ihr Gesicht gebreitet. Im Licht blinken die Schweißtropfen auf ihren Lippen. Sie fragt: »Bist du das, Vater?« »Ich bin dein Vater, Tochter.« Sie öffnet halb die Augen. Sie sieht den Schatten an der
Zimmerdecke über ihr Haar ziehen, sieht einen Kopf über ihrem Kopf und vor sich, durch den Schleier ihrer Wimpern, eine undeutliche Gestalt. Ein diffuses Licht, ein Licht an der Stelle des Herzens, es hat die Form eines kleinen Herzens, das wie eine flackernde Flamme zuckt. »Dein Herz stirbt vor lauter Kummer«, denkt sie. »Ich weiß schon, du kommst, um mir zu erzählen, dass Florencio gestorben ist. Aber das weiß ich bereits. Mach dir keine Gedanken um andere, mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe meinen Schmerz an einem sicheren Ort verwahrt. Sieh zu, dass dein Herz nicht erlischt.« Sie richtete sich auf und rutschte dorthin, wo Pater Renteria stand. »Lass dich von meinem Kummer trösten«, sagte sie und hielt schützend die Hände um das Kerzenlicht. Der Pfarrer ließ sie an sich herankommen; er sah zu, wie sie mit den Händen die brennende Kerze umfasste und dann das Gesicht dem flammenden Docht näherte, bis der Geruch von verbranntem Fleisch ihn zwang, die Kerze wegzuziehen und auszublasen. Da kam die Dunkelheit zurück, und Susana flüchtete unter ihre Bettücher. Pater Renteria sagte zu ihr: »Ich bin hier, um dir Trost zu spenden, meine Tochter.« »Dann leb wohl, Vater«, erwiderte sie. »Komm nicht wieder. Ich brauche dich nicht.« Und sie hörte, wie die Schritte sich entfernten, Schritte, die immer Kälte, Zittern und Angst in ihr auslösten. »Warum kommst du zu mir, wenn du doch tot bist?« Pater Renteria schloss die Tür und trat in die Nachtluft hinaus. Der Wind wehte weiter. t/in Mann, den sie den Stotterer
nannten, kam zur Media Luna und fragte nach Pedro Páramo. »Was willst du von ihm?« »Ich mö-möchte mit ihm sprechen.« »Er ist nicht da.« »Sag ihm, we-wenn er zurückkommt, dass Don Fulgor mimich schickt.« »Ich geh ihn holen, aber mach dich auf ein paar Stunden gefasst.« »Sa-sag ihm, es ist eilig.« »Ich sag’s ihm.« Der Mann, den sie den Stotterer nannten, wartete im Sattel. Nach einer Weile tauchte Pedro Páramo, den er noch nie gesehen hatte, vor ihm auf: »Was möchtest du?« »Ich mu-muss direkt mit dem Patrón sprechen.« »Das bin ich. Was willst du?« »Nu-nur dies eine: Man hat Don Fulgor Sesedano umgebracht. Ich war bei ihm. Wir wollten zu den Abzugsrinnen, um herauszubekommen, warum das Wasser so knapp war. Da sahen wir eine Horde Mä-männer, die auf uns zukam. Und aus der Me-menge ertönte eine Stimme, die sagte: ›Den da kenne ich. Das ist der Verwalter von der Me-media Luna.‹ Mi-mich haben sie gar nicht beachtet. Aber Don Fulgor haben sie befohlen, das Pferd herzugeben. Sie sagten, dass sie Revolutionäre sind. Dass sie kommen, um sich Ihr Land zu holen. ›Lauf schon!‹, sagten sie zu Don Fulgor. ›Geh und sag deinem Patrón, dass wir uns bald dort sehen!‹ Und da hat er die Zügel fallen lassen, voller Entsetzen. Er ist gerannt, nicht sehr schnell, wegen seines Ge-gewichts, aber er ist gerannt. Sie haben ihn im Laufen ge-getötet. Er starb
mit dem einen Fuß oben und dem anderen auf dem Boden. Ich habe mich nicht ge-gerührt. Habe ge-gewartet, dass es dunkel wurde, und hier bin ich, um Ihnen zu melden, was ge-geschah.« »Und worauf wartest du jetzt? Willst du da Wurzeln schlagen? Geh und sag diesen Leuten, dass ich ganz zu ihrer Verfügung stehe. Sie sollen herkommen und mit mir verhandeln. Aber davor mach einen Umweg über La Consagración. Kennst du den Kaiman? Den findest du dort. Sag ihm, ich muss ihn sprechen. Und diesen Typen richtest du aus, dass ich sie erwarte, sie sollen kommen, sobald sie etwas Zeit haben. Um was für eine Sorte von Revolutionären handelt es sich denn?« »Ich weiß nicht. Die ne-nennen sich so.« »Sag dem Kaiman, dass ich ihn auf der Stelle brauche.« »Das werde ich tun, Pa-patrón.« Pedro Páramo verschwand wieder in sein Arbeitszimmer. Er fühlte sich alt und niedergeschlagen. Er machte sich keine Gedanken um Fulgor, der schließlich schon mit einem Fuß im Grab gestanden hatte. Der hatte alles gegeben, was er zu geben hatte. Allerdings war er immer sehr gefällig gewesen, das musste man ihm lassen. »Wie auch immer, diese Wirrköpfe werden es mit dem Kaiman zu tun bekommen«, dachte er. Mehr Gedanken machte er sich um Susana San Juan, die immer nur in ihrem Zimmer lag und schlief oder sich schlafend stellte. Die vergangene Nacht hatte er stehend zugebracht, gegen die Wand gelehnt, und hatte im bleichen Licht der Nachttischlampe Susanas unruhigen Körper beobachtet, das schweißnasse Gesicht, die Hände, die in den Laken wühlten und das Kissen zusammendrückten, bis ihr die Kraft ausging.
Seitdem er sie zu sich ins Haus geholt hatte, hatte er keine anderen Nächte an ihrer Seite verbracht als diese Nächte voller Pein, voll endloser Unruhe. Und er fragte sich, wann das ein Ende nähme. Irgendwann würde es soweit sein, hoffte er. Nichts kann so lange dauern, es gibt keine Erinnerung, so stark sie auch sein mag, die nicht irgendwann verblasst. Hätte er wenigstens gewusst, was das war, was sie im Innersten marterte, warum sie sich schlaflos herumwarf, als würde sie in Stücke gerissen, bis nichts mehr von ihr übrigblieb. Er glaubte sie zu kennen. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, genügte es denn nicht zu wissen, dass sie das Wesen war, das ihm auf Erden das Liebste war? Dessen Bild ihm – und dies war das allerwichtigste -, wenn er einmal aus dem Leben ginge, den Weg erleuchten und alle anderen Erinnerungen löschen würde. Doch wie sah die Welt von Susana San Juan aus? Das war eines der Dinge, die Pedro Páramo nie erfuhr. »Mein Körper fühlte sich wohl auf dem warmen Sand. Ich lag da in der Meeresbrise, die Augen geschlossen, die Arme offen, die Beine ausgestreckt. Und vor mir das Meer, fern, dass es kaum Schaumspuren an meinen Füßen hinterließ, wenn die Flut kam …« »Das ist sie, sie spricht jetzt, Juan Preciado. Vergiss ja nicht, mir zu sagen, was sie sagt.« »… Es war früh am Morgen. Das Meer wogte heran und brach in Wellen an den Strand. Es löste sich von seinem Schaum und zog sich wieder zurück, sauberes, grünes Wasser in einer stillen Dünung. ›Im Meer kann ich nur nackt baden‹, sagte ich zu ihm.
Und er folgte mir am ersten Tag ins Wasser, auch er nackt, und als er wieder aus dem Meer kam, glitzerte er … Es waren keine Möwen da, nur Tukane, aus deren hässlichen Schnäbeln ein Knarren dringt, das sich wie Schnarchen anhört, und die bei Sonnenaufgang verschwinden. Er folgte mir am ersten Tag und fühlte sich allein, obwohl ich doch da war. ›Es ist mir, als ob du einer der Tukane wärst, einer unter den vielen‹, sagte er zu mir. ›Du gefällst mir besser bei Nacht, wenn wir beide auf demselben Kopfkissen liegen, unter den Laken, in der Dunkelheit.‹ Und dann ist er gegangen. Ich kam wieder. Ich sollte immer wiederkommen. Das Meer umspielt meine Knöchel und weicht zurück, es umspielt meine Knie, meine Schenkel; es legt seinen weichen Arm um meinen Leib, flutet über meine Brüste zurück, es schlingt sich um meinen Hals, drückt auf meine Schultern. Dann versinke ich in ihm, ganz und gar. Ich gebe mich ihm hin, seinem heftigen Drängen, seinem zarten Besitzen, ganz und gar. ›Ich bade gern im Meer‹, sagte ich ihm. Aber er versteht das nicht. Und am nächsten Tag war ich wieder im Meer, gab mich zur Reinigung seinen Wellen hin.«
Als der Nachmittag ins Bräunliche wechselte, tauchten die
Männer auf. Sie trugen Karabiner und über der Brust gekreuzte Patrónengürtel. Es waren etwa zwanzig. Pedro Páramo lud sie zum Essen ein. Und sie setzten sich an den Tisch, ohne die Hüte abzusetzen, und warteten schweigend. Man hörte sie nur schlürfen, als ihnen die Schokolade gebracht wurde, und Tortilla um Tortilla kauen, als ihnen
die Bohnen hingestellt wurden. Pedro Páramo sah sie sich an. Er entdeckte keine bekannten Gesichter. Gleich hinter ihm, im Schatten, lauerte der Kaiman. »Nun denn, Patrónes«, sagte Pedro Páramo zu ihnen, als er sah, dass sie fertig gegessen hatten, »mit was kann ich euch sonst noch dienen?« »Sind Sie hier der Besitzer?« fragte einer und fächelte sich mit der Hand Luft zu. Doch ein anderer unterbrach ihn: »Ich führe hier das Wort!« »Also gut, was wünschen Sie?« fragte Pedro Páramo erneut. »Wie Sie sehen, ist das hier ein bewaffneter Aufstand.« »Ja und?« »Das ist alles. Reicht Ihnen das nicht?« »Aber warum habt ihr euch bewaffnet?« »Nun, weil andere das auch getan haben. Wissen Sie das nicht? Warten Sie nur ein bisschen, bis wir Instruktionen bekommen, und dann erfahren Sie schon, warum.« »Ich weiß, warum«, sagte ein anderer. »Und wenn Sie wollen, erzähl ich’s Ihnen. Wir haben uns gegen die Regierung und gegen Leute wie Sie erhoben, weil wir es satt haben, euch zu ertragen. Die Regierung wegen ihrer Niedertracht und euch, weil ihr nichts als plündernde Banditen und aalglatte Gauner seid. Und über die Herren Regierenden sag ich gleich gar nichts, denen sagen wir mit Kugeln, was wir ihnen zu sagen haben.« »Wieviel braucht ihr denn für eure Revolution?« fragte Pedro Páramo. »Vielleicht kann ich euch helfen.« »Der Herr hat recht, Perseverancio. Du hättest deine
Zunge im Zaum halten sollen. Wir müssen uns einen Reichen beschaffen, der uns ausrüstet, und wer wäre dazu besser geeignet als dieser Herr hier. He, du, Casildo, wieviel brauchen wir etwa?« »Er soll uns das geben, was ihm sein Gewissen rät.« »Der Kerl würde doch nicht mal einem Durstigen Wasser geben. Wo wir schon hier sind, sollten wir ihm alles abnehmen, sogar den Mais, der noch in seinem dreckigen Schlund steckt.« »Beruhig dich, Perseverancio. Auf die freundliche Art kommt man schneller ans Ziel. Wir werden uns schon einigen. Rede du, Casildo.« »Nun, wenn ich das so überschlage, würde ich sagen, zwanzigtausend Pesos wären für den Anfang nicht schlecht. Was meint ihr? Aber wer weiß, vielleicht ist das dem Herrn ja zuwenig, wo er uns doch so gerne helfen will. Sagen wir also fünfzigtausend. Einverstanden?« »Ich werde euch hunderttausend geben«, sagte Pedro Páramo. »Wie viele seid ihr?« »Dreihundert Mann.« »Gut. Dann überlasse ich euch noch mal dreihundert Mann, um euer Kontingent zu verstärken. In einer Woche stehen euch Männer und Geld zur Verfügung. Das Geld ist ein Geschenk, die Männer nur eine Leihgabe. Sobald sie nicht mehr gebraucht werden, schickt ihr sie mir zurück. In Ordnung?« »Aber sicher.« »Dann bis in acht Tagen, meine Herren. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.« »Na dann«, sagte der letzte im Hinausgehen. »Und denken Sie dran, wenn Sie Ihr Versprechen nicht halten, dann werden Sie von Perseverancio hören, so heiße ich
nämlich.« Pedro Páramo verabschiedete sich mit Handschlag von ihm. »Wer, glaubst du, ist der Anführer dieser Leute?« fragte er später den Kaiman. »Ich könnte mir denken, dass es der Dickwanst ist, der in der Mitte saß und nicht einmal hochgeschaut hat. Ich hab so ein Gefühl … Und ich irre mich selten, Don Pedro.« »Nein, Damasio, der Anführer bist du. Oder willst du etwa nicht bei der Revolte mitmachen?« »Lieber früher als später. Wo ich Keilereien doch so mag.« »Du hast ja gesehen, um was es geht, also brauchst du meine Ratschläge nicht. Such dir dreihundert junge Kerle deines Vertrauens und stoße zu den Aufständischen. Sag ihnen, du bringst die von mir versprochenen Leute. Den Rest wirst du schon hinkriegen.« »Und das Geld, was soll ich ihnen da sagen? Soll ich ihnen das auch bringen?« »Ich gebe dir pro Mann zehn Pesos mit. Nur für die dringendsten Ausgaben. Du sagst, der Rest liege hier zu ihrer Verfügung. Es ist nicht sinnvoll, bei derartigen Unternehmungen so viel Geld dabeizuhaben. Und noch was, würde dir der kleine Hof Puerta de Piedra gefallen? Schön, der gehört ab jetzt dir. Du bringst dem Anwalt Gerardo Trujillo in Comala einen Brief von mir, und der wird den Besitz dann sofort auf deinen Namen überschreiben. Was meinst du, Damasio?« »Die Frage erübrigt sich, Patrón. Obwohl, mit oder ohne Hof, das hier würde ich auch so machen, aus reiner Lust. Sie kennen mich doch. Wie auch immer, ich danke Ihnen sehr. Die Alte ist dann wenigstens beschäftigt, wenn ich mich ins
Getümmel werfe.« »Und noch was, hol dir auf dem Weg ein paar Kühe. Dem Hof da fehlt einfach etwas Leben.« »Dürfen es auch Zeburinder sein?« »Such dir aus, was du magst, und so viele, wie deine Frau deiner Meinung nach versorgen kann. Und um auf unsere Angelegenheit zurückzukommen: Sieh zu, dass du dich nicht zu sehr von meinem Besitz entfernst. Falls andere kommen, sollen sie das Land schon besetzt vorfinden. Und komm her, sooft du kannst oder irgendeine Neuigkeit hast.« »Wir sehen uns, Patrón.« »Was sagt sie, Juan Preciado?« »Sie sagt, sie habe ihre Füße zwischen seinen Beinen versteckt. Ihre Füße, eiskalt wie Steine, wurden dort warm wie in einem Backofen. Sie sagt, dass er in ihre Füße gebissen und gesagt habe, sie seien wie Brote, goldbraun gebackene Brote. Dass sie zusammengekauert schlief, in ihn hineingeschmiegt, dass sie im Nichts verging, wenn sie fühlte, wie ihr Fleisch nachgab, sich öffnete wie eine Furche unter einem Nagel, der erst glühte, dann warm war, dann süß, und hart in ihr weiches Fleisch stieß; wie er eindrang, noch tiefer drang, bis sie stöhnte. Dass sein Tod ihr aber noch mehr weh getan hat. Das sagt sie.« »Wen meint sie?« »Wahrscheinlich einen, der vor ihr gestorben ist.« »Aber wer kann das gewesen sein?« »Ich weiß nicht. Sie sagt, sie habe in der Nacht, in der er so lang ausblieb, gespürt, wie er sehr spät, vielleicht schon gegen Morgen zurückkam. Sie habe es nur daran gemerkt, dass ihre Füße, die einsam und kalt dagelegen hatten,
plötzlich eingewickelt wurden; dass jemand sie in etwas wickelte und sie wärmte. Als sie aufwachte, sah sie, dass ihre Füße in eine Zeitung geschlagen waren, die sie gelesen hatte, als sie auf ihn wartete, und die zu Bo! den gefallen war, als sie der Schlaf überwältigte. Und da lagen ihre Füße, in die Zeitung gewickelt, als man ihr mitteilte, dass er gestorben war.« »Der Sarg, in dem man sie begrub, muss geborsten sein, denn da ist ein Knacken wie von Brettern zu hören.« »Ja, das höre ich auch.«
In
jener Nacht folgte wieder ein Traum auf den anderen. Warum diese lebhafte Erinnerung an so viele Dinge? Warum nicht einfach der Tod statt dieser süßen Musik der Vergangenheit? »Florencio ist gestorben, Señora.« Wie lang dieser Mann war! Wie hoch gewachsen! Und seine Stimme war hart. Trocken wie die trockenste Erde. Und seine Gestalt verschwommen, oder war sie erst später verschwommen? Als habe sich Regen zwischen sie und ihn gedrängt. »Was hatte die Frau gesagt? Florencio? Von welchem Florencio sprach sie? Von meinem? Ach! Warum habe ich damals nicht geweint, mich in Tränen aufgelöst, um mein Leid zu ertränken? Herr, du existierst nicht! Ich habe dich um Schutz angefleht. Du solltest auf ihn aufpassen. Darum habe ich gebetet. Aber du kümmerst dich nur um die Seelen. Ich aber will seinen Körper. Nackt und heiß vor Liebe, glühend vor Verlangen soll er meine bebenden Brüste und Arme an sich drücken. Mein durchscheinender Körper hängt an dem seinen. Mein leichter Körper, von seiner Kraft gehalten und losgelassen. Was soll ich jetzt mit meinen Lippen ohne seinen Mund,
der sie mir füllte? Was soll ich mit meinen wehen Lippen tun?« Während Susana San Juan sich unruhig hin und her wälzte, stand Pedro Páramo an der Tür, sah ihr zu und zählte die Sekunden dieses neuen Traums, der schon lange dauerte. Das Öl der Lampe knisterte, und die Flamme flackerte immer schwächer. Bald würde sie verlöschen. Wenn sie wenigstens Schmerzen hätte, statt dieser ruhelosen Träume, dieser endlosen, erschöpfenden Träume, dann könnte er ihr vielleicht Linderung verschaffen. So dachte Pedro Páramo, den Blick starr auf Susana San Juan gerichtet, jede ihrer Bewegungen verfolgend. Was wäre, wenn auch sie mit dieser Flamme verlöschen würde, in deren schwachem Licht er sie sah? Später ging er hinaus und schloss geräuschlos die Tür. Draußen trennte die klare Nachtluft ihn von dem Bild der Susana San Juan. Sie wachte kurz vor Tagesanbruch auf. Völlig verschwitzt. Sie warf die schweren Decken zu Boden und befreite sich auch von der Hitze der Laken. Ihr Körper lag nackt da, erfrischt vom Wind des Morgengrauens. Sie seufzte und schlief dann wieder ein. So fand Pater Renteria sie Stunden später: nackt und schlafend. »Wissen Sie schon, Don Pedro, dass der Kaiman geschlagen wurde?« »Ich weiß, dass es gestern nacht eine Schießerei gegeben hat, der Lärm war zu hören, aber mehr weiß ich nicht. Wer hat dir das erzählt, Gerardo?« »Ein paar Verwundete sind nach Comala gekommen. Meine Frau hat beim Verbinden geholfen. Sie sagten, dass
sie Leute von Damasio sind und dass es viele Tote gegeben hat. Sie sollen mit einem Trupp von Leuten zusammengestoßen sein, die sich nach Pancho Villa ›Villistas‹ nennen.« »Verdammt noch mal, Gerardo! Ich sehe finstere Zeiten kommen. Und du, was gedenkst du zu tun?« »Ich gehe, Don Pedro. Nach Sayula. Dort werde ich mich erneut niederlassen.« »Da habt ihr Anwälte es wirklich besser. Solange man euch nicht umlegt, könnt ihr euer Hab und Gut überallhin mitnehmen.« »Glauben Sie das nicht, Don Pedro, notgedrungen schaffen wir uns unsere Probleme selbst. Im übrigen tut es weh, Menschen wie Sie zu verlassen, und man vermisst das Entgegenkommen, das man genossen hat. Wir ziehen uns immer wieder selbst den Boden unter den Füßen weg, wenn man das so sagen darf. Wo soll ich Ihnen die Papiere lassen?« »Lass sie nicht da. Nimm sie mit. Oder kannst du etwa von dort, wo du hinziehst, nicht mehr meine Angelegenheiten betreuen?« »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Don Pedro. Ich bin Ihnen ehrlich dankbar. Aber ich muss Ihnen doch sagen, dass es mir unmöglich ist. Gewisse Unregelmäßigkeiten … Sagen wir … da gibt es Belege, die keiner außer Ihnen kennen sollte. Wenn die in fremde Hände fallen, könnten sie gegen Sie verwendet werden. Bei Ihnen sind sie am sichersten aufgehoben.« »Da hast du recht, Gerardo. Lass sie hier. Ich werde sie verbrennen. Mit oder ohne Papiere, wer kann mir das Recht an meinem Besitz streitig machen?« »Selbstverständlich keiner, Don Pedro. Keiner. Wenn Sie
erlauben.« »Geh mit Gott, Gerardo.« »Was haben Sie gesagt?« »Ich sage, Gott sei mit dir.« Der Anwalt Gerardo Trujillo ging langsam zur Tür. Er war schon alt, aber nicht so alt, dass dies die kurzen Schrittchen bar jeden Schwungs gerechtfertigt hätte. Tatsächlich erwartete er eine Belohnung. Er hatte Don Lucas, Pedro Páramos Vater, er ruhe in Frieden, gedient; später und bis heute Don Pedro; dann auch Miguel, Don Pedros Sohn. Tatsächlich erwartete er eine Entschädigung. Eine hohe, bedeutende Gratifikation. Zu seiner Frau hatte er gesagt: »Ich gehe, mich von Don Pedro verabschieden. Ich weiß, er wird mich belohnen. Fast möchte ich meinen, dass wir uns mit dem Geld, das er mir gibt, bestens in Sayula einrichten und den Rest unserer Tage sorgenfrei leben können.« Warum nur haben Frauen immer Zweifel? Bekommen sie einen Wink vom Himmel oder was? Sie war sich nicht so sicher gewesen, dass er überhaupt etwas bekommen würde. »Du wirst dort hart arbeiten müssen, um auf einen grünen Zweig zu kommen. Von hier wirst du nichts mitnehmen.« »Wie kommst du darauf?« »Ich weiß es.« Er ging weiter Richtung Tür, lauerte darauf, zurückgerufen zu werden: »He, Gerardol Ich bin so in Sorgen, dass ich gar nicht an dich gedacht habe. Aber ich schulde dir Gefälligkeiten, die mit Geld nicht zu bezahlen sind. Nimm das hier, nur ein unbedeutendes Geschenk.« Doch nichts geschah. Er ging zur Tür hinaus und löste das Halfter, mit dem sein Pferd an den Pfahl gebunden war. Er schwang sich in den Sattel und ritt langsam im Schritt, wollte in Hörweite bleiben, falls man ihn doch noch rief,
bewegte sich Richtung Comala, ohne vom Weg abzuweichen. Als er die Media Luna hinter sich verschwinden sah, dachte er: »Das wäre doch eine zu große Erniedrigung, ihn um ein Darlehen zu bitten.« »Don Pedro, ich bin zurückgekommen, weil ich mit mir unzufrieden bin. Ich will Ihre Angelegenheiten doch gerne weiter betreuen.« Das sagte er und saß wieder in Pedro Páramos Arbeitszimmer, das er vor einer knappen halben Stunde verlassen hatte. »Schon gut, Gerardo. Da sind die Papiere, dort, wo du sie gelassen hast.« »Dann hätte ich auch gerne … Die Kosten … Der Umzug … Einen kleinen Vorschuss auf die Honorare … Etwas Zusätzliches, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Fünfhundert?« »Könnte es nicht ein wenig, sagen wir, ein klein wenig mehr sein?« »Bist du mit tausend zufrieden?« »Wie wäre es mit fünf?« »Fünf was? Fünftausend Pesos? Die hab ich nicht. Du weißt doch selbst, dass alles investiert ist. Land, Vieh. Du weißt es. Nimm die tausend. Ich glaube kaum, dass du mehr brauchen wirst.« Er überlegte mit gesenktem Kopf. Er hörte das Klimpern der Münzen auf dem Schreibtisch, wo Pedro Páramo das Geld abzählte. Er erinnerte sich an Don Lucas, der ihm immer das Honorar schuldig geblieben war. An Don Pedro, der dann eine neue Rechnung aufmachte. An seinen Sohn Miguel: wieviel Ärger hatte ihm dieser Junge gemacht!
Er hatte ihn mindestens fünfzehnmal, wenn nicht gar öfter, aus dem Gefängnis geholt. Und dann der Mord, den er an diesem Mann begangen hatte, wie hieß er noch, Renteria, ja, genau. Der Tote namens Renteria, dem sie dann eine Pistole in die Hand gelegt hatten. Wie klein da der Miguelito war, später aber lachte er drüber. Allein das, wieviel hätte es Don Pedro gekostet, wenn die Sache weitergegangen wäre, bis vors Gericht? Und das mit den Vergewaltigungen, was war damit? Wie oft musste er den Mädchen aus eigener Tasche Geld geben, damit sie Gras über die Geschichte wachsen ließen: »Freu dich doch, du wirst ein blondes Kind kriegen!« hatte er zu ihnen gesagt. »Hier hast du, Gerardo. Und pass gut drauf auf, Geld wächst nicht nach.« Und er, der noch seinen Gedanken nachhing, erwiderte: »Ja, auch die Toten wachsen nicht nach«, und fügte hinzu: »Leider.«
Es fehlte
noch lange bis zum Morgengrauen. Der Himmel war voller Sterne, dicker Sterne, aufgebläht von soviel Nacht. Der Mond war aufgetaucht und bald wieder verschwunden. Es war einer dieser traurigen Monde, die keiner anschaut, auf die keiner achtet. Er hatte eine Weile verzerrt am Himmel gestanden, kein Licht ausgestrahlt und sich dann hinter den Bergen versteckt. Von fern, im Dunkel verloren, hörte man das Brüllen der Stiere. »Diese Tiere schlafen nie«, sagte Damiana Cisneros. »Sie schlafen nie. Ganz wie der Teufel, der immer unterwegs ist und Seelen sucht, die er in die Hölle bringen kann.« Sie drehte sich im Bett um, das Gesicht zur Wand hin. Dann hörte sie die Schläge.
Sie hielt den Atem an und öffnete die Augen. Erneut hörte sie drei trockene Schläge, als klopfe jemand mit den Knöcheln an die Wand. Nicht hier bei ihr, sondern weiter weg. Aber an dieselbe Wand. »Gott steh mir bei! Das wird doch nicht der heilige Pascual Bailön sein, der da dreimal pocht, um einem seiner Jünger zu melden, dass sein letztes Stündlein geschlagen hat?« Da sie wegen ihres Rheumas schon seit längerem nicht mehr zu den Trauernovenen ging, fühlte sie sich nicht angesprochen, bekam aber Angst. Stärker als die Angst war jedoch die Neugier. Sie stand leise von ihrem Feldbett auf und ging zum Fenster. Die Felder waren schwarz. Weil sie ihn so gut kannte, wusste sie aber gleich, dass es der riesige Körper von Pedro Páramo war, der sich in das Fenster von Margarita schwang. »Ach, dieser Don Pedro!« sagte Damiana. »Die Katze lässt das Mausen nicht. Ich versteh nur nicht, warum er alles so heimlich macht. Hätte er mir Bescheid gegeben, hätte ich der Margarita gesagt, dass der Patrón sie heute nacht braucht, und dann hätte er sich nicht einmal die Mühe machen müssen, aus dem Bett zu steigen.« Als sie wieder das Brüllen der Stiere hörte, schloss sie das Fenster. Sie legte sich in ihr Feldbett, zog die Decke bis über die Ohren und stellte sich dann vor, was der Magd Margarita gerade widerfuhr. Später dann musste sie das Nachthemd ausziehen, weil die Nacht schwül zu werden begann … »Damiana!« hörte sie es rufen. Sie war damals noch ein junges Ding. »Mach die Tür auf, Damiana!« Ihr Herz klopfte, als springe hinter ihren Rippen ein
Frosch herum. »Aber wozu denn, Patrón?« »Mach auf, Damiana!« »Aber ich schlafe doch schon, Patrón.« Dann hörte sie Don Pedro durch die langen Korridore stampfen, wie immer, wenn er aufgebracht war. In der folgenden Nacht ließ sie, um Ärger zu vermeiden, die Tür angelehnt und legte sich sogar nackt ins Bett, damit ihm nichts im Weg war. Doch Pedro Páramo kam niemals wieder. Deshalb dachte sie, die sich Respekt verschafft hatte und inzwischen Aufseherin aller Dienstmädchen auf der Media Luna war, auch jetzt als alte Frau immer noch an jene Nacht, als der Patrón verlangt hatte: »Mach die Tür auf, Damiana!« Und so legte sie sich nieder und dachte, wie glücklich Margarita jetzt wohl gerade war. Danach hörte sie ein anderes Klopfen, diesmal gegen die große Tür, laut, als würde mit Gewehrkolben dagegengeschlagen. Erneut öffnete sie das Fenster und beugte sich hinaus in die Nacht. Sie sah nichts, es kam ihr aber so vor, als sei die Erde am Brodeln, so wie nach dem Regen, wenn die Würmer hervorkriechen. Sie spürte eine Wärme wie von vielen Männern aufsteigen. Das Quaken der Kröten, die Grillen, die ruhige Nacht der Regenzeit. Dann hörte sie wieder die Kolbenschläge gegen die Tür. Eine Lampe streute Licht über ein paar Männergesichter. Dann ging sie aus. »Das sind Sachen, die mich nichts angehen«, sagte Damiana Cisneros und schloss das Fenster.
»Ich habe gehört, dass sie dich geschlagen haben, Damasio. Warum lässt du das mit dir machen?« »Da hat man Sie falsch informiert, Patrón. Mir ist nichts passiert. Ich habe meine Leute heil beisammen. Ich bringe Ihnen siebenhundert Mann und noch einige, die sich angeschlossen haben. Es war nur so, dass ein paar von den alten Haudegen, die das Nichtstun satt hatten, auf einen Trupp Soldaten geschossen haben, und dann hat sich herausgestellt, das war ein ganzes Heer. Villistas, wissen Sie?« »Und woher kommen die?« »Aus dem Norden, und sie räumen mit allem auf, was sie unterwegs finden. Es scheint so, dass sie das ganze Land durchforsten und alle Güter abklappern. Die sind stark. Das kann man nicht anders sagen.« »Und warum schließt du dich ihnen nicht an? Ich hab dir doch gesagt, man muss immer auf der Seite der Sieger stehen.« »Ich bin schon bei ihnen.« »Und wozu kommst du dann zu mir?« »Wir brauchen Geld, Patrón. Wir haben es satt, Fleisch zu essen. Es hängt uns zum Hals raus. Und keiner will uns etwas borgen. Deshalb kommen wir zu Ihnen. Wenn Sie uns versorgen, sind wir nicht gezwungen, die Leute zu berauben. Es würde uns nichts ausmachen, bei den Bauern einzufallen, wenn wir weit weg wären, aber hier sind wir mit allen verschwägert, und das Klauen macht uns ein schlechtes Gewissen. Kurz, wir brauchen Geld zum Einkaufen, und sei es nur eine dicke Tortilla mit Pfefferschoten. Wir haben es satt, Fleisch zu essen.« »Wirst du jetzt anspruchsvoll, Damasio?« »Keineswegs, Patrón. Ich setze mich nur für die Jungs ein,
mir selbst macht das nichts aus.« »Es ist schön, dass du an deine Leute denkst, aber hol dir das, was du brauchst, bei anderen. Von mir hast du schon bekommen, gib dich damit zufrieden. Das soll jetzt kein Ratschlag sein, keineswegs, aber ist dir nie in den Sinn gekommen, Contla zu überfallen? Wozu machst du denn eine Revolution? Wenn du um Almosen betteln willst, bist du zu spät dran. Da hättest du lieber gleich mit deiner Frau die Hühner gehütet. Überfall ein Dorf! Wenn du schon deinen Kopf riskierst, warum zum Teufel sollen die anderen nicht auch etwas einsetzen? In Contla wimmelt es nur so vor Reichen. Nimm dir doch einen Batzen von dem, was sie haben. Oder glauben die vielleicht, du bist ihre Kinderfrau und dazu da, über ihre Interessen zu wachen? Nein, Damasio. Zeig ihnen, dass das für dich kein Spiel ist und kein Zeitvertreib. Heiz ihnen ein, und du wirst schon sehen, was da an Centavos herausspringt.« »Wie dem auch sei, Patrón, bei Ihnen bekomme ich immer was Nützliches mit.« »Dann nutze es auch.« Pedro Páramo schaute zu, als die Männer abzogen. Im Trott defilierten die Pferde an ihm vorbei, mit der Nacht verschmolzen. Er spürte den Schweiß und den Staub, das Beben der Erde. Als er die Glühwürmchen wieder kreuz und quer herumschwirren sah, war ihm klar, dass alle Männer fort waren. Zurück blieb nur er, allein, wie ein harter Stamm, der von innen morsch wurde. Er dachte an Susana San Juan. Dachte an das Mädchen, mit dem er gerade erst geschlafen hatte. Diesen kleinen, verschreckt zitternden Körper, dem das Herz aus dem Mund springen wollte. »Du kleine Handvoll Fleisch«, hatte er zu ihr gesagt. Und er hatte sie umarmt und versucht, aus ihr Fleisch von Susana San Juan zu machen. »Eine Frau, die
nicht von dieser Welt war.«
Wenn es Morgen wird, wendet sich der Tag stockend um;
man meint zu hören, wie sich die verrosteten Angeln der Erde drehen, spürt das Beben dieser alten Erde, wenn sie ihre Dunkelheit abwirft. »Die Nacht ist voller Sünden, stimmt’s, Justina?« »Ja, Susana.« »Und das stimmt wirklich?« »Es wird wohl so sein, Susana.« »Was kann das Leben denn anderes als Sünde sein, Justina? Hörst du? Hörst du nicht die Erde knarren?« »Nein, Susana, ich höre nichts. Ich habe nicht wie du diese glückliche Gabe.« »Du würdest staunen. Ich sag dir, du würdest staunen, wenn du das hörtest, was ich höre.« Justina machte weiter im Zimmer Ordnung. Sie fuhr wieder und wieder mit dem Putzlappen über die feuchten Bodenbretter. Sie wischte das Wasser aus der zersprungenen Blumenvase auf. Sie sammelte die Blumen zusammen. Warf die Glasscherben in den Eimer voll Wasser. »Wie viele Vögel hast du in deinem Leben getötet, Justina?« »Viele, Susana.« »Und hat dich das nicht traurig gemacht?« »Doch, Susana.« »Worauf wartest du dann, um zu sterben?« »Auf den Tod, Susana.« »Wenn das alles ist, der wird schon kommen. Mach dir
keine Sorgen.« Susana San Juan saß aufgerichtet in ihren Kissen. Die Augen sahen unruhig nach allen Seiten. Die Hände lagen auf dem Bauch, an den Bauch geschmiegt wie eine schützende Muschel. Da war ein leichtes Summen, wie von Flügeln, die über ihrem Kopf dahinzogen. Und das Quietschen des Ziehbrunnens. Die Geräusche von aufwachenden Menschen. »Glaubst du an die Hölle, Justina?« »Ja, Susana. Und an den Himmel auch.« »Ich glaube nur an die Hölle«, sagte sie. Und schloss die Augen. Als Justina aus dem Zimmer ging, war Susana de San Juan wieder eingeschlafen, und draußen sprühte die Sonne Funken. Sie traf Pedro Páramo auf dem Weg. »Wie geht es der Señora?« »Schlecht«, sagte sie und senkte den Kopf. »Klagt sie?« »Nein, Señor, sie klagt über nichts. Aber es heißt ja, dass Tote nicht mehr klagen. Die Señora ist für uns alle verloren.« »War Pater Renteria nicht bei ihr?« »Er ist gestern nacht dagewesen und hat ihr die Beichte abgenommen. Sie hätte heute die Kommunion empfangen sollen, aber sie ist wohl nicht im Stand der Gnade, denn Pater Renteria hat ihr das Abendmahl nicht gebracht. Er hat gesagt, er würde heute ganz früh kommen, aber Sie sehen ja, die Sonne steht schon am Himmel, und er ist noch nicht gekommen. Sie ist wohl nicht im Stand der Gnade.« »In welcher Gnade?« »In Gottes Gnade, Señor.«
»Dummes Zeug, Justina.« »Wie Sie meinen, Señor.« Pedro Páramo öffnete die Tür und blieb dann an der Schwelle stehen, so dass ein Lichtstrahl auf Susana San Juan fiel. Er sah ihre zusammengepressten Lider, als leide sie unter inneren Schmerzen, sah den angefeuchteten, halboffenen Mund und die Laken, über die bewusstlose Hände fuhren, bis der Körper bloß lag, der sich in Krämpfen zu krümmen begann. Er überwand den kurzen Abstand, der ihn vom Bett trennte, und bedeckte den nackten Körper, der sich weiter wie ein Wurm in immer heftigeren Krämpfen wand. Er näherte sich ihrem Ohr und sprach zu ihr: »Susanal“ Und wiederholte noch einmal: »Susana!« Die Tür ging auf, und Pater Renteria trat still herein, bewegte nur kurz die Lippen: »Ich werde dir die Kommunion erteilen, meine Tochter.« Er wartete, bis Pedro Páramo sie hochgezogen und gegen das Oberteil des Bettes gelehnt hatte. Susana streckte im Halbschlaf die Zunge aus und schluckte die Hostie. Dann sagte sie: »Wir waren eine Weile sehr glücklich miteinander, Florencio.« Und versank wieder im Grab ihrer Bettücher. »Sehen Sie dieses Fenster da, Doña Fausta, drüben auf der Media Luna, dort, wo immer das Licht gebrannt hat?« »Nein, Angeles, ich sehe kein Fenster.« »Es ist ja auch gerade dunkel geworden. Da wird doch nichts Schlimmes auf der Media Luna passiert sein? Seit über drei Jahren ist dieses Fenster immer erleuchtet gewesen, Nacht für Nacht. Die Leute, die dort waren, sagen,
das sei das Zimmer von Pedro Páramos Frau, einer armen Irren, die Angst vor der Dunkelheit hat. Und sehen Sie: Gerade eben ist das Licht ausgegangen. Ob da etwas Schlimmes vorgefallen ist?« »Vielleicht ist sie gestorben. Sie war sehr krank. Man sagt, sie erkannte keinen mehr und redete mit sich selbst. Für Pedro Páramo muss das eine wahre Strafe gewesen sein, diese Frau geheiratet zu haben.« »Der arme Don Pedro.« »Nein, Fausta. Er hat es verdient. Das und mehr.« »Sehen Sie, das Fenster ist immer noch dunkel.« »Lassen Sie das Fenster Fenster sein und uns beide schlafen gehen, zwei alte Weiber wie wir sollten uns so spät in der Nacht nicht mehr auf der Straße herumtreiben.« Und die beiden Frauen, die kurz vor elf aus der Kirche gekommen waren, verloren sich unter den Bogen der Arkaden, sahen von dort, wie der Schatten eines Mannes die Plaza in Richtung Media Luna überquerte. »Sagen Sie, Doña Fausta, könnte der Herr, der dort geht, nicht Doktor Valencia sein?« »Sieht so aus, aber meine Augen sind so schwach, dass ich ihn nicht erkennen könnte.« »Sie wissen doch, er trägt immer weiße Hosen und ein schwarzes Jackett. Ich wette, auf der Media Luna ist etwas Schlimmes passiert. Und schauen Sie mal, wie er ausschreitet, als ob er es sehr eilig hätte.« »Wenn es bloß nichts wirklich Ernstes ist. Am liebsten würde ich umkehren und Pater Renteria sagen, er soll dort vorbeischauen, nicht dass die Unglückliche am Ende ohne Beichte stirbt.« »Das darfst du nicht denken, Angeles. Und Gott wird es nicht wollen. Nach allem, was sie auf dieser Welt gelitten
hat, kann doch keiner wünschen, dass sie ohne geistlichen Beistand stirbt und dann auch noch im anderen Leben büßen muss. Die Hellseher sagen zwar, dass die Beichte für Verrückte nicht gilt und sie selbst bei unreiner Seele ohne Schuld sind. Aber das weiß nur Gott allein … Sehen Sie, da ist wieder Licht im Fenster. Hoffentlich geht alles gut aus. Nicht auszudenken, was aus unserer Arbeit der letzten Tage wird, aus all der Mühe, die Kirche für die Weihnacht schön herzurichten, wenn in dem Haus da jemand stirbt. Bei seinem Einfluss würde Don Pedro uns im Handumdrehen die ganze Veranstaltung verderben.« »Sie denken immer gleich das Schlimmste, Doña Fausta. Machen Sie es lieber wie ich: Überlassen Sie alles der göttlichen Vorsehung. Beten Sie ein Ave-Maria zur Jungfrau, und ich bin sicher, das nichts von heute auf morgen passiert. Und dann soll Gottes Wille geschehen. Schließlich und endlich dürfte sie nicht mehr viel Freude am Leben haben.« »Sie machen einem immer wieder Mut, Angeles, wirklieh. Ich gehe jetzt ins Bett und will mit diesen Gedanken einschlafen. Es heißt ja, die Gedanken aus den Träumen fliegen geradewegs in den Himmel. Hoffentlich schaffen es meine auch so hoch. Wir sehen uns morgen.« »Bis morgen, Fausta.« Die beiden alten Frauen, die Tür an Tür wohnten, gingen in ihre Häuser. In der Stille schloss die Nacht sich wieder über dem Dorf. »Ich habe den Mund voller Erde.« »Ja, Hochwürden.« »Sag nicht: Ja, Hochwürden.‹ Wiederhole das, was ich dir sage.«
»Was werden Sie mir sagen? Wollen Sie mich noch einmal beichten lassen? Warum noch einmal?« »Das wird keine Beichte, Susana. Ich bin nur gekommen, um mit dir zu sprechen, dich auf den Tod vorzubereiten.« »Werde ich jetzt schon sterben?« »Ja, Tochter.« »Warum lassen Sie mich dann nicht in Frieden? Ich möchte schlafen. Man wird Ihnen aufgetragen haben, mich am Schlafen zu hindern. Sie sollten kommen und hier bei mir bleiben, bis ich nicht mehr müde bin. Und was kann ich dann tun, um wieder in den Schlaf zu finden? Nichts, Hochwürden. Warum gehen Sie nicht lieber und lassen mich in Ruhe?« »Ich werde dich in Frieden zurücklassen, Susana. Wenn du die Worte wiederholst, die ich dir vorspreche, wirst du allmählich einschlafen. Es wird für dich so sein, als ob du dich selbst in den Schlaf singst. Und wenn du erst einmal schläfst, wird dich niemand wecken … Du wirst nie wieder aufwachen.« »Gut, Hochwürden. Ich werde tun, was Sie sagen.« Pater Renteria saß auf der Bettkante, er hatte die Hände auf den Schultern von Susana San Juan und den Mund ganz nah an ihrem Ohr, um nicht laut sprechen zu müssen, und flößte ihr jedes seiner Worte heimlich ein: »Mein Mund ist voller Erde.« Dann hielt er inne, versuchte zu erkennen, ob sich ihre Lippen bewegten. Und er sah sie stammeln, doch keinen Ton herausbringen. »Ich habe den Mund voll von dir, von deinem Mund. Deine Lippen sind zusammengepresst, hart, sie drücken auf meine Lippen, als wollten sie beißen …« Da hielt auch sie inne. Aus dem Augenwinkel schaute sie
auf Pater Renteria und sah ihn fern, wie hinter einer beschlagenen Glasscheibe. Dann hörte sie wieder die Stimme, warm an ihrem Ohr: »Ich schlucke schaumigen Speichel. Ich kaue Erdbrocken voller Würmer, die mir im Hals steckenbleiben und den Gaumen aufkratzen … Mein Mund fällt ein, verzieht sich zu Grimassen, zerlöchert von den Zähnen, die ihn durchbohren und verschlingen. Die Nase wird weich. Die Gelatine der Augen schmilzt. Die Haare brennen in einer einzigen Lohe …« Ihn erstaunte Susana San Juans Ruhe. Er hätte ihre Gedanken erraten und sehen wollen, wie dieses Herz gegen die Bilder ankämpfte, die er in sie hineinsäte. Er sah ihr in die Augen, und sie blickte zurück. Und es schien ihm, als ob ihre Lippen sich ein Lächeln abzwangen. »Es fehlt noch etwas. Die Erscheinung Gottes. Das sanfte Licht seines unendlichen Himmels. Das Frohlocken der Cherubim und der Gesang der Seraphim. Die Freude in Gottes Augen, letzte, flüchtige Vision der auf ewig Verdammten. Und das ist nicht alles, dazu kommt ein höchst irdischer Schmerz. Zu Glut wird das Mark unserer Knochen und die Adern unseres Bluts zu Feuerfäden, und wir bäumen uns auf vor unsagbarem Schmerz, ein Schmerz, der nie nachlässt, den der Zorn des Herrn immer neu schürt.« »Er hielt mich schützend in seinen Armen. Er gab mir Liebe.« Pater Renteria ließ seinen Blick über die Gestalten gleiten, die um ihn herum auf den letzten Augenblick warteten. Nahe der Tür stand Pedro Páramo mit gekreuzten Armen, gleich daneben Doktor Valencia und bei ihm weitere Herren. Etwas weiter weg, im Schatten, konnte ein Häuflein Frauen es kaum erwarten, das Totengebet anzustimmen.
Er wollte schon aufstehen. Der Kranken die Letzte Ölung geben und sagen: »Ich bin fertig.« Aber nein, er war noch nicht fertig. Er konnte einer Frau doch nicht die Sterbesakramente geben, ohne das Maß ihrer Reue zu kennen. Er kamen ihm Zweifel. Womöglich hatte sie nichts zu bereuen. Vielleicht hatte er ihr nichts zu vergeben. Er beugte sich erneut über sie, rüttelte an ihren Schultern und sagte leise zu ihr: »Du trittst vor Gottes Angesicht. Und Er richtet die Sünder nicht menschlich.« Dann näherte er sich wieder ihrem Ohr, doch sie schüttelte den Kopf: »Gehen Sie schon, Hochwürden! Quälen Sie sich nicht meinetwegen. Ich bin ruhig und sehr müde.« Man hörte eine der im Schatten verborgenen Frauen aufschluchzen. Da schien wieder Leben in Susana San Juan zu fahren. Sie richtete sich auf und sagte: »Justina, tu mir den Gefallen und wein woanders!« Dann spürte sie, wie sich ihr der Kopf in den Bauch bohrte. Sie versuchte den Bauch von ihrem Kopf wegzurücken, diesen Bauch, der auf ihre Augen drückte und ihr den Atem nahm, beiseite zu schieben, doch sie fiel nur immer weiter vornüber, als versinke sie in der Nacht. »Ich. Ich habe Doña Susanita sterben sehen.« »Was sagst du, Dorotea?« »Was ich dir eben gesagt habe.«
Bei
Morgengrauen wurden die Menschen vom Läuten der Glocken geweckt. Es war der Morgen des 8. Dezember. Ein
grauer Morgen. Nicht kalt, aber grau. Das Läuten begann mit der Hauptglocke, ihr folgten die anderen. Einige dachten, sie riefen zum Hochamt, und Türen gingen auf. Aber nicht viele, nur die, hinter denen Frühaufsteher wohnten, die wach darauf warteten, dass ihnen das Morgenläuten das Ende der Nacht meldete. Doch das Geläut dauerte länger als üblich. Nun läuteten nicht mehr allein die Glocken der Pfarrkirche, sondern auch die der Erlöserkirche, die der Kirche vom Grünen Kreuz und vielleicht die der Kapelle. Der Mittag kam, und das Läuten hörte nicht auf. Es kam die Nacht. Und Tag und Nacht läuteten die Glocken weiter, eine wie die andere, jedesmal kräftiger, bis daraus eine tosende Klage der Klänge wurde. Die Männer schrien, um ihre eigenen Worte zu verstehen. »Was mag da geschehen sein?« fragten sie sich. Nach drei Tagen waren alle taub. Ein Gespräch war bei dem Dröhnen, das die Luft erfüllte, nicht möglich. Doch die Glocken schlugen weiter, immer weiter, einige klangen schon brüchig, ein hohler Klang, wie von einem gesprungenen Krug. »Doña Susana ist gestorben.« »Gestorben? Wer?« »Die Señora.« »Deine?« »Die von Pedro Páramo.« Leute aus anderen Gegenden strömten herbei, angezogen von dem andauernden Läuten. Wie auf einer Pilgerfahrt kamen sie aus Contla und sogar von weiter her. Von irgendwoher kam auch ein Zirkus mit Feuerwerk und einem Kettenkarussell. Musikanten. Erst gaben sie sich als Schaulustige, aber kurz darauf waren sie schon eingemeindet, und bald wurden sogar Ständchen gesungen. Und nach und nach wurde ein Volksfest daraus. In Comala
wimmelte es von Menschen, ein einziger Rummel und Radau, genau wie an den hohen Feiertagen, wenn man im Dorf keinen Schritt vorwärts kam. Die Glocken hörten auf zu läuten, doch das Fest ging weiter. Man konnte den Leuten einfach nicht begreiflich machen, dass es sich um einen Trauerfall handelte, um Tage der Trauer. Man konnte sie einfach nicht dazu bewegen fortzuziehen; im Gegenteil, es kamen immer noch mehr. Die Media Luna lag einsam da, schweigend. Wir gingen barfuß. Redeten leise. Susana San Juan wurde begraben, und nur wenige in Comala bekamen es mit. Dort war Jahrmarkt. Es gab Hahnenkämpfe, man hörte die Musik, das Geschrei der Betrunkenen und der Losverkäufer. Das Licht des Dorfes reichte bis hierher, es sah aus wie ein Heiligenschein am grauen Himmel. Denn es waren graue, traurige Tage für die Media Luna. Don Pedro sprach nicht. Er verließ sein Zimmer nicht. Und schwor, sich an Comala zu rächen. »Ich werde die Hände in den Schoß legen, und Comala wird verhungern.« Und so machte er es.
Der Kaiman kam immer wieder vorbei: »Jetzt sind wir Männer von Carranza.« »In Ordnung.« »Wir ziehen mit General Obregón.« »In Ordnung.« »Die haben Frieden geschlossen. Wir sind auf uns gestellt.« »Wart ab. Entwaffne deine Leute nicht. Das kann nicht lange dauern.« »Pater Renteria hat sich in Waffen erhoben. Gehen wir mit
ihm oder gegen ihn?« »Gar keine Frage, du stellst dich auf Seiten der Regierung.« »Aber wir sind doch keine regulären Soldaten. Die halten uns für Rebellen.« »Dann geh heim und ruh dich aus.« »Wo ich gerade so in Schwung bin?« »Dann mach eben, was du willst.« »Ich werde dem kleinen Pater Verstärkung bringen. Es macht Spaß, wie die schreien. Außerdem verdient man sich damit das Himmelreich.« »Mach, was du willst.«
Pedro
Páramo saß auf einem alten Rohrstuhl neben dem Eingangstor zur Media Luna, kurz bevor der letzte Schatten der Nacht verschwand. Er war allein, vielleicht schon drei Stunden lang. Er schlief nicht. Er hatte Schlaf und Zeit vergessen: »Wir Alten schlafen wenig, fast nie. Manchmal schlummern wir ein wenig, hören aber nicht auf zu denken. Das ist das einzige, was ich noch zu tun habe.« Später fügte er laut hinzu: »Er ist schon auf dem Weg. Lässt nicht auf sich warten.« Und er fuhr fort: »Es ist schon lange her, dass du gegangen bist, Susana. Das Licht war damals genau wie jetzt, nur nicht so rot; aber es war das gleiche ärmliche, matte Licht, in ein weißes Nebeltuch gehüllt wie jetzt. Es war der gleiche Augenblick. Ich hier, neben dem Tor, sah zu, wie es Tag wurde, und sah zu, wie du fortgingst, auf dem Weg zum Himmel, dorthin, wo der Himmel sich in Lichtern auftat, wie du dich entferntest, immer mehr verblasstest zwischen den Schatten der Erde.
Es war das letztemal, dass ich dich sah. Du gingst vorüber, und dein Körper streifte die Zweige des Paraiso, der am Wegrand steht, und der Luftzug nahm seine letzten Blätter mit. Dann warst du verschwunden. Ich habe gesagt: ›Komm zurück, Susana!‹« Pedro Páramo bewegte immer noch die Lippen, Worte murmelnd. Später schloss er den Mund und öffnete ein wenig die Augen, in denen sich die schwache Helle des Tagesanbruchs spiegelte. Es wurde Tag.
Zur selben Stunde fegte Doña Ines, die Mutter von Gamaliel
Villalpando, die Straße vor dem Laden ihres Sohnes, als Abundio Martinez auftauchte und durch die halboffene Tür hineinging. Er fand Gamaliel schlafend auf dem Ladentisch vor, den Sombrero über dem Gesicht, um nicht von den Fliegen gestört zu werden. Er musste eine ganze Weile warten, bis er aufwachte. Er musste warten, bis Doña Ines die Straße fertig gefegt hatte, ihrem Sohn mit dem Besenstiel in die Rippen stieß und zu ihm sagte: »Du hast einen Kunden! Steh auf!« Gamaliel richtete sich schlechtgelaunt auf, knurrte etwas. Seine Augen waren rot von zuwenig Schlaf und davon, dass er zu lange mit den Betrunkenen herumgesessen, sich mit ihnen betrunken hatte. Als er dann auf dem Ladentisch saß, verfluchte er seine Mutter, verfluchte sich selbst und verfluchte unzählige Male das Leben, »das einen Scheißdreck wert ist«. Dann legte er sich, die Hände zwischen den Beinen, wieder hin, schlief wieder ein, während er noch Flüche murmelte: »Ich bin nicht schuld, dass die Schluckspechte zu dieser Zeit frei herumlaufen.« »Mein armer Sohn. Verzeih ihm, Abundio. Der Arme hat
die ganze Nacht über ein paar Handlungsreisende bedient, die sich haben vollaufen lassen. Was führt dich so früh hierher?« Sie schrie, weil Abundio taub war. »Ich brauche dringend einen halben Liter Schnaps.« »Ist deine Refugio wieder ohnmächtig geworden?« »Sie ist mir weggestorben, Mutter Villa. Gestern nacht, so gegen elf. Und dabei habe ich sogar meine Esel verkauft. Sogar die habe ich verkauft, damit sie wieder auf die Beine kommt.« »Ich höre nicht, was du sagst! Oder sagst du gar nichts? Was hast du gesagt?« »Dass ich die Nacht über bei der Toten gewacht habe, bei meiner Refugio. Gestern nacht hat sie aufgehört zu schnaufen.« »Kein Wunder, dass ich den Tod gerochen habe. Denk dir, ich habe noch zu dem Gamaliel gesagt: ›Mir ist so, als sei im Dorf einer gestorbene Aber der hat gar nicht auf mich gehört, er musste sich ja mit den Handlungsreisenden unterhalten, und da hat der Arme sich betrunken. Und du weißt ja, in dem Zustand findet er alles komisch und nimmt einen nicht ernst. So etwas! Kommen denn Gäste zur Totenwache?« »Kein einziger, Mutter Villa. Deshalb brauche ich ja den Alkohol, um meinen Kummer zu ertränken.« »Willst du reinen haben?« »Ja, Mutter Villa. Damit ich rascher betrunken werde. Und geben Sie ihn mir gleich, ich hab’s eilig.« »Weil du es bist, bekommst du jetzt noch zwei Deziliter für denselben Preis. Sag derweil der lieben Toten, dass ich sie immer gern gehabt habe und dass sie an mich denken
soll, wenn sie in den Himmel kommt.« »Ja, Mutter Villa.« »Sag es ihr, bevor sie ganz kalt ist.« »Ich werd’s ihr sagen. Ich weiß, dass auch sie mit Ihnen rechnet und auf Ihre Fürbitte hofft. Wenn ich Ihnen sage, dass sie ganz verstört gestorben ist, weil niemand da war, der ihr geistlichen Beistand gab.« »Was? Hast du denn nicht Pater Renteria geholt?« »Ich war dort, aber man hat mir gesagt, dass er in den Bergen ist.« »In welchen Bergen?« »Na, irgendwo weit weg. Sie wissen ja, er ist beim Aufstand.« »Was? Der auch? Wir sind arm dran, Abundio.« »Was geht uns das an, Mutter Villa. Das ist für uns doch Jacke wie Hose. Schenken Sie mir noch einen zweiten ein. Drücken Sie ein Auge zu, der Gamaliel schläft doch.« »Aber vergiss nicht, Refugio zu sagen, sie soll bei Gott ein gutes Wort für mich einlegen, ich hab es bitter nötig.« »Keine Sorge. Ich sag es ihr gleich, wenn ich nach Hause komme. Und ich werd ihr sogar das Versprechen abnehmen, falls das nötig ist, damit Sie ruhig schlafen können.« »Ja, genau das, das musst du tun. Du weißt ja, wie die Frauen sind. Man muss darauf dringen, dass sie ein Versprechen gleich erfüllen.« Abundio Martinez legte noch einmal zwanzig Centavos auf die Theke. »Geben Sie mir noch einen halben Liter, Mutter Villa. Und wenn Sie mir reichlich einschenken wollen, dann ist das allein Ihre Sache. Aber das verspreche ich Ihnen, den trinke
ich jetzt bei der lieben Toten, bei meiner Refugio.« »Geh jetzt, bevor mein Sohn aufwacht. Nach so einem Besäufnis ist er immer bitterböse. Mach schnell und vergiss nicht, deiner Frau meinen Auftrag auszurichten.« Er ging niesend aus dem Laden. Das war ja das reinste Feuer. Da man ihm aber gesagt hatte, dass es so schneller zu Kopf steigt, trank er Schluck um Schluck und fächelte sich dabei mit dem Hemdzipfel Luft in den Mund. Sodann versuchte er, geradewegs nach Hause zu gehen, wo Refugio auf ihn wartete, bog dann aber um und ging die Straße aufwärts, verließ, immer dem Weg folgend, das Dorf. »Damiana!« rief Pedro Páramo. »Schau mal, was dieser Mann will, der dort kommt.« Abundio kam näher, stolpernd, mit gesenktem Kopf und manchmal auf allen vieren. Er spürte, dass die Erde sich wand, sich um ihn drehte und ihm aus dem Griff geriet; er lief, wollte sie packen, und wenn er sie schon in Händen hielt, entglitt sie ihm wieder, bis er dann vor einen Herrn gelangte, der neben einer Tür saß. Da blieb er stehen: »Eine milde Gabe, bitte, damit ich meine Frau begraben kann«, sagte er. Damiana Cisneros betete: »Herr, rette uns vor den Anfechtungen des Bösen.« Und sie streckte die Hände in seine Richtung und schlug ein Kreuz. Abundio Martinez sah die Frau mit den entsetzten Augen, die ihm dieses Kreuz entgegenhielt, und ein Schauer durchfuhr ihn. Er dachte, dass ihm womöglich der Teufel bis hierher gefolgt sei, und drehte sich in der Erwartung um, irgendeinen bösen Geist hinter sich zu sehen. Als er nichts sah, wiederholte er: »Ich komme wegen einer kleinen Unterstützung, damit ich meine Tote begraben kann.«
Die Sonne stand in seinem Rücken. Eine eben erst aufgegangene Sonne, fast kalt und vom Staub der Erde entstellt. Pedro Páramos Gesicht verbarg sich unter den Decken, als verberge es sich vor dem Licht, während Damianas Schreie in immer schnellerer Folge über die Felder schallten: »Don Pedro wird umgebracht!« Abundio Martinez hörte, dass die Frau schrie. Er wusste nicht, was tun, damit dieses Schreien aufhörte. Seine Gedanken liefen auseinander. Er ahnte, dass das Geschrei der Alten sehr weit zu hören war. Vielleicht hörte es sogar seine Refugio, denn ihm bohrte es in den Ohren, auch wenn er nicht verstand, was die Frau wollte. Er dachte an seine Frau, die da auf dem Feldbett lag, ganz allein, im Patio ihres Hauses, wohin er sie geschoben hatte, damit sie in der Nachtkühle zur Ruhe kam und nicht so bald schlecht zu riechen begann. Refugio, die gestern noch mit ihm geschlafen hatte, quicklebendig, wie ein Fohlen hatte sie herumgetollt, ihn gebissen und ihre Nase an der seinen gerieben. Refugio, die ihm das Söhnchen geschenkt hatte, das gleich nach der Geburt gestorben war, weil sie angeblich keine gesunden Kinder bekommen konnte: weil sie den bösen Blick hatte und das Wechselfieber und Magenbrennen und wer weiß, was für Krankheiten noch, wie ihm der Doktor gesagt hatte, der erst im letzten Augenblick gekommen war, nachdem er, Abundio, seine Esel verkauft hatte, um das viele Geld zu bezahlen, das der Arzt für einen Besuch verlangte. Und es hatte nichts genützt … Refugio, die jetzt dort in der feuchten Nachtluft lag, die Augen geschlossen, die nicht mehr die Morgenröte sehen konnte, auch nicht diese Sonne oder je eine andere Sonne. »Helft mir!« sagte er. »Gebt mir etwas.«
Aber nicht einmal er selbst hörte sich. Die Schreie jener Frau machten ihn taub. Auf dem Weg nach Comala bewegten sich ein paar schwarze Pünktchen. Auf einmal wurden aus den Pünktchen Männer, und dann waren sie da, bei ihm. Damiana Cisneros hörte auf zu schreien, und ihre Finger machten nicht mehr das Kreuz. Sie war hingefallen und öffnete nun den Mund, als müsse sie gähnen. Die Männer, die gekommen waren, hoben sie vom Boden auf und trugen sie ins Haus. »Ist Ihnen etwas passiert, Patrón?« fragten sie. Don Pedros Gesicht tauchte auf, er schüttelte nur den Kopf. Sie entwaffneten Abundio, der noch das blutige Messer in der Hand hielt: »Komm mit uns«, sagten sie zu ihm. »Da hast du dich aber ordentlich in etwas reingeritten.« Und er folgte ihnen. Bevor sie ins Dorf kamen, bat er darum, austreten zu dürfen. Er ging zur Seite und erbrach dort etwas Gelbes, wie Galle. Schwall um Schwall, als hätte er zehn Liter Wasser getrunken. Dann begann sein Kopf zu brennen, und er spürte, dass die Zunge ihm nicht gehorchte. »Ich bin betrunken«, sagte er. Er ging zurück zu den wartenden Männern. Auf ihre Schultern gestützt, ließ er sich mitschleifen und zog mit den Fußspitzen eine Furche in die Erde.
Dort hinten, auf seinem Rohrstuhl, saß Pedro Páramo und schaute dem Zug nach, der sich zum Dorf bewegte. Er fühlte, wie seine linke Hand, als er sie heben wollte, tot auf seine Knie fiel, aber beachtete es nicht weiter. Er war es
gewohnt, jeden Tag ein Stück von sich sterben zu sehen. Er sah, wie der Paraiso sich schüttelte und seine Blätter abwarf: »Alle wählen denselben Weg. Alle gehen fort.« Dann kehrte er an den Ort zurück, wo er seine Gedanken gelassen hatte. »Susana«, sagte er. Und schloss die Augen. »Ich habe dich gebeten zurückzukommen …« „… Es war ein großer Mond inmitten der Welt. Meine Augen verloren sich in deinem Anblick. Die Mondstrahlen rieselten auf dein Gesicht. Ich konnte mich nicht satt sehen an dieser Erscheinung, an dir. So sanft und mondbestrichen. Dein schwellender Mund, feucht, voll Sternenschimmer; dein Leib, durchsichtig im Wasser der Nacht. Susana, Susana San Juan.« Er wollte die Hand heben, um das Bild klarer zu sehen, doch seine Beine gaben sie nicht frei, als sei sie aus Stein. Er wollte die andere Hand heben, und sie rutschte seitlich hinunter, bis sie auf dem Boden auflag und einer Krücke gleich seine schlaffe Schulter stützte. »Das ist mein Tod«, sagte er. Die Sonne warf sich über die Dinge und gab ihnen ihre Form zurück. Vor ihm lag leer das verfallene Land. Die Wärme drang in seinen Körper. Seine Augen bewegten sich kaum, sie sprangen von einer Erinnerung zur anderen, verwischten die Gegenwart. Plötzlich hielt sein Herz inne, und es war, als ob auch die Zeit innehielte. Und die Luft des Lebens. »Wenn nur keine neue Nacht kommt«, dachte er. Denn er hatte Angst vor den Nächten, die ihm die Dunkelheit mit Gespenstern füllten. Mit seinen Gespenstern eingesperrt zu sein, davor hatte er Angst. »Ich weiß, in ein paar Stunden wird Abundio mit seinen
blutigen Händen dasein und mich um die Hilfe bitten, die ich ihm verweigert habe. Und ich werde keine Hände haben, mit denen ich mir die Augen zuhalten kann, um ihn nicht zu sehen. Ich werde ihm zuhören müssen, bis seine Stimme mit dem Tag erlischt, bis seine Stimme stirbt.« Er spürte Hände, die seine Schultern berührten, und richtete sich auf, machte sich steif. »Ich bin’s, Don Pedro«, sagte Damiana. »Soll ich Ihnen vielleicht das Essen herbringen?« »Ich komme schon. Ich bin schon auf dem Weg.« Er stützte sich auf die Arme von Damiana Cisneros und versuchte zu gehen. Nach ein paar Schritten stürzte er, innerlich flehend, sagte aber kein einziges Wort. Er schlug hart auf die Erde auf und brach auseinander wie ein Haufen Steine.
Pedro Páramo – dreißig Jahre danach
Meine Freunde von der Agentur Efe erinnerten mich daran,
dass Pedro Páramo in diesem März seinen dreißigsten Geburtstag feiert. Pedro Páramo und Der Llano in Flammen haben die Welt durchwandert. Das ist nicht mir, sondern den Lesern zu verdanken, mit denen ich heute ein paar meiner Erfahrungen teilen möchte. Nie hatte ich mir gedacht, dass diesen Büchern ein solches Schicksal beschert sein würde. Ich habe sie geschrieben, damit zwei oder drei Freunde sie läsen, oder, mehr noch, aus Not. 1933, als ich nach Mexiko-Stadt kam, war ich noch keine fünfzehn Jahre alt. Für das Hochschulvorbereitungsjahr wurden meine Studien aus Guadalajara nicht anerkannt, und ich konnte nur als Gasthörer teilnehmen. Ich lebte unter der Obhut eines Onkels, Oberst Pérez Rulfo, in Molino del Rey, dem Schauplatz einer Schlacht zur Zeit der nordamerikanischen Invasion von 1847, wo heute die Kaserne der Präsidentengarde steht, gleich neben der Residenz von Los Pinos. Damals war der ganze Chapultepec-Wald mein Garten. In ihm konnte ich allein Spazierengehen und lesen. Ich kannte niemanden. Ich lebte mit der Einsamkeit zusammen, sprach mit ihr und verbrachte die Nächte mit meiner drängenden Unruhe und meinem Gewissen. Dann
fand ich eine Stellung in der Einwanderungsbehörde und machte mich daran, einen Roman zu schreiben, um mich von jenen Gefühlen zu befreien. Von Der Sohn der Mutlosigkeit blieb nur ein Kapitel erhalten, das sehr viel später unter dem Titel Ein Stück Nacht erschienen ist. Ich hatte das Glück, dass bei der Einwanderungsbehörde auch der Lyriker und Erzähler Efrén Hernández arbeitete, der die Zeitschrift America herausgab. Efrén erfuhr, wer weiß, wie, dass ich heimlich schrieb, und machte mir Mut, ihm meine Seiten zu zeigen. Ihm habe ich meine erste Veröffentlichung zu verdanken: Das Leben ist nicht sehr ernst bei der Sache.1 Ich bin kein Schriftsteller der Stadt. Ich wollte andere Geschichten schreiben, die ich mir, ausgehend von dem, was ich in meinem Dorf und bei meinen Leuten gesehen und gehört hatte, ausdachte. Ich schrieb Man hat uns Land gegeben2 und Macario. Juan José Arreola und Antonio Latorre veröffentlichten diese Erzählungen 1945 in der Zeitschrift Pan in Guadalajara. Nach dem Krieg trat ich als Reisevertreter bei GoodrichEuskadi ein. Ich lernte die ganze Republik kennen, brauchte jedoch drei Jahre, um der Zeitschrift America einen neuen Beitrag zu liefern, Die Halde der Gevatterinnenen. Efrén Hernández schaffte es 1950 auch, mir Talpa und Der Llano in Flammen abzuluchsen. Im darauffolgenden Jahr initiierten Arnaldo Órfila Reynal, Joaquin Diez Canedo und Ali Chumacero beim Fondo de Cultura Económica die Reihe »Letras mexicanas«. Sie baten mich um meine Erzählungen, und der Band kam dann unter dem Titel El llano en Ilamas 1953 auf den Markt. Das 1 Akzente 6/1995. 2 Diese Erzählung ist wie die folgenden Geschichten enthalten in Der Llano in Flammen, Hanser 1984.
Zentrum mexikanischer Schriftsteller hatte sich gerade konstituiert, angeregt von dem zweiten Jahrgang der Stipendiaten des Kulturfonds, von Arreola, Chumacero, Ricardo Garibay, Miguel Guardia und Luisa Josefina Hernández. Jeden Mittwochabend trafen wir uns in einem Haus in der Avenida Yucatán, um unsere Texte vorzutragen und zu besprechen. Die Versammlungen wurden geleitet von Margaret Shedd, der Verantwortlichen für das Zentrum, und dem Koordinator Ramón Xirau. Im Mai 1954 kaufte ich mir ein Schulheft und begann das erste Kapitel eines Romans zu notieren, der viele Jahre lang in meinem Kopf herangereift war. Ich spürte, ich hatte endlich den so lange gesuchten Erzählton und die Atmosphäre für das Buch gefunden, über das ich so oft gegrübelt hatte. Bis heute weiß ich nicht, woher die Intuitionen kamen, denen ich Pedro Páramo verdanke. Es war, als ob mir der Roman diktiert würde. Plötzlich, mitten auf der Straße, überkam mich ein Gedanke, und ich schrieb ihn sofort auf ein grünes oder blaues Zettelchen. Wenn ich von meiner Arbeit in der Werbeabteilung von Goodrich heimkam, übertrug ich diese Notizen in das Heft. Ich schrieb mit der Hand, mit einer breiten Sheaffers-Feder und grüner Tinte. Ich hörte jedesmal mitten im Absatz auf, so dass mir ein Nachgeschmack blieb und ich den Faden des Gedankens am nächsten Tag wiederaufnehmen konnte. In vier Monaten, von April bis August 1954, brachte ich dreihundert Seiten zusammen. Sowie ich das Original abgetippt hatte, vernichtete ich die handgeschriebenen Seiten. Ich schrieb noch drei Fassungen, eine Arbeit, bei der ich die ursprünglichen dreihundert Seiten auf die Hälfte reduzierte. Ich habe jede Abschweifung und jeden Autorkommentar gestrichen. Arnaldo Orfila drängte mich,
ihm das Buch zu geben. Ich war verwirrt und unentschlossen. Bei den Treffen im Schriftstellerzentrum ermunterten mich Arreola, Chumacero, Frau Shedd und Xirau: Du bist auf dem richtigen Weg, sagten sie. Miguel Guardia konnte in dem Manuskript nur einen Haufen unzusammenhängender Szenen entdecken. Ricardo Garibay, vehement wie immer, schlug mit der Faust auf den Tisch, um zu bekräftigen, dass mein Buch ein Dreck war. Das meinten auch ein paar junge Autoren, die wir zu unseren Sitzungen eingeladen hatten. Otto Raul Gonzales, ein Dichter aus Guatemala, empfahl mir beispielsweise, erst einmal Romane zu lesen, bevor ich mich daransetzte, selbst einen zu schreiben. Romane lesen: das hatte ich mein ganzes Leben getan. Andere wieder fanden das Manuskript sehr faulknerianisch, doch zu jener Zeit hatte ich Faulkner noch nicht gelesen. Ich habe meinen Kritikern nichts vorzuwerfen. Es war für sie nicht leicht, einen Roman zu akzeptieren, der sich realistisch gibt als Geschichte eines Großgrundbesitzers, tatsächlich aber von einem ganzen Dorf erzählt: von einem toten Dorf, in dem alle gestorben sind, sogar der Erzähler; über seine Wege und Felder streifen nur die toten Seelen und die Echos, die ungehindert durch Zeit und Raum schweifen. Das Manuskript hieß erst »Das Gemurmel«, dann »Ein Stern in der Nähe des Mondes«. Schließlich, im September 1954, lieferte ich es mit dem Titel Pedro Páramo beim Fondo de Cultura Económica ab. Es erschien im März 1955 in einer Auflage von 2000 Exemplaren. Archibaldo Burns schrieb die erste Rezension, einen Verriss, der in der Beilage »Mexico en la Cultura« veröffentlicht wurde, die damals Fernando Benitez betreute. Die Überschrift lautete: »Pedro Páramo oder Die Salbung und das Huhn«, und ich habe nie kapiert,
was zum Teufel das bedeuten sollte. In der Zeitschrift der Universität erläuterte Ali Chumacero persönlich, dass Pedro Páramo ein Mittelpunkt fehle, auf den alle Szenen zuliefen. Ich hielt das für ungerecht, denn zuallererst hatte ich an der Struktur gearbeitet. Ich sagte zu meinem lieben Freund Ali: »Du bist verantwortlich für das Programm des Kulturfonds und ausgerechnet du schreibst jetzt, dass das Buch nicht gut ist.« Ali gab mir folgende Antwort: »Mach dir nichts daraus, das Buch wird sich so oder so schlecht verkaufen.« So war es. Es dauerte gut vier Jahre, bis tausend Stück verkauft waren. Der Rest ging als Geschenk weg, jeder, der mich um ein Buch bat, bekam eines. Die folgenden Jahre verbrachte ich in Vera Cruz bei der Kommission von Papaloapan. Als ich zurückkehrte, erwarteten mich Aufsätze wie die von Carlos Blanco Aquinaga, Carlos Fuentes und Octavio Paz. Ich erfuhr, dass Mariana Frenk an einer Übersetzung ins Deutsche arbeitete, Lysander Kemp Pedro Páramo ins Englische, Roger Lescot ins Französische und Jean Lechner ins Holländische übertrugen. Als ich den Roman in meiner Wohnung in der Nazas 84 schrieb, in einem Gebäude, in dem auch der Maler Coronel und die Lyrikerin Eunice Odio wohnten, bin ich nie auf den Gedanken gekommen, dass dreißig Jahre später das Produkt meiner Obsessionen sogar auf türkisch, griechisch, chinesisch und ukrainisch gelesen werden würde. Es ist nicht mein Verdienst. Als ich an Pedro Páramo arbeitete, wollte ich mich nur von einer großen Angst freischreiben. Um zu schreiben muss man wirklich leiden. Im Kern ist die Figur Pedro Páramo aus einem Bild hervorgegangen und war die Suche nach einem Ideal, dem ich den Namen Susana San Juan gab. Susana San Juan hat
nie existiert: ich habe sie erfunden und habe dabei an ein kleines Mädchen gedacht, das ich flüchtig gekannt habe, als ich drei Jahre alt war. Sie hat es nie erfahren, und wir sind uns in all den Jahren, die ich bis heute gelebt habe, nicht wieder begegnet. Juan Rulfo schrieb diesen Aufsatz 1985 zum 30. Jahrestag des Erscheinens von Pedro Páramo.
Gabriel Garcia Marquez Kurze Erinnerung an Juan Rulfo
Die Entdeckung Juan Rulfos – wie die von Franz Kafka wird
in meinen Erinnerungen zweifellos ein wesentliches Kapitel einnehmen. Ich war an dem Tag, als sich Ernest Hemingway erschoss, am 2. Juli 1961, in Mexiko angekommen und hatte weder Juan Rulfos Bücher gelesen noch je etwas von ihm gehört. Das war ungewöhnlich. Zunächst, weil mir damals die akutelle Literatur völlig geläufig war, insbesondere die Romane der beiden Amerika. Dann, weil die ersten Schriftsteller, mit denen ich in Mexiko Kontakt aufnahm, jene waren, die mit Manuel Barbachano Ponce in seinem Dracula-Schloss in den Straßen von Córdoba zusammenarbeiteten, und mit den Redakteuren der Literaturbeilage von Novedades, die Fernando Benitez leitete. Sie alle kannten Juan Rulfo natürlich gut. Trotzdem verstrichen mindestens sechs Monate, bevor ihn jemand erwähnte. Vielleicht, weil Juan Rulfo im Gegensatz zu den großen Klassikern ein Schriftsteller ist, der viel gelesen, über den aber wenig gesprochen wird. Ich wohnte in einer Wohnung ohne Aufzug in der Calle Renan, in der AnzuresKolonie, mit meiner Frau Mercedes und Rodrigo, der damals noch keine zwei Jahre alt war. Wir besaßen eine Doppelmatratze auf dem Fußboden des großen Schlafzimmers, eine Wiege im anderen Zimmer, einen Essund Schreibtisch im Wohnraum mit ganzen zwei Stühlen, die für alles mögliche dienten. Wir hatten beschlossen, in
dieser Stadt zu bleiben, die noch ein menschliches Maß bewahrte mit ihrer durchsichtigen Luft und den fieberschönen Blumen in den Alleen, doch schienen die Immigrationsbehörden unser Glück nicht zu teilen. Das halbe Leben ließen sie uns endlos Schlange stehen, manchmal im Regen in den Büßerhöfen des Innenministeriums. In den verbleibenden Stunden schrieb ich Anmerkungen zur kolumbianischen Literatur, die ich auch in dem damals von Max Aub geleiteten Universitätssender sprach. […] Ich war zweiunddreißig Jahre alt, hatte in Kolumbien eine flüchtige Journalistenkarriere, dann drei sehr nutzbringende harte Jahre in Paris und acht Monate in New York hinter mich gebracht und wollte nun in Mexiko Drehbücher schreiben. Die Welt der mexikanischen Schriftsteller glich zu jener Zeit der kolumbianischen, und ich fühlte mich sehr wohl darin. Sechs Jahre zuvor hatte ich meinen ersten Roman, Laubsturm, geschrieben, und ich besaß drei unveröffentlichte Bücher: Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt; Die böse Stunde, den Roman, der auf Betreiben von Vicente Rojo kurz darauf bei der Editorial Era erschien, und den Erzählungsband Das Leichenbegängnis der Großen Mama. Von letzterem besaß ich nur noch das unvollständige Manuskript, denn Alvaro Mutis hatte noch vor meiner Ankunft in Mexiko die Originalseiten unserer angebeteten Elena Poniatowska geliehen, und sie hatte sie verloren. Später gelang es mir, alle Erzählungen zu rekonstruieren, und Sergio Galindo veröffentlichte sie auf Betreiben von Alvaro Mutis in der Universität Vera Cruz. Somit war ich bereits ein Schriftsteller von fünf geheimen Büchern. Doch war nicht das mein Problem, denn weder damals noch sonst schrieb ich, um berühmt zu werden, sondern damit meine Freunde mich mehr liebten, und das glaubte ich erreicht zu haben. Mein großes Problem als
Romancier war, dass ich nach diesen Büchern in einer Sackgasse zu stecken schien und auf allen Seiten nach einem Ausweg suchte. Ich kannte gute wie schlechte Autoren, die mir den Weg hätten weisen können; trotzdem kam es mir so vor, als drehte ich mich in konzentrischen Kreisen. Ich hielt mich nicht für leergeschrieben. Im Gegenteil: ich spürte, dass ich noch viele Bücher vor mir hatte, aber mir fiel keine überzeugende poetische Möglichkeit ein, um sie zu schreiben. So standen die Dinge, als Alvaro Mutis mit einem Bücherpaket die sieben Stockwerke zu meiner Wohnung heraufgerannt kam, den dünnsten kleinen Band herauszog und, halbtot vor Lachen, sagte: »Lies diesen Mist, zum Teufel, damit du was lernst!« Es war Pedro Páramo. Ich konnte in jener Nacht nicht einschlafen, bevor ich das Buch nicht zum zweitenmal gelesen hatte. Nie mehr seit der verrückten Nacht, in der ich Kafkas Verwandlung in einer düsteren Studentenpension in Bogota gelesen hatte – nahezu zehn Jahre vorher –, war ich so bewegt gewesen. Am nächsten Tag las ich Llano in Flammen, und die Erschütterung hielt an. Viel später stieß ich im Wartezimmer einer Praxis in einer medizinischen Zeitschrift auf ein weiteres verirrtes Meisterwerk: Das Erbe der Matilde Arcángel1. Bis zum Jahresende konnte ich keinen anderen Autor lesen, weil mir alle schwächer vorkamen. Die Verzauberung war noch nicht von mir gewichen, als jemand zu Carlos Velo sagte, ich sei in der Lage, ganze Abschnitte aus Pedro Páramo auswendig aufzusagen. In Wahrheit konnte ich mehr: ich konnte das ganze Buch ohne nennenswerte Fehler vorwärts und rückwärts auswendig, und ich konnte sagen, auf welcher Seite meiner Ausgabe 1 In Der Llano in Flammen, Hanser 1984
welche Episode stand; außerdem gab es keinen Charakterzug irgendeiner Person, der mir nicht vollkommen geläufig war. Carlos Velo bestellte bei mir die Filmfassung einer anderen Erzählung von Juan Rulfo, der einzigen, die ich damals nicht kannte: Der goldene Hahn1. Es handelte sich um sechzehn mit drei verschiedenen Schreibmaschinen engbeschriebene Seiten aus Seidenpapier, die kurz davor waren, sich in Staub aufzulösen. Auch wenn man mir nicht gesagt hätte, von wem sie stammten, ich hätte es sofort gewusst. Die Sprache war nicht so differenziert wie die im übrigen Werk von Juan Rulfo und wies wenige seiner technischen Hilfsmittel auf, doch sein persönlicher Schutzengel schwebte über dem gesamten Umfeld des Textes. Später forderten Carlos Velo und Carlos Fuentes mich auf, die erste Filmbearbeitung von Pedro Páramo kritisch zu revidieren. Ich erwähne diese beiden Arbeiten – deren Endergebnis alles andere als gut war –, weil sie mich zwangen, mich noch mehr in ein Werk zu vertiefen, das ich fraglos bereits genauer kannte als sein Autor, den ich übrigens erst Jahre später persönlich kennenlernte. Carlos Velo hatte etwas Überraschendes vollbracht: er hatte die manchmal fragmentarischen Stellen aus dem Drehbuch zu Pedro Páramo herausgeschnitten und das Drama wieder in seine strenge chronologische Ordnung zurückversetzt. Als Arbeitsvorlage schien mir das zulässig, wenngleich das Ergebnis ein völlig anderes Buch war: flach und unzusammenhängend. Aber für das Verständnis von Juan Rulfos geheimer Tischlerarbeit erwies es sich als nützlich und offenbarte mir sein ungewöhnliches Können. 1 Der goldene Hahn, Hanser 1984
Die Filmfassung von Pedro Páramo gab zwei wesentliche Probleme auf. Das erste war das Problem der Namen. So subjektiv einem das vorkommen mag: jeder Name gleicht auf irgendeine Weise seinem Träger, und das ist in der Fiktion viel auffallender als im wirklichen Leben. Juan Rulfo hat gesagt, oder ihm ist in den Mund gelegt worden, er finde die Namen seiner Personen auf Grabsteinen auf den Friedhöfen von Jalisco. Das einzige, was sich zuverlässig sagen lässt, ist, dass es keine eigenwilligeren Eigennamen gibt als die seiner Romanfiguren. Mir schien und scheint es unmöglich, dass sich ein Schauspieler je mit dem Namen seiner Bühnenfigur ganz und gar identifizieren könnte. Das andere – vom vorigen untrennbare – Problem war das der Lebensalter. In seinem gesamten Werk ist Juan Rulfo mit der Lebenszeit seiner Geschöpfe bewusst sehr sorglos umgegangen. Narcios Costa Ros hat vor kurzem den fesselnden Versuch gewagt, in Pedro Páramo das jeweilige Alter der Figuren festzustellen. Ich hatte aus einer rein poetischen Intuition heraus stets angenommen, dass Susana San Juan zu dem Zeitpunkt, als es Pedro Páramo endlich gelingt, sie in sein weites Reich der Media Luna zu entführen, bereits eine Frau von zweiundsechzig Jahren ist. Pedro Páramo muss etwa fünf Jahre älter sein als sie. Tatsächlich schien mir das Drama größer, schrecklicher und schöner, wenn er sich aus unerfüllter Altersleidenschaft in den Abgrund stürzt. Die von Costa Ros ermittelten Lebensalter der beiden sind nicht sehr weit von denen entfernt, die ich angenommen hatte. Doch eine vergleichbare poetische Aura des Alters war im Film undenkbar. Im dunklen Kinosaal lässt sich niemand von den Liebesleidenschaften der Alten hinreißen.
Die Crux solch aufschlussreicher Untersuchungen ist, dass die Beweggründe der Poesie nicht immer die der Vernunft sind. Die Monate, während deren sich bestimmte Ereignisse abspielen, sind wesentlich für die Analyse des Werkes von Juan Rulfo, aber ich bezweifle, dass er selbst sich dessen bewusst war. Bei der poetischen Arbeit – und Pedro Páramo ist im höchsten Maß poetisch – berufen sich die Autoren, auf unterschiedliche Weise zur chronologischen Strenge verpflichtet, auf bestimmte Monate. Mehr noch: in vielen Fällen werden der Monat, der Tag und sogar das Jahr gewechselt, nur um einen unbequemen Reim zu umgehen oder eine Kakophonie, ohne zu bedenken, dass diese Veränderungen einen Kritiker zu einer entscheidenden Schlussfolgerung verleiten könnten. Solche Sprünge gibt es nicht nur bei den Tagen und Monaten, sondern beispielsweise auch bei den Blumen. Es gibt Schriftsteller, die sich ihrer nur wegen ihres guten Rufs bedienen, ohne sich klarzumachen, ob sie dem Ort oder der Jahreszeit entsprechen. Man findet daher nicht selten gute Bücher, in denen Geranien am Strand und Tulpen im Schnee blühen. In Pedro Páramo, in dem die Grenzlinie zwischen Toten und Lebenden unmöglich genau zu ziehen ist, sind die Angaben noch vager. Niemand weiß, wie lange die Jahre des Sterbens in Wirklichkeit dauern. Ich will letzten Endes mit alldem nur ausdrücken, dass die gründliche Erforschung von Juan Rulfos Werk mir schließlich den Weg gewiesen hat, den ich suchte, um meine Bücher weiterzuschreiben, und dass es mir aus diesem Grund nicht möglich war, über ihn zu schreiben, ohne dass es so aussieht, als hätte ich nur über mich geschrieben. Ich möchte noch hinzufügen, dass ich ihn ganz wiedergelesen habe, um diese kurzen Erinnerungen zu schreiben, und dass ich wieder das unschuldige Opfer
meiner ersten Erschütterung geworden bin. Es sind kaum dreihundert Seiten (aber fast so viele sind es), und ich glaube, dass sie überdauern werden wie die, welche wir von Sophokles kennen. Aus dem kolumbianischen Spanisch von Curt Meyer-Clason
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